ßllBIFß LIST FEB I 1924.
p
/VN
Monatschrift
fOr
höhere Schulen.
Begründet von Dr. R. Köpke und Dr. A. Matthias.
Herausgegeben unter Mitwirkung
namhafter Schulmänner, Universitätslehrer und Verwaltungsbeamten
von
Dr. Max Siebourg, und
Vizepräsidenten des Provinzialsdiulkollegiums
in Coblenz.
Dr. Paul Lorentz,
Oymnasialdirektor in Spandau
Gelieimem Studienrat.
XX. Jahrgang. 11. u. 12. Heft.
November — Dezember
A
^4
.^
%•
V
BERLIN
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG
1921
Inhalt.
Erste Abteilung.
Abhandlungen.
Seit«
Bathe, Der lateinische Unterricht am Realgymnasium. 347
Bersu, Bemerkungen zum „Lehrplan für den Unterricht in der Religionsgeschichte" 65
Borbein, Hermann Lietz und die höheren Schulen 292
Cauer, Ein umstrittenes Komma 26
Ehringhaus, Der Lehrplan für den Lateinunterricht an Oberrealschulen 83
Fittbogen, Das Auslanddeutschtum in der Schule 129
Fränkel, Der Wert aer linkshändigen Ausbidlung für Schule und Staat 94
Gaede, Unter dem Bakel 371
Goldbeck, Die jugendliche Persönlichkeit 278
Hartstein, Zur Turnreifeprüfung 362
Hölk, Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen? 329
Kaestner, Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten im
Sommersemester 1920 , 170
— , Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten im Winter-
semester 1920/21 365
Kaiser, Aus einer Ansprache, gehalten bei der hundertjährigen Jubelfeier des Kreuz-
nacher Gymnasiums am 19. Mai 1920 321
Kern, Kleine Hilfsmittel für den Geschichtsunterricht 222
Knögel, Inwieweit hat Mittellateinisch im Gymnasialunterricht seine Berechtigung? 203
Kumsteller, Die Neuordnung des Geschichtsunterrichts 18
Lietzmann, Fachwissenschaftliche Didaktik an der Universität 155
Litt, Wissenschaft und höhere Schule 274
Lorentz, Emil Ludwigs Goethe 308
Lotz, Lehrplanpolitik 193
Menge, Was kann Fontane unsern Schülern sein 67
Müncheberg, Die Schülerselbstverwaltung 30
Neubauer, Rede zur Vierhundert jahsfeier des Städtischen Gymnasiums zu Frankfurta.M. 10
Niedlich, Klassische Metrik, deutsche Rhythmik und deutsche Kultur 146
Otto, Ein Wort zur Verständigung 80
Schmidt, Zum neusprachlichen Unterricht 124
Schneider, Zur Förderung des Geschichtsunterrichts 216
Schroeder, Zur Neugestaltung des deutschen Unterrichts: Notwendigkeiten und Mög-
jlichkeiten 4
Schülke, Zwanzigvier statt vierundzwanzig 224
Siebourg, Zur Jahreswende 1
-,Philologen und Schulmänner 257
Spranger, Die drei Motive der Schulreform 260
Trinkwalter, Die Schicksalsfrage des deutschen Volkes und die höhere Schule ... 161
Wahner, Schul- und aufgabenfreie Halbtage und turnerische Wanderungen 228
Weerth, Studientage oder freie Arbeitstage 38
Wickenhagen, Turnen, Spiel und Sport im Lichte der Gegenwart 86
Wiesenthal, Zur Ausbildung der Studienreferendare 355
Wi Imsen, Zum systematischen Aufbau des neusprachliche.n Unterrichts der Oberstufe 311
Winter, Die deutsche Schule Ostasiens im Kriege 102
IV Inhalt.
Zweite Abteilung.
Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen.
Seit«
Chemie und Mineralogie, angez. von Studienrat Dr. Mendelsohn 238
Zur Relativitätstheorie, angez. von Professor Dr. Petzoldt in Spandau 325
b) Einzelbesprechungen.
Aristoteles, Topik, angez. von Univ.-Prof. O. Braun in Basel 377
Birt, Theodor, Römische Charakterköpfe, angez. von Vizepräsident Dr. Siebourg 180
Conrad Born hak, Deutsche Geschichte unter Wilhelm IL, angez. von Studienrat Karl
Reichel in Charlottenburg 385
Brandi, Deutsche Geschichte, angez. von Geh. Studienrat Direktor Dr. F. Neubauer
in Frankfurt a. M 53
Burger, Die experimentelle Pädagogik in ihrer Entwicklung zur neudeutschen Päda-
gogik, angez. von Oberstudiendirektor Dr. L. Macken sen in Pankow 255
Classen, Leben Jesu, angez. von Oberstudien-Direktor Kannegießer in Berlin .. 376
Claus, Das Schuldirektorat, angez. von Sondag in Ehrenbreitstein 62
v. Christ, Geschichte der griechischen Literatur, angez. von M. Siebourg in Pfaffen-
dorf 51
Deutsche Gebete, Wie unsere Vorfahren Gott fürchten, angez, von Prof. Dr.
Wilhelm von Capitaine 242
Deutscher und französischer Katholizismus in den letzten Jahrzehnten, angez. von
demselben 243
Deutsche Lieder. Klavierausgabe des Deutschen Kommersbuches, angez. von Dr.
Breucker in Altona 389
Deutsches Volk und Christusglaube, angez. von Prof. Dr. Wilhelm B. v.
Capitaine in Pier (Düren) 242
Dieck, Stoffwahl und Lehrkunst im mathematischen Unterricht, angez. von Studien-
rat Dr. Wolff in Hannover 388
Eberhardt, Das Buch der Stunde und Blätter der Stunde, angez. von P. Lorentz
in Spandau 241
Izhac Epstein, La pensee et la polyglossie, angez. von Prof. Dr. Felix Hartmann
in Berlin-Schöneberg 117
Fehler, Erweiterung und Vertiefung des französischen Wortschatzes, angez. von
Studienrat G. Humpf in Elmshorn 55
Feldbriefe katholischer Soldaten, angez. von Wi Ihelm B. v on Capitaine in Pier 110
Aloys Fischer, Über Beruf, Berufswahl und Berufsberatung als Erziehungsfragen,
angez. von Oberrealschuldirektor Wilh. Lohmann in Flensburg 124
Frickenhaus, Die altgriechische Bühne, angez. von Studienrat Adolf Stamm
in Planegg bei München 244
Geschichte der göttlichen Offenbarung, angez. von Prof. Dr. Wilhelm B. v. Capitaine
in Pier (Düren) 109
Lehrbuch der Geschichte der göttlichen Offenbarung, angez. von demselben 109
Graf, Los vom Philologismus! angez. von Oberstudiendirektor L.Mackensen in Pankow 254
Günther, Die deutsche Gaunersprache, angez. von Oberregierungsart a. D. Dr. Jos.
Buschmann in Coblenz 244
Hacks, Die Aufgaben der Realanstalten nach dem Kriege, angez. von Oberstudien-
Direktor Dr. Wilmsen in Spandau 58
Hartmann, Untersuchungen über die Sagen vom Tod des Odysseus, angez. von Studien-
rat Dr. R. Pappritz in Naumburg a. S 49
5. Hauptmann, Heimatkunde, angez. von Studienrat Dr. Niedlich in Berlin-
Friedrichsfelde ! 118
iHiiAit. y
ffit*
M. Havenstein, Die alten Sprachen und die deutsche Bildung, angez. von Oberstudien*
Direktor Dr. L. Mackensen in Berlin-Pankow 125
Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, angez. von Paul
Lorentz in -Spandau 48
H. Hegnauer, Schulzeichnen auf Grund elementarer Perspektive, angez. vom Zeichen-
lehrer Franz Leberecht in Pankow . , 122
Hentrich, Dienstanweisung auf kollegialer Grundlage, angez. von Dr. Karl Th.
Sondag in Ehrenbrei tstein bei Koblenz 62
Paul Hermann, Deutsche Grammatik, angez. von Ober-Reg.-Rat a. D. Dr. Jos.
Buschmann in Coblenz HO
Franz Hildebrand, Die höhere Schule und der Mensch, angez. von Oberstudien-
Direktor Dr. L. Mackensen in Berlin-Pankow 390
Franz Hilker, Jugendfeiern, angez, v. Oberstud.-Dir. Kannegießer in Berlin 391
H. V. Holst, Fröhliche Leute, angez. von Oberstudiendirektor L Mackensen in Pankow 125
Ewald Hörn, Das höhere Mädchenschulwesen in Deutschland, angez. von dems. 128
Jaenicke, Weltkrieg. Revolution. Verfassung, angez. von Studienrat Emil
Lagenpusch in Königsberg i. Pr 61
Fünfundvierzigstes Jahrbuch des Verein Schweizerischer Gymnasiallehrer, angez. von
Oberstudiendirektor Dr. L. Mackensen in Berlin-Pankow 19o
Kalkoff, Luther und die Entscheidungsjahre der Reformation, angez. von Her-
mann Bärge in Leipzig 177
— , Das Wormser Edikt und die Erlasse des Reichsregiments und einzelner Reichs-
fürsten, angez. von Geh. Studienrat Direktor Dr. Friedrich Marcks in Wesel 178
Graf Hermann Keyserling, Das Reisetagebuch eines Philosophen, angez. von
Dr. Paul Lorentz in Spandau 382
Kj eilen Rudolf, Die Großmächte und die Weltkrise, angez. von Vizepräsident Dr.
Max Siebourg in Pfaffendorff bei Coblenz 188
Kullnik, Die Neuordnung des deutschen Schulwesens und das Reichsschulamt,
angez. von Oberstudiendirektor Dr. L. Mackensen in Pankow 191
Franz Leberecht, Neue Wege des Schreibunterrichts, angez. vonHans Kurth
in Berlin 391
Lehmen, Lehrbuch der Philosophie, angez. von Geheimrat Professor Dr. Dyroff
in Bonn 48
0- Louis, Städtisches Schulrecht und inneres Leben der höheren Schulen, angez. von
Oberstudiendirektor Dr. L. Mackensen in Pankow 126
Matthias, Deutsche Sprachlehre für höhere Schulen, angez. von Ob.-Reg.-Rat Dr.
J. Buschmann in Koblenz 111
Mehr Freude, angez. von Geh. Reg.-Rat Dr. Schröer t in Posen 59
Meister, Der neue Geschichtsunterricht, angez. von Studiendirektor Dr. Cauer
in Berlin 246
Meyer-Benfey, Sophokles, Antigone, angez, von Dr. Charlotte Caemmerer in
Gr. Flottbeck bei Hamburg 60
Kurd Niedlich, Deutsche Religion, angez. von P. Lorentz in Spandau 383
Norden, Eduard, Die germanische Urgeschichte in Tacitus Germania, angez. von
Vizepräsident Dr. Max Siebourg in Pfaffendorff bei Coblenz 179
Norrenberg, Handbuch des naturwissenschaftlichen und mathematischen Unter-
richt, angez. von Studienrat Dr. Wolf f in Hannover 387
Obst, Volkswirtschaftslehre, angez. von Studienrat Dr. Wersche in Berlin 54
E. Otto, Die wissenschaftliche Forschung und die Ausgestaltung des gelehrten Unter-
richts, angez. von Oberstudiendirektor Dr. L. Mackensen in Pankow 126
Perthes' Kleine Völker- und Länderkunde zum Gebrauch im praktischen Leben, angez.
von Studienrat Gadow in Barth 121
Graf von Pestalozza, Die Schulgemeinde, angez. von Direktor des Provinzialschul-
koUegiums Dr. Hans Borbein in Cassel 189
yi iMhaH.
8«tte
Piatons Dialoge (Timaios u. Kritias); Piatons Apologie von Kriton, angex. von Univ.-Prof.
Dr. O. Braun in Basel 378
Richard Preiser, Pensa latina, angez. von Studienrat Dr. HansMeltzerin Hannover 112
Paul Rhenanus, Antwerpen, Die Flamen, angez. von Gymnasialdirektor Dr. Paul
Verbeek in Andernach 119
Roediger, Die Germania des Tacitus, angez. von Max Siebourg in Pfaffendorf bei
Coblenz 51
Friedrich Rommel, Die Verfassung des Deutschen Reiches, angez. von Abt-
Dirig. i. Prov.-SchulkoU. Dr. Blümel in Breslau 118
Rühlmann, Die französische Schule und der Weltkrieg, angez. von Studienrat Dr.
Gustav Humpf in Elmshorn 55
Am Scheidewege, Berufsbilder, angez. von Oberstudiendirektor Dr. W. Lohmann
in Flensburg 251
Schloß, Einführung in die Psychiatrie, angez. von Gymnasialdirektor a, D. J. Koch
in Schlachtensee 55
F. A. Schmidt, Volksvertretung und Schulpolitik, angez. von Oberstudiendirektor
Dr. L. Mackensen in Pankow 191
A. Schudeisky, Projektionslehre, angez. von F. Leberecht in Pankow 123
Ferdinand Sommer, Lateinische Schulgrammatik usw., angez. von Geh. Reg.-
Rat, Oberschulrat Dr. Franz Gramer in Münster i. Westf 378
Spranger, Gedanken über Lehrerbildung, angez. von Oberstudien-Direktor Dr. L.
Mackensen in Berlin-Pankow 253
D. Wilhelm Stahl, Die diplomatischen Verhandlungen vor Ausbruch des Weltkrieges
auf Grund der Farbbücher, angez. von Geh. Stud.-Rat Direktor Dr. Marcks in Wesel 179
Die Stammformen der vergleichenden Wirtschaftstheorie, von cand. rer. pol. Wilhelm
Schmidt in Münster i. Westf 249
Kurt Sternberg, Einführung in die Philosophie vom Standpunkt des Kritizismus,
angez, von Univ.-Prof. Dr. O. Braun in Basel 377
Trendelenburg, Adolf, Der Humor in der Antike, angez. von M. Siebourg in
Pfaffenheim 180
Dr. E. Umbach, Ziele und Wege des Sprachunterrichts auf unseren höheren Schulen,
angez. von Studienrat Dr. Friedrich Änderten in Berlin-Reinickendorf 115
Dr. Heinrich Verbeek, Flämisch für alle Deutschen, angez. von P. Verbeek in
Andernach 120
Aus der Volkshochschulliteratur, angez. von P. Lorentz in Spandau 248
Walter, Max, Zur Methodik des neusprachlichen Unterrichts, angez. von Studien-
rat Dr. Gustav Humpf in Elmshorn 116
Dr. E. Weber, Der Weg zur Zeichehkunst, angez. von F. Leberecht in Pankow . . 123
Wohlrabe, Die altklassische Welt, angez. von Prof. Dr. Erich Ziebarthin Ahrens-
burg bei Hamburg 51
H. Wolf, Wenn ich Kultusminister wäre, angez. von Oberstudiendirektor Dr.
L. Mackensen in Pankow 127
Dr. Karl Wölk er, Fürsorgeerziehung als Lebensschulung, angez. von Oberstudien-
Direktor Kannegießer in Berlin 392
I. Abhandlungen.
Zur Jahreswende.
Nichtfleichten Herzens überschreiten wir alle die Schwelle des neuen
Jahres; mancher von uns mag wohl am Silvesterabend rückwärts und vor-
wärts schauend von der alten Frage nicht haben loskommen können: Was
werden wir essen ? Was werden wir trinken ? Und über die materielle Not
des einzelnen hinaus die furchtbare Lage des Vaterlandes, der Druck auf das
Gemüt, den wir am besetzten Rhein mit besonderer Stärke empfinden. Die
Sorge um die Zukunft entspricht in ihrem Maße dem Grade der Einsicht
und Bildung; nur so ist es zu verstehen, daß weite Kreise unseres Volkes von
der wirklichen Lage Deutschlands keine Vorstellung haben. Als ich jüngst
mit Erschütterung den kurzen zusammenfassenden Bericht las, den Kj eilen
von dem Inhalt des Versailler Vertrags gibt, da kam mir unwillkürlich der
Wunsch, diese wenigen Seiten sollten bis in die entlegensten Dörfer unseres
Landes verbreitet werden. Ihre Kenntnis wäre zurzeit mindestens so nötig,
wie die der Verfassung.
Wir haben noch eine besondere Sorge: Was wird aus unsern höheren
Schulen ? Zwar die Reichsschulkonferenz, unstreitig das bedeutsamste schul-
politische Ereignis des abgelaufenen Jahres, hat in ihrer Mehrheit nicht die
Absicht bekundet, das Wesen der Bildungseinrichtungen, denen wir ver-
pflichtet sind, anzugreifen. Aber ich habe schon vor kurzem davor gewarnt,
sich ob dieses Ergebnisses der Sorglosigkeit hinzugeben. Zurzeit ist man,
so wird gesagt, damit beschäftigt, neue Lehr- und Stundenpläne zu ver-
fertigen, eine schwere Arbeit, da sie so vielen zumTeil einander widersprechen-
den Gedanken gerecht werden soll. Kaum ein anderes Gebiet unseres neuen
staatlichen Lebens weist im Augenblick so starke Antinomien auf, wie das
der Erziehung und Bildung. Darum ist zunächst zu hoffen und zu fordern,
daß die neuen Pläne nicht unter Ausschluß der Öffentlichkeit endgültig
festgestellt, daß vor allem diejenigen vorher dazu gehört werden, die sie aus-
führen sollen, wir Lehrer also ohne Unterschied der pädagogischen Grund-
anschauung. Gewiß wird wohl ein jeder geistige Opfer von seinen Meinungen
zu bringen haben, wenn etwas dabei herauskomrrien soll. Gern gebracht werden
Opfer aber nur bei der Einsicht in ihre Notwendigkeit. Sie gilt es herbei-
zuführen, denn freudige Pflichterfüllung, ohne die kein Segen ist, kann
nur auf dem Grunde innerer Überzeugung erwachsen.
„Nur als Schaffende können wir vernichten," dieses Wort Nietzsches
Wonatsclirift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 1
2 Max Siebourg,
aus der Fröhlichen Wissenschaft ') sollte bei der Arbeit an den neuen Plänen
immer beherzigt werden. Es ist leicht, Formen auf geistigem Ge-
biet zu zerstören, aber schwer, neue, mindestens gleichwertige dafür ein-
zusetzen. Gar nicht wahr ist es ja, was uns aus Reden und Aufsätzen ge-
wisser Kreise jetzt immer wieder entgegenschallt: Die alte Schule hat ver-
sagt, dieselbe Schule, die man während des Krieges mit überschwänglichem
Lob bedachte. Ich habe oft genug Gelegenheit zu erfahren, mit welcher Hoch-
achtung die Nationen, denen wir unterlegen sind, vom deutschen Bildungs-
wesen denken und reden; auf dieses haben die Männer in England hingesehen,
die dort schon während des Krieges eine neue Schulgesetzgebung betrieben.
Hüten wir uns, unter der Macht des Schlagwortes und in echt deutscher
Selbstunterschätzung uns selbst ins Fleisch zu schneiden. Das Experiment
ist für die Allgemeinheit nicht geeignet; dem ernst zu nehmenden Versuch,
neue Gedanken in kleinerem Kreise zu erproben, sollte jegliche Förderung
gewährt werden.
Es wird vermutlich noch etwas dauern, bis die neuen Pläne und Ord-
nungen so weit sind, daß wir sie vom Papier ins Leben zu übersetzen haben;
einstweilen müssen wir im Rahmen der bestehenden Formen die Forderung
des Tages erfüllen. Und da möchte ich auf einen Gedanken des Staatssekretärs
im Kultusministerium C. H. Becker 2) hinweisen, der, soviel ich sehe, zu
wenig bekannt und beachtet worden ist. Ihm ist die Frage nach der Einheit
oder Differenziertheit des äußeren Schulsystems eine Frage zweiter Ordnung
gegenüber der Forderung einheitlicher Erziehungsinhalte. „Merkwürdiger-
weise überwiegt aber in der öffentlichen Diskussion die Erörterung über den
vier- oder sechsklassigen Unterbau, die Einordnung der Mittelschule, die Über-
gangsklassen und wie die rein organisatorischen Probleme alle lauten mögen.
Wäre es nicht richtiger, diese Lösungen den Technikern zu überlassen, in
der Öffentlichkeit aber das Problem zu vertiefen : Wie schaffen wir eine wirk-
liche deutsche Einheitserziehung, nicht in der Form, sondern in den kul-
turellen Zielen?" Das Bewußtsein von der Einheit aller Volksgenossen in
der deutschen Kultur, das ist letzten Endes das Ideal, dem Becker
zustrebt; dazu aber werden alle Schularten helfen können und müssen,
jede nach ihrer Art und mit den ihr eigenen Mitteln, und darum darf
mit Recht von einer Einheitserziehung gesprochen werden.
Sie ist, das stelle ich voran, nicht möglich ohne ein rechtes National-
bewußtsein. Manche unserer Volksgenossen sind darin durch das furchtbare Er-
lebnis der Kriegs jähre wankend geworden. Wer aber deutsche Kultur gründlich
kennt, der weiß, was sie der Welt bedeutet hat und weiter bedeuten wird,
der hat als Deutscher wohl Anlaß, stolz darauf zu sein, nicht überheblich
und ablehnend gegen andere, aber selbstsicher, aufrecht und trotz allem
mutig in die dunkle Zukunft blickend. Sodann — leicht haben wir es nie
gehabt in der Geschichte. Unser Land verlangt fleißige schwere Arbeit;
^) Ich fand es wieder in dem schönen Buche Otto Braun, Aus nachgelassenen
Schriften eines Frühvollendeten. Berlin, Bruno Cassirer 1920. S. 167.
2) Pädagogisches Zentralblatt I (1919) S. 3.
Zur Jahreswende- 3
sie gehört zu unserer Eigenart, sie war unsere Freude, der Quell
unseres Aufstiegs ; sie muß auch bei der Einheitserziehung , wenn je
dann heute, im Vordergrunde stehen. Darum fort mit der übertriebenen
Weichlichkeit in der Behandlung unserer Jugend; sie verträgt's nicht nur,
sie will fest angefaßt sein, wenn sie nur merkt, daß Liebe dahinter steht.
Früher hat unsere Gesellschaft darin gesündigt, daß sie die Arbeit der
Hand nicht gebührend achtete ; heute liegt eher die entgegengesetzte Gefahr
vor, die Unterschätzung der Kopfarbeit. Hier hat die Schule in Lehre und
praktischer Anwendung ausgleichend zu wirken und so zu jener sozialen
Gesinnung hinzuführen, ohne die ein Staat nicht bestehen kann.
Endlich aber sollte uns die Not der Gegenwart nicht dazu drängen,
das stolzeste Erbstück unserer Väter, den deutschen Idealismus, zurückzusetzen
und schon auf der Schule das unmittelbar praktisch Verwertbare zu bevor-
zugen. Der deutsche Idealismus hat seine schönsten Geistesblüten in einer
Zeit getragen, wo unser Vaterland tief darniederlag ; er hat aber auch unstreitig
wesentlich mit zum Wiederaufstieg geholfen. Von Idealen war das Streben
unserer Väter und Großväter erfüllt, das mit der Schöpfung des deutschen
Reiches gekrönt ward. Dann wurden wir eine gesättigte Nation, reich an
materiellen Gütern, aber innerlich — wie arm! Jetzt haben wir wieder ein
Ideal zu erfüllen, das uns einen kann und sollte: die Schaffung eines neuen
Deutschlands, in dem alle Volksgenossen sich wohl fühlen. Unseren Kindern
und Enkeln wird es hoffentlich vergönnt sein, in das gelobte Land einzuziehen ;
wir Älteren, die wir wohl nur die vorausgehende Wüstenwanderung noch
mitzumachen haben, wir müßten verzagen, wenn uns diese Hoffnung nicht
beseelte. Unsere Jugend aber muß dazu vorbereitet werden in gründlicher
ernster Arbeit des Leibes und der Seele, in Ehrfurcht vor allem Großen,
was deutsches Wesen geschaffen hat, in dem Gefühl der Verantwortung,
die sie vor der Zukunft haben.
Und wir, die wir die hohe Aufgabe der deutschen Einheitserziehung
mit lösen sollen ? Ich weiß keinen anderen Weg, als den der Selbsterziehung,
der steten Arbeit an uns selber durch Wissenschaft und Leben in und mit
dem deutschen Volk. Staat und Gesellschaft verlangen viel von uns, so viel,
daß sie es kaum entgelten können. Sind wir nicht von einer idealen Auf-
fassung unsres Berufes geleitet und gehoben, so werden wir es schwerlich
schaffen. In diesen Zeiten der Not habe ich oftmals an einen Ausspruch
des Eumaios, des göttlichen Sauhirten, denken müssen^). Er, der selber ein
Königskind war und früh unfrei geworden ist, er erklärt dem fremden Mann,
in dem er seinen Herren nicht ahnt, die Lässigkeit der Knechte auf dem Hof
mit den Worten : Die Hälfte der Tugend nimmt der weitblickende Zeus einem
Mann, wenn ihn der Tag der Knechtschaft erfaßt. Ich denke, wir sind und
bleiben trotz allen äußeren Druckes freie Männer und bewahren uns die
ganze Tugend. Nur dann können wir mit dazu helfen, daß wir die Schwelle
der kommenden Jahre wieder leichteren Herzens überschreiten als heute.
Pfaffen dorf bei Coblenz. Max Siebourg.
^) Hom. Od. 17, 322.
4 Friedrich Schroeder,
Zur Neugestaltung des deutschen Unterrichts: Notwendigkeiten
und Möglichkeiten.
Der deutsche Unterricht hat sich auf den höheren Schulen sein Haus-
recht Schritt für Schritt erst erkämpfen müssen. Die Deutschkunde ist bei
übernommenen, einseitig gerichteten Bildungsidealen, die hinter der ge-
waltig fortschreitenden Zeit mit neuen Erkenntnissen und dringenderen
Forderungen zurückgeblieben, immer noch ein Schmerzens- und Stiefkind.
Die großen Konferenzen, anzuerkennende Erlasse haben das Übel nicht
bei der Wurzel erfaßt, es mehr auf zu beherzigende Ratschläge und vaterlän-
dische Fingerzeige, deren Befolgen mehr oder minder in dem freien Belieben
der einzelnen stand, als auf eine gründliche Wandlung abgesehen. Die ,, Lehr-
pläne und Lehraufgaben" mit ihrer in gar keinem Verhältnis zu den Fremd-
sprachen stehenden deutschen Stundenzahl (besonders die Tertia in den Gym-
nasien !) mit ihrer Einführung in die „für die Schule" bedeutsamsten Meister-
werke unserer Literatur, wobei das 19. Jahrhundert nur sehr spärlich zu Worte
kommt, mit ihren engen „Methodischen Bemerkungen", die die Unterweisung
über die Eigenart und Entwicklung der Muttersprache auf das Notwendigste
beschränkt wissen wollen usf. — sind durchaus nicht mehr zeitgemäß. Von
Volks- und Stammeskunde, von heimischer Mundart, vom Auslandsdeutsch-
tum, von deutscher Kulturbesinnung im umfassenden Sinne kein Wort!
Welch ein Gegensatz zu dem Schulbetrieb bei andern Kulturvölkern!
In England und Frankreich stehen heimische Sprache und Kultur nachdrück-
lichst im Mittelpunkt des Unterrichts ; alles mündet in die nationalen Lebens-
und Zukunftswerke ein; die einzelnen Fächer empfangen ihre Bedeutung
und Zielrichtung dadurch. Fest eingewurzelt in dem Mutterboden einer in sich
geschlossenen Bildungs- und Interessengemeinschaft, selbstsicher, werden
sie in der großen Welt Träger und Pioniere der Aufgaben ihres Volkes und
Staates.
Daß der Deutsche am ehesten und leichtesten auch in Ländern auf
fernab niedrigerer Stufe Sprache und Volkstum aufgibt, ist sattsam bekannt
und zuletzt noch ganz unverhohlen von den Polen in Warschau ausgesprochen
worden. Unsere krankhafte Neigung alles Ausländische übermäßig zu be-
wundern und anzustaunen ist schon verschiedentlich gerügt worden.
Daß Wien dreißig Kilometer von der Sprachgrenze, daß die Nähe Berlins
das Slaventum nicht weiter zurückzudrängen vermocht hat, wird immer ein
bedauerlicher Beweis bleiben für unsere völkische Nachgiebigkeit, unser
geringes Kolonial- und Expansionsstreben. Wo immer das „Land der Mitte"
mit fremden Völkern zusammenstößt, zieht es den kürzeren. Nirgends auch
finden wir ähnlicherweise ein Willkommenheißen, ein Haschen und Gieren
nach ausländischen geistigen und kulturellen Gütern wie bei uns.
Vielerlei spricht dabei mit; aber unserer Schule ist der bittere Vorwurf
des Versäumnisses und der Vernachlässigung nicht zu ersparen. Viele unserer
Fehler finden in ihr die Erklärung. Die großen Denker, von Fichte über
den Rembrandtdeutschen, Lagarde die ganze Reihe bis auf die Gegen-
Zur Neugestaltung des deutschen Unterrichts: Notwendigkeiten u. Möglichkeiten. 5
wart hinunter haben im meisten nur zu sehr recht; den Forderungen des
Germanisten- Verbandes ist immer mehr Gehör zu schenken. Ist uns vermöge
unserer unglückUchen Geschicke auf Grund einer gewissen Veranlagung
ein naives, instinktives Nationalgefühl nicht geworden, so muß das kritische,
reflektierende uns den Blick schärfen für Weltzustände- und Vorgänge,
für Sein und Schein, Theorie und Praxis, Hirngespinst und Erfüllungsmög-
lichkeit und uns zu einem gesunden berechtigten Selbstbewußtsein führen,
zu Selbstvertrauen und der Selbstbehauptung, zu der uns die bitter harte Not-
wendigkeit der Gegenwart zwingt. So lange wir nicht verlernen über unser
eigenes Volk hinauszublicken und unserm Sinn für Gerechtigkeit und Ob-
jektivität treu zu bleiben, sind wir vor Entartung unsers Nationalgefühls
vollkommen sicher. Nur über die Stufe des Staatsbürgers zum Weltbürger !
Der erfüllt die Menschheitsaufgaben am ehesten, der sie zunächst mal
in den Grenzen seines Volkes löst. Ein jedes hat seinen Eigenwert im Zu-
sammenleben der Völker ; das ist wertvoller für die menschliche Gesamtkultur
als das modische, farblose, verschwommene Mischmasch der Internationale.
Die Revolution mit ihren Fibererscheinungen hat unsere Fehler und
Schwächen um so erschreckender hervortreten lassen. Von habgierigen, ge-
wissen- und rücksichtslosen Feinden rings umstellt, bröckelt viel Volkstum
an niedere Kulturen mit entschiedenem Machtwillen zu Aufstieg und Aus-
breitung ab. Im Innern zersetzt zänkischer Parteihader der widerstrebendsten
Richtungen unser schwergeprüftes, aus tausend Wunden blutendes Land.
Unser altes Erbübel, der Partikularismus, in seinen verschiedensten Aus-
strahlungen, erhebt drohend sein Haupt. Da bedarf es um so dringender
und nachdrücklicher der Selbstbesinnung auf unser unvergleichliches Volks-
tum und unsern vielgestaltigen, umfassenden Volksgeist, seine Entwicklungs-
möglichkeiten und Ziele, der Verinnerlichung aus uns selber heraus. ,,Es
ist vielleicht keine Nation geeigneter, sich aus sich selbst zu entwickeln,"
sagt Goethe. Nur die naturgemäße Ausbildung der eigenen Anlagen, nie-
mals aber die künstliche Nachahmung fremder, noch so vollkommener
Leistungen, die auf anderem Boden, unter anderem Himmel gewachsen
sind, bietet die Gewähr für Gesundheit und dauerndes Leben einer Nation,
urteilt Burdach. Das neue geistige Deutschland verlangt ein in Wahrheit
nationales Schulsystem. Ein gemeindeutsches Bildungsideal muß uns be-
herrschen. Die vielen Bildungskreise legen sich nicht harmonisch um einen
zentralen Mittelpunkt; die innerliche Bildungseinheit, die Einheitlichkeit
des Volkes!) erheischt es gebieterisch. — Die höhere Schule soll wieder mehr
Fühlung mit dem Volke erhalten. Es gilt die Erziehung der deutschen Stämme
zur Nation, unseres zerrissenen Volkes zu einer höheren Einheit in Lebens-
gemeinschaft, Sprache und Weltanschauung.
Auch der Gedanke der Arbeitsschule fordert eine höhere Betonung
der Muttersprache und ihrer Erscheinungsformen. An ihr am ehesten, ihren
*) Siehe die Besprechung des Buches von H. Rieh er t, Die deutsche Bildungseinheit
¥nd die höhere Schule im letzten Heft der Monatsschrift. P. L.
6 Friedrich Schrceder,
lebenden Lautgebilden und Sprachmitteln, Wandlungen und feinsten Re-.
gungen, Stimmungswerten und den Vorbedingungen dazu vermag der Schüler
sich ein grundlegendes Verständnis und eine tiefe Erkenntnis jeglichen Sprach-
lebens zu erarbeiten und die Einsichten zum Eigengut zweckmäßigen Formens
und künstlerischen Prägens auszugestalten. Einem mangelhaften, fremdem
Boden entsprossenen Übersetzungsdeutsch würde dadurch ebenso gesteuert
werden, wie die geringe Sprachkultur unsers Volkes einen gewaltigen Antrieb
auch in den weitesten Kreisen erhielte. Das hätte wahrscheinlich wiederum,
ohne Innerlichkeit, Kern und Gehalt aufzugeben, ein verschärfteres Beachten
unserer vielfach vernachlässigten Außenkultur, unsers Auftretens und Ge-
barens auf dem Markte der Nationen, unseres bewußten Formwillens zur Folge.
Ist eine jede Pädagogik in ihrer höchsten Betätigung und Vollendung
eine Kunst und Gnade, wo alles Anlernen, alle Hilfsmittel nicht hinreichen,
so hat gerade der Deutschlehrer mit besonderen Schwierigkeiten zu kämpfen.
Ein gediegenes Wissen, ein reiches, künstlerisches Können, frische Sinne,
ein ganzer Mann und ein edler Mensch müssen zusammentreffen, um die
Fülle der Aufgabe zu erschließen, sie erhöhend, lebenspendend an die Jugend
heranzubringen und ihr Dauerwerte für Welt und Wirken zu bieten. Gewiß
gibt es ganz vorzüglichen, gediegenen Deutschunterricht; aber die Klagen
auch heute noch bei alt und jung, nach Rundfragen und Bekenntnissen,
über mangelnde Frische, Vertiefung und Verinnerlichung, graue Farblosig-
keit in der Behandlung von Grammatikfragen, über das Verleiden unserer
Klassiker und Besten durch zu einseitige, intellektuelle und gedächtnismäßige
Betrachtung und Aneignung , durch Historismus, Philologismus, Breit-
und Toterklären, über Absonderlichkeiten und Verstiegenheiten der Auf-
satzthemen, über Lebensfremde und ungenügende Einführung in praktische
Beherrschung von Stil und Prosa usf. sind nicht immer von der Hand zu weisen.
Ein groß Teil Schuld trifft die Vorbereitung auf den Universitäten. Sprengel
hat in verschiedenen seiner Schriften 1909 schon auf diesbezügliche
Rückständigkeiten und Versäumnisse hingewiesen. Die „Gedanken zur
Hochschulreform" unsers Staatssekretärs Becker, großzügig, offen und ehr-
lich, daß die Universitäten die Fühlung mit dem Leben der Nation nahezu
verloren hätten, daß ihr Lehrbetrieb großenteils nicht mehr den Forderungen
der Zeit entspreche, daß sie in erster Linie ,, Schulen" seien, werden ihre Wir-
kung nicht verfehlen. Daß verhältnismäßig spät und spärlich Lehrstühle
für Germanistik geschaffen wurden und darin noch viele Wünsche, so für
deutsche Volkskunde, ausstehen, erklärt vieles. Die Professoren werden
fortab, ohne deshalb ihrem besonderen Forschungsgebiet untreu werden zu
müssen, auf Lehrpläne und Lehraufgaben mehr Rücksicht zu nehmen haben
und diese Gebiete in Fülle in ihren weitesten Umkreisen und Verästelungen
bis in ihre tiefsten Verwurzelungen hinein zu bieten haben, daß der Deutsch-
lehrer nicht mehr — auf andern Gebieten ist es ähnlich ! — mit seinem Ein-
tritt in die Schule sich erst sein Rüstzeug zu erarbeiten anfängt.
Eine umfangreichere Ausbildung durch besondere Lehrstühle in den
vielverschlungenen pädagogischen und auch didaktischen Fragen, die bis-
Zur Neugestaltung des deutschen Unterrichts: Notwendigkeiten u. Möglichkeiten. 7
her vollständig im Hintergrunde standen, würde unsere Referendare mancher
Nöte und Unbeholfenheiten überheben. Eine gründlichere Durchbildung in
praktischer Psychologie — bisher auch im Argen gelegen! — würde dem
Lehrer für sich, seine Fächer und den Schüler manche Belebung und Er-
frischung, Abwechslung, Hilfe und Erleichterung, eine gescheitere Berück-
sichtigung der Individual- und Klassenintelligenz, eine zweckmäßigere Ein-
stellung von Fall zu Fall, eine bewußtere Treffsicherheit zeitigen.
Auch zur ständigen Fortbildung, zur Ausweitung der Persönlichkeit
und Selbsterfülluung müßte gerade dem Deutschlehrer durch Bildungsmög-
lichkeiten, Reisen, Kurse u. dgl. Gelegenheit geboten werden, in lebendigem
Verhältnis zu Strömungen, Mächten und Kräften seiner Zeit zu bleiben und
sich zum Besten der Jugend Sinn und Herz frisch zu erhalten.
So kam die vom 25. Oktober ab unter dem Vorsitz des Herrn Geh. und
Ministerialrats Dr. Schellberg im Zentralinstitut für Unterricht und Erziehung
stattfindende Veranstaltung „zur Förderung des deutschen Unterrichts",
eingeleitet vom Herrn Ministerialdirektor Jahnke selber, vielen Wünschen
entgegen; so haben die an die Vorträge sich anschließenden Beratungen
der aufgestellten Thesen innerhalb der etwa dreißig Hinberufenen, Vertreter
der Schulkollegien und Fachmänner, mancherlei Klärung geschaffen, Anteil
genommen an der inneren Reform, Vorarbeit geleistet, wie es im Schlußwort
hervorgehoben wurde, zu den kommenden Lehrplänen.
ProfessorDr.Reuschels Ausführungen über Wesen, Sinn und Bedeutung
der deutschen Volkskunde für die Gegenwart fanden die volle Zustimmung.
Alle wahre Kunst ist Volkskunst. Stamm, Sprache, Sitte, Siedelung bilden
den Grund alles lebendigen Lebens im Volke. Deutsche Kunst und Kunde,
nicht mittelmeerische, hat im Vordergrunde zu stehen und alle Schulfächer
zu befruchten. Von demselben Gedanken getragen ist auch das von Schell-
berg und Sprengel herausgegebene Handbuch der Deutschkunde, Führer zu
deutscher Schulerziehung: Deutschkunde im Unterricht der alten Sprachen,
in neusprachhchem, naturwissenschaftlichem, Religions- und Zeichenunterricht
usf. Vielleicht daß Volkskunde bei der Prüfung berücksichtigt würde, viel-
leicht daß Lehrstühle und Lehraufträge an den Hochschulen dafür zu er-
reichen wären!
Sprengeis gehaltvolle, von großer Belesenheit zeugende Gedankengänge,
durch seine verschiedenen Veröffentlichungen vielfach schon bekannt, über
Wert und Aufgabe der deutschen Prosadichtung des 19. Jahrhunderts für
Schule und Leben boten — nicht daß man in Einzelheiten immer überein-
stimmte — eine Fülle der Anregungen und Zielsetzungen. Sie stelle in um-
fassenden Bildern den Lebensgang des deutschen Menschen dar, behandele
wichtige Einzelfragen unseres persönlichen und Gemeinschaftslebens, der
Weltanschauung, des Verhältnisses zur Natur, Gottheit, Gesellschaft, zu
Volk und Staat, schildere die Eigenart der Stämme und Stände, den Ge-
samtverlauf der deutschen Geschichte und Kultur, sei so eine Einführung
in Sinn und Werden des nationalen und sozialen Lebens unserer Zeit, ein
8 Friedrich Schrocder,
Hauptgegenstand erziehlicher Wesensschau zur Bildung des Lebensverständ-
nisses und Lebenswillens.
Daß wir an Spracherziehung, Pflege des gesprochenen Wortes, der freien
Rede, des Vortrages von Dichtungen, an Sprachkultur überhaupt zu Hause
und in der Schule es an uns sehr fehlen lassen, war ohne weiteres den Be-
trachtungen von Dr. Drach und Dr. Manz recht zu geben. Die Ausbildung
aller Lehrer darin nach physiologisch-technischen und psychologisch-päda-
gogischen Gesichtspunkten muß als sehr notwendig bezeichnet werden.
Von innerem Erlebnis getragen, wird ein beseelter Vortrag naturgemäß bei
Erfüllung der wünschenswerten Anforderungen (Atemführung, Betonung,
Zeitmaß, Klangfärbung) ein tieferes, eindringenderes Erfassen der Dichtung
zur Folge haben. Freilich, für jeden schickt sich nicht alles; ein in Selbst-
erkenntnis geschulter Lehrer wird sich der Grenzen seiner Begabung auch
darin wohl bewußt sein, wie auch Ort und Stunde, Stimmung und Haltung
der jeweiligen Schüler stark zu berücksichtigen sind. Auf ein reines Hoch-
deutsch allerdings zu achten tut uns bei unsern partikularistischen Tendenzen
bitter not, um so mehr, wenn auf ein lässiges, kaum mundartlich zu nennendes
Deutsch ein sorgfältigst bis ins Kleinste gepflegtes Englisch oder Franzö-
sisch folgt.
Grundlegender Art war die Stellungnahme zu Bojungas Entwicklungen
über die Muttersprache in ihrer Bedeutung für den Sprachunterricht und
die Behandlung der deutschen Sprachlehre. Nationalerziehung ist wesentlich
Spracherziehung. Einheitlichkeit und Gleichheit der Sprache ist das am
meisten verbindende Element der Nation, der kräftigste Nährboden für ein
gesundes und starkes Verwand tschafts- und Zusammengehörigkeitsbewußt-
sein. Alles sprachliche Erkennen ist gebunden an ein Sichbesinnen in der
Muttersprache über sie. Ein volles Verstehen der wichtigsten Fragen und
Erscheinungen ist nur von ihr aus zu erreichen. Den feinsten Regungen und
Wandlungen der Volksseele, den Gefühls- und Stimmungswerten der durch
Art, Zweck, Stammesart, Zeitrichtungen, dem Eigenwesen des Redenden
bedingten Ausdrucksmittel vermag man nur in der Muttersprache nachzu-
gehen. So ist die Vertiefung und Verinnerlichung des Wortschatzes, der Wort-
erklärung, der Bedeutungslehre und -Verwandtschaft durch Aufdeckung der
zugrunde liegenden seelischen Gesetze und Bedingungen zu erstreben. Das
Deutsche ist durchaus geistformend und an Denkschärfe irgendeiner Sprache
nicht unterlegen; man müsse mit gewohnten Denkformen brechen. Wenn
dem gegenüber die „formale Schulung" besonders durch das Latein betont
wurde, so ist wiederum hervorzuheben, daß durch die neueren psycholo-
gischen Untersuchungen mancher Bann der sogenannten „formalen Bildung"
gebrochen ist. Auch über seinen Vorschlag, aus ökonomischen Rücksichten
und aus Gedanken der Einheitsschule heraus für die Sprachlehre durchweg
allgemeingültige deutsche Bezeichnungen einzuführen, war man verschiedener
Meinung, wenn auch die Behauptung, die lateinischen seien „international"
— man vergleiche nur das Französische und Englische! — nicht stichhaltig ist.
Hofstätters Ansichten über den deutschen Aufsatz, durch verschiedene
Zur Neugestaltung des deutschen Unterrichts: Notwendigkeiten u. Möglichkeiten. 9
Kundgebungen in seiner Zeitschrift schon in weitere Kreise gedrungen, sind
nur zu beherzigenswert. Eigenes Erleben, Beobachten, Erfahren, eigener
Besitz, fast alle Äußerungen des Lebens sind sein Inhalt. Grundsätzlich schreibt
der Schüler für sich und seine Freunde, nicht für den Lehrer. Einfachheit,
Klarheit und Wahrheit sind die Hauptforderungen; allgemeine Themen
führen leicht zur Heuchelei. Aufgabe der Vorbereitung ist Erwecken der
Stimmung und bestimmter Gedankenrichtungen. Auf der Mittelstufe ist
der Vorliebe für das Zuständliche, für kulturkundliche Hinstellung entgegen-
zukommen. Immer mehr muß der Schüler zur Klarheit über sich selbst,
zu einem persönlichen Verhältnis über seine Umwelt herangeführt werden.
Wenn mit vollem Recht besonders von einer Seite darauf aufmerksam
gemacht wurde, daß eine derartige Selbstbetätigung, ein derartiges Sich-
selbstausleben sich lediglich auf den künstlerischen Typ beziehe, wobei der
theoretisch-wissenschaftliche zu kurz komme, daß es doch auch Aufgabe
sei von der kleinen Ichheit zur Sachlichkeit zu erlösen, zum streng wissen-
schaftlichen Denken zu erziehen, so schließt doch das Ziel einer harmonisch
ausgebildeten Persönlichkeit eins oder das andere nicht aus. Nach Verschieden-
heit der Individualanlage und der Zeitumstände wird bald dieses, bald jenes
im Vordergrunde zu stehen haben und bei dem gegenwärtigen Schulbetrieb
und der Bildungskrise der ,, Erlebnisrichtung", zumal bei unserem ,,perse-
verierenden" deutschen Charakter, zunächst mal der Vorzug zu geben sein.
Auch die vielumstrittene Frage der Notwendigkeit oder Entbehrlichkeit
der Stoff- und Gedankenordnung, der ,, Disposition", fällt in nichts zusammen,
sobald man sich bemüht von Fall zu Fall die Geistesstruktur, die Art zu schaffen
und zu formen, die Kräfte und Strebungen, die besonders jedesmal in Tätig-
keit treten, die Wesensart des Stoffes, Zweck und Ziel der Arbeit, ob Haus-,
ob Klassen-, größere oder kleinere Arbeit usf. zu berücksichtigen.
So sind der Aufgaben viele und der Stunden wenige. Eine Eiche pflanzen
und einen Blumentopf nehmen ! Man war sich darüber einig, daß der ,, Deutsch-
gruppe", d. h. einschließhch Geschichte und Erdkunde ein Drittel der Ge-
samtstundenzahl auf Kosten der Fremdsprachen unbedingt zukomme,
d. h. daß an jedem Tage eine Stunde Deutschkunde zu geben sei, wenn auch
hier und da einer von der „alten Schule" nicht allzuviel davon erhoffte.
Auch die Lesebuchfrage bedürfe unter den gegenwärtigen geldlichen
Schwierigkeiten einer Neuorientierung. Hofstätter ist auf dem Wege seine
Pläne hinsichtlich innerer Lebenskreise, geschlossener Einheit, Ausbau zu
einem Hausbuche — möglichst knapp und kurz das Notwendigste — in einem
neu erscheinenden zu verwirklichen, wie die Regierung die Lehr- und Hilfs-
bücherfrage sich auf das dringendste angelegen sein läßt. Auch die Fragen
der Büchereien, der Mundart, mancherlei in lockerem Zusammenhang stehende
fanden ihre vorwärtsweisende Erörterung.
Zum Kern alles Unterrichts soll diesmal tatsächlich der deutsche werden,
wie es in der „EntschUeßung" hieß; die Zustände hätten sich als unhaltbar
erwiesen. Neue Lehrpläne werden den Wünschen Rechnung tragen. Der
Gedanke einer Beratungsstelle in Berlin, einer Fachberatung in den einzelnen
10 Neubauer,
Provinzial-Schulkollegien soll erwogen werden. Lehraufträge an praktische
Schulmänner zu Übungen und Arbeitsgemeinschaften an den Universitäten
würden sich wohl als zweckmäßig erweisen. Gelegenheit zu steter Weiter-
bildung der Deutschlehrer soll geboten werden.
Hoffen wir, daß der Geist, von dem die ganze Versammlung getragen
wurde, immer weitere Kreise schlägt, daß nach den Schlußworten von Ge-
heimrat Schellberg die innere Reform, die Flüssigmachung aller nationalen
BildungsmögHchkeiten geHngt, daß Vorhaben und Vollbringen redlicher,
vaterländisch gesinnter Männer in Regierung und Volk gleichen Schritt
halten und daß von der Umgestaltung und Selbstbesinnung der Schule
aus dem Geiste des deutschen Volkstums, seines ureigensten Wesens und
seiner unversiegbaren Schaffenskraft heraus unser Volk versöhnt, geeint
gesund und wieder stark wird!
Königsberg i. Pr. Dr. Friedrich Schroeder.
Rede zur Vierhundertjahrfeier des Städtischen Gymnasiums zu
Frankfurt a. M.^).
Hochansehnliche Versammlung! Meine lieben Schüler!
Sollten wir feiern? Sollten wir in einer Zeit, da unser Vaterland ver-
stümmelt ist, da altes herrhches deutsches Kulturgebiet unter dem harten
Joch feindlicher Besetzung seufzt, da die deutsche Ehre und mit ihr das deutsche
Ehrgefühl tief darniederliegt, da kein Tag vergeht, der uns nicht neue Ver-
gewaltigung des deutschen Volkes und des deutschen Wesens meldet, kein
Tag, der uns nicht mit furchtbarer Deutlichkeit zeigt, daß unser staatliches
Dasein auf des Messers Schneide steht, sollten wir uns da zu einer Feier ver-
sammeln ? Noch nagt an uns der bittere Schmerz über die vielen alten Schüler,
die aus diesem Kriege nicht wieder zurückgekehrt sind ; noch ist es nicht lange
her, daß die letzten der Kriegsgefangenen die Heimaterde wieder betreten
0 Das Goethe- und das Lessing- Gymnasium zu Frankfurt a. M. haben am 27. August
das vierhundertjährige Bestehen des Städtischen Gymnasiums, aus dem sie hervorgegangen
sind, begangen. Die Hauptfeier fand in der Paulslcirche statt. Nach Verabredung
zwischen den beiden Direktoren fiel dem des Lessing-Gymnasiums die erste Ansprache zu,
während der Direktor des Goethe-Gymnasiums auf die Begrüßungen zu erwidern und das
Schlußwort zu sprechen hatte.
Zu der Feier ist eine Festschrift erschienen, die den Titel trägt : Gymnasium
Francofurtanum 1520—1920. Festgabe, den Teilnehmern an der Vierhundert jahr-Feier
am 26. und 27. August 1920 gewidmet vom Festausschuß. (Druck der Kunstanstalt
Wüsten & Co.) Diese enthält:
I.: Rückblick auf die Geschichte des Frankfurter Gymnasiums 1520—1853 von
Archivdirektor Professor Dr. Jung.
II.: Johannes Classen, Direktor des Frankfurter Gymnasiums 1853—1864 von
Gymnasialdirektor Dr. Neubauer.
III.: Tycho Mommsen und das Frankfurter Gymnasium 1864—1886 von Real-
gymnasialdirektor Dr. Liermann.
Den Schluß bildet eine Ehrentafel der Gefallenen. Die Festschrift ist mit 19 Abbildungen
ausgestattet; u. a. ist die Bestallungsurkunde für den ersten Rektor, Wilhelm Nesen, vom
14. September 1520 in Faksimile wiedergegeben.
Rede zur VierhundertjahHeier des Städtischen Gymnasiums zu Frankfurt a. M. 1 1
haben. Tiefer noch als anderswo erfaßt uns hier in dieser Kirche der Schmerz
über das deutsche Elend, zwischen diesen ragenden Säulen, die vor zwei-
undsiebzig Jahren eine Versammlung geschaut haben, die, wenn sie auch,
wie so unendlich viel Großes, was Deutsche unternahmen, ein tragisches
Ende gefunden hat, doch von einem Geist erfüllt war, zu dem wir aus dem Ab-
grund, in den wir heute versunken sind, sehnsuchtscoU emporschauen. Hier,
wo ich stehe, war die Inschrift angebracht:
Des Vaterlands Größe, des Vaterlands Glück,
O schafft sie, o bringt sie dem Volke zurück!
Mit welcher furchtbaren Wucht trifft uns heute diese Mahnung! Welche
Pflichten legt sie insbesondere uns auf, die wir uns zu einem schulgeschicht-
lichen Gedenktage vereinigt haben! Die Pflicht, uns dieses immer vor die
Seele zu stellen, daß die Aufgabe der Schulerziehung nicht darin beschlossen
ist, den einzelnen für seine persönlichen Zwecke tüchtig zu machen, sondern,
daß sie dem Vaterlande ein Geschlecht heranbilden soll, willig ihm zu dienen,
an Erfüllung der Pflicht gewöhnt, tapfer und hohen Sinnes. Ja, es lagern
düstere Schatten über unserer Feier. Aber unsere Stimme wollten wir doch
erheben und den Tag nicht unbeachtet lassen, an dem vor vierhundert Jahren
Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt a. M. „einen redlichen, gelehrten
und von mores geschickten Gesellen beriefen, um ihrer und gemeiner Stadt
Kinder in seiner Kunst Latein zu lernen". Wir wissen wohl, daß das Städtische
Gymnasium nach Zeiten der Höhe auch Zeiten des Niedergangs erlebt hat.
Aber das dürfen wir aussprechen, daß von dieser Anstalt, die Jahrhunderte
lang der großen Mehrzahl der städtischen Beamten, der Juristen, Theologen,
Ärzte, Lehrer ihre Bildung gab, die noch vor wenigen Jahrzehnten fast die
einzige höhere Schule Frankfurts war, ein starker Strom geistiger Anregung
ausgegangen ist, dessen dankbar zu gedenken wir Nachlebenden wohl Anlaß
haben. Indessen wir wollten noch etwas anderes: wir wollten ein Bekenntnis
dafür ablegen, daß unsere Jugend, wenn sie gewappnet und stark den Stürmen
der Gegenwart entgegentreten, wenn sie an der Wiedergeburt unsers Volkes
tätigen Anteil nehmen soll, heute ebenso wie einst und mehr als je eine Bildung
braucht, die nicht auf bloße praktische Nützlichkeit berechnet ist, daß sie
einer Bildung bedarf, die in die Tiefe der Seele geht, und die in die Ursprünge
unserer Kultur hineinleuchtet, daß wir das innere Band, das uns mit den
kulturellen Höhen der Vergangenheit verbindet, nicht sprengen dürfen,
ohne unser Volkstum tief zu schädigen; schließlich ein Bekenntnis dafür,
daß es eine Welt übersinnlicher und überpersönlicher Gedanken gibt, deren
Bürger wir sind, gleich wie dieser sinnlichen Welt, und daß unser Volk ver-
loren ist, wenn wir unsere Jugend nicht mehr dazu erziehen, sich bewußt
und frei in den Dienst dieser übersinnlichen Welt zu stellen.
Wir danken Ihnen, daß Sie sich mit uns vereinigt haben, um diesen
Gedenktag zu begehen. Im Namen der in Eintracht verbundenen beiden
Gymnasien und des Gesamtausschusses, der sich aus früheren Schülern und
Lehrern für diese Feier gebildet hat, begrüße ich mit ehrerbietigem Dank
für ihr Erscheinen den Herrn Staatssekretär Dr. Becker, der, selbst alter
12 Neubauer,
Schüler des Städtischen Gymnasiums, von dem Herrn Minister beauftragt
ist ihn hier zu vertreten, Herrn Ministerialrat Dr. Schellberg, Herrn Ge-
heimen Regierungsrat Dr. Gerstenberg, den Dezernenten unserer Anstalten
im Provinzialschulkollegium zu Kassel, und die Vertreter anderer höherer
Staatsbehörden, die die Güte gehabt haben unserer Einladung zu folgen.
Ich begrüße die Vertreter der städtischen Behörden, an ihrer Spitze den Herrn
Oberbürgermeister, der bei der Vierhundertjahrfeier der ältesten Frank-
furter Schule nicht hat fehlen wollen, und Herrn Stadtrat Meckbach, den
Vorsitzenden des Schulausschusses für die höheren Schulen, die Vertreter
der Universitäten Frankfurt, Marburg, Gießen, die durch ihre Anwesenheit
uns zeigen wollen, daß sie sich uns freundlich verbunden fühlen, und die Ver-
treter der gelehrten Anstalten dieser Stadt. Ich begrüße die Vertreter der
Geistlichkeit der verschiedenen Bekenntnisse, mit denen wir uns eins fühlen
in der Pflege der idealen Güter, und spreche insbesondere den Herren von
der Paulskirchengemeinde den herzlichsten und lebhaftesten Dank dafür
aus, daß sie uns diese herrliche Stätte für unsere Feier zur Verfügung gestellt
hat; ich begrüße die Vertreter der anderen höheren Schulen Frankfurts
und der Nachbarschaft, die im Wetteifer mit uns, wenn auch zum Teil auf
anderem Wege, dem Ziel einer reichen und tiefen Jugendbildung nachstreben,
und mit nicht geringerer Herzlichkeit die der Mittel- und Volksschulen,
die mit uns zusammenarbeiten an dem hohen Werk der nationalen Erziehung
Ich begrüße die alten Lehrer dieser Anstalt, die sich heute wieder mit uns
vereinigen; ich begrüße endlich Sie alle, die alten Schüler dieser Anstalt,
die Sie, vielfach mit Ihren Damen, so freudig und zahlreich unserer Einladung
gefolgt sind, von den ältesten Semestern — wir haben einen Abiturienten
von 1859 unter uns — bis zu den jüngsten. Möge diese Feier, schlicht und
bescheiden, wie sie heute sein muß, doch Eindrücke hinterlassen, die über
den Tag hinausgehen; möge sie das Gefühl der Zusammengehörigkeit unter
uns stärken; möge sie den glücklichen Auftakt bilden für das fünfte Jahr-
hundert unserer beiden Gymnasien, denen — niemand kann daran zweifeln —
schwerwiegende Entscheidungen bevorstehen.
In der Zeit, da Hütten rief: ,,die Geister erwachen — es ist eine Lust
zu Leben" ist unser Gymnasium gegründet; es war das Verlangen nach einer
freieren, mehr persönlichen Bildung, aus der es hervorgegangen ist. Des
Erasmus Freund, sein Pylades war jener Wilhelm Nesen, den als Siebenund-
zwanzig jährigen am 14. September 1520 der Rat berief; und man möchte es
als eine glückliche Fügung bezeichnen, daß dieser Mann der erste Rektor
gewesen ist: ein sprachkundiger, formgewandter, von tiefer Begeisterung für
das Altertum durchdrungener Gelehrter, war er zugleich ein Deutscher, der
sich mit Erbitterung über die deutschen Fürsten äußerte, die in Paris für Geld,
wie er sagt, die von den Vätern überkommene Freiheit verrieten, ein tapferer
Mann, der unerschrocken das verteidigte, was seine Überzeugung war, ein
Mann von schöner Lauterkeit des Charakters — eine wunderbar reine Seele
nennt ihn Melanchthon, und ein berühmter Humanist hat gesagt, die Liebens-
würdigkeit in eigner Person könne nicht liebenswürdiger als Nesen sein — .
Rede zur Vierhuadertjahrfeier des Städtischen Gymnasiums zu Frankfurt a. M. 13
endlich eine innerlich religiöse Natur, die im nahen Verkehr mit Luther
Vertiefung ihres Wesens suchte. Zweieinhalb Jahre nur ist Nesen Rektor
gewesen; aber nach einer kurzen Übergangszeit war der Schule ihre erste
Blüte beschieden unter dem liebenswürdigen, feinsinnigen, dichterisch be-
gabten, durchaus humanistisch gesonnenen Micyllus, der seine Aufgabe
nicht nur, wie so mancher Schulmann seines Zeitalters, darin erblickte, seine
Schüler formal-sprachlich zu bilden, sondern von der Beschäftigung mit be-
deutenden Gedanken der antiken Schriftsteller eine bleibende Wirkung auf
die jugendlichen Seelen erhoffte. Damals wurde die Schule, die bereits fünf
Klassen umfaßt zu haben scheint, in das Barfüßerkloster verlegt, in nächster
Nähe des Ortes, wo wir uns jetzt befinden; und hier ist sie drei Jahrhunderte,
bis 1839 geblieben. Man weiß, was Goethe, den unser Gymnasium sich
freilich nicht rühmen darf zum Schüler gehabt zu haben, von dem ,,treppen-
und winkelhaften Lokal, von den langen, dunklen Gängen" erzählt, die er
als Knabe mit schaurigem Behagen durchstrich, wenn er gegen Abend zu
dem Rektor Albrecht ging, um bei ihm Hebräisch zu lernen.
Der immerhin freie und frische, hochstrebende Geist des Humanismus
hat sich auf die Dauer an unserer Anstalt nicht behaupten können ; wie er
überhaupt in dem Kulturleben unseres Volkes dem theologischen Geist er-
legen ist, so auch hier. Wir wollen es nicht vergessen : dieser ernste, strenge,
religiöse Geist hat vielen der Besten damals den starken sittlichen Halt ge-
geben, den sie in den Kämpfen des Lebens brauchten; man kann sie sich
ohne diese feste Glaubenszuversicht nicht denken. Aber freilich hat dieser
Geist seine Herrschaft mit strenger Einseitigkeit geübt. Ein so hervorragender
Rektor, wie der weitblickende, charaktervolle, klassische Gelehrsamkeit mit
juristischer Bildung vereinigende Petreus, dem wir die Schulordnung von
1579 verdanken, mußte, als die Geistlichkeit an seiner Rechtgläubigkeit
zweifelte und ihn vom Abendmahl ausschloß, aus dem Amte weichen. Das
Gymnasium aber erlebte um die Wende des Jahrhunderts sehr ungünstige
Zeiten. Damals galt an den Nachbaruniversitäten die Losung ,,Franco-
furtani mali grammatici" ; und es ist ein schwacher Trost, daß von den Schülern
des vor kurzem noch so berühmten Straßburger Gymnasiums dasselbe galt.
Und wie die wissenschaftlichen Leistungen schlecht waren, so auch die Zucht.
Vor allem die pauperes, die unbemittelten Schüler, die als Kurrende durch
Singen von Chorälen auf Straßen und Höfen, vor allem bei Leichenbegäng-
nissen sich ihren Unterhalt erwarben, erregten durch mancherlei Mutwillen,
durch ihr ,, gottloses und ärgerliches Verhalten" den schwersten Anstoß.
Eine Besserung versuchte kurz vor dem dreißigjährigen Kriege der Rektor
Hirtzwigius, in dessen Unterrichtsplan wir mancherlei gute und noch heute
wertvolle Mahnung finden, der die Zahl der Lehrstunden herabsetzte, dem
Griechischen mehr Raum gewährte, gegen untüchtige Schüler kräftig ein-
schritt. Aber dieser Mann hat ebenso wie Petreus sein Amt infolge von häß-
lichen Anfeindungen vor der Zeit niederlegen müssen.
Der vornehmlich theologische Charakter blieb der Lateinschule „zu
den Barfüßern" bis tief in das 18. Jahrhundert hin erhalten. Die Worte
14 Neubauer,
sapiens atque eloquens pietas bezeichnen das Erziehungsziel auch dieser
Anstalt; und auf dem Worte pietas liegt der Nachdruck. Nicht nur das
Hebräische, das besonders der Rektor Albrecht mit Vorliebe betrieb, sondern
auch der Unterricht in der griechischen Sprache dient vor allem theologischen
Bedürfnissen ; man treibt Griechisch in erster Linie, um das Neue Testament
zu verstehen. Man liest zwar einige Prosaiker, etwa Plutarch und Isokrates;
aber davon, etwa Homer den Schülern vorzulegen, ist nicht von fern die Rede.
Der Lateinunterricht ist auf die Bildung des Stils zugeschnitten : das Latein
ist die Sprache der Gelehrten, die man kennen und können muß; Imitation,
die Herausarbeitung eines zierlichen Stils, einer feinen Latinität, das Verse-
machen, das Lateinreden steht im Mittelpunkt; noch die Schulordnung von
1765 verlangt, daß die Schüler der oberen Klassen sich nur lateinisch mit-
einander unterhalten, was sie wohl nicht immer getan haben werden. Diesem
formalen Zweck muß auch die Schriftstellerlektüre dienen. Man denkt nicht
daran, den geistigen Gehalt der antiken Literatur für die seelische Bildung
fruchtbar zu machen. Gegenüber den Sprachen treten die Realien voll-
kommen zurück. Geschichte treibt man nach dem Buche des Cellarius, wo-
bei auch in Betracht kommt, daß dieser ein gutes Latein schreibt. Auch
für Mathematik hat diese Schule noch keinen Raum; Albrecht bedauert es,
aber, sagt er, die Umstände hätten es noch nicht erlaubt, diesen Unterricht
einzuführen. Dagegen treibt man Philosophie — Logik war ja immer, seit
dem Mittelalter, mit Rhetorik zusammen ein wichtiger Unterrichtsgegenstand
der obersten Klasse gewesen ; jetzt erweitert sich dieser Unterricht und nimmt
in der obersten Klasse vier Stunden in Anspruch. „Die philosophica sind",
so heißt es in der erwähnten Schulordnung von 1765, ,,mit Munter- und Deut-
lichkeit so vorzutragen, daß die Schüler sehen, was sie daraus in künftigen
Zeiten für Vorteile schöpfen können, und von dem Wahren und Falschen,
Bösen und Guten bündig urteilen und schließen lernen." Solche Worte mit
ihrer praktischen Zielrichtung zeigen uns, in welches Zeitalter wir eingetreten
sind.
Es ist das Zeitalter der Aufklärung ; an unserer Schule wird es durch den
Namen Purmanns bezeichnet, der nicht weniger als sechsunddreißig Jahre
lang, zuerst als Konrektor, dann sechsunddreißig Jahre als Rektor am städ-
tischen Gymnasium tätig war, bis er 1806 im Alter von 73 Jahren in den
Ruhestand trat. Dieser Mann, von dem wir uns auf Grund seiner äußerst
zahlreichen Schulschriften ein Bild machen können, war sicherlich eine be-
deutende Erscheinung, eine würdige, hervorragende, allgemein verehrte Per-
sönlichkeit. In seinen Lebens- und Erziehungsanschauungen vertritt er
im wesentlichen die Gedanken der Aufklärung, in der er aufgewachsen war,
ihre etwas breit moralisierende, auf die praktische Brauchbarkeit gerichtete
Art. Noch behält die Theologie eine hervorragende Stellung; aber wenn
Purmann sagt: ,,die eigentliche Bestimmung der Schule ist dahin gerichtet,
die Genies der Jugend so zu bilden, daß sie die Geschäfte, welche entweder
die Bedürfnisse oder der Wohlstand oder das feinere Vergnügen des mensch-
lichen Lebens erfordern, mit Leichtigkeit verrichten können," so sieht man
Rede zur Vierhundertjahrfeier des Städtischen Gymnasiums zu Frankfurt a. M. 15
den Nützlichkeitsstandpunkt des Zeitalters sich geltend machen. Daß der
Mensch nach Glückseligkeit strebt, wird uns immer von neuem versichert:
dem soll auch die Schule dienen; der Unterricht soll so gemeinnützlich wie
möglich sein, und nicht allein der zur Gelehrsamkeit bestimmte Jüngling,
sondern auch der „geschäftige Bürger" soll hier seine erste Ausbildung er
halten. Dem entspricht, daß der Nutzen des lateinischen Unterrichts nicht
allein in der Stilbildung gesucht wird, wenngleich ihre Bedeutung auch ferner
mit Energie gegen ihre immer zahlreicher werdenden Angreifer verteidigt
wird, sondern zugleich in den zahlreichen Sachkenntnissen, die der Schüler
bei der Lektüre der lateinischen Schriftsteller erwerben kann. Noch bleibt
man von dem Humboldtschen Ideal, den Geist der Antike der ethischen
Bildung dienstbar zu machen, weit entfernt; aber es bedeutet doch einen
Fortschritt, daß jetzt die ästhetische Würdigung der antiken Schriftsteller
zum Grundsatz gemacht wird. Purmann, der mehrere Schriften über die Bil-
dung des Geschmacks und über den Geist der griechischen Dichter verfaßt
hat, spricht sich mit Wärme über die Schönheit der griechischen Sprache
aus; eine Auswahl aus griechischen Dichtern erscheint im Schulunterricht,
und mit den ,,Exemten", einer Oberklasse, die den Übergang zur Universität
bildet, liest er auch, freilich nur ,,nach Befindung der Umstände" einige
Bücher Homer. Ferner aber erscheint es als bedeutsam, daß er hohen Wert
auf die „Kultur der deutschen Sprache" legt; sie ist ihm nach der Religion
das wichtigste Gebiet der Jugendunterweisung: nur freilich bleibt auch
dieser Unterricht in der Stilbildung stecken; kein Wort davon, daß die eben
in jenen Jahrzehnten zu so unendlichem Reichtum erblühende deutsche
Literatur im Unterricht eine Stelle gefunden hätte. Mathematik ist auch
jetzt noch kein Pflichtfach, sondern wird auf Privatstunden, d. h. also auf
wahlfreien Unterricht verwiesen.
Da erscheint im Jahre 1800 als Programm an der Stelle der etwas lang-
atmigen Erörterungen Purmanns eine Abhandlung des Konrektors Mosche
über den Aias des Sophokles. Und mit diesem Manne, der leider 1806 die
Anstalt verließ, um als Direktor nach Lübeck zu gehen, mit Matthiä, der
nach Purmanns Ausscheiden das Rektorat übernahm, mit Grotefend, dem
hervorragenden Keilschriftforscher, dem Historiker Schlosser, der von hier
nach Heidelberg übersiedelte, u. a. kommt ein neuer Geist im Gymnasium
auf. Die Schule soll allen dienen, die mit einem erhöhten Sinn den Dingen
der Welt gegenübertreten wollen. Und jetzt sind es vor allem die großen
Griechen, die zum Leben erweckt werden sollen : das Griechische wird aus der
Stellung einer „ancilla theologiae" erlöst, und mit Homer ziehen Plato,
Sophokles, Euripides in die Schule ein. Auf der alten Sprachen liegt durchaus
der Schwerpunkt der Schulerziehung. Immerhin fängt man jetzt an, auf der
Oberstufe auch deutsche klassische Dichtungen zu erklären, Werke Klop-
stocks, Goethes, Schillers — selbst der Name Jean Pauls tritt einmal auf —
freilich nur in einer Wochenstunde, und in einer, wie es scheint, recht sub-
jektiven Auswahl, auch nicht ohne die Anmerkung, daß sich an diese Er-
klärungen auch zuweilen grammatische Exkurse geknüpft hätten. Der Kreis
16 Neubauer,
der Lehrfächer erweitert sich: der Geschichtsunterricht erfährt eine wescnt-
Uche Ausdehnung ; Mathematik und Physik werden jetzt regelmäßige Unter-
richtsgegenstände, Erdkunde wird gelehrt, auch französischer und englischer
wahlfreier Unterricht wird erteilt; die Philosophie wird eingeschränkt, bleibt
aber auch ferner ein bedeutungsvolles Lehrfach,
Es ist ein neuer großer Erziehungsgedanke, der in unserer Schule Platz
greift. Sie ist nicht mehr Lateinschule, sie ist ein auf Menschheitsbildung
gerichtetes Gymnasium. Dadurch, daß die Gemüter um ein begrenztes Kultur-
gebiet von klassischer Bedeutung gesammelt und darin heimisch gemacht
werden, soll der Geist wissenschaftlichen Strebehs und Erkennens ange-
bahnt werden ; durch eindringendes Studium will man die großen Gestalten
des Altertums mit Blut und Leben erfüllen und dadurch in der empfänglichen
jugendlichen Seele Eindrücke wecken, die dauernd sind, man will die tief-
sinnigen, in vollendet schöne Sprache gekleideten Ideen der antiken Dichter
und Denker ihr nahe bringen und so die gesamte Lebenshaltung, den Stil
des Lebens im Sinne einer idealen Auffassung beeinflussen. Wir dürfen es
sagen, daß es in dem ganzen vergangenen Jahrhundert dieser Schule nie
an hervorragenden Männern gefehlt hat, die ihre Schüler nicht nur zu wissen-
schaftlicher Auffassung erzogen, sondern, selbst von edler Begeisterung durch-
drungen, ihre Seele für ewige Gedanken zu erwärmen wußten. Es war kein
Gymnasium, an dem man die Aufgabe der wissenschaftlichen Erziehung
äußerlich auffaßte; es wurden ziemlich hohe Anforderungen gestellt; dabei
waltete ein freier Sinn : auf die Reifeprüfung hat man lange verzichten können
— 1873 hat sie zum ersten Male stattgefunden — ; an ihrer Stelle führte Classen
größere, freie, lateinisch geschriebene Arbeiten ein, die die Abiturienten ein-
zureichen hatten, und Mommsen die Studientage. Dem entsprachen die Lei-
stungen: es ist doch nichts Geringes, wenn Theodor Creizenach, als er 1873
im Kaisersaal des Römers die Kaisergeburtstagsrede hielt, es aussprechen
durfte, daß „keine deutsche Stadt im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl
eine so volle Reihe bedeutender Lehrer an die Hochschulen Deutschlands
und sogar des Auslandes gesandt habe".
Seitdem erfuhren die Lehrpläne mancherlei Änderungen; neue Stoffe
drängten mit sieghafter Gewalt heran; die neue Zeit stellte neue Aufgaben.
Wir wuchsen aus dem alten Deutschland, das fremden Völkern wie ein Idyll
erschien, heraus, wir wurden ein nationaler Staat, und die Pflege des nationalen
Gedankens wurde ein neues, bedeutsames Stück der Schulerziehung. Die
Entwicklung der Nation nahm ein Tempo drängender Geschwindigkeit an,
die Forderungen des praktisch-wirtschaftlichen Lebens machten sich mit
Ungestüm geltend; einer Schulerziehung gegenüber, die auf das Altertum
das Schwergewicht legte, verlangte die Gegenwart, verlangt- die Kultur
des eigenen Volkes ihr Recht. 1897 schied sich die Anstalt in zwei Schulen,
von denen die eine an dem allgemeinen Lehrplan der preußischen Gymnasien
festhielt, während die andere auf neuen Wegen dem alten Ziele nachstrebte.
Inzwischen ist nicht nur der Kampf um das Gymnasium immer heftiger
geworden; in der heutigen Zeit, die so vieles hat zusammenstürzen sehen,
Rede zur Vierhundertjahrfeier des Städtischen Gymnasiums zu Frankfurt a. M. \7
befindet sich unser Schulwesen überhaupt in einer vollkommenen Gärung.
Wir stehen in einer Zeit, in der es um nichts Kleines, sondern schlechthin
um alles geht; in der wir vor der Zukunft unsers Volkes, wenn wir uns auch
noch so sehr bemühen, uns das Vertrauen auf die in ihm noch waltenden
sittlichen Kräfte nicht nehmen zu lassen, doch zuweilen Grauen empfinden;
in der
, ein Wahrzeichen nur gilt, das Vaterland zu erretten".
In solcher Zeit ist es allerdings Pflicht, alle Möglichkeiten der Reform zu
erwägen; das Wort, das der beauftragte Vertreter der höheren Schulen vor
kurzem auf der Reichsschulkonferenz gesprochen hat : „Wir wollen den For-
derungen der Zeit in unseren höheren Schulen die Tore weit und frei auf-
machen," haben wir uns mit Bestimmtheit anzueignen. Aber wir wollen
den Standpunkt hochfassen ; und wir wollen kein wertvolles Erbe verschleu-
dern. Unser Gymnasium hat sich bisher zur Aufgabe gestellt, zu wissen-
schaftlichem Sinn zu erziehen. Alle organisatorischen Änderungen dürfen
nicht zur Folge haben, daß dieser vorwissenschaftliche Charakter angetastet
wird. Das darf nicht geschehen, im Interesse des einzelnen, der verlangen
darf, mit einer vollgenügenden Vorbereitung für die Universitätsstudien
ausgestattet zu werden, das darf nicht geschehen im Interesse der Nation,
deren wissenschaftliche Leistungen gerade heute nicht verkümmert werden
dürfen, wo alle Kräfte anzuspannen sind, um einen künftigen Aufstieg zu
ermöglichen. Ja, wir wünschten diesen wissenschaftlichen Charakter ge-
stärkt zu sehen : dadurch, daß uns etwas von der früheren Bewegungsfreiheit
zurückgegeben, daß uns insbesondere gestattet würde, dem Unterricht der
obersten Klasse eine freiere Form zu geben und sie, etwa nach
Art der einstigen Exempten, zu einer Übergangsklasse zur Universität
auszugestalten. Und nun ein Zweites. Unsere Schulen haben ihre
Aufgabe darin gesehen , zu ernster Pflichterfüllung anzuleiten , zur
Arbeit, zu williger Einordnung. Diese Erziehung zur Pflicht so innerlich
wie möglich zu gestalten, durch Zucht wirklich zur Freiheit zu bilden,
die Persönlichkeitsentfaltung in jeder Beziehung zu fördern, muß unser
klar erkanntes und mit Ernst angestrebtes Ziel sein. Aber wir wollen
unsere Jugend nicht zum Opfer eines extremen pädagogischen Subjektivis-
mus, um nicht zu sagen Anarchismus werden lassen. Das Letzte bleibt doch
— das wissen wir älteren — das Gesetz: „du sollst", „du bist zum Dienen
da"; dieser kategorische Imperativ des Gemeinsinnes soll als Losung über
dem Eingang zu unseren Schulen stehen. Wir hören heute viel von Sozialis-
mus; der soziale Sinn jedoch, der zu ihm die Vorbedingung ist, ist leider
in weiten Kreisen erstorben. Diese hochgemute Gedankenrichtung aber,
die zur Entsagung bereit ist, die — in Fichteschem Sinne — ihre Seligkeit
findet in dem Wirken für andere und für die große Volksgemeinschaft, kann
sich nicht entfalten, wenn sich nicht der einzelne durchdrungen hat mit
dem tiefen Glauben an übersinnliche Werte; in diesem Sinne sollen unsere
Schulen auch ferner den Idealismus pflegen. Diesem Ziele soll der Religions-
unterricht dienen, den wir uns nicht nehmen lassen wollen; diesem Ziele
Monatschrift f. hfth. Schulen. XX. Jhrg. 2
18 B. Kumsteller,
die Versenkung ebenso in die großen Denker und Dichter des klassischen
Altertums wie in die großen Denker und Dichter unseres eigenen Volkes,
die heute mit Recht einen stärkeren Anteil an der Erziehung unserer deutschen
Jugend fordern; diesem Ziele wird es aber auch dienen, wenn wir uns ent-
schließen, die vielfach zerstreuten Bruchstücke zu einer Weltanschauung,
die die Schule bietet, zu ergänzen, zu ordnen, zu vertiefen, also den philo-
sophischen Unterricht, der einst an unserem Gymnasium eine so bedeutende
Rolle gespielt hat, in neuer Form erstehen zu lassen, um dem Drange nach
den höchsten Dingen neue Antriebe zu geben.
Es sind zwei große Deutsche, deren Namen unsere beiden Gymnasien
tragen. Möge von dem Geiste Lessings, der es ausgesprochen hat, daß „nicht
die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet,
sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat hinter die Wahrheit
zu kommen, den Wert des Menschen ausmache", und der das andere Wort
gesprochen hat:
„Es eifre jeder seiner unbestochnen,
Von Vorurteilen freien Liebe nach!"
möge von dem rastlos drängenden Erkenntnistriebe., dem unbestechlichen
Wahrheitssinn, der freien, stolzen, unerschrockenen Mannhaftigkeit dieses
Mannes ein Stück in dem Geiste unserer Gymnasien leben ! Und der andere
ist Goethe: der sich mit ruhigem, allumfassendem Forschersinn der Wirk-
lichkeit nahte, um das Unerforschliche ruhig zu verehren; dem als die höchste
Ehrfurcht die Ehrfurcht vor sich selbst erschien, d.h. vor dem im Menschen
liegenden göttlichen Gedanken; der alles, was er in sich aufnahm, fruchtbar
zu machen wußte für die persönliche Entfaltung und Bereicherung, und der
sich doch nicht vor der Welt verschloß, sondern dessen Losung das tätige
Leben war:
„Und Dein Streben, sei's in Liebe,
Und Dein Leben sei die Tat!"
der in jedem Geschaffenen die höhere Idee erkannte und anerkannte, dem
schließlich alles ein Symbol des Ewigen war:
„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis". ^
Was würde er sagen, wenn seine mächtige Gestalt hier unter uns erstünde ?
Würde er nicht vielleicht unserer Jugend sein Wort zurufen: ,, Große Ge-
danken und ein reines Herz, das ist es, was wir von Gott erbitten sollen!"
Mögen unsere beiden Gymnasien in diesem Sinne immerdar leben und wirken !
Das walte Gott!
Frsnkfurt a. M. Dr. Neubauer.
Die Neuordnung des Geschichtsunterrichts, eine Kritik.
Die ,, Neuordnung des Geschichtsunterrichts" ist längst ein Schlagwort
geworden, das die Laienkreise in ihren Bann zieht und dadurch besondere
Bedeutung gewinnt, daß sie außerordentlich laut von den sozialistisch-pazi-
fistischen Gruppen in Parlament, Presse und Verwaltung gefordert wird.
Sie ist kein bloßes Problem der Didaktik eines beliebigen Faches, sondern
Die Neuordnung des Geschichtsunterrichts, eine Kritik. 19
eine Frage der Wissenschaft und der geistigen Kultur unseres Volkes über-
haupt und zugleich ein Faktor des historischen Geschehens, weil unter den
Beweggründen, die den Gegenwartsmenschen leiten, die historischen einen
breiten Raum einnehmen. Deshalb ist es notwendig, daß sie in ihrem ganzen
Umfang nach den Grundsätzen der Wissenschaft kritisch behandelt wird.
Die Forderungen, die die bezeichneten Kreise in Tageszeitungen, Broschü-
ren, Zeitschriften und Erlassen erhoben haben, laufen etwa auf folgendes
hinaus: Verdrängung der politischen Geschichte zugunsten der Geschichte
der menschlichen Arbeit und Kultur, Beseitigung der ,, Verherrlichung"
der Machtpolitik, der Kriege und Dynastien, dafür ,, Verherrlichung" der
Völkerversöhnung, der internationalen Schiedsgerichte und Belehrung über
die Kulturwidrigkeit der Kriege, Nachweis der Gesetzmäßigkeit der auf-
einanderfolgenden Kulturzeitalter, Erfassung der Menschheitsgeschichte als
Aufwärtsbewegung ^) .
Die meisten von ihnen sind uns aus den Programmen der sozialistischen
Parteien, z. B. aus dem Manifest der kommunistischen Partei von 1848,
dem Arbeiterprogramm F. Lassales von 1862, dem Gothaer Programm 1875
und dem Erfurter 1891 2) bereits bekannt. Der Geschichtsunterricht soll
also gewissermaßen die Richtigkeit und Absolutheit der sozialistischen Theorie
und Politik nachweisen, die Jugend im Geiste der Partei erziehen helfen und
der Grundstimmung der Masse und der Tagesmeinung, die doch so wandelbar
sind, angepaßt, soll politisiert werden. Dieses würde das Ende der Freiheit
der Wissenschaft und ihrer Lehre, ohne die kein Geschichtslehrer leben kann,
bedeuten. Politisierung der Geschichte, dazu völlige Verkennung ihres Wesens
bedeutet das Verlangen, daß sie irgend etwas ,, verherrlichen" soll; sie hat
zu zeigen, „wie es eigenthch gewesen" und geworden ist, unbeschadet, ob die
Ergebnisse den jeweiligen Machthabern angenehm sind; die Grenzen sind
durch das wissenschaftliche Gewissen und den persönlichen Takt gezogen.
Es ist keine Entschuldigung, wenn immer wieder behauptet wird, daß der
Geschichtsunterricht früher solche ,, Verherrlichung" im Sinne des alten
Regimes vorgenommen habe, ganz abgesehen davon, daß diese Behauptung,
mindestens auf die höheren Schulen angewandt, eine in unserm Parteileben
übhche Übertreibung ist.. Aber sie gehört nun einmal, weil agitatorisch gut
verwertbar, zum eisernen Bestand im Gedankenrepertoire vieler Schulpoli-
tiker^). FreiUch ist ohne weiteres zuzugeben, daß wohl manch Historiker
sich in der Schule vom Pathos zur Verherrlichuhg der Dynastien und des
Machtgedankens hat hinreißen lassen, aber alle unabhängigen wissenschaft-
1) Besonders bemerkenswert: Erich Witte, Der Geschichtsunterricht im neuen Deutsch-
land, Vorwärts 29. 1. 1919 und ebd. 26. 3. 1920, K- Löwenstein, Sozialistische Schul- und Er-
ziehungsfragen, S. 69ff., Erlaß des Gothaischen Staatsministeriums vom 1. 7. 1919, abge-
gedruckt in „Vergangenheit und Gegenwart, IX. Jahrg. 1919 S. 159f., und Erlaß des Bremer
.Arbeiter- und Soldatenrats vom 9. 1. 1919, abgedruckt ebd. IX. Jahrg. 1919, S. 95 f.
^) Vgl. Felix Salomon, Die deutschen Parteiprogramme 2. Aufl. Leipzig-Berlin 1912,
Bd. 1. S. 26 und 98ff., Bd. 2, S. 25ff. u. evff.
^) Mit Nachdruck betont von Fritz Friedrich u. a. Vergangenheit u. Gegenw. X. Jahrg.
1920, S. 85 und die Aufgaben des Geschichtsunterrichts, deutsches Fhilologenbl. 1920, S. 437 ff.
2*
20 B. Kumsteller,
liehen Fachgenossen waren sich in der Ablehnung solcher Haltung und jedes
irgendwie gearteten Druckes von oben einig. Und die Lehrpläne von 1901
verlangen ausdrücklich nichts mehr als „Würdigung", dazu „Vermeidung
jeder Tendenz" und „Sachlichkeit". In diesem Zusammenhang hat auch der
Sturmlauf gegen die Kriegsgeschichte ein wenig politischen Beigeschmack,
weil man, reichlich naiv, glaubt, man könne dadurch die Kriege aus der Welt
schaffen helfen, daß man der Jugend nichts oder höchstens Kulturwidriges
über sie erzählt. Ähnlich will man vielleicht auch die Überwindung des
Staates als organisierter Macht und des Führertums im Menschen zug^unsten
der Gleichheit der Masse, dadurch fördern, daß man die politische Geschichte
mit ihren Persönlichkeiten aus dem Unterricht verdrängt.
Suchen wir nach dem wissenschaftlichen Ursprung der charakterisierten
Forderungen, so finden wir ihn in der kollektivistischen oder naturwissen-
schaftlich-sozialistischen Geschichtsauffassung von Comte-Buckle-Lamprecht
und der ökonomisch-materialistischen von Marx-Engels, Können nun diese
Systeme eine genügend breite Grundlage für eine Geschichtsdarstellung,
insbesondere eine für den heranwachsenden Menschen geeignete, abgeben?
Um die richtige Antwort zu finden, dürfen wir nicht nur den fertigen Gehalt
beider Geschichtsanschauungen betrachten, sondern müssen in erster Linie
das Denkverfahren prüfen, durch das Marx und Comte zu ihren Erkennt-
nissen kommen. Dies wird uns am besten durch eine Gegenüberstellung
mit der modernen Geschichtsphilosophie, wie sie u. a. durch Lotze, Dilthey,
Rickert, Troeltsch ausgebildet wurde, gelingen.
Geschichts- und Naturwissenschaft sind methodisch und stofflich grund-
verschieden. Der Gegenstand des historischen Erkennens ist einmal Gegebenes,
Veränderliches; des naturwissenschaftlichen Allgemeines, Veränderliches.
Dementsprechend sind auch die Zusammenfassungen der Grundeinheiten,
die Begriffe, in beiden Wissenschaften verschieden. Der historische Begriff
besteht nicht wie der naturwissenschaftliche nur im erkennenden Geist,
sondern ist eine konkrete Lebenseinheit, unabhängig von diesem. Notwendiger-
weise müssen auch die Verkettungsprinzipien zweier Einheiten, die Kausali-
täten, anders geartet sein. Sind die physischen konstant und allgemeingültig,
so sind die historischen einmalig und differenziert. Das bedeutet, daß es keine
historischen Gesetze im Sinne von Naturgesetzen gibt.^) Dieses hindert
die Unendlichkeit der Geschichte, ferner die „schlechthin gegebene Setzung",
die in allen historischen Individualitäten steckt und die wir populär Schöpfung,
Veranlagung, Schicksal nennen, sowie endlich der Umstand, daß sich jede
historische Kausalität nur regressiv erschließen läßt, so daß wir nicht sagen
können, ob die zu erklärende Erscheinung nicht auch bei andern Ursachen
hätte eintreten können. Wir tun also gut, besser von Regeln, Parallelen,
Analogien zu sprechen. Zwar liegt es in der Natur des Menschen, sein eignes,
in die Vergangenheit hinabreichendes Schicksal mit der Zukunft und dem
Seinsollenden in eins zu bringen, aber dieser Denkprozeß beruht auf persön-
1) über die beschränkte Geltung physischer Gesetze in der Geschichte vgl. Ernst
Bemheim, Lehrbuch der historischen Methode, 5. u. 6. Aufl. Leipzig 1908, S. 113 f.
Die Neuordnung des Geschichtsunterrichts, eine Kritik. 21
lichem Glauben und persönlicher Lebensentscheidung und nicht auf einer
wissenschaftlich beweisbaren Notwendigkeit; eine Prophetie, daß sich das
Kommende nach einem konstanten Naturgesetz nur so und nicht anders
abspielen würde, ist nicht möglich. Der konkrete Stoff wird durch kein
nechanisches Ablesen der Wirklichkeit gewonnen, wie ein „naiver Realis-
mus" wähnt, sondern dadurch, daß der Forscher die Vergangenheit auf ein
in ihm wohnendes Wertsystem bezieht, in ihr sein eigens Ich sucht und so
seine Gegenwart und die zu erkennende Vergangenheit in eine Sinneinheit
bringt.
Comte will dagegen seine Erkenntnis durch die exakte, positive, d. i.
für ihn die naturwissenschaftliche Methode gewinnen und vergewaltigt da-
durch die Geschichte, daß er auf sie einen ihr wesensfremden Denkprozeß
anwendet. Er kennt also z. B. keine besondere historische und naturwissen-
schaftliche Kausalität, beachtet auch nicht das Prinzip der Kontrastverstär-
kung i) zur Erklärung von Reaktionen und kommt durch seine naturwissen-
schaftliche Methodik mit Notwendigkeit zur Aufstellung seiner Kulturzeit-
alter, die nach seiner Meinung gesetzmäßig ablaufen. Nach unserer Ansicht
bedeuten sie jedoch im Grunde genommen kein Gesetz, da weder ihr konstanter
Ablauf durch die Erfahrung restlos nachgewiesen noch die konstante Ursache
für diesen aufgedeckt werden kann 2). Comte ist sich nicht des Apriorischen
gerade bei seinem Kulturzeitalter-„Gesetz" bewußt, und so ist es nicht weiter
verwunderlich, wenn er die ,, komparative" Methode, d. h. die Deutung der
Einzelerscheinungen aus der Gesamtentwicklung, für die vollkommenste
hält und dabei übersieht, daß er damit seinem angestrebten induktiven Ver-
fahren entgegenarbeitet.
Soweit Marx in Paris die positivistische Denkrichtung in sich aufgenommen
hat, teilt sein System die Schwächen mit dieser. Aber er bleibt doch in seinem
Kern Hegelianer und geht mehr syllogistisch und dialektisch als induktiv
vor. Dementsprechend arbeitet er viel mehr apriorisch als Comte, ohne sich
dessen bewußt zu sein, und kann infolgedessen sein Apriori nicht durch metho-
dische Maßnahmen einschränken. Analogieschlüsse spielen bei ihm eine große
Rolle. Weil er auf die mechanische Kausalität schwört, hat er in seiner Ge-
schichtsauffassung für das Irrationale keinen Platz, vielmehr ist ihm die Welt-
geschichte ein logisch zu verstehender Prozeß. Dadurch, daß ihre Teleologie
ihm feststeht, hat bei ihm jede Geschichtsperiode nur relativen Wert, der
Daseinszweck des Menschen liegt in der Zukunft. Dieser Relativismus, den
Kant „befremdend" nennt, beruht auf einer falschen Methodik, den konkreten
Inhalt der historischen Formen zu beurteilen. Da er nämlich die historische
Grundeinheit der naturwissenschaftlichen gleichsetzt, leugnet er die unver-
wechselbare Einzelheit der historischen. Und weiter erkennt er folgerichtig
nicht an, daß jede Form ihren individuellen, unübertragbaren Wert, ihr be-
sonderes Ideal hat, das nach Verwirklichung drängt, und daß es mithin eine
schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von Werten gibt. Das Wertsystem,
1) Aufgestellt von Wilhelm Wundt, Logik Bd. 2, 2. Aufl. 189.5, S. lOSff.
2) Vgl. Bernheim, a. a. O., S. 112.
22 B. Kumsteller,
das sein Erkennen leitet, ist also nicht eine organische Verschmelzung der
Vielheit der bestehenden, unterschiedlichen Normen und Ideale, vielmehr
bezieht er notwendigerweise das an individuellen Schöpfungen so überreiche
historische Leben auf einen einzigen Wert. Das Geltenlassen nur eines ein-
zigen Wertes läßt aber auch die Unterscheidung der eigenen Sonderart von
den übrigen Wertverwirklichungen nicht zu. Dadurch ist ihm auch zugleich
der Weg zu einem vollen historischen Erkennen einer Erscheinung verbaut,
da zu diesem nicht bloß das Erfassen der Gemeinsamkeiten, sondern auch der
Gegensätze zum eigenen Ich notwendig ist -).
Dieser Methodenmonismus ist der Grund, weshalb beide geschichts-
philosophische Systeme — Comte selbst sieht noch bei seinem tiefen Sinn
für die Realitäten von den schroffen, denkrichtigen Folgerungen seiner Lehre
ab, diese ziehen erst seine Schüler — sich von der Empirie entfernten und
statt eines reich bewegten Dramas mit allen Plötzlichkeiten und dem bunten
Nebeneinander von Großem und Kleinem, Seichtem und Tiefem, eine Kette
blutleerer Abstraktionen und ein Werk von verblüffender Einseitigkeit
schufen. Diese Methodik, die wir als veraltet bezeichnen müssen, ist bei der
Ablehnung beider Geschichtsanschauungen das Entscheidende, der materiale
Gehalt der auf ihnen begründeten Darstellung ist das Sekundäre.
Stofflich charakterisiert sich bekanntlich sowohl die kollektivistische
als auch die materialistische Geschichtsbetrachtung durch Verwertung der
Individual- zugunsten der allein zu betreibenden Massengeschichte, der
politischen als Auswirkung des Machtgedankens zugunsten der Kulturge-
schichte.
Wir sind uns heute darüber klar 2), daß der Mensch als ,, politisches Wesen"
als Individuum und auch als Glied der Masse wirkt; daß die Individuen
zwar viele Elemente in sich tragen, die im Vergangenen und Gegenwärtigen
bereits enthalten sind, daß aber in ihnen auch etwas Neues, Schöpferisches
ruht, welches für uns rätselhaft und unerrechenbar ist. Vielmehr sind die
Wechselwirkungen zwischen den Individual- und Kollektiveinheiten, zwischen
Egoismus und Gesellschaftstrieb ein Hauptproblem der Geschichte. Es
gibt weder historische Einheiten rein individueller noch rein kollektivistischer
Art, mögen wir diese mit Marx ökonomisch, d.h. starr und seelenlos, oder
mit Comte-Lamprecht sozialpsychologisch erfassen. Mithin ist auch die
Umformung des Lebens ausschließlich zur Individual- oder ausschließlich
zur Kollektivgeschichte nicht möglich.
Da gemeinhin die politische Geschichte als Typ der Individualgeschichte,
die Kulturgeschichte als Typ für die Kollektivgeschichte gilt, so hat auch das
1) Vgl. u. 3. Theodor Litt, Geschichte und Leben Leipzig-Berlin 1918, S. ir>6ff. und
Walther Wagner, Die materialistische Geschichtsauffassung . . . und die Schule, Vergangenh.
u. Gcgenw. IX. Jahrg. tgl9, S. fTff.
^) Vgl. Bernheim a. a. O. besonders S. CäOff. ; Eduard Meyer, Die Aufgaben der höheren
Schulen und die Gestaltung des Geschichtsunterrichts Leipzig-Berlin 1918, S. '6ff., Otto
Hintze, Über individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung, Historische
und politische Aufsätze Bd. 4, S. off.
Die Neuordnung des Geschichtsunterrichts, eine Kritik. 23
Gesagte für diese zweite Gegensätzlichkeit Geltung. Der staatliche Verband,
im weitesten Sinne als unauflöslicher durch Rechtsnormen geregelter Zu-
sammenschluß einer Menschengruppe verstanden, ist sie Voraussetzung
alles menschlichen Daseins. Zwar ist sein dauerndes Ziel die Macht, aber er
gewährleistet seinen Bürgern gleichzeitig die höchsten Güter der Menschheit.
Kultur und Zivilisation entwickeln sich im Zusammenhang mit seinen Wand-
lungen. Die ganze Geschichte bildet eben eine innere Einheit, mithin darf
die politische Geschichte nicht in Gegensatz zur Kulturgeschichte gestellt
werden oder gar völlig unberücksichtigt bleiben, sondern sie ist im engsten
Zusammenhang mit dieser zu behandeln.
Diese Einseitigkeit würde ohne Zweifel einen Rückschritt gegen die heutige
Lage des Geschichtsunterrichts bedeuten, denn tatsächlich nahm bereits
die Kulturgeschichte in den meisten Lehrbüchern einen bestimmten Raum
neben der politischen ein und war mit der politischen verquickt; der Lehr-
plan von 1901 verlangte ausdrücklich, „eingehende Berücksichtigung der
Verfassungs- und Kulturverhältnisse".
Auch ethisch-pädagogische Momente sprechen in der Kritik mit. Da,
wie wir gesehen haben, in beiden Geschichtsauffassungen das Intuitive,
Schöpferische, Große nicht zur Geltung kommt, sind sie nicht imstande,
Begeisterung, Selbstverantwortlichkeitsgefühl, männliches Wollen zu erzeugen
— dies gilt besonders von der marxistischen — , was doch in unserer an schöpfe-
rischer Kraft recht armen Zeit so dringend notwendig wäre. Selbst einseitig,
sind sie nicht fähig, der bis ins Krankhafte gesteigerten Einseitigkeit unseres
öffentlichen Lebens entgegenzuarbeiten, die Jugend zur politischen Toleranz
zu erziehen und dadurch bei der inneren Versöhnung unseres Volkes mitzu-
helfen i). Diesem Ziel sollte sich der Geschichtsunterricht als der heiligsten
Pflicht zuerst zuwenden, die Erziehung zur Völkerversöhnung ist das Weitere.
Wir müssen ferner erwägen, daß in der Unter- und Mittelstufe eine ergiebige
Behandlung der Kultur- und Massengeschichte auf erhebliche Schwierig-
keiten stößt, da erfahrungsgemäß die Kollektiveinheiten schwerer als die
Individualeinheiten zu erfassen sind und oft über das Spann- und Deutungs-
vermögen der Jungen geradezu hinausgehen. Man mag sich noch so gegen
die Tatsache sträuben: die Jugend will von ,,heleden lobebaeren, von grozer
kuonheit" hören.
Wir halten also aus wissenschaftlichen und pädagogischen Gründen
die besprochenen Geschichtsauffassungen als Grundlagen einer im Unterricht
verwendbaren Geschichtsdarstellung geradezu für unmöglich. Sollte sich
trotzdem ein Lehrer auf sie festlegen, so werden wir in Achtung der Freiheit
der Wissenschaft seinem wissenschaftlichen Gewissen die Verantwortung
überlassen, lehnen sie aber als allgemeinverbindHch für uns alle ab.
Aus unserer Untersuchung soll nicht etwa auf eine glatte Ablehnung jeg-
licher Neuordnung geschlossen werden, wie sich ja auch die Fachliteratur des
letzten Jahrzehnts durch die ständige Wiederkehr der Reformforderung und dem
^) Vg!. E. Spranger, Vom innern Frieden des deutschen Vokes, Intern. Monatsschrift
XI, S. ir:Sff.
24 B. Kumsteller,
Suchen nach neuen Bahnen charakterisiert. Frucht dieses Strebens konnte
jedoch nur Halbheit und Flickwerk werden wie z. B. der Ministerialerlaß
vom 2. 9. 1915, weil es am Materialen haften blieb und immer nur historische
Ergebnisse ins Auge faßte. Unser Geschichtsunterricht sah sein Heil in einer
rein kontemplativen Geschichtsbetrachtung, die, im sieghaften Bewußtsein
der eigenen Objektivität und erfüllt vom Glauben an die Empirie, die histo-
rischen Grundelemente mechanisch addierte. Diese falsche Einschätzung
führte zu einem ,,Pseudohistorismus", dem Brutherd eines anmaßenden
historisch-politischen Dilettantismus und Phrasentums. Man glaubte der
Erziehung zum „historischen Verständnis" dadurch zu genügen, daß man die
Gegenwart aus der Vergangenheit erklärte. Und die jetzige Neuordnung
wird wieder auf halbem Wege stehen bleiben, wenn sie nicht den Stoff bewußt
auf einer in sich abgeschlossenen, aber weitherzigen Geschichtsauffassung
als solider, tragfähiger Grundlage aufbaut, auf einer solchen, die zwar das
Ergebnis einer logisch gesicherten Erfahrung sein muß, aber die eigene Existenz
des Betrachtenden und das geschichtliche Leben zu einer Sinneinheit zusammen
faßt. Dieser Anforderung entspricht am besten die Humanitätsphilosophie,
die von Locke neu belebt und von Troeltsch^) zu einer einzigartigen Weite
entwickelt worden ist. Sie wird sowohl den Individual- als auch den Kollektiv-
einheiten und den ökonomischen Bedingungen gerecht und macht sich die
Fortschritte, die wir Comte und Marx trotz ihrer methodischen Schwächen
immerhin verdanken, zunutze.
Der so geformte Stoff muß nun im Unterricht nach der materialen
und auch nach der logischen Seite geschichtsphilosophisch durchdrungen
werden und ist nicht als fertige, träge Masse zum ,, Lernen" zu bieten. Da
schließlich der Mensch das Kernproblem aller Welt- und Lebensbetrachtung
ist, so hat der Geschichtslehrer das Suchen des Schülers nach seiner eigenen
Stellung inmitten des historischen Lebens und die Frage nach dem Sinn-
und Wertgedanken der Geschichte und den Bedingungen ihres Verlaufes
zu erwecken und zu leiten. Der junge Mensch darf nicht mehr, wie es bislang
üblich war, über die historischen Begriffe als über Selbstverständlichkeiten
hinweggleiten, sondern muß inne werden, daß jeder von diesen eine Reihe
von Problemen hinter seiner Oberfläche birgt und eine Abkürzung für einen
Lebenskomplex ist, den er in seiner Fülle erst erfassen muß. Zum historischen
Verstehen der konkreten historischen Inhalte im Sinne eigenen Aufbauens
aus den historischen Grundeinheiten kann der Geschichtsunterricht wegen
der Kompliziertheit und Weitschichtigkeit des Stoffes freilich nicht erziehen-),
wohl aber kann und soll er zum sinnvollen und folgerichtigen Nachbilden
eines schon fertigen Stoffes anleiten, wenn anders die Geschichte sich über
öden Mechanismus erheben soll; und wir meinen, daß selbst diese Tätigkeit,
die nicht spezifisch historisch isi, ein prophylaktisches Mittel gegen Gedanken-
^) Beachtenswert die neuerliche Zusammenfassung von Ernst Troeltsch, die Bedeutung
der Geschichte für die Weltanschauung (Geschichtliche Abende i. Zentralinstitut . . .) Berlin
191b'.
^) Mit Nachdruck betont von Litt, a. a. O., besonders S. 186ff.
Die Neuerung des Geschichtsunterrichts, eine Kritik. 25
trägheit sein kann. Wir dürfen sie unter dem Banne des gegenwärtig all-
gewaltigen Schlagwortes „Produktion" nicht zu gering bewerten, vielmehr
gebührt ihr durchaus ein Platz neben dieser. Dagegen lassen sich bereits
in der Schule die Grundformen des gesellschaftlichen Lebens, in denen die
Inhalte zustande kommen, ,, historisch erfassen", indem der Schüler ihren
Aufbau aus seinem Ich, seinem Lebenskreise und der Gegenwart selbst be-
werkstelHgt^). Wir glauben, daß eine solche Vertiefung einen wirksamen
Damm gegen die Oberflächlichkeit und Phrasenherrschaft darstellt und wirk-
lich „bildet", nach der ethischen und der formalen Seite. Nur über die Ehr-
furcht vor der Wissenschaft hinweg führt der Weg zum Eros.
Es ist auffallend, wie sehr die wissenschaftliche Reformliteratur an diesen
entscheidenden Grundfragen vorübergeht und sich völlig ins rein Stoffliche
verliert, dessen Auswahl auf Grund des „naiven Realismus" recht mechani-
sierend und, da ein innerlich begründetes Auswahlprinzip fehlte, nach unserer
Meinung willkürlich behandelt wurde. Wenden wir uns den einzelnen kon-
kreten Vorschlägen zu, so finden wir die Forderung, daß auch der Geschichts-
unterricht der dauernden Erweiterung der Geschichtswissenschaft in die Tiefe
durch Erschließung neuer Quellenkomplexe und in die Breite durch Ausbau
neuer Teil- und Hilf^disziplinen durch „stärkere Berücksichtigung" dieser
Rechnung tragen muß; ein Verlangen, welches aus der Überzeugung geboren
ist, daß ,, jeder Gebildete davon etwas wissen muß", und mit dem die wissen-
schaftlichen Vertreter solcher Stoffgebiete in kurzsichtigem Fachpatriotismus
besonders schnell bei der Hand sind. Gewiß, geben wir zu, hier liegen Forde-
rungen des Lebens vor; aber wo ist eine Grenze, wenn wir diese Bahn weiter
verfolgen ? Führt sie nicht zur Katastrophe der Geschichte als einheitlicher
Wissenschaft? Keine Stundenvermehrung könnte verhindern, daß die Schüler
vom Stoff erdrückt würden und es trotzdem nirgends über jämmerliche Halb-
heit und hohles Dilettantentum hinausbrächten. Die Antinomie der geschicht-
lichen Ausbildung, hervorgerufen durch den Widerstreit der Forderungen
des Lebens und der Wissenschaft, liegt zutage. Läßt sie sich überhaupt
beseitigen ? Vom alten Stoff soll gestrichen werden, um neuen in noch größerem
Umfang aufzunehmen. Der Enzyklopädismus ist tot, es lebe der Enzyklo-
pädismus !
Beliebte Abholzungsgebiete sind das Altertum und ganz besonders das
Mittelalter. Dafür soll die Gsechichte des 19. und 20. Jahrhunderts auf
breiteste Grundlage gestellt werden. In diesen Erwägungen steckt zwar ein
Kern Wahrheit ; sie müssen aber verhängnisvoll wirken und zu mechanistischer
Einseitigkeit führen, weil sie sich auf falsche Voraussetzungen gründen.
Denn ihnen liegt einerseits die falsche Einstellung zugrunde, daß Altertum
und Mittelalter für uns nach dem gewaltigen Erleben der letzten Jahre zu
wenig zu sagen hätten und infolgedessen rein antiquarischen Wert hätten
und dementsprechend zu behandeln seien. Hierbei sprechen ohne Zweifel
ein mißverstandener Patriotismus und die Abscheu vor der Gewalt und dem.
Kriege mit. Man verkennt nun, daß die Kulturentwicklung ein Prozeß der
^) In trefflicher Weise im einzehien durchgeführt von Litt, a. a. O. Kap. II, 2 u. 3.
26 Paul Cauer,
Synthese ist, indem der vorhandene geistige Bestand das Neue aufnimmt
und sich assimiliert und wir alle folgUch Altertum und Mittelalter in uns
tragen, ob wir diese Tatsache anerkennen wollen oder nicht. Andrerseits
glaubt man in dem verstärkten Betrieb des 19. und 20. Jahrhunderts den
Zauberstab gefunden zu haben, mit dem das historische Verständnis für die
Probleme der Gegenwart geweckt werden kann, weil man das Wissen eines
Geschehenen mit dem Verständnis eines Geschehenden für identisch hält.
Die völlige Verkennung des Prozesses der historischen Begriffs- und Wert-
bildung macht auch gegen die Schwierigkeiten blind, die der Behandlung der
allerneuesten Geschichte, deren Grenzen mit dem Leben noch fließend sind,
entgegenstehen.
Nicht die Neuaufnahme dieses oder jenes neuen Stoffgebietes, nicht die
radikale Abholzung dieses oder jenes bestehenden nach ,, objektiven", d. h.
für uns willkürlichen Grundsätzen sollte die Hauptsorge sein, sondern eine
gründliche Streichung auf allen Teilgebieten^). Was zufällig und zeitlich be-
dingt ist, kann fortfallen, was dagegen die Verwirklichung eines zeitlosen,
immer wieder auftauchenden Problems ist, muß bestehen bleiben. Mögen
die Gedankengänge unserer Kritik bei der amtlichen Neuordnung praktische
Verwertung finden!
Charlottenburg. B. Kumsteller.
Ein umstrittenes Komma.
Das Auswärtige Amt hat folgende Rundnote unter dem 17. September
1920 (G.-N. I G 3259) erlassen: ,,Der Herr Reichsminister hat bei Vorlage
von Unterschriften wiederholt darauf hingewiesen, daß in einem Satze wie
,Euer P. P. beehre ich mich, anbei einen Brief zu überreichen .' . .' das
Komma hinter ,mich' unrichtig ist. Es wird gebeten, schon bei der An-
fertigung der Konzepte hierauf achten zu wollen". — Diese Mitteilung er-
schien Anfang Oktober in der Frankfurter Zeitung und ging von da in eine
Anzahl anderer Blätter über. Die Zeitung knüpfte daran einen naheliegenden
Spott über solche Kleinlichkeit, wobei der Minister noch obendrein sachlich
im Unrechte sei. Denn auf deutschen Schulen sei bisher gelehrt worden,
daß ,,ein Komma zu stehen habe, wenn in solchen Satzteilen dem durch
,,zu" verbundenen Verbum noch ein Objekt folgt". Und eine so allgemein
bekannte Sache hatte der Minister nicht gewußt 1 Beinahe wie der Alte Fritz,
fier nicht wußte, daß Mittwoch nachmittag keine Schule war. Freilich wenn
man daran dachte, welcher Teil der Berliner Bevölkerimg es gewesen ist,
der an dieser Unkenntnis des Königs Anstoß nahm, so mochte man mit Gleich-
mut über den pädagogischen Eifer der Zeitungen hinweggehen. Immerhin
^) Das beste zur Stoffsichtung, im einzelnen praktisch durchgefsihrt, gesagt von Fritz
Friedrich, Stoffe und Probleme des Geschichtsunterrichts, 2. Aufl. Leipzig-Berlin 1920 Buch II;
Vgl. Ernst Bernheim, Reform oder Umsturz des Geschichtsunterrichts'^ Erziehung und
Bildung, Wissenscb. Beilage d. Preußischen Lehrerzeitung, I. Jahrg. 1S20, S. 65f. sowie
Eingabe des Verbandes der Geschicntslehrer Deutschlands 1919 (abgedruckt Vergangenh.
u. Gegenw. IX. Jahrg. 1919 S. 4Sff.
Ein umstrittenes Komma. 27
hob ich mir das Blatt auf als gelegentliches Beispiel. Da fand ich, spät erst, in
den Grenzboten vom 4. Oktober 1920 dieselbe Sache, hier mit der noch
bittreren Bemerkung, daß der Minister die Sparsamkeitsverordnungen seines
Kollegen Dr. Wirth in schöner Einmütigkeit mit ihm befolge, ja im vor-
aus befolgt habe. Der Vorfall erschien hier im Lichte politischer Verhältnisse,
und mußte nun doch etwas ernster genommen werden.
Wie wird es dabei hergegangen sein? Herr Dr. Simons fand in Schrift-
stücken, die er unterzeichnen und als die seinigen hinaussenden sollte, ein
Zeichen der Gedankengliederung, das seiner Ansicht nach den Leser irre
führen konnte; er berichtigte es; das kam öfter vor. Er wünschte aber durch
dergleichen, da wo es sich um wichtigere Dinge handelte, nicht gestört zu
werden: so veranlaßte er jene interne Verfügung, die vermutlich vom Büro-
chef erlassen wurde. Darüber geschah allgemeines Schütteln des Kopfes
bei den nachgeordneten Beamten — ,, subaltern" als amtlichen Begriff gibt
es nicht mehr — , von denen dann einer, der es wohl mehr mit der Öffent-
lichkeit hielt als mit der Offenheit, das Ereignis in die Zeitung brachte. Und
zwar als Gegenstand der Klage, nicht, was immerhin der Mühe wert gewesen
wäre, der Frage, der natürlichen Frage: was der Minister wohl gemeint habe.
In den schönen Zeiten, da ich noch deutschen Unterricht zu erteilen
hatte, gab ich den Schülern auch Interpunktionsregeln, die ich selbst für
Quarta entworfen und allmählich für obere Klassen überarbeitet hatte.
Der letzte Satz darin lautete: ,,Alle Regeln über Interpunktion sind nur Mittel
zum Zweck; der Zweck ist: Erleichterung des Verständnisses. Daher ist
es auch gestattet jede der hier gegebenen Regeln zu verletzen, wenn im ein-
zelnen Falle nachgewiesen werden kann, daß die Deutlichkeit es erforderte".
Eine Freiheit, die der Magister seinen erwachsenen Schülern gestattet, wird
der Minsiter doch wohl für sich selbst in Anspruch nehmen können. Auch
da, wo man ihn nicht versteht. Aber suchen wir ihn zu verstehen.
Vor neun Jahren schrieb ich in einem gedruckten Briefwechsel mit Ed-
mund Neuendorff (Mülheim-Ruhr): ,, Fragen Sie einmal, worauf die Jungen
meinen daß es beim Vorlesen ankomme" (Säemann 1912 S. 296). In derselben
Zeit in den Neuen Jahrbüchern für Pädagogik in einer Redaktionsbemerkung :
,,Ohne dem sachkundigen Verfasser widersprechen zu wollen, möchte ich
doch die Frage anregen, die er vielleicht sogar bereit ist auch seinerseits
zu bejahen . . ." (NJb. 1912 S. 381). In beiden Fällen war (vor „daß" und vor
,,auch") vom Setzer ein Komma eingefügt; ich tilgte es bei der Korrektur,
inr Reindruck erschien es wieder, sogar in der Zeitschrift, deren Herausgeber
ich selber damals war: die Offizin erwies sich mächtiger als ich. Das Personal
hatte nicht bemerkt, daß durch Befolgung der Schulregel diesmal der Sinn
gestört wurde, genau wie in dem Beispiel aus dem Auswärtigen Amte: „Euer
P. P. beehre ich mich", als ob das so zusammengehörte. Ein Freund, dem
ich meinen Verdruß erzählte, gab zu bedenken, ob etwa Satzfügungen dieser
Art etwas zu künstlich wären, so daß ungelehrte Leser nichts Rchtes damit
anzufangen wüßten, und ob sie dann nicht besser ganz vermieden würden.
Ich nahm mir vor, darauf zu achten, fand aber die Vermutung nicht bestätigt.
28 Paul Cauer,
Der Typus begegnete überall, zunächst da, wo ich berufsmäßig auf den Stil
zu achten hatte, in Prüfungsarbeiten. „Über die Tatfrage ist es schwer,
ein allgemeines Urteil zu begründen". — „Wie dies dem Künstler gelingen
mag, das ist sein Geheimnis, das niemand imstande sein würde, restlos in
Worte zu fassen". Beide Sätze innerhalb weniger Wochen, beide mit dem
Komma. Aber im gedrucktem Deutsch war es nicht anders, und bei den
verschiedensten Autoren, zum Teil solchen, bei denen an eine Verbildung des
natürlichen Sprachgefühls durch lateinische Gelehrsamkeit nicht zu denken
war. Im Sommer 1912 las ich die Lebenserinnerungen von Sophie Schwerin
(Werdandi-Werke I). Da fand sich schnell ein halbes Dutzend Beispiele;
schwerlich deshalb, weil die ehrwürdige Frau eine individuelle Vorliebe für
diese Konstruktion gehabt hätte, sondern eben weil ich gerade damals das
Auge dafür geschärft hatte. Bin Fall besonders lehrreich, S. 272: York soll
zum König, als er ihn 1812 entließ, gesagt haben: „Die Verantwortlichkeit
ist mein, und mit meinem Kopfe bin ich zu jeder Stunde bereit, einen miß-
glückten Schritt zu bezahlen". So gedruckt, war die Bereitwilligkeit eine
viel geringere: nur überhaupt zu bezahlen; womit, blieb vorbehalten. In
Droysens Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg liest man
(I S. 87): ,,In der Nähe mit anzusehen, wie die Regierungsgeschäfte in Berlin
betrieben wurden, mochte denen doppelt lehrreich sein, welche aus der Ent-
fernung ihrer Garnisonen her die Dinge nur mit jenem erhabenen Schein
zu sehen bekamen, den man in den oberen Regionen geschickt genug war,
zu bewahren". — Feldmarschall von der Goltz schrieb in „Jung-Deutschland"
(1912) S. 7: ,, Diese Arbeit rief damals eine Erregung hervor, für die man heute
Mühe hat, verständliche Gründe zu finden". Herr J. Tews, der den Verdacht,
durch das Lateinische beeinflußt zu sein, weit von sich weisen würde, bildet
den Satz : ,,Die Volksschule steht, wie ich glaube, Ihnen einigermaßen deut-
lich gemacht zu haben, abseits von allen sonstigen Schuleinrichtungen"
(„Die Schule der Zukunft". Vorträge vor einer Versammlung des Goethe-
bundes in Berlin. Buchverlag der „Hilfe" 1912. S. 96).
In all diesen Fällen ist das Komma gedruckt, und damit ein richtig
gedachter Satz undeutlich gemacht um einer — wirklichen oder vermeintlichen
— Regel willen. Dabei wäre es kein großer Unterschied, ob nachträglich
der Setzer oder im voraus der Schulmeister, durch dessen Zucht ja alle Autoren
einmal durchgegangen sind, störend eingegriffen hat. Es kommt aber auch
vor, daß Sätze dieser Art so interpungiert sind, wie sie gedacht wurden.
Carl Robert schreibt im Oidipus (1915) I S. 191 : „Von Thyestes, den das
famose Scholion A zu ^ 376 gutmütig genug ist hier zu unterstellen, konnte
sich Agamemnon nichts erzählen lassen". Und in Schilleis Briefen über
Don Carlos (IX gegen Ende) steht zwar in älteren Ausgaben so: „Es ist mög-
lich, daß, um die Hauptidee des Stückes herauszufinden, mehr ruhiges Nach-
denken erfordert wird, als sich mit der Eilfertigkeit verträgt, womit man ge-
wohnt ist, dergleichen Schriften zu durchlaufen". Aber in neueren, so weit
ich deren habe einsehen können, ist das Komma verschwunden, anscheinend
nach dem Vorgange der großen kritischen Ausgabe von Goedeke (Bd. VI, 1865).
Das umstrittene Komma. 29
Ob Goedeke nach irgendwelchem äußeren Anhalt die Trennung beseitigt
hat oder rein aus inneren Gründen, weiß ich nicht; jedenfalls mit Recht.
Von verwandter Art ist eine Stelle bei Goethe, in Wilhelm Meisters
Lehrjahren (II 13): „wie der Liturg seinen Worten den Vers eines Gesanges
anzupassen weiß, der die Seele dahin erhebt, wohin der Redner wünscht,
daß sie ihren Flug nehmen möge". Ebenso, mit dem Einschnitt, schon in
Wilhelm Meisters Theatralischer Sendung. Aber Goethes Stellung zur Sache
ist ja bekannt. ,,Interpunktieren Sie doch die Liedchen, wie 's dem Leser
am vorteilhaftesten ist" : so schrieb er im Jahre 1774 an Johann Georg Jacobi,
dem er einige Stücke für die Iris zusandte. Steht da nicht der Dichterfürst
noch über dem heutigen Minister? Und nicht bloß, weil er damals noch jung
war; auch ein Werk seines Alters, die Marienbader Elegie, hat gerade infolge
der Sorglosigkeit nach dieser Seite hin den Erklärern manches Rätsel aufge-
geben. Allgemein bemerkt Eduard von der Hellen in seinen Anmerkungen
zur Jubiläumsausgabe (I S. 304): „Das Interpunktleren blieb dem Dichter
zeitlebens ein lästig-leidiges Geschäft, das er lieber anderen überließ, ohne
sie — abgesehen von Protesten gegen Kommata vor gewissen kurzen Neben-
sätzen — durch bezügliche Vorschriften zu binden". Anlaß zu Äußerungen
dieser Art gab wiederholt der Neudruck der eignen Werke i). In solchem
Zusammenhang schrieb er am 9. Mai 1816 an Cotta: ,,Es hat sich in
der deutschen Schrift dadurch daß man mehr liest als hört, die Gewohn-
heit eingeschlichen viel zu viel Commata zu machen". Da steckt wirklich
die Wurzel des Übels. Versuchen wir es mit den hier gesammelten Bei-
spielen: wer sie spricht, wird gar nicht daran denken, an der Stelle wo
das Komma steht innezuhalten. Wahrlich ein überraschendes Zusammen-
treffen. Nun könnte sich, wer Herrn Dr, Simons verteidigen wollte, sogar auf die
Autorität berufen, die überall, wo es sich um d'e Kunst deutsch zuschreiben
handelt, die erste ist. Aber wir wollen unsrerseits nicht mit Autoritäten arbeiten,
nur mit der Bemühung um psychologisches Verständnis, Der Minister hatte offen-
bar das Gefühl, daß nicht auseinandergerissen werden dürfe, was naturgemäß
zusammengehöre. Dem gegenüber vertreten die Rhinosophisten des Büros
und der Presse den Standpunkt : Die Regel ist unter allen Umständen durch-
zuführen. Der eine zitiert die Regel, wie er sie in empfänglichen Jahren
gelernt hat: ,,Das Komma hat zu stehen, wenn in solchen Satzteilen . . ."
Der andre (in den Grenzboten) geht nicht so genau darauf ein, meint jedoch
ebenfalls, dem Minister den alten Spruch Caesar non supra grimmaticDs
zurufen zu müssen; er malt sich, wenn auch halb im Scherze, die Verwirrung
aus, „die durch solche Ersparnisse an falscher Stelle in die Gemüter der Schul-
jugend getragen werden könnte".
Ob unser Minister des Auswärtigen auf dem Gebiete, das für ihn aller-
dings das eigentliche ist, seinen Kritikern immer ebenso entschieden an Ein-
sicht überlegen gewesen ist und ferner sein wird, wie in dem hier besprochenen
Falle? Wir wollen es ihm und uns wünschen, wobei wir zu denen, die an seinen
^) Die betreffenden Briefstellen sind abgedruckt und gewürdigt von Georg Rausch.
Goethe und die deutsche Sprache (1909) S. 96 f.
30 G. Müncheberg,
politischen Maßnahmen und Äußerungen Kritik üben, uns selber zählen.
Einen ernsten und zugleich ermutigenden Gedanken aber könenn wir aus
dieser Auseinandersetzung mitnehmen.. Wir alle kennen die Gesinnung,
der die Befolgung bestehender Vorschriften die Hauptsache ist, nebensäch-
lich die Frage, ob etwas Verständiges oder Unverständiges dabei heraus-
kommt. Juristische Wissenschaft und die Erziehung des Beamten haben
den geistigen Habitus entstehen lassen, dem solche Denkart gemäß ist. Sum-
mum ius summa iniuria: so mancher hat das oft schon bitter empfunden.
Freuen wir uns der Hoffnung, daß unter den gebildeten Beamten alter Schule,
die der Staat in die Periode des ungelernten Regierens hinübergerettet hat,
recht viele sein möchten, die diesen Fehler ihrer Tugend erkannt haben und
entschlossen sind ihn abzutun — auch da, wo mehr davon abhängt als inner-
halb des bescheidenen Bereiches, von dem aus wir diesmal die Dinge be-
trachtet haben.
Münster i. W. » Paul Cauer.
Die Schüler-Selbstverwaltung.
Der Erlaß des Ministers vom 21. April 1920 über die Schülerselbstver-
waltung bezweckt, wie in dem einleitenden Teil gesagt wird, die Schüler
zur tätigen Mitarbeit am gesamten Leben ihrer Schule heranzuziehen und
dadurch die Selbständigkeit und das Verantwortungsgefühl, den Sinn füi
Gemeinschaftsleben und das Vertrauensverhältnis der Schüler untereinander
und zwischen Lehrern und Schülern zu fördern und zu stärken. Mit diesem
Ziel wird sich jedermann, ob Fachmann oder Laie, ob Anhänger oder Gegner
der entschiedenen Schulreform, einverstanden erklären können. Der Grund-
gedanke, der in dem Erlaß zum Ausdruck kommt, ist auch keineswegs neu,
er ist kein Produkt der Revolutionszeit, sondern von bedeutenden Schul-
männern wie Matthias, Münch, Foerster u. a. schon früher vertreten worden.
Um so verwunderlicher mag es erscheinen, daß viele Elternbeiräte den Erlaß
prinzipiell und in der schärfsten Form bekämpfen und daß, wie es scheint,
auch die Mehrzahl der Lehrer ihm ablehnend oder mindestens mit sehr ge-
mischten Gefühlen gegenübersteht. Das hat seinen Grund jedoch darin,
daß der Erlaß in der vorliegenden Form so viele Unklarheiten und Gefahren
in sich birgt, daß es tatsächhch zweifelhaft erscheinen kann, ob der erhoffte
Segen oder der angerichtete Schaden größer sein wird.
Zunächst werden nirgends ins Einzelne gehende Richtlinien gegeben,
in welchem Umfange und auf welchen Gebieten dit Schüler zur Mitarbeit
herangezogen werden sollen, sondern es wird gewissermaßen nur der verfas-
sungsmäßige Rahmen geschaffen, der den Schülern diese Mitarbeit ermög-
lichen soll. Wie weit oder wie eng dieser Rahmen gespannt werden soll,
bleibt scheinbar den einzelnen Schulgemeinden selbst überlas3en. Das aber
kann leicht zu einem Mißbrauch der gewährten Rechte führen. Ais Ludwig
XVL die etats genereaux zusammenberief, um das Finanzelend F^-ankreichs
zu beseitigen, wollte er das Volk an der Staatsverwaltung teilnehmen lassen,
aber dadurch, daß er keine bestimmten Vorschläge oder'- Direktiven gab,
Die Schüler-Selbstverwaltung. 31
trug er mit dazu bei, daß der Gang der Verhandlungen seinen Erwartungen
und Wünschen bald völlig widersprach. Im Kleinen liegen hier für das Schul-
leben dieselben Gefahren vc. , da dem Betätigungstrieb der Jugend keine
Grenze gezogen wird, es sei denn, man sieht die Bestimmung, daß Erörterungen
über einzelne Mitglieder des Lehrkörpers nicht statthaft sind, als solche an. --
Eine zweite Gefahr besteht darin, daß d'e Jugend bei dem parlamentarischen
Kram, womit sie beglückt werden soll, leicht die wesentlichen Zielpunkte
aus dem Auge verliert und daß durch all die Äußerhchkeiten, wie Wahlen,
Ausschußsitzungen, Beratungen die Überheblichkeit und der Selbständig-
keitsdünkel der Jugend geradezu groß gezogen werden muß. Zur Ausbildung
politischer Parteifunktionäre mag dieses System wohl geeignet sein, wahre
Selbständigkeit und wirkliches Verantwortungsgefühl des Einzelnen der
Allpemeinheit gegenüber wird dadurch nicht gefördert. Viel leichter noch ab
der Erwachsene wird der Jugendliche in Versammlungen, wo die Masse
ihn deckt, sich zu unüberlegten Schritten verleiten lassen, die er, auf sich
allein gestellt, nicht täte.
Trotz dieser und ähnlicher Bedenken ist davor zu warnen, den Erlaß
grundsätzlich abzulehnen. Man muß der gewaltigen Umwälzung aller Ver-
hältnisse Rechnung tragen und sich vor Augen halten, daß auch ohne Re-
volution, selbst bei einem glücklichen Ausgang des Krieges eine grundlegende
Umgestaltung unseres Schulwesens gekommen wäre. War doch schon vor
dem Kriege in Laien- und Fachkreisen die Zahl derer, die mit unserem Schul-
system unzufrieden waren, beträchtlich groß. Mit vollem Recht hat manschen
seit Jahrzehnten gefördert, daß die Schule nicht nur eine Lernschule, sondern
eine Arbeitsschule sein müsse, daß sie mehr als bisher zur Selbständigkeit
erziehen und das Verantwortungsgefühl und den Sinn für das Gemeinschafts-
leben stärken müsse. Das also, was gemäßigte Schulmänner längst verlangt
haben, soll durch den Erlaß angestrebt werden. Wenn wir das Ziel selbst
billigen, den Weg aber, der uns hier gewiesen wird, als gefahrvoll ablehnen,
so ist es an uns, durch rege Mitarbeit eine allzu radikale Entwicklung zu
verhindern und durch Anknüpfung an vielfach schon vorhandene Ansätze
neue Wege zu finden, die ohne Schädigung unserer Jugend Erfolg verheißen.
Diese Mitarbeit wird allen dadurch erleichtert, daß der Erlaß nicht
als Dogma aufgefaßt sein will, dem überall und unter allen Umständen Folge
geleistet werden muß. Er will vielmehr nur Richtlinien weisen, das Ziel
als solches andeuten, den Weg dahin aber nach Möglichkeit frei lassen und
jeder Anstalt unter Berücksichtigung ihrer besonderen Verhältnisse ;^rößere
Bewegungsfreiheit geben. Je allmählicher die Jugend zur Mitarbeit und
Selbstbestimmung herangezogen und gewöhnt wird, um so eher werden
Überspannungen und Mißerfolge ausbleiben. In diesem Sinne fasse ich den
ganzen Erlaß auf und folgere demgemäß daraus, daß für die höheren Schulen
nicht die unbedingte Verpflichtung besteht, sofort und genau jede einzelne
Bestimmung zur Durchführung zu bringen, sondern daß sie auf Grund dieser
Richtlinien und nach Maßgabe der schon getroffenen Einrichtungen ver-
suchen sollen, dem Geist des Erlasses nach Möglichkeit gerecht zu werden.
32 G. Müncheberg,
Wird kein starrer Zwang ausgeübt, die Eigenart jeder Schule, so gut es geht,
berücksichtigt, so würden viele Vorurteile schwinden und manche noch
vorhandene Unzulänglichkeit unseres Erziehungs- und Bildungswesens sich
beseitigen lassen.
Eine Voraussetzung aber muß überall und unter allen Umständen er-
füllt werden: Autorität und Disziplin, die Grundpfeiler unseres Schullebens,
dürfen in keiner Weise angetastet werden. So erstrebenswert es sein mag,
unsere Jugend durch frühzeitige und ihrem Verständnis entsprechende Teil-
nahme am Schulleben zu selbständigen und selbstbewußten Persönlichkeiten
werden zu lassen, so wünschenswert es ist, die bloße Macht- und Furcht-
autorität und jeden übel angebrachten Kasernenton zu beseitigen und ihn
durch den Geist freier und verantwortungsvoller Unterordnung zu ersetzen,
— der Respekt vor den Lehrern und vor der Schule und ihren Satzungen
und Aufgaben darf nicht gemindert werden zugunsten einer öden und un-
fruchtbaren Debattierkunst, die ohne straffe Leitung und ohne rechtes Ziel
leicht das Gegenteil von dem erreichen könnte, was der Erlaß beabsichtigt.
Dieser selbst gliedert sich in drei Abschnitte, von denen der erste die
Selbstverwaltung im engeren Sinne, der zweite die Klassen- und Schulge-
meinde bespricht, während der dritte die allgemeinen Bestimmungen ent-
hält. Wenn es im ersten Teil heißt, daß in allen Klassen am Anfang jedes
Schulhalbjahres in geheimer Wahl ,, Sprecher" (Sprecherinnen) gewählt
und die übrigen Klassenbeamten durch Wahl bestimmt werden und zusammen
mit dem Sprecher einen Klassenausschuß bilden sollen, so sind dagegen
keine Einwendungen zu erheben. Das ist an vielen höheren Schulen schon
längst üblich, hat sich bewährt und ist gegenüber dem früher üblichen Brauch,
wonach dem Primus die Vertretung der Klasse und die Aufrechterhaltung
der Ordnung zustand, schon deswegen vorzuziehen, weil dieser bei seinen
Kameraden nicht immer den Grad der Autorität oder Beliebtheit besitzt,
die nötig ist, um die Selbstdisziplin der Klasse zu gewährleisten. Der Aus-
schuß soll natürlich das Recht haben, solche Wünsche, die der ganzen Klasse
oder einem einzelnen Schüler besonders am Herzen liegen, durch den Mund
des Sprechers den Lehrern übermitteln zu können. Man hat dagegen ein-
gewendet, daß durch diese Einrichtung verhindert werde, daß alle sprechen,
d. h. daß jeder einzelne Schüler frei und offen seinem Lehrer gegenüber sich
äußert, auch wenn es für diesen unangenehm wäre. Das persönliche Ver-
hältnis zwischen Lehrern und Schülern wird aber dadurch nur wenig be-
rührt. In den allermeisten Angelegenheiten wird sich der einzelne Schüler
nach wie vor direkt an seinen Lehrer wenden. Kommen ausnahmsweise
Fälle vor, wo ein oder mehrere Schüler durch Worte oder Anordnungen
des Lehrers sich schwer gekränkt fühlen, so wäre auch hier die persönliche
Aussprache zweifelsohne die idealste Lösung. Dazu aber wird den meisten
Schülern der Mut fehlen, den heranzubilden selbst das trefflichste Erziehungs-
system nicht ausreichen dürfte, wenn das Vertrauensverhältnis, das doch
durch die Persönlichkeit des Lehrers mit bedingt wird, fehlt. In solchen
Fällen halte ich es unbedingt für besser, wenn die Verstimmung mit Hilfe
Die Schüler-Selbstverwaltung. 33
des Ausschusses und Sprechers beseitigt wird, als daß jahrelang im Herzen
ein Stachel zurückbleibt und die Freude am Schulleben untergräbt. Wenn
heute das Verhältnis zwischen Schule und Haus und Lehrern und Schülern
vielfach noch nicht so ist, wie es sein sollte, so trägt der Umstand mit dazu
bei, daß es an geeigneten Mitteln fehlte, einer aufkeimenden Entfremdung
beizeiten vorzubeugen. Dazu sollen Klassenausschuß und Sprecher dienen.
Darum muß die Autorität des letzteren der Klasse gegenüber von selten
der Lehrer möglichst gestärkt werden, damit er imstande ist, ungerecht-
fertigten Anträgen einzelner seiner Kameraden die Spitze zu bieten. Als
selbstverständlich sehe ich an, was im Erlaß nicht angedeutet ist, daß ein
Sprecher oder Klassenbeamter, der seine Obhegenheiten schlecht erfüllt,
vom Klassenleiter im Einverständnis mit dem Direktor abgesetzt und durch
Neuwahl ersetzt werden darf. Andererseits muß für Sprecher und Klassen-
ausschuß auch die MögHchkeit bestehen, in solchen Fällen, wo eine Aussprache
vom Lehrer abgelehnt wird, sich an den „Berater" oder Direktor wenden
zu können, der dann einen Ausgleich herbeiführen mag.
Bei Vollanstalten sollen nun die Sprecher der Klassen von U II (Ly-
zeum I), bei Nichtvollanstalten von U III (Lyzeum III) an aufwärts den
Schülerausschuß bilden, der sich einen „Berater" aus den Mitgliedern des
Lehrkörpers wählt. Warum nur die Sprecher der höheren Klassen dieses
Recht genießen sollen, ist nicht ersichtlich. Ja es fehlt jede Bestimmung,
wonach die unteren Klassen wenigstens die Möglichkeit hätten, Wünsche
und Anregungen an den Schülerausschuß und damit an die Schulgemeinde
gelangen zu lassen. Hat man mit Rücksicht auf die Verhandlungsunmög-
lichkeit innerhalb der Schulgemeinde die unteren Klassen davon ausge-
schlossen, so kann man doch sehr wohl einen aus den Sprechern aller Klassen
bestehenden Schulausschuß bilden, der sich seinen Vorsitzenden selbst wählt,
und von dem insbesondere die Wahl des Beraters vorzunehmen wäre; denn
dieser sollte doch vernünftigerweise das Bindeglied zwischen allen Schülern
einerseits und der Lehrerkonferenz andererseits sein.
Dies neue Amt des Beraters, der allen Schülern einer Anstalt ein väter-
licher Freund sein soll, scheint auf den ersten Blick viel für sich zu haben.
Besitzt er wirklich in hohem Maße das allgemeine Vertrauen, werden sich
nicht nur die einzelnen Klassen, sondern auch die einzelnen Schüler in allen
ihren Nöten gern an ihn wenden, und versteht er es, berechtigte Wünsche
mit feinem Takt beim Direktor, den Amtsgenossen oder der Konferenz an-
zubringen, unberechtigte ohne Härte abzuweisen, so könnte seine Tätigkeit
ganz außerordentlich segensreich sein und manche Mißstimmung und Ver-
bitterung, die oft über die Schuljahre hinaus fortbesteht, im Keime erstickt
werden. Aber schon die Wahl selbst ist mit gewissen Schwierigkeiten ver-
knüpft und eine Einmütigkeit aus leicht begreiflichen Gründen schwer zu
erzielen. Im allgemeinen wird man sagen können, je jugendlicher ein solcher
Berater ist, um so eher wird er es verstehen, sich der Denkungsart der Schüler
anzupassen und ihren Wünschen Verständnis entgegenzubringen, voraus-
gesetzt, daß er den nötigen Takt nach der anderen Seite hin zu wahren weiß.
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 3
34 G- Müncheberg,
Versteht er das nicht, so wird sich eine ewige Kette von MißhelUgkeiten
ergeben und das Vertrauensverhältnis innerhalb der Schule eher untergraben
als gefördert werden. Zu untersuchen wäre, ob der Berater alles, was er
im Schülerausschuß oder von einzelnen Schülern hört, in der Konferenz
oder den in Frage kommenden Amtsgenossen gegenüber zur Sprache bringen
soll. Ich möchte dies verneinen, da durch allzu große Offenheit in heiklen
Dingen, zumal älteren Herren gegenüber, mehr Schaden als Nutzen ange-
richtet werden kann. Das Feingefühl müßte auch hier dem Berater den
Weg weisen, wie er Konflikte am besten verhindern kann. Leicht möglich
ist es, daß der Berater, selbst wenn er zunächst das allgemeine Vertrauen
genießt, in scharfen Gegensatz zum Schülerausschuß geraten kann, von
der Mehrheit seiner Amtsgenossen ganz zu schweigen. Hat er dann von
seinem Amt zurückzutreten ? Auf wie lange soll er überhaupt gewählt werden ?
Was geschieht, wenn der vom Schülerausschuß Erkorene die Wahl ablehnt?
Das sind Fragen, über die der Erlaß keine Auskunft gibt. Trotz der in Aus-
sicht stehenden Schwierigkeiten muß der Versuch gewagt werden. Aber
gewählt werden müßte der Berater unter allen Umständen von der Ge-
samtheit der Schüler einer Anstalt. Im Schülerausschuß, dem die Sprecher
aller Klassen angehören, wird eine Art Vorschlagsliste aufgestellt, auf der
vielleicht 3—4 Namen stehen. Nachdem die einzelnen Klassen auf Grund
dieser Vorschlagsliste ihre Wahl vollzogen haben, findet die endgültige Wahl
durch den Schülerausschuß statt. So ließe sich mit einiger Sicherheit der
Lehrer ermitteln, dem die Gesamtheit der Schüler das größte Vertrauen
entgegenbringt. Das aber ist erforderlich, soll die Einiichtung dem
Ganzen Segen bringen.
Starken und berechtigten Widerspruch müssen die Bestimmungen des
Erlasses über die Klassengemeinde hervorrufen. Wenn hier verlangt wird,
daß der Klassenleiter oder im Einverständnis mit ihm ein anderer Lehrer
der Klasse wenigstens einmal im Monat eine lehrplanmäßige Stunde zur
Aussprache über Angelegenheiten der Klassengemeinschaft oder andere
von den Schülern vorgeschlagene Fragen benutzen soll, so klingt das zunächst
so, als hätten unsere Schüler bisher in diesen Dingen nicht das nötige Ent-
gegenkommen gefunden. Jeder Klassenleiter, der ein Herz für seine Schüler
hat, wird nicht einmal im Monat mit ihnen beraten, er wird täglich, ja stünd-
lich für ihre Wünsche und Anregungen zu haben sein und wird gegebenen-
falls auch gern einmal eine ganze Stunde opfern, um ihren Wissensdurst
über Fragen des öffentlichen Lebens zu stillen. Dazu bedarf es wahrlich
nicht dieser Bestimmung, die nur dazu verführen kann, daß unter allen Um-
ständen eine Stunde im Monat oft zwecklos geopfert wird. Daß durch solche
Aussprache unendlicher Segen gestiftet und ein Band der Kameradschaft
zwischen Schülern und Lehrern hergestellt werden kann, soll gern zugegeben
werden ; Voraussetzung ist doch aber, daß die Schüler im vollsten Vertrauen
mit all ihren Sorgen und Zweifeln herausrücken. Jeder Lehrer, der sich
dieses Vertrauens sicher fühlt und selbst die rechte Gabe zu haben glaubt,
soll solche Aussprache pflegen. Die dafür geopferte Zeit wird sich auf andere
Die Schüler-Selbstverwaltung. 35
Weise reichlich bezahlt machen. Dagegen aber muß Einspruch erhoben werden,
daß solche Aussprachen schablonenmäßig durchgeführt werden. — Daß
auf Wunsch des Klassenausschusses die Klassengemeinde auch selbständig
tagen darf und zwar innerhalb des lehrplanmäßigen Unterrichts höchstens
alle 2 Wochen, außerhalb der Schulzeit auch öfter, wird bei Eltern und Lehrern
besonders heftigen Widerspruch hervorrufen. Der Wunsch zu solchen Ta-
gungen während der Schulzeit wird zwar bei der großen Mehrzahl der Schüler
vorhanden sein, zumal wenn die Möglichkeit besteht, dadurch unangenehmen
Stunden zu entgehen. An wirklichem Stoff für die Verhandlungen dürfte
es allerdings bald fehlen, besonders in den unteren Klassen; aber da im Erlaß
dafür keine Grenze gezogen ist, überhaupt keine näheren Andeutungen ge-
macht sind, wird es nicht schwer halten, irgend eine „Frage" zu finden,
die als Verhandlungsstoff dienen könnte. Wenn Eltern und Lehrer gegen
eine solche Vergeudung kostbarer Zeit entrüstet Einspruch erheben, darf
man sich nicht wundern. Durch die jahrelange Unterernährung und die
infolge der Kriegszeit vielfach notwendig gewordene Einschränkung des
Unterrichts sind die Leistungen unserer höheren Lehranstalten gegenüber
dem Friedensstande stark zurückgegangen. Wir werden alle Hebel in Be-
wegung setzen, alle Möglichkeiten prüfen müssen, um die Leistungen all-
mählich wieder zu steigern und durch geistige Kräfte das auszugleichen,
was unser Volk im Weltkriege an materiellen verloren hat. Das ist aber
nur möghch, wenn alle verfügbare Zeit zur Arbeit verwendet und nicht durch
zweck- und ziellose Experimente vertrödelt wird. Glaubt unsere Unterrichts-
verwaltung wirklich 2—3 Stunden im Monat übrig zu haben, so möge man
diese für die körperliche Ertüchtigung unserer Jugend verwenden, aber nicht
für Dinge opfern, deren Ergebnis für unsere Kinder mindestens zweifelhaft,
wenn nicht schädlich ist. Denn daß aus solchen Verhandlungen unreifer
Schüler, zumal wenn sie ohne Leitung stattfinden, kein wirklicher Nutzen
erzielt werden kann, dürfte klar sein. Im Anschluß an die letzte Stunde
oder auch außerhalb der Schulzeit mag die Klasse Besprechungen abhalten
können, aber nur, wenn Zeit und Ort dem Klassenleiter vorher mitgeteilt
sind. Welchen Zweck die Vereinigung mehrerer Klassen zu gemeinsamen
Besprechungen haben soll, ist nicht ersichtlich, wird im Erlaß auch nicht
angedeutet, wohl aber für zulässig erklärt.
Alle Schüler der oberen Klassen (in Vollanstalten von U II an) dürfen
sich zur Schulgemeinde zusammenschließen und dauernd oder für bestimmte
Fälle auch weitere Klassen hinzuziehen. Diese Schulgemeinde soll, wie der
Erlaß sagt, den Schülern Verständnis für die große Gemeinschaft geben,
in die sie gestellt sind, und Gelegenheit bieten, selbst an deren Ausbau und
Weiterentwicklung mitzuarbeiten. Unter der großen Gemeinschaft, an deren
Ausbau Schüler mitarbeiten können und sollen, wird man zunächst doch
wohl die Schule zu verstehen haben. Der Erlaß aber sagt weiter: Sie (die
Schulgemeinde) pflegt daher die freie Aussprache über Fragen der Schule
und des Lebens. Danach sollen also nicht nur Schulfragen behandelt, sondern
das ganze Gebiet des öffentlichen und staatlichen Lebens in den Kreis der
3*
36 G. Müncheberg,
Betrachtungen gezogen werden. Ist das wirklich beabsichtigt, so darf zu-
nächst die Zahl der Teilnehmer keine übermäßig große sein; im Gegenteil,
je mehr dem einzelnen Schüler die Möglichkeit gegeben ist, an der Aussprache
selbst sich zu beteiligen, je mehr Verständnis er vermöge seines Alters den
Dingen entgegenzubringen vermag, um so anregender und fruchtbarer werden
solche Erörterungen sich gestalten. Darum würde es sich empfehlen, zu
dieser Schulgemeinde an großen Anstalten nur die Schüler der Prima, an
kleinern allenfalls noch die der Obersekunda hinzuzuziehen. Werden Fragen
des Schullebens behandelt, die für alle Schüler von Interesse sind, und für
die alle auch das nötige Verständnis haben, so erweitere man ruhig den Kreis
und lasse auch die mittleren Klassen daran teilnehmen. Ich möchte also unter-
schieden sehen zwischen einer Schulgemeinde im engeren Sinne, die regel-
mäßig zu bestimmten Zeiten zusammentritt und in der vorwiegend Themen
des öffentlichen, staatlichen Lebens behandelt würden, und einer Schul-
gemeinde im weiteren Sinne, die nur bei besonders wichtigen Gelegen-
heiten zusammenzuberufen wäre, wenn es sich eben um Schulangelegenheiten
von allgemeinstem Interesse handelt. Die oberste Leitung der engeren Schul-
gemeinde müßte in den Händen des Beraters liegen, dem die Sprecher der
daran beteiligten Klassen mit bestimmten Befugnissen zur Seite zu treten
hätten. Soll die erweiterte Schulgemeinde zusammentreten, so müßte zu-
nächst die Erlaubnis dazu vom Schulleiter erwirkt und die zu behandelnden
Fragen vorher vom Schulausschuß unter Leitung des Beraters durchgesprochen
werden; einer der älteren Sprecher könnte selbst das Referat übernehmen
und bestimmte Vorschläge unter genauer Darlegung des Für und Wider
unterbreiten. Auf solche Weise würde Zeitverlust nach Möglichkeit vermieden
werden. Als Verhandlungsstoffe für die erweiterte Schulgemeinde kämen
etwa folgende in Frage: Veranstaltung gemeinsamer Schulfeiern und Schul-
ausflüge, Einrichtung von Spielnachmittagen, Ausschmückung der Schul-
und Klassenräume, Fragen der Schulordnung und Schuldisziplin, Unter-
richtsbeginn u. a. m. Die Beschlüsse der erweiterten Schulgemeinde, an der
natürlich sämtliche Lehrer teilnehmen können , wären durch den Berater
der Lehrerkonferenz zur Erledigung zu überweisen. — So könnten die
Schüler schon in jüngeren Jahren zur Mitarbeit an Schulangelegen-
heiten, für die sie Interesse und Verständnis haben, herangezogen werden.
Die Autorität der Lehrer würde dadurch in keiner Weise leiden, die Schul-
disziplin nur erleichtert und gelegentliche Überspannungen jederzeit durch
den Berater oder Leiter der Anstalt verhindert werden.
Die Schulgemeinde im engeren Sinne müßte sich, um den im Erlaß an-
gedeuteten Zielen näher zu kommen, vorwiegend, wie schon gesagt, mit Fragen
des öffentlichen und staatlichen Lebens befassen. Das große Gebiet der Staats-
bürgerkunde wäre besonders zu berücksichtigen, daneben moderne Kunst
und Literatur, religiöse Dinge u.a.m. Ich stelle mir das so vor, daß die Stoffe
vom Berater im Einverständnis mit den Schülern ausgewählt werden. Als
Vortragende kämen zunächst die Lehrer der Anstalt, für leichtere Stoffe
geeignete Schüler in Frage. Daneben könnten mit Einwilligung des Anstalts-
Die Schüler-Selbstverwaltung. 37
leiters gelegentlich einmal außerhalb der Schule stehende Persönlichkeiten,
besonders aus Elternkreisen gewonenn werden. Selbstverständlich muß
jede Art von parteipolitischer Beeinflussung streng ausgeschaltet werden.
An die Vorträge, die nie länger als 30—40 Minuten sein dürften, müßte sich
eine Aussprache anknüpfen, in der die Schüler über Fragen, die zum Thema
gehören, nähere Auskunft erbitten und einen entgegengesetzten Standpunkt
begründen können. Um ihr Interesse an den zu behandelnden Fragen zu
wecken und das Verständnis zu erleichtern, würde es sich empfehlen, wenn
vorher in einer dazu geeignet erscheinenden Unterrichtsstunde das Stoff-
gebiet des Vortrages von einem Lehrer kurz behandelt, oder aber nach dem
Vortrag die Ergebnisse noch einmal zusammengestellt würden. Auf solche
Weise könnten die Verhandlungen der Schulgemeinde allen Schülern zum
Vorteil gereichen und zwei Mängel bekämpfen helfen, die den Abiturienten
unserer höheren Lehranstalten in den meisten Fällen anhaften : der eine ist
die Schwerfälligkeit im Gebrauch der freien Rede, der andere die mangel-
hafte Kenntnis der Einrichtungen unseres staatlichen und öffentlichen Lebens.
Seit Jahrzehnten sind in dieser Richtung Versuche unternommen worden,
ohne daß bisher eine wirkliche Besserung erzielt worden wäre.
Will man in dieser Weise die Schulgemeinde ausbauen und auch Er-
folg damit erzielen, so genügt natürlich nicht eine Stunde im Monat, sondern
es müßte wöchentlich mindestens eine Stunde dafür zur Verfügung gestellt
werden. Die Neuordnung unseres Schulwesens wird ja auch in bezug auf die
Stundenbemessung für die einzelnen Fächer Änderungen im Gefolge haben.
Für den Geschichtsunterricht muß mehr Zeit erübrigt werden, und wenn
nicht alle Anzeichen täuschen, wird Bürgerkunde als Pflichtfach für die oberen
Klassen höherer Lehranstalten eingeführt werden.
So wertvoll es zweifelsohne ist, unsere Schüler mit den Einrichtungen
des öffentlichen Lebens besser bekannt zu machen, so verfehlt scheint mir
der Gedanke, den spröden Stoff der Bürgerkunde als Pflichtfach mehrere
Jahre in bestimmten Wochenstunden zu behandeln. Dagegen dürfte sich
die Form der Arbeitsgemeinschaft hierfür eher empfehlen, wo man den Wün-
schen und Interessen der Schüler mehr entgegenkommen und durch freie
Aussprache die Unterweisung anregender gestalten könnte. Sollte es nicht
möglich sein, das Gebiet der Bürgerkunde im weitesten Sinne als Arbeits-
gebiet der Schulgemeinde zu überweisen und diese dadurch lebensfähig zu
gestalten? Der Gedanke sollte jedenfalls ernstlich erwogen werden.
Die weiteren Bestimmungen des Erlasses sind von nebensächlicher Be-
deutung und können in dieser Besprechung übergangen werden. Zusammen-
fassend aber möchte ich sagen : So sehr der Erlaß von den verschiedensten
Seiten schon bekämpft ist und noch bekämpft werden wird, es liegt in ihm
doch ein gesunder Kern, der für die Weiterbildung und Erneuerung unseres
Schulwesens von großer Bedeutung sein könnte. Werden die undurchführ-
baren Bestimmungen über die Klassengemeinde gestrichen oder im angege-
benen Sinne geändert, wird die Schulgemeinde so ausgebaut, daß sie wirklich
praktischen Zwecken zu dienen vermag, wird überall mit der Durchführung
38 K. Weerth,
dieser Neuerungen allmählich und ohne Überstürzung vor sich gegangen
und auf die besonderen Verhältnisse jeder Anstalt nach Möglichkeit Rück-
sicht genommen, so wird auch die Lehrerschaft an den höheren Schulen
sich gern und freudig in den Dienst der neuen Idee stellen und an ihrem
Teile mitarbeiten, damit die im Erlaß angedeuteten Ziele wirklich erreicht
werden.
Potsdam. G. Müncheberg.
Studientage oder freie Arbeitstage^)?
In Sachsen ist durch Ministerialerlaß vom 11. Februar 1919 (s. Deutsches
Philologenblatt 1919, Heft 13, 14, 15/16) festgesetzt, daß an allen höheren
Lehranstalten 20 unterrichtsfreie Tage eingeführt werden, die zur Hälfte
für die körperliche, zur Hälfte für die geistige Ausbildung der Schüler nutzbar
gemacht werden sollen. Die unterrichtsfreien Tage sind folgendermaßen
zu verwenden:
a) für die Klasse Ol bis Uli einschließlich 10 Tage für Wanderungen
und Marschübungen und 10 Tage als Studientage, und zwar in Prima zu
freier wissenschaftlicher Beschäftigung, vornehmlich zur Erweiterung der
Privatlektüre in der Literatur der Muttersprache, in Sekunda zu fremdsprach-
licher Privatlektüre; doch können etwa 3 von den 10 Studientagen zu
Tagesausflügen im Dienste naturwissenschaftlicher, erdkundlicher und volks-
wirtschaftlicher Anschauung verwendet werden (Besuch gewerblicher An-
lagen).
b) für die Klassen VI bis Olli sind an 15 unterrichtsfreien Tagen je
3—4 Stunden vormittags zur Anfertigung von je zwei Klassenarbeiten zu
verwenden, bei denen die gleichen Hilfsmittel wie bei den Hausarbeiten
benutzt werden dürfen. Hierdurch will man erzielen: 1. Erleichterung der
häuslichen Arbeit durch Abminderung der schriftlichen Hausarbeiten um
fast die Hälfte, 2. Vermehrung der Zahl der Arbeiten, die für die Beurteilung
des Könnens eines Schülers einen sichereren Maßstab bieten als die Haus-
arbeiten, und ein Gegengewicht gegen die Überbewertung des Extemporales.
An den Nachmittagen dieser 15 Tage sollen kleinere Märsche in der Umgegend,
an den übrigen 5 unterrichtsfreien Tagen größere Ausflüge mit erd- und natur-
kundlichen Belehrungen gemacht werden.
Die Gründe, die zu dieser Neuerung geführt haben, liegen — wenigstens
soweit sie Prima und Sekunda betreffen — auf der Hand: Die Schule soll
dem heranwachsenden Geschlecht für seine körperliche Ertüchtigung erheb-
lich mehr bieten, als bisher in den wenigen Turnstunden geboten wurde.
Daß diese Forderung ihre gründliche Berechtigung hat, braucht wohl nicht
noch bewiesen zu werden. An den Studientagen will man den Schülern Ge-
legenheit zu selbständiger Arbeit bieten, zur Bewältigung einer größeren,
teilweise selbstgewählten Aufgabe an Stelle des täglichen, zersplitternden
^) Im Hinblick auf inzwischen erschienene Veröffentlichungen, Erlasse usw. ver-
wandten Inhalts sei bemerkt, daß die folgende Arbeit bereits im M a i 1919 abgefaßt
worden ist. ' Die Sc^liftl.
Studientage oder freie Arbeitstage. 39
Stückwerks. Es heißt in den näheren Bestimmungen, daß der Lehrer inner-
halb eines von ihm festgesteckten Rahmens den Schülern besonders auf
Prima eine gewisse Wahlfreiheit einräumen kann.
Es ist mit diesem Erlaß der sächsischen Unterrichtsverwaltung ein
kühner Schritt auf einem hoffnungsreichen Wege getan. Der Gedanke ist
nicht neu % aber seine einheitliche Durchführung in einem großen staat-
lichen Schulsystem, das ist, soviel ich weiß, allerdings etwas Neues.
Durch Ausfall von 20 Unterrichtstagen wird voraussichtlich die Er-
ledigung des lehrplanmäßigen Pensums eine gewisse, kleine Einbuße erleiden.
Doch hat der sächsische Minister wohl angenommen, daß diese Einbuße
durch die Erträgnisse der Studien- und Wandertage reichlich aufgewogen
werde. Von den Wandertagen erwartet er eine Stählung der jungen Körper
und wohl auch der Willenskräfte, von den Studientagen erhofft er, daß mancher
Schüler die Lust an der geistigen Bewältigung einer größeren Aufgabe kennen
lerne, von der ihn an dem betreffenden Tage keine andere Pflicht und An-
strengung abzieht.
Freilich sind auch der deutsche Aufsatz und die mathematische Arbeit
an sich wohl geeignet, dem Schüler diesen größten Gewinn zu bringen: die
Weckung des geistigen Arbeitstriebes. Aber wir wollen nicht vergessen,
daß diese Freude im gewöhnlichen Schulleben manche Trübung erfährt:
Der Schüler hat, wenn er sich an die Arbeit setzt, schon 5—6 Stunden Unter-
richt an dem Tage gehabt und muß die übrigen Arbeiten zum nächsten Tage
auch noch schaffen. Dadurch wird — wenn man von ungewöhnlich starken
Naturen absieht — , das Wachsen der Erosflügel nicht gefördert. Und die
Ferien? Man denke doch an seine eigene Jugendzeit und gebe sich keiner
Täuschung darüber hin, daß ein Kind und Jüngling seine Ferien genießen
will. Arbeiten will der normale Junge ganz gern — aber man komme ihm
nicht damit in den Ferien. Die meisten Unterrichtsbehörden in Deutschland
haben denn ja auch wohl aus diesem und anderen Gründen das Aufgeben
von Ferienarbeiten verboten.
Die Einrichtung der Studientage soll den Schüler nun in den Stand
setzen, einen ganzen Tag bei einer Sache zu verbleiben, und diese Sache wird,
wenn der Lehrer die Aufgabe einigermaßen geschickt auswählt, ein mehr oder
weniger abgerundetes Ganzes sein. Dies ist ein sehr großer Vorzug, welcher
dem gewöhnlichen Lektüreunterricht im allgemeinen abgeht, weil man immer
nach 45 Minuten abbrechen muß. Oder steht wirklich die Freude, welche die
30—80 Homerverse dreimal wöchentlich selbst dem begeistertsten Griechen-
freunde bereiten, in irgendeinem Verhältnis zu dem Wert und dem uner-
schöpflichen Leben, das in diesem unsterblichen Epos steckt? Und nun gar
bei Plato. Ist es nicht manchmal zum Verzweifeln, wenn man den Prota-
goras, so ein Werk aus einem Guß, auf 20—30 Stunden über ein ganzes Viertel-
jahr verteilt — und auch dann noch womöglich mit Auswahl — darbieten
und genießen muß? Ich brauche diese Binsenwahrheit nicht noch breiter
*) Man kennt z. B. die alte Einrichtung der Studientage in Schulptorta.
40 K. Weerth,
zu treten, und weiß sehr wohl, daß die stundenweise Darbietung des Lehr-
stoffs ihre großen Vorzüge hat, und daß sie für die meisten Unterrichts-
fächer das einzig Richtige ist. Aber sollte man nicht einmal den Versuch
machen, für die Lektüre neben dem Stundenbetrieb an einigen Tagen im
Jahre den Tagesbetrieb einzuführen, um so der besonderen Natur dieses
Bildungsmittels gerecht zu werden, welches sich ja vorwiegend mit großen,
zusammenhängenden Werken befaßt.
Man wende, bitte nicht ein, daß dies ja doch schon in weitestem Maße
in unserer berühmten ,, Privatlektüre" geschieht. Ich stehe nicht an, offen
auszusprechen, daß drei Viertel aller Schüler im Deutschen Reiche sich um
die Privatlektüre — wenigstens um die fremdsprachliche — überhaupt nicht
kümmern. Zur Not überfliegt man zu Hause eine schlechte Übersetzung, oder
man läßt sich von einem, der sich dieser Mühe unterzogen hat, vor der Stunde
ein paar Stichworte sagen; dann fühlt man sich hinlänglich gewappnet.
An den Studientagen ist nun die Möglichkeit, sich auf solche Weise
mit der Lektüre abzufinden, leider auch gegeben. Zwar ist die Versuchung
dazu nicht so groß, weil der Schüler für die Arbeit ausreichende Zeit hat.
Aber gleichwohl ist die Gefahr vorhanden, und das ist der wunde Punkt
an der sächsischen Einrichtung. Kollegen, die solche Studientage von Semi-
naren, Oberlyzeen usw. her kennen, pflegen denn auch von ihrem Nutzen
keine allzugroße Meinung zu haben. Gewiß, der Lehrer kann eine Kontrolle
über das Geleistete ausüben, z. B. indem er, wie es in dem sächsischen Er-
lasse heißt, hin und wieder unvermutet schriftliche Arbeiten aus den auf-
gegebenen Stücken in der Klasse anfertigen läßt. Doch darf man füglich
bezweifeln, ob durch solche Kontrolle das ,, Drücken" auch denen unmöglich
gemacht wird, die sich auf diese Kunst verstehen.
Aber es gibt ein anderes Mittel, dieser allzumenschlichen Eigenschaft
entgegenzuwirken. Und auf dieses Mittel werden wir von selbst geführt
durch eine technische Schwierigkeit: Auf welche Weise soll immer der nötige
Lektürestoff beschafft werden ohne größere Kosten, aber auch ohne erheb-
liche, durch den Kostenpunkt gegebene Beschränkung der Auswahl? Sehr
einfach:Die Schüler lesen nicht einzeln zu Hause, sondern irgend-
wo gemeinsam, und zwar unter Beteiligung und Leitung des
Lehrers. Die Vorzüge dieses Verfahrens gegenüber der sächsischen Ein-
richtung liegen klar vor Augen : 1 . In den fremden Sprachen kann hier sehr
viel mehr gelesen werden, als bei der reinen Privatlektüre, weil der Lehrer
Vokabeln und andere Hilfen gibt, 2. der Stoff wird den Schülern näher ge-
bracht durch die Erläuterungen des Lehrers, 3. die Kontrolle über die Be-
tätigung der Schüler, ergibt sich unmittelbar.
Solche Studientage oder besser: ,, freie Arbeitstage", die der Lehrer mit
den Schülern abhält, brauchen nun aber nicht auf die Lektüre beschränkt
zu bleiben. Läßt man diese Beschränkung fallen, so wird gleich>\%hl in den
sprachlichen Fächern die Lektüre der Hauptbestandteil der gemeinsamen
Arbeit bleiben, im übrigen aber eröffnet sich ein unerschöpflich reiches Feld
zur freien wissenschaftlichen Betätigung in jedem Fache.
Studientage oder freie Arbeitstage. 41
Soll diese Betätigung nun für alle Schüler wirklich frucht-
bar werden, dann muß man noch einen Schritt weiter gehen;
man muß die hemmenden Wirkungen der Interesselosigkeit
einzelner ausschalten. Das scheint unmöglich, ist aber in
Wirklichkeit sehr leicht: Man macht die Beteiligung für Lehrer
und Schüler wahlfrei. Die Lehrer, welche Neigung dazu ver-
spüren, kündigen vor Beginn des Halbjahrs an, welche Gegen-
stände sie an den „freien Arbeitstagen" mit den Schülern zu
behandeln bereit sind, unter Angabe der Klassen, die für die
Teilnahme in Frage kommen; die Schüler können dann wählen,
an welchen dieser Übungen sie teilnehmen wollen.
Es wäre das etwas ganz Neues, bisher Unerhörtes. Aber ich bitte, den
Gedanken nicht von vornherein aus dem Grunde abzulehnen, weil eine solche
Durchbrechung des Prinzips der gleichmäßigen Klassenausbildung allem bis-
herigen Brauche zuwiderläuft. Man mache sich vielmehr klar, was das be-
deutet: In diesen freien Zusammenkünften wird nichts behandelt,
als was den Lehrer und fast sämtliche Schüler wirklich inter-
essiert. Denn die Zahl derjenigen Schüler, die an keinem der angekündigten
Gegenstände Interesse haben , wird doch auf den oberen Klassen gering
sein, zumal da sich ja wohl auch in jedem Kollegium eine Anzahl Lehrer
finden wird, die solche freigewählte Stoffe interessant zu machen wissen.
Diejenigen Schüler, die an keiner dieser Zusammenkünfte teilnehmen, würden
dann, wie in Sachsen, vom Lehrer eine Privatlektüreaufgabe oder eine schrift-
liche Arbeit bekommen. Keinen Lehrer wird man zwingen, freie Arbeits-
tage abzuhalten, aber allen wird man es freistellen, auch denjenigen, die
keinen Unterricht auf den oberen Klassen haben. Nur die Kandidaten im
Vorbereitungsdienst werden vielleicht besser die Hand davon lassen. Ich
glaube, daß unter normalen Verhältnissen immer reichlich genug Anmeldungen
seitens der Lehrer wie der Schüler einlaufen werden. Natürlich müssen die
Stoffe so gewählt und behandelt werden, daß nicht der Lehrer allein die
Arbeit leistet, sondern daß am freien Arbeitstag die Schüler selbst angestrengt
tätig sind (des Lehrers Arbeit liegt vielmehr in der Vorbereitung, die gar
nicht gründlich genug sein kann).
Der vom Lehrer angekündigte Lehrgegenstand oder besser „Arbeits-
stoff" kann einen oder auch mehrere, ja sämtliche freien Arbeitstage des
Halbjahrs in Anspruch nehmen. So kijnnen beliebig viel Arbeitstage zu
,, freien Lehrgängen" zusammengefaßt werden. Auch wird es in vielen Fällen
möglich sein, daß der Schüler an einem Tage verschiedene Lehrgänge mit-
nimmt, da mancher Lehrgang nicht mehr als etwa zwei Stunden an einem
Tage beansprucht. Wo aber z. B. Lektüre getrieben wird, da mag man vor-
teilhafterweise den ganzen Tag (mit reichlichen Pausen) benutzen, um etwas
Ganzes zu bewältigen.
Als Hauptziel ist bei dieser Unterrichtsart festzuhalten: Die Schüler
sollen die Lust an wissenschaftlicher Arbeit kennen lernen. Und daß dies
Ziel auf dem angegebenen Wege zu erreichen ist, werden wohl nur wenige
42 K. Weerth,
Kollegen bezweifeln. Jedenfalls lohnt es sich, den Versuch zu machen, zumal
da er gemacht werden kann, ohne daß man die hergebrachte Organisation
des Unterrichts umstößt.
Aus der unendlichen Fülle der Stoffe, die man in diesen freien Lehr-
gängen behandeln könnte, seien wenigstens einige willkürlich herausgegriffene
Gegenstände angeführt:
Griechisch : Einige Tragödien, an jedem dafür verfügbaren Arbeits-
tag ein ganzes Stück, etwa drei Viertel in Übersetzung, ein Viertel im Urtext.
Dazu Belehrungen über Entwicklung, Aufbau, Aufführung der Tragödie,
über das griechische Theater usw., alles womöglich an Hand der Quellen
sowie geeigneter wissenschaftlicher Schriften aus neuerer Zeit (Wilamowitz,
Bethe, Dörpfeld usw.). — Plato, kursorische Lektüre der hervorragendsten
Dialoge, teils griechisch, teils in Übersetzung unter vollständiger Ausnutzung
des einzelnen Arbeitstages, um einen Dialog als Ganzes in möglichst kurzem
Zeitraum zu bewältigen^). Darauf Zusammenfassung des Gedankeninhalts
und nach Belieben Eingehen auf einzelnes. In dieser Weise können mit einer
guten Mannschaft wohl vier Dialoge im Jahr gelesen werden. Haben die
Schüler einige Hauptwerke in sich aufgenommen, so kann man im nächsten
Schuljahr die Belehrung vertiefen, indem man einzelne Gegenstände der
Platonischen Philosophie an Hand der bezüglichen Textstellen behandelt:
Die Ideenlehre, die Lehre von der Seele, Piatos Beziehung zu den Pytha-
goreern (die Mythen vom Jenseits!), Piatos Stellung zur Kunst. Im Anschluß
hieran kann Aristoteles' Poetik gelesen werden mit grün ilicher Sacherklärung,
wobei denn zu zeigen wäre, wie selbst dieser König im Reiche der grie-
chischen Wissenschaft mit beiden Füßen auf den Schultern seines größeren
Vorgängers steht.
In ähnlicher Weise ließen sich in den anderen Fremdsprachen leicht
Aufgaben nennen, bei denen die Lektüre als Grundlage für kleine wissen-
schaftliche Untersuchungen benutzt würde.
Geschichte. Die Zeit von 1864—1871 an Hand der Erinnerungen von
Bismarck, Hohenlohe-Schillingsfürst, Hohenlohe-Ingelfingen, sowie der Dar-
stellungen von Sybel, Friedjung u. a. Ebenso jedes andere Gebiet der Welt-
geschichte unter Benutzung von Quellen und Darstellungen, auch der für
Schulzwecke zusammengestellten Quellensammlungen von Voigtländer, Lam-
beck u. a.
Erdkunde: Geschichte der pfolonisationen. Kartenentwurfslehre. Ge-
ländeformen (mit Ausflügen). Topographische Aufnahmen im Gelände.
Paläogeographie und Paläoklimatologie. Ausführlichere Behandlung der
Klimatologie und Meteorologie (mit praktischen Übungen). Der Boden in
seiner Bedeutung für die Charakterentwicklung des Menschen. Behandlung
ethnographischer Fragen. Siedelungsformen, Orts-, Fluß- und Ländernamen
(mit Ausflügen). Die geologischen Verhältnisse der näheren Umgebung.
Regelation. Gletscher und Eiszeit.
0 Ansetzung mehrerer freier Arbeitstage l<urz hintereinander
Studientage oder f^eie Arbeitstage. 43
Beschreibende Naturwissenschaften: Natürliche und künstliche
Systeme. Ausgewählte Kapitel aus der vergleichenden Anatomie. Desgl.
aus der Entwicklungsgeschichte. Das biogenetische Grundgesetz. Darwinis-
mus und Verwandtes. Urzeugung. Die Stellung des Menschen in der Natur.
Reliktenfauma und -flora. Tierwanderungen. Pflanzenwanderungen. Nähr-
stoffe der Pflanzen. Fruchtwechsel und manches andere, ins Gebiet der Land-
wirtschaft gehörige. Dazu praktische Anschauung.
Deutsch: Viel Lektüre, auch Anregung zu Privatlektüre, nach bestimm-
ten zusammenfassenden Gesichtspunkten, Anbahnung eines tieferen Ver-
ständnisses der einzelnen Werke, der Literatuigattungen, der literaturge-
schichtlichen Entwicklung, der Stellung einzelner Dichter zu ihrer Kunst
u. V. a. , z. B.: 1. Das deutsche Lustspiel (Kotzebue, Lessing, Kleist, Freytag,
Grillparzer [Weh dem, der lügt], Hauptmann [Biberpelz]). 2. Das bürger-
liche Trauerspiel (Emilia Galotti, Kabale und Liebe, Maria Magdalena,
O. Ludwigs Erbförster, Hauptmanns Fuhrmann Hentschel, Rose Bernd).
3. Ibsen (Schärfe der Dialektik, Freiheit der Technik, Kampf gegen die Ge-
sellschaftsmoral, Ibsens Kunst als Grundlage des deutschen Naturalismus).
4. Behandlung der Nibelungensage (Edda, Epos, Volksbuch, Hebbel, Wagner).
5. Die neuere Lyrik (Storm, Fontane, Mörike, Keller, Heyse. Ihre persön-
Hchen Beziehungen, gegenseitige Kritik, Briefwechsel). 6. Über die Eigenart
der russischen Literatur. Proben aus Tolstoi, Dostojewski u. a. 7. Spitteler
als Dichter und als Charakter (seine Äußerungen über seine Kunst). 8. Das
Epos in neuerer Zeit: Goethe, Hebbel, Liliencron, Wildenbruch, Spitteler
(,,Das verbotene Epos").
Physik: Das absolute und das technische Maßsystem. Drahtlose Tele-
graphie. Elektrische Strahlungserscheinungen. Stromerzeugung und Strom-
verteilung (mit Ausflügen). Künstliche Lichtquellen. Die Polarisation.
Optisch*^ Instrumente. Moleküle, Atome, Weltäther. Luftfahrzeuge.
Mathematik: Einige Kapitel aus der Geschichte der Mathematik und
aus dem Leben hervorragender Mathematiker. Entwicklung der Zifftrn-
systeme. Unendlich große und unendlich kleine Größen. Ausgewählte Kapitel
aus der Zahlen theroie. Auflösung von Gleichungen durch Näherungsmethoden.
Lösung von Aufgaben in vergleichend analytischer, synthetischer und eu-
klidisch-geometrischer Behandlungswei«5e. Abgekürzt'^s Rechnen; d:r Rechen-
schieber. Geometrische Konstruktionen mit dem Lineal allc;in (Steiner).
Diese kleine Beispielsammlung aus den einzelnen Fächern ließe sich be-
liebig erweitern. Jedem Kollegen werden von selbst manche andere Stoffe
aus seinem besonderen Interessengebiet einfallen, und viele werden nicht
abgeneigt sein, den praktischen Versuch mit dieser Lehrmethode zu m9ch?n.
Doch höre ich auch mancherlei Einwände gegen das vorgeschlagene Ver-
fahren, bei dem jeder Schüler sich frei auswählt, was ihm behagt, ohne an
seine Klasse und seine Lehr.T gebunden zu sein:
1 . Die Schule ist doch nicht dazu da, den Schülern Zuckerbrot zu reichen.
Sie sollen ernste Pflichterfüllung lernen.
2. Durch die neue Methode wird die Einheitlichkeit der Ausbildung,
44 K. Weerth,
die doch einen Hauptvorzug unserer hörieren Lehranstalten bildet,
beeinträchtigt.
3. Es geht nicht an, daß ein Schüler 3ich an dem Lehrgang eines Lehrers
beteiligt, welcher nicht in dem betreffenden Fache den Unterricht
in der Klasse hat. Es wäre das ein Eingriff eines Lehrers in das Gebiet
des andern.
Darauf seien mir die folgenden Erwiderungen gestattet :
Zu 1 . Wenn man von den 240 Unterrichtstagen des Jahres 20 ah Wander-
und freie Arbeitstage ausscheidet, dann bleiben immer noch 220, an denen
die Schüler wie bi*^her arbeiten, was man ihnen vorschreibt. Ist es wirklich
eine geistige Verweichlichung, wenn man sie an 10 Tagen im Jahr treiben läßt,
was ihnen Freude macht? Hat wirklich nur diejenige Pflichterfüllung sitt-
lichen Wert, die sich unter ständiger Selbstüberwindung an einer der eigenen
Neigung nicht zusagenden Aufgabe abquält? Hat wohl jemals ein Mcrsch auf
irgendeinem geistigen Gebiete ein großes Werk geschaffen ohne Freude am
Gegenstand? Ich erlaube mir, es 7u bezweifeln. Diese Freude an der Betäti-
gung der eigenen geistigen Anlagen, die die Wurzel alles geistigen Fortschritts
ist, die wollen wir wecken und zu ihrem Recht kommen lassen. Es handelt
sich ja bei der freien Wahl seitens der Schüler gar nicht um die Erfüllung
selbstsüchtiger Wünsche, nicht darum, daß man ihnen nachgiebig ihren
Willen läßt, es handelt sich um nichts geringeres als den Platonischen Eros,
den Trieb nach Wahrheitserkenntnis. Und dieser Trieb soll ja nicht einfach
befriedigt werden: im Gegenteil, aufstacheln wollen wir ihn, daß er die junge
Seele packt, um sie womöglich nicht wieder lo!?zulasser, und daß er die un-
edleren Triebe sich unterwirft. Und wenn jemand behauptet, die Schüler
unserer oberen Klassen seien für solche Behandlung nich: reif, dem sage
ich, daß er die jugendliche Seele überhaupt nicht kennt.
Zu 2. Mit den 220 Unterrichtstagen, die uns jährlich übrig bleiben,
wird man auch fernerhin eine gemeinsame Bildungsgiundlage ebensogut
erzielen, wie bisher mit 240. Ist es denn aber wirklich das höjhne Ziel und
Ideal einer Bildungsanstalt, ihre Zöglinge alle mit demselben Schatz des
Wissens und Könnens zu entlassen? Ich glaube, man hat vielfach aus der
Not eine Tugend gemacht und dieses Ideal gepriesen, weil man zur Erreichung
jenes höheren, jeden Zögling nach den ihm eigenen Fähigkeiten auszubilden,
keinen Weg wußte. Vielleicht ist es aber in den vorstehenden Ausführungen
gelungen, einen gangbaren Weg zu zeigen, der wenigstens die allgemeine
Richtung nach diesem Ziel einschlägt. Und ich wage zu behaupten, die Schule
werde ihrer hohen Aufgabe keineswegs dadurch untieu werden, daß sie sich
an 10 Tagen im Jahre bemüht, die besonderen Anlagen jedes einzelnen Schülers
zur Betätigung anzuregen und hiermit den Grund legt zur späteren Nutzbar-
machung dieser besonderen Anlagen für'die Allgemeinheit.
Zu 3. Die Schüler sind nicht der Lehrer wegen da, sondern die Lehrer
der Schüler wegen. Auch ist nicht anzunehmen, daß das Interesse des Lehiers
oder des Klassenunterrichts gefährdet wird, wenn die Schüler auch mal bei.
einem anderen als dem gewohnten Lehrer etwas lernen.
Studientage oder freie Arbeitstage. 45
Nun noch ein Wort über die in den freiwilligen Lehrgängen zu behandeln-
den Fächer. Die oben angeführten Beispiele sind nur den Gebieten ent-
nommen, die in dem regelmäßigen Unterrichtsplan der Gymnasien usw.
enthalten sind. Es fragt sich, ob nicht noch andere und dann, welche anderen
Gebiete einen Platz in den freien Lehrgängen beanspruchen können. Die
Antwort auf diese Frage kann meines Erachtens nur lauten : Es kommen
in Betracht alle Gebiete, die überhaupt eine wissenschaftliche Behandlung
vertragen und d'r geistigen Entwicklungsstufe der Schüler angemessen sind,
also neben den eingeführten Unterrichtsfächern solche Stoffe, die im Unter-
richt nur nebenher oder gar nicht behandelt werden, wie Bürgerkunde, Volks-
wirtschaftslehre, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft. Auch wird man
neben den wissenschaftlichen Fächern den sog. technischen Fächern an den
unterrichtsfreien Tagen einen Platz einräumen, und zwar an einigen „Wander-
tagen" dem Turnen und den Bewegungsspielen (Wettkämpfe mit auswärtigen
Mannschaften!), an den freien Arbeitstagen dem Zeichnen, der Handfertig-
keit und der Musik (Vokal- und Instrumentalmusik), alles soweit Angebot
und Nachfrage vorhanden ist. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb besondere
Talente auf diesen Gebieten nicht auch innerhalb der Schule Gelegenheit
finden sollten, ebensogut wie mathematische und philologische Talente sich
zu betätigen und zu bilden. Vgl. hierzu die sehr wohlbegründeten Bemer-
kungen im sächsischen Ministerialerlaß.
Bei der Behandlung der Bürgerkundf ist dem Lehrer zur Pflicht zu
machen, daß er jede parteipolitische Einwirkung vermeidet. Gelingt ihm
das nicht, so wird ihm die Genehmigung zur Behandlung dieses Faches ent-
zogen. Die kunstgeschichtlichen Studien werden nicht in Vorträgen des
Lehrers und Zeigen von Bildern bestehen, sondern besonders in der Lektüre
kunstwissenschaftlicher Quellen und Darstellungen von Pausanias und Plinius
über Vasari und Winkelmann biszuFurtwängler, Ad. Hildebrand, Wölfflinu.a.,
die natürhch stets durch Anschauung zu beleben ist. Auch die Musik, dieses
arg zurückgesetzte Stiefkind der höheren Schule wird man an den freien
Arbeitstagen endlich einmal zu ihrem Recht kommen lassen in praktischer
Ausübung und wissenschaftlicher Behandlung. Ist die Musik doch diejenige
Kunst, in der das deutsche Volk wirklich unter allen Völkern obenan steht,
in der der deutsche Geist sich ebenso vollkommen offenbart hat wie im Faust
und in der Kritik der reinen Vernunft. Diese deutscheste der Künste wird
in der Gegenwart dank dem verheerenden Einfluß des Klaviers allgemein
recht oberflächlich betrieben. Man macht Musik und hört Musik, weil sie
angenehm zu hören ist. Ein gründliches geistiges Erfassen aber ist selbst
bei ehrlichen, gebildeten, musikalischen Menschen nur recht selten anzu-
treffen. Durch eine mehr wissenschaftliche Behandlung würde die Musik
keineswegs, wie viele (besonders Damen) glauben, trocken werden, im Gegen-
teil: Wissenschaf thche Betrachtung unter Führung eines wissenschaftlich und
musikalisch gründhch gebildeten Lehrers ist das unerläßHche Mittel, um
die tiefsten Werte, die in der Musik enthalten sind, besonders die sittlichen
Werte, mit Bewußtsein zu erfassen. Natürlich ist es nicht viel, was die Schule
46 K. Weerth,
in dieser Hinsicht an ein paar freien Arbeitstagen wird bieten können, doch
kann den musikalischen Schülern wenigstens ein Anstoß nach der Richtung
gegeben werden, in der man zu gehen hat, um den verborgenen Schätzen
auf die Spur zu kommen. Nicht an jeder höheren Lehranstalt wird die ge-
eignete Persönlichkeit vorhanden sein, doch in vielen Fällen wird sie sich
finden, sei es der Gesanglehrer oder ein anderer Lehrer.
Und nun die Philosophie! Immer wieder wird in der pädagogischen
Literatur und auf Direktorenkonferenzen die Frage erörtert, wie in der Schule
die Grundlagen zu einer philosophischen Bildung gelegt werden können.
Daß die Schule diese Aufgabe hat, darüber sind sich wohl alle einig. Und
doch ist es trotz allen mündlichen und schriftlichen Erörterungen der Fach-
männer noch nicht gelungen, die philosophische Propädeutik zum Unter-
richtsfach an den höheren Lehranstalten zu machen. Immer wieder scheitert
es an der leidigen Frage: Wo sollen wir die Zeit dazu hernehmen, ohne die
Schüler zu überlasten oder andere wichtige Unterrichtsfächer ,,noch mehr"
zu beschneiden? Haben wir erst unsere freien Arbeitstage, dann ist auf ein-
mal auch für die Philosophie Zeit in ausreichendem Maße vorhanden, und
der Erfüllung einer dringenden Forderung aller einsichtigen Schulmänner
steht keine Schwierigkeit mehr entgegen ! Fast sollte man meinen, daß diese
Tatsache allein genüge, die Berechtigung der freien Arbeitstage darzutun.
Daß bei dieser Einrichtung nicht alle Schüler, sondern nur die dafür inter-
essierten, an den philosophischen Belehrungen teilnehmen, wird man nicht
für einen Schaden halten. Es wird wohl nur wenige Schüler geben, die nicht
wenigstens mal ein Semester lang sich an philosophischen Übungen beteiligen.
Was für Gebiete der Philosophie hier nun behandelt werden könnten oder
sollten, und in welcher Weise, darüber könnte man ein besonderes Buch
schreiben; übrigens ist ja schon hinlänglich viel darüber geschrieben worden.
Als Hauptziele dieses Unterrichts wird man festhalten: einen Zusammen-
hang zwischen den Fachwissenschaften herzustellen und Grundlagen zu
geben, auf denen sich der junge Mann eine vorläufige Weltanschauung bilden
mag. Dann werden die philosophischen Übungen im besonderen das leisten,
was die freien Arbeitstage im allgemeinen leisten sollen: anleiten zu selb-
ständiger wissenschaftlicher Arbeit, deren Wesen und Methode hier im be-
sonderen kritisch bewußt gemacht werden müßte, und damit eine Hinführung,
„Propädeutik", zu Universität und Leben.
Es ist klar, daß diese ganze Einrichtung der freien Arbeitstage und der
Wandertage auf die oberen Klassen zugeschnitten ist. Was fangen wir mit
den unteren von Uli abwärts, an? Die Lösung, welche hier der sächsische
Erlaß gefunden hat, scheint nicht sehr glücklich zu sein. Fünfzehnmal im
Jahre zwei schriftliche Arbeiten in der Schule, die auf VI — IV je eineinhalb,
auf III je zwei Stunden dauern sollen, dieser Gedanke ist wohl weniger auf
der Überzeugung von seiner Vortrefflichkeit begründet, als auf der Not-
wendigkeit, mit den unteren Klassen an den „unterrichtsfreien Tagen" auch
irgend etwas anzufangen.
Natürlich, der normale Unterricht läßt sich an diesen Tagen auf den
Studientage oder fre'e Arbeitstage. 47
unteren Klassen nicht durchführen, bei der Verwirklichung unseres Planes
noch weniger, als bei der sächsischen Einrichtung, da ein Teil der auf den
unteren Klassen unterrichtenden Lehrer sich an den ,, freien Arbeitstagen"
mit den oberen Klassen beschäftigt. Aber diejenigen Lehrer, die keine freien
Lehrgänge abhalten, bleiben verfügbar, und zwar in mehr Stunden als ge-
wöhnlich, da doch ein Teil von ihnen auch Unterricht auf den oberen Klassen
hat, der an diesen Tagen ausfällt. Ältere Lehrer, die auf den unteren Klassen
gar keinen Unterricht haben, wird man, auch wenn sie keinen freien Lehr-
gang abhalten, nicht zwingen wollen, ihre jüngeren Kollegen an den freien
Arbeitstagen auf den unteren Klassen zu vertreten, doch wird sich vielleicht
mancher freiwillig dazu erbieten, sich an einem solchen Tag eine oder
zwei Stunden mit den Kleinen zu beschäftigen. Auf solche Weise werden
voraussichtlich soviel Lehrkräfte verfügbar werden, daß auf den unteren
Klassen etwa vier Stunden Unterricht erteilt werden können. NatürUch
kann es nicht der stundenplanmäßige Unterricht sein, vielmehr muß auch
hier den Lehrern freie Hand gelassen werden. Größere Arbeiten können
selbstverständlich geschrieben werden, besonders Klassenaufsätze (wodurch
die Störung des regelmäßigen Unterrichts vermieden wird), aber sie müssen
nicht, wie in Sachsen, die Alleinherrschaft haben. Für die ausfallenden Stunden
kann man den Schülern ein etwas größeres Maß häuslicher Aufgaben erteilen.
Hinsichtlich der Zahl der freien Arbeits- und Wandertage ist man an das
sächsiche Vorbild keineswegs gebunden, wie überhaupt die vorstehenden
Ausführungen nur als eine Anregung aufgefaßt werden wollen, als Anregung
zu einer Reform, die bei der praktischen Durchführung die mannigfachsten
Ausgestaltungen zuläßt. Es ist nur deshalb so weit ins einzelne gegangen,
um den Grundgedanken recht deutlich ins Licht treten zu lassen und seine
Ausführbarkeit zu beweisen. Auf Grund vorliegender Arbeit sowie einer
gleichzeitig entstandenen Abhandlung von Kesting, Freie Arbeitstage
auf den höheren Schulen, Neue Jahrb. 1920, 4 sind die freien Arbeitstage
am Leopoldinum (Gymnasium und Oberrealschule) zu Detmold seit dem
1. April 1920 eingeführt.
Detmold. K. Weerth.
IL Bücherbesprechungen.
Lehrbuch der Philosophie auf aristotelisch-scholastischer Grundlage zum
Gebrauch an höhern Lehranstalten und zum Selbstunterricht. Von Alfons
Lehmen S. J. Erster Band: Logik, Kritik, Ontologie. Vierte ver-
mehrte und verbesserte Auflage, herausgegeben von Peter Beck S. J.
Freiburg 1917. Herdersche Verlagshandlung. Gr. 8». XVIII u. 516 S.
7,60 M Geb in Halbkunstleder 10 M
Von dem in katholischen Kreisen rühmlich bekannten Lehrbuch der
neuscholastischen Philosophie des Jesuiten Lehmen hat sein Ordensbruder
Beck eine neue Auflage besorgt Der Herausgeber bezeichnet die Abschnitte
über die Methode m der Logik, über den Glauben und über den fanszenden-
talen Idealismus Kants als die Punkte , an denen am meisten erweitert wurde.
