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Full text of "Monatsschrift für höhere Schulen"

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ßllBIFß  LIST  FEB  I     1924. 


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Monatschrift 


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höhere  Schulen. 


Begründet  von  Dr.  R.  Köpke  und  Dr.  A.  Matthias. 


Herausgegeben  unter  Mitwirkung 
namhafter  Schulmänner,  Universitätslehrer  und  Verwaltungsbeamten 


von 


Dr.  Max  Siebourg,         und 

Vizepräsidenten  des  Provinzialsdiulkollegiums 
in  Coblenz. 


Dr.  Paul  Lorentz, 

Oymnasialdirektor  in  Spandau 
Gelieimem  Studienrat. 


XX.  Jahrgang.      11.  u.  12.  Heft. 
November — Dezember 


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BERLIN 

WEIDMANNSCHE  BUCHHANDLUNG 
1921 


Inhalt. 


Erste  Abteilung. 
Abhandlungen. 

Seit« 

Bathe,  Der  lateinische  Unterricht  am  Realgymnasium. 347 

Bersu,  Bemerkungen  zum  „Lehrplan  für  den  Unterricht  in  der  Religionsgeschichte"  65 

Borbein,  Hermann  Lietz  und  die  höheren  Schulen 292 

Cauer,  Ein  umstrittenes  Komma 26 

Ehringhaus,  Der  Lehrplan  für  den  Lateinunterricht  an  Oberrealschulen  83 

Fittbogen,  Das  Auslanddeutschtum  in  der  Schule 129 

Fränkel,  Der  Wert  aer  linkshändigen  Ausbidlung  für  Schule  und  Staat 94 

Gaede,  Unter  dem  Bakel   371 

Goldbeck,  Die  jugendliche  Persönlichkeit    278 

Hartstein,  Zur  Turnreifeprüfung 362 

Hölk,  Wie  ist  heute  der  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  zu  erteilen?   329 

Kaestner,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten  im 

Sommersemester  1920 , 170 

— ,  Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten  im  Winter- 
semester 1920/21 365 

Kaiser,  Aus  einer  Ansprache,  gehalten  bei  der  hundertjährigen  Jubelfeier  des  Kreuz- 
nacher Gymnasiums  am  19.  Mai  1920 321 

Kern,  Kleine  Hilfsmittel  für  den  Geschichtsunterricht 222 

Knögel,  Inwieweit  hat  Mittellateinisch  im  Gymnasialunterricht  seine  Berechtigung?  203 

Kumsteller,   Die  Neuordnung  des  Geschichtsunterrichts 18 

Lietzmann,  Fachwissenschaftliche  Didaktik  an  der  Universität   155 

Litt,  Wissenschaft  und  höhere  Schule  274 

Lorentz,  Emil  Ludwigs  Goethe 308 

Lotz,  Lehrplanpolitik 193 

Menge,  Was  kann  Fontane  unsern  Schülern  sein 67 

Müncheberg,  Die  Schülerselbstverwaltung 30 

Neubauer,  Rede  zur  Vierhundert jahsfeier  des  Städtischen  Gymnasiums  zu  Frankfurta.M.  10 

Niedlich,  Klassische  Metrik,  deutsche  Rhythmik  und  deutsche  Kultur 146 

Otto,  Ein  Wort  zur  Verständigung 80 

Schmidt,  Zum  neusprachlichen  Unterricht 124 

Schneider,  Zur  Förderung  des  Geschichtsunterrichts 216 

Schroeder,  Zur  Neugestaltung  des  deutschen  Unterrichts:  Notwendigkeiten  und  Mög- 

jlichkeiten 4 

Schülke,  Zwanzigvier  statt  vierundzwanzig 224 

Siebourg,  Zur  Jahreswende 1 

-,Philologen  und  Schulmänner 257 

Spranger,  Die  drei  Motive  der  Schulreform 260 

Trinkwalter,  Die  Schicksalsfrage  des  deutschen  Volkes  und  die  höhere  Schule  ...  161 

Wahner,  Schul-  und  aufgabenfreie  Halbtage  und  turnerische  Wanderungen 228 

Weerth,  Studientage  oder  freie  Arbeitstage 38 

Wickenhagen,  Turnen,  Spiel  und  Sport  im  Lichte  der  Gegenwart 86 

Wiesenthal,  Zur  Ausbildung  der  Studienreferendare   355 

Wi  Imsen,  Zum  systematischen  Aufbau  des  neusprachliche.n  Unterrichts  der  Oberstufe  311 

Winter,  Die  deutsche  Schule  Ostasiens  im  Kriege 102 


IV  Inhalt. 

Zweite  Abteilung. 
Bücherbesprechungen. 

a)  Sammelbesprechungen. 

Seit« 

Chemie  und  Mineralogie,  angez.  von  Studienrat  Dr.  Mendelsohn 238 

Zur  Relativitätstheorie,  angez.  von  Professor  Dr.  Petzoldt  in  Spandau 325 

b)  Einzelbesprechungen. 

Aristoteles,  Topik,  angez.  von  Univ.-Prof.  O.  Braun  in  Basel  377 

Birt,  Theodor,  Römische  Charakterköpfe,  angez.  von  Vizepräsident  Dr.  Siebourg    180 
Conrad  Born  hak,  Deutsche  Geschichte  unter  Wilhelm  IL,  angez.  von  Studienrat  Karl 

Reichel  in  Charlottenburg 385 

Brandi,  Deutsche  Geschichte,  angez.  von  Geh.  Studienrat  Direktor  Dr.  F.  Neubauer 

in  Frankfurt  a.  M 53 

Burger,  Die  experimentelle  Pädagogik  in  ihrer  Entwicklung  zur  neudeutschen  Päda- 
gogik, angez.  von  Oberstudiendirektor  Dr.  L.  Macken  sen  in  Pankow 255 

Classen,  Leben  Jesu,  angez.  von  Oberstudien-Direktor  Kannegießer  in  Berlin  ..     376 

Claus,  Das  Schuldirektorat,  angez.  von  Sondag  in  Ehrenbreitstein 62 

v.  Christ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur,  angez.  von  M.  Siebourg  in  Pfaffen- 
dorf        51 

Deutsche   Gebete,     Wie  unsere  Vorfahren  Gott  fürchten,    angez,  von  Prof.  Dr. 

Wilhelm  von  Capitaine 242 

Deutscher  und  französischer  Katholizismus  in  den  letzten  Jahrzehnten,  angez.  von 

demselben 243 

Deutsche  Lieder.     Klavierausgabe  des  Deutschen  Kommersbuches,  angez.  von  Dr. 

Breucker  in  Altona 389 

Deutsches   Volk   und   Christusglaube,  angez.  von  Prof.  Dr.  Wilhelm  B.  v. 

Capitaine  in  Pier  (Düren) 242 

Dieck,  Stoffwahl  und  Lehrkunst  im  mathematischen  Unterricht,  angez.  von  Studien- 
rat Dr.  Wolff  in  Hannover 388 

Eberhardt,  Das  Buch  der  Stunde  und  Blätter  der  Stunde,  angez.  von  P.  Lorentz 

in  Spandau 241 

Izhac  Epstein,  La  pensee  et  la  polyglossie,  angez.  von  Prof.  Dr.  Felix  Hartmann 

in  Berlin-Schöneberg 117 

Fehler,  Erweiterung  und  Vertiefung  des  französischen  Wortschatzes,  angez.  von 

Studienrat  G.  Humpf  in  Elmshorn 55 

Feldbriefe  katholischer  Soldaten,  angez.  von  Wi  Ihelm  B.  v  on  Capitaine  in  Pier    110 
Aloys  Fischer,  Über  Beruf,  Berufswahl  und  Berufsberatung  als  Erziehungsfragen, 

angez.  von  Oberrealschuldirektor  Wilh.  Lohmann  in  Flensburg 124 

Frickenhaus,  Die  altgriechische  Bühne,  angez.  von  Studienrat  Adolf    Stamm 

in  Planegg  bei  München 244 

Geschichte  der  göttlichen  Offenbarung,  angez.  von  Prof.  Dr.  Wilhelm  B.  v.  Capitaine 

in  Pier  (Düren) 109 

Lehrbuch  der  Geschichte  der  göttlichen  Offenbarung,  angez.  von  demselben 109 

Graf,  Los  vom  Philologismus!  angez.  von  Oberstudiendirektor  L.Mackensen  in  Pankow  254 
Günther,  Die  deutsche  Gaunersprache,  angez.  von  Oberregierungsart  a.  D.  Dr.  Jos. 

Buschmann  in  Coblenz 244 

Hacks,  Die  Aufgaben  der  Realanstalten  nach  dem  Kriege,  angez.  von  Oberstudien- 
Direktor  Dr.  Wilmsen  in  Spandau 58 

Hartmann,  Untersuchungen  über  die  Sagen  vom  Tod  des  Odysseus,  angez.  von  Studien- 
rat Dr.  R.  Pappritz  in  Naumburg  a.  S 49 

5.  Hauptmann,  Heimatkunde,  angez.  von  Studienrat  Dr.  Niedlich  in  Berlin- 
Friedrichsfelde  ! 118 


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ffit* 

M.  Havenstein,  Die  alten  Sprachen  und  die  deutsche  Bildung,  angez.  von  Oberstudien* 

Direktor    Dr.  L.  Mackensen  in  Berlin-Pankow 125 

Hegel,  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der  Weltgeschichte,  angez.  von  Paul 

Lorentz  in  -Spandau    48 

H.  Hegnauer,  Schulzeichnen  auf  Grund  elementarer  Perspektive,  angez.  vom  Zeichen- 
lehrer Franz   Leberecht  in  Pankow  . , 122 

Hentrich,  Dienstanweisung  auf  kollegialer  Grundlage,  angez.  von  Dr.  Karl   Th. 

Sondag  in  Ehrenbrei tstein  bei  Koblenz 62 

Paul   Hermann,  Deutsche  Grammatik,  angez.  von  Ober-Reg.-Rat  a.  D.  Dr.  Jos. 

Buschmann  in  Coblenz HO 

Franz   Hildebrand,  Die  höhere  Schule  und  der  Mensch,  angez.  von  Oberstudien- 
Direktor  Dr.  L.  Mackensen  in  Berlin-Pankow 390 

Franz    Hilker,  Jugendfeiern,  angez,  v.  Oberstud.-Dir.  Kannegießer  in  Berlin    391 

H.  V.  Holst,  Fröhliche  Leute,  angez.  von  Oberstudiendirektor  L  Mackensen  in  Pankow  125 

Ewald    Hörn,  Das  höhere  Mädchenschulwesen  in  Deutschland,  angez.  von  dems.    128 

Jaenicke,    Weltkrieg.     Revolution.     Verfassung,    angez.    von    Studienrat    Emil 

Lagenpusch  in  Königsberg  i.  Pr 61 

Fünfundvierzigstes  Jahrbuch  des  Verein  Schweizerischer  Gymnasiallehrer,  angez.  von 

Oberstudiendirektor  Dr.  L.  Mackensen  in  Berlin-Pankow  19o 

Kalkoff,  Luther  und  die  Entscheidungsjahre  der  Reformation,  angez.  von  Her- 
mann  Bärge  in  Leipzig 177 

— ,  Das  Wormser  Edikt  und  die  Erlasse  des  Reichsregiments  und  einzelner  Reichs- 
fürsten, angez.  von  Geh.  Studienrat  Direktor  Dr.  Friedrich  Marcks  in  Wesel    178 

Graf   Hermann    Keyserling,  Das  Reisetagebuch  eines  Philosophen,  angez.  von 

Dr.  Paul   Lorentz  in  Spandau 382 

Kj eilen  Rudolf,  Die  Großmächte  und  die  Weltkrise,  angez.  von  Vizepräsident  Dr. 

Max   Siebourg  in  Pfaffendorff  bei  Coblenz 188 

Kullnik,  Die  Neuordnung  des  deutschen   Schulwesens  und    das  Reichsschulamt, 

angez.  von  Oberstudiendirektor  Dr.  L.  Mackensen  in  Pankow  191 

Franz  Leberecht,  Neue  Wege  des  Schreibunterrichts,  angez.  vonHans    Kurth 

in  Berlin   391 

Lehmen,  Lehrbuch  der  Philosophie,  angez.  von  Geheimrat  Professor  Dr.  Dyroff 

in  Bonn 48 

0-  Louis,  Städtisches  Schulrecht  und  inneres  Leben  der  höheren  Schulen,  angez.  von 

Oberstudiendirektor  Dr.  L.  Mackensen  in  Pankow 126 

Matthias,  Deutsche  Sprachlehre  für  höhere  Schulen,  angez.  von  Ob.-Reg.-Rat  Dr. 

J.  Buschmann  in  Koblenz 111 

Mehr  Freude,  angez.  von  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  Schröer  t  in  Posen 59 

Meister,  Der  neue  Geschichtsunterricht,  angez.  von  Studiendirektor  Dr.  Cauer 

in  Berlin 246 

Meyer-Benfey,  Sophokles,  Antigone,  angez,  von  Dr.  Charlotte  Caemmerer  in 

Gr.  Flottbeck  bei  Hamburg 60 

Kurd  Niedlich,  Deutsche  Religion,  angez.  von  P.  Lorentz  in  Spandau  383 

Norden,  Eduard,  Die  germanische  Urgeschichte  in  Tacitus  Germania,  angez.  von 

Vizepräsident  Dr.  Max  Siebourg  in  Pfaffendorff  bei  Coblenz 179 

Norrenberg,  Handbuch  des  naturwissenschaftlichen  und  mathematischen  Unter- 
richt, angez.  von  Studienrat  Dr.  Wolf f  in  Hannover 387 

Obst,  Volkswirtschaftslehre,  angez.  von  Studienrat  Dr.  Wersche  in  Berlin   54 

E.  Otto,  Die  wissenschaftliche  Forschung  und  die  Ausgestaltung  des  gelehrten  Unter- 
richts, angez.  von  Oberstudiendirektor  Dr.  L.  Mackensen  in  Pankow 126 

Perthes'  Kleine  Völker-  und  Länderkunde  zum  Gebrauch  im  praktischen  Leben,  angez. 

von  Studienrat  Gadow  in  Barth  121 

Graf  von  Pestalozza,  Die  Schulgemeinde,  angez.  von  Direktor  des  Provinzialschul- 
koUegiums  Dr.  Hans  Borbein  in  Cassel    189 


yi  iMhaH. 

8«tte 

Piatons  Dialoge  (Timaios  u.  Kritias);  Piatons  Apologie  von  Kriton,  angex.  von  Univ.-Prof. 

Dr.  O.  Braun  in  Basel 378 

Richard  Preiser,  Pensa  latina,  angez.  von  Studienrat  Dr.  HansMeltzerin  Hannover  112 
Paul  Rhenanus,  Antwerpen,  Die  Flamen,  angez.  von  Gymnasialdirektor  Dr.  Paul 

Verbeek  in  Andernach 119 

Roediger,  Die  Germania  des  Tacitus,  angez.  von  Max  Siebourg  in  Pfaffendorf  bei 

Coblenz 51 

Friedrich    Rommel,  Die  Verfassung  des  Deutschen  Reiches,  angez.  von  Abt- 

Dirig.  i.  Prov.-SchulkoU.  Dr.  Blümel  in  Breslau 118 

Rühlmann,  Die  französische  Schule  und  der  Weltkrieg,  angez.  von  Studienrat  Dr. 

Gustav   Humpf  in  Elmshorn  55 

Am  Scheidewege,  Berufsbilder,  angez.  von  Oberstudiendirektor  Dr.  W.  Lohmann 

in  Flensburg 251 

Schloß,  Einführung  in  die  Psychiatrie,  angez.  von  Gymnasialdirektor  a,  D.  J.  Koch 

in  Schlachtensee    55 

F.  A.  Schmidt,  Volksvertretung  und  Schulpolitik,  angez.  von  Oberstudiendirektor 

Dr.  L.  Mackensen  in  Pankow 191 

A.  Schudeisky,  Projektionslehre,  angez.  von  F.  Leberecht  in  Pankow 123 

Ferdinand    Sommer,  Lateinische  Schulgrammatik  usw.,  angez.  von  Geh.   Reg.- 

Rat,  Oberschulrat  Dr.  Franz  Gramer  in  Münster  i.  Westf 378 

Spranger,  Gedanken  über  Lehrerbildung,  angez.  von  Oberstudien-Direktor  Dr.  L. 

Mackensen  in  Berlin-Pankow 253 

D.  Wilhelm  Stahl,  Die  diplomatischen  Verhandlungen  vor  Ausbruch  des  Weltkrieges 

auf  Grund  der  Farbbücher,  angez.  von  Geh.  Stud.-Rat  Direktor  Dr.  Marcks  in  Wesel  179 
Die  Stammformen  der  vergleichenden  Wirtschaftstheorie,  von  cand.  rer.  pol.  Wilhelm 

Schmidt  in  Münster  i.  Westf 249 

Kurt  Sternberg,  Einführung  in  die  Philosophie  vom  Standpunkt  des  Kritizismus, 

angez,  von  Univ.-Prof.  Dr.  O.  Braun  in  Basel    377 

Trendelenburg,  Adolf,  Der  Humor  in  der  Antike,  angez.  von  M.  Siebourg  in 

Pfaffenheim 180 

Dr.  E.  Umbach,  Ziele  und  Wege  des  Sprachunterrichts  auf  unseren  höheren  Schulen, 

angez.  von  Studienrat  Dr.  Friedrich  Änderten  in  Berlin-Reinickendorf   115 

Dr.  Heinrich  Verbeek,  Flämisch  für  alle  Deutschen,  angez.  von  P.  Verbeek  in 

Andernach 120 

Aus  der  Volkshochschulliteratur,  angez.  von  P.  Lorentz  in  Spandau  248 

Walter,  Max,  Zur  Methodik  des  neusprachlichen  Unterrichts,  angez.  von  Studien- 
rat Dr.  Gustav   Humpf  in  Elmshorn 116 

Dr.  E.  Weber,  Der  Weg  zur  Zeichehkunst,  angez.  von  F.  Leberecht  in  Pankow  . .  123 
Wohlrabe,  Die  altklassische  Welt,  angez.  von  Prof.  Dr.  Erich  Ziebarthin  Ahrens- 
burg bei  Hamburg   51 

H.  Wolf,  Wenn    ich  Kultusminister    wäre,    angez.    von    Oberstudiendirektor     Dr. 

L.  Mackensen   in  Pankow 127 

Dr.  Karl  Wölk  er,  Fürsorgeerziehung  als  Lebensschulung,  angez.  von  Oberstudien- 
Direktor  Kannegießer  in  Berlin  392 


I.  Abhandlungen. 


Zur  Jahreswende. 

Nichtfleichten  Herzens  überschreiten  wir  alle  die  Schwelle  des  neuen 
Jahres;  mancher  von  uns  mag  wohl  am  Silvesterabend  rückwärts  und  vor- 
wärts schauend  von  der  alten  Frage  nicht  haben  loskommen  können:  Was 
werden  wir  essen  ?  Was  werden  wir  trinken  ?  Und  über  die  materielle  Not 
des  einzelnen  hinaus  die  furchtbare  Lage  des  Vaterlandes,  der  Druck  auf  das 
Gemüt,  den  wir  am  besetzten  Rhein  mit  besonderer  Stärke  empfinden.  Die 
Sorge  um  die  Zukunft  entspricht  in  ihrem  Maße  dem  Grade  der  Einsicht 
und  Bildung;  nur  so  ist  es  zu  verstehen,  daß  weite  Kreise  unseres  Volkes  von 
der  wirklichen  Lage  Deutschlands  keine  Vorstellung  haben.  Als  ich  jüngst 
mit  Erschütterung  den  kurzen  zusammenfassenden  Bericht  las,  den  Kj eilen 
von  dem  Inhalt  des  Versailler  Vertrags  gibt,  da  kam  mir  unwillkürlich  der 
Wunsch,  diese  wenigen  Seiten  sollten  bis  in  die  entlegensten  Dörfer  unseres 
Landes  verbreitet  werden.  Ihre  Kenntnis  wäre  zurzeit  mindestens  so  nötig, 
wie  die  der  Verfassung. 

Wir  haben  noch  eine  besondere  Sorge:  Was  wird  aus  unsern  höheren 
Schulen  ?  Zwar  die  Reichsschulkonferenz,  unstreitig  das  bedeutsamste  schul- 
politische Ereignis  des  abgelaufenen  Jahres,  hat  in  ihrer  Mehrheit  nicht  die 
Absicht  bekundet,  das  Wesen  der  Bildungseinrichtungen,  denen  wir  ver- 
pflichtet sind,  anzugreifen.  Aber  ich  habe  schon  vor  kurzem  davor  gewarnt, 
sich  ob  dieses  Ergebnisses  der  Sorglosigkeit  hinzugeben.  Zurzeit  ist  man, 
so  wird  gesagt,  damit  beschäftigt,  neue  Lehr-  und  Stundenpläne  zu  ver- 
fertigen, eine  schwere  Arbeit,  da  sie  so  vielen  zumTeil  einander  widersprechen- 
den Gedanken  gerecht  werden  soll.  Kaum  ein  anderes  Gebiet  unseres  neuen 
staatlichen  Lebens  weist  im  Augenblick  so  starke  Antinomien  auf,  wie  das 
der  Erziehung  und  Bildung.  Darum  ist  zunächst  zu  hoffen  und  zu  fordern, 
daß  die  neuen  Pläne  nicht  unter  Ausschluß  der  Öffentlichkeit  endgültig 
festgestellt,  daß  vor  allem  diejenigen  vorher  dazu  gehört  werden,  die  sie  aus- 
führen sollen,  wir  Lehrer  also  ohne  Unterschied  der  pädagogischen  Grund- 
anschauung. Gewiß  wird  wohl  ein  jeder  geistige  Opfer  von  seinen  Meinungen 
zu  bringen  haben,  wenn  etwas  dabei  herauskomrrien  soll.  Gern  gebracht  werden 
Opfer  aber  nur  bei  der  Einsicht  in  ihre  Notwendigkeit.  Sie  gilt  es  herbei- 
zuführen, denn  freudige  Pflichterfüllung,  ohne  die  kein  Segen  ist,  kann 
nur  auf  dem  Grunde  innerer  Überzeugung  erwachsen. 

„Nur  als  Schaffende  können  wir  vernichten,"  dieses  Wort  Nietzsches 

Wonatsclirift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  1 


2  Max  Siebourg, 

aus  der  Fröhlichen  Wissenschaft ')  sollte  bei  der  Arbeit  an  den  neuen  Plänen 
immer  beherzigt  werden.  Es  ist  leicht,  Formen  auf  geistigem  Ge- 
biet zu  zerstören,  aber  schwer,  neue,  mindestens  gleichwertige  dafür  ein- 
zusetzen. Gar  nicht  wahr  ist  es  ja,  was  uns  aus  Reden  und  Aufsätzen  ge- 
wisser Kreise  jetzt  immer  wieder  entgegenschallt:  Die  alte  Schule  hat  ver- 
sagt, dieselbe  Schule,  die  man  während  des  Krieges  mit  überschwänglichem 
Lob  bedachte.  Ich  habe  oft  genug  Gelegenheit  zu  erfahren,  mit  welcher  Hoch- 
achtung die  Nationen,  denen  wir  unterlegen  sind,  vom  deutschen  Bildungs- 
wesen denken  und  reden;  auf  dieses  haben  die  Männer  in  England  hingesehen, 
die  dort  schon  während  des  Krieges  eine  neue  Schulgesetzgebung  betrieben. 
Hüten  wir  uns,  unter  der  Macht  des  Schlagwortes  und  in  echt  deutscher 
Selbstunterschätzung  uns  selbst  ins  Fleisch  zu  schneiden.  Das  Experiment 
ist  für  die  Allgemeinheit  nicht  geeignet;  dem  ernst  zu  nehmenden  Versuch, 
neue  Gedanken  in  kleinerem  Kreise  zu  erproben,  sollte  jegliche  Förderung 
gewährt  werden. 

Es  wird  vermutlich  noch  etwas  dauern,  bis  die  neuen  Pläne  und  Ord- 
nungen so  weit  sind,  daß  wir  sie  vom  Papier  ins  Leben  zu  übersetzen  haben; 
einstweilen  müssen  wir  im  Rahmen  der  bestehenden  Formen  die  Forderung 
des  Tages  erfüllen.  Und  da  möchte  ich  auf  einen  Gedanken  des  Staatssekretärs 
im  Kultusministerium  C.  H.  Becker 2)  hinweisen,  der,  soviel  ich  sehe,  zu 
wenig  bekannt  und  beachtet  worden  ist.  Ihm  ist  die  Frage  nach  der  Einheit 
oder  Differenziertheit  des  äußeren  Schulsystems  eine  Frage  zweiter  Ordnung 
gegenüber  der  Forderung  einheitlicher  Erziehungsinhalte.  „Merkwürdiger- 
weise überwiegt  aber  in  der  öffentlichen  Diskussion  die  Erörterung  über  den 
vier-  oder  sechsklassigen  Unterbau,  die  Einordnung  der  Mittelschule,  die  Über- 
gangsklassen und  wie  die  rein  organisatorischen  Probleme  alle  lauten  mögen. 
Wäre  es  nicht  richtiger,  diese  Lösungen  den  Technikern  zu  überlassen,  in 
der  Öffentlichkeit  aber  das  Problem  zu  vertiefen :  Wie  schaffen  wir  eine  wirk- 
liche deutsche  Einheitserziehung,  nicht  in  der  Form,  sondern  in  den  kul- 
turellen Zielen?"  Das  Bewußtsein  von  der  Einheit  aller  Volksgenossen  in 
der  deutschen  Kultur,  das  ist  letzten  Endes  das  Ideal,  dem  Becker 
zustrebt;  dazu  aber  werden  alle  Schularten  helfen  können  und  müssen, 
jede  nach  ihrer  Art  und  mit  den  ihr  eigenen  Mitteln,  und  darum  darf 
mit  Recht  von  einer  Einheitserziehung  gesprochen  werden. 

Sie  ist,  das  stelle  ich  voran,  nicht  möglich  ohne  ein  rechtes  National- 
bewußtsein. Manche  unserer  Volksgenossen  sind  darin  durch  das  furchtbare  Er- 
lebnis der  Kriegs  jähre  wankend  geworden.  Wer  aber  deutsche  Kultur  gründlich 
kennt,  der  weiß,  was  sie  der  Welt  bedeutet  hat  und  weiter  bedeuten  wird, 
der  hat  als  Deutscher  wohl  Anlaß,  stolz  darauf  zu  sein,  nicht  überheblich 
und  ablehnend  gegen  andere,  aber  selbstsicher,  aufrecht  und  trotz  allem 
mutig  in  die  dunkle  Zukunft  blickend.  Sodann  —  leicht  haben  wir  es  nie 
gehabt  in  der  Geschichte.     Unser  Land  verlangt  fleißige  schwere  Arbeit; 

^)   Ich  fand  es  wieder  in   dem   schönen  Buche  Otto  Braun,    Aus  nachgelassenen 
Schriften  eines  Frühvollendeten.     Berlin,  Bruno  Cassirer  1920.     S.  167. 
2)  Pädagogisches  Zentralblatt  I  (1919)  S.  3. 


Zur  Jahreswende-  3 

sie  gehört  zu  unserer  Eigenart,  sie  war  unsere  Freude,  der  Quell 
unseres  Aufstiegs ;  sie  muß  auch  bei  der  Einheitserziehung ,  wenn  je 
dann  heute,  im  Vordergrunde  stehen.  Darum  fort  mit  der  übertriebenen 
Weichlichkeit  in  der  Behandlung  unserer  Jugend;  sie  verträgt's  nicht  nur, 
sie  will  fest  angefaßt  sein,  wenn  sie  nur  merkt,  daß  Liebe  dahinter  steht. 
Früher  hat  unsere  Gesellschaft  darin  gesündigt,  daß  sie  die  Arbeit  der 
Hand  nicht  gebührend  achtete ;  heute  liegt  eher  die  entgegengesetzte  Gefahr 
vor,  die  Unterschätzung  der  Kopfarbeit.  Hier  hat  die  Schule  in  Lehre  und 
praktischer  Anwendung  ausgleichend  zu  wirken  und  so  zu  jener  sozialen 
Gesinnung  hinzuführen,  ohne  die  ein  Staat  nicht  bestehen  kann. 

Endlich  aber  sollte  uns  die  Not  der  Gegenwart  nicht  dazu  drängen, 
das  stolzeste  Erbstück  unserer  Väter,  den  deutschen  Idealismus,  zurückzusetzen 
und  schon  auf  der  Schule  das  unmittelbar  praktisch  Verwertbare  zu  bevor- 
zugen. Der  deutsche  Idealismus  hat  seine  schönsten  Geistesblüten  in  einer 
Zeit  getragen,  wo  unser  Vaterland  tief  darniederlag ;  er  hat  aber  auch  unstreitig 
wesentlich  mit  zum  Wiederaufstieg  geholfen.  Von  Idealen  war  das  Streben 
unserer  Väter  und  Großväter  erfüllt,  das  mit  der  Schöpfung  des  deutschen 
Reiches  gekrönt  ward.  Dann  wurden  wir  eine  gesättigte  Nation,  reich  an 
materiellen  Gütern,  aber  innerlich  —  wie  arm!  Jetzt  haben  wir  wieder  ein 
Ideal  zu  erfüllen,  das  uns  einen  kann  und  sollte:  die  Schaffung  eines  neuen 
Deutschlands,  in  dem  alle  Volksgenossen  sich  wohl  fühlen.  Unseren  Kindern 
und  Enkeln  wird  es  hoffentlich  vergönnt  sein,  in  das  gelobte  Land  einzuziehen ; 
wir  Älteren,  die  wir  wohl  nur  die  vorausgehende  Wüstenwanderung  noch 
mitzumachen  haben,  wir  müßten  verzagen,  wenn  uns  diese  Hoffnung  nicht 
beseelte.  Unsere  Jugend  aber  muß  dazu  vorbereitet  werden  in  gründlicher 
ernster  Arbeit  des  Leibes  und  der  Seele,  in  Ehrfurcht  vor  allem  Großen, 
was  deutsches  Wesen  geschaffen  hat,  in  dem  Gefühl  der  Verantwortung, 
die  sie  vor  der  Zukunft  haben. 

Und  wir,  die  wir  die  hohe  Aufgabe  der  deutschen  Einheitserziehung 
mit  lösen  sollen  ?  Ich  weiß  keinen  anderen  Weg,  als  den  der  Selbsterziehung, 
der  steten  Arbeit  an  uns  selber  durch  Wissenschaft  und  Leben  in  und  mit 
dem  deutschen  Volk.  Staat  und  Gesellschaft  verlangen  viel  von  uns,  so  viel, 
daß  sie  es  kaum  entgelten  können.  Sind  wir  nicht  von  einer  idealen  Auf- 
fassung unsres  Berufes  geleitet  und  gehoben,  so  werden  wir  es  schwerlich 
schaffen.  In  diesen  Zeiten  der  Not  habe  ich  oftmals  an  einen  Ausspruch 
des  Eumaios,  des  göttlichen  Sauhirten,  denken  müssen^).  Er,  der  selber  ein 
Königskind  war  und  früh  unfrei  geworden  ist,  er  erklärt  dem  fremden  Mann, 
in  dem  er  seinen  Herren  nicht  ahnt,  die  Lässigkeit  der  Knechte  auf  dem  Hof 
mit  den  Worten :  Die  Hälfte  der  Tugend  nimmt  der  weitblickende  Zeus  einem 
Mann,  wenn  ihn  der  Tag  der  Knechtschaft  erfaßt.  Ich  denke,  wir  sind  und 
bleiben  trotz  allen  äußeren  Druckes  freie  Männer  und  bewahren  uns  die 
ganze  Tugend.  Nur  dann  können  wir  mit  dazu  helfen,  daß  wir  die  Schwelle 
der  kommenden  Jahre  wieder  leichteren  Herzens  überschreiten  als  heute. 

Pfaffen dorf  bei  Coblenz.  Max  Siebourg. 


^)  Hom.  Od.  17,  322. 


4  Friedrich  Schroeder, 

Zur  Neugestaltung  des  deutschen  Unterrichts:  Notwendigkeiten 

und  Möglichkeiten. 

Der  deutsche  Unterricht  hat  sich  auf  den  höheren  Schulen  sein  Haus- 
recht Schritt  für  Schritt  erst  erkämpfen  müssen.  Die  Deutschkunde  ist  bei 
übernommenen,  einseitig  gerichteten  Bildungsidealen,  die  hinter  der  ge- 
waltig fortschreitenden  Zeit  mit  neuen  Erkenntnissen  und  dringenderen 
Forderungen  zurückgeblieben,  immer  noch  ein  Schmerzens-  und  Stiefkind. 
Die  großen  Konferenzen,  anzuerkennende  Erlasse  haben  das  Übel  nicht 
bei  der  Wurzel  erfaßt,  es  mehr  auf  zu  beherzigende  Ratschläge  und  vaterlän- 
dische Fingerzeige,  deren  Befolgen  mehr  oder  minder  in  dem  freien  Belieben 
der  einzelnen  stand,  als  auf  eine  gründliche  Wandlung  abgesehen.  Die  ,, Lehr- 
pläne und  Lehraufgaben"  mit  ihrer  in  gar  keinem  Verhältnis  zu  den  Fremd- 
sprachen stehenden  deutschen  Stundenzahl  (besonders  die  Tertia  in  den  Gym- 
nasien !)  mit  ihrer  Einführung  in  die  „für  die  Schule"  bedeutsamsten  Meister- 
werke unserer  Literatur,  wobei  das  19.  Jahrhundert  nur  sehr  spärlich  zu  Worte 
kommt,  mit  ihren  engen  „Methodischen  Bemerkungen",  die  die  Unterweisung 
über  die  Eigenart  und  Entwicklung  der  Muttersprache  auf  das  Notwendigste 
beschränkt  wissen  wollen  usf.  —  sind  durchaus  nicht  mehr  zeitgemäß.  Von 
Volks-  und  Stammeskunde,  von  heimischer  Mundart,  vom  Auslandsdeutsch- 
tum, von  deutscher  Kulturbesinnung  im  umfassenden  Sinne  kein  Wort! 

Welch  ein  Gegensatz  zu  dem  Schulbetrieb  bei  andern  Kulturvölkern! 
In  England  und  Frankreich  stehen  heimische  Sprache  und  Kultur  nachdrück- 
lichst im  Mittelpunkt  des  Unterrichts ;  alles  mündet  in  die  nationalen  Lebens- 
und Zukunftswerke  ein;  die  einzelnen  Fächer  empfangen  ihre  Bedeutung 
und  Zielrichtung  dadurch.  Fest  eingewurzelt  in  dem  Mutterboden  einer  in  sich 
geschlossenen  Bildungs-  und  Interessengemeinschaft,  selbstsicher,  werden 
sie  in  der  großen  Welt  Träger  und  Pioniere  der  Aufgaben  ihres  Volkes  und 
Staates. 

Daß  der  Deutsche  am  ehesten  und  leichtesten  auch  in  Ländern  auf 
fernab  niedrigerer  Stufe  Sprache  und  Volkstum  aufgibt,  ist  sattsam  bekannt 
und  zuletzt  noch  ganz  unverhohlen  von  den  Polen  in  Warschau  ausgesprochen 
worden.  Unsere  krankhafte  Neigung  alles  Ausländische  übermäßig  zu  be- 
wundern und  anzustaunen  ist  schon  verschiedentlich  gerügt  worden. 

Daß  Wien  dreißig  Kilometer  von  der  Sprachgrenze,  daß  die  Nähe  Berlins 
das  Slaventum  nicht  weiter  zurückzudrängen  vermocht  hat,  wird  immer  ein 
bedauerlicher  Beweis  bleiben  für  unsere  völkische  Nachgiebigkeit,  unser 
geringes  Kolonial-  und  Expansionsstreben.  Wo  immer  das  „Land  der  Mitte" 
mit  fremden  Völkern  zusammenstößt,  zieht  es  den  kürzeren.  Nirgends  auch 
finden  wir  ähnlicherweise  ein  Willkommenheißen,  ein  Haschen  und  Gieren 
nach  ausländischen  geistigen  und  kulturellen  Gütern  wie  bei  uns. 

Vielerlei  spricht  dabei  mit;  aber  unserer  Schule  ist  der  bittere  Vorwurf 
des  Versäumnisses  und  der  Vernachlässigung  nicht  zu  ersparen.  Viele  unserer 
Fehler  finden  in  ihr  die  Erklärung.  Die  großen  Denker,  von  Fichte  über 
den  Rembrandtdeutschen,    Lagarde    die   ganze  Reihe   bis   auf  die  Gegen- 


Zur  Neugestaltung  des  deutschen  Unterrichts:  Notwendigkeiten  u.  Möglichkeiten.         5 

wart  hinunter  haben  im  meisten  nur  zu  sehr  recht;  den  Forderungen  des 
Germanisten- Verbandes  ist  immer  mehr  Gehör  zu  schenken.  Ist  uns  vermöge 
unserer  unglückUchen  Geschicke  auf  Grund  einer  gewissen  Veranlagung 
ein  naives,  instinktives  Nationalgefühl  nicht  geworden,  so  muß  das  kritische, 
reflektierende  uns  den  Blick  schärfen  für  Weltzustände-  und  Vorgänge, 
für  Sein  und  Schein,  Theorie  und  Praxis,  Hirngespinst  und  Erfüllungsmög- 
lichkeit und  uns  zu  einem  gesunden  berechtigten  Selbstbewußtsein  führen, 
zu  Selbstvertrauen  und  der  Selbstbehauptung,  zu  der  uns  die  bitter  harte  Not- 
wendigkeit der  Gegenwart  zwingt.  So  lange  wir  nicht  verlernen  über  unser 
eigenes  Volk  hinauszublicken  und  unserm  Sinn  für  Gerechtigkeit  und  Ob- 
jektivität treu  zu  bleiben,  sind  wir  vor  Entartung  unsers  Nationalgefühls 
vollkommen  sicher.  Nur  über  die  Stufe  des  Staatsbürgers  zum  Weltbürger ! 
Der  erfüllt  die  Menschheitsaufgaben  am  ehesten,  der  sie  zunächst  mal 
in  den  Grenzen  seines  Volkes  löst.  Ein  jedes  hat  seinen  Eigenwert  im  Zu- 
sammenleben der  Völker ;  das  ist  wertvoller  für  die  menschliche  Gesamtkultur 
als  das  modische,  farblose,  verschwommene  Mischmasch  der  Internationale. 

Die  Revolution  mit  ihren  Fibererscheinungen  hat  unsere  Fehler  und 
Schwächen  um  so  erschreckender  hervortreten  lassen.  Von  habgierigen,  ge- 
wissen- und  rücksichtslosen  Feinden  rings  umstellt,  bröckelt  viel  Volkstum 
an  niedere  Kulturen  mit  entschiedenem  Machtwillen  zu  Aufstieg  und  Aus- 
breitung ab.  Im  Innern  zersetzt  zänkischer  Parteihader  der  widerstrebendsten 
Richtungen  unser  schwergeprüftes,  aus  tausend  Wunden  blutendes  Land. 
Unser  altes  Erbübel,  der  Partikularismus,  in  seinen  verschiedensten  Aus- 
strahlungen, erhebt  drohend  sein  Haupt.  Da  bedarf  es  um  so  dringender 
und  nachdrücklicher  der  Selbstbesinnung  auf  unser  unvergleichliches  Volks- 
tum und  unsern  vielgestaltigen,  umfassenden  Volksgeist,  seine  Entwicklungs- 
möglichkeiten und  Ziele,  der  Verinnerlichung  aus  uns  selber  heraus.  ,,Es 
ist  vielleicht  keine  Nation  geeigneter,  sich  aus  sich  selbst  zu  entwickeln," 
sagt  Goethe.  Nur  die  naturgemäße  Ausbildung  der  eigenen  Anlagen,  nie- 
mals aber  die  künstliche  Nachahmung  fremder,  noch  so  vollkommener 
Leistungen,  die  auf  anderem  Boden,  unter  anderem  Himmel  gewachsen 
sind,  bietet  die  Gewähr  für  Gesundheit  und  dauerndes  Leben  einer  Nation, 
urteilt  Burdach.  Das  neue  geistige  Deutschland  verlangt  ein  in  Wahrheit 
nationales  Schulsystem.  Ein  gemeindeutsches  Bildungsideal  muß  uns  be- 
herrschen. Die  vielen  Bildungskreise  legen  sich  nicht  harmonisch  um  einen 
zentralen  Mittelpunkt;  die  innerliche  Bildungseinheit,  die  Einheitlichkeit 
des  Volkes!)  erheischt  es  gebieterisch.  —  Die  höhere  Schule  soll  wieder  mehr 
Fühlung  mit  dem  Volke  erhalten.  Es  gilt  die  Erziehung  der  deutschen  Stämme 
zur  Nation,  unseres  zerrissenen  Volkes  zu  einer  höheren  Einheit  in  Lebens- 
gemeinschaft, Sprache  und  Weltanschauung. 

Auch  der  Gedanke  der  Arbeitsschule  fordert  eine  höhere  Betonung 
der  Muttersprache  und  ihrer  Erscheinungsformen.    An  ihr  am  ehesten,  ihren 


*)  Siehe  die  Besprechung  des  Buches  von  H.  Rieh  er  t,  Die  deutsche  Bildungseinheit 
¥nd  die  höhere  Schule  im  letzten  Heft  der  Monatsschrift.  P.  L. 


6  Friedrich  Schrceder, 

lebenden  Lautgebilden  und  Sprachmitteln,  Wandlungen  und  feinsten  Re-. 
gungen,  Stimmungswerten  und  den  Vorbedingungen  dazu  vermag  der  Schüler 
sich  ein  grundlegendes  Verständnis  und  eine  tiefe  Erkenntnis  jeglichen  Sprach- 
lebens zu  erarbeiten  und  die  Einsichten  zum  Eigengut  zweckmäßigen  Formens 
und  künstlerischen  Prägens  auszugestalten.  Einem  mangelhaften,  fremdem 
Boden  entsprossenen  Übersetzungsdeutsch  würde  dadurch  ebenso  gesteuert 
werden,  wie  die  geringe  Sprachkultur  unsers  Volkes  einen  gewaltigen  Antrieb 
auch  in  den  weitesten  Kreisen  erhielte.  Das  hätte  wahrscheinlich  wiederum, 
ohne  Innerlichkeit,  Kern  und  Gehalt  aufzugeben,  ein  verschärfteres  Beachten 
unserer  vielfach  vernachlässigten  Außenkultur,  unsers  Auftretens  und  Ge- 
barens auf  dem  Markte  der  Nationen,  unseres  bewußten  Formwillens  zur  Folge. 

Ist  eine  jede  Pädagogik  in  ihrer  höchsten  Betätigung  und  Vollendung 
eine  Kunst  und  Gnade,  wo  alles  Anlernen,  alle  Hilfsmittel  nicht  hinreichen, 
so  hat  gerade  der  Deutschlehrer  mit  besonderen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen. 
Ein  gediegenes  Wissen,  ein  reiches,  künstlerisches  Können,  frische  Sinne, 
ein  ganzer  Mann  und  ein  edler  Mensch  müssen  zusammentreffen,  um  die 
Fülle  der  Aufgabe  zu  erschließen,  sie  erhöhend,  lebenspendend  an  die  Jugend 
heranzubringen  und  ihr  Dauerwerte  für  Welt  und  Wirken  zu  bieten.  Gewiß 
gibt  es  ganz  vorzüglichen,  gediegenen  Deutschunterricht;  aber  die  Klagen 
auch  heute  noch  bei  alt  und  jung,  nach  Rundfragen  und  Bekenntnissen, 
über  mangelnde  Frische,  Vertiefung  und  Verinnerlichung,  graue  Farblosig- 
keit  in  der  Behandlung  von  Grammatikfragen,  über  das  Verleiden  unserer 
Klassiker  und  Besten  durch  zu  einseitige,  intellektuelle  und  gedächtnismäßige 
Betrachtung  und  Aneignung ,  durch  Historismus,  Philologismus,  Breit- 
und  Toterklären,  über  Absonderlichkeiten  und  Verstiegenheiten  der  Auf- 
satzthemen, über  Lebensfremde  und  ungenügende  Einführung  in  praktische 
Beherrschung  von  Stil  und  Prosa  usf.  sind  nicht  immer  von  der  Hand  zu  weisen. 
Ein  groß  Teil  Schuld  trifft  die  Vorbereitung  auf  den  Universitäten.  Sprengel 
hat  in  verschiedenen  seiner  Schriften  1909  schon  auf  diesbezügliche 
Rückständigkeiten  und  Versäumnisse  hingewiesen.  Die  „Gedanken  zur 
Hochschulreform"  unsers  Staatssekretärs  Becker,  großzügig,  offen  und  ehr- 
lich, daß  die  Universitäten  die  Fühlung  mit  dem  Leben  der  Nation  nahezu 
verloren  hätten,  daß  ihr  Lehrbetrieb  großenteils  nicht  mehr  den  Forderungen 
der  Zeit  entspreche,  daß  sie  in  erster  Linie  ,, Schulen"  seien,  werden  ihre  Wir- 
kung nicht  verfehlen.  Daß  verhältnismäßig  spät  und  spärlich  Lehrstühle 
für  Germanistik  geschaffen  wurden  und  darin  noch  viele  Wünsche,  so  für 
deutsche  Volkskunde,  ausstehen,  erklärt  vieles.  Die  Professoren  werden 
fortab,  ohne  deshalb  ihrem  besonderen  Forschungsgebiet  untreu  werden  zu 
müssen,  auf  Lehrpläne  und  Lehraufgaben  mehr  Rücksicht  zu  nehmen  haben 
und  diese  Gebiete  in  Fülle  in  ihren  weitesten  Umkreisen  und  Verästelungen 
bis  in  ihre  tiefsten  Verwurzelungen  hinein  zu  bieten  haben,  daß  der  Deutsch- 
lehrer nicht  mehr  —  auf  andern  Gebieten  ist  es  ähnlich !  —  mit  seinem  Ein- 
tritt in  die  Schule  sich  erst  sein  Rüstzeug  zu  erarbeiten  anfängt. 

Eine  umfangreichere  Ausbildung  durch  besondere  Lehrstühle  in  den 
vielverschlungenen  pädagogischen  und  auch  didaktischen  Fragen,  die  bis- 


Zur  Neugestaltung  des  deutschen  Unterrichts:  Notwendigkeiten  u.  Möglichkeiten.         7 

her  vollständig  im  Hintergrunde  standen,  würde  unsere  Referendare  mancher 
Nöte  und  Unbeholfenheiten  überheben.  Eine  gründlichere  Durchbildung  in 
praktischer  Psychologie  —  bisher  auch  im  Argen  gelegen!  —  würde  dem 
Lehrer  für  sich,  seine  Fächer  und  den  Schüler  manche  Belebung  und  Er- 
frischung, Abwechslung,  Hilfe  und  Erleichterung,  eine  gescheitere  Berück- 
sichtigung der  Individual-  und  Klassenintelligenz,  eine  zweckmäßigere  Ein- 
stellung von  Fall  zu  Fall,  eine  bewußtere  Treffsicherheit  zeitigen. 

Auch  zur  ständigen  Fortbildung,  zur  Ausweitung  der  Persönlichkeit 
und  Selbsterfülluung  müßte  gerade  dem  Deutschlehrer  durch  Bildungsmög- 
lichkeiten, Reisen,  Kurse  u.  dgl.  Gelegenheit  geboten  werden,  in  lebendigem 
Verhältnis  zu  Strömungen,  Mächten  und  Kräften  seiner  Zeit  zu  bleiben  und 
sich  zum  Besten  der  Jugend  Sinn  und  Herz  frisch  zu  erhalten. 

So  kam  die  vom  25.  Oktober  ab  unter  dem  Vorsitz  des  Herrn  Geh.  und 
Ministerialrats  Dr.  Schellberg  im  Zentralinstitut  für  Unterricht  und  Erziehung 
stattfindende  Veranstaltung  „zur  Förderung  des  deutschen  Unterrichts", 
eingeleitet  vom  Herrn  Ministerialdirektor  Jahnke  selber,  vielen  Wünschen 
entgegen;  so  haben  die  an  die  Vorträge  sich  anschließenden  Beratungen 
der  aufgestellten  Thesen  innerhalb  der  etwa  dreißig  Hinberufenen,  Vertreter 
der  Schulkollegien  und  Fachmänner,  mancherlei  Klärung  geschaffen,  Anteil 
genommen  an  der  inneren  Reform,  Vorarbeit  geleistet,  wie  es  im  Schlußwort 
hervorgehoben  wurde,  zu  den  kommenden  Lehrplänen. 

ProfessorDr.Reuschels  Ausführungen  über  Wesen,  Sinn  und  Bedeutung 
der  deutschen  Volkskunde  für  die  Gegenwart  fanden  die  volle  Zustimmung. 
Alle  wahre  Kunst  ist  Volkskunst.  Stamm,  Sprache,  Sitte,  Siedelung  bilden 
den  Grund  alles  lebendigen  Lebens  im  Volke.  Deutsche  Kunst  und  Kunde, 
nicht  mittelmeerische,  hat  im  Vordergrunde  zu  stehen  und  alle  Schulfächer 
zu  befruchten.  Von  demselben  Gedanken  getragen  ist  auch  das  von  Schell- 
berg und  Sprengel  herausgegebene  Handbuch  der  Deutschkunde,  Führer  zu 
deutscher  Schulerziehung:  Deutschkunde  im  Unterricht  der  alten  Sprachen, 
in  neusprachhchem,  naturwissenschaftlichem,  Religions-  und  Zeichenunterricht 
usf.  Vielleicht  daß  Volkskunde  bei  der  Prüfung  berücksichtigt  würde,  viel- 
leicht daß  Lehrstühle  und  Lehraufträge  an  den  Hochschulen  dafür  zu  er- 
reichen wären! 

Sprengeis  gehaltvolle,  von  großer  Belesenheit  zeugende  Gedankengänge, 
durch  seine  verschiedenen  Veröffentlichungen  vielfach  schon  bekannt,  über 
Wert  und  Aufgabe  der  deutschen  Prosadichtung  des  19.  Jahrhunderts  für 
Schule  und  Leben  boten  —  nicht  daß  man  in  Einzelheiten  immer  überein- 
stimmte —  eine  Fülle  der  Anregungen  und  Zielsetzungen.  Sie  stelle  in  um- 
fassenden Bildern  den  Lebensgang  des  deutschen  Menschen  dar,  behandele 
wichtige  Einzelfragen  unseres  persönlichen  und  Gemeinschaftslebens,  der 
Weltanschauung,  des  Verhältnisses  zur  Natur,  Gottheit,  Gesellschaft,  zu 
Volk  und  Staat,  schildere  die  Eigenart  der  Stämme  und  Stände,  den  Ge- 
samtverlauf der  deutschen  Geschichte  und  Kultur,  sei  so  eine  Einführung 
in  Sinn  und  Werden  des  nationalen  und  sozialen  Lebens  unserer  Zeit,  ein 


8  Friedrich  Schrocder, 

Hauptgegenstand  erziehlicher  Wesensschau  zur  Bildung  des  Lebensverständ- 
nisses und  Lebenswillens. 

Daß  wir  an  Spracherziehung,  Pflege  des  gesprochenen  Wortes,  der  freien 
Rede,  des  Vortrages  von  Dichtungen,  an  Sprachkultur  überhaupt  zu  Hause 
und  in  der  Schule  es  an  uns  sehr  fehlen  lassen,  war  ohne  weiteres  den  Be- 
trachtungen von  Dr.  Drach  und  Dr.  Manz  recht  zu  geben.  Die  Ausbildung 
aller  Lehrer  darin  nach  physiologisch-technischen  und  psychologisch-päda- 
gogischen Gesichtspunkten  muß  als  sehr  notwendig  bezeichnet  werden. 
Von  innerem  Erlebnis  getragen,  wird  ein  beseelter  Vortrag  naturgemäß  bei 
Erfüllung  der  wünschenswerten  Anforderungen  (Atemführung,  Betonung, 
Zeitmaß,  Klangfärbung)  ein  tieferes,  eindringenderes  Erfassen  der  Dichtung 
zur  Folge  haben.  Freilich,  für  jeden  schickt  sich  nicht  alles;  ein  in  Selbst- 
erkenntnis geschulter  Lehrer  wird  sich  der  Grenzen  seiner  Begabung  auch 
darin  wohl  bewußt  sein,  wie  auch  Ort  und  Stunde,  Stimmung  und  Haltung 
der  jeweiligen  Schüler  stark  zu  berücksichtigen  sind.  Auf  ein  reines  Hoch- 
deutsch allerdings  zu  achten  tut  uns  bei  unsern  partikularistischen  Tendenzen 
bitter  not,  um  so  mehr,  wenn  auf  ein  lässiges,  kaum  mundartlich  zu  nennendes 
Deutsch  ein  sorgfältigst  bis  ins  Kleinste  gepflegtes  Englisch  oder  Franzö- 
sisch folgt. 

Grundlegender  Art  war  die  Stellungnahme  zu  Bojungas  Entwicklungen 
über  die  Muttersprache  in  ihrer  Bedeutung  für  den  Sprachunterricht  und 
die  Behandlung  der  deutschen  Sprachlehre.  Nationalerziehung  ist  wesentlich 
Spracherziehung.  Einheitlichkeit  und  Gleichheit  der  Sprache  ist  das  am 
meisten  verbindende  Element  der  Nation,  der  kräftigste  Nährboden  für  ein 
gesundes  und  starkes  Verwand tschafts-  und  Zusammengehörigkeitsbewußt- 
sein. Alles  sprachliche  Erkennen  ist  gebunden  an  ein  Sichbesinnen  in  der 
Muttersprache  über  sie.  Ein  volles  Verstehen  der  wichtigsten  Fragen  und 
Erscheinungen  ist  nur  von  ihr  aus  zu  erreichen.  Den  feinsten  Regungen  und 
Wandlungen  der  Volksseele,  den  Gefühls-  und  Stimmungswerten  der  durch 
Art,  Zweck,  Stammesart,  Zeitrichtungen,  dem  Eigenwesen  des  Redenden 
bedingten  Ausdrucksmittel  vermag  man  nur  in  der  Muttersprache  nachzu- 
gehen. So  ist  die  Vertiefung  und  Verinnerlichung  des  Wortschatzes,  der  Wort- 
erklärung, der  Bedeutungslehre  und  -Verwandtschaft  durch  Aufdeckung  der 
zugrunde  liegenden  seelischen  Gesetze  und  Bedingungen  zu  erstreben.  Das 
Deutsche  ist  durchaus  geistformend  und  an  Denkschärfe  irgendeiner  Sprache 
nicht  unterlegen;  man  müsse  mit  gewohnten  Denkformen  brechen.  Wenn 
dem  gegenüber  die  „formale  Schulung"  besonders  durch  das  Latein  betont 
wurde,  so  ist  wiederum  hervorzuheben,  daß  durch  die  neueren  psycholo- 
gischen Untersuchungen  mancher  Bann  der  sogenannten  „formalen  Bildung" 
gebrochen  ist.  Auch  über  seinen  Vorschlag,  aus  ökonomischen  Rücksichten 
und  aus  Gedanken  der  Einheitsschule  heraus  für  die  Sprachlehre  durchweg 
allgemeingültige  deutsche  Bezeichnungen  einzuführen,  war  man  verschiedener 
Meinung,  wenn  auch  die  Behauptung,  die  lateinischen  seien  „international" 
—  man  vergleiche  nur  das  Französische  und  Englische!  —  nicht  stichhaltig  ist. 

Hofstätters  Ansichten  über  den  deutschen  Aufsatz,  durch  verschiedene 


Zur  Neugestaltung  des  deutschen  Unterrichts:  Notwendigkeiten  u.  Möglichkeiten.         9 

Kundgebungen  in  seiner  Zeitschrift  schon  in  weitere  Kreise  gedrungen,  sind 
nur  zu  beherzigenswert.  Eigenes  Erleben,  Beobachten,  Erfahren,  eigener 
Besitz,  fast  alle  Äußerungen  des  Lebens  sind  sein  Inhalt.  Grundsätzlich  schreibt 
der  Schüler  für  sich  und  seine  Freunde,  nicht  für  den  Lehrer.  Einfachheit, 
Klarheit  und  Wahrheit  sind  die  Hauptforderungen;  allgemeine  Themen 
führen  leicht  zur  Heuchelei.  Aufgabe  der  Vorbereitung  ist  Erwecken  der 
Stimmung  und  bestimmter  Gedankenrichtungen.  Auf  der  Mittelstufe  ist 
der  Vorliebe  für  das  Zuständliche,  für  kulturkundliche  Hinstellung  entgegen- 
zukommen. Immer  mehr  muß  der  Schüler  zur  Klarheit  über  sich  selbst, 
zu  einem  persönlichen  Verhältnis  über  seine  Umwelt  herangeführt  werden. 

Wenn  mit  vollem  Recht  besonders  von  einer  Seite  darauf  aufmerksam 
gemacht  wurde,  daß  eine  derartige  Selbstbetätigung,  ein  derartiges  Sich- 
selbstausleben  sich  lediglich  auf  den  künstlerischen  Typ  beziehe,  wobei  der 
theoretisch-wissenschaftliche  zu  kurz  komme,  daß  es  doch  auch  Aufgabe 
sei  von  der  kleinen  Ichheit  zur  Sachlichkeit  zu  erlösen,  zum  streng  wissen- 
schaftlichen Denken  zu  erziehen,  so  schließt  doch  das  Ziel  einer  harmonisch 
ausgebildeten  Persönlichkeit  eins  oder  das  andere  nicht  aus.  Nach  Verschieden- 
heit der  Individualanlage  und  der  Zeitumstände  wird  bald  dieses,  bald  jenes 
im  Vordergrunde  zu  stehen  haben  und  bei  dem  gegenwärtigen  Schulbetrieb 
und  der  Bildungskrise  der  ,, Erlebnisrichtung",  zumal  bei  unserem  ,,perse- 
verierenden"  deutschen  Charakter,  zunächst  mal  der  Vorzug  zu  geben  sein. 

Auch  die  vielumstrittene  Frage  der  Notwendigkeit  oder  Entbehrlichkeit 
der  Stoff-  und  Gedankenordnung,  der  ,, Disposition",  fällt  in  nichts  zusammen, 
sobald  man  sich  bemüht  von  Fall  zu  Fall  die  Geistesstruktur,  die  Art  zu  schaffen 
und  zu  formen,  die  Kräfte  und  Strebungen,  die  besonders  jedesmal  in  Tätig- 
keit treten,  die  Wesensart  des  Stoffes,  Zweck  und  Ziel  der  Arbeit,  ob  Haus-, 
ob  Klassen-,  größere  oder  kleinere  Arbeit  usf.  zu  berücksichtigen. 

So  sind  der  Aufgaben  viele  und  der  Stunden  wenige.  Eine  Eiche  pflanzen 
und  einen  Blumentopf  nehmen !  Man  war  sich  darüber  einig,  daß  der  ,, Deutsch- 
gruppe", d.  h.  einschließhch  Geschichte  und  Erdkunde  ein  Drittel  der  Ge- 
samtstundenzahl auf  Kosten  der  Fremdsprachen  unbedingt  zukomme, 
d.  h.  daß  an  jedem  Tage  eine  Stunde  Deutschkunde  zu  geben  sei,  wenn  auch 
hier  und  da  einer  von  der  „alten  Schule"  nicht  allzuviel  davon  erhoffte. 

Auch  die  Lesebuchfrage  bedürfe  unter  den  gegenwärtigen  geldlichen 
Schwierigkeiten  einer  Neuorientierung.  Hofstätter  ist  auf  dem  Wege  seine 
Pläne  hinsichtlich  innerer  Lebenskreise,  geschlossener  Einheit,  Ausbau  zu 
einem  Hausbuche  —  möglichst  knapp  und  kurz  das  Notwendigste  —  in  einem 
neu  erscheinenden  zu  verwirklichen,  wie  die  Regierung  die  Lehr-  und  Hilfs- 
bücherfrage  sich  auf  das  dringendste  angelegen  sein  läßt.  Auch  die  Fragen 
der  Büchereien,  der  Mundart,  mancherlei  in  lockerem  Zusammenhang  stehende 
fanden  ihre  vorwärtsweisende  Erörterung. 

Zum  Kern  alles  Unterrichts  soll  diesmal  tatsächlich  der  deutsche  werden, 
wie  es  in  der  „EntschUeßung"  hieß;  die  Zustände  hätten  sich  als  unhaltbar 
erwiesen.  Neue  Lehrpläne  werden  den  Wünschen  Rechnung  tragen.  Der 
Gedanke  einer  Beratungsstelle  in  Berlin,  einer  Fachberatung  in  den  einzelnen 


10  Neubauer, 

Provinzial-Schulkollegien  soll  erwogen  werden.  Lehraufträge  an  praktische 
Schulmänner  zu  Übungen  und  Arbeitsgemeinschaften  an  den  Universitäten 
würden  sich  wohl  als  zweckmäßig  erweisen.  Gelegenheit  zu  steter  Weiter- 
bildung der  Deutschlehrer  soll  geboten  werden. 

Hoffen  wir,  daß  der  Geist,  von  dem  die  ganze  Versammlung  getragen 
wurde,  immer  weitere  Kreise  schlägt,  daß  nach  den  Schlußworten  von  Ge- 
heimrat Schellberg  die  innere  Reform,  die  Flüssigmachung  aller  nationalen 
BildungsmögHchkeiten  geHngt,  daß  Vorhaben  und  Vollbringen  redlicher, 
vaterländisch  gesinnter  Männer  in  Regierung  und  Volk  gleichen  Schritt 
halten  und  daß  von  der  Umgestaltung  und  Selbstbesinnung  der  Schule 
aus  dem  Geiste  des  deutschen  Volkstums,  seines  ureigensten  Wesens  und 
seiner  unversiegbaren  Schaffenskraft  heraus  unser  Volk  versöhnt,  geeint 
gesund  und  wieder  stark  wird! 

Königsberg  i.  Pr.  Dr.  Friedrich  Schroeder. 

Rede  zur  Vierhundertjahrfeier  des  Städtischen  Gymnasiums  zu 

Frankfurt  a.  M.^). 

Hochansehnliche  Versammlung!  Meine  lieben  Schüler! 
Sollten  wir  feiern?  Sollten  wir  in  einer  Zeit,  da  unser  Vaterland  ver- 
stümmelt ist,  da  altes  herrhches  deutsches  Kulturgebiet  unter  dem  harten 
Joch  feindlicher  Besetzung  seufzt,  da  die  deutsche  Ehre  und  mit  ihr  das  deutsche 
Ehrgefühl  tief  darniederliegt,  da  kein  Tag  vergeht,  der  uns  nicht  neue  Ver- 
gewaltigung des  deutschen  Volkes  und  des  deutschen  Wesens  meldet,  kein 
Tag,  der  uns  nicht  mit  furchtbarer  Deutlichkeit  zeigt,  daß  unser  staatliches 
Dasein  auf  des  Messers  Schneide  steht,  sollten  wir  uns  da  zu  einer  Feier  ver- 
sammeln ?  Noch  nagt  an  uns  der  bittere  Schmerz  über  die  vielen  alten  Schüler, 
die  aus  diesem  Kriege  nicht  wieder  zurückgekehrt  sind ;  noch  ist  es  nicht  lange 
her,  daß  die  letzten  der  Kriegsgefangenen  die  Heimaterde  wieder  betreten 


0  Das  Goethe-  und  das  Lessing- Gymnasium  zu  Frankfurt  a.  M.  haben  am  27.  August 
das  vierhundertjährige  Bestehen  des  Städtischen  Gymnasiums,  aus  dem  sie  hervorgegangen 
sind,  begangen.  Die  Hauptfeier  fand  in  der  Paulslcirche  statt.  Nach  Verabredung 
zwischen  den  beiden  Direktoren  fiel  dem  des  Lessing-Gymnasiums  die  erste  Ansprache  zu, 
während  der  Direktor  des  Goethe-Gymnasiums  auf  die  Begrüßungen  zu  erwidern  und  das 
Schlußwort  zu  sprechen  hatte. 

Zu  der  Feier  ist  eine  Festschrift  erschienen,  die  den  Titel  trägt :  Gymnasium 
Francofurtanum  1520—1920.  Festgabe,  den  Teilnehmern  an  der  Vierhundert jahr-Feier 
am  26.  und  27.  August  1920  gewidmet  vom  Festausschuß.  (Druck  der  Kunstanstalt 
Wüsten  &  Co.)    Diese  enthält: 

I.:  Rückblick  auf  die  Geschichte  des  Frankfurter  Gymnasiums  1520—1853  von 

Archivdirektor  Professor  Dr.  Jung. 
II.:  Johannes   Classen,    Direktor   des  Frankfurter  Gymnasiums  1853—1864  von 

Gymnasialdirektor  Dr.  Neubauer. 
III.:  Tycho  Mommsen   und   das   Frankfurter  Gymnasium  1864—1886  von  Real- 
gymnasialdirektor Dr.  Liermann. 
Den  Schluß  bildet  eine  Ehrentafel  der  Gefallenen.    Die  Festschrift  ist  mit  19  Abbildungen 
ausgestattet;  u.  a.  ist  die  Bestallungsurkunde  für  den  ersten  Rektor,  Wilhelm  Nesen,  vom 
14.  September  1520  in  Faksimile  wiedergegeben. 


Rede  zur  VierhundertjahHeier  des  Städtischen  Gymnasiums  zu  Frankfurt  a.  M.       1 1 

haben.  Tiefer  noch  als  anderswo  erfaßt  uns  hier  in  dieser  Kirche  der  Schmerz 
über  das  deutsche  Elend,  zwischen  diesen  ragenden  Säulen,  die  vor  zwei- 
undsiebzig Jahren  eine  Versammlung  geschaut  haben,  die,  wenn  sie  auch, 
wie  so  unendlich  viel  Großes,  was  Deutsche  unternahmen,  ein  tragisches 
Ende  gefunden  hat,  doch  von  einem  Geist  erfüllt  war,  zu  dem  wir  aus  dem  Ab- 
grund, in  den  wir  heute  versunken  sind,  sehnsuchtscoU  emporschauen.  Hier, 
wo  ich  stehe,  war  die  Inschrift  angebracht: 

Des  Vaterlands  Größe,  des  Vaterlands  Glück, 

O  schafft  sie,  o  bringt  sie  dem  Volke  zurück! 
Mit  welcher  furchtbaren  Wucht  trifft  uns  heute  diese  Mahnung!  Welche 
Pflichten  legt  sie  insbesondere  uns  auf,  die  wir  uns  zu  einem  schulgeschicht- 
lichen Gedenktage  vereinigt  haben!  Die  Pflicht,  uns  dieses  immer  vor  die 
Seele  zu  stellen,  daß  die  Aufgabe  der  Schulerziehung  nicht  darin  beschlossen 
ist,  den  einzelnen  für  seine  persönlichen  Zwecke  tüchtig  zu  machen,  sondern, 
daß  sie  dem  Vaterlande  ein  Geschlecht  heranbilden  soll,  willig  ihm  zu  dienen, 
an  Erfüllung  der  Pflicht  gewöhnt,  tapfer  und  hohen  Sinnes.  Ja,  es  lagern 
düstere  Schatten  über  unserer  Feier.  Aber  unsere  Stimme  wollten  wir  doch 
erheben  und  den  Tag  nicht  unbeachtet  lassen,  an  dem  vor  vierhundert  Jahren 
Bürgermeister  und  Rat  der  Stadt  Frankfurt  a.  M.  „einen  redlichen,  gelehrten 
und  von  mores  geschickten  Gesellen  beriefen,  um  ihrer  und  gemeiner  Stadt 
Kinder  in  seiner  Kunst  Latein  zu  lernen".  Wir  wissen  wohl,  daß  das  Städtische 
Gymnasium  nach  Zeiten  der  Höhe  auch  Zeiten  des  Niedergangs  erlebt  hat. 
Aber  das  dürfen  wir  aussprechen,  daß  von  dieser  Anstalt,  die  Jahrhunderte 
lang  der  großen  Mehrzahl  der  städtischen  Beamten,  der  Juristen,  Theologen, 
Ärzte,  Lehrer  ihre  Bildung  gab,  die  noch  vor  wenigen  Jahrzehnten  fast  die 
einzige  höhere  Schule  Frankfurts  war,  ein  starker  Strom  geistiger  Anregung 
ausgegangen  ist,  dessen  dankbar  zu  gedenken  wir  Nachlebenden  wohl  Anlaß 
haben.  Indessen  wir  wollten  noch  etwas  anderes:  wir  wollten  ein  Bekenntnis 
dafür  ablegen,  daß  unsere  Jugend,  wenn  sie  gewappnet  und  stark  den  Stürmen 
der  Gegenwart  entgegentreten,  wenn  sie  an  der  Wiedergeburt  unsers  Volkes 
tätigen  Anteil  nehmen  soll,  heute  ebenso  wie  einst  und  mehr  als  je  eine  Bildung 
braucht,  die  nicht  auf  bloße  praktische  Nützlichkeit  berechnet  ist,  daß  sie 
einer  Bildung  bedarf,  die  in  die  Tiefe  der  Seele  geht,  und  die  in  die  Ursprünge 
unserer  Kultur  hineinleuchtet,  daß  wir  das  innere  Band,  das  uns  mit  den 
kulturellen  Höhen  der  Vergangenheit  verbindet,  nicht  sprengen  dürfen, 
ohne  unser  Volkstum  tief  zu  schädigen;  schließlich  ein  Bekenntnis  dafür, 
daß  es  eine  Welt  übersinnlicher  und  überpersönlicher  Gedanken  gibt,  deren 
Bürger  wir  sind,  gleich  wie  dieser  sinnlichen  Welt,  und  daß  unser  Volk  ver- 
loren ist,  wenn  wir  unsere  Jugend  nicht  mehr  dazu  erziehen,  sich  bewußt 
und  frei  in  den  Dienst  dieser  übersinnlichen  Welt  zu  stellen. 

Wir  danken  Ihnen,  daß  Sie  sich  mit  uns  vereinigt  haben,  um  diesen 
Gedenktag  zu  begehen.  Im  Namen  der  in  Eintracht  verbundenen  beiden 
Gymnasien  und  des  Gesamtausschusses,  der  sich  aus  früheren  Schülern  und 
Lehrern  für  diese  Feier  gebildet  hat,  begrüße  ich  mit  ehrerbietigem  Dank 
für  ihr  Erscheinen  den  Herrn  Staatssekretär  Dr.  Becker,  der,  selbst  alter 


12  Neubauer, 

Schüler  des  Städtischen  Gymnasiums,  von  dem  Herrn  Minister  beauftragt 
ist  ihn  hier  zu  vertreten,  Herrn  Ministerialrat  Dr.  Schellberg,  Herrn  Ge- 
heimen Regierungsrat  Dr.  Gerstenberg,  den  Dezernenten  unserer  Anstalten 
im  Provinzialschulkollegium  zu  Kassel,  und  die  Vertreter  anderer  höherer 
Staatsbehörden,  die  die  Güte  gehabt  haben  unserer  Einladung  zu  folgen. 
Ich  begrüße  die  Vertreter  der  städtischen  Behörden,  an  ihrer  Spitze  den  Herrn 
Oberbürgermeister,  der  bei  der  Vierhundertjahrfeier  der  ältesten  Frank- 
furter Schule  nicht  hat  fehlen  wollen,  und  Herrn  Stadtrat  Meckbach,  den 
Vorsitzenden  des  Schulausschusses  für  die  höheren  Schulen,  die  Vertreter 
der  Universitäten  Frankfurt,  Marburg,  Gießen,  die  durch  ihre  Anwesenheit 
uns  zeigen  wollen,  daß  sie  sich  uns  freundlich  verbunden  fühlen,  und  die  Ver- 
treter der  gelehrten  Anstalten  dieser  Stadt.  Ich  begrüße  die  Vertreter  der 
Geistlichkeit  der  verschiedenen  Bekenntnisse,  mit  denen  wir  uns  eins  fühlen 
in  der  Pflege  der  idealen  Güter,  und  spreche  insbesondere  den  Herren  von 
der  Paulskirchengemeinde  den  herzlichsten  und  lebhaftesten  Dank  dafür 
aus,  daß  sie  uns  diese  herrliche  Stätte  für  unsere  Feier  zur  Verfügung  gestellt 
hat;  ich  begrüße  die  Vertreter  der  anderen  höheren  Schulen  Frankfurts 
und  der  Nachbarschaft,  die  im  Wetteifer  mit  uns,  wenn  auch  zum  Teil  auf 
anderem  Wege,  dem  Ziel  einer  reichen  und  tiefen  Jugendbildung  nachstreben, 
und  mit  nicht  geringerer  Herzlichkeit  die  der  Mittel-  und  Volksschulen, 
die  mit  uns  zusammenarbeiten  an  dem  hohen  Werk  der  nationalen  Erziehung 
Ich  begrüße  die  alten  Lehrer  dieser  Anstalt,  die  sich  heute  wieder  mit  uns 
vereinigen;  ich  begrüße  endlich  Sie  alle,  die  alten  Schüler  dieser  Anstalt, 
die  Sie,  vielfach  mit  Ihren  Damen,  so  freudig  und  zahlreich  unserer  Einladung 
gefolgt  sind,  von  den  ältesten  Semestern  —  wir  haben  einen  Abiturienten 
von  1859  unter  uns  —  bis  zu  den  jüngsten.  Möge  diese  Feier,  schlicht  und 
bescheiden,  wie  sie  heute  sein  muß,  doch  Eindrücke  hinterlassen,  die  über 
den  Tag  hinausgehen;  möge  sie  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  unter 
uns  stärken;  möge  sie  den  glücklichen  Auftakt  bilden  für  das  fünfte  Jahr- 
hundert unserer  beiden  Gymnasien,  denen  —  niemand  kann  daran  zweifeln  — 
schwerwiegende  Entscheidungen  bevorstehen. 

In  der  Zeit,  da  Hütten  rief:  ,,die  Geister  erwachen  —  es  ist  eine  Lust 
zu  Leben"  ist  unser  Gymnasium  gegründet;  es  war  das  Verlangen  nach  einer 
freieren,  mehr  persönlichen  Bildung,  aus  der  es  hervorgegangen  ist.  Des 
Erasmus  Freund,  sein  Pylades  war  jener  Wilhelm  Nesen,  den  als  Siebenund- 
zwanzig jährigen  am  14.  September  1520  der  Rat  berief;  und  man  möchte  es 
als  eine  glückliche  Fügung  bezeichnen,  daß  dieser  Mann  der  erste  Rektor 
gewesen  ist:  ein  sprachkundiger,  formgewandter,  von  tiefer  Begeisterung  für 
das  Altertum  durchdrungener  Gelehrter,  war  er  zugleich  ein  Deutscher,  der 
sich  mit  Erbitterung  über  die  deutschen  Fürsten  äußerte,  die  in  Paris  für  Geld, 
wie  er  sagt,  die  von  den  Vätern  überkommene  Freiheit  verrieten,  ein  tapferer 
Mann,  der  unerschrocken  das  verteidigte,  was  seine  Überzeugung  war,  ein 
Mann  von  schöner  Lauterkeit  des  Charakters  —  eine  wunderbar  reine  Seele 
nennt  ihn  Melanchthon,  und  ein  berühmter  Humanist  hat  gesagt,  die  Liebens- 
würdigkeit in  eigner  Person  könne  nicht  liebenswürdiger  als  Nesen  sein  — . 


Rede  zur  Vierhuadertjahrfeier  des  Städtischen  Gymnasiums  zu  Frankfurt  a.  M.       13 

endlich  eine  innerlich  religiöse  Natur,  die  im  nahen  Verkehr  mit  Luther 
Vertiefung  ihres  Wesens  suchte.  Zweieinhalb  Jahre  nur  ist  Nesen  Rektor 
gewesen;  aber  nach  einer  kurzen  Übergangszeit  war  der  Schule  ihre  erste 
Blüte  beschieden  unter  dem  liebenswürdigen,  feinsinnigen,  dichterisch  be- 
gabten, durchaus  humanistisch  gesonnenen  Micyllus,  der  seine  Aufgabe 
nicht  nur,  wie  so  mancher  Schulmann  seines  Zeitalters,  darin  erblickte,  seine 
Schüler  formal-sprachlich  zu  bilden,  sondern  von  der  Beschäftigung  mit  be- 
deutenden Gedanken  der  antiken  Schriftsteller  eine  bleibende  Wirkung  auf 
die  jugendlichen  Seelen  erhoffte.  Damals  wurde  die  Schule,  die  bereits  fünf 
Klassen  umfaßt  zu  haben  scheint,  in  das  Barfüßerkloster  verlegt,  in  nächster 
Nähe  des  Ortes,  wo  wir  uns  jetzt  befinden;  und  hier  ist  sie  drei  Jahrhunderte, 
bis  1839  geblieben.  Man  weiß,  was  Goethe,  den  unser  Gymnasium  sich 
freilich  nicht  rühmen  darf  zum  Schüler  gehabt  zu  haben,  von  dem  ,,treppen- 
und  winkelhaften  Lokal,  von  den  langen,  dunklen  Gängen"  erzählt,  die  er 
als  Knabe  mit  schaurigem  Behagen  durchstrich,  wenn  er  gegen  Abend  zu 
dem  Rektor  Albrecht  ging,  um  bei  ihm  Hebräisch  zu  lernen. 

Der  immerhin  freie  und  frische,  hochstrebende  Geist  des  Humanismus 
hat  sich  auf  die  Dauer  an  unserer  Anstalt  nicht  behaupten  können ;  wie  er 
überhaupt  in  dem  Kulturleben  unseres  Volkes  dem  theologischen  Geist  er- 
legen ist,  so  auch  hier.  Wir  wollen  es  nicht  vergessen :  dieser  ernste,  strenge, 
religiöse  Geist  hat  vielen  der  Besten  damals  den  starken  sittlichen  Halt  ge- 
geben, den  sie  in  den  Kämpfen  des  Lebens  brauchten;  man  kann  sie  sich 
ohne  diese  feste  Glaubenszuversicht  nicht  denken.  Aber  freilich  hat  dieser 
Geist  seine  Herrschaft  mit  strenger  Einseitigkeit  geübt.  Ein  so  hervorragender 
Rektor,  wie  der  weitblickende,  charaktervolle,  klassische  Gelehrsamkeit  mit 
juristischer  Bildung  vereinigende  Petreus,  dem  wir  die  Schulordnung  von 
1579  verdanken,  mußte,  als  die  Geistlichkeit  an  seiner  Rechtgläubigkeit 
zweifelte  und  ihn  vom  Abendmahl  ausschloß,  aus  dem  Amte  weichen.  Das 
Gymnasium  aber  erlebte  um  die  Wende  des  Jahrhunderts  sehr  ungünstige 
Zeiten.  Damals  galt  an  den  Nachbaruniversitäten  die  Losung  ,,Franco- 
furtani  mali  grammatici" ;  und  es  ist  ein  schwacher  Trost,  daß  von  den  Schülern 
des  vor  kurzem  noch  so  berühmten  Straßburger  Gymnasiums  dasselbe  galt. 
Und  wie  die  wissenschaftlichen  Leistungen  schlecht  waren,  so  auch  die  Zucht. 
Vor  allem  die  pauperes,  die  unbemittelten  Schüler,  die  als  Kurrende  durch 
Singen  von  Chorälen  auf  Straßen  und  Höfen,  vor  allem  bei  Leichenbegäng- 
nissen sich  ihren  Unterhalt  erwarben,  erregten  durch  mancherlei  Mutwillen, 
durch  ihr  ,, gottloses  und  ärgerliches  Verhalten"  den  schwersten  Anstoß. 
Eine  Besserung  versuchte  kurz  vor  dem  dreißigjährigen  Kriege  der  Rektor 
Hirtzwigius,  in  dessen  Unterrichtsplan  wir  mancherlei  gute  und  noch  heute 
wertvolle  Mahnung  finden,  der  die  Zahl  der  Lehrstunden  herabsetzte,  dem 
Griechischen  mehr  Raum  gewährte,  gegen  untüchtige  Schüler  kräftig  ein- 
schritt. Aber  dieser  Mann  hat  ebenso  wie  Petreus  sein  Amt  infolge  von  häß- 
lichen Anfeindungen  vor  der  Zeit  niederlegen  müssen. 

Der  vornehmlich   theologische   Charakter   blieb   der   Lateinschule   „zu 
den  Barfüßern"  bis  tief  in  das  18.  Jahrhundert  hin  erhalten.     Die  Worte 


14  Neubauer, 

sapiens  atque  eloquens  pietas    bezeichnen  das   Erziehungsziel  auch  dieser 
Anstalt;  und  auf  dem  Worte  pietas  liegt  der  Nachdruck.    Nicht  nur  das 
Hebräische,  das  besonders  der  Rektor  Albrecht  mit  Vorliebe  betrieb,  sondern 
auch  der  Unterricht  in  der  griechischen  Sprache  dient  vor  allem  theologischen 
Bedürfnissen ;  man  treibt  Griechisch  in  erster  Linie,  um  das  Neue  Testament 
zu  verstehen.   Man  liest  zwar  einige  Prosaiker,  etwa  Plutarch  und  Isokrates; 
aber  davon,  etwa  Homer  den  Schülern  vorzulegen,  ist  nicht  von  fern  die  Rede. 
Der  Lateinunterricht  ist  auf  die  Bildung  des  Stils  zugeschnitten :  das  Latein 
ist  die  Sprache  der  Gelehrten,  die  man  kennen  und  können  muß;  Imitation, 
die  Herausarbeitung  eines  zierlichen  Stils,  einer  feinen  Latinität,  das  Verse- 
machen, das  Lateinreden  steht  im  Mittelpunkt;  noch  die  Schulordnung  von 
1765  verlangt,  daß  die  Schüler  der  oberen  Klassen  sich  nur  lateinisch  mit- 
einander unterhalten,  was  sie  wohl  nicht  immer  getan  haben  werden.   Diesem 
formalen  Zweck  muß  auch  die  Schriftstellerlektüre  dienen.   Man  denkt  nicht 
daran,  den  geistigen  Gehalt  der  antiken  Literatur  für  die  seelische  Bildung 
fruchtbar  zu  machen.     Gegenüber  den  Sprachen  treten  die  Realien  voll- 
kommen zurück.    Geschichte  treibt  man  nach  dem  Buche  des  Cellarius,  wo- 
bei auch  in  Betracht  kommt,  daß  dieser  ein  gutes  Latein  schreibt.    Auch 
für  Mathematik  hat  diese  Schule  noch  keinen  Raum;  Albrecht  bedauert  es, 
aber,  sagt  er,  die  Umstände  hätten  es  noch  nicht  erlaubt,  diesen  Unterricht 
einzuführen.    Dagegen  treibt  man  Philosophie  —  Logik  war  ja  immer,  seit 
dem  Mittelalter,  mit  Rhetorik  zusammen  ein  wichtiger  Unterrichtsgegenstand 
der  obersten  Klasse  gewesen ;  jetzt  erweitert  sich  dieser  Unterricht  und  nimmt 
in  der  obersten  Klasse  vier  Stunden  in  Anspruch.    „Die  philosophica  sind", 
so  heißt  es  in  der  erwähnten  Schulordnung  von  1765,  ,,mit  Munter-  und  Deut- 
lichkeit so  vorzutragen,  daß  die  Schüler  sehen,  was  sie  daraus  in  künftigen 
Zeiten  für  Vorteile  schöpfen  können,  und  von  dem  Wahren  und  Falschen, 
Bösen  und  Guten  bündig  urteilen  und  schließen  lernen."    Solche  Worte  mit 
ihrer  praktischen  Zielrichtung  zeigen  uns,  in  welches  Zeitalter  wir  eingetreten 
sind. 

Es  ist  das  Zeitalter  der  Aufklärung ;  an  unserer  Schule  wird  es  durch  den 
Namen  Purmanns  bezeichnet,  der  nicht  weniger  als  sechsunddreißig  Jahre 
lang,  zuerst  als  Konrektor,  dann  sechsunddreißig  Jahre  als  Rektor  am  städ- 
tischen Gymnasium  tätig  war,  bis  er  1806  im  Alter  von  73  Jahren  in  den 
Ruhestand  trat.  Dieser  Mann,  von  dem  wir  uns  auf  Grund  seiner  äußerst 
zahlreichen  Schulschriften  ein  Bild  machen  können,  war  sicherlich  eine  be- 
deutende Erscheinung,  eine  würdige,  hervorragende,  allgemein  verehrte  Per- 
sönlichkeit. In  seinen  Lebens-  und  Erziehungsanschauungen  vertritt  er 
im  wesentlichen  die  Gedanken  der  Aufklärung,  in  der  er  aufgewachsen  war, 
ihre  etwas  breit  moralisierende,  auf  die  praktische  Brauchbarkeit  gerichtete 
Art.  Noch  behält  die  Theologie  eine  hervorragende  Stellung;  aber  wenn 
Purmann  sagt:  ,,die  eigentliche  Bestimmung  der  Schule  ist  dahin  gerichtet, 
die  Genies  der  Jugend  so  zu  bilden,  daß  sie  die  Geschäfte,  welche  entweder 
die  Bedürfnisse  oder  der  Wohlstand  oder  das  feinere  Vergnügen  des  mensch- 
lichen Lebens  erfordern,  mit  Leichtigkeit  verrichten  können,"  so  sieht  man 


Rede  zur  Vierhundertjahrfeier  des  Städtischen  Gymnasiums  zu  Frankfurt  a.  M.       15 

den  Nützlichkeitsstandpunkt  des  Zeitalters  sich  geltend  machen.  Daß  der 
Mensch  nach  Glückseligkeit  strebt,  wird  uns  immer  von  neuem  versichert: 
dem  soll  auch  die  Schule  dienen;  der  Unterricht  soll  so  gemeinnützlich  wie 
möglich  sein,  und  nicht  allein  der  zur  Gelehrsamkeit  bestimmte  Jüngling, 
sondern  auch  der  „geschäftige  Bürger"  soll  hier  seine  erste  Ausbildung  er 
halten.  Dem  entspricht,  daß  der  Nutzen  des  lateinischen  Unterrichts  nicht 
allein  in  der  Stilbildung  gesucht  wird,  wenngleich  ihre  Bedeutung  auch  ferner 
mit  Energie  gegen  ihre  immer  zahlreicher  werdenden  Angreifer  verteidigt 
wird,  sondern  zugleich  in  den  zahlreichen  Sachkenntnissen,  die  der  Schüler 
bei  der  Lektüre  der  lateinischen  Schriftsteller  erwerben  kann.  Noch  bleibt 
man  von  dem  Humboldtschen  Ideal,  den  Geist  der  Antike  der  ethischen 
Bildung  dienstbar  zu  machen,  weit  entfernt;  aber  es  bedeutet  doch  einen 
Fortschritt,  daß  jetzt  die  ästhetische  Würdigung  der  antiken  Schriftsteller 
zum  Grundsatz  gemacht  wird.  Purmann,  der  mehrere  Schriften  über  die  Bil- 
dung des  Geschmacks  und  über  den  Geist  der  griechischen  Dichter  verfaßt 
hat,  spricht  sich  mit  Wärme  über  die  Schönheit  der  griechischen  Sprache 
aus;  eine  Auswahl  aus  griechischen  Dichtern  erscheint  im  Schulunterricht, 
und  mit  den  ,,Exemten",  einer  Oberklasse,  die  den  Übergang  zur  Universität 
bildet,  liest  er  auch,  freilich  nur  ,,nach  Befindung  der  Umstände"  einige 
Bücher  Homer.  Ferner  aber  erscheint  es  als  bedeutsam,  daß  er  hohen  Wert 
auf  die  „Kultur  der  deutschen  Sprache"  legt;  sie  ist  ihm  nach  der  Religion 
das  wichtigste  Gebiet  der  Jugendunterweisung:  nur  freilich  bleibt  auch 
dieser  Unterricht  in  der  Stilbildung  stecken;  kein  Wort  davon,  daß  die  eben 
in  jenen  Jahrzehnten  zu  so  unendlichem  Reichtum  erblühende  deutsche 
Literatur  im  Unterricht  eine  Stelle  gefunden  hätte.  Mathematik  ist  auch 
jetzt  noch  kein  Pflichtfach,  sondern  wird  auf  Privatstunden,  d.  h.  also  auf 
wahlfreien  Unterricht  verwiesen. 

Da  erscheint  im  Jahre  1800  als  Programm  an  der  Stelle  der  etwas  lang- 
atmigen Erörterungen  Purmanns  eine  Abhandlung  des  Konrektors  Mosche 
über  den  Aias  des  Sophokles.  Und  mit  diesem  Manne,  der  leider  1806  die 
Anstalt  verließ,  um  als  Direktor  nach  Lübeck  zu  gehen,  mit  Matthiä,  der 
nach  Purmanns  Ausscheiden  das  Rektorat  übernahm,  mit  Grotefend,  dem 
hervorragenden  Keilschriftforscher,  dem  Historiker  Schlosser,  der  von  hier 
nach  Heidelberg  übersiedelte,  u.  a.  kommt  ein  neuer  Geist  im  Gymnasium 
auf.  Die  Schule  soll  allen  dienen,  die  mit  einem  erhöhten  Sinn  den  Dingen 
der  Welt  gegenübertreten  wollen.  Und  jetzt  sind  es  vor  allem  die  großen 
Griechen,  die  zum  Leben  erweckt  werden  sollen :  das  Griechische  wird  aus  der 
Stellung  einer  „ancilla  theologiae"  erlöst,  und  mit  Homer  ziehen  Plato, 
Sophokles,  Euripides  in  die  Schule  ein.  Auf  der  alten  Sprachen  liegt  durchaus 
der  Schwerpunkt  der  Schulerziehung.  Immerhin  fängt  man  jetzt  an,  auf  der 
Oberstufe  auch  deutsche  klassische  Dichtungen  zu  erklären,  Werke  Klop- 
stocks,  Goethes,  Schillers  —  selbst  der  Name  Jean  Pauls  tritt  einmal  auf  — 
freilich  nur  in  einer  Wochenstunde,  und  in  einer,  wie  es  scheint,  recht  sub- 
jektiven Auswahl,  auch  nicht  ohne  die  Anmerkung,  daß  sich  an  diese  Er- 
klärungen auch  zuweilen  grammatische  Exkurse  geknüpft  hätten.    Der  Kreis 


16  Neubauer, 

der  Lehrfächer  erweitert  sich:  der  Geschichtsunterricht  erfährt  eine  wescnt- 
Uche  Ausdehnung ;  Mathematik  und  Physik  werden  jetzt  regelmäßige  Unter- 
richtsgegenstände, Erdkunde  wird  gelehrt,  auch  französischer  und  englischer 
wahlfreier  Unterricht  wird  erteilt;  die  Philosophie  wird  eingeschränkt,  bleibt 
aber  auch  ferner  ein  bedeutungsvolles  Lehrfach, 

Es  ist  ein  neuer  großer  Erziehungsgedanke,  der  in  unserer  Schule  Platz 
greift.  Sie  ist  nicht  mehr  Lateinschule,  sie  ist  ein  auf  Menschheitsbildung 
gerichtetes  Gymnasium.  Dadurch,  daß  die  Gemüter  um  ein  begrenztes  Kultur- 
gebiet von  klassischer  Bedeutung  gesammelt  und  darin  heimisch  gemacht 
werden,  soll  der  Geist  wissenschaftlichen  Strebehs  und  Erkennens  ange- 
bahnt werden ;  durch  eindringendes  Studium  will  man  die  großen  Gestalten 
des  Altertums  mit  Blut  und  Leben  erfüllen  und  dadurch  in  der  empfänglichen 
jugendlichen  Seele  Eindrücke  wecken,  die  dauernd  sind,  man  will  die  tief- 
sinnigen, in  vollendet  schöne  Sprache  gekleideten  Ideen  der  antiken  Dichter 
und  Denker  ihr  nahe  bringen  und  so  die  gesamte  Lebenshaltung,  den  Stil 
des  Lebens  im  Sinne  einer  idealen  Auffassung  beeinflussen.  Wir  dürfen  es 
sagen,  daß  es  in  dem  ganzen  vergangenen  Jahrhundert  dieser  Schule  nie 
an  hervorragenden  Männern  gefehlt  hat,  die  ihre  Schüler  nicht  nur  zu  wissen- 
schaftlicher Auffassung  erzogen,  sondern,  selbst  von  edler  Begeisterung  durch- 
drungen, ihre  Seele  für  ewige  Gedanken  zu  erwärmen  wußten.  Es  war  kein 
Gymnasium,  an  dem  man  die  Aufgabe  der  wissenschaftlichen  Erziehung 
äußerlich  auffaßte;  es  wurden  ziemlich  hohe  Anforderungen  gestellt;  dabei 
waltete  ein  freier  Sinn :  auf  die  Reifeprüfung  hat  man  lange  verzichten  können 
—  1873  hat  sie  zum  ersten  Male  stattgefunden  — ;  an  ihrer  Stelle  führte  Classen 
größere,  freie,  lateinisch  geschriebene  Arbeiten  ein,  die  die  Abiturienten  ein- 
zureichen hatten,  und  Mommsen  die  Studientage.  Dem  entsprachen  die  Lei- 
stungen: es  ist  doch  nichts  Geringes,  wenn  Theodor  Creizenach,  als  er  1873 
im  Kaisersaal  des  Römers  die  Kaisergeburtstagsrede  hielt,  es  aussprechen 
durfte,  daß  „keine  deutsche  Stadt  im  Verhältnis  zu  ihrer  Einwohnerzahl 
eine  so  volle  Reihe  bedeutender  Lehrer  an  die  Hochschulen  Deutschlands 
und  sogar  des  Auslandes  gesandt  habe". 

Seitdem  erfuhren  die  Lehrpläne  mancherlei  Änderungen;  neue  Stoffe 
drängten  mit  sieghafter  Gewalt  heran;  die  neue  Zeit  stellte  neue  Aufgaben. 
Wir  wuchsen  aus  dem  alten  Deutschland,  das  fremden  Völkern  wie  ein  Idyll 
erschien,  heraus,  wir  wurden  ein  nationaler  Staat,  und  die  Pflege  des  nationalen 
Gedankens  wurde  ein  neues,  bedeutsames  Stück  der  Schulerziehung.  Die 
Entwicklung  der  Nation  nahm  ein  Tempo  drängender  Geschwindigkeit  an, 
die  Forderungen  des  praktisch-wirtschaftlichen  Lebens  machten  sich  mit 
Ungestüm  geltend;  einer  Schulerziehung  gegenüber,  die  auf  das  Altertum 
das  Schwergewicht  legte,  verlangte  die  Gegenwart,  verlangt-  die  Kultur 
des  eigenen  Volkes  ihr  Recht.  1897  schied  sich  die  Anstalt  in  zwei  Schulen, 
von  denen  die  eine  an  dem  allgemeinen  Lehrplan  der  preußischen  Gymnasien 
festhielt,  während  die  andere  auf  neuen  Wegen  dem  alten  Ziele  nachstrebte. 
Inzwischen  ist  nicht  nur  der  Kampf  um  das  Gymnasium  immer  heftiger 
geworden;  in  der  heutigen  Zeit,  die  so  vieles  hat  zusammenstürzen  sehen, 


Rede  zur  Vierhundertjahrfeier  des  Städtischen  Gymnasiums  zu  Frankfurt  a.  M.       \7 

befindet  sich  unser  Schulwesen  überhaupt  in  einer  vollkommenen  Gärung. 
Wir  stehen  in  einer  Zeit,  in  der  es  um  nichts  Kleines,  sondern  schlechthin 
um  alles  geht;  in  der  wir  vor  der  Zukunft  unsers  Volkes,  wenn  wir  uns  auch 
noch  so  sehr  bemühen,  uns  das  Vertrauen  auf  die  in  ihm  noch  waltenden 
sittlichen  Kräfte  nicht  nehmen  zu  lassen,  doch  zuweilen  Grauen  empfinden; 
in  der 

,  ein  Wahrzeichen  nur  gilt,  das  Vaterland  zu  erretten". 

In  solcher  Zeit  ist  es  allerdings  Pflicht,  alle  Möglichkeiten  der  Reform  zu 
erwägen;  das  Wort,  das  der  beauftragte  Vertreter  der  höheren  Schulen  vor 
kurzem  auf  der  Reichsschulkonferenz  gesprochen  hat :  „Wir  wollen  den  For- 
derungen der  Zeit  in  unseren  höheren  Schulen  die  Tore  weit  und  frei  auf- 
machen," haben  wir  uns  mit  Bestimmtheit  anzueignen.  Aber  wir  wollen 
den  Standpunkt  hochfassen ;  und  wir  wollen  kein  wertvolles  Erbe  verschleu- 
dern. Unser  Gymnasium  hat  sich  bisher  zur  Aufgabe  gestellt,  zu  wissen- 
schaftlichem Sinn  zu  erziehen.  Alle  organisatorischen  Änderungen  dürfen 
nicht  zur  Folge  haben,  daß  dieser  vorwissenschaftliche  Charakter  angetastet 
wird.  Das  darf  nicht  geschehen,  im  Interesse  des  einzelnen,  der  verlangen 
darf,  mit  einer  vollgenügenden  Vorbereitung  für  die  Universitätsstudien 
ausgestattet  zu  werden,  das  darf  nicht  geschehen  im  Interesse  der  Nation, 
deren  wissenschaftliche  Leistungen  gerade  heute  nicht  verkümmert  werden 
dürfen,  wo  alle  Kräfte  anzuspannen  sind,  um  einen  künftigen  Aufstieg  zu 
ermöglichen.  Ja,  wir  wünschten  diesen  wissenschaftlichen  Charakter  ge- 
stärkt zu  sehen :  dadurch,  daß  uns  etwas  von  der  früheren  Bewegungsfreiheit 
zurückgegeben,  daß  uns  insbesondere  gestattet  würde,  dem  Unterricht  der 
obersten  Klasse  eine  freiere  Form  zu  geben  und  sie,  etwa  nach 
Art  der  einstigen  Exempten,  zu  einer  Übergangsklasse  zur  Universität 
auszugestalten.  Und  nun  ein  Zweites.  Unsere  Schulen  haben  ihre 
Aufgabe  darin  gesehen ,  zu  ernster  Pflichterfüllung  anzuleiten ,  zur 
Arbeit,  zu  williger  Einordnung.  Diese  Erziehung  zur  Pflicht  so  innerlich 
wie  möglich  zu  gestalten,  durch  Zucht  wirklich  zur  Freiheit  zu  bilden, 
die  Persönlichkeitsentfaltung  in  jeder  Beziehung  zu  fördern,  muß  unser 
klar  erkanntes  und  mit  Ernst  angestrebtes  Ziel  sein.  Aber  wir  wollen 
unsere  Jugend  nicht  zum  Opfer  eines  extremen  pädagogischen  Subjektivis- 
mus, um  nicht  zu  sagen  Anarchismus  werden  lassen.  Das  Letzte  bleibt  doch 
—  das  wissen  wir  älteren  —  das  Gesetz:  „du  sollst",  „du  bist  zum  Dienen 
da";  dieser  kategorische  Imperativ  des  Gemeinsinnes  soll  als  Losung  über 
dem  Eingang  zu  unseren  Schulen  stehen.  Wir  hören  heute  viel  von  Sozialis- 
mus; der  soziale  Sinn  jedoch,  der  zu  ihm  die  Vorbedingung  ist,  ist  leider 
in  weiten  Kreisen  erstorben.  Diese  hochgemute  Gedankenrichtung  aber, 
die  zur  Entsagung  bereit  ist,  die  —  in  Fichteschem  Sinne  —  ihre  Seligkeit 
findet  in  dem  Wirken  für  andere  und  für  die  große  Volksgemeinschaft,  kann 
sich  nicht  entfalten,  wenn  sich  nicht  der  einzelne  durchdrungen  hat  mit 
dem  tiefen  Glauben  an  übersinnliche  Werte;  in  diesem  Sinne  sollen  unsere 
Schulen  auch  ferner  den  Idealismus  pflegen.  Diesem  Ziele  soll  der  Religions- 
unterricht dienen,  den  wir  uns  nicht  nehmen  lassen  wollen;  diesem  Ziele 

Monatschrift  f.  hfth.  Schulen.    XX.  Jhrg.  2 


18  B.  Kumsteller, 

die  Versenkung  ebenso  in  die  großen  Denker  und  Dichter  des  klassischen 
Altertums  wie  in  die  großen  Denker  und  Dichter  unseres  eigenen  Volkes, 
die  heute  mit  Recht  einen  stärkeren  Anteil  an  der  Erziehung  unserer  deutschen 
Jugend  fordern;  diesem  Ziele  wird  es  aber  auch  dienen,  wenn  wir  uns  ent- 
schließen, die  vielfach  zerstreuten  Bruchstücke  zu  einer  Weltanschauung, 
die  die  Schule  bietet,  zu  ergänzen,  zu  ordnen,  zu  vertiefen,  also  den  philo- 
sophischen Unterricht,  der  einst  an  unserem  Gymnasium  eine  so  bedeutende 
Rolle  gespielt  hat,  in  neuer  Form  erstehen  zu  lassen,  um  dem  Drange  nach 
den  höchsten  Dingen  neue  Antriebe  zu  geben. 

Es  sind  zwei  große  Deutsche,  deren  Namen  unsere  beiden  Gymnasien 
tragen.  Möge  von  dem  Geiste  Lessings,  der  es  ausgesprochen  hat,  daß  „nicht 
die  Wahrheit,  in  deren  Besitz  irgendein  Mensch  ist  oder  zu  sein  vermeinet, 
sondern  die  aufrichtige  Mühe,  die  er  angewandt  hat  hinter  die  Wahrheit 
zu  kommen,  den  Wert  des  Menschen  ausmache",  und  der  das  andere  Wort 

gesprochen  hat: 

„Es  eifre  jeder  seiner  unbestochnen, 
Von  Vorurteilen  freien  Liebe  nach!" 

möge  von  dem  rastlos  drängenden  Erkenntnistriebe.,  dem  unbestechlichen 
Wahrheitssinn,  der  freien,  stolzen,  unerschrockenen  Mannhaftigkeit  dieses 
Mannes  ein  Stück  in  dem  Geiste  unserer  Gymnasien  leben !  Und  der  andere 
ist  Goethe:  der  sich  mit  ruhigem,  allumfassendem  Forschersinn  der  Wirk- 
lichkeit nahte,  um  das  Unerforschliche  ruhig  zu  verehren;  dem  als  die  höchste 
Ehrfurcht  die  Ehrfurcht  vor  sich  selbst  erschien,  d.h.  vor  dem  im  Menschen 
liegenden  göttlichen  Gedanken;  der  alles,  was  er  in  sich  aufnahm,  fruchtbar 
zu  machen  wußte  für  die  persönliche  Entfaltung  und  Bereicherung,  und  der 
sich  doch  nicht  vor  der  Welt  verschloß,  sondern  dessen  Losung  das  tätige 

Leben  war: 

„Und  Dein  Streben,  sei's  in  Liebe, 
Und  Dein  Leben  sei  die  Tat!" 

der  in  jedem  Geschaffenen  die  höhere  Idee  erkannte  und  anerkannte,  dem 
schließlich  alles  ein  Symbol  des  Ewigen  war: 

„Alles  Vergängliche  ist  nur  ein  Gleichnis".  ^ 

Was  würde  er  sagen,  wenn  seine  mächtige  Gestalt  hier  unter  uns  erstünde  ? 
Würde  er  nicht  vielleicht  unserer  Jugend  sein  Wort  zurufen:  ,, Große  Ge- 
danken und  ein  reines  Herz,  das  ist  es,  was  wir  von  Gott  erbitten  sollen!" 
Mögen  unsere  beiden  Gymnasien  in  diesem  Sinne  immerdar  leben  und  wirken ! 
Das  walte  Gott! 

Frsnkfurt  a.  M.  Dr.  Neubauer. 

Die  Neuordnung  des  Geschichtsunterrichts,  eine  Kritik. 

Die  ,, Neuordnung  des  Geschichtsunterrichts"  ist  längst  ein  Schlagwort 
geworden,  das  die  Laienkreise  in  ihren  Bann  zieht  und  dadurch  besondere 
Bedeutung  gewinnt,  daß  sie  außerordentlich  laut  von  den  sozialistisch-pazi- 
fistischen Gruppen  in  Parlament,  Presse  und  Verwaltung  gefordert  wird. 
Sie  ist  kein  bloßes  Problem  der  Didaktik  eines  beliebigen  Faches,  sondern 


Die  Neuordnung  des  Geschichtsunterrichts,  eine  Kritik.  19 

eine  Frage  der  Wissenschaft  und  der  geistigen  Kultur  unseres  Volkes  über- 
haupt und  zugleich  ein  Faktor  des  historischen  Geschehens,  weil  unter  den 
Beweggründen,  die  den  Gegenwartsmenschen  leiten,  die  historischen  einen 
breiten  Raum  einnehmen.  Deshalb  ist  es  notwendig,  daß  sie  in  ihrem  ganzen 
Umfang  nach  den  Grundsätzen  der  Wissenschaft  kritisch  behandelt  wird. 

Die  Forderungen,  die  die  bezeichneten  Kreise  in  Tageszeitungen,  Broschü- 
ren, Zeitschriften  und  Erlassen  erhoben  haben,  laufen  etwa  auf  folgendes 
hinaus:  Verdrängung  der  politischen  Geschichte  zugunsten  der  Geschichte 
der  menschlichen  Arbeit  und  Kultur,  Beseitigung  der  ,, Verherrlichung" 
der  Machtpolitik,  der  Kriege  und  Dynastien,  dafür  ,, Verherrlichung"  der 
Völkerversöhnung,  der  internationalen  Schiedsgerichte  und  Belehrung  über 
die  Kulturwidrigkeit  der  Kriege,  Nachweis  der  Gesetzmäßigkeit  der  auf- 
einanderfolgenden Kulturzeitalter,  Erfassung  der  Menschheitsgeschichte  als 
Aufwärtsbewegung  ^) . 

Die  meisten  von  ihnen  sind  uns  aus  den  Programmen  der  sozialistischen 
Parteien,  z.  B.  aus  dem  Manifest  der  kommunistischen  Partei  von  1848, 
dem  Arbeiterprogramm  F.  Lassales  von  1862,  dem  Gothaer  Programm  1875 
und  dem  Erfurter  1891 2)  bereits  bekannt.  Der  Geschichtsunterricht  soll 
also  gewissermaßen  die  Richtigkeit  und  Absolutheit  der  sozialistischen  Theorie 
und  Politik  nachweisen,  die  Jugend  im  Geiste  der  Partei  erziehen  helfen  und 
der  Grundstimmung  der  Masse  und  der  Tagesmeinung,  die  doch  so  wandelbar 
sind,  angepaßt,  soll  politisiert  werden.  Dieses  würde  das  Ende  der  Freiheit 
der  Wissenschaft  und  ihrer  Lehre,  ohne  die  kein  Geschichtslehrer  leben  kann, 
bedeuten.  Politisierung  der  Geschichte,  dazu  völlige  Verkennung  ihres  Wesens 
bedeutet  das  Verlangen,  daß  sie  irgend  etwas  ,, verherrlichen"  soll;  sie  hat 
zu  zeigen,  „wie  es  eigenthch  gewesen"  und  geworden  ist,  unbeschadet,  ob  die 
Ergebnisse  den  jeweiligen  Machthabern  angenehm  sind;  die  Grenzen  sind 
durch  das  wissenschaftliche  Gewissen  und  den  persönlichen  Takt  gezogen. 
Es  ist  keine  Entschuldigung,  wenn  immer  wieder  behauptet  wird,  daß  der 
Geschichtsunterricht  früher  solche  ,, Verherrlichung"  im  Sinne  des  alten 
Regimes  vorgenommen  habe,  ganz  abgesehen  davon,  daß  diese  Behauptung, 
mindestens  auf  die  höheren  Schulen  angewandt,  eine  in  unserm  Parteileben 
übhche  Übertreibung  ist..  Aber  sie  gehört  nun  einmal,  weil  agitatorisch  gut 
verwertbar,  zum  eisernen  Bestand  im  Gedankenrepertoire  vieler  Schulpoli- 
tiker^).  FreiUch  ist  ohne  weiteres  zuzugeben,  daß  wohl  manch  Historiker 
sich  in  der  Schule  vom  Pathos  zur  Verherrlichuhg  der  Dynastien  und  des 
Machtgedankens  hat  hinreißen  lassen,  aber  alle  unabhängigen  wissenschaft- 


1)  Besonders  bemerkenswert:  Erich  Witte,  Der  Geschichtsunterricht  im  neuen  Deutsch- 
land, Vorwärts  29. 1. 1919  und  ebd.  26.  3. 1920,  K-  Löwenstein,  Sozialistische  Schul-  und  Er- 
ziehungsfragen, S.  69ff.,  Erlaß  des  Gothaischen  Staatsministeriums  vom  1.  7.  1919,  abge- 
gedruckt  in  „Vergangenheit  und  Gegenwart,  IX.  Jahrg.  1919  S.  159f.,  und  Erlaß  des  Bremer 
.Arbeiter-  und  Soldatenrats  vom  9.  1.  1919,  abgedruckt  ebd.  IX.  Jahrg.  1919,  S.  95 f. 

^)  Vgl.  Felix  Salomon,  Die  deutschen  Parteiprogramme  2.  Aufl.  Leipzig-Berlin  1912, 
Bd.  1.  S.  26  und  98ff.,  Bd.  2,  S.  25ff.  u.  evff. 

^)  Mit  Nachdruck  betont  von  Fritz  Friedrich  u.  a.  Vergangenheit  u.  Gegenw.  X.  Jahrg. 
1920,  S.  85  und  die  Aufgaben  des  Geschichtsunterrichts,  deutsches  Fhilologenbl.  1920,  S.  437 ff. 

2* 


20  B.  Kumsteller, 

liehen  Fachgenossen  waren  sich  in  der  Ablehnung  solcher  Haltung  und  jedes 
irgendwie  gearteten  Druckes  von  oben  einig.  Und  die  Lehrpläne  von  1901 
verlangen  ausdrücklich  nichts  mehr  als  „Würdigung",  dazu  „Vermeidung 
jeder  Tendenz"  und  „Sachlichkeit".  In  diesem  Zusammenhang  hat  auch  der 
Sturmlauf  gegen  die  Kriegsgeschichte  ein  wenig  politischen  Beigeschmack, 
weil  man,  reichlich  naiv,  glaubt,  man  könne  dadurch  die  Kriege  aus  der  Welt 
schaffen  helfen,  daß  man  der  Jugend  nichts  oder  höchstens  Kulturwidriges 
über  sie  erzählt.  Ähnlich  will  man  vielleicht  auch  die  Überwindung  des 
Staates  als  organisierter  Macht  und  des  Führertums  im  Menschen  zug^unsten 
der  Gleichheit  der  Masse,  dadurch  fördern,  daß  man  die  politische  Geschichte 
mit  ihren  Persönlichkeiten  aus  dem  Unterricht  verdrängt. 

Suchen  wir  nach  dem  wissenschaftlichen  Ursprung  der  charakterisierten 
Forderungen,  so  finden  wir  ihn  in  der  kollektivistischen  oder  naturwissen- 
schaftlich-sozialistischen Geschichtsauffassung  von  Comte-Buckle-Lamprecht 
und  der  ökonomisch-materialistischen  von  Marx-Engels,  Können  nun  diese 
Systeme  eine  genügend  breite  Grundlage  für  eine  Geschichtsdarstellung, 
insbesondere  eine  für  den  heranwachsenden  Menschen  geeignete,  abgeben? 
Um  die  richtige  Antwort  zu  finden,  dürfen  wir  nicht  nur  den  fertigen  Gehalt 
beider  Geschichtsanschauungen  betrachten,  sondern  müssen  in  erster  Linie 
das  Denkverfahren  prüfen,  durch  das  Marx  und  Comte  zu  ihren  Erkennt- 
nissen kommen.  Dies  wird  uns  am  besten  durch  eine  Gegenüberstellung 
mit  der  modernen  Geschichtsphilosophie,  wie  sie  u.  a.  durch  Lotze,  Dilthey, 
Rickert,  Troeltsch  ausgebildet  wurde,  gelingen. 

Geschichts-  und  Naturwissenschaft  sind  methodisch  und  stofflich  grund- 
verschieden. Der  Gegenstand  des  historischen  Erkennens  ist  einmal  Gegebenes, 
Veränderliches;  des  naturwissenschaftlichen  Allgemeines,  Veränderliches. 
Dementsprechend  sind  auch  die  Zusammenfassungen  der  Grundeinheiten, 
die  Begriffe,  in  beiden  Wissenschaften  verschieden.  Der  historische  Begriff 
besteht  nicht  wie  der  naturwissenschaftliche  nur  im  erkennenden  Geist, 
sondern  ist  eine  konkrete  Lebenseinheit,  unabhängig  von  diesem.  Notwendiger- 
weise müssen  auch  die  Verkettungsprinzipien  zweier  Einheiten,  die  Kausali- 
täten, anders  geartet  sein.  Sind  die  physischen  konstant  und  allgemeingültig, 
so  sind  die  historischen  einmalig  und  differenziert.  Das  bedeutet,  daß  es  keine 
historischen  Gesetze  im  Sinne  von  Naturgesetzen  gibt.^)  Dieses  hindert 
die  Unendlichkeit  der  Geschichte,  ferner  die  „schlechthin  gegebene  Setzung", 
die  in  allen  historischen  Individualitäten  steckt  und  die  wir  populär  Schöpfung, 
Veranlagung,  Schicksal  nennen,  sowie  endlich  der  Umstand,  daß  sich  jede 
historische  Kausalität  nur  regressiv  erschließen  läßt,  so  daß  wir  nicht  sagen 
können,  ob  die  zu  erklärende  Erscheinung  nicht  auch  bei  andern  Ursachen 
hätte  eintreten  können.  Wir  tun  also  gut,  besser  von  Regeln,  Parallelen, 
Analogien  zu  sprechen.  Zwar  liegt  es  in  der  Natur  des  Menschen,  sein  eignes, 
in  die  Vergangenheit  hinabreichendes  Schicksal  mit  der  Zukunft  und  dem 
Seinsollenden  in  eins  zu  bringen,  aber  dieser  Denkprozeß  beruht  auf  persön- 

1)  über  die  beschränkte  Geltung  physischer  Gesetze  in  der  Geschichte  vgl.  Ernst 
Bemheim,  Lehrbuch  der  historischen  Methode,  5.  u.  6.  Aufl.  Leipzig  1908,  S.  113 f. 


Die  Neuordnung  des  Geschichtsunterrichts,  eine  Kritik.  21 

lichem  Glauben  und  persönlicher  Lebensentscheidung  und  nicht  auf  einer 
wissenschaftlich  beweisbaren  Notwendigkeit;  eine  Prophetie,  daß  sich  das 
Kommende  nach  einem  konstanten  Naturgesetz  nur  so  und  nicht  anders 
abspielen  würde,  ist  nicht  möglich.  Der  konkrete  Stoff  wird  durch  kein 
nechanisches  Ablesen  der  Wirklichkeit  gewonnen,  wie  ein  „naiver  Realis- 
mus" wähnt,  sondern  dadurch,  daß  der  Forscher  die  Vergangenheit  auf  ein 
in  ihm  wohnendes  Wertsystem  bezieht,  in  ihr  sein  eigens  Ich  sucht  und  so 
seine  Gegenwart  und  die  zu  erkennende  Vergangenheit  in  eine  Sinneinheit 
bringt. 

Comte  will  dagegen  seine  Erkenntnis  durch  die  exakte,  positive,  d.  i. 
für  ihn  die  naturwissenschaftliche  Methode  gewinnen  und  vergewaltigt  da- 
durch die  Geschichte,  daß  er  auf  sie  einen  ihr  wesensfremden  Denkprozeß 
anwendet.  Er  kennt  also  z.  B.  keine  besondere  historische  und  naturwissen- 
schaftliche Kausalität,  beachtet  auch  nicht  das  Prinzip  der  Kontrastverstär- 
kung i)  zur  Erklärung  von  Reaktionen  und  kommt  durch  seine  naturwissen- 
schaftliche Methodik  mit  Notwendigkeit  zur  Aufstellung  seiner  Kulturzeit- 
alter, die  nach  seiner  Meinung  gesetzmäßig  ablaufen.  Nach  unserer  Ansicht 
bedeuten  sie  jedoch  im  Grunde  genommen  kein  Gesetz,  da  weder  ihr  konstanter 
Ablauf  durch  die  Erfahrung  restlos  nachgewiesen  noch  die  konstante  Ursache 
für  diesen  aufgedeckt  werden  kann  2).  Comte  ist  sich  nicht  des  Apriorischen 
gerade  bei  seinem  Kulturzeitalter-„Gesetz"  bewußt,  und  so  ist  es  nicht  weiter 
verwunderlich,  wenn  er  die  ,, komparative"  Methode,  d.  h.  die  Deutung  der 
Einzelerscheinungen  aus  der  Gesamtentwicklung,  für  die  vollkommenste 
hält  und  dabei  übersieht,  daß  er  damit  seinem  angestrebten  induktiven  Ver- 
fahren entgegenarbeitet. 

Soweit  Marx  in  Paris  die  positivistische  Denkrichtung  in  sich  aufgenommen 
hat,  teilt  sein  System  die  Schwächen  mit  dieser.  Aber  er  bleibt  doch  in  seinem 
Kern  Hegelianer  und  geht  mehr  syllogistisch  und  dialektisch  als  induktiv 
vor.  Dementsprechend  arbeitet  er  viel  mehr  apriorisch  als  Comte,  ohne  sich 
dessen  bewußt  zu  sein,  und  kann  infolgedessen  sein  Apriori  nicht  durch  metho- 
dische Maßnahmen  einschränken.  Analogieschlüsse  spielen  bei  ihm  eine  große 
Rolle.  Weil  er  auf  die  mechanische  Kausalität  schwört,  hat  er  in  seiner  Ge- 
schichtsauffassung für  das  Irrationale  keinen  Platz,  vielmehr  ist  ihm  die  Welt- 
geschichte ein  logisch  zu  verstehender  Prozeß.  Dadurch,  daß  ihre  Teleologie 
ihm  feststeht,  hat  bei  ihm  jede  Geschichtsperiode  nur  relativen  Wert,  der 
Daseinszweck  des  Menschen  liegt  in  der  Zukunft.  Dieser  Relativismus,  den 
Kant  „befremdend"  nennt,  beruht  auf  einer  falschen  Methodik,  den  konkreten 
Inhalt  der  historischen  Formen  zu  beurteilen.  Da  er  nämlich  die  historische 
Grundeinheit  der  naturwissenschaftlichen  gleichsetzt,  leugnet  er  die  unver- 
wechselbare Einzelheit  der  historischen.  Und  weiter  erkennt  er  folgerichtig 
nicht  an,  daß  jede  Form  ihren  individuellen,  unübertragbaren  Wert,  ihr  be- 
sonderes Ideal  hat,  das  nach  Verwirklichung  drängt,  und  daß  es  mithin  eine 
schlechthin  unendliche  Mannigfaltigkeit  von  Werten  gibt.    Das  Wertsystem, 

1)  Aufgestellt  von  Wilhelm  Wundt,  Logik  Bd.  2,  2.  Aufl.  189.5,  S.  lOSff. 

2)  Vgl.  Bernheim,  a.  a.  O.,  S.  112. 


22  B.  Kumsteller, 

das  sein  Erkennen  leitet,  ist  also  nicht  eine  organische  Verschmelzung  der 
Vielheit  der  bestehenden,  unterschiedlichen  Normen  und  Ideale,  vielmehr 
bezieht  er  notwendigerweise  das  an  individuellen  Schöpfungen  so  überreiche 
historische  Leben  auf  einen  einzigen  Wert.  Das  Geltenlassen  nur  eines  ein- 
zigen Wertes  läßt  aber  auch  die  Unterscheidung  der  eigenen  Sonderart  von 
den  übrigen  Wertverwirklichungen  nicht  zu.  Dadurch  ist  ihm  auch  zugleich 
der  Weg  zu  einem  vollen  historischen  Erkennen  einer  Erscheinung  verbaut, 
da  zu  diesem  nicht  bloß  das  Erfassen  der  Gemeinsamkeiten,  sondern  auch  der 
Gegensätze  zum  eigenen  Ich  notwendig  ist  -). 

Dieser  Methodenmonismus  ist  der  Grund,  weshalb  beide  geschichts- 
philosophische  Systeme  —  Comte  selbst  sieht  noch  bei  seinem  tiefen  Sinn 
für  die  Realitäten  von  den  schroffen,  denkrichtigen  Folgerungen  seiner  Lehre 
ab,  diese  ziehen  erst  seine  Schüler  —  sich  von  der  Empirie  entfernten  und 
statt  eines  reich  bewegten  Dramas  mit  allen  Plötzlichkeiten  und  dem  bunten 
Nebeneinander  von  Großem  und  Kleinem,  Seichtem  und  Tiefem,  eine  Kette 
blutleerer  Abstraktionen  und  ein  Werk  von  verblüffender  Einseitigkeit 
schufen.  Diese  Methodik,  die  wir  als  veraltet  bezeichnen  müssen,  ist  bei  der 
Ablehnung  beider  Geschichtsanschauungen  das  Entscheidende,  der  materiale 
Gehalt  der  auf  ihnen  begründeten  Darstellung  ist  das  Sekundäre. 

Stofflich  charakterisiert  sich  bekanntlich  sowohl  die  kollektivistische 
als  auch  die  materialistische  Geschichtsbetrachtung  durch  Verwertung  der 
Individual-  zugunsten  der  allein  zu  betreibenden  Massengeschichte,  der 
politischen  als  Auswirkung  des  Machtgedankens  zugunsten  der  Kulturge- 
schichte. 

Wir  sind  uns  heute  darüber  klar  2),  daß  der  Mensch  als  ,, politisches  Wesen" 
als  Individuum  und  auch  als  Glied  der  Masse  wirkt;  daß  die  Individuen 
zwar  viele  Elemente  in  sich  tragen,  die  im  Vergangenen  und  Gegenwärtigen 
bereits  enthalten  sind,  daß  aber  in  ihnen  auch  etwas  Neues,  Schöpferisches 
ruht,  welches  für  uns  rätselhaft  und  unerrechenbar  ist.  Vielmehr  sind  die 
Wechselwirkungen  zwischen  den  Individual-  und  Kollektiveinheiten,  zwischen 
Egoismus  und  Gesellschaftstrieb  ein  Hauptproblem  der  Geschichte.  Es 
gibt  weder  historische  Einheiten  rein  individueller  noch  rein  kollektivistischer 
Art,  mögen  wir  diese  mit  Marx  ökonomisch,  d.h.  starr  und  seelenlos,  oder 
mit  Comte-Lamprecht  sozialpsychologisch  erfassen.  Mithin  ist  auch  die 
Umformung  des  Lebens  ausschließlich  zur  Individual-  oder  ausschließlich 
zur  Kollektivgeschichte  nicht  möglich. 

Da  gemeinhin  die  politische  Geschichte  als  Typ  der  Individualgeschichte, 
die  Kulturgeschichte  als  Typ  für  die  Kollektivgeschichte  gilt,  so  hat  auch  das 


1)  Vgl.  u.  3.  Theodor  Litt,  Geschichte  und  Leben  Leipzig-Berlin  1918,  S.  ir>6ff.  und 
Walther  Wagner,  Die  materialistische  Geschichtsauffassung . . .  und  die  Schule,  Vergangenh. 
u.   Gcgenw.    IX.  Jahrg.  tgl9,  S.  fTff. 

^)  Vgl.  Bernheim  a.  a.  O.  besonders  S.  CäOff. ;  Eduard  Meyer,  Die  Aufgaben  der  höheren 
Schulen  und  die  Gestaltung  des  Geschichtsunterrichts  Leipzig-Berlin  1918,  S.  '6ff.,  Otto 
Hintze,  Über  individualistische  und  kollektivistische  Geschichtsauffassung,  Historische 
und  politische  Aufsätze  Bd.  4,  S.  off. 


Die  Neuordnung  des  Geschichtsunterrichts,  eine  Kritik.  23 

Gesagte  für  diese  zweite  Gegensätzlichkeit  Geltung.  Der  staatliche  Verband, 
im  weitesten  Sinne  als  unauflöslicher  durch  Rechtsnormen  geregelter  Zu- 
sammenschluß einer  Menschengruppe  verstanden,  ist  sie  Voraussetzung 
alles  menschlichen  Daseins.  Zwar  ist  sein  dauerndes  Ziel  die  Macht,  aber  er 
gewährleistet  seinen  Bürgern  gleichzeitig  die  höchsten  Güter  der  Menschheit. 
Kultur  und  Zivilisation  entwickeln  sich  im  Zusammenhang  mit  seinen  Wand- 
lungen. Die  ganze  Geschichte  bildet  eben  eine  innere  Einheit,  mithin  darf 
die  politische  Geschichte  nicht  in  Gegensatz  zur  Kulturgeschichte  gestellt 
werden  oder  gar  völlig  unberücksichtigt  bleiben,  sondern  sie  ist  im  engsten 
Zusammenhang  mit  dieser  zu  behandeln. 

Diese  Einseitigkeit  würde  ohne  Zweifel  einen  Rückschritt  gegen  die  heutige 
Lage  des  Geschichtsunterrichts  bedeuten,  denn  tatsächlich  nahm  bereits 
die  Kulturgeschichte  in  den  meisten  Lehrbüchern  einen  bestimmten  Raum 
neben  der  politischen  ein  und  war  mit  der  politischen  verquickt;  der  Lehr- 
plan von  1901  verlangte  ausdrücklich,  „eingehende  Berücksichtigung  der 
Verfassungs-  und  Kulturverhältnisse". 

Auch  ethisch-pädagogische  Momente  sprechen  in  der  Kritik  mit.  Da, 
wie  wir  gesehen  haben,  in  beiden  Geschichtsauffassungen  das  Intuitive, 
Schöpferische,  Große  nicht  zur  Geltung  kommt,  sind  sie  nicht  imstande, 
Begeisterung,  Selbstverantwortlichkeitsgefühl,  männliches  Wollen  zu  erzeugen 
—  dies  gilt  besonders  von  der  marxistischen  — ,  was  doch  in  unserer  an  schöpfe- 
rischer Kraft  recht  armen  Zeit  so  dringend  notwendig  wäre.  Selbst  einseitig, 
sind  sie  nicht  fähig,  der  bis  ins  Krankhafte  gesteigerten  Einseitigkeit  unseres 
öffentlichen  Lebens  entgegenzuarbeiten,  die  Jugend  zur  politischen  Toleranz 
zu  erziehen  und  dadurch  bei  der  inneren  Versöhnung  unseres  Volkes  mitzu- 
helfen i).  Diesem  Ziel  sollte  sich  der  Geschichtsunterricht  als  der  heiligsten 
Pflicht  zuerst  zuwenden,  die  Erziehung  zur  Völkerversöhnung  ist  das  Weitere. 
Wir  müssen  ferner  erwägen,  daß  in  der  Unter-  und  Mittelstufe  eine  ergiebige 
Behandlung  der  Kultur-  und  Massengeschichte  auf  erhebliche  Schwierig- 
keiten stößt,  da  erfahrungsgemäß  die  Kollektiveinheiten  schwerer  als  die 
Individualeinheiten  zu  erfassen  sind  und  oft  über  das  Spann-  und  Deutungs- 
vermögen der  Jungen  geradezu  hinausgehen.  Man  mag  sich  noch  so  gegen 
die  Tatsache  sträuben:  die  Jugend  will  von  ,,heleden  lobebaeren,  von  grozer 
kuonheit"  hören. 

Wir  halten  also  aus  wissenschaftlichen  und  pädagogischen  Gründen 
die  besprochenen  Geschichtsauffassungen  als  Grundlagen  einer  im  Unterricht 
verwendbaren  Geschichtsdarstellung  geradezu  für  unmöglich.  Sollte  sich 
trotzdem  ein  Lehrer  auf  sie  festlegen,  so  werden  wir  in  Achtung  der  Freiheit 
der  Wissenschaft  seinem  wissenschaftlichen  Gewissen  die  Verantwortung 
überlassen,  lehnen  sie  aber  als  allgemeinverbindHch  für  uns  alle  ab. 

Aus  unserer  Untersuchung  soll  nicht  etwa  auf  eine  glatte  Ablehnung  jeg- 
licher Neuordnung  geschlossen  werden,  wie  sich  ja  auch  die  Fachliteratur  des 
letzten  Jahrzehnts  durch  die  ständige  Wiederkehr  der  Reformforderung  und  dem 

^)  Vg!.  E.  Spranger,  Vom  innern  Frieden  des  deutschen  Vokes,  Intern.  Monatsschrift 
XI,  S.  ir:Sff. 


24  B.  Kumsteller, 

Suchen  nach  neuen  Bahnen  charakterisiert.  Frucht  dieses  Strebens  konnte 
jedoch  nur  Halbheit  und  Flickwerk  werden  wie  z.  B.  der  Ministerialerlaß 
vom  2.  9.  1915,  weil  es  am  Materialen  haften  blieb  und  immer  nur  historische 
Ergebnisse  ins  Auge  faßte.  Unser  Geschichtsunterricht  sah  sein  Heil  in  einer 
rein  kontemplativen  Geschichtsbetrachtung,  die,  im  sieghaften  Bewußtsein 
der  eigenen  Objektivität  und  erfüllt  vom  Glauben  an  die  Empirie,  die  histo- 
rischen Grundelemente  mechanisch  addierte.  Diese  falsche  Einschätzung 
führte  zu  einem  ,,Pseudohistorismus",  dem  Brutherd  eines  anmaßenden 
historisch-politischen  Dilettantismus  und  Phrasentums.  Man  glaubte  der 
Erziehung  zum  „historischen  Verständnis"  dadurch  zu  genügen,  daß  man  die 
Gegenwart  aus  der  Vergangenheit  erklärte.  Und  die  jetzige  Neuordnung 
wird  wieder  auf  halbem  Wege  stehen  bleiben,  wenn  sie  nicht  den  Stoff  bewußt 
auf  einer  in  sich  abgeschlossenen,  aber  weitherzigen  Geschichtsauffassung 
als  solider,  tragfähiger  Grundlage  aufbaut,  auf  einer  solchen,  die  zwar  das 
Ergebnis  einer  logisch  gesicherten  Erfahrung  sein  muß,  aber  die  eigene  Existenz 
des  Betrachtenden  und  das  geschichtliche  Leben  zu  einer  Sinneinheit  zusammen 
faßt.  Dieser  Anforderung  entspricht  am  besten  die  Humanitätsphilosophie, 
die  von  Locke  neu  belebt  und  von  Troeltsch^)  zu  einer  einzigartigen  Weite 
entwickelt  worden  ist.  Sie  wird  sowohl  den  Individual-  als  auch  den  Kollektiv- 
einheiten und  den  ökonomischen  Bedingungen  gerecht  und  macht  sich  die 
Fortschritte,  die  wir  Comte  und  Marx  trotz  ihrer  methodischen  Schwächen 
immerhin  verdanken,  zunutze. 

Der  so  geformte  Stoff  muß  nun  im  Unterricht  nach  der  materialen 
und  auch  nach  der  logischen  Seite  geschichtsphilosophisch  durchdrungen 
werden  und  ist  nicht  als  fertige,  träge  Masse  zum  ,, Lernen"  zu  bieten.  Da 
schließlich  der  Mensch  das  Kernproblem  aller  Welt-  und  Lebensbetrachtung 
ist,  so  hat  der  Geschichtslehrer  das  Suchen  des  Schülers  nach  seiner  eigenen 
Stellung  inmitten  des  historischen  Lebens  und  die  Frage  nach  dem  Sinn- 
und  Wertgedanken  der  Geschichte  und  den  Bedingungen  ihres  Verlaufes 
zu  erwecken  und  zu  leiten.  Der  junge  Mensch  darf  nicht  mehr,  wie  es  bislang 
üblich  war,  über  die  historischen  Begriffe  als  über  Selbstverständlichkeiten 
hinweggleiten,  sondern  muß  inne  werden,  daß  jeder  von  diesen  eine  Reihe 
von  Problemen  hinter  seiner  Oberfläche  birgt  und  eine  Abkürzung  für  einen 
Lebenskomplex  ist,  den  er  in  seiner  Fülle  erst  erfassen  muß.  Zum  historischen 
Verstehen  der  konkreten  historischen  Inhalte  im  Sinne  eigenen  Aufbauens 
aus  den  historischen  Grundeinheiten  kann  der  Geschichtsunterricht  wegen 
der  Kompliziertheit  und  Weitschichtigkeit  des  Stoffes  freilich  nicht  erziehen-), 
wohl  aber  kann  und  soll  er  zum  sinnvollen  und  folgerichtigen  Nachbilden 
eines  schon  fertigen  Stoffes  anleiten,  wenn  anders  die  Geschichte  sich  über 
öden  Mechanismus  erheben  soll;  und  wir  meinen,  daß  selbst  diese  Tätigkeit, 
die  nicht  spezifisch  historisch  isi,  ein  prophylaktisches  Mittel  gegen  Gedanken- 


^)  Beachtenswert  die  neuerliche  Zusammenfassung  von  Ernst  Troeltsch,  die  Bedeutung 
der  Geschichte  für  die  Weltanschauung  (Geschichtliche  Abende  i.  Zentralinstitut . . .)  Berlin 
191b'. 

^)  Mit  Nachdruck  betont  von  Litt,  a.  a.  O.,  besonders  S.  186ff. 


Die  Neuerung  des  Geschichtsunterrichts,  eine  Kritik.  25 

trägheit  sein  kann.  Wir  dürfen  sie  unter  dem  Banne  des  gegenwärtig  all- 
gewaltigen Schlagwortes  „Produktion"  nicht  zu  gering  bewerten,  vielmehr 
gebührt  ihr  durchaus  ein  Platz  neben  dieser.  Dagegen  lassen  sich  bereits 
in  der  Schule  die  Grundformen  des  gesellschaftlichen  Lebens,  in  denen  die 
Inhalte  zustande  kommen,  ,, historisch  erfassen",  indem  der  Schüler  ihren 
Aufbau  aus  seinem  Ich,  seinem  Lebenskreise  und  der  Gegenwart  selbst  be- 
werkstelHgt^).  Wir  glauben,  daß  eine  solche  Vertiefung  einen  wirksamen 
Damm  gegen  die  Oberflächlichkeit  und  Phrasenherrschaft  darstellt  und  wirk- 
lich „bildet",  nach  der  ethischen  und  der  formalen  Seite.  Nur  über  die  Ehr- 
furcht vor  der  Wissenschaft  hinweg  führt  der  Weg  zum  Eros. 

Es  ist  auffallend,  wie  sehr  die  wissenschaftliche  Reformliteratur  an  diesen 
entscheidenden  Grundfragen  vorübergeht  und  sich  völlig  ins  rein  Stoffliche 
verliert,  dessen  Auswahl  auf  Grund  des  „naiven  Realismus"  recht  mechani- 
sierend und,  da  ein  innerlich  begründetes  Auswahlprinzip  fehlte,  nach  unserer 
Meinung  willkürlich  behandelt  wurde.  Wenden  wir  uns  den  einzelnen  kon- 
kreten Vorschlägen  zu,  so  finden  wir  die  Forderung,  daß  auch  der  Geschichts- 
unterricht der  dauernden  Erweiterung  der  Geschichtswissenschaft  in  die  Tiefe 
durch  Erschließung  neuer  Quellenkomplexe  und  in  die  Breite  durch  Ausbau 
neuer  Teil-  und  Hilf^disziplinen  durch  „stärkere  Berücksichtigung"  dieser 
Rechnung  tragen  muß;  ein  Verlangen,  welches  aus  der  Überzeugung  geboren 
ist,  daß  ,, jeder  Gebildete  davon  etwas  wissen  muß",  und  mit  dem  die  wissen- 
schaftlichen Vertreter  solcher  Stoffgebiete  in  kurzsichtigem  Fachpatriotismus 
besonders  schnell  bei  der  Hand  sind.  Gewiß,  geben  wir  zu,  hier  liegen  Forde- 
rungen des  Lebens  vor;  aber  wo  ist  eine  Grenze,  wenn  wir  diese  Bahn  weiter 
verfolgen  ?  Führt  sie  nicht  zur  Katastrophe  der  Geschichte  als  einheitlicher 
Wissenschaft?  Keine  Stundenvermehrung  könnte  verhindern,  daß  die  Schüler 
vom  Stoff  erdrückt  würden  und  es  trotzdem  nirgends  über  jämmerliche  Halb- 
heit und  hohles  Dilettantentum  hinausbrächten.  Die  Antinomie  der  geschicht- 
lichen Ausbildung,  hervorgerufen  durch  den  Widerstreit  der  Forderungen 
des  Lebens  und  der  Wissenschaft,  liegt  zutage.  Läßt  sie  sich  überhaupt 
beseitigen  ?  Vom  alten  Stoff  soll  gestrichen  werden,  um  neuen  in  noch  größerem 
Umfang  aufzunehmen.  Der  Enzyklopädismus  ist  tot,  es  lebe  der  Enzyklo- 
pädismus ! 

Beliebte  Abholzungsgebiete  sind  das  Altertum  und  ganz  besonders  das 
Mittelalter.  Dafür  soll  die  Gsechichte  des  19.  und  20.  Jahrhunderts  auf 
breiteste  Grundlage  gestellt  werden.  In  diesen  Erwägungen  steckt  zwar  ein 
Kern  Wahrheit ;  sie  müssen  aber  verhängnisvoll  wirken  und  zu  mechanistischer 
Einseitigkeit  führen,  weil  sie  sich  auf  falsche  Voraussetzungen  gründen. 
Denn  ihnen  liegt  einerseits  die  falsche  Einstellung  zugrunde,  daß  Altertum 
und  Mittelalter  für  uns  nach  dem  gewaltigen  Erleben  der  letzten  Jahre  zu 
wenig  zu  sagen  hätten  und  infolgedessen  rein  antiquarischen  Wert  hätten 
und  dementsprechend  zu  behandeln  seien.  Hierbei  sprechen  ohne  Zweifel 
ein  mißverstandener  Patriotismus  und  die  Abscheu  vor  der  Gewalt  und  dem. 
Kriege  mit.    Man  verkennt  nun,  daß  die  Kulturentwicklung  ein  Prozeß  der 

^)  In   trefflicher  Weise  im  einzehien  durchgeführt  von  Litt,  a.  a.  O.  Kap.  II,  2  u.  3. 


26  Paul  Cauer, 

Synthese  ist,  indem  der  vorhandene  geistige  Bestand  das  Neue  aufnimmt 
und  sich  assimiliert  und  wir  alle  folgUch  Altertum  und  Mittelalter  in  uns 
tragen,  ob  wir  diese  Tatsache  anerkennen  wollen  oder  nicht.  Andrerseits 
glaubt  man  in  dem  verstärkten  Betrieb  des  19.  und  20.  Jahrhunderts  den 
Zauberstab  gefunden  zu  haben,  mit  dem  das  historische  Verständnis  für  die 
Probleme  der  Gegenwart  geweckt  werden  kann,  weil  man  das  Wissen  eines 
Geschehenen  mit  dem  Verständnis  eines  Geschehenden  für  identisch  hält. 
Die  völlige  Verkennung  des  Prozesses  der  historischen  Begriffs-  und  Wert- 
bildung macht  auch  gegen  die  Schwierigkeiten  blind,  die  der  Behandlung  der 
allerneuesten  Geschichte,  deren  Grenzen  mit  dem  Leben  noch  fließend  sind, 
entgegenstehen. 

Nicht  die  Neuaufnahme  dieses  oder  jenes  neuen  Stoffgebietes,  nicht  die 
radikale  Abholzung  dieses  oder  jenes  bestehenden  nach  ,, objektiven",  d.  h. 
für  uns  willkürlichen  Grundsätzen  sollte  die  Hauptsorge  sein,  sondern  eine 
gründliche  Streichung  auf  allen  Teilgebieten^).  Was  zufällig  und  zeitlich  be- 
dingt ist,  kann  fortfallen,  was  dagegen  die  Verwirklichung  eines  zeitlosen, 
immer  wieder  auftauchenden  Problems  ist,  muß  bestehen  bleiben.  Mögen 
die  Gedankengänge  unserer  Kritik  bei  der  amtlichen  Neuordnung  praktische 
Verwertung  finden! 

Charlottenburg.  B.  Kumsteller. 

Ein  umstrittenes  Komma. 

Das  Auswärtige  Amt  hat  folgende  Rundnote  unter  dem  17.  September 
1920  (G.-N.  I  G  3259)  erlassen:  ,,Der  Herr  Reichsminister  hat  bei  Vorlage 
von  Unterschriften  wiederholt  darauf  hingewiesen,  daß  in  einem  Satze  wie 
,Euer  P.  P.  beehre  ich  mich,  anbei  einen  Brief  zu  überreichen  .' .  .'  das 
Komma  hinter  ,mich'  unrichtig  ist.  Es  wird  gebeten,  schon  bei  der  An- 
fertigung der  Konzepte  hierauf  achten  zu  wollen".  —  Diese  Mitteilung  er- 
schien Anfang  Oktober  in  der  Frankfurter  Zeitung  und  ging  von  da  in  eine 
Anzahl  anderer  Blätter  über.  Die  Zeitung  knüpfte  daran  einen  naheliegenden 
Spott  über  solche  Kleinlichkeit,  wobei  der  Minister  noch  obendrein  sachlich 
im  Unrechte  sei.  Denn  auf  deutschen  Schulen  sei  bisher  gelehrt  worden, 
daß  ,,ein  Komma  zu  stehen  habe,  wenn  in  solchen  Satzteilen  dem  durch 
,,zu"  verbundenen  Verbum  noch  ein  Objekt  folgt".  Und  eine  so  allgemein 
bekannte  Sache  hatte  der  Minister  nicht  gewußt  1  Beinahe  wie  der  Alte  Fritz, 
fier  nicht  wußte,  daß  Mittwoch  nachmittag  keine  Schule  war.  Freilich  wenn 
man  daran  dachte,  welcher  Teil  der  Berliner  Bevölkerimg  es  gewesen  ist, 
der  an  dieser  Unkenntnis  des  Königs  Anstoß  nahm,  so  mochte  man  mit  Gleich- 
mut über  den  pädagogischen  Eifer  der  Zeitungen  hinweggehen.    Immerhin 


^)  Das  beste  zur  Stoffsichtung,  im  einzelnen  praktisch  durchgefsihrt,  gesagt  von  Fritz 
Friedrich,  Stoffe  und  Probleme  des  Geschichtsunterrichts,  2.  Aufl.  Leipzig-Berlin  1920  Buch  II; 
Vgl.  Ernst  Bernheim,  Reform  oder  Umsturz  des  Geschichtsunterrichts'^  Erziehung  und 
Bildung,  Wissenscb.  Beilage  d.  Preußischen  Lehrerzeitung,  I.  Jahrg.  1S20,  S.  65f.  sowie 
Eingabe  des  Verbandes  der  Geschicntslehrer  Deutschlands  1919  (abgedruckt  Vergangenh. 
u.  Gegenw.   IX.  Jahrg.  1919  S.  4Sff. 


Ein  umstrittenes  Komma.  27 

hob  ich  mir  das  Blatt  auf  als  gelegentliches  Beispiel.  Da  fand  ich,  spät  erst,  in 
den  Grenzboten  vom  4.  Oktober  1920  dieselbe  Sache,  hier  mit  der  noch 
bittreren  Bemerkung,  daß  der  Minister  die  Sparsamkeitsverordnungen  seines 
Kollegen  Dr.  Wirth  in  schöner  Einmütigkeit  mit  ihm  befolge,  ja  im  vor- 
aus befolgt  habe.  Der  Vorfall  erschien  hier  im  Lichte  politischer  Verhältnisse, 
und  mußte  nun  doch  etwas  ernster  genommen  werden. 

Wie  wird  es  dabei  hergegangen  sein?  Herr  Dr.  Simons  fand  in  Schrift- 
stücken, die  er  unterzeichnen  und  als  die  seinigen  hinaussenden  sollte,  ein 
Zeichen  der  Gedankengliederung,  das  seiner  Ansicht  nach  den  Leser  irre 
führen  konnte;  er  berichtigte  es;  das  kam  öfter  vor.  Er  wünschte  aber  durch 
dergleichen,  da  wo  es  sich  um  wichtigere  Dinge  handelte,  nicht  gestört  zu 
werden:  so  veranlaßte  er  jene  interne  Verfügung,  die  vermutlich  vom  Büro- 
chef erlassen  wurde.  Darüber  geschah  allgemeines  Schütteln  des  Kopfes 
bei  den  nachgeordneten  Beamten  —  ,, subaltern"  als  amtlichen  Begriff  gibt 
es  nicht  mehr  — ,  von  denen  dann  einer,  der  es  wohl  mehr  mit  der  Öffent- 
lichkeit hielt  als  mit  der  Offenheit,  das  Ereignis  in  die  Zeitung  brachte.  Und 
zwar  als  Gegenstand  der  Klage,  nicht,  was  immerhin  der  Mühe  wert  gewesen 
wäre,  der  Frage,  der  natürlichen  Frage:  was  der  Minister  wohl  gemeint  habe. 

In  den  schönen  Zeiten,  da  ich  noch  deutschen  Unterricht  zu  erteilen 
hatte,  gab  ich  den  Schülern  auch  Interpunktionsregeln,  die  ich  selbst  für 
Quarta  entworfen  und  allmählich  für  obere  Klassen  überarbeitet  hatte. 
Der  letzte  Satz  darin  lautete:  ,,Alle  Regeln  über  Interpunktion  sind  nur  Mittel 
zum  Zweck;  der  Zweck  ist:  Erleichterung  des  Verständnisses.  Daher  ist 
es  auch  gestattet  jede  der  hier  gegebenen  Regeln  zu  verletzen,  wenn  im  ein- 
zelnen Falle  nachgewiesen  werden  kann,  daß  die  Deutlichkeit  es  erforderte". 
Eine  Freiheit,  die  der  Magister  seinen  erwachsenen  Schülern  gestattet,  wird 
der  Minsiter  doch  wohl  für  sich  selbst  in  Anspruch  nehmen  können.  Auch 
da,  wo  man  ihn  nicht  versteht.    Aber  suchen  wir  ihn  zu  verstehen. 

Vor  neun  Jahren  schrieb  ich  in  einem  gedruckten  Briefwechsel  mit  Ed- 
mund Neuendorff  (Mülheim-Ruhr):  ,, Fragen  Sie  einmal,  worauf  die  Jungen 
meinen  daß  es  beim  Vorlesen  ankomme"  (Säemann  1912  S.  296).  In  derselben 
Zeit  in  den  Neuen  Jahrbüchern  für  Pädagogik  in  einer  Redaktionsbemerkung : 
,,Ohne  dem  sachkundigen  Verfasser  widersprechen  zu  wollen,  möchte  ich 
doch  die  Frage  anregen,  die  er  vielleicht  sogar  bereit  ist  auch  seinerseits 
zu  bejahen  .  .  ."  (NJb.  1912  S.  381).  In  beiden  Fällen  war  (vor  „daß"  und  vor 
,,auch")  vom  Setzer  ein  Komma  eingefügt;  ich  tilgte  es  bei  der  Korrektur, 
inr  Reindruck  erschien  es  wieder,  sogar  in  der  Zeitschrift,  deren  Herausgeber 
ich  selber  damals  war:  die  Offizin  erwies  sich  mächtiger  als  ich.  Das  Personal 
hatte  nicht  bemerkt,  daß  durch  Befolgung  der  Schulregel  diesmal  der  Sinn 
gestört  wurde,  genau  wie  in  dem  Beispiel  aus  dem  Auswärtigen  Amte:  „Euer 
P.  P.  beehre  ich  mich",  als  ob  das  so  zusammengehörte.  Ein  Freund,  dem 
ich  meinen  Verdruß  erzählte,  gab  zu  bedenken,  ob  etwa  Satzfügungen  dieser 
Art  etwas  zu  künstlich  wären,  so  daß  ungelehrte  Leser  nichts  Rchtes  damit 
anzufangen  wüßten,  und  ob  sie  dann  nicht  besser  ganz  vermieden  würden. 
Ich  nahm  mir  vor,  darauf  zu  achten,  fand  aber  die  Vermutung  nicht  bestätigt. 


28  Paul  Cauer, 

Der  Typus  begegnete  überall,  zunächst  da,  wo  ich  berufsmäßig  auf  den  Stil 
zu  achten  hatte,  in  Prüfungsarbeiten.  „Über  die  Tatfrage  ist  es  schwer, 
ein  allgemeines  Urteil  zu  begründen".  —  „Wie  dies  dem  Künstler  gelingen 
mag,  das  ist  sein  Geheimnis,  das  niemand  imstande  sein  würde,  restlos  in 
Worte  zu  fassen".  Beide  Sätze  innerhalb  weniger  Wochen,  beide  mit  dem 
Komma.  Aber  im  gedrucktem  Deutsch  war  es  nicht  anders,  und  bei  den 
verschiedensten  Autoren,  zum  Teil  solchen,  bei  denen  an  eine  Verbildung  des 
natürlichen  Sprachgefühls  durch  lateinische  Gelehrsamkeit  nicht  zu  denken 
war.  Im  Sommer  1912  las  ich  die  Lebenserinnerungen  von  Sophie  Schwerin 
(Werdandi-Werke  I).  Da  fand  sich  schnell  ein  halbes  Dutzend  Beispiele; 
schwerlich  deshalb,  weil  die  ehrwürdige  Frau  eine  individuelle  Vorliebe  für 
diese  Konstruktion  gehabt  hätte,  sondern  eben  weil  ich  gerade  damals  das 
Auge  dafür  geschärft  hatte.  Bin  Fall  besonders  lehrreich,  S.  272:  York  soll 
zum  König,  als  er  ihn  1812  entließ,  gesagt  haben:  „Die  Verantwortlichkeit 
ist  mein,  und  mit  meinem  Kopfe  bin  ich  zu  jeder  Stunde  bereit,  einen  miß- 
glückten Schritt  zu  bezahlen".  So  gedruckt,  war  die  Bereitwilligkeit  eine 
viel  geringere:  nur  überhaupt  zu  bezahlen;  womit,  blieb  vorbehalten.  In 
Droysens  Leben  des  Feldmarschalls  Grafen  York  von  Wartenburg  liest  man 
(I  S.  87):  ,,In  der  Nähe  mit  anzusehen,  wie  die  Regierungsgeschäfte  in  Berlin 
betrieben  wurden,  mochte  denen  doppelt  lehrreich  sein,  welche  aus  der  Ent- 
fernung ihrer  Garnisonen  her  die  Dinge  nur  mit  jenem  erhabenen  Schein 
zu  sehen  bekamen,  den  man  in  den  oberen  Regionen  geschickt  genug  war, 
zu  bewahren".  —  Feldmarschall  von  der  Goltz  schrieb  in  „Jung-Deutschland" 
(1912)  S.  7: ,, Diese  Arbeit  rief  damals  eine  Erregung  hervor,  für  die  man  heute 
Mühe  hat,  verständliche  Gründe  zu  finden".  Herr  J.  Tews,  der  den  Verdacht, 
durch  das  Lateinische  beeinflußt  zu  sein,  weit  von  sich  weisen  würde,  bildet 
den  Satz :  ,,Die  Volksschule  steht,  wie  ich  glaube,  Ihnen  einigermaßen  deut- 
lich gemacht  zu  haben,  abseits  von  allen  sonstigen  Schuleinrichtungen" 
(„Die  Schule  der  Zukunft".  Vorträge  vor  einer  Versammlung  des  Goethe- 
bundes in  Berlin.    Buchverlag  der  „Hilfe"  1912.    S.  96). 

In  all  diesen  Fällen  ist  das  Komma  gedruckt,  und  damit  ein  richtig 
gedachter  Satz  undeutlich  gemacht  um  einer  —  wirklichen  oder  vermeintlichen 
—  Regel  willen.  Dabei  wäre  es  kein  großer  Unterschied,  ob  nachträglich 
der  Setzer  oder  im  voraus  der  Schulmeister,  durch  dessen  Zucht  ja  alle  Autoren 
einmal  durchgegangen  sind,  störend  eingegriffen  hat.  Es  kommt  aber  auch 
vor,  daß  Sätze  dieser  Art  so  interpungiert  sind,  wie  sie  gedacht  wurden. 
Carl  Robert  schreibt  im  Oidipus  (1915)  I  S.  191 :  „Von  Thyestes,  den  das 
famose  Scholion  A  zu  ^  376  gutmütig  genug  ist  hier  zu  unterstellen,  konnte 
sich  Agamemnon  nichts  erzählen  lassen".  Und  in  Schilleis  Briefen  über 
Don  Carlos  (IX  gegen  Ende)  steht  zwar  in  älteren  Ausgaben  so:  „Es  ist  mög- 
lich, daß,  um  die  Hauptidee  des  Stückes  herauszufinden,  mehr  ruhiges  Nach- 
denken erfordert  wird,  als  sich  mit  der  Eilfertigkeit  verträgt,  womit  man  ge- 
wohnt ist,  dergleichen  Schriften  zu  durchlaufen".  Aber  in  neueren,  so  weit 
ich  deren  habe  einsehen  können,  ist  das  Komma  verschwunden,  anscheinend 
nach  dem  Vorgange  der  großen  kritischen  Ausgabe  von  Goedeke  (Bd.  VI,  1865). 


Das  umstrittene  Komma.  29 

Ob  Goedeke  nach  irgendwelchem  äußeren  Anhalt  die  Trennung  beseitigt 
hat  oder  rein  aus  inneren  Gründen,  weiß  ich  nicht;  jedenfalls  mit  Recht. 

Von  verwandter  Art  ist  eine  Stelle  bei  Goethe,  in  Wilhelm  Meisters 
Lehrjahren  (II  13):  „wie  der  Liturg  seinen  Worten  den  Vers  eines  Gesanges 
anzupassen  weiß,  der  die  Seele  dahin  erhebt,  wohin  der  Redner  wünscht, 
daß  sie  ihren  Flug  nehmen  möge".  Ebenso,  mit  dem  Einschnitt,  schon  in 
Wilhelm  Meisters  Theatralischer  Sendung.  Aber  Goethes  Stellung  zur  Sache 
ist  ja  bekannt.  ,,Interpunktieren  Sie  doch  die  Liedchen,  wie 's  dem  Leser 
am  vorteilhaftesten  ist" :  so  schrieb  er  im  Jahre  1774  an  Johann  Georg  Jacobi, 
dem  er  einige  Stücke  für  die  Iris  zusandte.  Steht  da  nicht  der  Dichterfürst 
noch  über  dem  heutigen  Minister?  Und  nicht  bloß,  weil  er  damals  noch  jung 
war;  auch  ein  Werk  seines  Alters,  die  Marienbader  Elegie,  hat  gerade  infolge 
der  Sorglosigkeit  nach  dieser  Seite  hin  den  Erklärern  manches  Rätsel  aufge- 
geben. Allgemein  bemerkt  Eduard  von  der  Hellen  in  seinen  Anmerkungen 
zur  Jubiläumsausgabe  (I  S.  304):  „Das  Interpunktleren  blieb  dem  Dichter 
zeitlebens  ein  lästig-leidiges  Geschäft,  das  er  lieber  anderen  überließ,  ohne 
sie  —  abgesehen  von  Protesten  gegen  Kommata  vor  gewissen  kurzen  Neben- 
sätzen —  durch  bezügliche  Vorschriften  zu  binden".  Anlaß  zu  Äußerungen 
dieser  Art  gab  wiederholt  der  Neudruck  der  eignen  Werke i).  In  solchem 
Zusammenhang  schrieb  er  am  9.  Mai  1816  an  Cotta:  ,,Es  hat  sich  in 
der  deutschen  Schrift  dadurch  daß  man  mehr  liest  als  hört,  die  Gewohn- 
heit eingeschlichen  viel  zu  viel  Commata  zu  machen".  Da  steckt  wirklich 
die  Wurzel  des  Übels.  Versuchen  wir  es  mit  den  hier  gesammelten  Bei- 
spielen: wer  sie  spricht,  wird  gar  nicht  daran  denken,  an  der  Stelle  wo 
das  Komma  steht  innezuhalten.  Wahrlich  ein  überraschendes  Zusammen- 
treffen. Nun  könnte  sich,  wer  Herrn  Dr,  Simons  verteidigen  wollte,  sogar  auf  die 
Autorität  berufen,  die  überall,  wo  es  sich  um  d'e  Kunst  deutsch  zuschreiben 
handelt,  die  erste  ist.  Aber  wir  wollen  unsrerseits  nicht  mit  Autoritäten  arbeiten, 
nur  mit  der  Bemühung  um  psychologisches  Verständnis,  Der  Minister  hatte  offen- 
bar das  Gefühl,  daß  nicht  auseinandergerissen  werden  dürfe,  was  naturgemäß 
zusammengehöre.  Dem  gegenüber  vertreten  die  Rhinosophisten  des  Büros 
und  der  Presse  den  Standpunkt :  Die  Regel  ist  unter  allen  Umständen  durch- 
zuführen. Der  eine  zitiert  die  Regel,  wie  er  sie  in  empfänglichen  Jahren 
gelernt  hat:  ,,Das  Komma  hat  zu  stehen,  wenn  in  solchen  Satzteilen  .  .  ." 
Der  andre  (in  den  Grenzboten)  geht  nicht  so  genau  darauf  ein,  meint  jedoch 
ebenfalls,  dem  Minister  den  alten  Spruch  Caesar  non  supra  grimmaticDs 
zurufen  zu  müssen;  er  malt  sich,  wenn  auch  halb  im  Scherze,  die  Verwirrung 
aus,  „die  durch  solche  Ersparnisse  an  falscher  Stelle  in  die  Gemüter  der  Schul- 
jugend getragen  werden  könnte". 

Ob  unser  Minister  des  Auswärtigen  auf  dem  Gebiete,  das  für  ihn  aller- 
dings das  eigentliche  ist,  seinen  Kritikern  immer  ebenso  entschieden  an  Ein- 
sicht überlegen  gewesen  ist  und  ferner  sein  wird,  wie  in  dem  hier  besprochenen 
Falle?  Wir  wollen  es  ihm  und  uns  wünschen,  wobei  wir  zu  denen,  die  an  seinen 

^)  Die  betreffenden  Briefstellen  sind  abgedruckt  und  gewürdigt  von  Georg  Rausch. 
Goethe  und  die  deutsche  Sprache  (1909)  S.  96  f. 


30  G.  Müncheberg, 

politischen  Maßnahmen  und  Äußerungen  Kritik  üben,  uns  selber  zählen. 
Einen  ernsten  und  zugleich  ermutigenden  Gedanken  aber  könenn  wir  aus 
dieser  Auseinandersetzung  mitnehmen..  Wir  alle  kennen  die  Gesinnung, 
der  die  Befolgung  bestehender  Vorschriften  die  Hauptsache  ist,  nebensäch- 
lich die  Frage,  ob  etwas  Verständiges  oder  Unverständiges  dabei  heraus- 
kommt. Juristische  Wissenschaft  und  die  Erziehung  des  Beamten  haben 
den  geistigen  Habitus  entstehen  lassen,  dem  solche  Denkart  gemäß  ist.  Sum- 
mum  ius  summa  iniuria:  so  mancher  hat  das  oft  schon  bitter  empfunden. 
Freuen  wir  uns  der  Hoffnung,  daß  unter  den  gebildeten  Beamten  alter  Schule, 
die  der  Staat  in  die  Periode  des  ungelernten  Regierens  hinübergerettet  hat, 
recht  viele  sein  möchten,  die  diesen  Fehler  ihrer  Tugend  erkannt  haben  und 
entschlossen  sind  ihn  abzutun  —  auch  da,  wo  mehr  davon  abhängt  als  inner- 
halb des  bescheidenen  Bereiches,  von  dem  aus  wir  diesmal  die  Dinge  be- 
trachtet haben. 

Münster  i.  W.  »  Paul  Cauer. 

Die  Schüler-Selbstverwaltung. 

Der  Erlaß  des  Ministers  vom  21.  April  1920  über  die  Schülerselbstver- 
waltung bezweckt,  wie  in  dem  einleitenden  Teil  gesagt  wird,  die  Schüler 
zur  tätigen  Mitarbeit  am  gesamten  Leben  ihrer  Schule  heranzuziehen  und 
dadurch  die  Selbständigkeit  und  das  Verantwortungsgefühl,  den  Sinn  füi 
Gemeinschaftsleben  und  das  Vertrauensverhältnis  der  Schüler  untereinander 
und  zwischen  Lehrern  und  Schülern  zu  fördern  und  zu  stärken.  Mit  diesem 
Ziel  wird  sich  jedermann,  ob  Fachmann  oder  Laie,  ob  Anhänger  oder  Gegner 
der  entschiedenen  Schulreform,  einverstanden  erklären  können.  Der  Grund- 
gedanke, der  in  dem  Erlaß  zum  Ausdruck  kommt,  ist  auch  keineswegs  neu, 
er  ist  kein  Produkt  der  Revolutionszeit,  sondern  von  bedeutenden  Schul- 
männern wie  Matthias,  Münch,  Foerster  u.  a.  schon  früher  vertreten  worden. 
Um  so  verwunderlicher  mag  es  erscheinen,  daß  viele  Elternbeiräte  den  Erlaß 
prinzipiell  und  in  der  schärfsten  Form  bekämpfen  und  daß,  wie  es  scheint, 
auch  die  Mehrzahl  der  Lehrer  ihm  ablehnend  oder  mindestens  mit  sehr  ge- 
mischten Gefühlen  gegenübersteht.  Das  hat  seinen  Grund  jedoch  darin, 
daß  der  Erlaß  in  der  vorliegenden  Form  so  viele  Unklarheiten  und  Gefahren 
in  sich  birgt,  daß  es  tatsächhch  zweifelhaft  erscheinen  kann,  ob  der  erhoffte 
Segen  oder  der  angerichtete  Schaden  größer  sein  wird. 

Zunächst  werden  nirgends  ins  Einzelne  gehende  Richtlinien  gegeben, 
in  welchem  Umfange  und  auf  welchen  Gebieten  dit  Schüler  zur  Mitarbeit 
herangezogen  werden  sollen,  sondern  es  wird  gewissermaßen  nur  der  verfas- 
sungsmäßige Rahmen  geschaffen,  der  den  Schülern  diese  Mitarbeit  ermög- 
lichen soll.  Wie  weit  oder  wie  eng  dieser  Rahmen  gespannt  werden  soll, 
bleibt  scheinbar  den  einzelnen  Schulgemeinden  selbst  überlas3en.  Das  aber 
kann  leicht  zu  einem  Mißbrauch  der  gewährten  Rechte  führen.  Ais  Ludwig 
XVL  die  etats  genereaux  zusammenberief,  um  das  Finanzelend  F^-ankreichs 
zu  beseitigen,  wollte  er  das  Volk  an  der  Staatsverwaltung  teilnehmen  lassen, 
aber  dadurch,  daß  er  keine  bestimmten  Vorschläge  oder'-  Direktiven  gab, 


Die  Schüler-Selbstverwaltung.  31 

trug  er  mit  dazu  bei,  daß  der  Gang  der  Verhandlungen  seinen  Erwartungen 
und  Wünschen  bald  völlig  widersprach.  Im  Kleinen  liegen  hier  für  das  Schul- 
leben dieselben  Gefahren  vc. ,  da  dem  Betätigungstrieb  der  Jugend  keine 
Grenze  gezogen  wird,  es  sei  denn,  man  sieht  die  Bestimmung,  daß  Erörterungen 
über  einzelne  Mitglieder  des  Lehrkörpers  nicht  statthaft  sind,  als  solche  an.  -- 
Eine  zweite  Gefahr  besteht  darin,  daß  d'e  Jugend  bei  dem  parlamentarischen 
Kram,  womit  sie  beglückt  werden  soll,  leicht  die  wesentlichen  Zielpunkte 
aus  dem  Auge  verliert  und  daß  durch  all  die  Äußerhchkeiten,  wie  Wahlen, 
Ausschußsitzungen,  Beratungen  die  Überheblichkeit  und  der  Selbständig- 
keitsdünkel der  Jugend  geradezu  groß  gezogen  werden  muß.  Zur  Ausbildung 
politischer  Parteifunktionäre  mag  dieses  System  wohl  geeignet  sein,  wahre 
Selbständigkeit  und  wirkliches  Verantwortungsgefühl  des  Einzelnen  der 
Allpemeinheit  gegenüber  wird  dadurch  nicht  gefördert.  Viel  leichter  noch  ab 
der  Erwachsene  wird  der  Jugendliche  in  Versammlungen,  wo  die  Masse 
ihn  deckt,  sich  zu  unüberlegten  Schritten  verleiten  lassen,  die  er,  auf  sich 
allein  gestellt,  nicht  täte. 

Trotz  dieser  und  ähnlicher  Bedenken  ist  davor  zu  warnen,  den  Erlaß 
grundsätzlich  abzulehnen.  Man  muß  der  gewaltigen  Umwälzung  aller  Ver- 
hältnisse Rechnung  tragen  und  sich  vor  Augen  halten,  daß  auch  ohne  Re- 
volution, selbst  bei  einem  glücklichen  Ausgang  des  Krieges  eine  grundlegende 
Umgestaltung  unseres  Schulwesens  gekommen  wäre.  War  doch  schon  vor 
dem  Kriege  in  Laien-  und  Fachkreisen  die  Zahl  derer,  die  mit  unserem  Schul- 
system unzufrieden  waren,  beträchtlich  groß.  Mit  vollem  Recht  hat  manschen 
seit  Jahrzehnten  gefördert,  daß  die  Schule  nicht  nur  eine  Lernschule,  sondern 
eine  Arbeitsschule  sein  müsse,  daß  sie  mehr  als  bisher  zur  Selbständigkeit 
erziehen  und  das  Verantwortungsgefühl  und  den  Sinn  für  das  Gemeinschafts- 
leben stärken  müsse.  Das  also,  was  gemäßigte  Schulmänner  längst  verlangt 
haben,  soll  durch  den  Erlaß  angestrebt  werden.  Wenn  wir  das  Ziel  selbst 
billigen,  den  Weg  aber,  der  uns  hier  gewiesen  wird,  als  gefahrvoll  ablehnen, 
so  ist  es  an  uns,  durch  rege  Mitarbeit  eine  allzu  radikale  Entwicklung  zu 
verhindern  und  durch  Anknüpfung  an  vielfach  schon  vorhandene  Ansätze 
neue  Wege  zu  finden,  die  ohne  Schädigung  unserer  Jugend  Erfolg  verheißen. 

Diese  Mitarbeit  wird  allen  dadurch  erleichtert,  daß  der  Erlaß  nicht 
als  Dogma  aufgefaßt  sein  will,  dem  überall  und  unter  allen  Umständen  Folge 
geleistet  werden  muß.  Er  will  vielmehr  nur  Richtlinien  weisen,  das  Ziel 
als  solches  andeuten,  den  Weg  dahin  aber  nach  Möglichkeit  frei  lassen  und 
jeder  Anstalt  unter  Berücksichtigung  ihrer  besonderen  Verhältnisse  ;^rößere 
Bewegungsfreiheit  geben.  Je  allmählicher  die  Jugend  zur  Mitarbeit  und 
Selbstbestimmung  herangezogen  und  gewöhnt  wird,  um  so  eher  werden 
Überspannungen  und  Mißerfolge  ausbleiben.  In  diesem  Sinne  fasse  ich  den 
ganzen  Erlaß  auf  und  folgere  demgemäß  daraus,  daß  für  die  höheren  Schulen 
nicht  die  unbedingte  Verpflichtung  besteht,  sofort  und  genau  jede  einzelne 
Bestimmung  zur  Durchführung  zu  bringen,  sondern  daß  sie  auf  Grund  dieser 
Richtlinien  und  nach  Maßgabe  der  schon  getroffenen  Einrichtungen  ver- 
suchen sollen,  dem  Geist  des  Erlasses  nach  Möglichkeit  gerecht  zu  werden. 


32  G.  Müncheberg, 

Wird  kein  starrer  Zwang  ausgeübt,  die  Eigenart  jeder  Schule,  so  gut  es  geht, 
berücksichtigt,  so  würden  viele  Vorurteile  schwinden  und  manche  noch 
vorhandene  Unzulänglichkeit  unseres  Erziehungs-  und  Bildungswesens  sich 
beseitigen  lassen. 

Eine  Voraussetzung  aber  muß  überall  und  unter  allen  Umständen  er- 
füllt werden:  Autorität  und  Disziplin,  die  Grundpfeiler  unseres  Schullebens, 
dürfen  in  keiner  Weise  angetastet  werden.  So  erstrebenswert  es  sein  mag, 
unsere  Jugend  durch  frühzeitige  und  ihrem  Verständnis  entsprechende  Teil- 
nahme am  Schulleben  zu  selbständigen  und  selbstbewußten  Persönlichkeiten 
werden  zu  lassen,  so  wünschenswert  es  ist,  die  bloße  Macht-  und  Furcht- 
autorität und  jeden  übel  angebrachten  Kasernenton  zu  beseitigen  und  ihn 
durch  den  Geist  freier  und  verantwortungsvoller  Unterordnung  zu  ersetzen, 
—  der  Respekt  vor  den  Lehrern  und  vor  der  Schule  und  ihren  Satzungen 
und  Aufgaben  darf  nicht  gemindert  werden  zugunsten  einer  öden  und  un- 
fruchtbaren Debattierkunst,  die  ohne  straffe  Leitung  und  ohne  rechtes  Ziel 
leicht  das  Gegenteil  von  dem  erreichen  könnte,  was  der  Erlaß  beabsichtigt. 

Dieser  selbst  gliedert  sich  in  drei  Abschnitte,  von  denen  der  erste  die 
Selbstverwaltung  im  engeren  Sinne,  der  zweite  die  Klassen-  und  Schulge- 
meinde bespricht,  während  der  dritte  die  allgemeinen  Bestimmungen  ent- 
hält. Wenn  es  im  ersten  Teil  heißt,  daß  in  allen  Klassen  am  Anfang  jedes 
Schulhalbjahres  in  geheimer  Wahl  ,, Sprecher"  (Sprecherinnen)  gewählt 
und  die  übrigen  Klassenbeamten  durch  Wahl  bestimmt  werden  und  zusammen 
mit  dem  Sprecher  einen  Klassenausschuß  bilden  sollen,  so  sind  dagegen 
keine  Einwendungen  zu  erheben.  Das  ist  an  vielen  höheren  Schulen  schon 
längst  üblich,  hat  sich  bewährt  und  ist  gegenüber  dem  früher  üblichen  Brauch, 
wonach  dem  Primus  die  Vertretung  der  Klasse  und  die  Aufrechterhaltung 
der  Ordnung  zustand,  schon  deswegen  vorzuziehen,  weil  dieser  bei  seinen 
Kameraden  nicht  immer  den  Grad  der  Autorität  oder  Beliebtheit  besitzt, 
die  nötig  ist,  um  die  Selbstdisziplin  der  Klasse  zu  gewährleisten.  Der  Aus- 
schuß soll  natürlich  das  Recht  haben,  solche  Wünsche,  die  der  ganzen  Klasse 
oder  einem  einzelnen  Schüler  besonders  am  Herzen  liegen,  durch  den  Mund 
des  Sprechers  den  Lehrern  übermitteln  zu  können.  Man  hat  dagegen  ein- 
gewendet, daß  durch  diese  Einrichtung  verhindert  werde,  daß  alle  sprechen, 
d.  h.  daß  jeder  einzelne  Schüler  frei  und  offen  seinem  Lehrer  gegenüber  sich 
äußert,  auch  wenn  es  für  diesen  unangenehm  wäre.  Das  persönliche  Ver- 
hältnis zwischen  Lehrern  und  Schülern  wird  aber  dadurch  nur  wenig  be- 
rührt. In  den  allermeisten  Angelegenheiten  wird  sich  der  einzelne  Schüler 
nach  wie  vor  direkt  an  seinen  Lehrer  wenden.  Kommen  ausnahmsweise 
Fälle  vor,  wo  ein  oder  mehrere  Schüler  durch  Worte  oder  Anordnungen 
des  Lehrers  sich  schwer  gekränkt  fühlen,  so  wäre  auch  hier  die  persönliche 
Aussprache  zweifelsohne  die  idealste  Lösung.  Dazu  aber  wird  den  meisten 
Schülern  der  Mut  fehlen,  den  heranzubilden  selbst  das  trefflichste  Erziehungs- 
system nicht  ausreichen  dürfte,  wenn  das  Vertrauensverhältnis,  das  doch 
durch  die  Persönlichkeit  des  Lehrers  mit  bedingt  wird,  fehlt.  In  solchen 
Fällen  halte  ich  es  unbedingt  für  besser,  wenn  die  Verstimmung  mit  Hilfe 


Die  Schüler-Selbstverwaltung.  33 

des  Ausschusses  und  Sprechers  beseitigt  wird,  als  daß  jahrelang  im  Herzen 
ein  Stachel  zurückbleibt  und  die  Freude  am  Schulleben  untergräbt.  Wenn 
heute  das  Verhältnis  zwischen  Schule  und  Haus  und  Lehrern  und  Schülern 
vielfach  noch  nicht  so  ist,  wie  es  sein  sollte,  so  trägt  der  Umstand  mit  dazu 
bei,  daß  es  an  geeigneten  Mitteln  fehlte,  einer  aufkeimenden  Entfremdung 
beizeiten  vorzubeugen.  Dazu  sollen  Klassenausschuß  und  Sprecher  dienen. 
Darum  muß  die  Autorität  des  letzteren  der  Klasse  gegenüber  von  selten 
der  Lehrer  möglichst  gestärkt  werden,  damit  er  imstande  ist,  ungerecht- 
fertigten Anträgen  einzelner  seiner  Kameraden  die  Spitze  zu  bieten.  Als 
selbstverständlich  sehe  ich  an,  was  im  Erlaß  nicht  angedeutet  ist,  daß  ein 
Sprecher  oder  Klassenbeamter,  der  seine  Obhegenheiten  schlecht  erfüllt, 
vom  Klassenleiter  im  Einverständnis  mit  dem  Direktor  abgesetzt  und  durch 
Neuwahl  ersetzt  werden  darf.  Andererseits  muß  für  Sprecher  und  Klassen- 
ausschuß auch  die  MögHchkeit  bestehen,  in  solchen  Fällen,  wo  eine  Aussprache 
vom  Lehrer  abgelehnt  wird,  sich  an  den  „Berater"  oder  Direktor  wenden 
zu  können,  der  dann  einen  Ausgleich  herbeiführen  mag. 

Bei  Vollanstalten  sollen  nun  die  Sprecher  der  Klassen  von  U  II  (Ly- 
zeum I),  bei  Nichtvollanstalten  von  U  III  (Lyzeum  III)  an  aufwärts  den 
Schülerausschuß  bilden,  der  sich  einen  „Berater"  aus  den  Mitgliedern  des 
Lehrkörpers  wählt.  Warum  nur  die  Sprecher  der  höheren  Klassen  dieses 
Recht  genießen  sollen,  ist  nicht  ersichtlich.  Ja  es  fehlt  jede  Bestimmung, 
wonach  die  unteren  Klassen  wenigstens  die  Möglichkeit  hätten,  Wünsche 
und  Anregungen  an  den  Schülerausschuß  und  damit  an  die  Schulgemeinde 
gelangen  zu  lassen.  Hat  man  mit  Rücksicht  auf  die  Verhandlungsunmög- 
lichkeit innerhalb  der  Schulgemeinde  die  unteren  Klassen  davon  ausge- 
schlossen, so  kann  man  doch  sehr  wohl  einen  aus  den  Sprechern  aller  Klassen 
bestehenden  Schulausschuß  bilden,  der  sich  seinen  Vorsitzenden  selbst  wählt, 
und  von  dem  insbesondere  die  Wahl  des  Beraters  vorzunehmen  wäre;  denn 
dieser  sollte  doch  vernünftigerweise  das  Bindeglied  zwischen  allen  Schülern 
einerseits  und  der  Lehrerkonferenz  andererseits  sein. 

Dies  neue  Amt  des  Beraters,  der  allen  Schülern  einer  Anstalt  ein  väter- 
licher Freund  sein  soll,  scheint  auf  den  ersten  Blick  viel  für  sich  zu  haben. 
Besitzt  er  wirklich  in  hohem  Maße  das  allgemeine  Vertrauen,  werden  sich 
nicht  nur  die  einzelnen  Klassen,  sondern  auch  die  einzelnen  Schüler  in  allen 
ihren  Nöten  gern  an  ihn  wenden,  und  versteht  er  es,  berechtigte  Wünsche 
mit  feinem  Takt  beim  Direktor,  den  Amtsgenossen  oder  der  Konferenz  an- 
zubringen, unberechtigte  ohne  Härte  abzuweisen,  so  könnte  seine  Tätigkeit 
ganz  außerordentlich  segensreich  sein  und  manche  Mißstimmung  und  Ver- 
bitterung, die  oft  über  die  Schuljahre  hinaus  fortbesteht,  im  Keime  erstickt 
werden.  Aber  schon  die  Wahl  selbst  ist  mit  gewissen  Schwierigkeiten  ver- 
knüpft und  eine  Einmütigkeit  aus  leicht  begreiflichen  Gründen  schwer  zu 
erzielen.  Im  allgemeinen  wird  man  sagen  können,  je  jugendlicher  ein  solcher 
Berater  ist,  um  so  eher  wird  er  es  verstehen,  sich  der  Denkungsart  der  Schüler 
anzupassen  und  ihren  Wünschen  Verständnis  entgegenzubringen,  voraus- 
gesetzt, daß  er  den  nötigen  Takt  nach  der  anderen  Seite  hin  zu  wahren  weiß. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  3 


34  G-  Müncheberg, 

Versteht  er  das  nicht,  so  wird  sich  eine  ewige  Kette  von  MißhelUgkeiten 
ergeben  und  das  Vertrauensverhältnis  innerhalb  der  Schule  eher  untergraben 
als  gefördert  werden.  Zu  untersuchen  wäre,  ob  der  Berater  alles,  was  er 
im  Schülerausschuß  oder  von  einzelnen  Schülern  hört,  in  der  Konferenz 
oder  den  in  Frage  kommenden  Amtsgenossen  gegenüber  zur  Sprache  bringen 
soll.  Ich  möchte  dies  verneinen,  da  durch  allzu  große  Offenheit  in  heiklen 
Dingen,  zumal  älteren  Herren  gegenüber,  mehr  Schaden  als  Nutzen  ange- 
richtet werden  kann.  Das  Feingefühl  müßte  auch  hier  dem  Berater  den 
Weg  weisen,  wie  er  Konflikte  am  besten  verhindern  kann.  Leicht  möglich 
ist  es,  daß  der  Berater,  selbst  wenn  er  zunächst  das  allgemeine  Vertrauen 
genießt,  in  scharfen  Gegensatz  zum  Schülerausschuß  geraten  kann,  von 
der  Mehrheit  seiner  Amtsgenossen  ganz  zu  schweigen.  Hat  er  dann  von 
seinem  Amt  zurückzutreten  ?  Auf  wie  lange  soll  er  überhaupt  gewählt  werden  ? 
Was  geschieht,  wenn  der  vom  Schülerausschuß  Erkorene  die  Wahl  ablehnt? 
Das  sind  Fragen,  über  die  der  Erlaß  keine  Auskunft  gibt.  Trotz  der  in  Aus- 
sicht stehenden  Schwierigkeiten  muß  der  Versuch  gewagt  werden.  Aber 
gewählt  werden  müßte  der  Berater  unter  allen  Umständen  von  der  Ge- 
samtheit der  Schüler  einer  Anstalt.  Im  Schülerausschuß,  dem  die  Sprecher 
aller  Klassen  angehören,  wird  eine  Art  Vorschlagsliste  aufgestellt,  auf  der 
vielleicht  3—4  Namen  stehen.  Nachdem  die  einzelnen  Klassen  auf  Grund 
dieser  Vorschlagsliste  ihre  Wahl  vollzogen  haben,  findet  die  endgültige  Wahl 
durch  den  Schülerausschuß  statt.  So  ließe  sich  mit  einiger  Sicherheit  der 
Lehrer  ermitteln,  dem  die  Gesamtheit  der  Schüler  das  größte  Vertrauen 
entgegenbringt.  Das  aber  ist  erforderlich,  soll  die  Einiichtung  dem 
Ganzen  Segen  bringen. 

Starken  und  berechtigten  Widerspruch  müssen  die  Bestimmungen  des 
Erlasses  über  die  Klassengemeinde  hervorrufen.  Wenn  hier  verlangt  wird, 
daß  der  Klassenleiter  oder  im  Einverständnis  mit  ihm  ein  anderer  Lehrer 
der  Klasse  wenigstens  einmal  im  Monat  eine  lehrplanmäßige  Stunde  zur 
Aussprache  über  Angelegenheiten  der  Klassengemeinschaft  oder  andere 
von  den  Schülern  vorgeschlagene  Fragen  benutzen  soll,  so  klingt  das  zunächst 
so,  als  hätten  unsere  Schüler  bisher  in  diesen  Dingen  nicht  das  nötige  Ent- 
gegenkommen gefunden.  Jeder  Klassenleiter,  der  ein  Herz  für  seine  Schüler 
hat,  wird  nicht  einmal  im  Monat  mit  ihnen  beraten,  er  wird  täglich,  ja  stünd- 
lich für  ihre  Wünsche  und  Anregungen  zu  haben  sein  und  wird  gegebenen- 
falls auch  gern  einmal  eine  ganze  Stunde  opfern,  um  ihren  Wissensdurst 
über  Fragen  des  öffentlichen  Lebens  zu  stillen.  Dazu  bedarf  es  wahrlich 
nicht  dieser  Bestimmung,  die  nur  dazu  verführen  kann,  daß  unter  allen  Um- 
ständen eine  Stunde  im  Monat  oft  zwecklos  geopfert  wird.  Daß  durch  solche 
Aussprache  unendlicher  Segen  gestiftet  und  ein  Band  der  Kameradschaft 
zwischen  Schülern  und  Lehrern  hergestellt  werden  kann,  soll  gern  zugegeben 
werden ;  Voraussetzung  ist  doch  aber,  daß  die  Schüler  im  vollsten  Vertrauen 
mit  all  ihren  Sorgen  und  Zweifeln  herausrücken.  Jeder  Lehrer,  der  sich 
dieses  Vertrauens  sicher  fühlt  und  selbst  die  rechte  Gabe  zu  haben  glaubt, 
soll  solche  Aussprache  pflegen.   Die  dafür  geopferte  Zeit  wird  sich  auf  andere 


Die  Schüler-Selbstverwaltung.  35 

Weise  reichlich  bezahlt  machen.  Dagegen  aber  muß  Einspruch  erhoben  werden, 
daß  solche  Aussprachen  schablonenmäßig  durchgeführt  werden.  —  Daß 
auf  Wunsch  des  Klassenausschusses  die  Klassengemeinde  auch  selbständig 
tagen  darf  und  zwar  innerhalb  des  lehrplanmäßigen  Unterrichts  höchstens 
alle  2  Wochen,  außerhalb  der  Schulzeit  auch  öfter,  wird  bei  Eltern  und  Lehrern 
besonders  heftigen  Widerspruch  hervorrufen.  Der  Wunsch  zu  solchen  Ta- 
gungen während  der  Schulzeit  wird  zwar  bei  der  großen  Mehrzahl  der  Schüler 
vorhanden  sein,  zumal  wenn  die  Möglichkeit  besteht,  dadurch  unangenehmen 
Stunden  zu  entgehen.  An  wirklichem  Stoff  für  die  Verhandlungen  dürfte 
es  allerdings  bald  fehlen,  besonders  in  den  unteren  Klassen;  aber  da  im  Erlaß 
dafür  keine  Grenze  gezogen  ist,  überhaupt  keine  näheren  Andeutungen  ge- 
macht sind,  wird  es  nicht  schwer  halten,  irgend  eine  „Frage"  zu  finden, 
die  als  Verhandlungsstoff  dienen  könnte.  Wenn  Eltern  und  Lehrer  gegen 
eine  solche  Vergeudung  kostbarer  Zeit  entrüstet  Einspruch  erheben,  darf 
man  sich  nicht  wundern.  Durch  die  jahrelange  Unterernährung  und  die 
infolge  der  Kriegszeit  vielfach  notwendig  gewordene  Einschränkung  des 
Unterrichts  sind  die  Leistungen  unserer  höheren  Lehranstalten  gegenüber 
dem  Friedensstande  stark  zurückgegangen.  Wir  werden  alle  Hebel  in  Be- 
wegung setzen,  alle  Möglichkeiten  prüfen  müssen,  um  die  Leistungen  all- 
mählich wieder  zu  steigern  und  durch  geistige  Kräfte  das  auszugleichen, 
was  unser  Volk  im  Weltkriege  an  materiellen  verloren  hat.  Das  ist  aber 
nur  möghch,  wenn  alle  verfügbare  Zeit  zur  Arbeit  verwendet  und  nicht  durch 
zweck-  und  ziellose  Experimente  vertrödelt  wird.  Glaubt  unsere  Unterrichts- 
verwaltung wirklich  2—3  Stunden  im  Monat  übrig  zu  haben,  so  möge  man 
diese  für  die  körperliche  Ertüchtigung  unserer  Jugend  verwenden,  aber  nicht 
für  Dinge  opfern,  deren  Ergebnis  für  unsere  Kinder  mindestens  zweifelhaft, 
wenn  nicht  schädlich  ist.  Denn  daß  aus  solchen  Verhandlungen  unreifer 
Schüler,  zumal  wenn  sie  ohne  Leitung  stattfinden,  kein  wirklicher  Nutzen 
erzielt  werden  kann,  dürfte  klar  sein.  Im  Anschluß  an  die  letzte  Stunde 
oder  auch  außerhalb  der  Schulzeit  mag  die  Klasse  Besprechungen  abhalten 
können,  aber  nur,  wenn  Zeit  und  Ort  dem  Klassenleiter  vorher  mitgeteilt 
sind.  Welchen  Zweck  die  Vereinigung  mehrerer  Klassen  zu  gemeinsamen 
Besprechungen  haben  soll,  ist  nicht  ersichtlich,  wird  im  Erlaß  auch  nicht 
angedeutet,  wohl  aber  für  zulässig  erklärt. 

Alle  Schüler  der  oberen  Klassen  (in  Vollanstalten  von  U  II  an)  dürfen 
sich  zur  Schulgemeinde  zusammenschließen  und  dauernd  oder  für  bestimmte 
Fälle  auch  weitere  Klassen  hinzuziehen.  Diese  Schulgemeinde  soll,  wie  der 
Erlaß  sagt,  den  Schülern  Verständnis  für  die  große  Gemeinschaft  geben, 
in  die  sie  gestellt  sind,  und  Gelegenheit  bieten,  selbst  an  deren  Ausbau  und 
Weiterentwicklung  mitzuarbeiten.  Unter  der  großen  Gemeinschaft,  an  deren 
Ausbau  Schüler  mitarbeiten  können  und  sollen,  wird  man  zunächst  doch 
wohl  die  Schule  zu  verstehen  haben.  Der  Erlaß  aber  sagt  weiter:  Sie  (die 
Schulgemeinde)  pflegt  daher  die  freie  Aussprache  über  Fragen  der  Schule 
und  des  Lebens.  Danach  sollen  also  nicht  nur  Schulfragen  behandelt,  sondern 
das  ganze  Gebiet  des  öffentlichen  und  staatlichen  Lebens  in  den  Kreis  der 

3* 


36  G.  Müncheberg, 

Betrachtungen  gezogen  werden.  Ist  das  wirklich  beabsichtigt,  so  darf  zu- 
nächst die  Zahl  der  Teilnehmer  keine  übermäßig  große  sein;  im  Gegenteil, 
je  mehr  dem  einzelnen  Schüler  die  Möglichkeit  gegeben  ist,  an  der  Aussprache 
selbst  sich  zu  beteiligen,  je  mehr  Verständnis  er  vermöge  seines  Alters  den 
Dingen  entgegenzubringen  vermag,  um  so  anregender  und  fruchtbarer  werden 
solche  Erörterungen  sich  gestalten.  Darum  würde  es  sich  empfehlen,  zu 
dieser  Schulgemeinde  an  großen  Anstalten  nur  die  Schüler  der  Prima,  an 
kleinern  allenfalls  noch  die  der  Obersekunda  hinzuzuziehen.  Werden  Fragen 
des  Schullebens  behandelt,  die  für  alle  Schüler  von  Interesse  sind,  und  für 
die  alle  auch  das  nötige  Verständnis  haben,  so  erweitere  man  ruhig  den  Kreis 
und  lasse  auch  die  mittleren  Klassen  daran  teilnehmen.  Ich  möchte  also  unter- 
schieden sehen  zwischen  einer  Schulgemeinde  im  engeren  Sinne,  die  regel- 
mäßig zu  bestimmten  Zeiten  zusammentritt  und  in  der  vorwiegend  Themen 
des  öffentlichen,  staatlichen  Lebens  behandelt  würden,  und  einer  Schul- 
gemeinde im  weiteren  Sinne,  die  nur  bei  besonders  wichtigen  Gelegen- 
heiten zusammenzuberufen  wäre,  wenn  es  sich  eben  um  Schulangelegenheiten 
von  allgemeinstem  Interesse  handelt.  Die  oberste  Leitung  der  engeren  Schul- 
gemeinde müßte  in  den  Händen  des  Beraters  liegen,  dem  die  Sprecher  der 
daran  beteiligten  Klassen  mit  bestimmten  Befugnissen  zur  Seite  zu  treten 
hätten.  Soll  die  erweiterte  Schulgemeinde  zusammentreten,  so  müßte  zu- 
nächst die  Erlaubnis  dazu  vom  Schulleiter  erwirkt  und  die  zu  behandelnden 
Fragen  vorher  vom  Schulausschuß  unter  Leitung  des  Beraters  durchgesprochen 
werden;  einer  der  älteren  Sprecher  könnte  selbst  das  Referat  übernehmen 
und  bestimmte  Vorschläge  unter  genauer  Darlegung  des  Für  und  Wider 
unterbreiten.  Auf  solche  Weise  würde  Zeitverlust  nach  Möglichkeit  vermieden 
werden.  Als  Verhandlungsstoffe  für  die  erweiterte  Schulgemeinde  kämen 
etwa  folgende  in  Frage:  Veranstaltung  gemeinsamer  Schulfeiern  und  Schul- 
ausflüge, Einrichtung  von  Spielnachmittagen,  Ausschmückung  der  Schul- 
und  Klassenräume,  Fragen  der  Schulordnung  und  Schuldisziplin,  Unter- 
richtsbeginn u.  a.  m.  Die  Beschlüsse  der  erweiterten  Schulgemeinde,  an  der 
natürlich  sämtliche  Lehrer  teilnehmen  können ,  wären  durch  den  Berater 
der  Lehrerkonferenz  zur  Erledigung  zu  überweisen.  —  So  könnten  die 
Schüler  schon  in  jüngeren  Jahren  zur  Mitarbeit  an  Schulangelegen- 
heiten, für  die  sie  Interesse  und  Verständnis  haben,  herangezogen  werden. 
Die  Autorität  der  Lehrer  würde  dadurch  in  keiner  Weise  leiden,  die  Schul- 
disziplin nur  erleichtert  und  gelegentliche  Überspannungen  jederzeit  durch 
den  Berater  oder  Leiter  der  Anstalt  verhindert  werden. 

Die  Schulgemeinde  im  engeren  Sinne  müßte  sich,  um  den  im  Erlaß  an- 
gedeuteten Zielen  näher  zu  kommen,  vorwiegend,  wie  schon  gesagt,  mit  Fragen 
des  öffentlichen  und  staatlichen  Lebens  befassen.  Das  große  Gebiet  der  Staats- 
bürgerkunde wäre  besonders  zu  berücksichtigen,  daneben  moderne  Kunst 
und  Literatur,  religiöse  Dinge  u.a.m.  Ich  stelle  mir  das  so  vor,  daß  die  Stoffe 
vom  Berater  im  Einverständnis  mit  den  Schülern  ausgewählt  werden.  Als 
Vortragende  kämen  zunächst  die  Lehrer  der  Anstalt,  für  leichtere  Stoffe 
geeignete  Schüler  in  Frage.   Daneben  könnten  mit  Einwilligung  des  Anstalts- 


Die  Schüler-Selbstverwaltung.  37 

leiters  gelegentlich  einmal  außerhalb  der  Schule  stehende  Persönlichkeiten, 
besonders  aus  Elternkreisen  gewonenn  werden.  Selbstverständlich  muß 
jede  Art  von  parteipolitischer  Beeinflussung  streng  ausgeschaltet  werden. 
An  die  Vorträge,  die  nie  länger  als  30—40  Minuten  sein  dürften,  müßte  sich 
eine  Aussprache  anknüpfen,  in  der  die  Schüler  über  Fragen,  die  zum  Thema 
gehören,  nähere  Auskunft  erbitten  und  einen  entgegengesetzten  Standpunkt 
begründen  können.  Um  ihr  Interesse  an  den  zu  behandelnden  Fragen  zu 
wecken  und  das  Verständnis  zu  erleichtern,  würde  es  sich  empfehlen,  wenn 
vorher  in  einer  dazu  geeignet  erscheinenden  Unterrichtsstunde  das  Stoff- 
gebiet des  Vortrages  von  einem  Lehrer  kurz  behandelt,  oder  aber  nach  dem 
Vortrag  die  Ergebnisse  noch  einmal  zusammengestellt  würden.  Auf  solche 
Weise  könnten  die  Verhandlungen  der  Schulgemeinde  allen  Schülern  zum 
Vorteil  gereichen  und  zwei  Mängel  bekämpfen  helfen,  die  den  Abiturienten 
unserer  höheren  Lehranstalten  in  den  meisten  Fällen  anhaften :  der  eine  ist 
die  Schwerfälligkeit  im  Gebrauch  der  freien  Rede,  der  andere  die  mangel- 
hafte Kenntnis  der  Einrichtungen  unseres  staatlichen  und  öffentlichen  Lebens. 
Seit  Jahrzehnten  sind  in  dieser  Richtung  Versuche  unternommen  worden, 
ohne  daß  bisher  eine  wirkliche  Besserung  erzielt  worden  wäre. 

Will  man  in  dieser  Weise  die  Schulgemeinde  ausbauen  und  auch  Er- 
folg damit  erzielen,  so  genügt  natürlich  nicht  eine  Stunde  im  Monat,  sondern 
es  müßte  wöchentlich  mindestens  eine  Stunde  dafür  zur  Verfügung  gestellt 
werden.  Die  Neuordnung  unseres  Schulwesens  wird  ja  auch  in  bezug  auf  die 
Stundenbemessung  für  die  einzelnen  Fächer  Änderungen  im  Gefolge  haben. 
Für  den  Geschichtsunterricht  muß  mehr  Zeit  erübrigt  werden,  und  wenn 
nicht  alle  Anzeichen  täuschen,  wird  Bürgerkunde  als  Pflichtfach  für  die  oberen 
Klassen  höherer  Lehranstalten  eingeführt  werden. 

So  wertvoll  es  zweifelsohne  ist,  unsere  Schüler  mit  den  Einrichtungen 
des  öffentlichen  Lebens  besser  bekannt  zu  machen,  so  verfehlt  scheint  mir 
der  Gedanke,  den  spröden  Stoff  der  Bürgerkunde  als  Pflichtfach  mehrere 
Jahre  in  bestimmten  Wochenstunden  zu  behandeln.  Dagegen  dürfte  sich 
die  Form  der  Arbeitsgemeinschaft  hierfür  eher  empfehlen,  wo  man  den  Wün- 
schen und  Interessen  der  Schüler  mehr  entgegenkommen  und  durch  freie 
Aussprache  die  Unterweisung  anregender  gestalten  könnte.  Sollte  es  nicht 
möglich  sein,  das  Gebiet  der  Bürgerkunde  im  weitesten  Sinne  als  Arbeits- 
gebiet der  Schulgemeinde  zu  überweisen  und  diese  dadurch  lebensfähig  zu 
gestalten?    Der  Gedanke  sollte  jedenfalls  ernstlich  erwogen  werden. 

Die  weiteren  Bestimmungen  des  Erlasses  sind  von  nebensächlicher  Be- 
deutung und  können  in  dieser  Besprechung  übergangen  werden.  Zusammen- 
fassend aber  möchte  ich  sagen :  So  sehr  der  Erlaß  von  den  verschiedensten 
Seiten  schon  bekämpft  ist  und  noch  bekämpft  werden  wird,  es  liegt  in  ihm 
doch  ein  gesunder  Kern,  der  für  die  Weiterbildung  und  Erneuerung  unseres 
Schulwesens  von  großer  Bedeutung  sein  könnte.  Werden  die  undurchführ- 
baren Bestimmungen  über  die  Klassengemeinde  gestrichen  oder  im  angege- 
benen Sinne  geändert,  wird  die  Schulgemeinde  so  ausgebaut,  daß  sie  wirklich 
praktischen  Zwecken  zu  dienen  vermag,  wird  überall  mit  der  Durchführung 


38  K.  Weerth, 

dieser  Neuerungen  allmählich  und  ohne  Überstürzung  vor  sich  gegangen 
und  auf  die  besonderen  Verhältnisse  jeder  Anstalt  nach  Möglichkeit  Rück- 
sicht genommen,  so  wird  auch  die  Lehrerschaft  an  den  höheren  Schulen 
sich  gern  und  freudig  in  den  Dienst  der  neuen  Idee  stellen  und  an  ihrem 
Teile  mitarbeiten,  damit  die  im  Erlaß  angedeuteten  Ziele  wirklich  erreicht 
werden. 

Potsdam.  G.  Müncheberg. 

Studientage  oder  freie  Arbeitstage^)? 

In  Sachsen  ist  durch  Ministerialerlaß  vom  11.  Februar  1919  (s.  Deutsches 
Philologenblatt  1919,  Heft  13,  14,  15/16)  festgesetzt,  daß  an  allen  höheren 
Lehranstalten  20  unterrichtsfreie  Tage  eingeführt  werden,  die  zur  Hälfte 
für  die  körperliche,  zur  Hälfte  für  die  geistige  Ausbildung  der  Schüler  nutzbar 
gemacht  werden  sollen.  Die  unterrichtsfreien  Tage  sind  folgendermaßen 
zu  verwenden: 

a)  für  die  Klasse  Ol  bis  Uli  einschließlich  10  Tage  für  Wanderungen 
und  Marschübungen  und  10  Tage  als  Studientage,  und  zwar  in  Prima  zu 
freier  wissenschaftlicher  Beschäftigung,  vornehmlich  zur  Erweiterung  der 
Privatlektüre  in  der  Literatur  der  Muttersprache,  in  Sekunda  zu  fremdsprach- 
licher Privatlektüre;  doch  können  etwa  3  von  den  10  Studientagen  zu 
Tagesausflügen  im  Dienste  naturwissenschaftlicher,  erdkundlicher  und  volks- 
wirtschaftlicher Anschauung  verwendet  werden  (Besuch  gewerblicher  An- 
lagen). 

b)  für  die  Klassen  VI  bis  Olli  sind  an  15  unterrichtsfreien  Tagen  je 
3—4  Stunden  vormittags  zur  Anfertigung  von  je  zwei  Klassenarbeiten  zu 
verwenden,  bei  denen  die  gleichen  Hilfsmittel  wie  bei  den  Hausarbeiten 
benutzt  werden  dürfen.  Hierdurch  will  man  erzielen:  1.  Erleichterung  der 
häuslichen  Arbeit  durch  Abminderung  der  schriftlichen  Hausarbeiten  um 
fast  die  Hälfte,  2.  Vermehrung  der  Zahl  der  Arbeiten,  die  für  die  Beurteilung 
des  Könnens  eines  Schülers  einen  sichereren  Maßstab  bieten  als  die  Haus- 
arbeiten, und  ein  Gegengewicht  gegen  die  Überbewertung  des  Extemporales. 
An  den  Nachmittagen  dieser  15  Tage  sollen  kleinere  Märsche  in  der  Umgegend, 
an  den  übrigen  5  unterrichtsfreien  Tagen  größere  Ausflüge  mit  erd-  und  natur- 
kundlichen Belehrungen  gemacht  werden. 

Die  Gründe,  die  zu  dieser  Neuerung  geführt  haben,  liegen  —  wenigstens 
soweit  sie  Prima  und  Sekunda  betreffen  —  auf  der  Hand:  Die  Schule  soll 
dem  heranwachsenden  Geschlecht  für  seine  körperliche  Ertüchtigung  erheb- 
lich mehr  bieten,  als  bisher  in  den  wenigen  Turnstunden  geboten  wurde. 
Daß  diese  Forderung  ihre  gründliche  Berechtigung  hat,  braucht  wohl  nicht 
noch  bewiesen  zu  werden.  An  den  Studientagen  will  man  den  Schülern  Ge- 
legenheit zu  selbständiger  Arbeit  bieten,  zur  Bewältigung  einer  größeren, 
teilweise  selbstgewählten  Aufgabe  an   Stelle  des  täglichen,  zersplitternden 

^)  Im  Hinblick  auf  inzwischen  erschienene  Veröffentlichungen,  Erlasse  usw.  ver- 
wandten Inhalts  sei  bemerkt,  daß  die  folgende  Arbeit  bereits  im  M  a  i  1919  abgefaßt 
worden  ist.  '  Die  Sc^liftl. 


Studientage  oder  freie  Arbeitstage.  39 

Stückwerks.  Es  heißt  in  den  näheren  Bestimmungen,  daß  der  Lehrer  inner- 
halb eines  von  ihm  festgesteckten  Rahmens  den  Schülern  besonders  auf 
Prima  eine  gewisse  Wahlfreiheit  einräumen  kann. 

Es  ist  mit  diesem  Erlaß  der  sächsischen  Unterrichtsverwaltung  ein 
kühner  Schritt  auf  einem  hoffnungsreichen  Wege  getan.  Der  Gedanke  ist 
nicht  neu  %  aber  seine  einheitliche  Durchführung  in  einem  großen  staat- 
lichen Schulsystem,  das  ist,  soviel  ich  weiß,  allerdings  etwas  Neues. 

Durch  Ausfall  von  20  Unterrichtstagen  wird  voraussichtlich  die  Er- 
ledigung des  lehrplanmäßigen  Pensums  eine  gewisse,  kleine  Einbuße  erleiden. 
Doch  hat  der  sächsische  Minister  wohl  angenommen,  daß  diese  Einbuße 
durch  die  Erträgnisse  der  Studien-  und  Wandertage  reichlich  aufgewogen 
werde.  Von  den  Wandertagen  erwartet  er  eine  Stählung  der  jungen  Körper 
und  wohl  auch  der  Willenskräfte,  von  den  Studientagen  erhofft  er,  daß  mancher 
Schüler  die  Lust  an  der  geistigen  Bewältigung  einer  größeren  Aufgabe  kennen 
lerne,  von  der  ihn  an  dem  betreffenden  Tage  keine  andere  Pflicht  und  An- 
strengung abzieht. 

Freilich  sind  auch  der  deutsche  Aufsatz  und  die  mathematische  Arbeit 
an  sich  wohl  geeignet,  dem  Schüler  diesen  größten  Gewinn  zu  bringen:  die 
Weckung  des  geistigen  Arbeitstriebes.  Aber  wir  wollen  nicht  vergessen, 
daß  diese  Freude  im  gewöhnlichen  Schulleben  manche  Trübung  erfährt: 
Der  Schüler  hat,  wenn  er  sich  an  die  Arbeit  setzt,  schon  5—6  Stunden  Unter- 
richt an  dem  Tage  gehabt  und  muß  die  übrigen  Arbeiten  zum  nächsten  Tage 
auch  noch  schaffen.  Dadurch  wird  —  wenn  man  von  ungewöhnlich  starken 
Naturen  absieht  — ,  das  Wachsen  der  Erosflügel  nicht  gefördert.  Und  die 
Ferien?  Man  denke  doch  an  seine  eigene  Jugendzeit  und  gebe  sich  keiner 
Täuschung  darüber  hin,  daß  ein  Kind  und  Jüngling  seine  Ferien  genießen 
will.  Arbeiten  will  der  normale  Junge  ganz  gern  —  aber  man  komme  ihm 
nicht  damit  in  den  Ferien.  Die  meisten  Unterrichtsbehörden  in  Deutschland 
haben  denn  ja  auch  wohl  aus  diesem  und  anderen  Gründen  das  Aufgeben 
von  Ferienarbeiten  verboten. 

Die  Einrichtung  der  Studientage  soll  den  Schüler  nun  in  den  Stand 
setzen,  einen  ganzen  Tag  bei  einer  Sache  zu  verbleiben,  und  diese  Sache  wird, 
wenn  der  Lehrer  die  Aufgabe  einigermaßen  geschickt  auswählt,  ein  mehr  oder 
weniger  abgerundetes  Ganzes  sein.  Dies  ist  ein  sehr  großer  Vorzug,  welcher 
dem  gewöhnlichen  Lektüreunterricht  im  allgemeinen  abgeht,  weil  man  immer 
nach  45  Minuten  abbrechen  muß.  Oder  steht  wirklich  die  Freude,  welche  die 
30—80  Homerverse  dreimal  wöchentlich  selbst  dem  begeistertsten  Griechen- 
freunde bereiten,  in  irgendeinem  Verhältnis  zu  dem  Wert  und  dem  uner- 
schöpflichen Leben,  das  in  diesem  unsterblichen  Epos  steckt?  Und  nun  gar 
bei  Plato.  Ist  es  nicht  manchmal  zum  Verzweifeln,  wenn  man  den  Prota- 
goras,  so  ein  Werk  aus  einem  Guß,  auf  20—30  Stunden  über  ein  ganzes  Viertel- 
jahr verteilt  —  und  auch  dann  noch  womöglich  mit  Auswahl  —  darbieten 
und  genießen  muß?     Ich  brauche  diese  Binsenwahrheit  nicht  noch  breiter 


*)  Man  kennt   z.  B.  die  alte  Einrichtung  der  Studientage  in  Schulptorta. 


40  K.  Weerth, 

zu  treten,  und  weiß  sehr  wohl,  daß  die  stundenweise  Darbietung  des  Lehr- 
stoffs ihre  großen  Vorzüge  hat,  und  daß  sie  für  die  meisten  Unterrichts- 
fächer das  einzig  Richtige  ist.  Aber  sollte  man  nicht  einmal  den  Versuch 
machen,  für  die  Lektüre  neben  dem  Stundenbetrieb  an  einigen  Tagen  im 
Jahre  den  Tagesbetrieb  einzuführen,  um  so  der  besonderen  Natur  dieses 
Bildungsmittels  gerecht  zu  werden,  welches  sich  ja  vorwiegend  mit  großen, 
zusammenhängenden  Werken  befaßt. 

Man  wende,  bitte  nicht  ein,  daß  dies  ja  doch  schon  in  weitestem  Maße 
in  unserer  berühmten  ,, Privatlektüre"  geschieht.  Ich  stehe  nicht  an,  offen 
auszusprechen,  daß  drei  Viertel  aller  Schüler  im  Deutschen  Reiche  sich  um 
die  Privatlektüre  —  wenigstens  um  die  fremdsprachliche  —  überhaupt  nicht 
kümmern.  Zur  Not  überfliegt  man  zu  Hause  eine  schlechte  Übersetzung,  oder 
man  läßt  sich  von  einem,  der  sich  dieser  Mühe  unterzogen  hat,  vor  der  Stunde 
ein  paar  Stichworte  sagen;  dann  fühlt  man  sich  hinlänglich  gewappnet. 

An  den  Studientagen  ist  nun  die  Möglichkeit,  sich  auf  solche  Weise 
mit  der  Lektüre  abzufinden,  leider  auch  gegeben.  Zwar  ist  die  Versuchung 
dazu  nicht  so  groß,  weil  der  Schüler  für  die  Arbeit  ausreichende  Zeit  hat. 
Aber  gleichwohl  ist  die  Gefahr  vorhanden,  und  das  ist  der  wunde  Punkt 
an  der  sächsischen  Einrichtung.  Kollegen,  die  solche  Studientage  von  Semi- 
naren, Oberlyzeen  usw.  her  kennen,  pflegen  denn  auch  von  ihrem  Nutzen 
keine  allzugroße  Meinung  zu  haben.  Gewiß,  der  Lehrer  kann  eine  Kontrolle 
über  das  Geleistete  ausüben,  z.  B.  indem  er,  wie  es  in  dem  sächsischen  Er- 
lasse heißt,  hin  und  wieder  unvermutet  schriftliche  Arbeiten  aus  den  auf- 
gegebenen Stücken  in  der  Klasse  anfertigen  läßt.  Doch  darf  man  füglich 
bezweifeln,  ob  durch  solche  Kontrolle  das  ,, Drücken"  auch  denen  unmöglich 
gemacht  wird,  die  sich  auf  diese  Kunst  verstehen. 

Aber  es  gibt  ein  anderes  Mittel,  dieser  allzumenschlichen  Eigenschaft 
entgegenzuwirken.  Und  auf  dieses  Mittel  werden  wir  von  selbst  geführt 
durch  eine  technische  Schwierigkeit:  Auf  welche  Weise  soll  immer  der  nötige 
Lektürestoff  beschafft  werden  ohne  größere  Kosten,  aber  auch  ohne  erheb- 
liche, durch  den  Kostenpunkt  gegebene  Beschränkung  der  Auswahl?  Sehr 
einfach:Die  Schüler  lesen  nicht  einzeln  zu  Hause,  sondern  irgend- 
wo gemeinsam,  und  zwar  unter  Beteiligung  und  Leitung  des 
Lehrers.  Die  Vorzüge  dieses  Verfahrens  gegenüber  der  sächsischen  Ein- 
richtung liegen  klar  vor  Augen :  1 .  In  den  fremden  Sprachen  kann  hier  sehr 
viel  mehr  gelesen  werden,  als  bei  der  reinen  Privatlektüre,  weil  der  Lehrer 
Vokabeln  und  andere  Hilfen  gibt,  2.  der  Stoff  wird  den  Schülern  näher  ge- 
bracht durch  die  Erläuterungen  des  Lehrers,  3.  die  Kontrolle  über  die  Be- 
tätigung der  Schüler,  ergibt  sich  unmittelbar. 

Solche  Studientage  oder  besser:  ,, freie  Arbeitstage",  die  der  Lehrer  mit 
den  Schülern  abhält,  brauchen  nun  aber  nicht  auf  die  Lektüre  beschränkt 
zu  bleiben.  Läßt  man  diese  Beschränkung  fallen,  so  wird  gleich>\%hl  in  den 
sprachlichen  Fächern  die  Lektüre  der  Hauptbestandteil  der  gemeinsamen 
Arbeit  bleiben,  im  übrigen  aber  eröffnet  sich  ein  unerschöpflich  reiches  Feld 
zur  freien  wissenschaftlichen  Betätigung  in  jedem  Fache. 


Studientage  oder  freie  Arbeitstage.  41 

Soll  diese  Betätigung  nun  für  alle  Schüler  wirklich  frucht- 
bar werden,  dann  muß  man  noch  einen  Schritt  weiter  gehen; 
man  muß  die  hemmenden  Wirkungen  der  Interesselosigkeit 
einzelner  ausschalten.  Das  scheint  unmöglich,  ist  aber  in 
Wirklichkeit  sehr  leicht:  Man  macht  die  Beteiligung  für  Lehrer 
und  Schüler  wahlfrei.  Die  Lehrer,  welche  Neigung  dazu  ver- 
spüren, kündigen  vor  Beginn  des  Halbjahrs  an,  welche  Gegen- 
stände sie  an  den  „freien  Arbeitstagen"  mit  den  Schülern  zu 
behandeln  bereit  sind,  unter  Angabe  der  Klassen,  die  für  die 
Teilnahme  in  Frage  kommen;  die  Schüler  können  dann  wählen, 
an   welchen   dieser   Übungen  sie   teilnehmen   wollen. 

Es  wäre  das  etwas  ganz  Neues,  bisher  Unerhörtes.  Aber  ich  bitte,  den 
Gedanken  nicht  von  vornherein  aus  dem  Grunde  abzulehnen,  weil  eine  solche 
Durchbrechung  des  Prinzips  der  gleichmäßigen  Klassenausbildung  allem  bis- 
herigen Brauche  zuwiderläuft.  Man  mache  sich  vielmehr  klar,  was  das  be- 
deutet: In  diesen  freien  Zusammenkünften  wird  nichts  behandelt, 
als  was  den  Lehrer  und  fast  sämtliche  Schüler  wirklich  inter- 
essiert. Denn  die  Zahl  derjenigen  Schüler,  die  an  keinem  der  angekündigten 
Gegenstände  Interesse  haben ,  wird  doch  auf  den  oberen  Klassen  gering 
sein,  zumal  da  sich  ja  wohl  auch  in  jedem  Kollegium  eine  Anzahl  Lehrer 
finden  wird,  die  solche  freigewählte  Stoffe  interessant  zu  machen  wissen. 
Diejenigen  Schüler,  die  an  keiner  dieser  Zusammenkünfte  teilnehmen,  würden 
dann,  wie  in  Sachsen,  vom  Lehrer  eine  Privatlektüreaufgabe  oder  eine  schrift- 
liche Arbeit  bekommen.  Keinen  Lehrer  wird  man  zwingen,  freie  Arbeits- 
tage abzuhalten,  aber  allen  wird  man  es  freistellen,  auch  denjenigen,  die 
keinen  Unterricht  auf  den  oberen  Klassen  haben.  Nur  die  Kandidaten  im 
Vorbereitungsdienst  werden  vielleicht  besser  die  Hand  davon  lassen.  Ich 
glaube,  daß  unter  normalen  Verhältnissen  immer  reichlich  genug  Anmeldungen 
seitens  der  Lehrer  wie  der  Schüler  einlaufen  werden.  Natürlich  müssen  die 
Stoffe  so  gewählt  und  behandelt  werden,  daß  nicht  der  Lehrer  allein  die 
Arbeit  leistet,  sondern  daß  am  freien  Arbeitstag  die  Schüler  selbst  angestrengt 
tätig  sind  (des  Lehrers  Arbeit  liegt  vielmehr  in  der  Vorbereitung,  die  gar 
nicht  gründlich  genug  sein  kann). 

Der  vom  Lehrer  angekündigte  Lehrgegenstand  oder  besser  „Arbeits- 
stoff" kann  einen  oder  auch  mehrere,  ja  sämtliche  freien  Arbeitstage  des 
Halbjahrs  in  Anspruch  nehmen.  So  kijnnen  beliebig  viel  Arbeitstage  zu 
,, freien  Lehrgängen"  zusammengefaßt  werden.  Auch  wird  es  in  vielen  Fällen 
möglich  sein,  daß  der  Schüler  an  einem  Tage  verschiedene  Lehrgänge  mit- 
nimmt, da  mancher  Lehrgang  nicht  mehr  als  etwa  zwei  Stunden  an  einem 
Tage  beansprucht.  Wo  aber  z.  B.  Lektüre  getrieben  wird,  da  mag  man  vor- 
teilhafterweise den  ganzen  Tag  (mit  reichlichen  Pausen)  benutzen,  um  etwas 
Ganzes  zu  bewältigen. 

Als  Hauptziel  ist  bei  dieser  Unterrichtsart  festzuhalten:  Die  Schüler 
sollen  die  Lust  an  wissenschaftlicher  Arbeit  kennen  lernen.  Und  daß  dies 
Ziel  auf  dem  angegebenen  Wege  zu  erreichen  ist,  werden  wohl  nur  wenige 


42  K.  Weerth, 

Kollegen  bezweifeln.  Jedenfalls  lohnt  es  sich,  den  Versuch  zu  machen,  zumal 
da  er  gemacht  werden  kann,  ohne  daß  man  die  hergebrachte  Organisation 
des  Unterrichts  umstößt. 

Aus  der  unendlichen  Fülle  der  Stoffe,  die  man  in  diesen  freien  Lehr- 
gängen behandeln  könnte,  seien  wenigstens  einige  willkürlich  herausgegriffene 
Gegenstände  angeführt: 

Griechisch  :  Einige  Tragödien,  an  jedem  dafür  verfügbaren  Arbeits- 
tag ein  ganzes  Stück,  etwa  drei  Viertel  in  Übersetzung,  ein  Viertel  im  Urtext. 
Dazu  Belehrungen  über  Entwicklung,  Aufbau,  Aufführung  der  Tragödie, 
über  das  griechische  Theater  usw.,  alles  womöglich  an  Hand  der  Quellen 
sowie  geeigneter  wissenschaftlicher  Schriften  aus  neuerer  Zeit  (Wilamowitz, 
Bethe,  Dörpfeld  usw.).  —  Plato,  kursorische  Lektüre  der  hervorragendsten 
Dialoge,  teils  griechisch,  teils  in  Übersetzung  unter  vollständiger  Ausnutzung 
des  einzelnen  Arbeitstages,  um  einen  Dialog  als  Ganzes  in  möglichst  kurzem 
Zeitraum  zu  bewältigen^).  Darauf  Zusammenfassung  des  Gedankeninhalts 
und  nach  Belieben  Eingehen  auf  einzelnes.  In  dieser  Weise  können  mit  einer 
guten  Mannschaft  wohl  vier  Dialoge  im  Jahr  gelesen  werden.  Haben  die 
Schüler  einige  Hauptwerke  in  sich  aufgenommen,  so  kann  man  im  nächsten 
Schuljahr  die  Belehrung  vertiefen,  indem  man  einzelne  Gegenstände  der 
Platonischen  Philosophie  an  Hand  der  bezüglichen  Textstellen  behandelt: 
Die  Ideenlehre,  die  Lehre  von  der  Seele,  Piatos  Beziehung  zu  den  Pytha- 
goreern  (die  Mythen  vom  Jenseits!),  Piatos  Stellung  zur  Kunst.  Im  Anschluß 
hieran  kann  Aristoteles'  Poetik  gelesen  werden  mit  grün  ilicher  Sacherklärung, 
wobei  denn  zu  zeigen  wäre,  wie  selbst  dieser  König  im  Reiche  der  grie- 
chischen Wissenschaft  mit  beiden  Füßen  auf  den  Schultern  seines  größeren 
Vorgängers  steht. 

In  ähnlicher  Weise  ließen  sich  in  den  anderen  Fremdsprachen  leicht 
Aufgaben  nennen,  bei  denen  die  Lektüre  als  Grundlage  für  kleine  wissen- 
schaftliche Untersuchungen  benutzt  würde. 

Geschichte.  Die  Zeit  von  1864—1871  an  Hand  der  Erinnerungen  von 
Bismarck,  Hohenlohe-Schillingsfürst,  Hohenlohe-Ingelfingen,  sowie  der  Dar- 
stellungen von  Sybel,  Friedjung  u.  a.  Ebenso  jedes  andere  Gebiet  der  Welt- 
geschichte unter  Benutzung  von  Quellen  und  Darstellungen,  auch  der  für 
Schulzwecke  zusammengestellten  Quellensammlungen  von  Voigtländer,  Lam- 
beck  u.  a. 

Erdkunde:  Geschichte  der  pfolonisationen.  Kartenentwurfslehre.  Ge- 
ländeformen (mit  Ausflügen).  Topographische  Aufnahmen  im  Gelände. 
Paläogeographie  und  Paläoklimatologie.  Ausführlichere  Behandlung  der 
Klimatologie  und  Meteorologie  (mit  praktischen  Übungen).  Der  Boden  in 
seiner  Bedeutung  für  die  Charakterentwicklung  des  Menschen.  Behandlung 
ethnographischer  Fragen.  Siedelungsformen,  Orts-,  Fluß-  und  Ländernamen 
(mit  Ausflügen).  Die  geologischen  Verhältnisse  der  näheren  Umgebung. 
Regelation.     Gletscher  und  Eiszeit. 


0  Ansetzung  mehrerer  freier  Arbeitstage  l<urz  hintereinander 


Studientage  oder  f^eie  Arbeitstage.  43 

Beschreibende  Naturwissenschaften:  Natürliche  und  künstliche 
Systeme.  Ausgewählte  Kapitel  aus  der  vergleichenden  Anatomie.  Desgl. 
aus  der  Entwicklungsgeschichte.  Das  biogenetische  Grundgesetz.  Darwinis- 
mus und  Verwandtes.  Urzeugung.  Die  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur. 
Reliktenfauma  und  -flora.  Tierwanderungen.  Pflanzenwanderungen.  Nähr- 
stoffe der  Pflanzen.  Fruchtwechsel  und  manches  andere,  ins  Gebiet  der  Land- 
wirtschaft gehörige.    Dazu  praktische  Anschauung. 

Deutsch:  Viel  Lektüre,  auch  Anregung  zu  Privatlektüre,  nach  bestimm- 
ten zusammenfassenden  Gesichtspunkten,  Anbahnung  eines  tieferen  Ver- 
ständnisses der  einzelnen  Werke,  der  Literatuigattungen,  der  literaturge- 
schichtlichen Entwicklung,  der  Stellung  einzelner  Dichter  zu  ihrer  Kunst 
u.  V.  a.  ,  z.  B.:  1.  Das  deutsche  Lustspiel  (Kotzebue,  Lessing,  Kleist,  Freytag, 
Grillparzer  [Weh  dem,  der  lügt],  Hauptmann  [Biberpelz]).  2.  Das  bürger- 
liche Trauerspiel  (Emilia  Galotti,  Kabale  und  Liebe,  Maria  Magdalena, 
O.   Ludwigs  Erbförster,  Hauptmanns  Fuhrmann   Hentschel,   Rose  Bernd). 

3.  Ibsen  (Schärfe  der  Dialektik,  Freiheit  der  Technik,  Kampf  gegen  die  Ge- 
sellschaftsmoral, Ibsens  Kunst  als  Grundlage  des  deutschen  Naturalismus). 

4.  Behandlung  der  Nibelungensage  (Edda,  Epos,  Volksbuch,  Hebbel,  Wagner). 

5.  Die  neuere  Lyrik  (Storm,  Fontane,  Mörike,  Keller,  Heyse.  Ihre  persön- 
Hchen  Beziehungen,  gegenseitige  Kritik,  Briefwechsel).  6.  Über  die  Eigenart 
der  russischen  Literatur.  Proben  aus  Tolstoi,  Dostojewski  u.  a.  7.  Spitteler 
als  Dichter  und  als  Charakter  (seine  Äußerungen  über  seine  Kunst).  8.  Das 
Epos  in  neuerer  Zeit:  Goethe,  Hebbel,  Liliencron,  Wildenbruch,  Spitteler 
(,,Das  verbotene  Epos"). 

Physik:  Das  absolute  und  das  technische  Maßsystem.  Drahtlose  Tele- 
graphie.  Elektrische  Strahlungserscheinungen.  Stromerzeugung  und  Strom- 
verteilung (mit  Ausflügen).  Künstliche  Lichtquellen.  Die  Polarisation. 
Optisch*^  Instrumente.    Moleküle,  Atome,  Weltäther.    Luftfahrzeuge. 

Mathematik:  Einige  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Mathematik  und 
aus  dem  Leben  hervorragender  Mathematiker.  Entwicklung  der  Zifftrn- 
systeme.  Unendlich  große  und  unendlich  kleine  Größen.  Ausgewählte  Kapitel 
aus  der  Zahlen theroie.  Auflösung  von  Gleichungen  durch  Näherungsmethoden. 
Lösung  von  Aufgaben  in  vergleichend  analytischer,  synthetischer  und  eu- 
klidisch-geometrischer Behandlungswei«5e.  Abgekürzt'^s  Rechnen;  d:r  Rechen- 
schieber.     Geometrische   Konstruktionen   mit  dem  Lineal  allc;in  (Steiner). 

Diese  kleine  Beispielsammlung  aus  den  einzelnen  Fächern  ließe  sich  be- 
liebig erweitern.  Jedem  Kollegen  werden  von  selbst  manche  andere  Stoffe 
aus  seinem  besonderen  Interessengebiet  einfallen,  und  viele  werden  nicht 
abgeneigt  sein,  den  praktischen  Versuch  mit  dieser  Lehrmethode  zu  m9ch?n. 
Doch  höre  ich  auch  mancherlei  Einwände  gegen  das  vorgeschlagene  Ver- 
fahren, bei  dem  jeder  Schüler  sich  frei  auswählt,  was  ihm  behagt,  ohne  an 
seine  Klasse  und  seine  Lehr.T  gebunden  zu  sein: 

1 .  Die  Schule  ist  doch  nicht  dazu  da,  den  Schülern  Zuckerbrot  zu  reichen. 
Sie  sollen  ernste  Pflichterfüllung  lernen. 

2.  Durch  die  neue  Methode  wird  die  Einheitlichkeit  der  Ausbildung, 


44  K.  Weerth, 

die  doch  einen  Hauptvorzug  unserer  hörieren  Lehranstalten  bildet, 
beeinträchtigt. 

3.  Es  geht  nicht  an,  daß  ein  Schüler  3ich  an  dem  Lehrgang  eines  Lehrers 
beteiligt,  welcher  nicht  in  dem  betreffenden  Fache  den  Unterricht 
in  der  Klasse  hat.  Es  wäre  das  ein  Eingriff  eines  Lehrers  in  das  Gebiet 
des  andern. 

Darauf  seien  mir  die  folgenden  Erwiderungen  gestattet : 

Zu  1 .  Wenn  man  von  den  240  Unterrichtstagen  des  Jahres  20  ah  Wander- 
und freie  Arbeitstage  ausscheidet,  dann  bleiben  immer  noch  220,  an  denen 
die  Schüler  wie  bi*^her  arbeiten,  was  man  ihnen  vorschreibt.  Ist  es  wirklich 
eine  geistige  Verweichlichung,  wenn  man  sie  an  10  Tagen  im  Jahr  treiben  läßt, 
was  ihnen  Freude  macht?  Hat  wirklich  nur  diejenige  Pflichterfüllung  sitt- 
lichen Wert,  die  sich  unter  ständiger  Selbstüberwindung  an  einer  der  eigenen 
Neigung  nicht  zusagenden  Aufgabe  abquält?  Hat  wohl  jemals  ein  Mcrsch  auf 
irgendeinem  geistigen  Gebiete  ein  großes  Werk  geschaffen  ohne  Freude  am 
Gegenstand?  Ich  erlaube  mir,  es  7u  bezweifeln.  Diese  Freude  an  der  Betäti- 
gung der  eigenen  geistigen  Anlagen,  die  die  Wurzel  alles  geistigen  Fortschritts 
ist,  die  wollen  wir  wecken  und  zu  ihrem  Recht  kommen  lassen.  Es  handelt 
sich  ja  bei  der  freien  Wahl  seitens  der  Schüler  gar  nicht  um  die  Erfüllung 
selbstsüchtiger  Wünsche,  nicht  darum,  daß  man  ihnen  nachgiebig  ihren 
Willen  läßt,  es  handelt  sich  um  nichts  geringeres  als  den  Platonischen  Eros, 
den  Trieb  nach  Wahrheitserkenntnis.  Und  dieser  Trieb  soll  ja  nicht  einfach 
befriedigt  werden:  im  Gegenteil,  aufstacheln  wollen  wir  ihn,  daß  er  die  junge 
Seele  packt,  um  sie  womöglich  nicht  wieder  lo!?zulasser,  und  daß  er  die  un- 
edleren Triebe  sich  unterwirft.  Und  wenn  jemand  behauptet,  die  Schüler 
unserer  oberen  Klassen  seien  für  solche  Behandlung  nich:  reif,  dem  sage 
ich,  daß  er  die  jugendliche  Seele  überhaupt  nicht  kennt. 

Zu  2.  Mit  den  220  Unterrichtstagen,  die  uns  jährlich  übrig  bleiben, 
wird  man  auch  fernerhin  eine  gemeinsame  Bildungsgiundlage  ebensogut 
erzielen,  wie  bisher  mit  240.  Ist  es  denn  aber  wirklich  das  höjhne  Ziel  und 
Ideal  einer  Bildungsanstalt,  ihre  Zöglinge  alle  mit  demselben  Schatz  des 
Wissens  und  Könnens  zu  entlassen?  Ich  glaube,  man  hat  vielfach  aus  der 
Not  eine  Tugend  gemacht  und  dieses  Ideal  gepriesen,  weil  man  zur  Erreichung 
jenes  höheren,  jeden  Zögling  nach  den  ihm  eigenen  Fähigkeiten  auszubilden, 
keinen  Weg  wußte.  Vielleicht  ist  es  aber  in  den  vorstehenden  Ausführungen 
gelungen,  einen  gangbaren  Weg  zu  zeigen,  der  wenigstens  die  allgemeine 
Richtung  nach  diesem  Ziel  einschlägt.  Und  ich  wage  zu  behaupten,  die  Schule 
werde  ihrer  hohen  Aufgabe  keineswegs  dadurch  untieu  werden,  daß  sie  sich 
an  10  Tagen  im  Jahre  bemüht,  die  besonderen  Anlagen  jedes  einzelnen  Schülers 
zur  Betätigung  anzuregen  und  hiermit  den  Grund  legt  zur  späteren  Nutzbar- 
machung dieser  besonderen  Anlagen  für'die  Allgemeinheit. 

Zu  3.    Die  Schüler  sind  nicht  der  Lehrer  wegen  da,  sondern  die  Lehrer 
der  Schüler  wegen.  Auch  ist  nicht  anzunehmen,  daß  das  Interesse  des  Lehiers 
oder  des  Klassenunterrichts  gefährdet  wird,  wenn  die  Schüler  auch  mal  bei. 
einem  anderen  als  dem  gewohnten  Lehrer  etwas  lernen. 


Studientage  oder  freie  Arbeitstage.  45 

Nun  noch  ein  Wort  über  die  in  den  freiwilligen  Lehrgängen  zu  behandeln- 
den Fächer.  Die  oben  angeführten  Beispiele  sind  nur  den  Gebieten  ent- 
nommen, die  in  dem  regelmäßigen  Unterrichtsplan  der  Gymnasien  usw. 
enthalten  sind.  Es  fragt  sich,  ob  nicht  noch  andere  und  dann,  welche  anderen 
Gebiete  einen  Platz  in  den  freien  Lehrgängen  beanspruchen  können.  Die 
Antwort  auf  diese  Frage  kann  meines  Erachtens  nur  lauten :  Es  kommen 
in  Betracht  alle  Gebiete,  die  überhaupt  eine  wissenschaftliche  Behandlung 
vertragen  und  d'r  geistigen  Entwicklungsstufe  der  Schüler  angemessen  sind, 
also  neben  den  eingeführten  Unterrichtsfächern  solche  Stoffe,  die  im  Unter- 
richt nur  nebenher  oder  gar  nicht  behandelt  werden,  wie  Bürgerkunde,  Volks- 
wirtschaftslehre, Kunstgeschichte,  Musikwissenschaft.  Auch  wird  man 
neben  den  wissenschaftlichen  Fächern  den  sog.  technischen  Fächern  an  den 
unterrichtsfreien  Tagen  einen  Platz  einräumen,  und  zwar  an  einigen  „Wander- 
tagen" dem  Turnen  und  den  Bewegungsspielen  (Wettkämpfe  mit  auswärtigen 
Mannschaften!),  an  den  freien  Arbeitstagen  dem  Zeichnen,  der  Handfertig- 
keit und  der  Musik  (Vokal-  und  Instrumentalmusik),  alles  soweit  Angebot 
und  Nachfrage  vorhanden  ist.  Denn  es  ist  nicht  einzusehen,  weshalb  besondere 
Talente  auf  diesen  Gebieten  nicht  auch  innerhalb  der  Schule  Gelegenheit 
finden  sollten,  ebensogut  wie  mathematische  und  philologische  Talente  sich 
zu  betätigen  und  zu  bilden.  Vgl.  hierzu  die  sehr  wohlbegründeten  Bemer- 
kungen im  sächsischen  Ministerialerlaß. 

Bei  der  Behandlung  der  Bürgerkundf  ist  dem  Lehrer  zur  Pflicht  zu 
machen,  daß  er  jede  parteipolitische  Einwirkung  vermeidet.  Gelingt  ihm 
das  nicht,  so  wird  ihm  die  Genehmigung  zur  Behandlung  dieses  Faches  ent- 
zogen. Die  kunstgeschichtlichen  Studien  werden  nicht  in  Vorträgen  des 
Lehrers  und  Zeigen  von  Bildern  bestehen,  sondern  besonders  in  der  Lektüre 
kunstwissenschaftlicher  Quellen  und  Darstellungen  von  Pausanias  und  Plinius 
über  Vasari  und  Winkelmann  biszuFurtwängler,  Ad.  Hildebrand,  Wölfflinu.a., 
die  natürhch  stets  durch  Anschauung  zu  beleben  ist.  Auch  die  Musik,  dieses 
arg  zurückgesetzte  Stiefkind  der  höheren  Schule  wird  man  an  den  freien 
Arbeitstagen  endlich  einmal  zu  ihrem  Recht  kommen  lassen  in  praktischer 
Ausübung  und  wissenschaftlicher  Behandlung.  Ist  die  Musik  doch  diejenige 
Kunst,  in  der  das  deutsche  Volk  wirklich  unter  allen  Völkern  obenan  steht, 
in  der  der  deutsche  Geist  sich  ebenso  vollkommen  offenbart  hat  wie  im  Faust 
und  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Diese  deutscheste  der  Künste  wird 
in  der  Gegenwart  dank  dem  verheerenden  Einfluß  des  Klaviers  allgemein 
recht  oberflächlich  betrieben.  Man  macht  Musik  und  hört  Musik,  weil  sie 
angenehm  zu  hören  ist.  Ein  gründliches  geistiges  Erfassen  aber  ist  selbst 
bei  ehrlichen,  gebildeten,  musikalischen  Menschen  nur  recht  selten  anzu- 
treffen. Durch  eine  mehr  wissenschaftliche  Behandlung  würde  die  Musik 
keineswegs,  wie  viele  (besonders  Damen)  glauben,  trocken  werden,  im  Gegen- 
teil: Wissenschaf thche  Betrachtung  unter  Führung  eines  wissenschaftlich  und 
musikalisch  gründhch  gebildeten  Lehrers  ist  das  unerläßHche  Mittel,  um 
die  tiefsten  Werte,  die  in  der  Musik  enthalten  sind,  besonders  die  sittlichen 
Werte,  mit  Bewußtsein  zu  erfassen.  Natürlich  ist  es  nicht  viel,  was  die  Schule 


46  K.  Weerth, 

in  dieser  Hinsicht  an  ein  paar  freien  Arbeitstagen  wird  bieten  können,  doch 
kann  den  musikalischen  Schülern  wenigstens  ein  Anstoß  nach  der  Richtung 
gegeben  werden,  in  der  man  zu  gehen  hat,  um  den  verborgenen  Schätzen 
auf  die  Spur  zu  kommen.  Nicht  an  jeder  höheren  Lehranstalt  wird  die  ge- 
eignete Persönlichkeit  vorhanden  sein,  doch  in  vielen  Fällen  wird  sie  sich 
finden,  sei  es  der  Gesanglehrer  oder  ein  anderer  Lehrer. 

Und  nun  die  Philosophie!  Immer  wieder  wird  in  der  pädagogischen 
Literatur  und  auf  Direktorenkonferenzen  die  Frage  erörtert,  wie  in  der  Schule 
die  Grundlagen  zu  einer  philosophischen  Bildung  gelegt  werden  können. 
Daß  die  Schule  diese  Aufgabe  hat,  darüber  sind  sich  wohl  alle  einig.  Und 
doch  ist  es  trotz  allen  mündlichen  und  schriftlichen  Erörterungen  der  Fach- 
männer noch  nicht  gelungen,  die  philosophische  Propädeutik  zum  Unter- 
richtsfach an  den  höheren  Lehranstalten  zu  machen.  Immer  wieder  scheitert 
es  an  der  leidigen  Frage:  Wo  sollen  wir  die  Zeit  dazu  hernehmen,  ohne  die 
Schüler  zu  überlasten  oder  andere  wichtige  Unterrichtsfächer  ,,noch  mehr" 
zu  beschneiden?  Haben  wir  erst  unsere  freien  Arbeitstage,  dann  ist  auf  ein- 
mal auch  für  die  Philosophie  Zeit  in  ausreichendem  Maße  vorhanden,  und 
der  Erfüllung  einer  dringenden  Forderung  aller  einsichtigen  Schulmänner 
steht  keine  Schwierigkeit  mehr  entgegen !  Fast  sollte  man  meinen,  daß  diese 
Tatsache  allein  genüge,  die  Berechtigung  der  freien  Arbeitstage  darzutun. 
Daß  bei  dieser  Einrichtung  nicht  alle  Schüler,  sondern  nur  die  dafür  inter- 
essierten, an  den  philosophischen  Belehrungen  teilnehmen,  wird  man  nicht 
für  einen  Schaden  halten.  Es  wird  wohl  nur  wenige  Schüler  geben,  die  nicht 
wenigstens  mal  ein  Semester  lang  sich  an  philosophischen  Übungen  beteiligen. 
Was  für  Gebiete  der  Philosophie  hier  nun  behandelt  werden  könnten  oder 
sollten,  und  in  welcher  Weise,  darüber  könnte  man  ein  besonderes  Buch 
schreiben;  übrigens  ist  ja  schon  hinlänglich  viel  darüber  geschrieben  worden. 
Als  Hauptziele  dieses  Unterrichts  wird  man  festhalten:  einen  Zusammen- 
hang zwischen  den  Fachwissenschaften  herzustellen  und  Grundlagen  zu 
geben,  auf  denen  sich  der  junge  Mann  eine  vorläufige  Weltanschauung  bilden 
mag.  Dann  werden  die  philosophischen  Übungen  im  besonderen  das  leisten, 
was  die  freien  Arbeitstage  im  allgemeinen  leisten  sollen:  anleiten  zu  selb- 
ständiger wissenschaftlicher  Arbeit,  deren  Wesen  und  Methode  hier  im  be- 
sonderen kritisch  bewußt  gemacht  werden  müßte,  und  damit  eine  Hinführung, 
„Propädeutik",  zu  Universität  und  Leben. 

Es  ist  klar,  daß  diese  ganze  Einrichtung  der  freien  Arbeitstage  und  der 
Wandertage  auf  die  oberen  Klassen  zugeschnitten  ist.  Was  fangen  wir  mit 
den  unteren  von  Uli  abwärts,  an?  Die  Lösung,  welche  hier  der  sächsische 
Erlaß  gefunden  hat,  scheint  nicht  sehr  glücklich  zu  sein.  Fünfzehnmal  im 
Jahre  zwei  schriftliche  Arbeiten  in  der  Schule,  die  auf  VI  — IV  je  eineinhalb, 
auf  III  je  zwei  Stunden  dauern  sollen,  dieser  Gedanke  ist  wohl  weniger  auf 
der  Überzeugung  von  seiner  Vortrefflichkeit  begründet,  als  auf  der  Not- 
wendigkeit, mit  den  unteren  Klassen  an  den  „unterrichtsfreien  Tagen"  auch 
irgend  etwas  anzufangen. 

Natürlich,  der  normale  Unterricht  läßt  sich  an  diesen  Tagen  auf  den 


Studientage  oder  fre'e  Arbeitstage.  47 

unteren  Klassen  nicht  durchführen,  bei  der  Verwirklichung  unseres  Planes 
noch  weniger,  als  bei  der  sächsischen  Einrichtung,  da  ein  Teil  der  auf  den 
unteren  Klassen  unterrichtenden  Lehrer  sich  an  den  ,, freien  Arbeitstagen" 
mit  den  oberen  Klassen  beschäftigt.  Aber  diejenigen  Lehrer,  die  keine  freien 
Lehrgänge  abhalten,  bleiben  verfügbar,  und  zwar  in  mehr  Stunden  als  ge- 
wöhnlich, da  doch  ein  Teil  von  ihnen  auch  Unterricht  auf  den  oberen  Klassen 
hat,  der  an  diesen  Tagen  ausfällt.  Ältere  Lehrer,  die  auf  den  unteren  Klassen 
gar  keinen  Unterricht  haben,  wird  man,  auch  wenn  sie  keinen  freien  Lehr- 
gang abhalten,  nicht  zwingen  wollen,  ihre  jüngeren  Kollegen  an  den  freien 
Arbeitstagen  auf  den  unteren  Klassen  zu  vertreten,  doch  wird  sich  vielleicht 
mancher  freiwillig  dazu  erbieten,  sich  an  einem  solchen  Tag  eine  oder 
zwei  Stunden  mit  den  Kleinen  zu  beschäftigen.  Auf  solche  Weise  werden 
voraussichtlich  soviel  Lehrkräfte  verfügbar  werden,  daß  auf  den  unteren 
Klassen  etwa  vier  Stunden  Unterricht  erteilt  werden  können.  NatürUch 
kann  es  nicht  der  stundenplanmäßige  Unterricht  sein,  vielmehr  muß  auch 
hier  den  Lehrern  freie  Hand  gelassen  werden.  Größere  Arbeiten  können 
selbstverständlich  geschrieben  werden,  besonders  Klassenaufsätze  (wodurch 
die  Störung  des  regelmäßigen  Unterrichts  vermieden  wird),  aber  sie  müssen 
nicht,  wie  in  Sachsen,  die  Alleinherrschaft  haben.  Für  die  ausfallenden  Stunden 
kann  man  den  Schülern  ein  etwas  größeres  Maß  häuslicher  Aufgaben  erteilen. 
Hinsichtlich  der  Zahl  der  freien  Arbeits-  und  Wandertage  ist  man  an  das 
sächsiche  Vorbild  keineswegs  gebunden,  wie  überhaupt  die  vorstehenden 
Ausführungen  nur  als  eine  Anregung  aufgefaßt  werden  wollen,  als  Anregung 
zu  einer  Reform,  die  bei  der  praktischen  Durchführung  die  mannigfachsten 
Ausgestaltungen  zuläßt.  Es  ist  nur  deshalb  so  weit  ins  einzelne  gegangen, 
um  den  Grundgedanken  recht  deutlich  ins  Licht  treten  zu  lassen  und  seine 
Ausführbarkeit  zu  beweisen.  Auf  Grund  vorliegender  Arbeit  sowie  einer 
gleichzeitig  entstandenen  Abhandlung  von  Kesting,  Freie  Arbeitstage 
auf  den  höheren  Schulen,  Neue  Jahrb.  1920,  4  sind  die  freien  Arbeitstage 
am  Leopoldinum  (Gymnasium  und  Oberrealschule)  zu  Detmold  seit  dem 
1.  April  1920  eingeführt. 

Detmold.  K.  Weerth. 


IL  Bücherbesprechungen. 


Lehrbuch    der    Philosophie    auf   aristotelisch-scholastischer    Grundlage   zum 
Gebrauch  an  höhern  Lehranstalten  und  zum  Selbstunterricht.  Von  Alfons 
Lehmen  S.  J.    Erster  Band:  Logik,   Kritik,  Ontologie.    Vierte  ver- 
mehrte und  verbesserte  Auflage,  herausgegeben  von  Peter    Beck  S.  J. 
Freiburg  1917.    Herdersche  Verlagshandlung.     Gr.  8».    XVIII  u.  516  S. 
7,60  M     Geb   in  Halbkunstleder  10  M 
Von  dem  in  katholischen  Kreisen  rühmlich  bekannten  Lehrbuch  der 
neuscholastischen  Philosophie  des  Jesuiten  Lehmen  hat  sein  Ordensbruder 
Beck  eine  neue  Auflage  besorgt     Der  Herausgeber  bezeichnet  die  Abschnitte 
über  die  Methode  m  der  Logik,  über  den  Glauben  und  über  den  fanszenden- 
talen  Idealismus  Kants  als  die  Punkte ,  an  denen  am  meisten  erweitert  wurde. 
Die  Darlegung  des  Systems  sei  fast  ganz  umgearbeitet  worden.    In  der  Tat 
bemerkt  man  überall  die  Hand  des  neuen  Bearbeiters  und  nicht  nur  bei  den 
genannten  Fragen.    Beck  zieht  neuere  Werke,  darunter  freilich  meist  solche 
von  Katholiken,  viel  mehr  heran  als  L  hmen.    Geblieben  ist  die  erfreuliche 
Klarheit  und  Durchsichtigkeit  der  Darstellung,  die  Lehmens  Buch  selbst 
unter  den  scholastischen  Lehrbüchern  auszeichnete.     Nicht  nur  dem  Ver- 
treter einer  reaUstischen  Weltanschauung,  sondern  auch  demjenigen,  der  sich 
über  den  Inhalt  der  neuscholastischen  Philosophie  rasch  und  gut  unterrichten 
will,  ist  das  Werk  dringend  zu  empfehlen.  Von  den  scholastischen  Definitionen 
kann  jeder  lernen,  da  der  Scholastiker  weiß,  wie  weit  man  in  der  Definition 
gehen  kann,  wieweit  nicht,  und  da  er  die  Mehrdeutigkeit  der  Wörter  stets 
sorgfältig  beachtet.    Die  Fruchtbarkeit  der  Scholastik  kann  sich  naturgemäß, 
da  für  sie  letzte  Prinzipien  unerschütterlich  feststehen,  weniger  in  diesen 
letzten   VoraussetTungen   bekunden,   als   vielmehr   in   ihren   Anwendungen 
auf  besondere  Gebiete;  aber  eine  gesunde  „Schule"  der  Geister  bleibt  ihre 
Logik,    Erkenntnistheorie  und  Ontologie  zu   allen   Zeiten.      Ausstellungen 
im  einzelnen  wie  an  den  Ausdrücken  ,, Zusammensetzung"  und  „Trennung" 
beim  Urteil  (S.  57)  und  in  dem  S.  192  über  Lotze  und  Wundt  Bemerkten 
seien  nur  Itise  angedeutet. 

Bonn.  Adolf   Dyroff. 

G.  W.  Hegel.  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der  Weltgeschichte. 
Vollständig  neue  Ausgabe  von  Georg  Lasson.  I.  Bd.  Ein- 
leitung: Die  Vernunft  in  der  Weltgeschichte.  Die  Philosophische 
Bibliothek.  Bd.  171a.  1917,  Geh. 5,50  M.,  geb.7  M.-II.Bd.  Die  orien- 
talische Welt.  Ebenda.  1919.  Geh.  8  M.,  geb.  10,50  M.  -  III.  Bd. 
Die  griechische  und  die  römische  Welt.  Ebenda.  1920.  Geh.  18  M., 
geb.  24  M.  -  IV.  Bd.  Die  germanische  Welt.  Ebenda.  1920.  Geb. 
22,50  M.  -  V.  Bd.  Hegel  als  Geschichtsphilosoph.  Ebenda.  1920. 
Geh.  22,50  M.,  geb.  30  M.    Leipzig  F.  Meiner. 


Albert  Hartmann^  Untersuchungen  über  die  Sagen  usw.,  angez.  von  R.  Pappritz.       49 

Zum  Hegel- Jubiläum  im  August  d.  J.  lag  in  dieser  Neuausgabe  seiner 
Vorlesungen  über  die  Philosophie  der  Weltgeschichte  ein  ganz  besonders 
wertvolles  Geschenk  vor.  Die  Ausgabe  ist  ein  wissenschaftliches  Ver- 
dienst ersten  Ranges,  das  dem  Herausgeber  um  so  höh\.r  anzurechnen  ist, 
als  er  zu  seiner  wissenschaftlichen  Arbeit  nur  die  kargen  Mußestunden  zur 
Verfügung  hatte,  die  ihm  sein  mühevolles  Pfarramt  übrig  läßt.  Überall 
handelt  es  sich  um  völlig  neue  Benutzung  des  aufbehaltenen  handschrift- 
lichen Materials  unter  sorgfältigster  Veigleichung  mit  den  bisher  maßgebenden 
gedruckten  Ausgaben.  Am  allermeisten  hat  durch  die  erneute  Benutzung 
die  Einleitung:  „Die  Vernunft  in  der  Geschichte"  gewonnen,  da  die  früheren 
Herausgeber  sehr  wenig  sorgfältig,  ja  oft  recht  willkürlich  sowohl  mit  der 
vorhandenen  eigenhändigen  Niederschrift  Hegels  als  mit  den  Kolleg-Nach- 
schriften umgegangen  waren.  Jetzt  gewinnt  die  Einleitung  durch  Lassons 
Verdienst  nicht  nur  stellenweise  ein  neues  Gesicht,  sie  ist  vielmehr 
ein  ganz  neues  Buch  geworden.  Sie  wird  ganz  wesentHch  dazu  beitragen, 
so  manches  völlig  unberechtigte  Vorurteil  gegen  den  Geschichtsphilosophen 
Hegel  zu  beseitigen.  Das  muß  auch  die  erwünschte  Folge  des  V.  Bandes 
sein,  in  dem  nun  Lasson  auf  Grund  der  Vorlesungen  eine  sehr  ausführliche 
Würdigung  Hegels  als  Geschichtsphilosophen  unternimmt,  indem  er  sein 
Verhältnis  zur  geschichtlichen  Wirklichkeit  überhaupt,  die  Weltgeschichte 
im  System  der  Philosophie,  die  Tatsachen  und  die  Philosophie  der  Weltge- 
schichte behandelt.  Auch  diese  Darstellung  wird  wesentlich  dazu  beitragen, 
die  künftige  Geschichtsbetrachtung  nach  der  endlos  öden  Tatsachenanhäufung 
und  wertfreien  materialistischen  Geschichtsdarstellung,  zu  der  dem  deutschen 
Geist  offenbar  besonders  angemessenen  Art,  in  der  Geschichte  eine  Ent- 
faltung des  objektiven  Geistes  zu  sehen,  immer  stärker  zurückzuführen. 
Auch  die  Texigestaltung  des  II.  und  IV.  Bandes  lassen  in  so  manchem  Punkte 
die  Ansicht  Hegels  von  der  orientalischen  Welt  wie  von  der  griechisch-römi- 
mischen  und  der  germanischen  anders  erscheinen,  als  sie  auf  Grund  der  bis- 
herigen Ausgaben  es  tun  mußte.  So  wird  schwerlich  noch  wie  bisher 
Hegels  Schilderung  der  griechischen  und  der  römischen  Welt  als  der  Glanz- 
punkt seiner  Philosophie  der  Weltgeschichte  gelten  können,  während  durch 
den  neuen  Aufbau,  den  die  Darstellung  der  germanischen  Welt  erfahren  hat, 
der  Eindruck  entsteht,  daß  gerade  sie  sich  als  das  Bedeutendste  in  dem  Hegel- 
schen  Gemälde  der  Weltgeschichte  erweist. 

Der  beste  Dank,  den  wir  dem  Herausgeber  und  dem  Verlage  abstatten 
können,  ist  eine  fleißige  Benutzung  dieser  fünf  neuen  Hegelbände.  Hoffent- 
lich finden  sich  auch  unter  den  Geschichtslehrern  der  höheren  Schulen  recht 
viele,  die,  den  philosophischen  Gewinn  des  Geschichtsunterrichts  würdigend, 
auch  zu  diesen  Bänden  greifen. 

Spandau.  P.  Lorentz. 

Albert  Hartmann.  Untersuchungen  über  die  Sagen  vom  Tod  des 
Odysseus.  München  1917.  C.  H.  Becksche  Verlagsbuchhandlung.  242  S. 
Geh.  7  M. 

Monafschrift  f.  höh.  Schulen.     XX.  Jhrg.  4 


50      Albert  Hartmann,  Untersuchungen  über  die  Sagen  usw.,  angez.  von  R.  Pappritz. 

Aus  dem  reichen,  vielseitigen  Inhalt  des  vorliegenden  Werkes  möchte 
ich  folgendes  hervorheben:  Aeschylos  erwähnt  in  einem  Drama  „Psycha- 
gogoi"  einen  eigenartigen  Tod  des  Odysseus:  Ein  Fischreiher  läßt  im  Flug 
seinen  Kot  und  darin  einen  giftigen  Fischstachel  auf  des  Odysseus'  kahles 
Haupt  fallen ;  die  vergiftete  Wunde  ist  natürlich  tödlich.  Hartmann  vermutet, 
daß  die  Totenbeschwörer  den  Chor  gebildet  haben,  der  Titel  des  Stückes 
bezieht  sich  auf  ihn,  wie  bei  den  Choephoren  und  Eumeniden.  Aus  einem 
Chorlied  der  „Psychagogoi"  zitiert  Aristophanes  in  den  Fröschen  einen  Vers: 
'EQfiav  juev  Tiqöyovov  tio^ev  yivog  ol  Ttegl  klf.ivav. 

Hartmann  kombiniert,  indem  er  bezug  nimmt  auf  Max.  Tyr.  14,  2  und 
Strabo  5,244,  der  See,  an  dem  das  Stück  vor  sich  ging,  sei  die  !AoQvog  Xifivrj 
bri  lumae.  Im  Anschluß  an  Wilamowitz,  Hom.  Unters,  stellt  Hartmann 
folgende  Tetralogie  zusammen  ipvxaywyoL,  nrjveXÖTtrj,  ^OaroXöyoi,  KiQxr],  aarvQixi]. 
Wie  moderne  deutsche  Dichter,  z.  B.  Schreyer  und  Eelbo,  versuchten  auch 
Dichter  des  Altertums  die  Odyssee  zu  dramatisieren. 

Aristoteles  erwähnt  in  der  'i^ax^a/wv  TtoUxdijc  (fr.  506  R)  Telemach 
habe  die  Nausikaa  geheiratet  und  den  Perseptolis  erzeugt.  Denselben  Ge- 
danken hat  Schreyer  in  seinem  Drama  Nausikaa.  Hartmann  vermutet, 
der  Name  Perseptolis  sei  aus  der  berühmtesten  Tat  des  Odysseus  hergeleitet. 

Proclos  überliefert  uns  in  seiner  Chrestomathie  Telegonos,  der  Sohn 
des  Odysseus  und  der  Circe,  sei  ausgezogen,  um  seinen  Vater  zu  suchen. 
In  Ithaka  habe  er,  ohne  zu  ahnen,  wo  er  sei,  wen  er  vor  sich  habe,  seinen 
Vater  getötet.  Darauf  habe  er,  nachdem  er  seine  Schuld  erkannt,  Penelope 
und  Telemach  zu  seiner  Mutter  gebracht.  Diese  habe  sie  unsterblich  gemacht. 
Penelope  und  Telegonus,  Circe  und  Telemach  bildeten  nun  ein  Paar.  Mit 
Circe  wurde  nun  auch  Telegonue  in  Italien  lokalisiert.  Die  gens  Mamilia 
betrachtet  ihn  als  Ahnherrn;  eine  Reihe  von  Dichtern,  namentlich  Ovid, 
spielen  darauf  an.  Hartmann  weist  hin  auf  den  Parallelismus  in  der  Erzählung 
über  die  beiden  Söhne  des  Odysseus.  Das  Motiv  des  Kampfes  zwischen  Vater 
und  Sohn  ist  in  den  verschiedensten  Literaturen,  z.  B.  auch  den  sieben- 
bürgischen  Zigeunern,  Persern  und  Chinesen  anzutreffen.  Bruno  Busse, 
Sagengeschichtliches  zum  Hildebrandliede,  hat  darüber  eine  Zusammen- 
stellung gemacht.  —  Bei  Parthenios  in  den  'EQtoxLy.d  7ta^ri/.iaTa  wird  ein  Liebes- 
abenteuer des  Odysseus  geschildert.  Der  Held  und  Penelope  sind  hier  ganz 
anders  charakterisiert  als  in  der  übrigen  Überlieferung,  nämlich  als  unent- 
schlossen und  eifersüchtig. 

Sextus  Empiricus  endüch  berichtet,  völlig  abweichend  von  den  anderen 
Überlieferungen,  Odysseus  sei  von  Athene  in  ein  Roß  verwandelt  worden. 
Entsetzt  über  eine  Mißgeburt,  den  Pan,  den  Sohn  der  Penelope  und  ,, aller" 
Freier,  floh  Odysseus  in  sinnlosem  Schrecken  in  die  Welt  hinaus.  Hartmann 
kombiniert  nun,  Athene  habe  aus  Erbarmen  ihm  die  Gestalt  „des  scheuen 
und  flüchtigen,  vom  geringsten  Schrecken  sinnlos  dahingehetzten  Pferdes 
gegeben". 

Naumburg  a.  S.  R.  Pappritz. 


Lamer,  Die  altklassische  Welt,  angez.  von  E.  Ziebarth.  51 

Die  Germania  des  Tacitus.     Erläutert  von  Karl  MüUenhoff.     Neuer,  ver- 
mehrter Abdruck.    Besorgt  durch  Max  Roediger    (Deutsche  Altertums- 
kunde  von  Karl  MüUenhoff.    Vierter  Band).    Berlin  1920.    Weidmann- 
sche  Buchhandlung,    gr.  8°.    XXIV  und  767  S.    Preis  36  M. 

Das  grundlegende  Werk  Müllenhof fs,  zum  ersten  Mal  1900  erschienen, 
war  seit  langem  vergriffen.  Der  vorliegende  vermehrte  Abdruck  ist  darum 
noch  besonders  zu  begrüßen,  weil  seit  Kriegsbeginn  die  Germaniastudien 
einen  erneuten  Aufschwung  genommen  haben.  Wie  die  Humanisten  vor 
Jahrhunderten  an  dem  kostbaren  Büchlein  des  Tacitus  ihr  Nationalgefühl  ge- 
wannen, so  wird  die  Schrift  auch  jetzt  von  neuem  ihre  erziehliche  Kraft  beweisen. 
Wer  sie  verstehen  will,  wird  immer  wieder  zu  MüUenhoff  zurückgeführt. 
Die  Vermehrung  betrifft  den  Text,  der  um  4  Seiten  zugenommen  hat.  (Er- 
weiterung des  Sueben-  und  Langobardenkapitels,  2  neue  Abschnitte  in  den 
Anhängen  über  „Lust  und  Unlust"  und  „Eidring"),  und  besonders  die  Register. 
Die  Verweisungen  hätten  namentlich  bei  den  Inschriften  dem  jetzigen  Stand 
angepaßt  werden  sollen.  —  Ein  Wort  der  Empfehlung  bedarf  das  Buch  nicht. 

V.  Christ,  Wilhelm,  Geschichte  der  griechischen  Literatur.  (Müller,  Hand- 
buch der  klassischen  Altertumswissenschaft  VII,  2,  1.)  Sechste  Auflage, 
unter  Mitwirkung  von  Otto  Stählin  bearbeitet  von  Wilhelm  Schmid. 
II.  Teil.  1.  Hälfte.  München  1920.  C.  H.  Beck'sche  Verlagsbuchhandlung, 
gr.  8».   VII  und  662  S.    Geh.  35  M.,  geb.  55  M. 

Der  vorliegende  Band  des  zum  unentbehrlichen  Handwerkszeug  gehören- 
den Christschen  Werkes  umfaßt  die  nachklassische  Periode  der  griechischen 
Literatur  von  320  v.  Chr.  bis  100  n.  Chr.  Ich  begnüge  mich,  schon  aus  Raum- 
rücksicht, damit,  die  einleitenden  Worte  der  kurzen  Vorrede  herzusetzeu: 
,,Die  6.  Auflage  erscheint  der  5.  gegenüber  um  etwa  ein  Drittel  verstärkt. 
Der  Zuwachs  entfällt  in  nur  wenig  größerem  Maße  auf  den  Abschnitt  über  die 
rein  heidnische  Literatur  als  auf  den  über  die  hellenistisch-jüdische.  Gerecht- 
fertigt ist  er  nicht  nur  durch  das  Anschwellen  der  neueren  Literatur  seit  acht 
Jahren,  die  besonders  für  Poseidonios,  Plutarchos  und  Philon  vieles  der 
Berücksichtigung  Werte  gebracht  hat,  sondern  auch  durch  die  Veröffent- 
lichung neuer  Papyrustexte  (neue  Komödie,  Kallimachos,  Philodemos)." 
Pfaffendorf  bei  Coblenz.  Max   Siebourg. 

Lamer.  H.,  Die  altklassische  Welt.  Neubearbeitung  von  Martin  Wohl- 
rabs  Altklassischen  Realien  im  Gymnasium.  10.  Aufl.  (erste  Aufl.  der 
Neubearbeitung).  Leipzig  1918.  B.  G.Teubner.  Geb.  2,20  M.  u.  Teuerungs- 
zuschläge des  Verlags  und  der  Buchhandlungen. 

Jedes  Hilfsmittel  zur  Veranschaulichung  des  antiken  Lebens  und  der 
antiken  Kultur  wird  der  GymnasiaUehrer  freudig  begrüßen,  doppelt  freudig, 
wenn  es  so  reichhaltig  und  so  praktisch  ist,  wie  Lamers  Neubearbeitung 
des  alten  Wohlrab.  Lamer  war  zu  dieser  Arbeit  besonders  berufen,  da  er 
schon  früher  seine  Gedanken  über  die  Anlage  eines  Realienbuches  für  Gym- 
nasien ausgesprochen  hatte,  ebenso  schon  längst  bemüht  war,  die  enge  Ver- 
bindung des  Altertums  mit  der  Gegenwart  immer  wieder  neu  nachzuweisen. 

4* 


52  Lamer,  Die  altklassische  Weli,  angez.  von  E.  Ziebarth. 

Der  Hinweis  auf  die  Kulturzusammenhänge  zwischen  Altertum  und  Gegen- 
wart hat  daher  oft  Zusätze  zu  dem  ursprünglichen  Texte  veranlaßt,  und  das 
Büchlein  stellt  jetzt,  wenn  auch  in  engstem  Rahmen,  die  gesamte  Kultur  des 
Altertums  dar.  Wie  das  Verhältnis  des  neuen  Werkes  zum  alten  Wohlrab 
im  einzelnen  sich  gestaltet  hat,  hat  Referent  nicht  geprüft,  sicher  aber  ist 
manches  wohl  mit  Unrecht  aus  dem  alten  Buche  stehen  geblieben,  auch  hat 
die  notwendige  Kürze  b(  i  einem  so  gewaltigen  Stoff  mitunter  die  Klarheit  des 
Ausdruckes  etwas  beeinträchtigt.  Manches  kann  aber  leicht  in  weiteren 
Auflagen  geändert  werden.  Beispielsweise  §  246  Erziehung  sind  die  Angaben 
über  Spielzeug  und  Spiele  etwas  dürftig.  Der  Satz  ,,da  die  Lehrer  oft  Sklaven 
waren,  war  der  Lehrerstand  nicht  geachtet"  ist  in  dieser  Fassung  viel  zu  ein- 
seitig, ebenso  der  folgende:  „der  Gymnasialunterricht  für  Erwachsene  war 
Sache  der  Gemeinden"  sehr  umstritten,  er  mußte  mindestens  eine  zeitliche 
Erklärung  erhalten.  Wenn  es  kurz  darauf  weiter  heißt  „die  Schüler,  die  nicht 
turnten,  also  Muße  hatten,  saßen  um  den  Lehrer  herum",  so  ist  das  mißver- 
ständlich. Man  denkt  nach  modernen  Begriffen  etwa  an  die  vom  Turnen 
befreiten  Schüler.  In  §  248  konnten  die  Angaben  über  die  Grabbeigaben 
ausführlicher  gestaltet  werden.  Mißverständlich  ist  der  Satz  „Viele  davon 
(Grabsteine)  sind,  obwohl  von  Handwerkern  gearbeitet,  köstliche  Stücke 
antiker  Kunst",  da  doch  der  Unterschied  zwischen  Handwerkern  und  Künst- 
lern im  Altertum  völlig  zurücktrat.  §  252  Handel  und  Gewerbe  wird 
vom  Kreditbriefwesen  gesprochen,  dessen  Vorhandensein  doch  umstritten  ist. 
Ebenda  ist  bei  Betonung  der  Bedeutung  der  zwei  Sprachen  Lateinisch  und 
Griechisch,  durch  die  man  sich  von  England  bis  Persien  überall  verständlich 
machen  konnte,  das  Punische  vergessen,  dessen  Bedeutung  in  den  zahlreichen 
Bilinguen  von  Sizilien,  Cypern  u.  a.  O.  zu  erkennen  ist.  Ebenda  fehlt  in  dem 
Satze  „Handelsstädte  wie  Palmyra  und  Ostia  sind  durch  ihre  Ruinen  und 
Ausgrabungen  bekannt"  eine  Erwähnung  von  Delos,  Piraeus,  Olbia  u.  a.  O. 
Eine  aufklärende  Bemerkung  über  die  Preise  wäre  Seite  139  sehr  angebracht 
gewesen.  Bei  der  Geschichte  des  Geldes  Seite  141  konnte  erwähnt  werden, 
daß  das  Eisengeld  von  Sparta  wiedergefunden  ist.  Ebenso  mußte  das  Geld 
in  Fisch-  und  das  in  Schinkenform  erwähnt  werden.  §  261  ist  der  Satz  „das 
älteste  römische  Geld  noch  gar  nicht  in  Rom,  sondern  in  Campanien  angefertigt" 
mißverständlich  und  erfordert  nähere  Aufklärung  über  die  Einführung  der 
Münzprägung  aus  Campanien  in  Rom.  Der  Satz  über  die  Herkunft  des  Alpha- 
bets (S.  144)  das  die  Phönikier  von  den  Ägyptern  übernommen  haben  sollen, 
ist  bekanntlich  außerordentlich  bestritten,  zum  mindesten  mußte  die  neuere 
Anschauung  über  die  Herkunft  des  Alphabets  von  Kreta  durch  Vermittlung 
der  Philister  an  die  Phöniker  erwähnt  werden.  Auch  der  Satz  über  den  Buch- 
handel am  Schluße  des  Buches  ist  in  dieser  Kürze  nicht  verständlich;  „die 
Bücher  wurden  nach  Diktat  von  vielen  im  Schnellschreiben  geübten  Sklaven 
gleichzeitig  geschrieben"  kann  doch  unmöglich  von  Herodots  Geschichtswerk 
schon  gelten  und  mußte  also  wiederum  zeitlich  genauer  bestimmt  werden. 
Solche  Anmerkungen  wird  jeder  Leser  leicht  machen  können,  aber  jeder 
wird  sich  auch  aus  dem  Inhaltsverzeichnis  leicht  ein  Bild  machen  können, 


Karl  Brandi,  Deutsche  Geschichte,  angez.  von  F.  Neubauer.  53 

was  in  diesem  guten  Buche  alles  zu  finden  ist.  Von  den  Ausgrabungen  zu 
Milet  (von  denen  es  nur  S.  68  nicht  mehr  heißen  darf:  „. . .  gräbt  das  Deutsche 
Reich  ihre  Ruinen  jetzt  aus",  da  die  Italiener  jetzt  die  Herren  der  Stadt  sind) 
zum  Reichskursbuche  zu  Staroperation  zum  Studentenleben  zu  den  Straf- 
arbeiten von  Schülern  zu  Reisebeschreibungen,  zur  Hygiene,  zum  Giroverkehr 
zum  anatomischen  Institut  (fehlt  im  Register !)  Kurz,  es  ist  schwer  anzugeben, 
was  nicht  in  diesem  Buche  zu  finden  wäre.  Aufgefallen  ist  mir  das  Fehlen 
einer  Angabe  über  Verkehrswesen  und  Gasthäuser.  Kurz,  das  Buch  ist  in 
vielen  Beziehungen  ein  Treffer  und  hat  auch  bceits  eine  weitere  1 1 .  Auflage 
erlebt  (1920),  wie  Referent  hier  mitteilen  kann,  da  die  Anzeige  durch  widiige 
Umstände  zwei  Jahre  lang  verzögert  ist.  In  dieser  ist  vielerlei  verbessert 
worden,  auch  die  angeführt*.  Stelle  über  Milet.  Besonders  ist  der  Abschnitt 
über  Sokrates  (§  136)  neu  geschrieben  nach  Birt  Sokrates  der  Athene^,  ebenso 
ist  am  Schlüsse  des  Buches  hinter  Buchhandel  neu  hinzugefügt  ein  Abschnitt 
Weiterleben  der  antiken  Schriften,  Einwirkung  der  antiken  Buchtechnik  auf 
die  unsere.  Preis  der  11.  Aufl.  kart.  3,40  M.  dazu  Teuerungszuschläge. 
Ahrensburg  i.  H.  E.  Ziebarth. 

Karl  Brandi,  Deutsche  Geschichte.  Berhn  1919.  Mittler  &  Sohn.  295 
u.  XIV  S.     28  M. 

Eine  deutsche  Geschichte  auf  235  Seiten,  zu  denen  noch  24  Seiten  Quellen- 
angaben und  ein  ausführliches  Inhaltsverzeichnis  kommen,  „im  Felde  ent- 
standen und  auf  Grund  von  Vorträgen  in  einem  Fronthochschulkursus  nieder- 
geschrieben".  Ein  kühner  Versuch,  das  Werden  unseres  Volkes  als  eine  Ein- 
heit zu  begreifen  und  in  knappster  Form  dem  Leser  vor  die  Seele  zu  stellen ; 
ein  Versuch,  bei  dem  vieles,  was  schön  und  denkwürdig  scheint,  ausgeschieden 
werden  mußte;  und  doch  eine  Darstellung,  deren  einheitlicher  Stimmung 
man  sich  gern  hingibt:  in  schöner,  innerlich  belebten,  von  tiefem  Gefühl 
für  unser  Volkstum  erwärmter  Sprache,  mit  zahlreichen  feinen  Bemerkungen, 
Schlaglichtern,  die  ein  Zeitalter  kennzeichnen  oder  Zusammenhänge  erhellen, 
in  klaren,  aber  naturgemäß  so  großen  Zügen,  daß,  wer  ein  Ereignis  oder  eine 
Persönlichkeit  tiefer  kennea  lernen  will,  oft  nicht  auf  seine  Kosten  kommt; 
ein  Buch,  das  eben  nicht  dazu  bestimmt  ist,  der  Vermehrung  des  Einzel- 
wissens zu  dienen,  sondern  um  das  Ganze  der  deutschen  Entwicklung  genuß- 
voll und  in  herzlicher  Hingabe  des  Gemüts  zu  überschauen.  Am  1.  November 
1918  hat  der  Verfasser  die  Feder  aus  der  Hand  gelegt;  wenige  Tage  darauf 
kam  die  Revolution.  Und  so  stehen  freilich  die  schönen  Schlußworte,  in 
denen  er  uns  mahnt,  ,,das  aus  der  Hingabe  an  die  vaterländische  Sache  ge- 
borene Gefühl  der  unteilbaren  Gemeinschaft"  zu  wahren,  zu  dem,  was  wir 
seitdem  erlebt  haben,  in  einem  Gegensatz,  der  Grauen  erweckt.  Aber  es  ist 
gewiß  so,  wie  er  in  der  Einleitung  es  ausspricht,  daß  dem  deutschen  Volke 
vertiefte  historische  Bildung  nie  so  not  tat,  wie  heute;  möchte  das  Buch 
mit  dazu  helfen,  geschichtlich  begründeten  Wirklichkeitssinn  und  liebevolle 
Treue  zu  unserer  Volksgemeinschaft,  die  in  breiten  Schichten  fast  erstorben 
zu  sein  scheinen,  wieder  zu  beleben. 

Frankfurt  a.  M.  F.  Neubauer. 


54  Obst,  Volkswirtschaftslehre,  angez.  von  Wersche. 

Obst.  Georg.  Volkswirtschaftslehre.  Zweite  vollständig  umgearbeitete 
Aufl.     Stuttgart  1921.     K.  E.  Poeckel.    355  S.    32  M. 

Wirtschaftsfragen  und  Wirtschaftssorgen  beherrschen  heute  in  uner- 
hörtem Maße  unser  Interesse,  und  neben  der  Medizin  ist  die  Nationalökonomie 
die  angesehenste  Wissenschaft.  Wer  hat  vor  dem  Kriege  in  Laienkreisen 
etwas  von  Valuta  oder  Geldentwertung  gewußt ;  heute  sind  diese  und  andere 
schwierige  Begriffe  der  Volkswirtschaftslehre  im  Munde  des  gemeinen  Mannes 
und  der  Unmündigen.  —  Die  oberste  Schulbehörde  hat  die  Bedeutung  der 
wirtschaftlichen  Fragen  und  Kämpfe  in  Vergangenheit  und  Gegenwart 
längst  erkannt.  Zeugnis  dessen  sind  die  „Lehrpläne  und  Lehraufgaben  für 
die  höheren  Schulen  Preußens"  vom  Jahre  1901,  in  denen  es  unter  anderem 
auf  Seite  48  heißt: . . .  „wirtschaftliche  Belehrungen  werden  sich  ungezwungen 
überall  da  in  den  Gang  der  Geschichte  einflechten  lassen,  wo  die  Lösung 
sozialer   Aufgaben    und   wirtschaftlicher    Probleme   versucht   worden   ist." 

Je  weiter  nun  der  Geschichtsunterricht  in  die  Gegenwart  hinab-  und 
hineingeführt  wird,  einen  um  so  breiteren  Raum  nehmen  wirtschaftliche 
Belehrungen  und  Erörterungen  im  Geschichtsunterricht  ein:  die  Zollkämpfe 
und  Zollverträge  in  der  äußeren  Politik,  die  Wirtschaftskrisen,  Lohnkämpfe 
und  die  soziale  Gesetzgebung  verlangen  eine  sorgfältige  Betrachtung.  Der 
Geschichtslehrer,  der  seiner  schwierigen  Aufgabe  gerecht  werden  will,  muß 
nicht  nur  auf  der  Universität  gründlich  vom  Borne  nationalökonomischer 
Wissenschaft  getrunken  haben,  die  Volkswirtschaftslehre  wird  vielmehr  bei 
seinen  Vorbereitungen  und  für  die  neu  auftauchenden  Fragen  seine  stete 
Begleiterin  und  Beraterin  bleiben. 

Für  diesen  Zweck  empfiehlt  sich  in  hervorragendem  Maße  das  oben  ge- 
nannte Werk  von  Gg.  Obst.  Es  ist  aus  Vorlesungen  hervorgegangen,  die  der 
Verfasser  vor  dem  Kriege  in  der  Schule  des  Vereins  der  Bankbeamten  ge- 
halten hat,  und  ist  in  der  zweiten  Auflage  völlig  umgearbeitet  und  durch  die 
Erfahrungen,  die  Obst  als  verantwortungsvoller  Leiter  einer  Kriegswirt- 
schaftsstelle, als  Bankdirektor  und  Professor  in  und  nach  dem  Kriege  ge- 
macht hat,  bereichert  worden.  Der  Verfasser  ist  kein  Dogmatiker;  aus  der 
Praxis  ist  sein  Buch  entstanden.  Für  den  praktischen  Gebrauch  ist  es  ge- 
dacht und  geschrieben.  Es  setzt  keine  Vorkenntnisse  voraus.  Seine  Vorzüge 
sind:  Klare,  festumrissene  Begriffe,  die  aus  reicher  Erfahrung  und  wissen- 
schaftlicher Arbeit  gewonnen  sind,  und  einfache,  lichtvolle  Darstellung. 
Wer  sich  schnell  über  ein  wirtschaftliches  Problem,  über  eine  der  brennenden 
Tagesfragen  —  sie  sind  ja  alle  wirtschaftlicher  Natur  —  orientieren  will, 
wird  nicht  vergeblich  in  O  b  s  t  s  Volkswirtschaftslehre  Rat  und  Belehrung 
suchen. 

Das  Buch  behandelt  in  vier  großen  Abschnitten  die  vier  Teile  der  National- 
ökonomie: Gütererzeugung,  Güterumlauf,  Güterverteilung  und  Güterver- 
brauch. In  einem  „Anhang"  wird  auf  43  Seiten  die  Geschichte  der  National- 
ökonomie dargestellt ;  sie  hat  für  den  Geschichtslehrer  besondere  Bedeutung, 
ist  aber  bei  weitem  nicht  ausführhch  genug  und  wird  hoffentlich  bei  einer 
Neuauflage  eine  bedeutende  Erweiterung  erfahren.    Auch  die  Literaturan- 


Einführung  in  die  Psychiatrie,  angez.  von  Julius  Koch.  55 

gaben  sind  nicht  ausreichend;  Umfang,  Auflage  und  Preis  der  genannten 
Werke  sind  nicht  beigefügt.  Sind  das  Mängel  geringerer  Art,  so  ist  der  Preis 
des  Buches  erheblich  zu  beanstanden :  Wenn  auch  Obst  wohl  bei  der  Abfassung 
des  Buches  an  Lehrer  und  Studenten  gedacht  hat,  der  Verleger  scheint  nur 
auf  Käufer  aus  Bank-  und  Börsenkreisen  zu  rechnen. 

Charlottenburg.  Wersche. 

Rühlmann,  Paul,  Die  französische  Schule  und  der  Weltkrieg. 
Leipzig  1918.  Quelle  &  Meyer.  IV  u.  118  S.  Geh.  2,20  M. 
Die  Würfel  sind  gefallen.  Das  Schicksal  hat  gegen  Deutschland  ent- 
schieden. Die  Feinde  triumphieren.  Mehr  denn  je  steht  die  Frage  nach  den 
Schuldigen  am  Weltkrieg  zur  Erörterung.  Wer  an  ihrer  Klärung  interessiert 
ist,  darf  an  Rühlmanns  Buch  nicht  vorübergehen.  Es  ist  in  objektiver  Form 
eine  furchtbare  Anklage  Frankreichs.  Wie  der  Rachegedanke  jenseits 
der  Vogesen  immer  mehr  zur  Zentralidee  des  gesamten  politischen  Denkens 
geworden  ist,  wie  er  in  der  Lehrerschaft  namentlich  durch  Poincares  ent- 
scheidenden Einfluß  alle  paziflstischen  Strömungen  um  die  Jahrhundertwende 
erstickt  und  schUeßlich  mehr  oder  weniger  alle  Unterrichtsgegenstände  durch- 
setzt hat,  das  wird  an  der  Hand  unanfechtbaren,  authentischen  Materials 
mit  der  Sachlichkeit  und  Sorgfalt  des  gewissenhaften  Forschers  nachgewiesen. 
Das  Buch  ist  geradezu  eine  Geschichte  des  französischen  Rachegedankens, 
wie  sie  in  ähnlich  systematischer  Vollständigkeit  noch  nicht  geboten  worden  ist. 

Fehlefj  Kurt,  Erweiterung  und  Vertiefung  des  französischen 
Wortschatzes.  Breslau  1917.  Trewendt  &  Granier.  48  S.  Geh.  0,60  M. 
Daß  die  Kenntnis  des  französischen  Wortschatzes  in  der  Schule  vielfach 
zu  wünschen  übrig  läßt,  ist  eine  kaum  bestreitbare  Tatsache.  Ein  vortreff- 
liches Mittel  zur  Hebung  dieses  Übelstandes  ist  die  Berücksichtigung  der 
Wortbildungslehre  und  die  Zusammenstellung  von  Wortfamilien,  wie  sie  der 
Verfasser  bietet.  Aber  das  Wort  allein  genügt  oft  nicht,  um  seinen  Sinn 
und  seine  Bedeutung  zu  klarer  Anschauung  zu  bringen.  Dazu  bedarf  es  geeig- 
neter Beispiele.  Das  hat  der  Verfasser  richtig  erkannt,  und  er  hat  durch  zweck- 
mäßig ausgewählte,  kurze  und  schlichte,  vielfach  der  Umgangssprache  ent- 
lehnte Sätze  die  begrifflich  klare  Erfassung  des  Wortsinnes  gesichert. 
Manche  Beispiele  freilich,  die  auf  den  Weltkrieg  Bezug  nehmen,  sind  durch 
die  Ereignisse  überholt.  Das  Heft  ist  neben  jedem  französischen  Lehrbuche 
zu  verwenden  und  verdient,  aufs  angelegentlichste  empfohlen  zu  werden. 
Elmshorn.  Gustav   Humpf. 

Einführung  in  die  Psychiatrie  für  weitere  Kreise  von  Dr.  Heinrich  Schiöss, 
Regierungsrat,  Direktor  a.  D.  der  n.-ö.  Landesanstalten  „am  Steinhof' 
in  Wien.  Zweite,  umgearbeitete  und  vermehrte  Auflage.  Gr.  8*^.  (VHI 
u.  186  S.).  Freiburg  i.  Br.  1919.  Herdersche  Verlagshandlung.  6,50  M.; 
geb.  8,50  M.  und  Zuschläge. 


56  Einführung  in  die  Psychiatrie, 

Man  wird  mit  der  Forderung  keinen  Widersprucii  zu  befürchten  haben, 
daß  demjenigen,  dessen  berufliche  Aufgabe  die  Pflege  des  Geistes  ist, 
auch  die  Geistesstörungen  und  ihre  Ursachen  nicht  unbekannt 
sein  dürfen,  wenn  anders  er  sich  seiner  schweren  Verantwortlichkeit  bewußt 
ist  und  arge  Mißgriffe  vermeiden  will.  Natürlich  bedarf  er  hierbei  des  fach- 
kundigen ärztlichen  Beraters,  und  als  solchen  bietet  sich  der  Verfasser  des 
vorliegenden  Buches  der  Lehrerwelt  ausdrücklich  an,  indem  er  es  als  eine 
„Propädeutik  für  Theologen  und  Pädagogen"  geschrieben  zu  haben  erklärt. 
Damit  rechtfertigt  sich  auch  seine  Anzeige  an  dieser  Stelle  und  durch  einen 
Laien;  denn  wenn  er  sich  selbstverständlich  eines  Urteils  über  die  wissen- 
schaftlichen Grundlagen  und  etwaige  Streitfragen,  die  übrigens  kaum  an- 
gedeutet werden,  zu  enthalten  hat,  so  wird  doch  Jer  Lehrer  den  Fachgenosse i 
am  besten  zu  sagen  wissen,  ob  und  inwiefern  dps  Büchlein  ihnen  Nutzen 
ViT  pricht.  Längst  hat  ja  die  Pädagogik,  die  doch  in  erster  Linif  zur  wahren 
Seelenkunde  erziehen  soll,  auch  die  kranke  Seele  'm  ihren  Bereich  gezogen, 
und  diese  Aufgabe  ist  imZeitalter  der  ,, Psychoanalyse"  und  der  „psychiatrischen 
Studien",  in  denen  Roman  und  Theater  schwelgen,  naturgemäß  noch  dring- 
licher geworden.  Da  aber  Geisteskrankheiten,  wie  wir  immer  deutlicher 
erkennen,  überwiegend  nicht  im  reiferen  Alter  erworben  werden,  (obwohl 
sie  in  ihm  meist  erst  zum  Aisbruch  kommen),  sondern  in  der  jugendlichen 
Stufe  bereits  im  Keime  schlummern,  so  ergibt  sich  für  den  Erzieher  die  Not- 
wendigkeit, mit  immer  größerer  Sorgfalt  die  Seele  des  Zöglings  zu  beobachten 
und  seine  eigenen  Kenntnisse  von  den  physischen  Bedingtheiten  der  psychischen 
Äußerungen  zu  verliefen.  Wieviel  Irrtümer  in  der  Beurteilung  und  Behand- 
lung jugendlicher  Mängel,  Unarten  und  Verfehlungen  tagtäglich,  auch 
von  sonst  tüchtigen  Lehrern  und  Lehrerinnen,  begangen  werden,  weiß  jeder 
sich  ernst  prüfende  Pädagoge  selbst  am  besten;  er  wird  sie  vermeiden  lernen, 
wenn  er  durch  einen  so  sachkundigen  und  zugleich  menschenfreundlichen 
Fachmann,  wie  der  Wiener  Irrenarzt  es  ist,  aus  dem  reichen  Schatze  seiner 
Erfahrungen  über  die  Zusammenhänge  von  geistigen  Erscheinungen  und 
körp(rlichen  Ursachen  belehrt  wird.  Übrigens  sei  ausdrücklich  bemerkt, 
daß  der  Verfasser  überall  da,  wo  er  auf  Schulverhältnisse  und  Schülerbe- 
handlung zu  sprechen  kommt,  —  wie  in  den  Fragen  der  Überbürdung  und 
der  Schülerselbstmorde  —  entgegen  übler  Gepflogenheit  weiter  Kreise  dem 
Lehrerstande  verständnisvoll  gerecht  wird,  wenn  er  auch  gelegentliche  Miß- 
griffe „ungeeigneter  Lehrpersönlichkeiten"   nicht  in  Abrede  stellt. 

Der  Raum  gestattet  nicht,  den  Inhalt  des  Buches  Kapitel  für  Kapitel 
vorzuführen.  Selbstverständlich  werden  die  Ursachenlehre  (Ätiologie) 
und  die  Merkmalslehre  (Symptomatologie)  wissenschaftlich  behandelt,  aber 
doch  so,  daß  über  das  Fassungsvermögen  des  Gebildeten,  zumal  des  psycho- 
logisch geschulten,  nicht  hinausgegangen  wird.  Den  reichsten  Gewinn  aber 
für  die  Praxis  dürfte  den  Erzieh^^rn,  zu  denen  ich,  über  die  Beschränkung 
des  Verfassers  auf  Geistliche  und  Lehrer  hinausgehend,  besonders  auch  die 
Eltern  gerechnet  haben  möchte,  das  Kapitel  ,,über  nervöse  Störungen  und 
Geisteskrankheiten    der  Kinder  und  im  Pubertätsalter"  bieten;  denn  hier 


angez.  von  Julius  Koch.  57 

befinden  wir  un"">  auf  ilirer  eigentlichen  Domäne.  Welche  Unsumme  von 
Mißstimmung  und  Fehlgriffen,  von  Ärger  auf  der  einen,  Kränkung  und  Schä- 
digung auf  der  andern  Seite  könnte  vermieden  werden,  wenn  die  Lehrer 
auf  Grund  wissenschaftlicher  Erkenntnis  sich  dessen  immer  bewußt  wären, 
wie  oft  hinter  der  gerügten  Teilnahmlosigkeit  und  „Faulheit"  (!),  hinter 
Unruhe  und  Zerstreutheit,  hinter  Trotz,  Unfug  und  sittlichen  Verfehlungen 
körperliche  Ursachen  verborgen  sind,  Ursachen,  die  in  physischen  Störungen, 
überstandenen  Infektionskrankheiten  und  nicht  zuletzt  in  ererbten  Anlagen 
zu  suchen  sind.  Erfordert  das  Pubertätsalter,  wie  wir  ja  längst  wissen,  aber 
immer  noch  zu  wenig  berücksichtigen,  eine  ganz  besondere,  wenn  auch  dem 
Zögling  nicht  stets  zu  zeigende  Rücksichtnahme,  da  es  den  Nährboden 
für  psychische  Erkrankungen  von  den  leichteren  Stufen  bis  zur  Hysterie, 
Hypochondrie  und  der  furchtbaren  dementia  praecox  bildet,  so  lauert  im  allge- 
meinen hinter  den  ernsteren  Störungen,  die  wir  beobachten,  oft  das  soviel  Segen 
wie  Fluch  in  sich  bergende  Menschengeschick  der  Vererbung.  Welche  Rolle 
hier  der  Alkoholismus  und  die  entsetzlichste  Geißel  unserer  Zeit,  die  Syphilis, 
spielt,  scheint  heut  allgemein  bekannt  zu  sein;  aber  dem  Erzieher  geziemt 
es,  sich  aufs  eingehendste  mit  diesen  Fragen  zu  beschäftigen,  damit  er  die 
unschuldigen  Opfer  elterlicher  und  vorelterlicher  Krankheiten  als  solche 
erkennt  und  nicht  durch  falsche  Behandlung  noch  weiter  schädigt.  Ausge- 
zeichnet ist  das  Kapitel  ,,über  die  Trunksucht  und  ihre  Folgen",  und  nicht 
minder  wertvoll,  wenn  auch  nicht  zu  einem  Ganzen  zusammengefaßt,  sind 
die  eingestreuten  Hinweise  auf  das  geschlechtliche  Leben,  die  für  die  „Sexual- 
pädagogik'^)" t  effliche  Beiträge  bieten. 

Überaus  wohltuend  berührt  der  warme  Ton  reiner  Menschenliebe,  der 
durch  das  ganze  Buch  klingt  und  das  Lesen  nicht  nur  als  Studium  empfinden 
läßt,  sondern  zum  Erlebnis  macht.  Und  dieser  Eindruck  würde  sich  vertiefen, 
wenn  der  Verfasser  sich  entschließen  könnte,  die  theoretischen  Krankheits- 
schilderungen noch  viel  öfter  durch  Krankheitsberichte  zu  beleben,  wie  es 
z.  B.  S.  41  so  mustergültig  geschieht.  Ich  denke  dabei  besonders  an  Kapitel  IV, 
wo  die  fast  erdrückende  Fülle  von  Ausdrücken  wie  Halluzination,  Illusion, 
Reflexillusion,  Re-  und  Apperzeptionsillusion,  Perzeptionsphantasmen,  Re- 
produktion"^- und  Fixationsamnesie  usw.  durch  kurze  „Fälle"  aus  dem  Tage- 
buch des  Arztes  dem  Leser  schmackhaft  gemacht  werden  könnte.  Sollte 
nur  Raummangel  der  Erfüllung  dieses  Wunsches  entgegenstehen,  so  emp- 
fehle ich  die  Zusammenziehung  der  Kapitel  V  und  VI,  da  ja  die  rein  wissen- 
schaftliche „Einteilung  der  psychischen  Krankheitsformen"  in  dei  folgenden 
Darstellung  derselben  implicite  enthalten  und  für  den  Zweck  dieses  Buches 
nicht  erforderlich  ist.  Aber  exempla  docent:  diese  alte  Wahrheit  bitte  ich, 
gewiß  im  Sinne  aller  lernbegierigen  Erzieher,  für  die  nächste  Auflage  zu  be- 
rücksichtigen, die  ich  dem  trefflichen  Buche  für  sehr  nahe  Zeit  voraussage. 

Schlachtensee.  Julius    Koch. 


^)  Auf  die  Bedeutung  dieser  jungen  Wissenschaft,  die  noch  zu  wenig  praktische  Er- 
folge zeitigt,  habe  ich  in  zwei  Aufsätzen  im  „Deutschen  Philologenblatt"  Jahrg.  1918 
Nr.  25/26  und  1919  Nr.  44  eingehender  hingewiesen. 


58  Hacks,  Stadtschulrat,  Breslau,  angez.  von  Wilmsen. 

HacRs,  Stadtschulrat,  Breslau.  Die  Aufgaben  der  Realanstalten  nach 
dem  Kriege.  (70  S.)  Das  neue  Deutschland,  Heft  7.  Berlin  u.  Leipzig. 
Vereinigung  wissenschaftlicher  Verleger.  3,80  M. 
Der  Titel  ist  trotz  der  Einwände  des  Verf.  irreführend;  es  handelt  sich 
bei  drei  Vierteln  der  Schrift  um  die  höheren  Schulen.  H.  stellt  zunächst  vier 
Aufgaben  heraus:  volkswirtschaftliche,  soziale,  kulturelle,  natio- 
nale. Die  erste  wird  ja  von  vielen  Seiten  betont,  aber  ist  wohl  nur  stellen- 
weise ernsthaft  in  Angriff  genommen.  H.  kennt  die  Schwierigkeit,  daß  näm- 
lich „nicht  einmal  die  Professoren  der  Nationalökonomie  sich  über  die  wich- 
tigsten Fragen  einig  sind".  Dennoch  findet  diese  unser  Verf.,  indem  er  einige 
ansprechende  Proben  gibt,  ,, einfach  und  durchsichtig".  Hoffentlich  lassen 
sich  die  Professoren  belehren.  Auf  H.'s  Buch:  Grundbegriffe  der  Volks- 
wirtschaftslehre, Breslau  Priebatsch  sei  hingewiesen.  Geschichte  und  fremde 
Sprachen  sollen  je  eine  Stunde  abgeben.  Außer  dem  nächsten  Zweck  erfüllt 
dieser  Unterricht  noch  den  der  Erziehung  zur  Objektivität,  da  die  Ergebnisse 
oft  dem  eigenen  Vorteil  widersprechen,  und  zum  sozialen  Empfinden,  Diese 
zweite  Aufgabe  hat  als  Hauptschwierigkeit  das  Vorurteil  der  guten  Familie 
zu  überwinden.  H.  hat  wohl  Recht,  wenn  er  hofft,  daß  volkswirtschaftlicher 
Unterricht  dem  entgegenwirkt.  Unter  Kultur  versteht  H.  alles,  was  uns  über 
den  Alltag  erhebt.  Man  vermißt  in  seiner  Aufzählung  des  Wichtigsten  Pflege 
des  Gemeinschaftslebens.  Künstlerische  Anlagen  sollen  mehr  Beachtung 
finden,  mangelhafte  Leistungen  auf  anderen  Gebieten  ausgleichen  (jahre- 
lang?). Der  Philosophie,  bei  der  er  die  Erziehung  zur  Vorurteilslosigkeit 
rühmt,  will  er  eine  Stunde  in  Prima  zuweisen.  Häufige  wenn  auch  unsyste- 
matische Behandlung  ethischer  Fragen!  In  der  Religion  praktisches 
Christentum,  Duldsamkeit;  leider  bemühe  sich  mancher  Lehrer  geradezu, 
die  Lehren  anderer  Konfessionen  als  sinnlos  darzustellen.  Unter  den  natio- 
nalen Aufgaben  hält  er  die  der  Erziehung  zur  nationalen  Gesinnung  nicht 
für  dringend,  da  Mangel  daran  im  Kriege  nicht  hervorgetreten  sei.  Woher 
dann  die  vielen  Fälle  nationaler  Würdelosigkeit?  Auch  Mangel  an  Geschichts- 
kenntnissen hätte  sich  nicht  gezeigt.  Woher  dann  der  Hereinfall  auf  Wilson 
und  all  das  Geschwätz  der  Feinde  von  Demokratie?  Da  hätte  Kenntnis  der 
Wahlrechtsverhältnisse  anderer  Länder  und  der  Befugnisse  ihrer  Staatsober- 
häupter, Kenntnis  des  Völkerbundvorschlages  Englands  vom  Jahre  1811 
Gutes  gewirkt;  dazu  hatte  der  Geschichtsunterricht  bisher  nicht  Zeit.  Mehr 
hat  sich  nach  H.  Mangel  an  Kenntnis  in  Mathematik,  Physik,  Chemie  gezeigt. 
Welche  Anzeichen  hat  H.  im  Auge  ?  —  Dann  beschäftigt  sich  H.  mit  dem  Nach- 
weis, daß  die  Realanstalten  den  Gymnasien  gleichwertig  und  ins- 
besondere eine  durchaus  geeignete  Vorbereitungsstätte  für  das  Studium 
der  Geisteswissenschaften  seien.  Er  stellt  fest,  daß  entgegen  seiner  eigenen 
früheren  Meinung  selbst  in  der  Prüfung  für  neuere  Sprachen  die  Realabiturienten 
besser  abschneiden,  und  vermutet  mit  allem  Vorbehalt,  daß  die  Lehrpläne 
dabei  eine  Rolle  spielen.  Ich  fürchte,  daß  die  Statistik  diese  Fragen  in  ab- 
sehbarer Zeit  nicht  entscheiden  wird.  Nach  meinen  Beobachtungen  dürfte 
sich  ein  schlechteres  Abschneiden  der  Gymnasiasten  daraus  erklären,  daß  sie 


Mehr  Freude,  angez.  von  H.  Schröer.  59 

mehr  das  Bedürfnis  nach  allseitiger  Umschau  auf  dem  Gebiet  der  Geistes- 
wissenschaft haben  und  daher  weniger  auf  die  Bedürfnisse  der  Prüfung  hin 
studieren.  Zu  meiner  Zeit  drückten  sich  die  Neuphilologen  vom  Realgymnasium 
aus  einer  bestimmten  Universität,  weil  man  dort  Griechisch  brauche.  Wie  will 
die  Statistik  all  solche  Verhältnisse  erfassen!  Eine  Rundfrage  bei  den  Neu- 
philologen könnte  einiges  klären  —  Um  allen  Begabungen  gerecht  zu  werden, 
fordert  er  das  mathematisch-naturwissenschaftliche  Gymnasium 
mit  einer  Fremdsprache,  ,,da  ein  für  Sprachen  wenig  beanlagter  Schüler 
gegenwärtig  auf  keiner  höheren  Lehranstalt  große  Aussicht  hat,  weiter- 
zukommen." Bin  anderer  Ausweg  scheint  naheliegender  als  das  Ausschalten 
einer  Sprache,  was  auch  die  Techniker  schädigen  und  den  Horizont  aller 
Schüler  sehr  einengen  würde:  man  verlange  in  der  zweiten  Fremdsprache 
nur  eine  „Lesekenntnis".  Der  heutige  Betrieb,  der  an  den  Realanstalten 
beide  Sprachen  nur  gradweise  verschieden  behandelt,  ist  mir  seit  jeher  un- 
begreiflich. Bei  Teilung  der  Oberstufe  könnte  man  für  die  mathematische 
Abteilung  auch  für  die  erste  Fremdsprache  auf  eine  Lesekenntnis  herab- 
gehen. Dann  ließe  sich  diese  Abteilung  im  Sinne  des  technischen  Gymnasiums 
gestalten  —  Verf.  eifert  dann  gegen  regellose  Berufswahl  und  empfiehlt  die 
schon  vielfach  wirksamen  Maßnahmen  (Beratungsstelle, Werkstätten).  U.a. 
meint  er,  daß  sich  juristisches  Verständnis  an  Unterricht  in  Gesetzeskunde 
und  Volkswirtschaftslehren,  pädagogische  Begabunge  an  eigenen  Unterrichts- 
versuchen (geschieht  schon  in  Privatstunden  und  Vereinstätigkeit  Rez.), 
medizinische  Begabung  an  verstärktem  Unterricht  über  den  menschlichen 
Körper  entzünden  und  ihrer  selbst  bewußt  werden  können.  —  Es  folgen  dann 
noch  über  die  einzelnen  Fächer  Bemerkungen,  deren  meiste  dem  Fachver- 
treter gegenstandslos  erscheinen  dürften,  da  Verf.  wohl  richtig  fühlt,  daß 
bei  jedem  Fach  ein  Mangel  festzustellen  ist,  aber  auf  die  falsche  Stelle  den 
Finger  legt. 

Im  ganzen  ein  anregendes  Buchj,  das  ältere  Forderungen  oft  in  neue  Be- 
leuchtung rückt. 

Spandau.  Wilmsen. 

Mehr  Freude.  Von  Dr.  Paul  Wilhelm  von  Keppler,  Bischof  von  Rctten- 
bu'-g.    Volksausgabe.    100.  bis  125.  Tausend.    Freiburg  i.  Br.    Herdersche 
Veilagshandlung.    12°.   XX  u.  160  S.    Kart.  1,75  M,  in  Pappband  2,20  M. 
Die    100  000.  Ausgabe!    Wenn  sonst  ein  Buch  diese  hohe  Ziffer  er- 
reicht, pflegt  es  als  Prachtausgabe  herausgegeben  zu  werden.   Beim  Freuden- 
büchlein war  das  nicht  der  Fall,  im  Gegenteil,  das  Format  wurde  kleiner, 
die  Ausstattung  nicht  prunkvoller,  sondern  einfacher  gestaltet,  der  Preis 
nicht  erhöht,  sondern  herabgesetzt;  kurz,  das  hundertste  Tausend  wurde 
keine  Prachtausgabe,  sondern  eine  schlichte  Volksausgabe  wohlfeilster  Art. 
So  darf  unser  Büchelchen  hoffen,  in  allen  Kreisen  neue  Freunde  zu  gewinnen. 
Hat  doch  jeder  Mensch  wie  ein  Bedürfnis  nach  Freude,  so  auch  ein  Anrecht 
auf  Freude,  die  unentbehrlich  für  unsere  körperliche  wie  seelische  Gesund- 
heit ist.     Daß  die  Freude  für  uns  Menschen  sei,  was  der  Sonnenschein  für 
die  Pflanze,  ist  mehr  als   bloße  Redensart. 


60  Heinrich  Meyer-Benfey,  Sophokles'  Antigene,  angez.  von  Ch.  Caemmerer. 

Rettet  das  Volkslied!  Ob  es  überhaupt  noch  lebt?  Gewiß,  das 
Volk  singt  auch  heute  noch,  mag  es  immerhin  nicht  mehr  sein,  was  es  ehedem 
gewesen.  Macht  es  nicht  den  Eindruck,  als  wenn  der  rechte  Ernst  wie  der 
rechte  Scherz  fehlte?  „Wo  ist  das  deutsche  Lachen  hingekommen?"  fragt 
Ernst  V.  Wildenbruch.  „Deutschland  war  einstmals  ein  fröhliches  Land. 
Es  konnte  lachen,  herzhaft  wie  irgendein  Volk,  ja  mächtiger  als  alle."  Gibt 
es  denn  noch  ein  Naturvolk?  Wir  antworten  kurzerhand :  Nein !  und  folgern : 
Darum  auch  kein  Volkslied  mehr!  Im  Interesse  der  Raumersparnis  fügen 
wir  zum  Schluß  nur  noch  die  eine  oder  andere  kurze  Bemerkung  hinzu. 

Freude  und  Erziehung.  Daß  das  Kind  von  Natur  einen  feinen  Sinn 
für  kleine  Gaben  besitzt,  wird  niemand  bezweifeln.  Man  kann  ihm  wirklich, 
wofern  man  es  nur  versteht,  aus  nichts  Freude  bereiten.  Ja,  laut  vor  Ver- 
gnügen jauchzt  das  Kind,  wenn  es  der  Mutter  gelingt,  aus  den  wertlosesten 
Stoffen  Freudenrosen  hervorzuzaubern.  ,,Auch  die  ernstere  Natur,  der  strenger 
Charakter  und  die  straffere  Art  von  Autorität,  welche  dem  Vater  und  dem 
Lehrer  eignet,  ermangelt  nicht  der  Mittel,  Freuden  ins  Kindesleben  hinein- 
zuleiten. Recht  bezeichnend  nennt  Schiller  der  Mutter  Schoß  die  heilige 
Insel,  wo  der  trübe  Gram  und  die  Sorge  das  Kind  nicht  finden  können." 
Gelingt  es  dem  Lehrer,  seinem  Schüler  Freude  am  Unterricht  einzuflößen, 
so  hat  er  ja  bald  sein  Spiel  gewonnen. 

Der  Verfasser  entwickelt  in  dem  vorliegenden  Buche  offenbar  recht 
gesunde  Gedanken.  Es  freut  uns,  daß  wir  imstande  waren,  in  den  reichen 
Inhalt  der  vorliegenden  Schrift  kurz  einzuführen.  Das  möge  genügen!  Auf 
die  Fülle  von  Belehrungen  im  einzelnen  näher  einzugehen,  betrachten  wir 
nicht  als  unsere  Aufgabe. 

Posen.  t  H.  Schröer. 

Heinrich  Meyer-Benfey.  Sophokles'  Antigone.  Halle  (Saale)  1920.  Max 
Niemeyer.  Geh.  18  M. 
Die  Untersuchung  Meyer- Benfeys  ist  von  hervorragender  Bedeutung,  —  so- 
wohl inhaltlich  als  methodisch  —  für  alle,  die  berufsmäßig  mit  der  Einfühlung 
in  Dichterwerke  zu  tun  haben.  Der  Verfasser,  der  bekannte  Kleist  forscher, 
hat  ein  zwiefaches  Ziel  im  Auge:  er  will  einmal  Einblick  gewähren  in  die 
Gestaltungsweise  des  Dichters  und  dadurch  das  herkömmliche  und  abge- 
blaßte Bild  seiner  Persönlichkeit  wieder  lebendig  machen,  und  er  will  ferner 
von  hier  aus  die  Dichtung  verstanden  wissen  und  die  vielen  zwiespältigen 
Urteile  klären,  die  dies  Werk  von  altersher  erfahren  hat.  Und  diese  Aufgabe 
ist  ihm  restlos  gelungen.  Sein  Weg  des  Fragens  und  gründlichen  Eindringens 
in  den  ganzen  Stoff  erinnert  an  Lessings  analytisch-synthetische  Kritik  und 
gibt  durch  Frische  und  Lebendigkeit  dem  Leser  das  angenehme  Gefühl  des 
Selbstfindens  und  Mitarbeitens.  Wir  gewinnen  durch  diese  eindringliche 
Vertiefung  ein  Urteil  über  des  Dichters  seelische  Einstellung  und  seine  Arbeits- 
weise; wir  erhalten  durch  die  Beantwortung  der  Hauptfragen  „Ist  Antigone 
schuldig"  und  „Wer  ist  der  Held?"  —  die  Dichtung  ist  ein  ,,Kreon-Drama", 
die  Momente,  die  auf  eine  Schuld  Antigones  hindeuten,  sind  nur  unwesentliche 


Weltkrieg,  Revolution,  Verfassung,  angez.  von  Emil  Lagenpusch.  61 

Einzelheiten,  der  zwiespältige  Charakter  der  Dichtung  ist  aus  der  Besonder- 
heit des  Gegenstands  zu  erklären  —  ein  festumrissenes  Bild  von  allen  Personen 
und  von  den  Funktionen  des  Chors;  wir  erhalten  überdies  einen  Ausblick  auf 
den  ganzen  Sagenumkreis  und  den  Kulturzustand  des  damaligen  Griechen- 
lands. Daß  alles  in  einem  schönen,  klarflüssigen  Deutsch  geschrieben  ist, 
braucht  nicht  weiter  hervorgehoben  zu  werden,  wenn  man  die  übrigen  Werke 
des  Verfassers  kennt. 

Flottbeck  bei  Hamburg.  Charlotte   Caemmerer. 

Weltkrieg,  Revolution,  Verfassung.  Kurz  dargestellt  von  Dr.  Hermann  Jaenicke, 
Geheimer  Studienrat.  Berlin  1919.  Weidmannsche  Buchhandlung.  S^. 
(60  S.).     1,80  M. 

Unter  dem  Titel  „Weltkrieg.  Revolution.  Verfassung"  hat 
Hermann  Jaenicke  eine  vier  Bogen  (60  S.)  starke  Broschüre  erscheinen  lassen, 
die  sicherUch  allen  Gebildeten  sehr  willkommen  sein  wird. 

Es  ist  nicht  jedermanns  Sache,  sich  aus  der  ,, Fülle  der  Gesichte",  die 
seit  fünf  Jahren  auf  uns  einstürmen,  ein  klares  Bild  zu  machen:  die  kriege- 
rischen, sozialpolitischen  und  volkswirtschaftlichen  Ereignisse  dieser  Zeit 
haben  vielfach  überwältigend  und  verwirrend  auf  die  Geister  gewirkt:  und 
der  ganz  unerwartet  eingetretene  Umschwung  von  höchstem  Glanz  zu  tiefstem 
Elend  hat  viele  ganz  kopfscheu  gemacht.  Die  meisten  finden  sich  nicht  mehr 
zurecht,  fragen  vergeblich  nach  dem  Wie  und  Warum  und  stehen  schließlich 
teilnahmslos  und  resigniert  den  historischen  Tatsachen  gegenüber.  Der  Deut- 
sche ist  nun  einmal  von  Natur  kein  Politiker  und  den  augenblicklichen,  recht 
komplizierten  Verhältnissen  gegenüber  völlig  ratlos. 

Daher  kommt  das  kleine,  höchst  gediegene  Werk,  das  der  Verfasser  auf 
den  Rat  seiner  Freunde  herausgegeben,  jenen  ,, zagen  Politikern"  wie  gerufen: 
denn  es  überhebt  sie  der  Mühe,  die  jetzt  erscheinenden  umfangreichen  Denk- 
schriften und  Einzeldarstellungen  anzuschaffen  und  durchzuarbeiten.  Die 
kurzgefaßte,  objektiv  gehaltene  Darstellung  all  der  weltbewegenden  Ereig- 
nisse seit  dem  1.  August  1914  läßt  alles  Wissenswerte  und  Wissensnotwendige 
beisammenfinden  —  und  der  Leser  kann  si(ih  leicht  ein  eigenes  Urteil  bilden. 

Das  Büchlein  besteht  aus  drei  Abschnitten:  I.  Der  Weltkrieg  1914 
bis  1919.  (40  S.);  II.  Deutschlands  Revolution  und  Zusammenbruch  (9  S.) 
und  III.  Die  deutsche  Nationalversammlung  (10  S.).  In  dem  II.  Anschnitt 
finden  wir  besprochen:  die  Ursachen  des  Zusammenbruches:  den 
Sieg  der  Sozialdemokratie,  den  Abfall  der  Bundesgenossen;  den  Ausbruch 
der  Revolution  1918:  Waffenstillstandsverhandlungen,  Abdankung  des 
Kaisers  9.  November  1918;  die  Zeit  des  Waffenstillstandes  :  Auflösung 
des  Heeres,  Waffenstillstandsbedingungen,  Parteiwesen,  Arbeitsscheu,  Spar- 
takisten-Unruhen, Beunruhigung  durch  Franzosen  und  Polen,  beabsichtigte 
Staatenbildungen.  Der  letzte  Teil  gliedert  sich  in  den  Frieden  von  Versailles 
28.  Juni  1919,  Deutschlands  Vernichtung,  die  nächsten  Folgen  des  Welt- 
krieges und  die  Reichsverfassung  vom  14.  August  1919  —  von  der  die 
wichtigsten  Punkte  eingehend  besprochen  werden. 


62  Konrad  Hentrich, 

Ist  man  bei  Jaenicke  von  jeher  an  einen  vornehmen  Stil  und  eine  licht- 
volle Darstellung  gewöhnt,  so  fällt  bei  dieser  Gelegenheit  noch  ganz  besonders 
der  streng  objektive  Standkpunt  des  Verfassers  auf,  der  die  welterschütternde 
Katastrophe  unseres  lieben  Vaterlandes  mit  stoischer  Ruhe  und  würdevollem 
Ernst  von  philosophischer  Warte  aus  betrachtet  und  berichtet  —  fern  von 
jedem  Parteistandpunkt,  eingedenk  des  Rankeschen  Wortes:  der  Historiker 
habe  zu  berichten,  ,,wie  es  eigentlich  gewesen  ist".  — 

Königsberg,  i  Pr.  Emil   Lagenpusch. 

Konrad  Hentrieh.  Dienstanweisung  auf  kollegialer  Grundlage  für 
die  Lehrer  an  den  höheren  Lehranstalten  für  die  männliche  Jugend  in 
Preußen.  Ein  Entwurf.  Köln  1919.  Verlag  von  Friedrich  Kratz  &Cie. 
Preis  0,90  M.  ohne  Teuerungszuschlag. 
Paul  Claus.  Das  Schuldirektorat.  Grundlegung  einer  kollegialen  Schul- 
verfassung. Magdeburg  1919.  Carl  E.  Klotz  Verlag.  Preis  1,75  M.  ohne 
Teuerungszuschlag . 
Beide  Schriften,  die  besonders  in  der  Rheinprovinz  viel  Beachtung  ge- 
funden haben,  erschienen  vor  einem  Jahre  i),  also  zu  einer  Zeit,  da  die  Erörte- 
rungen über  eine  freiere  Gestaltung  der  Verfassung  unserer  höheren  Schulen 
sich  nach  der  Staatsumwälzung,  aber  nicht  erst  durch  diese  hervorgerufen, 
besonders  lebhaft  dem  Verhältnis  zwischen  Direktor  und  Lehrerkollegium 
als  der  die  meisten  Standesgenossen  am  unmittelbarsten  berührenden  Teil- 
frage zuwandten.  Damals  hatte  die  Arbeit  von  Hentrich  das  unbestreit- 
bare Verdienst,  daß  sie,  in  Anlehnung  an  das  Muster  der  bisherigen  Dienst- 
anweisung bis  in  alle  Einzelheiten  folgerichtig  durchgeführt,  die  praktischen 
Folgerungen  aus  der  Theorie  der  kollegialen  Schulleitung  klar  vor  Augen 
stellte.  Noch  heute  wird  man  mit  Nutzen  für  praktische  Versuche  auf  diesem 
Gebiete  Hentrichs  Aufbau  zugrunde  legen,  nicht  als  ob  er  schlechthin  Vor- 
bildliches böte.  Den  Anspruch  erhebt  der  Verfasser  für  diesen  ersten  Ver- 
such ebensowenig  wie  der  Kölner  Philologen  verein  2),  auf  dessen  von  einem 
besonderen  Ausschuß  entworfenen  Leitsätzen  die  Arbeit  fußt.  In  manchen 
Punkten  haben  sich  inzwischen  die  Meinungen  schon  bis  zu  einer  communis 
opinio  geklärt,  in  andern  werden  die  Parteien  wohl  stets  verschiedener  Auf- 
fassung bleiben.  Auf  Einzelheiten  einzugehen,  kann  ich  mir  daher  um  so 
mehr  versagen,  als  dies  schon  von  anderer  Seite  geschehen  ist.  Ich  verweise 
hierfür  besonders  auf  die  eingehende,  unvoreingenommen  abwägende 
Besprechung  von  Provinzialschulrat  M.  Blümel  in  der  1919  von  ihm  bei 
Trewendt  und  Granier  in  Breslau  herausgegebenen  Sammelschrift  „Prak- 
tische Vorschläge  zur  Verbesserung  der  höheren  Schule"  S.  16ff. 

Anders  geht  Claus  in  seiner  aus  einem  Vortrage  im  Düsseldorfer  Philo- 
logenverein erwachsenen  Schrift  vor.  Mit  der  Methode  der  KTitischen  Philo- 
sophie Natorp-,  Stammlerscher  Prägung  sucht  er  die  tiefere  Begründung 

^)  Diese  Zeilen  wurden  im  Mai  1920  niedergeschrieben. 

*)  Wie  dieser  in  seiner  Mehrheit  die  von  ihm  angenommenen  Leitsätze  aufgefaßt  zu 
sehen  wünschte,  darüber  bitte  ich  meinen  Bericht  im  Dtsch.  Philologenblatt  1919  Nr.  29 
zu  vergleichen. 


Dienstanweisung  auf  kollegialer  Grundlage,  angez.  von  Carl  Th.  Sondag.  63 

für  die  Gesetze  der  Schularbeit,  indem  er  die  Idee  der  vollendeten'Arbeits- 
gemeinschaft  als  unendliche  Aufgabe  faßt.  Gemeinschaft  ist  ihm  Einheit 
des  Mannigfaltigen,  Persönlichkeit  und  Gemeinschaft  bedingen  sich  gegen- 
seitig, beide  verbindet  die  Idee  der  Verantwortung.  Diesen  Zustand  gemein- 
samer Zielstrebigkeit  sicherzustellen,  ist  nicht  mit  der  noch  geltenden  Dienst- 
anweisung Aufgabe  eines  einzelnen,  sondern  aller  Glieder  der  Gemeinschaft. 
Die  Idee  der  Freiheit  als  Vorbedingung  wie  aller  Sittlichkeit  so  auch  wahrer 
Gemeinschaftarbeit  führt  auf  diesen  Standpunkt  der  Autonomie.  Der  Direktor 
soll  seine  Autorität  nicht  ,,als  Vorposten  des  Staates",  dem  Claus  übrigens 
sein  Aufsichtsrecht  nicht  bestreitet,  von  jenem,  sondern  als  Verkörperer 
des  Willens  der  Schulgemeinschaft  von  dieser  ableiten.  Die  Idee  der  Per- 
sönlichkeit läßt  Claus  freilich  weiterhin  ganz  außer  Acht.  Von  der  auf  die 
dargelegte  Weise  gewonnenen  Warte  aus  betrachtet  er  die  drei  Arbeitsgebiete 
der  Schule,  Unterricht,  Erziehung  und  Verwaltung.  In  den  beiden  ersten 
Beziehungen  schaltet  er  den  Direktor  fast  völlig  aus,  in  der  optimistischen 
Auffassung,  die  Gemeinschaftsarbeit  schließe  Beaufsichtigung  und  Befruchtung 
schon  ein.  Einen  Teil  der  bisherigen  Aufgaben  des  Diiektors  überträgt  er 
an  den  Klassenleiter,  der  nun  selbst  so  etwas  wie  ein  Direktor  im  Kleinen 
wird,  den  andern  der  Gesamtlehrerschaft.  So  erscheint  es  nicht  folgerichtig, 
wenn  der  Direktor  dennoch  die  letzte  Beschwerdestelle  innerhalb  der  Schul- 
gemeinde sein  soll.  Die  Erziehungsarbeit,  die  die  Schule  über  die  Klassen- 
gemeinschaft hinaus  als  höhere  Einheit  2u  leisten  hat,  will  Claus  im  übrigen 
durch  Einrichtungen  sicherstellen,  deren  Organe  das  Lehrerkollegium  und 
die  Schülervertretung  sind.  Hier  wie  bei  der  Unterrichtsarbeit  fehlt  die 
Vertretung  der  Elternschaft.  Der  Direktor  darf  nur  bei  schweren  Unstimmig- 
keiten zwischen  Lehrern,  Schülern  und  Eltern  ,, ausgleichen",  außerdem 
ist  er  „Einberufer  und  Leiter  aller  Gesamtkonferenzen".  Selbst  in  der  Ver- 
waltung soll  das  Lehrerkollegium  alle  Entscheidung  und  Verantwortung 
haben,  der  Direktor  erscheint  nur  als  eine  Durchgangsstelle,  als  Vertretung 
der  Schule  nach  außen,  um  nicht  zu  sagen,  im  Äußerlichen.  Daß  er  auch 
in  dem  neuen  Rahmen  seine  Persönlichkeit  ganz  zur  Entfaltung  bringen 
könne,  kann  Claus  selbst  nicht  ernsthaft  glauben.  Die  ihm  zugedachte  Auf- 
gabe würde  ebensogut,  vielleicht  besser,  von  einem  Nichtschulmann,  etwa 
einem  Juristen,  geleistet  werden. 

Die  Darlegungen  von  Claus  leiden  meines  Erachtens  an  einem  Grund- 
fehler. Wenn  er  auch  gelegentlich  zwischen  der  Schule  und  einer  Schule 
scheidet,  so  ist  bei  ihm  doch  die  Einzelanstalt  die  Einheit,  die  sich  ihre  eigenen 
Gesetze  gibt.  Übe^  ihr  gibt  es  aber  höhere  Einheiten,  die  Schulgattung, 
die  Schule  innerhalb  einer  Provinz  (oder  Bildungsprovinz,  wie  Karsen  in 
seinem  Bericht  für  die  Reichsschulkonferenz  will),  die  Schule  innerhalb  eines 
Staates,  den  Gesamtbau  der  einheitlichen  deutschen  Schule.  So  erneut 
sich  die  Aufgabe,  die  letzte  Einheit  sicherzustellen,  in  immer  weiteren  kon- 
zentrischen Kreisen.  Die  Arbeit  der  Einzelschule  ist  nicht  Selbstzweck, 
und  das  Recht  des  Staates  in  Richtung  auf  diese  Wahrung  der  EinheitUch- 
keit  wird  nicht  nur  gleichsam  in  einem  Nebensatze  anzuerkennen  sein.    Er 


64       K.  Hentrich,  Dienstanw.  auf  kollegialer  Grundlage,  angez.  von  K.  Th.  Sondag. 

wird  es  nicht  nur  durch  Einrichtungen,  sondern  auch  durch  PersönHchkeiten 
ausüben.  In  deren  Reihe  von  der  Spitze  abwärts  bildet  der  Direktor  das 
letzte  Glied.  Man  kommt  somit  durch  Anwendung;  der  gleichen  B^'trachtungs- 
weise  zu  von  Claus  abweichenden  praktischen  Folgerungen.  Freilich  wird 
man,  wie  Claus  vor  der  Einheit  dei  Einzelschule  ausgehend,  fordern  müssen, 
daß  diese  vom  Staate  zu  beauftragenden  Persönlichkeiten  nicht  als  Fremd- 
körper In  den  betreffenden  Organismus  hineinge^etzt,  sondern  aus  ihm  heraus 
entwickelt  werden  i).  Praktisch  ergibt  sich  dann  etwa  eine  Ordnung  der  Dinge, 
wie  sie  in  den  Leitsätzen  des  Kasseler  Philologentages 2)  gefordert  wird. 
Diese  entsprechen,  soweit  ich  es  übersehe,  dem  Standpunkt  der  großen  Mehr- 
heit der  Philologenschaft.  Sie  verlangt  dringend  gebührenden  Anteil  an 
der  Schulverwaltung  urd  in  der  vorliegenden  Sonderfrage  eine  wirksamere 
Sicherung  gegen  eine  selbstherrliche  Schulleitung  als  durch  die  jetzige  Dienst- 
anweisung. Die  Gesamtkonferenz  muß  gleichberechtigt  neben  den  Direktor 
treten,  ein  von  ihr  zu  bestellender  Lehrerausschuß  nicht  nur  be-atende  Voll- 
macht erhalten.  Wird  dann  noch  eine  geordnete  Mitwirkung  der  Philologen- 
schaft bei  der  Bestellung  des  Direktors  sichergestellt,  so  dürfie  allen  sachlichen 
Notwendigkeiten  entsprochen  sein.  Da  aber  auf  der  höheren  Schulf'  jeder 
Lehrer  im  engsten  Anschluß  an  den  andern  arbeitet,  so  wäre  meines  Erachtens 
die  Einheitlichkeit  gefährdet,  wenn  darüber  hinaus  eine  so  weilgehende 
kollegiale  Schulleitung  versucht  werden  sollte,  wie  sie  von  der  Volksschtl- 
lehrerschaft  gefordert  wird  und  an  jenen  Schulen  vielleicht  auch  durchführ- 
bar ist. 

Ehrenbrei tstein  bei  Koblenz.  Karl   Th.    Sondag. 


^)  Vgl.  hierzu  Eduard  Spranger  in  seinem  Bericht  für  die  Reichsschulkonferenz. 
Er  wili  Orts-  bzw.  Bezirks-,  Provinzial-,  Landes-Schulversammlungen  und  als  Spitze  aller 
dieser  Glieder  der  „Kulturkammer"  eine  Reichsschulversammlung.  Sie  sollen  sich  auf  die 
inneren  pädagogischen  Angelegenheiten  beschränken  und  nicht  nur  aus  Lehrern  zusammen- 
gesetzt werden.  „Denn  es  würde  eine  der  Schule  nachteilige  Verengung  ihrer  Aufgaben 
im  Kulturleben  des  Volkes  bedeuten,  wenn  ihre  Ausgestaltung  zu  einem  Monopol  der 
Lehrerschaft  werden  sollte."  Zu  der  auch  von  Claus  erhobenen  Forderung,  daß  der  Di- 
rektor auf  Zeit  aus  dem  Lehrerkollegium  gewählt  werde,  sagt  Spranger:  Die  Beinehal- 
tung von  festangestellten  Direktoren  in  jeder  einzelnen  Schule  widerspricht  dem  Prinzip 
der  Selostverwaltung  so  wenig  wie  das  Vorhandensein  lebenslänglich  gewählter  Bürger- 
meister in  den  Stadtgemeinden.  .  .  .  Die  Kontinuität  und  Einheitlichkeit  des  Schullebens 
erfordert  eine  solche  Spitze.  Der  Direktor  mag  vom  Lehrerkollegium  vorgeschlagen  werden. 
Doch  ist  die  ausschließliche  Berufung  von  Lehrern  derselben  Anstalt  als  eine  nachweislich 
schädliche  Gepflogenheit  durch  ausdrückliche  Maßnahmen  zu  verhindern."  Die  Kasseler 
Leitsätze  fordern  auch  nur  eine  Mitwirkung  der  Lehrerschaft  bei  der  Verwaltung  der 
Schulen.  Die  Befugnis,  für  die  Direktortnwahl  Vorschlagslisten  einzureichen,  wird  den 
Provinaalkammern  zugewiesen.  Für  die  Lehrerkollegien  wird  hierbei  ein  Mitwirkungs- 
und ein  Vetorecht  vorgesehen. 

^)  Diese  wurden  neuerdmgs  vortrefflich  begründet  von  Wilhelm  Bolle  in  dem  vom 
ZentraUnstitut  für  Erziehung  und  Unterricht  bei  Quelle  und  Meyer  herausgegebenen 
Sammelwerk  „Die  deutsche  Schulreform,  ein  Handbuch  für  die  Reichsschulkonferenz", 
S.  175  ff. 

Druck  von  C.  Schulze  <&  Co.,  Q.  m.  b.  H.,  Gräfenhainichen. 


I.  Abhandlungen. 


Bemerkungen 
zum  „Lehrplan  für  den  Unterricht  in  der  Religionsgeschichte". 

Erinnern  wir  uns  der  Worte  des  heutigen  Evangeliums,  des  15.  Sonntags 
nach  Trinitatis:  „Trachtet  am  ersten  nach  dem  Reich  Gottes  und  nach  seiner 
Gerechtigkeit,  so  wird  euch  solches  alles  zufallen,"  nicht  nur  Nahrung  und 
Kleidung,  sondern  auch  die  rechte  Erkenntnis  über  den  rechten  Weg  und 
das  rechte  Ziel !  Mir  scheinen  aber  zu  einer  Verständigung  Auseinandersetzungen 
über  die  Auffassung  von  „Religion",  „Geschichte"  und  „Unterricht" 
unerläßlich. 

„Religion",  im  16.  Jahrhundert  von  Humanisten,  nicht  Theologen 
aus  dem  Lateinischen  entlehnt,  ist  auch  in  der  Ursprache  nach  Etymologie  und 
Grundbedeutung  unklar.  Nachdem  ich  1885  (die  Gutturalen  S.  187)  auf  Grund 
älterer  Quellen  religio  und  diligö  „schätze"  trotz  formaler  Verschiedenheit  mit 
dXsyiü  ,, kümmere  mich"  verbunden  und  einen  Grundbegriff  ,, gewissenhafte 
Beachtung,  Hochschätzung"  für  „Religion"  angenommen  hatte,  ist  diese 
Erklärung  von  Walde  (Lateinisches  etymologisches  Wörterbuch"  S.  647) 
1910  und  von  Boisacq  (Dictionnaire  etymologique  de  la  langue  grecque)  1916 
festgehalten  worden.  Da  aber  äXyog  ,, Kummer,  Schmerz"  bedeutet,  trifft 
die  Übersetzung  ,, beachten"  für  aUyeiv  und  „Beachtung"  für  religio  nicht 
das  richtige.  Durch  Lactantius  Instit.  IV  28,  vinculo  pietatis  obstricti  deo 
et  religati  sumus  ist  wohl  der  rechte  Weg  gewiesen,  religio  ist  das  vinculum, 
allerdings  nicht  nur  pietatis,  sondern  auch  timoris,  das  uns  mit  einer  über- 
irdischen, teils  guten,  teils  bösen  Macht  verbindet,  und  so  als  „Band"  zu 
legio  „Sammlung",  legere  „sammeln"  (Guttur,  S.  186.  Walde  420),  ligare 
„binden"  (Walde  429)  zu  stellen.  Damit  gewinnen  wir  einen  gesicherten  Aus- 
gangspunkt für  unsere  Betrachtungen  und  eine  Stellungnahme  zu  andern 
Erklärungen  des  Begriffs. 

Die  Definitionen  Lockes  ,, Gehorsam  gegen  Gott",  Spinozas  „Gehorsam 
gegen  die  Autorität",  Lessings  und  Fichtes  „Sittlichkeit",  Kants  „Ehi furcht 
gegen  den  Urheber  der  Sittengesetze"  sind  damit  als  spätere  Erweiterungen 
oder  Einschränkungen  erkannt,  und  nur  Schellings  Übersetzung  „Vereinigung 
des  Endlichen  mit  dem  Unendlichen",  Schleiermachers  ,, Gefühl  schlecht- 
sinniger Abhängigkeit  von  Gott",  Wundts  ,, Gefühl  der  Zugehörigkeit  zu  einer 
übersinnlichen  Welt",  Paulsens  ,, Glaube  an  eine  beherschende  Macht" 
nähern  sich  der  Auffassung:  „Religion"  ist  ,,das  Band,  die  Verbindung" 
der  Menschen  mit  einer  überirdischen,  guten  und  bösen,  Macht. 
Denn  beides,  sowohl  die  Ehrfurcht,  die  Verehrung  der  guten  Gottheit,  wie 
die  Furcht  vor  den  Dämonen,  liegt  im  Begriff  des  Wortes  und  muß  bei  der 

Monatschrift  f.  h^h.  Schulen.    XX.  Jhrg.  5 


66      Ph.  Bersu,  Bemerkungen  z.  „Lehrplan  f.  d.  Unterricht  in  der  Religionsgeschichte". 

Betrachtung  der  Geschichte  beachtet  werden.  ,Wir  sollen  Gott  fürchten 
und  lieben.*  Deshalb  gehört  eine  Darstellung  des  „religiösen  Lebens  der 
primitiven  Völker"  oder  des  „Totemismus",des  Fetischismus  von  Nordamerika, 
wohl  in  den  religionsgeschichtlichen  Unterricht,  wie  der  neue  Lehrplan 
will,  nur  nicht  nach  Sexta  oder  Quarta,  wie  vorgeschlagen  wird,  offenbar  in 
der  Annahme,  so  der  geschichtlichen  Entwicklung  von  den  niedrigsten  zu  den 
höchsten  Vorstellungen  gerecht  zu  werden.  Nun  ist  aber  mit  der  Festsetzung 
eines  solchen  Aufstiegs  das  Entwicklungsproblem  nicht  gelöst.  Ab- 
gesehen davon,  daß  auch  die  Geschichtswissenschaft  gleich  Paulus  im  ersten 
Kapitel  des  Römerbriefs  eine  Entartung  der  Vorstellungen  vom  Mono-  zum 
Atheismus  angenommen  hat,  daß  Scherer  (Geschichte  der  deutschen  Literatur 
Berlin  1885  S.19)  eineWellenbewegung  der  Erscheinungen,  ein  Empor- 
steigen und  Herabsinken,  behauptet,  die  Jahre  600,  1200,  1800  als  Höhe- 
punkte, 900,  1500,  2100  als  Tiefstand,  ist  wissenschaftlich  auch  nicht  ent- 
schieden, „ob  die  menschliche  Intelligenz  eine  Höhe  oder  ein  Dekadenz  ist" 
(Kichert,  Handbuch  für  d.  Religionsunterricht  1911  S.  311.  Groebe,  Hand- 
buch für  den  Geschichtsunterr.  I  1913  S.  8).  Betrachtungen  über  Feti- 
schismismus Animismus,  Totemismus,  Henotheismus  können  in  Obersekunda 
bei  einer  vergleichenden  Darstellung  der  orientalischen  und  klassischen 
Religionen  verwertet  werden.  Damit  wird  auch  ein  Zusammenhang  mit  dem 
Religionsunterricht  hergestellt  und  den  Belehrungen  aus  Ethik  und  Kunst- 
geschichte. Demgemäß  würde  sich  folgende  Stoffverteilung  für  die 
oberen  Klassen  ergeben:  Religions-  und  Kunstgeschichte,  sowie  Ethik  des 
Altertums  in  O  II,  des  Mittelalters,  16.  und  17.  Jahrhunderts  in  U  I,  vom 
Aufklärungszeitalter  bis  zur  Gegenwart  in  O  I.  In  den  mittleren  Klassen 
werden  die  Religionen  der  außereuropäischen  Erdteile  entsprechend  dem 
Pensum  des  Religions-  und  geographischen  Unterrichts  in  U  III  die  Religions- 
geschichte Deutschlands  in  O  III  und  Europas  in  U  II  erörtert  und  als 
ethische  Lehrstoffe  passende  Abschnitte  aus  Fr.  W.  Foersters  Jugendlehren, 
z.  B.  über  Selbständigkeit  und  Verantwortlichkeit  u.a.  besprochen.  Natur-  und 
geographische  Bilder  aus  dem  Lesebuche  und  künstlerische  Darstellungen  aller 
Zeiten,  die  gleich  der  Privatlektüre  mancherlei  Stoff  zu  Vorträgen  geben,  er- 
wecken und  beleben  das  religiöse  Gefühl.  Entsprechend  gestalten  sich  von 
selbst  Dekalog,  Glaubensbekenntnis  und  Gebet  auf  der  Unterstufe,  in  VI :  aus 
Märchen,  Sagen,  Fabeln,  Parabeln  und  frommen  Liedern  des  Lesebuchs,  sowie 
aus  den  Erzählungen  des  Alten  Testaments  und  geeigneten  Geschichten  aus 
Foersters  Jugendlehre,  in  V :  aus  antiken  Göttersagen  und  Erzählungen  des 
Neuen  Testaments,  auch  unter  Erläuterung  durch  buddhistische  Gebote  und 
Foersters  Lehren,  in  IV:  aus  Heldensagen  des  Altertums  und  geschichtlichen 
Darstellungen  des  christlichen  Humanitäts-  und  heidnischen  Heldenideals.  Das 
Ziel  des  Unterrichts  ist  demgemäß  nicht  nur  „Kenntnis  und  Verständnis 
für  die  Mannigfaltigkeit  des  religiösen  Lebens",  sondern  auch,  wie  Troeltsch 
will,  „Gewinnung  einer  modernen  Christlichkeit"  (oder  Sittlichkeit?).  Es  gilt 
„Gott  suchen  und  Lebensregeln   finden. 

Berlin.  Philipp   Bersu. 


Paul  Menge,  Was  kann  Fontane  unsern  Schülern  sein?  67 

Was  kann  Fontane  unsern  Schülern  sein?  ^) 

•  ;  Als  der  neue  Minister  für  Kunst,  Wissenschaft  und  Volksbildung  im 
Juni  1919  die  preußischen  Schulen  aufforderte,  des  100.  Geburtstags  von 
Gottfried  Keller  zu  gedenken  und  die  Schüler  darauf  hinzuweisen,  was  auch 
wir  Reichsdeutschen  von  ihm  haben,  sie  für  den  großen  vaterländischen  Dichter 
der  Schweiz,  der  ein  so  tiefes  Verständnis  für  seiner  Heimat  Berge  und  Men- 
schen besaß,  zu  begeistern,  da  freute  man  sich  aller  Orten  über  einen  Erlaß, 
der  von  diesem  Ministerium  nach  der  Revolution  ausging,  zum  ersten  Male. 
Zeugte  er  doch  davon,  daß  man  Ernst  machen  wollte  mit  Volksbildung,  daß 
man  empfand,  wie  richtig  Ernst  Moritz  Arndt  sein  Deutschland  soweit 
rechnete,  wie  die  deutsche  Zunge  klingt,  daß  man  ein  Gefühl  für  den  Beruf 
des  gesamten  Deutschtums  hatte,  daß  man  versuchen  wollte,  diesen  gedanken- 
vollen, tiefempfindenden,  die  Sprache  meisternden,  so  gerne  dem  Humor 
sich  öffnenden  Dichter  auch  weiteren  Kreisen  des  deutschen  Volkes  lieb  zu 
machen. 

Und  nun?  Noch  kurz  bevor  das  schwarze  Jahr  1919  zu  Ende  ging,  ge- 
dachte mancher  Zeitungsaufsatz  des  kernigen  preußischen  Dichters  und  Schrift- 
stellers, der,  wie  wenige,  seine  Heimat  kannte  und  pries,  Fontanes,  der 
auch  vor  100  Jahren,  am  30.  Dezember,  geboren  war,  den  mit  Keller  manche 
Ähnlichkeit  verbindet,  so  verschieden  er  auch  in  vielem  von  ihm  ist.  „Lehnt 
dieser  sich  doch  viel  angeschmiegter  aufGoethe  und  dieRomantik"  (Schienther) 
während  das  Altfränkische  Fontanes  auf  den  Biedermeier  seiner  eigenen  Jugend 
zurückgeht.  Mit  Keller  berührt  sich  Fontane  (vgl.  G.  Roethe,  Deutsche  Rund- 
schau 1920)  in  der  gesunden,  kräftigen  Lebensauffassung.  Wie  jener  hält 
er  sich  fern  jeder  weltfremden,  falschen  Romantik.  Wie  Kellers  Entwick- 
lung ist  auch  die  Fontanes  frei  von  stärkeren  bleibenden  Einflüssen  irgend- 
einer dichterischen  Persönlichkeit.  Nur  das  Volkslied  hat  ihn  dauernd  in 
seinem  Banne  gehalten.  Beide  konnten  Leute  von  Seldwyla  schreiben:  der 
eine  schrieb  sie  aus  reicher  Erfindungsgabe,  dem  andern  hatte  sein  Hang 
zur  Beobachtung  überquellenden  Stoff  dazu  gesammelt.  Erst  im  hohen  Alter 
öffnete  er  diese  Scheuern  und  setzte  durch  die  frische  Fülle  der  Personen 
und  Charaktere  alle  in  Erstaunen,  so  wie  Adolf  Menzel,  dessen  Skizzen- 
bücher ja  auch  eine  Fundgrube  sind  von  Vertretern  aller  Volksschichten  und 
Kreise,  aller  Formen  und  Normen.  Fontanes  Gestalten  sind  Blender,  Selbst- 
betrüger, die  ihren  inneren  Wert  verkennen,  wie  die  Kellers  sich  über  ihre 
äußere  Brauchbarkeit  täuschen.  So  ist  für  alle  das  Ende  der  Zusammenbruch. 
Hier  hat  sich  Fontane  bald  bewährt  als  der  wahre  Schilderer  unserer  neuen, 
insbesondere  der  Berliner  Gesellschaft,  wobei  er  sich  im  Gegensatze  zu  Paul 
Heyse,  der  wie  Fontane  fühlte,  daß  unsere  Literatur  einer  Auffrischung  be- 
durfte, freihielt  von  dessen  Sucht,  immer  überfeinertere  und  bedenklichere 
Vorwürfe  zu  wählen. 

Fontane  und  Keller  freuen  sich,  wenn  sie  geschichtliche  Stoffe  finden, 
die  ihrer  Darstellung  liegen,  wenn  sie  sich  hineinleben  können  in  vergangene 

*)  Der  Aufsatz  enthält  eine  Rade  zum  liK).  Q.'Ojrtstage  d2s  Dichters  am  Gymnasium 
zu  Wernigerode. 

5» 


68  Paul  Menge, 

Zeiten.  Aber  wirklich  zu  Hause  war  Fontane  nur  in  der  neueren  preußischen 
Geschichte.  Beide  haben  hohe  Ruhmestitel  verdient,  Keller  als  Vollender, 
Fontane  als  Wegkünder,  als  der  große  Realist,  den  noch  die  Jungen  als  ihren 
Bahnbrecher  umjubelten.  Er  ist  wie  Otto  Ludwig,  zunächst  Realist, 
aus  bewußtem  Gegensatze  zu  dem  alles  heraufstilisierenden  Idealismus,  der  auf 
Stelzen  einherstolzierte,  der  ebensowenig  Natur  hatte  bewahren  können  wie 
jede  andere  damalige  literarische  Formen:  man  denke  nur  an  Gutzkow  und 
Herwegh.  Begeistert  hat  sich  die  Jugend,  aus  der  Gerhart  Hauptmann 
Vorjahren  schon  sein  „Friedensfest"  ihm  gewidmet  hatte,  um  den  70  jährigen 
bei  seinem  Geburtstage  geschart;  wie  umjubelte  sie  ihn,  als  Ernst  von  Wol- 
zogen  dem  alten  Kumpan  den  ,,Dank  der  Jugend"  darbrachte  (Soergel  299): 

Du  hast  nicht  olympisch  das  Haupt  geschüttelt, 
als  die  Grünen  am  Thor  des  Parnaß  gerüttelt; 
Du  hast  Dich  zu  ihnen  hinab  begeben 
und  noch  einmal  hinein  in  das  brausende  Leben. 
Wenn  die  Tollsten  Überrumpelung  planten, 
bedächtige  Freunde  zum  Rückzug  mahnten  — 
Du  hast  zwischen  Jungen  und  ängstlichen  Alten 
lächelnd  die  freie  Bahn  gehalten, 
kampfglühende  Wangen  freundlich  gestreichelt, 
manch  allzukeck  Schwert  in  die  Scheide  geschmeichelt, 
dann  hast  Du  gedichtet  und,  eh'  man's  gedacht, 
hast  Du  es  einfach  besser  gemacht. 

Was  auch  hervorgehoben  zu  werden  verdient,  er  blieb  dieser  Realist, 
ohne  dem  Idealismus  Zugeständnisse  zu  machen,  ohne  zum  Naturalismus 
herabzusinken,  der  damals  in  Deutschland  nach  ausländischem  Vorbilde 
triumphierte.  Davor  bewahrte  ihn  sein  Humor  und  die  feine  Künstlerhand, 
was  man  am  besten  im  Vergleiche  zu  Max  Kretzer  merkt.  „Ein  sinnenfreu- 
diger Niederländer  gegenüber  der  unfrohen  Linienhärte  eines  Baluschek" 
(H.  Maync).    So  treffen  ihn  die  Verse  von  Arno  Holz  nicht: 

An  die  Autoritätsklauber.    Strophe  2. 
Drum  poltert  nur,  poltert:  Bezuckerter  Mist! 
Er  fürchtet  nicht  eure  kritischen  Besen, 
ist  doch  der  erste  .Naturalist' 
schon  der  alte  Vater  Homer  gewesen! 

Mit  Humor  schwebt  Kellers  Kunst,  dessen  Stil  blühend  und  poetisch, 
aber  nirgends  so  ausgeglichen  gleichmäßig  wie  bei  Fontane  ist,  über  den  Men- 
schen, sie  wird  nicht  doktrinär,  sie  grübelt  nicht  über  Problemen,  sie  ist  phan- 
tasievoll, frei  fabulierend ;  aber  in  diesem  Reiche  des  Humoristen  und  Idyllikers 
waltet  ein  starker  Charakter,  weht  der  Atem  einer  großen  freien  Menschen- 
seele (C.  Alberti).  Und  Fontane?  Er  besitzt,  ohne  je  schnodderig  oder  ka- 
lauernd zu  werden,  die  eigenartige,  mit  der  Grazie  des  französischen  Rokoko 
gepaarte  witzige  Ironie  des  Berliners,  der  seiner  Schwäche  sich  wohl  bewußt, 
sich  doch  noch  einbildet,  unter  Blinden  der  Einäugige  zu  sein.  Mit  Freude 
richtete  er  schon  früh  sein  „Bewitzeln"  gegen  ,,den  Müllhaufen  allgemeiner 
Redensarten". 


Was  kann  Fontane  unsern  Schülern  sein?  69 

Berliner  ist  er  auch  darin,  daß  ihm  die  Großstadt  Lebensbedürfnis  ist, 
wie  Friedrich  Hebbel,  der  freihch  in  Wien  nur  die  geistige  Aristo- 
kratie sucht,  während  Fontane  nur  in  der  Großstadt  mit  ihren  Massen,  voll 
Lärm  und  Unruhe  wohnen  mag.  Dort  kann  er  sich  auch  freuen  über  die  preu- 
ßischen Prachttrampels  (ohne  deren  Dienstknüppel  es  mit  den  Deutschen 
nie  etwas  Rechtes  hätte  werden  können),  dort  wird  er  über  Arnim,  Fouque, 
Hoffmann,  Alexis  neben  Heinrich  von  Kleist  und  Adolf  Menzel 
der  tiefste  und  vielseitigste  Verkünder  des  echten  Preußentums,  das  noch 
Gehorsam,  Respekt  und  Ehre  kannte. 

Das  ist  in  kurzen  Zügen  Fontane,  doch  auch  eine  ganze  Persönlichkeit, 
ein  weit  über  dem  Durchschnitte  stehender  Dichter,  ein  auf  gewissen  Gebieten 
führender  Schriftsteller. 

Und  aus  Berlin  keine  Zeile  darüber,  seiner  zu  gedenken  oder  gar  ihn  zu 
feiern,  während  doch  jeder  deutsche  Junge  von  ihm.  Gedichte  kennt  und 
wäre  es  nur 

Joachim  Hans  Ziethen 
Husarengeneral 
oder  das  niedliche  Verschen  über  die  „Rangstreitigkeiten"  im  Lumpenkasten, 
oder  die  für  unsere  Zeit  besonders  passenden  aus  dem  seine  eigene  politische 
Meinung  am  klarsten  verkündenden  Gedichte  „Fester  Befehl". 

Freiheit  freilich.    Aber  zum  Schlimmen 
Führt  der  Masse  Sich-selbst-Bestimmen, 
Und  das  Klügste,  das  Beste,  Bequemste, 
das  auch  freien  Seelen  weitaus  Genehmste 
Heißt  doch  schließlich,  ich  hab's  nicht  Hehl: 
Festes    Gesetz   und   fester   Befehl. 

Doch  Kelltrs  Gedichte  sind  dem  deutschen  Jungen  wohl  insgesamt  un- 
bekannt gewesen,  wie  die  meisten  seiner  Erzählungen  und  sein  großer  Roman 
"Der  grüne  Heinrich". 

Wie  kommt  diese  Vernachlässigung  des  Heimatdichters  Fontane?  Fon- 
tane war  nicht  nur  in  der  Form,  überhaupt  in  ästhetischen  Fragen  Aristokrat, 
wie  ja  auch  z.  B.  Ferdinand  Lassalle.  Unter  den  Menschen  zogen  ihn 
die  Aristokraten  auch  ganz  besonders  an,  die  er  auf  dem  Lande  bei  dem  ad- 
ligen Grundbesitzer  und  seinem  Seelsorger,  den  er  als  liebenswürdigen  Pre- 
diger, aufgeklärten  Pfarrer,  behaglichen  Pastor  und  orthodoxen  Superinten- 
denten auftreten  läßt,  noch  am  unverkümmertsten  zu  finden  glaubte.  Hier 
umfingen  ihn  geschichtliche  und  sittliche  Erblehre  und  Brauch.  50  Genera- 
tionen von  500  Lehmanns  und  Schulzens  sind  ihm  gleichgültig  neben  drei 
Geschlechtern  aus  der  Familie  von  Marwitz.  Er  fühlt,  daß  die  Abschaffung 
des  Adels  gleichbedeutend  ist  mit  dem  völligen  Zerbrechen  Preußens.  Er 
merkt  wohl,  daß  dieser  prächtige  Schlag  adliger  Menschen  ausstirbt,  daß 
sein  lebensfroher  Wille  durch  die  neue  Zeit  gelähmt  wird,  daß  sein  Streben 
auch  mit  in  die  Ämtertretmühle  zu  kommen,  seine  Ursprünglichkeit  unter- 
gräbt, daß  Bücherstaub  und  moderner  Lebenszuschnitt  diese  naturwüchsigen 
Menschen  verderben.  So  stellt  der  alte  Edelmann  bei  ihm  eine  Prachtfigur 
dar,  sein  Sohn  ist  weicher,  unklarer,  kleinlicher. 


70  Paul  Menge, 

Dazu  kommt :  Fontanes  persönliches  Freiheitsbedürfnis  ist  frei  von  fort- 
schrittlicher Parteifärbung.  Die  einzige  Rettung  für  Preußen  sieht  er  in 
strammem  Regiment  und  festem  Befehl.  Majoritäten  sind  auch  ihm  Unsinn. 
Von  Gleichmacherei  will  er  nichts  wissen.  Er  war  einer  vernünftigen  Um- 
gestaltung bestehender  Verhältnisse  nicht  abgeneigt,  haßte  aber  als  Mensch 
wie  Künstler  alles  Revolutionäre.  So  fühlte  er  sich  auch  nicht  verbunden 
mit  Hebbel  oder  Jbsen.  „Die  Harmonie  steht  gegen  die  Problematik,  der 
Realist  gegen  den  zwiespältigen   Übergangsmenschen"  (Wandray). 

Bei  seinem  liberalen  Konservatismus  war  er  für  praktische  Politik  gänz- 
lich ungeeignet.  Er  gehörte  zu  den  vorurteilslosen  Menschen,  die  über  allen 
Parteiprogrtmmen  hinweg  sich  ein  freies  Urteil  bewahren.  Nur  verlangte 
er  an  Stelle  des  „Schreckensregimentes  polizeilicher  Willkür"  den  „militärisch 
organisierten  Rechtsstaat".  In  unsere  Zeit  würde  freilich  kaum  ein  Mann 
taugen,  der  wie  er  noch  1890  an  den  Knöpfen  abzählt,  welcher  Partei  er  bei 
der  Wahl  seine  Stimme  geben  soll. 

Wie  wir,  erhofft  er  schon  damals  den  großen  Erretter  und  Erwecker, 
den  Flammenbringer,  der  Deutschland  wieder  emporreißt,  daß  dem  Wappen- 
adler sein  Blitzebündel  nicht  umsonst  gegeben  sei.  In  scharfem  Gegensatze 
zu  —  C.  Lamprecht  anerkennt  er  Heldenverehrung.  Nur  der  einzelne 
kann  uns  weiter  bringen,  nicht  Mehrheiten.  Tiefgreifende  Umwälzungen 
bereiten  sich  langsam  vor;  wenn  dann  ihre  Zeit  erfüllt  ist,  finden  sich  auch 
ihre  Verfechter  und  Bahnbrecher. 

Schon  früh  hatte  den  am  30.  Dezember  1819  Geborenen  nach  einer  mangel- 
haften Schulausbildung,  deren  Lücken  er  oft  bedauert  hat,  obwohl  er  gut 
wußte,  daß  allgemeine  Gelehrsamkeit  nichts  taugt,  wenn  die  Sinne  verschlossen 
sind,  wenn  die  kernhafte  menschliche  Mitte  fehlt,  in  der  Zeit,  als  er  als  Apo- 
theker arbeitete  und  ihn  sein  Interesse  an  literarisch- poetischen  Dingen  vor 
dem  Versinken  in  die  Stumpfheit  einer  auf  den  blcßon  Erwerb  gerichteten 
Beschäftigung  bewahrte,  der  Zug  zum  Edlen  in  eine  vornehme  literarische 
Gesellschaft  gebracht,  den  Tunnel  über  der  Spree.  Dort  wurde  er  bald  ein 
beliebtes  Mitglied;  die  Vorträge  seiner  Verse  werden  in  der  Geschichte  des 
Vereins  als  größte  Erfolge  verzeichnet.  Hier  wuchs  ihm  zwischen  Hochmut 
und  Demut  der  rechte  Mut  des  Lebens,  bis  er  endlich  den  Stößel  ganz  mit 
der  Feder  vertauschte  (Er.  Schmidt). 

Seinem  Vater  verdankte  er  die  Gabe  zu  plaudern  und  durch  kleine  Ge- 
dichte zu  erfreuen.  Hatte  doch  die  Natur  in  ihm  französisches  und  deutsches 
Blut  besonders  glücklich  gepaart;  reich  ist  der  Ertrag  an  dichterischen  Gaben 
wie  ja  auch  bei  andern,  die  ähnlicher  Blutmischung  entsprossen  sind,  Louise 
von  Frangois,  Otto  Roquette,  Emanuel  Geibel. 

Es  liegt  bei  ihm  übrigens  durchaus  umgekehrt  als  bei  Goethe :  Der  Vater 
vertritt  bei  ihm  die  Seite  der  Phantasiebegabung,  die  oft  leidenschaftliche 
Mutter  die  verständiger  Nüchternheit;  ihr  hat  er  es  zu  verdanken,  daß  er 
nicht  den  Weg  des  Vaters  ging,  der  ihm  sein  Temperament  vererbt  hatte; 
die  Mutter  hatte  ihm  Charakter  und  Uneigennützigkeit  mitgegeben  und  den 
„Hang  nach  Arbeit  und  solider  Pflichterfüllung". 


Was  kann  Fontane  unsern  Schülern  sein?  71 

Mancher  Zug  französischer  Wesensart  ist  von  den  Eltern  auf  den  Sohn 
übergegangen  und  ist  für  den  Menschen  wie  für  den  Künstler  bedeutungs- 
voll geworden:  „Liebenswürdigkeit,  schmiegsame  Eleganz,  Lebenstapferkeit 
ohne  Vierschrötigkeit  charakterisieren  den  Menschen ;  ein  feineres  Verständnis 
für  die  formalen  Dinge,  eine  ungewöhnliche  Begabung  für  den  Dialog  denKünst- 
ler,  Gaben,  die  sich  nur  selten  deutschem  Wesen  verquicken  und  hier  ihre 
tiefere  völkische  Wurzel  haben"  (Wandrey). 

Seine  ausgesprochene  aristokratische  Neigung,  die  ihn  aber  nicht 
hindert,  sich  in  die  Konstituante  wählen  zu  lassen,  läßt  ihn  wohl  mit  dem 
Bürgerstande  verkehren,  für  den  Arbeiterstand  hat  er  keinerlei  Interesse 
gezeigt.  Das  Leben  hat  ihm  diese  Probleme  ferngehalten  außer  der  leidigen 
Dienstbotenfrage,  die  auch  deshalb  bei  ihm  gestreift  wird. 

Als  ihn  von  Merkel,  der  Chef  der  Presseabteilung,  mit  40  Talern  monat- 
lichem Gehalt  als  Diätar  anstellte,  verheiratete  er  sich  mit  der  lieben  und 
heißblütigen  Frau  Emilie;  doch  das  Büro  flog  bald  auseinander,  so  daß 
er  sich  als  „Tagelöhner  mit  dem  Geist"  nur  mühsam  durch  Zeitungsartikel 
durchschlagen  mußte,  die  er  überall  unterzubringen  suchte.  Gern  nahm 
er  so  1852  die  Englische  Korrespondenz  bei  der  hochkonservativen  Kreuz- 
zeitung an,  wo  er  sich  gegen  anfängliche  Befürchtungen  frei  fühlte  von  By- 
zantinismus und  Muckertum,  wo  er  nicht  etwa  reaktionäre  Politik  mitmachen 
mußte.  Es  darf  bei  ihm  wahrhaftig  nicht  als  Fahnenflucht,  ja  nicht  einmal 
als  politische  Weiterentwicklung  aufgefaßt  werden,  wenn  er  später  den 
Unterhaltungsteil  der  Vossischen  Zeitung  leitete  (hier  war  ihm  eine  freie 
künstlerisch  gefärbte  Behandlung  beliebiger  Stoffe  möglich). 

Hier  zeigte  sich  die  Klaue  des  Löwen,  von  der  eine  Kralle  schon  der  Unter- 
tertianer hatte  sehen  lassen.  Voll  Schulsorgen  zog  er  da  einst  aufs  Land  hinaus. 
Die  Aufgabe,  einen  Aufsatz  nach  selbstgewähltem  Thema  zu  bearbeiten, 
bedrückte  ihn.  Bei  Großbeeren  rastet  er.  Die  Walstatt  bringt  ihn  auf  den 
Gedanken,  diese  Schlacht  zu  behandeln.  In  seine  Stube  heimgekehrt,  schreibt 
er  den  Aufsatz  nieder,  der  wohl  manchmal  anklingt  an  Zedlitz  „Nächtliche 
Heerschau".  Bangen  Herzens  gibt  er  ihn  ab  und  erhielt  ihn  nach  einer  kum- 
merschweren Woche  zurück  mit  dem  Zeugnis:  Recht  gut. 

Das  war  seine  erste  Wanderung  durch  die  Mark  Brandenburg.  Schon 
aus  seiner  Kindheit  stammte  diese  Vorliebe  für  geschichtliche  Stoffe.  Der 
große  Franzosenkaiser  und  seine  Marschälle,  der  alte  Fritz  und  seine  Generale, 
vaterländische  Geschichte,  deren  genauste  Kenntnis  den  Tertianer  in  Neu- 
ruppin  befähigte,  Primanern  bei  Geschichtswiederholungen  zu  helfen,  regte 
ihn  immer  wieder  an,  beschäftigte  und  bevölkerte  seine  Gedankenwelt.  Was 
hatte  er  freilich  auch  schon  in  den  fünf  Jahren,  1827—1832,  durch  seinen 
Vater  mitempfindend  erlebt:  Die  Befreiung  Griechenlands,  den  russisch- 
türkischen Krieg,  die  Eroberung  Algiers,  die  Julirevolution,  Belgiens  Los- 
reißung, den  großen  polnischen  Aufstand,  an  dem  der  Junge  sich  innerlich 
begeistert  hatte.  Jetzt  traten  diese  Stoffe,  mit  denen  auch  der  Mann  sich 
gern  weiter  beschäftigt  hatte,  hinter  englischer  Geschichte  und  schottischer 
Sage  für  einige  Zeit  zurück.    Hier  trifft  er  auch  die  Eigenschaften,  die  er  im 


72  Paul  Menge, 

Leben  überall  vergebens  sucht:  starken  Willen,  unbeugsame  Tatkraft,  Ziel- 
strebigkeit, Mannesmut  und  Heldengröße.  Bald  sollte  er  das  Land  dieser 
oft  durch  Kerker  und  Grüfte  und  schaurige  Szenen  hinwegführenden  Bal- 
laden näher  kennen  lernen. 

Als  Zeitungskorrespondent  geht  er  nach  England.  Eigentümlicherweise 
verstärkte  der  Aufenthalt  in  diesem  als  Hochburg  der  Demokratie  gerühmten 
Lande  seinenZug  nach  rechts.  Der  Tower  ragt  da  als  steingewordener  Ana- 
chronismus in  die  nach  Gold  hetzende  Kaufmannswelt.  ,,Das  gelbe  Fieber, 
das  Verkauftsein  aller  Seelen  an  den  Mammonsteufel  legt  nach  seinem  Dafür- 
halten die  Axt  an  diesen  stolzen  Baum.  Unberechenbar  ist  freilich,  wann 
die  Faulheit  sichtbar  an  die  Oberfläche  treten  wird."  Die  Engländer  sind 
ihm  trotz  der  nicht  von  ihm  bestrittenen  großen  Eigenschaften  —  zumal  be- 
neidet er  das  Land  um  die  in  allen  Schichten  herrschende  Vatedandsliebe  — 
ein  Räuber-  und  Piratenvolk  durch  und  durch.  Die  Kirchlichkeit  imponiert 
ihm  wohl,  ihr  ,, Kattunchristentum"  haßt  er  und  ihren  Glauben,  soweit  er 
nicht  im  Gemüt  wurzelt,  achtet  er  für  nichts.  Er  sehnt  sich  heimwärts, 
liebwärts. 

Das  Haus,  die  Heimat,  die  Beschränkung 

Die  sind  das  Glück  und  sind  die  Welt. 

,, Seinen  feinen  jederzeit  sachlich  beteiligtenBlick  für  das  lebendigeTreiben 
der  großen  und  kleinen  Menschheit  hat  er  im  geschäftigen  England,  seine 
starke  Empfindung  für  den  Ernst,  die  Größe  alter  Natur  und  alter  Geschichte 
im  einsamen  Schottland  gefestigt  und  geschärft"    (Schienther). 

Bald  wertet  er  es,  was  es  für  das  Heimatempfinden  bedeutet,  wenn  ein 
Walter  Scott  die  vaterländische  Geschichte  und  Sage  durch  seine  Werke 
verbreitet.  Hier  ist  ihm  der  Gedanke  seiner  märkischen  Wanderungen  ge- 
kommen, an  denen  er  heimgekehrt  von  1859—1898  mit  immer  neuer  Lust 
gearbeitet  hat.  Die  besten  Stellen  dieser  Bände  ergeben  ein  Heimatbuch, 
wie  es  keine  deutsche  Provinz  aufzuweisen  hat. 

Hier  in  England  treibt  seine  Poesie  einen  neuen  blühenden  Zweig.  Er 
entwickelt  in  Anlehnung  an  das  schottische  Volksballadenvorbild,  das  freilich 
schon  Herder  in  unübertrefflicher  Schlichtheit  den  Deutschen  vermittelt 
hatte,  eine  neue  lyrisch-dramatische  Art,  einen  neuen  Stil,  der  den  Hang 
zum  Schauerlichen  und  das  Sprunghafte  des  Volksliedes  kunstvoll  verwertet, 
obwohl  dem  Realisten  zuerst  das  Romantische  wenig  lag.  Diese  verhaltene 
Herbheit  ist  bei  ihm  nichts  Ursprüngliches.  Bleiben  auch  viele  dieser  Ge- 
dichte noch  farblos,  so  ist  das  bekannteste,  sein  Archibald  Douglas,  in  der 
Form  ein  Meisterstück  rhetorischen  Schwungs  und  wirksamer  Anordnung. 
Besteht  diese  Ballade  doch  fast  ganz  aus  Dialog  und  Monolog,  zwischen  denen 
nur  wenige,  stark  bewegte  Strophen  anschaulich  die  Handlung  geben.  Das 
Gedicht  ist  erdacht  nach  einer  Anmerkung  bei  W.  Scott.  Er  schrieb  es  nieder, 
als  er  im  Vorflur  des  Königlichen  Schauspielhauses  in  Berlin,  einem  kalten, 
weißgetünchten  Raum,  wartete,  um  seine  Frau  abzuholen.  Ein  Blättchen 
nach  dem  andern  beschrieb  er  da  mit  schlecht  gespitztem  Bleistift  und  dichtete 
sein  Hoheslied  der  Treue,  seiner  Treue.    Ihm  ist  Treue,  Heimatliebe, 


Was  kann  Fontane  unsern  Schülern  sein?  73 

Gütsein  das  selbe.  Der  Heimatsinn  hatte  ihn  ganz  gepackt.  Er  ist  für 
Fontane  immer  die  Quelle  eines  starken  Deutschempfindens  gewesen,  nie 
etwa  ein  Antrieb  zu  beschränktem  Partikularismus.  Die  Heimat  schenkt 
ihm  Vaterlandsliebe,  inneres  Glück,  Zufriedenheit.  Heimatliebe  ist  ihm  gleich- 
bedeutend mit  sittlicher  Erneuerung,  die  wir  ach  so  nötig  haben.  Hier  gibt 
uns  ein  kundiger  Seelenarzt  die  beste  Arznei:  Heimatliebe  und  Treue.  Sie 
sollen  alles  bei  ihm  besiegen;  so  läßt  er  auch  gegen  die  Überlieferung  den 
König  umgestimmt  werden. 

Ein  großer  Fortschritt  zeigt  sich  hier  zu  den  frühsten  Gedichten  aus 
,, Männer  und  Helden".  Und  doch!  wie  turmhoch  standen  schon  diese  über 
den  langatmigen  Gedichten,  die  sonst  dem  Andenken  von  Helden  gewidmet 
waren,  gar  nicht  der  endlosen  Strophen  unseres  alten  Gleim  zu  gedenken, 
der  bei  der  letzten  Feier  als  ein  ehemaliger  Schüler  unseres  Gymnasiums 
und  bedeutender  Dichter  seiner  Zeit  von  so  beredtem  Munde  gewürdigt  ist. 
Als  Balladendichter  gehört  Fontane  schon  nach  seinen  ersten  Versuchen, 
da  er  sich  von  jedem  Wortgerassel  frei  hält,  zu  den  wirklich  bedeutenden 
Erscheinungen. 

Zuerst  hat  Herwegh  mit  seinen  revolutionären  Jugendgedichten  Einfluß 
auf  ihn  gewonnen,  dann  stach  ihn  Strachwitz  aus,  dessen  ritterlicher  Ton 
ihm  ebenso  gefiel  wie  seine  unerschütterliche  Königstreue;  doch  bald  schon 
schuf  er  sich  eine  eigene  kräftige  Sprache  und  Art.  Gern  betonte  er  charakte- 
ristische Besonderheiten,  was  ihn  von  Goethe  stark  unterscheidet,  der 
alles  Zackige  meist  ins  abgerundet  Harmonische  überleitet.  Er  und  der  freilich 
prägnanter  und  packender  schreibende  C.  F.  Meyer  haben  der  Ballade  einen 
neuen  Weg  gewiesen,  auf  dem  Detlev  von  Liliencron  und  Börries  von 
Münchhausen  weiterschritten. 

Schon  1847  waren  die  ,,7  preuß'schen  Feldherrn"  im  Morgenblatt  er- 
schienen, waren  volkstümlich  geworden,  aber  dem  Dichter  hatten  sie  nichts 
eingebracht.  Spätere  Gedichte  blieben  lange  unbemerkt,  bis  sie  1898  ge- 
sammelt, eins  der  bekanntesten  Versbücher  geworden  sind:  eine  markige, 
volksliedmäßige  Feier  preußischen  Heldentums.  Große  Freude  erregte  so- 
gleich beim  ersten  Abdruck  der  alte  Zieten,  er  selbst  schätzte  am  höchsten 
Derfflinger.  Schon  der  Gedanke:  ein  Schneidergeselle,  der  zum  berühmten 
General  emporsteigt,  ist  für  ein  Volkslied  wie  geschaffen.  Es  gab  einen  großen 
Erfolg;  denn  in  glücklicherweise  brachte  er  seine  ,, Helden"  den  Menschen 
näher  dadurch,  daß  er  das  reir  Menschliche  an  ihnen  hervorhob.  Was  er  durch 
seine  erglischen  Balladen  oder  auch  Übersetzungen  gelernt  hatte,  wird  uns 
recht  klar  bei  einemVergleiche  der  älteren  Reihe  mit  „Prinz  Louis  Ferdinand", 
diesem  kühnen  Wurfe,  der  drei  ganz  verschiedene  Bilder  verband:  einen 
kecken  Streich,  ein  etwas  rührseliges  Zwischenstück  und  das  weltgeschicht- 
liche Ende  dieses  leichtlebigen  und  doch  prachtvollen  Menschen,  von  dem 
uns  die  zeitwortlose  erste  Strophe  ein  wunderbares  Bild  zeichnet. 

Die  meisten  der  älteren  Lieder  galten  dem  Fritzischen  Zeitalter.  Ist 
es  da  nicht  eigentümHch,  daß  es  ihm  nicht  glückt  ein  volkstümliches  Fritzlied 
zu  schaffen?    Es  sei  denn,  wir  rechneten  die  beiden  ersten  Grenadierlieder 


74  Paul  Menge, 

hierher  mit  ihrem  kernigen  Realismus.  Wie  er  den  König  verehrte,  künden 
seine  Verse  bei  der  Enthüllung  des  Rauchdenkmals  1851  und  zur  Verherr- 
lichung Menzels:  „Auf  der  Treppe  zu  Sanssouci."  Dann  läßt  er  ihn  Parade 
abnehmen  über  die  aus  den  Bismarckschen  Kriegen  heimkehrenden  Truppen. 
Je  näher  er  seiner  eigenen  Zeit  kommt,  um  so  mehr  hilft  ihm  seine  Anlage, 
überall  das  Bleibende  zu  erkennen.  Mit  großem  Glück  ändert  er  für  die  neueren 
näheren  Stoffe  den  alten  Balladenstil:  Eine  ganz  außerordentliche  Kraft 
sinnlich  impressionistischer  Vergegenwärtigung  wohnt  den  nun  gern  ange- 
wandten Knüttelversen  inne.  Ganz  ohne  strophische  Einteilung  ist  das 
lustige  farbenfrohe  Lied,  mit  dem  der  Dichter,  der  eine  Zeitlang  über  dem 
Geldverdienen  durch  Prosa  nicht  zu  Worte  gekommen  war,  bis  ihn  die  Er- 
stürmung der  nun  abermals  verlorenenDüppeler  Schanze  wieder  weckte,  Vehle- 
fanz  jubelnd  den  Sieg  von  Düppel  begrüßen  läßt.  Wie  verblüffend  einfach 
wird  da  ohne  jedes  Pathos  die  Aufnahme  der  Botschaft  in  den  Haveldörfern 
geschildert.  Wer  sieht  den  alten  Latsche-Neumann  nicht,  wie  er  von  kräftigen 
Fäusten  gehoben,  das  Telegramm  verliest  und  nach  Schwante  den  jubelnden 
Dorfgenossen  nachtrottet.  Mit  gleicher  Liebe  wie  für  Seydlitz  begeisterte 
er  sich  für  die  Pifkes  und  Schneiders  von  den  Düppler  Schanzen. 

Von  dem  Heldentum  der  großen  Masse  hält  Fontane  nicht  viel;  er 
glaubt  an  die  Macht  der  Persönlichkeit,  die  Geschichte  macht  und  die  Welt 
weiterschiebt.  Wer  konnte  ihm  da  lieber  sein  als  Held  für  seine  Dichtungen 
als  Bismarc k,  dem  er  bis  über  das  Grab  hinaus  das  rechte  Wort  fand  ohne 
Pathos  und  doch  mit  packender  Größe  in  dem  Gedicht :  Wo  Bismarck  liegen 
soll?  „Hier  wächst  die  Kraft  des  rhythmisch  gehobenen  Sagens  plötzlich 
ins  Monumentale,  das  den  nahen  Gegenstand  ins  Mythische  entrückt"  (Wan- 
drey).  Einen  Tag  nach  des  Kanzlers  Tod  hat  er  diese  zwei  Strophen  gedichtet, 
wenige  Wochen  vor  dem  eigenen  Ende.  Wie  eigenartig  ist  seine  Antwort: 
irgendwo  im  Sachsenwald,  wo  die  nach  Jahrtausenden  die  Grabstätte  Be- 
suchenden scheue  Ehrfurcht  verstummen  läßt. 
Lärmt  nicht  so! 
Hier  unten  liegt  Bismarck  irgendwo. 

Was  Wunder,  daß  er  auch  den  liebte,  dessen  treuer  Diener  Bismarck 
genannt  werden  wollte.  Ihm,  dem  alten  Blanchebart,  widmete  er  einen  fried- 
lichen Strophenkranz.  Er  wußte,  daß  er  als  Herrscher  nicht  an  Friedrich  H. 
heranreichte,  daß  er  nicht  den  Beinamen  der  Große  verdiente,  daß  er  dem 
alten  Fritz  aber  als  Mensch  überlegen  war.  Und  das  gab  bei  ihm  den  Ausschlag. 

„Der  ist  von  sondrer  Art, 
Im  Dienst  allzeit  das  Schwerste, 
Und  in  Feld  und  Pflicht  der  erste: 
Das  ist  Kaiser  Blanchebait." 

„Das  schlichte  natürliche  Wesen  und  das  rein  menschliche  Empfinden 
des  alten  Kaisers  standen  Fontane  eben  höher  als  alle  Erfolge,  die  ja  nicht 
nur  auf  Rechnung  seiner  eigenen  Persönlichkeit  kommen"  (Sczcepanski). 

In  einfachen  ergreifenden  Versen  hat  er  mit  erschütternder  Weihe  das 
stille  Heldentum  des  edlen  Dulders  Friedrich  III.  gepriesen.   Wir  fühlen  des 


Was  kann  Fontane  unsern  Schülern  sein?  75 

Dichters  Seele  in  diesen  rührenden  Zeilen  mitschwingen.  Der  Held  tritt  groß, 
schlicht  und  stark  hervor,  ohne  daß  der  Dichter  je  in  Wortbombast  verfällt. 

Diese  Balladen  und  Erzählungen  in  Strophen  aus  seiner  Zeit,  die  sein 
Ureigenstes  sind,  brachten  ihm  große  Erfolge.  Gewaltig  wirkt  unter  ihnen 
.immer  wieder  der  Einsturz  der  Taybrücke,  wo  sich  mit  unheimlicher  Anschau- 
lichkeit geschildert,  die  dem  Menschenwerke  feindlichen  Naturmächte  zu 
grausiger  Zerstörung  zusammenfinden,  wenn  sie  auch  nicht  heranreichen 
an  die  Hexen  in  Shakespeares  Macbeth. 

Dieses  vielleicht  manchmal  theatermäßig  anmutende  Rüstzeug,  wie 
jeden  kritiklosen  Überschwang,  hat  er  dann  verstauben  lassen ;  scheinwerfer- 
artig beleuchten  kleine  Skizzen  Menschen  und  Zeiten ;  oder  er  schuf  satyrische 
Genrebilder,  auf  die  sich  seine  gern  ironisierende  Natur  trefflich  verstand. 

Gering  ist  die  Zahl  seiner  eigentlichen  lyrischen  Gedichte,  von  denen 
wir  vorhin  ,, Frühling,  Trost  und  Guter  Rat"  in  der  trefflichen  Vertonung 
unseres  Musikdirektors  Hermann    Lenz  gehört  haben. 

Er  kannte  die  Grenzen  seiner  Lyrik.     Weltbewegendes,  Schicksalbe- 
zwingendes lag  ihm  so  fern  wie  das  Streben  nach  immer  neuen  Formen. 
Mir  würde  der  Weitsprung  nicht  gelingen; 
So  blieb  ich  denn  bei  den  nähern  Dingen; 
Drei  Schritt  bloß  —  ich  weiß,  es  ist  nicht  viel, 
Aber  Freude  gibt  jedes  erreichte  Ziel. 

In  Bismarck  hatte  er  nicht  nur  den  deutschen  Kanzler,  Deutschlands 
Schmied,  gefeiert,  er  verkörpert  in  ihm  auch  den  märkischen  Edelmann,  dem 
freilich  die  Zeit  nicht  nur  sein  Eigenwesen  hatte  verkümmern  lassen,  sondern 
auch  seine  freundliche,  gern  mitteilende  Art,  wie  er  sie  so  reizend  im  Herrn 
Ribbeck  auf  Ribbeck  im  Havellande  verehrt.  Auch  dieses  Gedicht 
ist  eine  köstliche  Frucht  seiner  Wanderungen,  durch  die  er  den  Märkem 
das  wurde,  was  für  große  Teile  Niederdeutschlands  Hermann  Löns  ist. 
Beider  Bücher  sind  Bände  deutscher  Heimatliebe,  die  den  Schollengeruch 
des  Mutterbodens  tragen.  Nur  daß  Fontane  nicht  wie  dem  Niederdeutschen 
auch  die  nicht  von  Menschen  belebte  Natur  so  viel  sagt.  Überall  treffen  wir 
bei  ihm  auf  —  eigenartige  Vertreter  der  Sippschaft  ,, Mensch",  spricht  aller- 
lei Kleinkram  und  Anekdote  zu  uns.  Alles  aber  ist  auf  den  Spruch  gestimmt: 

Meine  Seele  Gctt 
und  mein  Blut  dem  König! 

Die  immer  wechselnden  Büder,  die  uns  ritterliche  Edelleute  und  eigen- 
artige, oft  derbe  Käuze  schauen  lassen,  werden  zusammengehalten  durch 
König  Friedrich  und  die  andern  HohenzoUem,  die  wirklich  etwas  geschafft 
haben  für  des  Volkes  Wohlfahrt:  „ihr  und  ihres  Volkes  Glück  ist  die  wirk- 
liche Humanität,  ihr  Stolz  ist  ihre  Sorgfalt  im  Kleinsten",  ihre  Arbeit  am 
Dossebruch  und  an  der  Oder,  wo  Fontanes  spätere  Erzählung  „Unterm 
Birnbaum"  spielt.  Und  doch!  „Hier  steht  kein  ins  Blaue  schwärmendes, 
Volk  oder  Herrschern  schmeichelndes  Wort"  (Er.  Schmidt). 

Seine  fünf  Bände  „Wanderungen",  dieser  echte  Hausschatz  des  Märkers, 
sind  eine  reichhaltige  Sammlung  von  Beobachtungen  und  Stimmungsbildern 
gemischt  mit  historischen  Skizzen  und  Anekdoten.    Er  wollte  weder  ein  Bä- 


76  Paul  Menge, 

deker  noch  ein  Ranke  für  dies  Stück  Erde  werden.  Hier  führt  er  uns  durch 
anmutige  Landstädte,  geleitet  uns  zu  den  lugenden  Seen  und  ragenden  Kirch- 
türmen der  einfachen  Dörfer,  öffnet  uns  das  Parktor,  durch  das  wir  ein  im 
Grünen  verstecktes  Schloß  betreten  können.  Aber  die  Menschen  sind  ihm 
noch  wichtiger  als  die  stumme  Natur.  Glänzend  sind  seine  Charakteristiken, 
so  z.  B.  von  Schadow:  „Die  Seele  griechisch,  der  Geist  altenfritzig,  der  Cha- 
rakter märkisch."  Wie  bei  U  hl  and  schließen  Dichter  und  Forscher  den 
innigsten  Bund.  Schon  wegen  dieses  bedingten  Verhältnisses  zur  Landschaft 
ist  er  nicht  in  dem  gleichen  Sinne  märkischer  Heimatdichter,  wie  Otto  Lud- 
wig und  Fritz  Reuter  die  dichterischen  Vertreter  Thüringens  und  Meck- 
lenburgs sind  (H.  Maync).  Überall  schöpft  er  aus  dem  Munde  des  Volkes: 
„Die  Alte  im  Dorf  muß  ihm  erzählen  oder  der  Schulmeister;  beim  Pfarrei* 
oder  Amtmann  findet  er  Akten  und  Dokumente,  die  ihm  die  Vergangenheit 
enthüllen;  im  Schloß  wohl  gar  Briefe  und  Tagebücher  oder  eine  vergilbte 
Chronik."  (Goebel).  Alles  zeichnet  er  auf,  Landschaftliches  und  Historisches, 
Sitten  und  Sagen.  Er  wird  ein  Gustav  Freytag  der  Mark.  Hier  murmelt 
für  manchen  seiner  Romane  und  Erzählungen  die  Quelle,  hier  liegt  der  Kern 
für  manches  Gedicht.  Für  ihn  selbst  sind  diese  Wanderungen  durch  die  wohl 
karge,  doch  schöne  Mark  ein  immer  wieder  erfrischender  Jungborn.  Von 
hier  brachte  er  Schwungkraft  des  Körpers  und  Geistes  mit  heim,  Selbst- 
bewußtsein und  Sichselbstgenügen,  das  ihn  von  der  ,,Jagd  nach  dem 
Glück"  fernhielt. 

Humorvoll  schildert  er  uns  diese  Auffassung  in  den  Versen:  Aber  wir 
lassen  es  andere  machen.  Und  stieg  doch  einmal  der  Unmut  in  ihm  hoch, 

so  dämpfte  er  ihn  mit  dem  ,, Zuspruch". 

Such  nicht  immer,  was  dir  fehle, 

Demut  fülle  deine  Seele, 

Dank  erfjlle  dein  Gemüt! 

Alle  Blumen,  alle  Blümchen, 

Und  darunter  selbst  ein  Rühmehen, 

haben  auch  für  dich  geblüht. 
Bei  einer  Gedenkfeier  in  der  Schule  seines  Hauptlebenswerkes,  seiner 
Romane,  weitläufig  zu  gedenken,  erübrigt  sich.  Sind  sie  doch  selbst  unsern 
Primanern  meist  unbekannt ;  haben  sie  ja  erst  einem  feinerNachempfindenden 
etwas  zu  sagen.  Aber  auch  hier  dürfen  wir  wohl  an  diesen  Schöpfungen  nicht 
ganz  stumm  vorübergehen,  „zu  denen  ihn  die  langjährige  Versenkung  in 
Volkstum  und  Vergangenheit  der  Heimat  wie  die  berufsmäßige  Beobachtung 
der  Gegenwart,  der  er  als  Tageskritiker  oblag"  (H.  Maync)  in  gleicher  Weise 
befähigten. 

Ist  es  nicht  eigenartig,  daß  Fontane  erst  1878,  also  als  fast  60 jähriger, 
den  Zweig  der  Literatur  erkannte,  der  ihm  noch  bis  zum  letzten  Lebensjahre 
immer  neue  Knospen  trieb,  dem  er  seinen  unvergänglichen  Ruhm  sonderlich 
verdankt,  diesen  Schritt  vom  Heroischen  zum  Bürgerlichen  wagte?  Wie 
die  damals  stürmende  und  drängende  Jugend  zeigt  er  sich  auch  in  den  Ro- 
manen von  dem  Kulturwerte  der  großen  Stadt  durchdrungen,  in  der  er  noch 
nicht  den  Giftherd  des  Proletariats  sieht.  Noch  birgt  ihm  auch  die  Weltstadt 


Was  kann  Fontane  unsern  Schülern  sein?  77 

Idylle  und  patriarchalische  Zustände.  Das  Weh,  die  Sorgen  der  Arbeiter 
bleiben  ihm  verschlossen,  er  kennt  nur  die  Konflikte  der  Menschen  aus  der 
guten  Gesellschaft. 

Die  Personen  zeigen  zunächst  die  selbe  abgeklärte  Lebensanschauung 
und  vorurteilslose  Güte,  die  wir  bei  den  Gestalten  von  Marie  von  Ebner- 
Eschenbach  kennen  (Röhl),  die  wir  ebenso  bei  seinem  Altersgenossen  Klaus 
Groth  finden.  Ist  das  Jahr  1819  doch  ein  besonders  reiches  Jahr,  das  uns 
ne)3en  Keller  und  Fontane  auch  diesen  sinnigen  Dichter  schenkte,  wie 
das  ganze  Jahrzehnt  fruchtbar  war  an  Schriftstellern,  die  uns  etwas  auch 
künftig  zu  sagen  haben  werden.  Wurde  doch  geboren  1810  Fritz  Reuter, 
1812Auerbach,  1813  Hebbel  und  Ludwig  und  Richard  Wagner,  1816 
Gustav  Freytag,  1817  Theodor  Storm  und  Luise  von   Fran^ois. 

Alle  seine  Romane,  soweit  er  sie  in  Berlin  und  der  Mark  spielen  läßt, 
brachten  Fontane  neue  Leser  und  Verehrer.  Wunderbarerweise  blieb  dem 
märkischen  Wanderer  die  Romantik  des  Gebirges  ganz  verschlossen,  obwohl 
er  oft  den  Harz  aufsuchte  und  manche  Woche  auch  in  Wernigerode  weilte. 
So  können  sich  seine  Gestalten  zur  Not  noch  der  Umgebung  und  Art  von 
Thale  an  der  Bode  einfügen  und  heimisch  fühlen,  diesem  Harzorte,  der  fast 
ein  Vorort  von  Berlin  war.  So  würde  es  heute  wohl  dem  Dichter  auch  gelungen 
sein,  eine  Geschichte  in  Schierke  spielen  zu  lassen.  Aber  für  den  eigentlichen 
Reiz  des  Gebirges  bleibt  er  spröde,  sind  daher  auch  seine  Gestalten  nicht 
recht  empfänglich. 

Während  er  zuerst  noch  unter  dem  Einflüsse  von  Willibald  Alexis 
und  Walter  Scott  stand,  wird  er  bald  selbständig,  ganz  er  selbst,  wenn 
auch  noch  ab  und  an  ein  Motiv  an  andere  erinnert,  wie  das  rücksichtslose 
Rechtsgefühl  in„GreteMinde",  einem  der  wenigen  EücherFontanes,  die  auch 
schon  ein  Primaner  mit  Verständnis  lesen  wird,  an  Kleists  Michael  Kohlhaas. 

Seine  Romane,  die  einen  starken  Einfluß  auf  Thomas  Mann  und  Georg 
Hermann  hatten,  sind  ihm  Herzenssache,  sind  ihm,  trotz  der  Vorliebe  des 
Publikums  für  Brachvogel  und  die  Marlitt,  Quellen  der  Freude,  nachdem 
er  für  den  Reichsbuchdrucker  Decker  in  langer  Fronarbeit  3500  Seiten  in 
Lexikonformat  Geschichte  der  Kriege  1864,  1866  und  1870/71  geschrieben 
hatte,  mit  Bienenfleiß,  aber  ohne  innere  Teilnahme,  ganz  im  Gegensatze 
zu  dem  immer  wieder  lesenswerten,  von  einem  goldigen  Humor  durchwirkten 
Bändchen  „Kriegsgefangen",  das  eigene  Erlebnisse  schildert.  „Die  Leute 
erwarten  eine  haarsträubende  Räubergeschichte  mit  Hungerturm  und  Ketten- 
gerassel, und  was  ich  ihnen  zu  bieten  habe,  ist  zu  ^/lo  ein  Idyll",  schreibt 
er  darüber  an  seinen  Verleger,  nachdem  der  „harmlose  Scholar"  durch  Bis- 
marcks  Bemühungen  frei  geworden  war. 

Besonders  wohltuend  wirkt  in  dieser  herrlichen  Schilderung  seiner  Erleb- 
nisse von  Domremy  bis  zur  Isle  d'Oleron,  seiner  fast  fröhlichen  „Festungstid", 
wie  in  seinen  sonstigen  Kriegsberichten  das  Fehlen  jeder  verstiegenen  Redens- 
art. Schrieb  er  doch  selbst  über  diese  Tätigkeit  die  urgesunden  Worte:  „In 
allen  ehrlichen  Zeit-  und  Kriegsberichten  ist  immer  mehr  von  Beefsteaks 
und  Rotwein  als  von  Vaterland  und  Schlachtentod  die  Rede." 


78  Paul  Menge, 

Wie  die  Wanderungen  das  Gefülil  für  seine  Heimat  in  ihm  gestärkt 
hatten,  so  die  Kriege  das  Gefühl  für  seine  Zeit.  Im  Kleinsten  sucht  er  das 
Größte;  das  befähigt  ihn  zum  Führertum  der  künstlerischen  Jugend. 

„Immer  mehr  wird  er  ein  sein  eigenes  Weltbild  gestaltender  Dichter. 
Mag  die  von  ihm  geschilderte  Gesellschaft  zum  Teil  dekadent  und  philiströs 
sein,  der  Dichter  ist  nichts  weniger  als  Verfallzeitler  und  durchaus  eigen- 
artig" (Bartels). 

Reichste  Früchte  sollte  der  Greis  noch  ernten,  ähnlich  wie  Goethe  noch 
im  Patriarchenalter  ,, Faust  11"  schuf,  während  bei  Keller  Höhe  des  Lebens 
und  Schaffens  zusammenfällt. 

Als  71  jähriger  schreibt  er  sein  nach  poetischem  Gehalte  wie  äußerer 
Technik  reifstes  Werk  „Irrungen  und  Wirrungen".  So  sorgfältig  er  auch 
sonst  malt,  so  prächtig  geschlossene  Einzelbilder  er  gestaltet,  der  Gesamt- 
aufbau ist  meist  recht  locker.  Wie  Hermann  Kurz  hat  er  den  kulturhisto- 
rischen und  psychologischen  Roman  glücklich  verbunden.  Das  Höchste  an 
Kleinmalerei  erreicht  er  in  „Stine",  einer  durch  Verbindung  von  Groteske  und 
Tragödie  fast  shakespearisch  anmutenden  Novelle.  Auch  hier  zeigte  er  sich 
aber  gefeit  gegen  Zolas  Naturalismus,  der  damals  in  Deutschland  viele  Nach- 
ahmer findet.  Er  ist  kein  Ausmaler,  er  ist  ein  Andeuter.  Ein  Hauch  Hegt 
über  den  Werken  dieses  „Impressionisten". 

In  allen  diesen  Geschichten  räumt  er  dem  Adel  und  dem  lebenstüchtigen, 
weltfrommen,  schlichten  Bürgertum,  das  auf  alle  Kraftmaierei  verzichtet, 
das  Recht  ein,  Tragödien  zu  erleben,  tiefen  Schmerz  zu  durchkosten.  Ver- 
haßt ist  ihm  alles  Nurkorrekte  und  Ehrpusselige,  alle  selbstgerechte  Tugend, 
Überheblichkeit  und  Wichtigkeitsgefühl,  alles  Philister-  und  Muckertum. 
Lustig  macht  er  sich  gern  über  das  Bourgoistum  ,,mit  seiner  Kleinstietzigkeit 
und  seinem  unausgesetzten  Verlangen,  auf  nichts  hin  bewundert  zu  werden" 
(Wandrey). 

Glücklich  ist  seine  Gabe,  schon  durch  die  ersten  Sätze  Teilnahme  zu  er- 
regen, anerkennenswert  sein  Verzicht,  die  Schlüsse  theatralisch  aufzubauschen. 
Unübertroffen  ist  sein  Geschick,  den  Dialog  zu  verwenden.  Liebte  er  es  doch 
nicht,  seine  Menschen  äußerUch  oder  durch  Reflexionen  zu  schildern,  sondern 
sie  durch  ihre  Sprache  zu  veranschaulichen  (Richard  Moses  Meyer).  „Ein 
Triumph  Fontanescher  Unterhaltungskunst  sind  seine  Tischgespräche.  Mit 
der  selben  Meisterschaft  handhabt  er  den  Jargon  der  Kasinogespräche,  die 
bayrische  Kneipstube,  das  Kommerzienratdiner,  die  kleinbürgerliche  Ge- 
sellschaft, das  Adelsfest"  (G.  Roethe).  Hier  zeigt  sich  seine  französische  Ab- 
kunft, die  gern  nach  feinen  Pointen  hascht,  sich  freut  an  zugespitzten  Wen- 
dungen, wie  wir  sie  in  den  gleichzeitig  entstehenden  Sprüchen :  „Ja,  das  möcht* 
ich  noch  erleben"  und  „Aber  wir  lassen  es  andere  machen"  antreffen  und 
bewundern. 

Erstaunlich  ist  der  Reichtum  charakteristischer,  oft  drolliger  Menschen, 
überraschend  ihre  Vielseitigkeit  und  Verschiedenheit  in  Art  und  Wort.  Un- 
gemein scharf  ist  die  Charakteristik  der  verschiedenen  Schichten  der  Berliner 
Gesellschaft.    Er  kennt  sich  ebenso  gut  aus  in  den  Salons  der  Prinzen  und 


Was  kann  Fontane  unsern  Schülern  sein?  79 

Millionäre  wie  in  den  schlicht  bürgerlichen  Häusern  und  Schlössern  des  mär- 
kischen Adels. 

So  hat  er  in  restloser,unermüdlicher  Arbeit  jeneVoUkommenheit  derKunst 
erreicht,  „die  ihren  dreifachen  Ruhmestitel  offenbart  in  geistiger  Durch- 
dringung,   Vorurteilslosigkeit    und    Stilgefühl." 

Äußere  Ehren  werden  ihm  zuteil  und  reißen  ihn  gegen  seinen  Willen 
noch  einmal  an  die  Öffentlichkeit:  Die  Feier  seines  75.  Geburtstags  durch 
Verleihung  des  Ehrendoktors,  auf  Veranlassung  von  Th.  Mommsen  und 
ErichSchmidt,dieZuteilung  des  Schillerpreises.  Ihn  begleiten  langbewährte 
Treue  alter  Kameraden  und  die  noch  immer  wachsende  Liebe  des  jetzigen 
Geschlechts;  so  konnte  er  sich  des  Goetheschen  Wortes  getrösten:  „Was 
man  in  der  Jugend  wünscht,  hat  man  im  Alter  die  Fülle." 

Dem  78jährigen  nahm  am  20.  September  1898  ein  sanfter  unerwarteter 
Tod  die  Feder  aus  der  Hand  und  entriß  ihn  wie  Ziethen  aus  dem  Busch 
seinen  noch  immer  vielseitigen  Entwürfen.  Er  hatte  den  Tod  nie  gefürchtet, 
nur  seine  Rüden,  die  Meute,  die  stückweis  das  Leben  zerreißt  und  uns  zögernd 
in  die  Grube  hetzt.  Davon  ist  er  verschont  geblieben,  und  so  wandelt  er  den 
Seinen  und  allen  Getreuen  unter  den  Schatten  als  hochgewachsener,  un- 
gebeugter Mann,  dem  die  blonden  Locken  wohl  verblichen  waren,  aber  im 
schönen,  feingeschnittenen  Antlitz  ein  blaues  Augenpaar  hell  leuchtete,  der 
frei  ausschritt,  ungeschwächt  am  Werke  blieb  und  in  den  Erholungsstunden 
als  eines  der  liebenswürdigsten  Menschenkinder  seine  Umgebung  bezauberte 
(Er.  Schmidt). 

Diesem  ungebeugten  Manne  verdanken  wir  auch  ein  aufrichtendes  Memento. 

2.  Mach  dich  vertraut  mit  dem  Gedanken, 
daß  doch  das  Letzte  kommen  muß, 
Und  statt  in  Trübsal  hinzukranken, 
Wird  dir  das  Dasein  zum  Genuß. 

3.  Du  magst  nicht  länger  mehr  vergeuden, 
die  Spanne  Zeit  in  eitlem  Haß. 

Du  freu<;t  dich  reiner  deiner  Freuden 
Und  sorgst  nicht  mehr  um  dies  und  das. 

4.  Du  setzest  an  die  rechte  Stelle 
Das  Hohe,  Göttliche  der  Zeit, 
Und  jede  Stunde  wird  dir  Quelle 
Gesteigert  neuer  Dankb?rkeit. 

Ein  schlichtes  Grab  deckt  ihn  auf  dem  französischen  Kirchhof  in  Berlin, 
der  2000000  Kaiserstadt,  deren  Entwicklung  von  der  Residenz  Friedrich  Wil- 
helms III.  er  mit  durchlebt  hatte. 

Eine  feine  Heiterkeit  hatte  ihn  über  alltägliches  Leid  gehoben,  Heß  ihn 
auch  am  Kleinsten  Freude  finden,  aus  Giftblumen  Honig  saugen.  Überall 
hörte  er  die  Musik  des  Lebens  und  überließ  es  andern,  sich  über  seine  Disso- 
nanzen zu  empören.  Mit  jugendlicher  Lebensfrische  verbindet  er  alles  ver- 
stehende Milde  und  weise  Welterkenntnis  des  Alters.  „Fontane  ist  kein  Welt- 
anschauungsdichter wie  Hölderlin  oder  Hebbel;  sein  Weltbild  ist  nicht  von 
besonderer  Weite,  seine  Weltansicht  nicht  von  besonderer  Tiefe"  (E.  Maync), 
doch  immer  reich  ist  der  geistig-sittliche  Gehalt  seiner  Werke. 


80  I'aul  Menge,  Was  kann  Fontane  unsern  Schülern  sein? 

Wahre  Vaterlandsliebe,  inneres  Glück  und  Zufriedenheit  hat  er  uns 
vorgelebt.  Was  brauchen  wir  jetzt  mehr  als  neue,  starke,  bodenständige  Hei- 
matliebe, die  unerschöpflichenReichtum  birgt,  und  innere  sittliche  Erneuerung, 
die  das  gute  Alte  bewahrt,  das  neue  Gute  nicht  verstößt,  so  wie  es  sein  StechHn 
uns  lehrt:  „Ich  respektiere  dasGegebene,  daneben  freilich  auch  das  Werdende. 
Denn  eben  dieses  Werdende  wird  über  kurz  oder  lang  abermals  ein  Gegebenes 
sein.  Alles  Alte,  soweit  es  Anspruch  darauf  hat,  sollen  wir  lieben,  aber  für 
das  Neue  sollen  wir  recht  eigentUch  leben." 

So  stand  er,  wenn  auch  gern  in  die  Vergangenheit  zurückschauend,  mitten 
drin  in  der  Gegenwart  und  arbeitete  mit  an  der  Lösung  ihrer  schweren  Fragen. 
Wer  kann  uns  da  besser  helfen  in  unsern  Tagen  als  solche  Dichter  wie  Fontane? 
Wir  haben  die  Herrlichkeit  unseres  Vaterlandes  von  Schmerz  gebeugt, 
von  Verzweiflung  auch  wohl  zerrissen,  begraben.  Nun  wollen  wir  es  machen, 
wie  unsere  Soldaten,  wenn  sie  einem  lieben  Kameraden  das  letzte  Geleit  ge- 
geben hatten.  Wir  wollen  nun  nicht  immer  nur  traurig  und  verwaist  rück- 
wärts schauen.  Mit  alten  kernigen  Märschen  gehen  die  Kriegskameraden 
vom  Kirchhofe  zurück  ins  werktätige  Leben.  So  wollen  wir  uns  auch  mit 
neuem  Mut,  frischer  Kraft  beseelen  zu  rastloser  Arbeit  an  uns  für  das  Vater- 
land. Deren  Quellen  und  Wunderborne  kann  uns  nichts  so  vermitteln  wie 
Heimatliebe  und  die  Dichter,  die  uns  den  Heimatboden  so  lieb  machen  mit 
seiner  liebHchen  oder  prächtigen  Natur  und  der  reichen  Geschichte,  die  sich 
wechselvoll  auf  ihm  abgespielt  hat. 

Hier  wollen  wir  die  rechte  Lebenstapferkeit  und  Stärke  gewinnen,  daß 
wir  uns  mit  festem  Willen  und  frischer  Kraft  in  den  Dienst  der  Gegenwart, 
der  Erneuerung  des  Vaterlandes,  stellen  können.  So  führte  Fontane  uns 
in  Gedanken  zurück  in  eine  bessere  schönere  Vergangenheit  und  bereitet 
uns  in  Hoffnung  vor  auf  eine  neue  Wiedergeburt  des  Vaterlandes,  indem 
er  unser  Deutschtum,  das  in  der  Heimat  verwurzelt  ist,  und  echtes  deutsches 
Staatsgefühl  immer  wieder  betont. 
Vorwärts  den  Blick! 

Tröste  aich!  Die  Stunden  eilen; 

Und  was  all  dich  drücken  mag, 

Auch  das  Schlimmste  kann  nicht  weilen: 

Und  es  kommt  ein  andrer  Tag. 

Wernigerode.  Paul  Menge. 

Ein  Wort  zur  Verständigung. 

Im  vorletzten  Heft  dieser  Zeitschrift  hat  Herr  Geh.  Oberregierungsrat 
Dr.  Engwer  meine  Schriften  über  die  wissenschaftliche  Forschung  und  über 
die  Grundlegung  der  Sprachwissenschaft  einer  sehr  eingehenden  und  wohl- 
wollenden Kritik  unterzogen.  Der  umfangreiche  und  gedankenvolle  Auf- 
satz geht  über  den  gewöhnlichen  Rahmen  einer  Besprechung  weit  hinaus 
und  enthält  neben  der  treffenden  Wiedergabe  meiner  Vorschläge  vor  allem 
ein  großzügiges  Programm  künftiger  Schulreform.  Es  wird  allen  drei  Neben- 
buhlern, den  Alt-  wie  den  Neuphilologen  und  ebenso  den  Naturwissenschaftlern 


E.  Otto,  Ein  Wort  zur  Verständigung.  gl 

ihr  Recht  gelassen  —  vorausgesetzt,  daß  sie  den  Unterricht  im  Sinne  einer 
wohlverstandenen  Arbeitsgemeinschaft  erteilen  und  mit  wissenschaftlichem 
Geist  durchdringen.  So  werden  sie  alle  an  verschiedenem  Stoffe  gleich  tüchtige 
Menschen  und  Staatsbürger  bilden.  Es  klingt  etwas  wie  Lessingsche  Ver- 
söhnlichkeit in  den  heftigen  Streit  der  Meinungen. 

Engwer  fordert  alle  Philologen  und  ganz  besonders  die  Sprachler  auf, 
zu  den  Fragen  und  Vorschlägen  Stellung  zu  nehmen.  Da  mag  es  mir  vergönnt 
sein,  als  erster  in  die  Schranken  zu  treten,  da  es  ja  zum  guten  Teil  um  meine 
Haut  geht. 

Zunächst  seien  in  gedrängtester  Kürzs  die  Punkte  aufgezählt,  mit  denen 
sich  Engwer  im  großen  und  ganzen  einverstanden  erklärt. 

1.  Die  Scheidung  der  Sprachwissenschaft  in  Sprach-  und  Sprechkunde. 
Wie  in  allen  übrigen  Wissenschaften  bloße  Punktionen  von  den  Entwicklungs- 
erscheinungen zu  sondern  sind,  so  ist  auch  in  der  Sprachwissenschaft  zwischen 
dem  funktionalen  Handeln,  dem  Sprechakt,  und  dem  evolutionalen  Ergebnis, 
der  historisch  gewordenen  Sprache,  ein  Unterschied  zu  machen. 

2.  Unterscheidung  von  Beschreibung  und  Erklärung.  Alle  Wissenschaften 
beginnen  mit  der  Beschreibung  der  Tatsachen.  Die  funktionelle  Forschung 
bleibt  jedoch  bei  der  Beschreibung  gesetzmäßiger  Abhängigkeitsverhältnisse 
stehen.  Die  evolutioneile  Erforschung  aller  Geschichtswissenschaften  schreitet 
weiter  zur  Erklärung.  An  die  Frage  des  ,,Wie"  reiht  sich  also  die  nach  dem 
,,Wozu" ;  zu  der  Erkenntnis  der  Funktion  tritt  noch  das  Verständnis 
des  Gewordenen.  Die  Erklärung  dieser  Entwicklungserscheinungen  kommt 
durch  Aufweisung  der  Bedingungen  und  Triebkräfte  zustande.  Aus  der 
Erkenntnis  beider  Faktoren  schließt  man  auf  die  Notwendigkeit  der 
Entwicklung.  Die  gleiche  Behandlurg  aller  geschichtlichen  Gebiete  führt 
zu  einem  wissenschaftlich  vertieften  Unterricht,  der  alle  verwandten  Fächer 
umspannt. 

3.  Unterscheidung  von  begrifflicher  Bedeutung  und  syntaktischer  Be- 
ziehungsbedeutung in  der  Sprachwissenschaft.  Den  Satzworten,  also  auch 
den  Präpositionen,  kommt  eine  selbständige  Bedeutung  zu.  Das  ist  das 
Gebiet  der  Wortlehre.  Dagegen  hat  es  die  Syntax  mit  den  Beziehungs- 
bedeutungen der  Beziehungsmittel  zu  tun:  Beziehungslehre. 

4.  Grundsätzliche  Gleichwertigkeit  aller  Beziehungsmittel.  Die  Flexion 
ist  demnach  gegenüber  der  Wortstellung,  derStimmodulation,  dem  dynamischen 
Akzent  usw.  nicht  das  Beziehungsmittel,  sondern  nur  ein  Beziehungsmittel 
neben  vielen  anderen.  Die  Wortart  ist  auch  ein  Beziehungsmittel!  Es  gibt 
fünf  Wortarten. 

5.  Unterscheidung  von  synthetischer  und  analytischer  Bildungsart  der 
Beziehungsmittel.  Formen  wie  mensae,  amavit  sind  synthetisch,  dagegen 
sind  ä  la  table,  il  a  aime  analytisch.  Wir  haben  es  also  hier  nicht  mit 
verschiedenen  Beziehungsmitteln,  sondern  nur  mit  einer  verschiedenen  Bil- 
dungsweise der  Formen  zu  tun. 

Soweit  die  Übereinstimmung!  Werden  diese  Grundsätze  allgemein, 
von  Alt-  und  Neusprachlern,  angenommen,  so  folgt  daraus  eine  Vereinheit- 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  6 


82  E.  Otto.  Ein  Wort  zur  Verständigung. 

lichung  der  gesamten   Grammatik.     Die  Bezeichnung  der  grammatischen 
Ausdrücke  ist  dann  nicht  mehr  schwer.    Für  die  Schule  bedeutet  diese  Eini- 
gung eine  weitgehende  Entlastung. 
Sodann  einige  strittige  Punkte. 

1.  Engwer  ist  auch  der  Meinung,  daß  die  begriffliche  Bedeutung  sich 
immer  mehr  abschwächen  und  zur  bloßen  Beziehungsbedeutung  werden 
kann;  so  hat  ä  in  ä  la  table  =  dem  Tische  nur  noch  Beziehungsbedeutung 
und  keinen  begrifflichen  Sinn.  Es  entspricht  also  mensae  und  hat  nicht  mehr 
den  Sinn  zu,  nach,  an.  Wenn  nun  Engwer  Bedenken  äußert,  ob  //  va  venir 
reines  Futurum  ist,  ob  der  Artikel  in  l'or  gar  keine  begriffliche  Bedeutung 
hat,  so  gestehe  ich  zu,  daß  es  zuweilen  überhaupt  nicht  zu  entscheiden  ist, 
wie  weit  die  Abschwächung  der  begrifflichen  Bedeutung  zur  bloßen  Be- 
ziehungsbedeutung zu  einer  bestimmten  Zeit  und  selbst  in  einem  bestimmten 
Fall  fortgeschritten  ist.  Sprache  ist  ja  Leben,  Neuschöpfung  und  Vergehen. 
Was  //  va  venir  anbetrifft,  so  ist  es  gegenüber  liviendra  eine  bestimmte 
Aktionsform  des  Futurums. 

2.  Die  leidige  Frage:  Was  ist  ein  Satz?  Mir  ist  gewiß  ein  Fehler  unter- 
gelaufen, wenn  ich  in  der  Satzdefinition  das  Wort  „Satz"  wieder  aufge- 
nommen habe.  Ebenso  ist  unbedingt  zuzugestehen,  daß  die  Definition  Wundts, 
wenn  sie  von  allen  offenbaren  Irrtümern  gereinigt  wird,  etwas  sehr  Verlocken- 
des hat.  Die  Bestimmung  des  Satzes  als  ,, sprachliche  Gliederung  einer  Ge- 
samtvorstellung" ist  allerdings  sowohl  für  die  evolutionelle  als  auch  für  die 
funktionelle  Forschung  schlechthin  zu  gebrauchen,  falls  man  dabei  nun  wirk- 
lich nicht  übersieht,  daß  Gliederung  einmal  das  Ergebnis  und  dann  auch 
der  Akt  der  Gliederung  sein  kann,  also  das  Gegliederte  und  das  Gliedern. 
Diese  Definition  ist  auch  für  die  Schule  zu  gebrauchen.  Was  die  funktionelle 
Forschung,  die  Sprechkunde,  im  besonderen  anbelangt,  so  wird  man  im 
Auge  zu  behalten  haben,  daß  die  Gliederung  in  der  Aussonderung  der  Begriffs- 
worte sowie  in  ihrer  Bindung  durch  Beziehungsmittel  geschieht. 

Immerhin  wird  man  für  die  evolutioneile  Forschung,  für  die  Sprach- 
kunde, eine  Fassung  erwarten,  die  das  historische  Ergebnis  der  Gliederung 
—  Begriffsworte  und  Bezie  hungf mittel  —  enthält.  So  könnte  man  kurz 
und  bündig  sagen:  Der  geschichtlich  gewordene  Satz  ist  die  Gesamtheit 
der  in  Beziehung  gesetzten  Begriffsworte.  Daran  würde  gleich  eine  Einteilung 
der  Grammatik  anknüpfen  können. 

3.  Schließlich  die  Streitfrage,  ob  der  Satz  oder  das  Wort  das  Primäre 
sei.  Unklarheiten  in  dieser  Hinsicht  haben  allerdings  in  der  methodisch- 
didaktischen Literatur  recht  viel  Unheil  gestiftet!  Vielleicht  ist  die  Ent- 
scheidung die:  man  hat  wieder  zu  unterscheiden  a)  den  gesprochenen  Satz 
und  b)  den  historisch  gewordenen  Satz. 

a)  Im  Falle  des  gesprochenen  Satzes  ist  die  Gesamtvorstellung  d£S 
erste,  es  folgt  die  mehr  oder  weniger  unbewußte  Aussonderung  der  Bfgriffs- 
worte  und  dann  ihre  Bindung  im  Satz  mit  Hilfe  der  Beziehungsmittel.  Im 
allgemeinen  werden  sich  diese  Vorgänge  recht  durchkreuzen. 


Fritz  Ehringhaus,  Der  Lehrplan  für  den  Lateinunterricht  an  Oberrealschulen.       83 

b)  Im  Falle  des  historisch  gewordenen  Satzes  ist  wohl  zu  unterscheiden 
die  ontogenetische  und  phylogenetische  Forschung.  Das  sprechen  lernende 
Kind  findet  den  Wortvorrat  sowie  die  Satzfügung  vor  und  wächst  allmählich 
in  diese  geschichtlich  gewordenen  Kulturgüter  hinein.  Für  die  phylogenetische 
Forschung  steht  es  wohl  ähnlich  wie  mit  dem  Ei  und  dem  Huhn.  Wer  will 
sagen,  was  früher  war?  Wir  werden  diese  Frage  also  ganz  zurückstellen  müssen. 

Vielleicht  ist  es  nicht  unbescheiden,  wenn  ich  auch  meinerseits  zurStellung- 
nahme  zu  allen  diesen  Schwierigkeiten  der  Sprachforschung  auffordere. 
So  würden  sich  auch  die  Freunde  dieser  Zeitschrift  zu  einer  Arbeitsgemein- 
schaft zusammenfinden.  Handelt  es  sich  doch  um  die  grundlegenden  Fragen, 
die  uns  immer  wieder  in  der  Theorie  und  in  der  Praxis  des  Unterrichts  be- 
gegnen. 

Berlin-Reinickendorf.  E.  Otto. 


Der  Lehrplan  für  den  Lateinunterricht  an  Oberrealschulen  von  1918*). 

x'Am  4.  April  191S  ist  ein  Erlaß  über  den  Lateinunterricht  an  Ober- 
realschulen erschienen,  der  schon  lange  herbeigesehnt  worden  ist  und  sehr 
viel  berechtigte  Klagen  über  dieses  Fach  ha;  verstummen  lassen.  Un- 
glücklicherweise ist  ja  schon  lange  der  Mangel  an  lateinischem  Unterricht 
als  das  Kennzeichen  der  Real-  und  Oberrealschulen  hingestellt  worden,  und 
leider  trägt  die  Zeitschrift  für  Realanstalten  heute  noch  den  Titel  ,, Zeitschrift 
für  lateinlose  höhere  Schulen",  trotzdem  schon  seit  einem  Jahrzehnt  auch 
in  vielen  Oberrealschulen  Lateinkurse  gegeben  wurden.  Letzteres  sehen  ja 
viele  Freunde  der  Realschulen  als  einen  Fehler  an.  Ursprünglich  hatten 
auch  die  Realanstalten  keinen  Lateinunterricht,  aber  seit  durch  den  be- 
rühmten kaiserlichen  Erlaß  vom  26.  November  1900  die  Gleichberechtigung 
der  höheren  Lehranstalten  erreicht  worden  war,  stellte  sich  mehr  und  mehr 
das  Bedürfnis  heraus,  den  Schülern  schon  während  der  Schulzeit  Gelegen- 
heit zu  geben,  diejenigen  Lateinkenntnisse  sich  zu  erwerben,  die  sie  für  das 
Studium  nötig  hatten.  An  vielen  Oberrealschulen  wurden  deshalb  —  ähn- 
lich wie  am  Gymnasium  englische  —  lateinische  Kurse  eingerichtet.  Aber 
während  den  Gymnasiasten  über  den  erfolgreichen  Besuch,  lediglich  auf 
Grund  des  Urteils  des  Fachlehrers,  ein  Urteil  über  ihre  Leistung  in  das  Reife 
Zeugnis  eingetragen  wurde,  war  dies  den  Oberrealschülern,  die  Latein  lernten 
auft'älligerweise  nicht  zugebilligt  worden.  Der  Unterricht  galt  als  Privatunter- 
richt, und  das  besondere  Zeugnis  des  Direktors  über  den  erfolgreichen  Be- 
such des  Kursus  war  kein  amtliches  Zeugnis,  wie  das  Reifezeugnis.  Infolge- 
dessen ließen  viele  Universitätsprofessoren  dasselbe  zur  Zulassung  für  das 
Seminar  nicht  gelten.  Mit  Recht  betrachteten  die  Freunde  der  Realanstalten 
diese  verschiedene  Behandlung  als  Unrecht  und  wünschten  eine  Änderung 
dieses  unerquicklichen  Zustande s,  der  offensichtlich  eine  schwere  Benach- 
teiligung   der  Oberrealschulen  war.  Durch    den  Erlaß    ist  nun  der  Latein- 


1)  Dieser  Aufsatz  ist  schon  vor  längerer  Zeit  eingesandt  worden,  konnte  aber  nicht 

eher   gebracht   werden.     Die  Erfahrungen  der  letzten  Jahre    haben    die  Rich.igkeit    der 

Darlegungen  bewiesen. 

6* 


84  Fritz  Ehrin  ghaus, 

Unterricht  wahlfreier  Unterricht  —  ebenso  wie  das  EngHsche  am  Gymna- 
sium —  geworden,  und  das  Urteil  über  die  Leistungen  im  Lateinischen  wird 
in  das  Reifezeugnis  aufgenommen  —  ebenso  wie  das  über  das  Englische  im 
Gymnasium  — .  Allerdings  besteht  noch  ein  großer  Unterschied  zwischen 
dem.  Gymnasium  md  der  Oberrealschule.  Der  Gymnasiast,  der  Englisch 
lernt,  braucht  keine  Schlußprüfung  abzulegen,  der  Oberrealschüler  aber  muß 
jetzt  eine  schriftliche  und  mündliche  Schlußprüfung  machen.  Wenn  ich 
auch  diese  Bestimmung  des  neuen  Erlasses  für  richtig  und  wertvoll  halte, 
so  frage  ich  m'ch  doch,  warum  w'rd  der  Gymnasiast  hierin  besser  behandelt 
wie  der  Oberrealschüler?  Oder  wird  die  Bestimmung  über  das  Englische 
gerech terweisc  auch  geändert  werden? 

Freuen  wir  uns  zunächst  über  die  Tatsache,  daß  der  Unterricht  im  Latein 
jetzt  als  wahlfreies  Fach  betrachtet  und  sein  Ergebnis  in  das  amtliche  Reife- 
zeugnis eingetragen  wird.  Damit  ist  schon  viel  erreicht.  Nun  kann  und  darf 
kein  Universitätsprofessor  einen  Oberrealschüler  von  der  Teilnahme  am  Se- 
minar zurückweisen,  weil  ihm  das  bisherige  Zeugnis  nicht  genügte.  Früher 
war  das  ja  recht  unangenehm,  aber  noch  nicht  so  schlimm,  weil  die  Prüfungs- 
ordnung nicht  die  Teilnahme  an  den  Seminarübungen  unbedingt  verlangte. 
In  der  neuen  Prüfungsordnung  wird  sie  aber  gefordert,  und  es  ist  deshalb 
sehr  viel  wert,  daß  den  Oberrealschülern  jetzt  keine  Schwierigkeiten  mehr  , 
gemacht  werden  können. 

IL  Das  Wichtigste  an  dem  Erlaß  ist  aber  die  Aufstellung  eines 
festen  Lehrplans.  Bis  jetzt  trieb  fast  jeder  Lehrer  den  Unterricht  in  anderer 
Weise.  Der  eine  —  und  das  waren  wohl  leider  sehr  viele  —  trieb  fast  gar  keine 
Grammatik  und  legte  gar  keinen  Wert  auf  Sicherheit  in  den  Deklinationen 
und  Konjugationen  sowie  auf  die  Kenntnis  eines  Vokabelschatzes  —  denn 
er  hielt  das  für  öde  Paukerei  — ,  sondern  las  möglichst  viele  Schriftsteller, 
der  andere  wieder  legte  auch  Wert  auf  eine  sichere  Grundlage  und  begnügte 
sich  mit  Caesars  , .Bellum  Gallicum".  Da  war  es  denn  kein  Wunder,  daß  die 
Leistungen  sehr  verschieden  waren.  Auch  ist  es  keineswegs  verwunderlich, 
daß  vieleUniversitätsprofessoren  infolge  dieser  Ungleichmäßigkeit  n'chts  auf  das 
besondere  Zeugnis  des  Direktors  gaben.  Es  war  daher  sehr  richtig,  daß  aus 
den  Kreisen  der  Oberrealschule  selbst  hiergegen  angekämpft  und  eine 
Lösung  der  Frage  angestrebt  wurde.  Herrn  Oberrealschuldirektor  Dr.  Ellenbeck  » 
in  Gummersbach  und  Herrn  Studienrat  Schmidt-Mancy  in  Krefeld  gebührt 
wohl  das  Verdienst,  daß  sie  die  Frage  in  Fluß  gebracht  und  den  Erlaß 
herbeigeführt  haben.  Nach  dem  Lehrplan  von  1918  müssen  in  O  II 
ein  ganzes  Jahr  lang  (zwei  Stunden  wöchentlich)  im  Anschluß  an  ein 
Lehrbuch  die  Deklinationen  und  Konjugationen  —  unter  Ausschluß  aller 
Seltenheiten  —  sowie  die  am  häufigsten  vorkommenden  Konstruktionen  des 
Satzbaues  (A.  c.  J,  Partizipialkonstruktionen,  konjunktionale  Nebensätze) 
durchgefiommen  und  eingeübt  werden,  wobei  auch  Übersetzungen  aus  dem 
Deutschen  ins  Lateinische  vorgesehen  sind,  damit  die  Grundlage  fest  und  sicher 
eingeübt  wird.     Möge  dies  von  allen  Lehrern  beachtet  werden! 


Der  Lehrplan  für  den  Lateinunterricht  an  Oberrealschulen.  85 

In  U  I  sollen  die  wichtigsten  Casus-,  Tempus-  und  Modusregeln  an  Muster- 
beispielen oder  durch  Ableitung  aus  dem  Lesestoff  abgeleitet  werden  und 
ca.  100  Kapitel  aus  Caesar  „Bellum  Gallicum"  (etwa  I  1,  30-54  II  15—28 
IV  1—3  V  8-23  VI  11-28  VII  69-90)  gelesen  werden. 

In  O  I  sollen  schwierige  syntaktische  Regeln  (indirekte  Rede  und  Frage- 
sätze) sowie  stilistische  und  synonymische  Feinheiten  gelegentlich  des  Lese- 
stoffes durchgenommen  werden.  Gelesen  werden  sollen:  leichtere  Abschnitte 
aus  einer  Rede  Ciceros,  aus  Livius,  Tacitus  oder  Florus.  Daneben  können, 
wenn  der  Klassenstandpunkt  der  Schüler  und  die  Zeit  es  zulassen,  auch  Teile 
von  Ovid,  Vergil  und  Horaz  durchgenommen  werden. 

Im  großen  und  ganzen  kann  man  sich  über  den  Lehrplan  für  0  II  und 
U  I  nur  freuen.  Ich  wünschte  nur,  daß  die  Casuslehre  schon  in  O II  im  Anschluß 
an  das  Lesebuch  eingeübt  würde  und  verstehe  nicht,  daß  die  indirekte  Rede 
erst  für  O  I  vorgesehen  ist.  Bei  der  Lektüre  von  Caesar  (z.  B.  I  30-  54)  muß 
man  sie  doch  durchnehmen. 

Dagegen  halte  ich  es  für  unmöglich  und  für  zu  weitgehend,  in  O  I  Cicero, 
Livius  und  Tacitus  zu  lesen.  Als  Lehrziel  ist  in  dem  neuen  Erlaß  aufgestellt 
„Einführung  in  das  Verständnis  leichterer  lateinischer  Schriftsteller".  Kann 
man  Livius  und  Tacitus  zu  den  leichteren  Schriftstellern  rechnen?  Können 
Oberrealschüler  Schriftsteller  lesen,  die  im  Realgymnasium  und  Gymnasium 
erst  in  Prima  gelesen  werden?  Wenn  es  wenigstens  hieße  Cicero  oder  Livius 
oder  Tacitus !  Ich  gestehe  offen,  es  wäre  mir  lieber  gewesen,  wenn  noch  IV 
4—19  V  38—54  VII  36—53  aus  Caesar  verlangt  würde  und  dann  nur  noch 
ein  anderer  Schriftsteller,  Cicero  oder  Livius  Buch  22  teilweise,  oder  Teile 
von  Ovid  oder  Vergil. 

III.  Sehr  bedeutungsvoll  sind  auch  die  neuen  Bestimmungen  über  die 
Zulassung  der  Schüler  und  die  Methodik  des  Unterrichts.  Bisher  wurde  viel- 
fach jeder  nach  O  II  versetzte  Schüler  zugelassen;  der  Kursus  begann  manch- 
mal mit  30—40—50  Schülern.  Es  war  ganz  unmöglich,  mit  einer  solchen 
Masse  etwas  zu  leisten,  zumal  der  Unterricht  Privatunterricht  war.  Jetzt 
ist  angeordnet,  daß  nur  bessere  Schüler  zugelassen  werden  sollen.  Früher 
blieben  manche  Schüler  drei  Jahre  im  Unterricht,  auch  wenn  sie  nichts  lernten, 
in  der  Hoffnung,  doch  noch  im  letzten  Vierteljahr  sich  das  Zeugnis  erringen 
zu  können;  jetzt  werden  die  Schüler,  deren  Leistungen  nicht  befriedigen  mit 
Recht  von  der  Teilnahme  in  der  nächsthöheren  Klasse  ausgeschlossen. 

Wie  schon  erwähnt  wurde,  müssen  die  Schüler  beim  Abgang  eine  münd- 
liche und  schriftliche  Prüfung  ablegen,  in  der  sie  Sicherheit  in  der  Elementar- 
grammatik, zureichende  Vokabelkenntnis  und  Verständnis  nicht  zu  schwieriger 
Schriftsteller  nachweisen  müssen. 

Endlich  w^ist  der  Erlaß  mit  Recht  darauf  hin,  daß  der  LatC'nunterrcht 
stets  Anknüpfung  an  die  neueren  Fremdsprachen  suchen  soll,  daß  dies  aber 
nur  dann  möglich  und  erfolgreich  geschehen  kann,  wenn  der  französische 
Unterricht  sicheres  grammatisches  Wissen  und  Können  vermittelt  hat.  Hof- 
fentlich wird  die  Gegnerschaft  mancher  Realanstalten  gegen  jeden  gramma- 
tischen Betrieb  immer  mehr  schwinden! 


86  H..  Wickenhagen' 

Der  neue  Erlaß  über  Lateinunterricht  bedeutet  also  einen  großen  Fort- 
schritt und  wird  dazu  dienen,  manche  berechtigte  Klage  über  den  bisherigen 
Betrieb  verstummen  zu  lassen.  Wir  sind  daher  der  Unterrichtsverwaltung 
für  diesen  Erlaß  zu  Dank  verpflichtet,  hoffen  aber,  daß  die  kleinen  Schön- 
heitsfehler an  ihm  mit  der  Zeit  noch  beseitigt  werden. 

Cassel.  Fritz  Ehringhaus. 


Turnen,  Spiel  und   Sport,  im  Lichtender  Gegenwart. 

Ist  über  dieses  Thema  noch  immer  nicht  das  letzte  Wort  gesprochen? 
Was  kann  der  Autor,  so  wird  mancher  sich  fragen,  über  den  Inhalt  und  das 
Verhältnis  der  drei  Begriffe  zueinander  Neues  vorlegen? 

Als  ob  wir,  antworte  ich,  im  Hinblick  aaf  die  Draußenwelt  behaupten 
dürften,  an  der  Grenze  des  Friedens,  an  dem  Idealziele  des  vierfachen  F. 
angelangt  zu  sein!  Und  wird  sich  das  Sehnen  nach  Einheit  in  absehbarer  Zeit 
überhaupt  erfüllen?  Gerade  gegenwärtig  zeigen  sich  wieder  häßliche  Un- 
stimmigkeiten innerhalb  der  Turnerschaft  und  der  Sportverbände.  Gewiß, 
letzten  Endes  wollen  alle  dasselbe,  aber  über  das  ,,Wie"  teilen  sich  die  Wege, 
und  weshalb  soll  es  wohl  hier  glatter  hergehen  als  auf  anderen  heimischen 
Gebieten  der  Volksbildung?  In  Deutschland  ist  jeder  erzogen,  jeder  will 
erziehen,  jeder  hat  sich  eine  Meinung  gebildet,  und  jeder  hält  die  seinige  für 
die  richtige.  Mancher  mag  das  gern  hören,  aber  es  ist  auch  der  Weg, 
auf  dem  der  „deutsche  Michel"  sich  heranbildet. 

Vor  allem  aber  bleibt  zu  bedenken,  daß  die  körperliche  Jugendertüchtigung 
ein  Teil  des  Kulturlebens  im  großen  ist  und  sich  dem  anzupassen  hat,  „immer 
ist  sie  nur  zeit-  und  volksgemäß  zu  treiben,  nach  den  Bedürfnissen  von  Himmel, 
Boden,  Land  und  Volk"  sagt  Jahn.  Damit  erklären  sich  mancherlei  Wand- 
lungen, die  sich  nach  dem  Weltkriege  zu  entwickeln  beginnen. 

Uns  soll  die  Drei  als  Glückszahl  gelten;  wir  möchten  die  Federkraft 
unseres  Jungdeutschland  nicht  lähmen  sondern  beleben,  die  Begriffe  also 
nach  dem,  was  sie  bieten  und  wollen,  nicht  trennen,  sondern  versöhnen. 
So  verlangt  es  die  Pflicht  und  das  Wesen  der  Sache. 

Vom  geschichtlichen  Standpunkte  ist  ja  Turnen,  Spiel  und  Sport  eins. 
Der  alte  Jahn  würde  sich  im  Grabe  herumdrehen,  wenn  er  von  der  Teilung 
der  Nachfahren  hörte.  Für  ihn  gab  es  nur  einWort ,, Turnen" ;  es  umfaßte  alles. 

Er,  der  Mann  mit  der  Blickschärfe  und  dem  abgeklärten  Wirklichkeits- 
sinn, knorrig,  aber  kernhaft  gediegen,  bewährte  sich  als  Meister  im  Sammeln 
aller  sanften  und  derben  Bildungsmittel,  die  er  für  seine  von  hoher  Begeisterung 
getragenen  Ziele  brauchte.  Nichts  ließ  er  sich  entgehen;  man  darf  wohl  be- 
haupten, daß  in  dem  Lehrstoff  unserer  Zeit  kaum  etwas  zu  finden  ist,  dessen 
feinere  Wurzelfaser  nicht  schon  im  Jahnschen  System  sich  nachweisen  ließe. 
Er  konnte  aber  nicht  zugleich  Ordner  sein.  Die  Arbeit  blieb  Späteren  über- 
lassen und  vollzog  sich  nicht  ohne  Stockungen  und  Irrungen.  Es  soll  auf  die 
Turnsperre  hingewiesen  werden ;  vor  allem  aber  auf  den  allmählich  sich  an- 
bahnenden Wechsel  in  den  Grundanschauungen. 