Die Darlegung des Systems sei fast ganz umgearbeitet worden. In der Tat
bemerkt man überall die Hand des neuen Bearbeiters und nicht nur bei den
genannten Fragen. Beck zieht neuere Werke, darunter freilich meist solche
von Katholiken, viel mehr heran als L hmen. Geblieben ist die erfreuliche
Klarheit und Durchsichtigkeit der Darstellung, die Lehmens Buch selbst
unter den scholastischen Lehrbüchern auszeichnete. Nicht nur dem Ver-
treter einer reaUstischen Weltanschauung, sondern auch demjenigen, der sich
über den Inhalt der neuscholastischen Philosophie rasch und gut unterrichten
will, ist das Werk dringend zu empfehlen. Von den scholastischen Definitionen
kann jeder lernen, da der Scholastiker weiß, wie weit man in der Definition
gehen kann, wieweit nicht, und da er die Mehrdeutigkeit der Wörter stets
sorgfältig beachtet. Die Fruchtbarkeit der Scholastik kann sich naturgemäß,
da für sie letzte Prinzipien unerschütterlich feststehen, weniger in diesen
letzten VoraussetTungen bekunden, als vielmehr in ihren Anwendungen
auf besondere Gebiete; aber eine gesunde „Schule" der Geister bleibt ihre
Logik, Erkenntnistheorie und Ontologie zu allen Zeiten. Ausstellungen
im einzelnen wie an den Ausdrücken ,, Zusammensetzung" und „Trennung"
beim Urteil (S. 57) und in dem S. 192 über Lotze und Wundt Bemerkten
seien nur Itise angedeutet.
Bonn. Adolf Dyroff.
G. W. Hegel. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte.
Vollständig neue Ausgabe von Georg Lasson. I. Bd. Ein-
leitung: Die Vernunft in der Weltgeschichte. Die Philosophische
Bibliothek. Bd. 171a. 1917, Geh. 5,50 M., geb.7 M.-II.Bd. Die orien-
talische Welt. Ebenda. 1919. Geh. 8 M., geb. 10,50 M. - III. Bd.
Die griechische und die römische Welt. Ebenda. 1920. Geh. 18 M.,
geb. 24 M. - IV. Bd. Die germanische Welt. Ebenda. 1920. Geb.
22,50 M. - V. Bd. Hegel als Geschichtsphilosoph. Ebenda. 1920.
Geh. 22,50 M., geb. 30 M. Leipzig F. Meiner.
Albert Hartmann^ Untersuchungen über die Sagen usw., angez. von R. Pappritz. 49
Zum Hegel- Jubiläum im August d. J. lag in dieser Neuausgabe seiner
Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte ein ganz besonders
wertvolles Geschenk vor. Die Ausgabe ist ein wissenschaftliches Ver-
dienst ersten Ranges, das dem Herausgeber um so höh\.r anzurechnen ist,
als er zu seiner wissenschaftlichen Arbeit nur die kargen Mußestunden zur
Verfügung hatte, die ihm sein mühevolles Pfarramt übrig läßt. Überall
handelt es sich um völlig neue Benutzung des aufbehaltenen handschrift-
lichen Materials unter sorgfältigster Veigleichung mit den bisher maßgebenden
gedruckten Ausgaben. Am allermeisten hat durch die erneute Benutzung
die Einleitung: „Die Vernunft in der Geschichte" gewonnen, da die früheren
Herausgeber sehr wenig sorgfältig, ja oft recht willkürlich sowohl mit der
vorhandenen eigenhändigen Niederschrift Hegels als mit den Kolleg-Nach-
schriften umgegangen waren. Jetzt gewinnt die Einleitung durch Lassons
Verdienst nicht nur stellenweise ein neues Gesicht, sie ist vielmehr
ein ganz neues Buch geworden. Sie wird ganz wesentHch dazu beitragen,
so manches völlig unberechtigte Vorurteil gegen den Geschichtsphilosophen
Hegel zu beseitigen. Das muß auch die erwünschte Folge des V. Bandes
sein, in dem nun Lasson auf Grund der Vorlesungen eine sehr ausführliche
Würdigung Hegels als Geschichtsphilosophen unternimmt, indem er sein
Verhältnis zur geschichtlichen Wirklichkeit überhaupt, die Weltgeschichte
im System der Philosophie, die Tatsachen und die Philosophie der Weltge-
schichte behandelt. Auch diese Darstellung wird wesentlich dazu beitragen,
die künftige Geschichtsbetrachtung nach der endlos öden Tatsachenanhäufung
und wertfreien materialistischen Geschichtsdarstellung, zu der dem deutschen
Geist offenbar besonders angemessenen Art, in der Geschichte eine Ent-
faltung des objektiven Geistes zu sehen, immer stärker zurückzuführen.
Auch die Texigestaltung des II. und IV. Bandes lassen in so manchem Punkte
die Ansicht Hegels von der orientalischen Welt wie von der griechisch-römi-
mischen und der germanischen anders erscheinen, als sie auf Grund der bis-
herigen Ausgaben es tun mußte. So wird schwerlich noch wie bisher
Hegels Schilderung der griechischen und der römischen Welt als der Glanz-
punkt seiner Philosophie der Weltgeschichte gelten können, während durch
den neuen Aufbau, den die Darstellung der germanischen Welt erfahren hat,
der Eindruck entsteht, daß gerade sie sich als das Bedeutendste in dem Hegel-
schen Gemälde der Weltgeschichte erweist.
Der beste Dank, den wir dem Herausgeber und dem Verlage abstatten
können, ist eine fleißige Benutzung dieser fünf neuen Hegelbände. Hoffent-
lich finden sich auch unter den Geschichtslehrern der höheren Schulen recht
viele, die, den philosophischen Gewinn des Geschichtsunterrichts würdigend,
auch zu diesen Bänden greifen.
Spandau. P. Lorentz.
Albert Hartmann. Untersuchungen über die Sagen vom Tod des
Odysseus. München 1917. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. 242 S.
Geh. 7 M.
Monafschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 4
50 Albert Hartmann, Untersuchungen über die Sagen usw., angez. von R. Pappritz.
Aus dem reichen, vielseitigen Inhalt des vorliegenden Werkes möchte
ich folgendes hervorheben: Aeschylos erwähnt in einem Drama „Psycha-
gogoi" einen eigenartigen Tod des Odysseus: Ein Fischreiher läßt im Flug
seinen Kot und darin einen giftigen Fischstachel auf des Odysseus' kahles
Haupt fallen ; die vergiftete Wunde ist natürlich tödlich. Hartmann vermutet,
daß die Totenbeschwörer den Chor gebildet haben, der Titel des Stückes
bezieht sich auf ihn, wie bei den Choephoren und Eumeniden. Aus einem
Chorlied der „Psychagogoi" zitiert Aristophanes in den Fröschen einen Vers:
'EQfiav juev Tiqöyovov tio^ev yivog ol Ttegl klf.ivav.
Hartmann kombiniert, indem er bezug nimmt auf Max. Tyr. 14, 2 und
Strabo 5,244, der See, an dem das Stück vor sich ging, sei die !AoQvog Xifivrj
bri lumae. Im Anschluß an Wilamowitz, Hom. Unters, stellt Hartmann
folgende Tetralogie zusammen ipvxaywyoL, nrjveXÖTtrj, ^OaroXöyoi, KiQxr], aarvQixi].
Wie moderne deutsche Dichter, z. B. Schreyer und Eelbo, versuchten auch
Dichter des Altertums die Odyssee zu dramatisieren.
Aristoteles erwähnt in der 'i^ax^a/wv TtoUxdijc (fr. 506 R) Telemach
habe die Nausikaa geheiratet und den Perseptolis erzeugt. Denselben Ge-
danken hat Schreyer in seinem Drama Nausikaa. Hartmann vermutet,
der Name Perseptolis sei aus der berühmtesten Tat des Odysseus hergeleitet.
Proclos überliefert uns in seiner Chrestomathie Telegonos, der Sohn
des Odysseus und der Circe, sei ausgezogen, um seinen Vater zu suchen.
In Ithaka habe er, ohne zu ahnen, wo er sei, wen er vor sich habe, seinen
Vater getötet. Darauf habe er, nachdem er seine Schuld erkannt, Penelope
und Telemach zu seiner Mutter gebracht. Diese habe sie unsterblich gemacht.
Penelope und Telegonus, Circe und Telemach bildeten nun ein Paar. Mit
Circe wurde nun auch Telegonue in Italien lokalisiert. Die gens Mamilia
betrachtet ihn als Ahnherrn; eine Reihe von Dichtern, namentlich Ovid,
spielen darauf an. Hartmann weist hin auf den Parallelismus in der Erzählung
über die beiden Söhne des Odysseus. Das Motiv des Kampfes zwischen Vater
und Sohn ist in den verschiedensten Literaturen, z. B. auch den sieben-
bürgischen Zigeunern, Persern und Chinesen anzutreffen. Bruno Busse,
Sagengeschichtliches zum Hildebrandliede, hat darüber eine Zusammen-
stellung gemacht. — Bei Parthenios in den 'EQtoxLy.d 7ta^ri/.iaTa wird ein Liebes-
abenteuer des Odysseus geschildert. Der Held und Penelope sind hier ganz
anders charakterisiert als in der übrigen Überlieferung, nämlich als unent-
schlossen und eifersüchtig.
Sextus Empiricus endüch berichtet, völlig abweichend von den anderen
Überlieferungen, Odysseus sei von Athene in ein Roß verwandelt worden.
Entsetzt über eine Mißgeburt, den Pan, den Sohn der Penelope und ,, aller"
Freier, floh Odysseus in sinnlosem Schrecken in die Welt hinaus. Hartmann
kombiniert nun, Athene habe aus Erbarmen ihm die Gestalt „des scheuen
und flüchtigen, vom geringsten Schrecken sinnlos dahingehetzten Pferdes
gegeben".
Naumburg a. S. R. Pappritz.
Lamer, Die altklassische Welt, angez. von E. Ziebarth. 51
Die Germania des Tacitus. Erläutert von Karl MüUenhoff. Neuer, ver-
mehrter Abdruck. Besorgt durch Max Roediger (Deutsche Altertums-
kunde von Karl MüUenhoff. Vierter Band). Berlin 1920. Weidmann-
sche Buchhandlung, gr. 8°. XXIV und 767 S. Preis 36 M.
Das grundlegende Werk Müllenhof fs, zum ersten Mal 1900 erschienen,
war seit langem vergriffen. Der vorliegende vermehrte Abdruck ist darum
noch besonders zu begrüßen, weil seit Kriegsbeginn die Germaniastudien
einen erneuten Aufschwung genommen haben. Wie die Humanisten vor
Jahrhunderten an dem kostbaren Büchlein des Tacitus ihr Nationalgefühl ge-
wannen, so wird die Schrift auch jetzt von neuem ihre erziehliche Kraft beweisen.
Wer sie verstehen will, wird immer wieder zu MüUenhoff zurückgeführt.
Die Vermehrung betrifft den Text, der um 4 Seiten zugenommen hat. (Er-
weiterung des Sueben- und Langobardenkapitels, 2 neue Abschnitte in den
Anhängen über „Lust und Unlust" und „Eidring"), und besonders die Register.
Die Verweisungen hätten namentlich bei den Inschriften dem jetzigen Stand
angepaßt werden sollen. — Ein Wort der Empfehlung bedarf das Buch nicht.
V. Christ, Wilhelm, Geschichte der griechischen Literatur. (Müller, Hand-
buch der klassischen Altertumswissenschaft VII, 2, 1.) Sechste Auflage,
unter Mitwirkung von Otto Stählin bearbeitet von Wilhelm Schmid.
II. Teil. 1. Hälfte. München 1920. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung,
gr. 8». VII und 662 S. Geh. 35 M., geb. 55 M.
Der vorliegende Band des zum unentbehrlichen Handwerkszeug gehören-
den Christschen Werkes umfaßt die nachklassische Periode der griechischen
Literatur von 320 v. Chr. bis 100 n. Chr. Ich begnüge mich, schon aus Raum-
rücksicht, damit, die einleitenden Worte der kurzen Vorrede herzusetzeu:
,,Die 6. Auflage erscheint der 5. gegenüber um etwa ein Drittel verstärkt.
Der Zuwachs entfällt in nur wenig größerem Maße auf den Abschnitt über die
rein heidnische Literatur als auf den über die hellenistisch-jüdische. Gerecht-
fertigt ist er nicht nur durch das Anschwellen der neueren Literatur seit acht
Jahren, die besonders für Poseidonios, Plutarchos und Philon vieles der
Berücksichtigung Werte gebracht hat, sondern auch durch die Veröffent-
lichung neuer Papyrustexte (neue Komödie, Kallimachos, Philodemos)."
Pfaffendorf bei Coblenz. Max Siebourg.
Lamer. H., Die altklassische Welt. Neubearbeitung von Martin Wohl-
rabs Altklassischen Realien im Gymnasium. 10. Aufl. (erste Aufl. der
Neubearbeitung). Leipzig 1918. B. G.Teubner. Geb. 2,20 M. u. Teuerungs-
zuschläge des Verlags und der Buchhandlungen.
Jedes Hilfsmittel zur Veranschaulichung des antiken Lebens und der
antiken Kultur wird der GymnasiaUehrer freudig begrüßen, doppelt freudig,
wenn es so reichhaltig und so praktisch ist, wie Lamers Neubearbeitung
des alten Wohlrab. Lamer war zu dieser Arbeit besonders berufen, da er
schon früher seine Gedanken über die Anlage eines Realienbuches für Gym-
nasien ausgesprochen hatte, ebenso schon längst bemüht war, die enge Ver-
bindung des Altertums mit der Gegenwart immer wieder neu nachzuweisen.
4*
52 Lamer, Die altklassische Weli, angez. von E. Ziebarth.
Der Hinweis auf die Kulturzusammenhänge zwischen Altertum und Gegen-
wart hat daher oft Zusätze zu dem ursprünglichen Texte veranlaßt, und das
Büchlein stellt jetzt, wenn auch in engstem Rahmen, die gesamte Kultur des
Altertums dar. Wie das Verhältnis des neuen Werkes zum alten Wohlrab
im einzelnen sich gestaltet hat, hat Referent nicht geprüft, sicher aber ist
manches wohl mit Unrecht aus dem alten Buche stehen geblieben, auch hat
die notwendige Kürze b( i einem so gewaltigen Stoff mitunter die Klarheit des
Ausdruckes etwas beeinträchtigt. Manches kann aber leicht in weiteren
Auflagen geändert werden. Beispielsweise § 246 Erziehung sind die Angaben
über Spielzeug und Spiele etwas dürftig. Der Satz ,,da die Lehrer oft Sklaven
waren, war der Lehrerstand nicht geachtet" ist in dieser Fassung viel zu ein-
seitig, ebenso der folgende: „der Gymnasialunterricht für Erwachsene war
Sache der Gemeinden" sehr umstritten, er mußte mindestens eine zeitliche
Erklärung erhalten. Wenn es kurz darauf weiter heißt „die Schüler, die nicht
turnten, also Muße hatten, saßen um den Lehrer herum", so ist das mißver-
ständlich. Man denkt nach modernen Begriffen etwa an die vom Turnen
befreiten Schüler. In § 248 konnten die Angaben über die Grabbeigaben
ausführlicher gestaltet werden. Mißverständlich ist der Satz „Viele davon
(Grabsteine) sind, obwohl von Handwerkern gearbeitet, köstliche Stücke
antiker Kunst", da doch der Unterschied zwischen Handwerkern und Künst-
lern im Altertum völlig zurücktrat. § 252 Handel und Gewerbe wird
vom Kreditbriefwesen gesprochen, dessen Vorhandensein doch umstritten ist.
Ebenda ist bei Betonung der Bedeutung der zwei Sprachen Lateinisch und
Griechisch, durch die man sich von England bis Persien überall verständlich
machen konnte, das Punische vergessen, dessen Bedeutung in den zahlreichen
Bilinguen von Sizilien, Cypern u. a. O. zu erkennen ist. Ebenda fehlt in dem
Satze „Handelsstädte wie Palmyra und Ostia sind durch ihre Ruinen und
Ausgrabungen bekannt" eine Erwähnung von Delos, Piraeus, Olbia u. a. O.
Eine aufklärende Bemerkung über die Preise wäre Seite 139 sehr angebracht
gewesen. Bei der Geschichte des Geldes Seite 141 konnte erwähnt werden,
daß das Eisengeld von Sparta wiedergefunden ist. Ebenso mußte das Geld
in Fisch- und das in Schinkenform erwähnt werden. § 261 ist der Satz „das
älteste römische Geld noch gar nicht in Rom, sondern in Campanien angefertigt"
mißverständlich und erfordert nähere Aufklärung über die Einführung der
Münzprägung aus Campanien in Rom. Der Satz über die Herkunft des Alpha-
bets (S. 144) das die Phönikier von den Ägyptern übernommen haben sollen,
ist bekanntlich außerordentlich bestritten, zum mindesten mußte die neuere
Anschauung über die Herkunft des Alphabets von Kreta durch Vermittlung
der Philister an die Phöniker erwähnt werden. Auch der Satz über den Buch-
handel am Schluße des Buches ist in dieser Kürze nicht verständlich; „die
Bücher wurden nach Diktat von vielen im Schnellschreiben geübten Sklaven
gleichzeitig geschrieben" kann doch unmöglich von Herodots Geschichtswerk
schon gelten und mußte also wiederum zeitlich genauer bestimmt werden.
Solche Anmerkungen wird jeder Leser leicht machen können, aber jeder
wird sich auch aus dem Inhaltsverzeichnis leicht ein Bild machen können,
Karl Brandi, Deutsche Geschichte, angez. von F. Neubauer. 53
was in diesem guten Buche alles zu finden ist. Von den Ausgrabungen zu
Milet (von denen es nur S. 68 nicht mehr heißen darf: „. . . gräbt das Deutsche
Reich ihre Ruinen jetzt aus", da die Italiener jetzt die Herren der Stadt sind)
zum Reichskursbuche zu Staroperation zum Studentenleben zu den Straf-
arbeiten von Schülern zu Reisebeschreibungen, zur Hygiene, zum Giroverkehr
zum anatomischen Institut (fehlt im Register !) Kurz, es ist schwer anzugeben,
was nicht in diesem Buche zu finden wäre. Aufgefallen ist mir das Fehlen
einer Angabe über Verkehrswesen und Gasthäuser. Kurz, das Buch ist in
vielen Beziehungen ein Treffer und hat auch bceits eine weitere 1 1 . Auflage
erlebt (1920), wie Referent hier mitteilen kann, da die Anzeige durch widiige
Umstände zwei Jahre lang verzögert ist. In dieser ist vielerlei verbessert
worden, auch die angeführt*. Stelle über Milet. Besonders ist der Abschnitt
über Sokrates (§ 136) neu geschrieben nach Birt Sokrates der Athene^, ebenso
ist am Schlüsse des Buches hinter Buchhandel neu hinzugefügt ein Abschnitt
Weiterleben der antiken Schriften, Einwirkung der antiken Buchtechnik auf
die unsere. Preis der 11. Aufl. kart. 3,40 M. dazu Teuerungszuschläge.
Ahrensburg i. H. E. Ziebarth.
Karl Brandi, Deutsche Geschichte. Berhn 1919. Mittler & Sohn. 295
u. XIV S. 28 M.
Eine deutsche Geschichte auf 235 Seiten, zu denen noch 24 Seiten Quellen-
angaben und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis kommen, „im Felde ent-
standen und auf Grund von Vorträgen in einem Fronthochschulkursus nieder-
geschrieben". Ein kühner Versuch, das Werden unseres Volkes als eine Ein-
heit zu begreifen und in knappster Form dem Leser vor die Seele zu stellen ;
ein Versuch, bei dem vieles, was schön und denkwürdig scheint, ausgeschieden
werden mußte; und doch eine Darstellung, deren einheitlicher Stimmung
man sich gern hingibt: in schöner, innerlich belebten, von tiefem Gefühl
für unser Volkstum erwärmter Sprache, mit zahlreichen feinen Bemerkungen,
Schlaglichtern, die ein Zeitalter kennzeichnen oder Zusammenhänge erhellen,
in klaren, aber naturgemäß so großen Zügen, daß, wer ein Ereignis oder eine
Persönlichkeit tiefer kennea lernen will, oft nicht auf seine Kosten kommt;
ein Buch, das eben nicht dazu bestimmt ist, der Vermehrung des Einzel-
wissens zu dienen, sondern um das Ganze der deutschen Entwicklung genuß-
voll und in herzlicher Hingabe des Gemüts zu überschauen. Am 1. November
1918 hat der Verfasser die Feder aus der Hand gelegt; wenige Tage darauf
kam die Revolution. Und so stehen freilich die schönen Schlußworte, in
denen er uns mahnt, ,,das aus der Hingabe an die vaterländische Sache ge-
borene Gefühl der unteilbaren Gemeinschaft" zu wahren, zu dem, was wir
seitdem erlebt haben, in einem Gegensatz, der Grauen erweckt. Aber es ist
gewiß so, wie er in der Einleitung es ausspricht, daß dem deutschen Volke
vertiefte historische Bildung nie so not tat, wie heute; möchte das Buch
mit dazu helfen, geschichtlich begründeten Wirklichkeitssinn und liebevolle
Treue zu unserer Volksgemeinschaft, die in breiten Schichten fast erstorben
zu sein scheinen, wieder zu beleben.
Frankfurt a. M. F. Neubauer.
54 Obst, Volkswirtschaftslehre, angez. von Wersche.
Obst. Georg. Volkswirtschaftslehre. Zweite vollständig umgearbeitete
Aufl. Stuttgart 1921. K. E. Poeckel. 355 S. 32 M.
Wirtschaftsfragen und Wirtschaftssorgen beherrschen heute in uner-
hörtem Maße unser Interesse, und neben der Medizin ist die Nationalökonomie
die angesehenste Wissenschaft. Wer hat vor dem Kriege in Laienkreisen
etwas von Valuta oder Geldentwertung gewußt ; heute sind diese und andere
schwierige Begriffe der Volkswirtschaftslehre im Munde des gemeinen Mannes
und der Unmündigen. — Die oberste Schulbehörde hat die Bedeutung der
wirtschaftlichen Fragen und Kämpfe in Vergangenheit und Gegenwart
längst erkannt. Zeugnis dessen sind die „Lehrpläne und Lehraufgaben für
die höheren Schulen Preußens" vom Jahre 1901, in denen es unter anderem
auf Seite 48 heißt: . . . „wirtschaftliche Belehrungen werden sich ungezwungen
überall da in den Gang der Geschichte einflechten lassen, wo die Lösung
sozialer Aufgaben und wirtschaftlicher Probleme versucht worden ist."
Je weiter nun der Geschichtsunterricht in die Gegenwart hinab- und
hineingeführt wird, einen um so breiteren Raum nehmen wirtschaftliche
Belehrungen und Erörterungen im Geschichtsunterricht ein: die Zollkämpfe
und Zollverträge in der äußeren Politik, die Wirtschaftskrisen, Lohnkämpfe
und die soziale Gesetzgebung verlangen eine sorgfältige Betrachtung. Der
Geschichtslehrer, der seiner schwierigen Aufgabe gerecht werden will, muß
nicht nur auf der Universität gründlich vom Borne nationalökonomischer
Wissenschaft getrunken haben, die Volkswirtschaftslehre wird vielmehr bei
seinen Vorbereitungen und für die neu auftauchenden Fragen seine stete
Begleiterin und Beraterin bleiben.
Für diesen Zweck empfiehlt sich in hervorragendem Maße das oben ge-
nannte Werk von Gg. Obst. Es ist aus Vorlesungen hervorgegangen, die der
Verfasser vor dem Kriege in der Schule des Vereins der Bankbeamten ge-
halten hat, und ist in der zweiten Auflage völlig umgearbeitet und durch die
Erfahrungen, die Obst als verantwortungsvoller Leiter einer Kriegswirt-
schaftsstelle, als Bankdirektor und Professor in und nach dem Kriege ge-
macht hat, bereichert worden. Der Verfasser ist kein Dogmatiker; aus der
Praxis ist sein Buch entstanden. Für den praktischen Gebrauch ist es ge-
dacht und geschrieben. Es setzt keine Vorkenntnisse voraus. Seine Vorzüge
sind: Klare, festumrissene Begriffe, die aus reicher Erfahrung und wissen-
schaftlicher Arbeit gewonnen sind, und einfache, lichtvolle Darstellung.
Wer sich schnell über ein wirtschaftliches Problem, über eine der brennenden
Tagesfragen — sie sind ja alle wirtschaftlicher Natur — orientieren will,
wird nicht vergeblich in O b s t s Volkswirtschaftslehre Rat und Belehrung
suchen.
Das Buch behandelt in vier großen Abschnitten die vier Teile der National-
ökonomie: Gütererzeugung, Güterumlauf, Güterverteilung und Güterver-
brauch. In einem „Anhang" wird auf 43 Seiten die Geschichte der National-
ökonomie dargestellt ; sie hat für den Geschichtslehrer besondere Bedeutung,
ist aber bei weitem nicht ausführhch genug und wird hoffentlich bei einer
Neuauflage eine bedeutende Erweiterung erfahren. Auch die Literaturan-
Einführung in die Psychiatrie, angez. von Julius Koch. 55
gaben sind nicht ausreichend; Umfang, Auflage und Preis der genannten
Werke sind nicht beigefügt. Sind das Mängel geringerer Art, so ist der Preis
des Buches erheblich zu beanstanden : Wenn auch Obst wohl bei der Abfassung
des Buches an Lehrer und Studenten gedacht hat, der Verleger scheint nur
auf Käufer aus Bank- und Börsenkreisen zu rechnen.
Charlottenburg. Wersche.
Rühlmann, Paul, Die französische Schule und der Weltkrieg.
Leipzig 1918. Quelle & Meyer. IV u. 118 S. Geh. 2,20 M.
Die Würfel sind gefallen. Das Schicksal hat gegen Deutschland ent-
schieden. Die Feinde triumphieren. Mehr denn je steht die Frage nach den
Schuldigen am Weltkrieg zur Erörterung. Wer an ihrer Klärung interessiert
ist, darf an Rühlmanns Buch nicht vorübergehen. Es ist in objektiver Form
eine furchtbare Anklage Frankreichs. Wie der Rachegedanke jenseits
der Vogesen immer mehr zur Zentralidee des gesamten politischen Denkens
geworden ist, wie er in der Lehrerschaft namentlich durch Poincares ent-
scheidenden Einfluß alle paziflstischen Strömungen um die Jahrhundertwende
erstickt und schUeßlich mehr oder weniger alle Unterrichtsgegenstände durch-
setzt hat, das wird an der Hand unanfechtbaren, authentischen Materials
mit der Sachlichkeit und Sorgfalt des gewissenhaften Forschers nachgewiesen.
Das Buch ist geradezu eine Geschichte des französischen Rachegedankens,
wie sie in ähnlich systematischer Vollständigkeit noch nicht geboten worden ist.
Fehlefj Kurt, Erweiterung und Vertiefung des französischen
Wortschatzes. Breslau 1917. Trewendt & Granier. 48 S. Geh. 0,60 M.
Daß die Kenntnis des französischen Wortschatzes in der Schule vielfach
zu wünschen übrig läßt, ist eine kaum bestreitbare Tatsache. Ein vortreff-
liches Mittel zur Hebung dieses Übelstandes ist die Berücksichtigung der
Wortbildungslehre und die Zusammenstellung von Wortfamilien, wie sie der
Verfasser bietet. Aber das Wort allein genügt oft nicht, um seinen Sinn
und seine Bedeutung zu klarer Anschauung zu bringen. Dazu bedarf es geeig-
neter Beispiele. Das hat der Verfasser richtig erkannt, und er hat durch zweck-
mäßig ausgewählte, kurze und schlichte, vielfach der Umgangssprache ent-
lehnte Sätze die begrifflich klare Erfassung des Wortsinnes gesichert.
Manche Beispiele freilich, die auf den Weltkrieg Bezug nehmen, sind durch
die Ereignisse überholt. Das Heft ist neben jedem französischen Lehrbuche
zu verwenden und verdient, aufs angelegentlichste empfohlen zu werden.
Elmshorn. Gustav Humpf.
Einführung in die Psychiatrie für weitere Kreise von Dr. Heinrich Schiöss,
Regierungsrat, Direktor a. D. der n.-ö. Landesanstalten „am Steinhof'
in Wien. Zweite, umgearbeitete und vermehrte Auflage. Gr. 8*^. (VHI
u. 186 S.). Freiburg i. Br. 1919. Herdersche Verlagshandlung. 6,50 M.;
geb. 8,50 M. und Zuschläge.
56 Einführung in die Psychiatrie,
Man wird mit der Forderung keinen Widersprucii zu befürchten haben,
daß demjenigen, dessen berufliche Aufgabe die Pflege des Geistes ist,
auch die Geistesstörungen und ihre Ursachen nicht unbekannt
sein dürfen, wenn anders er sich seiner schweren Verantwortlichkeit bewußt
ist und arge Mißgriffe vermeiden will. Natürlich bedarf er hierbei des fach-
kundigen ärztlichen Beraters, und als solchen bietet sich der Verfasser des
vorliegenden Buches der Lehrerwelt ausdrücklich an, indem er es als eine
„Propädeutik für Theologen und Pädagogen" geschrieben zu haben erklärt.
Damit rechtfertigt sich auch seine Anzeige an dieser Stelle und durch einen
Laien; denn wenn er sich selbstverständlich eines Urteils über die wissen-
schaftlichen Grundlagen und etwaige Streitfragen, die übrigens kaum an-
gedeutet werden, zu enthalten hat, so wird doch Jer Lehrer den Fachgenosse i
am besten zu sagen wissen, ob und inwiefern dps Büchlein ihnen Nutzen
ViT pricht. Längst hat ja die Pädagogik, die doch in erster Linif zur wahren
Seelenkunde erziehen soll, auch die kranke Seele 'm ihren Bereich gezogen,
und diese Aufgabe ist imZeitalter der ,, Psychoanalyse" und der „psychiatrischen
Studien", in denen Roman und Theater schwelgen, naturgemäß noch dring-
licher geworden. Da aber Geisteskrankheiten, wie wir immer deutlicher
erkennen, überwiegend nicht im reiferen Alter erworben werden, (obwohl
sie in ihm meist erst zum Aisbruch kommen), sondern in der jugendlichen
Stufe bereits im Keime schlummern, so ergibt sich für den Erzieher die Not-
wendigkeit, mit immer größerer Sorgfalt die Seele des Zöglings zu beobachten
und seine eigenen Kenntnisse von den physischen Bedingtheiten der psychischen
Äußerungen zu verliefen. Wieviel Irrtümer in der Beurteilung und Behand-
lung jugendlicher Mängel, Unarten und Verfehlungen tagtäglich, auch
von sonst tüchtigen Lehrern und Lehrerinnen, begangen werden, weiß jeder
sich ernst prüfende Pädagoge selbst am besten; er wird sie vermeiden lernen,
wenn er durch einen so sachkundigen und zugleich menschenfreundlichen
Fachmann, wie der Wiener Irrenarzt es ist, aus dem reichen Schatze seiner
Erfahrungen über die Zusammenhänge von geistigen Erscheinungen und
körp(rlichen Ursachen belehrt wird. Übrigens sei ausdrücklich bemerkt,
daß der Verfasser überall da, wo er auf Schulverhältnisse und Schülerbe-
handlung zu sprechen kommt, — wie in den Fragen der Überbürdung und
der Schülerselbstmorde — entgegen übler Gepflogenheit weiter Kreise dem
Lehrerstande verständnisvoll gerecht wird, wenn er auch gelegentliche Miß-
griffe „ungeeigneter Lehrpersönlichkeiten" nicht in Abrede stellt.
Der Raum gestattet nicht, den Inhalt des Buches Kapitel für Kapitel
vorzuführen. Selbstverständlich werden die Ursachenlehre (Ätiologie)
und die Merkmalslehre (Symptomatologie) wissenschaftlich behandelt, aber
doch so, daß über das Fassungsvermögen des Gebildeten, zumal des psycho-
logisch geschulten, nicht hinausgegangen wird. Den reichsten Gewinn aber
für die Praxis dürfte den Erzieh^^rn, zu denen ich, über die Beschränkung
des Verfassers auf Geistliche und Lehrer hinausgehend, besonders auch die
Eltern gerechnet haben möchte, das Kapitel ,,über nervöse Störungen und
Geisteskrankheiten der Kinder und im Pubertätsalter" bieten; denn hier
angez. von Julius Koch. 57
befinden wir un""> auf ilirer eigentlichen Domäne. Welche Unsumme von
Mißstimmung und Fehlgriffen, von Ärger auf der einen, Kränkung und Schä-
digung auf der andern Seite könnte vermieden werden, wenn die Lehrer
auf Grund wissenschaftlicher Erkenntnis sich dessen immer bewußt wären,
wie oft hinter der gerügten Teilnahmlosigkeit und „Faulheit" (!), hinter
Unruhe und Zerstreutheit, hinter Trotz, Unfug und sittlichen Verfehlungen
körperliche Ursachen verborgen sind, Ursachen, die in physischen Störungen,
überstandenen Infektionskrankheiten und nicht zuletzt in ererbten Anlagen
zu suchen sind. Erfordert das Pubertätsalter, wie wir ja längst wissen, aber
immer noch zu wenig berücksichtigen, eine ganz besondere, wenn auch dem
Zögling nicht stets zu zeigende Rücksichtnahme, da es den Nährboden
für psychische Erkrankungen von den leichteren Stufen bis zur Hysterie,
Hypochondrie und der furchtbaren dementia praecox bildet, so lauert im allge-
meinen hinter den ernsteren Störungen, die wir beobachten, oft das soviel Segen
wie Fluch in sich bergende Menschengeschick der Vererbung. Welche Rolle
hier der Alkoholismus und die entsetzlichste Geißel unserer Zeit, die Syphilis,
spielt, scheint heut allgemein bekannt zu sein; aber dem Erzieher geziemt
es, sich aufs eingehendste mit diesen Fragen zu beschäftigen, damit er die
unschuldigen Opfer elterlicher und vorelterlicher Krankheiten als solche
erkennt und nicht durch falsche Behandlung noch weiter schädigt. Ausge-
zeichnet ist das Kapitel ,,über die Trunksucht und ihre Folgen", und nicht
minder wertvoll, wenn auch nicht zu einem Ganzen zusammengefaßt, sind
die eingestreuten Hinweise auf das geschlechtliche Leben, die für die „Sexual-
pädagogik'^)" t effliche Beiträge bieten.
Überaus wohltuend berührt der warme Ton reiner Menschenliebe, der
durch das ganze Buch klingt und das Lesen nicht nur als Studium empfinden
läßt, sondern zum Erlebnis macht. Und dieser Eindruck würde sich vertiefen,
wenn der Verfasser sich entschließen könnte, die theoretischen Krankheits-
schilderungen noch viel öfter durch Krankheitsberichte zu beleben, wie es
z. B. S. 41 so mustergültig geschieht. Ich denke dabei besonders an Kapitel IV,
wo die fast erdrückende Fülle von Ausdrücken wie Halluzination, Illusion,
Reflexillusion, Re- und Apperzeptionsillusion, Perzeptionsphantasmen, Re-
produktion"^- und Fixationsamnesie usw. durch kurze „Fälle" aus dem Tage-
buch des Arztes dem Leser schmackhaft gemacht werden könnte. Sollte
nur Raummangel der Erfüllung dieses Wunsches entgegenstehen, so emp-
fehle ich die Zusammenziehung der Kapitel V und VI, da ja die rein wissen-
schaftliche „Einteilung der psychischen Krankheitsformen" in dei folgenden
Darstellung derselben implicite enthalten und für den Zweck dieses Buches
nicht erforderlich ist. Aber exempla docent: diese alte Wahrheit bitte ich,
gewiß im Sinne aller lernbegierigen Erzieher, für die nächste Auflage zu be-
rücksichtigen, die ich dem trefflichen Buche für sehr nahe Zeit voraussage.
Schlachtensee. Julius Koch.
^) Auf die Bedeutung dieser jungen Wissenschaft, die noch zu wenig praktische Er-
folge zeitigt, habe ich in zwei Aufsätzen im „Deutschen Philologenblatt" Jahrg. 1918
Nr. 25/26 und 1919 Nr. 44 eingehender hingewiesen.
58 Hacks, Stadtschulrat, Breslau, angez. von Wilmsen.
HacRs, Stadtschulrat, Breslau. Die Aufgaben der Realanstalten nach
dem Kriege. (70 S.) Das neue Deutschland, Heft 7. Berlin u. Leipzig.
Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. 3,80 M.
Der Titel ist trotz der Einwände des Verf. irreführend; es handelt sich
bei drei Vierteln der Schrift um die höheren Schulen. H. stellt zunächst vier
Aufgaben heraus: volkswirtschaftliche, soziale, kulturelle, natio-
nale. Die erste wird ja von vielen Seiten betont, aber ist wohl nur stellen-
weise ernsthaft in Angriff genommen. H. kennt die Schwierigkeit, daß näm-
lich „nicht einmal die Professoren der Nationalökonomie sich über die wich-
tigsten Fragen einig sind". Dennoch findet diese unser Verf., indem er einige
ansprechende Proben gibt, ,, einfach und durchsichtig". Hoffentlich lassen
sich die Professoren belehren. Auf H.'s Buch: Grundbegriffe der Volks-
wirtschaftslehre, Breslau Priebatsch sei hingewiesen. Geschichte und fremde
Sprachen sollen je eine Stunde abgeben. Außer dem nächsten Zweck erfüllt
dieser Unterricht noch den der Erziehung zur Objektivität, da die Ergebnisse
oft dem eigenen Vorteil widersprechen, und zum sozialen Empfinden, Diese
zweite Aufgabe hat als Hauptschwierigkeit das Vorurteil der guten Familie
zu überwinden. H. hat wohl Recht, wenn er hofft, daß volkswirtschaftlicher
Unterricht dem entgegenwirkt. Unter Kultur versteht H. alles, was uns über
den Alltag erhebt. Man vermißt in seiner Aufzählung des Wichtigsten Pflege
des Gemeinschaftslebens. Künstlerische Anlagen sollen mehr Beachtung
finden, mangelhafte Leistungen auf anderen Gebieten ausgleichen (jahre-
lang?). Der Philosophie, bei der er die Erziehung zur Vorurteilslosigkeit
rühmt, will er eine Stunde in Prima zuweisen. Häufige wenn auch unsyste-
matische Behandlung ethischer Fragen! In der Religion praktisches
Christentum, Duldsamkeit; leider bemühe sich mancher Lehrer geradezu,
die Lehren anderer Konfessionen als sinnlos darzustellen. Unter den natio-
nalen Aufgaben hält er die der Erziehung zur nationalen Gesinnung nicht
für dringend, da Mangel daran im Kriege nicht hervorgetreten sei. Woher
dann die vielen Fälle nationaler Würdelosigkeit? Auch Mangel an Geschichts-
kenntnissen hätte sich nicht gezeigt. Woher dann der Hereinfall auf Wilson
und all das Geschwätz der Feinde von Demokratie? Da hätte Kenntnis der
Wahlrechtsverhältnisse anderer Länder und der Befugnisse ihrer Staatsober-
häupter, Kenntnis des Völkerbundvorschlages Englands vom Jahre 1811
Gutes gewirkt; dazu hatte der Geschichtsunterricht bisher nicht Zeit. Mehr
hat sich nach H. Mangel an Kenntnis in Mathematik, Physik, Chemie gezeigt.
Welche Anzeichen hat H. im Auge ? — Dann beschäftigt sich H. mit dem Nach-
weis, daß die Realanstalten den Gymnasien gleichwertig und ins-
besondere eine durchaus geeignete Vorbereitungsstätte für das Studium
der Geisteswissenschaften seien. Er stellt fest, daß entgegen seiner eigenen
früheren Meinung selbst in der Prüfung für neuere Sprachen die Realabiturienten
besser abschneiden, und vermutet mit allem Vorbehalt, daß die Lehrpläne
dabei eine Rolle spielen. Ich fürchte, daß die Statistik diese Fragen in ab-
sehbarer Zeit nicht entscheiden wird. Nach meinen Beobachtungen dürfte
sich ein schlechteres Abschneiden der Gymnasiasten daraus erklären, daß sie
Mehr Freude, angez. von H. Schröer. 59
mehr das Bedürfnis nach allseitiger Umschau auf dem Gebiet der Geistes-
wissenschaft haben und daher weniger auf die Bedürfnisse der Prüfung hin
studieren. Zu meiner Zeit drückten sich die Neuphilologen vom Realgymnasium
aus einer bestimmten Universität, weil man dort Griechisch brauche. Wie will
die Statistik all solche Verhältnisse erfassen! Eine Rundfrage bei den Neu-
philologen könnte einiges klären — Um allen Begabungen gerecht zu werden,
fordert er das mathematisch-naturwissenschaftliche Gymnasium
mit einer Fremdsprache, ,,da ein für Sprachen wenig beanlagter Schüler
gegenwärtig auf keiner höheren Lehranstalt große Aussicht hat, weiter-
zukommen." Bin anderer Ausweg scheint naheliegender als das Ausschalten
einer Sprache, was auch die Techniker schädigen und den Horizont aller
Schüler sehr einengen würde: man verlange in der zweiten Fremdsprache
nur eine „Lesekenntnis". Der heutige Betrieb, der an den Realanstalten
beide Sprachen nur gradweise verschieden behandelt, ist mir seit jeher un-
begreiflich. Bei Teilung der Oberstufe könnte man für die mathematische
Abteilung auch für die erste Fremdsprache auf eine Lesekenntnis herab-
gehen. Dann ließe sich diese Abteilung im Sinne des technischen Gymnasiums
gestalten — Verf. eifert dann gegen regellose Berufswahl und empfiehlt die
schon vielfach wirksamen Maßnahmen (Beratungsstelle, Werkstätten). U.a.
meint er, daß sich juristisches Verständnis an Unterricht in Gesetzeskunde
und Volkswirtschaftslehren, pädagogische Begabunge an eigenen Unterrichts-
versuchen (geschieht schon in Privatstunden und Vereinstätigkeit Rez.),
medizinische Begabung an verstärktem Unterricht über den menschlichen
Körper entzünden und ihrer selbst bewußt werden können. — Es folgen dann
noch über die einzelnen Fächer Bemerkungen, deren meiste dem Fachver-
treter gegenstandslos erscheinen dürften, da Verf. wohl richtig fühlt, daß
bei jedem Fach ein Mangel festzustellen ist, aber auf die falsche Stelle den
Finger legt.
Im ganzen ein anregendes Buchj, das ältere Forderungen oft in neue Be-
leuchtung rückt.
Spandau. Wilmsen.
Mehr Freude. Von Dr. Paul Wilhelm von Keppler, Bischof von Rctten-
bu'-g. Volksausgabe. 100. bis 125. Tausend. Freiburg i. Br. Herdersche
Veilagshandlung. 12°. XX u. 160 S. Kart. 1,75 M, in Pappband 2,20 M.
Die 100 000. Ausgabe! Wenn sonst ein Buch diese hohe Ziffer er-
reicht, pflegt es als Prachtausgabe herausgegeben zu werden. Beim Freuden-
büchlein war das nicht der Fall, im Gegenteil, das Format wurde kleiner,
die Ausstattung nicht prunkvoller, sondern einfacher gestaltet, der Preis
nicht erhöht, sondern herabgesetzt; kurz, das hundertste Tausend wurde
keine Prachtausgabe, sondern eine schlichte Volksausgabe wohlfeilster Art.
So darf unser Büchelchen hoffen, in allen Kreisen neue Freunde zu gewinnen.
Hat doch jeder Mensch wie ein Bedürfnis nach Freude, so auch ein Anrecht
auf Freude, die unentbehrlich für unsere körperliche wie seelische Gesund-
heit ist. Daß die Freude für uns Menschen sei, was der Sonnenschein für
die Pflanze, ist mehr als bloße Redensart.
60 Heinrich Meyer-Benfey, Sophokles' Antigene, angez. von Ch. Caemmerer.
Rettet das Volkslied! Ob es überhaupt noch lebt? Gewiß, das
Volk singt auch heute noch, mag es immerhin nicht mehr sein, was es ehedem
gewesen. Macht es nicht den Eindruck, als wenn der rechte Ernst wie der
rechte Scherz fehlte? „Wo ist das deutsche Lachen hingekommen?" fragt
Ernst V. Wildenbruch. „Deutschland war einstmals ein fröhliches Land.
Es konnte lachen, herzhaft wie irgendein Volk, ja mächtiger als alle." Gibt
es denn noch ein Naturvolk? Wir antworten kurzerhand : Nein ! und folgern :
Darum auch kein Volkslied mehr! Im Interesse der Raumersparnis fügen
wir zum Schluß nur noch die eine oder andere kurze Bemerkung hinzu.
Freude und Erziehung. Daß das Kind von Natur einen feinen Sinn
für kleine Gaben besitzt, wird niemand bezweifeln. Man kann ihm wirklich,
wofern man es nur versteht, aus nichts Freude bereiten. Ja, laut vor Ver-
gnügen jauchzt das Kind, wenn es der Mutter gelingt, aus den wertlosesten
Stoffen Freudenrosen hervorzuzaubern. ,,Auch die ernstere Natur, der strenger
Charakter und die straffere Art von Autorität, welche dem Vater und dem
Lehrer eignet, ermangelt nicht der Mittel, Freuden ins Kindesleben hinein-
zuleiten. Recht bezeichnend nennt Schiller der Mutter Schoß die heilige
Insel, wo der trübe Gram und die Sorge das Kind nicht finden können."
Gelingt es dem Lehrer, seinem Schüler Freude am Unterricht einzuflößen,
so hat er ja bald sein Spiel gewonnen.
Der Verfasser entwickelt in dem vorliegenden Buche offenbar recht
gesunde Gedanken. Es freut uns, daß wir imstande waren, in den reichen
Inhalt der vorliegenden Schrift kurz einzuführen. Das möge genügen! Auf
die Fülle von Belehrungen im einzelnen näher einzugehen, betrachten wir
nicht als unsere Aufgabe.
Posen. t H. Schröer.
Heinrich Meyer-Benfey. Sophokles' Antigone. Halle (Saale) 1920. Max
Niemeyer. Geh. 18 M.
Die Untersuchung Meyer- Benfeys ist von hervorragender Bedeutung, — so-
wohl inhaltlich als methodisch — für alle, die berufsmäßig mit der Einfühlung
in Dichterwerke zu tun haben. Der Verfasser, der bekannte Kleist forscher,
hat ein zwiefaches Ziel im Auge: er will einmal Einblick gewähren in die
Gestaltungsweise des Dichters und dadurch das herkömmliche und abge-
blaßte Bild seiner Persönlichkeit wieder lebendig machen, und er will ferner
von hier aus die Dichtung verstanden wissen und die vielen zwiespältigen
Urteile klären, die dies Werk von altersher erfahren hat. Und diese Aufgabe
ist ihm restlos gelungen. Sein Weg des Fragens und gründlichen Eindringens
in den ganzen Stoff erinnert an Lessings analytisch-synthetische Kritik und
gibt durch Frische und Lebendigkeit dem Leser das angenehme Gefühl des
Selbstfindens und Mitarbeitens. Wir gewinnen durch diese eindringliche
Vertiefung ein Urteil über des Dichters seelische Einstellung und seine Arbeits-
weise; wir erhalten durch die Beantwortung der Hauptfragen „Ist Antigone
schuldig" und „Wer ist der Held?" — die Dichtung ist ein ,,Kreon-Drama",
die Momente, die auf eine Schuld Antigones hindeuten, sind nur unwesentliche
Weltkrieg, Revolution, Verfassung, angez. von Emil Lagenpusch. 61
Einzelheiten, der zwiespältige Charakter der Dichtung ist aus der Besonder-
heit des Gegenstands zu erklären — ein festumrissenes Bild von allen Personen
und von den Funktionen des Chors; wir erhalten überdies einen Ausblick auf
den ganzen Sagenumkreis und den Kulturzustand des damaligen Griechen-
lands. Daß alles in einem schönen, klarflüssigen Deutsch geschrieben ist,
braucht nicht weiter hervorgehoben zu werden, wenn man die übrigen Werke
des Verfassers kennt.
Flottbeck bei Hamburg. Charlotte Caemmerer.
Weltkrieg, Revolution, Verfassung. Kurz dargestellt von Dr. Hermann Jaenicke,
Geheimer Studienrat. Berlin 1919. Weidmannsche Buchhandlung. S^.
(60 S.). 1,80 M.
Unter dem Titel „Weltkrieg. Revolution. Verfassung" hat
Hermann Jaenicke eine vier Bogen (60 S.) starke Broschüre erscheinen lassen,
die sicherUch allen Gebildeten sehr willkommen sein wird.
Es ist nicht jedermanns Sache, sich aus der ,, Fülle der Gesichte", die
seit fünf Jahren auf uns einstürmen, ein klares Bild zu machen: die kriege-
rischen, sozialpolitischen und volkswirtschaftlichen Ereignisse dieser Zeit
haben vielfach überwältigend und verwirrend auf die Geister gewirkt: und
der ganz unerwartet eingetretene Umschwung von höchstem Glanz zu tiefstem
Elend hat viele ganz kopfscheu gemacht. Die meisten finden sich nicht mehr
zurecht, fragen vergeblich nach dem Wie und Warum und stehen schließlich
teilnahmslos und resigniert den historischen Tatsachen gegenüber. Der Deut-
sche ist nun einmal von Natur kein Politiker und den augenblicklichen, recht
komplizierten Verhältnissen gegenüber völlig ratlos.
Daher kommt das kleine, höchst gediegene Werk, das der Verfasser auf
den Rat seiner Freunde herausgegeben, jenen ,, zagen Politikern" wie gerufen:
denn es überhebt sie der Mühe, die jetzt erscheinenden umfangreichen Denk-
schriften und Einzeldarstellungen anzuschaffen und durchzuarbeiten. Die
kurzgefaßte, objektiv gehaltene Darstellung all der weltbewegenden Ereig-
nisse seit dem 1. August 1914 läßt alles Wissenswerte und Wissensnotwendige
beisammenfinden — und der Leser kann si(ih leicht ein eigenes Urteil bilden.
Das Büchlein besteht aus drei Abschnitten: I. Der Weltkrieg 1914
bis 1919. (40 S.); II. Deutschlands Revolution und Zusammenbruch (9 S.)
und III. Die deutsche Nationalversammlung (10 S.). In dem II. Anschnitt
finden wir besprochen: die Ursachen des Zusammenbruches: den
Sieg der Sozialdemokratie, den Abfall der Bundesgenossen; den Ausbruch
der Revolution 1918: Waffenstillstandsverhandlungen, Abdankung des
Kaisers 9. November 1918; die Zeit des Waffenstillstandes : Auflösung
des Heeres, Waffenstillstandsbedingungen, Parteiwesen, Arbeitsscheu, Spar-
takisten-Unruhen, Beunruhigung durch Franzosen und Polen, beabsichtigte
Staatenbildungen. Der letzte Teil gliedert sich in den Frieden von Versailles
28. Juni 1919, Deutschlands Vernichtung, die nächsten Folgen des Welt-
krieges und die Reichsverfassung vom 14. August 1919 — von der die
wichtigsten Punkte eingehend besprochen werden.
62 Konrad Hentrich,
Ist man bei Jaenicke von jeher an einen vornehmen Stil und eine licht-
volle Darstellung gewöhnt, so fällt bei dieser Gelegenheit noch ganz besonders
der streng objektive Standkpunt des Verfassers auf, der die welterschütternde
Katastrophe unseres lieben Vaterlandes mit stoischer Ruhe und würdevollem
Ernst von philosophischer Warte aus betrachtet und berichtet — fern von
jedem Parteistandpunkt, eingedenk des Rankeschen Wortes: der Historiker
habe zu berichten, ,,wie es eigentlich gewesen ist". —
Königsberg, i Pr. Emil Lagenpusch.
Konrad Hentrieh. Dienstanweisung auf kollegialer Grundlage für
die Lehrer an den höheren Lehranstalten für die männliche Jugend in
Preußen. Ein Entwurf. Köln 1919. Verlag von Friedrich Kratz &Cie.
Preis 0,90 M. ohne Teuerungszuschlag.
Paul Claus. Das Schuldirektorat. Grundlegung einer kollegialen Schul-
verfassung. Magdeburg 1919. Carl E. Klotz Verlag. Preis 1,75 M. ohne
Teuerungszuschlag .
Beide Schriften, die besonders in der Rheinprovinz viel Beachtung ge-
funden haben, erschienen vor einem Jahre i), also zu einer Zeit, da die Erörte-
rungen über eine freiere Gestaltung der Verfassung unserer höheren Schulen
sich nach der Staatsumwälzung, aber nicht erst durch diese hervorgerufen,
besonders lebhaft dem Verhältnis zwischen Direktor und Lehrerkollegium
als der die meisten Standesgenossen am unmittelbarsten berührenden Teil-
frage zuwandten. Damals hatte die Arbeit von Hentrich das unbestreit-
bare Verdienst, daß sie, in Anlehnung an das Muster der bisherigen Dienst-
anweisung bis in alle Einzelheiten folgerichtig durchgeführt, die praktischen
Folgerungen aus der Theorie der kollegialen Schulleitung klar vor Augen
stellte. Noch heute wird man mit Nutzen für praktische Versuche auf diesem
Gebiete Hentrichs Aufbau zugrunde legen, nicht als ob er schlechthin Vor-
bildliches böte. Den Anspruch erhebt der Verfasser für diesen ersten Ver-
such ebensowenig wie der Kölner Philologen verein 2), auf dessen von einem
besonderen Ausschuß entworfenen Leitsätzen die Arbeit fußt. In manchen
Punkten haben sich inzwischen die Meinungen schon bis zu einer communis
opinio geklärt, in andern werden die Parteien wohl stets verschiedener Auf-
fassung bleiben. Auf Einzelheiten einzugehen, kann ich mir daher um so
mehr versagen, als dies schon von anderer Seite geschehen ist. Ich verweise
hierfür besonders auf die eingehende, unvoreingenommen abwägende
Besprechung von Provinzialschulrat M. Blümel in der 1919 von ihm bei
Trewendt und Granier in Breslau herausgegebenen Sammelschrift „Prak-
tische Vorschläge zur Verbesserung der höheren Schule" S. 16ff.
Anders geht Claus in seiner aus einem Vortrage im Düsseldorfer Philo-
logenverein erwachsenen Schrift vor. Mit der Methode der KTitischen Philo-
sophie Natorp-, Stammlerscher Prägung sucht er die tiefere Begründung
^) Diese Zeilen wurden im Mai 1920 niedergeschrieben.
*) Wie dieser in seiner Mehrheit die von ihm angenommenen Leitsätze aufgefaßt zu
sehen wünschte, darüber bitte ich meinen Bericht im Dtsch. Philologenblatt 1919 Nr. 29
zu vergleichen.
Dienstanweisung auf kollegialer Grundlage, angez. von Carl Th. Sondag. 63
für die Gesetze der Schularbeit, indem er die Idee der vollendeten'Arbeits-
gemeinschaft als unendliche Aufgabe faßt. Gemeinschaft ist ihm Einheit
des Mannigfaltigen, Persönlichkeit und Gemeinschaft bedingen sich gegen-
seitig, beide verbindet die Idee der Verantwortung. Diesen Zustand gemein-
samer Zielstrebigkeit sicherzustellen, ist nicht mit der noch geltenden Dienst-
anweisung Aufgabe eines einzelnen, sondern aller Glieder der Gemeinschaft.
Die Idee der Freiheit als Vorbedingung wie aller Sittlichkeit so auch wahrer
Gemeinschaftarbeit führt auf diesen Standpunkt der Autonomie. Der Direktor
soll seine Autorität nicht ,,als Vorposten des Staates", dem Claus übrigens
sein Aufsichtsrecht nicht bestreitet, von jenem, sondern als Verkörperer
des Willens der Schulgemeinschaft von dieser ableiten. Die Idee der Per-
sönlichkeit läßt Claus freilich weiterhin ganz außer Acht. Von der auf die
dargelegte Weise gewonnenen Warte aus betrachtet er die drei Arbeitsgebiete
der Schule, Unterricht, Erziehung und Verwaltung. In den beiden ersten
Beziehungen schaltet er den Direktor fast völlig aus, in der optimistischen
Auffassung, die Gemeinschaftsarbeit schließe Beaufsichtigung und Befruchtung
schon ein. Einen Teil der bisherigen Aufgaben des Diiektors überträgt er
an den Klassenleiter, der nun selbst so etwas wie ein Direktor im Kleinen
wird, den andern der Gesamtlehrerschaft. So erscheint es nicht folgerichtig,
wenn der Direktor dennoch die letzte Beschwerdestelle innerhalb der Schul-
gemeinde sein soll. Die Erziehungsarbeit, die die Schule über die Klassen-
gemeinschaft hinaus als höhere Einheit 2u leisten hat, will Claus im übrigen
durch Einrichtungen sicherstellen, deren Organe das Lehrerkollegium und
die Schülervertretung sind. Hier wie bei der Unterrichtsarbeit fehlt die
Vertretung der Elternschaft. Der Direktor darf nur bei schweren Unstimmig-
keiten zwischen Lehrern, Schülern und Eltern ,, ausgleichen", außerdem
ist er „Einberufer und Leiter aller Gesamtkonferenzen". Selbst in der Ver-
waltung soll das Lehrerkollegium alle Entscheidung und Verantwortung
haben, der Direktor erscheint nur als eine Durchgangsstelle, als Vertretung
der Schule nach außen, um nicht zu sagen, im Äußerlichen. Daß er auch
in dem neuen Rahmen seine Persönlichkeit ganz zur Entfaltung bringen
könne, kann Claus selbst nicht ernsthaft glauben. Die ihm zugedachte Auf-
gabe würde ebensogut, vielleicht besser, von einem Nichtschulmann, etwa
einem Juristen, geleistet werden.
Die Darlegungen von Claus leiden meines Erachtens an einem Grund-
fehler. Wenn er auch gelegentlich zwischen der Schule und einer Schule
scheidet, so ist bei ihm doch die Einzelanstalt die Einheit, die sich ihre eigenen
Gesetze gibt. Übe^ ihr gibt es aber höhere Einheiten, die Schulgattung,
die Schule innerhalb einer Provinz (oder Bildungsprovinz, wie Karsen in
seinem Bericht für die Reichsschulkonferenz will), die Schule innerhalb eines
Staates, den Gesamtbau der einheitlichen deutschen Schule. So erneut
sich die Aufgabe, die letzte Einheit sicherzustellen, in immer weiteren kon-
zentrischen Kreisen. Die Arbeit der Einzelschule ist nicht Selbstzweck,
und das Recht des Staates in Richtung auf diese Wahrung der EinheitUch-
keit wird nicht nur gleichsam in einem Nebensatze anzuerkennen sein. Er
64 K. Hentrich, Dienstanw. auf kollegialer Grundlage, angez. von K. Th. Sondag.
wird es nicht nur durch Einrichtungen, sondern auch durch PersönHchkeiten
ausüben. In deren Reihe von der Spitze abwärts bildet der Direktor das
letzte Glied. Man kommt somit durch Anwendung; der gleichen B^'trachtungs-
weise zu von Claus abweichenden praktischen Folgerungen. Freilich wird
man, wie Claus vor der Einheit dei Einzelschule ausgehend, fordern müssen,
daß diese vom Staate zu beauftragenden Persönlichkeiten nicht als Fremd-
körper In den betreffenden Organismus hineinge^etzt, sondern aus ihm heraus
entwickelt werden i). Praktisch ergibt sich dann etwa eine Ordnung der Dinge,
wie sie in den Leitsätzen des Kasseler Philologentages 2) gefordert wird.
Diese entsprechen, soweit ich es übersehe, dem Standpunkt der großen Mehr-
heit der Philologenschaft. Sie verlangt dringend gebührenden Anteil an
der Schulverwaltung urd in der vorliegenden Sonderfrage eine wirksamere
Sicherung gegen eine selbstherrliche Schulleitung als durch die jetzige Dienst-
anweisung. Die Gesamtkonferenz muß gleichberechtigt neben den Direktor
treten, ein von ihr zu bestellender Lehrerausschuß nicht nur be-atende Voll-
macht erhalten. Wird dann noch eine geordnete Mitwirkung der Philologen-
schaft bei der Bestellung des Direktors sichergestellt, so dürfie allen sachlichen
Notwendigkeiten entsprochen sein. Da aber auf der höheren Schulf' jeder
Lehrer im engsten Anschluß an den andern arbeitet, so wäre meines Erachtens
die Einheitlichkeit gefährdet, wenn darüber hinaus eine so weilgehende
kollegiale Schulleitung versucht werden sollte, wie sie von der Volksschtl-
lehrerschaft gefordert wird und an jenen Schulen vielleicht auch durchführ-
bar ist.
Ehrenbrei tstein bei Koblenz. Karl Th. Sondag.
^) Vgl. hierzu Eduard Spranger in seinem Bericht für die Reichsschulkonferenz.
Er wili Orts- bzw. Bezirks-, Provinzial-, Landes-Schulversammlungen und als Spitze aller
dieser Glieder der „Kulturkammer" eine Reichsschulversammlung. Sie sollen sich auf die
inneren pädagogischen Angelegenheiten beschränken und nicht nur aus Lehrern zusammen-
gesetzt werden. „Denn es würde eine der Schule nachteilige Verengung ihrer Aufgaben
im Kulturleben des Volkes bedeuten, wenn ihre Ausgestaltung zu einem Monopol der
Lehrerschaft werden sollte." Zu der auch von Claus erhobenen Forderung, daß der Di-
rektor auf Zeit aus dem Lehrerkollegium gewählt werde, sagt Spranger: Die Beinehal-
tung von festangestellten Direktoren in jeder einzelnen Schule widerspricht dem Prinzip
der Selostverwaltung so wenig wie das Vorhandensein lebenslänglich gewählter Bürger-
meister in den Stadtgemeinden. . . . Die Kontinuität und Einheitlichkeit des Schullebens
erfordert eine solche Spitze. Der Direktor mag vom Lehrerkollegium vorgeschlagen werden.
Doch ist die ausschließliche Berufung von Lehrern derselben Anstalt als eine nachweislich
schädliche Gepflogenheit durch ausdrückliche Maßnahmen zu verhindern." Die Kasseler
Leitsätze fordern auch nur eine Mitwirkung der Lehrerschaft bei der Verwaltung der
Schulen. Die Befugnis, für die Direktortnwahl Vorschlagslisten einzureichen, wird den
Provinaalkammern zugewiesen. Für die Lehrerkollegien wird hierbei ein Mitwirkungs-
und ein Vetorecht vorgesehen.
^) Diese wurden neuerdmgs vortrefflich begründet von Wilhelm Bolle in dem vom
ZentraUnstitut für Erziehung und Unterricht bei Quelle und Meyer herausgegebenen
Sammelwerk „Die deutsche Schulreform, ein Handbuch für die Reichsschulkonferenz",
S. 175 ff.
Druck von C. Schulze <& Co., Q. m. b. H., Gräfenhainichen.
I. Abhandlungen.
Bemerkungen
zum „Lehrplan für den Unterricht in der Religionsgeschichte".
Erinnern wir uns der Worte des heutigen Evangeliums, des 15. Sonntags
nach Trinitatis: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner
Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen," nicht nur Nahrung und
Kleidung, sondern auch die rechte Erkenntnis über den rechten Weg und
das rechte Ziel ! Mir scheinen aber zu einer Verständigung Auseinandersetzungen
über die Auffassung von „Religion", „Geschichte" und „Unterricht"
unerläßlich.
„Religion", im 16. Jahrhundert von Humanisten, nicht Theologen
aus dem Lateinischen entlehnt, ist auch in der Ursprache nach Etymologie und
Grundbedeutung unklar. Nachdem ich 1885 (die Gutturalen S. 187) auf Grund
älterer Quellen religio und diligö „schätze" trotz formaler Verschiedenheit mit
dXsyiü ,, kümmere mich" verbunden und einen Grundbegriff ,, gewissenhafte
Beachtung, Hochschätzung" für „Religion" angenommen hatte, ist diese
Erklärung von Walde (Lateinisches etymologisches Wörterbuch" S. 647)
1910 und von Boisacq (Dictionnaire etymologique de la langue grecque) 1916
festgehalten worden. Da aber äXyog ,, Kummer, Schmerz" bedeutet, trifft
die Übersetzung ,, beachten" für aUyeiv und „Beachtung" für religio nicht
das richtige. Durch Lactantius Instit. IV 28, vinculo pietatis obstricti deo
et religati sumus ist wohl der rechte Weg gewiesen, religio ist das vinculum,
allerdings nicht nur pietatis, sondern auch timoris, das uns mit einer über-
irdischen, teils guten, teils bösen Macht verbindet, und so als „Band" zu
legio „Sammlung", legere „sammeln" (Guttur, S. 186. Walde 420), ligare
„binden" (Walde 429) zu stellen. Damit gewinnen wir einen gesicherten Aus-
gangspunkt für unsere Betrachtungen und eine Stellungnahme zu andern
Erklärungen des Begriffs.
Die Definitionen Lockes ,, Gehorsam gegen Gott", Spinozas „Gehorsam
gegen die Autorität", Lessings und Fichtes „Sittlichkeit", Kants „Ehi furcht
gegen den Urheber der Sittengesetze" sind damit als spätere Erweiterungen
oder Einschränkungen erkannt, und nur Schellings Übersetzung „Vereinigung
des Endlichen mit dem Unendlichen", Schleiermachers ,, Gefühl schlecht-
sinniger Abhängigkeit von Gott", Wundts ,, Gefühl der Zugehörigkeit zu einer
übersinnlichen Welt", Paulsens ,, Glaube an eine beherschende Macht"
nähern sich der Auffassung: „Religion" ist ,,das Band, die Verbindung"
der Menschen mit einer überirdischen, guten und bösen, Macht.
Denn beides, sowohl die Ehrfurcht, die Verehrung der guten Gottheit, wie
die Furcht vor den Dämonen, liegt im Begriff des Wortes und muß bei der
Monatschrift f. h^h. Schulen. XX. Jhrg. 5
66 Ph. Bersu, Bemerkungen z. „Lehrplan f. d. Unterricht in der Religionsgeschichte".
Betrachtung der Geschichte beachtet werden. ,Wir sollen Gott fürchten
und lieben.* Deshalb gehört eine Darstellung des „religiösen Lebens der
primitiven Völker" oder des „Totemismus",des Fetischismus von Nordamerika,
wohl in den religionsgeschichtlichen Unterricht, wie der neue Lehrplan
will, nur nicht nach Sexta oder Quarta, wie vorgeschlagen wird, offenbar in
der Annahme, so der geschichtlichen Entwicklung von den niedrigsten zu den
höchsten Vorstellungen gerecht zu werden. Nun ist aber mit der Festsetzung
eines solchen Aufstiegs das Entwicklungsproblem nicht gelöst. Ab-
gesehen davon, daß auch die Geschichtswissenschaft gleich Paulus im ersten
Kapitel des Römerbriefs eine Entartung der Vorstellungen vom Mono- zum
Atheismus angenommen hat, daß Scherer (Geschichte der deutschen Literatur
Berlin 1885 S.19) eineWellenbewegung der Erscheinungen, ein Empor-
steigen und Herabsinken, behauptet, die Jahre 600, 1200, 1800 als Höhe-
punkte, 900, 1500, 2100 als Tiefstand, ist wissenschaftlich auch nicht ent-
schieden, „ob die menschliche Intelligenz eine Höhe oder ein Dekadenz ist"
(Kichert, Handbuch für d. Religionsunterricht 1911 S. 311. Groebe, Hand-
buch für den Geschichtsunterr. I 1913 S. 8). Betrachtungen über Feti-
schismismus Animismus, Totemismus, Henotheismus können in Obersekunda
bei einer vergleichenden Darstellung der orientalischen und klassischen
Religionen verwertet werden. Damit wird auch ein Zusammenhang mit dem
Religionsunterricht hergestellt und den Belehrungen aus Ethik und Kunst-
geschichte. Demgemäß würde sich folgende Stoffverteilung für die
oberen Klassen ergeben: Religions- und Kunstgeschichte, sowie Ethik des
Altertums in O II, des Mittelalters, 16. und 17. Jahrhunderts in U I, vom
Aufklärungszeitalter bis zur Gegenwart in O I. In den mittleren Klassen
werden die Religionen der außereuropäischen Erdteile entsprechend dem
Pensum des Religions- und geographischen Unterrichts in U III die Religions-
geschichte Deutschlands in O III und Europas in U II erörtert und als
ethische Lehrstoffe passende Abschnitte aus Fr. W. Foersters Jugendlehren,
z. B. über Selbständigkeit und Verantwortlichkeit u.a. besprochen. Natur- und
geographische Bilder aus dem Lesebuche und künstlerische Darstellungen aller
Zeiten, die gleich der Privatlektüre mancherlei Stoff zu Vorträgen geben, er-
wecken und beleben das religiöse Gefühl. Entsprechend gestalten sich von
selbst Dekalog, Glaubensbekenntnis und Gebet auf der Unterstufe, in VI : aus
Märchen, Sagen, Fabeln, Parabeln und frommen Liedern des Lesebuchs, sowie
aus den Erzählungen des Alten Testaments und geeigneten Geschichten aus
Foersters Jugendlehre, in V : aus antiken Göttersagen und Erzählungen des
Neuen Testaments, auch unter Erläuterung durch buddhistische Gebote und
Foersters Lehren, in IV: aus Heldensagen des Altertums und geschichtlichen
Darstellungen des christlichen Humanitäts- und heidnischen Heldenideals. Das
Ziel des Unterrichts ist demgemäß nicht nur „Kenntnis und Verständnis
für die Mannigfaltigkeit des religiösen Lebens", sondern auch, wie Troeltsch
will, „Gewinnung einer modernen Christlichkeit" (oder Sittlichkeit?). Es gilt
„Gott suchen und Lebensregeln finden.
Berlin. Philipp Bersu.
Paul Menge, Was kann Fontane unsern Schülern sein? 67
Was kann Fontane unsern Schülern sein? ^)
• ; Als der neue Minister für Kunst, Wissenschaft und Volksbildung im
Juni 1919 die preußischen Schulen aufforderte, des 100. Geburtstags von
Gottfried Keller zu gedenken und die Schüler darauf hinzuweisen, was auch
wir Reichsdeutschen von ihm haben, sie für den großen vaterländischen Dichter
der Schweiz, der ein so tiefes Verständnis für seiner Heimat Berge und Men-
schen besaß, zu begeistern, da freute man sich aller Orten über einen Erlaß,
der von diesem Ministerium nach der Revolution ausging, zum ersten Male.
Zeugte er doch davon, daß man Ernst machen wollte mit Volksbildung, daß
man empfand, wie richtig Ernst Moritz Arndt sein Deutschland soweit
rechnete, wie die deutsche Zunge klingt, daß man ein Gefühl für den Beruf
des gesamten Deutschtums hatte, daß man versuchen wollte, diesen gedanken-
vollen, tiefempfindenden, die Sprache meisternden, so gerne dem Humor
sich öffnenden Dichter auch weiteren Kreisen des deutschen Volkes lieb zu
machen.
Und nun? Noch kurz bevor das schwarze Jahr 1919 zu Ende ging, ge-
dachte mancher Zeitungsaufsatz des kernigen preußischen Dichters und Schrift-
stellers, der, wie wenige, seine Heimat kannte und pries, Fontanes, der
auch vor 100 Jahren, am 30. Dezember, geboren war, den mit Keller manche
Ähnlichkeit verbindet, so verschieden er auch in vielem von ihm ist. „Lehnt
dieser sich doch viel angeschmiegter aufGoethe und dieRomantik" (Schienther)
während das Altfränkische Fontanes auf den Biedermeier seiner eigenen Jugend
zurückgeht. Mit Keller berührt sich Fontane (vgl. G. Roethe, Deutsche Rund-
schau 1920) in der gesunden, kräftigen Lebensauffassung. Wie jener hält
er sich fern jeder weltfremden, falschen Romantik. Wie Kellers Entwick-
lung ist auch die Fontanes frei von stärkeren bleibenden Einflüssen irgend-
einer dichterischen Persönlichkeit. Nur das Volkslied hat ihn dauernd in
seinem Banne gehalten. Beide konnten Leute von Seldwyla schreiben: der
eine schrieb sie aus reicher Erfindungsgabe, dem andern hatte sein Hang
zur Beobachtung überquellenden Stoff dazu gesammelt. Erst im hohen Alter
öffnete er diese Scheuern und setzte durch die frische Fülle der Personen
und Charaktere alle in Erstaunen, so wie Adolf Menzel, dessen Skizzen-
bücher ja auch eine Fundgrube sind von Vertretern aller Volksschichten und
Kreise, aller Formen und Normen. Fontanes Gestalten sind Blender, Selbst-
betrüger, die ihren inneren Wert verkennen, wie die Kellers sich über ihre
äußere Brauchbarkeit täuschen. So ist für alle das Ende der Zusammenbruch.
Hier hat sich Fontane bald bewährt als der wahre Schilderer unserer neuen,
insbesondere der Berliner Gesellschaft, wobei er sich im Gegensatze zu Paul
Heyse, der wie Fontane fühlte, daß unsere Literatur einer Auffrischung be-
durfte, freihielt von dessen Sucht, immer überfeinertere und bedenklichere
Vorwürfe zu wählen.
Fontane und Keller freuen sich, wenn sie geschichtliche Stoffe finden,
die ihrer Darstellung liegen, wenn sie sich hineinleben können in vergangene
*) Der Aufsatz enthält eine Rade zum liK). Q.'Ojrtstage d2s Dichters am Gymnasium
zu Wernigerode.
5»
68 Paul Menge,
Zeiten. Aber wirklich zu Hause war Fontane nur in der neueren preußischen
Geschichte. Beide haben hohe Ruhmestitel verdient, Keller als Vollender,
Fontane als Wegkünder, als der große Realist, den noch die Jungen als ihren
Bahnbrecher umjubelten. Er ist wie Otto Ludwig, zunächst Realist,
aus bewußtem Gegensatze zu dem alles heraufstilisierenden Idealismus, der auf
Stelzen einherstolzierte, der ebensowenig Natur hatte bewahren können wie
jede andere damalige literarische Formen: man denke nur an Gutzkow und
Herwegh. Begeistert hat sich die Jugend, aus der Gerhart Hauptmann
Vorjahren schon sein „Friedensfest" ihm gewidmet hatte, um den 70 jährigen
bei seinem Geburtstage geschart; wie umjubelte sie ihn, als Ernst von Wol-
zogen dem alten Kumpan den ,,Dank der Jugend" darbrachte (Soergel 299):
Du hast nicht olympisch das Haupt geschüttelt,
als die Grünen am Thor des Parnaß gerüttelt;
Du hast Dich zu ihnen hinab begeben
und noch einmal hinein in das brausende Leben.
Wenn die Tollsten Überrumpelung planten,
bedächtige Freunde zum Rückzug mahnten —
Du hast zwischen Jungen und ängstlichen Alten
lächelnd die freie Bahn gehalten,
kampfglühende Wangen freundlich gestreichelt,
manch allzukeck Schwert in die Scheide geschmeichelt,
dann hast Du gedichtet und, eh' man's gedacht,
hast Du es einfach besser gemacht.
Was auch hervorgehoben zu werden verdient, er blieb dieser Realist,
ohne dem Idealismus Zugeständnisse zu machen, ohne zum Naturalismus
herabzusinken, der damals in Deutschland nach ausländischem Vorbilde
triumphierte. Davor bewahrte ihn sein Humor und die feine Künstlerhand,
was man am besten im Vergleiche zu Max Kretzer merkt. „Ein sinnenfreu-
diger Niederländer gegenüber der unfrohen Linienhärte eines Baluschek"
(H. Maync). So treffen ihn die Verse von Arno Holz nicht:
An die Autoritätsklauber. Strophe 2.
Drum poltert nur, poltert: Bezuckerter Mist!
Er fürchtet nicht eure kritischen Besen,
ist doch der erste .Naturalist'
schon der alte Vater Homer gewesen!
Mit Humor schwebt Kellers Kunst, dessen Stil blühend und poetisch,
aber nirgends so ausgeglichen gleichmäßig wie bei Fontane ist, über den Men-
schen, sie wird nicht doktrinär, sie grübelt nicht über Problemen, sie ist phan-
tasievoll, frei fabulierend ; aber in diesem Reiche des Humoristen und Idyllikers
waltet ein starker Charakter, weht der Atem einer großen freien Menschen-
seele (C. Alberti). Und Fontane? Er besitzt, ohne je schnodderig oder ka-
lauernd zu werden, die eigenartige, mit der Grazie des französischen Rokoko
gepaarte witzige Ironie des Berliners, der seiner Schwäche sich wohl bewußt,
sich doch noch einbildet, unter Blinden der Einäugige zu sein. Mit Freude
richtete er schon früh sein „Bewitzeln" gegen ,,den Müllhaufen allgemeiner
Redensarten".
Was kann Fontane unsern Schülern sein? 69
Berliner ist er auch darin, daß ihm die Großstadt Lebensbedürfnis ist,
wie Friedrich Hebbel, der freihch in Wien nur die geistige Aristo-
kratie sucht, während Fontane nur in der Großstadt mit ihren Massen, voll
Lärm und Unruhe wohnen mag. Dort kann er sich auch freuen über die preu-
ßischen Prachttrampels (ohne deren Dienstknüppel es mit den Deutschen
nie etwas Rechtes hätte werden können), dort wird er über Arnim, Fouque,
Hoffmann, Alexis neben Heinrich von Kleist und Adolf Menzel
der tiefste und vielseitigste Verkünder des echten Preußentums, das noch
Gehorsam, Respekt und Ehre kannte.
Das ist in kurzen Zügen Fontane, doch auch eine ganze Persönlichkeit,
ein weit über dem Durchschnitte stehender Dichter, ein auf gewissen Gebieten
führender Schriftsteller.
Und aus Berlin keine Zeile darüber, seiner zu gedenken oder gar ihn zu
feiern, während doch jeder deutsche Junge von ihm. Gedichte kennt und
wäre es nur
Joachim Hans Ziethen
Husarengeneral
oder das niedliche Verschen über die „Rangstreitigkeiten" im Lumpenkasten,
oder die für unsere Zeit besonders passenden aus dem seine eigene politische
Meinung am klarsten verkündenden Gedichte „Fester Befehl".
Freiheit freilich. Aber zum Schlimmen
Führt der Masse Sich-selbst-Bestimmen,
Und das Klügste, das Beste, Bequemste,
das auch freien Seelen weitaus Genehmste
Heißt doch schließlich, ich hab's nicht Hehl:
Festes Gesetz und fester Befehl.
Doch Kelltrs Gedichte sind dem deutschen Jungen wohl insgesamt un-
bekannt gewesen, wie die meisten seiner Erzählungen und sein großer Roman
"Der grüne Heinrich".
Wie kommt diese Vernachlässigung des Heimatdichters Fontane? Fon-
tane war nicht nur in der Form, überhaupt in ästhetischen Fragen Aristokrat,
wie ja auch z. B. Ferdinand Lassalle. Unter den Menschen zogen ihn
die Aristokraten auch ganz besonders an, die er auf dem Lande bei dem ad-
ligen Grundbesitzer und seinem Seelsorger, den er als liebenswürdigen Pre-
diger, aufgeklärten Pfarrer, behaglichen Pastor und orthodoxen Superinten-
denten auftreten läßt, noch am unverkümmertsten zu finden glaubte. Hier
umfingen ihn geschichtliche und sittliche Erblehre und Brauch. 50 Genera-
tionen von 500 Lehmanns und Schulzens sind ihm gleichgültig neben drei
Geschlechtern aus der Familie von Marwitz. Er fühlt, daß die Abschaffung
des Adels gleichbedeutend ist mit dem völligen Zerbrechen Preußens. Er
merkt wohl, daß dieser prächtige Schlag adliger Menschen ausstirbt, daß
sein lebensfroher Wille durch die neue Zeit gelähmt wird, daß sein Streben
auch mit in die Ämtertretmühle zu kommen, seine Ursprünglichkeit unter-
gräbt, daß Bücherstaub und moderner Lebenszuschnitt diese naturwüchsigen
Menschen verderben. So stellt der alte Edelmann bei ihm eine Prachtfigur
dar, sein Sohn ist weicher, unklarer, kleinlicher.
70 Paul Menge,
Dazu kommt : Fontanes persönliches Freiheitsbedürfnis ist frei von fort-
schrittlicher Parteifärbung. Die einzige Rettung für Preußen sieht er in
strammem Regiment und festem Befehl. Majoritäten sind auch ihm Unsinn.
Von Gleichmacherei will er nichts wissen. Er war einer vernünftigen Um-
gestaltung bestehender Verhältnisse nicht abgeneigt, haßte aber als Mensch
wie Künstler alles Revolutionäre. So fühlte er sich auch nicht verbunden
mit Hebbel oder Jbsen. „Die Harmonie steht gegen die Problematik, der
Realist gegen den zwiespältigen Übergangsmenschen" (Wandray).
Bei seinem liberalen Konservatismus war er für praktische Politik gänz-
lich ungeeignet. Er gehörte zu den vorurteilslosen Menschen, die über allen
Parteiprogrtmmen hinweg sich ein freies Urteil bewahren. Nur verlangte
er an Stelle des „Schreckensregimentes polizeilicher Willkür" den „militärisch
organisierten Rechtsstaat". In unsere Zeit würde freilich kaum ein Mann
taugen, der wie er noch 1890 an den Knöpfen abzählt, welcher Partei er bei
der Wahl seine Stimme geben soll.
Wie wir, erhofft er schon damals den großen Erretter und Erwecker,
den Flammenbringer, der Deutschland wieder emporreißt, daß dem Wappen-
adler sein Blitzebündel nicht umsonst gegeben sei. In scharfem Gegensatze
zu — C. Lamprecht anerkennt er Heldenverehrung. Nur der einzelne
kann uns weiter bringen, nicht Mehrheiten. Tiefgreifende Umwälzungen
bereiten sich langsam vor; wenn dann ihre Zeit erfüllt ist, finden sich auch
ihre Verfechter und Bahnbrecher.
Schon früh hatte den am 30. Dezember 1819 Geborenen nach einer mangel-
haften Schulausbildung, deren Lücken er oft bedauert hat, obwohl er gut
wußte, daß allgemeine Gelehrsamkeit nichts taugt, wenn die Sinne verschlossen
sind, wenn die kernhafte menschliche Mitte fehlt, in der Zeit, als er als Apo-
theker arbeitete und ihn sein Interesse an literarisch- poetischen Dingen vor
dem Versinken in die Stumpfheit einer auf den blcßon Erwerb gerichteten
Beschäftigung bewahrte, der Zug zum Edlen in eine vornehme literarische
Gesellschaft gebracht, den Tunnel über der Spree. Dort wurde er bald ein
beliebtes Mitglied; die Vorträge seiner Verse werden in der Geschichte des
Vereins als größte Erfolge verzeichnet. Hier wuchs ihm zwischen Hochmut
und Demut der rechte Mut des Lebens, bis er endlich den Stößel ganz mit
der Feder vertauschte (Er. Schmidt).
Seinem Vater verdankte er die Gabe zu plaudern und durch kleine Ge-
dichte zu erfreuen. Hatte doch die Natur in ihm französisches und deutsches
Blut besonders glücklich gepaart; reich ist der Ertrag an dichterischen Gaben
wie ja auch bei andern, die ähnlicher Blutmischung entsprossen sind, Louise
von Frangois, Otto Roquette, Emanuel Geibel.
Es liegt bei ihm übrigens durchaus umgekehrt als bei Goethe : Der Vater
vertritt bei ihm die Seite der Phantasiebegabung, die oft leidenschaftliche
Mutter die verständiger Nüchternheit; ihr hat er es zu verdanken, daß er
nicht den Weg des Vaters ging, der ihm sein Temperament vererbt hatte;
die Mutter hatte ihm Charakter und Uneigennützigkeit mitgegeben und den
„Hang nach Arbeit und solider Pflichterfüllung".
Was kann Fontane unsern Schülern sein? 71
Mancher Zug französischer Wesensart ist von den Eltern auf den Sohn
übergegangen und ist für den Menschen wie für den Künstler bedeutungs-
voll geworden: „Liebenswürdigkeit, schmiegsame Eleganz, Lebenstapferkeit
ohne Vierschrötigkeit charakterisieren den Menschen ; ein feineres Verständnis
für die formalen Dinge, eine ungewöhnliche Begabung für den Dialog denKünst-
ler, Gaben, die sich nur selten deutschem Wesen verquicken und hier ihre
tiefere völkische Wurzel haben" (Wandrey).
Seine ausgesprochene aristokratische Neigung, die ihn aber nicht
hindert, sich in die Konstituante wählen zu lassen, läßt ihn wohl mit dem
Bürgerstande verkehren, für den Arbeiterstand hat er keinerlei Interesse
gezeigt. Das Leben hat ihm diese Probleme ferngehalten außer der leidigen
Dienstbotenfrage, die auch deshalb bei ihm gestreift wird.
Als ihn von Merkel, der Chef der Presseabteilung, mit 40 Talern monat-
lichem Gehalt als Diätar anstellte, verheiratete er sich mit der lieben und
heißblütigen Frau Emilie; doch das Büro flog bald auseinander, so daß
er sich als „Tagelöhner mit dem Geist" nur mühsam durch Zeitungsartikel
durchschlagen mußte, die er überall unterzubringen suchte. Gern nahm
er so 1852 die Englische Korrespondenz bei der hochkonservativen Kreuz-
zeitung an, wo er sich gegen anfängliche Befürchtungen frei fühlte von By-
zantinismus und Muckertum, wo er nicht etwa reaktionäre Politik mitmachen
mußte. Es darf bei ihm wahrhaftig nicht als Fahnenflucht, ja nicht einmal
als politische Weiterentwicklung aufgefaßt werden, wenn er später den
Unterhaltungsteil der Vossischen Zeitung leitete (hier war ihm eine freie
künstlerisch gefärbte Behandlung beliebiger Stoffe möglich).
Hier zeigte sich die Klaue des Löwen, von der eine Kralle schon der Unter-
tertianer hatte sehen lassen. Voll Schulsorgen zog er da einst aufs Land hinaus.
Die Aufgabe, einen Aufsatz nach selbstgewähltem Thema zu bearbeiten,
bedrückte ihn. Bei Großbeeren rastet er. Die Walstatt bringt ihn auf den
Gedanken, diese Schlacht zu behandeln. In seine Stube heimgekehrt, schreibt
er den Aufsatz nieder, der wohl manchmal anklingt an Zedlitz „Nächtliche
Heerschau". Bangen Herzens gibt er ihn ab und erhielt ihn nach einer kum-
merschweren Woche zurück mit dem Zeugnis: Recht gut.
Das war seine erste Wanderung durch die Mark Brandenburg. Schon
aus seiner Kindheit stammte diese Vorliebe für geschichtliche Stoffe. Der
große Franzosenkaiser und seine Marschälle, der alte Fritz und seine Generale,
vaterländische Geschichte, deren genauste Kenntnis den Tertianer in Neu-
ruppin befähigte, Primanern bei Geschichtswiederholungen zu helfen, regte
ihn immer wieder an, beschäftigte und bevölkerte seine Gedankenwelt. Was
hatte er freilich auch schon in den fünf Jahren, 1827—1832, durch seinen
Vater mitempfindend erlebt: Die Befreiung Griechenlands, den russisch-
türkischen Krieg, die Eroberung Algiers, die Julirevolution, Belgiens Los-
reißung, den großen polnischen Aufstand, an dem der Junge sich innerlich
begeistert hatte. Jetzt traten diese Stoffe, mit denen auch der Mann sich
gern weiter beschäftigt hatte, hinter englischer Geschichte und schottischer
Sage für einige Zeit zurück. Hier trifft er auch die Eigenschaften, die er im
72 Paul Menge,
Leben überall vergebens sucht: starken Willen, unbeugsame Tatkraft, Ziel-
strebigkeit, Mannesmut und Heldengröße. Bald sollte er das Land dieser
oft durch Kerker und Grüfte und schaurige Szenen hinwegführenden Bal-
laden näher kennen lernen.
Als Zeitungskorrespondent geht er nach England. Eigentümlicherweise
verstärkte der Aufenthalt in diesem als Hochburg der Demokratie gerühmten
Lande seinenZug nach rechts. Der Tower ragt da als steingewordener Ana-
chronismus in die nach Gold hetzende Kaufmannswelt. ,,Das gelbe Fieber,
das Verkauftsein aller Seelen an den Mammonsteufel legt nach seinem Dafür-
halten die Axt an diesen stolzen Baum. Unberechenbar ist freilich, wann
die Faulheit sichtbar an die Oberfläche treten wird." Die Engländer sind
ihm trotz der nicht von ihm bestrittenen großen Eigenschaften — zumal be-
neidet er das Land um die in allen Schichten herrschende Vatedandsliebe —
ein Räuber- und Piratenvolk durch und durch. Die Kirchlichkeit imponiert
ihm wohl, ihr ,, Kattunchristentum" haßt er und ihren Glauben, soweit er
nicht im Gemüt wurzelt, achtet er für nichts. Er sehnt sich heimwärts,
liebwärts.
Das Haus, die Heimat, die Beschränkung
Die sind das Glück und sind die Welt.
,, Seinen feinen jederzeit sachlich beteiligtenBlick für das lebendigeTreiben
der großen und kleinen Menschheit hat er im geschäftigen England, seine
starke Empfindung für den Ernst, die Größe alter Natur und alter Geschichte
im einsamen Schottland gefestigt und geschärft" (Schienther).
Bald wertet er es, was es für das Heimatempfinden bedeutet, wenn ein
Walter Scott die vaterländische Geschichte und Sage durch seine Werke
verbreitet. Hier ist ihm der Gedanke seiner märkischen Wanderungen ge-
kommen, an denen er heimgekehrt von 1859—1898 mit immer neuer Lust
gearbeitet hat. Die besten Stellen dieser Bände ergeben ein Heimatbuch,
wie es keine deutsche Provinz aufzuweisen hat.
Hier in England treibt seine Poesie einen neuen blühenden Zweig. Er
entwickelt in Anlehnung an das schottische Volksballadenvorbild, das freilich
schon Herder in unübertrefflicher Schlichtheit den Deutschen vermittelt
hatte, eine neue lyrisch-dramatische Art, einen neuen Stil, der den Hang
zum Schauerlichen und das Sprunghafte des Volksliedes kunstvoll verwertet,
obwohl dem Realisten zuerst das Romantische wenig lag. Diese verhaltene
Herbheit ist bei ihm nichts Ursprüngliches. Bleiben auch viele dieser Ge-
dichte noch farblos, so ist das bekannteste, sein Archibald Douglas, in der
Form ein Meisterstück rhetorischen Schwungs und wirksamer Anordnung.
Besteht diese Ballade doch fast ganz aus Dialog und Monolog, zwischen denen
nur wenige, stark bewegte Strophen anschaulich die Handlung geben. Das
Gedicht ist erdacht nach einer Anmerkung bei W. Scott. Er schrieb es nieder,
als er im Vorflur des Königlichen Schauspielhauses in Berlin, einem kalten,
weißgetünchten Raum, wartete, um seine Frau abzuholen. Ein Blättchen
nach dem andern beschrieb er da mit schlecht gespitztem Bleistift und dichtete
sein Hoheslied der Treue, seiner Treue. Ihm ist Treue, Heimatliebe,
Was kann Fontane unsern Schülern sein? 73
Gütsein das selbe. Der Heimatsinn hatte ihn ganz gepackt. Er ist für
Fontane immer die Quelle eines starken Deutschempfindens gewesen, nie
etwa ein Antrieb zu beschränktem Partikularismus. Die Heimat schenkt
ihm Vaterlandsliebe, inneres Glück, Zufriedenheit. Heimatliebe ist ihm gleich-
bedeutend mit sittlicher Erneuerung, die wir ach so nötig haben. Hier gibt
uns ein kundiger Seelenarzt die beste Arznei: Heimatliebe und Treue. Sie
sollen alles bei ihm besiegen; so läßt er auch gegen die Überlieferung den
König umgestimmt werden.
Ein großer Fortschritt zeigt sich hier zu den frühsten Gedichten aus
,, Männer und Helden". Und doch! wie turmhoch standen schon diese über
den langatmigen Gedichten, die sonst dem Andenken von Helden gewidmet
waren, gar nicht der endlosen Strophen unseres alten Gleim zu gedenken,
der bei der letzten Feier als ein ehemaliger Schüler unseres Gymnasiums
und bedeutender Dichter seiner Zeit von so beredtem Munde gewürdigt ist.
Als Balladendichter gehört Fontane schon nach seinen ersten Versuchen,
da er sich von jedem Wortgerassel frei hält, zu den wirklich bedeutenden
Erscheinungen.
Zuerst hat Herwegh mit seinen revolutionären Jugendgedichten Einfluß
auf ihn gewonnen, dann stach ihn Strachwitz aus, dessen ritterlicher Ton
ihm ebenso gefiel wie seine unerschütterliche Königstreue; doch bald schon
schuf er sich eine eigene kräftige Sprache und Art. Gern betonte er charakte-
ristische Besonderheiten, was ihn von Goethe stark unterscheidet, der
alles Zackige meist ins abgerundet Harmonische überleitet. Er und der freilich
prägnanter und packender schreibende C. F. Meyer haben der Ballade einen
neuen Weg gewiesen, auf dem Detlev von Liliencron und Börries von
Münchhausen weiterschritten.
Schon 1847 waren die ,,7 preuß'schen Feldherrn" im Morgenblatt er-
schienen, waren volkstümlich geworden, aber dem Dichter hatten sie nichts
eingebracht. Spätere Gedichte blieben lange unbemerkt, bis sie 1898 ge-
sammelt, eins der bekanntesten Versbücher geworden sind: eine markige,
volksliedmäßige Feier preußischen Heldentums. Große Freude erregte so-
gleich beim ersten Abdruck der alte Zieten, er selbst schätzte am höchsten
Derfflinger. Schon der Gedanke: ein Schneidergeselle, der zum berühmten
General emporsteigt, ist für ein Volkslied wie geschaffen. Es gab einen großen
Erfolg; denn in glücklicherweise brachte er seine ,, Helden" den Menschen
näher dadurch, daß er das reir Menschliche an ihnen hervorhob. Was er durch
seine erglischen Balladen oder auch Übersetzungen gelernt hatte, wird uns
recht klar bei einemVergleiche der älteren Reihe mit „Prinz Louis Ferdinand",
diesem kühnen Wurfe, der drei ganz verschiedene Bilder verband: einen
kecken Streich, ein etwas rührseliges Zwischenstück und das weltgeschicht-
liche Ende dieses leichtlebigen und doch prachtvollen Menschen, von dem
uns die zeitwortlose erste Strophe ein wunderbares Bild zeichnet.
Die meisten der älteren Lieder galten dem Fritzischen Zeitalter. Ist
es da nicht eigentümHch, daß es ihm nicht glückt ein volkstümliches Fritzlied
zu schaffen? Es sei denn, wir rechneten die beiden ersten Grenadierlieder
74 Paul Menge,
hierher mit ihrem kernigen Realismus. Wie er den König verehrte, künden
seine Verse bei der Enthüllung des Rauchdenkmals 1851 und zur Verherr-
lichung Menzels: „Auf der Treppe zu Sanssouci." Dann läßt er ihn Parade
abnehmen über die aus den Bismarckschen Kriegen heimkehrenden Truppen.
Je näher er seiner eigenen Zeit kommt, um so mehr hilft ihm seine Anlage,
überall das Bleibende zu erkennen. Mit großem Glück ändert er für die neueren
näheren Stoffe den alten Balladenstil: Eine ganz außerordentliche Kraft
sinnlich impressionistischer Vergegenwärtigung wohnt den nun gern ange-
wandten Knüttelversen inne. Ganz ohne strophische Einteilung ist das
lustige farbenfrohe Lied, mit dem der Dichter, der eine Zeitlang über dem
Geldverdienen durch Prosa nicht zu Worte gekommen war, bis ihn die Er-
stürmung der nun abermals verlorenenDüppeler Schanze wieder weckte, Vehle-
fanz jubelnd den Sieg von Düppel begrüßen läßt. Wie verblüffend einfach
wird da ohne jedes Pathos die Aufnahme der Botschaft in den Haveldörfern
geschildert. Wer sieht den alten Latsche-Neumann nicht, wie er von kräftigen
Fäusten gehoben, das Telegramm verliest und nach Schwante den jubelnden
Dorfgenossen nachtrottet. Mit gleicher Liebe wie für Seydlitz begeisterte
er sich für die Pifkes und Schneiders von den Düppler Schanzen.
Von dem Heldentum der großen Masse hält Fontane nicht viel; er
glaubt an die Macht der Persönlichkeit, die Geschichte macht und die Welt
weiterschiebt. Wer konnte ihm da lieber sein als Held für seine Dichtungen
als Bismarc k, dem er bis über das Grab hinaus das rechte Wort fand ohne
Pathos und doch mit packender Größe in dem Gedicht : Wo Bismarck liegen
soll? „Hier wächst die Kraft des rhythmisch gehobenen Sagens plötzlich
ins Monumentale, das den nahen Gegenstand ins Mythische entrückt" (Wan-
drey). Einen Tag nach des Kanzlers Tod hat er diese zwei Strophen gedichtet,
wenige Wochen vor dem eigenen Ende. Wie eigenartig ist seine Antwort:
irgendwo im Sachsenwald, wo die nach Jahrtausenden die Grabstätte Be-
suchenden scheue Ehrfurcht verstummen läßt.
Lärmt nicht so!
Hier unten liegt Bismarck irgendwo.
Was Wunder, daß er auch den liebte, dessen treuer Diener Bismarck
genannt werden wollte. Ihm, dem alten Blanchebart, widmete er einen fried-
lichen Strophenkranz. Er wußte, daß er als Herrscher nicht an Friedrich H.
heranreichte, daß er nicht den Beinamen der Große verdiente, daß er dem
alten Fritz aber als Mensch überlegen war. Und das gab bei ihm den Ausschlag.
„Der ist von sondrer Art,
Im Dienst allzeit das Schwerste,
Und in Feld und Pflicht der erste:
Das ist Kaiser Blanchebait."
„Das schlichte natürliche Wesen und das rein menschliche Empfinden
des alten Kaisers standen Fontane eben höher als alle Erfolge, die ja nicht
nur auf Rechnung seiner eigenen Persönlichkeit kommen" (Sczcepanski).
In einfachen ergreifenden Versen hat er mit erschütternder Weihe das
stille Heldentum des edlen Dulders Friedrich III. gepriesen. Wir fühlen des
Was kann Fontane unsern Schülern sein? 75
Dichters Seele in diesen rührenden Zeilen mitschwingen. Der Held tritt groß,
schlicht und stark hervor, ohne daß der Dichter je in Wortbombast verfällt.
Diese Balladen und Erzählungen in Strophen aus seiner Zeit, die sein
Ureigenstes sind, brachten ihm große Erfolge. Gewaltig wirkt unter ihnen
.immer wieder der Einsturz der Taybrücke, wo sich mit unheimlicher Anschau-
lichkeit geschildert, die dem Menschenwerke feindlichen Naturmächte zu
grausiger Zerstörung zusammenfinden, wenn sie auch nicht heranreichen
an die Hexen in Shakespeares Macbeth.
Dieses vielleicht manchmal theatermäßig anmutende Rüstzeug, wie
jeden kritiklosen Überschwang, hat er dann verstauben lassen ; scheinwerfer-
artig beleuchten kleine Skizzen Menschen und Zeiten ; oder er schuf satyrische
Genrebilder, auf die sich seine gern ironisierende Natur trefflich verstand.
Gering ist die Zahl seiner eigentlichen lyrischen Gedichte, von denen
wir vorhin ,, Frühling, Trost und Guter Rat" in der trefflichen Vertonung
unseres Musikdirektors Hermann Lenz gehört haben.
Er kannte die Grenzen seiner Lyrik. Weltbewegendes, Schicksalbe-
zwingendes lag ihm so fern wie das Streben nach immer neuen Formen.
Mir würde der Weitsprung nicht gelingen;
So blieb ich denn bei den nähern Dingen;
Drei Schritt bloß — ich weiß, es ist nicht viel,
Aber Freude gibt jedes erreichte Ziel.
In Bismarck hatte er nicht nur den deutschen Kanzler, Deutschlands
Schmied, gefeiert, er verkörpert in ihm auch den märkischen Edelmann, dem
freilich die Zeit nicht nur sein Eigenwesen hatte verkümmern lassen, sondern
auch seine freundliche, gern mitteilende Art, wie er sie so reizend im Herrn
Ribbeck auf Ribbeck im Havellande verehrt. Auch dieses Gedicht
ist eine köstliche Frucht seiner Wanderungen, durch die er den Märkem
das wurde, was für große Teile Niederdeutschlands Hermann Löns ist.
Beider Bücher sind Bände deutscher Heimatliebe, die den Schollengeruch
des Mutterbodens tragen. Nur daß Fontane nicht wie dem Niederdeutschen
auch die nicht von Menschen belebte Natur so viel sagt. Überall treffen wir
bei ihm auf — eigenartige Vertreter der Sippschaft ,, Mensch", spricht aller-
lei Kleinkram und Anekdote zu uns. Alles aber ist auf den Spruch gestimmt:
Meine Seele Gctt
und mein Blut dem König!
Die immer wechselnden Büder, die uns ritterliche Edelleute und eigen-
artige, oft derbe Käuze schauen lassen, werden zusammengehalten durch
König Friedrich und die andern HohenzoUem, die wirklich etwas geschafft
haben für des Volkes Wohlfahrt: „ihr und ihres Volkes Glück ist die wirk-
liche Humanität, ihr Stolz ist ihre Sorgfalt im Kleinsten", ihre Arbeit am
Dossebruch und an der Oder, wo Fontanes spätere Erzählung „Unterm
Birnbaum" spielt. Und doch! „Hier steht kein ins Blaue schwärmendes,
Volk oder Herrschern schmeichelndes Wort" (Er. Schmidt).
Seine fünf Bände „Wanderungen", dieser echte Hausschatz des Märkers,
sind eine reichhaltige Sammlung von Beobachtungen und Stimmungsbildern
gemischt mit historischen Skizzen und Anekdoten. Er wollte weder ein Bä-
76 Paul Menge,
deker noch ein Ranke für dies Stück Erde werden. Hier führt er uns durch
anmutige Landstädte, geleitet uns zu den lugenden Seen und ragenden Kirch-
türmen der einfachen Dörfer, öffnet uns das Parktor, durch das wir ein im
Grünen verstecktes Schloß betreten können. Aber die Menschen sind ihm
noch wichtiger als die stumme Natur. Glänzend sind seine Charakteristiken,
so z. B. von Schadow: „Die Seele griechisch, der Geist altenfritzig, der Cha-
rakter märkisch." Wie bei U hl and schließen Dichter und Forscher den
innigsten Bund. Schon wegen dieses bedingten Verhältnisses zur Landschaft
ist er nicht in dem gleichen Sinne märkischer Heimatdichter, wie Otto Lud-
wig und Fritz Reuter die dichterischen Vertreter Thüringens und Meck-
lenburgs sind (H. Maync). Überall schöpft er aus dem Munde des Volkes:
„Die Alte im Dorf muß ihm erzählen oder der Schulmeister; beim Pfarrei*
oder Amtmann findet er Akten und Dokumente, die ihm die Vergangenheit
enthüllen; im Schloß wohl gar Briefe und Tagebücher oder eine vergilbte
Chronik." (Goebel). Alles zeichnet er auf, Landschaftliches und Historisches,
Sitten und Sagen. Er wird ein Gustav Freytag der Mark. Hier murmelt
für manchen seiner Romane und Erzählungen die Quelle, hier liegt der Kern
für manches Gedicht. Für ihn selbst sind diese Wanderungen durch die wohl
karge, doch schöne Mark ein immer wieder erfrischender Jungborn. Von
hier brachte er Schwungkraft des Körpers und Geistes mit heim, Selbst-
bewußtsein und Sichselbstgenügen, das ihn von der ,,Jagd nach dem
Glück" fernhielt.
Humorvoll schildert er uns diese Auffassung in den Versen: Aber wir
lassen es andere machen. Und stieg doch einmal der Unmut in ihm hoch,
so dämpfte er ihn mit dem ,, Zuspruch".
Such nicht immer, was dir fehle,
Demut fülle deine Seele,
Dank erfjlle dein Gemüt!
Alle Blumen, alle Blümchen,
Und darunter selbst ein Rühmehen,
haben auch für dich geblüht.
Bei einer Gedenkfeier in der Schule seines Hauptlebenswerkes, seiner
Romane, weitläufig zu gedenken, erübrigt sich. Sind sie doch selbst unsern
Primanern meist unbekannt ; haben sie ja erst einem feinerNachempfindenden
etwas zu sagen. Aber auch hier dürfen wir wohl an diesen Schöpfungen nicht
ganz stumm vorübergehen, „zu denen ihn die langjährige Versenkung in
Volkstum und Vergangenheit der Heimat wie die berufsmäßige Beobachtung
der Gegenwart, der er als Tageskritiker oblag" (H. Maync) in gleicher Weise
befähigten.
Ist es nicht eigenartig, daß Fontane erst 1878, also als fast 60 jähriger,
den Zweig der Literatur erkannte, der ihm noch bis zum letzten Lebensjahre
immer neue Knospen trieb, dem er seinen unvergänglichen Ruhm sonderlich
verdankt, diesen Schritt vom Heroischen zum Bürgerlichen wagte? Wie
die damals stürmende und drängende Jugend zeigt er sich auch in den Ro-
manen von dem Kulturwerte der großen Stadt durchdrungen, in der er noch
nicht den Giftherd des Proletariats sieht. Noch birgt ihm auch die Weltstadt
Was kann Fontane unsern Schülern sein? 77
Idylle und patriarchalische Zustände. Das Weh, die Sorgen der Arbeiter
bleiben ihm verschlossen, er kennt nur die Konflikte der Menschen aus der
guten Gesellschaft.
Die Personen zeigen zunächst die selbe abgeklärte Lebensanschauung
und vorurteilslose Güte, die wir bei den Gestalten von Marie von Ebner-
Eschenbach kennen (Röhl), die wir ebenso bei seinem Altersgenossen Klaus
Groth finden. Ist das Jahr 1819 doch ein besonders reiches Jahr, das uns
ne)3en Keller und Fontane auch diesen sinnigen Dichter schenkte, wie
das ganze Jahrzehnt fruchtbar war an Schriftstellern, die uns etwas auch
künftig zu sagen haben werden. Wurde doch geboren 1810 Fritz Reuter,
1812Auerbach, 1813 Hebbel und Ludwig und Richard Wagner, 1816
Gustav Freytag, 1817 Theodor Storm und Luise von Fran^ois.
Alle seine Romane, soweit er sie in Berlin und der Mark spielen läßt,
brachten Fontane neue Leser und Verehrer. Wunderbarerweise blieb dem
märkischen Wanderer die Romantik des Gebirges ganz verschlossen, obwohl
er oft den Harz aufsuchte und manche Woche auch in Wernigerode weilte.
So können sich seine Gestalten zur Not noch der Umgebung und Art von
Thale an der Bode einfügen und heimisch fühlen, diesem Harzorte, der fast
ein Vorort von Berlin war. So würde es heute wohl dem Dichter auch gelungen
sein, eine Geschichte in Schierke spielen zu lassen. Aber für den eigentlichen
Reiz des Gebirges bleibt er spröde, sind daher auch seine Gestalten nicht
recht empfänglich.
Während er zuerst noch unter dem Einflüsse von Willibald Alexis
und Walter Scott stand, wird er bald selbständig, ganz er selbst, wenn
auch noch ab und an ein Motiv an andere erinnert, wie das rücksichtslose
Rechtsgefühl in„GreteMinde", einem der wenigen EücherFontanes, die auch
schon ein Primaner mit Verständnis lesen wird, an Kleists Michael Kohlhaas.
Seine Romane, die einen starken Einfluß auf Thomas Mann und Georg
Hermann hatten, sind ihm Herzenssache, sind ihm, trotz der Vorliebe des
Publikums für Brachvogel und die Marlitt, Quellen der Freude, nachdem
er für den Reichsbuchdrucker Decker in langer Fronarbeit 3500 Seiten in
Lexikonformat Geschichte der Kriege 1864, 1866 und 1870/71 geschrieben
hatte, mit Bienenfleiß, aber ohne innere Teilnahme, ganz im Gegensatze
zu dem immer wieder lesenswerten, von einem goldigen Humor durchwirkten
Bändchen „Kriegsgefangen", das eigene Erlebnisse schildert. „Die Leute
erwarten eine haarsträubende Räubergeschichte mit Hungerturm und Ketten-
gerassel, und was ich ihnen zu bieten habe, ist zu ^/lo ein Idyll", schreibt
er darüber an seinen Verleger, nachdem der „harmlose Scholar" durch Bis-
marcks Bemühungen frei geworden war.
Besonders wohltuend wirkt in dieser herrlichen Schilderung seiner Erleb-
nisse von Domremy bis zur Isle d'Oleron, seiner fast fröhlichen „Festungstid",
wie in seinen sonstigen Kriegsberichten das Fehlen jeder verstiegenen Redens-
art. Schrieb er doch selbst über diese Tätigkeit die urgesunden Worte: „In
allen ehrlichen Zeit- und Kriegsberichten ist immer mehr von Beefsteaks
und Rotwein als von Vaterland und Schlachtentod die Rede."
78 Paul Menge,
Wie die Wanderungen das Gefülil für seine Heimat in ihm gestärkt
hatten, so die Kriege das Gefühl für seine Zeit. Im Kleinsten sucht er das
Größte; das befähigt ihn zum Führertum der künstlerischen Jugend.
„Immer mehr wird er ein sein eigenes Weltbild gestaltender Dichter.
Mag die von ihm geschilderte Gesellschaft zum Teil dekadent und philiströs
sein, der Dichter ist nichts weniger als Verfallzeitler und durchaus eigen-
artig" (Bartels).
Reichste Früchte sollte der Greis noch ernten, ähnlich wie Goethe noch
im Patriarchenalter ,, Faust 11" schuf, während bei Keller Höhe des Lebens
und Schaffens zusammenfällt.
Als 71 jähriger schreibt er sein nach poetischem Gehalte wie äußerer
Technik reifstes Werk „Irrungen und Wirrungen". So sorgfältig er auch
sonst malt, so prächtig geschlossene Einzelbilder er gestaltet, der Gesamt-
aufbau ist meist recht locker. Wie Hermann Kurz hat er den kulturhisto-
rischen und psychologischen Roman glücklich verbunden. Das Höchste an
Kleinmalerei erreicht er in „Stine", einer durch Verbindung von Groteske und
Tragödie fast shakespearisch anmutenden Novelle. Auch hier zeigte er sich
aber gefeit gegen Zolas Naturalismus, der damals in Deutschland viele Nach-
ahmer findet. Er ist kein Ausmaler, er ist ein Andeuter. Ein Hauch Hegt
über den Werken dieses „Impressionisten".
In allen diesen Geschichten räumt er dem Adel und dem lebenstüchtigen,
weltfrommen, schlichten Bürgertum, das auf alle Kraftmaierei verzichtet,
das Recht ein, Tragödien zu erleben, tiefen Schmerz zu durchkosten. Ver-
haßt ist ihm alles Nurkorrekte und Ehrpusselige, alle selbstgerechte Tugend,
Überheblichkeit und Wichtigkeitsgefühl, alles Philister- und Muckertum.
Lustig macht er sich gern über das Bourgoistum ,,mit seiner Kleinstietzigkeit
und seinem unausgesetzten Verlangen, auf nichts hin bewundert zu werden"
(Wandrey).
Glücklich ist seine Gabe, schon durch die ersten Sätze Teilnahme zu er-
regen, anerkennenswert sein Verzicht, die Schlüsse theatralisch aufzubauschen.
Unübertroffen ist sein Geschick, den Dialog zu verwenden. Liebte er es doch
nicht, seine Menschen äußerUch oder durch Reflexionen zu schildern, sondern
sie durch ihre Sprache zu veranschaulichen (Richard Moses Meyer). „Ein
Triumph Fontanescher Unterhaltungskunst sind seine Tischgespräche. Mit
der selben Meisterschaft handhabt er den Jargon der Kasinogespräche, die
bayrische Kneipstube, das Kommerzienratdiner, die kleinbürgerliche Ge-
sellschaft, das Adelsfest" (G. Roethe). Hier zeigt sich seine französische Ab-
kunft, die gern nach feinen Pointen hascht, sich freut an zugespitzten Wen-
dungen, wie wir sie in den gleichzeitig entstehenden Sprüchen : „Ja, das möcht*
ich noch erleben" und „Aber wir lassen es andere machen" antreffen und
bewundern.
Erstaunlich ist der Reichtum charakteristischer, oft drolliger Menschen,
überraschend ihre Vielseitigkeit und Verschiedenheit in Art und Wort. Un-
gemein scharf ist die Charakteristik der verschiedenen Schichten der Berliner
Gesellschaft. Er kennt sich ebenso gut aus in den Salons der Prinzen und
Was kann Fontane unsern Schülern sein? 79
Millionäre wie in den schlicht bürgerlichen Häusern und Schlössern des mär-
kischen Adels.
So hat er in restloser,unermüdlicher Arbeit jeneVoUkommenheit derKunst
erreicht, „die ihren dreifachen Ruhmestitel offenbart in geistiger Durch-
dringung, Vorurteilslosigkeit und Stilgefühl."
Äußere Ehren werden ihm zuteil und reißen ihn gegen seinen Willen
noch einmal an die Öffentlichkeit: Die Feier seines 75. Geburtstags durch
Verleihung des Ehrendoktors, auf Veranlassung von Th. Mommsen und
ErichSchmidt,dieZuteilung des Schillerpreises. Ihn begleiten langbewährte
Treue alter Kameraden und die noch immer wachsende Liebe des jetzigen
Geschlechts; so konnte er sich des Goetheschen Wortes getrösten: „Was
man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle."
Dem 78jährigen nahm am 20. September 1898 ein sanfter unerwarteter
Tod die Feder aus der Hand und entriß ihn wie Ziethen aus dem Busch
seinen noch immer vielseitigen Entwürfen. Er hatte den Tod nie gefürchtet,
nur seine Rüden, die Meute, die stückweis das Leben zerreißt und uns zögernd
in die Grube hetzt. Davon ist er verschont geblieben, und so wandelt er den
Seinen und allen Getreuen unter den Schatten als hochgewachsener, un-
gebeugter Mann, dem die blonden Locken wohl verblichen waren, aber im
schönen, feingeschnittenen Antlitz ein blaues Augenpaar hell leuchtete, der
frei ausschritt, ungeschwächt am Werke blieb und in den Erholungsstunden
als eines der liebenswürdigsten Menschenkinder seine Umgebung bezauberte
(Er. Schmidt).
Diesem ungebeugten Manne verdanken wir auch ein aufrichtendes Memento.
2. Mach dich vertraut mit dem Gedanken,
daß doch das Letzte kommen muß,
Und statt in Trübsal hinzukranken,
Wird dir das Dasein zum Genuß.
3. Du magst nicht länger mehr vergeuden,
die Spanne Zeit in eitlem Haß.
Du freu<;t dich reiner deiner Freuden
Und sorgst nicht mehr um dies und das.
4. Du setzest an die rechte Stelle
Das Hohe, Göttliche der Zeit,
Und jede Stunde wird dir Quelle
Gesteigert neuer Dankb?rkeit.
Ein schlichtes Grab deckt ihn auf dem französischen Kirchhof in Berlin,
der 2000000 Kaiserstadt, deren Entwicklung von der Residenz Friedrich Wil-
helms III. er mit durchlebt hatte.
Eine feine Heiterkeit hatte ihn über alltägliches Leid gehoben, Heß ihn
auch am Kleinsten Freude finden, aus Giftblumen Honig saugen. Überall
hörte er die Musik des Lebens und überließ es andern, sich über seine Disso-
nanzen zu empören. Mit jugendlicher Lebensfrische verbindet er alles ver-
stehende Milde und weise Welterkenntnis des Alters. „Fontane ist kein Welt-
anschauungsdichter wie Hölderlin oder Hebbel; sein Weltbild ist nicht von
besonderer Weite, seine Weltansicht nicht von besonderer Tiefe" (E. Maync),
doch immer reich ist der geistig-sittliche Gehalt seiner Werke.
80 I'aul Menge, Was kann Fontane unsern Schülern sein?
Wahre Vaterlandsliebe, inneres Glück und Zufriedenheit hat er uns
vorgelebt. Was brauchen wir jetzt mehr als neue, starke, bodenständige Hei-
matliebe, die unerschöpflichenReichtum birgt, und innere sittliche Erneuerung,
die das gute Alte bewahrt, das neue Gute nicht verstößt, so wie es sein StechHn
uns lehrt: „Ich respektiere dasGegebene, daneben freilich auch das Werdende.
Denn eben dieses Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes
sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für
das Neue sollen wir recht eigentUch leben."
So stand er, wenn auch gern in die Vergangenheit zurückschauend, mitten
drin in der Gegenwart und arbeitete mit an der Lösung ihrer schweren Fragen.
Wer kann uns da besser helfen in unsern Tagen als solche Dichter wie Fontane?
Wir haben die Herrlichkeit unseres Vaterlandes von Schmerz gebeugt,
von Verzweiflung auch wohl zerrissen, begraben. Nun wollen wir es machen,
wie unsere Soldaten, wenn sie einem lieben Kameraden das letzte Geleit ge-
geben hatten. Wir wollen nun nicht immer nur traurig und verwaist rück-
wärts schauen. Mit alten kernigen Märschen gehen die Kriegskameraden
vom Kirchhofe zurück ins werktätige Leben. So wollen wir uns auch mit
neuem Mut, frischer Kraft beseelen zu rastloser Arbeit an uns für das Vater-
land. Deren Quellen und Wunderborne kann uns nichts so vermitteln wie
Heimatliebe und die Dichter, die uns den Heimatboden so lieb machen mit
seiner liebHchen oder prächtigen Natur und der reichen Geschichte, die sich
wechselvoll auf ihm abgespielt hat.
Hier wollen wir die rechte Lebenstapferkeit und Stärke gewinnen, daß
wir uns mit festem Willen und frischer Kraft in den Dienst der Gegenwart,
der Erneuerung des Vaterlandes, stellen können. So führte Fontane uns
in Gedanken zurück in eine bessere schönere Vergangenheit und bereitet
uns in Hoffnung vor auf eine neue Wiedergeburt des Vaterlandes, indem
er unser Deutschtum, das in der Heimat verwurzelt ist, und echtes deutsches
Staatsgefühl immer wieder betont.
Vorwärts den Blick!
Tröste aich! Die Stunden eilen;
Und was all dich drücken mag,
Auch das Schlimmste kann nicht weilen:
Und es kommt ein andrer Tag.
Wernigerode. Paul Menge.
Ein Wort zur Verständigung.
Im vorletzten Heft dieser Zeitschrift hat Herr Geh. Oberregierungsrat
Dr. Engwer meine Schriften über die wissenschaftliche Forschung und über
die Grundlegung der Sprachwissenschaft einer sehr eingehenden und wohl-
wollenden Kritik unterzogen. Der umfangreiche und gedankenvolle Auf-
satz geht über den gewöhnlichen Rahmen einer Besprechung weit hinaus
und enthält neben der treffenden Wiedergabe meiner Vorschläge vor allem
ein großzügiges Programm künftiger Schulreform. Es wird allen drei Neben-
buhlern, den Alt- wie den Neuphilologen und ebenso den Naturwissenschaftlern
E. Otto, Ein Wort zur Verständigung. gl
ihr Recht gelassen — vorausgesetzt, daß sie den Unterricht im Sinne einer
wohlverstandenen Arbeitsgemeinschaft erteilen und mit wissenschaftlichem
Geist durchdringen. So werden sie alle an verschiedenem Stoffe gleich tüchtige
Menschen und Staatsbürger bilden. Es klingt etwas wie Lessingsche Ver-
söhnlichkeit in den heftigen Streit der Meinungen.
Engwer fordert alle Philologen und ganz besonders die Sprachler auf,
zu den Fragen und Vorschlägen Stellung zu nehmen. Da mag es mir vergönnt
sein, als erster in die Schranken zu treten, da es ja zum guten Teil um meine
Haut geht.
Zunächst seien in gedrängtester Kürzs die Punkte aufgezählt, mit denen
sich Engwer im großen und ganzen einverstanden erklärt.
1. Die Scheidung der Sprachwissenschaft in Sprach- und Sprechkunde.
Wie in allen übrigen Wissenschaften bloße Punktionen von den Entwicklungs-
erscheinungen zu sondern sind, so ist auch in der Sprachwissenschaft zwischen
dem funktionalen Handeln, dem Sprechakt, und dem evolutionalen Ergebnis,
der historisch gewordenen Sprache, ein Unterschied zu machen.
2. Unterscheidung von Beschreibung und Erklärung. Alle Wissenschaften
beginnen mit der Beschreibung der Tatsachen. Die funktionelle Forschung
bleibt jedoch bei der Beschreibung gesetzmäßiger Abhängigkeitsverhältnisse
stehen. Die evolutioneile Erforschung aller Geschichtswissenschaften schreitet
weiter zur Erklärung. An die Frage des ,,Wie" reiht sich also die nach dem
,,Wozu" ; zu der Erkenntnis der Funktion tritt noch das Verständnis
des Gewordenen. Die Erklärung dieser Entwicklungserscheinungen kommt
durch Aufweisung der Bedingungen und Triebkräfte zustande. Aus der
Erkenntnis beider Faktoren schließt man auf die Notwendigkeit der
Entwicklung. Die gleiche Behandlurg aller geschichtlichen Gebiete führt
zu einem wissenschaftlich vertieften Unterricht, der alle verwandten Fächer
umspannt.
3. Unterscheidung von begrifflicher Bedeutung und syntaktischer Be-
ziehungsbedeutung in der Sprachwissenschaft. Den Satzworten, also auch
den Präpositionen, kommt eine selbständige Bedeutung zu. Das ist das
Gebiet der Wortlehre. Dagegen hat es die Syntax mit den Beziehungs-
bedeutungen der Beziehungsmittel zu tun: Beziehungslehre.
4. Grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Beziehungsmittel. Die Flexion
ist demnach gegenüber der Wortstellung, derStimmodulation, dem dynamischen
Akzent usw. nicht das Beziehungsmittel, sondern nur ein Beziehungsmittel
neben vielen anderen. Die Wortart ist auch ein Beziehungsmittel! Es gibt
fünf Wortarten.
5. Unterscheidung von synthetischer und analytischer Bildungsart der
Beziehungsmittel. Formen wie mensae, amavit sind synthetisch, dagegen
sind ä la table, il a aime analytisch. Wir haben es also hier nicht mit
verschiedenen Beziehungsmitteln, sondern nur mit einer verschiedenen Bil-
dungsweise der Formen zu tun.
Soweit die Übereinstimmung! Werden diese Grundsätze allgemein,
von Alt- und Neusprachlern, angenommen, so folgt daraus eine Vereinheit-
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 6
82 E. Otto. Ein Wort zur Verständigung.
lichung der gesamten Grammatik. Die Bezeichnung der grammatischen
Ausdrücke ist dann nicht mehr schwer. Für die Schule bedeutet diese Eini-
gung eine weitgehende Entlastung.
Sodann einige strittige Punkte.
1. Engwer ist auch der Meinung, daß die begriffliche Bedeutung sich
immer mehr abschwächen und zur bloßen Beziehungsbedeutung werden
kann; so hat ä in ä la table = dem Tische nur noch Beziehungsbedeutung
und keinen begrifflichen Sinn. Es entspricht also mensae und hat nicht mehr
den Sinn zu, nach, an. Wenn nun Engwer Bedenken äußert, ob // va venir
reines Futurum ist, ob der Artikel in l'or gar keine begriffliche Bedeutung
hat, so gestehe ich zu, daß es zuweilen überhaupt nicht zu entscheiden ist,
wie weit die Abschwächung der begrifflichen Bedeutung zur bloßen Be-
ziehungsbedeutung zu einer bestimmten Zeit und selbst in einem bestimmten
Fall fortgeschritten ist. Sprache ist ja Leben, Neuschöpfung und Vergehen.
Was // va venir anbetrifft, so ist es gegenüber liviendra eine bestimmte
Aktionsform des Futurums.
2. Die leidige Frage: Was ist ein Satz? Mir ist gewiß ein Fehler unter-
gelaufen, wenn ich in der Satzdefinition das Wort „Satz" wieder aufge-
nommen habe. Ebenso ist unbedingt zuzugestehen, daß die Definition Wundts,
wenn sie von allen offenbaren Irrtümern gereinigt wird, etwas sehr Verlocken-
des hat. Die Bestimmung des Satzes als ,, sprachliche Gliederung einer Ge-
samtvorstellung" ist allerdings sowohl für die evolutionelle als auch für die
funktionelle Forschung schlechthin zu gebrauchen, falls man dabei nun wirk-
lich nicht übersieht, daß Gliederung einmal das Ergebnis und dann auch
der Akt der Gliederung sein kann, also das Gegliederte und das Gliedern.
Diese Definition ist auch für die Schule zu gebrauchen. Was die funktionelle
Forschung, die Sprechkunde, im besonderen anbelangt, so wird man im
Auge zu behalten haben, daß die Gliederung in der Aussonderung der Begriffs-
worte sowie in ihrer Bindung durch Beziehungsmittel geschieht.
Immerhin wird man für die evolutioneile Forschung, für die Sprach-
kunde, eine Fassung erwarten, die das historische Ergebnis der Gliederung
— Begriffsworte und Bezie hungf mittel — enthält. So könnte man kurz
und bündig sagen: Der geschichtlich gewordene Satz ist die Gesamtheit
der in Beziehung gesetzten Begriffsworte. Daran würde gleich eine Einteilung
der Grammatik anknüpfen können.
3. Schließlich die Streitfrage, ob der Satz oder das Wort das Primäre
sei. Unklarheiten in dieser Hinsicht haben allerdings in der methodisch-
didaktischen Literatur recht viel Unheil gestiftet! Vielleicht ist die Ent-
scheidung die: man hat wieder zu unterscheiden a) den gesprochenen Satz
und b) den historisch gewordenen Satz.
a) Im Falle des gesprochenen Satzes ist die Gesamtvorstellung d£S
erste, es folgt die mehr oder weniger unbewußte Aussonderung der Bfgriffs-
worte und dann ihre Bindung im Satz mit Hilfe der Beziehungsmittel. Im
allgemeinen werden sich diese Vorgänge recht durchkreuzen.
Fritz Ehringhaus, Der Lehrplan für den Lateinunterricht an Oberrealschulen. 83
b) Im Falle des historisch gewordenen Satzes ist wohl zu unterscheiden
die ontogenetische und phylogenetische Forschung. Das sprechen lernende
Kind findet den Wortvorrat sowie die Satzfügung vor und wächst allmählich
in diese geschichtlich gewordenen Kulturgüter hinein. Für die phylogenetische
Forschung steht es wohl ähnlich wie mit dem Ei und dem Huhn. Wer will
sagen, was früher war? Wir werden diese Frage also ganz zurückstellen müssen.
Vielleicht ist es nicht unbescheiden, wenn ich auch meinerseits zurStellung-
nahme zu allen diesen Schwierigkeiten der Sprachforschung auffordere.
So würden sich auch die Freunde dieser Zeitschrift zu einer Arbeitsgemein-
schaft zusammenfinden. Handelt es sich doch um die grundlegenden Fragen,
die uns immer wieder in der Theorie und in der Praxis des Unterrichts be-
gegnen.
Berlin-Reinickendorf. E. Otto.
Der Lehrplan für den Lateinunterricht an Oberrealschulen von 1918*).
x'Am 4. April 191S ist ein Erlaß über den Lateinunterricht an Ober-
realschulen erschienen, der schon lange herbeigesehnt worden ist und sehr
viel berechtigte Klagen über dieses Fach ha; verstummen lassen. Un-
glücklicherweise ist ja schon lange der Mangel an lateinischem Unterricht
als das Kennzeichen der Real- und Oberrealschulen hingestellt worden, und
leider trägt die Zeitschrift für Realanstalten heute noch den Titel ,, Zeitschrift
für lateinlose höhere Schulen", trotzdem schon seit einem Jahrzehnt auch
in vielen Oberrealschulen Lateinkurse gegeben wurden. Letzteres sehen ja
viele Freunde der Realschulen als einen Fehler an. Ursprünglich hatten
auch die Realanstalten keinen Lateinunterricht, aber seit durch den be-
rühmten kaiserlichen Erlaß vom 26. November 1900 die Gleichberechtigung
der höheren Lehranstalten erreicht worden war, stellte sich mehr und mehr
das Bedürfnis heraus, den Schülern schon während der Schulzeit Gelegen-
heit zu geben, diejenigen Lateinkenntnisse sich zu erwerben, die sie für das
Studium nötig hatten. An vielen Oberrealschulen wurden deshalb — ähn-
lich wie am Gymnasium englische — lateinische Kurse eingerichtet. Aber
während den Gymnasiasten über den erfolgreichen Besuch, lediglich auf
Grund des Urteils des Fachlehrers, ein Urteil über ihre Leistung in das Reife
Zeugnis eingetragen wurde, war dies den Oberrealschülern, die Latein lernten
auft'älligerweise nicht zugebilligt worden. Der Unterricht galt als Privatunter-
richt, und das besondere Zeugnis des Direktors über den erfolgreichen Be-
such des Kursus war kein amtliches Zeugnis, wie das Reifezeugnis. Infolge-
dessen ließen viele Universitätsprofessoren dasselbe zur Zulassung für das
Seminar nicht gelten. Mit Recht betrachteten die Freunde der Realanstalten
diese verschiedene Behandlung als Unrecht und wünschten eine Änderung
dieses unerquicklichen Zustande s, der offensichtlich eine schwere Benach-
teiligung der Oberrealschulen war. Durch den Erlaß ist nun der Latein-
1) Dieser Aufsatz ist schon vor längerer Zeit eingesandt worden, konnte aber nicht
eher gebracht werden. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben die Rich.igkeit der
Darlegungen bewiesen.
6*
84 Fritz Ehrin ghaus,
Unterricht wahlfreier Unterricht — ebenso wie das EngHsche am Gymna-
sium — geworden, und das Urteil über die Leistungen im Lateinischen wird
in das Reifezeugnis aufgenommen — ebenso wie das über das Englische im
Gymnasium — . Allerdings besteht noch ein großer Unterschied zwischen
dem. Gymnasium md der Oberrealschule. Der Gymnasiast, der Englisch
lernt, braucht keine Schlußprüfung abzulegen, der Oberrealschüler aber muß
jetzt eine schriftliche und mündliche Schlußprüfung machen. Wenn ich
auch diese Bestimmung des neuen Erlasses für richtig und wertvoll halte,
so frage ich m'ch doch, warum w'rd der Gymnasiast hierin besser behandelt
wie der Oberrealschüler? Oder wird die Bestimmung über das Englische
gerech terweisc auch geändert werden?
Freuen wir uns zunächst über die Tatsache, daß der Unterricht im Latein
jetzt als wahlfreies Fach betrachtet und sein Ergebnis in das amtliche Reife-
zeugnis eingetragen wird. Damit ist schon viel erreicht. Nun kann und darf
kein Universitätsprofessor einen Oberrealschüler von der Teilnahme am Se-
minar zurückweisen, weil ihm das bisherige Zeugnis nicht genügte. Früher
war das ja recht unangenehm, aber noch nicht so schlimm, weil die Prüfungs-
ordnung nicht die Teilnahme an den Seminarübungen unbedingt verlangte.
In der neuen Prüfungsordnung wird sie aber gefordert, und es ist deshalb
sehr viel wert, daß den Oberrealschülern jetzt keine Schwierigkeiten mehr ,
gemacht werden können.
IL Das Wichtigste an dem Erlaß ist aber die Aufstellung eines
festen Lehrplans. Bis jetzt trieb fast jeder Lehrer den Unterricht in anderer
Weise. Der eine — und das waren wohl leider sehr viele — trieb fast gar keine
Grammatik und legte gar keinen Wert auf Sicherheit in den Deklinationen
und Konjugationen sowie auf die Kenntnis eines Vokabelschatzes — denn
er hielt das für öde Paukerei — , sondern las möglichst viele Schriftsteller,
der andere wieder legte auch Wert auf eine sichere Grundlage und begnügte
sich mit Caesars , .Bellum Gallicum". Da war es denn kein Wunder, daß die
Leistungen sehr verschieden waren. Auch ist es keineswegs verwunderlich,
daß vieleUniversitätsprofessoren infolge dieser Ungleichmäßigkeit n'chts auf das
besondere Zeugnis des Direktors gaben. Es war daher sehr richtig, daß aus
den Kreisen der Oberrealschule selbst hiergegen angekämpft und eine
Lösung der Frage angestrebt wurde. Herrn Oberrealschuldirektor Dr. Ellenbeck »
in Gummersbach und Herrn Studienrat Schmidt-Mancy in Krefeld gebührt
wohl das Verdienst, daß sie die Frage in Fluß gebracht und den Erlaß
herbeigeführt haben. Nach dem Lehrplan von 1918 müssen in O II
ein ganzes Jahr lang (zwei Stunden wöchentlich) im Anschluß an ein
Lehrbuch die Deklinationen und Konjugationen — unter Ausschluß aller
Seltenheiten — sowie die am häufigsten vorkommenden Konstruktionen des
Satzbaues (A. c. J, Partizipialkonstruktionen, konjunktionale Nebensätze)
durchgefiommen und eingeübt werden, wobei auch Übersetzungen aus dem
Deutschen ins Lateinische vorgesehen sind, damit die Grundlage fest und sicher
eingeübt wird. Möge dies von allen Lehrern beachtet werden!
Der Lehrplan für den Lateinunterricht an Oberrealschulen. 85
In U I sollen die wichtigsten Casus-, Tempus- und Modusregeln an Muster-
beispielen oder durch Ableitung aus dem Lesestoff abgeleitet werden und
ca. 100 Kapitel aus Caesar „Bellum Gallicum" (etwa I 1, 30-54 II 15—28
IV 1—3 V 8-23 VI 11-28 VII 69-90) gelesen werden.
In O I sollen schwierige syntaktische Regeln (indirekte Rede und Frage-
sätze) sowie stilistische und synonymische Feinheiten gelegentlich des Lese-
stoffes durchgenommen werden. Gelesen werden sollen: leichtere Abschnitte
aus einer Rede Ciceros, aus Livius, Tacitus oder Florus. Daneben können,
wenn der Klassenstandpunkt der Schüler und die Zeit es zulassen, auch Teile
von Ovid, Vergil und Horaz durchgenommen werden.
Im großen und ganzen kann man sich über den Lehrplan für 0 II und
U I nur freuen. Ich wünschte nur, daß die Casuslehre schon in O II im Anschluß
an das Lesebuch eingeübt würde und verstehe nicht, daß die indirekte Rede
erst für O I vorgesehen ist. Bei der Lektüre von Caesar (z. B. I 30- 54) muß
man sie doch durchnehmen.
Dagegen halte ich es für unmöglich und für zu weitgehend, in O I Cicero,
Livius und Tacitus zu lesen. Als Lehrziel ist in dem neuen Erlaß aufgestellt
„Einführung in das Verständnis leichterer lateinischer Schriftsteller". Kann
man Livius und Tacitus zu den leichteren Schriftstellern rechnen? Können
Oberrealschüler Schriftsteller lesen, die im Realgymnasium und Gymnasium
erst in Prima gelesen werden? Wenn es wenigstens hieße Cicero oder Livius
oder Tacitus ! Ich gestehe offen, es wäre mir lieber gewesen, wenn noch IV
4—19 V 38—54 VII 36—53 aus Caesar verlangt würde und dann nur noch
ein anderer Schriftsteller, Cicero oder Livius Buch 22 teilweise, oder Teile
von Ovid oder Vergil.
III. Sehr bedeutungsvoll sind auch die neuen Bestimmungen über die
Zulassung der Schüler und die Methodik des Unterrichts. Bisher wurde viel-
fach jeder nach O II versetzte Schüler zugelassen; der Kursus begann manch-
mal mit 30—40—50 Schülern. Es war ganz unmöglich, mit einer solchen
Masse etwas zu leisten, zumal der Unterricht Privatunterricht war. Jetzt
ist angeordnet, daß nur bessere Schüler zugelassen werden sollen. Früher
blieben manche Schüler drei Jahre im Unterricht, auch wenn sie nichts lernten,
in der Hoffnung, doch noch im letzten Vierteljahr sich das Zeugnis erringen
zu können; jetzt werden die Schüler, deren Leistungen nicht befriedigen mit
Recht von der Teilnahme in der nächsthöheren Klasse ausgeschlossen.
Wie schon erwähnt wurde, müssen die Schüler beim Abgang eine münd-
liche und schriftliche Prüfung ablegen, in der sie Sicherheit in der Elementar-
grammatik, zureichende Vokabelkenntnis und Verständnis nicht zu schwieriger
Schriftsteller nachweisen müssen.
Endlich w^ist der Erlaß mit Recht darauf hin, daß der LatC'nunterrcht
stets Anknüpfung an die neueren Fremdsprachen suchen soll, daß dies aber
nur dann möglich und erfolgreich geschehen kann, wenn der französische
Unterricht sicheres grammatisches Wissen und Können vermittelt hat. Hof-
fentlich wird die Gegnerschaft mancher Realanstalten gegen jeden gramma-
tischen Betrieb immer mehr schwinden!
86 H.. Wickenhagen'
Der neue Erlaß über Lateinunterricht bedeutet also einen großen Fort-
schritt und wird dazu dienen, manche berechtigte Klage über den bisherigen
Betrieb verstummen zu lassen. Wir sind daher der Unterrichtsverwaltung
für diesen Erlaß zu Dank verpflichtet, hoffen aber, daß die kleinen Schön-
heitsfehler an ihm mit der Zeit noch beseitigt werden.
Cassel. Fritz Ehringhaus.
Turnen, Spiel und Sport, im Lichtender Gegenwart.
Ist über dieses Thema noch immer nicht das letzte Wort gesprochen?
Was kann der Autor, so wird mancher sich fragen, über den Inhalt und das
Verhältnis der drei Begriffe zueinander Neues vorlegen?
Als ob wir, antworte ich, im Hinblick aaf die Draußenwelt behaupten
dürften, an der Grenze des Friedens, an dem Idealziele des vierfachen F.
angelangt zu sein! Und wird sich das Sehnen nach Einheit in absehbarer Zeit
überhaupt erfüllen? Gerade gegenwärtig zeigen sich wieder häßliche Un-
stimmigkeiten innerhalb der Turnerschaft und der Sportverbände. Gewiß,
letzten Endes wollen alle dasselbe, aber über das ,,Wie" teilen sich die Wege,
und weshalb soll es wohl hier glatter hergehen als auf anderen heimischen
Gebieten der Volksbildung? In Deutschland ist jeder erzogen, jeder will
erziehen, jeder hat sich eine Meinung gebildet, und jeder hält die seinige für
die richtige. Mancher mag das gern hören, aber es ist auch der Weg,
auf dem der „deutsche Michel" sich heranbildet.
Vor allem aber bleibt zu bedenken, daß die körperliche Jugendertüchtigung
ein Teil des Kulturlebens im großen ist und sich dem anzupassen hat, „immer
ist sie nur zeit- und volksgemäß zu treiben, nach den Bedürfnissen von Himmel,
Boden, Land und Volk" sagt Jahn. Damit erklären sich mancherlei Wand-
lungen, die sich nach dem Weltkriege zu entwickeln beginnen.
Uns soll die Drei als Glückszahl gelten; wir möchten die Federkraft
unseres Jungdeutschland nicht lähmen sondern beleben, die Begriffe also
nach dem, was sie bieten und wollen, nicht trennen, sondern versöhnen.
So verlangt es die Pflicht und das Wesen der Sache.
Vom geschichtlichen Standpunkte ist ja Turnen, Spiel und Sport eins.
Der alte Jahn würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er von der Teilung
der Nachfahren hörte. Für ihn gab es nur einWort ,, Turnen" ; es umfaßte alles.
Er, der Mann mit der Blickschärfe und dem abgeklärten Wirklichkeits-
sinn, knorrig, aber kernhaft gediegen, bewährte sich als Meister im Sammeln
aller sanften und derben Bildungsmittel, die er für seine von hoher Begeisterung
getragenen Ziele brauchte. Nichts ließ er sich entgehen; man darf wohl be-
haupten, daß in dem Lehrstoff unserer Zeit kaum etwas zu finden ist, dessen
feinere Wurzelfaser nicht schon im Jahnschen System sich nachweisen ließe.
Er konnte aber nicht zugleich Ordner sein. Die Arbeit blieb Späteren über-
lassen und vollzog sich nicht ohne Stockungen und Irrungen. Es soll auf die
Turnsperre hingewiesen werden ; vor allem aber auf den allmählich sich an-
bahnenden Wechsel in den Grundanschauungen.
Turnen, Spiel und Sport, im Lichte der Gegenwart. 87
Jahn galt das Turnen als Selbstzweck; letztes Ziel: Ertüchtigung
und Wehrbarmachung der Jugend. Für seine Parteigänger, wie Eiselen,
seine Schüler und Mitlehrer, Pestalozzi, Spieß sank es vielfach zur Brauch-
kunst herab. Alle Betätigungsmöglichkeiten aus dem Berufsleben der ver-
schiedenen Arbeitskreise sollten berücksichtigt werden, woraus sich natur-
gemäß eine solche Fülle von Übungsformen ergab, daß die leiblichen Organe
nicht zu ihrem Rechte kamen, während anderseits das Gehirn über Gebühr
belastet wurde. Nach der Turnsperre erscheint als Stückwerk des Jahnschen
Erbes das Gerät- und Hallenturnen im Verein mit den gewiß findig
erdachten, aber durch zu kleinliche Verkettung sinnverwirrend wirkenden
Aufgaben des Spießschen Planes.
Da kamen die Einheitskriege von 1864, 1866, 1870/71. Der gewaltige
Erfolg im Felde zog eine Verjüngung der Massen nach sich. Wie stets zu Zeiten
wo der Volksgeist, in seinen Tiefen erregt, sich willig in den Dienst des Ganzen
stellt, rührte sich jung und alt, reich und arm, dabei begannen Erinnerungen
zu erwachen und ihnen entsprechend hochgespannte Forderungen aufzuquellen.
Die Freilichtgymnastik in der Form des Bewegungsspieles verlangte
ihr Recht, begegnete aber, wie man sich erinnert, zunächst einem beharr-
lichen Widerstände seitens der einseitigen Turnerkreise. Erst die entschiedene
Stellungnahme der Staatsbehörden (Minister von Goßler) und das kraft-
volle Einsetzen des Zentralausschusses für Volks- und Jugendspiele unter
Emil von Schenckendorff ließ ein Wertgut des Jahnschen Sammelstoffes
zu neuem Leben erwachen. Nun sprach man von Turnen und Jugend-
spiel. Aber wehe dem, der das Wort ,, Sport" laut werden ließ; dem Turnen
gegenüber war es zu einem Schlagwort geworden und wie alle Schlagwörter
Mißdeutungen ausgesetzt. Der Sportler galt als Schwärmer, Ausländer,
Jugendverderber usw.
Und so gingen wiederum Jahre ins Land. Das Freilichtturnen trug Früchte
Ein natürliches Bedürfnis des Sichmessens, des Kräftevergleichs ließ aus dem
anregungs- und stimmungsarmen Schulspiel den sinn- und muskelspannenden
Wettkampf, wo erst der Meister sich aus der Masse zu erheben vermag, ent-
stehen. Zu dem Landturnen gesellte sich das zu Wasser in seinen Steigerungen
bis zur stahlharten Arbeit der Regatta. Für die neuen, weit über die enge
Ummauerung des Turnplatzes ausgreifenden Übungen mußte ein Sammel-
begriffgefunden werden -.Das Wort „Sport" fand Gnade bei der Allgemeinheit.
Wenn wir also hier von Turnen, Spiel und Sport reden dürfen,
so wissen wir, daß Anfeindungen aus den Leserkreisen nicht mehr zu befürchten
sind. Warum auch? Der maßvoll Prüfende muß zugeben, daß die Fülle
des Jahnschen Übungsstoffes nicht beeinträchtigt wird, sondern sich zu glie-
dern und ordnen beginnt. Wird er's nicht begrüßen?
Eine kurze Vorbemerkung über den Wortinhalt! — Turnen und „Arbeit"
schlechthin sind vielfach nur begrifflich verschiedene Dinge: Ein Junge,
der die Leiter besteigt, um Äpfel zu pflücken, arbeitet; tut er dasselbe, sich
im Klettern zu üben, turnt er; springst du als Botengänger, einen Fußweg
abzukürzen, über Erdwall und Graben, dann arbeitest du, in der Hindernis-
88 H. Wickenhagen,
bahn darfst du dich bei gleicher Verrichtung Leichtathlet nennen; Leute
die da „konkurrieren", um ihr tägliches Brot zu verdienen, arbeiten; solche,
die , »zusammen ablaufen", den Siegerkranz zu erringen, treiben Kampfspiele;
jener Krieger, der die Siegesnachricht von Marathon nach Athen zu bringen
hatte, war ein Bote , der neuzeitliche Marathonläufer im Stadion ist ein Sports-
mann.
Leider hört man noch immer von Alltagsmenschen, die ihr Turnziel
vorerst oder allein in der Erwerbung von Muskelpolstern und hartknochigen
Fäusten, wohl auch in zäher Marschausdauer erblicken; hätten sie recht,
würde man den stämmigen Kofferträger oder den Landbriefboten um ihre
turnerischen Meisterleistungen beneiden können. Vor solchem Banausen-
tum gilt es sich frei zu machen.
Der bittere Ernst des Weltkrieges hat die Erziehungsgrundsätze langer
Jahre scharf unter die Lupe genommen und den Schleier von den Augen
gezogen, das zu erkennen, was man unter klassischer Gymnastik zu ver-
stehen hat. Idealgestalten sind nur zu schaffen, wenn die Bildung
sich in zwei große gleichberechtigte Gebiete zerlegt:
Schulung des Geistes und Körpers! Damit ist der Augenblick
gekom.men, einer Prüfung der Arbeitsmethoden näher zu treten.
Unsere Lernschule will der Jugend einen gewissen Grad geistiger
Reife verschaffen, einen gebildeten Menschen mit klarem Blick und gesundem
Urteil in die Welt schicken, der den an ihn herantretenden Aufgaben ge-
wachsen ist. Ihr stehen im Unterricht Mittel zur Verfügung, die die Probe
langer Jahrhunderte bestanden haben: Sprachen, Geschichte, Mathematik,
Naturkunde usw. Ein jedes ,,Fach" hat seine eigenartig bildende Kraft;
alle zusammen führen zu einem harmonischen Abschluß, wie die Einzel-
instrumente der Musik zu einem harmonischen Tonkörper.
Liegt es nicht ähnlich auf dem Gebiete der Gymnastik, womit nicht
gesagt sein soll, daß ihr Betrieb denselben Zeitanspruch erheben dürfte.
Dem Sprachunterricht ließe sich das exakte Turnen gegenüberstellen, der
Geschichte das Spiel, das ja seinen Inhalt dem friedlichen und unfriedlichen
Leben der Völker entnimmt, der Natur- und Erdkunde das Wandern zu
Lande und zu Wasser.
Zu planmäßigem Aufbau, gegenseitige Wertschätzung vorausgesetzt,
sollen auch diese Fächer einer Ertüchtigung zustreben, die in ihrem gesunden
Kern der Reife auf wissenschaftlichem Gebiete würdig sich zur Seite stellt,
— und die dem Schüler auch bei seinem Übertritt in die Öffentlichkeit zu
bescheinigen wäre. Denn das muß hier gesagt werden: Der Reisepaß, den
unsere Schule ausstellt, bevorzugt offensichtlich die Gehirn- und Verstandes-
kräfte. Als ob Eltern und Schüler nicht auch auf einen wohlbegründeten
Ausweis über körperliche Fertigkeit Anspruch hätten, ein Gutachten
über praktischen blick, Ansteliipkeit, selbständiges Handeln: Anlagen,
die dem hiermit beglückten Jüngling manch gangbaren Weg üuf dem weiten
Arbeitsfelde öff.ien könnten I
Turnen, Spiel und Sport, im Lichte der Gegenwart. 89
Hier entsteht die Frage: Welches Gesamtziel hat die gymnastische Er-
ziehung sich zu stallen? Wir überlassen die Antwort dem Altmeister Jahn;
„sie soll die verloren gegangene Gleichmäßigkeit der mensch-
lichen Bildung wiederherstellen, der bloß einseitigen Vergeistigung
die wahre Leibhaftigkeit zuordnen, der Überfeinerung in der wiedergewonnenen
Männlichkeit das notwendige Gegengewicht geben und im jugendlichen
Zusammenleben den ganzen Menschen umfassen und angreifen."
Jede Art des beruflichen Lebens treibt je nach den Aufgaben, die es
stellt, zu einer gewissen Einseitigkeit und körperlichen Verbildung. In der
Regel prägt sich diese so bestimmt aus, daß nicht viel Scharfblick dazu ge-
hört, aus ihren Erscheinungsformen den Beruf zu erkennen. Wer getraut
sich nicht, den Landwrt vom Gelehrten, den Bäcker von Schneider usw.
zu unterscheiden? Einseitigkeit bedeutet Bevorzugung einzelner Organe
zum Schaden anderer. Solange es im Leben Arbeitsteilung gibt, läßt sie
sich nicht beseitigen; ohne sie würden Höchst- und Meisterleistungen auf
dem Geb'ete der Wissenschaft, Kunst, des Gewerbes usw. unmöglich sein.
Deshalb wäre es eitleLiebesmüh oder Vermessenheit, gegen sie mit demSchwerte
der Vernichtung vorgehen zu wollen oder sie auch nur zu bespötteln wie
etwa jener Eisläufer es tat, der dem Viol'nvirtuosen Professor Joachim ge-
sagt haben soll: ,,Herr Professor, Sie meinen wohl, das Schlittschuhlaufen
wäre so leicht wie das Violinspielen!" — Aber Pflicht ist es, diesem Hange
zur Ein^'.eitigkeit feste Schranken zu setzen. Es m.uß das der Jugend aner-
zogen und zu so klarem Bewußtsein gebracht werden, daß die Wirkung sich
über die Grenzen der Schule hinaus erhält. An Vorbildern nach der guten
wie schlimmen Seite fehlt es nicht. Männer wie Goethe, Bismarck, Wilhelm
der Große, Moltke erhielten sich bei vernunftmäßiger Selbstzucht bis ins
hohe Greisenalter gesund und arbeitstüchtig, während unser Schiller, der
seinen Körper knechtete, im besten Mannesalter aus dem Leben schied.
Im folgenden sollen unsere gymnastischen Disziplinen nach ihrer zuerst
physischen dann ethischen Eigenart geprüft werden. Jedes „Fach" hat
seinen besonderen Bildungswert. Das Turnen im engeren Sinne will Muskeln
und Sehnen stählen, Geschicklichkeit, das heißt Wirtschaften im Kräfte-
verbrauch, aneignen. Das Spiel sorgt für Lockerung des Beinwerkes im
freien Tummeln und Blickschulung in die Weite; Wandern zu Land und
Wasser durchlüftet Lunge und Herz, der Sport träniert alle Organe bis zur
Höchstspannung. — Und nach der ethischen Seite: Die Turnschule als
Staat im Kleinen fordert — im Gewände der Freude und Kameradschaft —
Zucht und Ordnung, erzieht zum Gehorchen und Befehlen; das Spiel führt
auf dem Wege der Selbstentfesselung und -fesseln ng nach dem Grundsatz
„immer strebe zum Ganzen" zum edlen Freiheitsgenuß; der Sportler treibt,
wie das Volk in der Stunde des Krieges, zum höchsten Krafteinsatz imd er-
hebt den Willen zur vollen Herrschaft über den Leib. Aber er kennt nicht d'e
schlimmen Seiten des Krieges, nicht in der Vernichtung des Gegners sieht
er sein Ziel, vielmehr reicht er ihm, der sich zur Kräftemessung bereitstellte,
im Siege die Hand ritterlicher Kameradschaft.
90 H. Wickenhagen,
Jedes Gebiet hat unter normalen Verhältnissen seinen bildenden Wert,
wer sich nur auf einem betätigt, verwendet gegen die „verloren gegangene
Gleichmäßigkeit" also gegen Einseitigkeit, einseitige, „homöopathische"
Mittel, und doch kann das eine der Zeitlage besser dienen als das andere.
Der Feinde Übermacht hat uns die allgemeine Wehrpflicht genommen,
mit ihr die Pflanzstätte, die aus kleinsten Mitteln bei peinlicher Pflege wunder-
bare Früchte aufzuziehen verstand und verstehen mußte, weil auf ihr die
schwerste Verantwortung lastete. An die Turnbchule richtet sich heute der
Weckruf! Denn auf s:e zuerst hat die Verantwortung sich übertragen In
der Verbindung des Körperlichen mit dem Geistig-Sittlichen soll sie sich
innerlich veredlen : die Kunstturnerei soll sich in echte Turnkunst umwandeln;
aus der Heeresschule soll die Lehre gezogen werden, daß Gewissenhaftigkeit
in den Elementen allein den Aufstieg zum Großen verbü"gt.
Als ob wir das nicht wüßten, höre ich sagen. Aber wie ist's mit dem
Tun ? Ein Blick in eine, zwei, drei usw. Turnstunden mag es veranschaulichen.
Eine recht leichte Barrenübung soll gemacht werden: Straffes Antreten (Stel-
lung!) drei Meter vor der Barrengasse; elastischer Anlauf zum Sprung in
den Streckstütz; Schwung durch die Barrengasse zum Grätschsitz vor den
Händen in Muskelspannung von der Zehe bis zum Scheitel; flottes Loslösen
vom Gerät mit Schwung zur Kehre über den rechten Holm; Niedergehen
und Seitstrecken der Arme (wie der Vogel aus der Luft) zur tiefen Kniebeuge,
leicht federnde Streckung zur schneidigen Schlußstellung. Rechtswendung
zum Abgang. — Die an sich leichte Aufgabe umfaßt neben der ,, Stellung"
eine Lauf-, Kletter-, Schwung- und Freiübung. Der Lehrer hat sie schul-
gerecht vorgemacht, und der Schüler? Er läßt lässig sein Herantreten in
eine laufartige Bewegung zum Gerät übergehen, gewinnt den Streckstütz
und den Grätschsitz, benutzt den Barren kurze Zeit mit hängenden Unter-
schenkeln als Sitzgerät, macht sich nicht ohne Mühe von ihm frei, sinkt
nach einem der Kehre ähnlichen Überschwingen in die Kniebeuge, aus der
er sich in den Abgangsschritt fallen läßt — mit dem Bewußtsein, seine Turner-
pflicht erfüllt zu haben! In Wirklichkeit hat er die Übung zur Karikatur
herabgewürdigt. — Wie der Sprachlehrer den jugendlichen G^ist in der
feinen Unterscheidung der Tempora und Modi schärft, so gilt es auch hier
Imperfektes in Perfektes zu verwandeln. Deshalb soll der Junge kurz und be-
stimmt hören: Deine Leistung ist Fuscherei! In dem Zuck und Ruck der
Stellungnahm.e drückt sich Taktgefühl, Achtung vor der Aufgabe aus,
in der Kletterübung Willenszucht, Selbstmeisterung, Arbeitsfreude,
im Schwung, Sitz und Stand Verständnis für Formenschönheit und klassi-
sches Ebenmaß und in der ganzen Aufgabenlösung abgeklärtes Urteil
über Übungsinhalt und -zweck. Das sind die sittlichen Bildungselemente,
die Imponderabilien, ohne die der Leistung das Nährsalz fehlt. Wie heißts
im ,, Faust"?
Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist herauszutreiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt leider nur das geistige Eand!
Turnen, Spiel und Sport, im Lichte der Gegenwart. 91
Der Fachmann weiß, daß das aufgerollte Bild in allen Gebieten des Betriebs
in dieser oder jener Verbindung leider gar zu oft wiederkehrt. Übertreibung
wird der Kundige mir nicht vorwerfen!
Und nun vor dem Abschied vom Turnplatz noch ein Geleitwort: Das
Turnen wahre im Hinblick auf seine ernsten Aufgaben entschieden seine
Rechte und Pflichten, vor allem gegenüber sinnloser Spielerei. Es halte
Maß in seinen Ansprüchen, sehe zuerst sein Ziel in peinlich sorgfältiger,
gleichmäßiger Ausbildung der ganzen Masse bis zu erreichbaren Grenzen,
nicht in der Züchtung von Gipfelturnern und Rekordjägern, nicht in der
Veranstaltung von blendendem Schauturnen mit Ausschluß der Schwächlinge
und Drückeberger 1).
Das A und O des Betrieljes ist die Grundstellung, die Haltung;
sie birgt hohen Bildungswert in sich, denn sie kehrt in allen Übungsformen
wieder, wird aber dann erst zur anderen Natur und hat mit durchschlagender
Wirkung zu rechnen, wenn sie im Verkehrsleben des Schulganzen Platz ge-
winnt. Dort schützt sie vor Gespreiztheit, saloppem Gebahren, zeigt Takt,
Bescheidenheit, kurz „die gute Kinderstube". Einem jeden Jugendbildner
möge es vorbehalten bleiben, in diesem Sinne als Erzieher und Turnlehrer
zugleich zu wirken, denn erst dann kommen wir dem Ideal klassischer und
zugleich praktischer Gymnastik näher.
Suchen wir nun den Spielplatz auf! Hier sehen wir unsere Aufgabe
darin, die Betriebsarten nach Wert und Inhalt zu prüfen. Von den Kinder-
gartenspielcn kann abgesehen werden. Im amtlichen Lehrplan vom 18. April
191S wird für die reifere Jugend vorgeschrieben: Barrlauf, Schlagball als
Sommer-, Jäger und Fußball als Winterspiel. Unterstreichen möchten wir
die ersteren, durchstreichen den Fußball. |
Dieses Spiel hat die Alleinherrschaft im Feldzugsleben auf den Plätzen
hinter der Front gehabt. Der Feldgraue hat ihm bei der Rückkehr in die
Heimat die Zuneigung bewahrt, und sein Beispiel wirkt packend auf den
Nachwuchs, leider vielfach zum Schaden des Heimischen! Man spricht von
Fußballseuche. Sportlich ist es die Kampfart derber und kernhafter, voll-
blütiger Naturen. Es hat das Zeug in sich, Leidenschaften zu erwecken,
weil es reich ist an spannenden Augenblicken und erhitzenden Szenen. Im
Wettkampf hat das ununterbrochene Stürmen mit dem Ringen in zweimal
45 Minuten etwas Überreiztes und damit gesundheitlich Bedenkliches,
denn es pumpt die Kräfte aus bis zur Erschlaffung. Fußtritt und Kopfstoß,
beide dem Kampfleben der Tierwelt entnommen, zeigen einen Stich ins
*) Schauturnfeste sind Paraden für das Auge mild und wohlwollend urteilender Gäste
Als festliche Veranstaltungen sind sie sicher vortrefflich geeignet, für den laufenden
Unterricht aber von nur mittelbarem Werte, unter Umständen sogar störend ! Wir
brauchen ernste und regelmäßig wiederkehrende Besichtigungen vor beauftragten Fach-
männern. Inwieweit die neuerdings in Aussicht genommene Prüfung sich bewähren wird,
bleibt abzuwarten. Ein Versuch ist soeben gemacht; leider war die Anlage ungewöhnlich
und befremdend; die Ausführung zeigte Spuren der Überhastung, hie und da auch Neigung
zu theatralischem Effekt.
92 H. Wickenhagen,
Niedrige, Gemeine und tragen das Gepräge des Undeutschen, Weithergeholten.
Den Gesamtcharakter des Spiels liest der Beobachter aus den Mienen der
Spieler. Kommen Ethik, Ästhetik und edle Gymnastik aber nicht zu ihrem
Rechte, dann ist das Gelände der Schule für die Übenden zu gut; sie mögen
dort sich Platz suchen, wo man im Sport Menschliches und Tierisches zu
verbinden liebt.
Wie ganz anders liegen die Verhältnisse beim Schlagball; er ist unserer
Jugend sozusagen auf den Leib zugeschnitten. Was Jahn behauptet: ,,Die
richtige Vertreibung von Last und Rast gewährt die Dauerkraft" trifft hier
zu. Der Platz zeigt fesselnde, lebenswahre Gruppierungen. Im Schlagen,
Werfen, Fangen des Balles erscheinen Turnerbilder in ewig wechselnder
Haltung. Der Läufer bildet sich in der Gefahr, vom feindlichen Wurfgeschoß
getroffen zu werden, zu einem Meister scharfsinniger Berechnung aus. Seine
Bahn zeichnet die Windungen einer formenreichen Arabeske mit anmutenden
Ausschmückungen. Jetzt springt er, dem Ballwurf auszuweichen, hoch,
dann wirft er platt sich nieder, wiederum reckt er sich empor, um gleich
dem Olympiakämpfer zum Ziele zu hasten. Hat er dies erreicht, dann lohnt
ihn die Rast, das Behagen ruhigen Ausblickens auf das Kampfgewoge und
damit verbundener Selbstbelehrung, bis ihn die Pflicht ruft, das Schlagholz
von neuem zu schwingen. Hier ists, wo der Freund ebenmäßiger Formen und
edler Jugendlichkeit halt macht und seine Rchnung findet. Und die Spieler
finden sie auch, denn der Kampfplatz weist jedem Teilnehmer und Organ
seine Aufgabe zu und ist deshalb durchstrahlt von Frohsinn, durchglüht
von Pflichtgefühl im Ganzen und für das Ganze. Seine Krönung aber findet
die Leistung in jener wohligen Müdigkeit am Schluß und nach der Heimkehr,
in der fühlbar die Organe Zeit finden zu gesundender Auffrischung und stim-
mungsvoller Erinnerung.
Neben dem Schlagball verdient Barrlauf und Faustball rühmliche
Erwähnung und warme Empfehlung um so mehr, als beide die bescheidensten
Ansprüche an den Platz, das erstere Spiel auch an Gerätschaften stellen.
Auch Schleuder- und neuerdings Handball haben sich viele Freunde erworben,
letzteres als Konkurrent des Fußballs.
Zum Schluß noch eine kurze Betrachtung der wassersportlichen
Übungen, des Schwimmens und Ruderns. Sie stellen das Turnen im
Wasser dar und verhalten sich zueinander wie die Freiübungen zu denen
am Gerät. In dieser Verbindung bieten sie die Werte der Turn- und Spiel-
schule, verschmelzen pangymnastisch die Regeln der Zucht und Ordnung
mit denen der Freiheit. Es hieße Wasser in die Spree gießen, wollten wir
das im einzelnen nachweisen. Das Schwimmen sollte, soweit es eben örtliche
Verhältnisse erlauben, dem verbindlichen Stoffe der Lehrpläne angegliedert
werden. Es gibt — abgesehen von seiner rein praktischen Bedeutung —
dem so wichtigen Baden erst den gesundenden Wert; denn der tiefere Tem-
peraturstand des Wassers bedingt flotte Bewegung. Überdies stellt es an
die natürliche Veranlagung geringe Ansprüche, da es sich im wesentlichen
darum handelt, den Menschen an den Übergang aus der senkrechten Stellung
Turnen, Spiel und Sport, im Lichte der Gegenwart. 93
der Körperlängslinie in die wagerechte zu gewöhnen. Alle Tiere, denen dieser
Vorgang erspart bleibt, können von Natur schwimmen.
Im Rudern stehen sich noch immer die Vertreter des Renn- und Wander-
ruderns gegenüber. Wir dürfen und müssen hoffen, daß gegenseitige Wert-
schätzung und die aus gesunder Beurteilung der Verhältnisse erwachsende
Achtung sich immer mehr vertieft.
Unser Vaterland ist für die Wanderfahrt begünstigt wie kein Land
Europas; wir würden den Wink der Natur nicht zu deuten wissen, wenn wir
die heimischen Güter uns nicht zu nutze machten. Das an Wasserstraßen
und Übungsplätzen arme England ist in der Entfaltung des Wandertriebs
auf engen Raum beschränkt. Die jugendliche Kraftmasse ist auf räumliche
Konzentration angewiesen und hat sie in der Regatta gefunden. Insofern
erscheint diese als Ersatz. Und — wissen wir's nicht alle? — etwas Herab-
würdigendes liegt in dem Worte nicht, und der erziehliche Wert soll damit
nicht unterschätzt werden. Die Regatta ist eine Prüfung der Vollreife, wie
sie in allen Übungsarten sich als unentbehrlich erwiesen hat. Sie setzt ge-
wissenhafte Pflichterfüllung und eiserne Willenszucht voraus. In dem Streben
nach hochgestellten Zielen soll die Mannschaft in der physischen Wirtschafts-
kunst sich bewähren und die Überzeugung gewinnen, wie aus der rechten
Ausbeutung grundlegender Kleinmittel sich Großes erreichen läßt. Wer
wird auf ein so wertvolles Kleinod verzichten wollen? Ohne die Regatta,
die sich natürlich den gegebenen Verhältnissen anpassen muß, verflacht
die Wasserfahrt erfahrungsgemäß zum müßigen Gondeln und entkleidet
sich aller erziehlichen Gewinne.
Zum Schluß: Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes
Unterpfand. Danach laßt uns alle streben! — Ist der Nachweis gelungen,
daß Turnen, Spiel und Sport durch die Gleichheit gesunder Ziele verbrüdert
sind, nur in den Wegen und Wirkungen zu diesen sich unterscheiden, dann
lautet unser Grundsatz: getrennt marschieren, vereint schlagen!
Dann aber ist es nicht mehr denn billig, daß bei Prüfungen, die das Urteil
über den ganzen Menschen, den Grad seiner Reife und Ertüchtigung erbringen
sollen, alle drei Gattungen durch geeignete Vertreter mitzusprechen haben,
nicht der Turnlehrer allein ; denn das wird man zugeben : Vorlagen wie diese,
er war durch das Vertrauen seiner Mitschüler zum Vorsitzenden des Schüler-,
Turn- oder Rudervereins, des Spielwarts gewählt; „er hat es vortrefflich ver-
standen, mehrtägige Wanderschaften seiner Kameraden einzurichten, sowie
innerlich und äußerlich auszubauen", „er versteht es, in der Schulgemeinde
sich nützlich zu machen, vor allem den Zarten und Schwachen ein Helfer
zu sein", wiegen schwerer als zwei oder drei Gipfelübungen. Sie stellen
den Jüngling dar als selbständige, zielklare, organisatorisch und kamerad-
schaftlich gut veranlagte Natur. Und solche Menschen brauchen wir für die
Zukunft.
Wir brauchen Weiteres. Die Not der Zeit muß aufräumen mit deutscher
Eigenbrödelei in den Lehrerverbänden. Die gesteigerten Aufgaben leiblicher
Ertüchtigung verlangen einen Stab von Lehrmeistern, die Vorurteils-
94 Manfred Fränkel,
frei und einmütig, ohne kleinliche Standesrücksichten, das zusammen-
zuschmieden verstehen, was für das Gedeihen des Vaterlandes und Volks
verwendbar erscheint. Wer's mit unserer Jugend hält, der liest's aus ihren
Augen: gebt uns Wegeleiter, an uns solls nicht fehlen! An solchen
mangelt es allenthalben. Deshalb ist es unabweisbare Forderung, daß jeder
Kandidat angehalten werde, einen Nachweis über seine Fähigkeit und sein
Können auf dem Gebiete der körperlichen Erziehung zu erbringen. Darin
sehen wir die Zuversicht, die uns von pessimistischen Anwandlungen befreit;
Pessimismus führt zum leiblichen und seelischen Siechtum. Die Zukunft
gestaltet sich ja selten so günstig, wie man hofft, aber auch selten so
ungünstig wie man fürchtet, — vorausgesetzt, daß es an willigen Helfern
nicht gebricht.
Heute sollen wir die Worte eines Mannes beherzigen, der in ähnlichen
Nöten lebte, wie wir: E. M. Arndt: ,,Was vergangen und geschehen ist, werft
es ruhig in den weiten Schoß der ewigen Notwendigkeit und seht auf das
junge Geschlecht; erzieht, bildet und richtet es, daß Männer aus ihm
werden" — und es wird in unserem seelischen Empfinden auch für den Opti-
mismus noch Raum geben.
Berlin-Lichterfelde. Wickenhagen.
Der Wert der linkshändigen Ausbildung ffir Schule und Staat.
Kürzlich äußerte ein hervorragender Schulmann, er hätte es nie durch-
gehen lassen, wenn einer seiner Schüler bei Verletzung der rechten Hand
erklärte, er könne nicht schreiben oder zeichnen, sondern ihn darauf auf-
merksam gemacht, daß er ja auch eine linke Hand habe, die nur darauf brenne,
die rechte zu ersetzen. Und groß war die Freude, wenn die Arbeit auch mit
der linken gelang. Aus dem Felde haben ihm frühere Schüler, denen durch
Verwundung die rechte Hand gebrauchsunfähig geworden war, für diese
Anleitung herzlichsten Dank geschrieben. Sie sind so durch diese Vorübung
über viele trübe Stunden der Furcht — wie sie sich bei Rechtshand verlust
im weiteren Leben forthelfen werden, schnell hinweggetröstet worden.
So war die schon Jahrhunderte alte, oft geschmähte von anderer Seite
so sehr belobte Doppelhandbewegung durch den Krieg wieder in Fluß ge-
kommen und mancher mag es tief bedauert haben, hat mit Recht der Schule
einen Vorwurf daraus gemacht, daß er nicht früher den Wert der linken
Hand, ihre Benutzung durch Übung kennen gelernt hatte und so sich erst
unter dem schweren Zwang der Rechtshandverletzung darauf einstellen
mußte.
Nachdem das Ministerium in dankenswerter Erkenntnis der Wichtigkeit
dieser Frage durch besonderen Erlaß kürzlich hinsichtlich Stilschrift und
Linkshandausbildung die Aufmerksamkeit der Lehrer auf diese Punkte
der Ausbildung gelenkt hat, gebe ich trotz bislang zwölfjährigen vergeblichen
Bemühens — in all dieser Zeit trat ich unentwegt in Wort und Schrift viel-
fach für die Einführung und Ausbildung der Steilschrift und der Linkshand-
Der Wert der linkshändigen Ausbildung für Schule und Staat. 95
ausbildung in Schulen ein — die Hoffnung nicht auf, daß wir jetzt endlich
mit eingehenden Versuchen als Forderung des Tages einsetzen werden.
Anfänge dazu sind ja schon seinerzeit in Königsberg gemacht worden.
Leider hat man sich dort mit der Durchführung eines einzigen Kurses be-
gnügt; es konnte aber schon festgestellt werden, daß in der Tat die Links-
kultur keinen Schaden, sondern Nutzen der mannigfaltigsten Art bringt.
Das zusammenfassende Urteil lautete : „Die Linke steht der Rechten an Aus-
bildungsfähigkeit nicht nach. Bei Kindern, die für technische Fähigkeiten
besonders veranlagt sind, tritt diese Anlage bei der linkshändigen Tätigkeit
ebenso deutlich zutage wie bei der rechtshändigen. Je älter und verständiger
ein Kind ist, desto schneller macht es Fortschritte bei den Linkshandkursen.
Weit entfernt für den Linksunterricht ein Hindernis zu sein, ist die vor-
herige Ausbildung der rechten Hand sogar eine bedeutende Erleichterung,
weil das bereits geschulte Auge mitarbeitet."
Noch beim Kinde läßt sich deutlich die beiderseitige Anlage des Sprach-
zentrums nachweisen, aber später verkümmert infolge der Bevorzugung
der rechten Hand das rechte Sprachzentrum.
Nach genauen Beobachtungen von Baldwin beginnt das Kind erst im
achten Monat einen Arm zu bevorzugen, und erst im dreizehnten Monat
ist die Rechtshändigkeit ausgebildet. Wir sehen mit zwei Augen, wir hören
mit zwei Ohren, wir riechen mit zwei Nasen, aber wir sprechen nur mit einer
Gehirnhälfte.
Das Verhalten des Kindes würde also das biogenetische Grundgesetz
Haeckels bestätigen. Das Kind repräsentiert noch jenen Typus der Mensch-
heit, da der Mensch mit beiden Gehirnen sprechen und offenbar mit beiden
Armen gleichmäßig hantieren konnte.
Wenn aber die Rechtshändigkeit die Ursache der einseitigen Lage des
Sprachzentrums ist, so müßten sich bei Menschen, die beide Extremitäten
gleich gut verwenden, zwei Sprachzentren befinden, ein rechtes und ein linkes.
Tatsächlich ist dies der Fall.
Gehen wir etwas weiter zurück in der Stammgeschichte der Mensch-
heit! Gibt es einseitig ausgebildete Tiere? Von allen diesen Behauptungen
hält keine einer wissenschaftlichen Prüfung stand. Zahlreiche Anthropo-
logen haben bewiesen, daß die Affen keine Extremität bevorzugen. Wä-
gungen von Armknochen erwachsener Schimpansen haben gar keine Ge-
wichtsdifferenz ergeben, was sich bei stärkerer einseitiger Betätigung heraus-
stellen müßte. In dem interessanten Werk von Dr. Kalischer ,,Das Groß-
hirn von Papageien" wird der Papagei als bekanntlich jenes Tier dargestellt,
welches die menschliche Sprache am besten nachahmen kann. Kalischer hat
nun an sechzig Papageien anatomische und physiologische Hirnstudien
durchgeführt und den Nachweis geliefert, daß das Sprachzentrum der Papa-
geien ein doppelseitiges ist. Eine einseitige Verletzung des Sprachzentrums
beraubt den Papagei noch nicht der Fähigkeit, seine Sprache zu gebrauchen.
Man sieht, daß der Papagei in dieser Hinsicht gewissermaßen einen Vorzug
vor dem Menschen voraus hat.
96 Manfred Fränkel,
Die Tätigkeit des Schreibens ist es, die sowohl bei Rechtsern wie bei
Linksern allgemein mit der rechten Hand ausgeübt wird, welche die ent-
schiedene Überlegenheit der linken Hirnhälfte verursacht; durch Vermitt-
lung des Schreibens wird ein großer Unterschied zwischen beiden Hirn-
hälften geschaffen, indem durch die verwickelte Tätigkeit der dabei be-
teiligten Muskeln bei Links- und Rechtshändigen sich in der linken Hirn-
hälfte des Schreibzentrum entwickelt. Dieses steht aber in innigster Ver-
schmelzung mit dem Sprachzentrum, und so wird auch dieses durch das Schrei-
ben mit der rechten Hand beeinflußt, so daß es bei Linksern sich auch oft
auf der linken Seite des Gehirns ausbildet. Tatsache ist und bleibt jedenfalls,
daß die Balkenfasern des Gehirns innige Verbindungen zwischen den beiden
Hemisphären darstellen, sie übertragen einen Reiz von links nach rechts
und umgekehrt, aber es ist erklärlich, daß derjenige Teil, der häufiger Reize
empfängt (linkes Gehirn), der mächtigere werden wird. Desgleichen wird
der Weg vom rechten Arm zum linken Hirn und erst in zweiter Linie zum
rechten Hirn häufiger von Reizen durchflössen als der direkte Weg: linker
Arm zum rechten Hirn. Ist die linke Hand die überwiegende, dann liegt —
a priori — die Sache genau umgekehrt. Anfänglich geht also der Hauptstrom
vom linken Arm zum rechten Hirn hinüber, und hier legt sich auch dann
ursprünglich das Sprachzentrum an. Jetzt tritt nun der Zwang der Erziehung
mit Strenge und Gewalt in Kraft und fordert kategorisch für die rechte Hand
den ihr allein gebührenden ersten Platz. Und so muß sich denn der ursprüng-
liche Linkshänder bescheiden, nur im Verborgenen und im plötzlichen Affekt
seine linke Hand bevorzugt zu gebrauchen. Die gesellschaftliche Ordnung
zwingt ihn dazu, den natürlichen Trieb zu unterdrücken. Aber nie wird
er deshalb etwa nur Rechtshänder! nein er wird Doppelhänder. —
Die Eindrücke der Außenwelt, wie sie sich unserem Auge, unserem
Ohr, unseren Empfindungen mitteilen, sammeln sich zu sog. Erinnerungs
bildern im Gehirn, um dort zu lagern; und je nach der Häufigkeit, mit der
sie sich dem Empfinden aufdrängen, je nach der Größe des Reizes, mit dem
sie das Gehirn treffen, gelangen sie zu unserer Empfindung, bis sie uns, wie
z.B. bei der Anwendung von Gegenständen, beim Schreiben und Lesen ge-
wohnheitsmäßig werden, so daß wir schon beim Hören eines Wortes, das
einen Gegenstand bezeichnet, instinktiv sofort dessen Verwendung, Form
und Gestalt wissen, ohne überhaupt darüber nachzudenken, wie viele Nerven-
bahnen und Zentren in Bewegung gesetzt werden müssen, um diesen Be-
griff zu fassen und zum Ausdruck zu bringen.
Gehen wir nun noch einen Schritt weiter. Gewöhnlich vollführen wir
jede Bewegung mit der rechten Hand, wie dann bekanntlich 95^4% aller
Menschen Rechtshänder sind, und dementsprechend ist der Ort für alle Ein-
gangs aufgezählten Erinnerungsbilder das linke Gehirn, das bekanntlich
infolge Kreuzung der Nervenbahnen im Rückenmark die Versorgung der
rechten Hand übernommen hat. Durch diese Bevorzugung der rechten Hand
wird also notwendigerweise das linke Gehirn die häufigsten Eindrücke und
Reize erhalten, und infolgedessen am eindruckfähigsten sein, ja geradezu
Der Wert der linkshändigen Ausbildung für Schule und Staat. 97
eine Sammelstelle für fast alle und besonders die schwierigeren Bewegungen
darstellen. Stiefkind dagegen ist und bleibt die linke Hand und die ihr ent-
sprechende rechte Hirnhälfte. Es besteht eine so völlige Abhängigkeit der
linken Hand von der rechten, ein derart schwerwiegender Unterschied zwischen
linker und rechter Hirnhälfte, daß man sagen muß: die rechte Hand kann
nicht nur vieles, was die linke nicht kann. Nein, alles was die linke Hand
überhaupt kann, kann sie durch die rechte, hat sie von der rechten entlehnt
oder auf dem Umwege durch sie erst gelernt.
Und während so dem linken Gehirn alles Untertan ist, all unser Denken,
Fühlen, Handeln und Bewegen, besitzt das rechte Hirn allein nichts von
alledem. Untersuchungen an Kranken, die durch Schlaganfall rechtshändig
gelähmt und so allein auf die rechte Hirnhälfte angewiesen waren, haben
gelehrt, daß mit einem Schlage der Mensch der Sprache, der rechtsseitigen
Bewegung beraubt, mit der linken nun gleichfalls führerlosen Hand nichts
auszurichten vermag, eine Ruine geworden ist.
War so die linke ungelähmte Hand zu allen Zweckbewegungen des Han-
delns unbrauchbar und ungelenk geworden, weil sie durch die mangelhafte
Übung von der rechten Hand überhaupt auf dem Umwege der Hirnleitung
völlig abhängt, so hat sich mir im Verlaufe weiterer Untersuchungen die
Möglichkeit gezeigt, diesen armseligen, eigentlich doppelt Gelähmten, die noch
häufig der Sprache beraubt sind, und zwar durch Übung der linken Hand
zu neuen Lebensäußerungen zu verhelfen. Ja, es gelang mir, diesen Ärmsten
durch diese Übung die Sprache wiederzugeben, und ich bin zu dem Schluß
gekommen, 1. daß auch beim normalen Menschen gelingt, durch Übung die
linke Hand der rechten gleichwertig zu machen, 2. durch diese Übung die
der linken Hand entsprechende, bisher brach liegende rechte Hirnhälfte
zu voller Tätigkeit zu entwickeln und von der bisher allein herrschenden
linken zu befreien, und ich konnte diese Anschauung an einer Reihe von
Kranken wie von Gesunden beweisen, so daß ich schließlich die Forderung
aufstellte, daß zu den wichtigsten Schuländerungen die Nutzbarmachung
der linken Hand und so die Entfaltung des rechten Gehirnes gehört.
Ich konnte aber ferner an Fällen und Berichten den Nachweis erbringen,
daß die doppeIhänd"ge Ausbildung auch bei idiotischen und zurückgebliebenen
Kindern einen heilsamen Einfluß in geistiger, körperlicher und moralischer
Beziehung ausübt und dazu beiträgt, dieselben wieder zu nützlichen Gliedern
der menschlichen Gesellschaft zu erziehen : Neben den gesundheitlichen Vor-
zügen dieser Ausbildung in bezug auf Kräftigung der linken Lunge, des linken
Auges, Verhütung der Wirbelsäulenkrümmung : ein weiterer Beweis für die
Tragweite der Linkskultur. Besonders wichtig ist der Hinweis, daß die Ein-
führung selbst sich ohne jede Schwierigkeit bewerkstelligen läßt. Das haben
nicht nur die englischen, sondern auch die Beobachtungen in Königsberg
deutlich bewiesen: Ein weiterer nicht zu unterschätzender Vorzug gegen-
über anderen mit großen materiellen Kosten und Organisationsarbeiten
verbundenen Reformen. So dürfte denn die Ausbildung der Schüler zur
Doppelhändigkeit zu den wichtigsten Aufgaben der modernen Pädagogik
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 7
98 Manfred Fränkel,
gehören. Eine andere ebenso wichtige Aufgabe zur Hebung der so erschreck-
lich großen körperlichen Schäden an Auge und Wirbelsäule, die ich im ersten
Aufsatz ausführen konnte, sehe ich in der Durchführung der Steilschrift,
die sich insofern eng an die doppelhändige Ausbildung anschließt, als die
von mir vorgeschlagenen linkshändigen Übungen gleichfalls in Steilschrift
vorgenommen werden sollen.
Das Ausland ist in dieser wichtigen Aufgabe uns leider weit voraus.
Es sei an die Knaben- und Handarbeiten in Schweden und Dänemark er-
innert, bei der die linke Hand besonders sorgfältig aufgebildet wird, ferner
an die ,, neuen Wege zur künstlerischen Erziehung der Jugend", in denen
Liberty Tadd in Philadelphia lebhaft für die zeichnerische Ausbildung der
linken Hand eintritt. England hat in schneller Erfassung der Bedeutung
der doppelhändigen Ausbildung für alle menschlichen Betätigungen eine
weitverzweigte eifrige Propaganda für die gleichmäßige Ausbildung beider
Hände entfaltet, die von der Ambidextral-Kulturgesellschaft in London
ausgeht und in zahlreichen Schulen die allgemeine Einführung der Doppel-
händigkeit bereits erwirkt hat.
Die Übung der Hnken Hand ist bisher, sehr zu Unrecht, arg ver-
nachlässigt worden. Die natürliche Anlage des Menschen weist darauf hin,
daß die linke Hirnhälfte infolge der Kreuzung der Nervenbahnen im oberen
Rückenmark die Versorgung der rechten Hand bewirkt, und durch ihre häufige
Inanspruchnahme sammeln sich hier schließlich alle Erinnerungsbilder,
nicht nur an Gegenstände und Personen, sondern auch an Bewegungen.
Stiefkind ist und bleibt dagegen die linke Hand und die ihr entsprechende
Hirnhälfte, sie ist von der rechten Hand bzw. linken Hirnhälfte völlig abhängig.
Unter der mangelhaften Übung der Linken leidet also auch das rechte Ge-
hirn, und zwar in solchem Maße, daß, wie neuere Beobachtungen gelehrt
haben, zwar in beiden Gehirnhälften je ein Sprachzentrum angelegt ist,
aber nur das linke zur völligen Aufbildung gelangt. Was diese Vernachlässi-
gung bedeutet, zeigen jene Unglücklichen, die durch einen die rechte Seite
treffenden Schlaganfall der Sprache und der rechten Hand beraubt, eine
Ruine geworden sind; das allein ihnen verbliebene ist die linke Hand. — Wir
sahen aber weiter oben, daß sie auch diese durch die bisherige falsche Ent-
wicklung eingebüßt haben.
Der Mensch ist in dem Bereich der Schöpfung das einzige Beispiel eines
tierischen Lebewesens, das zwei völlige gleiche und vollkommen geformte
Gliedmaßen hat, die sich doch in verrchiedener Weise entwickeln: die Hände.
Ja, er bildet nicht nur mit voller Absicht die eine Hand auf Kosten der anderen
aus, sondern er rühmt sich sogar der halben Verkümmerung, zu der er seine
ungeschickte linke Hand verurteilt. Zu allen Zeiten protestierten einsichts-
volle Köpfe gegen diese Ungerechtigkeit, aber Gleichgültigkeit, die Scheu
vor Neuerungen, das Hängen am Hergebrachten, Vorurteil und Unwissen-
heit ließen die Stimmen dieser Prediger in der Wüste ungehört verhallen.
Eine jede wahre Erziehung muß in der vollkommenen Entwicklung des
Individuums nach der physischen, geistigen und moralischen Seite bestehen.
Der Wert der linkshändigen Ausbildung für Schule und Staat. 99
Daher ist ein Erziehungssystem, welches eines der wichtigsten Glieder des
menschlichen Körpers vernachlässigt, unvollkommen. Jeder Lehrer hat
die Pflicht, bei einem Kinde nicht allein jede geistige Fähigkeit, sondern
auch alle Glieder bis zu ihrer höchsten Leistungsfähigkeit auszubilden. Das
Recht auf Ausbildung der linken Hand ist unbestritten. In zahlreichen
Industrien und Kunstfertigkeiten hat sie ihre Gleichberechtigung mit der
rechten Schwester glänzend erwiesen. Denken wir ans Klavierspiel. Gibt
es dort einen Unterschied zwischen den Fähigkeiten der rechten und der
linken Hand? Bei der Violine ist die delikate Fingerarbeit der Linken wohl
gleich notwendig wie die Bogenführung der Rechten. Bei der Handweberei,
dem Maschinenschreiben, beim Kricketspiel zeigt die Linke sich als schnelle
und genaue Arbeiterin, die ebensoviel Erfolg aufzuweisen hat, wie ihre Kollegin
von der rechten Seite. Der Chirurg, der Zahnarzt ist direkt gezwungen,
seine linke Hand gleichfalls auszubilden und für seine Tätigkeit zu benutzen.
Ist er überhaupt im Stande, ohne diese seine Arbeit auszuführen, ist ihm
nicht die linke in seinem Beruf ebenso wertvoll wie die rechte?
Die Erfahrung hat gelehrt, daß die linke Hand durch Übung in kürzester
Frist eine Gelenkigkeit, Feinfühligkeit und Beweglichkeit erwirbt, die die
der rechten meist übertrifft. Das hat man nicht nur bei Kindern, sondern
auch bei Leuten beobachten können, die sich erst im reifen Alter zu Doppel-
händern ausbildeten. Also nicht Überbürdung bringt diese Übung, wie man
angenommen hat, nein! umgekehrt! Entlastung, Arbeitsteilung. Alle hervor-
ragenden Gedächtnissachverständigen erklären die Doppelhändigkeit . für
eines der wirksamsten Mittel zur Kräftigung des Erinnerungsvermögens.
Nach alledem täte die Kulturmenschheit wirklich gut, der linken Hand
mehr Beachtung zu schenken, statt die ohnehin so geringe Verwendung
der linken durch gedankenlose Absichtlichkeit noch mehr einzuschränken!
Man gehe im Gegenteil darauf aus, daß die Kinder von Anfang an bewußt
lernen, von beiden Händen einen möglichst aujgiebigen Gebrauch zu machen.
Man mache dem überlieferten Vorurteil gegen die linke Hand allgemein ein
Ende. Möchten Schule und Haus recht bald überall veranlaßt werden, sich
die zielbewußte Ausbildung der vernachlässigten Linken angelegen sein zu
lassen, eine Aufgabe, die zu den wichtigsten der modernen Pädagogik gehören
sollte •
Wenn die Doppelhändigkeit Allgemeinheit der Menschheit in den Kultur-
staaten würde, so wären die Vorteile unbegrenzt. Die Doppelhändigkeit bietet
eine kräftige Versicherung gegen Unfälle, sie hat einen unschätzbaren Wert
da, wo die rechte Hand verhindert ist, ihrer Pflicht nachzukommen (wie
wir es aus meinen Fällen ersahen). Aber es wäre falsch, wie es so vielfach
geschieht, zu glauben, daß sich die Doppelhändigkeit nur in diesen Fällen
nützlich erweise. In allen Umständen des täglichen Lebens, bei allen Tätig-
keiten zeigt sie ihren fördernden Einfluß. Sie gibt einem Menschen erst die
Möglichkeit, seine vollen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu entwickeln.
Man denke an die vielen Berufe, ob sie nun bloße Äußerungen der rohen
Kraft oder besonderes Geschick und angelernte Fertigkeit erfordern, in denen
7*
100 Manfred Frankel, *
schon mit Rücksicht auf die Ermüdung einer Hand der Besitz einer zweiten,
ebenso brauchbaren, von hohem Werte ist. Außerdem gibt es viele Gelegen-
heiten, wo der Gebrauch der Linken geradezu notwendig wird. Zur Illustration
diene nur dieser Brief:
Ein alter Handwerksmeister sandte mir folgende hübsche Ergänzung
zur „Doppelhändigkeit in der Werkstatt":
,,Der Wert einer gleichmäßigen Ausbildung der linken wie der rechten
Hand wurde schon vor 50 Jahren, als ich in die Schlosserle hre kam, anerkannt.