Turnen,  Spiel  und  Sport,  im  Lichte  der  Gegenwart.  87 

Jahn  galt  das  Turnen  als  Selbstzweck;  letztes  Ziel:  Ertüchtigung 
und  Wehrbarmachung  der  Jugend.  Für  seine  Parteigänger,  wie  Eiselen, 
seine  Schüler  und  Mitlehrer,  Pestalozzi,  Spieß  sank  es  vielfach  zur  Brauch- 
kunst herab.  Alle  Betätigungsmöglichkeiten  aus  dem  Berufsleben  der  ver- 
schiedenen Arbeitskreise  sollten  berücksichtigt  werden,  woraus  sich  natur- 
gemäß eine  solche  Fülle  von  Übungsformen  ergab,  daß  die  leiblichen  Organe 
nicht  zu  ihrem  Rechte  kamen,  während  anderseits  das  Gehirn  über  Gebühr 
belastet  wurde.  Nach  der  Turnsperre  erscheint  als  Stückwerk  des  Jahnschen 
Erbes  das  Gerät-  und  Hallenturnen  im  Verein  mit  den  gewiß  findig 
erdachten,  aber  durch  zu  kleinliche  Verkettung  sinnverwirrend  wirkenden 
Aufgaben  des  Spießschen  Planes. 

Da  kamen  die  Einheitskriege  von  1864,  1866,  1870/71.  Der  gewaltige 
Erfolg  im  Felde  zog  eine  Verjüngung  der  Massen  nach  sich.  Wie  stets  zu  Zeiten 
wo  der  Volksgeist,  in  seinen  Tiefen  erregt,  sich  willig  in  den  Dienst  des  Ganzen 
stellt,  rührte  sich  jung  und  alt,  reich  und  arm,  dabei  begannen  Erinnerungen 
zu  erwachen  und  ihnen  entsprechend  hochgespannte  Forderungen  aufzuquellen. 

Die  Freilichtgymnastik  in  der  Form  des  Bewegungsspieles  verlangte 
ihr  Recht,  begegnete  aber,  wie  man  sich  erinnert,  zunächst  einem  beharr- 
lichen Widerstände  seitens  der  einseitigen  Turnerkreise.  Erst  die  entschiedene 
Stellungnahme  der  Staatsbehörden  (Minister  von  Goßler)  und  das  kraft- 
volle Einsetzen  des  Zentralausschusses  für  Volks-  und  Jugendspiele  unter 
Emil  von  Schenckendorff  ließ  ein  Wertgut  des  Jahnschen  Sammelstoffes 
zu  neuem  Leben  erwachen.  Nun  sprach  man  von  Turnen  und  Jugend- 
spiel. Aber  wehe  dem,  der  das  Wort  ,, Sport"  laut  werden  ließ;  dem  Turnen 
gegenüber  war  es  zu  einem  Schlagwort  geworden  und  wie  alle  Schlagwörter 
Mißdeutungen  ausgesetzt.  Der  Sportler  galt  als  Schwärmer,  Ausländer, 
Jugendverderber  usw. 

Und  so  gingen  wiederum  Jahre  ins  Land.  Das  Freilichtturnen  trug  Früchte 
Ein  natürliches  Bedürfnis  des  Sichmessens,  des  Kräftevergleichs  ließ  aus  dem 
anregungs-  und  stimmungsarmen  Schulspiel  den  sinn-  und  muskelspannenden 
Wettkampf,  wo  erst  der  Meister  sich  aus  der  Masse  zu  erheben  vermag,  ent- 
stehen. Zu  dem  Landturnen  gesellte  sich  das  zu  Wasser  in  seinen  Steigerungen 
bis  zur  stahlharten  Arbeit  der  Regatta.  Für  die  neuen,  weit  über  die  enge 
Ummauerung  des  Turnplatzes  ausgreifenden  Übungen  mußte  ein  Sammel- 
begriffgefunden werden -.Das  Wort  „Sport"  fand  Gnade  bei  der  Allgemeinheit. 

Wenn  wir  also  hier  von  Turnen,  Spiel  und  Sport  reden  dürfen, 
so  wissen  wir,  daß  Anfeindungen  aus  den  Leserkreisen  nicht  mehr  zu  befürchten 
sind.  Warum  auch?  Der  maßvoll  Prüfende  muß  zugeben,  daß  die  Fülle 
des  Jahnschen  Übungsstoffes  nicht  beeinträchtigt  wird,  sondern  sich  zu  glie- 
dern und  ordnen  beginnt.    Wird  er's  nicht  begrüßen? 

Eine  kurze  Vorbemerkung  über  den  Wortinhalt! — Turnen  und  „Arbeit" 
schlechthin  sind  vielfach  nur  begrifflich  verschiedene  Dinge:  Ein  Junge, 
der  die  Leiter  besteigt,  um  Äpfel  zu  pflücken,  arbeitet;  tut  er  dasselbe,  sich 
im  Klettern  zu  üben,  turnt  er;  springst  du  als  Botengänger,  einen  Fußweg 
abzukürzen,  über  Erdwall  und  Graben,  dann  arbeitest  du,  in  der  Hindernis- 


88  H.  Wickenhagen, 

bahn  darfst  du  dich  bei  gleicher  Verrichtung  Leichtathlet  nennen;  Leute 
die  da  „konkurrieren",  um  ihr  tägliches  Brot  zu  verdienen,  arbeiten;  solche, 
die  , »zusammen  ablaufen",  den  Siegerkranz  zu  erringen,  treiben  Kampfspiele; 
jener  Krieger,  der  die  Siegesnachricht  von  Marathon  nach  Athen  zu  bringen 
hatte,  war  ein  Bote ,  der  neuzeitliche  Marathonläufer  im  Stadion  ist  ein  Sports- 
mann. 

Leider  hört  man  noch  immer  von  Alltagsmenschen,  die  ihr  Turnziel 
vorerst  oder  allein  in  der  Erwerbung  von  Muskelpolstern  und  hartknochigen 
Fäusten,  wohl  auch  in  zäher  Marschausdauer  erblicken;  hätten  sie  recht, 
würde  man  den  stämmigen  Kofferträger  oder  den  Landbriefboten  um  ihre 
turnerischen  Meisterleistungen  beneiden  können.  Vor  solchem  Banausen- 
tum  gilt  es  sich  frei  zu  machen. 

Der  bittere  Ernst  des  Weltkrieges  hat  die  Erziehungsgrundsätze  langer 
Jahre  scharf  unter  die  Lupe  genommen  und  den  Schleier  von  den  Augen 
gezogen,  das  zu  erkennen,  was  man  unter  klassischer  Gymnastik  zu  ver- 
stehen hat.  Idealgestalten  sind  nur  zu  schaffen,  wenn  die  Bildung 
sich  in  zwei  große  gleichberechtigte  Gebiete  zerlegt: 
Schulung  des  Geistes  und  Körpers!  Damit  ist  der  Augenblick 
gekom.men,  einer  Prüfung  der  Arbeitsmethoden  näher  zu  treten. 

Unsere  Lernschule  will  der  Jugend  einen  gewissen  Grad  geistiger 
Reife  verschaffen,  einen  gebildeten  Menschen  mit  klarem  Blick  und  gesundem 
Urteil  in  die  Welt  schicken,  der  den  an  ihn  herantretenden  Aufgaben  ge- 
wachsen ist.  Ihr  stehen  im  Unterricht  Mittel  zur  Verfügung,  die  die  Probe 
langer  Jahrhunderte  bestanden  haben:  Sprachen,  Geschichte,  Mathematik, 
Naturkunde  usw.  Ein  jedes  ,,Fach"  hat  seine  eigenartig  bildende  Kraft; 
alle  zusammen  führen  zu  einem  harmonischen  Abschluß,  wie  die  Einzel- 
instrumente der  Musik  zu  einem  harmonischen  Tonkörper. 

Liegt  es  nicht  ähnlich  auf  dem  Gebiete  der  Gymnastik,  womit  nicht 
gesagt  sein  soll,  daß  ihr  Betrieb  denselben  Zeitanspruch  erheben  dürfte. 
Dem  Sprachunterricht  ließe  sich  das  exakte  Turnen  gegenüberstellen,  der 
Geschichte  das  Spiel,  das  ja  seinen  Inhalt  dem  friedlichen  und  unfriedlichen 
Leben  der  Völker  entnimmt,  der  Natur-  und  Erdkunde  das  Wandern  zu 
Lande  und  zu  Wasser. 

Zu  planmäßigem  Aufbau,  gegenseitige  Wertschätzung  vorausgesetzt, 
sollen  auch  diese  Fächer  einer  Ertüchtigung  zustreben,  die  in  ihrem  gesunden 
Kern  der  Reife  auf  wissenschaftlichem  Gebiete  würdig  sich  zur  Seite  stellt, 
—  und  die  dem  Schüler  auch  bei  seinem  Übertritt  in  die  Öffentlichkeit  zu 
bescheinigen  wäre.  Denn  das  muß  hier  gesagt  werden:  Der  Reisepaß,  den 
unsere  Schule  ausstellt,  bevorzugt  offensichtlich  die  Gehirn-  und  Verstandes- 
kräfte. Als  ob  Eltern  und  Schüler  nicht  auch  auf  einen  wohlbegründeten 
Ausweis  über  körperliche  Fertigkeit  Anspruch  hätten,  ein  Gutachten 
über  praktischen  blick,  Ansteliipkeit,  selbständiges  Handeln:  Anlagen, 
die  dem  hiermit  beglückten  Jüngling  manch  gangbaren  Weg  üuf  dem  weiten 
Arbeitsfelde  öff.ien  könnten  I 


Turnen,  Spiel  und  Sport,  im  Lichte  der  Gegenwart.  89 

Hier  entsteht  die  Frage:  Welches  Gesamtziel  hat  die  gymnastische  Er- 
ziehung sich  zu  stallen?  Wir  überlassen  die  Antwort  dem  Altmeister  Jahn; 
„sie  soll  die  verloren  gegangene  Gleichmäßigkeit  der  mensch- 
lichen Bildung  wiederherstellen,  der  bloß  einseitigen  Vergeistigung 
die  wahre  Leibhaftigkeit  zuordnen,  der  Überfeinerung  in  der  wiedergewonnenen 
Männlichkeit  das  notwendige  Gegengewicht  geben  und  im  jugendlichen 
Zusammenleben  den  ganzen  Menschen  umfassen  und  angreifen." 

Jede  Art  des  beruflichen  Lebens  treibt  je  nach  den  Aufgaben,  die  es 
stellt,  zu  einer  gewissen  Einseitigkeit  und  körperlichen  Verbildung.  In  der 
Regel  prägt  sich  diese  so  bestimmt  aus,  daß  nicht  viel  Scharfblick  dazu  ge- 
hört, aus  ihren  Erscheinungsformen  den  Beruf  zu  erkennen.  Wer  getraut 
sich  nicht,  den  Landwrt  vom  Gelehrten,  den  Bäcker  von  Schneider  usw. 
zu  unterscheiden?  Einseitigkeit  bedeutet  Bevorzugung  einzelner  Organe 
zum  Schaden  anderer.  Solange  es  im  Leben  Arbeitsteilung  gibt,  läßt  sie 
sich  nicht  beseitigen;  ohne  sie  würden  Höchst-  und  Meisterleistungen  auf 
dem  Geb'ete  der  Wissenschaft,  Kunst,  des  Gewerbes  usw.  unmöglich  sein. 
Deshalb  wäre  es  eitleLiebesmüh  oder  Vermessenheit,  gegen  sie  mit  demSchwerte 
der  Vernichtung  vorgehen  zu  wollen  oder  sie  auch  nur  zu  bespötteln  wie 
etwa  jener  Eisläufer  es  tat,  der  dem  Viol'nvirtuosen  Professor  Joachim  ge- 
sagt haben  soll:  ,,Herr  Professor,  Sie  meinen  wohl,  das  Schlittschuhlaufen 
wäre  so  leicht  wie  das  Violinspielen!"  —  Aber  Pflicht  ist  es,  diesem  Hange 
zur  Ein^'.eitigkeit  feste  Schranken  zu  setzen.  Es  m.uß  das  der  Jugend  aner- 
zogen und  zu  so  klarem  Bewußtsein  gebracht  werden,  daß  die  Wirkung  sich 
über  die  Grenzen  der  Schule  hinaus  erhält.  An  Vorbildern  nach  der  guten 
wie  schlimmen  Seite  fehlt  es  nicht.  Männer  wie  Goethe,  Bismarck,  Wilhelm 
der  Große,  Moltke  erhielten  sich  bei  vernunftmäßiger  Selbstzucht  bis  ins 
hohe  Greisenalter  gesund  und  arbeitstüchtig,  während  unser  Schiller,  der 
seinen  Körper  knechtete,  im  besten  Mannesalter  aus  dem  Leben  schied. 

Im  folgenden  sollen  unsere  gymnastischen  Disziplinen  nach  ihrer  zuerst 
physischen  dann  ethischen  Eigenart  geprüft  werden.  Jedes  „Fach"  hat 
seinen  besonderen  Bildungswert.  Das  Turnen  im  engeren  Sinne  will  Muskeln 
und  Sehnen  stählen,  Geschicklichkeit,  das  heißt  Wirtschaften  im  Kräfte- 
verbrauch, aneignen.  Das  Spiel  sorgt  für  Lockerung  des  Beinwerkes  im 
freien  Tummeln  und  Blickschulung  in  die  Weite;  Wandern  zu  Land  und 
Wasser  durchlüftet  Lunge  und  Herz,  der  Sport  träniert  alle  Organe  bis  zur 
Höchstspannung.  —  Und  nach  der  ethischen  Seite:  Die  Turnschule  als 
Staat  im  Kleinen  fordert  —  im  Gewände  der  Freude  und  Kameradschaft  — 
Zucht  und  Ordnung,  erzieht  zum  Gehorchen  und  Befehlen;  das  Spiel  führt 
auf  dem  Wege  der  Selbstentfesselung  und  -fesseln ng  nach  dem  Grundsatz 
„immer  strebe  zum  Ganzen"  zum  edlen  Freiheitsgenuß;  der  Sportler  treibt, 
wie  das  Volk  in  der  Stunde  des  Krieges,  zum  höchsten  Krafteinsatz  imd  er- 
hebt den  Willen  zur  vollen  Herrschaft  über  den  Leib.  Aber  er  kennt  nicht  d'e 
schlimmen  Seiten  des  Krieges,  nicht  in  der  Vernichtung  des  Gegners  sieht 
er  sein  Ziel,  vielmehr  reicht  er  ihm,  der  sich  zur  Kräftemessung  bereitstellte, 
im  Siege  die  Hand  ritterlicher  Kameradschaft. 


90  H.  Wickenhagen, 

Jedes  Gebiet  hat  unter  normalen  Verhältnissen  seinen  bildenden  Wert, 
wer  sich  nur  auf  einem  betätigt,  verwendet  gegen  die  „verloren  gegangene 
Gleichmäßigkeit"  also  gegen  Einseitigkeit,  einseitige,  „homöopathische" 
Mittel,  und  doch  kann  das  eine  der  Zeitlage  besser  dienen  als  das  andere. 
Der  Feinde  Übermacht  hat  uns  die  allgemeine  Wehrpflicht  genommen, 
mit  ihr  die  Pflanzstätte,  die  aus  kleinsten  Mitteln  bei  peinlicher  Pflege  wunder- 
bare Früchte  aufzuziehen  verstand  und  verstehen  mußte,  weil  auf  ihr  die 
schwerste  Verantwortung  lastete.  An  die  Turnbchule  richtet  sich  heute  der 
Weckruf!  Denn  auf  s:e  zuerst  hat  die  Verantwortung  sich  übertragen  In 
der  Verbindung  des  Körperlichen  mit  dem  Geistig-Sittlichen  soll  sie  sich 
innerlich  veredlen :  die  Kunstturnerei  soll  sich  in  echte  Turnkunst  umwandeln; 
aus  der  Heeresschule  soll  die  Lehre  gezogen  werden,  daß  Gewissenhaftigkeit 
in  den  Elementen  allein  den  Aufstieg  zum  Großen  verbü"gt. 

Als  ob  wir  das  nicht  wüßten,  höre  ich  sagen.  Aber  wie  ist's  mit  dem 
Tun  ?  Ein  Blick  in  eine,  zwei,  drei  usw.  Turnstunden  mag  es  veranschaulichen. 
Eine  recht  leichte  Barrenübung  soll  gemacht  werden:  Straffes  Antreten  (Stel- 
lung!) drei  Meter  vor  der  Barrengasse;  elastischer  Anlauf  zum  Sprung  in 
den  Streckstütz;  Schwung  durch  die  Barrengasse  zum  Grätschsitz  vor  den 
Händen  in  Muskelspannung  von  der  Zehe  bis  zum  Scheitel;  flottes  Loslösen 
vom  Gerät  mit  Schwung  zur  Kehre  über  den  rechten  Holm;  Niedergehen 
und  Seitstrecken  der  Arme  (wie  der  Vogel  aus  der  Luft)  zur  tiefen  Kniebeuge, 
leicht  federnde  Streckung  zur  schneidigen  Schlußstellung.  Rechtswendung 
zum  Abgang.  —  Die  an  sich  leichte  Aufgabe  umfaßt  neben  der  ,, Stellung" 
eine  Lauf-,  Kletter-,  Schwung-  und  Freiübung.  Der  Lehrer  hat  sie  schul- 
gerecht vorgemacht,  und  der  Schüler?  Er  läßt  lässig  sein  Herantreten  in 
eine  laufartige  Bewegung  zum  Gerät  übergehen,  gewinnt  den  Streckstütz 
und  den  Grätschsitz,  benutzt  den  Barren  kurze  Zeit  mit  hängenden  Unter- 
schenkeln als  Sitzgerät,  macht  sich  nicht  ohne  Mühe  von  ihm  frei,  sinkt 
nach  einem  der  Kehre  ähnlichen  Überschwingen  in  die  Kniebeuge,  aus  der 
er  sich  in  den  Abgangsschritt  fallen  läßt  —  mit  dem  Bewußtsein,  seine  Turner- 
pflicht erfüllt  zu  haben!  In  Wirklichkeit  hat  er  die  Übung  zur  Karikatur 
herabgewürdigt.  —  Wie  der  Sprachlehrer  den  jugendlichen  G^ist  in  der 
feinen  Unterscheidung  der  Tempora  und  Modi  schärft,  so  gilt  es  auch  hier 
Imperfektes  in  Perfektes  zu  verwandeln.  Deshalb  soll  der  Junge  kurz  und  be- 
stimmt hören:  Deine  Leistung  ist  Fuscherei!  In  dem  Zuck  und  Ruck  der 
Stellungnahm.e  drückt  sich  Taktgefühl,  Achtung  vor  der  Aufgabe  aus, 
in  der  Kletterübung  Willenszucht,  Selbstmeisterung,  Arbeitsfreude, 
im  Schwung,  Sitz  und  Stand  Verständnis  für  Formenschönheit  und  klassi- 
sches Ebenmaß  und  in  der  ganzen  Aufgabenlösung  abgeklärtes  Urteil 
über  Übungsinhalt  und  -zweck.  Das  sind  die  sittlichen  Bildungselemente, 
die  Imponderabilien,  ohne  die  der  Leistung  das  Nährsalz  fehlt.  Wie  heißts 
im  ,, Faust"? 

Wer  will  was  Lebendiges  erkennen  und  beschreiben, 

Sucht  erst  den  Geist  herauszutreiben, 

Dann  hat  er  die  Teile  in  seiner  Hand, 

Fehlt  leider  nur  das  geistige  Eand! 


Turnen,  Spiel  und  Sport,  im  Lichte  der  Gegenwart.  91 

Der  Fachmann  weiß,  daß  das  aufgerollte  Bild  in  allen  Gebieten  des  Betriebs 
in  dieser  oder  jener  Verbindung  leider  gar  zu  oft  wiederkehrt.  Übertreibung 
wird  der  Kundige  mir  nicht  vorwerfen! 

Und  nun  vor  dem  Abschied  vom  Turnplatz  noch  ein  Geleitwort:  Das 
Turnen  wahre  im  Hinblick  auf  seine  ernsten  Aufgaben  entschieden  seine 
Rechte  und  Pflichten,  vor  allem  gegenüber  sinnloser  Spielerei.  Es  halte 
Maß  in  seinen  Ansprüchen,  sehe  zuerst  sein  Ziel  in  peinlich  sorgfältiger, 
gleichmäßiger  Ausbildung  der  ganzen  Masse  bis  zu  erreichbaren  Grenzen, 
nicht  in  der  Züchtung  von  Gipfelturnern  und  Rekordjägern,  nicht  in  der 
Veranstaltung  von  blendendem  Schauturnen  mit  Ausschluß  der  Schwächlinge 
und  Drückeberger  1). 

Das  A  und  O  des  Betrieljes  ist  die  Grundstellung,  die  Haltung; 
sie  birgt  hohen  Bildungswert  in  sich,  denn  sie  kehrt  in  allen  Übungsformen 
wieder,  wird  aber  dann  erst  zur  anderen  Natur  und  hat  mit  durchschlagender 
Wirkung  zu  rechnen,  wenn  sie  im  Verkehrsleben  des  Schulganzen  Platz  ge- 
winnt. Dort  schützt  sie  vor  Gespreiztheit,  saloppem  Gebahren,  zeigt  Takt, 
Bescheidenheit,  kurz  „die  gute  Kinderstube".  Einem  jeden  Jugendbildner 
möge  es  vorbehalten  bleiben,  in  diesem  Sinne  als  Erzieher  und  Turnlehrer 
zugleich  zu  wirken,  denn  erst  dann  kommen  wir  dem  Ideal  klassischer  und 
zugleich  praktischer  Gymnastik  näher. 

Suchen  wir  nun  den  Spielplatz  auf!  Hier  sehen  wir  unsere  Aufgabe 
darin,  die  Betriebsarten  nach  Wert  und  Inhalt  zu  prüfen.  Von  den  Kinder- 
gartenspielcn  kann  abgesehen  werden.  Im  amtlichen  Lehrplan  vom  18.  April 
191S  wird  für  die  reifere  Jugend  vorgeschrieben:  Barrlauf,  Schlagball  als 
Sommer-,  Jäger  und  Fußball  als  Winterspiel.  Unterstreichen  möchten  wir 
die  ersteren,  durchstreichen  den  Fußball.  | 

Dieses  Spiel  hat  die  Alleinherrschaft  im  Feldzugsleben  auf  den  Plätzen 
hinter  der  Front  gehabt.  Der  Feldgraue  hat  ihm  bei  der  Rückkehr  in  die 
Heimat  die  Zuneigung  bewahrt,  und  sein  Beispiel  wirkt  packend  auf  den 
Nachwuchs,  leider  vielfach  zum  Schaden  des  Heimischen!  Man  spricht  von 
Fußballseuche.  Sportlich  ist  es  die  Kampfart  derber  und  kernhafter,  voll- 
blütiger Naturen.  Es  hat  das  Zeug  in  sich,  Leidenschaften  zu  erwecken, 
weil  es  reich  ist  an  spannenden  Augenblicken  und  erhitzenden  Szenen.  Im 
Wettkampf  hat  das  ununterbrochene  Stürmen  mit  dem  Ringen  in  zweimal 
45  Minuten  etwas  Überreiztes  und  damit  gesundheitlich  Bedenkliches, 
denn  es  pumpt  die  Kräfte  aus  bis  zur  Erschlaffung.  Fußtritt  und  Kopfstoß, 
beide  dem  Kampfleben  der  Tierwelt  entnommen,  zeigen  einen   Stich  ins 


*)  Schauturnfeste  sind  Paraden  für  das  Auge  mild  und  wohlwollend  urteilender  Gäste 
Als  festliche  Veranstaltungen  sind  sie  sicher  vortrefflich  geeignet,  für  den  laufenden 
Unterricht  aber  von  nur  mittelbarem  Werte,  unter  Umständen  sogar  störend !  Wir 
brauchen  ernste  und  regelmäßig  wiederkehrende  Besichtigungen  vor  beauftragten  Fach- 
männern. Inwieweit  die  neuerdings  in  Aussicht  genommene  Prüfung  sich  bewähren  wird, 
bleibt  abzuwarten.  Ein  Versuch  ist  soeben  gemacht;  leider  war  die  Anlage  ungewöhnlich 
und  befremdend;  die  Ausführung  zeigte  Spuren  der  Überhastung,  hie  und  da  auch  Neigung 
zu  theatralischem  Effekt. 


92  H.  Wickenhagen, 

Niedrige,  Gemeine  und  tragen  das  Gepräge  des  Undeutschen,  Weithergeholten. 
Den  Gesamtcharakter  des  Spiels  liest  der  Beobachter  aus  den  Mienen  der 
Spieler.  Kommen  Ethik,  Ästhetik  und  edle  Gymnastik  aber  nicht  zu  ihrem 
Rechte,  dann  ist  das  Gelände  der  Schule  für  die  Übenden  zu  gut;  sie  mögen 
dort  sich  Platz  suchen,  wo  man  im  Sport  Menschliches  und  Tierisches  zu 
verbinden  liebt. 

Wie  ganz  anders  liegen  die  Verhältnisse  beim  Schlagball;  er  ist  unserer 
Jugend  sozusagen  auf  den  Leib  zugeschnitten.  Was  Jahn  behauptet:  ,,Die 
richtige  Vertreibung  von  Last  und  Rast  gewährt  die  Dauerkraft"  trifft  hier 
zu.  Der  Platz  zeigt  fesselnde,  lebenswahre  Gruppierungen.  Im  Schlagen, 
Werfen,  Fangen  des  Balles  erscheinen  Turnerbilder  in  ewig  wechselnder 
Haltung.  Der  Läufer  bildet  sich  in  der  Gefahr,  vom  feindlichen  Wurfgeschoß 
getroffen  zu  werden,  zu  einem  Meister  scharfsinniger  Berechnung  aus.  Seine 
Bahn  zeichnet  die  Windungen  einer  formenreichen  Arabeske  mit  anmutenden 
Ausschmückungen.  Jetzt  springt  er,  dem  Ballwurf  auszuweichen,  hoch, 
dann  wirft  er  platt  sich  nieder,  wiederum  reckt  er  sich  empor,  um  gleich 
dem  Olympiakämpfer  zum  Ziele  zu  hasten.  Hat  er  dies  erreicht,  dann  lohnt 
ihn  die  Rast,  das  Behagen  ruhigen  Ausblickens  auf  das  Kampfgewoge  und 
damit  verbundener  Selbstbelehrung,  bis  ihn  die  Pflicht  ruft,  das  Schlagholz 
von  neuem  zu  schwingen.  Hier  ists,  wo  der  Freund  ebenmäßiger  Formen  und 
edler  Jugendlichkeit  halt  macht  und  seine  Rchnung  findet.  Und  die  Spieler 
finden  sie  auch,  denn  der  Kampfplatz  weist  jedem  Teilnehmer  und  Organ 
seine  Aufgabe  zu  und  ist  deshalb  durchstrahlt  von  Frohsinn,  durchglüht 
von  Pflichtgefühl  im  Ganzen  und  für  das  Ganze.  Seine  Krönung  aber  findet 
die  Leistung  in  jener  wohligen  Müdigkeit  am  Schluß  und  nach  der  Heimkehr, 
in  der  fühlbar  die  Organe  Zeit  finden  zu  gesundender  Auffrischung  und  stim- 
mungsvoller Erinnerung. 

Neben  dem  Schlagball  verdient  Barrlauf  und  Faustball  rühmliche 
Erwähnung  und  warme  Empfehlung  um  so  mehr,  als  beide  die  bescheidensten 
Ansprüche  an  den  Platz,  das  erstere  Spiel  auch  an  Gerätschaften  stellen. 
Auch  Schleuder-  und  neuerdings  Handball  haben  sich  viele  Freunde  erworben, 
letzteres  als  Konkurrent  des  Fußballs. 

Zum  Schluß  noch  eine  kurze  Betrachtung  der  wassersportlichen 
Übungen,  des  Schwimmens  und  Ruderns.  Sie  stellen  das  Turnen  im 
Wasser  dar  und  verhalten  sich  zueinander  wie  die  Freiübungen  zu  denen 
am  Gerät.  In  dieser  Verbindung  bieten  sie  die  Werte  der  Turn-  und  Spiel- 
schule, verschmelzen  pangymnastisch  die  Regeln  der  Zucht  und  Ordnung 
mit  denen  der  Freiheit.  Es  hieße  Wasser  in  die  Spree  gießen,  wollten  wir 
das  im  einzelnen  nachweisen.  Das  Schwimmen  sollte,  soweit  es  eben  örtliche 
Verhältnisse  erlauben,  dem  verbindlichen  Stoffe  der  Lehrpläne  angegliedert 
werden.  Es  gibt  —  abgesehen  von  seiner  rein  praktischen  Bedeutung  — 
dem  so  wichtigen  Baden  erst  den  gesundenden  Wert;  denn  der  tiefere  Tem- 
peraturstand des  Wassers  bedingt  flotte  Bewegung.  Überdies  stellt  es  an 
die  natürliche  Veranlagung  geringe  Ansprüche,  da  es  sich  im  wesentlichen 
darum  handelt,  den  Menschen  an  den  Übergang  aus  der  senkrechten  Stellung 


Turnen,  Spiel  und  Sport,  im  Lichte  der  Gegenwart.  93 

der  Körperlängslinie  in  die  wagerechte  zu  gewöhnen.   Alle  Tiere,  denen  dieser 
Vorgang  erspart  bleibt,  können  von  Natur  schwimmen. 

Im  Rudern  stehen  sich  noch  immer  die  Vertreter  des  Renn-  und  Wander- 
ruderns  gegenüber.  Wir  dürfen  und  müssen  hoffen,  daß  gegenseitige  Wert- 
schätzung und  die  aus  gesunder  Beurteilung  der  Verhältnisse  erwachsende 
Achtung  sich  immer  mehr  vertieft. 

Unser  Vaterland  ist  für  die  Wanderfahrt  begünstigt  wie  kein  Land 
Europas;  wir  würden  den  Wink  der  Natur  nicht  zu  deuten  wissen,  wenn  wir 
die  heimischen  Güter  uns  nicht  zu  nutze  machten.  Das  an  Wasserstraßen 
und  Übungsplätzen  arme  England  ist  in  der  Entfaltung  des  Wandertriebs 
auf  engen  Raum  beschränkt.  Die  jugendliche  Kraftmasse  ist  auf  räumliche 
Konzentration  angewiesen  und  hat  sie  in  der  Regatta  gefunden.  Insofern 
erscheint  diese  als  Ersatz.  Und  —  wissen  wir's  nicht  alle?  —  etwas  Herab- 
würdigendes liegt  in  dem  Worte  nicht,  und  der  erziehliche  Wert  soll  damit 
nicht  unterschätzt  werden.  Die  Regatta  ist  eine  Prüfung  der  Vollreife,  wie 
sie  in  allen  Übungsarten  sich  als  unentbehrlich  erwiesen  hat.  Sie  setzt  ge- 
wissenhafte Pflichterfüllung  und  eiserne  Willenszucht  voraus.  In  dem  Streben 
nach  hochgestellten  Zielen  soll  die  Mannschaft  in  der  physischen  Wirtschafts- 
kunst sich  bewähren  und  die  Überzeugung  gewinnen,  wie  aus  der  rechten 
Ausbeutung  grundlegender  Kleinmittel  sich  Großes  erreichen  läßt.  Wer 
wird  auf  ein  so  wertvolles  Kleinod  verzichten  wollen?  Ohne  die  Regatta, 
die  sich  natürlich  den  gegebenen  Verhältnissen  anpassen  muß,  verflacht 
die  Wasserfahrt  erfahrungsgemäß  zum  müßigen  Gondeln  und  entkleidet 
sich  aller  erziehlichen  Gewinne. 

Zum  Schluß:  Einigkeit  und  Recht  und  Freiheit  sind  des  Glückes 
Unterpfand.  Danach  laßt  uns  alle  streben!  —  Ist  der  Nachweis  gelungen, 
daß  Turnen,  Spiel  und  Sport  durch  die  Gleichheit  gesunder  Ziele  verbrüdert 
sind,  nur  in  den  Wegen  und  Wirkungen  zu  diesen  sich  unterscheiden,  dann 
lautet  unser  Grundsatz:  getrennt  marschieren,  vereint  schlagen! 

Dann  aber  ist  es  nicht  mehr  denn  billig,  daß  bei  Prüfungen,  die  das  Urteil 
über  den  ganzen  Menschen,  den  Grad  seiner  Reife  und  Ertüchtigung  erbringen 
sollen,  alle  drei  Gattungen  durch  geeignete  Vertreter  mitzusprechen  haben, 
nicht  der  Turnlehrer  allein ;  denn  das  wird  man  zugeben :  Vorlagen  wie  diese, 
er  war  durch  das  Vertrauen  seiner  Mitschüler  zum  Vorsitzenden  des  Schüler-, 
Turn-  oder  Rudervereins,  des  Spielwarts  gewählt;  „er  hat  es  vortrefflich  ver- 
standen, mehrtägige  Wanderschaften  seiner  Kameraden  einzurichten,  sowie 
innerlich  und  äußerlich  auszubauen",  „er  versteht  es,  in  der  Schulgemeinde 
sich  nützlich  zu  machen,  vor  allem  den  Zarten  und  Schwachen  ein  Helfer 
zu  sein",  wiegen  schwerer  als  zwei  oder  drei  Gipfelübungen.  Sie  stellen 
den  Jüngling  dar  als  selbständige,  zielklare,  organisatorisch  und  kamerad- 
schaftlich gut  veranlagte  Natur.  Und  solche  Menschen  brauchen  wir  für  die 
Zukunft. 

Wir  brauchen  Weiteres.  Die  Not  der  Zeit  muß  aufräumen  mit  deutscher 
Eigenbrödelei  in  den  Lehrerverbänden.  Die  gesteigerten  Aufgaben  leiblicher 
Ertüchtigung  verlangen  einen  Stab   von    Lehrmeistern,  die  Vorurteils- 


94  Manfred  Fränkel, 

frei  und  einmütig,  ohne  kleinliche  Standesrücksichten,  das  zusammen- 
zuschmieden verstehen,  was  für  das  Gedeihen  des  Vaterlandes  und  Volks 
verwendbar  erscheint.  Wer's  mit  unserer  Jugend  hält,  der  liest's  aus  ihren 
Augen:  gebt  uns  Wegeleiter,  an  uns  solls  nicht  fehlen!  An  solchen 
mangelt  es  allenthalben.  Deshalb  ist  es  unabweisbare  Forderung,  daß  jeder 
Kandidat  angehalten  werde,  einen  Nachweis  über  seine  Fähigkeit  und  sein 
Können  auf  dem  Gebiete  der  körperlichen  Erziehung  zu  erbringen.  Darin 
sehen  wir  die  Zuversicht,  die  uns  von  pessimistischen  Anwandlungen  befreit; 
Pessimismus  führt  zum  leiblichen  und  seelischen  Siechtum.  Die  Zukunft 
gestaltet  sich  ja  selten  so  günstig,  wie  man  hofft,  aber  auch  selten  so 
ungünstig  wie  man  fürchtet,  —  vorausgesetzt,  daß  es  an  willigen  Helfern 
nicht  gebricht. 

Heute  sollen  wir  die  Worte  eines  Mannes  beherzigen,  der  in  ähnlichen 
Nöten  lebte,  wie  wir:  E.  M.  Arndt:  ,,Was  vergangen  und  geschehen  ist,  werft 
es  ruhig  in  den  weiten  Schoß  der  ewigen  Notwendigkeit  und  seht  auf  das 
junge  Geschlecht;  erzieht,  bildet  und  richtet  es,  daß  Männer  aus  ihm 
werden"  —  und  es  wird  in  unserem  seelischen  Empfinden  auch  für  den  Opti- 
mismus noch  Raum  geben. 

Berlin-Lichterfelde.  Wickenhagen. 


Der  Wert  der  linkshändigen  Ausbildung  ffir  Schule  und  Staat. 

Kürzlich  äußerte  ein  hervorragender  Schulmann,  er  hätte  es  nie  durch- 
gehen lassen,  wenn  einer  seiner  Schüler  bei  Verletzung  der  rechten  Hand 
erklärte,  er  könne  nicht  schreiben  oder  zeichnen,  sondern  ihn  darauf  auf- 
merksam gemacht,  daß  er  ja  auch  eine  linke  Hand  habe,  die  nur  darauf  brenne, 
die  rechte  zu  ersetzen.  Und  groß  war  die  Freude,  wenn  die  Arbeit  auch  mit 
der  linken  gelang.  Aus  dem  Felde  haben  ihm  frühere  Schüler,  denen  durch 
Verwundung  die  rechte  Hand  gebrauchsunfähig  geworden  war,  für  diese 
Anleitung  herzlichsten  Dank  geschrieben.  Sie  sind  so  durch  diese  Vorübung 
über  viele  trübe  Stunden  der  Furcht  —  wie  sie  sich  bei  Rechtshand verlust 
im  weiteren  Leben  forthelfen  werden,  schnell  hinweggetröstet  worden. 

So  war  die  schon  Jahrhunderte  alte,  oft  geschmähte  von  anderer  Seite 
so  sehr  belobte  Doppelhandbewegung  durch  den  Krieg  wieder  in  Fluß  ge- 
kommen und  mancher  mag  es  tief  bedauert  haben,  hat  mit  Recht  der  Schule 
einen  Vorwurf  daraus  gemacht,  daß  er  nicht  früher  den  Wert  der  linken 
Hand,  ihre  Benutzung  durch  Übung  kennen  gelernt  hatte  und  so  sich  erst 
unter  dem  schweren  Zwang  der  Rechtshandverletzung  darauf  einstellen 
mußte. 

Nachdem  das  Ministerium  in  dankenswerter  Erkenntnis  der  Wichtigkeit 
dieser  Frage  durch  besonderen  Erlaß  kürzlich  hinsichtlich  Stilschrift  und 
Linkshandausbildung  die  Aufmerksamkeit  der  Lehrer  auf  diese  Punkte 
der  Ausbildung  gelenkt  hat,  gebe  ich  trotz  bislang  zwölfjährigen  vergeblichen 
Bemühens  —  in  all  dieser  Zeit  trat  ich  unentwegt  in  Wort  und  Schrift  viel- 
fach für  die  Einführung  und  Ausbildung  der  Steilschrift  und  der  Linkshand- 


Der  Wert  der  linkshändigen  Ausbildung  für  Schule  und  Staat.  95 

ausbildung  in  Schulen  ein  —  die  Hoffnung  nicht  auf,  daß  wir  jetzt  endlich 
mit  eingehenden  Versuchen  als  Forderung  des  Tages  einsetzen  werden. 

Anfänge  dazu  sind  ja  schon  seinerzeit  in  Königsberg  gemacht  worden. 
Leider  hat  man  sich  dort  mit  der  Durchführung  eines  einzigen  Kurses  be- 
gnügt; es  konnte  aber  schon  festgestellt  werden,  daß  in  der  Tat  die  Links- 
kultur keinen  Schaden,  sondern  Nutzen  der  mannigfaltigsten  Art  bringt. 
Das  zusammenfassende  Urteil  lautete :  „Die  Linke  steht  der  Rechten  an  Aus- 
bildungsfähigkeit nicht  nach.  Bei  Kindern,  die  für  technische  Fähigkeiten 
besonders  veranlagt  sind,  tritt  diese  Anlage  bei  der  linkshändigen  Tätigkeit 
ebenso  deutlich  zutage  wie  bei  der  rechtshändigen.  Je  älter  und  verständiger 
ein  Kind  ist,  desto  schneller  macht  es  Fortschritte  bei  den  Linkshandkursen. 
Weit  entfernt  für  den  Linksunterricht  ein  Hindernis  zu  sein,  ist  die  vor- 
herige Ausbildung  der  rechten  Hand  sogar  eine  bedeutende  Erleichterung, 
weil  das  bereits  geschulte  Auge  mitarbeitet." 

Noch  beim  Kinde  läßt  sich  deutlich  die  beiderseitige  Anlage  des  Sprach- 
zentrums nachweisen,  aber  später  verkümmert  infolge  der  Bevorzugung 
der  rechten  Hand  das  rechte  Sprachzentrum. 

Nach  genauen  Beobachtungen  von  Baldwin  beginnt  das  Kind  erst  im 
achten  Monat  einen  Arm  zu  bevorzugen,  und  erst  im  dreizehnten  Monat 
ist  die  Rechtshändigkeit  ausgebildet.  Wir  sehen  mit  zwei  Augen,  wir  hören 
mit  zwei  Ohren,  wir  riechen  mit  zwei  Nasen,  aber  wir  sprechen  nur  mit  einer 
Gehirnhälfte. 

Das  Verhalten  des  Kindes  würde  also  das  biogenetische  Grundgesetz 
Haeckels  bestätigen.  Das  Kind  repräsentiert  noch  jenen  Typus  der  Mensch- 
heit, da  der  Mensch  mit  beiden  Gehirnen  sprechen  und  offenbar  mit  beiden 
Armen  gleichmäßig  hantieren  konnte. 

Wenn  aber  die  Rechtshändigkeit  die  Ursache  der  einseitigen  Lage  des 
Sprachzentrums  ist,  so  müßten  sich  bei  Menschen,  die  beide  Extremitäten 
gleich  gut  verwenden,  zwei  Sprachzentren  befinden,  ein  rechtes  und  ein  linkes. 
Tatsächlich  ist  dies  der  Fall. 

Gehen  wir  etwas  weiter  zurück  in  der  Stammgeschichte  der  Mensch- 
heit! Gibt  es  einseitig  ausgebildete  Tiere?  Von  allen  diesen  Behauptungen 
hält  keine  einer  wissenschaftlichen  Prüfung  stand.  Zahlreiche  Anthropo- 
logen haben  bewiesen,  daß  die  Affen  keine  Extremität  bevorzugen.  Wä- 
gungen von  Armknochen  erwachsener  Schimpansen  haben  gar  keine  Ge- 
wichtsdifferenz ergeben,  was  sich  bei  stärkerer  einseitiger  Betätigung  heraus- 
stellen müßte.  In  dem  interessanten  Werk  von  Dr.  Kalischer  ,,Das  Groß- 
hirn von  Papageien"  wird  der  Papagei  als  bekanntlich  jenes  Tier  dargestellt, 
welches  die  menschliche  Sprache  am  besten  nachahmen  kann.  Kalischer  hat 
nun  an  sechzig  Papageien  anatomische  und  physiologische  Hirnstudien 
durchgeführt  und  den  Nachweis  geliefert,  daß  das  Sprachzentrum  der  Papa- 
geien ein  doppelseitiges  ist.  Eine  einseitige  Verletzung  des  Sprachzentrums 
beraubt  den  Papagei  noch  nicht  der  Fähigkeit,  seine  Sprache  zu  gebrauchen. 
Man  sieht,  daß  der  Papagei  in  dieser  Hinsicht  gewissermaßen  einen  Vorzug 
vor  dem  Menschen  voraus  hat. 


96  Manfred  Fränkel, 

Die  Tätigkeit  des  Schreibens  ist  es,  die  sowohl  bei  Rechtsern  wie  bei 
Linksern  allgemein  mit  der  rechten  Hand  ausgeübt  wird,  welche  die  ent- 
schiedene Überlegenheit  der  linken  Hirnhälfte  verursacht;  durch  Vermitt- 
lung des  Schreibens  wird  ein  großer  Unterschied  zwischen  beiden  Hirn- 
hälften geschaffen,  indem  durch  die  verwickelte  Tätigkeit  der  dabei  be- 
teiligten Muskeln  bei  Links-  und  Rechtshändigen  sich  in  der  linken  Hirn- 
hälfte des  Schreibzentrum  entwickelt.  Dieses  steht  aber  in  innigster  Ver- 
schmelzung mit  dem  Sprachzentrum,  und  so  wird  auch  dieses  durch  das  Schrei- 
ben mit  der  rechten  Hand  beeinflußt,  so  daß  es  bei  Linksern  sich  auch  oft 
auf  der  linken  Seite  des  Gehirns  ausbildet.  Tatsache  ist  und  bleibt  jedenfalls, 
daß  die  Balkenfasern  des  Gehirns  innige  Verbindungen  zwischen  den  beiden 
Hemisphären  darstellen,  sie  übertragen  einen  Reiz  von  links  nach  rechts 
und  umgekehrt,  aber  es  ist  erklärlich,  daß  derjenige  Teil,  der  häufiger  Reize 
empfängt  (linkes  Gehirn),  der  mächtigere  werden  wird.  Desgleichen  wird 
der  Weg  vom  rechten  Arm  zum  linken  Hirn  und  erst  in  zweiter  Linie  zum 
rechten  Hirn  häufiger  von  Reizen  durchflössen  als  der  direkte  Weg:  linker 
Arm  zum  rechten  Hirn.  Ist  die  linke  Hand  die  überwiegende,  dann  liegt  — 
a  priori  —  die  Sache  genau  umgekehrt.  Anfänglich  geht  also  der  Hauptstrom 
vom  linken  Arm  zum  rechten  Hirn  hinüber,  und  hier  legt  sich  auch  dann 
ursprünglich  das  Sprachzentrum  an.  Jetzt  tritt  nun  der  Zwang  der  Erziehung 
mit  Strenge  und  Gewalt  in  Kraft  und  fordert  kategorisch  für  die  rechte  Hand 
den  ihr  allein  gebührenden  ersten  Platz.  Und  so  muß  sich  denn  der  ursprüng- 
liche Linkshänder  bescheiden,  nur  im  Verborgenen  und  im  plötzlichen  Affekt 
seine  linke  Hand  bevorzugt  zu  gebrauchen.  Die  gesellschaftliche  Ordnung 
zwingt  ihn  dazu,  den  natürlichen  Trieb  zu  unterdrücken.  Aber  nie  wird 
er  deshalb  etwa  nur  Rechtshänder!  nein  er  wird  Doppelhänder.  — 

Die  Eindrücke  der  Außenwelt,  wie  sie  sich  unserem  Auge,  unserem 
Ohr,  unseren  Empfindungen  mitteilen,  sammeln  sich  zu  sog.  Erinnerungs 
bildern  im  Gehirn,  um  dort  zu  lagern;  und  je  nach  der  Häufigkeit,  mit  der 
sie  sich  dem  Empfinden  aufdrängen,  je  nach  der  Größe  des  Reizes,  mit  dem 
sie  das  Gehirn  treffen,  gelangen  sie  zu  unserer  Empfindung,  bis  sie  uns,  wie 
z.B.  bei  der  Anwendung  von  Gegenständen,  beim  Schreiben  und  Lesen  ge- 
wohnheitsmäßig werden,  so  daß  wir  schon  beim  Hören  eines  Wortes,  das 
einen  Gegenstand  bezeichnet,  instinktiv  sofort  dessen  Verwendung,  Form 
und  Gestalt  wissen,  ohne  überhaupt  darüber  nachzudenken,  wie  viele  Nerven- 
bahnen und  Zentren  in  Bewegung  gesetzt  werden  müssen,  um  diesen  Be- 
griff zu  fassen  und  zum  Ausdruck  zu  bringen. 

Gehen  wir  nun  noch  einen  Schritt  weiter.  Gewöhnlich  vollführen  wir 
jede  Bewegung  mit  der  rechten  Hand,  wie  dann  bekanntlich  95^4%  aller 
Menschen  Rechtshänder  sind,  und  dementsprechend  ist  der  Ort  für  alle  Ein- 
gangs aufgezählten  Erinnerungsbilder  das  linke  Gehirn,  das  bekanntlich 
infolge  Kreuzung  der  Nervenbahnen  im  Rückenmark  die  Versorgung  der 
rechten  Hand  übernommen  hat.  Durch  diese  Bevorzugung  der  rechten  Hand 
wird  also  notwendigerweise  das  linke  Gehirn  die  häufigsten  Eindrücke  und 
Reize  erhalten,  und  infolgedessen  am  eindruckfähigsten  sein,  ja  geradezu 


Der  Wert  der  linkshändigen  Ausbildung  für  Schule  und  Staat.  97 

eine  Sammelstelle  für  fast  alle  und  besonders  die  schwierigeren  Bewegungen 
darstellen.  Stiefkind  dagegen  ist  und  bleibt  die  linke  Hand  und  die  ihr  ent- 
sprechende rechte  Hirnhälfte.  Es  besteht  eine  so  völlige  Abhängigkeit  der 
linken  Hand  von  der  rechten,  ein  derart  schwerwiegender  Unterschied  zwischen 
linker  und  rechter  Hirnhälfte,  daß  man  sagen  muß:  die  rechte  Hand  kann 
nicht  nur  vieles,  was  die  linke  nicht  kann.  Nein,  alles  was  die  linke  Hand 
überhaupt  kann,  kann  sie  durch  die  rechte,  hat  sie  von  der  rechten  entlehnt 
oder  auf  dem  Umwege  durch  sie  erst  gelernt. 

Und  während  so  dem  linken  Gehirn  alles  Untertan  ist,  all  unser  Denken, 
Fühlen,  Handeln  und  Bewegen,  besitzt  das  rechte  Hirn  allein  nichts  von 
alledem.  Untersuchungen  an  Kranken,  die  durch  Schlaganfall  rechtshändig 
gelähmt  und  so  allein  auf  die  rechte  Hirnhälfte  angewiesen  waren,  haben 
gelehrt,  daß  mit  einem  Schlage  der  Mensch  der  Sprache,  der  rechtsseitigen 
Bewegung  beraubt,  mit  der  linken  nun  gleichfalls  führerlosen  Hand  nichts 
auszurichten  vermag,  eine  Ruine  geworden  ist. 

War  so  die  linke  ungelähmte  Hand  zu  allen  Zweckbewegungen  des  Han- 
delns unbrauchbar  und  ungelenk  geworden,  weil  sie  durch  die  mangelhafte 
Übung  von  der  rechten  Hand  überhaupt  auf  dem  Umwege  der  Hirnleitung 
völlig  abhängt,  so  hat  sich  mir  im  Verlaufe  weiterer  Untersuchungen  die 
Möglichkeit  gezeigt,  diesen  armseligen,  eigentlich  doppelt  Gelähmten,  die  noch 
häufig  der  Sprache  beraubt  sind,  und  zwar  durch  Übung  der  linken  Hand 
zu  neuen  Lebensäußerungen  zu  verhelfen.  Ja,  es  gelang  mir,  diesen  Ärmsten 
durch  diese  Übung  die  Sprache  wiederzugeben,  und  ich  bin  zu  dem  Schluß 
gekommen,  1.  daß  auch  beim  normalen  Menschen  gelingt,  durch  Übung  die 
linke  Hand  der  rechten  gleichwertig  zu  machen,  2.  durch  diese  Übung  die 
der  linken  Hand  entsprechende,  bisher  brach  liegende  rechte  Hirnhälfte 
zu  voller  Tätigkeit  zu  entwickeln  und  von  der  bisher  allein  herrschenden 
linken  zu  befreien,  und  ich  konnte  diese  Anschauung  an  einer  Reihe  von 
Kranken  wie  von  Gesunden  beweisen,  so  daß  ich  schließlich  die  Forderung 
aufstellte,  daß  zu  den  wichtigsten  Schuländerungen  die  Nutzbarmachung 
der  linken  Hand  und  so  die  Entfaltung  des  rechten  Gehirnes  gehört. 

Ich  konnte  aber  ferner  an  Fällen  und  Berichten  den  Nachweis  erbringen, 
daß  die  doppeIhänd"ge  Ausbildung  auch  bei  idiotischen  und  zurückgebliebenen 
Kindern  einen  heilsamen  Einfluß  in  geistiger,  körperlicher  und  moralischer 
Beziehung  ausübt  und  dazu  beiträgt,  dieselben  wieder  zu  nützlichen  Gliedern 
der  menschlichen  Gesellschaft  zu  erziehen :  Neben  den  gesundheitlichen  Vor- 
zügen dieser  Ausbildung  in  bezug  auf  Kräftigung  der  linken  Lunge,  des  linken 
Auges,  Verhütung  der  Wirbelsäulenkrümmung :  ein  weiterer  Beweis  für  die 
Tragweite  der  Linkskultur.  Besonders  wichtig  ist  der  Hinweis,  daß  die  Ein- 
führung selbst  sich  ohne  jede  Schwierigkeit  bewerkstelligen  läßt.  Das  haben 
nicht  nur  die  englischen,  sondern  auch  die  Beobachtungen  in  Königsberg 
deutlich  bewiesen:  Ein  weiterer  nicht  zu  unterschätzender  Vorzug  gegen- 
über anderen  mit  großen  materiellen  Kosten  und  Organisationsarbeiten 
verbundenen  Reformen.  So  dürfte  denn  die  Ausbildung  der  Schüler  zur 
Doppelhändigkeit  zu  den  wichtigsten  Aufgaben  der  modernen   Pädagogik 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.     XX.  Jhrg.  7 


98  Manfred  Fränkel, 

gehören.  Eine  andere  ebenso  wichtige  Aufgabe  zur  Hebung  der  so  erschreck- 
lich großen  körperlichen  Schäden  an  Auge  und  Wirbelsäule,  die  ich  im  ersten 
Aufsatz  ausführen  konnte,  sehe  ich  in  der  Durchführung  der  Steilschrift, 
die  sich  insofern  eng  an  die  doppelhändige  Ausbildung  anschließt,  als  die 
von  mir  vorgeschlagenen  linkshändigen  Übungen  gleichfalls  in  Steilschrift 
vorgenommen  werden  sollen. 

Das  Ausland  ist  in  dieser  wichtigen  Aufgabe  uns  leider  weit  voraus. 
Es  sei  an  die  Knaben-  und  Handarbeiten  in  Schweden  und  Dänemark  er- 
innert, bei  der  die  linke  Hand  besonders  sorgfältig  aufgebildet  wird,  ferner 
an  die  ,, neuen  Wege  zur  künstlerischen  Erziehung  der  Jugend",  in  denen 
Liberty  Tadd  in  Philadelphia  lebhaft  für  die  zeichnerische  Ausbildung  der 
linken  Hand  eintritt.  England  hat  in  schneller  Erfassung  der  Bedeutung 
der  doppelhändigen  Ausbildung  für  alle  menschlichen  Betätigungen  eine 
weitverzweigte  eifrige  Propaganda  für  die  gleichmäßige  Ausbildung  beider 
Hände  entfaltet,  die  von  der  Ambidextral-Kulturgesellschaft  in  London 
ausgeht  und  in  zahlreichen  Schulen  die  allgemeine  Einführung  der  Doppel- 
händigkeit  bereits  erwirkt  hat. 

Die  Übung  der  Hnken  Hand  ist  bisher,  sehr  zu  Unrecht,  arg  ver- 
nachlässigt worden.  Die  natürliche  Anlage  des  Menschen  weist  darauf  hin, 
daß  die  linke  Hirnhälfte  infolge  der  Kreuzung  der  Nervenbahnen  im  oberen 
Rückenmark  die  Versorgung  der  rechten  Hand  bewirkt,  und  durch  ihre  häufige 
Inanspruchnahme  sammeln  sich  hier  schließlich  alle  Erinnerungsbilder, 
nicht  nur  an  Gegenstände  und  Personen,  sondern  auch  an  Bewegungen. 
Stiefkind  ist  und  bleibt  dagegen  die  linke  Hand  und  die  ihr  entsprechende 
Hirnhälfte,  sie  ist  von  der  rechten  Hand  bzw.  linken  Hirnhälfte  völlig  abhängig. 
Unter  der  mangelhaften  Übung  der  Linken  leidet  also  auch  das  rechte  Ge- 
hirn, und  zwar  in  solchem  Maße,  daß,  wie  neuere  Beobachtungen  gelehrt 
haben,  zwar  in  beiden  Gehirnhälften  je  ein  Sprachzentrum  angelegt  ist, 
aber  nur  das  linke  zur  völligen  Aufbildung  gelangt.  Was  diese  Vernachlässi- 
gung bedeutet,  zeigen  jene  Unglücklichen,  die  durch  einen  die  rechte  Seite 
treffenden  Schlaganfall  der  Sprache  und  der  rechten  Hand  beraubt,  eine 
Ruine  geworden  sind;  das  allein  ihnen  verbliebene  ist  die  linke  Hand.  —  Wir 
sahen  aber  weiter  oben,  daß  sie  auch  diese  durch  die  bisherige  falsche  Ent- 
wicklung eingebüßt  haben. 

Der  Mensch  ist  in  dem  Bereich  der  Schöpfung  das  einzige  Beispiel  eines 
tierischen  Lebewesens,  das  zwei  völlige  gleiche  und  vollkommen  geformte 
Gliedmaßen  hat,  die  sich  doch  in  verrchiedener  Weise  entwickeln:  die  Hände. 
Ja,  er  bildet  nicht  nur  mit  voller  Absicht  die  eine  Hand  auf  Kosten  der  anderen 
aus,  sondern  er  rühmt  sich  sogar  der  halben  Verkümmerung,  zu  der  er  seine 
ungeschickte  linke  Hand  verurteilt.  Zu  allen  Zeiten  protestierten  einsichts- 
volle Köpfe  gegen  diese  Ungerechtigkeit,  aber  Gleichgültigkeit,  die  Scheu 
vor  Neuerungen,  das  Hängen  am  Hergebrachten,  Vorurteil  und  Unwissen- 
heit ließen  die  Stimmen  dieser  Prediger  in  der  Wüste  ungehört  verhallen. 
Eine  jede  wahre  Erziehung  muß  in  der  vollkommenen  Entwicklung  des 
Individuums  nach  der  physischen,  geistigen  und  moralischen  Seite  bestehen. 


Der  Wert  der  linkshändigen  Ausbildung  für  Schule  und  Staat.  99 

Daher  ist  ein  Erziehungssystem,  welches  eines  der  wichtigsten  Glieder  des 
menschlichen  Körpers  vernachlässigt,  unvollkommen.  Jeder  Lehrer  hat 
die  Pflicht,  bei  einem  Kinde  nicht  allein  jede  geistige  Fähigkeit,  sondern 
auch  alle  Glieder  bis  zu  ihrer  höchsten  Leistungsfähigkeit  auszubilden.  Das 
Recht  auf  Ausbildung  der  linken  Hand  ist  unbestritten.  In  zahlreichen 
Industrien  und  Kunstfertigkeiten  hat  sie  ihre  Gleichberechtigung  mit  der 
rechten  Schwester  glänzend  erwiesen.  Denken  wir  ans  Klavierspiel.  Gibt 
es  dort  einen  Unterschied  zwischen  den  Fähigkeiten  der  rechten  und  der 
linken  Hand?  Bei  der  Violine  ist  die  delikate  Fingerarbeit  der  Linken  wohl 
gleich  notwendig  wie  die  Bogenführung  der  Rechten.  Bei  der  Handweberei, 
dem  Maschinenschreiben,  beim  Kricketspiel  zeigt  die  Linke  sich  als  schnelle 
und  genaue  Arbeiterin,  die  ebensoviel  Erfolg  aufzuweisen  hat,  wie  ihre  Kollegin 
von  der  rechten  Seite.  Der  Chirurg,  der  Zahnarzt  ist  direkt  gezwungen, 
seine  linke  Hand  gleichfalls  auszubilden  und  für  seine  Tätigkeit  zu  benutzen. 
Ist  er  überhaupt  im  Stande,  ohne  diese  seine  Arbeit  auszuführen,  ist  ihm 
nicht  die  linke  in  seinem  Beruf  ebenso  wertvoll  wie  die  rechte? 

Die  Erfahrung  hat  gelehrt,  daß  die  linke  Hand  durch  Übung  in  kürzester 
Frist  eine  Gelenkigkeit,  Feinfühligkeit  und  Beweglichkeit  erwirbt,  die  die 
der  rechten  meist  übertrifft.  Das  hat  man  nicht  nur  bei  Kindern,  sondern 
auch  bei  Leuten  beobachten  können,  die  sich  erst  im  reifen  Alter  zu  Doppel- 
händern  ausbildeten.  Also  nicht  Überbürdung  bringt  diese  Übung,  wie  man 
angenommen  hat,  nein!  umgekehrt!  Entlastung,  Arbeitsteilung.  Alle  hervor- 
ragenden Gedächtnissachverständigen  erklären  die  Doppelhändigkeit .  für 
eines  der  wirksamsten  Mittel  zur  Kräftigung  des  Erinnerungsvermögens. 

Nach  alledem  täte  die  Kulturmenschheit  wirklich  gut,  der  linken  Hand 
mehr  Beachtung  zu  schenken,  statt  die  ohnehin  so  geringe  Verwendung 
der  linken  durch  gedankenlose  Absichtlichkeit  noch  mehr  einzuschränken! 
Man  gehe  im  Gegenteil  darauf  aus,  daß  die  Kinder  von  Anfang  an  bewußt 
lernen,  von  beiden  Händen  einen  möglichst  aujgiebigen  Gebrauch  zu  machen. 
Man  mache  dem  überlieferten  Vorurteil  gegen  die  linke  Hand  allgemein  ein 
Ende.  Möchten  Schule  und  Haus  recht  bald  überall  veranlaßt  werden,  sich 
die  zielbewußte  Ausbildung  der  vernachlässigten  Linken  angelegen  sein  zu 
lassen,  eine  Aufgabe,  die  zu  den  wichtigsten  der  modernen  Pädagogik  gehören 
sollte  • 

Wenn  die  Doppelhändigkeit  Allgemeinheit  der  Menschheit  in  den  Kultur- 
staaten würde,  so  wären  die  Vorteile  unbegrenzt.  Die  Doppelhändigkeit  bietet 
eine  kräftige  Versicherung  gegen  Unfälle,  sie  hat  einen  unschätzbaren  Wert 
da,  wo  die  rechte  Hand  verhindert  ist,  ihrer  Pflicht  nachzukommen  (wie 
wir  es  aus  meinen  Fällen  ersahen).  Aber  es  wäre  falsch,  wie  es  so  vielfach 
geschieht,  zu  glauben,  daß  sich  die  Doppelhändigkeit  nur  in  diesen  Fällen 
nützlich  erweise.  In  allen  Umständen  des  täglichen  Lebens,  bei  allen  Tätig- 
keiten zeigt  sie  ihren  fördernden  Einfluß.  Sie  gibt  einem  Menschen  erst  die 
Möglichkeit,  seine  vollen  körperlichen  und  geistigen  Fähigkeiten  zu  entwickeln. 

Man  denke  an  die  vielen  Berufe,  ob  sie  nun  bloße  Äußerungen  der  rohen 
Kraft  oder  besonderes  Geschick  und  angelernte  Fertigkeit  erfordern,  in  denen 

7* 


100  Manfred  Frankel,  * 

schon  mit  Rücksicht  auf  die  Ermüdung  einer  Hand  der  Besitz  einer  zweiten, 
ebenso  brauchbaren,  von  hohem  Werte  ist.  Außerdem  gibt  es  viele  Gelegen- 
heiten, wo  der  Gebrauch  der  Linken  geradezu  notwendig  wird.  Zur  Illustration 
diene  nur  dieser  Brief: 

Ein  alter  Handwerksmeister  sandte  mir  folgende  hübsche  Ergänzung 
zur  „Doppelhändigkeit  in  der  Werkstatt": 

,,Der  Wert  einer  gleichmäßigen  Ausbildung  der  linken  wie  der  rechten 
Hand  wurde  schon  vor  50  Jahren,  als  ich  in  die  Schlosserle hre  kam,  anerkannt. 
Es  war  bei  uns  Sitte,  ja,  es  wurde  sogar  streng  darauf  gehalten,  daß  an  den 
Tagen  mit  geradem  Datum  rechts,  an  den  Tag^n  mit  ungeradem  links  ge- 
feilt, gesägt,  gehauen  usw.  wurde.  Zu  diesem  Zwecke  hing  in  der  Werkstatt 
eine  Blechtafel,  die  auf  der  einen  Seite  mit  „rechts"  auf  der  anderen  Seite 
mit  „links"  beschrieben  war  und  jeden  Tag  umgekehrt  werden  mußte.  Diese 
Doppelhändigkeit  in  der  Werkstatt  betrachteten  wir  Jungens  allerdings 
mit  gemischten  Gefühlen.  Das  Gehirn  kam  dabei  nicht  in  Frage,  denn  es 
war  bei  uns  ebenso  wie  bei  gleichaltrigen  Lehrkollegen  weder  rechts  noch 
links  von  besonderer  Güte.  Die  Doppelhändigkeit  hatte  auch  keinen  anderen 
Zweck,  als  beide  Hände  gleichmäßig  zu  üben  und  für  das  spezielle  Handwerk 
gleichmäßig  geschickt  zu  machen ;  was  auch  völlig  leicht  und  ausgiebig  ge- 
schah." 

Was  die  Notwendigkeit  oder  Bedeutung  der  Pflege  der  linken  Hand 
anbetrifft,  so  werden  ja  Fälle  vorkommen,  die  es  klar  beweisen,  wie  vorteil- 
haft es  sein  kann,  wenn  jemand  geschickt  die  linke  Hand  gebrauchen  kann. 
Verliert  jemand  durch  einen  Unglücksfall  die  rechte  Hand,  oder  erleidet 
er  auf  der  rechten  Seite  eine  Lähmung,  so  ist  es  zweifellos  von  ungeheuerem 
Vorteil,  wenn  er  die  linke  Hand  möglichst  vollkommen  als  Ersat.:  verwenden 
kann,  vorausgesetzt,  daß  diese  die  nötigeGerchicklichkeit  besitzt.  Aber  solche 
Fälle  treten,  nachdem  man  leider  den  großen  Nutzen  die  den  armen  Kriegs- 
verletzten vernachlässigt  hat,  jetzt  in  Friedenszeiten  in  so  geringer  Zahl 
auf,  daß  sich  durch  sie  allein  eine  planmäßige,  wohl  gar  schulgemäße  Aus- 
bildung der  linken  Hand  nicht  rechtfertigen  läßt.  Vielmehr  hat  diese 
ihren  Grund  in  ihrer  großen  volkswirtschaftlichen  Bedeutung 
Jeder  moderne  Staat  steht  in  einem  überaus  heftigen  Wettstreite  mit  allen 
seinen  Nachbarvölkern,  was  Handel  und  Verkehr,  Kunst  und  Wissenschaft, 
Fabriktätigkeit,  Kriegskunst  usw.  betrifft.  Überall  ist  heutigestags  im  Ver- 
gleich zu  früheren  Jahrzehnten  und  Jahrhunderten  die  körperliche  Geschick- 
lichkeit und  der  Hände  Fingerfertigkeit  mehr  wert  als  die  wuchtige  Kraft 
der  Arme.  Jedes  Volk  sucht  heute  auf  allen  Gebieten  seine  Glieder  leistungs- 
fähiger zu  machen.  Die  schwere  Arbeit  wird  vielfach  schon  von  tiefsinnig 
erdachten  und  kunstvoll  gebauten  Maschinen  geleistet,  aber  diese  in  ihrer 
ganzen  Vollkommenheit  auszunützen,  dazu  gehört  Geschicklichkeit,  Übung, 
Gewandtheit,  Fingerfertigkeit  beider  Hände  und  nicht  bloß  immer  der  einen 
rechten  Hand,  die  bisher  allein  geübt  wurde. 

Ich  will  nun  kurz  die  aus  meiner  Erkenntnis  entstandenen  Vorteile  der 
Doppelhandausbildung  anführen: 


Der  Wert  der  linkshändigen  Ausbildung  für  Schule  und  Staat.  101 

In  hygienischer  Beziehung; 

1.  Verhütung  der  Wirbelsäulenverkrümmung  (siehe  Japan).  2.  Ver- 
minderung der  Tuberkulose.  3.  Verhütung  der  Augenschädigung.  4.  Ver- 
hütung des  Sprachverlustes  bei  rechtsseitigem  Schlaganfall.  5.  Entfal- 
tung des  rechten  brachliegenden  Gehirnteiles.  6.  Besserung  des  geistigen 
und  moralischen  Zustandes  bei  Idiotenkindern.  7.  Verringerung  der  Zahl 
der  Verbrecher  auf  der  Basis  geistiger  Minderwertigkeit. 

C.  Vorteile  in  den  Berufszweigen  und  im  Handwerk. 

1.  In  vielen  hundert  Berufszweigen  ist  Doppelhändigkeit  direkt  nötig. 
2.  In  ebensovielen  sehr   erwünscht.     3.  Erzielung    größerer   Regsamkeit. 

4.  Größere  Geschicklichkeit.  5.  Größere  Leistungsfähigkeit,  da  keine  schnelle 
Ermüdung  eintritt.  6.  Dadurch  bessere  Bezahlung.  7.  Bessere  Ernährung. 
8.  Geringere  Arbeitsunfähigkeit  bei  Unfällen  der  rechten  Hand,  also  bessere 
Arbeitsausnützung.    9.  Hebung  der  Industrie  usw. 

D.  Vorteile   für   die    Schule. 

1.  Größere  Regsamkeit  und  geistige  Munterkeit.  2.  Leichteres  Fassungs- 
vermögen. 3.  Schnelleres  Vorwärtsschreiten  in  den  Pensen.  4.  Bessere  Haltung. 

5.  Keine  Kurzsichtigkeit,  keine  Wirbelsäulenverkrümmung  in  solchem  Pro- 
zentsatz wie  bisher.  6.  Verhütung  von  Lungenschädigungen.  7.  Vermeidung 
von  schneller  Ermüdung,  geistig  wie  körperlich.  8.  Vermeidung  des  Schreib- 
krampfes. 9.  Erfahrungsgemäß:  Erleichterung  und  Vergrößerung  der  Leistung 
der  rechten  Hand  durch  Mitüben  links. 

E.  Vorteile   für   den    Staat. 

1.  Bessere  Entwicklung  des  einzelnen  in  geistiger  wie  körperlicher  Be- 
ziehung. 2.  Hebung  der  Leistungsfähigkeit  des  einzelnen  um  50  %.  3.  Ver- 
größerung der  Leistung  des  Staates  in  wirtschaftlicher  Beziehung  und  in 
Machtentfaltung  nach  außen.  4.  Trotzdem  geringere  Ausgaben  für  Militarismus. 

In  Amerika  hat  Liberty  Tadd,  der  bekannte  Zeichenlehrer  und  Maler 
großzügigste  und  erfolgreiche  Propaganda  für  die  doppelhändige  Ausbil- 
dung an  Schulen  gemacht.  In  England  hat  man  bereits  aus  meinen  dort 
bekannt  gewordenen  seit  zehn  Jahren  in  Schrift  und  Wort  enthaltenen  Mah- 
nungen nach  Steilschrift  und  Doppelhändigkeit  i)  weitgehendste  Folge- 
rungen gezogen  und  diese  Verbesserungen  in  Schulen  eingeführt,  und  jüngst 
kommt  aus  Frankreich  die  Nachricht,  daß  Prof.  Armaingaud  aus  Bordeaux 
der  Pariser  Medizinischen  Akademie  eine  Denkschrift  zwecks  Einführung  der 
Zweihändigkeit  und  gleichmäßigen  Gebrauchs  beider  Hände  eingereicht  hat, 
in  der  er  diese  Einführung  als  Rettung  für  das  volksarme  Frankreich  emp- 
fiehlt.  In  seiner  Denkschrift  richtet  er  an  den  Unterrichtsminister  die  Forde- 

*)  Dr.  med.  Manfred  Fränkel:  „Die  doppelhändige  Ausbildung  und  ihr  Wert  für 
Schule  und  Staat  mit  Berücksichtigung  der  Vorteile  für  Stei!<!chrift"  (nebst  praktisch- 
didaktischem Teil  zur  doppelhandigen  Ausbildung  von  Kreisschulinspektor  Tronnau- 
Königjberg.)    2.  Auflage  1916,  Verlag  R.  Sci'ötz,  Berlin. 


102  Winter, 

rung  nach  einem  Gesetz  zur  gleichmäßigen  Au«;bildung  beider  Hände  in  Schulen 
und  zur  Aussetzung  von  Preisen  an  die  Lehrer,  die  in  der  Durchführung 
der  Zweihändigkeit  die  größten  Erfolge  alljährlich  erhielt  haben.  Er  sieht 
den  Vorteil  in  einer  vermehrten  Arbeitsleistung,  das  geistig  Bedeutsame 
aber  dieser  Neuschaffung,  wie  ich  sie  in  der  Entfaltung  einer  ganzen  brach- 
liegenden Gehirnhälfte  beweisen  konnte,  ist  ihm  noch  nicht  zum  Bewußtsein 
gelangt.  Um  so  zuversichtlicher  hoffe  ich,  daß  es  den  Frauen  und  Männern, 
die  heute  der  neuen  Schulreform  den  Stempel  neuer  sozialer  Erkenntniss* 
geben  sollen,  gelingen  wird,  sich  von  albn  bisherigen  Vorurteilen  Lei  zu  machen 
und  so  der  Welt  den  Beweis  zu  liefern,  daß  wir  allen  Versuchen  zum  Trotz 
die  geistigt  Führung  in  der  Welt  doch  behalten  wtidei.,  indem  wir  gewillt 
sind,  großzügige  Reformen,  die  zur  Gesundung  unseres  Volkes  mehr  wie 
jede  andere  wesentlich  beitragen,  nach  Erkenntnis  ihi.r  Bedeutung  —  restlos 
ein-  und  durchzuführen. 

Charlottenburg.  Dr.  med.  Manfred   Fränkel. 


Die  deutsche  Schule  Ostasiens  im  Kriege. 

Bei  den  Schwierigkeiten,  mit  denen  die  deutschen  Schulen  gegenwärtig 
nicht  minder  zu  kämpfen  haben  wie  in  den  vergangenen  fünf  Jahren,  dürften 
auch  wohl  die  ostasiatischen  Schulnöte,  wie  sie  in  der  gleichen  Zeit  mindestens 
in  gleichem  Maße  vorhanden  waren,  in  diesem  Leserkreise  einiges  Interesse 
finden.  Um  nicht  weitschweifig  zu  werden,  will  ich  mich  auf  die  von  1915— 19 
von  mir  geleitete  Kaiser  Wilhelm-(Real)Schule  inTientsin  beschränken.  Als 
ich  sie  mit  dem  Beginn  des  neuen  Schuljahres  im  Herbste  übernahm  auf 
Bitten  des  Schulvorstandes  und  des  nach  kurzer  Tätigkeit  ausgeschiedenen 
bisherigen  Schulleiters,  eines  ehemaligen  Oberlehrers  der  Gouvernements- 
schule inTsingtau,  und  damit  meines  Kollegen,  da  ich  seit  1905  zugleich  zum 
Religionslehrer  jener  Schule  vom  Marineamt  berufen  war,  fand  ich  mich  vor 
eine  Aufgabe  gestellt,  die  mir  neben  der  Ausübung  der  Seelsorge  in  Tientsin, 
Peking  und  alsbald  dem  Gefangenenlager  unserer  internierten  Gesandtschafts- 
schutzwache, große  Anforderungen  an  Zeit,  Kraft  und  leider  dann  auch  Ge- 
sundheit brachte.  Galt  es  doch  drei  Schwierigkeiten  zu  überwinden:  den 
Ausbau  und  Aufbau  der  Anstalt,  den  Ersatz  und  die  Gewinnung  von  Lehr- 
kräften, die  Beschaffung  von  Lehrbüchern  und  Lehrmitteln. 

L  Mit  meinem  Eintritt  in  die  Schulleitung  eröffnete  ich  die  Untertertia 
und  übernahm  die  Anstalt  mit  einer  Schülerzahl  von  etwa  90  Knaben  und 
Mädchen.  Denn  in  allen  Schulen  Ostasiens  war  von  Anfang  an  gemeinsame 
Erziehung  eingeführt,  so  daß  diese  Anstalten  ein  reiches  Material  für  Vor- 
teile und  Nachteile  jener  liefern  können.  Als  Lehrplan  war  der  einer  Real- 
schule nach  preußischem  Muster  zwar  vorgesehen,  hatte  aber  bisher  durch 
Ungunst  der  Verhältnisse  nicht  durchgeführt  w#den  können.  Hatte  doch 
der  Krieg  das  gesamte  männliche  Lehrpersonal  zu  den  Fahnen  nach  Tsingtau 
und  damit  in  japanische  Gefangenschaft  geführt.  Die  zurückgebliebenen 
Lehrerinnen  konnten  unmöglich  mit  den  ebenfalls  weiblichen  Hilfskräften, 
das  Pensum  aufrecht  erhalten,  zumal  die  Schülerzahl  durch  den  Zuzug  von 


Die  deutsche  Schule  Ostasfens  im  Kriege.  103 

Tsingtauer  Familien  sich  gleich  anfangs  verdoppelte.  Durch  den  Eintritt 
des  erwähnten  Oberlehrers  und  eines  früheren  Elementarlehrers  der  Hoch- 
schule in  Tsingtau,  der  mit  dem  Roten  Kreuz  nach  der  Einnahme  der  so- 
genannten „Festung"  ausgewiesen  war,  hätten  sich  die  Verhältnisse  günstiger 
gestalten  können,  wenn  nicht  schwere  Krankheit  schon  im  Frühjahr  1915 
die  Schularbeit  schwer  geschädigt  hätte.  Infolgedessen  hatte  keine  Klasse 
ihr  Ziel  erreichen  können,  geschweige  denn,  daß  eine  Zusammenarbeit  der 
Lehrkräfte  bei  fortwährendem  Tausch  und  ständiger  Heranziehung  von 
Hilfskräften  für  die  Erkrankten  hätte  erzielt  werden  können.  Die  Aufgabe 
für  den  neuen  Leiter  ergab  sich  damit  von  selbst,  stieß  aber  auf  größte  Schwie- 
rigkeiten. Es  tauchte  daher  sofort  der  Gedanke  in  der  Gemeinde  auf,  den 
Lehrplan  fallen  zu  lassen  und  nach  eigenem  Plan  eine  Sprachenschule  ein- 
zurichten. Damit  wäre  natürlich  der  Reichszuschuß  aus  der  Heimat  fort- 
gefallen. Aber  diese  Erwägung  fiel  weniger  ins  Gewicht,  da  es  sich  eben  nur 
um  einen  Zuschuß  handelte,  während  die  Hauptkosten  von  der  Gemeinde 
bestritten  werden  mußten,  und  dieser  Zuschuß,  der  für  di  Umrechnug  von 
2  Mark  pro  1  Dollar  gedacht  war,  mit  dem  schnell  und  übermäßig  steigenden 
Dollarkurse  (zuletzt  6  Mark  —  1  Dollar)  nur  noch  ein  Tropfen  auf  einen 
heißen  Stein  bedeutete,  Für  jenen  Gedanken  sprachen  hauptsächlich  wirt- 
schaftliche Erwägungen  und  die  Bedenken  für  Gewinnung  und  Vermehrung 
des  Lehrpersonals,  ja  auch  der  Beschaffung  von  Schulbüchern  und  Lehr- 
mitteln. Denn  die  wirtschaftliche  Lage  der  deutschen  Kaufmannschaft  Ost- 
asiens war  durch  den  Ausoruch  dieses  Wirtschaftskrieges  sogleich  eine  sehr 
schwierige  geworden.  Der  Handel,  ja  der  Briefverkehr  mit  der  Heimat,  war 
sofort  unterbrochen,  und  durch  ein  dichtmaschiges  Netz  von  Spionen  über- 
wachten die  Engländer  jeglichen  deutschen  Handel,  um  ihn  völlig  zu  unter- 
binden. Es  gehörte  schon  die  ganze  Tüchtigkeit,  Zähigkeit  und  Beliebtheit 
des  deutschen  Kaufmannes,  gerade  bei  den  Chinesen,  dazu,  dennoch  Ge- 
schäfte zu  machen,  wenn  auch  in  naturgemäßen  Grenzen.  Aber  die  hohen 
Geldforderungen,  welche  der  Aufbau  der  Schule  stellte,  fielen  als  schwere 
Bedenken  bei  der  Entscheidung  jener  Frage  ins  Gewicht.  Für  die  anderen 
beiden  Gründe  bietet  sich  später  noch  Gelegenheit  zum  Eingehen. 

Von  großem  Interesse  und  Verständnis  des  Schulvorstandes  und  des 
größten  Teiles  des  Schulvereins  zeugt  es  nun,  wenn  die  eigenen  wirtschaft- 
lichen Schwierigkeiten  hinter  die  Schulinteressen  zurückgestellt  wurden.  Als 
Schulleiter  mußte  ich  unbedingt  das  Interesse  der  Schulkinder,  das  ja  schließ- 
lich auch  das  der  Eltern  ist,  wahrnehmen  und  zwar  bis  zum  Schluß,  wenn 
immer  wieder  und  mit  der  Zeit  immer  ernstere  Stimmen  sich  gegen  die  Auf- 
rechterhaltung des  Lehrplans  einer  staatlichen  Realschule  und  damit  des 
Ausbauens  der  Schule  geltend  machten.  Die  Geldforderungen  mehrten  sich 
mit  jeder  neuen  Klasse  nicht  unbedeutend,  und  die  Geldmittel  der  Gemeinde 
gingen  bedeutend  zurück.  Bei  der  Einrichtung  der  Obertertia  und  Unter- 
sekunda wiederholten  sich  jedesmal  diese  Erwägungen,  um  doch  schließlich 
mit  der  Beibehaltung  des  Lehrplans  zu  enden. 

Schon  die  äußere  Einrichtung  des  neuen  Klassenzimmers  verursachte 


104  Winter, 

nicht  unerhebliche  Kosten.  Geplant  war  ursprünglich  in  Friedenszeiten,  die 
Schule  mit  der  Quarta  zu  beschließen  und  die  Kinder  dann  in  die  Heimat 
zu  schicken,  ein  Gedanke,  der  in  Friedenszeiten  absolut  gerechtfertigt  ist, 
wenn,  wie  dies  in  Tientsin  der  Fall  war,  die  Eltern  in  der  Lage  sind,  den  Unter- 
halt ihrer  Kinder  in  der  Heimat  zu  bestreiten.  Denn  wünschenswert  ist  es, 
daß  die  Kinder  in  diesem  Alter  sich  in  die  heimischen  Verhältnisse  einleben 
und  der  bei  bester  Kunst  immerhin  einseitigen  Erziehung  durch  das  Ausland 
für  einige  Jahre  entzogen  werden,  am  besten  aber  in  dem  Alter,  wo  das  Kind 
sich  zum  Jüngling  oder  zur  Jungfrau  entwickelt.  In  diesen  Jahren  muß 
das  Kind  möglichst  Heimatluft  atmen,  damit  es  deutsch  fühlen  und  denken, 
deutsch  leben  und  handeln  lernt.  Zum  Einleben  in  deutschesWesen,  in  deutsche 
Kunst  und  Literatur,  in  deutsche  Geschichte  und  Wissenschaft  gehört  das 
Leben  in  der  Heimat  während  dieser  wichtigen  Lebensjahre,  die  dem  Kinde 
den  Blick  öffnen  für  Zweck  und  Beruf  im  Leben.  Es  würde  darum  auch  z.  B. 
pädagogisch  völlig  unzweckmäßig  sein,  die  ostasiatischen  Schulen  über  die 
Untersekunda  hinaus  auszubauen.  Diese  Klasse  ist  unvermeidlich  als  natur- 
gemäßer Abschluß  für  solche,  die  auf  einen  wissenschaftlichen  Beruf  ver- 
zichten, während  für  solche  Kinder,  die  ihn  ergreifen  wollen,  und  für  Mädchen 
eine  frühere  Übersiedlung  in  die  Heimat  wünschenswert  erscheint,  selbst 
trotz  des  Bedenkens,  den  Kindern  das  Elternhaus  solange  wie  möglich  zu 
erhalten.  Es  sind  dies  so  ernste  Fragen,  daß  sie  eine  eingehendere  Erörterung 
verlangen,  als  im  Rahmen  dieses  Aufsatzes  möglich  ist.  Zu  fordern  ist  nur, 
daß  bei  ihnen  auch  die  Stimmen  gehört  werden,  die^das  Leben  und  die  Schulen 
Ostasiens  kennen  und  lieben,  aber  auch  aus  Liebe  zu  den  eigenen  Kindern 
und  aus  der  Erfahrung  mit  anderen  Kindern  urteilen. 

Durch  den  Ausbau  der  Schule  mußte  jährlich  ein  neues  Klassenzimmer 
gewonnen  und  dies  mit  Bänken,  Tischen,  Katheder  usw.  versehen  werden, 
während  sowieso  die  stetig  steigende  Schülerzahl  (von  1915—19  von  90  auf 
170)  eine  Vermehrung  des  Inventars  nötig  machte.  Die  Klassenräume  ließen 
sich  durch  die  Räumung  der  an  die  Schule  angrenzenden  Lehrerwohnung 
gewinnen,  wobei  es  nur  eine  Wand  zu  durchbrechen  galt.  Dafür  aber  mußte 
dem  exmittierten  Lehrer  Wohnungsgeld  gezahlt  werden.  Und  dies  alles  bei 
stetig  sinkenden  Einnahmen,  da  die  mit  der  wirtschaftlichen  Schwierigkeit 
der  Zeit  steigende  Zahl  der  Freischüler  den  Zuwachs  des  Schulgeldes  reichlich 
ausgHch.  Und  doch  waren  diese  äußeren  Schwierigkeiten,  wie  ich  sie  be- 
zeichnen möchte,  die  geringeren,  den  inneren  gegenüber.  Sie  ließen  sich  mit 
Hilfe  des  weitdenkenden  Regierungsvertreters  lösen  angesichts  der  Erwägung, 
daß  unsere  ostasiatischen  Kinder  das  Recht  auf  eine  geregelte  Weiterbildung 
hatten,  wo  ihnen  jede  Möglichkeit  genommen  war,  während  des  Krieges  nach 
Hause  zu  fahren,  und  der  Krieg  von  unbestimmter  Dauer  war,  die  sich  draußen 
erklärlicherweise  noch  viel  weniger  voraussehen  ließ,  als  in  der  Heimat. 
Das  Recht  der  Kinder  und  die  Pflicht  des  Schulleiters,  die  Kinder  ihrem 
Alter  nach  so  zu  fördern,  daß  sie  mit  ihresgleichen  in  der  Heimat  Schritt 
hielten,  war  angesichts  des  in  der  Heimat  bestehenden  Schulzwanges  absolut 
ausschlaggebend.    Von  einem  Aufgeben  oder  einer  Einschränkung  des  Lehr- 


Die  deutsche  Schule  Ostasiens  im  Kriege.  105 

planes  durfte  nicht  die  Rede  sein,  die  Privatschule  des  Auslandes  mußte 
angesichts  der  Unmöglichkeit,  in  die  Heimat  zu  reisen,  mehr  oder  weniger 
zur  Reichsschule  werden,  die  sich  eng  an  den  Lehrplan  hielt. 

War  dies  nun  auf  die  Dauer  durchführbar?    Zwei  schweie  Hindernisse 
galt  es  alljähtlich  zu  überwinden. 

H.  Das  erste  war  der  Ersatz  und  die  Gewinnung  von  Lehrkräften. 
Mit  dem  Kriege  waren  wir  Deutschen  —  je  länger,  je  mehr  —  von  der  Umwelt 
abgeschnitten.  Im  Winter  1915  war  wenigstens  noch  eine  Verbindung  mit 
Amerika  möglich,  allerdings  selten.  Dann  aber  hörte  sie  auf.  Eine  Korrespon- 
denz hin  und  her  mit  Frage  und  Antwort  war  schon  von  vornherein  der  wenigen 
Schiffe  wegen  so  gut  wie  unmöglich,  geschweige  denn  das  Eintreffen  eines 
Deutschen  zur  bestimmten  Zeit  zu  verbürgen.  Man  mußte  bei  der  Aus- 
wahl der  Lehrer  bei  Ostasien  stehen  bleiben.  Hier  aber  war  seit  dem  Kriege 
kein  Zuzug,  sondern  nur  Abwanderung  (nach  Japan)  erfolgt,  und  auch  die 
chinesisch-deutschen  Schulen  suchten  ihrem  Lehrermangel  abzuhelfen.  Das 
Unglück  wollte  es,  daß  die  aus  Tsingtau  übernommene  tüchtige  Lehrerin 
infolge  der  dort  während  der  Belagerung  ausgestandenen  Aufregungen  und 
Hilfsschwesternarbeit  sehr  bald  unter  der  intensiven  Arbeit,  die  von  unserer 
Schule  vom  einzelnen  zu  leisten  war,  zusammenbrach  und  einem  Roten  Kreuz- 
Transport  angeschlossen  werden  mußte.  Gleichzeitig  verlobte  sich  eine  andere, 
blieb  aber  in  echter  Kameradschaft  der  Schule  treu.  Es  wäre  ja  möglich  ge- 
wesen, für  eine  ordentliche  Lehrkraft  mehrere,  sogar  unbesoldete  Hilfskräfte 
einzustellen.  Von  diesem  Anerbieten  durfte  die  Schulleitung  aber  im  Interesse 
eines  geregelten  Unterrichts  und  der  Einheitlichkeit  des  Unterrichts  keinen 
Gebrauch  machen.  Für  eine  Nebenbeschäftigung  ist  der  Lehrerberuf  zu  ernst, 
und  viele  Köche  in  einer  Klasse,  zumal  der  Vorschule,  von  denen  jeder  nach 
eigenem  Rezept  kocht  und  keine  Neigung  hat  umzulernen,  verderben  den 
Brei.  Sollte  die  Schule  nicht  dem  Dilettantismus  preisgegeben  sein  und  damit 
zur  Spielschule  erniedrigt  werden,  sollte  das  Ziel  aufrecht  erhalten  werden: 
Ausbau  bis  Untersekunda  als  deutsche  Realschule,  dann  mußten  möglichst 
vollwertige  und  vollbeschäftigte  Lehrkräfte  angestellt  werden.  Die  Grenze 
des  besonderen  Examens  konnte  nicht  bei  allen  aufrecht  erhalten  werden, 
so  wenig  wie  in  der  Heimat  zur  Kriegszeit.  Vereinzelt  mußte  hier  und  dort 
eine  Privatlehrerin  eingestellt  werden,  die  sich  bereits  im  Unterrichten  be- 
währt hatte.  Diese  Verschiedenheit  des  Kollegiums  erleichterte  dem  Leiter 
die  Aufgabe  nicht,  um  so  dankbarer  war  es,  daß  die  bei  weitem  überwiegende 
Anzahl  geprüfter  und  eingearbeiteter  Lehrkräfte  hilfreich  jenem  zur  Hand 
gingen.  Die  schöne  Einigkeit  im  Kollegium  war  für  die  Zusammenarbeit 
des  Lehrkörpers  von  unschätzbarem  Werte.  Gegenseitiges  Hospitieren,  Be- 
sprechen, Beraten  kam  der  Arbeit  des  Leiters  sehr  zur  Hilfe.  Der  gute  Geist 
tut  eben  überall  das  Beste !  Ihn  zu  pflegen  ist  und  bleibt  des  Leiters  Haupt- 
aufgabe. Am  schwierigsten  wurde  aber  die  Ergänzung  des  Kollegiums  bei 
der  Eröffnung  der  Untersekunda.  Sollte  diese  Klasse  kein  müßiges  Spiel 
sein,  sondern  die  Gewähr  bieten,  daß  den  Besuchern  nicht  nur  das  in  der 
Heimat  geforderte  Pensum  geboten,  sondern  auch  die  staatliche  Anerkennung 


106  Winter, 

in  den  Zeugnissen  einst  zuteil  würde,  so  mußte  noch  nach  einem  geprüften 
wissenschaftlichen  Lehrer  Umschau  gehalten  werden.  Das  schien  fast  unmög- 
lich, da  seit  1917  für  die  Deutschen  Ostasiens  die  Welt  mit  Brettern  vernagelt 
war,  nicht  einmal  ein  Briefverkehr  mit  den  anderen  Ländern  war  gestattet. 
Wir  saßen  wie  auf  einer  einsamen  Insel  des  Weltenmeeres,  vor  der  England 
die  Wacht  hielt.  Und  dennoch  gelangs.  Mit  Hilfe  russischer  Freunde  ließ 
sich  ein  Briefverkehr  mit  Japan  ermöglichen,  und  das  Glück  wollte  es,  daß 
dort  ein  in  Berlin  geprüfter  sehr  tüchtiger  Neusprachler  mit  seinem  Kontrakt 
an  einer  japanischen  Handelshochschule  fertig  war.  Die  Einigung  kam  schnell 
zustande,  und  wo  ein  Wille  ist,  da  ist  auch  ein  Weg.  Der  sehnlich  Erwartete 
und  herzlich  ,, Willkommen"  geheißene  traf  ein.  Damit  war  das  Kollegium 
gottlob  derart  zusammengesetzt,  daß  mutig  ans  Werk  der  Krönung  der  Schule 
gegangen  werden  und  die  Untersekunda  eröffnet  werden  konnte. 

Und  trotzdem  wäre  dieser  Auf-  und  Ausbau  nicht  möglich  gewesen 
ohne  den  gesunden  Geist  des  Kollegiums.  Das  Geld  floß  derart  knapp,  daß 
an  ein  Zahlen  von  Gehältern  nicht  zu  denken  war.  Dieser  Schwierigkeit 
half  das  patriotische  Gefühl  des  Lehrkörpers  ab.  Sie  erklärten  sich  ausnahms- 
los bereit,  ihre  Tätigkeit  als  einen  vaterländischen  Hilfsdienst  anzusehen 
und  sich  mit  einem  so  gering  bemessenen  Einheitssatz  zu  begnügen,  daß  sie 
bescheiden  ihr  Leben  davon  fristen  konnten.  Es  liest  sich  dies  von  anderen 
leichter,  als  es  sich  von  den  Betroffenen  erlebte.  Es  gab  ja  auch  vom  Reich 
besoldete  jüngere  Lehrer  an  den  chinesischen  Schulen,  die  ein  wirkliches 
Gehalt  mit  bedeutend  höheren  Einkünften  bezogen.  Ja,  die  Versuchung 
lag  nahe  und  ist  auch  von  der  Gegenseite  unternommen  worden,  die  einträg- 
lichere und  dabei  leichtere  Arbeit  dem  dornenvollen,  schlecht  bezahlten 
Dienst  am  Idealen  vorzuziehen.  Daß  jene  der  guten  Sache  treu  blieben, 
zeugt  von  dem  guten  Geist  des  Kollegiums  und  sollte  auch  in  der  Heimat 
an  maßgebender  Stelle  richtig  eingeschätzt  werden.  Im  Kollegium  gab  es 
keine  Kriegsgewinnler,  sondern  Patrioten,  die  darum  auch  aufrichtig  mit  dem 
siegreichen  Vaterlande  jubeln,  mit  dem  zerschlagenen  trauern  konnten. 
Was  waren  das  für  stimmungsvolle  Feiern  am  Geburtstage  des  Kaisers  und 
zu  Weihnachten,  im  Frühjahr  und  zum  Schulschluß,  wo  auch  die  starke 
Jugendwehr  in  ihren  schmucken  Uniformen  und  Waffen,  voran  eigene  Musik 
und  Fahnen,  zu  ihrem  Recht  kam.  Deklamationen,  Chorgesänge,  Gedichte, 
Theater-  und  Turnspiele,  von  denen  einen  Teil  einheimische  Verfasser  bei- 
gesteuert hatten,  bewiesen,  daß  der  Geist  des  Kollegiums  in  dem  Schüler- 
kreise reiches  Echo  fand.  Um  so  wehmütiger  der  schwarze  Tag,  an  dem  sie 
Schmerzenskunde  vom  ,, Falle  Trojas"  eintrat  und  die  wilden  Horden  der 
Entente,  darunter  die  Männer  und  Frauen  der  ersten  Gesellschaft,  in  die 
deutsche  Niederlassung  einbrachen,  um  den  verbündeten  Chinesen  die  ,, Kul- 
tur" des  Siegers  zu  zeigen.  Drei  Tage  hausten  sie  dort  wie  Attilas  Horden, 
schlugen  die  Fenster  ein,  raubten  die  Läden  aus  und  rissen  das  eherne  Krieger- 
denkmal von  seinem  Sockel,  um  es  in  Trümmern  durch  die  Straßen  zu  schleifen, 
wie  einst  Achilleus  den  Leichnam  Hectors.  Das  war  das  Vorspiel  des  Wilson- 
friedens ! 


Die  deutsche  Schule  Ostasiens  im  Kriege.  107 

Doch  nicht  die  Leidensgeschichte  Deutschlands,  sondern  ein  knapp 
umrissenes  Bild  der  Schule  Ostasiens  wollen  diese  Zeilen  bieten.  Darum 
zurück  zu  den  Schwierigkeiten,  die  der  Krieg  für  diese  mit  sich  brachte. 

III.  Es  ist  zwar  wünschenswert,  daß  jeder  sein  Wissen  im  Kopfe  trägt, 
aber  bis  er  es  dort  untergebracht  hat,  bedarf  er  der  Bücher.  Woher  diese 
Schätze  des  Wissens  bekommen?  Ich  erwähnte  schon,  daß  Amerika  nur 
noch  in  den  ersten  Monaten  für  den  Verkehr  offen  stand.  Leider  scheiterte 
der  Versuch,  der  in  dieser  Richtung  hin  unternommen  wurde,  fast  völlig. 
Nur  für  die  Lehrerbibliothek  gab  es  noch  etwas;  im  übrigen  hatten  sich  die 
deutsch-amerikanischen  Buchhandlungen  beim  Mangel  an  Nachschub  ver- 
ausgabt. Da  bei  der  stetig  wachsenden  Schülerzahl  und  den  neu  eröffneten 
Klassen  aber  dringend  Bücher  benötigt  wurden,  so  mußte  zur  Selbsthilfe 
gegriffen  werden.  Die  Druckerei  der  Zeitung  verfügte  über  einen  sehr  tüch- 
tigen und  umsichtigen  Leiter,  und  obwohl  sie  im  Verhältnis  zu  den  jüngst 
hier  in  der  Heimat  besichtigten  weder  groß  noch  modern  war,  so  hat  sie  es 
doch  fertig  gebracht,  in  etwa  drei  Jahren  30  verschiedene  Lehrbücher  zu 
drucken,  meist  in  der  kleinen  Auflage  von  100—200  Exemplaren.  Dies  letztere 
verteuerte  zwar  an  sich  das  Buch,  doch  durfte  nur  mit  dem  wirklichen  Be- 
darf gerechnet  werden,  da  die  Schule  für  alle  Kosten  aufkommen  mußte 
und  aus  gesetzlichen  Erwägungen  heraus  keinerlei  Geschäft  damit  machen 
durfte.  Ein  großer  Teil  der  erwähnten  Neudrucke  waren  Abdrucke  deutscher 
Lehrbücher,  an  denen  nur  mehr  oder  weniger  große  Änderungen  vorgenommen 
waren,  nur  der  kleinere  Teil  war  von  uns  selber  verfaßt.  Nur  wo  brauchbare 
Vorbilder  fehlten,  wurde  die  Feder  angesetzt,  eine  Arbeit,  die  bei  zeitweilig 
30  Unterrichtsstunden  wöchentlich,  der  schwierigen  Schulleitung  und  dem 
dreifachen  Pfarramt:  Tientsin,  Peking,  Haidien  (Gefangenenlager)  nicht 
leicht  zu  bewältigen  war.  Aber  es  waren  eben  Notzeiten,  in  denen  jeder 
sein  Bestes  geben  mußte.  Und  vor  allem  mußte  jedem  Hindernis  zur  rechten 
Zeit  begegnet  werden,  das  eine  Störung  des  Betriebes  verursacht  hätte. 
Auf  diese  Weise  war  es  möglich,  jedem  Schüler  zum  Lehrbuch  zu  verhelfen, 
ja,  selbst  den  Schulen  in  Peking,  Hankau  und  Schanghai  mit  solchen  auszu- 
helfen. Die  größte  Schwierigkeit  verursachte  die  Fibel,  wegen  der  unum- 
gänglich nötigen  Abbildungen  und  des  Schreibdruckes.  Aber  auch  dies 
Hindernis  wurde  mit  Hilfe  des  Steindrucks  überwunden:  sie  verjüngte  sich 
im  chinesischen  Reiche  fast  schöner^  als  sie  vordem  war.  Und  wenn  ich  mir 
die  heutigen  Schulbücher  der  Heim.at  auf  ihren  Druck,  ihr  Papier,  ihren 
Einband  und  ihren  Preis  hin  ansehe,  so  muß  ich  um  so  mehr  über  unsere 
ostasiatischen  Kunstwerke  staunen,  bei  denen  nicht  zu  vergessen  ist,  daß  die 
Druck^'rei  nur  Chinesen  beschäftigte,  die  nicht  ve  standen,  was  sie  druckten. 
Die  erste  Korrektur  bedeutete  fast  einen  neuen  Satz,  und  wie  manche  Korrek- 
tur war  nötig!  Dabei  hatte  die  Druckerei  ja  auch  noch  anderes  zu  erledigen; 
außer  den  Jahresberichten  für  Kirche  und  Schule  die  Klassen-,  Zensuren- 
bücher usw.,  ja  selbst  die  Schulhefte.  Daneben  aber  liefen  die  ganzen  übrigen 
Aufträge,  die  sich  um  die  Weihnachts-  und  Neujahrszeit  sehr  drängten. 


108  Winter,  Die  deutsche  Schule  Ostasiens  im  Knege. 

Diese  ganze  Schilderung  soll  kein  Loblied  des  Lokalpatriotismus  sein, 
sondern  nur  zeigen,  daß  im  fernen  Osten  die  abgeschnittenen  deutschen 
Gemeinden  den  deutschen  Interessen  alles  andere  unterordneten. 

Doch  muß  ich  noch  einer  Schwierigkeit  Erwähnung  tun,  die  dem  Leitei 
manche  Sorge  verursachte.  Die  Gefahr  ansteckender  Krankheiten  ist  durch 
das  chinesische  Dienstpersonal,  dessen  hygienische  Grundsätze  den  unseren 
schnurstracks  zuwider  laufen,  größer  als  daheim.  Mit  Bangen  wurde  stets 
dem  Frühjahr  entgegen  gesehen,  wo  Mumps,  Masern,  aber  auch  Diphterie 
und  Scharlach  zu  fürchten  waren.  Gottlob  haben  nur  die  Masern  einmal 
wirkliche  Störung  verursacht,  sonst  ließen  sich  durch  sofortige  Desinfektion 
und  andere  Vorsichtsmaßregeln  die  Fälle  vereinzeln. 

Welche  Zumutungen  der  Schule  in  dieser  schon  an  sich  schwierigen 
Zeit  gestellt  wurden,  dafür  nur  ein  Beispiel  für  manche.  Die  ausländische 
Mutter  eines  durch  den  Vater  deutschen  Kindes  hatte  sich  schließlich  darauf 
besonnen,  daß  ihre  Kinder  ja  vielleicht  auch  die  deutsche  Schule  besuchen 
könnten,  nachdem  ihnen  die  ausländischen  im  Kriege  die  Pforten  verschlossen 
hatten.  In  der  Anmeldurg  machte  sie  aber  zugleich  zur  Bedingung,  daß 
ihre  Kinder  in  englischer  Sprache  unterrichtet  werden  sollten,  damit  sie  nicht 
zurückkämen.  Auf  die  jedem  Leser  selbstverständliche  Antwort  in  deutscher 
Sprache  erfolgte  ein  Schreiben  jener  Mutter  deutscher  Kinder,  daß  sie  die 
„wundervolle"  deutsche  Sprache  s-^lbst  nicht  verstünde  und  auch  nicht 
verstehen  wollte. 

Im  Vordergrunde  der  gesamten  Erziehung  stand  in  der  Schule  natür- 
lich der  deutsche  Gedanke.  Das  beste  Zeugnis  darüber  haben  die  Engländer 
ausgestellt.  Als  Chinesen,  Amerikaner  und  Holländer  versuchten  den  Schul- 
leiter von  der  Ausweisung  der  China-Deutschen  in  seiner  Eigenschaft  als 
Pfarrer  zu  befreien,  wurde  in  einem  längeren  Zeitungsartikel  der  englischen 
Presse  höhnisch  darauf  hingewiesen,  daß  in  der  Schule  eine  Karte  hinge, 
an  deren  Hand  der  Leiter  die  Erfolge  deutscher  Zeppeline  und  Bombenwerfer 
usw.  erkläre,  daß  die  Jugendwehr  unter  seiner  Leitung  Kriegsspiele  mache, 
daß  an  jedem  vaterländischen  Gedenktage  das  Kindesgemüt  und  andere 
(wohl  Chinesen  )vergiftet  würden  durch  seine  „feste  und  geliebte  Überzeugung: 
Deutschland  über  alles!" 

In  diesem  Geiste  lebte  unsere  Schule,  und  weil  sie  ein  Hort  des  Deutsch- 
tums war,  darum  galt  ihr  der  englische  Haß,  der  allen  deutschen  Einfluß 
in  China  brechen  und  beseitigen  wollte.  -So  stand  und  fiel  die  deutsche  Schule 
Ostasiens  mit  der  Heimat. 

Heidelberg.  Winter. 


IL  Bücherbesprechungen. 


Geschichte  der  göttlichen  Offenbarung.     Bibelkunde    für    Schule    und 
Selbststudium   von  Dr.  Jos.    Lengle,    Professor  am  Friedrichsgym- 
nasium zu  Freiburg  i.  Br.    Mit  4  Kärtchen.  Freiburg  1918.    Herder.    8**. 
184  S.    Preis  2,60  M.,  geb.  3,20  M. 
Das  Buch  will  eine  neue  Bibelkunde  sein,  und  besonderes  Gewicht  soll 
auf  die  geschichtliche  Apologetik  der  Offenbarung  gelegt  werden.    Dadurch 
geht  der  Verfasser  zielbewußt  ab  von  dem  Vorgehen  der  Verfasser  ähnlicher 
Werke,  deren  Stoff  sich  hauptsächlich  zu  einer  Einleitung  des  Alten  und  Neuen 
Testamentes  für  höhere   Schulen  auswächst.      Der   hinreichend   gewaltige 
Stoff,  der  geschickt  disponiert  und  verarbeitet,  auch  allseits  durch  die  Er- 
gebnisse der  neuern   Wissenschaft  und   der  Ausgrabungen   beleuchtet  ist, 
soll  in  dieser  Art  der  Bearbeitung  zugleich  eine  Ergänzung  der  philosophischen 
Teile   der   Offenbarungsapologetik   sein,    für   welche    die    Untersekundaner 
durchschnittlich  noch  wenig  Reife  und  Verständnis  haben.     Das  Buch  ist 
zunächst  für  die  höheren  Schulen  und  Lehrerseminarien  Badens  gedacht; 
in  Preußen,  wo  für  die  oberen  Klassen  genau  umgrenzte  Gebiete  dem  Unter- 
richte zugewiesen  sind,  würde  das  Buch  bei  gegebenen  Abschnitten  in  der 
Hand  des  Lehrers,  allweil  aber  auch  als  Lese-  und  Nachschlagebuch  in  Händen 
der  Schüler  gute  Dienste  tun  können. 

Lehrbuch  der  Geschichte  der  göttlichen  Offenbarung  für  Lehrer-  und  Lehre- 
rinnenseminarien  und  höhere  Lehranstalten,  zugleich  ein  Wiederholungs- 
buch für  die  Hand  des  Religionslehrers  in  den  Oberklassen  der  Volksschule. 
Von  Prof.  Georg  Lenhart,  Religions-  und  Oberlehrer  am  Großh.  Seminar 
zu  Bensheim.  Erster  Band:  Die  alttestamentliche  Offenbarung.  Mit  24  Bil- 
dern und  4  Karten.  8».  (XVI  u.  176  S.)  Freiburg  1918.  Herder.  Preis 
2,60  M.,  geb.  3,20  M. 

Das  Buch  ist  aus  der  Praxis  herausgewachsen  und  enthält  einen  Lehr- 
stoff, den  der  Verfasser  selbst  fast  25  Jahre,  vorwiegend  wohl  auch  in  gegebener 
Form,  in  seinem  Unterrichte  vorgetragen  hat  Es  soll  ein  Lehrbuch  der 
Religion  sein  und  neben  der  biblischen  Geschichte  gebraucht  werden.  Den 
Anstalten,  für  welche  das  Werkchcn  gedacht  ist,  wird  es  gute  Dienste  leisten; 
für  den  Religionslehrer  an  höheren  Knabenschulen  kann  es  für  die  geschicht- 
lichen Teile  der  Apologetik  als  Hand-  und  Ergänzungsbuch  der  dort  meist 
kurz  gebotenen  Vorgänge  empfohlen  werden.  Wegen  seiner  methodischen 
Einrichtung,  auch  wegen  der  passenden  Illustrationen  empfiehlt  sich 
das  Buch  auch  für  den  Privatgebrauch  der  Schüler.  Sehr  zu  begrüßen  sind 
die  am  Ende  wichtiger  Abschnitte  gegebenen  ,, Zusammenfassungen". 


1 10  Feldbriefe  katholischer  Soldaten,  angez.  von  Wilhelm  von  Capitainc. 

Feldbriefe  katholischer   Soldaten.     Herausgegeben  von  Dr.  Georg    Pfeil- 
stifter, Professor  der  Kirchengeschichte  in  München.     Freiburg   1918. 
Herder.  8«.   Erster  Teil:  „Aus  Tagen  des  Kampfes"  (XXIV  u.  226  S. 
Preis4M.,  kart.  4,80  M.);  zweiter  Teil:  „Aus  Ruhehaltung  und  Etappe 
(VI  u.  264  S.    Preis  4  M.,  kart.  5  M.);  dritter  Teil:  „Die  religiöse   Ge- 
dankenwelt  des   Feldsoldaten"  (VI  u.  170  S.    3  M.,  kart.  3,80  M.). 
Der    „Arbeitsausschuß   zur    Verteidigung    deutscher   und    katholischer 
Interessen  im  Weltkriege"   beschloß  im   Januar   1916  die  Sammlung  von 
Feldbriefen  zur  Abwehr  der  gegen  die  deutschen  Soldaten  erhobenen  gehässigen 
Angriffe.   Eine  Fülle  von  Feldbriefen  katholischer  Soldaten  aus  allen  Ständen 
und  Berufen  ging  dem  Sammler  zu,  der  etwa  ein  Zehntel  des  ganzen  Materials 
in  den  angegebenen  drei  Teilen  der  Veröffentlichung  weiteren  Kreisen  dar- 
bietet.    Was  hier  an  Material  vorgelegt  sind,  ist,  wie  eingangs  versichert 
wird,  „vom  Standpunkt  der  historischen  Kritik  aus  unbedingt  zuverlässig, 
äußerlich  wie  innerlich,  sowohl  was  die  Echtheit  als  den  Zeugniswert  anlangt." 
„Die  veröffentlichten  Schreiben  sind  zu  allernächst  Briefe,  welche  von  den 
Soldaten  geschrieben  sind  ohne  die  leiseste  Ahnung,  daß  sie  dereinst  der 
breitesten  Öffentlichkeit   bekanntgegeben   werden  sollten;"   sie  offenbaren 
vielfach  Stimmungen,  ,,in  denen  man  keine  Worte  macht,  in  denen  angesichts 
des  Todes  alles  ehrlich  und  so  geschrieben  ist,  wie  man  es  denkt  und  fühlt." 
Viele  Briefe  verraten  nur  Volksschulbildung,  sind  aber  „ein  glänzendes  Zeug- 
nis für  die  hohen  Leistungen  unserer  deutschen  Volksschule  und  ihrer  Lehr- 
kräfte".     So  erreicht  die  sorgfältig  ausgewählte  und  augenscheinlich  ge- 
schickt und  gewissenhaft  angelegte  Sammlung  durchaus  ihren  Zweck,  Zeug- 
nis  abzulegen   dafür,   „daß   mindestens  ein   recht   erheblicher   Prozentsatz 
unserer  katholischen  Soldaten  treu  katholisch  in  Glaube  und  Sitte,  in  Wort 
und  Werk  vor  uns  ist.  Sie  will  aller  Welt  zeigen,  daß  das  von  der  französischen 
Schmähschrift  entworfene  Bild  ein  Zerrbild  ist  und  eine  Fälschung  der  Wirk- 
lichkeit. 

Pier  (Düren).  Wilhelm  B.  von  Capitaine. 

Paul  Hermann^  Professor  an  der  Universität  München,  Deutsche    Gram- 
matik.   Bd.  III.    Teil  IV.    Syntax  (erste  Hälfte).    456  S.    Preis  19,60  M 
1919.    Bd.  IV.    Teil  IV.    Syntax  (zweite  Hälfte).    Halle  1920.  Verlag  von 
Max  Niemeyer.    423  S.    Preis  18  M. 
Den  beiden  ersten  Bänden  (Teil   1—3)  seiner  deutschen  Grammatik, 
die  im  18.  Jahrgang  der  Monatschrift  S.  225  f.  beurteilt  worden  sind,  hat 
der  Verfasser  verhältnismäßig  schnell  den  3.  und  den  4.  Band  folgen  lassen 
können.    Band  III  behandelt  den  einfachen  Satz  und  seine  Teile,  Band  IV 
den  zusammengesetzten  Satz  und  in  besonderen  Abschnitten  die  Verhältnis- 
wörter, die   Formen  des  Zeitworts  und  verschiedene   Unregelmäßigkeiten, 
wie  z.  B.  Folgewidrigkeit  in  der  Satzfügung  und  Mischung  zweier  sinnver- 
wandter Ausdrucksformen. 

Es  lohnt  sich  sehr,  die  Syntax  unserer  Muttersprache  auf  Grund  der 
Forschungen  des  Verfassers  unserem  geistigen  Auge   zu   erschließen,  dabei 


Matthias,  Deutsche  Sprachlehre,  angez.  von  Jos.  Buschmann.  1 H 

soweit  als  möglich  den  Gründen  nachzugehen,  welche  für  den  Bau  des  deutschen 
Satzes  und  die  Geschichte  der  Satzteile  im  Verlaufe  der  Jahrhunderte  maß- 
gebend gewesen  sind,  und  sich  tunlichst  darüber  zu  unterrichten,  welchen 
Umständen  es  zuzuschreiben  ist,  daß  das  Machtbereich  der  maßgebend  ge- 
wordenen Sprachgesetze  sich  erhielt,  auch  wuchs  oder  auch  zumal  durch 
Neubildungen  sich  einschränken  ließ.  Oft  genug  ist  für  Abwege  Mißverständ- 
nis, Unkenntnis  oder  Nachlässigkeit  maßgebend  gewesen;  nicht  selten  liegen 
aber  auch  für  die  Abweichung  von  der  grammatischen  Regel  gute  Gründe 
vor.  So  in  den  im  §281  angeführten  Beispielen,  in  denen  bei  einer  Reihe  von 
Verhältniswörtern  der  dritte  Fall  steht,  während  man  den  vierten  erwarten 
sollte.  Wie  unsicher  noch  das  Sprachgefühl  in  der  Verbindung  mit  Verhält- 
niswörtern ist,  die  jenachdem  mit  dem  3.  oder  mit  dem  4.  Fall  verbunden 
werden,  ist  in  §  283  und  in  §  284  zu  ersehen;  hier  und  auch  sonst  sind  in  der 
von  dem  Verfasser  gebotenen  reichlichen  Auswahl  von  Beispielen  selbst  her- 
vorragende Schriftsteller  absichtlich  oder  unbewußt  eigene  Wege  gegangen. 
Daß  der  Konjunktiv  in  abhängigen  Sätzen  mehr  und  mehi  zurücktritt, 
läßt  sich  nicht  wohl  hindern,  da  er  nur  noch  in  wenigen  Formen  vom  Indikativ 
sich  unterscheidet. 

Die  reichen  Schätze  der  deutschen  Grammatik  Pauls  den  Schülern 
unserer  höheren  Lehranstalten  so  weit  als  tunlich  zugänglich  zu  machen, 
wird  sich  der  Lehrer  des  Deutschen  gewiß  nur  ungern  versagen.  Jedenfalls 
werden  die  Schulen  den  vier  Bänden  einen  Platz  in  der  Bücherei  einräumen 
müssen. 


Matthias,  Th.,  Oberstudienrat  Dr.,  Deutsche  Sprachlehre  für  höhere 
Schulen.  Zweite,  neubearbeitete  Auflage  von  desselben  Verfassers  Hand- 
buch der  deutschen  Sprache.  Teil  1.  Leipzig  1918.  Verlag  von  Quelle  & 
Meyer.    205  S.     Geb.  3,40  M. 

Die  „Deutsche  Sprachlehre"  ist  eine  erweiterte  Bearbeitung  des  im 
Jahre  1908  erschienenen  ersten  Bandes  des  Handbuchs  der  deutschen  Sprache, 
welches  damals  im  VHL  Jahrgang  der  Monatschrift  S.  450  f.  nach  Verdienst 
gewürdigt  worden  ist.  Der  Unterrichtsstoff  ist  für  die  neue  Auflage  auf  Sexta, 
Quinta,  Quarta  und  die  mittleren  Klassen  verteilt  worden.  Der  Abschnitt 
„Zur  Geschichte  der  deutschen  Sprache"  und  der  Anhang  ,,Aus  Poetik  und 
Metrik"  enthalten  im  wesentlichen  Stoffe,  die  dem  Unterricht  der  Oberstufe 
vorbehalten  werden  müssen.  Im  übrigen  ist  dem  Buche  die  Anordnung, 
wonach  Satz-  und  Formenlehre  nicht  grundsätzlich  voneinander  geschieden 
sind,  geblieben,  ebenso  die  Aufgabe,  ein  Übungsbuch  zur  Festlegung  der  Regeln 
und  Gesetze  unserer  Muttersprache  zu  sein,  eine  Aufgabe,  die  der  Verfasser 
vortrefflich  gelöst  hat.  Als  Grundlage  für  den  Unterricht  eines  Lehrers, 
dem  die  Pflege  der  deutschen  Sprache  Herzenssache  ist  und  der  mit  den 
gebotenen  Übungssätzen  im  Sinne  des  Verfassers,  aber  selbständig  und  selbst- 
tätig umzugehen  versteht,  wird  es  sich  als  ein  Werk  ei  weisen,  das  sprachliche 
Schulung  im  allgemeinen,  Sicherheit  im  Gebrauche  der  Muttersprache  und 


112  Richard  Preiser,  Pensa  latina,  angez.  von  Hans  Meltzer. 

Freude  an  ihr  zu  erzielen  in  vollem  Maße  geeignet  ist^).  Der  Übungsstoff 
ist  mit  rühmlicher  Sorgfalt  ausgewählt;  es  finden  sich  aber  auch  Sätze,  die 
dem  Verständnis  der  Schüler  auf  der  Stufe,  für  welche  sie  bestimmt  sind, 
nahezu  bringen,  nicht  eben  leicht  wird.  Warum  sich  gelegentlich  Sätze  mit 
mundartlichen  Wendungen  finden,  wie  ,,Der  Geschäftige  ist  immer  mitten- 
mang" oder  ,,Erst  brockt  er's  ein,  dann  will  er  nichts  von  wissen",  ist  mir 
nicht  recht  klar  geworden.  Auch  konnte  ich  mir  keine  Antwort  auf  die  Frage 
geben,  warum  für  die  beiden  Sätze  „Wo  wird  er  die  Nacht  zugebracht  haben?" 
und  ,,Es  wird  was  anderes  wohl  bedeutet  haben"  nicht  ausdrücklich  darauf 
hingewiesen  wird,  daß  es  sich  hier  um  eine  Vermutung,  nicht  um  die  Vollen- 
dung in  der  Zukunft  handelt. 

Koblenz.  J.  Buschmann.    . 

Richard  Preiser,  Pensa  latina.    Theodor  Mommsens  Darstellung  des  Gal- 
lischen Krieges.    Text  und  Anmerkungen.    XI,  132  S.    S^.    Übersetzung 
59  S.    8».    Berlin,  Weidmann,  1919.    7  M. 
Es  ist  eine  Freude,  ein  Buch  von  solcher  Vortrefflichkeit  anzuzeigen! 
Der  Verfasser  hat  sich  als  Mitarbeiter  am  Frankfurter  Rcformunterrichts- 
werk  längst  einen  hochgeachteten  Namen  gemacht  und  diesen  durch  den 
vorliegenden,  auf  einer  so  noch  nicht  vorhandenen  Vereinigung  bestimmter 
Grundsätze  beruhenden  Versuch  von  neuem  glänzend  gerechtfertigt.     In 
dem  Zur  Einführung   überschriebenen   Vorwort  stellt  er   folgende   Forde- 
rungen auf: 

1.  Der  Text  soll  ein  Ganzes  geben,  vor  allem,  um  die  Periodenbildung 
zu  ermöglichen;  2,  er  soll  trotzdem  Abwechslung  zwischen  den  verschiedenen 
Darstellungsarten  bieten  wie  Bericht  und  Beschreibung,  Betrachtung  und 
Beurteilung;  er  soll  3.  wissenschaftlich  gediegen;  4.  in  tadellosem,  nicht 
künstlich  zurechtgemachtem  Deutsch  abgefaßt;  5.  im  ganzen  leicht  zu  über- 
setzen und  dadurch  zur  Bewältigung  von  Schwererem  und  Schwerstem 
ermut'i^end  sein;  6.  er  soll  die  Möglichkeit  oder  noch  besser  den  Zwang  ent- 
halten, d'e  Übertragung  dem  unbestritten  miUsterhaften  Vorbild  eines  rö- 
mischen Schriftstellers  nachzubilden,  der  tunlichst  denselben  Stoff  behandelt; 

7.  er  soll  begleitet  sein  von  Anmerkungen  mit  Belegen  und  Fingerzeigen; 

8.  er  soll  nachgeprüft  werden  können  an  einer  angehängten  Übersetzung. 

All  diese  Anforderungen  war  der  Verfasser  überzeugt  am  besten  erfüllen 
zu  können,  wenn  er  einerseits  Th.  Mommsens  Darstellung  der  Rom.  Gesch. 
Band  III,  245— 296  zugrunde  legte  und  sich  anderseits,  soweit  irgend  angängig, 
auf  den  Sprachgebrauch  Cäsars  und  Ciceros  beschränkte,  wobei  die  Anfüh- 
rungen aus  des  ersteren  Bellum  Gallicum  vom  Schüler  jedesmal  unweigerlich 
im  Urtext  nachzuschlagen  sind.  Von  neueren  Werken  werden  nur  drei  zu- 
gezogen: Nägelsbachs  Stilistik  wegen  ihres  Geschmacks,  Menges  Repetito- 
rium  wegen  seiner  Vollständigkeit,  Bruhns  Satzlehre  wegen  ihrer  Klarheit. 

*  Aus  diesem  Grunde  werden  junge  Lehrer  guttun,  sich  mit  der  vom  Vsrf .  dargebotenen 
Lehrart  veitraut  zu  machen.  Besonders  aufmerksam  mache  ich  zu  diesem  Zweck  auf  die 
für  die  Mittelklassen  besti.nmteu  Abschnitte  über  die  Wortbildung. 


Richard  Preiser,  Pensa  latina,  angez.  von  Hans  Meltzer.  113 

Als  Ziel  schwebt  Preiser  nicht  bloß  die  Herausschälung  des  inhaltlichen 
Kerns  aus  der  sprachlichen  Schale  und  die  erreichbar  höchste  Angemessenheit 
des  Ausdruckes  vor,  sondern  auch  das  Durchschimmernlassen  des  Stiles  der 
deutschen  Vorlage. 

Ob  das  letztgenannte  Bestreben  gel-mgen  ist,  wage  ich  nicht  zu  ent- 
scheiden, halte  es  auch  offen  gestanden  nicht  einmal  besonderen  Schweißes 
der  Edlen  wert,  weil  ich  zu  den  Leuten  gehöre,  denen  die  SchreibweiseMommsens 
in  ihrer  modernisierenden  Unruhe  und  gesuchtenBuntscheckigkeit  keinen  rein 
erfreulichen  Eindruck  macht  und  die  der  Meinung  sind,  daß  eine  schlichter 
und  deutscher  empfundene  Darstellung  dem  Gegenstande  ungleich  besser 
gerecht  geworden  wäre.  Allein  dies  sind  Meinungssachen,  über  die  man  immer 
wird  streiten  können!  Im  einzelnen  möchte  ich,  lediglich  um  zu  zeigen,  wie 
sehr  mich  die  Durcharbeitung  des  Buches  gefesselt  hat  und  zugleich  um  für 
eine  baldige  Neuauflage,  an  die  ich  fest  glaube,  womöglich  einige  Verbesserungen 
beizusteuern,  die  eine  und  andere  Kleinigkeit  bemerken.  An  Druckfehlern 
sind  mir  in  dem  mit  seltener  Sorgfalt  besorgten  und  durchgesehenen  Satz 
nur  zwei  aufgestoßen,  nämlich  in  Stück  \2  Anm.S praecipiiur  statt  percipitur 
und  52,  11  anderes  statt  andere.  49.  1  ist  wohl  statt  captus  vielmehr 
cultus  einzusetzen.  Ist  61  6  quo  concesso  =  quod  postquam  concessum  est 
nicht  erst  livianisch?  Die  besonders  von  Anz  und  Stegmann  umgebildete 
Lehre  von  der  Kongruenz  würde  60,  7  f.  in  dem  Satze  et  dignitas  et  ütilitas 
postularent  für    das  letztere  zweifellos  posiularet  anempfehlen. 

Um  auf  das  Adjektiv  überzugehen,  so  scheint  mir  91,  5  montis  decUvia 
einen  poefsierenden,  livian'schen  Beiklang  zu  haben.  Auf  dem  Gebiet  des 
Pronomens  habe  ich  angemerkt  10,  20  cuique  „jedem"  in  nichtenklitischer 
Stellung  anstatt  singulis  oder  unicuique  und  87,  5  quod  mireris  an  Stelle 
von  id,  quod  mireris  bei  Beziehung  auf  einen  ganzen  Satz.  Rücksichtlich 
der  Adverbien  ist  mir  aufgefallen  42,  2  item  atque,  wofür  quemadmodum^ 
'sicut,  ut  zu  schreiben  sein  wird.  Die  Präpositionen  anlangend,  so  heißt 
89,  3  secundum  flumen  wohl  nicht  „flußabwärts",  sondern  nur  „den  Fluß 
entlang"  und  kann  an  sich  auch  „flußaufwärts"  bedeuten;  jenes  wohl  eher 
secundo  flumine,  vgl.  Caes.  B.  G.  VII,  60,  1. 

Einige  Fragen  ergeben  sich  mir  zum  Gebrauche  des  Verbums.  84,  21 
scheint  mir  die  Substantivierung  des  Partizips  oppugnanfes  im  Nominativ 
nicht  einwandfrei,  zumal  sich  mühelos  qui  oppugnabant  dafür  sagen  läßt 
(vgl.  auch  Menge,  §  180,  2.  A.  1)  Einigemal  ist  es  mir  nicht  gelungen, 
in  die  Wortfügung  sofort  einzudringen.  So  scheint  mir  11,  5  bei  cum  Ulis 
die  Beziehung  unklar;  16,  1—3  bietet  mir  der  Satzbau  Schwierig- 
keiten ;.31,  5  ist  die  Mißverständnisse  begünstigende  Stellung  Laon  Pontavert 
oppidum  leicht  in  oppidum  Pontavert  umzuändern.  56,  2  f.  ist  die  Neben- 
einanderstellung von  cum-cum  nicht  £uf  Anhieb  zu  erfassen.  68,  3  sind 
die  Worte  una  cum  militibus  Romanis  exagitandos  durch  den  Zusammen- 
hang nicht  eindeutig  bestimmt.  69,  14  hat  mir  iam  ut  .  .  .  sevocaretur 
ebenso  wie  das  zum  Ersatz  dafür  gebotene  si  maxime  Schwierigkeiten 
gemacht.  Ganz  allgemein  darf  vielleicht  ausgesprochen  werden,  daß  die  von 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  8 


114  Richard  Preiser,  Pensa  latina,  angez.  von  Hans  Meitzer. 

Preiser  mit  großer  Feinheit  gehandhabte  und  gelegentlich  nach  den  neueren 
Ermittlungen  über  den  rhythmischen  Satzschluß  (die  clausula)  geordnete 
Wortstellung  doch  hier  und  dort  durch  ungekünsteltere  Natürlichkeit  an 
Übersichtlichkeit  gewinnen  würde. 

Doch  das  sind  im  ungünstigsten  Fall  Schönheitsfehler,  die  gar  nicht 
in    Betracht    kommen    gegenüber   der   wahrhaft   ausgezeichneten    Gesamt- 
leistung.    In  seiner  gediegenen  Gründlichkeit  und  nahezu  unfehlbaren  Zu- 
verlässigkeit, in  der  immer  die  deckende  Wendung  zu  scheinbar  selbstver- 
ständlicher    Verwendung     darbietenden    Belesenheit    in    den    römischen 
Klassikern,in    der   aus    der  Tätigkeit    des  Verfassers   als  Leiter   der  Stil- 
übungen  an    der  Frankfurter  Universität   erwachsenen  Treffsicherheit   und 
Knappheit    der  Fragestellung    wie    der  Geschicktheit   in   der  Darreichung 
der  Hilfen,  in  der  meisterlichen  Gestaltung  der  Form  zumal  nach  Zeiten 
der  Periodosierung  und  der  Abtönung  des  Ausdrucks,  z.  B.  in  der  Tempus- 
wahl,  haben    wir  die   völlig   ausgereifte    Frucht   langjähriger   hingebender 
Arbeit  eines  Mannes,  der  in  seinem  Fache  nach  allen  Richtungen  hin  wirk- 
lich zu  Hause  ist:  R.  Preiser  ist  einer  von  den,  zumal  nördlich  des  Mains 
überaus  selten  gewordenen,  ja  so  gut  wie  ausgestorbenen  Sonderlingen,  von 
denen  man  behaupten  darf,  daß  sie  Latein  nicht  bloß  kennen,  sondern  können: 
qu'  ils  ne  savent  seulement  Latin,  mais  ils  savent  le  Latin!  Angesichts  seiner 
manchmal  geradezu  verblüffenden  Wiedergaben  hat  man  fast  immer  das  Ge- 
fühl :  so  und  nicht  anders  muß  es  heißen !  Aus  dem  Buche  des  Studienrats  am 
Frankfurter  Reformgymnasium  hören  wir  einenNachhall  der  unvergleichlichen 
Schulung  seiner  schwäbischen  Heimat  und  insbesondere  des  evangelisch- 
theologischen Seminars  Blaubeuren  heraus,  in  den  sich  ein  leiser  Nebenton 
aus  dem  Norden  mischt :  von  dort  hat  er  die  Fähigkeit  frei  nach  schaffender 
Umbildung,  von  hier  den  Sinn  für  eine  gewisse  spezialistisch  gefärbte  Exakt- 
heit.   So  betrachtet  weisen  diese  an  sich  unscheinbaren  Pensa  Latina  über 
sich  selbst  hinaus  und  in  einen  weiteren  Zusammenhang  hinein.     Richtig 
betrieben  besitzt,  nach  dem  Urteil  von  Stilkünstlern  wie  Schopenhauer  und 
Nietzsche,  dieses   Ringen  zwischen  Mutter-  und   Fremdsprache  mit  seiner 
analytischen  Losschälung  des  Inhalts  von  der  Hülle  des  Worts  und  seiner 
synthetischen  Neugestaltung  des  Ausdrucks  die  Bedeutung  eims  alle  Geistes- 
anlagen   in  Bewegung    setzenden  Kurses  in  angewandter    psychologischer, 
logischer  und    ästhetischer  Propädeutik,  ganz  abgesehen  von  der  sittlich- 
erzieherischen Wirkung,  die  in  dem  Zwang  zu  strengem  Denken  und  in  der 
Befriedigung  über  die  an  schwierigen,  aber  angemessenen  Aufgaben  stufen- 
mäßig gewonnene  Kräftesteigerung  liegt. 

Wenn  —  hoffentlich  recht  bald  —  die  Zeit  kommt,  da  sich  unser  Volk 
auf  den  Wert  und  die  Wurzeln  seiner  höheren  Bildung  zurückbesinnt,  so 
wird  eine  Arbeit  wie  die  hiermit  gewürdigte  nicht  ein  Schwanengf  sang, 
sondern  die  Vorläuferin  einer  weiteren  Veröffentlichung  sein,  die  uns  Preiser 
aus  dem  ciceronischen  Sach-  und  Sprachkreise,  wie  ich  denke,  an  der  Hand 
einer   unbezweifelbar    klassischen    deutschen    Darstellung   schenken    möge! 


Dr,  E.  Umbach,  Ziele  u.  Wege  des  Sprachunterrfchts  usw.,  angez.  von  Fr.  Änderten.     115 

Vorläufig  aber  wünschen  wir  den  Primanern,  Studenten  und  Gymnasial- 
lehrern Glück,  die  von  einem  solchen  Führer  lernen  dürfen,  was  Latein  — 
und  Deutsch  —  ist. 

Hannover.  Hans   Meltzer. 

Umbach,  Dr.  E.,  Ziele  und  Wege  des  Sprachunterrichts  auf  unseren 
höheren  Schulen.  Leipzig  1917.  Quelle  und  Meyer.  6 IS.  Geheftet  1,20M. 

Das  Buch  besteht  aus  zwei  Teilen.  1.  Das  Verhältnis  der  Sprachen 
zueinander.    2.  Der  neusprachliche  Unterricht. 

Die  Zeit  des  Krieges  war  nicht  arm  an  Schriften,  die  Reformen 
des  Sprachunterrichts  verlangten.  Die  Vorschläge,  die  in  der  vorliegenden 
Schrift  gemacht  werden,  um  die  Zahl  der  Deutschstunden  zu  vermehren, 
werden  wohl  immer  fromme  Wünsche  bleiben.  Die  Kriegslage  möchte  der 
Verfasser  benutzen,  um  für  die  neuen  Sprachen,  ähnlich  wie  für  das  Deutsche, 
eine  Vormachtstellung  zu  erkämpfen.  Einen  Rückschritt  wird  gewiß  kein 
Neusprachler  wünschen.  Andererseits  wird  auch  keiner  für  sich  etwasBesonderes 
haben  wollen.  Derartige  Forderungen  können  nie  Wirklichkeit  werden. 
Bei  der  Lösung  der  schwierigen  Frage  des  sprachlichen  Unterrichts  nach  dem 
Kriege  haben  wir  uns  in  erster  Linie  leiten  zu  lassen  von  der  geschichtlichen 
Entwicklung  der  in  Fr^ge  kommenden  Fächer.  Eine  oft  laut  werdende  For- 
derung ist  die  Verschiebung  des  sprachlichen  Anfangsunterrichts  von  der 
untersten  in  die  zweitletzte  Klasse  der  höheren  Schulen.  Die  notwendige 
Folge  würde  eine  Überlastung  der  Mittelstufe  sein,  die  in  Anbetracht  der 
Pubertät  nicht  stattfinden  sollte.  Es  wäre  außerdem  erst  festzukeilen,  ob 
die  Frage  wirklich  viele  Anhänger  hat.  Die  Art,  wie  der  Verfasser  mit  den 
klassischen  Sprachen  verfahren  möchte,  um  Platz  für  seine  Wünsche  zu  be- 
kommen, muß  das  Entsetzen  der  Altphilologen  erregen.  Es  ist  doch  zu  weit 
gegangen,  das  Latein  ,,als  eine  Fessel  für  die  Entwicklung  einer  echt  deutschen 
Kultur"  anzusehen.  Das  ist  eine  Verkennung  der  Geschichte.  Ganz  kurzer- 
hand kommt  der  Verfasser  zu  der  Ansicht,  daß  für  das  Gymnasium  als  einzige 
neue  Sprache  das  Englische  zu  treten  hätte.  Für  die  Lyceen  sollte  ebenfalls 
eine  neue  Sprache  genügen !  Überall  Rückschritt !  Wie  steht  es  denn  mit  unse- 
ren Reformversuchen?  Haben  wir  schon  die  Früchte  unserer  Erfahrungen 
eingeheimst,  um  schon  wieder  zum  Reformieren  schreiten  zu  müssen?  Es 
kann  unmöglich  förderlich  sein  für  die  Entwicklung,  wenn  dauernd  an  den 
Grundlagen  gerüttelt  wird.  Was  der  Verfasser  über  die  Ausbreitung  der  deut- 
schen Sprache  ausführt,  über  das  Verhalten  der  Deutschen  im  Auslande, 
wird  ebenfalls  nicht  allseitige  Zustimmung  finden.  Der  Reformrichtung 
gegenüber  läßt  er  sich  hinreißen  zu  Anklagen,  die  fraglos  den  Segen  verkennen, 
die  sie  uns  gebracht  hat.  Sie  habe  das  deutsche  Ansehen  geschädigt,  den  vater- 
ländischen Sinn  unserer  Jugend  gefährdet!  Anerkanntermaßen  hat  diese 
Richtung  das  Niveau  der  neueren  Sprachen  an  unseren  Schulen  erst  zu  einer 
wirklichen  Höhe  gebracht.  Wenn  der  Verfasser  nun  fordert,  sie  sei  von  den 
Schulen  zu  entfernen,  so  vermißt  man,  wie  schon  sonst  gezeigt,  die  hohe  Warte, 
von  der  aus  geurteilt  werden  soll.    Es  wäre  noch    manche  Ausstellung   im 

8* 


116    Walter,  M.,  Zur  Methodik  d,  neusprachlichen  Unterrichts  usw.,  angez.  von  G.  Humpf. 

einzelnen  zu  machen,  z.B.  über  die  Sprachübungen,  den  Gebrauch  der  frem- 
den Sprache  im  Unterricht  und  die  schriftlichen  Arbeiten.  Die  Schrift  kann 
nicht  den  Anspruch  darauf  machen,  „die  vielen  Meinungen,  die  unsere  Zeit 
bewegen,  gesichtet  zu  haben  und  mitgewirkt  zu  haben  zur  Klärung  vieler 
Fragen  auf  neusprachlichem  Gebiet".  Es  wäre  ihm  die  Lektüre  Borbeins 
zu  empfehlen :  Auslandstudien  und  neusprachlicher  Unterricht  im  Lichte  des 
Weltkrieges. 

Berlin- Reinickendorf.  Friedrich   Änderten 

Walter,  Max,  Zur  Methodik  des  neusprachlichen  Unterrichts.  Dritte, 
durch  einen  Anhang  erheblich  vermehrte  Auflage.  Bearbeitet  von  Paul 
Olbrich.  Marburgi.H.  1917.  N.G.Elwert'scheVerlagsbuchhandlung.  3M. 
Man  braucht  nicht  unbedingter  Anhänger  der  sogenannten  Reform  zu 
sein  und  wird  doch  die  Schrift  des  hervorragenden  Schulmannes  mit  Genuß 
und  Nutzen  ks':;n.  V,  es  er  über  lautliche  Schulung,  die  Handlung  und  ihre 
Entwicklung,  die  Anschauungsmittel,  das  Leseslück  bezw.  die  Lektüre  und 
Wortschatzübung  auf  der  Unter-  und  Oberstufe,  Grammatik  und  schriftliche 
Arbeiten  sagt,  enthält  eine  Fülle  von  nicht  wegzudisputierenden  Wahr- 
heiten, die  ernster  Beherzigung  wert  sind  Die  3.  Auflage  konnte  der 
Verf.  infolge  eines  schweren  Leidens,  das  er  sich  im  Kriegsdienst  zugezogen 
hat,  nicht  selbst  besorgen.  An  seiner  Stelle  hat  ein  pädagogischer  Jünger 
Walters,  Paul  Olbrich,  die  Herausgabe  übernommen  und  ,,auf  Grund 
seiner  philosophischen  Studien  einige  wichtige  methodische  Fragen  vom 
Standpunkt  der  Psychologie  aus  eingehender  erörtert  und  dadurch  den  der 
direkten  Methode  noch  abgeneigten  Fachgenossen  Anlaß  zum  reiflichen 
Nachdenken  geboten,  das  manchen  vorurteilsfreien  Leser  von  der  Berechtigung 
und  dem  Werte  der  direkten  Methode  im  Klassenunterricht  wohl  überzeugen 
und  zu  tieferem  Eindringen  in  die  psychologischen  Grundlagen  der  Sprach- 
erlernung veranlassen  dürfte."  Indessen  sind  auch  durch  Olbrich  nicht  alle 
methodischen  Streitfragen  aus  der  Welt  geschafft.  Ich  sehe  aus  Gründen 
der  Papierersparnis  davon  ab,  alle  Bedenken  geltend  zu  machen,  die  geltend 
gemacht  werden  könnten.  Ich  verweise  den  objektiven  Leser  statt  dessen 
auf  eine  vortreffliche  Abhandlung  vonAronstein,  Die  Antinomien  des  fremd- 
sprachlichen Unterrichts,  die  in  der  Zeitschr.  für  franz.  u.  engl.  Unterricht  1917, 
S.  241  ff.  erschienen  ist.  Nur  zwei  einzelne  Bemerkungen  möchte  ich  streifen. 
S.  83,  Anm.  16  liest  man:  ,, Solche  wörtliche  Übertragung  (ins  Deutsche) 
bei  der  die  französische  (englische)  Wortstellung  usw.  beibehalten  wird,  hat, 
so  mechanisch  sie  auch  erscheinen  mag,  den  großen  Wert,  daß  der  Sinn  für 
die  fremde  Sprachform  durch  deren  Abweichung  von  der  Muttersprache 
unmittelbar  entwickelt  wird.  Die  Erinnerungsvorstellung  an  solcheübersetzur.g 
bereitet  den  in  der  Fremdsprache  neu  zu  bildenden  Sätzen  die  Bahn,"  Das 
ist  unzweifelhaft  richtig  und  gilt  noch  viel  mehr  von  dem  Übersetzen  aus  der 
Mutter-  in  die  Fremdsprache,  das  demnach  zu  Unrecht  verworfen  wird.  Noch 
ein  anderer  Satz,  der  sich  S.  74  findet,  möge  nicht  unwidersprochen  bleiben. 
Er  lautet:  , »Wüßten  alle  Gebildeten  der  jetzt  feindlichen  Länder  über  unser 


Izhac  Epstein,  La  pens6e  et  la  polyglossie,  angez.  von  Feüx  Hartmann.        117 

wahres  Wesen  so  gut  Bescheid,  wie  wir  unsere  Schüler  über  sie  zu  unterrichten 
suchen,  so  wäre  der  unglaubHche  Erfolg  der  Hetzpresse  niemals  in  diesem 
Maße  denkbar  gewesen."  Läßt  diese  Behauptung  nicht  ebensogut  die  umge- 
kehrte Schlußfolgerung  zu?  Ich  glaube,  der  Krieg  hat  gezeigt,  daß  wir  über 
das  wahre  Wesen  unserer  Gegner  trotz  aller  Bemühungen  der  Reform  zu  unserm 
Schaden  herzlich  wenig  Bescheid  wußten.  —  Zum  Schluß  steuert  noch  Franz 
Beyer  einiges  aus  dem  Schatz  seiner  Erfahrungen  im  Sinne  des  Reform- 
unterrichts bei. 

Elmshorn.  ..  Gustav   Humpf. 

Izhac  Epstein,  *^La  pensee  et  la  polyglossie,  essai  psychologique  et  didactique. 
Lausanne  ohne  Jahr  (1916),  Payot  &  Cie.  216,  IV  S.  8«. 
Der  Verfasser  hat  teils  aus  der  psychologischen  Literatur,  teils  aus  eigener 
Beobachtung  reiches  Material  zusammengebracht,  um  die  Frage  einer  Be- 
antwortung zuzuführen,  welchen  Einfluß  die  gleichzeitige  Erlernung  und 
Beherrschung  mehrerer  Sprachen  auf  den  Sprechenden  selbst  ausübt,  ob 
dabei  in  den  fremden  Sprachen  gedacht  wird,  und  namentlich,  ob  das  fremd- 
sprachliche Denken  das  Denken  in  der  Muttersprache  fördert  oder  stört. 
Seine  persönliche  Ansicht  vertritt  er  dabei  mit  starker  Einseitigkeit  und 
ohne  auf  den  anerkannten  und  unzweifelhaften  Wert  eines  wissenschaftlich 
geleiteten  Sprachunterrichtes  für  die  Entwicklung  und  Ausbildung  des  Denkens 
Rücksicht  zu  nehmen,  da  er  nur  die  im  wesentlichen  unbewußte  Aneignung 
der  Sprachen  im  frühen  Kindesalter  ins  Auge  faßt.  Aber  mit  dieser  Einschrän- 
kung ist  zugegeben,  daß  der  Verfasser  den  durchaus  überzeugenden 
Nachweis  von  der  Schädlichkeit  der  frühzeitigen  Vielsprachigkeit  er- 
bringt und  daran  eine  Anzahl  wichtiger  Schlußfolgerungen  für  die  Art  der 
Spracherlernung  in  den  Schulen  knüpft.  Wir  glauben,  diese  Schluß- 
folgerungen sowie  überhaupt  die  Darlegungen  des  Verfassers 
der  ernstesten  Erwägung  empfehlen  zu  sollen.  Er  verlangt,  daß 
nur  neuere  lebendig  gebrauchte  Sprachen  in  frühem  Kindesalter  nach  der 
direkten  Methode  erlernt  werden  sollen,  denn  je  weiter  die  Herrschaft 
der  Muttersprache  sich  befestigt,  desto  mehr  hindert  sie  die 
unbewußte  Aneignung  der  Fremdsprache.  Außerdem  hebt  er  die 
Größe  der  nutzlosen  Gedächtnisarbeit  und  des  Zeitverlustes  stark  hervor, 
die  mit  jeder  Sprachaneignung  verbunden  sind,  und  rät,  die  Schädigungen 
durch  verständige  Pädagogik  einzuschränken.  Er  unterscheidet  expressive 
Sprachkenntnis,  die  die  Fähigkeit  zu  selbständigem  Gebrauch  der  Fremd- 
sprache in  Wort  und  Schrift  umfaßt,  vom  impressiver,  die  sich  mit  dem 
Verständnis  des  Gehörten  und  Gelesenen  begnügt.  Man  sollte  die  erste  nicht 
ohne  Not  erstreben,  und  vor  allem  in  den  alten  Sprachen  ganz  auf  sie  ver- 
zichten. Eine  nur  impressive  Sprachkenntnis  erstrebende  Aneignung  einer 
Sprache  ist  auf  das  Alter  zu  verschieben,  in  dem  die  Erlernung  der  fremden 
Wörter  und  Sprachgesetze  sich  bewußt  vollzieht*). 

Berlin-Schöneberg.  Felix  Hartmann. 


')  Ausführliche  Bäsprechung  demnächst  in  der  Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche 
Pädagogik,  herausgegeben  von   Rain. 


118     Friearich  Rommel,  Die  Verfassung  des  Deutschen  Reichf>s,  angez.  von  M.  BlümeU 

Friedrich  Rommel,  Die  Verfassung  des  Deutschen  Reiches.  Leip- 
zig 1921.    Quelle  &  Meyer.    112  S.    4,80  M. 

Die  eingehende  Behandlung  der  Verfassung  des  Deutschen  Reiches 
ist  in  allen  unseren  Schulen  unbedingt  erforderlich  und  wird  mit  Recht  neuer- 
dings durch  amtliche  Vorschrift  verlangt.  Die  Frage  nach  einem  gedruckten 
Leitfaden,  die  sich  in  den  Fachkonferenzen  der  Geschichts-  und  Deutschlehrer 
daraufhin  erhob,  ist  durch  das  vorliegende  Bändchen  in  glücklicher  Weise 
gelöst.  Entfernt  von  jeder  einseitigen  Parteiauffassung,  behandelt  es  den 
heikein  Stoff  mit  einer  Sachlichkeit,  die  es  gerade  für  Schülerhände  geeignet 
erscheinen  läßt.  Dabei  ist  diese  Sachlichkeit  nicht  von  kühler  Allgemeinheit, 
sondern  überall  von  einer  Wärme  des  Tones  getragen,  die  'dem  Verfasser 
aus  dem  Herzen  kommt,  —  ein  Wegweiser  dafür,  wie  der  Lehrende  dieses 
Thema  behandeln  muß,  wenn  sein  Unterricht  der  hohen  und  ernsten  Be- 
deutung des  Gegenstandes  entsprechen  soll.  Im  übrigen  läßt  der  mäßige 
Umfang  der  Schrift  und  die  daraus  folgende  Beschränkung  auf  das  Wesent- 
lichste der  Individualität  des  Lehrers  genügenden  Spielraum. 

Das  geschmackvoll  ausgestattete  Buch  enthält  einen  dankenswerten 
verfassungsgeschichtlichen  Rückblick  und  gliedert  sich  dann,  hierin  ganz 
der  Verfassung  entsprechend,  in  zwei  Hauptteile,  die  sich  erst  mit  den  Auf- 
gaben des  Reiches  und  dann  mit  den  Rechten  und  Pflichten  des  einzelnen 
Deutschen  beschäftigen. 

Wo  sich  Gelegenheit  zu  ethischer  Einwirkung  bietet,  in  rein  mensch- 
lichem und  in  vaterländischem  Sinne,  wird  sie  vom  Verfasser  benutzt,  so 
bei  dem  Mahnruf  an  die  deutsche  Jugend,  Mann  für  Mann  mitzuarbeiten  an  der 
Verfassung,  die  das  Reich  wieder  emporheben  soll  aus  Elend  und  Ohnmacht. 
Denn  die  Verfassung  soll  kein  unabänderliches  Dogma  sein,  sie  bildet  nur 
die  Grundlage  für  den  nötigen  Neubau.  Jeder  Deutsche  soll  sich  für  die  Re- 
gierung und  die  Zustände  im  Vaterlande  mit  verantwortlich  fühlen.  Dieses 
Verantwortungsgefühl  wird  unsere  Handlungen  sittlicher  machen  und  uns 
davor  bewahren,  dem  unseligen  deutschen  Parteizwist  zu  verfallen,  dem 
ein  kräftiges  Wort  der  Abwehr  gewidmet  ist. 

Es  wäre  zu  begrüßen,  wenn  das  Werk  in  unseren  Schulen  weite  Ver- 
breitung fände. 

Breslau.  M.  Blümel. 

E.  Hauptmann,  Heimatkunde.    Leipzig.    Theodor  Weicher.    111  S.    Geh. 

6  M.,  geb.  10  M. 

Das  Büchlein  sieht  das  große  Ziel  deutscher  Wiedergeburt  und  zeigt 
den  Weg  dorthin,  sich  auf  einen  kleinsten  Ausschnitt  aus  dem  Gebiete  der 
Erziehung  —  das  Fach  Heimatkunde  —  beschränkend.  In  der  Beschrän- 
kung aber  ist  es  um  so  gründlicher  und  geht  dem  Begriff  Heimat  an  die  Wurzel. 

Ich  bin  mit  manch  Wesentlichem  des  grundlegenden  Teils  nicht  ein- 
verstanden. Die  Heimatgefühl  bildende  Kraft  der  Örtlichkeit  wird  zu- 
gunsten der  Menschengemeinschaft  allzu  sehr  unterschätzt.  Der  zu- 
grunde liegende  Fehler  scheint  mir  der,  daß  der  Verfasser  eine  Wurzel  des 


Paul  Rhenanus,  Antwerpen,  Die  Flamen,  angcz.  von  Paul  Verbeek.  119 

Heimatgefühls  völlig  übersehen  hat :  die  eigne  Persönlichkeit,  d  ie  Reinhit, 
und  Jugend  verloren  hat  und  sich  mit  aller  Sehnsucht  an  jene  Zeit  klammert 
in  der  das  Verlorene  ihr  Eigen  war.    Gerade  durch  diese    Sehnsucht  aberer- 
hält auch  die  Örtlichkeit  ihren  Schimmer  und  Zauber,  unabhängig  von  aller 
Gemeinschaft.    Die  Art  des  Verfassers  läßt  glauben,  daß  er  sich  das  noch 
einmal  durch  den  Kopf  gehen  läßt  und  weiter  mit  dem  Problem  ringt.   Denn 
Fertiges  kann  und  will  er  nicht  bringen ;  er  hat  recht,  wenn  er  sagt,  daß  man 
noch  nie  und  nirgends  in  schulwissenschaftlichen  Büchern  dem  Begriff  der 
Heimat  überhaupt  auf  den  Grund  gegangen  ist.    Es  ist  wirklich  hier  zum 
ersten  Male  in  die  Kerbe  gehauen,  die  allein  den  Klotz  spalten  kann,  der 
die  Tür  ins  lichte  freie  Neu-Deutschland  versperrt.  Und  die  Gedanken,  die  das 
Buch  weit  über  alle  ähnlichen  stellen,  sind  kurz:  l.es  ist  uns  alles  zerbrochen, 
weil  uns  das  wichtigste,  Heimat-  und  Deutschbewußtsein  fehlte.    Allem  Auf- 
bau muß  daher  die  Erziehung  des  Einzelnen  zum  Gemeinschafts-  und  deutschen 
Heimatgefühl,  kurz  zum  Deutschbewußtsein,  voraufgehen.    2.  Es  gilt  erst 
einmal  an  die  Wurzel  zu  gehen  und  die  inneren  Zusammenhänge  dessen, 
was  Heimat  heißt,  klarzulegen,  will  man  nicht  wie  bisher  ins  Blaue  hinein 
arbeiten.    3.  Der  Begriff  Heimat  löst  sich  in  eine  unzerreißbare  Kette  auf: 
Familie,  Gemeinde,  Stamm,  Volk.    (Die  Persönlichkeit  mit  ihrem  Eigenen 
als  erstes  Glied  hätte  hier  nicht  vergessen  werden  sollen !)    Eins  ist  undenk- 
bar ohne  das  andere.  4.  Der  Schule  oberstes  Ziel  ist  nicht,  wie  bisher,  Trichtere! 
oder  Arbeitsausbildung,  sondern  Erziehung  zur  Heimat  in  dem  vierfachen 
(besser  fünffachen!)  Sinn.    5.  Die  deutsche  Wiedergeburt  hängt  davon  ab, 
ob  es  gelingt,  der  breiten  Masse  der  sog.  Arbeiter  dies  Heimatgefühl  zum 
ersten  Male  zu  schaffen  in  dem  zukünftigen  Geschlecht. 

Daß  der  Verfasser  als  Schulmann  sich  in  der  Durchführung  dieser  Ge- 
danken auf  ein  einziges  Fach  beschränkt,  macht  seine  Arbeit  erst  wahrhaft 
fruchtbringend,  und  es  wäre  nur  zu  wünschen,  wenn  andere  Fachmänner 
folgten  und  der  Stoff,  auch  der  andern  Fächer,  planmäßig  ,, heimatlich"  in 
diesem  Sinne  durchdrungen  wird. 

Berlin- Friedrichsfelde.  Kurd.  Niedlich. 

Rhenanus,  Paul,  Antwerpen.  Die  Flamen.  Fünf  Abhandlungen.  M.  Glad- 
bach 1918.  Volksvereinsverlag.  115  S.  8«.  Geh.  2,40  M. 
Durch  den  Weltkrieg  sind  unsere  Blicke  wieder  auf  das  flämische  Volk 
gelenkt  worden,  das  als  einen  verlornen  Außenposten  deutscher  Gesittung 
zu  betrachten  mancher  sich  schon  gewöhnt  hatte.  Ein  ungünstiges  Geschick 
hatte  diesen  niederfränkischen  Volksstamm  zwischen  das  Meer  und  welsche 
Gebiete  eingeklemmt,  und  als  der  Vertrag  von  Verdun,  der  die  Grafschaft 
Flandern  zu  Frankreich  schlug,  seinen  größten  Teil  von  den  deutschen  Bruder- 
stämmen trennte,  da  schien  seine  Verwelschung  nur  eine  Frage  der  Zeit  zu 
sein.  Nach  wechselvollen  Schicksalen  wurde  er  1830  mit  den  Wallonen  zum 
belgischen  Staate  zusammengeschweißt,  in  dem  er  von  Anfang  an  trotz 
seiner  größeren  Volkszahl  zur  dienenden  Rolle  verurteilt  war.  Es  zeugt  von  der 
Zähigkeit  des  flämischen  Volkstums,  wenn  es   trotz  dieser  unglücklichen 


120     Dr.  Heinrich  Verbeek,  Flämisch  für  alle  Deutschen,  angez.  von  Paul  Verbeck. 

Geschichte  seine  niederdeutscheEigenart  so  rein  bewahrt  hat.  Wohl  zeigt  gerade 
die  gebildete  Schicht  eine  geringere  Widerstandsfähigkeit,  aber  das  Volk 
spricht  noch  heute  die  niederdeutsche  Sprache  und  hat  sich  nicht,  wie  das 
der  Angelsachsen,  dem  Eindringen  französischer  Wörter  gebeugt.  —  Von  dem 
Kampfe,  den  die  Flamen  besonders  seit  der  Gründung  Belgiens  gegen  die  immer 
stärker  anschwellende  Flut  der  Verwelschung  zu  führen  hatten,  entwirft 
Rhenanus  ein  zugleich  erschütterndes  und  erhebendes  Bild,  erschütternd, 
weil  wir  das  einsame  Ringen  dieses  germanischen  Volkes  sehen,  das,  äußerlich 
und  innerlich  von  den  blutsverwandten  Stämmen  gelöst,  immer  von  neuem 
gegen  das  fremde  Joch  aufbegehrt,  erhebend,  weil  in  den  letzten  Jahrzehnten 
vor  dem  Weltkrieg  ein  dauernder  Aufstieg  festzustellen  ist,  der  in  dem  Volks- 
schulgesetz von  1914,  das  ein  Recht  der  Flamen  auf  den  Unterricht  in  der 
Muttersprache  anerkannte,  seine  Krönung  gefunden  hat.  Der  Verfasser  streift 
die  ältere  flämische  Geschichte  und  Literatur  nur  kurz,  behandelt  aber  in 
breiter  Ausführlichkeit  die  Verhältnisse  in  der  belgischen  Zeit.  Er  zeigt, 
wie  der  Staat  seine  Machtmittel  zur  Verwelschung  mißbrauchte,  wie  er  das 
Beamtentum,  das  Heer,  die  Presse,  das  gesamte  Schulwesen,  Handel  und 
Gewerbe  in  den  Dienst  seiner  Bestrebungen  zwang,  wie  er  den  nur  flämisch 
sprechenden  Untertan  zum  Paria  erniedrigte,  indem  er  ihn  von  allen  führenden 
Stellen  ausschloß.  Dann  bespricht  er  eingehend  die  flämische  Bewegung, 
deren  Umfang  und  weitverzweigte,  ständig  wachsende  Gliederung  manchem 
Leser  eine  Überraschung  sein  wird.  Auch  die  flämischen  Kriegsgründungen 
werden  noch  in  den  Kreis  der  Betrachtung  gezogen.  Das  Buch  von  Rhenanus 
ist  jedem  zu  empfehlen,  der  sich  über  die  Bestrebungen  der  Flamen  sach- 
gemäß unterrichten  will  und  den  Wunsch  hat,  daß  die  geistigen  Fäden,  die 
während  des  Krieges  geknüpft  worden  sind,  nicht  wieder  zerrissen  werden. 

Verbeek,  Dr.  Heinrich,  Flämisch  für  alle  Deutschen.  Eine  Anleitung 
zum  leichten  Erlernen  der  flämischen  Sprache.  M.  Gladbach  1917.  Volks- 
vereinsverlag.    194  S.    8°.     Geh.  1,60  M. 

Der  Verfasser  bietet  uns  in  seiner  Grammatik  eine  kurze,  aber  recht 
brauchbare  Einführung  in  die  flämische  Sprache.  Er  geht  von  dem  richtigen 
Grundsatz  aus,  daß  sie  nicht  wie  eine  Fremdsprache,  sondern  wie  eine  nieder- 
deutsche Mundart  gelehrt  und  gelernt  werden  müsse.  Da  er  selbst  aus  dem 
niederfränkischen  Sprachgebiet  stammt  und  seine  heimische  geldrische  Mund- 
art vollkommen  beherrscht,  so  konnte  er  an  dem  lebendigen  Sprachquell 
schöpfen,  aus  dem  auch  das  Flämische  fließt.  Daraus  erklärt  sich,  wenn  er 
in  Belgien  seine  Muttersprache  zu  hören  glaubt.  Er  geht  aber  zu  weit,  wenn  er 
meint,  daß  viele  Deutsche,  namentlich  Rheinländer,  denselben  Eindruck 
gewännen ;  es  kann  sich  dabei  eben  nur  um  Niederfranken  handeln,  die  ihrer 
heimischen  Mundart  noch  mächtig  sind.  Er  vergreift  sich  dazu  im  Ausdruck, 
wenn  er  es  unverständlich  findet,  „daß  ein  Mann  wie  Schiller  zu  gestehen 
wagte,  des  Holländischen  oder  Flämischen  nicht  mächtig  zu  sein."  —  Auf 
eigenartige  und  glückliche  Weise  gelingt  es  ihm,  den  Leser  in  den  Wortschatz 
des  Flämischen  einzuführen.   Nach  einer  kurzen  Übersicht  über  die  Verschie- 


Perthes'  Kleine  Völker-  und  Länderkunde  usw.,  angez.  von  Gadow.  121 

denheit  der  Aussprache  stellt  er  in  dem  Abschnitt  „Verwandtschaftliche  Be- 
ziehungen zwischen  Deutsch  und  Flämisch"  die  wichtigsten  Flämischen  Wörter 
zusammen.  Er  geht  von  den  mit  dem  Hochdeutschen  übereinstimmenden 
Wörtern  aus,  um  dann  allmählich  zu  den  Verschiedenheiten  hinzuführen, 
die  sich  zwischen  den  Selbstlauten  und  Mitlauten  herausgebildet  haben. 
Soweit  wie  m.öglich  sind  die  Verschiedenheiten  lautgesetzlich  begründet. 
Auch  die  Ausdrücke,  die  im  Hochdeutschen  fehlen,  aber  in  der  Sprache  des 
Niederrheins,  im  Alt-  und  Mittelhochdeutschen  vorkommen,  sowie  die  dem 
Lateinischen  und  Französischen  entlehnten  Fremdwörter  sind  in  besonderen 
Abschnitten  gesammelt.  Die  eigentliche  Sprachlehre  beschränkt  sich  mit 
Recht  im  ganzen  auf  die  Bildung  der  Formen  und  bleibt  immer  in  enger 
Verbindung  mit  dem  Deutschen.  Die  Wortbildungslehre  ist  für  den  Zweck 
des  Buches  vielleicht  etwas  zu  weit  ausgeführt.  Unter  den  im  Anhang  bei- 
gefügten 15  Lesestücken  und  Gedichten  sinden  fich  auffallender  Weise  8  hol- 
ländische; von  den  flämischen  sind  Limburgsch  Koolbekken,  Wij  eischen  de 
vervlaamsching  der  Gentsche  Hoogeschool  und  De  Oude  Viamingen  auch 
dem.  Inhalt  nach  gut  ausgewählt.  Von  Einzelheiten  seien  noch  bemerkt: 
Seite  32  ist  oogst  Ernte  irrtümlich  unter  die  Wörter  gekommen,  in  denen 
flämisch  o  einem  hochdeutschen  Mitlaut  entspricht ;  Seite  67  wird  es  richtig 
von  augustus  abgeleitet.  Seite  64  wird  baldadig  ungezogen  mit  bald  kühn 
zusammengebracht;  es  dürfte  wohl  mit  dem  germanischen  Stamme  bal, 
erhalten  in  engl,  bale  Unheil,  zusammenhängen.  Seite  80  wird  der  Nominativ 
des  artikellosen  trouw  hond  als  gleichbedeutend  mit  dem  Akkusativ  angeführt; 
letzterer  lautet  indes:  trouwen  hond.  Diese  geringfügigen  Ausstellungen 
vermögen  aber  den  Wert  des  trefflichen  und  zeitgemäßen  Werkchens  nicht 
herabzumindern. 

Andernach.  Paul   Verbeek. 


Perthes'   Kleine  Völker-  und  Länderkunde  zum   Gebrauch  im  praktischen 
Leben.     Fünfter  Band;  Achmed  Emin,   Die  Türkei.    Gotha  1918. 
Verlag  Friedrich  Andreas   Perthes  A.  G.     VHI  und  95  S.     Mit  1  Karte. 
Preis  4M. 
Seitdem   Deutsche   und  Türken   im   Weltkriege   Schulter  an   Schulter 
kämpften,  ist  bei  uns  das  Interesse  für  das  osmanische  Reich  in  weiten  Kreisen 
wach  geworden.  Deutsch-türkische  Wörterbücher  und  Sprachlehren  schosseni 
wie  Pilze  aus  der  Erde,  die  Zahl  der  Aufsätze  und  Schriften  über  die  Türkei 
und  ihre  Entwicklungsmöglichkeiten  wächst  unaufhörlich.    Es  fehlte  jedoch 
bisher  eine  kurze  Darstellung  des  verbündeten  Staates  auf  landeskundlich- 
politischer Grundlage,  die  den  Bedürfnissen  des  gebildeten  Laien,  des  Soldaten 
und  des  Kaufmanns  genügt. 

Diesem  Mangel  soll  der  5.  Band  von  Perthes'  Kleinen  Völker-  und  Länder- 
kunde abhelfen.  Der  Verlag  hat  einen  glücklichen  Griff  getan,  als  er  den 
Professor  der  Statistik  an  der  Universität  Konstantinopel  Dr.  phil.  Achmed 
Emin  mit  der  Aufgabe  betraute,  deutschen  Lesern  sein  Vaterland  zu  schildern. 


122    H.  Hegnauer,  Schulzeichnen  a.  Grund  elementarer  Perspektive,  angez.v. Fr.  Leberecht. 

In  der  Einleitung  betont  der  osmanische  Gelehrte,  daß  man  sich  in  Europa 
vielfach  noch  ein  völlig  unzutreffendes  Bild  von  seiner  Heimat  mache.  „So- 
gar in  ernsten  Büchern  und  als  wissenschaftlich  gedachten  Schriften  kommen 
immer  wieder  jene  überlieferten  Ansichten  über  die  Türkei  zur  Geltung, 
welche  von  der  Atmosphäre  von  „Tausendundeine  Nacht"  umwoben  sind 
und  die  wandelnde  Arbeit  der  verschiedenen  sozialen  und  wirtschaftlichen 
Faktoren  völlig  verkennen."  Dann  skizziert  der  Verfasser  auf  knappen  12  Seiten 
die  starken  geographischen  Gegensätze  der  einzelnen  Landesteile  und  die  eth- 
nische, sprachliche  und  religiöse  Verschiedenheit  der  heterogenen  Bevölkerung 
um  im  2.  und  3.  Abschnitt  einen  Einblick  in  die  Geschichte  des  Aufstiegs 
und  Niedergangs  des  roten  Halbmonds,  der  wiederholten  Reformversuche, 
der  Palastherrschaft  Abdul  Hamids  und  des  siegreichen  Kampfes  der  Jung- 
türken zu  geben. 

Bei  der  Beurteilung  der  politischen  und  geistigen  Strömungen  der  letzten 
Jahre  nimmt  Dr.  Achmed  Emin  einen  so  objektiven  Standpunkt  ein  wie  das 
einem  Manne  möglich  ist,  der  inmitten  der  Ereignisse  steht.  Das  vierte  und 
längste  Kapitel  (,,Die  junge  Türkei  und  ihre  Probleme")  beansprucht  unser 
besonderes  Interesse.  Dort  wird  in  breiten  Strichen  der  Verjiingungsprozeß 
dargelegt,  der  das  schwergeprüfte  Reich  auf  eine  moderne  Grundlage  bringen 
soll,  und  bei  dem  deutsche  Schaffenskraft  und  deutsches  Kapital  ausschlag- 
gebend mitzuwirken  berufen  sind.  Andererseits  vergißt  der  türkische  Statistiker 
nicht,  auf  den  Schatten  hinzuweisn,  der  das  erfreuliche  Bild  seines  aufstreben- 
den Vaterlandes  verdunkelt :  es  ist  der  immer  stärker  einsetzende  Bevölkerungs- 
schwund, der  besonders  in  Anatolien  sich  bemerkbar  macht.  ,,Der  einzige  Trost 
besteht  darin,  daß  man  die  Gefahr  in  vollem  Maße  erkannt  hat."  Der  Verfasser 
gibt  sich  wohl  kaum  einerTäuschung  darüber  hin,  daß  die  schönsten  politischen 
Reformen  umsonst  sind,  wenn  die  Heilung  dieser  tötlichen  Wunde  am  osma- 
nischen  Reichskörper  nach  dem  Kriege  nicht  sofort  mit  dem  nötigen  Ernst 
in  Angriff  genommen  wird. 

Aus  den  Darlegungen  Achmed  Emins  spricht  jedoch  eine  so  tiefe  Vater- 
landsliebe und  ein  so  unerschütterlicher  Glaube  an  die  Glückliche  Zukunft 
seines  Volkes,  daß  wir  mit  ihm  die  Überwindung  aller  Schwierigkeiten  erhoffen. 
Vor  allen  Dingen  gewinnt  man  den  Eindruck,  daß  hier  wirklich  ,,ein  wahrer 
Freund  inniger  und  vertrauensvoller  Beziehungen  zwischen  den  verbündeten 
Ländern"  zu  Worte  kommt.  Das  Buch  ist  jedenfalls  recht  geeignet,  dem 
deutschen  Leser  eine  zutreffende  Vorstellung  der  heutigen  Türkei  und  ihrer 
Zukunftsaussichten  zu  übermitteln.  Wer  sich  mit  dem  deutsch-türkischen 
Problem  befaßt,  kann  an  ihm  nicht  achtlos  vorübergehen! 

Barth.  Paul    Gadow. 

Hegnauer,  H.,  Schulzeichnen  auf  Grund  elementarer  Perspektive. 
Leipzig  u.  Berlin.  B.  G.  Teubner.  Mappe  mit  9  Seiten  Text  und  18  farbigen 

Vorlagen.     5  M. 
Flotte  Wandtafelzeichnungen  des  Lehrers  vermögen  in  vielen  Lehrfächern 
die  Anschaulichkeit  des  Unterrichts  wesentlich  zu  erhöhen.   Genügt  in  Natur- 


A.  Schudeisky,  Projektionslehre,  angcz.  von  Franz  Leberecht.  123 

beschreibung,  Physik  und  Chemie  schon  eine  schematische  Darstellung,  so 
muß  dagegen  im  Anschauungs-  und  im  heimatkundlichen  Unterricht  die 
erscheinungsgemäße  Darstellung  der  behandelten  Gegenstände  zur  Anwendung 
kommen,  wenn  sprachlicher  und  graphischer  Ausdruck  sich  decken  sollen. 
Diese  Art  der  Darstellung  setzt  aber  bei  dem  zeichnenden  Lehrer  die  sichere 
Kenntnis  der  perspektivischen  Hauptgesetze  voraus.  Sie  zu  vermitteln,  wo 
sie  fehlt,  ist  der  Zweck  des  Werkes.  An  einer  Reihe  farbiger  Vorlagen,  die  die 
Technik  des  Wandtafelzeichnens  nachahmen,  bespricht  und  veranschaulicht 
der  Verfasser  die  wichtigsten  perspektivischenGesetze,  die  sich  auf  den  Kreis, 
auf  Drehkörper,  Pflanzen-  und  Fruchtformen,  prismatische,  kubische  und 
zusammengesetzte  Körper  beziehen.  Er  verwahrt  sich  dagegen,  daß  sein 
Werk  im  Zeichenunterricht  verwendet  werden  soll.  Unter  dieser  Voraussetzung 
kann  es,  von  einigen  Ungenauigkeiten  in  der  Zeichnung  abgesehen,  demjenigen 
Lehrer  empfohlen  werden,  der  seinen  Unterricht  durch  anschauliche  Wand- 
tafelzeichnungen zu  beleben  wünscht. 

Schudeisfcy,  A.,  Projektionslehre.     Leipzig  u.  Berlin.     B.  G.  Teubner. 

83  Seiten,  Oktavformat;  Preis  geheftet  1,40  M.,  geb.  2,20  M. 
An  guten  Büchern  für  das  Projektionszeichnen  ist  kein  Mangel.  Wenn  der 
Verfasser,  der  bereits  mit  anderen  Werken  über  das  Linearzeichnen  an  die 
Öffentlichkeit  getreten  ist,  sich  dennoch  zur  Herausgabe  seiner  ,, Projektions- 
lehre" entschlossen  hat,  so  wird  ihn  der  Gedanke  geleitet  haben,  dem  Anfänger 
im  Projektionszeichnen,  dem  sich  ein  guter  Unterricht  in  diesem  Fache  nicht 
darbietet,  einen  Weg  zu  zeigen,  der  alle  diejenigen  Schwierigkeiten  umgeht, 
die  die  Freude  an  dem  etwas  spröden  Stoffe  zu  trüben  geeignet  wäre.  Die  recht- 
winklige und  die  schiefwinklige  Parallelprojektion  sind  klar  erläutert,  an  ein- 
fachen geometrischen  Körpern  durchgeführt  und  auf  die  Herstellung  tech- 
nischer Zeichnungen  aus  dem  Bau-  und  Maschinenfach  angewendet.  Parallel- 
perspektivische Zeichnungen,  die  die  Modelle  entbehrlich  machen,  unter- 
stützen die  räumliche  Anschauung  der  projektiven  Vorgänge.  Das  Buch  kann 
als  „Vorschule"  des  Projektionszeichnens  das  Verständnis  für  die  „Universal- 
sprache der  Technik"  fördern  helfen. 

Weber,  Dr.  E.,  Der  Weg  zur  Zeichenkunst.  Leipzig  u.  Berlin.  B.  G. 
Teubner.  86  Seiten.  Oktavformat.  Preis  geheftet  1,40  M.,  geb.  2,40  M. 
Der  Verfasser  bezeichnet  sein  Werk  ausdrücklich  als  ein  Büchlein  für 
theoretische  und  praktische  Selbstbildung.  Es  ist  nicht  angängig,  das  Buch 
deshalb  grundsätzlich  abzulehnen  —  wie  es  ein  Kritiker  der  1.  Auflage  getan 
hat  —  weil  es  den  Zeichenlehrer  nicht  ersetzen  könne.  Gewiß  ist  die  lebendige 
Persönlichkeit  des  Lehrers  einem  Buche  vorzuziehen;  aber  doch  ist  mancher 
Lernende  genötigt,  ein  Buch  zu  seinem  Lehrer  zu  erwählen.  Wer  zum  vorliegen- 
den Buche  greift,  hat  keine  schlechte  Wahl  getroffen.  Der  Verfasser  steht 
mit  seinen  Anschauungen  auf  dem  Boden  des  neuzeitlichen  Zeichenunterrichts, 
für  dessenVorzüge  er  die  Leser  zu  interressieren  weiß,  indem  er  den  neuen  Kurs 
wirkungsvoll  dem  alten  gegenüberstellt  und  seine  Entwicklung  bis  in  die 


124    Alois  Fischer,   Über  Beruf,  Berufswahl  U.Berufsberatung  usw.,  angez.  v.  W.  Lohmann. 

Anfänge  zurückverfolgt.  Er  verweist  den  Lernenden  auf  denselben  Weg, 
den  die  Völker  der  Vergangenheit  und  die  Naturvölker  unserer  Tage  gegangen 
sind,  um  ,,von  dem  ideographischen  zum  physiographischen  Typ"  und  zur 
künstlerischen  Darstellung  zu  gelangen,  auf  den  Weg,  den  auch  das  Kind 
im  neuzeitlichen  Zeichenunterrichte  zurücklegt.  Die  praktischen  Winke, 
die  der  Verfasser  dem  Autodidakten  gibt,  sind  auch  im  Schulzeichenunterricht 
zu  verwenden.  Deshalb  ist  das  Buch  für  den  angehenden  Zeichenlehrer  wert- 
voll, dem  der  Verfasser  auch  mit  anderen  Zeichenwerken  helfend  zur  Seite 
getreten  ist. 

Berlin-Pankow.  Franz   Leberecht. 

Fischer,  W.  Aloys,  Über  Beruf,  Berufswahl  und  Berufsberatung  als 
Erziehungsfragen.  Leipzig  1918.  Verlag  von  Quelle  und  Meyer.  155  8. 
Geb.  4,40  M. 
Das  Buch  wird  von  allen,  die  Berufsberatung  an  höheren  Schulen  treiben 
wollen,  gelesen  werden  müssen.  Es  bildet  eine  wertvolle  Ergänzung  zu  dem 
Buche  von  Kuckhoff.  Während  letzterer  die  Frage  mehr  vom  Standpunkte 
des  Volkswirtschaftlers  behandelt,  hört  man  hier  überall  den  warmherzigen 
Erzieher,  den  feinfühligen  und  erfahrenen  Psychologen  sprechen.  Dabei  ist 
die  politische  Bedeutung  der  Frage  keineswegs  übersehen.  Staat  und  Volk, 
so  meint  Fischer,  dürfen  sich  nicht  einander  gegenüberstehen ;  sie  müssen  sich 
vielmehr  immer  besser  durchdringen,  und  deshalb  sollen  Schule  und  Er- 
ziehung die  Jugend  hineinbilden,  hineingeleiten  in  das  Leben  des  Volkes; 
sie  sollen  ihr  das  Ziel  aufstellen,  an  seiner  Gesamtarbeit  und  Weltaufgabe 
teilzunehmen;  sie  dürfen  zu  diesem  Zwecke  die  Bedeutung  der  Berufsreife 
und  der  Berufswahl  nicht  verkennen.  Er  spricht  zunächst  über  den  Sinn  des 
Berufes  und  die  objektiven  Grundlagen  der  Berufswahl,  dann  über  die  Berufs- 
forschung, die  Beziehungen  zwischen  Erziehung  und  Beruf,  schließlich  von 
der  Berufswahl  und  Berufsberatung.  Besonders  lesenswert  sind  seine  Aus- 
führungen über  die  Wertung  der  Intelligenzhöhe,  der  sittlichen  Höhe  und  des 
gesellschaftlichen  Verantwortungsgefühls  für  die  höheren,  gebildeten  und 
gelehrten  Berufe  (S.  46—51),  seine  psychischen  Berufsbüder  (z.  B.  der  Kauf- 
mann S.  52—58)  und  seine  Bemerkungen  über  die  Schranken  der  psycholo- 
gischen Berufsberatung.  Sehr  merkwürdige  Erfahrungen  hat  er  bezüglich  der 
mangelhaften  Kenntnis  der  Berufe  von  Seiten  der  Kinder  und  Jugendlichen 
gemacht.  Bei  dem  besonderen  Abschnitt  über  die  Berufsberatung  für  Schüler 
höherer  Lehranstalten  schlägt  Fischer  (wie  Kuckhoff)  vor,  das  ganze  erste 
Jahr  einer  höheren  Schule  zu  einer  Art  Probezeit  auszubauen;  die  Leitung 
der  Sexta  soll  einem  im  Schulort  unbedingt  bekannten  und  allgemein  hoch- 
geachteten, in  seinem  Urteil  durch  keine  Rücksicht  beirrbaren  Lehrer  anver- 
traut werden.  Dem  habe  ich  schon  in  dieser  Zeitschrift  (XVII  S.  279)  wider- 
sprochen. Ich  glaube,  die  meisten  Direktoren  werden  meine  Bedenken  teilen. 
Im  übrigen  kann  ich  den  Ausführungen  Fischers  nur  zustimmen.  Ich  wünsche 
dem  Buche  eine  recht  weite  Verbreitung. 

Flensburg.  Wilhelm   Lohmann 


M.  Havenstein,  Die  alten  Sprachen  u.  die  deutsche  Bildung,  angez.  von  L.  Mackensen.     125 

Havensteln,  M.,  Die  alten  Sprachen  und  die  deutsche  Bildung. 
Berlin  1919.    E.  S.  Mittler  &  Sohn.    VI  u.  92  S.    8.    3  M. 

Havenstein  sucht  den  Nachweis  zu  erbringen,  daß  die  alten  Sprachen 
heute  nicht  mehr  das  Recht  haben,  auf  den  höheren  Schulen  eine  beherrschende 
Stellung  einzunehmen  und  daß  damit  das  humanistische  Gymnasium  in 
seiner  jetzigen  Form  seine  Daseinsberechtigung  verloren  hat.  Er  ist  überzeugt, 
daß  Latein  und  Griechisch  in  unserer  Zeit  nur  noch  einen  sehr  beschränkten 
praktischen  Lebenswert  haben  und  auch  die  gelehrten  Berufe  außer  den  Theo- 
logen, von  denen  man  aber  auch  den  Nachweis  der  Kenntnis  dieser  Sprachen 
nicht  mehr  fordern  solle,  und  den  Philologen  ihrer  durchaus  eritraten  könnten. 
Für  diese  aber  brauche  man  das  Gymnasium,  wie  es  jetzt  sei,  nicht  beizu- 
behalten; es  genüge,  ihnen  in  späteren  Jahren  Gelegenheit  zur  Vorbildung 
auf  ihr  Studium  zu  geben.  Das  lebendige  Verständnis  des  Altertums,  dessen 
Bedeutung  für  unsere  gesamte  geistige  Kultur  der  Verfasser  anerkennt, 
könne  auch  ohne  Erlernung  der  alten  Sprachen,  insbesondere  durch  die  Lektüre 
guter  Übersetzungen,  gewonnen  werden.  Endlich  sei  auch  der  formale  Bil- 
dungswert des  altsprachlichen  Unterrichts,  vor  allem  der  Übersetzungs- 
übungen, keineswegs  so  groß,  daß  man  um  seinetwillen  an  dem  Überlieferten 
festhalten  müsse.  Havenstein  verlangt  daher,  daß  das  alte  Gymnasium  nur 
als  eine  auf  das  Studium  des  Altertums  vorbereitende  Gelehrtenschule  für 
künftige  Philologen  weiterbestehen  dürfe,  im  übrigen  aber  die  Geistesschätze 
des  Altertums,  soweit  sie  für  uns  noch  von  Wert  sind,  in  verdeutschter  Form 
in  den  deutschen  Unterricht  hinübergenommen  werden  sollen. 

Der  Verfasser  stellt  sich  selbst  in  seinem  Schlußwort  das  Zeugnis  aus, 
daß  er  „gewissenhaft  und  nicht  ungründlich"  das  Für  und  Wider  im  Kampfe 
um  das  humanistische  Gymnasium  geprüft  und  Gerechtigkeit,  soweit  in  solchen 
Dingen  davon  die  Rede  sein  könne,  geübt  habe.  In  der  Tat  unterscheidet 
sich  die  ruhige  und  sachliche  Art,  in  der  er  seine  Ausführungen  vorbringt, 
höchst  vorteilhaft  von  dem  unwürdigen  und  gehässigen  Tone,  der  gerade 
im  Streite  über  humanistische  oder  realistische  Bildung  nur  allzu  oft  an- 
geschlagen wird.  Im  übrigen  enthält  die  Schrift  nichts,  was  nicht  von  den 
Gegnern  des  altsprachlichen  Unterrichts  schon  oft  vorgebracht .  und  ebenso 
oft  von  der  anderen  Seite  widerlegt  wäre,  wenn  auch  anerkannt  werden  soll, 
daß  sie  manches,  was  wir  bisher  unter  anderem  Gesichtswinkel  zu  sehen 
gewohnt  waren,  in  neue  Beleuchtung  rückt.  Den  überzeugenden  und  schlagen- 
den Beweis,  daß  wir  ohne  eine  beklagenswerte  Schädigung  unseres  Kultur- 
und  Geisteslebens  auf  die  Beschäftigung  mit  den  alten  Sprachen  und  damit 
auf  das  humanistische  Gymnasium  verzichten  könnten,  ist  auch  Havenstein 
schuldig  geblieben. 

V.  Holst,  H.,  Fröhliche  Leute.  Abendgespräche  mit  Schülern.  5.  Auflage. 

Gütersloh  1918.    C.  Beitelsmann.    108  S.    8.    Geh.  2  M.,  geb.  3  M. 

Das  freundliche  Buch  ist  für  reifere  Schüler  der  Mittelklassen  höherer 

Schulen  bestimmt,  wird  aber  auch  von  Schülern  der  Oberklasscn  mit  Nutzen 

gelesen  werden.     Der  Verfasser  zeigt  sich  in  den  fingierten  Gesprächen  als 


126       Otto,  E.,  Die  wissenschaftliche  Forschung  usw.,  angez.  von  L.  Mackensen. 

ein  treuer,  warmherziger  und  verständnisvoller  Freund  der  Jugend,  der  über 
eine  feine  und  gewinnende  Art  mit  jungen  Menschen  zu  verkehren,  verfügt. 
Zu  innerlich  freien  und  selbständigen,  glücklichen  und  fröhlichen  Menschen 
will  er  seine  jungen  Freunde  machen,  und  die  Ratschläge,  die  er  ihnen  erteilt, 
sind  wohl  geeignet,  sie  diesem  Ziele  zuzuführen.  Ich  möchte  das  Büchlein 
in  der  Hand  recht  vieler  unserer  Schüler  sehen:  es  wäre  gut  um  unsere  Jugend 
bestellt,  wenn  sie  sich  stets  der  Führung  eines  so  feinsinnigen,  kamerad- 
schaftlichen und  fürsorglichen  Freundes  anvertrauen  wollten!  Auch  Eltern, 
Lehrer  und  Erzieher  werden  aus  den  „fröhlichen  Leuten"  manche  Anregung 
schöpfen. 

Otto,  E.,  Die  wissenschaftliche  Forschung  und  die  Ausgestaltung 
des  gelehrten  Unterrichts.  Bielefeld  und  Leipzig.  1919  Velhagen 
und  Klasing.  66  S.  8. 
Ottos  kleine,  aber  inhaltreiche  Schrift  dient  dem  Versuche,  eine  ein- 
heitliche Grundlegung  der  Erkenntnis  anzubahnen.  Der  Verfasser  unter- 
scheidet zwei  Forschungsgebiete:  das  funktionale  und  das  evolutionale  Ge- 
schehen und  dementsprechend  zwei  Forschungsarten:  die  funktionelle  und 
die  evolutionelle  Forschung,  von  denen  die  erste  die  Vorgänge  der  unbelebten 
Natur  sowie  die  Betätigung  der  Lebewesen,  die  zweite  die  geschichtlichen 
Entwicklungen  zu  untersuchen  hat.  Er  prüft  sodann  die  Forschungsarten 
der  Einzelwissenschaften  im  besonderen  und  zieht  im  letzten  Abschnitt  aus 
seiner  Einteilung  der  Wissenschaften  und  ihrer  Erforschung  die  Folgerungen 
für  die  weitere  Ausgestaltung  unseres  höheren  Schulwesens.  Otto  fordert 
eine  Umgestaltung  des  Lehrplanes  zu  einem  einheitlichen,  organischen  Ganzen, 
einen  Lehrplan,  der  statt  auf  ein  buntes  Vielerlei  unzusammenhängender 
Einzelerkenntnisse  auszugehen,  innerliche  Verknüpfung  und  Geschlossen- 
heit des  Wissens  zum  Ziele  hat  und  dem  wirklichen  Zusammenhang  der  Wissen- 
schaften Rechnung  trägt.  Die  Durchführung  seiner  Gedanken  würde  zweifel- 
los für  die  höheren  Schulen  einen  großen  Fortschritt  bedeuten,  hat  freilich 
aber  auch  eine  einheitliche  Welterkenntnis  und  ebensolche  Weltauffassung 
der  an  ihr  wirkenden  Lehrer  zur  Voraussetzung. 

Louis,  G.,  Städtisches  Schulrecht  und  inneres  Leben  der  höheren 
Schule.    Ein  Wort   der  Entgegnung   auf  die  „Beiträge  des  Preußischen 
Städtetags   zur  Handhabung  der   staatlichen  Schulverwaltung  gegenüber 
den  Städten."    Leipzig  1918.    Quelle  &  Meyer.    64  S.    8.    Geh.  2  M. 
Louis'  Schrift  verdankt  ihren  Ursprung  der  bekannten  Denkschrift  des 
Preußischen  Städtetags   vom  April  1917,    in  der  die  Städte  den  Anspruch 
erheben,  auch  das  innere  Leben  der  städtischen  höheren  Schulen  maßgebend 
beeinflussen  zu  können.  Sie  untersucht  zunächst  die  Rechtsstellung  der  städti- 
schen  Behörden  zu  den  von  ihnen   unterhaltenen  höheren   Lehranstalten 
und  ihren  Lehrern  und  weist  nach,  daß  diese  die  auf  Grund  der  Städteordnung 
von  1808  erhobenen  Ansprüche  in  keiner  Weise  rechtfertigt,  da  es  zu  einer 
eingehenden  Regelung  durch  die  Gesetzgebung  bisher  überhaupt  nicht  ge- 


H.  Wolf,  Wenn  ich  Kultusminister  wäre,  angez.  von  L.  Mackensen.  127 

kommen  ist  und  die  Bestimmungen  der  Städteordnung  bei  der  gewaltigen 
Entwicklung  und  Umwandlung  des  höheren  Schulwesens  in  den  letzten  100 
Jahren  auf  die  heutigen  Verhältnisse  in  keiner  Weise  mehr  passen.  Der 
Verfas'^er  geht  sodann  ausführlicher  auf  die  Aufgaben  ein,  die  die  Schule 
im  Ganicn  des  Volkslebens  hat,  und  legt  dar,  daß  diese  in  erster  Linie  eine 
nationale  Aufgabe  zu  erfüllen  hat,  also  zu  der  städtischen  Selbstverwaltung 
in  einem  ganz  anderen  Verhältnis  steht  als  irgend  ein  anderes  städtisches 
Institut,  das  rein  städtischen  Interessen  zu  dienen  hat.  Daneben  werden 
schwerwiegende  andere  Bedenken,  die  gegen  eine  Übertragung  von  Auf- 
sichtsbefugnissen über  die  höhere  Schule  an  die  Gemeindeorgane  sprechen, 
in  überzeugender  Weise  ausgeführt.  Auf  der  anderen  Seite  wird  der  Nach- 
weis erbracht,  daß  von  selten  der  höheren  Schule  eine  ganze  Reihe  von  Forde- 
rungen an  die  Städte  zu  stellen  sind,  die  noch  immer  ihrer  Erfüllung  harren. 
Louis  erörtert  sodann  die  Stellung  und  Aufgaben  der  Stadtschulräte  und  emp- 
fiehlt di'^  Einrichtung  von  Einz^lkuratorien,  die  für  jede  einzelne  Anstalt 
die  Verbindung  mit  der  Öffentlichkeit  herstellen  sollen. 

Durch  die  Ministerialverfügung  vom  1.  Oktober  1918  (Satzung  für  Eltern- 
beiiäte  und  Muster  einer  Verwaltungsordnung  für  städtische  höhere  Lehr- 
anstalten) hat  das  Verhältnis  zwischen  städtischen  Behörden  und  höheren 
Lehranstalten  eine  nur  vorläufige  Lösung  erfahren,  die  auf  keiner  Seite  volle 
Befriedigung  ausgelöst  hat.  Es  ist  zu  erwarten,  daß  bei  der  bevorstehenden 
Neuregelung  des  gesamten  Schulwesens  auch  die  hier  untersuchte  Frage 
nochmals  erörtert  und  endgültig  geregelt  wird.  Im  Interesse  der  höheren 
Schule  ist  dringend  zu  wünschen,  daß  die  Lösung  im  Sinne  der  vorliegenden 
Schrift  erfolgt,  die  infolge  der  großen  Sachkenntnis  des  Verfassers  zur  Klärung 
viel  beitragen  wird. 

Wolf,  H.,  Wenn  ich  Kultusminister  wäre!  Leipzig  1919.  Th.  Weicher, 
ms.  gr.  8.  Geh.  4  M. 
Der  durch  seine  „Angewandte  Geschichte"  wie  seine  „Angewandte 
Kirchengeschichte"  wohl  bekannte  Verfasser  stellt  in  dem  vorliegenden 
Buche  eine  Reihe  von  Richtlinien  auf,  die,  wenn  er  Kultusminister  wäre, 
für  seine  eigene  Tätigkeit  wie  für  die  staatsbürgerliche  Erziehung  des  deutschen 
Volkes  maßgebend  sein  sollten.  Wolf  ist  der  Meinung,  daß  Politik  in  die  Schule 
hineingehöre,  freilich  nicht  Parteipolitik  und  Parteistreit,  wohl  aber  die  Lehre 
von  Staat  und  Volk,  von  dem  Wesen,  den  Aufgaben  und  Formen  des  Staates, 
von  dem  Verhältnis  zwischen  Staat,  Volkstum  und  Kirche,  von  den 
Rechten  und  Pflichten  eines  Staatsbürgers.  Zielbewußte  Pflege  des  deutschen 
Volkstums  und  Förderung  unserer  christlichen  Religion  wünscht  er  in  den 
Mittelpunkt  des  gesamten  Schulwesens  gestellt.  Dementsprechend  verlangt 
er  eine  Erweiterung  des  Unterrichts  in  der  Religion,  in  der  Geschichte  und 
im  Deutschen  unter  Zurücktreten  des  fremdsprachlichen,  besonders  des  fran- 
zösischen Unterrichts,  da  dieser  nach  der  Ansicht  des  Verfassers  dem  unseligen 
Hang  des  Deutschen  zur  Ausländerei  Vorschub  leistet,  gegen  die  er  ebenso 
kräftige  Worte   findet  wie   gegen   Mammonismus   und   Bildungsschwindel. 


128     Hörn,  E.,  Das  höhere  Mädchenschulwesen  In  Deutschland,  angez.  von  L.  Mackensen. 

Auch  dieses  Buch  enthält  „angewandte  Geschichte",  nur  daß  in  ihm  der  Partei- 
standpunkt des  Verfassers  schroffer  betont  wird  als  in  jenem  ersten  Werke; 
es  ist  eine  Streit-  und  Kampfesschrift,  die  leidenschaftlich  angefochten  werden, 
aber  auch  viel  Zustimmung  finden  wird. 

Horn,  Ewald,  Das  höhere  Mädchenschulwesen  in  Deutschland. 
Eine  vergleichende  Übersicht  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Stunden- 
pläne. Berlin  1919.  Weidmann.  156  S.  8.  Geh.  7  M. 
Das  Buch  ist  eine  Ergänzung  zu  des  Verfassers  Zusammenstellung  für 
das  „höhere  Schulwesen  der  Staaten  Europas",  das  nur  Lehranstalten  der 
männlichen  Jugend  berücksichtigte.  Leider  machte  der  Weltkrieg  unmöglich, 
das  weibliche  Bildungswesen  der  außerdeutschen  Länder  zum  Vergleich 
heranzuziehen.  Die  Schrift  enthält  zunächst  eine  allgemeine  Übersicht  über  die 
Neuordnung  des  höheren  Mädchenschulwesens  und  behandelt  sodann  die 
verschiedenen  Formen  der  Lehranstalten  für  die  weibliche  Jugend,  Lyzeen, 
Frauenschulen,  Oberlyzeen,  Studienanstalten.  Die  zur  Zeit  vorhandenen 
Oberlyzeen,  Studienanstalten  und  Frauenschulen  werden  in  einem  besonderen 
Abschnitt  aufgeführt,  während  ein  anderer  die  Leitung  und  Lehrkräfte  der 
Schule  behandelt.  Besonders  wertvoll  sind  die  dem  Werke  beigefügten  Stun- 
denpläne und  Übersichten,  die  eine  schnelle  und  sichere  Orientierung  ermög- 
lichen, sowie  ein  Überblick  über  die  Literatur,  in  der  die  wichtigsten  Ord- 
nungen und  Bekanntmachungen  aufgeführt  sind.  Das  gesamte  Werk  baut 
sich  auf  amtlichem  Material  auf,  das  dem  Verfasser  von  den  verschiedenen 
Unterrichtsbehörden  zur  Verfügung  gestellt  ist,  ist  also  von  außerordentlicher 
Zuverlässigkeit. 

Berlin-Pankow.  L.  Mackensen. 


III.  Verschiedenes. 


Berichtigung. 

„Das  Praktische  Handbuch  der  Unterrichts-  und  Erziehungsordnung 
an  preußischen  höheren  Lehranstalten  von  K.  Staberiow  und  J.  Frühling 
(Heft  11/12,  1920  S.  456)  hat  für  die  Mitglieder  des  Philolc  gen  Verbandes 
bei  direkter  Bestellung  vom  Verlag  Litfaß'  Erben  (Haaßmann)  Beilin  C, 
Adlerstr.  6  emen  Preis  von  5  M.,  nicht  wie  dort  angegeben,  7,50  M." 


-CsGnS- 


Oruck  von  C.  Schulze  &  Co.,  O.  m.  b.  H.,  Qräfenfaainichen. 


^    '/■ 


I.  Abhandlungen. 


Das  Auslandsdeutschtuiti  in  der  Schule. 

Der  gegenwärtige  Augenblick  fordert  auch  vom  Unterricht  in  vielen 
Dingen  eine  Neuorientierung,  nämHch  in  allen  den  Fragen,  welche  das  deutsche 
Volk  betreffen.  Nicht  daß  wir  uns  als  heulende  Derwische  gebärden, 
uns  in  würdelosen  Selbstanklagen  und  Selbstbeschmutzungen  ergehen  sollen, 
aber  in  dem  Sinne,  daß  wir  rein  sachlich  uns  prüfen:  in  welchen  Punkten 
kann  die  Schule  unserm  Volke  vielleicht  noch  besser  dienen  als  vorher?  wie 
muß  sie  insbesondere  den  veränderten  Verhältnissen,  in  denen  sich  das  deutsche 
Volk  befindet,  Rechnung  tragen? 

Und  da  läßt  sich  wohl  sagen :  bisher  hat  die  Schule  (die  hierin  ja  nur  der 
Durchschnittseinsicht  der  erwachsenen  Generation  folgte,  also  keine  Sonder- 
schuld auf  sich  geladen  hat)  den  Begriff  des  deutschen  Volkes  noch  nicht 
einmal  klar  erfaßt.  Sie  verwechselte  zum  größten  Teil  den  reichsdeutschen 
Teil  des  deutschen  Volkes  mit  dem  deutschen  Volke  selbst. 

Jetzt  aber,  wo  die  Zersplitterung  unseres  Volkes  wieder  erschreckend 
zugenommen  hat,  wo  mehrere  Millionen  Deutsche  fremden  Völkern  in  Knecht- 
schaft gegeben  sind,  wird  es  endlich  Zeit,  hier  Revision  zu  schaffen.  Die  Frage 
lautet:  was  hat  die  Schule  zu  tun,  um  in  der  heranwachsenden  Generation 
das  Bewußtsein  zu  schaffen,  daß  auch  die  vielen  Millionen  Deutschen,  die 
keine  Reichsdeutschen  sind,  unbeschadet  ihrer  politischen  Staatsangehörigkeit 
Glieder  unseres  Volkes  sind?  Und  wie  diese  Frage  beantwortet  wird,  das 
ist  für  unser  ganzes  Volk  —  weit  über  die  Schule  hinaus  —  von  nicht  geringer 
Bedeutung. 

Wenn  nun  der  Berliner  Lehrerverein  in  seinem  Lehrplanentwurf  für 
den  Geschichtsunterricht!)  auch  die  Deutschen  außerhalb  der  Reichsgrenzen 
berücksichtigt  und  fordert:  „Die  Behandlung  des  Deutschtums  im  Ausland 
darf  heute  in  keiner  Stoffverteilung  fehlen,"  so  wird  man  das  als  sympto- 
matisch, nicht  bloß  als  isolierten  Einzelfall,  betrachten  dürfen  und  daraus 
die  Hoffnung  schöpfen  können,  daß  in  den  zuständigen  Kreisen  sich  die 
notwendige  Erkenntnis  durchsetzen  wird,  zunächst  wenigstens  für  den  Ge- 
schichtsunterricht . 

Natürlich  handelt  es  sich  dabei  nicht  nur  um  den  Geschichtsunterricht. 

In  diesem  Stadium  des  Besinnens  ist  es  geboten,  den  ganzen  Fragen- 
komplex einer  erneuten  Behandlung  zu  unterziehen:  in  welcher  Weise  kann 
die  Schule  der  Deutschen  außerhalb  des  Reiches  gedenken? 


1)  Lehrplan  und  Stoffverteilung  für  den  neuzeitlichen  Geschichtsunterricht.     Ein 
Vorschlag,   bearbeitet   vom    Geschichtsausschuß   der   Arbeitsgemeinschaft   für   praktische 
Pädagogik  (Berliner  Lehrerverein).  Berlin  1920.  Verlag  Berlin-Neukölln,  Boddlnstr.  57,  S.  6. 
Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  9 


130  Gottfried  Fittbogen, 

Wenn  ich  dabei  zunächst  an  die  höheren  Schulen  denke,  so  geschieht 
das  nur  aus  praktischen  Gründen.  Grundsätzlich  gilt  für  alle  Schularten 
dasselbe.  Die  Anwendung  im  einzelnen  ergibt  sich  dann  ohne  Schwierigkeit 
je  nach  den  speziellen  Aufgaben  der  betreffenden  Schulen  und  dem  Lebens- 
alter ihrer  Schüler. 

Für  eine  wirkliche  Einbürgerung  dieses  Stoffes  im  Unterricht  sind  zwei 
Dinge  nötig:  erstens,  Einführung  desselben  in  die  Lehrbücher,  zweitens 
Schaffung  guter  Hilfsmittel  für  die  Hand  des  Lehrers. 

Die  Lehrbücher  sind  ja  immer  nur  knapp  gehalten  und  viel  läßt  sich 
in  ihnen  nicht  sagen.  Aber  was  in  ihnen  gedruckt  ist,  steht  nun  einmal  da, 
und  ist  für  den  Lehrer  ein  Wink,  sich  näher  mit  dem  Stoff  zu  befassen.  Die 
Auswahl  des  zu  behandelnden  Stoffes  ist  ihm  durch  das  Lehrbuch  großenteils 
abgenommen.  Aber  die  Erwähnung  im  Lehrbuch  wird  nun  der  Haken,  an 
dem  er  eingehendere  Mitteilungen  aufhängen  kann.  Für  den  Schüler  weiter 
dienen  die  kurzen  Angaben  im  Lehrbuch  als  Gedächtnisstütze;  vieles  von 
dem,  was  der  Lehrer  gesagt  hat,  wird  beim  Lesen  wieder  in  ihm  lebendig. 

Wie  im  Geschichtsunterricht  die  verhältnismäßig  wenig  umfangreichen 
Angaben  über  den  neuen  Stoff  bis  zum  Weltkrieg  sich  leicht  eingliedern  lassen, 
habe  ich  früher  einmal  am  Beispeü  des  verbreiteten  Geschichtslehrbuches 
von  Neubauer  gezeigt i);  ich  brauche  das  hier  nicht  zu  wiederholen. 

Seitdem  ist  nun  sehr  viel  neues  „Auslanddeutschtum"  hinzugekommen, 
das  um  so  mehr  Berücksichtigung  verlangt,  als  es  bisher  aufs  engste  mit 
uns  politisch  verbunden  war.  Aber  eben  dieser  engen  politischen  Beziehungen 
wegen  tun  wir  gut,  dafür  lieber  den  neugeprägten  Namen  „Grenzlanddeutsch- 
tum" zu  gebrauchen  und  die  Bezeichnung  „Auslanddeutschtum"  für  die 
Gruppen  des  deutschen  Volkes  vorzubehalten,  zu  denen  politische  Beziehungen 
nicht  stattgefunden  haben.  Die  Deutschen  im  ehemaligen  Österreich  würden 
dann  wohl  selbstverständlich  zur  Gruppe  der  Grenzlanddeutschen  geschlagen. 
Dieser  Stoff  läßt  sich  natürlich  unschwer  in  die  knappen  Paragraphen  eines 
Lehrbuches  fassen. 

Aber  diese  Erwägungen  zeigen  doch  auch,  daß  hier  eine  Schwierigkeit 
besteht:  politische  Hintergründe  lassen  sich  nicht  ausschalten.  Denn  Ge- 
schichte ist  in  erster  Linie  immer  politische  Geschichte.  Ihr  Subjekt  sind 
die  Völker  und  Volksteile  nur,  soweit  sie  staatlich  organisiert,  soweit  sie  also 
politische  Größen  geworden  sind.  Das  Kulturelle  wird  hier  nur  innerhalb  der 
politischen  Rahmens  betrachtet.  Der  beherrschende  Gesichtspunkt  im  Ge- 
schichtsunterricht ist  also  immer  —  bewußt  oder  unbewußt  —  der  politische.— 
Die  Behandlung  solcher  Volksteile  nun,  die  nicht  politisch  organisiert  sind, 
höchstens  kulturelle  Eigenwesen  bilden,  manchmal  auch  das  nicht  einmal, 
wird  also  im  Geschichtsunterricht  manche  Schwierigkeit  machen  und  viel 
Takt  erfordern. 


1)  In  meiner  Broschüre  ,,Das  Deutschtum  im  Ausland  in  unsern  Schulen",  B.  G. 
Teubner,  Leipzig  und  Berlin,  1913,  S.  10—12. 


Das  Auslandsdeutschtum  in  der  Schule.  131 

Eine  völlig  unbefangene  Behandlung  wird  erst  möglich  sein,  wo  der 
politische  Gesichtspunkt  wegfällt,  das  ist :  im  geographischen  und  im  deutschen 
Unterricht. 

Hier  herrscht  ledigHch  der  volkskundliche  Gesichtspunkt.  Die  nötigen 
Stützen  für  Lehrer  und  Schüler  in  den  Lehrbüchern  und  —  nicht  zu  vergessen  — 
den  Karten,  lassen  sich  leicht  beschaffen.  Zwanglos  wird  dann  der  Lehrer 
im  Geographieunterricht,  wo  es  am  Platze  ist,  von  dem  Leben  der  deutschen 
Minderheiten  in  fremder  Umgebung  erzählen. 

Am  wichtigsten  aber  für  unsere  Frage  ist  vielleicht  der  deutsche  Unter- 
richt und  in  ihm  das  deutsche  Lesebuch.  In  allen  übrigen  Schulbüchern 
können  nur  dürftige  Notizen  stehen,  hier  aber  können  lebendige,  farben- 
reiche Darstellungen  aus  dem  Leben  der  Auslanddeutschen  dem  Schüler  in 
die  Hand  gegeben  werden.  Die  werden  gentfeinsam  in  der  Klasse  gelesen 
und  besprochen,  und,  was  dort  nicht  bewältigt  werden  kann,  wird  dann 
vielleicht  zu  Hause  durchstöbert.  Woher  aber  den  Platz  nehmen?  Werden 
die  Preise  der  Lesebücher  dadurch  —  bei  diesen  teuren  Zeiten  —  nicht  über- 
mäßig in  die  Höhe  getrieben?  Keine  Vermehrung  des  Umfanges,  keine  Er- 
höhung des  Preises  ist  nötig.  Es  brauchen  nur  die  vielen  Lesestücke  aus  der 
Naturkunde  und  der  Geographie  gestrichen  oder  auf  einen  geringeren  Um- 
fang zurückgeführt  zu  werden  (was  sollen  diese  Stoffe  eigentlich  im  deutschen 
Unterricht?),  und  sofort  ist  ausreichend  Platz  da  für  Lesestücke  aus  der 
deutschen  Volkskunde.  Die  deutsche  Volkskunde  berücksichtigt  natürlich 
das  ganze  deutsche  Volk,  also  auch  die  Inlanddeutschen,  aber  den  Ausland- 
deutschen als  den  Brüdern  in  der  Fremde  wird  sie  doch  eine  besonders  liebe- 
volle Aufmerksamkeit  widmen. 

So  nötig  also  die  betreffenden  Notizen  im  Geschichts-  und  Geographie- 
unterricht sind,  noch  wichtiger  fast  ist  es  im  gegenwärtigen  Augenblick, 
gute  Lesestücke  aus  dem  Gebiet  der  deutschen  Volkskunde  im  Ausland 
in  die  Lesebücher  hineinzubringen.  Die  Herausgeber  der  Lesebücher,  die  so 
wie  so  an  eine  neue  Durchsicht  ihres  Inhalts  auch  aus  anderen  Gründen 
herangehen  müssen,  haben  hier  ein  fruchtbares  Feld  der  Tätigkeit. 

Von  den  übrigen  Fächern  kommt  noch  der  Religionsunterricht,  wegen 
bestimmter  Vorgänge  in  der  Kirchengeschichte,  für  Erwähnung  des  Aus- 
landdeutschtums in  Betracht;  doch  kann  dies  im  Unterricht  selbst  wie  in 
den  Lehrbüchern  nur  nebenbei  geschehen.  Was  sich  sonst  im  Rahmen  der 
Schule  etwa  noch  tun  läßt,  in  Vertretungsstunden,  Schulfeiern,  Schülerbiblio- 
theken i)  u.  dgl.,  entzieht  sich  dem  Einfangen  in  Lehrbücher. 

Außer  für  eine  gute  Beschaffenheit  der  Lehrbücher  ist  für  gute  Hilfs- 
mittel, deren  sich  der  Lehrer  bedienen  kann,  zu  sorgen. 

Am  schnellsten  wird  die  Sache  gefördert  durch  die  Herausgabe  eines 
Sammelwerkes,  in  dem  das  einschlägige  Material,  das  für  den  Unterricht 
geeignet  ist,  vereinigt  wird.  Die  gesamte  weitverstreute,  zum  Teil  schwer 
zugängliche,  sehr  verschiedenartige  wie  verschiedenwertige  Literatur  über 


1)  Vgl.  meine  oben  erwähnte  Broschüre,  S.  17. 

9* 


132  Gottfried  Fittbogen, 

das  Deutschtum  im  Ausland  wäre  durchzuarbeiten  und  aus  ihr  wären  alle 
die  Stücke  zu  sammeln,  die  charakteristisch  sind  für  das  Leben  der  Aus- 
landdeutschen in  Vergangenheit  und  Gegenwart,  im  Guten  wie  im  Bösen. 
Auch  die  Schattenseiten  wären  wahrheitsgemäß  darzustellen.  Denn  es  handelt 
sich  nicht  um  Selbstbeweihräucherung,  die  immer  schädlich  ist,  sondern 
um  volle  Erkenntnis  der  tatsächlichen  Zustände  und  Wesenszüge,  wenn 
es  sein  muß,  auch  um  Selbstkritik.  Nur  auf  diese  Weise  kann  die  Beschäfti- 
gung mit  dem  eigenen  Volkstum  ein  Volk  innerlich  vorwärts  bringen. 

Der  bloße  Abdruck  der  Texte  genügt  aber  nicht.  Um  das  Buch  wirkr 
lieh  brauchbar,  für  jeden  Lehrer  als  Stoffquelle  und  Präparationswerk  brauch- 
bar zu  machen,  sind  jedem  Abschnitt  die  nötigen  Angaben  —  kurz  und  bündig 

—  voranzuschicken,  die  über  die  Verhältnisse  der  Deutschen  gerade  in  diesem 
Weltwinkel  aufklären ;  jeder  eitizelne  Text  ist,  wo  es  nötig  ist  —  und  es  wird 
meist  nötig  sein  —  mit  Erläuterungen  zu  versehen;  Karten  müssen  als  Zu- 
gaben beigefügt  werden.  Kurz,  das  ganze  Werk  muß  so  gearbeitet  sein, 
daß  der  Herausgeber  dem  einzelnen  Benutzer  jeden  nur  möglichen  Wink 
zum  Verständnis  gibt;  er  muß  dem  Lehrer  alle  Vorarbeiten  abnehmen,  so 
daß  dieser  ohne  Zeitverlust  nur  an  die  pädagogische  Verwertung  zu  denken  hat. 

Wie  viel  Nutzen  ein  solches  „Lesebuch  für  Lehrer"  stiften  würde,  liegt 
auf  der  Hand.  Der  Lehrer  findet  hier  eine  Quelle,  aus  der  er  aufs  bequemste 
schöpfen  kann;  nicht  bloß  der  Deutschlehrer,  sondern  auch  der  Historiker 
und  der  Geograph.  Auch  der  Herausgeber  eines  Schullesebuchs  wird  es  be- 
nutzen können  1). 

Ein  solches  Buch  solidester  Konstruktion  in  mehreren  Bänden  ließe  sich 

—  namentlich  bei  den  gegenwärtigen  Zuständen  —  wohl  nur  mit  Unterstützung 
von  maßgebender  Stelle  schaffen. 

Kleinere  Hilfsbücher  sind  daneben  (und  vorläufig  als  sein  Ersatz)  auch 
wünschenswert.  Einige  sind  auch  schon  erschienen.  Ihrem  Wesen  nach 
können  sie  sein  entweder  Lesebücher,  die  aus  der  vorhandenen  Literatur 
bestimmte  Ausschnitte  zusammenstellen  (also  innerlich  verwandt  jenem 
großen  Werke,  nur  in  bescheidenerer  Ausführung);  oder  Charakterbilder, 
welche  auf  kleinem  Raum  vollständige,  in  sich  geschlossene  Skizzen  von  den 
einzelnen  Gruppen  der  deutschen  Diaspora  entwerfen. 

Zu  der  ersten  Gruppe  gehört  das  sogenannte  „Quellenlesebuch  für 
Jugend  und  Volk,  für  Schule  und  Haus",  das  Georg  Holdegel  und  Walter 
Jentzsch  unter  dem  Titel  „Deutsches  Schaffen  und  Ringen  im 
Ausland"  herausgegeben  haben  (bei  Julius  Klinkhardt,  Leipzig,  2  Bände, 
1906  und  1917).    Der  erste  Band  behandelt  Österreich-Ungarn,  den  Balkan 


1)  Vgl.  meinen  Aufsatz  „Das  Auslanddeutschtum  in  reichsdeutschen  Lehrbüchern", 
Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht,  1915;  Heft  12  S.  753.  —  Als  Quelle  für  Lesebuch- 
herausgeber sei  auch  auf  deutsche  Lesebücher  im  Ausland  hingewiesen,  z.  B.  auf  das  „Deutsche 
Lesebuch  für  Mittelschulen"  bei  den  Siebenbürger  Sachsen,  herausgegeben  von  Netoliczka 
und  Wolff,  Verlag  von  W.  Krafft,  Hermannstadt  1914;  vgl.  meinen  Aufsatz  ,,Eine  Säule 
deutscher  Kultur  im  Ausland",  Zeitschrift  für  lateinlose  höhere  Schulen,  B.  O.  Teubner, 
Leipzig  und  Berlin  1915,  Heft  7/8,  S.  224ff. 


Das  Auslandsdeutschtum  in  der  Schule.  133 

und  Orient,  der  zweite  Rußland,  Nord-  und  Mittelamerika.  Ein  dritter  Band, 
der  spezielle  Themata  bringen  sollte,  ist  —  wohl  infolge  der  Ungunst  der  Zeiten 
—  nicht  mehr  erschienen.  Im  einzelnen  bleibt  natürlich  bei  einem  solchen 
Erstlingswerk  manches  zu  wünschen,  im  ganzen  ist  es  mit  Dank  zu  begrüßen. 
Der  Untertitel  „Quellenlesebuch"  darf  nicht  irre  führen;  tatsächlich  handelt 
es  sich  nicht  um  Originalquellen  im  wissenschaftlichen  Sinn,  sondern  um 
abgeleitete  Quellen,  nämlich  fertige  Darstellungen,  die  aus  größeren  Dar- 
stellungen entnommen  sind  und  die  nur  zum  Unterschied  von  etwaigen  Dar- 
stellungen der  Herausgeber  selbst  Quellen  genannt  werden. 

Dahin  gehört  auch  das  Büchlein  von  Julius  Ziehen,  Das  Deutsch- 
tum im  Auslande.  Ein  Quellen-  und  Lesebuch  zur  Einführung  in  das 
Verständnis  des  Auslanddeutschtums.  (Deutsche  Schulausgaben,  heraus- 
gegeben von  Julius  Ziehen,  Nr.  120),  Veriag  von  L.  Ehlermann,  Leipzig, 
Dresden,  Berlin  (ohne  Jahr). 

Die  andere  Gruppe  ist  bisher  nur  durch  eine  Arbeit  vertreten:  Emil 
Lehmann,  Deutsches  Volkstum  auf  Vorposten.  Schulwissenschaft- 
licher Verlag  Haase,  Prag,  Leipzig,  Wien  (=  Volksbücher  zur  Deutschkunde, 
herausgegeben  von  Walther  Hofstaetter,  M.  5).  Die  wichtigsten  Gruppen 
der  deutschen  Diaspora  in  Europa  sind  darin  dargestellt. 

Außerdem  liegen  noch  einige  Quellensammlungen  im  wissenschaftlichen 
Sinne  vor.  Darin  sind  Quellen  aus  einem  bestimmten  Gebiet  zusammenge- 
stellt und  auf  Grund  derselben  soll  sich  nun  der  ältere  Schüler  selbst  ein 
Bild  entwerfen.  Doch  scheint  mir  dies  über  die  Aufgabe  der  Schule,  auch 
in  den  obersten  Klassen  der  höheren  Lehranstalten,  hinauszugehen.  Doch 
sollen  diese  Sammlungen  immerhin  genannt  werden i),  vielleicht  können 
sie  einmal  gelegentUch  benutzt  werden. 

Man  sieht,  die  Hilfsmittel,  die  dem  Lehrer  auf  unserm  Gebiete  zur  Ver- 
fügung stehen,  lassen  sich  an  Zahl  und  Wert  noch  erheblich  verbessern. 
Was  vorHegt,  ist  erst  ein  Anfang. 

Die  Literatur,  die  nicht  speziell  für  die  Schule  bestimmt  ist,  hier  zu  nennen 
liegt  kein  Grund  vor^). 

Außer  Belehrung  durch  das  gedruckte,  kommt  die  durch  das  gesprochene 
Wort  in  Betracht.   Die  ließe  sich  erfolgreich  in  Anwendung  bringen,  nämlich 


1)  In  der  „Quellensammlung  für  den  geschichtlichen  Unterricht  an  höheren  Schulen", 
herausgegeben  von  Lambeck  und  Rühlmann,  bei  B.  G.  Teubner,  Leipzig  und  Berlin,  ist 
als  Heft  140  der  2.  Reihe  erschienen  die  Auswahl  von  Girgensohn,  Die  Ostseeprovinzen. 

Aus  der  Sammlung  ..Aus  Österreichs  Vergangenheit".  Quellenbücher  zur  öster- 
reichischen Geschichte,  herausgegeben  von  Karl  Schneider,  Schulwissenschaftlicher  Verlag 
A.  Haase,  Prag,  Wien,  Leipzig,  gehören  hierher: 

Nr.  4.  Kaindl,  Die  Ansiedlung  der  Deutschen  in  den  Karpathenländern. 

Nr.  14.  Reutter,  Das  Siedlungswesen  der  Deutschen  in  Mähren  und  (Österreichisch-) 
Schlesien. 

')  Vgl.  dafür  meinen  Bucherbrief,  Das  Auslanddeutschtum  in  Europa  in  der  Monat- 
schrift „Deutsches  Volkstum  '  (Hamburg,  Holstenplatz  2),  Februar  1921.  Der  entsprechende 
Bucherbrief  über  das  überseeische  Auslanddeutschtum  folgt  in  einem  der  nächsten  Hefte. 


134  H.  Schmidt, 

durch  Kurse,  welche  für  das  Bedürfnis  der  Lehrer  eingerichtet  werden, 
vielleicht  für  jede  Provinz  besondersi). 

Werden  die  hier  angedeuteten  Wege  wirklich  beschritten,  so  wird  man 
bald  vorwärts  kommen. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  dabei,  ich  wiederhole  es,  daß  gute  Lese- 
stücke aus  der  Kunst  vom  deutschen  Volk  im  Ausland  in  die  Lesebücher 
aufgenommen  werden. 

Berlin.  Dr.  Gottfried  Fittbogen. 


Zum  neusprachlichen  Unterricht^). 

Die  Ergebnisse  des  neusprachlichen  Unterrichts  entsprechen  nicht  der 
für  diesen  Unterricht  aufgewandten  Zeit  und  Mühe.  Sie  waren  vor  1914 
unbefriedigend  und  sind  es  noch  mehr  geworden  durch  die  mannigfaltigen 
Störungen  und  Schädigungen,  die  der  Schulbetrieb  durch  den  Krieg  erfuhr 
und  unter  denen  der  durch  die  milden  Versetzungen  bewirkte  schnellere  Auf- 
stieg der  Minderbegabten  und  der  mangelhafte  Ersatz  für  die  der  Schule 
entzogenen  Lehrkräfte  am  schwersten  ins  Gewicht  fallen^).  Die  wesentlichsten 
Mängel  hervorzuheben,  ihre  Ursachen  anzugeben  und  Mittel  zu  ihrer  Be- 
seitigung   vorzuschlagen,  soll  der  Zweck  der  folgenden  Zeilen  sein. 

1.  Aussprache. 

Die  Aussprache  ist  durchweg  mangelhaft,  und  man  hat  den  Eindruck, 
als  ob  sie  von  Jahr  zu  Jahr  schlechter  werde.  Die  Intonation  weicht  kaum 
von  der  der  Muttersprache  ab.  Die  Fähigkeit,  in  sinngemäßen  Sprechtakten 
zu  lesen,  ist  selten  vorhanden:  Zusammengehöriges  wird  durch  Atempausen 


1)  Mit  Freuden  ist  es  zu  begrüßen,  daß  nunmehr  das  Zentraiinstitut  für  Erziehung 
und  Unterricht  (Berlin,  Potsdamerstraße  120)  diese  Bestrebungen  aufgenommen  und  einen 
Lehrgang  über  Auslanddeutschtum  bereits  abgehalten  hat,  der  zum  ersten  Male 
Ende  Januar  1921  begann.    Damit  ist  die  Sache  in  die  richtigen  Hände  gekommen. 

2)  Der  Einfachheit  halber  ist  fast  nur  vom  Französischen  die  Rede.  Vom  Englischen 
gilt  —  mutatis  mutandis  —  dasselbe. 

8)  Meine  Urteile  beruhen  besonders  auf  Beobachtungen  an  Schülern  der  Oberstufe, 
die  in  verhältnismäßig  geringer  Zahl  von  unten  auf  der  eigenen  Anstalt  angehörten,  in  der 
Mehrzahl  aus  näherer  und  weiterer  Umgebung  von  höheren  Schulen,  Mittelschulen  und 
Privatschulen  kamen.  Nach  Mitteilungen,  die  ich  gelegentlich  erhalte,  habe  ich  keinen  Grund 
zu  glauben,  daß  die  Verhältnisse  anderswo  nicht  ähnlich  sind.  Für  die  schwachen  Kenntnisse 
in  der  Orthographie  lieferte  Victor  vor  mehreren  Jahren  Beweismaterial.  Bei  einer  von  ihm 
abgehaltenen  Prüfung  zur  Aufnahme  in  das  englische  Proseminar  der  Universität  Marburg, 
an  der  Studierende  von  1—5  Semestern  teilnahmen  und  die  im  Niederschreiben  eines  nicht 
schweren  Diktats  bestand,  wurden  u.  a.  folgende  Fehler  gemacht:  seedge,  seage,  seach  (st. 
siege);  decease,  desease  (st.  disease);  thickness,  sikness  (st.  sickness);  ferner  troiips,  troupes, 
neight,  fearfuU,  destroied,  hartship,  releave,  cloathing  ...  In  der  schlechtesten  Arbeit  waren 
nahezu  30  Fehler.  16  Schulen  (7  Gymnasien,  5  Realgymnasien,  4  Oberrealschulen)  waren 
vertreten.     Vgl.  Die  Neueren  Sprachen,  XII,  509ff. 

")  Ein  aus  Mecklenburg  gekommener  Obertertianer  übertrug  nicht  nur  den  Tonfall, 
sondern  auch  die  diphthongierten  Vokale  seiner  Heimat  in  Reinkultur  aufs  Französische. 
Nasalvokale  konnte  er  nicht  sprechen. 


Zum  neusprachlichen  Unterricht.  135 

getrennt,  über  Pausen  wird  hinweggestürzt.  Wie  gering  das  mechanische 
Beherrschen  einfacher  Lautgruppen  bei  vielen  ist,  zeigt  z.  B.  beim  Lesen 
das  Stocken  schon  vor  einer  Jahreszahl  und  noch  viel  mehr  vor  umfang- 
reicheren Zahlen,  die  sich  im  Text  einstellen.  Man  vermißt  die  saubere  und 
straffe  Artikulation  der  französischen  Vokale  {litterature^  ceremonie  .  .  .). 
Die  offenen  o-Laute,  die  bei  weitem  die  Mehrzahl  bilden,  werden  hartnäckig 
geschlossen  gesprochen  {colonie,  philosophe  .  .  . ) ;  die  selteneren  geschlossenen 
mit  Vorliebe  offen  {oser,  poser^  Josse,  grosse,  grossir  .  .  .,  ja  sogar  im  Aus- 
laut, wo  nur  trop  eine  Ausnahme  bilden  kann).  Neigung  zur  Diphthongi- 
sierung  der  Vokale  ist  besonders  bei  den  vom  Lande  stammenden  Schülern 
zu  beobachten^).  Die  stets  geschlossenen  ^-,  u-  und  «/-Laute  werden  offen 
gesprochen  {distance,  illuminer,  immortel,  irriter  . . .;  tourner ,  nourrir,  pourra. . .; 
tumulte,  iure,  culte  .  .  .).  Bei  dem  y  der  Schrift  verfällt  man  immer  wieder 
in  den  deutschen  Laut  {lyrique,  physiqiie  .  .  .;  mit  einem  Wort  wie  Symp- 
tome weiß  mancher  überhaupt  nichts  anzufangen).  Schrift-a;  wird  ohne  k 
gesprochen  {anxieux,  anxiete  .  .  .).  Das  sogenannte  stumme  e  ist  eine  ewig 
sprudelnde  Fehlerquelle.  Nach  einer  einmal  gelernten  Lautregel  läßt  man 
es  in  ganz  unfranzösischer  Weise  in  jeder  Stellung  verstummen  {jiiste,  porte  ...); 
die  einsilbige  Aussprache  von  quelques  scheint  ebenso  unausrottbar  wie  die 
zweisilbige  von  chthes  und  asked  im  Englischen.  Umgekehrt  wird  das  e  der 
Schrift  an  falscher  Stelle  laut  {appeler,  achever,  galerie,  batterie,  amener,  pro- 
m^ner  .  .  .,  selbst  in  donnerai  usw.).  Die  vokalische  Bindung  ist  in  Praxis 
und  Theorie  ziemlich  allgemein  unbekannt,  ogbleich  man  sie  jedem  Sextaner 
klar  machen  kann.  Mit  der  Assimilation,  die  sich  übrigens  bei  fließendem 
Lesen  von  selbst  einstellen  würde,  verhält  es  sich  ebenso.  Auf  dem  Gebiet 
der  konsonantischen  Bindung  herrscht  völlige  Regellosigkeit.  Das  Unter- 
lassen der  obligatorischen  Bindung  geht  bis  zur  Sinnentstellung  {ils  //  etaient), 
und  andererseits  übertreibt  man  sie  oder  man  bindet,  wo  es  unterbleiben  muß, 
oder  mit  falschem  Laut  {grand  homme,  quand  on,  long  Intervalle  .  .  .)  oder 
endlich,  was  das  schlimmste  ist,  nach  Pause i).  Diese  Auslese  möge  genügen. 
Wer  hat  die  Schuld?  Die  Schule,  in  erster  Linie  der  Anfangsunterricht. 
Jeder  Schüler  erwirbt  eine  gute  Aussprache,  wenn  der  Lehrer  eine  eingehende 
Kenntnis  der  wissenschaftlichen  Lautphysiologie  besitzt,  die  Mittel  kennt, 
die  sie  dem  Unterricht  gibt,  und  diese  Mittel  methodisch  richtig  gebraucht 2). 


^)  Man  mache  den  Schülern  klar,  daß  dies  auf  Franzosen  denselben  Eindruck  machen 
muß,  als  wenn  man  in  deutscher  Rede  plötzlich  etwa  Kelle,  Teile  .  .  .  statt  Elle,  Eile  .  .  . 
sagen  würde. 

")  Die  Zahl  solcher  Lehrer  scheint  allerdings  seltener  zu  werden.  A.  Schröer  sagt 
(N.  Spr.,  XXVI,  S.  393),  daß  die  Wissenschaft  der  Phonetik  das  Stiefkind  unserer  Universi- 
täten ist,  daß  sie  dem  Zufall  überlassen  bleibt,  ob  gerade  ein  Vertreter  der  Sprachwissenschaft 
dafür  so  nebenher  Interesse,  Befähigung,  Zeit  und  Lust  hat  oder  nicht.  Und  er  nennt  das 
um  so  bedauerlicher,  als  unsere  Lehramtsprüfungsvorschriften  doch  phonetische  Studien 
voraussetzen.  So  erklärt  «sich  wohl,  daß  kürzlich  ein  Student  einer  mitteldeutschen  Uni- 
versität, der  promoviert  hatte  und  im  Staatsexamen  stand,  beim  Lesen  französischer  Sätze 
stets  den  festen  Vokaleinsatz  gebrauchte,  in  nous  en  avons  zunächst  die  Bindung  unterließ, 
um  sie  dann  mit  stimmlosem  s  nachzuholen,  und  Sweets  phonetische  Schriften  nicht  kannte. 


136  H.  Schmidt, 

Es  ist  deshalb  unbedingt  erforderlich,  daß  von  allen  Kandidaten  in  gleichem 
Umfange  phonetische  Kenntnisse  als  conditio  sine  qua  non  für  das  Bestehen 
der  Prüfung  im  Französischen  und  Englischen  gefordert  werden,  gleichviel 
ob  diese  für  alle  Klassen,  für  Mittel-  oder  Unterklassen  oder  für  Mittelschulen 
abgelegt  wird.  Und  es  ist  ferner  erforderlich,  daß  die  Kandidaten  des  höheren 
Lehramts  in  der  Methodik  des  Ausspracheunterrichts  gründlich 
unterwiesen  werden,  und  es  muß  in  Zukunft  ausgeschlossen  sein,  daß  jemand 
während  seiner  Ausbildungszeit  nicht  auf  die  Standard  works  der  Phonetik 
und  neusprachlichen  Methodik  aufmerksam  gemacht  und  nicht  zu  deren 
Studium  angehalten  wird.  Auch  soll  der  Schüler  sich  der  Wichtigkeit  einer 
guten  Aussprache  bewußt  werden.  Man  gebe  ihm  im  Anfangsunterricht 
nach  dem  ersten  Quartal  die  Zensur  nur  nach  seiner  Fähigkeit  im  Lesen, 
und  man  weise  ihn  darauf  hin,  daß  das  im  Anfang  Versäumte  später  nicht 
wieder  gut  zu  machen  ist,  selbst  nicht  durch  einen  Aufenthalt  im  Ausland, 
von  wo  schon  mancher  seine  schlechte  Aussprache  unverändert  zurückbrachte. 
Sind  so  die  Grundlagen  für  einen  erfolgreichen  Ausspracheunterricht  gegeben, 
erfährt  die  Aussprache  auf  jeder  weiteren  Stufe  fortgesetzt  sorgfältige  Pflege, 
wird  im  besonderen  während  der  ersten  Jahre  vom  Schüler  nichts  gelesen, 
was  nicht  vom  Lehrer  vorgelesen  wurde  (vor  allem  im  Englischen,  wo  so 
wenig  sicher  von  der  Schrift  auf  den  Laut  geschlossen  werden  kann)  und 
vermeidet  man  das  Konjugieren  mit  bloßen  Verbformen  sowie  das  Auswendig- 
hersagen von  Wörtern  und  Wortverbindungen,  was  nachlässige  Aussprache 
und  falschen  Tonfall  zur  Folge  hat^),  so  werden  gute  Resultate  nicht  aus- 
bleiben, und  der  Lehrer  wird  von  der  lästigen  Pflicht  befreit  sein,  das  Lesen 
der  Schüler  noch  in  den  Oberklassen  auf  Schritt  und  Tritt  durch  Verbesserung 
von  Aussprachefehlern  unterbrechen  zu  müssen. 

2.  Sprechübungen, 

Die  Lehrpläne  fordern  Sprechübungen  von  Anfang  an  und  in  jeder 
Stunde.  Wohl  kaum  dürfte  ein  Gebot  jemals  allgemeiner  übertreten  worden 
sein  als  dieses,  denn  bei  Sprechübungen  von  unten  auf  in  jeder  Stunde 
könnten  die  Schüler  nicht  mit  so  geringer  Sprechfähigkeit  in  die  Oberklassen 
eintreten.  Der  Verzicht  auf  Sprechübungen  oder  ihr  zu  geringer  Umfang 
bedeutet  nun  aber  nicht  blos,  daß  ihr  Zweck,  Sprechfertigkeit  zu  erzielen, 
nicht  erreicht  wird,  sondern  es  bedeutet  zugleich,  und  das  wird  viel  zu  wenig 
beachtet,  den  Verzicht  auf  das  beste  methodische  Mittel,  die  Grammatik 
zu  befestigen  und  die  Befolgung  grammatischer  Regeln  zu  fester  Gewöhnung 
zu  machen.  Sprechübungen  sollten  deshalb  einen  weiten  Raum  im  Unter- 
richt einnehmen,  und  so  bald  wie  möglich  sollte  die  Unterrichtssprache, 
die  ihren  Reichtum  an  idiomatischen  Wendungen  den  Schülern  mühelos 

1)  Ich  erinnere  an  das  Aufsagen  der  in  Verse  gebrachten  Verben,  die  mit  etre  ver- 
bunden werden,  an  das  Aufzählen  der  englischen  Reflexivpronomina,  das  die  Betonung 
auf  der  ersten  Silbe  veranlaßt,  an  das  Herleiern  der  möglichen  Verbindungen  von  zwei  pro- 
noms  conjoints,  das  wie  ,, Mülle,  Tülle  ..."  klingt  und  der  richtigen  Aussprache  dieser 
Verbindungen  im  Satzzusammenhang  entgegenwirkt,  u.  a.  m. 


Zum  neusprachlichen  Unterricht.  137 

übermittelt,  die  fremde  sein.  Fehler,  die  selbst  in  höheren  Klassen  nicht 
völlig  ausgeschlossen  sind  und  die  die  Feder  sich  sträubt  niederzuschreiben, 
wären  dann  nicht  möglich.  Jede  Gelegenheit,  die  sich  zum  Sprechen  bietet, 
ist  auszunutzen.  Auch  bei  Erörterung  grammatischer  Dinge  kann  die  fremde 
Sprache  sehr  wohl  gebraucht  werden.  Mit  Unrecht  lehnen  die  Lehrpläne 
sie  hier  ab,  wo  ihr  Gebrauch  doch  verhältnismäßig  leicht  ist,  weil  die  gram- 
matische Terminologie  in  den  drei  Sprachen  verwandt  ist^).  Vorauszusetzen 
ist  natürlich  dabei,  daß  die  Verhältnisse  der  zu  lernenden  Sprache  zugrunde 
gelegt  werden,  nicht  die  der  deutschen.  Wenn  nach  den  Lehrplänen  einfacher 
Dialog  immer  vorherrschen  soll,  so  ist  doch  auf  der  Oberstufe  die  Übung 
in  zusammenhängender  Darstellung  in  den  Vordergrund  zu  stellen.  Um 
das  Ohr  der  Schüler  an  die  fremden  Laute  zu  gewöhnen,  sollte  man  sie  während 
des  Lesens  öfter  zuhören  lassen.  Die  Kontrolle  der  Aufmerksamkeit  ist 
dabei  keineswegs  schwerer  als  beim  Nachlesen. 

3.  Lektüre. 

Die  Fähigkeit  der  Schüler,  einen  nicht  vorbereiteten  Text  zu  übersetzen 
oder  lesend  zu  verstehen,  ist  nach  mehrjährigem  Unterricht  noch  recht  gering. 
Die  Ursache  liegt  darin,  daß  das  Extemporieren  nicht  früh  genug  begonnen 
und  nicht  andauernd  gepflegt  wird.  Bei  der  Schriftstellerlektüre  in  den 
Oberklassen  sollte  es  das  Übliche  sein,  die  häusliche  Präparation  dagegen 
zurücktreten,  vielleicht  am  besten  ganz  unterbleiben  und  die  Hausarbeit 
sich  auf  Wiederholungen  (Inhaltsangaben  in  der  fremden  Sprache)  beschränken. 
Bei  diesem  Verfahren  würde  die  Lesefähigkeit  gesteigert  werden,  so  daß 
an  Umfang  mehr  als  bisher  gelesen  werden  könnte,  und  viel  lesen  ist  ein 
wichtiger  Umstand  bei  der  Erlernung  einer  Fremdsprache.  Nichts  nimmt 
außerdem  dem  Lernenden  mehr  die  Lust  an  der  Lektüre  und  mindert  den 
Erfolg,  den  sie  haben  kann,  mehr  als  ein  durch  zu  sehr  in  die  Breite  gehendes 
Erklären  oder  gar  durch  grammatische  Übungen  bewirkter  schleppender 
Gang.  Wie  mancher  hat  Entsprechendes  im  deutschen  Unterricht  erfahren  \^) 
Verleiden  wir  also  der  Jugend  nicht  die  schönsten  Stunden  und  vergessen 
wir  nicht,  daß  Lesen  für  die  Spracherlernung  wie  für  die  Bildung  im  allge- 
meinen eine  bessere  Quelle  ist  als  Lernen.  Und  je  mehr  gelesen  wird,  desto 
größer  wird  die  Lesefähigkeit,  die  dem  Schüler  Selbstvertrauen  gibt  und  die 
Vorbedingung  ist,  daß  er  freiwillig  Privatlektüre  treibt  und  auch  nach  dem 
Verlassen  der  Schule  fremdsprachliche  Bücher  liest.  Von  unten  auf  und 
nicht  bloß  in  den  Oberklassen  muß  deshalb  der  Lesestoff  im  Mittelpunkt 
des  Unterrichts  stehen.    Um  ihn  muß  sich  alles  übrige  gruppieren.    Auf 


1)  Das  Bestreben,  die  Terminologie  zu  verdeutschen  und  Bezeichnungen  wie  Wes- 
fall, Zielwesfall,  Ausgangswesfall,  Höher-  und  Höchstgradform,  Sehrstufe,  vereinzelndes 
Geschlechtswort,  eigenschaftwörtliche  Zeitformen  usw.  einzuführen,  hat  hoffentlich  keinen 
Erfolg. 

')  Ein  bedeutender  Schauspieler,  Abiturient  eines  Gymnasiums,  sagte  mir  einmal, 
er  habe  es  nicht  über  sich  gewinnen  können,  Hermann  und  Dorothea  wieder  zu  lesen,  so 
sehr  sei  es  ihm  auf  der  Schule  verekelt  worden. 


138  H.  Schmidt, 

allen  Stufen  muß  er  ein  zusammenhängender  sein,  auf  der  Unterstufe 
in  einfachster,  aber  idiomatischer  Form  Gegenstände  aus  der  Umgebung 
des  Schülers  und  Vorkommnisse  des  täglichen  Lebens  behandeln  und  auf 
der  Mittelstufe  seine  Fortsetzung  vornehmlich  in  der  Erzählungsliteratur 
und  in  Biographien  finden,  also  in  Literaturgattungen,  die  die  bis  dahin 
erworbenen  Kenntnisse  in  der  Umgangssprache  zu  erweitern  geeignet  sind, 
von  der  gesprochenen  Sprache  zur  Buchsprache  überleiten  und  für  die  auf 
der  Oberstufe  beginnende  umfangreichere  Lektüre  vorbereiten.  Die  Sprache 
dieser  Schriften  muß  leicht  sein,  weil  eine  leichte  Sprache  ergiebiger  ist  für 
sprachlichen  Gewinn  als  eine  mit  seltenen  und  schwerfälligen  grammatischen 
Konstruktionen  und  langen  Perioden  durchsetzte.  Schwieriger  ist  die  Frage 
zu  entscheiden,  was  auf  der  Oberstufe  gelesen  und  wie  es  auf  die  einzelnen 
Klassen  verteilt  werden  soll.  In  diesem  Punkt  gehen  die  Meinungen  weit 
auseinander.  Auf  keinem  Unterrichtsgebiet  herrscht  größere  Planlosigkeit 
und  Verwirrung.  Die  Übereinstimmung  geht  kaum  über  Moliere  und  Shake- 
speare hinaus.  Was  der  eine  begeistert  empfiehlt,  wird  von  anderen  ent- 
schieden abgelehnt.  Fürsprecher  findet  Goldsmith,  der  veraltet  ist,  und  Be- 
denken werden  gegen  Dickens  laut,  den  jeder  Abiturient  einer  Realanstalt 
um  so  mehr  sollte  lesen  können,  als  Übersetzungen  von  dem  Humor  und  dem 
Erzählertalent  dieses  Schriftstellers  keine  Vorstellung  zu  geben  vermögen. 
Der  Wunsch,  alle  literarischen  Gattungen,  wenn  auch  nur  in  ihren  Haupt- 
vertretern, zu  berücksichtigen,  ist  unerfüllbar.  Welche  Auswahl  soll  nun 
getroffen  werden?  Nichts  liegt  mir  ferner  als  diese  Frage  entscheiden  zu 
wollen,  was  hier  übrigens  ja  schon  aus  äußerlichen  Gründen  nicht  möglich 
wäre.  Ein  Kanon  kann  Richtlinien  geben,  darf  aber  niemand  aufgezwungen 
werden.  Vielleicht  kommen  wir  der  Lösung  der  Frage  näher,  wenn  Schriften 
reinphilosophischen  und  naturwissenschaftlich-technischen  Inhalts  ganz  aus- 
geschlossen werden,  die  historische  Lektüre  unter  völligem  Ausschluß 
der  Kriegsgeschichte  auf  einen  geringen  Umfang  beschränkt,  von  einigen 
Ausnahmen  abgesehen  nicht  weiter  als  bis  ins  19.  Jahrhundert  zurückgegriffen 
und  neben  der  Schriftstellerlektüre  eine  Gedichtsammlung  verwendet 
wird  und  ein  Lesebuch,  das  alles  für  die  Schule  Verwendbare  und  Wissens- 
werte über  Volks-  und  Landeskunde  enthält,  auch  den  Briefstil  berücksichtigt 
und  in  einfacher,  moderner  Sprache  geschrieben  ist.  Die  Schulausgaben 
der  Schriftsteller  sollten  sich  aller  überflüssigen  sprachlichen  Anmerkungen 
enthalten,  was  immer  noch  nicht  überall  der  Fall  ist,  und  statt  dessen 
für  die  im  Text  auftretenden  grammatischen  und  stilistischen 
Freiheiten  und  Nachlässigkeiten  die  heute  übliche  Ausdrucks- 
weise sowie  für  das  Seltene  das  Gebräuchliche  verzeichnen, 
was  bisher  nicht  geschieht,  der  Spracherlernung  aber,  die  auch  auf  der  Ober- 
stufe das  Hauptziel  bleiben  muß,  zu  großem  Vorteil  gereichen  würde i).  Was 


1)  Selbst  Fehler  gibt  es  in  den  Texten  der  Schriftstellerausgaben  zu  berichtigen, 
was  ein  paar  Beispiele  zeigen  mögen:  Sa  mort  suffirait  pour  fl^trir  ä  jamais  le  rägne  de  la 
terreur  r6volutionnaire.  —  U  est  un  point  pour  lequel  on  a  loue  Frangois  I*'  sans  restriction. 


Zum  neusprachlichen  Unterricht.  I39 

die  Behandlung  der  Lektüre  betrifft,  so  ist  das  volle  Verständnis  des  Textes 
und  dessen  Übersetzung,  die  das  Mittel  zu  dem  Zweck  ist,  dieses  Verständnis 
zu  erreichen,  in  möglichst  gutes  Deutsch  zu  fordern.  Ist  der  Sinn  durch  Über- 
setzen und  durch  Inhaltsangaben  in  der  fremden  Sprache  völlig  klar,  so  ist 
ein  sogenanntes  Nachübersetzen  zwecklos  und  Zeitvergeudung.  Lieber  lasse 
man,  soweit  es  die  Zeit  erlaubt,  den  Text  in  längeren  Abschnitten  öfter 
lesen,  was  nicht  nur  die  Gewandtheit  im  Lesen  erhöht,  sondern  auch  durch 
Einprägung  des  Schriftbildes  die  Orthographie  befestigt.  Dem  Verlangen 
nach  einer  Herausarbeitung  einer  einwandfreien  Wiedergabe  in  deutscher 
Sprache  kann  die  Schule  nur  bedingt  entsprechen.  Man  versuche  nur,  einer 
solchen  Aufgabe  etwa  an  einer  Szene  aus  einer  Tragödie  Racines  gerecht 
zu  werden,  und  man  wird  sehen,  daß  sich  dabei  Schwierigkeiten  ergeben, 
die  sehr  viel  Zeit  erfordern  und  nicht  oder  nur  unvollkommen  überwunden 
werden  können.  Breal  zeigt  in  seiner  Schrift  De  V Enseignement  des  Langws 
Vivantes  (S.  98 ff.)  an  Beispielen  aus  deutschen  und  englischen  Dichtern, 
daß  es  unmöglich  ist,  in  die  Muttersprache  zu  übersetzen,  ohne  daß  die  Über- 
setzung in  vielen  Fällen  ein  calqiie  incolore  et  banal  des  Originals  wird.  Ganz 
von  uns  weisen  müssen  wir  es  aber,  die  Lektürestunden  zu  grammatischen 
Übungen  zu  verwenden  und  durch  Konstruieren  von  Sätzen  Grammatik 
an  sich  zu  treiben.  Der  Fall,  daß  zum  Verständnis  des  Textes  zur  gramma- 
tischen Analyse  zu  greifen  ist,  wird  selten  und  in  der  Regel  nur  für  solche 
Schüler  nötig  sein,  die  nicht  über  sichere  Kenntnisse  in  der  deutschen 
Satzlehre  verfügen.  Diese  zu  lehren  ist  Sache  des  deutschen  Unterrichts. 
Von  dem  Neusprachlehrer  kann  man  nicht  verlangen,  daß  er  mit  Dativobjekten 
Objektsgenitiven,  Infinitivsätzen  usw.  operiert,  also  mit  Dingen,  die  der 
französischen  Grammatik  fremd  sind. 

4.  Grammatik. 
Sichere  grammatische  Kenntnisse  sind  die  unerläßliche  Vorbedingung 
für  den  freien  mündlichen  und  schriftlichen  Gebrauch  der  fremden  Sprache. 
Über  Unsicherheit  in  der  Grammatik  herrscht  aber  allgemeine  und  begründete 
Klage.  Woher  kommt  das?  Ich  führe  zwei  Ursachen  an.  Erstens:  Es  wird 
nicht  unterschieden  zwischen  Grammatik  der  Umgangssprache  und  Gram- 
matik der  Buchsprache.  Nur  erstere  ist  dem  Unterricht  auf  der  Unter-  und 
Mittelstufe  zugrunde  zu  legen,  entsprechend  seiner  Hauptaufgabe,  die  ge- 
sprochene Sprache  zu  lehren.  Die  zur  Erläuterung  der  grammatischen  Regeln 
nötigen  Beispiele  sind  ausschließlich  der  täglichen  Rede  zu  entnehmen  und 
nicht,  wie  es  heute  geschieht,  neben  dieser  in  bunter  Mischung  der  lite- 
rarischen Sprache,  zumeist  der  Geschichte,  ferner  der  Kulturgeschichte, 
der  Erdkunde,  der  Naturgeschichte,  Gedichten  usw.,  wodurch  die  Ein- 
heitlichkeit gestört  wird  i) .  Zweitens :  Es  wird  nicht  unterschieden  zwischen 
aktivem  und  passivem  Wissen,  d.  h.  zwischen  dem,  was  der  Schüler  für  die 

—  Le  soir  .  .  . ,  ce  fut  le  tour  des  Franl<s  d'aller  ä  eux  (les  Arabes).  —  Bonaparte  court  d 
lui (l'archiduc  Chailes),  le  culbute  . . .,  le  poursuit  ...  —  Da  die  Anmerkungen  der  Heraus- 
geber ihn  nicht  aufklären,  muß  der  Schüler  das  alles  für  korrektes  Französisch  halten. 
^)  Vgl.  Rodhe,  Les  Orammairiens  et  le  franjQais  parle.     Lund,  1901. 


140  H.  Schmidt, 

eigene  Betätigung  in  Wort  und  Schrift  von  der  fremden  Grammatik  wissen 
muß,  und  dem,  was  er  selbst  nicht  anzuwenden,  sondern  nur  beim  Vorkommen 
in  der  Lektüre  zu  verstehen  braucht.  Nur  ersteres,  das  in  Wortschatz,  Formen- 
lehre und  Syntax  Notwendige,  Regelmäßige  und  Häufige,  hat  er  zu  lernen, 
dieses  aber  seinem  Gedächtnis  so  fest  einzuprägen,  daß  er  stets  und  sicher 
darüber  verfügen  kann.  Alles  Überflüssige,  Abweichende  und  Seltene  ist 
beiseite  zu  lassen.  Einige  Beispiele  mögen  das  Gesagte  erläutern.  Wozu 
lernt  der  Schüler  neben  tres  das  von  der  Umgangssprache  nicht  verwendete 
fort,  neben  si  on,  qu'  on  usw.  si  Von,  que  Von  .  .  . ,  das  der  Schriftsprache  an- 
gehört? Statt  nur  ne  —  pas  zu  verlangen,  sagt  man  ihm,  daß  ne  —  point 
stärker  verneint,  und  vergißt  dabei,  daß  es  literarisch  (auch  dialektisch) 
ist  und  in  seiner  Anwendung  Beschränkungen  unterliegt.  Dazu  kommt 
womöglich  noch  der  angebliche  Unterschied  zwischen  pas  und  point  in  wirk- 
lichen und  rhetorischen  Fragen.  Es  steht  ihm  also  nichts  im  Wege,  non  point, 
je  n^ai  point  beaucoup  d'argent,  je  ne  me  parte  point  trop  bien  usw.  zu  sagen 
und  so  gegen  den  Sprachgebrauch  zu  verstoßen.  Die  Regeln  über  die  Aus- 
lassung von  pas  {je  ne  peux  .  .  .)  verleiten  zu  der  Annahme,  ne  sei  die  Haupt- 
negation, während  die  heutige  Volkssprache  allein  durch  pas  negiert,  und 
veranlassen  die  Auslassung  von  pas  auch  da,  wo  es  nicht  fehlen  darf.  Eine 
andere  Regel  kann  glauben  machen,  daß  fait-il  beau,  je  sortirai  eine  richtige 
Ausdrucksweise  ist.  Geht  man  auf  derartige  Konstruktionen  überhaupt 
nicht  ein  und  läßt  man  Bedingungssätze  durch  si  einleiten,  so  sind  Fehler 
ausgeschlossen.  Aber  die  Grammatik  gibt  noch  eine  Reihe  weiterer  kon- 
ditionaler Konjunktionen,  die  ungebräuchlich  oder  selten  sind.  Selbst  das 
unmögliche  au  cos  que,  das  seit  mehr  als  100  Jahren  tot  ist  und  in  der  ge- 
sprochenen Sprache  wohl  nie  gelebt  hat,  steht  noch  heute  in  gewissen  Schul- 
grammatiken verzeichnet  und  wird  in  Extemporalien  zur  Bildung  von  Sätzen 
mit  Konjunktivformen  verwendet.  Wozu  braucht  gelernt  zu  werden,  daß 
in  negativen  Sätzen  bei  Vergleichen  si  und  tant  statt  aussi  und  autant  ein- 
treten können?  Letztere  sind  doch  in  jedem  Falle  die  Regel.  Diese  Aus- 
nahmen führen  erfahrungsgemäß  zu  dem  Fehler,  daß  si  und  tant  in  bejahenden 
Sätzen  gesetzt  werden,  oder  gar  zu  der  falschen  Auffassung,  daß  sie  in  ne- 
gativen Sätzen  gebraucht  werden  müssen.  Warum  verzichtet  man  nicht 
auf  die  Setzung  des  expletiven  ne  in  gewissen  Nebensätzen  ?  Die  Umgangs- 
sprache braucht  es  kaum,  die  Schriftsteller  ignorieren  es  vielfach,  Gramma- 
tiker spotten  darüber.  Statt  jusqu'ä  ce  que  zu  den  Konjunktionen  zu  setzen, 
die  den  Konjunktiv  regieren,  wodurch  man  dem  heutigen  Sprachgebrauch 
gerecht  würde,  wird  immer  noch  der  bekannte  Unterschied  gemacht  und 
in  einem  verbreiteten  Lehrbuch  sogar  behauptet,  daß  nach  dieser  Konjunktion 
meist  der  Indikativ  steht,  also  das  gerade  Gegenteil  von  dem,  was  richtig 
ist.  Auch  schwerfällige  und  in  der  gesprochenen  Sprache  gemiedene  Wen- 
dungen {qv£lqu£  braves  quHls  fussent,  quelque  bravement  quHls  eussent  com- 
battu  usw.)  lernt  der  Schüler  gebrauchen,  wo  doch  einfache  und  flüssige  Aus- 
drücke als  Ersatz  so  nahe  liegen.  Das  Gebräuchliche  Hegt  ihm  auch  sonst 
fern.   Man  frage  z.  B.  nach  der  deutschen  Entsprechung  von  sich  freuen, 


Zum  neusprachlichen  Unterricht.  14] 

wachsen,  sich  kleiden,  beschließen  .  .  .,  und  man  bekommt  un- 
fehlbar als  Antwort  se  rejouir,  crottre,  se  vetiVy  resoudre  .  .  .,  also  seltene 
und  in  gewissen  Formen  veraltete  Wörter.  Quoique  neben  hien  que  lehren 
ist  dasselbe  wie  deutsch  lernende  französische  Schüler  obwohl  (obschon, 
wiewohl)  statt  obgleich  lernen  lassen.  Bei  den  sogenannten  unregel- 
mäßigen Verben  artet  die  Übermittlung  von  Seltenem  und  Falschem  geradezu 
zum  Unfug  aus.  Noch  immer  findet  die  Ansicht,  daß  diese  Verben  mündlich 
gepaukt  und  schriftlich  durch  Formenextemporalien  befestigt  werden 
müssen,  zahlreiche  Anhänger.  Da  geht  es  gleich  einer  wilden  Jagd  über 
je  vaincs,  il  vainc,  que  je  vainque,  que  je  vainquisse^  je  cousis,  je  crus,  nous 
moulümes,  vous  pourvütesj  que  je  preväle,  que  je  plusse  ...  zu  je  vets,  que 
je  vete,  que  je  vetisse,  vets-toi  .  .  .  und  zu  je  luisis  und  j'absolus^  also  von 
seltenen  zu  veralteten  Formen  und  solchen,  die  es  gar  nicht  gibt,  die  aber 
im  Lehrbuch  immer  wieder  abgedruckt  werden.  Ahnungslos  und  stumpf- 
sinnig konjugieren  die  Jungen  nais^  naissons,  naissez,  que  je  naisse,  que  je 
naquisse  ...  Zu  wem  soll  man  denn  nais  oder  höflicher  naissez  sagen? 
Und  naissons?\  Die  meisten  Franzosen  werden  geboren,  leben  und  sterben, 
ohne  jemals  von  riaitre  eine  andere  Form  als  ne  gebraucht  zu  haben.  Warum 
sollen  denn  unsere  Schüler  noch  andere  lernen  ?  Werden  sie  nicht  nait,  nattra  . . 
ohne  weiteres  erkennen,  wenn  ihnen  diese  Formen  beim  Lesen  begegnen? 
Auch  in  dem  jeder  logischen  Anordnung  hohnsprechenden  Durcheinander 
alphabetischer  Reihenfolge  werden  unregelmäßige  Verben  wiederholt.  Ge- 
schieht das  auf  Grund  psychologischer  Erfahrung?  Sichert  das  die  richtige 
Anwendung  der  Formen  im  Satze?  Nein,  alles  Pauken,  alle  Formenextem- 
poralien schaffen  diese  Sicherheit  nicht.  Was  nicht  angewendet  wird,  wird 
vergessen.  Würde  man  dagegen  das  wichtigste  und  tatsächlich  zur  Verwen- 
dung kommende  auswählen  und  in  seinen  häufigsten  Verbindungen  in  Sätzen 
üben,  vor  allem  das  Präsens  und  das  IL  Partizip,  dann  das  Futurum  und 
den  Imperativ,  d.  h.  die  Formen,  die  in  der  gesprochenen  Rede  am  meisten 
vorkommen,  so  würde  die  Liste  der  unregelmäßigen  Verben  sehr  kurz  und 
einfach  werden  und  dem  Gedächtnis  der  Schüler  sicher  eingeprägt  werden 
können  1).  Wenn  das  passe  simple  nicht  erwähnt  wurde,  so  geschah  es  des- 
halb, weil  dieses  Tempus  in  der  nordfranzösischen  Umgangssprache  nicht 
existiert.  Der  Schüler  braucht  es  also  selbst  nicht  zu  verwenden,  sondern 
nur  bei  der  Lektüre  und  ev.  bei  Vorträgen  zu  verstehen.  Er  muß  im  Gegenteil 
davor  gewarnt  werden,  es  in  der  Konversation  und  im  brieflichen  Verkehr 
mit  Franzosen  zu  gebrauchen,  weil  er  mit  que  fites-vous^  oü  futes-vous^ 
nous  fümes  .  .  .  der  Lächerlichkeit  verfallen  würde.    Weniger  Zeit  könnte 

1)  In  Krons  Petit  Parisien,  einem  Buch,  von  dem  der  Verfasser  sagt,  daß  der  Leser, 
in  ihm  findet  tout  ce  qu'il  lui  faut  pour  entretenir  une  conversation  courante  avec  des  Fran- 
gais  d'une  instruction  moyenne,  et  sur  toutes  les  questions  d'un  int^ret  gen6ral,  kommt 
von  45  unregelmäßigen  Verben  das  Präsens  von  38  vor,  das  II.  Partizip  von  30,  das  Futurum 
von  15,  der  Imperativ  von  14,  das  I.  Partizip  von  12,  das  Imperfekt  von  8,  der  Konditionalis 
von  7,  der  Konjunktiv  des  Präsens  von  6  und  der  des  Imperfekts  einmal  (fit).  Von  hair, 
fuir,  vetir,  suffire,  rire,  conqtierir,  vaincre,  coudre,  resoudre  (beschließen)  finden  sich  über- 
haupt keine  Formen,  von  anderen  nur  das  Präsens  oder  nur  das  II.  Partizip. 


142  H.  Schmidt, 

auch  auf  die  Erlernung  und  Einübung  der  Regeln  über  den  Konjunktiv 
und  Infinitiv  verwandt  werden.  Der  Konjunktiv  des  Präsens  ist  selten, 
den  des  Imperfekts  kennt  die  gesprochene  Sprache  nicht  (mit  Ausnahme 
von  wenigen  durch  die  Häufigkeit  des  Gebrauchs  gestützten  Formen),  und 
der  Infinitiv  ohne  Präposition  steht,  von  der  Übereinstimmung  mit  dem 
Deutschen  abgesehen,  nur  nach  einer  verhältnismäßig  geringen  Zahl  von 
Verben  1).  Würde  nun  die  Elementargrammatik  in  der  angedeuteten  Weise 
in  allen  ihren  Teilen  revidiert,  so  würde  sie  für  den  nach  Absolvierung  der 
Mittelklassen  ins  Leben  tretenden  Schüler  vollauf  genügen  und  für  den  Unter- 
richt in  den  Oberklassen  eine  sichere,  aber  heute  leider  oft  vermißte  Grund- 
lage schaffen.  Voraussetzung  ist  dabei,  daß  von  jedem,  der  die  Berechtigung 
zur  Erteilung  von  neusprachlichem  Unterricht  erwerben  will,  eine  genaue 
Kenntnis  der  Grammatik  der  gebildeten  französischen  und  englischen  Um- 
gangssprache neben  gründlichen  Kenntnissen  in  der  neu  französischen  und 
neuenglischen  Grammatik  überhaupt  gefordert  wird  2).  Was  bleibt  nun  für 
den  grammatischen  Unterricht  auf  der  Oberstufe  zu  tun?  Auch  hier  wird  man 
dem  Schüler  empfehlen,  sich  auch  fernerhin  bei  seinen  eigenen  Produktionen 

^)  Im  Petit  Pamien  (Kap-  1—21  u.  24)  begegnen  wir  25  von  der  Indikativform  ab- 
weichenden Konjunktivformen,  von  denen  fast  die  Hälfte,  nämlich  11,  auf  etre  {sois,  soit, 
soyez,  soient)  entfällt.  Von  avoir  kommt  nur  ayons  vor.  Die  übrigen  13  sind  puisse  (3  mal), 
tienne{2ma\),  sache,  dise,  fassent,  fit,  oomprenne,  compreniez,  occupions  und  retabltt  (je  einmal). 
Und  diese  wenigen  Konjunktive  stehen  auf  165  Druckseiten!  Würde  man  auf  165  Extem- 
poraleseiten nicht  die  10— 20fache  Anzahl  zählen?  Eine  wie  große  Rolle  der  Konjunktiv 
spielen  kann,  wurde  mir  so  recht  klar,  als  ich  zufällig  erfuhr,  daß  in  einer  Klasse  nach  Ver- 
abredung der  beste  Schüler  an  jeder  Stelle,  wo  im  Extemporale  ein  Konjunktiv  zu  setzen 
war,  husten  mußte!  —  In  Felix  Frankes  Phrases  de  tous  les  jours  finden  sich  zwei  Imper- 
fekt-Konjunktive {jit  und  vint,  beide  je  1  mal)  nach  faimerais  und  je  desirerais,  also  nach 
Ausdrücken,  auf  die  wie  auf  je  voudrais  häufig  das  Präsens  folgt.  Im  übrigen  kommt  in  dieser 
Schrift  außer  7  mit  dem  Indikativ  gleichlautenden  Konjunktiven  von  Verben  auf  -er  im 
ganzen  nur  19  mal  ein  Konjunktiv  vor:  8  Formen  von  etre  {soit  4  mal,  soyons  2  mal,  sois, 
soyez  je  1  mal),  2  von  avoir  (je  1  mal  ait  und  ayous),  außerdem  aille,  vienne,  dise,  ecrive,  Josse, 
puisse  (zusammen  9  mal).  Die  regierenden  Ausdrücke  sind  il  faut  (3  mal),  verneintes  und 
fragendes  croire  (3  mal),  douter,  aimer,  il  est  curieux  (je  1  mal).  —  In  einer  für  Mittelklassen 
zu  empfehlenden  Ausgabe  (A.  Chalamet,  A  travers  la  France.  Berlin,  Weidmann,  82  S.) 
treffen  wir  außer  26  Formen  von  avoir  und  itre  den  Konjunktiv  6  mal :  2  mal  puisse,  je  1  mal 
puissiez,  puissent,  püt  und  plaise.  Um  die  Konjunktivformen  dieses  Buches  zu  verstehen, 
würde  der  Leser  also  nur  die  von  avoir,  etre,  pouvoir  und  eine  einzige  von  plaire  zu  kennen 
brauchen.  —  Endlich  mag  noch  das  Elementarbuch  des  gesprochenen  Französisch 
von  Beyer-Passy  herangezogen  werden.  Das  Ergebnis  ist:  soit,  soient,  ait  zusammen  8  mal, 
fasse  2  mal,  aille,  puisse,  croie,  voie,  rende  je  1  mal.  —  Der  reine  Infinitiv  findet  sich  abweichend 
vom  Deutschen  bei  Krön  in  Verbindung  mit  aller,  venir,  envoyer,  sembler,  desirer,  priferer, 
esperer,  savoir,  compter,  pretendre  und  einmal  mit  censer;  bei  Chalamet  nach  aller,  venir, 
sembler,  preferer,  savoir,  compter,  valoir  mieux,  croire  und  il  fait  hon. 

^)  Ob  auch  hier,  wie  oben  für  die  Phonetik  an  einem  Beispiel  gezeigt  wurde,  die  Uni- 
versitätsbildung Lücken  zeigt?  Es  werden  seltsame  Dinge  von  solchen  erzählt,  die  Gelegen- 
heit haben,  hinter  die  Kulissen  zu  sehen,  Dinge,  die  unglaublich  scheinen,  aber  eine  Erinnerung 
in  mir  wachrufen  an  mein  letztes  Studiensemester,  als  ich  mit  einem  Kommilitonen  das  für 
die  Klausur  geforderte  Übersetzen  ins  Französische  übte.  Als  der  Betreffende  dabei  nach 
fragendem  croire  den  Indikativ  setzte  und  ich  ihm  sagte,  es  dürfte  fürs  Examen  am  besten 
sein,  nach  der  Regel  zu  verfahren,  fragte  er  erstaunt:  Was  für  eine  Regel? 


Zum  neusprachlichen  Unterricht.  I43 

in  Wort  und  Schrift  auf  die  bisher  gelernten  Regeln  der  Grammatik  im  all- 
gemeinen zu  beschränken.  Für  die  zahlreichen  grammatischen  Erscheinungen 
aber,  die  ihm  die  jetzt  umfangreicher  und  vielseitiger  werdende  Lektüre 
bietet,  soll  ihm  eine  Grammatik  in  die  Hand  gegeben  werden,  die  ihm  zum 
Nachschlagen  dient  und  in  der  er  möglichst  alle  grammatischen  Regeln 
und  Ausnahmen  verzeichnet  findet.  So  wird  er  im  Laufe  der  Zeit  manches 
bisher  nicht  Gelernte  in  sein  Gedächtnis  aufnehmen  und  in  seinen  Arbeiten 
verwenden,  auch  Konstruktionen,  die  mit  den  strengen  Regeln  der  Elementar- 
grammatik in  Widerspruch  stehen.  In  solchen  Fällen  darf  keine  Kleinlich- 
keit seitens  des  Lehrers  walten.  So  falsch  es  wäre,  jede  Abweichung  von 
jenen  Regeln  gut  zu  heißen,  so  geht  es  auch  nicht  an,  das  auch  Richtige 
als  Fehler  anzurechnen.  Cest  eux,  il  semble  que  mit  folgendem  Indikativ, 
aimer  faire  qch..,  s^efjorcer  ä  faire  qch.y  desirer  de  faire  qch.^  du  bon  vin^  venir 
de  VAllemagne^  jecrains  quHl  vienne,  um  nur  einiges  herauszugreifen, ist  korrektes 
Französisch  trotz  der  Grammatik  i).  Neben  einer  solchen  Erweiterung  seines 
grammatischen  Wissens  soll  dem  Schüler  der  oberen  Klassen  ein  Einblick 
in  den  Zusammenhang  der  grammatischen  Gesetze  gegeben,  die  Grammatik 
soll  vertieft  werden^).  Auf  diese  Vertiefung  ist  insofern  schon  vorher  hin- 
zuarbeiten, als  der  grammatische  Unterricht  von  Anfang  an  mit  der  Wissen- 
schaft in  Einklang  gebracht  wird.  Das  geschieht  nicht  immer  und  überall. 
Selbst  noch  Primaner  meinen,  daß  Konsonanten  keine  Silben  bilden  können, 
daß  es  fünf  Vokale  gibt,  während  sie  mehr  als  ein  Dutzend  im  französischen 
Anfangsunterricht  kennen  lernten,  usw.  Mit  einer  solchen  Fibelkinderanschau- 
ung kann  man  doch  Schüler  einer  höheren  Lehranstalt  nicht  ins  Leben  treten 
lassen.  Auch  der  Glaube,  daß  es  im  Französischen  eine  Deklination  gibt, 
findet  noch  in  den  Oberklassen  Vertreter,  und  dieser  Glaube  hat  sich  doch 
nur  so  fest  einwurzeln  können,  weil  zu  Anfang  französische  Substantiva 
dekliniert,  ja  sogar  Deklinations-Paradigmen  mit  vorgesetzten  Kasus,  wie 
sie  sich  auch  noch  in  Lehrbüchern  finden,  gelernt  und  zu  Hause  schriftlich 
entworfen  werden^).  Und  in  entsprechender  Weise  geht  der  Unterricht 
leider  weiter.  Deutsch  und  Französisch  gehen  parallel.  Beide  werden  fort- 
während einander  gegenübergestellt,  verglichen.  Die  grammatische  Schulung, 

1)  In  einer  Reihe  von  Beiträgen  zur  französischen  Syntax,  die  ich  seit  1914  in  den 
„Neueren  Sprachen"  veröffentliche  und  die  noch  nicht  abgeschlossen  sind,  werden  die  Ab- 
weichungen in  der  Sprache  der  Schriftsteller  von  der  Schulgrammatik  behandelt.  Der  ein- 
sichtige Lehrer  wird  wissen,  was  davon  im  Unterricht  Berücksichtigung  finden  darf. 

*)  Um  die  Anforderungen  erhöhen  und  weiter  gesteckte  Ziele  erreichen  zu  können, 
ist  für  die  Oberstufe  Freiheit  in  der  Wahl  der  Unterrichtsfächer  wünschenswert.  Ein  be- 
fähigter Schüler,  der  für  Mathematik  nicht  begabt  ist,  sollte  nicht  gezwungen  sein,  600  mathe- 
matischen Lehrstunden  beizuwohnen,  eine  Anzahl  mathematischer  Hausarbeiten  von  einem 
Mitschüler  abzuschreiben  und  in  der  Reifeprüfung  ein  leeres  Blatt  abzuliefern. 

•)  Du  pere  und  au  pere  sind  natürlich  ebenso  wenig  Genitiv  und  Dativ  wie  vom 
Vater  und  zum  Vater.  Es  fällt  niemand  ein,  unter  (von)  den  Männern,  de  (ea;)  vtm, 
interviros  Genitive  zu  nennen,  weil  sie  statt  des  Genitivs  stehen,  aber  in  etre  bon  ä  qn.,  se 
Souvenir  de  qn.,  obeir  d  qn.  sollen  Kasus  vorliegen,  in  etre  bon  avec  (pour)  qn.,  parier  de  qn.,  parier 
dgn.  dagegen  präpositionaleErgänzungen, weil  wir  jemandem  gut  sein,  sich  einerPerson 
erinnern,  jemandem  gehorchen  sagen,  aber  von  und  mit   jemandem  sprechen! 


144  H.  Schmidt, 

sagt  man,  verlangt  das,  und  bezüglich  der  grammatischen  Schulung  fällt 
nach  der  Vorschrift  der  Lehrpläne  den  Realanstalten  dieselbe  Aufgabe  zu, 
wie  an  den  lateintreibenden  dem  Lateinischen.  Folglich  wird  übersetzt, 
konstruiert  wie  im  Lateinischen.  Jede  Lektion  umfaßt  ein  grammatisches 
Pensum,  der  fremdsprachliche  Text  der  Lektion  ist  diesem  Pensum  angepaßt, 
und  durch  Übersetzen  deutscher  Sätze  wird  es  eingeübt.  Natürlich  ist  kein 
Schüler  imstande,  diese  Sätze  fließend  in  der  fremden  Sprache  wiederzugeben, 
das  Übersetzen  erfolgt  vielmehr  Wort  fürWort,  jedenfalls  mit  Unterbrechungen, 
so  daß  es  der  Gewöhnung  an  sinngemäßes  Lesen  entgegenwirkt.  Noch  schäd- 
licher wird  das  Übersetzen  für  die  Aussprache,  wenn  dabei  die  deutschen 
Sätze  überflüssigerweise  laut  vorgelesen  werden,  als  wenn  deutsche  Lese- 
übungen damit  verbunden  werden  sollten.  Auch  der  Orthographie  kommt 
es  nicht  zugute,  denn  das  Auge  blickt  auf  deutsche  Wörter.  Der  größte 
Nachteil  des  Übersetzens  ist  aber  der,  daß  es  den  Glauben  erweckt,  daß 
man  mit  Hilfe  von  Grammatik  und  Wörterbuch  übersetzen  kann.  Und  so 
wird  das  Übersetzen,  wie  die  Erfahrung  bestätigt,  zur  Quelle  der  meisten 
Fehler  der  freien  fremdsprachUchen  Arbeiten^).  Die  Einzelsätze  sind  außer- 
dem um  so  strenger  zu  verurteilen,  weil  sie  ein  Nacheinander  buntscheckigen 
Inhalts  bieten,  dem  ein  Schüler  unmöglich  Interesse  abgewinnen  kann,  das 
vielmehr  jedem,  der  nicht  denkfaul,  gleichgültig,  phantasielos  ist,  die  Lern- 
freudigkeit nehmen  muß.  Nur  wenn  dieses  aus  der  alten  Methode  übernommene 
Übersetzen  unerläßlich  wäre  für  die  Erwerbung  sicherer  grammatischer 
Kenntnisse,  müßte  man  die  damit  verknüpften  Nachteile  in  Kauf  nehmen, 
aber  das  ist  nicht  der  Fall.  Alle  deutschen  Übungsstücke  (Einzelsätze 
und  Zusammenhängendes)  sind  überflüssig,  weil  der  Zweck,  dem  sie  dienen 
sollen,  auf  andere  Weise  erreicht  werden  kann.  Die  Grammatik,  zunächst 
induktiv  aus  dem  zusammenhängenden  Lesestoff  gewonnen,  wird  durch 
vielseitige  an  ihn  angeschlossene  mündliche  und  schriftliche  einsprachige 
Übungen  befestigt.  Ebenso  erfolgt  die  Aneignung  des  Wortschatzes  durch 
die  gründliche  Durcharbeitung  des  Gelesenen,  nicht  durch  Aufgeben  und 
Abfragen  von  Vokabeln,  auch  nicht  durch  sachlich  geordnete  Vokabularien. 
Bei  einem  solchen  Verfahren,  zumal  wenn  von  vornherein  viel  Idiomatisches 
geboten  wird,  erkennt  der  Lernende,  daß  die  Muttersprache  und  die  fremde 
sich  nicht  decken,  daß  es  schon  für  die  gewöhnlichsten  Wörter  wie  Tnettre, 
oter,  partir^  entrer  usw.  kein  Analogon  im  Deutschen  gibt,  und  er  wird  be- 
greifen, daß  man  sich  eine  fremde  Sprache  nicht  konstruierend,  sondern 
nur  imitierend  aneignen  kann.    Solange  allerdings  Hinübersetzen  von  der 

^)  Die  einst  üblichen  Programmabhandlungen  in  französischer  und  englischer  Sprache 
mit  ihren  Verstößen  gegen  den  Sprachgebrauch  sind  zum  Glück  aus  der  Mode  gekommen. 
Aber  auch  noch  heute  schicken  manche  unkontrolliertes  Französisch  und  Englisch  in  die 
Welt,  von  dem  Nationale  sagen,  daß  eigentlich  kein  Satz  französisch  oder  englisch  ist.  Im 
Gegensatz  zu  diesen  Mutigen  stehen  die  Schüchternen,  die  selbst  für  das,  was  den  Schülern 
zugemutet  wird,  einer  Kontrolle  nicht  entbehren  zu  können  glauben,  wie  u.a.  der  folgende 
kürzlich  verbreitete  Prospekt  einer  Verlagsbuchhandlung  beweist:  „Wiederholtem  Drängen 
aus  Lehrerkreisen  nachgebend,  haben  Verfasser  und  Verleger  sich  entschlossen,  Schlüssel 
zum  .  .  .    und  zum  ...    zu  veröffentlichen." 


Zum  neusprachlichen  Unterricht.  145 

Behörde  verlangt  wird,  muß  man  es  ja  wohl  oder  übel  vornehmen,  aber  man 
vermeide  wenigstens,  zu  früh  damit  zu  beginnen.  Ich  habe  einmal  im  Anfangs- 
unterricht nach  dem  ersten  Quartal  angefangen,  übersetzen  zu  lassen,  ein 
andermal  erst  im  vierten ;  das  letztere  Verfahren  erwies  sich  als  das  bei  weitem 
vorteilhaftere.  Man  vermeide  femer  das  mündliche  Übersetzen  vöUig, 
lasse  nur  schriftlich  übersetzen  und  zwar  stets  Zusammenhängendes  und 
gestalte  diese  Übertragungen  in  den  Oberklassen  zu  stilistischen  Übungen 
in  der  fremden  Sprache,  etwa  in  der  Art,  wie  ich  es  in  dieser  Zeitschrift  (XIV, 
S.  84ff.)  zu  zeigen  versucht  habe.  Die  Zahl  der  zwecks  Prüfung  anzufertigenden 
Übersetzungen  hat  ja  erfreulicherweise  durch  den  Ministerialerlaß  vom 
21.  Oktober  1911  eine  große  Einschränkung  erfahren,  die  hoffentlich  die 
Vorstufe  zu  ihrer  gänzlichen  Beseitigung  ist. 

Am  Schluß  meiner  Erörterungen,  die  vielfach  nur  andeutend,  nicht 
ausführend  sein  konnten,  sei  bemerkt,  daß  Lehrbuch,  Methode  und  päda- 
gogische Fähigkeit  des  Lehrers  wichtige  Faktoren,  aber  nicht  allein  aus- 
schlaggebend für  den  Unterrichtserfolg  sind.  Am  Ende  werden  gute  und 
dauernde  Erfolge  doch  nur  mit  begabten  Schülern  erzielt,  und  an  solchen 
hat  die  höhere  Schule  keinen  Überfluß.  Sie  hat  vielmehr  auf  ihren  Bänken 
nicht  nur  bis  zum  Abschluß  der  Mittelklassen  viele  mangelhaft  Beanlagte, 
die  Berechtigungen  erwerben  wollen  oder  aus  Standesrücksichten  zu  ihr  kom- 
men, sondern  auch  in  den  Oberklassen  bleibt  ihr  eine  Anzahl  von  mäßig  Be- 
gabten, oft  weniger  aus  eigenem  Antrieb  als  auf  Wunsch  der  Eltern,  weü 
der  Wohnort  die  Gelegenheit  bietet  und  die  Reifeprüfung  den  Weg  zu  höheren 
Berufen  öffnet  —  Schüler  ohne  wissenschaftliches  Interesse,  die,  wie  ich  es 
erlebte,  noch  kurz  vor  dem  Examen  auf  die  Frage,  was  sie  studieren  wollen, 
antworten:  Irgendwas!  Werden  die  höheren  Lehranstalten  künftig  von 
solchen  Schülern  frei  sein?  Sie  werden  es,  wenn  nach  dem  Grundsatz  ,,Freie 
Bahn  dem  Tüchtigen"  mit  dem  Aufstieg  der  Begabten  die  Entfernung 
der  Minderbegabten  parallel  geht.  Dann  werden  auch  bei  Erhöhung  der 
Anforderungen  gute  Erfolge  erreicht  werden.  Und  die  Zukunft  braucht 
gute  Erfolge.  Zwar  hat  die  Kriegspsychose  den  Gedanken,  Französisch 
und  Englisch  werde  nach  dem  Kriege  nicht  mehr  oder  in  weit  geringerem 
Umfange  als  bisher  gelehrt  werden,  aufkommen  lassen,  aber  kein  denkender 
Mensch  hat  ihn  ernst  genommen.  Haidane  sagte,  der  Krieg  habe  gelehrt, 
daß  nur  noch  mehr  Deutsch  getrieben  werden  müsse,  und  Franzosen  haben 
sich  ähnlich  geäußert.  Und  da  sollten  wir  das  GegenteÜ  tun?  Wie  die  Kenntnis 
der  lebenden  Fremdsprachen  in  hohem  Maße  zu  unserm  Aufstieg  mitgeholfen 
hat,  so  ist  sie  jetzt  unentbehrlich,  wo  es  sich  darum  handelt,  unser  Land 
zu  neuer  Blüte  zu  führen.  Ganz  besonders  gilt  das  vom  Englischen.  Mehr 
noch  als  früher  ist  diese  Sprache  heute  die  Weltsprache.  Ihre  Kenntnis  ge- 
hört mehr  als  die  jeder  anderen  fremden  Sprache  zu  den  Erfordernissen 
der  allgemeinen  Bildung,  und  in  der  Frage,  mit  welcher  Sprache  der  fremd- 
sprachliche Unterricht  zu  beginnen  ist,  sollte  die  Entscheidung  zugunsten 
des  Englischen  schon  allein  wegen  seiner  Bedeutung  fallen. 

Altona.  H.  Schmidt. 

Monats  chrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  10 


146  Niedlich, 

Klassische  Metrik,  deutsche  Rhythmik  und  deutsche  Kultur. 

So  gangbar  das  Wort  „Kultur"  ist,  so  verschwommen  erscheint  es,  wenn 
im  einzelnen  Fall  der  Begriff  bestimmt  werden  soll.  Zum  Verständnis  des 
folgenden  sei  der  von  mir  gebrauchte  Begriff  Kultur  kurz  vorangestellt: 
Kultur  bedeutet  stets  Einheit  (Übereinstimmung)  zwischen  Ausdruck  und 
Wesen  (Form  —  Inhalt),  und  Einheit  (Übereinstimmung)  des  Ausdrucks  in 
allen  seinen  Teilen.  Die  Begriffsbestimmung  Nietzsches:  „Einheit  des  Stils 
(wohl  =  Ausdruck)  in  allen  Lebensäußerungen"  stimmt  also  nur  mit  dem 
2.  Teil  meiner  Bestimmung  überein ;  die  erste  fehlt,  scheint  mir  aber  als  Er- 
gänzung notwendig,  da  Kultur  den  bestimmten  Inhalt,  der  im  Begriff  des 
Trägers  liegt,  stets  voraussetzt.  So  fehlt  der  Kultur  eines  Kannibalen  stets 
von  vornherein  ein  Teil  des  notwendigen  Inhalts  vom  Begriff  Mensch  —  wenn 
man  diesen  Begriff  nicht  nur  rein  naturwissenschaftlich  bestimmt  —  der 
Kultur  eines  „Internationalen"  von  vornherein  ein  Teil  des  Begriffes  ,,Volk". 
—  Der  Begriff  Kultur  wird  aber  nicht  nur  unbedingt,  sondern  auch  „bezogen" 
(relativ)  gebraucht,  und  zwar  enthält  er  Grad-  wie  Eigenschaftsunterschiede. 
Die  Höhe  einer  Kultur  (Gradunterschied)  bestimmt  sich  gemäß  obiger  Be- 
griffsbestimmung nach  dem  Maße  jener  Übereinstimmung.  Die  Eigenart 
einer  Kultur  dagegen  kann  nur  nach  dem  Inhalt,  der  einer  Kultur  zugrunde 
liegt,  d.  h.  nach  dem  Wesen,  mit  dem  jener  Ausdruck  übereinstimmen  soll, 
bestimmt  werden. 

„Was  ist  deutsche  Kultur?"  heißt  also  zuvor  fragen:  was  ist  deutsches 
Wesen,  deutsche  Eigenart?,  mit  einem  Wort  „was  ist  deutsch?"! 

So  gangbar  und  verschwommen  der  Begriff  Kultur,  so  gangbar  und 
verschwommen  ist  gewöhnlich  der  Begriff  , »deutsch",  will  man  ihn  fest- 
legen.   Es  gibt  nur  einen  Weg  zum  Ziele  zu  kommen:  den  geschichtlichen. 

Und  die  Geschichte  läßt  uns  hier  nicht  im  Stich,  sondern  hat  einmal 
das,  was  den  Unterschied  zwischen  Germanen  und  Nichtgermanen  (der  Be- 
griff deutsch  und  germanisch  wird  bezüglich  der  Kultur  vorerst  gleichgesetzt) 
ausmacht,  so  festgelegt,  daß  dieser  Unterschied  für  alle  Zeiten  die  alleinige 
Grundlage  aller  Bestimmungen  über  deutsche  Kultur  abgeben  muß.  Das, 
was  nicht  nur  einen  —  sondern  geschichtlich  den  Unterschied  zwischen 
Germanen  und  den  ihnen  näherstehendenNichtgermanen  ausmacht,  findet  sich 
als  sprachgeschichtliche  Erscheinung  in  der  germanischen  Festlegung  des  Tones 
auf  die  Stammsilbe.  Ein  anderer  geschichtlicher  Unterschied  zwischen 
Germanen  und  Indogermanen  als  der  sprachliche  der  Akzentverlegung  ist 
bis  heute  nicht  festgestellt. 

Eine  solche  Erscheinung  kann  nicht  grundlos  sein.  Will  man  sie  nicht 
als  zufällige  Äußerlichkeit  ansehen,  sondern  einen  Gedanken,  einen  Inhalt 
dahinter  feststellen,  so  kann  es  nur  der  sein:  Betonung  der  Hauptsache, 
des  Wesentlichen,  des  Inhalts,  des  Gedanklichen  oder  wie  man 
sonst  will.  Auf  dieser  Grundlage  fassen  die  mehr  instinktiv  empfundenen 
Sätze:  „Deutsch  sein  heißt  Charakter  haben"  (Fichte),  „Deutsch  sein  heißt 
eine  Sache  um  ihrer  selbst  willen  tun"  (Wagner)  erst  Wurzel. 


Klassische  Metrik,  deutsche  Rhythmik  und  deutsche  Kultur.  147 

Diese  deutsch-geschichtliche  Erscheinung  der  Betonung  des  Wesent- 
lichen erscheint  allenthalben  in  der  deutschen  Kulturgeschichte  der  Folge- 
zeit mit  einer  gewissen  Gesetzmäßigkeit  wieder,  und  ich  möchte  sie  kurz 
„das  deutsche  Kulturgesetz"  nennen.  Dieses  Gesetz  spielt  weiterhin  nicht 
nur  in  dem  Naturwachstum  der  Sprache  eine  beherrschende  Rolle,  sondern 
es  darf  auch  für  die  Gegenwart  allein  die  Grundlage  sein,  von  der  aus  darüber 
geurteilt  wird,  ob  dieser  oder  jener  Weg  von  der  allgemeinen  Richtungslinie 
deutscher  Kultur  abführt  oder  nicht. 

Von  dieser  Grundlage  aus  allein  kann  auch  eine  sichere  Stellung  gegen- 
über andern  Kulturen  gewonnen  werden.  Auch  der  griechischen  Kultur 
gegenüber,  die  als  einzige,  in  sich  geschlossene,  sich  einem  Vergleich  heute 
noch  stellt,  ist  eine  scharfe  Abgrenzung  möglich.  Der  Grieche  legt  inner- 
halb der  Zwei-Einheit  „Inhalt  —  Form"  den  Nachdruck  auf  „Form",  der 
Deutsche  auf  „Inhalt".  Damit  ist  schon  der  Entwicklung  der  deutschen 
Kultur  ein  selbständiger  Weg  gewiesen  und  ihr,  von  griechischer  Kultur  un- 
abhängiges, Recht  erwiesen.  Sobald  dies  klar  erkannt,  ergeben  sich  für  die 
Beurteilung  der  Geschichte  bis  in  das  tägliche  Leben  der  Gegenwart  hinein 
einschneidende  Folgen.  Wenn  der  Volksmund  heute  ein  regelmäßiges  Gesicht 
„schön"  nennt,  so  bedeutet  der  Weg  zu  diesem  „schön"  einen  Abweg  von 
dem,  was  deutsch  ist,  eine  Sünde  wider  eigene  Geschichte  und  Natur.  Denn 
„schön"  im  deutschen  Sinn  kann  nur  ein  charaktervolles  Gesicht  sein.  Nicht 
nur  der  Volksmund  ist  solche  Irrwege  gegangen.  Aus  verschuldetem  oder 
unverschuldetem  Mangel  an  Erkenntnis  deutscher  Eigenart  haben  selbst 
führende  Geister  die  Entwicklung  in  Bahnen  gelenkt,  die  vom  Wege  deutscher 
Kultur  abführten.  Als  ein  Muster  solches  Irrpfades  erscheint  die  Geschichte 
der  deutschen  „Metrik".  Hier  hat  der  früh  betretene  Abweg  allmähHch  in 
eine  tiefe Wüdnis  geführt,  in  der  die  Wissenschaft  deutscher  „Metrik"  gegen- 
wärtig herumirrt,  so  tief,  daß  der  verlassene,  allein  rechte  Weg  vergessen  ist. 
Jeder  Ausblick  und  damit  jeder  Vergleich  ist  versperrt.  Der  rechte  Weg  ist 
auch  längst  überwachsen,  der  falsch  ausgetretene  muß  als  der  richtige  er- 
scheinen und  das  Fortstapfen  in  der  vor  Zeiten  eingeschlagenen  Richtung 
wird  zur  Selbstverständlichkeit.  Das  ist  das  Bild,  das  sich  in  Hinsicht  auf 
jenes  deutsche  Kulturgesetz  von  dem  Entwicklungsgang  deutscher  Metrik 
wie  von  ihrer  Wissenschaft  in  der  Gegenwart  ergibt. 

Ein  alter  Jägersatz  lautet:  wer  eine  Spur  ausarbeiten  wül,  muß  bei  jedem 
Verlieren  der  Spur  wieder  von  vorn  anfangen  oder  er  verliert  sie  für  immer. 
Demnach  gilt  es,  der  Geschichte  der  deutschen  Verskunst  an  der  Hand  jenes 
Gesetzes  nachzugehen  und  den  Punkt  zu  finden,  wo  der  falsche  Pfad  vom 
richtigen  abführt  und  dann  den  Weg  zu  finden,  der  der  Entwicklung 
deutscher  Verskunst  ihrem  eigenen  Gesetz  nach  vorgeschrieben  ist. 
Es  ist  weder  mein  Wille  noch  meine  Aufgabe,  eine  neue  Metrik  aufzubauen. 
Ich  kann  und  will  hier  nur  Fehler  aufzeigen,  die  gemacht  worden  sind  und 
die  Wege  weisen,  wo  die  Metriker  einsetzen  müssen.  Für  die  falsche  Grund- 
lage muß  die  richtige  gefunden  werden,  auf  der  jene  Wissenschaft  aufbauen 

muß. 

« 

10* 


148  Niedlich, 

Die   deutsehe   Verskunst^). 

Die  ursprüngliche  deutsche  Verskunst  zeigt  eine  doppelte  Form:  Stab- 
reim und  Rythmus. 

Im  Stabreim  hat  sich  das  deutsche  Kulturgesetz  einen  seiner  wichtigsten 
Ausdrücke  geschaffen.  Der  Stab  hebt  den  Gedanken  hervor.  Nur  gedanken- 
tragende Wörter  können  Träger  des  Stabes  sein.  Das  ist  bis  ins  einzelne 
durchgeführt.  Das  Gesetz:  „Das  schwächere  Zeitwort  kann  nicht  allein 
Stabträger  sein,  wenn  es  dem  stärkeren  Hauptwort  folgt"  —  ist  nur  eine  Folge. 
„Der  Stab  ist  Gedankenträger",  gewinnt  bis  in  das  tägliche  Leben  hinein 
Bedeutung.  Die  gedankenlose  Unkultur  der  gegenwärtigen  Namengebung 
war  dem  bewußten  Altgermanen  so  fremd,  daß  er  seine  Kinder  als  Erben 
seiner  eigenen  Gedanken  unter  eine  einheitliche  Idee  stellte.  Wenn  die  Rune, 
wie  jetzt  sicher  erscheint,  einmal  Heilszeichen  und  Träger  eines  besonderen 
Gedankens  war,  so  haben  stabgereimte  Namen,  die  ein  Vater  gab,  ihre  tiefe 
Bedeutung  gehabt  (Günther,  Gernot,  Gieselher  u.  a.).  Ja,  auch  in  der  Längs- 
linie scheinen  Familien  in  einem  bestimmten  gedanklichen  Band  gestanden 
zu  haben  (Siegmund,  Sintfiötli  u.  a.).  Die  drei  „Stände":  ( !)  Ingävonen, 
Istävonen,  Erminonen  sind  ebenfalls  unter  einen  Gedanken  gestellt.  (Neben 
anderen  ist  schon  aus  diesem  Grunde  die  Deutung  der  Namen  als  ,, Stämme" 
unwahrscheinlich,  denn  eine  bewußte  Namengebung  liegt  zugrunde.) 

Ob  die  einzelne  Rune  den  Gedanken  hat,  den  ihr  Guido  v.  List  im  „Ge- 
heimnis der  Runen"  beilegt,  mag  zweifelhaft  sein,  daß  jede  Rune  aber  Aus- 
druck eines  bestimmten  Gedankens  gewesen  ist,  erscheint  jetzt  wohl  sicher. 

Fast  notwendig  wird  der  Vergleich  des  gedankenschweren  deutschen 
Stabreims  mit  der  rein  äußerlichen  Form  des  klingenden  Silbenreims  zum 
Vergleich  des  deutschen  Charakters  mit  fremdem,  und  man  ermißt,  was  da 
verloren  ging. 

Eine  Aufgabe  für  sich  wäre  es,  zu  untersuchen,  ob  deutscher  Geist  unter 
deufi  deutschen  Kulturgesetz  den  äußerlichen  Silbenreim,  nachdem  er  auf- 
genommen, in  gewissem  Grade  verinnerlicht  hat,  d.  h.  ob  für  die  großen 
deutschen  Dichter  die  Verwendung  bestimmter  Reimklänge  an  sich  die  Aus- 
lösung bestimmten  Gefühlsinhalts  bedeutet. 

Rhythmus  bedeutet  die  irgendwie  geregelte  Folge  von  nach  ihrer  Schwere 
gewogenen  Silben. 

Kaufmann  bestimmt  als  Metrik  die  Lehre  von  der  Vers-  und  Reimtechnik,  als  Ryth- 
mik  die  Lehre  von  der  Verstechnik.  Will  man  endlich  ins  Reine  kommen,  so  muß  auch  mit 
falschen  Ansätzen  aufgeräumt  werden  und  wenn  sie  auch  die  Jahrtausend  lange  Überlieferung 
mit  dem  Schein  der  Echtheit  umwoben*).   JeneBestimmungen  aber  müssen  auf  eine  schiefe 


1)  Ich  lege  der  Untersuchung  der  Einfachheit  halber  nur  eine  Geschichte  der  deutschen 
Metrik,  die  von  Kaufmann,  zugrunde.  Sie  unterscheidet  sich,  was  das  vorliegende  Problem 
angeht,  nicht  wesentlich  von  den  anderen.    Über  Sievers  und  Saran  siehe  Anm.  2. 

*)  Das  erkennt  Saran  in  seiner  Lehre  deutscher  Verskunst  durchaus.  Seine  neu  ein- 
geführten Namen  aber  kranken  z.  T.  auch  wieder  an  der  noch  immer  zu  wenig  betonten 
Berücksichtigung  des  Gegensatzes  zwischen  klassischer  und  deutscher  Verstechnik.  Es  ist 
sein  Verdienst,  die  unendliche  Zusammengesetztheit  der  nur  scheinbar  einfachen  Bestand- 
teile der  Verstechnik  nachgewiesen  zu  haben.    Er  läßt  aber  über  der  Mannigfaltigkeit  die 


Klassische  Metrik,  deutsche  Rhythmik  und  deutsche  Kultur.  ]49 

Ebene  führen.  Im  Begriff  Metrik  liegt  derBegriff  des  Maßes  offen  zutage.  Auf  die  Lehre  der 
klassischen  Verstechnik  ist  der  Ausdruck  zugeschnitten.  In  der  deutschen  Verstechnik,  die 
wägt,  nicht  mißt,  kann  er  nur  Unheil  anrichten.  Ich  scheide  daher  die  Reimtechnik  als. 
Besonderes  aus  und  stelle  der  Metrik  (Lehre  vom  Versmaß  des  klassischen  Verses)  die 
Rythmik  (Lehre  von  der  Verswägung  des  deutschen  Verses)  auf  das  schärfste  gegenüber. 
Da  im  Wort  Rhythmus  lediglich  der  Begriff  des  Taktes,  des  gleichmäßigen  Fließens  liegt,  so 
läßt  sich  seinem  Begriff  auch  heute  noch  der  eben  bezeichnete  Gedankeninhalt  geben. 

Die  deutsche  Rhythmik  mißt  nicht,  sondern  wägt  nach  der  Schwere. 
Alles,  was  wir  an  altdeutschen  Versgesetzen  kennen,  entspricht  dieser  Grund- 
lage. Überall  kommt  das  deutsche  Kulturgesetz  auch  hier  zur  Erscheinung. 
Die  sinnschweren  Silben  tragen  den  Hauptton  und  Hegen  in  der  „Hebung**, 
die  weniger  schweren  haben  Nebenton  (Nebenhebung),  leichte  keinen  Ton 
(Senkung).  Nur  die  Hebungen  zählen  (auch  wieder  scharfe  Betonung  des 
Gedankens!!).  Die  Versfüllung  in  der  Senkung  kann  bis  zehn  Silben  betragen. 
Ist  überhaupt  eine  Gesetzmäßigkeit  für  die  Zahl  der  Senkungssilben  vor- 
handen, so  bildet  ihre  Grundlage  das  Gewicht,  nicht  die  Länge,  des  gesamten 
Versfußes  von  Anfang  der  Hebung  zu  Anfang  der  Hebung. 

Alles  Metrische  hat  erst  falsch  gegangene  Wissenschaft  in  die  altdeutsche 
Rythmik  hineingetragen.  So  findet  sich  der  Unterschied  von  Längen  und 
Kürzen  bei  Kaufmann  und  anderen  als  Problem  erörtert: 

„Für  Taktfüllung  genügt  eine  lange  Silbe,  dazu  können  aber  auch  Sen- 
kungen treten",  d.  h.  eben  doch:  die  Länge  spielt  keine  Rolle.  Wozu  dann 
erst  der  Ausdruck  „Länge"? 

Mit  Aufwand  alles  Spürsinns  wurde  schließlich  der  widerspenstige  ger- 
manische Rythmus  durch  folgendes  Gesetz  überwunden:  „Die  haupttonigen 
Silben  sind  regelmäßig  lang."  Da  sie  nun  aber  leider  nicht  immer  lang  waren, 
so  fügte  man  als  §  2  hinzu:  „es  kann  aber  Auflösung  in  ^w  oder  ^—  er- 
folgen." Das  heißt  — :  Die  Gesetzlosigkeit  wird  Gesetz.  Denn  auch  — ^ 
kommt  vor,  da  ein  einzelner  Fuß  nicht  vorhanden  und  im  Zusammenhang 
die  lange  Silbe  natürlich  zum  vorhergehenden  Versfuß  zählt.  Ist  Länge  und 
Kürze  als  Grundlage  gedacht,  so  ist  germanisch  jede  Zusammenstellung 
möglich,  auch  der  kurze  einsilbige  Versfuß 

Golther  hilft  sich  aus  dieser  Verlegenheit,  indem  er  folgendes  „Längen- 
gesetz" aufstellt:  Der  einsilbige  Versfuß  muß  eine  lange  Sübe  enthalten 
oder  besonders  stark  betont  sein,  wenn  er  —  kurz  ist!  Selbst  den  im  germa- 
nischen ganz  unmöglichen  Begriff  der  Positionslänge  hat  man  zu  Hilfe  ge- 
rufen, um  eine  Länge  zu  konstruieren.  Da  man  auch  damit  nicht  der  Schwierig- 
keit Herr  wurde,  gab  man  vielfach  das  Problem  germanischer  „Metrik"  als 
„vorläufig  nicht  lösbar"  auf.  Und  alle  diese  Schwierigkeiten,  weü  man  unter 


Grundzüge  nicht  mehr  erkennen.  Kein  Nichtfachmann,  noch  viel  weniger  ein  Schüler  vermag 
durch  die  verwirrende  Fülle  zu  irgend  einer  Übersicht  zu  gelangen.  Alles  verliert  sich  in  un- 
endlicheEinzelheiten.  Es  muß  aber  gefordert  werden,  daß  jedem  halbwegs  gebildetenDeutschen 
die  Grundzüge  deutscher  Metrik  klar  dargeboten  werden  können.  Solange  Saran  hier  versagt, 
kommt  er  für  die  Schule  nicht  in  Frage;  zumal  den  von  ihm  aufgerollten  Problemen  gegenüber 
die  einzelnen  Parteien  sich  ganz  verschieden  verhalten.  Metriker  steht  gegen  Metriker  und 
mit  beiden  hat  der  Grammatiker  seine  Fehde. 


150  Niedlich, 

dem  Einfluß  klassischer  Metrik  hier  an  ein  Tor  ging,  das  sich  diesem  Schlüssel 
notwendigerweise  versagte.  Das  Altdeutsche  lehnt  eine  Unterscheidung 
zwischen  langen  und  kurzen  Silben  für  die  Verstechnik  ab,  weü  sie  nur  Form 
und  äußerlich  ist  (auch  hier  wieder  das  Kulturgesetz  1).  Lang  bleibt  in  jedem 
Falle  lang,  und  kurz  in  jedem  Falle  kurz!  Der  Vokal  ist  maßgebend.  Keine 
Konsonantenanhäufung  kann  wie  im  klassischen  einen  kurzen  Vokal  vers- 
technisch dehnen.  Jede  nach  klassischem  Begriff  positionslange  Silbe  kann 
sowohl  in  der  Hebung  wie  in  der  Senkung  stehen.  Lediglich  das  Gewicht 
entscheidet.  Der  Gedanke  ist  das,  was  ein  Wort  in  seiner  Gewichtsbewertung 
wandelbar  macht.  Der  Gedankenwert  bestimmt  ein  und  dieselbe  Silbe  in 
die  Hebung  oder  Senkung. 

Ein  Beispiel:  Der  Schnee  schmilzt  weg 

man  weiß  nicht  wie 
und:  er  schmilzt  wie  Schnee 
man  weiß  nicht  wie. 

Das  erstemal  steht  „schmilzt"  in  der  Senkung,  das  zweitemal  in  der  He- 
bung. Nach  klassischer  Metrik  behält  das  Wort  (die  Konsonantenfolge  ist 
dieselbe)  stets  den  gleichen  Längenwert. 

Der  Einfluß,  den  das  Gedankengewicht  auf  den  Rhythmus  ausübt,  geht 
so  weit,  daß  ein  und  derselbe  Vers  verschieden  gelesen  werden  muß,  je  nach 
dem  Sinn,  den  er  enthält. 

.  .  hier  muß  er  sterben 
oder:  hier  muß  er  sterben. 

Im  Klassischen  ist,  da  das  rein  äußerliche  Maß  und  nicht  das  Gewicht 
die  Leitschnur  ist,  eine  verschiedene  Betonung  nicht  möglich.  Der  Sinn  ist 
dort  von  der  Metrik  unabhängig. 

Diese  Feststellungen  gelten  auch  für  das  altdeutsche. 

Ob  damit,  abgesehen  von  der  Zählung  der  Hebungen,  nur  völlige  Ge- 
setzlosigkeit in  der  deutschen  Rhythmik  feststellbar  ist,  bleibt  eine  Frage  für 
sich,  die  unten  am  Schluß  noch  einmal  berührt  wird. 

Das  Ergebnis: 

Im  großen  und  ganzen  ist  sich  die  „metrische"  Wissenschaft  einig,  daß 
die  Grundlage  germanischer  Verstechnik  Silbenwägung  war.  Wo  man  ein 
Problem  des  Maßes  sah,  wurde  man  mit  diesem  Problem  nicht  fertig,  weil 
man  es  selbst  erst  hineingetragen. 

II. 

So  etwa  die  Ergebnisse  über  die  Zeit  bis  Otfried.  Unter  dem  Einfluß 
christlicher  Kultur  kommt  nicht  nur  der  äußerliche  Reim  als  Fremdkörper 
in  die  altdeutsche  Verstechnik,  sondern  es  beginnt  sich  auch  langsam  in  der 
Rhythmik  der  Gedanke  des  deutschen  Kulturgesetzes  zu  zersetzen.  Die 
internationale  Lateinkirche  hat  in  der  deutschen  Kultur  auf  sprachlichem 
Gebiet  eine  Vernichtung  angerichtet,  die  bis  in  die  Gegenwart  hinein  kaum 
eine  Ahnung  aufkommen  ließ,  daß  unter  dem  Neubau  die  Grundmauern 
eines  einst  stolzen  Gebäudes  stehen. 


Klassische  Metrik,  deutsche  Rhythmik  und  deutsche  Kultur.  151 

Die  Entwicklung  führte  schließlicli  dahin,  daß  Länge  und  Kürze,  also 
das  Versmaß  den  Rhythmus  völlig  verdrängte.  Die  griechischen  Versfüße 
Jambus,  Trochäus  usw.  wurden  Alleinherrscher  über  die  deutsche  Sprache 
und  sind  es  bis  heute. 

Und  doch  war  das  Gefühl,  daß  man  dem  Wesen  der  deutschen  Sprache 
Gewalt  antat,  nicht  auf  ewig  entschlummert.  Opitz  wie  Klopstock  wurden 
von  einem  richtigen  Gefühl  geleitet.  Beide  versuchten  die  griechischen  Vers- 
füße zu  „verdeutschen".  Der  Zeit  entsprechend  bedeutet  Klopstock  den 
größeren  Fortschritt.  Den  Kern  traf  auch  er  nicht.  Statt  Längen  und  Kürzen 
sagte  man  betonte  und  unbetonte  Süben,  aber  die  klassischen  Namen  Jambus 
nd  Trochäus  blieben  und  schUeßlich  blieb  auch  die  Sache,  wenn  sie  auch  im 
Namen  („freie  Rhythmen*')  äußerlich  etwas  germanischen  Anstrich  erhielt. 
Man  baute  weiter  seine  Verse  in  Jamben,  Daktylen  usw.  und  Klopstocks 
freie  „Musterhexameter"  (Kaufmann)  fangen  ohne  Skrupel  auch  einmal  mit 
einem  betonten  „und"  an.  —  Die  Blütezeit  der  deutschen  Klassiker  schritt 
in  denselben  Stiefeln,  mußte  so  gehen,  denn  eine  Einsicht  in  das  Wesen  des 
deutschen  Rhythmus  wurde  erst  mit  der  Wiederentdeckung  des  deutschen 
Altertums  durch  die  Romantik  überhaupt  möglich.  Diese  Wiederentdeckung 
des  deutschen  Altertums  hat  uns  denn  auch  allmählich  wieder  einige  kleine 
Schritte  weiter  gebracht.  Man  ist  in  der  Gegenwart  so  weit,  daß  man  Wägung 
der  Silben  für  die  Grundlage  deutscher  „Metrik"  erklärt.  Aber  wie  der 
Name  „Metrik",  so  leben  die  alten  Namen  der  Versfüße  fort,  noch  immer 
spricht  man  vom  fünffüßigen  Jambus  des  deutschen  Schauspiels.  Kaufmann 
zeigt  im  Verlauf  seiner  Arbeit  wiederholt  das  richtige  Gefühl  für  den  Unter- 
schied zwischen  „deutsch"  und  „klassisch",  führt  auch  zuweilen  ein  Stück- 
lein zum  richtigen  Wege  hin,  aber  den  entscheidenden  Schritt,  der  die  ganze 
bisherige  Wissenschaft  der  deutschen  Metrik  über  den  Haufen  wirft,  wagt  auch 
er  nicht.  Es  bleibt  bei  dem  neuen  Etikett  für  „Länge"  und  „Kürze" ;  darunter 
lebt  der  alte  Irrtum  fröhlich  fort.  Noch  immer  werden  auf  deutschen  Schulen 
deutsche  Verse  skandiert  und  nicht  gesprochen.  Und  jeder  Erwachsene 
stolpert  beim  Lesen  eines  Gedichtes,  wenn  er  seine  Jamben  und  Trochäen 
einmal  nicht  richtig  vorfindet.  Statt  zu  sprechen,  geht  er  mit  dem  Versmaß 
(Etikett:  betont  und  unbetont)  an  sein  Opfer  heran. 

Es  ist  charakteristisch,  daß  Kaufmann  seine  Metrik  mit  der  deutsch- 
klassischen Blüte  sozusagen  abschließt.  Mit  der  unendlichen  Vielgestaltig- 
keit des  Verses  der  neusten  Zeit  weiß  er  —  darin  hat  er  von  seinem  Stand- 
punkt aus  recht  —  eigentlich  nichts  rechtes  anzufangen. 

Wie  sehr  sich  das  Gefühl  für  Natur  und  Unnatur  durch  die  sprachliche 
Schnürbrust  verbogen  hat,  dafür  zwei  Beispiele,  die  nun  gerade  hervorragend 
geeignet  sind,  für  die  wahre  Natur  unseres  Verses  die  Augen  zu  öffnen! 

mitten  wir  im  Leben  sind 

u. 
Ist  der  holde  Lenz  erschienen. 


152  Niedlich, 

Nach  Kaufmann  (und  er  wird  damit  kaum  Widerspruch  finden)  ist  der 
erste  ein  trochäischer,  der  zweite  ein  unvollständiger  jambischer  Vierfuß.  Nun 
bitte  ich  noch  einmal  zu  lesen! 

Ja  spricht  denn  so  ein  vernünftiger  Mensch?    Das  sind,  —  mag  man 
noch  so  irreführende  Etiketten  darauf  kleben,  —  deutsche  Zweiheber,  aber 
nun  und  nimmer  Jamben  und  Trochäen.    Der  erste  ohne,  der  zweite  mit 
viersilbigem  Auftakt.    Es  kann  nur  gelesen  werden: 
mitten  wir  im  Leben  sind  — 

u. 
Ist  der  holde  Lenz  erschienen? 

Jede  trochäische  und  jambische  Lesart  tut  der  Sprache  Gewalt  an! 

Und  dabei  macht  sich  eine  wundersame  Entdeckung !  Mit  einem  Male 
steht  die  deutsche  Sprache  wieder  in  ihrem  alten  Schmuck  da,  nur  abge- 
worfen hat  sie  das  Ausländerkleid.  Alle  Felsen,  die  man  auf  das  Bäumlein 
gewälzt,  haben  es  nicht  erdrücken  können.  Das  Grün  sprießt  aus  allen  Ritzen 
hervor.  Die  Sprache  ist  ihren  eigenen  Weg  weiter  gegangen,  nur  unsere 
griechisch  gefärbte  Brille  hat  uns  am  rechten  Sehen  gehindert^). 

Und  wie  diese  beiden  „Vierfüßler"  löst  sich  die  deutsche  Dichtung,  für 
die  Augen,  die  sehend  geworden,  plötzlich  in  deutsche  Heber  auf. 
Am  grauen  Strand,  am  grauen  Meer 
und  seitab  liegt  die  Stadt. 

Zweiheber  die  erste,  Zweiheber  die  zweite  Zeile.  Streiten  läßt  sich  nur, 
ob  sich  die  erste  Zeile  nicht  auch  als  Vierheber  lesen  läßt.  Es  sollen  beide  Mei- 
nungen Recht  haben.  Wer  in  dem  „grau"  etwas  sieht,  was  dem  Verse  erst 
das  volle  Wesen  gibt,  der  darf  nicht  nur,  der  muß  ihn  als  Vierheber  lesen. 

Ja  —  aber  dann  reißt  die  wüsteste  Regellosigkeit  in  den  so  wohl  ge- 
pflegten Garten  ein !  —  ?  Einmal  —  ist  es  so  wüst,  wenn  sich  einmal  etwas 
nicht  „reglementieren"  läßt?  Und  wenn  Verweigerung  des  „Reglements" 
gerade  das  Wesen  ist?  —  sprach  doch  ein  Großer:  Der  Tempel  ist  der  Menschen 
wegen  da  und  nicht  umgekehrt.  Und  zum  dritten  —  es  bleibt  für  den  ord- 
nenden Forscher  nicht  nur  genug  Arbeit,  sondern  er  wird  vor  eine  Unzahl 
neuer  Aufgaben  gestellt.    Nur  auf  einige  soll  hingewiesen  werden. 

Die  altdeutsche  Metrik  muß  auf  ihre  Reinheit  und  Unabhängigkeit  ge- 
prüft und  vor  allem  in  ihrem  Zusammenhang  mit  dem  deutschen  Charakter 
untersucht  werden. 

Festzustellen  gilt,  ob  und  wo  fremde  Einflüsse  anfangen,  sich  geltend 
zu  machen,  und  ob  diese  fremden  Erscheinungen  aufgelöst  und  in  den  Or- 
ganismus aufgenommen  wurden  oder  Fremdkörper  blieben. 

Die  Entwicklung,  die  nach  dem  Zusammenstoß  mit  dem  lateinischen 
Christentum  einsetzt,  ist  in  ihrem   Kulturzusammenhang  zu  untersuchen 


^)  Trotz  seiner  sonstigen  Vorurteilslosigkeit  gegen  die  Tradition  kommt  auch  Saran 
von  dem  Grundirrtum  nicht  los,  im  Deutschen  eine  rhythmische  Form  neben  und  entgegen 
der  natürlichen  Sprachbetonung  anzunehmen. 


Klassische  Metrik,  deutsche  Rhythmik  und  deutsche  Kultur.  153 

und  als  Niedergang  zu  kennzeichnen i).  Der  Sieg  des  römischen  Christen- 
tums ist  wie  auf  den  anderen  Kulturgebieten  (Religion!)  sicher  nicht  ohne 
heftigen  Widerstand  des  deutschen  Elementes  erreicht  worden.  Die  geschicht- 
lichen Erkenntnisse,  die  wir  hier  —  auch  erst  in  der  allerletzten  Zeit  —  ge- 
winnen, sind  zu  verwerten. 

Die  Bestrebungen  von  Opitz  und  Klopstock  sind  in  ihrer  Bedeutung 
ebenfalls  in  den  Zusammenhang  mit  dem  deutschen  Kulturgesetz  zu  stellen. 

Die  Betrachtung  der  Dichtkunst  der  Gegenwart  ist  von  den  klassischen 
Fesseln  völlig  zu  befreien  und  von  der  neu  gewonnenen  Grundlage  aus  durch- 
zuarbeiten.   Eine  Riesenaufgabe,  die  bisher  kaum  berührt  ist. 

Soweit  die  geschichtliche  Entwicklung.  An  Einzelproblemen  harren 
einer  neuen  Lösung  etwa  folgende  2): 

Der  Begriff  des  Versfußes  —  von  Anfang  der  Hebung  bis  zum  Anfang 
der  Hebung  —  ist  nach  allen  Seiten  hin  und  in  allen  seinen  Beziehungen 
zu  untersuchen.  Steht  die  Füllung  der  Senkung  in  irgendeiner  Beziehung 
zu  einem  Gewicht  des  ganzen  Fußes? 

Beispielsweise:  entspricht  einem  schweren  Wort  in  der  Senkung  (das 
Meer  rauscht  laut)  an  Gewicht  mehreren  leichten  Worten  (das  Meer,  das 
in  der  Tiefe  klagt).  Ebenso:  stehen  Hebung  und  Senkung  in  einem  be- 
stimmten Gewichtsverhältnis?  Auch  die  Bedeutung  der  Senkungsstille  ge- 
hört hierher.    Das  Meer  glänzt  weit  —  still  liegt  der  Strand. 

(Die  Ausdrücke  „schwere"  und  „leichte"  Versfüllung  [Kaufmann] 
werden  sich  in  ihrer  alten  Bedeutung  nicht  aufrecht  erhalten  lassen,  da  leicht 
und  schwer  nicht  auf  das  Gewicht,  sondern  auf  die  Anzahl  der  Füllungs- 
silben bezogen  wurden.)  Die  Theorie  der  Nebenhebungen  ist  noch  einmal 
auf  ihre  Berechtigung  zu  prüfen. 

Ein  bisher  völlig^)  übersehenes  Problem  birgt  der  Begriff  des  Gewichtes. 
Ist  die  Bestimmung  der  Schwere  lediglich  vom  Gedankeninhalt  abhängig 
oder  spielt  vielleicht  nicht  auch  das  Lautgewicht  irgendeine  Rolle.  So  ist 
das  stets  kurz  bleibende  Wort  Schmelz  außerordentlich  lautschwer.  Hat 
neben  der  Sinnschwere  auch  die  Lautschwere  im  Rhythmus  irgendeine  Be- 
deutung?   So:  besteht  ein  rhythmischer  Unterschied  zwischen  den  Zeilen 

und  durch  die  Stüle  rauscht  das  Meer. 
und  ob  in  der  Tiefe  lockt  das  Meer.  —  ? 

„rauscht"  ist  wesentlich  lautschwerer  als  „lockt",  und  in  der  zweitenZeile  ist 
das  lautschwerere  Wort  „durch"  durch  zwei  lautleichtere  ersetzt.  Trägt 
die  Lautschwere  des  „rauscht"  dazu  bei,  die  erste  Zeile  vielleicht  eher  als 


1)  Auch  Saran  hat  die  Schwäche  der  Fachwissenschaftler.  Er  ist  Nur-Metriker  und 
nicht  zugleich  auch  Geschichtler.  Die  kulturgeschichtlichen  Zusammenhänge  sollten  aber 
hier,  wie  überall  den  Ausgangspunkt  bilden. 

2)  Teilweise  ist  Saran  an  sie  schon  herangegangen,  weil  er  hier  Probleme  sah,  über  die 
man  bisher  fortging.  Eine  richtige  Formung  dieser  Probleme  ist  aber  erst  möglich,  wenn 
man  die  kulturgeschichtlichen  Zusammenhänge  sucht. 

')  Saran  bildet  eine  Ausnahme. 


154  Niedlich, 

Dreiheber  zu  lesen?  Anreiz  zu  rhythmischer  Untersuchung  bietet  auch  eine 
Verszeile  wie 

„eintönig  um  die  Stadt" 
oder:  „der  Wald  rauscht  wild,  stöhnt  bang  und  weh" 
wo  auf  den  lautleichten  Wörtern  die  Sinnschwere  liegt  und  schon  durch  den 
Rhythmus  der  Eindruck  eines  seufzenden  Atmens  erreicht  wird. 

Für  das  nhd.  scheint  mir  eine  Bedeutung  der  Lautschwere  sicher.  Wie 
weit  sie  zurückreicht,  wäre  festzustellen.  Im  nhd.  kommen  etwa  noch  folgende 
Probleme  in  Frage:  Die  gedankliche  Grundlage  der  verschiedenen  Be- 
tonung zusammengesetzter  Wörter  (aufnehmen,  entsagen).  Ich  vermute 
auch  hier  noch  einen  tieferen  Grund  als  den  lediglich  äußerlichen  der  Trenn- 
barkeit (vgl.  die  Eigenschaftswörter  unfreundlich  —  unsagbar). 

Überall  sind  die  Beziehungen  zur  künstlerischen  Wirkung  klarzulegen. 

Und  alles  das  zu  einer  Entwicklungsgeschichte  von  Problemen  verbunden ! 
Es  tut  sich  also  ein  weites  Gefilde  auf,  das  zu  erforschen  ist. 

Neben  dieser  rhythmischen  Aufgabe  harrt  noch  die  Geschichte  des  Reimes 
und  die  Frage  seiner  Verinnerlichung  (Germanisierung)  einer  neuen  Lösung. 
Auch  die  Strophenentwicklung  entbehrt  vielleicht  nicht  ganz  eines  inner- 
lichen Zusammenhangs  mit  deutschem  Wesen. 

Zum  Schluß  seien  noch  kurz  zwei  der  wesentlichsten  Ursachen  berührt, 
die  es  möglich  machten,  daß  die  Sprache  bis  heute  in  fremden  Füttern  herum- 
gehen muß,  und  niemand  den  eigenen  Schmuck  erkannte,  den  sie  unter  dem 
fremden  Gewände  trug.  Daß  Opitz  und  vor  allem  Klopstock  und  die  klassische 
Zeit  nicht  weiter  kamen,  daran  trägt  große  Schuld  der  deutsche  Humanis- 
mus, der  die  Köpfe  sich  nach  anderen  Zielen  abwenden  ließ.  Hatte  anfangs 
das  Lateinchristentum  den  Germanen  Verleugnung  ihres  eignen  Wesens 
aufgezwungen,  so  verwirrte  ein  Jahrtausend  später  der  Humanismus  das 
deutsche  Gefühl.  Und  diese  Verwirrung  spürt  sich  in  ihren  Folgen  auch 
heute  noch  überall  (siehe  vorn  den  Begriff  „schön").  Liegt  im  Begriff  des 
Humanismus  als  Ideal  das  griechische  Altertum,  so  ist  der  erste  Humanis- 
mus im  wesentlichen  am  äußerlichen  hängen  geblieben :  an  der  Nachahmung 
der  äußern  Form  Muellerus,  Melanchthon  u.  a.). 

Der  Neuhumanismus  faßt  seinen  eigenen  Begriff  innerlicher  (deutsches 
Kulturgesetz!):  der  Geist  des  klassischen  Altertums  trat  in  den  Vordergrund. 
Und  doch  wurde  ein  Wesentlichstes  dieses  Geistes  nicht  erfaßt.  Eine  der 
wesentlichsten  Grundlagen  griechischer  Kultur  bildet  alles  Völkische. 
Keine  andere  Kultur  ist  so  ganz  aus  dem  Volkscharakter  herausgewachsen 
als  gerade  die  griechische.  Der  Kampf,  der  heute  im  Volke  sich  gegen  die 
humanistische  Erziehnng  allenthalben  so  gesteigert  hat,  ist  nicht  immer  un- 
gesund und  beruht  wohl  weniger  auf  dem  Gegensatz:  Realwissenschaft  — 
Geisteswissenschaft,  als  auf  dem  Gegensatz:  deutsch-klassisch.  Möge  einer 
dritten  Blüte  des  deutschen  Humanismus  die  Erkenntnis  beschieden  sein, 
daß  es  gerade  im  Gedanken  der  griechischen  Kultur  und  im  Begriff  eines 
richtig  verstandenen  Humanismus  liegt,  eine  eigene  deutsche  Kultur  zu 
schaffen  wie  die  Griechen  sich  ihre  eigene  schufen. 


Klassische  Metrik,  deutsche  Rhythmik  und  deutsche  Kultur.  155 

Aber  noch  eine  andere  Erscheinung  trat  in  den  letzten  Jahrzehnten 
hindernd  auf  den  Plan.  Die  Romantik  hatte  uns  den  Weg  zum  deutschen 
Altertum  freigemacht.  Vor  einigen  Jahrzehnten  gelangte  die  Wissenschaft 
in  den  Besitz  früher  nicht  geahnter  Mittel,  unsere  alte  Welt  von  dem  Schutt 
frei  zu  legen.  Seit  vielleicht  30,  sicher  seit  20  Jahren  ist  die  deutsche  Alter- 
tumsforschung (vor  allem  Kossinna)  zu  ganz  umwälzenden  Erkenntnissen 
über  altgermanisches  Leben  gekommen.  Die  Verbindung  der  Wissenschaften 
unter  sich  arbeitet  aber  so  schwerfällig,  daß  man  in  der  andern  Wissenschaft 
noch  jetzt  kaum  etwas  von  den  Ergebnissen  spürt.  Die  Geschichts-  wie  Kunst- 
und  Sprachwissenschaft  (und  ganz  besonders  die  Schulbücher!)  scheinen 
kaum  etwas  zu  wissen  von  der  Entdeckung  der  altgermanischen  Kulturwelt 
durch  die  deutsche  Altertumswissenschaft.  Überall  spukt  noch  die  alte  Ge- 
wohnheit, jedes  Stammeln  eines  Austrainegers  als  wertvollen  Beweis  einer 
Kulturhöhe  festzuhalten,  während  man  unseren  eigenen  Vorfahren  noch 
immer  nur  allenfalls  die  Kulturstufe  eines  Herero  zuerkennt.  Was  kann  aus 
Deutschland  Gutes  kommen! 

Wir  wundern  uns,  daß  die  Welt  am  deutschen  Wesen  nicht  genesen 
will.  Kann  ein  Blinder  einen  Blinden  leiten?  Und  kann  man  es  der  Welt 
übel  nehmen,  daß  sie  sich  nicht  Hütten  bauen  lassen  will  von  einem  Volk, 
das  in  seinem  eigenen  Daheim  nicht  zu  Hause  ist?  — 

Berlin-Friedrichsfelde.  Niedlich. 


FachwissenschaftHche  Didaktik  an  der  Universität 

Die  Erörterungen  über  die  Bedeutung  der  Pädagogik  an  der  Universität 
und  über  die  Ausgestaltung  der  zu  ihrem  fruchtbaren  Betrieb  wünschens- 
werten Einrichtungen  sind  im  gegenwärtigen  Zeitpunkt  sehr  lebhaft.  Die 
Aufrollung  der  Lehrerfrage,  die  gänzliche  Neugestaltung  insbesondere  der 
Ausbildung  der  Volksschullehrer,  nicht  minder  aber  auch  die  innere  und  äußere 
Umgestaltung  des  gesamten  Schulwesens  sind  der  Anlaß  für  das  starke  Hervor- 
treten der  Bestrebungen,  auch  an  den  Universitäten  mehr  Raum  für  die 
Pädagogik  zu  schaffen.  Dabei  überwiegen  nun  ganz  offensichtlich  die  Ver- 
treter einmal  einer  allgemeinen,  bald  mehr  historisch,  bald  mehr  ethisch 
gerichteten  Pädagogik,  andererseits  einer  exaktwissenschaftlich  arbeitenden 
psychologischen  Pädagogik.  Nicht  selten  wird  man  da  gefragt:  Sagen  Sie, 
was  ist  denn  nun  eigentlich  Didaktik,  fachwissenschaftliche  Didaktik,  also 
etwa  Didaktik  der  exakten  Wissenschaften?  Ich  möchte  im  folgenden  diese 
Frage  an  der  Hand  einer  Reihe  von  Beispielen,  die  ich  meinem  eigenen  Ar- 
beitsgebiet entsprechend  vorwiegend  den  exakten  Unterrichtsfächern  ent- 
nehme, zu  beantworten  und  gleichzeitig  nachzuweisen  versuchen,  daß  auch 
der  fachwissenschaftlichen  Didaktik  neben  der  allgemeinen  und  neben  der 
experimentellen  Pädagogik  ein  Arbeitsplatz  an  der  Universität  gehört. 

l. 

Irgendein  Unterrichtsstoff,  mag  man  dabei  nun  an  größere  Gebiete, 
etwa  die  Trigonometrie  oder  die  Mechanik,  oder  aber  an  kleinere  stoffliche 


156  Lietzmann, 

Einheiten,  etwa  einen  mathematischen  Satz,  ein  physikalisches  Gesetz, 
denken,  läßt  sich  in  der  Schule  in  mannigfachster  Weise  behandeln.  Auf- 
gabe der  Didaktik  ist  es,  die  verschiedenen  Möglichkeiten  zu  erörtern,  viel- 
leicht auch  an  der  Hand  gewisser  Grundsätze  manche  Unterrichtswege  ganz 
auszuschalten,  andere  stark  in  den  Vordergrund  zu  rücken.  Damit  die  Di- 
daktik zu  solcher  Aufgabe  befähigt  sei,  hat  sie  gewisse  Voraussetzungen 
zu  erfüllen,  in  wissenschaftlicher  und  in  pädagogischer  Hinsicht.  Von  ihnen 
hebe  ich  eine  Anzahl  hervor,  ohne  damit  vollständig  sein  zu  wollen. 

1.  Von  größter  Bedeutung  für  die  Beurteilung  der  Stoffgestaltung  auf 
der  Schule  ist  eine  Kenntnis  des  gegenwärtigen  Standpunktes  der  Wissen- 
schaften hinsichtlich  der  Grundlagen.  Wer  sich  über  den  Anfangsunterricht 
der  Geometrie  klar  werden  will,  der  muß  über  die  neueren  Ergebnisse  der 
geometrischen  Axiomatik  bescheid  wissen;  wer  die  verschiedenen  Verfahren 
bei  der  Einführung  des  Zahlbegriffes  gegeneinander  halten  will,  der  sollte 
von  der  Axiomatik  der  Arithmetik  und  von  der  Mengentheorie  wenigstens 
die  Grundzüge  kennen.  Was  bei  der  Einführung  der  Infinitesimalrechnung 
in  den  Unterricht  der  höheren  Schulen  nicht  wenig  geschadet  hat,  war  die 
Unkenntnis  über  die  grundlegenden  Begriffe  Funktion,  Grenze,  Konvergenz 
usf.  Noch  heute  krankt  der  Unterricht  in  der  Mechanik  daran,  daß  man 
die  Begriffe  Geschwindigkeit,  Beschleunigung,  Kraft,  Arbeit  u.  dgl.  nicht 
mit  der  auch  der  Schule  leicht  erreichbaren  Genauigkeit  anfaßt. 

2.  Von  den  für  den  Didaktiker  wichtigen  Ergebnissen  der  Forschung 
sind  neben  den  Grundlagen  besonders  jene  Untersuchungen  von  Bedeutung, 
bei  denen  es  sich  um  den  Nachweis  handelt,  daß  irgendwelche  scheinbar 
naheliegende  Probleme  nicht  lösbar  sind.  Man  wird  auf  der  Schule  nicht  den 
Nachweis  führen  wollen,  daß  die  Quadratur  des  Kreises  unmöglich  ist;  aber 
der  Mathematiklehrer  muß  diesen  Unmöglichkeitsbeweis  kennen.  Er  muß 
sich  immerfort  bei  den  Konstruktionsaufgaben  der  dem  euklidischen  Ver- 
fahren gesetzten  Grenzen  bewußt  bleiben.  Er  muß  von  den  Dehnschen 
Untersuchungen  über  die  Zerlegungsgleichheit  der  Polyeder  Kenntnis  haben, 
damit  er  die  Bedeutung  des  Cavalierischen  Grundsatzes  voll  einschätzt. 

3.  Es  ist  natürlich  selbstverständUch,  daß  jeder  Lehrer  diejenigen  Ge- 
biete unbedingt  beherrschen  muß,  die  er  nachher  lehren  soll.  Wenn  man  in 
England  darüber  lebhafte  Klage  geführt  hat,  daß  nur  ein  Teil  der  Mathe- 
matiker an  höheren  Schulen  den  Calculus,  die  Infinitesimalrechnung  also, 
studiert  hat,  so  ist  das  begreiflich;  bei  uns  werden  diese  Dinge  mit  Recht 
sogar  von  dem  schon  gefordert,  der  später  nur  auf  der  Unterstufe  unterrichtet. 
Aber  werden  sie  auch  von  dem  unbedingt  gefordert,  der  Mechanik  lehren 
soll?    Gibt  es  nicht  geradezu  eine  mathematikfeindliche  Physik? 

Doch  ich  will  nicht  weiter  sprechen  von  diesen,  wie  ich  meine,  selbst- 
verständlichen Dingen.  Es  gibt  nun  aber  eine  ganze  Menge  Gebiete  wissenschaft- 
licher Forschung,  die  zwar  nicht  selbst  unmittelbar  Gegenstand  der  Unter- 
weisung in  den  höheren  Schulen  werden  können,  die  aber  doch  so  innig  damit 
verknüpft  sind,  daß  der  Lehrer  sie  kennen  muß.  Erst  die  Funktionen- 
theorie beleuchtet  recht  klar  das  Verhalten  der  elementaren  Funktionen 


Fachwissenschaftliche  Didaktik  an  der  Universität.  157 

im  Reellen.  Wer  im  Unterricht  von  den  einfachsten  Lageverhältnissen  aus- 
zugehen hat,  sollte  doch  in  der  Analysis  Situs  erfahren  haben,  welche  allge- 
meineren Begriffsbildungen  hier  möglich  sind.  Die  Untersuchung  mehrdimen- 
sionaler Räume,  die  Vertrautheit  mit  nichteuklidischen  Geometrien  klärt 
erst  recht  die  Eigenheiten  des  dreidimentionalen  euklidischen  Raumes  auf. 
Die  Relativitätstheorie  muß  dem  Lehrer  bekannt  sein,  auch  wenn  er  sich 
nachher  in  der  Schule  ganz  an  die  klassische  Mechanik  halten  muß.  Von  den 
modernen  Anschauungen  über  die  Struktur  der  Materie,  von  Atombau  und 
Quantentheorie,  muß  der  Physiker  etwas  gehört  haben,  nicht  um  davon 
dann  eine  möglichst  große  Portion  seinen  Schülern  vorzusetzen,  sondern 
vielleicht  gerade  deshalb,  um  ihn  vor  der  Versuchung  zu  bewahren,  ihnen 
unverdaubare  Nahrung  zuzumuten. 

So  muß  der  Didaktiker  mitten  drin  stehen  im  lebendigen  Fluß  der  wissen- 
schaftlichen Forschung.  Aber  seine  Arbeit  hat  ein  doppeltes  Gesicht.  Wenn 
das  eine  sich  der  Fachwissenschaft  zugewandt  hält,  dann  das  andere  der 
Pädagogik. 

4.  Seine  Aufgabe  ist  es,  den  historischen  Werdegang  der  Schuldisziplin 
in  der  Weise  aufzudecken,  daß  er  den  Wegen  nachgeht,  wie  die  einzelnen 
Stoffgebiete,  die  einzelnen  Arbeitsmethoden  in  die  Schule  eingedrungen 
sind.  Er  darf  die  Planimetrie,  wie  sie  heute  gelehrt  wird,  nicht  als  etwas 
einfach  vorhandenes,  er  muß  sie  als  allmählich  gewordenes  betrachten.  Er 
hat  zu  untersuchen,  wie  weit  noch  Euklid  mächtig  ist,  welche  neuen  Gedanken 
in  die  Geometrie  der  Alten  eingedrungen  sind,  woher  etwa  die  Symmetrie- 
betrachtungen stammen.  Das  gilt  mit  gleichem  Recht  von  Stoffen,  die  nicht 
das  ehrwürdige  Alter  euklidischer  Geometrie  haben.  In  der  Kegelschnitt- 
lehre unserer  Schulen  begegnen  sich  die  Arbeitsergebnisse  von  ApoUonius, 
Pascal,  Desargues,  Descartes  bis  hin  zu  Steiner  und  v.  Staudt.  Ein  genaues 
Studium  des  Eindringens  der  Lehre  von  der  Dampfmaschine  in  unsere  Physik- 
bücher, oder  aber  etwa  der  Meteorologie  wird  unmittelbar  wertvolle  Finger- 
zeige für  fruchtbare  Kritik  liefern.  So  ergibt  sich  für  die  Didaktik  die  Zu- 
sammenarbeit mit  der  Geschichte  der  Wissenschaft  und  gleichzeitig  mit 
der  Geschichte  der  Pädagogik. 

5.  Diesen  Längsschnitten  möchte  ich  die  Querschnitte  durch  das  Schul- 
wesen von  heute  zur  Seite  stellen.  Bei  den  Arbeiten  der  Internationalen 
Mathematischen  Unterrichtskommission  (IMUK)  hat  es  sich  herausgestellt, 
wie  wenig  wir  doch  eigentlich  von  Stoff  und  Methode  eines  einzelnen  Unter- 
richtsfackes  wußten,  wenn  wir  etwas  mehr  als  oberflächliche  Zusammenstellung 
verlangten.  Das  gilt  bereits,  wenn  wir  den  Blick  auf  unsere  deutschen  Ver- 
hältnisse beschränken.  Es  ist  fast  allgemeinSitte,so  zu  tun,  als  ob  es  inDeutsch- 
land nur  die  preußischen  Verhältnisse  gibt ;  vielleicht  hält  man  noch  den  einen 
oder  anderen  süddeutschen  Staat  daneben.  Aber  eine  wirklich  sorgfältige 
vergleichende  Didaktik  für  alle  deutschen  Staaten  gab  es  nicht,  geschweige 
denn  eine  solche  für  die  wichtigeren  Kulturländer  neben  Deutschland.  Was 
jetzt  die  IMUK  für  den  mathematischen  Unterricht  geschaffen  hat,  gibt 
es   meines   Wissens  für  kein  anderes   Fach.    Und   doch  weiß   man,  wenn 


158  Lietzmann, 

man  näher  zusieht,  daß  auch  hier  noch  unendHch  viel  zu  tun  ist.  Ich  habe 
in  meinen  Übungen  an  der  Universität  Göttingen  im  letzten  Semester  an  der 
Hand  von  Schulbüchern  die  Art  und  Weise  studieren  lassen,  wie  in  den  ver- 
schiedenen Ländern  der  geometrische  Anfangsunterricht  gestaltet  wird. 
Da  standen  die  Ideen  des  Engländers  Perry,  der  rein  anschaulich  vorgeht, 
im  Gegensatz  zur  altenglischen  Schule,  die  sich  mehr  oder  weniger  eng  an 
Euklids  Elemente  anschließt;  da  traten  in  Italien  neben  die  Vervollständiger 
Euklids  wie  Faifofer  und  d'Ovidio  die  modernen  Axiomatiker  wie  Veronese 
und  Ingrami  mit  ihren  Schulbüchern ;  da  wurden  die  Versuche  mit  einer  Fusion 
von  Planimetrie  und  Stereometrie,  wie  wir  sie  von  de  Paoli  und  Lazzeri- 
Bassani  kennen,  besprochen;  da  kamen  die  Axiomatiker  des  Bewegungs- 
begriffes zu  Wort,  wie  der  Franzose  Meray.  Und  das  alles  wurde  herangezogen, 
um  auf  diesem  gestaltenreichen  Hintergrunde  unsere  deutschen  Schulmethoden 
zu  beleuchten.  Allerdings  sind,  um  solche  Dinge  treiben  zu  können,  Schul- 
büchersammlungen nötig,  die  unseren  landläufigen  Bibliotheken  zumeist 
fehlen;  ich  kenne  außer  dem  mathematischen  Lesezimmer  in  Göttingen 
nur  drei  Stellen  in  Deutschland,  die  ausreichende  Hilfe  wenigstens  für  die 
deutsche  Literatur  leisten  können:  die  dem  Zentralinstitut  angegliederte 
Auskunftsstelle  in  Berlin,  die  Bibliothek  des  Deutschen  Lehrervereins  im 
Lehrerhaus  in  Berlin  und  die  Comeniusbücherei. 

6.  Enge  Beziehungen  wird  der  Fachdidaktiker  aufrecht  zu  halten  haben 
mit  der  experimentellen  Psychologie.  Freilich  ist  das  Material,  das  der  Psycho- 
loge über  den  Anfangsunterricht  hinaus  bisher  geliefert  hat,  recht  gering- 
fügig. Wer  z.  B.  an  der  Hand  der  IMUK-Abhandlung  von  Katz  feststellt, 
was  an  positiven  Ergebnissen  für  den  mathematischen  Unterricht  bisher 
aus  der  experimentellen  Forschung  herausgesprungen  ist,  der  wird  enttäuscht 
sein.  Vielleicht  wird  einmal  eine  Zeit  kommen,  in  der  die  exakten  Methoden 
des  Versuches  das  Ganze  des  Unterrichts  durchleuchten;  dann  wird  der  Di- 
daktiker überflüssig  sein  neben  dem  Psychologen.  Heute  aber  sind  wir  noch 
unendlich  weit  entfernt  davon.  Selbst  scheinbar  ganz  einfache  Fragestellungen 
harren  noch  einwandfreier  Beantwortung.  Etwa:  Welches  Verfahren  ist 
zweckmäßiger,  das  süddeutsche  (oder  österreichische)  oder  das  norddeutsche 
Verfahren  der  Subtraktion,  der  Division?  Hier  steht  noch  heute  Meinung 
gegen  Meinung. 

Man  weiß,  wie  sehr  die  Begabungserforschung  mit  Hilfe  von  Tests  um- 
stritten ist.  Das  Axiom  von  der  mathematischen  Sonderbeanlagung  oder 
aber  die  Behauptung,  daß  das  weibliche  Geschlecht  für  die  exakten  Wissen- 
schaften weniger  beanlagt  sei  wie  das  männliche,  harren  noch  einer  einwand- 
freien experimentell-psychologischen  Untersuchung. 

Aber  andererseits  darf  man  den  Wert  der  psychologischen  Forschung 
auch  nicht  zu  gering  einschätzen.  Welche  Bedeutung  hat  z.  B.  die  Lehre 
von  den  drei  Vorstellungstypen  für  den  Unterricht  in  der  Mathematik  und 
in  den  Naturwissenschaften!  Wie  greifen  die  ganz  neuen  Untersuchungen 
über  Eidetiker  in  die  Didaktik  ein!  So  ist  auf  eine  verständige  Zusammen- 
arbeit des  Didaktikers  mit  dem  experimentellen  Pädagogen  zu  dringen. 


Fachwissenschaftliche  Didaktik  an  der  Universität.  159 

7.  Engste  Fühlung  muß  der  Didaktiker  behalten  mit  dem  praktischen 
Unterricht.  Es  ist  eine  Unmöglichkeit,  ihn  aus  der  Unterrichtstätigkeit 
herauszureißen,  dann  würde  man  ihn  der  Wurzeln  seiner  Kraft  berauben. 
So  sehr  vergleichende  didaktische  Betrachtungen,  so  sehr  experimentelle 
Untersuchungen  bei  Fragen  wie  etwa  den  praktischen  Schülerübungen  in 
Physik,  Chemie,  Biologie,  Mathematik  von  Wert  sein  können,  letzten  Endes 
entscheidend  ist,  daß  der  Didaktiker  selbst  einmal  mit  seinen  Schülern  solche 
Übungen  betrieben  hat.  Wer  für  die  Einführung  des  Funktionsbegriffes 
oder  der  Infinitesimalrechnung  an  den  höheren  Schulen  begründete  Urteile 
über  die  verschiedenen  dabei  angängigen  Wege  abgeben  will,  der  muß  aus 
eigenen  Unterrichtserfahrungen  schöpfen  können.  Daher  muß  die  Didaktik 
den  Zusammenhang  mit  der  Schule  unbedingt  wahren.  Ein  typisches  Bei- 
spiel, wohin  Konstruktionen  ohne  praktische  Unterlagen  führen,  sind  jene 
Bestrebungen  in  Italien,  Planimetrie  und  Stereometrie  von  vornherein  mit- 
einander zu  verbinden.  Diese  Fusion  hat  so  viel  verlockendes,  daß  noch  heute 
jeder,  der  von  ihr  zum  ersten  Male  hört,  von  ihr  eingenommen  zu  sein  pflegt. 
Und  doch  hat  sie  sich  nachher  in  der  systematischen  Form,  wie  sie  z.  B.  in 
italienischen  Lehrbüchern  durchgeführt  wurde,  so  wenig  bewährt,  daß  man 
fast  überall  von  ihr  wieder  abgekommen  ist.  Erst  jetzt,  nachdem  man 
praktische  Versuche  mit  einer  gemäßigten  Fusion  gemacht  hat,  kommen 
die  richtigen  Gedanken  allmählich  zur  Geltung. 

II. 

Daß  didaktische  Ausbildung  der  zukünftigen  Lehrer  nötig  ist,  darüber 
herrscht  wohl  kein  Streit.  Sie  fehlte  auch  durchaus  nicht  im  Bildungsgange 
des  Oberlehrers  ebensowenig  wie  des  Volksschullehrers.  Der  eine  sollte  im 
Seminarjahr,  der  andere  im  letzten  Jahre  auf  der  Lehrerbildungsanstalt 
didaktisch  ausgebildet  werden.  Die  Lehrerbildungsanstalten  alten  Stils 
werden  fortfallen.  Daß  gegen  die  didaktische  Ausbildung  während  des  Semi- 
narjahres mancherlei  zu  sagen  ist,  ist  bekannt.  Der  Gedanke,  Fachseminare 
zu  schaffen,  war  gut,  drang  aber  nicht  durch.  Jedenfalls  legt  die  Neuordnung 
der  LehrerbÜdung  eine  Erörterung  der  Frage  nahe,  wo  die  didaktische  Aus- 
bildung erfolgen  soll.  Ich  möchte  dazu  wenigstens  einige  Bemerkungen  machen. 

1.  Das,  worauf  es  letzten  Endes  bei  der  methodischen  Unterweisung 
des  Lehrers  ankommt,  ist  die  Erziehung  zu  bewußt  didaktischer  Arbeit. 
Er  muß  zunächst  lernen,  die  didaktischen  Probleme  zu  sehen.  Er  soll  dann 
befähigt  sein,  selbst  zu  entscheiden,  welchen  Weg  von  vielen  möglichen 
er  geht^).  Gewiß  findet  dieser  oder  jener  auch  instinktiv  den  rechten  Weg. 
Aber  auch  diesen  begnadeten  Künstlern  schadet  es  nichts,  wenn  sie  bewußt 
ihren  Weg  gehen.  So  kommt  also  die  Didaktik  so  recht  zur  Geltung  erst  da, 


1)  Der  Gefahr,  Rezeptsammlungen  an  Stelle  solcher  Erziehung  zu  geben,  unterliegt 
jeder,  der  eine  „Methodik*  oder  „Anleitung"  schreibt.  Meine  Methodik  des  mathema- 
tischen Unterrichts  (Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  2  Bd.,  1916  u.  1919)  versucht  eine  Lösung 
der  oben  gestellten  Aufgbe  für  den  mathematischen  Unterricht  zu  geben. 


1 60  Lletzmann, 

WO  man  eigene  Wege  zu  gehen  in  der  Lage  ist.  Dazu  genügt  es  nicht,  daß  man 
dies  und  das  über  die  Schule  hört  und  es  aus  der  eigenen  Schulerinnerung 
ergänzt,  es  reicht  auch  nicht  hin,  daß  man  an  einer  Übungsschule  ein  paar 
Stunden  gibt,  vielleicht  noch  im  Beisein  von  soundso  vielen  anderen  Leuten, 
Man  muß  vielmehr  unter  eigener  Verantwortung  allein  längeren  Unterricht 
erteilen.  Die  didaktische  Ausbildung  erreicht  also  ihren  Höhepunkt  un- 
zweifelhaft erst  im  praktischen  Unterricht;  und  sie  hört  nicht  auf,  oder  sollte 
doch  nicht  aufhören,  so  lange  der  Lehrer  sein  Amt  versieht. 

2.  Wenn  daraus  nun  aber  gefolgert  wird :  also  gehört  die  Didaktik  über- 
haupt nicht  an  die  Hochschule,  sie  ist  Unterrichtstechnik  und  als  solche 
keine  Wissenschaft,  so  ist  dieser  Schluß  falsch,  ebenso  wie  er  für  die  Medizin 
falsch  wäre.  Die  Didaktik,  die,  wie  wir  gesehen  haben,  historisch  und  fach- 
wissenschaftlich fundiert  ist,  ist  nicht  weniger  Wissenschaft  als  die  historisch 
oder  ethisch  fundierte  Pädagogik.  Daß  aber  der  Pädagoge  oder  auch  der 
Psychologe  die  Didaktik  der  einzelnen  Fachgruppen  mit  in  sein  Lehrprogramm 
aufnehmen  könnte,  wird  sich  im  allgemeinen  nicht  ermöglichen  lassen.  Zu 
einem  allseitig  ausgebauten  pädagogischen  Institut,  mag  man  es  nun  einer 
philosophischen  Fakultät  eingliedern  oder  es  zu  einer  eigenen  pädagogischen 
Fakultät  gestalten  oder  gar  als  Mittelpunkt  einer  pädagogischen  Akademie 
denken,  gehört  auch  die  Berücksichtigung  der  Didaktik.  Und  welches  sind 
ihre  Aufgaben? 

3.  Es  ist  ja  behauptet  worden,  der  zur  Universität  kommende  zukünftige 
Lehrer  habe  noch  kein  Interesse  an  pädagogischen  Fragen,  ihn  verlange 
zunächst  nach  der  reinen  Wissenschaft.  Demgegenüber  soll,  ohne  daß  wir 
in  die  weitere  Untersuchung  dieser  Frage  eintreten,  nur  gesagt  werden, 
daß  der  Platz  für  die  didaktischen  Studien  nicht  der  Anfang,  sondern  das 
Ende  der  Studienzeit  ist,  denn  die  Didaktik  setzt  bereits  fachwissenschaft- 
liche Kenntnisse  voraus.  Wenn  aber  der  Studierende  in  einer  Zeit,  die  dem 
Eintritt  in  den  praktischen  Beruf  nun  schon  recht  nahe  liegt,  noch  keinen 
Anteil  an  seiner  zukünftigenLebenstätigkeit  nimmt,  dann  bleibe  er  demLehrer- 
beruf  fern.  Die  Überfüllung  und  die  schlechten  Anstellungsbedingungen 
sprechen  ja  auch  ihrerseits  dafür,  daß  der  Lehrerberuf  als  Nur-Brotberuf 
gemieden  wird.  Für  diejenigen  aber,  die  Lehrer  werden,  wird  die  fachwissen- 
schaftliche Didaktik  jene  verhängnisvolle  Kluft  zu  schließen  helfen,  die  noch 
immer  zwischen  Studium  und  Beruf  klafft. 

4.  Man  hat  schon  seit  längerer  Zeit  erkannt,  daß  der  Fortbildung  der 
Lehrer  weit  mehr  Beachtujig  zu  schenken  ist,  als  das  seither  geschehen  ist. 
Man  hatte  bereits  sogenannte  Ferienkurse,  es  sollte  kurz  vor  dem  Kriege 
ein  Versuch  mit  dem  oft  geforderten  Studiensemester  gemacht  werden. 
Die  enge  Beziehung  der  Didaktik  zur  Wissenschaft,  auf  die  ich  im  Eingang 
hinwies,  läßt  ja  ohne  weiteres  erkennen,  daß  derjenige  Lehrer,  der  der  Wissen- 
schaft Jahrzehnte  hindurch  fernbleibt,  unbedingt  didaktisch  verkümmern 
muß.  Auch  für  die  Fortbildung  der  Lehrer  brauchen  wir  fachwissenschaft- 
liche Didaktik  an  unseren  Hochschulen. 


Fachwissenschaftliche  Didakiik  an  der  Universität.  161 

5.  Wer  der  Didaktik  den  Rang  einer  Wissenschaft  zugesteht,  der  wird 
schließlich  auch  einen  Platz  fordern  müssen,  an  dem  die  Forschung  äußerlich 
lokalisiert  ist.  Der  Fortschritt  in  der  Didaktik  geschieht  heute  fast  ausschließ- 
lich durch  die  didaktischen  Fachzeitschriften  und  die  didaktische  Lehrbuch- 
literatur ;  das  gesprochene  Wort  spielt  neben  dem  Buchstaben  kaum  eine  Rolle. 
Wer  das  Schulwesen  kennt,  der  wird  im  Zweifel  sein,  ob  nicht  trotz  allem 
noch  mehr  diesen  Fortschritten  in  der  Didaktik  der  Einzelfächer  als  den- 
jenigen der  allgemeinen  Pädagogik  die  Weiterentwicklung  der  höheren  Schulen 
und  auch  der  Volksschulen  zuzuschreiben  ist.  Und  doch  waren  die  Vor- 
bedingungen für  die  Forschungsarbeit  der  Didaktik  so  ungünstig  wie  nur 
irgend  möglich. 

Eine  Gefahr  allerdings  darf  nicht  verkannt  werden.  Die  Fachdidaktik 
unterstützt  in  gewissem  Grade  die  Zerklüftung  unseres  Schulwesens  in  einzelne 
Fächer.  Ein  Überwuchern  der  allgemeinen  Pädagogik  durch  die  verschiedenen 
Fachdidaktiken  wäre  gewißlich  ein  Unglück  für  unser  Schulwesen.  Aber 
das  steht  wirklich  nicht  zu  befürchten,  für  die  Gegenwart  schon  aus  per- 
sönlichen Gründen  nicht  1  Und  auch  eine  stärkere  Abtrennung  der  verschie- 
denen Fachdisziplinen  voneinander  wird  gegenstandslos,  wenn  das  einzelne 
Wissenschaftsfach  seine  Interessen  nicht  nur  in  seinem  eigenen  Unterrichts- 
fach, sondern  in  möglichst  vielen  Nachbarfächern  mitsieht.  Wie  der  Historiker 
nicht  nur  an  dem  Lehrfach  Geschichte,  sondern  mit  der  Kirchengeschichte 
auch  an  der  Religion,  mit  seiner  Quellenforschung  an  den  alten  und  neuen 
Sprachen,  mit  der  Wissenschaftsgeschichte  an  den  Naturwissenschaften 
und  der  Mathematik,  mit  der  Kunstgeschichte  am  Zeichenunterricht,  mit 
der  Literaturgeschichte,  der  Kulturgeschichte  am  Deutschunterricht  be- 
teiligt ist,  so  sollte  jedes  Wissensfach  sich  sein  Arbeitsgebiet  in  der  Gesamt- 
heit der  Schulfächer  suchen.  Eine  solche  Verzahnung  der  Unterrichtsgebiete 
macht  einen  Zerfall  der  Schule  in  ein  Nebeneinander  von  Kursen  zur  Un- 
möglichkeit; im  Gegenteil  gewährleistet  sie  den  Zusammenhang  des  Ganzen. 
Schon  immer  hat  man  Fächer,  die  solche  Verzahnungsmöglichkeiten  am  besten 
bieten,  wie  etwa  die  philosophische  Propädeutik,  als  ganz  besonders  wert- 
voll für  den  Schulorganismus  hingestellt. 

Göttingen.  W.  Lietzmann. 

Die  Schicksalsfrage  des  deutschen  Volkes  und  die  höhere  Schule. 

Selbst  wenn  unserem  Lande  der  unselige  Krieg  und  der  darauffolgende 
furchtbare  Zusammenbruch  erspart  geblieben  wäre,  war  es  schon  seit  längerer 
Zeit  von  einem  Schaden  befallen,  der  seinen  Untergang  herbeiführen  muß, 
wenn  nicht  in  letzter  Stunde  das  Volksgewissen  gegen  diese  Gefahr  wach- 
gerüttelt wird:  das  Sinken  der  Vermehrungsziffer.  Diese  Erscheinung 
konnte  und  kann  durch  die  in  den  letzten  Jahrzehnten  (natürlich  die  Zeit 
vor  dem  Krieg  gedacht)  erzielte  Verlängerung  des  durchschnittlichen  Lebens- 
alters nur  verdeckt  werden  und  zwar  bloß  bis  zu  einem  geringen  Grade. 
Die  Lebensverlängerung  kann  über  einen  gewissen  endlichen  Wert  nie  hinaus- 
gehen, dagegen  kann  die  Geburtenzahl  schließlich  =  0  werden,  und  wenn 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  11 


162  L,.  Trinkwalter, 

sie  diesen  untersten  Wert  auch  nicht  erreicht,  so  bedeutet  ein  dauerndes 
Sinken  der  Geburtenziffer  den  unvermeidlichen  Untergang ;  ein  dem  dauernden 
Geburtenrückgang  verfallenes  Volk  wird  von  frischeren  lebenskräftigeren 
Völkern  abgelöst  werden  und  vom  Schauplatz  der  Geschichte  verschwinden. 

Schädigt  diese  Erscheinung  das  deutsche  Volk  hauptsächlich  quantitativ, 
beschneidet  sie  die  Volkszahl,  so  tritt  noch  eine  zweite  Erscheinung  hinzu, 
die  weniger  beachtet,  aber  nicht  minder  verhängnisvoll  ist,  das  allmähliche 
Sinken  der  Rassetüchtigkeit,  wobei  wir  als  Rasse  nicht  den  systematischen 
Begriff  der  Subspezies,  sondern  den  gesamten  Volkskörper  verstehen.  Das 
deutsche  Volk  zeigt  wie  übrigens  auch  die  anderen  westlichen  Kulturvölker 
deutliche  Entartungserscheinungen. 

Zum  Verständnis  muß  ich  von  den  Ergebnissen  der  Vererbungslehre 
ausgehen.  Jedes  organische  Wesen  besteht  demnach  in  seiner  Gesamterschei- 
nung aus  zwei  Komponenten,  den  primären  oder  wesentlichen  Erbwerten, 
dem  Genotyp,  und  den  sekundären  Werten,  der  Erscheinungsform  oder 
dem  Phänotyp.  Nur  die  ersteren  sind  durch  Verbindung  der  in  den  mütter- 
lichen und  väterlichen  Geschlechtszellen  vorhandenen  Erbanlagen  entstanden 
und  sind  weiter  vererbbar,  sie  sind  gewissermaßen  wurzelecht.  Der  Phänotyp 
ist  im  individuellen  Leben  durch  die  Einflüsse  der  Umwelt,  also  beim  Menschen 
etwa  durch  Ernährung,  Pflege,  Erziehung,  Belehrung  erworben.  Er  haftet 
dem  Individuum  als  etwas  Äußerliches  an  und  ist  nicht  vererbbar.  Vererb- 
bar sind,  wenn  sie  genotypisch  sind,  nicht  nur  im  rassehygienischen  Sinn 
gute  Eigenschaften  des  Leibes,  Geistes  und  Willens,  sondern  auch  schlechte: 
geringe  Widerstandskraft  gegen  manche  Krankheiten,  Mißbildungen,  Geistes- 
krankheiten, Neigung  zu  Verbrechen  u.  a.  Jedenfalls  hängt  die  Rassetüchtig- 
keit eines  Individuums  ganz  von  den  Erbanlagen  ab,  die  es  durch  die  elter- 
lichen Geschlechtszellen  erhielt.  Und  da  durch  Vereinigung  der  Geschlechts- 
zellen andauernd  neue  Kombinationen  der  Erbanlagen  erzielt  werden,  und 
da  ferner  mit  jedem  Todesfall  die  Erbwerte  des  betreffenden  Individuums 
wegfallen,  so  ist  klar,  daß  mit  jeder  Geburt,  mit  jedem  Todesfall  die  ge- 
samte Erbverfassung  eines  Volkskörpers  eine  Änderung  erfährt.  Damit 
ist  von  vornherein  die  Möglichkeit  gegeben,  daß  ein  Volkskörper  sich  nach 
oben  oder  nach  unten  hin  entwickelt,  nach  oben,  wenn  die  mit  guten  Erb- 
anlagen behafteten  Elemente  stärker  sich  fortpflanzen,  nach  unten,  wenn 
die  Vermehrung  der  unterdurchschnittlichen  Elemente  die  stärkere  ist. 

Hätten  wir  nun  ein  sicheres  Maß  für  den  durch  seine  Erbanlagen  be- 
stimmten Rassewert  eines  Individuums,  so  könnten  wir  die  Verbesserung 
bzw.  Verschlechterung  einer  Rasse  mathematisch  genau  verfolgen.  So  weit 
sind  wir  aber  leider  noch  nicht.  Die  möglichst  genaue  Ermittlung  des  Rasse- 
werts eines  Individuums  ist  ein  Ziel  der  auf  Ertüchtigung  des  Volkskörpers 
gerichteten  Bestrebungen.  Sie  kann  aber  erst  auf  Grund  systematischer 
über  das  ganze  Volk  und  über  einen  langen  Zeitraum  sich  erstreckender  Be- 
obachtungen erfolgen.  Wir  sind  daher  darauf  angewiesen,  einstweilen  als 
ungefähres  Maß  für  die  Rassetüchtigkeit  eines  Menschen  seine  soziale  Stellung 
zu  betrachten,  aber  auch  nur  als  ungefähres  Maß.   Denn  zweifellos  gibt  es 


Die  Schicksalsfrage  des  deutschen  Volle  es  und  die  höhere  Schule.  163 

in  den  sog.  unteren  Schichten  auch  viele  im  rassehygienischen  Sinn  gut  ver- 
anlagte Individuen,  bei  denen  gute  primäre  Anlagen  infolge  ungünstiger 
äußerer  Verhältnisse  nicht  zur  Entfaltung  kommen.  Umgekehrt  finden  sich 
auch  in  den  höheren  Schichten  Elemente,  die  an  geistigen,  moralischen, 
körperlichen  Eigenschaften  unter  dem  Durchschnitt  stehen,  bei  denen  aber 
durch  die  Gunst  äußerer  Faktoren :  Besitz,  Erziehung,  Pflege  u.  a.  ein  Wert 
vorgetäuscht  wird,  der  nur  phänotypisch,  gewissermaßen  angeflogen  ist, 
und  der  dem  Rassewert  des  Individuums  nicht  entspricht.  Aber  im  ganzen 
genommen  spielen  die  Fälle,  in  denen  sich  ungünstige  Erbanlagen  zu  höheren 
sozialen  Schichten  emporarbeiten  oder  sich  in  solchen  längere  Zeit  erhalten, 
wohl  eine  nebensächliche  Rolle.  Im  allgemeinen  verdanken  die  meisten 
Menschen,  die  in  sozial  höhere  Schichten  kommen  oder  sich  darin  erhalten, 
dies  ihren  besseren  ursprünglichen  Anlagen.  Und  so  darf  man  wohl  mit 
hinreichender  Berechtigung  einstweilen  den  Rassewert  des  Individuums 
an  seiner  sozialen  Stellung  messen,  wobei  man  sich  aber  bewußt  sein  wird, 
daß  mit  dem  Fortschreiten  unserer  Erkenntnisse  diese  rohe  Meßmethode 
durch  schärfere  abgelöst  werden  wird. 

Wie  wird  nun  in  der  Natur  Rassetüchtigkeit  bewahrt  und 
gefördert?  Hier  wirken  zwei  mächtige  Faktoren  in  diesem  Sinn:  1.  Der  Ge- 
schlechtstrieb und  2.  die  Auslese.  Der  Geschlechtstrieb  liefert  in  seinen  Folgen 
die  im  Interesse  der  Rasse  notwendige  Menge  von  Nachkommen,  die  vor- 
handen sein  muß,  damit  die  Auslese  wirken  kann.  Und  die  Auslese  sorgt 
dafür,  daß  die  mit  unterwertigen,  den  Lebensbedingungen  der  Rasse  nicht 
genügenden  Anlagen  ausgestatteten  Individuen  ausgemerzt  werden.  Sie 
verkleinert  so  die  Zahl  der  Individuen,  bewahrt  aber  der  Rasse  ihre  Tüchtig- 
keit und  erhöht  diese  schließlich  sogar.  Sie  läßt  die  minder  guten  Wesen 
gar  nicht  zur  Fortpflanzung  kommen  und  gibt  so  den  am  Leben  bleibenden 
besseren  Elementen  die  Möglichkeit,  sich  stärker  zu  vermehren.  Die  Beob- 
achtung zeigt  ja  auch  allgemein,  daß  die  Natur  ein  größeres  Interesse  an 
der  Art  als  an  dem  Individuum  hat.  Dieses  spielt  eigentlich  nur  eine  Rolle 
als  Überträger  der  Erbfaktoren.  Ganz  ähnlich  bewirkt  auch  der  Pflanzen- 
und  Tierzüchter  dadurch,  daß  er  aus  einem  großen  Auslesematerial  bloß 
die  in  einer  gewünschten  Richtung  sich  auszeichnenden  Individuen  zur  Ver- 
mehrung zuläßt  und  die  seinen  Absichten  nicht  entsprechenden  beseitigt,  eine 
Höherzüchtung  in  seinem  Sinne.  Wirkliche  Rasse  Verbesserung  kann  dem- 
nach nur  durch  stärkere  Vermehrung  der  über  dem  Durchschnitt  stehenden 
Individuen  erzielt  werden,  nie  durch  bloße  Besserung  der  äußeren  Lebens- 
verhältnisse, wie  oft  irrig  angenommen  wird. 

Wie  ist  es  nun  beim  Menschen?  Auch  bei  ihm  wirkt  zunächst 
und  natürlicherweise  wie  beim  Tier  und  bei  der  Pflanze  der  Geschlechts- 
trieb in  der  Richtung  der  Lieferung  von  Massenmaterial,  und  im  Sinn  der 
Auslese  rasseerhaltend  bzw.  -verbessernd  wirken  Säuglingssterblichkeit  und 
Krankheiten.  Angeborne  Schwäche  des  Verdauungssystems,  Sinnesfehler 
und  andere  Mängel  haben  unter  ursprünglichen  natürlichen  Verhältnissen 

11* 


164  L.  Trinkwalter, 

auch  beim  Menschen  keine  Aussicht  sich  auszubreiten,  weil  ihre  Träger  im 
Lebenskampf  meist  schon  vor  der  geschlechtsfähigen  Zeit  beseitigt  werden. 

Nunerwächst  aber  gerade  in  dieser  Beziehung  dem  Menschen 
eine  gewaltige  Gefahr  aus  der  starken  Entwicklung  desjenigen 
Organs,  dem  er  seine  Überlegenheit  verdankt,  aus  der  starken 
Entwicklung  des  Gehirns  —  ein  Beispiel  wieder,  wie  die  übermäßige 
Entwicklung  eines  Organs  für  den  Bestand  der  Art  gefährlich  werden  kann. 
Infolge  seines  Intellekts  siegen  bei  ihm  oft  und  gerade  am  stärksten  beim 
Kulturmenschen  individualistische  Neigungen  über  die  generativen.  Er 
lernt  es  dem  Geschlechtstrieb  nachzugehen,  aber  die  natürliche  Folge,  die 
Fruchtbarkeit,  auszuschließen.  Bei  ihm  äußert  sich  das  Bestreben,  aus  per- 
sönlichen Rücksichten  die  Kinderzahl  klein  zu  halten  oder  auf  Betätigung 
des  Geschlechtstriebes  dauernd  oder  zeitweise  zu  verzichten.  Dadurch  wird 
die  Menge  des  jugendlichen  als  Auslesematerial  dienenden  Nachwuchses 
beträchtlich  verringert.  Aber  auch  die  Auslese  wirkt  beim  Kulturmenschen 
nicht  mehr  im  ursprünglichen  Sinn.  Wieder  durch  seinen  umfassenderen 
Geist  hat  er  gelernt  sich  gegen  die  Unbilden  der  Umwelt  unvergleichlich  weit 
besser  als  jedes  andere  Wesen  zu  schützen.  Vervollkommnung  der  Beklei- 
dungs-,  Heiz-  und  Küchentechnik,  der  ärztlichen  Kunst  erhalten  manches 
jugendliche  Individuum  am  Leben,  das  bei  uneingeschränkter  Herrschaft 
der  natürlichen  Auslese  beseitigt  worden  wäre,  und  bringen  es  ins  geschlechts- 
fähige Alter.  Um  nur  zwei  Beispiele  zu  erwähnen :  schwere  Gebärfähigkeit  der 
Frau  pflanzt  sich  unter  natürlichenVerhältnissen  nicht  fort,  weil  die  mit  diesem 
Fehler  behafteten  Frauen  bei  dem  Gebärakt  sehr  leicht  ums  Leben  kommen. 
Bei  den  weißen  Kulturvölkern,  bei  denen  die  Frauen  zum  großen  Teil  schwer 
gebären,  wird  durch  die  ärztliche  Technik  der  Gebärvorgang  erleichtert, 
und  so  kann  die  schwergebärende  Mutter  diese  entschieden  rasseschädliche 
Eigenschaft  auf  ihre  Nachkommen  übertragen.  Femer  merzt  sich  schlechte 
Funktion  der  Milchdrüsen  bei  primitiven  Völkern  aus,  weil  die  Kinder  solcher 
Frauen  aus  Mangel  an  Nahrung  zugrunde  gehen.  Bei  uns  springt  die  Er- 
satzmitteltechnik ein,  erhält  das  Kind  am  Leben,  und  so  pflanzt  sich  auch 
diese  unglückliche  Eigenschaft  weiter  fort.  Schwere  Schädigungen  brachte 
insbesondere  dem  deutschen  Volkskörper  auch  der  Krieg,  der  gerade  die 
tüchtigsten  Elemente  von  der  Fortpflanzung  lange  Zeit  ausschloß,  der  femer 
wieder  die  Rassetüchtigsten  in  die  vorderste  Front  brachte,  damit  zu  einem 
erheblichen  Teil  ausmerzte  und  so  ganz  entgegen  dem  Sinn  der  natürlichen 
Auslese  wirkte.  Unser  soziales  Versicherungswesen  begünstigt  die  Vermehrung 
der  Unterdurchschnittlichen,  höheres  Heiratsalter  der  Frau,  aber  schließlich 
auch  des  Mannes,  schränkt  die  Fruchtbarkeit  ein.  Dazu  kommt  die  unfrei- 
willige Beschränkung  der  Nachkommenschaft  oder  die  Minderwertigkeit 
des  Nachwuchses,  wie  sie  als  Folge  von  gerade  heute  erschreckend  verbreiteten 
Geschlechtskrankheiten  auftreten,  ebenso  der  Einfluß  von  Alkohol  und  anderen 
Giften,  gleichgültig  ob  sie  die  Erbwerte  selbst  oder  nur  das  Plasma  der  Keim- 
zelle schädigen,  oder  ob  sie  durch  Schaffung  ungünstiger  äußerer  Verhältnisse 
entwicklungshemmend  wirken. 


Die  Schicksalsfrage  des  deutschen  Volkes  und  die  höhere  Schule.  165 

All  diese  und  zahlreiche  andere  Schäden  erreichen  schließlich,  daß  das 
Vermehrungstempo  unseres  Volkes  ein  immer  langsameres 
wird  und  damit  allein  schon  den  Untergang  der  Rasse  be- 
siegelt, ferner  aber  auch,  daß  die  Rassetüchtigkeit,  der  Rasse- 
durchschnitt sinkt.  Und  das  um  so  mehr,  als  gerade  die  sozial  höher- 
stehenden, also  die  nach  unserem  ungefähren  Maßstab  auch  höherwertigen 
Volkselemente  diesen  Schädigungen  besonders  ausgesetzt  sind.  Gerade 
in  diesen  Schichten  ist  die  Vermehrungsziffer  erheblich  kleiner  als  in  den 
unteren.  In  diesen  Kreisen  sind  viele  Elemente  (katholische  Geistliche, 
Beamte,  Lehrerinnen)  zu  dauernder  Ehelosigkeit  verurteilt  oder  weisen 
infolge  der  langen  Ausbildung  und  ungünstigen  Anstellungsmöglich- 
keiten ein  sehr  hohes  Heiratsalter  und  damit  eine  geringere  Ehefruchtbarkeit 
auf.  Die  imVergleich  mit  anderen  Berufsständen  dauernd  schlechter  gewordene 
Besoldung  der  höheren  Beamten  zwingt  sie  zur  Kleinhaltung  der  Kinder- 
zahl oder  veranlaßt  sie  überhaupt  zum  Verzicht  auf  die  Ehe.  So  verursacht 
eine  höchst  kurzsichtige  und  bedauerliche  Staatspolitik  Beseitigung  der 
Tüchtigen  und  damit  Förderung  der  Untüchtigen.  Das  hohe  Heiratsalter 
dieser  Schichten  begünstigt  den  vorehelichen  Geschlechtsverkehr,  damit 
die  Verbreitung  von  Geschlechtskrankheiten  und  leistet  so  der  unfreiwilligen 
Kinderlosigkeit  Vorschub.  Vom  rassebiologischen  Standpunkt  aus  ist  auch  die 
in  parteipolitischem  Interesse  angestrebte  und  heute  zum  größten  Teile 
durchgesetzte  Nivellierung  der  Einkommensverhältnisse  als  schwere  Rasse- 
schädigung zu  betrachten,  weil  sie  die  Vermehrung  der  Unterdurchschnitt- 
lichen fördert,  die  der  Überdurchschnittlichen  herabsetzt. 

Wir  haben  also  heute  folgende  Sachlage:  Der  Vermehrungsfaktor 
ist  wie  bei  den  weißen  westlrchen  Kulturvölkern  allgemein, 
so  auch  bei  uns  in  Deutschland  umgekehrt  dem  Rassewert 
der  einzelnen  Schichten.  Die  sozial-  und  rassehygienisch  wertvollsten 
Elemente  beteiligen  sich  in  stets  abnehmendem  Grade  an  der  Vermehrung. 
Das  heißt  aber  mit  dürren  Worten  nichts  anderes  als  Sinken  des 
Durchschnitts  der  Rassegüte.  Man  kann  sogar  die  Frage  aufwerfen,  ob  wir 
nicht  heute  schon  einen  Mangel  an  überragenden,  umfassenden  Geistern 
bei  uns  haben,  und  ob  dieser  Mangel,  falls  er  zugestanden  werden  sollte, 
nicht  etwa  als  Zeichen  des  fortschreitenden  Verfalls  aufgefaßt  werden  müßte. 
Nun  wird  man  einwenden,  dieses  Absinken  der  höheren  Schichten  sei  kein 
nationales  Unglück,  denn  dadurch  würde  Platz  geschaffen  für  die  Tüchtigen 
aus  den  unterenSchichten,  und  so  sei  das  ein  ganz  natürlicher  und  erwünschter 
Vorgang.  Diese  Betrachtung  geht  von  der  so  ziemlich  allgemein  verbreiteten 
Auffassung  aus,  die  unteren  Volksschichten  seien  ein  Jungbrunnen,  aus  dem 
sich  die  überragenden  Elemente  immer  wieder  emporarbeiten  und  so  den 
natürlichen  Abgang  aus  den  höheren  Schichten  immer  wieder  ersetzen.  Diese 
Auffassung  ist  irrig  und  darum  für  die  Rassetüchtigkeit  des  Volkskörpers 
ungemein  verhängnisvoll.  Die  breite  Masse  des  Volkes  kann  nicht  unbegrenzt 
den  Nachschub  für  den  Verlust  an  überdurchschnittlich  tüchtigen  Elementen 
liefern.    Dieser  Prozeß  geht  so  lange  vor  sich,  als  im  Volk  noch  überdurch- 


166  L.  Trinkwalter, 

schnittliche  Anlagen  vorhanden  sind.  Aber  dieser  Vorrat  erschöpft  sich. 
Denn  kommen  die  Überdurchschnittlichen  aus  den  unteren  Schichten  in 
höhere,  so  passen  sie  sich  namentlich  in  Bezug  auf  die  Vermehrung  den  in 
diesen  Schichten  bestehenden  Neigungen  und  Bestrebungen  an,  sie  merzen 
sich  allmählich  aus.  So  werden  dem  Volkskörper  in  allen  seinen  Schichten 
die  besten  Elemente  dauernd  entzogen,  und  so  verarmt  der  Volks körper 
sicher  und  verhältnismäßig  rasch.  In  dieser  Beleuchtung  gewinnt  die  heute 
auf  der  Tagesordnung  stehende  „Förderung  der  Tüchtigen"  eine  eigen- 
artige, von  den  Pädagogen  meines  Wissens  noch  nicht  gewürdigte  Be- 
deutung. 

Was  ergibt  sich  aus  dieser  Lage  der  Dinge?  Wenn  wir  nach  den  Verlusten, 
die  unser  Volkskörper  durch  die  geschilderten  Erscheinungen  erlitten,  wenn- 
wir  insbesondere  nach  den  fürchterlichen  Verlusten  an  biologisch  wertvollsten 
Rasseelementen,  die  uns  der  Krieg  und  der  darauffolgende  Zusammenbruch 
gebracht  hat  und  noch  immer  bringt,  uns  wieder  emporarbeiten  wollen, 
so  müssen  wir  bewußt  alle  Bestrebungen  aufgreifen  und  fördern,  die  geeignet 
sind  die  Tüchtigkeit  des  Volkskörpers  zu  heben.  Das  ist  nur  möglich  durch 
Hebung  der  Vermehrungsziffer  der  gut  veranlagten  Elemente  und  durch 
Schaffung  von  Verhältnissen  und  einer  Moral,  welche  diesen  Elementen 
einen  Anreiz  zur  Erziehung  von  Kindern  gibt.  Daneben  sind  natürlich  als 
verhältnismäßig  wenig  durchgreifende  Mittel  auch  die  eventuelle  zwangs- 
weise Ausschaltung  der  rassebiologisch  minderwertigsten  Elemente  wie  Geistes- 
kranke, Gewohnheitsverbrecher  von  der  Fortpflanzung,  sei  es  durch  Asy- 
lierung,  sei  es  durch  Sterilisation  zu  berücksichtigen.  Ebenso  sind  auch 
hygienische,  turnerische,  sportliche  Bestrebungen  zu  pflegen,  weil  sie,  wenn 
auch  zunächst  nur  die  phänotypische  Entwicklung  des  Individuums  beein- 
flussend, günstige  Umweltbedingungen  für  die  Entfaltung  günstiger  geno- 
typischer Anlagen  schaffen  können.  Mit  einem  Wort:  Es  muß  bewußte 
und  ernsthafte  Rassehygiene  getrieben  werden.  Im  höchsten 
Grad  bedauerlich  ist  es,  daß  der  Staat  diese  Aufgabe  bisher  völlig  vernach- 
lässigt hat.  Und  dabei  ist  das  eine  Aufgabe,  die  im  unmittelbarsten  Interesse 
des  Staates  liegt.  Gesetzgebung,  Verwaltung  und  Politik  beschäftigen  sich 
angelegentlich  —  mit  welchem  Erfolg,  sei  hier  nicht  erörtert  —  mit  der  Er- 
haltung und  Mehrung  der  Wirtschaftsgüter.  Und  die  weitesten  Kreise  sind 
von  der  Bedeutung  der  Nationalökonomie  durchdrungen.  Um  so  bedauer- 
licher und  verhängnisvoller  ist  es,  daß  die  weit  größere  Bedeutung  der  Rasse- 
tüchtigkeit für  die  Zukunft  unseres  Volkes  noch  nicht  ins  Bewußtsein  des 
Volkes  oder  auch  nur  der  für  die  Geschicke  des  Volkes  verantwortlichen 
Männer  gedrungen  ist.  Verlorene  Wirtschaftsgüter  können  von 
einem  auf  einen  höheren  Durchschnitt  der  Tüchtigkeit  ge- 
brachten Volkskörper  wieder  erworben  und  vermehrt  werden, 
verlorene  Tüchtigkeit  ist  einfach  dahin,  sie  kann  nicht  durch 
wirtschaftliche  Werte  zurückgewonnen  werden,  sie  vermag 
nicht  einmal  die  im  Volk  zu  einer  bestimmten  Zeit  vorhandenen 
Wirtschaftsgüter   festzuhalten. 


Die  Schicksalsfrage  des  deutschen  Volkes  und  die  höhere  Schule.  167 

Wie  kann  nun  diese  Unkenntnis  in  den  für  unser  Volk  lebenswich- 
tigsten Fragen  und  die  daraus  sich  ergebende  Gleichgültigkeit  weitester 
Kreise  bekämpft  werden?  Die  durch  die  Vererbungslehre  ermittelten 
Grundsätze  und  Forderungen  müssen,  soweit  sie  für  den  Menschen  unmittelbar 
wichtig  sind,  in  die  weitesten  Volksschichten  getragen  werden,  es  muß  das  Be- 
wußtsein von  der  Bedeutung  der  Rassehygiene,  unter  welchem  Begriff  wir 
alle  auf  Ertüchtigung  des  Volkskörpers  gerichteten  Bestrebungen  zusammen- 
fassen, Allgemeingut  des  Volkes  werden.  Es  muß  eine  Rassemoral  geschaffen 
und  das  Verantwortungsgefühl  jedes  Einzelnen  wachgerüttelt  werden.  Zu- 
nächst müssen  natürlich  die  gebildeten  Kreise,  insbesondere  Lehrer,  Ärzte, 
Geistliche  mit  den  Grundzügen,  Aufgaben  und  Forderungen  der  Rasse- 
hygiene vertraut  gemacht  werden.  Auch  die  Studentenschaft  sollte  un- 
bedingt mit  diesen  für  die  Zukunft  unseres  Volkes  ernstesten  Fragen  be- 
kannt gemacht  werden.  Die  Bestrebungen  der  Rassehygiene  haben  in  einigen 
Ländern  schon  guten  Boden  gefunden.  Namentlich  Ungarn  steht  hierin 
obenan.  Behörden  und  Geistlichkeit  stehen  hier  diesen  Bestrebungen  sym- 
pathisch gegenüber,  es  werden  Lehrkurse  für  Rassehygiene  und  Bevölkerungs- 
politik gehalten,  eine  eifrige  Aufklärungsarbeit  durch  geschulte  Beamte 
getrieben,  Tafeln  und  Merkblätter  herausgegeben  u.  dgl.  mehr.  Auch  bei 
uns  in  Deutschland  arbeiten  schon  Vereinigungen  und  einzelne  Forscher 
im  gleichen  Sinn,  aber  ohne  bisher  in  weiteren  Volkskreisen  für  ihre  gemein- 
nützigen Bestrebungen  das  wünschenswerte  Interesse  zu  finden^). 

Darum  ist  neben  der  Erforschung  all  der  verwickelten  Probleme  der 
Rassehygiene  in  erster  Linie  unermüdliche  Aufklärungsarbeit  dringend 
vonnöten. 

Welche  Mittel  im  einzelnen  angewandt  werden  können,  um  Hebung  der 
Rassetüchtigkeit  zu  erzielen,  sei  hier  nicht  erörtert.  Es  sei  nur  hervorgehoben, 
daß  Eherecht,  Erb-  und  Strafrecht,  Erziehungswesen,  Steuer-  und  Besol- 
dungswesen, im  Grunde  genommen  alle  Gebiete  des  öffentlichen  Lebens,  an 
der  Lösung  dieser  Frage  beteiligt  sind.  Gesetzgeberische  Maßnahmen  können 
aber  erst  dann  Erfolg  haben,  wenn  sie  vom  Volksgewissen  getragen  werden. 
Deswegen  gilt  es  eben  in  erster  Linie  das  Volksgewissen  zu  schärfen  und 
diese  Fragen  dem  Bewußtsein  des  Einzelnen  nahezubringen. 

Soll  die  höhere  Schule  auch  zur  Vorbereitung  rassehygie- 
nischer Forderungen  und  Grunsdätze  beitragen,  und  wie  kann 
sie  das?  Daß  sie  es  soll,  kann  keinem  Zweifel  unterliegen.  Die  Schule 
soll  fürs  Leben  erziehen,  und  aus  der  Jugend  gehen  die  Führer  des  Volkes 


^)  Ich  verweise  hier  nur  auf  das  prächtige,  leider  in  pädagogischen  Kreisen  meines 
Wissens  offenbar  viel  zu  wenig  beachtete  Buch  von  Dr.  W.  Schallmayer:  Vererbung  und 
Auslese  (Jena,  Fischer,  1918.  3.  Aufl.),  das  in  gefälliger,  klarer  Form  eine  erdrückende  Fülle 
des  wertvollsten  Materials  bringt,  und  das  stark  zum  eigenen  Nachdenken  anregt.  Da  es 
nicht  nur  der  Biologe,  sondern  jeder  Gebildete  lesen  und  verstehen  kann,  und  da  es  auch 
gerade  dem  Pädagogen  ungewollt  eine  Menge  von  Anregungen  gibt,  sollte  das  Werk,  auf  das 
sich  die  vorliegenden  Ausführungen  großenteils  stützen,  zum  Bestand  jeder  Lehrerbücherei 
gehören. 


168  L.  Trinkwalter, 

hervor;  darum  hat  sie  die  heilige  Pflicht,  den  älteren  Zögling  zu  interessieren 
für  die  Zukunfts-,  die  Schicksalsfrage  unseres  Volkes,  und  das  um  so  mehr, 
als  jeder  Einzelne  berufen  ist  an  der  Lösung  dieser  Frage  mitzuwirken  und 
durch  sein  persönliches  Verhalten  im  Sinn  einer  Verbesserung  oder  Ver- 
schlechterung des  Volkskörpers  zu  arbeiten.  Die  Schule  gibt  dem  ins  Leben 
tretenden  jungen  Mann  so  mancherlei  mit,  was  er  nachher  über  Bord  wirft, 
sie  übersättigt  ihn  mit  sprachlich-historischem  Wissen.  Sollte  nicht  die 
schicksalsgewaltige  Frage  des  Untergangs  oder  Aufstiegs  des  eigenen  Volkes 
für  ihn  das  höchste  Interesse  haben? 

Der  biologische  Unterricht  bietet  ganz  allgemein  reichlich  Gelegenheit 
zu  rassehygienischen  Gedanken ;  namentlich  aber  ergeben  sich  bei  der  mensch- 
lichen   Anatomie,    Physiologie    und    Hygiene    ungezwungen    Anknüpfungs- 
punkte für  solche  Fragen.    Dann  müssen  aber  die  Grundzüge  der  Entwick- 
lungs-  und  Vererbungslehre  dargelegt  werden,  es  muß  die  Bedeutung  der 
Geschlechtszellen  als  Träger  der  Erbfaktoren  und  diejenige  ihrer  Verschmelzung 
für  die  Qualität  der  Nachkommen  klar  gemacht  werden.   Dem  jungen  Mann 
muß  zum  Bewußtsein  gebracht  werden,  daß  Hebung  der  Volkstüchtigkeit 
auf  stärkerer   Vermehrung   der   überdurchschnittlichen    Elemente   beruht. 
Man  kommt  dabei  natürlich  auch  auf  das  Gebiet  der  im  engeren  Sinn  soge- 
nannten sexuellen  Fragen.    Sexuelle  Dinge  haben  für  den  heranwachsenden 
gesunden  jungen  Mann  den  denkbar  größten  und  natürlichsten  Reiz!    Und 
die  Jugend,  gerade  auch  die  unverdorbene,  lechzt  nach  Aufklärung,  nach 
Beratung  tind  Führung  in  diesen  Fragen.    Gewöhnlich  geht  das  Elternhaus, 
geht  auch  die  Schule  mit  Scheuklappen  an  dieser  Not  der  Jugend  vorbei. 
Das  darf  nicht  weiter  so  sein.  Der  biologische  Unterricht  bietet  die  Möglich- 
keit, den  Zeugungsvorgang  in  seiner  hohen  Bedeutung  allmählich  dem  Ver- 
ständnis nahezubringen  und  ihn  so  des  niederen  Charakters  zu  entkleiden, 
den  er  bekommt,  wenn  sich  der  Zögling  seine  Kenntnisse  aus  unsauberen 
Quellen,  ja  oft  aus  den  Pesthöhlen  des  Lasters  holt.   Natürlich  muß  das  mit 
Ernst  und  Takt  geschehen,  aber  dann  ist  auch  der  dem  Schüler  vertraute 
biologische  Lehrer  —  weit  mehr  als  etwa  der  fernerstehende  Arzt  oder  der 
Geistliche  —  in  der  glücklichen  Lage,  den  rechten  Weg  zum  Schüler  zu  finden. 
Wie  sittlich  hoch  wird  dem  Schüler  der  geschlechtliche  Vorgang  erscheinen, 
wenn  er  bei  allen  lebenden  Wesen  die  Geschlechtszellen  als  Träger  der  Erb- 
faktoren erkennt,  wenn  er  einsehen  lernt,  daß  die  Qualität  der  Nachkommen 
von  der  Güte  der  elterlichen  Erbanlagen  abhängt.    Er  wird  diesen  Erbwert 
als  wertvollsten  Besitz  auffassen,  der  dem  Menschen  wie  auch  Tier  und  Pflanze 
gewissermaßen  zu  Lehen  gegeben  ist;  er  wird  leicht  aus  dieser  Erkenntnis 
die  sittliche  Verpflichtung  ableiten,  diesen  Erbwert  ungeschädigt  und  unge- 
schmälert der  folgenden  Generation  zu  überliefern.    Aus  der  Einsicht,  daß 
Vereinigung  möglichst  gut  veranlagter  elterlicher  Keimzellen  auch  gut  ver- 
anlagte Nachkommen  liefert,  kann  dem  Jüngling  ein  neuer  und  wertvoller 
Wegweiser  bei  der  späteren  Gattenwahl  erwachsen ;  er  wird  vielleicht  (jeden- 
falls ist  das  ein  Ziel,  auf  das  hingearbeitet  werden  muß)  sich  bei  diesem  ein- 
schneidendsten Schritt  seines  Lebens  nicht  mehr  so  sehr  von  zufälligen  äußeren 


Die  Schicksalsfrage  des  deutschen  Volkes  und  die  höhere  Schule.  169 

Eigenschaften  (Vermögen,  Rang),  als  vielmehr  von  den  natürlichen  Anlagen 
des  in  Aussicht  genommenen  Ehepartners  beeinflussen  lassen.  Jedenfalls 
dürften  solche  in  der  Schule  angestellten  Erörterungen  den  Ehekandidaten 
wohl  öfter  als  bisher  zu  einer  ernsten  Prüfung  veranlassen,  ob  die  Wahl  auch 
in  bezug  auf  Güte  der  Nachkommenschaft  zu  billigen  sei.  Und  damit  wäre 
schon  viel  erreicht  auf  dem  Weg  zu  einer  bewußten  Rassehygiene  und  einer 
Rassemoral. 

Man  wird  der  Jugend  eine  möglichst  frühe  Eheschließung  als  erstrebens- 
wertes Ziel  hinstellen  (diesem  Bestreben  muß  allerdings  die  Bevölkerungs- 
politik des  Staates  entgegenkommen  dadurch,  daß  sie  dem  jungen  Beamten 
durch  eine  entsprechende  Besoldung  die  Möglichkeit  der  Ehe  gewährt,  die 
Auffassung  von  Repräsentation  vollkommen  ändert  u.  dgl.).  Immer  wieder 
wird  man  im  Biologieunterricht  Gelegenheit  haben  zu  betonen,  daß  auch 
dem  Jüngling  nur  ein  reiner  Körper  Arbeitsfrische,  Arbeitsfreudigkeit,  Lebens- 
und Eheglück  verbirgt,  daß  nicht  schrankenloses  Sichausleben  des  Menschen 
würdig  ist,  und  daß  der  Mensch  nicht  nur  sich  selbst,  sondern  auch  dem  Ehe- 
partner und  der  kommenden  Generation  verantwortlich  ist.  Man  wird  sich 
nicht  der  Täuschung  hingeben  durch  solche  Erörterungen  die  Jugend  aus- 
nahmslos vor  Abwegen  schützen  zu  können  —  der  Geschlechtstrieb  setzt 
sich  nur  zu  leicht  über  die  klarsten  Vernunftgründe  hinweg  — ,  und  kann 
doch  überzeugt  sein,  daß  die  Schule  nichts  unversucht  lassen  soll,  der  ringen- 
den Jugend  zu  helfen  in  den  Kämpfen,  die  keinem  erspart  bleiben.  Soll 
uns  nicht  jede  Möglichkeit,  das  Verantwortlichkeitsgefühl  des  jungen  Mannes 
gegen  sich  selbst,  gegen  die  künftige  Gattin  und  die  kommenden  Kinder 
zu  stärken,  willkommen  sein?  Daß  man  in  solchem  Zusammenhange  auch  auf 
verheerende  Seuchen  wie  Tuberkulose,  Syphilis  und  auf  die  Fragen  des  Alko- 
holismus näher  eingehen  muß,  ist  selbstverständlich. 

So  ist  die  Biologie  ganz  im  Gegensatz  zur  landläufigen  Anschauung, 
daß  ihr  ethische  Werte  vöUig  fremd  seien,  eine  reiche  unerschöpfliche 
Quelle  höchster  sittlicher  Werte  und  Ziele.  Denn  wenn  die  Biologie 
eine  höhere  Bedeutung  der  geschlechtlichen  Vorgänge  erkennen  läßt,  wenn 
sie  den  Zeugungsakt  aus  der  Vorstellung  des  Niederen  heraushebt,  wenn  sie 
imstande  ist,  im  jungen  Mann  das  Gefühl  der  Verantwortung  sich  selbst, 
der  Gattin  und  der  kommenden  Generation  gegenüber  zu  wecken,  wenn 
sie  fähig  ist,  den  auf  das  Gute  gerichteten  Willen  auf  Grund  der  durch  sie 
gewonnenen  Einsichten  zu  stärken,  wenn  sie  im  Leben  des  Einzelnen  einen 
höheren  natürlichen  Zweck  erkennen  läßt,  wenn  sie  zur  Einsicht  bringt, 
daß  der  Aufstieg  oder  der  Niedergang  der  Volksgesamtheit  vom  Verhalten 
des  Einzelnen  abhängt,  dann  ist  sie  nicht  nur  im  höchsten  Grade  nützlich, 
sondern  auch  im  höchsten  Grade  ethisch. 

Deckt  uns  also  die  Biologie  die  Gefahren  auf,  welche  den  Untergang 
unseres  Volkes  (wie  übrigens  auch  der  andern  westlichen  Kulturvölker)  herauf- 
beschwören, so  ist  es  andererseits  wieder  die  Biologie,  welche  die  Mittel  und 
Wege  zurRettung,  zurErtüchtigung  desVolkes  zeigt,  und  welche  dem  deutschen 
Volk  in  letzter  Stunde  die  rettende  Hand  reicht.    Sie  ist  damit  für  unser 


170  Paul  Kaestner, 

Volk  von  einem  Segen  und  Nutzen  wie  kein  anderes  Forschungsgebiet. 
Dazu  setzt  sie  in  einer  Zeit,  in  der  unser  Volk  wie  kaum  jemals  an  Idealen 
verarmt  ist,  jedem  Einzelnen  von  uns  neue  hohe  sittliche  Ziele.  Die  Jugend 
aber  ist  die  Hoffnung,  die  Zuversicht  des  Vaterlandes.  Zeigen  wir  ihr  das 
neue  Ziel  der  Ertüchtigung  unseres  Volks,  zeigen  wir  ihr  den  Weg,  der  unser 
Volk  aus  der  Tiefe  wieder  emporführen  kann,  zeigen  wir  ihr,  wie  jeder 
Einzelne  berufen  ist  an  dieser  Arbeit  bestimmend  mitzuwirken !  Dann  muß 
man  aber  auch  der  Biologie  endlich  die  gebührende  Stellung  an  allen  unseren 
Schulen,  insbesondere  auch  an  den  höheren  einräumen.  Sie  braucht  Raum 
und  Licht,  damit  sie  nicht,  wie  es  heute  im  allgemeinen  der  Fall  ist,  gerade 
dann  aus  Mangel  an  diesen  Lebensnotwendigkeiten  verkümmert,  wenn  sie 
ihre  schönsten  Früchte  zeitigen  könnte.  Sie  muß  aus  ihrer  Aschenbrödel- 
stellung herausgehoben  werden,  sie  muß  mit  dem  Deutschen  in  den  Mittel- 
punkt der  Schule  treten.  Kann  sich  etwa  die  Geschichte  oder  die  Erdkunde 
auch  nur  entfernt  an  Bedeutung  mit  ihr  messen?  Eine  Wissenschaft,  die  die 
größten  wirtschaftlichen  Werte  schafft  (die  wir  in  der  Zukunft  doch  bitter 
nötig  haben  werden),  die  eine  Fundgrube  tiefster  und  umfassendster  geistiger 
Erkenntnis,  ein  Strom  reichster  erziehlicher  Werte  und  eine  Quelle  höchster 
sittlicher  Forderungen  und  Kräfte  ist,  eine  Wissenschaft,  die  das  deutsche  Volk 
wieder  emporführen  kann  und  soll,  noch  weiter  auszuschalten  von  ihrem 
Einfluß  auf  die  Bildung  und  Erziehung  der  Jugend,  heißt  freveln  am  Volk, 
an  der  Zukunft  des  Volks.  Ein  Staat,  der  die  fundamentale  Bedeutung  der 
Biologie  für  seinen  eigenen  Bestand  nicht  erkennt,  schneidet  sich  jede  Ent- 
wicklungsmöglichkeit ab.  Es  muß  gefordert  werden,  daß  die  Biologie  als 
verbindlicher  Unterrichtsgegenstand  durch  alle  Klassen  mit  zwei  Stunden 
durchgeführt  wird.  Wo  ein  Wille  ist,  da  ist  auch  ein  Weg.  Und  wo  neues 
kräftiges  Leben  sprießt,  muß  eben  Altes,  Veraltetes  weichen.  Die  üppig 
wuchernden  sprachlich-historischen  Äste,  vielleicht  auch  der  gewaltige 
mathematische  Ast  des  Unterrichtsbaumes  vertragen  einen  erheblichen  Rück- 
schnitt, um  dem  wertvolleren  und  reicheren  Fruchttrieb  der  Biologie  zur  Ent- 
wicklung zu  verhelfen. 

Hannover.  L.  Trinkwalter. 

Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten 

im  Sommersemester  1920. 

Ausländer  und  solche  Studierende,  die  nicht  im  Besitz  des  Reifezeug- 
nisses einer  Vollanstalt  sind,  blieben  bei  der  Erhebung  unberücksichtigt. 

Die  erste  Zusammenstellung  umfaßt  alle  im  Sommersemester  1920  an 
den  preußischen  Universitäten  immatrikulierten  Studierenden,  die  zweite 
nur  diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Erhebung  im  ersten  Semester  standen. 
I.  Im  Sommersemester  1920  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  1920  Studierende,  davon 
immatrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1782 

„        „  „  „      Realgymnasiums  129 

,,        ,,  ,,  einer  Oberrealschule  9 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten.  171 

b)  in  der  Katholisch-Theologischen  Fakultät  1514  Studierende, 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1513 

„        „                  ,,                 ,,     Realgymnasiums  1 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  9995  Studierende,  davon  immatrikuliert : 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  6365 

„        „                  „                „      Realgymnasiums  2380 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  1250 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  1 1 462  Studierende,  davon  immatrikuliert : 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  6999 

„        „                 „                ,,      Realgymnasiums  3074 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  1389 

e)  in  derPhilosophisch.Fakultät  17174  Studierende,  davon  immatrikuliert : 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  8350 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  4942 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  3882 
Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  817,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  461 

,,        ,,                  „                ,,      Realgymnasiums  211 

„        ,,                 „             einer  Oberrealschule  145 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  2451,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1728 

„        ,,                  „                ,,      Realgymnasiums  498 

„        „                 ,,             einer  Oberrealschule  225 

3.  Neuere  Philologie  2095,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  788 

„        ,,                  ,,                ,,      Realgymnasiums  817 

„        ,,                 „             einer  Oberrealschule  490 

4.  Geschichte  902,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  539 

,,        ,,                 ,,                ,,      Realgymnasiums  266 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  97 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  4389,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1632 

„        ,,                 „                ,,      Realgymnasiums  1387 

,,        ,,                 ,,             einer  Oberrealschule  1370 

6.  Sonstige  Studienfächer  6520,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  3202 

„        „                 „                ,,      Realgymnasiums  1763 

,,        ,,                 ,,             einer  Oberrealschule  1555 

II.  Von  den  unter  I  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  208  Studierende,  davon 

immatrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  186 

„        „                  „                „      Realgymnasiums  22 


172  Paul  Kaestner, 

b)  in  der  Katholisch-Theologischen  Fakultät  212  Studierende,  imma- 
trikuliert auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums; 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  1199  Studierende,  davon  immatrikuliert- 
auf Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  711 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  292 

,,        ,,                 „             einer  Oberrealschule  196 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  895  Studierende,  davon  immatrikuliert 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  483 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  279 

,,        „                 ,,             einer  Oberrealschule  133 

e)  in  der  PhilosophischenFakultät  1792Studierende,  davon  immatrikuliert : 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  771 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  599 

,,        „                  „             einer  Oberrealschule  422 
Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  115,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  60 

„        „                 ,,                „      Realgymnasiums  37 

„        „                 ,,             einer  Oberrealschule  18 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  136,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  82 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  40 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  14 

3.  Neuere  Philologie  102,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  29 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  44 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  29 

4.  Geschichte  61,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  33 

„        „                  „                „      Realgymnasiums  19 

,,        „                 ,,             einer  Oberrealschule  9 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  362,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  113 

„        „                  „                „      Realgymnasiums  138 

,,        ,,                 „             einer  Oberrealschule  Hl 

6.  Sonstige  Studienfächer  1016,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  454 

„        „                  „                „      Realgymnasiums  321 

einer  Oberrealschule  241 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen 

Universitäten. 

Erlangen,  Freiburg,  Gießen,  Heidelberg,  Jena,  Leipzig,  München,  Rostock, 
Hamburg,  Tübingen  und  Würzburg  im  Sommersemester  1920. 
Bei  der  Erhebung  blieben  Ausländer  und  solche  Studierende,  die  nicht 
im   Besitz  des   Reifezeugnisses  einer  Vollanstalt  waren,  unberücksichtigt. 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Universitäten.  173 

Diese  erste  Zusammenstellung  umfaßt  alle  im  Sommersemester  1919  an  den 
genannten  Universitäten  immatrikulierten  Studierenden,  die  zweite  nur  die- 
jenigen, welche  zur  Zeit  der  Erhebung  im  ersten  Semester  standen. 
I.  Im  Sommersemester  1920  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  1556  Studierende,  davon 
immatrikuliert : 

*  auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1495 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums  49 

„        ,,                 ,,              einer  Oberrealschule  12 

b)  in  der  Katholisch-Theologischen  Fakultät  630  Studierende,  davon 
immatrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  609 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums  21 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät i)  8467  Studierende,  davon  immatrikuliert : 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  5366 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums  2047 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  1054 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  2)   11043  Studierende,  davon  imma- 
trikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  6258 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums  3023 

,,        „                  ,,              einer  Oberrealschule  1762 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät   11418  Studierende,  davon  imma- 
trikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  5439 

„        „                  ,,                 ,,      Realgymnasiums  3266 

„        „                 ,,             einer  Oberrealschule  2713 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  1690,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  993 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums  437 

,,        ,,                 ,,             einer  Oberrealschule  260 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  1419,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1010 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  250 

„        ,,                 ,,             einer  Oberrealschule  159 

3.  Neuere  Philologie  1402,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasums  542 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums  525 

einer  Oberrealschule  335 


1)  Einschließlicli  der  Rechts-  und  Staatswissenschaftlichen  Fakultäten  in  Freiburg 
und  Hamburg,  der  Staatswirtschaftlichen  Fakultät  in  München  und  der  Staatswissen- 
schaftlichen Fakultät  in  Tübingen. 

2)  Einschließlich  der  Tierärztlichen  Fakultäten  in  Gießen  und  München. 


174  Paul  Kaestner, 

4.  Geschichte  833,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  454 

„        „                 „                „      Rleagymnasiums  257 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  122 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  3769,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1384 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  1127 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  1258 

6.  Sonstige  Studienfächer  2305,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1056 

„        „                 „                ,,      Realgymnasiums  670 

,,        „                 „             einer  Oberrealschule  579 

II.  Von  den  unter  I  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät   152  Studierende,  davon 
immatrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  148 

,,        ,                  „                ,,      Realgymnasiums  3 

„        „                  ,             einer  Oberrealschule  1 

b)  in   der    Katholisch-Theologischen   Fakultät   17  Studierende,   davon 
immatrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  15 

„        „                  „                 „     Realgymnasiums  2 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  1040  Studierende,  davon  immatrikuliert: 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  548 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums  305 

,,        „   .               „              einer  Oberrealschule  187 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  681  Studierende,  davon  immatrikuliert: 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  309 

,,        „                  „                 ,,      Realgymnasiums  201 

,         „                 „             einer  Oberrealschule  171 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  1135  Studierende. 
Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  136,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  50 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums  48 

„        ,,                  „              einer  Oberrealschule  38 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  99,  und  zwar. 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  51 

,,         ,                  „                 ,,      Realgymnasiums  24 

„        ,,                 „             einer  Oberrealschule  24 

3.  Neuere  Philologie  105,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  29 

„        „                  „                 „      Realgymnasiums  37 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  39 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Universitäten.        175 

4.  Geschichte  76,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  36 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  19 

„        ,,                 „             einer  Oberrealschule  21 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  375,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  109 

,,        ,,                  „                 ,,      Realgymnasiums  126 

,         ,,                  ,             einer  Oberrealschule  •                   140 

6.  Sonstige  Studienfächer  344    und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  147 

,,        „                  „                ,,      Realgymnasiums  107 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  90 


Die  Anfängerkurse  im  Griechischen  für  Studierende  der  Juristischen, 
Medizinischen  und  Philosophischen  Fakultät. 

Im  Sommersemester  1920  haben  an  den  Anfängerkursen  im  Griechischen 
für  Studierende  der  Juristischen,  Medizinischen  und  Philosophischen  Fakultät 
auf  den  preußischen  Hochschulen  im  ganzen  166  Studierende  teilgenommen, 
davon  34  Theologen,  13  Juristen,  5  Mediziner  und  114  Angehörige  der  Philo- 
sophischen Fakultät.  Von  letzteren  studierten  klassische  Philologie  18,  neuere 
Philologie  23,  Deutsch  33,  Geschichte  13,  Mathematik  und  Naturwissenschaften 
3,  Staatswissenschaften  6,  sonstige  Fächer  18.  Von  den  Teilnehmern  an  den 
Kursen  hatten  10  das  Reifezeugnis  eines  Gymnasiums,  92  eines  Realgym- 
nasiums, 25  einer  Oberrealschule,  3  einer  Realschule,  7  eines  Oberlyzeums, 
29  eines  Lehrerinnenseminars.  Preußen  waren  147,  Deutsche  aus  anderen 
Bundesstaaten  14,  Ausländer  5. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  an  diesem 
Kursus  wie  folgt:  Berlin  24,  Bonn  34,  Breslau  12,  Frankfurt  19,  Göttingen  15, 
Halle  15,  Kiel  11,  Marburg  22,  Münster  3. 


Die  Kurse  zur  sprachlichen  Einführung  in  die  Quellen  des 

römischen  Rechts. 

Im  Sommersemester  1920  haben  an  den  Kursen  zur  sprachlichen  Ein- 
führung in  die  Quellen  des  römischen  Rechts  an  den  preußischen  Hochschulen 
im  ganzen  300  Studierende  der  Rechte,  5  Studierende  der  Medizinischen 
und  4  Studierende  der  Philosophischen  Fakultät  (2  Deutsch,  2  Mathematik 
und  Naturwissenschaften)  und  9  Studierende  der  Staatswissenschaften 
teilgenommen.  Das  Reifezeugnis  eines  Gymnasiums  hatten  59,  eines  Real- 
gymnasiums 158,  einer  Oberrealschule  99.  Preußen  waren  287,  Deutsche 
aus  anderen  Bundesstaaten  28,  Ausländer  3.  Von  den  Studierenden  der 
Rechtswissenschaft  standen  73  im  ersten  Semester,  61  im  zweiten,  46  im 
dritten,  31  im  vierten,  35  im  fünften,  26  im  sechsten,  11  im  siebenten,  9 
im  achten,  2  im  neunten,  2  im  zehnten,  3  im  elften  und  1  im  dreizehnten 
Semester. 


176    Paul  Kaestner,  Lateinische  Sprachkurse  für  Absolventen  lateinioser  Schulen. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  wie  folgt : 
Berlin  188,  Bonn  29,  Breslau  11,  Frankfurt  38,  Greifswald  7,  Kiel  3, 
Marburg  15,  Münster  27. 


Lateinische  Sprachkurse  ffir  Absolventen  lateinloser  Schulen. 

Im  Sommersemester  1920  haben  an  den  lateinischen  Kursen  für  Absol- 
venten lateinloser  Schulen  644  Studierende  teilgenommen.  Hiervon  studierten 
7  Theologie,  65  Rechtswissenschaft,  295  Medizin  und  277  Fächer  aus  dem 
Bereich  der  philosophischen  Fakultät,  nämlich  28  klassische  Philologie,  75 
neuere  Philologie,  76  Deutsch,  25  Geschichte,  23  Mathematik  und  Natur- 
wissenschaft, 28  Staatswissenschaft  und  21  sonstige  Fächer.  Von  den  Teil- 
nehmern an  den  Kursen  hatten  das  Reifezeugnis  eines  Gymnasiums  14,  eines 
Realgymnasiums  16,  einer  Oberrealschule  469,  eines  Progymnasiums  4, 
eines  Realprogymnasiums  6,  einer  Realschule  26,  eines  Lehrerinnenseminars 
108.  Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  wie 
folgt:  Berlin  161,  Bonn  48,  Breslau  39,  Frankfurt  100,  Göttingen  39, 
Greifswald  20,  Halle  55,  Kiel  57,  Königsberg  42,  Marburg  58,  Münster  25. 

Berlin-Neubabelsberg.  Paul  Kaestner 


IL  Bücherbesprechungen. 


Paul  Kalkhoff,  Luther  und  die  Entscheidungsjahre  der  Refor- 
mation. Von  den  Ablaßthesen  bis  zum  Wormser  Edikt.  München  und 
Leipzig.    Georg  Müller.    VI  u.  293  S. 

Kalkoffs  Buch  darf  nicht  mit  der  Fülle  der  durch  das  Reformations- 
jubiläum hervorgerufenen  Gedächtnisschriften  zusammengeworfen  werden, 
die  Bekanntes  in  gefälliger  Form  neu  zurechtstutzen  und  einem  weiteren 
Leserkreis  schmackhaft  machen.  Obschon  der  Verfasser  auf  alle  gelehrten 
Anmerkungen  und  Belege  verzichtet,  tragen  seine  Darlegungen  doch  das 
Gepräge  einer  echten  und  unermüdlichen  Forscherarbeit  an  sich,  und  sein 
Werk  überrascht  geradezu  jeden,  der  mit  Kalkoffs  Spezialarbeiten  nicht 
vertraut  ist,  durch  den  Reichtum  neuer  und  wichtiger  wissenschaftlicher 
Ergebnisse,  Die  Gegenstände,  denen  der  Verfasser  in  den  verflossenen  Jahr- 
zehnten sein  Hauptaugenmerk  zugewandt  hat,  treten  auch  in  der  vorliegenden 
zusammenfassenden  Behandlung  in  den  Vordergrund  —  vielleicht  ein  wenig 
zu  stark;  denn  in  dem  begreiflichen  Verlangen,  seine  neuen  Freunde  und 
Forschungsresultate  zur  Geltung  zu  bringen,  läßt  er  die  bereits  bekannten 
Tatsachen  der  beginnenden  Reformationsgeschichte  gelegentlich  zu  sehr  in 
den  Hintergrund  treten.  Dafür  entschädigt  er  uns  aber  reichlich  durch  ganz 
neue  Gebiete,  die  er  erschließt. 

Im  wesentlichen  gruppieren  sich  bei  Kalkoff  die  Tatsachen  des  ersten 
Teiles  seines  Buches  um  Luthers  römischen  Prozeß,  die  des  zweiten  Teiles 
um  den  Wormser  Reichstag.  Aufs  genaueste  werden  wir  darüber  unterrichtet, 
wie  der  Ablaßhandel  zur  Kenntnis  der  Kurie  gelangte,  wie  man  zunächst 
den  Reformator  auf  dem  Wege  der  Ordensdisziplin  zum  Schweigen  zu  bringen 
suchte,  wie  alsdann  die  Dominikaner  sich  als  Hüter  der  unverfälschten  Kirchen- 
lehre aufspielten  und  am  päpstlichen  Hofe  eine  Intrigue  über  der  anderen 
gegen  Luther  anzettelten.  Die  schwierigen  Kompetenzverhältnisse  bei  Ein- 
leitung des  ersten  ordentlichen  Prozeßverfahrens  der  Kurie  werden  in  lichter 
Klarheit  vorgeführt.  Wir  erfahren  sodann,  daß  dieses  durch  ein  summarisches 
Verfahren,  dem  die  notorische  Schuld  des  Reformators  als  Voraussetzung 
zugrunde  lag,  abgelöst  wurde:  der  zum  Augsburger  Reichstag  entsandte 
Kajetan  sollte  Luther  mit  nach  Rom  bringen,  wo  ihm  der  Tod  auf  dem  Scheiter- 
haufen sicher  war.  Das  Breve  vom  23.  August  1518,  in  dem  er  mit  dieser 
Vollmacht  betraut  wurde,  hat  Kalkoff  im  Gegensatz  zu  Leopold  von  Ranke, 
der  es  für  unecht  erklärt  hatte,  schon  früher  als  echt  nachgewiesen.  Die  vor- 
liegende Darstellung  zeigt,  ein  wie  völlig  anderes  Tatsachenbild  auch  der 
auf  deutschem  Boden  sich  abspielenden  Vorgänge  die  Aufstellung  der  an 
der  Kurie  wirksamen  Kräfte  ergibt.  In  glänzendem  Lichte  erscheint  als 
Gegenspieler  gegen  die  kurialen  Ketzerrichter  der  sächsische  Kurfürst  Fried- 
rich der  Weise,  der  —  wie  Kalkoff  überzeugend  dartut  —  frühzeitig  sich  zu 

Monatschrift  f.  bOh.  Schulen.    XX.  Jbrg.  13 


178         Paul  Kalkhoff,  Das  Wormser  Edikt  usw.,  angez.  von  Friedrich  Marcks. 

Luthers  Anschauungen  innerlich  bekannt  hat  und  ihm  allen  erdenklichen 
Schutz  hat  angedeihen  lassen. 

Eine  Unterbrechung  erlitt  das  römische  Prozeßverfahren  durch  die  Vor- 
gänge, die  sich  nach  Maximilians  Tode  abspielten.  Leo  X.,  der  weder  Franz  L 
von  Frankreich  noch  den  Habsburger  Karl  zum  Kaiser  gewählt  zu  sehen 
wünschte,  verfiel  darauf,  die  Wahl  des  Kurfürsten  Friedrich  durchzusetzen. 
Diese  Absicht  bedingte  bis  auf  weiteres,  daß  die  Kurie  im  Lutherschen  Handel 
müdere  Seiten  aufzog  —  ein  Umstand,  der  der  Ausbreitung  der  neuen  Lehre 
in  hohem  Maße  zugute  kam.  Das  ganze  Jahr  1519  verlief,  ohne  daß  gegen 
den  Reformator  päpstlicherseits  ernstere  Schritte  unternommen  worden 
wären.  Erst  seit  Beginn  des  Jahres  1520  sehen  wir  die  Kurie  wieder  zu  rück- 
sichtslosem Vorgehen  gegen  den  verhaßten  Ketzer  entschlossen. 

Die  sehr  verwickelten  Vorgänge,  die  sich  auf  dem  Wormser  Reichstag 
abspielten,  hat  Kalkoff  vor  einigen  Jahren  in  einer  inhaltreichen  Unter- 
suchung aufgehellt.  Die  Ergebnisse  derselben  kommen  auch  unserem  Buche 
zugute.  Wir  sind  jetzt  bis  in  die  Einzelheiten  hinein  darüber  unterrichtet, 
wie  sich  die  Aktionen  und  Gegenaktionen  auf  dem  Reichstag  abspielten, 
deren  schließliches  Ergebnis  die  Berufung  Luthers  nach  Worms  war.  Das 
Verhör  des  Reformators  und  das  auf  ungesetzlichem  Wege  erfolgte  Zustande- 
kommen der  gegen  Luther  und  seine  Anhänger  gerichteten,  „erschlichenen" 
Reichsgesetze  bilden  den  Schluß  von  Kalkoffs  Darstellung. 

Abgesehen  von  der  sauberen  Herausarbeitung  der  geschichtlichen  Vor- 
gänge jener  Zeit  bietet  uns  der  Verfasser  auf  Grund  seiner  genauen  Kenntnis 
der  Quellenzeugnisse  eine  ganze  Reihe  von  wertvollen  Charakteristiken  maß- 
gebender Persönlichkeiten,  die  zum  Teil  von  der  herkömmlichen  Auffassung 
abweichen. 

Während  Kajetan  mit  unverhohlener  Sympathie  geschüdert  und  an 
Alexander  die  ungewöhnliche  diplomatische  Fähigkeit  gewürdigt  wird,  er- 
scheint bei  Kalkoff  Miltitz  als  der  aufgeblasene  Wichtigtuer,  aber  auch  der 
gemeinhin  als  Gönner  Luthers  günstig  beurteilte  Spalatin  als  geistig  unbe- 
deutend und  noch  verhältnismäßig  lange  in  altkirchlichen  Vorurteilen  be- 
fangen. 

Das  Buch  gewährt,  da  der  Verfasser  in  Kürze  sachlich  möglichst  viel 
bieten  will,  keine  ganz  bequeme  Lektüre.  Aber  wer  seine  Vorstellungen 
über  die  ersten  Entscheidungsjahre  der  Reformation  dem  Stande  der  neuesten 
Forschung  anpassen  will,  darf  an  ihm  nicht  vorübergehen. 

Leipzig.  Hermann    Bärge. 

Paul  Kalkoff,  Das    Wormser   Edikt   und   die   Erlasse   des    Reichs- 
regiments und  einzelner  Reichsfürsten.  München  und  Berlin  1917. 
R.  Oldenburg.    IX  u.  132  S.    Geh.  5  M. 
Paul  Kalkoff,  der  bereits  früher  die  Hergänge  bei  der  Entstehung  des 
Wormser  Edikts  neu  untersucht  und  es  auf  seine  gesetzliche  Verbindlichkeit 
geprüft  hat,  behandelt  in  der  vorliegenden  Schrift  die  auf  das  Edikt  folgenden 
Erlasse  des  Reichsregiments  und  einzelner  Fürsten  in  ihrer  Stellungnahme 


D.  Wilhelm  Stahl,  Die  diplomatischen  Verhandlungen  usw.,  angez.  von  Fr.  Marcks.      1 79 

zu  demselben.  Außer  dem  Mandat  des  Reichsregiments  vom  20.  Januar  1522 
gilt  seine  Erörterung  dem  Erlaß  des  Herzogs  Georg  von  Sachsen  vom  10.  Fe- 
bruar 1522,  dem  ersten  und  zweiten  bayrischen  Religionsedikt  und  den  Er- 
lassen des  Herzogs  Heinrich  von  Wolfenbüttel,  des  Markgrafen  Philipp  von 
Baden,  des  Herzogs  Anton  von  Lothringen  und  des  Erzherzogs  Ferdinand 
für  Württemberg.  Kalkoff  weist  nach,  wie  zurückhaltend  sich  die  meisten 
dieser  Fürsten,  unter  ihnen  sogar  Luthers  scharfer  Gegner,  Herzog  Georg 
von  Sachsen,  dem  Edikt  gegenüber  gestellt  haben,  indem  sie  es  in  ihren 
Erlassen,  soweit  es  nur  anging,  ignorierten  und  seine  Strenge  milderten. 
Nur  der  Herzog  von  Lothringen,  dessen  Land  ja  bloß  formell  noch  zum  Reiche 
zählte,  während  er  selbst  in  französischem  Lager  stand  und  von  seiner  Zu- 
gehörigkeit zu  den  deutschen  Reichsständen  nichts  wissen  wollte,  und  Karls  V. 
Bruder  Ferdinand  nahmen  sogleich  die  schärfste  Stellung  gegen  Luther  und 
seine  Anhänger.  Die  erneute  Prüfung  der  ständischen  Maßregeln  gegenüber 
der  religiösen  Bewegung  liefert  wichtige  Beiträge  zum  Verständnis  der  kirchen- 
politischen Lage  im  Reiche  nach  dem  Wormser  Reichstage,  bevor  die  schroffere 
Scheidung  der  Geister  und  die  festere  Organisation  der  Parteien  erfolgte. 
So  bedeutet  auch  diese  Schrift  eine  Vertiefung  unseres  Verständnisses  durch 
den  emsigen  Erforscher  der  Reformationsgeschichte. 

Dr.  Wilhelm  Stahl,  Die    diplomatischen    Verhandlungen    vor   Aus- 
bruch des  Weltkrieges  auf  Grund  der  Farbbücher.  (Erweiterter 
Sonderabdruck  aus  Schlutfaß'  Europäischem  Geschichtskalender,  Bd.  LV 
[1914]).     München  1917.     C.  H.  Becksche  Verlagsbuchhandlung  (Oskar 
Beck).    V  u.  57  S.    Leicht  geb.  1,80  M. 
Für  die  unmittelbare  Vorgeschichte  des  Weltkrieges  sind,  wie  bekannt, 
von  sehr  großem   Interesse  und  besonderer  Wichtigkeit  die  Farbbücher, 
in  denen  die  einzelnen  Regierungen  diejenigen  Aktenstücke  veröffentlicht 
haben,  nach  denen  sie  ihre  Politik  beurteilt  wissen  wollen.    Da  ihr  Vergleich 
die  Kontrolle  der  Glaubwürdigkeit  ermöglicht,  lassen  sie  uns  die  innersten 
Gedanken  und  Pläne  der  leitenden  Staatsmänner  in  jenen  Tagen  erkennen. 
Um  auch  weiteren  Kreisen  einen  Einblick  in  dieses  diplomatische  Schach- 
spiel zu  ermöglichen,  bietet  Stahl  eine  Auswahl  des  Wichtigsten,  die  auch 
für  den  Geschichtsunterricht  an  höheren  Schulen  wohl  verwendbar  ist.   Eine 
kurze  Literaturangabe  im  Anhange  weist  dem  Anfänger  den  Weg  zur  Ver- 
tiefung des  Studiums.    Wenn  Lloyd  George  in  seiner  Queenshallrede  vom 
4.  August  von  der  gefährlichsten  Verschwörung  gesprochen  hat,  die  jemals 
gegen  die  Freiheit  der  Völker  geschmiedet  wurde,  so  beweisen  die  Farbbücher 
die  Wahrheit  seiner  Worte  —  wenn  auch  in  anderem  Sinne,  als  er  gemeint  hat. 
Wesel  (Herbst  1918).  Friedrich   Marcks. 

Norden,  Eduard:  Die  germanische  Urgeschichte  in  Tacitus  Ger- 
mania. Mit  einem  Bildnis  und  einer  Karte,  (X  und  505  S.)  Leipzig, 
Teubner  1920.  -  Geh.  30  M.,  geb.  38  M.,  dazu  100%  T.-Z. 

Kaspar  Zeuß,  dessen  Bild  dem  Buch  vorantsteht,  Müllenhoff  und 

Mommsen,  das  sind  die  Ahnen,  denen  sich  dieser  Enkel  würdig  anschließt. 

12* 


180  B'rt»  Theodor,  Römische  Charakterköpfe,  angez.  von  Max  SIebourg. 

Mehr  braucht  man  zu  seinem  Lobe  nicht  zu  sagen.  Norden  stellt  Abschnitte 
der  Germania  in  den  großen  Zusammenhang  der  griechisch-römischen  Ethno- 
graphie. Mit  seiner  umfassenden  Belesenheit  und  seinem  sichern  Stilgefühl 
rückt  er  dabei  die  Urgeschichte  unseres  Volkes  in  neue  Beleuchtung ;  literarische 
Probleme,  wie  Posidonius  und  die  Bella  Germaniae  des  Plinius  werden  mit 
ergebnisreicher  Gründlichkeit  angefaßt.  Besonders  hoch  rechne  ich  ihm  an, 
daß  er  sich  auch  mit  der  ihm  ferner  liegenden  archäologischen  Forschung 
auf  diesem  Gebiet  vertraut  gemacht  hat.  Daß  hier  noch  mancherlei  Lücken 
bleiben,  nimmt  den,  der  die  Weitschichtigkeit  des  Stoffes  kennt,  nicht  wunder. 
Ich  empfand  beim  Lesen  ein  gewisses  Bedauern,  daß  ein  solches  Buch 
in  Berlin  und  nicht  in  Bonn  geschrieben  wurde.  Für  die  Schule  ist  Nordens 
schöne  Gabe  von  besonderer  Bedeutung :  wer  Caesar,  Livius,  Tacitus,  Herodot, 
Thucydides  auf  dem  Gymnasium  zu  treiben  hat,  muß  das  Buch  studieren. 
Neues  Leben  wird  dabei  Stoffen  zugeführt,  die  leider  oft  nur  allzu  wenig 
lebendig  gemacht  werden.  Philologen,  Historiker,  Deutschkundler,  sie  alle 
werden  dankbare  Leser  und  Schüler  Nordens  sein. 

Birt,  Theod.:  Römische  Charakterköpfe.  Ein  Weltbild  in  Biographien. 
4.  Auflage.  354  S.  Verlag  von  Quelle  &  Meyer  in  Leipzig.  1920.  Geb.  28  M. 
Wohl  eher  eine  römische  Geschichte,  als  ein  Weltbild  in  Biographien, 
von  dem  älteren  Scipio  bis  zu  Marc  Aurel :  der  Vorgänger  zu  den  Charakter- 
bildern Spätroms,  die  ich  XXX  (1920),  328  angezeigt  habe.  Das  Buch  hat 
die  gleichen  Vorzüge  und  Mängel,  wie  die  Fortsetzung.  Daß  es  seinen  Weg 
gemacht  hat,  beweist  die  bereits  notwendig  gewordene  4.  Auflage;  es  wird 
ihn  auch  weiter  machen. 

Trendelenburg,  Adolf:  Der   Humor   in   der  Antike,  ein  Band  zwischen 

Dichtung  und  bildender  Kunst.    Vortrag  in  der  Vereinigung  der  Freunde 

des  humanistischen  Gymnasiums  in  Berlin  und  der  Provinz  Brandenburg 

am  5.  Mai  1920.    Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung,  1920.    32.  S.    8». 

3  M. 

Ein  hübscher  Beitrag  zu  der  wichtigsten  Aufgabe  des  altsprachlichen 

Unterrichts,  die  Schriftsteller  und  Denkmäler  zum  Leben  zu  erwecken,  die 

Schüler  im  echten  Sinne  lesen  und  sehen  zu  lehren.    Übrigens  zeigt  gerade 

der  Schluß  der  Alkestis  den  allerfeinsten  Humor  in  der  Art,  wie  Herakles 

dem  Gastfreund  die  Gattin  wieder  zuführt. 

Pfaffendorf  a.  Rh.  Max  Siebourg. 

Neue  Storni- Ausgaben. 

1917  war  das  Jahr  der  Scheffel-Ausgaben;  das  gegenwärtige  Jahri)  hat 
den  Werken  Theodor  Storms  die  weite  Verbreitung  gebracht,  auf  die  sie  bei 


1)  Geschrieben  vor  längerer  Zeit,  worauf  auch   hinsichtlich  der  unten  angegebenen 
Preise  aufmerksam  gemacht  wird. 