Es war bei uns Sitte, ja, es wurde sogar streng darauf gehalten, daß an den
Tagen mit geradem Datum rechts, an den Tag^n mit ungeradem links ge-
feilt, gesägt, gehauen usw. wurde. Zu diesem Zwecke hing in der Werkstatt
eine Blechtafel, die auf der einen Seite mit „rechts" auf der anderen Seite
mit „links" beschrieben war und jeden Tag umgekehrt werden mußte. Diese
Doppelhändigkeit in der Werkstatt betrachteten wir Jungens allerdings
mit gemischten Gefühlen. Das Gehirn kam dabei nicht in Frage, denn es
war bei uns ebenso wie bei gleichaltrigen Lehrkollegen weder rechts noch
links von besonderer Güte. Die Doppelhändigkeit hatte auch keinen anderen
Zweck, als beide Hände gleichmäßig zu üben und für das spezielle Handwerk
gleichmäßig geschickt zu machen ; was auch völlig leicht und ausgiebig ge-
schah."
Was die Notwendigkeit oder Bedeutung der Pflege der linken Hand
anbetrifft, so werden ja Fälle vorkommen, die es klar beweisen, wie vorteil-
haft es sein kann, wenn jemand geschickt die linke Hand gebrauchen kann.
Verliert jemand durch einen Unglücksfall die rechte Hand, oder erleidet
er auf der rechten Seite eine Lähmung, so ist es zweifellos von ungeheuerem
Vorteil, wenn er die linke Hand möglichst vollkommen als Ersat.: verwenden
kann, vorausgesetzt, daß diese die nötigeGerchicklichkeit besitzt. Aber solche
Fälle treten, nachdem man leider den großen Nutzen die den armen Kriegs-
verletzten vernachlässigt hat, jetzt in Friedenszeiten in so geringer Zahl
auf, daß sich durch sie allein eine planmäßige, wohl gar schulgemäße Aus-
bildung der linken Hand nicht rechtfertigen läßt. Vielmehr hat diese
ihren Grund in ihrer großen volkswirtschaftlichen Bedeutung
Jeder moderne Staat steht in einem überaus heftigen Wettstreite mit allen
seinen Nachbarvölkern, was Handel und Verkehr, Kunst und Wissenschaft,
Fabriktätigkeit, Kriegskunst usw. betrifft. Überall ist heutigestags im Ver-
gleich zu früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten die körperliche Geschick-
lichkeit und der Hände Fingerfertigkeit mehr wert als die wuchtige Kraft
der Arme. Jedes Volk sucht heute auf allen Gebieten seine Glieder leistungs-
fähiger zu machen. Die schwere Arbeit wird vielfach schon von tiefsinnig
erdachten und kunstvoll gebauten Maschinen geleistet, aber diese in ihrer
ganzen Vollkommenheit auszunützen, dazu gehört Geschicklichkeit, Übung,
Gewandtheit, Fingerfertigkeit beider Hände und nicht bloß immer der einen
rechten Hand, die bisher allein geübt wurde.
Ich will nun kurz die aus meiner Erkenntnis entstandenen Vorteile der
Doppelhandausbildung anführen:
Der Wert der linkshändigen Ausbildung für Schule und Staat. 101
In hygienischer Beziehung;
1. Verhütung der Wirbelsäulenverkrümmung (siehe Japan). 2. Ver-
minderung der Tuberkulose. 3. Verhütung der Augenschädigung. 4. Ver-
hütung des Sprachverlustes bei rechtsseitigem Schlaganfall. 5. Entfal-
tung des rechten brachliegenden Gehirnteiles. 6. Besserung des geistigen
und moralischen Zustandes bei Idiotenkindern. 7. Verringerung der Zahl
der Verbrecher auf der Basis geistiger Minderwertigkeit.
C. Vorteile in den Berufszweigen und im Handwerk.
1. In vielen hundert Berufszweigen ist Doppelhändigkeit direkt nötig.
2. In ebensovielen sehr erwünscht. 3. Erzielung größerer Regsamkeit.
4. Größere Geschicklichkeit. 5. Größere Leistungsfähigkeit, da keine schnelle
Ermüdung eintritt. 6. Dadurch bessere Bezahlung. 7. Bessere Ernährung.
8. Geringere Arbeitsunfähigkeit bei Unfällen der rechten Hand, also bessere
Arbeitsausnützung. 9. Hebung der Industrie usw.
D. Vorteile für die Schule.
1. Größere Regsamkeit und geistige Munterkeit. 2. Leichteres Fassungs-
vermögen. 3. Schnelleres Vorwärtsschreiten in den Pensen. 4. Bessere Haltung.
5. Keine Kurzsichtigkeit, keine Wirbelsäulenverkrümmung in solchem Pro-
zentsatz wie bisher. 6. Verhütung von Lungenschädigungen. 7. Vermeidung
von schneller Ermüdung, geistig wie körperlich. 8. Vermeidung des Schreib-
krampfes. 9. Erfahrungsgemäß: Erleichterung und Vergrößerung der Leistung
der rechten Hand durch Mitüben links.
E. Vorteile für den Staat.
1. Bessere Entwicklung des einzelnen in geistiger wie körperlicher Be-
ziehung. 2. Hebung der Leistungsfähigkeit des einzelnen um 50 %. 3. Ver-
größerung der Leistung des Staates in wirtschaftlicher Beziehung und in
Machtentfaltung nach außen. 4. Trotzdem geringere Ausgaben für Militarismus.
In Amerika hat Liberty Tadd, der bekannte Zeichenlehrer und Maler
großzügigste und erfolgreiche Propaganda für die doppelhändige Ausbil-
dung an Schulen gemacht. In England hat man bereits aus meinen dort
bekannt gewordenen seit zehn Jahren in Schrift und Wort enthaltenen Mah-
nungen nach Steilschrift und Doppelhändigkeit i) weitgehendste Folge-
rungen gezogen und diese Verbesserungen in Schulen eingeführt, und jüngst
kommt aus Frankreich die Nachricht, daß Prof. Armaingaud aus Bordeaux
der Pariser Medizinischen Akademie eine Denkschrift zwecks Einführung der
Zweihändigkeit und gleichmäßigen Gebrauchs beider Hände eingereicht hat,
in der er diese Einführung als Rettung für das volksarme Frankreich emp-
fiehlt. In seiner Denkschrift richtet er an den Unterrichtsminister die Forde-
*) Dr. med. Manfred Fränkel: „Die doppelhändige Ausbildung und ihr Wert für
Schule und Staat mit Berücksichtigung der Vorteile für Stei!<!chrift" (nebst praktisch-
didaktischem Teil zur doppelhandigen Ausbildung von Kreisschulinspektor Tronnau-
Königjberg.) 2. Auflage 1916, Verlag R. Sci'ötz, Berlin.
102 Winter,
rung nach einem Gesetz zur gleichmäßigen Au«;bildung beider Hände in Schulen
und zur Aussetzung von Preisen an die Lehrer, die in der Durchführung
der Zweihändigkeit die größten Erfolge alljährlich erhielt haben. Er sieht
den Vorteil in einer vermehrten Arbeitsleistung, das geistig Bedeutsame
aber dieser Neuschaffung, wie ich sie in der Entfaltung einer ganzen brach-
liegenden Gehirnhälfte beweisen konnte, ist ihm noch nicht zum Bewußtsein
gelangt. Um so zuversichtlicher hoffe ich, daß es den Frauen und Männern,
die heute der neuen Schulreform den Stempel neuer sozialer Erkenntniss*
geben sollen, gelingen wird, sich von albn bisherigen Vorurteilen Lei zu machen
und so der Welt den Beweis zu liefern, daß wir allen Versuchen zum Trotz
die geistigt Führung in der Welt doch behalten wtidei., indem wir gewillt
sind, großzügige Reformen, die zur Gesundung unseres Volkes mehr wie
jede andere wesentlich beitragen, nach Erkenntnis ihi.r Bedeutung — restlos
ein- und durchzuführen.
Charlottenburg. Dr. med. Manfred Fränkel.
Die deutsche Schule Ostasiens im Kriege.
Bei den Schwierigkeiten, mit denen die deutschen Schulen gegenwärtig
nicht minder zu kämpfen haben wie in den vergangenen fünf Jahren, dürften
auch wohl die ostasiatischen Schulnöte, wie sie in der gleichen Zeit mindestens
in gleichem Maße vorhanden waren, in diesem Leserkreise einiges Interesse
finden. Um nicht weitschweifig zu werden, will ich mich auf die von 1915— 19
von mir geleitete Kaiser Wilhelm-(Real)Schule inTientsin beschränken. Als
ich sie mit dem Beginn des neuen Schuljahres im Herbste übernahm auf
Bitten des Schulvorstandes und des nach kurzer Tätigkeit ausgeschiedenen
bisherigen Schulleiters, eines ehemaligen Oberlehrers der Gouvernements-
schule inTsingtau, und damit meines Kollegen, da ich seit 1905 zugleich zum
Religionslehrer jener Schule vom Marineamt berufen war, fand ich mich vor
eine Aufgabe gestellt, die mir neben der Ausübung der Seelsorge in Tientsin,
Peking und alsbald dem Gefangenenlager unserer internierten Gesandtschafts-
schutzwache, große Anforderungen an Zeit, Kraft und leider dann auch Ge-
sundheit brachte. Galt es doch drei Schwierigkeiten zu überwinden: den
Ausbau und Aufbau der Anstalt, den Ersatz und die Gewinnung von Lehr-
kräften, die Beschaffung von Lehrbüchern und Lehrmitteln.
L Mit meinem Eintritt in die Schulleitung eröffnete ich die Untertertia
und übernahm die Anstalt mit einer Schülerzahl von etwa 90 Knaben und
Mädchen. Denn in allen Schulen Ostasiens war von Anfang an gemeinsame
Erziehung eingeführt, so daß diese Anstalten ein reiches Material für Vor-
teile und Nachteile jener liefern können. Als Lehrplan war der einer Real-
schule nach preußischem Muster zwar vorgesehen, hatte aber bisher durch
Ungunst der Verhältnisse nicht durchgeführt w#den können. Hatte doch
der Krieg das gesamte männliche Lehrpersonal zu den Fahnen nach Tsingtau
und damit in japanische Gefangenschaft geführt. Die zurückgebliebenen
Lehrerinnen konnten unmöglich mit den ebenfalls weiblichen Hilfskräften,
das Pensum aufrecht erhalten, zumal die Schülerzahl durch den Zuzug von
Die deutsche Schule Ostasfens im Kriege. 103
Tsingtauer Familien sich gleich anfangs verdoppelte. Durch den Eintritt
des erwähnten Oberlehrers und eines früheren Elementarlehrers der Hoch-
schule in Tsingtau, der mit dem Roten Kreuz nach der Einnahme der so-
genannten „Festung" ausgewiesen war, hätten sich die Verhältnisse günstiger
gestalten können, wenn nicht schwere Krankheit schon im Frühjahr 1915
die Schularbeit schwer geschädigt hätte. Infolgedessen hatte keine Klasse
ihr Ziel erreichen können, geschweige denn, daß eine Zusammenarbeit der
Lehrkräfte bei fortwährendem Tausch und ständiger Heranziehung von
Hilfskräften für die Erkrankten hätte erzielt werden können. Die Aufgabe
für den neuen Leiter ergab sich damit von selbst, stieß aber auf größte Schwie-
rigkeiten. Es tauchte daher sofort der Gedanke in der Gemeinde auf, den
Lehrplan fallen zu lassen und nach eigenem Plan eine Sprachenschule ein-
zurichten. Damit wäre natürlich der Reichszuschuß aus der Heimat fort-
gefallen. Aber diese Erwägung fiel weniger ins Gewicht, da es sich eben nur
um einen Zuschuß handelte, während die Hauptkosten von der Gemeinde
bestritten werden mußten, und dieser Zuschuß, der für di Umrechnug von
2 Mark pro 1 Dollar gedacht war, mit dem schnell und übermäßig steigenden
Dollarkurse (zuletzt 6 Mark — 1 Dollar) nur noch ein Tropfen auf einen
heißen Stein bedeutete, Für jenen Gedanken sprachen hauptsächlich wirt-
schaftliche Erwägungen und die Bedenken für Gewinnung und Vermehrung
des Lehrpersonals, ja auch der Beschaffung von Schulbüchern und Lehr-
mitteln. Denn die wirtschaftliche Lage der deutschen Kaufmannschaft Ost-
asiens war durch den Ausoruch dieses Wirtschaftskrieges sogleich eine sehr
schwierige geworden. Der Handel, ja der Briefverkehr mit der Heimat, war
sofort unterbrochen, und durch ein dichtmaschiges Netz von Spionen über-
wachten die Engländer jeglichen deutschen Handel, um ihn völlig zu unter-
binden. Es gehörte schon die ganze Tüchtigkeit, Zähigkeit und Beliebtheit
des deutschen Kaufmannes, gerade bei den Chinesen, dazu, dennoch Ge-
schäfte zu machen, wenn auch in naturgemäßen Grenzen. Aber die hohen
Geldforderungen, welche der Aufbau der Schule stellte, fielen als schwere
Bedenken bei der Entscheidung jener Frage ins Gewicht. Für die anderen
beiden Gründe bietet sich später noch Gelegenheit zum Eingehen.
Von großem Interesse und Verständnis des Schulvorstandes und des
größten Teiles des Schulvereins zeugt es nun, wenn die eigenen wirtschaft-
lichen Schwierigkeiten hinter die Schulinteressen zurückgestellt wurden. Als
Schulleiter mußte ich unbedingt das Interesse der Schulkinder, das ja schließ-
lich auch das der Eltern ist, wahrnehmen und zwar bis zum Schluß, wenn
immer wieder und mit der Zeit immer ernstere Stimmen sich gegen die Auf-
rechterhaltung des Lehrplans einer staatlichen Realschule und damit des
Ausbauens der Schule geltend machten. Die Geldforderungen mehrten sich
mit jeder neuen Klasse nicht unbedeutend, und die Geldmittel der Gemeinde
gingen bedeutend zurück. Bei der Einrichtung der Obertertia und Unter-
sekunda wiederholten sich jedesmal diese Erwägungen, um doch schließlich
mit der Beibehaltung des Lehrplans zu enden.
Schon die äußere Einrichtung des neuen Klassenzimmers verursachte
104 Winter,
nicht unerhebliche Kosten. Geplant war ursprünglich in Friedenszeiten, die
Schule mit der Quarta zu beschließen und die Kinder dann in die Heimat
zu schicken, ein Gedanke, der in Friedenszeiten absolut gerechtfertigt ist,
wenn, wie dies in Tientsin der Fall war, die Eltern in der Lage sind, den Unter-
halt ihrer Kinder in der Heimat zu bestreiten. Denn wünschenswert ist es,
daß die Kinder in diesem Alter sich in die heimischen Verhältnisse einleben
und der bei bester Kunst immerhin einseitigen Erziehung durch das Ausland
für einige Jahre entzogen werden, am besten aber in dem Alter, wo das Kind
sich zum Jüngling oder zur Jungfrau entwickelt. In diesen Jahren muß
das Kind möglichst Heimatluft atmen, damit es deutsch fühlen und denken,
deutsch leben und handeln lernt. Zum Einleben in deutschesWesen, in deutsche
Kunst und Literatur, in deutsche Geschichte und Wissenschaft gehört das
Leben in der Heimat während dieser wichtigen Lebensjahre, die dem Kinde
den Blick öffnen für Zweck und Beruf im Leben. Es würde darum auch z. B.
pädagogisch völlig unzweckmäßig sein, die ostasiatischen Schulen über die
Untersekunda hinaus auszubauen. Diese Klasse ist unvermeidlich als natur-
gemäßer Abschluß für solche, die auf einen wissenschaftlichen Beruf ver-
zichten, während für solche Kinder, die ihn ergreifen wollen, und für Mädchen
eine frühere Übersiedlung in die Heimat wünschenswert erscheint, selbst
trotz des Bedenkens, den Kindern das Elternhaus solange wie möglich zu
erhalten. Es sind dies so ernste Fragen, daß sie eine eingehendere Erörterung
verlangen, als im Rahmen dieses Aufsatzes möglich ist. Zu fordern ist nur,
daß bei ihnen auch die Stimmen gehört werden, die^das Leben und die Schulen
Ostasiens kennen und lieben, aber auch aus Liebe zu den eigenen Kindern
und aus der Erfahrung mit anderen Kindern urteilen.
Durch den Ausbau der Schule mußte jährlich ein neues Klassenzimmer
gewonnen und dies mit Bänken, Tischen, Katheder usw. versehen werden,
während sowieso die stetig steigende Schülerzahl (von 1915—19 von 90 auf
170) eine Vermehrung des Inventars nötig machte. Die Klassenräume ließen
sich durch die Räumung der an die Schule angrenzenden Lehrerwohnung
gewinnen, wobei es nur eine Wand zu durchbrechen galt. Dafür aber mußte
dem exmittierten Lehrer Wohnungsgeld gezahlt werden. Und dies alles bei
stetig sinkenden Einnahmen, da die mit der wirtschaftlichen Schwierigkeit
der Zeit steigende Zahl der Freischüler den Zuwachs des Schulgeldes reichlich
ausgHch. Und doch waren diese äußeren Schwierigkeiten, wie ich sie be-
zeichnen möchte, die geringeren, den inneren gegenüber. Sie ließen sich mit
Hilfe des weitdenkenden Regierungsvertreters lösen angesichts der Erwägung,
daß unsere ostasiatischen Kinder das Recht auf eine geregelte Weiterbildung
hatten, wo ihnen jede Möglichkeit genommen war, während des Krieges nach
Hause zu fahren, und der Krieg von unbestimmter Dauer war, die sich draußen
erklärlicherweise noch viel weniger voraussehen ließ, als in der Heimat.
Das Recht der Kinder und die Pflicht des Schulleiters, die Kinder ihrem
Alter nach so zu fördern, daß sie mit ihresgleichen in der Heimat Schritt
hielten, war angesichts des in der Heimat bestehenden Schulzwanges absolut
ausschlaggebend. Von einem Aufgeben oder einer Einschränkung des Lehr-
Die deutsche Schule Ostasiens im Kriege. 105
planes durfte nicht die Rede sein, die Privatschule des Auslandes mußte
angesichts der Unmöglichkeit, in die Heimat zu reisen, mehr oder weniger
zur Reichsschule werden, die sich eng an den Lehrplan hielt.
War dies nun auf die Dauer durchführbar? Zwei schweie Hindernisse
galt es alljähtlich zu überwinden.
H. Das erste war der Ersatz und die Gewinnung von Lehrkräften.
Mit dem Kriege waren wir Deutschen — je länger, je mehr — von der Umwelt
abgeschnitten. Im Winter 1915 war wenigstens noch eine Verbindung mit
Amerika möglich, allerdings selten. Dann aber hörte sie auf. Eine Korrespon-
denz hin und her mit Frage und Antwort war schon von vornherein der wenigen
Schiffe wegen so gut wie unmöglich, geschweige denn das Eintreffen eines
Deutschen zur bestimmten Zeit zu verbürgen. Man mußte bei der Aus-
wahl der Lehrer bei Ostasien stehen bleiben. Hier aber war seit dem Kriege
kein Zuzug, sondern nur Abwanderung (nach Japan) erfolgt, und auch die
chinesisch-deutschen Schulen suchten ihrem Lehrermangel abzuhelfen. Das
Unglück wollte es, daß die aus Tsingtau übernommene tüchtige Lehrerin
infolge der dort während der Belagerung ausgestandenen Aufregungen und
Hilfsschwesternarbeit sehr bald unter der intensiven Arbeit, die von unserer
Schule vom einzelnen zu leisten war, zusammenbrach und einem Roten Kreuz-
Transport angeschlossen werden mußte. Gleichzeitig verlobte sich eine andere,
blieb aber in echter Kameradschaft der Schule treu. Es wäre ja möglich ge-
wesen, für eine ordentliche Lehrkraft mehrere, sogar unbesoldete Hilfskräfte
einzustellen. Von diesem Anerbieten durfte die Schulleitung aber im Interesse
eines geregelten Unterrichts und der Einheitlichkeit des Unterrichts keinen
Gebrauch machen. Für eine Nebenbeschäftigung ist der Lehrerberuf zu ernst,
und viele Köche in einer Klasse, zumal der Vorschule, von denen jeder nach
eigenem Rezept kocht und keine Neigung hat umzulernen, verderben den
Brei. Sollte die Schule nicht dem Dilettantismus preisgegeben sein und damit
zur Spielschule erniedrigt werden, sollte das Ziel aufrecht erhalten werden:
Ausbau bis Untersekunda als deutsche Realschule, dann mußten möglichst
vollwertige und vollbeschäftigte Lehrkräfte angestellt werden. Die Grenze
des besonderen Examens konnte nicht bei allen aufrecht erhalten werden,
so wenig wie in der Heimat zur Kriegszeit. Vereinzelt mußte hier und dort
eine Privatlehrerin eingestellt werden, die sich bereits im Unterrichten be-
währt hatte. Diese Verschiedenheit des Kollegiums erleichterte dem Leiter
die Aufgabe nicht, um so dankbarer war es, daß die bei weitem überwiegende
Anzahl geprüfter und eingearbeiteter Lehrkräfte hilfreich jenem zur Hand
gingen. Die schöne Einigkeit im Kollegium war für die Zusammenarbeit
des Lehrkörpers von unschätzbarem Werte. Gegenseitiges Hospitieren, Be-
sprechen, Beraten kam der Arbeit des Leiters sehr zur Hilfe. Der gute Geist
tut eben überall das Beste ! Ihn zu pflegen ist und bleibt des Leiters Haupt-
aufgabe. Am schwierigsten wurde aber die Ergänzung des Kollegiums bei
der Eröffnung der Untersekunda. Sollte diese Klasse kein müßiges Spiel
sein, sondern die Gewähr bieten, daß den Besuchern nicht nur das in der
Heimat geforderte Pensum geboten, sondern auch die staatliche Anerkennung
106 Winter,
in den Zeugnissen einst zuteil würde, so mußte noch nach einem geprüften
wissenschaftlichen Lehrer Umschau gehalten werden. Das schien fast unmög-
lich, da seit 1917 für die Deutschen Ostasiens die Welt mit Brettern vernagelt
war, nicht einmal ein Briefverkehr mit den anderen Ländern war gestattet.
Wir saßen wie auf einer einsamen Insel des Weltenmeeres, vor der England
die Wacht hielt. Und dennoch gelangs. Mit Hilfe russischer Freunde ließ
sich ein Briefverkehr mit Japan ermöglichen, und das Glück wollte es, daß
dort ein in Berlin geprüfter sehr tüchtiger Neusprachler mit seinem Kontrakt
an einer japanischen Handelshochschule fertig war. Die Einigung kam schnell
zustande, und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Der sehnlich Erwartete
und herzlich ,, Willkommen" geheißene traf ein. Damit war das Kollegium
gottlob derart zusammengesetzt, daß mutig ans Werk der Krönung der Schule
gegangen werden und die Untersekunda eröffnet werden konnte.
Und trotzdem wäre dieser Auf- und Ausbau nicht möglich gewesen
ohne den gesunden Geist des Kollegiums. Das Geld floß derart knapp, daß
an ein Zahlen von Gehältern nicht zu denken war. Dieser Schwierigkeit
half das patriotische Gefühl des Lehrkörpers ab. Sie erklärten sich ausnahms-
los bereit, ihre Tätigkeit als einen vaterländischen Hilfsdienst anzusehen
und sich mit einem so gering bemessenen Einheitssatz zu begnügen, daß sie
bescheiden ihr Leben davon fristen konnten. Es liest sich dies von anderen
leichter, als es sich von den Betroffenen erlebte. Es gab ja auch vom Reich
besoldete jüngere Lehrer an den chinesischen Schulen, die ein wirkliches
Gehalt mit bedeutend höheren Einkünften bezogen. Ja, die Versuchung
lag nahe und ist auch von der Gegenseite unternommen worden, die einträg-
lichere und dabei leichtere Arbeit dem dornenvollen, schlecht bezahlten
Dienst am Idealen vorzuziehen. Daß jene der guten Sache treu blieben,
zeugt von dem guten Geist des Kollegiums und sollte auch in der Heimat
an maßgebender Stelle richtig eingeschätzt werden. Im Kollegium gab es
keine Kriegsgewinnler, sondern Patrioten, die darum auch aufrichtig mit dem
siegreichen Vaterlande jubeln, mit dem zerschlagenen trauern konnten.
Was waren das für stimmungsvolle Feiern am Geburtstage des Kaisers und
zu Weihnachten, im Frühjahr und zum Schulschluß, wo auch die starke
Jugendwehr in ihren schmucken Uniformen und Waffen, voran eigene Musik
und Fahnen, zu ihrem Recht kam. Deklamationen, Chorgesänge, Gedichte,
Theater- und Turnspiele, von denen einen Teil einheimische Verfasser bei-
gesteuert hatten, bewiesen, daß der Geist des Kollegiums in dem Schüler-
kreise reiches Echo fand. Um so wehmütiger der schwarze Tag, an dem sie
Schmerzenskunde vom ,, Falle Trojas" eintrat und die wilden Horden der
Entente, darunter die Männer und Frauen der ersten Gesellschaft, in die
deutsche Niederlassung einbrachen, um den verbündeten Chinesen die ,, Kul-
tur" des Siegers zu zeigen. Drei Tage hausten sie dort wie Attilas Horden,
schlugen die Fenster ein, raubten die Läden aus und rissen das eherne Krieger-
denkmal von seinem Sockel, um es in Trümmern durch die Straßen zu schleifen,
wie einst Achilleus den Leichnam Hectors. Das war das Vorspiel des Wilson-
friedens !
Die deutsche Schule Ostasiens im Kriege. 107
Doch nicht die Leidensgeschichte Deutschlands, sondern ein knapp
umrissenes Bild der Schule Ostasiens wollen diese Zeilen bieten. Darum
zurück zu den Schwierigkeiten, die der Krieg für diese mit sich brachte.
III. Es ist zwar wünschenswert, daß jeder sein Wissen im Kopfe trägt,
aber bis er es dort untergebracht hat, bedarf er der Bücher. Woher diese
Schätze des Wissens bekommen? Ich erwähnte schon, daß Amerika nur
noch in den ersten Monaten für den Verkehr offen stand. Leider scheiterte
der Versuch, der in dieser Richtung hin unternommen wurde, fast völlig.
Nur für die Lehrerbibliothek gab es noch etwas; im übrigen hatten sich die
deutsch-amerikanischen Buchhandlungen beim Mangel an Nachschub ver-
ausgabt. Da bei der stetig wachsenden Schülerzahl und den neu eröffneten
Klassen aber dringend Bücher benötigt wurden, so mußte zur Selbsthilfe
gegriffen werden. Die Druckerei der Zeitung verfügte über einen sehr tüch-
tigen und umsichtigen Leiter, und obwohl sie im Verhältnis zu den jüngst
hier in der Heimat besichtigten weder groß noch modern war, so hat sie es
doch fertig gebracht, in etwa drei Jahren 30 verschiedene Lehrbücher zu
drucken, meist in der kleinen Auflage von 100—200 Exemplaren. Dies letztere
verteuerte zwar an sich das Buch, doch durfte nur mit dem wirklichen Be-
darf gerechnet werden, da die Schule für alle Kosten aufkommen mußte
und aus gesetzlichen Erwägungen heraus keinerlei Geschäft damit machen
durfte. Ein großer Teil der erwähnten Neudrucke waren Abdrucke deutscher
Lehrbücher, an denen nur mehr oder weniger große Änderungen vorgenommen
waren, nur der kleinere Teil war von uns selber verfaßt. Nur wo brauchbare
Vorbilder fehlten, wurde die Feder angesetzt, eine Arbeit, die bei zeitweilig
30 Unterrichtsstunden wöchentlich, der schwierigen Schulleitung und dem
dreifachen Pfarramt: Tientsin, Peking, Haidien (Gefangenenlager) nicht
leicht zu bewältigen war. Aber es waren eben Notzeiten, in denen jeder
sein Bestes geben mußte. Und vor allem mußte jedem Hindernis zur rechten
Zeit begegnet werden, das eine Störung des Betriebes verursacht hätte.
Auf diese Weise war es möglich, jedem Schüler zum Lehrbuch zu verhelfen,
ja, selbst den Schulen in Peking, Hankau und Schanghai mit solchen auszu-
helfen. Die größte Schwierigkeit verursachte die Fibel, wegen der unum-
gänglich nötigen Abbildungen und des Schreibdruckes. Aber auch dies
Hindernis wurde mit Hilfe des Steindrucks überwunden: sie verjüngte sich
im chinesischen Reiche fast schöner^ als sie vordem war. Und wenn ich mir
die heutigen Schulbücher der Heim.at auf ihren Druck, ihr Papier, ihren
Einband und ihren Preis hin ansehe, so muß ich um so mehr über unsere
ostasiatischen Kunstwerke staunen, bei denen nicht zu vergessen ist, daß die
Druck^'rei nur Chinesen beschäftigte, die nicht ve standen, was sie druckten.
Die erste Korrektur bedeutete fast einen neuen Satz, und wie manche Korrek-
tur war nötig! Dabei hatte die Druckerei ja auch noch anderes zu erledigen;
außer den Jahresberichten für Kirche und Schule die Klassen-, Zensuren-
bücher usw., ja selbst die Schulhefte. Daneben aber liefen die ganzen übrigen
Aufträge, die sich um die Weihnachts- und Neujahrszeit sehr drängten.
108 Winter, Die deutsche Schule Ostasiens im Knege.
Diese ganze Schilderung soll kein Loblied des Lokalpatriotismus sein,
sondern nur zeigen, daß im fernen Osten die abgeschnittenen deutschen
Gemeinden den deutschen Interessen alles andere unterordneten.
Doch muß ich noch einer Schwierigkeit Erwähnung tun, die dem Leitei
manche Sorge verursachte. Die Gefahr ansteckender Krankheiten ist durch
das chinesische Dienstpersonal, dessen hygienische Grundsätze den unseren
schnurstracks zuwider laufen, größer als daheim. Mit Bangen wurde stets
dem Frühjahr entgegen gesehen, wo Mumps, Masern, aber auch Diphterie
und Scharlach zu fürchten waren. Gottlob haben nur die Masern einmal
wirkliche Störung verursacht, sonst ließen sich durch sofortige Desinfektion
und andere Vorsichtsmaßregeln die Fälle vereinzeln.
Welche Zumutungen der Schule in dieser schon an sich schwierigen
Zeit gestellt wurden, dafür nur ein Beispiel für manche. Die ausländische
Mutter eines durch den Vater deutschen Kindes hatte sich schließlich darauf
besonnen, daß ihre Kinder ja vielleicht auch die deutsche Schule besuchen
könnten, nachdem ihnen die ausländischen im Kriege die Pforten verschlossen
hatten. In der Anmeldurg machte sie aber zugleich zur Bedingung, daß
ihre Kinder in englischer Sprache unterrichtet werden sollten, damit sie nicht
zurückkämen. Auf die jedem Leser selbstverständliche Antwort in deutscher
Sprache erfolgte ein Schreiben jener Mutter deutscher Kinder, daß sie die
„wundervolle" deutsche Sprache s-^lbst nicht verstünde und auch nicht
verstehen wollte.
Im Vordergrunde der gesamten Erziehung stand in der Schule natür-
lich der deutsche Gedanke. Das beste Zeugnis darüber haben die Engländer
ausgestellt. Als Chinesen, Amerikaner und Holländer versuchten den Schul-
leiter von der Ausweisung der China-Deutschen in seiner Eigenschaft als
Pfarrer zu befreien, wurde in einem längeren Zeitungsartikel der englischen
Presse höhnisch darauf hingewiesen, daß in der Schule eine Karte hinge,
an deren Hand der Leiter die Erfolge deutscher Zeppeline und Bombenwerfer
usw. erkläre, daß die Jugendwehr unter seiner Leitung Kriegsspiele mache,
daß an jedem vaterländischen Gedenktage das Kindesgemüt und andere
(wohl Chinesen )vergiftet würden durch seine „feste und geliebte Überzeugung:
Deutschland über alles!"
In diesem Geiste lebte unsere Schule, und weil sie ein Hort des Deutsch-
tums war, darum galt ihr der englische Haß, der allen deutschen Einfluß
in China brechen und beseitigen wollte. -So stand und fiel die deutsche Schule
Ostasiens mit der Heimat.
Heidelberg. Winter.
IL Bücherbesprechungen.
Geschichte der göttlichen Offenbarung. Bibelkunde für Schule und
Selbststudium von Dr. Jos. Lengle, Professor am Friedrichsgym-
nasium zu Freiburg i. Br. Mit 4 Kärtchen. Freiburg 1918. Herder. 8**.
184 S. Preis 2,60 M., geb. 3,20 M.
Das Buch will eine neue Bibelkunde sein, und besonderes Gewicht soll
auf die geschichtliche Apologetik der Offenbarung gelegt werden. Dadurch
geht der Verfasser zielbewußt ab von dem Vorgehen der Verfasser ähnlicher
Werke, deren Stoff sich hauptsächlich zu einer Einleitung des Alten und Neuen
Testamentes für höhere Schulen auswächst. Der hinreichend gewaltige
Stoff, der geschickt disponiert und verarbeitet, auch allseits durch die Er-
gebnisse der neuern Wissenschaft und der Ausgrabungen beleuchtet ist,
soll in dieser Art der Bearbeitung zugleich eine Ergänzung der philosophischen
Teile der Offenbarungsapologetik sein, für welche die Untersekundaner
durchschnittlich noch wenig Reife und Verständnis haben. Das Buch ist
zunächst für die höheren Schulen und Lehrerseminarien Badens gedacht;
in Preußen, wo für die oberen Klassen genau umgrenzte Gebiete dem Unter-
richte zugewiesen sind, würde das Buch bei gegebenen Abschnitten in der
Hand des Lehrers, allweil aber auch als Lese- und Nachschlagebuch in Händen
der Schüler gute Dienste tun können.
Lehrbuch der Geschichte der göttlichen Offenbarung für Lehrer- und Lehre-
rinnenseminarien und höhere Lehranstalten, zugleich ein Wiederholungs-
buch für die Hand des Religionslehrers in den Oberklassen der Volksschule.
Von Prof. Georg Lenhart, Religions- und Oberlehrer am Großh. Seminar
zu Bensheim. Erster Band: Die alttestamentliche Offenbarung. Mit 24 Bil-
dern und 4 Karten. 8». (XVI u. 176 S.) Freiburg 1918. Herder. Preis
2,60 M., geb. 3,20 M.
Das Buch ist aus der Praxis herausgewachsen und enthält einen Lehr-
stoff, den der Verfasser selbst fast 25 Jahre, vorwiegend wohl auch in gegebener
Form, in seinem Unterrichte vorgetragen hat Es soll ein Lehrbuch der
Religion sein und neben der biblischen Geschichte gebraucht werden. Den
Anstalten, für welche das Werkchcn gedacht ist, wird es gute Dienste leisten;
für den Religionslehrer an höheren Knabenschulen kann es für die geschicht-
lichen Teile der Apologetik als Hand- und Ergänzungsbuch der dort meist
kurz gebotenen Vorgänge empfohlen werden. Wegen seiner methodischen
Einrichtung, auch wegen der passenden Illustrationen empfiehlt sich
das Buch auch für den Privatgebrauch der Schüler. Sehr zu begrüßen sind
die am Ende wichtiger Abschnitte gegebenen ,, Zusammenfassungen".
1 10 Feldbriefe katholischer Soldaten, angez. von Wilhelm von Capitainc.
Feldbriefe katholischer Soldaten. Herausgegeben von Dr. Georg Pfeil-
stifter, Professor der Kirchengeschichte in München. Freiburg 1918.
Herder. 8«. Erster Teil: „Aus Tagen des Kampfes" (XXIV u. 226 S.
Preis4M., kart. 4,80 M.); zweiter Teil: „Aus Ruhehaltung und Etappe
(VI u. 264 S. Preis 4 M., kart. 5 M.); dritter Teil: „Die religiöse Ge-
dankenwelt des Feldsoldaten" (VI u. 170 S. 3 M., kart. 3,80 M.).
Der „Arbeitsausschuß zur Verteidigung deutscher und katholischer
Interessen im Weltkriege" beschloß im Januar 1916 die Sammlung von
Feldbriefen zur Abwehr der gegen die deutschen Soldaten erhobenen gehässigen
Angriffe. Eine Fülle von Feldbriefen katholischer Soldaten aus allen Ständen
und Berufen ging dem Sammler zu, der etwa ein Zehntel des ganzen Materials
in den angegebenen drei Teilen der Veröffentlichung weiteren Kreisen dar-
bietet. Was hier an Material vorgelegt sind, ist, wie eingangs versichert
wird, „vom Standpunkt der historischen Kritik aus unbedingt zuverlässig,
äußerlich wie innerlich, sowohl was die Echtheit als den Zeugniswert anlangt."
„Die veröffentlichten Schreiben sind zu allernächst Briefe, welche von den
Soldaten geschrieben sind ohne die leiseste Ahnung, daß sie dereinst der
breitesten Öffentlichkeit bekanntgegeben werden sollten;" sie offenbaren
vielfach Stimmungen, ,,in denen man keine Worte macht, in denen angesichts
des Todes alles ehrlich und so geschrieben ist, wie man es denkt und fühlt."
Viele Briefe verraten nur Volksschulbildung, sind aber „ein glänzendes Zeug-
nis für die hohen Leistungen unserer deutschen Volksschule und ihrer Lehr-
kräfte". So erreicht die sorgfältig ausgewählte und augenscheinlich ge-
schickt und gewissenhaft angelegte Sammlung durchaus ihren Zweck, Zeug-
nis abzulegen dafür, „daß mindestens ein recht erheblicher Prozentsatz
unserer katholischen Soldaten treu katholisch in Glaube und Sitte, in Wort
und Werk vor uns ist. Sie will aller Welt zeigen, daß das von der französischen
Schmähschrift entworfene Bild ein Zerrbild ist und eine Fälschung der Wirk-
lichkeit.
Pier (Düren). Wilhelm B. von Capitaine.
Paul Hermann^ Professor an der Universität München, Deutsche Gram-
matik. Bd. III. Teil IV. Syntax (erste Hälfte). 456 S. Preis 19,60 M
1919. Bd. IV. Teil IV. Syntax (zweite Hälfte). Halle 1920. Verlag von
Max Niemeyer. 423 S. Preis 18 M.
Den beiden ersten Bänden (Teil 1—3) seiner deutschen Grammatik,
die im 18. Jahrgang der Monatschrift S. 225 f. beurteilt worden sind, hat
der Verfasser verhältnismäßig schnell den 3. und den 4. Band folgen lassen
können. Band III behandelt den einfachen Satz und seine Teile, Band IV
den zusammengesetzten Satz und in besonderen Abschnitten die Verhältnis-
wörter, die Formen des Zeitworts und verschiedene Unregelmäßigkeiten,
wie z. B. Folgewidrigkeit in der Satzfügung und Mischung zweier sinnver-
wandter Ausdrucksformen.
Es lohnt sich sehr, die Syntax unserer Muttersprache auf Grund der
Forschungen des Verfassers unserem geistigen Auge zu erschließen, dabei
Matthias, Deutsche Sprachlehre, angez. von Jos. Buschmann. 1 H
soweit als möglich den Gründen nachzugehen, welche für den Bau des deutschen
Satzes und die Geschichte der Satzteile im Verlaufe der Jahrhunderte maß-
gebend gewesen sind, und sich tunlichst darüber zu unterrichten, welchen
Umständen es zuzuschreiben ist, daß das Machtbereich der maßgebend ge-
wordenen Sprachgesetze sich erhielt, auch wuchs oder auch zumal durch
Neubildungen sich einschränken ließ. Oft genug ist für Abwege Mißverständ-
nis, Unkenntnis oder Nachlässigkeit maßgebend gewesen; nicht selten liegen
aber auch für die Abweichung von der grammatischen Regel gute Gründe
vor. So in den im §281 angeführten Beispielen, in denen bei einer Reihe von
Verhältniswörtern der dritte Fall steht, während man den vierten erwarten
sollte. Wie unsicher noch das Sprachgefühl in der Verbindung mit Verhält-
niswörtern ist, die jenachdem mit dem 3. oder mit dem 4. Fall verbunden
werden, ist in § 283 und in § 284 zu ersehen; hier und auch sonst sind in der
von dem Verfasser gebotenen reichlichen Auswahl von Beispielen selbst her-
vorragende Schriftsteller absichtlich oder unbewußt eigene Wege gegangen.
Daß der Konjunktiv in abhängigen Sätzen mehr und mehi zurücktritt,
läßt sich nicht wohl hindern, da er nur noch in wenigen Formen vom Indikativ
sich unterscheidet.
Die reichen Schätze der deutschen Grammatik Pauls den Schülern
unserer höheren Lehranstalten so weit als tunlich zugänglich zu machen,
wird sich der Lehrer des Deutschen gewiß nur ungern versagen. Jedenfalls
werden die Schulen den vier Bänden einen Platz in der Bücherei einräumen
müssen.
Matthias, Th., Oberstudienrat Dr., Deutsche Sprachlehre für höhere
Schulen. Zweite, neubearbeitete Auflage von desselben Verfassers Hand-
buch der deutschen Sprache. Teil 1. Leipzig 1918. Verlag von Quelle &
Meyer. 205 S. Geb. 3,40 M.
Die „Deutsche Sprachlehre" ist eine erweiterte Bearbeitung des im
Jahre 1908 erschienenen ersten Bandes des Handbuchs der deutschen Sprache,
welches damals im VHL Jahrgang der Monatschrift S. 450 f. nach Verdienst
gewürdigt worden ist. Der Unterrichtsstoff ist für die neue Auflage auf Sexta,
Quinta, Quarta und die mittleren Klassen verteilt worden. Der Abschnitt
„Zur Geschichte der deutschen Sprache" und der Anhang ,,Aus Poetik und
Metrik" enthalten im wesentlichen Stoffe, die dem Unterricht der Oberstufe
vorbehalten werden müssen. Im übrigen ist dem Buche die Anordnung,
wonach Satz- und Formenlehre nicht grundsätzlich voneinander geschieden
sind, geblieben, ebenso die Aufgabe, ein Übungsbuch zur Festlegung der Regeln
und Gesetze unserer Muttersprache zu sein, eine Aufgabe, die der Verfasser
vortrefflich gelöst hat. Als Grundlage für den Unterricht eines Lehrers,
dem die Pflege der deutschen Sprache Herzenssache ist und der mit den
gebotenen Übungssätzen im Sinne des Verfassers, aber selbständig und selbst-
tätig umzugehen versteht, wird es sich als ein Werk ei weisen, das sprachliche
Schulung im allgemeinen, Sicherheit im Gebrauche der Muttersprache und
112 Richard Preiser, Pensa latina, angez. von Hans Meltzer.
Freude an ihr zu erzielen in vollem Maße geeignet ist^). Der Übungsstoff
ist mit rühmlicher Sorgfalt ausgewählt; es finden sich aber auch Sätze, die
dem Verständnis der Schüler auf der Stufe, für welche sie bestimmt sind,
nahezu bringen, nicht eben leicht wird. Warum sich gelegentlich Sätze mit
mundartlichen Wendungen finden, wie ,,Der Geschäftige ist immer mitten-
mang" oder ,,Erst brockt er's ein, dann will er nichts von wissen", ist mir
nicht recht klar geworden. Auch konnte ich mir keine Antwort auf die Frage
geben, warum für die beiden Sätze „Wo wird er die Nacht zugebracht haben?"
und ,,Es wird was anderes wohl bedeutet haben" nicht ausdrücklich darauf
hingewiesen wird, daß es sich hier um eine Vermutung, nicht um die Vollen-
dung in der Zukunft handelt.
Koblenz. J. Buschmann. .
Richard Preiser, Pensa latina. Theodor Mommsens Darstellung des Gal-
lischen Krieges. Text und Anmerkungen. XI, 132 S. S^. Übersetzung
59 S. 8». Berlin, Weidmann, 1919. 7 M.
Es ist eine Freude, ein Buch von solcher Vortrefflichkeit anzuzeigen!
Der Verfasser hat sich als Mitarbeiter am Frankfurter Rcformunterrichts-
werk längst einen hochgeachteten Namen gemacht und diesen durch den
vorliegenden, auf einer so noch nicht vorhandenen Vereinigung bestimmter
Grundsätze beruhenden Versuch von neuem glänzend gerechtfertigt. In
dem Zur Einführung überschriebenen Vorwort stellt er folgende Forde-
rungen auf:
1. Der Text soll ein Ganzes geben, vor allem, um die Periodenbildung
zu ermöglichen; 2, er soll trotzdem Abwechslung zwischen den verschiedenen
Darstellungsarten bieten wie Bericht und Beschreibung, Betrachtung und
Beurteilung; er soll 3. wissenschaftlich gediegen; 4. in tadellosem, nicht
künstlich zurechtgemachtem Deutsch abgefaßt; 5. im ganzen leicht zu über-
setzen und dadurch zur Bewältigung von Schwererem und Schwerstem
ermut'i^end sein; 6. er soll die Möglichkeit oder noch besser den Zwang ent-
halten, d'e Übertragung dem unbestritten miUsterhaften Vorbild eines rö-
mischen Schriftstellers nachzubilden, der tunlichst denselben Stoff behandelt;
7. er soll begleitet sein von Anmerkungen mit Belegen und Fingerzeigen;
8. er soll nachgeprüft werden können an einer angehängten Übersetzung.
All diese Anforderungen war der Verfasser überzeugt am besten erfüllen
zu können, wenn er einerseits Th. Mommsens Darstellung der Rom. Gesch.
Band III, 245— 296 zugrunde legte und sich anderseits, soweit irgend angängig,
auf den Sprachgebrauch Cäsars und Ciceros beschränkte, wobei die Anfüh-
rungen aus des ersteren Bellum Gallicum vom Schüler jedesmal unweigerlich
im Urtext nachzuschlagen sind. Von neueren Werken werden nur drei zu-
gezogen: Nägelsbachs Stilistik wegen ihres Geschmacks, Menges Repetito-
rium wegen seiner Vollständigkeit, Bruhns Satzlehre wegen ihrer Klarheit.
* Aus diesem Grunde werden junge Lehrer guttun, sich mit der vom Vsrf . dargebotenen
Lehrart veitraut zu machen. Besonders aufmerksam mache ich zu diesem Zweck auf die
für die Mittelklassen besti.nmteu Abschnitte über die Wortbildung.
Richard Preiser, Pensa latina, angez. von Hans Meltzer. 113
Als Ziel schwebt Preiser nicht bloß die Herausschälung des inhaltlichen
Kerns aus der sprachlichen Schale und die erreichbar höchste Angemessenheit
des Ausdruckes vor, sondern auch das Durchschimmernlassen des Stiles der
deutschen Vorlage.
Ob das letztgenannte Bestreben gel-mgen ist, wage ich nicht zu ent-
scheiden, halte es auch offen gestanden nicht einmal besonderen Schweißes
der Edlen wert, weil ich zu den Leuten gehöre, denen die SchreibweiseMommsens
in ihrer modernisierenden Unruhe und gesuchtenBuntscheckigkeit keinen rein
erfreulichen Eindruck macht und die der Meinung sind, daß eine schlichter
und deutscher empfundene Darstellung dem Gegenstande ungleich besser
gerecht geworden wäre. Allein dies sind Meinungssachen, über die man immer
wird streiten können! Im einzelnen möchte ich, lediglich um zu zeigen, wie
sehr mich die Durcharbeitung des Buches gefesselt hat und zugleich um für
eine baldige Neuauflage, an die ich fest glaube, womöglich einige Verbesserungen
beizusteuern, die eine und andere Kleinigkeit bemerken. An Druckfehlern
sind mir in dem mit seltener Sorgfalt besorgten und durchgesehenen Satz
nur zwei aufgestoßen, nämlich in Stück \2 Anm.S praecipiiur statt percipitur
und 52, 11 anderes statt andere. 49. 1 ist wohl statt captus vielmehr
cultus einzusetzen. Ist 61 6 quo concesso = quod postquam concessum est
nicht erst livianisch? Die besonders von Anz und Stegmann umgebildete
Lehre von der Kongruenz würde 60, 7 f. in dem Satze et dignitas et ütilitas
postularent für das letztere zweifellos posiularet anempfehlen.
Um auf das Adjektiv überzugehen, so scheint mir 91, 5 montis decUvia
einen poefsierenden, livian'schen Beiklang zu haben. Auf dem Gebiet des
Pronomens habe ich angemerkt 10, 20 cuique „jedem" in nichtenklitischer
Stellung anstatt singulis oder unicuique und 87, 5 quod mireris an Stelle
von id, quod mireris bei Beziehung auf einen ganzen Satz. Rücksichtlich
der Adverbien ist mir aufgefallen 42, 2 item atque, wofür quemadmodum^
'sicut, ut zu schreiben sein wird. Die Präpositionen anlangend, so heißt
89, 3 secundum flumen wohl nicht „flußabwärts", sondern nur „den Fluß
entlang" und kann an sich auch „flußaufwärts" bedeuten; jenes wohl eher
secundo flumine, vgl. Caes. B. G. VII, 60, 1.
Einige Fragen ergeben sich mir zum Gebrauche des Verbums. 84, 21
scheint mir die Substantivierung des Partizips oppugnanfes im Nominativ
nicht einwandfrei, zumal sich mühelos qui oppugnabant dafür sagen läßt
(vgl. auch Menge, § 180, 2. A. 1) Einigemal ist es mir nicht gelungen,
in die Wortfügung sofort einzudringen. So scheint mir 11, 5 bei cum Ulis
die Beziehung unklar; 16, 1—3 bietet mir der Satzbau Schwierig-
keiten ;.31, 5 ist die Mißverständnisse begünstigende Stellung Laon Pontavert
oppidum leicht in oppidum Pontavert umzuändern. 56, 2 f. ist die Neben-
einanderstellung von cum-cum nicht £uf Anhieb zu erfassen. 68, 3 sind
die Worte una cum militibus Romanis exagitandos durch den Zusammen-
hang nicht eindeutig bestimmt. 69, 14 hat mir iam ut . . . sevocaretur
ebenso wie das zum Ersatz dafür gebotene si maxime Schwierigkeiten
gemacht. Ganz allgemein darf vielleicht ausgesprochen werden, daß die von
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 8
114 Richard Preiser, Pensa latina, angez. von Hans Meitzer.
Preiser mit großer Feinheit gehandhabte und gelegentlich nach den neueren
Ermittlungen über den rhythmischen Satzschluß (die clausula) geordnete
Wortstellung doch hier und dort durch ungekünsteltere Natürlichkeit an
Übersichtlichkeit gewinnen würde.
Doch das sind im ungünstigsten Fall Schönheitsfehler, die gar nicht
in Betracht kommen gegenüber der wahrhaft ausgezeichneten Gesamt-
leistung. In seiner gediegenen Gründlichkeit und nahezu unfehlbaren Zu-
verlässigkeit, in der immer die deckende Wendung zu scheinbar selbstver-
ständlicher Verwendung darbietenden Belesenheit in den römischen
Klassikern,in der aus der Tätigkeit des Verfassers als Leiter der Stil-
übungen an der Frankfurter Universität erwachsenen Treffsicherheit und
Knappheit der Fragestellung wie der Geschicktheit in der Darreichung
der Hilfen, in der meisterlichen Gestaltung der Form zumal nach Zeiten
der Periodosierung und der Abtönung des Ausdrucks, z. B. in der Tempus-
wahl, haben wir die völlig ausgereifte Frucht langjähriger hingebender
Arbeit eines Mannes, der in seinem Fache nach allen Richtungen hin wirk-
lich zu Hause ist: R. Preiser ist einer von den, zumal nördlich des Mains
überaus selten gewordenen, ja so gut wie ausgestorbenen Sonderlingen, von
denen man behaupten darf, daß sie Latein nicht bloß kennen, sondern können:
qu' ils ne savent seulement Latin, mais ils savent le Latin! Angesichts seiner
manchmal geradezu verblüffenden Wiedergaben hat man fast immer das Ge-
fühl : so und nicht anders muß es heißen ! Aus dem Buche des Studienrats am
Frankfurter Reformgymnasium hören wir einenNachhall der unvergleichlichen
Schulung seiner schwäbischen Heimat und insbesondere des evangelisch-
theologischen Seminars Blaubeuren heraus, in den sich ein leiser Nebenton
aus dem Norden mischt : von dort hat er die Fähigkeit frei nach schaffender
Umbildung, von hier den Sinn für eine gewisse spezialistisch gefärbte Exakt-
heit. So betrachtet weisen diese an sich unscheinbaren Pensa Latina über
sich selbst hinaus und in einen weiteren Zusammenhang hinein. Richtig
betrieben besitzt, nach dem Urteil von Stilkünstlern wie Schopenhauer und
Nietzsche, dieses Ringen zwischen Mutter- und Fremdsprache mit seiner
analytischen Losschälung des Inhalts von der Hülle des Worts und seiner
synthetischen Neugestaltung des Ausdrucks die Bedeutung eims alle Geistes-
anlagen in Bewegung setzenden Kurses in angewandter psychologischer,
logischer und ästhetischer Propädeutik, ganz abgesehen von der sittlich-
erzieherischen Wirkung, die in dem Zwang zu strengem Denken und in der
Befriedigung über die an schwierigen, aber angemessenen Aufgaben stufen-
mäßig gewonnene Kräftesteigerung liegt.
Wenn — hoffentlich recht bald — die Zeit kommt, da sich unser Volk
auf den Wert und die Wurzeln seiner höheren Bildung zurückbesinnt, so
wird eine Arbeit wie die hiermit gewürdigte nicht ein Schwanengf sang,
sondern die Vorläuferin einer weiteren Veröffentlichung sein, die uns Preiser
aus dem ciceronischen Sach- und Sprachkreise, wie ich denke, an der Hand
einer unbezweifelbar klassischen deutschen Darstellung schenken möge!
Dr, E. Umbach, Ziele u. Wege des Sprachunterrfchts usw., angez. von Fr. Änderten. 115
Vorläufig aber wünschen wir den Primanern, Studenten und Gymnasial-
lehrern Glück, die von einem solchen Führer lernen dürfen, was Latein —
und Deutsch — ist.
Hannover. Hans Meltzer.
Umbach, Dr. E., Ziele und Wege des Sprachunterrichts auf unseren
höheren Schulen. Leipzig 1917. Quelle und Meyer. 6 IS. Geheftet 1,20M.
Das Buch besteht aus zwei Teilen. 1. Das Verhältnis der Sprachen
zueinander. 2. Der neusprachliche Unterricht.
Die Zeit des Krieges war nicht arm an Schriften, die Reformen
des Sprachunterrichts verlangten. Die Vorschläge, die in der vorliegenden
Schrift gemacht werden, um die Zahl der Deutschstunden zu vermehren,
werden wohl immer fromme Wünsche bleiben. Die Kriegslage möchte der
Verfasser benutzen, um für die neuen Sprachen, ähnlich wie für das Deutsche,
eine Vormachtstellung zu erkämpfen. Einen Rückschritt wird gewiß kein
Neusprachler wünschen. Andererseits wird auch keiner für sich etwasBesonderes
haben wollen. Derartige Forderungen können nie Wirklichkeit werden.
Bei der Lösung der schwierigen Frage des sprachlichen Unterrichts nach dem
Kriege haben wir uns in erster Linie leiten zu lassen von der geschichtlichen
Entwicklung der in Fr^ge kommenden Fächer. Eine oft laut werdende For-
derung ist die Verschiebung des sprachlichen Anfangsunterrichts von der
untersten in die zweitletzte Klasse der höheren Schulen. Die notwendige
Folge würde eine Überlastung der Mittelstufe sein, die in Anbetracht der
Pubertät nicht stattfinden sollte. Es wäre außerdem erst festzukeilen, ob
die Frage wirklich viele Anhänger hat. Die Art, wie der Verfasser mit den
klassischen Sprachen verfahren möchte, um Platz für seine Wünsche zu be-
kommen, muß das Entsetzen der Altphilologen erregen. Es ist doch zu weit
gegangen, das Latein ,,als eine Fessel für die Entwicklung einer echt deutschen
Kultur" anzusehen. Das ist eine Verkennung der Geschichte. Ganz kurzer-
hand kommt der Verfasser zu der Ansicht, daß für das Gymnasium als einzige
neue Sprache das Englische zu treten hätte. Für die Lyceen sollte ebenfalls
eine neue Sprache genügen ! Überall Rückschritt ! Wie steht es denn mit unse-
ren Reformversuchen? Haben wir schon die Früchte unserer Erfahrungen
eingeheimst, um schon wieder zum Reformieren schreiten zu müssen? Es
kann unmöglich förderlich sein für die Entwicklung, wenn dauernd an den
Grundlagen gerüttelt wird. Was der Verfasser über die Ausbreitung der deut-
schen Sprache ausführt, über das Verhalten der Deutschen im Auslande,
wird ebenfalls nicht allseitige Zustimmung finden. Der Reformrichtung
gegenüber läßt er sich hinreißen zu Anklagen, die fraglos den Segen verkennen,
die sie uns gebracht hat. Sie habe das deutsche Ansehen geschädigt, den vater-
ländischen Sinn unserer Jugend gefährdet! Anerkanntermaßen hat diese
Richtung das Niveau der neueren Sprachen an unseren Schulen erst zu einer
wirklichen Höhe gebracht. Wenn der Verfasser nun fordert, sie sei von den
Schulen zu entfernen, so vermißt man, wie schon sonst gezeigt, die hohe Warte,
von der aus geurteilt werden soll. Es wäre noch manche Ausstellung im
8*
116 Walter, M., Zur Methodik d, neusprachlichen Unterrichts usw., angez. von G. Humpf.
einzelnen zu machen, z.B. über die Sprachübungen, den Gebrauch der frem-
den Sprache im Unterricht und die schriftlichen Arbeiten. Die Schrift kann
nicht den Anspruch darauf machen, „die vielen Meinungen, die unsere Zeit
bewegen, gesichtet zu haben und mitgewirkt zu haben zur Klärung vieler
Fragen auf neusprachlichem Gebiet". Es wäre ihm die Lektüre Borbeins
zu empfehlen : Auslandstudien und neusprachlicher Unterricht im Lichte des
Weltkrieges.
Berlin- Reinickendorf. Friedrich Änderten
Walter, Max, Zur Methodik des neusprachlichen Unterrichts. Dritte,
durch einen Anhang erheblich vermehrte Auflage. Bearbeitet von Paul
Olbrich. Marburgi.H. 1917. N.G.Elwert'scheVerlagsbuchhandlung. 3M.
Man braucht nicht unbedingter Anhänger der sogenannten Reform zu
sein und wird doch die Schrift des hervorragenden Schulmannes mit Genuß
und Nutzen ks':;n. V, es er über lautliche Schulung, die Handlung und ihre
Entwicklung, die Anschauungsmittel, das Leseslück bezw. die Lektüre und
Wortschatzübung auf der Unter- und Oberstufe, Grammatik und schriftliche
Arbeiten sagt, enthält eine Fülle von nicht wegzudisputierenden Wahr-
heiten, die ernster Beherzigung wert sind Die 3. Auflage konnte der
Verf. infolge eines schweren Leidens, das er sich im Kriegsdienst zugezogen
hat, nicht selbst besorgen. An seiner Stelle hat ein pädagogischer Jünger
Walters, Paul Olbrich, die Herausgabe übernommen und ,,auf Grund
seiner philosophischen Studien einige wichtige methodische Fragen vom
Standpunkt der Psychologie aus eingehender erörtert und dadurch den der
direkten Methode noch abgeneigten Fachgenossen Anlaß zum reiflichen
Nachdenken geboten, das manchen vorurteilsfreien Leser von der Berechtigung
und dem Werte der direkten Methode im Klassenunterricht wohl überzeugen
und zu tieferem Eindringen in die psychologischen Grundlagen der Sprach-
erlernung veranlassen dürfte." Indessen sind auch durch Olbrich nicht alle
methodischen Streitfragen aus der Welt geschafft. Ich sehe aus Gründen
der Papierersparnis davon ab, alle Bedenken geltend zu machen, die geltend
gemacht werden könnten. Ich verweise den objektiven Leser statt dessen
auf eine vortreffliche Abhandlung vonAronstein, Die Antinomien des fremd-
sprachlichen Unterrichts, die in der Zeitschr. für franz. u. engl. Unterricht 1917,
S. 241 ff. erschienen ist. Nur zwei einzelne Bemerkungen möchte ich streifen.
S. 83, Anm. 16 liest man: ,, Solche wörtliche Übertragung (ins Deutsche)
bei der die französische (englische) Wortstellung usw. beibehalten wird, hat,
so mechanisch sie auch erscheinen mag, den großen Wert, daß der Sinn für
die fremde Sprachform durch deren Abweichung von der Muttersprache
unmittelbar entwickelt wird. Die Erinnerungsvorstellung an solcheübersetzur.g
bereitet den in der Fremdsprache neu zu bildenden Sätzen die Bahn," Das
ist unzweifelhaft richtig und gilt noch viel mehr von dem Übersetzen aus der
Mutter- in die Fremdsprache, das demnach zu Unrecht verworfen wird. Noch
ein anderer Satz, der sich S. 74 findet, möge nicht unwidersprochen bleiben.
Er lautet: , »Wüßten alle Gebildeten der jetzt feindlichen Länder über unser
Izhac Epstein, La pens6e et la polyglossie, angez. von Feüx Hartmann. 117
wahres Wesen so gut Bescheid, wie wir unsere Schüler über sie zu unterrichten
suchen, so wäre der unglaubHche Erfolg der Hetzpresse niemals in diesem
Maße denkbar gewesen." Läßt diese Behauptung nicht ebensogut die umge-
kehrte Schlußfolgerung zu? Ich glaube, der Krieg hat gezeigt, daß wir über
das wahre Wesen unserer Gegner trotz aller Bemühungen der Reform zu unserm
Schaden herzlich wenig Bescheid wußten. — Zum Schluß steuert noch Franz
Beyer einiges aus dem Schatz seiner Erfahrungen im Sinne des Reform-
unterrichts bei.
Elmshorn. .. Gustav Humpf.
Izhac Epstein, *^La pensee et la polyglossie, essai psychologique et didactique.
Lausanne ohne Jahr (1916), Payot & Cie. 216, IV S. 8«.
Der Verfasser hat teils aus der psychologischen Literatur, teils aus eigener
Beobachtung reiches Material zusammengebracht, um die Frage einer Be-
antwortung zuzuführen, welchen Einfluß die gleichzeitige Erlernung und
Beherrschung mehrerer Sprachen auf den Sprechenden selbst ausübt, ob
dabei in den fremden Sprachen gedacht wird, und namentlich, ob das fremd-
sprachliche Denken das Denken in der Muttersprache fördert oder stört.
Seine persönliche Ansicht vertritt er dabei mit starker Einseitigkeit und
ohne auf den anerkannten und unzweifelhaften Wert eines wissenschaftlich
geleiteten Sprachunterrichtes für die Entwicklung und Ausbildung des Denkens
Rücksicht zu nehmen, da er nur die im wesentlichen unbewußte Aneignung
der Sprachen im frühen Kindesalter ins Auge faßt. Aber mit dieser Einschrän-
kung ist zugegeben, daß der Verfasser den durchaus überzeugenden
Nachweis von der Schädlichkeit der frühzeitigen Vielsprachigkeit er-
bringt und daran eine Anzahl wichtiger Schlußfolgerungen für die Art der
Spracherlernung in den Schulen knüpft. Wir glauben, diese Schluß-
folgerungen sowie überhaupt die Darlegungen des Verfassers
der ernstesten Erwägung empfehlen zu sollen. Er verlangt, daß
nur neuere lebendig gebrauchte Sprachen in frühem Kindesalter nach der
direkten Methode erlernt werden sollen, denn je weiter die Herrschaft
der Muttersprache sich befestigt, desto mehr hindert sie die
unbewußte Aneignung der Fremdsprache. Außerdem hebt er die
Größe der nutzlosen Gedächtnisarbeit und des Zeitverlustes stark hervor,
die mit jeder Sprachaneignung verbunden sind, und rät, die Schädigungen
durch verständige Pädagogik einzuschränken. Er unterscheidet expressive
Sprachkenntnis, die die Fähigkeit zu selbständigem Gebrauch der Fremd-
sprache in Wort und Schrift umfaßt, vom impressiver, die sich mit dem
Verständnis des Gehörten und Gelesenen begnügt. Man sollte die erste nicht
ohne Not erstreben, und vor allem in den alten Sprachen ganz auf sie ver-
zichten. Eine nur impressive Sprachkenntnis erstrebende Aneignung einer
Sprache ist auf das Alter zu verschieben, in dem die Erlernung der fremden
Wörter und Sprachgesetze sich bewußt vollzieht*).
Berlin-Schöneberg. Felix Hartmann.
') Ausführliche Bäsprechung demnächst in der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche
Pädagogik, herausgegeben von Rain.
118 Friearich Rommel, Die Verfassung des Deutschen Reichf>s, angez. von M. BlümeU
Friedrich Rommel, Die Verfassung des Deutschen Reiches. Leip-
zig 1921. Quelle & Meyer. 112 S. 4,80 M.
Die eingehende Behandlung der Verfassung des Deutschen Reiches
ist in allen unseren Schulen unbedingt erforderlich und wird mit Recht neuer-
dings durch amtliche Vorschrift verlangt. Die Frage nach einem gedruckten
Leitfaden, die sich in den Fachkonferenzen der Geschichts- und Deutschlehrer
daraufhin erhob, ist durch das vorliegende Bändchen in glücklicher Weise
gelöst. Entfernt von jeder einseitigen Parteiauffassung, behandelt es den
heikein Stoff mit einer Sachlichkeit, die es gerade für Schülerhände geeignet
erscheinen läßt. Dabei ist diese Sachlichkeit nicht von kühler Allgemeinheit,
sondern überall von einer Wärme des Tones getragen, die 'dem Verfasser
aus dem Herzen kommt, — ein Wegweiser dafür, wie der Lehrende dieses
Thema behandeln muß, wenn sein Unterricht der hohen und ernsten Be-
deutung des Gegenstandes entsprechen soll. Im übrigen läßt der mäßige
Umfang der Schrift und die daraus folgende Beschränkung auf das Wesent-
lichste der Individualität des Lehrers genügenden Spielraum.
Das geschmackvoll ausgestattete Buch enthält einen dankenswerten
verfassungsgeschichtlichen Rückblick und gliedert sich dann, hierin ganz
der Verfassung entsprechend, in zwei Hauptteile, die sich erst mit den Auf-
gaben des Reiches und dann mit den Rechten und Pflichten des einzelnen
Deutschen beschäftigen.
Wo sich Gelegenheit zu ethischer Einwirkung bietet, in rein mensch-
lichem und in vaterländischem Sinne, wird sie vom Verfasser benutzt, so
bei dem Mahnruf an die deutsche Jugend, Mann für Mann mitzuarbeiten an der
Verfassung, die das Reich wieder emporheben soll aus Elend und Ohnmacht.
Denn die Verfassung soll kein unabänderliches Dogma sein, sie bildet nur
die Grundlage für den nötigen Neubau. Jeder Deutsche soll sich für die Re-
gierung und die Zustände im Vaterlande mit verantwortlich fühlen. Dieses
Verantwortungsgefühl wird unsere Handlungen sittlicher machen und uns
davor bewahren, dem unseligen deutschen Parteizwist zu verfallen, dem
ein kräftiges Wort der Abwehr gewidmet ist.
Es wäre zu begrüßen, wenn das Werk in unseren Schulen weite Ver-
breitung fände.
Breslau. M. Blümel.
E. Hauptmann, Heimatkunde. Leipzig. Theodor Weicher. 111 S. Geh.
6 M., geb. 10 M.
Das Büchlein sieht das große Ziel deutscher Wiedergeburt und zeigt
den Weg dorthin, sich auf einen kleinsten Ausschnitt aus dem Gebiete der
Erziehung — das Fach Heimatkunde — beschränkend. In der Beschrän-
kung aber ist es um so gründlicher und geht dem Begriff Heimat an die Wurzel.
Ich bin mit manch Wesentlichem des grundlegenden Teils nicht ein-
verstanden. Die Heimatgefühl bildende Kraft der Örtlichkeit wird zu-
gunsten der Menschengemeinschaft allzu sehr unterschätzt. Der zu-
grunde liegende Fehler scheint mir der, daß der Verfasser eine Wurzel des
Paul Rhenanus, Antwerpen, Die Flamen, angcz. von Paul Verbeek. 119
Heimatgefühls völlig übersehen hat : die eigne Persönlichkeit, d ie Reinhit,
und Jugend verloren hat und sich mit aller Sehnsucht an jene Zeit klammert
in der das Verlorene ihr Eigen war. Gerade durch diese Sehnsucht aberer-
hält auch die Örtlichkeit ihren Schimmer und Zauber, unabhängig von aller
Gemeinschaft. Die Art des Verfassers läßt glauben, daß er sich das noch
einmal durch den Kopf gehen läßt und weiter mit dem Problem ringt. Denn
Fertiges kann und will er nicht bringen ; er hat recht, wenn er sagt, daß man
noch nie und nirgends in schulwissenschaftlichen Büchern dem Begriff der
Heimat überhaupt auf den Grund gegangen ist. Es ist wirklich hier zum
ersten Male in die Kerbe gehauen, die allein den Klotz spalten kann, der
die Tür ins lichte freie Neu-Deutschland versperrt. Und die Gedanken, die das
Buch weit über alle ähnlichen stellen, sind kurz: l.es ist uns alles zerbrochen,
weil uns das wichtigste, Heimat- und Deutschbewußtsein fehlte. Allem Auf-
bau muß daher die Erziehung des Einzelnen zum Gemeinschafts- und deutschen
Heimatgefühl, kurz zum Deutschbewußtsein, voraufgehen. 2. Es gilt erst
einmal an die Wurzel zu gehen und die inneren Zusammenhänge dessen,
was Heimat heißt, klarzulegen, will man nicht wie bisher ins Blaue hinein
arbeiten. 3. Der Begriff Heimat löst sich in eine unzerreißbare Kette auf:
Familie, Gemeinde, Stamm, Volk. (Die Persönlichkeit mit ihrem Eigenen
als erstes Glied hätte hier nicht vergessen werden sollen !) Eins ist undenk-
bar ohne das andere. 4. Der Schule oberstes Ziel ist nicht, wie bisher, Trichtere!
oder Arbeitsausbildung, sondern Erziehung zur Heimat in dem vierfachen
(besser fünffachen!) Sinn. 5. Die deutsche Wiedergeburt hängt davon ab,
ob es gelingt, der breiten Masse der sog. Arbeiter dies Heimatgefühl zum
ersten Male zu schaffen in dem zukünftigen Geschlecht.
Daß der Verfasser als Schulmann sich in der Durchführung dieser Ge-
danken auf ein einziges Fach beschränkt, macht seine Arbeit erst wahrhaft
fruchtbringend, und es wäre nur zu wünschen, wenn andere Fachmänner
folgten und der Stoff, auch der andern Fächer, planmäßig ,, heimatlich" in
diesem Sinne durchdrungen wird.
Berlin- Friedrichsfelde. Kurd. Niedlich.
Rhenanus, Paul, Antwerpen. Die Flamen. Fünf Abhandlungen. M. Glad-
bach 1918. Volksvereinsverlag. 115 S. 8«. Geh. 2,40 M.
Durch den Weltkrieg sind unsere Blicke wieder auf das flämische Volk
gelenkt worden, das als einen verlornen Außenposten deutscher Gesittung
zu betrachten mancher sich schon gewöhnt hatte. Ein ungünstiges Geschick
hatte diesen niederfränkischen Volksstamm zwischen das Meer und welsche
Gebiete eingeklemmt, und als der Vertrag von Verdun, der die Grafschaft
Flandern zu Frankreich schlug, seinen größten Teil von den deutschen Bruder-
stämmen trennte, da schien seine Verwelschung nur eine Frage der Zeit zu
sein. Nach wechselvollen Schicksalen wurde er 1830 mit den Wallonen zum
belgischen Staate zusammengeschweißt, in dem er von Anfang an trotz
seiner größeren Volkszahl zur dienenden Rolle verurteilt war. Es zeugt von der
Zähigkeit des flämischen Volkstums, wenn es trotz dieser unglücklichen
120 Dr. Heinrich Verbeek, Flämisch für alle Deutschen, angez. von Paul Verbeck.
Geschichte seine niederdeutscheEigenart so rein bewahrt hat. Wohl zeigt gerade
die gebildete Schicht eine geringere Widerstandsfähigkeit, aber das Volk
spricht noch heute die niederdeutsche Sprache und hat sich nicht, wie das
der Angelsachsen, dem Eindringen französischer Wörter gebeugt. — Von dem
Kampfe, den die Flamen besonders seit der Gründung Belgiens gegen die immer
stärker anschwellende Flut der Verwelschung zu führen hatten, entwirft
Rhenanus ein zugleich erschütterndes und erhebendes Bild, erschütternd,
weil wir das einsame Ringen dieses germanischen Volkes sehen, das, äußerlich
und innerlich von den blutsverwandten Stämmen gelöst, immer von neuem
gegen das fremde Joch aufbegehrt, erhebend, weil in den letzten Jahrzehnten
vor dem Weltkrieg ein dauernder Aufstieg festzustellen ist, der in dem Volks-
schulgesetz von 1914, das ein Recht der Flamen auf den Unterricht in der
Muttersprache anerkannte, seine Krönung gefunden hat. Der Verfasser streift
die ältere flämische Geschichte und Literatur nur kurz, behandelt aber in
breiter Ausführlichkeit die Verhältnisse in der belgischen Zeit. Er zeigt,
wie der Staat seine Machtmittel zur Verwelschung mißbrauchte, wie er das
Beamtentum, das Heer, die Presse, das gesamte Schulwesen, Handel und
Gewerbe in den Dienst seiner Bestrebungen zwang, wie er den nur flämisch
sprechenden Untertan zum Paria erniedrigte, indem er ihn von allen führenden
Stellen ausschloß. Dann bespricht er eingehend die flämische Bewegung,
deren Umfang und weitverzweigte, ständig wachsende Gliederung manchem
Leser eine Überraschung sein wird. Auch die flämischen Kriegsgründungen
werden noch in den Kreis der Betrachtung gezogen. Das Buch von Rhenanus
ist jedem zu empfehlen, der sich über die Bestrebungen der Flamen sach-
gemäß unterrichten will und den Wunsch hat, daß die geistigen Fäden, die
während des Krieges geknüpft worden sind, nicht wieder zerrissen werden.
Verbeek, Dr. Heinrich, Flämisch für alle Deutschen. Eine Anleitung
zum leichten Erlernen der flämischen Sprache. M. Gladbach 1917. Volks-
vereinsverlag. 194 S. 8°. Geh. 1,60 M.
Der Verfasser bietet uns in seiner Grammatik eine kurze, aber recht
brauchbare Einführung in die flämische Sprache. Er geht von dem richtigen
Grundsatz aus, daß sie nicht wie eine Fremdsprache, sondern wie eine nieder-
deutsche Mundart gelehrt und gelernt werden müsse. Da er selbst aus dem
niederfränkischen Sprachgebiet stammt und seine heimische geldrische Mund-
art vollkommen beherrscht, so konnte er an dem lebendigen Sprachquell
schöpfen, aus dem auch das Flämische fließt. Daraus erklärt sich, wenn er
in Belgien seine Muttersprache zu hören glaubt. Er geht aber zu weit, wenn er
meint, daß viele Deutsche, namentlich Rheinländer, denselben Eindruck
gewännen ; es kann sich dabei eben nur um Niederfranken handeln, die ihrer
heimischen Mundart noch mächtig sind. Er vergreift sich dazu im Ausdruck,
wenn er es unverständlich findet, „daß ein Mann wie Schiller zu gestehen
wagte, des Holländischen oder Flämischen nicht mächtig zu sein." — Auf
eigenartige und glückliche Weise gelingt es ihm, den Leser in den Wortschatz
des Flämischen einzuführen. Nach einer kurzen Übersicht über die Verschie-
Perthes' Kleine Völker- und Länderkunde usw., angez. von Gadow. 121
denheit der Aussprache stellt er in dem Abschnitt „Verwandtschaftliche Be-
ziehungen zwischen Deutsch und Flämisch" die wichtigsten Flämischen Wörter
zusammen. Er geht von den mit dem Hochdeutschen übereinstimmenden
Wörtern aus, um dann allmählich zu den Verschiedenheiten hinzuführen,
die sich zwischen den Selbstlauten und Mitlauten herausgebildet haben.
Soweit wie m.öglich sind die Verschiedenheiten lautgesetzlich begründet.
Auch die Ausdrücke, die im Hochdeutschen fehlen, aber in der Sprache des
Niederrheins, im Alt- und Mittelhochdeutschen vorkommen, sowie die dem
Lateinischen und Französischen entlehnten Fremdwörter sind in besonderen
Abschnitten gesammelt. Die eigentliche Sprachlehre beschränkt sich mit
Recht im ganzen auf die Bildung der Formen und bleibt immer in enger
Verbindung mit dem Deutschen. Die Wortbildungslehre ist für den Zweck
des Buches vielleicht etwas zu weit ausgeführt. Unter den im Anhang bei-
gefügten 15 Lesestücken und Gedichten sinden fich auffallender Weise 8 hol-
ländische; von den flämischen sind Limburgsch Koolbekken, Wij eischen de
vervlaamsching der Gentsche Hoogeschool und De Oude Viamingen auch
dem. Inhalt nach gut ausgewählt. Von Einzelheiten seien noch bemerkt:
Seite 32 ist oogst Ernte irrtümlich unter die Wörter gekommen, in denen
flämisch o einem hochdeutschen Mitlaut entspricht ; Seite 67 wird es richtig
von augustus abgeleitet. Seite 64 wird baldadig ungezogen mit bald kühn
zusammengebracht; es dürfte wohl mit dem germanischen Stamme bal,
erhalten in engl, bale Unheil, zusammenhängen. Seite 80 wird der Nominativ
des artikellosen trouw hond als gleichbedeutend mit dem Akkusativ angeführt;
letzterer lautet indes: trouwen hond. Diese geringfügigen Ausstellungen
vermögen aber den Wert des trefflichen und zeitgemäßen Werkchens nicht
herabzumindern.
Andernach. Paul Verbeek.
Perthes' Kleine Völker- und Länderkunde zum Gebrauch im praktischen
Leben. Fünfter Band; Achmed Emin, Die Türkei. Gotha 1918.
Verlag Friedrich Andreas Perthes A. G. VHI und 95 S. Mit 1 Karte.
Preis 4M.
Seitdem Deutsche und Türken im Weltkriege Schulter an Schulter
kämpften, ist bei uns das Interesse für das osmanische Reich in weiten Kreisen
wach geworden. Deutsch-türkische Wörterbücher und Sprachlehren schosseni
wie Pilze aus der Erde, die Zahl der Aufsätze und Schriften über die Türkei
und ihre Entwicklungsmöglichkeiten wächst unaufhörlich. Es fehlte jedoch
bisher eine kurze Darstellung des verbündeten Staates auf landeskundlich-
politischer Grundlage, die den Bedürfnissen des gebildeten Laien, des Soldaten
und des Kaufmanns genügt.
Diesem Mangel soll der 5. Band von Perthes' Kleinen Völker- und Länder-
kunde abhelfen. Der Verlag hat einen glücklichen Griff getan, als er den
Professor der Statistik an der Universität Konstantinopel Dr. phil. Achmed
Emin mit der Aufgabe betraute, deutschen Lesern sein Vaterland zu schildern.
122 H. Hegnauer, Schulzeichnen a. Grund elementarer Perspektive, angez.v. Fr. Leberecht.
In der Einleitung betont der osmanische Gelehrte, daß man sich in Europa
vielfach noch ein völlig unzutreffendes Bild von seiner Heimat mache. „So-
gar in ernsten Büchern und als wissenschaftlich gedachten Schriften kommen
immer wieder jene überlieferten Ansichten über die Türkei zur Geltung,
welche von der Atmosphäre von „Tausendundeine Nacht" umwoben sind
und die wandelnde Arbeit der verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen
Faktoren völlig verkennen." Dann skizziert der Verfasser auf knappen 12 Seiten
die starken geographischen Gegensätze der einzelnen Landesteile und die eth-
nische, sprachliche und religiöse Verschiedenheit der heterogenen Bevölkerung
um im 2. und 3. Abschnitt einen Einblick in die Geschichte des Aufstiegs
und Niedergangs des roten Halbmonds, der wiederholten Reformversuche,
der Palastherrschaft Abdul Hamids und des siegreichen Kampfes der Jung-
türken zu geben.
Bei der Beurteilung der politischen und geistigen Strömungen der letzten
Jahre nimmt Dr. Achmed Emin einen so objektiven Standpunkt ein wie das
einem Manne möglich ist, der inmitten der Ereignisse steht. Das vierte und
längste Kapitel (,,Die junge Türkei und ihre Probleme") beansprucht unser
besonderes Interesse. Dort wird in breiten Strichen der Verjiingungsprozeß
dargelegt, der das schwergeprüfte Reich auf eine moderne Grundlage bringen
soll, und bei dem deutsche Schaffenskraft und deutsches Kapital ausschlag-
gebend mitzuwirken berufen sind. Andererseits vergißt der türkische Statistiker
nicht, auf den Schatten hinzuweisn, der das erfreuliche Bild seines aufstreben-
den Vaterlandes verdunkelt : es ist der immer stärker einsetzende Bevölkerungs-
schwund, der besonders in Anatolien sich bemerkbar macht. ,,Der einzige Trost
besteht darin, daß man die Gefahr in vollem Maße erkannt hat." Der Verfasser
gibt sich wohl kaum einerTäuschung darüber hin, daß die schönsten politischen
Reformen umsonst sind, wenn die Heilung dieser tötlichen Wunde am osma-
nischen Reichskörper nach dem Kriege nicht sofort mit dem nötigen Ernst
in Angriff genommen wird.
Aus den Darlegungen Achmed Emins spricht jedoch eine so tiefe Vater-
landsliebe und ein so unerschütterlicher Glaube an die Glückliche Zukunft
seines Volkes, daß wir mit ihm die Überwindung aller Schwierigkeiten erhoffen.
Vor allen Dingen gewinnt man den Eindruck, daß hier wirklich ,,ein wahrer
Freund inniger und vertrauensvoller Beziehungen zwischen den verbündeten
Ländern" zu Worte kommt. Das Buch ist jedenfalls recht geeignet, dem
deutschen Leser eine zutreffende Vorstellung der heutigen Türkei und ihrer
Zukunftsaussichten zu übermitteln. Wer sich mit dem deutsch-türkischen
Problem befaßt, kann an ihm nicht achtlos vorübergehen!
Barth. Paul Gadow.
Hegnauer, H., Schulzeichnen auf Grund elementarer Perspektive.
Leipzig u. Berlin. B. G. Teubner. Mappe mit 9 Seiten Text und 18 farbigen
Vorlagen. 5 M.
Flotte Wandtafelzeichnungen des Lehrers vermögen in vielen Lehrfächern
die Anschaulichkeit des Unterrichts wesentlich zu erhöhen. Genügt in Natur-
A. Schudeisky, Projektionslehre, angcz. von Franz Leberecht. 123
beschreibung, Physik und Chemie schon eine schematische Darstellung, so
muß dagegen im Anschauungs- und im heimatkundlichen Unterricht die
erscheinungsgemäße Darstellung der behandelten Gegenstände zur Anwendung
kommen, wenn sprachlicher und graphischer Ausdruck sich decken sollen.
Diese Art der Darstellung setzt aber bei dem zeichnenden Lehrer die sichere
Kenntnis der perspektivischen Hauptgesetze voraus. Sie zu vermitteln, wo
sie fehlt, ist der Zweck des Werkes. An einer Reihe farbiger Vorlagen, die die
Technik des Wandtafelzeichnens nachahmen, bespricht und veranschaulicht
der Verfasser die wichtigsten perspektivischenGesetze, die sich auf den Kreis,
auf Drehkörper, Pflanzen- und Fruchtformen, prismatische, kubische und
zusammengesetzte Körper beziehen. Er verwahrt sich dagegen, daß sein
Werk im Zeichenunterricht verwendet werden soll. Unter dieser Voraussetzung
kann es, von einigen Ungenauigkeiten in der Zeichnung abgesehen, demjenigen
Lehrer empfohlen werden, der seinen Unterricht durch anschauliche Wand-
tafelzeichnungen zu beleben wünscht.
Schudeisfcy, A., Projektionslehre. Leipzig u. Berlin. B. G. Teubner.
83 Seiten, Oktavformat; Preis geheftet 1,40 M., geb. 2,20 M.
An guten Büchern für das Projektionszeichnen ist kein Mangel. Wenn der
Verfasser, der bereits mit anderen Werken über das Linearzeichnen an die
Öffentlichkeit getreten ist, sich dennoch zur Herausgabe seiner ,, Projektions-
lehre" entschlossen hat, so wird ihn der Gedanke geleitet haben, dem Anfänger
im Projektionszeichnen, dem sich ein guter Unterricht in diesem Fache nicht
darbietet, einen Weg zu zeigen, der alle diejenigen Schwierigkeiten umgeht,
die die Freude an dem etwas spröden Stoffe zu trüben geeignet wäre. Die recht-
winklige und die schiefwinklige Parallelprojektion sind klar erläutert, an ein-
fachen geometrischen Körpern durchgeführt und auf die Herstellung tech-
nischer Zeichnungen aus dem Bau- und Maschinenfach angewendet. Parallel-
perspektivische Zeichnungen, die die Modelle entbehrlich machen, unter-
stützen die räumliche Anschauung der projektiven Vorgänge. Das Buch kann
als „Vorschule" des Projektionszeichnens das Verständnis für die „Universal-
sprache der Technik" fördern helfen.
Weber, Dr. E., Der Weg zur Zeichenkunst. Leipzig u. Berlin. B. G.
Teubner. 86 Seiten. Oktavformat. Preis geheftet 1,40 M., geb. 2,40 M.
Der Verfasser bezeichnet sein Werk ausdrücklich als ein Büchlein für
theoretische und praktische Selbstbildung. Es ist nicht angängig, das Buch
deshalb grundsätzlich abzulehnen — wie es ein Kritiker der 1. Auflage getan
hat — weil es den Zeichenlehrer nicht ersetzen könne. Gewiß ist die lebendige
Persönlichkeit des Lehrers einem Buche vorzuziehen; aber doch ist mancher
Lernende genötigt, ein Buch zu seinem Lehrer zu erwählen. Wer zum vorliegen-
den Buche greift, hat keine schlechte Wahl getroffen. Der Verfasser steht
mit seinen Anschauungen auf dem Boden des neuzeitlichen Zeichenunterrichts,
für dessenVorzüge er die Leser zu interressieren weiß, indem er den neuen Kurs
wirkungsvoll dem alten gegenüberstellt und seine Entwicklung bis in die
124 Alois Fischer, Über Beruf, Berufswahl U.Berufsberatung usw., angez. v. W. Lohmann.
Anfänge zurückverfolgt. Er verweist den Lernenden auf denselben Weg,
den die Völker der Vergangenheit und die Naturvölker unserer Tage gegangen
sind, um ,,von dem ideographischen zum physiographischen Typ" und zur
künstlerischen Darstellung zu gelangen, auf den Weg, den auch das Kind
im neuzeitlichen Zeichenunterrichte zurücklegt. Die praktischen Winke,
die der Verfasser dem Autodidakten gibt, sind auch im Schulzeichenunterricht
zu verwenden. Deshalb ist das Buch für den angehenden Zeichenlehrer wert-
voll, dem der Verfasser auch mit anderen Zeichenwerken helfend zur Seite
getreten ist.
Berlin-Pankow. Franz Leberecht.
Fischer, W. Aloys, Über Beruf, Berufswahl und Berufsberatung als
Erziehungsfragen. Leipzig 1918. Verlag von Quelle und Meyer. 155 8.
Geb. 4,40 M.
Das Buch wird von allen, die Berufsberatung an höheren Schulen treiben
wollen, gelesen werden müssen. Es bildet eine wertvolle Ergänzung zu dem
Buche von Kuckhoff. Während letzterer die Frage mehr vom Standpunkte
des Volkswirtschaftlers behandelt, hört man hier überall den warmherzigen
Erzieher, den feinfühligen und erfahrenen Psychologen sprechen. Dabei ist
die politische Bedeutung der Frage keineswegs übersehen. Staat und Volk,
so meint Fischer, dürfen sich nicht einander gegenüberstehen ; sie müssen sich
vielmehr immer besser durchdringen, und deshalb sollen Schule und Er-
ziehung die Jugend hineinbilden, hineingeleiten in das Leben des Volkes;
sie sollen ihr das Ziel aufstellen, an seiner Gesamtarbeit und Weltaufgabe
teilzunehmen; sie dürfen zu diesem Zwecke die Bedeutung der Berufsreife
und der Berufswahl nicht verkennen. Er spricht zunächst über den Sinn des
Berufes und die objektiven Grundlagen der Berufswahl, dann über die Berufs-
forschung, die Beziehungen zwischen Erziehung und Beruf, schließlich von
der Berufswahl und Berufsberatung. Besonders lesenswert sind seine Aus-
führungen über die Wertung der Intelligenzhöhe, der sittlichen Höhe und des
gesellschaftlichen Verantwortungsgefühls für die höheren, gebildeten und
gelehrten Berufe (S. 46—51), seine psychischen Berufsbüder (z. B. der Kauf-
mann S. 52—58) und seine Bemerkungen über die Schranken der psycholo-
gischen Berufsberatung. Sehr merkwürdige Erfahrungen hat er bezüglich der
mangelhaften Kenntnis der Berufe von Seiten der Kinder und Jugendlichen
gemacht. Bei dem besonderen Abschnitt über die Berufsberatung für Schüler
höherer Lehranstalten schlägt Fischer (wie Kuckhoff) vor, das ganze erste
Jahr einer höheren Schule zu einer Art Probezeit auszubauen; die Leitung
der Sexta soll einem im Schulort unbedingt bekannten und allgemein hoch-
geachteten, in seinem Urteil durch keine Rücksicht beirrbaren Lehrer anver-
traut werden. Dem habe ich schon in dieser Zeitschrift (XVII S. 279) wider-
sprochen. Ich glaube, die meisten Direktoren werden meine Bedenken teilen.
Im übrigen kann ich den Ausführungen Fischers nur zustimmen. Ich wünsche
dem Buche eine recht weite Verbreitung.
Flensburg. Wilhelm Lohmann
M. Havenstein, Die alten Sprachen u. die deutsche Bildung, angez. von L. Mackensen. 125
Havensteln, M., Die alten Sprachen und die deutsche Bildung.
Berlin 1919. E. S. Mittler & Sohn. VI u. 92 S. 8. 3 M.
Havenstein sucht den Nachweis zu erbringen, daß die alten Sprachen
heute nicht mehr das Recht haben, auf den höheren Schulen eine beherrschende
Stellung einzunehmen und daß damit das humanistische Gymnasium in
seiner jetzigen Form seine Daseinsberechtigung verloren hat. Er ist überzeugt,
daß Latein und Griechisch in unserer Zeit nur noch einen sehr beschränkten
praktischen Lebenswert haben und auch die gelehrten Berufe außer den Theo-
logen, von denen man aber auch den Nachweis der Kenntnis dieser Sprachen
nicht mehr fordern solle, und den Philologen ihrer durchaus eritraten könnten.
Für diese aber brauche man das Gymnasium, wie es jetzt sei, nicht beizu-
behalten; es genüge, ihnen in späteren Jahren Gelegenheit zur Vorbildung
auf ihr Studium zu geben. Das lebendige Verständnis des Altertums, dessen
Bedeutung für unsere gesamte geistige Kultur der Verfasser anerkennt,
könne auch ohne Erlernung der alten Sprachen, insbesondere durch die Lektüre
guter Übersetzungen, gewonnen werden. Endlich sei auch der formale Bil-
dungswert des altsprachlichen Unterrichts, vor allem der Übersetzungs-
übungen, keineswegs so groß, daß man um seinetwillen an dem Überlieferten
festhalten müsse. Havenstein verlangt daher, daß das alte Gymnasium nur
als eine auf das Studium des Altertums vorbereitende Gelehrtenschule für
künftige Philologen weiterbestehen dürfe, im übrigen aber die Geistesschätze
des Altertums, soweit sie für uns noch von Wert sind, in verdeutschter Form
in den deutschen Unterricht hinübergenommen werden sollen.
Der Verfasser stellt sich selbst in seinem Schlußwort das Zeugnis aus,
daß er „gewissenhaft und nicht ungründlich" das Für und Wider im Kampfe
um das humanistische Gymnasium geprüft und Gerechtigkeit, soweit in solchen
Dingen davon die Rede sein könne, geübt habe. In der Tat unterscheidet
sich die ruhige und sachliche Art, in der er seine Ausführungen vorbringt,
höchst vorteilhaft von dem unwürdigen und gehässigen Tone, der gerade
im Streite über humanistische oder realistische Bildung nur allzu oft an-
geschlagen wird. Im übrigen enthält die Schrift nichts, was nicht von den
Gegnern des altsprachlichen Unterrichts schon oft vorgebracht . und ebenso
oft von der anderen Seite widerlegt wäre, wenn auch anerkannt werden soll,
daß sie manches, was wir bisher unter anderem Gesichtswinkel zu sehen
gewohnt waren, in neue Beleuchtung rückt. Den überzeugenden und schlagen-
den Beweis, daß wir ohne eine beklagenswerte Schädigung unseres Kultur-
und Geisteslebens auf die Beschäftigung mit den alten Sprachen und damit
auf das humanistische Gymnasium verzichten könnten, ist auch Havenstein
schuldig geblieben.
V. Holst, H., Fröhliche Leute. Abendgespräche mit Schülern. 5. Auflage.
Gütersloh 1918. C. Beitelsmann. 108 S. 8. Geh. 2 M., geb. 3 M.
Das freundliche Buch ist für reifere Schüler der Mittelklassen höherer
Schulen bestimmt, wird aber auch von Schülern der Oberklasscn mit Nutzen
gelesen werden. Der Verfasser zeigt sich in den fingierten Gesprächen als
126 Otto, E., Die wissenschaftliche Forschung usw., angez. von L. Mackensen.
ein treuer, warmherziger und verständnisvoller Freund der Jugend, der über
eine feine und gewinnende Art mit jungen Menschen zu verkehren, verfügt.
Zu innerlich freien und selbständigen, glücklichen und fröhlichen Menschen
will er seine jungen Freunde machen, und die Ratschläge, die er ihnen erteilt,
sind wohl geeignet, sie diesem Ziele zuzuführen. Ich möchte das Büchlein
in der Hand recht vieler unserer Schüler sehen: es wäre gut um unsere Jugend
bestellt, wenn sie sich stets der Führung eines so feinsinnigen, kamerad-
schaftlichen und fürsorglichen Freundes anvertrauen wollten! Auch Eltern,
Lehrer und Erzieher werden aus den „fröhlichen Leuten" manche Anregung
schöpfen.
Otto, E., Die wissenschaftliche Forschung und die Ausgestaltung
des gelehrten Unterrichts. Bielefeld und Leipzig. 1919 Velhagen
und Klasing. 66 S. 8.
Ottos kleine, aber inhaltreiche Schrift dient dem Versuche, eine ein-
heitliche Grundlegung der Erkenntnis anzubahnen. Der Verfasser unter-
scheidet zwei Forschungsgebiete: das funktionale und das evolutionale Ge-
schehen und dementsprechend zwei Forschungsarten: die funktionelle und
die evolutionelle Forschung, von denen die erste die Vorgänge der unbelebten
Natur sowie die Betätigung der Lebewesen, die zweite die geschichtlichen
Entwicklungen zu untersuchen hat. Er prüft sodann die Forschungsarten
der Einzelwissenschaften im besonderen und zieht im letzten Abschnitt aus
seiner Einteilung der Wissenschaften und ihrer Erforschung die Folgerungen
für die weitere Ausgestaltung unseres höheren Schulwesens. Otto fordert
eine Umgestaltung des Lehrplanes zu einem einheitlichen, organischen Ganzen,
einen Lehrplan, der statt auf ein buntes Vielerlei unzusammenhängender
Einzelerkenntnisse auszugehen, innerliche Verknüpfung und Geschlossen-
heit des Wissens zum Ziele hat und dem wirklichen Zusammenhang der Wissen-
schaften Rechnung trägt. Die Durchführung seiner Gedanken würde zweifel-
los für die höheren Schulen einen großen Fortschritt bedeuten, hat freilich
aber auch eine einheitliche Welterkenntnis und ebensolche Weltauffassung
der an ihr wirkenden Lehrer zur Voraussetzung.
Louis, G., Städtisches Schulrecht und inneres Leben der höheren
Schule. Ein Wort der Entgegnung auf die „Beiträge des Preußischen
Städtetags zur Handhabung der staatlichen Schulverwaltung gegenüber
den Städten." Leipzig 1918. Quelle & Meyer. 64 S. 8. Geh. 2 M.
Louis' Schrift verdankt ihren Ursprung der bekannten Denkschrift des
Preußischen Städtetags vom April 1917, in der die Städte den Anspruch
erheben, auch das innere Leben der städtischen höheren Schulen maßgebend
beeinflussen zu können. Sie untersucht zunächst die Rechtsstellung der städti-
schen Behörden zu den von ihnen unterhaltenen höheren Lehranstalten
und ihren Lehrern und weist nach, daß diese die auf Grund der Städteordnung
von 1808 erhobenen Ansprüche in keiner Weise rechtfertigt, da es zu einer
eingehenden Regelung durch die Gesetzgebung bisher überhaupt nicht ge-
H. Wolf, Wenn ich Kultusminister wäre, angez. von L. Mackensen. 127
kommen ist und die Bestimmungen der Städteordnung bei der gewaltigen
Entwicklung und Umwandlung des höheren Schulwesens in den letzten 100
Jahren auf die heutigen Verhältnisse in keiner Weise mehr passen. Der
Verfas'^er geht sodann ausführlicher auf die Aufgaben ein, die die Schule
im Ganicn des Volkslebens hat, und legt dar, daß diese in erster Linie eine
nationale Aufgabe zu erfüllen hat, also zu der städtischen Selbstverwaltung
in einem ganz anderen Verhältnis steht als irgend ein anderes städtisches
Institut, das rein städtischen Interessen zu dienen hat. Daneben werden
schwerwiegende andere Bedenken, die gegen eine Übertragung von Auf-
sichtsbefugnissen über die höhere Schule an die Gemeindeorgane sprechen,
in überzeugender Weise ausgeführt. Auf der anderen Seite wird der Nach-
weis erbracht, daß von selten der höheren Schule eine ganze Reihe von Forde-
rungen an die Städte zu stellen sind, die noch immer ihrer Erfüllung harren.
Louis erörtert sodann die Stellung und Aufgaben der Stadtschulräte und emp-
fiehlt di'^ Einrichtung von Einz^lkuratorien, die für jede einzelne Anstalt
die Verbindung mit der Öffentlichkeit herstellen sollen.
Durch die Ministerialverfügung vom 1. Oktober 1918 (Satzung für Eltern-
beiiäte und Muster einer Verwaltungsordnung für städtische höhere Lehr-
anstalten) hat das Verhältnis zwischen städtischen Behörden und höheren
Lehranstalten eine nur vorläufige Lösung erfahren, die auf keiner Seite volle
Befriedigung ausgelöst hat. Es ist zu erwarten, daß bei der bevorstehenden
Neuregelung des gesamten Schulwesens auch die hier untersuchte Frage
nochmals erörtert und endgültig geregelt wird. Im Interesse der höheren
Schule ist dringend zu wünschen, daß die Lösung im Sinne der vorliegenden
Schrift erfolgt, die infolge der großen Sachkenntnis des Verfassers zur Klärung
viel beitragen wird.
Wolf, H., Wenn ich Kultusminister wäre! Leipzig 1919. Th. Weicher,
ms. gr. 8. Geh. 4 M.
Der durch seine „Angewandte Geschichte" wie seine „Angewandte
Kirchengeschichte" wohl bekannte Verfasser stellt in dem vorliegenden
Buche eine Reihe von Richtlinien auf, die, wenn er Kultusminister wäre,
für seine eigene Tätigkeit wie für die staatsbürgerliche Erziehung des deutschen
Volkes maßgebend sein sollten. Wolf ist der Meinung, daß Politik in die Schule
hineingehöre, freilich nicht Parteipolitik und Parteistreit, wohl aber die Lehre
von Staat und Volk, von dem Wesen, den Aufgaben und Formen des Staates,
von dem Verhältnis zwischen Staat, Volkstum und Kirche, von den
Rechten und Pflichten eines Staatsbürgers. Zielbewußte Pflege des deutschen
Volkstums und Förderung unserer christlichen Religion wünscht er in den
Mittelpunkt des gesamten Schulwesens gestellt. Dementsprechend verlangt
er eine Erweiterung des Unterrichts in der Religion, in der Geschichte und
im Deutschen unter Zurücktreten des fremdsprachlichen, besonders des fran-
zösischen Unterrichts, da dieser nach der Ansicht des Verfassers dem unseligen
Hang des Deutschen zur Ausländerei Vorschub leistet, gegen die er ebenso
kräftige Worte findet wie gegen Mammonismus und Bildungsschwindel.
128 Hörn, E., Das höhere Mädchenschulwesen In Deutschland, angez. von L. Mackensen.
Auch dieses Buch enthält „angewandte Geschichte", nur daß in ihm der Partei-
standpunkt des Verfassers schroffer betont wird als in jenem ersten Werke;
es ist eine Streit- und Kampfesschrift, die leidenschaftlich angefochten werden,
aber auch viel Zustimmung finden wird.
Horn, Ewald, Das höhere Mädchenschulwesen in Deutschland.
Eine vergleichende Übersicht mit besonderer Berücksichtigung der Stunden-
pläne. Berlin 1919. Weidmann. 156 S. 8. Geh. 7 M.
Das Buch ist eine Ergänzung zu des Verfassers Zusammenstellung für
das „höhere Schulwesen der Staaten Europas", das nur Lehranstalten der
männlichen Jugend berücksichtigte. Leider machte der Weltkrieg unmöglich,
das weibliche Bildungswesen der außerdeutschen Länder zum Vergleich
heranzuziehen. Die Schrift enthält zunächst eine allgemeine Übersicht über die
Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens und behandelt sodann die
verschiedenen Formen der Lehranstalten für die weibliche Jugend, Lyzeen,
Frauenschulen, Oberlyzeen, Studienanstalten. Die zur Zeit vorhandenen
Oberlyzeen, Studienanstalten und Frauenschulen werden in einem besonderen
Abschnitt aufgeführt, während ein anderer die Leitung und Lehrkräfte der
Schule behandelt. Besonders wertvoll sind die dem Werke beigefügten Stun-
denpläne und Übersichten, die eine schnelle und sichere Orientierung ermög-
lichen, sowie ein Überblick über die Literatur, in der die wichtigsten Ord-
nungen und Bekanntmachungen aufgeführt sind. Das gesamte Werk baut
sich auf amtlichem Material auf, das dem Verfasser von den verschiedenen
Unterrichtsbehörden zur Verfügung gestellt ist, ist also von außerordentlicher
Zuverlässigkeit.
Berlin-Pankow. L. Mackensen.
III. Verschiedenes.
Berichtigung.
„Das Praktische Handbuch der Unterrichts- und Erziehungsordnung
an preußischen höheren Lehranstalten von K. Staberiow und J. Frühling
(Heft 11/12, 1920 S. 456) hat für die Mitglieder des Philolc gen Verbandes
bei direkter Bestellung vom Verlag Litfaß' Erben (Haaßmann) Beilin C,
Adlerstr. 6 emen Preis von 5 M., nicht wie dort angegeben, 7,50 M."
-CsGnS-
Oruck von C. Schulze & Co., O. m. b. H., Qräfenfaainichen.
^ '/■
I. Abhandlungen.
Das Auslandsdeutschtuiti in der Schule.
Der gegenwärtige Augenblick fordert auch vom Unterricht in vielen
Dingen eine Neuorientierung, nämHch in allen den Fragen, welche das deutsche
Volk betreffen. Nicht daß wir uns als heulende Derwische gebärden,
uns in würdelosen Selbstanklagen und Selbstbeschmutzungen ergehen sollen,
aber in dem Sinne, daß wir rein sachlich uns prüfen: in welchen Punkten
kann die Schule unserm Volke vielleicht noch besser dienen als vorher? wie
muß sie insbesondere den veränderten Verhältnissen, in denen sich das deutsche
Volk befindet, Rechnung tragen?
Und da läßt sich wohl sagen : bisher hat die Schule (die hierin ja nur der
Durchschnittseinsicht der erwachsenen Generation folgte, also keine Sonder-
schuld auf sich geladen hat) den Begriff des deutschen Volkes noch nicht
einmal klar erfaßt. Sie verwechselte zum größten Teil den reichsdeutschen
Teil des deutschen Volkes mit dem deutschen Volke selbst.
Jetzt aber, wo die Zersplitterung unseres Volkes wieder erschreckend
zugenommen hat, wo mehrere Millionen Deutsche fremden Völkern in Knecht-
schaft gegeben sind, wird es endlich Zeit, hier Revision zu schaffen. Die Frage
lautet: was hat die Schule zu tun, um in der heranwachsenden Generation
das Bewußtsein zu schaffen, daß auch die vielen Millionen Deutschen, die
keine Reichsdeutschen sind, unbeschadet ihrer politischen Staatsangehörigkeit
Glieder unseres Volkes sind? Und wie diese Frage beantwortet wird, das
ist für unser ganzes Volk — weit über die Schule hinaus — von nicht geringer
Bedeutung.
Wenn nun der Berliner Lehrerverein in seinem Lehrplanentwurf für
den Geschichtsunterricht!) auch die Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen
berücksichtigt und fordert: „Die Behandlung des Deutschtums im Ausland
darf heute in keiner Stoffverteilung fehlen," so wird man das als sympto-
matisch, nicht bloß als isolierten Einzelfall, betrachten dürfen und daraus
die Hoffnung schöpfen können, daß in den zuständigen Kreisen sich die
notwendige Erkenntnis durchsetzen wird, zunächst wenigstens für den Ge-
schichtsunterricht .
Natürlich handelt es sich dabei nicht nur um den Geschichtsunterricht.
In diesem Stadium des Besinnens ist es geboten, den ganzen Fragen-
komplex einer erneuten Behandlung zu unterziehen: in welcher Weise kann
die Schule der Deutschen außerhalb des Reiches gedenken?
1) Lehrplan und Stoffverteilung für den neuzeitlichen Geschichtsunterricht. Ein
Vorschlag, bearbeitet vom Geschichtsausschuß der Arbeitsgemeinschaft für praktische
Pädagogik (Berliner Lehrerverein). Berlin 1920. Verlag Berlin-Neukölln, Boddlnstr. 57, S. 6.
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 9
130 Gottfried Fittbogen,
Wenn ich dabei zunächst an die höheren Schulen denke, so geschieht
das nur aus praktischen Gründen. Grundsätzlich gilt für alle Schularten
dasselbe. Die Anwendung im einzelnen ergibt sich dann ohne Schwierigkeit
je nach den speziellen Aufgaben der betreffenden Schulen und dem Lebens-
alter ihrer Schüler.
Für eine wirkliche Einbürgerung dieses Stoffes im Unterricht sind zwei
Dinge nötig: erstens, Einführung desselben in die Lehrbücher, zweitens
Schaffung guter Hilfsmittel für die Hand des Lehrers.
Die Lehrbücher sind ja immer nur knapp gehalten und viel läßt sich
in ihnen nicht sagen. Aber was in ihnen gedruckt ist, steht nun einmal da,
und ist für den Lehrer ein Wink, sich näher mit dem Stoff zu befassen. Die
Auswahl des zu behandelnden Stoffes ist ihm durch das Lehrbuch großenteils
abgenommen. Aber die Erwähnung im Lehrbuch wird nun der Haken, an
dem er eingehendere Mitteilungen aufhängen kann. Für den Schüler weiter
dienen die kurzen Angaben im Lehrbuch als Gedächtnisstütze; vieles von
dem, was der Lehrer gesagt hat, wird beim Lesen wieder in ihm lebendig.
Wie im Geschichtsunterricht die verhältnismäßig wenig umfangreichen
Angaben über den neuen Stoff bis zum Weltkrieg sich leicht eingliedern lassen,
habe ich früher einmal am Beispeü des verbreiteten Geschichtslehrbuches
von Neubauer gezeigt i); ich brauche das hier nicht zu wiederholen.
Seitdem ist nun sehr viel neues „Auslanddeutschtum" hinzugekommen,
das um so mehr Berücksichtigung verlangt, als es bisher aufs engste mit
uns politisch verbunden war. Aber eben dieser engen politischen Beziehungen
wegen tun wir gut, dafür lieber den neugeprägten Namen „Grenzlanddeutsch-
tum" zu gebrauchen und die Bezeichnung „Auslanddeutschtum" für die
Gruppen des deutschen Volkes vorzubehalten, zu denen politische Beziehungen
nicht stattgefunden haben. Die Deutschen im ehemaligen Österreich würden
dann wohl selbstverständlich zur Gruppe der Grenzlanddeutschen geschlagen.
Dieser Stoff läßt sich natürlich unschwer in die knappen Paragraphen eines
Lehrbuches fassen.
Aber diese Erwägungen zeigen doch auch, daß hier eine Schwierigkeit
besteht: politische Hintergründe lassen sich nicht ausschalten. Denn Ge-
schichte ist in erster Linie immer politische Geschichte. Ihr Subjekt sind
die Völker und Volksteile nur, soweit sie staatlich organisiert, soweit sie also
politische Größen geworden sind. Das Kulturelle wird hier nur innerhalb der
politischen Rahmens betrachtet. Der beherrschende Gesichtspunkt im Ge-
schichtsunterricht ist also immer — bewußt oder unbewußt — der politische.—
Die Behandlung solcher Volksteile nun, die nicht politisch organisiert sind,
höchstens kulturelle Eigenwesen bilden, manchmal auch das nicht einmal,
wird also im Geschichtsunterricht manche Schwierigkeit machen und viel
Takt erfordern.
1) In meiner Broschüre ,,Das Deutschtum im Ausland in unsern Schulen", B. G.
Teubner, Leipzig und Berlin, 1913, S. 10—12.
Das Auslandsdeutschtum in der Schule. 131
Eine völlig unbefangene Behandlung wird erst möglich sein, wo der
politische Gesichtspunkt wegfällt, das ist : im geographischen und im deutschen
Unterricht.
Hier herrscht ledigHch der volkskundliche Gesichtspunkt. Die nötigen
Stützen für Lehrer und Schüler in den Lehrbüchern und — nicht zu vergessen —
den Karten, lassen sich leicht beschaffen. Zwanglos wird dann der Lehrer
im Geographieunterricht, wo es am Platze ist, von dem Leben der deutschen
Minderheiten in fremder Umgebung erzählen.
Am wichtigsten aber für unsere Frage ist vielleicht der deutsche Unter-
richt und in ihm das deutsche Lesebuch. In allen übrigen Schulbüchern
können nur dürftige Notizen stehen, hier aber können lebendige, farben-
reiche Darstellungen aus dem Leben der Auslanddeutschen dem Schüler in
die Hand gegeben werden. Die werden gentfeinsam in der Klasse gelesen
und besprochen, und, was dort nicht bewältigt werden kann, wird dann
vielleicht zu Hause durchstöbert. Woher aber den Platz nehmen? Werden
die Preise der Lesebücher dadurch — bei diesen teuren Zeiten — nicht über-
mäßig in die Höhe getrieben? Keine Vermehrung des Umfanges, keine Er-
höhung des Preises ist nötig. Es brauchen nur die vielen Lesestücke aus der
Naturkunde und der Geographie gestrichen oder auf einen geringeren Um-
fang zurückgeführt zu werden (was sollen diese Stoffe eigentlich im deutschen
Unterricht?), und sofort ist ausreichend Platz da für Lesestücke aus der
deutschen Volkskunde. Die deutsche Volkskunde berücksichtigt natürlich
das ganze deutsche Volk, also auch die Inlanddeutschen, aber den Ausland-
deutschen als den Brüdern in der Fremde wird sie doch eine besonders liebe-
volle Aufmerksamkeit widmen.
So nötig also die betreffenden Notizen im Geschichts- und Geographie-
unterricht sind, noch wichtiger fast ist es im gegenwärtigen Augenblick,
gute Lesestücke aus dem Gebiet der deutschen Volkskunde im Ausland
in die Lesebücher hineinzubringen. Die Herausgeber der Lesebücher, die so
wie so an eine neue Durchsicht ihres Inhalts auch aus anderen Gründen
herangehen müssen, haben hier ein fruchtbares Feld der Tätigkeit.
Von den übrigen Fächern kommt noch der Religionsunterricht, wegen
bestimmter Vorgänge in der Kirchengeschichte, für Erwähnung des Aus-
landdeutschtums in Betracht; doch kann dies im Unterricht selbst wie in
den Lehrbüchern nur nebenbei geschehen. Was sich sonst im Rahmen der
Schule etwa noch tun läßt, in Vertretungsstunden, Schulfeiern, Schülerbiblio-
theken i) u. dgl., entzieht sich dem Einfangen in Lehrbücher.
Außer für eine gute Beschaffenheit der Lehrbücher ist für gute Hilfs-
mittel, deren sich der Lehrer bedienen kann, zu sorgen.
Am schnellsten wird die Sache gefördert durch die Herausgabe eines
Sammelwerkes, in dem das einschlägige Material, das für den Unterricht
geeignet ist, vereinigt wird. Die gesamte weitverstreute, zum Teil schwer
zugängliche, sehr verschiedenartige wie verschiedenwertige Literatur über
1) Vgl. meine oben erwähnte Broschüre, S. 17.
9*
132 Gottfried Fittbogen,
das Deutschtum im Ausland wäre durchzuarbeiten und aus ihr wären alle
die Stücke zu sammeln, die charakteristisch sind für das Leben der Aus-
landdeutschen in Vergangenheit und Gegenwart, im Guten wie im Bösen.
Auch die Schattenseiten wären wahrheitsgemäß darzustellen. Denn es handelt
sich nicht um Selbstbeweihräucherung, die immer schädlich ist, sondern
um volle Erkenntnis der tatsächlichen Zustände und Wesenszüge, wenn
es sein muß, auch um Selbstkritik. Nur auf diese Weise kann die Beschäfti-
gung mit dem eigenen Volkstum ein Volk innerlich vorwärts bringen.
Der bloße Abdruck der Texte genügt aber nicht. Um das Buch wirkr
lieh brauchbar, für jeden Lehrer als Stoffquelle und Präparationswerk brauch-
bar zu machen, sind jedem Abschnitt die nötigen Angaben — kurz und bündig
— voranzuschicken, die über die Verhältnisse der Deutschen gerade in diesem
Weltwinkel aufklären ; jeder eitizelne Text ist, wo es nötig ist — und es wird
meist nötig sein — mit Erläuterungen zu versehen; Karten müssen als Zu-
gaben beigefügt werden. Kurz, das ganze Werk muß so gearbeitet sein,
daß der Herausgeber dem einzelnen Benutzer jeden nur möglichen Wink
zum Verständnis gibt; er muß dem Lehrer alle Vorarbeiten abnehmen, so
daß dieser ohne Zeitverlust nur an die pädagogische Verwertung zu denken hat.
Wie viel Nutzen ein solches „Lesebuch für Lehrer" stiften würde, liegt
auf der Hand. Der Lehrer findet hier eine Quelle, aus der er aufs bequemste
schöpfen kann; nicht bloß der Deutschlehrer, sondern auch der Historiker
und der Geograph. Auch der Herausgeber eines Schullesebuchs wird es be-
nutzen können 1).
Ein solches Buch solidester Konstruktion in mehreren Bänden ließe sich
— namentlich bei den gegenwärtigen Zuständen — wohl nur mit Unterstützung
von maßgebender Stelle schaffen.
Kleinere Hilfsbücher sind daneben (und vorläufig als sein Ersatz) auch
wünschenswert. Einige sind auch schon erschienen. Ihrem Wesen nach
können sie sein entweder Lesebücher, die aus der vorhandenen Literatur
bestimmte Ausschnitte zusammenstellen (also innerlich verwandt jenem
großen Werke, nur in bescheidenerer Ausführung); oder Charakterbilder,
welche auf kleinem Raum vollständige, in sich geschlossene Skizzen von den
einzelnen Gruppen der deutschen Diaspora entwerfen.
Zu der ersten Gruppe gehört das sogenannte „Quellenlesebuch für
Jugend und Volk, für Schule und Haus", das Georg Holdegel und Walter
Jentzsch unter dem Titel „Deutsches Schaffen und Ringen im
Ausland" herausgegeben haben (bei Julius Klinkhardt, Leipzig, 2 Bände,
1906 und 1917). Der erste Band behandelt Österreich-Ungarn, den Balkan
1) Vgl. meinen Aufsatz „Das Auslanddeutschtum in reichsdeutschen Lehrbüchern",
Zeitschrift für den deutschen Unterricht, 1915; Heft 12 S. 753. — Als Quelle für Lesebuch-
herausgeber sei auch auf deutsche Lesebücher im Ausland hingewiesen, z. B. auf das „Deutsche
Lesebuch für Mittelschulen" bei den Siebenbürger Sachsen, herausgegeben von Netoliczka
und Wolff, Verlag von W. Krafft, Hermannstadt 1914; vgl. meinen Aufsatz ,,Eine Säule
deutscher Kultur im Ausland", Zeitschrift für lateinlose höhere Schulen, B. O. Teubner,
Leipzig und Berlin 1915, Heft 7/8, S. 224ff.
Das Auslandsdeutschtum in der Schule. 133
und Orient, der zweite Rußland, Nord- und Mittelamerika. Ein dritter Band,
der spezielle Themata bringen sollte, ist — wohl infolge der Ungunst der Zeiten
— nicht mehr erschienen. Im einzelnen bleibt natürlich bei einem solchen
Erstlingswerk manches zu wünschen, im ganzen ist es mit Dank zu begrüßen.
Der Untertitel „Quellenlesebuch" darf nicht irre führen; tatsächlich handelt
es sich nicht um Originalquellen im wissenschaftlichen Sinn, sondern um
abgeleitete Quellen, nämlich fertige Darstellungen, die aus größeren Dar-
stellungen entnommen sind und die nur zum Unterschied von etwaigen Dar-
stellungen der Herausgeber selbst Quellen genannt werden.
Dahin gehört auch das Büchlein von Julius Ziehen, Das Deutsch-
tum im Auslande. Ein Quellen- und Lesebuch zur Einführung in das
Verständnis des Auslanddeutschtums. (Deutsche Schulausgaben, heraus-
gegeben von Julius Ziehen, Nr. 120), Veriag von L. Ehlermann, Leipzig,
Dresden, Berlin (ohne Jahr).
Die andere Gruppe ist bisher nur durch eine Arbeit vertreten: Emil
Lehmann, Deutsches Volkstum auf Vorposten. Schulwissenschaft-
licher Verlag Haase, Prag, Leipzig, Wien (= Volksbücher zur Deutschkunde,
herausgegeben von Walther Hofstaetter, M. 5). Die wichtigsten Gruppen
der deutschen Diaspora in Europa sind darin dargestellt.
Außerdem liegen noch einige Quellensammlungen im wissenschaftlichen
Sinne vor. Darin sind Quellen aus einem bestimmten Gebiet zusammenge-
stellt und auf Grund derselben soll sich nun der ältere Schüler selbst ein
Bild entwerfen. Doch scheint mir dies über die Aufgabe der Schule, auch
in den obersten Klassen der höheren Lehranstalten, hinauszugehen. Doch
sollen diese Sammlungen immerhin genannt werden i), vielleicht können
sie einmal gelegentUch benutzt werden.
Man sieht, die Hilfsmittel, die dem Lehrer auf unserm Gebiete zur Ver-
fügung stehen, lassen sich an Zahl und Wert noch erheblich verbessern.
Was vorHegt, ist erst ein Anfang.
Die Literatur, die nicht speziell für die Schule bestimmt ist, hier zu nennen
liegt kein Grund vor^).
Außer Belehrung durch das gedruckte, kommt die durch das gesprochene
Wort in Betracht. Die ließe sich erfolgreich in Anwendung bringen, nämlich
1) In der „Quellensammlung für den geschichtlichen Unterricht an höheren Schulen",
herausgegeben von Lambeck und Rühlmann, bei B. G. Teubner, Leipzig und Berlin, ist
als Heft 140 der 2. Reihe erschienen die Auswahl von Girgensohn, Die Ostseeprovinzen.
Aus der Sammlung ..Aus Österreichs Vergangenheit". Quellenbücher zur öster-
reichischen Geschichte, herausgegeben von Karl Schneider, Schulwissenschaftlicher Verlag
A. Haase, Prag, Wien, Leipzig, gehören hierher:
Nr. 4. Kaindl, Die Ansiedlung der Deutschen in den Karpathenländern.
Nr. 14. Reutter, Das Siedlungswesen der Deutschen in Mähren und (Österreichisch-)
Schlesien.
') Vgl. dafür meinen Bucherbrief, Das Auslanddeutschtum in Europa in der Monat-
schrift „Deutsches Volkstum ' (Hamburg, Holstenplatz 2), Februar 1921. Der entsprechende
Bucherbrief über das überseeische Auslanddeutschtum folgt in einem der nächsten Hefte.
134 H. Schmidt,
durch Kurse, welche für das Bedürfnis der Lehrer eingerichtet werden,
vielleicht für jede Provinz besondersi).
Werden die hier angedeuteten Wege wirklich beschritten, so wird man
bald vorwärts kommen.
Von besonderer Wichtigkeit ist dabei, ich wiederhole es, daß gute Lese-
stücke aus der Kunst vom deutschen Volk im Ausland in die Lesebücher
aufgenommen werden.
Berlin. Dr. Gottfried Fittbogen.
Zum neusprachlichen Unterricht^).
Die Ergebnisse des neusprachlichen Unterrichts entsprechen nicht der
für diesen Unterricht aufgewandten Zeit und Mühe. Sie waren vor 1914
unbefriedigend und sind es noch mehr geworden durch die mannigfaltigen
Störungen und Schädigungen, die der Schulbetrieb durch den Krieg erfuhr
und unter denen der durch die milden Versetzungen bewirkte schnellere Auf-
stieg der Minderbegabten und der mangelhafte Ersatz für die der Schule
entzogenen Lehrkräfte am schwersten ins Gewicht fallen^). Die wesentlichsten
Mängel hervorzuheben, ihre Ursachen anzugeben und Mittel zu ihrer Be-
seitigung vorzuschlagen, soll der Zweck der folgenden Zeilen sein.
1. Aussprache.
Die Aussprache ist durchweg mangelhaft, und man hat den Eindruck,
als ob sie von Jahr zu Jahr schlechter werde. Die Intonation weicht kaum
von der der Muttersprache ab. Die Fähigkeit, in sinngemäßen Sprechtakten
zu lesen, ist selten vorhanden: Zusammengehöriges wird durch Atempausen
1) Mit Freuden ist es zu begrüßen, daß nunmehr das Zentraiinstitut für Erziehung
und Unterricht (Berlin, Potsdamerstraße 120) diese Bestrebungen aufgenommen und einen
Lehrgang über Auslanddeutschtum bereits abgehalten hat, der zum ersten Male
Ende Januar 1921 begann. Damit ist die Sache in die richtigen Hände gekommen.
2) Der Einfachheit halber ist fast nur vom Französischen die Rede. Vom Englischen
gilt — mutatis mutandis — dasselbe.
8) Meine Urteile beruhen besonders auf Beobachtungen an Schülern der Oberstufe,
die in verhältnismäßig geringer Zahl von unten auf der eigenen Anstalt angehörten, in der
Mehrzahl aus näherer und weiterer Umgebung von höheren Schulen, Mittelschulen und
Privatschulen kamen. Nach Mitteilungen, die ich gelegentlich erhalte, habe ich keinen Grund
zu glauben, daß die Verhältnisse anderswo nicht ähnlich sind. Für die schwachen Kenntnisse
in der Orthographie lieferte Victor vor mehreren Jahren Beweismaterial. Bei einer von ihm
abgehaltenen Prüfung zur Aufnahme in das englische Proseminar der Universität Marburg,
an der Studierende von 1—5 Semestern teilnahmen und die im Niederschreiben eines nicht
schweren Diktats bestand, wurden u. a. folgende Fehler gemacht: seedge, seage, seach (st.
siege); decease, desease (st. disease); thickness, sikness (st. sickness); ferner troiips, troupes,
neight, fearfuU, destroied, hartship, releave, cloathing ... In der schlechtesten Arbeit waren
nahezu 30 Fehler. 16 Schulen (7 Gymnasien, 5 Realgymnasien, 4 Oberrealschulen) waren
vertreten. Vgl. Die Neueren Sprachen, XII, 509ff.
") Ein aus Mecklenburg gekommener Obertertianer übertrug nicht nur den Tonfall,
sondern auch die diphthongierten Vokale seiner Heimat in Reinkultur aufs Französische.
Nasalvokale konnte er nicht sprechen.
Zum neusprachlichen Unterricht. 135
getrennt, über Pausen wird hinweggestürzt. Wie gering das mechanische
Beherrschen einfacher Lautgruppen bei vielen ist, zeigt z. B. beim Lesen
das Stocken schon vor einer Jahreszahl und noch viel mehr vor umfang-
reicheren Zahlen, die sich im Text einstellen. Man vermißt die saubere und
straffe Artikulation der französischen Vokale {litterature^ ceremonie . . .).
Die offenen o-Laute, die bei weitem die Mehrzahl bilden, werden hartnäckig
geschlossen gesprochen {colonie, philosophe . . . ) ; die selteneren geschlossenen
mit Vorliebe offen {oser, poser^ Josse, grosse, grossir . . ., ja sogar im Aus-
laut, wo nur trop eine Ausnahme bilden kann). Neigung zur Diphthongi-
sierung der Vokale ist besonders bei den vom Lande stammenden Schülern
zu beobachten^). Die stets geschlossenen ^-, u- und «/-Laute werden offen
gesprochen {distance, illuminer, immortel, irriter . . .; tourner , nourrir, pourra. . .;
tumulte, iure, culte . . .). Bei dem y der Schrift verfällt man immer wieder
in den deutschen Laut {lyrique, physiqiie . . .; mit einem Wort wie Symp-
tome weiß mancher überhaupt nichts anzufangen). Schrift-a; wird ohne k
gesprochen {anxieux, anxiete . . .). Das sogenannte stumme e ist eine ewig
sprudelnde Fehlerquelle. Nach einer einmal gelernten Lautregel läßt man
es in ganz unfranzösischer Weise in jeder Stellung verstummen {jiiste, porte ...);
die einsilbige Aussprache von quelques scheint ebenso unausrottbar wie die
zweisilbige von chthes und asked im Englischen. Umgekehrt wird das e der
Schrift an falscher Stelle laut {appeler, achever, galerie, batterie, amener, pro-
m^ner . . ., selbst in donnerai usw.). Die vokalische Bindung ist in Praxis
und Theorie ziemlich allgemein unbekannt, ogbleich man sie jedem Sextaner
klar machen kann. Mit der Assimilation, die sich übrigens bei fließendem
Lesen von selbst einstellen würde, verhält es sich ebenso. Auf dem Gebiet
der konsonantischen Bindung herrscht völlige Regellosigkeit. Das Unter-
lassen der obligatorischen Bindung geht bis zur Sinnentstellung {ils // etaient),
und andererseits übertreibt man sie oder man bindet, wo es unterbleiben muß,
oder mit falschem Laut {grand homme, quand on, long Intervalle . . .) oder
endlich, was das schlimmste ist, nach Pause i). Diese Auslese möge genügen.
Wer hat die Schuld? Die Schule, in erster Linie der Anfangsunterricht.
Jeder Schüler erwirbt eine gute Aussprache, wenn der Lehrer eine eingehende
Kenntnis der wissenschaftlichen Lautphysiologie besitzt, die Mittel kennt,
die sie dem Unterricht gibt, und diese Mittel methodisch richtig gebraucht 2).
^) Man mache den Schülern klar, daß dies auf Franzosen denselben Eindruck machen
muß, als wenn man in deutscher Rede plötzlich etwa Kelle, Teile . . . statt Elle, Eile . . .
sagen würde.
") Die Zahl solcher Lehrer scheint allerdings seltener zu werden. A. Schröer sagt
(N. Spr., XXVI, S. 393), daß die Wissenschaft der Phonetik das Stiefkind unserer Universi-
täten ist, daß sie dem Zufall überlassen bleibt, ob gerade ein Vertreter der Sprachwissenschaft
dafür so nebenher Interesse, Befähigung, Zeit und Lust hat oder nicht. Und er nennt das
um so bedauerlicher, als unsere Lehramtsprüfungsvorschriften doch phonetische Studien
voraussetzen. So erklärt «sich wohl, daß kürzlich ein Student einer mitteldeutschen Uni-
versität, der promoviert hatte und im Staatsexamen stand, beim Lesen französischer Sätze
stets den festen Vokaleinsatz gebrauchte, in nous en avons zunächst die Bindung unterließ,
um sie dann mit stimmlosem s nachzuholen, und Sweets phonetische Schriften nicht kannte.
136 H. Schmidt,
Es ist deshalb unbedingt erforderlich, daß von allen Kandidaten in gleichem
Umfange phonetische Kenntnisse als conditio sine qua non für das Bestehen
der Prüfung im Französischen und Englischen gefordert werden, gleichviel
ob diese für alle Klassen, für Mittel- oder Unterklassen oder für Mittelschulen
abgelegt wird. Und es ist ferner erforderlich, daß die Kandidaten des höheren
Lehramts in der Methodik des Ausspracheunterrichts gründlich
unterwiesen werden, und es muß in Zukunft ausgeschlossen sein, daß jemand
während seiner Ausbildungszeit nicht auf die Standard works der Phonetik
und neusprachlichen Methodik aufmerksam gemacht und nicht zu deren
Studium angehalten wird. Auch soll der Schüler sich der Wichtigkeit einer
guten Aussprache bewußt werden. Man gebe ihm im Anfangsunterricht
nach dem ersten Quartal die Zensur nur nach seiner Fähigkeit im Lesen,
und man weise ihn darauf hin, daß das im Anfang Versäumte später nicht
wieder gut zu machen ist, selbst nicht durch einen Aufenthalt im Ausland,
von wo schon mancher seine schlechte Aussprache unverändert zurückbrachte.
Sind so die Grundlagen für einen erfolgreichen Ausspracheunterricht gegeben,
erfährt die Aussprache auf jeder weiteren Stufe fortgesetzt sorgfältige Pflege,
wird im besonderen während der ersten Jahre vom Schüler nichts gelesen,
was nicht vom Lehrer vorgelesen wurde (vor allem im Englischen, wo so
wenig sicher von der Schrift auf den Laut geschlossen werden kann) und
vermeidet man das Konjugieren mit bloßen Verbformen sowie das Auswendig-
hersagen von Wörtern und Wortverbindungen, was nachlässige Aussprache
und falschen Tonfall zur Folge hat^), so werden gute Resultate nicht aus-
bleiben, und der Lehrer wird von der lästigen Pflicht befreit sein, das Lesen
der Schüler noch in den Oberklassen auf Schritt und Tritt durch Verbesserung
von Aussprachefehlern unterbrechen zu müssen.
2. Sprechübungen,
Die Lehrpläne fordern Sprechübungen von Anfang an und in jeder
Stunde. Wohl kaum dürfte ein Gebot jemals allgemeiner übertreten worden
sein als dieses, denn bei Sprechübungen von unten auf in jeder Stunde
könnten die Schüler nicht mit so geringer Sprechfähigkeit in die Oberklassen
eintreten. Der Verzicht auf Sprechübungen oder ihr zu geringer Umfang
bedeutet nun aber nicht blos, daß ihr Zweck, Sprechfertigkeit zu erzielen,
nicht erreicht wird, sondern es bedeutet zugleich, und das wird viel zu wenig
beachtet, den Verzicht auf das beste methodische Mittel, die Grammatik
zu befestigen und die Befolgung grammatischer Regeln zu fester Gewöhnung
zu machen. Sprechübungen sollten deshalb einen weiten Raum im Unter-
richt einnehmen, und so bald wie möglich sollte die Unterrichtssprache,
die ihren Reichtum an idiomatischen Wendungen den Schülern mühelos
1) Ich erinnere an das Aufsagen der in Verse gebrachten Verben, die mit etre ver-
bunden werden, an das Aufzählen der englischen Reflexivpronomina, das die Betonung
auf der ersten Silbe veranlaßt, an das Herleiern der möglichen Verbindungen von zwei pro-
noms conjoints, das wie ,, Mülle, Tülle ..." klingt und der richtigen Aussprache dieser
Verbindungen im Satzzusammenhang entgegenwirkt, u. a. m.
Zum neusprachlichen Unterricht. 137
übermittelt, die fremde sein. Fehler, die selbst in höheren Klassen nicht
völlig ausgeschlossen sind und die die Feder sich sträubt niederzuschreiben,
wären dann nicht möglich. Jede Gelegenheit, die sich zum Sprechen bietet,
ist auszunutzen. Auch bei Erörterung grammatischer Dinge kann die fremde
Sprache sehr wohl gebraucht werden. Mit Unrecht lehnen die Lehrpläne
sie hier ab, wo ihr Gebrauch doch verhältnismäßig leicht ist, weil die gram-
matische Terminologie in den drei Sprachen verwandt ist^). Vorauszusetzen
ist natürlich dabei, daß die Verhältnisse der zu lernenden Sprache zugrunde
gelegt werden, nicht die der deutschen. Wenn nach den Lehrplänen einfacher
Dialog immer vorherrschen soll, so ist doch auf der Oberstufe die Übung
in zusammenhängender Darstellung in den Vordergrund zu stellen. Um
das Ohr der Schüler an die fremden Laute zu gewöhnen, sollte man sie während
des Lesens öfter zuhören lassen. Die Kontrolle der Aufmerksamkeit ist
dabei keineswegs schwerer als beim Nachlesen.
3. Lektüre.
Die Fähigkeit der Schüler, einen nicht vorbereiteten Text zu übersetzen
oder lesend zu verstehen, ist nach mehrjährigem Unterricht noch recht gering.
Die Ursache liegt darin, daß das Extemporieren nicht früh genug begonnen
und nicht andauernd gepflegt wird. Bei der Schriftstellerlektüre in den
Oberklassen sollte es das Übliche sein, die häusliche Präparation dagegen
zurücktreten, vielleicht am besten ganz unterbleiben und die Hausarbeit
sich auf Wiederholungen (Inhaltsangaben in der fremden Sprache) beschränken.
Bei diesem Verfahren würde die Lesefähigkeit gesteigert werden, so daß
an Umfang mehr als bisher gelesen werden könnte, und viel lesen ist ein
wichtiger Umstand bei der Erlernung einer Fremdsprache. Nichts nimmt
außerdem dem Lernenden mehr die Lust an der Lektüre und mindert den
Erfolg, den sie haben kann, mehr als ein durch zu sehr in die Breite gehendes
Erklären oder gar durch grammatische Übungen bewirkter schleppender
Gang. Wie mancher hat Entsprechendes im deutschen Unterricht erfahren \^)
Verleiden wir also der Jugend nicht die schönsten Stunden und vergessen
wir nicht, daß Lesen für die Spracherlernung wie für die Bildung im allge-
meinen eine bessere Quelle ist als Lernen. Und je mehr gelesen wird, desto
größer wird die Lesefähigkeit, die dem Schüler Selbstvertrauen gibt und die
Vorbedingung ist, daß er freiwillig Privatlektüre treibt und auch nach dem
Verlassen der Schule fremdsprachliche Bücher liest. Von unten auf und
nicht bloß in den Oberklassen muß deshalb der Lesestoff im Mittelpunkt
des Unterrichts stehen. Um ihn muß sich alles übrige gruppieren. Auf
1) Das Bestreben, die Terminologie zu verdeutschen und Bezeichnungen wie Wes-
fall, Zielwesfall, Ausgangswesfall, Höher- und Höchstgradform, Sehrstufe, vereinzelndes
Geschlechtswort, eigenschaftwörtliche Zeitformen usw. einzuführen, hat hoffentlich keinen
Erfolg.
') Ein bedeutender Schauspieler, Abiturient eines Gymnasiums, sagte mir einmal,
er habe es nicht über sich gewinnen können, Hermann und Dorothea wieder zu lesen, so
sehr sei es ihm auf der Schule verekelt worden.
138 H. Schmidt,
allen Stufen muß er ein zusammenhängender sein, auf der Unterstufe
in einfachster, aber idiomatischer Form Gegenstände aus der Umgebung
des Schülers und Vorkommnisse des täglichen Lebens behandeln und auf
der Mittelstufe seine Fortsetzung vornehmlich in der Erzählungsliteratur
und in Biographien finden, also in Literaturgattungen, die die bis dahin
erworbenen Kenntnisse in der Umgangssprache zu erweitern geeignet sind,
von der gesprochenen Sprache zur Buchsprache überleiten und für die auf
der Oberstufe beginnende umfangreichere Lektüre vorbereiten. Die Sprache
dieser Schriften muß leicht sein, weil eine leichte Sprache ergiebiger ist für
sprachlichen Gewinn als eine mit seltenen und schwerfälligen grammatischen
Konstruktionen und langen Perioden durchsetzte. Schwieriger ist die Frage
zu entscheiden, was auf der Oberstufe gelesen und wie es auf die einzelnen
Klassen verteilt werden soll. In diesem Punkt gehen die Meinungen weit
auseinander. Auf keinem Unterrichtsgebiet herrscht größere Planlosigkeit
und Verwirrung. Die Übereinstimmung geht kaum über Moliere und Shake-
speare hinaus. Was der eine begeistert empfiehlt, wird von anderen ent-
schieden abgelehnt. Fürsprecher findet Goldsmith, der veraltet ist, und Be-
denken werden gegen Dickens laut, den jeder Abiturient einer Realanstalt
um so mehr sollte lesen können, als Übersetzungen von dem Humor und dem
Erzählertalent dieses Schriftstellers keine Vorstellung zu geben vermögen.
Der Wunsch, alle literarischen Gattungen, wenn auch nur in ihren Haupt-
vertretern, zu berücksichtigen, ist unerfüllbar. Welche Auswahl soll nun
getroffen werden? Nichts liegt mir ferner als diese Frage entscheiden zu
wollen, was hier übrigens ja schon aus äußerlichen Gründen nicht möglich
wäre. Ein Kanon kann Richtlinien geben, darf aber niemand aufgezwungen
werden. Vielleicht kommen wir der Lösung der Frage näher, wenn Schriften
reinphilosophischen und naturwissenschaftlich-technischen Inhalts ganz aus-
geschlossen werden, die historische Lektüre unter völligem Ausschluß
der Kriegsgeschichte auf einen geringen Umfang beschränkt, von einigen
Ausnahmen abgesehen nicht weiter als bis ins 19. Jahrhundert zurückgegriffen
und neben der Schriftstellerlektüre eine Gedichtsammlung verwendet
wird und ein Lesebuch, das alles für die Schule Verwendbare und Wissens-
werte über Volks- und Landeskunde enthält, auch den Briefstil berücksichtigt
und in einfacher, moderner Sprache geschrieben ist. Die Schulausgaben
der Schriftsteller sollten sich aller überflüssigen sprachlichen Anmerkungen
enthalten, was immer noch nicht überall der Fall ist, und statt dessen
für die im Text auftretenden grammatischen und stilistischen
Freiheiten und Nachlässigkeiten die heute übliche Ausdrucks-
weise sowie für das Seltene das Gebräuchliche verzeichnen,
was bisher nicht geschieht, der Spracherlernung aber, die auch auf der Ober-
stufe das Hauptziel bleiben muß, zu großem Vorteil gereichen würde i). Was
1) Selbst Fehler gibt es in den Texten der Schriftstellerausgaben zu berichtigen,
was ein paar Beispiele zeigen mögen: Sa mort suffirait pour fl^trir ä jamais le rägne de la
terreur r6volutionnaire. — U est un point pour lequel on a loue Frangois I*' sans restriction.
Zum neusprachlichen Unterricht. I39
die Behandlung der Lektüre betrifft, so ist das volle Verständnis des Textes
und dessen Übersetzung, die das Mittel zu dem Zweck ist, dieses Verständnis
zu erreichen, in möglichst gutes Deutsch zu fordern. Ist der Sinn durch Über-
setzen und durch Inhaltsangaben in der fremden Sprache völlig klar, so ist
ein sogenanntes Nachübersetzen zwecklos und Zeitvergeudung. Lieber lasse
man, soweit es die Zeit erlaubt, den Text in längeren Abschnitten öfter
lesen, was nicht nur die Gewandtheit im Lesen erhöht, sondern auch durch
Einprägung des Schriftbildes die Orthographie befestigt. Dem Verlangen
nach einer Herausarbeitung einer einwandfreien Wiedergabe in deutscher
Sprache kann die Schule nur bedingt entsprechen. Man versuche nur, einer
solchen Aufgabe etwa an einer Szene aus einer Tragödie Racines gerecht
zu werden, und man wird sehen, daß sich dabei Schwierigkeiten ergeben,
die sehr viel Zeit erfordern und nicht oder nur unvollkommen überwunden
werden können. Breal zeigt in seiner Schrift De V Enseignement des Langws
Vivantes (S. 98 ff.) an Beispielen aus deutschen und englischen Dichtern,
daß es unmöglich ist, in die Muttersprache zu übersetzen, ohne daß die Über-
setzung in vielen Fällen ein calqiie incolore et banal des Originals wird. Ganz
von uns weisen müssen wir es aber, die Lektürestunden zu grammatischen
Übungen zu verwenden und durch Konstruieren von Sätzen Grammatik
an sich zu treiben. Der Fall, daß zum Verständnis des Textes zur gramma-
tischen Analyse zu greifen ist, wird selten und in der Regel nur für solche
Schüler nötig sein, die nicht über sichere Kenntnisse in der deutschen
Satzlehre verfügen. Diese zu lehren ist Sache des deutschen Unterrichts.
Von dem Neusprachlehrer kann man nicht verlangen, daß er mit Dativobjekten
Objektsgenitiven, Infinitivsätzen usw. operiert, also mit Dingen, die der
französischen Grammatik fremd sind.
4. Grammatik.
Sichere grammatische Kenntnisse sind die unerläßliche Vorbedingung
für den freien mündlichen und schriftlichen Gebrauch der fremden Sprache.
Über Unsicherheit in der Grammatik herrscht aber allgemeine und begründete
Klage. Woher kommt das? Ich führe zwei Ursachen an. Erstens: Es wird
nicht unterschieden zwischen Grammatik der Umgangssprache und Gram-
matik der Buchsprache. Nur erstere ist dem Unterricht auf der Unter- und
Mittelstufe zugrunde zu legen, entsprechend seiner Hauptaufgabe, die ge-
sprochene Sprache zu lehren. Die zur Erläuterung der grammatischen Regeln
nötigen Beispiele sind ausschließlich der täglichen Rede zu entnehmen und
nicht, wie es heute geschieht, neben dieser in bunter Mischung der lite-
rarischen Sprache, zumeist der Geschichte, ferner der Kulturgeschichte,
der Erdkunde, der Naturgeschichte, Gedichten usw., wodurch die Ein-
heitlichkeit gestört wird i) . Zweitens : Es wird nicht unterschieden zwischen
aktivem und passivem Wissen, d. h. zwischen dem, was der Schüler für die
— Le soir . . . , ce fut le tour des Franl<s d'aller ä eux (les Arabes). — Bonaparte court d
lui (l'archiduc Chailes), le culbute . . ., le poursuit ... — Da die Anmerkungen der Heraus-
geber ihn nicht aufklären, muß der Schüler das alles für korrektes Französisch halten.
^) Vgl. Rodhe, Les Orammairiens et le franjQais parle. Lund, 1901.
140 H. Schmidt,
eigene Betätigung in Wort und Schrift von der fremden Grammatik wissen
muß, und dem, was er selbst nicht anzuwenden, sondern nur beim Vorkommen
in der Lektüre zu verstehen braucht. Nur ersteres, das in Wortschatz, Formen-
lehre und Syntax Notwendige, Regelmäßige und Häufige, hat er zu lernen,
dieses aber seinem Gedächtnis so fest einzuprägen, daß er stets und sicher
darüber verfügen kann. Alles Überflüssige, Abweichende und Seltene ist
beiseite zu lassen. Einige Beispiele mögen das Gesagte erläutern. Wozu
lernt der Schüler neben tres das von der Umgangssprache nicht verwendete
fort, neben si on, qu' on usw. si Von, que Von . . . , das der Schriftsprache an-
gehört? Statt nur ne — pas zu verlangen, sagt man ihm, daß ne — point
stärker verneint, und vergißt dabei, daß es literarisch (auch dialektisch)
ist und in seiner Anwendung Beschränkungen unterliegt. Dazu kommt
womöglich noch der angebliche Unterschied zwischen pas und point in wirk-
lichen und rhetorischen Fragen. Es steht ihm also nichts im Wege, non point,
je n^ai point beaucoup d'argent, je ne me parte point trop bien usw. zu sagen
und so gegen den Sprachgebrauch zu verstoßen. Die Regeln über die Aus-
lassung von pas {je ne peux . . .) verleiten zu der Annahme, ne sei die Haupt-
negation, während die heutige Volkssprache allein durch pas negiert, und
veranlassen die Auslassung von pas auch da, wo es nicht fehlen darf. Eine
andere Regel kann glauben machen, daß fait-il beau, je sortirai eine richtige
Ausdrucksweise ist. Geht man auf derartige Konstruktionen überhaupt
nicht ein und läßt man Bedingungssätze durch si einleiten, so sind Fehler
ausgeschlossen. Aber die Grammatik gibt noch eine Reihe weiterer kon-
ditionaler Konjunktionen, die ungebräuchlich oder selten sind. Selbst das
unmögliche au cos que, das seit mehr als 100 Jahren tot ist und in der ge-
sprochenen Sprache wohl nie gelebt hat, steht noch heute in gewissen Schul-
grammatiken verzeichnet und wird in Extemporalien zur Bildung von Sätzen
mit Konjunktivformen verwendet. Wozu braucht gelernt zu werden, daß
in negativen Sätzen bei Vergleichen si und tant statt aussi und autant ein-
treten können? Letztere sind doch in jedem Falle die Regel. Diese Aus-
nahmen führen erfahrungsgemäß zu dem Fehler, daß si und tant in bejahenden
Sätzen gesetzt werden, oder gar zu der falschen Auffassung, daß sie in ne-
gativen Sätzen gebraucht werden müssen. Warum verzichtet man nicht
auf die Setzung des expletiven ne in gewissen Nebensätzen ? Die Umgangs-
sprache braucht es kaum, die Schriftsteller ignorieren es vielfach, Gramma-
tiker spotten darüber. Statt jusqu'ä ce que zu den Konjunktionen zu setzen,
die den Konjunktiv regieren, wodurch man dem heutigen Sprachgebrauch
gerecht würde, wird immer noch der bekannte Unterschied gemacht und
in einem verbreiteten Lehrbuch sogar behauptet, daß nach dieser Konjunktion
meist der Indikativ steht, also das gerade Gegenteil von dem, was richtig
ist. Auch schwerfällige und in der gesprochenen Sprache gemiedene Wen-
dungen {qv£lqu£ braves quHls fussent, quelque bravement quHls eussent com-
battu usw.) lernt der Schüler gebrauchen, wo doch einfache und flüssige Aus-
drücke als Ersatz so nahe liegen. Das Gebräuchliche Hegt ihm auch sonst
fern. Man frage z. B. nach der deutschen Entsprechung von sich freuen,
Zum neusprachlichen Unterricht. 14]
wachsen, sich kleiden, beschließen . . ., und man bekommt un-
fehlbar als Antwort se rejouir, crottre, se vetiVy resoudre . . ., also seltene
und in gewissen Formen veraltete Wörter. Quoique neben hien que lehren
ist dasselbe wie deutsch lernende französische Schüler obwohl (obschon,
wiewohl) statt obgleich lernen lassen. Bei den sogenannten unregel-
mäßigen Verben artet die Übermittlung von Seltenem und Falschem geradezu
zum Unfug aus. Noch immer findet die Ansicht, daß diese Verben mündlich
gepaukt und schriftlich durch Formenextemporalien befestigt werden
müssen, zahlreiche Anhänger. Da geht es gleich einer wilden Jagd über
je vaincs, il vainc, que je vainque, que je vainquisse^ je cousis, je crus, nous
moulümes, vous pourvütesj que je preväle, que je plusse ... zu je vets, que
je vete, que je vetisse, vets-toi . . . und zu je luisis und j'absolus^ also von
seltenen zu veralteten Formen und solchen, die es gar nicht gibt, die aber
im Lehrbuch immer wieder abgedruckt werden. Ahnungslos und stumpf-
sinnig konjugieren die Jungen nais^ naissons, naissez, que je naisse, que je
naquisse ... Zu wem soll man denn nais oder höflicher naissez sagen?
Und naissons?\ Die meisten Franzosen werden geboren, leben und sterben,
ohne jemals von riaitre eine andere Form als ne gebraucht zu haben. Warum
sollen denn unsere Schüler noch andere lernen ? Werden sie nicht nait, nattra . .
ohne weiteres erkennen, wenn ihnen diese Formen beim Lesen begegnen?
Auch in dem jeder logischen Anordnung hohnsprechenden Durcheinander
alphabetischer Reihenfolge werden unregelmäßige Verben wiederholt. Ge-
schieht das auf Grund psychologischer Erfahrung? Sichert das die richtige
Anwendung der Formen im Satze? Nein, alles Pauken, alle Formenextem-
poralien schaffen diese Sicherheit nicht. Was nicht angewendet wird, wird
vergessen. Würde man dagegen das wichtigste und tatsächlich zur Verwen-
dung kommende auswählen und in seinen häufigsten Verbindungen in Sätzen
üben, vor allem das Präsens und das IL Partizip, dann das Futurum und
den Imperativ, d. h. die Formen, die in der gesprochenen Rede am meisten
vorkommen, so würde die Liste der unregelmäßigen Verben sehr kurz und
einfach werden und dem Gedächtnis der Schüler sicher eingeprägt werden
können 1). Wenn das passe simple nicht erwähnt wurde, so geschah es des-
halb, weil dieses Tempus in der nordfranzösischen Umgangssprache nicht
existiert. Der Schüler braucht es also selbst nicht zu verwenden, sondern
nur bei der Lektüre und ev. bei Vorträgen zu verstehen. Er muß im Gegenteil
davor gewarnt werden, es in der Konversation und im brieflichen Verkehr
mit Franzosen zu gebrauchen, weil er mit que fites-vous^ oü futes-vous^
nous fümes . . . der Lächerlichkeit verfallen würde. Weniger Zeit könnte
1) In Krons Petit Parisien, einem Buch, von dem der Verfasser sagt, daß der Leser,
in ihm findet tout ce qu'il lui faut pour entretenir une conversation courante avec des Fran-
gais d'une instruction moyenne, et sur toutes les questions d'un int^ret gen6ral, kommt
von 45 unregelmäßigen Verben das Präsens von 38 vor, das II. Partizip von 30, das Futurum
von 15, der Imperativ von 14, das I. Partizip von 12, das Imperfekt von 8, der Konditionalis
von 7, der Konjunktiv des Präsens von 6 und der des Imperfekts einmal (fit). Von hair,
fuir, vetir, suffire, rire, conqtierir, vaincre, coudre, resoudre (beschließen) finden sich über-
haupt keine Formen, von anderen nur das Präsens oder nur das II. Partizip.
142 H. Schmidt,
auch auf die Erlernung und Einübung der Regeln über den Konjunktiv
und Infinitiv verwandt werden. Der Konjunktiv des Präsens ist selten,
den des Imperfekts kennt die gesprochene Sprache nicht (mit Ausnahme
von wenigen durch die Häufigkeit des Gebrauchs gestützten Formen), und
der Infinitiv ohne Präposition steht, von der Übereinstimmung mit dem
Deutschen abgesehen, nur nach einer verhältnismäßig geringen Zahl von
Verben 1). Würde nun die Elementargrammatik in der angedeuteten Weise
in allen ihren Teilen revidiert, so würde sie für den nach Absolvierung der
Mittelklassen ins Leben tretenden Schüler vollauf genügen und für den Unter-
richt in den Oberklassen eine sichere, aber heute leider oft vermißte Grund-
lage schaffen. Voraussetzung ist dabei, daß von jedem, der die Berechtigung
zur Erteilung von neusprachlichem Unterricht erwerben will, eine genaue
Kenntnis der Grammatik der gebildeten französischen und englischen Um-
gangssprache neben gründlichen Kenntnissen in der neu französischen und
neuenglischen Grammatik überhaupt gefordert wird 2). Was bleibt nun für
den grammatischen Unterricht auf der Oberstufe zu tun? Auch hier wird man
dem Schüler empfehlen, sich auch fernerhin bei seinen eigenen Produktionen
^) Im Petit Pamien (Kap- 1—21 u. 24) begegnen wir 25 von der Indikativform ab-
weichenden Konjunktivformen, von denen fast die Hälfte, nämlich 11, auf etre {sois, soit,
soyez, soient) entfällt. Von avoir kommt nur ayons vor. Die übrigen 13 sind puisse (3 mal),
tienne{2ma\), sache, dise, fassent, fit, oomprenne, compreniez, occupions und retabltt (je einmal).
Und diese wenigen Konjunktive stehen auf 165 Druckseiten! Würde man auf 165 Extem-
poraleseiten nicht die 10— 20fache Anzahl zählen? Eine wie große Rolle der Konjunktiv
spielen kann, wurde mir so recht klar, als ich zufällig erfuhr, daß in einer Klasse nach Ver-
abredung der beste Schüler an jeder Stelle, wo im Extemporale ein Konjunktiv zu setzen
war, husten mußte! — In Felix Frankes Phrases de tous les jours finden sich zwei Imper-
fekt-Konjunktive {jit und vint, beide je 1 mal) nach faimerais und je desirerais, also nach
Ausdrücken, auf die wie auf je voudrais häufig das Präsens folgt. Im übrigen kommt in dieser
Schrift außer 7 mit dem Indikativ gleichlautenden Konjunktiven von Verben auf -er im
ganzen nur 19 mal ein Konjunktiv vor: 8 Formen von etre {soit 4 mal, soyons 2 mal, sois,
soyez je 1 mal), 2 von avoir (je 1 mal ait und ayous), außerdem aille, vienne, dise, ecrive, Josse,
puisse (zusammen 9 mal). Die regierenden Ausdrücke sind il faut (3 mal), verneintes und
fragendes croire (3 mal), douter, aimer, il est curieux (je 1 mal). — In einer für Mittelklassen
zu empfehlenden Ausgabe (A. Chalamet, A travers la France. Berlin, Weidmann, 82 S.)
treffen wir außer 26 Formen von avoir und itre den Konjunktiv 6 mal : 2 mal puisse, je 1 mal
puissiez, puissent, püt und plaise. Um die Konjunktivformen dieses Buches zu verstehen,
würde der Leser also nur die von avoir, etre, pouvoir und eine einzige von plaire zu kennen
brauchen. — Endlich mag noch das Elementarbuch des gesprochenen Französisch
von Beyer-Passy herangezogen werden. Das Ergebnis ist: soit, soient, ait zusammen 8 mal,
fasse 2 mal, aille, puisse, croie, voie, rende je 1 mal. — Der reine Infinitiv findet sich abweichend
vom Deutschen bei Krön in Verbindung mit aller, venir, envoyer, sembler, desirer, priferer,
esperer, savoir, compter, pretendre und einmal mit censer; bei Chalamet nach aller, venir,
sembler, preferer, savoir, compter, valoir mieux, croire und il fait hon.
^) Ob auch hier, wie oben für die Phonetik an einem Beispiel gezeigt wurde, die Uni-
versitätsbildung Lücken zeigt? Es werden seltsame Dinge von solchen erzählt, die Gelegen-
heit haben, hinter die Kulissen zu sehen, Dinge, die unglaublich scheinen, aber eine Erinnerung
in mir wachrufen an mein letztes Studiensemester, als ich mit einem Kommilitonen das für
die Klausur geforderte Übersetzen ins Französische übte. Als der Betreffende dabei nach
fragendem croire den Indikativ setzte und ich ihm sagte, es dürfte fürs Examen am besten
sein, nach der Regel zu verfahren, fragte er erstaunt: Was für eine Regel?
Zum neusprachlichen Unterricht. I43
in Wort und Schrift auf die bisher gelernten Regeln der Grammatik im all-
gemeinen zu beschränken. Für die zahlreichen grammatischen Erscheinungen
aber, die ihm die jetzt umfangreicher und vielseitiger werdende Lektüre
bietet, soll ihm eine Grammatik in die Hand gegeben werden, die ihm zum
Nachschlagen dient und in der er möglichst alle grammatischen Regeln
und Ausnahmen verzeichnet findet. So wird er im Laufe der Zeit manches
bisher nicht Gelernte in sein Gedächtnis aufnehmen und in seinen Arbeiten
verwenden, auch Konstruktionen, die mit den strengen Regeln der Elementar-
grammatik in Widerspruch stehen. In solchen Fällen darf keine Kleinlich-
keit seitens des Lehrers walten. So falsch es wäre, jede Abweichung von
jenen Regeln gut zu heißen, so geht es auch nicht an, das auch Richtige
als Fehler anzurechnen. Cest eux, il semble que mit folgendem Indikativ,
aimer faire qch.., s^efjorcer ä faire qch.y desirer de faire qch.^ du bon vin^ venir
de VAllemagne^ jecrains quHl vienne, um nur einiges herauszugreifen, ist korrektes
Französisch trotz der Grammatik i). Neben einer solchen Erweiterung seines
grammatischen Wissens soll dem Schüler der oberen Klassen ein Einblick
in den Zusammenhang der grammatischen Gesetze gegeben, die Grammatik
soll vertieft werden^). Auf diese Vertiefung ist insofern schon vorher hin-
zuarbeiten, als der grammatische Unterricht von Anfang an mit der Wissen-
schaft in Einklang gebracht wird. Das geschieht nicht immer und überall.
Selbst noch Primaner meinen, daß Konsonanten keine Silben bilden können,
daß es fünf Vokale gibt, während sie mehr als ein Dutzend im französischen
Anfangsunterricht kennen lernten, usw. Mit einer solchen Fibelkinderanschau-
ung kann man doch Schüler einer höheren Lehranstalt nicht ins Leben treten
lassen. Auch der Glaube, daß es im Französischen eine Deklination gibt,
findet noch in den Oberklassen Vertreter, und dieser Glaube hat sich doch
nur so fest einwurzeln können, weil zu Anfang französische Substantiva
dekliniert, ja sogar Deklinations-Paradigmen mit vorgesetzten Kasus, wie
sie sich auch noch in Lehrbüchern finden, gelernt und zu Hause schriftlich
entworfen werden^). Und in entsprechender Weise geht der Unterricht
leider weiter. Deutsch und Französisch gehen parallel. Beide werden fort-
während einander gegenübergestellt, verglichen. Die grammatische Schulung,
1) In einer Reihe von Beiträgen zur französischen Syntax, die ich seit 1914 in den
„Neueren Sprachen" veröffentliche und die noch nicht abgeschlossen sind, werden die Ab-
weichungen in der Sprache der Schriftsteller von der Schulgrammatik behandelt. Der ein-
sichtige Lehrer wird wissen, was davon im Unterricht Berücksichtigung finden darf.
*) Um die Anforderungen erhöhen und weiter gesteckte Ziele erreichen zu können,
ist für die Oberstufe Freiheit in der Wahl der Unterrichtsfächer wünschenswert. Ein be-
fähigter Schüler, der für Mathematik nicht begabt ist, sollte nicht gezwungen sein, 600 mathe-
matischen Lehrstunden beizuwohnen, eine Anzahl mathematischer Hausarbeiten von einem
Mitschüler abzuschreiben und in der Reifeprüfung ein leeres Blatt abzuliefern.
•) Du pere und au pere sind natürlich ebenso wenig Genitiv und Dativ wie vom
Vater und zum Vater. Es fällt niemand ein, unter (von) den Männern, de (ea;) vtm,
interviros Genitive zu nennen, weil sie statt des Genitivs stehen, aber in etre bon ä qn., se
Souvenir de qn., obeir d qn. sollen Kasus vorliegen, in etre bon avec (pour) qn., parier de qn., parier
dgn. dagegen präpositionaleErgänzungen, weil wir jemandem gut sein, sich einerPerson
erinnern, jemandem gehorchen sagen, aber von und mit jemandem sprechen!
144 H. Schmidt,
sagt man, verlangt das, und bezüglich der grammatischen Schulung fällt
nach der Vorschrift der Lehrpläne den Realanstalten dieselbe Aufgabe zu,
wie an den lateintreibenden dem Lateinischen. Folglich wird übersetzt,
konstruiert wie im Lateinischen. Jede Lektion umfaßt ein grammatisches
Pensum, der fremdsprachliche Text der Lektion ist diesem Pensum angepaßt,
und durch Übersetzen deutscher Sätze wird es eingeübt. Natürlich ist kein
Schüler imstande, diese Sätze fließend in der fremden Sprache wiederzugeben,
das Übersetzen erfolgt vielmehr Wort fürWort, jedenfalls mit Unterbrechungen,
so daß es der Gewöhnung an sinngemäßes Lesen entgegenwirkt. Noch schäd-
licher wird das Übersetzen für die Aussprache, wenn dabei die deutschen
Sätze überflüssigerweise laut vorgelesen werden, als wenn deutsche Lese-
übungen damit verbunden werden sollten. Auch der Orthographie kommt
es nicht zugute, denn das Auge blickt auf deutsche Wörter. Der größte
Nachteil des Übersetzens ist aber der, daß es den Glauben erweckt, daß
man mit Hilfe von Grammatik und Wörterbuch übersetzen kann. Und so
wird das Übersetzen, wie die Erfahrung bestätigt, zur Quelle der meisten
Fehler der freien fremdsprachUchen Arbeiten^). Die Einzelsätze sind außer-
dem um so strenger zu verurteilen, weil sie ein Nacheinander buntscheckigen
Inhalts bieten, dem ein Schüler unmöglich Interesse abgewinnen kann, das
vielmehr jedem, der nicht denkfaul, gleichgültig, phantasielos ist, die Lern-
freudigkeit nehmen muß. Nur wenn dieses aus der alten Methode übernommene
Übersetzen unerläßlich wäre für die Erwerbung sicherer grammatischer
Kenntnisse, müßte man die damit verknüpften Nachteile in Kauf nehmen,
aber das ist nicht der Fall. Alle deutschen Übungsstücke (Einzelsätze
und Zusammenhängendes) sind überflüssig, weil der Zweck, dem sie dienen
sollen, auf andere Weise erreicht werden kann. Die Grammatik, zunächst
induktiv aus dem zusammenhängenden Lesestoff gewonnen, wird durch
vielseitige an ihn angeschlossene mündliche und schriftliche einsprachige
Übungen befestigt. Ebenso erfolgt die Aneignung des Wortschatzes durch
die gründliche Durcharbeitung des Gelesenen, nicht durch Aufgeben und
Abfragen von Vokabeln, auch nicht durch sachlich geordnete Vokabularien.
Bei einem solchen Verfahren, zumal wenn von vornherein viel Idiomatisches
geboten wird, erkennt der Lernende, daß die Muttersprache und die fremde
sich nicht decken, daß es schon für die gewöhnlichsten Wörter wie Tnettre,
oter, partir^ entrer usw. kein Analogon im Deutschen gibt, und er wird be-
greifen, daß man sich eine fremde Sprache nicht konstruierend, sondern
nur imitierend aneignen kann. Solange allerdings Hinübersetzen von der
^) Die einst üblichen Programmabhandlungen in französischer und englischer Sprache
mit ihren Verstößen gegen den Sprachgebrauch sind zum Glück aus der Mode gekommen.
Aber auch noch heute schicken manche unkontrolliertes Französisch und Englisch in die
Welt, von dem Nationale sagen, daß eigentlich kein Satz französisch oder englisch ist. Im
Gegensatz zu diesen Mutigen stehen die Schüchternen, die selbst für das, was den Schülern
zugemutet wird, einer Kontrolle nicht entbehren zu können glauben, wie u.a. der folgende
kürzlich verbreitete Prospekt einer Verlagsbuchhandlung beweist: „Wiederholtem Drängen
aus Lehrerkreisen nachgebend, haben Verfasser und Verleger sich entschlossen, Schlüssel
zum . . . und zum ... zu veröffentlichen."
Zum neusprachlichen Unterricht. 145
Behörde verlangt wird, muß man es ja wohl oder übel vornehmen, aber man
vermeide wenigstens, zu früh damit zu beginnen. Ich habe einmal im Anfangs-
unterricht nach dem ersten Quartal angefangen, übersetzen zu lassen, ein
andermal erst im vierten ; das letztere Verfahren erwies sich als das bei weitem
vorteilhaftere. Man vermeide femer das mündliche Übersetzen vöUig,
lasse nur schriftlich übersetzen und zwar stets Zusammenhängendes und
gestalte diese Übertragungen in den Oberklassen zu stilistischen Übungen
in der fremden Sprache, etwa in der Art, wie ich es in dieser Zeitschrift (XIV,
S. 84ff.) zu zeigen versucht habe. Die Zahl der zwecks Prüfung anzufertigenden
Übersetzungen hat ja erfreulicherweise durch den Ministerialerlaß vom
21. Oktober 1911 eine große Einschränkung erfahren, die hoffentlich die
Vorstufe zu ihrer gänzlichen Beseitigung ist.
Am Schluß meiner Erörterungen, die vielfach nur andeutend, nicht
ausführend sein konnten, sei bemerkt, daß Lehrbuch, Methode und päda-
gogische Fähigkeit des Lehrers wichtige Faktoren, aber nicht allein aus-
schlaggebend für den Unterrichtserfolg sind. Am Ende werden gute und
dauernde Erfolge doch nur mit begabten Schülern erzielt, und an solchen
hat die höhere Schule keinen Überfluß. Sie hat vielmehr auf ihren Bänken
nicht nur bis zum Abschluß der Mittelklassen viele mangelhaft Beanlagte,
die Berechtigungen erwerben wollen oder aus Standesrücksichten zu ihr kom-
men, sondern auch in den Oberklassen bleibt ihr eine Anzahl von mäßig Be-
gabten, oft weniger aus eigenem Antrieb als auf Wunsch der Eltern, weü
der Wohnort die Gelegenheit bietet und die Reifeprüfung den Weg zu höheren
Berufen öffnet — Schüler ohne wissenschaftliches Interesse, die, wie ich es
erlebte, noch kurz vor dem Examen auf die Frage, was sie studieren wollen,
antworten: Irgendwas! Werden die höheren Lehranstalten künftig von
solchen Schülern frei sein? Sie werden es, wenn nach dem Grundsatz ,,Freie
Bahn dem Tüchtigen" mit dem Aufstieg der Begabten die Entfernung
der Minderbegabten parallel geht. Dann werden auch bei Erhöhung der
Anforderungen gute Erfolge erreicht werden. Und die Zukunft braucht
gute Erfolge. Zwar hat die Kriegspsychose den Gedanken, Französisch
und Englisch werde nach dem Kriege nicht mehr oder in weit geringerem
Umfange als bisher gelehrt werden, aufkommen lassen, aber kein denkender
Mensch hat ihn ernst genommen. Haidane sagte, der Krieg habe gelehrt,
daß nur noch mehr Deutsch getrieben werden müsse, und Franzosen haben
sich ähnlich geäußert. Und da sollten wir das GegenteÜ tun? Wie die Kenntnis
der lebenden Fremdsprachen in hohem Maße zu unserm Aufstieg mitgeholfen
hat, so ist sie jetzt unentbehrlich, wo es sich darum handelt, unser Land
zu neuer Blüte zu führen. Ganz besonders gilt das vom Englischen. Mehr
noch als früher ist diese Sprache heute die Weltsprache. Ihre Kenntnis ge-
hört mehr als die jeder anderen fremden Sprache zu den Erfordernissen
der allgemeinen Bildung, und in der Frage, mit welcher Sprache der fremd-
sprachliche Unterricht zu beginnen ist, sollte die Entscheidung zugunsten
des Englischen schon allein wegen seiner Bedeutung fallen.
Altona. H. Schmidt.
Monats chrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 10
146 Niedlich,
Klassische Metrik, deutsche Rhythmik und deutsche Kultur.
So gangbar das Wort „Kultur" ist, so verschwommen erscheint es, wenn
im einzelnen Fall der Begriff bestimmt werden soll. Zum Verständnis des
folgenden sei der von mir gebrauchte Begriff Kultur kurz vorangestellt:
Kultur bedeutet stets Einheit (Übereinstimmung) zwischen Ausdruck und
Wesen (Form — Inhalt), und Einheit (Übereinstimmung) des Ausdrucks in
allen seinen Teilen. Die Begriffsbestimmung Nietzsches: „Einheit des Stils
(wohl = Ausdruck) in allen Lebensäußerungen" stimmt also nur mit dem
2. Teil meiner Bestimmung überein ; die erste fehlt, scheint mir aber als Er-
gänzung notwendig, da Kultur den bestimmten Inhalt, der im Begriff des
Trägers liegt, stets voraussetzt. So fehlt der Kultur eines Kannibalen stets
von vornherein ein Teil des notwendigen Inhalts vom Begriff Mensch — wenn
man diesen Begriff nicht nur rein naturwissenschaftlich bestimmt — der
Kultur eines „Internationalen" von vornherein ein Teil des Begriffes ,,Volk".
— Der Begriff Kultur wird aber nicht nur unbedingt, sondern auch „bezogen"
(relativ) gebraucht, und zwar enthält er Grad- wie Eigenschaftsunterschiede.
Die Höhe einer Kultur (Gradunterschied) bestimmt sich gemäß obiger Be-
griffsbestimmung nach dem Maße jener Übereinstimmung. Die Eigenart
einer Kultur dagegen kann nur nach dem Inhalt, der einer Kultur zugrunde
liegt, d. h. nach dem Wesen, mit dem jener Ausdruck übereinstimmen soll,
bestimmt werden.
„Was ist deutsche Kultur?" heißt also zuvor fragen: was ist deutsches
Wesen, deutsche Eigenart?, mit einem Wort „was ist deutsch?"!
So gangbar und verschwommen der Begriff Kultur, so gangbar und
verschwommen ist gewöhnlich der Begriff , »deutsch", will man ihn fest-
legen. Es gibt nur einen Weg zum Ziele zu kommen: den geschichtlichen.
Und die Geschichte läßt uns hier nicht im Stich, sondern hat einmal
das, was den Unterschied zwischen Germanen und Nichtgermanen (der Be-
griff deutsch und germanisch wird bezüglich der Kultur vorerst gleichgesetzt)
ausmacht, so festgelegt, daß dieser Unterschied für alle Zeiten die alleinige
Grundlage aller Bestimmungen über deutsche Kultur abgeben muß. Das,
was nicht nur einen — sondern geschichtlich den Unterschied zwischen
Germanen und den ihnen näherstehendenNichtgermanen ausmacht, findet sich
als sprachgeschichtliche Erscheinung in der germanischen Festlegung des Tones
auf die Stammsilbe. Ein anderer geschichtlicher Unterschied zwischen
Germanen und Indogermanen als der sprachliche der Akzentverlegung ist
bis heute nicht festgestellt.
Eine solche Erscheinung kann nicht grundlos sein. Will man sie nicht
als zufällige Äußerlichkeit ansehen, sondern einen Gedanken, einen Inhalt
dahinter feststellen, so kann es nur der sein: Betonung der Hauptsache,
des Wesentlichen, des Inhalts, des Gedanklichen oder wie man
sonst will. Auf dieser Grundlage fassen die mehr instinktiv empfundenen
Sätze: „Deutsch sein heißt Charakter haben" (Fichte), „Deutsch sein heißt
eine Sache um ihrer selbst willen tun" (Wagner) erst Wurzel.
Klassische Metrik, deutsche Rhythmik und deutsche Kultur. 147
Diese deutsch-geschichtliche Erscheinung der Betonung des Wesent-
lichen erscheint allenthalben in der deutschen Kulturgeschichte der Folge-
zeit mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit wieder, und ich möchte sie kurz
„das deutsche Kulturgesetz" nennen. Dieses Gesetz spielt weiterhin nicht
nur in dem Naturwachstum der Sprache eine beherrschende Rolle, sondern
es darf auch für die Gegenwart allein die Grundlage sein, von der aus darüber
geurteilt wird, ob dieser oder jener Weg von der allgemeinen Richtungslinie
deutscher Kultur abführt oder nicht.
Von dieser Grundlage aus allein kann auch eine sichere Stellung gegen-
über andern Kulturen gewonnen werden. Auch der griechischen Kultur
gegenüber, die als einzige, in sich geschlossene, sich einem Vergleich heute
noch stellt, ist eine scharfe Abgrenzung möglich. Der Grieche legt inner-
halb der Zwei-Einheit „Inhalt — Form" den Nachdruck auf „Form", der
Deutsche auf „Inhalt". Damit ist schon der Entwicklung der deutschen
Kultur ein selbständiger Weg gewiesen und ihr, von griechischer Kultur un-
abhängiges, Recht erwiesen. Sobald dies klar erkannt, ergeben sich für die
Beurteilung der Geschichte bis in das tägliche Leben der Gegenwart hinein
einschneidende Folgen. Wenn der Volksmund heute ein regelmäßiges Gesicht
„schön" nennt, so bedeutet der Weg zu diesem „schön" einen Abweg von
dem, was deutsch ist, eine Sünde wider eigene Geschichte und Natur. Denn
„schön" im deutschen Sinn kann nur ein charaktervolles Gesicht sein. Nicht
nur der Volksmund ist solche Irrwege gegangen. Aus verschuldetem oder
unverschuldetem Mangel an Erkenntnis deutscher Eigenart haben selbst
führende Geister die Entwicklung in Bahnen gelenkt, die vom Wege deutscher
Kultur abführten. Als ein Muster solches Irrpfades erscheint die Geschichte
der deutschen „Metrik". Hier hat der früh betretene Abweg allmähHch in
eine tiefe Wüdnis geführt, in der die Wissenschaft deutscher „Metrik" gegen-
wärtig herumirrt, so tief, daß der verlassene, allein rechte Weg vergessen ist.
Jeder Ausblick und damit jeder Vergleich ist versperrt. Der rechte Weg ist
auch längst überwachsen, der falsch ausgetretene muß als der richtige er-
scheinen und das Fortstapfen in der vor Zeiten eingeschlagenen Richtung
wird zur Selbstverständlichkeit. Das ist das Bild, das sich in Hinsicht auf
jenes deutsche Kulturgesetz von dem Entwicklungsgang deutscher Metrik
wie von ihrer Wissenschaft in der Gegenwart ergibt.
Ein alter Jägersatz lautet: wer eine Spur ausarbeiten wül, muß bei jedem
Verlieren der Spur wieder von vorn anfangen oder er verliert sie für immer.
Demnach gilt es, der Geschichte der deutschen Verskunst an der Hand jenes
Gesetzes nachzugehen und den Punkt zu finden, wo der falsche Pfad vom
richtigen abführt und dann den Weg zu finden, der der Entwicklung
deutscher Verskunst ihrem eigenen Gesetz nach vorgeschrieben ist.
Es ist weder mein Wille noch meine Aufgabe, eine neue Metrik aufzubauen.
Ich kann und will hier nur Fehler aufzeigen, die gemacht worden sind und
die Wege weisen, wo die Metriker einsetzen müssen. Für die falsche Grund-
lage muß die richtige gefunden werden, auf der jene Wissenschaft aufbauen
muß.
«
10*
148 Niedlich,
Die deutsehe Verskunst^).
Die ursprüngliche deutsche Verskunst zeigt eine doppelte Form: Stab-
reim und Rythmus.
Im Stabreim hat sich das deutsche Kulturgesetz einen seiner wichtigsten
Ausdrücke geschaffen. Der Stab hebt den Gedanken hervor. Nur gedanken-
tragende Wörter können Träger des Stabes sein. Das ist bis ins einzelne
durchgeführt. Das Gesetz: „Das schwächere Zeitwort kann nicht allein
Stabträger sein, wenn es dem stärkeren Hauptwort folgt" — ist nur eine Folge.
„Der Stab ist Gedankenträger", gewinnt bis in das tägliche Leben hinein
Bedeutung. Die gedankenlose Unkultur der gegenwärtigen Namengebung
war dem bewußten Altgermanen so fremd, daß er seine Kinder als Erben
seiner eigenen Gedanken unter eine einheitliche Idee stellte. Wenn die Rune,
wie jetzt sicher erscheint, einmal Heilszeichen und Träger eines besonderen
Gedankens war, so haben stabgereimte Namen, die ein Vater gab, ihre tiefe
Bedeutung gehabt (Günther, Gernot, Gieselher u. a.). Ja, auch in der Längs-
linie scheinen Familien in einem bestimmten gedanklichen Band gestanden
zu haben (Siegmund, Sintfiötli u. a.). Die drei „Stände": ( !) Ingävonen,
Istävonen, Erminonen sind ebenfalls unter einen Gedanken gestellt. (Neben
anderen ist schon aus diesem Grunde die Deutung der Namen als ,, Stämme"
unwahrscheinlich, denn eine bewußte Namengebung liegt zugrunde.)
Ob die einzelne Rune den Gedanken hat, den ihr Guido v. List im „Ge-
heimnis der Runen" beilegt, mag zweifelhaft sein, daß jede Rune aber Aus-
druck eines bestimmten Gedankens gewesen ist, erscheint jetzt wohl sicher.
Fast notwendig wird der Vergleich des gedankenschweren deutschen
Stabreims mit der rein äußerlichen Form des klingenden Silbenreims zum
Vergleich des deutschen Charakters mit fremdem, und man ermißt, was da
verloren ging.
Eine Aufgabe für sich wäre es, zu untersuchen, ob deutscher Geist unter
deufi deutschen Kulturgesetz den äußerlichen Silbenreim, nachdem er auf-
genommen, in gewissem Grade verinnerlicht hat, d. h. ob für die großen
deutschen Dichter die Verwendung bestimmter Reimklänge an sich die Aus-
lösung bestimmten Gefühlsinhalts bedeutet.
Rhythmus bedeutet die irgendwie geregelte Folge von nach ihrer Schwere
gewogenen Silben.
Kaufmann bestimmt als Metrik die Lehre von der Vers- und Reimtechnik, als Ryth-
mik die Lehre von der Verstechnik. Will man endlich ins Reine kommen, so muß auch mit
falschen Ansätzen aufgeräumt werden und wenn sie auch die Jahrtausend lange Überlieferung
mit dem Schein der Echtheit umwoben*). JeneBestimmungen aber müssen auf eine schiefe
1) Ich lege der Untersuchung der Einfachheit halber nur eine Geschichte der deutschen
Metrik, die von Kaufmann, zugrunde. Sie unterscheidet sich, was das vorliegende Problem
angeht, nicht wesentlich von den anderen. Über Sievers und Saran siehe Anm. 2.
*) Das erkennt Saran in seiner Lehre deutscher Verskunst durchaus. Seine neu ein-
geführten Namen aber kranken z. T. auch wieder an der noch immer zu wenig betonten
Berücksichtigung des Gegensatzes zwischen klassischer und deutscher Verstechnik. Es ist
sein Verdienst, die unendliche Zusammengesetztheit der nur scheinbar einfachen Bestand-
teile der Verstechnik nachgewiesen zu haben. Er läßt aber über der Mannigfaltigkeit die
Klassische Metrik, deutsche Rhythmik und deutsche Kultur. ]49
Ebene führen. Im Begriff Metrik liegt derBegriff des Maßes offen zutage. Auf die Lehre der
klassischen Verstechnik ist der Ausdruck zugeschnitten. In der deutschen Verstechnik, die
wägt, nicht mißt, kann er nur Unheil anrichten. Ich scheide daher die Reimtechnik als.
Besonderes aus und stelle der Metrik (Lehre vom Versmaß des klassischen Verses) die
Rythmik (Lehre von der Verswägung des deutschen Verses) auf das schärfste gegenüber.
Da im Wort Rhythmus lediglich der Begriff des Taktes, des gleichmäßigen Fließens liegt, so
läßt sich seinem Begriff auch heute noch der eben bezeichnete Gedankeninhalt geben.
Die deutsche Rhythmik mißt nicht, sondern wägt nach der Schwere.
Alles, was wir an altdeutschen Versgesetzen kennen, entspricht dieser Grund-
lage. Überall kommt das deutsche Kulturgesetz auch hier zur Erscheinung.
Die sinnschweren Silben tragen den Hauptton und Hegen in der „Hebung**,
die weniger schweren haben Nebenton (Nebenhebung), leichte keinen Ton
(Senkung). Nur die Hebungen zählen (auch wieder scharfe Betonung des
Gedankens!!). Die Versfüllung in der Senkung kann bis zehn Silben betragen.
Ist überhaupt eine Gesetzmäßigkeit für die Zahl der Senkungssilben vor-
handen, so bildet ihre Grundlage das Gewicht, nicht die Länge, des gesamten
Versfußes von Anfang der Hebung zu Anfang der Hebung.
Alles Metrische hat erst falsch gegangene Wissenschaft in die altdeutsche
Rythmik hineingetragen. So findet sich der Unterschied von Längen und
Kürzen bei Kaufmann und anderen als Problem erörtert:
„Für Taktfüllung genügt eine lange Silbe, dazu können aber auch Sen-
kungen treten", d. h. eben doch: die Länge spielt keine Rolle. Wozu dann
erst der Ausdruck „Länge"?
Mit Aufwand alles Spürsinns wurde schließlich der widerspenstige ger-
manische Rythmus durch folgendes Gesetz überwunden: „Die haupttonigen
Silben sind regelmäßig lang." Da sie nun aber leider nicht immer lang waren,
so fügte man als § 2 hinzu: „es kann aber Auflösung in ^w oder ^— er-
folgen." Das heißt — : Die Gesetzlosigkeit wird Gesetz. Denn auch — ^
kommt vor, da ein einzelner Fuß nicht vorhanden und im Zusammenhang
die lange Silbe natürlich zum vorhergehenden Versfuß zählt. Ist Länge und
Kürze als Grundlage gedacht, so ist germanisch jede Zusammenstellung
möglich, auch der kurze einsilbige Versfuß
Golther hilft sich aus dieser Verlegenheit, indem er folgendes „Längen-
gesetz" aufstellt: Der einsilbige Versfuß muß eine lange Sübe enthalten
oder besonders stark betont sein, wenn er — kurz ist! Selbst den im germa-
nischen ganz unmöglichen Begriff der Positionslänge hat man zu Hilfe ge-
rufen, um eine Länge zu konstruieren. Da man auch damit nicht der Schwierig-
keit Herr wurde, gab man vielfach das Problem germanischer „Metrik" als
„vorläufig nicht lösbar" auf. Und alle diese Schwierigkeiten, weü man unter
Grundzüge nicht mehr erkennen. Kein Nichtfachmann, noch viel weniger ein Schüler vermag
durch die verwirrende Fülle zu irgend einer Übersicht zu gelangen. Alles verliert sich in un-
endlicheEinzelheiten. Es muß aber gefordert werden, daß jedem halbwegs gebildetenDeutschen
die Grundzüge deutscher Metrik klar dargeboten werden können. Solange Saran hier versagt,
kommt er für die Schule nicht in Frage; zumal den von ihm aufgerollten Problemen gegenüber
die einzelnen Parteien sich ganz verschieden verhalten. Metriker steht gegen Metriker und
mit beiden hat der Grammatiker seine Fehde.
150 Niedlich,
dem Einfluß klassischer Metrik hier an ein Tor ging, das sich diesem Schlüssel
notwendigerweise versagte. Das Altdeutsche lehnt eine Unterscheidung
zwischen langen und kurzen Silben für die Verstechnik ab, weü sie nur Form
und äußerlich ist (auch hier wieder das Kulturgesetz 1). Lang bleibt in jedem
Falle lang, und kurz in jedem Falle kurz! Der Vokal ist maßgebend. Keine
Konsonantenanhäufung kann wie im klassischen einen kurzen Vokal vers-
technisch dehnen. Jede nach klassischem Begriff positionslange Silbe kann
sowohl in der Hebung wie in der Senkung stehen. Lediglich das Gewicht
entscheidet. Der Gedanke ist das, was ein Wort in seiner Gewichtsbewertung
wandelbar macht. Der Gedankenwert bestimmt ein und dieselbe Silbe in
die Hebung oder Senkung.
Ein Beispiel: Der Schnee schmilzt weg
man weiß nicht wie
und: er schmilzt wie Schnee
man weiß nicht wie.
Das erstemal steht „schmilzt" in der Senkung, das zweitemal in der He-
bung. Nach klassischer Metrik behält das Wort (die Konsonantenfolge ist
dieselbe) stets den gleichen Längenwert.
Der Einfluß, den das Gedankengewicht auf den Rhythmus ausübt, geht
so weit, daß ein und derselbe Vers verschieden gelesen werden muß, je nach
dem Sinn, den er enthält.
. . hier muß er sterben
oder: hier muß er sterben.
Im Klassischen ist, da das rein äußerliche Maß und nicht das Gewicht
die Leitschnur ist, eine verschiedene Betonung nicht möglich. Der Sinn ist
dort von der Metrik unabhängig.
Diese Feststellungen gelten auch für das altdeutsche.
Ob damit, abgesehen von der Zählung der Hebungen, nur völlige Ge-
setzlosigkeit in der deutschen Rhythmik feststellbar ist, bleibt eine Frage für
sich, die unten am Schluß noch einmal berührt wird.
Das Ergebnis:
Im großen und ganzen ist sich die „metrische" Wissenschaft einig, daß
die Grundlage germanischer Verstechnik Silbenwägung war. Wo man ein
Problem des Maßes sah, wurde man mit diesem Problem nicht fertig, weil
man es selbst erst hineingetragen.
II.
So etwa die Ergebnisse über die Zeit bis Otfried. Unter dem Einfluß
christlicher Kultur kommt nicht nur der äußerliche Reim als Fremdkörper
in die altdeutsche Verstechnik, sondern es beginnt sich auch langsam in der
Rhythmik der Gedanke des deutschen Kulturgesetzes zu zersetzen. Die
internationale Lateinkirche hat in der deutschen Kultur auf sprachlichem
Gebiet eine Vernichtung angerichtet, die bis in die Gegenwart hinein kaum
eine Ahnung aufkommen ließ, daß unter dem Neubau die Grundmauern
eines einst stolzen Gebäudes stehen.
Klassische Metrik, deutsche Rhythmik und deutsche Kultur. 151
Die Entwicklung führte schließlicli dahin, daß Länge und Kürze, also
das Versmaß den Rhythmus völlig verdrängte. Die griechischen Versfüße
Jambus, Trochäus usw. wurden Alleinherrscher über die deutsche Sprache
und sind es bis heute.
Und doch war das Gefühl, daß man dem Wesen der deutschen Sprache
Gewalt antat, nicht auf ewig entschlummert. Opitz wie Klopstock wurden
von einem richtigen Gefühl geleitet. Beide versuchten die griechischen Vers-
füße zu „verdeutschen". Der Zeit entsprechend bedeutet Klopstock den
größeren Fortschritt. Den Kern traf auch er nicht. Statt Längen und Kürzen
sagte man betonte und unbetonte Süben, aber die klassischen Namen Jambus
nd Trochäus blieben und schUeßlich blieb auch die Sache, wenn sie auch im
Namen („freie Rhythmen*') äußerlich etwas germanischen Anstrich erhielt.
Man baute weiter seine Verse in Jamben, Daktylen usw. und Klopstocks
freie „Musterhexameter" (Kaufmann) fangen ohne Skrupel auch einmal mit
einem betonten „und" an. — Die Blütezeit der deutschen Klassiker schritt
in denselben Stiefeln, mußte so gehen, denn eine Einsicht in das Wesen des
deutschen Rhythmus wurde erst mit der Wiederentdeckung des deutschen
Altertums durch die Romantik überhaupt möglich. Diese Wiederentdeckung
des deutschen Altertums hat uns denn auch allmählich wieder einige kleine
Schritte weiter gebracht. Man ist in der Gegenwart so weit, daß man Wägung
der Silben für die Grundlage deutscher „Metrik" erklärt. Aber wie der
Name „Metrik", so leben die alten Namen der Versfüße fort, noch immer
spricht man vom fünffüßigen Jambus des deutschen Schauspiels. Kaufmann
zeigt im Verlauf seiner Arbeit wiederholt das richtige Gefühl für den Unter-
schied zwischen „deutsch" und „klassisch", führt auch zuweilen ein Stück-
lein zum richtigen Wege hin, aber den entscheidenden Schritt, der die ganze
bisherige Wissenschaft der deutschen Metrik über den Haufen wirft, wagt auch
er nicht. Es bleibt bei dem neuen Etikett für „Länge" und „Kürze" ; darunter
lebt der alte Irrtum fröhlich fort. Noch immer werden auf deutschen Schulen
deutsche Verse skandiert und nicht gesprochen. Und jeder Erwachsene
stolpert beim Lesen eines Gedichtes, wenn er seine Jamben und Trochäen
einmal nicht richtig vorfindet. Statt zu sprechen, geht er mit dem Versmaß
(Etikett: betont und unbetont) an sein Opfer heran.
Es ist charakteristisch, daß Kaufmann seine Metrik mit der deutsch-
klassischen Blüte sozusagen abschließt. Mit der unendlichen Vielgestaltig-
keit des Verses der neusten Zeit weiß er — darin hat er von seinem Stand-
punkt aus recht — eigentlich nichts rechtes anzufangen.
Wie sehr sich das Gefühl für Natur und Unnatur durch die sprachliche
Schnürbrust verbogen hat, dafür zwei Beispiele, die nun gerade hervorragend
geeignet sind, für die wahre Natur unseres Verses die Augen zu öffnen!
mitten wir im Leben sind
u.
Ist der holde Lenz erschienen.
152 Niedlich,
Nach Kaufmann (und er wird damit kaum Widerspruch finden) ist der
erste ein trochäischer, der zweite ein unvollständiger jambischer Vierfuß. Nun
bitte ich noch einmal zu lesen!
Ja spricht denn so ein vernünftiger Mensch? Das sind, — mag man
noch so irreführende Etiketten darauf kleben, — deutsche Zweiheber, aber
nun und nimmer Jamben und Trochäen. Der erste ohne, der zweite mit
viersilbigem Auftakt. Es kann nur gelesen werden:
mitten wir im Leben sind —
u.
Ist der holde Lenz erschienen?
Jede trochäische und jambische Lesart tut der Sprache Gewalt an!
Und dabei macht sich eine wundersame Entdeckung ! Mit einem Male
steht die deutsche Sprache wieder in ihrem alten Schmuck da, nur abge-
worfen hat sie das Ausländerkleid. Alle Felsen, die man auf das Bäumlein
gewälzt, haben es nicht erdrücken können. Das Grün sprießt aus allen Ritzen
hervor. Die Sprache ist ihren eigenen Weg weiter gegangen, nur unsere
griechisch gefärbte Brille hat uns am rechten Sehen gehindert^).
Und wie diese beiden „Vierfüßler" löst sich die deutsche Dichtung, für
die Augen, die sehend geworden, plötzlich in deutsche Heber auf.
Am grauen Strand, am grauen Meer
und seitab liegt die Stadt.
Zweiheber die erste, Zweiheber die zweite Zeile. Streiten läßt sich nur,
ob sich die erste Zeile nicht auch als Vierheber lesen läßt. Es sollen beide Mei-
nungen Recht haben. Wer in dem „grau" etwas sieht, was dem Verse erst
das volle Wesen gibt, der darf nicht nur, der muß ihn als Vierheber lesen.
Ja — aber dann reißt die wüsteste Regellosigkeit in den so wohl ge-
pflegten Garten ein ! — ? Einmal — ist es so wüst, wenn sich einmal etwas
nicht „reglementieren" läßt? Und wenn Verweigerung des „Reglements"
gerade das Wesen ist? — sprach doch ein Großer: Der Tempel ist der Menschen
wegen da und nicht umgekehrt. Und zum dritten — es bleibt für den ord-
nenden Forscher nicht nur genug Arbeit, sondern er wird vor eine Unzahl
neuer Aufgaben gestellt. Nur auf einige soll hingewiesen werden.
Die altdeutsche Metrik muß auf ihre Reinheit und Unabhängigkeit ge-
prüft und vor allem in ihrem Zusammenhang mit dem deutschen Charakter
untersucht werden.
Festzustellen gilt, ob und wo fremde Einflüsse anfangen, sich geltend
zu machen, und ob diese fremden Erscheinungen aufgelöst und in den Or-
ganismus aufgenommen wurden oder Fremdkörper blieben.
Die Entwicklung, die nach dem Zusammenstoß mit dem lateinischen
Christentum einsetzt, ist in ihrem Kulturzusammenhang zu untersuchen
^) Trotz seiner sonstigen Vorurteilslosigkeit gegen die Tradition kommt auch Saran
von dem Grundirrtum nicht los, im Deutschen eine rhythmische Form neben und entgegen
der natürlichen Sprachbetonung anzunehmen.
Klassische Metrik, deutsche Rhythmik und deutsche Kultur. 153
und als Niedergang zu kennzeichnen i). Der Sieg des römischen Christen-
tums ist wie auf den anderen Kulturgebieten (Religion!) sicher nicht ohne
heftigen Widerstand des deutschen Elementes erreicht worden. Die geschicht-
lichen Erkenntnisse, die wir hier — auch erst in der allerletzten Zeit — ge-
winnen, sind zu verwerten.
Die Bestrebungen von Opitz und Klopstock sind in ihrer Bedeutung
ebenfalls in den Zusammenhang mit dem deutschen Kulturgesetz zu stellen.
Die Betrachtung der Dichtkunst der Gegenwart ist von den klassischen
Fesseln völlig zu befreien und von der neu gewonnenen Grundlage aus durch-
zuarbeiten. Eine Riesenaufgabe, die bisher kaum berührt ist.
Soweit die geschichtliche Entwicklung. An Einzelproblemen harren
einer neuen Lösung etwa folgende 2):
Der Begriff des Versfußes — von Anfang der Hebung bis zum Anfang
der Hebung — ist nach allen Seiten hin und in allen seinen Beziehungen
zu untersuchen. Steht die Füllung der Senkung in irgendeiner Beziehung
zu einem Gewicht des ganzen Fußes?
Beispielsweise: entspricht einem schweren Wort in der Senkung (das
Meer rauscht laut) an Gewicht mehreren leichten Worten (das Meer, das
in der Tiefe klagt). Ebenso: stehen Hebung und Senkung in einem be-
stimmten Gewichtsverhältnis? Auch die Bedeutung der Senkungsstille ge-
hört hierher. Das Meer glänzt weit — still liegt der Strand.
(Die Ausdrücke „schwere" und „leichte" Versfüllung [Kaufmann]
werden sich in ihrer alten Bedeutung nicht aufrecht erhalten lassen, da leicht
und schwer nicht auf das Gewicht, sondern auf die Anzahl der Füllungs-
silben bezogen wurden.) Die Theorie der Nebenhebungen ist noch einmal
auf ihre Berechtigung zu prüfen.
Ein bisher völlig^) übersehenes Problem birgt der Begriff des Gewichtes.
Ist die Bestimmung der Schwere lediglich vom Gedankeninhalt abhängig
oder spielt vielleicht nicht auch das Lautgewicht irgendeine Rolle. So ist
das stets kurz bleibende Wort Schmelz außerordentlich lautschwer. Hat
neben der Sinnschwere auch die Lautschwere im Rhythmus irgendeine Be-
deutung? So: besteht ein rhythmischer Unterschied zwischen den Zeilen
und durch die Stüle rauscht das Meer.
und ob in der Tiefe lockt das Meer. — ?
„rauscht" ist wesentlich lautschwerer als „lockt", und in der zweitenZeile ist
das lautschwerere Wort „durch" durch zwei lautleichtere ersetzt. Trägt
die Lautschwere des „rauscht" dazu bei, die erste Zeile vielleicht eher als
1) Auch Saran hat die Schwäche der Fachwissenschaftler. Er ist Nur-Metriker und
nicht zugleich auch Geschichtler. Die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge sollten aber
hier, wie überall den Ausgangspunkt bilden.
2) Teilweise ist Saran an sie schon herangegangen, weil er hier Probleme sah, über die
man bisher fortging. Eine richtige Formung dieser Probleme ist aber erst möglich, wenn
man die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge sucht.
') Saran bildet eine Ausnahme.
154 Niedlich,
Dreiheber zu lesen? Anreiz zu rhythmischer Untersuchung bietet auch eine
Verszeile wie
„eintönig um die Stadt"
oder: „der Wald rauscht wild, stöhnt bang und weh"
wo auf den lautleichten Wörtern die Sinnschwere liegt und schon durch den
Rhythmus der Eindruck eines seufzenden Atmens erreicht wird.
Für das nhd. scheint mir eine Bedeutung der Lautschwere sicher. Wie
weit sie zurückreicht, wäre festzustellen. Im nhd. kommen etwa noch folgende
Probleme in Frage: Die gedankliche Grundlage der verschiedenen Be-
tonung zusammengesetzter Wörter (aufnehmen, entsagen). Ich vermute
auch hier noch einen tieferen Grund als den lediglich äußerlichen der Trenn-
barkeit (vgl. die Eigenschaftswörter unfreundlich — unsagbar).
Überall sind die Beziehungen zur künstlerischen Wirkung klarzulegen.
Und alles das zu einer Entwicklungsgeschichte von Problemen verbunden !
Es tut sich also ein weites Gefilde auf, das zu erforschen ist.
Neben dieser rhythmischen Aufgabe harrt noch die Geschichte des Reimes
und die Frage seiner Verinnerlichung (Germanisierung) einer neuen Lösung.
Auch die Strophenentwicklung entbehrt vielleicht nicht ganz eines inner-
lichen Zusammenhangs mit deutschem Wesen.
Zum Schluß seien noch kurz zwei der wesentlichsten Ursachen berührt,
die es möglich machten, daß die Sprache bis heute in fremden Füttern herum-
gehen muß, und niemand den eigenen Schmuck erkannte, den sie unter dem
fremden Gewände trug. Daß Opitz und vor allem Klopstock und die klassische
Zeit nicht weiter kamen, daran trägt große Schuld der deutsche Humanis-
mus, der die Köpfe sich nach anderen Zielen abwenden ließ. Hatte anfangs
das Lateinchristentum den Germanen Verleugnung ihres eignen Wesens
aufgezwungen, so verwirrte ein Jahrtausend später der Humanismus das
deutsche Gefühl. Und diese Verwirrung spürt sich in ihren Folgen auch
heute noch überall (siehe vorn den Begriff „schön"). Liegt im Begriff des
Humanismus als Ideal das griechische Altertum, so ist der erste Humanis-
mus im wesentlichen am äußerlichen hängen geblieben : an der Nachahmung
der äußern Form Muellerus, Melanchthon u. a.).
Der Neuhumanismus faßt seinen eigenen Begriff innerlicher (deutsches
Kulturgesetz!): der Geist des klassischen Altertums trat in den Vordergrund.
Und doch wurde ein Wesentlichstes dieses Geistes nicht erfaßt. Eine der
wesentlichsten Grundlagen griechischer Kultur bildet alles Völkische.
Keine andere Kultur ist so ganz aus dem Volkscharakter herausgewachsen
als gerade die griechische. Der Kampf, der heute im Volke sich gegen die
humanistische Erziehnng allenthalben so gesteigert hat, ist nicht immer un-
gesund und beruht wohl weniger auf dem Gegensatz: Realwissenschaft —
Geisteswissenschaft, als auf dem Gegensatz: deutsch-klassisch. Möge einer
dritten Blüte des deutschen Humanismus die Erkenntnis beschieden sein,
daß es gerade im Gedanken der griechischen Kultur und im Begriff eines
richtig verstandenen Humanismus liegt, eine eigene deutsche Kultur zu
schaffen wie die Griechen sich ihre eigene schufen.
Klassische Metrik, deutsche Rhythmik und deutsche Kultur. 155
Aber noch eine andere Erscheinung trat in den letzten Jahrzehnten
hindernd auf den Plan. Die Romantik hatte uns den Weg zum deutschen
Altertum freigemacht. Vor einigen Jahrzehnten gelangte die Wissenschaft
in den Besitz früher nicht geahnter Mittel, unsere alte Welt von dem Schutt
frei zu legen. Seit vielleicht 30, sicher seit 20 Jahren ist die deutsche Alter-
tumsforschung (vor allem Kossinna) zu ganz umwälzenden Erkenntnissen
über altgermanisches Leben gekommen. Die Verbindung der Wissenschaften
unter sich arbeitet aber so schwerfällig, daß man in der andern Wissenschaft
noch jetzt kaum etwas von den Ergebnissen spürt. Die Geschichts- wie Kunst-
und Sprachwissenschaft (und ganz besonders die Schulbücher!) scheinen
kaum etwas zu wissen von der Entdeckung der altgermanischen Kulturwelt
durch die deutsche Altertumswissenschaft. Überall spukt noch die alte Ge-
wohnheit, jedes Stammeln eines Austrainegers als wertvollen Beweis einer
Kulturhöhe festzuhalten, während man unseren eigenen Vorfahren noch
immer nur allenfalls die Kulturstufe eines Herero zuerkennt. Was kann aus
Deutschland Gutes kommen!
Wir wundern uns, daß die Welt am deutschen Wesen nicht genesen
will. Kann ein Blinder einen Blinden leiten? Und kann man es der Welt
übel nehmen, daß sie sich nicht Hütten bauen lassen will von einem Volk,
das in seinem eigenen Daheim nicht zu Hause ist? —
Berlin-Friedrichsfelde. Niedlich.
FachwissenschaftHche Didaktik an der Universität
Die Erörterungen über die Bedeutung der Pädagogik an der Universität
und über die Ausgestaltung der zu ihrem fruchtbaren Betrieb wünschens-
werten Einrichtungen sind im gegenwärtigen Zeitpunkt sehr lebhaft. Die
Aufrollung der Lehrerfrage, die gänzliche Neugestaltung insbesondere der
Ausbildung der Volksschullehrer, nicht minder aber auch die innere und äußere
Umgestaltung des gesamten Schulwesens sind der Anlaß für das starke Hervor-
treten der Bestrebungen, auch an den Universitäten mehr Raum für die
Pädagogik zu schaffen. Dabei überwiegen nun ganz offensichtlich die Ver-
treter einmal einer allgemeinen, bald mehr historisch, bald mehr ethisch
gerichteten Pädagogik, andererseits einer exaktwissenschaftlich arbeitenden
psychologischen Pädagogik. Nicht selten wird man da gefragt: Sagen Sie,
was ist denn nun eigentlich Didaktik, fachwissenschaftliche Didaktik, also
etwa Didaktik der exakten Wissenschaften? Ich möchte im folgenden diese
Frage an der Hand einer Reihe von Beispielen, die ich meinem eigenen Ar-
beitsgebiet entsprechend vorwiegend den exakten Unterrichtsfächern ent-
nehme, zu beantworten und gleichzeitig nachzuweisen versuchen, daß auch
der fachwissenschaftlichen Didaktik neben der allgemeinen und neben der
experimentellen Pädagogik ein Arbeitsplatz an der Universität gehört.
l.
Irgendein Unterrichtsstoff, mag man dabei nun an größere Gebiete,
etwa die Trigonometrie oder die Mechanik, oder aber an kleinere stoffliche
156 Lietzmann,
Einheiten, etwa einen mathematischen Satz, ein physikalisches Gesetz,
denken, läßt sich in der Schule in mannigfachster Weise behandeln. Auf-
gabe der Didaktik ist es, die verschiedenen Möglichkeiten zu erörtern, viel-
leicht auch an der Hand gewisser Grundsätze manche Unterrichtswege ganz
auszuschalten, andere stark in den Vordergrund zu rücken. Damit die Di-
daktik zu solcher Aufgabe befähigt sei, hat sie gewisse Voraussetzungen
zu erfüllen, in wissenschaftlicher und in pädagogischer Hinsicht. Von ihnen
hebe ich eine Anzahl hervor, ohne damit vollständig sein zu wollen.
1. Von größter Bedeutung für die Beurteilung der Stoffgestaltung auf
der Schule ist eine Kenntnis des gegenwärtigen Standpunktes der Wissen-
schaften hinsichtlich der Grundlagen. Wer sich über den Anfangsunterricht
der Geometrie klar werden will, der muß über die neueren Ergebnisse der
geometrischen Axiomatik bescheid wissen; wer die verschiedenen Verfahren
bei der Einführung des Zahlbegriffes gegeneinander halten will, der sollte
von der Axiomatik der Arithmetik und von der Mengentheorie wenigstens
die Grundzüge kennen. Was bei der Einführung der Infinitesimalrechnung
in den Unterricht der höheren Schulen nicht wenig geschadet hat, war die
Unkenntnis über die grundlegenden Begriffe Funktion, Grenze, Konvergenz
usf. Noch heute krankt der Unterricht in der Mechanik daran, daß man
die Begriffe Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft, Arbeit u. dgl. nicht
mit der auch der Schule leicht erreichbaren Genauigkeit anfaßt.
2. Von den für den Didaktiker wichtigen Ergebnissen der Forschung
sind neben den Grundlagen besonders jene Untersuchungen von Bedeutung,
bei denen es sich um den Nachweis handelt, daß irgendwelche scheinbar
naheliegende Probleme nicht lösbar sind. Man wird auf der Schule nicht den
Nachweis führen wollen, daß die Quadratur des Kreises unmöglich ist; aber
der Mathematiklehrer muß diesen Unmöglichkeitsbeweis kennen. Er muß
sich immerfort bei den Konstruktionsaufgaben der dem euklidischen Ver-
fahren gesetzten Grenzen bewußt bleiben. Er muß von den Dehnschen
Untersuchungen über die Zerlegungsgleichheit der Polyeder Kenntnis haben,
damit er die Bedeutung des Cavalierischen Grundsatzes voll einschätzt.
3. Es ist natürlich selbstverständUch, daß jeder Lehrer diejenigen Ge-
biete unbedingt beherrschen muß, die er nachher lehren soll. Wenn man in
England darüber lebhafte Klage geführt hat, daß nur ein Teil der Mathe-
matiker an höheren Schulen den Calculus, die Infinitesimalrechnung also,
studiert hat, so ist das begreiflich; bei uns werden diese Dinge mit Recht
sogar von dem schon gefordert, der später nur auf der Unterstufe unterrichtet.
Aber werden sie auch von dem unbedingt gefordert, der Mechanik lehren
soll? Gibt es nicht geradezu eine mathematikfeindliche Physik?
Doch ich will nicht weiter sprechen von diesen, wie ich meine, selbst-
verständlichen Dingen. Es gibt nun aber eine ganze Menge Gebiete wissenschaft-
licher Forschung, die zwar nicht selbst unmittelbar Gegenstand der Unter-
weisung in den höheren Schulen werden können, die aber doch so innig damit
verknüpft sind, daß der Lehrer sie kennen muß. Erst die Funktionen-
theorie beleuchtet recht klar das Verhalten der elementaren Funktionen
Fachwissenschaftliche Didaktik an der Universität. 157
im Reellen. Wer im Unterricht von den einfachsten Lageverhältnissen aus-
zugehen hat, sollte doch in der Analysis Situs erfahren haben, welche allge-
meineren Begriffsbildungen hier möglich sind. Die Untersuchung mehrdimen-
sionaler Räume, die Vertrautheit mit nichteuklidischen Geometrien klärt
erst recht die Eigenheiten des dreidimentionalen euklidischen Raumes auf.
Die Relativitätstheorie muß dem Lehrer bekannt sein, auch wenn er sich
nachher in der Schule ganz an die klassische Mechanik halten muß. Von den
modernen Anschauungen über die Struktur der Materie, von Atombau und
Quantentheorie, muß der Physiker etwas gehört haben, nicht um davon
dann eine möglichst große Portion seinen Schülern vorzusetzen, sondern
vielleicht gerade deshalb, um ihn vor der Versuchung zu bewahren, ihnen
unverdaubare Nahrung zuzumuten.
So muß der Didaktiker mitten drin stehen im lebendigen Fluß der wissen-
schaftlichen Forschung. Aber seine Arbeit hat ein doppeltes Gesicht. Wenn
das eine sich der Fachwissenschaft zugewandt hält, dann das andere der
Pädagogik.
4. Seine Aufgabe ist es, den historischen Werdegang der Schuldisziplin
in der Weise aufzudecken, daß er den Wegen nachgeht, wie die einzelnen
Stoffgebiete, die einzelnen Arbeitsmethoden in die Schule eingedrungen
sind. Er darf die Planimetrie, wie sie heute gelehrt wird, nicht als etwas
einfach vorhandenes, er muß sie als allmählich gewordenes betrachten. Er
hat zu untersuchen, wie weit noch Euklid mächtig ist, welche neuen Gedanken
in die Geometrie der Alten eingedrungen sind, woher etwa die Symmetrie-
betrachtungen stammen. Das gilt mit gleichem Recht von Stoffen, die nicht
das ehrwürdige Alter euklidischer Geometrie haben. In der Kegelschnitt-
lehre unserer Schulen begegnen sich die Arbeitsergebnisse von ApoUonius,
Pascal, Desargues, Descartes bis hin zu Steiner und v. Staudt. Ein genaues
Studium des Eindringens der Lehre von der Dampfmaschine in unsere Physik-
bücher, oder aber etwa der Meteorologie wird unmittelbar wertvolle Finger-
zeige für fruchtbare Kritik liefern. So ergibt sich für die Didaktik die Zu-
sammenarbeit mit der Geschichte der Wissenschaft und gleichzeitig mit
der Geschichte der Pädagogik.
5. Diesen Längsschnitten möchte ich die Querschnitte durch das Schul-
wesen von heute zur Seite stellen. Bei den Arbeiten der Internationalen
Mathematischen Unterrichtskommission (IMUK) hat es sich herausgestellt,
wie wenig wir doch eigentlich von Stoff und Methode eines einzelnen Unter-
richtsfackes wußten, wenn wir etwas mehr als oberflächliche Zusammenstellung
verlangten. Das gilt bereits, wenn wir den Blick auf unsere deutschen Ver-
hältnisse beschränken. Es ist fast allgemeinSitte,so zu tun, als ob es inDeutsch-
land nur die preußischen Verhältnisse gibt ; vielleicht hält man noch den einen
oder anderen süddeutschen Staat daneben. Aber eine wirklich sorgfältige
vergleichende Didaktik für alle deutschen Staaten gab es nicht, geschweige
denn eine solche für die wichtigeren Kulturländer neben Deutschland. Was
jetzt die IMUK für den mathematischen Unterricht geschaffen hat, gibt
es meines Wissens für kein anderes Fach. Und doch weiß man, wenn
158 Lietzmann,
man näher zusieht, daß auch hier noch unendHch viel zu tun ist. Ich habe
in meinen Übungen an der Universität Göttingen im letzten Semester an der
Hand von Schulbüchern die Art und Weise studieren lassen, wie in den ver-
schiedenen Ländern der geometrische Anfangsunterricht gestaltet wird.
Da standen die Ideen des Engländers Perry, der rein anschaulich vorgeht,
im Gegensatz zur altenglischen Schule, die sich mehr oder weniger eng an
Euklids Elemente anschließt; da traten in Italien neben die Vervollständiger
Euklids wie Faifofer und d'Ovidio die modernen Axiomatiker wie Veronese
und Ingrami mit ihren Schulbüchern ; da wurden die Versuche mit einer Fusion
von Planimetrie und Stereometrie, wie wir sie von de Paoli und Lazzeri-
Bassani kennen, besprochen; da kamen die Axiomatiker des Bewegungs-
begriffes zu Wort, wie der Franzose Meray. Und das alles wurde herangezogen,
um auf diesem gestaltenreichen Hintergrunde unsere deutschen Schulmethoden
zu beleuchten. Allerdings sind, um solche Dinge treiben zu können, Schul-
büchersammlungen nötig, die unseren landläufigen Bibliotheken zumeist
fehlen; ich kenne außer dem mathematischen Lesezimmer in Göttingen
nur drei Stellen in Deutschland, die ausreichende Hilfe wenigstens für die
deutsche Literatur leisten können: die dem Zentralinstitut angegliederte
Auskunftsstelle in Berlin, die Bibliothek des Deutschen Lehrervereins im
Lehrerhaus in Berlin und die Comeniusbücherei.
6. Enge Beziehungen wird der Fachdidaktiker aufrecht zu halten haben
mit der experimentellen Psychologie. Freilich ist das Material, das der Psycho-
loge über den Anfangsunterricht hinaus bisher geliefert hat, recht gering-
fügig. Wer z. B. an der Hand der IMUK-Abhandlung von Katz feststellt,
was an positiven Ergebnissen für den mathematischen Unterricht bisher
aus der experimentellen Forschung herausgesprungen ist, der wird enttäuscht
sein. Vielleicht wird einmal eine Zeit kommen, in der die exakten Methoden
des Versuches das Ganze des Unterrichts durchleuchten; dann wird der Di-
daktiker überflüssig sein neben dem Psychologen. Heute aber sind wir noch
unendlich weit entfernt davon. Selbst scheinbar ganz einfache Fragestellungen
harren noch einwandfreier Beantwortung. Etwa: Welches Verfahren ist
zweckmäßiger, das süddeutsche (oder österreichische) oder das norddeutsche
Verfahren der Subtraktion, der Division? Hier steht noch heute Meinung
gegen Meinung.
Man weiß, wie sehr die Begabungserforschung mit Hilfe von Tests um-
stritten ist. Das Axiom von der mathematischen Sonderbeanlagung oder
aber die Behauptung, daß das weibliche Geschlecht für die exakten Wissen-
schaften weniger beanlagt sei wie das männliche, harren noch einer einwand-
freien experimentell-psychologischen Untersuchung.
Aber andererseits darf man den Wert der psychologischen Forschung
auch nicht zu gering einschätzen. Welche Bedeutung hat z. B. die Lehre
von den drei Vorstellungstypen für den Unterricht in der Mathematik und
in den Naturwissenschaften! Wie greifen die ganz neuen Untersuchungen
über Eidetiker in die Didaktik ein! So ist auf eine verständige Zusammen-
arbeit des Didaktikers mit dem experimentellen Pädagogen zu dringen.
Fachwissenschaftliche Didaktik an der Universität. 159
7. Engste Fühlung muß der Didaktiker behalten mit dem praktischen
Unterricht. Es ist eine Unmöglichkeit, ihn aus der Unterrichtstätigkeit
herauszureißen, dann würde man ihn der Wurzeln seiner Kraft berauben.
So sehr vergleichende didaktische Betrachtungen, so sehr experimentelle
Untersuchungen bei Fragen wie etwa den praktischen Schülerübungen in
Physik, Chemie, Biologie, Mathematik von Wert sein können, letzten Endes
entscheidend ist, daß der Didaktiker selbst einmal mit seinen Schülern solche
Übungen betrieben hat. Wer für die Einführung des Funktionsbegriffes
oder der Infinitesimalrechnung an den höheren Schulen begründete Urteile
über die verschiedenen dabei angängigen Wege abgeben will, der muß aus
eigenen Unterrichtserfahrungen schöpfen können. Daher muß die Didaktik
den Zusammenhang mit der Schule unbedingt wahren. Ein typisches Bei-
spiel, wohin Konstruktionen ohne praktische Unterlagen führen, sind jene
Bestrebungen in Italien, Planimetrie und Stereometrie von vornherein mit-
einander zu verbinden. Diese Fusion hat so viel verlockendes, daß noch heute
jeder, der von ihr zum ersten Male hört, von ihr eingenommen zu sein pflegt.
Und doch hat sie sich nachher in der systematischen Form, wie sie z. B. in
italienischen Lehrbüchern durchgeführt wurde, so wenig bewährt, daß man
fast überall von ihr wieder abgekommen ist. Erst jetzt, nachdem man
praktische Versuche mit einer gemäßigten Fusion gemacht hat, kommen
die richtigen Gedanken allmählich zur Geltung.
II.
Daß didaktische Ausbildung der zukünftigen Lehrer nötig ist, darüber
herrscht wohl kein Streit. Sie fehlte auch durchaus nicht im Bildungsgange
des Oberlehrers ebensowenig wie des Volksschullehrers. Der eine sollte im
Seminarjahr, der andere im letzten Jahre auf der Lehrerbildungsanstalt
didaktisch ausgebildet werden. Die Lehrerbildungsanstalten alten Stils
werden fortfallen. Daß gegen die didaktische Ausbildung während des Semi-
narjahres mancherlei zu sagen ist, ist bekannt. Der Gedanke, Fachseminare
zu schaffen, war gut, drang aber nicht durch. Jedenfalls legt die Neuordnung
der LehrerbÜdung eine Erörterung der Frage nahe, wo die didaktische Aus-
bildung erfolgen soll. Ich möchte dazu wenigstens einige Bemerkungen machen.
1. Das, worauf es letzten Endes bei der methodischen Unterweisung
des Lehrers ankommt, ist die Erziehung zu bewußt didaktischer Arbeit.
Er muß zunächst lernen, die didaktischen Probleme zu sehen. Er soll dann
befähigt sein, selbst zu entscheiden, welchen Weg von vielen möglichen
er geht^). Gewiß findet dieser oder jener auch instinktiv den rechten Weg.
Aber auch diesen begnadeten Künstlern schadet es nichts, wenn sie bewußt
ihren Weg gehen. So kommt also die Didaktik so recht zur Geltung erst da,
1) Der Gefahr, Rezeptsammlungen an Stelle solcher Erziehung zu geben, unterliegt
jeder, der eine „Methodik* oder „Anleitung" schreibt. Meine Methodik des mathema-
tischen Unterrichts (Leipzig, Quelle & Meyer, 2 Bd., 1916 u. 1919) versucht eine Lösung
der oben gestellten Aufgbe für den mathematischen Unterricht zu geben.
1 60 Lletzmann,
WO man eigene Wege zu gehen in der Lage ist. Dazu genügt es nicht, daß man
dies und das über die Schule hört und es aus der eigenen Schulerinnerung
ergänzt, es reicht auch nicht hin, daß man an einer Übungsschule ein paar
Stunden gibt, vielleicht noch im Beisein von soundso vielen anderen Leuten,
Man muß vielmehr unter eigener Verantwortung allein längeren Unterricht
erteilen. Die didaktische Ausbildung erreicht also ihren Höhepunkt un-
zweifelhaft erst im praktischen Unterricht; und sie hört nicht auf, oder sollte
doch nicht aufhören, so lange der Lehrer sein Amt versieht.
2. Wenn daraus nun aber gefolgert wird : also gehört die Didaktik über-
haupt nicht an die Hochschule, sie ist Unterrichtstechnik und als solche
keine Wissenschaft, so ist dieser Schluß falsch, ebenso wie er für die Medizin
falsch wäre. Die Didaktik, die, wie wir gesehen haben, historisch und fach-
wissenschaftlich fundiert ist, ist nicht weniger Wissenschaft als die historisch
oder ethisch fundierte Pädagogik. Daß aber der Pädagoge oder auch der
Psychologe die Didaktik der einzelnen Fachgruppen mit in sein Lehrprogramm
aufnehmen könnte, wird sich im allgemeinen nicht ermöglichen lassen. Zu
einem allseitig ausgebauten pädagogischen Institut, mag man es nun einer
philosophischen Fakultät eingliedern oder es zu einer eigenen pädagogischen
Fakultät gestalten oder gar als Mittelpunkt einer pädagogischen Akademie
denken, gehört auch die Berücksichtigung der Didaktik. Und welches sind
ihre Aufgaben?
3. Es ist ja behauptet worden, der zur Universität kommende zukünftige
Lehrer habe noch kein Interesse an pädagogischen Fragen, ihn verlange
zunächst nach der reinen Wissenschaft. Demgegenüber soll, ohne daß wir
in die weitere Untersuchung dieser Frage eintreten, nur gesagt werden,
daß der Platz für die didaktischen Studien nicht der Anfang, sondern das
Ende der Studienzeit ist, denn die Didaktik setzt bereits fachwissenschaft-
liche Kenntnisse voraus. Wenn aber der Studierende in einer Zeit, die dem
Eintritt in den praktischen Beruf nun schon recht nahe liegt, noch keinen
Anteil an seiner zukünftigenLebenstätigkeit nimmt, dann bleibe er demLehrer-
beruf fern. Die Überfüllung und die schlechten Anstellungsbedingungen
sprechen ja auch ihrerseits dafür, daß der Lehrerberuf als Nur-Brotberuf
gemieden wird. Für diejenigen aber, die Lehrer werden, wird die fachwissen-
schaftliche Didaktik jene verhängnisvolle Kluft zu schließen helfen, die noch
immer zwischen Studium und Beruf klafft.
4. Man hat schon seit längerer Zeit erkannt, daß der Fortbildung der
Lehrer weit mehr Beachtujig zu schenken ist, als das seither geschehen ist.
Man hatte bereits sogenannte Ferienkurse, es sollte kurz vor dem Kriege
ein Versuch mit dem oft geforderten Studiensemester gemacht werden.
Die enge Beziehung der Didaktik zur Wissenschaft, auf die ich im Eingang
hinwies, läßt ja ohne weiteres erkennen, daß derjenige Lehrer, der der Wissen-
schaft Jahrzehnte hindurch fernbleibt, unbedingt didaktisch verkümmern
muß. Auch für die Fortbildung der Lehrer brauchen wir fachwissenschaft-
liche Didaktik an unseren Hochschulen.
Fachwissenschaftliche Didakiik an der Universität. 161
5. Wer der Didaktik den Rang einer Wissenschaft zugesteht, der wird
schließlich auch einen Platz fordern müssen, an dem die Forschung äußerlich
lokalisiert ist. Der Fortschritt in der Didaktik geschieht heute fast ausschließ-
lich durch die didaktischen Fachzeitschriften und die didaktische Lehrbuch-
literatur ; das gesprochene Wort spielt neben dem Buchstaben kaum eine Rolle.
Wer das Schulwesen kennt, der wird im Zweifel sein, ob nicht trotz allem
noch mehr diesen Fortschritten in der Didaktik der Einzelfächer als den-
jenigen der allgemeinen Pädagogik die Weiterentwicklung der höheren Schulen
und auch der Volksschulen zuzuschreiben ist. Und doch waren die Vor-
bedingungen für die Forschungsarbeit der Didaktik so ungünstig wie nur
irgend möglich.
Eine Gefahr allerdings darf nicht verkannt werden. Die Fachdidaktik
unterstützt in gewissem Grade die Zerklüftung unseres Schulwesens in einzelne
Fächer. Ein Überwuchern der allgemeinen Pädagogik durch die verschiedenen
Fachdidaktiken wäre gewißlich ein Unglück für unser Schulwesen. Aber
das steht wirklich nicht zu befürchten, für die Gegenwart schon aus per-
sönlichen Gründen nicht 1 Und auch eine stärkere Abtrennung der verschie-
denen Fachdisziplinen voneinander wird gegenstandslos, wenn das einzelne
Wissenschaftsfach seine Interessen nicht nur in seinem eigenen Unterrichts-
fach, sondern in möglichst vielen Nachbarfächern mitsieht. Wie der Historiker
nicht nur an dem Lehrfach Geschichte, sondern mit der Kirchengeschichte
auch an der Religion, mit seiner Quellenforschung an den alten und neuen
Sprachen, mit der Wissenschaftsgeschichte an den Naturwissenschaften
und der Mathematik, mit der Kunstgeschichte am Zeichenunterricht, mit
der Literaturgeschichte, der Kulturgeschichte am Deutschunterricht be-
teiligt ist, so sollte jedes Wissensfach sich sein Arbeitsgebiet in der Gesamt-
heit der Schulfächer suchen. Eine solche Verzahnung der Unterrichtsgebiete
macht einen Zerfall der Schule in ein Nebeneinander von Kursen zur Un-
möglichkeit; im Gegenteil gewährleistet sie den Zusammenhang des Ganzen.
Schon immer hat man Fächer, die solche Verzahnungsmöglichkeiten am besten
bieten, wie etwa die philosophische Propädeutik, als ganz besonders wert-
voll für den Schulorganismus hingestellt.
Göttingen. W. Lietzmann.
Die Schicksalsfrage des deutschen Volkes und die höhere Schule.
Selbst wenn unserem Lande der unselige Krieg und der darauffolgende
furchtbare Zusammenbruch erspart geblieben wäre, war es schon seit längerer
Zeit von einem Schaden befallen, der seinen Untergang herbeiführen muß,
wenn nicht in letzter Stunde das Volksgewissen gegen diese Gefahr wach-
gerüttelt wird: das Sinken der Vermehrungsziffer. Diese Erscheinung
konnte und kann durch die in den letzten Jahrzehnten (natürlich die Zeit
vor dem Krieg gedacht) erzielte Verlängerung des durchschnittlichen Lebens-
alters nur verdeckt werden und zwar bloß bis zu einem geringen Grade.
Die Lebensverlängerung kann über einen gewissen endlichen Wert nie hinaus-
gehen, dagegen kann die Geburtenzahl schließlich = 0 werden, und wenn
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 11
162 L,. Trinkwalter,
sie diesen untersten Wert auch nicht erreicht, so bedeutet ein dauerndes
Sinken der Geburtenziffer den unvermeidlichen Untergang ; ein dem dauernden
Geburtenrückgang verfallenes Volk wird von frischeren lebenskräftigeren
Völkern abgelöst werden und vom Schauplatz der Geschichte verschwinden.
Schädigt diese Erscheinung das deutsche Volk hauptsächlich quantitativ,
beschneidet sie die Volkszahl, so tritt noch eine zweite Erscheinung hinzu,
die weniger beachtet, aber nicht minder verhängnisvoll ist, das allmähliche
Sinken der Rassetüchtigkeit, wobei wir als Rasse nicht den systematischen
Begriff der Subspezies, sondern den gesamten Volkskörper verstehen. Das
deutsche Volk zeigt wie übrigens auch die anderen westlichen Kulturvölker
deutliche Entartungserscheinungen.
Zum Verständnis muß ich von den Ergebnissen der Vererbungslehre
ausgehen. Jedes organische Wesen besteht demnach in seiner Gesamterschei-
nung aus zwei Komponenten, den primären oder wesentlichen Erbwerten,
dem Genotyp, und den sekundären Werten, der Erscheinungsform oder
dem Phänotyp. Nur die ersteren sind durch Verbindung der in den mütter-
lichen und väterlichen Geschlechtszellen vorhandenen Erbanlagen entstanden
und sind weiter vererbbar, sie sind gewissermaßen wurzelecht. Der Phänotyp
ist im individuellen Leben durch die Einflüsse der Umwelt, also beim Menschen
etwa durch Ernährung, Pflege, Erziehung, Belehrung erworben. Er haftet
dem Individuum als etwas Äußerliches an und ist nicht vererbbar. Vererb-
bar sind, wenn sie genotypisch sind, nicht nur im rassehygienischen Sinn
gute Eigenschaften des Leibes, Geistes und Willens, sondern auch schlechte:
geringe Widerstandskraft gegen manche Krankheiten, Mißbildungen, Geistes-
krankheiten, Neigung zu Verbrechen u. a. Jedenfalls hängt die Rassetüchtig-
keit eines Individuums ganz von den Erbanlagen ab, die es durch die elter-
lichen Geschlechtszellen erhielt. Und da durch Vereinigung der Geschlechts-
zellen andauernd neue Kombinationen der Erbanlagen erzielt werden, und
da ferner mit jedem Todesfall die Erbwerte des betreffenden Individuums
wegfallen, so ist klar, daß mit jeder Geburt, mit jedem Todesfall die ge-
samte Erbverfassung eines Volkskörpers eine Änderung erfährt. Damit
ist von vornherein die Möglichkeit gegeben, daß ein Volkskörper sich nach
oben oder nach unten hin entwickelt, nach oben, wenn die mit guten Erb-
anlagen behafteten Elemente stärker sich fortpflanzen, nach unten, wenn
die Vermehrung der unterdurchschnittlichen Elemente die stärkere ist.
Hätten wir nun ein sicheres Maß für den durch seine Erbanlagen be-
stimmten Rassewert eines Individuums, so könnten wir die Verbesserung
bzw. Verschlechterung einer Rasse mathematisch genau verfolgen. So weit
sind wir aber leider noch nicht. Die möglichst genaue Ermittlung des Rasse-
werts eines Individuums ist ein Ziel der auf Ertüchtigung des Volkskörpers
gerichteten Bestrebungen. Sie kann aber erst auf Grund systematischer
über das ganze Volk und über einen langen Zeitraum sich erstreckender Be-
obachtungen erfolgen. Wir sind daher darauf angewiesen, einstweilen als
ungefähres Maß für die Rassetüchtigkeit eines Menschen seine soziale Stellung
zu betrachten, aber auch nur als ungefähres Maß. Denn zweifellos gibt es
Die Schicksalsfrage des deutschen Volle es und die höhere Schule. 163
in den sog. unteren Schichten auch viele im rassehygienischen Sinn gut ver-
anlagte Individuen, bei denen gute primäre Anlagen infolge ungünstiger
äußerer Verhältnisse nicht zur Entfaltung kommen. Umgekehrt finden sich
auch in den höheren Schichten Elemente, die an geistigen, moralischen,
körperlichen Eigenschaften unter dem Durchschnitt stehen, bei denen aber
durch die Gunst äußerer Faktoren : Besitz, Erziehung, Pflege u. a. ein Wert
vorgetäuscht wird, der nur phänotypisch, gewissermaßen angeflogen ist,
und der dem Rassewert des Individuums nicht entspricht. Aber im ganzen
genommen spielen die Fälle, in denen sich ungünstige Erbanlagen zu höheren
sozialen Schichten emporarbeiten oder sich in solchen längere Zeit erhalten,
wohl eine nebensächliche Rolle. Im allgemeinen verdanken die meisten
Menschen, die in sozial höhere Schichten kommen oder sich darin erhalten,
dies ihren besseren ursprünglichen Anlagen. Und so darf man wohl mit
hinreichender Berechtigung einstweilen den Rassewert des Individuums
an seiner sozialen Stellung messen, wobei man sich aber bewußt sein wird,
daß mit dem Fortschreiten unserer Erkenntnisse diese rohe Meßmethode
durch schärfere abgelöst werden wird.
Wie wird nun in der Natur Rassetüchtigkeit bewahrt und
gefördert? Hier wirken zwei mächtige Faktoren in diesem Sinn: 1. Der Ge-
schlechtstrieb und 2. die Auslese. Der Geschlechtstrieb liefert in seinen Folgen
die im Interesse der Rasse notwendige Menge von Nachkommen, die vor-
handen sein muß, damit die Auslese wirken kann. Und die Auslese sorgt
dafür, daß die mit unterwertigen, den Lebensbedingungen der Rasse nicht
genügenden Anlagen ausgestatteten Individuen ausgemerzt werden. Sie
verkleinert so die Zahl der Individuen, bewahrt aber der Rasse ihre Tüchtig-
keit und erhöht diese schließlich sogar. Sie läßt die minder guten Wesen
gar nicht zur Fortpflanzung kommen und gibt so den am Leben bleibenden
besseren Elementen die Möglichkeit, sich stärker zu vermehren. Die Beob-
achtung zeigt ja auch allgemein, daß die Natur ein größeres Interesse an
der Art als an dem Individuum hat. Dieses spielt eigentlich nur eine Rolle
als Überträger der Erbfaktoren. Ganz ähnlich bewirkt auch der Pflanzen-
und Tierzüchter dadurch, daß er aus einem großen Auslesematerial bloß
die in einer gewünschten Richtung sich auszeichnenden Individuen zur Ver-
mehrung zuläßt und die seinen Absichten nicht entsprechenden beseitigt, eine
Höherzüchtung in seinem Sinne. Wirkliche Rasse Verbesserung kann dem-
nach nur durch stärkere Vermehrung der über dem Durchschnitt stehenden
Individuen erzielt werden, nie durch bloße Besserung der äußeren Lebens-
verhältnisse, wie oft irrig angenommen wird.
Wie ist es nun beim Menschen? Auch bei ihm wirkt zunächst
und natürlicherweise wie beim Tier und bei der Pflanze der Geschlechts-
trieb in der Richtung der Lieferung von Massenmaterial, und im Sinn der
Auslese rasseerhaltend bzw. -verbessernd wirken Säuglingssterblichkeit und
Krankheiten. Angeborne Schwäche des Verdauungssystems, Sinnesfehler
und andere Mängel haben unter ursprünglichen natürlichen Verhältnissen
11*
164 L. Trinkwalter,
auch beim Menschen keine Aussicht sich auszubreiten, weil ihre Träger im
Lebenskampf meist schon vor der geschlechtsfähigen Zeit beseitigt werden.
Nunerwächst aber gerade in dieser Beziehung dem Menschen
eine gewaltige Gefahr aus der starken Entwicklung desjenigen
Organs, dem er seine Überlegenheit verdankt, aus der starken
Entwicklung des Gehirns — ein Beispiel wieder, wie die übermäßige
Entwicklung eines Organs für den Bestand der Art gefährlich werden kann.
Infolge seines Intellekts siegen bei ihm oft und gerade am stärksten beim
Kulturmenschen individualistische Neigungen über die generativen. Er
lernt es dem Geschlechtstrieb nachzugehen, aber die natürliche Folge, die
Fruchtbarkeit, auszuschließen. Bei ihm äußert sich das Bestreben, aus per-
sönlichen Rücksichten die Kinderzahl klein zu halten oder auf Betätigung
des Geschlechtstriebes dauernd oder zeitweise zu verzichten. Dadurch wird
die Menge des jugendlichen als Auslesematerial dienenden Nachwuchses
beträchtlich verringert. Aber auch die Auslese wirkt beim Kulturmenschen
nicht mehr im ursprünglichen Sinn. Wieder durch seinen umfassenderen
Geist hat er gelernt sich gegen die Unbilden der Umwelt unvergleichlich weit
besser als jedes andere Wesen zu schützen. Vervollkommnung der Beklei-
dungs-, Heiz- und Küchentechnik, der ärztlichen Kunst erhalten manches
jugendliche Individuum am Leben, das bei uneingeschränkter Herrschaft
der natürlichen Auslese beseitigt worden wäre, und bringen es ins geschlechts-
fähige Alter. Um nur zwei Beispiele zu erwähnen : schwere Gebärfähigkeit der
Frau pflanzt sich unter natürlichenVerhältnissen nicht fort, weil die mit diesem
Fehler behafteten Frauen bei dem Gebärakt sehr leicht ums Leben kommen.
Bei den weißen Kulturvölkern, bei denen die Frauen zum großen Teil schwer
gebären, wird durch die ärztliche Technik der Gebärvorgang erleichtert,
und so kann die schwergebärende Mutter diese entschieden rasseschädliche
Eigenschaft auf ihre Nachkommen übertragen. Femer merzt sich schlechte
Funktion der Milchdrüsen bei primitiven Völkern aus, weil die Kinder solcher
Frauen aus Mangel an Nahrung zugrunde gehen. Bei uns springt die Er-
satzmitteltechnik ein, erhält das Kind am Leben, und so pflanzt sich auch
diese unglückliche Eigenschaft weiter fort. Schwere Schädigungen brachte
insbesondere dem deutschen Volkskörper auch der Krieg, der gerade die
tüchtigsten Elemente von der Fortpflanzung lange Zeit ausschloß, der femer
wieder die Rassetüchtigsten in die vorderste Front brachte, damit zu einem
erheblichen Teil ausmerzte und so ganz entgegen dem Sinn der natürlichen
Auslese wirkte. Unser soziales Versicherungswesen begünstigt die Vermehrung
der Unterdurchschnittlichen, höheres Heiratsalter der Frau, aber schließlich
auch des Mannes, schränkt die Fruchtbarkeit ein. Dazu kommt die unfrei-
willige Beschränkung der Nachkommenschaft oder die Minderwertigkeit
des Nachwuchses, wie sie als Folge von gerade heute erschreckend verbreiteten
Geschlechtskrankheiten auftreten, ebenso der Einfluß von Alkohol und anderen
Giften, gleichgültig ob sie die Erbwerte selbst oder nur das Plasma der Keim-
zelle schädigen, oder ob sie durch Schaffung ungünstiger äußerer Verhältnisse
entwicklungshemmend wirken.
Die Schicksalsfrage des deutschen Volkes und die höhere Schule. 165
All diese und zahlreiche andere Schäden erreichen schließlich, daß das
Vermehrungstempo unseres Volkes ein immer langsameres
wird und damit allein schon den Untergang der Rasse be-
siegelt, ferner aber auch, daß die Rassetüchtigkeit, der Rasse-
durchschnitt sinkt. Und das um so mehr, als gerade die sozial höher-
stehenden, also die nach unserem ungefähren Maßstab auch höherwertigen
Volkselemente diesen Schädigungen besonders ausgesetzt sind. Gerade
in diesen Schichten ist die Vermehrungsziffer erheblich kleiner als in den
unteren. In diesen Kreisen sind viele Elemente (katholische Geistliche,
Beamte, Lehrerinnen) zu dauernder Ehelosigkeit verurteilt oder weisen
infolge der langen Ausbildung und ungünstigen Anstellungsmöglich-
keiten ein sehr hohes Heiratsalter und damit eine geringere Ehefruchtbarkeit
auf. Die imVergleich mit anderen Berufsständen dauernd schlechter gewordene
Besoldung der höheren Beamten zwingt sie zur Kleinhaltung der Kinder-
zahl oder veranlaßt sie überhaupt zum Verzicht auf die Ehe. So verursacht
eine höchst kurzsichtige und bedauerliche Staatspolitik Beseitigung der
Tüchtigen und damit Förderung der Untüchtigen. Das hohe Heiratsalter
dieser Schichten begünstigt den vorehelichen Geschlechtsverkehr, damit
die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten und leistet so der unfreiwilligen
Kinderlosigkeit Vorschub. Vom rassebiologischen Standpunkt aus ist auch die
in parteipolitischem Interesse angestrebte und heute zum größten Teile
durchgesetzte Nivellierung der Einkommensverhältnisse als schwere Rasse-
schädigung zu betrachten, weil sie die Vermehrung der Unterdurchschnitt-
lichen fördert, die der Überdurchschnittlichen herabsetzt.
Wir haben also heute folgende Sachlage: Der Vermehrungsfaktor
ist wie bei den weißen westlrchen Kulturvölkern allgemein,
so auch bei uns in Deutschland umgekehrt dem Rassewert
der einzelnen Schichten. Die sozial- und rassehygienisch wertvollsten
Elemente beteiligen sich in stets abnehmendem Grade an der Vermehrung.
Das heißt aber mit dürren Worten nichts anderes als Sinken des
Durchschnitts der Rassegüte. Man kann sogar die Frage aufwerfen, ob wir
nicht heute schon einen Mangel an überragenden, umfassenden Geistern
bei uns haben, und ob dieser Mangel, falls er zugestanden werden sollte,
nicht etwa als Zeichen des fortschreitenden Verfalls aufgefaßt werden müßte.
Nun wird man einwenden, dieses Absinken der höheren Schichten sei kein
nationales Unglück, denn dadurch würde Platz geschaffen für die Tüchtigen
aus den unterenSchichten, und so sei das ein ganz natürlicher und erwünschter
Vorgang. Diese Betrachtung geht von der so ziemlich allgemein verbreiteten
Auffassung aus, die unteren Volksschichten seien ein Jungbrunnen, aus dem
sich die überragenden Elemente immer wieder emporarbeiten und so den
natürlichen Abgang aus den höheren Schichten immer wieder ersetzen. Diese
Auffassung ist irrig und darum für die Rassetüchtigkeit des Volkskörpers
ungemein verhängnisvoll. Die breite Masse des Volkes kann nicht unbegrenzt
den Nachschub für den Verlust an überdurchschnittlich tüchtigen Elementen
liefern. Dieser Prozeß geht so lange vor sich, als im Volk noch überdurch-
166 L. Trinkwalter,
schnittliche Anlagen vorhanden sind. Aber dieser Vorrat erschöpft sich.
Denn kommen die Überdurchschnittlichen aus den unteren Schichten in
höhere, so passen sie sich namentlich in Bezug auf die Vermehrung den in
diesen Schichten bestehenden Neigungen und Bestrebungen an, sie merzen
sich allmählich aus. So werden dem Volkskörper in allen seinen Schichten
die besten Elemente dauernd entzogen, und so verarmt der Volks körper
sicher und verhältnismäßig rasch. In dieser Beleuchtung gewinnt die heute
auf der Tagesordnung stehende „Förderung der Tüchtigen" eine eigen-
artige, von den Pädagogen meines Wissens noch nicht gewürdigte Be-
deutung.
Was ergibt sich aus dieser Lage der Dinge? Wenn wir nach den Verlusten,
die unser Volkskörper durch die geschilderten Erscheinungen erlitten, wenn-
wir insbesondere nach den fürchterlichen Verlusten an biologisch wertvollsten
Rasseelementen, die uns der Krieg und der darauffolgende Zusammenbruch
gebracht hat und noch immer bringt, uns wieder emporarbeiten wollen,
so müssen wir bewußt alle Bestrebungen aufgreifen und fördern, die geeignet
sind die Tüchtigkeit des Volkskörpers zu heben. Das ist nur möglich durch
Hebung der Vermehrungsziffer der gut veranlagten Elemente und durch
Schaffung von Verhältnissen und einer Moral, welche diesen Elementen
einen Anreiz zur Erziehung von Kindern gibt. Daneben sind natürlich als
verhältnismäßig wenig durchgreifende Mittel auch die eventuelle zwangs-
weise Ausschaltung der rassebiologisch minderwertigsten Elemente wie Geistes-
kranke, Gewohnheitsverbrecher von der Fortpflanzung, sei es durch Asy-
lierung, sei es durch Sterilisation zu berücksichtigen. Ebenso sind auch
hygienische, turnerische, sportliche Bestrebungen zu pflegen, weil sie, wenn
auch zunächst nur die phänotypische Entwicklung des Individuums beein-
flussend, günstige Umweltbedingungen für die Entfaltung günstiger geno-
typischer Anlagen schaffen können. Mit einem Wort: Es muß bewußte
und ernsthafte Rassehygiene getrieben werden. Im höchsten
Grad bedauerlich ist es, daß der Staat diese Aufgabe bisher völlig vernach-
lässigt hat. Und dabei ist das eine Aufgabe, die im unmittelbarsten Interesse
des Staates liegt. Gesetzgebung, Verwaltung und Politik beschäftigen sich
angelegentlich — mit welchem Erfolg, sei hier nicht erörtert — mit der Er-
haltung und Mehrung der Wirtschaftsgüter. Und die weitesten Kreise sind
von der Bedeutung der Nationalökonomie durchdrungen. Um so bedauer-
licher und verhängnisvoller ist es, daß die weit größere Bedeutung der Rasse-
tüchtigkeit für die Zukunft unseres Volkes noch nicht ins Bewußtsein des
Volkes oder auch nur der für die Geschicke des Volkes verantwortlichen
Männer gedrungen ist. Verlorene Wirtschaftsgüter können von
einem auf einen höheren Durchschnitt der Tüchtigkeit ge-
brachten Volkskörper wieder erworben und vermehrt werden,
verlorene Tüchtigkeit ist einfach dahin, sie kann nicht durch
wirtschaftliche Werte zurückgewonnen werden, sie vermag
nicht einmal die im Volk zu einer bestimmten Zeit vorhandenen
Wirtschaftsgüter festzuhalten.
Die Schicksalsfrage des deutschen Volkes und die höhere Schule. 167
Wie kann nun diese Unkenntnis in den für unser Volk lebenswich-
tigsten Fragen und die daraus sich ergebende Gleichgültigkeit weitester
Kreise bekämpft werden? Die durch die Vererbungslehre ermittelten
Grundsätze und Forderungen müssen, soweit sie für den Menschen unmittelbar
wichtig sind, in die weitesten Volksschichten getragen werden, es muß das Be-
wußtsein von der Bedeutung der Rassehygiene, unter welchem Begriff wir
alle auf Ertüchtigung des Volkskörpers gerichteten Bestrebungen zusammen-
fassen, Allgemeingut des Volkes werden. Es muß eine Rassemoral geschaffen
und das Verantwortungsgefühl jedes Einzelnen wachgerüttelt werden. Zu-
nächst müssen natürlich die gebildeten Kreise, insbesondere Lehrer, Ärzte,
Geistliche mit den Grundzügen, Aufgaben und Forderungen der Rasse-
hygiene vertraut gemacht werden. Auch die Studentenschaft sollte un-
bedingt mit diesen für die Zukunft unseres Volkes ernstesten Fragen be-
kannt gemacht werden. Die Bestrebungen der Rassehygiene haben in einigen
Ländern schon guten Boden gefunden. Namentlich Ungarn steht hierin
obenan. Behörden und Geistlichkeit stehen hier diesen Bestrebungen sym-
pathisch gegenüber, es werden Lehrkurse für Rassehygiene und Bevölkerungs-
politik gehalten, eine eifrige Aufklärungsarbeit durch geschulte Beamte
getrieben, Tafeln und Merkblätter herausgegeben u. dgl. mehr. Auch bei
uns in Deutschland arbeiten schon Vereinigungen und einzelne Forscher
im gleichen Sinn, aber ohne bisher in weiteren Volkskreisen für ihre gemein-
nützigen Bestrebungen das wünschenswerte Interesse zu finden^).
Darum ist neben der Erforschung all der verwickelten Probleme der
Rassehygiene in erster Linie unermüdliche Aufklärungsarbeit dringend
vonnöten.
Welche Mittel im einzelnen angewandt werden können, um Hebung der
Rassetüchtigkeit zu erzielen, sei hier nicht erörtert. Es sei nur hervorgehoben,
daß Eherecht, Erb- und Strafrecht, Erziehungswesen, Steuer- und Besol-
dungswesen, im Grunde genommen alle Gebiete des öffentlichen Lebens, an
der Lösung dieser Frage beteiligt sind. Gesetzgeberische Maßnahmen können
aber erst dann Erfolg haben, wenn sie vom Volksgewissen getragen werden.
Deswegen gilt es eben in erster Linie das Volksgewissen zu schärfen und
diese Fragen dem Bewußtsein des Einzelnen nahezubringen.
Soll die höhere Schule auch zur Vorbereitung rassehygie-
nischer Forderungen und Grunsdätze beitragen, und wie kann
sie das? Daß sie es soll, kann keinem Zweifel unterliegen. Die Schule
soll fürs Leben erziehen, und aus der Jugend gehen die Führer des Volkes
^) Ich verweise hier nur auf das prächtige, leider in pädagogischen Kreisen meines
Wissens offenbar viel zu wenig beachtete Buch von Dr. W. Schallmayer: Vererbung und
Auslese (Jena, Fischer, 1918. 3. Aufl.), das in gefälliger, klarer Form eine erdrückende Fülle
des wertvollsten Materials bringt, und das stark zum eigenen Nachdenken anregt. Da es
nicht nur der Biologe, sondern jeder Gebildete lesen und verstehen kann, und da es auch
gerade dem Pädagogen ungewollt eine Menge von Anregungen gibt, sollte das Werk, auf das
sich die vorliegenden Ausführungen großenteils stützen, zum Bestand jeder Lehrerbücherei
gehören.
168 L. Trinkwalter,
hervor; darum hat sie die heilige Pflicht, den älteren Zögling zu interessieren
für die Zukunfts-, die Schicksalsfrage unseres Volkes, und das um so mehr,
als jeder Einzelne berufen ist an der Lösung dieser Frage mitzuwirken und
durch sein persönliches Verhalten im Sinn einer Verbesserung oder Ver-
schlechterung des Volkskörpers zu arbeiten. Die Schule gibt dem ins Leben
tretenden jungen Mann so mancherlei mit, was er nachher über Bord wirft,
sie übersättigt ihn mit sprachlich-historischem Wissen. Sollte nicht die
schicksalsgewaltige Frage des Untergangs oder Aufstiegs des eigenen Volkes
für ihn das höchste Interesse haben?
Der biologische Unterricht bietet ganz allgemein reichlich Gelegenheit
zu rassehygienischen Gedanken ; namentlich aber ergeben sich bei der mensch-
lichen Anatomie, Physiologie und Hygiene ungezwungen Anknüpfungs-
punkte für solche Fragen. Dann müssen aber die Grundzüge der Entwick-
lungs- und Vererbungslehre dargelegt werden, es muß die Bedeutung der
Geschlechtszellen als Träger der Erbfaktoren und diejenige ihrer Verschmelzung
für die Qualität der Nachkommen klar gemacht werden. Dem jungen Mann
muß zum Bewußtsein gebracht werden, daß Hebung der Volkstüchtigkeit
auf stärkerer Vermehrung der überdurchschnittlichen Elemente beruht.
Man kommt dabei natürlich auch auf das Gebiet der im engeren Sinn soge-
nannten sexuellen Fragen. Sexuelle Dinge haben für den heranwachsenden
gesunden jungen Mann den denkbar größten und natürlichsten Reiz! Und
die Jugend, gerade auch die unverdorbene, lechzt nach Aufklärung, nach
Beratung tind Führung in diesen Fragen. Gewöhnlich geht das Elternhaus,
geht auch die Schule mit Scheuklappen an dieser Not der Jugend vorbei.
Das darf nicht weiter so sein. Der biologische Unterricht bietet die Möglich-
keit, den Zeugungsvorgang in seiner hohen Bedeutung allmählich dem Ver-
ständnis nahezubringen und ihn so des niederen Charakters zu entkleiden,
den er bekommt, wenn sich der Zögling seine Kenntnisse aus unsauberen
Quellen, ja oft aus den Pesthöhlen des Lasters holt. Natürlich muß das mit
Ernst und Takt geschehen, aber dann ist auch der dem Schüler vertraute
biologische Lehrer — weit mehr als etwa der fernerstehende Arzt oder der
Geistliche — in der glücklichen Lage, den rechten Weg zum Schüler zu finden.
Wie sittlich hoch wird dem Schüler der geschlechtliche Vorgang erscheinen,
wenn er bei allen lebenden Wesen die Geschlechtszellen als Träger der Erb-
faktoren erkennt, wenn er einsehen lernt, daß die Qualität der Nachkommen
von der Güte der elterlichen Erbanlagen abhängt. Er wird diesen Erbwert
als wertvollsten Besitz auffassen, der dem Menschen wie auch Tier und Pflanze
gewissermaßen zu Lehen gegeben ist; er wird leicht aus dieser Erkenntnis
die sittliche Verpflichtung ableiten, diesen Erbwert ungeschädigt und unge-
schmälert der folgenden Generation zu überliefern. Aus der Einsicht, daß
Vereinigung möglichst gut veranlagter elterlicher Keimzellen auch gut ver-
anlagte Nachkommen liefert, kann dem Jüngling ein neuer und wertvoller
Wegweiser bei der späteren Gattenwahl erwachsen ; er wird vielleicht (jeden-
falls ist das ein Ziel, auf das hingearbeitet werden muß) sich bei diesem ein-
schneidendsten Schritt seines Lebens nicht mehr so sehr von zufälligen äußeren
Die Schicksalsfrage des deutschen Volkes und die höhere Schule. 169
Eigenschaften (Vermögen, Rang), als vielmehr von den natürlichen Anlagen
des in Aussicht genommenen Ehepartners beeinflussen lassen. Jedenfalls
dürften solche in der Schule angestellten Erörterungen den Ehekandidaten
wohl öfter als bisher zu einer ernsten Prüfung veranlassen, ob die Wahl auch
in bezug auf Güte der Nachkommenschaft zu billigen sei. Und damit wäre
schon viel erreicht auf dem Weg zu einer bewußten Rassehygiene und einer
Rassemoral.
Man wird der Jugend eine möglichst frühe Eheschließung als erstrebens-
wertes Ziel hinstellen (diesem Bestreben muß allerdings die Bevölkerungs-
politik des Staates entgegenkommen dadurch, daß sie dem jungen Beamten
durch eine entsprechende Besoldung die Möglichkeit der Ehe gewährt, die
Auffassung von Repräsentation vollkommen ändert u. dgl.). Immer wieder
wird man im Biologieunterricht Gelegenheit haben zu betonen, daß auch
dem Jüngling nur ein reiner Körper Arbeitsfrische, Arbeitsfreudigkeit, Lebens-
und Eheglück verbirgt, daß nicht schrankenloses Sichausleben des Menschen
würdig ist, und daß der Mensch nicht nur sich selbst, sondern auch dem Ehe-
partner und der kommenden Generation verantwortlich ist. Man wird sich
nicht der Täuschung hingeben durch solche Erörterungen die Jugend aus-
nahmslos vor Abwegen schützen zu können — der Geschlechtstrieb setzt
sich nur zu leicht über die klarsten Vernunftgründe hinweg — , und kann
doch überzeugt sein, daß die Schule nichts unversucht lassen soll, der ringen-
den Jugend zu helfen in den Kämpfen, die keinem erspart bleiben. Soll
uns nicht jede Möglichkeit, das Verantwortlichkeitsgefühl des jungen Mannes
gegen sich selbst, gegen die künftige Gattin und die kommenden Kinder
zu stärken, willkommen sein? Daß man in solchem Zusammenhange auch auf
verheerende Seuchen wie Tuberkulose, Syphilis und auf die Fragen des Alko-
holismus näher eingehen muß, ist selbstverständlich.
So ist die Biologie ganz im Gegensatz zur landläufigen Anschauung,
daß ihr ethische Werte vöUig fremd seien, eine reiche unerschöpfliche
Quelle höchster sittlicher Werte und Ziele. Denn wenn die Biologie
eine höhere Bedeutung der geschlechtlichen Vorgänge erkennen läßt, wenn
sie den Zeugungsakt aus der Vorstellung des Niederen heraushebt, wenn sie
imstande ist, im jungen Mann das Gefühl der Verantwortung sich selbst,
der Gattin und der kommenden Generation gegenüber zu wecken, wenn
sie fähig ist, den auf das Gute gerichteten Willen auf Grund der durch sie
gewonnenen Einsichten zu stärken, wenn sie im Leben des Einzelnen einen
höheren natürlichen Zweck erkennen läßt, wenn sie zur Einsicht bringt,
daß der Aufstieg oder der Niedergang der Volksgesamtheit vom Verhalten
des Einzelnen abhängt, dann ist sie nicht nur im höchsten Grade nützlich,
sondern auch im höchsten Grade ethisch.
Deckt uns also die Biologie die Gefahren auf, welche den Untergang
unseres Volkes (wie übrigens auch der andern westlichen Kulturvölker) herauf-
beschwören, so ist es andererseits wieder die Biologie, welche die Mittel und
Wege zurRettung, zurErtüchtigung desVolkes zeigt, und welche dem deutschen
Volk in letzter Stunde die rettende Hand reicht. Sie ist damit für unser
170 Paul Kaestner,
Volk von einem Segen und Nutzen wie kein anderes Forschungsgebiet.
Dazu setzt sie in einer Zeit, in der unser Volk wie kaum jemals an Idealen
verarmt ist, jedem Einzelnen von uns neue hohe sittliche Ziele. Die Jugend
aber ist die Hoffnung, die Zuversicht des Vaterlandes. Zeigen wir ihr das
neue Ziel der Ertüchtigung unseres Volks, zeigen wir ihr den Weg, der unser
Volk aus der Tiefe wieder emporführen kann, zeigen wir ihr, wie jeder
Einzelne berufen ist an dieser Arbeit bestimmend mitzuwirken ! Dann muß
man aber auch der Biologie endlich die gebührende Stellung an allen unseren
Schulen, insbesondere auch an den höheren einräumen. Sie braucht Raum
und Licht, damit sie nicht, wie es heute im allgemeinen der Fall ist, gerade
dann aus Mangel an diesen Lebensnotwendigkeiten verkümmert, wenn sie
ihre schönsten Früchte zeitigen könnte. Sie muß aus ihrer Aschenbrödel-
stellung herausgehoben werden, sie muß mit dem Deutschen in den Mittel-
punkt der Schule treten. Kann sich etwa die Geschichte oder die Erdkunde
auch nur entfernt an Bedeutung mit ihr messen? Eine Wissenschaft, die die
größten wirtschaftlichen Werte schafft (die wir in der Zukunft doch bitter
nötig haben werden), die eine Fundgrube tiefster und umfassendster geistiger
Erkenntnis, ein Strom reichster erziehlicher Werte und eine Quelle höchster
sittlicher Forderungen und Kräfte ist, eine Wissenschaft, die das deutsche Volk
wieder emporführen kann und soll, noch weiter auszuschalten von ihrem
Einfluß auf die Bildung und Erziehung der Jugend, heißt freveln am Volk,
an der Zukunft des Volks. Ein Staat, der die fundamentale Bedeutung der
Biologie für seinen eigenen Bestand nicht erkennt, schneidet sich jede Ent-
wicklungsmöglichkeit ab. Es muß gefordert werden, daß die Biologie als
verbindlicher Unterrichtsgegenstand durch alle Klassen mit zwei Stunden
durchgeführt wird. Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Und wo neues
kräftiges Leben sprießt, muß eben Altes, Veraltetes weichen. Die üppig
wuchernden sprachlich-historischen Äste, vielleicht auch der gewaltige
mathematische Ast des Unterrichtsbaumes vertragen einen erheblichen Rück-
schnitt, um dem wertvolleren und reicheren Fruchttrieb der Biologie zur Ent-
wicklung zu verhelfen.
Hannover. L. Trinkwalter.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten
im Sommersemester 1920.
Ausländer und solche Studierende, die nicht im Besitz des Reifezeug-
nisses einer Vollanstalt sind, blieben bei der Erhebung unberücksichtigt.
Die erste Zusammenstellung umfaßt alle im Sommersemester 1920 an
den preußischen Universitäten immatrikulierten Studierenden, die zweite
nur diejenigen, welche zur Zeit der Erhebung im ersten Semester standen.
I. Im Sommersemester 1920 waren insgesamt immatrikuliert:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 1920 Studierende, davon
immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1782
„ „ „ „ Realgymnasiums 129
,, ,, ,, einer Oberrealschule 9
Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten. 171
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 1514 Studierende,
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1513
„ „ ,, ,, Realgymnasiums 1
c) in der Juristischen Fakultät 9995 Studierende, davon immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 6365
„ „ „ „ Realgymnasiums 2380
„ „ „ einer Oberrealschule 1250
d) in der Medizinischen Fakultät 1 1 462 Studierende, davon immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 6999
„ „ „ ,, Realgymnasiums 3074
„ „ „ einer Oberrealschule 1389
e) in derPhilosophisch.Fakultät 17174 Studierende, davon immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 8350
„ „ „ „ Realgymnasiums 4942
„ „ „ einer Oberrealschule 3882
Hiervon studierten:
1. Philosophie 817, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 461
,, ,, „ ,, Realgymnasiums 211
„ ,, „ einer Oberrealschule 145
2. Klassische Philologie und Deutsch 2451, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1728
„ ,, „ ,, Realgymnasiums 498
„ „ ,, einer Oberrealschule 225
3. Neuere Philologie 2095, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 788
„ ,, ,, ,, Realgymnasiums 817
„ ,, „ einer Oberrealschule 490
4. Geschichte 902, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 539
,, ,, ,, ,, Realgymnasiums 266
„ „ „ einer Oberrealschule 97
5. Mathematik und Naturwissenschaften 4389, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1632
„ ,, „ ,, Realgymnasiums 1387
,, ,, ,, einer Oberrealschule 1370
6. Sonstige Studienfächer 6520, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 3202
„ „ „ ,, Realgymnasiums 1763
,, ,, ,, einer Oberrealschule 1555
II. Von den unter I aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 208 Studierende, davon
immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 186
„ „ „ „ Realgymnasiums 22
172 Paul Kaestner,
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 212 Studierende, imma-
trikuliert auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums;
c) in der Juristischen Fakultät 1199 Studierende, davon immatrikuliert-
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 711
„ „ „ „ Realgymnasiums 292
,, ,, „ einer Oberrealschule 196
d) in der Medizinischen Fakultät 895 Studierende, davon immatrikuliert
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 483
„ „ „ „ Realgymnasiums 279
,, „ ,, einer Oberrealschule 133
e) in der PhilosophischenFakultät 1792Studierende, davon immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 771
„ „ „ „ Realgymnasiums 599
,, „ „ einer Oberrealschule 422
Hiervon studierten:
1. Philosophie 115, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 60
„ „ ,, „ Realgymnasiums 37
„ „ ,, einer Oberrealschule 18
2. Klassische Philologie und Deutsch 136, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 82
„ „ „ „ Realgymnasiums 40
„ „ „ einer Oberrealschule 14
3. Neuere Philologie 102, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 29
„ „ „ „ Realgymnasiums 44
„ „ „ einer Oberrealschule 29
4. Geschichte 61, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 33
„ „ „ „ Realgymnasiums 19
,, „ ,, einer Oberrealschule 9
5. Mathematik und Naturwissenschaften 362, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 113
„ „ „ „ Realgymnasiums 138
,, ,, „ einer Oberrealschule Hl
6. Sonstige Studienfächer 1016, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 454
„ „ „ „ Realgymnasiums 321
einer Oberrealschule 241
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen
Universitäten.
Erlangen, Freiburg, Gießen, Heidelberg, Jena, Leipzig, München, Rostock,
Hamburg, Tübingen und Würzburg im Sommersemester 1920.
Bei der Erhebung blieben Ausländer und solche Studierende, die nicht
im Besitz des Reifezeugnisses einer Vollanstalt waren, unberücksichtigt.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten. 173
Diese erste Zusammenstellung umfaßt alle im Sommersemester 1919 an den
genannten Universitäten immatrikulierten Studierenden, die zweite nur die-
jenigen, welche zur Zeit der Erhebung im ersten Semester standen.
I. Im Sommersemester 1920 waren insgesamt immatrikuliert:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 1556 Studierende, davon
immatrikuliert :
* auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1495
„ „ „ „ Realgymnasiums 49
„ ,, ,, einer Oberrealschule 12
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 630 Studierende, davon
immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 609
„ „ „ „ Realgymnasiums 21
c) in der Juristischen Fakultät i) 8467 Studierende, davon immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 5366
„ „ „ „ Realgymnasiums 2047
„ „ „ einer Oberrealschule 1054
d) in der Medizinischen Fakultät 2) 11043 Studierende, davon imma-
trikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 6258
„ „ „ „ Realgymnasiums 3023
,, „ ,, einer Oberrealschule 1762
e) in der Philosophischen Fakultät 11418 Studierende, davon imma-
trikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 5439
„ „ ,, ,, Realgymnasiums 3266
„ „ ,, einer Oberrealschule 2713
Hiervon studierten:
1. Philosophie 1690, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 993
„ „ „ „ Realgymnasiums 437
,, ,, ,, einer Oberrealschule 260
2. Klassische Philologie und Deutsch 1419, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1010
„ „ „ „ Realgymnasiums 250
„ ,, ,, einer Oberrealschule 159
3. Neuere Philologie 1402, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasums 542
„ „ „ „ Realgymnasiums 525
einer Oberrealschule 335
1) Einschließlicli der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultäten in Freiburg
und Hamburg, der Staatswirtschaftlichen Fakultät in München und der Staatswissen-
schaftlichen Fakultät in Tübingen.
2) Einschließlich der Tierärztlichen Fakultäten in Gießen und München.
174 Paul Kaestner,
4. Geschichte 833, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 454
„ „ „ „ Rleagymnasiums 257
„ „ „ einer Oberrealschule 122
5. Mathematik und Naturwissenschaften 3769, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1384
„ „ „ „ Realgymnasiums 1127
„ „ „ einer Oberrealschule 1258
6. Sonstige Studienfächer 2305, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1056
„ „ „ ,, Realgymnasiums 670
,, „ „ einer Oberrealschule 579
II. Von den unter I aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 152 Studierende, davon
immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 148
,, , „ ,, Realgymnasiums 3
„ „ , einer Oberrealschule 1
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 17 Studierende, davon
immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 15
„ „ „ „ Realgymnasiums 2
c) in der Juristischen Fakultät 1040 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 548
„ „ „ „ Realgymnasiums 305
,, „ . „ einer Oberrealschule 187
d) in der Medizinischen Fakultät 681 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 309
,, „ „ ,, Realgymnasiums 201
, „ „ einer Oberrealschule 171
e) in der Philosophischen Fakultät 1135 Studierende.
Hiervon studierten:
1. Philosophie 136, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 50
„ „ „ „ Realgymnasiums 48
„ ,, „ einer Oberrealschule 38
2. Klassische Philologie und Deutsch 99, und zwar.
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 51
,, , „ ,, Realgymnasiums 24
„ ,, „ einer Oberrealschule 24
3. Neuere Philologie 105, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 29
„ „ „ „ Realgymnasiums 37
„ „ „ einer Oberrealschule 39
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten. 175
4. Geschichte 76, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 36
„ „ „ „ Realgymnasiums 19
„ ,, „ einer Oberrealschule 21
5. Mathematik und Naturwissenschaften 375, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 109
,, ,, „ ,, Realgymnasiums 126
, ,, , einer Oberrealschule • 140
6. Sonstige Studienfächer 344 und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 147
,, „ „ ,, Realgymnasiums 107
„ „ „ einer Oberrealschule 90
Die Anfängerkurse im Griechischen für Studierende der Juristischen,
Medizinischen und Philosophischen Fakultät.
Im Sommersemester 1920 haben an den Anfängerkursen im Griechischen
für Studierende der Juristischen, Medizinischen und Philosophischen Fakultät
auf den preußischen Hochschulen im ganzen 166 Studierende teilgenommen,
davon 34 Theologen, 13 Juristen, 5 Mediziner und 114 Angehörige der Philo-
sophischen Fakultät. Von letzteren studierten klassische Philologie 18, neuere
Philologie 23, Deutsch 33, Geschichte 13, Mathematik und Naturwissenschaften
3, Staatswissenschaften 6, sonstige Fächer 18. Von den Teilnehmern an den
Kursen hatten 10 das Reifezeugnis eines Gymnasiums, 92 eines Realgym-
nasiums, 25 einer Oberrealschule, 3 einer Realschule, 7 eines Oberlyzeums,
29 eines Lehrerinnenseminars. Preußen waren 147, Deutsche aus anderen
Bundesstaaten 14, Ausländer 5.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer an diesem
Kursus wie folgt: Berlin 24, Bonn 34, Breslau 12, Frankfurt 19, Göttingen 15,
Halle 15, Kiel 11, Marburg 22, Münster 3.
Die Kurse zur sprachlichen Einführung in die Quellen des
römischen Rechts.
Im Sommersemester 1920 haben an den Kursen zur sprachlichen Ein-
führung in die Quellen des römischen Rechts an den preußischen Hochschulen
im ganzen 300 Studierende der Rechte, 5 Studierende der Medizinischen
und 4 Studierende der Philosophischen Fakultät (2 Deutsch, 2 Mathematik
und Naturwissenschaften) und 9 Studierende der Staatswissenschaften
teilgenommen. Das Reifezeugnis eines Gymnasiums hatten 59, eines Real-
gymnasiums 158, einer Oberrealschule 99. Preußen waren 287, Deutsche
aus anderen Bundesstaaten 28, Ausländer 3. Von den Studierenden der
Rechtswissenschaft standen 73 im ersten Semester, 61 im zweiten, 46 im
dritten, 31 im vierten, 35 im fünften, 26 im sechsten, 11 im siebenten, 9
im achten, 2 im neunten, 2 im zehnten, 3 im elften und 1 im dreizehnten
Semester.
176 Paul Kaestner, Lateinische Sprachkurse für Absolventen lateinioser Schulen.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer wie folgt :
Berlin 188, Bonn 29, Breslau 11, Frankfurt 38, Greifswald 7, Kiel 3,
Marburg 15, Münster 27.
Lateinische Sprachkurse ffir Absolventen lateinloser Schulen.
Im Sommersemester 1920 haben an den lateinischen Kursen für Absol-
venten lateinloser Schulen 644 Studierende teilgenommen. Hiervon studierten
7 Theologie, 65 Rechtswissenschaft, 295 Medizin und 277 Fächer aus dem
Bereich der philosophischen Fakultät, nämlich 28 klassische Philologie, 75
neuere Philologie, 76 Deutsch, 25 Geschichte, 23 Mathematik und Natur-
wissenschaft, 28 Staatswissenschaft und 21 sonstige Fächer. Von den Teil-
nehmern an den Kursen hatten das Reifezeugnis eines Gymnasiums 14, eines
Realgymnasiums 16, einer Oberrealschule 469, eines Progymnasiums 4,
eines Realprogymnasiums 6, einer Realschule 26, eines Lehrerinnenseminars
108. Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer wie
folgt: Berlin 161, Bonn 48, Breslau 39, Frankfurt 100, Göttingen 39,
Greifswald 20, Halle 55, Kiel 57, Königsberg 42, Marburg 58, Münster 25.
Berlin-Neubabelsberg. Paul Kaestner
IL Bücherbesprechungen.
Paul Kalkhoff, Luther und die Entscheidungsjahre der Refor-
mation. Von den Ablaßthesen bis zum Wormser Edikt. München und
Leipzig. Georg Müller. VI u. 293 S.
Kalkoffs Buch darf nicht mit der Fülle der durch das Reformations-
jubiläum hervorgerufenen Gedächtnisschriften zusammengeworfen werden,
die Bekanntes in gefälliger Form neu zurechtstutzen und einem weiteren
Leserkreis schmackhaft machen. Obschon der Verfasser auf alle gelehrten
Anmerkungen und Belege verzichtet, tragen seine Darlegungen doch das
Gepräge einer echten und unermüdlichen Forscherarbeit an sich, und sein
Werk überrascht geradezu jeden, der mit Kalkoffs Spezialarbeiten nicht
vertraut ist, durch den Reichtum neuer und wichtiger wissenschaftlicher
Ergebnisse, Die Gegenstände, denen der Verfasser in den verflossenen Jahr-
zehnten sein Hauptaugenmerk zugewandt hat, treten auch in der vorliegenden
zusammenfassenden Behandlung in den Vordergrund — vielleicht ein wenig
zu stark; denn in dem begreiflichen Verlangen, seine neuen Freunde und
Forschungsresultate zur Geltung zu bringen, läßt er die bereits bekannten
Tatsachen der beginnenden Reformationsgeschichte gelegentlich zu sehr in
den Hintergrund treten. Dafür entschädigt er uns aber reichlich durch ganz
neue Gebiete, die er erschließt.
Im wesentlichen gruppieren sich bei Kalkoff die Tatsachen des ersten
Teiles seines Buches um Luthers römischen Prozeß, die des zweiten Teiles
um den Wormser Reichstag. Aufs genaueste werden wir darüber unterrichtet,
wie der Ablaßhandel zur Kenntnis der Kurie gelangte, wie man zunächst
den Reformator auf dem Wege der Ordensdisziplin zum Schweigen zu bringen
suchte, wie alsdann die Dominikaner sich als Hüter der unverfälschten Kirchen-
lehre aufspielten und am päpstlichen Hofe eine Intrigue über der anderen
gegen Luther anzettelten. Die schwierigen Kompetenzverhältnisse bei Ein-
leitung des ersten ordentlichen Prozeßverfahrens der Kurie werden in lichter
Klarheit vorgeführt. Wir erfahren sodann, daß dieses durch ein summarisches
Verfahren, dem die notorische Schuld des Reformators als Voraussetzung
zugrunde lag, abgelöst wurde: der zum Augsburger Reichstag entsandte
Kajetan sollte Luther mit nach Rom bringen, wo ihm der Tod auf dem Scheiter-
haufen sicher war. Das Breve vom 23. August 1518, in dem er mit dieser
Vollmacht betraut wurde, hat Kalkoff im Gegensatz zu Leopold von Ranke,
der es für unecht erklärt hatte, schon früher als echt nachgewiesen. Die vor-
liegende Darstellung zeigt, ein wie völlig anderes Tatsachenbild auch der
auf deutschem Boden sich abspielenden Vorgänge die Aufstellung der an
der Kurie wirksamen Kräfte ergibt. In glänzendem Lichte erscheint als
Gegenspieler gegen die kurialen Ketzerrichter der sächsische Kurfürst Fried-
rich der Weise, der — wie Kalkoff überzeugend dartut — frühzeitig sich zu
Monatschrift f. bOh. Schulen. XX. Jbrg. 13
178 Paul Kalkhoff, Das Wormser Edikt usw., angez. von Friedrich Marcks.
Luthers Anschauungen innerlich bekannt hat und ihm allen erdenklichen
Schutz hat angedeihen lassen.
Eine Unterbrechung erlitt das römische Prozeßverfahren durch die Vor-
gänge, die sich nach Maximilians Tode abspielten. Leo X., der weder Franz L
von Frankreich noch den Habsburger Karl zum Kaiser gewählt zu sehen
wünschte, verfiel darauf, die Wahl des Kurfürsten Friedrich durchzusetzen.
Diese Absicht bedingte bis auf weiteres, daß die Kurie im Lutherschen Handel
müdere Seiten aufzog — ein Umstand, der der Ausbreitung der neuen Lehre
in hohem Maße zugute kam. Das ganze Jahr 1519 verlief, ohne daß gegen
den Reformator päpstlicherseits ernstere Schritte unternommen worden
wären. Erst seit Beginn des Jahres 1520 sehen wir die Kurie wieder zu rück-
sichtslosem Vorgehen gegen den verhaßten Ketzer entschlossen.
Die sehr verwickelten Vorgänge, die sich auf dem Wormser Reichstag
abspielten, hat Kalkoff vor einigen Jahren in einer inhaltreichen Unter-
suchung aufgehellt. Die Ergebnisse derselben kommen auch unserem Buche
zugute. Wir sind jetzt bis in die Einzelheiten hinein darüber unterrichtet,
wie sich die Aktionen und Gegenaktionen auf dem Reichstag abspielten,
deren schließliches Ergebnis die Berufung Luthers nach Worms war. Das
Verhör des Reformators und das auf ungesetzlichem Wege erfolgte Zustande-
kommen der gegen Luther und seine Anhänger gerichteten, „erschlichenen"
Reichsgesetze bilden den Schluß von Kalkoffs Darstellung.
Abgesehen von der sauberen Herausarbeitung der geschichtlichen Vor-
gänge jener Zeit bietet uns der Verfasser auf Grund seiner genauen Kenntnis
der Quellenzeugnisse eine ganze Reihe von wertvollen Charakteristiken maß-
gebender Persönlichkeiten, die zum Teil von der herkömmlichen Auffassung
abweichen.
Während Kajetan mit unverhohlener Sympathie geschüdert und an
Alexander die ungewöhnliche diplomatische Fähigkeit gewürdigt wird, er-
scheint bei Kalkoff Miltitz als der aufgeblasene Wichtigtuer, aber auch der
gemeinhin als Gönner Luthers günstig beurteilte Spalatin als geistig unbe-
deutend und noch verhältnismäßig lange in altkirchlichen Vorurteilen be-
fangen.
Das Buch gewährt, da der Verfasser in Kürze sachlich möglichst viel
bieten will, keine ganz bequeme Lektüre. Aber wer seine Vorstellungen
über die ersten Entscheidungsjahre der Reformation dem Stande der neuesten
Forschung anpassen will, darf an ihm nicht vorübergehen.
Leipzig. Hermann Bärge.
Paul Kalkoff, Das Wormser Edikt und die Erlasse des Reichs-
regiments und einzelner Reichsfürsten. München und Berlin 1917.
R. Oldenburg. IX u. 132 S. Geh. 5 M.
Paul Kalkoff, der bereits früher die Hergänge bei der Entstehung des
Wormser Edikts neu untersucht und es auf seine gesetzliche Verbindlichkeit
geprüft hat, behandelt in der vorliegenden Schrift die auf das Edikt folgenden
Erlasse des Reichsregiments und einzelner Fürsten in ihrer Stellungnahme
D. Wilhelm Stahl, Die diplomatischen Verhandlungen usw., angez. von Fr. Marcks. 1 79
zu demselben. Außer dem Mandat des Reichsregiments vom 20. Januar 1522
gilt seine Erörterung dem Erlaß des Herzogs Georg von Sachsen vom 10. Fe-
bruar 1522, dem ersten und zweiten bayrischen Religionsedikt und den Er-
lassen des Herzogs Heinrich von Wolfenbüttel, des Markgrafen Philipp von
Baden, des Herzogs Anton von Lothringen und des Erzherzogs Ferdinand
für Württemberg. Kalkoff weist nach, wie zurückhaltend sich die meisten
dieser Fürsten, unter ihnen sogar Luthers scharfer Gegner, Herzog Georg
von Sachsen, dem Edikt gegenüber gestellt haben, indem sie es in ihren
Erlassen, soweit es nur anging, ignorierten und seine Strenge milderten.
Nur der Herzog von Lothringen, dessen Land ja bloß formell noch zum Reiche
zählte, während er selbst in französischem Lager stand und von seiner Zu-
gehörigkeit zu den deutschen Reichsständen nichts wissen wollte, und Karls V.
Bruder Ferdinand nahmen sogleich die schärfste Stellung gegen Luther und
seine Anhänger. Die erneute Prüfung der ständischen Maßregeln gegenüber
der religiösen Bewegung liefert wichtige Beiträge zum Verständnis der kirchen-
politischen Lage im Reiche nach dem Wormser Reichstage, bevor die schroffere
Scheidung der Geister und die festere Organisation der Parteien erfolgte.
So bedeutet auch diese Schrift eine Vertiefung unseres Verständnisses durch
den emsigen Erforscher der Reformationsgeschichte.
Dr. Wilhelm Stahl, Die diplomatischen Verhandlungen vor Aus-
bruch des Weltkrieges auf Grund der Farbbücher. (Erweiterter
Sonderabdruck aus Schlutfaß' Europäischem Geschichtskalender, Bd. LV
[1914]). München 1917. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung (Oskar
Beck). V u. 57 S. Leicht geb. 1,80 M.
Für die unmittelbare Vorgeschichte des Weltkrieges sind, wie bekannt,
von sehr großem Interesse und besonderer Wichtigkeit die Farbbücher,
in denen die einzelnen Regierungen diejenigen Aktenstücke veröffentlicht
haben, nach denen sie ihre Politik beurteilt wissen wollen. Da ihr Vergleich
die Kontrolle der Glaubwürdigkeit ermöglicht, lassen sie uns die innersten
Gedanken und Pläne der leitenden Staatsmänner in jenen Tagen erkennen.
Um auch weiteren Kreisen einen Einblick in dieses diplomatische Schach-
spiel zu ermöglichen, bietet Stahl eine Auswahl des Wichtigsten, die auch
für den Geschichtsunterricht an höheren Schulen wohl verwendbar ist. Eine
kurze Literaturangabe im Anhange weist dem Anfänger den Weg zur Ver-
tiefung des Studiums. Wenn Lloyd George in seiner Queenshallrede vom
4. August von der gefährlichsten Verschwörung gesprochen hat, die jemals
gegen die Freiheit der Völker geschmiedet wurde, so beweisen die Farbbücher
die Wahrheit seiner Worte — wenn auch in anderem Sinne, als er gemeint hat.
Wesel (Herbst 1918). Friedrich Marcks.
Norden, Eduard: Die germanische Urgeschichte in Tacitus Ger-
mania. Mit einem Bildnis und einer Karte, (X und 505 S.) Leipzig,
Teubner 1920. - Geh. 30 M., geb. 38 M., dazu 100% T.-Z.
Kaspar Zeuß, dessen Bild dem Buch vorantsteht, Müllenhoff und
Mommsen, das sind die Ahnen, denen sich dieser Enkel würdig anschließt.
12*
180 B'rt» Theodor, Römische Charakterköpfe, angez. von Max SIebourg.
Mehr braucht man zu seinem Lobe nicht zu sagen. Norden stellt Abschnitte
der Germania in den großen Zusammenhang der griechisch-römischen Ethno-
graphie. Mit seiner umfassenden Belesenheit und seinem sichern Stilgefühl
rückt er dabei die Urgeschichte unseres Volkes in neue Beleuchtung ; literarische
Probleme, wie Posidonius und die Bella Germaniae des Plinius werden mit
ergebnisreicher Gründlichkeit angefaßt. Besonders hoch rechne ich ihm an,
daß er sich auch mit der ihm ferner liegenden archäologischen Forschung
auf diesem Gebiet vertraut gemacht hat. Daß hier noch mancherlei Lücken
bleiben, nimmt den, der die Weitschichtigkeit des Stoffes kennt, nicht wunder.
Ich empfand beim Lesen ein gewisses Bedauern, daß ein solches Buch
in Berlin und nicht in Bonn geschrieben wurde. Für die Schule ist Nordens
schöne Gabe von besonderer Bedeutung : wer Caesar, Livius, Tacitus, Herodot,
Thucydides auf dem Gymnasium zu treiben hat, muß das Buch studieren.
Neues Leben wird dabei Stoffen zugeführt, die leider oft nur allzu wenig
lebendig gemacht werden. Philologen, Historiker, Deutschkundler, sie alle
werden dankbare Leser und Schüler Nordens sein.
Birt, Theod.: Römische Charakterköpfe. Ein Weltbild in Biographien.
4. Auflage. 354 S. Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig. 1920. Geb. 28 M.
Wohl eher eine römische Geschichte, als ein Weltbild in Biographien,
von dem älteren Scipio bis zu Marc Aurel : der Vorgänger zu den Charakter-
bildern Spätroms, die ich XXX (1920), 328 angezeigt habe. Das Buch hat
die gleichen Vorzüge und Mängel, wie die Fortsetzung. Daß es seinen Weg
gemacht hat, beweist die bereits notwendig gewordene 4. Auflage; es wird
ihn auch weiter machen.
Trendelenburg, Adolf: Der Humor in der Antike, ein Band zwischen
Dichtung und bildender Kunst. Vortrag in der Vereinigung der Freunde
des humanistischen Gymnasiums in Berlin und der Provinz Brandenburg
am 5. Mai 1920. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung, 1920. 32. S. 8».
3 M.
Ein hübscher Beitrag zu der wichtigsten Aufgabe des altsprachlichen
Unterrichts, die Schriftsteller und Denkmäler zum Leben zu erwecken, die
Schüler im echten Sinne lesen und sehen zu lehren. Übrigens zeigt gerade
der Schluß der Alkestis den allerfeinsten Humor in der Art, wie Herakles
dem Gastfreund die Gattin wieder zuführt.
Pfaffendorf a. Rh. Max Siebourg.
Neue Storni- Ausgaben.
1917 war das Jahr der Scheffel-Ausgaben; das gegenwärtige Jahri) hat
den Werken Theodor Storms die weite Verbreitung gebracht, auf die sie bei
1) Geschrieben vor längerer Zeit, worauf auch hinsichtlich der unten angegebenen
Preise aufmerksam gemacht wird.
Stephan Ley, Neue Storm-Ausgaben. 181
ihrem hohen künstlerischen Werte und ihrer wachsenden Wertschätzung
schon lange ein begründetes Anrecht hatten. Scheffels Dichtungen erfreuten
sich bei seinen Lebzeiten und noch lange hernach einer Beliebtheit, die im
Vergleich mit der Würdigung anderer Dichter eine gewisse Überschätzung
bedeutete; eine Veranlassung indessen zu der geringschätzigen Art, wie heute
zuweilen über ihn geurteilt wird^), ist keineswegs gegeben: es bleibt ihm
in mehr als einer Hinsicht ein wohlbegründeter Anspruch auf Anerkennung
wahrer dichterischer Bedeutung. Storm hat das umgekehrte, bei deutschen
Dichtern nicht gerade seltene und alles in allem genommen wünschenswertere
Schicksal gehabt, daß die — allerdings nur vergleichsweise — mangelnde
Beachtung, über die er bei der Feier seines siebzigsten Geburtstages und ander-
weitig selbst Klage führte, einer stets zunehmenden Teilnahme und Bewunde-
rung gewichen ist. Das sprechendste Zeugnis dafür ist die stattliche Zahl
der Ausgaben, die nach dem Freiwerden seiner Werke bereits erschienen.
Mit hingebender Sorgfalt im ganzen wie im einzelnen ist die Ausgabe
des Bibliographischen Instituts — Herausgeber Theodor Hertel —
gearbeitet. Zwar wünscht man in der sonst recht ansprechenden Biographie
gelegentlich etwas mehr Kritik geübt, so wenn die Worte Storms : „Die Luft
des Elternhauses war eine gesunde; von Religion und Christentum wurde
kaum gesprochen" (Storm selbst sagt übrigens: „habe ich nie reden hören")
einfach herübergenommen werden, während Biese (s.u.) von Storms „durch
ihn selbst oft gepriesener, aber immerhin doch recht einseitiger Unbefangen-
heit" spricht; auch sieht man nicht, warum ,,der Verstand Storm die Hoff-
nung auf eine Fortdauer des Lebens nach dem Tode als trügerisch verwerfen
lassen mußte". Anderseits aber ist die Biographie gerade dadurch wert-
voll, daß überall, wo angängig, die Briefe und sonstigen Aufzeichnungen des
Dichters herangezogen werden. Das gleiche ist den Einführungen nachzu-
rühmen ; so fußt die Darstellung von Storms lyrischer Eigenart auf den Äuße-
rungen des Dichters, dem bekanntlich eine tiefe Einsicht in das Wesen der
Lyrik eigen war. Die Einleitungen zu den einzelnen Novellen gehen auf Fragen
der Entstehung, spätere Umgestaltungen, das Verhältnis zu anderweitigen
Bearbeitungen desselben Stoffes und die dichterische Technik ein ; dazu bringen
die Anmerkungen noch reichliche Nachweisungen aus dem Briefwechsel des
Dichters und andern Quellen sowie aus der neuern Literatur.
Die Ausgabe des Verlags Hesse und Becker ist besorgt durch Alfred
Biese ; sie erhält ihren besonderen Charakter durch das freundschaftliche
Verhältnis, in dem dieser zu dem alternden Dichter gestanden, und durch
die eindringende Beschäftigung, die er seit langen Jahren dessen Werken
gewidmet hat. Das eine kommt der Einleitung — „Storms Leben" und „Storms
menschliche Persönlichkeit" — zugute; besonders in dem zweiten Abschnitt
findet man manchen anziehenden, bisher unbekannten Zug zu dem Bilde
1) So neuestens in der 5. Auflage des Literarischen Ratgebers des Dürerbundes,
Sp. 161: „Den guten Scheffel kann man sich ohne Verlust schenken; wer es nicht lassen
kann, verschlinge den Trompeter und den Ekkehard in dem Bewußtsein, weder einem Histo-
riker noch einem Seelenkenner zu lauschen".
182 Stephan Ley,
des Dichters. Das andere gibt den Einführungen in die Dichtungen selbst
ihren besonderen Wert. Von ihnen erhält der Abschnitt über Storms Lyrik
eine willkommene Ergänzung durch die Angaben über das Entstehungsjahr
der einzelnen Gedichte und das Jahr des ersten Druckes, die mit Hufe von
Storms Tochter Gertrud festgestellt und dem Inhaltsverzeichnis der Ge-
dichte beigefügt sind; die Würdigung von Storms Novellenkunst ist reich
an Hinweisen, die über literarische und persönliche Zusammenhänge auf-
klären. Jedem Bande gehen schließlich Einführungen zu den einzelnen
Novellen voraus; hier mag man Zweifel hegen über die Zweckmäßigkeit der
eingehenden Inhaltsangaben, die allerdings die Hauptpunkte der Handlung
scharf hervortreten lassen und auch so dem Verständnisse vorzuarbeiten
suchen. Auch über Einzelpunkte wird man gelegentlich anderer Meinung
sein, so wenn in ,, Carsten Curator" nur die Naturnotwendigkeit die Gescheh-
nisse bestimmen soll ; es stützt sich diese Annahme freüich auf Storm selbst,
aber auch er wird gerade mit seiner Auffassung der Tragik keine unbedingte
Zustimmung finden, die „die Verantwortlichkeit für das Tun mehr der Ge-
samtheit — wie Volk, Stand, Zeit — als dem Einzelnen zurechnen will". —
Mir liegt augenblicklich nur die kleine Ausgabe vor, die in zwei Bänden außer
den Gedichten 23 Novellen und Geschichten samt dem Fragment ,,Die Arme-
sünderglocke" enthält.
Eine Auswahl, allerdings eine recht umfangreiche, stellt auch die Aus-
gabe des Verlags Bong dar, die Felix Lorenz mit einem Lebensbüd, einer
Einführung und Anmerkungen ausgestattet hat: die vollständige Sammlung
der Gedichte und 33 Prosadichtungen in zeitlicher Folge. Die Biographie
übertrifft die der anderen Ausgaben an Stimmungsgehalt, und zwar aus dem
einfachen Grunde, weil der Herausgeber oft seitenlang Storm selbst durch
Vermittlung seiner so anziehenden autobiographischen Aufzeichnungen
sprechen läßt. Einige Striche hätten immerhin hinzugefügt werden können,
sowie auch hier wieder einzelnes sich bestreiten läßt — etwa wenn Klaus
Groth Storms Freund genannt wird, was er im eigentlichen Wortsinne nach
Bieses Mitteilungen kaum gewesen sein dürfte. Die den Novellen vorausge-
schickte allgemeine Einleitung weist die Elemente von Storms Novellen-
dichtung nach und charakterisiert deren verschiedene Gattungen. Einzel-
einführungen sind dann nicht mehr gegeben, wohl aber am Schluß des letzten
Bandes Anmerkungen, die das Nötigste zum Verständnis beitragen wollen.
— Eine kleinere Auswahl desselben Verlags faßt in einem Bande unter dem
Titel „In Sturm und Sonne" die „schönsten" Novellen — 12 — und rund
60 Gedichte zusammen ; sie ist auf gutem Papier hübsch gedruckt, mit vier
bildlichen Beilagen und einer Handschriftprobe (wie die größere Ausgabe)
ausgestattet und stellt in ansprechendem weißen Leinenband ein empfehlens-
wertes kleines Geschenkwerk dar.
Die durch Karl Lindner im Habbelschen Verlag herausgegebene
Auswahl umfaßt vier Bände in kleinem Format. Hier sind zum Gebrauch
weiterer Kreise eine Anzahl Gedichte und 14 Novellen zusammengestellt,
die zur Erörterung von Weltanschauungsfragen, wie manche Stormsche
Neue Storm- Ausgaben. 183
Dichtung sie nahelegt, keinen Anlaß bietei|;|Die etwas gar zu knappe Bio-
graphie ist von Flüchtigkeiten sprachlichef*Art („er schloß mit der chroni-
kalischen Aquis submersus ab; es gebühriimni unbedenklich die Palme")
nicht frei. f j
Die Einleitung zu der Dunckerschen Ausgabe der „Ausgewählten No-
vellen" — elf an der Zahl — von Hermann Kellermann weist mehrfach
sachliche Ungenauigkeiten auf: „Constanze, um deren spröde Schönheit er
jahrelang vergeblich geworben" — in dieser Form mißverständlich; „er
begründet 1844 sein Eheglück mit Constanze . . . aber noch gönnt ihm die
Heimat keine Ruhe und Genügen" — immerhin währte es, wie gleich nachher
zu lesen ist, noch neun Jahre, bis Storm seine Vaterstadt verließ; Storms
zweite Frau hieß nicht Dorothea Jansen, sondern Jensen; und ob „Immen-
see" gerade „die schönste Frucht der Resignationspoesie" genannt werden
kann, ist mindestens fraglich. Auch die 34 Thalmannschen Bilder, zum Teil
Vignetten, zeugen nicht gerade von besonderer Vertiefung — man sehe etwa
die beiden ganzseitigen Bilder zu den Novellen ,,Die Söhne des Senators" und
„Beim Vetter Christian" ; die Ortsbilder haben von Husum oder auch nur
norddeutschem Städtecharakter keine Spur.
Walther v. Molo bietet als ,, Schönstes von Storm": Pole Poppen-
späler. Der Herr Etatsrat, Bötjer Basch und Schimmelreiter, dazu Der kleine
Hävelmann, untermischt mit 23 Gedichten. Daß der „Etatsrat" zu den am
meisten charakteristischen Novellen gehört, wird niemand bestreiten; ob
die Erzählung auch den schönsten beizuzählen sei, hängt von dem Inhalte
ab, den man diesem Worte gibt. Die Einleitung weiß in ansprechender, nur
zuweilen etwas gesuchter Form die Elemente von Storms Leben und Dichtung
und die bekanntesten Personen aus seinen Novellen zu einem dichterisch
geschauten Bilde seiner Persönlichkeit zu vereinigen. Das Buch ist schön
gedruckt; um so auffallender, daß man kein besseres Klischee für das Porträt
verwenden konnte.
In einem stattlichen Großoktavband stellt Fedor v. Zobeltitz 14 No-
vellen und 12 Gedichte zusammen — letzteres wenig genug; unter jenen
sind die kürzern Stücke bevorzugt, die zudem meist Storms früherer Schaffens-
periode angehören. Einleitung in der Hauptsache biographisch; hier stört
nicht nur der merkwürdige Satz: „Der Poetenkreis des Rütli und des Tunnel,
Fontane, Merkel ...u.a. begrüßte ihn als einen der Ihren" — auch die Charak-
teristik des wundervollen Gedichtes „Wer nie gelebt in Liebesarmen" durch
die Wendung „hübsche Verse" wirkt etwas oberflächlich.
Die Bartelssche Auswahl gehört zu einer Reihe von Auslesebänden,
die der Verlag Voigtländer neuerdings veröffentlicht i). Sie bringt unter
Ausschluß von Gedichten nur vier Novellen, und einer solch kleinen Zahl
gegenüber wird dann allerdings die Frage nach dem Werte der einzelnen
^) Ein zweiter Band „Altösterreichische Erzähler", ebenfalls von Bartels
zusammengestellt und eingeleitet, enthält 7 Erzählungen von Schriftstellern der Bieder-
meierzeit, zu deren jeder Hans Friedrich ein hübsches Titelbild gezeichnet hat (ungebd. 5,
gbd. 6,50 M.).
184 Stephan Ley,
ihre besondere Berechtigung haben, zumal wenn hier neben Psyche, Aquis
submersus und dem Schimmelreiter die kleine Geschichte Auf dem Staats-
hof steht. Meint aber der Herausgeber zudem noch : „Dieser Band ist vielleicht
von allen Storm-Neuveröffentlichungen am meisten geeignet darzutun, daß
Storm zuletzt doch etwas mehr als der Erzähler feiner Familiengeschichten
war", so schätzt er das Verdienst seiner kleinen Auswahl wohl etwas
zu hoch ein. Die Einleitung hat nicht gerade viel zu bedeuten. Was will
z. B. eine Bemerkung besagen wie diese: „Die Heldin ist eine zarte, feine
Gestalt, wie sie in diesen nordischen Gegenden neben den robusten wohl
vorkommen" — sollte das wirklich nur dort der Fall sein? Und wenn in der
Vorbemerkung zu Psyche der Kernpunkt mit den Worten bezeichnet wird:
„Sie schämt sich, daß der junge Mann sie in seinen Armen getragen, aber vor
einem Bildwerk des Künstlers, das den Retter und die Gerettete darstellt,
finden sich die beiden", so ist damit an dem eigentlich Entscheidenden, der
Darstellung des Vorganges in einer der Öffentlichkeit zugänglichen Gruppe,
ganz vorbeigesprochen.
Eine Reihe von Einzelausgaben sucht durch Billigkeit dem Bedürfnis
weiterer Kreise entgegenzukommen, und durch sie ist zugleich die Möglich-
keit geboten, einzelne Novellen für die Privatlektüre der Schüler heranzu-
ziehen*). In der Reihe von Schaffsteins Blauen Bändchen erschienen
z. B. die Geschichten aus der Tonne, Pole Poppenspäler, Bötjer Basch und
der Schimmelreiter, gut gedruckt, Zeichnungen meist von Ubbelohde mit
den Vorzügen und Schwächen seiner Bilder ; Pole Poppenspäler ist mitSchatten-
bildern von Börsner ausgestattet, die in ihrer Verkennung der Körper-
und Größenverhältnisse zuweilen komisch wirken. Der Verlag hat auch einzelne
Novellen (Der Schimmelreiter; Immensee und andere Geschichten) als kleine
Geschenkbändchen in besserer Ausstattung herausgegeben; warum beim
Schimmelreiter Storms eigene Worterklärungen ausgelassen sind, ist nicht
erfindlich. — Eine ganze Anzahl Novellen, bisher 25, ist auch schon in
Reclams Universalbibliothek erschienen, mit Einleitungen von Walther
Hermann, meist 2—4 Seiten umfassend, aber für eine erste Einführung
völlig ausreichend. Brauchbar sind insbesondere die kurzen Angaben über
Entstehung usw., bei denen Äußerungen des Dichters selbst herangezogen
werden; so ist zur Chronik von Grieshus eine Stelle aus Storms Tagebuch
mitgeteilt, die von seinem Enkel Enno Krey veröffentlicht wurde und für
das Werden dieser Erzählung besonders lehrreich ist. — Immensee und
Hans und Heinz Kirch aus dem Amelangschen Verlag gehören zu dessen
sog. Liebhaberausgaben und bieten die Texte ohne jede Zutat. Der-
selbe Verlag veröffentlicht noch eine gut gedruckte und zierlich ülustrierte
Ausgabe von Immensee mit 23 Abbildungen nach Hasemann und Kanoldt,
die das mehr Konventionelle der altern Buchillustration haben, aber
1) Soweit dabei Pole Poppenspäler in Frage kommt, hätte man im Interesse mög-
lichst allseitiger Verwendbarkeit die Stelle weglassen sollen, mit deren Ausschaltung Storm
selbst, wenn auch von der Notwendigkeit nicht überzeugt, beim Abdruck in einer Jugend-
zeitschrift sich einverstanden erklärte.
Neue Storm-Ausgaben. 185
manchen Leser doch noch eher ansprechen werden als die Extravaganzen,
mit denen neueste Richtungen unsern Dichtern gerecht zu werden meinen.
— Die Stormausgaben der sog. Zweifäusterdrucke sind zierliche Einzel-
bändchen, die in Format, Papier und feinem Druck („Frühlingsfraktur")
sich ausgezeichnet für die Aufnahme Stormscher Dichtungen eignen. Um
so weniger passen dazu die Steinzeichnungen von Robert Budzinski ; von dem
künstlerischen Werte dieser expressionistischen Darstellungen an sich ein-
mal abgesehen (am ersten wird man noch mit einigen Bildchen zu Immensee
sich befremden können) hätte man sich sagen sollen, daß diese Art der Illu-
stration mit der sonstigen Ausstattung sich zu einem einheitlichen Eindrucke
nicht zusammenschließt. — Neuerdings erschienen einige Novellen (Immensee
mit Späte Rosen und Ein Bekenntnis) in der „Sammlung Thümmler";
sie empfehlen sich durch bequemes Format, guten großen Druck und eine
besonders ansprechende Einbandzeichnung, die bei allen Bändchen der Samm-
lung i) verschieden ist. — Eine Einzelausgabe von Aquis submersus unter
dem verdeutschten Titel „In der Flut versunken" ist eingeleitet durch
eine biographische Skizze aus der Feder von Storms Tochter Gertrud;
die Bilder von Berwald, nicht ohne einzelne gelungene Züge, sind der Mehr-
zahl nach doch wieder zu sehr vom Herkömmlichen bestimmt.
Zum Schluftsei noch auf die neuen Storm-Ausgaben des Verlags
Westermann aufmerksam gemacht, der bis zum Ablauf der Schutzfrist über
die Gesammelten Werke zu verfügen hatte. Er hat neben der neuerdings
durch vier Briefbände (s. u.) erweiterten großen Ausgabe eine dreibändige,
ebenfalls vollständige, herausgebracht, bei der infolge der Zusammendrängung
auf verhältnismäßig beschränkten Raum die Druckanordnung etwas arg
enge genommen werden mußte; sodann eine sog. Storm-Bücherei, vier
Bändchen ausgewählter Novellen in Karton — von ihnen trägt die Ausgabe
des Pole Poppenspäler den Vermerk: 200. bis 210. Tausend! Besonders
wertvoll aber ist der durch ganzseitige Federzeichnungen von Soltau illu-
strierte Band mit einer Auswahl von Novellen und Gedichten : vornehm ge-
töntes starkes Papier, großer Druck und geschmackvoller Ganzleinenband
mit Kopfgoldschnitt — ein Meisterwerk des Buchdrucks, um so mehr anzu-
erkennen, als das Buch unter den schwierigsten Verhältnissen der Kriegszeit
hergestellt wurde.
Zu Storms Werken bilden eine unentbehrliche Ergänzung seine Briefe,
und zwar aus dem doppelten Grunde, weil sie die willkommenste Aufklärung
über deren Entstehung und weitere Geschichte geben und weil sie auch an
sich wieder wertvolle Erzeugnisse seiner Feder darstellen. Storm ist Zeit
seines Lebens ein leidenschaftlicher Briefschreiber gewesen, so daß noch eine
Fülle von Briefen aus dem Nachlaß und anderweitigem Besitz herausgegeben
werden konnte. Die Familienbriefe — an seine Braut, an seine
Frau, an die Kinder — hat seine Tochter Gertrud, die eifrige und ver-
1) Bisher 10 Nummern; außer Storm Erzählungen bzw. Liedersammlungen von
Stifter, Hauff, Mörike, Eichendorff und Heine. Durch diese Namen ist die Richtung des
neuen Unternehmens hinreichend gekennzeichnet.
186 Stephan Ley,
ständnisvoUe Verwalterin seines Nachlasses, als Band 9—11 der „Werke"
veröffentlicht, als zwölften die Briefe an die Freunde Brinkmann und
Petersen; diese vier Bände sind übrigens auch einzeln zu haben. In den
drei erstgenannten, die mit einigen Familienbildern geschmückt sind, steht
das Persönliche durchaus im Vordergrund; hier spricht der hingebende,
aber zuweilen auch etwas lehrhafte Bräutigam, der verständnisvolle Gatte,
der liebende Vater, auch der Fanatiker — sozusagen — der behaglich-sinnigen
Teeabende und der Meister in der Ausgestaltung der Weihnachtsfeier; viel
Schönes und Erfreuliches, nur zuweilen stört ein peinlicher Ton, so wenn
er seine Braut zum Verzicht auf die von ihm mißachtete kirchliche Trauung
zu bewegen sucht. Die Briefe an die Freunde gehen mehr auf die literarischen
Interessen ein, ohne die persönlichen auszuschließen.
Ähnlich ist es mit dem wichtigen Heyse-StormBriefwechsel, der
in wachsender Vertraulichkeit bis zum Tode Storms sich fortsetzt. Er ge-
währt einerseits anziehende Einblicke in das Familienleben der beiden Dichter
und läßt alle die liebenswürdigen Züge ihres Wesens, hier und da freilich
auch Unzulängliches in ihrer Lebensauffassung hervortreten ; auf der andern
Seite gibt er reiche Aufschlüsse über die Geschichte ihrer Werke und zeigt,
wie sie in offenherziger Kritik sich zu fördern suchen. Eine Zeitlang steht
im Mittelpunkte des Briefwechsels der Heysesche Novellensch#tz, an dem Storm
durch immer neue Vorschläge und Nachweisungen sich beteiligt. Der Heraus-
geber, Georg J. Plotke, hat den einzelnen Briefen die nötigen Erläuterungen
in verständiger Beschränkung und doch völlig ausreichendem Maße beigegeben.
Auch diese Bände bringen eine Reihe höchst interessanter Bilder aus dem
Famüienkreise der beiden Dichter.
Denselben Charakter trägt endlich auch der Briefwechsel mit Mörike,
nur daß bei letzterem dieZeit des Schaffens im wesentlichen schon vorbei war;
auch sonst ist Storm hier mehr der Gebende, insofern die größere Zahl der
Briefe, zumal der umfangreichern, von ihm stammt. Anhangsweise sind
auch die bis zu Storms Tode zwischen diesem und Mörikes Witwe gewechselten
Briefe gegeben. Der Herausgeber, Hanns Wolfgang Rath, hätte nur
auf die sonderbare und höchst störende Art verzichten sollen, mit der die An-
merkungen in den Brieftext eingeschoben sind, der dadurch auf Schritt und
Tritt, einmal z. B. auf den Raum von 20 Zeilen, unterbrochen wird^). Auch
empfihdet man die Regestenform, in der einige von Margarete Mörikes Briefen
gegeben sind, als etwas willkürlich, wie denn ja an sich schon diese Form
die Entscheidung über wichtig und weniger wichtig dem Ermessen des Be-
1) Dasselbe ist übrigens der Fall in dem von dem gleichen Herausgeber bearbeiteten
Briefwechsel zwischen Mörike und Schwind, auf den bei dieser Gelegenheit eben-
falls hingewiesen sei. Er ist gegen die frühere, von Baechtold besorgteAusgabe um 31 Nummern
vermehrt und erschließt auf glücklichste den persönlichen und künstlerischen Charakter
der beiden Männer: Schwind, der humorvolle Plauderer, der bei Gelegenheit kein Blatt
vor den Mund nimmt, Mörike, zurückhaltender und hier auch für die Probleme des Malers
interessiert. Dessen Zeichnungen zur Schönen Lau machen neben mehreren Bildnissen den
Bilderschmuck des Bandes aus (ungebd. 6, gbd. 9 M.).
Neue Storm-Ausgaben. 187
arbeiters überläßt; man hätte z. B. ihren Brief vom 21. November 1882 mit
Rücksicht auf das in Storms vorangegangenem Schreiben berührte Problem
gern vollständig abgedruckt gesehen. — Dieser Briefwechsel ist am reichsten
illustriert: außer 24 Tafeln mit wertvollen Porträts enthält er noch eine
Reihe von Bildern im Text.
Nachtrag. Eben bietet sich Gelegenheit, auch die von Albert Köster
besorgte Ausgabe des Insel verlags noch kurz zu charakterisieren. Sie wird
ausdrücklich als kritische bezeichnet und hat in dieser Beziehung ihre
Grundlage in des Herausgebers „Prolegomena zu einer Ausgabe der Werke
Theodor Storms" (Berichte d. Sachs. Gesellsch. d. Wiss., phil.-hist. Klasse,
1918). Den Niederschlag dieser Erörterungen findet man im 8. Bande der
vorliegenden Ausgabe: hier ist durch eine wohlbemessene Auswahl von Les-
arten und vor allem auch von größern Textänderungen das wünschenswerte
Licht über die bei Storm besonders interessante Textgeschichte verbreitet;
daneben kommt auch das Literargeschichtliche und Ästhetische zu seinem
Recht. Die Ausgabe beginnt mit einer Biographie, zu deren Lob man nichts
Besseres sagen kann, als daß ihr Verfasser ihr einen Hauch Stormscher Er-
zählerkunst mitzuteilen verstanden hat ; inhaltlich wird auch hier eins und
das andere verschieden beurteilt werden. Es folgen die Gedichte in zwei
Gruppen: die vom Dichter selbst veröffentlichten und die der Nachlese.
Die hier sich wiederholende Frage, ob man Dichtungen, die ihr Urheber
selbst zurückgehalten, nachträglich ans Licht ziehen dürfe, ist bei einem
so gewissenhaften Künstler wie Storm von besonderer Wichtigkeit ; ich möchte
mit Biese dabei bleiben, daß es nicht zulässig ist, „die längst von dem Dichter
als unreife Jugendlyrik in verdiente Vergessenheit zurückgewiesenen Ge-
dichte wieder hervorzuzerren". Immerhin ist anerkennenswert, daß Köster
nur das bringt, was schon einmal den Weg in die Öffentlichkeit gefunden,
dagegen von dem vielen noch Ungedruckten nichts benutzt hat. Die Novellen,
die die weitern Bände bis zum achten füllen, sind, wie Storm selbst es wünschte,
chronologisch geordnet. — Die äußere Ausstattung ist vortrefflich; sie stellt
in Verbindung mit den Innern Vorzügen, die Ausgabe in die erste Reihe der
vorhandenen.
Theodor Storms sämtliche Werke in acht Bänden, herausgegeben
von Albert Köster. Im Insel-Verlag zu Leipzig, 1920. Geb. in Ganzlw.
80 M.
Storms Werke, herausgegeben von Theodor Hertel. Kleine Ausgabe 4»
vollständige 6 Bände. Leipzig, Bibliographisches Institut. Geb. 28 bzw-
42 M.
Theodor Storms sämtliche Werke. 3 Bände. Braunschweig, Wester-
mann. Geb. 19 M.
Theodor Storm, Ausgewählte Werke, herausgegeben von Alfred Biese.
7 Teile in 2 Bänden. Leipzig, Hesse u. Becker. Geb. 10 M.
Storms Werke, herausgegeben von FeHx Lorenz. 3 Bände. Berlin, Bong
& Co. Geb. 18 M.
1 88 Kjell6n, Rudolf, Die Großmächte und die Weltkrise, angez. von Max Siebourg.
In Sturm und Sonne. Herausgegeben von Felix Lorenz. Berlin, Bong
& Co. Geb. 12 M.
Stör ms Werke, ausgew. von Karl Lindner. 4 Bände. Regensburg, Habbel.
Geb. 12 M.
Theodor Storm, Ausgewählte Novellen, mit Einleitung von Hermann
Kellermann. Weimar, Duncker. Geb. 8 M.
Das Schönste von Storm. Herausgegeben von Walther v. Molo. München,
Langen. Geb. 5 M.
Theodor Storm, Erzählungen und Dichtungen (so), herausgegeben und
ausgewählt (so) von Fedor v. Zobeltitz. München, Rösl. & Co. Geb. 10 M.
Am grauen Strand, am grauen Meer. Heimaterzählungen von Theodor
Storm, Einleitung von Adolf Bartels. Leipzig, Voigtländer. Geb. 6,50 M.
Stör ms Meisternovellen, mit Federzeichnungen von Soltau. Braun-
schweig, Westermann. Geb. 25 M.
Schaffsteins Blaue Bändchen, Nr. 101, 102, 103, 104; kart. je 0,80 M.
Immensee u. Schimmelreiter, Geschenk-Ausgabe, je 3 M.
Reclams Universalbibliothek, Nr. 6007, 6013-16, 6021-24, 6035-36,
6053-55, 6070-73. Ungeb. je 0,65 M.
Amelangs Liebhaberausgaben, geb. je 1,50 M. Immensee ill. Ausg.
Geb. 4,50 M.
Matthes' Zweifäusterdrucke, geb. je 2,50 M.
Sammlung Thümmler, geb. je 2,50 M.
Westermanns Stormbücherei, 4 Bändchen in Kart. 6 M.
In der Flut versunken (Aquis submersus) mit Einl. von Gertrud Storm.
Hamburg-Großborstel, Deutsche Dichter-Gedächtnis-Stiftung. Geb. 2 M.
Storms Briefe an seine Braut — an seine Frau — an seine Kinder
— an seine Freunde Brinkmann und Petersen. Braunschweig,
Westermann. Geb. je 6—8 M.
Der Briefwechsel zwischen Paul Heyse und Theodor Storm,
herausgegeben und erläutert von Georg J. Plotke. 2 Bände. München,
Lehmann. Geb. je 9,80 M.
Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Eduard Mörike,
herausgegeben von Hanns Wolfgang Rath. Stuttgart, Hoffmann. Geb.9M.
Wipperfürth. Stephan Ley.
Kjellen, Rudolf: Die Großmächte und die Weltkrise. Leipzig und
Berlin 1921. B. G. Teubner. 249 S. 8». - Kartoniert 9 M., geb. 11 M. +
100% Teuerungszuschlag.
Kjellens bekanntes Buch „Die Großmächte der Gegenwart", das von
1914—1918 in Deutschland 19 Auflagen erlebte, bedurfte nach dem Aus-
gang des Weltkrieges einer Erneuerung. Zwei Drittel davon sind umgearbeitet
in das neue Buch übergegangen; ein Drittel, „Die Weltkrise und das neue
System", sind hinzugekommen. Über die allgemeine Bedeutung des Werkes
zu sprechen erübrigt sich hier : es wird seinen Weg ebenso machen, wie das
alte Buch. Ein kurzes Wort dagegen verdient seine Bedeutung und sein
Graf von Pestalozza, Die Schulgemeinde, angez. von Borbein. i89
Wert für den Unterricht. Für die zusammenfassenden Betrachtungen und
Wiederholungen in der Geschichte und Erdkunde auf der Oberstufe bietet
Kjellen nicht nur das zuverlässige Material, er ist auch zugleich der rechte
Führer zu jener politischen Bildung, die uns so bitter not tut. Zu einer Fülle
von selbständigen Arbeiten, die der Primaner auf diesem Gebiete leisten
kann*, gibt das Buch Anstoß und Anleitung. Dabei ist es von höchster er-
ziehlicher Kraft, von einem Freunde mit unbestechlicher Wahrheitsliebe
die Schwächen und die Vorzüge unsresVolkes dargelegt zu sehen. Doch möchte
ich nicht verschweigen, wie befremdlich es mir war von einem Kenner wie
Kjellen das Sudelwerk Manns ,, der Untertan" als Quelle verwertet zu finden.
Ich wünsche und erhoffe demWerk die weiteste Verbreitung an unseren Schulen.
Pfaffendorf a. Rh. Max Siebourg.
Graf von Pestalozza, August Dr., Die Schulgemeinde. Ein Versuch zu
ihrem Aufbau auf philosophischer Grundlage. Langensalza 1921. Beyer
& Söhne. 170 S. 7,50 M.
Der Verfasser besitzt als Schriftsteller eine ausgeprägte Eigenart, die
in diesem Werk vielleicht noch stärker hervortritt als in früheren Schriften
gleicher Richtung. Er ist eine Persönlichkeit, die mit philosophischer Ver-
anlagung Warmherzigkeit und Sinn für die idealen Forderungen des mensch-
lichen Gemeinschaftslebens verbindet und daher sich nicht gern begnügt
mit dem rein verstandesmäßigen Denken, sondern zu den sachlichen Gründen
das bunte Rankenwerk des aus Erfahrung und Schrifttum schöpfenden
Gemüts hinzufügt. Diese Geistesrichtung gibt dem vorliegenden Buch Farbe
und Reiz, namentlich für alle Leser von ähnlicher Veranlagung, läßt den Ver-
fasser aber vielfach auch abschweifen auf Nebenwege, die vom Thema fort,
statt zu ihm hin führen, und mag so manchem, der eine Antwort auf die ihn
bewegenden konkreten Fragen sucht, hier und da enttäuschen. Auch der
Kritiker kann unter diesen Umständen nicht viel mehr sagen, als: Nimm
und ließ! Solches allerdings auch mit der ehrlichen Überzeugung, daß alle
Erzieher, denen der Gedanke der Schulgemeinde noch etwas Größeres ist
als bloß eine Tagesfrage, zu ihrem Rechte kommen werden.
Mit Entschiedenheit wendet Pastalozza sich in dem einleitenden Teil
gegen die Auffassung der Schulgemeinde als einer nur äußerlichen Organisation,
diese ist ihm vielmehr erst dann wertvoll, wenn sie das innere Leben wieder-
spiegelt. Um vom Schlagwort zur Idee zu gelangen, nimmt er Plato, Herbart,
Kant zu Hilfe, bekommt aber erst festen Boden unter die Füße, indem er
sich Dörpfeld und Rein zuwendet und in ihrem Geiste die wahre Schulge-
meinde faßt als eine Gemeinschaft Gleichwollender und Gleich-
strebender, beglückt und sich beglückend durch die Betäti-
gung wechselseitiger Hingabe im hohen Opferdienste des Ideals
der Hingabesittlichkeit. Eine solche Gemeinschaft kann naturgemäß
nicht gegründet werden, am wenigstens durch behördlichen Befehl und als
Massenerscheinung, sie wird nur da entstehen, wo das innere Bedürfnis dazu
drängt und äußere Umstände ihre Ausgestaltung begünstigen. Der Sinn und
1 90 Fünfundvierzigstes Jahrbuch d.Vereins Schweiz. Gymnasiallehrer, angz. v. L. Mackensen.
Kern der Schulgemeinde ist demnach überall derselbe, der Leib aber ver-
schieden, je nach den sozialen Verhältnissen und Bildungszielen der ver-
schiedenen Schularten. Daß eine solche Gemeinschaft sich nicht allein auf
die Schüler beschränken darf, daß außer den Lehrern auch die Eltern dazu
gehören, braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden. Daraus ergibt
sich Pestalozzas Stellung zu Wynecken und seinem schon bei Fichte und
Lagarde zu findenden Ausschluß der Elternschaft. Bei der großen Bedeutung,
die Wickersdorf und die Landerziehungsheime für die Verwirklichung und
Verbreitung des Gedankens der Schulgemeinde in Deutschland nun einmal
gehabt haben, hätte es sich doch wohl empfohlen, auf diese Neu-Philanthropen
näher einzugehen, wozu allerdings eine genauere Kenntnis der Schöpfungen
von Lietz, Wynecken und ihren Mitarbeitern (nicht nur ihrer Schriften, sondern
auch ihrer praktischen Versuche) gehörte, als sie der Verfasser zu besitzen
scheint.
Sehr anregend, vielfach grade deshalb, weil sie zum Widerspruch heraus-
fordern, sind nun die Einzelausführungen Pestalozzas über den möglichen
Ausbau der Schulgemeinde in Dorf, Klein-, Mittel- und Großstadt.
Für jede dieser Typen hält er ein eignes Schema für angebracht, ausgehend
von dem Leitsatz, daß ihr Leben sich kristallisiert um einen Eigenkern,
der von Natur gegeben ist. Etwas unvermittelt erscheint hierauf die Selbst-
verwaltung als eine (nicht die) der Lebensformen der Schulgemeinde.
Was der Verfasser dann aber über die bisherigen Erfahrungen und die in
Zukunft mögHchen Leistungen der Eigenregierung der Schüler zu sagen
hat, ist im hohen Mäße lehrreich und nutzbringend für alle Fachgenossen;
steht ihm doch hier das eigene Erleben in seiner Internatserziehung und die
Erfahrung als Leiter einer großen Berliner höheren Lehranstalt als wichtigste
Quelle zur Verfügung. Kürzer werden endlich in den letzten Kapiteln Eltern-
beirat und Kollegialsystem behandelt, sie gelten dem Verfasser (mit
Recht) als Zukunftsfragen, welche nur da richtig gelöst werden können,
wo in der Schulgemeinde, deren Ausdrucksformen sie sind, der rechte Geist
wohnt.
Cassel. Borbein.
Fünfundvierzigstes Jahrbuch des Vereins Schweizerischer Gym-
nasiallehrer. Aarau 1917. H. R. Sauerländer u. Co. 184 S. gr. 8.
Das Jahrbuch enthält den Bericht über die 45. Jahresversammlung
des Vereins Schweizerischer Gymnasiallehrer, die 1916 in Baden stattfand,
sowie die Berichte über die im Anschluß an jene veranstalteten Versammlungen
der Fachverbände der Mathematik-, Geographie-, Geschichts-, Deutsch-,
Naturwissenschaftslehrer, Neuphilologen und Seminarlehrer. Von den in
den einzelnen Versammlungen gehaltenen Vorträgen, die das Jahrbuch teils
vollständig, teils in abgekürzter Form bringt, werden die über ,,die Behand-
lung der fremden Namen im Deutschen" sowie über „die nationale Aufgabe
der Mittelschule" auch bei uns weitere Kreise interessieren, während die
in den einzelnen Sektionen gehaltenen ein mehr fachwissenschaftliches In-
M. Kullnik, Die Neuordnung des deutschen Schulwesens, angez. von L. Mackensen. 191
teresse haben. Das Jahrbuch zeugt von dem regen wissenschaftlichen Geist,
der die Tagung durchdrang, wie von der verständnisvollen, ein einheitliches
Ziel verfolgenden Zusammenarbeit aller Teilnehmer.
Kullnick, M., Die Neuordnung des deutschen Schulwesens und
das Reichsschulamt. Berlin 1919. Mittler &. Sohn. 36 S. 8«. M 1,30.
Der als Vorsteher der Preußischen Auskunftsstelle für Schulwesen
weiten Kreisen bekannte Verfasser lehnt in der vorliegenden Schrift die Ein-
führung eines völlig neuen Einheitsschulsystems auf Grund seiner in der
Einheitsschule der Vereinigten Staaten gewonnenen Erfahrungen für Deutsch-
land als überflüssig ab und führt aus, daß unser Schulwesen, wenn es durch
zeitgemäße Änderungen und Umgestaltungen verbessert wird, allen gerechten
Anforderungen zu genügen vermag. Er will die jetzt bestehenden Schularten
im wesentlichen erhalten wissen, hält aber eine Verkürzung der Schulzeit
für unbedingt nötig und empfiehlt daher den Lehrgang der Vollanstalten
zu einem sechstufigen umzuwandeln. Die Gründe, die Kullnick für eine solche
Verkürzung ins Feld führt, vermag ich als stichhaltig nicht anzuerkennen,
glaube vielmehr, daß die Durchführung der von ihm geforderten Maßnahme
zu einer schweren Schädigung und Verkümmerung unseres gesamten Bil-
dungswesens führen würde, der man aufs schäifste entgegenarbeiten sollte.
Die gleichen bedenklichen Folgen würde die vorgeschlagene Zerlegung der
Universität in eine wissenschaftliche Hochschule für solche, die praktische
Zwecke verfolgen, und die eigentliche Universität für die, die nur der Wissen-
schaft leben wollen, haben. Als Mittelpunkt des gesamten deutschen Schul-
wesens verlangt der Verfasser die Gründung eines Reichsschulamts, das weniger
Verwaltungsbehörde als oberste Reichsstelle zur Erzielung möglichst voll-
kommener Einheitlichkeit sein und weniger befehlen und anordnen als be-
raten und Anregungen geben soll. Diesem Reichsschulamt weist Verfasser eine
Reihe von Aufgaben zu, deren Durchführung gewiß großen Segen stiften würde.
KuUnicks Ausführungen fordern mehrfach zu schärfstem Widerspruch
heraus, enthalten aber daneben manchen ansprechenden Gedanken und
seien daher der Beachtung der • Fachgenossen angelegentlich empfohlen.
Schmidt. F; A;. Volksvertretung und Schulpolitik. Berlin 1919.
Georg Reimer. 53 S. 8». 1,60 M.
Die vorliegende Schrift wendet sich an die Volksvertretung, zu deren
Aufgaben die prinzipielle Regelung des Schulwesens und seines Verhält-
nisses zu Staat und Kirche gehört, und will dazu beitragen, daß nicht die Zu-
fälligkeit der gerade vorhandenen Meinungen entscheidet, sondern „die
in unserm Volke nach Verwirklichung ringende Bildungsidee" erfaßt wird
und bei den verfassungsmäßigen Festsetzungen den Ausschlag gibt. Sie geht
von dem Grundsatze aus, daß das Volksbildungswesen ein sozialer Organis-
mus ist, der sich durch die Bildungsarbeit aller für alle entwickeln muß.
Die Erziehungsschule als Fundament des Volksbildungswesens soll zwar der
staatlichen Gesetzgebung und allgemeinen Verwaltung unterstellt bleiben,
192 FA. Schmidt, Volksvertretung und Schulpolitik, angez. von L. Mackensen.
in bezug aber auf geistige Ordnung, Handhabung und Entwicklung der Bil-
dungstätigkeit aus dem Zustand der Obrigkeitsverwaltungen in den der
sozialen Selbstverwaltung ihrer Familien-, Schulbeamten- und Lehrerschaft
hinübergeleitet werden. Um diese Sozialisierung des Schulwesens
zu erreichen, wünscht der Verfasser eine Gliederung des ganzen Volkes
in selbsttätige Schulgemeinden mit daraus hervorgehenden Schulvorständen,
Kreis-, Provinzial- und LandesschulkoUegien und ist überzeugt, daß nur auf
diesem Wege unserm Volke die ihm bisher noch fehlende Einheit der geisti-
gen Gesinnung gewonnen werden kann. Er fordert, daß die Wissens-
bildung in den Dienst der einheitlichen Gesittungsbildung gestellt werde
und die Organisation des Schulwesens darauf gerichtet sei, für alle Berufs-
stände des Volkes die Grundlage einer gleichwertigen sittlichen Persönlich-
keitsbildung zu schaffen, auf der erst eine geistige Nationaleinheit erwachsen
könne. Dieses oberste Ziel aller Bildungsarbeit sei für alle Schulgattungen
dasselbe; alles andere, auch die verschiedenartige Gestaltung des Wissens-
unterrichtes, sei nur von jener höheren Einheitsbestimmtheit aus zu bemessen.
Die Verfolgung dieser Aufgabe, die Jugend zu demselben Ziel der Persönlich-
keitszucht heranzubilden, mache alle Schulgattungen zu gleichwertigen
Gliedern des nationalen Bildungsorganismus und führe damit zu einer koordi-
nierenden Organisation unseres Bildungswesens, die die wahre Nationale
erziehung verlange. An den Einheitsschulbestrebungen unserer Tage, die nach
seiner Meinung auf ein rein mechanisches Aneinanderketten der verschiedenen
Schulgattungen abzielen, übt Schmidt scharfe Kritik: er bezeichnet eine auf
diesem Wege erzielte Vereinfachung als .unpädagogisch und unsozial, da sie
die große Masse der Minderbegabten auf eine niedrige Bildungsstufe herab-
drücke und die Volksschule durch Fortnahme der Begabten zu einer geistigen
Armenschule herabwürdige, und ist überzeugt, daß sie alle Lehranstalten
bis hinauf zur Universität den schlimmsten Schädigungen aussetze.
Es ist ein Verdienst der vorliegenden Schrift, daß sie den Blick von aller-
hand Äußerlichkeiten, die in der Literatur über Schulreform und Einheits-
schule einen immer breiteren Raum einnehmen, hinweg auf das lenkt, was
unserm Bildungs- und Erziehungswesen in erster Linie nottut. Wenn trotz-
dem ihre Lektüre unbefriedigt läßt, so liegt das daran, daß der Verfasser
nur allgemeine Grundsätze aufstellt und Wünsche äußert, nicht aber auch
zugleich den Weg angibt, auf dem seine Forderungen sich verwirklichen
ließen. In einer Schrift, die sich nicht nur an die zünftigen Pädagogen, sondern
an weite Kreise und an die Volksvertreteung wendet, ist dieser Mangel doppelt
empfindlich.
BerUn-Pankow. L. Mackensen.
-CNQs9-
Oruck von C Schulze & Co., a tn. b. H., Gräfenhainichen.
I. Abhandlungen.
Lehrplanpolttik. Pädagogische Erwägungen eines Humanisten.
Die Stellung der Anhänger des Gymnasiums ist unleugbar dadurch er-
schwert, daß sie selbst mit den tatsächlichen Ergebnissen des altklassischen
Unterrichts durchaus nicht zufrieden sein können. Je höher sie ihr humani-
stisches Ideal halten, um so bitterer kommt ihnen die Unzulänglichkeit des
Erreichten zum Bewußtsein. Aus solchen Erwägungen heraus haben wohl
auch die Freunde des humanistischen Gymnasiums ihr bekanntes Preis-
ausschreiben erlassen ; mit mir werden aber wohl viele Fachgenossen die preis-
gekrönten Aufsätze mit einer gewissen Enttäuschung beiseite legen, denn
für die Praxis, und auf die kommt's doch gerade an, springt gar wenig dabei
heraus. Aus der Praxis sind die folgenden Ausführungen erwachsen. Sie
machen, fußend auf der alten pädagogischen Forderung der Konzentration,
die sie neu begründen und ausbauen, den Vorschlag, durch geeignete Organi-
sation die Leistungen des Gymnasiums zu heben.
Wenn wir nüchtern die Ergebnisse des Unterrichts in den klassischen
Sprachen mit der aufgewandten Zeit vergleichen, so springt uns das Miß-
verhältnis geradezu in die Augen. Ein gut Teil der geleisteten Arbeit ist
unproduktiv gewesen. Spüren wir die Stellen auf, wo Energie nutzlos ver-
pufft, so wird uns beim einzelnen Arbeitsakt keine große Energieverschwen-
dung aufstoßen, der Fehler steckt vielmehr zum größten Teil in der Verkettung
der einzelnen Arbeitsaktreihen. Es ist nämlich durch den Lehrplan nicht
genügend dafür gesorgt, daß die einzelnen Arbeitsakte und Arbeitsreihen
zweckmäßig aufeinander folgen, daß die vielen Einzelrädchen reibungslos
ineinander greifen.
Führen wir durch den Lauf eines Schülerjahrgangs durch alle Klassen
des Gymnasiums einen Längsschnitt in einem Fach, etwa dem Lateinischen,
so werden die Entwicklungslinien der einzelnen Kenntnisse und Erkennt-
nisse, die auf dem Schnittband sich zeigen, nicht glatt durchlaufen, sondern
bald hier bald da abreißen, durch andere verdrängt werden, oft nach kräftigen
Anfängen gänzlich verschwinden, oder nach längeren oder kürzeren Zwischen-
räumen wieder auftreten. Die Reißstellen werden vielfach mit dem Über-
gang aus einer Klasse in die andere und dem damit verbundenen Lehrer-
wechsel zusammenfallen. Jede Unterbrechung bedeutet aber infolge des
Übungsverlustes Arbeitsverschwendung, am unleidlichsten, wenn geleistete
Arbeit überhaupt nicht für die Zielleistung ausgenutzt wird. Bei der Lage
der Dinge können wir uns doch die Verschwendung nicht leisten, mangelnde
greifbare Leistungen mit der durch die geistige Tätigkeit an sich gesteigerten
Leistungsfähigkeit zu entschuldigen, Leistung und Fähigkeitssteigerung
Monatschrift f. h»h. Schulen. XX. Jhrg. 13
194 Ernst Lotz,
müssen vielmehr Hand in Hand gehen. Der häufige Lehrerwechsel, der ja
leider auch meist einen Wechsel der Lehrmethode mit sich bringt, ist mit-
hin gar sehr vom Übel. Wie groß in solchen Fällen der Arbeitsverlust zu sein
pflegt, mag man aus dem regelmäßig damit verbundenen Rückgang der
Klassenleistungen ermessen, dauert es doch eine ziemliche Zeit, bis Lehrer
und Schüler aufeinander eingespielt sind, d. h. bis die von dem neuen Lehrer
bevorzugten Kenntniskomplexe durch feste Assoziationen den Schülern
geläufig geworden sind, naturgemäß auf Kosten anderer nun versinkender
Komplexe.
Auf anderen Ursachen beruht wiederum die Lückenhaftigkeit des Er-
kenntnisfortschrittes in der Lektüre. Tritt z. B. in HI A Ovid an die Stelle
des Caesar, so wird leider nur zu oft der ganze Vorstellungskomplex, der
während seiner Lektüre zusammengeschossen ist, allmählichem Vergessen
anheimgegeben. Das wirkt zudem lähmend auf den Eifer der Schüler, der
dauernde Früchte seines Fleißes ernten will und sich sehr hütet, nutzlos sich
zu plagen. Daher rührt meines Erachtens auch die mit Recht beklagte mangel-
hafte Kenntnis der Altertümer. Hat der Schüler nämlich erst gemerkt,
daß die Daten aus dem Leben Caesars, die er sich in III B eingeprägt hat,
weiterhin nicht mehr von ihm verlangt werden, so lernt er die aus dem Leben
Ovids von vornherein nur für die nächsten Stunden. Die Energie und Arbeits-
zeit wird hier zur Aneignung von Kenntnissen angewendet, die an sich zur
Erreichung des gesteckten Ziels unerläßlich sind, deren Verlust infolge mangeln-
der Wertung notwendig die Zielleistung herabsetzen muß, aber ihre Auf-
wendung wird unproduktiv, weil die erzielte Einzelleistung ohne organisches
Zusammenwachsen mit dem gesamten Bildungsprozeß rasch der Vergessen-
heit anheimfällt. Der Arbeitsverlust geht also hier einzig auf die fehlende
Organisation zurück. Das Bild der antiken Kultur setzt sich doch mosaik-
artig aus den Einzelkenntnissen in dem Bewußtsein der Schüler zusammen,
einheitlich und wirkungsvoll kann es nur bei deren steter Verfügbarkeit
sein. Dasselbe gut mutatis mutandis von der Grammatik. Auch da dürfen
Kenntnisse, die einmal erarbeitet sind, nicht durch mangelnde Übung für
einige Zeit unter die Schwelle des Bewußtseins sinken. Denn auch das be-
deutet Arbeitsverschwendung. Ich halte es deshalb für grundverkehrt,
wenn z. B. Ostermann in seinen Übungsbüchern die Regeln vom A. c. I.
im Vorbeigehen in V. mitnimmt, in IV. gelegentlich behandelt, ohne ihn aber
in dem Übungsstoff weiterhin zur Anwendung zu bringen, und ihn schließ-
lich in III. endgültig behandelt. Die drei Durchnahmen sind durch viel
zu lange Pausen voneinander getrennt, als daß sie sich gegenseitig unter-
stützen könnten*), höchstens können Überbleibsel einer andersgestalteten
Erklärungsweise, wie sie bei dem Lehrerwechsel nicht ausbleiben können,
Verwirrung stiften, und bedeuten infolgedessen reine Zeitverschwendung.
Jedenfalls ist einmal gründlich Behandeln und dann eindringliches Üben
besser als ein paarmal für den Augenblicksbedarf ohne dauerndes Wieder-
1) Eine referierende Darstellung der einschlägigen psychologischen Gesetze bei Marx
Lobsien, das Gedächtnis, Osterwieck 1913, daselbst auch weitere Literatur.
Lehrplanpolitik. 195
holen. Wie groß der Kenntnisverlust beim Aussetzen der Übung ist, haben
ja die Kohlenferien usw. zur Genüge gezeigt. Es gilt nun solche Arbeits-
verluste durch planmäßige Organisation der Lehrpläne der Einzelfächer
zu beseitigen. Meine Vorschläge folgen weiter unten.
Zunächst aber wollen wir auch einen Querschnitt nicht sowohl durch
den Kenntnisstand als das Pensum einer Klasse legen. Für unsere Zwecke
genügt die Betrachtung des Deutschen, Lateinischen und Griechischen etwa
in II A. Wir finden vielleicht im ersten Vierteljahr in der Lektüre: deutsch:
Hildebrands- und Nibelungenlied ; lateinisch: Livius, Virgil; griechisch: Hel-
lenica, Herodot, Odyssee. Da fällt zunächst auf, daß drei Epen nebenein-
ander behandelt werden. Diese Häufung wesentlich gleichgearteter Eindrücke
ist sicherlich der gewünschten Wirkung abträglich, denn ästhetisch zumal
verbindet sich mit einer Summe gleicher Eindrücke das Unlustgefühl der
Langenweile^). Etwas ganz anderes ist es, wenn etwa die Einübung der
griechischen Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen mit einer Wiederholung
der entsprechenden Kapitel der lateinischen Syntax verbunden wird).
Denn bei solchen grammatischen Darlegungen handelt es sich darum, ge-
wisse Nervenbahnen durch häufige Benutzung besonders leicht durchfahr-
bar zu machen und diese Leitungsbahn mit möglichst vielen anderen durch
geläufige Assoziationen in die Quere zu verbinden, so daß der Schüler über
die Erscheinung der Einzelsprache vordringt zur Erkenntnis des psycho-
logischen oder logischen Grundgesetzes. In einem solchen Fall ist das er-
strebte und wertvolle Ziel allerdings in der geistigen Schulung an sich be-
schlossen, während die zu seiner Erreichung verwendeten Hilfsmittel später
ebenso bedeutungslos sind, wie die Rüstbalken nach Vollendung eines Baues.
Ästhetischer Genuß leidet eben unter der Wiederholung gleichförmiger Ein-
drücke, während verstandesmäßige Reaktionen durch häufiges Auftreten
der entsprechenden Reize nur sicherer gestaltet werden. Deshalb müßte
das Nebeneinanderbehandeln gleichartiger Lektürestoffe in den ver-
schiedenen Fächern vermieden werden, es sei denn, daß gerade durch Ver-
gleichung eine höhere Erkenntnis vermittelt werden soll, aber auch da wird
man stets zu überlegen haben, ob man nicht durch ein Nacheinander zu
demselben Ziele kommt. In unserem Beispiel zeigt sich solches Nebeneinander
auch, wenn Livius, Xenophon und vielleicht noch im Französischen das
beliebte Journal d'un officier d 'ordonnance von Herisson gelsen wird. Es
empfiehlt sich wenigstens die poetische und prosaische Lektüre in den ver-
schiedenen Fächern miteinander zu kreuzen, wenn man sich nun einmal
nicht entschließen kann, minderwertige Schriftwerke der einen Literatur
(hier: Hellenica, Aneis) zugunsten der wertvolleren, gleichartigen der anderen
(Livius, Odyssee) kurzerhand zu beseitigen.
Umgekehrt tritt auch in II A der Fall besonders eindrücklich in die Er-
scheinung, daß alle sprachlichen Fächer (Deutsch, Latein, Griechisch, Fran-
») Vgl. Stölir, Psychologie, S. 162 usw.
*) Vgl. A.Thimme, Paralielsyntax der griechischen und lateinischen Sprache, 3. Aufl.
Hannover 1912.
13*
196 Ernst Lotz,
zösisch, Englisch unter Umständen selbst das Hebräische) um des allgemeinen
Bildungszweckes willen in engste Gemeinschaft gebracht werden müssen.
Denn zusammen genommen bieten sie reichen Stoff zur Einführung in die
Sprachentwicklung, und deren Gesetze kann der Schüler obendrein unter
kundiger Führung selbst erarbeiten. Solche Gelegenheit zu schöpferischer
Arbeit darf nicht ungenutzt bleiben. Eine planlose Neben- oder Nachein-
anderbehandlung des gleichen Problems in den verschiedenen Fächern würde
verderbliche Zersplitterung und Verflachung des Interesses bedeuten. Die
Gesamtbehandlung muß vielmehr verabredeterweise einemFach überlassen
bleiben, während die anderen hierauf nach ihren Sonderzwecken weiter
bauen. Durch die allgemeine Behandlung ist für die Assoziationen des EinzeU
fachs die günstige „Konstellation" 2) geschaffen.
Einer wirklich zweckmäßigen Organisierung des Gesamtunterrichts
steht das bei uns herrschende scharf ausgebildete Fachlehrersystem im
Wege. Je mehr sich aber der Verfasser mit diesen Fragen beschäftigt, um
so klarer ist ihm geworden, daß gerade dieses den Unterricht in seinem Ge-
samtertrag verringert, weil es die Bildungsgüter verzettelt. Es wird wohl
allgemein zugestanden, daß die Unterrichtsergebnisse der bayrischen Gym-
nasien etwas erfreulicher sind. Das kann sich nicht aus dem Schülermaterial
erklären, denn das ist in Preußen mindestens gerade so gut, auch nicht
aus der Stundenzahl, denn diese war — jetzt ist's ja umgekehrt^) —
nicht so wesentlich größer, auch nicht aus einer durchgängigen pädagogischen
Überlegenheit der Lehrer, wenn auch für deren pädagogische Ausbildung
auf der Universität seit Jahr und Tag besser gesorgt war (Professuren für
Gymnasialpädagogik, die mit einer für klassische Philologie verbunden zu
sein pflegen !) eher schon aus dem geschickter aufgebauten Lehrplan, sondern
hauptsächlich aus dem dort noch herrschenden Klassenlehrersystem.
Ist der Klassenlehrer in II A, wie es in Bayern meist der Fall ist, der Vertreter
des Deutschen, Lateinischen, Griechischen, dann hat er es ohne weiters in
der Hand, diese drei Fächer in einer Synthese zu vereinen, zu der vielfach
auch noch die Geschichte hinzutritt. In solcher Synthese liegt aber der Er-
ziehungswert des Gymnasiums beschlossen. Denn nur dann ist's eigentlich
möglich, die antike Lektüre für den deutschen Unterricht und seine Auf-
sätze recht nutzbar zu machen, oder allgemein gesprochen, „die griechische
Kultur zu benutzen, um dem Deutschtum zur Bewußtheit zu verhelfen"*).
Bei unserm schroff ausgebüdeten Fachlehrersystem kommt es sogar vor,
daß Grammatik und Lektüre derselben Sprache in verschiedenen Händen
liegen ; mit ihm ist aufs engste die Facheifersucht verschwistert. Der Lehrer
des Deutschen weiß gar nicht, was im Griechischen betrieben wird, ja wenn
1) Vgl. übrigens meine demnächst bei Teubner erscheinende griechische Formen-
lehre auf sprachwissenschaftlicher Grundlage.
2) Ziehen, Physiologische Psychologie, S. 318ff.
«) Vgl. den Aufsatz des Vf.: Die Verkürzung des Lateinunterrichts in: Vierteljahrs-
schrift für phil. Päd. 1917/18 S. 288ff.
*) A. Fischer in Norrenberg, Die höhere deutsche Schule nach dem Weltkrieg, S. 26.
Lehrplanpolitik, I97
er's wüßte und benützen möchte, so liefe er Gefahr, die Kreise des Kollegen
zu stören. Es ist mir vorgekommen, daß ich die Lektüre des Königs ödipus
habe absetzen müssen, weil im deutschen Unterricht für irgendein Schick-
salstragödienthema das Sophoklesstück vorher in der Übersetzung gelesen
wurde. Derartige Mißgriffe müßten ein für allemal verhindert werden können.
Freilich Vereinbarungen von Fall zu Fall bleiben bestenfalls ein Notbehelf,
letzten Endes kann nur die Einheit der Erzieherpersönlichkeit befriedigenden
Wandel schaffen, denn langfristige Bindungen durch ins Einzelne gehende
Lehrpläne, von denen unten die Rede sein wird, bedeuten doch wieder in ge-
wisser Beziehung eine Beeinträchtigung der Lehrfreiheit. Mit Recht erhebt
deshalb die moderne Pädagogik immer wieder den Ruf nach Erzieherpersön-
lichkeiten. Nur der Mensch, nicht die Methode ist und wirkt lebendig. Darauf
beruht doch eben der nicht wegzuleugnende erzieherische Erfolg der Scharrel-
man, Lietz und letzten Endes auch Wynecken, daß sie sich als Menschen
und nicht als Wissenschaftler geben.
Man mag sonst über die Definition des Ich als „Summe der Bewußt-
seinsinhalte" denken, wie man will, für die pädagogische Betrachtung ist
sie fruchtbar. Wenn das Ziel der Erziehung die Heranbildung eines har-
monischen Menschen, der zu selbständiger Teilnahme an dem staatlichen
und kulturellen Leben befähigt ist, besteht, so wird es am besten erreicht,
wenn die einzelnen Bewußtseinsinhalte, die die Schule an ihre Zöglinge heran-
bringt, mit breiten Assoziationsflächen ineinander greifen und so zu einem
einheitlichen Gebilde verschmelzen, nicht aber in einzelne Felder, die durch
schmale Assoziationsstreifen verbunden sind, zerfallen. Darin liegt ja auch
gerade der Wert der humanistischen Bildung, daß sie auf die Erziehung
des Vollmenschen ausgeht, nicht aber eine Vorbereitungsanstalt für bestimmte
Berufe sein will, wie es die Oberrealschule tut. Aber die Aufteiltung des
Unterrichts nach Fächern zerfasert die Einheit des humanistischen Bildungs-
willens, der sich auf allen Gebieten — auch in der Mathematik und Physik 1 —
auswirken müßte, in Kleinbetriebe philologischer Einzel Wissenschaften.
Diese philologische Ausartung des Unterrichts aber macht ihn lebensfremd
und liefert dem Gegner die schärfsten Waffen. Ich führe an anderer Stelle
aus, wie die Reifeprüfungen durchaus den Eindruck erwecken, daß das huma-
nistische Gymnasium nur Einzelkenntnisse aus Sprache, Literatur usw.
vermittle, nicht aber imstande sei aus diesen einzelnen durch die analytische
Tätigkeit der Wissenschaft gewonnenen und übermittelten Tatsachen durch
schöpferische Synthese das Weltbild antiken Menschentums erwachsen zu
lassen, ein Vorwurf, der übrigens in womöglich noch stärkerem Maße auf die
Universitäten wirklich zutrifft. Die Gymnasialbildung ist heute einem Bündel
von Stäben aus verschiedenem Stoff vergleichbar, die durch das Band der
Schule zufällig verbunden sind, wächst nun der Mensch aus der Schule hinaus,
wird so das haltende Band abgestreift, dann fallen die Stäbe auseinander
und werden leichtlich zerknickt. Sie sollte sein gleich einem Baum, der aus
der Erde mannigfachen Elementen, aus dem Wasser der Wolken und aus der
Luft seine Säfte saugend, auch wenn die Schulzeit verstrichen, um den alten
198 Ernst Lotz,
Kern immer neue Ringe wachsen läßt. Dann ist die Erziehung vollendet,
wenn sie im Leben draußen bestehen bleibt.
Wie sich das erreichen läßt, ist bereits in der Kritik angedeutet. Schon
jetzt wird, wenigstens von den Methodikern^) gefordert, daß derselbe Lehrer,
der mit dem lateinischen Anfangsunterricht betraut ist, auch das Deutsche
vertritt und ebenso im HIB Latein und Griechisch in denselben Händen
liegt, in beiden Fällen soll der verbundene Unterricht mindestens zwei Jahre
in denselben Händen bleiben. Schon der Umstand, daß eine Überlastung
der Schüler vermieden wird, wenn der Lehrer seine Aufgaben auf zwei Fächer
einspielt, empfiehlt eine solche Anordnung. Im Gegenteil dazu haben die
Direktoren vielfach eine Abneigung dagegen, zwei Hauptfächer in eine Hand
zu legen, so kommt es vor, daß der lateinische und griechische Unterricht
in den beiden Tertien übers Kreuz verteilt wird. Grundsätzlich ist aber zu
fordern, daß möglichst viele Fächer in einer Klasse in der Hand eines Lehrers,
der dann mit Fug Ordinarius heißt, vereinigt werden. Dazu muß diesem
gegenüber den Gefachen des Stundenplans eine gewisse Freiheit eingeräumt
werden, daß er z. B. in einer Woche lateinische Stunden häufe, in einer anderen
deutsche oder griechische, wie es das Bedürfnis des Unterrichts erheischt;
selbstverständlich mag er auch ab und an den Unterricht verschiedener
Fächer miteinander verquicken. Solche Freiheit haben sich die Landerzie-
hungsheime längst genommen und fahren nicht schlecht dabei. Allerdings
müßte der Ordinarius seine Maßnahmen schriftlich dem Direktor oder der
Fachkonferenz gegenüber begründen, damit nicht Sonderliebhabereien über
Gebühr den Gang des Unterrichtes beeinflussen. Liegen nun große Unter-
richtskomplexe in einer Hand, so wird der Lehrer einerseits rein triebmäßig
die Häufung gleichförmiger Lektüre in den Parallelfächern meiden, weil
sie ihm selbst zum Ekel werden würde, und er so die Unlust der Klasse viel
besser würdigen kann, anderseits wird er ganz von selbst seinen Unterricht
als eine Einheit auffassen und so das Spezialistentum vermeiden und über-
winden. Er hat die Möglichkeit, Assoziationsketten in vielfachen Windungen
durch die verschiedenen Fächer zu schlingen. Nicht nur die Stoffauswahl
sondern erst recht die Darbietung gestaltet sich harmonischer. Dazu lernt
derLehrer seineKlasse, und diese ihn allseitiger kennen, hinter dem erziehenden
Menschen tritt der Spezialist, hinter dem Pädagogen der Didaktiker zurück^).
1) Z. B. Dettweiler S. 21.
*) Nicht bedeutungslos scheint mir dabei auch die Möglichkeit zu sein die Begünsti-
gung nicht gewollter Assoziationen durch die von anderen, namentlich dem jeweils unmittel-
bar vorausgehenden, Fächern geschaffenen Konstellation zu vermeiden. Solche Begünsti-
gung nicht gewollter Assoziationen durch Konstellation liegt vor, wenn nach einer Stunde
französischen Anfangsunterrichtes im Lat. toujours, oder nach einer griechischen in HIB
fugomes statt fugimus geschrieben wird. Die Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinung wird dem
Lehrer, der den ganzen Unterricht überschaut, viel eindringlicher sein, als dem Vertreter
eines Faches, und er wird stets durch eine stark Assoziationen bildende Übung, etwa Vokabel-
abfragen, zu Beginn der neuen Stunde eine Umschaltung der Bewußtslage hervorrufen.
Dieses Mittel verschlägt natürlich nichts, wenn die falschen Assoziationen nicht durch Kon-
stellation sondern festere Einführung an sich hervorgerufen sind, wenn z. B. Oberlyzealistinnen
statt libenter venu: amavit venire übersetzen.
Lchrpianpolitik. 199
Die ideale Organisation des Lehrplans innerhalb eines Jahrgangs wäre mithin
die Vereinigung aller Fächer mit Ausnahme der jetzt aus dem Rahmen der
anderen Fächer herausfallenden Mathematik i) in einer Hand. Freilich ist
das bei dem Umfang unserer Wissenschaften heute ein unerfüllbarer Wunsch.
Deshalb müßte an Stelle der empirischen Einheit der Erzieherpersönlichkeit
die ideale Einheit des Erzieherwillens, die sich in der Klassenkonferenz dar-
stellt, treten. Denn auch noch so sorgsam ausgearbeitete Sonderlehrpläne
bleiben nur ein Fetzen Papier, Wenn durch gelegentliches gegenseitiges
Hospitieren die Kollegen über die Lehrweise des anderen unterrichtet sind
und durch nicht zu knappe Eintragungen im Klassenbuch über den Fort-
schritt im Pensum auf dem Laufenden bleiben, dann werden die Vertreter
der Einheit des Erzieherwillens auch die Einheit der Bildung zur Erscheinung
bringen. Die Töne der Einzelfächer werden sich zum Akkord des Gesamt-
unterrichtes vereinen.
Aber mit dieser Organisation in die Quere ist es nicht getan, zu ihr muß,
wie oben gesagt, noch die Organisation durch die Länge der ganzen Schul-
zeit eines Jahrgangs hindurchkommen. Zunächst erscheint es auch hier
zur Vermeidung von Arbeitsverlust wünschenswert, daß ein Lehrer mehrere
Jahre den Unterricht weiterführt. In der Mathematik pflegt ja schon jetzt
ein Wechsel des Lehrers nach Möglichkeit vermieden zu werden, so daß eine
straffe Durchführung des einmal gewählten Lehrplans ermöglicht und Arbeits-
vergeudung vermieden wird. Die Erfolge sind durchaus günstig! Aber in
den humanistischen Fächern ist es erwünscht, daß auf die Schüler nachein-
ander das Ethos verschiedener Erziehercharaktere wirkt, deshalb ist es un-
tunlich, daß derselbe Lehrer eine Klasse von VL bis l. führe, zumal wenn
er nicht reiner Fachlehrer ist, und das haben wir doch gerade als wünschens-
wert bezeichnet. Infolgedessen sind hier geschriebene Organisationshilfen
unerläßlich.
Von grundsätzlicher Wichtigkeit ist dabei auch eine Vereinbarung über
manche Äußerlichkeiten. Dahin gehört u. a. eine einheitliche grammatische
Terminologie. Wie unsere Technik zwecks Arbeitsersparnis nach Normali-
sierung ihrer Arbeitsmaschinen und Grunderzeugnisse trachtet, so müssen
auch unsere Lehrbücher normalisiert werden. Da fehlt's jetzt, trotz der Mah-
nung unserer Lehrpläne^), sehr. Während z. B. die lateinische Grammatik
mit den Termini Akk. usw. Objekt arbeitet, benutzt die französische gern
die Ausdrücke näheres und entfernteres, direktes und indirektes Objekt.
Wiederum reden manche deutsche Grammatiken von einem Präpositional
oder Verhältnisobjekts), das der lateinischen Grammatik fremd ist. Dieser
1) Es wäre die Frage, ob nicht auch diese bei andersartigem Aufbau sich dem Kreis
der humanistischen Fächer anpassen ließe. Vgl. Hollmann, Die Volkshochschule, 2. Aufl.
Berlin 1919, S. 112.
*) Meth. Bern, für das Griech. 1.
») Z. B. von Sanden, Deutsche Sprachlehre, 11. Aufl. S. 15, desgl. Berendes Anleitung
zum Konstruieren (Paderborn 1912), vgl. Prigge, Deutsche Satz- und Formenlehre, Ausg. B.
27-29. Aufl. S. 96.
200 Ernst Lotz,
Wechsel in der Terminologie verursacht viele Verwirrung und nicht zu unter-
schätzenden Arbeitsverlust. Hier ist auch die Forderung nach einem ein-
heitlichen Schema für das Konstruieren zu erheben, mag man nun mit Fr. Hoff-
mann das meines Erachtens bessere analytische Verfahren*) einschlagen,
oder bei dem alten synthetischen bleiben ; in letzterem Fall muß aber streng
Prädikat und Verbum finitum auseinander gehalten werden. So sehr der
Verfasser für die Freiheit des Schulbuchs eintritt, so sehr \\ünscht er das
Erscheinen eines Sprachwerks für alle Idiome unter denselben leitenden
Gesichtspunkten. Auch eine amtliche Verlautbarung über eine maßgebende
Terminologie wäre wünschenswert. Aber das sind mehr Fragen des Hand-
werks. Normalisierung ist noch nicht Organisation.
Bei der Aufstellung des Lehrplans für das Einzelfach ist auch auf das
Ziel des Gesamtunterrichts gebührend Rücksicht zu nehmen, denn die be-
treffende Wissenschaft wird doch nicht um ihrer selbst willen betrieben.
Das muß sich dann auch in der Methodik geltend machen, die jetzt allzusehr
auf den Vorteil des Einzelfaches ausgeht. Aber ebenso scharf ist auch das
gesteckte Sonderlehrziel ins Auge zu fassen und ohne Umschweife zu erstreben.
Deshalb wird man, trotz aller Rücksicht auf die Freiheit des einzelnen Lehrers,
auch auf bestimmte Grunsdätze in der Erklärung abkommen. Ich greife
als Beispiel die Tempuslehre heraus. Es ist zweckwidrig, wenn in der Tertia
die lateinische Tempuslehre aus praktischen Gründen einfach als Beschreibung
des Tatbestandes gegeben und eingeübt worden ist, in Sekunda nun bei der
Wiederholung Zeitstufe und Aktionsart zu unterscheiden. Bei der Masse
der Schüler wird man nur Verwirrung anrichten. Auch diese Betrachtungs-
weise kann ja später im griechischen Unterricht zu ihrem Recht kommen.
Eine Vereinbarung erscheint mir um so wichtiger als vielfach die Neigung
besteht, gegen die Grammatik in der Darbietung entweder stillschweigend
oder ausdrücklich durch Diktat der Regeln in anderer Fassung zu polemisieren,
bei Lehrerwechsel, der doch nicht ausbleiben kann, weiß dann der Schüler
gar nicht mehr, woran er sich halten soll. Über solche Fragen muß sich die
Fachkonferenz einigen und unter Umständen die Einführung einer neuen
Grammatik beantragen. Bücher, wie die lateinische Schulgrammatik vor-
nehmlich zu Ostermanns lateinischen Übungsbüchern, Ausgabe A und B,
müßten nach Waldecks vernichtender Kritik eigentlich seit Jahr und Tag
verschwunden sein^).
Die Freiheit des Lehrers in der Wahl der Lektüre muß ferner ebenfalls
ihre Grenzen in der Geschlossenheit der Gesamtlektüre finden. Ich meine,
etwa in HIB müßte in einer Konferenz der Lektüreplan in allen Sprachen
für den betreffenden Jahrgang auf die ganze Schulzeit in groben Umrissen
festgelegt werden, wobei darauf Rücksicht zu nehmen wäre, daß einerseits
die gelesenen Schriftwerke aus verschiedenen Literaturen sich ergänzten
und anderseits jede einzelne von ihnen in ihren bemerkenswertesten Erschei-
1) Fr. Hoffmann, Der lateinische Unterricht auf sprachwissenschaftlicher Grundlage,
Leipzig 1914, S. 158ff.
2) Waldeck: Prakt. Anl. zum U. in der lat. Gram. 3. A. Halle 1911, S. 148ff.
Lehrplanpoiitik. 201
nungen zur Geltung käme. Für die antiken Sprachen könnte man zwei ver-
schiedene Wege einschlagen, indem man entweder im wesentlichen eine
Kulturprovinz gründlich behandelte und von ihr aus das Gesamtbild der
Antike zu zeichnen versuchte, oder indem man die ganze Lektüre chresto-
mathieartig aus kleineren Proben aller Gebiete zuschnitte.
Aber wie man auch den Gang der Lektüre wählen mag, stets wird fest-
zustellen sein, daß die vermittelten Ausschnitte zu klein sind, als daß sie ohne
weiteres zu einem Gesamtbild zusammenschössen. Um das erstrebte Ziel
zu erreichen, gilt es noch andere Mittel heranzuziehen. Am nächsten liegt
die Ergänzung der Originallektüre durch den Gebrauch von Übersetzungen.
Aber dieser Weg ist zu zeitraubend, um oft beschritten zu werden. Die so
dringend nötige Einführung in die antike Kunst läßt sich zudem auch auf
diesem Wege nicht erreichen, wie überhaupt das Zuständliche im Altertum
schriftstellerisch kaum zusammenhängende Darstellung gefunden hat. Und
doch können wir auf die Übermittlung solcher Kenntnisse nicht verzichten,
nur das Auswendiglernen von Kompendien ist unwürdig! Jetzt freilich be-
schränkt sich die Behandlung selbst der antiken Plastik auf die wenigen Stun-
den, die gelegentlich herausgespart werden. Nur Bayern kennt die Ein-
richtung der archäologischen Kurse, ohne daß sie an den Katalog, der vierte
Verrine heißt, angehängt werden. Die Beschränkung der alten Geschichte
durch den neuen Lehrplan wird auch die Kunst der Alten noch spärlicher
behandeln lassen. Ebenso pflegt aber auch die Kenntnis der hochentwickelten
antiken Technik und der darauf beruhenden Blüte des Kunstgewerbes meist
unter den Gymnasiasten zu fehlen, von anderem ganz zu schweigen.
Zur Ausfüllung dieser klaffenden Lücken wird man schicklich die so-
genannten freien Vorträge der Schüler in etwas anderer Gestaltung heran-
ziehen können. Jetzt wird im deutschen Unterricht der Zeitersparnis wegen
häufig auf ihr Halten verzichtet. Und in der Tat bedeuten sie für diesen
keine germge Belastung, zumal die Themata naturgemäß aus Gebieten ent-
nommen sind, die dem Gang des Unterrichts fern liegen, so daß nur die red-
nerische Form einschlägig ist. Aber auch für die Vertiefung der Erkenntnis
in dem Fach, dem sie entnommen sind, kommen sie bei dem Fehlen jeglicher
Organisation kaum inBetracht, es sei denn, daß der deutscheLehrer auch andere
Fächer vertritt, wie es grundsätzlich in allen Fächern zu fordern ist. Würde
aber nach eben dieser Forderung ein Lehrer mit mehreren Fächern, etwa
Deutsch, Griechisch und Geschichte betraut, so könnte er mit gutem Ge-
wissen je nach dem behandelten Thema die Vorträge auch dem Griechischen
oder der Geschichte zuweisen, so daß sich die Belastung der Zeit auf drei
Fächer verteilte, würde wenigstens durch regelmäßige Sitzungen der Klassen-
konferenz der Gesamtunterricht vereinheitlicht, so könnten diese Vorträge
immerhin in weiterem Umfang nutzbar gemacht werden als jetzt. Für die
klassischen Sprachen handelt es sich, wie bereits angedeutet, vornehmlich um
kunst- und literaturgeschichtliche, dazu antiquarische Belehrung. Den Stoff
zu solchen Vorträgen finden die Schüler reichlich in Sammlungen wie : Aus
Natur und Geisteswelt (Teubner), Wissenschaft und Bildung (Quelle & Meyer),
202 Ernst Lotz, Lehrplanpolitik.
Gymnasialbibliothek (Bertelsmann), Quellenbücher (Voigtländer). Selbst-
verständlich müßten diese Vorträge in den Gang des Unterrichts eingepaßt
werden. Zu einer wirklichen Anschauung vom Altertum gehören nun ein-
mal bestimmte der oben genannten Kenntnisse ; Sache des auszuarbeitenden
Lehrplans ist es, das wichtige und unerläßliche von dem minder bedeut-
samen zu sondern und dementsprechend die Aufnahme in den Kanon stufen-
mäßig zu bestimmen. Das Wichtigste muß dann auch dauernd eingeprägt
und immer wieder, auch imAbiturium, als unerläßlich vorausgesetzt werden.
So muß der Schüler eine immer begründetere und umfassendere Kenntnis
des antiken Schrifttums usw. erhalten. Nebenbei sei noch bemerkt, daß die
staatsbürgerliche Bildung tatsächlich sehr gut mit dem lateinischen und grie-
chischen Unterricht verbunden werden kann, ja eine solche Verbindung
erzielt sogar eine wesentlich kemhaftere Erkenntnis als eine einfache Dar-
bietung der bei uns bestehenden Verhältnisse, aber es muß eben dafür gesorgt
sein, daß auch die staatlichen Verhältnisse der Antike, als deren Gegenbild
die der Gegenwart herausgearbeitet werden, in einem Zusammenhang und
der nötigen Vollständigkeit behandelt werden.
Es würde viel zu weit führen, die Einzelheiten meiner Vorschläge näher
auszumalen. Die Verbindungsfäden nützlicher Assoziationen lassen sich
allenthalben ziehen, z. B. zwischen der Behandlung eines Sophokleschors
und dem Gesangsunterricht, auch das Turnen kann für die Marschlieder be-
deutsam werden, zwischen dem Religionsunterricht und der Platolektüre,
zwischen Horaz und dem neuesten Expressionismus. Selbstverständlich
gilt auch hier das Wort ne quid nimis. Nie dürfen die Lehrpläne für den
Lehrer eine Fessel werden, denn dann stirbt der Erfolg.
Wird auf die angedeutete Weise der Unterricht auf dem Gymnasium
zur Einheit zusammengefaßt, dann braucht man um seine Zukunft keine
Sorgen zu haben, denn dann wird sich der in ihm ruhende Bildungswert
so deutlich zeigen, daß kein Verständiger ihn leugnen kann. Wir wollen
Menschen erziehen nicht Philologen, und wenn wir das tun, wird niemand
uns schelten.
Freilich wird manchem dünken, meine Vorschläge ließen sich so leicht
nicht in die Wirklichkeit umsetzen, bedeuten sie doch streng durchgeführt
einen Bruch mit dem herrschenden Fachlehrersystem. Für die Praxis ist
aber der Unterschied so groß nicht. Denn schon jetzt gibt der klassische
Philologe ohne weiteres Deutsch bis II Bund ebenso Geschichte, Erdkunde
und zuweilen Religion. Bekommt er nun seinen Unterricht mehr in einer
Klasse zusammengelegt, so würden wir eben die Systemänderung schon
haben. Auch für die oberen Klassen ließe sich vielfach die wünschens-
werte Vereinheitlichung schaffen, nur dürfte dann unter keinen Umständen
das Privileg der ältesten Kollegen auf den Unterricht in den Primen irgendwo
bestehen bleiben.
Um zusammenzufassen: Bei der gefährdeten Lage des humanistischen
Gymnasiums gilt es möglichst rasch Maßnahmen zu ergreifen, die seine Lehrer-
folge derart zu steigern vermögen, daß ihr Wert allgemein anerkannt werden
Knögel, Inwieweit hat Mittellateinisch im Oymnasialunterricht seine Berechtigung ? 203
muß. Diese Maßnahmen müssen einfach sein, denn zu weitschichtigen Ex-
perimenten werden die Gegner dem Gymnasium keine Zeit lassen, und sie
dürfen nichts kosten. Mein Vorschlag wird dem gerecht und scheint mir
anderseits sichere Gewähr für den Erfolg zu bieten. Selbst bei etwaigen
Beschränkungen des klassischen Unterrichts wird er fruchtbares Arbeiten
ermöglichen. Er verlangt ja nichts anderes als Einheitlichkeit des gesamten
Unterrichts; in den Gymnasien früherer Zeiten war sie zu finden, weil über-
haupt die Bildung auf den antiken Autoren beruhte, weil schon die Form,
in der sie geboten werden mußte, antik war. Denken wir daran, daß der Vater
des Modernen Gymnasiums selbst, Gesner, in seiner Isagoge in eruditionem
universalem gegen den alleinigen Betrieb der M ttersprache letzten Endes
nur anzuführen wußte: ^^Videat modo aliquis in bibliotheca nostra, quanta
ibi vis sit librorum Latinorum, et quanti thesauri Latina lingua custodiantur.
Invenies XX libros Latinos pro uno Gallico, et C forte, pro uno Germanico,
ex guibus hauserunt, qui j.utantur reliquis pylitiores^'-^)
Berlin-Lichterfelde. Ernst Lotz.
Inwieweit hat Mittellateiniscii im Gymnasialunterricht
seine Berechtigung?
In der letzten Zeit mehren sich die Stimmen, die im Gymnasialunterricht
für das Mittellatein Platz verlangen. Wortführer sind Literaten (wie Hof-
miller in den Süddeutschen Monatsheften, Mai 1917) und Hochschullehrer
(wie Traube, Paul v. Winterfeld, Konrad Burdach, Paul Lehmann, Voßler).
Da mag es denn allmähHch Zeit werden, daß auch der praktische Schulmann
zu der angeregten Frage Stellung nimmt, vor allem über ihr Verhältnis zu
der Gesamtaufgabe des Gymnasiums, über das Maß des Erreichbaren, über
die praktische Ausgestaltung der nahe beieinander wohnenden Gedanken.
In der ausgesprochenen Absicht, durch die Erfahrung in das Problem näher
einzudringen, habe ich daher im Laufe des Wintersemesters 1919/20 am
Frankfurter Lessinggymnasium mit den Unterprimanern Einhards vita Caroli
Magni gelesen. Diese Lektüre empfiehlt sich, weil Einhard stark von Sueton
abhängig und daher der Übergang von den klassischen Werken des Alter-
tums nicht gerade unvermittelt und schroff ist. Dazu ist das Werk-
chen für die Historiker der folgenden Jahrhunderte nach Sprache und Be-
handlung des Stoffes vorbildlich geworden. Zu diesen formalen Vorzügen
kommt ausschlaggebend der nationale Gehalt, der sich um eine der größten
germanischen Herrscherpersönlichkeiten gruppiert^) .
Der Versuch hat mich nicht gereut, vor allem auch deshalb, weil es über
Einhard und die Geschichtschreiber hinaus auch an das Mittellatein anderer
1) 1. c. S. 114.
*) Benutzt wurde die Ausgabe von Alfred Holder (Germanischer Bücherschatz von
A. H.). Freiburg und Tübingen 1882 (bei Mohr). Vergriffen war das Bändchen aus den
Scriptores rerum Gernt-^nicarum in usum scholarum ex monumentis Germaniae historicis
separatim editi. Hannover und Leipzig (bei Hase) 1911.
204 Knögel,
Kulturgebiete heranführte und weitere AusbHcke eröffnete. Das innere
Interesse nahm immer mehr zu, es schied sich allmählich, was an der Forderung
berechtigt, was unberechtigt ist, ihre Durchführbarkeit erschien in bestimmten
Grenzen nicht ausgeschlossen. Denn herangetreten an das Problem war ich
mit der grundsätzlichen Stellungnahme : wir wissen, was wir an den römischen
Klassikern haben, die Ziele des lateinischen Unterrichts sind einheitlich und
geschlossen, die zur Verfügung stehende Zeit ist knapp und beschränkt.
In der Internationalen Wochenschrift (August 1919) hat Karl Voßler
sich über die neue Forderung so ausgesprochen : „Es klafft im Bildungsplan
unsrer Gymnasien zwischen dem antiken und modernen Geist eine riesen-
hafte Lücke, die durch Staaten- und Kriegsgeschichte und durch einige mittel-
hochdeutsche und neusprachliche Lektüre notdürftig und eilfertig über-
brückt wird." Daher fordert Voßler mit Burdach i), der griechische und la-
teinische Unterricht solle die lediglich rückwärts gewandte Betrachtungsweise
endlich abstreifen, „bei der die Antike immer nur in sich selbst gespiegelt
wird, während ihre fortzeugende Wirkung und Umbildung ins Mittelalterliche
und Moderne zu kurz kommt". Voßler weist weiter darauf hin, „wie tief
die Nationalliteratur der Deutschen, der Franzosen, der Italiener in dem
gemeinsamen Nährboden des mittellateinischen Schrifttums und Bildungs-
wesens verwurzelt sind". Man wird diese Gesichtspunkte gelten lassen müssen,
und damit erhält dann der Versuch, durch die schulmäßige Lesung der
Einhardschen Schrift näher an und in die Sache vorzudringen, auch die innere
Berechtigung.
Ich habe auf die 33 Kapitel etwa 18 Stunden verwendet. Die Lektüre
ist leicht und bedarf kaum der Präparation. Der Satzbau ist im ganzen ein-
fach oder doch übersichtlich; auch die Mammutkonstruktion im Kapitel 15
beweist nichts dagegen. Unterschiede zwischen dem Latein der üblichen
Schulschriftsteller und dem imitierten Suetonlatein machten sich fast aus-
schließlich in lexikalischer Hinsicht bemerkbar; der Kuriosität halber mag
erwähnt sein, daß uns gleich im ersten Kapitel das Adjektiv modernus be-
gegnet, das sich zu modo (eben erst) verhält, wie hodiernus zu hodie und das
uns doch so unlateinisch anmutet. Manche Vokabeln stehen nicht in den
Schulwörterbüchern und müssen vom Lehrer angegeben werden. Das Ver-
ständnis macht, vielleicht von der Einleitung abgesehen, keine Schwierig-
keiten. Das hegt zum guten Teile daran, daß der Inhalt durchweg den Schülern
bekannt und geläufig ist; damit hängt dann wieder zusammen, daß die geistige
Arbeit geringer ist, als wenn durch das Übersetzen Neuland entdeckt wird.
Vergleichen wir Einhards Schrift einem durch den nationalen Gegenstand
wertvollen und uns wohlvertrauten Gemälde, dessen ganze Fläche übertüncht
ist, wie das in der Geschichte der Kunst wohl vorkommt, so bedeutet das
Übersetzen lediglich einEntfernen dieser Tünche, eine Arbeit, die zwar in einem
gewissen technischen Können beruht, aber im ganzen doch eine mechanische
1) Deutsche Renaissance. Betrachtungen über unsere künftige Bildung. Berlin,
Mittler und Sohn, 1916 (Deutsche Abende. Vierter Vortrag).
Inwieweit hat Mitteüateinisch im Oymnasialunterricht seine Berechtigung? 205
und handwerksmäßige Arbeit bleibt. So verstehen wir, daß man schnell
lesen kann, ja, man muß es, wenn sich nicht Langweile einstellen soll, vor
der auch die Freude am nationalen Inhalt auf die Dauer keineswegs schützt.
Alles in allem : eine mehr leichtverdauliche und schmackhafte, als eine nahr-
hafte und kräftige Kost ; die Zähne haben zu wenig zu tun, man wird sie leicht
überdrüssig. Diese Gefahr wird auch nicht dadurch ausgeglichen, daß die
Lektüre, leicht wie sie ist, sich vortrefflich zum Nacherzählen in lateinischer
Sprache eignet.
Der Gegensatz zu den klassischen Schriftstellern kommt vielmehr immer
mehr zum Bewußtsein, so daß die Schrift neben und mitten unter diesen
bald als ein Fremdkörper erscheint. Und wenn wir tiefer graben, wird der
Gegensatz noch offensichtlicher und greifbarer; denn er ist tiefgehend, fast
grundsätzlich. Das Werkchen widerspricht der ganzen Wertschätzung und
Würdigung der Sprache, aus der allein die höhere Schule die Berechtigung
herleiten darf, alte und moderne Sprachen zu Eckpfeilern ihres ganzen Auf-
baus zu machen. Wir wissen, die Sprache ist weder Kern noch Schale, sondern
beides mit einem Male; wir wissen, es ist der Geist, der sich den Körper baut;
wir wissen, Inhalt und Form gehören organisch zusammen. Das ist bei Einhard
nicht der Fall. Mag auch der Gebrauch der lateinischen Sprache sich noch
so selbstverständlich aus der Kultur der Zeit ergeben, für unser modernes
sprachliches Empfinden klafft da ein tiefer Spalt zwischen Inhalt und Form.
Es ist für unsern Geschmack ein Unding, daß wir hinter der fremdländischen
Hülle wohlbekannte nationale Personen und Dinge entdecken, wo wir rö-
mische Anschauungen und römische Verhältnisse kennen zu lernen erwarteten.
Dieser Dualismus zwischen Inhalt und Form ergibt eine Zwitterbildung,
bei der wir weder des Inhalts noch der Form froh werden, und er steht in
fundamentalem Gegensatz zu den Schriftstellern, die man gerade deshalb
die klassischen nennt, weil bei ihnen das Innere in dem Äußeren den ihm
wie selbstverständlich zukommenden Ausdruck gefunden hat.
Neben diesem mehr formalen und zugleich mehr als formalen Gegensatz
zwischen Einhard und den römischen Schriftstellern macht sich der inhalt-
liche Unterschied zwischen den Kulturwelten geltend, ein Unterschied, der
durch die gemeinsame Tünche der lateinischen Sprache zwar überkleistert,
aber keineswegs weggewischt ist. Die mittelalterliche Schrift ist losgelöst
vom Römertum und damit von den letzten Wurzeln, aus denen der Latein-
unterricht am Gymnasium seine Kraft saugt. Gewiß, wir beschäftigen uns
mit Latein auch um des Lateins, um der Sprache selbst willen, und die ganze
Entwicklung des Faches hat gezeigt, welche formal bildenden Kräfte da
latent waren, Kräfte, wie sie wohl keine zweite Sprache in sich birgt. Und
doch dürfen wir darüber nicht übersehen, daß diese Seite des Unterrichts
etwas Sekundäres ist, wie schon die Geschichte eben dieses Unterrichts zeigt.
Das Primäre bleibt und muß bleiben, daß in dieser Sprache die römischen
Klassiker geschrieben haben, die kraft ihres inneren Wertes in der euro-
päischen Kulturgeschichte ihre „fortzeugende Wirkung" bewiesen haben.
Das hat Zielinski in seinem trefflichen Büchelchen „Cicero im Wandel der
206 Knögel,
Jahrhunderte" an einem typischen Beispiel gezeigt. Cicero vertritt uns hier
das römische Schrifttum überhaupt, und es ist bezeichnenderweise nicht
die Rede von den Wirkungen und der Bedeutung der lateinischen Sprache,
sondern der in dieser Sprache niedergelegten unvergänglichen Kulturwerte
des römischen Altertums. Es könnte für den Untergrund und den ganzen
Aufbau des Gymnasiums gefährlich, vielleicht verhängnisvoll werden, wenn
diese reinliche Scheidung verkannt oder auch nur verschoben würde: das
Gymnasium verlöre an seiner inneren Geschlossenheit und damit den besten
Teil seiner Stoßkraft.
Verstehen wir uns aber recht; es handelt sich hier zunächst nur um den
Lateinunterricht, den es gilt einheitlich zu erhalten. Ob Einhard vielleicht
in Deutsch oder Geschichte Platz finden kann, ist damit noch gar nicht ge-
streift und ist überhaupt hier noch nicht spruchreif. Und weiterhin : es handelt
sich hier nur um das auf dem Römertum aufgebaute Gymnasium. Ganz
anders liegen die Sachen schon beim Realgymnasium, bei dem die Rücksicht
auf das Römertum zurücktreten darf und dem die Entwicklung näher liegen
mag als die Quellen. Das gilt noch in höherem Grade von der Ober-
realschule, die die lateinische Sprache aus praktischen Bedürfnissen heraus
betreibt. Wenn hier Einhard dem lateinischen Anfangsunterricht zugrunde
gelegt würde, so wüßte ich kaum, was dagegen einzuwenden wäre. Auch
in den Anfängerkursen an der Universität scheint er in gleicher Weise am
Platze zu sein.
Es ist unverkennbar: Einhard, neben die römischen Klassiker gestellt,
ergibt ein Gespann, das nicht an demselben Strange zieht. Nicht zum Schaden
für die Klassiker. Denn durch den Zwiespalt wird es den Schülern selbst
augenfällig zum Bewußtsein gebracht, worin deren bleibender Wert besteht
— so etwa, wie die Ausnahme die Hauptregel erst ins rechte Licht stellt.
Das ist nun freilich ein Vorzug, an dem Einhards Schrift selbst wenig
Verdienst hat. Wohl aber dürfen wir es diesem als Verdienst anrechnen,
daß der Lehrer nach mancher Richtung wissenschaftlich gefördert wird:
der Altphilologe durch die Beziehungen zu Sueton, der Historiker, weil er
eine Quellenschrift liest, der Germanist durch die darin vorkommenden Per-
sonennamen, Monatsnamen, Windbezeichnungen altgermanischer Prägung,
die zu sprachlichen Erörterungen einladen. So wird der Fachmann je nach
seiner Interessenrichtung den Unterricht beleben und ausgestalten, und doch
wird es ihm kaum gelingen, den Gesamteindruck auf seine Schüler zu einem
nachhaltigen und tiefgehenden zu machen. Gewiß, sie treten mit gespannter
Aufmerksamkeit und hohen Erwartungen an die neue Aufgabe heran —
fast als ob sie hier so etwas wie einen praktischen Erfolg ihres Lateinlernens
sähen; sie freuen sich, den Nationalhelden gleichsam unmittelbar und per-
sönlich kennen zu lernen. Aber das Interesse erlahmt gar bald, und die Stim-
mung schlägt fast ins Gegenteü um. Die jungen Leser fühlen sich enttäuscht;
sie lernen ja nichts Neues hinzu — weder für ihre Gedankenwelt noch für
ihre Tatsachenkenntnis. Was sie da lesen, ist ihnen längst bekannt und ge-
Inwieweit hat Mittellateinisch im Gymnasial Unterricht seine Berechtigung? 207
läufig. Der Unterricht bietet ihnen nichts, jedenfalls nicht das, was s'e
erwartet hatten.
Und das ist dann die nächstliegende Lehre, die ich aus meinem Ver-
suche mit Einhards vita Caroli entnehmen möchte: die in Anspruch ge-
nommene Zeit war zu lang. Sie kann bei späteren Versuchen gekürzt
werden. Gelesen werden muß die gehaltvolle Einleitung und was im
Anschluß daran über die Merovinger und die Hausmeier berichtet wird.
Es dürfen zurücktreten die Kapitel 4 — 15 über Karls des Großen Kriege.
Bessere Schüler berichten in lateinischer Sprache über bestimmte, von ihnen
präparierte Abschnitte. Die zweite Hälfte (Karl im Frieden) verdient wieder
eingehendere Berücksichtigung. Das Schlußkapitel (mit dem Testament
des Kaisers) wird nicht gelesen, doch führen die drei dort erwähnten, von
Künstlerhand verfertigten Tische, die auf ihren Platten Rom, Konstantinopel,
den ganzen Erdkreis darstellen, auf die geographischen und topographischen
Vorstellungen des Mittelalters, die mit denen des Altertums aufs engste
zusammenhängen, und daß der Lehrer über diese Kulturzusammenhänge
das Nötigste sage, ist ganz im Sinne der Gründe, aus denen die Beschäftigung
mit dem Mittellatein neuerdings verlangt wird.