Stephan  Ley,  Neue  Storm-Ausgaben.  181 

ihrem  hohen  künstlerischen  Werte  und  ihrer  wachsenden  Wertschätzung 
schon  lange  ein  begründetes  Anrecht  hatten.  Scheffels  Dichtungen  erfreuten 
sich  bei  seinen  Lebzeiten  und  noch  lange  hernach  einer  Beliebtheit,  die  im 
Vergleich  mit  der  Würdigung  anderer  Dichter  eine  gewisse  Überschätzung 
bedeutete;  eine  Veranlassung  indessen  zu  der  geringschätzigen  Art,  wie  heute 
zuweilen  über  ihn  geurteilt  wird^),  ist  keineswegs  gegeben:  es  bleibt  ihm 
in  mehr  als  einer  Hinsicht  ein  wohlbegründeter  Anspruch  auf  Anerkennung 
wahrer  dichterischer  Bedeutung.  Storm  hat  das  umgekehrte,  bei  deutschen 
Dichtern  nicht  gerade  seltene  und  alles  in  allem  genommen  wünschenswertere 
Schicksal  gehabt,  daß  die  —  allerdings  nur  vergleichsweise  —  mangelnde 
Beachtung,  über  die  er  bei  der  Feier  seines  siebzigsten  Geburtstages  und  ander- 
weitig selbst  Klage  führte,  einer  stets  zunehmenden  Teilnahme  und  Bewunde- 
rung gewichen  ist.  Das  sprechendste  Zeugnis  dafür  ist  die  stattliche  Zahl 
der  Ausgaben,  die  nach  dem  Freiwerden  seiner  Werke  bereits  erschienen. 

Mit  hingebender  Sorgfalt  im  ganzen  wie  im  einzelnen  ist  die  Ausgabe 
des  Bibliographischen  Instituts  —  Herausgeber  Theodor  Hertel  — 
gearbeitet.  Zwar  wünscht  man  in  der  sonst  recht  ansprechenden  Biographie 
gelegentlich  etwas  mehr  Kritik  geübt,  so  wenn  die  Worte  Storms :  „Die  Luft 
des  Elternhauses  war  eine  gesunde;  von  Religion  und  Christentum  wurde 
kaum  gesprochen"  (Storm  selbst  sagt  übrigens:  „habe  ich  nie  reden  hören") 
einfach  herübergenommen  werden,  während  Biese  (s.u.)  von  Storms  „durch 
ihn  selbst  oft  gepriesener,  aber  immerhin  doch  recht  einseitiger  Unbefangen- 
heit" spricht;  auch  sieht  man  nicht,  warum  ,,der  Verstand  Storm  die  Hoff- 
nung auf  eine  Fortdauer  des  Lebens  nach  dem  Tode  als  trügerisch  verwerfen 
lassen  mußte".  Anderseits  aber  ist  die  Biographie  gerade  dadurch  wert- 
voll, daß  überall,  wo  angängig,  die  Briefe  und  sonstigen  Aufzeichnungen  des 
Dichters  herangezogen  werden.  Das  gleiche  ist  den  Einführungen  nachzu- 
rühmen ;  so  fußt  die  Darstellung  von  Storms  lyrischer  Eigenart  auf  den  Äuße- 
rungen des  Dichters,  dem  bekanntlich  eine  tiefe  Einsicht  in  das  Wesen  der 
Lyrik  eigen  war.  Die  Einleitungen  zu  den  einzelnen  Novellen  gehen  auf  Fragen 
der  Entstehung,  spätere  Umgestaltungen,  das  Verhältnis  zu  anderweitigen 
Bearbeitungen  desselben  Stoffes  und  die  dichterische  Technik  ein ;  dazu  bringen 
die  Anmerkungen  noch  reichliche  Nachweisungen  aus  dem  Briefwechsel  des 
Dichters  und  andern  Quellen  sowie  aus  der  neuern  Literatur. 

Die  Ausgabe  des  Verlags  Hesse  und  Becker  ist  besorgt  durch  Alfred 
Biese ;  sie  erhält  ihren  besonderen  Charakter  durch  das  freundschaftliche 
Verhältnis,  in  dem  dieser  zu  dem  alternden  Dichter  gestanden,  und  durch 
die  eindringende  Beschäftigung,  die  er  seit  langen  Jahren  dessen  Werken 
gewidmet  hat.  Das  eine  kommt  der  Einleitung  —  „Storms Leben"  und  „Storms 
menschliche  Persönlichkeit"  —  zugute;  besonders  in  dem  zweiten  Abschnitt 
findet  man  manchen  anziehenden,  bisher  unbekannten  Zug  zu  dem  Bilde 

1)  So  neuestens  in  der  5.  Auflage  des  Literarischen  Ratgebers  des  Dürerbundes, 
Sp.  161:  „Den  guten  Scheffel  kann  man  sich  ohne  Verlust  schenken;  wer  es  nicht  lassen 
kann,  verschlinge  den  Trompeter  und  den  Ekkehard  in  dem  Bewußtsein,  weder  einem  Histo- 
riker noch  einem  Seelenkenner  zu  lauschen". 


182  Stephan  Ley, 

des  Dichters.  Das  andere  gibt  den  Einführungen  in  die  Dichtungen  selbst 
ihren  besonderen  Wert.  Von  ihnen  erhält  der  Abschnitt  über  Storms  Lyrik 
eine  willkommene  Ergänzung  durch  die  Angaben  über  das  Entstehungsjahr 
der  einzelnen  Gedichte  und  das  Jahr  des  ersten  Druckes,  die  mit  Hufe  von 
Storms  Tochter  Gertrud  festgestellt  und  dem  Inhaltsverzeichnis  der  Ge- 
dichte beigefügt  sind;  die  Würdigung  von  Storms  Novellenkunst  ist  reich 
an  Hinweisen,  die  über  literarische  und  persönliche  Zusammenhänge  auf- 
klären. Jedem  Bande  gehen  schließlich  Einführungen  zu  den  einzelnen 
Novellen  voraus;  hier  mag  man  Zweifel  hegen  über  die  Zweckmäßigkeit  der 
eingehenden  Inhaltsangaben,  die  allerdings  die  Hauptpunkte  der  Handlung 
scharf  hervortreten  lassen  und  auch  so  dem  Verständnisse  vorzuarbeiten 
suchen.  Auch  über  Einzelpunkte  wird  man  gelegentlich  anderer  Meinung 
sein,  so  wenn  in  ,, Carsten  Curator"  nur  die  Naturnotwendigkeit  die  Gescheh- 
nisse bestimmen  soll ;  es  stützt  sich  diese  Annahme  freüich  auf  Storm  selbst, 
aber  auch  er  wird  gerade  mit  seiner  Auffassung  der  Tragik  keine  unbedingte 
Zustimmung  finden,  die  „die  Verantwortlichkeit  für  das  Tun  mehr  der  Ge- 
samtheit —  wie  Volk,  Stand,  Zeit  —  als  dem  Einzelnen  zurechnen  will".  — 
Mir  liegt  augenblicklich  nur  die  kleine  Ausgabe  vor,  die  in  zwei  Bänden  außer 
den  Gedichten  23  Novellen  und  Geschichten  samt  dem  Fragment  ,,Die  Arme- 
sünderglocke" enthält. 

Eine  Auswahl,  allerdings  eine  recht  umfangreiche,  stellt  auch  die  Aus- 
gabe des  Verlags  Bong  dar,  die  Felix  Lorenz  mit  einem  Lebensbüd,  einer 
Einführung  und  Anmerkungen  ausgestattet  hat:  die  vollständige  Sammlung 
der  Gedichte  und  33  Prosadichtungen  in  zeitlicher  Folge.  Die  Biographie 
übertrifft  die  der  anderen  Ausgaben  an  Stimmungsgehalt,  und  zwar  aus  dem 
einfachen  Grunde,  weil  der  Herausgeber  oft  seitenlang  Storm  selbst  durch 
Vermittlung  seiner  so  anziehenden  autobiographischen  Aufzeichnungen 
sprechen  läßt.  Einige  Striche  hätten  immerhin  hinzugefügt  werden  können, 
sowie  auch  hier  wieder  einzelnes  sich  bestreiten  läßt  —  etwa  wenn  Klaus 
Groth  Storms  Freund  genannt  wird,  was  er  im  eigentlichen  Wortsinne  nach 
Bieses  Mitteilungen  kaum  gewesen  sein  dürfte.  Die  den  Novellen  vorausge- 
schickte allgemeine  Einleitung  weist  die  Elemente  von  Storms  Novellen- 
dichtung nach  und  charakterisiert  deren  verschiedene  Gattungen.  Einzel- 
einführungen sind  dann  nicht  mehr  gegeben,  wohl  aber  am  Schluß  des  letzten 
Bandes  Anmerkungen,  die  das  Nötigste  zum  Verständnis  beitragen  wollen. 
—  Eine  kleinere  Auswahl  desselben  Verlags  faßt  in  einem  Bande  unter  dem 
Titel  „In  Sturm  und  Sonne"  die  „schönsten"  Novellen  —  12  —  und  rund 
60  Gedichte  zusammen ;  sie  ist  auf  gutem  Papier  hübsch  gedruckt,  mit  vier 
bildlichen  Beilagen  und  einer  Handschriftprobe  (wie  die  größere  Ausgabe) 
ausgestattet  und  stellt  in  ansprechendem  weißen  Leinenband  ein  empfehlens- 
wertes kleines  Geschenkwerk  dar. 

Die  durch  Karl  Lindner  im  Habbelschen  Verlag  herausgegebene 
Auswahl  umfaßt  vier  Bände  in  kleinem  Format.  Hier  sind  zum  Gebrauch 
weiterer  Kreise  eine  Anzahl  Gedichte  und  14  Novellen  zusammengestellt, 
die  zur  Erörterung  von  Weltanschauungsfragen,  wie  manche   Stormsche 


Neue  Storm- Ausgaben.  183 


Dichtung  sie  nahelegt,  keinen  Anlaß  bietei|;|Die  etwas  gar  zu  knappe  Bio- 
graphie ist  von  Flüchtigkeiten  sprachlichef*Art  („er  schloß  mit  der  chroni- 
kalischen Aquis  submersus  ab;  es  gebühriimni  unbedenklich  die  Palme") 
nicht  frei.  f  j 

Die  Einleitung  zu  der  Dunckerschen  Ausgabe  der  „Ausgewählten  No- 
vellen" —  elf  an  der  Zahl  —  von  Hermann  Kellermann  weist  mehrfach 
sachliche  Ungenauigkeiten  auf:  „Constanze,  um  deren  spröde  Schönheit  er 
jahrelang  vergeblich  geworben"  —  in  dieser  Form  mißverständlich;  „er 
begründet  1844  sein  Eheglück  mit  Constanze  .  .  .  aber  noch  gönnt  ihm  die 
Heimat  keine  Ruhe  und  Genügen"  —  immerhin  währte  es,  wie  gleich  nachher 
zu  lesen  ist,  noch  neun  Jahre,  bis  Storm  seine  Vaterstadt  verließ;  Storms 
zweite  Frau  hieß  nicht  Dorothea  Jansen,  sondern  Jensen;  und  ob  „Immen- 
see" gerade  „die  schönste  Frucht  der  Resignationspoesie"  genannt  werden 
kann,  ist  mindestens  fraglich.  Auch  die  34  Thalmannschen  Bilder,  zum  Teil 
Vignetten,  zeugen  nicht  gerade  von  besonderer  Vertiefung  —  man  sehe  etwa 
die  beiden  ganzseitigen  Bilder  zu  den  Novellen  ,,Die  Söhne  des  Senators"  und 
„Beim  Vetter  Christian" ;  die  Ortsbilder  haben  von  Husum  oder  auch  nur 
norddeutschem  Städtecharakter  keine  Spur. 

Walther  v.  Molo  bietet  als  ,, Schönstes  von  Storm":  Pole  Poppen- 
späler.  Der  Herr  Etatsrat,  Bötjer  Basch  und  Schimmelreiter,  dazu  Der  kleine 
Hävelmann,  untermischt  mit  23  Gedichten.  Daß  der  „Etatsrat"  zu  den  am 
meisten  charakteristischen  Novellen  gehört,  wird  niemand  bestreiten;  ob 
die  Erzählung  auch  den  schönsten  beizuzählen  sei,  hängt  von  dem  Inhalte 
ab,  den  man  diesem  Worte  gibt.  Die  Einleitung  weiß  in  ansprechender,  nur 
zuweilen  etwas  gesuchter  Form  die  Elemente  von  Storms  Leben  und  Dichtung 
und  die  bekanntesten  Personen  aus  seinen  Novellen  zu  einem  dichterisch 
geschauten  Bilde  seiner  Persönlichkeit  zu  vereinigen.  Das  Buch  ist  schön 
gedruckt;  um  so  auffallender,  daß  man  kein  besseres  Klischee  für  das  Porträt 
verwenden  konnte. 

In  einem  stattlichen  Großoktavband  stellt  Fedor  v.  Zobeltitz  14  No- 
vellen und  12  Gedichte  zusammen  —  letzteres  wenig  genug;  unter  jenen 
sind  die  kürzern  Stücke  bevorzugt,  die  zudem  meist  Storms  früherer  Schaffens- 
periode angehören.  Einleitung  in  der  Hauptsache  biographisch;  hier  stört 
nicht  nur  der  merkwürdige  Satz:  „Der  Poetenkreis  des  Rütli  und  des  Tunnel, 
Fontane,  Merkel  ...u.a.  begrüßte  ihn  als  einen  der  Ihren"  —  auch  die  Charak- 
teristik des  wundervollen  Gedichtes  „Wer  nie  gelebt  in  Liebesarmen"  durch 
die  Wendung  „hübsche  Verse"  wirkt  etwas  oberflächlich. 

Die  Bartelssche  Auswahl  gehört  zu  einer  Reihe  von  Auslesebänden, 
die  der  Verlag  Voigtländer  neuerdings  veröffentlicht i).  Sie  bringt  unter 
Ausschluß  von  Gedichten  nur  vier  Novellen,  und  einer  solch  kleinen  Zahl 
gegenüber  wird  dann  allerdings  die  Frage  nach  dem  Werte  der  einzelnen 

^)  Ein  zweiter  Band  „Altösterreichische  Erzähler",  ebenfalls  von  Bartels 
zusammengestellt  und  eingeleitet,  enthält  7  Erzählungen  von  Schriftstellern  der  Bieder- 
meierzeit, zu  deren  jeder  Hans  Friedrich  ein  hübsches  Titelbild  gezeichnet  hat  (ungebd.  5, 
gbd.  6,50  M.). 


184  Stephan  Ley, 

ihre  besondere  Berechtigung  haben,  zumal  wenn  hier  neben  Psyche,  Aquis 
submersus  und  dem  Schimmelreiter  die  kleine  Geschichte  Auf  dem  Staats- 
hof steht.  Meint  aber  der  Herausgeber  zudem  noch :  „Dieser  Band  ist  vielleicht 
von  allen  Storm-Neuveröffentlichungen  am  meisten  geeignet  darzutun,  daß 
Storm  zuletzt  doch  etwas  mehr  als  der  Erzähler  feiner  Familiengeschichten 
war",  so  schätzt  er  das  Verdienst  seiner  kleinen  Auswahl  wohl  etwas 
zu  hoch  ein.  Die  Einleitung  hat  nicht  gerade  viel  zu  bedeuten.  Was  will 
z.  B.  eine  Bemerkung  besagen  wie  diese:  „Die  Heldin  ist  eine  zarte,  feine 
Gestalt,  wie  sie  in  diesen  nordischen  Gegenden  neben  den  robusten  wohl 
vorkommen"  —  sollte  das  wirklich  nur  dort  der  Fall  sein?  Und  wenn  in  der 
Vorbemerkung  zu  Psyche  der  Kernpunkt  mit  den  Worten  bezeichnet  wird: 
„Sie  schämt  sich,  daß  der  junge  Mann  sie  in  seinen  Armen  getragen,  aber  vor 
einem  Bildwerk  des  Künstlers,  das  den  Retter  und  die  Gerettete  darstellt, 
finden  sich  die  beiden",  so  ist  damit  an  dem  eigentlich  Entscheidenden,  der 
Darstellung  des  Vorganges  in  einer  der  Öffentlichkeit  zugänglichen  Gruppe, 
ganz  vorbeigesprochen. 

Eine  Reihe  von  Einzelausgaben  sucht  durch  Billigkeit  dem  Bedürfnis 
weiterer  Kreise  entgegenzukommen,  und  durch  sie  ist  zugleich  die  Möglich- 
keit geboten,  einzelne  Novellen  für  die  Privatlektüre  der  Schüler  heranzu- 
ziehen*).  In  der  Reihe  von  Schaffsteins  Blauen  Bändchen  erschienen 
z.  B.  die  Geschichten  aus  der  Tonne,  Pole  Poppenspäler,  Bötjer  Basch  und 
der  Schimmelreiter,  gut  gedruckt,  Zeichnungen  meist  von  Ubbelohde  mit 
den  Vorzügen  und  Schwächen  seiner  Bilder ;  Pole  Poppenspäler  ist  mitSchatten- 
bildern  von  Börsner  ausgestattet,  die  in  ihrer  Verkennung  der  Körper- 
und  Größenverhältnisse  zuweilen  komisch  wirken.  Der  Verlag  hat  auch  einzelne 
Novellen  (Der  Schimmelreiter;  Immensee  und  andere  Geschichten)  als  kleine 
Geschenkbändchen  in  besserer  Ausstattung  herausgegeben;  warum  beim 
Schimmelreiter  Storms  eigene  Worterklärungen  ausgelassen  sind,  ist  nicht 
erfindlich.  —  Eine  ganze  Anzahl  Novellen,  bisher  25,  ist  auch  schon  in 
Reclams  Universalbibliothek  erschienen,  mit  Einleitungen  von  Walther 
Hermann,  meist  2—4  Seiten  umfassend,  aber  für  eine  erste  Einführung 
völlig  ausreichend.  Brauchbar  sind  insbesondere  die  kurzen  Angaben  über 
Entstehung  usw.,  bei  denen  Äußerungen  des  Dichters  selbst  herangezogen 
werden;  so  ist  zur  Chronik  von  Grieshus  eine  Stelle  aus  Storms  Tagebuch 
mitgeteilt,  die  von  seinem  Enkel  Enno  Krey  veröffentlicht  wurde  und  für 
das  Werden  dieser  Erzählung  besonders  lehrreich  ist.  —  Immensee  und 
Hans  und  Heinz  Kirch  aus  dem  Amelangschen  Verlag  gehören  zu  dessen 
sog.  Liebhaberausgaben  und  bieten  die  Texte  ohne  jede  Zutat.  Der- 
selbe Verlag  veröffentlicht  noch  eine  gut  gedruckte  und  zierlich  ülustrierte 
Ausgabe  von  Immensee  mit  23  Abbildungen  nach  Hasemann  und  Kanoldt, 
die    das    mehr    Konventionelle    der    altern  Buchillustration    haben,    aber 


1)  Soweit  dabei  Pole  Poppenspäler  in  Frage  kommt,  hätte  man  im  Interesse  mög- 
lichst allseitiger  Verwendbarkeit  die  Stelle  weglassen  sollen,  mit  deren  Ausschaltung  Storm 
selbst,  wenn  auch  von  der  Notwendigkeit  nicht  überzeugt,  beim  Abdruck  in  einer  Jugend- 
zeitschrift sich  einverstanden  erklärte. 


Neue  Storm-Ausgaben.  185 

manchen  Leser  doch  noch  eher  ansprechen  werden  als  die  Extravaganzen, 
mit  denen  neueste  Richtungen  unsern  Dichtern  gerecht  zu  werden  meinen. 
—  Die  Stormausgaben  der  sog.  Zweifäusterdrucke  sind  zierliche  Einzel- 
bändchen,  die  in  Format,  Papier  und  feinem  Druck  („Frühlingsfraktur") 
sich  ausgezeichnet  für  die  Aufnahme  Stormscher  Dichtungen  eignen.  Um 
so  weniger  passen  dazu  die  Steinzeichnungen  von  Robert  Budzinski ;  von  dem 
künstlerischen  Werte  dieser  expressionistischen  Darstellungen  an  sich  ein- 
mal abgesehen  (am  ersten  wird  man  noch  mit  einigen  Bildchen  zu  Immensee 
sich  befremden  können)  hätte  man  sich  sagen  sollen,  daß  diese  Art  der  Illu- 
stration mit  der  sonstigen  Ausstattung  sich  zu  einem  einheitlichen  Eindrucke 
nicht  zusammenschließt.  —  Neuerdings  erschienen  einige  Novellen  (Immensee 
mit  Späte  Rosen  und  Ein  Bekenntnis)  in  der  „Sammlung  Thümmler"; 
sie  empfehlen  sich  durch  bequemes  Format,  guten  großen  Druck  und  eine 
besonders  ansprechende  Einbandzeichnung,  die  bei  allen  Bändchen  der  Samm- 
lung i)  verschieden  ist.  —  Eine  Einzelausgabe  von  Aquis  submersus  unter 
dem  verdeutschten  Titel  „In  der  Flut  versunken"  ist  eingeleitet  durch 
eine  biographische  Skizze  aus  der  Feder  von  Storms  Tochter  Gertrud; 
die  Bilder  von  Berwald,  nicht  ohne  einzelne  gelungene  Züge,  sind  der  Mehr- 
zahl nach  doch  wieder  zu  sehr  vom  Herkömmlichen  bestimmt. 

Zum  Schluftsei  noch  auf  die  neuen  Storm-Ausgaben  des  Verlags 
Westermann  aufmerksam  gemacht,  der  bis  zum  Ablauf  der  Schutzfrist  über 
die  Gesammelten  Werke  zu  verfügen  hatte.  Er  hat  neben  der  neuerdings 
durch  vier  Briefbände  (s.  u.)  erweiterten  großen  Ausgabe  eine  dreibändige, 
ebenfalls  vollständige,  herausgebracht,  bei  der  infolge  der  Zusammendrängung 
auf  verhältnismäßig  beschränkten  Raum  die  Druckanordnung  etwas  arg 
enge  genommen  werden  mußte;  sodann  eine  sog.  Storm-Bücherei,  vier 
Bändchen  ausgewählter  Novellen  in  Karton  —  von  ihnen  trägt  die  Ausgabe 
des  Pole  Poppenspäler  den  Vermerk:  200.  bis  210.  Tausend!  Besonders 
wertvoll  aber  ist  der  durch  ganzseitige  Federzeichnungen  von  Soltau  illu- 
strierte Band  mit  einer  Auswahl  von  Novellen  und  Gedichten :  vornehm  ge- 
töntes starkes  Papier,  großer  Druck  und  geschmackvoller  Ganzleinenband 
mit  Kopfgoldschnitt  —  ein  Meisterwerk  des  Buchdrucks,  um  so  mehr  anzu- 
erkennen, als  das  Buch  unter  den  schwierigsten  Verhältnissen  der  Kriegszeit 
hergestellt  wurde. 

Zu  Storms  Werken  bilden  eine  unentbehrliche  Ergänzung  seine  Briefe, 
und  zwar  aus  dem  doppelten  Grunde,  weil  sie  die  willkommenste  Aufklärung 
über  deren  Entstehung  und  weitere  Geschichte  geben  und  weil  sie  auch  an 
sich  wieder  wertvolle  Erzeugnisse  seiner  Feder  darstellen.  Storm  ist  Zeit 
seines  Lebens  ein  leidenschaftlicher  Briefschreiber  gewesen,  so  daß  noch  eine 
Fülle  von  Briefen  aus  dem  Nachlaß  und  anderweitigem  Besitz  herausgegeben 
werden  konnte.  Die  Familienbriefe  —  an  seine  Braut,  an  seine 
Frau,  an   die   Kinder  —  hat  seine  Tochter  Gertrud,  die  eifrige  und  ver- 

1)  Bisher  10  Nummern;  außer  Storm  Erzählungen  bzw.  Liedersammlungen  von 
Stifter,  Hauff,  Mörike,  Eichendorff  und  Heine.  Durch  diese  Namen  ist  die  Richtung  des 
neuen  Unternehmens  hinreichend  gekennzeichnet. 


186  Stephan  Ley, 

ständnisvoUe  Verwalterin  seines  Nachlasses,  als  Band  9—11  der  „Werke" 
veröffentlicht,  als  zwölften  die  Briefe  an  die  Freunde  Brinkmann  und 
Petersen;  diese  vier  Bände  sind  übrigens  auch  einzeln  zu  haben.  In  den 
drei  erstgenannten,  die  mit  einigen  Familienbildern  geschmückt  sind,  steht 
das  Persönliche  durchaus  im  Vordergrund;  hier  spricht  der  hingebende, 
aber  zuweilen  auch  etwas  lehrhafte  Bräutigam,  der  verständnisvolle  Gatte, 
der  liebende  Vater,  auch  der  Fanatiker  —  sozusagen  —  der  behaglich-sinnigen 
Teeabende  und  der  Meister  in  der  Ausgestaltung  der  Weihnachtsfeier;  viel 
Schönes  und  Erfreuliches,  nur  zuweilen  stört  ein  peinlicher  Ton,  so  wenn 
er  seine  Braut  zum  Verzicht  auf  die  von  ihm  mißachtete  kirchliche  Trauung 
zu  bewegen  sucht.  Die  Briefe  an  die  Freunde  gehen  mehr  auf  die  literarischen 
Interessen  ein,  ohne  die  persönlichen  auszuschließen. 

Ähnlich  ist  es  mit  dem  wichtigen  Heyse-StormBriefwechsel,  der 
in  wachsender  Vertraulichkeit  bis  zum  Tode  Storms  sich  fortsetzt.  Er  ge- 
währt einerseits  anziehende  Einblicke  in  das  Familienleben  der  beiden  Dichter 
und  läßt  alle  die  liebenswürdigen  Züge  ihres  Wesens,  hier  und  da  freilich 
auch  Unzulängliches  in  ihrer  Lebensauffassung  hervortreten ;  auf  der  andern 
Seite  gibt  er  reiche  Aufschlüsse  über  die  Geschichte  ihrer  Werke  und  zeigt, 
wie  sie  in  offenherziger  Kritik  sich  zu  fördern  suchen.  Eine  Zeitlang  steht 
im  Mittelpunkte  des  Briefwechsels  der  Heysesche  Novellensch#tz,  an  dem  Storm 
durch  immer  neue  Vorschläge  und  Nachweisungen  sich  beteiligt.  Der  Heraus- 
geber, Georg  J.  Plotke,  hat  den  einzelnen  Briefen  die  nötigen  Erläuterungen 
in  verständiger  Beschränkung  und  doch  völlig  ausreichendem  Maße  beigegeben. 
Auch  diese  Bände  bringen  eine  Reihe  höchst  interessanter  Bilder  aus  dem 
Famüienkreise  der  beiden  Dichter. 

Denselben  Charakter  trägt  endlich  auch  der  Briefwechsel  mit  Mörike, 
nur  daß  bei  letzterem  dieZeit  des  Schaffens  im  wesentlichen  schon  vorbei  war; 
auch  sonst  ist  Storm  hier  mehr  der  Gebende,  insofern  die  größere  Zahl  der 
Briefe,  zumal  der  umfangreichern,  von  ihm  stammt.  Anhangsweise  sind 
auch  die  bis  zu  Storms  Tode  zwischen  diesem  und  Mörikes  Witwe  gewechselten 
Briefe  gegeben.  Der  Herausgeber,  Hanns  Wolfgang  Rath,  hätte  nur 
auf  die  sonderbare  und  höchst  störende  Art  verzichten  sollen,  mit  der  die  An- 
merkungen in  den  Brieftext  eingeschoben  sind,  der  dadurch  auf  Schritt  und 
Tritt,  einmal  z.  B.  auf  den  Raum  von  20  Zeilen,  unterbrochen  wird^).  Auch 
empfihdet  man  die  Regestenform,  in  der  einige  von  Margarete  Mörikes  Briefen 
gegeben  sind,  als  etwas  willkürlich,  wie  denn  ja  an  sich  schon  diese  Form 
die  Entscheidung  über  wichtig  und  weniger  wichtig  dem  Ermessen  des  Be- 


1)  Dasselbe  ist  übrigens  der  Fall  in  dem  von  dem  gleichen  Herausgeber  bearbeiteten 
Briefwechsel  zwischen  Mörike  und  Schwind,  auf  den  bei  dieser  Gelegenheit  eben- 
falls hingewiesen  sei.  Er  ist  gegen  die  frühere,  von  Baechtold  besorgteAusgabe  um  31  Nummern 
vermehrt  und  erschließt  auf  glücklichste  den  persönlichen  und  künstlerischen  Charakter 
der  beiden  Männer:  Schwind,  der  humorvolle  Plauderer,  der  bei  Gelegenheit  kein  Blatt 
vor  den  Mund  nimmt,  Mörike,  zurückhaltender  und  hier  auch  für  die  Probleme  des  Malers 
interessiert.  Dessen  Zeichnungen  zur  Schönen  Lau  machen  neben  mehreren  Bildnissen  den 
Bilderschmuck  des  Bandes  aus  (ungebd.  6,  gbd.  9  M.). 


Neue  Storm-Ausgaben.  187 

arbeiters  überläßt;  man  hätte  z.  B.  ihren  Brief  vom  21.  November  1882  mit 
Rücksicht  auf  das  in  Storms  vorangegangenem  Schreiben  berührte  Problem 
gern  vollständig  abgedruckt  gesehen.  —  Dieser  Briefwechsel  ist  am  reichsten 
illustriert:  außer  24  Tafeln  mit  wertvollen  Porträts  enthält  er  noch  eine 
Reihe  von  Bildern  im  Text. 

Nachtrag.  Eben  bietet  sich  Gelegenheit,  auch  die  von  Albert  Köster 
besorgte  Ausgabe  des  Insel  verlags  noch  kurz  zu  charakterisieren.  Sie  wird 
ausdrücklich  als  kritische  bezeichnet  und  hat  in  dieser  Beziehung  ihre 
Grundlage  in  des  Herausgebers  „Prolegomena  zu  einer  Ausgabe  der  Werke 
Theodor  Storms"  (Berichte  d.  Sachs.  Gesellsch.  d.  Wiss.,  phil.-hist.  Klasse, 
1918).  Den  Niederschlag  dieser  Erörterungen  findet  man  im  8.  Bande  der 
vorliegenden  Ausgabe:  hier  ist  durch  eine  wohlbemessene  Auswahl  von  Les- 
arten und  vor  allem  auch  von  größern  Textänderungen  das  wünschenswerte 
Licht  über  die  bei  Storm  besonders  interessante  Textgeschichte  verbreitet; 
daneben  kommt  auch  das  Literargeschichtliche  und  Ästhetische  zu  seinem 
Recht.  Die  Ausgabe  beginnt  mit  einer  Biographie,  zu  deren  Lob  man  nichts 
Besseres  sagen  kann,  als  daß  ihr  Verfasser  ihr  einen  Hauch  Stormscher  Er- 
zählerkunst mitzuteilen  verstanden  hat ;  inhaltlich  wird  auch  hier  eins  und 
das  andere  verschieden  beurteilt  werden.  Es  folgen  die  Gedichte  in  zwei 
Gruppen:  die  vom  Dichter  selbst  veröffentlichten  und  die  der  Nachlese. 
Die  hier  sich  wiederholende  Frage,  ob  man  Dichtungen,  die  ihr  Urheber 
selbst  zurückgehalten,  nachträglich  ans  Licht  ziehen  dürfe,  ist  bei  einem 
so  gewissenhaften  Künstler  wie  Storm  von  besonderer  Wichtigkeit ;  ich  möchte 
mit  Biese  dabei  bleiben,  daß  es  nicht  zulässig  ist,  „die  längst  von  dem  Dichter 
als  unreife  Jugendlyrik  in  verdiente  Vergessenheit  zurückgewiesenen  Ge- 
dichte wieder  hervorzuzerren".  Immerhin  ist  anerkennenswert,  daß  Köster 
nur  das  bringt,  was  schon  einmal  den  Weg  in  die  Öffentlichkeit  gefunden, 
dagegen  von  dem  vielen  noch  Ungedruckten  nichts  benutzt  hat.  Die  Novellen, 
die  die  weitern  Bände  bis  zum  achten  füllen,  sind,  wie  Storm  selbst  es  wünschte, 
chronologisch  geordnet.  —  Die  äußere  Ausstattung  ist  vortrefflich;  sie  stellt 
in  Verbindung  mit  den  Innern  Vorzügen,  die  Ausgabe  in  die  erste  Reihe  der 
vorhandenen. 
Theodor    Storms    sämtliche    Werke  in  acht  Bänden,  herausgegeben 

von  Albert  Köster.    Im  Insel-Verlag  zu  Leipzig,  1920.    Geb.  in  Ganzlw. 

80  M. 
Storms   Werke,  herausgegeben  von  Theodor  Hertel.     Kleine  Ausgabe  4» 

vollständige  6  Bände.    Leipzig,  Bibliographisches  Institut.    Geb.  28  bzw- 

42  M. 

Theodor  Storms  sämtliche  Werke.  3  Bände.  Braunschweig,  Wester- 
mann.   Geb.  19  M. 

Theodor  Storm,  Ausgewählte  Werke,  herausgegeben  von  Alfred  Biese. 
7  Teile  in  2  Bänden.    Leipzig,  Hesse  u.  Becker.    Geb.  10  M. 

Storms  Werke,  herausgegeben  von  FeHx  Lorenz.  3  Bände.  Berlin,  Bong 
&  Co.     Geb.  18  M. 


1 88     Kjell6n,  Rudolf,  Die  Großmächte  und  die  Weltkrise,  angez.  von  Max  Siebourg. 

In   Sturm  und   Sonne.    Herausgegeben  von  Felix  Lorenz.    Berlin,  Bong 

&  Co.    Geb.  12  M. 
Stör  ms  Werke,  ausgew.  von  Karl  Lindner.  4  Bände.  Regensburg,  Habbel. 

Geb.  12  M. 
Theodor    Storm,  Ausgewählte  Novellen,  mit  Einleitung  von  Hermann 

Kellermann.    Weimar,  Duncker.    Geb.  8  M. 
Das  Schönste  von  Storm.  Herausgegeben  von  Walther  v.  Molo.  München, 

Langen.    Geb.  5  M. 
Theodor    Storm,  Erzählungen  und  Dichtungen  (so),  herausgegeben  und 

ausgewählt  (so)  von  Fedor  v.  Zobeltitz.  München,  Rösl.  &  Co.   Geb.  10  M. 
Am  grauen  Strand,  am  grauen  Meer.  Heimaterzählungen  von  Theodor 

Storm,  Einleitung  von  Adolf  Bartels.   Leipzig,  Voigtländer.    Geb.  6,50  M. 
Stör  ms    Meisternovellen,  mit  Federzeichnungen  von  Soltau.     Braun- 
schweig, Westermann.    Geb.  25  M. 
Schaffsteins  Blaue  Bändchen,  Nr.  101,  102,  103,  104;  kart.  je  0,80  M. 

Immensee  u.  Schimmelreiter,  Geschenk-Ausgabe,  je  3  M. 
Reclams  Universalbibliothek,  Nr.  6007,  6013-16,  6021-24,  6035-36, 

6053-55,  6070-73.    Ungeb.  je  0,65  M. 
Amelangs   Liebhaberausgaben,  geb.  je  1,50  M.     Immensee  ill.  Ausg. 

Geb.  4,50  M. 
Matthes'  Zweifäusterdrucke,  geb.  je  2,50  M. 
Sammlung  Thümmler,  geb.  je  2,50  M. 
Westermanns  Stormbücherei,  4  Bändchen  in  Kart.    6  M. 
In  der  Flut  versunken  (Aquis  submersus)  mit  Einl.  von  Gertrud  Storm. 

Hamburg-Großborstel,  Deutsche  Dichter-Gedächtnis-Stiftung.    Geb.  2  M. 
Storms  Briefe  an  seine  Braut  —  an  seine  Frau  —  an  seine  Kinder 

—  an  seine   Freunde   Brinkmann  und   Petersen.    Braunschweig, 

Westermann.    Geb.  je  6—8  M. 
Der    Briefwechsel   zwischen    Paul    Heyse   und   Theodor    Storm, 

herausgegeben  und  erläutert  von  Georg  J.  Plotke.    2  Bände.    München, 

Lehmann.    Geb.  je  9,80  M. 
Briefwechsel    zwischen    Theodor    Storm    und    Eduard    Mörike, 

herausgegeben  von  Hanns  Wolfgang  Rath.  Stuttgart,  Hoffmann.  Geb.9M. 
Wipperfürth.  Stephan  Ley. 

Kjellen,  Rudolf:  Die    Großmächte   und   die   Weltkrise.    Leipzig  und 
Berlin  1921.   B.  G.  Teubner.  249  S.  8».  -  Kartoniert  9  M.,  geb.  11  M.  + 
100%  Teuerungszuschlag. 
Kjellens  bekanntes  Buch  „Die  Großmächte  der  Gegenwart",  das  von 
1914—1918  in  Deutschland  19  Auflagen  erlebte,  bedurfte  nach  dem  Aus- 
gang des  Weltkrieges  einer  Erneuerung.  Zwei  Drittel  davon  sind  umgearbeitet 
in  das  neue  Buch  übergegangen;  ein  Drittel,  „Die  Weltkrise  und  das  neue 
System",  sind  hinzugekommen.   Über  die  allgemeine  Bedeutung  des  Werkes 
zu  sprechen  erübrigt  sich  hier :  es  wird  seinen  Weg  ebenso  machen,  wie  das 
alte  Buch.     Ein  kurzes  Wort  dagegen  verdient  seine  Bedeutung  und  sein 


Graf  von  Pestalozza,  Die  Schulgemeinde,  angez.  von  Borbein.  i89 

Wert  für  den  Unterricht.  Für  die  zusammenfassenden  Betrachtungen  und 
Wiederholungen  in  der  Geschichte  und  Erdkunde  auf  der  Oberstufe  bietet 
Kjellen  nicht  nur  das  zuverlässige  Material,  er  ist  auch  zugleich  der  rechte 
Führer  zu  jener  politischen  Bildung,  die  uns  so  bitter  not  tut.  Zu  einer  Fülle 
von  selbständigen  Arbeiten,  die  der  Primaner  auf  diesem  Gebiete  leisten 
kann*,  gibt  das  Buch  Anstoß  und  Anleitung.  Dabei  ist  es  von  höchster  er- 
ziehlicher Kraft,  von  einem  Freunde  mit  unbestechlicher  Wahrheitsliebe 
die  Schwächen  und  die  Vorzüge  unsresVolkes  dargelegt  zu  sehen.  Doch  möchte 
ich  nicht  verschweigen,  wie  befremdlich  es  mir  war  von  einem  Kenner  wie 
Kjellen  das  Sudelwerk  Manns  ,, der  Untertan"  als  Quelle  verwertet  zu  finden. 
Ich  wünsche  und  erhoffe  demWerk  die  weiteste  Verbreitung  an  unseren  Schulen. 
Pfaffendorf  a.  Rh.  Max  Siebourg. 

Graf  von  Pestalozza,  August  Dr.,  Die  Schulgemeinde.  Ein  Versuch  zu 
ihrem  Aufbau  auf  philosophischer  Grundlage.  Langensalza  1921.  Beyer 
&  Söhne.     170  S.    7,50  M. 

Der  Verfasser  besitzt  als  Schriftsteller  eine  ausgeprägte  Eigenart,  die 
in  diesem  Werk  vielleicht  noch  stärker  hervortritt  als  in  früheren  Schriften 
gleicher  Richtung.  Er  ist  eine  Persönlichkeit,  die  mit  philosophischer  Ver- 
anlagung Warmherzigkeit  und  Sinn  für  die  idealen  Forderungen  des  mensch- 
lichen Gemeinschaftslebens  verbindet  und  daher  sich  nicht  gern  begnügt 
mit  dem  rein  verstandesmäßigen  Denken,  sondern  zu  den  sachlichen  Gründen 
das  bunte  Rankenwerk  des  aus  Erfahrung  und  Schrifttum  schöpfenden 
Gemüts  hinzufügt.  Diese  Geistesrichtung  gibt  dem  vorliegenden  Buch  Farbe 
und  Reiz,  namentlich  für  alle  Leser  von  ähnlicher  Veranlagung,  läßt  den  Ver- 
fasser aber  vielfach  auch  abschweifen  auf  Nebenwege,  die  vom  Thema  fort, 
statt  zu  ihm  hin  führen,  und  mag  so  manchem,  der  eine  Antwort  auf  die  ihn 
bewegenden  konkreten  Fragen  sucht,  hier  und  da  enttäuschen.  Auch  der 
Kritiker  kann  unter  diesen  Umständen  nicht  viel  mehr  sagen,  als:  Nimm 
und  ließ!  Solches  allerdings  auch  mit  der  ehrlichen  Überzeugung,  daß  alle 
Erzieher,  denen  der  Gedanke  der  Schulgemeinde  noch  etwas  Größeres  ist 
als  bloß  eine  Tagesfrage,  zu  ihrem  Rechte  kommen  werden. 

Mit  Entschiedenheit  wendet  Pastalozza  sich  in  dem  einleitenden  Teil 
gegen  die  Auffassung  der  Schulgemeinde  als  einer  nur  äußerlichen  Organisation, 
diese  ist  ihm  vielmehr  erst  dann  wertvoll,  wenn  sie  das  innere  Leben  wieder- 
spiegelt. Um  vom  Schlagwort  zur  Idee  zu  gelangen,  nimmt  er  Plato,  Herbart, 
Kant  zu  Hilfe,  bekommt  aber  erst  festen  Boden  unter  die  Füße,  indem  er 
sich  Dörpfeld  und  Rein  zuwendet  und  in  ihrem  Geiste  die  wahre  Schulge- 
meinde faßt  als  eine  Gemeinschaft  Gleichwollender  und  Gleich- 
strebender, beglückt  und  sich  beglückend  durch  die  Betäti- 
gung wechselseitiger  Hingabe  im  hohen  Opferdienste  des  Ideals 
der  Hingabesittlichkeit.  Eine  solche  Gemeinschaft  kann  naturgemäß 
nicht  gegründet  werden,  am  wenigstens  durch  behördlichen  Befehl  und  als 
Massenerscheinung,  sie  wird  nur  da  entstehen,  wo  das  innere  Bedürfnis  dazu 
drängt  und  äußere  Umstände  ihre  Ausgestaltung  begünstigen.  Der  Sinn  und 


1 90    Fünfundvierzigstes  Jahrbuch  d.Vereins  Schweiz.  Gymnasiallehrer,  angz.  v.  L.  Mackensen. 

Kern  der  Schulgemeinde  ist  demnach  überall  derselbe,  der  Leib  aber  ver- 
schieden, je  nach  den  sozialen  Verhältnissen  und  Bildungszielen  der  ver- 
schiedenen Schularten.  Daß  eine  solche  Gemeinschaft  sich  nicht  allein  auf 
die  Schüler  beschränken  darf,  daß  außer  den  Lehrern  auch  die  Eltern  dazu 
gehören,  braucht  nicht  besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Daraus  ergibt 
sich  Pestalozzas  Stellung  zu  Wynecken  und  seinem  schon  bei  Fichte  und 
Lagarde  zu  findenden  Ausschluß  der  Elternschaft.  Bei  der  großen  Bedeutung, 
die  Wickersdorf  und  die  Landerziehungsheime  für  die  Verwirklichung  und 
Verbreitung  des  Gedankens  der  Schulgemeinde  in  Deutschland  nun  einmal 
gehabt  haben,  hätte  es  sich  doch  wohl  empfohlen,  auf  diese  Neu-Philanthropen 
näher  einzugehen,  wozu  allerdings  eine  genauere  Kenntnis  der  Schöpfungen 
von  Lietz,  Wynecken  und  ihren  Mitarbeitern  (nicht  nur  ihrer  Schriften,  sondern 
auch  ihrer  praktischen  Versuche)  gehörte,  als  sie  der  Verfasser  zu  besitzen 
scheint. 

Sehr  anregend,  vielfach  grade  deshalb,  weil  sie  zum  Widerspruch  heraus- 
fordern, sind  nun  die  Einzelausführungen  Pestalozzas  über  den  möglichen 
Ausbau  der  Schulgemeinde  in  Dorf,  Klein-,  Mittel-  und  Großstadt. 
Für  jede  dieser  Typen  hält  er  ein  eignes  Schema  für  angebracht,  ausgehend 
von  dem  Leitsatz,  daß  ihr  Leben  sich  kristallisiert  um  einen  Eigenkern, 
der  von  Natur  gegeben  ist.  Etwas  unvermittelt  erscheint  hierauf  die  Selbst- 
verwaltung als  eine  (nicht  die)  der  Lebensformen  der  Schulgemeinde. 
Was  der  Verfasser  dann  aber  über  die  bisherigen  Erfahrungen  und  die  in 
Zukunft  mögHchen  Leistungen  der  Eigenregierung  der  Schüler  zu  sagen 
hat,  ist  im  hohen  Mäße  lehrreich  und  nutzbringend  für  alle  Fachgenossen; 
steht  ihm  doch  hier  das  eigene  Erleben  in  seiner  Internatserziehung  und  die 
Erfahrung  als  Leiter  einer  großen  Berliner  höheren  Lehranstalt  als  wichtigste 
Quelle  zur  Verfügung.  Kürzer  werden  endlich  in  den  letzten  Kapiteln  Eltern- 
beirat und  Kollegialsystem  behandelt,  sie  gelten  dem  Verfasser  (mit 
Recht)  als  Zukunftsfragen,  welche  nur  da  richtig  gelöst  werden  können, 
wo  in  der  Schulgemeinde,  deren  Ausdrucksformen  sie  sind,  der  rechte  Geist 
wohnt. 

Cassel.  Borbein. 

Fünfundvierzigstes  Jahrbuch  des  Vereins  Schweizerischer  Gym- 
nasiallehrer. Aarau  1917.  H.  R.  Sauerländer  u.  Co.  184  S.  gr.  8. 
Das  Jahrbuch  enthält  den  Bericht  über  die  45.  Jahresversammlung 
des  Vereins  Schweizerischer  Gymnasiallehrer,  die  1916  in  Baden  stattfand, 
sowie  die  Berichte  über  die  im  Anschluß  an  jene  veranstalteten  Versammlungen 
der  Fachverbände  der  Mathematik-,  Geographie-,  Geschichts-,  Deutsch-, 
Naturwissenschaftslehrer,  Neuphilologen  und  Seminarlehrer.  Von  den  in 
den  einzelnen  Versammlungen  gehaltenen  Vorträgen,  die  das  Jahrbuch  teils 
vollständig,  teils  in  abgekürzter  Form  bringt,  werden  die  über  ,,die  Behand- 
lung der  fremden  Namen  im  Deutschen"  sowie  über  „die  nationale  Aufgabe 
der  Mittelschule"  auch  bei  uns  weitere  Kreise  interessieren,  während  die 
in  den  einzelnen  Sektionen  gehaltenen  ein  mehr  fachwissenschaftliches  In- 


M.  Kullnik,  Die  Neuordnung  des  deutschen  Schulwesens,  angez.  von  L.  Mackensen.     191 

teresse  haben.  Das  Jahrbuch  zeugt  von  dem  regen  wissenschaftlichen  Geist, 
der  die  Tagung  durchdrang,  wie  von  der  verständnisvollen,  ein  einheitliches 
Ziel  verfolgenden  Zusammenarbeit  aller  Teilnehmer. 

Kullnick,  M.,  Die  Neuordnung  des  deutschen  Schulwesens  und 
das  Reichsschulamt.  Berlin  1919.  Mittler  &.  Sohn.  36  S.  8«.  M  1,30. 

Der  als  Vorsteher  der  Preußischen  Auskunftsstelle  für  Schulwesen 
weiten  Kreisen  bekannte  Verfasser  lehnt  in  der  vorliegenden  Schrift  die  Ein- 
führung eines  völlig  neuen  Einheitsschulsystems  auf  Grund  seiner  in  der 
Einheitsschule  der  Vereinigten  Staaten  gewonnenen  Erfahrungen  für  Deutsch- 
land als  überflüssig  ab  und  führt  aus,  daß  unser  Schulwesen,  wenn  es  durch 
zeitgemäße  Änderungen  und  Umgestaltungen  verbessert  wird,  allen  gerechten 
Anforderungen  zu  genügen  vermag.  Er  will  die  jetzt  bestehenden  Schularten 
im  wesentlichen  erhalten  wissen,  hält  aber  eine  Verkürzung  der  Schulzeit 
für  unbedingt  nötig  und  empfiehlt  daher  den  Lehrgang  der  Vollanstalten 
zu  einem  sechstufigen  umzuwandeln.  Die  Gründe,  die  Kullnick  für  eine  solche 
Verkürzung  ins  Feld  führt,  vermag  ich  als  stichhaltig  nicht  anzuerkennen, 
glaube  vielmehr,  daß  die  Durchführung  der  von  ihm  geforderten  Maßnahme 
zu  einer  schweren  Schädigung  und  Verkümmerung  unseres  gesamten  Bil- 
dungswesens führen  würde,  der  man  aufs  schäifste  entgegenarbeiten  sollte. 
Die  gleichen  bedenklichen  Folgen  würde  die  vorgeschlagene  Zerlegung  der 
Universität  in  eine  wissenschaftliche  Hochschule  für  solche,  die  praktische 
Zwecke  verfolgen,  und  die  eigentliche  Universität  für  die,  die  nur  der  Wissen- 
schaft leben  wollen,  haben.  Als  Mittelpunkt  des  gesamten  deutschen  Schul- 
wesens verlangt  der  Verfasser  die  Gründung  eines  Reichsschulamts,  das  weniger 
Verwaltungsbehörde  als  oberste  Reichsstelle  zur  Erzielung  möglichst  voll- 
kommener Einheitlichkeit  sein  und  weniger  befehlen  und  anordnen  als  be- 
raten und  Anregungen  geben  soll.  Diesem  Reichsschulamt  weist  Verfasser  eine 
Reihe  von  Aufgaben  zu,  deren  Durchführung  gewiß  großen  Segen  stiften  würde. 

KuUnicks  Ausführungen  fordern  mehrfach  zu  schärfstem  Widerspruch 
heraus,  enthalten  aber  daneben  manchen  ansprechenden  Gedanken  und 
seien   daher   der   Beachtung   der  •  Fachgenossen   angelegentlich   empfohlen. 

Schmidt.  F;  A;.  Volksvertretung  und  Schulpolitik.  Berlin  1919. 
Georg  Reimer.  53  S.  8».  1,60  M. 
Die  vorliegende  Schrift  wendet  sich  an  die  Volksvertretung,  zu  deren 
Aufgaben  die  prinzipielle  Regelung  des  Schulwesens  und  seines  Verhält- 
nisses zu  Staat  und  Kirche  gehört,  und  will  dazu  beitragen,  daß  nicht  die  Zu- 
fälligkeit der  gerade  vorhandenen  Meinungen  entscheidet,  sondern  „die 
in  unserm  Volke  nach  Verwirklichung  ringende  Bildungsidee"  erfaßt  wird 
und  bei  den  verfassungsmäßigen  Festsetzungen  den  Ausschlag  gibt.  Sie  geht 
von  dem  Grundsatze  aus,  daß  das  Volksbildungswesen  ein  sozialer  Organis- 
mus ist,  der  sich  durch  die  Bildungsarbeit  aller  für  alle  entwickeln  muß. 
Die  Erziehungsschule  als  Fundament  des  Volksbildungswesens  soll  zwar  der 
staatlichen  Gesetzgebung  und  allgemeinen  Verwaltung  unterstellt  bleiben, 


192     FA.  Schmidt,  Volksvertretung  und  Schulpolitik,   angez.  von  L.  Mackensen. 

in  bezug  aber  auf  geistige  Ordnung,  Handhabung  und  Entwicklung  der  Bil- 
dungstätigkeit aus  dem  Zustand  der  Obrigkeitsverwaltungen  in  den  der 
sozialen  Selbstverwaltung  ihrer  Familien-,  Schulbeamten-  und  Lehrerschaft 
hinübergeleitet  werden.  Um  diese  Sozialisierung  des  Schulwesens 
zu  erreichen,  wünscht  der  Verfasser  eine  Gliederung  des  ganzen  Volkes 
in  selbsttätige  Schulgemeinden  mit  daraus  hervorgehenden  Schulvorständen, 
Kreis-,  Provinzial-  und  LandesschulkoUegien  und  ist  überzeugt,  daß  nur  auf 
diesem  Wege  unserm  Volke  die  ihm  bisher  noch  fehlende  Einheit  der  geisti- 
gen Gesinnung  gewonnen  werden  kann.  Er  fordert,  daß  die  Wissens- 
bildung in  den  Dienst  der  einheitlichen  Gesittungsbildung  gestellt  werde 
und  die  Organisation  des  Schulwesens  darauf  gerichtet  sei,  für  alle  Berufs- 
stände des  Volkes  die  Grundlage  einer  gleichwertigen  sittlichen  Persönlich- 
keitsbildung zu  schaffen,  auf  der  erst  eine  geistige  Nationaleinheit  erwachsen 
könne.  Dieses  oberste  Ziel  aller  Bildungsarbeit  sei  für  alle  Schulgattungen 
dasselbe;  alles  andere,  auch  die  verschiedenartige  Gestaltung  des  Wissens- 
unterrichtes, sei  nur  von  jener  höheren  Einheitsbestimmtheit  aus  zu  bemessen. 
Die  Verfolgung  dieser  Aufgabe,  die  Jugend  zu  demselben  Ziel  der  Persönlich- 
keitszucht heranzubilden,  mache  alle  Schulgattungen  zu  gleichwertigen 
Gliedern  des  nationalen  Bildungsorganismus  und  führe  damit  zu  einer  koordi- 
nierenden Organisation  unseres  Bildungswesens,  die  die  wahre  Nationale 
erziehung  verlange.  An  den  Einheitsschulbestrebungen  unserer  Tage,  die  nach 
seiner  Meinung  auf  ein  rein  mechanisches  Aneinanderketten  der  verschiedenen 
Schulgattungen  abzielen,  übt  Schmidt  scharfe  Kritik:  er  bezeichnet  eine  auf 
diesem  Wege  erzielte  Vereinfachung  als  .unpädagogisch  und  unsozial,  da  sie 
die  große  Masse  der  Minderbegabten  auf  eine  niedrige  Bildungsstufe  herab- 
drücke und  die  Volksschule  durch  Fortnahme  der  Begabten  zu  einer  geistigen 
Armenschule  herabwürdige,  und  ist  überzeugt,  daß  sie  alle  Lehranstalten 
bis  hinauf  zur  Universität  den  schlimmsten  Schädigungen  aussetze. 

Es  ist  ein  Verdienst  der  vorliegenden  Schrift,  daß  sie  den  Blick  von  aller- 
hand Äußerlichkeiten,  die  in  der  Literatur  über  Schulreform  und  Einheits- 
schule einen  immer  breiteren  Raum  einnehmen,  hinweg  auf  das  lenkt,  was 
unserm  Bildungs-  und  Erziehungswesen  in  erster  Linie  nottut.  Wenn  trotz- 
dem ihre  Lektüre  unbefriedigt  läßt,  so  liegt  das  daran,  daß  der  Verfasser 
nur  allgemeine  Grundsätze  aufstellt  und  Wünsche  äußert,  nicht  aber  auch 
zugleich  den  Weg  angibt,  auf  dem  seine  Forderungen  sich  verwirklichen 
ließen.  In  einer  Schrift,  die  sich  nicht  nur  an  die  zünftigen  Pädagogen,  sondern 
an  weite  Kreise  und  an  die  Volksvertreteung  wendet,  ist  dieser  Mangel  doppelt 
empfindlich. 

BerUn-Pankow.  L.  Mackensen. 


-CNQs9- 


Oruck  von  C  Schulze  &  Co.,  a  tn.  b.  H.,  Gräfenhainichen. 


I.  Abhandlungen. 


Lehrplanpolttik.    Pädagogische  Erwägungen  eines  Humanisten. 

Die  Stellung  der  Anhänger  des  Gymnasiums  ist  unleugbar  dadurch  er- 
schwert, daß  sie  selbst  mit  den  tatsächlichen  Ergebnissen  des  altklassischen 
Unterrichts  durchaus  nicht  zufrieden  sein  können.  Je  höher  sie  ihr  humani- 
stisches Ideal  halten,  um  so  bitterer  kommt  ihnen  die  Unzulänglichkeit  des 
Erreichten  zum  Bewußtsein.  Aus  solchen  Erwägungen  heraus  haben  wohl 
auch  die  Freunde  des  humanistischen  Gymnasiums  ihr  bekanntes  Preis- 
ausschreiben erlassen ;  mit  mir  werden  aber  wohl  viele  Fachgenossen  die  preis- 
gekrönten Aufsätze  mit  einer  gewissen  Enttäuschung  beiseite  legen,  denn 
für  die  Praxis,  und  auf  die  kommt's  doch  gerade  an,  springt  gar  wenig  dabei 
heraus.  Aus  der  Praxis  sind  die  folgenden  Ausführungen  erwachsen.  Sie 
machen,  fußend  auf  der  alten  pädagogischen  Forderung  der  Konzentration, 
die  sie  neu  begründen  und  ausbauen,  den  Vorschlag,  durch  geeignete  Organi- 
sation die  Leistungen  des  Gymnasiums  zu  heben. 

Wenn  wir  nüchtern  die  Ergebnisse  des  Unterrichts  in  den  klassischen 
Sprachen  mit  der  aufgewandten  Zeit  vergleichen,  so  springt  uns  das  Miß- 
verhältnis geradezu  in  die  Augen.  Ein  gut  Teil  der  geleisteten  Arbeit  ist 
unproduktiv  gewesen.  Spüren  wir  die  Stellen  auf,  wo  Energie  nutzlos  ver- 
pufft, so  wird  uns  beim  einzelnen  Arbeitsakt  keine  große  Energieverschwen- 
dung aufstoßen,  der  Fehler  steckt  vielmehr  zum  größten  Teil  in  der  Verkettung 
der  einzelnen  Arbeitsaktreihen.  Es  ist  nämlich  durch  den  Lehrplan  nicht 
genügend  dafür  gesorgt,  daß  die  einzelnen  Arbeitsakte  und  Arbeitsreihen 
zweckmäßig  aufeinander  folgen,  daß  die  vielen  Einzelrädchen  reibungslos 
ineinander  greifen. 

Führen  wir  durch  den  Lauf  eines  Schülerjahrgangs  durch  alle  Klassen 
des  Gymnasiums  einen  Längsschnitt  in  einem  Fach,  etwa  dem  Lateinischen, 
so  werden  die  Entwicklungslinien  der  einzelnen  Kenntnisse  und  Erkennt- 
nisse, die  auf  dem  Schnittband  sich  zeigen,  nicht  glatt  durchlaufen,  sondern 
bald  hier  bald  da  abreißen,  durch  andere  verdrängt  werden,  oft  nach  kräftigen 
Anfängen  gänzlich  verschwinden,  oder  nach  längeren  oder  kürzeren  Zwischen- 
räumen wieder  auftreten.  Die  Reißstellen  werden  vielfach  mit  dem  Über- 
gang aus  einer  Klasse  in  die  andere  und  dem  damit  verbundenen  Lehrer- 
wechsel zusammenfallen.  Jede  Unterbrechung  bedeutet  aber  infolge  des 
Übungsverlustes  Arbeitsverschwendung,  am  unleidlichsten,  wenn  geleistete 
Arbeit  überhaupt  nicht  für  die  Zielleistung  ausgenutzt  wird.  Bei  der  Lage 
der  Dinge  können  wir  uns  doch  die  Verschwendung  nicht  leisten,  mangelnde 
greifbare  Leistungen  mit  der  durch  die  geistige  Tätigkeit  an  sich  gesteigerten 
Leistungsfähigkeit    zu    entschuldigen,    Leistung    und    Fähigkeitssteigerung 

Monatschrift  f.  h»h.  Schulen.    XX.  Jhrg.  13 


194  Ernst  Lotz, 

müssen  vielmehr  Hand  in  Hand  gehen.  Der  häufige  Lehrerwechsel,  der  ja 
leider  auch  meist  einen  Wechsel  der  Lehrmethode  mit  sich  bringt,  ist  mit- 
hin gar  sehr  vom  Übel.  Wie  groß  in  solchen  Fällen  der  Arbeitsverlust  zu  sein 
pflegt,  mag  man  aus  dem  regelmäßig  damit  verbundenen  Rückgang  der 
Klassenleistungen  ermessen,  dauert  es  doch  eine  ziemliche  Zeit,  bis  Lehrer 
und  Schüler  aufeinander  eingespielt  sind,  d.  h.  bis  die  von  dem  neuen  Lehrer 
bevorzugten  Kenntniskomplexe  durch  feste  Assoziationen  den  Schülern 
geläufig  geworden  sind,  naturgemäß  auf  Kosten  anderer  nun  versinkender 
Komplexe. 

Auf  anderen  Ursachen  beruht  wiederum  die  Lückenhaftigkeit  des  Er- 
kenntnisfortschrittes in  der  Lektüre.   Tritt  z.  B.  in  HI  A  Ovid  an  die  Stelle 
des  Caesar,  so  wird  leider  nur  zu  oft  der  ganze  Vorstellungskomplex,  der 
während    seiner  Lektüre  zusammengeschossen   ist,  allmählichem  Vergessen 
anheimgegeben.    Das  wirkt  zudem  lähmend  auf  den  Eifer  der  Schüler,  der 
dauernde  Früchte  seines  Fleißes  ernten  will  und  sich  sehr  hütet,  nutzlos  sich 
zu  plagen.  Daher  rührt  meines  Erachtens  auch  die  mit  Recht  beklagte  mangel- 
hafte Kenntnis  der  Altertümer.     Hat  der  Schüler  nämlich  erst  gemerkt, 
daß  die  Daten  aus  dem  Leben  Caesars,  die  er  sich  in  III  B  eingeprägt  hat, 
weiterhin  nicht  mehr  von  ihm  verlangt  werden,  so  lernt  er  die  aus  dem  Leben 
Ovids  von  vornherein  nur  für  die  nächsten  Stunden.  Die  Energie  und  Arbeits- 
zeit wird  hier  zur  Aneignung  von  Kenntnissen  angewendet,  die  an  sich  zur 
Erreichung  des  gesteckten  Ziels  unerläßlich  sind,  deren  Verlust  infolge  mangeln- 
der Wertung  notwendig  die  Zielleistung  herabsetzen  muß,  aber  ihre  Auf- 
wendung wird  unproduktiv,  weil  die  erzielte  Einzelleistung  ohne  organisches 
Zusammenwachsen  mit  dem  gesamten  Bildungsprozeß  rasch  der  Vergessen- 
heit anheimfällt.    Der  Arbeitsverlust  geht  also  hier  einzig  auf  die  fehlende 
Organisation  zurück.    Das  Bild  der  antiken  Kultur  setzt  sich  doch  mosaik- 
artig aus  den  Einzelkenntnissen  in  dem  Bewußtsein  der  Schüler  zusammen, 
einheitlich  und  wirkungsvoll  kann  es  nur  bei  deren  steter  Verfügbarkeit 
sein.    Dasselbe  gut  mutatis  mutandis  von  der  Grammatik.    Auch  da  dürfen 
Kenntnisse,  die  einmal  erarbeitet  sind,  nicht  durch  mangelnde  Übung  für 
einige  Zeit  unter  die  Schwelle  des  Bewußtseins  sinken.    Denn  auch  das  be- 
deutet Arbeitsverschwendung.      Ich   halte  es  deshalb  für  grundverkehrt, 
wenn  z.  B.  Ostermann  in  seinen  Übungsbüchern  die  Regeln  vom  A.  c.  I. 
im  Vorbeigehen  in  V.  mitnimmt,  in  IV.  gelegentlich  behandelt,  ohne  ihn  aber 
in  dem  Übungsstoff  weiterhin  zur  Anwendung  zu  bringen,  und  ihn  schließ- 
lich in  III.  endgültig   behandelt.      Die  drei  Durchnahmen   sind  durch  viel 
zu  lange  Pausen  voneinander  getrennt,  als  daß  sie  sich  gegenseitig  unter- 
stützen könnten*),  höchstens  können  Überbleibsel  einer  andersgestalteten 
Erklärungsweise,  wie  sie  bei  dem  Lehrerwechsel  nicht  ausbleiben  können, 
Verwirrung  stiften,  und  bedeuten  infolgedessen  reine  Zeitverschwendung. 
Jedenfalls  ist  einmal  gründlich  Behandeln  und  dann  eindringliches  Üben 
besser  als  ein  paarmal  für  den  Augenblicksbedarf  ohne  dauerndes  Wieder- 

1)  Eine  referierende  Darstellung  der  einschlägigen  psychologischen  Gesetze  bei  Marx 
Lobsien,  das  Gedächtnis,  Osterwieck  1913,  daselbst  auch  weitere  Literatur. 


Lehrplanpolitik.  195 

holen.  Wie  groß  der  Kenntnisverlust  beim  Aussetzen  der  Übung  ist,  haben 
ja  die  Kohlenferien  usw.  zur  Genüge  gezeigt.  Es  gilt  nun  solche  Arbeits- 
verluste durch  planmäßige  Organisation  der  Lehrpläne  der  Einzelfächer 
zu  beseitigen.    Meine  Vorschläge  folgen  weiter  unten. 

Zunächst  aber  wollen  wir  auch  einen  Querschnitt  nicht  sowohl  durch 
den  Kenntnisstand  als  das  Pensum  einer  Klasse  legen.  Für  unsere  Zwecke 
genügt  die  Betrachtung  des  Deutschen,  Lateinischen  und  Griechischen  etwa 
in  II  A.  Wir  finden  vielleicht  im  ersten  Vierteljahr  in  der  Lektüre:  deutsch: 
Hildebrands-  und  Nibelungenlied ;  lateinisch:  Livius,  Virgil;  griechisch:  Hel- 
lenica,  Herodot,  Odyssee.  Da  fällt  zunächst  auf,  daß  drei  Epen  nebenein- 
ander behandelt  werden.  Diese  Häufung  wesentlich  gleichgearteter  Eindrücke 
ist  sicherlich  der  gewünschten  Wirkung  abträglich,  denn  ästhetisch  zumal 
verbindet  sich  mit  einer  Summe  gleicher  Eindrücke  das  Unlustgefühl  der 
Langenweile^).  Etwas  ganz  anderes  ist  es,  wenn  etwa  die  Einübung  der 
griechischen  Infinitiv-  und  Partizipialkonstruktionen  mit  einer  Wiederholung 
der  entsprechenden  Kapitel  der  lateinischen  Syntax  verbunden  wird). 
Denn  bei  solchen  grammatischen  Darlegungen  handelt  es  sich  darum,  ge- 
wisse Nervenbahnen  durch  häufige  Benutzung  besonders  leicht  durchfahr- 
bar zu  machen  und  diese  Leitungsbahn  mit  möglichst  vielen  anderen  durch 
geläufige  Assoziationen  in  die  Quere  zu  verbinden,  so  daß  der  Schüler  über 
die  Erscheinung  der  Einzelsprache  vordringt  zur  Erkenntnis  des  psycho- 
logischen oder  logischen  Grundgesetzes.  In  einem  solchen  Fall  ist  das  er- 
strebte und  wertvolle  Ziel  allerdings  in  der  geistigen  Schulung  an  sich  be- 
schlossen, während  die  zu  seiner  Erreichung  verwendeten  Hilfsmittel  später 
ebenso  bedeutungslos  sind,  wie  die  Rüstbalken  nach  Vollendung  eines  Baues. 
Ästhetischer  Genuß  leidet  eben  unter  der  Wiederholung  gleichförmiger  Ein- 
drücke, während  verstandesmäßige  Reaktionen  durch  häufiges  Auftreten 
der  entsprechenden  Reize  nur  sicherer  gestaltet  werden.  Deshalb  müßte 
das  Nebeneinanderbehandeln  gleichartiger  Lektürestoffe  in  den  ver- 
schiedenen Fächern  vermieden  werden,  es  sei  denn,  daß  gerade  durch  Ver- 
gleichung  eine  höhere  Erkenntnis  vermittelt  werden  soll,  aber  auch  da  wird 
man  stets  zu  überlegen  haben,  ob  man  nicht  durch  ein  Nacheinander  zu 
demselben  Ziele  kommt.  In  unserem  Beispiel  zeigt  sich  solches  Nebeneinander 
auch,  wenn  Livius,  Xenophon  und  vielleicht  noch  im  Französischen  das 
beliebte  Journal  d'un  officier  d 'ordonnance  von  Herisson  gelsen  wird.  Es 
empfiehlt  sich  wenigstens  die  poetische  und  prosaische  Lektüre  in  den  ver- 
schiedenen Fächern  miteinander  zu  kreuzen,  wenn  man  sich  nun  einmal 
nicht  entschließen  kann,  minderwertige  Schriftwerke  der  einen  Literatur 
(hier:  Hellenica,  Aneis)  zugunsten  der  wertvolleren,  gleichartigen  der  anderen 
(Livius,  Odyssee)  kurzerhand  zu  beseitigen. 

Umgekehrt  tritt  auch  in  II  A  der  Fall  besonders  eindrücklich  in  die  Er- 
scheinung, daß  alle  sprachlichen  Fächer  (Deutsch,  Latein,  Griechisch,  Fran- 

»)  Vgl.  Stölir,  Psychologie,  S.  162  usw. 

*)  Vgl.  A.Thimme,  Paralielsyntax  der  griechischen  und  lateinischen  Sprache,  3.  Aufl. 
Hannover  1912. 

13* 


196  Ernst  Lotz, 

zösisch,  Englisch  unter  Umständen  selbst  das  Hebräische)  um  des  allgemeinen 
Bildungszweckes  willen  in  engste  Gemeinschaft  gebracht  werden  müssen. 
Denn  zusammen  genommen  bieten  sie  reichen  Stoff  zur  Einführung  in  die 
Sprachentwicklung,  und  deren  Gesetze  kann  der  Schüler  obendrein  unter 
kundiger  Führung  selbst  erarbeiten.  Solche  Gelegenheit  zu  schöpferischer 
Arbeit  darf  nicht  ungenutzt  bleiben.  Eine  planlose  Neben-  oder  Nachein- 
anderbehandlung  des  gleichen  Problems  in  den  verschiedenen  Fächern  würde 
verderbliche  Zersplitterung  und  Verflachung  des  Interesses  bedeuten.  Die 
Gesamtbehandlung  muß  vielmehr  verabredeterweise  einemFach  überlassen 
bleiben,  während  die  anderen  hierauf  nach  ihren  Sonderzwecken  weiter 
bauen.  Durch  die  allgemeine  Behandlung  ist  für  die  Assoziationen  des  EinzeU 
fachs  die  günstige  „Konstellation" 2)  geschaffen. 

Einer  wirklich  zweckmäßigen  Organisierung  des  Gesamtunterrichts 
steht  das  bei  uns  herrschende  scharf  ausgebildete  Fachlehrersystem  im 
Wege.  Je  mehr  sich  aber  der  Verfasser  mit  diesen  Fragen  beschäftigt,  um 
so  klarer  ist  ihm  geworden,  daß  gerade  dieses  den  Unterricht  in  seinem  Ge- 
samtertrag verringert,  weil  es  die  Bildungsgüter  verzettelt.  Es  wird  wohl 
allgemein  zugestanden,  daß  die  Unterrichtsergebnisse  der  bayrischen  Gym- 
nasien etwas  erfreulicher  sind.  Das  kann  sich  nicht  aus  dem  Schülermaterial 
erklären,  denn  das  ist  in  Preußen  mindestens  gerade  so  gut,  auch  nicht 
aus  der  Stundenzahl,  denn  diese  war  —  jetzt  ist's  ja  umgekehrt^)  — 
nicht  so  wesentlich  größer,  auch  nicht  aus  einer  durchgängigen  pädagogischen 
Überlegenheit  der  Lehrer,  wenn  auch  für  deren  pädagogische  Ausbildung 
auf  der  Universität  seit  Jahr  und  Tag  besser  gesorgt  war  (Professuren  für 
Gymnasialpädagogik,  die  mit  einer  für  klassische  Philologie  verbunden  zu 
sein  pflegen !)  eher  schon  aus  dem  geschickter  aufgebauten  Lehrplan,  sondern 
hauptsächlich  aus  dem  dort  noch  herrschenden  Klassenlehrersystem. 
Ist  der  Klassenlehrer  in  II  A,  wie  es  in  Bayern  meist  der  Fall  ist,  der  Vertreter 
des  Deutschen,  Lateinischen,  Griechischen,  dann  hat  er  es  ohne  weiters  in 
der  Hand,  diese  drei  Fächer  in  einer  Synthese  zu  vereinen,  zu  der  vielfach 
auch  noch  die  Geschichte  hinzutritt.  In  solcher  Synthese  liegt  aber  der  Er- 
ziehungswert des  Gymnasiums  beschlossen.  Denn  nur  dann  ist's  eigentlich 
möglich,  die  antike  Lektüre  für  den  deutschen  Unterricht  und  seine  Auf- 
sätze recht  nutzbar  zu  machen,  oder  allgemein  gesprochen,  „die  griechische 
Kultur  zu  benutzen,  um  dem  Deutschtum  zur  Bewußtheit  zu  verhelfen"*). 
Bei  unserm  schroff  ausgebüdeten  Fachlehrersystem  kommt  es  sogar  vor, 
daß  Grammatik  und  Lektüre  derselben  Sprache  in  verschiedenen  Händen 
liegen ;  mit  ihm  ist  aufs  engste  die  Facheifersucht  verschwistert.  Der  Lehrer 
des  Deutschen  weiß  gar  nicht,  was  im  Griechischen  betrieben  wird,  ja  wenn 


1)  Vgl.  übrigens  meine  demnächst  bei  Teubner  erscheinende  griechische  Formen- 
lehre auf  sprachwissenschaftlicher  Grundlage. 

2)  Ziehen,  Physiologische  Psychologie,  S.  318ff. 

«)  Vgl.  den  Aufsatz  des  Vf.:  Die  Verkürzung  des  Lateinunterrichts  in:  Vierteljahrs- 
schrift für  phil.  Päd.  1917/18  S.  288ff. 

*)  A.  Fischer  in  Norrenberg,  Die  höhere  deutsche  Schule  nach  dem  Weltkrieg,  S.  26. 


Lehrplanpolitik,  I97 

er's  wüßte  und  benützen  möchte,  so  liefe  er  Gefahr,  die  Kreise  des  Kollegen 
zu  stören.  Es  ist  mir  vorgekommen,  daß  ich  die  Lektüre  des  Königs  ödipus 
habe  absetzen  müssen,  weil  im  deutschen  Unterricht  für  irgendein  Schick- 
salstragödienthema das  Sophoklesstück  vorher  in  der  Übersetzung  gelesen 
wurde.  Derartige  Mißgriffe  müßten  ein  für  allemal  verhindert  werden  können. 
Freilich  Vereinbarungen  von  Fall  zu  Fall  bleiben  bestenfalls  ein  Notbehelf, 
letzten  Endes  kann  nur  die  Einheit  der  Erzieherpersönlichkeit  befriedigenden 
Wandel  schaffen,  denn  langfristige  Bindungen  durch  ins  Einzelne  gehende 
Lehrpläne,  von  denen  unten  die  Rede  sein  wird,  bedeuten  doch  wieder  in  ge- 
wisser Beziehung  eine  Beeinträchtigung  der  Lehrfreiheit.  Mit  Recht  erhebt 
deshalb  die  moderne  Pädagogik  immer  wieder  den  Ruf  nach  Erzieherpersön- 
lichkeiten. Nur  der  Mensch,  nicht  die  Methode  ist  und  wirkt  lebendig.  Darauf 
beruht  doch  eben  der  nicht  wegzuleugnende  erzieherische  Erfolg  der  Scharrel- 
man,  Lietz  und  letzten  Endes  auch  Wynecken,  daß  sie  sich  als  Menschen 
und  nicht  als  Wissenschaftler  geben. 

Man  mag  sonst  über  die  Definition  des  Ich  als  „Summe  der  Bewußt- 
seinsinhalte" denken,  wie  man  will,  für  die  pädagogische  Betrachtung  ist 
sie  fruchtbar.  Wenn  das  Ziel  der  Erziehung  die  Heranbildung  eines  har- 
monischen Menschen,  der  zu  selbständiger  Teilnahme  an  dem  staatlichen 
und  kulturellen  Leben  befähigt  ist,  besteht,  so  wird  es  am  besten  erreicht, 
wenn  die  einzelnen  Bewußtseinsinhalte,  die  die  Schule  an  ihre  Zöglinge  heran- 
bringt, mit  breiten  Assoziationsflächen  ineinander  greifen  und  so  zu  einem 
einheitlichen  Gebilde  verschmelzen,  nicht  aber  in  einzelne  Felder,  die  durch 
schmale  Assoziationsstreifen  verbunden  sind,  zerfallen.  Darin  liegt  ja  auch 
gerade  der  Wert  der  humanistischen  Bildung,  daß  sie  auf  die  Erziehung 
des  Vollmenschen  ausgeht,  nicht  aber  eine  Vorbereitungsanstalt  für  bestimmte 
Berufe  sein  will,  wie  es  die  Oberrealschule  tut.  Aber  die  Aufteiltung  des 
Unterrichts  nach  Fächern  zerfasert  die  Einheit  des  humanistischen  Bildungs- 
willens, der  sich  auf  allen  Gebieten  —  auch  in  der  Mathematik  und  Physik  1  — 
auswirken  müßte,  in  Kleinbetriebe  philologischer  Einzel  Wissenschaften. 
Diese  philologische  Ausartung  des  Unterrichts  aber  macht  ihn  lebensfremd 
und  liefert  dem  Gegner  die  schärfsten  Waffen.  Ich  führe  an  anderer  Stelle 
aus,  wie  die  Reifeprüfungen  durchaus  den  Eindruck  erwecken,  daß  das  huma- 
nistische Gymnasium  nur  Einzelkenntnisse  aus  Sprache,  Literatur  usw. 
vermittle,  nicht  aber  imstande  sei  aus  diesen  einzelnen  durch  die  analytische 
Tätigkeit  der  Wissenschaft  gewonnenen  und  übermittelten  Tatsachen  durch 
schöpferische  Synthese  das  Weltbild  antiken  Menschentums  erwachsen  zu 
lassen,  ein  Vorwurf,  der  übrigens  in  womöglich  noch  stärkerem  Maße  auf  die 
Universitäten  wirklich  zutrifft.  Die  Gymnasialbildung  ist  heute  einem  Bündel 
von  Stäben  aus  verschiedenem  Stoff  vergleichbar,  die  durch  das  Band  der 
Schule  zufällig  verbunden  sind,  wächst  nun  der  Mensch  aus  der  Schule  hinaus, 
wird  so  das  haltende  Band  abgestreift,  dann  fallen  die  Stäbe  auseinander 
und  werden  leichtlich  zerknickt.  Sie  sollte  sein  gleich  einem  Baum,  der  aus 
der  Erde  mannigfachen  Elementen,  aus  dem  Wasser  der  Wolken  und  aus  der 
Luft  seine  Säfte  saugend,  auch  wenn  die  Schulzeit  verstrichen,  um  den  alten 


198  Ernst  Lotz, 

Kern  immer  neue  Ringe  wachsen  läßt.    Dann  ist  die  Erziehung  vollendet, 
wenn  sie  im  Leben  draußen  bestehen  bleibt. 

Wie  sich  das  erreichen  läßt,  ist  bereits  in  der  Kritik  angedeutet.  Schon 
jetzt  wird,  wenigstens  von  den  Methodikern^)  gefordert,  daß  derselbe  Lehrer, 
der  mit  dem  lateinischen  Anfangsunterricht  betraut  ist,  auch  das  Deutsche 
vertritt  und  ebenso  im  HIB  Latein  und  Griechisch  in  denselben  Händen 
liegt,  in  beiden  Fällen  soll  der  verbundene  Unterricht  mindestens  zwei  Jahre 
in  denselben  Händen  bleiben.  Schon  der  Umstand,  daß  eine  Überlastung 
der  Schüler  vermieden  wird,  wenn  der  Lehrer  seine  Aufgaben  auf  zwei  Fächer 
einspielt,  empfiehlt  eine  solche  Anordnung.  Im  Gegenteil  dazu  haben  die 
Direktoren  vielfach  eine  Abneigung  dagegen,  zwei  Hauptfächer  in  eine  Hand 
zu  legen,  so  kommt  es  vor,  daß  der  lateinische  und  griechische  Unterricht 
in  den  beiden  Tertien  übers  Kreuz  verteilt  wird.  Grundsätzlich  ist  aber  zu 
fordern,  daß  möglichst  viele  Fächer  in  einer  Klasse  in  der  Hand  eines  Lehrers, 
der  dann  mit  Fug  Ordinarius  heißt,  vereinigt  werden.  Dazu  muß  diesem 
gegenüber  den  Gefachen  des  Stundenplans  eine  gewisse  Freiheit  eingeräumt 
werden,  daß  er  z.  B.  in  einer  Woche  lateinische  Stunden  häufe,  in  einer  anderen 
deutsche  oder  griechische,  wie  es  das  Bedürfnis  des  Unterrichts  erheischt; 
selbstverständlich  mag  er  auch  ab  und  an  den  Unterricht  verschiedener 
Fächer  miteinander  verquicken.  Solche  Freiheit  haben  sich  die  Landerzie- 
hungsheime längst  genommen  und  fahren  nicht  schlecht  dabei.  Allerdings 
müßte  der  Ordinarius  seine  Maßnahmen  schriftlich  dem  Direktor  oder  der 
Fachkonferenz  gegenüber  begründen,  damit  nicht  Sonderliebhabereien  über 
Gebühr  den  Gang  des  Unterrichtes  beeinflussen.  Liegen  nun  große  Unter- 
richtskomplexe in  einer  Hand,  so  wird  der  Lehrer  einerseits  rein  triebmäßig 
die  Häufung  gleichförmiger  Lektüre  in  den  Parallelfächern  meiden,  weil 
sie  ihm  selbst  zum  Ekel  werden  würde,  und  er  so  die  Unlust  der  Klasse  viel 
besser  würdigen  kann,  anderseits  wird  er  ganz  von  selbst  seinen  Unterricht 
als  eine  Einheit  auffassen  und  so  das  Spezialistentum  vermeiden  und  über- 
winden. Er  hat  die  Möglichkeit,  Assoziationsketten  in  vielfachen  Windungen 
durch  die  verschiedenen  Fächer  zu  schlingen.  Nicht  nur  die  Stoffauswahl 
sondern  erst  recht  die  Darbietung  gestaltet  sich  harmonischer.  Dazu  lernt 
derLehrer  seineKlasse,  und  diese  ihn  allseitiger  kennen,  hinter  dem  erziehenden 
Menschen  tritt  der  Spezialist,  hinter  dem  Pädagogen  der  Didaktiker  zurück^). 

1)  Z.  B.   Dettweiler  S.  21. 

*)  Nicht  bedeutungslos  scheint  mir  dabei  auch  die  Möglichkeit  zu  sein  die  Begünsti- 
gung nicht  gewollter  Assoziationen  durch  die  von  anderen,  namentlich  dem  jeweils  unmittel- 
bar vorausgehenden,  Fächern  geschaffenen  Konstellation  zu  vermeiden.  Solche  Begünsti- 
gung nicht  gewollter  Assoziationen  durch  Konstellation  liegt  vor,  wenn  nach  einer  Stunde 
französischen  Anfangsunterrichtes  im  Lat.  toujours,  oder  nach  einer  griechischen  in  HIB 
fugomes  statt  fugimus  geschrieben  wird.  Die  Gesetzmäßigkeit  dieser  Erscheinung  wird  dem 
Lehrer,  der  den  ganzen  Unterricht  überschaut,  viel  eindringlicher  sein,  als  dem  Vertreter 
eines  Faches,  und  er  wird  stets  durch  eine  stark  Assoziationen  bildende  Übung,  etwa  Vokabel- 
abfragen, zu  Beginn  der  neuen  Stunde  eine  Umschaltung  der  Bewußtslage  hervorrufen. 
Dieses  Mittel  verschlägt  natürlich  nichts,  wenn  die  falschen  Assoziationen  nicht  durch  Kon- 
stellation sondern  festere  Einführung  an  sich  hervorgerufen  sind,  wenn  z.  B.  Oberlyzealistinnen 
statt  libenter  venu:  amavit  venire  übersetzen. 


Lchrpianpolitik.  199 

Die  ideale  Organisation  des  Lehrplans  innerhalb  eines  Jahrgangs  wäre  mithin 
die  Vereinigung  aller  Fächer  mit  Ausnahme  der  jetzt  aus  dem  Rahmen  der 
anderen  Fächer  herausfallenden  Mathematik i)  in  einer  Hand.  Freilich  ist 
das  bei  dem  Umfang  unserer  Wissenschaften  heute  ein  unerfüllbarer  Wunsch. 
Deshalb  müßte  an  Stelle  der  empirischen  Einheit  der  Erzieherpersönlichkeit 
die  ideale  Einheit  des  Erzieherwillens,  die  sich  in  der  Klassenkonferenz  dar- 
stellt, treten.  Denn  auch  noch  so  sorgsam  ausgearbeitete  Sonderlehrpläne 
bleiben  nur  ein  Fetzen  Papier,  Wenn  durch  gelegentliches  gegenseitiges 
Hospitieren  die  Kollegen  über  die  Lehrweise  des  anderen  unterrichtet  sind 
und  durch  nicht  zu  knappe  Eintragungen  im  Klassenbuch  über  den  Fort- 
schritt im  Pensum  auf  dem  Laufenden  bleiben,  dann  werden  die  Vertreter 
der  Einheit  des  Erzieherwillens  auch  die  Einheit  der  Bildung  zur  Erscheinung 
bringen.  Die  Töne  der  Einzelfächer  werden  sich  zum  Akkord  des  Gesamt- 
unterrichtes vereinen. 

Aber  mit  dieser  Organisation  in  die  Quere  ist  es  nicht  getan,  zu  ihr  muß, 
wie  oben  gesagt,  noch  die  Organisation  durch  die  Länge  der  ganzen  Schul- 
zeit eines  Jahrgangs  hindurchkommen.  Zunächst  erscheint  es  auch  hier 
zur  Vermeidung  von  Arbeitsverlust  wünschenswert,  daß  ein  Lehrer  mehrere 
Jahre  den  Unterricht  weiterführt.  In  der  Mathematik  pflegt  ja  schon  jetzt 
ein  Wechsel  des  Lehrers  nach  Möglichkeit  vermieden  zu  werden,  so  daß  eine 
straffe  Durchführung  des  einmal  gewählten  Lehrplans  ermöglicht  und  Arbeits- 
vergeudung vermieden  wird.  Die  Erfolge  sind  durchaus  günstig!  Aber  in 
den  humanistischen  Fächern  ist  es  erwünscht,  daß  auf  die  Schüler  nachein- 
ander das  Ethos  verschiedener  Erziehercharaktere  wirkt,  deshalb  ist  es  un- 
tunlich, daß  derselbe  Lehrer  eine  Klasse  von  VL  bis  l.  führe,  zumal  wenn 
er  nicht  reiner  Fachlehrer  ist,  und  das  haben  wir  doch  gerade  als  wünschens- 
wert bezeichnet.  Infolgedessen  sind  hier  geschriebene  Organisationshilfen 
unerläßlich. 

Von  grundsätzlicher  Wichtigkeit  ist  dabei  auch  eine  Vereinbarung  über 
manche  Äußerlichkeiten.  Dahin  gehört  u.  a.  eine  einheitliche  grammatische 
Terminologie.  Wie  unsere  Technik  zwecks  Arbeitsersparnis  nach  Normali- 
sierung ihrer  Arbeitsmaschinen  und  Grunderzeugnisse  trachtet,  so  müssen 
auch  unsere  Lehrbücher  normalisiert  werden.  Da  fehlt's  jetzt,  trotz  der  Mah- 
nung unserer  Lehrpläne^),  sehr.  Während  z.  B.  die  lateinische  Grammatik 
mit  den  Termini  Akk.  usw.  Objekt  arbeitet,  benutzt  die  französische  gern 
die  Ausdrücke  näheres  und  entfernteres,  direktes  und  indirektes  Objekt. 
Wiederum  reden  manche  deutsche  Grammatiken  von  einem  Präpositional 
oder  Verhältnisobjekts),  das  der  lateinischen  Grammatik  fremd  ist.    Dieser 


1)  Es  wäre  die  Frage,  ob  nicht  auch  diese  bei  andersartigem  Aufbau  sich  dem  Kreis 
der  humanistischen  Fächer  anpassen  ließe.  Vgl.  Hollmann,  Die  Volkshochschule,  2.  Aufl. 
Berlin  1919,  S.  112. 

*)  Meth.  Bern,  für  das  Griech.  1. 

»)  Z.  B.  von  Sanden,  Deutsche  Sprachlehre,  11.  Aufl.  S.  15,  desgl.  Berendes  Anleitung 
zum  Konstruieren  (Paderborn  1912),  vgl.  Prigge,  Deutsche  Satz-  und  Formenlehre,  Ausg.  B. 
27-29.  Aufl.  S.  96. 


200  Ernst  Lotz, 

Wechsel  in  der  Terminologie  verursacht  viele  Verwirrung  und  nicht  zu  unter- 
schätzenden Arbeitsverlust.  Hier  ist  auch  die  Forderung  nach  einem  ein- 
heitlichen Schema  für  das  Konstruieren  zu  erheben,  mag  man  nun  mit  Fr. Hoff- 
mann das  meines  Erachtens  bessere  analytische  Verfahren*)  einschlagen, 
oder  bei  dem  alten  synthetischen  bleiben ;  in  letzterem  Fall  muß  aber  streng 
Prädikat  und  Verbum  finitum  auseinander  gehalten  werden.  So  sehr  der 
Verfasser  für  die  Freiheit  des  Schulbuchs  eintritt,  so  sehr  \\ünscht  er  das 
Erscheinen  eines  Sprachwerks  für  alle  Idiome  unter  denselben  leitenden 
Gesichtspunkten.  Auch  eine  amtliche  Verlautbarung  über  eine  maßgebende 
Terminologie  wäre  wünschenswert.  Aber  das  sind  mehr  Fragen  des  Hand- 
werks.   Normalisierung  ist  noch  nicht  Organisation. 

Bei  der  Aufstellung  des  Lehrplans  für  das  Einzelfach  ist  auch  auf  das 
Ziel  des  Gesamtunterrichts  gebührend  Rücksicht  zu  nehmen,  denn  die  be- 
treffende Wissenschaft  wird  doch  nicht  um  ihrer  selbst  willen  betrieben. 
Das  muß  sich  dann  auch  in  der  Methodik  geltend  machen,  die  jetzt  allzusehr 
auf  den  Vorteil  des  Einzelfaches  ausgeht.  Aber  ebenso  scharf  ist  auch  das 
gesteckte  Sonderlehrziel  ins  Auge  zu  fassen  und  ohne  Umschweife  zu  erstreben. 
Deshalb  wird  man,  trotz  aller  Rücksicht  auf  die  Freiheit  des  einzelnen  Lehrers, 
auch  auf  bestimmte  Grunsdätze  in  der  Erklärung  abkommen.  Ich  greife 
als  Beispiel  die  Tempuslehre  heraus.  Es  ist  zweckwidrig,  wenn  in  der  Tertia 
die  lateinische  Tempuslehre  aus  praktischen  Gründen  einfach  als  Beschreibung 
des  Tatbestandes  gegeben  und  eingeübt  worden  ist,  in  Sekunda  nun  bei  der 
Wiederholung  Zeitstufe  und  Aktionsart  zu  unterscheiden.  Bei  der  Masse 
der  Schüler  wird  man  nur  Verwirrung  anrichten.  Auch  diese  Betrachtungs- 
weise kann  ja  später  im  griechischen  Unterricht  zu  ihrem  Recht  kommen. 
Eine  Vereinbarung  erscheint  mir  um  so  wichtiger  als  vielfach  die  Neigung 
besteht,  gegen  die  Grammatik  in  der  Darbietung  entweder  stillschweigend 
oder  ausdrücklich  durch  Diktat  der  Regeln  in  anderer  Fassung  zu  polemisieren, 
bei  Lehrerwechsel,  der  doch  nicht  ausbleiben  kann,  weiß  dann  der  Schüler 
gar  nicht  mehr,  woran  er  sich  halten  soll.  Über  solche  Fragen  muß  sich  die 
Fachkonferenz  einigen  und  unter  Umständen  die  Einführung  einer  neuen 
Grammatik  beantragen.  Bücher,  wie  die  lateinische  Schulgrammatik  vor- 
nehmlich zu  Ostermanns  lateinischen  Übungsbüchern,  Ausgabe  A  und  B, 
müßten  nach  Waldecks  vernichtender  Kritik  eigentlich  seit  Jahr  und  Tag 
verschwunden  sein^). 

Die  Freiheit  des  Lehrers  in  der  Wahl  der  Lektüre  muß  ferner  ebenfalls 
ihre  Grenzen  in  der  Geschlossenheit  der  Gesamtlektüre  finden.  Ich  meine, 
etwa  in  HIB  müßte  in  einer  Konferenz  der  Lektüreplan  in  allen  Sprachen 
für  den  betreffenden  Jahrgang  auf  die  ganze  Schulzeit  in  groben  Umrissen 
festgelegt  werden,  wobei  darauf  Rücksicht  zu  nehmen  wäre,  daß  einerseits 
die  gelesenen  Schriftwerke  aus  verschiedenen  Literaturen  sich  ergänzten 
und  anderseits  jede  einzelne  von  ihnen  in  ihren  bemerkenswertesten  Erschei- 

1)  Fr.  Hoffmann,  Der  lateinische  Unterricht  auf  sprachwissenschaftlicher  Grundlage, 
Leipzig  1914,  S.  158ff. 

2)  Waldeck:  Prakt.  Anl.  zum  U.  in  der  lat.  Gram.    3.  A.    Halle  1911,  S.  148ff. 


Lehrplanpoiitik.  201 

nungen  zur  Geltung  käme.  Für  die  antiken  Sprachen  könnte  man  zwei  ver- 
schiedene Wege  einschlagen,  indem  man  entweder  im  wesentlichen  eine 
Kulturprovinz  gründlich  behandelte  und  von  ihr  aus  das  Gesamtbild  der 
Antike  zu  zeichnen  versuchte,  oder  indem  man  die  ganze  Lektüre  chresto- 
mathieartig aus  kleineren  Proben  aller  Gebiete  zuschnitte. 

Aber  wie  man  auch  den  Gang  der  Lektüre  wählen  mag,  stets  wird  fest- 
zustellen sein,  daß  die  vermittelten  Ausschnitte  zu  klein  sind,  als  daß  sie  ohne 
weiteres  zu  einem  Gesamtbild  zusammenschössen.  Um  das  erstrebte  Ziel 
zu  erreichen,  gilt  es  noch  andere  Mittel  heranzuziehen.  Am  nächsten  liegt 
die  Ergänzung  der  Originallektüre  durch  den  Gebrauch  von  Übersetzungen. 
Aber  dieser  Weg  ist  zu  zeitraubend,  um  oft  beschritten  zu  werden.  Die  so 
dringend  nötige  Einführung  in  die  antike  Kunst  läßt  sich  zudem  auch  auf 
diesem  Wege  nicht  erreichen,  wie  überhaupt  das  Zuständliche  im  Altertum 
schriftstellerisch  kaum  zusammenhängende  Darstellung  gefunden  hat.  Und 
doch  können  wir  auf  die  Übermittlung  solcher  Kenntnisse  nicht  verzichten, 
nur  das  Auswendiglernen  von  Kompendien  ist  unwürdig!  Jetzt  freilich  be- 
schränkt sich  die  Behandlung  selbst  der  antiken  Plastik  auf  die  wenigen  Stun- 
den, die  gelegentlich  herausgespart  werden.  Nur  Bayern  kennt  die  Ein- 
richtung der  archäologischen  Kurse,  ohne  daß  sie  an  den  Katalog,  der  vierte 
Verrine  heißt,  angehängt  werden.  Die  Beschränkung  der  alten  Geschichte 
durch  den  neuen  Lehrplan  wird  auch  die  Kunst  der  Alten  noch  spärlicher 
behandeln  lassen.  Ebenso  pflegt  aber  auch  die  Kenntnis  der  hochentwickelten 
antiken  Technik  und  der  darauf  beruhenden  Blüte  des  Kunstgewerbes  meist 
unter  den  Gymnasiasten  zu  fehlen,  von  anderem  ganz  zu  schweigen. 

Zur  Ausfüllung  dieser  klaffenden  Lücken  wird  man  schicklich  die  so- 
genannten freien  Vorträge  der  Schüler  in  etwas  anderer  Gestaltung  heran- 
ziehen können.  Jetzt  wird  im  deutschen  Unterricht  der  Zeitersparnis  wegen 
häufig  auf  ihr  Halten  verzichtet.  Und  in  der  Tat  bedeuten  sie  für  diesen 
keine  germge  Belastung,  zumal  die  Themata  naturgemäß  aus  Gebieten  ent- 
nommen sind,  die  dem  Gang  des  Unterrichts  fern  liegen,  so  daß  nur  die  red- 
nerische Form  einschlägig  ist.  Aber  auch  für  die  Vertiefung  der  Erkenntnis 
in  dem  Fach,  dem  sie  entnommen  sind,  kommen  sie  bei  dem  Fehlen  jeglicher 
Organisation  kaum  inBetracht,  es  sei  denn,  daß  der  deutscheLehrer  auch  andere 
Fächer  vertritt,  wie  es  grundsätzlich  in  allen  Fächern  zu  fordern  ist.  Würde 
aber  nach  eben  dieser  Forderung  ein  Lehrer  mit  mehreren  Fächern,  etwa 
Deutsch,  Griechisch  und  Geschichte  betraut,  so  könnte  er  mit  gutem  Ge- 
wissen je  nach  dem  behandelten  Thema  die  Vorträge  auch  dem  Griechischen 
oder  der  Geschichte  zuweisen,  so  daß  sich  die  Belastung  der  Zeit  auf  drei 
Fächer  verteilte,  würde  wenigstens  durch  regelmäßige  Sitzungen  der  Klassen- 
konferenz der  Gesamtunterricht  vereinheitlicht,  so  könnten  diese  Vorträge 
immerhin  in  weiterem  Umfang  nutzbar  gemacht  werden  als  jetzt.  Für  die 
klassischen  Sprachen  handelt  es  sich,  wie  bereits  angedeutet,  vornehmlich  um 
kunst-  und  literaturgeschichtliche,  dazu  antiquarische  Belehrung.  Den  Stoff 
zu  solchen  Vorträgen  finden  die  Schüler  reichlich  in  Sammlungen  wie :  Aus 
Natur  und  Geisteswelt  (Teubner),  Wissenschaft  und  Bildung  (Quelle  &  Meyer), 


202  Ernst  Lotz,  Lehrplanpolitik. 

Gymnasialbibliothek  (Bertelsmann),  Quellenbücher  (Voigtländer).  Selbst- 
verständlich müßten  diese  Vorträge  in  den  Gang  des  Unterrichts  eingepaßt 
werden.  Zu  einer  wirklichen  Anschauung  vom  Altertum  gehören  nun  ein- 
mal bestimmte  der  oben  genannten  Kenntnisse ;  Sache  des  auszuarbeitenden 
Lehrplans  ist  es,  das  wichtige  und  unerläßliche  von  dem  minder  bedeut- 
samen zu  sondern  und  dementsprechend  die  Aufnahme  in  den  Kanon  stufen- 
mäßig zu  bestimmen.  Das  Wichtigste  muß  dann  auch  dauernd  eingeprägt 
und  immer  wieder,  auch  imAbiturium,  als  unerläßlich  vorausgesetzt  werden. 
So  muß  der  Schüler  eine  immer  begründetere  und  umfassendere  Kenntnis 
des  antiken  Schrifttums  usw.  erhalten.  Nebenbei  sei  noch  bemerkt,  daß  die 
staatsbürgerliche  Bildung  tatsächlich  sehr  gut  mit  dem  lateinischen  und  grie- 
chischen Unterricht  verbunden  werden  kann,  ja  eine  solche  Verbindung 
erzielt  sogar  eine  wesentlich  kemhaftere  Erkenntnis  als  eine  einfache  Dar- 
bietung der  bei  uns  bestehenden  Verhältnisse,  aber  es  muß  eben  dafür  gesorgt 
sein,  daß  auch  die  staatlichen  Verhältnisse  der  Antike,  als  deren  Gegenbild 
die  der  Gegenwart  herausgearbeitet  werden,  in  einem  Zusammenhang  und 
der  nötigen  Vollständigkeit  behandelt  werden. 

Es  würde  viel  zu  weit  führen,  die  Einzelheiten  meiner  Vorschläge  näher 
auszumalen.  Die  Verbindungsfäden  nützlicher  Assoziationen  lassen  sich 
allenthalben  ziehen,  z.  B.  zwischen  der  Behandlung  eines  Sophokleschors 
und  dem  Gesangsunterricht,  auch  das  Turnen  kann  für  die  Marschlieder  be- 
deutsam werden,  zwischen  dem  Religionsunterricht  und  der  Platolektüre, 
zwischen  Horaz  und  dem  neuesten  Expressionismus.  Selbstverständlich 
gilt  auch  hier  das  Wort  ne  quid  nimis.  Nie  dürfen  die  Lehrpläne  für  den 
Lehrer  eine  Fessel  werden,  denn  dann  stirbt  der  Erfolg. 

Wird  auf  die  angedeutete  Weise  der  Unterricht  auf  dem  Gymnasium 
zur  Einheit  zusammengefaßt,  dann  braucht  man  um  seine  Zukunft  keine 
Sorgen  zu  haben,  denn  dann  wird  sich  der  in  ihm  ruhende  Bildungswert 
so  deutlich  zeigen,  daß  kein  Verständiger  ihn  leugnen  kann.  Wir  wollen 
Menschen  erziehen  nicht  Philologen,  und  wenn  wir  das  tun,  wird  niemand 
uns  schelten. 

Freilich  wird  manchem  dünken,  meine  Vorschläge  ließen  sich  so  leicht 
nicht  in  die  Wirklichkeit  umsetzen,  bedeuten  sie  doch  streng  durchgeführt 
einen  Bruch  mit  dem  herrschenden  Fachlehrersystem.  Für  die  Praxis  ist 
aber  der  Unterschied  so  groß  nicht.  Denn  schon  jetzt  gibt  der  klassische 
Philologe  ohne  weiteres  Deutsch  bis  II  Bund  ebenso  Geschichte,  Erdkunde 
und  zuweilen  Religion.  Bekommt  er  nun  seinen  Unterricht  mehr  in  einer 
Klasse  zusammengelegt,  so  würden  wir  eben  die  Systemänderung  schon 
haben.  Auch  für  die  oberen  Klassen  ließe  sich  vielfach  die  wünschens- 
werte Vereinheitlichung  schaffen,  nur  dürfte  dann  unter  keinen  Umständen 
das  Privileg  der  ältesten  Kollegen  auf  den  Unterricht  in  den  Primen  irgendwo 
bestehen  bleiben. 

Um  zusammenzufassen:  Bei  der  gefährdeten  Lage  des  humanistischen 
Gymnasiums  gilt  es  möglichst  rasch  Maßnahmen  zu  ergreifen,  die  seine  Lehrer- 
folge derart  zu  steigern  vermögen,  daß  ihr  Wert  allgemein  anerkannt  werden 


Knögel,    Inwieweit  hat  Mittellateinisch  im  Oymnasialunterricht  seine  Berechtigung  ?    203 

muß.  Diese  Maßnahmen  müssen  einfach  sein,  denn  zu  weitschichtigen  Ex- 
perimenten werden  die  Gegner  dem  Gymnasium  keine  Zeit  lassen,  und  sie 
dürfen  nichts  kosten.  Mein  Vorschlag  wird  dem  gerecht  und  scheint  mir 
anderseits  sichere  Gewähr  für  den  Erfolg  zu  bieten.  Selbst  bei  etwaigen 
Beschränkungen  des  klassischen  Unterrichts  wird  er  fruchtbares  Arbeiten 
ermöglichen.  Er  verlangt  ja  nichts  anderes  als  Einheitlichkeit  des  gesamten 
Unterrichts;  in  den  Gymnasien  früherer  Zeiten  war  sie  zu  finden,  weil  über- 
haupt die  Bildung  auf  den  antiken  Autoren  beruhte,  weil  schon  die  Form, 
in  der  sie  geboten  werden  mußte,  antik  war.  Denken  wir  daran,  daß  der  Vater 
des  Modernen  Gymnasiums  selbst,  Gesner,  in  seiner  Isagoge  in  eruditionem 
universalem  gegen  den  alleinigen  Betrieb  der  M  ttersprache  letzten  Endes 
nur  anzuführen  wußte:  ^^Videat  modo  aliquis  in  bibliotheca  nostra,  quanta 
ibi  vis  sit  librorum  Latinorum,  et  quanti  thesauri  Latina  lingua  custodiantur. 
Invenies  XX  libros  Latinos  pro  uno  Gallico,  et  C  forte,  pro  uno  Germanico, 
ex  guibus  hauserunt,  qui  j.utantur  reliquis  pylitiores^'-^) 

Berlin-Lichterfelde.  Ernst  Lotz. 


Inwieweit  hat  Mittellateiniscii  im  Gymnasialunterricht 
seine  Berechtigung? 

In  der  letzten  Zeit  mehren  sich  die  Stimmen,  die  im  Gymnasialunterricht 
für  das  Mittellatein  Platz  verlangen.  Wortführer  sind  Literaten  (wie  Hof- 
miller in  den  Süddeutschen  Monatsheften,  Mai  1917)  und  Hochschullehrer 
(wie  Traube,  Paul  v.  Winterfeld,  Konrad  Burdach,  Paul  Lehmann,  Voßler). 
Da  mag  es  denn  allmähHch  Zeit  werden,  daß  auch  der  praktische  Schulmann 
zu  der  angeregten  Frage  Stellung  nimmt,  vor  allem  über  ihr  Verhältnis  zu 
der  Gesamtaufgabe  des  Gymnasiums,  über  das  Maß  des  Erreichbaren,  über 
die  praktische  Ausgestaltung  der  nahe  beieinander  wohnenden  Gedanken. 
In  der  ausgesprochenen  Absicht,  durch  die  Erfahrung  in  das  Problem  näher 
einzudringen,  habe  ich  daher  im  Laufe  des  Wintersemesters  1919/20  am 
Frankfurter  Lessinggymnasium  mit  den  Unterprimanern  Einhards  vita  Caroli 
Magni  gelesen.  Diese  Lektüre  empfiehlt  sich,  weil  Einhard  stark  von  Sueton 
abhängig  und  daher  der  Übergang  von  den  klassischen  Werken  des  Alter- 
tums nicht  gerade  unvermittelt  und  schroff  ist.  Dazu  ist  das  Werk- 
chen für  die  Historiker  der  folgenden  Jahrhunderte  nach  Sprache  und  Be- 
handlung des  Stoffes  vorbildlich  geworden.  Zu  diesen  formalen  Vorzügen 
kommt  ausschlaggebend  der  nationale  Gehalt,  der  sich  um  eine  der  größten 
germanischen  Herrscherpersönlichkeiten  gruppiert^) . 

Der  Versuch  hat  mich  nicht  gereut,  vor  allem  auch  deshalb,  weil  es  über 
Einhard  und  die  Geschichtschreiber  hinaus  auch  an  das  Mittellatein  anderer 


1)  1.  c.  S.  114. 

*)  Benutzt  wurde  die  Ausgabe  von  Alfred  Holder  (Germanischer  Bücherschatz  von 
A.  H.).  Freiburg  und  Tübingen  1882  (bei  Mohr).  Vergriffen  war  das  Bändchen  aus  den 
Scriptores  rerum  Gernt-^nicarum  in  usum  scholarum  ex  monumentis  Germaniae  historicis 
separatim  editi.    Hannover  und  Leipzig  (bei  Hase)  1911. 


204  Knögel, 

Kulturgebiete  heranführte  und  weitere  AusbHcke  eröffnete.  Das  innere 
Interesse  nahm  immer  mehr  zu,  es  schied  sich  allmählich,  was  an  der  Forderung 
berechtigt,  was  unberechtigt  ist,  ihre  Durchführbarkeit  erschien  in  bestimmten 
Grenzen  nicht  ausgeschlossen.  Denn  herangetreten  an  das  Problem  war  ich 
mit  der  grundsätzlichen  Stellungnahme :  wir  wissen,  was  wir  an  den  römischen 
Klassikern  haben,  die  Ziele  des  lateinischen  Unterrichts  sind  einheitlich  und 
geschlossen,  die  zur  Verfügung  stehende  Zeit  ist  knapp  und  beschränkt. 

In  der  Internationalen  Wochenschrift  (August  1919)  hat  Karl  Voßler 
sich  über  die  neue  Forderung  so  ausgesprochen :  „Es  klafft  im  Bildungsplan 
unsrer  Gymnasien  zwischen  dem  antiken  und  modernen  Geist  eine  riesen- 
hafte Lücke,  die  durch  Staaten-  und  Kriegsgeschichte  und  durch  einige  mittel- 
hochdeutsche und  neusprachliche  Lektüre  notdürftig  und  eilfertig  über- 
brückt wird."  Daher  fordert  Voßler  mit  Burdach i),  der  griechische  und  la- 
teinische Unterricht  solle  die  lediglich  rückwärts  gewandte  Betrachtungsweise 
endlich  abstreifen,  „bei  der  die  Antike  immer  nur  in  sich  selbst  gespiegelt 
wird,  während  ihre  fortzeugende  Wirkung  und  Umbildung  ins  Mittelalterliche 
und  Moderne  zu  kurz  kommt".  Voßler  weist  weiter  darauf  hin,  „wie  tief 
die  Nationalliteratur  der  Deutschen,  der  Franzosen,  der  Italiener  in  dem 
gemeinsamen  Nährboden  des  mittellateinischen  Schrifttums  und  Bildungs- 
wesens verwurzelt  sind".  Man  wird  diese  Gesichtspunkte  gelten  lassen  müssen, 
und  damit  erhält  dann  der  Versuch,  durch  die  schulmäßige  Lesung  der 
Einhardschen  Schrift  näher  an  und  in  die  Sache  vorzudringen,  auch  die  innere 
Berechtigung. 

Ich  habe  auf  die  33  Kapitel  etwa  18  Stunden  verwendet.  Die  Lektüre 
ist  leicht  und  bedarf  kaum  der  Präparation.  Der  Satzbau  ist  im  ganzen  ein- 
fach oder  doch  übersichtlich;  auch  die  Mammutkonstruktion  im  Kapitel  15 
beweist  nichts  dagegen.  Unterschiede  zwischen  dem  Latein  der  üblichen 
Schulschriftsteller  und  dem  imitierten  Suetonlatein  machten  sich  fast  aus- 
schließlich in  lexikalischer  Hinsicht  bemerkbar;  der  Kuriosität  halber  mag 
erwähnt  sein,  daß  uns  gleich  im  ersten  Kapitel  das  Adjektiv  modernus  be- 
gegnet, das  sich  zu  modo  (eben  erst)  verhält,  wie  hodiernus  zu  hodie  und  das 
uns  doch  so  unlateinisch  anmutet.  Manche  Vokabeln  stehen  nicht  in  den 
Schulwörterbüchern  und  müssen  vom  Lehrer  angegeben  werden.  Das  Ver- 
ständnis macht,  vielleicht  von  der  Einleitung  abgesehen,  keine  Schwierig- 
keiten. Das  hegt  zum  guten  Teile  daran,  daß  der  Inhalt  durchweg  den  Schülern 
bekannt  und  geläufig  ist;  damit  hängt  dann  wieder  zusammen,  daß  die  geistige 
Arbeit  geringer  ist,  als  wenn  durch  das  Übersetzen  Neuland  entdeckt  wird. 
Vergleichen  wir  Einhards  Schrift  einem  durch  den  nationalen  Gegenstand 
wertvollen  und  uns  wohlvertrauten  Gemälde,  dessen  ganze  Fläche  übertüncht 
ist,  wie  das  in  der  Geschichte  der  Kunst  wohl  vorkommt,  so  bedeutet  das 
Übersetzen  lediglich  einEntfernen  dieser  Tünche,  eine  Arbeit,  die  zwar  in  einem 
gewissen  technischen  Können  beruht,  aber  im  ganzen  doch  eine  mechanische 


1)  Deutsche  Renaissance.    Betrachtungen   über   unsere  künftige  Bildung.     Berlin, 
Mittler  und  Sohn,  1916  (Deutsche  Abende.    Vierter  Vortrag). 


Inwieweit  hat  Mitteüateinisch  im  Oymnasialunterricht  seine  Berechtigung?       205 

und  handwerksmäßige  Arbeit  bleibt.  So  verstehen  wir,  daß  man  schnell 
lesen  kann,  ja,  man  muß  es,  wenn  sich  nicht  Langweile  einstellen  soll,  vor 
der  auch  die  Freude  am  nationalen  Inhalt  auf  die  Dauer  keineswegs  schützt. 
Alles  in  allem :  eine  mehr  leichtverdauliche  und  schmackhafte,  als  eine  nahr- 
hafte und  kräftige  Kost ;  die  Zähne  haben  zu  wenig  zu  tun,  man  wird  sie  leicht 
überdrüssig.  Diese  Gefahr  wird  auch  nicht  dadurch  ausgeglichen,  daß  die 
Lektüre,  leicht  wie  sie  ist,  sich  vortrefflich  zum  Nacherzählen  in  lateinischer 
Sprache  eignet. 

Der  Gegensatz  zu  den  klassischen  Schriftstellern  kommt  vielmehr  immer 
mehr  zum  Bewußtsein,  so  daß  die  Schrift  neben  und  mitten  unter  diesen 
bald  als  ein  Fremdkörper  erscheint.  Und  wenn  wir  tiefer  graben,  wird  der 
Gegensatz  noch  offensichtlicher  und  greifbarer;  denn  er  ist  tiefgehend,  fast 
grundsätzlich.  Das  Werkchen  widerspricht  der  ganzen  Wertschätzung  und 
Würdigung  der  Sprache,  aus  der  allein  die  höhere  Schule  die  Berechtigung 
herleiten  darf,  alte  und  moderne  Sprachen  zu  Eckpfeilern  ihres  ganzen  Auf- 
baus zu  machen.  Wir  wissen,  die  Sprache  ist  weder  Kern  noch  Schale,  sondern 
beides  mit  einem  Male;  wir  wissen,  es  ist  der  Geist,  der  sich  den  Körper  baut; 
wir  wissen,  Inhalt  und  Form  gehören  organisch  zusammen.  Das  ist  bei  Einhard 
nicht  der  Fall.  Mag  auch  der  Gebrauch  der  lateinischen  Sprache  sich  noch 
so  selbstverständlich  aus  der  Kultur  der  Zeit  ergeben,  für  unser  modernes 
sprachliches  Empfinden  klafft  da  ein  tiefer  Spalt  zwischen  Inhalt  und  Form. 
Es  ist  für  unsern  Geschmack  ein  Unding,  daß  wir  hinter  der  fremdländischen 
Hülle  wohlbekannte  nationale  Personen  und  Dinge  entdecken,  wo  wir  rö- 
mische Anschauungen  und  römische  Verhältnisse  kennen  zu  lernen  erwarteten. 
Dieser  Dualismus  zwischen  Inhalt  und  Form  ergibt  eine  Zwitterbildung, 
bei  der  wir  weder  des  Inhalts  noch  der  Form  froh  werden,  und  er  steht  in 
fundamentalem  Gegensatz  zu  den  Schriftstellern,  die  man  gerade  deshalb 
die  klassischen  nennt,  weil  bei  ihnen  das  Innere  in  dem  Äußeren  den  ihm 
wie  selbstverständlich  zukommenden  Ausdruck  gefunden  hat. 

Neben  diesem  mehr  formalen  und  zugleich  mehr  als  formalen  Gegensatz 
zwischen  Einhard  und  den  römischen  Schriftstellern  macht  sich  der  inhalt- 
liche Unterschied  zwischen  den  Kulturwelten  geltend,  ein  Unterschied,  der 
durch  die  gemeinsame  Tünche  der  lateinischen  Sprache  zwar  überkleistert, 
aber  keineswegs  weggewischt  ist.  Die  mittelalterliche  Schrift  ist  losgelöst 
vom  Römertum  und  damit  von  den  letzten  Wurzeln,  aus  denen  der  Latein- 
unterricht am  Gymnasium  seine  Kraft  saugt.  Gewiß,  wir  beschäftigen  uns 
mit  Latein  auch  um  des  Lateins,  um  der  Sprache  selbst  willen,  und  die  ganze 
Entwicklung  des  Faches  hat  gezeigt,  welche  formal  bildenden  Kräfte  da 
latent  waren,  Kräfte,  wie  sie  wohl  keine  zweite  Sprache  in  sich  birgt.  Und 
doch  dürfen  wir  darüber  nicht  übersehen,  daß  diese  Seite  des  Unterrichts 
etwas  Sekundäres  ist,  wie  schon  die  Geschichte  eben  dieses  Unterrichts  zeigt. 
Das  Primäre  bleibt  und  muß  bleiben,  daß  in  dieser  Sprache  die  römischen 
Klassiker  geschrieben  haben,  die  kraft  ihres  inneren  Wertes  in  der  euro- 
päischen Kulturgeschichte  ihre  „fortzeugende  Wirkung"  bewiesen  haben. 
Das  hat  Zielinski  in  seinem  trefflichen  Büchelchen  „Cicero  im  Wandel  der 


206  Knögel, 

Jahrhunderte"  an  einem  typischen  Beispiel  gezeigt.  Cicero  vertritt  uns  hier 
das  römische  Schrifttum  überhaupt,  und  es  ist  bezeichnenderweise  nicht 
die  Rede  von  den  Wirkungen  und  der  Bedeutung  der  lateinischen  Sprache, 
sondern  der  in  dieser  Sprache  niedergelegten  unvergänglichen  Kulturwerte 
des  römischen  Altertums.  Es  könnte  für  den  Untergrund  und  den  ganzen 
Aufbau  des  Gymnasiums  gefährlich,  vielleicht  verhängnisvoll  werden,  wenn 
diese  reinliche  Scheidung  verkannt  oder  auch  nur  verschoben  würde:  das 
Gymnasium  verlöre  an  seiner  inneren  Geschlossenheit  und  damit  den  besten 
Teil  seiner  Stoßkraft. 

Verstehen  wir  uns  aber  recht;  es  handelt  sich  hier  zunächst  nur  um  den 
Lateinunterricht,  den  es  gilt  einheitlich  zu  erhalten.  Ob  Einhard  vielleicht 
in  Deutsch  oder  Geschichte  Platz  finden  kann,  ist  damit  noch  gar  nicht  ge- 
streift und  ist  überhaupt  hier  noch  nicht  spruchreif.  Und  weiterhin :  es  handelt 
sich  hier  nur  um  das  auf  dem  Römertum  aufgebaute  Gymnasium.  Ganz 
anders  liegen  die  Sachen  schon  beim  Realgymnasium,  bei  dem  die  Rücksicht 
auf  das  Römertum  zurücktreten  darf  und  dem  die  Entwicklung  näher  liegen 
mag  als  die  Quellen.  Das  gilt  noch  in  höherem  Grade  von  der  Ober- 
realschule, die  die  lateinische  Sprache  aus  praktischen  Bedürfnissen  heraus 
betreibt.  Wenn  hier  Einhard  dem  lateinischen  Anfangsunterricht  zugrunde 
gelegt  würde,  so  wüßte  ich  kaum,  was  dagegen  einzuwenden  wäre.  Auch 
in  den  Anfängerkursen  an  der  Universität  scheint  er  in  gleicher  Weise  am 
Platze  zu  sein. 

Es  ist  unverkennbar:  Einhard,  neben  die  römischen  Klassiker  gestellt, 
ergibt  ein  Gespann,  das  nicht  an  demselben  Strange  zieht.  Nicht  zum  Schaden 
für  die  Klassiker.  Denn  durch  den  Zwiespalt  wird  es  den  Schülern  selbst 
augenfällig  zum  Bewußtsein  gebracht,  worin  deren  bleibender  Wert  besteht 
—  so  etwa,  wie  die  Ausnahme  die  Hauptregel  erst  ins  rechte  Licht  stellt. 

Das  ist  nun  freilich  ein  Vorzug,  an  dem  Einhards  Schrift  selbst  wenig 
Verdienst  hat.  Wohl  aber  dürfen  wir  es  diesem  als  Verdienst  anrechnen, 
daß  der  Lehrer  nach  mancher  Richtung  wissenschaftlich  gefördert  wird: 
der  Altphilologe  durch  die  Beziehungen  zu  Sueton,  der  Historiker,  weil  er 
eine  Quellenschrift  liest,  der  Germanist  durch  die  darin  vorkommenden  Per- 
sonennamen, Monatsnamen,  Windbezeichnungen  altgermanischer  Prägung, 
die  zu  sprachlichen  Erörterungen  einladen.  So  wird  der  Fachmann  je  nach 
seiner  Interessenrichtung  den  Unterricht  beleben  und  ausgestalten,  und  doch 
wird  es  ihm  kaum  gelingen,  den  Gesamteindruck  auf  seine  Schüler  zu  einem 
nachhaltigen  und  tiefgehenden  zu  machen.  Gewiß,  sie  treten  mit  gespannter 
Aufmerksamkeit  und  hohen  Erwartungen  an  die  neue  Aufgabe  heran  — 
fast  als  ob  sie  hier  so  etwas  wie  einen  praktischen  Erfolg  ihres  Lateinlernens 
sähen;  sie  freuen  sich,  den  Nationalhelden  gleichsam  unmittelbar  und  per- 
sönlich kennen  zu  lernen.  Aber  das  Interesse  erlahmt  gar  bald,  und  die  Stim- 
mung schlägt  fast  ins  Gegenteü  um.  Die  jungen  Leser  fühlen  sich  enttäuscht; 
sie  lernen  ja  nichts  Neues  hinzu  —  weder  für  ihre  Gedankenwelt  noch  für 
ihre  Tatsachenkenntnis.    Was  sie  da  lesen,  ist  ihnen  längst  bekannt  und  ge- 


Inwieweit  hat  Mittellateinisch  im  Gymnasial  Unterricht  seine  Berechtigung?       207 

läufig.    Der  Unterricht  bietet  ihnen  nichts,  jedenfalls  nicht  das,  was  s'e 
erwartet  hatten. 

Und  das  ist  dann  die  nächstliegende  Lehre,  die  ich  aus  meinem  Ver- 
suche mit  Einhards  vita  Caroli  entnehmen  möchte:  die  in  Anspruch  ge- 
nommene Zeit  war  zu  lang.  Sie  kann  bei  späteren  Versuchen  gekürzt 
werden.  Gelesen  werden  muß  die  gehaltvolle  Einleitung  und  was  im 
Anschluß  daran  über  die  Merovinger  und  die  Hausmeier  berichtet  wird. 
Es  dürfen  zurücktreten  die  Kapitel  4 — 15  über  Karls  des  Großen  Kriege. 
Bessere  Schüler  berichten  in  lateinischer  Sprache  über  bestimmte,  von  ihnen 
präparierte  Abschnitte.  Die  zweite  Hälfte  (Karl  im  Frieden)  verdient  wieder 
eingehendere  Berücksichtigung.  Das  Schlußkapitel  (mit  dem  Testament 
des  Kaisers)  wird  nicht  gelesen,  doch  führen  die  drei  dort  erwähnten,  von 
Künstlerhand  verfertigten  Tische,  die  auf  ihren  Platten  Rom,  Konstantinopel, 
den  ganzen  Erdkreis  darstellen,  auf  die  geographischen  und  topographischen 
Vorstellungen  des  Mittelalters,  die  mit  denen  des  Altertums  aufs  engste 
zusammenhängen,  und  daß  der  Lehrer  über  diese  Kulturzusammenhänge 
das  Nötigste  sage,  ist  ganz  im  Sinne  der  Gründe,  aus  denen  die  Beschäftigung 
mit  dem  Mittellatein  neuerdings  verlangt  wird. 

Wir  besinnen  uns  auf  unsere  Aufgabe,  die  in  Einhard  nur  ihre  Grundlage 
haben  sollte.  Bevor  wir  aber  über  diesen  hinausgehen,  muß  ein  Einwand 
grundsätzlicher  Art  besprochen  werden,  der  die  Lektüre  des  Einhard  betrifft.  Es 
liegt  doch  nahe  dieses  einzuwenden :  weshalb  sollen  wir  überhaupt  die  Geschicht- 
schreiber deutscherVergangenheit  in  lateinischerSprache  lesen?  Eine  deutsche 
Übersetzung  wäre  doch  hier  viel  eher  am  Platze.  Was  sonst  von  der  Minder- 
wertigkeit der  Übersetzung  gegenüber  dem  Original  vorgebracht  wird,  hat 
seine  volle,  ganze  Berechtigung.  Nur  hier  verfängt  es  nicht.  Hier  liegt  die 
Sache  vielleicht  gradezu  umgekehrt.  Denn  eine  gute  Verdeutschung  Einhards, 
in  der  also  die  neue  äußere  Form  dem  nationaldeutschen  Inhalt  entspricht,  wird 
für  unser  modernes  Empfinden  zum  Original.  Und  das  Gymnasium  braucht 
sich  keineswegs  zu  schämen,  deutsche  Geschichte  nicht  auf  dem  Umwege 
über  die  Fremdsprache  kennen  zu  lernen.  Ja,  wenn  es  sich  um  die  Römer 
Cäsar  oder  Tacitus  handelte !  Ja,  wenn  das  Gymnasium  noch  die  alte  Latein- 
schule mit  ihren  vielen  Lateinstunden  wäre!  Heute  hat  der  altphilologische 
Lehrer  recht  eigentlich  in  der  Beschränkung  sich  als  Meister  zu  erweisen: 
so  darf  und  muß  uns  auf  dem  Gebiete  unsrer  mittelalterlichen  deutschen 
Geschichtschreibung  die  Sprache  des  Mittellateins  zurücktreten;  die  Sache 
selbst  kommt  auch  in  der  Übersetzung  ausreichend  zur  Geltung. 

Ich  wüßte  nicht,  was  man  dagegen  Überzeugendes  vorbringen  könnte. 
Andererseits  aber  ergibt  sich,  daß  die  Frage  der  Beschäftigung  mit  Mittellatein 
nur  einseitig  erledigt  worden  ist,  so  lange  wir  sie  nämlich  auf  die  Historiker  be- 
schränkten. Und  noch  in  einer  anderenBeziehung  haben  wir  dasProblem  zu  eng 
eingestellt.  Wir  haben  es,  durch  den  äußeren  Schein  verführt  und  getäuscht, 
kurzerhand  als  eine  Frage  des  lateinischenUnterrichts  betrachtet  und  auf  dieser 
Grundlage  bisher  die  Erörterung  aufgebaut.  Und  doch  ist  sie  nur  einTeÜ  der 
Gesamtgrundlage.  Es  handelt  sich  eben  nicht  um  eine  Frage  des  Lateinunter- 


208  Knögel, 

richts,  die  m  dessen  Bedürfnissen  und  Zielen  eingebettet  wäre,  sondern  über 
das  Fach  hinaus  um  eine  Frage  des  Gymnasiums  als  der  Schule  der 
Tradition  im  Kulturleben.  Um  dieser  Tradition  willen  fordert  Mittel- 
latein am  Gymnasium  Einlaß:  darin  beruht  seine  grundsätzliche  Berechtigung; 
an  zweiter  Stelle  steht  erst  die  Frage,  wo  es  innerhalb  des  gymnasialen 
Organismus  seinen  Platz  finden  soll,  und  nur  inhaltliche  Erwägungen  ent- 
scheiden über  die  Unterbringung  der  lateinischen  Sprachdenkmäler.  Stehen 
aber  in  der  Tat  nicht  Sonderziele  einer  einzelnen  Disziplin, 
sondern  eine  aus  dem  Gesamtziel  und  dem  innersten  Kerne 
des  historisch  gerichteten  Gymnasiums  erwachsene  Frage 
zur  Diskussion,  so  ergeben  sich  daraus  wichtige  Folgerungen,  die  die 
bisher  unausgeglichenen  Gegensätze  in  einer  höheren  Synthese  zu  vereinigen 
imstande  sind. 

Auf  der  also  gewonnenen  breiteren  Grundlage  stellen  wir  für  den  Latein- 
unterricht fest,  daß  in  ihm  nur  diejenigen  Schriften  grundsätzlich  Daseins- 
berechtigung haben,  die  mit  dem  klassischen  Altertum  mehr  als  bloß  sprach- 
liche Fühlung  haben,  die  lebenskräftig  sind  und  durch  ihren  Gegenwartswert 
unser  Leben  befruchten,  die  für  die  Entwicklung  der  Kultur  und  ihrer  Be- 
ziehungen bedeutsam  sind.  Lediglich  ,,für  die  Jugend  wichtiger  und  anziehen- 
der Lesestoff",  den  die  Zeitschrift  für  deutschen  Unterricht  und  Deutschkunde 
aus  dem  lateinischen  Mittelalter  uns  in  Aussicht  stellt,  genügt  wirklich  nicht, 
um  deshalb  schon  grade  im  Latein  eine  Stätte  zu  finden^).  Also:  wir  müssen 
durch  die  Uniform  der  gemeinsamen  Sprache  zu  dem  differen- 
zierten Inhalt  vordringen  und  je  nachdem  die  mittel- 
lateinischen Dokumente  diesem  oder  jenem  Fache  zuweisen. 
Gehören  sie  trotz  des  fremden  Gewandes  zur  deutschen  Literatur,  so  gehören 
sie  ins  Deutsche,  sonst  je  nachdem  in  Latein,  Religion,  Geschichte.  Voraus- 
setzung ist  nur,  daß  der  Fachmann  die  Quellen  seiner  Wissenschaft  im 
Original  lesen  kann  und  daß  das  Latein  des  Schülers  ausreicht,  wie  ja 
auch  der  angehende  Jurist  sein  corpus  iuris  nicht  unter  Führung  eines  Latein- 
lehrers, sondern  des  Fachmanns  Uest.  Versuchen  wir  also,  einige  der  wichtigsten 
Dokumente,  nach  Fächern  geordnet,  hier  zusammenzufassen,  um  auf  diese 
Weise  zugleich  mit  unserm  Gebiet  etwas  näher  vertraut  zu  werden. 

Für  das  Lateinische  scheint  mir  nur  in  Betracht  zu  kommen  der  Ruod- 
lieb,  und  zwar  wegen  seiner  Bedeutung  für  den  Mimus.  Denn  der  Mimus 
geht  tief  zurück  in  das  römische  wie  in  das  griechische  Altertum  und  betrifft 
eine  Seite  des  Volkslebens,  die  amGymnasium  und  wohl  an  jeder  höheren  Schule 
etwas  zu  kurz  zu  kommen  pflegt.  Wir  erhalten  dort  wertvolle  Ausblicke 
auf  eine  lange  Entwicklungsreihe  bis  in  unsre  Tage  hinein.  So  ist  es  sowohl  in 
den  Zielen  des  Gymnasiums  im  allgemeinen  wie  des  Lateinunterrichts  im 
besonderen  wohl  begründet,  wenn  die  Schüler  mit  Stücken  aus  Ruodlieb 
dem  mittelalterlichen  Roman,  bekannt  werden,  weiterhin  auch  mit  der  Goli- 


^)  Die  Ergänzung  der   „Kanonischen  SchuHektüre"   liegt   auf  anderem  Wege;  vgl. 
Dresdner  In  „Neues  Leben  im  altsprachlichen  Unterricht".    Berlin,  Weidmann,  1919. 


Inwieweit  hat  Mitteilateinisch  im  Gymnasialunterricht  seine  Berechtigung?      209 

ardenpoesie,  zumal  mit  jenem  Archipoeta  aus  der  Zeit  Barbarossas,  dem 
verkommenen  Genie,  das  so  prachtvolle  Verse  und  Strophen  zu  bauen  ver- 
steht und  ein  stolzer,  seines  Wertes  sich  bewußter  Geist  ist.  In  der  Tat.  Die 
Darlegungen  Winterfelds  über  den  Mimus  (s.  u.)  beleuchten  ein  großes  Gebiet 
griechisch-römischer  Kultur,  das  in  seinen  Nachwirkungen  noch  jetzt  in  der 
europäischen  Gesamtkultur  in  Erscheinung  tritt.  Solche  geistigen  Beziehungen 
zwischen  einst  und  jetzt  bloßzulegen  ist  recht  eigentlich  Aufgabe  des  Gym- 
nasiums, und  so  mag  der  lateinische  Roman  des  Mittelalters  Anlaß  bieten, 
im  Lateinunterricht  etwa  folgendes  zu  berichten.  Aus  den  griechischen 
Jongleuren,  die  allmählich  das  burleske  Volksdrama  zu  ihren  gauklerischen 
Darbietungen  hinzunahmen,  entwickelt  sich  der  berufsmäßige  Stand  der 
Mimen.  Die  volksmäßigen  Stücke  dringen  dann  auf  das  Theater  des  Dionysos, 
und  am  Ende  der  Antike  hat  der  große  Theatermimus  im  Orient  undOccident 
kulturhistorische  Bedeutung.  Mimus  ist  Nachahmung  des  Lebens,  sagt  schon 
Theophrast,  der  Schüler  des  Aristoteles.  Alle  Typen  des  vielgestaltigen 
Lebens,  den  Clown  eingeschlossen,  sind  in  diesen  Dramen  vertreten ;  der  Form 
nach  unterscheiden  wir  wie  bei  Shakespeare  Prosa,  Spruchvers  und  Kouplet. 
Von  den  Kirchenvätern  scharf  bekämpft  ging  der  Mimus  aus  der  Antike  ins 
Mittelalter.  Hier  wurden  die  christlichen  Mysterien  oft  in  burleskem  Sinne 
profaniert,  hier  fand  sich  der  letzte  heidnische  Widerstand  gegen  die  neue 
Weltreligion.  Konzilien  faßten  Beschlüsse  gegen  den  Mimus;  sie  hatten  dazu 
Anlaß,  da  sich  unter  den  Geistlichen  Freunde  und  Gönner  der  Mimen  fanden. 
Zu  diesen  gehörte  auch  der  Verfasser  des  RuodUeb ;  er  kennt  gründlich  die  Welt. 

Es  ist  eine  lange  Entwicklung,  die  da  an  uns  vorübergezogen  ist,  und 
unschwer  ließe  sie  sich  über  Mysterium  und  Puppenspiel  für  jedes  europäische 
Volk  bis  in  unsre  Tage  fortführen.  Für  unsern  Zweck  aber  ist  das  Wichtigste, 
daß  sie  im  griechisch-römischen  Altertum  verwurzelt  ist.  daß  wir  aus  jener 
Seite  des  öffentlichen  Lebens  Mittelalter  und  Neuzeit  verstehen,  daß  eine 
solche  mehrtausendjährige  und  darum  welthistorische  Entwicklung  auf 
einem  bestimmten  Gebiete  übersehen,  nicht  bloß  neue  Kenntnis  und  Er- 
weiterung des  Gesichtsfeldes  bedeutet,  sondern,  was  mehr  ist,  Vertiefung  der 
Bildung.  So  fügen  sich  also  Stücke  aus  demRuodlieb  und  der  Vagantenpoesie 
ungezwungen  in  dieselben  Ziele,  die  wir  der  Beschäftigung  mit  den  römischen 
Klassikern  stecken. 

Das  sind  aber  auch  die  einzigen  mittellateinischen  Sprachdenkmäler, 
die  grundsätzlich  im  lateinischen  Unterricht  des  Gymnasiums  Heimatrecht 
beanspruchen  können,  denn  das  schließt  nicht  aus,  daß  die  Praxis  sie 
trotz  allem  eher  dem  deutschen  Literaturunterricht  einfügen  wird. 

Wir  wenden  uns  zur  Geschichte.  Für  dieses  Fach  kommen  natürlich 
an  erster  Stelle  die  Historiker  in  Betracht,  soweit  man  nicht  vorzieht,  sie  in 
der  Übersetzung  lesen  zu  lassen.  Es  liegt  nahe,  innerhalb  dieses  Rahmens 
auch  diesen  oder  jenen  Ausschnitt  aus  dem  corpus  iuris  den  Schülern  nicht 
vorzuenthalten,  auf  das  Hofmiller  (a.  a.  O.)  als  auf  „das  Römischste  der 
römischen  Literatur"  hinweist.  Wenn  wir  aber  trotz  dieser  vollgültigen  Be- 
gründung den  Gegenstand  nicht  dem  lateinischen  Unterricht  zuweisen, 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  14 


210  Knögel, 

so  geschieht  dies,  weil  wir  von  deutschen  Rechtsanschauungen  ausgehen 
und  sie  durch  die  römischen  klären  möchten.  Also  mag  im  Geschichtsunter- 
richt die  lexSalica  auch  auf  Gajus  und  Papinian  zurückführen,  doch  können 
die  einschlägigen  Kapitel  in  Tacitus  Germania  Anlaß  geben,  wenigstens  auf 
die  grundsätzlichen  Unterschiede  zwischen  römischer  und  germanischer 
Rechtsauffassung  orientierend  hinzuweisen :  für  weitere  Kreise  der  Gebildeten 
ist  das  wohl  nicht  ganz  überflüssig. 

Daß,  wo  es  sich  um  mittelalterliche  Kulturwerte  handelt,  auch  der  Reli- 
gionsunterricht stark  in  Frage  kommt,  ist  von  vornherein  anzunehmen, 
zumal  für  den  katholischen  Religionsunterricht,  in  dem  Affektionswerte  bis 
in  die  Gegenwart  hinein  sich  auswirken.  Von  den  führenden  Männern  scheint 
mir  besondere  Beachtung  zu  verdienen  Augustinus,  der  an  der  Schwelle  des 
Mittelalters  steht  und  schon  durch  den  Titel  seiner  Schrift  de  civitate  Dei 
den  Abschluß  des  Altertums  und  den  Anbruch  einer  neuen  Zeit  mit  neuen 
Anschauungen  sichtbarlich  zum  Ausdruck  bringt.  Nicht  minder  bedeutsam 
für  die  ganze  Struktur  des  Mittelalters  ist  die  regula  Sancti  Benedicti.  Burdach 
ebenso  wie  Hofmiller  wollen  wesentlich  weitergehen ;  Burdach  bemerkt  a.  a.  O. 
Seite  90):  ,,Ein  unermeßlicher  Schatz  schöpferischer  Sprachkraft  und  Poesie 
geht  unsrer  Jugend  verloren."  Aus  den  von  ihm  befürworteten  Stücken 
greife  ich  die  beiden  Sequenzen  Stabat  mater  und  Dies  irae  heraus,  in  denen 
das  tiefste  Empfinden  des  Mittelalters  seinen  vollendeten  und  ergreifenden 
Ausdruck  gefunden  hat.  Hier  ist  die  Form  mit  dem  Inhalt  zu  einer  Einheit 
verschmolzen,  die  internationale  Kirchensprache  mit  dem  internationalen 
Gehalt.  Beide  Gedichte  in  Übersetzung  kennen  zu  lernen,  heißt  die  Kunst- 
werke überhaupt  nicht  kennen,  denn  Kunstwerke  sind  sie,  von  edler  Einfalt 
und  stiller  Größe,  das  eine  vergleichbar  einer  Pietä,  das  andere  einem  Jüngsten 
Gericht.  An  die  beiden  reichen  selbst  Notkers  Sequenzen  nicht  heran,  ob- 
wohl auch  sie  höchsten  Kunstwert  besitzen,  aber  sie  gehören  doch  eher  in  die 
literaturgeschichtliche,  weniger  in  die  reUgiöse  Umwelt. 

Damit  kommen  wir  endlich  zu  den  mittellateinischen  Sprachdenkmälern, 
die  im  deutschen  Unterricht  ihren  Platz  fordern  dürfen,  also  in  Ober- 
sekunda neben  Nibelungenlied  und  Walther  von  der  Vogelweide. 
Das  sind  Notkers  Gedichte  und  Ekkehards  Walthariliedi).  Kürzer  darf  die 
Nonne  Hrotswith,  die  von  den  Zeitgenossen  des  Humanisten  Konrad  Celtis 
als  Sappho  und  zehnte  Muse  gepriesen  wurde  und  neuerdings  in 
Winterfeld  einen  feinfühligen  Lobredner  gefunden  hat.  Aber  unser 
Verhältnis  zu  ihr  bleibt  doch  nur  ein  literarisches,  während  Notker 
und  Ekkehard  noch  heute  uns  etwas  zu  sagen  haben.  Winterfeld 
erinnert  daran,  daß  die  beiden  im  Gegensatz  zu  der  Niedersächsin  Süd- 
deutsche sind,  und  während  die  knorrige  Art  Hrotswiths  den  Stammes- 
charakter nicht  verleugnend  an  Hebbel  gemahnt,  eine  grade  Linie  von  dem 
Schwaben  Notker  auf  Mörike  und  Gottfried  Keller  führt.    Schon  die  gesta 


»)  Deutsche  Dichter  des   lateinischen  Mittelalters.     In   deutschen  Versen  von  Paul 
von  Winterfeld.    München,  bei  Beck,  1913. 


Inwieweit  hat  Mitteliateinisch  im  Oymnasialunterricht  seine  Berechitigung?      211 

Caroli  Magni  verraten  seine  Eigenart.  Das  Büchlein  ist,  wie  Winterfeld  sagt: 
„Sage  und  Geschichte  in  buntem  Gemisch,  voll  Humor  und  Laune  und  ehr- 
fürchtiger Liebe,  es  ist  das  Bild  des  großen  Kaisers,  wie  es  im  Herzen  des 
Volkes  lebte,  schon  umrankt  von  dem  Gespinst  der  Sage."  Nationale  Ge- 
sinnung und  leuchtender  Humor  dringen  bei  Notker  sieghaft  durch  das  latei- 
nische Gewand,  und  doch,  erst  wenn  wir  die  Gedichte  in  Winterfelds  Ver- 
deutschung lesen,  scheinen  sie  völlig  die  unsern  zu  sein,  so  daß  wir  die  lateinische 
Sprache  den  zeitgenössischen  Lesern  des  Dichters  und  den  modernen 
Studierenden  der  romanischen  Philologie  neidlos  überlassen :  es  kommt  uns 
überhaupt  kaum  der  Gedanke  und  der  Wunsch,  das  fremde  Original  kennen 
zu  lernen ;  so  sehr  sind  wir  im  Banne  kerndeutscher  Personen  und  kern- 
deutschen Empfindens. 

Trotzdem  wäre  das  Bild  von  Notkers  Persönlichkeit  unvollständig,  wenn 
wir  nicht  auch  auf  seine  Sequenzen  ausdrücklich  hinwiesen.  Denn  erst  diese 
geben  einen  Einblick  in  die  Tiefe  seines  Wesens,  aus  der  sein  Humor  heraus- 
quillt. Winterfeld  nennt  die  Sequenz  das  Höchste,  was  das  lateinische  Mittel- 
alter aus  inniger  seeUscher  Bewegung  heraus  in  der  Poesie  geleistet  hat.  Er 
fährt  dann  fort :  „Diese  geistlichen  Lieder  erheben  sich  zur  Höhe  alttestamen- 
tarischer Lyrik."  Die  Ostersequenz  mag  hier  Notkers  Gestaltungskraft  und 
zugleich  Winterfelds  Übersetzungskunst  veranschauHchen : 

Dem  aus  Grabesnacht 

Auferstandenen  Heiland  huldigt  die  Natur: 
Blum'  und  Saatgefild 

Sind  erwacht  zu  neuem  Leben; 
Der  Vögel  Chor 

Nach  des  Winters  Rauhreif  singt  sein  Jubellied. 
Heller  strahlen  nun 

Mond  und  Sonne,  die  des  Heilands  Tod  verstört, 
Und  in  frischem  Grün 

preist  die  Erde  den  Erstandenen, 
Die,  als  er  starb, 

Dumpf  erbebend  ihrem  Einsturz  nahe  schien^). 

Das  liest  sich  denn  nicht  wie  eine  Übersetzung,  sondern  wie  ein  selb- 
ständiges Gedicht,  und  kein  schlechtes.  Worin  aber  die  Eigenart  seiner  Schön- 
heit beruht,  kommt  uns  zum  Bewußtsein,  wenn  wir  den  Karfreitagszauber 
in  Wagners  Parzival  (3.  Akt)  danebenstellen.  Denn  die  beiden  gehören  zu- 
sammen ;  das  Motiv  ist  das  gleiche.  Alle  Kreatur  merkt,  daß  da  etwas  ganz 
Gewaltiges  vor  sich  geht,  und  äußert  sich  je  nach  ihrer  Art  dazu.  Bei  Wagner 
sind  die  Beziehungen  zwischen  Natur  und  Geschehnis  verfeinerter  und  sub- 
jektiver: die  Natur  fühlt  sich  entsündigt,  sie  fühlt  sich  durch  Gottes  Liebes- 
opfer rein  und  heil  wie  der  Mensch,  sie  feiert  ihren  Unschuldstag.  Der  mittel- 
alterliche Mönch  philosophiert  nicht  über  das  Problem,  ihm  gelten  nicht 
seine  Reflexionen,  aber  mit  seinem  Empfinden  steht  er  dem  Ereignis  näher, 
er  ist  naiver,  schlichter,  objektiver.  Mit  Schiller  zu  reden,  das  eine  ist  naive, 


1)  „Quae  (tellus)  tremula..  .cius  morte  se  casuram  minitat",  s.  Kehrein,  Lateinische 
Sequenzen  des  Mittelalters.    Mainz  1873.     S.  80. 

14* 


212  Knögel, 

das  andere  sentimentalische  Dichtung,  aber  beide  Gedichte  stehen  jedes  in 
seiner  Art  auf  gleicher  Höhe,  und  von  beiden  geht  ein  ähnlicher  Zauber  aus. 
dem  sich  niemand  entziehen  kann.  Daß  übrigens  Wagner  die  mittellateinische 
Sequenz  gekannt  habe,  ist  nicht  unwahrscheinlich.  Der  Weg  über  Wolframs 
Parzival  zu  Notkers  Sequenzen  ist  nicht  grade  weit. 

Über  Winterfeld  haben  wir  Notker,  über  der  deutschen  die  lateinische 
Dichtung  fast  vergessen.  Das  ist  begreiflich.  Indem  Winterfeld  das  Kunst- 
werk als  Kunstwerk  wiedergeben  will,  indem  er  mit  peinlichster  Sorgfalt 
in  jedem  einzelnen  Falle  über  die  Stilfrage  sich  Rechenschaft  gibt,  ob  er  das 
gleiche  Vermaß  und  den  gleichen  Strophenbau  benutzen  oder  modernem 
Empfinden  entsprechend  andere  Ausdrucksformen  wählen  soll,  schafft  er 
ein  neues,  vollwertiges,  auf  sich  selbst  gestelltes,  wenn  auch  durch  die  neue 
Form  im  Stimmungsgehalt  doch  etwas  beeinflußtes  Kunstwerk  und  legt 
uns  damit  die  Frage  vor:  sollen  wir  das  lateinische  Original  um  des  Lateins 
willen  für  die  Schule  (der  gelehrte  Standpunkt  ist  ein  anderer)  vorziehen  oder 
die  deutsche  Neuschöpfung,  die  dem  Original  entwachsen  ohne  den  Umweg 
über  die  Fremdsprache  sich  unmittelbar  an  unser  Empfinden  wendet?  Die 
Frage  so  stellen  heißt  sie  beantworten.  Damit  weisen  wir  aber  zugleich  dem 
lateinisch  schreibenden  Notker  grundsätzlich  seinen  Platz  im  deutschen 
Unterricht  der  Obersekunda  zu. 

Dasselbe  gilt  auch  von  Walther  und  Hildegund  — -  trotz  der  Nachahmung 
Vergils,  die  das  Gedicht  dem  lateinischen  Unterricht  zuweisen  könnte.  Schon 
durch  Scheffels  Übersetzung  am  Schlüsse  des  Ekkerhard  ist  es  weiteren  Kreisen 
unseres  Volkes  bekannt  geworden,  und  wie  verblaßt  selbst  diese  gegenüber  der 
aus  dem  besten  Blute  und  Geiste  der  Nation  gezeugten  Verdeutschung 
Winterfelds !  Man  hat  ihm  aus  der  Wahl  des  Stabverses  einen  Strick  gedreht, 
u.  a.  auch  Hofmiller,  und  doch  wird  sich  der  Wucht  dieses  Verses  und  der 
überragenden  Sprachgewalt  des  Verfassers,  die  dem  echt  germanischen  Helden 
den  ihm  eigenen  Ausdruck  mitgibt,  niemand  entziehen  können,  und  wenn  sich 
die  Gelehrten  darüber  nicht  einigen,  so  appellieren  wir  Schulmänner  an  die 
Jugend,  nicht  als  an  die  höhere  Instanz,  wohl  aber,  weil  das  in  dem  Stabreim  — - 
wie  auch  bei  Jordan  —  sich  äußernde  Rhetorische  zugleich  etwas  jugendlich 
Begeisterndes  hat  und  darum  grade  auf  die  Jugend  eingestellt  ist. 

So  ist  es  denn  Ekkehard  wie  Notker  ergangen :  das  Mittelalter  haben  wir 
über  der  Neuzeit  vergessen ;  es  scheint  sich  fast  nicht  mehr  um  Latein,  sondern 
um  Deutsch  zu  handeln.  Für  unsre  Aufgabe  wird  das  zum  Symptom.  Denn 
es  besagt  für  den  Schulmann  folgendes:  was  durch  mustergültige  Ver- 
deutschungen in  unserm  Volke  zu  neuem,  fast  selbständigen 
Leben  erwacht  ist,  soll  die  Schule  im  ganzen  in  der  neuen  Form 
weiteren  Kreisen  zu  volksmäßigem  Besitz  vermitteln,  anstatt  es  als  Gegen- 
stand nicht  angebrachter  Gelehrsamkeit  in  seiner  ursprünglichen  Gestalt  an 
die  Schülergenerationen  heranzuführen.  Daß  damit  der  Kreis  der  mittel- 
lateinischen Lektüre  wesentlich  eingeengt  wird,  mag  manchem  bedauerlich 
sein,  ergibt  sich  aber  aus  sachlichen  und  schulmäßigen  Überlegungen. 


Inwieweit  hat  Mittellateinisch  im  Gymnasialunterricht  seine  Berechtigung?      213 

• 

Wir  haben  es  versucht,  die  wichtigeren  mittellateinischen  Sprach- 
denkmäler zu  sichten  und  in  den  einzelnen  Unterrichtsfächern  unterzubringen, 
wo  sie  heimatberechtigt  sind.  Nun  gibt  es  aber  Werke,  die  den  engen  Fach- 
rahmen sprengen,  die  in  keinem  Unterricht  aufgehen,  also  grade  solche  Werke, 
die  den  besten  Kreisen  der  Gebildeten  die  Beschäftigung  mit  dem  Mittel- 
latein verständlich  und  einleuchtend  machen.  Ich  darf  daran  erinnern,  daß 
kürzlich  die  Liga  für  Völkerbund  in  einer  Eingabe  an  den  Minister  vorschlug, 
Hugo  Grotius  am  Gymnasium  lesen  zu  lassen.  Hierhin  gehören  Erasmus 
und  andere  Humanisten,  hierhin  das  ganze  Schrifttum  der  Gelehrsamkeit, 
alle  Dokumente  zur  Weltanschauung  und  Philosophie  und  Kulturgeschichte. 
Vor  allem  gehört  hierhin  Dantes  Büchlein  de  eloquentia  vulgari^)  (von 
der  Redekunst  in  der  Landessprache),  dessen  Besprechung  bei  Burdach 
den  ersten  Anstoß  zu  diesem  ganzen  Abschnitt  gegeben  hat.  Burdach 
nennt  es  ein  Buch  von  unermeßlicher  geschichtlicher  Bedeutung; 
es  bedeute  die  Grundlegung  des  modernen  Widerstandes  gegen  die  Allherr- 
schaft des  Latein  —  ein  Buch  also,  dürfen  wir  hinzufügen,  das  nicht  in  die 
Peripherie  der  gymnasialen  Interessen  und  Aufgaben  zu  setzen  ist,  sondern 
mitten  in  das  Zentrum  hinein,  weil  es,  die  Scheide  zweier  Kulturepochen 
markierend,  den  Blick  nach  rückwärts  und  nach  vorwärts  lenkt.  Und  für  ein 
solchesWerk  hat  das  Gymnasium,  das  „aus  dem  natürlichen  den  historischen 
Menschen  zu  machen"  sich  die  Aufgabe  stellt,  keine  Stätte,  wo  es  nicht  etwa 
bloß  eine  gelegentliche,  flüchtige  Erwähnung  findet,  sondern  von  Rechts 
und  Organisations  wegen  die  ihm  zustehende  Würdigung  findet.  Geht  man 
diesem  Gedanken  aber  tieferschürfend  nach,  so  sieht  man  bald,  daß  das  Gym- 
nasium wie  alle  Schulen  nur  Fächer  kennt,  daß  aber  das  geistige  Band  fehlt, 
das  unter  sich  diese  verbindet:  es  fehlt  neben  der  Dezentralisation 
die  Zentralisation,  es  fehlt  die  alles  überwölbende  und  die  Teile  erst  zu  einer 
Einheit  verknüpfende  Kuppel.  Ohne  Bild  gesprochen  wird  der  Gedanke 
zu  der  Forderung:  die  Oberklasse  muß  auch  Oberklasse  werden  in  dem  Sinne 
einer  Vermittlungsklasse  zwischen  Gymnasium  und  Universität.  Die  Unter- 
prima schließt  ab  mit  der  Reifeprüfung,  insofern  sie  sich  mit  den  einzelnen 
Fächern  und  dem  präsenten  Wissen  beschäftigt.  Acht  Jahre  getrennten 
Aufmarschierens  der  Fächer  sind  genug,  dann  muß  neben  die  Dezentrali- 
sation die  Zentralisation  treten.  Die  Universität  hat  für  den  einzelnen  Studie- 
renden längst  aufgehört,  eine  universitas  literarum  zu  sein  und  ist  ihm  fast 
ausschließlich  Berufs-  und  Fachschule  geworden;  desto  mehr  hat  das  Gym- 
nasium in  der  Oberklasse  das  Bewußtsein  anzubahnen,  daß  es  so  etwas  wie 
Ineinandergreifen  und  Verbundenheit  des  geistigen  Lebens  gibt  und  daß  es 
die  Aufgabe  des  heranwachsenden  Geschlechts  sein  muß,  trotz  des  Elends 
der  Zeitumstände  —  und  grade  wegen  dieser  Zeitumstände  —  auf  der  Hoch- 
schule über  das  Brotstudium  hinaus  weitere  und  tiefere  Interessen  zu  pflegen. 
Die  Fächer  dürfen  nicht  mehr  wie  Schubfächer  durch  Bretter  abgeschlossen 


1)  Rec.  Lud.  Bertalot.    Friedrichsdorf   bei  Frankfurt  a.  M.  1917  (im  Selbstverlag 
des  Herausgebers).     88  S. 


214  Knögel, 

sein,  sondern  müssen  sich  ergänzend,  befruchtend,  neue  Ausblicke  eröffnend 
näher  aneinander  herantreten.  Wir  suchen  Zusammenhänge  und  Quer- 
schnitte; wir  suchen  Horizontalgliederung  neben  der  Vertikalgliederung,  wir 
suchen  innere  Beziehungen  zwischen  den  Stoffgebieten.  Wohl  bemerkt, 
alles  dies  nicht  im  Sinne  eines  überall  herumnippenden  Dilettantismus, 
sondern  ernster  Vertiefung  und  Wissenschaftlichkeit.  Je  tiefer  wir  nämlich 
graben,  desto  mehr  stoßen  wir  auf  gemeinsamen  Boden,  je  mehr  wir  über 
den  Zaun  sehen,  desto  mehr  weitet  sich  der  Blick,  je  größer  der  Ausschnitt 
aus  Natur  und  Geisteswelt,  der  zu  unserm  Gesichtsfeld  gehört,  desto  höher 
wird  der  Standpunkt,  desto  mehr  übt  sich  neben  dem  wissenschaftlichen 
der  ordnende,  künstlerisch  gestaltende  Sinn. 

Diesen  Zukunftsbildern  entsprechend  müßte  dann  die  Oberklasse  (O  I) 
ausgestaltet  werden,  also  daß  ihr  Wesen  als  Kulturunterricht  ange- 
sprochen würde,  und  zweifellos  müßten  die  drei  Hauptfächer  —  Lateinisch, 
Griechisch  und  Mathematik-Physik  —  eine  äußere  Einbuße,  nehmen  wir 
an  von  je  zwei  Wochenstunden,  erleiden.  Aber  was  da  die  Schüler  an 
positivem  Wissen  etwa  weniger  lernten,  würde  ausgeglichen  durch  eine  mehr 
abgerundete  feinere  Büdung.  Denn  die  ganze  Umgestaltung  baute  sich 
doch  auf  den  beiden  Grund-  und  Eckpfeilern  des  Gymnasiums  auf  — 
dem  humanistischen  und  dem  historischen — ,  und  die  gewonnenen  Stunden 
sollten  zunächst  Verwendung  finden  für  philosophische  Propädeutik 
(Geschichte  der  Philosophie)  und  für  Kunstgeschichte;  es  müßten 
weiterhin  zeit-  und  weltgeschichtliche  Kulturzusammenhänge,  dahin  gehören 
z.  B.  auch  sprachgeschichtliche  Fragen,  klargelegt  werden,  die  Literatur- 
geschichte könnte  mitten  in  den  Kulturzusammenhang  der  Zeit,  ganz  nach 
Gervinus,  gestaltet  werden,  auch  die  nichtdeutsche  europäische  Literatur 
müßte  in  ihren  überragenden  Werken  durch  gute  Übersetzungen  uns  näher 
rücken,  wie  denn  auch  durch  Musterübersetzungen  die  Kenntnis  der 
griechischen  Dichter,  soweit  sie  im  Urtext  gelesen  waren,  eine  Erweiterung 
erführe.  Auch  der  Mathematiker  würde  nicht  zu  kurz  kommen,  er  könnte 
tiefere  mathematisch-physikalische  Probleme  und  die  Versuche  ihrer  Lösung 
lediglich  um  der  Probleme  willen  vorführen.  Hier  wird  auch,  und  damit 
kehren  wir  zu  unserer  Aufgabe  zurück,  Dantes  bahnbrechendes  Werkchen 
den  ihm  gebührenden  Platz  innehaben  —  nicht  isoliert,  sondern  hier 
wird  Gelegenheit  sein,  was  in  mittellateinischer  Sprache  geschrieben  uns 
auch  heute  noch  etwas  für  das  innere  oder  äußere  Leben  mitzugeben 
hat,  mehr  im  Zusammenhang  auf  uns  wirken  zu  lassen  und  so  seinen  Gesamt- 
eindruck zu  erhöhen.  Daß  uns  dann  auch  die  Humanisten  am  humanistischen 
Gymnasium  wieder  etwas  mehr  werden  als  bloße  Namen,  dürfen  wir  vielleicht 
deshalb  wenigstens  als  Möglichkeit  aussprechen,  da  sie  in  einer  der  geistig 
angeregtesten  Epochen  Kulturträger  sind.  Den  Abschluß  aber  der  Oberklasse 
büdet  zur  Feststellung  nicht  des  Wissens,  sondern  der  geistigen  Reife  ein 
häuslicher  Aufsatz  größeren  Stils  aus  der  Geisteswelt,  in  die  sich  die  Schüler 
in  dem  Jahre  eingelebt  haben  — wie  ihn  in  ähnlicher  Weise  jetzt  einzelne  von 
ihnen  an  diesem   oder    jenem  Gymnasium,    auch    am  Lessing-Gymnasium 


Inwieweit  hat  Mittellateinisch  im  Gymnasialunterricht  seine  Berechtigung?      215 

in  Frankfurt  a.  M.,  jedes  Jahr  zu  machen  pflegen.  Der  Vorschlag  erinnert 
daran,  daß  am  Gymnasium  der  Freien  Stadt  Frankfurt  —  die  ganze  Reife- 
prüfung darin  bestand  —  eine  umfangreichere  lateinische  Arbeit  anzu- 
fertigen. Mehrere  Monate  vorher  wurde  das  Thema  nach  Beratung  mit  dem 
Fachlehrer  gewählt,  der  auf  die  einschlägige  Fachliteratur   hinwies. 

Wir  fassen  zusammen.  Die  Pfade,  die  wir  gegangen,  sind  keineswegs 
schnurgerade,  aber  doch  einheitlich  und  von  organischem  Zusammenhang. 
Wir  gingen  aus  von  Einhards  vita  Caroli  Magni,  stellten  das  Schriftchen 
neben  die  römischen  Klassiker,  kamen  zu  den  lateinischen  Historikern 
des  deutschen  Mittelalters  überhaupt,  warfen  die  grundsätzliche  Frage 
auf,  ob  hier  nicht  gedruckte  Übersetzungen  den  Originalen  vorzuziehen 
seien,  über  die  Historiker  hinaus  drangen  wir  zu  den  anderen  mittel- 
lateinischen Sprachdenkmälern  vor,  durch  die  gemeinsame  Hülle  der 
Sprache  hindurch  wurden  wir  uns  mehr  und  mehr  des  differenzierten  Inhalts 
bewußt,  wir  gruppierten  die  Schriften  nach  diesem  Inhalt  und  wiesen  sie  den 
entsprechenden  Fächern  zu.  Weitere  Kreise  ziehend  griffen  wir  dann  über 
zu  Denkmälern,  die  in  kein  Fach  passen  wollten,  und  kamen  so  zur  Ausge- 
staltung der  Oberklasse  am  Gymnasium.  Unsere  Ausführungen  gipfelten  in 
dem  Satze,  daß  in  dieser  Klasse  der  deutsche  Unterricht  —  der  Begriff  recht 
weit  gefaßt  —  eine  zentrale  Stellung  einnehmen  und  Kulturunterricht  sein 
müsse,  in  dem  dann  auch  die  lateinischen  Kulturdokumente  des  Mittelalters 
an  ihrem  Teile  den  Übergang  von  der  alten  zur  neuen  Zeit  zu  überbrücken 
die  Aufgabe  hätten. 

Einstweilen  scheinen  die  Aussichten  für  unsere  Sache  nicht  eben  freund- 
lich zu  sein.  Hofmiller  sagt  (a.  a.  O.  S.  350):  „Die  immer  wiederkehrenden 
Bemühungen  um  die  Hebung  dieses  lateinischen  Hortes  unsrer  Literatur 
haben  in  ihrer  Begeisterung  etwas  Rührendes,  aber  in  ihrer  Vergeblichkeit 
etwas  Schmerzliches."  Ganz  recht,  aber  um  über  Erfolg  oder  Mißerfolg  ein 
objektives  Urteil  zu  gewinnen,  wird  es  klug  sein,  auch  die  hemmenden 
Momente  nicht  zu  übersehen.  Zunächst:  was  wir  erstreben,  wird  immer 
nur  ein  Ornament  an  dem  Gymnasium  sein,  zwar  aus  dem  ganzen  Baustil 
organisch  herausgewachsen,  aber  niemals  ein  Wesensbestandteil  des  kon- 
struktiven Aufbaus.  Daraus  ergibt  sich,  daß  auch  die  gewünschte  Zeit 
nicht  allzu  groß  sein  kann.  Weiter:  an  vielen  Schulen  werden  schon 
die  äußeren  Verhältnisse  zwingen,  sich  mit  dem  Nötigsten  zu  begnügen, 
selbst  wenn  dieLehrer  durchweg  gewillt  sein  sollten  mitzutun.  Dazu 
schreckt  bei  vielen  Dokumenten  nationalen  Inhalts  die  fremde  Sprache  ab. 
Endlich,  und  vor  allem:  es  fehlt  uns  auch  jetzt  noch  an  den  nötigsten  Hilfs- 
mitteln; es  fehlt  uns  vor  allem  das  Lesebuch,  das  uns  das  Material  liefert. 
Und  wenn  wir  es  haben  werden,  ist  die  Sache  noch  keineswegs  gesichert. 
Wird  das  Lesebuch  auch  von  großen,  weiten  Gesichtspunkte  nzusammen- 
gestellt  sein?  Es  liegt  nahe,  auf  Wilamowitz'  griechisches  Lesebuch  zu  ver- 
weisen, in  dem  fast  jedes  Lesestück  wie  eine  Leuchte  ist,  die  ein  bestimmtes 
Kulturgebiet  auf  eine  Strecke  hin  nach  vorwärts  und  rückwärts  erhellt^). 

i)  Vgl.  meine  Besprechung  in  der  Monatschrift  1918.     S.  I91ff. 


216  Benno  Schneider, 

Wird  die  mittellateinische  Literatur  dasselbe  leisten  können  wie  die  griechische 
an  Mannigfaltigkeit,  Originalität  und  innerer  Ausbeute  ?  Das  ist  unmöglich, 
wir  sehen  aber,  daß  der  Verfasser  des  Lesebuchs  ein  großes  Maß  der  Verant- 
wortung für  die  weitere  Entwicklung  übernimmt.  Es  wird  nicht  bloß  ein 
lateinisches,  sondern  zum  guten  Teile  auch  ein  deutsches  Lesebuch  werden 
müssen. 

Indes,  das  sind  Fragen  der  Zukunft.  Was  läßt  sich  schon  jetzt  tun? 
Zunächst  sollte  von  jedem  Kollegium  in  einer  Konferenz  ein  Gesamtplan 
vereinbart  werden,  damit  die  Vertreter  der  in  Betracht  kommenden  Fächer 
darüber  sich  verständigen,  was  gelesen  werden  kann,  welche  Hilfsmittel 
zur  Verfügung  stehen,  welche  Stücke  lateinisch,  welche  deutsch  gelesen 
werden  sollen.  Ferner  müßten  bis  auf  weiteres  von  möglichst  vielen 
Lateinlehren  etwa  12 — 20  Stunden  in  einer  der  drei  oberen  Klassen 
auf  das  Lesen  eines  mittellateinischen  Historikers  verwendet  werden, 
schon  um  mit  dem  Problem  in  Fühlung  zu  kommen  oder  zu  bleiben. 
Drittens,  es  sind  im  deutschen  Unterricht  von  Schülern  nicht  eben 
lange  Vorträge  zu  halten,  die  bereits  orientieren.  Berichte  über  die 
Bücher  von  Winterfeld  oder  von  Burdach  oder  über  Abschnitte  aus  diesen 
regen  jedenfalls  strebsame  Schüler  an  und  bedeuten  einen  geistigen  Gewinn, 
auch  wenn  die  jugendlichen  Hörer  nur  über  die  Dinge  vernehmen,  nicht  sie 
selbst  kennen  lernen.  Ergänzend  und  klärend  tritt  im  lateinischen  Unter- 
richt daneben  ein  Bericht  über  Zielinskis  Schrift  von  Ciceros  Kulturbedeutung 
im  Wandel  der  Jahrhunderte.  Endlich  mögen  da,  wo  die  Einrichtung  der 
Studientage  besteht,  auch  Aufgaben  aus  dem  Mittellateinischen  genommen 
werden. 

Man  wird  sagen,  das  ist  nicht  eben  viel.  Und  doch,  es  ist  ein  Anfang, 
wir  kommen  über  den  toten  Punkt  hinweg.  Und  es  ist  trotz  aller  Schwierig- 
keiten erreichbar.  Jedenfalls  arbeiten  wir  dem  künftigen  Verfasser  des  Lese- 
buchs in  die  Hände,  das  erst  eine  methodischere  und  ausgiebigere  Beschäf- 
tigung mit  mittellateinischer  Kultur  ermöglicht.  Hoffen  wir,  daß  die  Zeit 
nicht  mehr  fern  ist,  in  der  sich  für  eine  solche  Chrestomathie  nicht  bloß 
ein  berufener  Verfasser,  sondern  auch  ein  Verleger  findet. 

Frankfurt  a.  M.  Wilhelm    Knögel. 


Zur  Förderung  des  Geschichtsunterrichts^). 

Erfüllt  von  den  gewaltigen,  erhebenden  und  niederdrückenden  Ereig- 
nissen der  letzten  Jahre,  im  Bewußtsein,  das  größte  Geschehen  der  Geschichte 
miterlebt  zu  haben  und  da  miterlebt  zu  haben,  wo  alle  Gedanken,  Absichten 
und  Ziele  sich  in  Tat  umsetzen,  an  Erfahrungen,  Menschenkenntnis  und  auch 
Selbsterkenntnis  reicher  geworden  und  nun  aus  neuem  Wissen  und  teilweise 
anderem  Verstehen  heraus  gerade  Geschichte  unterrichten  zu  dürfen,  das 
war  die  Stimmung,  mit  der  ich  und  wohl  alle,  die  mit  mir  in  gleicher  Lage 


1)  Der  Aufsatz  ist  im  Februar  1919  geschrieben,  konnte  aber  jetzt  erst  abgedruckt 
werden. 


Zur  Förderung  des  Geschichtsunterrichts.  217 

waren,  nach  langer  Unterbrechung  wieder  an  die  Friedensarbeit  zurück- 
gegangen sind.  Wie  mochte  sich  in  diesem  großen  Prozeß  des  Werdens  und 
Vergehens  die  Schule  gewandelt  haben?  Von  der  Notwendigkeit  von  Re- 
formen war  schon  vor  dem  Krieg  viel  geredet  und  geschrieben  worden.  Von 
geplanten  und  teilweise  schon  vorgenommenen  Änderungen  hatte  man  auch 
im  Felde  mancherlei  erfahren,  und  wer  es  nicht  erfahren  hatte,  der  fühlte, 
daß  jetzt  die  Zeit  gekommen  war,  in  der  auch  unser  höheres  Schulwesen 
aus  dem  Stadium  der  Versuche  und  Kompromisse  endlich  zu  einer  wirklichen 
Neugestaltung  übergehen  müsse,  und  erhoffte,  daß  ihm  daraus  ein  neues 
Jungwerden  erblühen  werde. 

In  der  Mitte  all  dieser  Fragen  stand  für  mich  der  Geschichtsunterricht. 
Hier  lag  schon  längst  Sollen,  Wollen  und  Können  im  unvereinbarsten  Gegen- 
satz zueinander.  Er  allein  hat  denn  auch  neben  dem  Religionsunterricht 
schon  erhebliche  Änderungen  erfahren.  Aber  nach  den  grundstürzenden 
Ereignissen  der  letzten  Monate  steht  uns  die  eigentliche  große  Schulreform, 
die  unserem  höheren  Schulwesen  die  Grundlage  für  die  nächsten  Generationen 
geben  wird,  ja  erst  noch  bevor.  Ich  halte  es  daher  für  wünschenswert, 
wenn  vorher  noch  einmal  nachdrücklich  die  notwendigen  Forderungen  für 
den  Geschichtsunterricht,  der  ja  nun  eine  noch  viel  weitergehende  Bedeutung 
erfahren  hat,  betont  werden. 

Unter  all  denen,  die  zu  dem  Thema  ,, Reformen"  in  dieser  Zeitschrift 
in  den  letzten  Jahren  ihre  Stimme  erhoben  haben,  berührt  am  erfrischendsten 
einer,  der  fernab  von  der  Schule  mitten  aus  größtem  Erleben  heraus  und 
aus  einem  Handeln,  das  keine  Kompromisse  kennt,  im  Mai  1915  von  der 
Westfront  schrieb.  Dieser  Aufsatz  oder  Brief  ist  deshalb  so  erfrischend,  weil 
er  es  nicht  mehr  mit  kleinen  Verbesserungen  und  Flicken  versucht,  sondern 
unter  das  Alte  einen  dicken  Strich  macht  und  von  Grund  auf  neubaut.  „Ge- 
schichte wird  Hauptfach."  Auf  den  Ausdruck  kommt  es  nicht  an.  Mag  bei 
der  Versetzung  oder  im  Examen  dieses  Fach  gewertet  werden,  wie  es  will; 
auf  die  Bedeutung  und  Anerkennung  der  Tatsache,  daß  gründliche  Kenntnis 
der  geschichtlichen  Erscheinungen  und  ihrer  inneren  Zusammenhänge  Er- 
fahrung und  die  Fähigkeit  zu  selbständiger  kritischer  Stellungnahme  zu  den 
Ereignissen  der  Gegenwart  vermittelt,  daß  sie  mehr  als  anderes  schützt  vor 
Selbsttäuschung  und  auch  vor  Irrtümern  über  andere,  kurzum,  daß  Kenntnis 
der  Geschichte  im  besonderen  Sinne  Schulung  für  das  Leben  ist,  darauf 
kommt  es  an.  Und  in  diesem  Sinne  braucht  Geschichte  nicht  erst  Haupt- 
fach zu  werden,  sondern  ist  es  längst  gewesen,  und  heute  in  noch  viel  höherem 
Grade  geworden. 

In  welchem  Grade  diese  Überzeugung  allgemein  ist,  und  wie  sehr  gerade 
an  Reformen  im  Geschichtsunterricht  weitere  Kreise  interessiert  sind,  habe 
auch  ich  draußen  im  Felde  erfahren.  Zu  den  vielen  Gründen,  aus  denen  ich 
das  Miterleben  dieses  Krieges  in  der  Front  als  ein  kostbares  Geschenk  an- 
sehe, von  dem  nur  sehr  kleine  Geister  sagen  können,  es  seien  verlorene  Jahre 
gewesen,  rechne  ich  die  Tatsache,  daß  es  mir  in  einem  sonst  unmöglichen 
Maße  Gelegenheit  gegeben  hat,  mit  Menschen  aller  Stände,  Berufsklassen, 


2l8  Benno  Schneider, 

Geistes-  und  Interessenrichtungen  zusammenzukommen,  sie  nicht  nur  ober- 
flächlich sondern  gründlich  kennen  zu  lernen  und  mit  ihnen  Ansichten  aus- 
zutauschen. Ich  habe  es  stets  vermieden,  meinerseits  auf  die  Schule  zu  sprechen 
zu  kommen.  Der  Oberlehrer,  der  in  einem  anders  interessierten  Kreise 
von  der  Schule  spricht,  ist  nicht  immer  eine  glückliche  Erscheinung. 
Aber  ich  habe  mich  gewundert,  wie  oft  und  mit  welchem  Interesse  die  Unter- 
haltung über  die  Schule  geführt  wurde,  wenn  die  Anwesenden  einen  Fach- 
mann unter  sich  wußten.  Und  wie  viele  hatten  da  gründlich  und  mit  wirk- 
lich lebhaftem  Interesse  über  Reformen  nachgedacht.  Ein  kommandierender- 
General,  der  mich  eine  Meldung  stehend  hatte  vortragen  lassen,  bot  mir 
einmal  einen  Stuhl  an,  als  er  auf  seine  Frage  hörte,  daß  ich  Oberlehrer  sei, 
mit  den  Worten:  ,, Oberlehrer?  nun  da  muß  ich  mit  Ihnen  mal  über  einiges 
sprechen,"  und  dann  unterhielt  sich  die  Exzellenz  mit  mir  fast  ^/^  Stunde 
über  Geschichtsunterricht.  In  seinem  Zimmer  wartete  der  Chef  des  Stabes 
sehr  ungeduldig  und,  als  er  mich  dann  etwas  ungnädig  in  sehr  preußischem 
Tone  fragte:  ,, Worüber  haben  Sie  denn  solange  mit  Exzellenz  verhandelt?" 
und  ich  ihm  erklärte:  ,,über  Geschichtsunterricht  an  höheren  Schulen", 
fragte  er  mich:  „Glauben  Sie,  daß  irgend  eine  Aussicht  besteht,  daß  im  zu- 
künftigen Deutschland  ein  Primaner  etwas  erfährt  über  die  Geschichte  der 
englischen  äußeren  Politik  statt  über  die  Mark  Brandenburg  unter  den  Bayern 
und  Luxemburgern"?  und  nun  mußte  ich  auch  mit  ihm  noch  einmal  des 
längeren  über  diese  Dinge  reden.  Viel  interessanter  aber  waren  mir  Unter- 
haltungen mit  einem  Unteroffizier,  einem  überzeugten  Sozialisten,  der  einmal 
nach  einer  ,, Aufklärungsunterrichtsstunde",  die  ich  schon  meinen  Leuten 
regelmäßig  gab,  als  sie  noch  nicht  befohlen  war,  zu  mir  kam.  Er  hatte  zwei 
Söhne  auf  der  höheren  Schule.  Er  sagte,  daß  einer  seiner  Söhne,  Primaner, 
während  seines  letzten  Urlaubes  Skizzen  zur  Schlacht  von  Kolin  und  von 
Kunersdorf  habe  zeichnen  müssen ;  als  er  ihn  aber  gefragt  habe  über  das  Bauern- 
programm im  großen  Bauernkriege  oder  über  die  soziale  Umgestaltung  in- 
folge der  Einführung  der  Maschinenarbeit,  sei  ihm  das  vollständig  chinesisch 
gewesen.  ,, Unser  Geschichtsunterricht  muß  mehr  für  das  Leben  sein",  meinte 
er.  Er  hat  dann  in  der  Kompagnie  einen  Geschichtsverein  gegründet,  in  dem  er 
Vorträge  hielt.  Der  Verein  war  nicht  klein,  und  die  Vorträge  auch  stets  von 
Leuten  anderer  Kompagnien  besucht.  Gegen  den  Geist  dieser  Vorträge  hätte 
wohl  kein  Vorgesetzter  etwas  einwenden  können.  Ich  war  stets  dabei  und 
habe  manches  daraus  auch  für  meinen  Beruf  gelernt.  Er  ist  dann  vor  Verdun 
wenige  Schritte  von  mir  gefallen,  einer  der  prächtigsten  Menschen,  die  mir 
im  Kriege  je  begegnet  sind.  Ich  habe  diese  Dinge  erwähnt  und  könnte  noch 
viel  mehr  erwähnen  —  weil  daraus  erhellt,  in  welchem  Grade  das  Interesse 
am  Geschichtsunterricht  und  an  Reformen  im  Geschichtsunterricht  weit 
über  die  Fachkreise  hinausgeht.  Dazu  kommt  aber  noch,  daß  die  Politisierung 
unseres  Volkes  auch  in  unserer  Jugend  einen  wahren  Geschichtshunger  her- 
vorgerufen hat.  Das  zeigt  sich  in  den  unablässigen  Fragen  ganz  besonders 
der  Schüler  der  höheren  Klassen.  Eine  über  eine  Zeitströmung  oder  eine 
markante  Persönlichkeit  der  Geschichte  ausgesprochene  Ansicht  ruft  sofort 


Zur  Förderung  des  Geschichtsunterrichts.  219 

eine  Reihe  von  Fragen  hervor,  und  das  ist  ja  nur  wünschenswert.  Mag 
sein,  daß  das  in  dieser  Stärke,  wenn  erst  die  politische  Hochkonjunktur 
dieser  Zeit  vorüber  ist,  etwas  nachläßt.  Aber  abgesehen  davon,  daß  dieser 
Krieg  in  seinen  Folgen  und  Einflüssen  noch  sehr  lange  jedem  direkt  fühlbar 
sein  wird,  so  werden  doch  auch  Fragen  der  äußeren  und  inneren  Politik  und 
damit  geschichtliche  Fragen  den  einzelnen  und  auch  den  reiferen  Schüler 
infolge  der  ganz  anderen  Bedeutung  des  einzelnen  im  politischen  Leben 
unseres  Volkes  nach  der  Revolution  nicht  mehr  loslassen.  Auf  alle  Fälle, 
das  Interesse  an  der  Geschichte  und  an  Dingen,  die  auf  der  Schule  im  Zu- 
sammenhang mit  der  Geschichte  zu  erörtern  sind,  das  schon  vorher  größer 
war,  als  im  Rahmen  dieses  Fachunterrichts  befriedigt  werden  konnte,  wird 
jetzt  noch  größer  sein  und  mehr  Zeit  für  sich  fordern. 

Die  Ministerialverordnung  von  1915  versucht  nun  eine  Lösung,  indem 
sie  die  Aufgaben  der  O  II  und  U  I  außerordentlich  zusammenpreßt,  um  so 
Zeit  zu  gewinnen  für  die  neueste  Geschichte.  Das  ist  doch  in  Wirklichkeit 
nur  der  Versuch  einer  Lösung  für  die  O  I,  soweit  die  Verordnung  die  oberen 
Klassen  betrifft.  Was  an  der  einen  Stelle  dadurch  gegeben  wird,  wird  an 
der  anderen  wieder  genommen.  Vor  allem  geht  die  Verordnung  von  der  nach 
meiner  Ansicht  nicht  richtigen  Anschauung  aus,  daß  die  ganzen  Nöte  des 
Geschichtsunterrichts  nur  darin  bestanden  hätten,  daß  in  ihm  die  neue 
und  neueste  Geschichte  bisher  nicht  zu  ihrem  Rechte  gekommen  seien.  Das 
liegt  doch  aber  eben  daran,  daß  es  bei  der  bisherigen  Stundenzahl  trotz  aller 
Kürzungen  garnicht  möglich  gewesen  ist,  die  Geschichte  der  neuesten  Zeit  ihrer 
Bedeutung  entsprechend  zu  behandeln,  weil  die  durch  Streichen  und  Zu- 
sammenfassen gewonnene  Zeit  dazu  benutzt  werden  mußte,  die  wirklich 
wichtigen  Abschnitte  der  früheren  Geschichte  gründlicher  zu  besprechen. 
Wenn  also  die  Verordnung  nun  der  O  I  ein  kürzeres  Pensum  zudiktiert,  so 
beseitigt  sie  damit  nur  die  infolge  des  zu  umfangreich  gewordenen  Stoffes 
und  der  neuen  vielseitigeren  Anforderungen  an  den  Geschichtsunterricht  am 
übelsten  in  die  Augen  fallende  Erscheinung.  Das  Unzulängliche  der  Verord- 
nung wird  auch  zugegeben  in  dem  Ergänzungserlaß,  der  mögliche  Wege 
vorschlägt,  um  die  nun  viel  größer  gewordenen  Nöte  in  O  II  und  U  I  zu 
überwinden. 

Von  den  Vorschlägen  bringt  nur  der  dritte  etwas  Neues.  Der  erste  schlägt 
noch  energischer  Kürzungen  vor,  als  sie  hie  und  da  schon  geübt  sind.  Es 
kann  in  der  Tat  noch  recht  viel  gekürzt,  besser  gestrichen  werden  sowohl 
in  der  alten  als  in  der  mittelalterlichen  Geschichte.  Im  einzelnen  das  nach- 
zuweisen, würde  hier  zu  weit  führen.  Man  kann  z.B.  sehr  gut  die  außer- 
politische Geschichte  Roms  bis  zuni  Beginn  des  1 .  punischen  Krieges  in  zwei 
Stunden  erledigen  und  auch  von  den  späteren  Kriegen  Roms  im  Osten  viel 
übergehen.  In  der  mittelalterlichen  Geschichte  brauchen  nur  diejenigen 
Kaiser  besprochen  zu  werden,  die  wirklich  markante  Persönlichkeiten  sind 
und  bestimmenden  Einfluß  auf  die  internationale  Stellung  Deutschlands 
oder  auf  seine  innere  Entwicklung  ausgeübt  haben.  Die  Gefahr,  daß  dadurch 


220  Benno  Schneider, 

die  Geschichte  sich  in  einzelne  Geschichten  auflöst,  wie  Seyffarthi)  meint, 
besteht  dann  nicht,  wenn  der  Vortrag  in  einigen  Sätzen  die  verbindenden 
Linien  herstellt.  Es  kommt  doch  nur  auf  die  großen  Zusammenhänge  an. 
Jedenfalls,  ich  glaube  nicht,  wie  Seyffarth,  daß  wir  schon  an  die  äußerste 
Grenze  des  Streichens  gegangen  sind.  Unsere  Lehrbücher  haben  noch  kaum 
den  Anfang  damit  gemacht.  Selbst  das  nach  meiner  Ansicht  weitaus  beste 
von  Koch  hat  noch  jedem  deutschen  Kaiser  seinen  Abschnitt  gewidmet. 
Aber  es  heißt  die  eigentlichen  Schäden  des  bisherigen  Geschichtsunterrichts 
stark  verkennen,  wenn  man  glaubt,  daß  man  durch  die  mit  weiteren  Kürzungen 
gewonnene  Zeitersparnis  eher  das  Pensum  der  O  II  und  U  I  bewältigt;  denn 
weit  mehr  als  aus  dem  Unterrichtsgebiet  dieser  Klassen  gestrichen  werden 
kann,  verlangt  Aufnahme  oder  gründlichere  Behandlung  im  Unterricht,  ganz 
besonders  in  der  alten  Geschichte,  in  der  z.  B.  die  verfassungs-  und  sozial- 
politischen Fragen,  aus  denen  es  so  unendlich  viel  zu  lernen  gibt,  bisher 
viel  zu  kurz  gekommen  sind. 

Dagegen  weisen  die  beiden  anderen  Vorschläge  auf  Wege,  die  konsequent 
ausgebaut,  allerdings  zu  einer  wirklich  befriedigenden  Lösung  führen  würden. 
Der  eine  betont  die  Unterstützung  des  Geschichtsunterrichts  durch  andere 
DiszipHnen.  Die'er  Gedanke  ist  nicht  neu;  aber  in  seiner  Durchführung 
hatte  er  bis  jetzt  das  gleiche  Schicksal  wie  all  solche  unvervindlichen  An- 
regungen. Er  müßte  systematisch  ausgebaut  werden,  und  das  um  so  mehr, 
als  jeder,  der  sich  mit  der  Notwendigkeit  befaßt,  der  Zersplitterung  unseres 
Unterrichtswesens  durch  Gabelung  und  Konzentrierung  abzuhelfen,  zwangs- 
läufig auch  von  dieser  Seite  her  auf  den  Weg  des  obigen  Vorschlags  gewiesen 
wird.  Auf  zwei  Arten  ist  dies  zu  erreichen,  einmal  durch  lehrplanmäßige 
Festlegung  und  zweitens  durch  pflichtmäßige  Konferenzen  zwischen  den 
dafür  in  Betracht  kommenden  Fachlehrern  vor  Beginn  des  neuen  Semesters. 
Ich  möchte  hier  nur  kurz  darlegen,  wie  z.  B.  Geschichte  und  Religion  so 
so  miteinander  in  Einklang  zu  bringen  wären,  daß  sie  fast  ein  geschlossenes 
Ganzes  bilden.  Ich  gehe  dabei  allerdings  von  der  Voraussetzung  aus,  daß 
der  Religionsunterricht  heute  nicht  mehr  die  Aufgabe  hat,  dem  reiferen  Schüler 
den  ,, richtigen  Glauben"  beizubringen.    Das  ist  Aufgabe  der  Kirche: 

Geschichte.  Religion. 

I.  Alte    Geschichte    bis    zu    den         I.  Geschichte  der  alten  Volksreli- 
Gracchen.  gionen  bis  zu  ihrer  Zersetzung, 

der  israelitischen  bis  zum  nach- 
exilischen  Judaismus. 
II.  Geschichte  des  Hellenismus  und       II.  Zersetzung  der  antiken  Volks- 
des  römischen  Weltreichs,   Ge-  religionen  durch   Rationalismus 

schichte    der    abendländischen  und  Skepsis  und  Austausch  der 

Völker  bis  1400.  Kulturen   im   römischen   Welt- 

reich. DieReligion  Jesu  und  ihre 


1)  Monatsschrift,  XVI.  Jahrg.,  Heft  7  und  8. 


Zur  Förderung  des  Geschichtsunterrichts.  221 

weitere    Ausgestaltung.        Der 
mittelalterliche  Mensch. 

III.  Von  der  Renaissance  bis  zur  III.  Der  in  seinem  Denken  selb- 
französischen  Revolution  ein-  ständig  werdende  abendländische 
schließlich.  Mensch. 

IV.  Geschichte  der  neusten  Zeit.  IV.  Die   geistigen   Strömungen   des 

19.  Jahrhunderts  und  die  großen 
Weltreligionen. 
Es  springt  in  die  Augen,  wie  leicht  auch  der  deutsche  Unterricht,  wenn 
auch  naturgemäß  nicht  so  eng,  dieser  großen  gemeinsamen  Linie  folgen 
könnte  und  wie  sich  auch  in  den  neueren  Sprachen  die  Lektüre  sehr  wohl 
häufiger  diesem  Fachkomplex  anpassen  ließe,  und  es  ist  unmöglich,  die  großen 
Vorteile  zu  unterschätzen,  die,  nicht  nur  für  den  Geschichtsunterricht,  aus 
einem  methodischen  Ausbau  dieses  Verfahrens  erwüchsen. 

Bei  der  Vierteilung  im  Pensum  ist  nun  aber  schon  der  andere  Vorschlag 
in  Rücksicht  gezogen,  der  dahin  geht,  das  Pensum  der  U  II  so  rechtzeitig 
abzuschließen,  daß  bereits  auf  dieser  Stufe  mit  der  alten  Geschichte  begonnen 
werden  kann.  Wäre  es  nicht  viel  richtiger,  noch  einen  Schritt  weiter  zugehen 
und  in  O  III  das  Pensum  der  Mittelstufe  abzuschließen,  statt  ein  Klassen- 
pensum in  zwei  so  unorganische  Hälften  zu  teilen?  Der  alte  Einschnitt 
zwischen  U  II  und  O  II  ist  heute  durch  nichts  mehr  gerechtfertigt.  Die  schwe- 
dische höhere  Schule  hat  schon  seit  fast  20  Jahren  in  der  richtigen  Erwägung, 
daß  der  Untersekundaner  seiner  körperlichen  und  geistigen  Entwicklung 
noch  mehr  zur  Oberstufe  als  zur  Mittelstufe  gehört,  diese  Klasse  zur  Ober- 
stufe gezogen.  Diese  Erkenntnis  drängt  sich  gerade  im  Geschichtsunterricht 
besonders  stark  auf.  Der  Altersstufe  der  U  II  entspricht  nicht  mehr  der 
anekdotisch-erzählende  Unterricht,  wie  er  zum  Unterschied  von  der  Ober- 
stufe auf  der  Mittelstufe  vorherrschen  soll.  Indem  man  aber  dem  Unterricht 
in  der  U  II  auf  Grund  dieser  Erfahrung  schon  mehr  einen  reflektierenden 
und  überwiegend  den  Verstand  statt  Gemüt  und  Phantasie  beschäftigenden 
Charakter  gibt,  greift  man  der  O  I  vor,  ohne  sie  jedoch  dadurch  zu  entlasten^). 
Bei  der  Verteilung  auf  vier  Jahre  aber  vollzieht  sich  auch  die  Aufnahme 
und  das  Durchdringen  der  gewaltigen  Stoffmasse  allmählicher  und  ruhiger, 
als  bei  der  heutigen  Einteilung,  die  trotz  aller  Streichungen  zur  Ungründlich- 
keit,  zu  einer  Art  wissenschaftlicher  Schnellmast  führt.  Der  Einwand,  daß 
nunmehr  die  Schwierigkeiten  für  die  Mittelstufe  nahezu  unlösbar  wurden, 
verliert  für  den  jede  Bedeutung,  der  an  dieses  Alter  nicht  Forderungen  stellt, 
die  ihm  nicht  angemessen  sind .  Man  darf  nicht  von  dem  Quartaner  undTertianer 
Kenntnis  der  Geschichte,  des  Altertums,  des  Mittelalters  usw.  verlangen. 
Es  sollen  ihm  nur  eine  Reihe  von  Bildern  aus  der  Geschichte  lebendig  werden, 
aber  nur  solche,  die  seinem  auf  das  Romantische  gerichteten  Sinn  entsprechen. 


Die  Ansicht  Eduard  Meyers  (Aufgaben  der  höheren  Schulen  und  die  Gestaltung  des 
Geschichtsunterrichts),  daß  die  auf  der  Mittelstufe  erworbenen  Kenntnisse  der  tatsäch- 
lichen der  Oberstufe  als  Basis  dienen  könnten,  widerspricht  jeder  Erfahrung. 


222  Reinhold  Kern, 

Auf  Kontinuität  kommt  es  dabei  nicht  an.  Es  schadet  gar  nichts,  wenn  ihm 
Zeiträume,  die  seiner  Phantasie  nichts  bieten,  unausgefüllt  bleiben.  Wer 
sich  das  klar  gemacht  hat,  der  findet  auf  der  Mittelstufe  reichlich  Zeit,  das 
wirklich  für  sie  Wissenswerte  durchzunehmen.  Er  muß  sich  nur  entschließen 
können,  ganze  Seiten  des  Lehrbuchs  trotz  eindrucksvollster  Überschriften 
zu  überschlagen,  wenn  der  Inhalt  blutleer  ist.  Würden  die  Vorschläge  des 
Ministerialerlasses  in  der  hier  angedeuteten  Weise  weiter  entwickelt,  dann 
würde  sofort  der  Wunsch  so  vieler  Fachlehrer,  daß  der  Geschichte  in  den 
oberen  Klassen  eine  vierte  Wochenstunde  hinzugefügt  werden  möchte,  ver- 
stummen. Ernstlich  zu  erörtern  ist  er  ja  so  wie  so  nicht  in  einer  Zeit,  die  mit 
Macht  an  eine  Verminderung  der  Stundenzahl  im  allgemeinen  denkt.  Dem 
Geschichtsunterricht  aber  wären  endlich  die  Entfaltungsmöglichkeiten  ge- 
geben, die  seiner  Bedeutung  entsprechen. 

Neukölln.  Schneider. 

Kleine  Hilfsmittel  für  den  Geschichtsunterricht. 

In  den  Jahrgängen  XIV,  S.  327ff.,  XV,  499f.  und  XVI,  468ff.  dieser 
Zeitschrift  habe  ich,  damit  die  Schüler  den  Zahlen-  und  Tatsachenschatz 
mit  Vergnügen  lernen,  hingewiesen  auf  den  inneren  Zusammenhang,  in  dem 
manche  Zahlen  und  Ereignisse  miteinander  stehen.  Im  folgenden  gebe  ich 
noch  eine  kleine  Nachlese  dazu.  16.  a.  Chr.  n.  9.  a.  Chr.  n.  9.  p.  Chr.  n.  16.  p. 
Chr.  n.  Im  Jahre  16  a.  Chr.  n.  dringen  die  Sugambrer  über  den  Rhein  plün- 
dernd nach  Gallien  vor,  und  der  Legat  Lollius  (vgl.  Horaz  IV,  9),  der  ihnen 
mit  der  5.  Legion  entgegentritt,  wird  schmählich  geschlagen.  Im  Jahre  16 
p.  Chr.  n.  kommt  durch  den  Sieg  des  Germanikus  über  die  Cherusker  bei 
Idisiaviso  das  Wesertal  in  die  Hände  der  Römer,  und  Deutschland  bis  zur 
Elbe  scheint  ernstlich  bedroht.  Im  Jahre  9  a.  Chr.  finden  die  erfolgreichen 
Feldzüge  des  Drusus,  der  sich  den  Zugang  zur  Elbe  glücklich  erkämpft  hat, 
ein  frühzeitiges  Ende  durch  seinen  Sturz  vom  Pferde,  der  seinen  Tod  herbei- 
führt. Der  völlige  Zusammenbruch  der  römischen  Herrschaft  erfolgte  dann 
im  Jahre  9  p.  Chr.  n.  durch  die  Niederlage  des  Varus  im  Teutoburger  Walde, 
die  so  niederschmetternd  war,  daß  wenigstens  Augustus  keinen  Versuch 
mehr  gemacht  hat,  die  Scharte  auszuwetzen. 

476.  486.  496.  Ohne  nennenswerten  Kampf,  ohne  heldenmütigen  Wider- 
stand vollzieht  sich  im  Jahre  476  der  Untergang  Westroms.  Als  Statthalter 
eines  nicht  mehr  existierenden  Kaisers  behauptet  sich  in  den  Gebieten  nördlich 
der  Loire,  tatsächlich  aber  unabhängig  Syagrius,  (Gregor Tur.  II,  27  nennt 
ihn  Romanorum  rex).  Diesen  besiegt  Chlodwig  im  Jahre  486,  und  damit 
beginnt  der  Aufstieg  des  Frankenreichs.  Zehn  Jahre  darauf  • —  496  —  Chlod- 
wigs Sieg  über  die  Alemannen  und  sein  Übertritt  zum  Christentum. 

611.711.  632.  732.  In  das  Jahr  61 1  fällt  die  „Nacht  der  Macht,  die  mehr 
ist,  als  was  in  tausend  Monden  wird  vollbracht",  in  der  Mohammed  zum 
Propheten  berufen  wird.  Auf  dieses  Jahr  kommt  man,  wenn  man  davon 
ausgeht,  daß  Mohammed  bei  seiner  Berufung  im  40.  Lebensjahr  stand  und 
571  als  Jahr  seiner  Geburt  annimmt.    Hundert  Jahre  nach  seinem  öffent- 


Kleine  Hilfsmitte!  für  den  Geschichtsunterricht.  223 

liehen  Auftreten  führt  Tarik  im  Jahre  711  die  Mohammedaner  nach  der 
Pyrenäenhalbinsel  hinüber  und  vernichtet  das  Westgotenreich  durch  die 
große  siebentägige  Schlacht  am  Flusse  Salado:  Spanien  wurde  dadurch  aus 
einem  christlich-germanisch-romanischen  Staat  zu  einem  Bestandteil  des 
großen  Mohammedanischen  Reiches.  632  stirbt  Mohammed,  und  hundert 
Jahre  danach  732  wird  dem  bisher  ununterbrochenen  Siegeslauf  des  Islams 
durch  die  Schlacht  bei  Poitiers  ein  Halt  geboten. 

Der  von  den  Schülern  jetzt  viel  gelesene  Roman  von  Hendrik  Conscience, 
„Der  Löwe  von  Flandern",  hat  die  Kämpfe  der  Flamänder  gegen  die  fran- 
zösische Herrschaft  lebendig  gemacht,  wie  sich  das  durch  harten  Druck  er- 
bitterte Volk  gegen  die  französische  Regierung  in  der  „vlämischen  Vesper" 
des  Jahres  1302  erhebt.  Zwanzig  Jahre  vorher  waren  am  Ostermontag  des 
Jahres  1282  zur  Vesperzeit  alle  auf  Sizilien  weilenden  Franzosen  von  den 
erbitterten  Einwohnern  der  Insel  ermordet  worden,  und  Sizilien  erlangte 
dadurch  seine  Selbständigkeit  ..sizilianische  Vesper".  300  Jahre  vor  der 
,,vlämischen  Vesper"  waren  die  in  Northumberland  lebenden  Dänen  von  den 
Angelsachsen  durch  die  „dänische  Vesper"  hingeschlachtet  worden.  Diese 
Bluttat  führte  dazu,  daß  England  unter  die  Fremdherrschaft  der  Dänen  kam. 

1370,  das  glorreichste  Jahr  der  Ordensgeschichte,  in  dem  ,,des  großen 
Winrich  Ordensmarschall  mit  dem  harten  Herzen  und  dem  harten  Namen, 
Henning  Schindekopf,  als  Sieger  in  jener  gräßlichen  Rudauschlacht  fiel^), 
war  auch  der  Höhepunkt  der  hansischen  Macht.  Als  Meister  Winrich  die 
Kunde  empfing  von  dem  großen  Litauermorden  auf  dem  Rudaufelde,  da 
weilte  an  seinem  Hofe  als  ein  Bettler,  des  Ordens  Vermittlung  erflehend, 
Waldemar  Atterdag  der  Däne,  verjagt  aus  seinem  Erbe  durch  die  Bürger- 
macht der  Siebenundsiebenzig  Hansestädte;  im  selben  Jahre  unterschrieb  der 
König  den  Stralsunder  Frieden  und  versprach,  daß  fürderhin  keiner  den 
Thron  von  Dänemark  besteigen  solle,  als  mit  dem  Willen  der  gemeinen  Hanse." 

Der  Friede  zu  Paris  im  Jahre  1763,  der  den  Englisch-FranzösischenKrieg 
in  Nordamerika  beendet,  besiegelt  die  Weltmachtstellung  Englands  wie  der 
Hubertusburger  Friede  in  demselben  Jahr  die  Großmachtstellung  Preußens 
bestätigt. 

Zwanzig  Jahre  nach  dem  Tode  Friedrichs  des  Großen  sinkt  Preußen 
in  Trümmer  —  Napoleon  schrieb  an  einen  seiner  Brüder:  „J'ai  ecrase  la 
Monarchie  Prussienne"  —  und  zwanzig  Jahre  nach  Bismarcks  Tod  liegt 
Deutschland  am  Boden.  Mit  dem  Fall  der  Hohenzollern  am  9.  November  1918, 
an  dem  Tage,  an  dem  vor  77  Jahren  Eduard  VII,  dessen  Werk  die  Einkrei- 
sung Deutschlands  ist,  geboren  wurde  (9.  Nov.  1841),  beginnt  der  Umsturz 
in  Deutschland,  1799  begründet  Bonaparte  in  Frankreich  die  Militärmon- 
archie, die  den  Kreislauf  der  Revolution  durch  Einmündung  in  die  abso- 
lute Staatsform  wieder  schließt. 

„Diese  Schiffe  aber,"  die  die  Athener  den  loniern  zu  Hilfe  schickten, 
„waren  der   Anfang   zu    allem    Unheile  für  Hellenen  und  Barbaren." 


^)  Treitschke,  Ausgewählte  Schriften.    Bd.  1.    S.  82  und  S.  90. 


224  Schülke, 

So  leitet  Herodot  die  Erzählung  von  den  Perserkriegen  ein,  und  mit 
dem  Prager  Fenstersturz,  „dem  Anfang  und  der  Ursach  allen  Wehs", 
beginnt  der  Dreißigjährige  Krieg.  Als  Michelangelo  1564  starb,  wurde  an 
demselben  Tage  —  18.  Februar  —  der  Prophet  einer  neuen  Geistesrichtung 
und  Weltanschauung,  Galilei,  geboren. 

Zur  Sammlung  der  Wortwitze  wäre  noch  nachzutragen  das  Anagramm 
centum  oculi  für  den  Namen  des  ausgezeichneten  österreichischen  Feldherrn 
des  17.  Jahrhunderts,  Montecuculi,  dem  auch  der  bekannte  Ausspruch  über 
die  drei  zum  Kriege  notwendigen  Dinge  (Geld,  Geld,  Geld)  zugeschrieben 
wird.  Den  Namen  des  Kardinals  Khlesl,  des  einflußreichen  Ratgebers  des 
Kaisers  Matthias,  schrieben  seine  Feinde  CL=Esel.  Gerbert,  einst  Erz- 
bischof von  Reims,  dann  von  Ravenna  und  endlich,  als  Silvester  II  999 
bis  1003  Papst,  soll  scherzend  sein  Aufsteigen  von  Reims  über  Ravenna 
nach  Rom  in  dem  Verse:  Scandit  ab  R(emis)  Gibertus  in  R(avennam)  post 
papa  viget  R(omae)  ausgesprochen  haben.  Auf  den  Präsidenten  Poincare 
gründete  sich  Frankreichs  Hoffnung:  II  a  le  poing  carre  pour  nous  defendre. 

Berlin.  Reinold  Kern. 

Zwanzigvier  statt  vierundzwanzig. 

Gegenwärtig  werden  starke,  grundsätzliche  Änderungen  im  Schulwesen 
geplant,  ich  nenne  nur  Einheits-,  Arbeits-  und  Erlebnisschule.  Ich  glaube 
aber,  daß  nur  wenige  sich  eine  klare  Vorstellung  davon  machen,  welche  Ar- 
beit und  Zeit  es  kostet,  solche  Änderungen  nicht  nur  auf  dem  Papier,  sondern 
wirklich  vollständig  und  lebendig  durchzuführen.  —  Ich  will  hier  keine  tief- 
liegenden Erziehungsfragen  aufrollen,  sondern  mich  auf  die  Empfehlung 
einer  ganz  geringen  Änderung,  auf  die  Umstellung  von  Zahlwörtern 
beschränken,  deren  Berechtigung  kaum  bestritten  werden  kann,  und  die  für 
das  ganze  Volk  eine  Ersparnis  von  Zeit  und  Arbeitskraft  bedeuten  würde. 
Aber  trotz  vieler  Vorarbeiten  sind  die  Schwierigkeiten  noch  immer  so  groß, 
daß  die  Durchführung  nicht  sicher  ist. 

Der  Zahlbegriff  kann  auf  zwei  Arten  ausgedrückt  werden,  schriftlich 
durch  Ziffern  und  mündlich  durch  Zahlwörter.  Man  sollte  erwarten, 
daß  diese  beiden  Darstellungen  derselben  Sache  übereinstimmen,  aber  bei 
keinem  Volke  ist  das  der  Fall.  Die  Ziffern  sind  durch  den  grübelnden  Ver- 
stand nach  sehr  verschiedenen  Grundsätzen  ausgebildet,  wie  die  babylo- 
nischen, hebräischen,  griechischen  und  römischen  Ziffern  zeigen.  Aber  all 
diese  verschiedenen  Systeme  sind  verdrängt  durch  die  verhältnismäßig  späte 
Erfindung  der  indischen  Ziffern,  die  in  Deutschland  erst  vor  400  Jahren 
in  allgemeineren  Gebrauch  gekommen  sind  und  die  später,  da  sie  an  Ein- 
fachheit und  Folgerichtigkeit  nicht  übertroffen  werden  können,  bei  allenVölkern 
Eingang  gefunden  haben.  Die  Zahlwörter  dagegen  sind  in  den  ältesten 
Zeiten  unbewußt  zugleich  mit  der  Sprache  entstanden  und  später  zwar  viel- 
fach abgeändert  und  ergänzt,  doch  nie  von  Grund  aus  neu  gebildet.  Daher 
sind  die  Zahlwörter  aller  Völker  verschieden  und  nirgends  ist  man  zu  der- 
selben Einfachheit  wie  bei  den  Ziffern  gekommen;  aber  von  allen  Kultur- 


Zwanzigvier  statt  vierundzwanzig.  225 

Völkern  besitzen  wir  wohl  die  unzweckmäßigsten  Zahlwörter.  Überall  hat 
man  nämlich,  um  Übersicht  über  die  ungeheuere  Zahlenmenge  zu  er- 
langen, die  größere  Zahl  vorangestellt,  nur  die  kleinsten 
(ältesten)  und  daher  am  meisten  gebrauchten  Zahlwörter  widerstanden 
diesem  Bestreben.  So  ist  es  gekommen,  daß  England,  Schweden, 
Litauen,  Rußland  von  20  an  die  regelmäßige  Stellung  haben,  Frankreich 
und  Italien  von  17,  Spanien  und  Porzugal  von  16,  die  Neugriechen  von  13. 
DieOrdnungszahlen  werden  seltener  gebraucht,  daher  beginnt  die  regelmäßige 
Bildung  bei  Italienern  und  Spaniern  schon  von  13,  bei  Portugiesen 
von  11.  Allein  die  Deutschen  stellen  bis  100  die  Einer  voran  und  dadurch 
bringen  sie  Unordnung  bis  in  die  größten  Zahlen,  selbst  bei  einer  achtstelligen 
Zahl  23456789  sprechen  wir  an  keiner  Stelle  zwei  aufeinanderfolgende  Ziffern 
in  der  richtigen  Reihenfolge.  Doch  nicht  allein  das  Zählen  wird  dadurch 
unregelmäßig,  sondern  auch  das  Rechnen  wird  unnötig  erschwert.  Denn 
alles  Rechnen  beruht  auf  dem  Einsundeins,  und  8  -f  7  liefert  offenbar  zehn- 
fünf, denn  man  muß  zunächst  bis  zehn  zählen  und  dann  kann  man  erst 
die  Einer  feststellen.  Wenn  wir  also  fünfzehn  sagen,  so  zwingen  wir  die 
Schüler  zum  gedankenlosen  Auswendiglernen,  statt  sie  an  denkendes  Rechnen 
zu  gewöhnen.  Weitere  Ausführungen  über  das  Rechnen  mit  den  neuen  Zahl- 
wörtern, auch  über  die  scheinbare  Zweckmäßigkeit  der  alten  Bezeichnung 
bei  der  Addition,  sind  im  Deutschen  Philologenblatt  1916  Nr.  30  und  1918 
Nr.  27  gemacht. 

Selbstverständlich  sind  schon  früher  Versuche  gemacht,  die  verkehrte 
Stellung  der  Zahlwörter  zu  ändern,  z.  B.  von  W.  Foerster,  dem  früheren 
Direktor  der  Berliner  Sternwarte,  von  Ostwald  und  Höfler,  ich  selbst 
'habe  in  Fachzeitschriften,  in  der  Täglichen  Rundschau,  den  Grenzboten  usw. 
dafür  gewirkt,  ein  Erfolg  ist  aber  nicht  eingetreten.  Als  Hauptgrund  wird 
angegeben,  daß  man  die  Sprache  nicht  ändern  dürfe.  „Ein  solcher 
Vorschlag,  sagt  die  Vossische  Zeitung,  zeigt  ein  unmögliches  Verhältnis 
zum  Geiste  der  Sprache.  Sie  ist  etwas  für  sich  Seiendes  mit  den  Notwendig- 
keiten eigener  Gesetze.  Diese  inneren  und  nie  ganz  erforschbaren  Zwangs- 
läufigkeiten der  Sprache  nicht  zu  fühlen  oder  sie  bewußt  zu  mißachten,  ist 
der  wesentlichste  Mißverstand  aller  Sprachschulmeister  und  kurzsichtigen 
Sprachverbesserer.  Steht  man  mit  dieser  liebenden  und  bewundernden 
Demut  vor  dem  Gesicht  der  Sprache,  so  erscheint  jeder  Versuch  handwerk- 
lich gewaltsamen  Eingriffs  in  ihr  Gefüge  als  eine  Roheit,  die  ebenso  töricht 
wie  aussichtslos  ist!"  Das  ist  alles  ganz  schön  gesagt  und  namentlich  Philo- 
logen sind  vielfach  derselben  Ansicht,  aber  trotzdem  ist  es  nicht  richtig. 
Der  Deutsche  hat  wenig  Sprachgefühl  und  neigt  dazu,  fremde  Konstruktionen 
und  Worte  aufzunehmen.  Wenn  sich  trotzdem  unsere  Sprache  immer 
mehr  vervollkommnet  hat,  so  ist  dies  vor  allem  das  Werk  unserer  großen 
Dichter  und  Schriftsteller;  aber  auch  der  bewußten  Reinigungsarbeit  der 
Puristen  und  des  deutschen  Sprachvereins  verdanken  wir  eine  wesentliche 
Bereicherung  der  Sprache.  Joachim  Heinrich  Campe  bildete  vor  100  Jahren 
geeignet  für  qualifiziert,  verwirklichen  für  realisieren,  Öffentlichkeit 

Monatscbrift  f.  hob.  Schulen.    XX.  Jbrg.  15 


226  Schülke, 

für  Publizität,  herkömmlich  für  konventionell.  Auch  Goethe,  Schiller 
und  Gustav  Freytag  haben,  wenn  sie  auch  gegen  die  Puristen  eiferten, 
sich  ihrem  Einflüsse  nicht  entzogen.  Seit  1871  wirkten  auch  die  Behörden 
in  diesem  Sinne,  als  erster  der  Generalpostmeister  Stephan  (eingeschrieben 
=  rekommandiert,  Eilboten  =  Expreßbote,  postlagernd  =  posterestante), 
später  auch  die  Reichsgesetzgebung  und  der  Generalstab.  So  ist  eine  große 
Reihe  von  absichtlichen  Neuschöpfungen  vollständig  in  die  Sprache  ein- 
gedrungen und  selbst  die  Gebildeten  können  diese  Worte  häufig  von  dem  alten 
Sprachgut  nicht  unterscheiden.  Allerdings  sind  diese  Bestrebungen  nur  selten 
von  der  Gunst  der  großen  Menge  getragen;  gewöhnlich  werden  sie  scharf 
getadelt  oder  mit  billigen  Witzen  verhöhnt.  Und  dies  ist  nicht  zu  verwundern, 
denn  noch  niemals  ist  beliebt  gewesen,  wer  andere  auf  Fehler  aufmerksam 
macht.  Bei  den  Zahlwörtern  dürfte  eine  Änderung  am  wenigsten  Anstoß 
erregen,  weil  sie  in  der  Dichtung  nicht  vorkommen  sondern  fast  nur  auf 
Wissenschaft,  Schule,  Erwerb  und  Verkehr  beschränkt  sind. 