Wir besinnen uns auf unsere Aufgabe, die in Einhard nur ihre Grundlage
haben sollte. Bevor wir aber über diesen hinausgehen, muß ein Einwand
grundsätzlicher Art besprochen werden, der die Lektüre des Einhard betrifft. Es
liegt doch nahe dieses einzuwenden : weshalb sollen wir überhaupt die Geschicht-
schreiber deutscherVergangenheit in lateinischerSprache lesen? Eine deutsche
Übersetzung wäre doch hier viel eher am Platze. Was sonst von der Minder-
wertigkeit der Übersetzung gegenüber dem Original vorgebracht wird, hat
seine volle, ganze Berechtigung. Nur hier verfängt es nicht. Hier liegt die
Sache vielleicht gradezu umgekehrt. Denn eine gute Verdeutschung Einhards,
in der also die neue äußere Form dem nationaldeutschen Inhalt entspricht, wird
für unser modernes Empfinden zum Original. Und das Gymnasium braucht
sich keineswegs zu schämen, deutsche Geschichte nicht auf dem Umwege
über die Fremdsprache kennen zu lernen. Ja, wenn es sich um die Römer
Cäsar oder Tacitus handelte ! Ja, wenn das Gymnasium noch die alte Latein-
schule mit ihren vielen Lateinstunden wäre! Heute hat der altphilologische
Lehrer recht eigentlich in der Beschränkung sich als Meister zu erweisen:
so darf und muß uns auf dem Gebiete unsrer mittelalterlichen deutschen
Geschichtschreibung die Sprache des Mittellateins zurücktreten; die Sache
selbst kommt auch in der Übersetzung ausreichend zur Geltung.
Ich wüßte nicht, was man dagegen Überzeugendes vorbringen könnte.
Andererseits aber ergibt sich, daß die Frage der Beschäftigung mit Mittellatein
nur einseitig erledigt worden ist, so lange wir sie nämlich auf die Historiker be-
schränkten. Und noch in einer anderenBeziehung haben wir dasProblem zu eng
eingestellt. Wir haben es, durch den äußeren Schein verführt und getäuscht,
kurzerhand als eine Frage des lateinischenUnterrichts betrachtet und auf dieser
Grundlage bisher die Erörterung aufgebaut. Und doch ist sie nur einTeÜ der
Gesamtgrundlage. Es handelt sich eben nicht um eine Frage des Lateinunter-
208 Knögel,
richts, die m dessen Bedürfnissen und Zielen eingebettet wäre, sondern über
das Fach hinaus um eine Frage des Gymnasiums als der Schule der
Tradition im Kulturleben. Um dieser Tradition willen fordert Mittel-
latein am Gymnasium Einlaß: darin beruht seine grundsätzliche Berechtigung;
an zweiter Stelle steht erst die Frage, wo es innerhalb des gymnasialen
Organismus seinen Platz finden soll, und nur inhaltliche Erwägungen ent-
scheiden über die Unterbringung der lateinischen Sprachdenkmäler. Stehen
aber in der Tat nicht Sonderziele einer einzelnen Disziplin,
sondern eine aus dem Gesamtziel und dem innersten Kerne
des historisch gerichteten Gymnasiums erwachsene Frage
zur Diskussion, so ergeben sich daraus wichtige Folgerungen, die die
bisher unausgeglichenen Gegensätze in einer höheren Synthese zu vereinigen
imstande sind.
Auf der also gewonnenen breiteren Grundlage stellen wir für den Latein-
unterricht fest, daß in ihm nur diejenigen Schriften grundsätzlich Daseins-
berechtigung haben, die mit dem klassischen Altertum mehr als bloß sprach-
liche Fühlung haben, die lebenskräftig sind und durch ihren Gegenwartswert
unser Leben befruchten, die für die Entwicklung der Kultur und ihrer Be-
ziehungen bedeutsam sind. Lediglich ,,für die Jugend wichtiger und anziehen-
der Lesestoff", den die Zeitschrift für deutschen Unterricht und Deutschkunde
aus dem lateinischen Mittelalter uns in Aussicht stellt, genügt wirklich nicht,
um deshalb schon grade im Latein eine Stätte zu finden^). Also: wir müssen
durch die Uniform der gemeinsamen Sprache zu dem differen-
zierten Inhalt vordringen und je nachdem die mittel-
lateinischen Dokumente diesem oder jenem Fache zuweisen.
Gehören sie trotz des fremden Gewandes zur deutschen Literatur, so gehören
sie ins Deutsche, sonst je nachdem in Latein, Religion, Geschichte. Voraus-
setzung ist nur, daß der Fachmann die Quellen seiner Wissenschaft im
Original lesen kann und daß das Latein des Schülers ausreicht, wie ja
auch der angehende Jurist sein corpus iuris nicht unter Führung eines Latein-
lehrers, sondern des Fachmanns Uest. Versuchen wir also, einige der wichtigsten
Dokumente, nach Fächern geordnet, hier zusammenzufassen, um auf diese
Weise zugleich mit unserm Gebiet etwas näher vertraut zu werden.
Für das Lateinische scheint mir nur in Betracht zu kommen der Ruod-
lieb, und zwar wegen seiner Bedeutung für den Mimus. Denn der Mimus
geht tief zurück in das römische wie in das griechische Altertum und betrifft
eine Seite des Volkslebens, die amGymnasium und wohl an jeder höheren Schule
etwas zu kurz zu kommen pflegt. Wir erhalten dort wertvolle Ausblicke
auf eine lange Entwicklungsreihe bis in unsre Tage hinein. So ist es sowohl in
den Zielen des Gymnasiums im allgemeinen wie des Lateinunterrichts im
besonderen wohl begründet, wenn die Schüler mit Stücken aus Ruodlieb
dem mittelalterlichen Roman, bekannt werden, weiterhin auch mit der Goli-
^) Die Ergänzung der „Kanonischen SchuHektüre" liegt auf anderem Wege; vgl.
Dresdner In „Neues Leben im altsprachlichen Unterricht". Berlin, Weidmann, 1919.
Inwieweit hat Mitteilateinisch im Gymnasialunterricht seine Berechtigung? 209
ardenpoesie, zumal mit jenem Archipoeta aus der Zeit Barbarossas, dem
verkommenen Genie, das so prachtvolle Verse und Strophen zu bauen ver-
steht und ein stolzer, seines Wertes sich bewußter Geist ist. In der Tat. Die
Darlegungen Winterfelds über den Mimus (s. u.) beleuchten ein großes Gebiet
griechisch-römischer Kultur, das in seinen Nachwirkungen noch jetzt in der
europäischen Gesamtkultur in Erscheinung tritt. Solche geistigen Beziehungen
zwischen einst und jetzt bloßzulegen ist recht eigentlich Aufgabe des Gym-
nasiums, und so mag der lateinische Roman des Mittelalters Anlaß bieten,
im Lateinunterricht etwa folgendes zu berichten. Aus den griechischen
Jongleuren, die allmählich das burleske Volksdrama zu ihren gauklerischen
Darbietungen hinzunahmen, entwickelt sich der berufsmäßige Stand der
Mimen. Die volksmäßigen Stücke dringen dann auf das Theater des Dionysos,
und am Ende der Antike hat der große Theatermimus im Orient undOccident
kulturhistorische Bedeutung. Mimus ist Nachahmung des Lebens, sagt schon
Theophrast, der Schüler des Aristoteles. Alle Typen des vielgestaltigen
Lebens, den Clown eingeschlossen, sind in diesen Dramen vertreten ; der Form
nach unterscheiden wir wie bei Shakespeare Prosa, Spruchvers und Kouplet.
Von den Kirchenvätern scharf bekämpft ging der Mimus aus der Antike ins
Mittelalter. Hier wurden die christlichen Mysterien oft in burleskem Sinne
profaniert, hier fand sich der letzte heidnische Widerstand gegen die neue
Weltreligion. Konzilien faßten Beschlüsse gegen den Mimus; sie hatten dazu
Anlaß, da sich unter den Geistlichen Freunde und Gönner der Mimen fanden.
Zu diesen gehörte auch der Verfasser des RuodUeb ; er kennt gründlich die Welt.
Es ist eine lange Entwicklung, die da an uns vorübergezogen ist, und
unschwer ließe sie sich über Mysterium und Puppenspiel für jedes europäische
Volk bis in unsre Tage fortführen. Für unsern Zweck aber ist das Wichtigste,
daß sie im griechisch-römischen Altertum verwurzelt ist. daß wir aus jener
Seite des öffentlichen Lebens Mittelalter und Neuzeit verstehen, daß eine
solche mehrtausendjährige und darum welthistorische Entwicklung auf
einem bestimmten Gebiete übersehen, nicht bloß neue Kenntnis und Er-
weiterung des Gesichtsfeldes bedeutet, sondern, was mehr ist, Vertiefung der
Bildung. So fügen sich also Stücke aus demRuodlieb und der Vagantenpoesie
ungezwungen in dieselben Ziele, die wir der Beschäftigung mit den römischen
Klassikern stecken.
Das sind aber auch die einzigen mittellateinischen Sprachdenkmäler,
die grundsätzlich im lateinischen Unterricht des Gymnasiums Heimatrecht
beanspruchen können, denn das schließt nicht aus, daß die Praxis sie
trotz allem eher dem deutschen Literaturunterricht einfügen wird.
Wir wenden uns zur Geschichte. Für dieses Fach kommen natürlich
an erster Stelle die Historiker in Betracht, soweit man nicht vorzieht, sie in
der Übersetzung lesen zu lassen. Es liegt nahe, innerhalb dieses Rahmens
auch diesen oder jenen Ausschnitt aus dem corpus iuris den Schülern nicht
vorzuenthalten, auf das Hofmiller (a. a. O.) als auf „das Römischste der
römischen Literatur" hinweist. Wenn wir aber trotz dieser vollgültigen Be-
gründung den Gegenstand nicht dem lateinischen Unterricht zuweisen,
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 14
210 Knögel,
so geschieht dies, weil wir von deutschen Rechtsanschauungen ausgehen
und sie durch die römischen klären möchten. Also mag im Geschichtsunter-
richt die lexSalica auch auf Gajus und Papinian zurückführen, doch können
die einschlägigen Kapitel in Tacitus Germania Anlaß geben, wenigstens auf
die grundsätzlichen Unterschiede zwischen römischer und germanischer
Rechtsauffassung orientierend hinzuweisen : für weitere Kreise der Gebildeten
ist das wohl nicht ganz überflüssig.
Daß, wo es sich um mittelalterliche Kulturwerte handelt, auch der Reli-
gionsunterricht stark in Frage kommt, ist von vornherein anzunehmen,
zumal für den katholischen Religionsunterricht, in dem Affektionswerte bis
in die Gegenwart hinein sich auswirken. Von den führenden Männern scheint
mir besondere Beachtung zu verdienen Augustinus, der an der Schwelle des
Mittelalters steht und schon durch den Titel seiner Schrift de civitate Dei
den Abschluß des Altertums und den Anbruch einer neuen Zeit mit neuen
Anschauungen sichtbarlich zum Ausdruck bringt. Nicht minder bedeutsam
für die ganze Struktur des Mittelalters ist die regula Sancti Benedicti. Burdach
ebenso wie Hofmiller wollen wesentlich weitergehen ; Burdach bemerkt a. a. O.
Seite 90): ,,Ein unermeßlicher Schatz schöpferischer Sprachkraft und Poesie
geht unsrer Jugend verloren." Aus den von ihm befürworteten Stücken
greife ich die beiden Sequenzen Stabat mater und Dies irae heraus, in denen
das tiefste Empfinden des Mittelalters seinen vollendeten und ergreifenden
Ausdruck gefunden hat. Hier ist die Form mit dem Inhalt zu einer Einheit
verschmolzen, die internationale Kirchensprache mit dem internationalen
Gehalt. Beide Gedichte in Übersetzung kennen zu lernen, heißt die Kunst-
werke überhaupt nicht kennen, denn Kunstwerke sind sie, von edler Einfalt
und stiller Größe, das eine vergleichbar einer Pietä, das andere einem Jüngsten
Gericht. An die beiden reichen selbst Notkers Sequenzen nicht heran, ob-
wohl auch sie höchsten Kunstwert besitzen, aber sie gehören doch eher in die
literaturgeschichtliche, weniger in die reUgiöse Umwelt.
Damit kommen wir endlich zu den mittellateinischen Sprachdenkmälern,
die im deutschen Unterricht ihren Platz fordern dürfen, also in Ober-
sekunda neben Nibelungenlied und Walther von der Vogelweide.
Das sind Notkers Gedichte und Ekkehards Walthariliedi). Kürzer darf die
Nonne Hrotswith, die von den Zeitgenossen des Humanisten Konrad Celtis
als Sappho und zehnte Muse gepriesen wurde und neuerdings in
Winterfeld einen feinfühligen Lobredner gefunden hat. Aber unser
Verhältnis zu ihr bleibt doch nur ein literarisches, während Notker
und Ekkehard noch heute uns etwas zu sagen haben. Winterfeld
erinnert daran, daß die beiden im Gegensatz zu der Niedersächsin Süd-
deutsche sind, und während die knorrige Art Hrotswiths den Stammes-
charakter nicht verleugnend an Hebbel gemahnt, eine grade Linie von dem
Schwaben Notker auf Mörike und Gottfried Keller führt. Schon die gesta
») Deutsche Dichter des lateinischen Mittelalters. In deutschen Versen von Paul
von Winterfeld. München, bei Beck, 1913.
Inwieweit hat Mitteliateinisch im Oymnasialunterricht seine Berechitigung? 211
Caroli Magni verraten seine Eigenart. Das Büchlein ist, wie Winterfeld sagt:
„Sage und Geschichte in buntem Gemisch, voll Humor und Laune und ehr-
fürchtiger Liebe, es ist das Bild des großen Kaisers, wie es im Herzen des
Volkes lebte, schon umrankt von dem Gespinst der Sage." Nationale Ge-
sinnung und leuchtender Humor dringen bei Notker sieghaft durch das latei-
nische Gewand, und doch, erst wenn wir die Gedichte in Winterfelds Ver-
deutschung lesen, scheinen sie völlig die unsern zu sein, so daß wir die lateinische
Sprache den zeitgenössischen Lesern des Dichters und den modernen
Studierenden der romanischen Philologie neidlos überlassen : es kommt uns
überhaupt kaum der Gedanke und der Wunsch, das fremde Original kennen
zu lernen ; so sehr sind wir im Banne kerndeutscher Personen und kern-
deutschen Empfindens.
Trotzdem wäre das Bild von Notkers Persönlichkeit unvollständig, wenn
wir nicht auch auf seine Sequenzen ausdrücklich hinwiesen. Denn erst diese
geben einen Einblick in die Tiefe seines Wesens, aus der sein Humor heraus-
quillt. Winterfeld nennt die Sequenz das Höchste, was das lateinische Mittel-
alter aus inniger seeUscher Bewegung heraus in der Poesie geleistet hat. Er
fährt dann fort : „Diese geistlichen Lieder erheben sich zur Höhe alttestamen-
tarischer Lyrik." Die Ostersequenz mag hier Notkers Gestaltungskraft und
zugleich Winterfelds Übersetzungskunst veranschauHchen :
Dem aus Grabesnacht
Auferstandenen Heiland huldigt die Natur:
Blum' und Saatgefild
Sind erwacht zu neuem Leben;
Der Vögel Chor
Nach des Winters Rauhreif singt sein Jubellied.
Heller strahlen nun
Mond und Sonne, die des Heilands Tod verstört,
Und in frischem Grün
preist die Erde den Erstandenen,
Die, als er starb,
Dumpf erbebend ihrem Einsturz nahe schien^).
Das liest sich denn nicht wie eine Übersetzung, sondern wie ein selb-
ständiges Gedicht, und kein schlechtes. Worin aber die Eigenart seiner Schön-
heit beruht, kommt uns zum Bewußtsein, wenn wir den Karfreitagszauber
in Wagners Parzival (3. Akt) danebenstellen. Denn die beiden gehören zu-
sammen ; das Motiv ist das gleiche. Alle Kreatur merkt, daß da etwas ganz
Gewaltiges vor sich geht, und äußert sich je nach ihrer Art dazu. Bei Wagner
sind die Beziehungen zwischen Natur und Geschehnis verfeinerter und sub-
jektiver: die Natur fühlt sich entsündigt, sie fühlt sich durch Gottes Liebes-
opfer rein und heil wie der Mensch, sie feiert ihren Unschuldstag. Der mittel-
alterliche Mönch philosophiert nicht über das Problem, ihm gelten nicht
seine Reflexionen, aber mit seinem Empfinden steht er dem Ereignis näher,
er ist naiver, schlichter, objektiver. Mit Schiller zu reden, das eine ist naive,
1) „Quae (tellus) tremula.. .cius morte se casuram minitat", s. Kehrein, Lateinische
Sequenzen des Mittelalters. Mainz 1873. S. 80.
14*
212 Knögel,
das andere sentimentalische Dichtung, aber beide Gedichte stehen jedes in
seiner Art auf gleicher Höhe, und von beiden geht ein ähnlicher Zauber aus.
dem sich niemand entziehen kann. Daß übrigens Wagner die mittellateinische
Sequenz gekannt habe, ist nicht unwahrscheinlich. Der Weg über Wolframs
Parzival zu Notkers Sequenzen ist nicht grade weit.
Über Winterfeld haben wir Notker, über der deutschen die lateinische
Dichtung fast vergessen. Das ist begreiflich. Indem Winterfeld das Kunst-
werk als Kunstwerk wiedergeben will, indem er mit peinlichster Sorgfalt
in jedem einzelnen Falle über die Stilfrage sich Rechenschaft gibt, ob er das
gleiche Vermaß und den gleichen Strophenbau benutzen oder modernem
Empfinden entsprechend andere Ausdrucksformen wählen soll, schafft er
ein neues, vollwertiges, auf sich selbst gestelltes, wenn auch durch die neue
Form im Stimmungsgehalt doch etwas beeinflußtes Kunstwerk und legt
uns damit die Frage vor: sollen wir das lateinische Original um des Lateins
willen für die Schule (der gelehrte Standpunkt ist ein anderer) vorziehen oder
die deutsche Neuschöpfung, die dem Original entwachsen ohne den Umweg
über die Fremdsprache sich unmittelbar an unser Empfinden wendet? Die
Frage so stellen heißt sie beantworten. Damit weisen wir aber zugleich dem
lateinisch schreibenden Notker grundsätzlich seinen Platz im deutschen
Unterricht der Obersekunda zu.
Dasselbe gilt auch von Walther und Hildegund — - trotz der Nachahmung
Vergils, die das Gedicht dem lateinischen Unterricht zuweisen könnte. Schon
durch Scheffels Übersetzung am Schlüsse des Ekkerhard ist es weiteren Kreisen
unseres Volkes bekannt geworden, und wie verblaßt selbst diese gegenüber der
aus dem besten Blute und Geiste der Nation gezeugten Verdeutschung
Winterfelds ! Man hat ihm aus der Wahl des Stabverses einen Strick gedreht,
u. a. auch Hofmiller, und doch wird sich der Wucht dieses Verses und der
überragenden Sprachgewalt des Verfassers, die dem echt germanischen Helden
den ihm eigenen Ausdruck mitgibt, niemand entziehen können, und wenn sich
die Gelehrten darüber nicht einigen, so appellieren wir Schulmänner an die
Jugend, nicht als an die höhere Instanz, wohl aber, weil das in dem Stabreim — -
wie auch bei Jordan — sich äußernde Rhetorische zugleich etwas jugendlich
Begeisterndes hat und darum grade auf die Jugend eingestellt ist.
So ist es denn Ekkehard wie Notker ergangen : das Mittelalter haben wir
über der Neuzeit vergessen ; es scheint sich fast nicht mehr um Latein, sondern
um Deutsch zu handeln. Für unsre Aufgabe wird das zum Symptom. Denn
es besagt für den Schulmann folgendes: was durch mustergültige Ver-
deutschungen in unserm Volke zu neuem, fast selbständigen
Leben erwacht ist, soll die Schule im ganzen in der neuen Form
weiteren Kreisen zu volksmäßigem Besitz vermitteln, anstatt es als Gegen-
stand nicht angebrachter Gelehrsamkeit in seiner ursprünglichen Gestalt an
die Schülergenerationen heranzuführen. Daß damit der Kreis der mittel-
lateinischen Lektüre wesentlich eingeengt wird, mag manchem bedauerlich
sein, ergibt sich aber aus sachlichen und schulmäßigen Überlegungen.
Inwieweit hat Mittellateinisch im Gymnasialunterricht seine Berechtigung? 213
•
Wir haben es versucht, die wichtigeren mittellateinischen Sprach-
denkmäler zu sichten und in den einzelnen Unterrichtsfächern unterzubringen,
wo sie heimatberechtigt sind. Nun gibt es aber Werke, die den engen Fach-
rahmen sprengen, die in keinem Unterricht aufgehen, also grade solche Werke,
die den besten Kreisen der Gebildeten die Beschäftigung mit dem Mittel-
latein verständlich und einleuchtend machen. Ich darf daran erinnern, daß
kürzlich die Liga für Völkerbund in einer Eingabe an den Minister vorschlug,
Hugo Grotius am Gymnasium lesen zu lassen. Hierhin gehören Erasmus
und andere Humanisten, hierhin das ganze Schrifttum der Gelehrsamkeit,
alle Dokumente zur Weltanschauung und Philosophie und Kulturgeschichte.
Vor allem gehört hierhin Dantes Büchlein de eloquentia vulgari^) (von
der Redekunst in der Landessprache), dessen Besprechung bei Burdach
den ersten Anstoß zu diesem ganzen Abschnitt gegeben hat. Burdach
nennt es ein Buch von unermeßlicher geschichtlicher Bedeutung;
es bedeute die Grundlegung des modernen Widerstandes gegen die Allherr-
schaft des Latein — ein Buch also, dürfen wir hinzufügen, das nicht in die
Peripherie der gymnasialen Interessen und Aufgaben zu setzen ist, sondern
mitten in das Zentrum hinein, weil es, die Scheide zweier Kulturepochen
markierend, den Blick nach rückwärts und nach vorwärts lenkt. Und für ein
solchesWerk hat das Gymnasium, das „aus dem natürlichen den historischen
Menschen zu machen" sich die Aufgabe stellt, keine Stätte, wo es nicht etwa
bloß eine gelegentliche, flüchtige Erwähnung findet, sondern von Rechts
und Organisations wegen die ihm zustehende Würdigung findet. Geht man
diesem Gedanken aber tieferschürfend nach, so sieht man bald, daß das Gym-
nasium wie alle Schulen nur Fächer kennt, daß aber das geistige Band fehlt,
das unter sich diese verbindet: es fehlt neben der Dezentralisation
die Zentralisation, es fehlt die alles überwölbende und die Teile erst zu einer
Einheit verknüpfende Kuppel. Ohne Bild gesprochen wird der Gedanke
zu der Forderung: die Oberklasse muß auch Oberklasse werden in dem Sinne
einer Vermittlungsklasse zwischen Gymnasium und Universität. Die Unter-
prima schließt ab mit der Reifeprüfung, insofern sie sich mit den einzelnen
Fächern und dem präsenten Wissen beschäftigt. Acht Jahre getrennten
Aufmarschierens der Fächer sind genug, dann muß neben die Dezentrali-
sation die Zentralisation treten. Die Universität hat für den einzelnen Studie-
renden längst aufgehört, eine universitas literarum zu sein und ist ihm fast
ausschließlich Berufs- und Fachschule geworden; desto mehr hat das Gym-
nasium in der Oberklasse das Bewußtsein anzubahnen, daß es so etwas wie
Ineinandergreifen und Verbundenheit des geistigen Lebens gibt und daß es
die Aufgabe des heranwachsenden Geschlechts sein muß, trotz des Elends
der Zeitumstände — und grade wegen dieser Zeitumstände — auf der Hoch-
schule über das Brotstudium hinaus weitere und tiefere Interessen zu pflegen.
Die Fächer dürfen nicht mehr wie Schubfächer durch Bretter abgeschlossen
1) Rec. Lud. Bertalot. Friedrichsdorf bei Frankfurt a. M. 1917 (im Selbstverlag
des Herausgebers). 88 S.
214 Knögel,
sein, sondern müssen sich ergänzend, befruchtend, neue Ausblicke eröffnend
näher aneinander herantreten. Wir suchen Zusammenhänge und Quer-
schnitte; wir suchen Horizontalgliederung neben der Vertikalgliederung, wir
suchen innere Beziehungen zwischen den Stoffgebieten. Wohl bemerkt,
alles dies nicht im Sinne eines überall herumnippenden Dilettantismus,
sondern ernster Vertiefung und Wissenschaftlichkeit. Je tiefer wir nämlich
graben, desto mehr stoßen wir auf gemeinsamen Boden, je mehr wir über
den Zaun sehen, desto mehr weitet sich der Blick, je größer der Ausschnitt
aus Natur und Geisteswelt, der zu unserm Gesichtsfeld gehört, desto höher
wird der Standpunkt, desto mehr übt sich neben dem wissenschaftlichen
der ordnende, künstlerisch gestaltende Sinn.
Diesen Zukunftsbildern entsprechend müßte dann die Oberklasse (O I)
ausgestaltet werden, also daß ihr Wesen als Kulturunterricht ange-
sprochen würde, und zweifellos müßten die drei Hauptfächer — Lateinisch,
Griechisch und Mathematik-Physik — eine äußere Einbuße, nehmen wir
an von je zwei Wochenstunden, erleiden. Aber was da die Schüler an
positivem Wissen etwa weniger lernten, würde ausgeglichen durch eine mehr
abgerundete feinere Büdung. Denn die ganze Umgestaltung baute sich
doch auf den beiden Grund- und Eckpfeilern des Gymnasiums auf —
dem humanistischen und dem historischen — , und die gewonnenen Stunden
sollten zunächst Verwendung finden für philosophische Propädeutik
(Geschichte der Philosophie) und für Kunstgeschichte; es müßten
weiterhin zeit- und weltgeschichtliche Kulturzusammenhänge, dahin gehören
z. B. auch sprachgeschichtliche Fragen, klargelegt werden, die Literatur-
geschichte könnte mitten in den Kulturzusammenhang der Zeit, ganz nach
Gervinus, gestaltet werden, auch die nichtdeutsche europäische Literatur
müßte in ihren überragenden Werken durch gute Übersetzungen uns näher
rücken, wie denn auch durch Musterübersetzungen die Kenntnis der
griechischen Dichter, soweit sie im Urtext gelesen waren, eine Erweiterung
erführe. Auch der Mathematiker würde nicht zu kurz kommen, er könnte
tiefere mathematisch-physikalische Probleme und die Versuche ihrer Lösung
lediglich um der Probleme willen vorführen. Hier wird auch, und damit
kehren wir zu unserer Aufgabe zurück, Dantes bahnbrechendes Werkchen
den ihm gebührenden Platz innehaben — nicht isoliert, sondern hier
wird Gelegenheit sein, was in mittellateinischer Sprache geschrieben uns
auch heute noch etwas für das innere oder äußere Leben mitzugeben
hat, mehr im Zusammenhang auf uns wirken zu lassen und so seinen Gesamt-
eindruck zu erhöhen. Daß uns dann auch die Humanisten am humanistischen
Gymnasium wieder etwas mehr werden als bloße Namen, dürfen wir vielleicht
deshalb wenigstens als Möglichkeit aussprechen, da sie in einer der geistig
angeregtesten Epochen Kulturträger sind. Den Abschluß aber der Oberklasse
büdet zur Feststellung nicht des Wissens, sondern der geistigen Reife ein
häuslicher Aufsatz größeren Stils aus der Geisteswelt, in die sich die Schüler
in dem Jahre eingelebt haben — wie ihn in ähnlicher Weise jetzt einzelne von
ihnen an diesem oder jenem Gymnasium, auch am Lessing-Gymnasium
Inwieweit hat Mittellateinisch im Gymnasialunterricht seine Berechtigung? 215
in Frankfurt a. M., jedes Jahr zu machen pflegen. Der Vorschlag erinnert
daran, daß am Gymnasium der Freien Stadt Frankfurt — die ganze Reife-
prüfung darin bestand — eine umfangreichere lateinische Arbeit anzu-
fertigen. Mehrere Monate vorher wurde das Thema nach Beratung mit dem
Fachlehrer gewählt, der auf die einschlägige Fachliteratur hinwies.
Wir fassen zusammen. Die Pfade, die wir gegangen, sind keineswegs
schnurgerade, aber doch einheitlich und von organischem Zusammenhang.
Wir gingen aus von Einhards vita Caroli Magni, stellten das Schriftchen
neben die römischen Klassiker, kamen zu den lateinischen Historikern
des deutschen Mittelalters überhaupt, warfen die grundsätzliche Frage
auf, ob hier nicht gedruckte Übersetzungen den Originalen vorzuziehen
seien, über die Historiker hinaus drangen wir zu den anderen mittel-
lateinischen Sprachdenkmälern vor, durch die gemeinsame Hülle der
Sprache hindurch wurden wir uns mehr und mehr des differenzierten Inhalts
bewußt, wir gruppierten die Schriften nach diesem Inhalt und wiesen sie den
entsprechenden Fächern zu. Weitere Kreise ziehend griffen wir dann über
zu Denkmälern, die in kein Fach passen wollten, und kamen so zur Ausge-
staltung der Oberklasse am Gymnasium. Unsere Ausführungen gipfelten in
dem Satze, daß in dieser Klasse der deutsche Unterricht — der Begriff recht
weit gefaßt — eine zentrale Stellung einnehmen und Kulturunterricht sein
müsse, in dem dann auch die lateinischen Kulturdokumente des Mittelalters
an ihrem Teile den Übergang von der alten zur neuen Zeit zu überbrücken
die Aufgabe hätten.
Einstweilen scheinen die Aussichten für unsere Sache nicht eben freund-
lich zu sein. Hofmiller sagt (a. a. O. S. 350): „Die immer wiederkehrenden
Bemühungen um die Hebung dieses lateinischen Hortes unsrer Literatur
haben in ihrer Begeisterung etwas Rührendes, aber in ihrer Vergeblichkeit
etwas Schmerzliches." Ganz recht, aber um über Erfolg oder Mißerfolg ein
objektives Urteil zu gewinnen, wird es klug sein, auch die hemmenden
Momente nicht zu übersehen. Zunächst: was wir erstreben, wird immer
nur ein Ornament an dem Gymnasium sein, zwar aus dem ganzen Baustil
organisch herausgewachsen, aber niemals ein Wesensbestandteil des kon-
struktiven Aufbaus. Daraus ergibt sich, daß auch die gewünschte Zeit
nicht allzu groß sein kann. Weiter: an vielen Schulen werden schon
die äußeren Verhältnisse zwingen, sich mit dem Nötigsten zu begnügen,
selbst wenn dieLehrer durchweg gewillt sein sollten mitzutun. Dazu
schreckt bei vielen Dokumenten nationalen Inhalts die fremde Sprache ab.
Endlich, und vor allem: es fehlt uns auch jetzt noch an den nötigsten Hilfs-
mitteln; es fehlt uns vor allem das Lesebuch, das uns das Material liefert.
Und wenn wir es haben werden, ist die Sache noch keineswegs gesichert.
Wird das Lesebuch auch von großen, weiten Gesichtspunkte nzusammen-
gestellt sein? Es liegt nahe, auf Wilamowitz' griechisches Lesebuch zu ver-
weisen, in dem fast jedes Lesestück wie eine Leuchte ist, die ein bestimmtes
Kulturgebiet auf eine Strecke hin nach vorwärts und rückwärts erhellt^).
i) Vgl. meine Besprechung in der Monatschrift 1918. S. I91ff.
216 Benno Schneider,
Wird die mittellateinische Literatur dasselbe leisten können wie die griechische
an Mannigfaltigkeit, Originalität und innerer Ausbeute ? Das ist unmöglich,
wir sehen aber, daß der Verfasser des Lesebuchs ein großes Maß der Verant-
wortung für die weitere Entwicklung übernimmt. Es wird nicht bloß ein
lateinisches, sondern zum guten Teile auch ein deutsches Lesebuch werden
müssen.
Indes, das sind Fragen der Zukunft. Was läßt sich schon jetzt tun?
Zunächst sollte von jedem Kollegium in einer Konferenz ein Gesamtplan
vereinbart werden, damit die Vertreter der in Betracht kommenden Fächer
darüber sich verständigen, was gelesen werden kann, welche Hilfsmittel
zur Verfügung stehen, welche Stücke lateinisch, welche deutsch gelesen
werden sollen. Ferner müßten bis auf weiteres von möglichst vielen
Lateinlehren etwa 12 — 20 Stunden in einer der drei oberen Klassen
auf das Lesen eines mittellateinischen Historikers verwendet werden,
schon um mit dem Problem in Fühlung zu kommen oder zu bleiben.
Drittens, es sind im deutschen Unterricht von Schülern nicht eben
lange Vorträge zu halten, die bereits orientieren. Berichte über die
Bücher von Winterfeld oder von Burdach oder über Abschnitte aus diesen
regen jedenfalls strebsame Schüler an und bedeuten einen geistigen Gewinn,
auch wenn die jugendlichen Hörer nur über die Dinge vernehmen, nicht sie
selbst kennen lernen. Ergänzend und klärend tritt im lateinischen Unter-
richt daneben ein Bericht über Zielinskis Schrift von Ciceros Kulturbedeutung
im Wandel der Jahrhunderte. Endlich mögen da, wo die Einrichtung der
Studientage besteht, auch Aufgaben aus dem Mittellateinischen genommen
werden.
Man wird sagen, das ist nicht eben viel. Und doch, es ist ein Anfang,
wir kommen über den toten Punkt hinweg. Und es ist trotz aller Schwierig-
keiten erreichbar. Jedenfalls arbeiten wir dem künftigen Verfasser des Lese-
buchs in die Hände, das erst eine methodischere und ausgiebigere Beschäf-
tigung mit mittellateinischer Kultur ermöglicht. Hoffen wir, daß die Zeit
nicht mehr fern ist, in der sich für eine solche Chrestomathie nicht bloß
ein berufener Verfasser, sondern auch ein Verleger findet.
Frankfurt a. M. Wilhelm Knögel.
Zur Förderung des Geschichtsunterrichts^).
Erfüllt von den gewaltigen, erhebenden und niederdrückenden Ereig-
nissen der letzten Jahre, im Bewußtsein, das größte Geschehen der Geschichte
miterlebt zu haben und da miterlebt zu haben, wo alle Gedanken, Absichten
und Ziele sich in Tat umsetzen, an Erfahrungen, Menschenkenntnis und auch
Selbsterkenntnis reicher geworden und nun aus neuem Wissen und teilweise
anderem Verstehen heraus gerade Geschichte unterrichten zu dürfen, das
war die Stimmung, mit der ich und wohl alle, die mit mir in gleicher Lage
1) Der Aufsatz ist im Februar 1919 geschrieben, konnte aber jetzt erst abgedruckt
werden.
Zur Förderung des Geschichtsunterrichts. 217
waren, nach langer Unterbrechung wieder an die Friedensarbeit zurück-
gegangen sind. Wie mochte sich in diesem großen Prozeß des Werdens und
Vergehens die Schule gewandelt haben? Von der Notwendigkeit von Re-
formen war schon vor dem Krieg viel geredet und geschrieben worden. Von
geplanten und teilweise schon vorgenommenen Änderungen hatte man auch
im Felde mancherlei erfahren, und wer es nicht erfahren hatte, der fühlte,
daß jetzt die Zeit gekommen war, in der auch unser höheres Schulwesen
aus dem Stadium der Versuche und Kompromisse endlich zu einer wirklichen
Neugestaltung übergehen müsse, und erhoffte, daß ihm daraus ein neues
Jungwerden erblühen werde.
In der Mitte all dieser Fragen stand für mich der Geschichtsunterricht.
Hier lag schon längst Sollen, Wollen und Können im unvereinbarsten Gegen-
satz zueinander. Er allein hat denn auch neben dem Religionsunterricht
schon erhebliche Änderungen erfahren. Aber nach den grundstürzenden
Ereignissen der letzten Monate steht uns die eigentliche große Schulreform,
die unserem höheren Schulwesen die Grundlage für die nächsten Generationen
geben wird, ja erst noch bevor. Ich halte es daher für wünschenswert,
wenn vorher noch einmal nachdrücklich die notwendigen Forderungen für
den Geschichtsunterricht, der ja nun eine noch viel weitergehende Bedeutung
erfahren hat, betont werden.
Unter all denen, die zu dem Thema ,, Reformen" in dieser Zeitschrift
in den letzten Jahren ihre Stimme erhoben haben, berührt am erfrischendsten
einer, der fernab von der Schule mitten aus größtem Erleben heraus und
aus einem Handeln, das keine Kompromisse kennt, im Mai 1915 von der
Westfront schrieb. Dieser Aufsatz oder Brief ist deshalb so erfrischend, weil
er es nicht mehr mit kleinen Verbesserungen und Flicken versucht, sondern
unter das Alte einen dicken Strich macht und von Grund auf neubaut. „Ge-
schichte wird Hauptfach." Auf den Ausdruck kommt es nicht an. Mag bei
der Versetzung oder im Examen dieses Fach gewertet werden, wie es will;
auf die Bedeutung und Anerkennung der Tatsache, daß gründliche Kenntnis
der geschichtlichen Erscheinungen und ihrer inneren Zusammenhänge Er-
fahrung und die Fähigkeit zu selbständiger kritischer Stellungnahme zu den
Ereignissen der Gegenwart vermittelt, daß sie mehr als anderes schützt vor
Selbsttäuschung und auch vor Irrtümern über andere, kurzum, daß Kenntnis
der Geschichte im besonderen Sinne Schulung für das Leben ist, darauf
kommt es an. Und in diesem Sinne braucht Geschichte nicht erst Haupt-
fach zu werden, sondern ist es längst gewesen, und heute in noch viel höherem
Grade geworden.
In welchem Grade diese Überzeugung allgemein ist, und wie sehr gerade
an Reformen im Geschichtsunterricht weitere Kreise interessiert sind, habe
auch ich draußen im Felde erfahren. Zu den vielen Gründen, aus denen ich
das Miterleben dieses Krieges in der Front als ein kostbares Geschenk an-
sehe, von dem nur sehr kleine Geister sagen können, es seien verlorene Jahre
gewesen, rechne ich die Tatsache, daß es mir in einem sonst unmöglichen
Maße Gelegenheit gegeben hat, mit Menschen aller Stände, Berufsklassen,
2l8 Benno Schneider,
Geistes- und Interessenrichtungen zusammenzukommen, sie nicht nur ober-
flächlich sondern gründlich kennen zu lernen und mit ihnen Ansichten aus-
zutauschen. Ich habe es stets vermieden, meinerseits auf die Schule zu sprechen
zu kommen. Der Oberlehrer, der in einem anders interessierten Kreise
von der Schule spricht, ist nicht immer eine glückliche Erscheinung.
Aber ich habe mich gewundert, wie oft und mit welchem Interesse die Unter-
haltung über die Schule geführt wurde, wenn die Anwesenden einen Fach-
mann unter sich wußten. Und wie viele hatten da gründlich und mit wirk-
lich lebhaftem Interesse über Reformen nachgedacht. Ein kommandierender-
General, der mich eine Meldung stehend hatte vortragen lassen, bot mir
einmal einen Stuhl an, als er auf seine Frage hörte, daß ich Oberlehrer sei,
mit den Worten: ,, Oberlehrer? nun da muß ich mit Ihnen mal über einiges
sprechen," und dann unterhielt sich die Exzellenz mit mir fast ^/^ Stunde
über Geschichtsunterricht. In seinem Zimmer wartete der Chef des Stabes
sehr ungeduldig und, als er mich dann etwas ungnädig in sehr preußischem
Tone fragte: ,, Worüber haben Sie denn solange mit Exzellenz verhandelt?"
und ich ihm erklärte: ,,über Geschichtsunterricht an höheren Schulen",
fragte er mich: „Glauben Sie, daß irgend eine Aussicht besteht, daß im zu-
künftigen Deutschland ein Primaner etwas erfährt über die Geschichte der
englischen äußeren Politik statt über die Mark Brandenburg unter den Bayern
und Luxemburgern"? und nun mußte ich auch mit ihm noch einmal des
längeren über diese Dinge reden. Viel interessanter aber waren mir Unter-
haltungen mit einem Unteroffizier, einem überzeugten Sozialisten, der einmal
nach einer ,, Aufklärungsunterrichtsstunde", die ich schon meinen Leuten
regelmäßig gab, als sie noch nicht befohlen war, zu mir kam. Er hatte zwei
Söhne auf der höheren Schule. Er sagte, daß einer seiner Söhne, Primaner,
während seines letzten Urlaubes Skizzen zur Schlacht von Kolin und von
Kunersdorf habe zeichnen müssen ; als er ihn aber gefragt habe über das Bauern-
programm im großen Bauernkriege oder über die soziale Umgestaltung in-
folge der Einführung der Maschinenarbeit, sei ihm das vollständig chinesisch
gewesen. ,, Unser Geschichtsunterricht muß mehr für das Leben sein", meinte
er. Er hat dann in der Kompagnie einen Geschichtsverein gegründet, in dem er
Vorträge hielt. Der Verein war nicht klein, und die Vorträge auch stets von
Leuten anderer Kompagnien besucht. Gegen den Geist dieser Vorträge hätte
wohl kein Vorgesetzter etwas einwenden können. Ich war stets dabei und
habe manches daraus auch für meinen Beruf gelernt. Er ist dann vor Verdun
wenige Schritte von mir gefallen, einer der prächtigsten Menschen, die mir
im Kriege je begegnet sind. Ich habe diese Dinge erwähnt und könnte noch
viel mehr erwähnen — weil daraus erhellt, in welchem Grade das Interesse
am Geschichtsunterricht und an Reformen im Geschichtsunterricht weit
über die Fachkreise hinausgeht. Dazu kommt aber noch, daß die Politisierung
unseres Volkes auch in unserer Jugend einen wahren Geschichtshunger her-
vorgerufen hat. Das zeigt sich in den unablässigen Fragen ganz besonders
der Schüler der höheren Klassen. Eine über eine Zeitströmung oder eine
markante Persönlichkeit der Geschichte ausgesprochene Ansicht ruft sofort
Zur Förderung des Geschichtsunterrichts. 219
eine Reihe von Fragen hervor, und das ist ja nur wünschenswert. Mag
sein, daß das in dieser Stärke, wenn erst die politische Hochkonjunktur
dieser Zeit vorüber ist, etwas nachläßt. Aber abgesehen davon, daß dieser
Krieg in seinen Folgen und Einflüssen noch sehr lange jedem direkt fühlbar
sein wird, so werden doch auch Fragen der äußeren und inneren Politik und
damit geschichtliche Fragen den einzelnen und auch den reiferen Schüler
infolge der ganz anderen Bedeutung des einzelnen im politischen Leben
unseres Volkes nach der Revolution nicht mehr loslassen. Auf alle Fälle,
das Interesse an der Geschichte und an Dingen, die auf der Schule im Zu-
sammenhang mit der Geschichte zu erörtern sind, das schon vorher größer
war, als im Rahmen dieses Fachunterrichts befriedigt werden konnte, wird
jetzt noch größer sein und mehr Zeit für sich fordern.
Die Ministerialverordnung von 1915 versucht nun eine Lösung, indem
sie die Aufgaben der O II und U I außerordentlich zusammenpreßt, um so
Zeit zu gewinnen für die neueste Geschichte. Das ist doch in Wirklichkeit
nur der Versuch einer Lösung für die O I, soweit die Verordnung die oberen
Klassen betrifft. Was an der einen Stelle dadurch gegeben wird, wird an
der anderen wieder genommen. Vor allem geht die Verordnung von der nach
meiner Ansicht nicht richtigen Anschauung aus, daß die ganzen Nöte des
Geschichtsunterrichts nur darin bestanden hätten, daß in ihm die neue
und neueste Geschichte bisher nicht zu ihrem Rechte gekommen seien. Das
liegt doch aber eben daran, daß es bei der bisherigen Stundenzahl trotz aller
Kürzungen garnicht möglich gewesen ist, die Geschichte der neuesten Zeit ihrer
Bedeutung entsprechend zu behandeln, weil die durch Streichen und Zu-
sammenfassen gewonnene Zeit dazu benutzt werden mußte, die wirklich
wichtigen Abschnitte der früheren Geschichte gründlicher zu besprechen.
Wenn also die Verordnung nun der O I ein kürzeres Pensum zudiktiert, so
beseitigt sie damit nur die infolge des zu umfangreich gewordenen Stoffes
und der neuen vielseitigeren Anforderungen an den Geschichtsunterricht am
übelsten in die Augen fallende Erscheinung. Das Unzulängliche der Verord-
nung wird auch zugegeben in dem Ergänzungserlaß, der mögliche Wege
vorschlägt, um die nun viel größer gewordenen Nöte in O II und U I zu
überwinden.
Von den Vorschlägen bringt nur der dritte etwas Neues. Der erste schlägt
noch energischer Kürzungen vor, als sie hie und da schon geübt sind. Es
kann in der Tat noch recht viel gekürzt, besser gestrichen werden sowohl
in der alten als in der mittelalterlichen Geschichte. Im einzelnen das nach-
zuweisen, würde hier zu weit führen. Man kann z.B. sehr gut die außer-
politische Geschichte Roms bis zuni Beginn des 1 . punischen Krieges in zwei
Stunden erledigen und auch von den späteren Kriegen Roms im Osten viel
übergehen. In der mittelalterlichen Geschichte brauchen nur diejenigen
Kaiser besprochen zu werden, die wirklich markante Persönlichkeiten sind
und bestimmenden Einfluß auf die internationale Stellung Deutschlands
oder auf seine innere Entwicklung ausgeübt haben. Die Gefahr, daß dadurch
220 Benno Schneider,
die Geschichte sich in einzelne Geschichten auflöst, wie Seyffarthi) meint,
besteht dann nicht, wenn der Vortrag in einigen Sätzen die verbindenden
Linien herstellt. Es kommt doch nur auf die großen Zusammenhänge an.
Jedenfalls, ich glaube nicht, wie Seyffarth, daß wir schon an die äußerste
Grenze des Streichens gegangen sind. Unsere Lehrbücher haben noch kaum
den Anfang damit gemacht. Selbst das nach meiner Ansicht weitaus beste
von Koch hat noch jedem deutschen Kaiser seinen Abschnitt gewidmet.
Aber es heißt die eigentlichen Schäden des bisherigen Geschichtsunterrichts
stark verkennen, wenn man glaubt, daß man durch die mit weiteren Kürzungen
gewonnene Zeitersparnis eher das Pensum der O II und U I bewältigt; denn
weit mehr als aus dem Unterrichtsgebiet dieser Klassen gestrichen werden
kann, verlangt Aufnahme oder gründlichere Behandlung im Unterricht, ganz
besonders in der alten Geschichte, in der z. B. die verfassungs- und sozial-
politischen Fragen, aus denen es so unendlich viel zu lernen gibt, bisher
viel zu kurz gekommen sind.
Dagegen weisen die beiden anderen Vorschläge auf Wege, die konsequent
ausgebaut, allerdings zu einer wirklich befriedigenden Lösung führen würden.
Der eine betont die Unterstützung des Geschichtsunterrichts durch andere
DiszipHnen. Die'er Gedanke ist nicht neu; aber in seiner Durchführung
hatte er bis jetzt das gleiche Schicksal wie all solche unvervindlichen An-
regungen. Er müßte systematisch ausgebaut werden, und das um so mehr,
als jeder, der sich mit der Notwendigkeit befaßt, der Zersplitterung unseres
Unterrichtswesens durch Gabelung und Konzentrierung abzuhelfen, zwangs-
läufig auch von dieser Seite her auf den Weg des obigen Vorschlags gewiesen
wird. Auf zwei Arten ist dies zu erreichen, einmal durch lehrplanmäßige
Festlegung und zweitens durch pflichtmäßige Konferenzen zwischen den
dafür in Betracht kommenden Fachlehrern vor Beginn des neuen Semesters.
Ich möchte hier nur kurz darlegen, wie z. B. Geschichte und Religion so
so miteinander in Einklang zu bringen wären, daß sie fast ein geschlossenes
Ganzes bilden. Ich gehe dabei allerdings von der Voraussetzung aus, daß
der Religionsunterricht heute nicht mehr die Aufgabe hat, dem reiferen Schüler
den ,, richtigen Glauben" beizubringen. Das ist Aufgabe der Kirche:
Geschichte. Religion.
I. Alte Geschichte bis zu den I. Geschichte der alten Volksreli-
Gracchen. gionen bis zu ihrer Zersetzung,
der israelitischen bis zum nach-
exilischen Judaismus.
II. Geschichte des Hellenismus und II. Zersetzung der antiken Volks-
des römischen Weltreichs, Ge- religionen durch Rationalismus
schichte der abendländischen und Skepsis und Austausch der
Völker bis 1400. Kulturen im römischen Welt-
reich. DieReligion Jesu und ihre
1) Monatsschrift, XVI. Jahrg., Heft 7 und 8.
Zur Förderung des Geschichtsunterrichts. 221
weitere Ausgestaltung. Der
mittelalterliche Mensch.
III. Von der Renaissance bis zur III. Der in seinem Denken selb-
französischen Revolution ein- ständig werdende abendländische
schließlich. Mensch.
IV. Geschichte der neusten Zeit. IV. Die geistigen Strömungen des
19. Jahrhunderts und die großen
Weltreligionen.
Es springt in die Augen, wie leicht auch der deutsche Unterricht, wenn
auch naturgemäß nicht so eng, dieser großen gemeinsamen Linie folgen
könnte und wie sich auch in den neueren Sprachen die Lektüre sehr wohl
häufiger diesem Fachkomplex anpassen ließe, und es ist unmöglich, die großen
Vorteile zu unterschätzen, die, nicht nur für den Geschichtsunterricht, aus
einem methodischen Ausbau dieses Verfahrens erwüchsen.
Bei der Vierteilung im Pensum ist nun aber schon der andere Vorschlag
in Rücksicht gezogen, der dahin geht, das Pensum der U II so rechtzeitig
abzuschließen, daß bereits auf dieser Stufe mit der alten Geschichte begonnen
werden kann. Wäre es nicht viel richtiger, noch einen Schritt weiter zugehen
und in O III das Pensum der Mittelstufe abzuschließen, statt ein Klassen-
pensum in zwei so unorganische Hälften zu teilen? Der alte Einschnitt
zwischen U II und O II ist heute durch nichts mehr gerechtfertigt. Die schwe-
dische höhere Schule hat schon seit fast 20 Jahren in der richtigen Erwägung,
daß der Untersekundaner seiner körperlichen und geistigen Entwicklung
noch mehr zur Oberstufe als zur Mittelstufe gehört, diese Klasse zur Ober-
stufe gezogen. Diese Erkenntnis drängt sich gerade im Geschichtsunterricht
besonders stark auf. Der Altersstufe der U II entspricht nicht mehr der
anekdotisch-erzählende Unterricht, wie er zum Unterschied von der Ober-
stufe auf der Mittelstufe vorherrschen soll. Indem man aber dem Unterricht
in der U II auf Grund dieser Erfahrung schon mehr einen reflektierenden
und überwiegend den Verstand statt Gemüt und Phantasie beschäftigenden
Charakter gibt, greift man der O I vor, ohne sie jedoch dadurch zu entlasten^).
Bei der Verteilung auf vier Jahre aber vollzieht sich auch die Aufnahme
und das Durchdringen der gewaltigen Stoffmasse allmählicher und ruhiger,
als bei der heutigen Einteilung, die trotz aller Streichungen zur Ungründlich-
keit, zu einer Art wissenschaftlicher Schnellmast führt. Der Einwand, daß
nunmehr die Schwierigkeiten für die Mittelstufe nahezu unlösbar wurden,
verliert für den jede Bedeutung, der an dieses Alter nicht Forderungen stellt,
die ihm nicht angemessen sind . Man darf nicht von dem Quartaner undTertianer
Kenntnis der Geschichte, des Altertums, des Mittelalters usw. verlangen.
Es sollen ihm nur eine Reihe von Bildern aus der Geschichte lebendig werden,
aber nur solche, die seinem auf das Romantische gerichteten Sinn entsprechen.
Die Ansicht Eduard Meyers (Aufgaben der höheren Schulen und die Gestaltung des
Geschichtsunterrichts), daß die auf der Mittelstufe erworbenen Kenntnisse der tatsäch-
lichen der Oberstufe als Basis dienen könnten, widerspricht jeder Erfahrung.
222 Reinhold Kern,
Auf Kontinuität kommt es dabei nicht an. Es schadet gar nichts, wenn ihm
Zeiträume, die seiner Phantasie nichts bieten, unausgefüllt bleiben. Wer
sich das klar gemacht hat, der findet auf der Mittelstufe reichlich Zeit, das
wirklich für sie Wissenswerte durchzunehmen. Er muß sich nur entschließen
können, ganze Seiten des Lehrbuchs trotz eindrucksvollster Überschriften
zu überschlagen, wenn der Inhalt blutleer ist. Würden die Vorschläge des
Ministerialerlasses in der hier angedeuteten Weise weiter entwickelt, dann
würde sofort der Wunsch so vieler Fachlehrer, daß der Geschichte in den
oberen Klassen eine vierte Wochenstunde hinzugefügt werden möchte, ver-
stummen. Ernstlich zu erörtern ist er ja so wie so nicht in einer Zeit, die mit
Macht an eine Verminderung der Stundenzahl im allgemeinen denkt. Dem
Geschichtsunterricht aber wären endlich die Entfaltungsmöglichkeiten ge-
geben, die seiner Bedeutung entsprechen.
Neukölln. Schneider.
Kleine Hilfsmittel für den Geschichtsunterricht.
In den Jahrgängen XIV, S. 327ff., XV, 499f. und XVI, 468ff. dieser
Zeitschrift habe ich, damit die Schüler den Zahlen- und Tatsachenschatz
mit Vergnügen lernen, hingewiesen auf den inneren Zusammenhang, in dem
manche Zahlen und Ereignisse miteinander stehen. Im folgenden gebe ich
noch eine kleine Nachlese dazu. 16. a. Chr. n. 9. a. Chr. n. 9. p. Chr. n. 16. p.
Chr. n. Im Jahre 16 a. Chr. n. dringen die Sugambrer über den Rhein plün-
dernd nach Gallien vor, und der Legat Lollius (vgl. Horaz IV, 9), der ihnen
mit der 5. Legion entgegentritt, wird schmählich geschlagen. Im Jahre 16
p. Chr. n. kommt durch den Sieg des Germanikus über die Cherusker bei
Idisiaviso das Wesertal in die Hände der Römer, und Deutschland bis zur
Elbe scheint ernstlich bedroht. Im Jahre 9 a. Chr. finden die erfolgreichen
Feldzüge des Drusus, der sich den Zugang zur Elbe glücklich erkämpft hat,
ein frühzeitiges Ende durch seinen Sturz vom Pferde, der seinen Tod herbei-
führt. Der völlige Zusammenbruch der römischen Herrschaft erfolgte dann
im Jahre 9 p. Chr. n. durch die Niederlage des Varus im Teutoburger Walde,
die so niederschmetternd war, daß wenigstens Augustus keinen Versuch
mehr gemacht hat, die Scharte auszuwetzen.
476. 486. 496. Ohne nennenswerten Kampf, ohne heldenmütigen Wider-
stand vollzieht sich im Jahre 476 der Untergang Westroms. Als Statthalter
eines nicht mehr existierenden Kaisers behauptet sich in den Gebieten nördlich
der Loire, tatsächlich aber unabhängig Syagrius, (Gregor Tur. II, 27 nennt
ihn Romanorum rex). Diesen besiegt Chlodwig im Jahre 486, und damit
beginnt der Aufstieg des Frankenreichs. Zehn Jahre darauf • — 496 — Chlod-
wigs Sieg über die Alemannen und sein Übertritt zum Christentum.
611.711. 632. 732. In das Jahr 61 1 fällt die „Nacht der Macht, die mehr
ist, als was in tausend Monden wird vollbracht", in der Mohammed zum
Propheten berufen wird. Auf dieses Jahr kommt man, wenn man davon
ausgeht, daß Mohammed bei seiner Berufung im 40. Lebensjahr stand und
571 als Jahr seiner Geburt annimmt. Hundert Jahre nach seinem öffent-
Kleine Hilfsmitte! für den Geschichtsunterricht. 223
liehen Auftreten führt Tarik im Jahre 711 die Mohammedaner nach der
Pyrenäenhalbinsel hinüber und vernichtet das Westgotenreich durch die
große siebentägige Schlacht am Flusse Salado: Spanien wurde dadurch aus
einem christlich-germanisch-romanischen Staat zu einem Bestandteil des
großen Mohammedanischen Reiches. 632 stirbt Mohammed, und hundert
Jahre danach 732 wird dem bisher ununterbrochenen Siegeslauf des Islams
durch die Schlacht bei Poitiers ein Halt geboten.
Der von den Schülern jetzt viel gelesene Roman von Hendrik Conscience,
„Der Löwe von Flandern", hat die Kämpfe der Flamänder gegen die fran-
zösische Herrschaft lebendig gemacht, wie sich das durch harten Druck er-
bitterte Volk gegen die französische Regierung in der „vlämischen Vesper"
des Jahres 1302 erhebt. Zwanzig Jahre vorher waren am Ostermontag des
Jahres 1282 zur Vesperzeit alle auf Sizilien weilenden Franzosen von den
erbitterten Einwohnern der Insel ermordet worden, und Sizilien erlangte
dadurch seine Selbständigkeit ..sizilianische Vesper". 300 Jahre vor der
,,vlämischen Vesper" waren die in Northumberland lebenden Dänen von den
Angelsachsen durch die „dänische Vesper" hingeschlachtet worden. Diese
Bluttat führte dazu, daß England unter die Fremdherrschaft der Dänen kam.
1370, das glorreichste Jahr der Ordensgeschichte, in dem ,,des großen
Winrich Ordensmarschall mit dem harten Herzen und dem harten Namen,
Henning Schindekopf, als Sieger in jener gräßlichen Rudauschlacht fiel^),
war auch der Höhepunkt der hansischen Macht. Als Meister Winrich die
Kunde empfing von dem großen Litauermorden auf dem Rudaufelde, da
weilte an seinem Hofe als ein Bettler, des Ordens Vermittlung erflehend,
Waldemar Atterdag der Däne, verjagt aus seinem Erbe durch die Bürger-
macht der Siebenundsiebenzig Hansestädte; im selben Jahre unterschrieb der
König den Stralsunder Frieden und versprach, daß fürderhin keiner den
Thron von Dänemark besteigen solle, als mit dem Willen der gemeinen Hanse."
Der Friede zu Paris im Jahre 1763, der den Englisch-FranzösischenKrieg
in Nordamerika beendet, besiegelt die Weltmachtstellung Englands wie der
Hubertusburger Friede in demselben Jahr die Großmachtstellung Preußens
bestätigt.
Zwanzig Jahre nach dem Tode Friedrichs des Großen sinkt Preußen
in Trümmer — Napoleon schrieb an einen seiner Brüder: „J'ai ecrase la
Monarchie Prussienne" — und zwanzig Jahre nach Bismarcks Tod liegt
Deutschland am Boden. Mit dem Fall der Hohenzollern am 9. November 1918,
an dem Tage, an dem vor 77 Jahren Eduard VII, dessen Werk die Einkrei-
sung Deutschlands ist, geboren wurde (9. Nov. 1841), beginnt der Umsturz
in Deutschland, 1799 begründet Bonaparte in Frankreich die Militärmon-
archie, die den Kreislauf der Revolution durch Einmündung in die abso-
lute Staatsform wieder schließt.
„Diese Schiffe aber," die die Athener den loniern zu Hilfe schickten,
„waren der Anfang zu allem Unheile für Hellenen und Barbaren."
^) Treitschke, Ausgewählte Schriften. Bd. 1. S. 82 und S. 90.
224 Schülke,
So leitet Herodot die Erzählung von den Perserkriegen ein, und mit
dem Prager Fenstersturz, „dem Anfang und der Ursach allen Wehs",
beginnt der Dreißigjährige Krieg. Als Michelangelo 1564 starb, wurde an
demselben Tage — 18. Februar — der Prophet einer neuen Geistesrichtung
und Weltanschauung, Galilei, geboren.
Zur Sammlung der Wortwitze wäre noch nachzutragen das Anagramm
centum oculi für den Namen des ausgezeichneten österreichischen Feldherrn
des 17. Jahrhunderts, Montecuculi, dem auch der bekannte Ausspruch über
die drei zum Kriege notwendigen Dinge (Geld, Geld, Geld) zugeschrieben
wird. Den Namen des Kardinals Khlesl, des einflußreichen Ratgebers des
Kaisers Matthias, schrieben seine Feinde CL=Esel. Gerbert, einst Erz-
bischof von Reims, dann von Ravenna und endlich, als Silvester II 999
bis 1003 Papst, soll scherzend sein Aufsteigen von Reims über Ravenna
nach Rom in dem Verse: Scandit ab R(emis) Gibertus in R(avennam) post
papa viget R(omae) ausgesprochen haben. Auf den Präsidenten Poincare
gründete sich Frankreichs Hoffnung: II a le poing carre pour nous defendre.
Berlin. Reinold Kern.
Zwanzigvier statt vierundzwanzig.
Gegenwärtig werden starke, grundsätzliche Änderungen im Schulwesen
geplant, ich nenne nur Einheits-, Arbeits- und Erlebnisschule. Ich glaube
aber, daß nur wenige sich eine klare Vorstellung davon machen, welche Ar-
beit und Zeit es kostet, solche Änderungen nicht nur auf dem Papier, sondern
wirklich vollständig und lebendig durchzuführen. — Ich will hier keine tief-
liegenden Erziehungsfragen aufrollen, sondern mich auf die Empfehlung
einer ganz geringen Änderung, auf die Umstellung von Zahlwörtern
beschränken, deren Berechtigung kaum bestritten werden kann, und die für
das ganze Volk eine Ersparnis von Zeit und Arbeitskraft bedeuten würde.
Aber trotz vieler Vorarbeiten sind die Schwierigkeiten noch immer so groß,
daß die Durchführung nicht sicher ist.
Der Zahlbegriff kann auf zwei Arten ausgedrückt werden, schriftlich
durch Ziffern und mündlich durch Zahlwörter. Man sollte erwarten,
daß diese beiden Darstellungen derselben Sache übereinstimmen, aber bei
keinem Volke ist das der Fall. Die Ziffern sind durch den grübelnden Ver-
stand nach sehr verschiedenen Grundsätzen ausgebildet, wie die babylo-
nischen, hebräischen, griechischen und römischen Ziffern zeigen. Aber all
diese verschiedenen Systeme sind verdrängt durch die verhältnismäßig späte
Erfindung der indischen Ziffern, die in Deutschland erst vor 400 Jahren
in allgemeineren Gebrauch gekommen sind und die später, da sie an Ein-
fachheit und Folgerichtigkeit nicht übertroffen werden können, bei allenVölkern
Eingang gefunden haben. Die Zahlwörter dagegen sind in den ältesten
Zeiten unbewußt zugleich mit der Sprache entstanden und später zwar viel-
fach abgeändert und ergänzt, doch nie von Grund aus neu gebildet. Daher
sind die Zahlwörter aller Völker verschieden und nirgends ist man zu der-
selben Einfachheit wie bei den Ziffern gekommen; aber von allen Kultur-
Zwanzigvier statt vierundzwanzig. 225
Völkern besitzen wir wohl die unzweckmäßigsten Zahlwörter. Überall hat
man nämlich, um Übersicht über die ungeheuere Zahlenmenge zu er-
langen, die größere Zahl vorangestellt, nur die kleinsten
(ältesten) und daher am meisten gebrauchten Zahlwörter widerstanden
diesem Bestreben. So ist es gekommen, daß England, Schweden,
Litauen, Rußland von 20 an die regelmäßige Stellung haben, Frankreich
und Italien von 17, Spanien und Porzugal von 16, die Neugriechen von 13.
DieOrdnungszahlen werden seltener gebraucht, daher beginnt die regelmäßige
Bildung bei Italienern und Spaniern schon von 13, bei Portugiesen
von 11. Allein die Deutschen stellen bis 100 die Einer voran und dadurch
bringen sie Unordnung bis in die größten Zahlen, selbst bei einer achtstelligen
Zahl 23456789 sprechen wir an keiner Stelle zwei aufeinanderfolgende Ziffern
in der richtigen Reihenfolge. Doch nicht allein das Zählen wird dadurch
unregelmäßig, sondern auch das Rechnen wird unnötig erschwert. Denn
alles Rechnen beruht auf dem Einsundeins, und 8 -f 7 liefert offenbar zehn-
fünf, denn man muß zunächst bis zehn zählen und dann kann man erst
die Einer feststellen. Wenn wir also fünfzehn sagen, so zwingen wir die
Schüler zum gedankenlosen Auswendiglernen, statt sie an denkendes Rechnen
zu gewöhnen. Weitere Ausführungen über das Rechnen mit den neuen Zahl-
wörtern, auch über die scheinbare Zweckmäßigkeit der alten Bezeichnung
bei der Addition, sind im Deutschen Philologenblatt 1916 Nr. 30 und 1918
Nr. 27 gemacht.
Selbstverständlich sind schon früher Versuche gemacht, die verkehrte
Stellung der Zahlwörter zu ändern, z. B. von W. Foerster, dem früheren
Direktor der Berliner Sternwarte, von Ostwald und Höfler, ich selbst
'habe in Fachzeitschriften, in der Täglichen Rundschau, den Grenzboten usw.
dafür gewirkt, ein Erfolg ist aber nicht eingetreten. Als Hauptgrund wird
angegeben, daß man die Sprache nicht ändern dürfe. „Ein solcher
Vorschlag, sagt die Vossische Zeitung, zeigt ein unmögliches Verhältnis
zum Geiste der Sprache. Sie ist etwas für sich Seiendes mit den Notwendig-
keiten eigener Gesetze. Diese inneren und nie ganz erforschbaren Zwangs-
läufigkeiten der Sprache nicht zu fühlen oder sie bewußt zu mißachten, ist
der wesentlichste Mißverstand aller Sprachschulmeister und kurzsichtigen
Sprachverbesserer. Steht man mit dieser liebenden und bewundernden
Demut vor dem Gesicht der Sprache, so erscheint jeder Versuch handwerk-
lich gewaltsamen Eingriffs in ihr Gefüge als eine Roheit, die ebenso töricht
wie aussichtslos ist!" Das ist alles ganz schön gesagt und namentlich Philo-
logen sind vielfach derselben Ansicht, aber trotzdem ist es nicht richtig.
Der Deutsche hat wenig Sprachgefühl und neigt dazu, fremde Konstruktionen
und Worte aufzunehmen. Wenn sich trotzdem unsere Sprache immer
mehr vervollkommnet hat, so ist dies vor allem das Werk unserer großen
Dichter und Schriftsteller; aber auch der bewußten Reinigungsarbeit der
Puristen und des deutschen Sprachvereins verdanken wir eine wesentliche
Bereicherung der Sprache. Joachim Heinrich Campe bildete vor 100 Jahren
geeignet für qualifiziert, verwirklichen für realisieren, Öffentlichkeit
Monatscbrift f. hob. Schulen. XX. Jbrg. 15
226 Schülke,
für Publizität, herkömmlich für konventionell. Auch Goethe, Schiller
und Gustav Freytag haben, wenn sie auch gegen die Puristen eiferten,
sich ihrem Einflüsse nicht entzogen. Seit 1871 wirkten auch die Behörden
in diesem Sinne, als erster der Generalpostmeister Stephan (eingeschrieben
= rekommandiert, Eilboten = Expreßbote, postlagernd = posterestante),
später auch die Reichsgesetzgebung und der Generalstab. So ist eine große
Reihe von absichtlichen Neuschöpfungen vollständig in die Sprache ein-
gedrungen und selbst die Gebildeten können diese Worte häufig von dem alten
Sprachgut nicht unterscheiden. Allerdings sind diese Bestrebungen nur selten
von der Gunst der großen Menge getragen; gewöhnlich werden sie scharf
getadelt oder mit billigen Witzen verhöhnt. Und dies ist nicht zu verwundern,
denn noch niemals ist beliebt gewesen, wer andere auf Fehler aufmerksam
macht. Bei den Zahlwörtern dürfte eine Änderung am wenigsten Anstoß
erregen, weil sie in der Dichtung nicht vorkommen sondern fast nur auf
Wissenschaft, Schule, Erwerb und Verkehr beschränkt sind.
Ferner wird gesagt : Die alten Zahlwörter haben wir mindestens 2000 Jahre,
warum sollen wir jetzt neue schaffen? Hierauf ist zunächst zu erwidern,
daß in diesen 2000 Jahren nachweisbar eine ganze Reihe von UnvoUkommen-
heiten abgeschafft sind^), z. B. statt zehnzig, elfzig ... ist hundert eingeführt,
die Bildungen durch Subtraktion entsprechend undeviginti sind beseitigt,
auch die Brüche „drittehalbhundert" = 250 sind weggefallen und die Stellung
„fünzig und hundert = 150 berichtigt. Noch in letzter Zeit wurde durch
den Fernsprecher „sechs-fünfunddreißig" = 635 geschaffen. Man sieht also,
daß die Entwicklung der Sprache ganz in dem verlangten Sinne verläuft.
Sodann hat sich noch die Wirtschaftslage vollständig geändert. Deutsch-
land war ein Ackerbaustaat, der fast ganz von Naturalwirtschaft lebte.
Auch Handwerker und Kaufleute dachten nicht an genaue Berechnung der
Herstellungs- und Verkaufspreise, denn feste Preise kannte man überhaupt
nicht, man schätzte vielmehr jeden Kunden besonders ein"). Dies alles ist
seit 100 Jahren und namentlich seit der Gründung des Deutsehen Reiches
ganz anders geworden. Allein der Außenhandel, der früher ganz unbedeutend
war, wuchs 1913 bis auf 21 Mill. M. UnvoUkommenheiten der Zahlwörter,
die früher bei dem seltenen Gebrauch der Zahlen kaum bemerkt wurden,
werden jetzt als sehr störend empfunden. Dabei möchte ich noch auf einen
sehr merkwürdigen Umstand hinweisen. Man hält es für selbstverständlich,
daß alljährlich ungeheuere Summen für Wegebauten, Dampf- und elektrische
Bahnen, Maschinen usw. ausgegeben werden, um körperliche Arbeit zu
schonen, und jeder weiß, daß diese Ausgaben sehr nutzbar angelegt sind,
weil sie unsere Arbeitsfähigkeit in weit höherem Maße vermehren. Jede
Tischlerei, jede Maschinenfabrik wird von vornherein so angelegt, daß auf
^) Weinhold, Mittelhochdeutsche Grammatik. Auch die Römer ersetzten seit Livius
tredecim häufig durch decem et tres; die Franzosen haben das zu Voltaires Zeiten noch
übliche Zwanzigersystem (six-vingt = 120 usw.) fast ganz abgeschafft, und im Rechen-
unterricht sagt man statt quatre-vingt meist octante.
2) Sombart, Das Kapital.
Zwanzigvier statt vierundzwanzig. 227
einer Seite die Rohstoffe hineinkommen, dann in bestimmter Richtung zur
Bearbeitung weitergeführt werden, um von anderer Stelle als fertige Fa-
brikate den Betrieb zu verlassen — jedes unnötige Hinundherschaffen inner-
halb der Fabrik wird sorgfältig vermieden. Neuerdings ist sogar im Taylor-
System^) eine eigene Wissenschaft entstanden, um durch Ersparnis jeder
überflüssigen Bewegung die Leistungsfähigkeit aller Betric be zu erhöhen.
Ähnliche Bestrebungen zur Förderung geistiger Arbeit sind bisher
wenig vorhanden und fanden auch wenig Unterstützung. Der Grund dafür
liegt darin, daß bei unseren Gebildeten — abgesehen von den Technikern —
ästhetische und juristische Interessen durchaus überwiegen und daß
wirtschaftliches Denken fast gar nicht entwickelt ist. Schuld daran
hat auch die Pädagogik, die infolge eines falsch verstandenen IdeaHsmus
in dieser Richtung eine Lücke^) gelassen hat.
Durch die dauernde Umstellung bei jedem Übergang vom Gedanken
zum Zahlwort und vom Zahlwort zur Ziffer gestaltet sich der Unterricht
viel langsamer und mühsamer als bei allen andern Völkern. Tafelmacher,
der Direktor der Handelsschule in Dessau, hat dies direkt beobachtet, als
er in Chile gleichzeitig an einer deutschen und spanischen Schule den Rechen-
unterricht erteilte. Aber auch im späteren Leben wird die Auffassung, das
Behalten und das Arbeiten mit Zahlen durch die Sprache dauernd erschwert.
Daß zahlreiche Fehler im kaufmännischen Rechnen auf solche Art entstehen,
zeigt das kleine Buch von G. von Erlach, Zürich: „Wie man als Buchhalter
Differenzen sucht". Um eine Vorstellung zu geben, um welche Werte es
sich handelt, wollen wir eine kleine Rechnung anstellen: Wieviel Arbeits-
zeit wird vergeudet, wenn durch unsere schlechten Zahlwörter durchschnitt-
lich jeder täglich eine halbe Minute verliert? Rechnen wir in Deutschland
30 Mülionen arbeitende Menschen an 300 Tagen, die Stunde nur zu 1,20 M.,
so erhält man 900 Mill. M.l Also fast für eine Milliarde Mark könnte alljähr-
lich mehr geleistet werden!
Aber wie läßt sich das Ziel erreichen ? Anfangs glaubte ich an die Wirkung
freiwilliger Arbeit; jedoch die Zahl derer, die freiwillig aus dem gewohnten
Gleise heraustreten, ist zu gering, und der Widerstand der stumpfen Welt
zu groß. Eine Erinnerung an frühere Zeiten mag den rechten Weg weisen.
Als durch Dampfmaschine, Fabriken, Dampfschiffe und Eisenbahn Handel
und Verkehr einen ungeahntenAufschwung nahmen, da boten die verschiedenen
Maße und Gewichte in jedem Kleinstaat ein schweres Hindernis. Trotzdem
konnte durch freiwillige Übereinkunft nichts erreicht werden; erst die Maß-
und Gewichtsordnung für den Norddeutschen Bund vom 17. Au-
gust 1868 schuf Einheitlichkeit. Warum soll die Entwicklung der Sprache
allein dem Unterbewußtsein überlassen bleiben? Es wird auch in diesem Falle
1) Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung von Taylor, Deutsch von
Roesler. München 1917.
*) Ich verweise auf die kleine aber inhaltsreiche Schrift von Rausch: Die wirtschaft-
liche E'"ziehung der deutschen Jugend. Osterwieck 1919.
15*
228 Wahner,
zweckmäßig sein, ein Reichsgesetz für die Aussprache und Schreibweise
der Zahlwörter zu erstreben. Einen Entwurf dafür habe ich in den Unter-
richtsblättern für Mathematik 1920 Nr. 3/4 veröffentlicht, denn nach meinen
Erfahrungen hat der alte Fontane recht: ^
Das Klügste, Beste, Bequemste,
Das auch freien Seelen weitaus Genehmste,
Heißt doch schließlich, ich hab's nicht Hehl,
Klares Gesetz und fester Befehl.
Tilsit. Schülke.
Schul- und aufgabenfreie Halbtage und turnerische Wanderungen^).
„Wöchentlich ein schul- und aufgabenfreier Halbtag, . . . alle 4 Wochen,
wo es die Verhältnisse nicht unmöglich machen, vom 6. Schuljahre ab ein
Ganztag (einer turnerischen Wanderung zu widmen)", ist das jüngste Ge-
schenk des Unterrichtsministeriums an die Schülerschaft aller Volks- und
Mittelschulen, Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten sowie aller höheren
Lehranstalten für die männhche und weibliche Jugend. War solche Maß-
nahme, die von letzterer selbstverständlich, wie die meisten Neuerungen
und insbesondere jede Unterrichtsbeschränkung, freudig begrüßt", von Eltern
und Lehrern dagegen mit gemischten Gefühlen aufgenommen wurde, not^
wendig? Wird darunter nicht die Erreichung des nächsten Schulzieles,
die wissenschaftliche Ausbildung, leiden, die den Zeitforderungen gegen-
über doch keinesfalls verringert werden darf? Wie lassen sich jene Neu-
einrichtungen zweckentsprechend gestalten und die dagegen erhobenen Be-
denken beseitigen, ohne daß anderes, Gleichwertiges gefährdet wird?
Wohl an allen Lehranstalten bestand schon immer für jede Klasse, auch der
Oberstufe der höheren, dieTatsache eines vollständig schulfreien Nachmittages,
wie sich das bei Verteilung der planmäßigen Lehrstundenzahl auf die einzelnen
Vor- und Nachmittage von selbst ergab. Für die jüngeren Jahrgänge wurden
es auch zwei oder mehr, nur daß nicht alle Klassen denselben Nachmittag
schulfrei hatten, nur daß nicht auch eine gleichzeitige Befreiung von häus-
lichen Aufgaben für den nächsten Schultag stattfand. Und auch die übrigen
Nachmittage waren seit Verlegung des gesamten wissenschaftlichen Unter-
richts auf den Vormittag und seit Einführung der Kurzstunden nur mit zwei
Lekitonen technischen oder wahlfreien Unterrichts besetzt. Damit wurde es
^) Der bereits ein Vierteljahr nach dorn Ministerialerlaß vom 29. März 1920 ge-
schriebene und für die Monatschrift angenommene Aufsatz konnte wegen Raummangel
leider erst jetzt zum Abdruck gelangen. Inzwischen sind zu der behandelten Frage ver-
schiedentlich in unsern Fachzeitschriften Stimmen laut geworden, die so weit wie möglich
noch in Zusätzen und Anmerkungen berücksichtigt wurden. Bei aller Anerkennung des
dem Erlasse vorschwebenden Zieles, der „Wiederherstellung und Erhaltung der Volks-
gesundheit", rollen sie in der Hauptsache nur entgegenstehende Bedenken auf und mehren
die Schwierigkeit seiner Veiwirklichung. In wesentlicher Verschiedenheit von solcher Ver-
neinung lassen die folgenden Ausführungen nur ein sachliches Hauptbedenken gelten,
den Verlust an Unterrichtszeit, und suchen positiv durch Ersatz dieses Ausfalls und durch
Bekämpfung der Hindernisse zur sachgemäßen Durchführung beizutragen.
Schul- und aufgabenfreie Halbtage und turnerische Wanderungen. 229
den Schülern in der Klein- und Mittelstadt stets möglich, täglich einen zu
ihrer Erholung nötigen kürzeren oder längeren Gang ins Freie zu machen
und sich an dem einen oder anderen Nachmittage gesundheitförderndem
Spiel und Sport hinzugeben. Anders freili(ih in der Großstadt, wo zwischen
Wohnung und Schule, zwischen diesen und passenden Spazierwegen und
Plätzen sportHcher Betätigung meist zeitraubende Gänge oder Fahrten zu-
rückzulegen sind. Da blieb dem Schüler kaum die dazu nötige Zeit, wenn
er sich auch noch für den kommenden Schultag vorbereiten sollte. Die körper-
liche Ertüchtigung unserer Jugend aber ist nach den entbehrungsreichen
Kriegsjahren und bei der fortbestehenden Lebensmittelknappheit mehr denn
je dringend geboten und von der Unterrichtsverwaltung mit vollem Recht
an die Spitze aller erziehlichen Maßnahmen gestellt worden. Sie kann und
soll erreicht werden durch freie Betätigung in gesunden Leibesübungen,
durch Wandern, Spielen, Wintersport, Schwimmen und Rudern. Gespielt
wurde bisher von der Gesamtheit der Schüler fast nur im Turnunterricht,
von dem entweder die ganze dritte Wochenstunde oder das letzte Viertel
aller drei Stunden gewöhnlich dafür benutzt wurden, sonst nur einzeln.
Ähnlich stand es mit den winterlichen Leibesübungen und dem Baden. Rudern
und Schwimmen werden immer nur von wenigen geübt werden können.
Gewandert wurde von der Allgemeinheit meistens nur einmal im Schuljahre
bei Gelegenheit des „Schulspazierganges" oder ,, Turnmarsches" ; darüber
hinaus nur von den Mitgliedern des Wandervogels, von Pfadpfindern oder
als Ferienerholung einzelner.
Damit nun alle diese Übungen allgemeiner und ,,in geordneter Weise"
betrieben werden, ohne Beeinträchtigung des für Geschmeidigkeit und Stählung
des Körpers ebenso notwendigenTurnunterrichtes, ist jene Einrichtung eines
wöchentlichen schul- und aufgabenfreien Halbtages neben den
lehrplanmäßigen Turnstunden, vom 4. Schuljahre ab, soweit es die örtlichen
Verhältnisse irgend gestatten, festgesetzt bzw. auf alle Schulen ausgedehnt
werden!). „Vom 4. Schuljahr ab", das soll für die höheren Lehranstalten von
heute nach vorausgegangenem ^drei- oder vierjährigem Besuch der Grund-
schule doch wohl von Sexta an heißen, obschon für die unteren Klassen bei
weniger Wochenstunden sowieso schon mehrere schulfreie Nachmittage heraus-
kommen. Wer möchte indessen die Kleinen und noch nicht so Leistungs-
fähigen von dem allgemeinen Benefizium ausschließen, zumal sie vielfach
erst in der Klasse zu selbständiger Hausarbeit angelernt werden müssen,
zumal gerade der Nachlaß häuslicher Vorbereitung erst den freien Nachmittag
wahrhaft zu einem solchen macht?
Nur durch Einrichtung des schul- und aufgabenfreien Halbtags also
und die damit verbundene Ordnung wird die allgemeine Beteiligung
1) Der Ministerialerlaß folgte damit wohl den Beschlüssen der Preußischen Landes-
versammlung auf die Anträge Domini cus, von denen unabhängig bereits die Lehrerschaft
der Frankfurter Morton-Realschule das ganze Jahr hindurch wöchentlich einen aufgaben-
freien verpflichtenden Sportnachmittag abzuhalten beschlossen hatte nebst beachtens-
werten Richtlinien dafür (Philologenblatt 28. Jahig. S. 146).
230 Wahner,
an den Übungen zur körperlichen Ertüchtigung verbürgt, während ordnungs-
lose, hinsichtlich Zeit und Gelegenheit dem Belieben überlassene Einzel-
betätigung auch mancherlei Gefahren für Gesundheit und Gesittung mit sich
bringt. „In geordneter Weise" können die Leibesübungen erfolgen sowohl
bei klassenweisem Wechsel des freien Halbtages wie bei seiner gleichzeitigen
Ansetzung für die ganze Anstalt. Aber es ist klar, daß in letzterem Falle sich
leichter Ordnung erzielen läßt oder mehr System in ihren Betrieb hineinkommt
als bei verschiedener Anberaumung für einzelne Klassen. Nur so, d. h. bei
gegenständlicher Ordnung wird es möglich, die zu verschiedenen Sportgruppen
gehörigen Mitgheder, sei es in schon bestehenden Vereinen oder indem sich
die Schüler selbst nach Alter, Leistungsfähigkeit, Freundschaft und Neigung
nur auf ein Jahr vereinigen, zusammenzufassen und, soweit nötig, fachmäßige
Leitung oder Aufsicht herzustellen. Ohne solche geht es bei den meisten von
der Schule getroffenen Einrichtungen ja nicht ab. Muß sie aber darum immer
und überall vom Lehrer ausgeübt werden? Keinesfalls. Ständige Spiel-
aufsicht an den schulfreien Halbtagen durch Lehrer wäre nicht ohne erheb-
liche Schwierigkeiten herbeizuführen und erscheint weder notwendig noch
erwünscht. Je nach der Verschiedenheit der Übungen und ihres Schauplatzes
müßten sonst an einem und demselben Nachmittage mehrere Lehrer gleich-
zeitig stundenlang Aufsicht führen, die ihnen als verantwortungsvoller Dienst
nur im Rahmen ihrer Höchststundenzahl zugemutet werden kann. Das würde
an kleineren und Mittelanstalten mindestens je eine, an größeren mehrere
neue Lehrkräfte erfordern. An bezahlte Überstunden ist auch nicht
gedacht, wenn es heißt, daß besondere Mittel aus staatlichen Fonds
dafür zurzeit nicht zur Verfügung stehen. Regelmäßige Lehreraufsicht
ist, wie der bisherige begrenztere Sportbetrieb der Schule bewiesen hat,
aber auch nicht nötig, kann vielmehr vollständig ersetzt werden durch
die eigene Aufsicht der Schüler. Diese sind beim Spiel ja ungleich reger
interessiert als beim Unterricht, fügen sich willig den Spielordnern aus ihren
eigenen Reihen und halten selbst auf Ordnung und Regelmäßigkeit, besonders
wenn ihnen solche als unerläßliches Zubehör des Spieles dargetan
wurde. Gerade das Auftreten der besten Spieler als Ordner wird den Eifer
und die Willigkeit der übrigen noch mehr anspornen. Auch ermöglicht die
gegenständliche, nicht klassenweise erfolgende Zusammensetzung der Sport-
gruppen eine Überwachung jüngerer Spieler durch ältere. Planmäßige Spiel-
beaufsichtigung durch Lehrer ist endlich nicht einmal erwünscht, nicht so-
wohl für die Ungebundenheit der Schüler als im Interesse ungescheuter
Vornahme der Leibesübungen. Erfahrungsmäßig bereiten letztere gerade
manchem wissenschaftlich tüchtigen Jungen Schwierigkeiten, der sich unter
den Augen des Lehrers seiner körperlichen Ungeschicklichkeit schämt und
darüber leicht den Mut und die Lust zum Spiel einbüßt. Diese Hauptvoraus-
setzung dafür wird auch der Allgemeinheit durch ständige Spielüberwachung
verkümmert, da sie dadurch das Bewußtsein freier, selbstgewählter Be-
tätigung verliert und letztere schließlich als planmäßigen Betrieb ansieht.
Mit der Befürwortung der Spiel- und Sportaufsicht durch die Schüler selbst
Schul- und aufgabenfreie Halbtage und turnerische Wanderungen. 23 1
soll natürlich nicht jede Anleitung und Überwachung durch den Lehrer
ausgeschlossen sein, wie sie vorübergehend von Zeit zu Zeit und besonders
am Beginn eines Spielabschnittes sich als nötig erweisen wird. Sie wird am
zweckmäßigsten durch die Turnlehrer und die Protektoren der verschiedenen
Schülervereinigungen ausgeübt, die ihr Ehrenamt ja gewöhnlich auf Grund
besonderer Neigung und Befähigung dafür übernommen haben.
Damit erledigt sich auch die aus Fachkreisen erhobene Frage der Haft-
pflicht bei den Übungen. SelbstverständUch kann für dabei vorkommende
Unfälle weder die Schule noch ein Lehrer haftbar gemacht werden. Es handelt
sich hier ja nicht um lehrplanmäßige Beschäftigung der Zöglinge, sondern
um einen ihnen zugestandenen Unterrichtsausfall, den sie zu ihrer körper-
lichen Ertüchtigung nach eigener Neigung ausnützen sollen. Ihre Teilnahme
an diesen ., Schuleinrichtungen" ist allerdings nach dem Erlaß vom 20. De-
zember 1920 U III B 8574 verbindlich wie die am Turnunterricht, so daß
für Befreiungen davon die gleichen Bestimmungen vom 24. Januar v. Js.
U III B 7827 gelten. Leitung und Aufsicht werden damit nach dem Erlaß
vom 18. Dezember decs.Js. U III B Nr. 8397 U II Wzu „Amtshandlungen,
welche Lehrer und Lehrerinnen in Ausübung der ihnen anvertrauten öffent-
lichen Gewalt vornehmen", d. h. diese werden im Falle von Regreß-
forderungen durch die behördliche Erhebung des Kompetenzkonfliktes
geschützt, deshalb ist eine Haftpflichtversicherung weder beabsichtigt noch
nötig. Leitung und Aufsicht bei jenen Leibesübungen werden aber dort
auch nicht ausdrücklich gefordert. Somit ist iür etwa dabei ent-
stehenden Schaden ebensowenig wie für Vorkommnisse auf dem Schul-
wege oder in der sonstigen Freizeit die Schule verantwortlich. Wo keine Auf-
sicht stattzufinden braucht, kann auch von Haftpflicht keine Rede sein. Doch
ist es gerade darum dringend erwünscht, daß behördlicherseits die Nicht-
notwendigkeit der Spielbeaufsichtigung durch die Lehrerschaft erklärt wird.
Bei der Selbstaufsicht der spielenden Schüler wird am sichersten auch
„den Wünschen der Jugend bezüglich der Art der von ihnen zu betreibenden
Leibesübungen" Rechnung getragen. Neigung und Befähigung, die sich
wechselseitig bedingen, sind unerläßliche Voraussetzungen für Eifer und Fort-
schritt darin. Über sie weiß niemand besser Bescheid als jeder Teilnehmer
selbst, und gleich der Beteiligung des einzelnen an diesem oder jenem Sport
wird auch die Entscheidung der Allgemeinheit für die eine oder andere Art
der Leibesübungen am wenigsten beeinflußt sein, wenn kein an Schulzwang
gemahnender Lehrer dabei ist. Immerhin wird die Auswahl gebunden sein
an die örtlichen und besonderen Verhältnisse jeder Anstalt, an die bei ihr
bestehenden Einrichtungen erprobter Art, vorhandene Spielgeräte u. dgl.,
Berücksichtigungen, die der Leiter im Anstaltsinteresse fordern muß. Dem
Wechsel der Jahreszeit trägt die Jugend schon von selbst Rechnung, nur
vermag sie häufig genug den Eintritt einer neuen Spielzeit und Spielart
kaum zu erwarten. Auch da wird die Schule bisweilen, z. B. beim Schwimmen
oder Eissport, im gesundheitlichen Interesse ihrer Zöglinge hindernd da-
232 Wahner,
zwischentreten müssen, im übrigen aber vernünftigen Wünschen und Vor-
schlägen jederzeit gern entgegenkommen.
Die Fixierung des freien Halbtages ist Sache der Lehrerkonferenz,
die darüber unter Wahrung der sonstigen Lehrziele und nach Kenntnis-
nahme etwaiger begründeter Schülerwünsche entscheiden wird. Letztere
können ihr seitens der Klassengemeinde durch die Ordinarien oder von den
Klassen- und Schülerausschüssen durch den Berater übermittelt werden.
Darnach werden von verschiedenen Anstalten verschiedene Halb- oder Nach-
mittage gewählt werden. Ein Vormittag ist nach dem Wortlaut der Ver-
ordnung nicht ausgeschlossen, wird wohl aber nirgendwo öfters in Betracht
gezogen werden, es sei denn, daß infolge besonderer räumlicher oder Witte-
rungsverhältnisse die dadurch verloren gehenden Lehrstunden ebensogut an
einem Nachmittage gegeben werden können. Nahe liegt es, den freien Halb-
tag in der Mitte der Woche, in gleichem Abstände von der Sonntagsruhepause,
anzuberaumen. Aber nicht überall ist das durchführbar, wie überhaupt die
Terminwahl auf allerlei Schwierigkeiten stößt. An manchen Anstalten
mit entlegener oder mit anderen geteilter Turnhalle sind drei Nachmittage
mit lehrplanmäßigem Turnen besetzt; ein vierter mit wahlfreiem Zeichnen
der U H — 0 I, ein fünfter womöglich mit naturwissenschaftlichen Übungen
derselben Klassen oder mit Chorgesang. Bleibt somit für sämtliche nur ein
gleichzeitig freier Halbtag übrig. Und muß dieser aus weiteren örtlichen
Gründen etwa gar auf Sonnabend nachmittags gelegt werden, so braucht
damit durchaus keine Verkürzung des Benefiziums verbunden oder gar be-
absichtigt sein. Ein angestrengter Spiel- und Sportbetrieb oder Fußmarsch,
der sich über mehrere Stunden ausdehnt, läßt nicht nur keine Zeit übrig
für Anfertigung von häuslichen Aufgaben, ist im jugendlichen Körper auch
noch am nächsten Tage fühlbar und verlangt gehöriges Ausruhen. Dafür
ist der Sonntag um so geeigneter, als er längeres Schlafen gestattet und ohne-
hin für Schulaufgaben schon immer ziemlich außer Betracht blieb. Erfahrungs-
mäßig sind die Schüler nie schlechter vorbereitet und weniger aufnahme-
fähig als am Montag, was mit dem größeren Zwischenraum zwischen Ein-
prägung undWiedergabe desLernstoffes wie mit dersonstigenSonntagserholung,
namentlich in Großstädten, zusammenhängt, so daß am Wochenbeginn der
Lehrer gewöhnlich selbst das Beste tun, dieWiederholungsaufgaben noch einmal
durchkauen oder in der Klasse befestigen muß und bei derNeudurchnahme nichts
voraussetzen darf. Warum da nicht lieber gleich durch Aneinanderreihung von
aufgabenfreiem Halbtag und Sonntagspause die Schüler von dem lästigen
Alp mangelhafter Montagsvorbereitung mit befreien? Es kommt hinzu,
daß heute viele auswärtige Schüler über Sonntag ihre in der Umgegend
wohnenden Eltern oder sonstigen Verwandten zwecks Versorgung mit Lebens-
mitteln und frischer Wäsche aufsuchen wollen, ein weiterer Umstand, der
ihnen wenig Zeit zur Vorbereitung für Montag läßt. Jedenfalls geht durch
Ansetzung des freien Halbtages auf Sonnabend Nachmittag bei gründlicherem
Ausruhen weniger Arbeitskraft verloren, und damit würde ein Hauptbedenken
der Lehrerschaft gegen die ganze Einrichtung aus der Welt geschafft, die Be-
Schul- und aufgabenfreie Halbtage und turnerische Wanderungen. 233
fürchtung, es möchte durch die mit den freien Halbtagen verbundene Ver-
kürzung häuslicher Vorbereitungszeit die Bewältigung des Jahres-
pensums unmöglich werden. Auch hört mit ihrer Innehaltung nicht jede
Vorbereitung für den kommenden Schultag auf, wenigstens nicht diejenige,
für die schon tage- oder wochenlang zuvor Aufgaben gestellt werden. Solche
schon an früheren Nachmittagen bei Berücksichtigung der Arbeitspläne
mögliche Hausarbeiten, wie vor längerer Zeit gestellte Aufsätze oder Exer-
zitien, können, weil nicht Aufgaben des freien Halbtags, nach wie vor
gefordert werden, sind aber besser nicht unmittelbar dahinter zu verlegen,
damit nicht etwa säumige Schüler sie an Stelle der in der Freizeit vor-
zunehmenden Leibesübungen zu setzen versuchen.
Doch ist das die einzige in letzter Zeit verfügte Einschränkung häus-
licher Schülerarbeiten? Keineswegs. Mit der Einrichtung des schul- und
aufgabenfreien Halbtages ist die Sorge des Ministerialerlasses um die körper-
liche Ertüchtigung der Schuljugend nicht erschöpft; er sieht auch, wie schon
eingangs gesagt, „während der Unterrichtszeit durchschnittlich alle 4 Wochen,
wo es die Verhältnisse nicht unmöglich machen, vom 6. Schuljahr ab einen
Ganztag für eine turnerische Wanderung" vor. Eine ideal gedachte,
herrliche Neuerung trotz alles Kopfschütteins erprobter Schulweisheit! Wen
überzeugte nicht von ihrer Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit die in der
Verfügung angeführte Absicht: „Das Wandern soll einen frischen, fröh-
lichen Sinn und Wanderlust wecken, zu bewußtem Sehen und Hören er-
ziehen, Freude an der Natur, an der Heimat und an der Kameradschaft
gewähren und Ausdauer verleihen!" Wann wäre die Weckung des Froh-
sinns und der Freude am Wandern erwünschter gewesen als in der tief-
traurigen Gegenwart, wann gälte es mehr, das Verständnis für die Schönheit
der Natur und Heimat zu erschließen als inmitten des materialistischen
Sinnentaumels, als bei der jetzigen Abgeschlossenheit des Deutschtums
vom Auslande? Was wäre im gegenwärtigen schweren Kampfe ums Dasein,
im Ringen um eine bessere Zukunft wichtiger als die Erziehung zu bewußtem
Sehen und Hören, als die Vermittlung von Zähigkeit und Ausdauer? Und
zu diesen mittelbaren, mehr ethischen Bereicherungen sollen, besonders auf
der Rast, direkte Belehrungen kommen, die einen schätzenswerten Er-
satz des inzwischen auf der Schulbank Versäumten bedeuten: Anleitungen
,,zum Fernsehen, zum Schätzen von Entfernungen, zum Zurechtfinden im
Gelände und zur Beurteilung des letzteren". Gerade dem erdkundlichen
Unterrichte, diesem vielbejammerten Stiefkinde im Lehrplan der Mittel-
und Oberstufe der Gymnasien, erwächst durch derlei Unterweisungen im
Freien, womit sich „an Ort und Stelle entworfene Geländeskizzen"^) verbinden
sollen und Kartenlesen, vornehmlich an Meßtischblättern und Generalstabs-
karten, geübt werden kann, ein ungeahnter praktischer Gewinn. Ähnlich
^) Ein willkommener Ersatz für die nach dem Erlaß vom 9. März d. Js. weg-
fallende häusliche Anfertigung erd- und naturkundlicher Zeichnungen. Daß jeder Lehrer
dazu selbst befähigt sein müsse, möchte ich nicht mit Jungbluths sonst vermittelnden
Forderungen (Philo'-ogenblatt 28. Jahrg. S. 457) voraussetzen.
234 Wahner,
steht es mit der Einführung in die zwischen Erdkunde und Naturwissen-
schaft geteilte, im Stundenplan kaum irgendwo besonders berücksichtigte
Geologie. JedeBeurteilung desGeländes führt bei einigermaßenVertiefung von
selbst zurFeststellung derErdschichten und zurErörterung weiterer geologischer
und mineralogischer Fragen. Wie ungezwungen und anschaulich sich botani-
sche und, wenn auch nicht ganz so leicht, zoologische Belehrungen bei
Wanderungen durch Flur und Hain geben lassen, ohne als Unterricht
empfunden zu werden, liegt auf der Hand. Das Entwerfen von Skizzen bei
der Rast braucht sich nicht auf Festhaltung des Geländes zum erdkund-
lichen Zweck zu beschränken; künstlerisch Begabtere werden bei längerem
Verweilen an schönen Punkten auch landschaftliche Motive oder genrehafte
Szenen in ihrem Skizzenbuch festzuhalten suchen. Wie erhebend, ange-
sichts der Großartigkeit und Wechselfülle der Naturgebilde die Schüler auf
die menschliche Ohnmacht übersteigende Unendlichkeit der Schöpfung hin-
zuweisen oder ihnen auf spätgewordenem Heimweg bei strahlendem Stern-
himmel von den Wundern des Weltalls und den Rätseln der Astronomie
zu erzählen. Und sollte es ausgeschlossen sein, daß schöngeistige Primaner
und Sekundaner am murmelnden Wald- oder Felsenquell nicht gern in Ur-
text oder metrischer Übersetzung eine passende Ode aus Horaz oder aus-
gewählte Partie aus Homer und Vergil, ein Chorlied aus den griechischen
Tragikern, eine der tiefernsten Vaterlandsweisen Walthers von der Vogel-
weide, eine packende Szene aus dem Nibelungenliede, wie die Tötung Sieg-
frieds auf der Jagd im Odenwalde, oder diese oder jene dichterische Perle
der neuesten deutschen Literatur vernähmen und selbst darböten? Natür-
lich heißt es da, ganz im Sinne der neuen Arbeitsschule oder „Schulgemeinde"
Neuendorffs, für den führenden Lehrer immer, möglichst wenig selbst
lehrend aufstehen, lieber zurücktreten und den einen oder anderen Schüler
anregen, sein Können zu zeigen. Auch in Zukunft wird nach der Neuregelung
unsers Schulwesens mit der beabsichtigten Herabsetzung der wöchentlichen
Stundenzahl für alle jene erwünschten Wissensinhalte im Unterricht selbst
sich keine Zeit finden, durch ihre Übermittlung beim Wandern aber die
volle Dauer der Lehrstunden für deren Hauptaufgaben gewahrt, so daß
es nach wie vor trotz monatlichem Wandertag möglich sein wird, das von
wertlosem Nebenballast befreite Klassenziel zu erreichen. Die Zeit also,
um die der planmäßige Schulbankbetrieb durch die vierwöchentliche Turn-
wanderung verkürzt wird, und die dafür aufgewendete Mühe ist keineswegs
verloren, wenn sie nur in obiger Weise richtig ausgenutzt wird. Der mit
dem gleichen Maß etwas praktischeren Wissens erreichte gesundheitliche
und ethische Nutzen wird bald in die Augen springen.
Zur Sicherung des letzteren gibt der Ministerialerlaß noch weitere Finger-
zeige, indem er dabei „frischen Gesang von Turn- und Wanderliedern"
sowie „Geländespiele in Form einer Schnitzeljagd od. dgl." zur Erhöhung
der „Freude und Ausdauer der Teilnehmer" empfiehlt. Den Gesang, diese
beliebteste Äußerung deutschen Gemütslebens, nach jener Richtung zu
pflegen, ist in dem dafür angesetzten Unterricht weniger möglich als bei
Schul- und aufgabenfreie Halbtage und turnerische Wanderungen. 235
unmittelbarer Empfindung seines die Spannkraft belebenden Einflusses.
Und wenn dadurch allmählich die Texte und Weisen der am öftesten ge-
sungenen Lieder sich dem Gedächtnis der jugendlichen Wanderer ein-
prägen und zu ihrem dauernden Geistesbesitz werden, so ist das doppelt
zu begrüßen in einer Zeit, wo das Memorieren von Gedichten als Gedächtnis-
überlastung angesehen und Liederbücher gleich allem Gedruckten kost-
spielige Luxusware zu werden beginnen. Nur darf kein Gesang im Augen-
blick der größten Anstrengung und Ermüdung, insonderheit nicht beim
Anstieg, wo die Fortbewegung allein den vollen Atemstrom auslöst, ange-
stimmt werden, vielmehr gilt es, die Jugend auch hierbei „an die Beachtung
der für das Wandern erprobten Gesundheitsregeln zu gewöhnen". Daß
diese auch gebieten, , .Alkohol- und Tabakgenuß zu meiden", ist geschulten
Wanderern schon bekannt und wird Neulingen immer wieder durch Dar-
legung der schädlichen Wirkung aller Narkotika auf Herz, Lungen und Blut-
umlauf zu veranschaulichen sein. Erfreulicherweise ist die heutige Jugend
von jenem ehemaligen Hauptsport studierender Jünglinge mehr und mehr
abgerückt und hat Sinn für idealere Genüsse bekommen, nicht zuletzt
zum Schaden ihres heute für Notwendigeres als jene qualitativ verschlechterten
Fabrikate in Anspruch genommenen Geldbeutels.
Überaus wichtig für Erhaltung der Leistungsfähigkeit und Stimmung
beim Wandern ist eine geordnete Fußpflege, welcher darum der Ministerial-
erlaß gleichfalls Beachtung geschenkt wissen will. Auch darüber werden
die meisten Schüler erst aufgeklärt werden müssen; insbesondere über die
Notwendigkeit sorgfältiger Reinhaltung und womöglicher Einfettung der
Füße, öfteren Wechsels der Strümpfe, die gerade zum Wandern weich und
porös sein sollen, und vor allem bequemer, undurchlässiger Schuhe mit festen
Sohlen. Bei der heutigen Kostspieligkeit der Fußbekleidung wie zum Zweck
der Abhärtung ist das Barfußgehen, wann und wo irgend möglich, zu emp-
fehlen, natürlich nicht auf steinigen Gebirgspfaden. Ein kurzes Fußbad
im kalten Bach oder See mit unmittelbar folgender Wiederanlegung der
Strümpfe und Schuhe dient gleichfalls letzterem Zweck und gehört bei an-
strengenden Wanderungen mit zu den wohltuendsten und nachhaltigsten
Erfrischungen. Auch über die zweckmäßigste Beschaffenheit der übrigen
Kleidung und Ausrüstung beim Wandern werden Belehrungen angebracht
sein. Noch wertvoller ist freilich die vom Schüler selbst hierbei gemachte
Erfahrung.
Die Teuerung und geringe Dauerhaftigkeit der Gewandung, vornehmlich
des Schuhwerks, bei stärkerer Abnutzung ist ein Hauptbedenken, und ein be-
gründeter Einwand vieler Eltern gegen häufiges Wandern; noch mehr bei
der augenblicklichenKnappheit oderPreislage derLebensmittel dieVerpflegungs-
frage. Andere Mahlzeiten als Erfrischungen durch Kaffee oder Limonaden
in Wirthäusern einzunehmen, dürfte bei einer größeren Zahl von Wanderern
heute unmöglich und zu kostspielig sein. Die Mitgabe von ausreichendem
Brot, fettigem Aufstrich und etwaigen Beilagen jedoch ruft, zumal in Pensionen,
ernstliche Schwierigkeiten hervor, die bereits zu lauten Beschwerden ihrer
236 Wahner,
Inhaber geführt haben. Das Mitschleppen von Kochgeräten aber zum Ab-
kochen von Kartoffeln und anderer mitgenommener oder unterwegs er-
standener Speisevorräte wird in den seltensten Fällen anzuraten sein. Denn
abgesehen von Ruderfahrten und von Streifen der darauf besser eingerichteten
Wandervogel- und Pfadfindergruppen ist es viel zu umständlich und beraubt
den damit Beschäftigten der Zeit und Lust für Naturgenuß und Betrachtung.
Weniger in Frage kommt die Erhöhung der Beförderungstarife, weil Bisen-
bahn und andere Fahrgelegenheiten außer für Rückfahrten beim Eintreten
schlechten Wetters oder übergroßer Ermüdung zu benutzen nicht im Sinne
der ganzen Einrichtung liegt.
Verbieten sich somit aus doppeltem Grunde kostspielige Bahn- und
Dampferfahrten nach weiten Zielen, so heißt es, sich auf Wanderungen be-
schränken, die vom Durchschnitt der betreffenden Klasse oder Gruppe zurück-
gelegt werden können. Nur dann würde es möglich, auch den 4. und 5. Jahr-
gang, also die Sexta und Quinta der höheren Lehranstalten, daran teilnehmen
zu lassen, die im allgemeinen zu ihrem Schmerze davon ausgeschlossen bleiben
sollen und doch so gern mittun möchten. Zeit haben sie mehr als ältere Klassen
dazu, aber dem Mangel an Verständnis und Bedürfnis für Naturgenuß geht
in diesen Jahren noch nicht körperliche Leistungsfähigkeit pararellel, und
leicht könnten zu frühe Muskelübungen zum Nachteil der noch kostbareren
Nervenkraft erfolgen.
Ohnehin werden Fälle von Überanstrengung bei aller Vorsicht in der
Bemessung des Wanderzieles nicht ausbleiben infolge der verschiedenen
Leistungsfähigkeit der Schüler und Schülerinnen. Wenn auch in Rücksicht
darauf in der Regel klassenweise gewandert werden soll, so herrschen doch
noch innerhalb derselben Klasse erhebliche Altersunterschiede, ja aucli inner-
halb desselben Jahrganges ein bunter Wechsel in Größe und Leibeskraft.
Deshalb macht es soviel nicht aus, ob gerade immer jede Klasse für sich
wandert oder mehrere Klassen derselben Stufe gemeinsam, nach Neigungen
und engerer Befreundung in Gruppen gegliedert, dem gleichen Ziele zu-
streben. Deren Führung durch geeignete Schüler (Gruppenführer) wird zur
Förderung der Unbefangenheit der Wandergesellschaft wie zur Aufrecht-
erhaltung der Ordnung nicht wenig beitragen und dem begleitenden Lehrer
seine Aufgabe wesentlich erleichtern.
Die beaufsichtigende Teilnahme eines oder mehrerer Lehrer erscheint,
im Gegensatz zur wohl möglichen Aufsichtslosigkeit der schul- und aufgaben-
freien Halbtage, unentbehrlich. Sie bedeutet für die Lehrerschaft ja bei dem
gleichzeitigen Ausfall ihrer Lehrstunden keine Mehrbelastung. Das geringe
Opfer einiger freier Nachmittagsstunden oder unbedeutender Wanderkosten
wird reichlich gelohnt durch den dem Berufsgelehrten nicht weniger zuträg-
lichen Aufenthalt in freier Natur wie durch den EinbHck in die gerade bei
Spaziergängen dem Erzieher sich erschließende Zöglingsseele. ,, Kilometer-
und Tagegelder" zu fordern i), dürfte ttotz der Berechtigung des Vergleichs
^) Vgi. Philologenblatt 18. Jahrg. S. 221 und 371.
Schul- und aufgabenfreie Halbtage und turnerische Wanderungen. 237
mit Außenterminen und Amtsreisen anderer Beamter weniger aussichtsreich
sein; erfolgreicher der gleichbegründete Abzug von tatsächlicken Unkosten
bei der Einkommensveranlagung. Bei klassenweiser Wanderung wird Be-
gleiter wohl meist der Klassenleiter sein, bei solchen nach Sportgruppen
oder Schülervereinen auch andere, z. B. technische Lehrer und Vereins-
protektoren. Namentlich jüngeren Lehrkräften bieten die turnerischen
Wanderungen die beste Gelegenheit, erziehliche Beobachtungen zu sammeln
und durch bereitwillige Vertretung älterer oder zu anstrengenden Ausflügen
nicht mehr fähiger Amtsgenossen Kollegialität zu bekunden.
Die notwendige Teilnahme und Beaufsichtigung ganztägiger
Märsche führt bei ihrer klassenweisen Ansetzung auf verschiedene Tage
natürlich zu Unterrichts Vertretungen, die sich ja unschwer regeln lassen,
aber doch nicht im Interesse des ununterbrochenen Fortschrittes der betrof-
fenen Lehrfächer liegen. Unvermeidliche Vertretungen gibt es ohnehin schon
genug in jedem Lehrkörper, weshalb der gewissenhafte Anstaltsleiter weitere
nach Möglichkeit wird abzuwenden suchen. Am einfachsten und wenigsten
störend für den Unterrichtsbetrieb und die zur Erreichung seiner Ziele nötige
Ruhe ist jedenfalls wieder die gleichzeitige Anberaumung des Wander-
tages für die ganze Schule, ohne daß sie zum unumstößlichen Gesetz zu werden
braucht. Ebensowenig darf es zur toten Regel werden, den Wandertag mit
dem schul- und aufgabenfreien Halbtag zusammenzuwerfen, will man nicht
das Mißtrauen der Schüler wachrufen, es sei auf eine wülkürliche Verkür-
zung ihrer Schülerrechte abgesehen, wenn auch anderseits bisweilen eine
Vereinigung der beiden Benefizien gerade so wie ihre klassenweise verschie-
dene Ansetzung angezeigt sein wird. Ein Aufgabenerlaß ist mit der Ein-
richtung des Wandertages nicht verbunden und braucht es nicht zu sein,
da ihm ja ein Nachmittag mit ausreichender Freizeit für häusliche Vorbereitung
vorangeht. Freilich wird nach anstrengenderen Märschen die Brauchbar-
keit der Wanderer am nächsten Schultage ähnlich zu wünschen übrig lassen
wie am Wochenbeginn. Daß örtliche Verhältnisse ganztägige Turnmärsche
unmöglich machen sollten, ist kaum anzunehmen, wohl aber können da und
dort dauernde oder zeitweilige Umstände Beschränkungen und Verschiebungen
verursachen. Am besten findet auch hierüber eine Vereinbarung zwischen
Lehrerschaft und Elternbeirat statt.
In vorstehender Weise gehandhabt, werden auch diese Maßnahmen
der Unterrichtsverwaltung ohne Gefährdung und Vernachlässigung der
eigentlichen Lehrziele die körperliche und seelische Ertüchtigung unserer
Jugend fördern und mit beitragen zur Gesundung des deutschen Volkes
und Wiederaufrichtung unseres in den Staub getretenen armen Vaterlandes.
Glogau. J. G. Wahner.
IL Bücherbesprechungen.
a) Sammelbesprechungen.
Chemie und Mineralogie.
Rippel, J., Grundlinien der Chemie für Oberrealschulen. II. Teil.
Organische Chemie. Dritte, verbesserte Auflage. Mit 43 Abbildungen.
212 Seiten. Wien 1917. Franz Deuticke. Preis geb. 4 Kr.
Der reiche Inhalt des Buches ist, wie immer, in die beiden Abteilungen
der aliphatischen und der zyklischen Verbindungen gegliedert. Die ali-
phatische Reihe gewährt, durch die Einteilung nach der Zahl der Kohlen-
stoffe, eine recht vielen Lehrbüchern mangelnde Klarheit. Der Verfasser hat
sich bemüht, auch die neuesten Errungenschaften auf wissenschaftlichem
und technischem Gebiete demTexte einzuverleiben ; weshalb er aber die schönen
Arbeiten Emil Fischers über die Isomerien der Zuckerarten stillschweigend
hinweggeht, ist nicht zu verstehen. Einer neuen Auflage dürfte wohl auch die
Konstitution der Chlorophylls nachWillstätter nicht fehlen. Die vielen histo-
rischen Anmerkungen bilden eine empfehlenswerte Vermehrung des Textes.
Die Ausstattung des Buches ist nicht minder zu loben, wie die ungeme'n
klare Darstellung und die Erläuterung durch die zahlreichen Konstitutions-
formeln. Wir können dem schönen Buche nur eine weite Verbreitung, auch
in Deutschland, wünschen.
RIppel, J., Grundzüge der Chemie und Mineralogie für die IV.
Klasse der Realschulen. Vierte, verbesserte Auflage. Mit 124 Abbil-
dungen. 184 Seiten. Wien 1917. Franz Deuticke. Preis 3,80 Kr.
Verfasser gewährt in feinen Grundzügen der Chemie einen weiteren
Raum, als es sonst in Österreich für diese Stufe der Fall ist. Da er aber auch
die wichtigsten Mineralien bespricht, und sogar der Chemie der Kohlenstoff-
verbindungen einen Abschnitt widmet, ist der Umfang des Buches über den
dieser Stufe meist zugewendeten Raum hinausgewachsen. Die Versuche
sind geschickt ausgewählt und durch gute Textfiguren erläutert. Wo es
angeht, ist die Technik mit herangezogen worden. Erwünscht wäre wohl
eine systematische Zusammenstellung der im Buche zerstreuten Kristall-
formen.
Ficker, Gustav, Leitfaden der Mineralogie und Chemie für die
vierte Klasse der Gymnasien und Realgymnasien. Fünfte
Auflage. Mit drei farbigen Tafeln und 126 Abbildungen in Schwarzdruck.
116 Seiten. Wien 1917. Franz Deuticke. Geb. 3,60 Kr.
Mendelssohn, Chemie und Mineralogie. 239
Wie der Titel besagt, geht auch im Text die Mineralogie, so weit es mög-
lich ist, der Chemie stets voran, so daß letztere der Mineralogie mehr als
Erläuterung dient. Gleichwohl ist auch auf die chemischen Theorien Bezug
genommen und sogar ein kurzer Abriß der organischen Chemie beigefügt.
Die Mineralogie wird überdies durch die Gesteinskunde, wenn auch nur
in Umrissen, ergänzt. Neben den zahlreichen Textfiguren, sind die hervor-
ragend schönen farbigen Tafeln einiger Mineralien und des Pasterzen- Gletschers
lobend hervorzuheben.
Das Büchlein würde in der Untersekunda der deutschen Realanstalten
dieselben guten Dienste leisten, wie in der vierten Klasse der österreichischen
Anstalten.
Hoffmann, Josef, Leitfaden für den Arbeitsunterricht der Chemie
und Mineralogie für die IV. Klasse der Realschulen. Mit 75 Ab-
bildungen. 104 Seiten. Wien 1918. Franz Deuticke. Preis kart. 4 Kr.
Verfasser hat seinen Leitfaden auf praktisch heuristischer Grundlage
aufgebaut. Der Schüler, resp. eine Schülergruppe, finden selbst die Eigen-
schaften der Körper und alle Erscheinungen bei der Einwirkung verschiedener
Agentien, natürlich unter Oberleitung des Lehrers. Der Stoff ist in 35 Arbeits-
gebiete zerlegt und die Mineralogie ist hineingearbeitet. Ungeachtet des
schön ■ klingenenden Begleitwortes, verfällt der Verfasser, wenn es anders
kaum möglich wäre, von selbst wieder in die „rückständigen Demonstrations-
unterrichte", wie ihn Direktor Donnemann in Barmen bezeichnet.
Die Versuche sind dem Schüler in den einzelnen Arbeitsgebieten in denk-
bar kürzester Form angedeutet. Wir möchten glauben, daß der Anfänger,
solchen Bemerkungen gegenüber, meist ratlos dasteht, und der Lehrer den
verfehmten Demonstrationsunterricht vielmals statt einmal vormehnen muß.
In den Gleichungen ist nirgends die lonenschreibweise angewendet. In einem
kurzen Anfange kommt auch die organische Chemie zu ihrem Recht. In
einer Beilage stellt Verfasser die für jedes Arbeitsgebiet erforderlichen Rea-
gentien übersichtlich zusammen.
Steigen, E., Einführung in das chemische Praktikum. Zweite Auf-
lage. Leipzig u. Wien 1917. Franz Deuticke. 143 S. 3 M.
Der Verfasser wählt im ersten Teile des Büchleins die wichtigsten im
Unterrichte vorkommenden Säuren und Metalle aus, an denen der Schüler
die charakteristischsten Reaktionen kennen lernen soll. Diese Reaktionen
sind ausführlich beschrieben und durch Gleichungen in lonenschreibweise
erläutert. An jedes Kapitel knüpfen sich einige Denkaufgaben und Berech-
nungen. Nachdem im zweiten Teile einige Präparate hergestellt werden,
ist der dritte Teil, allerdings nur in aller Kürze, dem analytischen Gange
gewidmet.
Man merkt dem Büchlein den erfahrenen Lehrer auf Schritt und Tritt
an und glauben wir, daß das Büchlein auch außenhalb der Schweiz, für die
es wohl in erster Linie bestimmt war, aufrichtige Freunde finden wird.
240 Mendelssohn, Chemie und Mineralogie.
Brunswig, H., Die Explosivstoffe, Einführung in die Chemie der
explosiven Vorgänge. Mit 8 Abbildungen und 12 Tabellen. 152 Seiten.
Dritte verbesserte und vermehrte Auflage. Berlin u. Leipzig 1918. Göschen-
sche Verlagsbuchhandlung. Preis 1 M. und 0,25 M. Teuerungszuschlag.
Das in dritter Auflage erscheinende Büchlein ist in erster Linie für die
Technik, weniger für Kriegszwecke geschrieben. Es hält sich deshalb wesent-
lich an die in der Technik meist verwendeten Sprengstoffe. Von besonderem
Interesse sind die Kapitel über die Sensibilität der Explosivstoffe, über den
Initialimpuls und die Initialsprengstoffe und endlich über die neuerdings
stark in den Vordergrund tretende Verwendung der flüssigen Luft als Spreng-
stoff.
An zahlreichen der Praxis entnommenen Beispielen, wird die Verwendung
der Explosivstoffe und die Gefahren bei unsachgemäßer Verwendung der-
selben demonstriert.
Bei dem geringen Umfang des Büchleins muß man über den reichen
Inhalt desselben staunen, den wir hier eben nur streifen konnten.
Müller, Fritz G., Theoretische Kapitel aus der allgemeinen Chemie.
Zweite Auflage. 59 Seiten. Zürich 1916. Verlag von C. Speidel. 2,50 M.
Müller, Fritz G., Anhang. Lösungen zu den Übungen 1 — 100. Zürich
1916. Verlag von C. Speidel. 13 Seiten. 1,50 M.
Das Heftchen enthält einen kurzen Auszug der in jedem chemischen
Lehrbuche vorgesehenen theoretischen Kapitel. Bei der ungemein knappen
Fassung des Heftchens, wird es jedem Schüler anzuraten sein, sich lieber
seines Lehrbuches zu bedienen, um sich über die gewiß nicht leicht zu erfassen-
den chemischen Theorien zu orientieren.
Ob es zu billigen ist, daß der Verfasser von den neuesten Errungenschaften
der theoretischen Chemie bezüglich des Elementen- und Atombegriffes
sowie des periodischen Systems und des Valenzbegriffes gänzlich absieht,
ist in einem Büchlein aus dem Jahre 1916 wohl zu bezweifeln.
Seine 100 Übungsbeispiele sind geschickt zusammengestellt und die
Lösungen in einem besonderen Heftchen zugefügt.
Mache, Heinrich, Die Physik der Verbrennungserscheinungen.
Mit 43 Abbildungen im Text und auf 2 Tafeln. 131 Seiten Leipzig 1918.
Verlag von Veit u. Comp. Geh. 6 M. und 25 % Teuerungsaufschlag.
Die Physik und Chemie der Verbrennungserscheinungen ist seit Bunsen
und Berthelot zu einer besonderen Wissenschaft geworden. Verhältnismäßig
am wenigstens, hat man ich bisher mit den Formen der Flammen und der
physikalischen Erklärung dieser Formen beschäftigt. Der Verfasser liefert
in diesem Buche einen wichtigen, auf Experimente und Berechnungen ge-
gründeten, Beitrag zu diesem Kapitel, insbesondere mit Rücksicht auf die
Theorie der Verbrennungsmotoren und der Feuerwaffen. Diesen beiden
technischen Verwendungen entsprechend, ist der Inhalt des Buches in die
Eberhardt, Paul, Das Buch der Stunde. 241
beiden Abschnitte gegliedert, welche sich mit den Verbrennungserscheinungen
in Gasen und an festen Körpern beschäftigt.
Dem ersten Abschnitt legt Verfasser den Bunsenbrenner zugrunde,
den er in einfachster Weise abändert, um die mannigfaltigsten Erscheinungen
an der Flammenform zu demonstrieren. Er wendet sich sodann der Ver-
brennung in geschlossenem Gefäß zu. In beiden Fällen werden die Verbrennung-
geschwindigkeiten, die Temperatur und die Brennfläche behandelt, sowie
die Druckentwicklung, infolge der schnellen Verbrennung der Gasgemische.
In gleicher Weise verfährt Verfasser bei der Entzündung und Verbrennung
vollständig verbrennbarer fester Körper, wie des kolloidalen Schießpulvers.
Er untersucht sodann die Bewegung des Geschosses im Rohr während und
nach der Verbrennung des Pulvers. Zum Schluß wird die hier entwickelz
Theorie an einem Zahlenbeispiel geprüft, soweit es mit den schon bekannten
Daten möglich ist.
Wer in dieses noch recht wenig bekannte Gebiet eindringen möchte,
wird an dem mit interessanten Abbildungen versehenen und äußerst klar
geschriebenen Büchlein des Wiener Verfassers einen trefflichen Führer finden.
Mendelssohn.
b) Einzelbesprechungen.
Eberhardt, Paul, Das Buch der Stunde. Eine Erbauung für jeden Tag
des Jahres, gesammelt aus allen Religionen und aus der Dichtung. 3. durch-
gesehene u. teilw. veränd.AufK F. A.Perthes. Gotha 1921. Geb. 24 M.
Blätter der Stunde, hrsg. von Paul Eberhardt u. R. Steglich. Ebenda
1921. Fünfzehn Hefte der 1. Reihe in Sammelkarton 30 JVl., jedes Heft
2 M.
Wer davon überzeugt ist,' was vorläufig nur für einen kleinen Kreis zu-
trifft, daß die furchtbare Schicksalswende unseres Volkes zu tiefst gesehen,
eine Folge der Veräußerlichung und Entseelung der letzten Jahrzehnte war,
der wird jedes echte Mittel zur Verinnerlichung und Beseelung, zur Zurück-
führung der Überzivilisation in wahrhaftige Kultur mit Freuden ergreifen.
Die beiden oben angezeigten Veröffentlichungen bieten ein ganz besonders
wirksames Mittel in dieser Richtung dar. Schon während des Krieges erfüllte
das „Buch der Stunde" zum erstenmal seine schöne Aufgabe; die rasch
nötig gewordene 3. Auflage beweist am besten seinen Erfolg: Täglich ein
Wort, einen Vers aus den heiligen Schriften — und die Dichter aller Zeiten
und Völker sind hier gleich ihren Propheten — in die Arbeit und den Kampf
desTages mit hineinzunehmen, bedeutet eine höchst wertvolle Gabe; und daß
es eben nicht bloß Bibel und Gesangbuch ist, die diesen Segen spenden,
entspricht durchaus der Sehnsucht unserer heute am tiefsten Ringenden;
gerade so geht das Buch auf den Sinn alles Seins und nicht auf die Art des
Daseins. Möchte es immer noch mehreren seinen reichen Segen spenden!
Ein recht glücklicher Gedanke war es, solchen Segen für Feiern in kleinerer
oder größerer Gemeinschaft durch die „Blätter der Stunde" noch reicher zu
Monatschrift f. hnh. Schulen. XX. Jhrg. 16
242 Deutsches Volk und Christusglaube, angez. von B. v. Capitaine.
gestalten. Denn freilich gehört Musik zur Vertiefung jeder Art von Andacht
— und solche vollzieht sich ja nicht nur in den dafür erbauten Gotteshäusern.
Jedes jener Blätter enthält abwechselnd je drei kleinere Dichtungen und
drei Musikstücke, denen allen sechs immer eine Gesamtstimmung zugrunde
liegt. Jede Tages- und Jahreszeit, jede Seelenstimmung, jede Festesstimmung
kommt dabei aufs schönste zur Geltung: in dieser einheitlichen Gesamt-
stimmung liegt ein eigenartiger Zauber. Die einzelnen Blätter sind als Dar-
bietung ihres Inhalts für sich oder als Umrahmung von größeren Feiern ge-
dacht, wie wiederholte Proben gezeigt haben, aufs wirksamste dafür zu ver-
wenden. Oft werden sie die Anregung zu ähnlichen Darbietungen sein können,
wie sie selbst sind. In der Auswahl der Dichtungen wie der Musikstücke,
die recht viel altes, wenig beachtetes oder doch in zu kleinen Kreisen gepflegtes
Musikgut hervorholen, hat eine recht glückliche Hand gewaltet. Als Bei-
spiel sei der Inhalt des S.Heftes angeführt: Pater Seraphicus und Chor seliger
Knaben aus Faust II. Teil — Adagio der Klaviersonate op. 31,2 von Beet-
hoven • — Sonnengesang des Franz von Assisi — Largo aus der Violinsonate
F-Dur von Händel — Proömion von Goethe — Ave regina coelarum (alte
historische Weise), aber es sind eben nicht nur etwa religiöse Töne im engeren
Sinne, sondern alles, was von Menschenstimmungen zu höherer Weihe
erhoben werden kann, kommt zum Ausdruck. Die „Blätter der Stunde"
seien allen Schulen für Feiern ausdrücklich empfohlen.
Spandau. Paul Lorentz,
Deutsches Volk und Christusglaube. Vorträge von Anton Worlitscheck,
Stadtpfarrprediger in München. Freiburg. Herdersche Verlagshandlung.
80. VIII u. 284 S. 4, geb. 5 M.
Den dunklen Hintergrund dieser kurzen, packenden Predigten bildet
der Welt- und Völkerkrieg. Insofern ist zu bedauern, daß das Werk erst
jetzt gedruckt worden ist. Aber die Vorträge haben mehr als Augenblickswert
und bieten für Geistlich und Weltlich viel Belehrung und manche Anregung.
Gerade in jetzige Zeit kann jedes Werk besonders begrüßt werden, das zur
Hebung des Deutschtums und zur Belebung des Christentums dient.
Deutsche Gebete. Wie unsere Vorfahren Gott suchten. Ausgewählt und
herausgegeben von Br. Carro. Dritte Auflage. 9.— 14. Tausend. Frei-
burg i. Br. 1917. Herdersche Verlagshandlung. 238 S.
Mit einem Geleitwort des Freiburger Professors Dr. Engelbert Krebs
tritt dieses eigenartige neue Gebetbuch seine weitere Wanderung an. ,, Selten
sind von den Fluren unserer Heimat und von den Blutäckern ihrer neuen
Marken so viele Gebete zum Himmel emporgestiegen, wie jetzt in der Größe
und Not des Krieges", heißt es eingangs; das ist ein „tausendstimmiges
Flehen und Rufen, Danken und Sühnen, Anbeten und Bitten", das grund-
fromm und „aus deutschem Herzen kommend" ist. „Da steigen aus der
Diamantgrube der kirchlichen Vergangenheit, aus den Tiefen des mystischen
Lebens früherer Jahrhunderte, die alten Meister des Gebetes empor. Aus
Deutscher und französischer Katholizismus usw., angez. von B. v. Capitaine. 243
ihren Worten ist hier ein vollständiges, dem täglichen Gebrauche dienendes
Gebetbuch zusammengestellt worden." Das Buch ist eigenartig, reichhaltig,
und verrät, wie beigegebene Erklärungen beweisen, reichen Sammelfleiß und
liebevolle Ineinanderarbeitung. „Möge es unsern Kämpfern draußen und
den Betern daheim gleichermaßen den Schild des Glaubens und den Helm
des Heiles darreichen und alle seine Leser näherbringen der Quelle des Lebens
und der Stärke, dem Vater des — Friedens."
Deutscher und französischer Katholizismus in den letzten Jahrzehnten. Von
Dr. Heinrich Schrörs, Professor der katholischen Theologie an der Uni-
versität Bonn. Freiburg i. Br. 1917. Herdersche Verlagshandlung. 8''.
XVI u. 228 S. Brosch. 4, geb. 4,60 M.
Das feindliche Ausland setzt nach wie vor seine Schmähungen gegen
Deutschland und zumal seine Angriffe gegen die deutschen Katholiken fort.
Gesellschaften sind gar gebildet und Zeitschriften gegründet, die grundsätz-
lich diesen Zwecken dienen und vor allem auch die Neutralen gegen die
Deutschen und die deutschen Katholiken aufhetzen. Diese Vorgänge darf
der Deutsche nicht unbeachtet lassen, und es ist gut, daß sich mancherseits
berufene Männer zur Abwehr der gehässigen Entstellungen gefunden haben.
Professor Schrörs, der im vorigen Jahre zur Wahrung der deutschen Ehre
schon seine Stimme erhob in dem Buche : „Das christliche Gewissen im Welt-
kriege", tritt mit seiner neuen Arbeit: ,, Deutscher und französischer Katholi-
zismus in den letzten Jahrzehnten" den leidigen Verleumdungen unserer
Feinde mit Waffen und in einer Form entgegen, die alle, welche guten Willens
sind, eines Besseren belehren müssen. Es sind zum guten Teile hochbedeutende
und an sich achtenswerte Männer, gegen die seine Schrift gerichtet ist, aber
gerade das Ansehen und die Bedeutung solcher Größen gibt der Wucht ihrer
Worte eine besondere Kraft. Darum ist es gut, daß Professor Schrörs dem
„Toben gegen Deutschlands Katholiken" bis auf seine ersten Anfänge nach-
geht und an der Hand der geschichtlichen Zeugnisse das Wachsen und An-
schwellen der Strömung, die in ,,den überhitzten Nationalismus" der Franzosen
ihren Grund hat, verfolgt. So wird freilich die Geschichte dieser fanatischen
Trennung durchaus kein Ehrenzeugnis für ein Volk, das auf seine Geschichte
stolz und auf seinen Katholizismus eingebildet ist. Ruhig und klar bespricht
der Verfasser sodann den ,, Nationalismus im katholischen Frankreich",
,,Die deutschen Katholiken im französischen Spiegel", ,, Zentrum, Reich
und Katholizismus", ,, Krisen im französischen Katholizismus", „Ausblicke
auf di3 Lage der deutschen Katholiken". Wer im feindlichen Lande die Stim-
mungen erlauscht, findet die Urteile des Bonner Professors allenthalben
vollauf bestätigt. Die Franzosen sind mit Blindheit geschlagen, und es bleibt
dabei: Videntes non vident, und intelligentes non intelligunt. Aber sie wollen
es ja nicht besser!
Pier (Düren). Wilhelm B. v. Capitaine.
16*
244 Günther, Die deutsche Gaunersprache, angez. von Jos. Buschmann.
Günther, Dr. L., Professor a. D. der Universität Gießen. Die deutsche
Gaunersprache und verwandte Geheim- und Berufssprachen.
238 S. Leipzig 1919. Verlag von Quelle & Meyer. Preis geh. 8 (9) M.
Der Verfasser hat ein Gutteil der von ihm in Zeitungen und Zeitschriften
veröffentlichten Abhandlungen über die deutsche Gaunersprache (Rot-
welsch) und verwandte Geheimsprachen, über die sogenannte Kundensprache,
über die Scharfrichtersprache sowie über die deutsche Gemeinsprache unter
Berücksichtigung der Geheim- und Berufssprachen gesammelt und einem
größeren Leserkreise zugänglich gemacht. Das gemeinsame, bandenmäßige
Auftreten der Gauner und ihr unstätes, zigeunerhaftes Umherziehen von
Ort zu Ort, früher ein wesentliches Merkmal des Gaunertums, ist im 19. Jahr-
hundert größerer Seßhaftigkeit gewichen. Ist dadurch die Gaunersprache
nicht unbeeinflußt geblieben, so ist doch der Geist dieser Sprache und ihr
Gesamtbild, soweit sich darüber nach dem vorliegenden Wortschatz urteilen
läßt, nicht wesentlich verändert worden. Immerhin dürfte es den Lesern
erwünscht sein, sich darüber auch durch einzelne zusammenhängende Dar-
stellungen aus Gaunerhandschriften zu belehren. Das Buch beschränkt
sich übrigens keineswegs auf die deutsche Gaunersprache; gelegentlich läßt
es den Leser auch einen Einblick in die Gaunersprache anderer, und zwar
nicht bloß europäischer Völker tun.
Daß die Gaunersprache in der Geschichte unserer Muttersprache nicht
unbeachtet bleiben darf, kann schon in Rücksicht auf die ihr entstammenden
und in die deutsche Gemeinsprache aufgenommenen Wörter und Redens-
arten nicht zweifelhaft sein. Auch der Umstand, daß gut deutsche Wörter
in der Gaunersprache verwandt und durch die ihnen dort beigelegte Bedeutung,
entwertet sind, spricht dafür, daß die höheren Schulen damit rechnen müssen
die Schüler gelegentlich mit solchen Wortgeschichten bekannt zu machen.
Ein Schulbuch kann Günthers Werk nicht sein. Doch sollten sich Lehrer
des Deutschen und der Geschichte damit bekannt machen, damit sie bei
gegebener Gelegenheit den für den Unterricht bedeutsamen Inhalt ver-
werten können. Welche sonderbaren Gänge in der Gaunersprache übliche
Redensarten durchmachen können, ist aus der Redensart „wissen, wo Barthel
den Most holt" (sich auf alle Kniffe verstehen) zu entnehmen. Ursprünglich
hat es sich nicht um Most, sondern um Moos (Geld) gehandelt und war Barthel
kein Eigenname, sondern der Gattungsname „Schoberbarter*, d. h. Brech-
eisen oder Stemmeisen, mit dessen Hilfe das Geld von den Gaunern gewonnen
wurde.
Koblenz. Jos. Buschmann.
Frlckenhaus, August, Die altgriechische Bühne. Mit einer Beilage
von Eduard Schwartz Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft in
Straßburg. 31. Heft. 1917. Karl J. Trübner. 97 S., 27 Abbildungen,
3 Tafeln. 16 M.
„Nur durch einträchtiges und kollegiales Zusammenarbeiten des Philo-
logen, Architekten und Archäologen kann die Theaterfrage aus dem Sumpf,
Frickenhaus, August, Die altgriechische EQhne, angez. von A. Stamm. 245
in dem sie z. Z. leider steckt, herausgezogen werden ,und der Archäologe hat
die schöne Aufgabe, die Resultate der mit so verschiedenen Mitteln arbeitenden
Disziplinen auszugleichen und zu einer Einheit zu machen", sagt der Ver-
fasser selbst (S. 34 Anm.). Das ist unzweifelhaft der richtige Standpunkt.
Noch besser, wenn der Philologe zugleich selbst auch Architekt und Archäologe
genug ist, um ihren fachmännischen Rat mitverarbeiten zu können; wie
es der Verfasser getan hat. Durch eine sorgfältige Abwägung und Wertung
aller in Betracht kommenden Momente findet er ein Ergebnis, so positiv,
wie es z. Z. überhaupt möglich ist. Denn freilich alle Probleme sind noch
nicht gelöst.
Die Untersuchung verfolgt das Drama von der ältesten Tragödie bis
zur jüngsten Komödie (S. 1—30) und behandelt dann erst die eigentliche
Theater-, d. h. Bühnenfrage; diese in umgekehrter zeitlichen Folge, indem
er an die erhaltenen Reste der Theaterbauten anknüpft und rückwärts schrei-
tend die Beschaffenheit der alten nicht mehr vorhandenen Bühnen erschließt.
So gewinnt er die Abschnitte: Die hellenistische Bühne, Die Lykurgische
Bühne, Die Bühne des 5. Jahrhunderts, Der älteste Schauplatz. Das älteste
Drama bis 465 hatte keine gatjvt]. In dem „alten Drama", seit 465, war die
mr]vr] von Holz hinter dem Tanzplatz, doch war ein höheres Stockwerk
aufgesetzt mit 1. der öiareyia, 2. dem d-eoloyelov, d. h. einer Loggia, die
nur den Oberteü der Götter sehen ließ; das Hineinschieben mit Rollen brachte
den oft betonten Eindruck des ,,Fliegens" hervor. Die ,, hellenistische"
Bühne setzt der Verfasser an 350—50. Ihr sicherstes Kennzeichen ist das
Proskenion vor dem Bühnenhause, dessen flaches Holzdach das loysiov
(„Sprechplatz") bildet (S.33). Es sind da (nach Puchstein, dem sich F. an-
schließt) drei Gruppen zu unterscheiden: die östhche, die Rampenbühne,
die westliche Bühne. Dies wird an Hand der literarischen und baulichen
Reste begründet. In dem Streit zwischen Puchstein und Dörpfeld entscheidet
sich F. so, daß Puchstein für das hellenistische, Dörpfeld für das athenische
Theater recht behält. ,,Dörpfelds Ausgrabung und Publikation des athe-
nischen Theaters ist schlechthin ein Meisterwerk" (S. 58).
Von den drei Türen der ffxryv»; geht die mittlere nach innen, die beiden
äußeren gehen nach außen auf. Dies letztere Ergebnis ist neu ; der Verfasser
erschließt es aus der scharfsinnigen Interpretation einiger Stellen aus den
Tragikern und findet Bestätigung in einem Vasenbilde (S. 9 Anm. 12). Diese
Bühne blieb auch (gegen Bethes Ansicht) über 427 hinaus, was sich aus der
Untersuchung sämtlicher Stücke der Tragiker und des Aristophanes ergibt
(S. 11—19). Dagegen findet sich in der neueren Komödie keine Mitteltüre
mehr (genauer: keine dritte Türe mehr, als welche -man eben die mittlere
annimmt), sondern nur zwei (Seiten-) Türen. Auch dies wird im einzelnen
an den erhaltenen Stücken festgestellt (S. 20—28). Nur in einem einzigen
Stück des Plautus (Stichus) finden sich drei Häuser, was sich (nach F. Leo)
aus der Kontamination verschiedener Stücke erklärt. Im Phormio des Terenz
befindet sich das erwähnte dritte Haus außerhalb der Bühne. Die Bühne
des Menander hatte kein erhöhtes loyeiov (Podium) mehr, sondern, wie bei
246 A. Meister, Der neue Geschichtsunterricht, angez. von Cauer.
der Bühne des Lykurg, gleichen Boden, der aber zur Verbesserung der Re-
sonanz unterhöhlt war. Die Bühne des Lykurg hatte zwar noch drei Türen,
davon wurden aber nur zwei benutzt, während die dritte durch einen Vor-
hang {naqani'KXG^ia) verhängt war.
Von den zahlreichen Abbildungen sind die interessantesten die Tafeln II
und III: die Wiederherstellung des Lykurgischen Theaters durch den Archi-
tekten Schandler; jedenfalls spricht nichts dagegen, daß das Theater so
ausgesehen haben könnte. Die mittlere der drei Türen ist breit und hoch
genug, um eventuell das Ekkyklema in Erscheinung treten zu lassen. Auch
die diareyla und das ^eoXoyeiov werden durch die Tafel gut veranschau-
licht. Weniger überzeugend ist, was der Verfasser gegen die Ttaqaa-Äiqvia
sagt ; dagegen hat er sicher recht, wenn er die zwischen den Säulen von manchen
angenommenen bemalten Holztafeln ablehnt.
Scharf und fein zusammenfassend sagt er am Schluß: „Um 500 war
die Tragödie ein ^vfish-Kog äyibv, noch kein ay.'qvuog, um 400 hätte man
beides von ihr sagen können, um 300 war das ursprüngliche Verhältnis in
ihr Gegenteil verkehrt** (S. 87).
Als einen kleinen philologischen Leckerbissen fügt F. seiner Schrift
einen Beitrag von Eduard Schwartz bei, in dem dieser in seiner bekannten
geistvollen und scharfsinnigen Betrachtungsweise einige Stellen aus den
Menanderschen Epitrepontes als Ergänzungen zu seinen früheren Erklärungen
(gegen Sudhaus) deutet. Die Sache steht insofern mit der vorliegenden Arbeit
in Zusammenhang, als man auch hier mit zwei Bühnenhäusern (Türen)
auskommt.
Wenn man bedenkt, daß dieses Buch sozusagen im Schützengraben
entstanden ist — auch der Architekt Schiander stand als Unteroffizier im Felde,
aber nicht mit F. zusammen — , so ist es eine erstaunliche Leistung. Der
reiche Stoff ist mit einer Übersichtlichkeit und Klarheit geordnet, wie es
nur der Beherrscher des Stoffes fertig bringt; sicher sind wir der Lösung
der schwierigen Theaterfrage durch diese hervorragende Arbeit erheblich
näher gerückt, und wir dürfen gespannt auf die Fortsetzungen sein, die uns
der Verfasser hoffentlich nach seiner Rückkehr aus dem Felde vorlegen wird^).
Planegg b. München. Adolf Stamm.
A. Meister, Der neue Geschichtsunterricht. In Verbindung mit
A. Behler, A. Pfennigs, A. Schiel, S. P. Widmann bearbeitet. Berlin 1920.
Union Deutsche Verlagsanstalt. 3 M.
Es muß durchaus zugegeben werden, daß unser Geschichtsunterricht
bisher nicht durchweg den Anschauungen der Wissenschaft und der Natur
der jugendlichen Seelen entsprach, daß in der Verherrlichung der Hohen-
zoUern an manchen Orten zu viel geschah, und daß eine Auffassung, die in
der Errichtung des deutschen Kaisertums gewissermaßen das Ziel mindestens
der deutschen Geschichte sah, nach dem Sturze dieses Kaisertums nicht mehr
haltbar ist.
*) Geschrieben 1918.
A. Meister, Der neue Geschichtsunterricht, angez. von Cauer. 247
Um aus dieser Einsicht für den Unterricht von Knaben und Mädchen,
an höheren Schulen und Volksschulen, die wichtigsten Folgerungen zu ziehen,
hat sich ein Professor an der Universität Münster mit Lehrern und Lehrerinnen
verschiedener Schulgattungen vereinigt. Die Verfasser wägen die Erfahrungen
der Vergangenheit und die Forderungen der Gegenwart besonnen ab. Viel-
leicht hätten sie noch entschiedener den Wert der Kriegsgeschichte und
Herrschergeschichte auch an Mädchenschulen betonen können. Wenn man
verlangt, der Geschichtsunterricht solle vor allem Kulturentwicklung dar-
stellen, so übersieht man, was auch in der vorliegenden Schrift berührt,
aber wohl nicht in voller Bedeutung gewürdigt wird, daß ja zu der geschicht-
lichen Bildung, die wenigstens eine höhere Schule vermittelt, der Geschichts-
unterricht im engeren Sinne nur einen und zwar nicht den stärksten Beitrag
liefert. Mehr kulturgeschichthches Verständnis, als der beste Geschichts-
unterricht lehren kann, wird im deutschen und fremdsprachlichen Unterricht
erarbeitet. Der Schwerpunkt im eigentlichen Geschichtsunterricht muß
nach wie vor auf der Staatengeschichte liegen, und diese hat auch für die
Mädchen an Bedeutung gewonnen, seit jedes Mädchen berufen ist, mit
20 Jahren Subjekt der Staatsgewalt zu werden. Ein Unterricht, der von
Jüngern deutscher Wissenschaft gegeben wird, kann aber die Staaten nur
so zeigen, wie sie wirklich gewesen sind, nicht wie sie nach den Anschauungen
gerade mächtiger Parteien hätten sein sollen. Und alle Staaten, von denen
die Geschichte weiß, waren erfüllt von Machtkämpfen und begriffen in Macht-
kämpfen, die immer wieder, auch nach längeren Zeiten des Friedens, in Kriegen
gipfelten. Es würde daher eine Geschichtsfälschung sein, wenn die kriege-
rischen Entscheidungen nicht als die großen Wendepunkte des Geschehens
dargestellt würden. Auch die dramatische Spannung im Verlauf einzelner
Kriege und selbst einzelner Schlachten darf der Jugend nicht vorenthalten
werden; besonders anschaulich tritt uns ja in der Kriegsgeschichte die Wahr-
heit entgegen, die sich auf allen Lebensgebieten erkennen läßt, daß der Er-
folg vom Willen und zwar vom starken Willen abhängt; der starke böse
Wille ist stets dem guten schwachen überlegen.
Unter allen Umständen muß der letzte Krieg in den Hauptzügen dar-
gestellt werden, und zwar nicht trotz, sondern wegen seines furchtbaren
Ausganges. Wäre er von Sieg gekrönt gewesen, die Taten unserer Heere
und auch die Leistungen unseres Volkes könnten vergessen werden; so aber
ist es Pflicht der Lehrer, unseren Toten das Gedächtnis zu sichern, auf das
sie Anspruch haben, und in einer Gegenwart, die zu keinerlei Stolz berechtigt,
den nationalen Stolz an der Vergangenheit zu nähren. Dabei müssen sie
auch mit allem erdenklichen Nachdruck der in Versaüles durch die Unter-
schrift deutscher Gesandter bekräftigten Verleumdung entgegentreten, die
deutsche Regierung habe diesen Krieg gewollt. Die Zerstörung dieser Lüge
ist auch das beste, was der Unterricht für die Versöhnung der Völker, die
die Verfassung fordert, leisten kann. Nicht eine Verbrüderung, wohl aber
eine Verständigung der Völker wäre möglich, durch eine Wissenschaft, die
das Ringen um Macht als das Wesen aller Staaten anerkennt, und durch
248 Aus der Volkshochschuljiteratur, angez. von Paul Lorenz.
eine Politik, die sich selbst unbefangen zum nationalen Egoismus bekennt
und eben damit dem nationalen Egoismus der Gegner relative Berechtigung
zugesteht, also durch Rankes Wissenschaft und Bismarcks Politik.
Berlin. Friedrich Cauer.
Aus der Volkshochschulliteratur.
I. Hilfsbücher für Volkshochschulen. F. A. Perthes, Gotha
1920 — 21. I.B.Bauch, Anfangsgründe der Philosophie. 4M. 2.W. Fränzel,
Deutschland im Jahrhundert Friedrichs des Großen und des jungen Goethe.
8 M. 3. J. Leo, Das Werden des deutschen Nationalbewußtseins von der
Urzeit bis zur Glaubensspaltung. 4M. 4. P. Klopfer, Geschmackskunde.
5 M. 5. K. Haase, Angewandte Seelenkunde. 5 M.
II. Veröffentlichungen der Dresdner Volkshochschule, hrsg.
von Dr. Karl Reuschel. 1. Dr. Ing. Bloch, Lohn- und Löhnungsarten.
2 M. 2. E. Weicher, Die Dresdner Landschaft. 2,70 M. 3. Franz Moc-
krauer, Anfangsgründe der Philosophie. 4 M. und Teuerungszuschlag.
III. Im Preßverband für Deutschland, Berlin-Steglitz, Ab-
teilung für Volksbildung: 1. Hermann Werner, Der Zeitungsleser und die
Zeitung, o. J. 2. Otto Maurer, Die Behandlung des deutschen Schrift-
tums in der Volkshochschule, erläutert an Goethes, „Hermann und Dorothea"
Ebenda.
IV. Die Bücherei der Volkshochschule, hrsg. von Ministerial-
direktor Dr.R.Jahnkein Berlin. Velhagen & Klasing. Bielefeld und Leipzig.
1920/21. 1. K. Albrich, Einführung in das philosophische Denken. 2. P.
Ostwald, Das moderne Japan. 3. E. Haring, Aus unseres Volkes Werde-
gang. 4.v.d.Pfordten, Einführung in Richard Wagners Werke und Schriften
5. Th. Maß, Einführung in das öffentliche Recht. 6. H. Welten, Biolo-
gische Streifzüge. 7/8. Ueding, Einführung in das Verständnis der Malerei.
9. Th. Vorland er, Kant und sein Einfluß auf das deutsche Denken. lO.Rosen-
d ah 1, Das Weltgebäude. 11. Dr. Anna Siemsen, Stilproben. 12. E. Blind,
Die Geschichte der großen Entdeckungen.
Die Hochflut der Volkshochschulbewegung beginnt sich allmählich zu
verlaufen. Hat der stürmische Drang des „Volkes" nach „Bildung" nachge-
lassen? Warum wohl? Vor allem, weil es gemerkt hat, daß Bildung ganz
und gar nicht ein Gut ist, das man einfach für einen bestimmten Geldbetrag
kaufen und dann besitzen kann, um je nach Bedarf und Gelegenheit davon
Gebrauch zu machen. Durch das bloße Anhören volkstümlicher Vorträge
— so war leider bei den meisten Volkshochschulen der Betrieb — erreicht man
eben Bildung nicht, wenn anders diese einzig und allein besteht in der „Lust
und Fähigkeit des Menschen, sich selbst und seine besondere Lage zu deuten
und zu den das Einzelleben überragenden Mächten in das rechte Verhältnis
zu setzen" (Otto Wilhelm, Von der deutschen Volkshochschule). Frucht-
barer Volkshochschulbetrieb kann nur in der Form der Arbeitsgemeinschaft
erreicht werden. Und diese würde am vollkommensten gestaltet werden
können, wenn sie auf einer Lebensgemeinschaft der Teilnehmer beruhte,
i Die Stammformen der vergleichenden Wirtschaftstheorie, anger. von Schmidt. 249
wie das bei der Form der dänischen und zum Teil auch schon bei der Thü-
ringer Volkshochschule der Fall ist. Von dieser gibt es noch keine zusammen-
hängenden Veröffentlichungen, ebenso auch noch nicht von der Arndt- und
Schleiermacherhochschule, die den Vorzug haben, daß die Hörer doch schon
eine geschlossene, und einheitliche Grundeinstellung zum Leben besitzen
oder anbahnen. Die Fichtehochschule in Hamburg ist hierin tonangebend
gewesen. Bei den Hörern der obengenannten Volkshochschulliteratur handelt
es sich fast immer um solche, die, aus den verschiedensten gesellschaftlichen
Schichten und Berufen stammend, bemüht waren, die Kenntnisse zu er-
weitern und zu vertiefen, am ehesten bilden indes eine Ausnahme die unter
III genannten, die Behandlung von Goethes Hermann und Dorothea kann
geradezu musterhaft genannt werden. Die unter IV genannten haben den
Vorzug, daß am Schluß jeder Vorlesung Wiederholungsfragen gestellt sind,
die hoffentlich am Anfang des nächsten Vortrags durch die Hörer in der
Gemeinschaft beantwortet wurden. Nicht wenige der genannten Hefte be-
handeln philosophische Gegenstände, die ja heute besonders „gefragt" sind,
um diesen greulichen Kaufmannsausdruck hier zu gebrauchen. Am ehesten
gelungen ist die Darbietung bei Albrich (IV, 1), Arbeiter aber als Zu-
hörer zu denken ist auch hier schwierig, kaum möglich erscheint es unter andern
bei Bauch (1,1) und Mockrauer (II, 3), wohl aber wieder bei der überhaupt
recht gelungenen angewandten Seelenkunde von K. Haase (I, 5). Sehen
wir eben von denen ab, die sich so gern allein als „Volk" bezeichnen, so bieten
die meisten jener Hefte reichste Möglichkeit zur Erweiterung der Bildung,
und nachForm wie Inhalt sind recht viele auch geeignet, als Vorbilder für den
Unterricht auf höheren Schulen zu dienen, und zwar weniger im eigentlichen
Klassenunterricht als in den freien Schulgemeinschaften, die wir ja auch
immer stärker vertreten, so, um einige Beispiele zu nennen, die Geschmacks-
kunde von Klopfer (I, 4), Einführung in Richard Wagner (IV, 4), Einführung
in das philosophische Denken von Albrich (IV, 1). Wie die meisten Verfasser
dem höheren Lehrberufe angehören, so sollte die höhere Schule dauernd der
Bewegung der Volkshochschule ihre Aufmerksamkeit schenken.
Spandau Paul Lorentz.
Die Stammformen der vergleichenden Wirtschaftstheoric von Prof. Dr.
J. Plenge, erschienen im Verlag von G. D. Baedeker, Essen, in der Samm-
lung „Staatswissenschaftlicher Musterbücher".
Nicht mit Unrecht trägt das Büchlein den Untertitel, „Grundbuch der
volkswirtschaftlichen Ausbildung". Es enthält eine Zusammenstellung der
Stufentheorien der volkswirtschaftlichen Klassiker von Aristoteles bis zur
Gegenwart und beleuchtet so die Entstehung der modernen, verästelten
Volkswirtschaft in dreifacher Weise. Nicht historisch ist diese Entstehung
geschildert. Unregelmäßig zeichnet sich jede Entwicklung in der Geschichte.
Der Forscher, der streng nach dem Ablauf der Zeit die Ereignisse verfolgt,
wird nicht immer Fortschritt, oft Stillstand und Rückgang festzustellen
haben. Stets aber sieht er ein anderes Bild, und erst der Vergleich der einzelnen
250 Die Stammformen 5er vergleichenden Wirtschaftstheorie, angez. von Schmidt. •
geschichtlichen Wirtschaftszustände läßt ihre Ähnlichkeiten erkennen. Die
volkswirtschaftlichen Klassiker schufen nun, nach den charakteristischen
Ähnlichkeiten der aus der Fülle des geschichtlichen Stoffes herausgegriffenen
Wirtschaftszustände unter Fortlassung zufälliger oder nebensächlicher Be-
gleiterscheinungen, das für alle diese Zustände typische Bild der Entwick-
lungsstufe. Eine Kette solcher Entwicklungsstufen stellt nunmehr die Ent-
wicklung einer Wirtschaft dar, und es zeigt sich, daß die zeitliche Aufeinander-
folge der einzelnen Glieder dieser Kette in der Geschichte stets die gleiche
gewesen ist. — Grundverschieden sind die Gesichtspunkte nach denen die
einzelnen Forscher ihre Wirtschaftsstufen gebildet haben; grundverschieden
und vielseitig mithin auch die Entwicklungsgesetze, die wir in dem kleinen
Buche kennen lernen. Mit Aristoteles, Dikäarch, Varro, Adam Smith,
List und Marx betrachten wir die Entwicklung unserer Berufe von der Tätig-
keit des nur vom Trieb zur Nahrungssuche beherrschten Wilden bis zur
mannigfachen Berufsspezialisierung einer kapitalistischen Volkswirtschaft.
Auf Aristoteles weiterbauend, erörtert Bruno Hildebrand eingehend die Be-
deutung, die die Einführung und Ausgestaltung des Geldes auf das Werden
des ganzen Wirtschaftskörpers gehabt hat. Er unterscheidet die Entwick-
lungsstufen „Natural-, Geld- und Kreditwirtschaft". Haben wir so die Ent-
stehung des heutigen Wirtschaftskörpers nach der Entwicklung zweier wich-
tiger Teile, der Berufe und des Geldes verfolgt, so lesen wir im folgenden
bei Schönberg, wie sich während dessen auch seine äußere Form verändert,
die Wirtschaftseinheit erweitert hat. Aus der geschlossenen,, Hauswirtschaft",
die alle ihre Bedürfnisse selbst zu befriedigen vermochte, ist über die , .Stadt-
wirtschaft" hinaus die gewaltige, moderne „Volkswirtschaft" geworden. Das
aus dieser Stufentheorie gewonnene Bild der Stadtwirtschaft findet noch eine
wertvolle Ergänzung durch eine anschauliche Schilderung des Wirtschafts-
lebens der islamitischen Städte von H. Schurtz. Eine weitere wesentliche
Bereicherung bedeutet für das kleine, übersichtliche Werk der Schlußaufsatz
des Herausgebers : „Das Zeitalter der Hegemonie und das Zeitalter des Kapi-
talismus". Die vorangehenden Ausführungen über die Wirtschaftsstufen
schaffen die solide und unentbehrliche Grundlage für jedes volkswirtschaft-
liche Verständnis. Die Schurtzsche Darstellung lehrt praktisch die wissen-
schaftliche, bis in die kleinsten, gewissermaßen mikroskopischen Einzel-
heiten vordringende Beobachtung. Dieser Schlußaufsatz endlich ist vortreff-
lich dazu geeignet, in die Technik des makroskopischen, geschichtsumspannen-
den Sehens einzuführen und den mit den Entwicklungsgesetzen vertrauten,
in sorgfältiger Kleinbeobachtung geübten Blick auch für weltgeschichtliches
Wirtschaftsverständnis zu weiten.
Alles in allem sind die klassischen Auszüge, die in glücklicher Auswahl
in dem kleinen Werke vereinigt sind, durchaus dazu geschaffen, in kürzester
Zeit einen festen Grund für eine sachgemäße volkswirtschaftliche Ausbildung
zu geben. Gerade dem Philologen, der beabsichtigt, demnächst an der Er-
teilung des staatsbürgerlichen und volkswirtschaftlichen Unterrichtes teil-
zunehmen, kann dieses kurze, klare und inhaltsreicheBuch als erste Einführung
Am Scheidewege, Berufsbilder, angez. von Lohmann. 251
empfohlen werden. Es erspart die mühevolle, zeitraubende Arbeit, aus den
umfangreichen klassischen Werken, die nicht einmal überall zur Verfügung
stehen, die grundlegenden Stellen heraus zu suchen. Aber auch um die Schüler
in freiwilligen Vortrags- oder Diskussionsstunden in das volkswirtschaft-
liche Verständnis einzuführen, kann zu keinem besseren Hilfsmittel als diesem
Bande gegriffen werden. Trefflich eignen sich die einzelnen Aufsätze wegen
ihrer Kürze und Klarheit der Sprache zu Schülerberichten. Wenn auch
einzelne der klassischen Auszüge, aus dem Rahmen der Sammlung heraus-
genommen, einseitig wirken müssen, so ist doch gerade in der Verschmelzung
der Forschungsergebnisse solcher Einseitigkeit mit dem aus den anderen
Ausführungen gewonnenen Gesamtbilde für den Referenten oder eine nach-
folgende Diskussion eine lohnende und pädagogisch wertvolle Aufgabe ge-
geben. Die Kunst des freien Vortrags wird auf diese Weise geübt und zwar
an einem Objekt, dessen Kenntnis lebenswichtig und notwendig ist.
Münster i. W. Wilhelm Schmitt.
Am Scheidewege, Berufsbilder (Sammlung belehrender Unterhaltungs-
schriften für die deutsche Jugend, hrsg. von Direktor Prof. Liz. Hans
Volmer, Hamburg, Sonderreihe).
Band 62. Der Oberlehrer. Von Dr. H. E. Sieckmann.
n u. 81 S. 8°. 6 M.
Band 63. Der Apotheker. Von Wilhelm Jennrich. 76 S. 8°. 6 M.
Band 64. Der Zeitungsschreiber. Von Thomas Hübbe. 77 S.
80. 6 M.
Band 65. Der Schlosser. Von Peter Ohlig. 75 S. 8». 6 M.
Band 66. Der Buchdrucker. Von Friedrich Bauer. 70 S. S«. 6 M.
Band 67. Der Arzt. Von Dr. Carl Happich. 86 S. 8«. 6 M.
Verlag von Hermann Paetel. Berlin- Wilmersdorf.
Dem Herausgeber darf man zweifellos für die Veranlassung dieser Samm-
lung sehr dankbar sein. Sie kommt einem dringenden Bedürfnis entgegen.
Soll die Jugend an unseren höheren Schulen zu einer wirklich ernsthaften
Besinnung über die Berufswahl kommen, so ist es nicht genug getan mit
2 bis 3 Vorträgen im Jahre und gelegentlichen Winken im Unterricht; den
Schülern müssen auch gute Bücher in die Hand gegeben werden, damit sie
sich aus ihnen eingehender über die verschiedenen Berufe belehren können.
Die sechs Berufsbilder aus der Sammlung „Am Scheidewege" können mit
einer Ausnahme bedenkenlos in jede Schülerbücherei eingestellt und den
Jungen als Lesestoff empfohlen werden.
Leider ist diese eine Ausnahme gerade das Bändchen über den Ober-
lehrer (62). Es ist mit warmen Herzen und voller Begeisterung für unseren
schönen Beruf geschrieben. Der Form nach soll es eine Anweisung für einen
früheren Schüler des Verfassers sein, der wenige Monate vor der Reifeprüfung
steht; es soll ihm gezeigt werden, wie er sich innerlich und äußerlich auf den
von ihm gewählten Oberlehrerberuf einstellen muß. In manchen Teilen
kann man sich mit dieser Anweisung durchaus einverstanden erklären. Ganz
252 Am Scheidewege. Berufsbilder, angez. von Lohmanti.
treffend sind im allgemeinen die Ausführungen über das Verhältnis von Unter-
richt und Erziehung, über den Geist der Wissenschaft an höheren Schulen,
über das Verhältnis zu den Kollegen, die Schwere des Berufs, die Einschätzung
des Oberlehrers in der Gesellschaft, die Schulzucht, das Pfuschen der Schüler,
die Schilderung der Lehrer- und Schüler typen u. dgl. Wenn er meint, man
müsse sich als Lehrer den Schülern gegenüber auch einmal rein menschlich
geben, so wird man gewiß nichts dagegen einzuwenden haben. Wenn er
aber dem Tertianer erlauben will, seinen Lehrer im Klassenzimmer in seiner
Gegenwart völlig zu karikieren, und ihm zur Belohnung noch 25 Pf. gibt,
damit er in Zukunft die Ähnlichkeit durch eine Karnevalsnase noch größer
machen kann, wenn er dem Schüler verraten will, daß er einen entsetzlichen
Kater hat, wenn er das Realgymnasium einen Zwitter nennt, der lebens-
fähig nur durch den Unverstand der Massen bleibt, so werden manche Kollegen
nicht damit einverstanden sein, und sie werden sich dagegen sträuben, das
Büchlein ihren Schülern in die Hand zu geben, und das ist bedauerlich. Im
ganzen enthält das Bändchen zu viel allgemeine Betrachtungen und zu wenig
praktische Winke. Die Ausbildung zum Oberlehrerberuf und die wirtschaft-
lichen Aussichten sind aus einem kleingedruckten Anhang zu ersehen, in
dem die Prüfungsordnungen, der Normaletat und statistisches Material zu-
sammengestellt sind. Das ist ein Knochengerippe, das der Jugend wahr-
scheinlich wenig schmackhaft erscheinen und dem sie auch wohl vielfach
verständnislos gegenüberstehen wird. Die Betrachtungen über die Tragik
des Lehrers, die Tragik des Schülers und Autonomien wären aus einem solchen
Buche wohl besser fortgeblieben.
Die übrigen Berufsbilder habe ich nicht nur selbst gern gelesen; auch
die Fachvertreter, denen ich sie zur Durchsicht übergab, haben sich durchweg
lobend über sie geäußert.
„Der Apotheker" (63) ist durchaus geeignet, den jungen Leuten
einen Einblick in die Apothekerlaufbahn, wie sie jetzt ist, zu geben. In Zu-
kunft wird sich freilich das eine oder andere ändern. Die wissenschaftliche
Ausbildung wird nach Einführung der Reifeprüfung als Vorbedingung wahr-
scheinlich ganz der Universität zufallen. Die Kosten der Ausbildung werden
dadurch erhöht. Die wirtschaftliche Zukunft ist unsicher. Ein vermögens-
loser Anwärter wird kaum vor dem 45. Lebensjahre selbständig werden
können.
Der Verfasser des Zeitungsschreibers (64) hat in gedrängter Form
dem Leser ein anschauliches Bild von dem Leben und Wirken eines Journa-
listen gegeben und gezeigt, mit welchen Widerwärtigkeiten ein Schriftsteller
zu kämpfen hat, wean er den Beruf mit inae:er Freudigkeit ausüben will
und wenn er sich zum Ziel gesetzt hat, bildend und erziehend auf seinen
Leserkreis einzuwirken. Über manches ist wohl, wegen Raummangels, kurz
hinweggegangen. Trotzdem ist das Büchlein allen Schülerbüchereien dringend
zu empfehlen.
Der Arzt (67): Der Verfasser steht, wie mein Gewährsmann, auf dem
Standpunkt, daß der Ärzteberuf stark überfüllt ist, daß aber sehr tüchtige
Eduard Spranger, Gedanken über Lehrerbildung, angez. von L. Mackensen. 253
Ärzte noch immer ihr Brot finden werden. Mit Recht wird sehr ernstlich
davor gewarnt, mit erborgtem Kapital zu studieren, das man nachher „aus
gesicherter Praxis" zurückzuzahlen gedenkt. Daß der Student der Medizin
sich während der großen Ferien nach englischem Muster als Krankenpfleger
gründlich betätigen soll, ist sicher erstrebenswert, aber bis jetzt, wie es scheint,
noch nicht durchführbar. Selbstverständlich sollte es sein, daß der cand.
med. nicht mit mehr als 40 Stunden die Woche belastet werden darf. Zu dem
Doktorexamen ist zu bemerken, daß die wissenschaftliche Abhandlung jetzt
nicht mehr gedruckt zu werden braucht. Das Pferd für den Doktorwagen
kostet jetzt nicht mehr lOOOO bis 15000 M., sondern 20000 bis 26000 M.
(S. 50). Die Taxen für ärztliche Behandlung (S. 57) sind erhöht. Die stu-
dierten Zahnärzte können jetzt den Titel Dr. med. dent. erwerben (S. 71).
Das Honorarabkommen mit den Krankenkassen ist inzwischen abgeändert
(S. 84). Das Buch ist durchaus zu empfehlen.
Das Bändchen „Der Schlosser" (66) ist etwas überschwänglich ab-
gefaßt. Die Schilderung der Lehre eines Schlosserlehrlings ist aber wahr-
heitsgetreu. Ich empfehle das Buch zur Einstellung in die Bücherei der Ober-
tertia, vielleicht auch der Untersekunda. Wie ich höre, fehlt es im Schlosser-
handwerk an Lehrlingen mit guter Schulbildung; vor allem ist Fertigkeit
im Zeichnen erwünscht.
Der Buchdrucker (65): Nach dem Urteü meines Gewährsmannes
ist das Buch von einem tüchtigen Fachmann geschrieben und entspricht
den Tatsachen. Das Selbständigwerden des Buchdruckers ist zwar augen-
blicklich wegen der Riesenpreise für die Maschinen eine schwierige Sache,
aber wie der Verfasser richtig sagt, werden die Zeiten auch wieder besser
werden. Das Bändchen ist für die Untersekunda, vielleicht auch noch für
die oberen Klassen zu empfehlen; denn auch der spätere Redakteur fängt,
wie man mir sagte, am besten von unten auf als Buchdrucker an. Unsere
Schüler sollten jetzt ganz besonders auf Berufe hingewiesen werden, die
Kopfarbeit und Handarbeit in sich vereinigen.
Hoffentlich bringt der Veriag recht bald weitere Bücher dieser Art heraus.
Flensburg. Dr. W. Lohmann.
Eduard Spranger, Gedanken über Lehrerbildung. Leipzig 1920. Quelle
& Meyer. VIII u. 71 S. Geh. 2,50 M.
DenBildungsgang des neuen Lehrergeschlechtes, das der Gedanke derVolks-
bildung verfangt, versucht Spranger in der vorliegenden Schrift zu zeichnen.
Mit überzeugenden Gründen legt er dar, daß dieser Weg nicht durch eine
pädagogische Fakultät führt und daß eine Lehrerfakultät, zu der gewisse
Kreise die philosophische Fakultät der Universität umgestalten möchten,
ein Schaden für die deutsche Kultur sein würde. Er empfiehlt die Einrichtung
vonBildnerhochschulen,auf denen der künftige Volkslehrer, der vor allem
Kultur- oder Bildungsträger sein muß, seine eigentümliche, von der ge-
lehrten Ausbildung abweichende, aber darum keineswegs geringfügigere
Ausbildung erhalten soll. Diese pädagogische Hochschule soll kein neues
254 A. Graf, Los vom Philologismus, angez. von L. Mackensen.
„Normalinstitut", sondern eine wirkliche Kunstakademie mit eignem, durch
die in der Richtung der Volksbildung liegenden Gegenstände bestimmtem
Bildungsinhalt sein. Aus feinsinnigen Ausführungen über Bildung, Bil-
dungswerte und Bildsamkeit ergibt sich dem Verfasser der organisatorische
Aufbau einer solchen Hochschule in eine wissenschaftliche, eine technisch-
künstlerische und eine praktisch-pädagogische Abteilung, alle vereinigt
durch einen aus der Sache folgenden Gemeinschaftsgeist. Die wissenschaft-
liche Abteilung wieder zerfällt in eine geisteswissenschaftliche Gruppe, für
die die Fachverbindung Deutsch und Geschichte, und eine naturwissenschaft-
liche Gruppe, für die Mathematik und Naturwissenschaften obUgatorisch
sind. Diese theoretischen Stammfächer können entweder mit weiteren Fach-
studien oder mit einer künstlerischen und technischen Ausbildung (Zeichnen,
Gesang und Musik, Kunstgeschichte) verbunden werden; hinzu kommen
für jede von beiden Gruppen als drittes verbindliches Fach Pädagogik auf
philosophischer Grundlage sowie praktisch-pädagogische Übungen. Der
Kursus der neuen Hochschule umfaßt drei Jahre, zwei für die eigentliche
Fachbildung und ein drittes, das der praktischen Einführung in den Beruf
dient. Die Schwierigkeiten, die sich bei der praktischen Ausbildung der
jungen Lehrer dadurch ergeben, daß im dritten Studienjahr eine große Zahl
von Kandidaten mit zusammenhängenden Lehraufgaben betraut werden
müßten, hat Spranger wohl erkannt; über den Weg, sie zu beseitigen, scheint
aber auch er sich nicht völlig klar zu sein: daß man mit 100 Kandidaten im
Jahr auch an einer sehr großen Schule durchkommen könne, vermag ich nicht
zu glauben. Hier liegt meines Erachtens der schwache Punkt in den sonst
so praktischen Ausführungen und Vorschlägen, die die Beachtung aller maß-
gebenden Kreise verdienen. Unzweifelhaft hat sich der Verfasser mit seiner
Schrift das große Verdienst erworben, daß er klar und überzeugend nach-
gewiesen hat, daß die Forderung der Universitätsbildung für alle Lehrer
nicht nur ein Ding der Unmöglichkeit ist, sondern auch gar nicht im Interesse
der Lehrer selbst liegt, ganz abgesehen davon, daß die Umgestaltung der philo-
sophischen Fakultät in eine Volkslehrerbildungsanstalt der deutschen Uni-
versität ihren Charakter als Forschungs- und Bildungsstätte für Gelehrte
nehmen, sie zu einem „Großbetrieb der Kenntnisvermittlung*' herabwürdigen
und Forschung und Wissenschaft heimatlos machen würde.
A. Graf, Los vom Philologismus! Eine Laienpredigt über die Reform-
Bedürftigkeit unseres Mittelschulwesens. Nürnberg 1919. Burgverlag.
VHI u. 69 S. 2,50 M.
Der als Herausgeber der „Schülerjahre" bekannt gev^ordene Verfasser
zieht auch in dieser „Laienpredigt" gegen das humanistische Gymnasium
und die Altphilologen zu Felde. Vier große Grundmängel des humanistischen
Gymnasiums stellt er fest : 1 . es hat in seinem heutigen praktischen Betriebe
mit dem wahren inneren Wert der Antike nichts zu tun und vermag daher
seiner Aufgabe der Übermittlung antiker Bildungswerke nicht gerecht zu
werden, 2. es ist unfähig, seine Schüler zu reinem, edlem Menschentum im
Eduard Burger, Die experimentelle Pädagogik usw., angez. von L, Mackensen. 255
Sinne formaler Bildung zu erziehen, 3. es ist wie keine andere Schule unserer
Zeit und Kultur entfremdet, 4. es ist eine philologische Fachschule. Das
sind schwerwiegende Vorwürfe gegen eine Schulart, der Tausende und Aber-
tausende der Besten unseres Volkes ihre Bildung verdanken, und wenn sie
berechtigt wären, müßte man in der Tat lieber heute als morgen mit dem Be-
trieb der alten Sprachen aufräumen! Glücklicherweise wird jeder, der die
höhere Schule, auch das Gymnasium unserer Zeit auch nur einigermaßen
kennt, die meisten der hier erhobenen Beschuldigungen als Übertreibungen,
z. T, ganz ungeheuerlicher Art, erkennen. Der Verfasser schöpft scheinbar
nur aus einer Quelle: den Erfahrungen, die er selbst als Schüler, d. h. als
unfertiger, unreifer Mensch, an nur einer Stelle gemacht hat, Erfahrungen,
die vielleicht unerfreulich genug gewesen sein mögen, die ihm aber keines-
wegs das Recht geben, nun über alle Gymnasien, auch die von heute, den
Stab zu brechen. Die Fortschritte, die gerade in den letzten Jahrzehnten
in sachlicher und methodischer Hinsicht gemacht sind und viele der von ihm
gerügten Übelstände längst hinweggefegt haben, kennt der Verfasser ent-
weder nicht oder will sie nicht kennen, nur um gegen die ihm verleidete Schule
loswettern zu können. Ich kenne, obwohl seit fast 25 Jahren an höheren
Schulen verschiedenster Art tätig, keine einzige, an der der Unterricht in
den alten Sprachen, im Deutschen oder der Geschichte in so rückständiger
Weise erteilt würde, wie Graf sie schildert. Ich vermisse in der Schrift jeden
neuen schöpferischen Gedanken: der Vorschlag, der für Graf der Weisheit
letzten Schluß bildet, in das Wesen der Antike durch Lektüre guter Über-
setzungen einzuführen, ist ebenso oft, wie er gemacht wurde, mit triftigen
Gründen als nicht zum Ziele führend zurückgewiesen; ähnliche Vorschläge
für den Unterricht im Deutschen, in der Geschichte, Mathematik und den
Naturwissenschaften, über die Ausgestaltung der Oberstufe oder die Be-
handlung der Schüler in den Oberklassen u. a. m. sind auch von anderer
Seite schon oft gemacht, z. T. auch bereits durchgeführt. Das Bild, das der
Verfasser vom Altphilologen entwirft, wenn er behauptet, ,,daß kaum ein
anderer Beruf sich in solchem Grade menschliche Absonderlichkeiten, Eigen-
arten und Verschrobenheiten leistet, so sehr durch seineEinseitigkeit,Menschen-
und Lebensfremdheit zurKarikatur reizt, hat wahrhaftig mit dem Altphilologen
von heute nichts mehr zu tun — man möchte umgekehrt dem, der ein solches
Trugbild entwirft, Menschen- und Lebensfremdheit vorwerfen! Die Alt-
philologen werden sich über eine solche Charakteristik zu trösten wissen;
daß der Haß gegen sie und die Gymnasien den Verfasser aber gar verleitet,
nur um ihre Unfähigkeit, tüchtige Menschen heranzubilden, nachzuweisen,
den deutschen Durchschnittsstudenten „als das unwissendste, reaktionärste
und dabei noch eingebildetste Wesen der menschlichen Gesellschaft" hin-
zustellen, als einen Menschen mit dem Lebensideal „Suff und Spiel und Mädels
die Menge" ist wirklich unerhört.
Eduard Burger, Die experimentelle Pädagogik in ihrer Entwick-
lung zur neudeutschen Pädagogik. W. A. Lays Gesamtpädagogik,
256 Eduard Burger, Die experimentelle Pädagogik usw., angez. von L, Mackensen.
nach Entstehung und Bedeutung auf Grund der Quellen kritisch dar-
gestellt. Wien und Leipzig 1918. A. Pichlers Witwe u. Sohn. V u. 172 S.
Das Buch ist eine Huldigungsschrift für W. A. Lay, den Begründer
der experimentellen Pädagogik, dessen Persönlichkeit und Lebenswerk ein-
gehend und mit großer Liebe gewürdigt werden, und bezweckt, dem hoch-
verdienten Schulmann und Forscher diejenige Anerkennung zu verschaffen,
die ihm mancher Orten noch versagt wird. Der Verfasser behandelt zunächst
die Anfänge der experimentellen Pädagogik, weist sodann die praktische
und theoretische Grundlegung der experimentell-pädagogischen Forschungs-
methode nach und zeigt, wie die von dieser beherrschte Pädagogik sich zu
einer neudeutschen Gesamtpädagogik entwickelt hat. Der zweite Teil des
Buches beschäftigt sich mit dem Ausbau und der Ausbreitung der neudeutschen
Pädagogik, die die vielen pädagogischen Sonderrichtungen auf gemeinsamem
Boden sammeln und der Erziehungswissenschaft eine weitere und tiefere
Grundlage geben will. Der Begriff der Erziehung wird von ihr gefaßt als wert-
gemäße Leitung der körperlichen und geistigen Entwicklung, die sich auf
das gesamte Leben des Menschen erstreckt, also auch die Erziehung der Er-
wachsenen, die Erziehung im weiteren Sinne mitumfaßt. Die Bedeutung
der zur politischen Pädagogik emporgewachsenen neudeutschen Erziehungs-
wissenschaft, die der Reformpädagogik unserer Zeit als Neuorientierung
dienen und einen Treffpunkt aller pädagogischen Strömungen der Gegenwart
abgeben soll, wird im dritten Teil behandelt, während der vierte eine Über-
:icht über die Veröffentlichungen Lays bringt und seine bisherige pädago-
ijische Gesamtleistung würdigt.
Burgers Buch gibt eine klare und übersichtliche Einführung nicht nur
in das Werk Lays, sondern auch in die Entwicklung, das Wesen und die Auf-
gaben der experimentellen Pädagogik und verdient in der Tat, vielen ein
„Führer in den Irrnissen und Wirrnissen der modernen Reformpädagogik**
zu werden.
Berlin-Pankow. L. Mackensen.
-e^Kl-
Druck von C. Sctiulze ä Co., a m. b. H., Orafenbaiaicbeo
I. Abhandlungen.
n.^
Philologen und Schulmänner.
Die Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner, die in diesem
Monat September nach achtjähriger Unterbrechung zum 53. Male in Jena
zusammentritt, stellt schon in ihrem Namen eine Vereinigung von Schule
und Wissenschaft dar, wie sie in der Zeit der Begründung dieser Zusammen-
künfte selbstverständlicher war als heute. Damals eine verhältnismäßig
geringe Zahl von höheren Schulen, meist Gymnasien, mit dem Ziel, zur Uni-
versität vorzubereiten, Gelehrtenschulen, die auch in der Arbeitsweise sich
nur dem Grade, nicht der Art nach von der der Hochschule unterschieden.
Die Lehrer nahmen vielfach produktiv an dem Ausbau der Wissenschaft
teil und standen in regem Verkehr mit den Professoren der Universitäten.
Auf diese beiden Gruppen geht wohl der Ausdruck „Philologen" ; aber auch
die ,, Schulmänner" hörten nicht auf, sich als Gelehrte zu fühlen und in deren
Geist zu arbeiten. Verschiedene Ursachen haben zusammengewirkt, diesen
verhältnismäßig einfachen Zustand zu verändern. Von anderem abgesehen,
machte sich, wie im ganzen staatlichen Leben, so auch hier das Problem der
Masse geltend. Die Zahl und Größe der Schulen und Klassen wuchs unge-
sund schnell, viele Unberufene drängten hinein, und bei den zeitweilig gün-
stigen Aussichten des Oberlehrerstandes blieb auch er nicht frei vom ,, Brot-
gelehrten", dem die Wissenschaft nicht zuerst die hohe, die himmlische Göttin
ist. Aus dem Lehrer wurde mehr und mehr ein Unterrichtsbeamter, der
zwar materiell besser sich stand als früher, dafür aber auch aus großer Frei-
heit in Abhängigkeit von Aufsichtsbehörden, Gemeindeverwaltungen, Lehr-
plänen u. a. geriet und bei peinlich zugemessener Arbeitszeit in der Muße
für den Dienst an der Wissenschaft eingeschränkt wurde. Die Rücksicht
auf den Massen betrieb, die Verschiedenheit der Schulgattungen und das nicht
mehr so einfache Abschlußziel machen es verständlich, daß vielfach das Was?
hinter dem Wie? zurücktrat, daß das Methodische die Wissenschaft über-
wog. In den 80er Jahren hat diese Bewegung, die ihren bemerkenswertesten
Ausdruck in den „Lehrproben und Lehrgängen" fand, eine Art Wellenberg
erstiegen, auf den ja freüich auch das Tal wieder gefolgt ist. Täusche ich
mich nicht, so ist die Nachwirkung im Seminarbetrieb und in der Schul-
aufsicht noch nicht überall überwunden, insofern als hier das Technische,
das, was man Lehrhandwerk genannt hat, sich mehr als nötig vordrängt.
Die sog. neusprachliche Reform trug — sicher gegen den Willen ihrer Väter —
ja auch die Gefahr in sich, das rein Methodische zu stark zu betonen. End-
lich hat der Krieg mit seinen Folgen mit dazu beigetragen, das Band zwischen
Wissenschaft und Schule zu lockern. Das empfindet niemand schmerzlicher,
als die große Mehrzahl derer, die für ihr Vaterland kämpfend jahrelang aus
dem Studium herausgerissen wurden und dann in zusammengepreßter Form,
der Not gehorchend, sich für die Prüfungen vorbereiten mußten.
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 17
258 Max Siebourg,
Erstes Erfordernis für eine gedeihliche Tätigkeit eines Lehrers an höheren
Schulen ist und bleibt eine gründliche, streng fachwissenschaftlicfie Erziehung
auf der Universität. Das muß, auch abgesehen von dem vorher Dargelegten,
gegenüber starken Strömungen der Gegenwart immer wieder betont werden.
Auf der einen Seite das verführerische Schlagwort von dem einheitlichen
Lehrerstand und die daraus abgeleitete Forderung der einheitlichen Vor-
bildung, bei der die „Pädagogik" in den Vordergrund zu treten habe. Auf
der anderen Seite die leidenschaftlichen Anklagen gegen die rationalistische
Wissenschaft mit ihrem öden Spezialistentum und ihrer lebensfremden Ver-
einsamung. Besinnen wir uns demgegenüber auf die Tatsachen, auf die nüch-
terne Forderung des Tages. Ich gehe dabei nicht weiter auf den wesentlichen
Unterschied zwischen Volks- und höherer Schule ein, insofern dort das Wie?,
hier das Was? vorwiegt. In 24 Wochenstunden muß der angehende Ober-
lehrer Unterricht in allerhand Wissensgebieten erteilen, wofür er die Kennt-
nisse nicht fertig mitbringt. Will er dabei etwas erreichen, so muß er über
dem Stoff stehen, sonst bleibt er ein Stümper; er muß ihn so beherrschen,
daß er, wie man sagt, damit spielen kann. Vermag er das nicht, so ist alles
andere nutzlos; merken die Jungen erst, daß ihr Lehrer in diesem Punkte
nicht sattelfest ist, so wird sein Ansehen untergraben, und die Hauptauf-
gabe, die zu erziehen, kann nicht mal angegriffen, geschweige denn gelöst
werden. Wüßte er ein ganzes Lehrbuch der Pädagogik auswendig, es hülfe
ihm nichts.
Nicht das Wissen, wohl aber das Können muß die Universität durch
ihre fachwissenschaftliche Erziehung ihren Zöglingen dazu mitgeben. Ihre
Aufgabe ist, fußend auf einer entsprechenden Vorbereitung durch die höhere
Schule, zu methodischem Denken und Arbeiten zu erziehen, zu der Fähigkeit,
mit selbständigem Urteil neue Aufgaben anzufassen, an den Stoff die richtigen
Fragen zu stellen, die Probleme zu sehen und die passenden Hilfsmittel
zu wählen. Ich wüßte nicht, wie das anders zu erreichen wäre, als durch Übung
und Schulung an begrenzten Aufgaben einer geeigneten Fachwissenschaft;
wobei ich mich wohl nicht noch besonders gegen die Meinung zu verwahren
brauche, daß ich damit die Tätigkeit der Universität als erschöpft ansähe.
In mehr als 30 jähriger Erfahrung als Lehrer, Direktor und Verwaltungs-
mann habe ich es immer wieder bestätigt gefunden, daß die jungen Amts-
genossen, die gründlich in der angegebenen Weise auf der Universität vor-
bereitet waren, in der Regel auch gute Lehrer wurden und sich gegenüber
den weiteren und breiteren Aufgaben der Schule bald zurecht fanden. Auch
in denen der Erziehung: die geborenen Erzieher sind wohl so selten, wie die
Dichter; man bilde sich doch nicht ein, daß die ausgesprochenen Begabungen
hier häufiger wären, wie auf anderen Gebieten. Wollte man nur solche zu
unsern Schulen zulassen, diese würden bald an empfindlichstem Lehrer-
mangel zugrunde gehen. Wir andern, wir Durchschnittsmenschen, die wir
uns der wahrhaft königlichen Kunst der Seelenbildung widmen, wir brauchen
darum nicht zu verzagen. Einiges, und gewiß nicht Unwesentliches, gibt
die Erziehung zu wissenschaftlicher Arbeit auch schon dafür mit : unbestech-
Philologen und Schulmänner. 259
liehe Wahrheitsliebe, Sachlichkeit, Selbstbescheidung, nicht ermüdenden
Fleiß und die Gewöhnung, den Schwierigkeiten nicht aus dem Weg zu gehen.
Wer in dem Geiste an sich selbst immer weiter arbeitet, der wirkt durch
sein Beispiel erziehlich.
Insbesondere aber ist das Können, das die fachwissenschaftliche Bildung
erzielen soll, gerade heutzutage gegenüber den Fragen der Bildung und Er-
ziehung notwendig. Wir sind wieder in einen von starken pädagogischen
Interessen belebten Zeitabschnitt eingetreten. Die bildungsfrohen Forderungen
der verschiedensten Richtungen der Gegenwart schwirren durcheinander
und verdichten sich zu Schlagworten, die einer klaren Erfassung der Ziele
manchmal eher hinderlich als förderlich sind und daher Gefahren mit sich
bringen können, wo es sich um praktische Gestaltung handelt. Hier gilt
es vor allem mit der strengen Methode nüchterner Wissenschaft den Dingen
auf den Grund zu gehen und die Spreu von dem Weizen zu sondern. Wer
aber wäre dazu berufener, als die Männer, die die Forderungen der Theorie
in die Praxis umsetzen sollen und die die geistigen Mittel zu der Untersuchung
mitbringen. Einheitsschule, Arbeits- und Produktionsschule, Erlebnisunter-
richt, Gesamtunterricht, Gabelung, Wahlfreiheit, Deutschkunde — das
sind so einige der vollklingenden Begriffe und Losungen, die dringend der
Klärung bedürfen. So würde ich z. B. fragen, ob der Gegensatz Arbeits-
und Lernschule — angeblich ist diese der Typus der Vergangenheit, jener der
der Zukunft — überhaupt klar aufgestellt ist. Ist denn Lernen, rein rezeptives
Lernen nicht auch ein tüchtiges Stück geistiger Arbeit, des Erarbeitens?
Für welche Stufen der jugendlichen Entwicklung, für welche Stoffe ist das
eine oder das andere mehr passend? Wo und wie ist beides zu vereinen?
Ist die Arbeitsgemeinschaft der einzig richtige Weg, um Selbständigkeit
zu erzielen, die geistigen Führer heranzubilden, die wir so bitter nötig haben?
Waren die Männer, die vor vielen, vielen Jahren die häusliche Präparation
einführten, diesem Ziele nicht näher? Wie ist vor allem die eigene selbständige
Arbeit zu Hause auf einsamer Stube im Rahmen derSchulerziehung zu fördern ?
Es wäre zu wünschen, daß bei solchen Untersuchungen das Muster Nach-
folge fände, welches Theodor Litt jüngst mit der Erörterung der „Gleich-
wertigkeit" gegeben hat^). Ohne gründliche fachwissenschaftliche Vorbil-
dung wird das freilich nicht möglich sein.
Noch einem Einwurf muß ich begegnen, der gegen die letztere wohl
erhoben wird. Man befürchtet, der Geist öden Spezialistentums würde un-
heilwirkend sich bei entsprechend vorgebildeten Lehrern auch weiterhin
in der bildnerischen Arbeit der Schule geltend machen; und dem hat ja die
ganze Zeitrichtung leidenschaftliche Fehde angesagt. Zunächst — ich würde
es gewiß nicht für ein Unglück halten, wenn der eine oder andere innerhalb
eines Kollegiums Zeit und Kraft findet, sich schöpferisch auf einem Sonder-
gebiet der Wissenschaft mitzubetätigen. Selbst die Sehnsucht und das Streben
eines solchen Amtsgenossen nach der akademischen Laufbahn würde ich ge-
1) Neue Jahrbücher 1921 II 81 ff.