Ferner  wird  gesagt :  Die  alten  Zahlwörter  haben  wir  mindestens  2000  Jahre, 
warum  sollen  wir  jetzt  neue  schaffen?  Hierauf  ist  zunächst  zu  erwidern, 
daß  in  diesen  2000  Jahren  nachweisbar  eine  ganze  Reihe  von  UnvoUkommen- 
heiten  abgeschafft  sind^),  z.  B.  statt  zehnzig,  elfzig  ...  ist  hundert  eingeführt, 
die  Bildungen  durch  Subtraktion  entsprechend  undeviginti  sind  beseitigt, 
auch  die  Brüche  „drittehalbhundert"  =  250  sind  weggefallen  und  die  Stellung 
„fünzig  und  hundert  =  150  berichtigt.  Noch  in  letzter  Zeit  wurde  durch 
den  Fernsprecher  „sechs-fünfunddreißig"  =  635  geschaffen.  Man  sieht  also, 
daß  die  Entwicklung  der  Sprache  ganz  in  dem  verlangten  Sinne  verläuft. 
Sodann  hat  sich  noch  die  Wirtschaftslage  vollständig  geändert.  Deutsch- 
land war  ein  Ackerbaustaat,  der  fast  ganz  von  Naturalwirtschaft  lebte. 
Auch  Handwerker  und  Kaufleute  dachten  nicht  an  genaue  Berechnung  der 
Herstellungs-  und  Verkaufspreise,  denn  feste  Preise  kannte  man  überhaupt 
nicht,  man  schätzte  vielmehr  jeden  Kunden  besonders  ein").  Dies  alles  ist 
seit  100  Jahren  und  namentlich  seit  der  Gründung  des  Deutsehen  Reiches 
ganz  anders  geworden.  Allein  der  Außenhandel,  der  früher  ganz  unbedeutend 
war,  wuchs  1913  bis  auf  21  Mill.  M.  UnvoUkommenheiten  der  Zahlwörter, 
die  früher  bei  dem  seltenen  Gebrauch  der  Zahlen  kaum  bemerkt  wurden, 
werden  jetzt  als  sehr  störend  empfunden.  Dabei  möchte  ich  noch  auf  einen 
sehr  merkwürdigen  Umstand  hinweisen.  Man  hält  es  für  selbstverständlich, 
daß  alljährlich  ungeheuere  Summen  für  Wegebauten,  Dampf-  und  elektrische 
Bahnen,  Maschinen  usw.  ausgegeben  werden,  um  körperliche  Arbeit  zu 
schonen,  und  jeder  weiß,  daß  diese  Ausgaben  sehr  nutzbar  angelegt  sind, 
weil  sie  unsere  Arbeitsfähigkeit  in  weit  höherem  Maße  vermehren.  Jede 
Tischlerei,  jede  Maschinenfabrik  wird  von  vornherein  so  angelegt,  daß  auf 

^)  Weinhold,  Mittelhochdeutsche  Grammatik.  Auch  die  Römer  ersetzten  seit  Livius 
tredecim  häufig  durch  decem  et  tres;  die  Franzosen  haben  das  zu  Voltaires  Zeiten  noch 
übliche  Zwanzigersystem  (six-vingt  =  120  usw.)  fast  ganz  abgeschafft,  und  im  Rechen- 
unterricht sagt  man  statt  quatre-vingt  meist  octante. 

2)  Sombart,  Das  Kapital. 


Zwanzigvier  statt  vierundzwanzig.  227 

einer  Seite  die  Rohstoffe  hineinkommen,  dann  in  bestimmter  Richtung  zur 
Bearbeitung  weitergeführt  werden,  um  von  anderer  Stelle  als  fertige  Fa- 
brikate den  Betrieb  zu  verlassen  —  jedes  unnötige  Hinundherschaffen  inner- 
halb der  Fabrik  wird  sorgfältig  vermieden.  Neuerdings  ist  sogar  im  Taylor- 
System^)  eine  eigene  Wissenschaft  entstanden,  um  durch  Ersparnis  jeder 
überflüssigen  Bewegung  die  Leistungsfähigkeit  aller  Betric  be  zu  erhöhen. 

Ähnliche  Bestrebungen  zur  Förderung  geistiger  Arbeit  sind  bisher 
wenig  vorhanden  und  fanden  auch  wenig  Unterstützung.  Der  Grund  dafür 
liegt  darin,  daß  bei  unseren  Gebildeten  —  abgesehen  von  den  Technikern  — 
ästhetische  und  juristische  Interessen  durchaus  überwiegen  und  daß 
wirtschaftliches  Denken  fast  gar  nicht  entwickelt  ist.  Schuld  daran 
hat  auch  die  Pädagogik,  die  infolge  eines  falsch  verstandenen  IdeaHsmus 
in  dieser  Richtung  eine  Lücke^)  gelassen  hat. 

Durch  die  dauernde  Umstellung  bei  jedem  Übergang  vom  Gedanken 
zum  Zahlwort  und  vom  Zahlwort  zur  Ziffer  gestaltet  sich  der  Unterricht 
viel  langsamer  und  mühsamer  als  bei  allen  andern  Völkern.  Tafelmacher, 
der  Direktor  der  Handelsschule  in  Dessau,  hat  dies  direkt  beobachtet,  als 
er  in  Chile  gleichzeitig  an  einer  deutschen  und  spanischen  Schule  den  Rechen- 
unterricht erteilte.  Aber  auch  im  späteren  Leben  wird  die  Auffassung,  das 
Behalten  und  das  Arbeiten  mit  Zahlen  durch  die  Sprache  dauernd  erschwert. 
Daß  zahlreiche  Fehler  im  kaufmännischen  Rechnen  auf  solche  Art  entstehen, 
zeigt  das  kleine  Buch  von  G.  von  Erlach,  Zürich:  „Wie  man  als  Buchhalter 
Differenzen  sucht".  Um  eine  Vorstellung  zu  geben,  um  welche  Werte  es 
sich  handelt,  wollen  wir  eine  kleine  Rechnung  anstellen:  Wieviel  Arbeits- 
zeit wird  vergeudet,  wenn  durch  unsere  schlechten  Zahlwörter  durchschnitt- 
lich jeder  täglich  eine  halbe  Minute  verliert?  Rechnen  wir  in  Deutschland 
30  Mülionen  arbeitende  Menschen  an  300  Tagen,  die  Stunde  nur  zu  1,20  M., 
so  erhält  man  900  Mill.  M.l  Also  fast  für  eine  Milliarde  Mark  könnte  alljähr- 
lich mehr  geleistet  werden! 

Aber  wie  läßt  sich  das  Ziel  erreichen  ?  Anfangs  glaubte  ich  an  die  Wirkung 
freiwilliger  Arbeit;  jedoch  die  Zahl  derer,  die  freiwillig  aus  dem  gewohnten 
Gleise  heraustreten,  ist  zu  gering,  und  der  Widerstand  der  stumpfen  Welt 
zu  groß.  Eine  Erinnerung  an  frühere  Zeiten  mag  den  rechten  Weg  weisen. 
Als  durch  Dampfmaschine,  Fabriken,  Dampfschiffe  und  Eisenbahn  Handel 
und  Verkehr  einen  ungeahntenAufschwung  nahmen,  da  boten  die  verschiedenen 
Maße  und  Gewichte  in  jedem  Kleinstaat  ein  schweres  Hindernis.  Trotzdem 
konnte  durch  freiwillige  Übereinkunft  nichts  erreicht  werden;  erst  die  Maß- 
und  Gewichtsordnung  für  den  Norddeutschen  Bund  vom  17.  Au- 
gust 1868  schuf  Einheitlichkeit.  Warum  soll  die  Entwicklung  der  Sprache 
allein  dem  Unterbewußtsein  überlassen  bleiben?  Es  wird  auch  in  diesem  Falle 


1)  Die    Grundsätze    wissenschaftlicher   Betriebsführung  von   Taylor,    Deutsch  von 
Roesler.    München  1917. 

*)  Ich  verweise  auf  die  kleine  aber  inhaltsreiche  Schrift  von  Rausch:  Die  wirtschaft- 
liche E'"ziehung  der  deutschen  Jugend.     Osterwieck  1919. 

15* 


228  Wahner, 

zweckmäßig  sein,  ein  Reichsgesetz  für  die  Aussprache  und  Schreibweise 
der  Zahlwörter  zu  erstreben.  Einen  Entwurf  dafür  habe  ich  in  den  Unter- 
richtsblättern für  Mathematik  1920  Nr.  3/4  veröffentlicht,  denn  nach  meinen 
Erfahrungen  hat  der  alte  Fontane  recht:  ^ 

Das  Klügste,  Beste,  Bequemste, 
Das  auch  freien  Seelen  weitaus  Genehmste, 
Heißt  doch  schließlich,  ich  hab's  nicht  Hehl, 
Klares  Gesetz  und   fester  Befehl. 
Tilsit.  Schülke. 


Schul-  und  aufgabenfreie  Halbtage  und  turnerische  Wanderungen^). 

„Wöchentlich  ein  schul-  und  aufgabenfreier  Halbtag, . . .  alle  4 Wochen, 
wo  es  die  Verhältnisse  nicht  unmöglich  machen,  vom  6.  Schuljahre  ab  ein 
Ganztag  (einer  turnerischen  Wanderung  zu  widmen)",  ist  das  jüngste  Ge- 
schenk des  Unterrichtsministeriums  an  die  Schülerschaft  aller  Volks-  und 
Mittelschulen,  Lehrer-  und  Lehrerinnenbildungsanstalten  sowie  aller  höheren 
Lehranstalten  für  die  männhche  und  weibliche  Jugend.  War  solche  Maß- 
nahme, die  von  letzterer  selbstverständlich,  wie  die  meisten  Neuerungen 
und  insbesondere  jede  Unterrichtsbeschränkung,  freudig  begrüßt",  von  Eltern 
und  Lehrern  dagegen  mit  gemischten  Gefühlen  aufgenommen  wurde,  not^ 
wendig?  Wird  darunter  nicht  die  Erreichung  des  nächsten  Schulzieles, 
die  wissenschaftliche  Ausbildung,  leiden,  die  den  Zeitforderungen  gegen- 
über doch  keinesfalls  verringert  werden  darf?  Wie  lassen  sich  jene  Neu- 
einrichtungen zweckentsprechend  gestalten  und  die  dagegen  erhobenen  Be- 
denken beseitigen,  ohne  daß  anderes,  Gleichwertiges  gefährdet  wird? 

Wohl  an  allen  Lehranstalten  bestand  schon  immer  für  jede  Klasse,  auch  der 
Oberstufe  der  höheren,  dieTatsache  eines  vollständig  schulfreien  Nachmittages, 
wie  sich  das  bei  Verteilung  der  planmäßigen  Lehrstundenzahl  auf  die  einzelnen 
Vor-  und  Nachmittage  von  selbst  ergab.  Für  die  jüngeren  Jahrgänge  wurden 
es  auch  zwei  oder  mehr,  nur  daß  nicht  alle  Klassen  denselben  Nachmittag 
schulfrei  hatten,  nur  daß  nicht  auch  eine  gleichzeitige  Befreiung  von  häus- 
lichen Aufgaben  für  den  nächsten  Schultag  stattfand.  Und  auch  die  übrigen 
Nachmittage  waren  seit  Verlegung  des  gesamten  wissenschaftlichen  Unter- 
richts auf  den  Vormittag  und  seit  Einführung  der  Kurzstunden  nur  mit  zwei 
Lekitonen  technischen  oder  wahlfreien  Unterrichts  besetzt.    Damit  wurde  es 


^)  Der  bereits  ein  Vierteljahr  nach  dorn  Ministerialerlaß  vom  29.  März  1920  ge- 
schriebene und  für  die  Monatschrift  angenommene  Aufsatz  konnte  wegen  Raummangel 
leider  erst  jetzt  zum  Abdruck  gelangen.  Inzwischen  sind  zu  der  behandelten  Frage  ver- 
schiedentlich in  unsern  Fachzeitschriften  Stimmen  laut  geworden,  die  so  weit  wie  möglich 
noch  in  Zusätzen  und  Anmerkungen  berücksichtigt  wurden.  Bei  aller  Anerkennung  des 
dem  Erlasse  vorschwebenden  Zieles,  der  „Wiederherstellung  und  Erhaltung  der  Volks- 
gesundheit", rollen  sie  in  der  Hauptsache  nur  entgegenstehende  Bedenken  auf  und  mehren 
die  Schwierigkeit  seiner  Veiwirklichung.  In  wesentlicher  Verschiedenheit  von  solcher  Ver- 
neinung lassen  die  folgenden  Ausführungen  nur  ein  sachliches  Hauptbedenken  gelten, 
den  Verlust  an  Unterrichtszeit,  und  suchen  positiv  durch  Ersatz  dieses  Ausfalls  und  durch 
Bekämpfung  der  Hindernisse  zur  sachgemäßen  Durchführung  beizutragen. 


Schul-  und  aufgabenfreie  Halbtage  und  turnerische  Wanderungen.  229 

den  Schülern  in  der  Klein-  und  Mittelstadt  stets  möglich,  täglich  einen  zu 
ihrer  Erholung  nötigen  kürzeren  oder  längeren  Gang  ins  Freie  zu  machen 
und  sich  an  dem  einen  oder  anderen  Nachmittage  gesundheitförderndem 
Spiel  und  Sport  hinzugeben.  Anders  freili(ih  in  der  Großstadt,  wo  zwischen 
Wohnung  und  Schule,  zwischen  diesen  und  passenden  Spazierwegen  und 
Plätzen  sportHcher  Betätigung  meist  zeitraubende  Gänge  oder  Fahrten  zu- 
rückzulegen sind.  Da  blieb  dem  Schüler  kaum  die  dazu  nötige  Zeit,  wenn 
er  sich  auch  noch  für  den  kommenden  Schultag  vorbereiten  sollte.  Die  körper- 
liche Ertüchtigung  unserer  Jugend  aber  ist  nach  den  entbehrungsreichen 
Kriegsjahren  und  bei  der  fortbestehenden  Lebensmittelknappheit  mehr  denn 
je  dringend  geboten  und  von  der  Unterrichtsverwaltung  mit  vollem  Recht 
an  die  Spitze  aller  erziehlichen  Maßnahmen  gestellt  worden.  Sie  kann  und 
soll  erreicht  werden  durch  freie  Betätigung  in  gesunden  Leibesübungen, 
durch  Wandern,  Spielen,  Wintersport,  Schwimmen  und  Rudern.  Gespielt 
wurde  bisher  von  der  Gesamtheit  der  Schüler  fast  nur  im  Turnunterricht, 
von  dem  entweder  die  ganze  dritte  Wochenstunde  oder  das  letzte  Viertel 
aller  drei  Stunden  gewöhnlich  dafür  benutzt  wurden,  sonst  nur  einzeln. 
Ähnlich  stand  es  mit  den  winterlichen  Leibesübungen  und  dem  Baden.  Rudern 
und  Schwimmen  werden  immer  nur  von  wenigen  geübt  werden  können. 
Gewandert  wurde  von  der  Allgemeinheit  meistens  nur  einmal  im  Schuljahre 
bei  Gelegenheit  des  „Schulspazierganges"  oder  ,, Turnmarsches" ;  darüber 
hinaus  nur  von  den  Mitgliedern  des  Wandervogels,  von  Pfadpfindern  oder 
als  Ferienerholung  einzelner. 

Damit  nun  alle  diese  Übungen  allgemeiner  und  ,,in  geordneter  Weise" 
betrieben  werden,  ohne  Beeinträchtigung  des  für  Geschmeidigkeit  und  Stählung 
des  Körpers  ebenso  notwendigenTurnunterrichtes,  ist  jene  Einrichtung  eines 
wöchentlichen  schul-  und  aufgabenfreien  Halbtages  neben  den 
lehrplanmäßigen  Turnstunden,  vom  4.  Schuljahre  ab,  soweit  es  die  örtlichen 
Verhältnisse  irgend  gestatten,  festgesetzt  bzw.  auf  alle  Schulen  ausgedehnt 
werden!).  „Vom  4.  Schuljahr  ab",  das  soll  für  die  höheren  Lehranstalten  von 
heute  nach  vorausgegangenem  ^drei-  oder  vierjährigem  Besuch  der  Grund- 
schule doch  wohl  von  Sexta  an  heißen,  obschon  für  die  unteren  Klassen  bei 
weniger  Wochenstunden  sowieso  schon  mehrere  schulfreie  Nachmittage  heraus- 
kommen. Wer  möchte  indessen  die  Kleinen  und  noch  nicht  so  Leistungs- 
fähigen von  dem  allgemeinen  Benefizium  ausschließen,  zumal  sie  vielfach 
erst  in  der  Klasse  zu  selbständiger  Hausarbeit  angelernt  werden  müssen, 
zumal  gerade  der  Nachlaß  häuslicher  Vorbereitung  erst  den  freien  Nachmittag 
wahrhaft  zu  einem  solchen  macht? 

Nur  durch  Einrichtung  des  schul-  und  aufgabenfreien  Halbtags  also 
und  die  damit  verbundene  Ordnung  wird  die  allgemeine    Beteiligung 


1)  Der  Ministerialerlaß  folgte  damit  wohl  den  Beschlüssen  der  Preußischen  Landes- 
versammlung auf  die  Anträge  Domini cus,  von  denen  unabhängig  bereits  die  Lehrerschaft 
der  Frankfurter  Morton-Realschule  das  ganze  Jahr  hindurch  wöchentlich  einen  aufgaben- 
freien verpflichtenden  Sportnachmittag  abzuhalten  beschlossen  hatte  nebst  beachtens- 
werten Richtlinien  dafür  (Philologenblatt  28.  Jahig.  S.  146). 


230  Wahner, 

an  den  Übungen  zur  körperlichen  Ertüchtigung  verbürgt,  während  ordnungs- 
lose, hinsichtlich  Zeit  und  Gelegenheit  dem  Belieben  überlassene  Einzel- 
betätigung auch  mancherlei  Gefahren  für  Gesundheit  und  Gesittung  mit  sich 
bringt.  „In  geordneter  Weise"  können  die  Leibesübungen  erfolgen  sowohl 
bei  klassenweisem  Wechsel  des  freien  Halbtages  wie  bei  seiner  gleichzeitigen 
Ansetzung  für  die  ganze  Anstalt.  Aber  es  ist  klar,  daß  in  letzterem  Falle  sich 
leichter  Ordnung  erzielen  läßt  oder  mehr  System  in  ihren  Betrieb  hineinkommt 
als  bei  verschiedener  Anberaumung  für  einzelne  Klassen.  Nur  so,  d.  h.  bei 
gegenständlicher  Ordnung  wird  es  möglich,  die  zu  verschiedenen  Sportgruppen 
gehörigen  Mitgheder,  sei  es  in  schon  bestehenden  Vereinen  oder  indem  sich 
die  Schüler  selbst  nach  Alter,  Leistungsfähigkeit,  Freundschaft  und  Neigung 
nur  auf  ein  Jahr  vereinigen,  zusammenzufassen  und,  soweit  nötig,  fachmäßige 
Leitung  oder  Aufsicht  herzustellen.  Ohne  solche  geht  es  bei  den  meisten  von 
der  Schule  getroffenen  Einrichtungen  ja  nicht  ab.  Muß  sie  aber  darum  immer 
und  überall  vom  Lehrer  ausgeübt  werden?  Keinesfalls.  Ständige  Spiel- 
aufsicht an  den  schulfreien  Halbtagen  durch  Lehrer  wäre  nicht  ohne  erheb- 
liche Schwierigkeiten  herbeizuführen  und  erscheint  weder  notwendig  noch 
erwünscht.  Je  nach  der  Verschiedenheit  der  Übungen  und  ihres  Schauplatzes 
müßten  sonst  an  einem  und  demselben  Nachmittage  mehrere  Lehrer  gleich- 
zeitig stundenlang  Aufsicht  führen,  die  ihnen  als  verantwortungsvoller  Dienst 
nur  im  Rahmen  ihrer  Höchststundenzahl  zugemutet  werden  kann.  Das  würde 
an  kleineren  und  Mittelanstalten  mindestens  je  eine,  an  größeren  mehrere 
neue  Lehrkräfte  erfordern.  An  bezahlte  Überstunden  ist  auch  nicht 
gedacht,  wenn  es  heißt,  daß  besondere  Mittel  aus  staatlichen  Fonds 
dafür  zurzeit  nicht  zur  Verfügung  stehen.  Regelmäßige  Lehreraufsicht 
ist,  wie  der  bisherige  begrenztere  Sportbetrieb  der  Schule  bewiesen  hat, 
aber  auch  nicht  nötig,  kann  vielmehr  vollständig  ersetzt  werden  durch 
die  eigene  Aufsicht  der  Schüler.  Diese  sind  beim  Spiel  ja  ungleich  reger 
interessiert  als  beim  Unterricht,  fügen  sich  willig  den  Spielordnern  aus  ihren 
eigenen  Reihen  und  halten  selbst  auf  Ordnung  und  Regelmäßigkeit,  besonders 
wenn  ihnen  solche  als  unerläßliches  Zubehör  des  Spieles  dargetan 
wurde.  Gerade  das  Auftreten  der  besten  Spieler  als  Ordner  wird  den  Eifer 
und  die  Willigkeit  der  übrigen  noch  mehr  anspornen.  Auch  ermöglicht  die 
gegenständliche,  nicht  klassenweise  erfolgende  Zusammensetzung  der  Sport- 
gruppen eine  Überwachung  jüngerer  Spieler  durch  ältere.  Planmäßige  Spiel- 
beaufsichtigung durch  Lehrer  ist  endlich  nicht  einmal  erwünscht,  nicht  so- 
wohl für  die  Ungebundenheit  der  Schüler  als  im  Interesse  ungescheuter 
Vornahme  der  Leibesübungen.  Erfahrungsmäßig  bereiten  letztere  gerade 
manchem  wissenschaftlich  tüchtigen  Jungen  Schwierigkeiten,  der  sich  unter 
den  Augen  des  Lehrers  seiner  körperlichen  Ungeschicklichkeit  schämt  und 
darüber  leicht  den  Mut  und  die  Lust  zum  Spiel  einbüßt.  Diese  Hauptvoraus- 
setzung dafür  wird  auch  der  Allgemeinheit  durch  ständige  Spielüberwachung 
verkümmert,  da  sie  dadurch  das  Bewußtsein  freier,  selbstgewählter  Be- 
tätigung verliert  und  letztere  schließlich  als  planmäßigen  Betrieb  ansieht. 
Mit  der  Befürwortung  der  Spiel-  und  Sportaufsicht  durch  die  Schüler  selbst 


Schul-  und  aufgabenfreie  Halbtage  und  turnerische  Wanderungen.  23 1 

soll  natürlich  nicht  jede  Anleitung  und  Überwachung  durch  den  Lehrer 
ausgeschlossen  sein,  wie  sie  vorübergehend  von  Zeit  zu  Zeit  und  besonders 
am  Beginn  eines  Spielabschnittes  sich  als  nötig  erweisen  wird.  Sie  wird  am 
zweckmäßigsten  durch  die  Turnlehrer  und  die  Protektoren  der  verschiedenen 
Schülervereinigungen  ausgeübt,  die  ihr  Ehrenamt  ja  gewöhnlich  auf  Grund 
besonderer  Neigung  und  Befähigung  dafür  übernommen  haben. 

Damit  erledigt  sich  auch  die  aus  Fachkreisen  erhobene  Frage  der  Haft- 
pflicht bei  den  Übungen.  SelbstverständUch  kann  für  dabei  vorkommende 
Unfälle  weder  die  Schule  noch  ein  Lehrer  haftbar  gemacht  werden.  Es  handelt 
sich  hier  ja  nicht  um  lehrplanmäßige  Beschäftigung  der  Zöglinge,  sondern 
um  einen  ihnen  zugestandenen  Unterrichtsausfall,  den  sie  zu  ihrer  körper- 
lichen Ertüchtigung  nach  eigener  Neigung  ausnützen  sollen.  Ihre  Teilnahme 
an  diesen  ., Schuleinrichtungen"  ist  allerdings  nach  dem  Erlaß  vom  20.  De- 
zember 1920  U  III  B  8574  verbindlich  wie  die  am  Turnunterricht,  so  daß 
für  Befreiungen  davon  die  gleichen  Bestimmungen  vom  24.  Januar  v.  Js. 
U  III  B  7827  gelten.  Leitung  und  Aufsicht  werden  damit  nach  dem  Erlaß 
vom  18. Dezember  decs.Js.  U  III  B  Nr.  8397  U  II  Wzu  „Amtshandlungen, 
welche  Lehrer  und  Lehrerinnen  in  Ausübung  der  ihnen  anvertrauten  öffent- 
lichen Gewalt  vornehmen",  d.  h.  diese  werden  im  Falle  von  Regreß- 
forderungen durch  die  behördliche  Erhebung  des  Kompetenzkonfliktes 
geschützt,  deshalb  ist  eine  Haftpflichtversicherung  weder  beabsichtigt  noch 
nötig.  Leitung  und  Aufsicht  bei  jenen  Leibesübungen  werden  aber  dort 
auch  nicht  ausdrücklich  gefordert.  Somit  ist  iür  etwa  dabei  ent- 
stehenden Schaden  ebensowenig  wie  für  Vorkommnisse  auf  dem  Schul- 
wege oder  in  der  sonstigen  Freizeit  die  Schule  verantwortlich.  Wo  keine  Auf- 
sicht stattzufinden  braucht,  kann  auch  von  Haftpflicht  keine  Rede  sein.  Doch 
ist  es  gerade  darum  dringend  erwünscht,  daß  behördlicherseits  die  Nicht- 
notwendigkeit  der  Spielbeaufsichtigung  durch  die  Lehrerschaft  erklärt  wird. 

Bei  der  Selbstaufsicht  der  spielenden  Schüler  wird  am  sichersten  auch 
„den  Wünschen  der  Jugend  bezüglich  der  Art  der  von  ihnen  zu  betreibenden 
Leibesübungen"  Rechnung  getragen.  Neigung  und  Befähigung,  die  sich 
wechselseitig  bedingen,  sind  unerläßliche  Voraussetzungen  für  Eifer  und  Fort- 
schritt darin.  Über  sie  weiß  niemand  besser  Bescheid  als  jeder  Teilnehmer 
selbst,  und  gleich  der  Beteiligung  des  einzelnen  an  diesem  oder  jenem  Sport 
wird  auch  die  Entscheidung  der  Allgemeinheit  für  die  eine  oder  andere  Art 
der  Leibesübungen  am  wenigsten  beeinflußt  sein,  wenn  kein  an  Schulzwang 
gemahnender  Lehrer  dabei  ist.  Immerhin  wird  die  Auswahl  gebunden  sein 
an  die  örtlichen  und  besonderen  Verhältnisse  jeder  Anstalt,  an  die  bei  ihr 
bestehenden  Einrichtungen  erprobter  Art,  vorhandene  Spielgeräte  u.  dgl., 
Berücksichtigungen,  die  der  Leiter  im  Anstaltsinteresse  fordern  muß.  Dem 
Wechsel  der  Jahreszeit  trägt  die  Jugend  schon  von  selbst  Rechnung,  nur 
vermag  sie  häufig  genug  den  Eintritt  einer  neuen  Spielzeit  und  Spielart 
kaum  zu  erwarten.  Auch  da  wird  die  Schule  bisweilen,  z.  B.  beim  Schwimmen 
oder  Eissport,  im  gesundheitlichen  Interesse  ihrer  Zöglinge  hindernd  da- 


232  Wahner, 

zwischentreten  müssen,  im  übrigen  aber  vernünftigen  Wünschen  und  Vor- 
schlägen jederzeit  gern  entgegenkommen. 

Die  Fixierung  des  freien  Halbtages  ist  Sache  der  Lehrerkonferenz, 
die  darüber  unter  Wahrung  der  sonstigen  Lehrziele  und  nach  Kenntnis- 
nahme etwaiger  begründeter  Schülerwünsche  entscheiden  wird.     Letztere 
können  ihr  seitens  der  Klassengemeinde  durch  die  Ordinarien  oder  von  den 
Klassen-  und  Schülerausschüssen  durch   den  Berater  übermittelt  werden. 
Darnach  werden  von  verschiedenen  Anstalten  verschiedene  Halb-  oder  Nach- 
mittage gewählt  werden.    Ein  Vormittag  ist  nach  dem  Wortlaut  der  Ver- 
ordnung nicht  ausgeschlossen,  wird  wohl  aber  nirgendwo  öfters  in  Betracht 
gezogen  werden,  es  sei  denn,  daß  infolge  besonderer  räumlicher  oder  Witte- 
rungsverhältnisse die  dadurch  verloren  gehenden  Lehrstunden  ebensogut  an 
einem  Nachmittage  gegeben  werden  können.   Nahe  liegt  es,  den  freien  Halb- 
tag in  der  Mitte  der  Woche,  in  gleichem  Abstände  von  der  Sonntagsruhepause, 
anzuberaumen.    Aber  nicht  überall  ist  das  durchführbar,  wie  überhaupt  die 
Terminwahl  auf  allerlei  Schwierigkeiten  stößt.     An  manchen  Anstalten 
mit  entlegener  oder  mit  anderen  geteilter  Turnhalle  sind  drei  Nachmittage 
mit  lehrplanmäßigem  Turnen  besetzt;  ein  vierter  mit  wahlfreiem  Zeichnen 
der  U  H — 0  I,  ein  fünfter  womöglich  mit  naturwissenschaftlichen  Übungen 
derselben  Klassen  oder  mit  Chorgesang.    Bleibt  somit  für  sämtliche  nur  ein 
gleichzeitig  freier  Halbtag  übrig.     Und  muß  dieser  aus  weiteren  örtlichen 
Gründen  etwa  gar  auf  Sonnabend  nachmittags  gelegt  werden,  so  braucht 
damit  durchaus  keine  Verkürzung  des  Benefiziums  verbunden  oder  gar  be- 
absichtigt sein.    Ein  angestrengter  Spiel-  und  Sportbetrieb  oder  Fußmarsch, 
der  sich  über  mehrere  Stunden  ausdehnt,  läßt  nicht  nur  keine  Zeit  übrig 
für  Anfertigung  von  häuslichen  Aufgaben,  ist  im  jugendlichen  Körper  auch 
noch  am  nächsten  Tage  fühlbar  und  verlangt  gehöriges  Ausruhen.    Dafür 
ist  der  Sonntag  um  so  geeigneter,  als  er  längeres  Schlafen  gestattet  und  ohne- 
hin für  Schulaufgaben  schon  immer  ziemlich  außer  Betracht  blieb.  Erfahrungs- 
mäßig sind  die  Schüler  nie  schlechter  vorbereitet  und  weniger  aufnahme- 
fähig als  am  Montag,  was  mit  dem  größeren  Zwischenraum  zwischen  Ein- 
prägung  undWiedergabe  desLernstoffes  wie  mit  dersonstigenSonntagserholung, 
namentlich  in  Großstädten,  zusammenhängt,  so  daß  am  Wochenbeginn  der 
Lehrer  gewöhnlich  selbst  das  Beste  tun,  dieWiederholungsaufgaben  noch  einmal 
durchkauen  oder  in  der  Klasse  befestigen  muß  und  bei  derNeudurchnahme  nichts 
voraussetzen  darf.  Warum  da  nicht  lieber  gleich  durch  Aneinanderreihung  von 
aufgabenfreiem  Halbtag  und  Sonntagspause  die  Schüler  von  dem  lästigen 
Alp  mangelhafter  Montagsvorbereitung  mit  befreien?     Es  kommt  hinzu, 
daß  heute  viele  auswärtige  Schüler  über  Sonntag  ihre  in  der  Umgegend 
wohnenden  Eltern  oder  sonstigen  Verwandten  zwecks  Versorgung  mit  Lebens- 
mitteln und  frischer  Wäsche  aufsuchen  wollen,  ein  weiterer  Umstand,  der 
ihnen  wenig  Zeit  zur  Vorbereitung  für  Montag  läßt.    Jedenfalls  geht  durch 
Ansetzung  des  freien  Halbtages  auf  Sonnabend  Nachmittag  bei  gründlicherem 
Ausruhen  weniger  Arbeitskraft  verloren,  und  damit  würde  ein  Hauptbedenken 
der  Lehrerschaft  gegen  die  ganze  Einrichtung  aus  der  Welt  geschafft,  die  Be- 


Schul-  und  aufgabenfreie  Halbtage  und  turnerische  Wanderungen.  233 

fürchtung,  es  möchte  durch  die  mit  den  freien  Halbtagen  verbundene  Ver- 
kürzung häuslicher  Vorbereitungszeit  die  Bewältigung  des  Jahres- 
pensums unmöglich  werden.  Auch  hört  mit  ihrer  Innehaltung  nicht  jede 
Vorbereitung  für  den  kommenden  Schultag  auf,  wenigstens  nicht  diejenige, 
für  die  schon  tage-  oder  wochenlang  zuvor  Aufgaben  gestellt  werden.  Solche 
schon  an  früheren  Nachmittagen  bei  Berücksichtigung  der  Arbeitspläne 
mögliche  Hausarbeiten,  wie  vor  längerer  Zeit  gestellte  Aufsätze  oder  Exer- 
zitien, können,  weil  nicht  Aufgaben  des  freien  Halbtags,  nach  wie  vor 
gefordert  werden,  sind  aber  besser  nicht  unmittelbar  dahinter  zu  verlegen, 
damit  nicht  etwa  säumige  Schüler  sie  an  Stelle  der  in  der  Freizeit  vor- 
zunehmenden Leibesübungen  zu  setzen  versuchen. 

Doch  ist  das  die  einzige  in  letzter  Zeit  verfügte  Einschränkung  häus- 
licher Schülerarbeiten?  Keineswegs.  Mit  der  Einrichtung  des  schul-  und 
aufgabenfreien  Halbtages  ist  die  Sorge  des  Ministerialerlasses  um  die  körper- 
liche Ertüchtigung  der  Schuljugend  nicht  erschöpft;  er  sieht  auch,  wie  schon 
eingangs  gesagt,  „während  der  Unterrichtszeit  durchschnittlich  alle  4  Wochen, 
wo  es  die  Verhältnisse  nicht  unmöglich  machen,  vom  6.  Schuljahr  ab  einen 
Ganztag  für  eine  turnerische  Wanderung"  vor.  Eine  ideal  gedachte, 
herrliche  Neuerung  trotz  alles  Kopfschütteins  erprobter  Schulweisheit!  Wen 
überzeugte  nicht  von  ihrer  Zweckmäßigkeit  und  Notwendigkeit  die  in  der 
Verfügung  angeführte  Absicht:  „Das  Wandern  soll  einen  frischen,  fröh- 
lichen Sinn  und  Wanderlust  wecken,  zu  bewußtem  Sehen  und  Hören  er- 
ziehen, Freude  an  der  Natur,  an  der  Heimat  und  an  der  Kameradschaft 
gewähren  und  Ausdauer  verleihen!"  Wann  wäre  die  Weckung  des  Froh- 
sinns und  der  Freude  am  Wandern  erwünschter  gewesen  als  in  der  tief- 
traurigen Gegenwart,  wann  gälte  es  mehr,  das  Verständnis  für  die  Schönheit 
der  Natur  und  Heimat  zu  erschließen  als  inmitten  des  materialistischen 
Sinnentaumels,  als  bei  der  jetzigen  Abgeschlossenheit  des  Deutschtums 
vom  Auslande?  Was  wäre  im  gegenwärtigen  schweren  Kampfe  ums  Dasein, 
im  Ringen  um  eine  bessere  Zukunft  wichtiger  als  die  Erziehung  zu  bewußtem 
Sehen  und  Hören,  als  die  Vermittlung  von  Zähigkeit  und  Ausdauer?  Und 
zu  diesen  mittelbaren,  mehr  ethischen  Bereicherungen  sollen,  besonders  auf 
der  Rast,  direkte  Belehrungen  kommen,  die  einen  schätzenswerten  Er- 
satz des  inzwischen  auf  der  Schulbank  Versäumten  bedeuten:  Anleitungen 
,,zum  Fernsehen,  zum  Schätzen  von  Entfernungen,  zum  Zurechtfinden  im 
Gelände  und  zur  Beurteilung  des  letzteren".  Gerade  dem  erdkundlichen 
Unterrichte,  diesem  vielbejammerten  Stiefkinde  im  Lehrplan  der  Mittel- 
und  Oberstufe  der  Gymnasien,  erwächst  durch  derlei  Unterweisungen  im 
Freien,  womit  sich  „an  Ort  und  Stelle  entworfene  Geländeskizzen"^)  verbinden 
sollen  und  Kartenlesen,  vornehmlich  an  Meßtischblättern  und  Generalstabs- 
karten, geübt  werden  kann,  ein  ungeahnter  praktischer  Gewinn.    Ähnlich 


^)  Ein  willkommener  Ersatz  für  die  nach  dem  Erlaß  vom  9.  März  d.  Js.  weg- 
fallende häusliche  Anfertigung  erd-  und  naturkundlicher  Zeichnungen.  Daß  jeder  Lehrer 
dazu  selbst  befähigt  sein  müsse,  möchte  ich  nicht  mit  Jungbluths  sonst  vermittelnden 
Forderungen  (Philo'-ogenblatt  28.  Jahrg.  S.  457)  voraussetzen. 


234  Wahner, 

steht  es  mit  der  Einführung  in  die  zwischen  Erdkunde  und  Naturwissen- 
schaft geteilte,  im  Stundenplan  kaum  irgendwo  besonders  berücksichtigte 
Geologie.  JedeBeurteilung  desGeländes  führt  bei  einigermaßenVertiefung  von 
selbst  zurFeststellung  derErdschichten  und  zurErörterung  weiterer  geologischer 
und  mineralogischer  Fragen.  Wie  ungezwungen  und  anschaulich  sich  botani- 
sche und,  wenn  auch  nicht  ganz  so  leicht,  zoologische  Belehrungen  bei 
Wanderungen  durch  Flur  und  Hain  geben  lassen,  ohne  als  Unterricht 
empfunden  zu  werden,  liegt  auf  der  Hand.  Das  Entwerfen  von  Skizzen  bei 
der  Rast  braucht  sich  nicht  auf  Festhaltung  des  Geländes  zum  erdkund- 
lichen Zweck  zu  beschränken;  künstlerisch  Begabtere  werden  bei  längerem 
Verweilen  an  schönen  Punkten  auch  landschaftliche  Motive  oder  genrehafte 
Szenen  in  ihrem  Skizzenbuch  festzuhalten  suchen.  Wie  erhebend,  ange- 
sichts der  Großartigkeit  und  Wechselfülle  der  Naturgebilde  die  Schüler  auf 
die  menschliche  Ohnmacht  übersteigende  Unendlichkeit  der  Schöpfung  hin- 
zuweisen oder  ihnen  auf  spätgewordenem  Heimweg  bei  strahlendem  Stern- 
himmel von  den  Wundern  des  Weltalls  und  den  Rätseln  der  Astronomie 
zu  erzählen.  Und  sollte  es  ausgeschlossen  sein,  daß  schöngeistige  Primaner 
und  Sekundaner  am  murmelnden  Wald-  oder  Felsenquell  nicht  gern  in  Ur- 
text oder  metrischer  Übersetzung  eine  passende  Ode  aus  Horaz  oder  aus- 
gewählte Partie  aus  Homer  und  Vergil,  ein  Chorlied  aus  den  griechischen 
Tragikern,  eine  der  tiefernsten  Vaterlandsweisen  Walthers  von  der  Vogel- 
weide, eine  packende  Szene  aus  dem  Nibelungenliede,  wie  die  Tötung  Sieg- 
frieds auf  der  Jagd  im  Odenwalde,  oder  diese  oder  jene  dichterische  Perle 
der  neuesten  deutschen  Literatur  vernähmen  und  selbst  darböten?  Natür- 
lich heißt  es  da,  ganz  im  Sinne  der  neuen  Arbeitsschule  oder  „Schulgemeinde" 
Neuendorffs,  für  den  führenden  Lehrer  immer,  möglichst  wenig  selbst 
lehrend  aufstehen,  lieber  zurücktreten  und  den  einen  oder  anderen  Schüler 
anregen,  sein  Können  zu  zeigen.  Auch  in  Zukunft  wird  nach  der  Neuregelung 
unsers  Schulwesens  mit  der  beabsichtigten  Herabsetzung  der  wöchentlichen 
Stundenzahl  für  alle  jene  erwünschten  Wissensinhalte  im  Unterricht  selbst 
sich  keine  Zeit  finden,  durch  ihre  Übermittlung  beim  Wandern  aber  die 
volle  Dauer  der  Lehrstunden  für  deren  Hauptaufgaben  gewahrt,  so  daß 
es  nach  wie  vor  trotz  monatlichem  Wandertag  möglich  sein  wird,  das  von 
wertlosem  Nebenballast  befreite  Klassenziel  zu  erreichen.  Die  Zeit  also, 
um  die  der  planmäßige  Schulbankbetrieb  durch  die  vierwöchentliche  Turn- 
wanderung verkürzt  wird,  und  die  dafür  aufgewendete  Mühe  ist  keineswegs 
verloren,  wenn  sie  nur  in  obiger  Weise  richtig  ausgenutzt  wird.  Der  mit 
dem  gleichen  Maß  etwas  praktischeren  Wissens  erreichte  gesundheitliche 
und  ethische  Nutzen  wird  bald  in  die  Augen  springen. 

Zur  Sicherung  des  letzteren  gibt  der  Ministerialerlaß  noch  weitere  Finger- 
zeige, indem  er  dabei  „frischen  Gesang  von  Turn-  und  Wanderliedern" 
sowie  „Geländespiele  in  Form  einer  Schnitzeljagd  od.  dgl."  zur  Erhöhung 
der  „Freude  und  Ausdauer  der  Teilnehmer"  empfiehlt.  Den  Gesang,  diese 
beliebteste  Äußerung  deutschen  Gemütslebens,  nach  jener  Richtung  zu 
pflegen,  ist  in  dem  dafür  angesetzten  Unterricht  weniger  möglich  als  bei 


Schul-  und  aufgabenfreie  Halbtage  und  turnerische  Wanderungen.  235 

unmittelbarer  Empfindung  seines  die  Spannkraft  belebenden  Einflusses. 
Und  wenn  dadurch  allmählich  die  Texte  und  Weisen  der  am  öftesten  ge- 
sungenen Lieder  sich  dem  Gedächtnis  der  jugendlichen  Wanderer  ein- 
prägen und  zu  ihrem  dauernden  Geistesbesitz  werden,  so  ist  das  doppelt 
zu  begrüßen  in  einer  Zeit,  wo  das  Memorieren  von  Gedichten  als  Gedächtnis- 
überlastung angesehen  und  Liederbücher  gleich  allem  Gedruckten  kost- 
spielige Luxusware  zu  werden  beginnen.  Nur  darf  kein  Gesang  im  Augen- 
blick der  größten  Anstrengung  und  Ermüdung,  insonderheit  nicht  beim 
Anstieg,  wo  die  Fortbewegung  allein  den  vollen  Atemstrom  auslöst,  ange- 
stimmt werden,  vielmehr  gilt  es,  die  Jugend  auch  hierbei  „an  die  Beachtung 
der  für  das  Wandern  erprobten  Gesundheitsregeln  zu  gewöhnen".  Daß 
diese  auch  gebieten,  , .Alkohol-  und  Tabakgenuß  zu  meiden",  ist  geschulten 
Wanderern  schon  bekannt  und  wird  Neulingen  immer  wieder  durch  Dar- 
legung der  schädlichen  Wirkung  aller  Narkotika  auf  Herz,  Lungen  und  Blut- 
umlauf zu  veranschaulichen  sein.  Erfreulicherweise  ist  die  heutige  Jugend 
von  jenem  ehemaligen  Hauptsport  studierender  Jünglinge  mehr  und  mehr 
abgerückt  und  hat  Sinn  für  idealere  Genüsse  bekommen,  nicht  zuletzt 
zum  Schaden  ihres  heute  für  Notwendigeres  als  jene  qualitativ  verschlechterten 
Fabrikate  in  Anspruch  genommenen  Geldbeutels. 

Überaus  wichtig  für  Erhaltung  der  Leistungsfähigkeit  und  Stimmung 
beim  Wandern  ist  eine  geordnete  Fußpflege,  welcher  darum  der  Ministerial- 
erlaß gleichfalls  Beachtung  geschenkt  wissen  will.  Auch  darüber  werden 
die  meisten  Schüler  erst  aufgeklärt  werden  müssen;  insbesondere  über  die 
Notwendigkeit  sorgfältiger  Reinhaltung  und  womöglicher  Einfettung  der 
Füße,  öfteren  Wechsels  der  Strümpfe,  die  gerade  zum  Wandern  weich  und 
porös  sein  sollen,  und  vor  allem  bequemer,  undurchlässiger  Schuhe  mit  festen 
Sohlen.  Bei  der  heutigen  Kostspieligkeit  der  Fußbekleidung  wie  zum  Zweck 
der  Abhärtung  ist  das  Barfußgehen,  wann  und  wo  irgend  möglich,  zu  emp- 
fehlen, natürlich  nicht  auf  steinigen  Gebirgspfaden.  Ein  kurzes  Fußbad 
im  kalten  Bach  oder  See  mit  unmittelbar  folgender  Wiederanlegung  der 
Strümpfe  und  Schuhe  dient  gleichfalls  letzterem  Zweck  und  gehört  bei  an- 
strengenden Wanderungen  mit  zu  den  wohltuendsten  und  nachhaltigsten 
Erfrischungen.  Auch  über  die  zweckmäßigste  Beschaffenheit  der  übrigen 
Kleidung  und  Ausrüstung  beim  Wandern  werden  Belehrungen  angebracht 
sein.  Noch  wertvoller  ist  freilich  die  vom  Schüler  selbst  hierbei  gemachte 
Erfahrung. 

Die  Teuerung  und  geringe  Dauerhaftigkeit  der  Gewandung,  vornehmlich 
des  Schuhwerks,  bei  stärkerer  Abnutzung  ist  ein  Hauptbedenken,  und  ein  be- 
gründeter Einwand  vieler  Eltern  gegen  häufiges  Wandern;  noch  mehr  bei 
der  augenblicklichenKnappheit  oderPreislage  derLebensmittel  dieVerpflegungs- 
frage.  Andere  Mahlzeiten  als  Erfrischungen  durch  Kaffee  oder  Limonaden 
in  Wirthäusern  einzunehmen,  dürfte  bei  einer  größeren  Zahl  von  Wanderern 
heute  unmöglich  und  zu  kostspielig  sein.  Die  Mitgabe  von  ausreichendem 
Brot,  fettigem  Aufstrich  und  etwaigen  Beilagen  jedoch  ruft,  zumal  in  Pensionen, 
ernstliche  Schwierigkeiten  hervor,  die  bereits  zu  lauten  Beschwerden  ihrer 


236  Wahner, 

Inhaber  geführt  haben.  Das  Mitschleppen  von  Kochgeräten  aber  zum  Ab- 
kochen von  Kartoffeln  und  anderer  mitgenommener  oder  unterwegs  er- 
standener Speisevorräte  wird  in  den  seltensten  Fällen  anzuraten  sein.  Denn 
abgesehen  von  Ruderfahrten  und  von  Streifen  der  darauf  besser  eingerichteten 
Wandervogel-  und  Pfadfindergruppen  ist  es  viel  zu  umständlich  und  beraubt 
den  damit  Beschäftigten  der  Zeit  und  Lust  für  Naturgenuß  und  Betrachtung. 
Weniger  in  Frage  kommt  die  Erhöhung  der  Beförderungstarife,  weil  Bisen- 
bahn und  andere  Fahrgelegenheiten  außer  für  Rückfahrten  beim  Eintreten 
schlechten  Wetters  oder  übergroßer  Ermüdung  zu  benutzen  nicht  im  Sinne 
der  ganzen  Einrichtung  liegt. 

Verbieten  sich  somit  aus  doppeltem  Grunde  kostspielige  Bahn-  und 
Dampferfahrten  nach  weiten  Zielen,  so  heißt  es,  sich  auf  Wanderungen  be- 
schränken, die  vom  Durchschnitt  der  betreffenden  Klasse  oder  Gruppe  zurück- 
gelegt werden  können.  Nur  dann  würde  es  möglich,  auch  den  4.  und  5.  Jahr- 
gang, also  die  Sexta  und  Quinta  der  höheren  Lehranstalten,  daran  teilnehmen 
zu  lassen,  die  im  allgemeinen  zu  ihrem  Schmerze  davon  ausgeschlossen  bleiben 
sollen  und  doch  so  gern  mittun  möchten.  Zeit  haben  sie  mehr  als  ältere  Klassen 
dazu,  aber  dem  Mangel  an  Verständnis  und  Bedürfnis  für  Naturgenuß  geht 
in  diesen  Jahren  noch  nicht  körperliche  Leistungsfähigkeit  pararellel,  und 
leicht  könnten  zu  frühe  Muskelübungen  zum  Nachteil  der  noch  kostbareren 
Nervenkraft  erfolgen. 

Ohnehin  werden  Fälle  von  Überanstrengung  bei  aller  Vorsicht  in  der 
Bemessung  des  Wanderzieles  nicht  ausbleiben  infolge  der  verschiedenen 
Leistungsfähigkeit  der  Schüler  und  Schülerinnen.  Wenn  auch  in  Rücksicht 
darauf  in  der  Regel  klassenweise  gewandert  werden  soll,  so  herrschen  doch 
noch  innerhalb  derselben  Klasse  erhebliche  Altersunterschiede,  ja  aucli  inner- 
halb desselben  Jahrganges  ein  bunter  Wechsel  in  Größe  und  Leibeskraft. 
Deshalb  macht  es  soviel  nicht  aus,  ob  gerade  immer  jede  Klasse  für  sich 
wandert  oder  mehrere  Klassen  derselben  Stufe  gemeinsam,  nach  Neigungen 
und  engerer  Befreundung  in  Gruppen  gegliedert,  dem  gleichen  Ziele  zu- 
streben. Deren  Führung  durch  geeignete  Schüler  (Gruppenführer)  wird  zur 
Förderung  der  Unbefangenheit  der  Wandergesellschaft  wie  zur  Aufrecht- 
erhaltung der  Ordnung  nicht  wenig  beitragen  und  dem  begleitenden  Lehrer 
seine  Aufgabe  wesentlich  erleichtern. 

Die  beaufsichtigende  Teilnahme  eines  oder  mehrerer  Lehrer  erscheint, 
im  Gegensatz  zur  wohl  möglichen  Aufsichtslosigkeit  der  schul-  und  aufgaben- 
freien Halbtage,  unentbehrlich.  Sie  bedeutet  für  die  Lehrerschaft  ja  bei  dem 
gleichzeitigen  Ausfall  ihrer  Lehrstunden  keine  Mehrbelastung.  Das  geringe 
Opfer  einiger  freier  Nachmittagsstunden  oder  unbedeutender  Wanderkosten 
wird  reichlich  gelohnt  durch  den  dem  Berufsgelehrten  nicht  weniger  zuträg- 
lichen Aufenthalt  in  freier  Natur  wie  durch  den  EinbHck  in  die  gerade  bei 
Spaziergängen  dem  Erzieher  sich  erschließende  Zöglingsseele.  ,, Kilometer- 
und Tagegelder"  zu  fordern  i),  dürfte  ttotz  der  Berechtigung  des  Vergleichs 


^)  Vgi.  Philologenblatt  18.  Jahrg.  S.  221  und  371. 


Schul-  und  aufgabenfreie  Halbtage  und  turnerische  Wanderungen.  237 

mit  Außenterminen  und  Amtsreisen  anderer  Beamter  weniger  aussichtsreich 
sein;  erfolgreicher  der  gleichbegründete  Abzug  von  tatsächlicken  Unkosten 
bei  der  Einkommensveranlagung.  Bei  klassenweiser  Wanderung  wird  Be- 
gleiter wohl  meist  der  Klassenleiter  sein,  bei  solchen  nach  Sportgruppen 
oder  Schülervereinen  auch  andere,  z.  B.  technische  Lehrer  und  Vereins- 
protektoren. Namentlich  jüngeren  Lehrkräften  bieten  die  turnerischen 
Wanderungen  die  beste  Gelegenheit,  erziehliche  Beobachtungen  zu  sammeln 
und  durch  bereitwillige  Vertretung  älterer  oder  zu  anstrengenden  Ausflügen 
nicht  mehr  fähiger  Amtsgenossen  Kollegialität  zu  bekunden. 

Die  notwendige  Teilnahme  und  Beaufsichtigung  ganztägiger 
Märsche  führt  bei  ihrer  klassenweisen  Ansetzung  auf  verschiedene  Tage 
natürlich  zu  Unterrichts  Vertretungen,  die  sich  ja  unschwer  regeln  lassen, 
aber  doch  nicht  im  Interesse  des  ununterbrochenen  Fortschrittes  der  betrof- 
fenen Lehrfächer  liegen.  Unvermeidliche  Vertretungen  gibt  es  ohnehin  schon 
genug  in  jedem  Lehrkörper,  weshalb  der  gewissenhafte  Anstaltsleiter  weitere 
nach  Möglichkeit  wird  abzuwenden  suchen.  Am  einfachsten  und  wenigsten 
störend  für  den  Unterrichtsbetrieb  und  die  zur  Erreichung  seiner  Ziele  nötige 
Ruhe  ist  jedenfalls  wieder  die  gleichzeitige  Anberaumung  des  Wander- 
tages für  die  ganze  Schule,  ohne  daß  sie  zum  unumstößlichen  Gesetz  zu  werden 
braucht.  Ebensowenig  darf  es  zur  toten  Regel  werden,  den  Wandertag  mit 
dem  schul-  und  aufgabenfreien  Halbtag  zusammenzuwerfen,  will  man  nicht 
das  Mißtrauen  der  Schüler  wachrufen,  es  sei  auf  eine  wülkürliche  Verkür- 
zung ihrer  Schülerrechte  abgesehen,  wenn  auch  anderseits  bisweilen  eine 
Vereinigung  der  beiden  Benefizien  gerade  so  wie  ihre  klassenweise  verschie- 
dene Ansetzung  angezeigt  sein  wird.  Ein  Aufgabenerlaß  ist  mit  der  Ein- 
richtung des  Wandertages  nicht  verbunden  und  braucht  es  nicht  zu  sein, 
da  ihm  ja  ein  Nachmittag  mit  ausreichender  Freizeit  für  häusliche  Vorbereitung 
vorangeht.  Freilich  wird  nach  anstrengenderen  Märschen  die  Brauchbar- 
keit der  Wanderer  am  nächsten  Schultage  ähnlich  zu  wünschen  übrig  lassen 
wie  am  Wochenbeginn.  Daß  örtliche  Verhältnisse  ganztägige  Turnmärsche 
unmöglich  machen  sollten,  ist  kaum  anzunehmen,  wohl  aber  können  da  und 
dort  dauernde  oder  zeitweilige  Umstände  Beschränkungen  und  Verschiebungen 
verursachen.  Am  besten  findet  auch  hierüber  eine  Vereinbarung  zwischen 
Lehrerschaft  und  Elternbeirat  statt. 

In  vorstehender  Weise  gehandhabt,  werden  auch  diese  Maßnahmen 
der  Unterrichtsverwaltung  ohne  Gefährdung  und  Vernachlässigung  der 
eigentlichen  Lehrziele  die  körperliche  und  seelische  Ertüchtigung  unserer 
Jugend  fördern  und  mit  beitragen  zur  Gesundung  des  deutschen  Volkes 
und  Wiederaufrichtung  unseres  in  den  Staub  getretenen  armen  Vaterlandes. 

Glogau.  J.  G.  Wahner. 


IL  Bücherbesprechungen. 


a)  Sammelbesprechungen. 
Chemie  und  Mineralogie. 

Rippel,  J.,  Grundlinien  der  Chemie   für  Oberrealschulen.    II.  Teil. 

Organische  Chemie.    Dritte,  verbesserte  Auflage.   Mit  43  Abbildungen. 

212  Seiten.  Wien  1917.  Franz  Deuticke.  Preis  geb.  4  Kr. 
Der  reiche  Inhalt  des  Buches  ist,  wie  immer,  in  die  beiden  Abteilungen 
der  aliphatischen  und  der  zyklischen  Verbindungen  gegliedert.  Die  ali- 
phatische Reihe  gewährt,  durch  die  Einteilung  nach  der  Zahl  der  Kohlen- 
stoffe, eine  recht  vielen  Lehrbüchern  mangelnde  Klarheit.  Der  Verfasser  hat 
sich  bemüht,  auch  die  neuesten  Errungenschaften  auf  wissenschaftlichem 
und  technischem  Gebiete  demTexte  einzuverleiben ;  weshalb  er  aber  die  schönen 
Arbeiten  Emil  Fischers  über  die  Isomerien  der  Zuckerarten  stillschweigend 
hinweggeht,  ist  nicht  zu  verstehen.  Einer  neuen  Auflage  dürfte  wohl  auch  die 
Konstitution  der  Chlorophylls  nachWillstätter  nicht  fehlen.  Die  vielen  histo- 
rischen Anmerkungen  bilden  eine  empfehlenswerte  Vermehrung  des  Textes. 
Die  Ausstattung  des  Buches  ist  nicht  minder  zu  loben,  wie  die  ungeme'n 
klare  Darstellung  und  die  Erläuterung  durch  die  zahlreichen  Konstitutions- 
formeln. Wir  können  dem  schönen  Buche  nur  eine  weite  Verbreitung,  auch 
in  Deutschland,  wünschen. 

RIppel,  J.,  Grundzüge    der    Chemie    und    Mineralogie    für    die   IV. 
Klasse  der  Realschulen.    Vierte,  verbesserte  Auflage.    Mit  124  Abbil- 
dungen.    184  Seiten.    Wien  1917.    Franz  Deuticke.    Preis  3,80  Kr. 
Verfasser  gewährt  in  feinen   Grundzügen  der  Chemie  einen  weiteren 
Raum,  als  es  sonst  in  Österreich  für  diese  Stufe  der  Fall  ist.   Da  er  aber  auch 
die  wichtigsten  Mineralien  bespricht,  und  sogar  der  Chemie  der  Kohlenstoff- 
verbindungen einen  Abschnitt  widmet,  ist  der  Umfang  des  Buches  über  den 
dieser   Stufe  meist  zugewendeten   Raum    hinausgewachsen.     Die  Versuche 
sind   geschickt  ausgewählt  und  durch  gute  Textfiguren  erläutert.     Wo  es 
angeht,  ist  die  Technik  mit  herangezogen  worden.    Erwünscht  wäre  wohl 
eine  systematische  Zusammenstellung  der  im  Buche    zerstreuten  Kristall- 
formen. 

Ficker,  Gustav,  Leitfaden  der  Mineralogie  und  Chemie  für  die 
vierte  Klasse  der  Gymnasien  und  Realgymnasien.  Fünfte 
Auflage.  Mit  drei  farbigen  Tafeln  und  126  Abbildungen  in  Schwarzdruck. 
116  Seiten.    Wien  1917.     Franz  Deuticke.     Geb.  3,60  Kr. 


Mendelssohn,  Chemie  und  Mineralogie.  239 

Wie  der  Titel  besagt,  geht  auch  im  Text  die  Mineralogie,  so  weit  es  mög- 
lich ist,  der  Chemie  stets  voran,  so  daß  letztere  der  Mineralogie  mehr  als 
Erläuterung  dient.  Gleichwohl  ist  auch  auf  die  chemischen  Theorien  Bezug 
genommen  und  sogar  ein  kurzer  Abriß  der  organischen  Chemie  beigefügt. 

Die  Mineralogie  wird  überdies  durch  die  Gesteinskunde,  wenn  auch  nur 
in  Umrissen,  ergänzt.  Neben  den  zahlreichen  Textfiguren,  sind  die  hervor- 
ragend schönen  farbigen  Tafeln  einiger  Mineralien  und  des  Pasterzen- Gletschers 
lobend  hervorzuheben. 

Das  Büchlein  würde  in  der  Untersekunda  der  deutschen  Realanstalten 
dieselben  guten  Dienste  leisten,  wie  in  der  vierten  Klasse  der  österreichischen 
Anstalten. 

Hoffmann,  Josef,  Leitfaden  für  den  Arbeitsunterricht  der  Chemie 
und  Mineralogie  für  die  IV.  Klasse  der  Realschulen.  Mit  75  Ab- 
bildungen.   104  Seiten.    Wien  1918.    Franz  Deuticke.    Preis  kart.  4  Kr. 
Verfasser  hat  seinen  Leitfaden  auf  praktisch  heuristischer  Grundlage 
aufgebaut.    Der  Schüler,  resp.  eine  Schülergruppe,  finden  selbst  die  Eigen- 
schaften der  Körper  und  alle  Erscheinungen  bei  der  Einwirkung  verschiedener 
Agentien,  natürlich  unter  Oberleitung  des  Lehrers.  Der  Stoff  ist  in  35  Arbeits- 
gebiete zerlegt  und  die  Mineralogie  ist  hineingearbeitet.     Ungeachtet  des 
schön  ■  klingenenden  Begleitwortes,  verfällt  der  Verfasser,  wenn  es  anders 
kaum  möglich  wäre,  von  selbst  wieder  in  die  „rückständigen  Demonstrations- 
unterrichte", wie  ihn  Direktor  Donnemann  in  Barmen  bezeichnet. 

Die  Versuche  sind  dem  Schüler  in  den  einzelnen  Arbeitsgebieten  in  denk- 
bar kürzester  Form  angedeutet.  Wir  möchten  glauben,  daß  der  Anfänger, 
solchen  Bemerkungen  gegenüber,  meist  ratlos  dasteht,  und  der  Lehrer  den 
verfehmten  Demonstrationsunterricht  vielmals  statt  einmal  vormehnen  muß. 
In  den  Gleichungen  ist  nirgends  die  lonenschreibweise  angewendet.  In  einem 
kurzen  Anfange  kommt  auch  die  organische  Chemie  zu  ihrem  Recht.  In 
einer  Beilage  stellt  Verfasser  die  für  jedes  Arbeitsgebiet  erforderlichen  Rea- 
gentien  übersichtlich  zusammen. 

Steigen,  E.,  Einführung  in   das  chemische   Praktikum.    Zweite  Auf- 
lage.   Leipzig  u.  Wien  1917.    Franz  Deuticke.    143  S.    3  M. 

Der  Verfasser  wählt  im  ersten  Teile  des  Büchleins  die  wichtigsten  im 
Unterrichte  vorkommenden  Säuren  und  Metalle  aus,  an  denen  der  Schüler 
die  charakteristischsten  Reaktionen  kennen  lernen  soll.  Diese  Reaktionen 
sind  ausführlich  beschrieben  und  durch  Gleichungen  in  lonenschreibweise 
erläutert.  An  jedes  Kapitel  knüpfen  sich  einige  Denkaufgaben  und  Berech- 
nungen. Nachdem  im  zweiten  Teile  einige  Präparate  hergestellt  werden, 
ist  der  dritte  Teil,  allerdings  nur  in  aller  Kürze,  dem  analytischen  Gange 
gewidmet. 

Man  merkt  dem  Büchlein  den  erfahrenen  Lehrer  auf  Schritt  und  Tritt 
an  und  glauben  wir,  daß  das  Büchlein  auch  außenhalb  der  Schweiz,  für  die 
es  wohl  in  erster  Linie  bestimmt  war,  aufrichtige  Freunde  finden  wird. 


240  Mendelssohn,  Chemie  und  Mineralogie. 

Brunswig,  H.,  Die   Explosivstoffe,   Einführung  in  die  Chemie  der 
explosiven  Vorgänge.  Mit  8  Abbildungen  und  12  Tabellen.   152  Seiten. 
Dritte  verbesserte  und  vermehrte  Auflage.  Berlin  u.  Leipzig  1918.  Göschen- 
sche  Verlagsbuchhandlung.     Preis  1  M.  und  0,25  M.  Teuerungszuschlag. 
Das  in  dritter  Auflage  erscheinende  Büchlein  ist  in  erster  Linie  für  die 
Technik,  weniger  für  Kriegszwecke  geschrieben.   Es  hält  sich  deshalb  wesent- 
lich an  die  in  der  Technik  meist  verwendeten  Sprengstoffe.   Von  besonderem 
Interesse  sind  die  Kapitel  über  die  Sensibilität  der  Explosivstoffe,  über  den 
Initialimpuls  und  die   Initialsprengstoffe  und  endlich  über  die  neuerdings 
stark  in  den  Vordergrund  tretende  Verwendung  der  flüssigen  Luft  als  Spreng- 
stoff. 

An  zahlreichen  der  Praxis  entnommenen  Beispielen,  wird  die  Verwendung 
der  Explosivstoffe  und  die  Gefahren  bei  unsachgemäßer  Verwendung  der- 
selben demonstriert. 

Bei  dem  geringen  Umfang  des  Büchleins  muß  man  über  den  reichen 
Inhalt  desselben  staunen,  den  wir  hier  eben  nur  streifen  konnten. 

Müller,  Fritz  G.,  Theoretische  Kapitel  aus  der  allgemeinen  Chemie. 
Zweite  Auflage.  59  Seiten.  Zürich  1916.  Verlag  von  C.  Speidel.  2,50  M. 
Müller,  Fritz  G.,  Anhang.  Lösungen  zu  den  Übungen  1  —  100.  Zürich 
1916.    Verlag  von  C.  Speidel.    13  Seiten.    1,50  M. 

Das  Heftchen  enthält  einen  kurzen  Auszug  der  in  jedem  chemischen 
Lehrbuche  vorgesehenen  theoretischen  Kapitel.  Bei  der  ungemein  knappen 
Fassung  des  Heftchens,  wird  es  jedem  Schüler  anzuraten  sein,  sich  lieber 
seines  Lehrbuches  zu  bedienen,  um  sich  über  die  gewiß  nicht  leicht  zu  erfassen- 
den chemischen  Theorien  zu  orientieren. 

Ob  es  zu  billigen  ist,  daß  der  Verfasser  von  den  neuesten  Errungenschaften 
der  theoretischen  Chemie  bezüglich  des  Elementen-  und  Atombegriffes 
sowie  des  periodischen  Systems  und  des  Valenzbegriffes  gänzlich  absieht, 
ist  in  einem  Büchlein  aus  dem  Jahre  1916  wohl  zu  bezweifeln. 

Seine  100  Übungsbeispiele  sind  geschickt  zusammengestellt  und  die 
Lösungen  in  einem  besonderen  Heftchen  zugefügt. 

Mache,    Heinrich,    Die     Physik     der     Verbrennungserscheinungen. 

Mit  43  Abbildungen  im  Text  und  auf  2  Tafeln.    131  Seiten    Leipzig  1918. 

Verlag  von  Veit  u.  Comp.  Geh.  6  M.  und  25  %  Teuerungsaufschlag. 
Die  Physik  und  Chemie  der  Verbrennungserscheinungen  ist  seit  Bunsen 
und  Berthelot  zu  einer  besonderen  Wissenschaft  geworden.  Verhältnismäßig 
am  wenigstens,  hat  man  ich  bisher  mit  den  Formen  der  Flammen  und  der 
physikalischen  Erklärung  dieser  Formen  beschäftigt.  Der  Verfasser  liefert 
in  diesem  Buche  einen  wichtigen,  auf  Experimente  und  Berechnungen  ge- 
gründeten, Beitrag  zu  diesem  Kapitel,  insbesondere  mit  Rücksicht  auf  die 
Theorie  der  Verbrennungsmotoren  und  der  Feuerwaffen.  Diesen  beiden 
technischen  Verwendungen  entsprechend,  ist  der  Inhalt  des  Buches  in  die 


Eberhardt,  Paul,  Das  Buch  der  Stunde.  241 

beiden  Abschnitte  gegliedert,  welche  sich  mit  den  Verbrennungserscheinungen 
in  Gasen  und  an  festen  Körpern  beschäftigt. 

Dem  ersten  Abschnitt  legt  Verfasser  den  Bunsenbrenner  zugrunde, 
den  er  in  einfachster  Weise  abändert,  um  die  mannigfaltigsten  Erscheinungen 
an  der  Flammenform  zu  demonstrieren.  Er  wendet  sich  sodann  der  Ver- 
brennung in  geschlossenem  Gefäß  zu.  In  beiden  Fällen  werden  die  Verbrennung- 
geschwindigkeiten, die  Temperatur  und  die  Brennfläche  behandelt,  sowie 
die  Druckentwicklung,  infolge  der  schnellen  Verbrennung  der  Gasgemische. 

In  gleicher  Weise  verfährt  Verfasser  bei  der  Entzündung  und  Verbrennung 
vollständig  verbrennbarer  fester  Körper,  wie  des  kolloidalen  Schießpulvers. 
Er  untersucht  sodann  die  Bewegung  des  Geschosses  im  Rohr  während  und 
nach  der  Verbrennung  des  Pulvers.  Zum  Schluß  wird  die  hier  entwickelz 
Theorie  an  einem  Zahlenbeispiel  geprüft,  soweit  es  mit  den  schon  bekannten 
Daten  möglich  ist. 

Wer  in  dieses  noch  recht  wenig  bekannte  Gebiet  eindringen  möchte, 
wird  an  dem  mit  interessanten  Abbildungen  versehenen  und  äußerst  klar 
geschriebenen  Büchlein  des  Wiener  Verfassers  einen  trefflichen  Führer  finden. 

Mendelssohn. 


b)  Einzelbesprechungen. 

Eberhardt,  Paul,  Das   Buch  der  Stunde.    Eine  Erbauung  für  jeden  Tag 
des  Jahres,  gesammelt  aus  allen  Religionen  und  aus  der  Dichtung.  3.  durch- 
gesehene u.  teilw.  veränd.AufK    F.  A.Perthes.    Gotha  1921.    Geb.  24  M. 
Blätter  der  Stunde,  hrsg.  von  Paul   Eberhardt  u.  R.  Steglich.    Ebenda 
1921.    Fünfzehn  Hefte  der  1.  Reihe  in  Sammelkarton  30  JVl.,  jedes  Heft 
2  M. 
Wer  davon  überzeugt  ist,'  was  vorläufig  nur  für  einen  kleinen  Kreis  zu- 
trifft, daß  die  furchtbare  Schicksalswende  unseres  Volkes  zu  tiefst  gesehen, 
eine  Folge  der  Veräußerlichung  und  Entseelung  der  letzten  Jahrzehnte  war, 
der  wird  jedes  echte  Mittel  zur  Verinnerlichung  und  Beseelung,  zur  Zurück- 
führung  der  Überzivilisation  in  wahrhaftige  Kultur  mit  Freuden  ergreifen. 
Die  beiden  oben  angezeigten  Veröffentlichungen  bieten  ein  ganz  besonders 
wirksames  Mittel  in  dieser  Richtung  dar.  Schon  während  des  Krieges  erfüllte 
das  „Buch  der  Stunde"  zum    erstenmal  seine  schöne  Aufgabe;  die  rasch 
nötig  gewordene  3.  Auflage  beweist  am  besten  seinen  Erfolg:  Täglich  ein 
Wort,  einen  Vers  aus  den  heiligen  Schriften  —  und  die  Dichter  aller  Zeiten 
und  Völker  sind  hier  gleich  ihren  Propheten  —  in  die  Arbeit  und  den  Kampf 
desTages  mit  hineinzunehmen,  bedeutet  eine  höchst  wertvolle  Gabe;  und  daß 
es  eben  nicht  bloß  Bibel  und  Gesangbuch  ist,  die  diesen  Segen  spenden, 
entspricht  durchaus  der  Sehnsucht  unserer  heute  am  tiefsten  Ringenden; 
gerade  so  geht  das  Buch  auf  den  Sinn  alles  Seins  und  nicht  auf  die  Art  des 
Daseins.    Möchte  es  immer  noch  mehreren  seinen  reichen  Segen  spenden! 
Ein  recht  glücklicher  Gedanke  war  es,  solchen  Segen  für  Feiern  in  kleinerer 
oder  größerer  Gemeinschaft  durch  die  „Blätter  der  Stunde"  noch  reicher  zu 

Monatschrift  f.  hnh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  16 


242  Deutsches  Volk  und  Christusglaube,  angez.  von  B.  v.  Capitaine. 

gestalten.  Denn  freilich  gehört  Musik  zur  Vertiefung  jeder  Art  von  Andacht 
—  und  solche  vollzieht  sich  ja  nicht  nur  in  den  dafür  erbauten  Gotteshäusern. 
Jedes  jener  Blätter  enthält  abwechselnd  je  drei  kleinere  Dichtungen  und 
drei  Musikstücke,  denen  allen  sechs  immer  eine  Gesamtstimmung  zugrunde 
liegt.  Jede  Tages-  und  Jahreszeit,  jede  Seelenstimmung,  jede  Festesstimmung 
kommt  dabei  aufs  schönste  zur  Geltung:  in  dieser  einheitlichen  Gesamt- 
stimmung liegt  ein  eigenartiger  Zauber.  Die  einzelnen  Blätter  sind  als  Dar- 
bietung ihres  Inhalts  für  sich  oder  als  Umrahmung  von  größeren  Feiern  ge- 
dacht, wie  wiederholte  Proben  gezeigt  haben,  aufs  wirksamste  dafür  zu  ver- 
wenden. Oft  werden  sie  die  Anregung  zu  ähnlichen  Darbietungen  sein  können, 
wie  sie  selbst  sind.  In  der  Auswahl  der  Dichtungen  wie  der  Musikstücke, 
die  recht  viel  altes,  wenig  beachtetes  oder  doch  in  zu  kleinen  Kreisen  gepflegtes 
Musikgut  hervorholen,  hat  eine  recht  glückliche  Hand  gewaltet.  Als  Bei- 
spiel sei  der  Inhalt  des  S.Heftes  angeführt:  Pater  Seraphicus  und  Chor  seliger 
Knaben  aus  Faust  II.  Teil  — Adagio  der  Klaviersonate  op.  31,2  von  Beet- 
hoven • —  Sonnengesang  des  Franz  von  Assisi  —  Largo  aus  der  Violinsonate 
F-Dur  von  Händel  —  Proömion  von  Goethe  —  Ave  regina  coelarum  (alte 
historische  Weise),  aber  es  sind  eben  nicht  nur  etwa  religiöse  Töne  im  engeren 
Sinne,  sondern  alles,  was  von  Menschenstimmungen  zu  höherer  Weihe 
erhoben  werden  kann,  kommt  zum  Ausdruck.  Die  „Blätter  der  Stunde" 
seien  allen  Schulen  für  Feiern  ausdrücklich  empfohlen. 

Spandau.  Paul  Lorentz, 

Deutsches   Volk   und    Christusglaube.      Vorträge   von   Anton   Worlitscheck, 

Stadtpfarrprediger  in  München.    Freiburg.    Herdersche  Verlagshandlung. 

80.    VIII  u.  284  S.    4,  geb.  5  M. 

Den  dunklen  Hintergrund  dieser  kurzen,  packenden  Predigten  bildet 

der  Welt-  und  Völkerkrieg.     Insofern  ist  zu  bedauern,  daß  das  Werk  erst 

jetzt  gedruckt  worden  ist.  Aber  die  Vorträge  haben  mehr  als  Augenblickswert 

und  bieten  für  Geistlich  und  Weltlich  viel  Belehrung  und  manche  Anregung. 

Gerade  in  jetzige  Zeit  kann  jedes  Werk  besonders  begrüßt  werden,  das  zur 

Hebung  des  Deutschtums  und  zur  Belebung  des  Christentums  dient. 

Deutsche   Gebete.     Wie  unsere  Vorfahren  Gott  suchten.     Ausgewählt  und 
herausgegeben  von  Br.  Carro.    Dritte   Auflage.    9.— 14.  Tausend.     Frei- 
burg i.  Br.  1917.    Herdersche  Verlagshandlung.    238  S. 
Mit  einem  Geleitwort  des  Freiburger  Professors  Dr.  Engelbert  Krebs 
tritt  dieses  eigenartige  neue  Gebetbuch  seine  weitere  Wanderung  an.   ,, Selten 
sind  von  den  Fluren  unserer  Heimat  und  von  den  Blutäckern  ihrer  neuen 
Marken  so  viele  Gebete  zum  Himmel  emporgestiegen,  wie  jetzt  in  der  Größe 
und  Not  des  Krieges",  heißt  es  eingangs;  das  ist  ein  „tausendstimmiges 
Flehen  und  Rufen,  Danken  und  Sühnen,  Anbeten  und  Bitten",  das  grund- 
fromm und  „aus  deutschem  Herzen  kommend"  ist.     „Da  steigen  aus  der 
Diamantgrube  der  kirchlichen  Vergangenheit,  aus  den  Tiefen  des  mystischen 
Lebens  früherer  Jahrhunderte,  die  alten  Meister  des  Gebetes  empor.    Aus 


Deutscher  und  französischer  Katholizismus  usw.,  angez.  von  B.  v.  Capitaine.     243 

ihren  Worten  ist  hier  ein  vollständiges,  dem  täglichen  Gebrauche  dienendes 
Gebetbuch  zusammengestellt  worden."  Das  Buch  ist  eigenartig,  reichhaltig, 
und  verrät,  wie  beigegebene  Erklärungen  beweisen,  reichen  Sammelfleiß  und 
liebevolle  Ineinanderarbeitung.  „Möge  es  unsern  Kämpfern  draußen  und 
den  Betern  daheim  gleichermaßen  den  Schild  des  Glaubens  und  den  Helm 
des  Heiles  darreichen  und  alle  seine  Leser  näherbringen  der  Quelle  des  Lebens 
und  der  Stärke,  dem  Vater  des  —  Friedens." 


Deutscher  und  französischer  Katholizismus  in  den  letzten  Jahrzehnten.    Von 

Dr.  Heinrich  Schrörs,  Professor  der  katholischen  Theologie  an  der  Uni- 
versität Bonn.  Freiburg  i.  Br.  1917.  Herdersche  Verlagshandlung.  8''. 
XVI  u.  228  S.    Brosch.  4,  geb.  4,60  M. 

Das  feindliche  Ausland  setzt  nach  wie  vor  seine  Schmähungen  gegen 
Deutschland  und  zumal  seine  Angriffe  gegen  die  deutschen  Katholiken  fort. 
Gesellschaften  sind  gar  gebildet  und  Zeitschriften  gegründet,  die  grundsätz- 
lich diesen  Zwecken  dienen  und  vor  allem  auch  die  Neutralen  gegen  die 
Deutschen  und  die  deutschen  Katholiken  aufhetzen.  Diese  Vorgänge  darf 
der  Deutsche  nicht  unbeachtet  lassen,  und  es  ist  gut,  daß  sich  mancherseits 
berufene  Männer  zur  Abwehr  der  gehässigen  Entstellungen  gefunden  haben. 
Professor  Schrörs,  der  im  vorigen  Jahre  zur  Wahrung  der  deutschen  Ehre 
schon  seine  Stimme  erhob  in  dem  Buche :  „Das  christliche  Gewissen  im  Welt- 
kriege", tritt  mit  seiner  neuen  Arbeit:  ,, Deutscher  und  französischer  Katholi- 
zismus in  den  letzten  Jahrzehnten"  den  leidigen  Verleumdungen  unserer 
Feinde  mit  Waffen  und  in  einer  Form  entgegen,  die  alle,  welche  guten  Willens 
sind,  eines  Besseren  belehren  müssen.  Es  sind  zum  guten  Teile  hochbedeutende 
und  an  sich  achtenswerte  Männer,  gegen  die  seine  Schrift  gerichtet  ist,  aber 
gerade  das  Ansehen  und  die  Bedeutung  solcher  Größen  gibt  der  Wucht  ihrer 
Worte  eine  besondere  Kraft.  Darum  ist  es  gut,  daß  Professor  Schrörs  dem 
„Toben  gegen  Deutschlands  Katholiken"  bis  auf  seine  ersten  Anfänge  nach- 
geht und  an  der  Hand  der  geschichtlichen  Zeugnisse  das  Wachsen  und  An- 
schwellen der  Strömung,  die  in  ,,den  überhitzten  Nationalismus"  der  Franzosen 
ihren  Grund  hat,  verfolgt.  So  wird  freilich  die  Geschichte  dieser  fanatischen 
Trennung  durchaus  kein  Ehrenzeugnis  für  ein  Volk,  das  auf  seine  Geschichte 
stolz  und  auf  seinen  Katholizismus  eingebildet  ist.  Ruhig  und  klar  bespricht 
der  Verfasser  sodann  den  ,, Nationalismus  im  katholischen  Frankreich", 
,,Die  deutschen  Katholiken  im  französischen  Spiegel",  ,, Zentrum,  Reich 
und  Katholizismus",  ,, Krisen  im  französischen  Katholizismus",  „Ausblicke 
auf  di3  Lage  der  deutschen  Katholiken".  Wer  im  feindlichen  Lande  die  Stim- 
mungen erlauscht,  findet  die  Urteile  des  Bonner  Professors  allenthalben 
vollauf  bestätigt.  Die  Franzosen  sind  mit  Blindheit  geschlagen,  und  es  bleibt 
dabei:  Videntes  non  vident,  und  intelligentes  non  intelligunt.  Aber  sie  wollen 
es  ja  nicht  besser! 

Pier  (Düren).  Wilhelm  B.  v.  Capitaine. 

16* 


244  Günther,  Die  deutsche  Gaunersprache,  angez.  von  Jos.  Buschmann. 

Günther,  Dr.  L.,  Professor  a.  D.  der  Universität  Gießen.  Die  deutsche 
Gaunersprache  und  verwandte  Geheim-  und  Berufssprachen. 
238  S.  Leipzig  1919.  Verlag  von  Quelle  &  Meyer.  Preis  geh.  8  (9)  M. 
Der  Verfasser  hat  ein  Gutteil  der  von  ihm  in  Zeitungen  und  Zeitschriften 
veröffentlichten  Abhandlungen  über  die  deutsche  Gaunersprache  (Rot- 
welsch) und  verwandte  Geheimsprachen,  über  die  sogenannte  Kundensprache, 
über  die  Scharfrichtersprache  sowie  über  die  deutsche  Gemeinsprache  unter 
Berücksichtigung  der  Geheim-  und  Berufssprachen  gesammelt  und  einem 
größeren  Leserkreise  zugänglich  gemacht.  Das  gemeinsame,  bandenmäßige 
Auftreten  der  Gauner  und  ihr  unstätes,  zigeunerhaftes  Umherziehen  von 
Ort  zu  Ort,  früher  ein  wesentliches  Merkmal  des  Gaunertums,  ist  im  19.  Jahr- 
hundert größerer  Seßhaftigkeit  gewichen.  Ist  dadurch  die  Gaunersprache 
nicht  unbeeinflußt  geblieben,  so  ist  doch  der  Geist  dieser  Sprache  und  ihr 
Gesamtbild,  soweit  sich  darüber  nach  dem  vorliegenden  Wortschatz  urteilen 
läßt,  nicht  wesentlich  verändert  worden.  Immerhin  dürfte  es  den  Lesern 
erwünscht  sein,  sich  darüber  auch  durch  einzelne  zusammenhängende  Dar- 
stellungen aus  Gaunerhandschriften  zu  belehren.  Das  Buch  beschränkt 
sich  übrigens  keineswegs  auf  die  deutsche  Gaunersprache;  gelegentlich  läßt 
es  den  Leser  auch  einen  Einblick  in  die  Gaunersprache  anderer,  und  zwar 
nicht  bloß  europäischer  Völker  tun. 

Daß  die  Gaunersprache  in  der  Geschichte  unserer  Muttersprache  nicht 
unbeachtet  bleiben  darf,  kann  schon  in  Rücksicht  auf  die  ihr  entstammenden 
und  in  die  deutsche  Gemeinsprache  aufgenommenen  Wörter  und  Redens- 
arten nicht  zweifelhaft  sein.  Auch  der  Umstand,  daß  gut  deutsche  Wörter 
in  der  Gaunersprache  verwandt  und  durch  die  ihnen  dort  beigelegte  Bedeutung, 
entwertet  sind,  spricht  dafür,  daß  die  höheren  Schulen  damit  rechnen  müssen 
die  Schüler  gelegentlich  mit  solchen  Wortgeschichten  bekannt  zu  machen. 
Ein  Schulbuch  kann  Günthers  Werk  nicht  sein.  Doch  sollten  sich  Lehrer 
des  Deutschen  und  der  Geschichte  damit  bekannt  machen,  damit  sie  bei 
gegebener  Gelegenheit  den  für  den  Unterricht  bedeutsamen  Inhalt  ver- 
werten können.  Welche  sonderbaren  Gänge  in  der  Gaunersprache  übliche 
Redensarten  durchmachen  können,  ist  aus  der  Redensart  „wissen,  wo  Barthel 
den  Most  holt"  (sich  auf  alle  Kniffe  verstehen)  zu  entnehmen.  Ursprünglich 
hat  es  sich  nicht  um  Most,  sondern  um  Moos  (Geld)  gehandelt  und  war  Barthel 
kein  Eigenname,  sondern  der  Gattungsname  „Schoberbarter*,  d.  h.  Brech- 
eisen oder  Stemmeisen,  mit  dessen  Hilfe  das  Geld  von  den  Gaunern  gewonnen 
wurde. 

Koblenz.  Jos.  Buschmann. 

Frlckenhaus,  August,  Die    altgriechische    Bühne.     Mit  einer  Beilage 
von  Eduard  Schwartz     Schriften  der  Wissenschaftlichen  Gesellschaft  in 
Straßburg.    31.  Heft.    1917.    Karl  J.  Trübner.    97  S.,  27  Abbildungen, 
3  Tafeln.     16  M. 
„Nur  durch  einträchtiges  und  kollegiales  Zusammenarbeiten  des  Philo- 
logen, Architekten  und  Archäologen  kann  die  Theaterfrage  aus  dem  Sumpf, 


Frickenhaus,  August,  Die  altgriechische  EQhne,  angez.  von  A.  Stamm.  245 

in  dem  sie  z.  Z.  leider  steckt,  herausgezogen  werden  ,und  der  Archäologe  hat 
die  schöne  Aufgabe,  die  Resultate  der  mit  so  verschiedenen  Mitteln  arbeitenden 
Disziplinen  auszugleichen  und  zu  einer  Einheit  zu  machen",  sagt  der  Ver- 
fasser selbst  (S.  34  Anm.).  Das  ist  unzweifelhaft  der  richtige  Standpunkt. 
Noch  besser,  wenn  der  Philologe  zugleich  selbst  auch  Architekt  und  Archäologe 
genug  ist,  um  ihren  fachmännischen  Rat  mitverarbeiten  zu  können;  wie 
es  der  Verfasser  getan  hat.  Durch  eine  sorgfältige  Abwägung  und  Wertung 
aller  in  Betracht  kommenden  Momente  findet  er  ein  Ergebnis,  so  positiv, 
wie  es  z.  Z.  überhaupt  möglich  ist.  Denn  freilich  alle  Probleme  sind  noch 
nicht  gelöst. 

Die  Untersuchung  verfolgt  das  Drama  von  der  ältesten  Tragödie  bis 
zur  jüngsten  Komödie  (S.  1—30)  und  behandelt  dann  erst  die  eigentliche 
Theater-,  d.  h.  Bühnenfrage;  diese  in  umgekehrter  zeitlichen  Folge,  indem 
er  an  die  erhaltenen  Reste  der  Theaterbauten  anknüpft  und  rückwärts  schrei- 
tend die  Beschaffenheit  der  alten  nicht  mehr  vorhandenen  Bühnen  erschließt. 
So  gewinnt  er  die  Abschnitte:  Die  hellenistische  Bühne,  Die  Lykurgische 
Bühne,  Die  Bühne  des  5.  Jahrhunderts,  Der  älteste  Schauplatz.  Das  älteste 
Drama  bis  465  hatte  keine  gatjvt].  In  dem  „alten  Drama",  seit  465,  war  die 
mr]vr]  von  Holz  hinter  dem  Tanzplatz,  doch  war  ein  höheres  Stockwerk 
aufgesetzt  mit  1.  der  öiareyia,  2.  dem  d-eoloyelov,  d.  h.  einer  Loggia,  die 
nur  den  Oberteü  der  Götter  sehen  ließ;  das  Hineinschieben  mit  Rollen  brachte 
den  oft  betonten  Eindruck  des  ,,Fliegens"  hervor.  Die  ,, hellenistische" 
Bühne  setzt  der  Verfasser  an  350—50.  Ihr  sicherstes  Kennzeichen  ist  das 
Proskenion  vor  dem  Bühnenhause,  dessen  flaches  Holzdach  das  loysiov 
(„Sprechplatz")  bildet  (S.33).  Es  sind  da  (nach  Puchstein,  dem  sich  F.  an- 
schließt) drei  Gruppen  zu  unterscheiden:  die  östhche,  die  Rampenbühne, 
die  westliche  Bühne.  Dies  wird  an  Hand  der  literarischen  und  baulichen 
Reste  begründet.  In  dem  Streit  zwischen  Puchstein  und  Dörpfeld  entscheidet 
sich  F.  so,  daß  Puchstein  für  das  hellenistische,  Dörpfeld  für  das  athenische 
Theater  recht  behält.  ,,Dörpfelds  Ausgrabung  und  Publikation  des  athe- 
nischen Theaters  ist  schlechthin  ein  Meisterwerk"  (S.  58). 

Von  den  drei  Türen  der  ffxryv»;  geht  die  mittlere  nach  innen,  die  beiden 
äußeren  gehen  nach  außen  auf.  Dies  letztere  Ergebnis  ist  neu ;  der  Verfasser 
erschließt  es  aus  der  scharfsinnigen  Interpretation  einiger  Stellen  aus  den 
Tragikern  und  findet  Bestätigung  in  einem  Vasenbilde  (S.  9  Anm.  12).  Diese 
Bühne  blieb  auch  (gegen  Bethes  Ansicht)  über  427  hinaus,  was  sich  aus  der 
Untersuchung  sämtlicher  Stücke  der  Tragiker  und  des  Aristophanes  ergibt 
(S.  11—19).  Dagegen  findet  sich  in  der  neueren  Komödie  keine  Mitteltüre 
mehr  (genauer:  keine  dritte  Türe  mehr,  als  welche -man  eben  die  mittlere 
annimmt),  sondern  nur  zwei  (Seiten-)  Türen.  Auch  dies  wird  im  einzelnen 
an  den  erhaltenen  Stücken  festgestellt  (S.  20—28).  Nur  in  einem  einzigen 
Stück  des  Plautus  (Stichus)  finden  sich  drei  Häuser,  was  sich  (nach  F.  Leo) 
aus  der  Kontamination  verschiedener  Stücke  erklärt.  Im  Phormio  des  Terenz 
befindet  sich  das  erwähnte  dritte  Haus  außerhalb  der  Bühne.  Die  Bühne 
des  Menander  hatte  kein  erhöhtes  loyeiov  (Podium)  mehr,  sondern,  wie  bei 


246  A.  Meister,  Der  neue  Geschichtsunterricht,  angez.  von  Cauer. 

der  Bühne  des  Lykurg,  gleichen  Boden,  der  aber  zur  Verbesserung  der  Re- 
sonanz unterhöhlt  war.  Die  Bühne  des  Lykurg  hatte  zwar  noch  drei  Türen, 
davon  wurden  aber  nur  zwei  benutzt,  während  die  dritte  durch  einen  Vor- 
hang {naqani'KXG^ia)  verhängt  war. 

Von  den  zahlreichen  Abbildungen  sind  die  interessantesten  die  Tafeln  II 
und  III:  die  Wiederherstellung  des  Lykurgischen  Theaters  durch  den  Archi- 
tekten Schandler;  jedenfalls  spricht  nichts  dagegen,  daß  das  Theater  so 
ausgesehen  haben  könnte.  Die  mittlere  der  drei  Türen  ist  breit  und  hoch 
genug,  um  eventuell  das  Ekkyklema  in  Erscheinung  treten  zu  lassen.  Auch 
die  diareyla  und  das  ^eoXoyeiov  werden  durch  die  Tafel  gut  veranschau- 
licht. Weniger  überzeugend  ist,  was  der  Verfasser  gegen  die  Ttaqaa-Äiqvia 
sagt ;  dagegen  hat  er  sicher  recht,  wenn  er  die  zwischen  den  Säulen  von  manchen 
angenommenen  bemalten  Holztafeln  ablehnt. 

Scharf  und  fein  zusammenfassend  sagt  er  am  Schluß:  „Um  500  war 
die  Tragödie  ein  ^vfish-Kog  äyibv,  noch  kein  ay.'qvuog,  um  400  hätte  man 
beides  von  ihr  sagen  können,  um  300  war  das  ursprüngliche  Verhältnis  in 
ihr  Gegenteil  verkehrt**  (S.  87). 

Als  einen  kleinen  philologischen  Leckerbissen  fügt  F.  seiner  Schrift 
einen  Beitrag  von  Eduard  Schwartz  bei,  in  dem  dieser  in  seiner  bekannten 
geistvollen  und  scharfsinnigen  Betrachtungsweise  einige  Stellen  aus  den 
Menanderschen  Epitrepontes  als  Ergänzungen  zu  seinen  früheren  Erklärungen 
(gegen  Sudhaus)  deutet.  Die  Sache  steht  insofern  mit  der  vorliegenden  Arbeit 
in  Zusammenhang,  als  man  auch  hier  mit  zwei  Bühnenhäusern  (Türen) 
auskommt. 

Wenn  man  bedenkt,  daß  dieses  Buch  sozusagen  im  Schützengraben 
entstanden  ist  —  auch  der  Architekt  Schiander  stand  als  Unteroffizier  im  Felde, 
aber  nicht  mit  F.  zusammen  — ,  so  ist  es  eine  erstaunliche  Leistung.  Der 
reiche  Stoff  ist  mit  einer  Übersichtlichkeit  und  Klarheit  geordnet,  wie  es 
nur  der  Beherrscher  des  Stoffes  fertig  bringt;  sicher  sind  wir  der  Lösung 
der  schwierigen  Theaterfrage  durch  diese  hervorragende  Arbeit  erheblich 
näher  gerückt,  und  wir  dürfen  gespannt  auf  die  Fortsetzungen  sein,  die  uns 
der  Verfasser  hoffentlich  nach  seiner  Rückkehr  aus  dem  Felde  vorlegen  wird^). 

Planegg  b.  München.  Adolf  Stamm. 

A.  Meister,  Der    neue    Geschichtsunterricht.     In    Verbindung    mit 

A.  Behler,  A.  Pfennigs,  A.  Schiel,  S.  P.  Widmann  bearbeitet.   Berlin  1920. 

Union  Deutsche  Verlagsanstalt.     3  M. 

Es  muß  durchaus  zugegeben  werden,  daß  unser  Geschichtsunterricht 

bisher  nicht  durchweg  den  Anschauungen  der  Wissenschaft  und  der  Natur 

der  jugendlichen  Seelen  entsprach,  daß  in  der  Verherrlichung  der  Hohen- 

zoUern  an  manchen  Orten  zu  viel  geschah,  und  daß  eine  Auffassung,  die  in 

der  Errichtung  des  deutschen  Kaisertums  gewissermaßen  das  Ziel  mindestens 

der  deutschen  Geschichte  sah,  nach  dem  Sturze  dieses  Kaisertums  nicht  mehr 

haltbar  ist. 


*)  Geschrieben  1918. 


A.  Meister,  Der  neue  Geschichtsunterricht,  angez.  von  Cauer.  247 

Um  aus  dieser  Einsicht  für  den  Unterricht  von  Knaben  und  Mädchen, 
an  höheren  Schulen  und  Volksschulen,  die  wichtigsten  Folgerungen  zu  ziehen, 
hat  sich  ein  Professor  an  der  Universität  Münster  mit  Lehrern  und  Lehrerinnen 
verschiedener  Schulgattungen  vereinigt.  Die  Verfasser  wägen  die  Erfahrungen 
der  Vergangenheit  und  die  Forderungen  der  Gegenwart  besonnen  ab.  Viel- 
leicht hätten  sie  noch  entschiedener  den  Wert  der  Kriegsgeschichte  und 
Herrschergeschichte  auch  an  Mädchenschulen  betonen  können.  Wenn  man 
verlangt,  der  Geschichtsunterricht  solle  vor  allem  Kulturentwicklung  dar- 
stellen, so  übersieht  man,  was  auch  in  der  vorliegenden  Schrift  berührt, 
aber  wohl  nicht  in  voller  Bedeutung  gewürdigt  wird,  daß  ja  zu  der  geschicht- 
lichen Bildung,  die  wenigstens  eine  höhere  Schule  vermittelt,  der  Geschichts- 
unterricht im  engeren  Sinne  nur  einen  und  zwar  nicht  den  stärksten  Beitrag 
liefert.  Mehr  kulturgeschichthches  Verständnis,  als  der  beste  Geschichts- 
unterricht lehren  kann,  wird  im  deutschen  und  fremdsprachlichen  Unterricht 
erarbeitet.  Der  Schwerpunkt  im  eigentlichen  Geschichtsunterricht  muß 
nach  wie  vor  auf  der  Staatengeschichte  liegen,  und  diese  hat  auch  für  die 
Mädchen  an  Bedeutung  gewonnen,  seit  jedes  Mädchen  berufen  ist,  mit 
20  Jahren  Subjekt  der  Staatsgewalt  zu  werden.  Ein  Unterricht,  der  von 
Jüngern  deutscher  Wissenschaft  gegeben  wird,  kann  aber  die  Staaten  nur 
so  zeigen,  wie  sie  wirklich  gewesen  sind,  nicht  wie  sie  nach  den  Anschauungen 
gerade  mächtiger  Parteien  hätten  sein  sollen.  Und  alle  Staaten,  von  denen 
die  Geschichte  weiß,  waren  erfüllt  von  Machtkämpfen  und  begriffen  in  Macht- 
kämpfen, die  immer  wieder,  auch  nach  längeren  Zeiten  des  Friedens,  in  Kriegen 
gipfelten.  Es  würde  daher  eine  Geschichtsfälschung  sein,  wenn  die  kriege- 
rischen Entscheidungen  nicht  als  die  großen  Wendepunkte  des  Geschehens 
dargestellt  würden.  Auch  die  dramatische  Spannung  im  Verlauf  einzelner 
Kriege  und  selbst  einzelner  Schlachten  darf  der  Jugend  nicht  vorenthalten 
werden;  besonders  anschaulich  tritt  uns  ja  in  der  Kriegsgeschichte  die  Wahr- 
heit entgegen,  die  sich  auf  allen  Lebensgebieten  erkennen  läßt,  daß  der  Er- 
folg vom  Willen  und  zwar  vom  starken  Willen  abhängt;  der  starke  böse 
Wille  ist  stets  dem  guten  schwachen  überlegen. 

Unter  allen  Umständen  muß  der  letzte  Krieg  in  den  Hauptzügen  dar- 
gestellt werden,  und  zwar  nicht  trotz,  sondern  wegen  seines  furchtbaren 
Ausganges.  Wäre  er  von  Sieg  gekrönt  gewesen,  die  Taten  unserer  Heere 
und  auch  die  Leistungen  unseres  Volkes  könnten  vergessen  werden;  so  aber 
ist  es  Pflicht  der  Lehrer,  unseren  Toten  das  Gedächtnis  zu  sichern,  auf  das 
sie  Anspruch  haben,  und  in  einer  Gegenwart,  die  zu  keinerlei  Stolz  berechtigt, 
den  nationalen  Stolz  an  der  Vergangenheit  zu  nähren.  Dabei  müssen  sie 
auch  mit  allem  erdenklichen  Nachdruck  der  in  Versaüles  durch  die  Unter- 
schrift deutscher  Gesandter  bekräftigten  Verleumdung  entgegentreten,  die 
deutsche  Regierung  habe  diesen  Krieg  gewollt.  Die  Zerstörung  dieser  Lüge 
ist  auch  das  beste,  was  der  Unterricht  für  die  Versöhnung  der  Völker,  die 
die  Verfassung  fordert,  leisten  kann.  Nicht  eine  Verbrüderung,  wohl  aber 
eine  Verständigung  der  Völker  wäre  möglich,  durch  eine  Wissenschaft,  die 
das  Ringen  um  Macht  als  das  Wesen  aller  Staaten  anerkennt,  und  durch 


248  Aus  der  Volkshochschuljiteratur,  angez.  von  Paul  Lorenz. 

eine  Politik,  die  sich  selbst  unbefangen  zum  nationalen  Egoismus  bekennt 
und  eben  damit  dem  nationalen  Egoismus  der  Gegner  relative  Berechtigung 
zugesteht,  also  durch  Rankes  Wissenschaft  und  Bismarcks  Politik. 
Berlin.  Friedrich  Cauer. 

Aus  der  Volkshochschulliteratur. 

I.  Hilfsbücher  für  Volkshochschulen.  F.  A.  Perthes,  Gotha 
1920 — 21.  I.B.Bauch,  Anfangsgründe  der  Philosophie.  4M.  2.W.  Fränzel, 
Deutschland  im  Jahrhundert  Friedrichs  des  Großen  und  des  jungen  Goethe. 
8  M.  3.  J.  Leo,  Das  Werden  des  deutschen  Nationalbewußtseins  von  der 
Urzeit  bis  zur  Glaubensspaltung.  4M.  4.  P.  Klopfer,  Geschmackskunde. 
5  M.    5.  K.  Haase,  Angewandte  Seelenkunde.    5  M. 

II.  Veröffentlichungen  der  Dresdner  Volkshochschule,  hrsg. 
von  Dr.  Karl  Reuschel.  1.  Dr.  Ing.  Bloch,  Lohn-  und  Löhnungsarten. 
2  M.  2.  E.  Weicher,  Die  Dresdner  Landschaft.  2,70  M.  3.  Franz  Moc- 
krauer,  Anfangsgründe  der  Philosophie.     4  M.  und  Teuerungszuschlag. 

III.  Im  Preßverband  für  Deutschland,  Berlin-Steglitz,  Ab- 
teilung für  Volksbildung:  1.  Hermann  Werner,  Der  Zeitungsleser  und  die 
Zeitung,  o.  J.  2.  Otto  Maurer,  Die  Behandlung  des  deutschen  Schrift- 
tums in  der  Volkshochschule,  erläutert  an  Goethes,  „Hermann  und  Dorothea" 
Ebenda. 

IV.  Die  Bücherei  der  Volkshochschule,  hrsg.  von  Ministerial- 
direktor Dr.R.Jahnkein  Berlin.  Velhagen  &  Klasing.  Bielefeld  und  Leipzig. 
1920/21.  1.  K.  Albrich,  Einführung  in  das  philosophische  Denken.  2.  P. 
Ostwald,  Das  moderne  Japan.  3.  E.  Haring,  Aus  unseres  Volkes  Werde- 
gang. 4.v.d.Pfordten,  Einführung  in  Richard  Wagners  Werke  und  Schriften 
5.  Th.  Maß,  Einführung  in  das  öffentliche  Recht.  6.  H.  Welten,  Biolo- 
gische Streifzüge.  7/8.  Ueding,  Einführung  in  das  Verständnis  der  Malerei. 
9.  Th. Vorland  er,  Kant  und  sein  Einfluß  auf  das  deutsche  Denken.  lO.Rosen- 
d ah  1,  Das  Weltgebäude.  11.  Dr.  Anna  Siemsen,  Stilproben.  12.  E.  Blind, 
Die  Geschichte  der  großen  Entdeckungen. 

Die  Hochflut  der  Volkshochschulbewegung  beginnt  sich  allmählich  zu 
verlaufen.  Hat  der  stürmische  Drang  des  „Volkes"  nach  „Bildung"  nachge- 
lassen? Warum  wohl?  Vor  allem,  weil  es  gemerkt  hat,  daß  Bildung  ganz 
und  gar  nicht  ein  Gut  ist,  das  man  einfach  für  einen  bestimmten  Geldbetrag 
kaufen  und  dann  besitzen  kann,  um  je  nach  Bedarf  und  Gelegenheit  davon 
Gebrauch  zu  machen.  Durch  das  bloße  Anhören  volkstümlicher  Vorträge 
— so  war  leider  bei  den  meisten  Volkshochschulen  der  Betrieb  — erreicht  man 
eben  Bildung  nicht,  wenn  anders  diese  einzig  und  allein  besteht  in  der  „Lust 
und  Fähigkeit  des  Menschen,  sich  selbst  und  seine  besondere  Lage  zu  deuten 
und  zu  den  das  Einzelleben  überragenden  Mächten  in  das  rechte  Verhältnis 
zu  setzen"  (Otto  Wilhelm,  Von  der  deutschen  Volkshochschule).  Frucht- 
barer Volkshochschulbetrieb  kann  nur  in  der  Form  der  Arbeitsgemeinschaft 
erreicht  werden.  Und  diese  würde  am  vollkommensten  gestaltet  werden 
können,  wenn  sie  auf  einer  Lebensgemeinschaft  der  Teilnehmer  beruhte, 


i        Die  Stammformen  der  vergleichenden  Wirtschaftstheorie,  anger.  von  Schmidt.     249 

wie  das  bei  der  Form  der  dänischen  und  zum  Teil  auch  schon  bei  der  Thü- 
ringer Volkshochschule  der  Fall  ist.  Von  dieser  gibt  es  noch  keine  zusammen- 
hängenden Veröffentlichungen,  ebenso  auch  noch  nicht  von  der  Arndt-  und 
Schleiermacherhochschule,  die  den  Vorzug  haben,  daß  die  Hörer  doch  schon 
eine  geschlossene,  und  einheitliche  Grundeinstellung  zum  Leben  besitzen 
oder  anbahnen.  Die  Fichtehochschule  in  Hamburg  ist  hierin  tonangebend 
gewesen.  Bei  den  Hörern  der  obengenannten  Volkshochschulliteratur  handelt 
es  sich  fast  immer  um  solche,  die,  aus  den  verschiedensten  gesellschaftlichen 
Schichten  und  Berufen  stammend,  bemüht  waren,  die  Kenntnisse  zu  er- 
weitern und  zu  vertiefen,  am  ehesten  bilden  indes  eine  Ausnahme  die  unter 
III  genannten,  die  Behandlung  von  Goethes  Hermann  und  Dorothea  kann 
geradezu  musterhaft  genannt  werden.  Die  unter  IV  genannten  haben  den 
Vorzug,  daß  am  Schluß  jeder  Vorlesung  Wiederholungsfragen  gestellt  sind, 
die  hoffentlich  am  Anfang  des  nächsten  Vortrags  durch  die  Hörer  in  der 
Gemeinschaft  beantwortet  wurden.  Nicht  wenige  der  genannten  Hefte  be- 
handeln philosophische  Gegenstände,  die  ja  heute  besonders  „gefragt"  sind, 
um  diesen  greulichen  Kaufmannsausdruck  hier  zu  gebrauchen.  Am  ehesten 
gelungen  ist  die  Darbietung  bei  Albrich  (IV,  1),  Arbeiter  aber  als  Zu- 
hörer zu  denken  ist  auch  hier  schwierig,  kaum  möglich  erscheint  es  unter  andern 
bei  Bauch  (1,1)  und  Mockrauer  (II,  3),  wohl  aber  wieder  bei  der  überhaupt 
recht  gelungenen  angewandten  Seelenkunde  von  K.  Haase  (I,  5).  Sehen 
wir  eben  von  denen  ab,  die  sich  so  gern  allein  als  „Volk"  bezeichnen,  so  bieten 
die  meisten  jener  Hefte  reichste  Möglichkeit  zur  Erweiterung  der  Bildung, 
und  nachForm  wie  Inhalt  sind  recht  viele  auch  geeignet,  als  Vorbilder  für  den 
Unterricht  auf  höheren  Schulen  zu  dienen,  und  zwar  weniger  im  eigentlichen 
Klassenunterricht  als  in  den  freien  Schulgemeinschaften,  die  wir  ja  auch 
immer  stärker  vertreten,  so,  um  einige  Beispiele  zu  nennen,  die  Geschmacks- 
kunde von  Klopfer  (I,  4),  Einführung  in  Richard  Wagner  (IV,  4),  Einführung 
in  das  philosophische  Denken  von  Albrich  (IV,  1).  Wie  die  meisten  Verfasser 
dem  höheren  Lehrberufe  angehören,  so  sollte  die  höhere  Schule  dauernd  der 
Bewegung  der  Volkshochschule  ihre  Aufmerksamkeit  schenken. 

Spandau  Paul  Lorentz. 

Die   Stammformen    der    vergleichenden     Wirtschaftstheoric    von    Prof.   Dr. 
J.  Plenge,  erschienen  im  Verlag  von  G.  D.  Baedeker,  Essen,  in  der  Samm- 
lung „Staatswissenschaftlicher  Musterbücher". 
Nicht  mit  Unrecht  trägt  das  Büchlein  den  Untertitel,  „Grundbuch  der 
volkswirtschaftlichen  Ausbildung".     Es  enthält  eine  Zusammenstellung  der 
Stufentheorien  der  volkswirtschaftlichen  Klassiker  von  Aristoteles  bis  zur 
Gegenwart  und  beleuchtet  so  die   Entstehung  der  modernen,  verästelten 
Volkswirtschaft  in  dreifacher  Weise.    Nicht  historisch  ist  diese  Entstehung 
geschildert.   Unregelmäßig  zeichnet  sich  jede  Entwicklung  in  der  Geschichte. 
Der  Forscher,  der  streng  nach  dem  Ablauf  der  Zeit  die  Ereignisse  verfolgt, 
wird  nicht  immer  Fortschritt,  oft  Stillstand  und   Rückgang  festzustellen 
haben.  Stets  aber  sieht  er  ein  anderes  Bild,  und  erst  der  Vergleich  der  einzelnen 


250    Die  Stammformen  5er  vergleichenden  Wirtschaftstheorie,  angez.  von  Schmidt.        • 

geschichtlichen  Wirtschaftszustände  läßt  ihre  Ähnlichkeiten  erkennen.  Die 
volkswirtschaftlichen  Klassiker  schufen  nun,  nach  den  charakteristischen 
Ähnlichkeiten  der  aus  der  Fülle  des  geschichtlichen  Stoffes  herausgegriffenen 
Wirtschaftszustände  unter  Fortlassung  zufälliger  oder  nebensächlicher  Be- 
gleiterscheinungen, das  für  alle  diese  Zustände  typische  Bild  der  Entwick- 
lungsstufe. Eine  Kette  solcher  Entwicklungsstufen  stellt  nunmehr  die  Ent- 
wicklung einer  Wirtschaft  dar,  und  es  zeigt  sich,  daß  die  zeitliche  Aufeinander- 
folge der  einzelnen  Glieder  dieser  Kette  in  der  Geschichte  stets  die  gleiche 
gewesen  ist.  —  Grundverschieden  sind  die  Gesichtspunkte  nach  denen  die 
einzelnen  Forscher  ihre  Wirtschaftsstufen  gebildet  haben;  grundverschieden 
und  vielseitig  mithin  auch  die  Entwicklungsgesetze,  die  wir  in  dem  kleinen 
Buche  kennen  lernen.  Mit  Aristoteles,  Dikäarch,  Varro,  Adam  Smith, 
List  und  Marx  betrachten  wir  die  Entwicklung  unserer  Berufe  von  der  Tätig- 
keit des  nur  vom  Trieb  zur  Nahrungssuche  beherrschten  Wilden  bis  zur 
mannigfachen  Berufsspezialisierung  einer  kapitalistischen  Volkswirtschaft. 
Auf  Aristoteles  weiterbauend,  erörtert  Bruno  Hildebrand  eingehend  die  Be- 
deutung, die  die  Einführung  und  Ausgestaltung  des  Geldes  auf  das  Werden 
des  ganzen  Wirtschaftskörpers  gehabt  hat.  Er  unterscheidet  die  Entwick- 
lungsstufen „Natural-,  Geld-  und  Kreditwirtschaft".  Haben  wir  so  die  Ent- 
stehung des  heutigen  Wirtschaftskörpers  nach  der  Entwicklung  zweier  wich- 
tiger Teile,  der  Berufe  und  des  Geldes  verfolgt,  so  lesen  wir  im  folgenden 
bei  Schönberg,  wie  sich  während  dessen  auch  seine  äußere  Form  verändert, 
die  Wirtschaftseinheit  erweitert  hat.  Aus  der  geschlossenen,, Hauswirtschaft", 
die  alle  ihre  Bedürfnisse  selbst  zu  befriedigen  vermochte,  ist  über  die  , .Stadt- 
wirtschaft" hinaus  die  gewaltige,  moderne  „Volkswirtschaft"  geworden.  Das 
aus  dieser  Stufentheorie  gewonnene  Bild  der  Stadtwirtschaft  findet  noch  eine 
wertvolle  Ergänzung  durch  eine  anschauliche  Schilderung  des  Wirtschafts- 
lebens der  islamitischen  Städte  von  H.  Schurtz.  Eine  weitere  wesentliche 
Bereicherung  bedeutet  für  das  kleine,  übersichtliche  Werk  der  Schlußaufsatz 
des  Herausgebers :  „Das  Zeitalter  der  Hegemonie  und  das  Zeitalter  des  Kapi- 
talismus". Die  vorangehenden  Ausführungen  über  die  Wirtschaftsstufen 
schaffen  die  solide  und  unentbehrliche  Grundlage  für  jedes  volkswirtschaft- 
liche Verständnis.  Die  Schurtzsche  Darstellung  lehrt  praktisch  die  wissen- 
schaftliche, bis  in  die  kleinsten,  gewissermaßen  mikroskopischen  Einzel- 
heiten vordringende  Beobachtung.  Dieser  Schlußaufsatz  endlich  ist  vortreff- 
lich dazu  geeignet,  in  die  Technik  des  makroskopischen,  geschichtsumspannen- 
den  Sehens  einzuführen  und  den  mit  den  Entwicklungsgesetzen  vertrauten, 
in  sorgfältiger  Kleinbeobachtung  geübten  Blick  auch  für  weltgeschichtliches 
Wirtschaftsverständnis  zu  weiten. 

Alles  in  allem  sind  die  klassischen  Auszüge,  die  in  glücklicher  Auswahl 
in  dem  kleinen  Werke  vereinigt  sind,  durchaus  dazu  geschaffen,  in  kürzester 
Zeit  einen  festen  Grund  für  eine  sachgemäße  volkswirtschaftliche  Ausbildung 
zu  geben.  Gerade  dem  Philologen,  der  beabsichtigt,  demnächst  an  der  Er- 
teilung des  staatsbürgerlichen  und  volkswirtschaftlichen  Unterrichtes  teil- 
zunehmen, kann  dieses  kurze,  klare  und  inhaltsreicheBuch  als  erste  Einführung 


Am  Scheidewege,  Berufsbilder,  angez.  von  Lohmann.  251 

empfohlen  werden.  Es  erspart  die  mühevolle,  zeitraubende  Arbeit,  aus  den 
umfangreichen  klassischen  Werken,  die  nicht  einmal  überall  zur  Verfügung 
stehen,  die  grundlegenden  Stellen  heraus  zu  suchen.  Aber  auch  um  die  Schüler 
in  freiwilligen  Vortrags-  oder  Diskussionsstunden  in  das  volkswirtschaft- 
liche Verständnis  einzuführen,  kann  zu  keinem  besseren  Hilfsmittel  als  diesem 
Bande  gegriffen  werden.  Trefflich  eignen  sich  die  einzelnen  Aufsätze  wegen 
ihrer  Kürze  und  Klarheit  der  Sprache  zu  Schülerberichten.  Wenn  auch 
einzelne  der  klassischen  Auszüge,  aus  dem  Rahmen  der  Sammlung  heraus- 
genommen, einseitig  wirken  müssen,  so  ist  doch  gerade  in  der  Verschmelzung 
der  Forschungsergebnisse  solcher  Einseitigkeit  mit  dem  aus  den  anderen 
Ausführungen  gewonnenen  Gesamtbilde  für  den  Referenten  oder  eine  nach- 
folgende Diskussion  eine  lohnende  und  pädagogisch  wertvolle  Aufgabe  ge- 
geben. Die  Kunst  des  freien  Vortrags  wird  auf  diese  Weise  geübt  und  zwar 
an  einem  Objekt,  dessen  Kenntnis  lebenswichtig  und  notwendig  ist. 
Münster  i.  W.  Wilhelm  Schmitt. 

Am  Scheidewege,  Berufsbilder  (Sammlung  belehrender  Unterhaltungs- 
schriften für  die  deutsche  Jugend,  hrsg.  von  Direktor  Prof.  Liz.  Hans 
Volmer,  Hamburg,  Sonderreihe). 

Band  62.    Der   Oberlehrer.    Von  Dr.  H.  E.  Sieckmann. 
n  u.  81  S.    8°.    6  M. 

Band  63.  Der  Apotheker.  Von  Wilhelm  Jennrich.  76  S.  8°.  6  M. 

Band  64.    Der  Zeitungsschreiber.    Von  Thomas   Hübbe.    77  S. 
80.    6  M. 

Band  65.    Der  Schlosser.    Von  Peter  Ohlig.    75  S.    8».    6  M. 

Band  66.  Der  Buchdrucker.  Von  Friedrich  Bauer.  70  S.  S«.  6  M. 

Band  67.   Der  Arzt.   Von  Dr.  Carl  Happich.   86  S.    8«.    6  M. 

Verlag  von  Hermann  Paetel.    Berlin- Wilmersdorf. 

Dem  Herausgeber  darf  man  zweifellos  für  die  Veranlassung  dieser  Samm- 
lung sehr  dankbar  sein.  Sie  kommt  einem  dringenden  Bedürfnis  entgegen. 
Soll  die  Jugend  an  unseren  höheren  Schulen  zu  einer  wirklich  ernsthaften 
Besinnung  über  die  Berufswahl  kommen,  so  ist  es  nicht  genug  getan  mit 
2  bis  3  Vorträgen  im  Jahre  und  gelegentlichen  Winken  im  Unterricht;  den 
Schülern  müssen  auch  gute  Bücher  in  die  Hand  gegeben  werden,  damit  sie 
sich  aus  ihnen  eingehender  über  die  verschiedenen  Berufe  belehren  können. 
Die  sechs  Berufsbilder  aus  der  Sammlung  „Am  Scheidewege"  können  mit 
einer  Ausnahme  bedenkenlos  in  jede  Schülerbücherei  eingestellt  und  den 
Jungen  als  Lesestoff  empfohlen  werden. 

Leider  ist  diese  eine  Ausnahme  gerade  das  Bändchen  über  den  Ober- 
lehrer (62).  Es  ist  mit  warmen  Herzen  und  voller  Begeisterung  für  unseren 
schönen  Beruf  geschrieben.  Der  Form  nach  soll  es  eine  Anweisung  für  einen 
früheren  Schüler  des  Verfassers  sein,  der  wenige  Monate  vor  der  Reifeprüfung 
steht;  es  soll  ihm  gezeigt  werden,  wie  er  sich  innerlich  und  äußerlich  auf  den 
von  ihm  gewählten  Oberlehrerberuf  einstellen  muß.  In  manchen  Teilen 
kann  man  sich  mit  dieser  Anweisung  durchaus  einverstanden  erklären.   Ganz 


252  Am  Scheidewege.  Berufsbilder,  angez.  von  Lohmanti. 

treffend  sind  im  allgemeinen  die  Ausführungen  über  das  Verhältnis  von  Unter- 
richt und  Erziehung,  über  den  Geist  der  Wissenschaft  an  höheren  Schulen, 
über  das  Verhältnis  zu  den  Kollegen,  die  Schwere  des  Berufs,  die  Einschätzung 
des  Oberlehrers  in  der  Gesellschaft,  die  Schulzucht,  das  Pfuschen  der  Schüler, 
die  Schilderung  der  Lehrer-  und  Schüler  typen  u.  dgl.  Wenn  er  meint,  man 
müsse  sich  als  Lehrer  den  Schülern  gegenüber  auch  einmal  rein  menschlich 
geben,  so  wird  man  gewiß  nichts  dagegen  einzuwenden  haben.  Wenn  er 
aber  dem  Tertianer  erlauben  will,  seinen  Lehrer  im  Klassenzimmer  in  seiner 
Gegenwart  völlig  zu  karikieren,  und  ihm  zur  Belohnung  noch  25  Pf.  gibt, 
damit  er  in  Zukunft  die  Ähnlichkeit  durch  eine  Karnevalsnase  noch  größer 
machen  kann,  wenn  er  dem  Schüler  verraten  will,  daß  er  einen  entsetzlichen 
Kater  hat,  wenn  er  das  Realgymnasium  einen  Zwitter  nennt,  der  lebens- 
fähig nur  durch  den  Unverstand  der  Massen  bleibt,  so  werden  manche  Kollegen 
nicht  damit  einverstanden  sein,  und  sie  werden  sich  dagegen  sträuben,  das 
Büchlein  ihren  Schülern  in  die  Hand  zu  geben,  und  das  ist  bedauerlich.  Im 
ganzen  enthält  das  Bändchen  zu  viel  allgemeine  Betrachtungen  und  zu  wenig 
praktische  Winke.  Die  Ausbildung  zum  Oberlehrerberuf  und  die  wirtschaft- 
lichen Aussichten  sind  aus  einem  kleingedruckten  Anhang  zu  ersehen,  in 
dem  die  Prüfungsordnungen,  der  Normaletat  und  statistisches  Material  zu- 
sammengestellt sind.  Das  ist  ein  Knochengerippe,  das  der  Jugend  wahr- 
scheinlich wenig  schmackhaft  erscheinen  und  dem  sie  auch  wohl  vielfach 
verständnislos  gegenüberstehen  wird.  Die  Betrachtungen  über  die  Tragik 
des  Lehrers,  die  Tragik  des  Schülers  und  Autonomien  wären  aus  einem  solchen 
Buche  wohl  besser  fortgeblieben. 

Die  übrigen  Berufsbilder  habe  ich  nicht  nur  selbst  gern  gelesen;  auch 
die  Fachvertreter,  denen  ich  sie  zur  Durchsicht  übergab,  haben  sich  durchweg 
lobend  über  sie  geäußert. 

„Der  Apotheker"  (63)  ist  durchaus  geeignet,  den  jungen  Leuten 
einen  Einblick  in  die  Apothekerlaufbahn,  wie  sie  jetzt  ist,  zu  geben.  In  Zu- 
kunft wird  sich  freilich  das  eine  oder  andere  ändern.  Die  wissenschaftliche 
Ausbildung  wird  nach  Einführung  der  Reifeprüfung  als  Vorbedingung  wahr- 
scheinlich ganz  der  Universität  zufallen.  Die  Kosten  der  Ausbildung  werden 
dadurch  erhöht.  Die  wirtschaftliche  Zukunft  ist  unsicher.  Ein  vermögens- 
loser Anwärter  wird  kaum  vor  dem  45.  Lebensjahre  selbständig  werden 
können. 

Der  Verfasser  des  Zeitungsschreibers  (64)  hat  in  gedrängter  Form 
dem  Leser  ein  anschauliches  Bild  von  dem  Leben  und  Wirken  eines  Journa- 
listen gegeben  und  gezeigt,  mit  welchen  Widerwärtigkeiten  ein  Schriftsteller 
zu  kämpfen  hat,  wean  er  den  Beruf  mit  inae:er  Freudigkeit  ausüben  will 
und  wenn  er  sich  zum  Ziel  gesetzt  hat,  bildend  und  erziehend  auf  seinen 
Leserkreis  einzuwirken.  Über  manches  ist  wohl,  wegen  Raummangels,  kurz 
hinweggegangen.  Trotzdem  ist  das  Büchlein  allen  Schülerbüchereien  dringend 
zu  empfehlen. 

Der  Arzt  (67):  Der  Verfasser  steht,  wie  mein  Gewährsmann,  auf  dem 
Standpunkt,  daß  der  Ärzteberuf  stark  überfüllt  ist,  daß  aber  sehr  tüchtige 


Eduard  Spranger,  Gedanken  über  Lehrerbildung,  angez.  von  L.  Mackensen.      253 

Ärzte  noch  immer  ihr  Brot  finden  werden.  Mit  Recht  wird  sehr  ernstlich 
davor  gewarnt,  mit  erborgtem  Kapital  zu  studieren,  das  man  nachher  „aus 
gesicherter  Praxis"  zurückzuzahlen  gedenkt.  Daß  der  Student  der  Medizin 
sich  während  der  großen  Ferien  nach  englischem  Muster  als  Krankenpfleger 
gründlich  betätigen  soll,  ist  sicher  erstrebenswert,  aber  bis  jetzt,  wie  es  scheint, 
noch  nicht  durchführbar.  Selbstverständlich  sollte  es  sein,  daß  der  cand. 
med.  nicht  mit  mehr  als  40  Stunden  die  Woche  belastet  werden  darf.  Zu  dem 
Doktorexamen  ist  zu  bemerken,  daß  die  wissenschaftliche  Abhandlung  jetzt 
nicht  mehr  gedruckt  zu  werden  braucht.  Das  Pferd  für  den  Doktorwagen 
kostet  jetzt  nicht  mehr  lOOOO  bis  15000  M.,  sondern  20000  bis  26000  M. 
(S.  50).  Die  Taxen  für  ärztliche  Behandlung  (S.  57)  sind  erhöht.  Die  stu- 
dierten Zahnärzte  können  jetzt  den  Titel  Dr.  med.  dent.  erwerben  (S.  71). 
Das  Honorarabkommen  mit  den  Krankenkassen  ist  inzwischen  abgeändert 
(S.  84).    Das  Buch  ist  durchaus  zu  empfehlen. 

Das  Bändchen  „Der  Schlosser"  (66)  ist  etwas  überschwänglich  ab- 
gefaßt. Die  Schilderung  der  Lehre  eines  Schlosserlehrlings  ist  aber  wahr- 
heitsgetreu. Ich  empfehle  das  Buch  zur  Einstellung  in  die  Bücherei  der  Ober- 
tertia, vielleicht  auch  der  Untersekunda.  Wie  ich  höre,  fehlt  es  im  Schlosser- 
handwerk an  Lehrlingen  mit  guter  Schulbildung;  vor  allem  ist  Fertigkeit 
im  Zeichnen  erwünscht. 

Der  Buchdrucker  (65):  Nach  dem  Urteü  meines  Gewährsmannes 
ist  das  Buch  von  einem  tüchtigen  Fachmann  geschrieben  und  entspricht 
den  Tatsachen.  Das  Selbständigwerden  des  Buchdruckers  ist  zwar  augen- 
blicklich wegen  der  Riesenpreise  für  die  Maschinen  eine  schwierige  Sache, 
aber  wie  der  Verfasser  richtig  sagt,  werden  die  Zeiten  auch  wieder  besser 
werden.  Das  Bändchen  ist  für  die  Untersekunda,  vielleicht  auch  noch  für 
die  oberen  Klassen  zu  empfehlen;  denn  auch  der  spätere  Redakteur  fängt, 
wie  man  mir  sagte,  am  besten  von  unten  auf  als  Buchdrucker  an.  Unsere 
Schüler  sollten  jetzt  ganz  besonders  auf  Berufe  hingewiesen  werden,  die 
Kopfarbeit  und  Handarbeit  in  sich  vereinigen. 

Hoffentlich  bringt  der  Veriag  recht  bald  weitere  Bücher  dieser  Art  heraus. 

Flensburg.  Dr.  W.  Lohmann. 

Eduard  Spranger,  Gedanken  über  Lehrerbildung.  Leipzig  1920.  Quelle 
&  Meyer.  VIII  u.  71  S.  Geh.  2,50  M. 
DenBildungsgang  des  neuen  Lehrergeschlechtes,  das  der  Gedanke  derVolks- 
bildung  verfangt,  versucht  Spranger  in  der  vorliegenden  Schrift  zu  zeichnen. 
Mit  überzeugenden  Gründen  legt  er  dar,  daß  dieser  Weg  nicht  durch  eine 
pädagogische  Fakultät  führt  und  daß  eine  Lehrerfakultät,  zu  der  gewisse 
Kreise  die  philosophische  Fakultät  der  Universität  umgestalten  möchten, 
ein  Schaden  für  die  deutsche  Kultur  sein  würde.  Er  empfiehlt  die  Einrichtung 
vonBildnerhochschulen,auf  denen  der  künftige  Volkslehrer,  der  vor  allem 
Kultur-  oder  Bildungsträger  sein  muß,  seine  eigentümliche,  von  der  ge- 
lehrten Ausbildung  abweichende,  aber  darum  keineswegs  geringfügigere 
Ausbildung  erhalten  soll.    Diese  pädagogische  Hochschule  soll  kein  neues 


254  A.  Graf,  Los  vom  Philologismus,  angez.  von  L.  Mackensen. 

„Normalinstitut",  sondern  eine  wirkliche  Kunstakademie  mit  eignem,  durch 
die  in  der  Richtung  der  Volksbildung  liegenden  Gegenstände  bestimmtem 
Bildungsinhalt  sein.  Aus  feinsinnigen  Ausführungen  über  Bildung,  Bil- 
dungswerte und  Bildsamkeit  ergibt  sich  dem  Verfasser  der  organisatorische 
Aufbau  einer  solchen  Hochschule  in  eine  wissenschaftliche,  eine  technisch- 
künstlerische und  eine  praktisch-pädagogische  Abteilung,  alle  vereinigt 
durch  einen  aus  der  Sache  folgenden  Gemeinschaftsgeist.  Die  wissenschaft- 
liche Abteilung  wieder  zerfällt  in  eine  geisteswissenschaftliche  Gruppe,  für 
die  die  Fachverbindung  Deutsch  und  Geschichte,  und  eine  naturwissenschaft- 
liche Gruppe,  für  die  Mathematik  und  Naturwissenschaften  obUgatorisch 
sind.  Diese  theoretischen  Stammfächer  können  entweder  mit  weiteren  Fach- 
studien oder  mit  einer  künstlerischen  und  technischen  Ausbildung  (Zeichnen, 
Gesang  und  Musik,  Kunstgeschichte)  verbunden  werden;  hinzu  kommen 
für  jede  von  beiden  Gruppen  als  drittes  verbindliches  Fach  Pädagogik  auf 
philosophischer  Grundlage  sowie  praktisch-pädagogische  Übungen.  Der 
Kursus  der  neuen  Hochschule  umfaßt  drei  Jahre,  zwei  für  die  eigentliche 
Fachbildung  und  ein  drittes,  das  der  praktischen  Einführung  in  den  Beruf 
dient.  Die  Schwierigkeiten,  die  sich  bei  der  praktischen  Ausbildung  der 
jungen  Lehrer  dadurch  ergeben,  daß  im  dritten  Studienjahr  eine  große  Zahl 
von  Kandidaten  mit  zusammenhängenden  Lehraufgaben  betraut  werden 
müßten,  hat  Spranger  wohl  erkannt;  über  den  Weg,  sie  zu  beseitigen,  scheint 
aber  auch  er  sich  nicht  völlig  klar  zu  sein:  daß  man  mit  100  Kandidaten  im 
Jahr  auch  an  einer  sehr  großen  Schule  durchkommen  könne,  vermag  ich  nicht 
zu  glauben.  Hier  liegt  meines  Erachtens  der  schwache  Punkt  in  den  sonst 
so  praktischen  Ausführungen  und  Vorschlägen,  die  die  Beachtung  aller  maß- 
gebenden Kreise  verdienen.  Unzweifelhaft  hat  sich  der  Verfasser  mit  seiner 
Schrift  das  große  Verdienst  erworben,  daß  er  klar  und  überzeugend  nach- 
gewiesen hat,  daß  die  Forderung  der  Universitätsbildung  für  alle  Lehrer 
nicht  nur  ein  Ding  der  Unmöglichkeit  ist,  sondern  auch  gar  nicht  im  Interesse 
der  Lehrer  selbst  liegt,  ganz  abgesehen  davon,  daß  die  Umgestaltung  der  philo- 
sophischen Fakultät  in  eine  Volkslehrerbildungsanstalt  der  deutschen  Uni- 
versität ihren  Charakter  als  Forschungs-  und  Bildungsstätte  für  Gelehrte 
nehmen,  sie  zu  einem  „Großbetrieb  der  Kenntnisvermittlung*'  herabwürdigen 
und  Forschung  und  Wissenschaft  heimatlos  machen  würde. 

A.  Graf,  Los  vom  Philologismus!    Eine  Laienpredigt  über  die  Reform- 
Bedürftigkeit  unseres  Mittelschulwesens.     Nürnberg   1919.     Burgverlag. 
VHI  u.  69  S.    2,50  M. 
Der  als  Herausgeber  der  „Schülerjahre"  bekannt  gev^ordene  Verfasser 
zieht  auch  in  dieser  „Laienpredigt"  gegen  das  humanistische  Gymnasium 
und  die  Altphilologen  zu  Felde.  Vier  große  Grundmängel  des  humanistischen 
Gymnasiums  stellt  er  fest :  1 .  es  hat  in  seinem  heutigen  praktischen  Betriebe 
mit  dem  wahren  inneren  Wert  der  Antike  nichts  zu  tun  und  vermag  daher 
seiner  Aufgabe  der  Übermittlung  antiker  Bildungswerke  nicht  gerecht  zu 
werden,  2.  es  ist  unfähig,  seine  Schüler  zu  reinem,  edlem  Menschentum  im 


Eduard  Burger,  Die  experimentelle  Pädagogik  usw.,  angez.  von  L,  Mackensen.     255 

Sinne  formaler  Bildung  zu  erziehen,  3.  es  ist  wie  keine  andere  Schule  unserer 
Zeit  und  Kultur  entfremdet,  4.  es  ist  eine  philologische  Fachschule.  Das 
sind  schwerwiegende  Vorwürfe  gegen  eine  Schulart,  der  Tausende  und  Aber- 
tausende der  Besten  unseres  Volkes  ihre  Bildung  verdanken,  und  wenn  sie 
berechtigt  wären,  müßte  man  in  der  Tat  lieber  heute  als  morgen  mit  dem  Be- 
trieb der  alten  Sprachen  aufräumen!  Glücklicherweise  wird  jeder,  der  die 
höhere  Schule,  auch  das  Gymnasium  unserer  Zeit  auch  nur  einigermaßen 
kennt,  die  meisten  der  hier  erhobenen  Beschuldigungen  als  Übertreibungen, 
z.  T,  ganz  ungeheuerlicher  Art,  erkennen.  Der  Verfasser  schöpft  scheinbar 
nur  aus  einer  Quelle:  den  Erfahrungen,  die  er  selbst  als  Schüler,  d.  h.  als 
unfertiger,  unreifer  Mensch,  an  nur  einer  Stelle  gemacht  hat,  Erfahrungen, 
die  vielleicht  unerfreulich  genug  gewesen  sein  mögen,  die  ihm  aber  keines- 
wegs das  Recht  geben,  nun  über  alle  Gymnasien,  auch  die  von  heute,  den 
Stab  zu  brechen.  Die  Fortschritte,  die  gerade  in  den  letzten  Jahrzehnten 
in  sachlicher  und  methodischer  Hinsicht  gemacht  sind  und  viele  der  von  ihm 
gerügten  Übelstände  längst  hinweggefegt  haben,  kennt  der  Verfasser  ent- 
weder nicht  oder  will  sie  nicht  kennen,  nur  um  gegen  die  ihm  verleidete  Schule 
loswettern  zu  können.  Ich  kenne,  obwohl  seit  fast  25  Jahren  an  höheren 
Schulen  verschiedenster  Art  tätig,  keine  einzige,  an  der  der  Unterricht  in 
den  alten  Sprachen,  im  Deutschen  oder  der  Geschichte  in  so  rückständiger 
Weise  erteilt  würde,  wie  Graf  sie  schildert.  Ich  vermisse  in  der  Schrift  jeden 
neuen  schöpferischen  Gedanken:  der  Vorschlag,  der  für  Graf  der  Weisheit 
letzten  Schluß  bildet,  in  das  Wesen  der  Antike  durch  Lektüre  guter  Über- 
setzungen einzuführen,  ist  ebenso  oft,  wie  er  gemacht  wurde,  mit  triftigen 
Gründen  als  nicht  zum  Ziele  führend  zurückgewiesen;  ähnliche  Vorschläge 
für  den  Unterricht  im  Deutschen,  in  der  Geschichte,  Mathematik  und  den 
Naturwissenschaften,  über  die  Ausgestaltung  der  Oberstufe  oder  die  Be- 
handlung der  Schüler  in  den  Oberklassen  u.  a.  m.  sind  auch  von  anderer 
Seite  schon  oft  gemacht,  z.  T.  auch  bereits  durchgeführt.  Das  Bild,  das  der 
Verfasser  vom  Altphilologen  entwirft,  wenn  er  behauptet,  ,,daß  kaum  ein 
anderer  Beruf  sich  in  solchem  Grade  menschliche  Absonderlichkeiten,  Eigen- 
arten und  Verschrobenheiten  leistet,  so  sehr  durch  seineEinseitigkeit,Menschen- 
und  Lebensfremdheit  zurKarikatur  reizt,  hat  wahrhaftig  mit  dem  Altphilologen 
von  heute  nichts  mehr  zu  tun  — man  möchte  umgekehrt  dem,  der  ein  solches 
Trugbild  entwirft,  Menschen-  und  Lebensfremdheit  vorwerfen!  Die  Alt- 
philologen werden  sich  über  eine  solche  Charakteristik  zu  trösten  wissen; 
daß  der  Haß  gegen  sie  und  die  Gymnasien  den  Verfasser  aber  gar  verleitet, 
nur  um  ihre  Unfähigkeit,  tüchtige  Menschen  heranzubilden,  nachzuweisen, 
den  deutschen  Durchschnittsstudenten  „als  das  unwissendste,  reaktionärste 
und  dabei  noch  eingebildetste  Wesen  der  menschlichen  Gesellschaft"  hin- 
zustellen, als  einen  Menschen  mit  dem  Lebensideal  „Suff  und  Spiel  und  Mädels 
die  Menge"  ist  wirklich  unerhört. 

Eduard  Burger,  Die  experimentelle   Pädagogik  in   ihrer   Entwick- 
lung zur  neudeutschen  Pädagogik.    W.  A.  Lays  Gesamtpädagogik, 


256     Eduard  Burger,  Die  experimentelle  Pädagogik  usw.,  angez.  von  L,  Mackensen. 

nach  Entstehung  und  Bedeutung  auf  Grund  der  Quellen  kritisch  dar- 
gestellt. Wien  und  Leipzig  1918.  A.  Pichlers  Witwe  u.  Sohn.  V  u.  172  S. 
Das  Buch  ist  eine  Huldigungsschrift  für  W.  A.  Lay,  den  Begründer 
der  experimentellen  Pädagogik,  dessen  Persönlichkeit  und  Lebenswerk  ein- 
gehend und  mit  großer  Liebe  gewürdigt  werden,  und  bezweckt,  dem  hoch- 
verdienten Schulmann  und  Forscher  diejenige  Anerkennung  zu  verschaffen, 
die  ihm  mancher  Orten  noch  versagt  wird.  Der  Verfasser  behandelt  zunächst 
die  Anfänge  der  experimentellen  Pädagogik,  weist  sodann  die  praktische 
und  theoretische  Grundlegung  der  experimentell-pädagogischen  Forschungs- 
methode nach  und  zeigt,  wie  die  von  dieser  beherrschte  Pädagogik  sich  zu 
einer  neudeutschen  Gesamtpädagogik  entwickelt  hat.  Der  zweite  Teil  des 
Buches  beschäftigt  sich  mit  dem  Ausbau  und  der  Ausbreitung  der  neudeutschen 
Pädagogik,  die  die  vielen  pädagogischen  Sonderrichtungen  auf  gemeinsamem 
Boden  sammeln  und  der  Erziehungswissenschaft  eine  weitere  und  tiefere 
Grundlage  geben  will.  Der  Begriff  der  Erziehung  wird  von  ihr  gefaßt  als  wert- 
gemäße Leitung  der  körperlichen  und  geistigen  Entwicklung,  die  sich  auf 
das  gesamte  Leben  des  Menschen  erstreckt,  also  auch  die  Erziehung  der  Er- 
wachsenen, die  Erziehung  im  weiteren  Sinne  mitumfaßt.  Die  Bedeutung 
der  zur  politischen  Pädagogik  emporgewachsenen  neudeutschen  Erziehungs- 
wissenschaft, die  der  Reformpädagogik  unserer  Zeit  als  Neuorientierung 
dienen  und  einen  Treffpunkt  aller  pädagogischen  Strömungen  der  Gegenwart 
abgeben  soll,  wird  im  dritten  Teil  behandelt,  während  der  vierte  eine  Über- 
:icht  über  die  Veröffentlichungen  Lays  bringt  und  seine  bisherige  pädago- 
ijische  Gesamtleistung  würdigt. 

Burgers  Buch  gibt  eine  klare  und  übersichtliche  Einführung  nicht  nur 
in  das  Werk  Lays,  sondern  auch  in  die  Entwicklung,  das  Wesen  und  die  Auf- 
gaben der  experimentellen  Pädagogik  und  verdient  in  der  Tat,  vielen  ein 
„Führer  in  den  Irrnissen  und  Wirrnissen  der  modernen  Reformpädagogik** 
zu  werden. 

Berlin-Pankow.  L.  Mackensen. 


-e^Kl- 


Druck  von  C.  Sctiulze  ä  Co.,  a  m.  b.  H.,  Orafenbaiaicbeo 


I.  Abhandlungen. 


n.^ 


Philologen  und  Schulmänner. 

Die  Versammlung  Deutscher  Philologen  und  Schulmänner,  die  in  diesem 
Monat  September  nach  achtjähriger  Unterbrechung  zum  53.  Male  in  Jena 
zusammentritt,  stellt  schon  in  ihrem  Namen  eine  Vereinigung  von  Schule 
und  Wissenschaft  dar,  wie  sie  in  der  Zeit  der  Begründung  dieser  Zusammen- 
künfte selbstverständlicher  war  als  heute.  Damals  eine  verhältnismäßig 
geringe  Zahl  von  höheren  Schulen,  meist  Gymnasien,  mit  dem  Ziel,  zur  Uni- 
versität vorzubereiten,  Gelehrtenschulen,  die  auch  in  der  Arbeitsweise  sich 
nur  dem  Grade,  nicht  der  Art  nach  von  der  der  Hochschule  unterschieden. 
Die  Lehrer  nahmen  vielfach  produktiv  an  dem  Ausbau  der  Wissenschaft 
teil  und  standen  in  regem  Verkehr  mit  den  Professoren  der  Universitäten. 
Auf  diese  beiden  Gruppen  geht  wohl  der  Ausdruck  „Philologen" ;  aber  auch 
die  ,, Schulmänner"  hörten  nicht  auf,  sich  als  Gelehrte  zu  fühlen  und  in  deren 
Geist  zu  arbeiten.  Verschiedene  Ursachen  haben  zusammengewirkt,  diesen 
verhältnismäßig  einfachen  Zustand  zu  verändern.  Von  anderem  abgesehen, 
machte  sich,  wie  im  ganzen  staatlichen  Leben,  so  auch  hier  das  Problem  der 
Masse  geltend.  Die  Zahl  und  Größe  der  Schulen  und  Klassen  wuchs  unge- 
sund schnell,  viele  Unberufene  drängten  hinein,  und  bei  den  zeitweilig  gün- 
stigen Aussichten  des  Oberlehrerstandes  blieb  auch  er  nicht  frei  vom  ,, Brot- 
gelehrten",  dem  die  Wissenschaft  nicht  zuerst  die  hohe,  die  himmlische  Göttin 
ist.  Aus  dem  Lehrer  wurde  mehr  und  mehr  ein  Unterrichtsbeamter,  der 
zwar  materiell  besser  sich  stand  als  früher,  dafür  aber  auch  aus  großer  Frei- 
heit in  Abhängigkeit  von  Aufsichtsbehörden,  Gemeindeverwaltungen,  Lehr- 
plänen u.  a.  geriet  und  bei  peinlich  zugemessener  Arbeitszeit  in  der  Muße 
für  den  Dienst  an  der  Wissenschaft  eingeschränkt  wurde.  Die  Rücksicht 
auf  den  Massen  betrieb,  die  Verschiedenheit  der  Schulgattungen  und  das  nicht 
mehr  so  einfache  Abschlußziel  machen  es  verständlich,  daß  vielfach  das  Was? 
hinter  dem  Wie?  zurücktrat,  daß  das  Methodische  die  Wissenschaft  über- 
wog. In  den  80er  Jahren  hat  diese  Bewegung,  die  ihren  bemerkenswertesten 
Ausdruck  in  den  „Lehrproben  und  Lehrgängen"  fand,  eine  Art  Wellenberg 
erstiegen,  auf  den  ja  freüich  auch  das  Tal  wieder  gefolgt  ist.  Täusche  ich 
mich  nicht,  so  ist  die  Nachwirkung  im  Seminarbetrieb  und  in  der  Schul- 
aufsicht noch  nicht  überall  überwunden,  insofern  als  hier  das  Technische, 
das,  was  man  Lehrhandwerk  genannt  hat,  sich  mehr  als  nötig  vordrängt. 
Die  sog.  neusprachliche  Reform  trug  —  sicher  gegen  den  Willen  ihrer  Väter  — 
ja  auch  die  Gefahr  in  sich,  das  rein  Methodische  zu  stark  zu  betonen.  End- 
lich hat  der  Krieg  mit  seinen  Folgen  mit  dazu  beigetragen,  das  Band  zwischen 
Wissenschaft  und  Schule  zu  lockern.  Das  empfindet  niemand  schmerzlicher, 
als  die  große  Mehrzahl  derer,  die  für  ihr  Vaterland  kämpfend  jahrelang  aus 
dem  Studium  herausgerissen  wurden  und  dann  in  zusammengepreßter  Form, 
der  Not  gehorchend,  sich  für  die  Prüfungen  vorbereiten  mußten. 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  17 


258  Max  Siebourg, 

Erstes  Erfordernis  für  eine  gedeihliche  Tätigkeit  eines  Lehrers  an  höheren 
Schulen  ist  und  bleibt  eine  gründliche,  streng  fachwissenschaftlicfie  Erziehung 
auf  der  Universität.  Das  muß,  auch  abgesehen  von  dem  vorher  Dargelegten, 
gegenüber  starken  Strömungen  der  Gegenwart  immer  wieder  betont  werden. 
Auf  der  einen  Seite  das  verführerische  Schlagwort  von  dem  einheitlichen 
Lehrerstand  und  die  daraus  abgeleitete  Forderung  der  einheitlichen  Vor- 
bildung, bei  der  die  „Pädagogik"  in  den  Vordergrund  zu  treten  habe.  Auf 
der  anderen  Seite  die  leidenschaftlichen  Anklagen  gegen  die  rationalistische 
Wissenschaft  mit  ihrem  öden  Spezialistentum  und  ihrer  lebensfremden  Ver- 
einsamung. Besinnen  wir  uns  demgegenüber  auf  die  Tatsachen,  auf  die  nüch- 
terne Forderung  des  Tages.  Ich  gehe  dabei  nicht  weiter  auf  den  wesentlichen 
Unterschied  zwischen  Volks-  und  höherer  Schule  ein,  insofern  dort  das  Wie?, 
hier  das  Was?  vorwiegt.  In  24  Wochenstunden  muß  der  angehende  Ober- 
lehrer Unterricht  in  allerhand  Wissensgebieten  erteilen,  wofür  er  die  Kennt- 
nisse nicht  fertig  mitbringt.  Will  er  dabei  etwas  erreichen,  so  muß  er  über 
dem  Stoff  stehen,  sonst  bleibt  er  ein  Stümper;  er  muß  ihn  so  beherrschen, 
daß  er,  wie  man  sagt,  damit  spielen  kann.  Vermag  er  das  nicht,  so  ist  alles 
andere  nutzlos;  merken  die  Jungen  erst,  daß  ihr  Lehrer  in  diesem  Punkte 
nicht  sattelfest  ist,  so  wird  sein  Ansehen  untergraben,  und  die  Hauptauf- 
gabe, die  zu  erziehen,  kann  nicht  mal  angegriffen,  geschweige  denn  gelöst 
werden.  Wüßte  er  ein  ganzes  Lehrbuch  der  Pädagogik  auswendig,  es  hülfe 
ihm  nichts. 

Nicht  das  Wissen,  wohl  aber  das  Können  muß  die  Universität  durch 
ihre  fachwissenschaftliche  Erziehung  ihren  Zöglingen  dazu  mitgeben.  Ihre 
Aufgabe  ist,  fußend  auf  einer  entsprechenden  Vorbereitung  durch  die  höhere 
Schule,  zu  methodischem  Denken  und  Arbeiten  zu  erziehen,  zu  der  Fähigkeit, 
mit  selbständigem  Urteil  neue  Aufgaben  anzufassen,  an  den  Stoff  die  richtigen 
Fragen  zu  stellen,  die  Probleme  zu  sehen  und  die  passenden  Hilfsmittel 
zu  wählen.  Ich  wüßte  nicht,  wie  das  anders  zu  erreichen  wäre,  als  durch  Übung 
und  Schulung  an  begrenzten  Aufgaben  einer  geeigneten  Fachwissenschaft; 
wobei  ich  mich  wohl  nicht  noch  besonders  gegen  die  Meinung  zu  verwahren 
brauche,  daß  ich  damit  die  Tätigkeit  der  Universität  als  erschöpft  ansähe. 
In  mehr  als  30 jähriger  Erfahrung  als  Lehrer,  Direktor  und  Verwaltungs- 
mann habe  ich  es  immer  wieder  bestätigt  gefunden,  daß  die  jungen  Amts- 
genossen, die  gründlich  in  der  angegebenen  Weise  auf  der  Universität  vor- 
bereitet waren,  in  der  Regel  auch  gute  Lehrer  wurden  und  sich  gegenüber 
den  weiteren  und  breiteren  Aufgaben  der  Schule  bald  zurecht  fanden.  Auch 
in  denen  der  Erziehung:  die  geborenen  Erzieher  sind  wohl  so  selten,  wie  die 
Dichter;  man  bilde  sich  doch  nicht  ein,  daß  die  ausgesprochenen  Begabungen 
hier  häufiger  wären,  wie  auf  anderen  Gebieten.  Wollte  man  nur  solche  zu 
unsern  Schulen  zulassen,  diese  würden  bald  an  empfindlichstem  Lehrer- 
mangel zugrunde  gehen.  Wir  andern,  wir  Durchschnittsmenschen,  die  wir 
uns  der  wahrhaft  königlichen  Kunst  der  Seelenbildung  widmen,  wir  brauchen 
darum  nicht  zu  verzagen.  Einiges,  und  gewiß  nicht  Unwesentliches,  gibt 
die  Erziehung  zu  wissenschaftlicher  Arbeit  auch  schon  dafür  mit :  unbestech- 


Philologen  und  Schulmänner.  259 

liehe  Wahrheitsliebe,  Sachlichkeit,  Selbstbescheidung,  nicht  ermüdenden 
Fleiß  und  die  Gewöhnung,  den  Schwierigkeiten  nicht  aus  dem  Weg  zu  gehen. 
Wer  in  dem  Geiste  an  sich  selbst  immer  weiter  arbeitet,  der  wirkt  durch 
sein  Beispiel  erziehlich. 

Insbesondere  aber  ist  das  Können,  das  die  fachwissenschaftliche  Bildung 
erzielen  soll,  gerade  heutzutage  gegenüber  den  Fragen  der  Bildung  und  Er- 
ziehung notwendig.  Wir  sind  wieder  in  einen  von  starken  pädagogischen 
Interessen  belebten  Zeitabschnitt  eingetreten.  Die  bildungsfrohen  Forderungen 
der  verschiedensten  Richtungen  der  Gegenwart  schwirren  durcheinander 
und  verdichten  sich  zu  Schlagworten,  die  einer  klaren  Erfassung  der  Ziele 
manchmal  eher  hinderlich  als  förderlich  sind  und  daher  Gefahren  mit  sich 
bringen  können,  wo  es  sich  um  praktische  Gestaltung  handelt.  Hier  gilt 
es  vor  allem  mit  der  strengen  Methode  nüchterner  Wissenschaft  den  Dingen 
auf  den  Grund  zu  gehen  und  die  Spreu  von  dem  Weizen  zu  sondern.  Wer 
aber  wäre  dazu  berufener,  als  die  Männer,  die  die  Forderungen  der  Theorie 
in  die  Praxis  umsetzen  sollen  und  die  die  geistigen  Mittel  zu  der  Untersuchung 
mitbringen.  Einheitsschule,  Arbeits-  und  Produktionsschule,  Erlebnisunter- 
richt, Gesamtunterricht,  Gabelung,  Wahlfreiheit,  Deutschkunde  —  das 
sind  so  einige  der  vollklingenden  Begriffe  und  Losungen,  die  dringend  der 
Klärung  bedürfen.  So  würde  ich  z.  B.  fragen,  ob  der  Gegensatz  Arbeits- 
und Lernschule  —  angeblich  ist  diese  der  Typus  der  Vergangenheit,  jener  der 
der  Zukunft  —  überhaupt  klar  aufgestellt  ist.  Ist  denn  Lernen,  rein  rezeptives 
Lernen  nicht  auch  ein  tüchtiges  Stück  geistiger  Arbeit,  des  Erarbeitens? 
Für  welche  Stufen  der  jugendlichen  Entwicklung,  für  welche  Stoffe  ist  das 
eine  oder  das  andere  mehr  passend?  Wo  und  wie  ist  beides  zu  vereinen? 
Ist  die  Arbeitsgemeinschaft  der  einzig  richtige  Weg,  um  Selbständigkeit 
zu  erzielen,  die  geistigen  Führer  heranzubilden,  die  wir  so  bitter  nötig  haben? 
Waren  die  Männer,  die  vor  vielen,  vielen  Jahren  die  häusliche  Präparation 
einführten,  diesem  Ziele  nicht  näher?  Wie  ist  vor  allem  die  eigene  selbständige 
Arbeit  zu  Hause  auf  einsamer  Stube  im  Rahmen  derSchulerziehung  zu  fördern  ? 
Es  wäre  zu  wünschen,  daß  bei  solchen  Untersuchungen  das  Muster  Nach- 
folge fände,  welches  Theodor  Litt  jüngst  mit  der  Erörterung  der  „Gleich- 
wertigkeit" gegeben  hat^).  Ohne  gründliche  fachwissenschaftliche  Vorbil- 
dung wird  das  freilich  nicht  möglich  sein. 

Noch  einem  Einwurf  muß  ich  begegnen,  der  gegen  die  letztere  wohl 
erhoben  wird.  Man  befürchtet,  der  Geist  öden  Spezialistentums  würde  un- 
heilwirkend sich  bei  entsprechend  vorgebildeten  Lehrern  auch  weiterhin 
in  der  bildnerischen  Arbeit  der  Schule  geltend  machen;  und  dem  hat  ja  die 
ganze  Zeitrichtung  leidenschaftliche  Fehde  angesagt.  Zunächst  —  ich  würde 
es  gewiß  nicht  für  ein  Unglück  halten,  wenn  der  eine  oder  andere  innerhalb 
eines  Kollegiums  Zeit  und  Kraft  findet,  sich  schöpferisch  auf  einem  Sonder- 
gebiet der  Wissenschaft  mitzubetätigen.  Selbst  die  Sehnsucht  und  das  Streben 
eines  solchen  Amtsgenossen  nach  der  akademischen  Laufbahn  würde  ich  ge- 


1)  Neue  Jahrbücher  1921  II  81  ff. 

17* 


260  Eduard  Spranger, 

wiß  nicht  verurteilen  oder  hemmen;  im  Gegenteil,  beide  Bildungsanstalten, 
die  Hoch-  und  die  Mittelschule,  würden  ihren  Nutzen  davon  haben.  Das 
sind  die  schlechtesten  nicht,  die  noch  eine  Sehnsucht  im  Herzen  tragen. 
Sodann,  die  methodische  Erziehung  der  Universität  hätte  ihren  Zweck 
verfehlt,  wenn  sie  ihren  Schülern  nicht  die  Fähigkeit  und  das  Pflichtgefühl 
dafür  mitgäbe,  in  einem  neuen  Wirkungskreis  auch  die  neuen  Aufgaben 
zu  erkennen  und  zu  ihrer  Lösung  anzuspornen.  Endlich  aber,  das  was  die 
Universität  zu  leisten  hat,  geht  erst  recht  heutzutage  wert  über  die  fach- 
wissenschaftliche Bildung  hinaus.  Ich  kann  diese  Gedanken  hier  nicht  weiter 
verfolgen  und  darf  nur  vorläufig  auf  die  Ausführungen  hinweisen,  die 
Theod.Litt  zu  diesem  Heft  beigesteuert  hat^).  Erwähnen  möchte  ich  nur  noch, 
daß  die  Arbeit  der  zweijährigen  Vorbereitungszeit  auf  das  nachdrücklichste 
das  fortsetzen  muß,  wozu  die  Hochschulzeit,  wenigstens  die  richtig  ange- 
wandte, den  Grund  legte. 

,, Philologen  und  Schulmänner",  sie  finden  sich  in  diesen  Tagen  zu  ge- 
meinsamer Arbeit  zusammen.  Die  wissenschaftliche  Forschung  und  die  Praxis 
der  Erziehung  der  Teile  unsrer  Jugend,  aus  denen  vor  allem  die  Führer  her- 
vorgehen müssen,  treten  in  einen  für  beide  Teile  fruchtbaren  Gedanken- 
austausch. Von  der  Erkenntnis,  daß  beide  Gruppen  zusammengehören, 
waren  die  Begründer  der  Versammlung  erfüllt.  Mag  auch  in  der  weiteren 
Entwicklung  zeitweilig  eine  gewisse  Entfremdung  eingetreten  sein,  —  daß 
diese  heute  überwunden  ist,  das  hat  aufs  deutlichste  auch  nach  außen  hin 
die  Reichsschulkonferenz  gezeigt.  Unsre  Zeitschrift  ist  von  jeher  für  die 
enge  Verbindung  von  Wissenschaft  und  Schule  eingetreten  und  wird  der  Ver- 
wirklichung dieser  Forderung  auch  fernerhin  ihre  Kraft  widmen.  Sie  darf 
daher  aus  vollem  Herzen  der  Tagung  der  deutschen  Philologen  und  Schul- 
männer ein  Glückauf  zurufen. 

Pfaffendorf  bei  Koblenz.  Max  Siebourg. 


Die  drei  Motive  der  Schulreform'). 

In  der  widerspruchsvollen  Welt  der  heutigen  Schulreformbestrebungen 
findet  man  sich  nur  zurecht,  wenn  man  den  soziologischen  Motiven  der  Er- 
scheinungen nachgeht.  Ich  verstehe  aber  in  den  folgenden  Ausführungen 
unter  einer  soziologischen  Betrachtung  nicht  die  Zurückführung  der  Schul- 
programme auf  die  historisch  gegebene  Schichtung  der  Gesellschaft  oder 
auf  die  offiziellen  Parteikundgebungen,  auch  nicht  ihre  Ableitung  aus  den 
standespolitischen  Interessen  einzelner  Lehrergruppen.  Vielmehr  ist  es 
meine  Absicht,  die  Abhängigkeit  der  modernen  Gedankenbildungen  auf  diesem 
Gebiete  von   allgemeinsten  soziologischen   Strukturprinzipien   zu   erörtern, 


^)  Siehe  unten  S.  274. 

*)  Der  Aufsatz  bezieht  sich  nur  auf  Strömungen,  die  heute  bereits  vorhanden  und 
deutlich  erkennbar  sind.  Der  Verf.  glaubt  nicht,  daß  das  Wünschenswerte  in  ihnen 
schon  erschöpft  sei.  Weitergehende  Forderungen  zu  begründen,  behält  er  jedoch  einem 
anderen  Zusammenhang  vor. 


Die  drei  Motive  der  Schulreform.  261 

die  die  Gesellschaft  des  19,  und  20.  Jahrhunderts  beherrschen.  Es  handelt 
sich  dabei  keineswegs  um  bloße  Theorien  vom  Seinsollenden,  sondern  um 
Grundkräfte,  die  in  der  Bewegung  der  Gesellschaft  selbst  richtunggebend 
und  gestaltend  wirken.  Sie  können  im  Bewußtsein  des  einzelnen  Schulre- 
formers auch  dann  aufeinandertreffen,  wenn  sie  eigentlich  entgegengesetzte 
Tendenzen  bedeuten,  die  sich  in  einer  rein  begrifflich  gefaßten  Theorie  aus- 
schließen würden.  Das  Irrationale  aber,  das  theoretisch  Widerspruchsvolle, 
kann  in  der  lebendigen  Bewußtseinsverfassung  gerade  die  entscheidende 
Eigentümlichkeit  begründen.  Nur  kommt  man  an  sie  nicht  anders  heran 
als  dadurch,  daß  man  das  Gewirr  durcheinanderlaufender  Linien  zunächst 
einmal  auflöst  und  einige  Grundrichtungen  darin  festhält. 

Die  geistige  und  gesellschaftliche  Gesamtbewegung,  in  der  wir  uns  heute 
befinden,  ist  durchaus  eine  Fortsetzung  jener  früheren,  die  in  der  Regel 
nach  der  großen  französischen  Revolution  benannt  wird.  Sollte  in  der  Gegen- 
wart etwas  grundsätzlich  darüber  Hinausgehendes  liegen,  so  doch  jedenfalls 
nur  als  Keim,  nicht  im  Sinne  des  Reifseins,  wie  man  1789  von  dem  Reif- 
gewordensein einer  Jahrhunderte  lang  vorbereiteten  geistigen  und  gesell- 
schaftlichen Entwicklung  sprechen  konnte.  Wir  wählen  daher  als  Ausgangs- 
punkt die  historische  Schicht,  die  durch  die  französische  Revolution  und 
die  Stein-Hardenbergsche  Reform  bezeichnet  ist.  In  Wahrheit  ragen  noch  drei 
ältere  geistig-gesellschaftliche  Schichten  bis  in  das  Bildungsleben  und  die 
Bildungspolitik  der  deutschen  Gegenwart  hinein :  die  katholisch-kirchliche  Ein- 
stellung zu  Seele,  Gesellschaft  und  Bildung,  die  orthodox-protestantische 
Konfessionalität  und  Kirchlichkeit  des  16.  Jahrhunderts,  und  darüber  als 
dritte  Schicht  der  absolute  Beamtenstaat  und  die  Aufklärung,  denen  beiden 
dies  gemeinsam  ist,  daß  sie  an  die  Rationalisierbarkeit  aller  Lebensgebiete 
glauben,  die  aber  insofern  eine  innere  Spannung  enthalten,  als  die  Aufklärung 
noch  über  die  Formen  des  absoluten  Staates  hinaustreibt  und  den  bleibenden 
Rahmen  für  die  immanente  Weltanschauung  auch  der  nachrevolutionären 
Zeit  abgibt  1).  Mit  der  Nachwirkung  dieser  drei  Schichten  ist  schon  eine 
Problematik  gegeben,  die  eine  einheitliche  Lösung  der  Schulorganisations- 
fragen  eigentlich  ausschließt :  Es  stehen  sich  mit  unversöhnlichem  Anspruch 
gegenüber  jenseitige  Weltanschauung  und  diesseitige  Weltanschauung;  und 
im  Gefolge  davon :  Kirche  und  Staat,  wennschon  die  Schwere  dieses  letzten 
Problems  auf  protestantischem  Gebiete  bisher  durch  die  Verflechtung  beider 
Verbände  zur  Staatskirche  verdeckt  war. 

Aber  von  diesen  Gegensätzen,  die  sich  heute  noch  sehr  scharf,  besonders 
in  der  Volksschule,  auswirken,  soll  im  folgenden  nicht  die  Rede  sein.  Viel- 
mehr stellen  wir  unseren  Blick  nur  auf  die  drei  geistigen  Schichten  ein,  die 
sich  auf  dem  Boden  der  vor  110— 130  Jahren  neu  geschaffenen  Gesellschafts- 
ordnung gebildet  haben  und  sich  ausschließlich  auf  soziologische  Diesseits- 


*)  Die  Soziologie  des  französisch-englischen  Positivismus  kann  als  eine  geradlinige 
Fortsetzung  der  Aufklärung  bezeichnet  werden,  die  immer  starke  empirische  Bestandteile 
enthalten  hat. 


262  Eduard  Spranger, 

Probleme  beziehen.  Sie  aber  sind  auch  für  die  Gestaltung  der  höheren  Schule 
von  entscheidender  Bedeutung.  Als  Leitfaden  mag  uns  zunächst  die  lose 
Anknüpfung  an  eine  Parole  dienen,  die  in  der  französischen  Revolution 
selbst  formuliert  wurde  und  die  in  der  Tat  drei  in  ihr  enthaltene  Tendenzen 
ganz  gut  bezeichnet:  Freiheit,  Gleichheit,  Brüderlichkeit.  Alle  drei 
Motive  schlummern  schon  in  der  großen  Revolution.  Sie  treten  aber  in  der 
Folgezeit  eine  nach  der  anderen  in  den  Vordergrund  der  Gesellschaftsbildung, 
ohne  daß  das  früher  herrschende  Moment  deshalb  ganz  verschwände.  Viel- 
mehr sind  heut  noch  alle  drei  in  der  Form  von  Bewegung  und  Gegenbewegung 
lebendig,  und  die  Problematik  der  Schulreform  beruht  auf  der  Gleichzeitig- 
keit dieser  inhaltlich  keineswegs  gleichsinnig  gerichteten  Kräfte. 

Freiheit  ist  das  soziologische  Grundprinzip  des  Liberalismus.  An- 
fangs noch  erscheinend  in  der  Form  pflichtmäßiger  Gebundenheit  oder  doch 
eingeordnet  in  eine  angebliche  Harmonie  der  gesellschaftlichen  Kräfte,  ent- 
faltet es  sich  immer  mehr  zur  Anerkennung  weitgehender  Rechte  der  In- 
dividualität in  Staat  und  Gesellschaft.  Sofern  damit  ein  Hinauswachsen  der 
reicheren  Individualität  über  den  Durchschnitt  gefordert  ist,  bedeutet  das 
Prinzip  der  Freiheit  nicht  nur  einen  individualistischen,  sondern  auch  einen 
aristokratischen  Grundsatz.  In  entgegengesetzter  Richtung  wirkt  das  Prinzip 
der  Gleichheit.  Soll  sie  der  freien  Konkurrenz  gegenüber  aufrechterhalten 
werden,  so  bedarf  es  dazu  einer  zentralen  Staatsmacht,  die  auf  dem  —  min- 
destens juristisch  —  gleichen  Willen  aller  aufgebaut  ist  und  somit  eine  ho- 
mogene Masse  von  grundsätzHch  gleichwertigen  und  gleichartigen  Individuen 
voraussetzt.  Dies  ist  das  Grundprinzip  der  Demokratie,  die  zugleich 
individualistisch  und  staatsbejahend  gerichtet  ist.  Je  nach  dem  Überwiegen 
der  individualistischen  oder  der  zentralistischen  Kräfte  haben  wir  den  Typus 
der  liberalen  oder  der  sozialen  Demokratie.  Schon  die  erste  muß  Anstalten 
treffen,  um  die  Freiheit  durch  Gleichheit  zu  ermöglichen;  die  zweite  aber 
gewährleistet  die  Freiheit  durch  eine  ausdrückliche  gleichmachende  Organi- 
sation, so  daß  im  Enderfolg  die  Gleichheit  den  Vorrang  vor  der  Freiheit  er- 
hält. —  Endlich  das  Motiv  der  Brüderlichkeit.  Es  setzt  zwischen  den  Menschen 
ein  Band  inneren  Wesens,  nicht  nur  das  Verhältnis  äußerer  Gleichheit  bei 
sonst  individualistischer  Vereinzelung  oder  bloß  staatlicher  Organisation. 
Denn  das  Gemeinschaftserlebnis  läßt  sich  nicht  durch  staatsrechtliche  Maß- 
nahmen erzeugen.  Es  quillt  aus  der  Fülle  und  Tiefe  des  Herzens.  Deshalb 
entspricht  dieser  soziologischen  Einstellung  auch  kein  einfaches  politisches 
Programm.  Freiheit  mag  man  gewähren;  Gleichheit  mag  man  wenigstens 
rechtlich  herbeiführen  können;  Brüderlichkeit  aber  liegt  jenseits  alles  juristisch 
Bewirkbaren.  Sie  ist,  wo  sie  erscheint,  ein  organisch  Gewachsenes.  Und 
so  wollen  wir  den  soziologischen  Typus,  der  dieser  Einstellung  entspricht, 
als  organischen    Sozialismus  bezeichnen. 

Überblicken  wir  die  soziologische  Entwicklung  des  19,  Jahrhunderts 
in  Deutschland,  so  steht  an  seinem  Anfang,  energisch  gegen  den  überlieferten 
absoluten  Staat  gewandt,  der  Liberalismus.  Mit  dem  Jahre  1848  und  seinen 
deutschen  Einheitsbestrebungen    tritt   daneben   bereits   der   demokratische 


Die  drei  Motive  der  Schulreform.  263 

Gedanke  deutlicher  hervor,  der  sich  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahrhunderts 
immer  stärker  von  der  liberalen  zur  sozialistischen  Prägung  entwickelt. 
Aber  naturrechtlich  im  Sinne  mechanisch-juristischer  Konstruktion  bleibt 
er  auch  da,  wo  er  sich  in  das  „wissenschaftliche"  Gewand  der  marxistischen 
Geschichtsphilosophie  kleidet.  Erst  auf  dem  Boden  der  jüngsten  Jugendbe- 
wegung entfaltet  sich  seit  dem  Anfang  des  20.  Jahrhunderts  Gemeinschafts- 
erlebnis und  Gemeinschaftskultur.  Und  dieser  Sozialismus  fühlt  vor  aller 
Theorie  dunkel  seinen  Gegensatz  gegen  die  parteimäßige  Sozialdemokratie: 
es  ist  ein  anderes  Menschentum  und  ein  anderer  Stil  des  Lebens,  der  sich 
hier  hindurchringt. 

Die  gleichen  Leitmotive  finden  wir  nun  auch  in  der  Entwicklung  der 
Bildungsideale  und  der  Schulpolitik.  Sie  setzen  nacheinander  ein;  sie  bleiben 
aber  nebeneinander  lebendig  und  bilden  zuletzt  in  den  Bewegungen,  die  der 
Revolution  von  1918  folgen,  ein  Gewirr  von  höchst  verwickelter  Linien- 
führung. Dem  Liberalismus  entspricht  hier  das  Ideal  der  frei  entfalteten 
Individualität;  der  Demokratie  der  Einheitsschulgedanke  in  seiner 
ursprünglichen  Bedeutung;  einer  bestimmten  neuen  Form  des  Sozialismus 
entspricht  das  Gemeinschaftsideal. 

I.  Das  deutsche  Schulwesen  wird  im  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
von  Humboldt,  Süvern  und  Schleiermacher  auf  der  Grundlage  des  Humanitäts- 
gedankens aufgebaut.  Humanität  bedeutet  damals  allgemeine  Menschen- 
bildung, die  jedoch  Individualisierung  nicht  ausschließt,  sondern  geradezu 
fordert.  Aus  der  abgelaufenen  Epoche  des  absoluten  Staates  bleibt  freüich 
die  feste  staatliche  Organisation  erhalten,  und  sie  erreicht  für  das  Bildungs- 
wesen unter  Johannes  Schulze  vielleicht  ihren  Gipfel.  Aber  als  Träger  dieses 
Staates  erscheint  doch  schon  die  reich  entfaltete  Persönlichkeit,  die  sich 
mit  universalem  Gehalt  gesättigt  hat.  Man  glaubt  noch,  durch  eine  scharf 
zentralisierte  Staatserziehung  Persönlichkeiten  züchten  zu  können.  Man 
denkt  vor  allem  an  die  nationale  Individualität,  wenn  man  die  Idee  des 
allgemeinen  Menschentums  individualisiert.  So  entsteht  als  das  typische 
Bildungsideal  dieses  mit  dem  Staat  ausgesöhnten  Liberalismus  der  Gedanke 
der  voll  und  reich  entfalteten,  von  nationalem  Kulturgehalt  erfüllten  Per- 
sönlichkeit. Auf  ihrem  vollendeten  Menschentum,  so  glaubt  man,  beruhe 
zugleich  das  vollendete  Bürgertum.  Eine  besondere  staatsbürgerliche  Er- 
ziehung scheint  daher  überflüssig  und  ist  tatsächlich  auch  1848  nur  von  den 
Demokraten,  nicht  von  den  Liberalen  gefordert  worden.  Die  Bildung  an 
nationaler  Geschichte,  Dichtung  und  Kultur  wurde  bereits  als  politische 
Bildung  betrachtet.  Denn  der  ,, Mensch"  ist  es,  der  den  Staat  trägt,  nicht  aber 
darf  (nach  liberaler  Theorie)  der  Staat  den  Menschen  für  seine  Zwecke  formen. 

Der  Weg  führt  von  diesem  nationalen  Liberalismus  zu  immer  weiterer 
Differenzierung  und  Befreiung  der  Einzelpersönlichkeit.  Mit  dem  Ideal 
der  allgemeinen  harmonischen  Menschenbildung  muß  man  seit  der  zweiten 
Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  brechen.  An  die  Seite  der  einen  humanistischen 
Schulform,  des  Gymnasiums,  treten  zuletzt  Realgymnasium  und  Ober- 
realschule als  moderne  Formen  der  „allgemeinen",  aber  doch  schon  speziali- 


264  Eduard  Spranger, 

sierten,  Menschenbildung.  Selbst  die  Berufsschule  bricht  sich  wieder  stärker 
Bahn,  und  in  der  Abstufung  nach  Begabungen  zeigt  sich  die  wachsende 
Rücksichtnahme  auf  individuelle  Anlagen. 

Während  des  Weltkrieges  wird  als  entscheidende  schulpolitische 
Losung  der  Gedanke  verkündigt:  „Freie  Bahn  dem  Tüchtigen".  Sofern 
darin  die  Freiheit  der  Individualität  gegenüber  den  Berechtigungsschranken 
des  Beamtenstaates  anerkannt  wird,  bedeutet  dies  eine  weitere  Steigerung 
des  liberalen  Prinzips  in  der  Schulpolitik.  Sofern  aber  besondere  organi- 
satorische Maßnahmen  zur  Auslese  und  zum  ,, Aufstieg  der  Begabten"  ge- 
troffen werden,  findet  bereits  der  Übergang  von  einem  Liberalismus  des  ,,laisser 
faire,  laisser  aller"  zu  dem  demokratischen  Gedanken  der  organisatorischen 
Herstellung  gleicher  Wettbewerbsbedingungen  statt.  Die  reinste  Aus- 
prägung aber  findet  der  liberale  Gedanke  in  dem  schon  seit  1905  verkündeten 
Prinzip  der  ,, Wahlfreiheit  auf  der  Oberstufe"  i).  Wenn  im  gegenwärtigen 
Augenblick  der  Versuch  gemacht  wird,  diese  Pläne  in  die  Tat  umzusetzen, 
so  gehört  dieser  Teil  der  Schulreform  unter  den  Gesichtspunkt  der  letzten 
Ausstrahlungen  liberaler  Schulpolitik.  Daran  wird  nichts  durch  den  bezeich- 
nenden Umstand  geändert,  daß  auch  ausgesprochen  sozialistische  Schul- 
politiker mit  Vorliebe  diese  Forderung  vertreten.  Er  beweist  nur  von  neuem, 
daß  das  Hauptmotiv  der  Sozialdemokratie  im  Grunde  ein  individualistisches  ist. 

In  den  gleichen  Zusammenhang  gehören  die  Auswirkungen  des  Prinzips 
der  liberte  de  l'enseignement.  Wo  man  für  das  Recht  der  Privatschule  ein- 
tritt —  wenn  auch  gemäß  den  Grundsätzen  des  Preußischen  Allgemeinen 
Landrechtes  immer  unter  Wahrung  der  Staatsaufsicht  —  wendet  man  Leitge- 
danken der  liberalen  Schulpolitik  an.  Und  wiederum  ist  es  gleichgültig,  daß 
es  vielfach  und  mit  Vorliebe  Zentrumspolitiker  oder  jetzt  Protestantisch- 
Konfessionelle  sind,  die  sich  dieser  Methode  für  ihre  besonderen  Zwecke 
bedienen.  Ferner  sind  hierher  alle  die  Forderungen  zu  rechnen,  die  sich  auf 
Selbstverwaltung  der  Schule  in  irgendeiner  Form  beziehen;  denn  auch 
in  ihnen  kommt  der  Gedanke  der  relativen  Unabhängigkeit  des  Bildungs- 
lebens von  der  zentralistischen  Staatsmacht  zum  Ausdruck.  Wie  die  Ver- 
fassung der  Hochschule  schon  längst  auf  die  Grundlage  freiester  Selbst- 
bestimmung gestellt  war,  so  will  man  jetzt  das  ganze  Bildungswesen  aus 
der  Verflechtung  mit  wechselnden  Parteiregierungen  und  politischen  Inter- 
essengruppen möglichst  loslösen,  damit  das  freie  Walten  des  Geistes  von  der 
Einengung  durch  Machtinteressen  und  Wirtschaftsinteressen  verschont  bleibe. 
In  der  Dreigliederung  des  sozialen  Organismus  empfängt  dann  das  Gebiet 
der  Wissenschaft,  Kunst  und  Bildung  seine  eigene  Bewegungsfreiheit  und 
sein  spezifisches  Selbstbestimmungsrecht 2). 

1)  Vgl.  F.  Paulsen,  „Was  kann  geschehen,  um  den  Gymnasialstudien  auf  der  Ober- 
stufe eine  freiere  Gestalt  zu  geben?",  zuerst  in  dieser  Zeitschrift,  dann  in  seinen  Ge- 
sammelten pädagogischen  Abhandlungen,  her.  von  Eduard  Spranger,  Stuttgart  1912  S.  419. 

2)  Vgl.  meine  Thesen  über  „Schulleitung  und  Schulverwaltung"  für  die  Reichs- 
schulkonferenz,  abgedruckt  in  dem  Werk:  ,,Die  deutsche  Schulreform",  her.  vom 
Zentralinstitut,  Leipzig  1920,  Anhang  S.  41;  der  zugehörige  Bericht  nur  In  den  amtlichen 
Drucksachen. 


Die  drei  Motive  der  Schulreform.  265 

Endlich  ist  hierher  auch^derPlan eines  „Deutschen Gymnasiums"  zu  rechnen . 
Denn  dieses  Programm  erwächst  wesentlich  aus  der  Fortführung  der  schon 
1848  lebendigen  Gedanken,  daß  man  Bildung  vor  allem  an  der  Individualität 
des  eigenen  Volkstums  zu  suchen  habe,  und  daß  im  nationalen  Kulturbe- 
wußtsein die  stärkste  Stütze  des  Staates  ruhe.  Hatte  man  früher  Uhland, 
Schiller,  selbst  Rembrandt,  geradezu  als  politische  Erzieher  der  Deutschen 
angesehen,  so  glaubt  man  jetzt,  daß  der  Staat  nur  am  ,, Geist  von  Weimar" 
und  an  der  Vertiefung  in  die  Geschichte  des  deutschen  Geistes  genesen  könne. 
Das  politische  Bewußtsein  der  Deutschen,  das  sich  bereits  zum  Welthorizont 
und  zum  ,, planetarischen"  Gesichtspunkt  ausgeweitet  hatte,  schrumpft  hier 
wieder  zur  nationalen  Kulturpolitik  zusammen.  Es  wird  dabei  nur  zu  sehr 
vergessen,  daß  man  zum  Bewußtsein  eigenen  Wesens  nur  in  der  Berührung 
und  Auseinandersetzung  mit  fremder  Art  gelangen  kann. 

11.  Wie  der  Liberalismus  zuletzt  in  den  religiös  fundierten  Menschen- 
rechten wurzelt,  so  geht  das  demokratische  Prinzip  auf  die  naturrechtliche 
volonte  generale  zurück i).  Auch  hier  ist  daher  die  Denkweise  im  Grunde 
individualistisch.  Aber  man  hat  —  zum  Teil  aus  schmerzlichen  Enttäuschungen 
des  Liberalismus  —  gelernt,  daß  die  Freiheit  nur  bei  annähernder  Gleichheit 
gewährleistet  werden  kann.  Man  begnügt  sich  auch  nicht  mit  der  Gleichheit 
des  Rechtes;  denn  sie  war  durch  Beseitigung  der  ständischen  Privilegien, 
der  Patrimonialgerichtsbarkeit,  durch  die  Trennung  von  Justiz  und  Ver- 
waltung usw.  bereits  erreicht.  Um  so  entschiedener  arbeitet  man  an  der 
Herstellung  der  Gleichheit  der  Rechte.  Je  mehr  die  Veränderung  der  Ein- 
kommenverteilung und  des  Besitzrechtes  in  Frage  kommt,  um  so  deutlicher 
bewegt  sich  die  Demokratie  vom  Liberalismus  fort  zur  Sozialdemokratie, 
die  zwar  die  Harmonie  zwischen  Organisation  und  individueller  Entfal- 
tungsfreiheit für  möglich  hält,  dabei  aber  doch  immer  stärker  auf  die 
Seite  der  gesellschaftlichen  Bindung  hinübergleitet. 

So  kann  es  nicht  wundernehmen,  daß  die  bürgerlich-liberale  Demokratie 
und  die  Sozialdemokratie  zunächst  in  ihrem  Bildungsprogramm  weitgehend 
übereinstimmen.  Sie  wünschen,  auch  hinsichtlich  der  Schulwahl,  gleiche 
Bildungsmöglichkeiten  für  alle,  natürlich  rein  im  Sinne  der  Berechtigung, 
nicht  im  Sinne  tatsächlicher  Gleichheit  aller  Anlagen.  Einheit,  Weltlichkeit, 
Unentgeltlichkeit  sind  die  gemeinsamen  Forderungen.  Allerdings  ist  darin 
gar  kein  neuer  inhaltlicher  Bildungsgedanke  enthalten,  während  die  Humani- 
tätsidee des  Liberalismus  in  ihre  Anknüpfung  an  Griechentum  und  deutschen 
Klassizismus  eine  wirkliche  ideale  Macht  darstellte. 

Das  Prinzip  der  Einheitsschule  ist  schon  in  dem  Süvernschen  Gesetz- 
entwurf von  1819  verwirklicht,  freilich  mit  der  aristokratischen  Wendung, 
möglichst  viele  den  höchsten  Weg  zu  führen.  Als  ausdrückliches  schul- 
politisches Programm  aber  erscheint  der  Gedanke  in  der  Bewegung  von 
1848  mit  der  Formel:  ,, Einheitlicher  Organismus  des  nationalen  Bildungs- 
wesens vom  Kindergarten  bis  zur  Hochschule."    Die  tieferen  Motive  liegen 


0  Vgl.  V.  Wiese,  Der  Liberalismus    in  Vergangenheit  und  Zukunft,  Berlin  1917. 


266  Eduard  Spranger, 

in  der  deutschen  Einheitsbewegung  und  in  dem  Willen,  den  Resten  stän- 
discher Abstufung  durch  gleiche  Bildung,  dem  Monopol  des  Besitzes  durch 
gleiche  Bildungsmöglichkeiten  entgegenzuwirken.  Daß  das  Problem  mehr 
ein  finanzielles  als  ein  pädagogisches  ist,  wurde  dabei  bis  in  die  neueste  Zeit 
hinein  meistens  verkannt.  Auch  erwies  sich  der  Gleichheitsgedanke  als 
schädlich  für  den  Bildungsgedanken.  Denn  da  jetzt  die  demokratische  Seite 
stärker  als  die  aristokratische  betont  wurde,  so  entstand  die  Tendenz,  mög- 
lichst viele  möglichst  lange  im  Bereich  der  allgemeinen  Volksschule  fest- 
zuhalten. Die  vier  Jahre,  die  durch  das  Grundschulgesetz  von  1920  erreicht 
worden  sind,  genügen  den  radikalen  Demokraten  nicht.  Sie  betrachten  acht 
Jahre  allgemeiner  Volksschule  als  das  wünschenswerte  Ziel.  Durch  diese 
schulpolitische  Forderung  wird  also  nicht  nur  der  Bestand  der  höheren  Schule, 
sondern  einer  wissenschaftlichen  Bildung  überhaupt  ernstlich  gefährdet. 

Der  innere  Gewinn,  den  man  dem  Verlust  an  individuellen  Entfaltungs- 
möglichkeiten gegenüberstellen  zu  können  glaubt,  soll  in  der  Vereinheit- 
lichung des  Volksbewußtseins,  in  einem  Zuwachs  an  sozialer  Gesinnung 
liegen.  Insofern  nun  aber  das  demokratische  Prinzip  ein  rein  naturrechtliches 
ist,  d.  h.  den  Gesamtwillen  aus  der  arithmetischen  Zusammenfassung  der 
Individuen  entstehen  läßt,  ist  die  Demokratie  von  sich  aus  ganz  außerstande, 
diesen  innerUchen  Zusammengehörigkeitsgeist  aufzubringen.  Sie  hat  im 
Gegenteil,  indem  sie  den  gegebenen  Staat  der  Rivalität  der  Parteien  aus- 
lieferte, im  Volksleben  selbst  gefährdet,  was  sie  durch  die  Schule  erzeugen 
möchte.  An  beiden  Stellen  hat  sich  der  Gleichheitsgedanke  nur  als  Hülle 
für  Machtwillen  und  Klassenindividualismus  erwiesen. 

Auch  in  anderen  Stücken  erscheint  die  Demokratie  als  die  echteste  Tochter 
der  Aufklärung.  Denn  sie  glaubt  allenthalben  auf  dem  Wege  der  rationalen 
Organisation  zu  erreichen,  was  in  Wahrheit  nur  aus  organisch  wachsendem 
Geistesleben  entstehen  könnte.  Das  wichtigste  Beispiel  hierfür  ist  der 
demokratische  Staatsgedankeselbst.  Man  hat  versucht,  das  gesamte  deutsche 
Schulwesen  von  Reichs  wegen  zu  vereinheitlichen.  Besonders  die  Sozial- 
demokratie ist  für  eine  zentrale  Reichsschulbehörde  und  ein  Reichsschul- 
gesetz eingetreten.  Über  die  Differenz  der  Weltanschauungen  (wie  über  die 
StammesindividuaUtäten  und  die  persönliche  Entwicklungsrichtung)  glaubte 
man  durch  die  alte  Aufklärungsidee  einer  für  alle  gleichen,  weltlichen  Ver- 
nunft und  einer  rein  wissenschaftlichen  Kultur  siegen  zu  können.  Welche 
ungeheuren  Schwierigkeiten  dabei  zu  überwinden  sind,  und  wie  wenig  das 
einfache  Programm  des  Deutschen  Lehrervereins  einer  Kulturmacht  von  der 
Kraft  des  Katholizismus  gewachsen  ist,  haben  die  ersten  Versuche  e'ner 
Reichsschulgesetzgebung  von  den  betreffenden  Artikeln  der  Weimarer 
Verfassung  an  bis  heute  bereits  deutlich  gezeigt.  Wo  der  Hebel  in  Wahr- 
heit anzusetzen  wäre,  ließe  sich  leicht  angeben;  der  Hauptfehler  liegt  in  dem 
Glauben  an  die  überbrückende  Kraft  der  alten  Aufklärungsideen.  Die  Brücken 
müßten  aber  heut  in  ganz  anderer  Richtung  gesucht  werden. 

Ein  zweites,  soeben  bereits  gestreiftes  Symptom  der  rationalen  Richtung 
der  Demokratie  liegt  in  ihrem  Verhältnis  zu  Religion  und  Kirche.  Das  liberale 


Die  drei  Motive  der  Scliulreform.  267 

Prinzip  („Religion  ist  Privatsache")  wird  hier  nur  taktisch  verwandt.  Im 
Hintergrunde  liegt  der  Glaube  an  die  Möglichkeit  entweder  eines  allgemeinen 
Christentums  oder  einer  allgemeinen  immanenten  Menschheitsreligion 
soziologisch-positivistischer  Färbung.  Beide  Ansichten  verkennen  die  Bewußt- 
seinslage, die  heute  noch  die  weitesten  Schichten  der  Bevölkerung  charakte- 
siert. —  Der  Kampf  für  die  Staatsschule  ist  zugleich  einKampf  gegen  die  Kirchen- 
schule, gegen  die  Gemeindeschule  und  gegen  die  Privatschule.  Der  energische 
Staatsgedanke  ist  es  ja  gerade,  was  die  Demokratie  vom  Liberalismus  scheidet. 
Da  nun  aber  der  Staat  allein  und  als  solcher  keinen  Weltanschauungsgehalt 
hat,  so  reicht  dies  Prinzip  allein  nicht  hin,  um  die  Bildungsbedürfnisse  tieferer 
Art  wirklich  zu  befriedigen.  Bildung  des  Menschen  wird  immer  mehr  sein 
als  Erziehung  zur  einheitlichen  Staats-  und  Staatsvolksgesinnung.  Eine 
Überspannung  des  zentralistischen  Staatsgedankens  in  der  SchulpoHtik 
muß  folgerichtig  dahin  führen,  den  Bestand  der  Staatsschule  überhaupt  zu 
gefährden  und  das  Wiedererstehen  der  Kirchenschule,  der  Gemeindeschule 
und  der  Privatschule  indirekt  zu  befördern.  Bedenkliche  Anzeichen  dieser 
Art  sind  heute  bereits  erkennbar.  Zwang  zur  Einheit  hat  im  Geistigen  nicht 
nur  die  Belebung  individueller  Widerstände,  sondern  geradezu  die  Gefahr 
eines  Kulturkampfes  zur  Folge.  Wie  die  Dinge  in  Deutschland  liegen,  ist 
in  der  Tat  nur  eine  individualisierte  Einheit  unseres  Bildungswesens  er- 
reichbar: nur  Einheit  der  Mannigfaltigkeit,  nicht  Einheit  der  Uniformität. 
Ein  letztes  Symptom  für  den  Zusammenhang  zwischen  Demokratie 
und  Rationalismus  sehe  ich  in  dem  Anwachsen  technischer  Methoden,  um 
die  geistigen  Anlagen  zu  prüfen  und  danach  die  Wahl  des  Bildungsweges 
organisatorisch  zu  regeln.  Denn  auch  hier  wieder  zeigt  sich  der  Glaube, 
daß  man  das  Lebendige  kanalisieren  und  das  Wünschenswerte  , .machen'' 
könne.  Die  Intelligenzprüfungen,  soweit  sie  von  dem  Faktor  des  Charakter- 
grundes absehen,  und  die  Berufsberatungsmaßnahmen,  sofern  sie  rein 
psychologisch  sind  und  nicht  individualisierte  pädagogisch-soziologische 
Führung  bezwecken,  gehören  in  den  Umkreis  demokratischer  Aufklärungs- 
ideen, Denn  die  Individualität  wird  hier  zuletzt  als  etwas  Meßbares  und 
in  Zahlen  Faßbares,   nicht  als  ein  Strukturprinzip  der  Seele  angesehen. 

Die  geistig-geschichtliche  Entwicklung  aber  ist  nie  von  so  durchsichtiger 
begrifflicher  Einfachheit  und  Klarheit,  TatsächUch  ist  auch  der  Gleichheits- 
gedanke der  Einheitsschule  allein  nicht  durchgedrungen,  sondern  er  ist  mit 
dem  Individualitätsgedanken  des  Liberalismus  eine  Synthese  eingegangen. 
Das  Ergebnis  ist  die  differenzierte  Einheitsschule,  d.  h.  ein  in  der 
Grundlage  für  alle  Kinder  des  Volkes  gleicher,  aber  nach  oben  hin  sich  mannig- 
faltig ghedernder  Organismus  des  nationalen  Bildungswesens.  Kerschensteiner 
hat  das  Verdienst,  das  Bild  dieses  Organismus  in  seiner  Kieler  Rede  von 
1914  ausgemalt  und  dadurch  die  Gefahr  einer  allzu  rationalen  Nivellierung 
beschworen  zu  haben.  Der  Gleichheitsgedanke  hat  sich  nur  für  die  Grund- 
schule durchführen  lassen.  Vom  5.  Schuljahr  mindestens  an  kommt  das 
Individualitätsprinzip  in  der  doppelten  Form  zur  Geltung,  daß  durch  Ver- 


268  Eduard  Spranger, 

zweigung  der  Schularten  auf  die  inhaltliche  Richtung  der  Begabung, 
durch  innere  Gliederung  —  etwa  nach  dem  Mannheimer  Vorbild  —  auf  den 
Grad  der  Begabung  Rücksicht  genommen  werden  muß.  Der  erste  Gesichts- 
punkt wird  auch  weniger  genau  als  sukzessive,  der  zweite  als  simultane 
Differenzierung  bezeichnet.  Wesentlich  ist  hierbei,  daß  weder  Abkunft 
noch  Besitz  für  die  Eingliederung  in  die  Schularten  und  -stufen  maßgeblich 
sein  soll,  sondern  nur  Begabung,  Charakter  und  Gesamtleistung.  Doch  ist 
die  Durchführung  dieses  berechtigten  demokratischen  Wunsches  solange 
nicht  gewährleistet,  als  der  Staat  nicht  finanziell  in  der  Lage  ist,  den  ganzen, 
unter  Umständen  bis  zu  20  Jahren  umfassenden  Bildungsgang  des  einzelnen 
aus  öffentlichen  Mitteln  zu  bestreiten.  Nur  das  sozialdemokratische  Programm 
einer  Änderung  des  Eigentumsrechtes  (über  dessen  problematische  Durch- 
führbarkeit hier  nichts  gesagt  werden  soll)  würde  diese  weitgehende  Ver- 
wirklichung der  Einheitsschulidee  herbeiführen  können. 

Neue  Bildungsgedanken  werden  aus  dem  Bau  der  Einheitsschule  nur 
insoweit  erwachsen,  als  die  Berufsschulen  in  den  Gesamtorganismus  mit 
eingegliedert  werden.  Sie  sind  im  Begriff,  einen  neuen  Bildungstypus  aus- 
zugestalten, der  auf  dem  Prinzip  beruht,  daß  von  dem  Zentrum  des  Berufs- 
wissens, des  Berufskönnens  und  des  Berufsethos  aus  eine  organisch  damit 
verbundene  Allgemeinbildung  ausstrahlen  müsse.  Da  es  sich  aber  hier  aus- 
drücklich um  weitere  Individualisierung  handelt,  so  liegt  dieses  inhaltliche 
Moment  wiederum  auf  Seiten  des  Liberalismus. 

in.  Wer  für  geistige  Strukturverhältnisse  irgendeinen  Sinn  hat,  fühlt 
den  tiefen  Unterschied  zwischen  dem  demokratischen  Prinzip  und  dem  Ge- 
meinschaftsgedanken. Die  Demokratie  ist  aus  dem  Rationalismus  erwachsen; 
sie  endet  in  der  politischen  Arithmetik  der  Parteien.  Es  ist  ihr  nicht  gelungen, 
einen  wirklichen  Gemeinschaftsgeist  im  Volke  zu  begründen;  im  Gegenteil: 
sie  hat  die  Geister  noch  mehr  atomisiert  und  allenfalls  über  dem  Privat- 
egoismus den  noch  gierigeren  Parteiegoismus  errichtet.  Die  volonte  generale 
bleibt  eine  Fiktion.  Sie  existiert  in  der  Rechnung  und  als  Rationalisierungs- 
produkt, nicht  als  belebendes  Wesen  des  Staatskörpers.  Ganz  anderen  Ur- 
sprungs ist  das  Motiv  der  echten  Brüderlichkeit.  Es  ist  zunächst  da  als  Er- 
lebnis, als  Totalbeziehung  von  Mensch  zu  Mensch.  Es  wirkt  sich  aus  in  orga- 
nischen Formen  des  Zusammenlebens,  die  das  Wesen,  nicht  bloß  die  Interessen 
der  Menschen  umfassen.  So  ist  überhaupt  das  Verhältnis  des  Gemeinschafts- 
geistes zum  demokratischen  Gleichheitsgeist  das  des  Organischen  zum  Me- 
chanischen, des  Wesenhaften  zum  Oberflächenhaften,  des  Erlebten  zum 
Erdachten. 

Natürlich  hat  es  immer  irgendwo  Menschen  gegeben,  die  dieses  Erlebnis 
hatten;  besonders  da,  wo  der  Sozialismus  nicht  eine  Form  bloß  theoretischer 
Konstruktionen  oder  des  machthungrigen  Klassenindividualismus,  sondern 
eine  Frucht  echten  Liebesgeistes  war;  also  etwa  bei  den  Abkömmlingen 
des  christlichen  Sozialismus.  Aber  als  eine  Bewegung,  als  weite  Kreise  er- 
greifender Stil  des  Lebens  ist  diese  Überwindung  des  Individualismus  in 
der  verweltlichten  Gesellschaft  etwas  sehr  Neues.    Sie  ist  auch  nicht  durch 


Die  drei  Motive  der  Schulreform.  269 

das  Stichwort  Solidarität  zu  erschöpfen;  denn  Solidarität  ist  Interessen- 
genneinschaft  und  Zweckgemeinschaft,  bleibt  also  im  Bereich  der  nützlichen 
Güter  stecken  und  erstreckt  sich  nicht  hinab  bis  zur  Wesensgemeinschaft i). 

Dieses  tiefere  Gemeinschaftserlebnis  ist  der  einzig  sichtbare,  aber  für 
sich  genug  beachtenswerte  Inhalt  der  heutigen  Jugendbewegung,  so  weit 
sonst  ihre  Ziele  auseinandergehen  mögen.  An  diesem  Erlebnis  erkennen 
sich  die  Geister.  In  ihm  ist  der  neue  Typus  Mensch  begründet.  Denn  eine 
Jugendbewegung  ist  nicht  eine  Schulrevolution,  auch  nicht  Klubwesen 
oder  Lebensreform,  sondern  das  Wetterleuchten  einer  neuen  Geistesart  — 
neues  Seelentum,  neues  Volkstum. 

Der  Kern  der  echten  Jugendbewegung  (es  gibt  auch  nachgemachte) 
ist  daher  religiös.  Alle  charakteristischen  Merkmale  sprechen  dafür:  Be- 
kehrung, Wiedergeburt,  vita  nuova,  persönliche  Offenbarungen.  Dem  Außen- 
stehenden mag  oft  genug  das  Gemeinschaftserlebnis  ohne  greifbaren  In- 
halt sein.  Aber  wo  es  echt  ist,  da  ist  es  Gemeinschaft  im  Tiefsten,  Wesens- 
offenbarung, Hingegebensein,  und  gerade  diese  an  die  Mystik  erinnernde 
Umrißlosigkeit  ist  wieder  religiös.  In  den  Aus  drucksformen  und  im  Lebensstil 
ist  vieles,  wie  es  der  Jugend  gemäß  ist,  überwiegend  ästhetisch:  Eros,  Natur- 
freude, Mondnacht,  Feuerzauber.  Manche  bleiben  darin  stecken;  manche 
finden  den  Übergang  aus  dieser  Welt  des  Schauens  und  Glaubens  zur  Wirk- 
lichkeit nur  unter  den  schmerzlichsten  Krisen.  Oft  genug  auch  mischen 
sich  in  den  Kreis  der  Thyrsosträger  solche,  die  keine  Begeisterten  sind,  oft 
genug  Geister,  die  die  ,, Aktualitätskonjunktur"  benutzen  und  ihre  Negationen 
ausleben  wollen.  Eine  Jugendbewegung  lebt  nicht  von  Negationen.  Sozio- 
logisch genommen  aber  liegt  das  Ja  in  der  bezeichneten  Richtung:  Gemein- 
schaftserlebnis als  Wesensgemeinschaft,  als  Berührung  der  ganzen  Seelen 
in  ihrer  tiefsten  Wahrheit. 

Von  hier,  nicht  aus  dem  offiziellen  Sozialismus,  stammt  das  Motiv  der 
Brüderlichkeit,  das  bezeichnenderweise,  noch  ehe  es  sich  direkt  politisch 
auswirkt,  pädagogisch  gerichtet  ist  und  dem  Schulleben  neuen  Geist  zu- 
führen wird.  Denn  die  wesentliche  schulorganisatorische  Folgerung  liegt 
darin,  die  Schule  aus  einer  Unterrichts-  und  Lerngemeinschaft  in  eine  das 
ganze  Jugendleben  umfassende  Lebensgemeinschaft  zu  verwandeln,  aus 
ihr  —  nicht  nur  eine  Arbeitsschule  — ,  sondern  eine  wahre  Lebensschule 
zu  machen  2). 

Betrachten  wir  das  Verhältnis  dieses  dritten  Motivs  zu  den  beiden  anderen, 
so  ist  unverkennbar,  daß  diese  Gemeinschaft  die  Individualität  nicht  aus- 
schließt, sondern  auf  ihr  ruht.  DieTiefe  der  gegenseitigen  Wesensoffenbarung 
wäre  nicht  denkbar,  wenn  nicht  jeder  sein  Eigenstes  in  dieses  Zusammen 
hineingäbe.  Nur  starkes  Individualleben  ist  in  diesem  Sinne  gemeinschafts- 
fähig.    Religiöse  Echtheit  und  ästhetischer  Reiz  wirken  hier  geradezu  ge- 

1)  Vgl.  mein  Buch  „Lebensformen",  2.  Aufl.  Halle  1921 :    „Der  soziale  Mtnsch." 
^)  Vgl.  meinen  Aufsatz:  „Unterrichtsschule,  Arbeitsschule,  Lebensschule".     Neue 
Bahnen   1912. 


270  Eduard  Spranger, 

meinschaftstiftend.  Weniger  eindeutig  ist  die  Beziehung  zum  Gleichheits- 
gedanken. Gemeinsames  Menschentum  bindet  alle,  aber  doch  individuali- 
siertes Menschentum  und  abgestuftes  Menschentum.  Deshalb  ist  in  der  Jugend- 
bewegung auch  der  Führergedanke  wieder  lebendig  geworden:  ein  aristo- 
kratisches Motiv  auf  genossenschaftlicher  Grundlage.  Den  Sinn  dieser  eigen- 
artigen soziologischen  Formen  nachzuerleben,  wird  nicht  jedem  gelingen, 
der  sich  ihnen  nur  von  der  Begriffsseite  nähert;  am  wenigsten  denen,  die  in 
demokratischen  Kategorien  denken ;  denn  diese  kommen  aus  der  Aufklärungs- 
welt und  sind  gewöhnt,  in  menschlichen  Dingen  zu  rechnen.  Hier  aber  wird  ur- 
alter deutscher  Geist  wieder  lebendig:  Genossenschaft,  Herzogtum,  Lehns- 
treue, Jungmannschaft,  freie  Hingabe,  organisches  Ineinanderwachsen. 
Und  doch:  es  ist  eine    neue    Welt. 

Auch  sie  erscheint  vielfach  in  seltsamen  Vermischungen  mit  Heterogenem. 
Vor  allem  haben  sich  Parteisozialisten  der  Sache  bemächtigt  und  ihre  Lieb- 
lingsidee vom  ökonomischen  Grundcharakter  aller  geistigen  Bewegungen  hinein- 
getragen. Dies  ist  am  deutlichsten  bei  der  Gruppe  der  sog.  Entschiedenen 
Schulreformer  zu  beobachten.  Genialität  und  Parteischablone  sind  da  in- 
einander gemischt.  Man  möchte  vom  alten  Marxismus  etwas  retten.  Man 
möchte  übrigens  auch  seinen  Haß  gegen  das  ancien  regime  und  das  sog.  Bürger- 
tum aushauchen.  So  verflacht  sich  die  Gemeinschaftsidee  vielfach  zum 
Programm  der  Produktionsschule. 

Die  Fäden  sind  hier  unendlich  schwer  zu  entwirren.  Ein  Motiv  ist  die 
nackte  Not.  Schon  die  Schulen  (und  Hochschulen)  sollen  der  Jugend  die 
Möglichkeit  geben,  sich  durch  wirtschaftliche  Arbeit,  sei  es  Landarbeit 
oder  ausgesprochene  Massenfabrikation,  selbst  zu  erhalten.  Ein  verfehlter 
Gedanke,  an  dem  einst  Pestalozzi  scheiterte.  Unsre  komplizierte  Wirt- 
schaft würde  diese  schwachen  Wirtschaftsgemeinschaften  sofort  erdrücken. 
Das  andre  Motiv  ist  der  Wunsch,  Kopfarbeiter  und  Handarbeiter  einander 
zu  nähern.  Ein  edles  Ziel,  das  aber  nicht  marxistisch-dogmatisch  so  weit 
überspannt  werden  darf,  daß  die  Unvermeidlichkeit  der  Differenzierung 
der  Kräfte  verkannt  und  eine  Rückbildung  ins  Primitive  gefordert  wird. 
Denn  jene  ArbeitScCÜung  ist  nicht  zufällig,  sondern  aus  der  Gesetzlichkeit 
menschlicher  Kräfte  heraus  erfolgt.  Höchstleistungen  sind  nur  bei  Speziali- 
sierung möglich.  Es  bleibt  als  gesundes  Motiv  der  Gedanke  der  Erdgebunden- 
heit des  Geistigsten  und  das  große  Evangelium  vom  Ethos  der  Arbeit.  Auch 
die  ökonomische  Produktion  wird  heute  vielfach  von  einem  religiösen  Andachts- 
gefühl umfaßt.  Vielleicht  geUngt  es,  das  zu  einer  lebengestaltenden  Kraft 
zu  erwecken.  Dann  würde  die  Arbeitsschule,  deren  erziehende  Kraft  nie- 
mand so  tief  wie  Kerschensteiner  erkannt  hat,  wirklich  bis  in  die  letzte  Lebens- 
wurzel zurückgreifen.  Aber  der  Wille  zur  Rentabilität  darf  nicht  vorange- 
stellt werden,  weil  es  den  ganzen  Büdungsprozeß  v/ieder  materialisieren, 
würde.  Sondern  das  beste,  was  wir  im  pädagogischen  Sinne  von  der 
produktiven  wirtschaftlichen  Arbeit  haben,  ist  das  Ehrfurchtsgefühl,  das  sie 
erweckt.   Damit  kommen  wir  in  den  Bereich  der  Goetheschen  Pädagogischen 


Die  drei  Motive  der  Schulreform.  271 

Provinz^).  Bis  zu  diesem  Punkte  sollte  jeder  geführt  werden.  Aber  nicht  alle 
können  wirklich  zu  Landarbeitern  oder  Fabrikarbeitern  erzogen  werden. 
Die  Berufsschule  führe  den  Weg  der  manuellen  und  technischen  Bildung 
im  vertieften  und  erweiterten  Sinne.  Andere  müssen  mit  gleicher  Verant- 
wortlichkeit und  gleichem  Dienstbewußtsein  am  Ganzen  den  Weg  der  rein 
geistigen  Arbeit  beschreiten.  Niemals  wird  sich  beides  gleich  stark  in  einer 
Schulform  verbinden  lassen. 

Im  Kreise  der  Entschiedenen  Schulreformer  lebt  es  und  webt  es  von 
Gedanken.  Vieles  ist  ästhetische  Schwärmerei  —  ohne  Wirklichkeitssinn 
und  ohne  historischen  Sinn.  Vieles  ist  Parteidoktrinarismus.  Beide  Seiten 
—  ästhetischen  Enthusiasmus  und  politische  Leidenschaft  —  wird  man 
auch  in  ihrem  Führer  Paul  Oestreich  finden.  Zieht  man  beides  ab,  so  bleibt  bei 
ihm,  im  Gegensatz  zu  hundert  Mitläufern,  ein  Kern  von  echt  Erlebtem  und 
tiefem  Zeitgefühl.  Diese  stürmende  Leidenschaftlichkeit  hat  einen  prophe- 
tischen  Kern. 

Aber  seltsam  bleibt  eines:  dieser  ,, entschiedene"  Schulreformer  ist  im 
Grunde  nicht  sowohl  entschieden,  d.  h.  einseitig,  als  vielmehr  faustisch  uni- 
versal. Denn  alle  drei  Motive  des  Bildungslebens,  von  denen  wir  sprachen, 
möchte  er  zu  gleicher  Zeit  in  die  neue  Form  der  Schule  hineinziehen.  Auch 
er  erstrebt  eine  Einheitsschule,  wie  es  die  Demokraten  und  besonders  die 
Sozialdemokraten  tun.  Er  begründet  sie  auf  einen  Kernunterricht  oder 
Minimalunterricht.  Doch  soll  diese  Einheitsschule  ,, elastisch"  genug  sein, 
um  auch  der  Individualität  freien  Raum  zu  ihrer  spezifischen  Entfaltungs- 
richtung zu  lassen.  Ja  dieses  Moment  der  inneren  Bestimmung  und  der  freien 
Wahl  tritt  bei  ihm  so  stark  hervor,  daß  man  kaum  noch  von  Sozialismus, 
sondern  von  gesteigertem  Individualismus  reden  möchte.  Aber  dieser  Richtung 
steht  nun  wieder  als  Gegengewicht  gegenüber  die  Idee  der  Gemeinschafts- 
schule. Das  ganze  Schulleben  soll  zu  einer  wirklichen  Lebensgemeinschaft 
werden,  hinter  der  die  Familie  bis  zur  pädagogischen  Bedeutungslosigkeit 
zurücktritt^).  Also  ein  charakteristischer  Versuch,  alle  drei  Grundprinzipien 
der  modernen  Gesellschaftsbewegung  zugleich  im  Rahmen  der  neuen  Schule 
zu  berücksichtigen. 

Es  hat  immer  etwas  Betrübendes,  solchen  prophetischen  Entwürfen 
nachrechnen  zu  müssen,  ob  sie  organisatorisch  möglich  sind.  Und  man  wird 
dabei  leider  zu  keinem  bejahenden  Ergebnis  gelangen.  Zu  ungleiche  Renner 
sind  vor  diesen  Wagen  gespannt.  Diese  „Gemeinschaft"  wird  sich  durch 
ihren  allzu  ungleichen  Lebensrhythmus  auflösen  müssen.  Angenommen 
selbst,  es  gelänge,  einen  so  verwickelten  Lehrplan  durchzuführen,  der  nie- 

^)  Vgl.  meinen  Aufsatz  ,,Die  Jugendbewegung  und  —  Goethe"  im  Maiheft  des 
Deutschen  Philologenblattes  1921. 

2)  Diese  Ausschaltung  derjenigen  Gemeinschaftsform,  die  ihrer  Natur  nach  die 
Menschen  am  tiefsten  und  stärksten  binden  könnte,  ist  charakteristisch.  Zum  Teil  be- 
ruht sie  auf  dem  Parteidogma.  Die  Rede  vom  Versagen  der  Familie  ist  ein  Wort,  das 
einer  dem  anderen  nachspricht,  selten  jemand  nachprüft.  Ueberwindung  der  Familien- 
enge und  des  Familienegoismus  ist  ein  wichtiges  Ziel.  Es  bedeutet  aber  Vertiefung  des 
Famjlienethos,  nicht  Ausschaltung  der  Familie. 


272  Eduard  Spranger, 

manden  bindet  und  doch  einen  gemeinsamen  Kern  für  Volksschule  und 
höhere  Schule  enthält,  der  jeder  freien  Neigung  Rechnung  trägt  und  doch 
in  ein  geschlossenes  Kulturbild  ausmündet  —  wo  soll  noch  die  Lebenseinheit 
für  eine  so  differenzierte  Jugend  liegen?  Welcher  Staat  soll  diese  Schul- 
organismen aufbauen  und  erhalten,  die  die  ganze  Mannigfaltigkeit  des  mo- 
dernen Kulturlebens  mit  einem  Bande  umspannen  wollen? 

Der  Weg  der  Geschichte  wird  anders  gehen.  Der  echte  Gemeinschafts- 
geist läßt  sich  nun  einmal  nicht  von  Staatswegen  organisieren.*  Auch  die 
Schulen,  als  staatliche  Organisationen,  werden  dem  allgemeinen  Gesetz 
der  Arbeitsteilung,  der  Individualisierung  nicht  entgehen  können.  Und  die 
früher  erwähnte  Differenzierung  der  Weltanschauungen  wird  auch  hier  nicht 
außer  acht  gelassen  werden  können.  Schon  was  die  gemeinsame  Wurzel, 
die  Grundschule,  für  die  Stiftung  der  Volksgemeinschaft  leisten  kann,  wird 
ein  klarer  Wirklichkeitssinn  nicht  überschätzen.  Aber  dieses  Schulleben 
als  staatliche  Organisation  wird,  wenn  nicht  alle  Zeichen  trügen,  künftig 
auf  einer  anderen  soziologischen  Grundlage  ruhen,  in  ein  anderes  Gesamt- 
leben eingebettet  sein.  Denn  die  Jugend  wird  im  Schöße  der  ganzen  Volks- 
gemeinschaft ihre  eigne  Rolle  und  ihren  organischen  Platz  finden.  Die  Jugend- 
bewegung, die  sich  heute  der  vorgefundenen  Kultur  schroff  entgegenstellt, 
wird  in  einer  zukünftigen  Kultur  selbst  ein  wertvolles  Stück  Volksleben 
sein.  Sie  wird  Formen  schaffen,  in  denen  die  freie  Regung  der  Jugendlich- 
keit zum  reichen  Ausdruck  kommt;  nationale  Feste,  auf  die  das  Auge  des 
gesamten  Volkes  mit  Stolz  und  Freude  gerichtet  ist,  werden  die  Höhepunkte 
dieser  bleibenden  Gemeinschaft  bezeichnen.  Gymnastische  Spiele  und  mu- 
sischer Wettkampf  werden  alle  Schichten  und  alle  Berufszweige  der  Jugend 
einen  1).  Ein  neues,  von  innen  wachsendes,  auf  inneren  Adelseigenschaften 
ruhendes  Führertum  wird  aus  der  Gleichheit  selbst  eine  echte  Aristokratie, 
aus  der  Gemeinschaft  geistige  Höhenmenschen  herauswachsen  lassen.  Die 
Schulen  werden  diesen  Geist  nicht  erst  schaffen  und  anerziehen  —  sie  werden  von 
ihm  getragen  sein  und  an  ihm  das  Maß  ihrer  Volkstumsbedeutung  gewinnen. 

Sie  werden  auf  organischer  Einheit,  nicht  auf  mechanisch  erzwungener 
Gleichheit  ruhen.  Aus  dem  Schöße  dieses  Geisterreiches  steigt  die  wahre 
Individualität  und  Freiheit,  die  wurzelhafte  Persönlichkeit  empor.  Der  Fluch 
des  Klassenkampfes,  geboren  aus  bloßem  Wirtschaftsgeist  und  Wirtschafts- 
interesse, wird  einer  neuen,  tieferen  Einschätzung  der  Lebensgüter  und  der 
Rangordnung  der  Geister  weichen.  Nicht  rationale  Gleichheit  einigt  die 
Menschen,  sondern  der  gemeinsame  Wille,  über  sich  selbst  emporzusteigen 
und  das  eigne  beste  Ideal  im  Spiegel  der  Ehre  des  ganzen  Volkes  zu  erblicken : 

Gegrüßt  in  deinem  Adel,  mein  Vaterland, 
Mit  neuem  Namen,  reifes ce  Frucht  der  Zeit, 

Du  letzte  und  du  erste  aller 

Musen,  Urania,  sei  gegrüßt  mir! 


^)  Vgl.  meinen  Aufsatz:  „Hölderlin  und  das  deutsche  Nationalbewußtsein",  Neue 
Jahrbücher  1919. 


Die  drei  Motive  der  Schulreform.  273 

Noch  säumst  und  schwelgst  du,  sinnest  ein  freudig  Werk, 
Das  von  dir  zeuge,  sinnest  ein  neu  Gebiid, 

Das  einzig,  wie  du  selber,  das  aus 

Liebe  geboren  und  gut,  wie  du,  sei. 

Wo  ist  dein  Delos,  wo  dein  Olympia, 

Daß  wir  uns  alle  finden  am  höchsten  Fest? 

Doch  wie  errät  dein  Sohn,  was  du  den 

Deinen,  Unsterbliche,  längst  bereitest? 


So  also  stellt  sich  mir  das  Bild  der  werdenden  Schulreform  dar  —  nicht  als 
Produkt  ministerieller  Verfügungen,  sondern  als  ein  aus  dem  Leben  selbst 
Geborenes.  Es  ist  ein  Wahn,  zu  glauben,  die  staatlich  verordnete  Einheits- 
schule könne  den  Gemeinschaftsgeist  erzeugen.  Umgekehrt:  erst  wenn  dieser 
Geist  da  ist,  ist  die  Einheitsschule  in  tieferer  Bedeutung  möglich.  Dieser 
Geist  entsteht  aus  der  neuen  geistigen  Bewegung  der  Jugend.  Schon  in  dieser 
Bewegung  ist  Individualität  und  Freiheit.  Denn  das  Gemeinschaftserlebnis 
verlangt  nicht  Identität  der  Glieder,  sondern  nur  die  Berührung  in  einem 
Tiefsten:  im  Willen  zur  Reinheit,  Wahrheit,  Echtheit  des  Innern,  und  in  der 
Bejahung  des  Willens  zum  echten  Wert,  den  aber  jeder  nach  seiner  besonderen 
Art  inhaltlich  erleben  und  deuten  mag.  Aus  diesem  ethisch  geläuterten 
Gesamtleben  führen  die  Wege  der  Bildung  in  reicher  Differenzierung  empor. 
Denn  Bildung  ist  heute  unwiderruflich  Kultur  der  Individualität,  Empor- 
führung zur  Persönlichkeit.  Aber  die  Individualitäten  stehen  dann  nicht 
fremd  und  beziehungslos  nebeneinander,  sondern  sie  sind  verbunden  durch 
ein  aus  dem  Wesen  quellendes  Band  des  Verstehens.  Verstehen  fordert 
nicht  Gleichheit.  Es  wurzelt  vielmehr  in  dem  Gefühl  für  das  Soseinmüssen 
des  Mitmenschen,  für  die  innere  Folgerichtigkeit  seiner  Struktur  im  Hin- 
blick auf  den  geistigen  Boden,  aus  dem  erwächst,  und  die  Stelle,  an  der  er 
steht.  In  diesem  Verstehen,  das  ohne  ein  umspannendes  Kulturbewußtsein 
sieht  möglich  ist,  liegt  zugleich  auch  die  Grenze  für  die  Freiheit  der  individuellen 
Ausbildung.  Jede  Individualität  braucht  in  ihrer  Bildungsbahn  diejenigen 
Gegengewichte,  ohne  die  sie  in  sich  selbst  nicht  reif  und  reich  würde,  ohne 
die  sie  das  geistige  Leben  ringsum  und  die  Fäden,  die  zu  anderen  Kultur- 
zonen hinüberführen, .  nicht  verstehen  würde.  Der  Staat  aber  sei  bestrebt, 
nach  Möglichkeit  jedem,  der  zum  Führertum  berufen  scheint,  die  äußeren 
Mittel  zu  gewähren,  daß  er  an  den  höheren  Bildungsgütern  dieser  lebendigen 
Kulturgemeinschaft  teilerhalte.  Wird  dies  letztere  Streben  unter  ,, Gleich- 
heit" verstanden,  so  behält  auch  sie  ihr  gutes  Recht  unter  den  Kräften  der 
Schulreform.  Auf  dem  Boden  echter  Volksgemeinschaft  und  gleicher  äußerer 
Bildungsmöglichkeiten  erhebt  sich  dann  das  alte  Ideal  der  Humanität :  der 
reich  und  frei  und  eigentümlich  entwickelten  Persönlichkeit,  die  aber  organisch 
in  das  Gesamtleben  verflochten  und  ihm  verpflichtet  bleibt.  Denn  über 
aller  Bewegtheit  der  Gesellschaft  wölbe  sich  zuletzt  der  alte  Dom  des 
preußisch-deutschen  Pflichtgedankens,  das  Ziel  bezeichnend,  das  über  uns 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  18 


274  Theodor  Litt, 

allen  ist.  In  solcher  Architektonik  wäre  das  gesunde  Gleichgewicht  zwischen 
den  drei  soziologischen  Kräften  der  Schulreform:  Freiheit,  Gleichheit  und 
Brüderlichkeit,  erreicht. 

Berün.  Eduard    Spranger. 

Wissenschaft  und  höhere  Schule. 

Der  oft  ausgesprochene  Satz,  daß  die  höhereSchule  auf  ständige,  engsteFüh- 
lungmit  der  Wissenschaft  angewiesen  sei,  ist  in  seiner  Gültigkeit  unabhängig 
von  der  jeweiligen  Gestalt  und  Richtung  der  wissenschaftlichen  Forschungs- 
arbeit. Wer  nicht  den  enthusiastischen  Glauben  teilt,  es  sei  der  Schule  gegeben 
oder  gar  geboten,  von  ihrem  eigenen  Boden  aus  der  Kulturbewegung  die 
eigentUch  entscheidenden  Anstöße  zu  geben,  wer  vielmehr  sich  darüber  klar 
ist,  wie  vielfach  bedingt  jede  organisierte  Erziehungs-  und  Bildungsarbeit 
allezeit  ist,  der  wird  den  Trägern  und  Anstalten  der  höheren  Bildung  keinen 
besseren  Rat  wissen  als  den,  sie  möchten  gerade  diejenigen  Bedingungen 
ihres  eigenen  Wirkens  mit  Bewußtsein  und  Sorgfalt  pflegen,  die  in  dem 
Zusammenhang  mit  den  wesentlichen  Systemen  der  Kultur  und  so  auch 
mit  der  Wissenschaft  gegeben  sind.  Selbst  wenn  die  wissenschaftliche  Arbeit 
Bahnen  einschlägt,  die  von  den  Interessen  der  eigentlichen  Bildung  abzu- 
führen scheinen,  selbst  dann  wird  ein  Abbruch  dieser  Beziehungen  sich  nicht 
rechtfertigen  lassen  —  und  zwar  aus  dem  doppelten  Grunde,  weil  einmal 
die  höhere  Schule  aus  sich  heraus  niemals  Ersatz  schaffen  kann  für  das, 
was  die  Forschungsarbeit  der  Wissenschaft  selbst  dann  noch  ihr  an  An- 
regung und  Belebung  zuführt,  weil  andererseits  mit  solcher  Scheidung  für 
die  Wissenschaft  jeder  Antrieb  wegfallen  würde,  ihr  eigenes  Tun  hinsicht- 
lich dessen  zu  befragen,  was  es  für  die  Selbstgestaltung  des  geistigen  Ge- 
samtlebens leistet.  Aber  wenn  jene  ideelle  Forderung  zu  keiner  Zeit  etwas 
von  ihrer  Dringhchkeit  verliert,  so  besagt  das  keineswegs,  deß  sie  sich  alle- 
zeit gleich  bequem  und  reibungslos  befriedigte.  Es  wurde  schon  angedeutet: 
gewiß  fügt  es  sich  manchmal  so,  daß  der  Fortgang  der  wissenschaftlichen  Arbeit 
in  Bahnen  verläuft,  in  die  die  Bildungsarbeit  sich  ohne  Anstoß  hineinfindet 
—  aber  ebenso  leicht  kann  es  auch  kommen,  dsß  die  Wissenschaft  in  der 
Bestimmung  ihrer  Methoden,  der  Auswahl  und  Abgrenzung  ihrer  Objekte, 
der  Ordnung  und  Formulierung  ihrer  Ergebnisse  sich  mit  den  Bedürfnissen 
und  Erwartungen  der  bildnerisch-erzi( herischen  Kräfte  in  den  empfind- 
lichsten Widerspruch  setzt.  Es  liegt  auf  der  Hand,  wie  sehr  die  Anerkennung 
und  Durchsetzung  jener  Forderung  von  den  Abwandlungen  dieses  Verhält- 
nisses berührt  werden  muß. 

Gleichviel  nun,  wie  es  mit  Gunst  oder  Ungunst  dieses  Zus^n-menhengs 
jeweils  bestellt  ist,  in  keinem  Fall  darf  diese  r  S^ehverhalt  so  betrachtet  werden, 
als  handle  es  sich  hier  um  einVerhältniseinseitiger  Abhängigkeit,  beidemdie 
Bildung  stets  die  suchende,  empfangende,  unterLmständen  im  Stich  gelesscne, 
die  Wissenschaft  stets  die  in  Anspruch  genommene,  spendende  bzw. versagende 
sei.  Vielmehr  sind  Einklang  sowohl  wie  Unstimmigkeit  zwischen  wissenschaft- 
lichem und  bildnerischem  Bemühen  Aus  druck  einer  Bewegung  des  geistigen 


Wissenschaft  und  höhere  Schule.  275 

Lebens,  die  als  Gesamtprozeß  jenes  wie  dieses  umgreift.  Bildnerische  Ten- 
denzen treten  nicht  nur  von  außen  mit  Wünschen  und  Zumutungen  an 
die  Wissenschaften  heran,  sondern  sie  walten  als  eigentlich  schöpferisches 
Prinzip  in  ihr  selbst,  können  ihr  nie  ganz  fehlen,  ohne  daß  sie  absterben 
müßte ;  auch  das  abstrakteste  logische  Gefüge  ist  Niederschlag  eines  inneren 
Gestaltungsprozesses,  der  mehr  ist  als  Logik,  Methode  und  System.  Und 
umgekehrt:  kein  bildnerisches  Streben  kann  über  haltlose  Schwärmerei  und 
nebelhafte  Phantastik  hinauskommen,  es  läutere  denn  sich  selbst  im  Klär- 
becken einer  Überlegung,  die  durch  ihre  Bewußtheit  und  Sachlichkeit  sich 
einer  wissenschaftlichen  Betrachtungsweise  wenigstens  annähert.  Sieht 
man  diese  übergreifenden  Verbindungen,  die  in  den  scheinbar  so  wohl- 
geschiedenen Bezirken  der  forschenden  und  der  bildnerischen  Arbeit  die 
gleichen  Kräfte  ans  Werk  rufen,  dann  wird  es  verständUch,  daß  der  Gang 
der  Geistesgeschichte,  unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachtet,  eine  eigen- 
tümliche Dialektik  sichtbar  werden  läßt.  Wir  gewahren  einen  Wechsel  zwischen 
solchen  Epochen,  in  denen  starke  bildnerische  Kräfte  sich  ebensowohl  in 
einer  gewissen  eindrucksvollen  Plastik  und  umfassenden  Großzügigkeit 
der  wissenschaftlichen  Hervorbringungen  wie  in  der  Stärke  und  Nachhaltig- 
keit des  erzieherischen  WoUens  und  Wirkens  kundtun,  und  solchen  Zeiten, 
die  dem  Kleinbetrieb  der  wissenschaftlichen  Einzelarbeit  den  Vorrang  geben 
vor  dem  eigentlich  gestaltenden  und  organisierenden  Bestreben  und,  im 
Einklang  damit,  ein  Erlahmen  der  erzieherisch-bildnerischen  Antriebe  zeigen. 
Was  Wunder,  daß  wissenschaftliche  Forschung  und  erzieherische  Tätigkeit 
sich  dort  wie  selbstverständlich,  in  dem  unmittelbaren  Bewußtsein  innerster 
Verbundenheit  zusammenfinden,  während  hier  nur  unter  mancherlei  An- 
stößen und  Hemmungen  eine  notdürftige,  in  ihren  Früchten  wenig  befrie- 
digende Arbeitsgemeinschaft  sich  herstellen  läßt.  Und  wiederum  ist  nach 
dem  Gesagten  deutlich:  es  hieße  einer  einseitigen  und  unbilligen  Betrachtungs- 
weise Raum  geben,  wollte  man  dort  das  Verdienst  für  die  wohltuende  Ein- 
stimmigkeit, hier  die  Schuld  für  mangelndes  Einvernehmen  ausschließlich 
auf  das  Konto  der  Wissenschaft  als  solcher  setzen.  Die  lebendige  Bewegung 
des  Geistes  läßt  sich  nie  derart  in  einen  Sonderbezirk  der  vielgeteilten  Kultur- 
arbeit einfangen,  daß  nun  ausschließlich  von  diesem  her  der  Fortgang  des 
Ganzen  sich  bestimmte ;  hier  waltet  eine  vieltausendfach  sich  verschlingende 
Wechselbezogenheit.  Jede  Epoche  hat  die  Wissenschaft,  die  sie  nach  ihrem 
bildnerischen  Vermögen  verdient,  jede  Epoche  die  Bildkräfte,  die  ihren  wissen- 
schaftlichen Leistungen  entsprechen. 

Wir  können  den  dargestellten  Gegensatz  bezeichnen  als  den  zwischen 
„humanistischen"  und  ,, positivistischen"  Phasen  der  geistigen  Be- 
wegung. Und  schon  ein  flüchtiger  Blick  auf  die  Geschichte  der  geistigen 
Selbstgestaltung  zeigt  zur  Genüge  solche  Wandlungen,  in  denen  das  Auf 
und  Ab  dieser  Dialektik  in  die  Erscheinung  tritt.  Für  unsere  gegenwärtige 
Lage  ist  dies  das  Bestimmende,  daß  das  verflossene  Jahrhundert  eine  hochge- 
stimmte humanistische  Geistesbewegung  ziemlich  plötzlich  übergehen  ließ 
in  eine   Epoche    positivistisch-spezialistischer   Einzelarbeit,   beides   mit  all 

18* 


276  Theodor  Litt, 

den  entwickelten  Parallelerscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Bildung,  während 
nunmehr,  seit  rund  drei  Jahrzehnten,  ein  Hindrängen  zu  einem  neuen  Huma- 
nismus wenigstens  in  vielstimmigen  Forderungen  und  bunten  Programmen 
sich  bemerklich  macht.  Und  gerade  im  Lichte  der  uns  hier  beschäftigenden 
Frage  erscheint  diese  Bewegung  insofern  besonders  beachtlich,  als  sie, 
die  mehr  in  Anklage  und  Forderung  als  in  wegweisender  Idee  ihre  Stärke 
hat,  mit  Vorliebe  gerade  die  Wissenschaft  zur  Rechenschaft  zieht:  ihrer 
spezialistischen  Verengerung  und  positivistischen  Nüchternheit,  ihrer  blut- 
leeren Begriffsklitterung  und  formalistischen  Methodenreiterei  wird  ganz 
besonders  schuld  gegeben,  daß  das  „Leben",  von  allen  Bildkräften  entleert, 
der  Formlosigkeit,  Entseelung,  Mechanisierung  zum  Opfer  gefallen  sei.  Und 
mit  entsprechendem  Nachdruck  wird  dann  die  ,, Revolution  der  Wissenschaft" 
gefordert,  die  sie  zu  wahrhafter  Lebensgestaltung,  Seelenformung  willig  und 
fähig  machen  werde,  Zusammenschau,  Synthese,  Intuition,  Erlebnis,  Mythos, 
Weisheit  —  wer  kennt  nicht  die  Imperative,  in  denen  dieses  ungestüme 
Begehren  immer  von  neuem  Ausdruck  sucht! 

Was  so  mehr  oder  minder  klar  und  sachkundig  für  sich  Gehör  fordert, 
das  verdient  zweifellos  ernstlichste  Beachtung  als  Anzeichen  dafür,  daß  in 
jenem  säkularen  Gang  der  Geistesgeschichte  ein  neuer  Abschnitt  anhebt; 
es  ist  ein  nicht  mißzuverstehender  Hinweis  auf  die  neuen  Anstöße,  die  der 
Auftrieb  des  Kulturprozesses  allen  Einzelgestaltungen  des  Geistes  und  so 
auch  der  Wissenschaft  zuführt.  In  allem  aber,  was  hierüber  hinausgeht, 
in  allem  Inhaltlichen  müssen  jene  Kundgebungen  mit  äußerster  Zurück- 
haltung aufgenommen  werden.  Was  eine  besonnene  Kritik  wider  sie  ein- 
zuwenden hätte,  das  ist  grundsätzlich  schon  in  unseren  vorausgegangenen 
Ausführungen  beschlossen.  Die  temperamentvollen  Ankläger  der  Wissen- 
schaft gehen  vielfach  schon  insofern  von  einer  unhaltbaren  Grundlage  aus, 
als  sie  im  Namen  des  ,, Lebens"  Bannflüche  wider  eine  Wissenschaft  schleudern, 
die  selbst  von  den  Kräften  dieses  Lebens  gespeist,  nicht  neben  ihm,  nicht  außer- 
halb seiner  eben  diese  Gestalt  angenommen  hat  und  gerade  damit  zu  einem 
charakteristischen  Ausdruck  dieses  Lebens  geworden  ist.  Es  gehört  nicht 
viel  kulturphilosophischer  Tiefblick  dazu,  in  der  dem  Fachspezialistentum 
verfallenen  Wissenschaft  des  vorigen  Jahrhunderts  ein  Zeugnis  desselben 
Geistes  zu  erkennen,  der  auch  allen  anderen  Teilgebieten  der  gesellschaft- 
lich-geistigen Kultur  sein  Gepräge  gab.  Die  Anklage,  die  wider  die  Wissen- 
schaft erhoben  wird,  muß  in  Wahrheit  jenes  über  alles  Wissenschaftliche 
hinausgehende  ,, Diapason"  des  Zeitgeistes  in  allen  seinen  Bekundungen 
treffen,  und  wer  hier  eine  Wandlung  erhofft  und  erstrebt,  der  darf  nicht 
wähnen,  das  seinige  getan  zu  haben,  wenn  er  bei  den  Trägern  und  an  den 
Stätten  der  Forschung  seine  Wünsche  niederlegt.  Es  ist  ein  charakteristischer 
Ausdruck  der  von  uns  gerügten  Einseitigkeit  der  Betrachtung,  wenn 
man  vielfach  meint,  man  könne  von  außen  her,  d.  h.  im  Namen  der  außer- 
wissenschaftlichen Lebensmächte,  der  Wissenschaft  kommandieren,  „syn- 
thetisch" zu  werden.  Wollte  die  Wissenschaft  solchen  ausgesprochen  außer- 
wissenschaftlichen Motiven  die  Herrschaft  über  sich  selbst  einräumen,  sie 


Wissenschaft  und  höhere  Schule.  277 

würde  nichts  anderes  zustande  bringen  als  gequälte  Zwitter gebilde,  die  weder 
rechte  Wissenschaft  noch  rechtes  „Leben"  wären.  Wenn  hier  in  Wahrheit 
mehr  vorliegt  als  eine  bloße  Laune  und  Modeströmung,  dann  müssen  die  Form- 
kräfte des  neuen  Lebens  sich  in  der  wissenschaftlichen  Arbeit  selbst 
wirksam  erweisen,  d.h.  nicht  so,  daß  die  Wissenschaft  sie  von  draußen  herein- 
holte, also  gleichsam  von  dem  außerwissenschaftlichen  Leben  zum  Lehen 
nähme,  sondern  als  ein  im  Zug  ihres  eigenen  Fortschreitens  sich  durchsetzen- 
des Prinzip  der  Forschung  und  Gestaltung,  als  eine  aus  den  Tiefen  des  sie 
selbst  erzeugenden  Lebens  geborene  ,,vis  a  tergo".  Und  dies  ist  nun  eben 
das  Zweite,  was  den  Wortführern  jener  Opposition  wider  die  Wissenschaft 
so  vielfach  entgeht:  was  sie  so  schmerzlich  vermissen,  so  gebieterisch  fordern, 
das  ist  in  Wahrheit  schon  seit  nicht  ganz  kurzer  Zeit  im  Werden,  das  ist 
als  ein  neuer  Geist,  eine  neue  Richtung  der  Forschungsarbeit  schon  mit 
unverkennbarem  Erfolg  am  Werke.  Freilich:  daß  diese  sich  ankündigende 
Erfüllung  nicht  durchweg  die  verdiente  Beachtung  findet,  das  ist  nicht  eben 
zu  verwundern.  Denn  da  die  Wissenschaft,  in  ihren  eigenen  Bahnen  unbeirrt 
weiterschreitend,  nichts  von  den  Methoden  und  Ergebnissen  einer  exten- 
siv und  intensiv  gleich  bedeutenden  Einzelforschung  preisgibt,  vielmehr 
dies  alles  in  einer  erhöhten  Gesamtanschauung  „aufzuheben"  bestrebt  ist, 
so  sehen  die  ,, Synthesen",  die  sie  sich  gegenwärtig  in  den  verschiedensten 
Disziplinen  erarbeitet,  ganz  anders  aus,  als  jene  Propheten  des  ,, Lebens" 
sie  erwünschen  und  erhoffen.  Es  mangelt  ihnen  vielfach  an  den  ästhetischen 
Reizen,  an  der  gewinnenden  und  bezwingenden  Aufmachung,  an  der  an- 
schmiegsamen Gefälligkeit,  die  unsere  Zeit  an  dem  liebt,  was  sie  auf  den 
Thron  hebt.  Statt  dessen  verlangen  sie  oft  eine  Zucht  des  Denkens,  eine  Ge- 
wissenhaftigkeit der  Selbstkritik,  ein  geduldiges  Einleben  in  weitgespannte 
Gedankenzusammenhänge,  wie  sie  der  Zeitgeist,  bedacht,  schnell  zu  ergreifen 
und  schnell  ergriffen  zu  werden,  höchst  ungern  sich  selbst  zumutet.  Vor  allem 
aber  weisen  diese  Synthesen  hin  auf  ein  gesteigertes  philosophisches 
Selbstbewußtsein  in  der  wissenschaftlichen  Arbeit,  das  naturgemäß 
nicht  anders  denn  als  Frucht  ausdauernden  denkerischen  Bemühens  ge- 
wonnen werden  kann. 

Es  würde  natürlich  viel  zu  weit  führen,  das  hier  Angedeutete  im  Einzelnen, 
in  seiner  Steigerung  von  den  exakten  zu  den  geisteswissenschaftlichen  und 
weiterhin  zu  den  philosophischen  Disziplinen  zu  verfolgen.  Eine  solche  Dar- 
legung würde  zeigen,  daß  der  bildnerische,  neue  Form  ersehnende  Geist,  der 
sich  als  ungeklärtes  Verlangen  in  dem  Schrei  nach  ,, synthetischer"  Wissen- 
schaft kundtut,  nicht  von  außen  her  als  Zwingherr  zum  „Leben"  über  die 
vorgeblich  erstarrte  Wissenschaft  gesetzt  zu  werden  braucht,  weil  er  in  Wahr- 
heit bereits  als  heimlicher  König  in  ihr  zu  walten  begonnen  hat. 

Und  nun  gewahren  wir  dieselbe  Korrelation,  die  uns  schon  in  früheren 
Epochen  vor  Augen  tritt.  Hand  in  Hand  mit  dieser  der  Wissenschaft  im- 
manenten Bewegung  geht  eine  gewaltige  Verstärkung  desjenigen  bildnerischen 
Triebes,  der  seinen  Gegenstand  nicht  in  sachlichen  Seinszusammenhängen, 
sondern  in  lebendigen  Seelen  findet.     In  der  jüngeren  Generation  —  und 


278  Ernst  Goldbeck, 

nicht  nur  in  ihr  —  regt  sich  erzieherischer  Geist,  wächst  die  Freude  am  Er- 
wecken und  Gestalten  jugendUchen  Menschentums  in  einer  Kraft  und  Frische, 
wie  sie  seit  langem  nicht  zu  beobachten  gewesen  sind.  Und  bei  aller  Ro- 
mantik, allem  Irrationalismus  wird  dieser  Geist  auf  die  Dauer  nicht  umhin 
können,  sich  der  Besonnenheit  zu  verbünden,  die  einzig  eine  aus  gleichen 
Lebenstiefen  gespeiste  Wissenschaft  ihm  zu  verleihen  vermag. 

Bei  dieser  Sachlage  fällt  der  höheren  Schule  ein  Mittleramt  von  höchster 
Bedeutung  zu.  Die  Formkräfte  eines  neuen  Lebensdrangs  und  den  Geist 
einer  auf  Zusammenordnung  und  philosophische  Vertiefung  bedachten 
Wissenschaft  soll  sie  zusammenführen.  So  mit  gesteigerter  Verantwortung 
beladen,  kann  sie  sich  auf  der  anderen  Seite  einer  Gunst  der  geistigen  Lage 
erfreuen,  wie  sie  ihr  in  der  vorausgegangenen  positivistischen  Phase  versagt 
geblieben  war.  Denn  sie  findet  eine  Wissenschaft  sich  gegenüber,  die  sich  in 
dem  Fortgang  ihrer  Arbeit  den  Interessen  des  bildnerisch-erzieherischen 
Tuns  sichtlich  annähert  und  voraussichtlich  noch  weiter  annähern  wird; 
und  sie  sieht  eine  Generation  heranwachsen,  der  die  Arbeit  an  der  Seele, 
der  eigenen  wie  der  fremden,  höchstes  Glück  dünkt.  Freilich  darf  demgegen- 
über ein  anderes  nicht  übersehen  werden.  Ungeachtet  der  Förderung,  die 
ihr  aus  der  „humanistischen"  Wendung  des  Geisteslebens  erwächst,  ist  ihr 
Werk  doch  ein  erheblich  schwierigeres  geworden,  verglichen  mit  der  Aufgabe, 
die  frühere  humanistische  Epochen  zu  lösen  hatten.  Wenn  es  dem  neuen 
Lebensdrang  vielfach  nicht  gelungen  ist,  in  der  Wissenschaft  unserer  Zeit 
die  verwandten  Züge  zu  entdecken,  so  verrät  sich  darin,  wie  viel  schwerer 
doch  gegenüber  früheren  Zeitläuften  der  Zugang  zu  denjenigen  wissenschaft- 
lichen Synthesen  geworden  ist,  die  dem  von  uns  erreichten  Reifestadium 
des  Geistes  angemessen  sind,  wie  viel  voraussetzungsvoller  die  philosophischen 
Betrachtungsweisen  sind,  denen  die  Herstelluhg  der  letzten  Einheit  gelingen 
kann.  Auf  eine  leichte  Ernte  zu  hoffen  hat  also  die  höhere  Schule  keinen 
Grund ;  vielmehr  tut  sich  ihr,  gerade  wenn  sie  der  Bedeutung  der  gegenwärtigen 
Lage  inne  geworden  ist,  ein  Kreis  von  pädagogischen  Problemen  auf,  die  nur 
ein  angespanntes  und  hingebungsvolles  Bemühen  zu  bewältigen  vermag. 
Gerade  dies  führt  dann  aber  auf  eine  weitere  Forderung,  die  die  höhere  Schule 
ihrerseits  zu  stellen  berechtigt  ist:  ihres  Mittleramtes  mit  Erfolg  zu  walten 
wird  sie  nur  dann  in  der  Lage  sein,  wenn  die  Pflegerin  der  Wissenschaft, 
die  Universität,  ihr  tätigen  Beistand  leistet  in  dem  Bemühen,  Brücken 
zu  schlagen  zwischen  der  Welt  der  geistigen  Bildung  und  der  Sphäre  der 
wissenschaftlichen  Forschung.  Bei  dem  Ausblick  auf  das  hier  sich  anschließende 
hochschulpädagogische  Problem  muß  es  an  dieser  Stelle  sein  Bewenden 
haben. 

Leipzig.  Theodor   Litt. 

Die  jugendliche  Persönlichkeit. *" 

Es  ist  überraschend,  wie  sicher  und  stetig  eine  Grundanschauung  über 
das  Wesen  der  jugendlichen  Reifejahre  aufgenommen  wird  und  sich  verbreitet, 
die  noch  vor  kurzem  nur  im  Besitz  einiger  weniger  war.    Man  beginnt  die 


Die  jugendliche  Persönlichkeit.  279 

Periode  jugendlichen  Kämpfens  und  Ringens,  die  etwa  in  Sekunda  einsetzt 
und  während  der  Oberstufe  anhält,  um  dann  in  der  Stundentenzeit,  manch- 
mal freilich  auch  viel  später,  zu  einer  Art  von  Abschluß  zu  gelangen,  als  die 
lang  hingezogene  Geburtsstunde  der  werdenden  Persönlichkeit  aufzufassen. 
Es  wäre  vergeblich,  diese  Auffassung  lediglich  auf  einzelne  literarische 
Anregungen  zurückzuführen.  Das  Suchen  und  Sehnen  nach  einer  beseelten 
Persönlichkeitskultur  ist  eine  umfassendere  Strömung,  zumal  des  deutschen 
Geisteslebens,  die  tief  in  die  hinter  uns  liegende  wirtschaftliche  Periode 
zurückreicht.  Es  wäre  eine  anziehende  Aufgabe,  das  langsame  Emporsteigen 
dieses  Vorgangs  einer  ersehnten  Verinnerlichung  allseitig  zu  verfolgen.  Man 
würde  dann  alsbald  entdecken,  daß  hier  eine  uralte  Strömung  im  geistes- 
geschichtlichen Ablauf  überhaupt  vorliegt,  die  etwa  von  den  Tagen  der  Sophisten 
an  in  wogenden  Wellenlinien  bis  zu  uns  hinanführt.  Manche  bedeutenden 
Vorarbeiten  und  tief  bohrenden  Ansätze  sind  vorhanden,  aber  noch  enthüllt 
sich  vor  unsern  Augen  die  große  Linie  der  Entwicklung  nicht  deutlich  genug. 

Die  Hypothese,  daß  die  Dunkelheiten  und  Schwankungen  des  Reife- 
alters die  immer  wieder  sprudelnde  Quelle  der  aufsteigenden  Persönlichkeit 
aufdecken,  wird  für  die  Erkenntnis  auch  des  geschichtlichen  Ablaufs  von 
unabsehbarer  Tragweite  sein.  Ihre  Bedeutung  reicht  aber  weiter.  Nicht  nur 
ein  theoretisch-historisches  Interesse  wird  so  Befruchtung  erfahren,  sondern 
auch  die  lebendigen  Fragen  der  Erziehung  und  des  Unterrichts  werden  aus 
dem  Zustand  der  gestaltlosen  Unsicherheit  sich  zu  Anworten,  Forderungen, 
Verhaltungsweisen  und  Maßnahmen  verdichten  können. 

Im  engeren  Bezirk  der  Jugendpsychologie  des  Reifealters  —  leider 
fast  nur  des  männlichen,  denn  sehr  langsam  scheint  die  Psychologie  des 
Mädchens  nachzufolgen,  und  leider  nur  beschränkt  auf  die  höhere  Schule, 
denn  auch  die  Psychologie  der  Schichten,  die  andere  Bildungswege  gehen, 
ist  erst  in  den  Anfängen  begriffen  —  lassen  sich  zwei  Bewegungsrichtungen 
unterscheiden,  die  im  Begriff  sind,  sich  zu  einer  Resultante  zu  vereinigen. 
Die  eine  kam  sozusagen  von  oben,  vom  beobachtenden  und  mitfühlenden 
Lehrer,  die  andere  von  unten  aus  den  Reihen  der  Jugend  selbst. 

So  manchem  Lehrer  wurde  und  wird  noch  heute  klar,  daß  das,  was  man 
die  Individualität  des  Schülers  nennt,  zumal  auf  der  Oberstufe  nicht  zu 
seinem  gehörigen  Recht  gelangt.  Viele  der  täglich  von  neuem  sich  erhebenden 
Hindernisse  im  Schulleben  müssen  auf  eine  gleichschwebende  Behandlung 
in  Erziehung  und  Unterricht  zurückgeführt  werden.  Immer  wieder  drängt 
sich  die  schwierige  Frage  auf,  ob  und  wie  es  möglich  ist,  beide  den  Antrieben 
und  Bedürfnissen  des  Einzelnen  besser  anzupassen.  Der  Krieg  brachte  aber 
diese  Bestrebungen  vorübergehend  zum  Stillstand. 

Von  der  entgegengesetzten  Seite  her  kam  die  Jugendbewegung.  Sie 
setzte  mit  demWandervogel  ein,  einer  der  seltsamsten,  noch  heute  nicht  vöUig 
ergründeten  Massenerscheinungen,  auf  die  wir  zurückblicken  können.  Von 
ihm  aus  griff  die  Jugendbewegung  um  sich,  um  zum  Teil  ganz  abweichende 
Richtungen  einzuschlagen.  Die  Wirkung  dieser  Bestrebungen  erstreckt 
sich  weit  über  die  inkorporierten  Mitglieder  hinaus.    Wer  oft  Gelegenheit 


280  Ernst  Goldbeck, 

hat  mit  Jugendlichen  zu  sprechen,  wird  alsbald  wahrnehmen,  daß  kaum 
einer  sich  diesen  Einflüssen  des  Milieus  ganz  entzogen  hat. 

Beide  Bewegungen  unterscheiden  sich  nicht  nur  durch  ihren  persön- 
lichen Ausgangspunkt,  sondern  auch  einigermaßen  in  der  Richtung  ihres 
Interesses.  Für  den  Lehrer  steht  die  Sorge  um  die  Befreiung,  Pflege  und 
Formung  der  Eigenart  des  einzelnen  Schülers  im  Vordergrund,  während 
die  Jugendorganisationen  mehr  um  die  Jugend  als  solche,  ihre  typischen 
Bedürfnisse  und  Antriebe  bemüht  sind.  Beide  nähern  und  durchkreuzen 
sich  vielfach,  insofern  ihnen  schließlich  die  Entwicklung  einer  kraftvollen 
aus  dem  Sturm  und  Drang  der  Jugend  emporgewachsenen  Persönlichkeit 
vorschwebt.  Die  Schule  sucht  mehr  die  intellektuelle  Eigenart  der  Schüler 
zu  gestalten,  der  Jugendbewegung  liegt  mehr  der  ganze  jugendliche  Mensch 
am  Herzen. 

Mit  welchem  Recht  aber  spricht  man  bei  so  jungen  Menschen  und  zwar 
bei  allen  von  einer  entstehenden  Persönlichkeit?  In  den  letzten  Jahren 
seines  Lebens  konnte  noch  ein  gewiß  so  menschlich  fühlender  und  denkender 
Mann,  wie  Adolf  Matthias,  befremdet  ausrufen :  „Jetzt  sollen  schon  die  Jungens 
eine  Persönlichkeit  haben!"  Freilich  an  die  großen  Persönlichkeiten,  die  dem 
Leben  der  Völker  ihren  Geist  aufgeprägt  haben,  die  man  lange  Zeit,  als  es 
um  die  Pflege  und  Schätzung  der  Persönlichkeit  sonst  schlecht  bestellt  war, 
allein  übrigbehielt,  —  um  diese  handelt  es  sich  nicht.  Mag  auch  so  mancher 
stürmische  JüngHng  wähnen,  er  habe  den  Feldmarschallstab  in  der  Tasche, 
später  aber  an  einer  bescheidenen  Stelle  des  Lebens  angetroffen  werden, 
auf  das  Gut,  welches  man  als  Persönlichkeit  bezeichnen  darf,  braucht  er 
damit  noch  nicht  zu  verzichten. 

Es  kann  auch  nicht  so  lange  gewartet  werden,  bis  etwa  Psychologie 
und  Philosophie  eine  so  tiefgegründete  Vorstellung,  wie  die  der  Persönlich- 
keit ist,  rational  fein  säuberlich  analysiert  und  dann  vielleicht  wieder  die 
Synthese  vollzogen  haben.  Wer  weiß  denn,  ob  ihnen  das  überhaupt  gelingen 
wird !  Gewisse  Anzeichen  sprechen  dafür,  daß  es  vielleicht  eines  Tages  glückt, 
einen  Unmöglichkeitsbeweis  für  diese  Aufgaben  zu  erbringen.  Wie  dem 
auch  sei,  gar  niemand  wird  das  Wort  ,, Persönlichkeit"  aus  seinen  Sprach- 
schatz streichen  wollen,  weil  er  es  nicht  ausreichend  zu  definieren  vermag. 
Große  und  kleine  Persönlichkeiten  stehen  lebendig  genug  vor  unseren  Augen. 
Es  gibt  keine  Gesellschaftsschicht,  die  sie  nicht  zahlreich  hervorbrächte. 
Wir  fühlen  ihren  eigentümlichen  Wert,  freilich  selten  ohne  die  Gegenwirkung 
eines  Fremden,  ja  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Feindseligen  mitzuspüren. 

Vielleicht  auch  liefert  die  Betrachtung  der  Jugend,  wenn  sie  dann  schon 
im  Reifealter  durch  die  Geburt  einer  Persönlichkeit  gekennzeichnet  sein 
soll,  einige  Klärung,  soweit  so  Irrationales  der  Klärung  fähig  ist.  Es  ist  in 
statu  nascendi  leichter  in  das  Innere  der  Natur  zu  blicken,  als  am  fertig- 
geformten Objekt.  Individualität  spricht  man  dem  Schüler,  wie  einem  jeden 
lebenden,  vielleicht  sogar  jedem  Naturobjekt  zu.  Man  weiß,  es  gibt  in  Wirk- 
lichkeit nicht  zwei  gleiche  Lebewesen  und  trotz  aller  typischen  Gebunden- 
heit erstreckt  sich  die  Verschiedenheit  bis  in  die  letzten  Kapillaren  hinein. 


Die  jugendliche  Persönlichkeit.  281 

Die  absolute  Einmaligkeit  als  solche  vermag  keinen  Wert  zu  begründen, 
denn  sie  ist  allenthalben  anzutreffen.  Dennoch  aber  pflegt  man  Individualität, 
besonders  in  deutschen  Landen,  nicht  ohne  eine  tiefgründige  Achtung  aus- 
zusprechen. Es  ist  nicht  nur  der  Schauer  der  Ehrfurcht  vor  dem  Unbegreif- 
lichen, den  wir  fühlen,  wenn  wir  ein  Lebendiges  sich  betätigen  sehen,, sondern 
mehr  noch  der  Eindruck,  hier  den  naturhaften  Nährboden  für  ein  Besonderes, 
niemals  Wiederkehrendes,  ja  fast  Heiliges  vor  uns  zu  haben,  das  nicht 
angetastet  werden  sollte,  wo  wir  seine  freie  und  lautere  Fortentwicklung 
glauben  voraussetzen  zu  können.  Dieses  absolut  Wertvolle  ist  aber  die  Per- 
sönUchkeit,  die  dem  Individuellen  als  seiner  Naturbedingtheit  entsteigen 
kann.  So  fließend  daher  die  Grenzen  zwischen  beiden  Vorstellungen  sein 
mögen,  gerade  in  diesem  Umstand  schon  ist  der  Keim  zu  jener  Anschauung 
verborgen,  die  in  der  Prägung  der  Individualität  des  Jugendlichen  die  ersten 
Züge  zur  Gestaltung  seiner  Persönlichkeit  zu  entdecken  glaubt. 

Man  weiß,  daß  die  seltsamen  Erregungen  der  jugendlichen  Menschen 
mit  dem  Prozeß  der  Geschlechtsreifung  zusammenhängen.  Allerdings  pflegt 
dieser  Prozeß  in  einem  gewissen  Grade  abgeschlossen  zu  sein,  bevor  der  eigent- 
liche Sturm  und  Drang  beginnt.  Die  vorangehende  Periode  der  physiologischen 
Einstellung  und  des  Eintretens  der  funktionellen  Neubildungen  braucht 
keineswegs  schon  von  starken  seelischen  Erschütterungen  begleitet  zu  sein, 
denen  der  16  bis  18  jährige  und  ältere  Jugendliche  ausgesetzt  ist.  Nicht  selten 
liegt  über  dieser  Frühperiode  ein  tiefes  seelisches  Dunkel  für  den  Beobachter 
und  den  Knaben  selbst  erst  recht.  Wissen  wir  doch  vom  Seelenleben  dieses 
Alters  noch  lange  nicht  genug !  Wie  aber  überhaupt  der  Prozeß  der  Geschlechts- 
reifung zur  Ursache  der  allbekannten  seelischen  Schwankungen  werden  kann, 
die  man  früher  wenig  einsichtig  in  dem  Namen  ,, Flegeljahre"  zusammenfaßte, 
entzieht  sich  ganz  unsrer  Kenntnis.  Es  empfiehlt  sich  nicht,  aus  einem  vor- 
ausgesetzten kausal-psychischen  Zusammenhang,  wie  das  leider  nicht  ganz 
selten  geschieht,  besonders  von  materialistisch  orientierten  Ärzten,  gewisse 
praktische  Vorschläge  zu  machen  und  zur  Tat  werden  zu  lassen.  Wissen 
wir  doch  nicht,  wo  wir  außer  stände  sind,  die  psychischen  Erregungen  jenes 
Lebensalters  aus  physiologischen  Vorgängen  abzuleiten,  welche  von  beiden 
Erscheinungsgruppen  die  primäre  ist,  und  ob  es  nicht  ratsamer  ist,  beide 
als  einer  gemeinsamen  tiefer  liegenden,  freilich  fast  völlig  dunkeln  Wurzel 
entsprossen  anzunehmen.  Wir  gelangen  so  sicherlich  zu  einer  vorsichtigeren 
und  taktvolleren  Behandlung  manches  schwierigen  Falles,  als  die  plumpe 
Annahme  einer  zweifelhaften  Kausalität  nahelegt.  Selbst  wenn  der  feinere 
aber  durchaus  nötige  Unterschied  zwischen  einer  Sexualität  und  einer  Erotik 
des  Menschen  überhaupt,  wie  im  besonderen  des  Jugendlichen  festgehalten 
wird,  so  bleibt  doch  immer  die  Erklärung  der  vielgestaltigen  unerotischen 
Schwankungen  und  Einstellungen  jener  Jahre  unerklärt.  Man  macht  gewiß 
vor  dem  Forum  einer  späteren  tiefer  blickenden  Psychologie  Fehler,  wenn 
man  dieses  Gebiet  abgesondert  für  sich  betrachtet.  Nach  unsrer  heutigen 
Einsicht  aber  liegt  in  einer  solchen  Beschränkung  ein  Vorzug. 

Selbst  innerhalb  dieses  engeren   Rahmens  macht  die  Erkenntnis  des 


282  Ernst  Goldbeck, 

Seelenlebens  der  Jugendlichen  starke  Schwierigkeiten.  Allerlei  Hindernisse 
stehen  dem  entgegen,  die  vor  älteren  Menschen  zum  Teil  fortfallen. 

Wir  alle  haben  jene  Periode  der  Entwicklung  durchgemacht,  aber  die 
Erinnerung  daran  pflegt  eine  höchst  blasse  zu  sein.  Man  kann  beobachten, 
daß  erst  mit  einer  gewissen  Anstrengung  Bruchstücke,  vereinzelte  Bilder 
zutage  gefördert  werden.  Tagebuchblätter,  die  häufig  angelegt  werden, 
sind  meist  vernichtet.  Der  Prozeß  des  Vergessens,  dem  alle  Erlebnisse  ver- 
gangner Zeiten  ausgesetzt  sind,  wurde  nicht  selten  bewußt  unterstützt,  als 
mit  dem  Beginn  der  männlichen  Festigung  sich  ein  Widerwille  gegen  die 
eigenen  als  häßlich  abgestoßenen  Neigungen  und  Schwankungen  einstellte. 
Sind  darüber  Jahre  und  Jahrzehnte  vergangen,  so  kann  es  sich  ereignen, 
daß  Väter  oder  Lehrer  völlig  verständnislos  oder  gar  tief  verärgert  vor  Zu- 
ständen und  Handlungen  der  Jugendlichen  stehen,  die  ihnen  selbst  einst 
hätten  nachgewiesen  werden  können.  Wer  öfter  in  der  Lage  war,  Berichte 
über  Schülerselbstmorde  zu  lesen,  wird  nicht  selten  finden,  daß  diese  furcht- 
baren Ereignisse  über  Eltern  und  Lehrer  wie  ein  Blitz  aus  heiterem  Himmel 
hereingebrochen  sind.  Niemand  hat  dann  geahnt,  daß  dem  Jungen  solche 
Entschlüsse  reifen  konnten.    Niemand  trägt  eine  Schuld. 

Ein  gewisses  Ideal  von  frischer  froher  Jugend,  das  gern  gehegt  wird, 
pflegt  den  BHck  zu  trüben  für  das,  was  in  geheimen  und  tieferen  Seelengründen 
vor  sich  geht.  Der  Lehrer,  der  Achtung  in  der  Klasse  genießt,  wird  wähnen, 
seelenruhige  Menschen  vor  sich  zu  haben.  Wer  in  der  Pause  die  lustige  Schar 
beobachtet  oder  gar  bei  flottem  Spiel,  wird  gern  der  Meinung  leben,  daß  Lebens- 
lust und  Tatendrang  die  Sonne  sei,  die  einer  glücklichen  Jugend  leuchtet. 
Pessimistische  Anwandlungen  sind  dann  etwas  Abnormes,  fast  Unmoralisches, 
jedenfalls  Unjugendliches,  und  dennoch  schlummert  in  den  Seelen  dieser 
Jugendlichen  in  der  Tiefe  ein  dunkler  lebensfeindlicher  Hang,  der  von  ein- 
zelnen Schwierigkeiten  und  Verhältnissen  unabhängig  scheinbar  grundlos 
emporsteigen  kann.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  ein  jeder  mindestens  solche 
Stimmungen  vorübergehend  genährt  hat.  In  allen  Abstufungen,  vom  flüchtig 
huschenden  Schatten  bis  zum  dauernden  Zustand  und  zum  letzten  Entschlüsse, 
pflegen  diese  Boten  aus  einer  dunklen  Welt  sich  einzustellen. 

Anders  zeigen  sich  diese  Jünglinge  im  Zwiegespräch  oder  zu  Gruppen 
vereint,  anders  in  der  Kammer  allein  oder  allein  in  der  Natur.  Eduard  Spranger 
hat  zuerst  darauf  hingewiesen,  daß  seelische  Einsamkeit  einer  der  verbreitetsten 
Züge  jener  Jahre  ist*).  Es  ist  ein  Irrtum  zu  wähnen,  daß  ein  enges  einiges 
Band  die  Schüler  einer  Klasse  umspanne.  Selbst  Freundschaften  sind  weit 
seltener  als  gemeinhin  angenommen  wird.  Sie  genügen  meist  den  hohen 
Anforderungen  jenes  Lebensalters  nicht.  Sie  kommen  und  gehen  und,  wenn 
sie  den  maßlos  gesteigerten  Anspruch  an  Aussprache  und  Hingabe  vor- 
übergehend befriedigen  sollten,  so  finden  sie  doch  nicht  selten  einen  tragischen 
Abschluß  von  innen  heraus,  der  mindestens  einen  der  Beteiligten  schwer 
erschüttert.  Auch  den  Eltern  gegenüber  tritt  diese  Vereinsamung  als  quälender 


1)  Deutsches  Philologenblatt,  1917,  1,  S.  6  ff. 


Die  jugendliche  Persönlichkeit.  283 

Zustand  auf.  Er  ist  dann  am  peinlichsten,  wenn  sich  Vater  oder  Mutter 
der  begreiflichen  Täuschung  hingeben,  ihr  Sohn  teile  alle  seine  innersten 
Erlebnisse  mit  ihnen.  Ist  es  überhaupt  nicht  leicht,  einen  Menschen  zu 
„kennen",  kennt  er  sich  doch  selbst  kaum,  so  ist  es  dem  Jugendlichen  gegen- 
über ein  besonders  böser  Mißgriff,  sich  im  Besitz  einer  einigermaßen  zu- 
reichenden Einsicht  zu  wähnen.  Lehrer,  die  ihre  Schüler,  ,,die  sie  von  Sexta 
an  gehabt  haben",  genau  kennen  wollen,  tappen  allzuhäufig  in  tiefem  Dunkel 
über  sie.  Über  ihr  Wissen  oder  einige  Fähigkeiten  möge  sie  leidlich  urteilen 
können.  Mit  dem  aber,  was  sich  in  der  Klasse  zeigt,  ist  der  junge  Mensch 
ganz  und  gar  nicht  erschöpft.  Schon  auf  Ausflügen  und  Wanderungen  kann 
er  bekanntlich  ganz  anders  aussehen,  aber  selbst  ein  tage-  und  jahrelanges 
Zusammenleben  in  der  Familie  vermag  doch  gar  nicht  selten  den  Schleier 
über  die  ersten  ureigensten  Regungen  nicht  zu  lüften. 

Diese  mystische  Einsamkeit  pflegt  mit  einer  ganz  eigentümlichen  inneren 
Unruhe  verbunden  zu  sein,  die  letzthin  inhaltlos  als  solche  wirkt,  antreibt, 
quält.  Diese  Unruhe  äußert  sich  sozusagen  motorisch  als  Wandertrieb. 
Es  ist  vergeblich  durch  rationale  Zwecksetzungen  das  Wandern  der  Jugend- 
lichen erklären  zu  wollen.  Gewiß  spielen  derartige  Motive,  wie  Schaulust 
und  andre  hinein,  aber  die  ganze  Eigentümlichkeit  dieses  Strebens  wird 
dadurch  nicht  erfaßt.  Gerade  mit  der  unerträglich  empfundenen  Einsamkeit 
pflegt  dieser  solitäre  Wandertrieb  eng  verbunden  zu  sein.  Ein  interessantes 
Kapitel  ist  überhaupt  diese  Psychologie  des  Wanderns,  wenn  man  sie  durch 
die  Jahrtausende  in  ihren  wechselnden  Formen  betrachtet.  Wandernde 
Propheten  und  Sibyllen  im  Altertum,  wandernde  Fromme  im  Orient,  wan- 
dernde liebeskranke  Prinzen  in  Tausend  und  eine  Nacht,  wandernde  Stu- 
denten im  Mittelalter,  wandernde  Handwerksburschen,  alte  und  neue  Globe- 
trotter, Orienteden  und  Weltenbummler,  der  wandernde  Goethe  —  und  wir 
selbst,  die  wohl  alle  einmal  wanderten,  vielleicht  noch  heut  Wandrer  sind, 
Wandrer  des  Lebens!  Den  bunten,  wechselnden  Gestalten  liegt  ein  gemein- 
samer Zug  zugrunde,  die  mystische  Einsamkeit  und  die  metaphysische  Un- 
ruhe, die  so  ihren  Ausdruck  findet,  aber  keine  Erlösung. 

Nicht  immer  flüchtet  die  unruhige  Seele  in  ihre  dunkelste  Gehirnkammer 
schweigsam  zurück,  um  dort  ihren  Phantasmen  und  Grübeleien  nachzuhängen. 
Andere  Naturen,  andere  Gelegenheiten  und  Verhältnisse  lassen  den  mo- 
torischen Wandertrieb  zurücktreten,  zeigen  aber  dann  die  so  eigentümliche 
Unruhe  desto  deutlicher  auf  intellektuellem  Gebiet.  Hier  gibt  es  etwas, 
das  als  jugendliche  Dialektik  bezeichnet  werden  kann.  Erfahrungen  und  Kennt- 
nisse, die  einen  festen  Boden  für  ernstes  Nachdenken  abgeben  könnten, 
sind  noch  nicht  ausreichend  vorhanden,  aber  die  Fähigkeit  zum  logischen 
Denken,  zur  spitzfindigen  Zergliederung  pflegt  weit  vorausgeeilt  zu  sein.  Es 
ist  verführerisch,  sich  dieses  Instruments,  das  jeder  normale  Mensch  bei  sich 
trägt,  zu  bedienen  um  ganz  allein  mit  ihm  als  Waffe  in  dem  Chaos  der  um- 
gebenden Welt  sich  zurecht  finden  zu  wollen.  Dieser  Versuchung  erliegen 
nicht  nur  Jugendliche  bekanntlich,  aber  bei  ihnen  ist  die  Neigung  zu  einer 
solchen  scholastischen  Bemühung  besonders  stark  und  auffällig.  Ganze  Gruppen 


284  Ernst  Goldbeck, 

von  Jugendlichen  sind  heute  in  jener  rastlosen,  ergebnislosen  Dialektik 
und  Problematik  befangen,  aus  der  neben  dem  verdächtigen  Eigengefühl 
einer  starken  Überheblichkeit  der  Unterton  einer  quälenden  Unsicherheit 
und  Tatlosigkeit  aufschwingt.  Aus  diesen  Ängsten  rettet  sich  der  beunruhigte 
Mensch  dann  nicht  selten  auf  das  Festland  des  unbegründeten  Entschlusses. 
Um  dem  Zustand  des  unerträglichen  Hin  und  Her  zu  entrinnen,  kommt 
es  zu  der  rationalen  simplen  Entschiedenheit,  die  dann  wieder  vor  dem, 
was  rechts  und  links  liegt,  Augen  und  Ohr  verschließt,  um  nur  der  Sicher- 
heit teilhaftig  zu  bleiben,  die  überall  arg  gefährdet  ist,  wo  die  feste,  aber 
schmale  Basis  verlassen  wird,  auf  der  man  glaubt  stehen  zu  können  und 
zu  sollen. 

Was  treibt  und  drängt  diese  Anfänger  so  stark  und  tief  und  so  wechselnd 
hin  und  her,  daß  kein  noch  so  dickleibiges  Buch  die  Mannigfaltigkeit  dieser 
Regungen  erschöpfen  könnte,  und  wenn  auch  zahllose  hingebende  Beobachter 
und  Freunde  der  Jugend  sich  zusammentäten,  um  alle  Erscheinungen  nur 
zu  fassen  und  zu  beschreiben,  geschweige  denn  zu  verstehen?  Vielleicht  ist 
es  die  Entdeckung  des  eigenen  Ich,  das  aus  der  Unbewußtheit  der  Knaben- 
jahre als  eine  halbgefühlte,  halbdurchdachte  Rätselfrage  aus  dem  Seelen- 
dunkel emposteigt.  Gewiß  gebraucht  ein  jeder  Mensch,  der  sprechen  kann, 
das  Wort  „ich",  und  es  ist  sicher,  daß  es  schon  beim  Kinde  und  Knaben  eine 
unabsehbare,  aber  nur  sehr  unzureichend  bekannte  Bedeutung  hat.  Ein 
üppiges  Phantasieleben  umgaukelt  im  einsamen  Spiel,  wie  auch  im  verhüllten 
Spielkampf  das  Ich  der  Kinder  und  Knaben.  Der  Knabe  zumal  beginnt 
schon,  sich  in  allerlei  Lagen  heldenhafter  Zukunft  hineinzu träumen.  Gibt 
es  doch  Primaner,  die  trotz  hoher  geistiger  Entwicklung  noch  mit  Soldaten 
spielen.  Eine  spätere  Besinnung  deckt  dann  erst  auf,  daß  sie  bei  dieser  ru- 
dimentären Knabenbeschäftigung  sich  in  die  Lage  eines  Friedrichs  oder 
Napoleons  hineinphantasierten.  Solche  Phantasien  erstrecken  sich  oft  weit 
aus  der  Knabenzeit  bis  in  spätere  und  späteste  Lebensalter  hinein.  Wie 
oft  wohl  mag  ein  Mann  in  verantwortungsvoller,  lebensreicher  Stellung 
heimlich  in  später  einsamer  Stunde  irgendeine  Indianergeschichte  noch 
einmal  durchblättert  haben,  die  ihn  als  Knaben  gefangen  hielt !  An  einem  pro- 
duktiven selbstätigen  Ich  gebricht  es  also  den  früheren  Stufen  der  Entwick- 
lung nicht.  Spricht  man  von  einer  Entdeckung  des  Ich  im  Reifealter,  so 
muß  etwas  anderes  gemeint  sein. 

Das  Neue  liegt  nicht  in  einer  wachsenden  Erweiterung  und  Stärkung 
des  Ich-Eindrucks,  sondern  in  der  mehr  und  mehr  zum  Bewußtsein  gelangen- 
den Kampfstellung  dieses  vom  eigenen  Wollen  und  Denken  unabhängig 
nach  oben  und  zum  Ausdruck  drängenden  eigensten  Wesens  der  gesamten 
Umgebung  gegenüber. 

Ein  manchmal  unbändiger,  oft  seltsam  gewendeter  Freiheitsdrang 
pflegt  das  allgemeinste  und  erste  Zeichen  dieser  inneren  Bewegung  zu  sein. 
Die  eigene  Erotik  wünscht  sich  unbehindert  entfalten  zu  können.  Einwände 
und  Verbote  werden  in  allen  Abstufungen  des  Widerstandes  abgelehnt, 
notgedrungene  Heimlichkeiten  werden  als  unwürdig  empfunden.    Das  greif- 


Die  jugendliche  Persönlichl<eit.  285 

bare  Symbol  dieses  Strebens  ist  der  oft  heiß  umstrittene  Hausschlüssel. 
Überhaupt  wünschen  diese  jungen  Menschen  zu  beliebiger  Zeit  gehen  und 
kommen  zu  dürfen.  Ein  Hauptreiz  des  Wandervogels  liegt  in  der  oft  langen 
unkontrollierten  Abwesenheit  vom  Heim. 

Sie  haben  dabei  eine  sonderbare  unregelmäßige  Rhythmik  des  äußeren 
Lebens.  Die  regelmäßigen  Mahlzeiten,  des  Dienstes  ewig  gleichgestellte 
Uhr  werden  als  peinlich  und  feindlich  empfunden.  Man  legt  sich  abends 
gehorsam  ins  Bett,  wartet  im  Scheinschlaf  die  elterliche  Visitation  ab,  um, 
wenn  alles  still  geworden  ist,  wieder  aufzustehen  und  in  der  Nacht  zu  arbeiten, 
zu  lesen,  leise  Klavier  zu  spielen  oder  auf  der  Straße  herumzustreichen. 
Zu  der  willkommenen  Ungebundenheit  gesellen  sich  die  Reize  des  Verbotenen, 
der  nächtlichen  Stille  und  der  Geheimnisse  der  Dunkelheit, 

Auch  auf  geistigem  Gebiet  wird  letzte  Freiheit  gesucht.  Man  will  erfahren 
und  lesen,  was  gerade  beliebt.  Die  Kampfstellung  tritt  hier  noch  deutlicher 
heraus.  Was  in  der  Schule  nicht  berührt,  was  im  Hause  abgelehnt  wird, 
bevorzugt  man.  Gewisse  große  Denker  und  Dichter  erfreuen  sich  einer  vor- 
übergehenden Modebeliebtheit.  Einst  war  es  Schopenhauer ,  dann  kam  Nietzsche, 
dann  Ibsen,  dann  Wedekind  und  Strindberg!  Manchmal  sind  sie  es  noch 
heut  allesamt !  Auch  hier  ein  launenhafter  Rhythmus !  Perioden  einer  sinn- 
losen Lesewut  wechseln  mit  Zeiten  des  scheinbaren  Stillstandes,  wo  alle 
Bücher  „in  die  Ecke  geworfen  werden".  Heftige  Bleistiftstriche  bezeichnen 
die  Augenblicke  stärksten  Mitschwingens.  Das  Tempo  ist  meist  ein  fieber- 
haftes. Zu  einem  vollen  Genuß  kommt  es  nicht,  auch  nicht  zu  vertiefter 
Aufnahme.  Wie  im  Kino  wird  mehr  Inhalt  gesucht  und  Erregung,  als  Ver- 
senkung in  künstlerische  Form.  Dann  aber  wieder  kommt  es  vor,  daß  ein 
gewisser  Autor  immer  und  immer  wieder  gelesen  wird,  fast  bis  zur  Versklavung. 
Wie  überall,  so  sind  auch  hier  die  wechselnden  Gestalten  schwer  zu  gruppieren, 
unmöglich  auszuschöpfen. 

Die  halb  ängstlichen,  halb  •  heftigen  Versuche  zu  einer  Umgrenzung 
des  eigenen  Ich  äußern  sich  zunächst  in  einer  theoretischen  und  praktischen 
Negation.  Sie  richtet  sich  anfangs  gegen  lebende  Einzelpersonen,  die  den 
Widerstand  verkörpern,  der  unbeliebt  ist.  Es  kommt  zu  einer  Gegensätz- 
lichkeit gegen  die  Eltern,  meist  den  Vater,  oder  zu  Lehrern,  die  auf  gewissen 
Forderungen  der  Disziplin  und  der  Arbeit  bestehen.  Allmählich  aber,  auch 
im  Zwiegespräch  mit  gleichaltrigen  Leidensgefährten,  enthüllt  sich  die  Tat- 
sache, daß  diese  Personen  nur  die  Träger  gewisser  „Ideen"  sind,  und  dann 
hebt  der  zweite  wichtigere  Abschnitt  dieser  Entwicklung  an.  Ideen  sind 
es,  Gemeinschaftsideen,  mit  denen  sich  der  Jugendliche  in  seiner  Art  be- 
ginnt auseinanderzusetzen.  Zieht  man  dieses  wechselvolle  Treiben  auf  den 
dünnen  Draht  eines  Schemas,  so  ist  es  die  Kritik  an  der  Familie,  an  der  Ge- 
sellschaft, an  der  Schule,  an  der  Wissenschaft,  an  der  Kirche,  am  Staat, 
die  hier  nach  Ausgleich  ringt. 

So  peinlich  und  quälend  diese  Einstellung  gerade  für  die  zu  sein  pflegt, 
die  dem  jungen  Menschen  am  nächsten  stehen  und  manchmal  ohnmächtig 
am  nächsten  stehen,  so  entscheidend  ist  doch  diese  Periode  für  die  gesamte 


286  Ernst  Goldbeck, 

Zukunft  des  werdenden  Mannes,  denn  sie  ist  die  Geburtstunde  der  wer- 
denden Persönlichkeit.  Wie  naturhafte,  individuelle  Eigenart  sich  vereinigt 
oder  trennt  von  den  großen  objektiv  ihr  gegenübertretenden  Gemeinschafts- 
ideen, das  bestimmt  nach  Eigenart  und  Kraft  dasjenige,  was  wir  als  Per- 
sönlichkeit einzuschätzen  pflegen. 

Mag  ein  solches  Schema  nun  richtig  oder  falsch  sein,  mag  es  schwierig 
sein,  alle  Einzelfälle  einzuordnen,  mag  es  nötig  sein  noch  weitere  Gesichts- 
punkte ganz  anderer  Art  aufzustellen,  um  zu  einem  einigermaßen  zureichenden 
Verständnis  der  an  sich  wirren  Erscheinungen  der  jugendlichen  Entwicklungs- 
zeit zu  führen,  einen  Vorzug  hat  eine  solche  Arbeitshypothese  jedenfalls 
Sie  befreit  von  einer  dilettantischen,  von  Fall  zu  Fall  unsicher  schwankenden 
Beurteilung  einerseits  und  von  der  Starrheit  einer  von  außen  herangebrachten 
bequemen  moralisierenden  Verurteilung  andererseits.  Zuerst  heißt  es  ver- 
stehen, was  da  vorgeht.  Die  Kraft  zum  Beurteilen  und  handelnden  Eingreifen 
muß  darüber  hinaus  aber  erhalten  bleiben.  Es  genügt  weder  mit  einem  gleich- 
machenden toleranten  Wohlwollen  den  unliebsamen  Schwankungen  der 
Jugend  tatenlos  gegenüberzustehen,  noch  ihr  ohne  Verständnis  für  den 
tieferen  Sinn  der  Vorgänge  mit  einem  festen  Moralkodex  entgegenzutreten, 
der  lebendiger  Entwicklung  Zwang  antut.  Erziehung  bleibt  allezeit  ein  sich 
von  Individuum  zu  Individuum  neu  erhebendes  Problem.  Sie  ist  eine  Kunst 
in  weit  höherem  Grade  als  eine  Wissenschaft.  Die  Annahme  aber,  daß  es 
sich  hier  um  einen  Prozeß  von  grundlegender  Bedeutung  handelt,  verhütet 
sicherlich,  daß  aus  einer  naiven,  wenn  auch  verständlichen  Verärgerung 
oder  gar  Entrüstung  mit  plumpen  Händen  angetastet  wird,  was  der  sorg- 
fältigen Betrachtung  und  Pflege  bedürftig  ist.  Gar  mancher  schwere,  ja  furcht- 
bare „Disziplinarfair*  hätte  zu  einem  glückUchen  Ende  geführt  werden 
können,  wenn  mindestens  einigen  der  Beteiligten  klar  geworden  wäre,  daß 
selbst  sehr  häßliche  Zustände  gar  nicht  so  selten  eigenartige  und  für  das  In- 
dividuum notwendigen  Durchgangsstufen  bedeuten.  Die  ganze  unsagbar 
schwierige  Arbeit  der  Ausschaltung  oft  scheinbar  ganz  abgelegener  Mitwir- 
kungen des  Milieus  wird  eher  unternommen,  wenn  die  Aussicht  besteht, 
daß  eine  glückliche,  ja  bedeutende  Lösung  nicht  ausgeschlossen  ist. 

Menschenkenntnis  wird  in  schier  unabsehbarem  Umfang  und  in  uner- 
gründlicher Tiefe  immer  dazu  nötig  bleiben,  aber  Menschenkenntnis  wird 
auch  in  ungeahnter  Fülle  auf  denjenigen  einströmen,  der  sich  mit  offenen 
Sinnen  und  in  selbstloser  Hingabe  >  der  großen  Aufgabe  solcher  Jugend- 
pflege hingibt.  An  vielen  Punkten  hierbei  uns  und  draußen  ist  man  am  Werke, 
die  große  Sache  zu  fördern.  Vielleicht  den  reichsten  Gewinn  aber  werden 
wir  Eduard  Sprangers  an  Wissenschaft  und  Wirklichkeit  gleichmäßig  orien- 
tiertem Buch  verdanken,  das  unter  dem  Titel ,, Lebensformen"  völlig  umge- 
staltet aus  kleinem  Ansatz  in  zweiter  Auflage  nun  vor  uns  liegt i).  Hier  wird 
der  vollendete  Mensch  betrachtet.  Die  Anpassung  an  die  Jugendpsychologie 
ist  noch  zu  vollziehen.   Ist  es  aber  zutreffend,  daß  wir  in  dem  Verhalten  der 

^)  Lebensformen.  Gtisteswissenschaftliche  Psychologie  und  Ethik  der  Persönlichkeit. 
2.  Aufl.    Halle  a.  S.  1921,   M.»x  Niemeyer. 


Die  Jugendliche  Persönlichkeit.  287 

Jugendlichen  die  erste  Phase  der  Entwicklung  zur  PersönHchkeit  vor  uns 
sehen,  so  wird  von  den  Formen  menschlichen  gestalteten  Lebens,  die  Spranger 
ausbreitet  sowie  von  seinen  methodischen  Darlegungen  eine  neue  Funda- 
mentierung  der  jugendUchen,  wie  jeder  Individualpsychologie  überhaupt 
zu  hoffen  sein. 

Unabhängig  aber  von  diesen  Untersuchungen  mögen  hier  noch  einige 
Hauptformen  der  jugendlichen  Gestaltung  aufgezeigt  werden,  damit  unser 
Persönlichkeitsschema  nicht  allzu  blutleer  bleibe! 

Im  allgemeinen  wird  der  Jugendliche  nicht  all  den  Ideen,  die  ihn  um- 
geben, mit  gleichem  Interesse,  sei  es  ablehnend,  sei  es  zustimmend,  gegen- 
übertreten. Ein  Fall  aber,  der  vor  allen  anderen  betrachtet  werden  muß, 
tritt  dann  ein,  wenn  dieses  supponierte  Ich  der  Gesamtheit  dieser  Ideen 
gegenüber  eine  einheithch  geschlossene  Stellung  einnimmt.  Die  beiden  äußer- 
sten Pole,  die  dann  zu  bemerken  sind,  und  zwischen  denen  wieder  zahllose 
Zwischenstufen  auftauchen,  sind  die  absolute  Position  und  die  absolute 
Negation  des  Ichs.  Beide  Fälle  treten  auf,  werden  aber  mit  besonderer  Kraft 
verheimlicht,  weil  sie  dem  stärksten  Widerstand  begegnen. 

Nicht  selten  streift  der  Blick  des  JugendUchen  die  großen  bindenden 
Gemeinschaftsideen,  die  ihn  umgeben,  nur  flüchtig,  aber  mit  schroffer  Ab- 
lehnung. Es  tritt  dann  der  Phänomen  eines  rücksichtslosen  und  grenzenlosen 
Egoismus  zutage.  Diese  Einstellung  bleibt  manchmal  rein  theoretisch.  Dann 
heißt  es,  keine  menschliche  Handlung  und  sei  sie  noch  so  edel,  sei  etwas  anderes 
als  ein  verkappter  Egoismus.  In  dieser  blassen  Form  ist  diese  Einstellung 
weitverbreitet.  Sie  tritt  dem  Lehrer,  der  über  ethische  Fragen  im  ReU- 
gions-  oder  Philosophieunterricht  spricht,  falls  er  freie  Meinungsäußerung 
ernstlich  zuläßt,  regelmäßig  entgegen.  Aber  auch  die  ganz  untheoretische 
Praxis  findet  sich.  Sie  äußert  sich  nicht  immer  nur  in  den  Formen  eines  un- 
gezogenen rücksichtslosen  Benehmens,  besonders  in  der  Familie,  sondern 
kann  sich  zu  ganzen  Lebensplänen  gestalten.  Geld  und  Macht  sind  dann 
die  einzigen  Ziele  des  Strebens.  Ein  viel  bewundertes  Ideal  wird  Napoleon. 
Sogar  vor  der  Konsequenz,  daß  solche  sogenannten  Güter  mit  unmoralischen 
Mitteln  zu  erstreben  seien,  wird  nicht  zurückgeschreckt.  Nicht  immer  wird 
all  dies  jugendliche  Gehabe  später  WirkHchkeit.  Wer  aber  Gelegenheit  hatte, 
Leute,  die  in  der  Tat  zu  Geld  und  Macht  gelangten,  genauer  kennen  zu  lernen, 
kann  mit  Staunen  wahrnehmen,  wie  dieser  jugendliche  Zug  trotz  aller  mög- 
lichen Einschränkungen  diktatorisch  das  ganze  Leben  hindurch  bestimmend 
fortgewirkt  hat. 

Den  Gegenpol  hierzu  bildet  die  jugendHche  Mystik,  die  sich  des  eigenen 
Ich  völlig  zu  entäußern  strebt.  Es  ist  wohl  wenig  bekannt,  daß  buddhistische 
Einflüsse  manchmal  zu  einer  ganz  absonderlichen  Steigerung  asketischer 
und  weltflüchtiger  Antriebe  bei  Jugendlichen  führen.  Nicht  allein  die  ,,Welt" 
erscheint  bis  in  das  Mark  verfault  und  häßUch,  auch  das  eigene  Ich  wird 
Gegenstand  empörter  Anwürfe.  In  einem  jüngst  erschienenen  Novellen- 
fragment Siddartha,  der  Geschichte  eines  edlen  indischen  Jünglings,  hat 
Hermann  Hesse  ein  phantastisches  Stück  solcher  Jugendpsychologie  geliefert. 


288  Ernst  Ooldbeck, 

Was  dort  im  indischen  Gewände  auftritt,  findet  sich  in  extremer  Ausbildung 
auch  bei  uns.  Dann  soll  die  Familie  verlassen  und  ein  unstetes  Wanderleben 
als  Bettler  geführt  werden  unter  asketischer  Entsagung  bis  zur  letztmöglichen 
Entäußerung  vom  quälenden  Ich.  Es  handelt  sich  um  eine  größere  und 
weitere  Strömung,  die  da  einen  jugendlichen  Moralisten  ergreift.  Es  bleibt 
meist  bei  einigen  Versuchen  oder  bei  einem  jahrelangen  geheimen  Spiel 
mit  diesen  Neigungen. 

Dieselben  Übertreibungen  erwachsen  aber  auch  auf  dem  Gebiet  sozialer 
Hingabe.  Im  Fahrwasser  äußerster  Linksströmungen  kommt  es  zum  tiefen 
Haß  gegen  die  eigene  „bourgeoise"  Persönlichkeit.  In  jedweder  „Ichkultur" 
wird  der  eigentliche  Antichrist  entdeckt.  Eine  über  die  ganze  leidende  Mensch- 
heit ausgebreitete  Erotik  fordert  nachhaltig  Rückkehr  zu  primitivem  Leben, 
Flucht  vor  den  Unmöglichkeiten  der  Kultur  und  die  asketische  Entäußerung 
vom  eigenen  Selbst. 

Es  ist  so  beliebt,  wie  bequem,  solche  Zuspitzungen  als  krankhaft  mit 
rascher  Handbewegung  abzutun.  Um  krankhafte  Zustände  handelt  es  sich 
dabei  meist  nicht,  sondern  um  den  bekannten  jugendlichen  Rigorismus 
und  Radikalismus.  Die  extreme  Ausbildung  hat  für  den  Psychologen  sogar 
den  Vorteil,  daß  sie  ein  Element  isoliert  aufdeckt,  das  in  den  zahlreichen 
Zwischenstufen  und  Mischformen  schwer  erkennbar  sein  würde.  Der  Aus- 
gleich zwischen  Eigensucht  und  Hingabe  zeigt  die  Mischung  dieser  Elemente 
in  allen  möglichen  Proportionen. 

Wir  betrachteten  die  extremen  Stellungnahmen  der  absoluten  Position  des 
Ich  und  der  absoluten  Negation  als  eines  letzten  Lebenszieles  und  betonten, 
daß  diese  Entscheidungen  summarisch  sich  gegen  die  gesamte  Ideologie  richten, 
ohne  in  eine  eigentliche  Problematik  einzutreten.  Es  kann  aber  auch  eine 
völlige  Ablehnung  nach  eingehender  Prüfung  eintreten.  Dergleichen  trifft 
man  bei  philosophischen  Köpfen  an.  Der  Primaner  X  entstammt  einer  hoch- 
gebildeten, reichen  und  vornehmen  Familie.  Mit  seinen  Eltern  lebt  er  in 
tiefem,  schwer  empfundenen  Zerwürfnis  wegen  seiner  überspannten,  an  mo- 
derner Philosophie  genährten  und  geformten  Ideen.  Er  ist  ein  guter  Schüler; 
Lehrern  und  Mitschülern  gegenüber  von  ruhigen,  etwas  kühlen,  aber  höf- 
lichen Umgangsformen.  Eines  Tages  hält  er  für  richtig  „in  Schönheit  zu 
sterben".  Niemand  ahnt  etwas  von  diesem  Entschluß.  Erst  in  seinem  Nach- 
laß findet  man  leidenschaftliche,  meist  poetische  Ergüsse  gegen  Familie, 
Kirche,  Kultur,  Staat.  In  der  Verzweiflung  aus  dieser  Problematik  heraus- 
zukommen, in  der  vollendeten  Hilflosigkeit  und  Einsamkeit  reift  der  letzte 
furchtbare  Entschluß  ohne  jeden  besonderen  Anlaß. 

Weit  häufiger  wendet  sich  der  Jugendliche  gegen  einzelne  Ideen- 
gruppen im  besonderen.  Der  verbreitetste  Zug  ist  die  Stellungnahme  gegen 
die  Familie.  Meist  schließt  sich  sich  die  Opposition  gegen  das  an,  was  der 
Jugendliche  als  die  Gesellschaft  vor  sich  sieht  und  ihre  Kultur,  so  wie  sie 
ihn  in  der  Großstadt  umgibt.  Uralte  Ideale,  die  vom  goldenen  Zeitalter 
bis  auf  uns  reichen,  drängen  da  in  neuen  Formen  zur  Verwirklichung.  Ein 
„reines,  leidenschaftliches,  wildes  Leben"  ist,  was  jene  erstreben! 


Die  jugendliche  Persönlichkeit.  28& 

Andere  wieder  werden  durch  gebundenen  kirchlichen  Geist  zum  Wider- 
stand gereizt.  In  allen  Konfessionen,  besonders  da  wo  ein  verknöcherter 
Unterricht  erteilt  wird,  findet  man  eine  mehr  oder  minder  geheime  skeptische 
Durchwühlung  der  verkündeten  Lehren,  eine  verstandesmäßig-rationalistische 
Zergliederung  und  eine  peinUche  Verständnislosigkeit  für  die  tieferen  der 
grübelnden  Vernunft  unzugänglichen  Elemente  dieser  großen  Gemeinschafts- 
ideen. Zumeist  jedoch  entdeckt  man  auf  dem  Grunde  der  Seelen  dieser 
jungen  Häretiker  eine  tiefe  Sehnsucht  nach  lebendigem  religiösen  Leben. 
Wer  es  zu  wecken  vermag,  ist  meist  einer  glühenden  Anhängerschaft  sicher. 

Radikale  Einstellungen  dem  Staate  gegenüber  sind  bei  der  Jugend 
seit  alter  Zeit  bekannt.  Schon  Bismarck  verließ  das  Gymnasium  als  ,,de- 
cidierter  Republikaner".  Heut  pflegt  damit  eine  Stellungsnahme  zu  den  so- 
zialen Fragen  verknüpft  zu  sein.  Man  findet  sowohl  einen  ausgeprägten, 
stark  gefühlsmäßig,  sachlich  schwach  begründeten  Rechts-  oder  Linksradi- 
kalismus einerseits  und  einen  weitverbreiteten  skeptischen  Indifferentismus 
andererseits.  Viel  seltener  ist  eine  ernstliche  Vertiefung  in  die  gegenwärtigen 
Fragen.  Man  pflegt  sich  dieser  Lage  gegenüber  damit  zu  trösten,  daß  dieser 
Radikalismus  gemäß'gteren  Auffassungen  mit  den  Jahren  weicht  und 
denkt  damit  nicht  unrichtig.  Zu  beachten  bleibt  aber,  daß  solche  ersten 
Entschlüsse  so  oder  so  von  einer  nachhaltigen  Wirkung  für  die  weitere  Ent- 
wicklung bleiben  und  daher  als  Elemente  für  die  endgültige  Gestaltung 
der  Gesamtpersönlichkeit  bedeutungsvoll  sind. 

Diesen  Negationen,  die  verhältnismäßig  bekannt  sind,  pflegen  positive 
Gegenströmungen  entgegenzulaufen,  die  unsere  Aufmerksamkeit  in  weit 
höherem  Grade  auf  sich  ziehen  sollten,  als  gemeinhin  bisher  geschah.  Es 
ist  eine  Aufgabe  von  größter  Bedeutung  für  den  Einzelnen  und  für  die  Ge- 
samtheit, daß  ein  jeder  in  die  Lage  versetzt  werde,  sein  eigenes  Ich  in  der 
ihm  eigentümlichen  Struktur  zu  entdecken  und  zu  prägen,  und  daß  ihm  später 
im  Beruf  das  Feld  eröffnet  werde,  auf  dem  er  sich  nützhch  betätigen  kann. 

Da  ist  zunächst  zu  betonen,  daß  die  Aufgabe,  das  eigene  dauernde  Lebens- 
interesse aufzufinden,  sich  meist  als  eine  recht  schwierige  erweist.  Man  be- 
gegnet gar  nicht  selten  der  Ansicht,  es  sei  in  den  Reifejahren  ein  leichtes, 
festzustellen,  welche  Teilgebiete  der  Kultur  dem  Jugendlichen  nach  seiner 
Eigenart  naheliegen  müßten.  Sieht  man  von  den  matten  und  faden  Menschen 
ab,  die  keine  noch  so  sorgfältige  Schülerauslese  ganz  beseitigen  wird,  so  gibt 
es  auch  nicht  wenige  Naturen,  die  sich  schwer  finden  und  bis  zum  letzten 
Tage  ihres  Schullebens,  ja  darüber  hinaus  in  quälender  Unsicherheit  verharren, 
wer  und  was  sie  denn  eigentlich  seien.  Auf  die  Reize  des  vielgestaltigen  Kul- 
turgutes, das  auf  diese  jungen  Menschen  eindringt,  antwortet  die  Seele  manch- 
mal nur  unhörbar  leise,  manchmal  auch  in  lauter  bejahender  oder  verneinen- 
der Heftigkeit,  aber  bald  darauf  stellt  sich  das  entgegengesetzte  Geflüster 
ein.  Solche  jungen  Menschen  werfen  sich  manchmal  mit  leidenschaftlicher 
Heftigkeit  auf  ein  Gebiet,  das  sie  mächtig  interessiert.  Sie  arbeiten  unter 
Vernachlässigung  anderer  Pflichten  Tag  und  Nacht  an  den  meist  sehr  abge- 
legenen Stoffen,  die  sie  sich  aussuchen,  um  dann  plötzlich  ohne  recht  er- 

Monatschrift  f.  hfth.  Schulen.    XX.  Jhrg.  19 


290  Ernst  Goldbeck, 

kennbaren  Grund  zu  erlahmen.  Es  tritt  eine  Ruhepause  voll  müder  Resig- 
nation ein,  nach  der  das  Spiel  an  einer  anderen  Stelle  sich  wiederholt.  Andere 
wieder  grasen  sozusagen  systematisch  wie  weiland  Faust  die  vier  Fakultäten 
ab,  ohne  irgendwo  sich  selbst  zu  finden.  Auch  hier  gibt  es  zahllose  Spielarten. 
Vor  der  notwendigen  Berufswahl  kann  dieser  Zustand  der  Ratlosigkeit  für 
alle  Beteiligten  ein  sehr  quälender  werden. 

Auch  wenn  solche  Unsicherheit  nicht  so  weit  geht,  sondern  sich  auf  zwei 
oder  drei  Fächer  beschränkt,  können  ganz  erhebliche  innere  Nöte  entstehen. 
Es  gibt  Mathematiker,  welche  jahrelang  darum  kämpften,  ob  sie  nicht  lieber 
Musiker  werden  sollten.  Ein  weltberühmter  Altphilologe  hat  lange  geschwankt, 
ob  er  nicht  lieber  Chemiker  werden  sollte.  Erst  nach  vielen  inneren  Kämpfen 
hat  Goethe  erkannt,  daß  er  zum  Maler  nicht  geboren  sei. 

Was  geht  aus  diesen  Beispielen,  die  sich  beliebig  vermehren  ließen, 
hervor?  Es  zeigt  sich,  daß,  wenn  auch  das  angestrengte  Streben  vorhanden 
ist,  die  eigene  Art  und  Persönlichkeit  zu  erfassen,  doch  von  einem  rechten 
Erfolg  dieses  Bemühens  selten  die  Rede  sein  kann.  Man  hört  heute  manch- 
mal von  der  ,, Struktur"  einer  Persönlichkeit  reden,  auch  der  Jugendlichen. 
Es  ist  schon  wahrscheinlich,  daß  es  so  etwas  wie  eine  solche  Struktur  gibt, 
aber  es  ist  fraglich,  ob  sie  jemals  adäquat  erkannt  werden  kann  und  es  ist 
sicher,  daß  sie  bei  Jugendlichen  kaum  je  gehörig  erkannt  werden  wird.  Der- 
gleichen Betrachtungen  bekommen  eine  erhebliche  Tragweite  überall  da, 
wo  Organisationen  geschaffen  werden  sollen,  die  der  Entwicklung  der  jugend- 
lichen Persönlichkeit  zu  dienen  hätten.  Ähnlich  wie  von  Struktur  hört  man 
auch  von  Einheit  der  PersönUchkeit  sprechen.  Es  mag  sein,  daß  es  dergleichen 
als  ein  dunkles,  aber  bestimmendes  Gefühl  gibt,  vielleicht  auch  als  eine  be- 
wußte Zielsetzung.  Im  Reifealter  aber  von  einer  nennenswerten  Annäherung 
an  den  Zustand  einer  gehörigen  Verbindung  der  auftretenden  Strebungen 
und  eines  geschlossenen  Zusammenwirkens  zu  reden  ist  bedenklich. 

Die  Bestimmung  der  eigenen  Persönlichkeit  nach  ihren  Interessen  hier 
wird  dem  JugendUchen  durch  einen  eigentümlichen  Widerstreit  manchmal 
stark  erschwert.  Es  gibt  Interessen,  die  aus  der  Knabenzeit  in  die  der  Reife 
übergehen.  Ein  zehnjähriger  Junge  wird  in  einem  Seebade  zur  Besichtigung 
eines  Kriegsschiffes  mitgenommen.  Es  interessiert  und  imponiert  ihm  der- 
artig, daß  er  nur  mit  dem  äußersten  Widerstreben  schließlich  das  Schiff 
verläßt.  Der  Primaner  faßt  den  Entschluß,  Schiffsbauer  zu  werden.  Dieser 
Entschluß  hat  seine  Geschichte.  An  der  Spitze  steht  ein  früher  überaus 
starker  Eindruck,  der  fast  wie  eine  Zwangsidee  bestimmend  in  der  Seele 
haften  bleibt.  Ursprünglich  schloß  sich  an  ihn  die  Absicht  an,  Seeoffizier 
zu  werden,  die  im  späteren  Knabenalter  auftauchte.  Als  dieser  Plan  unaus- 
führbar wurde,  kam  der  Rückgang  auf  den  Schiffsbauer.  Es  fragt  sich,  wirkte 
hierbei  das  Reifealter  gar  nicht  mit?  Nur  in  einem  unausgesprochenen  Hinter- 
gedanken! Der  Primaner  hofft  bei  dieser  Gelegenheit  weite  Reisen  machen 
zu  können.  Solche  Fälle  aus  früheren  Entwicklungsstadien  bestin:mend 
in  die  Reifejahre  hineinreichende  Eindrücke  sind  nicht  selten.  Sie  geraten 
häufig  in  Widerspruch  mit  dem  Allgemeinzustand  des  Jugendlichen. 


Die  jugendliche  Persönlichkeit  291 

Wir  sahen  eine  Tendenz  auf  Spezialisierung  hin,  aber  wie  überall  er- 
gibt sich  eine  seelische  Gegenwirkung.  Die  jugendliche  Persönlichkeit  wünscht 
nicht  allein  ihr  Zentrum  zu  entdecken,  sondern  sie  strebt  auch  nach  einer 
gewissen  peripherischen  Ausbreitung.  Das  Streben  nach  Totalität  des  eigenen 
Ich  wie  auch  der  Erfassung  der  gesamten  Umwelt  ist  unverkennbar.  Hieraus 
ergibt  sich  eine  starke  seelische  Antinomie,  die  ein  erhebliches  Schwanken 
im  Aufbau  der  Persönlichkeit  einerseits  und  parallel  dazu  in  der  Berufswahl 
andererseits  hervorbringt.  Es  ist  bekannt  z.  B.,  daß  viele  Knaben  nicht 
ohne  Geschick  „basteln".  Hieraus  entsteht  fast  zwangsweise  die  Neigung 
Techniker  zu  werden,  obgleich  das  rein  mechanische  erfindungsarme  Basteln 
den  Techniker  wahrlich  nicht  ausmacht.  Dann  beginnen  im  Reifealter  sich 
alle  möglichen  anderen  Interessen  zu  regen,  von  denen  oft  keine  einzige  stark 
genug  ist,  um  ernstlich  in  die  Mitte  gestellt  zu  werden,  und  so  entsteht  ein 
Zustand  unseligen  Schwankens,  der  angesichts  der  Berufswahl  gefährlich 
werden  kann.    Dies  nur  ein  Beispiel  für  viele  andere! 

Erkannten  wir  so  in  dem  Ringen  der  werdenden  Persönlichkeit  und  in 
dem  Streben  nach  einer  in  gewissem  Maße  allseitigen  Erfassung  der  Welt 
zwei  einander  entgegen  wirkende  Kräfte,  so  müssen  wir  doch  immerhin  beide 
als  positive  Momente  ansprechen  zur  Entdeckung  der  persönlichen  Struktur. 
Ein  schärferes  Hinblicken  auf  diese  Vorgänge  zeigt  dann  aber,  daß  es  un- 
zulässig ist,  die  Erscheinungen,  die  oben  vorläufig  als  rein  negative  oder 
Kampfesstellungen  gegen  Umgebendes  oder  Bestehendes  angesehen  wurden, 
nur  als  solche  zu  betrachten.  Eine  allgemeine  zerrüttende  Skepsis  trifft 
man  in  jenem  Lebensalter  wohl  nicht  an,  wenigstens  pflegt  sie  nicht  sonder- 
lich ins  Innere  der  eigenen  Natur  einzudringen.  Die  Kampfesstellungen, 
so  heftig  und  eindeutig  sie  sich  gebärden  mögen,  entspringen  vielmehr  einem 
Rigorismus  und  Idealismus,  die  der  Erwachsene,  der  die  praktische  Proble- 
matik des  Lebens  an  sich  und  anderen  erfahren  hat,  nicht  mehr  aufzubringen 
vermag.  Hinter  dem  Widerstreben  gegen  Familie,  Gesellschaft,  Kirche,  Staat 
stehen  die  oft  unausgesprochenen,  oft  enttäuschten  Forderungen  einer  gol- 
denen Reinheit  und  Schönheit,  die  als  utopische  belächelt  werden  können, 
in  Wirklichkeit  aber,  da  aus  diesen  Jungen  auch  Männer  werden,  Träger 
für  die  Hoffnung  auf  eine  bessere  Zukunft  sein  sollten. 

Rollen  wir  von  hier  aus  den  Faden  unserer  Darlegungen  wieder  auf, 
so  fanden  wir  am  Anfang  einen  unwiderstehlichen  Freiheitsdrang.  So  gewaltig 
dieser  sich  auswirken  möge,  so  muß  doch  jetzt  sofort  einleuchten,  daß  er  ein 
absoluter  nicht  sein  kann.  Es  ist  nicht  richtig  trotz  aller  Extravaganzen, 
daß  diese  Jugend  in  einer  schrankenlosen  Zügellosigkeit  dauernde  Wonne 
empfinde.  Neben  jeder  inneren  Lockerung  steht  sogleich  der  antimonische 
Wunsch  zur  Bindung  Freilich  ist  dieser  Wunsch  nur  sehr  schwer  der  er- 
sehnten Erfüllung  entgegenzuführen  Diese  ersten  Ansätze  dafür  und  (/ie 
Durchgängigkeit  dieser  Bestrebung  sollte  aber  dem  hingebenden  Führer 
der  Jugend  nicht  entgehen.  Oft  sind  es  nur  scheinbar  unbedeutende  Züge, 
die  verraten,  daß  die  Kampfstellung  gegen  ein  großes  überkommenes  Ideal 
keine  absolute  war.  Als  Faust  die  Schale  mit  dem  braunen  Saft  an  die  Lippen 

19* 


292  Hans  Borbein, 

setzt,  ertönt  der  Klang  der  Osterglocken  und  Chorgesang.    Faust  setzt  die 
Schale  ab: 

„Dies  Lied  verkündet  der  Jugend  muntere  Spiele, 

der  FrühHngsfeier  freies  Glück; 

Erinnerung  hält  mich  nun  mit  kindlichem  Gefühle 

vom  letzten  ernsten  Schritt  zurück. 

O  tönet  fort  ihr  süßen  HimmelsHeder, 

Die  Träne  quillt,  die  Erde  hat  mich  wieder!" 
Dieser  Vorgang  ist  typisch.  Er  kehrt  immer  wieder  in  seiner  charakte- 
ristischen Form.  Was  gesucht  wird,  ist  tiefste  Lebendigkeit,  die  in  künstle- 
rischen Gestaltungen  großer  Ideen  sich  länger  hält,  als  in  ihrer  verstandes- 
mäßigen Durchbildung.  Der  Widerstand  richtet  sich  gegen  scheinbare  oder 
wirkliche  Erstarrung.  Durch  starre  Satzungen  mag  niemand  gebunden 
sein.  Bindungen  werden  schon  gesucht,  aber  sie  müssen  in  lebendigen  Men- 
schen vorbildlich  lebendig  sein.  Persönlichkeit,  d.  h.  in  lebendigen  Gemein- 
schaftsideen gebundene  naturhafte  Eigenart  entzündet  sich  nur  an  Persön- 
lichkeit. 

Berlin.  Ernst  Goldbeck. 


Hermann  Lietz  und  die  höheren  Schulen. 

Am  12.  Juni  1919  starb  im  52.  Lebensjahre  an  den  Folgen  des  Kriegs- 
dienstes, dem  er  sich  freiwillig  unterzogen  hatte,  Hermann  Lietz,  der  Be- 
gründer der  deutschen  Landerziehungsheime.  Wenig  mehr  als  20  Jahre 
vorher  war  sein  Name  zuerst  in  die  weitere  Öffentlichkeit  gedrungen  durch 
das  Buch  „Emlohstobba,  Roman  oder  Wirklichkeit".  Die  Schrift  gehört 
heute  zu  den  Seltenheiten  auf  dem  Büchermarkt,  denn  der  Verfasser  hat, 
nachdem  sie  vergriffen  war,  keine  weiteren  Auflagen  veranstaltet.  Daß 
ihr  wesentlicher  Inhalt  den  Fachkreisen  bekannt  wurde,  hat  in  erster  Linie 
Wilhelm  Münch  bewirkt,  indem  er  ihr  in  seiner  Zukunftspädagogik  (1904)  eine 
längere  Betrachtung  widmete.  Daß  es  sich  aber  bei  Lietz  um  ganz  etwas 
anderes  handelte,  als  um  die  lebensfremde  Ideologie  eines  jugendlichen  Stür- 
mers und  Drängers,  scheint  auch  Münch  nicht  erkannt  zu  haben,  denn  noch 
in  der  zweiten  Auflage  der  Zukunftspädagogik,  die  1908  herauskam,  als  die 
L.  E.  H.  schon  zehn  Jahre  bestanden,  ist  von  dieser  Gegenwartsleistung 
[abgesehen  von  einer  kurzen  Erwähnung  der  drei  Heime)  keine  Rede. 
Wenn  demnach  einem  so  weitsichtigen  Manne  wie  Münch  die  eigent- 
liche Bedeutung  von  Lietz  verborgen  blieb,  so  darf  es  nicht  Wunder 
nehmen,  daß  die  Zahl  der  Fachleute,  die  ihn  seinem  wahren  Werte  nach  zu 
schätzen  wußten,  bis  zu  seinem  Tode  gering  gewesen  ist.  Der  Hauptgrund 
für  diese  noch  mehr  um  der  Sache  als  der  Person  willen  beklagenswerte  Tat- 
sache liegt  wohl  darin,  daß  in  Deutschland  von  jeher  die  Jugendbildung 
als  Staatsdomäne  betrachtet  wurde,  und  daß  ihre  Vertreter  sich  gewöhnten, 
allen  privaten  Bestrebungen  auf  diesem  Gebiete  mit  Mißtrauen  und  Gering- 
schätzung zu  begegnen.  Dies  um  so  mehr,  wenn  der  Verfechter  neuer  Ideen 
in  bewußten  Gegensatz  zu  den  öffentlichen  Schuleinrichtungen  trat.   Diese 


Hermann  Lietz  und  die  höheren  Schulen.  293 

Kampfesstellung  beruhte  aber  bei  Lietz  keineswegs  auf  dem  Bedürfnis, 
andere  herabzusetzen  oder  seine  Person  in  den  Vordergrund  zu  schieben, 
sie  war  vielmehr  der  natürliche  Ausfluß  seines  eigenen  Bildungserlebnisses, 
einer  heißen  Liebe  zur  Jugend  und  einer  angeborenen  Schaffenslust,  die 
orkanartig  hervorbrach  und  sich  instinktmäßig  mit  dem  Befahren  ausge- 
tretener Geleise  nicht  begnügen  konnte.  Daß  Lietz  niemals  den  Wert  eines 
richtig  gestalteten  öffentlichen  Bildungswesens  verkannt  und  weniger  an 
die  Auflösung  als  an  die  Wiedergeburt  der  „Lernschule"  gedacht  hat,  er- 
gibt sich  klar  aus  seiner  ganzen  Persönlichkeit  und  der  Art  seines  Wirkens, 
wie  es  heute  abgeschlossen  vor  uns  liegt.  Seine  Kritik  des  Bestehenden  war 
bei  aller  Schärfe  nie  verletzend.  Er  erkannte  das  Gute  in  den  Leistungen 
der  Staatsanstalten  gern  an,  verfolgte  mit  reger  Teilnahme  die  Fortschritte 
auf  den  einzelnen  Unterrichtsgebieten  und  ahmte  sie  nach.  Mit  vielen  Lehrern 
und  Leitern  im  öffentlichen  Schuldienst  verbanden  ihn  gegenseitige  Achtung 
und  Freundschaft,  Wie  er  als  heranreifender  Mensch  Wert  darauf  gelegt 
hatte,  durch  Erwerbung  des  Doktor-  und  Lizentiatengrades  seine  wissenschaft- 
schaftlichen  Studien  abzuschließen  und  sich  durch  Ableistung  der  Prüfung 
für  das  höhere  Lehramt  als  Glied  des  Erzieherstandes  zu  bekennen,  so  war 
ihm  zeitlebens  die  Wertschätzung  seiner  Arbeit  durch  die  Organe  der  Staats- 
verwaltung durchaus  nicht  gleichgültig,  und  wenn  er  auch  bei  seiner  grund- 
sätzlich ablehnenden  Stellung  seine  Schüler  öffentlichen  Prüfungen  vor 
fremden  Kommissionen  nur  deshalb  unterwarf,  weil  damit  unentbehrliche 
Berechtigungen  verknüpft  waren,  so  hat  er  doch  zu  den  Mitgliedern  dieser 
Ausschüsse,  mochten  es  nun  Lehrer  und  Leiter  höherer  Lehranstalten  oder 
Schulaufsichtsbeamte  sein,  durchweg  in  einem  freundlichen  Verhältnis  ge- 
standen. Den  stärksten  Beweis  dafür,  daß  Lietz  den  Zusammenhang  mit 
der  Staatspädagogik  nicht  aufgeben  wollte,  und  daß  ihm  an  der  Anerkennung 
durch  ihre  berufenen  Vertreter  viel  lag,  müssen  wir  in  seiner  offen  zuge- 
standenen Enttäuschung  über  das  bis  gegen  Ende  seiner  Laufbahn  aus- 
bleibende tiefere  Interesse  der  Lehrerschaft  erblicken i). 

Ein  Umschwung  ist  erst  durch  den  Krieg  und  die  sich  daran  anschließende 
Umwälzung  eingetreten.  Hier  fehlt  der  Raum,  um  die  Ursachen  im  einzelnen 
nachzuweisen.  Da  es  sich  um  etwas  von  uns  allen  Erlebtes  handelt,  genügt 
es,  die  entscheidenden  Beweggründe  kurz  zu  nennen.  Es  ist  auf  der  einen 
Seite  die  Lockerung  des  Staatsgedankens,  auf  der  anderen  das  schon  längere 
Zeit  in  der  Jugendbewegung  sich  regende  und  durch  die  politischen  Ereignisse 
der  letzten  Jahre  verstärkte  Bedürfnis,  die  intellektuellen  zugunsten  der 
ethischen  und  praktischen  Bildungswerte  zurückzudrängen.  Die  innere 
Umwandlung,  die  Lietz  und  andere  Reformer  vorahnend  schon  in  den  achtziger 
Jahren  des  vergangenen  Jahrhunderts  begonnen  hatten,  wiederholte  sich  jetzt 
in  breiteren  Volksschichten,  und  so  war  es  denn  natürlich,  daß  bald  eine  ganz 
andere  Wertung  ihrer  Leistungen  Platz  griff.  Die  geistige  Bewegung,  welche 


^)  Die  bitteren  Worte  auf  Seite  122 — 23  seiner  Lebenserinnerungen  bezeugen  die 
Stärke  seines  Bedürfnisses  nach  gerechter  Würdigung  durch  die  Standesgenossen. 


294  Hans  Borbein, 

ihre  erste  Zusammenfassung  in  der  Reichsschulkonferenz  erfuhr  und 
als  Folge  eine  umfangreiche  Fachliteratur  auf  allen  von  ihr  behandelten 
pädagogischen  Gebieten  hervorrief,  zog  die  Landerziehungsheime  in  den 
Bereich  der  als  Versuchsschulen  bezeichneten  Einrichtungen  und  wandte 
ihnen  um  so  größere  Aufmerksamkeit  zu,  als  der  Wille  der  Regierungen, 
das  gesamte  öffentliche  Schulwesen  umzubauen  und  dabei  selbstschöpferisch 
aufzutreten,  notwendig  scheiterte  an  der  durch  den  verlorenen  Krieg  hervor- 
gerufenen schlechten  Wirtschaftslage.  Der  Name  Lietz,  wie  der  seiner  Mit- 
arbeiter und  Nachfolger,  hat  damit  einen  Klang  erhalten,  wie  er  selbst  es 
sich  wohl  kaum  hätte  träumen  lassen  i).  Seiner  Gesinnung  aber  entspricht 
es,  diesen  Erfolg  für  nichts  zu  achten,  wenn  nicht  das  wirklich  Gute  an  seiner 
Schöpfung  erhalten  und  ausgebaut  wird,  und  wenn  nicht  gleichzeitig  die 
gesamte  deutsche  Jugendbildung  daraus  Nutzen  zieht.  Das  zu  vollbringen, 
ist  vor  allem  die  Sache  der  Lehrerschaft,  und  in  ihr  wiederum  vornehmlich 
der  an  den  höheren  Schulen  tätigen  Männer  und  Frauen.  Dies  können  sie  aber 
nur,  wenn  sie  sich  eingehend  mit  Lietz  beschäftigen.  Viele  Wege  führen 
zu  ihm.  Wenn  ich  selbst  mich  dabei  als  Führer  anbiete,  so  geschieht  es  im 
Gefühl  des  Glücks  über  die  Bereicherung,  die  ich  erfuhr,  als  ich  den  Spuren 
der  Wirksamkeit  des  eben  Vollendeten  nachging,  und  des  Dankes  für  das, 
was  ich  diesem  großen  Deutschen  und  manchem  seiner  Jünger  schulde. 

Daserste Mittel,  ihn  kennen  zu  lernen,  ist  das  Studium  seiner  Schrif- 
ten. Nun  ist  Lietz  zwar  kein  Schriftsteller  gewesen,  wenn  man  darunter 
einen  Mann  versteht,  der  zur  Erzielung  künstlerischer  Wirkung  oder  um 
die  Wissenschaft  zu  fördern  zur  Feder  greift.  Für  ihn  war  das  Schreiben 
nur  eine  Ergänzung  des  persönlichen  Wirkens.  Sein  erstes  Buch,  Emlohstobba, 
weist  sogar  starke  Schwächen  in  Plan  und  Ausführung  auf,  und  so  lassen 
denn  auch  seine  späteren  Werke  die  Formvollendung  und  Sprachgewalt, 
die  seinem  mündlichen  Vortrag  nachgerühmt  wird,  namentlich  dann,  wenn 
es  sich  uni  die  Darlegung  geschichtlicher  und  staatlicher  Zusammenhänge 
oder  um  die  Einprägung  religiös-sittlicher  Gedankengänge  handelte,  viel- 
fach vermissen.  Trotzdem  müssen  wir  auch  für  sein  literarisches  Erbe  dank- 
bar sein,  denn  mit  seiner  Hilfe  können  wir  uns  doch  ein  Bild  von  seinem 
Wesen  machen,  und  dann  sind  sie  so  reich  an  Gedanken  über  pädagogische 
Einzelfragen,  daß  wir  aus  ihnen  einen  guten  Überblick  über  seine  Erziehungs- 
und Unterrichtsgrundsätze  erhalten.  Dazu  weisen  seine  größeren  und  klei- 
neren Werke,  ein  jedes  in  seiner  Art,  auch  viele  menschlich  fesselnde  Züge  auf, 
und  schon  aus  diesem  Grunde  lohnt  es  sich,  sich  mit  ihnen  zu  beschäftigen. 
Was  er  sagt,  ist  wahrhaftig  und  natürlich  empfunden,  sein  Stil  frisch  und 
anschaulich.  Man  wird  beim  Lesen  unwillkürlich  zurückversetzt  in  den  Augen- 
blick des  Geschehens,  erlebt  Vergangenes  als  Gegenwärtiges  und  nimmt 


1)  Ihren  vorläufigen  Ausdruck  hat  diese  höhere  Wertung  dadurch  gefunden,  daß 
in  Preußen  der  Kultusminister  seit  1919  den  Studienreferendaren  gestattet  hat,  einen 
Teil  ihrer  Ausbildungszeit  an  den  Lietz'schen  L.  E.  H.  zu  verbringen,  und  daß  seit  1920 
die  Schüler  der  obersten  Klasse  in  Bieberstein  die  Reifeprüfung  nicht  mehr  auswärts, 
sondern  unter  dem  Vorsitz  eines  Oberschulrats  an  der  Anstalt  selbst  ablegen. 


Hermann  Lietz  und  die  höheren  Schulen.  295 

daran  persönlichen  Anteil.  Zur  Einführung  mögen  die  Lebenserinnerungen 
dienen  1),  die  er  kurz  vor  seinem  Ende  verfaßt  hat.  Eine  wertvolle  Ergänzung 
dazu  bilden  die  beiden  kleinen  Werke:  Freseni  und  Heim  der  Hoff- 
nung, in  denen  der  Verfasser  sein  inneres  Verhältnis  zur  Jugend  am  tiefsten 
offenbart.  Wie  die  genannten  drei  ist  auch  das  Buch:  Gott  und  Welt, 
Stimmen  von  Menschheitsführern  über  den  Sinn  des  Lebens, 
das  den  Gedanken  der  religiösen  Erneuerung  des  deutschen  Volkes  verkündet, 
für  alle  höher  Gebildeten  bestimmt.  Von  den  zahlreichen  mehr  dem  Fach- 
mann zugänglichen  Schriften  sei  hier  die  1911  zuerst  herausgegebene, 
1920  in  zweiter  Auflage  von  Dr.  Andreesen  bevorwortete  Deutsche  Na- 
tionalschule erwähnt,  in  welcher  der  Verfasser  sich  zusammenhängend 
über  den  Lehrplan  der  L.  E.  H.  ausspricht.  Wer  aber  tiefer  in  das  Wesen 
und  Wirken  des  als  Erzieher  und  Lehrer  gleich  vorbildlichen  Mannes  ein- 
dringen will,  der  greife  zu  dem  Werke,  in  dem  wie  in  einem  Schatzhause 
die  edelsten  Früchte  seines  Geistes  aufbewahrt  sind.  Es  sind  dies  die  Jahr- 
bücher derD.  L.  E.  H.,  umfassend  die  Zeit  von  der  Begründung  des  ersten 
Heims  bis  zum  Ausbruch  des  Krieges.  Darin  haben,  ebenso  wie  in  späteren 
Sammelschriften  der  L.  E.  H.,  auch  viele  seiner  Mitarbeiter  sich  ausgesprochen 
über  Fragen  ihres  Fachs  und  ihrer  persönlichen  Erziehertätigkeit,  Männer 
wie  Andreesen,  Geheeb,  Heckmann,  Marseille,  Prüss,  Rudert,  v.  d.  Smissen, 
Tesdorpf,  Matter,  Volkert,  Walther,  Windweh,  Wunder,  Wyneken  u.  a.  m. 
Besonders  reizvoll  ist  es  dann,  zu  sehen,  wie  Lietz  in  seinen  Berichten,  Ur- 
teilen und  Vorschlägen  sich  abhebt  von  seinen ' Arbeitsgenossen,  und  wie 
seine  Schöpfung  durch  ihn  und  er  durch  seine  Schöpfung  allmählich  fort- 
schreitet zu  immer  größerer  Klarheit  und  Bestimmtheit.  Dies  Sammelwerk 
sollte  ebenso  zu  der  Klasse  derMonumentaGermaniaePädagogica  zählen  wie 
die  von  der  Wissenschaft  längst  anerkannten  Schriften  über  Erziehungs-  und 
Lehrkunst  aus  der  deutschenVergangenheit.  Eine  Ehrenpflicht  der  Regierungen 
und  Körperschaften,  denen  die  Hut  und  Förderung  der  vaterländischen 
Bildungsgüter  obhegt,  wäre  es,  das  bisher  von  ihnen  meist  versäumte  nach- 
zuholen und  diese  Jahrbücher  den  Bibliotheken  der  Schulbehörden,  Städte 
und  Lehranstalten  einzureihen.  Jedenfalls  aber  dürften  sie  an  keinem  Se- 
minar für  wissenschaftliche  und  praktische  Pädagogik  fehlen,  damit  der  Nach- 
wuchs aus  ihnen  lernen  könne,  was  echte  Jugendführerschaft  bedeute.  Eine 
immer  noch  zunehmende  Bereicherung  endlich  erfährt  das  Bild  des  Menschen 
und  Erziehers  Lietz  durch  den  nach  seinem  Tode  um  viele  neue  Blätter  und 
Blüten  sich  mehrenden  Kranz  von  Erinnerungen,  den  treue  Jüngerschaft 
um  das  Haupt  des  geliebten  Meisters  windet.    Für  den  Unkundigen  sei  hier 


^)  Von  Leben  und  Arbeit  eines  deutschen  Erziehers  (herausgegeben  von  seinem 
Schüler  Erich  Meißner).  Verlag  des  Landwaisenhauses,  Veckenstedt  am  Harz,  o.  J.  Eine 
zweite  Auflage  ist  in  Vorbereitung.  Alle  im  folgenden  genannten  Werke  sind  im  gleichen 
Veilage  erschienen  und  von  diesem  zu  beziehen.  Der  Ertrag  kommt  dem  Waisenhause 
zugute.  Von  allgemein  unterrichtenden  Werken  über  die  ganze  Bewegung,  zu  der  Lietz 
den  Hauptanstoß  gegeben  hat,  sei  hier  nur  genannt:  Grunder,  Landerziehungsheime  und 
freie  Schulgemeinden.    Leipzig,  KHnkhardt,  1916. 


296  Hans  Borbein, 

besonders  hingewiesen  auf  die  seit  einer  Reihe  von  Jahren  erscheinende 
Schriftenfolge:  Leben  und  Arbeit  von  Bürgern  und  Freunden 
der  D.  L.  E.  H.,  worin  neben  den  Erwachsenen  auch  Schüler  zu  Worte  kommen 
Es  ist  zu  erwarten,  daß  die  Lektüre  dieser  Schriften  in  vielen  Lesern 
den  Wunsch  erregen  wird,  die  L.  E.  H.  durch  den  Augenschein  kennen  zu 
lernen,  um  so  die  Eindrücke  zu  vertiefen,  die  sie  durch  das  geschriebene  Wort 
empfangen  haben.  Solche  Besucher  werden  in  Zukunft  ebenso  willkommen 
sein,  wie  vordem,  wenn  auch  die  wirtschaftlichen  Sorgen  der  sonst  so  weit- 
herzig geübten  Gastfreundschaft  engeren  Grenzen  setzen.  Da  alle  Heime 
in  selbstgewählter  Einsamkeit  liegen,  so  fehlt  der  weiteren  Öffentlichkeit 
die  Kenntnis  ihres  Aufbaus  und  ihrer  äußeren  Einrichtungen,  und 
es  empfiehlt  sich  daher,  zunächst  darüber  ein  Wort  zu  sagen.  Die  drei  von 
Lietz  gegründeten  Anstalten  sind  organisch  aufeinander  aufgebaut.  Das 
am  28.  April  1898  (dem  Tage  der  30.  Wiederkehr  seines  Geburtstages)  er- 
öffnete Heim  bei  Ilsenburg  umfaßt  die  Klassen  VI  bis  U  III;  das  zweite 
(Haubinda,  nicht  weit  von  Hildburghausen  i.  Th.,  1901  entstanden)  Ulli 
bis  U  II,  das  dritte  (Bieberstein  i.  d.  Rhön,  seit  1904)  U  II  bis  0  I.  Die 
beiden  Übergangsklassen  (U  III  und  U  II)  sind  zweimal  vorhanden,  um  den 
besonderen  Bedürfnissen  jedes  Schülers  Rechnung  zu  tragen.  Diese  Glie- 
derung nach  Altersstufen  bringt  nicht  nur  äußere  Vorteile  (vor  allem 
wirtschaftlicher  Art)  mit  sich,  sondern  ermöglicht  es  auch,  den  erzieh- 
lichen Anforderungen  jeder  Periode  der  jugendlichen  Entwicklung  gerecht 
zu  werden  und  die  Gefahren  der  Einwirkung  älterer  auf  jüngere  Schüler 
außerhalb  der  natürlichen  Gemeinschaft  der  Familie  zu  vermeiden.  Hierin 
unterscheiden  sich  die  L.  E.  H.  grundsätzlich  von  den  großen,  meist  aus 
Klosterschulen  hervorgegangenen  Alumnatsanstalten  Norddeutschlands,  von 
den  englischen  Vorbildern  und  auch  von  den  später  aus  den  L.  E.  H.  ent- 
standenen freien  Schulgemeinden .  Sollte  in  Zukunft  bei  uns  der  im  Zusammen 
hang  mit  dem  Einheitsschulgedanken  erörterte  Plan,  im  größeren  Umfange 
Internate,  namentlich  als  Sammelschulen,  einzurichten,  so  täten  die  Auf- 
sichtsbehörden gut  daran,  zu  erwägen,  ob  nicht  die  von  Lietz  durchgeführte 
Dreiteilung  nach  Altersstufen  nachzuahmen  ist,  die  sich  nach  der  bisherigen, 
20jährigen  Erfahrung  durchaus  bewährt  hat.  Auch  in  der  vielberufenen 
Frage  der  gemeinsamen  Erziehung  der  Geschlechter  sind  in  den 
L.  E.  H.  wertvolle  Versuche  gemacht  worden.  Lietz  selbst  neigte 
wohl  im  Beginn  seiner  Tätigkeit  zu  der  Ansicht,  daß  eine  vollkommene 
Erziehungsanstalt  auf  jeder  Oberstufe  Knaben  und  Mädchen  vereinigen 
müsse.  Aber  in  der  Praxis  ging  der  sonst  so  wagemutige  Mann  doch  mit 
größter  Behutsamkeit  vor,  und  so  ist  es  denn  bisher  dabei  geblieben,  daß 
die  Zulassung  sich  wesentlich  auf  Schwestern  der  Zöglinge  beschränkt,  daß 
nur  auf  der  Unterstufe  eine  größere  Anzahl  von  Schülerinnen  aufgenommen 
wird  und  daß  es  auch  nur  hier  zu  einer  vollen  Lebensgemeinschaft  kommt. 
Parallel  der  Mittel-  und  Oberstufe  läuft  das  L.  E.  H.  für  Mädchen  in  Gaien- 
hofen  am  Bodensee.  In  Ilsenburg  befanden  sich  im  Februar  1921  untef 
108  Schülern  9  Schülerinnen,  in  Haubinda  unter  210  nur  8,  in  Bieberstein 


Hermann  Lietz  und  die  höheren  Schulen.  297 

sogar  unter  70  nur  3.  Diese  praktischen  Ergebnisse  in  einem  Kreise  von 
Menschen,  denen  man  sicherlich  Abhängigkeit  von  überkommenen  Vor- 
urteilen nicht  vorwerfen  kann,  sollten  alle  Vertreter  der  Idee  von  der  ge- 
meinsamen Erziehung,  namentlich  soweit  geschlossene  Anstalten  in  Frage 
kommen,  zu  großer  Vorsicht  mahnen. 

Der  Besucher  von  Ilsenburg  wird  auch  Gelegenheit  haben,  eine  Anstalt 
kennen  zu  lernen,  die,  in  ihrer  Nähe  gelegen,  trotz  äußerer  Verschiedenheit 
doch  aufs  engste  mit  ihr  zusammenhängt  und  geeignet  ist,  uns  einen  Blick 
in  das  innerste  Wesen  ihres  Begründers  tun  zu  lassen;  es  ist  das  Landwaisen- 
haus Veckenstedt.  Hier  wollte  Lietz  elternlose  Kinder  in  ländlicher  Ab- 
geschiedenheit nach  denselben  Grundsätzen  erziehen  wie  in  den  übrigen  Heimen, 
und  die  in  diesen  erzielten  Überschüsse  sollten  in  erster  Linie  den  Insassen 
des  Waisenhauses  zu  gute  kommen,  das  im  übrigen  auf  die  geringen  Beiträge 
der  Erziehungspflichtigen  und  auf  milde  Gaben  angewiesen  ist.  Ihren  Unter- 
richt erhalten  die  Veckenstedter  Knaben  und  Mädchen  gemeinsam  mit  den 
Ilsenburger  Kindern,  und  den  geistig  Begabten  unter  ihnen  eröffnet  sich 
damit  der  Weg  zu  einer  wissenschaftlichen  Ausbildung.  Lietz  selbst  war 
daran  gelegen,  auf  diese  Weise  der  breiteren  Öffentlichkeit  zu  bekunden, 
was  seinen  Freunden  und  Bekannten  niemals  ein  Geheimnis  war,  daß  seine 
ganze  Lebensarbeit  nicht  auf  dem  Streben  nach  materiellen  Gütern  beruhte, 
sondern  aus  rein  idealen  Beweggründen  hervorging.  Hätte  es  noch 
eines  weiteren  Beweises  seiner  Selbstlosigkeit  bedurft,  so  liegt  dieser  jetzt 
in  der  Tatsache  vor,  daß  er  unter  Hintansetzung  der  Interessen  von  Frau 
und  Kindern  in  seinem  Testamente  seine  Heime  dem  deutschen  Volke  ver- 
machte und  in  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  die  nötigen  Vorbereitungen 
traf,  um  die  alle  Anstalten  einbegreifende  Stiftung  vorzubereiten,  die 
1920  vom  preußischen  Wohlfahrtsministerium  anerkannt  worden  ist.  Da- 
mit hat  Lietz  allen  Jugenderziehern  ein  leuchtendes  Muster  uneigennütziger 
Gesinnung  gegeben,  das  auf  gleichgestimmte  Seelen  ermutigend  und  an- 
spornend wirken  muß.  Diese  Selbstlosigkeit  ist  es  auch  gewesen,  die  neben 
seiner  Tatkraft  und  unbedingten  Zuverlässigkeit  ihm  von  Anfang  seines 
öffentlichen  Auftretens  an  das  Vertrauen  der  Eltern  und  von  leistungsfähigen 
Geldleuten  gewann,  so  daß  es  dem  von  Hause  aus  Mittellosen  nie  an  dem 
nötigen  Kapital  und  Kredit  gebrach.  Wenn  heute  der  Ruf  nach  Versuchs- 
schulen ertönt,  um  neue  Ideen  zu  erproben,  so  pflegt  gleich  der  Zusatz 
gemacht  zu  werden,  daß  der  verlorene  Krieg  uns  leider  der  Möglichkeit  be- 
raubt habe,  die  dazu  unentbehrUchen  Millionen  aufzubringen.  Die  Geschichte 
des  deutschen  Schulwesens  lehrt  aber,  und  Lietz  ist  der  letzte  Beweis  für 
diese  Wahrheit,  daß  nicht  das  Geld  diese  Schöpferkraft  besitzt,  sondern 
der  menschliche  Wüle,  und  daß  auch  nicht  Staat  und  Gesellschaft  als  solche 
Verwirklicher  derartiger  großen  Pläne  zu  sein  pflegen,  sondern  allein 
Einzelpersönlichkeiten.  So  klingt  denn  den  zahlreichen  Reformern,  die  gegen- 
wärtig mit  lauter  Stimme  neue  Bildungswege  anpreisen,  aus  dem  Werke, 
das  Lietz  geschaffen  und  uns  allen  als  seinen  Erben  hinterlassen  hat,  das  Wort 
entgegen :  Gehe  hin  und  tue  desgleichen !    Während  nun  die  Aufnahme  in 


298  Hans  Borbein, 

das  Waisenhaus  unabhängig  ist  von  der  Frage  nach  Besitz,  konnte  von  jeher 
in  den  drei  anderen  Heimen  auf  eine  den  Kosten  entsprechende  Gegenleistung 
nicht  verzichtet  werden.  Doch  sind  auch  in  ihnen  ganze  und  halbe  Frei- 
stellen für  Unbemittelte  vorgesehen,  an  denen  heute  noch  festgehalten  wird. 
Wenn  trotzdem  Lietz  und  seine  Mitarbeiter  es  stets  als  einen  Mißstand  emp- 
funden haben,  daß  ihr  ideal  gedachtes  Werk  wesentlich  auf  die  Kinder  wohl- 
habender Eltern  beschränkt  blieb,  so  lag  und  liegt  noch  jetzt  doch  für  sie 
ein  starker  Trost  in  dem  Gedanken,  daß  gerade  diese  Kreise  den  sozialen  Geist, 
der  ihnen  durch  die  Erziehung  in  den  Heimen  eingeimpft  wird,  am  nötigsten 
brauchen,  und  daß  ihre  innere  Umwandlung  der  Umwelt,  der  sie  im  späteren 
Leben  angehören,  reichen  Segen  bringt.  Geld  allein  eröffnet  durchaus  nicht 
die  Tore  der  L.  E.  H.  Es  wird  vielmehr  strenge  Musterung  gehalten  unter 
den  Eintretenden,  und  ungeeignete  Elemente  werden,  sobald  sie  als  solche 
erkannt  sind,  wieder  ausgeschieden.  Da  noch  immer  ein  großer  Andrang 
geherrscht  hat,  so  ist  es  nie  schwer  gefallen,  diesen  Grundsatz  durchzuführen. 
Es  wird  Wert  darauf  gelegt,  den  Schüler  in  frühem  Lebensalter  aufzu- 
nehmen und  möglichst  lange  zu  behalten,  weil  nur  dann  eine  bis  auf  die  Wurzel 
gehende  Beeinflussung  des  ganzen  Menschen  erreicht  werden  kann.  Andere 
Aufnahmebedingungen  als  geistige  und  körperliche  Gesundheit  und  der  gute 
Wille,  sich  der  Lebensordnung  des  Hauses  einzufügen,  gibt  es  nicht.  Hat 
es  von  Anfang  an  auch  an  Ausländern  nicht  gefehlt,  so  waren  diese  doch  vor- 
nehmlich Söhne  und  Töchter  von  Auslandsdeutschen,  und  wenn  die  Ange- 
hörigen fremder  Nationen  sich  entschlossen,  ihre  Kinder  den  Lietzschen 
Heimen  anzuvertrauen,  so  wußten  sie  oder  erfuhren  es  bald,  das  deutsch- 
vaterländisches und  im  echten  Sinne  des  Wortes  christliches  Denken  und 
Fühlen  die  Grundlage  der  Bildung  war,  die  sie  dort  empfingen. 

Nach  dieser  Einführung  in  die  äußeren  Verhältnisse  der  L.E.H.  wende 
ich  mich  nunmehr  ihrem  inneren  Leben  zu.  Das  Werk  trägt  ganz  die  Züge 
seines  Schöpfers  an  sich,  dieser  selbst  aber  ist  eng  verwachsen  mit  dem  Boden, 
aus  dem  er  stammte,  und  so  können  wir  ihn  denn  auch  nur  ganz  durchschauen, 
wenn  wir  die  Kräfte  kennen,  die  von  unten  herauf  in  ihm  hochgestiegen 
und  wirksam  gewesen  sind.  Lietz  selbst  hat  durch  seine  pädagogische  Erst- 
lingsschrift Emlohstobba  die  geschichtliche  Forschung  auf  eine  falsche  Spur 
geleitet,  indem  ihr  Inhalt  den  Anschein  erweckte,  als  sei  Abbotsholme  das 
Urbild  der  L.  E.  H.  Gegen  diese  Annahme  hat  er  sich  später  zur  Wehr  ge- 
setzt, so  auch  in  seinen  Lebenserinnerungen,  in  denen  er  zwar  anerkennt, 
daß  er  durch  Dr.  Reddie,  mit  dem  ihn  lebenslängliche  Freundschaft  verband, 
starken  Antrieb  zum  Schaffen  erhalten  habe,  weil  er  hier  fand,  was  er  schon 
lange  suchte:  freundschaftliches  Verhältnis  zu  den  Schülern,  gesundes  Leben, 
körperliche  Arbeit  und  Übung,  Erhebung  und  Verinnerlichung  durch  Werke 
der  Weisheit  und  Schönheit,  jedoch  hinzufügt,  daß  die  entscheidenden  Trieb- 
federn seines  Handelns  zu  suchen  seien  in  dem  bitter  Leide,  das  ihm  die  eigene 
Schule  beschert  habe,  in  der  Freude  und  Begeisterung,  die  ihm  aus  Heimat, 
Ferien,  Elternhaus  und  Studienzeit  erwachsen  seien,  und  vor  allem  in  der 
Liebe  zu  Jugend  und  Volk,  die  von  jeher  in  ihm  gelebt  habe.    Selbst  wenn 


Hermann  Lietz  und  die  höheren  Schulen.  299 

aber  der  Einfluß  von  Abbotsholme  größer  gewesen  sein  sollte,  als  Lietz  zum 
Bewußtsein  gekommen  ist,  so  dürfen  wir  doch  nicht  vergessen,  daß  es  sich 
hier  um  ein  stammverwandtes  Volk  handelte,  und  daß  Dr.  Reddie 
in  Deutschland  (Göttingen)  studiert  und  von  deutschen  Philosophen  und 
Pädagogen  tiefgehende  Eindrücke  empfangen  hatte.  Hier  nun  stoßen  wir 
auf  die  Quelle,  aus  der  auch  Lietz  das  geschöpft  hat,  was  seinem  Werke 
Ewigkeitswert  verleihen  wird:  Die  idealistische  deutsche  Philo- 
sophie und  Pädagogik.  Der  Ort,  an  dem  diese  Vermählung  seines  Geistes 
mit  dem  der  Besten  seines  Volkes  sich  vollzog,  war  Jena,  wo  er  seine  wissen- 
schaftlichen Studien  vollendete,  zu  Männern  wie  Eucken,  Rein,  Lieb- 
mann, Lipsius,  Richter  in  persönliche  Berührung  trat  und  als  Mit- 
glied des  Gymnasial-  und  zugleich  des  pädagogischen  Universitätsseminars 
zum  ersten  Male  erfuhr,  was  es  heißt,  einen  didaktisch  richtigen,  geistig 
anregenden  und  das  Herz  erwärmenden  Unterricht  zu  erteilen  und  zu  den 
Schülern,  seien  es  nun  Gymnasiasten  oder  Kinder  des  Volkes,  bei  Spiel  und 
Sport,  im  Schulgarten,  bei  praktischer  Arbeit  und  auf  Wanderungen  in  ein 
persönliches  Verhältnis  zu  treten.  Die  Jenenser  Zeit  hat  ihm  aber  auch  in 
erster  Linie  die  Bekanntschaft  mit  den  großen  Vorbildern  aus  der  deutschen 
Vergangenheit  vermittelt,  an  denen  sein  Herz  sich  entzündete,  selbst  ein 
Lehrer  und  Erzieher  in  ihrem  Geiste  zu  werden :  Den  Philanthropen, Pestalozzi, 
Fröbel,  Goethe  (Pädagogische  Provinz)  und  Fichte.  Es  ist  hier  nicht  der 
Ort,  all  die  Beziehungen  aufzuweisen,  die  ihn  mit  diesen  großen  Führern 
der  Vorzeit  verbinden.  Was  von  ihm  selber  und  anderen  bisher  darüber  ge- 
schrieben ist,  läßt  noch  vieles  im  Dunkeln,  und  es  wäre  eine  ebenso  reizvolle 
wie  dankbare  Aufgabe  für  die  pädagogischen  Seminare  an  Universitäten 
und  höheren  Schulen,  diesen  Einflüssen  im  einzelnen  nachzugehen.  Um  aber 
zu  zeigen,  wie  tief  die  L.  E.  H.  verankert  sind  im  deutschen  Denken  und 
Wesen,  will  ich  wenigstens  kurz  eingehen  auf  das  von  Lietz  selbst  nur  ge- 
legentlich erwähnte  Verhältnis  zu  Fichte.  Es  ist  überraschend,  zu  sehen, 
wie  weit  die  WirkUchkeit  der  L.  E.  H.  mit  dem  in  den  Reden  an  die 
deutsche  Nation  gezeichneten  Idealbilde  übereinstimmt.  Beide  Männer 
ordnen  die  Jugendbildung  dem  höheren  Zweckbegriff:  Volksstaat  unter; 
sie  haben  mit  ihrer  Nationalerziehung  daher  nicht  nur  einen,  sondern  alle 
Stände  im  Auge,  und  wenn  ihre  Musteranstalt  auch  zunächst  wesentlich 
die  oberen  Gesellschaftsschichten  erfaßt,  so  gilt  das  als  eine  durch  die  Zeit- 
verhältnisse gebotene,  später  aufzuhebende  Beschränkung.  Soll  aber  die 
Jugend  dem  Ganzen  dienen,  so  muß  sie  im  vaterländischen  Geiste 
erzogen,  und  es  muß  alles  von  ihr  fern  gehalten  werden,  was  sie  dem  deutschen 
Wesen  entfremden  könnte.  Der  Schwerpunkt  der  Bildung  ist  auf  den  im 
Religiösen  wurzelnden  sittlichen  Willen  zu  legen,  aller  geistige  Besitz  ist 
nur  Mittel,  ihm  zu  dienen.  Diese  neue  Erziehung  kann  nun  nach  des  Philo- 
sophen Meinung  vorläufig  nur  verwirklicht  werden  mit  jungen  Menschen, 
die,  losgelöst  aus  der  verderbten  Gesellschaft  der  Erwachsenen,  ganz  in  einer 
ländlichen  Umgebung  aufgehen.  Fichte  legt  besonderen  Nachdruck  auch 
auf  die  Trennung  von  den  Eltern,  die  sich  bisher  als  unfähig  erwiesen  haben, 


300  Hans  Borbein, 

ihren  Kindern  als  Muster  und  Ratgeber  zu  dienen ;  erst  ein  in  einer  reineren 
Umwelt  groß  gewordenes  Geschlecht  wird  vielleicht  seine  Nachkommen 
richtig  erziehen  können.  Sobald  nun  die  Scheidung  von  der  bisherigen  Um- 
welt vollzogen  ist,  müssen  die  Lehrer  mit  ihren  Zöglingen  ein  für  sich  be- 
stehendes Gemeinwesen  begründen,  in  welches,  da  es  sich  um  ein  Abbild 
des  Staates  handelt,  auch  Mädchen  als  gleichberechtigte  Mitglieder  aufzu- 
nehmen sind.  Das  Verhältnis  zwischen  der  Jugend  und  ihren  Führern  ist 
aufzubauen  auf  gegenseitigem  Vertrauen ;  der  Jünger  wird  zu  seinem  Meister 
aufschauen  als  zu  seinem  Vorbild,  und  dieser  seinerseits  an  das  Gute  im  Kinde 
glauben  und  ihm  Achtung  und  Freundschaft  entgegenbringen.  Ihre  gemein- 
same Tätigkeit  soll  nach  Fichtes  Forderung  neben  der  wissenschaftlichen 
auch  praktische  Arbeit  umfassen,  die  außer  ihrem  allgemeinen  Bildungswert 
den  Zweck  hat,  in  dem  Zögling  als  Vorbereitung  auf  sein  späteres  bürger- 
liches Dasein  ein  Gefühl  dafür  zu  erwecken,  daß  er  schon  in  der  Jugend 
Güter  erzeugen  und  seinen  Unterhalt  wenigstens  teilweise  verdienen  muß. 
Die  mechanische  Tätigkeit  wird  dem  heranreifenden  Menschen  nur  dann 
erlassen,  wenn  sich  herausstellt,  daß  er  Begabung  und  Neigung  für  einen 
gelehrten  Beruf  hat.  Diese  Befreiung  soll  aber  unabhängig  sein  von  Geburt 
und  Besitz  und  sich  lediglich  auf  Naturanlage  und  Streben  stützen.  Solche 
Gemeinschaftsschulen  auf  dem  Lande  zu  errichten,  ist,  so  lehrt  der  Verfasser 
der  Reden  an  die  deutsche  Nation,  an  sich  Sache  des  Staates,  versäumt 
dieser  aber  seine  Pflicht  oder  kann  er  sie  aus  äußeren  Gründen  nicht  erfüllen, 
so  mögen  wohlhabende  Privatleute  mit  gutem  Beispiel  vorangehen  und  für 
ihre  Kinder  wenigstens  praktische  Versuche  ermöglichen. 

Vergleicht  man  diese  Gedanken  Fichtes  über  Nationalerziehung  mit 
dem,  was  in  den  L.  E.  H.  geschaffen  ist,  so  fällt  ohne  weiteres  die  starke 
Verwandtschaft  auf,  die  ohne  äußere  Abhängigkeit  nicht  denkbar 
ist.  Das  von  ihm  in  den  Reden  entworfene  Wunschbild  schwebt  aber  auch 
seinerseits  wieder  nicht  völlig  in  der  Luft,  sondern  der  Verfasser  hat  hier, 
was  in  der  pädagogischen  Literatur  nicht  genügend  beachtet  wird,  sein  per- 
sönliches Erleben  als  Alumne  des  Schülerstaates  Schulpforta  verwoben 
mit  den  in  wesentlichen  Zügen  auf  Pestalozzi  zurückgehenden  neuen  Ideen. 
So  sehen  wir  denn  einen  tiefen  historischen  Zusammenhang  zwischen  dem, 
was  Lietz  erstrebte  und  zum  Teil  verwirklichte,  und  einer  noch  heute  blühen- 
den staatlichen  Alumnatsanstalt,  die  ihrerseits  hervorgegangen  ist  aus  dem 
mittelalterlichen  Klosterschulwesen . 

Wenden  wir  uns  nach  diesem  Rückblick  auf  seine  Vorläufer  der  Frage 
zu:  was  hat  der  Begründer  der  L.  E.  H.  während  der  mehr  als  20jährigen 
Wirksamkeit  an  ihnen  praktisch  geleistet,  und  was  können  wir  aus  dieser 
Leistung  lernen,  so  ergibt  sich  eine  Schwierigkeit  daraus,  daß  er  zu  den  Ent- 
wicklungsnaturen gehörte,  deren  Wesen  sich  erschöpft  im  Werden,  die  ein 
Sein  als  Ziel  nicht  kennen  und,  sobald  sie  das  Erstrebte  erreicht  haben,  sich 
aus  innerem  Zwange  neuen  Aufgaben  zuwenden.  Meine  Darstellung  muß 
sich  daher  darauf  beschränken,  die  leitenden  Ideen  seiner  pädagogischen 
Reformarbeit  hervorzuheben  und  ihre  tatsächlichen  Ergebnisse  zusammen- 


Hermann  Lietz  und  die  höheren  Schulen.  301 

fassend  zu  beurteilen.  Führend  sind  dabei  sowohl  seine  Schriften  wie  das 
Bild,  das  die  Heime  gegen  Ende  seines  Lebens  boten  und  im  wesentlichen 
noch  heute  bieten. 

Als  oberster  Grundsatz  galt  für  Lietz  die  Unterordnung  des  Unter- 
richts unter  die  Erziehung,  nicht  nur  in  der  Auffassung  Herbarts 
vom  erziehenden  Unterricht,  sondern  auch  in  dem  weiteren  Sinne,  daß  die 
herkömmlichen  Lehrstoffe  sich  eine  starke  Einschränkung  gefallen  lassen 
müssen  zugunsten  anderer,  wertvollerer  Erziehungsmittel.  Während  er  ur- 
sprünglich in  der  Praxis  das  Altonaer  Reformsystem  (in  VI  Beginn  des  Fran- 
zösischen, in  Quarta  des  Englischen)  einführte,  wandelte  er  später  die  Reihen- 
folge dieser  Sprachen  um  und  rückte  sie  außerdem  beide  wesentlich  hinauf. 
Gegenwärtig  beginnt  das  Englische  in  Quarta,  das  Französische  als  verbind- 
liches Fach  in  Obertertia.  Auch  dies  gilt  aber  nur  als  ein  durch  Anpassung 
an  die  Staatsschule  und  durch  Rücksicht  auf  die  Prüfungen  erzwungenenes 
Zugeständnis;  als  Ziel  stellte  er  schon  1911  in  dem  Buch  über  die  Deutsche 
Nationalschule  die  Forderung  auf,  daß  der  gemeinsame  Unterbau  aller 
Schulen  (VI  bis  IV  einschl.)  aus  vaterländischen,  sozialen  und  gesundheit- 
lichen Gründen  ganz  frei  bleiben  müsse  von  fremdsprachUchem  Unterricht, 
und  daß  frühestens  mit  der  untersten  Klasse  der  Mittelstufe  die  verbindliche 
Erlernung  einer  modernen  Fremdsprache,  und  zwar  um  seiner  Leichtigkeit 
und  Brauchbarkeit  willen  des  Englischen,  beginnen  dürfe,  das  dann  weiter 
zu  betreiben  sei  bis  zum  Schluß  der  Schullaufbahn.  Für  sprachbegabte 
Schüler  sollte  als  freiwilliges  Fach  von  O  III  an  das  Französische  hinzu- 
kommen, von  U  II  ab  eine  alte  Sprache,  womögUch  das  Griechische.  Nur 
auf  diese  Weise  könnten  auf  der  Unter-  und  Mittelstufe  neben  der  Mutter- 
sprache die  beiden  großen  Sachgebiete  richtig  betrieben  werden:  das  natur- 
wissenschaftlich-mathematische und  das  geschichtlich-,  Staats-  und  gesell- 
schaftswissenschaftliche, und  ebenso  die  künstlerische,  körperliche  und  prak- 
tische Ausbildung.  Damit  schließt  der  gemeinsame  Unterricht.  Nachdem 
nunmehr  die  für  das  Erwerbsleben  und  die  mittlere  Beamtenlaufbahn  be- 
stimmten Schüler  die  Anstalt  verlassen  haben,  beginnt  von  O  II  an  das 
eigentliche  wissenschaftliche  Studium,  das  sich  sofort  in  eine  humanistische 
(alt-  und  neusprachliche)  und  eine  realistische  Abteilung  gliedert,  die  aber 
grundsätzlich  unter  einem  Lehrkörper  vereinigt  bleiben  und  wichtige  Fächer 
(Deutsch,  Staats-  und  Gesellschaftskunde,  Religionsgeschichte  und  Philo- 
sophie) gemeinsam  haben.  Von  Fremdsprachen  bleibt  für  beide  Gruppen 
das  Englische  verbindlich;  für  die  humanistisch-altsprachliche  dazu  Grie- 
chisch und  Latein,  für  die  humanistisch-neusprachliche  Französisch  in  Klasse 
IIa  und  I  und  Lateinisch  in  Klasse  I.  Auf  naturwissenschaftlich-mathema- 
tischem Gebiete  begnügt  sich  die  humanistische  Abteilung  damit,  weitere 
Anregungen  zu  bieten,  desgleichen  die  realistische  Abteilung  auf  historisch- 
politischem Gebiete. 

Dieser  Lehrplan,  zu  dem  die  Schrift  über  die  Nationalschule  ausführ- 
liche Erläuterungen  hinzufügt,  weist  innere  und  äußere  Ähnlichkeit  mit  der 
Einheitsschule  von  Männern  wie  Rein,  Kerschensteiner,  Tews  auf;  was 


302  Hans  Borbein, 

ihren  Verfasser  vor  ihnen  auszeichnet,  ist,  daß  er  es  nicht  bei  der  Theorie 
bewenden  ließ,  sondern  sie  mit  Umsicht  und  Tatkraft  in  die  Wirklichkeit 
übersetzte,  soweit  nicht  unüberwindliche  Schwierigkeiten  ihm  entgegen- 
standen. Die  Haupthindernisse  bestanden  in  der  großen  Verschiedenheit 
der  Vorbildung  der  auf  allen  Stufen  der  Heime  fortdauernd  neu  eintretenden 
Schüler  und  in  dem  Zwang,  viele  von  ihnen,  und  darunter  meist  gerade  die 
tüchtigsten,  für  Aufnahme-,  Schluß-  und  Reifeprüfungen  an  öffentlichen 
Schulen  vorzubereiten  und  damit  von  dem  eigentlichen  Ziel  ihrer  Erziehung 
abzudrängen.  Es  ehrt  Lietz  und  seine  Mitarbeiter,  daß  es  ihnen  trotz  aller 
Hemmungen  gelungen  ist,  in  jedem  Schuljahr  diese  schwierige  Aufgabe 
mit  einer  nicht  geringen  Zahl  von  Zöglingen  zu  lösen.  Freiere  Bahn  werden 
die  Heime  für  ihre  Reformversuche  auf  dem  Gebiet  der  Lehrverfassung 
freüich  erst  dann  erhalten,  wenn  die  auch  von  anderen  Pädagogen  an- 
gestrebte, seit  der  Reichsschulkonferenz  von  den  Landesregierungen 
erwogene  stärkere  Einstellung  der  wissenschaftlichen  Forderungen  auf  die 
Leistungsfähigkeit  und  Neigungen  der  Schüler  (Vereinfachung  der  Pläne; 
größere  Beweglichkeit,  namentlich  auf  der  Oberstufe;  Beschränkung  der 
Reifeprüfung  auf  wenige  Fächer)  durchgeführt  ist.  Für  den  gegenwärtigen 
Unterrichtsbetrieb  an  den  Lietzschen  Anstalten  wäre  eine  baldige  Lösung 
dieser  Frage  im  hohen  Maße  erwünscht,  da  die  jetzige  Zwitterstellung  un- 
haltbar ist.  Dies  gilt  besonders  für  die  fremden  Sprachen,  und  zwar 
vor  allem  die  neueren,  weil  die  meisten  Heimschüler,  welche  auf  die  Reife- 
Prüfung  hinarbeiten,  diese,  sei  es  als  Auswärtige  oder  (was  seit  Ostern  1920 
statthaft  ist)  an  der  Anstalt  selbst,  nach  dem  Lehrplan  der  Oberrealschulen 
ableisten  wollen.  Der  auch  nach  seinem  Tode  noch  fortwirkende  Einfluß 
der  überragenden  Persönlichkeit  des  Stifters  der  Anstalten  hat  seine  Auf- 
fassung vom  Wesen  und  Wert  des  fremdsprachlichen  Unterrichts  als  lebendige 
Tradition  bei  Lehrern  und  Schülern  festgelegt.  Lietz  betrachtete  ihn  als  ein 
sekundäres  Bildungsmittel ;  ihm  kam  es  wesentUch  auf  den  in  den  Sprachen 
enthaltenen  Kulturinhalt  an,  den  er,  soweit  es  mit  Hufe  von  Übersetzungen 
und  durch  geschichtliche  Belehrung  geschehen  könnte,  lieber  auf  diesem 
einfacheren  und,  wie  er  meinte,  schneller  in  die  Tiefe  führendem  Wege  ver- 
mitteln wollte.  Den  formal  bildenden  Wert  auch  der  neueren  Sprachen 
sah  er  sogar  in  Höhenleistungen  wie  denen  der  Frankfurter  Reformschulen 
als  gering  an  und  ließ  sich  auch  nicht  überzeugen  durch  den  Hinweis  auf  die 
Bedeutung  der  auf  der  Schule  erworbenen  fremdsprachlichen  Kenntnisse 
für  Anforderungen  der  Universität  und  des  praktischen  Lebens.  Wenn  dem- 
nach der  Zustand  des  Sprachunterrichts  an  den  L.  E.  H.  nicht  als  vorbild- 
lich für  andere  Schulen  angesehen  werden  kann,  so  kommt  den  Heimen  doch 
das  Verdienst  zu,  durch  die  von  ihnen  angestellten  Versuche  die  Schwierigkeit 
des  Problems  herausgestellt  zu  haben.  Fragen  wie  die,  ob  wir  den  Beginn 
so  weit  hinaufrücken  sollen,  wie  Lietz  es  vorschlug  und  zum  Teil  auch  prak- 
tisch durchführte,  ob  mit  Französisch  oder  Englisch  zu  beginnen  sei,  welches 
Verhältnis  diese  beiden  auf  den  höheren  Stufen  zueinander  haben  sollen, 
ob  es  möglich  sei,  die  von  ihm  hochgesteckten  Ziele  der  humanistischen 


Hermann  Lietz  und  die  höheren  Schulen.  303 

Bildung  noch  zu  erreichen,  wenn  man  Griechisch  und  Lateinisch  so  spät 
einsetzt,  wie  er  es  tut,  sind  bisher  ungelöst  und  bedürfen  erst  noch  einer 
langen  Erprobung,  ehe  daraus  allgemeine  Schlußfolgerungen  für  unser  ge- 
samtes Schulwesen  gezogen  werden  können. 

Wichtiger  als  die  Änderung  des  Lehrplans  war  für  Lietz  die  Wieder- 
geburt des  Geistes,  in  dem  er  ausgeführt  wurde.  Richtunggebend 
sollte  die  Psychologie  des  jugendlichen  Menschen  sein.  Da  dieser  in  erster 
Linie  ein  wollendes  und  handelndes  Wesen  ist,  so  war  damit  auch  Weg  und 
Ziel  des  erziehenden  Unterrichts  gegeben:  durch  Selbsttätigkeit  zur  Selb- 
ständigkeit zu  führen.  Von  dieser  Grundlage  aus  wurde  zunächst  allem 
toten  Wissen  der  Krieg  erklärt  und  das  Gedächtnis  bewußt  in  den  Hinter- 
grund gedrängt.  Als  Symbol  dieses  Kampfes  galt  die  Verbannung  des  Leit- 
fadens, der  in  der  ,, Lernschule"  eine  fast  unbeschränkte  Herrschaft  geführt 
hatte.  Die  erste  Folge  dieser  Einstellung  war  eine  gewaltige  Verkürzung 
des  Stoffes.  Da  das  mechanische  Auswendiglernen  auf  das  unumgänglich 
Notwendige  beschränkt  wurde,  verschwanden  Massen  von  Zahlen,  Wörtern, 
Lehrsätzen,  und  was  davon  blieb,  mußte  in  ganz  anderer  Weise  verarbeitet 
und  angeeignet  werden.  Während  sonst  in  der  Klasse  im  wesentlichen  das 
Verhältnis  von  Geben  und  Aufnehmen  herrschte,  wurde  jetzt  eine  Arbeits- 
gemeinschaft hergestellt,  in  welcher  der  Lehrer  sich  nach  Möglichkeit 
zurückhielt  und  dafür  den  Schüler  zum  Mitschaffen  anregte  oder,  wo  es 
anging,  ihm  auch  die  schöpferische  Initiative  überUeß.  An  die  Stelle  des 
unfruchtbaren  Frage-  und  Antwortspiels  und  des  einseitigen  Vortrags  des 
Lehrenden  traten  eigene  Beobachtung,  Nachdenken,  selbständige  Versuche 
des  Lernenden.  Dieser  mußte  helfen,  den  Stoff  herbeizubringen  und  vorzu- 
bereiten, so  besonders  auf  allen  geschichtlichen  Gebieten,  wo  Quellenschriften 
zur  Verfügung  standen,  und  in  den  sprachlichen  Fächern,  in  denen  es  sich 
darum  handelte,  Texte  zu  deuten  und  in  sich  aufzunehmen.  Das  gewöhn- 
liche Bild  einer  Lehrstunde  war  das  eines  Lehrgesprächs  auf  Grund  der 
Vorbereitung  beider  Teile,  wobei  nur  die  Leitung  in  der  Hand  des  an  Er- 
fahrung und  Können  überlegenen  Lehrers  blieb,  während  jeder  Schüler 
reiche  Gelegenheit  erhielt,  im  Wettbewerb  mit  ihm  und  seinen  Kameraden 
sein  inneres  Leben  auszudrücken,  sei  es  durch  kurze  Erwiderungen  oder 
zusammenhängenden  Vortrag.  Besondre  Formen  nahm  der  Arbeitsunter- 
richt an  in  den  mehr  auf  sinnlicher  Wahrnehmung  und  Erfahrung  beruhenden 
erd-  und  naturkundlichen  Fächern.  Hier  wurde  die  unmittelbare  Anschauung 
begünstigt,  und  zwar  nicht  im  Sinne  der  passiven  Aufnahme,  sondern  in 
möglichster  Verknüpfung  mit  dem  selbständigen  Handeln  der  Zöglinge. 
Daher  gestand  man  dem  Schülerexperiment  einen  breiten  Raum  zu,  wobei 
der  Hauptnachdruck  auf  das  Beschreiten  eigener  Wege  und  das  selbständige 
Finden  von  Problemen  gelegt  wurde.  Außerdem  unterstützte  die  Tätigkeit 
in  der  Werkstätte,  die  Beschäftigung  in  Feld  und  Garten,  die  Pflege  der  Tiere 
den  wissenschaftlichen  Klassenunterricht.  Wo  es  anging,  wurden  die  Lehr- 
stunden selbst  ins  Freie  verlegt  und  damit  eine  unmittelbare  Berührung 
mit  dem  zu  behandelnden  Gegenstand  hergestellt.  War  die  nächste  Umgebung 


304  Hans  Borbein, 

den  Heimschülern  vertraut  geworden,  dann  ging  es  zu  Fuß  oder  mit  dem 
Rade  hinaus  in  das  deutsche  Land,  und  wenige  Jahre  verstrichen,  in  denen 
nicht  einer  größeren  Schar  Gelegenheit  geboten  wurde,  auf  weiten,  an  Stra- 
pazen und  Entbehrungen  reichen  Reisen,  die  auch  tief  in  fremde  Länder 
und  Erdteile  hineinführten,  die  jugendlichen  Kräfte  zu  rühren.  Noch  heute 
legen  Berichte,  die  von  den  Schülern  selbst  in  den  von  den  Heimen  für  Eltern 
und  Freunde  herausgegebenen  Schriften  veröffentlicht  wurden,  Zeugnis 
ab  von  solchen  kühnen  Unternehmungen. 

Wir  können  die  allmähliche  Entwicklung  dieses  Lehrverfahrens  und  seine 
Anwendung  auf  die  verschiedenen  Fächer  an  der  Hand  der  Jahrbücher 
der  L.  E.  H.  verfolgen,  die  eben  darum  eine  so  wertvolle  Quelle  für  alle  Fach- 
genossen sind,  denen  die  innere  Reform  unserer  Jugendbildung  am  Herzen 
liegt.  Lietz  und  seine  Mitarbeiter  waren  sich  dabei  des  Zusammenhangs 
mit  ihren  Vorgängern,  in  erster  Linie  den  Vertretern  der  Herbart-Ziller-Stoy- 
schen  Pädagogik,  wohl  bewußt.  Auch  wurden  neuere  Strömungen  im  öffent- 
lichen Schulwesen  mit  Eifer  verfolgt  und  benutzt,  so  die  in  den  80er  Jahren 
beginnende  Reformbewegung  auf  dem  Gebiete  der  modernen  Sprachen,  die 
Wandlungen  in  der  Methodik  in  den  mathematisch-naturwissenschaftlichen 
Fächern,  im  Zeichenunterricht,  die  Berliner  Schulkonferenzen,  der  Rein- 
hardtsche  Kampf  gegen  den  Mißbrauch  des  Extemporales.  Die  Urteile  solcher, 
den  Heimen  ferner  stehenden  Männer  und  Frauen,  die  Gelegenheit  fanden, 
die  Wirkungen  und  Ergebnisse  des  neuen  Lehrverfahrens  an  Ort  und  Stelle 
zu  beobachten,  stimmen  begreiflicherweise  nicht  immer  überein  Das  liegt 
manchmal  schon  an  dem  eignen  Standpunkt  der  Besucher  Ferner  dürfen 
wir  nicht  vergessen,  daß  es  für  die L. E.H.  noch  schwieriger  war  als  für  andere 
Privatschulen,  die  geeigneten  Lehrkräfte  zu  gewinnen  und  zu  fesseln,  um 
so  mehr  als  die  geniale  Persönlichkeit  ihres  Leiters  wohl  darauf  eingestellt 
war,  den  werdenden  Menschen  alles  zu  sein,  reife  Naturen  aber,  die  selbst 
eigenes  zu  geben  hatten  und  sich  seinen  hohen  Anforderungen  nicht  leicht 
fügten,  vielfach  von  sich  abstieß.  Endlich  liegen  ja  in  dem  Verfahren  selber 
zweifellos  gewisse  Gefahren  und  Schwächen,  die  auch  zur  Vorsicht  bei  seiner 
Übertragung  auf  andere  Schulen  mahnen.  Weder  werden  die  meisten  Lehrer 
geneigt  sein,  auf  die  Hilfe  des  in  der  Jugend  besonders  starken  Gedächtnisses 
und  die  Erwerbung  positiver  Kenntnisse  in  dem  Maße  zu  verzichten,  wie 
Lietz  es  in  menschlich  verständlicher  Abkehr  von  seiner  eignen  Schulerfahrung 
tat,  noch  auch  den  gedruckten  Lehrbüchern  einen  so  bescheidenen,  und 
den  schriftlichen  Ausarbeitungen  der  Schüler  einen  so  breiten  Raum  anzu- 
weisen, wie  es  in  den  L. E.H.  üblich  ist.  Ferner  erfordert  die  Durchführung 
des  Gedankens  der  Arbeitsgemeinschaft  in  und  mit  der  Klasse  einen  solchen 
Grad  der  Stoffbeherrschung  und  geistigen  Beweglichkeit,  daß  nicht  jeder 
Lehrer  diese  Methode  wie  ein  Rezept  anwenden  kann.  Auch  in  den  Heimen 
selbst  hat  mancher  versagt  und  wird  künftighin  versagen.  Trotzdem 
aber  bleibt  es  dabei,  daß  Lietz  selbst  und  viele  seiner  Mitarbeiter  und 
Nachfolger  in  den  L.  E.  H.  als  Lehrer  ausgezeichnete  Erfolge  erzielt  haben, 
die  zur  Nacheiferung  anreizen.    Es  ist  eine  Freude,  festzustellen,  sei  es  nun 


Hermann  Lietz  und  die  höheren  Schulen.  305 

in  der  Klasse  oder  bei  Prüfungen  oder  auch  im  allgemein  menschlichen  Ver- 
kehr, mit  welcher  Frische  und  Unmittelbarkeit  ihre  Schüler  die  Gegenstände 
erfassen,  wie  treffsicher  sie  urteilen,  und  mit  welcher  Gewandtheit  und  Un- 
befangenheit sie  in  zusammenhängender  Rede  Rechenschaft  ablegen  über 
das,  was  sie  geistig  durchdrungen  haben. 

'Der  wissenschaftliche  Unterricht  umfaßt  in  den  L.  E.  H.  im  allgemeinen 
nur  den  Vormittag,  während  der  Nachmittag  außer  der  Erholung  der  künst- 
lerischen, körperlichen  und  praktischen  Ausbildung  gewidmet 
ist.  Obwohl  Lietz  nach  Herkunft,  Veranlagung  und  Erziehung  weder  zur 
Musik,  noch  zu  den  darstellenden  Künsten  ein  tieferes  Verhältnis  hatte, 
verkannte  er  doch  nicht  den  Wert  des  Ästhetischen  für  die  Gesamtentwick- 
lung des  Menschen  und  hat  daher  dies  Gebiet  in  seinen  Anstalten  mit 
Liebe  und  Sorgfalt  ausgebaut.  Vorbildliches  ist  auch  hierin  geleistet  worden, 
so  oft  es  ihm  gelang,  die  geeignete  PersönUchkeit  als  Lehrer  zu  gewinnen. 
Künstlerisch  und  pädagogisch  veranlagte  Fachmänner  fanden  im  Zeichnen 
sowohl  wie  in  der  Musik  ein  dankbares  Wirkungsfeld  unter  den  durch  den 
Gesamtgeist  der  Heime  für  alles  Edle  und  Schöne  begeisterten  Schülern. 
Im  engen  Zusammenhang  mit  den  Leistungen  bei  musikalischen  Feiern 
stehen  die  theatralischen  Aufführungen,  die  es  bei  der  Gewöhnung 
der  Zöglinge  an  Selbsttätigkeit  und  freies  Heraustreten  nicht  selten  zu  hoher 
Vollendung  bringen.  Zur  Domäne  der  ästhetischen  Bildung,  in  enger  Ver- 
flechtung mit  dem  Sittlichen,  müssen  wir  endlich  auch  die  Weihestunden 
rechnen,  die  von  dem  englischen  Vorbild  ihren  Namen  (Kapellen)  und 
einen  Teil  ihres  Wesens  entnommen,  im  Laufe  der  Zeit  aber  eine  immer  reichere 
und  tiefere  Ausgestaltung  erfahren  haben.  Es  sind  abendliche  und  sonntäg- 
liche Feiern,  in  einem  stimmungsvollen  Räume  oder  draußen  in  der 
freien  Natur  abgehalten,  bei  denen  die  Seele  Schwingen  empfängt  durch 
die  Musik  und  mit  heiligem  Inhalt  erfüllt  wird  durch  das  Wort  der  Großen 
aus  dem  Reiche  des  Geistes.  Ihr  Ursprung  liegt  in  den  Andachten,  durch 
welche  das  Gemeinschaftsgefühl  frommer  Familien  von  jeher  sich  ausge- 
drückt hat.  Und  wenn  heute  so  viele  öffentliche  Schulen  unter  dem  Druck 
der  durch  die  Revolution  geschaffenen  Verhältnisse  schwankend  geworden 
sind,  ob  sie  diese  einst  vom  Hause  übernommene  christliche  Sitte  noch  bei- 
behalten sollen,  so  mögen  sie  einmal  versuchen,  alles  Konfessionelle  und 
Dogmatische  beiseite  zu  schieben,  die  Erhebung  der  Herzen  zu  Gott  etwa 
im  Schleiermacherschen  Sinne  aufzufassen  und,  wie  in  den  L.  E.  H.,  den 
religiösen  auch  andere,  im  weitesten  Sinne  erbauliche  Stoffe  hinzuzufügen, 
dem  Worte  die  Töne  beizugeben  und  die  ganze  Feier  so  zu  gestalten,  daß  keine 
junge  Seele  unberührt  bleibt.  Wenn  dann  vielleicht  nicht  eine  so  tiefgehende 
Wirkung  erreicht  wird,  wie  einst  bei  Lietz  und  heute  noch  in  glücklichen 
Stunden  bei  manchem  seiner  Nachfolger,  so  dürfen  wir  doch  gewiß  sein, 
daß  unsere  deutsche  Jugend,  die  in  der  Nachkriegszeit  nach  religiöser  Erhebung 
hungert,  durch  solche  Schulfeiern  eine  edle  Bereicherung  erfahren  wird. 

Wie  die  künstlerischen,  so  wurden  auch  die  körperlichen  Übungen, 
die  in  den  Anstalten  von  Lietz  einen  so  breiten  Raum  einnehmen,  alseinwesent- 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  20 


306  Hans  Borbein, 

liches  Mittel  zur  Erziehung  der  sittlichen  Persönlichkeit  angesehen.  Ihm 
schwebte  wohl  als  dem  früheren  Theologen  das  Wort  des  Apostels  vom  Leibe  als 
dem  Tempel  Gottes  vor.  Daher  die  einfache,  gesunde  Kost,  die  Körperpflege, 
die  naturgemäße  Kleidung,  die  strenge  Enthaltung  von  Alkohol  und  Nikotin, 
Spiel  und  Sport  aller  Art  und  endUch  als  letztes,  aber  nicht  einziges  oder 
nur  wichtigstes  Mittel  der  körperUchen  Erziehung,  das  Schulturnen.  In 
all  diesen  Dingen  war  Lietz  selbst,  der  einen  von  Jugend  an  durch  gesunde 
Lebensweise  und  Übung  abgehärteten  und  gestählten  Körper  besaß,  seinen 
Schülern  ein  unübertreffliches  Vorbild.  Auch  von. seinen  Lehrern  verlangte 
er,  daß  sie  wenigstens  den  ernsten  Willen  zeigten,  der  Jugend  durch  ihr  eignes 
Verhalten  ein  gutes  Beispiel  zu  geben.  Die  Auflösung  des  Heeres  und  die 
Pflicht,  den  Nachwuchs  trotzdem  wehrhaft  zu  erhalten,  rückt  dies  in  den 
L.  E.  H.  nun  schon  länger  als  20  Jahre  erprobte  System  der  Körperkultur 
in  eine  ganz  besondere  Beleuchtung  und  stellt  seinen  Schöpfer  als  Erzieher 
des  deutschen  Volkes  zur  Mannhaftigkeit  unmittelbar  neben  seinen  großen 
Landsmann  E.  M.  Arndt. 

Die  Herkunft  von  Lietz  aus  einfachen  bäuerlichen  Kreisen  war  auch  be- 
stimmend für  die  neben  dem  Unterricht  herrschende  praktische  Betäti- 
gung seiner  Zöglinge  im  landwirtschaftlichen  Betrieb  und 
Handwerk.  Gedanken,  die  wir  bei  Rousseau,  den  Philanthropen,  Pesta- 
lozzi, Fröbel,  Fichte  finden :  von  der  Rückkehr  zur  Natur,  von  der  Notwendig- 
keit, schon  die  Kinder  zur  Erzeugung  materieller  Güter  anzuleiten,  vom 
Wert  der  Handarbeit,  steckten  ihm  von  Geburt  an  im  Blut,  wuchsen  mit 
dem  in  ihm  als  unwiderstehlicher  Drang  lebenden  Bedürfnis,  Abwechslung 
und  Erholung  von  geistiger  Anstrengung  in  der  Beschäftigung  in  Feld  und 
Garten,  in  Wirtschaft  und  Werkstätte  zu  suchen,  und  nahmen  immer  festere 
Gestalt  an,  je  mehr  ihn  die  Arbeitsgemeinschaft  mit  seinen  Schülern  und 
Lehrern  vor  neue  Aufgaben  stellte.  Dies  dürfen  wir  nicht  aus  den  Augen  lassen, 
wenn  wir  die  praktischen  Arbeiten  der  Zöglinge  der  L,  E.  H.  in  ihrer  Eigen- 
art und  ihrer  Bedeutung  für  unsere  öffentlichen  Schulen  richtig  beurteilen 
wollen.  Sie  sind  nicht  vom  Verstände  ausgeklügelt  und  den  übrigen  Bildungs- 
mitteln mechanisch  hinzugefügt  worden,  sondern  von  Anbeginn  an  mit  diesen 
organisch  verbunden  gewesen,  einem  in  der  Sache  liegenden  Bedürfnis  ent- 
sprossen und  haben  auch  einen  äußeren  Nutzen  gehabt,  ohne  den  die  Heime 
mit  all  dem,  was  zu  ihnen  gehört,  nicht  zu  der  heutigen  Blüte  hätten  gelangen 
können.  Dieser  sichtbare  Ertrag  für  das  Ganze,  der  dem  entspricht,  was 
wir  gegenwärtig  wohl  als  Produktionsschule  bezeichnen,  ist  freilich, 
wenn  wir  ihn  auch,  besonders  als  Mittel  zur  Erzeugung  sozialer  Gesinnung, 
nicht  gering  veranschlagen  wollen,  nicht  der  wichtigste  Gesichtspunkt 
unter  dem  wir  die  Feld-,  Garten-  und  Werkstättenarbeit  in  den  L.  E.  H. 
betrachten  dürfen.  Er  ist  auch  bei  Lietz  ganz  von  selbst  allmählich  zurück- 
getreten, als  die  Heime  ihrer  äußeren  Vollendung  entgegengingen,  und  wird 
noch  mehr  im  Hintergrund  gehalten  werden  müssen  bei  den  zu  erwartenden 
Versuchen,  die  von  ihm  gegebenen  Anregungen  auf  Staatsschulen,  nament- 
lich Internate,  zu  übertragen.  Unter  dem  Sammelnamen  „Werkunterricht" 


Hermann  Lletz  und  die  höheren  Schulen.  307 

sind  ja  diese  mannigfaltigen  praktischen  Schülerarbeiten  neuerdings  in  der 
pädagogischen  Theorie  zu  hohem  Ansehen  gelangt ;  ihre  allgemeine  Einführung 
wird  zurzeit  schon  durch  die  wirtschaftliche  Notlage  verhindert;  aber  selbst 
wenn  diese  bald  behoben  werden  sollte,  wird  sich  doch  zeigen,  daß  sie  auf  die 
Dauer  nur  dann  fruchtbar  gestaltet  werden  können,  wenn  sie  fest  verankert 
werden  in  dem  allgemeinen  Erziehungsziel  und  dementsprechend  enge  Ver- 
bindungen eingehen  mit  den  übrigen  Lehrgegenständen,  und  wenn  sie  anderer- 
seits doch  wieder  mit  fachmännischer  Gründlichkeit  betrieben  werden  und 
ihre  Eigengesetzlichkeit  nicht  aufgeben.  Nur  dann  werden  sie  auch  dazu 
beitragen,  eine  Versöhnung  zwischen  Hand-  und  Kopfarbeit  anzubahnen. 
Die  Entfernung  vom  Weltgetriebe,  in  der  das  Leben  der  L.  E.  H.  sich 
abspielt,  hat  bei  Außenstehenden  unter  den  mancherlei  Vorurteilen  auch 
das  hervorgerufen,  es  herrsche  dort  eine  nicht  selten  zur  Zügellosigkeit  aus- 
artende Ungebundenheit.  Der  Überblick  über  ihren  äußern  und  Innern  Be- 
trieb, den  wir  im  Vorstehenden  entworfen  haben,  wird  jeden  unbefangen  Ur- 
teilenden davon  überzeugt  haben,  daß  der  Tageslauf  eines  Heimschülers 
ein  weit  größeres  Maß  von  Pflichten  aufweist,  als  der  ihrer  Kameraden  an 
den  öffentlichen  Schulen.  Lietz  hat  den  Weg  eingeschlagen,  den  vor  ihm 
so  viele  sittliche  Reformatoren  gegangen  sind,  er  setzte  im  Sinne  des  Christen- 
tums an  die  Stelle  des  Gesetzes  die  innere  Freiheit,  die  sich  selbst  Normen 
schafft,  im  Sinne  Goethes  in  der  Pädagogischen  Provinz  an  die  Stelle  der 
Furcht  die  Ehrfurcht.  Von  diesem  Geiste  ist  alle  Arbeit  in  den  Heimen  ge- 
tragen, er  durchdringt  auch  das  Gemeinschaftsleben,  das  Zöglinge  und 
Erzieher  außerhalb  der  Lehrstunden  führen.  Lietz  und  seine  Helfer  fassen 
die  Beziehungen,  die  sie  mit  ihren  jüngeren  Weggenossen  vereinigen,  am 
Hebsten  zusammen  unter  dem  Bilde  der  Familie,  deren  sichtbare  Form 
auch  in  Ilsenburg  noch  obwaltet,  während  später,  besonders  in  Bieberstein, 
die  äußeren  Bande  gelockert  sind.  Ihren  ursprünglichsten  Ausdruck  findet 
die  Zusammengehörigkeit  in  den  gemeinsamen  Mahlzeiten,  die  alle  Heim- 
bewohner, mit  Einschluß  der  Frauen  und  Kinder  der  Lehrer,  der  Haus- 
angestellten und  Gäste  vereinen;  wie  denn  auch  jedem  der  Zutritt  offen 
steht  zu  den  zahlreichen  Feiern  ernster  und  fröhlicher  Art.  Daneben  aber 
wird  dem  einzelnen  Zögling  die  seinem  Lebensalter  entsprechende  Bewegungs- 
freiheit gelassen.  Herzlichkeit  und  Freimut  gepaart  herrschen  im  kamerad- 
schaftlichen Verkehr  der  Knaben,  Jünglinge  und  Mädchen  untereinander, 
sie  kennzeichnen  aber  ebenso  ihre  Stellung  zu  dem  selbstgewählten  Familien- 
haupte, dem  sie  durch  das  trauliche  gegenseitige  Du  besonders  nahetreten, 
und  zu  den  übrigen  Erwachsenen.  Aus  dieser  Gesinnung  heraus  ist  im  Laufe 
der  Jahre  die  neue,  auf  Selbstregierung  und  freiwilliger  Unterordnung  unter 
das  Ganze  beruhende  Lebensform  erwachsen,  die  wir  mir  dem  Namen  der 
Schulgemeinde  bezeichnen.  In  unser  aller  Erinnerung  lebt  der  ihrem 
innersten  Wesen  als  eines  organischen  Gebildes  widersprechende  überstürzte 
Versuch,  sie  mechanisch  auf  die  übrigen  Schulen  zu  übertragen.  Dies  Be- 
ginnen mußte  scheitern.  Fruchtbarer  wird  es  sein,  die  ihr  zugrunde  liegenden 
Gedanken  allmählich  in  unser  öffentliches  Bildungswesen  einzuführen.    Den 

20* 


308  Paul  Lorentz, 

Weg  dazu  hat  der  jetzige  Oberleiter  der  L.  E.  H.  Dr.  Andreesen  gezeigt  in 
seinem  glücklichen  und  erfolgreichen  Auftreten  bei  der  Reichsschulkonferenz 
und  neuerdings  wieder  in  seinen  besonnenen  und  überzeugenden  Ausführungen 
über  Selbstverwaltung  der  Schüler  in  dem  bei  Teubner  erschienenen 
Sammelwerk  von  Neuendorff  „Die  Schulgemeinde*', 
•  Das  letzte  Ziel  der  Erziehung,  wie  Lietz  sie  auffaßte,  ist  aber  doch  nicht 
das  Gemeinschaftsleben  als  solches,  sondern  der  in  sich  ruhende  sittlich- 
religiöse Einzelmensch  in  seiner  Eigenart  und  seinen  mannigfachen 
Beziehungen  zur  Umwelt.  Daher  gab  er  sein  Bestes  in  den  persönlichen 
Berührungen  mit  jedem  seiner  Zöglinge,  vor  allem  denen,  die  seinem  Herzen 
nahe  standen.  „Der  echte  Führer  der  Jugend  ist  zugleich  ihr  Freund",  sagt 
er  einmal  in  seinen  Lebenserinnerungen ;  dies  meinte  er  aber  in  einem  ganz 
feinen  und  besonderen  Sinne,  Alles  Eigensüchtige  und  Triebhafte  muß 
von  dieser  auf  Wahlverwandtschaft  beruhenden  Freundschaft  fern  bleiben. 
Ihren  festesten  Grund  findet  sie  in  der  gemeinssn-en  Begeisterung  für  ver 
ehrte  Helden,  Werke,  Ideale.  Sie  ist  ein  seelisches  Erlebnis,  in  dem  sich  der 
platonische  Eros  mit  der  christlichen  Liebe  vermählt.  Wenn  heute  so  viele 
einstige  Bürger  der  L.  E.  H.  in  wehmütiger  Erinnerung  an  vergangenes  Glück 
das  Bild  ihres  Führers  betrachten,  oder  wenn  das  Bedürfnis,  ihre  tiefe  Dank- 
barkeit für  alles  von  ihm  Empfangene  auszudrücken,  sie  an  sein  stilles  Grab 
am  Waldesrande  in  Haubinda  führt,  dann  tragen  sie  in  sich  lebendig  das 
Gefühl  einer  Innern  persönlichen  Gemeinschaft,  die  Trennung  und  Tod  über- 
dauert und  unzerstörbar  ist.  In  dieser  höchsten  und  tiefsten  Beziehung 
von  Menschen  untereinander  ist  Hermann  Lietz  seinen  Mitarbeitern  Muster 
und  Wegweiser  gewesen ;  ob  auch  wir  anderen  Lehrer  und  Erzieher  seinem 
Beispiel  folgen  und  für  die  zu  allen  Opfern  bereite  Hingabe  an  die  Jugend 
den  gleichen  Lohn  davontragen  werden,  liegt  an  uns. 

Cassel.  Hans   Borbein, 

Emil  Ludwigs  Goethe^). 

Unter  den  bedeutenden  Goethe-Darstellungen  des  letzten  Jahrzehnts 
haben  uns  die  Bücher  von  Chamberlain  und  Simmel  das  gegeben,  was  man 
die  „Idee  Goethe"  nennen  kann,  hat  das  Buch  von  Gundolf  uns  in  Goethe 
den  „gestalterischen  Deutschen  schlechthin"  gezeichnet,  damit  wir  erführen, 
nicht  was  er  litt  und  tat,  sondern  was  er  war  und  schuf  kraft  seiner  ange- 
borenen „Entelechie".  Nun  führt  uns  ein  namhafter,  psychologischer  Schrift- 
steller und  Dichter,  Emil  Ludwig,  die  Geschichte  von  Goethes  Seele  vor 
„im  Sinne  Plutarchs,  doch  mit  den  Mitteln  der  modernen  Psychologie  für 
die  Nerven  unseres  Jahrhunderts".  Das  war,  wie  bei  allen  solchen  geschicht- 
lichen Darstellungen,  nur  möglich  auf  Grund  der  Vision  der  gesamten 
Gestalt  Goethes,  aber  dieses  Vorgefühl  ist  durch  das  Studium  der  Akten, 
hier  also  der  Briefe,  Gespräche,  Tagebücher,  nEmcntlich  auch  der  Bildnisse 
aufs  gründlichste  nachgeprüft  —  die  Mitarbeit  eines  besonders  verdienst- 

^)   Qoftthe,    Geschichte   eines   Menschen    von  Emil  Ludwig.     S  Bde.    J.  G.  Cotta. 
Stuttgart-Berlin  1920.     Geb.  75  M. 


Emii  Ludwigs  Goethe.  309 

vollen  Goethe-Philologen,  Ed.  von  der  Hellen,  ist  dem  Verfasser  hier  in 
dankenswerter  Weise  zustatten  gekommen.  Im  Buch  selbst  konnten  daher 
Zahlen  und  Daten  aller  Art  fortfallen,  sie  wurden  durch  knappe  Zeittafeln 
am  Schluß  jedes  Bandes  aufs  beste  ersetzt  und  hätten  die  Darstellung,  die  nicht 
selten  von  hohem  künstlerischen  Reiz  ist,  nur  gestört.  Die  Geschichte  Goethes 
als  die  Seelengeschichte  eines  Menschen  stellt  uns  Ludwig  dar  und  räumt 
dadurch  endgültig,  sollte  man  meinen,  mit  Goethe  als  dem  jungen  Apoll 
und  dann  wieder  als  dem  alten  Olympier,  mit  dem  „glücklichen"  wie  mit 
mit  dem  „harmonischen"  Goethe  auf,  um  uns  dafür  „die  größte  Gestalt 
der  neuen  Geschichte,  den  Mann  zu  zeichnen,  der  von  sich  sagen  konnte, 
er  habe  sichs  sauer  werden  lassen."  Auf  Kampf  war  Goethes  Leben  gestellt, 
auf  den  unablässigen  Kampf  zwischen  seinem  Genius  und  seinem 
Dämon.  Das  ist  zwar  nicht  die  leitende  Idee,  aber  der  unzweifelhafte,  eigent- 
liche Sinn  von  Goethes  83 jährigem  Lebenslauf,  das  gibt  die  unvergleichliche 
Einheitlichkeit  und  Gesetzmäßigkeit  seines  Lebens  ab:  die  Höherentwick- 
lung vermittels  dieses  Kampfes,  das  die  ,,Urpolarität",  die  in  Goethe  — 
hierin  ein  selten  typischer  Mensch  —  besonders  stark  ausgeprägt  war.  „Dä- 
mon, vom  Genius  überwunden,  das  Dasein  im  Kampf  mit  sich  selber,  kunst- 
volle Konstruktion  von  Wällen  gegen  die  Welt,  Ergreifung  jeder  Tätigkeit, 
um  sich  vor  sich  zu  retten,  bewußte  Zusammenfassung  im  engen  Raum,  alles 
nach  innen  wendend  —  und  so  im  80jährigen  Kurvenfluge  mit  höchster  Geduld 
langsam  um  eines  Berges  Höhe  den  Sternen  angenähert,"  so  faßt  Ludwig  selbst 
im  dritten  Bande  Goethes  Lebens-Sinn  völlig  zutreffend  gegenüber  dem 
Lord  Byrons  zusammen,  dessen  Genius  von  seinem  Dämon  zerstört  wurde. 
Und  je  zuweilen  weist  er  immer  wieder  auf  jenes  Ringen  hin  und  durch- 
leuchtet dadurch  in  oft  noch  kaum  bemerkter  Art,  da  er  auch  scheinbar 
unbedeutende  Äußerungen  feinsinnig  zu  deuten  und  namentUch  auch  in 
den  Gesichtszügen  gleichzeitiger  Bildnisse  trefflich  zu  lesen  versteht,  alle 
Hauptstufen  in  dem  Entwicklungsgange  Goethes.  In  der  einen  Gestalt 
des  „Prometheus"  schlugen,  wie  sonst  nie  so  vollkommen,  die  beiden  streiten- 
den Gewalten,  Genius  und  Dämon,  zusammen :  Selbstbewußtsein,  vom  Glauben 
an  ein  Schicksal  männlich  gebunden.  Deutlich  wird,  wie  in  Weimar  Frau 
von  Stein  für  Jahre  hindurch  „die  ganz  un-Goethische  christliche  Trennung 
von  Tier  und  Gott  erzwang"  und  wie  die  unter  diesem  Einfluß  erzielte  Har- 
monie nur  eine  künstliche  sein  konnte.  Das  Erlebnis  der  Antike  in  Italien, 
von  wo  er  nicht  neu  geformt,  nur  mit  neu  formenden  Idealen  heimkehrt, 
wirkt  so,  als  nähme  der  Genius  einen  stilistischen  Umweg,  um  sich  aufs  neue 
über  den  Dämon  zu  stürzen.  Und  die  gar  stille  und  einfache  Welt,  die  Goethe 
zuerst  als  Gatte  und  Vater  bewohnt,  sie  ist  die  Form,  in  der  sich  der  dä- 
monische Mensch  zu  beruhigen  trachtet,  um  dem  Genius  Freiheit  zu  schaffen. 
Voll  überzeugend  ist  die  Einheitlichkeit  des  ,, mystischen  Kreises"  gekenn- 
zeichnet, die  Goethes  Forschung  ebenso  beschreibt  wie  sein  Dichten,  wie  sein 
Handeln:  „Das  Auge  sieht  Gelegenheit,  der  Genius  schaut  Allgemeines, 
das  Individuum  faßt  zusammen.  Dieser  Weg  von  der  Beobachtung  über 
die  Vision  zum  Gesetz  ist  es,  den  der  Lyriker,  der  Minister,  der  Forscher  immer 


310  Paul  Lorentz,  Emil  Ludwigs  Goethe. 

wieder  zurücklegt,  und  nur  von  Umfang  und  Schwierigkeit  der  Materie  hängt 
es  ab,  ob  dieser  Weg  Minuten  oder  Jahre  währt."  In  der  Naturforschung 
aber  gerade  zeigt  sich  auch,  im  Kampf  gegen  Newtons  Farbenlehre,  seine 
dämonische  Natur  ganz  besonders  stark.  In  den  Freundschaften  —  mit 
Herder  besonders  und  mit  Schiller,  in  dem  Goethe  den  idealen  Zuhörer  gewann, 
der  aber  selbst  Goethes  Charakter  völlig  verkannte,  da  ihm  sein  lebens- 
länglicher Kampf  unsichtbar  blieb,  immer  nimmt  das  Ringen  zwischen  Genius 
und  Dämon  neue  Gestalten  an.  In  den  50er  Jahren  seines  Lebens  steht 
es  so,  daß  man  den  Eindruck  gewinnt,  der  dämonische  Teil  seines  Wesens 
habe  sich  eingeschleiert.  In  der  ,,Pandora"  schließt  sich  zum  ersten  Male 
Goethes  Doppelwesen  mit  gefaßter  Leidenschaft,  aber  bald  hat  er  einsehen 
müssen,  daß  ihm  die  harmonische  Führung  der  Kunst  für  die  Dauer  von 
seinem  Dämon  verboten  oder  doch  verschlossen  bleibt.  Die  60er  Jahre 
seines  Lebens  verlaufen  vom  Dämon  ungestörter  denn  je  —  aber  auch  hier 
wieder  ein  neidvoller  Rückblick  auf  die  dämonische  Jugend  —  es  ist  die  Zeit 
der  Wendung  seiner  Dichtung  nach  dem  Osten,  und  in  dem  Erlebnis  und  der 
Dichtung  mit  Marianne  von  Willemer  scheint  der  archimedische  Punkt  end- 
lich gefunden,  die  Systematik  seiner  Seele  sichergestellt  zu  sein.  Die  70er 
Jahre  bringen  dann  die  letzte  Metamorphose  Goethes:  die  Auflösung  der 
Persönlichkeit  in  das  Allgemeine.  Aber  wenn  auch  der  Dämon  im  74  jährigen  in 
seiner  psychischen  Substanz  sich  von  dem  des  Jünglings  nicht  zu  unter- 
scheiden scheint,  bei  der  Werbung  um  Ulrike  v.  Levetzow  ist  doch  eben  nicht 
die  Person,  sind  vielmehr  die  Frauen  überhaupt,  die  Jugend,  das  Leben  ge- 
meint. Und  die  letzte  Stufe :  Lebendigste  Erscheinung  von  Ironie  und  Skepsis, 
Selbstbewußtsein  und  Verehrung  wie  nur  je  im  Jüngling,  aber  der  Dämon, 
gegen  den  nicht  nur  der  Genius  als  Retter  dasteht,  sondern  auch  die  acht 
Jahrzehnte  hindurch  als  das  andere  Korrektiv  geübte  gigantische  Willens- 
kraft, zerstört  nicht  mehr,  wenn  auch  hinter  dem  Alters-Stil,  im  Leben  wie 
im  Dichten  —  in  Wahrheit  eben  der  entschiedene  Wille  des  innerst  auf- 
geregten, vom  Genius  bedrängten  Meisters  steckt,  der  mit  den  Mächten  dieser 
Welt  lieber  nur  noch  auf  eine  kalte  Art  sich  verständigen  als  auf  eine  heiße 
streiten  will. 

Mit  andauernder  Spannung  liest  sich  diese  ,, Geschichte  eines  Menschen", 
Goethes,  die  doch  im  Grunde  die  Geschichte  des  Menschen  ist,  von  Goethe 
eben  typischer  als  von  einem  andern  erlebt  und  erlitten,  weil  der  große  Rhyth- 
mus von  Freiheit  und  Gebundenheit,  der  das  gesamte  Dasein  bewegt,  in 
seinem  Leben  besonders  scharf  und  deutlich  zum  Ausdruck  kommt,  mit 
Goethes  eignen  Worten :  ,, Die  Vernunft  in  uns  wäre  eine  große  Macht,  wenn 
sie  auch  wüßte,  wen  sie  zu  bekämpfen  hätte.  Die  Natur  in  uns  nimmt  immer- 
fort eine  neue  Gestalt  ein,  und  jede  neue  Gestalt  wird  ein  unerwarteter  Feind 
für  die  gute,  sich  immer  gleiche  Vernunft."  Das  Verfahren  des  Verfassers, 
diesen  Kampf  zur  Anschauung  zu  bringen,  wirft  auf  sehr  vieles  in  Goethes 
Leben  ein  neues  Licht,  läßt  vieles,  mit  dem  man  längst  fertig  zu  sein  glaubte, 
wieder  als  Problem  erscheinen.  Von  überaus  fesselndem  Reiz  sind  die  an  wich- 
tigen Wendepunkten   in  Goethes  Entwicklung  gezeichneten  Augenblicksbilder, 


Wilmsen,  Zum  systematischen  Aufbau  des  neusprachlichen  Unterrichts  der  Oberstufe.    311 

die  mit  Farben  und  Formen  von  größter  Treffsicherheit  unvergeßliche  Eindrücke 
prägen,  so  gleich  zu  Beginn  der  16jährige  Student  in  einem  Leipziger  Ga- 
lanterieladen, dann  wieder  der  Goethe  in  Italien  in  der  Fensternische  eines 
kühlen  Saales  auf  die  Straßen  Roms  schauend,  oder  nach  der  Rückkehr  Goethe 
bei  dem  Nachmittagstee  aufschloß  Belvedere  oder  der  Arbeitstag  des  80- 
jährigen  im  Weimarer  Goethehause. 

Kein  Lehrer  des  Deutschen  auf  der  obersten  Stufe  wird  Ludwigs  Goethe- 
buch übersehen  dürfen:  als  einen  Prüfstein  seiner  bisherigen  Verlebendigung 
Goethes  vor  aufnahmefähigen  jungen  Seelen  wird  er  es  werten  müssen,  als 
einen  Ansporn  zu  vertiefterer  Brlebnisfähigkeit  für  künftig.  Daß  er  dabei 
selbst  den  größten  Gewinn  haben  wird,  unterliegt  gar  keinem  Zweifel ;  denn 
v/elcher  rechte  Lehrer  treibt  wohl  nur  Dinge,  die  er  unmittelbar  im  Unter- 
richt verwenden  kann?  wen  triebe  es  nicht,  auch  im  siebenten  Jahrzehnt 
noch  seine  Gesamtpersönlichkeit  zu  steigern  ?  Und  dazu  wird  ihm  das  Nach- 
erleben der  in  Goethe  so  ungewöhnlich  wirksamen  „Urpolarität  aller  Wesen" 
besonders  förderlich  sein. 

Spandau.  Paul    Lorentz. 

Zum  systematischen  Aufbau  des  neusprachlichen  Unterrichts 

der  Oberstufe. 

Auf  der  Oberrealschulbesprechung  am  5.  Februar  dieses  Jahres  in  Han- 
nover lautete  die  erste  Frage,  ob  der  naturwissenschaftliche  Unterricht  auf 
Kosten  des  neusprachlichen  verstärkt  werden  solle.  Ein  Nichtfachmann, 
dem  ich  davon  sprach,  antwortete  unbedenkUch  mit  „ja".  Wenn  er  an  seine 
Schulzeit  zurückdenkt,  hat  er  bei  allen  Fächern,  außer  den  neusprachlichen, 
Erinnerungsbilder,  die  von  Massen  wertvollen  Stoffes  reden,  denen  durch  den 
Lehrplan  schon  Abrundung  und  Einteilung  gegeben  ist;  das  Gelernte  lebt 
in  seiner  Erinnerung  als  ein  systematisch  aufgebautes  Ganzes,  dessen  einzelne 
Teile  bei  allem  Eigenwert  als  unentbehrliche  Glieder  eines  Ganzen  erscheinen. 
All  diese  Eigenschaften  vermißt  er  beim  Sprachunterricht ;  in  Oberprima  war 
z.B.  nie  mehr  von  dem  in  Obersekunda  Gelesenen  die  Rede.  Dieses  Urteil 
erinnerte  den  Verfasser  an  seine  eigenen  Ausführungen  im  21.  Bande  der 
Neueren  Sprachen,  daß  „der  Unterricht  in  den  neueren  Sprachen  der  un- 
bedingt nötigen  Systematisierung  ermangelt,  zu  der  kaum  die  Anfänge  vor- 
handen sind.  Man  braucht  nicht  zu  zweifeln,  daß  dem  neusprachlichen 
Unterricht  etwas  von  der  Geschlossenheit  des  mathematischen  oder  geschicht- 
lichen Unterrichts  gegeben  werden  könnte". 

Die  Lehrpläne  weisen  an  einigen  Stellen  auf  solche  Systematisierung 
hin;  für  die  Grammatik  scheint  sie  selbstverständlich  und  liegt  im  Lehr- 
buch, allerdings  nur  bis  Uli,  vor.  So  kann  man  denn  einen  vor  der  O  II 
neu  eintretenden  Schüler  genau  nach  der  gewünschten  Klassenstufe  prüfen. 
Aber  wie  ist  es  mit  den  übrigen  Dingen?  Im  Wortschatz  ist  die  Systemati- 
sierung in  den  Lehrplänen  angedeutet,  wenn  ein  Schatz  fester  Phrasen  ver- 
langt wird,  Ist  er  überall  vorhanden?  Wird  er  von  allen  Lehrern,  auch  bei 
Lehrerwechsel,  ständig  wiederholt?   Wie  ist  er  zustande  gekommen?   Wenn 


312  Wilmsen, 

Systematisierung  sein  soll,  muß  sie  aber  wohl  vor  allem  in  dem  zu  finden 
sein,  was  im  Mittelpunkt  des  Unterrichts  der  Oberstufe  stehen  soll,  in  der 
Lektüre.  Das  Bedürfnis  danach  ist  sicher  vielfach  rege  und  geht  aus  den  Auf- 
sätzen von  Ludwig,  Dietz,  Molsen,  Oeckel  hervor.  Gegenüber  den  dort  ge- 
gebenen Anregungen  sei  es  gestattet,  mal  das  erste  Drittel  aines  Gesamtplanes 
zu  skizzieren,  der  in  allen  seinen  Teilen  erprobt  wurde,  wenngleich  es  wegen 
des  Krieges  nicht  möglich  war,  ihn  von  ein  und  derselben  Klasse  durchlaufen 
zu  lassen.  Es  ist  eine  Art  Maximalplan,  den  man  na:h  Anstaltsart  und  Um- 
ständen, z.  B.  bei  dem  heutigen  Tiefstande  des  Schülerkönnens,^zusammen- 
streichen,  vielleicht  schon  in  U  II  beginnen  kann.  Zugrunde  liegt  der  Ge- 
danke, daß  in  der  betreffenden  neueren  Sprache  von  dieser  aus  die  Entwick- 
lung der  Kultur  zu  durchwandern  sei.  Als  Beispiel  ist  wegen  seiner  besonderen 
Eignung  das  Französische  gewählt.  Es  wird  zur  Herausschälung  von  Grund- 
sätzen genügen  —  Raummangel  zwingt  dazu  —  die  Zeit  bis  zum  24.  Oktober 
1658  zu  behandeln,  also  etwa  den  Stoff  für  O  II  und  die  ersten  Monate 
der  U  I ;  Fortsetzung  bis  zur  Jetztzeit  wird  seinerzeit  folgen. 

Man  beginnt  etwa  mit  der  Frage:  Wo  ist  uns  in  der  Religionsstunde 
mal  der  Name  Gallier  vorgekommen?  Einer  oder  der  andere  erinnert  dann  an 
den  Brief  des  Apostels  an  die  Galater  und  es  entsteht  die  Frage,  wie  die  Gallier 
eigentlich  nach  Kleinasien  geraten.  Man  kann  auch  von  der  Statue  des  ster- 
benden Galliers  ausgehen.  So  erzählt  man  denn  oder  liest  an  der  Hand  Guizots : 
Recits  historiques  von  den  großen  Wanderungen  des  6.  Jahrhunderts,  be- 
gleitet den  östlich  flutenden  Strom  zu  Alexander,  nach  Delphi  (wobei  man 
den  Apoll  von  Belvedere  zeigt  und  die  hübsche,  leider  nicht  mehr  haltbare 
Hypothese  über  seine  Beziehung  zum  Sturm  auf  Delphi  erwähnt),  nach  Klein- 
asien, wo  dann  die  pergamenischen  Kunstwerke  gezeigt  und,  wenn  möglich, 
das  Pergamenmuseum  am  Wandertage  besucht  wird. 

In  der  nächsten  oder  zweitnächsten  Stunde  folgt  man  dem  südlich  wan- 
dernden Zuge.  Nun  erzählen  die  Schüler  selbst,  was  sie  eben  in  der  Geschichts- 
stunde wiederum  gelernt  haben,  von  der  Schlacht  an  der  Allia,  der  Belagerung 
des  Capitols  und  den  anschließenden  Begebenheiten  und  Legenden  mit  dem 
uns  so  verständlich  gewordenen  Vae  victis!  Eine  weitere  Stunde  sieht 
die  Gallier  als  Bundesgenossen  Hannibals,  ein  Freiheitskampf,  der  zu  dem 
größeren  zu  Cäsars  Zeit  hinleitet.  Diesen  wird  keine  Schülergeneration  von 
heute  ohne  Ergriffenheit,  ohne  erschütternde  Vergleiche  betrachten.  Der 
Realgymnasiast  wird  hier  auf  französisch  in  großen  Zügen  erzählen,  was 
er  jahrelang  im  Lateinischen  gelesen  hat,  aber  diesmal  vom  Standpunkt 
des  um  seine  Freiheit  ringenden  Volkes  aus.  Der  Oberrealschüler  wird  etwa 
das  7.  Buch  in  Übersetzung  oder  wieder  Guizots  schwungvolle  Darstellung, 
die  allerdings  der  Ergänzung  bedarf,  lesen  oder  wird  alles  aus  dem  Munde 
des  Lehrers  hören,  dem  er,  sofern  sein  Gemüt  richtig  vorbereitet  ist,  atem- 
los lauscht,  wenn  er  Cäsars  schwierige  Lage  und  geniale  Lösung,  noch  mehr, 
wenn  er  Vercingetorix'  tragisches  Ringen  gegen  innere  und  äußere  Wider- 
stände schildert. 


Zum  systematischen  Aufbau  des  neusprachlichen  Unterrichts  der  Oberstufe.      313 

Dann  wird  man  sich,  etwa  im  Anschluß  an  Bourgeois :  L'Art  et  ies  Ar- 
tistes  fran5ais(Weidm.),  mit  dem  römischen  Gallien  beschäftigen.  Auch  hier 
geht  man  von  bekannten  Kunstwerken  (Porta  nigra,  Pont  du  Gard,  Maison 
carree)  aus. 

Das  5.  Thema  wäre  die  Frankenzeit.  Die  Schüler  erzählen  von  dem  Ein- 
fall der  Franken,  dem  der  Lehrer  vielleicht  eine  Schilderung  der  Zeit  nach 
Chlodwig,  besonders  Fredegondes  und  Brunhildes,  anschließt,  um  dann  zu 
der  Art  Renaissance  ujter  Karl  dem  Großen  überzugehen.  Hier  kann  man 
die  Aachener  Kathedrale  zeigen  und  Rethels  Kaisersaalbilder  beschreiben 
lassen.  Hier  empfiehlt  sich  auch  eine  Betrachtung  der  Entstehung  des  Kirchen- 
gesanges. Es  gibt  viele  Abiturienten,  die  nicht  ahnen,  daß  Takt,  Mehrstimmig- 
keit usw.  Errungenschaften  langer  Entwicklung  sind. 

Es  folgt  nun  die  Übergangszeit  von  Karl  dem  Großen  bis  zum  roma- 
nischen Zeitalter.  Dahin  gehören  zwei  wichtige  Themen:  Die  Entwicklung 
der  französischen  Sprache  nach  der  der  Nation  und  die  Basilika.  Das  erste 
Thema  kann  man  gut  nach  Fuchs  behandeln.  Man  wird  dabei  ruhig  einige 
Zeit  verweilen  dürfen,  da  diese  verfolgbare  Entwicklung  einer  Sprache  aus 
einer  anderen  an  sich  fesselnd  und  bildend  und  aufschlußreich  für  die  Mutter- 
sprache ist.  —  Die  Basilika  geht  von  einem  Bilde,  etwa  dem  der 
Sacrower  Kirche,  aus  und  zieht  zur  Erleichterung  des  Sprachlichen  einige 
Seiten  aus  Bourgeois  heran.  Diesen  Abschnitt  möge  eins  der  Epen  aus  Gau- 
thiers  Epopees  beschließen;  dann  läßt  man  das  Rolandlied  nach  dem  deut- 
schen Lesebuch  erzählen  als  Übergang  zum  romanischen  Zeitalter. 

Dieses  möge  man  mit  einer  lebendigen  Schilderung  der  Furcht  vor  dem 
Jahre  1000  kennzeichnen.  Die  Schüler  erkennen  da  leicht,  wie  sich  die  ihnen 
aus  der  Geschichte  vertrauten  Züge,  Klosterleben,  erste  Phase  des  Ritter- 
tums, Kreuzzüge,  Gottesfriede  ergeben.  Dann  folgen  die  die  romanische 
Kirche  behandelnden  Seiten  bei  Bourgeois. 

Für  das  gothische  Zeitalter  geht  man  von  der  gothischen  Kirche  aus,  etwa 
der  Sainte  Chapelle,  wobei  Louis  IX.  erwähnt  wird,  bei  gleichzeitiger  Lektüre 
der  Abschnitte  bei  Bourgeois,  und  knüpft  an  das  dort  zu  lesende  anregende 
Gespräch,  das  beide  Stile  vergleicht,  eine  Betrachtung  über  die  grundver- 
schiedenen Auffassungen,  denen  beide  Stile  noch  heute  begegnen.  Von  jener, 
die  den  gotischen  Stil  exaltiert  nennt,  ergibt  sich  ein  Übergang  zur  Schil- 
derung der  zweiten  Phase  des  Rittertums,  deren  Züge  die  Schüler  aus  einem 
Vergleich  des  Rolandliedes  mit  dem  Nibelungenliede  finden.  ZurVeranschau- 
iichung  dient  femer  der  Inhalt  eines  Werkes  von Chr^tien  oder  seiner  deutschen 
Nachahmer.  Von  hier  kommt  man  leicht  auf  die  Troubadours,  wobei  man 
die  Gelegenheit  benutzt,  das  politische  Sonderleben  des  Südens  zu  zeigen. 
Die  Schüler  erzählen  den  Inhalt  der  die  Zeit  behandelnden  Stücke  des 
Übungsbuches,  des  Bertrand  de  Born,  des  Troubadours  von  Verdi;  einige 
Übersetzungen  und  Vorführungen  der  Musik  eines  alten  Liedes  bilden  den 
Abschluß.    Auf  Petrarca,  Dante,  Ariost  möge  hingewiesen  werden. 

Bei  dem  Vorausgehenden  wird  man  auch  schon  des  Aufblühens  der 
Städte  (die  Kommunen  unter  Ludwig  VI.)  gedacht  haben.    Hierauf  kommt 


314  Wilmsen, 

man  nun  zurück,  um  die  Entwicklung  der  dramatischen  Literatur  zu  ver- 
folgen. Nach  einer  kurzen,  dem  Vergleich  dienenden  Betrachtung  über  die 
Entstehung  des  antiken  Dramas  wird  man  Wershofen  oder  Fuchs  zugrunde 
legen,  deren  etwas  magere  Darstellung  durch  eigene  Ausführungen  mit  Leben 
zu  füllen  eine  schöne  Aufgabe  ist.  Ich  erzähle,  wie  ich  in  meiner  Jugend 
mal  in  einer  katholischen  Kirche  zu  Ostern  das  Grab  mit  den  lebensgroßen 
Holzfiguren  der  schlafenden  Wächter  dargestellt  sah ;  das  ist  eine  gute  Ver- 
anschaulichung der  Entwicklung.  Ich  erzähle  dann  ausführlich  den  (mit 
lateinischen  Einlagen  durchsetzten !)  Sponsus  und  den  Jnhalt  einiger  Mysteres 
und  lese  dann  eine  Übersetzung  des  Adamspieles  vor.  Um  einen  Eindruck 
zu  geben  von  der  Moralität,  eignet  sich  die  Erzählung  der  Enfants  de  Mainte- 
nant,  die  Farce  ist  aus  Pathelin  genügend  klar;  sonst  erzähle  man  noch  die 
vom  Waschtrog. 

Der  bisherige  Stoff  hat  schon  Gelegenheit  geboten,  die  Übersicht  durch 
einige  historische  Daten  zu  erleichtern  und  dem  Schüler  ein  gewisses  Skelett 
der  französischen  Geschichte  zu  geben  (Straßburger  Eide,  Belagerung  von 
Paris,  Jahr  1000,  Gottesfriede  1041,  Eroberung  Englandis,  1.  Kreuzzug, 
Ludwig  VI.,  3.  Kreuzzug  und  Richard  Löwenherz,  Louis  IX.).  Man  darf  es 
wohl  als  ein  Bedürfnis  bezeichnen,  daß  jeder  außer  der  deutschen  Geschichte 
die  irgendeines  anderen  europäischen  Volkes,  wenn  auch  nur  in  den  einfachsten 
Umrissen,  überblicken  könne.  Nach  der  Betrachtung  der  dramatischen  Lite- 
ratur empfiehlt  sich  eine  rein  historische,  die  sich  wirkungsvoll  Schillers 
Jungfrau  zum  Ausgangspunkt  nimmt,  auf  die  Anfänge  des  100jährigen  Krieges 
zurückblickt  (Crecy,  Kanonen)  und  dann  an  einigen  Seiten  aus  Barante 
die  historischen  Tatsachen  denen  des  Dramas  gegenüberstellt.  Man  gedenkt 
dann  des  aus  der  deutschen  Geschichte  bekannten  Kampfes  Ludwigs  und 
Karls  des  Kühnen  und  der  Italienzüge  Karls  VIII.,  die  so  tiefen  Eindruck 
auf  seine  Ritter  machten  und  die  Renaissance  in  Frankreich  einleiteten. 

Sollte  nicht  jeder  Lehrer  des  Französischen  fähig  sein,  in  zusammen- 
hängendem Vortrag  eine  Einleitung  in  diese  Epoche  zu  geben?  Die  fremd- 
sprachliche Behandlung  eines  in  den  Geschichtsstunden  berührten  Stoffes 
pflegt  sprachlich  besonders  eindringlich  zu  wirken.  Zur  Veranschaulichung 
im  einzelnen  zeigt  man  Bilder  alter  Burgen  und  daneben  Schlösser  Franz  I.; 
die  Schüler  pflegen  dann  gern  einer  Schilderung  des  Geistes  zu  lauschen, 
der  mit  diesen  Behausungen  seinen  Einzug  hält.  Leonardo  und  Cellini  in 
ihren  Beziehungen  zu  Franzi,  werden  erwähnt  und  das  Vorlesen  einiger  Ab- 
schnitte aus  Goethes  Übersetzung  von  Cellinis  Lebensbeschreibung  zeigt 
zugleich  die  selbstsüchtige  und  gewalttätige  Gesinnung,  die  die  Schatten- 
seite jener  glänzenden  Epoche  ist.  Ausführlich  muß  dann  das  Manifest  der 
Plejade  behandelt  werden,  denn  hier  ist  eine  schöne  Gelegenheit,  das  Problem 
der  direkten  Einwirkung  auf  Literatur  und  Sprache  zu  betrachten.  Das 
beste  ist  ganze  Kapitel  vorzulesen. 

Die  Betrachtung  der  Zeit  bis  Corneüle,  die  an  Bluthochzeit,  Heinrich  IV., 
Richelieu  als  Stichworte  anknüpft,  möge  Duruy  1560—1643  (Renger)  zu- 
grunde legen,  freilich  sehr  mit  Auswahl,  da  es  Zeitvergeudung  wäre,  alle 


Zum  systematischen  Aufbau  des  neusprachlichen  Unterrichts  der  Oberstufe.     315 

sieben  Religionskriege  mit  ihren  gleichgültigen  kriegerischen  Wechselfällen 
zu  verfolgen;  dafür  mögen  eine  oder  zwei  Stunden  dem  im  Text  genannten 
Machiavelli  gewidmet  sein;  ließ  sich  Heinrich  III.  doch  täglich  aus  ihm  vor- 
lesen, und  sein  Nachfolger  hatte  ihn  bei  seiner  letzten  Ausfahrt  bei  sich.  Auch 
die  Kunst,  vor  allem  die  Baukunst,  die  ja  damals  die  Stätten  schuf,  die  jahr- 
hundertelang die  Schauplätze  wichtiger  Ereignisse  bilden  sollten,  muß  wieder 
herangezogen  werden.  Dazu  kommen  allerlei  kulturhistorische  Einzelheiten 
(Oper,  Ballet,  Polonaise).  Vor  dem  Kapitel  über  d'e  aufbauende  Herrschaft 
Heinrichs  IV.  legt  man  eine  Besprechung  des  für  diese  Zeit  so  charakte- 
ristischen Montaigne  ein.  Hier  ist  mal  eine  schöne  Gelegenheit,  die  Schüler 
einen  Einblick  in  wissenschaftliche  Arbeit  tun  zu  lassen,  indem  man  an 
dem  ersten  von  Kuttner  (Velh.)  abgedruckten  Essai  die  verschiedenen 
Epochen  Montaignes  erläutert  und  zeigt,  wie  sich  die  grundverschiedene 
Auffassung  Montaignes  bei  Strowski  und  Villey  aus  der  verschiedenen 
chronologischen  Einreihung  einiger  Essais  ergibt.  Ferner  ist  Montaignes 
Hass  gegen  den  Historismus  gerade  heute  eine  willkommene  Gelegenheit 
zu  lehren,  das  Kind  nicht  mit  dem  Bade  auszuschütten. 

Die  literarische  Entwicklung  von  Heinrich  IV.  bis  Corneille  läßt  sich 
an  Hand  von  Fuchs  überblicken.  Für  das  weitere  schafft  man  dem  Interesse 
erst  einen  Kristallisationspunkt  durch  Lektüre  des  Cid,  die  sich  am  wirkungs- 
vollsten an  eine  kurze  Schilderung  der  poHtischen  Ereignisse  des  Jahres  1636 
anschließt.  Wer  im  Geiste  die  Feinde  dicht  bei  der  Hauptstadt  und  dessen 
Bevölkerung  sich  an  Richelieu  aufrichten  sieht,  wie  er  die  aufruhrbereite 
Menge  durchschreitet,  wird  die  Cidbegeisterung  noch  besser  verstehen.  Dann 
läßt  man  die  Besprechung  des  Cidstreites  folgen  und  schließt  daran  die  Er- 
örterung der  Einheitenfrage.  Diese  beginnt  wohl  mit  einer  Lektüre  der  Poetik 
des  Aristoteles  im  Auszuge,  überblickt  die  Geschichte  der  Frage  bis  zu  Cor- 
neilles  Zeit,  läßt  dann  die  Schüler  selbst  Vorteile  und  Nachteile  der  Einheiten- 
regel finden,  wobei  modernere  und  moderne  Beispiele  herangezogen  werden, 
und  prüft  dann,  ob  die  Regeln  Daseinsberechtigung  haben  (Stendhal!). 
Daran  schließt  sich  die  Aufzählung  der  Gründe,  die  zur  Annahme  der  Regeln 
damals  geführt  haben.  Als  deren  letzter  wird  der  Geist  des  nun  beginnenden 
klassischen  Zeitalters  genannt  und  ausführlich  betrachtet.  Hier  ist  die  Ge- 
legenheit, eine  ausführliche  Erläuterung  des  Ausdruckes  ,, klassisch*'  zu 
geben,  seine  verschiedenen  Bedeutungen  auseinander  zu  entwickeln  und 
durch  Gegenüberstellung  ihrer  Gegensätze  zu  klären,  wobei  die  Aufzählung 
der  von  Ostwald  bei  seiner  Einteilung  der  Genies  in  Klassiker  und  Romantiker 
hervorgehobenen  Züge  nicht  vergessen  sei.  Die  Charakteristik  des  spezifisch 
französischen  Klassizismus  schließt  sich  an  eine  Betrachtung  der  Lehre 
des  (Mathematikers!)  Descartes  an,  kehrt  über  Poussin,  Claude  Lorrain 
zum  Cid  zurück  und  wendet  das  Gewonnene  an.  Der  Bericht  eines  Schülers 
über  die  Sentiments  der  Akademie  schließt  dieses  Kapitel. 

Um  zu  verstehen,  wie  aus  einem  Gomes  ein  molierescher  Marquis  wird, 
muß  man  die  Frondezeit  kennen,  die  zudem  für  die  Psychologie  von  Revo- 
lutionen recht  lehrreich  ist.  Leider  ist  bei  keinem  Verlage  ein  Text  vorhanden. 


316  Wilmsen, 

So  muß  man  sich  mit  einer  hektographierten  Zeittabelle  und  mündlicher 
Darstellung  begnügen;  ein  Verweilen  bei  den  Abenteuern  und  dem  Wirken 
der  Damen  wie  der  Herzogin  von  Longueville  und  des  Fräulein  v.  Mont- 
pensier  schafft  für  den  Frauentypus  Corneilles  Verständnis. 

Auf  dem  durch  diese  Betrachtungen  und  die  Duruylektüre  geschaffenen 
Hintergrunde  läßt  man  nun  Molieres  Leben  zunächst  bis  zu  seiner  dauernden 
Niederlassung  in  Paris  erstehen.  Man  rekapituliert  die  Ereignisse,  die  er 
in  seiner  Jugend  gesehen  hat,  begleitet  ihn  ins  College,  wo  Terenzaufführungen 
stattfinden  und  benutzt  diesen  Anlaß,  die  Schüler  mit  der  antiken  Komödie 
bekanntzumachen.  Der  Reclamband  Dreigroschentag  eignet  sich  ausgezeichnet. 
Die  Einleitung  macht  in  anschaulicher  Weise  mit  den  Epochen  der  grie- 
chischen Komödie  vertraut,  was  zu  wertvollen  Erkenntnissen  über  die  Be- 
ziehungen zwischen  Bühne  und  politischen  Verhältnissen  führt,  gibt  für  die 
verschiedenen  Arten  der  Komödie  leicht  behaltbare  und  daher  leicht  wieder- 
erzählbare Beispiele  und  Inhaltsangaben,  läßt  die  Schüler  erkennen,  wie  diese 
Literatur  immer  wieder  befruchtend  gewirkt  hat,  und  lädt  zu  fesselnden 
Betrachtungen  darüber  ein,  in  welcher  Weise  auch  Genies  auf  der  Arbeit 
anderer  fußen. 