17*
260 Eduard Spranger,
wiß nicht verurteilen oder hemmen; im Gegenteil, beide Bildungsanstalten,
die Hoch- und die Mittelschule, würden ihren Nutzen davon haben. Das
sind die schlechtesten nicht, die noch eine Sehnsucht im Herzen tragen.
Sodann, die methodische Erziehung der Universität hätte ihren Zweck
verfehlt, wenn sie ihren Schülern nicht die Fähigkeit und das Pflichtgefühl
dafür mitgäbe, in einem neuen Wirkungskreis auch die neuen Aufgaben
zu erkennen und zu ihrer Lösung anzuspornen. Endlich aber, das was die
Universität zu leisten hat, geht erst recht heutzutage wert über die fach-
wissenschaftliche Bildung hinaus. Ich kann diese Gedanken hier nicht weiter
verfolgen und darf nur vorläufig auf die Ausführungen hinweisen, die
Theod.Litt zu diesem Heft beigesteuert hat^). Erwähnen möchte ich nur noch,
daß die Arbeit der zweijährigen Vorbereitungszeit auf das nachdrücklichste
das fortsetzen muß, wozu die Hochschulzeit, wenigstens die richtig ange-
wandte, den Grund legte.
,, Philologen und Schulmänner", sie finden sich in diesen Tagen zu ge-
meinsamer Arbeit zusammen. Die wissenschaftliche Forschung und die Praxis
der Erziehung der Teile unsrer Jugend, aus denen vor allem die Führer her-
vorgehen müssen, treten in einen für beide Teile fruchtbaren Gedanken-
austausch. Von der Erkenntnis, daß beide Gruppen zusammengehören,
waren die Begründer der Versammlung erfüllt. Mag auch in der weiteren
Entwicklung zeitweilig eine gewisse Entfremdung eingetreten sein, — daß
diese heute überwunden ist, das hat aufs deutlichste auch nach außen hin
die Reichsschulkonferenz gezeigt. Unsre Zeitschrift ist von jeher für die
enge Verbindung von Wissenschaft und Schule eingetreten und wird der Ver-
wirklichung dieser Forderung auch fernerhin ihre Kraft widmen. Sie darf
daher aus vollem Herzen der Tagung der deutschen Philologen und Schul-
männer ein Glückauf zurufen.
Pfaffendorf bei Koblenz. Max Siebourg.
Die drei Motive der Schulreform').
In der widerspruchsvollen Welt der heutigen Schulreformbestrebungen
findet man sich nur zurecht, wenn man den soziologischen Motiven der Er-
scheinungen nachgeht. Ich verstehe aber in den folgenden Ausführungen
unter einer soziologischen Betrachtung nicht die Zurückführung der Schul-
programme auf die historisch gegebene Schichtung der Gesellschaft oder
auf die offiziellen Parteikundgebungen, auch nicht ihre Ableitung aus den
standespolitischen Interessen einzelner Lehrergruppen. Vielmehr ist es
meine Absicht, die Abhängigkeit der modernen Gedankenbildungen auf diesem
Gebiete von allgemeinsten soziologischen Strukturprinzipien zu erörtern,
^) Siehe unten S. 274.
*) Der Aufsatz bezieht sich nur auf Strömungen, die heute bereits vorhanden und
deutlich erkennbar sind. Der Verf. glaubt nicht, daß das Wünschenswerte in ihnen
schon erschöpft sei. Weitergehende Forderungen zu begründen, behält er jedoch einem
anderen Zusammenhang vor.
Die drei Motive der Schulreform. 261
die die Gesellschaft des 19, und 20. Jahrhunderts beherrschen. Es handelt
sich dabei keineswegs um bloße Theorien vom Seinsollenden, sondern um
Grundkräfte, die in der Bewegung der Gesellschaft selbst richtunggebend
und gestaltend wirken. Sie können im Bewußtsein des einzelnen Schulre-
formers auch dann aufeinandertreffen, wenn sie eigentlich entgegengesetzte
Tendenzen bedeuten, die sich in einer rein begrifflich gefaßten Theorie aus-
schließen würden. Das Irrationale aber, das theoretisch Widerspruchsvolle,
kann in der lebendigen Bewußtseinsverfassung gerade die entscheidende
Eigentümlichkeit begründen. Nur kommt man an sie nicht anders heran
als dadurch, daß man das Gewirr durcheinanderlaufender Linien zunächst
einmal auflöst und einige Grundrichtungen darin festhält.
Die geistige und gesellschaftliche Gesamtbewegung, in der wir uns heute
befinden, ist durchaus eine Fortsetzung jener früheren, die in der Regel
nach der großen französischen Revolution benannt wird. Sollte in der Gegen-
wart etwas grundsätzlich darüber Hinausgehendes liegen, so doch jedenfalls
nur als Keim, nicht im Sinne des Reifseins, wie man 1789 von dem Reif-
gewordensein einer Jahrhunderte lang vorbereiteten geistigen und gesell-
schaftlichen Entwicklung sprechen konnte. Wir wählen daher als Ausgangs-
punkt die historische Schicht, die durch die französische Revolution und
die Stein-Hardenbergsche Reform bezeichnet ist. In Wahrheit ragen noch drei
ältere geistig-gesellschaftliche Schichten bis in das Bildungsleben und die
Bildungspolitik der deutschen Gegenwart hinein : die katholisch-kirchliche Ein-
stellung zu Seele, Gesellschaft und Bildung, die orthodox-protestantische
Konfessionalität und Kirchlichkeit des 16. Jahrhunderts, und darüber als
dritte Schicht der absolute Beamtenstaat und die Aufklärung, denen beiden
dies gemeinsam ist, daß sie an die Rationalisierbarkeit aller Lebensgebiete
glauben, die aber insofern eine innere Spannung enthalten, als die Aufklärung
noch über die Formen des absoluten Staates hinaustreibt und den bleibenden
Rahmen für die immanente Weltanschauung auch der nachrevolutionären
Zeit abgibt 1). Mit der Nachwirkung dieser drei Schichten ist schon eine
Problematik gegeben, die eine einheitliche Lösung der Schulorganisations-
fragen eigentlich ausschließt : Es stehen sich mit unversöhnlichem Anspruch
gegenüber jenseitige Weltanschauung und diesseitige Weltanschauung; und
im Gefolge davon : Kirche und Staat, wennschon die Schwere dieses letzten
Problems auf protestantischem Gebiete bisher durch die Verflechtung beider
Verbände zur Staatskirche verdeckt war.
Aber von diesen Gegensätzen, die sich heute noch sehr scharf, besonders
in der Volksschule, auswirken, soll im folgenden nicht die Rede sein. Viel-
mehr stellen wir unseren Blick nur auf die drei geistigen Schichten ein, die
sich auf dem Boden der vor 110— 130 Jahren neu geschaffenen Gesellschafts-
ordnung gebildet haben und sich ausschließlich auf soziologische Diesseits-
*) Die Soziologie des französisch-englischen Positivismus kann als eine geradlinige
Fortsetzung der Aufklärung bezeichnet werden, die immer starke empirische Bestandteile
enthalten hat.
262 Eduard Spranger,
Probleme beziehen. Sie aber sind auch für die Gestaltung der höheren Schule
von entscheidender Bedeutung. Als Leitfaden mag uns zunächst die lose
Anknüpfung an eine Parole dienen, die in der französischen Revolution
selbst formuliert wurde und die in der Tat drei in ihr enthaltene Tendenzen
ganz gut bezeichnet: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Alle drei
Motive schlummern schon in der großen Revolution. Sie treten aber in der
Folgezeit eine nach der anderen in den Vordergrund der Gesellschaftsbildung,
ohne daß das früher herrschende Moment deshalb ganz verschwände. Viel-
mehr sind heut noch alle drei in der Form von Bewegung und Gegenbewegung
lebendig, und die Problematik der Schulreform beruht auf der Gleichzeitig-
keit dieser inhaltlich keineswegs gleichsinnig gerichteten Kräfte.
Freiheit ist das soziologische Grundprinzip des Liberalismus. An-
fangs noch erscheinend in der Form pflichtmäßiger Gebundenheit oder doch
eingeordnet in eine angebliche Harmonie der gesellschaftlichen Kräfte, ent-
faltet es sich immer mehr zur Anerkennung weitgehender Rechte der In-
dividualität in Staat und Gesellschaft. Sofern damit ein Hinauswachsen der
reicheren Individualität über den Durchschnitt gefordert ist, bedeutet das
Prinzip der Freiheit nicht nur einen individualistischen, sondern auch einen
aristokratischen Grundsatz. In entgegengesetzter Richtung wirkt das Prinzip
der Gleichheit. Soll sie der freien Konkurrenz gegenüber aufrechterhalten
werden, so bedarf es dazu einer zentralen Staatsmacht, die auf dem — min-
destens juristisch — gleichen Willen aller aufgebaut ist und somit eine ho-
mogene Masse von grundsätzHch gleichwertigen und gleichartigen Individuen
voraussetzt. Dies ist das Grundprinzip der Demokratie, die zugleich
individualistisch und staatsbejahend gerichtet ist. Je nach dem Überwiegen
der individualistischen oder der zentralistischen Kräfte haben wir den Typus
der liberalen oder der sozialen Demokratie. Schon die erste muß Anstalten
treffen, um die Freiheit durch Gleichheit zu ermöglichen; die zweite aber
gewährleistet die Freiheit durch eine ausdrückliche gleichmachende Organi-
sation, so daß im Enderfolg die Gleichheit den Vorrang vor der Freiheit er-
hält. — Endlich das Motiv der Brüderlichkeit. Es setzt zwischen den Menschen
ein Band inneren Wesens, nicht nur das Verhältnis äußerer Gleichheit bei
sonst individualistischer Vereinzelung oder bloß staatlicher Organisation.
Denn das Gemeinschaftserlebnis läßt sich nicht durch staatsrechtliche Maß-
nahmen erzeugen. Es quillt aus der Fülle und Tiefe des Herzens. Deshalb
entspricht dieser soziologischen Einstellung auch kein einfaches politisches
Programm. Freiheit mag man gewähren; Gleichheit mag man wenigstens
rechtlich herbeiführen können; Brüderlichkeit aber liegt jenseits alles juristisch
Bewirkbaren. Sie ist, wo sie erscheint, ein organisch Gewachsenes. Und
so wollen wir den soziologischen Typus, der dieser Einstellung entspricht,
als organischen Sozialismus bezeichnen.
Überblicken wir die soziologische Entwicklung des 19, Jahrhunderts
in Deutschland, so steht an seinem Anfang, energisch gegen den überlieferten
absoluten Staat gewandt, der Liberalismus. Mit dem Jahre 1848 und seinen
deutschen Einheitsbestrebungen tritt daneben bereits der demokratische
Die drei Motive der Schulreform. 263
Gedanke deutlicher hervor, der sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts
immer stärker von der liberalen zur sozialistischen Prägung entwickelt.
Aber naturrechtlich im Sinne mechanisch-juristischer Konstruktion bleibt
er auch da, wo er sich in das „wissenschaftliche" Gewand der marxistischen
Geschichtsphilosophie kleidet. Erst auf dem Boden der jüngsten Jugendbe-
wegung entfaltet sich seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts Gemeinschafts-
erlebnis und Gemeinschaftskultur. Und dieser Sozialismus fühlt vor aller
Theorie dunkel seinen Gegensatz gegen die parteimäßige Sozialdemokratie:
es ist ein anderes Menschentum und ein anderer Stil des Lebens, der sich
hier hindurchringt.
Die gleichen Leitmotive finden wir nun auch in der Entwicklung der
Bildungsideale und der Schulpolitik. Sie setzen nacheinander ein; sie bleiben
aber nebeneinander lebendig und bilden zuletzt in den Bewegungen, die der
Revolution von 1918 folgen, ein Gewirr von höchst verwickelter Linien-
führung. Dem Liberalismus entspricht hier das Ideal der frei entfalteten
Individualität; der Demokratie der Einheitsschulgedanke in seiner
ursprünglichen Bedeutung; einer bestimmten neuen Form des Sozialismus
entspricht das Gemeinschaftsideal.
I. Das deutsche Schulwesen wird im Anfang des 19. Jahrhunderts
von Humboldt, Süvern und Schleiermacher auf der Grundlage des Humanitäts-
gedankens aufgebaut. Humanität bedeutet damals allgemeine Menschen-
bildung, die jedoch Individualisierung nicht ausschließt, sondern geradezu
fordert. Aus der abgelaufenen Epoche des absoluten Staates bleibt freüich
die feste staatliche Organisation erhalten, und sie erreicht für das Bildungs-
wesen unter Johannes Schulze vielleicht ihren Gipfel. Aber als Träger dieses
Staates erscheint doch schon die reich entfaltete Persönlichkeit, die sich
mit universalem Gehalt gesättigt hat. Man glaubt noch, durch eine scharf
zentralisierte Staatserziehung Persönlichkeiten züchten zu können. Man
denkt vor allem an die nationale Individualität, wenn man die Idee des
allgemeinen Menschentums individualisiert. So entsteht als das typische
Bildungsideal dieses mit dem Staat ausgesöhnten Liberalismus der Gedanke
der voll und reich entfalteten, von nationalem Kulturgehalt erfüllten Per-
sönlichkeit. Auf ihrem vollendeten Menschentum, so glaubt man, beruhe
zugleich das vollendete Bürgertum. Eine besondere staatsbürgerliche Er-
ziehung scheint daher überflüssig und ist tatsächlich auch 1848 nur von den
Demokraten, nicht von den Liberalen gefordert worden. Die Bildung an
nationaler Geschichte, Dichtung und Kultur wurde bereits als politische
Bildung betrachtet. Denn der ,, Mensch" ist es, der den Staat trägt, nicht aber
darf (nach liberaler Theorie) der Staat den Menschen für seine Zwecke formen.
Der Weg führt von diesem nationalen Liberalismus zu immer weiterer
Differenzierung und Befreiung der Einzelpersönlichkeit. Mit dem Ideal
der allgemeinen harmonischen Menschenbildung muß man seit der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts brechen. An die Seite der einen humanistischen
Schulform, des Gymnasiums, treten zuletzt Realgymnasium und Ober-
realschule als moderne Formen der „allgemeinen", aber doch schon speziali-
264 Eduard Spranger,
sierten, Menschenbildung. Selbst die Berufsschule bricht sich wieder stärker
Bahn, und in der Abstufung nach Begabungen zeigt sich die wachsende
Rücksichtnahme auf individuelle Anlagen.
Während des Weltkrieges wird als entscheidende schulpolitische
Losung der Gedanke verkündigt: „Freie Bahn dem Tüchtigen". Sofern
darin die Freiheit der Individualität gegenüber den Berechtigungsschranken
des Beamtenstaates anerkannt wird, bedeutet dies eine weitere Steigerung
des liberalen Prinzips in der Schulpolitik. Sofern aber besondere organi-
satorische Maßnahmen zur Auslese und zum ,, Aufstieg der Begabten" ge-
troffen werden, findet bereits der Übergang von einem Liberalismus des ,,laisser
faire, laisser aller" zu dem demokratischen Gedanken der organisatorischen
Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen statt. Die reinste Aus-
prägung aber findet der liberale Gedanke in dem schon seit 1905 verkündeten
Prinzip der ,, Wahlfreiheit auf der Oberstufe" i). Wenn im gegenwärtigen
Augenblick der Versuch gemacht wird, diese Pläne in die Tat umzusetzen,
so gehört dieser Teil der Schulreform unter den Gesichtspunkt der letzten
Ausstrahlungen liberaler Schulpolitik. Daran wird nichts durch den bezeich-
nenden Umstand geändert, daß auch ausgesprochen sozialistische Schul-
politiker mit Vorliebe diese Forderung vertreten. Er beweist nur von neuem,
daß das Hauptmotiv der Sozialdemokratie im Grunde ein individualistisches ist.
In den gleichen Zusammenhang gehören die Auswirkungen des Prinzips
der liberte de l'enseignement. Wo man für das Recht der Privatschule ein-
tritt — wenn auch gemäß den Grundsätzen des Preußischen Allgemeinen
Landrechtes immer unter Wahrung der Staatsaufsicht — wendet man Leitge-
danken der liberalen Schulpolitik an. Und wiederum ist es gleichgültig, daß
es vielfach und mit Vorliebe Zentrumspolitiker oder jetzt Protestantisch-
Konfessionelle sind, die sich dieser Methode für ihre besonderen Zwecke
bedienen. Ferner sind hierher alle die Forderungen zu rechnen, die sich auf
Selbstverwaltung der Schule in irgendeiner Form beziehen; denn auch
in ihnen kommt der Gedanke der relativen Unabhängigkeit des Bildungs-
lebens von der zentralistischen Staatsmacht zum Ausdruck. Wie die Ver-
fassung der Hochschule schon längst auf die Grundlage freiester Selbst-
bestimmung gestellt war, so will man jetzt das ganze Bildungswesen aus
der Verflechtung mit wechselnden Parteiregierungen und politischen Inter-
essengruppen möglichst loslösen, damit das freie Walten des Geistes von der
Einengung durch Machtinteressen und Wirtschaftsinteressen verschont bleibe.
In der Dreigliederung des sozialen Organismus empfängt dann das Gebiet
der Wissenschaft, Kunst und Bildung seine eigene Bewegungsfreiheit und
sein spezifisches Selbstbestimmungsrecht 2).
1) Vgl. F. Paulsen, „Was kann geschehen, um den Gymnasialstudien auf der Ober-
stufe eine freiere Gestalt zu geben?", zuerst in dieser Zeitschrift, dann in seinen Ge-
sammelten pädagogischen Abhandlungen, her. von Eduard Spranger, Stuttgart 1912 S. 419.
2) Vgl. meine Thesen über „Schulleitung und Schulverwaltung" für die Reichs-
schulkonferenz, abgedruckt in dem Werk: ,,Die deutsche Schulreform", her. vom
Zentralinstitut, Leipzig 1920, Anhang S. 41; der zugehörige Bericht nur In den amtlichen
Drucksachen.
Die drei Motive der Schulreform. 265
Endlich ist hierher auch^derPlan eines „Deutschen Gymnasiums" zu rechnen .
Denn dieses Programm erwächst wesentlich aus der Fortführung der schon
1848 lebendigen Gedanken, daß man Bildung vor allem an der Individualität
des eigenen Volkstums zu suchen habe, und daß im nationalen Kulturbe-
wußtsein die stärkste Stütze des Staates ruhe. Hatte man früher Uhland,
Schiller, selbst Rembrandt, geradezu als politische Erzieher der Deutschen
angesehen, so glaubt man jetzt, daß der Staat nur am ,, Geist von Weimar"
und an der Vertiefung in die Geschichte des deutschen Geistes genesen könne.
Das politische Bewußtsein der Deutschen, das sich bereits zum Welthorizont
und zum ,, planetarischen" Gesichtspunkt ausgeweitet hatte, schrumpft hier
wieder zur nationalen Kulturpolitik zusammen. Es wird dabei nur zu sehr
vergessen, daß man zum Bewußtsein eigenen Wesens nur in der Berührung
und Auseinandersetzung mit fremder Art gelangen kann.
11. Wie der Liberalismus zuletzt in den religiös fundierten Menschen-
rechten wurzelt, so geht das demokratische Prinzip auf die naturrechtliche
volonte generale zurück i). Auch hier ist daher die Denkweise im Grunde
individualistisch. Aber man hat — zum Teil aus schmerzlichen Enttäuschungen
des Liberalismus — gelernt, daß die Freiheit nur bei annähernder Gleichheit
gewährleistet werden kann. Man begnügt sich auch nicht mit der Gleichheit
des Rechtes; denn sie war durch Beseitigung der ständischen Privilegien,
der Patrimonialgerichtsbarkeit, durch die Trennung von Justiz und Ver-
waltung usw. bereits erreicht. Um so entschiedener arbeitet man an der
Herstellung der Gleichheit der Rechte. Je mehr die Veränderung der Ein-
kommenverteilung und des Besitzrechtes in Frage kommt, um so deutlicher
bewegt sich die Demokratie vom Liberalismus fort zur Sozialdemokratie,
die zwar die Harmonie zwischen Organisation und individueller Entfal-
tungsfreiheit für möglich hält, dabei aber doch immer stärker auf die
Seite der gesellschaftlichen Bindung hinübergleitet.
So kann es nicht wundernehmen, daß die bürgerlich-liberale Demokratie
und die Sozialdemokratie zunächst in ihrem Bildungsprogramm weitgehend
übereinstimmen. Sie wünschen, auch hinsichtlich der Schulwahl, gleiche
Bildungsmöglichkeiten für alle, natürlich rein im Sinne der Berechtigung,
nicht im Sinne tatsächlicher Gleichheit aller Anlagen. Einheit, Weltlichkeit,
Unentgeltlichkeit sind die gemeinsamen Forderungen. Allerdings ist darin
gar kein neuer inhaltlicher Bildungsgedanke enthalten, während die Humani-
tätsidee des Liberalismus in ihre Anknüpfung an Griechentum und deutschen
Klassizismus eine wirkliche ideale Macht darstellte.
Das Prinzip der Einheitsschule ist schon in dem Süvernschen Gesetz-
entwurf von 1819 verwirklicht, freilich mit der aristokratischen Wendung,
möglichst viele den höchsten Weg zu führen. Als ausdrückliches schul-
politisches Programm aber erscheint der Gedanke in der Bewegung von
1848 mit der Formel: ,, Einheitlicher Organismus des nationalen Bildungs-
wesens vom Kindergarten bis zur Hochschule." Die tieferen Motive liegen
0 Vgl. V. Wiese, Der Liberalismus in Vergangenheit und Zukunft, Berlin 1917.
266 Eduard Spranger,
in der deutschen Einheitsbewegung und in dem Willen, den Resten stän-
discher Abstufung durch gleiche Bildung, dem Monopol des Besitzes durch
gleiche Bildungsmöglichkeiten entgegenzuwirken. Daß das Problem mehr
ein finanzielles als ein pädagogisches ist, wurde dabei bis in die neueste Zeit
hinein meistens verkannt. Auch erwies sich der Gleichheitsgedanke als
schädlich für den Bildungsgedanken. Denn da jetzt die demokratische Seite
stärker als die aristokratische betont wurde, so entstand die Tendenz, mög-
lichst viele möglichst lange im Bereich der allgemeinen Volksschule fest-
zuhalten. Die vier Jahre, die durch das Grundschulgesetz von 1920 erreicht
worden sind, genügen den radikalen Demokraten nicht. Sie betrachten acht
Jahre allgemeiner Volksschule als das wünschenswerte Ziel. Durch diese
schulpolitische Forderung wird also nicht nur der Bestand der höheren Schule,
sondern einer wissenschaftlichen Bildung überhaupt ernstlich gefährdet.
Der innere Gewinn, den man dem Verlust an individuellen Entfaltungs-
möglichkeiten gegenüberstellen zu können glaubt, soll in der Vereinheit-
lichung des Volksbewußtseins, in einem Zuwachs an sozialer Gesinnung
liegen. Insofern nun aber das demokratische Prinzip ein rein naturrechtliches
ist, d. h. den Gesamtwillen aus der arithmetischen Zusammenfassung der
Individuen entstehen läßt, ist die Demokratie von sich aus ganz außerstande,
diesen innerUchen Zusammengehörigkeitsgeist aufzubringen. Sie hat im
Gegenteil, indem sie den gegebenen Staat der Rivalität der Parteien aus-
lieferte, im Volksleben selbst gefährdet, was sie durch die Schule erzeugen
möchte. An beiden Stellen hat sich der Gleichheitsgedanke nur als Hülle
für Machtwillen und Klassenindividualismus erwiesen.
Auch in anderen Stücken erscheint die Demokratie als die echteste Tochter
der Aufklärung. Denn sie glaubt allenthalben auf dem Wege der rationalen
Organisation zu erreichen, was in Wahrheit nur aus organisch wachsendem
Geistesleben entstehen könnte. Das wichtigste Beispiel hierfür ist der
demokratische Staatsgedankeselbst. Man hat versucht, das gesamte deutsche
Schulwesen von Reichs wegen zu vereinheitlichen. Besonders die Sozial-
demokratie ist für eine zentrale Reichsschulbehörde und ein Reichsschul-
gesetz eingetreten. Über die Differenz der Weltanschauungen (wie über die
StammesindividuaUtäten und die persönliche Entwicklungsrichtung) glaubte
man durch die alte Aufklärungsidee einer für alle gleichen, weltlichen Ver-
nunft und einer rein wissenschaftlichen Kultur siegen zu können. Welche
ungeheuren Schwierigkeiten dabei zu überwinden sind, und wie wenig das
einfache Programm des Deutschen Lehrervereins einer Kulturmacht von der
Kraft des Katholizismus gewachsen ist, haben die ersten Versuche e'ner
Reichsschulgesetzgebung von den betreffenden Artikeln der Weimarer
Verfassung an bis heute bereits deutlich gezeigt. Wo der Hebel in Wahr-
heit anzusetzen wäre, ließe sich leicht angeben; der Hauptfehler liegt in dem
Glauben an die überbrückende Kraft der alten Aufklärungsideen. Die Brücken
müßten aber heut in ganz anderer Richtung gesucht werden.
Ein zweites, soeben bereits gestreiftes Symptom der rationalen Richtung
der Demokratie liegt in ihrem Verhältnis zu Religion und Kirche. Das liberale
Die drei Motive der Scliulreform. 267
Prinzip („Religion ist Privatsache") wird hier nur taktisch verwandt. Im
Hintergrunde liegt der Glaube an die Möglichkeit entweder eines allgemeinen
Christentums oder einer allgemeinen immanenten Menschheitsreligion
soziologisch-positivistischer Färbung. Beide Ansichten verkennen die Bewußt-
seinslage, die heute noch die weitesten Schichten der Bevölkerung charakte-
siert. — Der Kampf für die Staatsschule ist zugleich einKampf gegen die Kirchen-
schule, gegen die Gemeindeschule und gegen die Privatschule. Der energische
Staatsgedanke ist es ja gerade, was die Demokratie vom Liberalismus scheidet.
Da nun aber der Staat allein und als solcher keinen Weltanschauungsgehalt
hat, so reicht dies Prinzip allein nicht hin, um die Bildungsbedürfnisse tieferer
Art wirklich zu befriedigen. Bildung des Menschen wird immer mehr sein
als Erziehung zur einheitlichen Staats- und Staatsvolksgesinnung. Eine
Überspannung des zentralistischen Staatsgedankens in der SchulpoHtik
muß folgerichtig dahin führen, den Bestand der Staatsschule überhaupt zu
gefährden und das Wiedererstehen der Kirchenschule, der Gemeindeschule
und der Privatschule indirekt zu befördern. Bedenkliche Anzeichen dieser
Art sind heute bereits erkennbar. Zwang zur Einheit hat im Geistigen nicht
nur die Belebung individueller Widerstände, sondern geradezu die Gefahr
eines Kulturkampfes zur Folge. Wie die Dinge in Deutschland liegen, ist
in der Tat nur eine individualisierte Einheit unseres Bildungswesens er-
reichbar: nur Einheit der Mannigfaltigkeit, nicht Einheit der Uniformität.
Ein letztes Symptom für den Zusammenhang zwischen Demokratie
und Rationalismus sehe ich in dem Anwachsen technischer Methoden, um
die geistigen Anlagen zu prüfen und danach die Wahl des Bildungsweges
organisatorisch zu regeln. Denn auch hier wieder zeigt sich der Glaube,
daß man das Lebendige kanalisieren und das Wünschenswerte , .machen''
könne. Die Intelligenzprüfungen, soweit sie von dem Faktor des Charakter-
grundes absehen, und die Berufsberatungsmaßnahmen, sofern sie rein
psychologisch sind und nicht individualisierte pädagogisch-soziologische
Führung bezwecken, gehören in den Umkreis demokratischer Aufklärungs-
ideen, Denn die Individualität wird hier zuletzt als etwas Meßbares und
in Zahlen Faßbares, nicht als ein Strukturprinzip der Seele angesehen.
Die geistig-geschichtliche Entwicklung aber ist nie von so durchsichtiger
begrifflicher Einfachheit und Klarheit, TatsächUch ist auch der Gleichheits-
gedanke der Einheitsschule allein nicht durchgedrungen, sondern er ist mit
dem Individualitätsgedanken des Liberalismus eine Synthese eingegangen.
Das Ergebnis ist die differenzierte Einheitsschule, d. h. ein in der
Grundlage für alle Kinder des Volkes gleicher, aber nach oben hin sich mannig-
faltig ghedernder Organismus des nationalen Bildungswesens. Kerschensteiner
hat das Verdienst, das Bild dieses Organismus in seiner Kieler Rede von
1914 ausgemalt und dadurch die Gefahr einer allzu rationalen Nivellierung
beschworen zu haben. Der Gleichheitsgedanke hat sich nur für die Grund-
schule durchführen lassen. Vom 5. Schuljahr mindestens an kommt das
Individualitätsprinzip in der doppelten Form zur Geltung, daß durch Ver-
268 Eduard Spranger,
zweigung der Schularten auf die inhaltliche Richtung der Begabung,
durch innere Gliederung — etwa nach dem Mannheimer Vorbild — auf den
Grad der Begabung Rücksicht genommen werden muß. Der erste Gesichts-
punkt wird auch weniger genau als sukzessive, der zweite als simultane
Differenzierung bezeichnet. Wesentlich ist hierbei, daß weder Abkunft
noch Besitz für die Eingliederung in die Schularten und -stufen maßgeblich
sein soll, sondern nur Begabung, Charakter und Gesamtleistung. Doch ist
die Durchführung dieses berechtigten demokratischen Wunsches solange
nicht gewährleistet, als der Staat nicht finanziell in der Lage ist, den ganzen,
unter Umständen bis zu 20 Jahren umfassenden Bildungsgang des einzelnen
aus öffentlichen Mitteln zu bestreiten. Nur das sozialdemokratische Programm
einer Änderung des Eigentumsrechtes (über dessen problematische Durch-
führbarkeit hier nichts gesagt werden soll) würde diese weitgehende Ver-
wirklichung der Einheitsschulidee herbeiführen können.
Neue Bildungsgedanken werden aus dem Bau der Einheitsschule nur
insoweit erwachsen, als die Berufsschulen in den Gesamtorganismus mit
eingegliedert werden. Sie sind im Begriff, einen neuen Bildungstypus aus-
zugestalten, der auf dem Prinzip beruht, daß von dem Zentrum des Berufs-
wissens, des Berufskönnens und des Berufsethos aus eine organisch damit
verbundene Allgemeinbildung ausstrahlen müsse. Da es sich aber hier aus-
drücklich um weitere Individualisierung handelt, so liegt dieses inhaltliche
Moment wiederum auf Seiten des Liberalismus.
in. Wer für geistige Strukturverhältnisse irgendeinen Sinn hat, fühlt
den tiefen Unterschied zwischen dem demokratischen Prinzip und dem Ge-
meinschaftsgedanken. Die Demokratie ist aus dem Rationalismus erwachsen;
sie endet in der politischen Arithmetik der Parteien. Es ist ihr nicht gelungen,
einen wirklichen Gemeinschaftsgeist im Volke zu begründen; im Gegenteil:
sie hat die Geister noch mehr atomisiert und allenfalls über dem Privat-
egoismus den noch gierigeren Parteiegoismus errichtet. Die volonte generale
bleibt eine Fiktion. Sie existiert in der Rechnung und als Rationalisierungs-
produkt, nicht als belebendes Wesen des Staatskörpers. Ganz anderen Ur-
sprungs ist das Motiv der echten Brüderlichkeit. Es ist zunächst da als Er-
lebnis, als Totalbeziehung von Mensch zu Mensch. Es wirkt sich aus in orga-
nischen Formen des Zusammenlebens, die das Wesen, nicht bloß die Interessen
der Menschen umfassen. So ist überhaupt das Verhältnis des Gemeinschafts-
geistes zum demokratischen Gleichheitsgeist das des Organischen zum Me-
chanischen, des Wesenhaften zum Oberflächenhaften, des Erlebten zum
Erdachten.
Natürlich hat es immer irgendwo Menschen gegeben, die dieses Erlebnis
hatten; besonders da, wo der Sozialismus nicht eine Form bloß theoretischer
Konstruktionen oder des machthungrigen Klassenindividualismus, sondern
eine Frucht echten Liebesgeistes war; also etwa bei den Abkömmlingen
des christlichen Sozialismus. Aber als eine Bewegung, als weite Kreise er-
greifender Stil des Lebens ist diese Überwindung des Individualismus in
der verweltlichten Gesellschaft etwas sehr Neues. Sie ist auch nicht durch
Die drei Motive der Schulreform. 269
das Stichwort Solidarität zu erschöpfen; denn Solidarität ist Interessen-
genneinschaft und Zweckgemeinschaft, bleibt also im Bereich der nützlichen
Güter stecken und erstreckt sich nicht hinab bis zur Wesensgemeinschaft i).
Dieses tiefere Gemeinschaftserlebnis ist der einzig sichtbare, aber für
sich genug beachtenswerte Inhalt der heutigen Jugendbewegung, so weit
sonst ihre Ziele auseinandergehen mögen. An diesem Erlebnis erkennen
sich die Geister. In ihm ist der neue Typus Mensch begründet. Denn eine
Jugendbewegung ist nicht eine Schulrevolution, auch nicht Klubwesen
oder Lebensreform, sondern das Wetterleuchten einer neuen Geistesart —
neues Seelentum, neues Volkstum.
Der Kern der echten Jugendbewegung (es gibt auch nachgemachte)
ist daher religiös. Alle charakteristischen Merkmale sprechen dafür: Be-
kehrung, Wiedergeburt, vita nuova, persönliche Offenbarungen. Dem Außen-
stehenden mag oft genug das Gemeinschaftserlebnis ohne greifbaren In-
halt sein. Aber wo es echt ist, da ist es Gemeinschaft im Tiefsten, Wesens-
offenbarung, Hingegebensein, und gerade diese an die Mystik erinnernde
Umrißlosigkeit ist wieder religiös. In den Aus drucksformen und im Lebensstil
ist vieles, wie es der Jugend gemäß ist, überwiegend ästhetisch: Eros, Natur-
freude, Mondnacht, Feuerzauber. Manche bleiben darin stecken; manche
finden den Übergang aus dieser Welt des Schauens und Glaubens zur Wirk-
lichkeit nur unter den schmerzlichsten Krisen. Oft genug auch mischen
sich in den Kreis der Thyrsosträger solche, die keine Begeisterten sind, oft
genug Geister, die die ,, Aktualitätskonjunktur" benutzen und ihre Negationen
ausleben wollen. Eine Jugendbewegung lebt nicht von Negationen. Sozio-
logisch genommen aber liegt das Ja in der bezeichneten Richtung: Gemein-
schaftserlebnis als Wesensgemeinschaft, als Berührung der ganzen Seelen
in ihrer tiefsten Wahrheit.
Von hier, nicht aus dem offiziellen Sozialismus, stammt das Motiv der
Brüderlichkeit, das bezeichnenderweise, noch ehe es sich direkt politisch
auswirkt, pädagogisch gerichtet ist und dem Schulleben neuen Geist zu-
führen wird. Denn die wesentliche schulorganisatorische Folgerung liegt
darin, die Schule aus einer Unterrichts- und Lerngemeinschaft in eine das
ganze Jugendleben umfassende Lebensgemeinschaft zu verwandeln, aus
ihr — nicht nur eine Arbeitsschule — , sondern eine wahre Lebensschule
zu machen 2).
Betrachten wir das Verhältnis dieses dritten Motivs zu den beiden anderen,
so ist unverkennbar, daß diese Gemeinschaft die Individualität nicht aus-
schließt, sondern auf ihr ruht. DieTiefe der gegenseitigen Wesensoffenbarung
wäre nicht denkbar, wenn nicht jeder sein Eigenstes in dieses Zusammen
hineingäbe. Nur starkes Individualleben ist in diesem Sinne gemeinschafts-
fähig. Religiöse Echtheit und ästhetischer Reiz wirken hier geradezu ge-
1) Vgl. mein Buch „Lebensformen", 2. Aufl. Halle 1921 : „Der soziale Mtnsch."
^) Vgl. meinen Aufsatz: „Unterrichtsschule, Arbeitsschule, Lebensschule". Neue
Bahnen 1912.
270 Eduard Spranger,
meinschaftstiftend. Weniger eindeutig ist die Beziehung zum Gleichheits-
gedanken. Gemeinsames Menschentum bindet alle, aber doch individuali-
siertes Menschentum und abgestuftes Menschentum. Deshalb ist in der Jugend-
bewegung auch der Führergedanke wieder lebendig geworden: ein aristo-
kratisches Motiv auf genossenschaftlicher Grundlage. Den Sinn dieser eigen-
artigen soziologischen Formen nachzuerleben, wird nicht jedem gelingen,
der sich ihnen nur von der Begriffsseite nähert; am wenigsten denen, die in
demokratischen Kategorien denken ; denn diese kommen aus der Aufklärungs-
welt und sind gewöhnt, in menschlichen Dingen zu rechnen. Hier aber wird ur-
alter deutscher Geist wieder lebendig: Genossenschaft, Herzogtum, Lehns-
treue, Jungmannschaft, freie Hingabe, organisches Ineinanderwachsen.
Und doch: es ist eine neue Welt.
Auch sie erscheint vielfach in seltsamen Vermischungen mit Heterogenem.
Vor allem haben sich Parteisozialisten der Sache bemächtigt und ihre Lieb-
lingsidee vom ökonomischen Grundcharakter aller geistigen Bewegungen hinein-
getragen. Dies ist am deutlichsten bei der Gruppe der sog. Entschiedenen
Schulreformer zu beobachten. Genialität und Parteischablone sind da in-
einander gemischt. Man möchte vom alten Marxismus etwas retten. Man
möchte übrigens auch seinen Haß gegen das ancien regime und das sog. Bürger-
tum aushauchen. So verflacht sich die Gemeinschaftsidee vielfach zum
Programm der Produktionsschule.
Die Fäden sind hier unendlich schwer zu entwirren. Ein Motiv ist die
nackte Not. Schon die Schulen (und Hochschulen) sollen der Jugend die
Möglichkeit geben, sich durch wirtschaftliche Arbeit, sei es Landarbeit
oder ausgesprochene Massenfabrikation, selbst zu erhalten. Ein verfehlter
Gedanke, an dem einst Pestalozzi scheiterte. Unsre komplizierte Wirt-
schaft würde diese schwachen Wirtschaftsgemeinschaften sofort erdrücken.
Das andre Motiv ist der Wunsch, Kopfarbeiter und Handarbeiter einander
zu nähern. Ein edles Ziel, das aber nicht marxistisch-dogmatisch so weit
überspannt werden darf, daß die Unvermeidlichkeit der Differenzierung
der Kräfte verkannt und eine Rückbildung ins Primitive gefordert wird.
Denn jene ArbeitScCÜung ist nicht zufällig, sondern aus der Gesetzlichkeit
menschlicher Kräfte heraus erfolgt. Höchstleistungen sind nur bei Speziali-
sierung möglich. Es bleibt als gesundes Motiv der Gedanke der Erdgebunden-
heit des Geistigsten und das große Evangelium vom Ethos der Arbeit. Auch
die ökonomische Produktion wird heute vielfach von einem religiösen Andachts-
gefühl umfaßt. Vielleicht geUngt es, das zu einer lebengestaltenden Kraft
zu erwecken. Dann würde die Arbeitsschule, deren erziehende Kraft nie-
mand so tief wie Kerschensteiner erkannt hat, wirklich bis in die letzte Lebens-
wurzel zurückgreifen. Aber der Wille zur Rentabilität darf nicht vorange-
stellt werden, weil es den ganzen Büdungsprozeß v/ieder materialisieren,
würde. Sondern das beste, was wir im pädagogischen Sinne von der
produktiven wirtschaftlichen Arbeit haben, ist das Ehrfurchtsgefühl, das sie
erweckt. Damit kommen wir in den Bereich der Goetheschen Pädagogischen
Die drei Motive der Schulreform. 271
Provinz^). Bis zu diesem Punkte sollte jeder geführt werden. Aber nicht alle
können wirklich zu Landarbeitern oder Fabrikarbeitern erzogen werden.
Die Berufsschule führe den Weg der manuellen und technischen Bildung
im vertieften und erweiterten Sinne. Andere müssen mit gleicher Verant-
wortlichkeit und gleichem Dienstbewußtsein am Ganzen den Weg der rein
geistigen Arbeit beschreiten. Niemals wird sich beides gleich stark in einer
Schulform verbinden lassen.
Im Kreise der Entschiedenen Schulreformer lebt es und webt es von
Gedanken. Vieles ist ästhetische Schwärmerei — ohne Wirklichkeitssinn
und ohne historischen Sinn. Vieles ist Parteidoktrinarismus. Beide Seiten
— ästhetischen Enthusiasmus und politische Leidenschaft — wird man
auch in ihrem Führer Paul Oestreich finden. Zieht man beides ab, so bleibt bei
ihm, im Gegensatz zu hundert Mitläufern, ein Kern von echt Erlebtem und
tiefem Zeitgefühl. Diese stürmende Leidenschaftlichkeit hat einen prophe-
tischen Kern.
Aber seltsam bleibt eines: dieser ,, entschiedene" Schulreformer ist im
Grunde nicht sowohl entschieden, d. h. einseitig, als vielmehr faustisch uni-
versal. Denn alle drei Motive des Bildungslebens, von denen wir sprachen,
möchte er zu gleicher Zeit in die neue Form der Schule hineinziehen. Auch
er erstrebt eine Einheitsschule, wie es die Demokraten und besonders die
Sozialdemokraten tun. Er begründet sie auf einen Kernunterricht oder
Minimalunterricht. Doch soll diese Einheitsschule ,, elastisch" genug sein,
um auch der Individualität freien Raum zu ihrer spezifischen Entfaltungs-
richtung zu lassen. Ja dieses Moment der inneren Bestimmung und der freien
Wahl tritt bei ihm so stark hervor, daß man kaum noch von Sozialismus,
sondern von gesteigertem Individualismus reden möchte. Aber dieser Richtung
steht nun wieder als Gegengewicht gegenüber die Idee der Gemeinschafts-
schule. Das ganze Schulleben soll zu einer wirklichen Lebensgemeinschaft
werden, hinter der die Familie bis zur pädagogischen Bedeutungslosigkeit
zurücktritt^). Also ein charakteristischer Versuch, alle drei Grundprinzipien
der modernen Gesellschaftsbewegung zugleich im Rahmen der neuen Schule
zu berücksichtigen.
Es hat immer etwas Betrübendes, solchen prophetischen Entwürfen
nachrechnen zu müssen, ob sie organisatorisch möglich sind. Und man wird
dabei leider zu keinem bejahenden Ergebnis gelangen. Zu ungleiche Renner
sind vor diesen Wagen gespannt. Diese „Gemeinschaft" wird sich durch
ihren allzu ungleichen Lebensrhythmus auflösen müssen. Angenommen
selbst, es gelänge, einen so verwickelten Lehrplan durchzuführen, der nie-
^) Vgl. meinen Aufsatz ,,Die Jugendbewegung und — Goethe" im Maiheft des
Deutschen Philologenblattes 1921.
2) Diese Ausschaltung derjenigen Gemeinschaftsform, die ihrer Natur nach die
Menschen am tiefsten und stärksten binden könnte, ist charakteristisch. Zum Teil be-
ruht sie auf dem Parteidogma. Die Rede vom Versagen der Familie ist ein Wort, das
einer dem anderen nachspricht, selten jemand nachprüft. Ueberwindung der Familien-
enge und des Familienegoismus ist ein wichtiges Ziel. Es bedeutet aber Vertiefung des
Famjlienethos, nicht Ausschaltung der Familie.
272 Eduard Spranger,
manden bindet und doch einen gemeinsamen Kern für Volksschule und
höhere Schule enthält, der jeder freien Neigung Rechnung trägt und doch
in ein geschlossenes Kulturbild ausmündet — wo soll noch die Lebenseinheit
für eine so differenzierte Jugend liegen? Welcher Staat soll diese Schul-
organismen aufbauen und erhalten, die die ganze Mannigfaltigkeit des mo-
dernen Kulturlebens mit einem Bande umspannen wollen?
Der Weg der Geschichte wird anders gehen. Der echte Gemeinschafts-
geist läßt sich nun einmal nicht von Staatswegen organisieren.* Auch die
Schulen, als staatliche Organisationen, werden dem allgemeinen Gesetz
der Arbeitsteilung, der Individualisierung nicht entgehen können. Und die
früher erwähnte Differenzierung der Weltanschauungen wird auch hier nicht
außer acht gelassen werden können. Schon was die gemeinsame Wurzel,
die Grundschule, für die Stiftung der Volksgemeinschaft leisten kann, wird
ein klarer Wirklichkeitssinn nicht überschätzen. Aber dieses Schulleben
als staatliche Organisation wird, wenn nicht alle Zeichen trügen, künftig
auf einer anderen soziologischen Grundlage ruhen, in ein anderes Gesamt-
leben eingebettet sein. Denn die Jugend wird im Schöße der ganzen Volks-
gemeinschaft ihre eigne Rolle und ihren organischen Platz finden. Die Jugend-
bewegung, die sich heute der vorgefundenen Kultur schroff entgegenstellt,
wird in einer zukünftigen Kultur selbst ein wertvolles Stück Volksleben
sein. Sie wird Formen schaffen, in denen die freie Regung der Jugendlich-
keit zum reichen Ausdruck kommt; nationale Feste, auf die das Auge des
gesamten Volkes mit Stolz und Freude gerichtet ist, werden die Höhepunkte
dieser bleibenden Gemeinschaft bezeichnen. Gymnastische Spiele und mu-
sischer Wettkampf werden alle Schichten und alle Berufszweige der Jugend
einen 1). Ein neues, von innen wachsendes, auf inneren Adelseigenschaften
ruhendes Führertum wird aus der Gleichheit selbst eine echte Aristokratie,
aus der Gemeinschaft geistige Höhenmenschen herauswachsen lassen. Die
Schulen werden diesen Geist nicht erst schaffen und anerziehen — sie werden von
ihm getragen sein und an ihm das Maß ihrer Volkstumsbedeutung gewinnen.
Sie werden auf organischer Einheit, nicht auf mechanisch erzwungener
Gleichheit ruhen. Aus dem Schöße dieses Geisterreiches steigt die wahre
Individualität und Freiheit, die wurzelhafte Persönlichkeit empor. Der Fluch
des Klassenkampfes, geboren aus bloßem Wirtschaftsgeist und Wirtschafts-
interesse, wird einer neuen, tieferen Einschätzung der Lebensgüter und der
Rangordnung der Geister weichen. Nicht rationale Gleichheit einigt die
Menschen, sondern der gemeinsame Wille, über sich selbst emporzusteigen
und das eigne beste Ideal im Spiegel der Ehre des ganzen Volkes zu erblicken :
Gegrüßt in deinem Adel, mein Vaterland,
Mit neuem Namen, reifes ce Frucht der Zeit,
Du letzte und du erste aller
Musen, Urania, sei gegrüßt mir!
^) Vgl. meinen Aufsatz: „Hölderlin und das deutsche Nationalbewußtsein", Neue
Jahrbücher 1919.
Die drei Motive der Schulreform. 273
Noch säumst und schwelgst du, sinnest ein freudig Werk,
Das von dir zeuge, sinnest ein neu Gebiid,
Das einzig, wie du selber, das aus
Liebe geboren und gut, wie du, sei.
Wo ist dein Delos, wo dein Olympia,
Daß wir uns alle finden am höchsten Fest?
Doch wie errät dein Sohn, was du den
Deinen, Unsterbliche, längst bereitest?
So also stellt sich mir das Bild der werdenden Schulreform dar — nicht als
Produkt ministerieller Verfügungen, sondern als ein aus dem Leben selbst
Geborenes. Es ist ein Wahn, zu glauben, die staatlich verordnete Einheits-
schule könne den Gemeinschaftsgeist erzeugen. Umgekehrt: erst wenn dieser
Geist da ist, ist die Einheitsschule in tieferer Bedeutung möglich. Dieser
Geist entsteht aus der neuen geistigen Bewegung der Jugend. Schon in dieser
Bewegung ist Individualität und Freiheit. Denn das Gemeinschaftserlebnis
verlangt nicht Identität der Glieder, sondern nur die Berührung in einem
Tiefsten: im Willen zur Reinheit, Wahrheit, Echtheit des Innern, und in der
Bejahung des Willens zum echten Wert, den aber jeder nach seiner besonderen
Art inhaltlich erleben und deuten mag. Aus diesem ethisch geläuterten
Gesamtleben führen die Wege der Bildung in reicher Differenzierung empor.
Denn Bildung ist heute unwiderruflich Kultur der Individualität, Empor-
führung zur Persönlichkeit. Aber die Individualitäten stehen dann nicht
fremd und beziehungslos nebeneinander, sondern sie sind verbunden durch
ein aus dem Wesen quellendes Band des Verstehens. Verstehen fordert
nicht Gleichheit. Es wurzelt vielmehr in dem Gefühl für das Soseinmüssen
des Mitmenschen, für die innere Folgerichtigkeit seiner Struktur im Hin-
blick auf den geistigen Boden, aus dem erwächst, und die Stelle, an der er
steht. In diesem Verstehen, das ohne ein umspannendes Kulturbewußtsein
sieht möglich ist, liegt zugleich auch die Grenze für die Freiheit der individuellen
Ausbildung. Jede Individualität braucht in ihrer Bildungsbahn diejenigen
Gegengewichte, ohne die sie in sich selbst nicht reif und reich würde, ohne
die sie das geistige Leben ringsum und die Fäden, die zu anderen Kultur-
zonen hinüberführen, . nicht verstehen würde. Der Staat aber sei bestrebt,
nach Möglichkeit jedem, der zum Führertum berufen scheint, die äußeren
Mittel zu gewähren, daß er an den höheren Bildungsgütern dieser lebendigen
Kulturgemeinschaft teilerhalte. Wird dies letztere Streben unter ,, Gleich-
heit" verstanden, so behält auch sie ihr gutes Recht unter den Kräften der
Schulreform. Auf dem Boden echter Volksgemeinschaft und gleicher äußerer
Bildungsmöglichkeiten erhebt sich dann das alte Ideal der Humanität : der
reich und frei und eigentümlich entwickelten Persönlichkeit, die aber organisch
in das Gesamtleben verflochten und ihm verpflichtet bleibt. Denn über
aller Bewegtheit der Gesellschaft wölbe sich zuletzt der alte Dom des
preußisch-deutschen Pflichtgedankens, das Ziel bezeichnend, das über uns
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 18
274 Theodor Litt,
allen ist. In solcher Architektonik wäre das gesunde Gleichgewicht zwischen
den drei soziologischen Kräften der Schulreform: Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit, erreicht.
Berün. Eduard Spranger.
Wissenschaft und höhere Schule.
Der oft ausgesprochene Satz, daß die höhereSchule auf ständige, engsteFüh-
lungmit der Wissenschaft angewiesen sei, ist in seiner Gültigkeit unabhängig
von der jeweiligen Gestalt und Richtung der wissenschaftlichen Forschungs-
arbeit. Wer nicht den enthusiastischen Glauben teilt, es sei der Schule gegeben
oder gar geboten, von ihrem eigenen Boden aus der Kulturbewegung die
eigentUch entscheidenden Anstöße zu geben, wer vielmehr sich darüber klar
ist, wie vielfach bedingt jede organisierte Erziehungs- und Bildungsarbeit
allezeit ist, der wird den Trägern und Anstalten der höheren Bildung keinen
besseren Rat wissen als den, sie möchten gerade diejenigen Bedingungen
ihres eigenen Wirkens mit Bewußtsein und Sorgfalt pflegen, die in dem
Zusammenhang mit den wesentlichen Systemen der Kultur und so auch
mit der Wissenschaft gegeben sind. Selbst wenn die wissenschaftliche Arbeit
Bahnen einschlägt, die von den Interessen der eigentlichen Bildung abzu-
führen scheinen, selbst dann wird ein Abbruch dieser Beziehungen sich nicht
rechtfertigen lassen — und zwar aus dem doppelten Grunde, weil einmal
die höhere Schule aus sich heraus niemals Ersatz schaffen kann für das,
was die Forschungsarbeit der Wissenschaft selbst dann noch ihr an An-
regung und Belebung zuführt, weil andererseits mit solcher Scheidung für
die Wissenschaft jeder Antrieb wegfallen würde, ihr eigenes Tun hinsicht-
lich dessen zu befragen, was es für die Selbstgestaltung des geistigen Ge-
samtlebens leistet. Aber wenn jene ideelle Forderung zu keiner Zeit etwas
von ihrer Dringhchkeit verliert, so besagt das keineswegs, deß sie sich alle-
zeit gleich bequem und reibungslos befriedigte. Es wurde schon angedeutet:
gewiß fügt es sich manchmal so, daß der Fortgang der wissenschaftlichen Arbeit
in Bahnen verläuft, in die die Bildungsarbeit sich ohne Anstoß hineinfindet
— aber ebenso leicht kann es auch kommen, dsß die Wissenschaft in der
Bestimmung ihrer Methoden, der Auswahl und Abgrenzung ihrer Objekte,
der Ordnung und Formulierung ihrer Ergebnisse sich mit den Bedürfnissen
und Erwartungen der bildnerisch-erzi( herischen Kräfte in den empfind-
lichsten Widerspruch setzt. Es liegt auf der Hand, wie sehr die Anerkennung
und Durchsetzung jener Forderung von den Abwandlungen dieses Verhält-
nisses berührt werden muß.
Gleichviel nun, wie es mit Gunst oder Ungunst dieses Zus^n-menhengs
jeweils bestellt ist, in keinem Fall darf diese r S^ehverhalt so betrachtet werden,
als handle es sich hier um einVerhältniseinseitiger Abhängigkeit, beidemdie
Bildung stets die suchende, empfangende, unterLmständen im Stich gelesscne,
die Wissenschaft stets die in Anspruch genommene, spendende bzw. versagende
sei. Vielmehr sind Einklang sowohl wie Unstimmigkeit zwischen wissenschaft-
lichem und bildnerischem Bemühen Aus druck einer Bewegung des geistigen
Wissenschaft und höhere Schule. 275
Lebens, die als Gesamtprozeß jenes wie dieses umgreift. Bildnerische Ten-
denzen treten nicht nur von außen mit Wünschen und Zumutungen an
die Wissenschaften heran, sondern sie walten als eigentlich schöpferisches
Prinzip in ihr selbst, können ihr nie ganz fehlen, ohne daß sie absterben
müßte ; auch das abstrakteste logische Gefüge ist Niederschlag eines inneren
Gestaltungsprozesses, der mehr ist als Logik, Methode und System. Und
umgekehrt: kein bildnerisches Streben kann über haltlose Schwärmerei und
nebelhafte Phantastik hinauskommen, es läutere denn sich selbst im Klär-
becken einer Überlegung, die durch ihre Bewußtheit und Sachlichkeit sich
einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise wenigstens annähert. Sieht
man diese übergreifenden Verbindungen, die in den scheinbar so wohl-
geschiedenen Bezirken der forschenden und der bildnerischen Arbeit die
gleichen Kräfte ans Werk rufen, dann wird es verständUch, daß der Gang
der Geistesgeschichte, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, eine eigen-
tümliche Dialektik sichtbar werden läßt. Wir gewahren einen Wechsel zwischen
solchen Epochen, in denen starke bildnerische Kräfte sich ebensowohl in
einer gewissen eindrucksvollen Plastik und umfassenden Großzügigkeit
der wissenschaftlichen Hervorbringungen wie in der Stärke und Nachhaltig-
keit des erzieherischen WoUens und Wirkens kundtun, und solchen Zeiten,
die dem Kleinbetrieb der wissenschaftlichen Einzelarbeit den Vorrang geben
vor dem eigentlich gestaltenden und organisierenden Bestreben und, im
Einklang damit, ein Erlahmen der erzieherisch-bildnerischen Antriebe zeigen.
Was Wunder, daß wissenschaftliche Forschung und erzieherische Tätigkeit
sich dort wie selbstverständlich, in dem unmittelbaren Bewußtsein innerster
Verbundenheit zusammenfinden, während hier nur unter mancherlei An-
stößen und Hemmungen eine notdürftige, in ihren Früchten wenig befrie-
digende Arbeitsgemeinschaft sich herstellen läßt. Und wiederum ist nach
dem Gesagten deutlich: es hieße einer einseitigen und unbilligen Betrachtungs-
weise Raum geben, wollte man dort das Verdienst für die wohltuende Ein-
stimmigkeit, hier die Schuld für mangelndes Einvernehmen ausschließlich
auf das Konto der Wissenschaft als solcher setzen. Die lebendige Bewegung
des Geistes läßt sich nie derart in einen Sonderbezirk der vielgeteilten Kultur-
arbeit einfangen, daß nun ausschließlich von diesem her der Fortgang des
Ganzen sich bestimmte ; hier waltet eine vieltausendfach sich verschlingende
Wechselbezogenheit. Jede Epoche hat die Wissenschaft, die sie nach ihrem
bildnerischen Vermögen verdient, jede Epoche die Bildkräfte, die ihren wissen-
schaftlichen Leistungen entsprechen.
Wir können den dargestellten Gegensatz bezeichnen als den zwischen
„humanistischen" und ,, positivistischen" Phasen der geistigen Be-
wegung. Und schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichte der geistigen
Selbstgestaltung zeigt zur Genüge solche Wandlungen, in denen das Auf
und Ab dieser Dialektik in die Erscheinung tritt. Für unsere gegenwärtige
Lage ist dies das Bestimmende, daß das verflossene Jahrhundert eine hochge-
stimmte humanistische Geistesbewegung ziemlich plötzlich übergehen ließ
in eine Epoche positivistisch-spezialistischer Einzelarbeit, beides mit all
18*
276 Theodor Litt,
den entwickelten Parallelerscheinungen auf dem Gebiete der Bildung, während
nunmehr, seit rund drei Jahrzehnten, ein Hindrängen zu einem neuen Huma-
nismus wenigstens in vielstimmigen Forderungen und bunten Programmen
sich bemerklich macht. Und gerade im Lichte der uns hier beschäftigenden
Frage erscheint diese Bewegung insofern besonders beachtlich, als sie,
die mehr in Anklage und Forderung als in wegweisender Idee ihre Stärke
hat, mit Vorliebe gerade die Wissenschaft zur Rechenschaft zieht: ihrer
spezialistischen Verengerung und positivistischen Nüchternheit, ihrer blut-
leeren Begriffsklitterung und formalistischen Methodenreiterei wird ganz
besonders schuld gegeben, daß das „Leben", von allen Bildkräften entleert,
der Formlosigkeit, Entseelung, Mechanisierung zum Opfer gefallen sei. Und
mit entsprechendem Nachdruck wird dann die ,, Revolution der Wissenschaft"
gefordert, die sie zu wahrhafter Lebensgestaltung, Seelenformung willig und
fähig machen werde, Zusammenschau, Synthese, Intuition, Erlebnis, Mythos,
Weisheit — wer kennt nicht die Imperative, in denen dieses ungestüme
Begehren immer von neuem Ausdruck sucht!
Was so mehr oder minder klar und sachkundig für sich Gehör fordert,
das verdient zweifellos ernstlichste Beachtung als Anzeichen dafür, daß in
jenem säkularen Gang der Geistesgeschichte ein neuer Abschnitt anhebt;
es ist ein nicht mißzuverstehender Hinweis auf die neuen Anstöße, die der
Auftrieb des Kulturprozesses allen Einzelgestaltungen des Geistes und so
auch der Wissenschaft zuführt. In allem aber, was hierüber hinausgeht,
in allem Inhaltlichen müssen jene Kundgebungen mit äußerster Zurück-
haltung aufgenommen werden. Was eine besonnene Kritik wider sie ein-
zuwenden hätte, das ist grundsätzlich schon in unseren vorausgegangenen
Ausführungen beschlossen. Die temperamentvollen Ankläger der Wissen-
schaft gehen vielfach schon insofern von einer unhaltbaren Grundlage aus,
als sie im Namen des ,, Lebens" Bannflüche wider eine Wissenschaft schleudern,
die selbst von den Kräften dieses Lebens gespeist, nicht neben ihm, nicht außer-
halb seiner eben diese Gestalt angenommen hat und gerade damit zu einem
charakteristischen Ausdruck dieses Lebens geworden ist. Es gehört nicht
viel kulturphilosophischer Tiefblick dazu, in der dem Fachspezialistentum
verfallenen Wissenschaft des vorigen Jahrhunderts ein Zeugnis desselben
Geistes zu erkennen, der auch allen anderen Teilgebieten der gesellschaft-
lich-geistigen Kultur sein Gepräge gab. Die Anklage, die wider die Wissen-
schaft erhoben wird, muß in Wahrheit jenes über alles Wissenschaftliche
hinausgehende ,, Diapason" des Zeitgeistes in allen seinen Bekundungen
treffen, und wer hier eine Wandlung erhofft und erstrebt, der darf nicht
wähnen, das seinige getan zu haben, wenn er bei den Trägern und an den
Stätten der Forschung seine Wünsche niederlegt. Es ist ein charakteristischer
Ausdruck der von uns gerügten Einseitigkeit der Betrachtung, wenn
man vielfach meint, man könne von außen her, d. h. im Namen der außer-
wissenschaftlichen Lebensmächte, der Wissenschaft kommandieren, „syn-
thetisch" zu werden. Wollte die Wissenschaft solchen ausgesprochen außer-
wissenschaftlichen Motiven die Herrschaft über sich selbst einräumen, sie
Wissenschaft und höhere Schule. 277
würde nichts anderes zustande bringen als gequälte Zwitter gebilde, die weder
rechte Wissenschaft noch rechtes „Leben" wären. Wenn hier in Wahrheit
mehr vorliegt als eine bloße Laune und Modeströmung, dann müssen die Form-
kräfte des neuen Lebens sich in der wissenschaftlichen Arbeit selbst
wirksam erweisen, d.h. nicht so, daß die Wissenschaft sie von draußen herein-
holte, also gleichsam von dem außerwissenschaftlichen Leben zum Lehen
nähme, sondern als ein im Zug ihres eigenen Fortschreitens sich durchsetzen-
des Prinzip der Forschung und Gestaltung, als eine aus den Tiefen des sie
selbst erzeugenden Lebens geborene ,,vis a tergo". Und dies ist nun eben
das Zweite, was den Wortführern jener Opposition wider die Wissenschaft
so vielfach entgeht: was sie so schmerzlich vermissen, so gebieterisch fordern,
das ist in Wahrheit schon seit nicht ganz kurzer Zeit im Werden, das ist
als ein neuer Geist, eine neue Richtung der Forschungsarbeit schon mit
unverkennbarem Erfolg am Werke. Freilich: daß diese sich ankündigende
Erfüllung nicht durchweg die verdiente Beachtung findet, das ist nicht eben
zu verwundern. Denn da die Wissenschaft, in ihren eigenen Bahnen unbeirrt
weiterschreitend, nichts von den Methoden und Ergebnissen einer exten-
siv und intensiv gleich bedeutenden Einzelforschung preisgibt, vielmehr
dies alles in einer erhöhten Gesamtanschauung „aufzuheben" bestrebt ist,
so sehen die ,, Synthesen", die sie sich gegenwärtig in den verschiedensten
Disziplinen erarbeitet, ganz anders aus, als jene Propheten des ,, Lebens"
sie erwünschen und erhoffen. Es mangelt ihnen vielfach an den ästhetischen
Reizen, an der gewinnenden und bezwingenden Aufmachung, an der an-
schmiegsamen Gefälligkeit, die unsere Zeit an dem liebt, was sie auf den
Thron hebt. Statt dessen verlangen sie oft eine Zucht des Denkens, eine Ge-
wissenhaftigkeit der Selbstkritik, ein geduldiges Einleben in weitgespannte
Gedankenzusammenhänge, wie sie der Zeitgeist, bedacht, schnell zu ergreifen
und schnell ergriffen zu werden, höchst ungern sich selbst zumutet. Vor allem
aber weisen diese Synthesen hin auf ein gesteigertes philosophisches
Selbstbewußtsein in der wissenschaftlichen Arbeit, das naturgemäß
nicht anders denn als Frucht ausdauernden denkerischen Bemühens ge-
wonnen werden kann.
Es würde natürlich viel zu weit führen, das hier Angedeutete im Einzelnen,
in seiner Steigerung von den exakten zu den geisteswissenschaftlichen und
weiterhin zu den philosophischen Disziplinen zu verfolgen. Eine solche Dar-
legung würde zeigen, daß der bildnerische, neue Form ersehnende Geist, der
sich als ungeklärtes Verlangen in dem Schrei nach ,, synthetischer" Wissen-
schaft kundtut, nicht von außen her als Zwingherr zum „Leben" über die
vorgeblich erstarrte Wissenschaft gesetzt zu werden braucht, weil er in Wahr-
heit bereits als heimlicher König in ihr zu walten begonnen hat.
Und nun gewahren wir dieselbe Korrelation, die uns schon in früheren
Epochen vor Augen tritt. Hand in Hand mit dieser der Wissenschaft im-
manenten Bewegung geht eine gewaltige Verstärkung desjenigen bildnerischen
Triebes, der seinen Gegenstand nicht in sachlichen Seinszusammenhängen,
sondern in lebendigen Seelen findet. In der jüngeren Generation — und
278 Ernst Goldbeck,
nicht nur in ihr — regt sich erzieherischer Geist, wächst die Freude am Er-
wecken und Gestalten jugendUchen Menschentums in einer Kraft und Frische,
wie sie seit langem nicht zu beobachten gewesen sind. Und bei aller Ro-
mantik, allem Irrationalismus wird dieser Geist auf die Dauer nicht umhin
können, sich der Besonnenheit zu verbünden, die einzig eine aus gleichen
Lebenstiefen gespeiste Wissenschaft ihm zu verleihen vermag.
Bei dieser Sachlage fällt der höheren Schule ein Mittleramt von höchster
Bedeutung zu. Die Formkräfte eines neuen Lebensdrangs und den Geist
einer auf Zusammenordnung und philosophische Vertiefung bedachten
Wissenschaft soll sie zusammenführen. So mit gesteigerter Verantwortung
beladen, kann sie sich auf der anderen Seite einer Gunst der geistigen Lage
erfreuen, wie sie ihr in der vorausgegangenen positivistischen Phase versagt
geblieben war. Denn sie findet eine Wissenschaft sich gegenüber, die sich in
dem Fortgang ihrer Arbeit den Interessen des bildnerisch-erzieherischen
Tuns sichtlich annähert und voraussichtlich noch weiter annähern wird;
und sie sieht eine Generation heranwachsen, der die Arbeit an der Seele,
der eigenen wie der fremden, höchstes Glück dünkt. Freilich darf demgegen-
über ein anderes nicht übersehen werden. Ungeachtet der Förderung, die
ihr aus der „humanistischen" Wendung des Geisteslebens erwächst, ist ihr
Werk doch ein erheblich schwierigeres geworden, verglichen mit der Aufgabe,
die frühere humanistische Epochen zu lösen hatten. Wenn es dem neuen
Lebensdrang vielfach nicht gelungen ist, in der Wissenschaft unserer Zeit
die verwandten Züge zu entdecken, so verrät sich darin, wie viel schwerer
doch gegenüber früheren Zeitläuften der Zugang zu denjenigen wissenschaft-
lichen Synthesen geworden ist, die dem von uns erreichten Reifestadium
des Geistes angemessen sind, wie viel voraussetzungsvoller die philosophischen
Betrachtungsweisen sind, denen die Herstelluhg der letzten Einheit gelingen
kann. Auf eine leichte Ernte zu hoffen hat also die höhere Schule keinen
Grund ; vielmehr tut sich ihr, gerade wenn sie der Bedeutung der gegenwärtigen
Lage inne geworden ist, ein Kreis von pädagogischen Problemen auf, die nur
ein angespanntes und hingebungsvolles Bemühen zu bewältigen vermag.
Gerade dies führt dann aber auf eine weitere Forderung, die die höhere Schule
ihrerseits zu stellen berechtigt ist: ihres Mittleramtes mit Erfolg zu walten
wird sie nur dann in der Lage sein, wenn die Pflegerin der Wissenschaft,
die Universität, ihr tätigen Beistand leistet in dem Bemühen, Brücken
zu schlagen zwischen der Welt der geistigen Bildung und der Sphäre der
wissenschaftlichen Forschung. Bei dem Ausblick auf das hier sich anschließende
hochschulpädagogische Problem muß es an dieser Stelle sein Bewenden
haben.
Leipzig. Theodor Litt.
Die jugendliche Persönlichkeit. *"
Es ist überraschend, wie sicher und stetig eine Grundanschauung über
das Wesen der jugendlichen Reifejahre aufgenommen wird und sich verbreitet,
die noch vor kurzem nur im Besitz einiger weniger war. Man beginnt die
Die jugendliche Persönlichkeit. 279
Periode jugendlichen Kämpfens und Ringens, die etwa in Sekunda einsetzt
und während der Oberstufe anhält, um dann in der Stundentenzeit, manch-
mal freilich auch viel später, zu einer Art von Abschluß zu gelangen, als die
lang hingezogene Geburtsstunde der werdenden Persönlichkeit aufzufassen.
Es wäre vergeblich, diese Auffassung lediglich auf einzelne literarische
Anregungen zurückzuführen. Das Suchen und Sehnen nach einer beseelten
Persönlichkeitskultur ist eine umfassendere Strömung, zumal des deutschen
Geisteslebens, die tief in die hinter uns liegende wirtschaftliche Periode
zurückreicht. Es wäre eine anziehende Aufgabe, das langsame Emporsteigen
dieses Vorgangs einer ersehnten Verinnerlichung allseitig zu verfolgen. Man
würde dann alsbald entdecken, daß hier eine uralte Strömung im geistes-
geschichtlichen Ablauf überhaupt vorliegt, die etwa von den Tagen der Sophisten
an in wogenden Wellenlinien bis zu uns hinanführt. Manche bedeutenden
Vorarbeiten und tief bohrenden Ansätze sind vorhanden, aber noch enthüllt
sich vor unsern Augen die große Linie der Entwicklung nicht deutlich genug.
Die Hypothese, daß die Dunkelheiten und Schwankungen des Reife-
alters die immer wieder sprudelnde Quelle der aufsteigenden Persönlichkeit
aufdecken, wird für die Erkenntnis auch des geschichtlichen Ablaufs von
unabsehbarer Tragweite sein. Ihre Bedeutung reicht aber weiter. Nicht nur
ein theoretisch-historisches Interesse wird so Befruchtung erfahren, sondern
auch die lebendigen Fragen der Erziehung und des Unterrichts werden aus
dem Zustand der gestaltlosen Unsicherheit sich zu Anworten, Forderungen,
Verhaltungsweisen und Maßnahmen verdichten können.
Im engeren Bezirk der Jugendpsychologie des Reifealters — leider
fast nur des männlichen, denn sehr langsam scheint die Psychologie des
Mädchens nachzufolgen, und leider nur beschränkt auf die höhere Schule,
denn auch die Psychologie der Schichten, die andere Bildungswege gehen,
ist erst in den Anfängen begriffen — lassen sich zwei Bewegungsrichtungen
unterscheiden, die im Begriff sind, sich zu einer Resultante zu vereinigen.
Die eine kam sozusagen von oben, vom beobachtenden und mitfühlenden
Lehrer, die andere von unten aus den Reihen der Jugend selbst.
So manchem Lehrer wurde und wird noch heute klar, daß das, was man
die Individualität des Schülers nennt, zumal auf der Oberstufe nicht zu
seinem gehörigen Recht gelangt. Viele der täglich von neuem sich erhebenden
Hindernisse im Schulleben müssen auf eine gleichschwebende Behandlung
in Erziehung und Unterricht zurückgeführt werden. Immer wieder drängt
sich die schwierige Frage auf, ob und wie es möglich ist, beide den Antrieben
und Bedürfnissen des Einzelnen besser anzupassen. Der Krieg brachte aber
diese Bestrebungen vorübergehend zum Stillstand.
Von der entgegengesetzten Seite her kam die Jugendbewegung. Sie
setzte mit demWandervogel ein, einer der seltsamsten, noch heute nicht vöUig
ergründeten Massenerscheinungen, auf die wir zurückblicken können. Von
ihm aus griff die Jugendbewegung um sich, um zum Teil ganz abweichende
Richtungen einzuschlagen. Die Wirkung dieser Bestrebungen erstreckt
sich weit über die inkorporierten Mitglieder hinaus. Wer oft Gelegenheit
280 Ernst Goldbeck,
hat mit Jugendlichen zu sprechen, wird alsbald wahrnehmen, daß kaum
einer sich diesen Einflüssen des Milieus ganz entzogen hat.
Beide Bewegungen unterscheiden sich nicht nur durch ihren persön-
lichen Ausgangspunkt, sondern auch einigermaßen in der Richtung ihres
Interesses. Für den Lehrer steht die Sorge um die Befreiung, Pflege und
Formung der Eigenart des einzelnen Schülers im Vordergrund, während
die Jugendorganisationen mehr um die Jugend als solche, ihre typischen
Bedürfnisse und Antriebe bemüht sind. Beide nähern und durchkreuzen
sich vielfach, insofern ihnen schließlich die Entwicklung einer kraftvollen
aus dem Sturm und Drang der Jugend emporgewachsenen Persönlichkeit
vorschwebt. Die Schule sucht mehr die intellektuelle Eigenart der Schüler
zu gestalten, der Jugendbewegung liegt mehr der ganze jugendliche Mensch
am Herzen.
Mit welchem Recht aber spricht man bei so jungen Menschen und zwar
bei allen von einer entstehenden Persönlichkeit? In den letzten Jahren
seines Lebens konnte noch ein gewiß so menschlich fühlender und denkender
Mann, wie Adolf Matthias, befremdet ausrufen : „Jetzt sollen schon die Jungens
eine Persönlichkeit haben!" Freilich an die großen Persönlichkeiten, die dem
Leben der Völker ihren Geist aufgeprägt haben, die man lange Zeit, als es
um die Pflege und Schätzung der Persönlichkeit sonst schlecht bestellt war,
allein übrigbehielt, — um diese handelt es sich nicht. Mag auch so mancher
stürmische JüngHng wähnen, er habe den Feldmarschallstab in der Tasche,
später aber an einer bescheidenen Stelle des Lebens angetroffen werden,
auf das Gut, welches man als Persönlichkeit bezeichnen darf, braucht er
damit noch nicht zu verzichten.
Es kann auch nicht so lange gewartet werden, bis etwa Psychologie
und Philosophie eine so tiefgegründete Vorstellung, wie die der Persönlich-
keit ist, rational fein säuberlich analysiert und dann vielleicht wieder die
Synthese vollzogen haben. Wer weiß denn, ob ihnen das überhaupt gelingen
wird ! Gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß es vielleicht eines Tages glückt,
einen Unmöglichkeitsbeweis für diese Aufgaben zu erbringen. Wie dem
auch sei, gar niemand wird das Wort ,, Persönlichkeit" aus seinen Sprach-
schatz streichen wollen, weil er es nicht ausreichend zu definieren vermag.
Große und kleine Persönlichkeiten stehen lebendig genug vor unseren Augen.
Es gibt keine Gesellschaftsschicht, die sie nicht zahlreich hervorbrächte.
Wir fühlen ihren eigentümlichen Wert, freilich selten ohne die Gegenwirkung
eines Fremden, ja bis zu einem gewissen Grade Feindseligen mitzuspüren.
Vielleicht auch liefert die Betrachtung der Jugend, wenn sie dann schon
im Reifealter durch die Geburt einer Persönlichkeit gekennzeichnet sein
soll, einige Klärung, soweit so Irrationales der Klärung fähig ist. Es ist in
statu nascendi leichter in das Innere der Natur zu blicken, als am fertig-
geformten Objekt. Individualität spricht man dem Schüler, wie einem jeden
lebenden, vielleicht sogar jedem Naturobjekt zu. Man weiß, es gibt in Wirk-
lichkeit nicht zwei gleiche Lebewesen und trotz aller typischen Gebunden-
heit erstreckt sich die Verschiedenheit bis in die letzten Kapillaren hinein.
Die jugendliche Persönlichkeit. 281
Die absolute Einmaligkeit als solche vermag keinen Wert zu begründen,
denn sie ist allenthalben anzutreffen. Dennoch aber pflegt man Individualität,
besonders in deutschen Landen, nicht ohne eine tiefgründige Achtung aus-
zusprechen. Es ist nicht nur der Schauer der Ehrfurcht vor dem Unbegreif-
lichen, den wir fühlen, wenn wir ein Lebendiges sich betätigen sehen,, sondern
mehr noch der Eindruck, hier den naturhaften Nährboden für ein Besonderes,
niemals Wiederkehrendes, ja fast Heiliges vor uns zu haben, das nicht
angetastet werden sollte, wo wir seine freie und lautere Fortentwicklung
glauben voraussetzen zu können. Dieses absolut Wertvolle ist aber die Per-
sönUchkeit, die dem Individuellen als seiner Naturbedingtheit entsteigen
kann. So fließend daher die Grenzen zwischen beiden Vorstellungen sein
mögen, gerade in diesem Umstand schon ist der Keim zu jener Anschauung
verborgen, die in der Prägung der Individualität des Jugendlichen die ersten
Züge zur Gestaltung seiner Persönlichkeit zu entdecken glaubt.
Man weiß, daß die seltsamen Erregungen der jugendlichen Menschen
mit dem Prozeß der Geschlechtsreifung zusammenhängen. Allerdings pflegt
dieser Prozeß in einem gewissen Grade abgeschlossen zu sein, bevor der eigent-
liche Sturm und Drang beginnt. Die vorangehende Periode der physiologischen
Einstellung und des Eintretens der funktionellen Neubildungen braucht
keineswegs schon von starken seelischen Erschütterungen begleitet zu sein,
denen der 16 bis 18 jährige und ältere Jugendliche ausgesetzt ist. Nicht selten
liegt über dieser Frühperiode ein tiefes seelisches Dunkel für den Beobachter
und den Knaben selbst erst recht. Wissen wir doch vom Seelenleben dieses
Alters noch lange nicht genug ! Wie aber überhaupt der Prozeß der Geschlechts-
reifung zur Ursache der allbekannten seelischen Schwankungen werden kann,
die man früher wenig einsichtig in dem Namen ,, Flegeljahre" zusammenfaßte,
entzieht sich ganz unsrer Kenntnis. Es empfiehlt sich nicht, aus einem vor-
ausgesetzten kausal-psychischen Zusammenhang, wie das leider nicht ganz
selten geschieht, besonders von materialistisch orientierten Ärzten, gewisse
praktische Vorschläge zu machen und zur Tat werden zu lassen. Wissen
wir doch nicht, wo wir außer stände sind, die psychischen Erregungen jenes
Lebensalters aus physiologischen Vorgängen abzuleiten, welche von beiden
Erscheinungsgruppen die primäre ist, und ob es nicht ratsamer ist, beide
als einer gemeinsamen tiefer liegenden, freilich fast völlig dunkeln Wurzel
entsprossen anzunehmen. Wir gelangen so sicherlich zu einer vorsichtigeren
und taktvolleren Behandlung manches schwierigen Falles, als die plumpe
Annahme einer zweifelhaften Kausalität nahelegt. Selbst wenn der feinere
aber durchaus nötige Unterschied zwischen einer Sexualität und einer Erotik
des Menschen überhaupt, wie im besonderen des Jugendlichen festgehalten
wird, so bleibt doch immer die Erklärung der vielgestaltigen unerotischen
Schwankungen und Einstellungen jener Jahre unerklärt. Man macht gewiß
vor dem Forum einer späteren tiefer blickenden Psychologie Fehler, wenn
man dieses Gebiet abgesondert für sich betrachtet. Nach unsrer heutigen
Einsicht aber liegt in einer solchen Beschränkung ein Vorzug.
Selbst innerhalb dieses engeren Rahmens macht die Erkenntnis des
282 Ernst Goldbeck,
Seelenlebens der Jugendlichen starke Schwierigkeiten. Allerlei Hindernisse
stehen dem entgegen, die vor älteren Menschen zum Teil fortfallen.
Wir alle haben jene Periode der Entwicklung durchgemacht, aber die
Erinnerung daran pflegt eine höchst blasse zu sein. Man kann beobachten,
daß erst mit einer gewissen Anstrengung Bruchstücke, vereinzelte Bilder
zutage gefördert werden. Tagebuchblätter, die häufig angelegt werden,
sind meist vernichtet. Der Prozeß des Vergessens, dem alle Erlebnisse ver-
gangner Zeiten ausgesetzt sind, wurde nicht selten bewußt unterstützt, als
mit dem Beginn der männlichen Festigung sich ein Widerwille gegen die
eigenen als häßlich abgestoßenen Neigungen und Schwankungen einstellte.
Sind darüber Jahre und Jahrzehnte vergangen, so kann es sich ereignen,
daß Väter oder Lehrer völlig verständnislos oder gar tief verärgert vor Zu-
ständen und Handlungen der Jugendlichen stehen, die ihnen selbst einst
hätten nachgewiesen werden können. Wer öfter in der Lage war, Berichte
über Schülerselbstmorde zu lesen, wird nicht selten finden, daß diese furcht-
baren Ereignisse über Eltern und Lehrer wie ein Blitz aus heiterem Himmel
hereingebrochen sind. Niemand hat dann geahnt, daß dem Jungen solche
Entschlüsse reifen konnten. Niemand trägt eine Schuld.
Ein gewisses Ideal von frischer froher Jugend, das gern gehegt wird,
pflegt den BHck zu trüben für das, was in geheimen und tieferen Seelengründen
vor sich geht. Der Lehrer, der Achtung in der Klasse genießt, wird wähnen,
seelenruhige Menschen vor sich zu haben. Wer in der Pause die lustige Schar
beobachtet oder gar bei flottem Spiel, wird gern der Meinung leben, daß Lebens-
lust und Tatendrang die Sonne sei, die einer glücklichen Jugend leuchtet.
Pessimistische Anwandlungen sind dann etwas Abnormes, fast Unmoralisches,
jedenfalls Unjugendliches, und dennoch schlummert in den Seelen dieser
Jugendlichen in der Tiefe ein dunkler lebensfeindlicher Hang, der von ein-
zelnen Schwierigkeiten und Verhältnissen unabhängig scheinbar grundlos
emporsteigen kann. Es ist wahrscheinlich, daß ein jeder mindestens solche
Stimmungen vorübergehend genährt hat. In allen Abstufungen, vom flüchtig
huschenden Schatten bis zum dauernden Zustand und zum letzten Entschlüsse,
pflegen diese Boten aus einer dunklen Welt sich einzustellen.
Anders zeigen sich diese Jünglinge im Zwiegespräch oder zu Gruppen
vereint, anders in der Kammer allein oder allein in der Natur. Eduard Spranger
hat zuerst darauf hingewiesen, daß seelische Einsamkeit einer der verbreitetsten
Züge jener Jahre ist*). Es ist ein Irrtum zu wähnen, daß ein enges einiges
Band die Schüler einer Klasse umspanne. Selbst Freundschaften sind weit
seltener als gemeinhin angenommen wird. Sie genügen meist den hohen
Anforderungen jenes Lebensalters nicht. Sie kommen und gehen und, wenn
sie den maßlos gesteigerten Anspruch an Aussprache und Hingabe vor-
übergehend befriedigen sollten, so finden sie doch nicht selten einen tragischen
Abschluß von innen heraus, der mindestens einen der Beteiligten schwer
erschüttert. Auch den Eltern gegenüber tritt diese Vereinsamung als quälender
1) Deutsches Philologenblatt, 1917, 1, S. 6 ff.
Die jugendliche Persönlichkeit. 283
Zustand auf. Er ist dann am peinlichsten, wenn sich Vater oder Mutter
der begreiflichen Täuschung hingeben, ihr Sohn teile alle seine innersten
Erlebnisse mit ihnen. Ist es überhaupt nicht leicht, einen Menschen zu
„kennen", kennt er sich doch selbst kaum, so ist es dem Jugendlichen gegen-
über ein besonders böser Mißgriff, sich im Besitz einer einigermaßen zu-
reichenden Einsicht zu wähnen. Lehrer, die ihre Schüler, ,,die sie von Sexta
an gehabt haben", genau kennen wollen, tappen allzuhäufig in tiefem Dunkel
über sie. Über ihr Wissen oder einige Fähigkeiten möge sie leidlich urteilen
können. Mit dem aber, was sich in der Klasse zeigt, ist der junge Mensch
ganz und gar nicht erschöpft. Schon auf Ausflügen und Wanderungen kann
er bekanntlich ganz anders aussehen, aber selbst ein tage- und jahrelanges
Zusammenleben in der Familie vermag doch gar nicht selten den Schleier
über die ersten ureigensten Regungen nicht zu lüften.
Diese mystische Einsamkeit pflegt mit einer ganz eigentümlichen inneren
Unruhe verbunden zu sein, die letzthin inhaltlos als solche wirkt, antreibt,
quält. Diese Unruhe äußert sich sozusagen motorisch als Wandertrieb.
Es ist vergeblich durch rationale Zwecksetzungen das Wandern der Jugend-
lichen erklären zu wollen. Gewiß spielen derartige Motive, wie Schaulust
und andre hinein, aber die ganze Eigentümlichkeit dieses Strebens wird
dadurch nicht erfaßt. Gerade mit der unerträglich empfundenen Einsamkeit
pflegt dieser solitäre Wandertrieb eng verbunden zu sein. Ein interessantes
Kapitel ist überhaupt diese Psychologie des Wanderns, wenn man sie durch
die Jahrtausende in ihren wechselnden Formen betrachtet. Wandernde
Propheten und Sibyllen im Altertum, wandernde Fromme im Orient, wan-
dernde liebeskranke Prinzen in Tausend und eine Nacht, wandernde Stu-
denten im Mittelalter, wandernde Handwerksburschen, alte und neue Globe-
trotter, Orienteden und Weltenbummler, der wandernde Goethe — und wir
selbst, die wohl alle einmal wanderten, vielleicht noch heut Wandrer sind,
Wandrer des Lebens! Den bunten, wechselnden Gestalten liegt ein gemein-
samer Zug zugrunde, die mystische Einsamkeit und die metaphysische Un-
ruhe, die so ihren Ausdruck findet, aber keine Erlösung.
Nicht immer flüchtet die unruhige Seele in ihre dunkelste Gehirnkammer
schweigsam zurück, um dort ihren Phantasmen und Grübeleien nachzuhängen.
Andere Naturen, andere Gelegenheiten und Verhältnisse lassen den mo-
torischen Wandertrieb zurücktreten, zeigen aber dann die so eigentümliche
Unruhe desto deutlicher auf intellektuellem Gebiet. Hier gibt es etwas,
das als jugendliche Dialektik bezeichnet werden kann. Erfahrungen und Kennt-
nisse, die einen festen Boden für ernstes Nachdenken abgeben könnten,
sind noch nicht ausreichend vorhanden, aber die Fähigkeit zum logischen
Denken, zur spitzfindigen Zergliederung pflegt weit vorausgeeilt zu sein. Es
ist verführerisch, sich dieses Instruments, das jeder normale Mensch bei sich
trägt, zu bedienen um ganz allein mit ihm als Waffe in dem Chaos der um-
gebenden Welt sich zurecht finden zu wollen. Dieser Versuchung erliegen
nicht nur Jugendliche bekanntlich, aber bei ihnen ist die Neigung zu einer
solchen scholastischen Bemühung besonders stark und auffällig. Ganze Gruppen
284 Ernst Goldbeck,
von Jugendlichen sind heute in jener rastlosen, ergebnislosen Dialektik
und Problematik befangen, aus der neben dem verdächtigen Eigengefühl
einer starken Überheblichkeit der Unterton einer quälenden Unsicherheit
und Tatlosigkeit aufschwingt. Aus diesen Ängsten rettet sich der beunruhigte
Mensch dann nicht selten auf das Festland des unbegründeten Entschlusses.
Um dem Zustand des unerträglichen Hin und Her zu entrinnen, kommt
es zu der rationalen simplen Entschiedenheit, die dann wieder vor dem,
was rechts und links liegt, Augen und Ohr verschließt, um nur der Sicher-
heit teilhaftig zu bleiben, die überall arg gefährdet ist, wo die feste, aber
schmale Basis verlassen wird, auf der man glaubt stehen zu können und
zu sollen.
Was treibt und drängt diese Anfänger so stark und tief und so wechselnd
hin und her, daß kein noch so dickleibiges Buch die Mannigfaltigkeit dieser
Regungen erschöpfen könnte, und wenn auch zahllose hingebende Beobachter
und Freunde der Jugend sich zusammentäten, um alle Erscheinungen nur
zu fassen und zu beschreiben, geschweige denn zu verstehen? Vielleicht ist
es die Entdeckung des eigenen Ich, das aus der Unbewußtheit der Knaben-
jahre als eine halbgefühlte, halbdurchdachte Rätselfrage aus dem Seelen-
dunkel emposteigt. Gewiß gebraucht ein jeder Mensch, der sprechen kann,
das Wort „ich", und es ist sicher, daß es schon beim Kinde und Knaben eine
unabsehbare, aber nur sehr unzureichend bekannte Bedeutung hat. Ein
üppiges Phantasieleben umgaukelt im einsamen Spiel, wie auch im verhüllten
Spielkampf das Ich der Kinder und Knaben. Der Knabe zumal beginnt
schon, sich in allerlei Lagen heldenhafter Zukunft hineinzu träumen. Gibt
es doch Primaner, die trotz hoher geistiger Entwicklung noch mit Soldaten
spielen. Eine spätere Besinnung deckt dann erst auf, daß sie bei dieser ru-
dimentären Knabenbeschäftigung sich in die Lage eines Friedrichs oder
Napoleons hineinphantasierten. Solche Phantasien erstrecken sich oft weit
aus der Knabenzeit bis in spätere und späteste Lebensalter hinein. Wie
oft wohl mag ein Mann in verantwortungsvoller, lebensreicher Stellung
heimlich in später einsamer Stunde irgendeine Indianergeschichte noch
einmal durchblättert haben, die ihn als Knaben gefangen hielt ! An einem pro-
duktiven selbstätigen Ich gebricht es also den früheren Stufen der Entwick-
lung nicht. Spricht man von einer Entdeckung des Ich im Reifealter, so
muß etwas anderes gemeint sein.
Das Neue liegt nicht in einer wachsenden Erweiterung und Stärkung
des Ich-Eindrucks, sondern in der mehr und mehr zum Bewußtsein gelangen-
den Kampfstellung dieses vom eigenen Wollen und Denken unabhängig
nach oben und zum Ausdruck drängenden eigensten Wesens der gesamten
Umgebung gegenüber.
Ein manchmal unbändiger, oft seltsam gewendeter Freiheitsdrang
pflegt das allgemeinste und erste Zeichen dieser inneren Bewegung zu sein.
Die eigene Erotik wünscht sich unbehindert entfalten zu können. Einwände
und Verbote werden in allen Abstufungen des Widerstandes abgelehnt,
notgedrungene Heimlichkeiten werden als unwürdig empfunden. Das greif-
Die jugendliche Persönlichl<eit. 285
bare Symbol dieses Strebens ist der oft heiß umstrittene Hausschlüssel.
Überhaupt wünschen diese jungen Menschen zu beliebiger Zeit gehen und
kommen zu dürfen. Ein Hauptreiz des Wandervogels liegt in der oft langen
unkontrollierten Abwesenheit vom Heim.
Sie haben dabei eine sonderbare unregelmäßige Rhythmik des äußeren
Lebens. Die regelmäßigen Mahlzeiten, des Dienstes ewig gleichgestellte
Uhr werden als peinlich und feindlich empfunden. Man legt sich abends
gehorsam ins Bett, wartet im Scheinschlaf die elterliche Visitation ab, um,
wenn alles still geworden ist, wieder aufzustehen und in der Nacht zu arbeiten,
zu lesen, leise Klavier zu spielen oder auf der Straße herumzustreichen.
Zu der willkommenen Ungebundenheit gesellen sich die Reize des Verbotenen,
der nächtlichen Stille und der Geheimnisse der Dunkelheit,
Auch auf geistigem Gebiet wird letzte Freiheit gesucht. Man will erfahren
und lesen, was gerade beliebt. Die Kampfstellung tritt hier noch deutlicher
heraus. Was in der Schule nicht berührt, was im Hause abgelehnt wird,
bevorzugt man. Gewisse große Denker und Dichter erfreuen sich einer vor-
übergehenden Modebeliebtheit. Einst war es Schopenhauer , dann kam Nietzsche,
dann Ibsen, dann Wedekind und Strindberg! Manchmal sind sie es noch
heut allesamt ! Auch hier ein launenhafter Rhythmus ! Perioden einer sinn-
losen Lesewut wechseln mit Zeiten des scheinbaren Stillstandes, wo alle
Bücher „in die Ecke geworfen werden". Heftige Bleistiftstriche bezeichnen
die Augenblicke stärksten Mitschwingens. Das Tempo ist meist ein fieber-
haftes. Zu einem vollen Genuß kommt es nicht, auch nicht zu vertiefter
Aufnahme. Wie im Kino wird mehr Inhalt gesucht und Erregung, als Ver-
senkung in künstlerische Form. Dann aber wieder kommt es vor, daß ein
gewisser Autor immer und immer wieder gelesen wird, fast bis zur Versklavung.
Wie überall, so sind auch hier die wechselnden Gestalten schwer zu gruppieren,
unmöglich auszuschöpfen.
Die halb ängstlichen, halb • heftigen Versuche zu einer Umgrenzung
des eigenen Ich äußern sich zunächst in einer theoretischen und praktischen
Negation. Sie richtet sich anfangs gegen lebende Einzelpersonen, die den
Widerstand verkörpern, der unbeliebt ist. Es kommt zu einer Gegensätz-
lichkeit gegen die Eltern, meist den Vater, oder zu Lehrern, die auf gewissen
Forderungen der Disziplin und der Arbeit bestehen. Allmählich aber, auch
im Zwiegespräch mit gleichaltrigen Leidensgefährten, enthüllt sich die Tat-
sache, daß diese Personen nur die Träger gewisser „Ideen" sind, und dann
hebt der zweite wichtigere Abschnitt dieser Entwicklung an. Ideen sind
es, Gemeinschaftsideen, mit denen sich der Jugendliche in seiner Art be-
ginnt auseinanderzusetzen. Zieht man dieses wechselvolle Treiben auf den
dünnen Draht eines Schemas, so ist es die Kritik an der Familie, an der Ge-
sellschaft, an der Schule, an der Wissenschaft, an der Kirche, am Staat,
die hier nach Ausgleich ringt.
So peinlich und quälend diese Einstellung gerade für die zu sein pflegt,
die dem jungen Menschen am nächsten stehen und manchmal ohnmächtig
am nächsten stehen, so entscheidend ist doch diese Periode für die gesamte
286 Ernst Goldbeck,
Zukunft des werdenden Mannes, denn sie ist die Geburtstunde der wer-
denden Persönlichkeit. Wie naturhafte, individuelle Eigenart sich vereinigt
oder trennt von den großen objektiv ihr gegenübertretenden Gemeinschafts-
ideen, das bestimmt nach Eigenart und Kraft dasjenige, was wir als Per-
sönlichkeit einzuschätzen pflegen.
Mag ein solches Schema nun richtig oder falsch sein, mag es schwierig
sein, alle Einzelfälle einzuordnen, mag es nötig sein noch weitere Gesichts-
punkte ganz anderer Art aufzustellen, um zu einem einigermaßen zureichenden
Verständnis der an sich wirren Erscheinungen der jugendlichen Entwicklungs-
zeit zu führen, einen Vorzug hat eine solche Arbeitshypothese jedenfalls
Sie befreit von einer dilettantischen, von Fall zu Fall unsicher schwankenden
Beurteilung einerseits und von der Starrheit einer von außen herangebrachten
bequemen moralisierenden Verurteilung andererseits. Zuerst heißt es ver-
stehen, was da vorgeht. Die Kraft zum Beurteilen und handelnden Eingreifen
muß darüber hinaus aber erhalten bleiben. Es genügt weder mit einem gleich-
machenden toleranten Wohlwollen den unliebsamen Schwankungen der
Jugend tatenlos gegenüberzustehen, noch ihr ohne Verständnis für den
tieferen Sinn der Vorgänge mit einem festen Moralkodex entgegenzutreten,
der lebendiger Entwicklung Zwang antut. Erziehung bleibt allezeit ein sich
von Individuum zu Individuum neu erhebendes Problem. Sie ist eine Kunst
in weit höherem Grade als eine Wissenschaft. Die Annahme aber, daß es
sich hier um einen Prozeß von grundlegender Bedeutung handelt, verhütet
sicherlich, daß aus einer naiven, wenn auch verständlichen Verärgerung
oder gar Entrüstung mit plumpen Händen angetastet wird, was der sorg-
fältigen Betrachtung und Pflege bedürftig ist. Gar mancher schwere, ja furcht-
bare „Disziplinarfair* hätte zu einem glückUchen Ende geführt werden
können, wenn mindestens einigen der Beteiligten klar geworden wäre, daß
selbst sehr häßliche Zustände gar nicht so selten eigenartige und für das In-
dividuum notwendigen Durchgangsstufen bedeuten. Die ganze unsagbar
schwierige Arbeit der Ausschaltung oft scheinbar ganz abgelegener Mitwir-
kungen des Milieus wird eher unternommen, wenn die Aussicht besteht,
daß eine glückliche, ja bedeutende Lösung nicht ausgeschlossen ist.
Menschenkenntnis wird in schier unabsehbarem Umfang und in uner-
gründlicher Tiefe immer dazu nötig bleiben, aber Menschenkenntnis wird
auch in ungeahnter Fülle auf denjenigen einströmen, der sich mit offenen
Sinnen und in selbstloser Hingabe > der großen Aufgabe solcher Jugend-
pflege hingibt. An vielen Punkten hierbei uns und draußen ist man am Werke,
die große Sache zu fördern. Vielleicht den reichsten Gewinn aber werden
wir Eduard Sprangers an Wissenschaft und Wirklichkeit gleichmäßig orien-
tiertem Buch verdanken, das unter dem Titel ,, Lebensformen" völlig umge-
staltet aus kleinem Ansatz in zweiter Auflage nun vor uns liegt i). Hier wird
der vollendete Mensch betrachtet. Die Anpassung an die Jugendpsychologie
ist noch zu vollziehen. Ist es aber zutreffend, daß wir in dem Verhalten der
^) Lebensformen. Gtisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit.
2. Aufl. Halle a. S. 1921, M.»x Niemeyer.
Die Jugendliche Persönlichkeit. 287
Jugendlichen die erste Phase der Entwicklung zur PersönHchkeit vor uns
sehen, so wird von den Formen menschlichen gestalteten Lebens, die Spranger
ausbreitet sowie von seinen methodischen Darlegungen eine neue Funda-
mentierung der jugendUchen, wie jeder Individualpsychologie überhaupt
zu hoffen sein.
Unabhängig aber von diesen Untersuchungen mögen hier noch einige
Hauptformen der jugendlichen Gestaltung aufgezeigt werden, damit unser
Persönlichkeitsschema nicht allzu blutleer bleibe!
Im allgemeinen wird der Jugendliche nicht all den Ideen, die ihn um-
geben, mit gleichem Interesse, sei es ablehnend, sei es zustimmend, gegen-
übertreten. Ein Fall aber, der vor allen anderen betrachtet werden muß,
tritt dann ein, wenn dieses supponierte Ich der Gesamtheit dieser Ideen
gegenüber eine einheithch geschlossene Stellung einnimmt. Die beiden äußer-
sten Pole, die dann zu bemerken sind, und zwischen denen wieder zahllose
Zwischenstufen auftauchen, sind die absolute Position und die absolute
Negation des Ichs. Beide Fälle treten auf, werden aber mit besonderer Kraft
verheimlicht, weil sie dem stärksten Widerstand begegnen.
Nicht selten streift der Blick des JugendUchen die großen bindenden
Gemeinschaftsideen, die ihn umgeben, nur flüchtig, aber mit schroffer Ab-
lehnung. Es tritt dann der Phänomen eines rücksichtslosen und grenzenlosen
Egoismus zutage. Diese Einstellung bleibt manchmal rein theoretisch. Dann
heißt es, keine menschliche Handlung und sei sie noch so edel, sei etwas anderes
als ein verkappter Egoismus. In dieser blassen Form ist diese Einstellung
weitverbreitet. Sie tritt dem Lehrer, der über ethische Fragen im ReU-
gions- oder Philosophieunterricht spricht, falls er freie Meinungsäußerung
ernstlich zuläßt, regelmäßig entgegen. Aber auch die ganz untheoretische
Praxis findet sich. Sie äußert sich nicht immer nur in den Formen eines un-
gezogenen rücksichtslosen Benehmens, besonders in der Familie, sondern
kann sich zu ganzen Lebensplänen gestalten. Geld und Macht sind dann
die einzigen Ziele des Strebens. Ein viel bewundertes Ideal wird Napoleon.
Sogar vor der Konsequenz, daß solche sogenannten Güter mit unmoralischen
Mitteln zu erstreben seien, wird nicht zurückgeschreckt. Nicht immer wird
all dies jugendliche Gehabe später WirkHchkeit. Wer aber Gelegenheit hatte,
Leute, die in der Tat zu Geld und Macht gelangten, genauer kennen zu lernen,
kann mit Staunen wahrnehmen, wie dieser jugendliche Zug trotz aller mög-
lichen Einschränkungen diktatorisch das ganze Leben hindurch bestimmend
fortgewirkt hat.
Den Gegenpol hierzu bildet die jugendHche Mystik, die sich des eigenen
Ich völlig zu entäußern strebt. Es ist wohl wenig bekannt, daß buddhistische
Einflüsse manchmal zu einer ganz absonderlichen Steigerung asketischer
und weltflüchtiger Antriebe bei Jugendlichen führen. Nicht allein die ,,Welt"
erscheint bis in das Mark verfault und häßUch, auch das eigene Ich wird
Gegenstand empörter Anwürfe. In einem jüngst erschienenen Novellen-
fragment Siddartha, der Geschichte eines edlen indischen Jünglings, hat
Hermann Hesse ein phantastisches Stück solcher Jugendpsychologie geliefert.
288 Ernst Ooldbeck,
Was dort im indischen Gewände auftritt, findet sich in extremer Ausbildung
auch bei uns. Dann soll die Familie verlassen und ein unstetes Wanderleben
als Bettler geführt werden unter asketischer Entsagung bis zur letztmöglichen
Entäußerung vom quälenden Ich. Es handelt sich um eine größere und
weitere Strömung, die da einen jugendlichen Moralisten ergreift. Es bleibt
meist bei einigen Versuchen oder bei einem jahrelangen geheimen Spiel
mit diesen Neigungen.
Dieselben Übertreibungen erwachsen aber auch auf dem Gebiet sozialer
Hingabe. Im Fahrwasser äußerster Linksströmungen kommt es zum tiefen
Haß gegen die eigene „bourgeoise" Persönlichkeit. In jedweder „Ichkultur"
wird der eigentliche Antichrist entdeckt. Eine über die ganze leidende Mensch-
heit ausgebreitete Erotik fordert nachhaltig Rückkehr zu primitivem Leben,
Flucht vor den Unmöglichkeiten der Kultur und die asketische Entäußerung
vom eigenen Selbst.
Es ist so beliebt, wie bequem, solche Zuspitzungen als krankhaft mit
rascher Handbewegung abzutun. Um krankhafte Zustände handelt es sich
dabei meist nicht, sondern um den bekannten jugendlichen Rigorismus
und Radikalismus. Die extreme Ausbildung hat für den Psychologen sogar
den Vorteil, daß sie ein Element isoliert aufdeckt, das in den zahlreichen
Zwischenstufen und Mischformen schwer erkennbar sein würde. Der Aus-
gleich zwischen Eigensucht und Hingabe zeigt die Mischung dieser Elemente
in allen möglichen Proportionen.
Wir betrachteten die extremen Stellungnahmen der absoluten Position des
Ich und der absoluten Negation als eines letzten Lebenszieles und betonten,
daß diese Entscheidungen summarisch sich gegen die gesamte Ideologie richten,
ohne in eine eigentliche Problematik einzutreten. Es kann aber auch eine
völlige Ablehnung nach eingehender Prüfung eintreten. Dergleichen trifft
man bei philosophischen Köpfen an. Der Primaner X entstammt einer hoch-
gebildeten, reichen und vornehmen Familie. Mit seinen Eltern lebt er in
tiefem, schwer empfundenen Zerwürfnis wegen seiner überspannten, an mo-
derner Philosophie genährten und geformten Ideen. Er ist ein guter Schüler;
Lehrern und Mitschülern gegenüber von ruhigen, etwas kühlen, aber höf-
lichen Umgangsformen. Eines Tages hält er für richtig „in Schönheit zu
sterben". Niemand ahnt etwas von diesem Entschluß. Erst in seinem Nach-
laß findet man leidenschaftliche, meist poetische Ergüsse gegen Familie,
Kirche, Kultur, Staat. In der Verzweiflung aus dieser Problematik heraus-
zukommen, in der vollendeten Hilflosigkeit und Einsamkeit reift der letzte
furchtbare Entschluß ohne jeden besonderen Anlaß.
Weit häufiger wendet sich der Jugendliche gegen einzelne Ideen-
gruppen im besonderen. Der verbreitetste Zug ist die Stellungnahme gegen
die Familie. Meist schließt sich sich die Opposition gegen das an, was der
Jugendliche als die Gesellschaft vor sich sieht und ihre Kultur, so wie sie
ihn in der Großstadt umgibt. Uralte Ideale, die vom goldenen Zeitalter
bis auf uns reichen, drängen da in neuen Formen zur Verwirklichung. Ein
„reines, leidenschaftliches, wildes Leben" ist, was jene erstreben!
Die jugendliche Persönlichkeit. 28&
Andere wieder werden durch gebundenen kirchlichen Geist zum Wider-
stand gereizt. In allen Konfessionen, besonders da wo ein verknöcherter
Unterricht erteilt wird, findet man eine mehr oder minder geheime skeptische
Durchwühlung der verkündeten Lehren, eine verstandesmäßig-rationalistische
Zergliederung und eine peinUche Verständnislosigkeit für die tieferen der
grübelnden Vernunft unzugänglichen Elemente dieser großen Gemeinschafts-
ideen. Zumeist jedoch entdeckt man auf dem Grunde der Seelen dieser
jungen Häretiker eine tiefe Sehnsucht nach lebendigem religiösen Leben.
Wer es zu wecken vermag, ist meist einer glühenden Anhängerschaft sicher.
Radikale Einstellungen dem Staate gegenüber sind bei der Jugend
seit alter Zeit bekannt. Schon Bismarck verließ das Gymnasium als ,,de-
cidierter Republikaner". Heut pflegt damit eine Stellungsnahme zu den so-
zialen Fragen verknüpft zu sein. Man findet sowohl einen ausgeprägten,
stark gefühlsmäßig, sachlich schwach begründeten Rechts- oder Linksradi-
kalismus einerseits und einen weitverbreiteten skeptischen Indifferentismus
andererseits. Viel seltener ist eine ernstliche Vertiefung in die gegenwärtigen
Fragen. Man pflegt sich dieser Lage gegenüber damit zu trösten, daß dieser
Radikalismus gemäß'gteren Auffassungen mit den Jahren weicht und
denkt damit nicht unrichtig. Zu beachten bleibt aber, daß solche ersten
Entschlüsse so oder so von einer nachhaltigen Wirkung für die weitere Ent-
wicklung bleiben und daher als Elemente für die endgültige Gestaltung
der Gesamtpersönlichkeit bedeutungsvoll sind.
Diesen Negationen, die verhältnismäßig bekannt sind, pflegen positive
Gegenströmungen entgegenzulaufen, die unsere Aufmerksamkeit in weit
höherem Grade auf sich ziehen sollten, als gemeinhin bisher geschah. Es
ist eine Aufgabe von größter Bedeutung für den Einzelnen und für die Ge-
samtheit, daß ein jeder in die Lage versetzt werde, sein eigenes Ich in der
ihm eigentümlichen Struktur zu entdecken und zu prägen, und daß ihm später
im Beruf das Feld eröffnet werde, auf dem er sich nützhch betätigen kann.
Da ist zunächst zu betonen, daß die Aufgabe, das eigene dauernde Lebens-
interesse aufzufinden, sich meist als eine recht schwierige erweist. Man be-
gegnet gar nicht selten der Ansicht, es sei in den Reifejahren ein leichtes,
festzustellen, welche Teilgebiete der Kultur dem Jugendlichen nach seiner
Eigenart naheliegen müßten. Sieht man von den matten und faden Menschen
ab, die keine noch so sorgfältige Schülerauslese ganz beseitigen wird, so gibt
es auch nicht wenige Naturen, die sich schwer finden und bis zum letzten
Tage ihres Schullebens, ja darüber hinaus in quälender Unsicherheit verharren,
wer und was sie denn eigentlich seien. Auf die Reize des vielgestaltigen Kul-
turgutes, das auf diese jungen Menschen eindringt, antwortet die Seele manch-
mal nur unhörbar leise, manchmal auch in lauter bejahender oder verneinen-
der Heftigkeit, aber bald darauf stellt sich das entgegengesetzte Geflüster
ein. Solche jungen Menschen werfen sich manchmal mit leidenschaftlicher
Heftigkeit auf ein Gebiet, das sie mächtig interessiert. Sie arbeiten unter
Vernachlässigung anderer Pflichten Tag und Nacht an den meist sehr abge-
legenen Stoffen, die sie sich aussuchen, um dann plötzlich ohne recht er-
Monatschrift f. hfth. Schulen. XX. Jhrg. 19
290 Ernst Goldbeck,
kennbaren Grund zu erlahmen. Es tritt eine Ruhepause voll müder Resig-
nation ein, nach der das Spiel an einer anderen Stelle sich wiederholt. Andere
wieder grasen sozusagen systematisch wie weiland Faust die vier Fakultäten
ab, ohne irgendwo sich selbst zu finden. Auch hier gibt es zahllose Spielarten.
Vor der notwendigen Berufswahl kann dieser Zustand der Ratlosigkeit für
alle Beteiligten ein sehr quälender werden.
Auch wenn solche Unsicherheit nicht so weit geht, sondern sich auf zwei
oder drei Fächer beschränkt, können ganz erhebliche innere Nöte entstehen.
Es gibt Mathematiker, welche jahrelang darum kämpften, ob sie nicht lieber
Musiker werden sollten. Ein weltberühmter Altphilologe hat lange geschwankt,
ob er nicht lieber Chemiker werden sollte. Erst nach vielen inneren Kämpfen
hat Goethe erkannt, daß er zum Maler nicht geboren sei.
Was geht aus diesen Beispielen, die sich beliebig vermehren ließen,
hervor? Es zeigt sich, daß, wenn auch das angestrengte Streben vorhanden
ist, die eigene Art und Persönlichkeit zu erfassen, doch von einem rechten
Erfolg dieses Bemühens selten die Rede sein kann. Man hört heute manch-
mal von der ,, Struktur" einer Persönlichkeit reden, auch der Jugendlichen.
Es ist schon wahrscheinlich, daß es so etwas wie eine solche Struktur gibt,
aber es ist fraglich, ob sie jemals adäquat erkannt werden kann und es ist
sicher, daß sie bei Jugendlichen kaum je gehörig erkannt werden wird. Der-
gleichen Betrachtungen bekommen eine erhebliche Tragweite überall da,
wo Organisationen geschaffen werden sollen, die der Entwicklung der jugend-
lichen Persönlichkeit zu dienen hätten. Ähnlich wie von Struktur hört man
auch von Einheit der PersönUchkeit sprechen. Es mag sein, daß es dergleichen
als ein dunkles, aber bestimmendes Gefühl gibt, vielleicht auch als eine be-
wußte Zielsetzung. Im Reifealter aber von einer nennenswerten Annäherung
an den Zustand einer gehörigen Verbindung der auftretenden Strebungen
und eines geschlossenen Zusammenwirkens zu reden ist bedenklich.
Die Bestimmung der eigenen Persönlichkeit nach ihren Interessen hier
wird dem JugendUchen durch einen eigentümlichen Widerstreit manchmal
stark erschwert. Es gibt Interessen, die aus der Knabenzeit in die der Reife
übergehen. Ein zehnjähriger Junge wird in einem Seebade zur Besichtigung
eines Kriegsschiffes mitgenommen. Es interessiert und imponiert ihm der-
artig, daß er nur mit dem äußersten Widerstreben schließlich das Schiff
verläßt. Der Primaner faßt den Entschluß, Schiffsbauer zu werden. Dieser
Entschluß hat seine Geschichte. An der Spitze steht ein früher überaus
starker Eindruck, der fast wie eine Zwangsidee bestimmend in der Seele
haften bleibt. Ursprünglich schloß sich an ihn die Absicht an, Seeoffizier
zu werden, die im späteren Knabenalter auftauchte. Als dieser Plan unaus-
führbar wurde, kam der Rückgang auf den Schiffsbauer. Es fragt sich, wirkte
hierbei das Reifealter gar nicht mit? Nur in einem unausgesprochenen Hinter-
gedanken! Der Primaner hofft bei dieser Gelegenheit weite Reisen machen
zu können. Solche Fälle aus früheren Entwicklungsstadien bestin:mend
in die Reifejahre hineinreichende Eindrücke sind nicht selten. Sie geraten
häufig in Widerspruch mit dem Allgemeinzustand des Jugendlichen.
Die jugendliche Persönlichkeit 291
Wir sahen eine Tendenz auf Spezialisierung hin, aber wie überall er-
gibt sich eine seelische Gegenwirkung. Die jugendliche Persönlichkeit wünscht
nicht allein ihr Zentrum zu entdecken, sondern sie strebt auch nach einer
gewissen peripherischen Ausbreitung. Das Streben nach Totalität des eigenen
Ich wie auch der Erfassung der gesamten Umwelt ist unverkennbar. Hieraus
ergibt sich eine starke seelische Antinomie, die ein erhebliches Schwanken
im Aufbau der Persönlichkeit einerseits und parallel dazu in der Berufswahl
andererseits hervorbringt. Es ist bekannt z. B., daß viele Knaben nicht
ohne Geschick „basteln". Hieraus entsteht fast zwangsweise die Neigung
Techniker zu werden, obgleich das rein mechanische erfindungsarme Basteln
den Techniker wahrlich nicht ausmacht. Dann beginnen im Reifealter sich
alle möglichen anderen Interessen zu regen, von denen oft keine einzige stark
genug ist, um ernstlich in die Mitte gestellt zu werden, und so entsteht ein
Zustand unseligen Schwankens, der angesichts der Berufswahl gefährlich
werden kann. Dies nur ein Beispiel für viele andere!
Erkannten wir so in dem Ringen der werdenden Persönlichkeit und in
dem Streben nach einer in gewissem Maße allseitigen Erfassung der Welt
zwei einander entgegen wirkende Kräfte, so müssen wir doch immerhin beide
als positive Momente ansprechen zur Entdeckung der persönlichen Struktur.
Ein schärferes Hinblicken auf diese Vorgänge zeigt dann aber, daß es un-
zulässig ist, die Erscheinungen, die oben vorläufig als rein negative oder
Kampfesstellungen gegen Umgebendes oder Bestehendes angesehen wurden,
nur als solche zu betrachten. Eine allgemeine zerrüttende Skepsis trifft
man in jenem Lebensalter wohl nicht an, wenigstens pflegt sie nicht sonder-
lich ins Innere der eigenen Natur einzudringen. Die Kampfesstellungen,
so heftig und eindeutig sie sich gebärden mögen, entspringen vielmehr einem
Rigorismus und Idealismus, die der Erwachsene, der die praktische Proble-
matik des Lebens an sich und anderen erfahren hat, nicht mehr aufzubringen
vermag. Hinter dem Widerstreben gegen Familie, Gesellschaft, Kirche, Staat
stehen die oft unausgesprochenen, oft enttäuschten Forderungen einer gol-
denen Reinheit und Schönheit, die als utopische belächelt werden können,
in Wirklichkeit aber, da aus diesen Jungen auch Männer werden, Träger
für die Hoffnung auf eine bessere Zukunft sein sollten.
Rollen wir von hier aus den Faden unserer Darlegungen wieder auf,
so fanden wir am Anfang einen unwiderstehlichen Freiheitsdrang. So gewaltig
dieser sich auswirken möge, so muß doch jetzt sofort einleuchten, daß er ein
absoluter nicht sein kann. Es ist nicht richtig trotz aller Extravaganzen,
daß diese Jugend in einer schrankenlosen Zügellosigkeit dauernde Wonne
empfinde. Neben jeder inneren Lockerung steht sogleich der antimonische
Wunsch zur Bindung Freilich ist dieser Wunsch nur sehr schwer der er-
sehnten Erfüllung entgegenzuführen Diese ersten Ansätze dafür und (/ie
Durchgängigkeit dieser Bestrebung sollte aber dem hingebenden Führer
der Jugend nicht entgehen. Oft sind es nur scheinbar unbedeutende Züge,
die verraten, daß die Kampfstellung gegen ein großes überkommenes Ideal
keine absolute war. Als Faust die Schale mit dem braunen Saft an die Lippen
19*
292 Hans Borbein,
setzt, ertönt der Klang der Osterglocken und Chorgesang. Faust setzt die
Schale ab:
„Dies Lied verkündet der Jugend muntere Spiele,
der FrühHngsfeier freies Glück;
Erinnerung hält mich nun mit kindlichem Gefühle
vom letzten ernsten Schritt zurück.
O tönet fort ihr süßen HimmelsHeder,
Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!"
Dieser Vorgang ist typisch. Er kehrt immer wieder in seiner charakte-
ristischen Form. Was gesucht wird, ist tiefste Lebendigkeit, die in künstle-
rischen Gestaltungen großer Ideen sich länger hält, als in ihrer verstandes-
mäßigen Durchbildung. Der Widerstand richtet sich gegen scheinbare oder
wirkliche Erstarrung. Durch starre Satzungen mag niemand gebunden
sein. Bindungen werden schon gesucht, aber sie müssen in lebendigen Men-
schen vorbildlich lebendig sein. Persönlichkeit, d. h. in lebendigen Gemein-
schaftsideen gebundene naturhafte Eigenart entzündet sich nur an Persön-
lichkeit.
Berlin. Ernst Goldbeck.
Hermann Lietz und die höheren Schulen.
Am 12. Juni 1919 starb im 52. Lebensjahre an den Folgen des Kriegs-
dienstes, dem er sich freiwillig unterzogen hatte, Hermann Lietz, der Be-
gründer der deutschen Landerziehungsheime. Wenig mehr als 20 Jahre
vorher war sein Name zuerst in die weitere Öffentlichkeit gedrungen durch
das Buch „Emlohstobba, Roman oder Wirklichkeit". Die Schrift gehört
heute zu den Seltenheiten auf dem Büchermarkt, denn der Verfasser hat,
nachdem sie vergriffen war, keine weiteren Auflagen veranstaltet. Daß
ihr wesentlicher Inhalt den Fachkreisen bekannt wurde, hat in erster Linie
Wilhelm Münch bewirkt, indem er ihr in seiner Zukunftspädagogik (1904) eine
längere Betrachtung widmete. Daß es sich aber bei Lietz um ganz etwas
anderes handelte, als um die lebensfremde Ideologie eines jugendlichen Stür-
mers und Drängers, scheint auch Münch nicht erkannt zu haben, denn noch
in der zweiten Auflage der Zukunftspädagogik, die 1908 herauskam, als die
L. E. H. schon zehn Jahre bestanden, ist von dieser Gegenwartsleistung
[abgesehen von einer kurzen Erwähnung der drei Heime) keine Rede.
Wenn demnach einem so weitsichtigen Manne wie Münch die eigent-
liche Bedeutung von Lietz verborgen blieb, so darf es nicht Wunder
nehmen, daß die Zahl der Fachleute, die ihn seinem wahren Werte nach zu
schätzen wußten, bis zu seinem Tode gering gewesen ist. Der Hauptgrund
für diese noch mehr um der Sache als der Person willen beklagenswerte Tat-
sache liegt wohl darin, daß in Deutschland von jeher die Jugendbildung
als Staatsdomäne betrachtet wurde, und daß ihre Vertreter sich gewöhnten,
allen privaten Bestrebungen auf diesem Gebiete mit Mißtrauen und Gering-
schätzung zu begegnen. Dies um so mehr, wenn der Verfechter neuer Ideen
in bewußten Gegensatz zu den öffentlichen Schuleinrichtungen trat. Diese
Hermann Lietz und die höheren Schulen. 293
Kampfesstellung beruhte aber bei Lietz keineswegs auf dem Bedürfnis,
andere herabzusetzen oder seine Person in den Vordergrund zu schieben,
sie war vielmehr der natürliche Ausfluß seines eigenen Bildungserlebnisses,
einer heißen Liebe zur Jugend und einer angeborenen Schaffenslust, die
orkanartig hervorbrach und sich instinktmäßig mit dem Befahren ausge-
tretener Geleise nicht begnügen konnte. Daß Lietz niemals den Wert eines
richtig gestalteten öffentlichen Bildungswesens verkannt und weniger an
die Auflösung als an die Wiedergeburt der „Lernschule" gedacht hat, er-
gibt sich klar aus seiner ganzen Persönlichkeit und der Art seines Wirkens,
wie es heute abgeschlossen vor uns liegt. Seine Kritik des Bestehenden war
bei aller Schärfe nie verletzend. Er erkannte das Gute in den Leistungen
der Staatsanstalten gern an, verfolgte mit reger Teilnahme die Fortschritte
auf den einzelnen Unterrichtsgebieten und ahmte sie nach. Mit vielen Lehrern
und Leitern im öffentlichen Schuldienst verbanden ihn gegenseitige Achtung
und Freundschaft, Wie er als heranreifender Mensch Wert darauf gelegt
hatte, durch Erwerbung des Doktor- und Lizentiatengrades seine wissenschaft-
schaftlichen Studien abzuschließen und sich durch Ableistung der Prüfung
für das höhere Lehramt als Glied des Erzieherstandes zu bekennen, so war
ihm zeitlebens die Wertschätzung seiner Arbeit durch die Organe der Staats-
verwaltung durchaus nicht gleichgültig, und wenn er auch bei seiner grund-
sätzlich ablehnenden Stellung seine Schüler öffentlichen Prüfungen vor
fremden Kommissionen nur deshalb unterwarf, weil damit unentbehrliche
Berechtigungen verknüpft waren, so hat er doch zu den Mitgliedern dieser
Ausschüsse, mochten es nun Lehrer und Leiter höherer Lehranstalten oder
Schulaufsichtsbeamte sein, durchweg in einem freundlichen Verhältnis ge-
standen. Den stärksten Beweis dafür, daß Lietz den Zusammenhang mit
der Staatspädagogik nicht aufgeben wollte, und daß ihm an der Anerkennung
durch ihre berufenen Vertreter viel lag, müssen wir in seiner offen zuge-
standenen Enttäuschung über das bis gegen Ende seiner Laufbahn aus-
bleibende tiefere Interesse der Lehrerschaft erblicken i).
Ein Umschwung ist erst durch den Krieg und die sich daran anschließende
Umwälzung eingetreten. Hier fehlt der Raum, um die Ursachen im einzelnen
nachzuweisen. Da es sich um etwas von uns allen Erlebtes handelt, genügt
es, die entscheidenden Beweggründe kurz zu nennen. Es ist auf der einen
Seite die Lockerung des Staatsgedankens, auf der anderen das schon längere
Zeit in der Jugendbewegung sich regende und durch die politischen Ereignisse
der letzten Jahre verstärkte Bedürfnis, die intellektuellen zugunsten der
ethischen und praktischen Bildungswerte zurückzudrängen. Die innere
Umwandlung, die Lietz und andere Reformer vorahnend schon in den achtziger
Jahren des vergangenen Jahrhunderts begonnen hatten, wiederholte sich jetzt
in breiteren Volksschichten, und so war es denn natürlich, daß bald eine ganz
andere Wertung ihrer Leistungen Platz griff. Die geistige Bewegung, welche
^) Die bitteren Worte auf Seite 122 — 23 seiner Lebenserinnerungen bezeugen die
Stärke seines Bedürfnisses nach gerechter Würdigung durch die Standesgenossen.
294 Hans Borbein,
ihre erste Zusammenfassung in der Reichsschulkonferenz erfuhr und
als Folge eine umfangreiche Fachliteratur auf allen von ihr behandelten
pädagogischen Gebieten hervorrief, zog die Landerziehungsheime in den
Bereich der als Versuchsschulen bezeichneten Einrichtungen und wandte
ihnen um so größere Aufmerksamkeit zu, als der Wille der Regierungen,
das gesamte öffentliche Schulwesen umzubauen und dabei selbstschöpferisch
aufzutreten, notwendig scheiterte an der durch den verlorenen Krieg hervor-
gerufenen schlechten Wirtschaftslage. Der Name Lietz, wie der seiner Mit-
arbeiter und Nachfolger, hat damit einen Klang erhalten, wie er selbst es
sich wohl kaum hätte träumen lassen i). Seiner Gesinnung aber entspricht
es, diesen Erfolg für nichts zu achten, wenn nicht das wirklich Gute an seiner
Schöpfung erhalten und ausgebaut wird, und wenn nicht gleichzeitig die
gesamte deutsche Jugendbildung daraus Nutzen zieht. Das zu vollbringen,
ist vor allem die Sache der Lehrerschaft, und in ihr wiederum vornehmlich
der an den höheren Schulen tätigen Männer und Frauen. Dies können sie aber
nur, wenn sie sich eingehend mit Lietz beschäftigen. Viele Wege führen
zu ihm. Wenn ich selbst mich dabei als Führer anbiete, so geschieht es im
Gefühl des Glücks über die Bereicherung, die ich erfuhr, als ich den Spuren
der Wirksamkeit des eben Vollendeten nachging, und des Dankes für das,
was ich diesem großen Deutschen und manchem seiner Jünger schulde.
Daserste Mittel, ihn kennen zu lernen, ist das Studium seiner Schrif-
ten. Nun ist Lietz zwar kein Schriftsteller gewesen, wenn man darunter
einen Mann versteht, der zur Erzielung künstlerischer Wirkung oder um
die Wissenschaft zu fördern zur Feder greift. Für ihn war das Schreiben
nur eine Ergänzung des persönlichen Wirkens. Sein erstes Buch, Emlohstobba,
weist sogar starke Schwächen in Plan und Ausführung auf, und so lassen
denn auch seine späteren Werke die Formvollendung und Sprachgewalt,
die seinem mündlichen Vortrag nachgerühmt wird, namentlich dann, wenn
es sich uni die Darlegung geschichtlicher und staatlicher Zusammenhänge
oder um die Einprägung religiös-sittlicher Gedankengänge handelte, viel-
fach vermissen. Trotzdem müssen wir auch für sein literarisches Erbe dank-
bar sein, denn mit seiner Hilfe können wir uns doch ein Bild von seinem
Wesen machen, und dann sind sie so reich an Gedanken über pädagogische
Einzelfragen, daß wir aus ihnen einen guten Überblick über seine Erziehungs-
und Unterrichtsgrundsätze erhalten. Dazu weisen seine größeren und klei-
neren Werke, ein jedes in seiner Art, auch viele menschlich fesselnde Züge auf,
und schon aus diesem Grunde lohnt es sich, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Was er sagt, ist wahrhaftig und natürlich empfunden, sein Stil frisch und
anschaulich. Man wird beim Lesen unwillkürlich zurückversetzt in den Augen-
blick des Geschehens, erlebt Vergangenes als Gegenwärtiges und nimmt
1) Ihren vorläufigen Ausdruck hat diese höhere Wertung dadurch gefunden, daß
in Preußen der Kultusminister seit 1919 den Studienreferendaren gestattet hat, einen
Teil ihrer Ausbildungszeit an den Lietz'schen L. E. H. zu verbringen, und daß seit 1920
die Schüler der obersten Klasse in Bieberstein die Reifeprüfung nicht mehr auswärts,
sondern unter dem Vorsitz eines Oberschulrats an der Anstalt selbst ablegen.
Hermann Lietz und die höheren Schulen. 295
daran persönlichen Anteil. Zur Einführung mögen die Lebenserinnerungen
dienen 1), die er kurz vor seinem Ende verfaßt hat. Eine wertvolle Ergänzung
dazu bilden die beiden kleinen Werke: Freseni und Heim der Hoff-
nung, in denen der Verfasser sein inneres Verhältnis zur Jugend am tiefsten
offenbart. Wie die genannten drei ist auch das Buch: Gott und Welt,
Stimmen von Menschheitsführern über den Sinn des Lebens,
das den Gedanken der religiösen Erneuerung des deutschen Volkes verkündet,
für alle höher Gebildeten bestimmt. Von den zahlreichen mehr dem Fach-
mann zugänglichen Schriften sei hier die 1911 zuerst herausgegebene,
1920 in zweiter Auflage von Dr. Andreesen bevorwortete Deutsche Na-
tionalschule erwähnt, in welcher der Verfasser sich zusammenhängend
über den Lehrplan der L. E. H. ausspricht. Wer aber tiefer in das Wesen
und Wirken des als Erzieher und Lehrer gleich vorbildlichen Mannes ein-
dringen will, der greife zu dem Werke, in dem wie in einem Schatzhause
die edelsten Früchte seines Geistes aufbewahrt sind. Es sind dies die Jahr-
bücher derD. L. E. H., umfassend die Zeit von der Begründung des ersten
Heims bis zum Ausbruch des Krieges. Darin haben, ebenso wie in späteren
Sammelschriften der L. E. H., auch viele seiner Mitarbeiter sich ausgesprochen
über Fragen ihres Fachs und ihrer persönlichen Erziehertätigkeit, Männer
wie Andreesen, Geheeb, Heckmann, Marseille, Prüss, Rudert, v. d. Smissen,
Tesdorpf, Matter, Volkert, Walther, Windweh, Wunder, Wyneken u. a. m.
Besonders reizvoll ist es dann, zu sehen, wie Lietz in seinen Berichten, Ur-
teilen und Vorschlägen sich abhebt von seinen ' Arbeitsgenossen, und wie
seine Schöpfung durch ihn und er durch seine Schöpfung allmählich fort-
schreitet zu immer größerer Klarheit und Bestimmtheit. Dies Sammelwerk
sollte ebenso zu der Klasse derMonumentaGermaniaePädagogica zählen wie
die von der Wissenschaft längst anerkannten Schriften über Erziehungs- und
Lehrkunst aus der deutschenVergangenheit. Eine Ehrenpflicht der Regierungen
und Körperschaften, denen die Hut und Förderung der vaterländischen
Bildungsgüter obhegt, wäre es, das bisher von ihnen meist versäumte nach-
zuholen und diese Jahrbücher den Bibliotheken der Schulbehörden, Städte
und Lehranstalten einzureihen. Jedenfalls aber dürften sie an keinem Se-
minar für wissenschaftliche und praktische Pädagogik fehlen, damit der Nach-
wuchs aus ihnen lernen könne, was echte Jugendführerschaft bedeute. Eine
immer noch zunehmende Bereicherung endlich erfährt das Bild des Menschen
und Erziehers Lietz durch den nach seinem Tode um viele neue Blätter und
Blüten sich mehrenden Kranz von Erinnerungen, den treue Jüngerschaft
um das Haupt des geliebten Meisters windet. Für den Unkundigen sei hier
^) Von Leben und Arbeit eines deutschen Erziehers (herausgegeben von seinem
Schüler Erich Meißner). Verlag des Landwaisenhauses, Veckenstedt am Harz, o. J. Eine
zweite Auflage ist in Vorbereitung. Alle im folgenden genannten Werke sind im gleichen
Veilage erschienen und von diesem zu beziehen. Der Ertrag kommt dem Waisenhause
zugute. Von allgemein unterrichtenden Werken über die ganze Bewegung, zu der Lietz
den Hauptanstoß gegeben hat, sei hier nur genannt: Grunder, Landerziehungsheime und
freie Schulgemeinden. Leipzig, KHnkhardt, 1916.
296 Hans Borbein,
besonders hingewiesen auf die seit einer Reihe von Jahren erscheinende
Schriftenfolge: Leben und Arbeit von Bürgern und Freunden
der D. L. E. H., worin neben den Erwachsenen auch Schüler zu Worte kommen
Es ist zu erwarten, daß die Lektüre dieser Schriften in vielen Lesern
den Wunsch erregen wird, die L. E. H. durch den Augenschein kennen zu
lernen, um so die Eindrücke zu vertiefen, die sie durch das geschriebene Wort
empfangen haben. Solche Besucher werden in Zukunft ebenso willkommen
sein, wie vordem, wenn auch die wirtschaftlichen Sorgen der sonst so weit-
herzig geübten Gastfreundschaft engeren Grenzen setzen. Da alle Heime
in selbstgewählter Einsamkeit liegen, so fehlt der weiteren Öffentlichkeit
die Kenntnis ihres Aufbaus und ihrer äußeren Einrichtungen, und
es empfiehlt sich daher, zunächst darüber ein Wort zu sagen. Die drei von
Lietz gegründeten Anstalten sind organisch aufeinander aufgebaut. Das
am 28. April 1898 (dem Tage der 30. Wiederkehr seines Geburtstages) er-
öffnete Heim bei Ilsenburg umfaßt die Klassen VI bis U III; das zweite
(Haubinda, nicht weit von Hildburghausen i. Th., 1901 entstanden) Ulli
bis U II, das dritte (Bieberstein i. d. Rhön, seit 1904) U II bis 0 I. Die
beiden Übergangsklassen (U III und U II) sind zweimal vorhanden, um den
besonderen Bedürfnissen jedes Schülers Rechnung zu tragen. Diese Glie-
derung nach Altersstufen bringt nicht nur äußere Vorteile (vor allem
wirtschaftlicher Art) mit sich, sondern ermöglicht es auch, den erzieh-
lichen Anforderungen jeder Periode der jugendlichen Entwicklung gerecht
zu werden und die Gefahren der Einwirkung älterer auf jüngere Schüler
außerhalb der natürlichen Gemeinschaft der Familie zu vermeiden. Hierin
unterscheiden sich die L. E. H. grundsätzlich von den großen, meist aus
Klosterschulen hervorgegangenen Alumnatsanstalten Norddeutschlands, von
den englischen Vorbildern und auch von den später aus den L. E. H. ent-
standenen freien Schulgemeinden . Sollte in Zukunft bei uns der im Zusammen
hang mit dem Einheitsschulgedanken erörterte Plan, im größeren Umfange
Internate, namentlich als Sammelschulen, einzurichten, so täten die Auf-
sichtsbehörden gut daran, zu erwägen, ob nicht die von Lietz durchgeführte
Dreiteilung nach Altersstufen nachzuahmen ist, die sich nach der bisherigen,
20jährigen Erfahrung durchaus bewährt hat. Auch in der vielberufenen
Frage der gemeinsamen Erziehung der Geschlechter sind in den
L. E. H. wertvolle Versuche gemacht worden. Lietz selbst neigte
wohl im Beginn seiner Tätigkeit zu der Ansicht, daß eine vollkommene
Erziehungsanstalt auf jeder Oberstufe Knaben und Mädchen vereinigen
müsse. Aber in der Praxis ging der sonst so wagemutige Mann doch mit
größter Behutsamkeit vor, und so ist es denn bisher dabei geblieben, daß
die Zulassung sich wesentlich auf Schwestern der Zöglinge beschränkt, daß
nur auf der Unterstufe eine größere Anzahl von Schülerinnen aufgenommen
wird und daß es auch nur hier zu einer vollen Lebensgemeinschaft kommt.
Parallel der Mittel- und Oberstufe läuft das L. E. H. für Mädchen in Gaien-
hofen am Bodensee. In Ilsenburg befanden sich im Februar 1921 untef
108 Schülern 9 Schülerinnen, in Haubinda unter 210 nur 8, in Bieberstein
Hermann Lietz und die höheren Schulen. 297
sogar unter 70 nur 3. Diese praktischen Ergebnisse in einem Kreise von
Menschen, denen man sicherlich Abhängigkeit von überkommenen Vor-
urteilen nicht vorwerfen kann, sollten alle Vertreter der Idee von der ge-
meinsamen Erziehung, namentlich soweit geschlossene Anstalten in Frage
kommen, zu großer Vorsicht mahnen.
Der Besucher von Ilsenburg wird auch Gelegenheit haben, eine Anstalt
kennen zu lernen, die, in ihrer Nähe gelegen, trotz äußerer Verschiedenheit
doch aufs engste mit ihr zusammenhängt und geeignet ist, uns einen Blick
in das innerste Wesen ihres Begründers tun zu lassen; es ist das Landwaisen-
haus Veckenstedt. Hier wollte Lietz elternlose Kinder in ländlicher Ab-
geschiedenheit nach denselben Grundsätzen erziehen wie in den übrigen Heimen,
und die in diesen erzielten Überschüsse sollten in erster Linie den Insassen
des Waisenhauses zu gute kommen, das im übrigen auf die geringen Beiträge
der Erziehungspflichtigen und auf milde Gaben angewiesen ist. Ihren Unter-
richt erhalten die Veckenstedter Knaben und Mädchen gemeinsam mit den
Ilsenburger Kindern, und den geistig Begabten unter ihnen eröffnet sich
damit der Weg zu einer wissenschaftlichen Ausbildung. Lietz selbst war
daran gelegen, auf diese Weise der breiteren Öffentlichkeit zu bekunden,
was seinen Freunden und Bekannten niemals ein Geheimnis war, daß seine
ganze Lebensarbeit nicht auf dem Streben nach materiellen Gütern beruhte,
sondern aus rein idealen Beweggründen hervorging. Hätte es noch
eines weiteren Beweises seiner Selbstlosigkeit bedurft, so liegt dieser jetzt
in der Tatsache vor, daß er unter Hintansetzung der Interessen von Frau
und Kindern in seinem Testamente seine Heime dem deutschen Volke ver-
machte und in den letzten Jahren seines Lebens die nötigen Vorbereitungen
traf, um die alle Anstalten einbegreifende Stiftung vorzubereiten, die
1920 vom preußischen Wohlfahrtsministerium anerkannt worden ist. Da-
mit hat Lietz allen Jugenderziehern ein leuchtendes Muster uneigennütziger
Gesinnung gegeben, das auf gleichgestimmte Seelen ermutigend und an-
spornend wirken muß. Diese Selbstlosigkeit ist es auch gewesen, die neben
seiner Tatkraft und unbedingten Zuverlässigkeit ihm von Anfang seines
öffentlichen Auftretens an das Vertrauen der Eltern und von leistungsfähigen
Geldleuten gewann, so daß es dem von Hause aus Mittellosen nie an dem
nötigen Kapital und Kredit gebrach. Wenn heute der Ruf nach Versuchs-
schulen ertönt, um neue Ideen zu erproben, so pflegt gleich der Zusatz
gemacht zu werden, daß der verlorene Krieg uns leider der Möglichkeit be-
raubt habe, die dazu unentbehrUchen Millionen aufzubringen. Die Geschichte
des deutschen Schulwesens lehrt aber, und Lietz ist der letzte Beweis für
diese Wahrheit, daß nicht das Geld diese Schöpferkraft besitzt, sondern
der menschliche Wüle, und daß auch nicht Staat und Gesellschaft als solche
Verwirklicher derartiger großen Pläne zu sein pflegen, sondern allein
Einzelpersönlichkeiten. So klingt denn den zahlreichen Reformern, die gegen-
wärtig mit lauter Stimme neue Bildungswege anpreisen, aus dem Werke,
das Lietz geschaffen und uns allen als seinen Erben hinterlassen hat, das Wort
entgegen : Gehe hin und tue desgleichen ! Während nun die Aufnahme in
298 Hans Borbein,
das Waisenhaus unabhängig ist von der Frage nach Besitz, konnte von jeher
in den drei anderen Heimen auf eine den Kosten entsprechende Gegenleistung
nicht verzichtet werden. Doch sind auch in ihnen ganze und halbe Frei-
stellen für Unbemittelte vorgesehen, an denen heute noch festgehalten wird.
Wenn trotzdem Lietz und seine Mitarbeiter es stets als einen Mißstand emp-
funden haben, daß ihr ideal gedachtes Werk wesentlich auf die Kinder wohl-
habender Eltern beschränkt blieb, so lag und liegt noch jetzt doch für sie
ein starker Trost in dem Gedanken, daß gerade diese Kreise den sozialen Geist,
der ihnen durch die Erziehung in den Heimen eingeimpft wird, am nötigsten
brauchen, und daß ihre innere Umwandlung der Umwelt, der sie im späteren
Leben angehören, reichen Segen bringt. Geld allein eröffnet durchaus nicht
die Tore der L. E. H. Es wird vielmehr strenge Musterung gehalten unter
den Eintretenden, und ungeeignete Elemente werden, sobald sie als solche
erkannt sind, wieder ausgeschieden. Da noch immer ein großer Andrang
geherrscht hat, so ist es nie schwer gefallen, diesen Grundsatz durchzuführen.
Es wird Wert darauf gelegt, den Schüler in frühem Lebensalter aufzu-
nehmen und möglichst lange zu behalten, weil nur dann eine bis auf die Wurzel
gehende Beeinflussung des ganzen Menschen erreicht werden kann. Andere
Aufnahmebedingungen als geistige und körperliche Gesundheit und der gute
Wille, sich der Lebensordnung des Hauses einzufügen, gibt es nicht. Hat
es von Anfang an auch an Ausländern nicht gefehlt, so waren diese doch vor-
nehmlich Söhne und Töchter von Auslandsdeutschen, und wenn die Ange-
hörigen fremder Nationen sich entschlossen, ihre Kinder den Lietzschen
Heimen anzuvertrauen, so wußten sie oder erfuhren es bald, das deutsch-
vaterländisches und im echten Sinne des Wortes christliches Denken und
Fühlen die Grundlage der Bildung war, die sie dort empfingen.
Nach dieser Einführung in die äußeren Verhältnisse der L.E.H. wende
ich mich nunmehr ihrem inneren Leben zu. Das Werk trägt ganz die Züge
seines Schöpfers an sich, dieser selbst aber ist eng verwachsen mit dem Boden,
aus dem er stammte, und so können wir ihn denn auch nur ganz durchschauen,
wenn wir die Kräfte kennen, die von unten herauf in ihm hochgestiegen
und wirksam gewesen sind. Lietz selbst hat durch seine pädagogische Erst-
lingsschrift Emlohstobba die geschichtliche Forschung auf eine falsche Spur
geleitet, indem ihr Inhalt den Anschein erweckte, als sei Abbotsholme das
Urbild der L. E. H. Gegen diese Annahme hat er sich später zur Wehr ge-
setzt, so auch in seinen Lebenserinnerungen, in denen er zwar anerkennt,
daß er durch Dr. Reddie, mit dem ihn lebenslängliche Freundschaft verband,
starken Antrieb zum Schaffen erhalten habe, weil er hier fand, was er schon
lange suchte: freundschaftliches Verhältnis zu den Schülern, gesundes Leben,
körperliche Arbeit und Übung, Erhebung und Verinnerlichung durch Werke
der Weisheit und Schönheit, jedoch hinzufügt, daß die entscheidenden Trieb-
federn seines Handelns zu suchen seien in dem bitter Leide, das ihm die eigene
Schule beschert habe, in der Freude und Begeisterung, die ihm aus Heimat,
Ferien, Elternhaus und Studienzeit erwachsen seien, und vor allem in der
Liebe zu Jugend und Volk, die von jeher in ihm gelebt habe. Selbst wenn
Hermann Lietz und die höheren Schulen. 299
aber der Einfluß von Abbotsholme größer gewesen sein sollte, als Lietz zum
Bewußtsein gekommen ist, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß es sich
hier um ein stammverwandtes Volk handelte, und daß Dr. Reddie
in Deutschland (Göttingen) studiert und von deutschen Philosophen und
Pädagogen tiefgehende Eindrücke empfangen hatte. Hier nun stoßen wir
auf die Quelle, aus der auch Lietz das geschöpft hat, was seinem Werke
Ewigkeitswert verleihen wird: Die idealistische deutsche Philo-
sophie und Pädagogik. Der Ort, an dem diese Vermählung seines Geistes
mit dem der Besten seines Volkes sich vollzog, war Jena, wo er seine wissen-
schaftlichen Studien vollendete, zu Männern wie Eucken, Rein, Lieb-
mann, Lipsius, Richter in persönliche Berührung trat und als Mit-
glied des Gymnasial- und zugleich des pädagogischen Universitätsseminars
zum ersten Male erfuhr, was es heißt, einen didaktisch richtigen, geistig
anregenden und das Herz erwärmenden Unterricht zu erteilen und zu den
Schülern, seien es nun Gymnasiasten oder Kinder des Volkes, bei Spiel und
Sport, im Schulgarten, bei praktischer Arbeit und auf Wanderungen in ein
persönliches Verhältnis zu treten. Die Jenenser Zeit hat ihm aber auch in
erster Linie die Bekanntschaft mit den großen Vorbildern aus der deutschen
Vergangenheit vermittelt, an denen sein Herz sich entzündete, selbst ein
Lehrer und Erzieher in ihrem Geiste zu werden : Den Philanthropen, Pestalozzi,
Fröbel, Goethe (Pädagogische Provinz) und Fichte. Es ist hier nicht der
Ort, all die Beziehungen aufzuweisen, die ihn mit diesen großen Führern
der Vorzeit verbinden. Was von ihm selber und anderen bisher darüber ge-
schrieben ist, läßt noch vieles im Dunkeln, und es wäre eine ebenso reizvolle
wie dankbare Aufgabe für die pädagogischen Seminare an Universitäten
und höheren Schulen, diesen Einflüssen im einzelnen nachzugehen. Um aber
zu zeigen, wie tief die L. E. H. verankert sind im deutschen Denken und
Wesen, will ich wenigstens kurz eingehen auf das von Lietz selbst nur ge-
legentlich erwähnte Verhältnis zu Fichte. Es ist überraschend, zu sehen,
wie weit die WirkUchkeit der L. E. H. mit dem in den Reden an die
deutsche Nation gezeichneten Idealbilde übereinstimmt. Beide Männer
ordnen die Jugendbildung dem höheren Zweckbegriff: Volksstaat unter;
sie haben mit ihrer Nationalerziehung daher nicht nur einen, sondern alle
Stände im Auge, und wenn ihre Musteranstalt auch zunächst wesentlich
die oberen Gesellschaftsschichten erfaßt, so gilt das als eine durch die Zeit-
verhältnisse gebotene, später aufzuhebende Beschränkung. Soll aber die
Jugend dem Ganzen dienen, so muß sie im vaterländischen Geiste
erzogen, und es muß alles von ihr fern gehalten werden, was sie dem deutschen
Wesen entfremden könnte. Der Schwerpunkt der Bildung ist auf den im
Religiösen wurzelnden sittlichen Willen zu legen, aller geistige Besitz ist
nur Mittel, ihm zu dienen. Diese neue Erziehung kann nun nach des Philo-
sophen Meinung vorläufig nur verwirklicht werden mit jungen Menschen,
die, losgelöst aus der verderbten Gesellschaft der Erwachsenen, ganz in einer
ländlichen Umgebung aufgehen. Fichte legt besonderen Nachdruck auch
auf die Trennung von den Eltern, die sich bisher als unfähig erwiesen haben,
300 Hans Borbein,
ihren Kindern als Muster und Ratgeber zu dienen ; erst ein in einer reineren
Umwelt groß gewordenes Geschlecht wird vielleicht seine Nachkommen
richtig erziehen können. Sobald nun die Scheidung von der bisherigen Um-
welt vollzogen ist, müssen die Lehrer mit ihren Zöglingen ein für sich be-
stehendes Gemeinwesen begründen, in welches, da es sich um ein Abbild
des Staates handelt, auch Mädchen als gleichberechtigte Mitglieder aufzu-
nehmen sind. Das Verhältnis zwischen der Jugend und ihren Führern ist
aufzubauen auf gegenseitigem Vertrauen ; der Jünger wird zu seinem Meister
aufschauen als zu seinem Vorbild, und dieser seinerseits an das Gute im Kinde
glauben und ihm Achtung und Freundschaft entgegenbringen. Ihre gemein-
same Tätigkeit soll nach Fichtes Forderung neben der wissenschaftlichen
auch praktische Arbeit umfassen, die außer ihrem allgemeinen Bildungswert
den Zweck hat, in dem Zögling als Vorbereitung auf sein späteres bürger-
liches Dasein ein Gefühl dafür zu erwecken, daß er schon in der Jugend
Güter erzeugen und seinen Unterhalt wenigstens teilweise verdienen muß.
Die mechanische Tätigkeit wird dem heranreifenden Menschen nur dann
erlassen, wenn sich herausstellt, daß er Begabung und Neigung für einen
gelehrten Beruf hat. Diese Befreiung soll aber unabhängig sein von Geburt
und Besitz und sich lediglich auf Naturanlage und Streben stützen. Solche
Gemeinschaftsschulen auf dem Lande zu errichten, ist, so lehrt der Verfasser
der Reden an die deutsche Nation, an sich Sache des Staates, versäumt
dieser aber seine Pflicht oder kann er sie aus äußeren Gründen nicht erfüllen,
so mögen wohlhabende Privatleute mit gutem Beispiel vorangehen und für
ihre Kinder wenigstens praktische Versuche ermöglichen.
Vergleicht man diese Gedanken Fichtes über Nationalerziehung mit
dem, was in den L. E. H. geschaffen ist, so fällt ohne weiteres die starke
Verwandtschaft auf, die ohne äußere Abhängigkeit nicht denkbar
ist. Das von ihm in den Reden entworfene Wunschbild schwebt aber auch
seinerseits wieder nicht völlig in der Luft, sondern der Verfasser hat hier,
was in der pädagogischen Literatur nicht genügend beachtet wird, sein per-
sönliches Erleben als Alumne des Schülerstaates Schulpforta verwoben
mit den in wesentlichen Zügen auf Pestalozzi zurückgehenden neuen Ideen.
So sehen wir denn einen tiefen historischen Zusammenhang zwischen dem,
was Lietz erstrebte und zum Teil verwirklichte, und einer noch heute blühen-
den staatlichen Alumnatsanstalt, die ihrerseits hervorgegangen ist aus dem
mittelalterlichen Klosterschulwesen .
Wenden wir uns nach diesem Rückblick auf seine Vorläufer der Frage
zu: was hat der Begründer der L. E. H. während der mehr als 20jährigen
Wirksamkeit an ihnen praktisch geleistet, und was können wir aus dieser
Leistung lernen, so ergibt sich eine Schwierigkeit daraus, daß er zu den Ent-
wicklungsnaturen gehörte, deren Wesen sich erschöpft im Werden, die ein
Sein als Ziel nicht kennen und, sobald sie das Erstrebte erreicht haben, sich
aus innerem Zwange neuen Aufgaben zuwenden. Meine Darstellung muß
sich daher darauf beschränken, die leitenden Ideen seiner pädagogischen
Reformarbeit hervorzuheben und ihre tatsächlichen Ergebnisse zusammen-
Hermann Lietz und die höheren Schulen. 301
fassend zu beurteilen. Führend sind dabei sowohl seine Schriften wie das
Bild, das die Heime gegen Ende seines Lebens boten und im wesentlichen
noch heute bieten.
Als oberster Grundsatz galt für Lietz die Unterordnung des Unter-
richts unter die Erziehung, nicht nur in der Auffassung Herbarts
vom erziehenden Unterricht, sondern auch in dem weiteren Sinne, daß die
herkömmlichen Lehrstoffe sich eine starke Einschränkung gefallen lassen
müssen zugunsten anderer, wertvollerer Erziehungsmittel. Während er ur-
sprünglich in der Praxis das Altonaer Reformsystem (in VI Beginn des Fran-
zösischen, in Quarta des Englischen) einführte, wandelte er später die Reihen-
folge dieser Sprachen um und rückte sie außerdem beide wesentlich hinauf.
Gegenwärtig beginnt das Englische in Quarta, das Französische als verbind-
liches Fach in Obertertia. Auch dies gilt aber nur als ein durch Anpassung
an die Staatsschule und durch Rücksicht auf die Prüfungen erzwungenenes
Zugeständnis; als Ziel stellte er schon 1911 in dem Buch über die Deutsche
Nationalschule die Forderung auf, daß der gemeinsame Unterbau aller
Schulen (VI bis IV einschl.) aus vaterländischen, sozialen und gesundheit-
lichen Gründen ganz frei bleiben müsse von fremdsprachUchem Unterricht,
und daß frühestens mit der untersten Klasse der Mittelstufe die verbindliche
Erlernung einer modernen Fremdsprache, und zwar um seiner Leichtigkeit
und Brauchbarkeit willen des Englischen, beginnen dürfe, das dann weiter
zu betreiben sei bis zum Schluß der Schullaufbahn. Für sprachbegabte
Schüler sollte als freiwilliges Fach von O III an das Französische hinzu-
kommen, von U II ab eine alte Sprache, womögUch das Griechische. Nur
auf diese Weise könnten auf der Unter- und Mittelstufe neben der Mutter-
sprache die beiden großen Sachgebiete richtig betrieben werden: das natur-
wissenschaftlich-mathematische und das geschichtlich-, Staats- und gesell-
schaftswissenschaftliche, und ebenso die künstlerische, körperliche und prak-
tische Ausbildung. Damit schließt der gemeinsame Unterricht. Nachdem
nunmehr die für das Erwerbsleben und die mittlere Beamtenlaufbahn be-
stimmten Schüler die Anstalt verlassen haben, beginnt von O II an das
eigentliche wissenschaftliche Studium, das sich sofort in eine humanistische
(alt- und neusprachliche) und eine realistische Abteilung gliedert, die aber
grundsätzlich unter einem Lehrkörper vereinigt bleiben und wichtige Fächer
(Deutsch, Staats- und Gesellschaftskunde, Religionsgeschichte und Philo-
sophie) gemeinsam haben. Von Fremdsprachen bleibt für beide Gruppen
das Englische verbindlich; für die humanistisch-altsprachliche dazu Grie-
chisch und Latein, für die humanistisch-neusprachliche Französisch in Klasse
IIa und I und Lateinisch in Klasse I. Auf naturwissenschaftlich-mathema-
tischem Gebiete begnügt sich die humanistische Abteilung damit, weitere
Anregungen zu bieten, desgleichen die realistische Abteilung auf historisch-
politischem Gebiete.
Dieser Lehrplan, zu dem die Schrift über die Nationalschule ausführ-
liche Erläuterungen hinzufügt, weist innere und äußere Ähnlichkeit mit der
Einheitsschule von Männern wie Rein, Kerschensteiner, Tews auf; was
302 Hans Borbein,
ihren Verfasser vor ihnen auszeichnet, ist, daß er es nicht bei der Theorie
bewenden ließ, sondern sie mit Umsicht und Tatkraft in die Wirklichkeit
übersetzte, soweit nicht unüberwindliche Schwierigkeiten ihm entgegen-
standen. Die Haupthindernisse bestanden in der großen Verschiedenheit
der Vorbildung der auf allen Stufen der Heime fortdauernd neu eintretenden
Schüler und in dem Zwang, viele von ihnen, und darunter meist gerade die
tüchtigsten, für Aufnahme-, Schluß- und Reifeprüfungen an öffentlichen
Schulen vorzubereiten und damit von dem eigentlichen Ziel ihrer Erziehung
abzudrängen. Es ehrt Lietz und seine Mitarbeiter, daß es ihnen trotz aller
Hemmungen gelungen ist, in jedem Schuljahr diese schwierige Aufgabe
mit einer nicht geringen Zahl von Zöglingen zu lösen. Freiere Bahn werden
die Heime für ihre Reformversuche auf dem Gebiet der Lehrverfassung
freüich erst dann erhalten, wenn die auch von anderen Pädagogen an-
gestrebte, seit der Reichsschulkonferenz von den Landesregierungen
erwogene stärkere Einstellung der wissenschaftlichen Forderungen auf die
Leistungsfähigkeit und Neigungen der Schüler (Vereinfachung der Pläne;
größere Beweglichkeit, namentlich auf der Oberstufe; Beschränkung der
Reifeprüfung auf wenige Fächer) durchgeführt ist. Für den gegenwärtigen
Unterrichtsbetrieb an den Lietzschen Anstalten wäre eine baldige Lösung
dieser Frage im hohen Maße erwünscht, da die jetzige Zwitterstellung un-
haltbar ist. Dies gilt besonders für die fremden Sprachen, und zwar
vor allem die neueren, weil die meisten Heimschüler, welche auf die Reife-
Prüfung hinarbeiten, diese, sei es als Auswärtige oder (was seit Ostern 1920
statthaft ist) an der Anstalt selbst, nach dem Lehrplan der Oberrealschulen
ableisten wollen. Der auch nach seinem Tode noch fortwirkende Einfluß
der überragenden Persönlichkeit des Stifters der Anstalten hat seine Auf-
fassung vom Wesen und Wert des fremdsprachlichen Unterrichts als lebendige
Tradition bei Lehrern und Schülern festgelegt. Lietz betrachtete ihn als ein
sekundäres Bildungsmittel ; ihm kam es wesentUch auf den in den Sprachen
enthaltenen Kulturinhalt an, den er, soweit es mit Hufe von Übersetzungen
und durch geschichtliche Belehrung geschehen könnte, lieber auf diesem
einfacheren und, wie er meinte, schneller in die Tiefe führendem Wege ver-
mitteln wollte. Den formal bildenden Wert auch der neueren Sprachen
sah er sogar in Höhenleistungen wie denen der Frankfurter Reformschulen
als gering an und ließ sich auch nicht überzeugen durch den Hinweis auf die
Bedeutung der auf der Schule erworbenen fremdsprachlichen Kenntnisse
für Anforderungen der Universität und des praktischen Lebens. Wenn dem-
nach der Zustand des Sprachunterrichts an den L. E. H. nicht als vorbild-
lich für andere Schulen angesehen werden kann, so kommt den Heimen doch
das Verdienst zu, durch die von ihnen angestellten Versuche die Schwierigkeit
des Problems herausgestellt zu haben. Fragen wie die, ob wir den Beginn
so weit hinaufrücken sollen, wie Lietz es vorschlug und zum Teil auch prak-
tisch durchführte, ob mit Französisch oder Englisch zu beginnen sei, welches
Verhältnis diese beiden auf den höheren Stufen zueinander haben sollen,
ob es möglich sei, die von ihm hochgesteckten Ziele der humanistischen
Hermann Lietz und die höheren Schulen. 303
Bildung noch zu erreichen, wenn man Griechisch und Lateinisch so spät
einsetzt, wie er es tut, sind bisher ungelöst und bedürfen erst noch einer
langen Erprobung, ehe daraus allgemeine Schlußfolgerungen für unser ge-
samtes Schulwesen gezogen werden können.
Wichtiger als die Änderung des Lehrplans war für Lietz die Wieder-
geburt des Geistes, in dem er ausgeführt wurde. Richtunggebend
sollte die Psychologie des jugendlichen Menschen sein. Da dieser in erster
Linie ein wollendes und handelndes Wesen ist, so war damit auch Weg und
Ziel des erziehenden Unterrichts gegeben: durch Selbsttätigkeit zur Selb-
ständigkeit zu führen. Von dieser Grundlage aus wurde zunächst allem
toten Wissen der Krieg erklärt und das Gedächtnis bewußt in den Hinter-
grund gedrängt. Als Symbol dieses Kampfes galt die Verbannung des Leit-
fadens, der in der ,, Lernschule" eine fast unbeschränkte Herrschaft geführt
hatte. Die erste Folge dieser Einstellung war eine gewaltige Verkürzung
des Stoffes. Da das mechanische Auswendiglernen auf das unumgänglich
Notwendige beschränkt wurde, verschwanden Massen von Zahlen, Wörtern,
Lehrsätzen, und was davon blieb, mußte in ganz anderer Weise verarbeitet
und angeeignet werden. Während sonst in der Klasse im wesentlichen das
Verhältnis von Geben und Aufnehmen herrschte, wurde jetzt eine Arbeits-
gemeinschaft hergestellt, in welcher der Lehrer sich nach Möglichkeit
zurückhielt und dafür den Schüler zum Mitschaffen anregte oder, wo es
anging, ihm auch die schöpferische Initiative überUeß. An die Stelle des
unfruchtbaren Frage- und Antwortspiels und des einseitigen Vortrags des
Lehrenden traten eigene Beobachtung, Nachdenken, selbständige Versuche
des Lernenden. Dieser mußte helfen, den Stoff herbeizubringen und vorzu-
bereiten, so besonders auf allen geschichtlichen Gebieten, wo Quellenschriften
zur Verfügung standen, und in den sprachlichen Fächern, in denen es sich
darum handelte, Texte zu deuten und in sich aufzunehmen. Das gewöhn-
liche Bild einer Lehrstunde war das eines Lehrgesprächs auf Grund der
Vorbereitung beider Teile, wobei nur die Leitung in der Hand des an Er-
fahrung und Können überlegenen Lehrers blieb, während jeder Schüler
reiche Gelegenheit erhielt, im Wettbewerb mit ihm und seinen Kameraden
sein inneres Leben auszudrücken, sei es durch kurze Erwiderungen oder
zusammenhängenden Vortrag. Besondre Formen nahm der Arbeitsunter-
richt an in den mehr auf sinnlicher Wahrnehmung und Erfahrung beruhenden
erd- und naturkundlichen Fächern. Hier wurde die unmittelbare Anschauung
begünstigt, und zwar nicht im Sinne der passiven Aufnahme, sondern in
möglichster Verknüpfung mit dem selbständigen Handeln der Zöglinge.
Daher gestand man dem Schülerexperiment einen breiten Raum zu, wobei
der Hauptnachdruck auf das Beschreiten eigener Wege und das selbständige
Finden von Problemen gelegt wurde. Außerdem unterstützte die Tätigkeit
in der Werkstätte, die Beschäftigung in Feld und Garten, die Pflege der Tiere
den wissenschaftlichen Klassenunterricht. Wo es anging, wurden die Lehr-
stunden selbst ins Freie verlegt und damit eine unmittelbare Berührung
mit dem zu behandelnden Gegenstand hergestellt. War die nächste Umgebung
304 Hans Borbein,
den Heimschülern vertraut geworden, dann ging es zu Fuß oder mit dem
Rade hinaus in das deutsche Land, und wenige Jahre verstrichen, in denen
nicht einer größeren Schar Gelegenheit geboten wurde, auf weiten, an Stra-
pazen und Entbehrungen reichen Reisen, die auch tief in fremde Länder
und Erdteile hineinführten, die jugendlichen Kräfte zu rühren. Noch heute
legen Berichte, die von den Schülern selbst in den von den Heimen für Eltern
und Freunde herausgegebenen Schriften veröffentlicht wurden, Zeugnis
ab von solchen kühnen Unternehmungen.
Wir können die allmähliche Entwicklung dieses Lehrverfahrens und seine
Anwendung auf die verschiedenen Fächer an der Hand der Jahrbücher
der L. E. H. verfolgen, die eben darum eine so wertvolle Quelle für alle Fach-
genossen sind, denen die innere Reform unserer Jugendbildung am Herzen
liegt. Lietz und seine Mitarbeiter waren sich dabei des Zusammenhangs
mit ihren Vorgängern, in erster Linie den Vertretern der Herbart-Ziller-Stoy-
schen Pädagogik, wohl bewußt. Auch wurden neuere Strömungen im öffent-
lichen Schulwesen mit Eifer verfolgt und benutzt, so die in den 80er Jahren
beginnende Reformbewegung auf dem Gebiete der modernen Sprachen, die
Wandlungen in der Methodik in den mathematisch-naturwissenschaftlichen
Fächern, im Zeichenunterricht, die Berliner Schulkonferenzen, der Rein-
hardtsche Kampf gegen den Mißbrauch des Extemporales. Die Urteile solcher,
den Heimen ferner stehenden Männer und Frauen, die Gelegenheit fanden,
die Wirkungen und Ergebnisse des neuen Lehrverfahrens an Ort und Stelle
zu beobachten, stimmen begreiflicherweise nicht immer überein Das liegt
manchmal schon an dem eignen Standpunkt der Besucher Ferner dürfen
wir nicht vergessen, daß es für die L. E.H. noch schwieriger war als für andere
Privatschulen, die geeigneten Lehrkräfte zu gewinnen und zu fesseln, um
so mehr als die geniale Persönlichkeit ihres Leiters wohl darauf eingestellt
war, den werdenden Menschen alles zu sein, reife Naturen aber, die selbst
eigenes zu geben hatten und sich seinen hohen Anforderungen nicht leicht
fügten, vielfach von sich abstieß. Endlich liegen ja in dem Verfahren selber
zweifellos gewisse Gefahren und Schwächen, die auch zur Vorsicht bei seiner
Übertragung auf andere Schulen mahnen. Weder werden die meisten Lehrer
geneigt sein, auf die Hilfe des in der Jugend besonders starken Gedächtnisses
und die Erwerbung positiver Kenntnisse in dem Maße zu verzichten, wie
Lietz es in menschlich verständlicher Abkehr von seiner eignen Schulerfahrung
tat, noch auch den gedruckten Lehrbüchern einen so bescheidenen, und
den schriftlichen Ausarbeitungen der Schüler einen so breiten Raum anzu-
weisen, wie es in den L. E.H. üblich ist. Ferner erfordert die Durchführung
des Gedankens der Arbeitsgemeinschaft in und mit der Klasse einen solchen
Grad der Stoffbeherrschung und geistigen Beweglichkeit, daß nicht jeder
Lehrer diese Methode wie ein Rezept anwenden kann. Auch in den Heimen
selbst hat mancher versagt und wird künftighin versagen. Trotzdem
aber bleibt es dabei, daß Lietz selbst und viele seiner Mitarbeiter und
Nachfolger in den L. E. H. als Lehrer ausgezeichnete Erfolge erzielt haben,
die zur Nacheiferung anreizen. Es ist eine Freude, festzustellen, sei es nun
Hermann Lietz und die höheren Schulen. 305
in der Klasse oder bei Prüfungen oder auch im allgemein menschlichen Ver-
kehr, mit welcher Frische und Unmittelbarkeit ihre Schüler die Gegenstände
erfassen, wie treffsicher sie urteilen, und mit welcher Gewandtheit und Un-
befangenheit sie in zusammenhängender Rede Rechenschaft ablegen über
das, was sie geistig durchdrungen haben.
'Der wissenschaftliche Unterricht umfaßt in den L. E. H. im allgemeinen
nur den Vormittag, während der Nachmittag außer der Erholung der künst-
lerischen, körperlichen und praktischen Ausbildung gewidmet
ist. Obwohl Lietz nach Herkunft, Veranlagung und Erziehung weder zur
Musik, noch zu den darstellenden Künsten ein tieferes Verhältnis hatte,
verkannte er doch nicht den Wert des Ästhetischen für die Gesamtentwick-
lung des Menschen und hat daher dies Gebiet in seinen Anstalten mit
Liebe und Sorgfalt ausgebaut. Vorbildliches ist auch hierin geleistet worden,
so oft es ihm gelang, die geeignete PersönUchkeit als Lehrer zu gewinnen.
Künstlerisch und pädagogisch veranlagte Fachmänner fanden im Zeichnen
sowohl wie in der Musik ein dankbares Wirkungsfeld unter den durch den
Gesamtgeist der Heime für alles Edle und Schöne begeisterten Schülern.
Im engen Zusammenhang mit den Leistungen bei musikalischen Feiern
stehen die theatralischen Aufführungen, die es bei der Gewöhnung
der Zöglinge an Selbsttätigkeit und freies Heraustreten nicht selten zu hoher
Vollendung bringen. Zur Domäne der ästhetischen Bildung, in enger Ver-
flechtung mit dem Sittlichen, müssen wir endlich auch die Weihestunden
rechnen, die von dem englischen Vorbild ihren Namen (Kapellen) und
einen Teil ihres Wesens entnommen, im Laufe der Zeit aber eine immer reichere
und tiefere Ausgestaltung erfahren haben. Es sind abendliche und sonntäg-
liche Feiern, in einem stimmungsvollen Räume oder draußen in der
freien Natur abgehalten, bei denen die Seele Schwingen empfängt durch
die Musik und mit heiligem Inhalt erfüllt wird durch das Wort der Großen
aus dem Reiche des Geistes. Ihr Ursprung liegt in den Andachten, durch
welche das Gemeinschaftsgefühl frommer Familien von jeher sich ausge-
drückt hat. Und wenn heute so viele öffentliche Schulen unter dem Druck
der durch die Revolution geschaffenen Verhältnisse schwankend geworden
sind, ob sie diese einst vom Hause übernommene christliche Sitte noch bei-
behalten sollen, so mögen sie einmal versuchen, alles Konfessionelle und
Dogmatische beiseite zu schieben, die Erhebung der Herzen zu Gott etwa
im Schleiermacherschen Sinne aufzufassen und, wie in den L. E. H., den
religiösen auch andere, im weitesten Sinne erbauliche Stoffe hinzuzufügen,
dem Worte die Töne beizugeben und die ganze Feier so zu gestalten, daß keine
junge Seele unberührt bleibt. Wenn dann vielleicht nicht eine so tiefgehende
Wirkung erreicht wird, wie einst bei Lietz und heute noch in glücklichen
Stunden bei manchem seiner Nachfolger, so dürfen wir doch gewiß sein,
daß unsere deutsche Jugend, die in der Nachkriegszeit nach religiöser Erhebung
hungert, durch solche Schulfeiern eine edle Bereicherung erfahren wird.
Wie die künstlerischen, so wurden auch die körperlichen Übungen,
die in den Anstalten von Lietz einen so breiten Raum einnehmen, alseinwesent-
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 20
306 Hans Borbein,
liches Mittel zur Erziehung der sittlichen Persönlichkeit angesehen. Ihm
schwebte wohl als dem früheren Theologen das Wort des Apostels vom Leibe als
dem Tempel Gottes vor. Daher die einfache, gesunde Kost, die Körperpflege,
die naturgemäße Kleidung, die strenge Enthaltung von Alkohol und Nikotin,
Spiel und Sport aller Art und endUch als letztes, aber nicht einziges oder
nur wichtigstes Mittel der körperUchen Erziehung, das Schulturnen. In
all diesen Dingen war Lietz selbst, der einen von Jugend an durch gesunde
Lebensweise und Übung abgehärteten und gestählten Körper besaß, seinen
Schülern ein unübertreffliches Vorbild. Auch von. seinen Lehrern verlangte
er, daß sie wenigstens den ernsten Willen zeigten, der Jugend durch ihr eignes
Verhalten ein gutes Beispiel zu geben. Die Auflösung des Heeres und die
Pflicht, den Nachwuchs trotzdem wehrhaft zu erhalten, rückt dies in den
L. E. H. nun schon länger als 20 Jahre erprobte System der Körperkultur
in eine ganz besondere Beleuchtung und stellt seinen Schöpfer als Erzieher
des deutschen Volkes zur Mannhaftigkeit unmittelbar neben seinen großen
Landsmann E. M. Arndt.
Die Herkunft von Lietz aus einfachen bäuerlichen Kreisen war auch be-
stimmend für die neben dem Unterricht herrschende praktische Betäti-
gung seiner Zöglinge im landwirtschaftlichen Betrieb und
Handwerk. Gedanken, die wir bei Rousseau, den Philanthropen, Pesta-
lozzi, Fröbel, Fichte finden : von der Rückkehr zur Natur, von der Notwendig-
keit, schon die Kinder zur Erzeugung materieller Güter anzuleiten, vom
Wert der Handarbeit, steckten ihm von Geburt an im Blut, wuchsen mit
dem in ihm als unwiderstehlicher Drang lebenden Bedürfnis, Abwechslung
und Erholung von geistiger Anstrengung in der Beschäftigung in Feld und
Garten, in Wirtschaft und Werkstätte zu suchen, und nahmen immer festere
Gestalt an, je mehr ihn die Arbeitsgemeinschaft mit seinen Schülern und
Lehrern vor neue Aufgaben stellte. Dies dürfen wir nicht aus den Augen lassen,
wenn wir die praktischen Arbeiten der Zöglinge der L, E. H. in ihrer Eigen-
art und ihrer Bedeutung für unsere öffentlichen Schulen richtig beurteilen
wollen. Sie sind nicht vom Verstände ausgeklügelt und den übrigen Bildungs-
mitteln mechanisch hinzugefügt worden, sondern von Anbeginn an mit diesen
organisch verbunden gewesen, einem in der Sache liegenden Bedürfnis ent-
sprossen und haben auch einen äußeren Nutzen gehabt, ohne den die Heime
mit all dem, was zu ihnen gehört, nicht zu der heutigen Blüte hätten gelangen
können. Dieser sichtbare Ertrag für das Ganze, der dem entspricht, was
wir gegenwärtig wohl als Produktionsschule bezeichnen, ist freilich,
wenn wir ihn auch, besonders als Mittel zur Erzeugung sozialer Gesinnung,
nicht gering veranschlagen wollen, nicht der wichtigste Gesichtspunkt
unter dem wir die Feld-, Garten- und Werkstättenarbeit in den L. E. H.
betrachten dürfen. Er ist auch bei Lietz ganz von selbst allmählich zurück-
getreten, als die Heime ihrer äußeren Vollendung entgegengingen, und wird
noch mehr im Hintergrund gehalten werden müssen bei den zu erwartenden
Versuchen, die von ihm gegebenen Anregungen auf Staatsschulen, nament-
lich Internate, zu übertragen. Unter dem Sammelnamen „Werkunterricht"
Hermann Lletz und die höheren Schulen. 307
sind ja diese mannigfaltigen praktischen Schülerarbeiten neuerdings in der
pädagogischen Theorie zu hohem Ansehen gelangt ; ihre allgemeine Einführung
wird zurzeit schon durch die wirtschaftliche Notlage verhindert; aber selbst
wenn diese bald behoben werden sollte, wird sich doch zeigen, daß sie auf die
Dauer nur dann fruchtbar gestaltet werden können, wenn sie fest verankert
werden in dem allgemeinen Erziehungsziel und dementsprechend enge Ver-
bindungen eingehen mit den übrigen Lehrgegenständen, und wenn sie anderer-
seits doch wieder mit fachmännischer Gründlichkeit betrieben werden und
ihre Eigengesetzlichkeit nicht aufgeben. Nur dann werden sie auch dazu
beitragen, eine Versöhnung zwischen Hand- und Kopfarbeit anzubahnen.
Die Entfernung vom Weltgetriebe, in der das Leben der L. E. H. sich
abspielt, hat bei Außenstehenden unter den mancherlei Vorurteilen auch
das hervorgerufen, es herrsche dort eine nicht selten zur Zügellosigkeit aus-
artende Ungebundenheit. Der Überblick über ihren äußern und Innern Be-
trieb, den wir im Vorstehenden entworfen haben, wird jeden unbefangen Ur-
teilenden davon überzeugt haben, daß der Tageslauf eines Heimschülers
ein weit größeres Maß von Pflichten aufweist, als der ihrer Kameraden an
den öffentlichen Schulen. Lietz hat den Weg eingeschlagen, den vor ihm
so viele sittliche Reformatoren gegangen sind, er setzte im Sinne des Christen-
tums an die Stelle des Gesetzes die innere Freiheit, die sich selbst Normen
schafft, im Sinne Goethes in der Pädagogischen Provinz an die Stelle der
Furcht die Ehrfurcht. Von diesem Geiste ist alle Arbeit in den Heimen ge-
tragen, er durchdringt auch das Gemeinschaftsleben, das Zöglinge und
Erzieher außerhalb der Lehrstunden führen. Lietz und seine Helfer fassen
die Beziehungen, die sie mit ihren jüngeren Weggenossen vereinigen, am
Hebsten zusammen unter dem Bilde der Familie, deren sichtbare Form
auch in Ilsenburg noch obwaltet, während später, besonders in Bieberstein,
die äußeren Bande gelockert sind. Ihren ursprünglichsten Ausdruck findet
die Zusammengehörigkeit in den gemeinsamen Mahlzeiten, die alle Heim-
bewohner, mit Einschluß der Frauen und Kinder der Lehrer, der Haus-
angestellten und Gäste vereinen; wie denn auch jedem der Zutritt offen
steht zu den zahlreichen Feiern ernster und fröhlicher Art. Daneben aber
wird dem einzelnen Zögling die seinem Lebensalter entsprechende Bewegungs-
freiheit gelassen. Herzlichkeit und Freimut gepaart herrschen im kamerad-
schaftlichen Verkehr der Knaben, Jünglinge und Mädchen untereinander,
sie kennzeichnen aber ebenso ihre Stellung zu dem selbstgewählten Familien-
haupte, dem sie durch das trauliche gegenseitige Du besonders nahetreten,
und zu den übrigen Erwachsenen. Aus dieser Gesinnung heraus ist im Laufe
der Jahre die neue, auf Selbstregierung und freiwilliger Unterordnung unter
das Ganze beruhende Lebensform erwachsen, die wir mir dem Namen der
Schulgemeinde bezeichnen. In unser aller Erinnerung lebt der ihrem
innersten Wesen als eines organischen Gebildes widersprechende überstürzte
Versuch, sie mechanisch auf die übrigen Schulen zu übertragen. Dies Be-
ginnen mußte scheitern. Fruchtbarer wird es sein, die ihr zugrunde liegenden
Gedanken allmählich in unser öffentliches Bildungswesen einzuführen. Den
20*
308 Paul Lorentz,
Weg dazu hat der jetzige Oberleiter der L. E. H. Dr. Andreesen gezeigt in
seinem glücklichen und erfolgreichen Auftreten bei der Reichsschulkonferenz
und neuerdings wieder in seinen besonnenen und überzeugenden Ausführungen
über Selbstverwaltung der Schüler in dem bei Teubner erschienenen
Sammelwerk von Neuendorff „Die Schulgemeinde*',
• Das letzte Ziel der Erziehung, wie Lietz sie auffaßte, ist aber doch nicht
das Gemeinschaftsleben als solches, sondern der in sich ruhende sittlich-
religiöse Einzelmensch in seiner Eigenart und seinen mannigfachen
Beziehungen zur Umwelt. Daher gab er sein Bestes in den persönlichen
Berührungen mit jedem seiner Zöglinge, vor allem denen, die seinem Herzen
nahe standen. „Der echte Führer der Jugend ist zugleich ihr Freund", sagt
er einmal in seinen Lebenserinnerungen ; dies meinte er aber in einem ganz
feinen und besonderen Sinne, Alles Eigensüchtige und Triebhafte muß
von dieser auf Wahlverwandtschaft beruhenden Freundschaft fern bleiben.
Ihren festesten Grund findet sie in der gemeinssn-en Begeisterung für ver
ehrte Helden, Werke, Ideale. Sie ist ein seelisches Erlebnis, in dem sich der
platonische Eros mit der christlichen Liebe vermählt. Wenn heute so viele
einstige Bürger der L. E. H. in wehmütiger Erinnerung an vergangenes Glück
das Bild ihres Führers betrachten, oder wenn das Bedürfnis, ihre tiefe Dank-
barkeit für alles von ihm Empfangene auszudrücken, sie an sein stilles Grab
am Waldesrande in Haubinda führt, dann tragen sie in sich lebendig das
Gefühl einer Innern persönlichen Gemeinschaft, die Trennung und Tod über-
dauert und unzerstörbar ist. In dieser höchsten und tiefsten Beziehung
von Menschen untereinander ist Hermann Lietz seinen Mitarbeitern Muster
und Wegweiser gewesen ; ob auch wir anderen Lehrer und Erzieher seinem
Beispiel folgen und für die zu allen Opfern bereite Hingabe an die Jugend
den gleichen Lohn davontragen werden, liegt an uns.
Cassel. Hans Borbein,
Emil Ludwigs Goethe^).
Unter den bedeutenden Goethe-Darstellungen des letzten Jahrzehnts
haben uns die Bücher von Chamberlain und Simmel das gegeben, was man
die „Idee Goethe" nennen kann, hat das Buch von Gundolf uns in Goethe
den „gestalterischen Deutschen schlechthin" gezeichnet, damit wir erführen,
nicht was er litt und tat, sondern was er war und schuf kraft seiner ange-
borenen „Entelechie". Nun führt uns ein namhafter, psychologischer Schrift-
steller und Dichter, Emil Ludwig, die Geschichte von Goethes Seele vor
„im Sinne Plutarchs, doch mit den Mitteln der modernen Psychologie für
die Nerven unseres Jahrhunderts". Das war, wie bei allen solchen geschicht-
lichen Darstellungen, nur möglich auf Grund der Vision der gesamten
Gestalt Goethes, aber dieses Vorgefühl ist durch das Studium der Akten,
hier also der Briefe, Gespräche, Tagebücher, nEmcntlich auch der Bildnisse
aufs gründlichste nachgeprüft — die Mitarbeit eines besonders verdienst-
^) Qoftthe, Geschichte eines Menschen von Emil Ludwig. S Bde. J. G. Cotta.
Stuttgart-Berlin 1920. Geb. 75 M.
Emii Ludwigs Goethe. 309
vollen Goethe-Philologen, Ed. von der Hellen, ist dem Verfasser hier in
dankenswerter Weise zustatten gekommen. Im Buch selbst konnten daher
Zahlen und Daten aller Art fortfallen, sie wurden durch knappe Zeittafeln
am Schluß jedes Bandes aufs beste ersetzt und hätten die Darstellung, die nicht
selten von hohem künstlerischen Reiz ist, nur gestört. Die Geschichte Goethes
als die Seelengeschichte eines Menschen stellt uns Ludwig dar und räumt
dadurch endgültig, sollte man meinen, mit Goethe als dem jungen Apoll
und dann wieder als dem alten Olympier, mit dem „glücklichen" wie mit
mit dem „harmonischen" Goethe auf, um uns dafür „die größte Gestalt
der neuen Geschichte, den Mann zu zeichnen, der von sich sagen konnte,
er habe sichs sauer werden lassen." Auf Kampf war Goethes Leben gestellt,
auf den unablässigen Kampf zwischen seinem Genius und seinem
Dämon. Das ist zwar nicht die leitende Idee, aber der unzweifelhafte, eigent-
liche Sinn von Goethes 83 jährigem Lebenslauf, das gibt die unvergleichliche
Einheitlichkeit und Gesetzmäßigkeit seines Lebens ab: die Höherentwick-
lung vermittels dieses Kampfes, das die ,,Urpolarität", die in Goethe —
hierin ein selten typischer Mensch — besonders stark ausgeprägt war. „Dä-
mon, vom Genius überwunden, das Dasein im Kampf mit sich selber, kunst-
volle Konstruktion von Wällen gegen die Welt, Ergreifung jeder Tätigkeit,
um sich vor sich zu retten, bewußte Zusammenfassung im engen Raum, alles
nach innen wendend — und so im 80jährigen Kurvenfluge mit höchster Geduld
langsam um eines Berges Höhe den Sternen angenähert," so faßt Ludwig selbst
im dritten Bande Goethes Lebens-Sinn völlig zutreffend gegenüber dem
Lord Byrons zusammen, dessen Genius von seinem Dämon zerstört wurde.
Und je zuweilen weist er immer wieder auf jenes Ringen hin und durch-
leuchtet dadurch in oft noch kaum bemerkter Art, da er auch scheinbar
unbedeutende Äußerungen feinsinnig zu deuten und namentUch auch in
den Gesichtszügen gleichzeitiger Bildnisse trefflich zu lesen versteht, alle
Hauptstufen in dem Entwicklungsgange Goethes. In der einen Gestalt
des „Prometheus" schlugen, wie sonst nie so vollkommen, die beiden streiten-
den Gewalten, Genius und Dämon, zusammen : Selbstbewußtsein, vom Glauben
an ein Schicksal männlich gebunden. Deutlich wird, wie in Weimar Frau
von Stein für Jahre hindurch „die ganz un-Goethische christliche Trennung
von Tier und Gott erzwang" und wie die unter diesem Einfluß erzielte Har-
monie nur eine künstliche sein konnte. Das Erlebnis der Antike in Italien,
von wo er nicht neu geformt, nur mit neu formenden Idealen heimkehrt,
wirkt so, als nähme der Genius einen stilistischen Umweg, um sich aufs neue
über den Dämon zu stürzen. Und die gar stille und einfache Welt, die Goethe
zuerst als Gatte und Vater bewohnt, sie ist die Form, in der sich der dä-
monische Mensch zu beruhigen trachtet, um dem Genius Freiheit zu schaffen.
Voll überzeugend ist die Einheitlichkeit des ,, mystischen Kreises" gekenn-
zeichnet, die Goethes Forschung ebenso beschreibt wie sein Dichten, wie sein
Handeln: „Das Auge sieht Gelegenheit, der Genius schaut Allgemeines,
das Individuum faßt zusammen. Dieser Weg von der Beobachtung über
die Vision zum Gesetz ist es, den der Lyriker, der Minister, der Forscher immer
310 Paul Lorentz, Emil Ludwigs Goethe.
wieder zurücklegt, und nur von Umfang und Schwierigkeit der Materie hängt
es ab, ob dieser Weg Minuten oder Jahre währt." In der Naturforschung
aber gerade zeigt sich auch, im Kampf gegen Newtons Farbenlehre, seine
dämonische Natur ganz besonders stark. In den Freundschaften — mit
Herder besonders und mit Schiller, in dem Goethe den idealen Zuhörer gewann,
der aber selbst Goethes Charakter völlig verkannte, da ihm sein lebens-
länglicher Kampf unsichtbar blieb, immer nimmt das Ringen zwischen Genius
und Dämon neue Gestalten an. In den 50er Jahren seines Lebens steht
es so, daß man den Eindruck gewinnt, der dämonische Teil seines Wesens
habe sich eingeschleiert. In der ,,Pandora" schließt sich zum ersten Male
Goethes Doppelwesen mit gefaßter Leidenschaft, aber bald hat er einsehen
müssen, daß ihm die harmonische Führung der Kunst für die Dauer von
seinem Dämon verboten oder doch verschlossen bleibt. Die 60er Jahre
seines Lebens verlaufen vom Dämon ungestörter denn je — aber auch hier
wieder ein neidvoller Rückblick auf die dämonische Jugend — es ist die Zeit
der Wendung seiner Dichtung nach dem Osten, und in dem Erlebnis und der
Dichtung mit Marianne von Willemer scheint der archimedische Punkt end-
lich gefunden, die Systematik seiner Seele sichergestellt zu sein. Die 70er
Jahre bringen dann die letzte Metamorphose Goethes: die Auflösung der
Persönlichkeit in das Allgemeine. Aber wenn auch der Dämon im 74 jährigen in
seiner psychischen Substanz sich von dem des Jünglings nicht zu unter-
scheiden scheint, bei der Werbung um Ulrike v. Levetzow ist doch eben nicht
die Person, sind vielmehr die Frauen überhaupt, die Jugend, das Leben ge-
meint. Und die letzte Stufe : Lebendigste Erscheinung von Ironie und Skepsis,
Selbstbewußtsein und Verehrung wie nur je im Jüngling, aber der Dämon,
gegen den nicht nur der Genius als Retter dasteht, sondern auch die acht
Jahrzehnte hindurch als das andere Korrektiv geübte gigantische Willens-
kraft, zerstört nicht mehr, wenn auch hinter dem Alters-Stil, im Leben wie
im Dichten — in Wahrheit eben der entschiedene Wille des innerst auf-
geregten, vom Genius bedrängten Meisters steckt, der mit den Mächten dieser
Welt lieber nur noch auf eine kalte Art sich verständigen als auf eine heiße
streiten will.
Mit andauernder Spannung liest sich diese ,, Geschichte eines Menschen",
Goethes, die doch im Grunde die Geschichte des Menschen ist, von Goethe
eben typischer als von einem andern erlebt und erlitten, weil der große Rhyth-
mus von Freiheit und Gebundenheit, der das gesamte Dasein bewegt, in
seinem Leben besonders scharf und deutlich zum Ausdruck kommt, mit
Goethes eignen Worten : ,, Die Vernunft in uns wäre eine große Macht, wenn
sie auch wüßte, wen sie zu bekämpfen hätte. Die Natur in uns nimmt immer-
fort eine neue Gestalt ein, und jede neue Gestalt wird ein unerwarteter Feind
für die gute, sich immer gleiche Vernunft." Das Verfahren des Verfassers,
diesen Kampf zur Anschauung zu bringen, wirft auf sehr vieles in Goethes
Leben ein neues Licht, läßt vieles, mit dem man längst fertig zu sein glaubte,
wieder als Problem erscheinen. Von überaus fesselndem Reiz sind die an wich-
tigen Wendepunkten in Goethes Entwicklung gezeichneten Augenblicksbilder,
Wilmsen, Zum systematischen Aufbau des neusprachlichen Unterrichts der Oberstufe. 311
die mit Farben und Formen von größter Treffsicherheit unvergeßliche Eindrücke
prägen, so gleich zu Beginn der 16jährige Student in einem Leipziger Ga-
lanterieladen, dann wieder der Goethe in Italien in der Fensternische eines
kühlen Saales auf die Straßen Roms schauend, oder nach der Rückkehr Goethe
bei dem Nachmittagstee aufschloß Belvedere oder der Arbeitstag des 80-
jährigen im Weimarer Goethehause.
Kein Lehrer des Deutschen auf der obersten Stufe wird Ludwigs Goethe-
buch übersehen dürfen: als einen Prüfstein seiner bisherigen Verlebendigung
Goethes vor aufnahmefähigen jungen Seelen wird er es werten müssen, als
einen Ansporn zu vertiefterer Brlebnisfähigkeit für künftig. Daß er dabei
selbst den größten Gewinn haben wird, unterliegt gar keinem Zweifel ; denn
v/elcher rechte Lehrer treibt wohl nur Dinge, die er unmittelbar im Unter-
richt verwenden kann? wen triebe es nicht, auch im siebenten Jahrzehnt
noch seine Gesamtpersönlichkeit zu steigern ? Und dazu wird ihm das Nach-
erleben der in Goethe so ungewöhnlich wirksamen „Urpolarität aller Wesen"
besonders förderlich sein.
Spandau. Paul Lorentz.
Zum systematischen Aufbau des neusprachlichen Unterrichts
der Oberstufe.
Auf der Oberrealschulbesprechung am 5. Februar dieses Jahres in Han-
nover lautete die erste Frage, ob der naturwissenschaftliche Unterricht auf
Kosten des neusprachlichen verstärkt werden solle. Ein Nichtfachmann,
dem ich davon sprach, antwortete unbedenkUch mit „ja". Wenn er an seine
Schulzeit zurückdenkt, hat er bei allen Fächern, außer den neusprachlichen,
Erinnerungsbilder, die von Massen wertvollen Stoffes reden, denen durch den
Lehrplan schon Abrundung und Einteilung gegeben ist; das Gelernte lebt
in seiner Erinnerung als ein systematisch aufgebautes Ganzes, dessen einzelne
Teile bei allem Eigenwert als unentbehrliche Glieder eines Ganzen erscheinen.
All diese Eigenschaften vermißt er beim Sprachunterricht ; in Oberprima war
z.B. nie mehr von dem in Obersekunda Gelesenen die Rede. Dieses Urteil
erinnerte den Verfasser an seine eigenen Ausführungen im 21. Bande der
Neueren Sprachen, daß „der Unterricht in den neueren Sprachen der un-
bedingt nötigen Systematisierung ermangelt, zu der kaum die Anfänge vor-
handen sind. Man braucht nicht zu zweifeln, daß dem neusprachlichen
Unterricht etwas von der Geschlossenheit des mathematischen oder geschicht-
lichen Unterrichts gegeben werden könnte".
Die Lehrpläne weisen an einigen Stellen auf solche Systematisierung
hin; für die Grammatik scheint sie selbstverständlich und liegt im Lehr-
buch, allerdings nur bis Uli, vor. So kann man denn einen vor der O II
neu eintretenden Schüler genau nach der gewünschten Klassenstufe prüfen.
Aber wie ist es mit den übrigen Dingen? Im Wortschatz ist die Systemati-
sierung in den Lehrplänen angedeutet, wenn ein Schatz fester Phrasen ver-
langt wird, Ist er überall vorhanden? Wird er von allen Lehrern, auch bei
Lehrerwechsel, ständig wiederholt? Wie ist er zustande gekommen? Wenn
312 Wilmsen,
Systematisierung sein soll, muß sie aber wohl vor allem in dem zu finden
sein, was im Mittelpunkt des Unterrichts der Oberstufe stehen soll, in der
Lektüre. Das Bedürfnis danach ist sicher vielfach rege und geht aus den Auf-
sätzen von Ludwig, Dietz, Molsen, Oeckel hervor. Gegenüber den dort ge-
gebenen Anregungen sei es gestattet, mal das erste Drittel aines Gesamtplanes
zu skizzieren, der in allen seinen Teilen erprobt wurde, wenngleich es wegen
des Krieges nicht möglich war, ihn von ein und derselben Klasse durchlaufen
zu lassen. Es ist eine Art Maximalplan, den man na:h Anstaltsart und Um-
ständen, z. B. bei dem heutigen Tiefstande des Schülerkönnens,^zusammen-
streichen, vielleicht schon in U II beginnen kann. Zugrunde liegt der Ge-
danke, daß in der betreffenden neueren Sprache von dieser aus die Entwick-
lung der Kultur zu durchwandern sei. Als Beispiel ist wegen seiner besonderen
Eignung das Französische gewählt. Es wird zur Herausschälung von Grund-
sätzen genügen — Raummangel zwingt dazu — die Zeit bis zum 24. Oktober
1658 zu behandeln, also etwa den Stoff für O II und die ersten Monate
der U I ; Fortsetzung bis zur Jetztzeit wird seinerzeit folgen.
Man beginnt etwa mit der Frage: Wo ist uns in der Religionsstunde
mal der Name Gallier vorgekommen? Einer oder der andere erinnert dann an
den Brief des Apostels an die Galater und es entsteht die Frage, wie die Gallier
eigentlich nach Kleinasien geraten. Man kann auch von der Statue des ster-
benden Galliers ausgehen. So erzählt man denn oder liest an der Hand Guizots :
Recits historiques von den großen Wanderungen des 6. Jahrhunderts, be-
gleitet den östlich flutenden Strom zu Alexander, nach Delphi (wobei man
den Apoll von Belvedere zeigt und die hübsche, leider nicht mehr haltbare
Hypothese über seine Beziehung zum Sturm auf Delphi erwähnt), nach Klein-
asien, wo dann die pergamenischen Kunstwerke gezeigt und, wenn möglich,
das Pergamenmuseum am Wandertage besucht wird.
In der nächsten oder zweitnächsten Stunde folgt man dem südlich wan-
dernden Zuge. Nun erzählen die Schüler selbst, was sie eben in der Geschichts-
stunde wiederum gelernt haben, von der Schlacht an der Allia, der Belagerung
des Capitols und den anschließenden Begebenheiten und Legenden mit dem
uns so verständlich gewordenen Vae victis! Eine weitere Stunde sieht
die Gallier als Bundesgenossen Hannibals, ein Freiheitskampf, der zu dem
größeren zu Cäsars Zeit hinleitet. Diesen wird keine Schülergeneration von
heute ohne Ergriffenheit, ohne erschütternde Vergleiche betrachten. Der
Realgymnasiast wird hier auf französisch in großen Zügen erzählen, was
er jahrelang im Lateinischen gelesen hat, aber diesmal vom Standpunkt
des um seine Freiheit ringenden Volkes aus. Der Oberrealschüler wird etwa
das 7. Buch in Übersetzung oder wieder Guizots schwungvolle Darstellung,
die allerdings der Ergänzung bedarf, lesen oder wird alles aus dem Munde
des Lehrers hören, dem er, sofern sein Gemüt richtig vorbereitet ist, atem-
los lauscht, wenn er Cäsars schwierige Lage und geniale Lösung, noch mehr,
wenn er Vercingetorix' tragisches Ringen gegen innere und äußere Wider-
stände schildert.
Zum systematischen Aufbau des neusprachlichen Unterrichts der Oberstufe. 313
Dann wird man sich, etwa im Anschluß an Bourgeois : L'Art et ies Ar-
tistes fran5ais(Weidm.), mit dem römischen Gallien beschäftigen. Auch hier
geht man von bekannten Kunstwerken (Porta nigra, Pont du Gard, Maison
carree) aus.
Das 5. Thema wäre die Frankenzeit. Die Schüler erzählen von dem Ein-
fall der Franken, dem der Lehrer vielleicht eine Schilderung der Zeit nach
Chlodwig, besonders Fredegondes und Brunhildes, anschließt, um dann zu
der Art Renaissance ujter Karl dem Großen überzugehen. Hier kann man
die Aachener Kathedrale zeigen und Rethels Kaisersaalbilder beschreiben
lassen. Hier empfiehlt sich auch eine Betrachtung der Entstehung des Kirchen-
gesanges. Es gibt viele Abiturienten, die nicht ahnen, daß Takt, Mehrstimmig-
keit usw. Errungenschaften langer Entwicklung sind.
Es folgt nun die Übergangszeit von Karl dem Großen bis zum roma-
nischen Zeitalter. Dahin gehören zwei wichtige Themen: Die Entwicklung
der französischen Sprache nach der der Nation und die Basilika. Das erste
Thema kann man gut nach Fuchs behandeln. Man wird dabei ruhig einige
Zeit verweilen dürfen, da diese verfolgbare Entwicklung einer Sprache aus
einer anderen an sich fesselnd und bildend und aufschlußreich für die Mutter-
sprache ist. — Die Basilika geht von einem Bilde, etwa dem der
Sacrower Kirche, aus und zieht zur Erleichterung des Sprachlichen einige
Seiten aus Bourgeois heran. Diesen Abschnitt möge eins der Epen aus Gau-
thiers Epopees beschließen; dann läßt man das Rolandlied nach dem deut-
schen Lesebuch erzählen als Übergang zum romanischen Zeitalter.
Dieses möge man mit einer lebendigen Schilderung der Furcht vor dem
Jahre 1000 kennzeichnen. Die Schüler erkennen da leicht, wie sich die ihnen
aus der Geschichte vertrauten Züge, Klosterleben, erste Phase des Ritter-
tums, Kreuzzüge, Gottesfriede ergeben. Dann folgen die die romanische
Kirche behandelnden Seiten bei Bourgeois.
Für das gothische Zeitalter geht man von der gothischen Kirche aus, etwa
der Sainte Chapelle, wobei Louis IX. erwähnt wird, bei gleichzeitiger Lektüre
der Abschnitte bei Bourgeois, und knüpft an das dort zu lesende anregende
Gespräch, das beide Stile vergleicht, eine Betrachtung über die grundver-
schiedenen Auffassungen, denen beide Stile noch heute begegnen. Von jener,
die den gotischen Stil exaltiert nennt, ergibt sich ein Übergang zur Schil-
derung der zweiten Phase des Rittertums, deren Züge die Schüler aus einem
Vergleich des Rolandliedes mit dem Nibelungenliede finden. ZurVeranschau-
iichung dient femer der Inhalt eines Werkes von Chr^tien oder seiner deutschen
Nachahmer. Von hier kommt man leicht auf die Troubadours, wobei man
die Gelegenheit benutzt, das politische Sonderleben des Südens zu zeigen.
Die Schüler erzählen den Inhalt der die Zeit behandelnden Stücke des
Übungsbuches, des Bertrand de Born, des Troubadours von Verdi; einige
Übersetzungen und Vorführungen der Musik eines alten Liedes bilden den
Abschluß. Auf Petrarca, Dante, Ariost möge hingewiesen werden.
Bei dem Vorausgehenden wird man auch schon des Aufblühens der
Städte (die Kommunen unter Ludwig VI.) gedacht haben. Hierauf kommt
314 Wilmsen,
man nun zurück, um die Entwicklung der dramatischen Literatur zu ver-
folgen. Nach einer kurzen, dem Vergleich dienenden Betrachtung über die
Entstehung des antiken Dramas wird man Wershofen oder Fuchs zugrunde
legen, deren etwas magere Darstellung durch eigene Ausführungen mit Leben
zu füllen eine schöne Aufgabe ist. Ich erzähle, wie ich in meiner Jugend
mal in einer katholischen Kirche zu Ostern das Grab mit den lebensgroßen
Holzfiguren der schlafenden Wächter dargestellt sah ; das ist eine gute Ver-
anschaulichung der Entwicklung. Ich erzähle dann ausführlich den (mit
lateinischen Einlagen durchsetzten !) Sponsus und den Jnhalt einiger Mysteres
und lese dann eine Übersetzung des Adamspieles vor. Um einen Eindruck
zu geben von der Moralität, eignet sich die Erzählung der Enfants de Mainte-
nant, die Farce ist aus Pathelin genügend klar; sonst erzähle man noch die
vom Waschtrog.
Der bisherige Stoff hat schon Gelegenheit geboten, die Übersicht durch
einige historische Daten zu erleichtern und dem Schüler ein gewisses Skelett
der französischen Geschichte zu geben (Straßburger Eide, Belagerung von
Paris, Jahr 1000, Gottesfriede 1041, Eroberung Englandis, 1. Kreuzzug,
Ludwig VI., 3. Kreuzzug und Richard Löwenherz, Louis IX.). Man darf es
wohl als ein Bedürfnis bezeichnen, daß jeder außer der deutschen Geschichte
die irgendeines anderen europäischen Volkes, wenn auch nur in den einfachsten
Umrissen, überblicken könne. Nach der Betrachtung der dramatischen Lite-
ratur empfiehlt sich eine rein historische, die sich wirkungsvoll Schillers
Jungfrau zum Ausgangspunkt nimmt, auf die Anfänge des 100jährigen Krieges
zurückblickt (Crecy, Kanonen) und dann an einigen Seiten aus Barante
die historischen Tatsachen denen des Dramas gegenüberstellt. Man gedenkt
dann des aus der deutschen Geschichte bekannten Kampfes Ludwigs und
Karls des Kühnen und der Italienzüge Karls VIII., die so tiefen Eindruck
auf seine Ritter machten und die Renaissance in Frankreich einleiteten.
Sollte nicht jeder Lehrer des Französischen fähig sein, in zusammen-
hängendem Vortrag eine Einleitung in diese Epoche zu geben? Die fremd-
sprachliche Behandlung eines in den Geschichtsstunden berührten Stoffes
pflegt sprachlich besonders eindringlich zu wirken. Zur Veranschaulichung
im einzelnen zeigt man Bilder alter Burgen und daneben Schlösser Franz I.;
die Schüler pflegen dann gern einer Schilderung des Geistes zu lauschen,
der mit diesen Behausungen seinen Einzug hält. Leonardo und Cellini in
ihren Beziehungen zu Franzi, werden erwähnt und das Vorlesen einiger Ab-
schnitte aus Goethes Übersetzung von Cellinis Lebensbeschreibung zeigt
zugleich die selbstsüchtige und gewalttätige Gesinnung, die die Schatten-
seite jener glänzenden Epoche ist. Ausführlich muß dann das Manifest der
Plejade behandelt werden, denn hier ist eine schöne Gelegenheit, das Problem
der direkten Einwirkung auf Literatur und Sprache zu betrachten. Das
beste ist ganze Kapitel vorzulesen.
Die Betrachtung der Zeit bis Corneüle, die an Bluthochzeit, Heinrich IV.,
Richelieu als Stichworte anknüpft, möge Duruy 1560—1643 (Renger) zu-
grunde legen, freilich sehr mit Auswahl, da es Zeitvergeudung wäre, alle
Zum systematischen Aufbau des neusprachlichen Unterrichts der Oberstufe. 315
sieben Religionskriege mit ihren gleichgültigen kriegerischen Wechselfällen
zu verfolgen; dafür mögen eine oder zwei Stunden dem im Text genannten
Machiavelli gewidmet sein; ließ sich Heinrich III. doch täglich aus ihm vor-
lesen, und sein Nachfolger hatte ihn bei seiner letzten Ausfahrt bei sich. Auch
die Kunst, vor allem die Baukunst, die ja damals die Stätten schuf, die jahr-
hundertelang die Schauplätze wichtiger Ereignisse bilden sollten, muß wieder
herangezogen werden. Dazu kommen allerlei kulturhistorische Einzelheiten
(Oper, Ballet, Polonaise). Vor dem Kapitel über d'e aufbauende Herrschaft
Heinrichs IV. legt man eine Besprechung des für diese Zeit so charakte-
ristischen Montaigne ein. Hier ist mal eine schöne Gelegenheit, die Schüler
einen Einblick in wissenschaftliche Arbeit tun zu lassen, indem man an
dem ersten von Kuttner (Velh.) abgedruckten Essai die verschiedenen
Epochen Montaignes erläutert und zeigt, wie sich die grundverschiedene
Auffassung Montaignes bei Strowski und Villey aus der verschiedenen
chronologischen Einreihung einiger Essais ergibt. Ferner ist Montaignes
Hass gegen den Historismus gerade heute eine willkommene Gelegenheit
zu lehren, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten.
Die literarische Entwicklung von Heinrich IV. bis Corneille läßt sich
an Hand von Fuchs überblicken. Für das weitere schafft man dem Interesse
erst einen Kristallisationspunkt durch Lektüre des Cid, die sich am wirkungs-
vollsten an eine kurze Schilderung der poHtischen Ereignisse des Jahres 1636
anschließt. Wer im Geiste die Feinde dicht bei der Hauptstadt und dessen
Bevölkerung sich an Richelieu aufrichten sieht, wie er die aufruhrbereite
Menge durchschreitet, wird die Cidbegeisterung noch besser verstehen. Dann
läßt man die Besprechung des Cidstreites folgen und schließt daran die Er-
örterung der Einheitenfrage. Diese beginnt wohl mit einer Lektüre der Poetik
des Aristoteles im Auszuge, überblickt die Geschichte der Frage bis zu Cor-
neilles Zeit, läßt dann die Schüler selbst Vorteile und Nachteile der Einheiten-
regel finden, wobei modernere und moderne Beispiele herangezogen werden,
und prüft dann, ob die Regeln Daseinsberechtigung haben (Stendhal!).
Daran schließt sich die Aufzählung der Gründe, die zur Annahme der Regeln
damals geführt haben. Als deren letzter wird der Geist des nun beginnenden
klassischen Zeitalters genannt und ausführlich betrachtet. Hier ist die Ge-
legenheit, eine ausführliche Erläuterung des Ausdruckes ,, klassisch*' zu
geben, seine verschiedenen Bedeutungen auseinander zu entwickeln und
durch Gegenüberstellung ihrer Gegensätze zu klären, wobei die Aufzählung
der von Ostwald bei seiner Einteilung der Genies in Klassiker und Romantiker
hervorgehobenen Züge nicht vergessen sei. Die Charakteristik des spezifisch
französischen Klassizismus schließt sich an eine Betrachtung der Lehre
des (Mathematikers!) Descartes an, kehrt über Poussin, Claude Lorrain
zum Cid zurück und wendet das Gewonnene an. Der Bericht eines Schülers
über die Sentiments der Akademie schließt dieses Kapitel.
Um zu verstehen, wie aus einem Gomes ein molierescher Marquis wird,
muß man die Frondezeit kennen, die zudem für die Psychologie von Revo-
lutionen recht lehrreich ist. Leider ist bei keinem Verlage ein Text vorhanden.
316 Wilmsen,
So muß man sich mit einer hektographierten Zeittabelle und mündlicher
Darstellung begnügen; ein Verweilen bei den Abenteuern und dem Wirken
der Damen wie der Herzogin von Longueville und des Fräulein v. Mont-
pensier schafft für den Frauentypus Corneilles Verständnis.
Auf dem durch diese Betrachtungen und die Duruylektüre geschaffenen
Hintergrunde läßt man nun Molieres Leben zunächst bis zu seiner dauernden
Niederlassung in Paris erstehen. Man rekapituliert die Ereignisse, die er
in seiner Jugend gesehen hat, begleitet ihn ins College, wo Terenzaufführungen
stattfinden und benutzt diesen Anlaß, die Schüler mit der antiken Komödie
bekanntzumachen. Der Reclamband Dreigroschentag eignet sich ausgezeichnet.
Die Einleitung macht in anschaulicher Weise mit den Epochen der grie-
chischen Komödie vertraut, was zu wertvollen Erkenntnissen über die Be-
ziehungen zwischen Bühne und politischen Verhältnissen führt, gibt für die
verschiedenen Arten der Komödie leicht behaltbare und daher leicht wieder-
erzählbare Beispiele und Inhaltsangaben, läßt die Schüler erkennen, wie diese
Literatur immer wieder befruchtend gewirkt hat, und lädt zu fesselnden
Betrachtungen darüber ein, in welcher Weise auch Genies auf der Arbeit
anderer fußen.
Wir begleiten dann Moliere zu Gassendi, dessen Gegensatz zu Des-
cartes wir erläutern und zu dem von Goldbeck empfohlenen unrythmischen
Philosophieren benutzen, dann zum Illustre Theätre usw. Sein Aufenthalt
in Lyon beschäftigt uns länger. Hier lernt er das italienische Theater kennen,
hier ist also ein Blick über die Alpen angebracht, besonders eine Veranschau-
lichung der Commedia del' arte. Anschließend Medecin volant und Etourdi.
Um eine Vorstellung des Etourdi zu geben, genügt es, einen halben Akt
vorzulesen. Dies ist wertvoll, weil das Stück im Gegensatz zu den Pr^cieuses
mit antiken Lebensverhältnissen rechnet und so die Periode der Nachahmung
von der der Originalität zu unterscheiden lehrt. Auch die szenischen Be-
merkungen zur Andromede-Aufführung dieses Lyoner Aufenthaltes wird
man nicht vergessen, da sie zeigen, über welche Maschinerie man damals
schon verfügte, ohne daß dies die Herrschaft der Einheitenregeln erschütterte.
Wir begeben uns dann zur Ständeversammlung nach Beziers, um beim D6pit
amoureux Halt zu machen. Sein Gesamtinhalt kann mit einem Satz abge-
tan oder übergangen werden ; aber die eine Horaz nachgeahmte Szene müssen
wir benutzen, um den bei Boileau wiederkehrenden Dichter mit einigen
Oden und Satiren (Übersetzung Bardt) kennen zu lernen. Eine oder zwei
Stunden wären dafür eher zu wenig als zu viel, zumal an der Oberrealschule. —
Später lernen wir Mignard in Avignon kennen, sehen Corneille in Rouen
wieder und begeben uns dann zur ersten Aufführung vor dem König nach
Paris.
Hier sei nun für heute Halt gemacht und die Folgezeit nur mit einigen
Bemerkungen bedacht.
Es wird immer wieder darauf ankommen, Geschichte und Kunst heran-
zuziehen und die Züge herauszuarbeiten, die der Unterricht in den anderen
Fächern braucht, ohne die Zeit zu haben, sie selbst zu entwickeln. Das gilt
Zum systematischen Aufbau des neusprachlichen Unterrichts der Oberstufe. 317
vor allem von der Geschichte. Wie in dem öfter angezogenen Aufsatz sei
darauf hingewiesen, daß der französische Unterricht, der Dutzende von Stun-
den der Revolution und der napoleonischen Zeit widmet, dem Geschichts-
unterricht, der dafür nur wenige Stunden zur Verfügung hat, nicht nur das
ganze Tatsachenmaterial, sondern überall auch einen Überblick über die ge-
schichtUchen Probleme bieten muß. Hier muß der Neusprachler immer wieder
das Gefühl haben, daß er nicht nur Sprachlehrer ist, sondern ungemein wich-
tige Sachkenntnisse zu vermitteln hat (wer hängt in jeder Lanfrey-Stunde
eine Karte aus?), was ihn immer wieder nötigt, weitschichtige Studien zu
treiben, von deren hoher Warte aus er die Texte in ihrer Begrenztheit er-
läutert. So wird er Mignet nicht lesen, ohne Wahls aus dem Anfang des
Jahrhunderts stammende, heute nicht ohne Erschütterung zu lesende Vor-
geschichte der Französischen Revolution genau studiert zu haben. Die Be-
handlung des Colbertismus und der Physiokraten gehört in den französischen
Unterricht, wenn auch nur in propädeutischer Form. Es gilt dasselbe von
der Kunst, z.B. von Lully und Gluck; ohne diesen Zwang steter Erweiterung
unserer Sachkenntnisse, die ein ganzes Menschenleben ausfüllt, müßten
wir seelisch austrocknen.
Aus dem Vorstehenden können wir nunmehr Thesen gewinnen.
Fester Bestandteil des neusprachlichen Unterrichts, auch des etwa
kommenden spanischen, italienischen, polnischen, russischen muß ein Über-
blick über die Kulturentwicklung des betreffenden Landes sein. Es wird
sich von selbst ergeben, daß das Herausgehobene meist nicht nur innerhalb
des betreffenden Volkes das Wichtigste ist, sondern sich auch dem Gesamt-
bilde der europäischen Entwicklung, wie es sich aus den anderen Fächern
ergibt, einfügt, nötig empfundene Ergänzungen liefert. Jede Schule muß
einen solchen Plan aufstellen, der in wöchentlich einer oder mehreren Stunden^)
zugrunde gelegt wird. Im ersten Falle wird er recht dürftig sein, aber immer-
hin noch den Zweck erfüllen, daß der Schüler sein Lebelang das Gefühl hat,
die Übersicht über ein wertvolles Wissensgebiet erlangt zu haben. Es wird
wie in Mathematik und Geschichte ein Mindestplan da sein, der besonders
den jüngeren Kollegen ein Halt ist gegen systemloses Herumflattern und
ihm einen Weg zeigt durch das Labyrinth der angebotenen Literatur. Ich
gestehe, daß mir erst wohl ist, seitdem ich ein abgerundetes Ganzes zur Über-
mittlung an die Schüler vor Augen habe. Wäre damit nicht auch den Stu-
denten der Neuphilologie gedient?
Die Zeit wird gewonnen, indem man einzelnen Erscheinungen weniger
Wochen als bisher widmet. Ist es nötig, das Sommersemester der O II mit
Colomba und das Wintersemester mit Tartarin zu verbringen? Weniger
von jedem ist mehr. Ein heilsameres schnelleres Lesen wird vielfach auch
möglich sein, wenn wir mal dazu übergehen, am Rande all die Vokabeln
gedruckt zu finden, deren dauernde Aneignung nicht beabsichtigt und deren
1) Er kann auch mit der einzuschiebenden statarlschen Lektüre auf alle Lektüre-
stunden verteilt werden.
318 Wiimsen,
Aufsuchen im Wörterbuch wegen mangelnder Beziehungen zu schon be-
kannten Wörtern oder aus sonstigen Gründen nicht bildend ist. Das würde
Ludwigs Bedenken gegen allerlei moderne Lektüre beheben und eine reichere
Anschauung ermöglichen.
Dieser Stoff wird den Schülern nahegebracht in fremdsprachlichen
oder deutschen Texten oder in Ausführungen des Lehrers. An fremdsprach-
lichen habe ich oben im Auge: Guizot, Bourgeois, La France en Zig-Zag,
Fuchs, Gauthier, Barante, Wershofen, Duruy, Montaigne, Cid, Medecin
volant, Etourdi. An deutsche Texte (Troubadours, Machiavelli, Aristoteles,
Plautus, Horaz) denke ich da, wo fremdsprachliche fehlen oder zu teuer
sind oder sonstige Gründe sprechen. Wer z. B. Mignet gelesen hat, wird doch
nicht nur bis zur Enthauptung des Königs kommen wollen. Das Gesamt-
werk jetzt aus Frankreich kommen zu lassen ist gegen die nationale Pflicht;
also greifen wir zu Reclam und lesen den Rest kursorisch in 6—8 Stunden,
wobei die Besprechung natürlich in der Fremdsprache erfolgt. Zu ähnlichen
Vorschlägen sind ja auch schon die Altsprachler gekommen.
Es wurde die Benutzung von mehr Texten als üblich und mit Rück-
sicht auf die Kosten für die Schüler möglich ist, vorausgesetzt; dazu habe
ich eine fremdsprachliche Bibliothek, die genügend Exemplare enthält.
Es wäre verfehlt, sie durch eine Chrestomathie zu ersetzen, da solche alles
in Proben auflöst, während sonst viele Schüler das Ganze lesen, auch wenn
in der Schule nur Teile behandelt sind. Auf diese Weise stellt sich jeder
Lehrer selbst eine Chrestomathie her ; mit jeder anderen ist er doch unzufrieden.
Wo Texte fehlen, treten die Ausführungen des Lehrers ein. Der Schüler
erhält dann eine hektographierte Disposition als Stütze. Der Lehrer nimmt
also dieselbe Stellung ein wie der Geschichtslehrer, der den in der Hand des
Schülers befindlichen Umriß mit blühendem Leben füllt. Hier muß nun ein-
gehend die heute doppelt schwierige Frage erörtert werden, ob der Lehrer
sich dauernd der fremden Sprache bedienen solle und wie das möglich zu
machen sei. Zunächst muß man sich mit Nachdruck auf den Standpunkt
stellen, daß er jenes als Ziel anerkennen und es im Laufe der Zeit, sei
es auch eines Jahrzehnts, erreichen müsse. Nur so ist die hier ins Auge ge-
faßte sachliche Belehrung ohne Vernachlässigung des Sprachlichen möglich ;
nur so wird der Lehrer seine Fertigkeit auf der Höhe halten bzw. vervoll-
kommnen und jene Sicherheit besitzen, ohne die der Unterricht der fremden
Sprachen seines Fundaments, des Könnens des Lehrers, ermangelt; nur so
werden wir davor behütet, in jene Zeit zurückzusinken, wo der Laie mit einigem
Rechte die Weltfremdheit einer Schule anstaunen konnte, die moderne
Sprachen lehrte, ohne daß selbst die Lehrer sie sprechen konnten.
Aber wie erhalten wir solche Lehrer? Nicht auf die bisherige Weise,
wo von einer wirklichen Ausbildung nicht die Rede sein konnte. Was würde
man zu einem Konservatorium sagen, das Klavierlehrer erzieht, indem es
sie in Harmonielehre, Didaktik usw. ausbildet, für das Klavierspiel selbst
aber auf eigene Bemühungen außerhalb des Konservatoriums verweist.
Viel anders ist es bisher nicht gewesen, da man der praktischen Ausbildung
Zum systematischen Aufbau des neusprachlichen Unterrichts der Oberstufe. 319
bisher keine eigene Stätte gegeben hat. Die Universitätsseminare können
nicht als solche gelten, denn die Universität hat in erster, zweiter und dritter
Linie der durch Einführung neuer Gebiete wachsenden wissenschaftlichen
Ausbildung zu dienen ; die praktische läuft nur nebenher und kann nur hindern,
daß das Können nicht unter ein gewisses bescheidenes Maß sinkt. Selbst
wenn der Student täglich einmal zum Lektor ginge, wäre das zu wenig; welcher
angehende Musiklehrer spielt täglich nur eine Stunde sein Instrument?
Immerhin könnten die Lektorenstunden helfen, wenn sie den Lektürelehrplan
einer Schule sich vornähmen und mit den Studenten behandelten statt Themen,
die der Student in seiner späteren Tätigkeit vielleicht nie braucht. — Nach
oder während der Universitätszeit ging der Student bisher bestenfalles ins
Ausland, wurde also wieder einer Art Selbstunterricht überlassen, lernte
oft auch allerlei, aber vielfach nicht das, was er brauchte. Er war dann ge-
neigt, in der Schule Dinge zu treiben, die ihm lagen, statt anderer, die für
die Schüler die wichtigen, wertvollen gewesen wären. Lage es nun nicht nahe,
im Seminarjahr die Kandidaten an dem Fachlehrplan Schule spielen und
so die Stunden, die sie zu geben haben, vorher üben zu lassen? Hier ist die
Stelle für nutzbringende Verwertung der fremdländischen Assistenten, die
die bei diesem Schulespielen verbessernden Zuhörer wären. Ihre zweite Haupt-
tätigkeit wäre das Zuhören im Unterrichte der Oberstufe zu nachheriger
Besprechung mit dem Fachlehrer über all die kleinen Probleme, die jeder
Tag bringt ; jetzt besetzt er den Schülern vielfach die mühsam freigemachten
Nachmittage. (Mit Erfolg??) Sollte nicht auf jene Weise im Laufe der
Jahre jeder Lehrer seiner Aufgabe gewachsen werden, indem er sich Abschnitt
für Abschnitt erobert? Nun ist es allerdings heute schwieriger denn je für
gewisse Sprachen ausländische Assistenten zu haben. Was ist da zu tun?
Vielleicht sollten wir Neuphilologen eine Zeitung gründen^); dafür werden
genug Ausländer (z. B. wallonische Aktivisten) zu haben sein. Sie würde
in ihrem Hauptteil Fragen beantworten und würde besonders nützlich sein,
wenn wir uns auf einen genauen Lehrplan einigen könnten. — Ferner wären
noch allerlei Dinge zu erwähnen, z. B. die Notwendigkeit starker Beschäfti-
gung auf der Oberstufe, um genügend Übung durch den Unterricht zu haben;
eine gute Fachbibliothek, die Werke in der Fremdsprache über Kunst, Ge-
schichte usw. enthielte.
Es muß jedenfalls das größte Gewicht auf das Können des Lehrers gelegt
werden. Damit steht und fällt der neuzeitliche Betrieb der fremden Sprachen.
Man wird — auch diese Wiederholung sei gestattet — das Unmögliche wollen
müssen, um das Mögliche zu erreichen. Die hier behandelte Systematisierung
des Unterrichts setzt eine solche der technischen Ausbildung des Lehrers
voraus. Denn was das Können des Schülers angeht, so mache man
sich klar, was vielfach vergessen wird, daß der Schüler meist nicht aus dem
Buch, sondern vom Lehrer lernt. Das ist um so klarer, je schwerer der Text
1) Man denke besDnders an die Herren in der Provinz, die fem von jedem Aus-
länder sind.
320 Wilmsen, Zum systematischen Aufbau des neusprachlichen Unterrichts.
ist. Niemand wird wünschen, daß der Schüler Taines Sprache spreche. Diese
Goldbarren werden, auch bei Erörterung in deutscher Sprache, in Kleinmünze
gegossen und das geschieht doch in der Sprache des Lehrers. Man gestatte
einen komisch klingenden Vergleich. Das Gedächtnis des Lehrers stellt ein
Sieb dar, das aus der fremden Sprache dasjenige besonders festhält,
was dem deutschen Hirn am leichtesten assimilierbar ist. Auch verfügt
er nicht über die ungezählten Ausdrucksvarianten des Ausländers, sondern
setzt dafür eine kleine, somit für den Schüler häufigwiederkehrende Anzahl,
die die Bedeutung aller jener Varianten völlig ausreichend wiedergibt. Diese
Vereinfachung des Sprachschatzes ist einer der schwer zu überschätzenden
Vorzüge des inländischen Lehrers gegenüber dem Ausländer. Die so
geschaffene Auswahl erleichtert dem Schüler das Lernen ungemein;
sein Sprachschatz ist wieder eine Auswahl aus dem des Lehrers. Man ver-
gesse auch nicht, daß vom Lehrer lernen lassen die mächtige Hilfe des Ohres
heranzieht. Was allerdings das Können des Schülers angeht, so wird all
das wenig helfen, so lange man ihm zumutet, zwei Sprachen aktiv, wenn
auch in verschiedenem Grade, zu betreiben').
Mit der Systematisierung des Sachwissens in Geschichte, Literatur,
Kunst usw. lassen sich nun die anderen Unterrichtszweige ungezwungen
verknüpfen. Bei der Besprechung der oben genannten Themen wird ein
Schatz von Vokabeln und Phrasen festgestellt und aufgeschrieben, der,
wenn Texte vorliegen, sozusagen Zusatzvokabeln enthält, die sich im Text
nicht fanden, aber bei der Besprechung sich zwanglos und oft unvermeid-
lich einstellen; wenn kein Text vorliegt, werden sie vom Munde des Lehrers
abgelesen. Das so gesammelte Vokabular läßt die Schule, nach Kapiteln
geordnet, drucken und mit freien Blättern durchschießen, damit es von jeder
Klasse ergänzt werden kann. So haben die Schüler, die alles in der Schule
Besprochene zur nächsten Stunde mündlich oder schriftlich wiederholen
sollen, ein Hilfsmittel, das ihnen jene Arbeit, insbesondere auch den Aufsatz,
nicht zur Plage werden läßt. Es ist klar, daß dieses Vokabular in vielen
Fällen ganze Sätze enthalten müßte. Es sei angemerkt, daß auch jede Schüler-
grammatik mit leeren Blättern zu ähnlichem Zweck durchschossen sein
sollte. — Da man verlangen darf, daß der im Plan der Schule festgesetzte
Wissensstoff durch Wiederholung zu festem Besitz gelangt, ergibt sich die
Wiederholung des dazu gehörenden Wort- und Phrasenschatzes von selbst,
soweit sie nicht immanent in jedem neuen Stoff liegt, — Wer den oben
entwickelten Plan selbst für etwa 1 14 J^hr einer guten Vorkriegs klasse
überreichlich findet, möge bedenken, welche Zeit durch solch ein Vokabular
gespart wird.
Von der Gesamtheit dieser der Oberstufe geltenden Betrachtungen aus
gewinnen wir einen Gesichtspunkt für den Unterricht der Mittelstufe,
die ja den Unterricht der Oberstufe vorbereiten soll. Was auf der Oberstufe
nicht wieder vorkommt, muß kritisch betrachtet werden. Unsere Lehrbücher
1) Vgl. Aufsatz des Verf. im 21. Band der , .Neueren Sprachen" Bg. 8 S. 569.
L. Kaiser, Aus einer Ansprache, gehalten bei der lOOjährlgen Jubelfeier usw. 32 1
tun vielfach, als ob der Schüler sein tägliches Leben in der Fremdsprache
leben solle und verschwenden dadurch Zeit und Arbeitskraft, treiben Dinge,
die nur der mit Ausdauer und Eifer und willig aufnehmendem Ge-
dächtnis lernen wird, der binnen kurzem sie im Ausland praktisch verwenden
will. Ich unterdrücke für heute längere ketzerische Bemerkungen über Sprech-
übungen der Mittelstufe, die manche dort gerade treiben wollen, um sie auf
der Oberstufe einzuschränken. Auch auf der Mittelstufe läßt sich Zeit ge-
winnen, indem man jene einschränkt, un dem angehenden Obersekundaner
das zu geben, was er außer Grammatik in allererster Linie braucht: einen reichen
passiven Wortschatz.
Der gegebene Plan ist nur ein Beispiel, wobei, um Raum zu sparen, Hin-
weise auf englische und deutsche Kulturentwicklung unterblieben sind.
Es wäre lehrreich, andere Auswahl kennen zu lernen. Aus solcher Aus-
sprache könnte sich ein Normalplan entwickeln, der individuellen Neigungen
Raum ließe. Oeckels, Molsens usw. Pläne ließen sich dem hier herrschenden
chronologischen Gesichtspunkt leicht einordnen. Nützlich könnte auch
eine Fachberatung sein, wie sie für Deutsch beabsichtigt ist.
Spandau. Wilmsen.
Aus einer Ansprache, gehalten bei der hundertjährigen Jubelfeier
des Kreuznacher Gymnasiums am 19. Mai 1920.
.... Links neben dem Toreingang des alten Gebäudes stand eine kleine
Hütte, deren ungedielter Fußboden arge Löcher aufwies. Hier hauste der
Pedell, Alonso geheißen, denn er war ein Spanier. Wie kam nun ein Spanier
zum Pedellposten am Kreuznacher Gymnasium? Im Jahre 1819 ist die An-
stalt gegründet worden, und bedeutsame geschichtliche Ereignisse waren
vorausgegangen. Mit dem großen Napoleonischen Heer von 1812 war Alonso
auf dem Vormarsch nach Rußland, vielleicht auch mit seinen Trümmern auf
dem Rückzuge nach Kreuznach gekommen und hier hängen geblieben;
er heiratete eine Kreuznacherin und wurde Pedell am Gymnasium^). Seit
dessenGründung hat erseines Amts gewaltet, obgleich er sich mit der deutschen
Sprache zeitlebens auf einem gespannten Fuß befunden hat. Drollig war
es, den kleinen, wohlbeleibten, grauköpfigen Mann hinter den ungezogenen
Buben her jagen zu sehen, und manches Ergötzliche wäre zu berichten über
das Kauderwelsch, in dem er sich über ihre Streiche bei dem Direktor be-
schwerte.
Als ich, vorgebildet in der Lateinschule meines Hunsrücker Heimat-
städtchens Kirchberg, im Herbst 1861 in die Tertia aufgenommen wurde,
waren die Verhältnisse des Gymnasiums noch sehr einfach ; es umfaßte nur
sechs Klassen mit zusammen etwa 180 Schülern, und diese Zahl ist auch
1) Die Festschrift berichtet (S. 1) ,daß die französische Regierung das alte Franzis-
kanerkloster als Depot für spanische Kriegsgefangene in Anspruch genommen hatte; wahr-
scheinlicher ist also, daß Alonso als Gefangener nach Kreuznach verschleppt wurde.
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 21
322 Ludwig Kaiser,
während der nächsten Jahre die durchschnittliche gebheben. Sexta, Quinta
und Quarta bildeten je eine Klasse für sich, während die beiden Jahrgänge
der Tertia, der Sekunda und der Prima zu je einer Klasse vereinigt waren.
Zwischen Unter- und Obertertia wurde nicht streng unterschieden; war
auch der Kursus in der Regel ein zweijähriger, so konnte die Versetzung
nach Untersekunda ausnahmsweise doch schon nach einjährigem Besuch
erreicht werden. Unserem kameradschaftlichen Verhältnis brachte diese
Vereinigung je zweier Jahrgänge übrigens den Gewinn, daß es nicht auf die
Mitschüler des eigenen Jahrgangs beschränkt blieb, sondern auch auf die-
jenigen des vorausgehenden und des nachfolgenden Jahrgangs sich ausdehnte.
Alle sechs Klassen lagen zu je zweien an der vorderen, rechten und hinteren
Seite des alten Hauptgebäudes zu ebener Erde, an der rechten Seite auch die
Aula, die kaum doppelt so groß als ein mäßiges Klassenzimmer war.
Unserer Schulzeit gedenken wir Alten mit dem Gefühl treuester
Anhänglichkeit und Dankbarkeit. Und wenn ich es vor allem als meine Pflicht
betrachte, diesen Dank heute vor Ihnen auszusprechen, so will ich das nicht
in allgemeinen Worten tun, sondern dadurch, daß ich in pietätvoller Er-
innerung der Männer gedenke, die damals bestimmend auf uns eingewirkt
und uns einen inneren Besitz mitgegeben haben, der vorgehalten und sich
als wertvoll erwiesen hat für unser ganzes späteres Leben.
Unser Ordinarius in Tertia war der Oberlehrer Möhring, ein Mann
von aufrechter, straffer Haltung, der uns in der lateinischen Grammatik
und in der Cäsarlektüre in eine strenge Zucht nahm. Was bei ihm gelernt
wurde, das saß fest und blieb haften als sichere Grundlage für das, was in
den oberen Klassen hinzukam. — Ein Meister feinster klassischer Latinität
war unser Ordinarius in Prima, Professor Steiner. Sein Unterricht vollzog
sich fast ohne jeden Zwang, aber in seinen Stunden herrschte Geist und
ein heiterer Humor, der manches fröhliche Lachen aufschlagen ließ. Un-
verrückbar stand er während der ganzen Stunde vor der Mitte der vordersten
Schulbank, und nicht leicht verlor er seine Ruhe und Gelassenheit. Mit
scharfem Blick durchschaute er unsere schülerhaften Schliche; und wer etwa
meinte, seine Milde und Nachsicht mißbrauchen zu könenn, der irrte sich
und wurde mit einem beschämenden Wort zurechtgewiesen. Von ihm konnte
man lernen, wie man dem Mutwillen wehrt, indem man ihn anscheinend
nicht beachtet.
Die ausgeprägteste Persönlichkeit im damaligen Lehrerkollegium war
der Mathematikprofessor Martin Gottlieb Grabow. Als Veteran von
1813 und Mitkämpfer in der Schlacht bei Dennewitz verkörperte er für uns
die lebendige Verknüpfung mit der großen Zeit der Freiheitskriege; und
manches kräftige patriotische Wort hat er uns mitgegeben namentlich dann,
wenn er uns an einem katholischen Feiertage, weil ein Teil der Schüler fehlte,
den Willen tat, im mathematischen Pensum nicht weiterzugehen, sondern
über die Kriegsereignisse, an denen er selbst teilgenommen hatte, etwas
vorlesen zu lassen. Entschieden war er einer der schärfsten mathematischen
Köpfe, denen ich jemals, nicht nur später auf der Universität, sondern auch
Aus einer Ansprache, gehalten bei der lOOjährigen Jubelfeier usw. 323
in meiner amtlichen Laufbahn begegnet bin. Aber als Lehrer war er recht
unbequem und deshalb gefürchtet weit und breit ; seine Methode war: „Vogel,
friß oder stirb!" Wer seinem abstrakten, streng systematischen Unterricht
zu folgen vermochte, konnte etwas Tüchtiges bei ihm lernen; um die anderen
— und diese bildeten die Mehrzahl — kümmerte er sich wenig. Er war ein
übertrieben logischer, freigeistiger Rationalist, aber ein ehrlicher Charakter
durch und durch. Scharf unterschied er zwischen Eitelkeit und Ehrgefühl;
dieses suchte er zu wecken, jene bekämpfte er unnachsichtlich. Das ging so
weit, daß wir z.B. nicht sagen durften : ich verbinde . . ., ich ziehe . . .; dann
fuhr er dazwischen mit: ,,Der einfältige Mensch! Laß er sein wertes Ich
zu Hause! Das machen andere verständige Menschen auch so; es heißt:
man verbindet . . ., man zieht . . ." War das auch übertriebene Pedanterie,
Eindruck machte es auf uns doch. Unfähige suchte er vom Besuch des Gym-
nasiums abzuschrecken. Einem meiner Freunde, der die Aufnahmeprüfung
für Sekunda nicht bestand, sagte er: ,, Männchen, geh nach Hause und sag
deinem Vater: Handwerk hat einen goldnen Boden." Als er während
des nach dem Tode des Direktors Axt eingetretenen Interregnums die Di-
rektorgeschäfte zu führen und in der Schlußfeier die Abiturienten vom Herbst
64 zu entlassen hatte, fiel sein BHck auf einen, der für die Übersicht im Schul-
programm angegeben hatte, er wollte Offizier werden. Grabow unterbrach
sich mit : ,,A propos, das ist noch sehr die Frage, ob Er als Offizier zu brauchen
ist; ich habe geschrieben: Will Soldat werden." — Sie sehen, verehrte An-
wesende, daß auch schon damals eine Art von Berufsberatung gepflegt
worden ist.
Den nachhaltigsten Einfluß hat der Direktor Wulfert auf uns aus-
geübt, der, zuvor Direktor des Gymnasiums in Herford, im Herbst 1864,
als mein Jahrgang in die Prima aufrückte, die Leitung des Kreuznacher
Gymnasiums übernahm. Er unterrichtete uns im Deutschen, in der grie-
chischen Poesie und der Religion. Sein Unterricht war faßlich und klar,
anregend und auf jedem dieser drei Gebiete von nachhaltigster Wirkung.
Von vornherein gewann er unser Vertrauen dadurch, daß er selbst uns volles
Vertrauen entgegenbrachte und den Grundsatz zu befolgen versprach : ,,Quis-
quis praesumitur bonus, donec probetur contrarium." Für
einen ehrlichen und zuverlässigen Menschen wollte nun jeder von uns gehalten
werden, und allen Ernstes nahmen wir uns vor, ihm den Beweis des Gegen-
teils möglichst lange, am liebsten für immer schuldig zu bleiben. Und aus
seinem Munde habe ich zum ersten Male das Wort des Juvenal gehört ,,Maxi-
ma debetur pueris reverentia"; das war für ihn keine leere Redens-
art. Die Seele des Zöglings war für ihn kein Objekt, auf das man gefühllos
losarbeitet ; sie bedeutete für ihn eine Fülle von Keimen undKräften, die durch
einsichtige, liebevolle Pflege zu entwickeln sind. Übrigens wurden wir noch
als Oberprimaner mit ,,Du" angeredet, was aber dem Gefühl unserer Primaner-
würde nicht den leisesten Abbruch tat. Vorbildlich war sein Unterricht
im Deutschen und in der griechischen Poesie. In das Verständnis der be-
deutsamsten Denkmäler der deutschen Sprache und Literatur führte er
21*
324 L. Kaiser, Aus einer Ansprache, gehalten bei der 100jährigen Jubelfeier usw.
uns ein von Ulfilas bis Goethe ; den Homer lernten wir unter seiner geschickten
und geistvollen Anleitung fast mühelos lesen, und auch mit einem Stück
von Sophokles wurden wir fertig, mit den Chorgesängen freilich nur in harter
gemeinsamer Arbeit. In leuchtender Erinnerung ist mir die Aufführung
der „Antigone" geblieben, die beim fünfzigjährigen Jubiläum 1869 auf ,,Kiskys
Wörth" stattfand. Anfänglich war das Stück mit den von Mendelssohn
komponierten Chorgesängen in der Donnerschen Übersetzung eingeübt
worden, aber schließlich drang der Wunsch durch, es griechisch aufzuführen.
Das war nun für den Gesanglehrer Kaufmann — er entstammte einer
Kreuznacher Malerfamilie — keine leichte Aufgabe, weil er kein Wort Griechisch
verstand; aber es wurde geschafft, und die Aufführung, zu der das Schau-
spielhaus in Berlin die Ausstattung geliehen hatte, verlief glänzend. Noch
in späteren Jahren konnte man, wenn sich Mitglieder des Chors wieder einmal
zusammenfanden, statt der üblichen Kneiplieder jene herrlichen Gesänge
hören. — Aber das Beste gab Wulfert uns im Religionsunterricht, der,
vordem für uns von tödlicher Langweile, durch ihn Licht und Leben gewann.
Er erwartete von uns noch keinen positiven Glauben an die christliche Wahr-
heit. „Eurem Alter", so sagte er, „ist der Zweifel und die Neigung zur Kritik
natürlich ; eine religiöse Überzeugung wird erst erworben durch innere Kämpfe
und eine lange Lebenserfahrung." Damit hat er uns den Giftzahn mut-
williger Kritik ausgebrochen, uns duldsam gegenüber jeder ehrlichen Über-
zeugung und zu redlich Suchenden gemacht.
Kreuznach. Ludwig Kaiser.
Mit
IL Bücherbesprechungen,
a) Sammelbesprechungen.
Zur Relativitätstheorie.
H. A. Lorentz, A. Einstein, H. Minkowski, Das Relativitätsprinzip.
Eine Sammlung von Abhandlungen. Mit Anmerkungen von A. Sommer-
feld und Vorwort von O. Blumenthal. Dritte, verbesserte Aufl. Leipzig,
Berlin 1920. Teubner. 146 S.
Diese Sammlung der klassischen Originalabhandlungen wird jedem
äußerst willkommen sein, der sich näher mit der Relativitätstheorie beschäf-
tigen will, da sie ihn von den Bibliotheken unabhängig macht. Sie enthält
zwei Arbeiten von Lorentz, sieben von Einstein — darunter namentlich
die für die spezielle Relativitätstheorie grundlegende von 1905 und die Grund-
lage der allgemeinen Relativitätstheorie von 1916 — und den von Sommer-
feld mit Anmerkungen versehenen Kölner Vortrag Minkowskis.
Moritz Schlick, Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik. Zur
Einführung in das Verständnis der Relativitäts- und Gravitationstheorie.
Dritte, vermehrte und verbesserte Auflage. Berlin 1920. Springer. 90 S.
Die Schrift, mit ausgezeichneter Klarheit und Flüssigkeit geschrieben,
ist nicht nur mathematisch-physikalisch, sondern auch philosophisch gründ-
lich orientiert. Sie behandelt ohne Rechnungen, in allgemeinverständlicher
Weise die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie und ist dem Lehrer
der Mathematik und der philosophischen Propädeutik zur eignen Einführung
in erster Linie zu empfehlen. Der Wert der Schrift für die Verständlichmachung
der Theorie wird dadurch nicht berührt, daß der Verfasser die relativistische
2,xix*^a iC schließlich wieder in eine absolutistische Weltanschauung einmünden
lajt. Im Gegenteil wird sie der großen Mehrzahl der Zeitgenossen dadurch
noch sympathischer sein, obwohl die Relativitätstheorie aus einer relati-
vistischen, durch und durch sinnesphysiologisch und biologisch begründeten
Weltanschauung entsprang, nur aus solcher entstehen konnte und auch
nur darin die volle Aufklärung findet. Die Zeit neigt eben noch immer einer
einseitig mathematisch-physikalischen Naturauffassung zu. Doch wird die
Relativitätstheorie den wichtigsten Antrieb abgeben für die endliche Ein-
beziehung auch der chemisch-biologischen Seite in die Weltanschauung.
Max Born, Die Relativitätstheorie Einsteins. Mit 129 Textabbil-
dungen und einem Porträt Einsteins. Berlin 1920. Springer. 242 S.
Obwohl dieser Band des bekannten Schülers Minkowskis eigentHch
nicht für mathematisch und physikalisch geschulte Leser bestimmt ist und
noch nicht einmal die mathematischen Kenntnisse des ehemaligen „Ein-
jährigen" voraussetzt, möchte ich ihn trotzdem auch dem Lehrer warm emp-
326 J. Petzoldt,
fehlen. Enthält er doch eine pädagogisch vortreffliche, durch viele sehr klare,
oft eigenartige Figuren gestützte Darstellung der gesamten mit der Rela-
tivitätstheorie in Beziehung stehenden Physik, von Newtons Mechanik an
über Optik und Elektrodynamik hinweg dem Wesentlichen der historischen
Entwicklung folgend.
Adam Angersbach, Das Relativitätsprinzip, leichtfaßlich ent-
wickelt. Mit 9 Figuren im Text. Leipzig und BerHn 1920. Teubner.
39. Bändchen der von Lietzmann und Witting herausgegebenen mathe-
matisch-physikalischen Bibliothek. 57 S.
Diese klare, wohldurchdachte Schrift ist interessierten Primanern zur
selbständigen Durcharbeitung sehr zu empfehlen, eignet sich aber auch
— wie ein diesbezüghcher Versuch von Gotthardt gezeigt hat^) — gut
zur Durchnahme in der Klasse. Sie analysiert den Michelsonschen Versuch
Schritt für Schritt, trennt die einzelnen Schwierigkeiten scharf, sichert jede
g'ewonnene Position durch sorgfältige Formulierung und übt die Lorentz-
transformation an einer Reihe von Aufgaben ein.
Paul Kirchberger, ,,Was kann man ohne Mathematik von der Re-
lativitätstheorie verstehen?" Mit einem Geleitwort von M. Laue.
Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. Karlsruhe i. B. 1921. C. F.
Müller. 88 S.
Diese Schrift dürfte als allererste Lektüre über die Relativitätstheorie am
meisten zu empfehlen sein, da sie tatsächlich ohne jede Mathematik und
in ungemein anschaulicher und kurzweiliger Weise an die Schwierigkeiten
heran- und in sie hineinführt. Sie gehört in die Reihe unserer besten physi-
kalischen Lesebücher. Daher wird sie auch nicht nur dem Anfänger, sondern
jedem, auch dem Kenner der Relativitätstheorie Freude und Anregung geben
und nicht zuletzt dem Lehrer von Nutzen sein, und zwar auch dem nicht-
mathematischen, über die Grenzen seines Faches hinausblickenden.
Ludwig Schlesinger, Raum, Zeit und Relativitätstheorie. Gemein-
verständliche Vorträge. Mit 7 Figuren im Text. Leipzig und Berlin 1920.
Teubner. 40 S.
Die Darstellung des Gießener Mathematikers ist eine ausgezeichnete
Einführung in die Minkowskische Auffassung. Sie gibt in ganz eigenartiger
Weise unter eingehender Benutzung der graphischen Fahrpläne namentlich
ein schönes geometrisches Bild der Lorentztransformation und schafft sich
damit die Unterlage zu einer gemeinverständlichen Einführung in die vier-
dimensionale Welt sogar der allgemeinen Relativitätstheorie. Die Schrift
wird vor allem dem Lehrer, der graphische Darstellung eingehender treibt,
*) Vgl. die Berichte über die diesjährige Göttinger Mathematiker-Tagung in den
Unterrichtsblättern für JVIathem. u. Naturwiss. 1921, S. 45 und in der Zeitschr. für den
physikal. u. ehem. Unterricht 1921, S. 136.
Zur Relativitätstheorie. 327
von großem pädagogischen Werte sein. Indessen darf er nicht vergessen,
daß für das Eindringen in den anschaulichen physikalischen Inhalt
der Relativitätstheorie die Schlesingersche Veranschaulichung der Lorentz-
transformation immer wieder nur als Bild dienen kann und darum durch
erkenntnistheoretische Aufklärung ergänzt werden muß.
P. Lenard, Über Relativitätsprinzip, Äther, Gravitation. Neue,
vermehrte Ausgabe. Leipzig 1920. Hirzel. 35. S.
Wer sich näher mit der Relativitätstheorie beschäftigen will, muß auch
zu den Schriften der Gegner greifen, und da wohl in erster Linie zu dieser des
berühmten Heidelberger Physikers und Nobelpreisträgers, der sich übrigens
nur gegen die allgemeine Relativitätstheorie wendet, die spezielle aber an-
erkennt. Man sieht an den Darlegungen des Verfassers, wie schwer es selbst
einem großen Experimentator werden kann, sich von den Vorurteilen der
Überlieferung, im besonderen von denen der mechanischen Naturauffassung
frei zu machen. Besonders deutlich an dem schon fast berühmt gewordenen
Beispiel vom Eisenbahnunglück. Der Verfasser meint, nach der Relativitäts-
theorie müsse der Kirchturm, dem gegenüber sich der Zug bewegt, genau
so gut verunglücken wie der Zug selbst. Wenn aber z. B. ein irdener und
ein eiserner Topf gegen einander — der eine gegen den anderen — gestoßen
werden, ganz gleichgültig, welcher der ,bewegte* ist, so geht doch immer
nur der irdene entzwei! Seine Zerstörung hängt also nur von der Relativ-
bewegung ab und von dieser eben nur seine Zerstörung. So erleidet der Kirch-
turm nicht mehr Schaden als der eiserne Topf, und aus dem einzigen physi-
kalischen Effekt läßt sich kein Schluß auf eine absolute Bewegung ziehen.
Ernst Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnis-
theoretische Betrachtungen. Berlin 1921. Bruno Cassirer Verlag. 134 S.
Die Schrift läßt erkennen, welche Wirkung die theoretische
Physik der letzten 50 Jahre auf die Entwicklung der Kantischen Philo-
sophie ausgeübt hat : eine sehr bemerkenswerte und hoffnungsvolle Annähe-
rung an den Positivismus. Dieser verträgt sich ja auch in weitem Maße mit
Kants Lehre von der empirischen Realität der Erscheinungen. Wollte der
Verfasser seine Aufmerksamkeit in demselben Grade wie den physikalischen
Gegenständen nun auch den biologisch-psychologischen zuwenden, so würde
er sich sehr wahrscheinlich von dem verbreiteten Vorurteil, daß der moderne
Positivismus vorwiegend Sensualismus sei, befreien und den empirischen
psychophysischen Parallelismus voll anerkennen. Der PositivismiiB legt
auf die begrifflichen Komponenten der Erfahrung durchaus kein geringeres
Gewicht als der transzendentale Kritizismus. Dem Apriorismus vermag
er freilich nichts abzugewinnen. Das a priori ist allerdings im 0«mde auch
in Cassirers Darstellung so gut wie funktionstos, ein zweckloser Rahmen.
Die Ausschaltung des Überflüssigen ist aber in der Geschichte der Wissen-
schaft genau so unvermeidlich wie die Beseitigung des Widerspruchs. Die
eigentlichen erkenntnistheoretischen Probleme, vor die sich das Denken
328 J- Petzoldt, Zur Relativitätstheorie.
durch die Relativitätstheorie gestellt sieht, werden durch die Cassirersche
Schrift kaum gefördert^).
Hans Reichenbach, Relativitätstheorie und Erkenntnis a priori.
BerHn 1920 bei Julius Springer. 110 S.
Der Verfasser wendet sich mit Recht gegen den Apriorismus der Kan-
tischen Schulen. Dieser war schon mit der nichteuklidischen Geometrie
und der Axiomatik nicht zu vereinigen, und der Relativitätstheorie gegen-
über versagt er womöglich noch mehr. Die Überlegungen des Verfassers
bewegen sich — namentlich in dem beachtenswerten VII. Kapitel — stark
in der Richtung auf den relativistischen Positivismus. Zwar hält er die be-
grifflichen Komponenten der Erfahrung noch für apriorische Erzeugnisse
der „Vernunft", aber sie sind ihm nicht mehr unabhängig von der Erfahrung
und sind willkürlich, konventionell. Doch ist er noch sehr in rationalistischer,
im besonderen logizistischer Denkweise befangen und läßt ebenso wie Cassirer
das biologische Denken vollständig vermissen, während seine Darlegungen
oft genug geradezu danach schreien, „wie der Hirsch nach frischem Wasser".
Spandau. J. Petzoldt.
*) Ve}. über diese Probleme: J. Petzoldt, Die Stellung der Relativitätstheorie in
der geistigen Entwicklung der Menschheit. Dresden 1^21, Sibyllenverlag.
-CNITsÄ-
üruck von C- Schulze 6i Co. u. in.n.H-. Ordtennalnictien.
>
\
I. Abhandlungen.
Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen?
Vorbemerkung.
Der grammatische Unterricht ist, darüber wird denn doch wohl
nirgendwo ein Zweifel bestehen, Mittel zum Zweck der Erreichung derjenigen
Ziele, die der Beschäftigung mit den alten Sprachen überhaupt gesetzt sind.
Es ist deshalb selbstverständlich, daß, wenn die Ziele des altsprachlichen
Unterrichts sich verschieben, dann auch, wenn das nötig ist, der Betrieb
des grammatischen Unterrichts sich verschiebt, d. h. das Unterrichtsverfahren
dem Unterrichtsziel sieb anpaßt. Das lehrt einfachste Überlegung : lerne ich
die Sprache zu dem Zweck, mich im Bedürfnis des Alltags zurecht zu finden,
so verfahre ich beim Erlernen der Sprache anders als wenn meine Absicht
ist, durch die Kenntnis der Sprache Zugang zu gewinnen zu den Kulturgütern
desjenigen Volkes, das die fremde Sprache geschaffen hat und spricht; sind
die erstrebten Ziele andere, so ist auch das Verfahren naturgemäß anders.
Voraussetzung für die Bestimmung der Art, wie der grammatische Unterricht
einzurichten sei, ist deshalb, daß man sich über das Ziel, das man mit dem
Betrieb der alten Sprache am Gymnasium überhaupt erreichen will, klar wird.
I.
Welches ist das Ziel des altsprachlichen Unterrichts?
Der eigenartige Zustand unseres geistigen Lebens, das überall unver-
kennbar die Kennzeichen eines Übergangszeitalters aufweist, macht, daß
die Beantwortung der Frage sich nur erst nach weiterem Ausholen geben läßt.
Ich denke, daß ich nirgendwoher Widerspruch finde, wenn ich als letztes
Ziel jeglicher Erziehung und jedes Unterrichts hinstelle: die heranwachsende
Jugend vorzubereiten und tüchtig zu machen fürs Leben. Für diejenigen,
die nach Begabung und Neigung berufen sind, eine höhere Schule zu besuchen,
und dadurch ausgesucht werden zu gehobener ev. leitender Stellung im Leben,
besteht die Vorbereitung fürs Leben darin, daß sie in diejenigen Kenntnisse
und Wissenschaften eingeführt werden, die, wie man sagen kann, die konsti-
tutiven Elemente unseres geistigen Lebens bilden. Davon verspricht man
sich eine Geisteskultur, die befähigt, die Erscheinungen des Lebens kritisch
zu beobachten, um sich nicht blind von ihnen tragen zu lassen, vielmehr
mit selbständigem Entschluß bahnweisend sie zu beeinflussen.
Welches diese konstitutiven Elemente sind, ist im allgemeinen klar:
es ist das weite Gebiet der Wissenschaften. Aber ebenso klar ist, daß die
Schule, so wie die Dinge heute liegen, sich nicht die Aufgabe stellen kann,
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. 22
330 Cornelius Hölk,
in die Gesamtheit der Wissenschaften einzuführen. Das war im Mittelalter
möglich, wo die Bildung einheitlich war, und würde auch für unsere Zeit
möglich sein, wenn eine einheitliche Welt- und Lebensanschauung bestünde,
aus der deduktiv, vom Allgemeinen herabsteigend zur Einzelerscheinung,
das Leben gedeutet werden könnte.
Aber bis wir dahin gelangen, ist noch ein weiter Weg. Bis dahin muß
die Schule sich mit einem, wenn ich so sagen darf, Spiegelbild des Geistes-
lebens begnügen, das das Ganze auffängt in seiner Totalität, ohne sich das
Ziel zu setzen, die Summe des Einzelnen deutlich heraustreten zu lassen.
Es ist selbstverständlich, daß dies Bild verschieden ausfällt je nach der Stellung
des Spiegels.
Bei vielfachen Versuchen, andern deutlich zu machen was ich meine,
hat sich mir als praktisch herausgestellt, in einem Gleichnis auszudrücken was
ich denke; dadurch wurde klarer was ich wollte als durch begriffliche De-
duktion. Wer etwa zum erstenmal in eine große Stadt hineinkommt und nun
sich über die Gesamtheit der überwältigenden Erscheinung orientieren will,
hat dazu verschiedene Möglichkeiten. Er kommt auf dem Hauptbahnhof
an und sieht von da aus die Hauptverkehrsadern sich über das Ganze ver-
breiten. Wenn er nacheinander nach dem Stadtplan die großen Linien durch-
fährt, so nimmt er die Summe der Erscheinungen auf: das Bild des gewaltigen
Lebens, wie es ineinander greift, sich durchkreuzt, verwirrt, entwirrt, hemmt
und fördert, prägt sich ihm ein, er sieht die Ströme der Kraft, die sein Leben
durchfluten und bedingen.
Eine andere Möglichkeit ist die, die Goethe empfiehlt und befolgte;
man steigt auf einen beherrschenden Aussichtspunkt und prägt sich von
dort das Bild des Ganzen ein, in das unübersehbare Chaos Ordnung hinein-
bringend dadurch, daß man die Nebenwege von den Hauptadern sondern
lernt und schnell zur sichern Orientierung gelangt.
Eine dritte Möglichkeit ist die, daß man im Luftschiff in mächtiger
Höhe über der Stadt kreuzi. Man sieht dasselbe Bild wie vom Turm aus,
aber das Bild der Stadt schwindet zusammen, es ordnet sich ein in die topo-
graphischen Verhältnisse. Man sieht bis auf den Grund der Daseinsbedingungen :
von Berg und Tal, von Fluß und Straßen, die von weither sich zusammen-
schließen, ist das Ganze bestimmt. Man liest Vergangenheit und Zukunfts-
möglichkeit aus dem Bilde, das sich ausbreitet, ab.
Es wird deutlich sein, daß man auf alle drei Artei zum Gesamtbild
kommt, auch daß jedes Bild die Wirklichkeit richtig wiedergibt und doch
in sich bei aller Ähnlichkeit im Ganzen ein verschiedenes Aussehen zeigt.
Versuche, die Totalität des modernen Lebens in einem Spiegelbild aufzu-
fangen, stellen die verschiedenen Systeme der höheren Schulen dar: jedes
beabsichtigt, das Ganze zu geben, begreiflich zu machen und zu erklären.
Die Oberrealschule führt lebendig hinein in die sich betätigenden Kräfte
der Technik und des Verkehrs.
Das Realgymnasium zeigt dasselbe Bild, aber läßt das Historische mehr
hervortreten und leitet durch seine Beschäftigung mit Latein und den Sprachen
Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen ? 331
derjenigen Völker, die auf unsere Geisteskultur täglich den stärksten Ein-
fluß ausüben, zu vergleichender Betrachtung der Dinge an.
Das Gymnasium läßt das Bild der unmittelbaren Gegenwart am engsten
zusammenschrumpfen und betont am stärksten die Herkunft aus der Ver-
gangenheit bis in die weite Ferne hinein, die dem, der mitten im Brodeln
der gegeneinander ringenden Kräfte befangen ist, leicht völlig aus dem Ge-
sichtskreis gerät. Von weither lehrt es die Kräfte beobachten, die schließlich
das mächtige Bild der Gegenwart beherrschen und bedingen. Es leitet an
zu perspektivischer Betrachtung.
Darin, daß alle drei Schulformen dasselbe Objekt haben und zu einer
einheitlichen Auffassung seines Bildes führen: darin liegt die Einheitlich-
keit unseres Bildungswesens. Einseitige Betonung einer einzigen Betrachtungs-
weise würde das geistige Leben verkümmern lassen. Aus dem Nebeneinander
der verschiedenen Betrachtungsarten ergibt sich die fruchtbarste Anregung
und Bereicherung. Wer das Nebeneinander der Schulen nicht vertragen
kann und wer nur in äußerer Einförmigkeit die Möglichkeit der Einheit
und Einheitlichkeit erblicken kann, der zeigt im Grunde dadurch nur die
Enge und Beschränktheit des eigenen Gesichtskreises an. Durch mechanische
Gleichmacherei, was man so organisieren heißt, läßt sich natürlich eine Ein-
heitlichkeit des Schulwesens herbeiführen; eine wirkliche Einheitsschule,
wie sie das Mittelalter hatte, hat zur Voraussetzung einen einheitlichen Bil-
dungsbegriff und der wieder eine einheitliche Anschauung vom Zweck und
Wert des Lebens. So lange wir die nicht haben, ist die Einheitsschule nichts
wie ein Traum, aber freilich, da er stets die Neigung haben wird, sich mit
der Wirklichkeit gleichzusetzen, ein gefährlicher.
IL
Welches ist die besondere Aufgabe des humanistischen Gym-
nasiums?
Mit einem Wort gesagt: die Erziehung zu geschichtlicher Auffassung
der Gegenwart. Daß alles was ist geworden ist durch das Nach- und Neben-
einander treibender Kräfte, daß das, was alltäglich uns umgibt, seinen Ur-
sprung herleitet aus weiten Fernen der Vergangenheit und daß diese Ver-
gangenheit wegweisend auch heute, wenn auch der Masse unbewußt und
fast vergessen, die Richtung bestimmt : dafür das Auge des Geistes zu schärfen
und überhaupt zu erziehen, das ist die vornehme Aufgabe des auf Griechisch
und Latein aufgebauten Gymnasiums. Dies Wissen und Erkennen so zu
verankern, daß es das Bewußtsein ausfüllt, daß jedes neu in den Gesichts-
kreis des Geistes eintretende Phänomen angesehen wird mit der Forderung,
es in seiner geschichtlichen Bedingtheit zu erkennen, das scheint mir der
eigentliche Zweck des gymnasialen Unterrichts zu sein.
Die Mittel, die das Gymnasium zur Erreichung dieses Zweckes benutzen
kann, sind bestimmt durch das Verhältnis, in dem die Gegenwart zum Alter-
tum der griechisch-römischen Zeit steht. Die Abhängigkeit kommt in zwei-
facher Weise zum Ausdruck: erstens in direkter Bedingtheit dessen was
22*
332 Cornelius Hölk,
jetzt ist durch das was im Altertum war, und zweitens durch eine, wenn
ich so sagen darf, indirekte Bedingtheit.
Was da*^ erste bedeute, ist von vornherein klar : in Spiache, Sitte, Religion,
Kunst, Brauch, Kultur sind wir überall noch Schüler und Nachfahren der
Alten. Wer die Gegenwart begreifen will wie sie geworden ist, kommt immer
zu antiker Kunst, Wissenschaft und Religion zurück. Darauf die Aufmerk-
samkeit der Jungen zu lenken in dem Alter, wo das ganze Wesen nach großen,
orientierenden Gesichtspunkten lechzt, ist eine wundervolle und mit großer
Kunst und gutem Erfolg geübte Aufgabe des altsprachlichen Unterrichts.
Schwieriger ist das zweite, schwieriger deshalb, weil die Spuren des
Fortwirkens des Alten in die Gegenwart hinein nicht so handgreiflich auf-
zudecken sind. Daß Worte uad Begriffe wie Demokratie oder Philosophie
ins Altertum führen, ist jedermann einleuchtend; daß auch Worte wie Ge-
wissen und ähnliche durch Übersetzung antiker Begriffe geschaffene Worte
der Gegenwart ein Erbe der Alten darstellen, das ist dem Ungläubigen schon
schwerer an den Verstand zu bringen. Es wirken tatsächlich auch Dinge
weiter, die vergessen sein können. Mein Lehrer Erwin Rohde hat mit Ein-
dringlichkeit darauf hingewiesen: was jemals im Geistesleben der Menschheit
lebendig gewesen ist, das kann wohl verschwinden, aber es taucht stets wieder
mit wirkender Kraft empor: desinunt ista, non pereunt.
Von den Völkern der Erde, mit denen wir in nachweisbarem Zusammen-
hang stehen, hat allein die Welt der Griechen und Römer ihr Dasein bis zum
Ende ausgelebt. Sie haben Aufstieg, Höhe und Abstieg durchmessen, sie
haben alle Probleme des Kulturlebens erfragt und erprobt. Und sie haben
sie durchlebt in frischer Ursprünglichkeit. Ob man das Auge einstellt auf
politische oder wirtschaftliche Entwicklung, auf Fragen der Kunst oder der
Philosophie, der Religion oder der Wissenschaft : im Altertum ist alles schon
einmal durchmessen was unsere Seelen und Köpfe bewegt. Das Ich hat
gerungen mit der Gesellschaft; es hat gesiegt und ist unterlegen, es hat sich
verkrochen und hat sich vorgedrängt, es hat Götter geschaffen und geleugnet.
Alles, was wir selbst durchleben mit heißer Leidenschaft, im Altertum hat
es seine Parallele. Und eine Parallele, die mit besonderer Eindringlichkeit
zu uns redet. Während wir stets belastet sind mit dem Ballast der Tradition,
gegen die man sich sträuben mag, die man aber doch nicht los wird; während
wir selbst, um zu den Problemen zu gelangen, uns immer erst mit einer er-
drückenden Fülle von Kontroversen auseinandersetzen müssen, hat das
Altertum mit einer entzückenden und berückenden Naivität aus kleinen,
übersichtlichen Verhältnissen heraus unbekümmert um das, was danach
kam, die Fragen des Menschenlebens durchgekämpft. Sie liegen vor uns aus-
gebreitet mit einer Sauberkeit und Lehrhaftigkeit, wie die Präparate in den
Sammlungen der Naturwissenschaft. Das Verwirrende der Kontroversen
und Diskussionen ist durch den Aussiebeprozeß der Geschichte untergegangen.
Wie die Ruinen der Tempel und Basiliken uns in unverhüllter Schlichtheit
die Probleme der raumbewältigenden Kunst der Architektur lehren, so zeigen
uns die alten Autoren, die das Schicksal uns erhalten hat, in ursprünglicher
Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen? 333
Naivität und Nacktheit die Kämpfe um die geistigen Werte, die auch unser
Dasein ausfüllen. Wie ein Doppelgänger der Menschheitsentwicklung, so
läuft das Altertum neben der Gegenwart einher.
Diesen Parallelismus der Probleme aufzuzeigen, die Grundfragen des
Menschenlebens stellen, beantworten, bekämpfen zu lehren, das ist die Auf-
gabe, die nach meiner Einsicht das Altertum für unsere Tage zu erfüllen
hat. Die geistig beweglichste Jugend unseres Volkes heranzuführen an die
Dinge, die die Kämpfe unserer Tage ausfüllen, ihnen in seiner ursprünglichen
Lagerung das Problem zeigen, sie bekannt machen mit den Lösungen, die
hochgemute, frische, kluge Menschen gefunden haben, hindeuten mit flüchtigem
Hinweis auf die Analogie in der Gegenwart und sie dann der eignen Kraft
und Einsicht und sittlichen Verantwortung zu überlassen ; das ist das Höchste,
was das Altertum der Gegenwart leisten kann und das es auch wirklich leistet,
sobald nur der Finger auf die Dinge hinweist. Es ist nicht tot. Es sprüht
und atmet Leben, sobald man nur den Lebensfunken weckt; und das kann
jeder, der mit Herz und Verstand die alten Autoren gelesen hat und liebt.
m.
Wie ist der Unterricht nach diesen Plänen zu gestalten?
Ich bemerke, daß mir meine Gedanken über die Ausgestaltung des
altsprachlichen Unterrichts durchaus aus der Praxis erwachsen sind, und
zwar aus einer Praxis unter der Herrschaft der Lehrpläne von 1901. Das
heißt natürlich nur, daß sie bei einer Stundenverteilung, wie diese Lehrpläne
sie bieten, realisierbar sind. Als Oberlehrer und Direktor habe ich erfahren,
daß es geht ; es muß nur Anhängerschaft gewonnen werden für die Gedanken,
so daß ein ganzes Kollegium in einheitlichem Geist arbeitet. Veränderungen
aber sind natürlich nötig in der Pensenverteilung und im Unterrichtsbetrieb.
Zu allererst ist nötig, daß die Lehrer sich aut den Geist des neuen Be-
triebes einstellen und besonders auch die Kenntnisse erwerben. Das wird
sich der, der außerhalb der Schule steht, schwieriger vorstellen als es ist:
literarische Hilfsmittel sind vorhanden und die Aufgabe, den Unterricht
einzustellen darauf, daß die direkten Beziehungen zwischen Altertum und
Gegenwart aufgedeckt werden, pflegt nach meiner praktischen Erfahrung
Lehrern und Schülern gleich viel Freude zu machen.
Die Durchführung des zweiten Zieles, einer Art Parallelisierung der
Probleme von Altertum und Gegenwart, fordert eine erhebliche Erweiterung
und Verschiebung der Lektüre. Darüber habe ich in dieser Monatschrift
1919 S. 346ff. im Sinne der auch diesem Aufsatz zugrunde liegenden Aus-
führungen gehandelt. Die dort vorgeschlagenen Lektürepläne lassen sich im
Rahmen der jetzt zur Verfügung stehenden Zeit|bewältigen.
Ich habe selbst dort vorgeschlagen, den Umfang der Lektüre durch
Benutzung von Übersetzungen zu erweitern. Es wird deshalb nützlich sein,
nachzuweisen, daß die ausschließliche oder auch nur überwiegende Einführung
in das Altertum durch Übersetzungen sich mit den Aufgaben, wie ich sie
gezeichnet habe, nicht verträgt.
334 Cornelius Hölk,
Die bewußte Würdigung der survivals des Alterums in der Gegenwart
ist nur möglich, wenn wir die alten Sprachen gründlich kennen, denn die
Sprache ist das Mittel, durch das die geheimnisvolle Verbindung erhalten wird.
So wenig wie ein historisches Verständnis der modernen deutschen Sprache
möglich ist ohne Kenntnis des Mittelhoch- und Altdeutschen, so wenig ist ein
Eindringen in die Fortdauer der Antike und damit letzten Endes die Art des
Verständnisses der Gegenwart, die das Gymnasium beschaffen will, mög-
lich o'-ne Kenntnis von Latein und Griechisch. Dazu kommt noch ein weiteres
Moment, das sich nicht aus der Natur der besonderen Lehraufgabe, die ich
schildere, ergibt, sondern aus der Gesamterziehungsaufgabe des Gymnasiums.
Mit das Wichtigste, das die Schüler auf der Schule lernen sollen, ist, vernünftig
und richtig zu lesen. Das klingt sehr einfach, vielleicht für viele sogar banal,
ist aber eine sehr ernsthafte Aufgabe. Der schlimmste Feind des vernünftigen
Lesens ist das flüchtige Lesen. Das aber wird dadurch hervoi gerufen, daß
die technische Fähigkeit des Lesens bis zu einem Grade entwickelt wird,
daß die Gedanken nicht zu folgen vermögen. Die Augen fliegen mit größter
Geschwindigkeit über die ZeÜen dahin, die Wortbilder wechseln kaleidoskop-
artig, so daß sie nicht Zeit finden, bis an den Verstand heranzukommen.
Das ist viel häufiger als der Nichtlehrer weiß.
Wie soll man dem entgegenwirken? Das beste Mittel ist der Betrieb
fremder Sprachen. Die kann man nicht so lesen wie die Muttersprache,
sie zwingen auf Schritt und Tritt, das mechanische Lesen mit dem Nachdenken
zu begleiten, denn absolut ohne Sinn zu lesen geht gegen die menschliche
Natur. Auch das macht das Erlernen der alten Sprachen und das direkte
Lesen der alten Schriftsteller in de Ursprache zur Notwendigkeit, ganz ab-
gesehen von allen ästhetischen und ethischen Gründen, die man anführen
könnte und oft genug ins Feld geführt hat.
Also -.wir müssen die alten Sprachen gründlich treiben, und die Aufgabe
wird wohl noch schwieriger werden als bisher. Für den Schüler bedeutet
jeder Wechsel des Schriftstellers eine beträchtliche Steigerung der Schwierig-
keiten; in welchem Maß, das kann wohl nur der praktische Lehrer wissen.
Primaner, die sich mit Thukydides selbständig ©''deutlich abfinden, straucheln
an Xenophonstellen, wenn sie nicht eingelesen sind. Nun wird aber die neue
Lektüreordnung gerade starken Wechsel der Autoren und des Sprachstils
bringen. Also müssen die Schüler durch Erlernen der Grammatik nicht nur
so viel wie bisher, sondern noch umfangreicher vorbereitet werden. Der
grammatische Unterricht muß der neuen Aufgabe, die Sprachen verschiedener
Zeitepochen nebeneinander zu verstehen, gerecht werden; das fordert einen
tieferen Einblick in die Sprachentwicklung als bisher nötig und üblich war.
Denn unsere bisherige Grammatik ist überall im letzten Grunde auf Sprach-
richtigkeit, auf Klassizität, zugeschnitten. Das aber hat wieder eine andere
Folge, die vielleicht manchen, der den Ausführungen der früheren Abschnitte
zustimmend gefolgt ist, kopfscheu machen wird. Will ich die Schüler dazu
bringen, selbst richtiges Latein zu schreiben, so muß ich mich an eine einiger-
jnaßen einheitliche Sprachform als die Norm halten. Was diese Norm ver-
Wie ist heute der Unterricht in' den alten Sprachen zu erteilen? 335
läßt, das gilt als verkehrt, entweder als primitive Vorstufe oder als senile
Entartung. Das hat zur Folge, daß die Autoren, die in der Schule gelesen
werden, in erster Linie danach gemustert werden, ob sie das als klassisch
geforderte Sprachgut bieten oder nicht. Das hat zur fast ausschließlichen
Bevorzugung des ciceronianischen Zeitalters geführt. Das hatte für den
Umfang der Lektüre im Lateinischen freilich nicht dir Folge, die eine solche
Beschränkung im Gdechischen haben würde. Da das Lateinische selbst
Imitationsliteratur ist, so häufen sich in der durch Stileinheitlichkeit sich
empfehlenden sogenannten klassischen Zeit auch die Autoren, die wegen
ihres Stoffes gelesen werden müssen. Aber den neuen Lektüregrundsätzen
wird auch dies nicht genügen; die Lektüre wird viel weiter greifen, nach
rückwärts und nach vorwärts. Also ist unvermeidlich ein Bruch mit dem
Grundsatz der Einheitlichkeit des Sprachgutes. Breche ich aber damit,
so kann ich unmöglich noch festhalten an einer Unterrichtsorientierung,
die diese Einheitlichkeit zur notwendigen Voraussetzung hat. Das ist aber
die Übersetzung aus dem Deutschen in das Lateinische. Wir werden sie
aufgeben müssen, weil wir sie einfach nicht mehr so werden beschaffen können,
daß Lehrer und Schüler an der Sache Freude haben können. Das Latein
wird behandelt werden müssen wie das Griechische : Übersetzungen ins Latein
werden gemacht wenden, solange sie zur Einübung der Elemente nötig sind.
Sind die erledigt, also etwa wenn es gut geht von Uli ab, sonst von 0 II
ab, dann tritt ausschließlich die Übersetzung in die Muttersprache ein, vor-
bereitet und gefördert durch die neue Form von Arbeiten, die ich unter dem
Namen von Analysen und Diskussionen im letzten Jahrgang des Soki*ates
behandelt habe. Scheidet aber aus dem Grammatikbetrieb die Aufgabe aus,
zu der Übersetzung aus der Muttersprache ins Latein vorzubereiten, so wird
erhebliche Zeit gewonnen, die die von mir geforderte Ausdehnung der Gram-
matik und erhebliche Erweiterung der Lektüre gestattet.
Ich weiß, daß manchen, vielleicht vielen der erprobtesten Freunde des
Gymnasiums der von mir geforderte Verzicht auf das scriptum unmöglich
erscheinen wird, und ich kann sehr gut verstehen, weshalb man gerade hierin
eine Sache c^blicken kann, auf die man nicht verzichten dürfe, ohne dem
Gymnasium Innern Abbruch zu tun. In der Übersetzung ins Latein liegt
zweifellos eine außerordentliche Bildungsmöglichkeit. Die geistige Beweg-
lichkeit, die unsere Gymnasiasten auszeichnet, ihre sprachliche Gewandtheit,
die ihnen im Leben nachher so sehr zugute kommt, verdanken sie sicherlich
zum großen Teil diesen für die formale Bildung so außerordentlich gesunden
Übungen. Es wird sicher nicht leicht sein, für die Übung, die in der Unter-
scheidung all der Finessen liegt, die erst zutage treten, wenn man aus dem
Deutschen ins Latein übersetzen soll, einen ausreichenden und vollgültigen
Ersatz zu schaffen. Ich habe auch an mir selbst und meinen Schülern den
reichen Segen dieser Übungen dankbar erfahren. Aber trotzdem glaube ich,
daß der Verzicht unvermeidlich ist. Der Betrieb des gymnasialen Unterrichts
muß die Richtung nehmen, die ich geschildert habe, das verlangt die allge-
meine Stellung unserer Zeit zum Altertum; dann ist aber nicht möglich,
336 Cornelius Hölk,
die Lektüre auf die Autoren zu beschränken, deren fast ausschließlichen
Betrieb das Lehrziel des Hinübersetzens fc-dert. Also muß die Übersetzung
fallen.
IV.
Wie ist nun, bei solcher Zielbestimmung und Ausdehnung
des altsprachlichen Unterrichts, der Betrieb des gramma-
tischen Unterrichts einzurichten?
Daß unser auf Jahrhunderte langer praktischer Schulmeistererfahrung
aufgebauter grammatischer Unterricht für die Ausbildung der Geister Her-
vorragendes geleistet hat, daß er für die Erziehung zu vernünftigem und sorg-
samem Lesen vortrefflich erzogen hat und auch jetzt noch erziehen kann,
daß er auf die Menschen, die ihn erfahren haben, eine energische Beeinflussung
nach der Richtung des logischen Aufbaues der Sprache ausgeübt hat, das
kann keiner leugnen, der imstande ist, die .Jungen zu vergleichen in den ver-
schiedenen Stadien ihrer geistigen Entwicklung. Daß ich auch selbst mir
dessen klar bewußt bin, habe ich soeben ausgeführt. Als ich noch neben
dem Gymnasium ein Realgymnasium zu vei walten hatte, hab*" ich wiedei-
holt, für die Schüler überraschend, den Parallelklassen der beiden Anstalten
dasselbe deutsche Aufsatzthema gestellt. Da war nicht nur uns Lehrern,
sondern auch den Schülern deutlich, von wie starkem Einfluß der stärkere
grammatische Betrieb auf dem Gymnasium für die Ausbildung der Fähigkeit
zu gewandtem Ausdruck ist.
Augenblicklich hört man ja freilich besonders von Literaten öfter den
Standpunkt vertreten, daß es viel eher Ziel des Unterrichts sein müsse, zu
schönem als zu richtigem Ausdruck zu erziehen. Ich kann mir nicht vorstellen,
daß diese Gedankenrichtung von Dauer sein kann; in der Beziehung bin
ich wirklich Utilitarist. Es kommt darauf an, die Jugend in der Richtung
zu beeinflussen, daß sie ihren Ehrgeiz in Schlichtheit und Klarheit und Spar-
samkeit auch in dieser Beziehung setzt statt in Rhetorik und Scheinpoesie.
Wir müssen also meines Erachtens an straffer grammatischer Zucht
des Unterrichts unbedingt festhalten.
Darum kann man sich sehr wohl die Frage vorlegen, ob der jetzige Be-
trieb der Grammatik nicht trotzdem einer inneren Umorientierung bedarf.
Wer im Betrieb des Schulunterrichts mitten drin steht, der kann sich
der Erkenntnis nicht verschließen, daß der Grundsatz, von dem ich aus-
ging: nämlich daß der Sprachbetrieb nicht Selbstzweck sein dürfe, sondern
nur zu betreiben sei als Mittel zum Zweck der Lektüre: daß dieser Grund-
satz oft vergessen scheint. Von unten bis oben ist die Handhabung des gram-
matischen Betriebes meist die, daß das Eindringen in das fein verästelte
Gebäude der begrifflichen Distinktionen um seiner selbst willen geübt wird.
Man hat ja sogar ein eigenes Schlagwort um dessentwillen erfunden: das
Wort von der formalen Bildung. Die Schule darf aber, so wie heute die Kultur^
aufgäbe des humanistischen Gymnasiums ist, nicht Fachschule [für Philo-
logen sein: das üble Wort, das Unverstand geprägt hat, von der Präparande
für Philologen muß davor warnen.
Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen? 337
Ich habe nach zwei Richtungen an dem jetzigen Betrieb des gramma-
tischen Unterrichts AussteUungen zu machen.
I. Der Aufbau unserer Grammatiken, der wissenschaftlichen wie der
Schulgrammatiken ist — mit wenig Ausnahmen — gegliedert nach den Wo^^t-
arten. Wenn ich von der Formenlehre absehe, wo die Einteilung nach Wort-
arten selbstverständlich die einzig gerechtfertigte ist, — auch die Syntax
ist nach demselben Prinzip geordnet : wir unterscheiden Syntax des Verbums
und des nomens nach seinen Arten, der Adverbien, der Konjunktionen,
der Partikeln. Diese Einteilung geht auf die antiken Grammatiker zurück,
für uns greifbar auf das System der Stoiker, d'^m Gedanken nach abc auf
Piaton. Was hat diese Einteilung für einen Siin? Ihre Voraussetzung ist
doch offenbar, daß im einzelnen Wort, der Wortart, die Entwicklung mög-
lichkeiten des Gebrauchs innerlich beschlossen seien, wie im platonischen
Begriff die Summe der Erscheinungsformen. Nun glauben wir aber nicht
mehr an die Richtigkeit diese Weges von oben nach unten. Unser Denken
und Forschen geht den umgekehrten Weg: von unten nach oben, von der
Erscheinungsform zum Gesetz. Da ist aber der Ausgangspunkt nicht das
einzelne Woit, sondern der Satz, dessen Teile die Worte sind. Also muß,
wie das auch Wundt in seiner Völkerpsychologie ausführt, der Ausgang ge-
nommen werden vom Satz und seinen Gliedern. Dann kommen wir in der
Sprache zu einer Betrachtungsweise wie sie die Naturwissenschaft in der
Biologie durchgeführt hat, einem induktiven Verfahren, das zu einer Art
Teleologie der Sprache hinführt. So wird auch in der Wissenschaft tatsäch-
lich die Forschung betrieben. Es wird unumgänglich sein, auch die Form der
Darstellung diesem Wege anzupassen.
2. Paulsen hat mit umfassender Kenntnis darauf hingewiesen, daß
das Ziel des Sprachunterrichts durch die langen Jahrhunderte die imitatio
gewesen sei. Paulsen meint, den großen Strich zwischen dem Alten, das
obsolet geworden sei, und dem Neuen, das zur Entwicklung dränge, in dem
Aufkommen des Neuhumanismus zu finden. Das ist meines Erachtens nicht
ganz richtig. Der Neuhumanismus bedeutet ohne Zweifel eine wichtige
Epoche, aber er ist im Grunde doch auch noch in der Forderung der imitatio
befangen. Den wirklichen Schritt ins Neue hat erst die aus dem Neuhumanis-
mus und der Romantik herausgekommene Wissenschaft gemacht, die man
mit dem Schlagwort des Historismus hat brandmarken wollen. Da kommt
erst die innere Umstellung des Verhältnisses zwischen Altertum und Gegen-
wart. Uns ist das Altertum jetzt nicht mehr das Vorbild, durch dessen Nach-
ahmung wir erst zur Entwicklung unserer eignen Kultur zu ihrer Höhe ge-
langen können, sondern eine Parallelerscheinung neben andern, freilich eine
Parallelerscheinung, die vermöge der besondern Umstände ihrer Entstehung
und Entwicklung von dem allergrößten Wert für alle Menschheitsentwick-
lung ist. Darüber habe ich vorhin gesprochen.
Unser Grammatikbetrieb aber ist noch völlig auf das Ziel der imitatio
eingestellt. Unbillig wäre es freilich, nicht zu bemerken und zuzugestehen,
daß wir mitten drin sind, den alten Weg zu verlassen, aber zur grundsätz-
338 ; Cornelius Hölk,
liehen Umstellung des Betriebes von der Zentrale aus hat man sich noch nicht
entschlossen. Wir haben die Masse der Regeln verkleinert. Wir haben uns
beschränkt auf das, was für die Aufgabe der Schule, Lektüre bestimmter
Autoren zu treiben, wichtig ist; wir haben an Formen und syntaktischen
Velleitäten vielerlei beseitigt, was nur opus operatum schien. Das berühmte
tantum abest ut — ut spielt nicht mehr die Rolle wie noch vor 30 — 40 Jahren,
um ein Beispiel zu nennen. Aber wir sind in einer mechanischen Einschrän-
kung stehen geblieben, treiben die, wie es so geht, zu weit, so daß jetzt sogar
an der herkömmlichen unentbehrlichen Terminologie gerüttelt wird. Aber
das Wesentliche ist meines Erachtens bisher versäumt. Im Grunde wird die
Grammatik immer noch ausschließlich eingestellt auf die Divergenzen zwischen
den alten Sprachen und der Muttersprache, und zwar aus dem Gesichts-
punkt heraus, daß ein Wer tmaßstab angelegt wird und alles darauf zugeschnitten
wird, das eine als vollkommener, logischer, besser darzustellen als das andere.
Wir sind noch im Bann der imitatio. Notwendig ist aber, die Grammatik
einzustellen auf das, was die vergleichende Sprachwissenschaft in ihrem Namen
lehrt : die Betrachtung der Sprachen als Parallelerscheinurif^en. Der mensch-
liche Geist hat zu allen Zeiten und in allen Sprachen dasselbe Ziel verfolgt:
die verständliche Darstellung des Gedankens, so verständlich, daß sie auch
dem andern an den Verstand dringt. In den Ausdrucksweisen sind die Sprachen
verschiedene Wege gewandelt. Das bedeutet Erstreben desselben Zieles
mit verschieden gestalteten Mitteln.
Aufgabe des grammatischen Unterrichts muß sein, Kenntnis und Ver-
ständnis dafür zu wecken, daß es eben verschiedene Wege zum Ziel gibt
und daß der Unterschied von Völkern und Sprachen in diesen Verschieden-
heiten liegt. Die Grammatik muß lehren, den Weg, den die eine Sprache
einschlug, umzusetzen und umzuschalten auf den, den die andere Sprache
sich geschaffen hat.
Was die Mathematik mit ihrem Ziele anstrebt, die Gebilde nicht als
starre, unveränderlichen Dinge aufzufassen, sondern als veränderlich zu sehen
und in ihrer Bedingtheit und Wandelbarkeit zu erfassen, das muß auch die
Sprache anstreben in ihrem grammatischen Aufbau und Unterricht.
Das läuft auf das hinaus, wohin mich vorhin eine anders orientierte
Betrachtung geführt hat: die Grammatik darf nicht mehr ausgehen vom
Einzelwort, von der Wortart, sondern muß ausgehen von der Verwendung
des Einzelwortes im Satz, der ihm erst Leben gibt, also vom Satzglied. Von
Subjekt und Objekt, von Prädikat und Attribut und Adverb muß die Syntax
künftig bestimmt sein.
So verfährt übrigens im Ganzen schon das ausgezeichnete Schulbuch,
das Reinhardt für die Reformgymnasien verfaßt hat.
V.
Auf welche grammatischen Kenntnisse kommt es vorzugsweise
an, wenn der Unterricht ganz auf Lektüre gestellt ist?
Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen? 339
Die Grammatiken und Übungsbücher tragen in einigermaßen ausreichendem
Maße dem Rechnung, was der Unterricht in der von mir für notwendig ge-
haltenen Orientierung fordern muß, in bezug auf Vokabelkenntnis und auch
Wortbildungslehre; in letzterer muß freilich die Fähigkeit der Schüler, die
Wortverwandtschaft zu erkennen und dadurch in den Stand gesetzt zu werden,
auf der Grundlage der ihnen bekannten Wörter den Sinn der ihnen be-
gegnenden unbekannten nicht zu erraten, sondern zu erschließen, noch ge-
steigert werden. Von der Etymologie wird überall da reichlicher Gebrauch
gemacht, wo die Verwandtschaft augenfällig zutage tritt; dafür gibt es auch
s^,hr brauchbare Hilfsmittel. Woran es nach meiner Beobachtung noch fehlt,
das ist die Ausnutzung der Ablautsreihen zur Erkenntnis der Wortverwandt-
schaft. Daß disco und doceo mit decet und decus zusammenhängt — auch
dignus hängt damit zusammen, das also eigentlich bedeutet: geziert, wodurch
sich der Kasusgebrauch so einfach ei klärt — müssen die Jungen erkennen
können. Auch Ablautreihen wie: griechisch f.iv^f.iwv, reminisci (memini)
mens, moneo müssen erkannt werden können. Wenn in V die unregel-
mäßigen Verben gelernt sind, muß etwa in III einmal die Feststellung der wich-
tigsten Ablautreihen erfolgen und so fest verankert werden, daß der Vokabel-
kenntnis daher bedeutende Hilfe erwächst.
Wo ich aber die Hilfe der Grammatiken oft sehr, manchmal durchaus
vermißt habe, das ist
1. die Bedeutungsentwicklung der Worte.
Mir hat die stets sich steigernde Arbeit im Beruf nicht die Zeit gelassen,
selbst die Fülle des Stoffes durchzuarbeiten, um zu einer einigermaßen syste-
matischen Darstellung der Sache zu kommen. Für die Schule wäre das eine
außerordentlich wichtige Hilfe. Auf einige Punkte, die ich mir im Laufe
der Jahre zusammengesucht habe und die ich für die Verwertung im Unter-
richt als praktisch erprobt habe, möchte ich hinweisen.
A. Die von verben gebildeten nomina gelten zugleich für die beiden
genera des verbums, das Aktiv und das Passiv. Cauer hat darauf in der Gram-
matica militans hingewiesen. Auszugehen ist da von der Muttersprache,
z. B. den Substantiven auf -ung, die sowohl den Begriff des aktiven als des
passiven verbums darstellen : Erziehung ist das Erziehen und das Erzogen-
werden oder Erzogensein; ebenso steht es im Latein mit den Substantiven
auf -io, im Griechischen mit denen auf -g; ebenso steht es mit den
Adjektiven.
Die Sprachen haben dann die Tendenz, wenn das Bedürfnis sich dazu
herausstellt, zur Bildung von besonderen nomina zu schreiten für jede der
vorhandenen Bedeutungen, aber sie sind darin von ganz verschiedener Elasti-
zität und Biegsamkeit.
B. Nietzsche weist einmal darauf hin, daß die Sprache den Weg schreitet
zur Entkörperung der Begriffe. Das ist besonders deutlich bei den Worten,
die ursprünglich lokalen Sinn haben, dann aber auch in anderer Bedeutung
340 Cornelius Hölk,
vorkommen. Da liegt eine Entwicklungsreihe vor vom Lokalen über das
Temporale zum Logischen.
Inde heißt ursprünglich: von da; dann zeitlich: darauf; dann logisch:
daher, deshalb.
C. In einer Anmerkung seines Lesebuchs wendet Wilamowitz für Aus-
drücke wie y^ÖQig, die ein Verhältnis bezeichnen, die treffende Benennung
reciprok an. Das ist eine für die Schule sehr fruchtbare Betrachtungsart.
Daß die Zahlen, die miteinander multipliziert 1 ergeben, reciprok sind, ist
den Jungen meist schon in III bekannt; daß fides, gratia, religio usw. ein
Verhältnis bezeichnen, verstehen sie sofort, sehen auch leicht bei gegebener
Gelegenheit ein, daß die Worte, die zur Übersetzung dieser Worte verwandt
werden müssen, ähnlich gelagert sind wie reciproke Zahlen, und sie gewinnen
leicht eine förmliche Virtuosität darin, das brauchbare Wort in unserer Sprache,
die in der Herausdifferenzierung der Worte sehr weit gegangen ist, zu finden
dort, wo die alten Sprachen sich mit dem prägnanten Wort begnügen.
fides ist Treue; von selten des Herren zum Diener angesehen: Wohl-
wollen, von Seiten des Dieners zum Herrn: Zuverlässigkeit oder Gehorsam
oder Ähnliches.
Religio; bei den Alten: Furcht und Macht; bei den Christen: Glaube
und Liebe.
2. Übersetzung der einzelnen Satzglieder.
Noch mehr als bei diesen Dingen vermißt man die Hilfe der Gramma-
tiken dort, wo es sich darum handelt, die einzelnen Satzglieder aus der starren
Gebundenheit zu lösen, in der sie sich nicht befinden, in die sie aber hinein-
geraten, wenn mechanisch die Gleichung zwischen dem fremden Wort und
der dafür gelernten Bedeutung oder Übersetzung durchgeführt wird. In
Wirklichkeit erhält doch jedes Wort seinen Sinn erst durch den Zusammen-
hang, in dem es steht, und die verschiedenen Sprachen haben eben ver-
schiedene Formen ausgebildet, in denen sie die Satzglieder erscheinen lassen.
Ein Beispiel mag das erklären. Im Deutschen haben wir drei Formen des
Attributs, oder wenn man den Begriff der Apposition nicht aufgibt, vier,
nämlich :
a) gebildet durch ein Substantiv oder Adjektiv oder Partizip im gleichen
casus,
b) gebildet durch ein Substantiv im Genitiv,
c) gebildet durch einen adverbialen Ausdruck, in der Regel Substantiv
mit Präposition.
Alle drei Formen haben den Zweck, eine enge Verbindung des Attributs
mit dem Wort, wozu es gehört, herbeizuführen. Inhaltlich betrachtet ist
das Attribut die organische Eingliederung eines Prädikats in ein anderes
Urteil. Vollkommen durchgeführt ist diese Eingliederung, wenn die Sprache
zur Bildung eines Adjektivums fortgeschritten ist; hat sich das Bedürfnis
danach nicht herausgestellt, so hilft man sich mit einem, wie ich das mit
meinen Schülern in Anlehnung an einen im Krieg aufgekommenen Begriff
nenne, mit einem Adjektiversatz, der gebildet wird durch Subst. im Gen.
Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen? 341
oder Subst. m. Präpos. Erweitert kann dies Attribut der einfachsten Form
werden, wenn das die Deutlichkeit fordert, durch Hinzufügung eines Parti-
zipiums, zu dem dann das Subst. m. Präp. als Adverb tritt, oder durch Um-
wandlung in einen Relativsatz. Auch die Stellung des Attributs kann ver-
schieden sein: es kann zwischen Artikel und Substantiv stehen, dann wird
es flektiert, oder es kann unflektiert lose dranhängen.
Alle diese verschiedenen Formen des Attributs sind, auf ihren Inhalt
und logischen Wert betrachtet, einander gleichwertig ; es bedeutet also keine
Verschiebung in der Struktur des Gedankens, wenn ich eines durch das andere
ersetze. Das ist nur eine Geschmacks frage, die durch das Sprachgefühl ent-
schieden wird, d. h. durch die unbewußte Auswirkung des Sprachbesitzes
und Sprachbewußtseins. Der Wesensunterschied der Sprachen kommt
zum Ausdruck in der Richtung, in der sie die vorhandenen syntaktischen
Bildungsmöglichkeiten ausgestalten: im Deutschen ist wie im Griechischen
die Neigung zur losen Gliederung stark; besonders in der Form des adver-
bialen Ausdrucks (Adverb und Substantiv mit Präposition) kann in weitest
gehendem Maße Verbindung von Begriffen zu einem Begriffskomplex durch-
geführt werden; im Lateinischen ist das Streben nach strafferer Bindung
unverkennbar: das Attribut gebildet durch Subst. m. Präp. ist verhältnis-
mäßig selten, für den Schüler eigentlich beschränkt auf die von Verben her-
geleiteten Substantive, bei denen die verbale Herkunft noch durchschimmert,
dagegen die Neigung zur Adjektivbildung oder zum Ersatz des Attributs
durch Partizipialkonstruktion vorherrschend.
Die Behandlung des Adjektiversatzes ist eine andere, wenn die Ver-
wendung als Prädikativum vorkommt, wie sie beim Attribut ist. Im Deutschen
ist der Gebrauch des Adjektiversatzes durch Substantiv im Genitiv in der
Prädikatsverwendung ganz ungewöhnlich, nur auf wenige Redensarten be-
schränkt wie: er ist des Todes oder des Teufels, wo mir lateinische Anlehnung
wahrscheinlich ist, im Lateinischen weit verbreitet. Da muß die Übersetzung
über den Kreis der Worte hinausgehen und zum Ausdruck bringen, was dem
Sinne nach durch den Genitiv ausgesprochen wird: das Haus ist Eigentum
des Vaters oder gehört dem Vater; Tapferkeit ist Eigenschaft oder Pflicht
des Soldaten, je nachdem es sich um materiellen oder geistigen Besitz handelt
und je nachdem das Besitzverhältnis wirklich oder nur möglich ist. Die
Abneigung, die das Latein gegen den Adjektiversatz gebildet durch Subst.
m. Präp. als Attribut hat, ist bei der Verwendung als Prädikativum nicht
vorhanden. Wird die Grammatik eingestellt auf die Beobachtung der Ver-
änderungsmöglichkeiten, so leistet sie der Fähigkeit zum Übersetzen des
Gedankens von der einen Sprache in die andere den größten Dienst. Worauf
es für uns in der Schule ankommt, das ist, daß die Grammatiken eine sche-
matische Aufstellung dafür bieten, wie die Sprachen die in der Struktur
des Gedankens notwendigen Einzelglieder sprachlich auszubilden tätig ge-
wesen sind. Von besonderer Wichtigkeit ist die Betrachtung der Fälle, wo
von dem einen genus ins andere übergegangen wird, z. B. vom Adverb zum
Attribut und umgekehrt usw.
342 Cornelius Hölk,
Die Betrachtung auf die andern Satzglieder wie Subjekt, Objekt, Prädikat,
Adverb auszudehnen, würde zu weit führen, ist auch meiner Ansicht nach
jetzt überflüssig, da das was ich zeigen sollte, aus dem was ich über das Attri-
but ausgeführt habe, zur Genüge klar sein wird.
3. Übersetzung des logischen Verhältnisses, in dem die
Gedanken zu einander stehen.
Ebenfalls lassen einen die Grammatiken in Stich, wenn man mit der
Zusammenballung mehrerer Sätze zu einer Periode, einem Satzgefüge, Schwie-
rigkeiten hat. Darin ist gerade die Umsetzung aus den alten Sprachen mit
ihrer beherrschenden Neigung zur Periodisierung in die deutsche mit ihrer
Tendenz zur Auflösung in kleine Satzgebilde schwierig. Die Grammatiken
betrachten diese Dinge recht einseitig, der Hauptsatz steht für sich da und
auch der Nebensatz für sich, höchstens in seiner Beziehung zum übergeord-
neten Gedanken betrachtet. InWirklichkeit ist aber die Beziehung eine wechsel-
seitige. Ein Beispiel mag das erklären: nehme ich die beiden Sätze: die Sonne
scheint, es ist hell, so besteht zwischen beiden das Verhältnis der Kausalität,
von Ursache und Wirkung. Das kann zum Ausdruck gebracht werden, kann
auch weggelassen werden, wobei es denn doch existiert. Wird es ausgedrückt,
kann das in der Form der Parataxe und der Hypotaxe geschehen und zwar
betrachtet von jedem der beiden Urteile aus. Jedesmal wird das Verhältnis
der Kausalität mit voller Klarheit ausgedrückt. Die Sätze:
Die Sonne scheint; daher ist es hell.
Es ist hell, denn die Sonne scheint.
Weil die Sonne scheint, ist es hell.
Die Sonne scheint so, daß es hell ist
drücken alle dasselbe aus und können je nach Belieben für einander eintreten,
ohne den Gedanken zu verändern.
Wird aus irgendeinem Grunde das bestehende Kausalitätsverhältnis
nicht verwirklicht, so habe ich das konzessive Verhältnis:
Die Sonne scheint; trotzdem ist es nicht hell.
Es ist nicht hell; dennoch scheint die Sonne.
Obgleich die Sonne scheint, ist es doch nicht hell.
Die Sonne scheint, so daß es eigentlich hell sein müßte.
Wird betont, daß das vorhandene Kausalitätsverhältnis nicht als wirklich
ausgedrückt werden soll, sondern nur als Annahme hingestellt wird, so er-
halte ich: Wenn die Sonne scheint, ist es hell.
Wird der Charakter der reinen Fiktion noch stärker betont, mit einem
Einschlag nach der Richtung, daß der Sprechende entweder an die Realität
glaubt oder nicht glaubt, so erhalte ich:
Wenn die Sonne schiene, würde es hell sein
Wenn die Sonne geschienen hätte, würde es hell gewesen sein.
Wird das Kausalitätsverhältnis als Wirkung eines sich betätigenden
Willens dargestellt, so bekommt man:
Die Sonne scheint, damit es hell sei.
Wenn es hell sein soll, muß die Sonne scheinen.
Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen? 343
Begnügt man sich mit der Vorstufe des kausalen Verhältnisses, dem
posthoc statt propter hoc, so erhält man: die Sonne scheint, dann ist es hell,
mit seinen Abwandlungen in den Nebensätzen mit als, nachdem, bevor.
Große Schwierigkeiten machen beim Übersetzen die Sätze, bei denen etwa
das Relativum oder Fragewort von einem subordinierten Partizipium in
seinem Kasus bestimmt ist und zugleich für das Hauptverbum in ein^^m
andern Kasus wirksam ist, also was man relative Verschränkung nennt.
Das ist im Deutschen nicht nachahmbar. Um die Auflösung solcher Schwierig-
keiten aus der Sphäre des Ratens und Tastens herauszuheben in die des
bewußten Könnens, ist die Beherrschung der Gedankengänge, wie ich sie
eben geschildert habe, notwendig. Man nehme den Satz: ri äv rtoiovvTsg
&valdßotev. Zwischen beiden Gedanke.i besteht das Verhältnis von Annahme
und Folgerung, der gewollten Kausalität, also: wenn sie täten, würden sie
bekommen, oder: sie müßten das tun, damit sie bekämen.
Von da aus wickelt sich die Schwierigkeit leicht ab. Man muß den Schüler
in den Stand setzen, das zwischen zwei Gedanken bestehende innere Ver-
hältnis von jedem der beiden Gedanken aus, dem zufällig subordinierten
wie übergeordneten aus, zum klaren Ausdruck zu bringen.
4. Über die Partikeln.
Auch dies Kapitel ist mehr nach der Richtung auszubauen, daß nicht
nur auf die Relation das Auge eingestellt wird, sondern auch auf die Kor-
relation, so daß jederzeit das gedankliche Verhältais ausgedrückt werden
kann auch bei einer Umorientierung der Gcdankenlagerung. Besonders
für die Homerübersetzung ist das von Wichtigkeit, überhaupt für das Grie-
chische mehr als fürs Lateinische.
Dabei ist ein wichtiges Ziel, dem deutschen Jungen zum Bewußtsein
zu bringen, über welchen Reichtum die eigne Sprache und damit unbewußt
das eigne Denken verfügt, dadurch, daß unsere Sprache, der griechischen
vergleichbar, in ihrer Fülle von Partikeln die Mittel besitzt, auch die leisesten
Abwandlungen und Abbiegungen des Gedankens, die leichtesten seelischen
Schwingungen und za«" testen Beziehungen, zum Ausdruck zu bringen.
VI.
Wie muß nun eine Grammatik aussehen, die den geschilderten
Bedürfnissen entspricht?
Für die Schulen liegt eine sehr große Erschwerung des Spracherlernens
überhaupt darin, daß in den verschiedenen Sprachen eine verschiedene Ter-
minologie üblich ist. Das unterschätzt der, der nicht die täglichen Nöte
des Schulbetriebes zu tragen und zu überwinden hat. Es muß deshalb Vor-
sorge getroffen werden, daß die Terminologie überall dieselbe ist; natürlich
muß sie auch mit der in der Wissenschaft üblichen übereinstimmen.
Ferner muß es vei mieden werden, daß die Jungen in die Lage kommen,
später umlernen zu müssen, indem Regeln beiseite geschoben werden, die
344 Cornelius Hölk.
nur zu einem bestimmten Lehrzweck nach Art einer vorläufigen Arbeits-
methode aufgestellt sind
Aus dem allen, was ich ausgeführt habe, scheinen sich mir folgende
Fordenmgen zu ergeben:
1. Die Grammatik muß zerfallen in eine allgemeine Sp'^achlehre, die
das zusammenstellt, was für alle Sprachen, deutsche wie fremde, gültig ist,
und spezielle Sp'-achlehren der einzelnen Sprachen, die das Verhältnis zur
allgemeinen Sprachlehre darstellen.
2. Die Sprachlehre muß ausgehen von der Muttersprache.
3. Sie muß gegliedert sein nach Satzgliedern, also Subjekt, Objekt,
Prädikat, Attribut, Adverb, Partikeln, Satzverbindungen uad Satzgefügen.
4. Die allgemeine Sprachlehre ist rein formal und konstruiert; sie stellt
ein Schema auf von den Ausdrucksformen, die in den in der Schule behandelten
Sprachen möglich sind : sie will die einheitliche Grundlage für die Terminologie
und auch für die Erklärung bieten. Sie ist aber nicht dazu da, systematisch
durchgenommen zu werden, sondern dient zur Orientierung.
Ich gebe zunächst als Beispiel, was ich vorhin zum Teil schon behandelt
habe, die Lehre vom Attribut.
In der Sprachlehre würde es heißen:
Die häufigste Form der organischen Zusammenfassung zweiei oder
mehrerer Urteile zu einem Gedankenkomplex ist die Beifügung des Attributs.
Die beiden Sätze: die Blume ist hübsch; die Blume macht mit Freude —
werden zusammen gezogen zu dem einen Satz: die hübsche Blume macht
mir Freude. Es kann deshalb alles, was Prädikat ist, auch Attribut werden,
bei den Verben, indem besondere Formen vom Verbum gebildet werden,
Partizipia und Verbaladjektiva.
Die Wortart, die die Sprache besonders für das Attribut gebildet hat,
ist das Adjektiv. Es ist aber nicht überall zur Bildung dieser Wortart ge-
kommen, vielmehr begnügt sich die Sprache oft, weil auch so schon das
Verständnis gesichert ist, mit einem Adjektiversatz.
Beispiel: Die Blume Vergißmeinnicht
die rote Blume
die wohlriechende Blume
die Blume der Mutter
die Blume da vorne
die Blume im Garten
ist hübsch.
die Blume, die im Garten steht
Manchmal wächst das Attribut mit seinem nomen zu einem Wortkompo-
situm zusammen: Hochzeit; Akropolis; Bürgermeister, Vaterlandsliebe usw.
Das Attribut wird also gebildet
1. durch ein Substantiv oder Adjektiv oder Partizip im gleichen casus;
2. durch ein Substantiv im Genitiv;
Wie ist lieute der Unterriclit in den alten Sprachen zu erteilen? 345
3. durch einen adverbialen Ausdruck, meistens einSubst. m. Präposition;
4. Jedes Attribut kann zu einem Relativsatz erweitert werden.
Das Attribut Nr. 2, gebildet durch ein Substantiv im Genitiv, bezeichnet,
daß zwischen dem nomen, bei dem es steht, und dem Attribut das Verhältnis
von Eigentum zum Eigentümer besteht; bei geistigen Dingen ist das: Eigen-
schaft und Inhaber; oft erscheint es als Verhältnis des Teils zum Ganzen;
bei Substantiven, die von Verben gebildet sind, gibt es das Subjekt oder
Objekt an.
Das Attribut berührt sich nahe mit dem Adverb; Worte wie zuerst,
zuletzt, oben, unten usw. sind Grenzfälle beider Satzglieder.
Jedes Attribut kann, ohne den Sinn des Gedankens zu verändern, be-
liebig durch jede andere Art ersetzt werden.
Jeder Relativsatz ist ein Attribut entweder zu einem vo''handenen oder
zu einem zu ergänzenden nomen oder Beziehungswort.
Die Regel in der speziellen Grammatik würde lauten:
A. Für das Deutsche.
1. Das Attribut gebildet durch ein Adjektiv steht meist vor dem Sub-
stantiv, dann wird es flektiert. Es kann auch nachstehen, aber in der Regel
nur, wenn mehrere nebeneinander stehen und besonders in gehobener, dichte-
rischer Sprache; dann wird es nicht flektiert.
2. Das Attribut gebildet durch ein Substantiv im gleichen Kasus wird
oft mit „als" verbunden; dann kann es sich ziemlich frei bewegen und weiter
von seinem Beziehungswort entfernen.
3. Sonst hängt sich das Attribut eng, fast enklitisch, an sein nomen.
4. In den Grenzfällen zwischen Adverb und Attribut neigt das Deutsche
zur adverbialen Verwendung.
B. Für das Lateinische.
1. Fast ganz entfällt das Attribut gebildet durch ein Adverb.
2. Sehr viel seltener als im Deutschen und in der Regel nur üblich bei
Substantiven, bei denen die verbale Herkunft noch durchschimmert, ist
das Attribut gebildet durch ein Substantiv mit Präposition.
Es wird ersetzt
1. wenn es möglich ist, durch ein Adjektiv;
2. ist das nicht möglich, weil das Adjektiv nicht vo -banden ist, durch
ein Substantiv im Genitiv, wenn das besondere Verhältnis vorliegt,
das durch den Genitiv bezeichnet wi^d.
3. Ist das nicht der Fall, so wi»d es durch Beifügung eines inhalt-
lich passenden Partizipiums in ein Adverb umgewandelt.
3. Sehr viel vei breitster als im Deutschen ist die Verwendung des Parti-
zipiums als Attribut, p (artizipium, c (onjunctum) genannt, im Gegensatz
zum p (artizipium) a (bsolutum), das ein Adveib ersetzt.
Das p. c. wird übersetzt:
1. Zwischen Artikel und Substantiv;
2. nachgestellt ohne Endung;
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. Jhrg. HS
346 C. Hölk, Wie ist heute der Unterricht in den alten Sprachen zu erteilen?
3. als Relativsatz;
4. als konjunktionaler Nebensatz;
5. koordiniert mit ,,und" oder andern Partikeln.
Das inhaltliche Verhältnis des Partizipium- zu seinem ncmen wird manch-
mal angedeutet
a) durch Partikeln beim Partizipium, z. B. quippe,
b) durch eine Partikel in dem Satz, in dem es steht, z. B. tamen, prop-
terea, interea usw.
C. für das Griechische.
1. Das Attribut steht entweder vor dem nomen oder wird mit dem
Artikel wiederholt; ausgenommen ist
a) der Genitivus partitivus,
b) das konjunktional zu übersetzende p. c.
2. Viel häufiger als im Deutschen und, Latein ist das Attribut gebildet
durch ein Adverb.
3. Ebenso ist viel ausgebildeter die Verwendung von Partikeln beim pc.
zur Bezeichnung des inhaltlichen Verhältnisses, z. B. KuintQ-üj^iwg, öia
TovTo, wg mit dem Partizip des Praesens od. aorist. oder wg mit dem
Partizip futuri, k'Tteita, äv usw.
Ich bin mir natürlich klar darüber, daß das Attribut verhältnismäßig
einfach zu behandeln ist; noch leichter sind vielleicht Subjekt und Objekt,
viel bunte** gestaltet sich die Sache beim Adverb und Prädikat. Aber der
Vorteil dieser Art, die Grammatik zu behandeln, die ich in jahrelanger Praxis
ausprobiert habe, wird einleuchten; eine ganze Masse von Paragraphen der
Kasuslehre aus Genetiv und Ablativ erledigt sich so ohne jede Spintisiererei,
die meist über das Verständnis vermögen der Jungen hinweggeht. Sie be-
kommen auch auf diese Weise klare Anleitung dafür, wie sie den ungelenken
Geist und die noch ungelenkere Sprache geschmeidig machen können zur
Umsetzung der Worte aus der Form, die sie in der fremden Sprache haben,
in die Muttersprache. Ich meine beobachtet zu haben, daß die Fähigkeit
wächst, die Sprache als lebendiges, bewegliches und veränderliche.^ Ding
bewußt zu empfinden.
Schlußwort.
Bis eine Grammatik derart erschienen ist, wie sie nach meiner Meinung
der eigentliche Charakter des Gymnasialunterrichts in unsern Tagen fordert
und wie ich sie in ihrer idealen Form geschildert habe, darüber kann natür-
lich noch geraume Zeit vergehen. Ob mir selbst der Be^uf zu so umfang'^eicher
Arbeit mal die Muße gönnen wird, ist mir mehr als zweifelhaft. Aber das
Ziel, das ich dem grammatischen Unterricht stecke, läßt sich auch mit den
Schulgrammatiken, wie sie vorliegen, erreichen, das hat mich meine eigne
Lehrertätigkeit gelehrt. Nützlich freilich wird sein, daß die einzelnen Schulen
sich über allgemeine Richtlinien einig werden, durch die Einheitlichkeit
der Terminologie und der Erklärung der grammatischen Probleme gewähr-
leistet wird in d^m Gei«t, wie ich ihn zu schildern versucht habe.
Marburg/Lahn. Cornelius Hölk.
J. Bathe, Der lateinische Unterricht am Realgymnasium. 347
Der lateinische Unterricht am Realgymnasium.
„G^ben Sie sich keinen großen Hoffnungen hin, Realgymnasiasten
lornen niemals Latein, jede Reifeprüfung beweist das von neuem," so sagte
mir einst ein hochgestellter Schulmann und guter Kenner des lateinischen
Unterrichtes. Vielfache Erkundigung bei Fachgenossen und eigene Beob-
achtungen haben mir das Urteil bestätigt : Wer andere als gediegene Früchte
des Lateinunterrichtes nicht anerkennt, der muß von dem Latein am Real-
gymnasium durchaus unbefriedigt sein. Da mag man doch wohl ernstlich
die Frage erheben, ob nach der demnächstigen großen Umwälzung unseres
höheren Schulwesens das Latein noch eine Rolle außerhalb des Gymnasiums
spielen darf, und welche.
Der Wert aller Bildungsfächer ist entweder absolut, wie bei der Mathe-
matik, oder mehr oder weniger zeitlich bedingt, wie auf allen nicht rein for-
malen Gebieten. Bei der großen Zahl der heute empfohlenen Unterrichts-
stoffe wird man jeden einzelnen, falls sein absoluter Wert nicht feststeht,
um so strenger auf seinen Wert für die Gegenwart und die nächste Zukunft
prüfen müssen. Ist, so könnte man daher zunächst fragen, wo nicht für die
Gesamtheit der Gebildeten, so doch für einen großen Teil von ihnen das
Studium des Lateinischen heute noch nötig? Diese Frage beantwortet sich
sogleich durch den Hinweis auf zahlreiche praktische Berufe, deren gelehrte
Unterlage gegenwärtig Kenntnis des Lateinischen verlangt. Von der Theologie
sei hier ganz abges'^hen, ebenso von rein gelehrten Forschungs berufen wie
Geschichte u. a. m. Aber die Medizin ist heute nicht erlernbar ohne Latein;
man mag einen Zopf darin sehen, der abgeschnitten werden muß, aber von
heute auf morgen läßt sich das nicht machen. In geringerem Grade gilt das
gleiche von der Rechtswissenschaft. Ja, die fachwissenschaftlichen Bezeich-
nungen aller Gebiete sind zur Stunde noch mit so vielen Fremdwörtern latei-
nischer Herkunft durchsetzt, daß derjenige, der kein Latein kennt, ins Hinter-
treffen gerät, ist doch sogar die Nichtkenntnis des Griechischen hier vielfach
ein fühlbarer Nachteil. Die Umwälzung, die sich in all diesem vollzieht,
kann nur langsam Früchte zeitigen, sie ist eigentlich nur eine letzte Stufe
des Umschwungs zum Deutschtum hin, der seit des Thomasius Zeiten in
zähem Kampfe vor sich geht. Jenen praktischen, aber zeitlich bedingten
Wert also wird niemand dem Lateinunterricht abstreiten können, und in
der Tat liegt ja auch die beste Anerkennung vor in der Aufnahme des Latei-
nischen unter die Fächer der Oberrealschule.
Anders ist es mit der Frage des formal -bildenden Wertes. Daß dieser
bei richtiger Handhabung sehr hoch ist, steht fest. Wer als Schüler unter
der Hand eines Lehrers, der der Sache wirklich gewachsen war, wer als Lehrer
mit strebsamen Schülern in dieser Schmiede des Geistes die Weite und Klar-
heit des Denkens hat wachsen, die Sprache an Schärfe und Reichtum hat
gewinnen sehen, dessen Überzeugung von diesem Werte des lateinischen
Unterrichts ist nicht zu erschüttern auch ohne die mit warmer Überzeugungs-
kraft geschriebenen Darlegungen von Zielinski, Cauer u. a. m. Es wird frei-
lich eingewandt, daß der Unterricht in den neueren Fremdsprachen dasselbe
23*
348 J. Bathe,
leisten könne. Man möchte es von vornherein bezweifeln, da eine so stark
synthetische Sprache wie das Lateinische uns in den modernen Fremdsprachen
nicht zur Verfügung steht. Sicherlich können nur sehr wenige maßgebend
mitreden, ob etwa der französische Unterricht auf der Unter- oder der Ober-
stufe oder gar auf allen Stufen ein vollwertiger Ersatz des Lateinischen sein
kann, denn dazu muß man, streng genommen, beiderlei Unterricht erteilt
haben an Schüler, die nicht zugleich unter der Einwirkung des anderen Faches
standen, also Französisch an Oberrealschüler, Latein an Gymnasiasten.
Bejahende Urteile wie die von Münch und Direktor Erzgraeber geben immer-
hin zu denken. Aber eine einfache Überlegung beweist, daß der heutige
Unterricht in den neueren Sprachen das Latein nicht ersetzen kann. Wenn
die Gesichtspunkte der neueren Methode in den auf das „Parlieren" gerichteten
Forderungen der Lehrpläne einen Niederschlag finden, wenn, um ein Wort
des ehemaligen Berliner Provinzialschulrats Borbein zu gebrauchen, der
Aufsatz als ,, die Blüte des ganzen neusprachlichen Unterrichts i)" angesehen
wird, so bleibt für das, was im Lateinunterricht die Hauptsache ist, das
Übersetzen, keine genügende Zeit mehr. Zum mindesten wird also die Mutter-
sprache nicht den entsprechenden Gewinn haben. Das ist ein sehr schmerz-
licher Ausfall gerade jetzt, wo die Kunst des Übersetzens allmählich über
die Mängel der Methode hinaus ist, die allerdings vielfach das Übersetzen
als Hemmnis für die Erziehung zu echt deutscher Auffassung und echt deut-
schem Ausdruck erscheinen ließen. Ob die Früchte der sog. direkten Sprach-
erlernung gleichwertig oder besser sind, ist eine besondere Frage; die dem
Lateinunterricht eigentümliche Wirkung wird jedenfalls in den neueren
Sprachen nicht erreicht. Die richtige Bewertung der verschiedenen Gesichts-
punkte läßt sich hier nur durch allgemeinen Überblick erlangen. Zu einer
Zeit, als noch nicht die Fähigkeit des Schülers zu selbsttätiger Gestaltung
50 sehr in Bewegung gesetzt wurde, wie es heute durch die Schulung in der
Muttersprache geschieht, mochte es mehr Sinn als gegenwärtig haben, die
Schüler mündlich oder schriftlich radebrechen zu lassen in fremden Sprachen,
an deren Kenntnis Phantasie und Gefühl jedenfalls viel weniger Anteil haben
als bei der Muttersprache. Und anderseits scheint es mir allerdings, daß
der in mächtigem Aufschwung begriffene deutsche Unterricht die bisherigen
Aufgaben des lateinischen, sofern es sich um Förderung des deutschen Aus-
drucks handelt, dereinst einmal wird mit übernehmen können. In seiner das
Denken bildenden Kraft ihn zu ersetzen, scheint vorab keine Möglichkeit
zu sein, es sei denn etwa: die naturwissenschaftlichen Übungen, d. h. die
Übungen zur Einführung in das Wissen an Stelle des jetzt noch herrschenden,
allerdings erstaunlich ausgebildeten Demonstrationsverfahrens müßten zu
vollkommenster Ausbildung und allgemeiner Durchführung gelangen. Aber
wenn sich hier und vielleicht auch auf anderem Wege eine Aussicht bietet,
in Zukunft das Lateinische gefahrlos aus unserem Schulunterricht ausscheiden
zu können, so ändert das nichts an der Tatsache, daß wir jetzt und noch
für lange Zeit den lateinischen Unterricht nicht entbehren können.
1) Monatsschrift für höhere Schulen, Jahrgang IV, S. 159.
Der lateinische Unterricht am Realgymnasium. 349
Wer das einmal anerkennt, wird auch zugeben müssen, daß der Latein-
unterricht nicht auf die humanistischen Gymnasien beschränkt bleiben darf,
zumal man mit einem zahlenmäßigen Zurückgehen der Gymnasien wird
rechnen müssen. Das Realgymnasium, das schon einmal allen Erwartungen
zum Trotze zähe Lebenskraft bewährt hat, wird als vermittelnder Typus
wahrscheinlich an Verbreitung gewinnen ; ihm wird daher in stärkerem Maße
als bisher die Aufgabe zufallen können, Vermittler des Lateinischen zu sein.
Da handelt es sich denn darum, wie sich dieser Unterricht besser als bisher
fruchtbar machen läßt.
Das anerkannte Grundübel des Realgymnasiums ist die Überzahl gleich-
wertiger oder doch fast gleichwertiger Unterrichtsfächer. Wo man nicht ent-
schlossen genug ist, das eine oder andere Hauptfach praktisch zum Neben-
fache herabzusetzen (die Lehrpläne lassen das z. B. für das Englische zu),
da ist notwendig das Ergebnis: vielerlei und nichts gründlich. Wer aber
näher eingeweiht ist, der muß vollends erstaunen über die Zersplitterung
innerhalb der einzelnen Fächer, die durch die Lehrpläne nahe gelegt, z. T,
aufgezwungen wird. Da hat der Schüler Grammatik und Lektüre nebenein-
ander ( in U II des alten Realgymnasiums je 2 Stunden); es müssen regel-
mäßige Übungsarbeiten, Haus- und Probearbeiten geschrieben werden,
im Tertial 2 — 3 ,, Hinübersetzungen", dazu im Vierteljahr 1 „Herübersetzung",
endlich kleine deutsche Ausarbeitungen. Wieviel Zeit bleibt da noch zu
ruhigem, vertieftem Arbeiten! Ein Blick auf das Gymnasium zeigt dort
gleiche Vielgestaltigkeit. Die Auffassung von Ziel und Wegen hat sich mit
der Zeit verschoben: man hat sich Neuem zugewandt, ohne auf Altes ver-
zichten zu können, die Lektüre wird heute nach ganz anderen Gesichtspunkten
gepflegt als noch vor Jahrzehnten, die grammatische Schulung früherer
Zeit erscheint dabei nicht weniger entbehrlich. Daher von allem etwas.
Aber wenn eine solche Zersplitterung am Gymnasium mit seiner großen
Stundenzahl für das Lateinische zweckmäßig und daher berechtigt sein mag,
so folgt noch nicht, daß sie auch für das Realgymnasium paßt. Und hier zeigt
sich in einem Punkte schon das Leiden, an dem das Lateinische am Real-
gymnasium krankt und dem es meines Erachtens im wesentlichen seine
Mißerfolge verdankt: die zu weitgehende und mechanische
Nachahmung des Gymnasiums. Die Einzelheiten^) der Lehrpläne
zeigen, daß sich Aufgaben und Ziele des Realgymnasiums von denen des
1) Als aligemeines Lehrziel für die Gymnasien wird in den Lehrplänen freilich noch
bezeichnet „Einführung in das Geistes- und Kulturleben des Altertums", und gerade diese
Aufgabe pflegt als die wichtigste des gymnasialen Lateinunterrichts bezeichnet zu werden.
Aber wenn man bedenkt, daß diese Aufgabe doch nicht gesondert, sondern hauptsächlich
in der Lektüre und durch diese zu erfüllen ist und daß der übrige Unterricht auch in dieser
Hinsicht auf die Lektüre vorbereitet, so wird man sich nicht wundern, daß der tatsächliche
Unterrichtsbetrieb kaum mehr als einen quantitativen Unterschied zwischen beiden Schul-
arten erkennen läßt. Im Einklänge damit fordern dann auch die Methodiker eine mehr
oder weniger weitgehende Einführung in das Leben des Altertums für das Realgymnasium.
Man vergleiche z. B. die Ausführungen von F. Cramer in seinem soeben erschienenen Buche
,Der lateinische Unterricht", Berlin, Weidmann, 1919, S. 531!
350 J. Bathe.
Gymnasiums wesentlich nur dem Umfange nach unterscheiden, obschon
der Lateinunterricht dort in dem sonstigen Studium des antiken Kultur-
gebietes fest verankert ist, während er am Realgymnasium sozusagen allein
steht^). Jene Ziele aber sind im wesentlichen noch immer die der Re-
naissance; was mit der Zeit aus den Renaissanceideen entwickelt oder
künstlich ihnen aufgepfropft worden ist, hat den ursprünglichen Haupt-
charakter nicht verwischen können.
Das ästhetische Interesse der Renaissance war ursprünglich und haupt-
sächlich auf formale Schönheit gerichtet, und für diese bildete verstandes-
mäßige Klarheit und Durchsichtigkeit den bedeutsamsten Wertmesser.
Die Schönheit der lateinischen Prosa und Poesie ist von den Humanisten
gefeiert und angestrebt worden, lange bevor die Aufklärungszeit den intellek-
tuellen Charakter der lateinischen Sprache hervorhob. Daher galt ihnen
ihre künstlerische Beherrschung als herrliches Ziel und Cicero als ihr bewan-
dertes Vorbild. Um die Kunst der Alten genießen zu können, nahm man
aber auch ihre Gedanken- und Phantasiewelt in den Kauf, übernahm sie
bald auch als Inhalt der eigenen Kunst und entfernte sich dadurch gänzlich
von der Überlieferung des eigener Volkes.
Wer möchte verkennen, welch breiten Raum die Einführung in diese
gelehrte Bildung noch heute auf unseren Gymnasien einnimmt! Welche Rolle
spielt nicht noch immer die antike Sage und Mythologie, war ihr doch bis
vor wenigen Jahren die geschichtliche Unterweisung eines ganzen Jahres
gewidmet! Ovid, Veigil, Horaz, um nur die lateinischen Dichter zu nennen,
erfordern zu ihrem Verständnisse das Wissen eines ganzen Menge mytho-
logischen Kleinkrams. Und die Forderung nach kunstvoller Beherrschung
der Sprache ist auch nicht so sehr geschwunden, wie es scheinen könnte.
Wohl schreiben wir keine lateinische Poesi'^ und Prosa mehr, aber wie verändert
die Aufgaben und Zi'^le des Grammatikunterrichts auch hingestellt werden
mögen, wer die Praxis kennt, weiß, daß nicht nur bei der allerältesten Gene-
ration der klassischen Philologen die Stilistik noch in ähnlicher Weise Trumpf
ist, wie sie es in den Zeiten Nägelsbachs und Seyfferts allgemein war.
Auch die Schulgrammatiken lassen mehr, als zu rechtfertigen ist, den logischen
Gesichtspunkt hinter dem stilistischen zurücktreten. Ein Beispiel möge
das beleuchten! Bei der bekannten Konstruktion nach postquam findet
man immer als Ausnahme angegeben den Gebrauch des Plusquamperfek-
tums nach Angabe einer bestimmten Zwischenzeit, die viel wichtigere Tat-
sache aber, daß das Plusquamperfektum bzw. das Imperfektum steht, wenn
es sich um einen dauernden Zustand in der Vergangenheit handelt, findet
man nur selten verzeichnet, und dann meist in einer verschämten Anmerkung,
2) Es ist interessant, diese Übereinstimmung schon gleich nach dem ersten Auftreten
des Lateinischen im Lehrplan der realen Anstalten zu bemerken: in der ,, Unterrichts- und
Prüfungsordnung der Realschulen und höheren Bürgerschulen vom 6. Oktober 1859" werden
im Lateinischen Forderungen aufgestellt, die bei den ersteren dem Latein der Untersekunda,
bei den letzteren (d. h. Realschulen ohne die oberste Klasse) der Obertertia der Gymnasien
völlig entsprechen.
Der lateinische Unterricht am Realgymnasium. 351
obgleich dieser Gebrauch bei den besten Schriftstellern, auch bei Cicero,
belegt ist. Es kommt den Verfassern '^ben darauf an, das im guten Latein
Gebräuchlichere einzuprägen, und da mag ja rein zahlenmäßig das Perfektum
in solchen Fällen überwiegen. Daß hier ein lehrreicher logischer Unterschied
zutage tritt (Menge spricht geradezu von einem plusquamperfectum logicum),
verschlägt demgegenüber für die hergebrachte Anschauung wenig.
' Die noch auf die Humanisten zurückgehende Auffassung des Latein-
unterrichts hat auch durch den Neuhumanismus nicht so sehr eine völlige
Änderung als vielmehr eine Beeinträchtigung erfahren; insbesondere tritt
die Wirkung hervor in der Auswahl der zu lesenden Schriftsteller nach Zahl
und Umfang. Der Neuhumanismus, der recht eigentlich nur im Zusammen-
hange mit dem damals in Dichtung und Philosophie hervortretenden Neu-
idealismus zu verstehen ist, wollte das Altertum in seinen besten Werken
zur Erreichung einer idealen Bildung vorwiegend im ethischen und ästhe-
tischen Sinne heranziehen und hat tatsächlich auf dieser Grundlage in dem
Gymnasium des vergangenen Jahrhunderts eine Schöpfung von stilvoller
Einheitlichkeit geschaffen. Nachdem aber jene allgemeinen Grundlagen
sich geändert haben und den neuen Bedürfnissen durch Abweichen von der
Einheitlichkeit der höheren Schule mehr und mehr Rechnung getragen
worden ist, erscheint es mehr als fraglich, ob es noch richtig ist, möglichst
alle wertvollsten Schriftsteller in die Schule zu bringen, Ovid, Vergil und Horaz,
Cäsar, Livius, Cicero, Sallust, Tacitus usw., von den Griechen zu schweigen.
Tatsächlich ist die Zahl der Schriftsteller seit den Tagen der Gründung des
neuhumanistischen Gymnasiums kaum wesentlich verändert worden, ob-
gleich zu ihrer Bewältigung längst nicht mehr die gleiche Zeit zur Verfügung
steht.
Was schon beim Gymnasium von zweifelhaftem Werte sein mag, muß
beim Realgymnasium zu bedenklichen Erscheinungen führen. Auch hier
weht nach der inhaltlichen wie nach der sprachlichen Seite noch der alte
Gsist, auch hier wird eine sehr vielseitige Schriftstellerlektüre gefordert,
gleichfalls Ovid, Vergil (und zwar die Äneide „in einer Auswahl, die in sich
abgeschlossene Bilder bietet und einen Durchblick durch das ganze Werk
ermöglicht", wörtlich wie beim Gymnasium) und Horaz, Cäsar, Livius, Tacitus,
Cicero usw.^), Einführung in die Grammatik durch Übersetzen aus dem Deut-
schen in viel zu beschränkter Zeit, schriftliche Übungen, bis U II wenigstens,
ganz entsprechend dem Gymnasium, von allem etwas und bei der Kürze der
Zeit kaum etwas gründlich.
Kann so das Realgymnasium seine jetzigen Ziele im Lateinischen nicht
erreichen, so erhebt sich die Frage, ob es in seiner jetzigen oder in veränderter
Gestalt anderen Aufgaben gewachsen ist, und ob diese neuen Ziele wertvoll
genug sind, um das Weiterbestehen des Lateinischen am Realgymnasium
zu rechtfertigen. Das ist meines Erachtens unter zwei Bedingungen der Fall:
einmal muß unter entschiedener Hintansetzung aller Nebenaufgaben der
1) Das war von Anfang an der Fall; vgl. die Anm. S. 31.
352 J. Bathe,
Unterricht auf ein Hauptziel lossteuern, und zweitens muß er in feste
Verbindung zuanderenFächern gesetzt werden. Beide Forderungen
stehen im Zusammenhange. Eine Einführung in die Antike ist nun einmal am
Realgymnasium durch das Lateinische nicht möglich, dazu gehört eine breitere
Grundlage, es kann nur nebenher für diese Aufgabe etwas abfallen, freilich
nicht wenig und jedenfalls genug, um das Verständnis des Altertums, das
am Realgymnasium auf andere Weise erreicht werden muß, wirksam zu
unterstützen. Der sprachlich-logischen Schulung, wie sie durch grammatische
Übungen und Übersetzen in die Fremdsprache erreicht wird, muß das Latei-
nische auf der Unterstufe freilich wie am Gymnasium dienen, doch ist diese
Schulung nur vorbereitender Art ; sie wird später zum großen Teile von dem
neusprachlichen Unterricht übernommen. Von einer Nebenaufgabe, die in
jüngster Zeit aufgetaucht ist, nämlich der sprachwissenschaftlichen Erziehung
wird es sich noch ferner halten müssen als am Gymnasium. Diese Aufgabe
ist ja ohnehin grundsätzlich besser durch die Muttersprache zu erledigen.
In dieser allein sind der Stimmungsgehalt, die anschauliche Kraft der Wörter
ihrer Verbindungen und sonstige mehr oder weniger irrationale Faktoren,
die besonders die auf assoziativer Grundlage beruhenden Vorgänge in der
sprachlichen Entwicklung verständlich machen, dem Schüler genügend
vertraut. Mit der Verstärkung des deutschen Unterrichts auf der Mittel-
und Oberstufe werden jene Versuche daher aller Voraussicht nach ihr Ende
finden oder richtiger, wieder auf das Maß beschränkt werden, in dem sie
von einsichtigen Lehrern schon längst verwertet worden waren.
Die eigentliche Aufgabe des lateinischen Unterrichts am Real-
gymnasium kann nur eine richtig geleitete Schriftstell e^lektüre
sein.Eindringen in den Gedankengang und dieVorstellung des Verfassers, scharfe
und kritischeErfassungder Einzelheiten und dadurch desGedankens, sorgfältige
achtung der logischen Verknüpfungen, sodann aber Übertragung in echtes Be-
und würdiges Deutsch, das ist eine Aufgabe, die allein der langjährigen Mühe
wert ist. Und ich glaube, daß dieses, etwa mit Primanern richtig und eifrig
betrieben, wie kaum etwas anderes dem Lehrer das befriedigende Gefühl
gibt, etwas erarbeitet zu haben. Die ständige Bezugnahme auf die Mutter-
sprache bringt den begrifflichen und anschaulichen Inhalt der Wörter und
ihrer Verbindungen in unvergleichlicher Weise zur Erkenntnis und entwickelt
besser als eine entsprechende Behandlung des Deutschen die sprachlichen
Kenntnisse zu bewußtem Wissen.
Erkennen wir diese Hauptaufgabe an, so ergibt sich die Folgerung,
daß alles, was ihr nicht oder doch nur nebenbei dient, fallen muß. In der
Grammatik muß weitgehende Beschränkung geübt werden. Wir müssen
uns die Ansicht Zielinskis zu eigen machen : „Der Teil des grammatikalischen
Materials muß in den Vordergrund gestellt werden, welcher in logischer
und psychologischer Hinsicht wertvoll ist, das Erlernen jenes Teiles, der,
obgleich er an sich keinen Bildungswert hat, nichtsdestoweniger zum Ver-
ständnisse der . . . Texte unentbehrlich ist, muß möglichst erleichtert werden."*)
1) Die Antike und wir. Übers, von Schoeler, Lpz. 1905, S. 39.
Der lateinische Unterricht am Realgymnasium. 353
In die Praxis für das Realgymnasium übersetzt, heißt das meines Er achtens,
der grammatische Unterricht muß möglichst bald nur soweit mehr betrieben
werden, wie er für die Lektüre nötig ist. Von U II an müssen die gramma-
tischen Stunden ganz fallen, alle Zeit muß der Lektüre dienen. Dann wird
man freilich die besonders in letzter Zeit üblich gewordene scharfe Scheidung
zwischen Grammatik und Lektüre für die mittleren Klassen des Realgym-
nasiums nicht aufrecht erhalten können; es wird dem Geschick des Lehrers
zu überlassen sein, grammatische Unterweisungen unter ständiger Beachtung
der dienenden Stellung der Grammatik an die in der Lektüre vorkommenden
Einzelfälle anzuschließen. Das Geforderte kann zunächst als ein Rückschritt
erscheinen. Aber wenn es früher fehlerhaft war, die Lektüre als Handhabe
für grammatische Übungen zu mißbrauchen, muß dann gleich das entgegen-
gesetzte Extrem richtig sein? Kann man nicht an einem Stoffe beides lernen,
ohne daß darum die Lektüre ihre Hauptaufgabe verfehlt? Schreiben doch
für die Primen die Lehrpläne selbst eine derartige Handhabung vor!
Ich weiß wohl, daß ich da sehr ketzerische Forderungen erhoben habe^).
Man wird mir einwenden, bei einem solchen Unterricht könne keine Gründ-
lichkeit bestehen und das Raten werde noch zunehmen. Ich verkenne den
hohen Wert, den selbständige grammatische Übungen nebst dem zugehörigen
Übersetzen auch für die Lektüre haben, gewiß nicht und möchte sie keines-
falls am Gymnasium auch nur eingeschränkt sehen, allein ich sehe in ihnen
doch nicht das einzige oder auch nur das hauptsächlichste Mittel, jenem
Übel zu steuern. Vor allem muß von vornherein systematisch und aufs strengste
darauf hingearbeitet werden, daß ein klares Verständnis der Einzelheiten
der Umformung in die Muttersprache vorausgehe. Dieses kann und muß
auf der Mittelstufe als das Wichtigste stets erreicht werden, während man bei
der deutschenFassung zunächst vielfach nachsichtig sein und dieAnforderungen
stufenweise erhöhen muß. Daneben muß auf Aneignung eines ausreichenden
Wortschatzes mit allen Mitteln gehalten werden. Das alles aber wird viel
eher möglich sein, wenn an Stelle des Vielerlei die Lektüre die ganze Zeit
ausfüllt und Muße zu vertiefendem Verweilen gestattet.
Mit dem frühzeitigen Wegfall des selbständigen Grammatikunterrichtes
würde auch die Zersplitterung in den schriftlichen Arbeiten ein Ende finden.
Übungs-, Haus- und Probeftrbeiten würden gleichartig in engste Verbindung
mit der Lektüre gebracht werden.
Dann müßte scharf Umschau gehalten werden unter den zu lesenden
Schriftstellern. Alles, was zur Voraussetzung des Verständnisses die Kennt-
nis alter Sage und Mythologie hat, müßte aufs äußerste beschränkt werden,
und dabei müßte man entschlossen auch auf die hohe Schönheit mancher
Dichtung verzichten. Das wäre ein entschiedenes Abrücken von dem Geiste
der Renaissance, wie es Goethe auch einmal vollzogen hat, noch heute deut-
lich erkennbar für den, der etwa das Leipziger Liederbuch mit den Gedichten
der Straßburger Zeit vergleicht. Übrigens muß die Dichtung auch deshalb
1) In seinem schon erwähnten Buche vertritt Geheimrat Cramer ganz die entgegen-
gesetzte Ansicht. S. 537.
354 J. Bathe,
noch viel stärker als heute hinter der Prosalektüre zurücktreten,
weil durch die letztere in ungleich höherem Maße die oben gezeichneten
wertvollen Wirkungen des Übersetzens sich erreichen lassen. Es ließe sich
wohl aus den Dichtern eine für beide Sekunden und Primen zusammen be-
i-echnete kurze Auswahl beschaffen, lediglich von dem Gesichtspunkte des
für unsere Kultur, Literatur und Kunst Wichtigen aus. Ganz ausgeschaltet
können sie nicht werden, denn es hat natürlich hohen Wert, die Eig'^.nart
antik romanischen Wesens und Kunstempfindens aus den besten Werken
selbst zu erkennen und fühlend zu erfassen, und zwar einmal wegen des Ein-
flusses, die es auf unser Volk geübt hat, sodann wegen des lehn eichen Gegen-
satzes zu unserer eigenen Art^). Ein wenig epische Dichtung (Vergil oder
Ovid) ist nötig schon allein, um den Hexameter zu zeigen, den unsere Dichtung
aus der Antike übernommen hat, das Entsprechende gilt für die lyrischen
Gedichte des Horaz. Bei der Auswahl des letzteren können die Gesichts-
punkte, der viel reichlicheren Gymnasiallektüre natürlich nicht maßgebend
sein; am besten würde man sich von modernem Geschmacke leiten lassen.
Horaz hat eine Reihe wirklich tief empfundener Lieder geschaffen, wie das
stimmungsvolle Frühlingsgsdicht (IV 7), die auch heute und auch d^m Schüler
zu Herzen gehen, und man braucht keineswegs das Urteil zu unterschreiben,
das vor Jahren Jakobowski lakonisch geäußert hat: von all den Horazischen
Oden sei kaum ein Dutzend heute noch wert, gelesen zu werden. Aber man
verzichte doch endlich auf die bislang so bevorzugten „Römeroden", deren
verfehlte Wirkung gerade auf geweckte und kunstempfängliche Jünglinge
jede spätere Nachfrage zu bestätigen pflegt. Wenn ein Dichter wie Schiller
in pathetischen Worten sittliche Wahrheiten pridigt, so mag gerade der junge
Mensch ehi fürchtig davon ergriffen werden ; was aber muß ein kritischer Junge
denken und empfinden bei den Römeroden, vom Dichter, wie er w;iß, ge-
schrieben, „um den Augustus bei seinen Bemühungen um die Hebung der
Sittlichkeit zu unterstützen", von demselben Dichter, den der Schüler schon
als ganz munteren und leichten Epikuräer kennen gelernt hat?
Kurz, die Dichterlektüre könnte so weit zurücktreten, daß sie nur ein
Drittel des heutigen Raumes einnähme und den Prosaikern erheblichen Platz
überließe. Bei der Auswahl dieser müßte sodann die Rücksicht auf die Ge-
schichte, insbesondere die der deutschen Vorzeit" entscheidende Bedeutung
gewinnen. An der sprachlich gewiß geeigneten Liviuslektüre den Aufbau
des römischen Freistaates, in der Cicerolektüre seinen Niedergang zu zeigen,
dazu dürfte vielleicht kaum noch Platz sein; Cäsar und Tacitus müßten
den Hauptraum einnehmen, vielleicht würde auch eine Auswahl mit Proben
aus anderen Schriftstellern über das alte Deutschland, wie das empfehlens-
werte Lesebuch von Preuß*), gute Dienste tun.
*) Vgl. dazu die eingehenden Darlegungen von P. Lorentz, Die künftige Stellung
des deutschen Unterrichts an den höheren Lehranstalten, Berlin 1917.
•) Sigmund Preuß, Die Germanen in den Berichten der römischen Schriftsteller,
2 Teile, Bamberg 1915.
Der lateinische Unterricht am Realgymnasium. 355
Hiermit habe ich schon die Frage des Anschlusses des Lateinischen
an andere Fächer berührt. Im Hinblick auf den Inhalt ist es die Ge-
schichte, im Hinblick auf die formale Seite der deutsche Unter-
richt, an die er sich ungezwungen enge anlehnen kann; womit nicht
gesagt sein soll, daß nicht auch mit anderen Fächern Berührung hergestellt
werden müsse.
Fassen wir insbesondere das Übersetzen als Mittel zu deutschsprachlicher
Erziehung und gliedern so den lateinischen Unterricht dem deutschen an,
so haben wir die beste Möglichkeit, die erworbene Bildung in tätige Kraft
umzusetzen, denn es gibt wohl nichts, das so alle Kräfte und allen Wissens-
inhalt aktiv zusammenfaßte wie die Da'^stellung in der Muttersprache. Und
wer weiß, ob nicht noch einmal in der Pflege des persönlichen Stils, zugleich
in ihrer Rückwirkung auf die zu klärende Gedankenwelt sslbst, die Einheit
gefunden werden muß, die unserem enzyklopädischen Jugendurterricht
jetzt noch fehlt?
Eine erhebliche Wandlung zum Besseren im obigen Sinne wird fü^ das
Realgymnasium dann eingetreten sein, wenn in der Prüfung für das höhere
Lehramt die Verbindung des Lateinischen statt mit dem Griechischen mit
Geschichte und Deutsch mehr in Aufnahme gekommen sein wird, was die
Beobachtungen der letzten Jahre erwarten lassen. Es wäre wünschenswert,
daß die Prüfungsordnung selbst auch solche Verbindungen nahe legte.
In den bezeichneten Grenzen und auf den bezeichneten Wegen wird sich
der vielbewährte Bildungswert desLateinischen durch das Realgymnasium noch
weiten Kreisen erhalten lassen, und wenn man, je weniger es im Lateinischen
möglich ist, in anderen Fächern bestrebt sein wird, die Gegenwart aus den ähn-
lichen und doch viel einfacheren Problemen des Altertums verständlich zu
machen und den Einfluß der Antike auf die Entwicklung des eigenen Volkes zu
erkennen, dann wird auch der gymnasiale Charakter des Realgymnasiums
nicht preisgegeben sein. P. Cauer sagt in seiner Palaestra vitae^) : „Ein Gym-
nasium ohne Griechisch ist eine moderne Schule, die sich der lateinischen
Sprache zweckmäßig bedient, um Französisch und Englisch gründlicher zu
lehren ; mit der Aufgabe, die Gegenwart und ihre geistigen Kräfte vom Alter-
tum aus zu begreifen, hat sie nichts mehr zu schaffen." Wer dieser Auffassung
zustimmt, wird freilich gegen jedes Latein am Realgymnasium sich wenden
müssen, aber der hat auch wohl Wert und Eigenart des Realgymnasiums
nicht so vorurteilslos erfaßt, daß er ihm voll gerecht werden könnte.
Rheine i. W. J. Bathe.
Zur Ausbildung der Studienreferendare.
Die folgenden Ausführungen waren eigentlich nur dazu bestimmt, An-
fang und Grundlegung einer Aussprache zu bilden, die die rheinische Direk-
torenvereinigung den Ausbildungsnöten widmen wollte. Auf Wunsch der
1) Einleitung, S. 8.
356 M. Wiesenthal,
Versammlung und der Herausgeber der Monatschrift geschieht die Ver-
öffentlichung ohne erhebliche Änderungen*).
Die preußische Unterrichtsverwaltung hält die,, Ordnung der praktischen
Ausbildung für das Lehiamt an höheren Schulen" von 1917 für verbesserungs-
bedürftig. Ihr grundstürzender Vorschlag, das erste Vorbereitungsjahr vor
das wissenschaftliche Studium zu legen, hat aber bei den Philologen allgemeine
Ablehnung erfahren. Mit Recht. Nicht nur würde der angegebene Zweck,
unfreudige, lieblose, unklare, langweilige Menschen vom Lehrerberuf abzu-
schrecken leider nicht erreicht werden, sondern das Gegenteil; nicht nur würden
die Schüler einer mit solchem Seminar versehenen Anstalt schwer geschädigt
werden; vor allem widerspiicht es dem Wesen wissenschaftlichen Unterrichtes,
daß jemand die Methode solchen Unterrichtes lernen soll, bevor er die Wissen-
schaft selber • — gründlich — kennen gelernt hat. Wir erstreben eine innere
Einheit der Angehörigen des Lehrerberufs in ihrer Gesinnung gegenüber
den Erzieht ngsaufgaben ; die Lehraufgaben verlangen ihrer Natur nach ver-
schiedene Vor- und Ausbildung.
Der gegenwärtige Zustand ist auch nach unserer Meinung besserungs-
bedürftig, aber auch verbesserungsfähig. Die meistbeklagten Mißstände
sind Nachwi'-kungen des Krieges und gewähren Hoffnung, daß sie in abseh-
barer Zeit von selbst ve<*schwinden werden. Wir wollen an die durch den
Krieg in ihrer Berufsausbildung so schwer geschädigten Aiwärter alle Liebe
und Sorge wenden. Aber wir dürfen den augenblicklichen wirtschaftlichen
Vorteil der Referendare nicht höher stellen als ihren eigenen wahren Vor-
teil für ihr ganzes Berufsleben und als den Anspruch unserer Schüler auf
möglichst gediegen ausgebildete Lehrer und Erzieher.
Aus der Ordnung von 1917 ergibt sich, daß an ,, Seminaranstalten"
festgehalten werden sollte, wenn auch das Wort — ich verstehe nicht warum —
ängstlich vermieden wird. Sie sollten 6 — 8 Mitglieder aufnehmen und in
mindestens 2 Stunden wöchentlich Sitzungen halten. Jetzt werden aber,
ohne Rücksicht auf die Eignung der Anstalten ihnen einzelne Referendare
zugeteilt. Wie sollen die Sitzungen gehalten, Berichte und Vorträge, Aus-
sprache und Niederschi'ift von demselben Individuum geleistet werden?
Man beschränkt sich also auf die „gelegentlichen" Winke beim Unterricht,
auf Angabe von),Literatur" und Stellung schriftlicher Aufgaben; die wert-
volle Ausbildung durch die Gemeinschaft für die Gemeinschaft fehlt. Das
ist genau der Zustand, wegen dessen vor 30 Jahren das „Probejahr" als
unzureichend befunden und das „pädagogische Seminar" eingerichtet wurde.
Nun finden sich zwar in größeren Städten im Laufe des Jahres 3 bis 4,
ja bis 8 Referendare an einer Anstalt ein. Aber sie kommen nicht zu gleicher
Zeit. Sie können nicht nur an jedem Vierteljahrsersten eintreten, sondern
sogar in der Zwischenzeit. Da ist dann der eine noch übrig vom Vorjahr,
der andere kommt zu Ostern, der dritte zum 15. November, der vierte zum
^) [Der Vortrag hat länger warten müssen, als beabsichtigt war; so ist er in Einzel-
heiten überholt. Dennoch wird er hier als Stimmungsbild ohne nachträgliche Änderungen
wiedergegeben, die für den Kenner nicht nötig sind. M. S.]
Zur Ausbildung der Studienreferendare. 357
Februar. Und sie haben öfters dieselben Lehrbefähigungen. Im § 6 der Ord-
nung heißt es: „dem einzelnen Fachhhrer sind zu gleicher Zeit in der Regel
zwei, höchstens drei Kandidaten zuzuweisen." Jetzt kommt der 2. oder 3.,
wenn der 1. oder 2. mit der grundlegenden Anleitung für sein Lehrfach noch
nicht fertig ist. Entweder verfolgt dann der Fachlehrer seinen Unterweisungs-
plan, ohne auf den Neuhinzukommenden Rücksicht zu nehmen: dann fehlt
dem einen der Anfang, dem andern die Mitte, dem dritten das Ende der
Fachausbildung. Oder er soll bei jedem neuen Referendar mit diesem be-
sonders von vorne anfangen — dann müßte er in der Woche 3 — 4 ,, Fach-
sitzungen'* mit jedem einzelnen abhalten, um durchzukommen, falls er nicht
glaubt, diese Ausbildung zwischen Tür und Angel eines Klassenzimmers
abmachen zu können. Aus Büchern ist gerade die Unterrichtstechnik des
einzelnen Faches nicht zu lernen. Aber wer vermag solche Sisyphusarbeit
durchzuführen? Ein Glück, wenn aus der alten Zeit noch ,, Seminarprotokolle"
und eine „Seminarbibliothek" als „Ersatz" vorhanden sind!
In der pädagogischen Prüfung finden sich nun Referendare mit 8, 12,
18 und 24 Ausbildungsmonaten zusammen. Die Folge ist ein unvermeid-
licher Drill auf die Prüfung. Der ist an sich schon das Gegenteil von freier
Entwicklung der Lehrer- und Erziehereigenschaften; wem „die" Methode
„beigebracht" worden ist, der wird auch später geneigt sein, seine Schüler
zu „drillen", statt ihre Persönlichkeit entwickeln zu helfen. Dem ,, zustän-
digen Provinzlalschulrat" wird aber so die Beurteilung des Eigenwertes
der Lehrerpersönlichkeit beim Unterrichtsbesuch und in der Prüfung außer-
ordentlich erschwert und die schwächere Persönlichkeit kommt leicht zum
besseren ,, Prädikat". Nach meiner Überzeugung würde das noch viel mehr
der Fall sein, wenn die Prüfung an einer Zentralstelle erfolgte: abfragbares
Wissen und einwandfreie „Technik" würden da den Ausschlag geben, das
Lehrhandwerk mehr gelten als die nur an der Seminaranstalt zu beobachtende
Lehr- und vor allem die Menschenbehandlungskunst.
Verschlimmert werden die in den gegenwärtigen Verhältnissen begrün-
deten Mißstände noch durch den Hauptübelstand der geltenden Ordnung
der Ausbildung: Die Aufgaben der beiden Vorbereitungs jähre sind nicht
klar geschieden und es sind nicht besondere Anstalten je mit dem Unter-
weisungsstoffe des ersten oder zweiten Jahres betraut. So geschieht es oft,
daß ein Referendar mit normaler zweijähriger Ausbildungszeit, der nach dem
ersten Jahre der Regel entsprechend einer andern Schule überwiesen wiid,
dieselben Gegenstände zweimal in aller Ausführlichkeit durchzuarbeiten
hat und andere, für ihn vielleicht anregendere und wichtigere, in den zwei
Jahren überhaupt nicht kennen lernt.
Dieser Fehler der neuen Ausbildungsordnung beruht auf ihrem Haupt-
vorzug vor der ersten Ordnung der pädagogischen Seminare in Preußen.
Dieser Vorzug liegt in dem Bestreben, das zweite Ausbildungs- einst ,, Probe-
jahr" nachdrücklicher als früher für die Ausbildung heranzuziehen und aus-
zunutzen. Zu diesem Zweck ist auch das zweite Jahr mit wöchentlichen
Sitzungen und den andern Einrichtungen des Seminarbetriebes ausgestattet
358 M. Wiesenthal,
worden. Umgekehrt ist das erste Jahr bereits mit dem Charakteristikum
des früheren Probejahres, der Zuteilung an einen „tüchtigen Vertreter der
Hauptfächer des Kandidaten" bedacht worden. Auch in dieser Bewertung
des Fachlehrers — des Meisters — für die Entwicklung der Unterrichts-
kunst des Lehrlings sehe ich einen Vorzug der Ordnung von 1917 besonders
in ihrer Verbindung mit dem Grundsatz: ,Es ist darauf hinzuwirken, daß
die Kandidaten während ihrer ganzen Vorbereitungszeit ihre wissen-
schaftliche Ausbildung vertiefen." Bewährtes Altes ist damit zu neuer
Geltung gebracht. Erinnern wir ms der rühmlichen Fachseminare:
F. A. Wolfs zur Ausbildung altphilologischer, Schellbachs zur Ausbildung
von Lehrern der Mathematik und Physik, des Kandidatenkonvikts in
Magdeburg, das ,, durch wissenschaftliche und praktische Anleitung
tüchtige Religionslehrer" heranbilden wollte und des Herrigschen
Seminars für Lehrer der neueren Sprachen. Ich will aber nicht die Rück-
kehr zum reinen Fachseminar empfehlen, wie sie die bayrische Seminar-
ordnung von 1897 vorgenommen hat. Ich habe einmal einen Seminarjahr-
gang von 6 Altphilologen gehabt und allerdings nie eine bessere Fachausbil-
dung erreicht. Dennoch — die Gefahr der einseitigen Richtung auf das eigene
Unterrichtsziel ist doch wohl zu groß, so daß der Pädagoge verliert, was der
Lehrer gewinnt; und — was wichtiger is* — die Schül^^r einer Anstalt mit
Fachseminar leiden unter dem allzuvielen Übungsunterricht, bei dem sie
das Mittel zum Zweck sind. Aber die Verbindung des fac^^wissenschaftlich-
didaktischen Fachseminars mit dem allgemein-pädagogischen ist der rechte
Weg. Beruht sie doch auf der ET^kenntnis, daß es für wissenschaftlichen
Unterricht keine allgemeingültige Methode gibt, die an sich und vor der
Wissenschaft erlernt werden könnte, sondern daß die Methode wissenschaft-
lichen Unterrichts hervorgehen mnß aus der Methode wissenschaftlichen
Forschens und mit dieser sich ändern muß, soweit der unentwickelte Geist
der Schüler und die Rücksicht auf den Erziehungszweck es zuläßt.
Aus der an der Hand der Erfahrung gewonnenen Erkenntnis des Mangels
und der Vorzüge der ,,0'"dnung der praktischen Ausbildung für das Lehramt
an höheren Schulen in Preußen" werden wir nun einen Weg finden können
zur besseren Gestaltung der Ausbildung durch natur- und zeitgemäße Fort-
bildung der Ordnung, nicht durch Umsturz oder Rückbildung ihrer Grund-
lagen. Die wirtschaftliche Notlage der Referendare kann bei der Zuweisung
durchaus berücksichtigt werden, aber ausschlaggebend darf sie letzten Endes
nicht sein. Wir Erzieher haben meines Erachtens die Standespflicht, in
unserer Berufsauffassung vorbildlich zu sein, und dürfen nicht die Anschau-
ung aufkommen lassen, daß die höheren Schulen unsertwegen, zu unserer
Versorgung da seien. Auch dem Kandidaten muß es einleuchtend sein, daß
es für ihn besser ist, seine Ausbildung möglichst gediegen als sie möglichst
billig zu haben. Wer aus einem kleinen Orte ohne höhere Schule stammt,
hat für Schule, Universität und Ausbildung ganz andere Opfer zu bringen
als wer, in einer Universitätsstadt zu Hause, auch noch an seiner früheren
Schule sein tirocinium paedagogicum erledigt. Aber er ist der durchs Leben
besser vorgebildete Erzieher.
Zur Ausbildung der Studienreferendare. 359
Welche Besserungen sind schon jetzt anzustreben, wenn die Not der
Zeit auch noch nicht ihre restlose Durchführung zuläßt?
Es sind wieder eine Anzahl bestimmter Anstalten auszuwählen, die mit
der Vorbereitung von Referendaren für längere Zeit zu betrauen sind. Denn
die Anleitung zum wissenschaftlichen Unterricht und die Ausbildung eines
Erziehers ist etwas anderes als wissenschaftlicher Unterricht und Erziehen
selbst und bedarf ihrerseits besonderer Vorbereitung, Übung und Erfahrung.
Zum Studium der Theorie der Erziehung und des Unterrichtes ist bei einem
ohnehin mit Fortbildung in seiner Wissenschaft und Amtsgeschäften genug-
sam in Anspruch genommenen Lehrer und Direktor wenig Neigung zu er-
warten, wenn seine Tätigkeit nach einem Jahre wieder abgebrochen wird,
und eine Erfahrung kann auf diese Art weder der einzelne gewinnen noch
das Kollegium einer Anstalt. Und doch ist diese Erfahrung des Kollegiums
das einzige Mittel, das die dem Unterrichtsbetrieb der „Seminaranstalt"
durch den Ausbildungsunterricht zugefügte Schädigung wettmacht, ja mehr
als ausgleicht.
An diesen Seminaranstalten ist eine gut gewählte und reichlich ausge-
stattete Seminarbibliothek vonnöten. Ich gebrauche den alten Ausdruck
wieder, seitdem mich mein Buchhändler, als ich ihm einen Auftrag für die
Studienreferendarvorbereitungseinrichtungsbücherei gab, mit seltsam ernster
Miene anschaute. Die Referendare sind jetzt noch weniger in der Lage als
früher die Kandidaten, sich die erforderlichen Sammelwerke, alten und neuen
Schriften selbst anzuschaffen. Es kann leider nicht jede Anstalt mit einer
halbwegs genügenden pädagogischen Bibliothek ausgestattet werden; mit
den für sachliche Ausgaben vorgesehenen 100 M. (hundert Mark) kann 1 Zeit-
schrift, 1 Protokollbuch und 1 oder 2 Bücher beschafft werden, wenn sie
dünn sind.
Haushälterische Planwirtschaft verlangt es also ebenso, daß etwa 6 Re-
ferendare wieder an einer Anstalt vereinigt werden, wie das Bedürfnis der
Auszubildenden nach literarischem Rüstzeug. Anders ist die verlangte Vor-
bereitung durch Selbststudium nicht möglich.
Zukünftige Deutsch-, Religions- und Geschichtslehrer mögen allen
3 Arten der höheren Schulen gleichmäßig zugeteilt werden. Um die Aus-
bildung durch den Fachlehrer und die Facheinrichtungen wirksam zu machen,
wird es zu empfehlen sein, Altsprachler einem gymnasialen Seminar, Neu-
sprachler und Naturwissenschaftler einem Realgymnasium oder einer Ober-
realschule zuzuteilen, wenigstens für das eine Jahr, es sei denn, daß an einer
nicht gerade ihren eigentümlichenLehrbefähigungen entsprechenden Anstalt ein
für ihre erste Ausbildung ganz besonders geeigneter Vertreter voihanden ist.
Anstalten ohne für die Ausbildung geeignete ,, tüchtige Vertrete^-" dürfen
nicht Seminaranstalten sein oder bleiben. Die Anstalt macht's nicht, der
Direktor allein auch nicht. Er kann die Einzelausbildung nicht schaffen,
so viel er sich und andere ihm auch zumuten und zutrauen.
Jede Anstalt mit Seminar muß verpflichtet sein, eigene ausführliche
Lehrpläne mit methodischen Anweisungen auszuarbeiten. Diese gemein-
360 M. Wiesenthal,]
same Arbeit ist unschätzbar für Kollegium und Referendare und zum Schutz
der Schüler vor widerstreitendem Verfahren.
Erst wenn diese Bedingungen erfüllt sind, kann jede Seminaranstalt
daran gehen, ihre Aufgaben nach einem Jahresplan auf die 80 Sitzungsstunden
zu verteilen. Jetzt ist nur immer eine Vereinbarung auf Wochen möglich.
Tatsächlich wird — fortgewurstelt.
Wie soll nun der gesamte Unterweisungsstoff auf die 2 Vorbereitungs-
jahre verteilt werden? Es wird mir entgegengehalten, daß das schon ganz
andere Leute wiederholt versucht hätten, ohne zu einem befriedigenden Er-
gebnis zu kommen. Dieser Mißerfolg ist meines Erachtens darauf zurück-
zuführen, daß man sich nicht zuerst über ein Prinzip der Verteilung geeinigt
hat. Ohne ein solches wird sich allerdings eine klarere, praktischere und
zeitgemäßere Verteilung des Stoffes nicht erreichen lassen. Ich schlage vor,
das erste Jahr zu widmen der Ausbildung zum wissenschaftlichen Fachlehrer,
wozu auch die Ergänzung und Verbesserung der wissenschaftlichen Aus-
rüstung gehört; das zweite der Ausbildung zum nationalen Jugenderzieher.
A potior! fit denominatio; denn selbstverständlich kann man nicht unter-
richten lernen, ohne praktisch die Schulzucht zu handhaben.
I. Vorbereitungsjahr: Der Lehrer.
1. Anweisung für das Hospitieren, das amtliche und außeramtliche Ver-
.halten. Praktische Sprechkunst.
2. Der Lehrer als Beamter: Aufsichtsbehörden, Dienstanweisung nebst
Versetzungsbestimmungen, die preußische und deutsche Unterrichts-
verfassung.
3. AUgem.Didaktik : Fragekunst, Anschauung, Memorieren, Formalstufen u. a.
4. Didaktik und Methodik der Lehrfächer der Referendare. Behandlung
der schriftlichenArbeiten. Anleitung zur wissenschaftlichen Fortbildung.
5. Die Verbindung der Lehrplanstoffe zu einer Einheit, Vergleich der Lehr-
pläne verschiedener Schulgattungen, insbesondere Mädchenschulen.
6. Unterrichtsprinzipien oder gemeinsame Aufgaben aller Unterrichtsgegen-
stände: Heimatkunde, deutsche Sprach- und Kulturkunde, Kunsterzie-
hung, philosophische Propädeutik, politische Propädeutik.
7. Kurse zur Ausbildung von Spielleitern und von Turnlehrern für die
unteren Klassen.
8. Praktische Schulzucht, möglichst im Anschluß an bestimmte Fälle.
9. Schulordnung, Schul- und Klassengemeinde, Vereinswesen der Schüler.
10. Klassenleitung, Verkehr mit den Eltern, Elternabende, Elternbeirat.
H. Vorbereitungsjahr: Der Erzieher.
L Didaktik als Bildungslehre mit Wiederholung und Ergänzung der im
1. Jahre behandelten Gegenstände. Theorie des Lehrplans.
2. Die geschichtlichen Bildungsideale seit dem Humanismus und das päda-
gogische Erbe der Vergangenheit.
3. Zeitweilige Tätigkeit an andersartigen höheren Schulen für Knaben
und Mädchen sowie an Volks- und Fortbildungsschulen. Berichte über
diese Tätigkeit.
Zur Ausbildung der Schulreferendare. 361
4. Das Schulwesen des Auslandes.
5. Philosophische und psychologische Grundlegung der Pädagogik.
6. Ethik einschließlich Sexualpädagogik und Gesellschaftskunde einschließ«
lieh Sozialpädagogik.
7. Gesundheitslehre.
8. Jugendkunde, Jugendpflege, Jugendbewegung.
9. Die pädagogischen Bestrebungen der Gegenwart.
10. Die Einheitlichkeit des Erzieherstandes. Geschichte und Organisation
des Philologenstandes.
An den methodischen Anweisungen hätte ich nichts zu verbessern.
Ich rechne zu ihnen auch § 5, Nr. 10 der Ordnung: „Besprechung wichtiger
literarischer Erscheinungen auf dem Gebiete der Erziehung und des Unter-
richtes. Berichte über Lektüre bedeutender pädagogischer Werke." Nur
möchte ich festgelegt sehen, daß von jedem Referendar im ersten Jahre
mindestens 3, im zweiten 2 schriftliche Arbeiten außer der umfangreicheren
Prüfungsarbeit einzureichen sind. Es fehlt nämlich vielfach an Gewandt-
heit auch der schriftlichen Darstellung. Aus demselben Grunde möchte ich
für das erste Jahr ausgearbeitete Berichte über die Sitzungsverhandlungen
verlangen, für das zweite Niederschriften in der Sitzung selbst, die das Wesent-
liche der Besprechung herausheben. Die Bestimmung, daß die Referendare
vierteljährlich ihr Tagebuch dem Direktor vorlegen sollen, ist — zu streichen.
Die ,, Vorbereitungseinrichtungen** oder Seminaranstalten werden in
solche des 1. und 2. Vorbereitungsjahres geschieden. Im zweiten Jahre sind
die Sitzungen der pädagogischen Arbeitsgemeinschaft wichtiger als die Einzel-
ausbildung durch den Fachlehrer. Eine Zuteilung an einen ,, Meister*' der-
selben Anstalt ist also nicht nötig, wohl aber erwünscht für die zeitweilige
Beurlaubung an eine andersartigen Anstalt. Auf diese Art kann ein „Se-
minar des zweiten Jahres*' eine größere Anzahl Mitglieder aufnehmen, während
bei denen des 1. Jahres 6 die Höchstzahl sein soll, bei einfachen An-
stalten 3 — 4 am besten vorgebildet werden können.
Diejenigen Referendare, deren Ausbildungszeit auf ein Jahr verkürzt
ist, werden einer Anstalt mit dem Plan des ersten Vorbereitungsjahres zu-
geteilt, wenn sie noch nicht im Schulunterricht tätig gewesen sind. Wird
ihnen dagegen ein Jahr wegen bereits erreichter Unterrichtserfahrung er-
lassen, so ist für die der zweite Jahreskurs vorzuziehen.
Früher gab es „Osterseminare" und „Herbstseminare". Da war es
natürlich und leicht einen Jahresarbeitsplan aufzustellen und durchzuführen.
Gegen die vierteljährlichen Zuweisungen, die dem wahren Vorteil der Re-
ferendare so schädlich sind und den Leitern ein planmäßiges Arbeiten un-
möglich machen, bietet die Zuteilung an Seminare des 1. und 2. Jahres doch
einige Linderung. Jetzt ist auch bei den „tüchtigsten Vertretern" und arbeits-
frohesten Direktoren leider eine gewisse Verdrossenheit gegenüber der Un-
erquicklichkeit ihrer Flickarbeit nicht zu verkennen. Sie erklärt sich aus den
besprochenen Mißständen und könnte mit ihnen verschwinden. Aber es
ist noch eine andere Quelle des Mißvergnügens zu verstopfen. Das ist die
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. jhrg. 24
362 Hartstein,
den „beauftragten" Lehrern „zugebilligte" Entschädigung, die nichts anderes
darstellen soll „als einen Beitrag zu den ihnen aus Anlaß der Erfüllung ihres
Auftrages etwa erwachsenden Sonderaufwendungen" (Min.Erl. v. 23. Juni
1919 Uli 11577). Das Ministerium hat die Entdeckung gemacht, daß das,
was fast 30 Jahre lang ein Nebenamt war, als solches bezeichnet und be-
zahlt wurde — die Ausbildung der Kandidaten, nach neuer Auslegung der
Dienstanweisung (von 1910!) zu den durch das Diensteinkommen mit ab-
gefundenen Pflichten des Direktors und des Kollegiums gehöre. Mag das
nun ein juristisches oder philologisches Auslegekunststück sein — es ist zweifel-
los ein Stück, über das man je nach Anlage sich mehr ärgert oder mehr
lacht. Aber^T^wir wollen nicht darum rechten und klagen, daß man gerade
den meistgeplagten „tüchtigen Vertretern" ein bisher besessenes gutes
Recht auf eine bescheidene Vergütung mit einer Deutung entrissen hat,
die den Staat eigentlich zur Rückforderung aller für die Seminar-
ausbildung gezahlten Vergütungen veranlassen müßte. Dazu sollten wir
zu vornehm von uns und unserer Pflicht gegen unsern Stand denken.
Fort mit dieser unwürdigen und ärgerlichen ,, Entschädigung für etwa
erwachsende Sonderaufwendungen!" Diese Ablehnung mit Trinkgeld unter
der Bemäntelung, sie sei als Vergütung etwa für Fahrten mit der Straßenbahn
aufzufassen, macht unsern Stand lächerlich und verdirbt die Freude an der
schönsten und wichtigsten Aufgabe, die einem unter uns werden kann. Laßt
uns doch von Standeswegen einmütig erklären: Es ist zwar nicht wahr, daß
wir uns jahrzehntelang widerrechtlich für Leistungen haben bezahlen lassen,
die in unsere Amtspflichten eingeschlossen waren. Aber jetzt wollen wir
von uns aus die Ausbildung unseres Nachwuchses als Amts-, Standes- und
Ehrenpflicht eines jeden unter uns ohne Lohn auf uns nehmen. Denn wir
sind überzeugt, daß der Deutsche und der Beamte nicht seine Pflicht tut,
der jetzt nicht mehr tut als seine Pflicht. Dazu wollen wir Philologen das
Beispiel g'^b^n. Unsere Standesvertretung soll das Ministerium bitten, auf
die Entschädigung für unsere Mehrarbeit von Standes wegen verzichten zu
dürfen, unter der Bedingung, daß die hierfür ausgesetzten Beträge vcwandt
werden zur Unterstützung von Studienreferendaren, die ihre Vorbereitungs-
jahre nicht in ihrem Heimatorte ablegen können. Kommt, laßt uns unserm
Nachwuchs leben ! Seien wir unsern jungen Standesgenossen Berufskameraden
und Lebenshelfer — unbezahlt und unbezahlbar!
Duisburg. M. Wiesenthal.
Zur Turnreifeprüfung.
Allen Schulerlassen des Ministerium Haenisch haften zwei Eigenschaften
an: der gute Wille und ein gewisses Maß von Übereilung, wenn man will,
von Überstürzung. Der gute Wille fand sich bei den Ratgebern des Ministers
vor, die ihm bei den Erlassen an die Hand gingen. Es war ihnen in fast allen
Fällen lediglich um die Hebung der betreffenden Sache zu tun. Nur einer
der Freunde des Ministers hat in öffentlicher Versammlung bekannt gegeben,
daß er bei der Veranlassung und Abfassung des Schulgemeindeerlasses nicht
Zur Turnreifeprüfung. 353
nur die neue Gemeinde selbst im Auge gehabt sondern daß er auch einmal
feststellen wollte, wie unmodern, wie wenig zugänglich für Neuerungen die
heutige Philologenschaft sei. Er sagte wörtlich, wie dumm sie sei. Er hättte
so fuhr er dann fort, nun zwar ein gutes Maß dieser einen Lehrer nicht gerade
zierenden Eigenschaft bei den Akademikern vorausgesetzt, allein sie hätten
durch ihr Vorgehen in Sachen Schulgemeinde seine Erwartungen bei weitem
übertroffen. Ob diese Ausführungen unter den angegebenen Nebenumständen
nötig waren, lassen wir dahingetsellt. Der Erfolg im Zuhörerraum war natür-
lich dem Herrn Redner sicher : das Gelächter des Publikums glich einem —
Gewieher.
Für die Überstürzung der Erlasse sind zwei Schulbeispiele die Er-
lasse über die Spielnachmittage und die ganztägigen Wanderungen. So sehr
der Gedanke an sich zu begrüßen ist, der diesen Rundschreiben zugrunde
liegt, so sehr vermißt man die Ausführung der Einzelheiten, die doch nun
einmal in unseren Zeiten unbedingt geboten sind. Da sie fehlten, so darf man
sich nicht wundern, wenn in diese Verfügungen mehrfach hinein- und aus
ihnen herausinterpretiert wurde, wenn sie auf der einen Seite helle Freude,
auf der anderen einen Widerwillen hervorriefen, der stellenweise bis zu
einer glatten Ablehnung geführt hat.
Eine gleiche Abweisung stand der zum Frühjahre d.J. angeordneten Turn-
reifeprüfung bevor, als sie zunächst als angängig, als erwünscht hingestellt
wurde. Als die Abneigung höheren Ortes wahrgenommen wurde, stellte
man die einschlägige Verfügung um: die Turnreifeprüfung ward nunmehr
allgemein angeordnet. Hierdurch wurde der Riß zwischen den seminaristisch
und akademisch vorgebildeten Turnlehrern nicht wenig vergrößert. Dort
herrschte über die zuletzt ergangene Modifikation große Genugtuung: der
Zutritt zur Prüfungskommission war nunmehr diesen Kollegen ermöglicht,
die Stellung des Zeichenlehrers an den höheren Lehranstalten in dieser Hin-
sicht erreicht. Hier wurden ernste Bedenken laut. Die Examensfrage ist
alt. Gar mancher von uns war schon dem bisherigen Abitur nicht mehr ge-
wogen. Seine Gegner befinden sich keineswegs ausschließlich im Lager unserer
Extremen, unserer Radikalen. Und nun dieses neue Examen mit all seinem
Drum und Dran, das so gänzlich aus dem Rahmen der früheren Zeit fiel!
Doch die Zeit drängte, das Examen mußte abgehalten werden. Das
erste war jedenfalls nur ein tastender Versuch. Vielfach wurde es auch aus
mehr oder minder triftigen Gründen abgebrochen. Anders stand es jetzt,
wo die Prüfung zum zweiten Male fällig war, wo man ruhiger an dasNovum
heranging und es zu nützen suchte im Interesse der Schüler und des Vater-
landes. Jenes muß immerhin unsere suprema lex bleiben.
Von diesem Gedanken geleitet, ging ich an die Aufstellung der Aufgaben.
Sie lauteten unter Berücksichtigung aller Umstände — zu nennen wäre in
erster Linie der mangelhafte Zustand des Schulturn- und Spielplatzes — also :
1. Ordnungsübungen: je eine Kommandoübung.
H. Spiel: Barlauf.
in. VolkstümlicheÜbungen (Leichtathletik) : I.Kugelstoßen, 2. Schnelllauf.
24*
364 Hartstein, Zur Turnreifeprüfung.
IV. Geräteübungen: 1. Schnursprunggestell: a) Hochsprung, b) Weit-
sprung.
2. Sprungkasten (mit 4 Kastensätzen) : a) längsgestellt : Grätsche, b) quer-
gestellt: Hocke.
3. Reck: a) hüfthoch: Flanke und Kehre, b) scheitelhoch: a) Felgauf-
schwung, ß) Kippe rücklings.
4. Barren: a) aus dem Stande vorlings Sprung in den Stütz, Stützein
durch die ganze Holmgasse, Schwung in den Liegestütz, Armbeugen und
Strecken und Wende ab, b) aus dem Stande seitlings Einflanken in den
Stütz und Kehre mit Zwiegriff.
Die aufgezählten Übungen lassen sich sehr gut in dem Kopfe des Abi-
turientenverzeichnisses unterbringen. Jeder Schüler erhält in der betreffenden
Spalte seine Noten, die am Ende des quer beschriebenen Blattes die Schluß-
zensur ergeben.
Ein zweites ebenso beschriebenes Blatt enthält in seinem Kopfe die Fragen,
ob der Abiturient Schwimmer, Ruderer, Radfahrer ist, ob er Mitglied einer
Turn- oder Sportvereines war, und schließlich, ob er Erfolge im Wetturnen
usw. aufzuweisen hat. Neben den Namen der Kandidaten erscheint hier in
der betreffenden Rubrik ein Ja oder ein Nein.
Auf dem gleichen Blatte werden unter „Bemerkungen" anderweitige,
für die Beurteilung der Oberprimaner wichtige Auskünfte gegeben. So z. B.
ob und wann einer im Verlaufe der Schulzeit Führer im Wandervogel war,
wie lange und weshalb ein anderer vom Turnen dispensiert wurde, daß ein
dritter innerhalb einer bestimmten Zeit Vorturner war, daß ein vierter in-
folge einer überstandenen Knochenerweichung längere Zeit der Schonung
bedurfte usw.
Ganz unten folgen in der Namenliste des ersten Blattes die Dispensierten.
Neben einem jeden von ihnen steht der Inhalt des ärztlichen Attestes, auf
das hin er vom Turnunterricht befreit war. Hier befinden sich die Angaben
über den vorliegenden Herzfehler z. B., das Nähere über die Körperschwäche,
die zum dauernden Dispens führte u. a. m.
Im Abgangszeugnis selbst stehen die gleichen Bemerkungen bei den
vom Turnen Befreiten: sie erklären das Fehlen der Turnnote. Bei den Ge-
prüften steht sie, gegebenenfalles erläutert, erweitert durch die obengekenn-
zeichneten Ausführungen über die Beteiligung am „Wandervogel", über die
Führung des Vorsitzes im Schul turnverein u. ä. m. Auch die Aufforderung,
irgendeinem Turn- oder Sportverein beizutreten, kann meines Erachtens
hinzugefügt werden. Zu Michaelis machte an unserer Anstalt ein Ober-
primaner das Examen, der völlig einseitig, in diesem Falle rechtsseitig, aus-
gebildet war und das äußerlich im Bau und in der Haltung des Körpers gar
nicht verleugnen konnte. Ihm wurde der vorstehende Rat erteilt.
In den obigen Zeilen wird ein erster Versuch geboten, den Bestimmungen
der Turnreifeprüfung gerecht zu werden. Abgesehen wurde für dieses Mal
noch von der Öffentlichkeit des Examens und zwar auf den Wunsch der
Primaner selbst. Die mit am Spiel beteiligten Schüler waren außer den der
P. Kaestner, Die Reifezeugnisse der Stuudierenden der preußischen Universitäten. 365
Prüfungskommission angehörigen Lehrern die alleinigen Zuschauer. Es
wäre wohl angebracht, die gebotenen Vorschläge nach dieser Seite hin zu er-
gänzen. Vielleicht ist das schon bei diesem Herbstexamen anderweit geschehen.
"Wie bekannt gegeben wurde, planen die nicht akademisch gebildeten
Turnlehrer eine genaue statistische Bearbeitung der einzelnen von ihnen
durchgeführten Examina. Stellen wir uns unter diesen Verhältnissen nicht
abseits, betätigen wir uns an unserem Teile : Die Meinung von unserer Minder-
wertigkeit im Turnunterricht, der zumal in Berlin in bestimmten Kreisen
nicht selten Ausdruck gegeben wird, muß beseitigt werden. Einschlägigen
Angaben über Examenserfahrungen sieht gern entgegen der Schriftführer
des „Verbandes akademischer Turnlehrer", Studienrat Poppe in Berlin-Treptow,
Rethelstr. 8.
Berlin. Hartstein.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der preußischen Universitäten
im Wintersemester 1920/21.
Ausländer und solche Studierende, die nicht im Besitz des Reifezeugnisses
einer Vollanstalt sind, blieben bei der Erhebung unberücksichtigt.
Die erste Zusammenstellung umfaßt alle im Wintersemester 1920/21
an den preußischen Universitäten immatrikulierten Studierenden, die zweite
nur diejenigen, welche zur Zeit der Erhebung im ersten Semester standen.
Im Wintersemester 1920/21 waren insgesamt immatrikuliert:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 1728 Studierende, davon
immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1564
„ ,, „ ,, Realgymnasiums 151
„ „ „ e^ner Oberrealschule 13
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 1425 Studierende, davon
immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1424
,, „ ,, „ Realgymnasiums 1
c) in der Juristischen Fakultät 10199 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 6542
„ ,, ,, ,, Realgymnasiums 2361
„ ,, „ einer Oberrealschule 1296
d) in der Medizinischen Fakultät 10886 Studierende, davon immatri-
kuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 6544
„ „ „ ,, Realgymnasiums 2899
„ „ „ einer Oberrealschule 1443
e) in der Philosophischen Fakultät 16969 Studierende, davon immatri-
kuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 8124
„ „ „ „ Realgymnasiums 5083
,, „ „ einer Oberrealschule 3762
366 Pä"l Kaestner,
Hiervon studierten:
1. Philosophie 713, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 397
„ „ „ ,, Realgymnasiums 184
„ ,, „ einer Oberrealschule 132
2. Klassische Philologie und Deutsch 1847, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1310
„ „ ,, ,, Realgymnasiums 399
„ ,, „ einer Oberrealschule 138
3. Neuere Philologie 1878, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 720
„ ,, ,, ,, Realgymnasiums 744
,, ,, ,, einer Oberrealschule 414
4. Geschichte 791, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 478
,, ,, ,, ,, Realgymnasiums 225
„ „ „ einer Oberrealschule 88
5. Mathematik und Naturwissenschaften 3863, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1412
„ „ ,, ,, Realgymnasiums 1246
„ „ ,, einer Oberrealschule 1205
6. Sonstige Studienfächer 7877, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 3807
„ „ „ „ Realgymnasiums 2285
,, ,, ,, einer Oberrealschule 1785
II. Von den unter I aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
a) in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 108 Studierende, davon
immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 85
,, ,, ,, ,, Realgymnasiums 21
,, ,, ,, einer Oberrealschule 2
b) in der Katholisch-Theologischen Fakultät 61 Studierende, immatri-
kuliert auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums;
c) in der Juristischen Fakultät 731 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 450
„ „ „ „ Realgymnasiums 176
,, ,, ,, einer Oberrealschule 105
d) in der Medizinischen Fakultät 270 Studierende, davon immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 150
„ „ „ „ Realgymnasiums 76
„ ,, ,, einer Oberrealschule 44
e) in der Philosoph. Fakultät 1367 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 622
„ „ „ ,, Realgymnasiums 426
,, „ einer Oberrealschule 319
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten. 367
Hiervon studierten:
1. Philosophie 44, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 23
„ „ „ „ Realgymnasiums 12
„ ,, ., einer Oberrealschule 9
2. Klassische Philologie und Deutsch 47, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 32
,, ,, „ ,, Realgymnasiums 8
,, „ „ einer Oberrealschule 7
3. Neuere Philologie 43, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 17
„ „ „ „ Realgymnasiums 17
,, ,, ,, einer Oberrealschule 9
4. Geschichte 19, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 9
,, „ „ „ Realgymnasiums 9
„ „ „ einer Oberrealschule 1
5. Mathematik und Naturwissenschaften 178, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 62
„ „ „ , Realymnasiums 64
„ ,, „ einer Oberrealschule 52
6. Sonstige Studienfächer 1036, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 479
„ „ ,, „ Realgymnasiums 316
„ ,, „ einer Oberrealschule 241
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen
Universitäten.
Erlangen, Freiburg, Gießen, Heidelberg, Jena, Leipzig, München, Rostock,
Hamburg, Tübingen und Würzburg im Wintersemester 1920/21.
Bei der Erhebung blieben Ausländer und solche Studierende, die nicht
im Besitz des Reifezeugnisses einer Vollanstalt waren, unberücksichtigt.
Die e erste Zusammenstellung nmfaßt alle im Wintersemester 1920/21 an
den genannten Universitäten immatrikulierten Studierenden, die zweite nur
diejenigen, welche zur Zeit der Erhebung im ersten Semester standen.
I. Im Wintersemester 1920/21 waren insgesamt immatrikuliert:
a in der Evangelisch-Theologischen Fakultät 1483 Studierende, davon
immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1424
,, ,, ,, ,, Realgymnasiums 42
,, ,, ,, einer Obe realschule 17
b) in der Katholisch Theologischen Fakultät 647 Studierende, davon
immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 631
„ „ ,, „ Realgymnasiums 16
368 P^"^ Kaestner,
c) in der juristischen Fakultät^) 8576 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 5381
„ ,, ,, ,, Realgymnasiums 2111
,, „ „ einer Oberrealschule 1084
d) in der Medizinischen Fakultät^) 10620 Studierende, davon imma-
trikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 6053
„ „ „ „ Realgymnasiums 2727
„ ,, ,, einer Oberrealschule 1640
e) in der Philosophischen Fakultät 11656 Studierende, davon imma-
trikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 5707
„ „ „ „ Realgymnasiums 3212
„ „ „ einer Oberrealschule 2737
Hiervon studierten:
1. Philosophie 1750, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1038
„ „ „ „ Realgymnasiums 448
„ „ ,, einer Oberrealschule 264
2. Klassische Philologie und Deutsch 1517, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1080
„ „ „ „ Realgymnasiums 285
„ „ „ einer Oberrealschule 152
3. Neuere Philologie 1296, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 551
,, ,, „ ,, Realgymnasiums 457
einer Oberrealschule 288
n
4. Geschichte 669, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 380
„ „ „ „ Realgymnasiums 185
„ „ „ einer Oberrealschule 104
5. Mathematik und Naturwissenschaften 3833, und zwa":
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1476
„ ,, „ ,, Realgymnasiums 1112
„ ,, „ einer Oberrealschule 1245
6. Sonstige Studienfächer 2591, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 1182
„ „ „ „ Realgymnasiums 725
einer Oberrealschule 684
0 Einschließlich der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Freiburg,
Würzburg und Hamburg der Staatswirtschaftüchen Fakultät in München und der Staats-
wissenschaftlichen Fakultät in Tübingen.
') Einschließlich der Tierärztlichen Fakultäten in Gießen und München.
Die Reifezeugnisse der Studierenden der außerpreußischen Universitäten. 369
II. Von den unter I aufgeführten Studierenden standen im ersten Semester:
a) Inder Evang.-Theol. Fakultät 137 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums: 128
„ , „ „ Realgymnasiums 3
„ „ „ einer Oberrealschule 6
b) in der Kathol.-Theol. Fakultät 1 16 Studierende, davon immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 112
„ „ „ „ Realgymnasiums 4
c) in der Juristischen Fakultät 1024 Studierende, davon immatrikuliert:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 653
„ „ „ ,, Realgymnasiums 211
„ „ „ einer Oberrealschule 160
d) in der Medizinischen Fakultät 527 Studierende, davon immatrikuliert :
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 282
„ „ „ „ Realgymnasiums 144
„ „ „ einer Oberrealschule 101
e) in der Philisophischen Fakultät 1149 Studierende.
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 494
„ „ „ ,, Realgymnas ums 326
„ „ „ einer Oberrealschule 329
Hiervon studierten:
1. Philosophie 206, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 108
„ „ ,, ,, Realgynasium 62
„ „ „ einer Oberrealschule 36
2. Klassische Philologie und Deutsch 127, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 82
,, „ „ „ Realgymnasiums 30
,, ,, ,, einer Oberrealschule 15
3. Neuere Philologie 92, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 39
„ „ „ „ Realgymnasiums 24
„ „ „ einer Oberrealschule 29
4. Geschichte 74, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnas ums 34
„ „ „ ,, Realgymnasiums 14
„ „ ,, einer Oberrealschule 26
5. Mathematik und Naturwissenschaften 347, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 120
„ „ „ ,, Realgymnasiums 92
„ „ „ einer Oberrealschule 135
6. Sonstige Studienfächer 303, und zwar:
auf Grund Reifezeugnisses eines Gymnasiums 111
„ ,, ,, ,, Realgymniasums 104
,, „ „ einer Oberrealschule 88
370 Paul Kaestner,
Statistisches über das Frauenstudium.
Im Wintersemester 1920/21 studierten an den preußischen Universi-
täten 6137 Frauen ; im Wintersemester 1919/20 waren es 5904. Auf die Fakul-
täten verteilten sie sich folgendermaßen: 1919/20 1920/21
Theologische Fakultät 45 . —
Juristische Fakultät 152 —
Medizinische Fakultät 1184 —
Philosophische Fakultät 4523 —
Von den 6137 im Wintersemester 1920/21 studierenden Frauen waren
immatrikuliert 4832. Die übrigen 1305 waren als Gasthörerinnen zugelassen.
Die 4832 Immatrikulierten verteilten sich wie folgt:
Theologische Fakultät 44
Juristische Fakultät 167
Medizinische Fakultät 1156
Philosophische Fakultät 3465
Die Anfängerkurse im Griechischen ffir Studierende der Juristischen»
Medizinischen und Philosophischen Fakultät.
Im Wintersemester 1920/21 haben an den Anfängerkursen im Grie-
chischen für Studierende der Juristischen, Medizinischen und Philosophischen
Fakultät auf den preußischen Hochschulen im ganzen 156 Studierende teil-
genommen, davon 34 Theologen, 13 Juristen, 71 Mediziner und 102 Ange-
hörige der Philosophischen Fakultät. Von letzteren studierten klassische
Philologie 23, neuere Philologie 15, Deutsch 23, Geschichte 18, Mathematik
und Naturwissenschaften 2, Staatswissenschaften 5, sonstige Fächer 16.
Von den Teilnehmern an den Kursen hatten 22 das Reifezeugnis eines Gym-
nasiums, 65 eines Realgymnasiums, 23 einer Oberrealschule, 2 eines Pro-
gymnasiums, 14 eines Oberlyzeums, 30 eines Lehrr nnenseminars. Preußen
waren 134, Deutsche aus anderen Bundesstaaten 12, Ausländer 10.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer an diesem
Kursus wie folgt: Berlin 49, Bonn 28, Frankfurt 18, Göttingen 18, Greifswald
4, Halle 8, Kiel 11, Königsberg 6, 6, Marburg 11, Münster 3.
Die Kurse zur sprachlichen Einführung in die Quellen des
römischen Rechts.
Im Wintersemester 1920/21 haben an den Kursen zur sprachlichen Ein-
führung in die Quellen des römischen Rechts an den preußischen Hochschulen
im ganzen 367 Studierende der Rechte, 1 Studierender der Theologischen,
5 Studierende der Medizinischen und 20 Studierende der Philosophischen
Fakultät (6 klassische Philologie, 5 neuere Philologie, 5 Deutsch, 4 Ge-
schichte) und 9 Studierende der Staatswissenschaften teilgenommen. Das
Reifezeugnis eines Gymnasiums hatten 78, eines Realgymnasiums 165, einer
Oberrealschule 155. Preußen waren 355, Deutsche aus anderen Bundes-
Richard Gaede» Unter dem Bakel. 37 1
Staaten 35. Ausländer 12. Von den Studierenden der Rechtsw ssenschaft
standen 69 im ersten Semester, 46im zweiten, 61 im dritten, 41 im vierten,
33 im fünften, 36 im sechsten, 16 im siebenten, 11 im achten, 4 im neunten,
6 im zehnten bis zwölften Semester.
Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teilnehmer wie folgt :
Berlin 211, Bonn 23, Breslau 15, Frankfurt 49, Greifswald 5, Halle 9,
Königberg 19, Marburg 17, Münster 49.
Lateinische Sprachkurse für Absolventen lateinloser Schulen.
Im Wintersemester 1920/21 haben an den lateinischen Kursen für Absol-
venten lateinloser Schulen 614 Studierende teilgenommen. Hiervon studierten
12 Theologie, 80 Rechtswissenschaft, 295 Medizin und 227 Fächer aus dem Be-
reich der philosophischen Fakultät, nämlich 16 klassische Philologie, 85 neuere
Philologie 29 Deutsch, 13 Geschichte, 17 Mathematik und Naturwissen-
schaft, 26 Staatswissenschaft und 33 sonstige Fächer. Von den Teilnehmern
an den Kursen hatten das Reifezeugnis eines Gymnasums 14, eines Real-
gymnasiums 19, einer Oberrealschule 453, eines Progymnasiums 7, eines Leh-
rerinnenseminars 97. Auf die einzelnen Universitäten verteilen sich die Teil-
nehmer wie folgt: Berlin 154, Bonn 58, Breslau 46, Frankfurt 95, Göttingen
23, Greifswald29, Halle 36, Kiel 58, Königsberg47, Marburg 50, Münster 18.
Berlin-Neubabelsberg. PaulKaestner.
Unter dem Bakel.
So lautet der Titel einer Schrift, die alle alten Greifswalder interessieren
wird. Jhr Verfasser Wobbe hat in den achtziger Jahren des vorigen Jahr-
hunderts das Greifswalder Gymnasium besucht, auf dem in ungefähr der-
selben Zeit der Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Konrad
Hänisch herangebildet wurde. Aus diesem Grunde dürfte die kleine Schrift
vielleicht auch das Interesse weiterer Kreise finden.
Der Verfasser gehört entschieden zu den dei minorum gentium und
macht sicher selbst keinen Anspruch darauf, eine ideale Lebensauffassung
zu haben. Bei einem Besuch in seiner alten Schule fällt ihm vor allem auf,
daß an Stelle der früheren Öfen Zentralheizung eingeführt ist und die Schul-
tische vorn offen sind; er bedauert das, weil dadurch manche Gelegenheit
zum Ulk, zur Störung des Unterrichts und zur Mogelei für die heutige Jugend
hinweggeräumt ist. Derartige Dinge spielen in seiner Erinnerung eine große
Rolle und scheinen ihm noch heute eine Hauptsache im Schulleben zu sein.
Um eine Bibelstelle, die in einer seiner Schulgeschichten vorkommt, auf-
zusuchen, hat er einmal gegen seine Gewohnheit in der Bibel gelesen, vor-
nehmlich im Psalter, „hatte aber bald genug an dem ewigen Geweimer und
Geseires des Judenkönigs David". Wie tief er sich mit einer solchen Be-
merkung herabwürdigt, dafür fehlt ihm offenbar die Empfindung. Aber
er verbindet mit einem ausgezeichneten Gedächtnis eine scharfe Beobachtungs-
gabe und übertreibt in der Charakteristik seiner Lehrer nicht. Das muß
372 Richard Gaede,
ich, der ich in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
das Greifswalder Gymnasium besucht habe, ihm bezeugen. Es war in der
Tat an dieser Schule eine merkwürdige Sammlung von Lehrerexemplaren.
Prügel gab es viel, sie galten offenbar als Haupterziehungsmittel. Auch
ich besinne mich noch deutlich, daß man mehreren Mitgliedern des Kolle-
giums die Wonne anmerkte, mit der sie den Bakel handhabten. Der geist-
reichste Lehrer, der in guten Stunden den Schülern der Oberklassen wirk-
lich manches fürs Leben mitgab, war leider schon zu meiner Zeit in den ersten
Stadien des Deliriums, und das hat sich entschieden später noch verstärkt.
Es war ihm unmöglich pünktlich zu sein, er war in den Stunden oft hochgradig
nervös, war durchaus ein Sklave seiner Launen und gab der Schule vor den
Schülern mit Vorliebe solche Bezeichnungen wie ,, stinkiger Affenkasten".
Im Delirium hat auch ein anderer Lehrer der Anstalt geendet, nachdem
er durch rohe Behandlung seiner Schüler manches Unheil angerichtet hatte.
Der Geschichtslehrer der oberen Klassen, der in O II auch den deutschen
Unterricht hatte, war fast blind, außerdem aber auch während des Unterrichts
oft geistesabwesend. Die Folge war, daß die Schüler in seinen Stunden
sich fast immer mit anderen Dingen beschäftigten, einige auch sich aus der
Schule entfernten, um einen Frühschoppen zu machen, zu dem sie ja ihre
Lehrer öfter pügern sahen. Ein Lehrer, der auch in den oberen Klassen im
Griechischen unterrichtete, war für Hasen und andere Geschenke seiner Schüler
sehr empfänglich, ließ sich in den Ferien gern auf dem Lande durchfüttern,
und wenn er auf einem Gute lange genug gewesen war, von seinem hospes
zu einem benachbarten hospes fahren, ganz wie es Tacitus in seiner Ger-
mania Kap. 21 schildert. Derselbe entblödete sich nicht, gelegentlich seine
Stunden vor der Zeit zu schließen und seine Schüler zu ermahnen, sie möchten
recht leise gehen, damit der Direktor nichts merke, und hatte noch andere
einem Erzieher recht wenig anstehende, zum Teil sehr unästhetische Eigen-
tümlichkeiten. Auch in den unteren und mittleren Klassen unterrichteten
einzelne Lehrer, deren man sich nur mit Widerwillen erinnert. Nur ganz
wenige Lehrer gab es, deren die damaligen Greifswalder Gymnasiasten mit
Liebe und mit dem Gefühl einer Dankesschuld zu gedenken Anlaß haben.
Ich betone noch einmal, daß alles Gesagte buchstäblich wahr ist. Wenn
trotz dieser Verhältnisse kaum einer aus jener Schülergeneration verbummelt
ist, wie Wobbe hervorhebt — von meinen Kameraden wüßte ich leider doch
mehrere zu nennen, die dieses Schicksal hatten — so ist das der guten Wirkung
der Elternhäuser zuzuschreiben. Verfasser dieser Zeilen hat als Student
einmal sein Urteil über seine Schule in folgenden Versen zusammengefaßt:
„Am meisten hab' ich von der Mutter empfahn. Was im Kampfe des Lebens
uns nützen kann, Viel hat Vater, Freund, Schwester hinzugetan — Die Schule
hinkt ganz hintenan." Klingen in den Worten des Erlasses an die Schüler
und Schülerinnen aus dem November 1918 Uli 1967, die von Konrad Hänisch
unterzeichnet sind : ,,Möge ein neues Verhältnis von Kameradschaft zwischen
Euch und Euren Lehrern entstehen, möge die Luft der Schule gereinigt
werden von dem Ungeist der toten Unterordnung, des Mißtrauens und der
Unter dem Bakel.' 373
Lüge" und anderen ähnlichen Auslassungen etwa Schulerinnerungen des
Ministers nach? Es wäre kein Wunder, aber anderseits doch nicht ganz
berechtigt, Erlebnisse jener Zeit, die auch damals durchaus nicht auf alle Schulen
zutrafen, auf unsrige heutige Schule zu übertragen — ein Fehler, der leider
vielfach begangen wird. Daß auch in der heutigen Schule Mißgriffe vorkommen,
soll damit natürlich nicht geleugnet werden.
Eins beweist das Wobbesche Buch wieder einmal sehr deutlich, näm-
lich, daß wir Lehrer sozusagen auf dem Präsentierteller stehen, daß unsre
Unarten und Schwächen noch nach Jahrzehnten im Gedächtnis unserer Schüler
haften. Bei keinem anderen Stande ist das in dem Maße der Fall, in fast
keinem anderen Stande richten unwürdige Vertreter einen so großen Schaden
an. Wann wird man endlich einsehen, daß Lehrer und Erzieher nur die Tüch-
tigsten sein können und daß man auf Mittel sinnen müßte, solche zur Über-
nahme dieses schweren, aber schönen Berufs anzureizen und anderseits min-
derwertige Elemente ihm fern zu halten? Wann wird man in Kreisen von
Erwachsenen ,der sogenannten guten Gesellschaft, endlich aufhören, Schul-
lüge und Schulbetrug als gute Witze anzusehen und von solchen Sachen
behaglich schmunzelnd zu plaudern? Ich habe das sogar von einem Geist-
lichen erlebt. Ein so zusammengesetztes Lehrerkollegium, wie das damalige
Greifswalder, wird es freilich heute kaum noch geben. Es ist viel guter Wille
unter unseren Standesgenossen vorhanden, gute Kameraden ihrer Schüler
zu sein, ein Vertrauensverhältnis mit ihnen zu schaffen, dadurch aller Un-
ehrlichkeit und Lüge das Grab zu graben und so wirkliche Erzieher des kom-
menden Geschlechtes zu werden. Jeder Lehrer, der das nicht aus vollem Herzen
anstrebt, der seinen Schülern gegenüber noch immer den Unteroffizierton
anschlägt, der nicht frisch und freudig in seinem Beruf wirkt, der werde
sich in stillen Stunden der Einkehr klar darüber, daß er ein Schädling an
unserem Volkskörper ist, dessen üble Wirkung noch über seinen Tod hinaus
dauert.
Einige beherzigenswerte pädagogische Einzelheiten entnehme ich noch
dem Wobbeschen Buche.
Wobbe erinnert sich, daß er als Vorschüler einmal die Aufgabe bekommen
hat, die Weihnachtsgeschichte auswendig zu lernen, ohne daß ihm die fremden
Ausdrücke irgendwie erklärt worden wären. Er hat stundenlang den Text
vor sich hingemurmelt und ihn doch nicht fassen können, da er mit Begriffen
wie „Schätzung", „Landpfleger", „Syrien" u. a, nichts anzufangen wußte.
Schließlich ist er in Tränen ausgebrochen, und die Angst hat ihn noch bis
in seine kindlichen Träume verfolgt. Derartige Mißgriffe waren damals
allerdings an der Tagesordnung — so erinnere ich mich bestimmt, daß uns
im Anfang der Untersekunda gleich ohne jede Einführung in den neuen
Schriftsteller 50 Vergilverse vorzubereiten aufgegeben wurde, eine Aufgabe,
die ohne gedruckte Übersetzung auch der beste Schüler nicht leisten konnte
— sie sind heute wohl ausgeschlossen. Aber sollten die heute so häufigen
Angriffe auf den Religionsunterricht und die bekannten Ministerialerlasse
374 Richard Gaede, Unter dem Bakel.
über ihn vielleicht zum Teil eine Nachwirkung von Kindertränen sein, die
geweint wurden über zu starke Gedächtnisbelastung durch Auswendig-
lernen unverstandener Bibelabschnitte und Katechismusstellen? — Ein
andrer Lehrer der unteren Klassen hat seinen Schülern einmal die Angst
der Eltern um den zwölfjährigen Jesus, als sie ihn nicht finden konnten,
so drastisch ausgemalt, daß Wobbe ihn noch heute dabei vor sich sieht,
wenn er an diese Geschichte denkt. Die Religionslehrer der unteren Klassen
müssen, soweit es nicht schon geschieht, entschieden aus Büchern wie denen
von Else zur Hellen-Pfleiderer, Matschulat u. ä. lernen, wie man Kindern
biblische Geschichten erzählt. Erst dann wird dieser heute so viel angefochtene
Unterricht die Lieblingsstunde der Schüler und Schülerinnen werden und
das wirken, was er soll.
Wobbes Bemerkung, daß der natürliche Wissensdrang der Schüler in
der Schule abgetötet, daß z. B. in der Botanik allerlei Unkraut, aber nicht
die Getreidearten und Obstbäume unsres Landes, in der Zoologie wohl der
Löwe und das Warzenschwein, aber nicht die Haustiere genauer durchge-
nommen wurden, trifft auf den heutigen Unterricht nicht mehr zu, ganz
unberechtigt ist sie aber auch heute nicht. Die Hinweise auf das die Schüler
umgebende Leben der Gegenwart und die Anleitung zu seiner Beobachtung
könnten in allen Lehrstunden noch häufiger sein.
Ein gutmütiger, aber etwas langweiliger Lehrer der mittleren und unteren
Klassen ließ nach Wobbes Erinnerung mit Vorliebe zur Strafe Gedichte
auswendig lernen, deren Auswahl er den Schülern überließ, und ließ sie in
der Lesestunde vortragen. Da kam es denn wohl vor, daß einzelne auch
längere Gedichte, die ihnen gefielen, lernten, um recht viel von der Stunde
damit hinzubringen. „Strafarbeiten" sind ja heute verboten, und vollends
auf die Geschmacklosigkeit, Gedichte zur Strafe auswendig lernen zu lassen,
wird wohl kein Lehrer mehr verfallen. Aber daß Primaner, wenn sie nicht
präpariert waren, einen Lehrer, der sich gern reden hörte, durch allerhand
Querfragen veranlaßten, von seinem Thema abzuweichen und die Stunde
mehr oder weniger totzuschlagen, habe ich noch unlängst gehört.
Über Wobbes Forderung, der Minister solle Schwimmen, Rudern, Schlitt-
schuhlaufen auf der Schule obligatorisch machen, ließe sich reden, da wir ja
heute daran denken müssen, für den Wegfall unserer trefflichen Heeresschule
recht viel Ersatz zu schaffen. Daß übrigens für die körperliche Ausbildung
vor dem Weltkriege auf unseren Schulen erheblich mehr geschah als in den
siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, ist allbekannt.
Ob die obligatorische Forderung darin viel bessern würde, darf man bezweifeln.
Darin hat Wobbe durchaus Recht, daß er es einen Verlegenheitstrick
der Lehrer nennt, wenn sie einen Schüler zur Strafe aus der Klasse weisen ;
er hätte auch einen schärferen Ausdruck dafür gebrauchen können. Sollte
das wirklich noch irgendwo vorkommen, so ist es aufs schärfste zu verurteilen.
Ich weiß, daß so hinausgewiesene Schüler nicht nur, wie Wobbe erzählt,
draußen Zigaretten rauchten, sondern auch aus den Überziehern ihrer Kame-
raden Frühstück und Geld stahlen und es zu diesem Zweck darauf anlegten,
Leben Jesu, angez. von Kannegießer. 375
hinausgewiesen zu werden. Es könnte sich auch gelegentlich dabei die hübsche
Geschichte wiederholen, die der lebende Historiker Eduard Meyer sich als
Schüler in Hamburg einmal geleistet hat. Von einem Lehrer, der keine Zucht
halten konnte, hinausgewiesen, klopft er nach einiger Zeit an die Tür und
bittet, wieder in die Klasse kommen zu dürfen, wird aber mit seiner Bitte
abgfewiesen. Als bald darauf der Lehrer einen Schüler abschickt, um ihn
zurückzuholen, kommt dieser Schüler allein wieder mit dem Bescheid: „Nun
will Meyer nicht."
Hannover. Richard Gaede.
IL Bücherbesprechungen.
a) Einzelbesprechungen.
Leben Jesu von Walther Classen. Hamburg 1919. Verlag C. Boysen.
zweite, völlig umgearbeitete Auflage. 109 S. 8®. 3 M., geb. 5 M.
Walther Classens Schriftstellerei bewegt sich auf religiös-sozial-päda-
gogischem Gebiete. In seiner Großstadtjugend sucht er der seelischen
Not derselben abzuhelfen, in seinen Romanen Kreuz und Amboß, Fritjof
Reimarus, die Söhne des Apostels weht soziale Gesinnung und dog-
menfreies Christentum, in seinem ,, Alten Testament" und „Urchristen-
tum", in seinemBuch „Jesu Worte und Taten" und ,, Christus heute"
(C. H. Beck, München) will er die alten Wahrheiten von unzeitgemäßen
Zusätzen und lehrmäßigen Einengungen befreien und sie der Gegenwart
dadurch um so beherzigenswerter darstellen. Denselben Zweck verfolgt er
in seinem Leben Jesu. Er will Jesus nicht als einen magischen „Halbgott
über die Erde wandeln" lassen, er will auch nicht den Schüler durch den
Religionsunterricht „zu einem erfahrenen Christen" machen. Aber er ist
der Überzeugung in Jesu „einer Kraft zu begegnen, wie sie so nur einmal
eingetreten ist in die Welt". Um sich selbst und die Schüler von dieser Kraft
ergreifen zu lassen, will er Jesus schildern als Prophet, als Weisen, als Künstler,
als Erretter seines Volkes, als Schöpfer einer neuen Gemeinschaft der Geister
der durch seinen Willen zum Tode schließlich der Heiland wurde. In diesen
sieben Kapiteln wird das Leben Jesu in leicht verständlicher, zu Herzen
gehender Weise erzählt und ausgelegt, wobei eine Reihe wertvoller metho-
discher Fingerzeige für den praktischen Unterricht gegeben wird. Be-
achtenswert ist der mehrfache Hinweis auf Goethes Frömmigkeit, deren
Ursprünglichkeit uns die von Jesus näher bringen soll. Auch sonst werden
Beziehungen zur Gegenwart aufgesucht, um unsere Fragen von Jesu Licht
beleuchten zu lassen. Ernstere Bedenken sind mir bei dem Lesen des Lesen
nicht aufgestoßen. Die Synagoge in Kapernaum S. 37 ist z.T. bereits
ausgegraben. S. 84 leugnet der Verfasser die Abstammung Jesu von
David. In dem ausführlichen Werke von Lepsius wird sie festgehalten. Die
Frage S. 90 Anm. 2 beantwortet Lepsius II S. 275. Sehr brauchbar ist das
376 Aristoteles, Topik, angez. von O. Braun.
übersichtliche Verzeichnis der verwerteten Erzählungen aus den Evangelien
(S. 104f.). Warum ist das Johannes-Evangelium nicht benutzt? Sind in
ihm wirklich gar keine geschichtlich wertvollen Erinnerungen niedergelegt?
— Das freimütig und mit warmer Anteilnahme geschriebene Buch enthält
in seiner knappen Fassung sehr viele wichtige und praktisch gut verwert-
bare Gedanken, so daß es als eine höchst erfreuliche Erscheinung bezeichnet
und für den Unterricht, besonders auf den mittlerenKlassen, lebhaft empfohlen
werden kann.
Berlin. Kannegießer.
Aristoteles, Topik. Neu übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden
Anmerkungen versehen von Dr. theol. Eugen Rolf es (Philosophische
Bibliothek Bd. 12). Leipzig 1919. F. Meiner. 227 S. 7 M. und 50% Teue-
rungszuschlag.
Rolfes hat schon in derselben Bibliothek Metaphysik und Nikomachische
Ethik übertragen und diese Übersetzungen haben ihn als vorzüglichen Kenner
der Aristotelischen Philosophie und tüchtigen Philologen gezeigt. Der Gegen-
stand ist im vorliegenden Bande nicht weniger schwierig, und R. hat auch
diesmal seine Aufgabe in bester Weise erledigt. Die Topik ist die Lehre von
den einen Wahrscheinlichkeitsschluß begründenden allgemeinen Sätzen.
Oder, wie Aristoteles selbst sagt: „Unsere Arbeit verfolgt die Aufgaben,
eine Methode zu finden, nach der wir über jedes aufgestellte Problem aus
wahrscheinlichen Sätzen Schlüsse bilden können und, wenn wir selbst Rede
stehen sollen, in keine Widersprüche geraten." — Einleitung und zahlreiche
Anmerkungen erläutern den schwierigen Text, so daß eine besonders wert-
volle Ausgabe entstanden ist.
Kurt Stemberg, Einführung in die Philosophievom Standpunkt
des Katechismus. (Wissen und Forschen Bd. VIU.) Leipzig 1919.
F. Meiner. XIII, 291 S. 7 M.
Wie haben zahlreiche und gute Einleitungen in die Philosophie — war
es nötig, diese noch zu schreiben? Die Frage wäre zu verneinen, wenn der
Verfasser eine allgemeine Einleitung geschrieben hätte. Das ist aber nicht
der Fall — es ist eine Einführung in den Katechismus, in die kritische, neu-
kantische Philosophie, nicht mehr und nicht weniger. Der Titel deutet das
an, und in dieser Beschränkung ist das Buch verdienstlich. Der Verfasser
ist durch kleinere Arbeiten im Sinne des Neu-Kantanismus in Fachkreisen
nicht unbekannt; daß er das ganze System gründlichst beherrscht und in
ihm lebt, zeigt dieses Buch. Es ist nicht leicht geschrieben und wird dem
Anhänger Mühe machen; aber das Hegt vielfach am Stoff, denn gerade der
Kritizismus steht mit seiner Grundauffassung dem gewöhnlichen Denken
ziemlich fern. Man muß aber konstatieren, daß St. die Schwierigkeiten
meist nach Möglichkeit durch flüssige und einfache Darstellung erleichtert
hat. Das Buch beginnt mit einem Abschnitt „Das Problem der Philosophie",
der Hauptabschnitt behandelt „Die Erkenntnis des Wahren", der letzte
Piatons Diologe, angez. von O. Braun. 377
„Die Erkenntnis des Guten". Die Geschichte der Philosophie ist bei den ein-
zelnen Fragen in lockerer Form berücksichtigt, doch scheint mir, daß dem
Verfasser das Historische nicht so liegt, wie das Systematische. Es ist an dieser
Stelle nicht angebracht, sich mit der Grundauffassung St.s ,mit dem neu-
kantischen System überhaupt auseinanderzusetzen — ich kann St. in keiner
Weise darin zustimmen, daß er nur den Kritizismus als wissenschaftliche
Philosophie gelten lassen will. Das ist eine Engigkeit und Kurzsichtigkeit
gegenüber der ganzen Fülle philosophischer Arbeit in der Gegenwart, die
nicht zulässig ist. Die Argumente sind bekannt, die St. vorbringt — vor
allem die Ablehnung der ,, weltanschaulichen" Philosophie als einer unwisse-
schaftlichen, und die Bekämpfung empirischer Forschung, durch ständige
Wiederholung werden diese Behauptungen nicht wahrer; sie entspringen
aus einer einseitig rationalistischen Lehrmeinung und halten sich für die
wahre und einzige Philosophie — die aber gibt es nicht. Es fehlt hier völlig
der Sinn für die Kulturbedeutung der Philosophie, über ihre Bedeutung
als Wissenschaftslehre hinaus. ,, Wissenschaft zu sein, d. h. Wissen zu schaffen,
vermag nur eine Philosophie, die selbst vom Wissen, von der Wissenschaft,
handelt" (S. 16). Freuen wir uns, daß Philosophie von jeher, vor allem aber
von Piaton bis zu Kant, Hegel und Nietzsche mehr gewesen ist, als diese
bloß gelehrte Wissenschaftstheorie. — Sehe ich von dieser prinzipiellen Ab-
lehnung ab, so ist das Buch St.s eine gute Einführung in den Kritizismus.
Piatons Dialoge (Timaios und Kritias); Piaton, Apologie und Kriton. Über-
setzt und erläutert von Otto Apelt (Philosoph. Bibliothek Bd. 179 und
180). Leipzig 1919. F. Meiner. 224 S. 108 S. 7,80 M., 2,70 M. und 50%
Zuschlag.
Die vorliegenden Bände setzen die bekannte Ausgabe fort und verdienen
die Anerkennung wie die schon vorhandenen. In philosophischer Treue
und doch gefälliger Form wird der Text wiedergegeben, überall kommt der
philosophische Gedankengehalt zu klarem Ausdruck. Apelt gibt gute Ein-
führungen, Inhaltsübersichten und Anmerkungen, wobei er die richtige Mitte
hält zwischen Zuviel und Zuwenig. Die Ausgaben sind sehr zu empfehlen.
Basel. Otto Braun.
Ferdinand Sommer, Lateinische Schulgrammatik mit sprachwissen-
schaftlichen Anmerkungen. Frankfurt a. M. 1920. Moritz Diester-
weg. XVI u. 186 S. 8».
Das Buch bedeutet seinem Inhalte nach einen bedeutenden, entschei-
denden Fortschritt, und zum Teil kann dies auch von seiner Formgebung
gesagt werden. Wir besaßen bisher noch keine Schulgrammatik, die auch
die Syntax vom streng sprachwissenschaftlichen Standpunkte von Grund
auf entwickelt und dargelegt hätte, und auch keine, die die Formenlehre
in so knapp3r Form vom gleichen Standpunkte aus geboten hätte. E. Niep-
manns Sprachlehre ist bis jetzt leider nicht über die Laut- und Formenlehre
hinausgediehen, und dieser Teil selbst bietet für den Kopf des Lateinrekruten
Monatschrift f. höh. Schulen. XX. |hrg. 25
378 Ferdinand Sommer, Lateinische Schulgrammatik, angez. von Franz Cramer.
ZU viel und, trotz der meisterhaften, aus langjähriger Lehrkunst heraus-
geborenen Form und Fassung der Regeln, in etwas zu gelehrtem Gewände^).
Ferd. Sommer, der Hochschullehrer und Verfasser des wissenschaftlichen
„Handbuchs der lateinischen Laut- und Formenlehre", hätte, wie er im Vor-
wort sagt, es kaum gewagt, eine Schulgrammatik zu schreiben, hätte es nicht
der Krieg mit sich gebracht, daß er über drei Jahre an einer Lehranstalt
Lateinunterricht zu geben Gelegenheit hatte. Man wird ihm sehr gern das
Zeugnis geben, daß diese Lehrtätigkeit in der schulmäßigen Fassung des
Lehrbuches sich aufs vorteilhafteste wiederspiegelt. Besondere Aufmerksam-
keit verdient die äußerst knappe Form und die überraschend starke vielleicht
zuweit gehende Zusammendrängung des Stoffes. Freilich hatte er hier Vor-
bilder an andern, z. B. Stegemann, den er selbst anerkennend nennt. Wenn
Verfasser sagt, in der Syntax habe er besonders Wert darauf gelegt, „bei den
vom Deutschen abweichenden Konstruktionen, die dem lateinischen Ge-
brauch zugrunde liegenden Auffassungen möglichst hervortreten zu lassen",
so hat er dabei zweifellos Geschick walten lassen: aber allerdings sind hier
schon gewiegte Meister vor ihm tätig gewesen, vor allem der in diesen Dingen
unübertroffene Paul Harre. Während die ,,vom Deutschen abweichenden
Transitiva" bei S. (§ 141 B 1) sich folgendermaßen ausnehmen:
f u g e r e fliehen (hostes vor dem Feinde), sequi folgen.
d e f i c e r e ausziehen, feh!en. adaequare gleichkommen, erreichen.
i u V a r e helfen (unterstützen).
geht ganz anders Harre vor (§ 138):
ich helfe dir = ich unterstütze dich adiuro te;
es wird mir geholfen = ich werde unterstützt adiuvor;
ich fliehe vor dir = ich meide dich fugio te;
ich entfliehe dir = ich vermeide dich effugio te usw.
Eine sehr wichtige Frage ist es, ob die auf sprachwissenschaftliche Grund-
-lage gestellte Formenlehre in der vorliegenden, sicherlich vereinfachten
Darstellung schon dem kleinen Lateinanhänger eine genießbare Nahrung
sein kann. Ein Beurteiler hat es bereits verneint; wir möchten uns nicht
so ohne weiteres anschließen. Es ist, denke ich, selbstverständlich, daß bei
weitem nicht alles, was ein wirkliches Sprachbuch (im Gegensatz etwa zu
einem dem Übungsbuch beigegebenen Regelanhang) bietet, bei der ersten
Durchnahme für den Anfänger verdaulich und überhaupt berechnet ist. Und
auch das, was aus dem Gebotenen vom Anfänger aufzunehmen ist, wird
doch heutzutage erst vom lebendigen Unterricht vorbereitet, ehe das Sprach-
buch eingesehen wird. Der Lehrer ist berufen, zunächst aus der Anschauung
der Übungssätze in die Sache hineinzuführen, das von den Schülern unter
0 J'ing^t hatte ich Gelegenheit, an der von E. Niepmann geleiteten Anstalt (Bonn)
den Sprachunterricht auf allen Klassenstufen kennen zu lernen; ich bekenne, daß meine
Erwartungen übertroffen sind, und daß die Möglichkeit, auch beim Anfangsunterricht
der sprachwissenschaftlichen Wahrheit gerecht zu werden, mir als handgreifliche Wirk-
lichkeit entgegentrat.
Ferdinand Sommer, Lateinische Schulgrammatik, angez. von Frani Gramer. 379
»
seiner Führung Beobachtete lebendig werden zu lassen, es ist zu erläutern
und zu vertiefen, es dann — möglichst unter Eigenarbeit, Selbstfinden der
Schüler — in Wort und Regel zu fassen und endlich das so gefundene Gesetz
im gedruckten Buch zur sichern Einprägung vor Augen zu führen. Und hierzu
kann des Verfassers Darstellung sehr wohl die Grundlage bieten, soviel auch
noch nach der Seite der schulmäßigen Methodik zu wünschen und zu ändern
bleibt. So sind zweifellos kurze gereimte Geschlechtsregeln, wie sie auch Niep-
mann als langjährigerPraktiker nicht verschmäht, den trockenenFeststellungen
und Aufzählungen (vgl. § 39) entschieden vorzuziehen.
Freilich wird überhaupt der Gesichtswinkel, unter dem wir ein Sprach-
buch betrachten, sich ändern müssen, je nachdem wir den Zweck des Gram-
matikunterrichts festsetzen. Eckstein (Heidelberg) im „Humanist. Gymnasium"
(1921 S. 39) urteilt: „Grammatik als Selbstzweck hat in unserer Zeit keine
Berechtigung, sie will nur das Rüstzeug zur Lektüre zu liefern",
so stehe ich auf anderm Standpunkt; soweit der Lateinunterricht auf Gym-
nasien in Frage kommt, ist die Stellung der Sprachbetrachtung und Sprach-
übung ebensosehr eine beherrschende wie eine dienende. Gerade heute — und
Sommers Buch ist dessen ein Zeichen — kann der selbständige Bildungswert
der lateinischen Spracherziehung, d. h. die geistige Zucht durch Überwindung
der Sprachunterschiede und die denkende Betrachtung der Spracheigenart,
sich auswirken. Es gilt ja, in die Seele des jeweiligen Volkstums einzudringen,
das uns beschäftigt ; das unmittelbarste Erzeugnis der Seele aber ist die Sprache
sie ist der Seele Spiegel. Was aber könnte bildender sein als das verständ-
nisvolle Versenken in die Schöpfungen der Volksseele? (vgl. m. Handbuch
des lat. Unterr. S. 151 u. 169).
Die vorliegende Grammatik ist kein bloßes „Lernbuch", d. h. eine für
das jeweilige Klassenalter zurechtgestutzte Sammlung von Regeln für Schüler,
und ich sollte meinen, wir wären über das Zeitalter hinaus, in dem solche
Lembüchlein als das ausschließlich, d. h. für alle Klassenstufen, alle Schul-
gattungen und alle Bildungszwecke Richtige galten. Eine Sprachlehre,
die in die denkende Erfassung des Sprachgeistes in allmählich (mit dem
Fortschreiten des Schülers) wachsendem Maße einführen will, wird auch für
die Wiederholung auf höheren Stufen das Nötige bieten. Und hierfür
bieten in S.'s Laut- und Formenlehre viele Einzelheiten, zumal in den unter
dem Text angebrachten Anmerkungen den willkommenen Stoff (womit
nicht gesagt ist, daß nicht auch für die Syntax des Verfassers Ähnliches gilt).
Die Tatsache, daß der Sextaner nichts mit Anmerkungen wie (Nr. 13):
„miles aus milets, miless, dies läßt sich im Altlatein noch nach-
weisen", anzufangen weiß, beweist nichts gegen ihre NützHchkeit an sich.
Schon daß dem jungen Lehrer dergleichen zum Bewußtsein kommt, ist
— nach dem heutigen Stande der Dinge — ein zweifelloser Vorteil.
Leider sieht es, trotz allen Vorschriften der Prüfungsordnung auch heute
noch mit der sprachwissenschaftlichen Vorbildung der Prüfungskandidaten
noch lange nicht so aus, wie es sein sollte. Ist hier einmal ein Wandel zum
Bessern eingetreten (und er bahnt sich doch unverkennbar an), wird manche
„Anmerkung" überflüssig werden, deren Inhalt dann dem mündlichen Ver-
25*
380 Ferdinand Sommer, Lateinische Schulgrammatik, angez. von Franz Cramer.
fahren zwischen Lehrer und Schüler vorbehalten werden kann, oder — sie
wandert in verkürztem Ausdruck in den Text; denn daß die Anmerkung
„die einzig statthafte" Form für die Ergebnisse der modernen Sprachforschung
sei (Vorwort S. III) vermag ich keineswegs anzuerkennen. Immerhin sind
die Anmerkungen zweckdienlicher als die von andern Verfassern (u.a. Schmalz,
Landgraf) vorgezogenen Sonderhefte.
Wenn Verfasser die Syntax bestimmt als ,,die Lehre vom Satz und
der Funktion seiner einzelnen Teile" (§ 129), so ist das kein wissenschaft-
licher Fortschritt. Da hatte doch K. Reinhardt das von ihm herausge-
gebene (später von E. Bruhn bearbeitete) Grammatikbuch doch immerhin
richtiger „Formen- und Satzlehre" benannt, damit wohl andeutend, daß
er nur einen Ausschnitt aus der Gesamtgrammatik geben wolle. Denn
Satzlehre und Syntax sind keineswegs gleichbedeutend, auch nicht, wenn
man hinzusetzt: „und der Funktion [das Fremdwort ist unnötig] seiner
einzelnen Teile". Die Syntax ist die Lehre von den Wortgefügen; so wird
auch nicht der Satz durch ,, Kasus" bestimmt (§ 138), sondern eine Wort-
gruppe. Natürlich können praktische Rücksichten hier eine Vermischung
der Anordnungsgrundsätze rätlich erscheinen lassen; aber darauf wäre
doch in einer wissenschaftlich angelegten Sprachlehre aufmerksam zu machen.
Im übrigen kann gerade die Sommersche Syntax dem Lehrer außerordent-
lich nützliche Dienste tun; denn während für Laut- und Formenlehre bereits
handliche, wenn auch nicht immer zuverlässige Wegweiser ihre Dienste tun
können, hat die lateinische Syntax bisher solcher zusammenfassender Hilfs-,
mittel entbehrt. Um nur eine Einzelheit hervorzuheben: keine einzige
Schulgrammatik hat bisher meines Wissens die Erklärung für die auffallende
Verwendung des „Perfekts" in den Typen dixerit quis und ne dixeris aus-
drücklich gegeben; daß hier die Wirkung des alten, mit dem Perfekt zu-
sammengefallenen Aorist vorliegt, wird S. 124 mit dankenswerter Deutlich-
keit gasagt.
Daß man mit vielen Einzelheiten in der Syntax nicht völlig übereinstimmen
wird, ist zumal bei einer solchen Neuschöpfung begreiflich. Näher darauf
einzugehen fehlt der Raum. Hier nur Weniges. Die Begriffsbestimmung:
„Rhetorische Fragen sind dem Inhalt nach Behauptungen" usw. ist zu
eng: sie enthalten eine Behauptung oder ein Begehren in Frageform
(z. B.: Quin conscendamus equos? = Laßt uns die Pferde besteigen!) —
Wenn es heißt (S. 166 am Schluß) : „Potentiahtät liegt stets vor, wenn sich die
Umschreibung mit ,sollte' einsetzen läßt", so ist das zwar richtig, aber dar-
über hinaus gibt es auch noch andere Fälle (vgl. meinen „Lateinunterricht"
S. 103 f.). — Die Bestimmung: „Innerlich abhängig sind die untergeordneten
Sätze, deren Inhalt als bloß vorgestellt gilt", ist zu weit gefaßt; auch die
Fassung: „Der con. pot. bezeichnet den Vcrbalvorgang als möglich" (§ 218)
ist für den Schüler irreführend; eher: „als möglich gedacht". — Die (frei-
Uch landläufige) Einteilung der Sätze nach „Beurteilung, Frage oder Be-
gehren" (§ 216) entspricht nicht den psychologischen und logischen Verhält-
nissen: in Wirklichkeit werden hier zwei Einteilungsgründe miteinander
Graf Hermann Keyserling, Das Reisetagebuch eines Pliilosoplien, angez. vcn P. Lorentz. 381
vermengt: 1. Fragende Sätze und nichtfragende Sätze, 2. Aussage- und
Begehrungssätze. Fragesätze sind nichts weiter als ein in Frage gestelltes
Aussagen oder Begehren (sind sie dies nur zum Schein, nur der Form nach,
so handelt es sich um rhetorische Fragen, s. o.). — Ausdrücke wie: ,, kon-
statierendes Perfekt" (§ 215 B 2 u,217 B 1) halte ich nicht für glücklich
geprägt, auch abgesehen von dem unnötig eingeführten Fremdwort; zweck-
mäßiger ist der (an der erstbezeichneten Stelle) zur Auswahl beigefügte Aus-
druck: ,, urteilendes Perfekt". Aber dieses feststellende oder urteilende
Perfekt umfaßt nicht den ganzen hierhin gehörenden Umkreis der Anwen-
dungsfälle; denn das präsentische Perfekt, das S. in eine Anmerkung ver-
weist, ist gleichberechtigt und gehört zur gleichen Gattung. Harre faßt (ganz
richtig im Gegensatz zum aoristischen Gebrauch) beides (1. urteilendes,
2. präsentisches Perfekt) unter dem Begriff ,, eigentliches Perfekt" zu-
sammen.
Während ich dies schreibe, kommt mir des Verfassers neues Buch: „Ver-
gleichende Syntax der Schulsprachen" in die Hand, das die ,,Lat. Schul-
grammatik" in der glücklichsten Weise ergänzt und vertieft. Darüber viel-
leicht bei späterer Gelegenheit.
Münster i. Westf. Franz Gramer.
Graf Hermann Keyserling, Das Reisetagebuch eines Philosophen.
Darmstadt, Otto Reichl, 1920. 4. Aufl. Geb. 150 M.
Mit keinem deutschen Philosophen hat sich die heutige Öffentlichkeit
mehr beschäftigt als mit Hermann Keyserling. Als Leiter der Schule der
Weisheit in Darmstadt, als Freund und Fürsprecher des indischen Dichter-
Philosophen Rabindranath Tagore ist er begeistert verehrt, ist er heftig be-
fehdet worden. Als ein Hauptvermittler der Weisheit des Ostens, von der
der Westen Wesentliches lernen solle, gilt er seit der Veröffentlichung seines
Reisetagebuches eines Philosophen. Daß dieses eine so starke und reiche
Verbreitung gefunden hat, beweist noch nicht allein seinen Wert. Freilich
reizt es zunächst durch die Fülle wundervoller Schilderungen von Land und
Leuten, Natur und Kultur in Indien, China und Japan und übrigens auch
in Amerika — man darf nicht vergessen, daß Keyserling ursprünglich Natur-
forscher ist — aber das Wichtigste, was sich doch erst dem in seinem vollen
Wert erschließt, der selbst viel über die Ursachen der großen Wendung nach-
gedacht hat, die heute unsere abendländischeKultur durchmacht, das ist freilich
der fortwährende Vergleich zwischen Morgenland und Abendland, zwischen
der in Indien, China und Japan ausgeprägten Wesensart und Weltanschauung
mit der europäisch-amerikanischen, die, abgesehen von der Verschiedenheit
der daran beteiligten Völkerrassen, ohne die Grundlage des Christentums
nicht zu denken ist. Und das ruft nun noch den besondeii fesselnden Ein-
druck hervor, daß der reisende Philosoph mit seiner proteus-artigen Natur
in jede der drei großen orientalischen Kulturen geradezu wie durch eine
Metempsychose eingeht : er lebt dort nicht nur wie ein Inder, Chinese und Ja-
paner, es gelingt ihm, auch wie diese zu denken und zu fühlen. Dabei kommen
382 Graf Hermann Keyserling, Das Reisetagebiich eines Philosoplien, angez. von P. Lorentx.
Vorzüge wie Mängel • — von unserm abendländisch-christlichen Standpunkt
aus so zu bezeichnen, nicht „vom Atman" her, wo diese Ausdrücke keinen
Sinn hätten — des Morgenlandes und des Abendlandes zu höchst wirksamer An-
schauung ; zuweüen scheint es, aber es scheint auch nur so, als ob jenes unbe-
dingt den Vorzug verdiene. Das trifft denn freilich da auch zu, wo der Westen
alles Hauptgewicht auf die Tat, die Leistung, den Erfolg als solche legt,
während dem Morgenländer unbedingt der Sinn, der dabei zum Ausdruck
kommt, das Bedeutendste ist. Und die Sinnhaftigkeit all unseres Tuns wieder
stärker zu bewerten, das tut uns christlichen Abendländern heute vor allem
not. Nicht dürfen wir, gleich dem Osten, um des Sinns willen uns von der
Erscheinung überhaupt abwenden, aber ebensowenig dürfen wir allen Sinn
in der E'^scheinung zum Ausdruck bringen wollen. Das lernen wir doch
ja, namentlich von Indien, daß das Festhalten an der Substanzialität von
Name und Form ein verhängnisvoller Irrtum ist, als ob irgendwie intellek-
tuelle Gestaltung metaphysisch ernst genommen werden dürfe. Auf Schritt
und Tritt bemerkt man, auch wo der Verfasser es nicht ausdrücklich
sagt, daß seine im Sinn eines wahren Fortschritts erkämpfte Anschauung
unverkennbar Goethisches Gepräge trägt — einmal bezeichnet er Goethe
auch geradezu als den No^malmenschen — , namentlich in der Forderung,
den statischen Wah^^heitsinn durch den dynamischen zu ersetzen. An China
ist als Hauptsache zu lernen, was „Konk'^etisierung einer Idee" heißen kann;
selten ist so restlos in schlechthin allen Lebensäußerungen eines Volkes
die zu Grunde liegende Idee verkörpert worden. Der Japaner mit seinem"
ungewöhnlich fein ausgeprägten Natu'^verständnis zeigt dem Reisenden,
„wie unglaublich weit man kommen kann, ohne wesenhaft zu sein." An dem
Amerikanertum erkennt Keyserling die Potenzierung der Lebenskraft und
des Lebensgefühls, die Steigerung der Fähigkeiten, Vergrößerung des psy-
chischen Betriebskapitals unbedingt an, das Entsetzliche aber daran ist
ihm der Beweis, daß sich ohne Seele, ohne geistige Interessen, ohne
Gefühlskultur ein innerliches volles Leben führen läßt.
Worauf Keyserling letzten Endes hinaus will, was er auch in dem
Schriftchen: „Was uns not tut, was ich will" ausdrücklich dargelegt
hat sowie in dem „Weg zur Vollendung" — ist folgendes: Philosophie
ist nicht Wissenschaft, sondern Leben in Form des Wissens. Das Buch des
Lebens aber liegt oberhalb aller Gestaltung des Intellekts. Der Mensch ist
genau so unsterblich wie sein Ideal und genau so wirklich, wie die Kraft,
mit der er ihm dient. Er sieht an Stelle des bisher vom Abendlande vorzugs-
weise gepflegten Ideals der typischen Vollkommenheit das Heil künftig in dem
,, Ideal der spezifischen Vollendung." Versteht man dies recht und gelingt es
ihm, in seiner ,, Schule der Weisheit", ihm und den andern, die dort nicht
eben eigentlich lehren, sondern ihr wertvolles Leben darstellen, dann kann
davon viel Segen ausgehen, und es braucht licht die Gefahr damit ver-
bunden zu sein, daß wir Deutsche, heute von Weltwirkung nach außen so völlig
abgeschnitten, wieder allzu tief in bloße Beschaulichkeit versinken, wir können
vielmehr, als Vertreter jeder Art von Beruf auch im öffentlichen Leben, von
Kurd Niedlich, Deutsche Religion, ang?z. von P. Lorentz. 383
ihm lernen, durch Ausbildung unserer spezifischen Vollendung das Wesen-
hafte unseres gesamten Volkes zu steigern und zur Geltung in der Welt zu
bringen. Hier liegt doch die Berührung zwischen Keyserlings Philosophie
und der Fichtes als Möglichkeit vor. Auch im Reisetagebuch ist sie dem
schärferen Auge erkennbar.
Kurd Niedlich, Deutsche Religion. Langensalza, Kortkamp. 1921. Geh.
1,80 M.
Kurd Niedlich, Die germanische Mythen- und Märchenwelt als
Quelle deutscherWeltanschauung. Leipzig, Dürr, 1921. Geh. 6,50 M.
Kurd Niedlich, Jahwe oder Jesus. Leipzig, Dürr, 1921. Geh. 7,50 M. ^^
In seinem „Heimatschutz als Erziehung zu deutscher Kultur" (siehe
Monatschrift für höh. Schulen 1920 S. 395) war Niedlich bereits auch für
die Um- und Ausgestaltung unseres Religionsunterrichts in wahrhaft deut-
schem Sinne nachdrücklich eingetreten. Jetzt führt er seine Gedanken über
diesen Stoff in drei Sonderschriften näher aus. Die erste, hervorgegangen
aus Vorträgen in der heimatkundlichen Vereinigung des Berliner Lehrer-
vereins und an der Arndt-Hochschule, gibt einen Grundriß zum Neubau.
Es wird da sehr eindringlich die bittere Not gezeigt, unter der das kirchliche
Christentum und vor allem der schulmäßige Religionsunterricht leidet, die
ungeheure Kluft, die zwischen der überlieferten Auffassung christlicher
Religionswahrheiten als Erfüllungen alt jüdischer Verheißungen und einem
deutschen Religionsempfinden klafft, wie es, in vorchristlicher Zeit geschaffen,
trotzdem Heliand, trotz der deutschen Mystik, trotz Luther und Schleier-
macher bisher nie wirklich mit der Jesusreligion des neuen Testamentes
eine organische Verbindung eingegangen ist. Diese endlich anzubahnen ist
das Ziel, das Niedlich sich gesteckt hat und für das er mannhaft kämpft.
Darum zeigt er uns, wie in den germanischen Mythen und Märchen eine Fülle
von urdeutscher echtester Religiosität steckt, die sehr wohl als Vorstufe für
die echte Jesusreligion benutzt werden kann. Von dem Recht der Deutung
bisher nicht einwandfrei erklärter Mythen- und Märchenzüge macht er dabei
ausgiebigen Gebrauch. Daß dann die Jahwereligion durch die seit Paulus
die ursprüngliche Jesusreligion vielfach verdeckt und in alttestamentlicher
Weise umgedeutet worden ist und heute eben als offizielles Christentum in
Kirche und Schule gelehrt wird, scharf bekämpft werden muß, das versteht
sich von selbst. Niedlich baut auf der Forschung der Religionswissenschaft
wie der Germanistik und der Geschichte seine Ausführungen auf und hat
selbst im Unterricht an höheren Schulen schon reichlich Gelegenheit gehabt,
nach dem von ihm gewiesenen Ziel zu streben. Er besitzt ein ungewöhnlich
scharfes Auge für den Unterschied zwischen germanischer und semitischer Auf-
fassung von Religion,welchletztere ja von Jesus selbst aufs schärfste bekämpft
wird. Daß er in manchem Punkt über das Ziel hinausschießt, daß er im
Kampfeseifer zuweilen sich im Ausdruck vergreift, ist zu entschuldigen. Wer
etwas Neues durchsetzen will, darf nicht immer allzu ängstlich abwägen.
Schwer, sehr schwer freilich wird es sein, über eine 2000jährige Überlieferung
384 Conrad Bornhak, Deutsche Geschichte unter Wilhelm IL, angez. von Karl Reichel.
hinweg an deutsch-volksmäßige Grundauffassung anzuknüpfen, das muß eine
Arbeit von ganzen Geschlechtern werden. Darum wird zunächst einmal überall
dem nachzuspüren sein, was sich doch bis heute unter der Decke erhaltenhat
und je zuweilen auch in der christlichen Religion, wie eben bei Eckehart, bei
Luther, Joh. Seb.Bach und anderen zum Ausdruck gekommen ist. Dazu werden
die vielfach recht gut gelungenen Ausführungen des Anhangs^besonders dienlich
sein; sie geben einmal eine Gegenüberstellung der s*jmitischen Anschauungen
mit den indisch-germanischen und der Jesusreligion und ziehen sodann
Grundlinien für eine deutsche Kirche. ,,Mit großen leuchtenden Kinder-
augen das hinnehmen, was wir als Kämpfer errungen!" Was mit diesem
Grundton deutscher Religiosität nicht in Einklang tönen will, das sollte
doch endgültig aus unserer religiösen Erziehung ausgeschieden werden, und
mag es in noch so ehrwürdigen Urkunden überliefert sein. Zur Mitarbeit
seien alle aufgerufen, die in der Vertiefung unserer religiösen Anschauungen
und ihrer Verschmelzung mit unserem gesamten Fühlen und Denken eine
Hauptvorbedingung für die Aufrichtung unseres Volkes sehen.
Spandau. P. Lorentz.
Conrad Bornhak: Deutsche Geschichte unter Wilhelm II. 348 S.
2 Seiten Vorwort. 12 Seiten Personen- und Sachverzeichnis. A. Deichertsche
Verlagsbuchhandlung Dr. Scholl. Leipzig u. Erlangen 1921. 27 M., eleg.
geb. 35 M.
In der Deichertschen Verlagsbuchhandlung ist ein Werk von Conrad
Bornhak, ,, Deutsche Geschichte unter Kaiser Wilhelm IL, erschienen, das
in allen seinen Teilen anregend und belehrend ist und die weiteste Verbreitung
verdient.
Der Verfasser rechnet Wilhelm IL zu den genialen Sprossen des Hohen-
zollerngeschlechts, von dem man berechtigt war, viel zu fordern und zu er-
warten. Mit großer Schärfe kritisiert er das unberechenbare, sprunghafte
Wesen des Kaisers, sein häufiges und wenig taktvolles Auftreten in der Öffent-
lichkeit, besonders seine vielen Reden. Dadurch wurde das große Kapital,
das in der großen Zeit des alten Kaisers und Bismarcks aufgespart war,
restlos aufgebraucht. Für völlig verfehlt hält er sein Verhalten gegen-
über der Sozialdemokratie, mit der er allein fertig zu werden hoffte. Jn Wirk-
lichkeit ist diese mit ihm fertig geworden. Da der Kaiser sein eigener Kanzler
sein wollte, war ein längeres Zusammenarbeiten mit Bismarck nicht mög-
lich. In dessen Entlassung sieht Bornhak die Ursache für die Untergrabung
der Hohenzollernmacht und den späteren Sturz des Kaisertums.
Die Ära Caprivi war in ihrer inneren und äußeren Politik verhängnis-
voll. Die Lösung des Rückversicherungsvertrages wie die Versöhnungs-
politik, die in Preußen den Polen gegenüber befolgt wurde, trieb Rußland
in die Arme Frankreichs, dessen Revanchepolitik nach dem Abschluß des
russisch-französischen Bündnisses belebt wurde. Die Schwenkung in der
Schutzzollpolitik führte zur Begründung des Bundes der Landwirte,
der deutsch-englische Vertrag über die Abgrenzung der afrikanischen Kolo-
Conrad Bornhak, Deutsche Geschichte unter Wilhelm II., angez. von Karl Reichel. 385
nialgebiete zur Gründung des Alldeutschen Verbandes, und die
verfehlte Polenpolitik rief den Deutschen Ostmarkenverein ins Leben.
Diese Verbände beeinflußten fortan das politische Leben, als unter dem Reichs-
kanzler Hohenlohe Deutschlands Eintreten in die Weltpolitik begann.
Als Bülow Mitte des Jahres 1897 die Leitung des Auswärtigen Amtes
übernahm und Tirpitz Staatssekretär des Reichsmarineamts wurde, setzte
eine intensive Flotten- und Kolonialpolotik ein, die Reibungen mit England,
dann auch mit Rußland und Frankreich hervorrief. Mit Recht hebt Bornhak
hervor, daß wir nur die Wahl hatten, entweder Flottenpolitik und
Weltpolitik gegen England mit Rückendeckung durch Ruß-
land oder türkische Politik gegen Rußland im engsten Bunde
mit England zu führen. Als Bülow 1900 selber Reichskanzler wurde, hielt
er nur allzusehr an dem Grundsatz der freien Hand und der offenen Tür
fest, so daß wir schließlich zwischen zwei Stühlen saßen. Die von England
wiederholt versuchte Annäherung wiesen wir zurück. Daher begann König
Eduard, unterstützt durch eine skrupellose Presse, seine Einkreisungspolitik,
schürte in Paris den Krieg schon während der Marokkokrisis im Jahre 1905
und trat nach dem Rücktritt Delcasses in Algeciras für die französischen
Interessen ein. Ebenso handelte er während der bosnischen Krisis im Jahre
1908 zugunsten Rußlands, nachdem dieses bei der Zusammenkunft des
Königs mit dem Zaren in Reval für den Vernichtungskrieg gegen Deutsch-
land gewonnen war. Nur weil Rußland mit seinen Rüstungen noch nicht
fertig war, vermochte Bülow durch sein energisches Eintreten für Österreich-
Ungarn damals den Krieg zu verhindern.
Es war dies Bülows letzter politischer Erfolg, da seine Stellung im No-
vember 1908 infolge der Enthüllungen des Daily Telegraph über Gepräche
des Kaisers schwer erschüttert wurde. Bornhak meint wohl kaum mit Recht,
daß Bülow es damals darauf abgesehen habe, den Kaiser der öffentlichen
Meinung preiszugeben, um kaiserliche Reden und Gespräche, die eine ge-
ordnete Geschäftsführung erschwerten, für die Zukunft zu verhindern. Dies
sei ihm auch gelungen. Doch der Kaiser habe ihn durchschaut undd aber
eine baldige Entlassung des Reichskanzlers beschlossen. Bornhak führt
das Wort des Kaisers an: ,, Bülow macht noch die Reichsfinanzreform, dann
geht er." Da diese Reform scheiterte, trat Bülow zurück, und zwar aus parla-
mentarischen Gründen. ,,Der Kaiser hatte über Bülow triumphieren wollen,
doch Bülow triumphierte über den Kaiser, noch in seinem Sturze groß."
Auf Bülow folgte Bethmann-Hollweg, der Bureaukrat. Bornhak macht
darauf aufmerksam, daß seit den Zeiten Manteuffels in den fünfziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts zum ersten Male wieder ein Verwaltungsbeamter
an der Spitze des Staates stand, Bethmann war in seiner Schmiegsamkeit
ganz ,,der Reichskanzler nach dem Sinne des Kaisers". Seine
äußere Politik ging darauf aus, sich für einen Festlandskrieg die Neutralität
Englands zu sichern, ohne zu merken, daß England es war, das den Fest-
landskrieg gegen uns vorbereitete.
386 J. Norrenberg, Handbuch d. naturwissenschaftl. u. mathemat.Unterrichts, angr.v.Wolff.
Schon bei Ausbruch der neuen Marokkokrisis im Jahre 1911 trat uns
England schroff entgegen. Die Nachgiebigkeit, die wir infolgedessen bei
einem neuen Marokkoabkommen Frankreich gegenüber bewiesen, war be-
sonders gefährlich, weil die Besetzung von Tripolis durch die Italiener die
unmittelbare Folge der deutsch-französischen Verständigung war. Deutsch-
land und Österreich gerieten dadurch der Türkei gegenüber in eine äußerst
schwierige Lage. Noch schlimmer war, daß der erfolgreiche Raubzug der
Italiener die beiden Balkankriege zur Folge hatte, die auch unserer Macht-
stellung schwere Schläge versetzten. Die Türkei war aus Europa fast heraus-
gedrängt, Rumänien schloß sich eng an Rußland an, und Italien, das mit
der Türkei zerfallen war, wurde nach der Erwerbung von Tripolis immer
abhängiger von der Entente. Wir aber ließen uns durch Lord Haidane,
dessen Besuch in Berlin nur ein abgekartetes Spiel war, über das Ohr hauen
und verzichteten auf eine große Flottenvorlage.
So standen die Dinge, als der Weltkrieg ausbrach. Mit einer Übersicht
über das Ergebnis des Krieges schließt Bornhak sein Werk ab. Sein Urteil
über Bethmann-Hollweg ist mit Recht ein hartes. Er trägt nach seiner Meinung
die Schuld an dem Verlust des Krieges, dem Zusammenbruch der Heimat-
front und dem Ausbruch der Revolution, der Kaiser nur insofern, als er
„die personifizierte Unfähigkeit" acht Jahre lang als obersten Be-
rater hielt.
Der Verfasser hofft, daß der Kaisergedanke im deutschen Volke immer
lebendig bleiben wird, und daß ein neuer Kaiser das Reich, das über den Zu-
sammenbruch gerettet worden ist, dereinst unter den Farben „schwarz-
weiß-rot" wieder zu neuer Größe hinaufführen wird.
Leider haben wir auf die Ausführungen Bornhaks über die innere Politik
wegen der Raumnot nicht weiter eingehen können. Diese Ausführungen,
die sich auch mit den geistigen und wirtschaftlichen Strömungen in der
Regierungszeit Wilhelms II. beschäftigen, legen ebenfalls Zeugnis ab von
der sicheren Beherrschung des Stoffes durch den Verfasser und seinem
klaren, selbständigen Urteil. Sein inhaltreiches Buch kann daher für
den Privatgebrauch wie zur Anschaffung für die Lehrerbibliotheken aufs
wärmste empfohlen werden.
Charlottenburg. Karl Reichel.
J. Norrenberg, Handbuch des naturwissenschaftlichen und mathe-
mathischen Unterrichts. VII. Band.
W.Lietzmann, Methodik des mathematischen Unterrichts. 1. Teil:
Organisationen, Allgemeine Methode und Technik des Unterrichts. 337 S.
Preis geb. 18. M. 2. Teil : Didaktik der einzelnen Unterrichts gebiete. 440 S.
Preis geb. 14 M. Quelle & Meyer, Leipzig 1919 und 1916.
Die Verlagsbuchhandlung hat mir zwei große, frische Maiblumensträuße
auf den Tisch gestellt. Sie enthalten volles saftiges Grün und sind reich an
bunten Farben. Wieviel bunter erscheinen sie aber, wenn man sie ganz im
Sinne expressionistischer Betrachtungsart beschaut. Denn man muß zwischen
W. Llctzmann, Methodik des mathematischen Unterrichts, angez. von Wolff. 387
den Zeilen dieser zweibändigen Methodik und Didaktik des mathematischen
Unterrichtes lesen, will man sie wirklich erfassen und Nutzen von ihr haben.
Lietzmann, mit seiner flotten, schaffensreichen und arbeitsfreudigen Feder,
war der berufene Autor für ein solches Werk. Wer die Entwicklung des mathe-
matischen Unterrichts im letzten Dezennium verfolgt hat, dem ist der rührige
Schriftsteller auf dem Gebiete mathematischer Pädagogik nicht fremd ge-
blieben. Er konnte deshalb auch mit jener Literatur- und Sachkenntnis
an die Arbeit gehen, die einen vollen Erfolg von vornherein gewährleistet.
In der Form der Darbietung ist sich Lietzmann auch in diesem Werk
durchaus treu geblieben. Nie ist es seine Art gewesen kategorisch vorzu-
gehen, mit apodiktischer Gewißheit Wege zu weisen, nein, sein Kennzeichen
ist es anzuregen, Interesse zu erwecken, den Leser in eine Stoff-
fülle zu führen, die geordnet aber nicht bis ins kleinste durchgearbeitet ist.
Deshalb sind seine Gedanken nicht immer zu Ende gedacht — er will eben
keine Festlegung auf unbedingte Prinzipien, er liebt nicht einen und nur einen
Standpunkt, sondern er will dem Leser in seinen Ideen, dem Pädagogen in
seinem Handeln Freiheit lassen und ihm die Möglichkeit geben, selbständig
den Verhältnissen entsprechend den Stoff seinen Schülern zu geben.
Der Vorarbeiten auf diesem Gebiete sind nicht viele. Reidts Anleitung
für den mathematischen Unterricht erlebte im Jahre 1906 die wohlverdiente
Neuauflage, der Bearbeiter hat ihr aber die neue Gestalt, die sie dem Fortschritt
entsprechend verdient hatte, nicht gegeben. Simons Didaktik aus dem
Jahre 1895 trägt einen durchaus subjektiven Charakter. In neuerer Zeit
machte Höflers Didaktik von sich reden. Man darf wohl sagen, ohne einseitig
zu urteilen : in Ermangelung eines besseren. Dieses Bessere liegt jetzt als viertes
Glied vor uns : eine wahrhafte moderne und die ganze neuere Literatur berück-
sichtigende Arbeit in zwei umfangreichen Bänden.
Der erste Band befaßt sich mit den allgemeineren Fragen der Unter-
richtslehre. Er ist in sechs Kapitel gegliedert, die die Überschriften tragen:
die mathematische Wissenschaft in ihrer Bedeutung für den mathematischen
Unterricht, Bedeutung und Aufgabe des mathemathischen Unterrichts,
die wissenschaftliche und praktische Vorbildung und die Fortbildung des
Mathematiklehrers, Unterrichtsführung, der mathematische Lehrplan, Lehr-
und Lernmittel.
Im zweiten Band finden wir folgende neun Kapitel : der Rechenunterricht,
der propädeutische geometrische Unterricht, Planimetrie, Stereometrie,
Trigonometrie, Neuere Geometrie, Arithmetik, Algebra, Analysis.
Jeder Band enthält ein ausführliches Namen- und Sachregister, so daß
man sich leicht darin zurechtfinden kann.
Das interessante Werk, das sich auf eine erstaunlich umfangreiche Lite-
raturkenntnis stützt, ist neuartig in vieler Beziehung. Zum erstenmal ist
die Mathematik und Didaktik des Mathematikunterrichtes in zwei Bänden
dargestellt, zum erstenmal liegt eine methodische Arbeit vor uns, die den
Aufgaben und Forderungen bis in die jüngsten Tage Rechnung trägt.
388 W. Dieck, Stoffwahl und Lehrkunst im mathemat. Unterricht, angez. von Wolff.
Der Erfolg ist deshalb bei dem im Jahre 1916 erschienenen zweiten
Band nicht ausgeblieben. Nun liegt die ganze Arbeit vor uns. Daß dieses
Meisterwerk allseitig Anklang finden wird, des sind wir sicher.
W. Dieck, Stoffwahl und Lehrkunst im mathematischen Unter-
richt der Unter- und Mittelschule höherer Lehranstalten.
Druck von W. Osterkamp, Sterkrade 1918. Kommissionsverlag B. G.
Teubner, Leipzig. 261 Seiten. Preis geheftet 6 M.
Weit bescheidenere Ziele als das vorhin besprochene Werk stellt sich
das vorliegende. Und doch erfüllt es die Aufgabe, die es sich nach dem Titel
steckt, durchaus. Mit großem Interesse und mit viel Vergnügen habe ich
das Buch durchgelesen, dessen Verfasser ein wahrer Schulmeister aus Leib
und Seele zu sein scheint. Er bespricht den Stoff von Sexta bis Untersekunda
und weist auf Schwierigkeiten der Sache und der Pädagogik hin. Mit viel
Liebe ist da viel Kleinarbeit in siebenjähriger Niederschrift geleistet worden,
Kleinarbeit, die des persönlichen Momentes nicht entbehrt.
Bei all diesen Vorzügen darf ich jedoch nicht versäumen auf literarische
Unebenheiten hinzuweisen, die eine Kühnheit des Verfassers hinsichtlich
der Gliederung seines Werkes erkennen lassen. Er hat sich arischeinend ge-
scheut, einige Grundlagen der allgemeinen und besonderen Unterrichts-
lehre gesondert vom Stoff zu betrachten. Diese Teile zwängt er nun in den
Erörterungen hinein, ohne daß sie dahin gehören oder passen. An manchen
Stellen geht er auch über die Mittelstufe hinaus wie z. B. in dem Abschnitt:
Die Grundlagen der Geometrie.
Natürlich sind diese Mängel nur Äußerlichkeiten, die, an sich bedauerns-
wert, dem inneren Kern des Ganzen nicht schaden, ebenso wie so manche
Druckfehler oder Druckmängel, die sich zum Teil durch die Kriegsverhält-
nisse entschuldigen werden.
„Eben diese kleinen Geheimnisse des Unterrichtserfolges dem Anfänger
im Lehramt in knapper und anregender Form an die Hand zu geben, das
ist der eigentliche Zweck dieses Buches." Mit diesen Worten wird die Auf-
gabe des Buches vom Verfasser gekennzeichnet.
Hannover. Wolff.
Deutsche Lieder. Klavierausgabe des Deutschen Kommersbuches. Besorgt
von Dr. Karl Reisert. Freiburg i. B. Herdersche Verlagsbuchhandlung.
4». (XVI, 614 S. 4 S. Anhang.) Geb. in Leinwand 21 M.
Es ist dankbar zu begrüßen, daß die Sammlung, die als Kommersbuch
in erster Linie studentischer Geselligkeit dienen soll, sich bestrebt, den Aka-
demiker mehr als die bisherigen Klavierausgaben vertraut zu machen gerade
mit solchen Liedern, die die breiten Massen des Volkes mit Vorliebe singen.
Sie fördert so an ihrem Teile ein Berührungs- und Bindemittel zwischen den
sozialen Schichten mit und ohne akademische Bildung, dessen Wichtigkeit
mehr noch als im gedankenlos genossenen Frieden vergangener Universitäts-
jahre jedem Nachdenklichen in der sorgenvollen und kampfestollen Gegen-
Deutsche Lieder, angez. von Breucker. 389
wart offenbar geworden ist. Unsere herrlichen Wald- und Wanderlieder
von den Tälern weit und Höhen, von des Müllers Lust, von Heimat und Ab-
schied, Webers gewaltiger Klang von der erwachenden Sonne und viele
andere nicht rein studentische Gesänge gehören auf die akademische Kneipe
und aus ihr hinaus auf die Wanderwege des freien Scholaren. Mit vollem
Recht sind echte Liederblüten, die erst im Weltkrieg aufgingen, der Sammlung
einverleibt worden, so das ergreifende „Weiß nitwo" Jörg Ritzels, das flotte
Dragonerlied von Löns, das erschütternde österreichische Reiterlied Zucker-
manns und manche andere Strophe und Melodie zeitgenössischer Sänger
und Helden, deren inneren Reichtum grausam oft der große Krieg uns erst
offenbarte und dann zerstörte. Wenn ein Kommersbuch auch in erster Linie
handfeste Chorlieder bieten soll, hat in ihm doch auch der zartere Einzel-
sang seine Berechtigung und erzieherische Bedeutung; so finden sich in der
Sammlung unter anderen Schuberts ,,Das Meer erglänzte weit hinaus",
Webers „Le'se, le'se, fromme We^se", Mendelssohns „Leise zieht durch mein
Gemüt" und aus dem Kriege Else Weirauchs inbrünstiges ,, Gebet der Sol-
datenbraut", die im Chorus gesungen freilich viel oder allen Zauber verlören.
Gefreut hätte ich mich, wenn der Herausgeber, der unsere schönen und all-
bekannten Weihnachtslieder einfügte, auch das in Wort und Weise monu-
mentale Luthersche ,,Ein feste Burg" im ,, Deutschen Kommersbuch"
deutschen Studenten, auch katholischen, nicht vorenthalten hätte; denn
nachdem der Weltkrieg uns alle an Leib und Seele bis ins Innerste durchge-
rüttelt hat, sollte jeder Deutsche aus diesem Trutzlied nicht mehr ein kon-
fessionelles, sondern ein nationales Glaubensbekenntnis heraushören können.
Verständlich ist mir, daß der Verfasser etwa den übermütigen Papst, der
herrlich in der Welt lebt, oder auch die Brüder vom heiligen Benedikt weg-
läßt; aber Schillers Schützenlied aus dem Teil und sein Räuberlied, auch
das in Inhalt wie Melodie so entzückend leichte Lied von Phyllis und der
Mutter, einige übermütige alteingesungene Bierlieder (Was die Welt morgen
bringt. Wer niemals einen Rausch gehabt. Wo soll ich mich hinkehren u. ä.),
Bürgers Gelöbnis „Ich will einst bei Ja und Nein", dazu Scheffeische Lieder von
allerlei weit- und vorweltlichem Getier vermisse ich nicht leicht in einem
Studentenliederbuch mit über 700 Melodien ; gern hätte ich für sie Nichtigkeiten
hingegeben wie die vom spazierenden Frosch, von den die drei Reiter paro-
dierenden drei Radlern, die zum Tore hinausradeln, von der letzten Hose
(während die „Letzte Rose" fehlt) oder vom Bübchen, das unter die Sol-
daten will (so hübsch es für unsere Kleinsten ist). Im ganzen aber kann man
feststellen, daß sich erfreulich wenig Gehaltloses in diesem Liederbuch findet
und daß sich das Trennend- Konfessionelle nirgendwo vordrängt. Der An-
hang, der ursprünglich vermutlich mehr als zwei ,, besondere Lieder des Ver-
bandes der katholischen Studentenvereine Deutschlands" enthalten sollte,
sonst würde die Rückseite des Titelblatts wohl nicht „einige" versprechen,
wirkt unnötig als trennendes Anhängsel, wenn auch der zweite Sondersang
machtvoll in Text und Ton erklingt; er könnte sich getrost in die große Schar
der übrigen einreihen. Praktisch ist das doppelte Inhaltsverzeichnis: das
390 Franz Hildebrand, Die höhere Schule und der Mensch, angez. von L. Mackensen.
eine nach den Liedanfängen (mit vereinzelten Irrtümern in der alphabe-
tischen Folge), das andere nach sachlichen Gesichtspunkten geordnet. Alles
in allem machen die „Deutschen Lieder" dem literarischen und musikalischen
Geschmack des Herausgebers alle Ehre und bieten dem Geschmack jedes
Studenten und jedes sangesfreudigen Deutschen reiche Anregung und För-
derung; sie gehören nicht nur auf die Kneipe, sondern ins deutsche Haus
als eine schöne Friedensoffenbarung deutscher Kultur und Größe mitten
im Weltkriege.
Altena. ^ Breucker.
Franz Hildebrand, Die höhere Schule und der Mensch. Schulbetrieb
und Schulorganosation. Gemeinverständlicher systematischer Grund-
riß der praktischen Pädagogik, Gotha, F. A. Perthes. 160 S. Geh. 5,50 M.
In der fast unübersehbaren Fülle der pädagogischen Literatur, dei uns
die letzten Jahre beschert haben, kann das vorliegende Buch besondere Be-
achtung für sich beanspruchen. Hier kommt ein. echter Jugendbildner zu
Worte, der mit reicher Erfahrung und klarer Erkenntnis aller Mängel und
Leiden der höheren Schule eine innige Liebe für die Jugend, der sein Lebens-
werk gilt, und eine hohe, ideale Auffassung seunes Berufes verbindet. Im
ersten Teil, der vom Schulbetrieb handelt, spricht der Verfasser zunächst
von den Forderungen, die an die Persönlichkeit eines Lehrers und Schul-
leiters zu stellen sind, sodann von der Art und Weise des Schulbetriebes
dem Gesamtgeist sowohl wie den einzelnen Seiten des Betriebes. Oberstes
Ziel aller Erziehung ist ihm die Ausstattung der Jugend mit einer allgemein
menschlichen Bildung, die dem Heranwachsenen ermöglicht, sich in der großen
Mannigfaltigkeit der Welt- und Lebensanschauungen zurechtzufinden und
zu einer selbständigen Weltanschauung vorzudringen. Nach diesem Ziele
beurteilt Hildebrand den Wert der einzelnen Lehrfächer, die er in gesamt-
bildnerische, teilbildnerische, geschmackbildende und körperbildende ein-
teilt, und stellt eingehend begründete Richtlinien für den Unterricht in ihnen
auf. Aus den für den Schulbetrieb festgestellten Erfordernissen leitet der
Verfasser im zweiten Teil seiner Ausführungen die für die Organisation des
höheren Schulwesens sich ergebenden Notwendigkeiten ab. Um der staat-
lichen Ausstattung mit menschlich allgemeiner Bildung eine möglichst weit-
hegende Gleichmäßigkeit zu verleihen, empfiehlt er auch im Bereiche des
höheren Unterrichts, wenifstens während der ersten vier Lehrjahre, eine Ein-
heitsschule, vom fünften Jahre an eine Zweiheit von Schulgattungen, eine
realistische und eine gymnasiale; das Gymnasium könne sich auf seinem
eignen Wirkungsgebiet, oberhalb des gemeinsamen Unterbaues, ohne das
Griechische und dami seine Eigenart aufzugeben, den neuzeitlichen Real-
gymnasium so nähern, daß dieses überflüssig werde. Auf die Schlußprüfungen
will Hildebrand nicht verzichten, hält aber den schriftlichen Teil aller Schul-
prüfungen für entbehrlich und wünscht an die Stelle der zwangvollen münd-
lichen Prüfung eine zwanglose unterrichtliche Bewährung vor Zeugen in der
Weise zu sezten, daß eine kleine Kommission, bestehend aus dem Schulrat,
Franz Leberecht, Neue Wege des Schreibunterrichts, angez. von Hans Kurth. 391
dem Direktor und einem Lehrer oder dem Direktor und zwei Lehrern, die
letzte Woche hindurch oder drei» bis vier Tage dem Unterricht der Schluß-
klasse wenigstens in den Hauptfächern beiwohne; auf diese Weise werde
die mündliche Prüfung ihres Zufälligen und zugleich Aufregenden entkleidet
und die Gefahr der Unpäßlichkeit und Befangenheit am bisherigen Prüfungs-
tage für die Schüler beträchtlich verringert. Neben der Einsetzung von Eltern-
beiräten für die einzelnen Lehranstalten wird die Einsetzung eines Gesamt-
beirates für das ganze Schulwesen empfohlen, der die Beziehungen zwischen
dem Unterrichtsministerium und der großen Öffentlichkeit zu pflegen hat
und die oberste Erziehungsbehörde in ein fruchtbares Verhältnis zu einer
freieren, auf das Pädagogium gerichteten Versammlung setzen soll.
Berlin-Pankow. L. Mackensen.
Franz Leberecht, Neue Wege des Schreibunterrichts. 1. Teil: Deutsch-
land und England. 1920. Verlag für Schriftkunde und Schriftunterricht.
Heintze und Blackertz, Berlin NO 43. Im Format von 18 x 231/2 cm,
Vorwort im Umfange einer Seite und 60 Seiten Text.
Ein gutes Werk, gedruckt in Tiemann-Fraktur von der Hof-, Buch-
und Steindruckerei Dietsch & Brückner, Weimar. Der Außentitel wurde
geschrieben von Otto Reichert, Offenbach a. M.
Belebt durch zahlreiche wichtige Abbildungen, welche in der Anordnung
im Satzbau den Schriftfreund sehr interessieren.
Leberecht vermittelt uns eine Kenntnis der historischen Schriftent-
wicklung, regt an zur Einsicht in die psychologischen und physiologischen
Vorgänge beim Schreiben und spricht von den Erfahrungen über Form und
Wirkung der Schreibwerkzeuge.
Eine vergleichende Betrachtnng über Ursprung, Form und Ziele der
verschiedenen Schriftreformer bietet uns eine Fülle von Anregung auf dem
Gebiete der Schirftkunst und stellt den Gewinn fest, den die Schriftreform
für Schule und Leben abwirft.
Der Verfasser tritt dafür ein, daß die deutsche Schrift der deutschen
Schule und dem deutschen Volke erhalten bleibe und daß der persönliche
Ausdruck des Schreibers sich mit dem Charakter entwickeln möge.
Darum ist dem kleinen Werk eine weite Verbreitung zu wünschen.
Berlin. Hans Kurth.
Franz Hilker, Jugend feiern. Mit Geleitwort von Paul Obstreich. Die
Lebensschule. Heft 1. Schriftenfolge entschiedener Schulreformer. 52 S.
Berlin 1921, bei Schwetschke und Sohn. 5,40 M.
Die Schule zu einer Stätte freier Betätigung zu machen ist Ziel der
Schulreformer. Wie die Jugend Freude selbst schafft und erlebt, zeigt Hilker
in seiner Schrift ,, Jugendfeiern". Unt'^r einem selbstgewählten Leiter werden
die Feiern und Feste vorbereitet, Lehrer und Schüler arbeiten gemeinsam
daran. Außer Weihnachten und Sommersonnenwende werden auch Semester-
beginn und Schluß festlich begangen, teils im Freien, teils in den Räumen
392 Dr. Karl Wölker, Fürsorgeerziehung als Lebensschulung, angez. von Kannegießer.
der Schule. Alle Schulvereine wirken mit und arbeiten zusammen. Hilker
zeigt an einer Reihe von Beispielen, wie die Feste gefeiert werden und gibt
anregende Programme zu Märchennachmittagen, Dichter- und musikalischen
Feiern und Anweisungen zu dramatischen Aufführungen. Sicher kann die
Schrift vorbildlich wirken für iie, denen die kürstierische Geschmacksbildung
der Jugend am Herzen liegt. Erziehung zur Lebensfreude, die erst geschaffen
wird durch freiwillige gemeinsame Arbeit, wird gefördert durch dieses erste
Heft der „Lebensschule".
Dr. Karl Wölker, Fürsorgeerziehung als Lebensschulung. Ein Auf-
ruf zur Tat. Heft 3 der Lebenschule. Berlin 1921. C. A. Schwetschke u.
Sohn. 32 S. 3,60 M.
In einem Bändchen der von den Schulreformern herausgegebenen und
„Lebensschule" betitelten Schriftenreihe gibt Karl Wölker unter dem Namen
„Fürsorgeerziehung als Lebensschule" eine Erklärung über die Grunsdätze,
mit denen er den ,, Lindenhof" geleitet hat. Diese Grunsdätze lassen sich
kurz zusammenfassen in dem einen Worte Liebe, Liebe, die auch zu dem
scheinbar Hoffnungslosesten Vertrauen hat und ihm zu helfen sucht. Man
würde sich freuen, nun auch Näheres über die praktische Ausführung dieses
Gedankens zu hören. — Auf eins muß aber hingewiesen werden. Wölker
scheint die Menschen einzuteilen in die „neuen Menschen" und die „alten
Menschen", welche letztere eigentlich gar keine Menschen sind. Ist diese
Einteilung nicht zu summarisch und daher — lieblos? Ist z. B. jemand,
der, entgegen den Grundsätzen der „neuen Menschen" Zwang in der Welt
für unumgänglich hält, oder der sich angesichts eines Versailler Friedens-
vertrages nicht zur Völkerversöhnung bekennen kann, schon gleich ein Ge-
waltmensch oder ein Hasser? Noch eins: Mir scheint, daß in der Verachtung
gegen alle derzeitigen Organisationen eine große Gefahr liegt. Denn wir brauchen
diese großen Organisationen, mögen sie sein, wie sie wollen, solange wir nicht
Besseres an ihre Stelle setzen können, wenn wir nicht das Chaos haben wollen,
das leicht auch alle Keime zu besserem zerstören kann.
Berlin, Kannegießer.
-CN®v^
Druck von C. Schulze & Co. G. m. b. H.. Gräfenhainichen.
Verlag der Weidmannscheu Buchhandlung in Berlin SW 6S.
Soeben erschien:
DIE
GRIECHISCHEN DIALEKTE
VON
FRIEDRICH BECHTEL
ERSTER BAND
DER LESBISCHE, THESS ALISCHE , BÖOTISCHE,
ARKADISCHE UND KYPRISCHE DIALEKT
gr. 8. (VI u. 477 S.) Geh. 78 M.
Vorwort.
In der Widmung meiner ersten Bearbeitung der ionischen
Inschriften an Wilhelm Fröhner schrieb ich: »Daß alle meine Dialekt-
studien nichts als Yorarbeiten zu einer vergleichenden Grammatik
der griechischen Dialekte sind, welche die Geschichte der Sprache
aus der Geschichte der Stämme zu begreifen sucht, wissen Sie«.
Heute lege ich einen Teil der Arbeit vor, deren Aufgabe in diesen
Worten vorgezeichnet ist. Die Gestalt, die mir damals vorschwebte,
hat im Laufe der langen Jahre, bei der wiederholten Behandlung
in Vorlesungen und in der Stille des Studierzimmers, Veränderungen
erfahren, an die ich 1887 nicht dachte. Das Wesentliche davon ist^
daß nicht mehr Laut- und Formenlehre allein sondern auch Stamm-
bildung, Syntax und Wortvorrat in die Betiachtung gezogen werden.
Okt. 21. Fortsetzung auf Seite 4.
Probeseite.
Declination der Nomina. 353
• § 65
Gen. Dat. Dual, der o-Stärame.
In Orchomenos trifft man eine überraschende Form des Gen.
Dat. Dualis an :
l.ieaa'/.od'ev rölg Kgavaivv Gl. 214^,
ifj.eGovv %dlq JidvfxoLvv Gl. 214,5.
Ich sehe in diesen Dualformen Seitenstücke zu den homeri-
schen auf -Oliv. Betrachtet man -oifiv als ursprüngliche Gestalt
der Endung, so sind fxaaovv, Jidv^oivv in der Weise aus (xiooiFiv,
Jiövfxoi-fiv hervorgegangen, daß vi in unbetonter Silbe zu w redu-
ciert ward. Auf die gleiche- Art der Reduction weist kjipr. s^ogv^tj:
neben oq^ito) müssen ogvCe, ojqvCov, ojQv^a u. s. f. gelegen haben.
Der erste Dualis, Kgävaiw, ist nach Anleitung der beiden andren
auf Kqavaioivv aus KgavaioiJ^iv zurückzuführen. Beachtenswert ist,
daß im Artikel die Dualform durch die des Plurals ersetzt worden
ist. Vermutlich war Toi^Ftv über toivv zu töiv geworden, indem
die Proklise zur Ausdrängung des v führte; die Isoliertheit des
Ausgangs hatte dann zur Folge, daß lolv durch xdlg abgelöst ward.
§66
Dat. Plur. der 3. Declination.
Der Dat. Plur. der Stämme, die man zur 3. Declination zu-
sammenfaßt, schließt auf -fft, niemals auf -eooi. Z. B.
tQLoi 64;
föffklv.ooi 262i8, igrmaai D'^ 3O637, TtoXitetovoi ebd. .^i;
IsQOfXvdfXOVai 322.265 (J^ciYMvaL 514ig.
Durch dies Festhalten an der ursprünglichen Endung hebt
sich das Arkadische ab vom Lesbischen und den übrigen Lesb. Dial.
§ 83 genannten Dialekten. Dagegen stimmt 7colitBvovai haarscharf
zu der vereinzelten thessalischen Form vTidgyovoL (Thess. Dial. § 29.
74), die eben darum auch als achäisch aufgefaßt worden ist.
§67
^- Stämme.
Die Flexion der ^■- Stämme wird, wie in allen Dialekten außer
dem Ionisch -Attischen, mit einem einzigen Stamme bestritten. Ent-
scheidend sind die Formen
&eo/.idvTiog 271^1; TQi/tavayÖQOiog 3g, jxoXiog Q^^'i
^agccTti 2922 1 JJccvayÖQai Sgg, noXi 9^, f^gr^oi 343i9.
avv&iolg (Acc. Plur.) 343 eo-
9Q
Beohtel, Die jfriochischen Dialekte I. . ~
Probeseite.
Personalendungen. Infinitivendungen. H71
Infinitive auf -rat trifft man außer bei den Arkadeni nur
noch bei den Kypriern, bei den loniern und Attikern. Alle übrigen
Griechen suffigieren -f-ievai und -^sv.
2) ö-Conjugation.
Die Bildung des Infinitivs ist in den verschiednen Städten nicht
einheitlich: in Tegea schließen die Infinitive auf -ev, in Orchomenos
und Lykösura auf -tjv. Belege:
drtlx^v 48, IpKpaXvEv, eTtrjQEidLev, vrrccQxev 634.46.53, dr/.dL€v
D ^30624; darnach zu schreiben veiuev 3^, öcplev ^ u. s. f.
(Tegea).
(psQtjv 343^1, Xaxfjv j, iay.s&fjv Gl. 217 C4 (Orchomenos).
TtaQSQTtTjv, TtaQcpsQTjv öMg ^^ fLjkosura).
Die Erscheinung, daß in Orchomenos und Lykösura der Infi-
nitiv anders gebaut ist als in Tegea — für die übrigen Städte fehlen
noch Zeugnisse — , bringt abermals (§ 11) zur Anschauung, daß das
Arkadische kein einheitlicher Dialekt ist.
Infinitive auf -ev gibt es nördlich vom korinthischen Meer in
Phokis und im östlichen Lokris, im Peloponnes in der Argolis und
in der Landschaft Achaia; sie erscheinen ferner bei den Herakleoten
und bei den; größten Teile der Inseldorier. Sie stellen die älteste
Infinitivbildung dar, die sich auf griechischem Boden erreichen
läßt (Thess. Dial. § 108 Ende); da diese in Arkadien nur Achäern
zugeschrieben werden kann, darf man sagen, daß überall da, wo
sie zu Tage kommt, Achäer es gewesen sind, die sie bewahrt haben
(Hoffmann De mixtis Graecae linguae dialectis 60 ff.). Die zweite
Endung, die aus -eev hervorgegangen ist, hat ihres gleichen bei
den Lesbiern, bei einem Teile der Thessaler, bei "den loniern und
Attikern und bei einem Teile der Westgriechen. Da sich heraus-
gestellt hat, daß die arkadischen Infinitive auf -vai. ihre genaue
Entsprechung im Ionischen haben, so wird man die nächsten Ver-
wandten der arkadischen Infinitive auf -rjv ebenfalls bei den loniern
suchen, sie also an die ionischen Infinitive auf -slv anschließen.
So führt die Betrachtung der Infinitive der ö-Conjugation zu dem
Kesultate, daß im Arkadischen ein achäisches und ein ionisches
Element vereinigt sind. Seine Anwendung auf frühere Feststel-
lungen wird erfolgen, wenn noch weitre Zeugnisse für den ionischen ~
Bestandteil beigebracht sein werden.
24*
Vorwort.
Das Buch ist so angelegt, daß jeder einzelne Dialekt sowoi
4a seiner specifischen Eigentümlichkeit wie nach seiner Stellung zu
den übrigen Dialekten anschaulich gemacht wird. Es zerfällt in
eine Eeihe von Einzeldarstellungen, die nach den gleichen Gesichts-
punkten angelegt sind, von denen jede für sich eine Einheit bildet
und doch mit den übrigen in Zusammenhang gebracht wird. Jede
behauptete Tatsache wird mit Zeugnissen belegt. Dabei wird Gewicht
auf die Vollständigkeit der Tatsachen, nicht der Zeugnisse für die
Tatsachen gelegt, allerdings aber werden die Zeugnisse nicht nur
bei den Steinen sondern auch bei den Autoren gesucht, sofern sie
zu haben sind.
Ich habe mich bemüht die Ergebnisse der Dialektforschung,
soweit sie als gesichert gelten können, in gemeinverständlicher, nicht
in linguistischer Zeichensprache, vorzutragen. In dem Bestreben
möglichst nur Sichres zu geben habe ich einen Abschnitt über den
böotischen Accent bis auf einen einzigen Paragraphen (S. 270), in
dem ich ausführe, daß das Wissen um den böotischen Accent auch
heute noch eitel Stückwerk ist, gestrichen, und die Darstellung des
kyprischpn Dialekts auf einer Grundlage aufgebaut, deren Schmal-
heit niemand mehr bedauern kann als ich. Stünde ich nicht in
einem Alter, in dem alle Veranlassung dazu gegeben ist des Wortes
axiäg ovag äv>üzcog eingedenk zu sein, so hätte ich den kyprischen
Abschnitt meines Buches bis zum Erscheinen des neuen Corpus
der kyprischen Inschriften zurückgelegt.
Das Werk soll drei Bände umfassen. Der zweite wird die
Darstellung der westgriechischen Dialekte bringen, der dritte ist
dem Ionischen zugedacht.
Das Register zum ersten Bande hat Herr Schulamtscandidat
Alfred Reußner ausgearbeitet.
Als Leser denke ich mir Philologen, die sich für die Geschichte
der griechischen Sprache interessieren. Daß es solche auch in den
vom Hasse gegen jede überlegne Bildung angeschwellten Zeiten,
durch die wir den Weg finden müssen, gibt, weiß ich. Daß sie
auch später, wenn sich die trübe Flut verlaufen haben wird, die
sogar unsre Hochschulen verwüsten möchte, da sein werden, wage
ich zu hoffen, weil ich den Glauben an die Zukunft meines Volkes
nicht aufgeben kann.
Halle, 21. Juli 1921. F. Bechtel.
I
€ltmzntatbn^: Elementary English [
1
I
I)etou00e0eben oon
C Kl cmann und R^ €<f ermann
(Dberle^rer an öer (Dbtrrealjdjule Stu6.=Rat am Stäöt. Redig pmnajium
in Jena in KöIn=Cinöentf)aI
£cl)r= unb Ubungsbu(^ für öas crftc 3<i^i^ cnglt[d)en Untcrridjts an
ijö^eren Sd)ulcn unb öen grunblegenbcn englifd)en Untcrrid|t an ge=
I)obcnen DoIfs= unb ITtittelfdjuIcn. Don C Riemann. [IV u. 150 $.]
gr. 8. 1921. Kart IlT. 6 —
f)ieir3U 120% tTeuentngsjufdilag öes Dcrlogs (Abänderung oorbcljaltcn) g^
Srtft=^ und iäbungebuc^ ^ 6tammottf |
folgen im ^erbft 1921.
Das (Elcmcntarbud), ftreng mctt)obif^ aufgebaut in einem bem ^
allgemeinen £ernpro3ef[e entfpredjenben Stufengang, bringt in ber bm I
ITIufterlefttonen norangetienben (Etnfüfjrung in £aut unb Sdjrift ein *
in ben bisl)erigen £el)rbüd)ern nod) nid)t cinl)eitli(i) bur^gefü{)rtes Derfatjren,
nämli(^ bie £autierübungen toirflid) anf(^aulic^ unb lebenbig 3U geftalten.
Statt in 5orm rton toten unb o^ne 3ufamment)ang gegebenen ITTufter=
mortem unb (Ein3elfä^en bas in ben £eljrpläncn für bcn £autier!ur[us oor-
gefdjriebene Übungsmoterial 3U geben, roerben bie 3ur (Erlernung einer
Don Hnfang an ibiomatifd)en Husfpradje benötigten BeifpieltDÖrter aus an»
fd)aulid)en unb lebenbigen Spredjübungen gewonnen, beren 3ntjalt bem
alltäglidjen Zeh^n unb ber €rfat)rungsu)elt bes Sdjülers entnommen ift.
(flnf(^auung oon Sd)ul3immer, KIcibung, Körperteilen, Serben, 3al}Ien unb
nad) (Boutrtf(^er Hrt Deranfd|aulici)te ?Eätigfeiten.) Husfpra^e unb $d)rei=
bung finb nii^t Don Dorn^erein miteinonber Dcrquicft, ba befonbers im ^
(Englifdjen bas S(^riftbilb bie (Erfaffung bes £autbeftanbes beeinträ(^tigt. I
(Erft nadjbem bie afuftifc^e Hufnaljme bes Klanges burdj ptjonetifc^c Sd^rift "
erarbeitet ift, toerben bie Beifpietoörter roieberijolt unb in bm Sdjreibuwgen
Dorgefüljrt, bie für ben betreffenben £aut bie tt)pi[d)ften finb.
Huf bem auf bem £autier!urfus gewonnenen IDortfdja^ aufbauenb,
folgt ber £el)tfltoff in 5orm oon 16 £efeftü(fen, bie grunbfä^Iic^ nur ber
(5ortfc§ung ftclje Seite 4)
(Eycmplare 3ur Prüfung jtocds Cinfülirung ftcliett ben Sacf}«
Icljrcrn unb slclircrlnnen auf tDunfd) foftenlos 3ur Verfügung
I
I
!
!
I
!
i Dcclag oon 6« 6. Seubncr * £cip3ig und 6eriin |
/.6.6:2t. 220 P»ftf<^crfPonte eeipjlg «r. 51272
(E dernt annsRicmann,
Proben oug dem ^Icmcnto c b u c^
Die einseinen £aute.
A.
Die Dofale.
1. Kur3cs
i = öeut[d|cm i \
n Blicf:
£e^rcr:
£.:
Schüler:
dis iz 9 fiygd.
fou 9 fiygd f
dis iz d fiygd.
Dies ift ein 5ttger.
3eige einen 5i"9ßi^!
Dies ift ein Sieger.
£.:
£.:
daet iz d pin.
wot iz doßt?
Das ift eine Stccfnaöcl.
IDas ift 6as?
S(^.:
it iz d pin.
(Es ift eine Stcdnaöel.
17
HTcrfc: 5^09« 1: '^^t *^ ^is? tDas ift öies?
5rage 2: wdt iz dcet? XOa% ift 5as?
Hufforberung 3: fou! 3eige!
2. Dumpfes i, unbetont, fur3, faft na^ d ^inflingenö:
£.:
dcdt iz dd figd tiventi.
Das ift Ott
£.:
Wdt iz dcßt?
$4:
dcet iz dd figd twenti.
'kopi-buk
Sd)reibf)eft
ilevn
elf.
Preparatory Exercises.
A. Bcf^reibung eines Jjaufes in bcr Hufeenanfic^t.
B. 1. 1 enter the house by the entrance-door. Then I am in the
hall. The hall is on the ground-floor. From the ground-floor we
go upstairs to the first story. 2. The room in which we sit on
chairs is the sitting-room. 3. The room in which we eat and drink,
where we have d inner, is the dining-room. 4. The room in which
we have breakf ast in the morning is the breakfast-room. 5. We
sleep in the bed-room. We wash in the bath-room. 6. Our mother
prepares dinner in the kitchen. 7. Things which we eat and drink
are kept in the larder or in the cellar. 8. The books are in the
library. They are kept in the book-case, where they stand on
shelves.
C. üier 5äIIe. ITominatit)
Bob is a Rugford boy.
©enitiü:
Tom is Bob's friend = Tom is the f riend
of Bob.
Datio:
The book belongs to Bob.
HKufatiD :
Tom asks Bob.
Dem immer öringenöcr tDcröcnöcn n)unf(i|c na^ TDtcöcr»
licrftcllung 6cs fcftcn £ot>ctt|>rcifes im Bud}*
lian^el folgenö, fjobc ic^, toie anöcre miffenfdjaftUdjc
Dcrieger, auf (5runö einer ctitfprcd|enöen (Ert|öf)ung öes
Rabattes mit öcn meinen Derlag »oräugsroeife führen«
öen Sortimentsbud)f)anöIungen Dereinbarungcn getroffen,
nadj 6encn öiefe üom 1. 3uli 1921 an
mctttcn gesamten Dcrlag ol^ne (Sorttmcntcrs)
TEcucrungsjufdjIag an 6os publicum 3u
liefern in öer £age unö oerpfltd^tet fin6.
(BIei(^3eitig erfolgt ötc Bered)nung meiner Dcrlogs»
xöerfe aud| meinerfcits 3U feftcn prcifen oI)nc (Derleger»)
Cculrungs3ufd)Iag. Die fünfttg gültigen Caöenprctfe öer
in meinen bistjerigcn Dcr3eid)ntffen unö flnseigen auf=
gefüf)rten IDerfe betragen im allgemeinen öas 2 % fadjc
— für S(f)ulbüd)cr 6as 2 V4fad)e — öer f)ier angegebenen
Prcifc. Diefc finö ober aud) als freilbleibcnö an3u-
fefjen, öa öic ^erftellungsfoften — aud) bei öen bereits
oor öem Kriege gcörudten, aber jeiDeils nur nad| Beöarf
gcbunöenenBüdjern, roo öieBud)binöerfoften 6iefrüF)cren
(Bcfamtljerftenungsfoften öes Bud)es oft um ein Dielfadjes
überfteigen — ebcnfo toie öie allgemeinen (5efd}äftsun=
loften einer f ortlauf enöen DerSnöerung unterworfen finö.
(Begenüber öem bisf)ertgenPreife3U3ÜgIid) Sortimenter»
3ufd}lag roirö, abgefcf|en oon öer flusfd/eiöung jeöer
TDillfür in öer Bercd)nung öes öerlaufspreifes, eine Der=
billigung für öas Publifum cr3iclt. Heuerfdjeinungen
roeröen nunmefjr cntfpredienö au^ mit feften Preifcn be»
red)nct.
Bei Beurteilung öer Büd)erpreife oerglei^c man öie
Steigerung öer Preife anöerer ©egenftänöe unö bcrürf»
fidjtigc, öafe öie Cöl)ne f|eutc öas 8-10fod)e, öie ITtaterial.
preife öurd)fd)nittlid| öas 12— 15fad)e öer Dorfriegs'scit
betragen, unö öafe fid| öie allgemeinen Unfoften nod) öar«
über f)inaus gefteigert I)aben.
. Sollten betreffs öer Bered)nung eines Buches meines
DerIagesirgenöa)eId)c3tDeifeIbcftct)cn, fo erbitte i^öirefte
ITIitteilung an mid).
Bei Cteferung ins auslonb bercdjnc id) auf öie
ieroeils gültigen feftcn Preife für alle Büdner meines all»
gemeinen Dcrlogs, ausgenommen für 3eit[ci)rtften unft"^
für 5ottfe^ungsunterncl)mcn, einen
Oalutaausgletd) von
200%
150%
bei Cieferungen naif
bei £tcferungen naä\
Belgien
Argentinien
Dänemdrf
Brafilien
(Englanö u. f. Kolonien
(Ef)ile
Sranfrcid)
(Brie^enlonö
EjoHanö
3talicn
3apan
£uEemburg *
norroegcn
' Portugal
Sdiroeöen
Spanien
Sc^roeij
Dereinigten Staaten d.IT.
-fl.
Sd)ulbü(^er liefert itf- mit einem Dalutaausgleid) oon
• 100 7o ' ^ b3w. 757«
Ceipsig, 1. 3uli 1921
B. (5. tEeubner
(Englifdjcs Untcrridjtsrocrf
Granimar Exercises.
A. Die Sd|ülcr fagen bcr Reil)c nadi: 1. I am the first, I am the
second, and s. o. 2. My birthday is on the ... .
B. Sunday is the first day of the week. Which day is Monday?
Tuesday? a. s. o.
C. January is the first month of the year. Which month is February?
March? a. s. o.
D. 1. To-day is Monday the ninth of August 1920. 2 Yesterday
was Sunday the eighth of August 1920. 3. The day before yesterday
was Saturday the seventh of August 1920. 4. To-morrow will be
Tuesday the tenth of August 1920. 5. The day after to-morrow will
be Wednesday the eleventh of August 1920.
nimm an: To-day is Thursday the first of April 1918, fc^c nadf
obigem Beifpiel Öie cntfpre^cnöen Angaben baßu, cbenfo bei: To-day is
Tuesday the twenty-second of March 1915. To-day is Friday the
second of December 1902.
Composition Exercises.
^A. Tom's Family. What do you know about Tom's parents,
brothers and sisters, uncle Harry, uncle John, cousins, grand-
parents?
B. Our Family. (Schreibe cntfprcdjenö öerHrt, iDictLom oon [einer
5amilie ersäljlt, einige Sä^c über öeine (Eltern, (Befd|rDi[ter unö Der=
iDanbten.)
JDtc IDortfteJJAmg. Order of Words.
1 t)> Honnolltenunö ift: [§ 88
Sabin — präbüat — (Dbjc^.>.", The servant brings the boots = im
I)cut|d)en: i T»er Virctor htttt~^jv " o Stiefel. 2. Die Stiefel bringt 6cr Diener.
At six o'd' O fuCiÖüfc'^SS Um 6 U!jr läutet eine (Blorfe.
s. pT' ^~p. S.
2. Das SubieÜ ftel)t oor 6cm präbitat {ahwe\6:}mb oom Deutfdjcn),
au(^ roenn Umftanbsbeftimmungen am Sa^anfang fteljen.
[§89
3. SubjcÜ unb (Dbjeft treten toegen ber 5ormgIeid)I)eit Don ITomi»
natiD unb Hffufatio hinter bem präbifat nid)t 3u[ammen.
3m Deutf^en treten Subjeft unb ©bjett im 5ragefa^ 3ufammen:
Bürftete ber Diener ben Rod? Die Unterfdjeibung von Subjeft unb
©bjeft bleibt bur^ bie befonberen 5ormen für IIominatiD unb flftufatio
getoalirt.
3m (Englif(^en totrb bicfes Sufammentreffen bur^ bie Umfc^reibung
mit to do oermieben (§§ 67, 68), ogl. ben 5rage-- unb Husfagefa^:
1. Did the servant brush the jacket? Bürftete öcr Diener öen Rod?
2. The servant brushed the jacket. Der Diener bürftete öen Rorf.
Die Rormalftellung bleibt aud) im ^ragefa^ geroofjrt.
(E(Iermann»Ricmonn, (Englif^es Unterric^tsiDcrf
flltersftufc bcr S^ülcr angcpa&te (Drigtnaltejtc bringen. Der Stoff, ocr»
f^icbcncn Sphären (Sd)ule, ^aus, Sa^ilic. (Barten, Spiel in 5orm von
(Ersä^Iungen, Dialogen, (Bebic^ten ufto.) entnommen, ift anf^ouU^ un6
belebt un6 läfet \xä) infolge feines realen d^arafters für bie mannigfai^ftcn
$pre^= unb Umtoanblungsübungen 3aje(fmäöig oertDcrten.
Der ;)uf bou dct £eltionen erfolgt in berou^ter Hnlel|nung an ben
Unterri(^tsDerIauf . Durd) eine DorbereitenbeÜbung,bieben neuen IDort:
fc^a^ in 5orm oon anf^aulic^cn, 3um Sprechen geeigneten (Ein3el[ä^cn ju
geroinnen fuc^t, roirb auf bas lUufterftüc! t)ingearbeitet. Das ficf) I|ieran
anfi^Iiefeenbe Reading Exercise, bas £}oupt|tü(f jeber £cftion, toirb
bur^ oielfeitigc grammatif^e unb Spred)übungen oertieft. flu^er Um=
formungsfä^cn, fragen unb beutfdjen Überfe^ungsbcifpielen toerbcn bie
fogcnannten Composition Exercises gebracht, bie UTaterial fotool)!
für freie Sprcdjübungen oIs aud) für fleinc Iticberft^riften 3ur freien Rw-
loenbung bes (Belernten bieten. 3ur Hbtoec^flung bes Unterridjts tDcrben
au^er^alb bes feftcn Raljmens ber teftionen ftcfjcnbe üeinereflusma^I»
ftü(fe l|in3ugefügt, fursroeilige (Befdji^ten, Rätfei, Sprüdje, (Bcbicf|tc ufro.,
bie \\di 3U bzn üerfcf)iebenften fjör», £efc' unb Überfe^ungsübungen <^ut
Dcrtoenben laffen.
auf bcn pl|onctifc^en Hnljang, bcr bie oier erftcn £cfeftüc!e in £aut-
f(f)rift barbictct, folgt ein f urser grammatifcf}erflbri&. ITur an befanntc
bcutj(^c (Erfd)cinungen anfnüpfenb, bringt biefcr au&er ber elementaren
Formenlehre bas Itottoenbigfte aus bcr Stjntaj, [urfjt allen Formalismus
möglic^ft 3u oermeiben unb bas Beifpielmaterial in einer fid) 3U Sprcd)=
Übungen eignenbcn Sorm3U geben. Das rDörterDer3eic^nistDirbfd)Iicpd|
no^ ergänst burd| eine 3ufammcnfa[fun'' ues lOo-ii/bp^Ä w. 'jaujg.'uppen.
Dos Cefc= unb Ubungsbud^, bas feiner Anlage nac^ Mit bem
Huf bau bcr (EIementarbüd)er überein ftimmt, n)äf|It fcin^J^yj^j^-e uirter bem
(Befid^tspunft, bo^ nadi beren Durc^arbcttatt^ bis S^u -^.icn (Einblid
befommcn Ijahen ins IDef cn bes frcmbcn Dolfsdja- ' • öie ftaat»
li^en, tDirtfdjoftlii^cn unb fo3iaIcn Derljältniffe b^^s ontiiu/cu wc^hcft^ej,
ber flltersftufc ber Sdjüler entfprcd|cnb aber in Befi^ränfung auf bas Reale
unb flnfd)aulid)c.
Die (Brammattft toill bem praftif^cn Sprad)unterri(^t bie (Ergeb»
niffc ber mobernen fprat^toiffcnfc^aftlidicn Foi^f^UTtg nu^bar matten, in=
bem fic bie Sprache nid|t in bas altl)crgcbrad)te Si^cma unb Regeltöcr!
einpreßt, fonbcrn in bem ganscn Aufbau bcr (Brammatit toie in ber Dar«
ftellung bcr ein3elnen fpra(^Iid)cn (Jrfc^cinungcn bie in bcr englif(^en Spraye
gefc^mä&ig töaltehben Kräfte aufscigt. Dabei rocrben bie flusbru(fs=
mögli^!citen bes (Englif<^en nai^ Übereinftimmung unb flbu)cid|ung in
öcrglcic^ unb Be3icl)ung 3U btmn bcr HTuttcrfpradjc gefegt, um fo btn
(Erforbcrniffcn ber Bilbungsfd|ulc cntfprcdjenb ben Spradjunterric^t ber
(Erfcnntnis bes IDefcns ber Sprad)e, biefcs feinften flusbruds menfd)Ii(^cr
(Bciftestätig!cit, bicnftbar 3U mad{cn.
Bnirf Don 3. ®. Icubner in Cetp3ig.
t)crlo0 6.6*5!cubncr '^^ in Sdpjig und 6crlin
für t>61>ete ^nabenf<^ulen
l)erausgegcben oon
Prof. Dr. Jci^ ©trot^mcycc un6 Dr. ^one 6tcot)mcycr
Direttor öes IV. Stäötijdien Cijjeums Direftor öes Rcalgijmnaiiums mit Realicbule
3U BerItn»n)iIiners6orf ju BerItn=(Dberid|öneniei6e
^uegabe B für Kcal^ und (Dberceolfd^uUn fotoie für
<dvmna|ien und Reolgymnolicn no(^ Jcontfurter 6y|ltcm
CPI»mi>nMt«Kft/4% 'le«! ' für Sejta. 3. fluft. mit 4 flbbilöunqcTi im üeyt. (VI u. 130 S.|
x^iginKUmcPHgy« ,921. Kart. m. 4.-. üeil 2 für Quinta unö Quarta. 2. flufl. mit 8 flb-
bilöungcn im Sert, 2 tEafcIn unö 1 plane coti Paris. [X u. 269 S.] 1919. (Deb m. 6.—
<&COmmOttf> 3. fluft. [VIII U.-260 S.] 1921. (beb. m. 8 -
(tSU^rduf» ^^f*' ""* Übungsbud) für Unter», (Dbertertia unö Unterfefunöa öer Reform« unö
^t/4;Kt>tmK» Realanjtalten unö für Untcr= unö fflbcrfetunba öer (Bt)mnafien unö Realgntir
nafien alten Stiles. 2. fluft. ((Erjdieint midiaelis 1921.]
<Ftt>trt»ntAfUttA\ für Serta, (Quinta unö Quorta in einem Baaöe. mit 10 flbbilöungcn im
^IgmgniUCPm^ ^eyt, 3 dafeln unö 1 plane uon Paris. (X u. 269 S.] 1921. (Beb. m. 8 -
^rommottf» iivu. i89s.] 1920. ©eb m.6.-
Die Dertür3te Ausgabe B ijt in eriter £inie für Sdjulen mit geringerer U)0(iienjtunöen3al)l
im Sranjöiijdien beftimmt, öann aud> für große Klaffen, in öenen öte üurdjarbeitung öer unoer-
fürsten flusgabe auf Sdjroierigteiten jto&en toütbe.
T^uegobc C für ^vmnoficn und Kealgymnafien alten 6til0
tFit*t**i>t*t^*>Wutf\ für (Quarta unö dertia. 2. flufl. mit 4 (Tafeln unö 1 plane oon Paris.
^IgmgntaCPUW) [(jrldieint 3uni 1921.]
(DbCtftufC unö 6t0mm0tlg fiel}e Ausgabe B.
folgende €d)lüfrel liegen cor: ju «Elcmcntarbu* BIu. ü gel), je lU. 2— (gleidjseitig für oer-
für3te Ausgabe), 3u (Dberftufe B C gel). Tu. 4.—. Z>ie @cf>lüffel iveröen nur an £el)rer abgegeben.
Buf fämtüd^e Preife ([euerungsjurcf)!«^ dee Verlage 120%, Bbänöerung i>orbel>alten
$üc Ptcu|3cn find laut ntiniJlteriolDCcfügung oom 20, 5. 1^20
[Uli Hr. 11047 UHW] die un»crBür3tcn, laut Üccfügung oom
11.3,1921 [U 11 Hr. 10381 U 11 WJ die DetPür3tcn Buagabcn füc
alle 6(^ulen genet)mi0t
«Exemplare jur Prüfung ^v>e<S9 <£inföi)run0 pe^tn den $a<i)lei)rern und
-lel)rerinnen auf tDunfc^ Foffenlod 3ur üerfügung
V. 6. VI: 21. 145 poftjAccfeonto £eip5ig Hr. 51272
SttoIjmcr)cr, fran3öfifd)cs Untcrndjlstoerf
Die Aufgabe 6es frem6fprad)Ud)en Unterridjtes an unfcren allgcmcin=
bilöcnbcn Sdjulcn ift au^et bem praftifdjcn 3tDe(!e ber Spra^crleinung
eine boppelte. (Er foll in bie Kultur, in bas IDefen bes frembcn Dolfes ein=
füFjrcn. Dorousfc^ung bafür i[t bie (Einfiifjrung in bef|en Sprai^c; bcnn
bie $prad)e ift ebenfo feinfter unb fonscntriertefter HusbrudE ber üoIfspfi)d)e
roie bie (Brunblage aller t)öl)eren geiftigcn Betätigung eines üoifcs. 3um
anberen ^at ber Unterrid^t in ber 5f^f"öfprad)e eine allgemein bilbenbc
Aufgabe: mit ber (Einfüt)rung in bie Spradje als erftes unb feinftes 3n=
ftrumcnt bes menf(^lid)cn (Beiftes bie (Einfii^t -in bas tDe[cn menfc^Iii^en
(Beiftcslebens über!)aupt ju oertiefen. (Er ftetjt babei nic^t neben bem
Unterri^te in ber ITtutterfprad)c ober itjm gegenüber, fonbern eng uer»
bunben mit itjm: crft b\ix6) I)ergleid|ung ber Ausbru(fsmögli(^!eit men[d)=
Iid)en Denfens unb 5üt)Iens in meljreren Sprad|en coirb bie tiefere (Einfid)t
in feine (Elemente, feinen Reidjtum unb feine 5cinl)eiten crmöglii^t.
IDeId|e ITlängel unfere Bilbung nad) beiben Ridjtungen, nadj ber ber
roirtli^en Kenntnis fremben Polfstums, u?ie naö) ber „pft)d)oIogif^en" (Eim
ftellung überl^aupt bisljer getjabt, tjat uns ber Krieg geletjrt. Sie gilt es
ab3uftenen. (Einem ridjtig betriebenen frembfpra^Iidjen Unterrii^t fällt
babei eine entfd|eibenbe Rolle 3U.
3n Übereinftimmung mit biefen Aufgeben erftrebt bas Stro!)mct)erf(^e
Unterridjtsroer!
l.Dertiefung bes Sprad^untcrridjts burd) pfi)d)oIogifd)=t)iftorif(^e Be»
tra(^tungstDeife, inbem bie Spradje als etroas £cbenbes, Hatur»
getoorbenes aufgefaßt unb betjanbclt mirb,
2. burd) Austüat)! ber jeaseiligen Altersftufe angemeffener (Originaltexte
einen objeftiocn (Einblid in bie geiftigen, u)irtfd)aftli(^en unb poIi=
tifc^en Beftrebungen bes ^re^i^DoHes 3U förbern,
3. ft)ftcmatifd^e Anleitung 3um üerftetjen bes gefprodjenen löortes unb
3ur 5ät)igfeit, fid) im münblid)en unb fd)riftlid)en (Bebanfcnausbrud
bes 5tQn3()fifd)en frei 3U bctoegen.
Die (Elcmentarbüdjer
liegen in 3rDCt Ausgaben cor. Die urfprünglidje Ausgebe in 3tt»ei Seilen
bietet bem £el|renben bie IKöglidifeit einer freieren Austoat)!. Auf Am
rcgung ber jenigen Anftalten, bie roegen geringerer Stunbensaljl ober aus
anberen (Brünbcn eine Derfür3ung bes £eljrftoffes toünfc^tcn, ift eine Der=
!ür3te Ausgabe I)in3uge!ommen. 3ugleid) rourbe mit ber mögli^ft gebräng*
ten Darbietung bes Unierridjtsftoffcs ber burd) bie f)ot)en fjerftellungsfoften
bebingten Steigerung ber Büd)erpreife ßu begegnen gefud)t.
Beibe Ausgaben finb, in ftrenger Übereinftimmung mit bm amtli(^en
£el)rplänen ftel)enb, nad) ber grammatifd)en Seite l)in ftreng ntetl)obif^
aufgebaut, fortfd)reitenb üom £ei(^ten unb (Einfad)en 3um $d)tDierigen
unb Sufammengefe^ten. So ift mit jeber £eftion ein gan3 bcftimmtcs
Dem immer öringcnöcrn)cröcn6cnrDunfdicnad)tDte6cr=
Ijcrftellung öcs fcftcn £a6enpreife$ im Bu^«
^anbel folgenö, I)abe id), tote anöerc rDiffen[d)Qftltd|C ♦ ^
Derlcgcr, auf ©runö einer cntfpre(i}en6en (Erl|öl)ung öes ^
Rabattes mit öcn meinen Dcriag Dorsugstüeifc füfjren» |
&enSortimentsbu(f)I|anöIungcnDcreinbarungcn getroffen, j
nad) öenen öicfe oom 1. 3ult 1921 an ^
meinen gefomtcn Derlag ofjnc (SorttmentcrO
tleuerungs3ufd)lag an 60$ publicum 3u
liefern in 6er £age unö oerpflidjtet finö.
(BIeid)3eitig erfolgt öic Beredjnung meiner t)erlags= ■<
tDcrfe aud) meinerfeits 3U feften Preifen ofjne (Derleger=) ':
tEcuerungs3ufd)Iag. Die fünftig gültigen £aöcnpreife 6er
in meinen bisljerigen öerseidjniffen unö fln3eigcn auf= »
gefüljrten tDerfe betragen im allgemeinen i^/xs 2 Vj fadjc i
— für Sd)ulbüd]cr öas 2 V4 fad)c — öer l)ier angegebenen ■
Prcifc. Diefe finö aber aud) als frctblcjibcnö an3u» ■;
feljen, 6a öie fjerftellungs!often — aud) bei öen bereits j
Dor 6em Kriege geörudtcn, aber jetDeils nur nad) Beöarf '
gebun6enenBüd)ern, ido 6ieBud)bin6erfoften 6iefrül)cren
©cfamtljcrftellungsfoften öes Bud)es oft um ein öielfad)es •:
überftcigen — ebcnfo toie öie allgemeinen (5efd)äftsun= ^
foften einer fortlaufenöcn De^ränbcrung unterujorfen finb. ;
©egenüber öcm bisf)erigenPreife3U3Üglid)Sortimenlcr« "
3ufd)lag toirö, abgefcl)en oon öer flusfdjeiöung jeöer
tDillfür in öer Beredjnung öesDerJaufspreifcs, eine Der=
billigung für öas publitum crsielt. neuerfd)cinungen
raeröen nunmelir entfprc^enö auc^ mit feften Preifen be=
red)net. s
Bei Beurteilung öer Büd)erprcife t>ergleid)c man öie j
Steigerung öer Prcifc anöcrcr (Begenftänöc unö berüd'
fid)tigc, öafe öie £öl)ne I)eutc öas 8-l0fad)e, öie ITtaterial«
prcifc öurii§fd)nittlid) öas 12 — 15fad}c öer l>orfriegs3eit
betragen, unö öafe fid) öie allgemeinen Unfoften nod)-öar«
über l)inaus gefteigert l)aben.
Sollten betreffs öer Bereji)nung eines Bud)cs meines
üerlages irgenötDcldjcStDeifelbcfteficn, fo erbitte ii^öircftc
ITIitteilung an mid).
Bei £icfcrung ins £^uslan6 bcred)nc id) auf Ott
jetDeils gültigen feften preifc für alle Büd)er meines alU
gemetnen Derlags, ousgcnommen für Scttfd^riftcn vmb
für 5ortfc§iingsunterncl|tnen, einen
Oalutaausgletd) oon
200 Vo
150%
bei Cicfcrungen
na(^
bei £ieferungcn nad|
Belgien
Argentinien
Döncmarf
Brafilien
4ngIonö u.
\. Kolonien
<El)iIc
Sranircid)
©rie^cnlonb
J}onan6
. 3talicn
3opon
Cujcmburg
Itorroegcn
Portugal
Sd)tDe5en
Spanien
Sdiroeiä
Dereittigten
Staoteno.lt.
.fl.
Sdiulbü(i^er liefere i(^ mit einem Dolutoausgleid) oon
100 Vo H^' 75 7o
Ceipäig. 1. 3ii^i 1921
B. (5. tEcubner
Die (EIcTncntarbüd)cr
grammatifi^cs pcnfum ju crIcMgcn, 3U 6effen (Einübung mannigfal»
ttge Übungen btencn, über bereu Hrt roctter unten nod) ausfül)rltd) ge=
fprodjen iDitb-
Der tJOrbercitenöe £outtcrRurfU$ toill 3unäd)|t bem £el|rer bas
für bte in ben £e^rplänen oorgef^riebenen Übungen nottoenbige XUaterial
an Übungsftoff (auö) in £autfd)rift) unb Belehrungen barbieten, toobci
i^m burd)aus überlaffen bleibt, was er baoon ben Schüler unter feiner
Anleitung unmittelbar benu^en laffen toill. (Er bringt tro^ ber Kür3e alles
XDefentlidje, von fT)ftemQtif(f)er Be^onblung ift abgefeljen; ein Derseicfjnis
ber Husfpradjejeirfjcn unb eine Darbietung ber erften £eftionen in pI)one=
tifdjer Umfc^rift befdjiiefet bcn Kurfus.
Der £cfC: Uttb Übungsftoff ift berart aufgebaut, ba^ 3unä(i)ft ein
fran30fifd)cs £efeftücf, gelegentli(^ au^ meljrcre, teils in profa, teils
in poefie geboten toerben, röobei bie Poefie 3. S. in So^^n bes £icbes (mit
Iloten) abfi(^tlid) rei(^Ii(^ t)erange3ogen roorben ift, um bas flusioenbig«
lernen 3U förbern unb bas (Befütjl für bie (Eigenart bes fran3Öfif(i|en Rtjt)tf)=
mus, ber fid) \a an oertonten £iebern am fid)erften empfinben lä^t, 3U
toerfcn. 3n bem IDortlout ber £efeftoffe finb tEeytänberungen ni^t Dor=
genommen roorben. Die nic^t crt)eblid)en baburc^ entftefjenben Sd)toicrig=
feiten laffen ficf) unfdjtoer überroinben, ftel)en febenfalls nit^t im Derfjältnis
3U bem großen ö orteil, ben für einen in ben Büchern überall angcftrebten
oertiefenbcn Sprad|unterrid|t bie Darbietung oollftänbig originalen
Spra^ftoffes oon oomtjerein getoäljrt.
Die für (Bpmnafien unb Realgtjmnafien alten Stils beftimmtc Aus»
gäbe C insbefonbere in ber 2. Auflage bringt bem I)ö^eren fliter ber S^üler
biefer Hnftalten angemeffenen £eftüreftoff.
3ur Dermittelung ber HectUctt bienen unabt)ängig oon b^n eigentlid|en
£eftüreftüden bie in bunter Hustoatjl gegebenen, meift gan3 !ur3cn Le^ons
de choses, Le^onS d'histoire et de geographie, bie oon £eid)tem 3um
S(^tDereren f ortf^reitenb , in !on3entrifd)en Krcifen Kloffensimmcr unb
Sdjulgcbäubc, bm menf(^Iid)en Körper, Satnilie, IDoIjnung, Kleibung, bie
(5epfIogcn!|eiten bes täglidjcn £ebens, Reifen nad| 5^onfreid) unb äl|nli(i)e
Stoffe beljanbeln. 3n gan3 gemäßigter So^m ift babei bas Prin3ip ber
(Bouinfdjen Reitjen 3ur Hntoenbung gebradjt.
Die 3ur (Einübung bes grammatifd)en £ernftoffcs gebotenen Exercices
de grammaire 3eigen große tUannigfaltigfeit unb bienen fo ber Durd|-
füljrung bes Prin3ips ber Hrbeitsfc^ule. (Ergän3ungs«, Umformungs=
unb Konjugotionsübungcn roedjfeln einanber ah , fo ba^ 3. B. oon einem
StM fic^ mit £ei(^tig!eit bur^ Huflöfung oon Hebenfä^en in £}auptfä^e
unb umge!el)rt, burd) Deränberung ber Subjefte, ber Qiempora ufro. fo
Diele. Dcrf^iebcne Derfionen tjerftellen laffen, baß in einer Klaffe oon ettoa
40 Sd)ülern faft jeber Sdjüler bie fleinc (5efd)i^te in einer ettoas ab--
roeid)enben Soxm toiebergeben fann. (Es toerben fem er 51^0 gen gebradjt,
Stro^met)er, fronjöfifdics Uittcrtic^tstoerf
bie fo angelegt \'mb, ba^ fie 3U einer immer fclbftänbigeren 5orm ber
HntiDort 3a)ingen.
Die Exercices de composition finb nidjt nur als Übungen im freien
(Er3ät)Ien, fonbcrn au(^ 3ur Dorbereitung Heiner freier Hieberfdjriftcn ge=
ba(f|t, Sie beginnen mit S^agen, leiten 3ur Ha(f)er3äF)Iung bes £efcftoffes
t)in, tt)obei 3Utt)eiIen bie 5oi^"i »on Briefen unb Dialogen geforbert roirb,
unb regen fd)Iie^Iid) auf ber ©berftufe 3U felbftänbiger Darfteilung an,
inbem nur ben (BcbanJengang anbcutenbe StirfjiDÖrter aufgefüljrt tocrben,
toie bas aus bin auf S. 8 gebotenen Proben erfic^tlic^ ift. $vix Bh-
roei^felung forgen enblid) fjier unb bort eingeftreute Maximes, Proverbes.
ßnigmes, Charades unb Jeux de mots.
Auf bie fran3Öfi[(^en £efe» unb Übungsftüde folgt ein furser Hnijang,
ber eine flusüoaf)! oon „Chansons et poesies" mit Hoten bringt, 3ur
(Erujeiterung bes f(^on in ben BTufterleftionen gebotenen poetifd)en Stoffes.
flbfidjtlid) uom franjöfifdien Seil bes Übungsbu^cs getrennt, fdjlie^en
fid) Ijieran bie öcutfdjcn Übcrfc^ungsbctfpielc, bie vor allem 3U
Hausaufgaben bienen follen. Sie oerarbeiten natürli(i} ben aus ben fran=
3Öfifd)en ITlufterftürfen betannten tDortfd|a^ unb finb fo geftaltet, ba'^ bie
Qinüberfe^ung mögli(f)ft ibiomatifd|es ^ransöfif^ ergibt.
Der ben (EIemcntarbüd)ern beigegebene (Brammatt^djC Htl^attg be*
f(^ränft fid) auf bas flllernötigfte, möglid)ft rolrb aud| fdjon tjier üerfudjt,
bie Sprad)e auf (Brunb pfpdjologifdjcr Dertiefung 3U letjren. Die angeftrebte
Pereinfadjung madjt fid) befonbers bei ber Be^anblung bes ücrbs be=
mcrtbar, fou)oI)I bes „regelmäßigen" als bes „unregelmäßigen", burdjaus
in Übereinftimmung mit ben neueren £e^rplänen.
Sd)on bei crftcrcm tDuröc forgfam barauf 3ebaä)t genommen, md|t öurd)
umfangrcidjc KonjugationstabcIIcn t>on allerlei Derben öas abfdjrcdenöc Bilö
einer üicltjctt üon 5ormen 3U crroeden, 6te in XDirflidjfctt gar ni6)t beftc!)t.
So ift bei gletdjen Sormen aud) für oerfdjieöenartigc Derben nur ein paraötgma
gegeben tooröcn (präfens piural für donner, rompre, 3mperfcft, Sutür für
donner, rompre, obeir, avoir, 6tre gemeinfam). 3m präfens foll öcm Cernen»
ben oon Dornl)erein 5te Doppelgeftalt öcr (Enöungcn im Singular (e, es, e unö
s, s, t) unö bie (Einljcit im piural oor flugen treten.
Diefe Sufammcnfaffung bes innerlid) 3ufammcnge]^örtgen crleiditert ober
gan3 befonbers bie Durc^naljme ber unregelmäßigen Derben. Ejicr toirb ntdjt
in ber btsl)€r meift nod) übltdjcn IDeife jebes Derb gans unb für fid) be»
^anbclt, fonbcrn bie Durdjnaljmc feil naö) fogcnannten Querf^nitten erfolgen,
beren im gansen oicr oorgefeljen finb, ein jcber mit einer me^r ober minber
großen flnsal)! Don ©ruppen. Die oier Querfdjnttte finb: präfensftamm, perfeit»
ftamm, partt3iptalftamm unb Sutur. 3n jcber ©ruppc tocrben alle oertwanbten
€rf^cinungcn burdi bie ganse Rei^e ber fogcnannten unregelmäßigen Derben
tjinburc^ 3ufammengcftcIIt, befprodjen unb geübt.
Den abfd)Iuß bes Bu(^es bilbet bas tDÖrtcrocrjCtdjmS, in bem 3U
ben crften 3 £eftionen bie pl)onetifd)e Umfd)rift aller Dofabeln gegeben
ift, fpäter nur 3U f^roierigeren XDörtern. Der berechtigten mettjobif^en
5orberung, 3toifd|en probuftioem unb reseptiocm IDortf^a^ 3U fd)eiben, ift
Die fflementarbü^er — Die ©betftufe
öaöur^ (5cnügc gcf^eljert, ba% feltencrc XDörter unb tDcnbungcn, 6ic ni^t
ftets gegcniöärtiges gciftigcs (Eigentum öcs Sdjülers 3U fein braud)cn, im
IDörterDcr3cid)nis in fleincrcm Sa^ gegeben tocrben. Dem t)ofabelDer3ei^=
nis finb brei tuv^e Beilagen I}{n3ugefügt, nämlid) eine SufammenftcIIung
einiger befonbers ^äufig Dor!ommenber IDortgruppcn nad| Stämmen unb
Ableitungen, bann bie toidjtigften im Bu^c oorfommenben Stjnonijma
unb eine SufammenftcIIung einiger I}omont)ma, bie erfotjrungsgemäö oft
Dertoedjfelt toerben.
Die 2. Zuflöge »om (Etcmcntorbud) C l)at eine cingretfcnöc Umgcftajtung
eifa^rcn. Den I)öf)eren gcifttgcn flnforöerungen cntfprc(f|cnö, bie in ©tjmnafien
unö Realgtjmnaficn alten Stils an ötc S(f|üler 311 ftcllen finö, touröen bie für
biefe (EnttDtdelungsftufe 3U ftnölt(^ geljaltcnen S^cjtc öurdj crnftere crfc^t. Seltner
toeröen ötc lateinifdjen Kenntniffe öer S(^ülcr 3U flffo3iationst)iIfcn oertDcrtet,
inöcnt bei SormcnIef|re unö tDortfc^a^ 6tc oertoanöten So^^"ten unö IDörtcr
öes Cateinifc^en angegeben tocröcn, fotoeit fie uom Sdjülcr nod) lebtjaft cmpfunöen
toeröcn, roirfltd} öer oertieften fluffaffung 6es Spra(f)Iebens öienen fönnen unö
als ®cöäd)tnisftü^en von Itu^en finö. Der ÜberftdjtUdjfett rocgeil finö öie Iatct=
ntfdjen DergIetd)srDörter unö »formen in ftd) ftarf'abljebenöer Sd)riftform gefegt
unö fo angeorönet, öafe fie öen eigcntlid)en Cernftoff nid)t beljinöcrn.
Die (Dberftufe
bietet fran3Öfif^e £efeftüde, Übungen 3ur (Brammatif, einen poetifc^en
Hnf)ang unb IDörterDer3c{c^niffe.
Die fran3Öfif(^en £cfcftürfe enthalten nur originales, unge!ür3tes
unb an feiner Stelle gcänbertes 5^0"3Öfif<i|. 3n^altli^ bringen bie cor
allem ben großen S^riftftellern ber neueften 3eit entnommenen Stüdc
Stoffe 3ur (Einfüljrung in bie fran3Öfif(^e Kultur: (Er3ät)Iungcn unb toirf=
li^ loertDoIIc Hnef boten, Biograpl)ifd)es unb £iterarif(^cs, Sfi33en aus
ber fran3Öfif^en (Bef^i^te, Sc^ilberungen fran3öfif^er Sitten, fran3Öftf^er
f anbfc^aften, Stäbtc, Denfmäler unb t)iftorifd)er Stätten u. bgl., jeboc^ feine
„Realien" im Sinne trorfener, äu^erlidier Bef^reibungen unwichtiger flll»
tägli^feiten. Die Stüde finb burc^roeg fpra(^Ii(^ unb infjaltlii^ gcfjaltDoII
unb anregenb unb geeignet, bilbenb unb er3iel)enb auf bie 3ugenb 3U ojirfen.
Die Übungen 3ur ©rammatif, auf brei 3ci^re »erteilt, fo ba^ für
jebes 3a^r ettoa 1 0 Kapitel oorgefefjen finb, befteljen im allgemeinen aus
einem fran3Öfif^en unb einem beutf^en Seil. 3m fran3Öfifd|en (Ecil
roerben Umformungen, Umroanblungen unb bgl. geboten. flu(^ ^ier ift mög«
Ud)fte ITTannigfaltigfeit unb Dielfeitigfeit angeftrebt. Die bcutf^ en Übungen
fd)Iieöcn fi(^ 3um Seil an bie fran3öfif^cn Stüde bes Übungsbu(^es an,
3um Seil finb fie unabijängig bauon. Unter ausgiebiger Benu^ung bes im
(Elementarbud) ertoorbenen Dofabelfc^a^es ift ber (Brunbfa^ feftgel|altcn,
ba% in i^nen mögli(^ft feine fremben Dof abeln oorfommen.
Die bie Derfür3te Husgabe abfd)Iie^enbc in Dorbcrcitung befinbli^e
©berftufe B foll in flnieljnung an bie auf ber legten HeupI)iIoIogen=
tagung in E)aIIe oufgcftellten £eitfä^e fi^ in cr^ö^tem ITta^c bie Aufgabe
StroI)mct)cr, fran3öfif<^es Untcrrt(i|tstx>crt
ftellcn, bem Sdjüler einen (Einblirf in bas Kultur= unb (Beiftesleben bes
frcmben öolfes 3U bieten. (Es toirb bas Beftreben bes Derfaffers fein,
unter tätiger Beiljilfc nam'^after beutfdjer Sdjulmänner eine fluscoat)! oon
Stütfen 3U treffen, bife in toertooller Iiterarifd)er unb ber flitersftufe ent^
fpredjenber 5oi^^ ^'^^ möglidjft üielfeitiges Bilb ber fran3Öfifd)en Kultur
in iljrem tDerbcn unb itjrer I)eutigen (Seftoltung bieten.
3n gleid)em Sinne bem Stubium bes neu3eitli(^en fran3Öfifd)en £ebens
bienenb, ift auf Dielf adjen IDunfd} ein (Ergän3ungsbud) für bie oberftcn
Klaffen ber RealooIIanftalten für bic männliche unb toeiblidje 3ugenb
einfdjliefelid) ber ®berlt}3een in Dorbereitung, bas aus ®riginalfd)rift=
ftellern ins Deutfdje übertragene Übungsftücfe 3um Rüdüberfe^en unb
Umformungsübungen (3. B. Derroanblung bramatif^er S3enen in Profa,
periobenreidjer tEejte in einfad)e Sä^e, affeftoolle Rebe in refleftierenbc
unb umgetetjrt) bringt, 3ur toeiteren Sd)ulung im münblid)en unb fdjrift»
lid^en (Beban!enausbru(f. 5^i^"ci^ coerben 3ur (Ergän3ung ber Sd)uIgrom=
matif im organifdjen 3ufammenl)ang mit biefer erroeiternbe unb Der=
tiefcnbe Kapitel geboten, 3U beren (Einübung aud) geeignetes ITIaterial
Dor allem ftiliftif(i|er Hrt oorgefetjen ift. (Ein flbrife ber (5efd)id)te bes
5ran3Öfifd)en mit gan3 tur3en proben aus bem fllt-' unb ITlitteIfran3Öfif^en
erfdjeint als Hntjang.
3u btn fämtUd|en Übungen ber (Elementarbüdjer unb ber 0berftufe
erfd|eint ein
Sdjiüffel,
ber ausf(^Iie&Iid) nur an £c^rer (unter peinlic^ftcr Bcobadjtung entfpredjen»
ber bies fic^ernber tUafenal^men) abgegeben loirb. Bei ber (Eigenart ber
Übungen fei auf ben $(^IüffcI befonbers Ijingeroiefen, ba bie üerfaffer fid|
barin bemühen, ocrfc^iebenartigc £öfungen ber Aufgaben 3U geben,
Dor allem bei ben Exercices de composition.
Die (Brommatlft
fud)t burc^ pft)(^oIogif^c Vertiefung 3um Hadjbenfen an3uregen;
bie Ijiftorlf^e (EntroidEIung ber Sprache roirb nad| ITTöglidifeit berürf=
ft^tigt. Die Darftellung uerliert iebo^ nie bie Hufgabc einer pra!=
tifd)cn Sc^ulgrammatif aus bem Huge unb Ifält barum Hta^ in
ber f}eran3iel)ung biefer Dinge. (Eine pft)^oIogif(^e (Erflärung erfd)eint nur
ftatt^aft unb bann allecbings unbebingt notroenbig, toenn babur(^ bas
Derftänbnis für eine grammatif^e (Erfi^einung erleid}tert toirb, roenn bie'
€rflärung £i(^t in bas IDefen ber bctrcffenben $prad)e ober ber Sprai^e
Im allgemeinen toirft unb bamit 3um Hadjbenfen anregt. Hu^ mu& bie
(Erflärung tDir!Ii(^ feftfte^en; 3tDeifeII)afte grammatif(^e ^t)potI|efen
ober fpra(^fjiftorif(^e (Erflärungen, bie ben Sai^oerljalt cerbunfcln ober in
unnötiger tDeifc fc^totcrige unb frcmbartige Spra^problemc aufrollen, finb
grunbfä^Iii^ ausgefdjioffen.
Die (Brammotif
(Etngcl)enbc Rürffit^t ift ouf Me tDirfungen bcr Hnalogic genommen
tDorben; flusbrüde, btc mefenilid) ber $d)riftfpra(^c, ber Umgangsfpradje,
ber familiären flusbrudstocifc ober ber Dolfsfpradjc angetjören, finb als
fol^c ge!enn3eid)net. Hu(^ auf ben erftarrenben (Einfluß, b^n bie fransöfi»
f(^en (Brammatifer mit iljren „Regeln" ausgeübt Ijaben, ift tjingetoiefen.
Huf eine flare unb oor allem natürlidje (Einteilung ift befonbercr
IDcrt gelegt u)orbcn, SoxmenUlite unb Sijntaj finb nid|t ftreng ge-
trennt, ba bem bei einer einigermaßen auf 3nnerli(^feit Hnfprurf) mad)en»
bcn (Brammatif bcbcntlidje Sdjroierigfeiten entgegenftetjcn unb auc^ mett|o»
bifc^ eine Sdjeibung unnötig ift, ba bas IDiditigfte ber „5ormenIef|re" auf bcn
(Elementar ftufen erlebigt ift unb eine „sufammenfoffenbe tDieberf)oIung unb
(Ergän3ung ber 5ormenIef)rc" buvd) innige Berüljrung mit ber Sqntaj nur
Vertiefung erfafjren fann. (Eine (Einorbnung fämtli^er Sprac^erfc^einungen
unter Sa^arten unb Sa^teile ift ebcnfo unüberfi(^tli(^ unb gc3tx)ungcn toie
eine folc^c nur naö) IDortartcn. Demgemäß ift bic (Einteilung folgenbc:
1. Der £aut.
2. Das tDort unb feine öertoenbung. Derb.
3. Die Derbinbung ber tDortarten 3U IDortgruppcn unb 3um Sa^.
4. Das Satzgefüge (Konjunftioncn).
Die Regeln unb (Erflärungcn finb ni^t nur flar unb fnapp,
fonbern au(^ möglidjft lesbar gcftaltet.
Um 3U 3eigen, toie bie (Brammatif auf eigener Bcifpielfammlung auf»
gebaut ift, unb um ben Sdjüler 3U ofjnli^cn Bcifpielfammlungen an3u»
regen,_ ba bies am fidjerften 3ur Be{|crrfd)ung ber (Befe^c fül^rt, ift bei
btn Beifpielen bie (Quelle angegeben; bic meiftcn ftammen aus bcn
(EIcmentarbüd|ern ober aus ber (Dberftufc. 3u einer Dercinfac^ung
gelangt bie (Brammati! oor allem auc^, inbem fic bem IDörterbu(^ beläßt,
tüos bem IDörterbuc^ 3u!ommt; fic bcrü(!fi^tigt Iejt!alif(^c (Erfc^einungcn
nur, fotoeit fic Reifen, ein anf^auU(^cs Bilb oon bem d^aralter ber fran3Ö»
f If ^en $pra(^e 3U entroerf cn ober basIDcfcnber(Erf^c{nung 3uerf äffen.
Dcrmiebcn finb bie oiclfac^ üblid)cn langen £iftcn oon IDortcrn, bie
in beiben Spradjen abtDeid|cnbenSprad)gebrau^ Ijabcn, roic reflejioc Derben,
Derben mit abroeidienbcr Reftion, Derben, bic ben Koniunftio regieren uftu.
Dicfc ermüöcn unö fdiredcn ab, toctt fic IHcmorierftoff ftott öes Üenfftoffes
bringen. Sie betonen in gröbfter IDeife bas, was man gerabe oermciöcn toill,
bie Äußerlid|fcit ; öcnn nid)t öie „Derben regieren" ben Konjunftio, fonöcrn bas
oll öen betreffcnöen (Etn3eIIjeiten sugrunöc Uegenöe gemeinfame Sprach»
gcfe^ beötngt fie. (Es roirö aber natürli(^ in öer (Brammatif auf bas Be»
fielen foldjer flbtoeidjungen aufmcrffam gemacht, unö 3tDar unter beftänöigcm
fjinroeis, öafe fie il)rem IDefen nad| in oerf^icöener fluffaffung begrünöet finö.
3n ber jlDetten auflade ber (Brammatif, mit ber bic je^t oorliegenbc
britte Auflage übereinftimmt, finb ücränbcrt bie Hbfd)nittc über bie ITtobi
unb bas Sa^gefüge, erroeitert bie £lbfd)nitte über IDortbilbung unb
bie Präpofitionen. £}in3ugefügt roiirbcn ein furser Hbf^nitt über Be»
Strofjmcijer, fransöftfdjes UntcrridjtstDer!
tonung, Silbentrennung unb 3nterpunftion, ein alpl|abctif(^cs
Dcrscic^nts ber Derben bcr toten Koniugation unb na^ icbem
größeren Hbfdjnitt eine fur3c Sufammenfaffung ber toic^tigften
Regeln 3ur IDieber^oIung.
Sdion aus ber turscn auf Seite 9 abgebrucften probe läfet fi^ ctfeljen,
toie bie Derfaffer mit oeraltetem Regelroerf aufräumen unb in mc»
tl)obifc^er Klorljeit unb tDiffenfd)aftIid|er (Bcfd|Ioffen^eit bas
löefentli^e 3U bringen toiffen.
Proben aus öcn
Exercices de composition.
Sujet: Louis XI et le gentilhomme avare (diaiogue).
A. Diaiogue entre le gentilhomme avare et un autre gentil-
homme: Ils parlent du paysan, leur voisin, recompense par le
roi. Ils racontent son histoire. Ce que le gentilhomme veut faire
pour ^tre recompense aussi.
B. Diaiogue entre le gentilhomme et le roi: Le gentilhomme
entre. Le roi admire le cheval amene par le gentilhomme. Le
gentilhomme l'offre au roi. Le roi le recompense.
Sujet: La France.
L'eleve fera une description de la France, en racontant dans
un certain ordre tout ce qu'il a appris de ce pays. II parlera donc:
A. Des mers qui baignent la France.
B. Du climat de la France.
C. Des montagnes de la France.
D. Des fleuves qui arrosent la France.
E. Des routes, canaux, chemins de fer de la France
F. Des villes et des villages de la France.
G. Des forts, forteresses et ports de la France.
H. Des anciennes provinces francaises.
1. Des departements et arrondissements de la France.
K. Du drapeau fran^ais. Enfin et surtout
L. De Paris.
11 peut raconter tout cela sous la forme d'une lettre ä un de
ses amis, en decrivant un voyage qu'il a fait en Imagination ä
travers la France. 11 consultera pour cela la carte de France.
proben aus 6cr (Brammatif
4. Die rDortftellung.
L'eleve cherche le mattre. J§ ^*^-
Le maitre cherche l'eleve.
"Da öas 5i^an3ö[ifd|c ^eute feiife bcfonöercn 5onncn mcl)r für nomi=
natiD unö HHufatto befi^t (ögl. § 251), i[t es bei fubftantiDi[d)cm
(Dbjcft für btc Unter[d)eibung oon Subicft unb (Dbjcft
mcift 3U ber Stellung: Subjcft — Derb — (Dbicft ge3tx)ungcn.
flntn.
Chemin faisant, il rencontra un petit moineau: // 26«. 28b. 33c.
Sans coup f4rir (H. D.). ©f)nc einen Sdjiag 3U fdjiagcn, oljnc S^roertftreid).
Elle a tout oublid, — Elle n'a rien oubli4.
A tout prendre (H. D.). — Sans rien te dire (Provins).
Das HItfran3öftfd)e, öas nod) Kafus unterfd|ieö, voax in öer Stellung freier.
3n crftarrtcr Sorm f)aben fid| einige tDenöungcn mit (Dbjett cor öem
Derb crljalten.
Saft regelmäßig, außer too fie ftarf betont finö, ftefjen tout unö rien oor öem
2. Partislp Mtiö öem 3nffnitio (ogl. § 93, flnm. 2).
[§ 590.
Germaine est couchee dans sa jolie chambre bleue. Elle regarde
de ses yeux encore languissants sa poupee qui repose pres
du lit: Ulla.
Jeanne avait quatre parrains et au moins huit marraines. On
voit ainsi, par le nombre des parrains et marraines, que le
manage de Jacques d'Arc et d'Isabelle Romee 6tait en consi-
d^ration dans le pays: II 9ab, 20c.
Unter biefen Umftänben bilbetc [i^ [eljr balb eine gan3 ausgefproci|enc
Vorliebe bes 5ran3o[en tjeraus, beit $0^ mit bem Subjcft 3U bc=
ginnen. tDir lieben es, 3um 3u)ecf ber Hbroedjflung aboerbiale
Beftimmungen in btn Hnfang 3U fe^en. („ITtit itjren nod|
matten Hugen betradjtet fie..." „Hn ber 3af)I ber Paten
unb Patinnen fiel)t man fomit*. . .")• 5ür ben 5i^fl"3oN
roirft ein immer iDiebert)oItes Hnfangen mit bem Subjeft nic^t
einförmig. (Utan 3äljle an irgenbeinem £e[e[tüd bie Sä^e, bie
mit bem Subjeft, unb bie, bie nic^t mit bem Subjeft anfangen!).
flnm.
Alors la poule arrive: / 5.
Daraus folgt nidjt ettoa, öaß öie aöocrbialc Beftimmung nie im Anfang
ftänöe; es ijt nur üiel feltencr öer 5all als im Deutf(i}cn. Die aöoerbiale Be»
ftimmung l)at feinen befonöers beoor3ugten pia^. 3l}re Stellung ridjtet fid)
nad) öem Sa^ton (ogl. §§ 603, 604).
Urteile über öas Stroljmeijerjdje Unterridjtstoerlt
„StroI)met)er oerctnigt öic 0013x192 feiner üorgänger in fi(^. 3n öer metfio»
öifdjen tüie xr»iffcnfd)aftIi(f)cnDarftcIIung öes Stoffes ift er it)nen burdjaus
ebenbürtig, an founeräncr Beljerrfdjung öesSpradifornpIefes jebod) toeit
überlegen. £7ier finöcn toir bei aller Sad)Ii(f)Icit eine toirflid) perfönlidje Stellung«
naf)me 3um Stoff; alles ift öie 5ru(i)t eigenen lladjöenfens unö fdjärffter, fein»
fü^Iigfter Beobadjtung. Strofjmetjer fjat einen Bli(f für öie ^öfjen unö tliefcn
öer Spracfjentroidlung, er trennt £ogifd)es oom UnIogif(f)en, unterfdjeiöct 3n)if(^en
(ErMärbarent unö Unerflärbarem, oerfolgt öas (Berooröenc in feinem toeitercn
Sdjidfal, „(5ebraucf|" genannt, fdjetöet öie Dolfsfpradje oon öer £iteraturfpracf|e
unö inirft öamit audj mandjes $d)lagIi(J)t auf öcn relatinen IDert öer „Sd}ul=
regeln" uuö öeren De!)nbarfeit. Unö alle öiefe roertDoIIen Beobadjtungen
toeröengetragenooneiner aufeeroröentlid) reidjen unö öabeifelbftänöigen
Beifpielfammlung. Überall befunöet fid) nidjt nur öie fdjarffinnige fprad)»
Ii(^e Beobadjtungsgabe öcs üerfaffers, fonöern aud) fein geübter Blid für
öas mctijoöifd) (Erforöerlidje. U)o es fi(^ irgenö madien läfet, begrünöet
Strot)met)er öie Sprad)crfd)einungen biogenetifd). Dies l)erfal)ren fe^t
bereits beim erften flbfdjnitt, öer £autlet)re, ein unö toirö aud) in öen übrigen
flbfd)nitten im toefentlidjen beibefjalten. Praftifd} oerfteljt Strofjmetjer öiefe
^iftorifd)e Betradjtungsart befonöcrs für öie 3aljlreid^cn Ejinroeifc auf „ard|aifd)e"
flusörudstoeife aus3unü§en. ITIan freut fid) Dor allem, öafe öie in öer Sprad)»
cntroidlung foroeit ausgreifenöe XDirfung öer Analogie f)ier enölid) aud)
einmal in öer Sd)ulgrammatif öie gcbül)renöe Bead)tung finöet.
3n mctI)oöifd)er ^infid)t mufe öie furse, präsife, öur^aus praf»
tif^e Darbietung öes Stoffes gerühmt toeröen.
. . • Das tDören öie flusftellungen, öie id) an öem Bu^e 3U mad)en I)ätte. Dem
oiclerlei ®län3enöen gegenüber fönnen fie natürlid) nid)t in öie tDag =
fd)ale fallen. Das Derölcnft öcs Budjes ift fo unbcftrcitbar, feine
Bedeutung für öcn $ortfd)ritt in öer <5cfd)ld)tc öer $d)uIgrammotlft fo
fraglos, feine (Eigenort fo be3n)ingenö, öoß id) nid)t anfteljc, In il)m
öle befte fron3öfifd)e Sd)ulgrammatift 3U feljen, öle tölr In met^oölf^cr tole
rolffenft^aftlldjcr l)lnfid)t 3ur3clt befi^cn.
Die eben an öer ©rammatlR gerül)mte Suocrlöfflgftclt öer tDiffcnfd)oft:
ad)cn (Brunölage, Sld)crl)elt im metl)oöifd)en aufbau unö ungen)öi)nlldj
felnfül)lige r)crtroutI)clt mit öem frcmöen Sprodjtum Ift Im ongemcinen
ttud) $troI)mei)ers Übungsbüdjern eigen. tDie fel)r öie Derfaffer in öer Sprad)e
felbft 3U f)aufe finö, 3eigt fid) 3. B. in öem forgfdltig getDäl)lten Cefeftoff,
öer öur^aus ed)tc, moöerneSpra^mufter bringt, öie formell tcie inl)altlid)
öoc^ nie über öie Saffungsfraft öer betrcffenöcn Stufe I)inausgel)en.
Unter öen metI)oöifd) glüdli^ftcn unö originellften (Einfällen möd)te id) öie
Anleitung 3U freien Arbeiten (in 5orm oon Sroge«) ern)äf)nen, öie fd)on
mit öer 4. Ceftion öer (Elementarftufe einfe^t unö öann in öen folgcnöen Kapiteln
unö Bänöen mit cntfpred)enöer Steigerung toeitergcf ül)rt roirö. Aneinfprad)igen
Übungen ift aud) fonft fein ITtangel, fo öafe öiefes Bud) öer 5oröerung öes
freien (Bebraud)s öer Sprad)e in Sd)rift unö tDort tatfäd)lid) nid)ts fdjulöig bleibt.
Aud) Überfc^ungsbcifpiele (ausfdjliepd) (Ein3elfä^e, b3a). Umformungen
öer Cefeftüde) l)at öer Derfaffer beigegeben. 3m übrigen l)ättcn öie Derf(^ieöcnen
Bemerfungen aus öer Befpred)ung öer (Brammatif l)ier finngemäge Anroenöung
3U finöen. (Ein f lein es Kunftftüd ift öie öen beiöeu (Elcmentarbüc^ern bei-
gcgcbene Cautlel)re; fie 3ei^net fid) ebenfo öurd) praftifdje (Originalität toie
tDtffcnfd)aftlid)e ©enauigfeit aus, ift alfo in jeöer ^infid)t öurd)aus einroanöfrei;
Ottc^ öer Sd)üler ^öt)erer Klaffen toirö öiefe Cautuntcrtoeifung immer toieöcr mit
neuem Hu^en oorne^men fönnen.
Hus öen Urteilen über öas $tro!)mct)erfd|e UntcrridjtstDerf 11
anes in allem ift aud) 5er (Befamteinbrudt 5er Übuit9$bä({)er oor^
Sfiglid), un5 es ftann iteinem Stoeifel unterliegen, 5ag 5{e Derfaffer 5as
olerfod)e 3iel, 5as fie ft(i) nod) 5cm Dortoort fted^ten, tatfä(I}Iid) erreid)t
l)oben, nömlidj: 1. 5te Sprod)e ouf ©runö pfpdjologifdjer Pertiefung ju
Iel}ren, 2. ed)tes $rttn3Öfifdi 3U bieten, 3. öen freien ©ebraud} 5er Sprodjc
3U för5ern, 4. ein pralttifc^es, allen Begabungsfdiattierungen angepaßtes
Bud) 3U f dl äffen."
(£u5i»{g ©eijer In „Die neueren Spradjen". Ban5 24 I^eft 6. ©fttober 1916.)
„Unferc notgcörungen nur öic I}auptfad)cn I)en)orf)cbcnöe Bcfdircibung öet
beiöen (Eiemcntarbüd)cr rotrö öod) unfdjxDer crfenncn laffett, öafe in 5em Strof|=
mcljerfdjcn UntcrridjtstDerf alles 3ufammentDir!t un6 fi(^ gcgenfcitig unterftü^t,
loas erforöerlid) ift, um ,5cn Untcrrid)t in öen neueren SrcTi^öfpradjen im Ejin=
blid auf öas le^te 3iel 6er f|öf|ercn Cefjranftalten im fprad)tDtffen[d)QftIid}en
6cifte 3U oerticfen'.
Die Ijauptmittel, öercn es ftdj beöicnt, finö, um nod) cinmol 3ufammen3u=
faffen: öie ansieljcnöcn tLejte befter moöerner SdjriftftcIIer, öie fi)ftematif(^ an=
georöneten Übungen 3ur Pflege öes freien Husörurfs unö öie öie Sprad)erfd)ci=
nungen unter Derroertung öcr t)iftorifd)en unö pftjdjologifdjen (Brammatif aus
fidj felbft Ijeraus erflörenöc Beljanölung öer (brammatif.
IDcnn öer ©rommatifbanö unö öie (Dberftufc öie öurd) öas (Elcmentarbud)
erregten (Ertoartungen erfüllen, fo Ijätten mir öamit öas fran3öfifd|eUnterrid)tsiDerf,
öas toir für xmfere I)öf|eren Sdjulcn braud|cn, unö fönnten oon toeiterem Sudicn
unö r>erfud)cn abfeljen." (Die Ijöl). Utäödjenfdjulen. 29.3olirg. 1916. tjeftS.)
„. . . Strof|mei|ers ®rammatif ift nid)t öas erfte Bud) feiner Art, aber es
toill mir fd)cinen, als ob es öas beöeutenöfte ift. ...
eigenartig toic öie flnorönung öer gan3en (Brammatif ift aud) öie Bef)anö'
lung öer einsclncn Kapitel, öie überall forgfältigcs Stuöium, feines fprad)»
pfi)^ologifd)es öcrftänönis unö ein ni^t gerDöl)nlid)es päöagogifd)es (Befc^id
erfennen läfet. Das Dogma öer Regel I)at feine Rolle ausgespielt, 3nöcm öcr
Derfaffcr oon öem innerften IDefen fcöer (Erfd)einung ausgel)t, toirö fie, too es
nötig ift, in allen i^ren pi)afen entroidelt, fo öafe fie gleid)fam als etu)as £cbcn=
öiges »or öie Seele tritt. Ulan oertiefe ftd) in öen flbfd)nitt über öen Hrtifel,
über öie Seiten, über öie Präpofttionen, über öie XDortftellung : man toirö 3U'
geben muffen, öafe öcr Derfaffcr feine Aufgabe in feinfinniger IDeifc erfaßt unö
gelöft I)at. Dabei l)at er es oerftanöcn, in öer Begren3ung öes Stoffes öas
lDid)tigfte oom Untoi^tigen 3u unterf^ciöcn unö öas (Entbeljrlidjc tDeg3ulaffen.
anöererfeits tocröen aud) feinere (Erfd)einungen berüdfid)tigt, fotoeit fie für öas
Derftänönis oon öcr (Eigenart öer fran3Öfifd)en Sprad)e oon Beöeutung finö.
. . . Daö öcr Derfaffer fid) auf fclbft gcfammcltc Bcifpiele ftü^t, öie 3um größten
Icil öen £el)rbüd)ern entnommen unö mit genauer (Quellenangabe t)crfel)cn
finö, crmöglid)t u. a. öie (Einreil)ung in einen größeren (Beöanfensufammcnljang
unö fü^rt öen S^üler in öie nietf)oöe rDiffenfd)aftlid)er Hrbeit ein. . . ."
(ntonatsfdjrift für Ijo^cre $d)ulen. 1916. tieft 5/6.)
„Der £efer roirö fid) erinnern, öa§ feine fran3Öfifd)e oöer cnglifc^c Sd)ul»
grammalif rooljl eine RTenge Regeln cntl)ielt, aber feiten eine (Erflärung unö
Begrünöung öasu. (Es l)errf^te bisl)er im iDefentlid)cn öie metl)oöc: öu l)aft
founöfo 3U fd)rciben — roarum, geljt ötd) nid)ts an. Unö fo beöcutet es öenn
einen $iebenmeilcnftiefcl»5ortfd)ritt, roenn toir enölid) ein fran3öfifd)es Unter»
rid)tstDcrl erf)alten I)abcn, öas öie 5orfd)ungen öer Sprad)rDiffenfd)aft . . . öcr
Sd)ulc 3ugänglid) mad)t.... (Es ftammt oon Prof. Dr. 5ri^ Strol)met)er , öem
Direltor öes IV. Stäötifd)en £i)3eums 3U IDilmersöorf, einem ITtanne, öcr päö»
agogtfd)es (Bef(^id unö D)iffenfd^aftlid)e (Brünölid)feit in feltenem erftaunlid^em
lUafee t)ercinigt. £)icr (unö 3umal in öcr ®rammatif) toirö nid)t mcl)r bloß
12 Aus öcn Urteilen über bas StroIjTnetjcrfc^e Unterri(^tstDerI
fotnmanötcrt. Unö öarum ift es aufs tnmgfte 3U roünfi^cn, öofe ötcfcs Unter»
ridjtsiDcrf (crfditencn bei (Eeubncr) nun au6] öie Dcrbreitung finbe, öie i^nt
gebül)rt. Der Rud naä) oortDärts, 6cn es 6cm Sprod}untcrrid)t gibt, ift fo bt*
öeutenö, öafe es bercdjtigt crfdjeint, an öicfcr Stelle öarauf aufmcrffant 3u madjen."
(Prioatöosent Dr. (Eugen Ccrd), Ulündten, im „tlag" o. 4. 3uli 1919.)
„mir fdjcint, öafe oon allen Sdjulgrammatifen öie 3I)rige bicjenige ift, öie
es am bcften oerftanbcn Ijat, öcr Sdjule fo oiel, ols praftifd) linö öiöafttfd) mögli(^
ift, oon öer «)iffenfd)aftlid)en Sprad)betra(i)tung 3U3ufü!)ren. Das ift fein Kom«
plinient, fonöern eine Uberseugung, öie idj mir im legten Semefter gcbilöet ^abe,
als id) Seminarübungen an öer Uniocrfität f)ielt über öas Dcr^ältnts oon S^ul»
grammatif unö Spradjtoiffcnfdjaft."
(Aus 3ufdirift oon UniD.»prof.Dr. Korl PoJ3ler,tnünd)en, o. 3. XI. 19 a. ö. Derf.)
„3(^ fann Derf affern unö Dcrleger 3U öem Gebotenen nur gratulieren; öle
Büd|er roeröen öort, roo fie 3ugrunöe gelegt roeröcn, öen Sdjülern ein gutes,
tnoöcrnes unö töiomatifd)es Sransöfifd) unö öie Kcnntniffe geben, fid) 3unä(^ft
in öer umgebenöcn IDelt fUcfeenö unö rid|tig ausörüden 3U fönnen. Dem Bud),
öas in praftifdjer tDeifc öie Soröerungen öer Reform mit öenen einer Der»
mittelnöen ITtetlioöe oereinigt unö eine ft)ftcmatifd|e Dertoertung öes
IDortfdja^es in öen t)erfd)icöencn Übungen 3U erreid)cn oerfud)t, ift oiel»
fa^e (Erprobung in öer prajis 3U tDünfd)en." (Prof. Dr. R. ftdtermonit,
(Dberftuöienrat, Reftor öes Real« unö Reformgt)mnafiums in Itürnberg.)
„Das Strol)met)erfd)e IDerf l)abe id) mit großem 3ntereffe gclefen. (Beraöc
fold) ein Bud) fud)lc id). (Es ftef)t cinsig öa. Die (brammati! ift auf roiffen»
fd)aftlid)er Bafis aufgebaut unö erleid)tert unö föröert fo öas üerftänönis un«
gemein. Der Bilöfdjmud ift fd)ön, öie Sprcd)übungcn unö Anleitungen 3U
fluffä^en fc!)r gut. I^oljc flnforöerungcn roeröen an öen Sdjüler geftellt, aber
öas Bud) ift fo intereffant, öa^ öer Sd)üler es aud) fpäter gern in öie t^anö
nel)men roirö. Die Sprad)e roirö il)m fo lieb, öafe ii)m ein IDciterarbeiten als
felbftoerftänölid) erfd)eint." ((Dberlel)rerin D.Ijer^ci, Diftoriafd)ule, (5rouöett3.)
„ . . . Das mir überfanöte Bud) l)at, töie öie oorl)ergcbenöen Strol)mei)erfd)en
Büd)er, meinen tiefftcn U)ünfd)en entfprod)en. (Es ift bei toeitem öas oollfom«
menftc unö anregenöfte Bud) öiefer (battung, öas id) fenne."
((Dberl. Koller, Realgt)mn., ftljlen i. tD.)
„3n öer grammatifd)en Abteilung ift mir cor allem öie sroedmäfeigc (bruppie»
rung öer unregelmäßigen Derben unö in öer tDortbilöung Sie Sufammenftellung
Don Stamm» unö abgeleiteten IDörtern Dorteill)aft aufgefallen, ein öor3ug, öen
tDcnige Büd)er aufsuraeifen l)aben.
Der £efeftoff öer (Dberftufc ift inljaltlid) red)t oielfeitig unb intereffant, 3U»
mal er außer literarifdjen flbI)onölungen oiel Kulturgefd)id)tlid)es über £anö
unö £eute bringt, öas öurd) Dor3ügli(^e Hbbilöungen Deranfd)auli(^t toirö.
BefonÖers fleißig unö cinge^enö ift öer Übungsftoff, öer öas (5rammatifd)e 3U
oerticfen ^at, ousgearbeitet, öer an3ief)enöe (Epifoöen beöeutenöer ITTänner bringt.
Scl)r glüdlid) ift ferner öie flustoal)! öer (Bcöid)te getroffen, an öie fid) no(^
reid)lid)es ITlaterial für Huffa^übungen anfd)ließt. Da öie fran3öfifd)e Husöruds»
roeifc überall einfad), flar, aber ftcts iöiomatifd) ift unö öas Bud) fid) eines
befonöers guten Drudes erfreut, fann öeffcn (Einfül)rung uiarm empfol)len roeröen."
(Prof. £. S^eibert, Kaifcr-)Dilljelm=(Bi)mnafium, (Dftetoöe i. (Dftpr.)
„3d) liobi nad) öem Strof)mei)erfd)en tOerfc gearbeitet uni) öamit öie beften
(£rfaf)rungen gemad^t, (Es I)ält infolge feines ed)ten (Bemaltes unö feiner auf
pfi)d)ologifd)cr (brunölage aufgebauten (Brammatif öas 3ntercffe öes Sd)ülers
gleid) wad\ roie aud) öas öes £el)rers (cor allem öeffen £aune unö Stimmung).
(Es ftellt öurd)aus nidjt 3U ^ol)e flnforöerungen on öie Sd)üler, öa öas IDerf,
meti)oöifd) aufgebaut, jeöen neuen Sd)ritt genügenö oorberettet."
(ODberlcbrer ^cinrid), £ebrerfcminar, £öbou.)
;^ufrpco<^MI^otir<^^pryc^olo0ir<^ec<&rttn6lo0c
Don Prof. Dr. Jrl^ 6tro^mcjfcr
Direltor öes 4. Cp3eutns 3U Berlin » IDilmersborf
[VI u. 298 S.] gr. 8. 1921. (2eubners pljilologifdje Stubtcnbüd)cr.)
(Bebunbcn TIT. 16. —
l7icr3u iEeuerungs3ufd}Iag bcs Dcrlags 120'\, aSönberung oorbe()aIten
Die Dorltegenöc (Brammotif toül ein pfijdjologtfd) begrünöetes Aaraftcriftü
fcf)es Bilö öcr fransöfifdjen Spraciic enttocifcn, bas unter Bcifcitelaffen alles
£efifaUfd)cn unb feltencr Son6ererfd)emungen iiid)t etnfadj Regeln unö Hus«
nal^men regiftrtcrt, fonbem bie fpradjgcftaltcnbcn Kräfte, insbefonberc btc
IDirfungcn ber Analogie, fjeroortjebt, anbercrfcits auf bcn erftarrcnbcn (Ein»
flufe ber (Brammattf er l)intDeift unb flusbrurfsformen, bie ber $d)rift-
fpra,(f)c ober ber Umgangsfpradje, ber familiären flusbrudsroeifc ober
öcr DoIIsfprad)c, bie ber rcflcftierenben ober ber cffcftoollcn Rebe«
tDcifc eigen finb, als fol(f)c fennseidjuet. Soroeit bas ntobernc Sprad|empfinben
nidjt mit ber I)iftorif(f)cn Spradjentiridlung im tDiberfprud) fteljt, ift ferner
ben (Ergebniffen ber f)iftorifd)cn$pradiforfd)ung Redjnung getragen. Der
©e famtauf bau bes Stoffes toeid^t oon bem bisljer überlebten flnorbnungs=
prin3ip ah unb fud)t bas Qrammatifdjc RTatcrial in ben nier flbfd)nttten Caut,
EDort, IDortgruppe, Sa^gc^ge 3u einer organif(i}cn (Einf)cit 3U oerbinbcn.
(Eine S^IU auf eigenen reidjtjaltigen Sammlungen beruljcnber (Driginalbcifpiclc
unb ein ausfü{)rltd)es StidftDortDerjcidjnis erl)öl)en ben tDert bes Budjes, burd)
bcffcn (Erfdjeinen sroeifellos einem bei £el)rcnbcn unb Stubicrcnbcn bes 5tan=
3Öfifd)en beftef)enben Bebürfniffe abget)olfcn toirb.
Don bemfclbcn Derfaffer crfc^cint in flnlcl|nung an 6ic „ ^ransöfifc^c
(Bramniati!" bcmnäd|ft:
^.übungebuc^ 3ur fron3ofi|<^en 6tammoti!''
(Entfjält 3ur Einübung ber grammatifdjen €rfd)einungcn beutfdjc aus fran=
3Öfifd)en Sdjriftftellern entnommene Überfc^ungsfä^c unb fron3Öfifd)e
(Driginalbeifpiclc als (Ergänsung ber Beifpiclfammlung ber (Brammatif.
Die moderne fron3cfi|c^e profa (l $70-1 ^20)
Don Dr. D. j^Umpercf
Prof. a. b. Sei}«, fjocfijdiulc In Dresöen
(dcubncrs pI)iIoIogifd)e Stubicnbüi^cr.) pn Dorbcreituhg 1921.]
Das Bud) entfjält aufeer bin eigentlidjcn {Testproben, btc fo 3ufammengeftcllt
roerben, bafe aus iljnen bie (Entroidelung ber moberncn Profa mit Be3ug auf
Darftellungsatt unb Sprad)bel)onblung crfid)tlid) toirb, einen längeren ein«
fül)rcnbcn (Effaij, ber unter l)iftorifd)en (Befidjtspunftcn einen Übcrblid über
bie irtittel ber Kompofition, ber (Eedjnif, bes Stils ufto. gibt. 3ur Deranfdiau«
lid)ung bes (Befagten toirb auf d)orafteriftifd)e Beifpiele in ben tEcftproben
befonbers oermiefen. Das Bud} toirb insbefonberc aud) als £eftürc in bcn
oberen Klaffen ber Realoollanftalten befonbers ber (Dberlt)3ccn unb Stubien»
onftaltcn mit ITu^en 3u oerrDcnben fein.
ÜerlQ0 oon 6.6.(reubner in £eip3tg und 6etitn
ptetfe freibleilienö
6(0 n(ufptra<^H<^en Untet(i<^t0
Banb I:
2>U <5rundiog(n
Don Prof. Dr, P^. /HtOnftcin^ Stu&tenrat am SopI)f«ii=Real9t}mnaiium in Berlin
[IV u. 110 S.] gr. 8. 1921. Kort. IK. 6.80
l7ieT3u Seuerun9S3ufd)Iag'&es Oerlogs 120%, Alifinbetung t)or6ei}alten
3nl)altsüber|id)t:
I. ^iflorif<^»fritlf(^cr Ccil: flnfid)ten über bas IDefen öer Spradjc als foldjcr.
Stele öcs frembfpradjlidjen Stuöiums. Die lUetljoöen öes fremöfpra(f)ltd)cn
Untcrridjts nad) il)ren pfi)d)oIogi[d)en ©runölagcn.
II. Z>ic Prin3ipkn tte fremdfprQ(f)ii<^cn Untcrrt(i>t0 : Die p{)t}fioIogifd)e Seite
öer fremöen Spradjc: £aut unö Sdjrift. Die formale Seite öes fremöfpradj»
Iid)cn Unterrid)ts. Der Spradjftoff ober BetDu6t|cinsint)aIt 5es frcmöfprad)=
lidjcn Untcrrid|ts. Die Auf nafjtne unö ücrarbeitung öes Sprad)ftoffes buxö) öcn
£crnenöen. Der Sprad}ftoff oIs ITItticI öcr[(Einjüf|ruTig in öas frcmöc üolfstum.
Dicfer erftc öie allgemeinen mctI|oöifd)en (Brunölagcn öes neufprad)Iid)cn
Unterrid)ts bcfjanöeinöc Banö fud)t öie 3um üerftänönis öer fdjtoierigen
Probleme öcsfelben nolroenöigc fefte lI)eorctifd}c Bafis 3U getoinnen, aus öem
tOefcn öer Spradjc als menfdjlidjem flusörudsmittel, öem pfijdiologifdjen Der»
Ijältnis öer Src^ttöfpradic 3ur ITIutterfpradie, öen Aufgaben öes ncufprad)ltd)cn
Untcrri(f)ts an öer Bilöungsfd)ulc unö öer pf)i)d)oIogie öer lernenöen 3w9e'ii>-
3m crften ?EeiI roirö öer (Bang öes metljoöifdjen Denfcns bis 3ur (Begcn«
toart I)iftorif(f)»fritifd) öargelegt unö erläutert, öanad) roeröen öie prinsipien
öes ncufprad)Iidicn Unterridjts in allen i^ren Deräroeigungcn entroidelt: öie
pI)t)fioIogif<f|C Seite öer fremöen Spradjc (Caut unö Sd)rift) unö öie formale
Seite öes fremöfprad)lid)en Unterridjts (tDort nad) 5or"i «"ö Beöcutung für
öie (Ertoerbung öes IDorlfdja^es), foroie öie flusörudsgcftaltung öer 5tcmö=
fprad)e (öie ©rammatif nad) (Erllärung, Einübung in £cftüre, Ejinübcrfe^ung
unö öirelten Übungen) ; ferner toirö öer Sprad)ftoff betrad)tet als (Begcnftanö
öer flppcrseption, fotoie in feinen fad)lid)en (Brunölagen unö oom Stanöpunit
feiner nationalen ®runölage, enöUd) loirö öie flufnal)me unö öerorbeitung
öes Sprad)ftoffcs unö feine Benu^ung als mittel öer (Einfül)rung in öas fremöe
Dolfstum bcl)anöelt.
IDciterc Bänöc follen auf öiefer (Brunölage öann 3unäd)ft öas (Englifd)c
unö 5ran3öfifd)c als (Bcgenftanö öes Sd)ulunterrid)ts öarlegen.
Jn t)orbcreltuti0 befinden fi^:
aond 11 : aiett)odi0 öe» cngüfc^cn Unterrichte. Don Prof, Dr. pi). ^ron^ein.
6ond HI: inetl)odif dea fron3Ö|ifd)en Unterric^ta.
t)trla0 oon^*6.(rcubnct in itip^ig und Berlin
pretjc freibleibend
COLLECTION TEUBNER-TEUBNER'S SCHOOLTEXTS
Begründet v. F. Doerr, H. P.Junker, M.Walter, fortgesetzt v. F. Doerr u. L Petry.
Die Sammlurig will die Möglichkeit bieten, die in der Schule gelesenen Schriftsteller ganz
In ihrer eigenen Sprache zu erklären; in diese Arbeit teilen sich je ein deutscher und ein
französieeher oder englischer I?earbeiter. Bei der Auswahl des Stoffes ist der Gesichts-
punkt maßgebend, für die fremde Sprache und Kultur ein nur durchaus charakteristisches
Werk zn bringen. Frähere Sprachepochen sind mit Proben der größten Meister vertreten,
hauptsächlich aber soll Wertvolles aus der französischen und englischen Literatur des
1&. Jahrhundert« geboten werden, die wichtigsten Ereignisse der Geschichte des betreffen-
den Volkes in der Darstellung hervorragender Historiker vorgeführt und das Leben der
beiden Völker nach dem jetzigen Stande in den Hauptzügen geschildert werden. Der
Kommentar will die Leklüre leichter, genußreicher und fruchtbringender gestalten, und
es soll darin nur das zum Verst&ndnis der Stücke und ihrer Sprache Nötige gegeben
werden. Die Bände sind meist mit charakteristischen Abbildungen vorsehen.
COLLECTION TEUBNER
1. Moliäre, L'avare. Von Bornecqueund
Junker. Texte^kart. .H 1.20; Notes
kart. ^ — . CO.
8. Michelet, Jeanne d'Aro. Von Charlity
und Kühn Texte kart. Ji 1.20; Notes
kart. JC —.60.
S. Moli^re, Les femmes savantes. Von Bor-
necque u. Junker. Texte kart. Ml. — ;
Notes kart. JC 1. — .
4 Flaubert, UncoBur simple. VonAnglade
u.Meyer-Harder. Texte k&it. M. 1.20;
Notes kart. J(. —.80.
5. Le Midi de la France. (Morceaux ehoisi«.)
Von Cirot und Petry.
I. Le Midi et le Sud-Ouest Texte kart.
Jt 1.20; Notes kart. M —.60.
6. II. La Provence et la Corae. Texte kart
M 1.20; Notes kart. Ji —.60.
7. L'annöe terribie. (Morceaux choisis.) Von
Co in tot und Sturmfels. Texte kart
JC 1 40; Notes kart JI — 60.
8. Paris I. Von Delbost und Petry.
Texte kart. ^ 1 . 80 ; Notes kart. Ji. — 80.
9. De Vigny, Une hlst.de la Terreur. — Laurette
ou le Caohet rouge. Von Denis u. Ost.
Texte kart. .,«1.40; Notes kart. ^C — . 80.
10. La Revolution fran9aise. I. L'Assembl6e
Constituante et rAssembiöe Ldgislative.
Von Hardy u. Leicht. Texte kart.
M 1.20; Notes kart. M -.80.
11. II. La Convention. Von Hardy u.
Leicht. Texte kart. Ji —.80; Notes
kart. J( —.80.
12. Moliere, Les pröcieuses ridicules. Von
Bornecque and Junker. Texte kart.
Ji —.60; Notes kart. Ji —.80.
TEUBNER'S SCHOOL TEXTS
1. Shakespeare, Julius Csesar. Von Moor-
man und Junker. Text kart. ^^t 1 . 20 ;
Notes kart. Ji — . 80.
2. An Introduction to Shakespeare. Von
Moorman. Kart. Ji 1.20.
8 Shakespeare, Macbeth. Von Moorman
und Junker. Text kart. Ji 1.20; Notes
kart. Ji —.80.
4. Froude, History of the Armada. Von P e a r o e
und Kiedel. Text kart. M 1.40; Notes
kart. ^fC—.hO.
5. Shakespeare, Merchant of Venloe. Von
Moorman und Sander. Text kart.
^1.20; Notes kart. Ji —.80.
6 Carnegie, Empire of Business (Selcctiom)
V. Ca rp enter u. Lindoraann. Text
kart. Ji 1.20; Notes kart. Ji —.80
7. Besant, Elizabethan London. VonDenby
und Böhm. Text kart. M. 1.20; Notes
kart. ^H. —.80.
8 Spencer, Social Statics. Von Allana.
Besser. Text kart. Ji 1.20; Notes
kart. Ji — . 80.
t». Ruskin, Unto this Last. V. Holt n. Leicht
Text kart. Ji 1 .40; Notes kart. J{ —.80.
10. Carlyle, Selections from Oliver CromweH's
letters and Speeches and on heroes,
Lecture VI. Von Allan und Besser.
Text kait. Ji 1 .20; Notes kart. M —.80.
In Vorbereitung befinden sich:
Shakespeare, Henry IV. Von Moorman u. Sander.
Auf sämtliche Preise Teuerungszuschlag des Verlags 120 ",, (Abänderung vorbehalten) und
teilweise der Buchhandlungen
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin
Preise freibleibend
Zum neusprachlichen Unterricht
Andrew8,E.,A.,AshortHistory ofEnglish Literature. 2. Aufl. Kart. J^4.—
Aronstein, Ph., Methodik des neusprachlichen Unterrichts. I. Die
Grundlagen. Kart. M. 6.80. II. Methodik des englischen Unterrichts.
III. Methodik des französischen Unterrichts. [U. d. Pr. 1921.]
Cretin, P. M., La France. Passe. Present. Avenir. . . . Geb. M 2.40
Flagstad, Chr. B., Psychologie der Sprachpädagogik. Versuche zu einer
Darstellung der Prinzipien des fremdsprachlichen Unterrichts auf Grund
der psychol. Natur der Sprache. Geh. Ji b. — , geb JC <o .QO
Friedrich, Fr., Auswahl französischer Lyrik n. einig.Fab.La Fontaines.
Nach Stoffgebieten geordnet für den Schulgebrauch hrsg. Kart. Jt 2. —
Jespersen, 0., Lehrbuch der Phonetik. Deutsch von H. Davidsen.
Mit 2 Tafeln. 3. Auflage. Geh. JC 12.—, geb ,H, 14.—
Elementarbuch d. Phonetik. Geh.J^S. — , geb JCöAO
Phonetische Grundfragen. Mit2Fig.i.Text. Geh. J^3.60,geb.</^6.—
Growth and Structure of \h.?) English Language. 3. Aufl.
Geh. Jt 3.—, geb., Ji 4.50
Jones, D., 100 poesies enfantines. Geh. JC 1.80, geb M 2.20
Intonation Curves. Steif geh J( 2.60
An Outline of Engl. Phonetics.Withl31ill.Geh.c//U0.-,geb.c/Ä:i2.-
Krebs, E., Abrege de l'histoire de la littörature fran9aise de
Corneille ä nos jours. 5. Auflage. Kart Jt 1. —
ündelöf, U., Grundzüge d. Geschichte d. engl. Sprache. Kart. Ji 4t. —
Meillet, A., Einführg. i. d.vergl. Grammatik d. indogerm. Sprachen.
• VomVerf. genehm. u.durchges.Übers.v.W.Pr in tz. Geh.</^7. — ,geb.c/^9.40
Noel-Armfield, 6., 100 Poems for Ghildren. Steif geh. . . . JC 2.—
Passy, P., Petite Phonötique comparee des principales langues euro-
peennes. 2. Auflage. Geh. oü 2. — , geb Ji 2 AQ
etRambeau, A.,Ghre8tomathie fran^aise. 4.,verb.Aufl. Geb.</^7. —
Porzezinski, V., Einleitung in die Sprachwissenschaft. Autorisierte
Übertragung aus d. Russ. v. E. Böhme. Geh. Ji %. — , geb. </Ä 6. —
Quiehl, K., Französische Aussprache und Si^rachfertigkeit. Ein
Hilfsbuch zur Einführung in die Phonetik und Methodik des Fran-
zösischen. 6. Auflage. Kart Ji 12.—
Sakmann, P., und Dieriamm, G., Französische und englische Dichter
und Schriftsteller in der'Schule. Geh.. M 1.40
Sommer, F., Vergleichende Syntax der Schulsprachen (Deutsch, Englisch,
Französisch, Griechisch, Lateinisch). Mit besonderer Berücksichtigung
des Deutschen. Geh. JC 8. — , geb Ji 10 . —
Thiergen-Hamann, English Anthology containing specimens of English
Poetry and Prose with Lives of Authors. From the 14*1» eentury to the
present day. Mit 26 Illustrat. und 1 Karte. Geb Ji GAO
Thiergen, 0., Methodik d. neuphil. Unterr. 3. Aufl. Ji SAO, geh. Ji Q. —
Victor, W., Deutsches Lesebuch in Lautschrift. I. Fibel u. erst.
Lesebuch. ö.Aufl. Geb. ^3.- IL Zweit.Lesebuch.2.Aufl.Geb. J^3.-
Kleines Lesebuch in Lautschrift. ' Kart Ji — .80
und F. Doerr, Englisches Lesebuch. Unterstufe. Teil I. Aus-
gabe in Lautschrift von E.R.Edwards. 2. Aufl. Geb. . , Ji 2.20
Wähmer, R., Spracherlernung u. Sprachwissenschaft Die Anglie-
derung des Sprachunterrichts in den wissenschaftl. Bildungsplan der
höh. Schule dargelegt am Französischen. Geh. Ji 2. — , geb. Ji 2.^0
Auf sämtl. Preise Teuerungszuschlag des Verlags 120'\, (Abänder. vorbeh.) u. teilw. der Buchdig.
Verlag von B. G. Teubner in Leipzig und Berlin
Preise freibleibend
■Druck von B. G. Teubner in Leipzig.