Wir  begleiten  dann  Moliere  zu  Gassendi,  dessen  Gegensatz  zu  Des- 
cartes  wir  erläutern  und  zu  dem  von  Goldbeck  empfohlenen  unrythmischen 
Philosophieren  benutzen,  dann  zum  Illustre  Theätre  usw.  Sein  Aufenthalt 
in  Lyon  beschäftigt  uns  länger.  Hier  lernt  er  das  italienische  Theater  kennen, 
hier  ist  also  ein  Blick  über  die  Alpen  angebracht,  besonders  eine  Veranschau- 
lichung der  Commedia  del'  arte.  Anschließend  Medecin  volant  und  Etourdi. 
Um  eine  Vorstellung  des  Etourdi  zu  geben,  genügt  es,  einen  halben  Akt 
vorzulesen.  Dies  ist  wertvoll,  weil  das  Stück  im  Gegensatz  zu  den  Pr^cieuses 
mit  antiken  Lebensverhältnissen  rechnet  und  so  die  Periode  der  Nachahmung 
von  der  der  Originalität  zu  unterscheiden  lehrt.  Auch  die  szenischen  Be- 
merkungen zur  Andromede-Aufführung  dieses  Lyoner  Aufenthaltes  wird 
man  nicht  vergessen,  da  sie  zeigen,  über  welche  Maschinerie  man  damals 
schon  verfügte,  ohne  daß  dies  die  Herrschaft  der  Einheitenregeln  erschütterte. 
Wir  begeben  uns  dann  zur  Ständeversammlung  nach  Beziers,  um  beim  D6pit 
amoureux  Halt  zu  machen.  Sein  Gesamtinhalt  kann  mit  einem  Satz  abge- 
tan oder  übergangen  werden ;  aber  die  eine  Horaz  nachgeahmte  Szene  müssen 
wir  benutzen,  um  den  bei  Boileau  wiederkehrenden  Dichter  mit  einigen 
Oden  und  Satiren  (Übersetzung  Bardt)  kennen  zu  lernen.  Eine  oder  zwei 
Stunden  wären  dafür  eher  zu  wenig  als  zu  viel,  zumal  an  der  Oberrealschule.  — 
Später  lernen  wir  Mignard  in  Avignon  kennen,  sehen  Corneille  in  Rouen 
wieder  und  begeben  uns  dann  zur  ersten  Aufführung  vor  dem  König  nach 
Paris. 

Hier  sei  nun  für  heute  Halt  gemacht  und  die  Folgezeit  nur  mit  einigen 
Bemerkungen  bedacht. 

Es  wird  immer  wieder  darauf  ankommen,  Geschichte  und  Kunst  heran- 
zuziehen und  die  Züge  herauszuarbeiten,  die  der  Unterricht  in  den  anderen 
Fächern  braucht,  ohne  die  Zeit  zu  haben,  sie  selbst  zu  entwickeln.   Das  gilt 


Zum  systematischen  Aufbau  des  neusprachlichen  Unterrichts  der  Oberstufe.    317 

vor  allem  von  der  Geschichte.  Wie  in  dem  öfter  angezogenen  Aufsatz  sei 
darauf  hingewiesen,  daß  der  französische  Unterricht,  der  Dutzende  von  Stun- 
den der  Revolution  und  der  napoleonischen  Zeit  widmet,  dem  Geschichts- 
unterricht, der  dafür  nur  wenige  Stunden  zur  Verfügung  hat,  nicht  nur  das 
ganze  Tatsachenmaterial,  sondern  überall  auch  einen  Überblick  über  die  ge- 
schichtUchen  Probleme  bieten  muß.  Hier  muß  der  Neusprachler  immer  wieder 
das  Gefühl  haben,  daß  er  nicht  nur  Sprachlehrer  ist,  sondern  ungemein  wich- 
tige Sachkenntnisse  zu  vermitteln  hat  (wer  hängt  in  jeder  Lanfrey-Stunde 
eine  Karte  aus?),  was  ihn  immer  wieder  nötigt,  weitschichtige  Studien  zu 
treiben,  von  deren  hoher  Warte  aus  er  die  Texte  in  ihrer  Begrenztheit  er- 
läutert. So  wird  er  Mignet  nicht  lesen,  ohne  Wahls  aus  dem  Anfang  des 
Jahrhunderts  stammende,  heute  nicht  ohne  Erschütterung  zu  lesende  Vor- 
geschichte der  Französischen  Revolution  genau  studiert  zu  haben.  Die  Be- 
handlung des  Colbertismus  und  der  Physiokraten  gehört  in  den  französischen 
Unterricht,  wenn  auch  nur  in  propädeutischer  Form.  Es  gilt  dasselbe  von 
der  Kunst,  z.B.  von  Lully  und  Gluck;  ohne  diesen  Zwang  steter  Erweiterung 
unserer  Sachkenntnisse,  die  ein  ganzes  Menschenleben  ausfüllt,  müßten 
wir  seelisch  austrocknen. 

Aus  dem  Vorstehenden    können   wir   nunmehr  Thesen    gewinnen. 

Fester  Bestandteil  des  neusprachlichen  Unterrichts,  auch  des  etwa 
kommenden  spanischen,  italienischen,  polnischen,  russischen  muß  ein  Über- 
blick über  die  Kulturentwicklung  des  betreffenden  Landes  sein.  Es  wird 
sich  von  selbst  ergeben,  daß  das  Herausgehobene  meist  nicht  nur  innerhalb 
des  betreffenden  Volkes  das  Wichtigste  ist,  sondern  sich  auch  dem  Gesamt- 
bilde der  europäischen  Entwicklung,  wie  es  sich  aus  den  anderen  Fächern 
ergibt,  einfügt,  nötig  empfundene  Ergänzungen  liefert.  Jede  Schule  muß 
einen  solchen  Plan  aufstellen,  der  in  wöchentlich  einer  oder  mehreren  Stunden^) 
zugrunde  gelegt  wird.  Im  ersten  Falle  wird  er  recht  dürftig  sein,  aber  immer- 
hin noch  den  Zweck  erfüllen,  daß  der  Schüler  sein  Lebelang  das  Gefühl  hat, 
die  Übersicht  über  ein  wertvolles  Wissensgebiet  erlangt  zu  haben.  Es  wird 
wie  in  Mathematik  und  Geschichte  ein  Mindestplan  da  sein,  der  besonders 
den  jüngeren  Kollegen  ein  Halt  ist  gegen  systemloses  Herumflattern  und 
ihm  einen  Weg  zeigt  durch  das  Labyrinth  der  angebotenen  Literatur.  Ich 
gestehe,  daß  mir  erst  wohl  ist,  seitdem  ich  ein  abgerundetes  Ganzes  zur  Über- 
mittlung an  die  Schüler  vor  Augen  habe.  Wäre  damit  nicht  auch  den  Stu- 
denten der  Neuphilologie  gedient? 

Die  Zeit  wird  gewonnen,  indem  man  einzelnen  Erscheinungen  weniger 
Wochen  als  bisher  widmet.  Ist  es  nötig,  das  Sommersemester  der  O  II  mit 
Colomba  und  das  Wintersemester  mit  Tartarin  zu  verbringen?  Weniger 
von  jedem  ist  mehr.  Ein  heilsameres  schnelleres  Lesen  wird  vielfach  auch 
möglich  sein,  wenn  wir  mal  dazu  übergehen,  am  Rande  all  die  Vokabeln 
gedruckt  zu  finden,  deren  dauernde  Aneignung  nicht  beabsichtigt  und  deren 


1)  Er  kann  auch   mit   der  einzuschiebenden  statarlschen  Lektüre  auf  alle  Lektüre- 
stunden verteilt  werden. 


318  Wiimsen, 

Aufsuchen  im  Wörterbuch  wegen  mangelnder  Beziehungen  zu  schon  be- 
kannten Wörtern  oder  aus  sonstigen  Gründen  nicht  bildend  ist.  Das  würde 
Ludwigs  Bedenken  gegen  allerlei  moderne  Lektüre  beheben  und  eine  reichere 
Anschauung  ermöglichen. 

Dieser  Stoff  wird  den  Schülern  nahegebracht  in  fremdsprachlichen 
oder  deutschen  Texten  oder  in  Ausführungen  des  Lehrers.  An  fremdsprach- 
lichen habe  ich  oben  im  Auge:  Guizot,  Bourgeois,  La  France  en  Zig-Zag, 
Fuchs,  Gauthier,  Barante,  Wershofen,  Duruy,  Montaigne,  Cid,  Medecin 
volant,  Etourdi.  An  deutsche  Texte  (Troubadours,  Machiavelli,  Aristoteles, 
Plautus,  Horaz)  denke  ich  da,  wo  fremdsprachliche  fehlen  oder  zu  teuer 
sind  oder  sonstige  Gründe  sprechen.  Wer  z.  B.  Mignet  gelesen  hat,  wird  doch 
nicht  nur  bis  zur  Enthauptung  des  Königs  kommen  wollen.  Das  Gesamt- 
werk jetzt  aus  Frankreich  kommen  zu  lassen  ist  gegen  die  nationale  Pflicht; 
also  greifen  wir  zu  Reclam  und  lesen  den  Rest  kursorisch  in  6—8  Stunden, 
wobei  die  Besprechung  natürlich  in  der  Fremdsprache  erfolgt.  Zu  ähnlichen 
Vorschlägen  sind  ja  auch  schon  die  Altsprachler  gekommen. 

Es  wurde  die  Benutzung  von  mehr  Texten  als  üblich  und  mit  Rück- 
sicht auf  die  Kosten  für  die  Schüler  möglich  ist,  vorausgesetzt;  dazu  habe 
ich  eine  fremdsprachliche  Bibliothek,  die  genügend  Exemplare  enthält. 
Es  wäre  verfehlt,  sie  durch  eine  Chrestomathie  zu  ersetzen,  da  solche  alles 
in  Proben  auflöst,  während  sonst  viele  Schüler  das  Ganze  lesen,  auch  wenn 
in  der  Schule  nur  Teile  behandelt  sind.  Auf  diese  Weise  stellt  sich  jeder 
Lehrer  selbst  eine  Chrestomathie  her ;  mit  jeder  anderen  ist  er  doch  unzufrieden. 

Wo  Texte  fehlen,  treten  die  Ausführungen  des  Lehrers  ein.  Der  Schüler 
erhält  dann  eine  hektographierte  Disposition  als  Stütze.  Der  Lehrer  nimmt 
also  dieselbe  Stellung  ein  wie  der  Geschichtslehrer,  der  den  in  der  Hand  des 
Schülers  befindlichen  Umriß  mit  blühendem  Leben  füllt.  Hier  muß  nun  ein- 
gehend die  heute  doppelt  schwierige  Frage  erörtert  werden,  ob  der  Lehrer 
sich  dauernd  der  fremden  Sprache  bedienen  solle  und  wie  das  möglich  zu 
machen  sei.  Zunächst  muß  man  sich  mit  Nachdruck  auf  den  Standpunkt 
stellen,  daß  er  jenes  als  Ziel  anerkennen  und  es  im  Laufe  der  Zeit,  sei 
es  auch  eines  Jahrzehnts,  erreichen  müsse.  Nur  so  ist  die  hier  ins  Auge  ge- 
faßte sachliche  Belehrung  ohne  Vernachlässigung  des  Sprachlichen  möglich ; 
nur  so  wird  der  Lehrer  seine  Fertigkeit  auf  der  Höhe  halten  bzw.  vervoll- 
kommnen und  jene  Sicherheit  besitzen,  ohne  die  der  Unterricht  der  fremden 
Sprachen  seines  Fundaments,  des  Könnens  des  Lehrers,  ermangelt;  nur  so 
werden  wir  davor  behütet,  in  jene  Zeit  zurückzusinken,  wo  der  Laie  mit  einigem 
Rechte  die  Weltfremdheit  einer  Schule  anstaunen  konnte,  die  moderne 
Sprachen  lehrte,  ohne  daß  selbst  die  Lehrer  sie  sprechen  konnten. 

Aber  wie  erhalten  wir  solche  Lehrer?  Nicht  auf  die  bisherige  Weise, 
wo  von  einer  wirklichen  Ausbildung  nicht  die  Rede  sein  konnte.  Was  würde 
man  zu  einem  Konservatorium  sagen,  das  Klavierlehrer  erzieht,  indem  es 
sie  in  Harmonielehre,  Didaktik  usw.  ausbildet,  für  das  Klavierspiel  selbst 
aber  auf  eigene  Bemühungen  außerhalb  des  Konservatoriums  verweist. 
Viel  anders  ist  es  bisher  nicht  gewesen,  da  man  der  praktischen  Ausbildung 


Zum  systematischen  Aufbau  des  neusprachlichen  Unterrichts  der  Oberstufe.     319 

bisher  keine  eigene  Stätte  gegeben  hat.  Die  Universitätsseminare  können 
nicht  als  solche  gelten,  denn  die  Universität  hat  in  erster,  zweiter  und  dritter 
Linie  der  durch  Einführung  neuer  Gebiete  wachsenden  wissenschaftlichen 
Ausbildung  zu  dienen ;  die  praktische  läuft  nur  nebenher  und  kann  nur  hindern, 
daß  das  Können  nicht  unter  ein  gewisses  bescheidenes  Maß  sinkt.  Selbst 
wenn  der  Student  täglich  einmal  zum  Lektor  ginge,  wäre  das  zu  wenig;  welcher 
angehende  Musiklehrer  spielt  täglich  nur  eine  Stunde  sein  Instrument? 
Immerhin  könnten  die  Lektorenstunden  helfen,  wenn  sie  den  Lektürelehrplan 
einer  Schule  sich  vornähmen  und  mit  den  Studenten  behandelten  statt  Themen, 
die  der  Student  in  seiner  späteren  Tätigkeit  vielleicht  nie  braucht.  —  Nach 
oder  während  der  Universitätszeit  ging  der  Student  bisher  bestenfalles  ins 
Ausland,  wurde  also  wieder  einer  Art  Selbstunterricht  überlassen,  lernte 
oft  auch  allerlei,  aber  vielfach  nicht  das,  was  er  brauchte.  Er  war  dann  ge- 
neigt, in  der  Schule  Dinge  zu  treiben,  die  ihm  lagen,  statt  anderer,  die  für 
die  Schüler  die  wichtigen,  wertvollen  gewesen  wären.  Lage  es  nun  nicht  nahe, 
im  Seminarjahr  die  Kandidaten  an  dem  Fachlehrplan  Schule  spielen  und 
so  die  Stunden,  die  sie  zu  geben  haben,  vorher  üben  zu  lassen?  Hier  ist  die 
Stelle  für  nutzbringende  Verwertung  der  fremdländischen  Assistenten,  die 
die  bei  diesem  Schulespielen  verbessernden  Zuhörer  wären.  Ihre  zweite  Haupt- 
tätigkeit wäre  das  Zuhören  im  Unterrichte  der  Oberstufe  zu  nachheriger 
Besprechung  mit  dem  Fachlehrer  über  all  die  kleinen  Probleme,  die  jeder 
Tag  bringt ;  jetzt  besetzt  er  den  Schülern  vielfach  die  mühsam  freigemachten 
Nachmittage.  (Mit  Erfolg??)  Sollte  nicht  auf  jene  Weise  im  Laufe  der 
Jahre  jeder  Lehrer  seiner  Aufgabe  gewachsen  werden,  indem  er  sich  Abschnitt 
für  Abschnitt  erobert?  Nun  ist  es  allerdings  heute  schwieriger  denn  je  für 
gewisse  Sprachen  ausländische  Assistenten  zu  haben.  Was  ist  da  zu  tun? 
Vielleicht  sollten  wir  Neuphilologen  eine  Zeitung  gründen^);  dafür  werden 
genug  Ausländer  (z.  B.  wallonische  Aktivisten)  zu  haben  sein.  Sie  würde 
in  ihrem  Hauptteil  Fragen  beantworten  und  würde  besonders  nützlich  sein, 
wenn  wir  uns  auf  einen  genauen  Lehrplan  einigen  könnten.  —  Ferner  wären 
noch  allerlei  Dinge  zu  erwähnen,  z.  B.  die  Notwendigkeit  starker  Beschäfti- 
gung auf  der  Oberstufe,  um  genügend  Übung  durch  den  Unterricht  zu  haben; 
eine  gute  Fachbibliothek,  die  Werke  in  der  Fremdsprache  über  Kunst,  Ge- 
schichte usw.  enthielte. 

Es  muß  jedenfalls  das  größte  Gewicht  auf  das  Können  des  Lehrers  gelegt 
werden.  Damit  steht  und  fällt  der  neuzeitliche  Betrieb  der  fremden  Sprachen. 
Man  wird  —  auch  diese  Wiederholung  sei  gestattet  —  das  Unmögliche  wollen 
müssen,  um  das  Mögliche  zu  erreichen.  Die  hier  behandelte  Systematisierung 
des  Unterrichts  setzt  eine  solche  der  technischen  Ausbildung  des  Lehrers 
voraus.  Denn  was  das  Können  des  Schülers  angeht,  so  mache  man 
sich  klar,  was  vielfach  vergessen  wird,  daß  der  Schüler  meist  nicht  aus  dem 
Buch,  sondern  vom  Lehrer  lernt.   Das  ist  um  so  klarer,  je  schwerer  der  Text 


1)  Man  denke    besDnders  an  die  Herren  in  der  Provinz,    die   fem  von  jedem  Aus- 
länder sind. 


320         Wilmsen,  Zum  systematischen  Aufbau  des  neusprachlichen  Unterrichts. 

ist.  Niemand  wird  wünschen,  daß  der  Schüler  Taines  Sprache  spreche.  Diese 
Goldbarren  werden,  auch  bei  Erörterung  in  deutscher  Sprache,  in  Kleinmünze 
gegossen  und  das  geschieht  doch  in  der  Sprache  des  Lehrers.  Man  gestatte 
einen  komisch  klingenden  Vergleich.  Das  Gedächtnis  des  Lehrers  stellt  ein 
Sieb  dar,  das  aus  der  fremden  Sprache  dasjenige  besonders  festhält, 
was  dem  deutschen  Hirn  am  leichtesten  assimilierbar  ist.  Auch  verfügt 
er  nicht  über  die  ungezählten  Ausdrucksvarianten  des  Ausländers,  sondern 
setzt  dafür  eine  kleine,  somit  für  den  Schüler  häufigwiederkehrende  Anzahl, 
die  die  Bedeutung  aller  jener  Varianten  völlig  ausreichend  wiedergibt.  Diese 
Vereinfachung  des  Sprachschatzes  ist  einer  der  schwer  zu  überschätzenden 
Vorzüge  des  inländischen  Lehrers  gegenüber  dem  Ausländer.  Die  so 
geschaffene  Auswahl  erleichtert  dem  Schüler  das  Lernen  ungemein; 
sein  Sprachschatz  ist  wieder  eine  Auswahl  aus  dem  des  Lehrers.  Man  ver- 
gesse auch  nicht,  daß  vom  Lehrer  lernen  lassen  die  mächtige  Hilfe  des  Ohres 
heranzieht.  Was  allerdings  das  Können  des  Schülers  angeht,  so  wird  all 
das  wenig  helfen,  so  lange  man  ihm  zumutet,  zwei  Sprachen  aktiv,  wenn 
auch  in  verschiedenem  Grade,  zu  betreiben'). 

Mit  der  Systematisierung  des  Sachwissens  in  Geschichte,  Literatur, 
Kunst  usw.  lassen  sich  nun  die  anderen  Unterrichtszweige  ungezwungen 
verknüpfen.  Bei  der  Besprechung  der  oben  genannten  Themen  wird  ein 
Schatz  von  Vokabeln  und  Phrasen  festgestellt  und  aufgeschrieben,  der, 
wenn  Texte  vorliegen,  sozusagen  Zusatzvokabeln  enthält,  die  sich  im  Text 
nicht  fanden,  aber  bei  der  Besprechung  sich  zwanglos  und  oft  unvermeid- 
lich einstellen;  wenn  kein  Text  vorliegt,  werden  sie  vom  Munde  des  Lehrers 
abgelesen.  Das  so  gesammelte  Vokabular  läßt  die  Schule,  nach  Kapiteln 
geordnet,  drucken  und  mit  freien  Blättern  durchschießen,  damit  es  von  jeder 
Klasse  ergänzt  werden  kann.  So  haben  die  Schüler,  die  alles  in  der  Schule 
Besprochene  zur  nächsten  Stunde  mündlich  oder  schriftlich  wiederholen 
sollen,  ein  Hilfsmittel,  das  ihnen  jene  Arbeit,  insbesondere  auch  den  Aufsatz, 
nicht  zur  Plage  werden  läßt.  Es  ist  klar,  daß  dieses  Vokabular  in  vielen 
Fällen  ganze  Sätze  enthalten  müßte.  Es  sei  angemerkt,  daß  auch  jede  Schüler- 
grammatik mit  leeren  Blättern  zu  ähnlichem  Zweck  durchschossen  sein 
sollte.  —  Da  man  verlangen  darf,  daß  der  im  Plan  der  Schule  festgesetzte 
Wissensstoff  durch  Wiederholung  zu  festem  Besitz  gelangt,  ergibt  sich  die 
Wiederholung  des  dazu  gehörenden  Wort-  und  Phrasenschatzes  von  selbst, 
soweit  sie  nicht  immanent  in  jedem  neuen  Stoff  liegt,  —  Wer  den  oben 
entwickelten  Plan  selbst  für  etwa  1 14  J^hr  einer  guten  Vorkriegs klasse 
überreichlich  findet,  möge  bedenken,  welche  Zeit  durch  solch  ein  Vokabular 
gespart  wird. 

Von  der  Gesamtheit  dieser  der  Oberstufe  geltenden  Betrachtungen  aus 
gewinnen  wir  einen  Gesichtspunkt  für  den  Unterricht  der  Mittelstufe, 
die  ja  den  Unterricht  der  Oberstufe  vorbereiten  soll.  Was  auf  der  Oberstufe 
nicht  wieder  vorkommt,  muß  kritisch  betrachtet  werden.   Unsere  Lehrbücher 


1)  Vgl.  Aufsatz  des  Verf.  im  21.  Band  der  , .Neueren  Sprachen"  Bg.  8  S.  569. 


L.  Kaiser,  Aus  einer  Ansprache,  gehalten  bei  der  lOOjährlgen  Jubelfeier  usw.    32 1 

tun  vielfach,  als  ob  der  Schüler  sein  tägliches  Leben  in  der  Fremdsprache 
leben  solle  und  verschwenden  dadurch  Zeit  und  Arbeitskraft,  treiben  Dinge, 
die  nur  der  mit  Ausdauer  und  Eifer  und  willig  aufnehmendem  Ge- 
dächtnis lernen  wird,  der  binnen  kurzem  sie  im  Ausland  praktisch  verwenden 
will.  Ich  unterdrücke  für  heute  längere  ketzerische  Bemerkungen  über  Sprech- 
übungen der  Mittelstufe,  die  manche  dort  gerade  treiben  wollen,  um  sie  auf 
der  Oberstufe  einzuschränken.  Auch  auf  der  Mittelstufe  läßt  sich  Zeit  ge- 
winnen, indem  man  jene  einschränkt,  un  dem  angehenden  Obersekundaner 
das  zu  geben,  was  er  außer  Grammatik  in  allererster  Linie  braucht:  einen  reichen 
passiven  Wortschatz. 

Der  gegebene  Plan  ist  nur  ein  Beispiel,  wobei,  um  Raum  zu  sparen,  Hin- 
weise auf  englische  und  deutsche  Kulturentwicklung  unterblieben  sind. 
Es  wäre  lehrreich,  andere  Auswahl  kennen  zu  lernen.  Aus  solcher  Aus- 
sprache könnte  sich  ein  Normalplan  entwickeln,  der  individuellen  Neigungen 
Raum  ließe.  Oeckels,  Molsens  usw.  Pläne  ließen  sich  dem  hier  herrschenden 
chronologischen  Gesichtspunkt  leicht  einordnen.  Nützlich  könnte  auch 
eine  Fachberatung  sein,  wie  sie  für  Deutsch  beabsichtigt  ist. 

Spandau.  Wilmsen. 


Aus  einer  Ansprache,  gehalten  bei  der  hundertjährigen  Jubelfeier 
des  Kreuznacher  Gymnasiums  am  19.  Mai  1920. 

....  Links  neben  dem  Toreingang  des  alten  Gebäudes  stand  eine  kleine 
Hütte,  deren  ungedielter  Fußboden  arge  Löcher  aufwies.  Hier  hauste  der 
Pedell,  Alonso  geheißen,  denn  er  war  ein  Spanier.  Wie  kam  nun  ein  Spanier 
zum  Pedellposten  am  Kreuznacher  Gymnasium?  Im  Jahre  1819  ist  die  An- 
stalt gegründet  worden,  und  bedeutsame  geschichtliche  Ereignisse  waren 
vorausgegangen.  Mit  dem  großen  Napoleonischen  Heer  von  1812  war  Alonso 
auf  dem  Vormarsch  nach  Rußland,  vielleicht  auch  mit  seinen  Trümmern  auf 
dem  Rückzuge  nach  Kreuznach  gekommen  und  hier  hängen  geblieben; 
er  heiratete  eine  Kreuznacherin  und  wurde  Pedell  am  Gymnasium^).  Seit 
dessenGründung  hat  erseines  Amts  gewaltet,  obgleich  er  sich  mit  der  deutschen 
Sprache  zeitlebens  auf  einem  gespannten  Fuß  befunden  hat.  Drollig  war 
es,  den  kleinen,  wohlbeleibten,  grauköpfigen  Mann  hinter  den  ungezogenen 
Buben  her  jagen  zu  sehen,  und  manches  Ergötzliche  wäre  zu  berichten  über 
das  Kauderwelsch,  in  dem  er  sich  über  ihre  Streiche  bei  dem  Direktor  be- 
schwerte. 

Als  ich,  vorgebildet  in  der  Lateinschule  meines  Hunsrücker  Heimat- 
städtchens Kirchberg,  im  Herbst  1861  in  die  Tertia  aufgenommen  wurde, 
waren  die  Verhältnisse  des  Gymnasiums  noch  sehr  einfach ;  es  umfaßte  nur 
sechs  Klassen  mit  zusammen  etwa  180  Schülern,  und  diese  Zahl  ist  auch 

1)  Die  Festschrift  berichtet  (S.  1)  ,daß  die  französische  Regierung  das  alte  Franzis- 
kanerkloster als  Depot  für  spanische  Kriegsgefangene  in  Anspruch  genommen  hatte;  wahr- 
scheinlicher ist  also,  daß  Alonso  als  Gefangener  nach  Kreuznach  verschleppt  wurde. 
Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  21 


322  Ludwig  Kaiser, 

während  der  nächsten  Jahre  die  durchschnittliche  gebheben.  Sexta,  Quinta 
und  Quarta  bildeten  je  eine  Klasse  für  sich,  während  die  beiden  Jahrgänge 
der  Tertia,  der  Sekunda  und  der  Prima  zu  je  einer  Klasse  vereinigt  waren. 
Zwischen  Unter-  und  Obertertia  wurde  nicht  streng  unterschieden;  war 
auch  der  Kursus  in  der  Regel  ein  zweijähriger,  so  konnte  die  Versetzung 
nach  Untersekunda  ausnahmsweise  doch  schon  nach  einjährigem  Besuch 
erreicht  werden.  Unserem  kameradschaftlichen  Verhältnis  brachte  diese 
Vereinigung  je  zweier  Jahrgänge  übrigens  den  Gewinn,  daß  es  nicht  auf  die 
Mitschüler  des  eigenen  Jahrgangs  beschränkt  blieb,  sondern  auch  auf  die- 
jenigen des  vorausgehenden  und  des  nachfolgenden  Jahrgangs  sich  ausdehnte. 
Alle  sechs  Klassen  lagen  zu  je  zweien  an  der  vorderen,  rechten  und  hinteren 
Seite  des  alten  Hauptgebäudes  zu  ebener  Erde,  an  der  rechten  Seite  auch  die 
Aula,  die  kaum  doppelt  so  groß  als  ein  mäßiges  Klassenzimmer  war. 

Unserer  Schulzeit  gedenken  wir  Alten  mit  dem  Gefühl  treuester 
Anhänglichkeit  und  Dankbarkeit.  Und  wenn  ich  es  vor  allem  als  meine  Pflicht 
betrachte,  diesen  Dank  heute  vor  Ihnen  auszusprechen,  so  will  ich  das  nicht 
in  allgemeinen  Worten  tun,  sondern  dadurch,  daß  ich  in  pietätvoller  Er- 
innerung der  Männer  gedenke,  die  damals  bestimmend  auf  uns  eingewirkt 
und  uns  einen  inneren  Besitz  mitgegeben  haben,  der  vorgehalten  und  sich 
als  wertvoll  erwiesen  hat  für  unser  ganzes  späteres  Leben. 

Unser  Ordinarius  in  Tertia  war  der  Oberlehrer  Möhring,  ein  Mann 
von  aufrechter,  straffer  Haltung,  der  uns  in  der  lateinischen  Grammatik 
und  in  der  Cäsarlektüre  in  eine  strenge  Zucht  nahm.  Was  bei  ihm  gelernt 
wurde,  das  saß  fest  und  blieb  haften  als  sichere  Grundlage  für  das,  was  in 
den  oberen  Klassen  hinzukam.  —  Ein  Meister  feinster  klassischer  Latinität 
war  unser  Ordinarius  in  Prima,  Professor  Steiner.  Sein  Unterricht  vollzog 
sich  fast  ohne  jeden  Zwang,  aber  in  seinen  Stunden  herrschte  Geist  und 
ein  heiterer  Humor,  der  manches  fröhliche  Lachen  aufschlagen  ließ.  Un- 
verrückbar stand  er  während  der  ganzen  Stunde  vor  der  Mitte  der  vordersten 
Schulbank,  und  nicht  leicht  verlor  er  seine  Ruhe  und  Gelassenheit.  Mit 
scharfem  Blick  durchschaute  er  unsere  schülerhaften  Schliche;  und  wer  etwa 
meinte,  seine  Milde  und  Nachsicht  mißbrauchen  zu  könenn,  der  irrte  sich 
und  wurde  mit  einem  beschämenden  Wort  zurechtgewiesen.  Von  ihm  konnte 
man  lernen,  wie  man  dem  Mutwillen  wehrt,  indem  man  ihn  anscheinend 
nicht  beachtet. 

Die  ausgeprägteste  Persönlichkeit  im  damaligen  Lehrerkollegium  war 
der  Mathematikprofessor  Martin  Gottlieb  Grabow.  Als  Veteran  von 
1813  und  Mitkämpfer  in  der  Schlacht  bei  Dennewitz  verkörperte  er  für  uns 
die  lebendige  Verknüpfung  mit  der  großen  Zeit  der  Freiheitskriege;  und 
manches  kräftige  patriotische  Wort  hat  er  uns  mitgegeben  namentlich  dann, 
wenn  er  uns  an  einem  katholischen  Feiertage,  weil  ein  Teil  der  Schüler  fehlte, 
den  Willen  tat,  im  mathematischen  Pensum  nicht  weiterzugehen,  sondern 
über  die  Kriegsereignisse,  an  denen  er  selbst  teilgenommen  hatte,  etwas 
vorlesen  zu  lassen.  Entschieden  war  er  einer  der  schärfsten  mathematischen 
Köpfe,  denen  ich  jemals,  nicht  nur  später  auf  der  Universität,  sondern  auch 


Aus  einer  Ansprache,  gehalten  bei  der  lOOjährigen  Jubelfeier  usw.  323 

in  meiner  amtlichen  Laufbahn  begegnet  bin.  Aber  als  Lehrer  war  er  recht 
unbequem  und  deshalb  gefürchtet  weit  und  breit ;  seine  Methode  war:  „Vogel, 
friß  oder  stirb!"  Wer  seinem  abstrakten,  streng  systematischen  Unterricht 
zu  folgen  vermochte,  konnte  etwas  Tüchtiges  bei  ihm  lernen;  um  die  anderen 
—  und  diese  bildeten  die  Mehrzahl  —  kümmerte  er  sich  wenig.  Er  war  ein 
übertrieben  logischer,  freigeistiger  Rationalist,  aber  ein  ehrlicher  Charakter 
durch  und  durch.  Scharf  unterschied  er  zwischen  Eitelkeit  und  Ehrgefühl; 
dieses  suchte  er  zu  wecken,  jene  bekämpfte  er  unnachsichtlich.  Das  ging  so 
weit,  daß  wir  z.B.  nicht  sagen  durften :  ich  verbinde  .  .  .,  ich  ziehe  .  .  .;  dann 
fuhr  er  dazwischen  mit:  ,,Der  einfältige  Mensch!  Laß  er  sein  wertes  Ich 
zu  Hause!  Das  machen  andere  verständige  Menschen  auch  so;  es  heißt: 
man  verbindet  .  .  .,  man  zieht  .  .  ."  War  das  auch  übertriebene  Pedanterie, 
Eindruck  machte  es  auf  uns  doch.  Unfähige  suchte  er  vom  Besuch  des  Gym- 
nasiums abzuschrecken.  Einem  meiner  Freunde,  der  die  Aufnahmeprüfung 
für  Sekunda  nicht  bestand,  sagte  er:  ,, Männchen,  geh  nach  Hause  und  sag 
deinem  Vater:  Handwerk  hat  einen  goldnen  Boden."  Als  er  während 
des  nach  dem  Tode  des  Direktors  Axt  eingetretenen  Interregnums  die  Di- 
rektorgeschäfte zu  führen  und  in  der  Schlußfeier  die  Abiturienten  vom  Herbst 
64  zu  entlassen  hatte,  fiel  sein  BHck  auf  einen,  der  für  die  Übersicht  im  Schul- 
programm angegeben  hatte,  er  wollte  Offizier  werden.  Grabow  unterbrach 
sich  mit :  ,,A  propos,  das  ist  noch  sehr  die  Frage,  ob  Er  als  Offizier  zu  brauchen 
ist;  ich  habe  geschrieben:  Will  Soldat  werden."  —  Sie  sehen,  verehrte  An- 
wesende, daß  auch  schon  damals  eine  Art  von  Berufsberatung  gepflegt 
worden  ist. 

Den  nachhaltigsten  Einfluß  hat  der  Direktor  Wulfert  auf  uns  aus- 
geübt, der,  zuvor  Direktor  des  Gymnasiums  in  Herford,  im  Herbst  1864, 
als  mein  Jahrgang  in  die  Prima  aufrückte,  die  Leitung  des  Kreuznacher 
Gymnasiums  übernahm.  Er  unterrichtete  uns  im  Deutschen,  in  der  grie- 
chischen Poesie  und  der  Religion.  Sein  Unterricht  war  faßlich  und  klar, 
anregend  und  auf  jedem  dieser  drei  Gebiete  von  nachhaltigster  Wirkung. 
Von  vornherein  gewann  er  unser  Vertrauen  dadurch,  daß  er  selbst  uns  volles 
Vertrauen  entgegenbrachte  und  den  Grundsatz  zu  befolgen  versprach :  ,,Quis- 
quis  praesumitur  bonus,  donec  probetur  contrarium."  Für 
einen  ehrlichen  und  zuverlässigen  Menschen  wollte  nun  jeder  von  uns  gehalten 
werden,  und  allen  Ernstes  nahmen  wir  uns  vor,  ihm  den  Beweis  des  Gegen- 
teils möglichst  lange,  am  liebsten  für  immer  schuldig  zu  bleiben.  Und  aus 
seinem  Munde  habe  ich  zum  ersten  Male  das  Wort  des  Juvenal  gehört  ,,Maxi- 
ma  debetur  pueris  reverentia";  das  war  für  ihn  keine  leere  Redens- 
art. Die  Seele  des  Zöglings  war  für  ihn  kein  Objekt,  auf  das  man  gefühllos 
losarbeitet ;  sie  bedeutete  für  ihn  eine  Fülle  von  Keimen  undKräften,  die  durch 
einsichtige,  liebevolle  Pflege  zu  entwickeln  sind.  Übrigens  wurden  wir  noch 
als  Oberprimaner  mit  ,,Du"  angeredet,  was  aber  dem  Gefühl  unserer  Primaner- 
würde nicht  den  leisesten  Abbruch  tat.  Vorbildlich  war  sein  Unterricht 
im  Deutschen  und  in  der  griechischen  Poesie.  In  das  Verständnis  der  be- 
deutsamsten  Denkmäler  der  deutschen   Sprache   und   Literatur  führte  er 

21* 


324    L.  Kaiser,  Aus  einer  Ansprache,  gehalten  bei  der  100jährigen  Jubelfeier  usw. 

uns  ein  von  Ulfilas  bis  Goethe ;  den  Homer  lernten  wir  unter  seiner  geschickten 
und  geistvollen  Anleitung  fast  mühelos  lesen,  und  auch  mit  einem  Stück 
von  Sophokles  wurden  wir  fertig,  mit  den  Chorgesängen  freilich  nur  in  harter 
gemeinsamer  Arbeit.  In  leuchtender  Erinnerung  ist  mir  die  Aufführung 
der  „Antigone"  geblieben,  die  beim  fünfzigjährigen  Jubiläum  1869  auf  ,,Kiskys 
Wörth"  stattfand.  Anfänglich  war  das  Stück  mit  den  von  Mendelssohn 
komponierten  Chorgesängen  in  der  Donnerschen  Übersetzung  eingeübt 
worden,  aber  schließlich  drang  der  Wunsch  durch,  es  griechisch  aufzuführen. 
Das  war  nun  für  den  Gesanglehrer  Kaufmann  —  er  entstammte  einer 
Kreuznacher  Malerfamilie  —  keine  leichte  Aufgabe,  weil  er  kein  Wort  Griechisch 
verstand;  aber  es  wurde  geschafft,  und  die  Aufführung,  zu  der  das  Schau- 
spielhaus in  Berlin  die  Ausstattung  geliehen  hatte,  verlief  glänzend.  Noch 
in  späteren  Jahren  konnte  man,  wenn  sich  Mitglieder  des  Chors  wieder  einmal 
zusammenfanden,  statt  der  üblichen  Kneiplieder  jene  herrlichen  Gesänge 
hören.  —  Aber  das  Beste  gab  Wulfert  uns  im  Religionsunterricht,  der, 
vordem  für  uns  von  tödlicher  Langweile,  durch  ihn  Licht  und  Leben  gewann. 
Er  erwartete  von  uns  noch  keinen  positiven  Glauben  an  die  christliche  Wahr- 
heit. „Eurem  Alter",  so  sagte  er,  „ist  der  Zweifel  und  die  Neigung  zur  Kritik 
natürlich ;  eine  religiöse  Überzeugung  wird  erst  erworben  durch  innere  Kämpfe 
und  eine  lange  Lebenserfahrung."  Damit  hat  er  uns  den  Giftzahn  mut- 
williger Kritik  ausgebrochen,  uns  duldsam  gegenüber  jeder  ehrlichen  Über- 
zeugung und  zu  redlich  Suchenden  gemacht. 

Kreuznach.  Ludwig   Kaiser. 


Mit 


IL  Bücherbesprechungen, 


a)  Sammelbesprechungen. 
Zur  Relativitätstheorie. 

H.  A.  Lorentz,  A.  Einstein,  H.  Minkowski,  Das    Relativitätsprinzip. 
Eine  Sammlung  von  Abhandlungen.  Mit  Anmerkungen  von  A.  Sommer- 
feld und  Vorwort  von  O.  Blumenthal.  Dritte,  verbesserte  Aufl.  Leipzig, 
Berlin  1920.    Teubner.    146  S. 
Diese   Sammlung   der   klassischen   Originalabhandlungen   wird   jedem 
äußerst  willkommen  sein,  der  sich  näher  mit  der  Relativitätstheorie  beschäf- 
tigen will,  da  sie  ihn  von  den  Bibliotheken  unabhängig  macht.    Sie  enthält 
zwei  Arbeiten  von  Lorentz,  sieben  von  Einstein  —  darunter  namentlich 
die  für  die  spezielle  Relativitätstheorie  grundlegende  von  1905  und  die  Grund- 
lage der  allgemeinen  Relativitätstheorie  von  1916  —  und  den  von  Sommer- 
feld mit  Anmerkungen  versehenen  Kölner  Vortrag  Minkowskis. 

Moritz  Schlick,  Raum  und  Zeit  in  der  gegenwärtigen  Physik.    Zur 
Einführung  in  das  Verständnis  der  Relativitäts-  und  Gravitationstheorie. 
Dritte,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage.  Berlin  1920.   Springer.   90  S. 
Die  Schrift,  mit  ausgezeichneter  Klarheit  und  Flüssigkeit  geschrieben, 
ist  nicht  nur  mathematisch-physikalisch,  sondern  auch  philosophisch  gründ- 
lich orientiert.   Sie  behandelt  ohne  Rechnungen,  in  allgemeinverständlicher 
Weise  die  spezielle  und  die  allgemeine  Relativitätstheorie  und  ist  dem  Lehrer 
der  Mathematik  und  der  philosophischen  Propädeutik  zur  eignen  Einführung 
in  erster  Linie  zu  empfehlen.  Der  Wert  der  Schrift  für  die  Verständlichmachung 
der  Theorie  wird  dadurch  nicht  berührt,  daß  der  Verfasser  die  relativistische 
2,xix*^a  iC  schließlich  wieder  in  eine  absolutistische  Weltanschauung  einmünden 
lajt.    Im  Gegenteil  wird  sie  der  großen  Mehrzahl  der  Zeitgenossen  dadurch 
noch  sympathischer  sein,  obwohl  die  Relativitätstheorie  aus  einer  relati- 
vistischen, durch  und  durch  sinnesphysiologisch  und  biologisch  begründeten 
Weltanschauung  entsprang,  nur  aus  solcher  entstehen  konnte  und  auch 
nur  darin  die  volle  Aufklärung  findet.   Die  Zeit  neigt  eben  noch  immer  einer 
einseitig  mathematisch-physikalischen  Naturauffassung  zu.    Doch  wird  die 
Relativitätstheorie  den  wichtigsten  Antrieb  abgeben  für  die  endliche  Ein- 
beziehung auch  der  chemisch-biologischen  Seite  in  die  Weltanschauung. 

Max  Born,  Die  Relativitätstheorie  Einsteins.  Mit  129  Textabbil- 
dungen und  einem  Porträt  Einsteins.  Berlin  1920.  Springer.  242  S. 
Obwohl  dieser  Band  des  bekannten  Schülers  Minkowskis  eigentHch 
nicht  für  mathematisch  und  physikalisch  geschulte  Leser  bestimmt  ist  und 
noch  nicht  einmal  die  mathematischen  Kenntnisse  des  ehemaligen  „Ein- 
jährigen" voraussetzt,  möchte  ich  ihn  trotzdem  auch  dem  Lehrer  warm  emp- 


326  J.  Petzoldt, 

fehlen.  Enthält  er  doch  eine  pädagogisch  vortreffliche,  durch  viele  sehr  klare, 
oft  eigenartige  Figuren  gestützte  Darstellung  der  gesamten  mit  der  Rela- 
tivitätstheorie in  Beziehung  stehenden  Physik,  von  Newtons  Mechanik  an 
über  Optik  und  Elektrodynamik  hinweg  dem  Wesentlichen  der  historischen 
Entwicklung  folgend. 

Adam    Angersbach,   Das     Relativitätsprinzip,    leichtfaßlich    ent- 
wickelt.   Mit  9  Figuren  im  Text.    Leipzig  und  BerHn  1920.    Teubner. 
39.  Bändchen  der  von  Lietzmann  und  Witting  herausgegebenen  mathe- 
matisch-physikalischen Bibliothek.    57  S. 
Diese  klare,  wohldurchdachte  Schrift  ist  interessierten  Primanern  zur 
selbständigen   Durcharbeitung  sehr  zu  empfehlen,  eignet  sich  aber  auch 
—  wie  ein  diesbezüghcher  Versuch  von  Gotthardt  gezeigt  hat^)  —  gut 
zur  Durchnahme  in  der  Klasse.    Sie  analysiert  den  Michelsonschen  Versuch 
Schritt  für  Schritt,  trennt  die  einzelnen  Schwierigkeiten  scharf,  sichert  jede 
g'ewonnene  Position  durch  sorgfältige  Formulierung  und  übt  die  Lorentz- 
transformation  an  einer  Reihe  von  Aufgaben  ein. 

Paul  Kirchberger,  ,,Was  kann  man  ohne  Mathematik  von  der  Re- 
lativitätstheorie verstehen?"    Mit  einem  Geleitwort  von  M.  Laue. 
Zweite,  vermehrte  und  verbesserte  Auflage.    Karlsruhe  i.  B.  1921.    C.  F. 
Müller.    88  S. 
Diese  Schrift  dürfte  als  allererste  Lektüre  über  die  Relativitätstheorie  am 
meisten  zu  empfehlen  sein,  da  sie  tatsächlich  ohne  jede  Mathematik  und 
in  ungemein  anschaulicher  und  kurzweiliger  Weise  an  die  Schwierigkeiten 
heran-  und  in  sie  hineinführt.   Sie  gehört  in  die  Reihe  unserer  besten  physi- 
kalischen Lesebücher.  Daher  wird  sie  auch  nicht  nur  dem  Anfänger,  sondern 
jedem,  auch  dem  Kenner  der  Relativitätstheorie  Freude  und  Anregung  geben 
und  nicht  zuletzt  dem  Lehrer  von  Nutzen  sein,  und  zwar  auch  dem  nicht- 
mathematischen, über  die  Grenzen  seines  Faches  hinausblickenden. 

Ludwig  Schlesinger,  Raum,  Zeit  und   Relativitätstheorie.    Gemein- 
verständliche Vorträge.   Mit  7  Figuren  im  Text.   Leipzig  und  Berlin  1920. 
Teubner.    40  S. 
Die  Darstellung  des   Gießener  Mathematikers  ist  eine  ausgezeichnete 
Einführung  in  die  Minkowskische  Auffassung.    Sie  gibt  in  ganz  eigenartiger 
Weise  unter  eingehender  Benutzung  der  graphischen  Fahrpläne  namentlich 
ein  schönes  geometrisches  Bild  der  Lorentztransformation  und  schafft  sich 
damit  die  Unterlage  zu  einer  gemeinverständlichen  Einführung  in  die  vier- 
dimensionale  Welt  sogar  der  allgemeinen  Relativitätstheorie.     Die  Schrift 
wird  vor  allem  dem  Lehrer,  der  graphische  Darstellung  eingehender  treibt, 


*)  Vgl.  die  Berichte  über  die  diesjährige  Göttinger  Mathematiker-Tagung  in  den 
Unterrichtsblättern  für  JVIathem.  u.  Naturwiss.  1921,  S.  45  und  in  der  Zeitschr.  für  den 
physikal.  u.  ehem.  Unterricht  1921,  S.  136. 


Zur  Relativitätstheorie.  327 

von  großem  pädagogischen  Werte  sein.  Indessen  darf  er  nicht  vergessen, 
daß  für  das  Eindringen  in  den  anschaulichen  physikalischen  Inhalt 
der  Relativitätstheorie  die  Schlesingersche  Veranschaulichung  der  Lorentz- 
transformation  immer  wieder  nur  als  Bild  dienen  kann  und  darum  durch 
erkenntnistheoretische  Aufklärung  ergänzt  werden  muß. 

P.  Lenard,  Über  Relativitätsprinzip,  Äther,  Gravitation.  Neue, 
vermehrte  Ausgabe.  Leipzig  1920.  Hirzel.  35.  S. 
Wer  sich  näher  mit  der  Relativitätstheorie  beschäftigen  will,  muß  auch 
zu  den  Schriften  der  Gegner  greifen,  und  da  wohl  in  erster  Linie  zu  dieser  des 
berühmten  Heidelberger  Physikers  und  Nobelpreisträgers,  der  sich  übrigens 
nur  gegen  die  allgemeine  Relativitätstheorie  wendet,  die  spezielle  aber  an- 
erkennt. Man  sieht  an  den  Darlegungen  des  Verfassers,  wie  schwer  es  selbst 
einem  großen  Experimentator  werden  kann,  sich  von  den  Vorurteilen  der 
Überlieferung,  im  besonderen  von  denen  der  mechanischen  Naturauffassung 
frei  zu  machen.  Besonders  deutlich  an  dem  schon  fast  berühmt  gewordenen 
Beispiel  vom  Eisenbahnunglück.  Der  Verfasser  meint,  nach  der  Relativitäts- 
theorie müsse  der  Kirchturm,  dem  gegenüber  sich  der  Zug  bewegt,  genau 
so  gut  verunglücken  wie  der  Zug  selbst.  Wenn  aber  z.  B.  ein  irdener  und 
ein  eiserner  Topf  gegen  einander  —  der  eine  gegen  den  anderen  —  gestoßen 
werden,  ganz  gleichgültig,  welcher  der  ,bewegte*  ist,  so  geht  doch  immer 
nur  der  irdene  entzwei!  Seine  Zerstörung  hängt  also  nur  von  der  Relativ- 
bewegung ab  und  von  dieser  eben  nur  seine  Zerstörung.  So  erleidet  der  Kirch- 
turm nicht  mehr  Schaden  als  der  eiserne  Topf,  und  aus  dem  einzigen  physi- 
kalischen Effekt  läßt  sich  kein  Schluß  auf  eine  absolute  Bewegung  ziehen. 

Ernst  Cassirer,  Zur  Einsteinschen  Relativitätstheorie.  Erkenntnis- 
theoretische Betrachtungen.  Berlin  1921.  Bruno  Cassirer  Verlag.  134  S. 
Die  Schrift  läßt  erkennen,  welche  Wirkung  die  theoretische 
Physik  der  letzten  50  Jahre  auf  die  Entwicklung  der  Kantischen  Philo- 
sophie ausgeübt  hat :  eine  sehr  bemerkenswerte  und  hoffnungsvolle  Annähe- 
rung an  den  Positivismus.  Dieser  verträgt  sich  ja  auch  in  weitem  Maße  mit 
Kants  Lehre  von  der  empirischen  Realität  der  Erscheinungen.  Wollte  der 
Verfasser  seine  Aufmerksamkeit  in  demselben  Grade  wie  den  physikalischen 
Gegenständen  nun  auch  den  biologisch-psychologischen  zuwenden,  so  würde 
er  sich  sehr  wahrscheinlich  von  dem  verbreiteten  Vorurteil,  daß  der  moderne 
Positivismus  vorwiegend  Sensualismus  sei,  befreien  und  den  empirischen 
psychophysischen  Parallelismus  voll  anerkennen.  Der  PositivismiiB  legt 
auf  die  begrifflichen  Komponenten  der  Erfahrung  durchaus  kein  geringeres 
Gewicht  als  der  transzendentale  Kritizismus.  Dem  Apriorismus  vermag 
er  freilich  nichts  abzugewinnen.  Das  a  priori  ist  allerdings  im  0«mde  auch 
in  Cassirers  Darstellung  so  gut  wie  funktionstos,  ein  zweckloser  Rahmen. 
Die  Ausschaltung  des  Überflüssigen  ist  aber  in  der  Geschichte  der  Wissen- 
schaft genau  so  unvermeidlich  wie  die  Beseitigung  des  Widerspruchs.  Die 
eigentlichen  erkenntnistheoretischen   Probleme,  vor   die  sich   das   Denken 


328  J-  Petzoldt,  Zur  Relativitätstheorie. 

durch  die  Relativitätstheorie  gestellt  sieht,  werden  durch  die  Cassirersche 
Schrift  kaum  gefördert^). 

Hans  Reichenbach,  Relativitätstheorie  und  Erkenntnis  a  priori. 
BerHn   1920  bei  Julius  Springer.     110  S. 

Der  Verfasser  wendet  sich  mit  Recht  gegen  den  Apriorismus  der  Kan- 
tischen Schulen.  Dieser  war  schon  mit  der  nichteuklidischen  Geometrie 
und  der  Axiomatik  nicht  zu  vereinigen,  und  der  Relativitätstheorie  gegen- 
über versagt  er  womöglich  noch  mehr.  Die  Überlegungen  des  Verfassers 
bewegen  sich  —  namentlich  in  dem  beachtenswerten  VII.  Kapitel  —  stark 
in  der  Richtung  auf  den  relativistischen  Positivismus.  Zwar  hält  er  die  be- 
grifflichen Komponenten  der  Erfahrung  noch  für  apriorische  Erzeugnisse 
der  „Vernunft",  aber  sie  sind  ihm  nicht  mehr  unabhängig  von  der  Erfahrung 
und  sind  willkürlich,  konventionell.  Doch  ist  er  noch  sehr  in  rationalistischer, 
im  besonderen  logizistischer  Denkweise  befangen  und  läßt  ebenso  wie  Cassirer 
das  biologische  Denken  vollständig  vermissen,  während  seine  Darlegungen 
oft  genug  geradezu  danach  schreien,  „wie  der  Hirsch  nach  frischem  Wasser". 

Spandau.  J.  Petzoldt. 


*)  Ve}.  über  diese  Probleme:  J.  Petzoldt,  Die  Stellung  der  Relativitätstheorie  in 
der  geistigen  Entwicklung  der  Menschheit.    Dresden  1^21,  Sibyllenverlag. 


-CNITsÄ- 


üruck  von  C-  Schulze  6i  Co.  u.  in.n.H-.  Ordtennalnictien. 


> 


\ 


I.  Abhandlungen. 


Wie  ist  heute  der  Unterricht  in  den   alten  Sprachen  zu  erteilen? 

Vorbemerkung. 
Der  grammatische  Unterricht  ist,  darüber  wird  denn  doch  wohl 
nirgendwo  ein  Zweifel  bestehen,  Mittel  zum  Zweck  der  Erreichung  derjenigen 
Ziele,  die  der  Beschäftigung  mit  den  alten  Sprachen  überhaupt  gesetzt  sind. 
Es  ist  deshalb  selbstverständlich,  daß,  wenn  die  Ziele  des  altsprachlichen 
Unterrichts  sich  verschieben,  dann  auch,  wenn  das  nötig  ist,  der  Betrieb 
des  grammatischen  Unterrichts  sich  verschiebt,  d.  h.  das  Unterrichtsverfahren 
dem  Unterrichtsziel  sieb  anpaßt.  Das  lehrt  einfachste  Überlegung :  lerne  ich 
die  Sprache  zu  dem  Zweck,  mich  im  Bedürfnis  des  Alltags  zurecht  zu  finden, 
so  verfahre  ich  beim  Erlernen  der  Sprache  anders  als  wenn  meine  Absicht 
ist,  durch  die  Kenntnis  der  Sprache  Zugang  zu  gewinnen  zu  den  Kulturgütern 
desjenigen  Volkes,  das  die  fremde  Sprache  geschaffen  hat  und  spricht;  sind 
die  erstrebten  Ziele  andere,  so  ist  auch  das  Verfahren  naturgemäß  anders. 
Voraussetzung  für  die  Bestimmung  der  Art,  wie  der  grammatische  Unterricht 
einzurichten  sei,  ist  deshalb,  daß  man  sich  über  das  Ziel,  das  man  mit  dem 
Betrieb  der  alten  Sprache  am  Gymnasium  überhaupt  erreichen  will,  klar  wird. 

I. 

Welches   ist    das   Ziel   des    altsprachlichen   Unterrichts? 

Der  eigenartige  Zustand  unseres  geistigen  Lebens,  das  überall  unver- 
kennbar die  Kennzeichen  eines  Übergangszeitalters  aufweist,  macht,  daß 
die  Beantwortung  der  Frage  sich  nur  erst  nach  weiterem  Ausholen  geben  läßt. 

Ich  denke,  daß  ich  nirgendwoher  Widerspruch  finde,  wenn  ich  als  letztes 
Ziel  jeglicher  Erziehung  und  jedes  Unterrichts  hinstelle:  die  heranwachsende 
Jugend  vorzubereiten  und  tüchtig  zu  machen  fürs  Leben.  Für  diejenigen, 
die  nach  Begabung  und  Neigung  berufen  sind,  eine  höhere  Schule  zu  besuchen, 
und  dadurch  ausgesucht  werden  zu  gehobener  ev.  leitender  Stellung  im  Leben, 
besteht  die  Vorbereitung  fürs  Leben  darin,  daß  sie  in  diejenigen  Kenntnisse 
und  Wissenschaften  eingeführt  werden,  die,  wie  man  sagen  kann,  die  konsti- 
tutiven Elemente  unseres  geistigen  Lebens  bilden.  Davon  verspricht  man 
sich  eine  Geisteskultur,  die  befähigt,  die  Erscheinungen  des  Lebens  kritisch 
zu  beobachten,  um  sich  nicht  blind  von  ihnen  tragen  zu  lassen,  vielmehr 
mit  selbständigem  Entschluß  bahnweisend  sie  zu  beeinflussen. 

Welches  diese  konstitutiven  Elemente  sind,  ist  im  allgemeinen  klar: 
es  ist  das  weite  Gebiet  der  Wissenschaften.  Aber  ebenso  klar  ist,  daß  die 
Schule,  so  wie  die  Dinge  heute  liegen,  sich  nicht  die  Aufgabe  stellen  kann, 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  22 


330  Cornelius  Hölk, 

in  die  Gesamtheit  der  Wissenschaften  einzuführen.  Das  war  im  Mittelalter 
möglich,  wo  die  Bildung  einheitlich  war,  und  würde  auch  für  unsere  Zeit 
möglich  sein,  wenn  eine  einheitliche  Welt-  und  Lebensanschauung  bestünde, 
aus  der  deduktiv,  vom  Allgemeinen  herabsteigend  zur  Einzelerscheinung, 
das  Leben  gedeutet  werden  könnte. 

Aber  bis  wir  dahin  gelangen,  ist  noch  ein  weiter  Weg.  Bis  dahin  muß 
die  Schule  sich  mit  einem,  wenn  ich  so  sagen  darf,  Spiegelbild  des  Geistes- 
lebens begnügen,  das  das  Ganze  auffängt  in  seiner  Totalität,  ohne  sich  das 
Ziel  zu  setzen,  die  Summe  des  Einzelnen  deutlich  heraustreten  zu  lassen. 
Es  ist  selbstverständlich,  daß  dies  Bild  verschieden  ausfällt  je  nach  der  Stellung 
des  Spiegels. 

Bei  vielfachen  Versuchen,  andern  deutlich  zu  machen  was  ich  meine, 
hat  sich  mir  als  praktisch  herausgestellt,  in  einem  Gleichnis  auszudrücken  was 
ich  denke;  dadurch  wurde  klarer  was  ich  wollte  als  durch  begriffliche  De- 
duktion. Wer  etwa  zum  erstenmal  in  eine  große  Stadt  hineinkommt  und  nun 
sich  über  die  Gesamtheit  der  überwältigenden  Erscheinung  orientieren  will, 
hat  dazu  verschiedene  Möglichkeiten.  Er  kommt  auf  dem  Hauptbahnhof 
an  und  sieht  von  da  aus  die  Hauptverkehrsadern  sich  über  das  Ganze  ver- 
breiten. Wenn  er  nacheinander  nach  dem  Stadtplan  die  großen  Linien  durch- 
fährt, so  nimmt  er  die  Summe  der  Erscheinungen  auf:  das  Bild  des  gewaltigen 
Lebens,  wie  es  ineinander  greift,  sich  durchkreuzt,  verwirrt,  entwirrt,  hemmt 
und  fördert,  prägt  sich  ihm  ein,  er  sieht  die  Ströme  der  Kraft,  die  sein  Leben 
durchfluten  und  bedingen. 

Eine  andere  Möglichkeit  ist  die,  die  Goethe  empfiehlt  und  befolgte; 
man  steigt  auf  einen  beherrschenden  Aussichtspunkt  und  prägt  sich  von 
dort  das  Bild  des  Ganzen  ein,  in  das  unübersehbare  Chaos  Ordnung  hinein- 
bringend dadurch,  daß  man  die  Nebenwege  von  den  Hauptadern  sondern 
lernt  und  schnell  zur  sichern  Orientierung  gelangt. 

Eine  dritte  Möglichkeit  ist  die,  daß  man  im  Luftschiff  in  mächtiger 
Höhe  über  der  Stadt  kreuzi.  Man  sieht  dasselbe  Bild  wie  vom  Turm  aus, 
aber  das  Bild  der  Stadt  schwindet  zusammen,  es  ordnet  sich  ein  in  die  topo- 
graphischen Verhältnisse.  Man  sieht  bis  auf  den  Grund  der  Daseinsbedingungen : 
von  Berg  und  Tal,  von  Fluß  und  Straßen,  die  von  weither  sich  zusammen- 
schließen, ist  das  Ganze  bestimmt.  Man  liest  Vergangenheit  und  Zukunfts- 
möglichkeit aus  dem  Bilde,  das  sich  ausbreitet,  ab. 

Es  wird  deutlich  sein,  daß  man  auf  alle  drei  Artei  zum  Gesamtbild 
kommt,  auch  daß  jedes  Bild  die  Wirklichkeit  richtig  wiedergibt  und  doch 
in  sich  bei  aller  Ähnlichkeit  im  Ganzen  ein  verschiedenes  Aussehen  zeigt. 
Versuche,  die  Totalität  des  modernen  Lebens  in  einem  Spiegelbild  aufzu- 
fangen, stellen  die  verschiedenen  Systeme  der  höheren  Schulen  dar:  jedes 
beabsichtigt,  das  Ganze  zu  geben,  begreiflich  zu  machen  und  zu  erklären. 
Die  Oberrealschule  führt  lebendig  hinein  in  die  sich  betätigenden  Kräfte 
der  Technik  und  des  Verkehrs. 

Das  Realgymnasium  zeigt  dasselbe  Bild,  aber  läßt  das  Historische  mehr 
hervortreten  und  leitet  durch  seine  Beschäftigung  mit  Latein  und  den  Sprachen 


Wie  ist  heute  der  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  zu  erteilen  ?  331 

derjenigen  Völker,  die  auf  unsere  Geisteskultur  täglich  den  stärksten  Ein- 
fluß ausüben,  zu  vergleichender  Betrachtung  der  Dinge  an. 

Das  Gymnasium  läßt  das  Bild  der  unmittelbaren  Gegenwart  am  engsten 
zusammenschrumpfen  und  betont  am  stärksten  die  Herkunft  aus  der  Ver- 
gangenheit bis  in  die  weite  Ferne  hinein,  die  dem,  der  mitten  im  Brodeln 
der  gegeneinander  ringenden  Kräfte  befangen  ist,  leicht  völlig  aus  dem  Ge- 
sichtskreis gerät.  Von  weither  lehrt  es  die  Kräfte  beobachten,  die  schließlich 
das  mächtige  Bild  der  Gegenwart  beherrschen  und  bedingen.  Es  leitet  an 
zu  perspektivischer  Betrachtung. 

Darin,  daß  alle  drei  Schulformen  dasselbe  Objekt  haben  und  zu  einer 
einheitlichen  Auffassung  seines  Bildes  führen:  darin  liegt  die  Einheitlich- 
keit unseres  Bildungswesens.  Einseitige  Betonung  einer  einzigen  Betrachtungs- 
weise würde  das  geistige  Leben  verkümmern  lassen.  Aus  dem  Nebeneinander 
der  verschiedenen  Betrachtungsarten  ergibt  sich  die  fruchtbarste  Anregung 
und  Bereicherung.  Wer  das  Nebeneinander  der  Schulen  nicht  vertragen 
kann  und  wer  nur  in  äußerer  Einförmigkeit  die  Möglichkeit  der  Einheit 
und  Einheitlichkeit  erblicken  kann,  der  zeigt  im  Grunde  dadurch  nur  die 
Enge  und  Beschränktheit  des  eigenen  Gesichtskreises  an.  Durch  mechanische 
Gleichmacherei,  was  man  so  organisieren  heißt,  läßt  sich  natürlich  eine  Ein- 
heitlichkeit des  Schulwesens  herbeiführen;  eine  wirkliche  Einheitsschule, 
wie  sie  das  Mittelalter  hatte,  hat  zur  Voraussetzung  einen  einheitlichen  Bil- 
dungsbegriff und  der  wieder  eine  einheitliche  Anschauung  vom  Zweck  und 
Wert  des  Lebens.  So  lange  wir  die  nicht  haben,  ist  die  Einheitsschule  nichts 
wie  ein  Traum,  aber  freilich,  da  er  stets  die  Neigung  haben  wird,  sich  mit 
der  Wirklichkeit  gleichzusetzen,  ein  gefährlicher. 

IL 
Welches   ist    die    besondere   Aufgabe   des    humanistischen  Gym- 
nasiums? 

Mit  einem  Wort  gesagt:  die  Erziehung  zu  geschichtlicher  Auffassung 
der  Gegenwart.  Daß  alles  was  ist  geworden  ist  durch  das  Nach-  und  Neben- 
einander treibender  Kräfte,  daß  das,  was  alltäglich  uns  umgibt,  seinen  Ur- 
sprung herleitet  aus  weiten  Fernen  der  Vergangenheit  und  daß  diese  Ver- 
gangenheit wegweisend  auch  heute,  wenn  auch  der  Masse  unbewußt  und 
fast  vergessen,  die  Richtung  bestimmt :  dafür  das  Auge  des  Geistes  zu  schärfen 
und  überhaupt  zu  erziehen,  das  ist  die  vornehme  Aufgabe  des  auf  Griechisch 
und  Latein  aufgebauten  Gymnasiums.  Dies  Wissen  und  Erkennen  so  zu 
verankern,  daß  es  das  Bewußtsein  ausfüllt,  daß  jedes  neu  in  den  Gesichts- 
kreis des  Geistes  eintretende  Phänomen  angesehen  wird  mit  der  Forderung, 
es  in  seiner  geschichtlichen  Bedingtheit  zu  erkennen,  das  scheint  mir  der 
eigentliche  Zweck  des  gymnasialen  Unterrichts  zu  sein. 

Die  Mittel,  die  das  Gymnasium  zur  Erreichung  dieses  Zweckes  benutzen 
kann,  sind  bestimmt  durch  das  Verhältnis,  in  dem  die  Gegenwart  zum  Alter- 
tum der  griechisch-römischen  Zeit  steht.  Die  Abhängigkeit  kommt  in  zwei- 
facher Weise  zum  Ausdruck:  erstens  in  direkter  Bedingtheit  dessen  was 

22* 


332  Cornelius  Hölk, 

jetzt  ist  durch  das  was  im  Altertum  war,  und  zweitens  durch  eine,  wenn 
ich  so  sagen  darf,  indirekte  Bedingtheit. 

Was  da*^  erste  bedeute,  ist  von  vornherein  klar :  in  Spiache,  Sitte,  Religion, 
Kunst,  Brauch,  Kultur  sind  wir  überall  noch  Schüler  und  Nachfahren  der 
Alten.  Wer  die  Gegenwart  begreifen  will  wie  sie  geworden  ist,  kommt  immer 
zu  antiker  Kunst,  Wissenschaft  und  Religion  zurück.  Darauf  die  Aufmerk- 
samkeit der  Jungen  zu  lenken  in  dem  Alter,  wo  das  ganze  Wesen  nach  großen, 
orientierenden  Gesichtspunkten  lechzt,  ist  eine  wundervolle  und  mit  großer 
Kunst  und  gutem  Erfolg  geübte  Aufgabe  des  altsprachlichen  Unterrichts. 

Schwieriger  ist  das  zweite,  schwieriger  deshalb,  weil  die  Spuren  des 
Fortwirkens  des  Alten  in  die  Gegenwart  hinein  nicht  so  handgreiflich  auf- 
zudecken sind.  Daß  Worte  uad  Begriffe  wie  Demokratie  oder  Philosophie 
ins  Altertum  führen,  ist  jedermann  einleuchtend;  daß  auch  Worte  wie  Ge- 
wissen und  ähnliche  durch  Übersetzung  antiker  Begriffe  geschaffene  Worte 
der  Gegenwart  ein  Erbe  der  Alten  darstellen,  das  ist  dem  Ungläubigen  schon 
schwerer  an  den  Verstand  zu  bringen.  Es  wirken  tatsächlich  auch  Dinge 
weiter,  die  vergessen  sein  können.  Mein  Lehrer  Erwin  Rohde  hat  mit  Ein- 
dringlichkeit darauf  hingewiesen:  was  jemals  im  Geistesleben  der  Menschheit 
lebendig  gewesen  ist,  das  kann  wohl  verschwinden,  aber  es  taucht  stets  wieder 
mit  wirkender  Kraft  empor:  desinunt  ista,  non  pereunt. 

Von  den  Völkern  der  Erde,  mit  denen  wir  in  nachweisbarem  Zusammen- 
hang stehen,  hat  allein  die  Welt  der  Griechen  und  Römer  ihr  Dasein  bis  zum 
Ende  ausgelebt.  Sie  haben  Aufstieg,  Höhe  und  Abstieg  durchmessen,  sie 
haben  alle  Probleme  des  Kulturlebens  erfragt  und  erprobt.  Und  sie  haben 
sie  durchlebt  in  frischer  Ursprünglichkeit.  Ob  man  das  Auge  einstellt  auf 
politische  oder  wirtschaftliche  Entwicklung,  auf  Fragen  der  Kunst  oder  der 
Philosophie,  der  Religion  oder  der  Wissenschaft :  im  Altertum  ist  alles  schon 
einmal  durchmessen  was  unsere  Seelen  und  Köpfe  bewegt.  Das  Ich  hat 
gerungen  mit  der  Gesellschaft;  es  hat  gesiegt  und  ist  unterlegen,  es  hat  sich 
verkrochen  und  hat  sich  vorgedrängt,  es  hat  Götter  geschaffen  und  geleugnet. 
Alles,  was  wir  selbst  durchleben  mit  heißer  Leidenschaft,  im  Altertum  hat 
es  seine  Parallele.  Und  eine  Parallele,  die  mit  besonderer  Eindringlichkeit 
zu  uns  redet.  Während  wir  stets  belastet  sind  mit  dem  Ballast  der  Tradition, 
gegen  die  man  sich  sträuben  mag,  die  man  aber  doch  nicht  los  wird;  während 
wir  selbst,  um  zu  den  Problemen  zu  gelangen,  uns  immer  erst  mit  einer  er- 
drückenden Fülle  von  Kontroversen  auseinandersetzen  müssen,  hat  das 
Altertum  mit  einer  entzückenden  und  berückenden  Naivität  aus  kleinen, 
übersichtlichen  Verhältnissen  heraus  unbekümmert  um  das,  was  danach 
kam,  die  Fragen  des  Menschenlebens  durchgekämpft.  Sie  liegen  vor  uns  aus- 
gebreitet mit  einer  Sauberkeit  und  Lehrhaftigkeit,  wie  die  Präparate  in  den 
Sammlungen  der  Naturwissenschaft.  Das  Verwirrende  der  Kontroversen 
und  Diskussionen  ist  durch  den  Aussiebeprozeß  der  Geschichte  untergegangen. 
Wie  die  Ruinen  der  Tempel  und  Basiliken  uns  in  unverhüllter  Schlichtheit 
die  Probleme  der  raumbewältigenden  Kunst  der  Architektur  lehren,  so  zeigen 
uns  die  alten  Autoren,  die  das  Schicksal  uns  erhalten  hat,  in  ursprünglicher 


Wie  ist  heute  der  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  zu  erteilen?  333 

Naivität  und  Nacktheit  die  Kämpfe  um  die  geistigen  Werte,  die  auch  unser 
Dasein  ausfüllen.  Wie  ein  Doppelgänger  der  Menschheitsentwicklung,  so 
läuft  das  Altertum  neben  der  Gegenwart  einher. 

Diesen  Parallelismus  der  Probleme  aufzuzeigen,  die  Grundfragen  des 
Menschenlebens  stellen,  beantworten,  bekämpfen  zu  lehren,  das  ist  die  Auf- 
gabe, die  nach  meiner  Einsicht  das  Altertum  für  unsere  Tage  zu  erfüllen 
hat.  Die  geistig  beweglichste  Jugend  unseres  Volkes  heranzuführen  an  die 
Dinge,  die  die  Kämpfe  unserer  Tage  ausfüllen,  ihnen  in  seiner  ursprünglichen 
Lagerung  das  Problem  zeigen,  sie  bekannt  machen  mit  den  Lösungen,  die 
hochgemute,  frische,  kluge  Menschen  gefunden  haben,  hindeuten  mit  flüchtigem 
Hinweis  auf  die  Analogie  in  der  Gegenwart  und  sie  dann  der  eignen  Kraft 
und  Einsicht  und  sittlichen  Verantwortung  zu  überlassen ;  das  ist  das  Höchste, 
was  das  Altertum  der  Gegenwart  leisten  kann  und  das  es  auch  wirklich  leistet, 
sobald  nur  der  Finger  auf  die  Dinge  hinweist.  Es  ist  nicht  tot.  Es  sprüht 
und  atmet  Leben,  sobald  man  nur  den  Lebensfunken  weckt;  und  das  kann 
jeder,  der  mit  Herz  und  Verstand  die  alten  Autoren  gelesen  hat  und  liebt. 

m. 

Wie   ist   der   Unterricht   nach   diesen   Plänen   zu   gestalten? 

Ich  bemerke,  daß  mir  meine  Gedanken  über  die  Ausgestaltung  des 
altsprachlichen  Unterrichts  durchaus  aus  der  Praxis  erwachsen  sind,  und 
zwar  aus  einer  Praxis  unter  der  Herrschaft  der  Lehrpläne  von  1901.  Das 
heißt  natürlich  nur,  daß  sie  bei  einer  Stundenverteilung,  wie  diese  Lehrpläne 
sie  bieten,  realisierbar  sind.  Als  Oberlehrer  und  Direktor  habe  ich  erfahren, 
daß  es  geht ;  es  muß  nur  Anhängerschaft  gewonnen  werden  für  die  Gedanken, 
so  daß  ein  ganzes  Kollegium  in  einheitlichem  Geist  arbeitet.  Veränderungen 
aber  sind  natürlich  nötig  in  der  Pensenverteilung  und  im  Unterrichtsbetrieb. 

Zu  allererst  ist  nötig,  daß  die  Lehrer  sich  aut  den  Geist  des  neuen  Be- 
triebes einstellen  und  besonders  auch  die  Kenntnisse  erwerben.  Das  wird 
sich  der,  der  außerhalb  der  Schule  steht,  schwieriger  vorstellen  als  es  ist: 
literarische  Hilfsmittel  sind  vorhanden  und  die  Aufgabe,  den  Unterricht 
einzustellen  darauf,  daß  die  direkten  Beziehungen  zwischen  Altertum  und 
Gegenwart  aufgedeckt  werden,  pflegt  nach  meiner  praktischen  Erfahrung 
Lehrern  und  Schülern  gleich  viel  Freude  zu  machen. 

Die  Durchführung  des  zweiten  Zieles,  einer  Art  Parallelisierung  der 
Probleme  von  Altertum  und  Gegenwart,  fordert  eine  erhebliche  Erweiterung 
und  Verschiebung  der  Lektüre.  Darüber  habe  ich  in  dieser  Monatschrift 
1919  S.  346ff.  im  Sinne  der  auch  diesem  Aufsatz  zugrunde  liegenden  Aus- 
führungen gehandelt.  Die  dort  vorgeschlagenen  Lektürepläne  lassen  sich  im 
Rahmen  der  jetzt  zur  Verfügung  stehenden  Zeit|bewältigen. 

Ich  habe  selbst  dort  vorgeschlagen,  den  Umfang  der  Lektüre  durch 
Benutzung  von  Übersetzungen  zu  erweitern.  Es  wird  deshalb  nützlich  sein, 
nachzuweisen,  daß  die  ausschließliche  oder  auch  nur  überwiegende  Einführung 
in  das  Altertum  durch  Übersetzungen  sich  mit  den  Aufgaben,  wie  ich  sie 
gezeichnet  habe,  nicht  verträgt. 


334  Cornelius  Hölk, 

Die  bewußte  Würdigung  der  survivals  des  Alterums  in  der  Gegenwart 
ist  nur  möglich,  wenn  wir  die  alten  Sprachen  gründlich  kennen,  denn  die 
Sprache  ist  das  Mittel,  durch  das  die  geheimnisvolle  Verbindung  erhalten  wird. 
So  wenig  wie  ein  historisches  Verständnis  der  modernen  deutschen  Sprache 
möglich  ist  ohne  Kenntnis  des  Mittelhoch-  und  Altdeutschen,  so  wenig  ist  ein 
Eindringen  in  die  Fortdauer  der  Antike  und  damit  letzten  Endes  die  Art  des 
Verständnisses  der  Gegenwart,  die  das  Gymnasium  beschaffen  will,  mög- 
lich o'-ne  Kenntnis  von  Latein  und  Griechisch.  Dazu  kommt  noch  ein  weiteres 
Moment,  das  sich  nicht  aus  der  Natur  der  besonderen  Lehraufgabe,  die  ich 
schildere,  ergibt,  sondern  aus  der  Gesamterziehungsaufgabe  des  Gymnasiums. 
Mit  das  Wichtigste,  das  die  Schüler  auf  der  Schule  lernen  sollen,  ist,  vernünftig 
und  richtig  zu  lesen.  Das  klingt  sehr  einfach,  vielleicht  für  viele  sogar  banal, 
ist  aber  eine  sehr  ernsthafte  Aufgabe.  Der  schlimmste  Feind  des  vernünftigen 
Lesens  ist  das  flüchtige  Lesen.  Das  aber  wird  dadurch  hervoi  gerufen,  daß 
die  technische  Fähigkeit  des  Lesens  bis  zu  einem  Grade  entwickelt  wird, 
daß  die  Gedanken  nicht  zu  folgen  vermögen.  Die  Augen  fliegen  mit  größter 
Geschwindigkeit  über  die  ZeÜen  dahin,  die  Wortbilder  wechseln  kaleidoskop- 
artig, so  daß  sie  nicht  Zeit  finden,  bis  an  den  Verstand  heranzukommen. 
Das  ist  viel  häufiger  als  der  Nichtlehrer  weiß. 

Wie  soll  man  dem  entgegenwirken?  Das  beste  Mittel  ist  der  Betrieb 
fremder  Sprachen.  Die  kann  man  nicht  so  lesen  wie  die  Muttersprache, 
sie  zwingen  auf  Schritt  und  Tritt,  das  mechanische  Lesen  mit  dem  Nachdenken 
zu  begleiten,  denn  absolut  ohne  Sinn  zu  lesen  geht  gegen  die  menschliche 
Natur.  Auch  das  macht  das  Erlernen  der  alten  Sprachen  und  das  direkte 
Lesen  der  alten  Schriftsteller  in  de  Ursprache  zur  Notwendigkeit,  ganz  ab- 
gesehen von  allen  ästhetischen  und  ethischen  Gründen,  die  man  anführen 
könnte  und  oft  genug  ins  Feld  geführt  hat. 

Also -.wir  müssen  die  alten  Sprachen  gründlich  treiben,  und  die  Aufgabe 
wird  wohl  noch  schwieriger  werden  als  bisher.  Für  den  Schüler  bedeutet 
jeder  Wechsel  des  Schriftstellers  eine  beträchtliche  Steigerung  der  Schwierig- 
keiten; in  welchem  Maß,  das  kann  wohl  nur  der  praktische  Lehrer  wissen. 
Primaner,  die  sich  mit  Thukydides  selbständig  ©''deutlich  abfinden,  straucheln 
an  Xenophonstellen,  wenn  sie  nicht  eingelesen  sind.  Nun  wird  aber  die  neue 
Lektüreordnung  gerade  starken  Wechsel  der  Autoren  und  des  Sprachstils 
bringen.  Also  müssen  die  Schüler  durch  Erlernen  der  Grammatik  nicht  nur 
so  viel  wie  bisher,  sondern  noch  umfangreicher  vorbereitet  werden.  Der 
grammatische  Unterricht  muß  der  neuen  Aufgabe,  die  Sprachen  verschiedener 
Zeitepochen  nebeneinander  zu  verstehen,  gerecht  werden;  das  fordert  einen 
tieferen  Einblick  in  die  Sprachentwicklung  als  bisher  nötig  und  üblich  war. 
Denn  unsere  bisherige  Grammatik  ist  überall  im  letzten  Grunde  auf  Sprach- 
richtigkeit, auf  Klassizität,  zugeschnitten.  Das  aber  hat  wieder  eine  andere 
Folge,  die  vielleicht  manchen,  der  den  Ausführungen  der  früheren  Abschnitte 
zustimmend  gefolgt  ist,  kopfscheu  machen  wird.  Will  ich  die  Schüler  dazu 
bringen,  selbst  richtiges  Latein  zu  schreiben,  so  muß  ich  mich  an  eine  einiger- 
jnaßen  einheitliche  Sprachform  als  die  Norm  halten.    Was  diese  Norm  ver- 


Wie  ist  heute  der  Unterricht  in' den  alten  Sprachen  zu  erteilen?  335 

läßt,  das  gilt  als  verkehrt,  entweder  als  primitive  Vorstufe  oder  als  senile 
Entartung.  Das  hat  zur  Folge,  daß  die  Autoren,  die  in  der  Schule  gelesen 
werden,  in  erster  Linie  danach  gemustert  werden,  ob  sie  das  als  klassisch 
geforderte  Sprachgut  bieten  oder  nicht.  Das  hat  zur  fast  ausschließlichen 
Bevorzugung  des  ciceronianischen  Zeitalters  geführt.  Das  hatte  für  den 
Umfang  der  Lektüre  im  Lateinischen  freilich  nicht  dir  Folge,  die  eine  solche 
Beschränkung  im  Gdechischen  haben  würde.  Da  das  Lateinische  selbst 
Imitationsliteratur  ist,  so  häufen  sich  in  der  durch  Stileinheitlichkeit  sich 
empfehlenden  sogenannten  klassischen  Zeit  auch  die  Autoren,  die  wegen 
ihres  Stoffes  gelesen  werden  müssen.  Aber  den  neuen  Lektüregrundsätzen 
wird  auch  dies  nicht  genügen;  die  Lektüre  wird  viel  weiter  greifen,  nach 
rückwärts  und  nach  vorwärts.  Also  ist  unvermeidlich  ein  Bruch  mit  dem 
Grundsatz  der  Einheitlichkeit  des  Sprachgutes.  Breche  ich  aber  damit, 
so  kann  ich  unmöglich  noch  festhalten  an  einer  Unterrichtsorientierung, 
die  diese  Einheitlichkeit  zur  notwendigen  Voraussetzung  hat.  Das  ist  aber 
die  Übersetzung  aus  dem  Deutschen  in  das  Lateinische.  Wir  werden  sie 
aufgeben  müssen,  weil  wir  sie  einfach  nicht  mehr  so  werden  beschaffen  können, 
daß  Lehrer  und  Schüler  an  der  Sache  Freude  haben  können.  Das  Latein 
wird  behandelt  werden  müssen  wie  das  Griechische :  Übersetzungen  ins  Latein 
werden  gemacht  wenden,  solange  sie  zur  Einübung  der  Elemente  nötig  sind. 
Sind  die  erledigt,  also  etwa  wenn  es  gut  geht  von  Uli  ab,  sonst  von  0  II 
ab,  dann  tritt  ausschließlich  die  Übersetzung  in  die  Muttersprache  ein,  vor- 
bereitet und  gefördert  durch  die  neue  Form  von  Arbeiten,  die  ich  unter  dem 
Namen  von  Analysen  und  Diskussionen  im  letzten  Jahrgang  des  Soki*ates 
behandelt  habe.  Scheidet  aber  aus  dem  Grammatikbetrieb  die  Aufgabe  aus, 
zu  der  Übersetzung  aus  der  Muttersprache  ins  Latein  vorzubereiten,  so  wird 
erhebliche  Zeit  gewonnen,  die  die  von  mir  geforderte  Ausdehnung  der  Gram- 
matik und  erhebliche   Erweiterung  der  Lektüre  gestattet. 

Ich  weiß,  daß  manchen,  vielleicht  vielen  der  erprobtesten  Freunde  des 
Gymnasiums  der  von  mir  geforderte  Verzicht  auf  das  scriptum  unmöglich 
erscheinen  wird,  und  ich  kann  sehr  gut  verstehen,  weshalb  man  gerade  hierin 
eine  Sache  c^blicken  kann,  auf  die  man  nicht  verzichten  dürfe,  ohne  dem 
Gymnasium  Innern  Abbruch  zu  tun.  In  der  Übersetzung  ins  Latein  liegt 
zweifellos  eine  außerordentliche  Bildungsmöglichkeit.  Die  geistige  Beweg- 
lichkeit, die  unsere  Gymnasiasten  auszeichnet,  ihre  sprachliche  Gewandtheit, 
die  ihnen  im  Leben  nachher  so  sehr  zugute  kommt,  verdanken  sie  sicherlich 
zum  großen  Teil  diesen  für  die  formale  Bildung  so  außerordentlich  gesunden 
Übungen.  Es  wird  sicher  nicht  leicht  sein,  für  die  Übung,  die  in  der  Unter- 
scheidung all  der  Finessen  liegt,  die  erst  zutage  treten,  wenn  man  aus  dem 
Deutschen  ins  Latein  übersetzen  soll,  einen  ausreichenden  und  vollgültigen 
Ersatz  zu  schaffen.  Ich  habe  auch  an  mir  selbst  und  meinen  Schülern  den 
reichen  Segen  dieser  Übungen  dankbar  erfahren.  Aber  trotzdem  glaube  ich, 
daß  der  Verzicht  unvermeidlich  ist.  Der  Betrieb  des  gymnasialen  Unterrichts 
muß  die  Richtung  nehmen,  die  ich  geschildert  habe,  das  verlangt  die  allge- 
meine Stellung  unserer  Zeit  zum  Altertum;  dann  ist  aber  nicht  möglich, 


336  Cornelius  Hölk, 

die  Lektüre  auf  die  Autoren  zu  beschränken,  deren  fast  ausschließlichen 
Betrieb  das  Lehrziel  des  Hinübersetzens  fc-dert.  Also  muß  die  Übersetzung 
fallen. 

IV. 
Wie    ist    nun,    bei    solcher    Zielbestimmung    und    Ausdehnung 
des    altsprachlichen     Unterrichts,    der    Betrieb    des    gramma- 
tischen  Unterrichts   einzurichten? 

Daß  unser  auf  Jahrhunderte  langer  praktischer  Schulmeistererfahrung 
aufgebauter  grammatischer  Unterricht  für  die  Ausbildung  der  Geister  Her- 
vorragendes geleistet  hat,  daß  er  für  die  Erziehung  zu  vernünftigem  und  sorg- 
samem Lesen  vortrefflich  erzogen  hat  und  auch  jetzt  noch  erziehen  kann, 
daß  er  auf  die  Menschen,  die  ihn  erfahren  haben,  eine  energische  Beeinflussung 
nach  der  Richtung  des  logischen  Aufbaues  der  Sprache  ausgeübt  hat,  das 
kann  keiner  leugnen,  der  imstande  ist,  die  .Jungen  zu  vergleichen  in  den  ver- 
schiedenen Stadien  ihrer  geistigen  Entwicklung.  Daß  ich  auch  selbst  mir 
dessen  klar  bewußt  bin,  habe  ich  soeben  ausgeführt.  Als  ich  noch  neben 
dem  Gymnasium  ein  Realgymnasium  zu  vei walten  hatte,  hab*"  ich  wiedei- 
holt,  für  die  Schüler  überraschend,  den  Parallelklassen  der  beiden  Anstalten 
dasselbe  deutsche  Aufsatzthema  gestellt.  Da  war  nicht  nur  uns  Lehrern, 
sondern  auch  den  Schülern  deutlich,  von  wie  starkem  Einfluß  der  stärkere 
grammatische  Betrieb  auf  dem  Gymnasium  für  die  Ausbildung  der  Fähigkeit 
zu  gewandtem  Ausdruck  ist. 

Augenblicklich  hört  man  ja  freilich  besonders  von  Literaten  öfter  den 
Standpunkt  vertreten,  daß  es  viel  eher  Ziel  des  Unterrichts  sein  müsse,  zu 
schönem  als  zu  richtigem  Ausdruck  zu  erziehen.  Ich  kann  mir  nicht  vorstellen, 
daß  diese  Gedankenrichtung  von  Dauer  sein  kann;  in  der  Beziehung  bin 
ich  wirklich  Utilitarist.  Es  kommt  darauf  an,  die  Jugend  in  der  Richtung 
zu  beeinflussen,  daß  sie  ihren  Ehrgeiz  in  Schlichtheit  und  Klarheit  und  Spar- 
samkeit auch  in  dieser  Beziehung  setzt  statt  in  Rhetorik  und  Scheinpoesie. 

Wir  müssen  also  meines  Erachtens  an  straffer  grammatischer  Zucht 
des  Unterrichts  unbedingt  festhalten. 

Darum  kann  man  sich  sehr  wohl  die  Frage  vorlegen,  ob  der  jetzige  Be- 
trieb der  Grammatik  nicht  trotzdem  einer  inneren  Umorientierung  bedarf. 

Wer  im  Betrieb  des  Schulunterrichts  mitten  drin  steht,  der  kann  sich 
der  Erkenntnis  nicht  verschließen,  daß  der  Grundsatz,  von  dem  ich  aus- 
ging: nämlich  daß  der  Sprachbetrieb  nicht  Selbstzweck  sein  dürfe,  sondern 
nur  zu  betreiben  sei  als  Mittel  zum  Zweck  der  Lektüre:  daß  dieser  Grund- 
satz oft  vergessen  scheint.  Von  unten  bis  oben  ist  die  Handhabung  des  gram- 
matischen Betriebes  meist  die,  daß  das  Eindringen  in  das  fein  verästelte 
Gebäude  der  begrifflichen  Distinktionen  um  seiner  selbst  willen  geübt  wird. 
Man  hat  ja  sogar  ein  eigenes  Schlagwort  um  dessentwillen  erfunden:  das 
Wort  von  der  formalen  Bildung.  Die  Schule  darf  aber,  so  wie  heute  die  Kultur^ 
aufgäbe  des  humanistischen  Gymnasiums  ist,  nicht  Fachschule  [für  Philo- 
logen sein:  das  üble  Wort,  das  Unverstand  geprägt  hat,  von  der  Präparande 
für  Philologen  muß  davor  warnen. 


Wie  ist  heute  der  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  zu  erteilen?  337 

Ich  habe  nach  zwei  Richtungen  an  dem  jetzigen  Betrieb  des  gramma- 
tischen Unterrichts  AussteUungen  zu  machen. 

I.  Der  Aufbau  unserer  Grammatiken,  der  wissenschaftlichen  wie  der 
Schulgrammatiken  ist  —  mit  wenig  Ausnahmen  —  gegliedert  nach  den  Wo^^t- 
arten.  Wenn  ich  von  der  Formenlehre  absehe,  wo  die  Einteilung  nach  Wort- 
arten selbstverständlich  die  einzig  gerechtfertigte  ist,  —  auch  die  Syntax 
ist  nach  demselben  Prinzip  geordnet :  wir  unterscheiden  Syntax  des  Verbums 
und  des  nomens  nach  seinen  Arten,  der  Adverbien,  der  Konjunktionen, 
der  Partikeln.  Diese  Einteilung  geht  auf  die  antiken  Grammatiker  zurück, 
für  uns  greifbar  auf  das  System  der  Stoiker,  d'^m  Gedanken  nach  abc  auf 
Piaton.  Was  hat  diese  Einteilung  für  einen  Siin?  Ihre  Voraussetzung  ist 
doch  offenbar,  daß  im  einzelnen  Wort,  der  Wortart,  die  Entwicklung  mög- 
lichkeiten  des  Gebrauchs  innerlich  beschlossen  seien,  wie  im  platonischen 
Begriff  die  Summe  der  Erscheinungsformen.  Nun  glauben  wir  aber  nicht 
mehr  an  die  Richtigkeit  diese  Weges  von  oben  nach  unten.  Unser  Denken 
und  Forschen  geht  den  umgekehrten  Weg:  von  unten  nach  oben,  von  der 
Erscheinungsform  zum  Gesetz.  Da  ist  aber  der  Ausgangspunkt  nicht  das 
einzelne  Woit,  sondern  der  Satz,  dessen  Teile  die  Worte  sind.  Also  muß, 
wie  das  auch  Wundt  in  seiner  Völkerpsychologie  ausführt,  der  Ausgang  ge- 
nommen werden  vom  Satz  und  seinen  Gliedern.  Dann  kommen  wir  in  der 
Sprache  zu  einer  Betrachtungsweise  wie  sie  die  Naturwissenschaft  in  der 
Biologie  durchgeführt  hat,  einem  induktiven  Verfahren,  das  zu  einer  Art 
Teleologie  der  Sprache  hinführt.  So  wird  auch  in  der  Wissenschaft  tatsäch- 
lich die  Forschung  betrieben.  Es  wird  unumgänglich  sein,  auch  die  Form  der 
Darstellung  diesem  Wege  anzupassen. 

2.  Paulsen  hat  mit  umfassender  Kenntnis  darauf  hingewiesen,  daß 
das  Ziel  des  Sprachunterrichts  durch  die  langen  Jahrhunderte  die  imitatio 
gewesen  sei.  Paulsen  meint,  den  großen  Strich  zwischen  dem  Alten,  das 
obsolet  geworden  sei,  und  dem  Neuen,  das  zur  Entwicklung  dränge,  in  dem 
Aufkommen  des  Neuhumanismus  zu  finden.  Das  ist  meines  Erachtens  nicht 
ganz  richtig.  Der  Neuhumanismus  bedeutet  ohne  Zweifel  eine  wichtige 
Epoche,  aber  er  ist  im  Grunde  doch  auch  noch  in  der  Forderung  der  imitatio 
befangen.  Den  wirklichen  Schritt  ins  Neue  hat  erst  die  aus  dem  Neuhumanis- 
mus und  der  Romantik  herausgekommene  Wissenschaft  gemacht,  die  man 
mit  dem  Schlagwort  des  Historismus  hat  brandmarken  wollen.  Da  kommt 
erst  die  innere  Umstellung  des  Verhältnisses  zwischen  Altertum  und  Gegen- 
wart. Uns  ist  das  Altertum  jetzt  nicht  mehr  das  Vorbild,  durch  dessen  Nach- 
ahmung wir  erst  zur  Entwicklung  unserer  eignen  Kultur  zu  ihrer  Höhe  ge- 
langen können,  sondern  eine  Parallelerscheinung  neben  andern,  freilich  eine 
Parallelerscheinung,  die  vermöge  der  besondern  Umstände  ihrer  Entstehung 
und  Entwicklung  von  dem  allergrößten  Wert  für  alle  Menschheitsentwick- 
lung ist.     Darüber  habe  ich  vorhin  gesprochen. 

Unser  Grammatikbetrieb  aber  ist  noch  völlig  auf  das  Ziel  der  imitatio 
eingestellt.  Unbillig  wäre  es  freilich,  nicht  zu  bemerken  und  zuzugestehen, 
daß  wir  mitten  drin  sind,  den  alten  Weg  zu  verlassen,  aber  zur  grundsätz- 


338  ;    Cornelius  Hölk, 

liehen  Umstellung  des  Betriebes  von  der  Zentrale  aus  hat  man  sich  noch  nicht 
entschlossen.  Wir  haben  die  Masse  der  Regeln  verkleinert.  Wir  haben  uns 
beschränkt  auf  das,  was  für  die  Aufgabe  der  Schule,  Lektüre  bestimmter 
Autoren  zu  treiben,  wichtig  ist;  wir  haben  an  Formen  und  syntaktischen 
Velleitäten  vielerlei  beseitigt,  was  nur  opus  operatum  schien.  Das  berühmte 
tantum  abest  ut — ut  spielt  nicht  mehr  die  Rolle  wie  noch  vor  30 — 40  Jahren, 
um  ein  Beispiel  zu  nennen.  Aber  wir  sind  in  einer  mechanischen  Einschrän- 
kung stehen  geblieben,  treiben  die,  wie  es  so  geht,  zu  weit,  so  daß  jetzt  sogar 
an  der  herkömmlichen  unentbehrlichen  Terminologie  gerüttelt  wird.  Aber 
das  Wesentliche  ist  meines  Erachtens  bisher  versäumt.  Im  Grunde  wird  die 
Grammatik  immer  noch  ausschließlich  eingestellt  auf  die  Divergenzen  zwischen 
den  alten  Sprachen  und  der  Muttersprache,  und  zwar  aus  dem  Gesichts- 
punkt heraus,  daß  ein  Wer  tmaßstab  angelegt  wird  und  alles  darauf  zugeschnitten 
wird,  das  eine  als  vollkommener,  logischer,  besser  darzustellen  als  das  andere. 
Wir  sind  noch  im  Bann  der  imitatio.  Notwendig  ist  aber,  die  Grammatik 
einzustellen  auf  das,  was  die  vergleichende  Sprachwissenschaft  in  ihrem  Namen 
lehrt :  die  Betrachtung  der  Sprachen  als  Parallelerscheinurif^en.  Der  mensch- 
liche Geist  hat  zu  allen  Zeiten  und  in  allen  Sprachen  dasselbe  Ziel  verfolgt: 
die  verständliche  Darstellung  des  Gedankens,  so  verständlich,  daß  sie  auch 
dem  andern  an  den  Verstand  dringt.  In  den  Ausdrucksweisen  sind  die  Sprachen 
verschiedene  Wege  gewandelt.  Das  bedeutet  Erstreben  desselben  Zieles 
mit  verschieden  gestalteten  Mitteln. 

Aufgabe  des  grammatischen  Unterrichts  muß  sein,  Kenntnis  und  Ver- 
ständnis dafür  zu  wecken,  daß  es  eben  verschiedene  Wege  zum  Ziel  gibt 
und  daß  der  Unterschied  von  Völkern  und  Sprachen  in  diesen  Verschieden- 
heiten liegt.  Die  Grammatik  muß  lehren,  den  Weg,  den  die  eine  Sprache 
einschlug,  umzusetzen  und  umzuschalten  auf  den,  den  die  andere  Sprache 
sich  geschaffen  hat. 

Was  die  Mathematik  mit  ihrem  Ziele  anstrebt,  die  Gebilde  nicht  als 
starre,  unveränderlichen  Dinge  aufzufassen,  sondern  als  veränderlich  zu  sehen 
und  in  ihrer  Bedingtheit  und  Wandelbarkeit  zu  erfassen,  das  muß  auch  die 
Sprache  anstreben  in  ihrem  grammatischen  Aufbau  und  Unterricht. 

Das  läuft  auf  das  hinaus,  wohin  mich  vorhin  eine  anders  orientierte 
Betrachtung  geführt  hat:  die  Grammatik  darf  nicht  mehr  ausgehen  vom 
Einzelwort,  von  der  Wortart,  sondern  muß  ausgehen  von  der  Verwendung 
des  Einzelwortes  im  Satz,  der  ihm  erst  Leben  gibt,  also  vom  Satzglied.  Von 
Subjekt  und  Objekt,  von  Prädikat  und  Attribut  und  Adverb  muß  die  Syntax 
künftig  bestimmt  sein. 

So  verfährt  übrigens  im  Ganzen  schon  das  ausgezeichnete  Schulbuch, 
das   Reinhardt  für  die  Reformgymnasien  verfaßt  hat. 

V. 

Auf  welche  grammatischen  Kenntnisse  kommt  es  vorzugsweise 
an,  wenn  der  Unterricht  ganz  auf  Lektüre  gestellt  ist? 


Wie  ist  heute  der  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  zu  erteilen?  339 

Die  Grammatiken  und  Übungsbücher  tragen  in  einigermaßen  ausreichendem 
Maße  dem  Rechnung,  was  der  Unterricht  in  der  von  mir  für  notwendig  ge- 
haltenen Orientierung  fordern  muß,  in  bezug  auf  Vokabelkenntnis  und  auch 
Wortbildungslehre;  in  letzterer  muß  freilich  die  Fähigkeit  der  Schüler,  die 
Wortverwandtschaft  zu  erkennen  und  dadurch  in  den  Stand  gesetzt  zu  werden, 
auf  der  Grundlage  der  ihnen  bekannten  Wörter  den  Sinn  der  ihnen  be- 
gegnenden unbekannten  nicht  zu  erraten,  sondern  zu  erschließen,  noch  ge- 
steigert werden.  Von  der  Etymologie  wird  überall  da  reichlicher  Gebrauch 
gemacht,  wo  die  Verwandtschaft  augenfällig  zutage  tritt;  dafür  gibt  es  auch 
s^,hr  brauchbare  Hilfsmittel.  Woran  es  nach  meiner  Beobachtung  noch  fehlt, 
das  ist  die  Ausnutzung  der  Ablautsreihen  zur  Erkenntnis  der  Wortverwandt- 
schaft. Daß  disco  und  doceo  mit  decet  und  decus  zusammenhängt  —  auch 
dignus  hängt  damit  zusammen,  das  also  eigentlich  bedeutet:  geziert,  wodurch 
sich  der  Kasusgebrauch  so  einfach  ei klärt  —  müssen  die  Jungen  erkennen 
können.  Auch  Ablautreihen  wie:  griechisch  f.iv^f.iwv,  reminisci  (memini) 
mens,  moneo  müssen  erkannt  werden  können.  Wenn  in  V  die  unregel- 
mäßigen Verben  gelernt  sind,  muß  etwa  in  III  einmal  die  Feststellung  der  wich- 
tigsten Ablautreihen  erfolgen  und  so  fest  verankert  werden,  daß  der  Vokabel- 
kenntnis daher  bedeutende  Hilfe  erwächst. 

Wo  ich  aber  die  Hilfe  der  Grammatiken  oft  sehr,  manchmal  durchaus 
vermißt  habe,  das  ist 

1.  die   Bedeutungsentwicklung   der   Worte. 

Mir  hat  die  stets  sich  steigernde  Arbeit  im  Beruf  nicht  die  Zeit  gelassen, 
selbst  die  Fülle  des  Stoffes  durchzuarbeiten,  um  zu  einer  einigermaßen  syste- 
matischen Darstellung  der  Sache  zu  kommen.  Für  die  Schule  wäre  das  eine 
außerordentlich  wichtige  Hilfe.  Auf  einige  Punkte,  die  ich  mir  im  Laufe 
der  Jahre  zusammengesucht  habe  und  die  ich  für  die  Verwertung  im  Unter- 
richt als  praktisch  erprobt  habe,  möchte  ich  hinweisen. 

A.  Die  von  verben  gebildeten  nomina  gelten  zugleich  für  die  beiden 
genera  des  verbums,  das  Aktiv  und  das  Passiv.  Cauer  hat  darauf  in  der  Gram- 
matica  militans  hingewiesen.  Auszugehen  ist  da  von  der  Muttersprache, 
z.  B.  den  Substantiven  auf  -ung,  die  sowohl  den  Begriff  des  aktiven  als  des 
passiven  verbums  darstellen :  Erziehung  ist  das  Erziehen  und  das  Erzogen- 
werden oder  Erzogensein;  ebenso  steht  es  im  Latein  mit  den  Substantiven 
auf  -io,  im  Griechischen  mit  denen  auf  -g;  ebenso  steht  es  mit  den 
Adjektiven. 

Die  Sprachen  haben  dann  die  Tendenz,  wenn  das  Bedürfnis  sich  dazu 
herausstellt,  zur  Bildung  von  besonderen  nomina  zu  schreiten  für  jede  der 
vorhandenen  Bedeutungen,  aber  sie  sind  darin  von  ganz  verschiedener  Elasti- 
zität und  Biegsamkeit. 

B.  Nietzsche  weist  einmal  darauf  hin,  daß  die  Sprache  den  Weg  schreitet 
zur  Entkörperung  der  Begriffe.  Das  ist  besonders  deutlich  bei  den  Worten, 
die  ursprünglich  lokalen  Sinn  haben,  dann  aber  auch  in  anderer  Bedeutung 


340  Cornelius  Hölk, 

vorkommen.    Da  liegt   eine  Entwicklungsreihe   vor  vom  Lokalen  über  das 
Temporale  zum  Logischen. 

Inde  heißt  ursprünglich:  von  da;  dann  zeitlich:  darauf;  dann  logisch: 
daher,  deshalb. 

C.  In  einer  Anmerkung  seines  Lesebuchs  wendet  Wilamowitz  für  Aus- 
drücke wie  y^ÖQig,  die  ein  Verhältnis  bezeichnen,  die  treffende  Benennung 
reciprok  an.  Das  ist  eine  für  die  Schule  sehr  fruchtbare  Betrachtungsart. 
Daß  die  Zahlen,  die  miteinander  multipliziert  1  ergeben,  reciprok  sind,  ist 
den  Jungen  meist  schon  in  III  bekannt;  daß  fides,  gratia,  religio  usw.  ein 
Verhältnis  bezeichnen,  verstehen  sie  sofort,  sehen  auch  leicht  bei  gegebener 
Gelegenheit  ein,  daß  die  Worte,  die  zur  Übersetzung  dieser  Worte  verwandt 
werden  müssen,  ähnlich  gelagert  sind  wie  reciproke  Zahlen,  und  sie  gewinnen 
leicht  eine  förmliche  Virtuosität  darin,  das  brauchbare  Wort  in  unserer  Sprache, 
die  in  der  Herausdifferenzierung  der  Worte  sehr  weit  gegangen  ist,  zu  finden 
dort,  wo  die  alten  Sprachen  sich  mit  dem  prägnanten  Wort  begnügen. 

fides  ist  Treue;  von  selten  des  Herren  zum  Diener  angesehen:  Wohl- 
wollen, von  Seiten  des  Dieners  zum  Herrn:  Zuverlässigkeit  oder  Gehorsam 
oder  Ähnliches. 

Religio;  bei  den  Alten:  Furcht  und  Macht;  bei  den  Christen:  Glaube 
und  Liebe. 

2.  Übersetzung  der  einzelnen   Satzglieder. 

Noch  mehr  als  bei  diesen  Dingen  vermißt  man  die  Hilfe  der  Gramma- 
tiken dort,  wo  es  sich  darum  handelt,  die  einzelnen  Satzglieder  aus  der  starren 
Gebundenheit  zu  lösen,  in  der  sie  sich  nicht  befinden,  in  die  sie  aber  hinein- 
geraten, wenn  mechanisch  die  Gleichung  zwischen  dem  fremden  Wort  und 
der  dafür  gelernten  Bedeutung  oder  Übersetzung  durchgeführt  wird.  In 
Wirklichkeit  erhält  doch  jedes  Wort  seinen  Sinn  erst  durch  den  Zusammen- 
hang, in  dem  es  steht,  und  die  verschiedenen  Sprachen  haben  eben  ver- 
schiedene Formen  ausgebildet,  in  denen  sie  die  Satzglieder  erscheinen  lassen. 
Ein  Beispiel  mag  das  erklären.  Im  Deutschen  haben  wir  drei  Formen  des 
Attributs,  oder  wenn  man  den  Begriff  der  Apposition  nicht  aufgibt,  vier, 
nämlich : 

a)  gebildet  durch  ein  Substantiv  oder  Adjektiv  oder  Partizip  im  gleichen 
casus, 

b)  gebildet  durch  ein  Substantiv  im  Genitiv, 

c)  gebildet  durch  einen  adverbialen  Ausdruck,  in  der  Regel  Substantiv 
mit  Präposition. 

Alle  drei  Formen  haben  den  Zweck,  eine  enge  Verbindung  des  Attributs 
mit  dem  Wort,  wozu  es  gehört,  herbeizuführen.  Inhaltlich  betrachtet  ist 
das  Attribut  die  organische  Eingliederung  eines  Prädikats  in  ein  anderes 
Urteil.  Vollkommen  durchgeführt  ist  diese  Eingliederung,  wenn  die  Sprache 
zur  Bildung  eines  Adjektivums  fortgeschritten  ist;  hat  sich  das  Bedürfnis 
danach  nicht  herausgestellt,  so  hilft  man  sich  mit  einem,  wie  ich  das  mit 
meinen  Schülern  in  Anlehnung  an  einen  im  Krieg  aufgekommenen  Begriff 
nenne,  mit  einem  Adjektiversatz,  der  gebildet  wird  durch  Subst.  im  Gen. 


Wie  ist  heute  der  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  zu  erteilen?  341 

oder  Subst.  m.  Präpos.  Erweitert  kann  dies  Attribut  der  einfachsten  Form 
werden,  wenn  das  die  Deutlichkeit  fordert,  durch  Hinzufügung  eines  Parti- 
zipiums, zu  dem  dann  das  Subst.  m.  Präp.  als  Adverb  tritt,  oder  durch  Um- 
wandlung in  einen  Relativsatz.  Auch  die  Stellung  des  Attributs  kann  ver- 
schieden sein:  es  kann  zwischen  Artikel  und  Substantiv  stehen,  dann  wird 
es  flektiert,  oder  es  kann  unflektiert  lose  dranhängen. 

Alle  diese  verschiedenen  Formen  des  Attributs  sind,  auf  ihren  Inhalt 
und  logischen  Wert  betrachtet,  einander  gleichwertig ;  es  bedeutet  also  keine 
Verschiebung  in  der  Struktur  des  Gedankens,  wenn  ich  eines  durch  das  andere 
ersetze.  Das  ist  nur  eine  Geschmacks  frage,  die  durch  das  Sprachgefühl  ent- 
schieden wird,  d.  h.  durch  die  unbewußte  Auswirkung  des  Sprachbesitzes 
und  Sprachbewußtseins.  Der  Wesensunterschied  der  Sprachen  kommt 
zum  Ausdruck  in  der  Richtung,  in  der  sie  die  vorhandenen  syntaktischen 
Bildungsmöglichkeiten  ausgestalten:  im  Deutschen  ist  wie  im  Griechischen 
die  Neigung  zur  losen  Gliederung  stark;  besonders  in  der  Form  des  adver- 
bialen Ausdrucks  (Adverb  und  Substantiv  mit  Präposition)  kann  in  weitest 
gehendem  Maße  Verbindung  von  Begriffen  zu  einem  Begriffskomplex  durch- 
geführt werden;  im  Lateinischen  ist  das  Streben  nach  strafferer  Bindung 
unverkennbar:  das  Attribut  gebildet  durch  Subst.  m.  Präp.  ist  verhältnis- 
mäßig selten,  für  den  Schüler  eigentlich  beschränkt  auf  die  von  Verben  her- 
geleiteten Substantive,  bei  denen  die  verbale  Herkunft  noch  durchschimmert, 
dagegen  die  Neigung  zur  Adjektivbildung  oder  zum  Ersatz  des  Attributs 
durch  Partizipialkonstruktion  vorherrschend. 

Die  Behandlung  des  Adjektiversatzes  ist  eine  andere,  wenn  die  Ver- 
wendung als  Prädikativum  vorkommt,  wie  sie  beim  Attribut  ist.  Im  Deutschen 
ist  der  Gebrauch  des  Adjektiversatzes  durch  Substantiv  im  Genitiv  in  der 
Prädikatsverwendung  ganz  ungewöhnlich,  nur  auf  wenige  Redensarten  be- 
schränkt wie:  er  ist  des  Todes  oder  des  Teufels,  wo  mir  lateinische  Anlehnung 
wahrscheinlich  ist,  im  Lateinischen  weit  verbreitet.  Da  muß  die  Übersetzung 
über  den  Kreis  der  Worte  hinausgehen  und  zum  Ausdruck  bringen,  was  dem 
Sinne  nach  durch  den  Genitiv  ausgesprochen  wird:  das  Haus  ist  Eigentum 
des  Vaters  oder  gehört  dem  Vater;  Tapferkeit  ist  Eigenschaft  oder  Pflicht 
des  Soldaten,  je  nachdem  es  sich  um  materiellen  oder  geistigen  Besitz  handelt 
und  je  nachdem  das  Besitzverhältnis  wirklich  oder  nur  möglich  ist.  Die 
Abneigung,  die  das  Latein  gegen  den  Adjektiversatz  gebildet  durch  Subst. 
m.  Präp.  als  Attribut  hat,  ist  bei  der  Verwendung  als  Prädikativum  nicht 
vorhanden.  Wird  die  Grammatik  eingestellt  auf  die  Beobachtung  der  Ver- 
änderungsmöglichkeiten, so  leistet  sie  der  Fähigkeit  zum  Übersetzen  des 
Gedankens  von  der  einen  Sprache  in  die  andere  den  größten  Dienst.  Worauf 
es  für  uns  in  der  Schule  ankommt,  das  ist,  daß  die  Grammatiken  eine  sche- 
matische Aufstellung  dafür  bieten,  wie  die  Sprachen  die  in  der  Struktur 
des  Gedankens  notwendigen  Einzelglieder  sprachlich  auszubilden  tätig  ge- 
wesen sind.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  die  Betrachtung  der  Fälle,  wo 
von  dem  einen  genus  ins  andere  übergegangen  wird,  z.  B.  vom  Adverb  zum 
Attribut  und  umgekehrt  usw. 


342  Cornelius  Hölk, 

Die  Betrachtung  auf  die  andern  Satzglieder  wie  Subjekt,  Objekt,  Prädikat, 
Adverb  auszudehnen,  würde  zu  weit  führen,  ist  auch  meiner  Ansicht  nach 
jetzt  überflüssig,  da  das  was  ich  zeigen  sollte,  aus  dem  was  ich  über  das  Attri- 
but ausgeführt  habe,  zur  Genüge  klar  sein  wird. 

3.    Übersetzung     des     logischen      Verhältnisses,     in     dem     die 
Gedanken   zu   einander  stehen. 
Ebenfalls  lassen  einen  die  Grammatiken  in  Stich,  wenn  man  mit  der 
Zusammenballung  mehrerer  Sätze  zu  einer  Periode,  einem  Satzgefüge,  Schwie- 
rigkeiten hat.    Darin  ist  gerade  die  Umsetzung  aus  den  alten  Sprachen  mit 
ihrer  beherrschenden  Neigung  zur  Periodisierung  in  die  deutsche  mit  ihrer 
Tendenz  zur  Auflösung  in  kleine  Satzgebilde  schwierig.     Die  Grammatiken 
betrachten  diese  Dinge  recht  einseitig,  der  Hauptsatz  steht  für  sich  da  und 
auch  der  Nebensatz  für  sich,  höchstens  in  seiner  Beziehung  zum  übergeord- 
neten Gedanken  betrachtet.  InWirklichkeit  ist  aber  die  Beziehung  eine  wechsel- 
seitige. Ein  Beispiel  mag  das  erklären:  nehme  ich  die  beiden  Sätze:  die  Sonne 
scheint,  es  ist  hell,  so  besteht  zwischen  beiden  das  Verhältnis  der  Kausalität, 
von  Ursache  und  Wirkung.    Das  kann  zum  Ausdruck  gebracht  werden,  kann 
auch  weggelassen  werden,  wobei  es  denn  doch  existiert.   Wird  es  ausgedrückt, 
kann  das  in  der  Form  der  Parataxe  und  der  Hypotaxe  geschehen  und  zwar 
betrachtet  von  jedem  der  beiden  Urteile  aus.    Jedesmal  wird  das  Verhältnis 
der  Kausalität  mit  voller  Klarheit  ausgedrückt.    Die  Sätze: 
Die  Sonne  scheint;  daher  ist  es  hell. 
Es  ist  hell,  denn  die  Sonne  scheint. 
Weil  die  Sonne  scheint,  ist  es  hell. 
Die  Sonne  scheint  so,  daß  es  hell  ist 
drücken  alle  dasselbe  aus  und  können  je  nach  Belieben  für  einander  eintreten, 
ohne  den  Gedanken  zu  verändern. 

Wird   aus   irgendeinem    Grunde   das   bestehende    Kausalitätsverhältnis 
nicht  verwirklicht,  so  habe  ich  das  konzessive  Verhältnis: 
Die  Sonne  scheint;  trotzdem  ist  es  nicht  hell. 
Es  ist  nicht  hell;  dennoch  scheint  die  Sonne. 
Obgleich  die  Sonne  scheint,  ist  es  doch  nicht  hell. 
Die  Sonne  scheint,  so  daß  es  eigentlich  hell  sein  müßte. 
Wird  betont,  daß  das  vorhandene  Kausalitätsverhältnis  nicht  als  wirklich 
ausgedrückt  werden  soll,  sondern  nur  als  Annahme  hingestellt  wird,  so  er- 
halte ich:  Wenn  die  Sonne  scheint,  ist  es  hell. 

Wird  der  Charakter  der  reinen  Fiktion  noch  stärker  betont,  mit  einem 
Einschlag  nach  der  Richtung,  daß  der  Sprechende  entweder  an  die  Realität 
glaubt  oder  nicht  glaubt,  so  erhalte  ich: 

Wenn  die  Sonne  schiene,  würde  es  hell  sein 
Wenn  die  Sonne  geschienen  hätte,  würde  es  hell  gewesen  sein. 
Wird   das   Kausalitätsverhältnis   als   Wirkung  eines  sich   betätigenden 
Willens  dargestellt,  so  bekommt  man: 

Die  Sonne  scheint,  damit  es  hell  sei. 

Wenn  es  hell  sein  soll,  muß  die  Sonne  scheinen. 


Wie  ist  heute  der  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  zu  erteilen?  343 

Begnügt  man  sich  mit  der  Vorstufe  des  kausalen  Verhältnisses,  dem 
posthoc  statt  propter  hoc,  so  erhält  man:  die  Sonne  scheint,  dann  ist  es  hell, 
mit  seinen  Abwandlungen  in  den  Nebensätzen  mit  als,  nachdem,  bevor. 
Große  Schwierigkeiten  machen  beim  Übersetzen  die  Sätze,  bei  denen  etwa 
das  Relativum  oder  Fragewort  von  einem  subordinierten  Partizipium  in 
seinem  Kasus  bestimmt  ist  und  zugleich  für  das  Hauptverbum  in  ein^^m 
andern  Kasus  wirksam  ist,  also  was  man  relative  Verschränkung  nennt. 
Das  ist  im  Deutschen  nicht  nachahmbar.  Um  die  Auflösung  solcher  Schwierig- 
keiten aus  der  Sphäre  des  Ratens  und  Tastens  herauszuheben  in  die  des 
bewußten  Könnens,  ist  die  Beherrschung  der  Gedankengänge,  wie  ich  sie 
eben  geschildert  habe,  notwendig.  Man  nehme  den  Satz:  ri  äv  rtoiovvTsg 
&valdßotev.  Zwischen  beiden  Gedanke.i  besteht  das  Verhältnis  von  Annahme 
und  Folgerung,  der  gewollten  Kausalität,  also:  wenn  sie  täten,  würden  sie 
bekommen,  oder:  sie  müßten  das  tun,  damit  sie  bekämen. 

Von  da  aus  wickelt  sich  die  Schwierigkeit  leicht  ab.  Man  muß  den  Schüler 
in  den  Stand  setzen,  das  zwischen  zwei  Gedanken  bestehende  innere  Ver- 
hältnis von  jedem  der  beiden  Gedanken  aus,  dem  zufällig  subordinierten 
wie  übergeordneten  aus,  zum  klaren  Ausdruck  zu  bringen. 

4.  Über   die   Partikeln. 

Auch  dies  Kapitel  ist  mehr  nach  der  Richtung  auszubauen,  daß  nicht 
nur  auf  die  Relation  das  Auge  eingestellt  wird,  sondern  auch  auf  die  Kor- 
relation, so  daß  jederzeit  das  gedankliche  Verhältais  ausgedrückt  werden 
kann  auch  bei  einer  Umorientierung  der  Gcdankenlagerung.  Besonders 
für  die  Homerübersetzung  ist  das  von  Wichtigkeit,  überhaupt  für  das  Grie- 
chische mehr  als  fürs  Lateinische. 

Dabei  ist  ein  wichtiges  Ziel,  dem  deutschen  Jungen  zum  Bewußtsein 
zu  bringen,  über  welchen  Reichtum  die  eigne  Sprache  und  damit  unbewußt 
das  eigne  Denken  verfügt,  dadurch,  daß  unsere  Sprache,  der  griechischen 
vergleichbar,  in  ihrer  Fülle  von  Partikeln  die  Mittel  besitzt,  auch  die  leisesten 
Abwandlungen  und  Abbiegungen  des  Gedankens,  die  leichtesten  seelischen 
Schwingungen  und  za«" testen  Beziehungen,  zum  Ausdruck  zu  bringen. 

VI. 

Wie  muß  nun  eine  Grammatik  aussehen,  die  den  geschilderten 

Bedürfnissen   entspricht? 

Für  die  Schulen  liegt  eine  sehr  große  Erschwerung  des  Spracherlernens 
überhaupt  darin,  daß  in  den  verschiedenen  Sprachen  eine  verschiedene  Ter- 
minologie üblich  ist.  Das  unterschätzt  der,  der  nicht  die  täglichen  Nöte 
des  Schulbetriebes  zu  tragen  und  zu  überwinden  hat.  Es  muß  deshalb  Vor- 
sorge getroffen  werden,  daß  die  Terminologie  überall  dieselbe  ist;  natürlich 
muß  sie  auch  mit  der  in  der  Wissenschaft  üblichen  übereinstimmen. 

Ferner  muß  es  vei  mieden  werden,  daß  die  Jungen  in  die  Lage  kommen, 
später  umlernen  zu  müssen,  indem  Regeln  beiseite  geschoben  werden,  die 


344  Cornelius  Hölk. 

nur  zu  einem  bestimmten  Lehrzweck  nach  Art  einer  vorläufigen  Arbeits- 
methode aufgestellt  sind 

Aus  dem  allen,  was  ich  ausgeführt  habe,  scheinen  sich  mir  folgende 
Fordenmgen  zu  ergeben: 

1.  Die  Grammatik  muß  zerfallen  in  eine  allgemeine  Sp'^achlehre,  die 
das  zusammenstellt,  was  für  alle  Sprachen,  deutsche  wie  fremde,  gültig  ist, 
und  spezielle  Sp'-achlehren  der  einzelnen  Sprachen,  die  das  Verhältnis  zur 
allgemeinen  Sprachlehre  darstellen. 

2.  Die  Sprachlehre  muß  ausgehen  von  der  Muttersprache. 

3.  Sie  muß  gegliedert  sein  nach  Satzgliedern,  also  Subjekt,  Objekt, 
Prädikat,  Attribut,  Adverb,  Partikeln,  Satzverbindungen  uad  Satzgefügen. 

4.  Die  allgemeine  Sprachlehre  ist  rein  formal  und  konstruiert;  sie  stellt 
ein  Schema  auf  von  den  Ausdrucksformen,  die  in  den  in  der  Schule  behandelten 
Sprachen  möglich  sind :  sie  will  die  einheitliche  Grundlage  für  die  Terminologie 
und  auch  für  die  Erklärung  bieten.  Sie  ist  aber  nicht  dazu  da,  systematisch 
durchgenommen  zu  werden,  sondern  dient  zur  Orientierung. 

Ich  gebe  zunächst  als  Beispiel,  was  ich  vorhin  zum  Teil  schon  behandelt 
habe,  die  Lehre  vom  Attribut. 

In  der  Sprachlehre  würde  es  heißen: 

Die  häufigste  Form  der  organischen  Zusammenfassung  zweiei  oder 
mehrerer  Urteile  zu  einem  Gedankenkomplex  ist  die  Beifügung  des  Attributs. 

Die  beiden  Sätze:  die  Blume  ist  hübsch;  die  Blume  macht  mit  Freude  — 
werden  zusammen  gezogen  zu  dem  einen  Satz:  die  hübsche  Blume  macht 
mir  Freude.  Es  kann  deshalb  alles,  was  Prädikat  ist,  auch  Attribut  werden, 
bei  den  Verben,  indem  besondere  Formen  vom  Verbum  gebildet  werden, 
Partizipia  und  Verbaladjektiva. 

Die  Wortart,  die  die  Sprache  besonders  für  das  Attribut  gebildet  hat, 
ist  das  Adjektiv.    Es  ist  aber  nicht  überall  zur  Bildung  dieser  Wortart  ge- 
kommen, vielmehr  begnügt  sich  die  Sprache  oft,  weil  auch  so  schon  das 
Verständnis  gesichert  ist,  mit  einem  Adjektiversatz. 
Beispiel:    Die  Blume  Vergißmeinnicht 
die  rote  Blume 
die  wohlriechende  Blume 


die  Blume  der  Mutter 

die  Blume  da  vorne 
die  Blume  im  Garten 


ist  hübsch. 


die  Blume,  die  im  Garten  steht 
Manchmal  wächst  das  Attribut  mit  seinem  nomen  zu  einem  Wortkompo- 
situm zusammen:  Hochzeit;  Akropolis;  Bürgermeister,  Vaterlandsliebe  usw. 
Das  Attribut  wird  also  gebildet 

1.  durch  ein  Substantiv  oder  Adjektiv  oder  Partizip  im  gleichen  casus; 

2.  durch  ein  Substantiv  im  Genitiv; 


Wie  ist  lieute  der  Unterriclit  in  den  alten  Sprachen  zu  erteilen?  345 

3.  durch  einen  adverbialen  Ausdruck,  meistens  einSubst.  m.  Präposition; 

4.  Jedes  Attribut  kann  zu  einem  Relativsatz  erweitert  werden. 

Das  Attribut  Nr.  2,  gebildet  durch  ein  Substantiv  im  Genitiv,  bezeichnet, 
daß  zwischen  dem  nomen,  bei  dem  es  steht,  und  dem  Attribut  das  Verhältnis 
von  Eigentum  zum  Eigentümer  besteht;  bei  geistigen  Dingen  ist  das:  Eigen- 
schaft und  Inhaber;  oft  erscheint  es  als  Verhältnis  des  Teils  zum  Ganzen; 
bei  Substantiven,  die  von  Verben  gebildet  sind,  gibt  es  das  Subjekt  oder 
Objekt  an. 

Das  Attribut  berührt  sich  nahe  mit  dem  Adverb;  Worte  wie  zuerst, 
zuletzt,  oben,  unten  usw.  sind  Grenzfälle  beider  Satzglieder. 

Jedes  Attribut  kann,  ohne  den  Sinn  des  Gedankens  zu  verändern,  be- 
liebig durch  jede  andere  Art  ersetzt  werden. 

Jeder  Relativsatz  ist  ein  Attribut  entweder  zu  einem  vo''handenen  oder 
zu  einem  zu  ergänzenden  nomen  oder  Beziehungswort. 

Die  Regel  in  der  speziellen  Grammatik  würde  lauten: 

A.  Für  das  Deutsche. 

1.  Das  Attribut  gebildet  durch  ein  Adjektiv  steht  meist  vor  dem  Sub- 
stantiv, dann  wird  es  flektiert.  Es  kann  auch  nachstehen,  aber  in  der  Regel 
nur,  wenn  mehrere  nebeneinander  stehen  und  besonders  in  gehobener,  dichte- 
rischer Sprache;  dann  wird  es  nicht  flektiert. 

2.  Das  Attribut  gebildet  durch  ein  Substantiv  im  gleichen  Kasus  wird 
oft  mit  „als"  verbunden;  dann  kann  es  sich  ziemlich  frei  bewegen  und  weiter 
von  seinem  Beziehungswort  entfernen. 

3.  Sonst  hängt  sich  das  Attribut  eng,  fast  enklitisch,  an  sein  nomen. 

4.  In  den  Grenzfällen  zwischen  Adverb  und  Attribut  neigt  das  Deutsche 
zur  adverbialen  Verwendung. 

B.  Für  das  Lateinische. 

1.  Fast  ganz  entfällt  das  Attribut  gebildet  durch  ein  Adverb. 

2.  Sehr  viel  seltener  als  im  Deutschen  und  in  der  Regel  nur  üblich  bei 
Substantiven,  bei  denen  die  verbale  Herkunft  noch  durchschimmert,  ist 
das  Attribut  gebildet  durch  ein  Substantiv  mit  Präposition. 

Es  wird  ersetzt 

1.  wenn  es  möglich  ist,  durch  ein  Adjektiv; 

2.  ist  das  nicht  möglich,  weil  das  Adjektiv  nicht  vo -banden  ist,  durch 
ein  Substantiv  im  Genitiv,  wenn  das  besondere  Verhältnis  vorliegt, 
das  durch  den  Genitiv  bezeichnet  wi^d. 

3.  Ist  das  nicht  der  Fall,  so  wi»d  es  durch  Beifügung  eines  inhalt- 
lich passenden  Partizipiums  in  ein  Adverb  umgewandelt. 

3.  Sehr  viel  vei breitster  als  im  Deutschen  ist  die  Verwendung  des  Parti- 
zipiums als  Attribut,  p  (artizipium,  c  (onjunctum)  genannt,  im  Gegensatz 
zum  p  (artizipium)  a  (bsolutum),   das  ein  Adveib  ersetzt. 

Das  p.  c.  wird  übersetzt: 

1.  Zwischen  Artikel  und  Substantiv; 

2.  nachgestellt  ohne  Endung; 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  Jhrg.  HS 


346       C.  Hölk,  Wie  ist  heute  der  Unterricht  in  den  alten  Sprachen  zu  erteilen? 

3.  als  Relativsatz; 

4.  als  konjunktionaler  Nebensatz; 

5.  koordiniert  mit  ,,und"  oder  andern  Partikeln. 

Das  inhaltliche  Verhältnis  des  Partizipium-  zu  seinem  ncmen  wird  manch- 
mal angedeutet 

a)  durch  Partikeln  beim  Partizipium,  z.  B.  quippe, 

b)  durch  eine  Partikel  in  dem  Satz,  in  dem  es  steht,  z.  B.  tamen,  prop- 
terea,  interea  usw. 

C.  für  das  Griechische. 

1.  Das  Attribut  steht  entweder  vor  dem  nomen  oder  wird  mit  dem 
Artikel  wiederholt;  ausgenommen  ist 

a)  der  Genitivus  partitivus, 

b)  das  konjunktional  zu  übersetzende  p.  c. 

2.  Viel  häufiger  als  im  Deutschen  und,  Latein  ist  das  Attribut  gebildet 
durch  ein  Adverb. 

3.  Ebenso  ist  viel  ausgebildeter  die  Verwendung  von  Partikeln  beim  pc. 
zur  Bezeichnung  des  inhaltlichen  Verhältnisses,  z.  B.  KuintQ-üj^iwg,  öia 
TovTo,  wg  mit  dem  Partizip  des  Praesens  od.  aorist.  oder  wg  mit  dem 
Partizip  futuri,  k'Tteita,  äv  usw. 

Ich  bin  mir  natürlich  klar  darüber,  daß  das  Attribut  verhältnismäßig 
einfach  zu  behandeln  ist;  noch  leichter  sind  vielleicht  Subjekt  und  Objekt, 
viel  bunte**  gestaltet  sich  die  Sache  beim  Adverb  und  Prädikat.  Aber  der 
Vorteil  dieser  Art,  die  Grammatik  zu  behandeln,  die  ich  in  jahrelanger  Praxis 
ausprobiert  habe,  wird  einleuchten;  eine  ganze  Masse  von  Paragraphen  der 
Kasuslehre  aus  Genetiv  und  Ablativ  erledigt  sich  so  ohne  jede  Spintisiererei, 
die  meist  über  das  Verständnis  vermögen  der  Jungen  hinweggeht.  Sie  be- 
kommen auch  auf  diese  Weise  klare  Anleitung  dafür,  wie  sie  den  ungelenken 
Geist  und  die  noch  ungelenkere  Sprache  geschmeidig  machen  können  zur 
Umsetzung  der  Worte  aus  der  Form,  die  sie  in  der  fremden  Sprache  haben, 
in  die  Muttersprache.  Ich  meine  beobachtet  zu  haben,  daß  die  Fähigkeit 
wächst,  die  Sprache  als  lebendiges,  bewegliches  und  veränderliche.^  Ding 
bewußt  zu  empfinden. 

Schlußwort. 

Bis  eine  Grammatik  derart  erschienen  ist,  wie  sie  nach  meiner  Meinung 
der  eigentliche  Charakter  des  Gymnasialunterrichts  in  unsern  Tagen  fordert 
und  wie  ich  sie  in  ihrer  idealen  Form  geschildert  habe,  darüber  kann  natür- 
lich noch  geraume  Zeit  vergehen.  Ob  mir  selbst  der  Be^uf  zu  so  umfang'^eicher 
Arbeit  mal  die  Muße  gönnen  wird,  ist  mir  mehr  als  zweifelhaft.  Aber  das 
Ziel,  das  ich  dem  grammatischen  Unterricht  stecke,  läßt  sich  auch  mit  den 
Schulgrammatiken,  wie  sie  vorliegen,  erreichen,  das  hat  mich  meine  eigne 
Lehrertätigkeit  gelehrt.  Nützlich  freilich  wird  sein,  daß  die  einzelnen  Schulen 
sich  über  allgemeine  Richtlinien  einig  werden,  durch  die  Einheitlichkeit 
der  Terminologie  und  der  Erklärung  der  grammatischen  Probleme  gewähr- 
leistet wird  in  d^m  Gei«t,  wie  ich  ihn  zu  schildern  versucht  habe. 

Marburg/Lahn.  Cornelius  Hölk. 


J.  Bathe,  Der  lateinische  Unterricht  am  Realgymnasium.  347 

Der  lateinische  Unterricht  am  Realgymnasium. 

„G^ben  Sie  sich  keinen  großen  Hoffnungen  hin,  Realgymnasiasten 
lornen  niemals  Latein,  jede  Reifeprüfung  beweist  das  von  neuem,"  so  sagte 
mir  einst  ein  hochgestellter  Schulmann  und  guter  Kenner  des  lateinischen 
Unterrichtes.  Vielfache  Erkundigung  bei  Fachgenossen  und  eigene  Beob- 
achtungen haben  mir  das  Urteil  bestätigt :  Wer  andere  als  gediegene  Früchte 
des  Lateinunterrichtes  nicht  anerkennt,  der  muß  von  dem  Latein  am  Real- 
gymnasium durchaus  unbefriedigt  sein.  Da  mag  man  doch  wohl  ernstlich 
die  Frage  erheben,  ob  nach  der  demnächstigen  großen  Umwälzung  unseres 
höheren  Schulwesens  das  Latein  noch  eine  Rolle  außerhalb  des  Gymnasiums 
spielen  darf,  und  welche. 

Der  Wert  aller  Bildungsfächer  ist  entweder  absolut,  wie  bei  der  Mathe- 
matik, oder  mehr  oder  weniger  zeitlich  bedingt,  wie  auf  allen  nicht  rein  for- 
malen Gebieten.  Bei  der  großen  Zahl  der  heute  empfohlenen  Unterrichts- 
stoffe wird  man  jeden  einzelnen,  falls  sein  absoluter  Wert  nicht  feststeht, 
um  so  strenger  auf  seinen  Wert  für  die  Gegenwart  und  die  nächste  Zukunft 
prüfen  müssen.  Ist,  so  könnte  man  daher  zunächst  fragen,  wo  nicht  für  die 
Gesamtheit  der  Gebildeten,  so  doch  für  einen  großen  Teil  von  ihnen  das 
Studium  des  Lateinischen  heute  noch  nötig?  Diese  Frage  beantwortet  sich 
sogleich  durch  den  Hinweis  auf  zahlreiche  praktische  Berufe,  deren  gelehrte 
Unterlage  gegenwärtig  Kenntnis  des  Lateinischen  verlangt.  Von  der  Theologie 
sei  hier  ganz  abges'^hen,  ebenso  von  rein  gelehrten  Forschungs berufen  wie 
Geschichte  u.  a.  m.  Aber  die  Medizin  ist  heute  nicht  erlernbar  ohne  Latein; 
man  mag  einen  Zopf  darin  sehen,  der  abgeschnitten  werden  muß,  aber  von 
heute  auf  morgen  läßt  sich  das  nicht  machen.  In  geringerem  Grade  gilt  das 
gleiche  von  der  Rechtswissenschaft.  Ja,  die  fachwissenschaftlichen  Bezeich- 
nungen aller  Gebiete  sind  zur  Stunde  noch  mit  so  vielen  Fremdwörtern  latei- 
nischer Herkunft  durchsetzt,  daß  derjenige,  der  kein  Latein  kennt,  ins  Hinter- 
treffen gerät,  ist  doch  sogar  die  Nichtkenntnis  des  Griechischen  hier  vielfach 
ein  fühlbarer  Nachteil.  Die  Umwälzung,  die  sich  in  all  diesem  vollzieht, 
kann  nur  langsam  Früchte  zeitigen,  sie  ist  eigentlich  nur  eine  letzte  Stufe 
des  Umschwungs  zum  Deutschtum  hin,  der  seit  des  Thomasius  Zeiten  in 
zähem  Kampfe  vor  sich  geht.  Jenen  praktischen,  aber  zeitlich  bedingten 
Wert  also  wird  niemand  dem  Lateinunterricht  abstreiten  können,  und  in 
der  Tat  liegt  ja  auch  die  beste  Anerkennung  vor  in  der  Aufnahme  des  Latei- 
nischen unter  die  Fächer  der  Oberrealschule. 

Anders  ist  es  mit  der  Frage  des  formal -bildenden  Wertes.  Daß  dieser 
bei  richtiger  Handhabung  sehr  hoch  ist,  steht  fest.  Wer  als  Schüler  unter 
der  Hand  eines  Lehrers,  der  der  Sache  wirklich  gewachsen  war,  wer  als  Lehrer 
mit  strebsamen  Schülern  in  dieser  Schmiede  des  Geistes  die  Weite  und  Klar- 
heit des  Denkens  hat  wachsen,  die  Sprache  an  Schärfe  und  Reichtum  hat 
gewinnen  sehen,  dessen  Überzeugung  von  diesem  Werte  des  lateinischen 
Unterrichts  ist  nicht  zu  erschüttern  auch  ohne  die  mit  warmer  Überzeugungs- 
kraft geschriebenen  Darlegungen  von  Zielinski,  Cauer  u.  a.  m.  Es  wird  frei- 
lich eingewandt,  daß  der  Unterricht  in  den  neueren  Fremdsprachen  dasselbe 

23* 


348  J.  Bathe, 

leisten  könne.  Man  möchte  es  von  vornherein  bezweifeln,  da  eine  so  stark 
synthetische  Sprache  wie  das  Lateinische  uns  in  den  modernen  Fremdsprachen 
nicht  zur  Verfügung  steht.  Sicherlich  können  nur  sehr  wenige  maßgebend 
mitreden,  ob  etwa  der  französische  Unterricht  auf  der  Unter-  oder  der  Ober- 
stufe oder  gar  auf  allen  Stufen  ein  vollwertiger  Ersatz  des  Lateinischen  sein 
kann,  denn  dazu  muß  man,  streng  genommen,  beiderlei  Unterricht  erteilt 
haben  an  Schüler,  die  nicht  zugleich  unter  der  Einwirkung  des  anderen  Faches 
standen,  also  Französisch  an  Oberrealschüler,  Latein  an  Gymnasiasten. 
Bejahende  Urteile  wie  die  von  Münch  und  Direktor  Erzgraeber  geben  immer- 
hin zu  denken.  Aber  eine  einfache  Überlegung  beweist,  daß  der  heutige 
Unterricht  in  den  neueren  Sprachen  das  Latein  nicht  ersetzen  kann.  Wenn 
die  Gesichtspunkte  der  neueren  Methode  in  den  auf  das  „Parlieren"  gerichteten 
Forderungen  der  Lehrpläne  einen  Niederschlag  finden,  wenn,  um  ein  Wort 
des  ehemaligen  Berliner  Provinzialschulrats  Borbein  zu  gebrauchen,  der 
Aufsatz  als  ,, die  Blüte  des  ganzen  neusprachlichen  Unterrichts i)"  angesehen 
wird,  so  bleibt  für  das,  was  im  Lateinunterricht  die  Hauptsache  ist,  das 
Übersetzen,  keine  genügende  Zeit  mehr.  Zum  mindesten  wird  also  die  Mutter- 
sprache nicht  den  entsprechenden  Gewinn  haben.  Das  ist  ein  sehr  schmerz- 
licher Ausfall  gerade  jetzt,  wo  die  Kunst  des  Übersetzens  allmählich  über 
die  Mängel  der  Methode  hinaus  ist,  die  allerdings  vielfach  das  Übersetzen 
als  Hemmnis  für  die  Erziehung  zu  echt  deutscher  Auffassung  und  echt  deut- 
schem Ausdruck  erscheinen  ließen.  Ob  die  Früchte  der  sog.  direkten  Sprach- 
erlernung gleichwertig  oder  besser  sind,  ist  eine  besondere  Frage;  die  dem 
Lateinunterricht  eigentümliche  Wirkung  wird  jedenfalls  in  den  neueren 
Sprachen  nicht  erreicht.  Die  richtige  Bewertung  der  verschiedenen  Gesichts- 
punkte läßt  sich  hier  nur  durch  allgemeinen  Überblick  erlangen.  Zu  einer 
Zeit,  als  noch  nicht  die  Fähigkeit  des  Schülers  zu  selbsttätiger  Gestaltung 
50  sehr  in  Bewegung  gesetzt  wurde,  wie  es  heute  durch  die  Schulung  in  der 
Muttersprache  geschieht,  mochte  es  mehr  Sinn  als  gegenwärtig  haben,  die 
Schüler  mündlich  oder  schriftlich  radebrechen  zu  lassen  in  fremden  Sprachen, 
an  deren  Kenntnis  Phantasie  und  Gefühl  jedenfalls  viel  weniger  Anteil  haben 
als  bei  der  Muttersprache.  Und  anderseits  scheint  es  mir  allerdings,  daß 
der  in  mächtigem  Aufschwung  begriffene  deutsche  Unterricht  die  bisherigen 
Aufgaben  des  lateinischen,  sofern  es  sich  um  Förderung  des  deutschen  Aus- 
drucks handelt,  dereinst  einmal  wird  mit  übernehmen  können.  In  seiner  das 
Denken  bildenden  Kraft  ihn  zu  ersetzen,  scheint  vorab  keine  Möglichkeit 
zu  sein,  es  sei  denn  etwa:  die  naturwissenschaftlichen  Übungen,  d.  h.  die 
Übungen  zur  Einführung  in  das  Wissen  an  Stelle  des  jetzt  noch  herrschenden, 
allerdings  erstaunlich  ausgebildeten  Demonstrationsverfahrens  müßten  zu 
vollkommenster  Ausbildung  und  allgemeiner  Durchführung  gelangen.  Aber 
wenn  sich  hier  und  vielleicht  auch  auf  anderem  Wege  eine  Aussicht  bietet, 
in  Zukunft  das  Lateinische  gefahrlos  aus  unserem  Schulunterricht  ausscheiden 
zu  können,  so  ändert  das  nichts  an  der  Tatsache,  daß  wir  jetzt  und  noch 
für  lange  Zeit  den  lateinischen  Unterricht  nicht  entbehren  können. 
1)  Monatsschrift  für  höhere  Schulen,  Jahrgang  IV,  S.  159. 


Der  lateinische  Unterricht  am  Realgymnasium.  349 

Wer  das  einmal  anerkennt,  wird  auch  zugeben  müssen,  daß  der  Latein- 
unterricht nicht  auf  die  humanistischen  Gymnasien  beschränkt  bleiben  darf, 
zumal  man  mit  einem  zahlenmäßigen  Zurückgehen  der  Gymnasien  wird 
rechnen  müssen.  Das  Realgymnasium,  das  schon  einmal  allen  Erwartungen 
zum  Trotze  zähe  Lebenskraft  bewährt  hat,  wird  als  vermittelnder  Typus 
wahrscheinlich  an  Verbreitung  gewinnen ;  ihm  wird  daher  in  stärkerem  Maße 
als  bisher  die  Aufgabe  zufallen  können,  Vermittler  des  Lateinischen  zu  sein. 
Da  handelt  es  sich  denn  darum,  wie  sich  dieser  Unterricht  besser  als  bisher 
fruchtbar  machen  läßt. 

Das  anerkannte  Grundübel  des  Realgymnasiums  ist  die  Überzahl  gleich- 
wertiger oder  doch  fast  gleichwertiger  Unterrichtsfächer.  Wo  man  nicht  ent- 
schlossen genug  ist,  das  eine  oder  andere  Hauptfach  praktisch  zum  Neben- 
fache herabzusetzen  (die  Lehrpläne  lassen  das  z.  B.  für  das  Englische  zu), 
da  ist  notwendig  das  Ergebnis:  vielerlei  und  nichts  gründlich.  Wer  aber 
näher  eingeweiht  ist,  der  muß  vollends  erstaunen  über  die  Zersplitterung 
innerhalb  der  einzelnen  Fächer,  die  durch  die  Lehrpläne  nahe  gelegt,  z.  T, 
aufgezwungen  wird.  Da  hat  der  Schüler  Grammatik  und  Lektüre  nebenein- 
ander (  in  U  II  des  alten  Realgymnasiums  je  2  Stunden);  es  müssen  regel- 
mäßige Übungsarbeiten,  Haus-  und  Probearbeiten  geschrieben  werden, 
im  Tertial  2 — 3  ,, Hinübersetzungen",  dazu  im  Vierteljahr  1  „Herübersetzung", 
endlich  kleine  deutsche  Ausarbeitungen.  Wieviel  Zeit  bleibt  da  noch  zu 
ruhigem,  vertieftem  Arbeiten!  Ein  Blick  auf  das  Gymnasium  zeigt  dort 
gleiche  Vielgestaltigkeit.  Die  Auffassung  von  Ziel  und  Wegen  hat  sich  mit 
der  Zeit  verschoben:  man  hat  sich  Neuem  zugewandt,  ohne  auf  Altes  ver- 
zichten zu  können,  die  Lektüre  wird  heute  nach  ganz  anderen  Gesichtspunkten 
gepflegt  als  noch  vor  Jahrzehnten,  die  grammatische  Schulung  früherer 
Zeit  erscheint  dabei  nicht  weniger  entbehrlich.     Daher  von  allem  etwas. 

Aber  wenn  eine  solche  Zersplitterung  am  Gymnasium  mit  seiner  großen 
Stundenzahl  für  das  Lateinische  zweckmäßig  und  daher  berechtigt  sein  mag, 
so  folgt  noch  nicht,  daß  sie  auch  für  das  Realgymnasium  paßt.  Und  hier  zeigt 
sich  in  einem  Punkte  schon  das  Leiden,  an  dem  das  Lateinische  am  Real- 
gymnasium krankt  und  dem  es  meines  Erachtens  im  wesentlichen  seine 
Mißerfolge  verdankt:  die  zu  weitgehende  und  mechanische 
Nachahmung  des  Gymnasiums.  Die  Einzelheiten^)  der  Lehrpläne 
zeigen,  daß  sich  Aufgaben  und  Ziele  des  Realgymnasiums  von   denen   des 


1)  Als  aligemeines  Lehrziel  für  die  Gymnasien  wird  in  den  Lehrplänen  freilich  noch 
bezeichnet  „Einführung  in  das  Geistes-  und  Kulturleben  des  Altertums",  und  gerade  diese 
Aufgabe  pflegt  als  die  wichtigste  des  gymnasialen  Lateinunterrichts  bezeichnet  zu  werden. 
Aber  wenn  man  bedenkt,  daß  diese  Aufgabe  doch  nicht  gesondert,  sondern  hauptsächlich 
in  der  Lektüre  und  durch  diese  zu  erfüllen  ist  und  daß  der  übrige  Unterricht  auch  in  dieser 
Hinsicht  auf  die  Lektüre  vorbereitet,  so  wird  man  sich  nicht  wundern,  daß  der  tatsächliche 
Unterrichtsbetrieb  kaum  mehr  als  einen  quantitativen  Unterschied  zwischen  beiden  Schul- 
arten erkennen  läßt.  Im  Einklänge  damit  fordern  dann  auch  die  Methodiker  eine  mehr 
oder  weniger  weitgehende  Einführung  in  das  Leben  des  Altertums  für  das  Realgymnasium. 
Man  vergleiche  z.  B.  die  Ausführungen  von  F.  Cramer  in  seinem  soeben  erschienenen  Buche 
,Der  lateinische  Unterricht",  Berlin,  Weidmann,  1919,  S.  531! 


350  J.  Bathe. 

Gymnasiums  wesentlich  nur  dem  Umfange  nach  unterscheiden,  obschon 
der  Lateinunterricht  dort  in  dem  sonstigen  Studium  des  antiken  Kultur- 
gebietes fest  verankert  ist,  während  er  am  Realgymnasium  sozusagen  allein 
steht^).  Jene  Ziele  aber  sind  im  wesentlichen  noch  immer  die  der  Re- 
naissance; was  mit  der  Zeit  aus  den  Renaissanceideen  entwickelt  oder 
künstlich  ihnen  aufgepfropft  worden  ist,  hat  den  ursprünglichen  Haupt- 
charakter nicht  verwischen  können. 

Das  ästhetische  Interesse  der  Renaissance  war  ursprünglich  und  haupt- 
sächlich auf  formale  Schönheit  gerichtet,  und  für  diese  bildete  verstandes- 
mäßige Klarheit  und  Durchsichtigkeit  den  bedeutsamsten  Wertmesser. 
Die  Schönheit  der  lateinischen  Prosa  und  Poesie  ist  von  den  Humanisten 
gefeiert  und  angestrebt  worden,  lange  bevor  die  Aufklärungszeit  den  intellek- 
tuellen Charakter  der  lateinischen  Sprache  hervorhob.  Daher  galt  ihnen 
ihre  künstlerische  Beherrschung  als  herrliches  Ziel  und  Cicero  als  ihr  bewan- 
dertes Vorbild.  Um  die  Kunst  der  Alten  genießen  zu  können,  nahm  man 
aber  auch  ihre  Gedanken-  und  Phantasiewelt  in  den  Kauf,  übernahm  sie 
bald  auch  als  Inhalt  der  eigenen  Kunst  und  entfernte  sich  dadurch  gänzlich 
von  der  Überlieferung  des  eigener   Volkes. 

Wer  möchte  verkennen,  welch  breiten  Raum  die  Einführung  in  diese 
gelehrte  Bildung  noch  heute  auf  unseren  Gymnasien  einnimmt!  Welche  Rolle 
spielt  nicht  noch  immer  die  antike  Sage  und  Mythologie,  war  ihr  doch  bis 
vor  wenigen  Jahren  die  geschichtliche  Unterweisung  eines  ganzen  Jahres 
gewidmet!  Ovid,  Veigil,  Horaz,  um  nur  die  lateinischen  Dichter  zu  nennen, 
erfordern  zu  ihrem  Verständnisse  das  Wissen  eines  ganzen  Menge  mytho- 
logischen Kleinkrams.  Und  die  Forderung  nach  kunstvoller  Beherrschung 
der  Sprache  ist  auch  nicht  so  sehr  geschwunden,  wie  es  scheinen  könnte. 
Wohl  schreiben  wir  keine  lateinische  Poesi'^  und  Prosa  mehr,  aber  wie  verändert 
die  Aufgaben  und  Zi'^le  des  Grammatikunterrichts  auch  hingestellt  werden 
mögen,  wer  die  Praxis  kennt,  weiß,  daß  nicht  nur  bei  der  allerältesten  Gene- 
ration der  klassischen  Philologen  die  Stilistik  noch  in  ähnlicher  Weise  Trumpf 
ist,  wie  sie  es  in  den  Zeiten  Nägelsbachs  und  Seyfferts  allgemein  war. 
Auch  die  Schulgrammatiken  lassen  mehr,  als  zu  rechtfertigen  ist,  den  logischen 
Gesichtspunkt  hinter  dem  stilistischen  zurücktreten.  Ein  Beispiel  möge 
das  beleuchten!  Bei  der  bekannten  Konstruktion  nach  postquam  findet 
man  immer  als  Ausnahme  angegeben  den  Gebrauch  des  Plusquamperfek- 
tums nach  Angabe  einer  bestimmten  Zwischenzeit,  die  viel  wichtigere  Tat- 
sache aber,  daß  das  Plusquamperfektum  bzw.  das  Imperfektum  steht,  wenn 
es  sich  um  einen  dauernden  Zustand  in  der  Vergangenheit  handelt,  findet 
man  nur  selten  verzeichnet,  und  dann  meist  in  einer  verschämten  Anmerkung, 


2)  Es  ist  interessant,  diese  Übereinstimmung  schon  gleich  nach  dem  ersten  Auftreten 
des  Lateinischen  im  Lehrplan  der  realen  Anstalten  zu  bemerken:  in  der  ,, Unterrichts-  und 
Prüfungsordnung  der  Realschulen  und  höheren  Bürgerschulen  vom  6.  Oktober  1859"  werden 
im  Lateinischen  Forderungen  aufgestellt,  die  bei  den  ersteren  dem  Latein  der  Untersekunda, 
bei  den  letzteren  (d.  h.  Realschulen  ohne  die  oberste  Klasse)  der  Obertertia  der  Gymnasien 
völlig  entsprechen. 


Der  lateinische  Unterricht  am  Realgymnasium.  351 

obgleich  dieser  Gebrauch  bei  den  besten  Schriftstellern,  auch  bei  Cicero, 
belegt  ist.  Es  kommt  den  Verfassern  '^ben  darauf  an,  das  im  guten  Latein 
Gebräuchlichere  einzuprägen,  und  da  mag  ja  rein  zahlenmäßig  das  Perfektum 
in  solchen  Fällen  überwiegen.  Daß  hier  ein  lehrreicher  logischer  Unterschied 
zutage  tritt  (Menge  spricht  geradezu  von  einem  plusquamperfectum  logicum), 
verschlägt  demgegenüber  für  die  hergebrachte  Anschauung  wenig. 

'  Die  noch  auf  die  Humanisten  zurückgehende  Auffassung  des  Latein- 
unterrichts hat  auch  durch  den  Neuhumanismus  nicht  so  sehr  eine  völlige 
Änderung  als  vielmehr  eine  Beeinträchtigung  erfahren;  insbesondere  tritt 
die  Wirkung  hervor  in  der  Auswahl  der  zu  lesenden  Schriftsteller  nach  Zahl 
und  Umfang.  Der  Neuhumanismus,  der  recht  eigentlich  nur  im  Zusammen- 
hange mit  dem  damals  in  Dichtung  und  Philosophie  hervortretenden  Neu- 
idealismus zu  verstehen  ist,  wollte  das  Altertum  in  seinen  besten  Werken 
zur  Erreichung  einer  idealen  Bildung  vorwiegend  im  ethischen  und  ästhe- 
tischen Sinne  heranziehen  und  hat  tatsächlich  auf  dieser  Grundlage  in  dem 
Gymnasium  des  vergangenen  Jahrhunderts  eine  Schöpfung  von  stilvoller 
Einheitlichkeit  geschaffen.  Nachdem  aber  jene  allgemeinen  Grundlagen 
sich  geändert  haben  und  den  neuen  Bedürfnissen  durch  Abweichen  von  der 
Einheitlichkeit  der  höheren  Schule  mehr  und  mehr  Rechnung  getragen 
worden  ist,  erscheint  es  mehr  als  fraglich,  ob  es  noch  richtig  ist,  möglichst 
alle  wertvollsten  Schriftsteller  in  die  Schule  zu  bringen,  Ovid,  Vergil  und  Horaz, 
Cäsar,  Livius,  Cicero,  Sallust,  Tacitus  usw.,  von  den  Griechen  zu  schweigen. 
Tatsächlich  ist  die  Zahl  der  Schriftsteller  seit  den  Tagen  der  Gründung  des 
neuhumanistischen  Gymnasiums  kaum  wesentlich  verändert  worden,  ob- 
gleich zu  ihrer  Bewältigung  längst  nicht  mehr  die  gleiche  Zeit  zur  Verfügung 
steht. 

Was  schon  beim  Gymnasium  von  zweifelhaftem  Werte  sein  mag,  muß 
beim  Realgymnasium  zu  bedenklichen  Erscheinungen  führen.  Auch  hier 
weht  nach  der  inhaltlichen  wie  nach  der  sprachlichen  Seite  noch  der  alte 
Gsist,  auch  hier  wird  eine  sehr  vielseitige  Schriftstellerlektüre  gefordert, 
gleichfalls  Ovid,  Vergil  (und  zwar  die  Äneide  „in  einer  Auswahl,  die  in  sich 
abgeschlossene  Bilder  bietet  und  einen  Durchblick  durch  das  ganze  Werk 
ermöglicht",  wörtlich  wie  beim  Gymnasium)  und  Horaz,  Cäsar,  Livius,  Tacitus, 
Cicero  usw.^),  Einführung  in  die  Grammatik  durch  Übersetzen  aus  dem  Deut- 
schen in  viel  zu  beschränkter  Zeit,  schriftliche  Übungen,  bis  U  II  wenigstens, 
ganz  entsprechend  dem  Gymnasium,  von  allem  etwas  und  bei  der  Kürze  der 
Zeit  kaum  etwas  gründlich. 

Kann  so  das  Realgymnasium  seine  jetzigen  Ziele  im  Lateinischen  nicht 
erreichen,  so  erhebt  sich  die  Frage,  ob  es  in  seiner  jetzigen  oder  in  veränderter 
Gestalt  anderen  Aufgaben  gewachsen  ist,  und  ob  diese  neuen  Ziele  wertvoll 
genug  sind,  um  das  Weiterbestehen  des  Lateinischen  am  Realgymnasium 
zu  rechtfertigen.  Das  ist  meines  Erachtens  unter  zwei  Bedingungen  der  Fall: 
einmal  muß  unter  entschiedener  Hintansetzung  aller  Nebenaufgaben  der 


1)  Das  war  von  Anfang  an  der  Fall;  vgl.  die  Anm.  S.  31. 


352  J.  Bathe, 

Unterricht  auf  ein  Hauptziel  lossteuern,  und  zweitens  muß  er  in  feste 
Verbindung  zuanderenFächern  gesetzt  werden.  Beide  Forderungen 
stehen  im  Zusammenhange.  Eine  Einführung  in  die  Antike  ist  nun  einmal  am 
Realgymnasium  durch  das  Lateinische  nicht  möglich,  dazu  gehört  eine  breitere 
Grundlage,  es  kann  nur  nebenher  für  diese  Aufgabe  etwas  abfallen,  freilich 
nicht  wenig  und  jedenfalls  genug,  um  das  Verständnis  des  Altertums,  das 
am  Realgymnasium  auf  andere  Weise  erreicht  werden  muß,  wirksam  zu 
unterstützen.  Der  sprachlich-logischen  Schulung,  wie  sie  durch  grammatische 
Übungen  und  Übersetzen  in  die  Fremdsprache  erreicht  wird,  muß  das  Latei- 
nische auf  der  Unterstufe  freilich  wie  am  Gymnasium  dienen,  doch  ist  diese 
Schulung  nur  vorbereitender  Art ;  sie  wird  später  zum  großen  Teile  von  dem 
neusprachlichen  Unterricht  übernommen.  Von  einer  Nebenaufgabe,  die  in 
jüngster  Zeit  aufgetaucht  ist,  nämlich  der  sprachwissenschaftlichen  Erziehung 
wird  es  sich  noch  ferner  halten  müssen  als  am  Gymnasium.  Diese  Aufgabe 
ist  ja  ohnehin  grundsätzlich  besser  durch  die  Muttersprache  zu  erledigen. 
In  dieser  allein  sind  der  Stimmungsgehalt,  die  anschauliche  Kraft  der  Wörter 
ihrer  Verbindungen  und  sonstige  mehr  oder  weniger  irrationale  Faktoren, 
die  besonders  die  auf  assoziativer  Grundlage  beruhenden  Vorgänge  in  der 
sprachlichen  Entwicklung  verständlich  machen,  dem  Schüler  genügend 
vertraut.  Mit  der  Verstärkung  des  deutschen  Unterrichts  auf  der  Mittel- 
und  Oberstufe  werden  jene  Versuche  daher  aller  Voraussicht  nach  ihr  Ende 
finden  oder  richtiger,  wieder  auf  das  Maß  beschränkt  werden,  in  dem  sie 
von  einsichtigen  Lehrern  schon  längst  verwertet  worden  waren. 

Die  eigentliche  Aufgabe  des  lateinischen  Unterrichts  am  Real- 
gymnasium kann  nur  eine  richtig  geleitete  Schriftstell  e^lektüre 
sein.Eindringen  in  den  Gedankengang  und  dieVorstellung  des  Verfassers,  scharfe 
und  kritischeErfassungder  Einzelheiten  und  dadurch  desGedankens,  sorgfältige 
achtung  der  logischen  Verknüpfungen,  sodann  aber  Übertragung  in  echtes  Be- 
und  würdiges  Deutsch,  das  ist  eine  Aufgabe,  die  allein  der  langjährigen  Mühe 
wert  ist.  Und  ich  glaube,  daß  dieses,  etwa  mit  Primanern  richtig  und  eifrig 
betrieben,  wie  kaum  etwas  anderes  dem  Lehrer  das  befriedigende  Gefühl 
gibt,  etwas  erarbeitet  zu  haben.  Die  ständige  Bezugnahme  auf  die  Mutter- 
sprache bringt  den  begrifflichen  und  anschaulichen  Inhalt  der  Wörter  und 
ihrer  Verbindungen  in  unvergleichlicher  Weise  zur  Erkenntnis  und  entwickelt 
besser  als  eine  entsprechende  Behandlung  des  Deutschen  die  sprachlichen 
Kenntnisse  zu  bewußtem  Wissen. 

Erkennen  wir  diese  Hauptaufgabe  an,  so  ergibt  sich  die  Folgerung, 
daß  alles,  was  ihr  nicht  oder  doch  nur  nebenbei  dient,  fallen  muß.  In  der 
Grammatik  muß  weitgehende  Beschränkung  geübt  werden.  Wir  müssen 
uns  die  Ansicht  Zielinskis  zu  eigen  machen :  „Der  Teil  des  grammatikalischen 
Materials  muß  in  den  Vordergrund  gestellt  werden,  welcher  in  logischer 
und  psychologischer  Hinsicht  wertvoll  ist,  das  Erlernen  jenes  Teiles,  der, 
obgleich  er  an  sich  keinen  Bildungswert  hat,  nichtsdestoweniger  zum  Ver- 
ständnisse der . . .  Texte  unentbehrlich  ist,  muß  möglichst  erleichtert  werden."*) 

1)  Die  Antike  und  wir.    Übers,  von  Schoeler,  Lpz.  1905,  S.  39. 


Der  lateinische  Unterricht  am  Realgymnasium.  353 

In  die  Praxis  für  das  Realgymnasium  übersetzt,  heißt  das  meines  Er  achtens, 
der  grammatische  Unterricht  muß  möglichst  bald  nur  soweit  mehr  betrieben 
werden,  wie  er  für  die  Lektüre  nötig  ist.  Von  U  II  an  müssen  die  gramma- 
tischen Stunden  ganz  fallen,  alle  Zeit  muß  der  Lektüre  dienen.  Dann  wird 
man  freilich  die  besonders  in  letzter  Zeit  üblich  gewordene  scharfe  Scheidung 
zwischen  Grammatik  und  Lektüre  für  die  mittleren  Klassen  des  Realgym- 
nasiums nicht  aufrecht  erhalten  können;  es  wird  dem  Geschick  des  Lehrers 
zu  überlassen  sein,  grammatische  Unterweisungen  unter  ständiger  Beachtung 
der  dienenden  Stellung  der  Grammatik  an  die  in  der  Lektüre  vorkommenden 
Einzelfälle  anzuschließen.  Das  Geforderte  kann  zunächst  als  ein  Rückschritt 
erscheinen.  Aber  wenn  es  früher  fehlerhaft  war,  die  Lektüre  als  Handhabe 
für  grammatische  Übungen  zu  mißbrauchen,  muß  dann  gleich  das  entgegen- 
gesetzte Extrem  richtig  sein?  Kann  man  nicht  an  einem  Stoffe  beides  lernen, 
ohne  daß  darum  die  Lektüre  ihre  Hauptaufgabe  verfehlt?  Schreiben  doch 
für  die  Primen  die  Lehrpläne  selbst  eine  derartige  Handhabung  vor! 

Ich  weiß  wohl,  daß  ich  da  sehr  ketzerische  Forderungen  erhoben  habe^). 
Man  wird  mir  einwenden,  bei  einem  solchen  Unterricht  könne  keine  Gründ- 
lichkeit bestehen  und  das  Raten  werde  noch  zunehmen.  Ich  verkenne  den 
hohen  Wert,  den  selbständige  grammatische  Übungen  nebst  dem  zugehörigen 
Übersetzen  auch  für  die  Lektüre  haben,  gewiß  nicht  und  möchte  sie  keines- 
falls am  Gymnasium  auch  nur  eingeschränkt  sehen,  allein  ich  sehe  in  ihnen 
doch  nicht  das  einzige  oder  auch  nur  das  hauptsächlichste  Mittel,  jenem 
Übel  zu  steuern.  Vor  allem  muß  von  vornherein  systematisch  und  aufs  strengste 
darauf  hingearbeitet  werden,  daß  ein  klares  Verständnis  der  Einzelheiten 
der  Umformung  in  die  Muttersprache  vorausgehe.  Dieses  kann  und  muß 
auf  der  Mittelstufe  als  das  Wichtigste  stets  erreicht  werden,  während  man  bei 
der  deutschenFassung  zunächst  vielfach  nachsichtig  sein  und  dieAnforderungen 
stufenweise  erhöhen  muß.  Daneben  muß  auf  Aneignung  eines  ausreichenden 
Wortschatzes  mit  allen  Mitteln  gehalten  werden.  Das  alles  aber  wird  viel 
eher  möglich  sein,  wenn  an  Stelle  des  Vielerlei  die  Lektüre  die  ganze  Zeit 
ausfüllt  und  Muße  zu  vertiefendem  Verweilen  gestattet. 

Mit  dem  frühzeitigen  Wegfall  des  selbständigen  Grammatikunterrichtes 
würde  auch  die  Zersplitterung  in  den  schriftlichen  Arbeiten  ein  Ende  finden. 
Übungs-,  Haus-  und  Probeftrbeiten  würden  gleichartig  in  engste  Verbindung 
mit  der  Lektüre  gebracht  werden. 

Dann  müßte  scharf  Umschau  gehalten  werden  unter  den  zu  lesenden 
Schriftstellern.  Alles,  was  zur  Voraussetzung  des  Verständnisses  die  Kennt- 
nis alter  Sage  und  Mythologie  hat,  müßte  aufs  äußerste  beschränkt  werden, 
und  dabei  müßte  man  entschlossen  auch  auf  die  hohe  Schönheit  mancher 
Dichtung  verzichten.  Das  wäre  ein  entschiedenes  Abrücken  von  dem  Geiste 
der  Renaissance,  wie  es  Goethe  auch  einmal  vollzogen  hat,  noch  heute  deut- 
lich erkennbar  für  den,  der  etwa  das  Leipziger  Liederbuch  mit  den  Gedichten 
der  Straßburger  Zeit  vergleicht.    Übrigens  muß  die  Dichtung  auch  deshalb 

1)  In  seinem  schon  erwähnten  Buche  vertritt  Geheimrat  Cramer  ganz  die  entgegen- 
gesetzte Ansicht.     S.  537. 


354  J.  Bathe, 

noch  viel  stärker  als  heute  hinter  der  Prosalektüre  zurücktreten, 
weil  durch  die  letztere  in  ungleich  höherem  Maße  die  oben  gezeichneten 
wertvollen  Wirkungen  des  Übersetzens  sich  erreichen  lassen.  Es  ließe  sich 
wohl  aus  den  Dichtern  eine  für  beide  Sekunden  und  Primen  zusammen  be- 
i-echnete  kurze  Auswahl  beschaffen,  lediglich  von  dem  Gesichtspunkte  des 
für  unsere  Kultur,  Literatur  und  Kunst  Wichtigen  aus.  Ganz  ausgeschaltet 
können  sie  nicht  werden,  denn  es  hat  natürlich  hohen  Wert,  die  Eig'^.nart 
antik  romanischen  Wesens  und  Kunstempfindens  aus  den  besten  Werken 
selbst  zu  erkennen  und  fühlend  zu  erfassen,  und  zwar  einmal  wegen  des  Ein- 
flusses, die  es  auf  unser  Volk  geübt  hat,  sodann  wegen  des  lehn  eichen  Gegen- 
satzes zu  unserer  eigenen  Art^).  Ein  wenig  epische  Dichtung  (Vergil  oder 
Ovid)  ist  nötig  schon  allein,  um  den  Hexameter  zu  zeigen,  den  unsere  Dichtung 
aus  der  Antike  übernommen  hat,  das  Entsprechende  gilt  für  die  lyrischen 
Gedichte  des  Horaz.  Bei  der  Auswahl  des  letzteren  können  die  Gesichts- 
punkte, der  viel  reichlicheren  Gymnasiallektüre  natürlich  nicht  maßgebend 
sein;  am  besten  würde  man  sich  von  modernem  Geschmacke  leiten  lassen. 
Horaz  hat  eine  Reihe  wirklich  tief  empfundener  Lieder  geschaffen,  wie  das 
stimmungsvolle  Frühlingsgsdicht  (IV  7),  die  auch  heute  und  auch  d^m  Schüler 
zu  Herzen  gehen,  und  man  braucht  keineswegs  das  Urteil  zu  unterschreiben, 
das  vor  Jahren  Jakobowski  lakonisch  geäußert  hat:  von  all  den  Horazischen 
Oden  sei  kaum  ein  Dutzend  heute  noch  wert,  gelesen  zu  werden.  Aber  man 
verzichte  doch  endlich  auf  die  bislang  so  bevorzugten  „Römeroden",  deren 
verfehlte  Wirkung  gerade  auf  geweckte  und  kunstempfängliche  Jünglinge 
jede  spätere  Nachfrage  zu  bestätigen  pflegt.  Wenn  ein  Dichter  wie  Schiller 
in  pathetischen  Worten  sittliche  Wahrheiten  pridigt,  so  mag  gerade  der  junge 
Mensch  ehi fürchtig  davon  ergriffen  werden ;  was  aber  muß  ein  kritischer  Junge 
denken  und  empfinden  bei  den  Römeroden,  vom  Dichter,  wie  er  w;iß,  ge- 
schrieben, „um  den  Augustus  bei  seinen  Bemühungen  um  die  Hebung  der 
Sittlichkeit  zu  unterstützen",  von  demselben  Dichter,  den  der  Schüler  schon 
als  ganz  munteren  und  leichten  Epikuräer   kennen  gelernt   hat? 

Kurz,  die  Dichterlektüre  könnte  so  weit  zurücktreten,  daß  sie  nur  ein 
Drittel  des  heutigen  Raumes  einnähme  und  den  Prosaikern  erheblichen  Platz 
überließe.  Bei  der  Auswahl  dieser  müßte  sodann  die  Rücksicht  auf  die  Ge- 
schichte, insbesondere  die  der  deutschen  Vorzeit"  entscheidende  Bedeutung 
gewinnen.  An  der  sprachlich  gewiß  geeigneten  Liviuslektüre  den  Aufbau 
des  römischen  Freistaates,  in  der  Cicerolektüre  seinen  Niedergang  zu  zeigen, 
dazu  dürfte  vielleicht  kaum  noch  Platz  sein;  Cäsar  und  Tacitus  müßten 
den  Hauptraum  einnehmen,  vielleicht  würde  auch  eine  Auswahl  mit  Proben 
aus  anderen  Schriftstellern  über  das  alte  Deutschland,  wie  das  empfehlens- 
werte Lesebuch  von  Preuß*),  gute  Dienste  tun. 


*)  Vgl.  dazu  die  eingehenden  Darlegungen  von  P.  Lorentz,  Die  künftige  Stellung 
des  deutschen  Unterrichts  an  den  höheren  Lehranstalten,  Berlin  1917. 

•)  Sigmund  Preuß,  Die  Germanen  in  den  Berichten  der  römischen  Schriftsteller, 
2  Teile,  Bamberg  1915. 


Der  lateinische  Unterricht  am  Realgymnasium.  355 

Hiermit  habe  ich  schon  die  Frage  des  Anschlusses  des  Lateinischen 
an  andere  Fächer  berührt.  Im  Hinblick  auf  den  Inhalt  ist  es  die  Ge- 
schichte, im  Hinblick  auf  die  formale  Seite  der  deutsche  Unter- 
richt, an  die  er  sich  ungezwungen  enge  anlehnen  kann;  womit  nicht 
gesagt  sein  soll,  daß  nicht  auch  mit  anderen  Fächern  Berührung  hergestellt 
werden  müsse. 

Fassen  wir  insbesondere  das  Übersetzen  als  Mittel  zu  deutschsprachlicher 
Erziehung  und  gliedern  so  den  lateinischen  Unterricht  dem  deutschen  an, 
so  haben  wir  die  beste  Möglichkeit,  die  erworbene  Bildung  in  tätige  Kraft 
umzusetzen,  denn  es  gibt  wohl  nichts,  das  so  alle  Kräfte  und  allen  Wissens- 
inhalt aktiv  zusammenfaßte  wie  die  Da'^stellung  in  der  Muttersprache.  Und 
wer  weiß,  ob  nicht  noch  einmal  in  der  Pflege  des  persönlichen  Stils,  zugleich 
in  ihrer  Rückwirkung  auf  die  zu  klärende  Gedankenwelt  sslbst,  die  Einheit 
gefunden  werden  muß,  die  unserem  enzyklopädischen  Jugendurterricht 
jetzt  noch  fehlt? 

Eine  erhebliche  Wandlung  zum  Besseren  im  obigen  Sinne  wird  fü^  das 
Realgymnasium  dann  eingetreten  sein,  wenn  in  der  Prüfung  für  das  höhere 
Lehramt  die  Verbindung  des  Lateinischen  statt  mit  dem  Griechischen  mit 
Geschichte  und  Deutsch  mehr  in  Aufnahme  gekommen  sein  wird,  was  die 
Beobachtungen  der  letzten  Jahre  erwarten  lassen.  Es  wäre  wünschenswert, 
daß  die  Prüfungsordnung  selbst  auch  solche  Verbindungen  nahe  legte. 

In  den  bezeichneten  Grenzen  und  auf  den  bezeichneten  Wegen  wird  sich 
der  vielbewährte  Bildungswert  desLateinischen  durch  das  Realgymnasium  noch 
weiten  Kreisen  erhalten  lassen,  und  wenn  man,  je  weniger  es  im  Lateinischen 
möglich  ist,  in  anderen  Fächern  bestrebt  sein  wird,  die  Gegenwart  aus  den  ähn- 
lichen und  doch  viel  einfacheren  Problemen  des  Altertums  verständlich  zu 
machen  und  den  Einfluß  der  Antike  auf  die  Entwicklung  des  eigenen  Volkes  zu 
erkennen,  dann  wird  auch  der  gymnasiale  Charakter  des  Realgymnasiums 
nicht  preisgegeben  sein.  P.  Cauer  sagt  in  seiner  Palaestra  vitae^) :  „Ein  Gym- 
nasium ohne  Griechisch  ist  eine  moderne  Schule,  die  sich  der  lateinischen 
Sprache  zweckmäßig  bedient,  um  Französisch  und  Englisch  gründlicher  zu 
lehren ;  mit  der  Aufgabe,  die  Gegenwart  und  ihre  geistigen  Kräfte  vom  Alter- 
tum aus  zu  begreifen,  hat  sie  nichts  mehr  zu  schaffen."  Wer  dieser  Auffassung 
zustimmt,  wird  freilich  gegen  jedes  Latein  am  Realgymnasium  sich  wenden 
müssen,  aber  der  hat  auch  wohl  Wert  und  Eigenart  des  Realgymnasiums 
nicht  so  vorurteilslos  erfaßt,  daß  er  ihm  voll  gerecht  werden  könnte. 

Rheine  i.  W.  J.  Bathe. 


Zur  Ausbildung  der  Studienreferendare. 

Die  folgenden  Ausführungen  waren  eigentlich  nur  dazu  bestimmt,  An- 
fang und  Grundlegung  einer  Aussprache  zu  bilden,  die  die  rheinische  Direk- 
torenvereinigung den  Ausbildungsnöten  widmen  wollte.     Auf  Wunsch  der 


1)  Einleitung,  S.  8. 


356  M.  Wiesenthal, 

Versammlung  und    der  Herausgeber   der  Monatschrift  geschieht  die  Ver- 
öffentlichung ohne  erhebliche  Änderungen*). 

Die  preußische Unterrichtsverwaltung  hält  die,, Ordnung  der  praktischen 
Ausbildung  für  das  Lehiamt  an  höheren  Schulen"  von  1917  für  verbesserungs- 
bedürftig. Ihr  grundstürzender  Vorschlag,  das  erste  Vorbereitungsjahr  vor 
das  wissenschaftliche  Studium  zu  legen,  hat  aber  bei  den  Philologen  allgemeine 
Ablehnung  erfahren.  Mit  Recht.  Nicht  nur  würde  der  angegebene  Zweck, 
unfreudige,  lieblose,  unklare,  langweilige  Menschen  vom  Lehrerberuf  abzu- 
schrecken leider  nicht  erreicht  werden,  sondern  das  Gegenteil;  nicht  nur  würden 
die  Schüler  einer  mit  solchem  Seminar  versehenen  Anstalt  schwer  geschädigt 
werden;  vor  allem  widerspiicht  es  dem  Wesen  wissenschaftlichen  Unterrichtes, 
daß  jemand  die  Methode  solchen  Unterrichtes  lernen  soll,  bevor  er  die  Wissen- 
schaft selber  • —  gründlich  —  kennen  gelernt  hat.  Wir  erstreben  eine  innere 
Einheit  der  Angehörigen  des  Lehrerberufs  in  ihrer  Gesinnung  gegenüber 
den  Erzieht  ngsaufgaben ;  die  Lehraufgaben  verlangen  ihrer  Natur  nach  ver- 
schiedene Vor-  und  Ausbildung. 

Der  gegenwärtige  Zustand  ist  auch  nach  unserer  Meinung  besserungs- 
bedürftig, aber  auch  verbesserungsfähig.  Die  meistbeklagten  Mißstände 
sind  Nachwi'-kungen  des  Krieges  und  gewähren  Hoffnung,  daß  sie  in  abseh- 
barer Zeit  von  selbst  ve<*schwinden  werden.  Wir  wollen  an  die  durch  den 
Krieg  in  ihrer  Berufsausbildung  so  schwer  geschädigten  Aiwärter  alle  Liebe 
und  Sorge  wenden.  Aber  wir  dürfen  den  augenblicklichen  wirtschaftlichen 
Vorteil  der  Referendare  nicht  höher  stellen  als  ihren  eigenen  wahren  Vor- 
teil für  ihr  ganzes  Berufsleben  und  als  den  Anspruch  unserer  Schüler  auf 
möglichst  gediegen  ausgebildete  Lehrer  und  Erzieher. 

Aus  der  Ordnung  von  1917  ergibt  sich,  daß  an  ,, Seminaranstalten" 
festgehalten  werden  sollte,  wenn  auch  das  Wort — ich  verstehe  nicht  warum  — 
ängstlich  vermieden  wird.  Sie  sollten  6 — 8  Mitglieder  aufnehmen  und  in 
mindestens  2  Stunden  wöchentlich  Sitzungen  halten.  Jetzt  werden  aber, 
ohne  Rücksicht  auf  die  Eignung  der  Anstalten  ihnen  einzelne  Referendare 
zugeteilt.  Wie  sollen  die  Sitzungen  gehalten,  Berichte  und  Vorträge,  Aus- 
sprache und  Niederschi'ift  von  demselben  Individuum  geleistet  werden? 
Man  beschränkt  sich  also  auf  die  „gelegentlichen"  Winke  beim  Unterricht, 
auf  Angabe  von),Literatur"  und  Stellung  schriftlicher  Aufgaben;  die  wert- 
volle Ausbildung  durch  die  Gemeinschaft  für  die  Gemeinschaft  fehlt.  Das 
ist  genau  der  Zustand,  wegen  dessen  vor  30  Jahren  das  „Probejahr"  als 
unzureichend  befunden  und  das  „pädagogische  Seminar"  eingerichtet  wurde. 

Nun  finden  sich  zwar  in  größeren  Städten  im  Laufe  des  Jahres  3  bis  4, 
ja  bis  8  Referendare  an  einer  Anstalt  ein.  Aber  sie  kommen  nicht  zu  gleicher 
Zeit.  Sie  können  nicht  nur  an  jedem  Vierteljahrsersten  eintreten,  sondern 
sogar  in  der  Zwischenzeit.  Da  ist  dann  der  eine  noch  übrig  vom  Vorjahr, 
der  andere  kommt  zu  Ostern,  der  dritte  zum  15.  November,  der  vierte  zum 

^)  [Der  Vortrag  hat  länger  warten  müssen,  als  beabsichtigt  war;  so  ist  er  in  Einzel- 
heiten überholt.  Dennoch  wird  er  hier  als  Stimmungsbild  ohne  nachträgliche  Änderungen 
wiedergegeben,  die  für  den  Kenner  nicht  nötig  sind.     M.  S.] 


Zur  Ausbildung  der  Studienreferendare.  357 

Februar.  Und  sie  haben  öfters  dieselben  Lehrbefähigungen.  Im  §  6  der  Ord- 
nung heißt  es:  „dem  einzelnen  Fachhhrer  sind  zu  gleicher  Zeit  in  der  Regel 
zwei,  höchstens  drei  Kandidaten  zuzuweisen."  Jetzt  kommt  der  2.  oder  3., 
wenn  der  1.  oder  2.  mit  der  grundlegenden  Anleitung  für  sein  Lehrfach  noch 
nicht  fertig  ist.  Entweder  verfolgt  dann  der  Fachlehrer  seinen  Unterweisungs- 
plan, ohne  auf  den  Neuhinzukommenden  Rücksicht  zu  nehmen:  dann  fehlt 
dem  einen  der  Anfang,  dem  andern  die  Mitte,  dem  dritten  das  Ende  der 
Fachausbildung.  Oder  er  soll  bei  jedem  neuen  Referendar  mit  diesem  be- 
sonders von  vorne  anfangen  —  dann  müßte  er  in  der  Woche  3 — 4  ,, Fach- 
sitzungen'* mit  jedem  einzelnen  abhalten,  um  durchzukommen,  falls  er  nicht 
glaubt,  diese  Ausbildung  zwischen  Tür  und  Angel  eines  Klassenzimmers 
abmachen  zu  können.  Aus  Büchern  ist  gerade  die  Unterrichtstechnik  des 
einzelnen  Faches  nicht  zu  lernen.  Aber  wer  vermag  solche  Sisyphusarbeit 
durchzuführen?  Ein  Glück,  wenn  aus  der  alten  Zeit  noch  ,, Seminarprotokolle" 
und  eine  „Seminarbibliothek"  als  „Ersatz"  vorhanden  sind! 

In  der  pädagogischen  Prüfung  finden  sich  nun  Referendare  mit  8,  12, 
18  und  24  Ausbildungsmonaten  zusammen.  Die  Folge  ist  ein  unvermeid- 
licher Drill  auf  die  Prüfung.  Der  ist  an  sich  schon  das  Gegenteil  von  freier 
Entwicklung  der  Lehrer-  und  Erziehereigenschaften;  wem  „die"  Methode 
„beigebracht"  worden  ist,  der  wird  auch  später  geneigt  sein,  seine  Schüler 
zu  „drillen",  statt  ihre  Persönlichkeit  entwickeln  zu  helfen.  Dem  ,, zustän- 
digen Provinzlalschulrat"  wird  aber  so  die  Beurteilung  des  Eigenwertes 
der  Lehrerpersönlichkeit  beim  Unterrichtsbesuch  und  in  der  Prüfung  außer- 
ordentlich erschwert  und  die  schwächere  Persönlichkeit  kommt  leicht  zum 
besseren  ,, Prädikat".  Nach  meiner  Überzeugung  würde  das  noch  viel  mehr 
der  Fall  sein,  wenn  die  Prüfung  an  einer  Zentralstelle  erfolgte:  abfragbares 
Wissen  und  einwandfreie  „Technik"  würden  da  den  Ausschlag  geben,  das 
Lehrhandwerk  mehr  gelten  als  die  nur  an  der  Seminaranstalt  zu  beobachtende 
Lehr-  und  vor  allem  die  Menschenbehandlungskunst. 

Verschlimmert  werden  die  in  den  gegenwärtigen  Verhältnissen  begrün- 
deten Mißstände  noch  durch  den  Hauptübelstand  der  geltenden  Ordnung 
der  Ausbildung:  Die  Aufgaben  der  beiden  Vorbereitungs jähre  sind  nicht 
klar  geschieden  und  es  sind  nicht  besondere  Anstalten  je  mit  dem  Unter- 
weisungsstoffe des  ersten  oder  zweiten  Jahres  betraut.  So  geschieht  es  oft, 
daß  ein  Referendar  mit  normaler  zweijähriger  Ausbildungszeit,  der  nach  dem 
ersten  Jahre  der  Regel  entsprechend  einer  andern  Schule  überwiesen  wiid, 
dieselben  Gegenstände  zweimal  in  aller  Ausführlichkeit  durchzuarbeiten 
hat  und  andere,  für  ihn  vielleicht  anregendere  und  wichtigere,  in  den  zwei 
Jahren  überhaupt  nicht  kennen  lernt. 

Dieser  Fehler  der  neuen  Ausbildungsordnung  beruht  auf  ihrem  Haupt- 
vorzug vor  der  ersten  Ordnung  der  pädagogischen  Seminare  in  Preußen. 
Dieser  Vorzug  liegt  in  dem  Bestreben,  das  zweite  Ausbildungs-  einst  ,, Probe- 
jahr" nachdrücklicher  als  früher  für  die  Ausbildung  heranzuziehen  und  aus- 
zunutzen. Zu  diesem  Zweck  ist  auch  das  zweite  Jahr  mit  wöchentlichen 
Sitzungen  und  den  andern  Einrichtungen  des  Seminarbetriebes  ausgestattet 


358  M.  Wiesenthal, 

worden.  Umgekehrt  ist  das  erste  Jahr  bereits  mit  dem  Charakteristikum 
des  früheren  Probejahres,  der  Zuteilung  an  einen  „tüchtigen  Vertreter  der 
Hauptfächer  des  Kandidaten"  bedacht  worden.  Auch  in  dieser  Bewertung 
des  Fachlehrers  —  des  Meisters  —  für  die  Entwicklung  der  Unterrichts- 
kunst  des  Lehrlings  sehe  ich  einen  Vorzug  der  Ordnung  von  1917  besonders 
in  ihrer  Verbindung  mit  dem  Grundsatz:  ,Es  ist  darauf  hinzuwirken,  daß 
die  Kandidaten  während  ihrer  ganzen  Vorbereitungszeit  ihre  wissen- 
schaftliche Ausbildung  vertiefen."  Bewährtes  Altes  ist  damit  zu  neuer 
Geltung  gebracht.  Erinnern  wir  ms  der  rühmlichen  Fachseminare: 
F.  A.  Wolfs  zur  Ausbildung  altphilologischer,  Schellbachs  zur  Ausbildung 
von  Lehrern  der  Mathematik  und  Physik,  des  Kandidatenkonvikts  in 
Magdeburg,  das  ,, durch  wissenschaftliche  und  praktische  Anleitung 
tüchtige  Religionslehrer"  heranbilden  wollte  und  des  Herrigschen 
Seminars  für  Lehrer  der  neueren  Sprachen.  Ich  will  aber  nicht  die  Rück- 
kehr zum  reinen  Fachseminar  empfehlen,  wie  sie  die  bayrische  Seminar- 
ordnung von  1897  vorgenommen  hat.  Ich  habe  einmal  einen  Seminarjahr- 
gang von  6  Altphilologen  gehabt  und  allerdings  nie  eine  bessere  Fachausbil- 
dung erreicht.  Dennoch  —  die  Gefahr  der  einseitigen  Richtung  auf  das  eigene 
Unterrichtsziel  ist  doch  wohl  zu  groß,  so  daß  der  Pädagoge  verliert,  was  der 
Lehrer  gewinnt;  und  —  was  wichtiger  is*  —  die  Schül^^r  einer  Anstalt  mit 
Fachseminar  leiden  unter  dem  allzuvielen  Übungsunterricht,  bei  dem  sie 
das  Mittel  zum  Zweck  sind.  Aber  die  Verbindung  des  fac^^wissenschaftlich- 
didaktischen  Fachseminars  mit  dem  allgemein-pädagogischen  ist  der  rechte 
Weg.  Beruht  sie  doch  auf  der  ET^kenntnis,  daß  es  für  wissenschaftlichen 
Unterricht  keine  allgemeingültige  Methode  gibt,  die  an  sich  und  vor  der 
Wissenschaft  erlernt  werden  könnte,  sondern  daß  die  Methode  wissenschaft- 
lichen Unterrichts  hervorgehen  mnß  aus  der  Methode  wissenschaftlichen 
Forschens  und  mit  dieser  sich  ändern  muß,  soweit  der  unentwickelte  Geist 
der  Schüler  und  die  Rücksicht  auf  den  Erziehungszweck  es  zuläßt. 

Aus  der  an  der  Hand  der  Erfahrung  gewonnenen  Erkenntnis  des  Mangels 
und  der  Vorzüge  der  ,,0'"dnung  der  praktischen  Ausbildung  für  das  Lehramt 
an  höheren  Schulen  in  Preußen"  werden  wir  nun  einen  Weg  finden  können 
zur  besseren  Gestaltung  der  Ausbildung  durch  natur-  und  zeitgemäße  Fort- 
bildung der  Ordnung,  nicht  durch  Umsturz  oder  Rückbildung  ihrer  Grund- 
lagen. Die  wirtschaftliche  Notlage  der  Referendare  kann  bei  der  Zuweisung 
durchaus  berücksichtigt  werden,  aber  ausschlaggebend  darf  sie  letzten  Endes 
nicht  sein.  Wir  Erzieher  haben  meines  Erachtens  die  Standespflicht,  in 
unserer  Berufsauffassung  vorbildlich  zu  sein,  und  dürfen  nicht  die  Anschau- 
ung aufkommen  lassen,  daß  die  höheren  Schulen  unsertwegen,  zu  unserer 
Versorgung  da  seien.  Auch  dem  Kandidaten  muß  es  einleuchtend  sein,  daß 
es  für  ihn  besser  ist,  seine  Ausbildung  möglichst  gediegen  als  sie  möglichst 
billig  zu  haben.  Wer  aus  einem  kleinen  Orte  ohne  höhere  Schule  stammt, 
hat  für  Schule,  Universität  und  Ausbildung  ganz  andere  Opfer  zu  bringen 
als  wer,  in  einer  Universitätsstadt  zu  Hause,  auch  noch  an  seiner  früheren 
Schule  sein  tirocinium  paedagogicum  erledigt.  Aber  er  ist  der  durchs  Leben 
besser  vorgebildete  Erzieher. 


Zur  Ausbildung  der  Studienreferendare.  359 

Welche  Besserungen  sind  schon  jetzt  anzustreben,  wenn  die  Not  der 
Zeit  auch  noch  nicht  ihre  restlose  Durchführung  zuläßt? 

Es  sind  wieder  eine  Anzahl  bestimmter  Anstalten  auszuwählen,  die  mit 
der  Vorbereitung  von  Referendaren  für  längere  Zeit  zu  betrauen  sind.  Denn 
die  Anleitung  zum  wissenschaftlichen  Unterricht  und  die  Ausbildung  eines 
Erziehers  ist  etwas  anderes  als  wissenschaftlicher  Unterricht  und  Erziehen 
selbst  und  bedarf  ihrerseits  besonderer  Vorbereitung,  Übung  und  Erfahrung. 
Zum  Studium  der  Theorie  der  Erziehung  und  des  Unterrichtes  ist  bei  einem 
ohnehin  mit  Fortbildung  in  seiner  Wissenschaft  und  Amtsgeschäften  genug- 
sam in  Anspruch  genommenen  Lehrer  und  Direktor  wenig  Neigung  zu  er- 
warten, wenn  seine  Tätigkeit  nach  einem  Jahre  wieder  abgebrochen  wird, 
und  eine  Erfahrung  kann  auf  diese  Art  weder  der  einzelne  gewinnen  noch 
das  Kollegium  einer  Anstalt.  Und  doch  ist  diese  Erfahrung  des  Kollegiums 
das  einzige  Mittel,  das  die  dem  Unterrichtsbetrieb  der  „Seminaranstalt" 
durch  den  Ausbildungsunterricht  zugefügte  Schädigung  wettmacht,  ja  mehr 
als  ausgleicht. 

An  diesen  Seminaranstalten  ist  eine  gut  gewählte  und  reichlich  ausge- 
stattete Seminarbibliothek  vonnöten.  Ich  gebrauche  den  alten  Ausdruck 
wieder,  seitdem  mich  mein  Buchhändler,  als  ich  ihm  einen  Auftrag  für  die 
Studienreferendarvorbereitungseinrichtungsbücherei  gab,  mit  seltsam  ernster 
Miene  anschaute.  Die  Referendare  sind  jetzt  noch  weniger  in  der  Lage  als 
früher  die  Kandidaten,  sich  die  erforderlichen  Sammelwerke,  alten  und  neuen 
Schriften  selbst  anzuschaffen.  Es  kann  leider  nicht  jede  Anstalt  mit  einer 
halbwegs  genügenden  pädagogischen  Bibliothek  ausgestattet  werden;  mit 
den  für  sachliche  Ausgaben  vorgesehenen  100  M.  (hundert  Mark)  kann  1  Zeit- 
schrift, 1  Protokollbuch  und  1  oder  2  Bücher  beschafft  werden,  wenn  sie 
dünn  sind. 

Haushälterische  Planwirtschaft  verlangt  es  also  ebenso,  daß  etwa  6  Re- 
ferendare wieder  an  einer  Anstalt  vereinigt  werden,  wie  das  Bedürfnis  der 
Auszubildenden  nach  literarischem  Rüstzeug.  Anders  ist  die  verlangte  Vor- 
bereitung durch  Selbststudium  nicht  möglich. 

Zukünftige  Deutsch-,  Religions-  und  Geschichtslehrer  mögen  allen 
3  Arten  der  höheren  Schulen  gleichmäßig  zugeteilt  werden.  Um  die  Aus- 
bildung durch  den  Fachlehrer  und  die  Facheinrichtungen  wirksam  zu  machen, 
wird  es  zu  empfehlen  sein,  Altsprachler  einem  gymnasialen  Seminar,  Neu- 
sprachler und  Naturwissenschaftler  einem  Realgymnasium  oder  einer  Ober- 
realschule zuzuteilen,  wenigstens  für  das  eine  Jahr,  es  sei  denn,  daß  an  einer 
nicht  gerade  ihren  eigentümlichenLehrbefähigungen  entsprechenden  Anstalt  ein 
für  ihre  erste  Ausbildung  ganz  besonders  geeigneter  Vertreter  voihanden  ist. 

Anstalten  ohne  für  die  Ausbildung  geeignete  ,, tüchtige  Vertrete^-"  dürfen 
nicht  Seminaranstalten  sein  oder  bleiben.  Die  Anstalt  macht's  nicht,  der 
Direktor  allein  auch  nicht.  Er  kann  die  Einzelausbildung  nicht  schaffen, 
so  viel  er  sich  und  andere  ihm  auch  zumuten  und  zutrauen. 

Jede  Anstalt  mit  Seminar  muß  verpflichtet  sein,  eigene  ausführliche 
Lehrpläne  mit  methodischen  Anweisungen  auszuarbeiten.      Diese  gemein- 


360  M.  Wiesenthal,] 

same  Arbeit  ist  unschätzbar  für  Kollegium  und  Referendare  und  zum  Schutz 
der  Schüler  vor  widerstreitendem  Verfahren. 

Erst  wenn  diese  Bedingungen  erfüllt  sind,  kann  jede  Seminaranstalt 
daran  gehen,  ihre  Aufgaben  nach  einem  Jahresplan  auf  die  80  Sitzungsstunden 
zu  verteilen.  Jetzt  ist  nur  immer  eine  Vereinbarung  auf  Wochen  möglich. 
Tatsächlich  wird  —  fortgewurstelt. 

Wie  soll  nun  der  gesamte  Unterweisungsstoff  auf  die  2  Vorbereitungs- 
jahre verteilt  werden?  Es  wird  mir  entgegengehalten,  daß  das  schon  ganz 
andere  Leute  wiederholt  versucht  hätten,  ohne  zu  einem  befriedigenden  Er- 
gebnis zu  kommen.  Dieser  Mißerfolg  ist  meines  Erachtens  darauf  zurück- 
zuführen, daß  man  sich  nicht  zuerst  über  ein  Prinzip  der  Verteilung  geeinigt 
hat.  Ohne  ein  solches  wird  sich  allerdings  eine  klarere,  praktischere  und 
zeitgemäßere  Verteilung  des  Stoffes  nicht  erreichen  lassen.  Ich  schlage  vor, 
das  erste  Jahr  zu  widmen  der  Ausbildung  zum  wissenschaftlichen  Fachlehrer, 
wozu  auch  die  Ergänzung  und  Verbesserung  der  wissenschaftlichen  Aus- 
rüstung gehört;  das  zweite  der  Ausbildung  zum  nationalen  Jugenderzieher. 
A  potior!  fit  denominatio;  denn  selbstverständlich  kann  man  nicht  unter- 
richten lernen,  ohne  praktisch  die  Schulzucht  zu  handhaben. 

I.  Vorbereitungsjahr:  Der  Lehrer. 

1.  Anweisung  für  das  Hospitieren,  das  amtliche  und  außeramtliche  Ver- 
.halten.     Praktische  Sprechkunst. 

2.  Der  Lehrer  als  Beamter:  Aufsichtsbehörden,  Dienstanweisung  nebst 
Versetzungsbestimmungen,  die  preußische  und  deutsche  Unterrichts- 
verfassung. 

3.  AUgem.Didaktik :  Fragekunst,  Anschauung,  Memorieren,  Formalstufen  u. a. 

4.  Didaktik  und  Methodik  der  Lehrfächer  der  Referendare.  Behandlung 
der  schriftlichenArbeiten.    Anleitung  zur  wissenschaftlichen  Fortbildung. 

5.  Die  Verbindung  der  Lehrplanstoffe  zu  einer  Einheit,  Vergleich  der  Lehr- 
pläne verschiedener  Schulgattungen,  insbesondere  Mädchenschulen. 

6.  Unterrichtsprinzipien  oder  gemeinsame  Aufgaben  aller  Unterrichtsgegen- 
stände: Heimatkunde,  deutsche  Sprach-  und  Kulturkunde,  Kunsterzie- 
hung, philosophische  Propädeutik,  politische  Propädeutik. 

7.  Kurse  zur  Ausbildung  von  Spielleitern  und  von  Turnlehrern  für  die 
unteren  Klassen. 

8.  Praktische  Schulzucht,  möglichst  im  Anschluß  an  bestimmte  Fälle. 

9.  Schulordnung,  Schul-  und  Klassengemeinde,  Vereinswesen  der  Schüler. 
10.  Klassenleitung,  Verkehr  mit  den  Eltern,  Elternabende,  Elternbeirat. 

H.  Vorbereitungsjahr:  Der  Erzieher. 
L  Didaktik  als  Bildungslehre  mit  Wiederholung  und  Ergänzung  der  im 
1.  Jahre  behandelten  Gegenstände.    Theorie  des  Lehrplans. 

2.  Die  geschichtlichen  Bildungsideale  seit  dem  Humanismus  und  das  päda- 
gogische Erbe  der  Vergangenheit. 

3.  Zeitweilige  Tätigkeit  an  andersartigen  höheren  Schulen  für  Knaben 
und  Mädchen  sowie  an  Volks-  und  Fortbildungsschulen.  Berichte  über 
diese  Tätigkeit. 


Zur  Ausbildung  der  Schulreferendare.  361 

4.  Das  Schulwesen  des  Auslandes. 

5.  Philosophische  und  psychologische  Grundlegung  der  Pädagogik. 

6.  Ethik  einschließlich  Sexualpädagogik  und  Gesellschaftskunde  einschließ« 
lieh  Sozialpädagogik. 

7.  Gesundheitslehre. 

8.  Jugendkunde,  Jugendpflege,  Jugendbewegung. 

9.  Die  pädagogischen  Bestrebungen  der  Gegenwart. 

10.  Die  Einheitlichkeit  des  Erzieherstandes.     Geschichte  und  Organisation 

des  Philologenstandes. 

An  den  methodischen  Anweisungen  hätte  ich  nichts  zu  verbessern. 
Ich  rechne  zu  ihnen  auch  §  5,  Nr.  10  der  Ordnung:  „Besprechung  wichtiger 
literarischer  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Erziehung  und  des  Unter- 
richtes. Berichte  über  Lektüre  bedeutender  pädagogischer  Werke."  Nur 
möchte  ich  festgelegt  sehen,  daß  von  jedem  Referendar  im  ersten  Jahre 
mindestens  3,  im  zweiten  2  schriftliche  Arbeiten  außer  der  umfangreicheren 
Prüfungsarbeit  einzureichen  sind.  Es  fehlt  nämlich  vielfach  an  Gewandt- 
heit auch  der  schriftlichen  Darstellung.  Aus  demselben  Grunde  möchte  ich 
für  das  erste  Jahr  ausgearbeitete  Berichte  über  die  Sitzungsverhandlungen 
verlangen,  für  das  zweite  Niederschriften  in  der  Sitzung  selbst,  die  das  Wesent- 
liche der  Besprechung  herausheben.  Die  Bestimmung,  daß  die  Referendare 
vierteljährlich  ihr  Tagebuch  dem  Direktor  vorlegen  sollen,  ist — zu  streichen. 

Die  ,, Vorbereitungseinrichtungen**  oder  Seminaranstalten  werden  in 
solche  des  1.  und  2.  Vorbereitungsjahres  geschieden.  Im  zweiten  Jahre  sind 
die  Sitzungen  der  pädagogischen  Arbeitsgemeinschaft  wichtiger  als  die  Einzel- 
ausbildung durch  den  Fachlehrer.  Eine  Zuteilung  an  einen  ,, Meister*'  der- 
selben Anstalt  ist  also  nicht  nötig,  wohl  aber  erwünscht  für  die  zeitweilige 
Beurlaubung  an  eine  andersartigen  Anstalt.  Auf  diese  Art  kann  ein  „Se- 
minar des  zweiten  Jahres*'  eine  größere  Anzahl  Mitglieder  aufnehmen,  während 
bei  denen  des  1.  Jahres  6  die  Höchstzahl  sein  soll,  bei  einfachen  An- 
stalten 3 — 4  am  besten  vorgebildet  werden  können. 

Diejenigen  Referendare,  deren  Ausbildungszeit  auf  ein  Jahr  verkürzt 
ist,  werden  einer  Anstalt  mit  dem  Plan  des  ersten  Vorbereitungsjahres  zu- 
geteilt, wenn  sie  noch  nicht  im  Schulunterricht  tätig  gewesen  sind.  Wird 
ihnen  dagegen  ein  Jahr  wegen  bereits  erreichter  Unterrichtserfahrung  er- 
lassen, so  ist  für  die  der  zweite  Jahreskurs  vorzuziehen. 

Früher  gab  es  „Osterseminare"  und  „Herbstseminare".  Da  war  es 
natürlich  und  leicht  einen  Jahresarbeitsplan  aufzustellen  und  durchzuführen. 
Gegen  die  vierteljährlichen  Zuweisungen,  die  dem  wahren  Vorteil  der  Re- 
ferendare so  schädlich  sind  und  den  Leitern  ein  planmäßiges  Arbeiten  un- 
möglich machen,  bietet  die  Zuteilung  an  Seminare  des  1.  und  2.  Jahres  doch 
einige  Linderung.  Jetzt  ist  auch  bei  den  „tüchtigsten  Vertretern"  und  arbeits- 
frohesten  Direktoren  leider  eine  gewisse  Verdrossenheit  gegenüber  der  Un- 
erquicklichkeit ihrer  Flickarbeit  nicht  zu  verkennen.  Sie  erklärt  sich  aus  den 
besprochenen  Mißständen  und  könnte  mit  ihnen  verschwinden.  Aber  es 
ist  noch  eine  andere  Quelle  des  Mißvergnügens  zu  verstopfen.    Das  ist  die 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  jhrg.  24 


362  Hartstein, 

den  „beauftragten"  Lehrern  „zugebilligte"  Entschädigung,  die  nichts  anderes 
darstellen  soll  „als  einen  Beitrag  zu  den  ihnen  aus  Anlaß  der  Erfüllung  ihres 
Auftrages  etwa  erwachsenden  Sonderaufwendungen"  (Min.Erl.  v.  23.  Juni 
1919  Uli  11577).  Das  Ministerium  hat  die  Entdeckung  gemacht,  daß  das, 
was  fast  30  Jahre  lang  ein  Nebenamt  war,  als  solches  bezeichnet  und  be- 
zahlt wurde  —  die  Ausbildung  der  Kandidaten,  nach  neuer  Auslegung  der 
Dienstanweisung  (von  1910!)  zu  den  durch  das  Diensteinkommen  mit  ab- 
gefundenen Pflichten  des  Direktors  und  des  Kollegiums  gehöre.  Mag  das 
nun  ein  juristisches  oder  philologisches  Auslegekunststück  sein — es  ist  zweifel- 
los ein  Stück,  über  das  man  je  nach  Anlage  sich  mehr  ärgert  oder  mehr 
lacht.  Aber^T^wir  wollen  nicht  darum  rechten  und  klagen,  daß  man  gerade 
den  meistgeplagten  „tüchtigen  Vertretern"  ein  bisher  besessenes  gutes 
Recht  auf  eine  bescheidene  Vergütung  mit  einer  Deutung  entrissen  hat, 
die  den  Staat  eigentlich  zur  Rückforderung  aller  für  die  Seminar- 
ausbildung  gezahlten  Vergütungen  veranlassen  müßte.  Dazu  sollten  wir 
zu  vornehm  von  uns  und  unserer  Pflicht  gegen  unsern  Stand  denken. 

Fort  mit  dieser  unwürdigen  und  ärgerlichen  ,, Entschädigung  für  etwa 
erwachsende  Sonderaufwendungen!"  Diese  Ablehnung  mit  Trinkgeld  unter 
der  Bemäntelung,  sie  sei  als  Vergütung  etwa  für  Fahrten  mit  der  Straßenbahn 
aufzufassen,  macht  unsern  Stand  lächerlich  und  verdirbt  die  Freude  an  der 
schönsten  und  wichtigsten  Aufgabe,  die  einem  unter  uns  werden  kann.  Laßt 
uns  doch  von  Standeswegen  einmütig  erklären:  Es  ist  zwar  nicht  wahr,  daß 
wir  uns  jahrzehntelang  widerrechtlich  für  Leistungen  haben  bezahlen  lassen, 
die  in  unsere  Amtspflichten  eingeschlossen  waren.  Aber  jetzt  wollen  wir 
von  uns  aus  die  Ausbildung  unseres  Nachwuchses  als  Amts-,  Standes-  und 
Ehrenpflicht  eines  jeden  unter  uns  ohne  Lohn  auf  uns  nehmen.  Denn  wir 
sind  überzeugt,  daß  der  Deutsche  und  der  Beamte  nicht  seine  Pflicht  tut, 
der  jetzt  nicht  mehr  tut  als  seine  Pflicht.  Dazu  wollen  wir  Philologen  das 
Beispiel  g'^b^n.  Unsere  Standesvertretung  soll  das  Ministerium  bitten,  auf 
die  Entschädigung  für  unsere  Mehrarbeit  von  Standes  wegen  verzichten  zu 
dürfen,  unter  der  Bedingung,  daß  die  hierfür  ausgesetzten  Beträge  vcwandt 
werden  zur  Unterstützung  von  Studienreferendaren,  die  ihre  Vorbereitungs- 
jahre nicht  in  ihrem  Heimatorte  ablegen  können.  Kommt,  laßt  uns  unserm 
Nachwuchs  leben !  Seien  wir  unsern  jungen  Standesgenossen  Berufskameraden 
und  Lebenshelfer  —  unbezahlt  und  unbezahlbar! 

Duisburg.  M.  Wiesenthal. 

Zur  Turnreifeprüfung. 

Allen  Schulerlassen  des  Ministerium  Haenisch  haften  zwei  Eigenschaften 
an:  der  gute  Wille  und  ein  gewisses  Maß  von  Übereilung,  wenn  man  will, 
von  Überstürzung.  Der  gute  Wille  fand  sich  bei  den  Ratgebern  des  Ministers 
vor,  die  ihm  bei  den  Erlassen  an  die  Hand  gingen.  Es  war  ihnen  in  fast  allen 
Fällen  lediglich  um  die  Hebung  der  betreffenden  Sache  zu  tun.  Nur  einer 
der  Freunde  des  Ministers  hat  in  öffentlicher  Versammlung  bekannt  gegeben, 
daß  er  bei  der  Veranlassung  und  Abfassung  des  Schulgemeindeerlasses  nicht 


Zur  Turnreifeprüfung.  353 

nur  die  neue  Gemeinde  selbst  im  Auge  gehabt  sondern  daß  er  auch  einmal 
feststellen  wollte,  wie  unmodern,  wie  wenig  zugänglich  für  Neuerungen  die 
heutige  Philologenschaft  sei.  Er  sagte  wörtlich,  wie  dumm  sie  sei.  Er  hättte 
so  fuhr  er  dann  fort,  nun  zwar  ein  gutes  Maß  dieser  einen  Lehrer  nicht  gerade 
zierenden  Eigenschaft  bei  den  Akademikern  vorausgesetzt,  allein  sie  hätten 
durch  ihr  Vorgehen  in  Sachen  Schulgemeinde  seine  Erwartungen  bei  weitem 
übertroffen.  Ob  diese  Ausführungen  unter  den  angegebenen  Nebenumständen 
nötig  waren,  lassen  wir  dahingetsellt.  Der  Erfolg  im  Zuhörerraum  war  natür- 
lich dem  Herrn  Redner  sicher :  das  Gelächter  des  Publikums  glich  einem  — 
Gewieher. 

Für  die  Überstürzung  der  Erlasse  sind  zwei  Schulbeispiele  die  Er- 
lasse über  die  Spielnachmittage  und  die  ganztägigen  Wanderungen.  So  sehr 
der  Gedanke  an  sich  zu  begrüßen  ist,  der  diesen  Rundschreiben  zugrunde 
liegt,  so  sehr  vermißt  man  die  Ausführung  der  Einzelheiten,  die  doch  nun 
einmal  in  unseren  Zeiten  unbedingt  geboten  sind.  Da  sie  fehlten,  so  darf  man 
sich  nicht  wundern,  wenn  in  diese  Verfügungen  mehrfach  hinein-  und  aus 
ihnen  herausinterpretiert  wurde,  wenn  sie  auf  der  einen  Seite  helle  Freude, 
auf  der  anderen  einen  Widerwillen  hervorriefen,  der  stellenweise  bis  zu 
einer  glatten  Ablehnung  geführt  hat. 

Eine  gleiche  Abweisung  stand  der  zum  Frühjahre  d.J.  angeordneten  Turn- 
reifeprüfung bevor,  als  sie  zunächst  als  angängig,  als  erwünscht  hingestellt 
wurde.  Als  die  Abneigung  höheren  Ortes  wahrgenommen  wurde,  stellte 
man  die  einschlägige  Verfügung  um:  die  Turnreifeprüfung  ward  nunmehr 
allgemein  angeordnet.  Hierdurch  wurde  der  Riß  zwischen  den  seminaristisch 
und  akademisch  vorgebildeten  Turnlehrern  nicht  wenig  vergrößert.  Dort 
herrschte  über  die  zuletzt  ergangene  Modifikation  große  Genugtuung:  der 
Zutritt  zur  Prüfungskommission  war  nunmehr  diesen  Kollegen  ermöglicht, 
die  Stellung  des  Zeichenlehrers  an  den  höheren  Lehranstalten  in  dieser  Hin- 
sicht erreicht.  Hier  wurden  ernste  Bedenken  laut.  Die  Examensfrage  ist 
alt.  Gar  mancher  von  uns  war  schon  dem  bisherigen  Abitur  nicht  mehr  ge- 
wogen. Seine  Gegner  befinden  sich  keineswegs  ausschließlich  im  Lager  unserer 
Extremen,  unserer  Radikalen.  Und  nun  dieses  neue  Examen  mit  all  seinem 
Drum  und  Dran,   das  so  gänzlich   aus  dem  Rahmen  der  früheren  Zeit  fiel! 

Doch  die  Zeit  drängte,  das  Examen  mußte  abgehalten  werden.  Das 
erste  war  jedenfalls  nur  ein  tastender  Versuch.  Vielfach  wurde  es  auch  aus 
mehr  oder  minder  triftigen  Gründen  abgebrochen.  Anders  stand  es  jetzt, 
wo  die  Prüfung  zum  zweiten  Male  fällig  war,  wo  man  ruhiger  an  dasNovum 
heranging  und  es  zu  nützen  suchte  im  Interesse  der  Schüler  und  des  Vater- 
landes.   Jenes  muß  immerhin  unsere  suprema  lex  bleiben. 

Von  diesem  Gedanken  geleitet,  ging  ich  an  die  Aufstellung  der  Aufgaben. 
Sie  lauteten  unter  Berücksichtigung  aller  Umstände  —  zu  nennen  wäre  in 
erster  Linie  der  mangelhafte  Zustand  des  Schulturn-  und  Spielplatzes  —  also : 

1.  Ordnungsübungen:  je  eine  Kommandoübung. 

H.  Spiel:  Barlauf. 

in.  VolkstümlicheÜbungen  (Leichtathletik) :  I.Kugelstoßen,  2.  Schnelllauf. 

24* 


364  Hartstein,  Zur  Turnreifeprüfung. 

IV.  Geräteübungen:  1.  Schnursprunggestell:  a)  Hochsprung,  b)  Weit- 
sprung. 

2.  Sprungkasten  (mit  4  Kastensätzen) :  a)  längsgestellt :  Grätsche,  b)  quer- 
gestellt: Hocke. 

3.  Reck:  a)  hüfthoch:  Flanke  und  Kehre,  b)  scheitelhoch:  a)  Felgauf- 
schwung, ß)  Kippe  rücklings. 

4.  Barren:  a)  aus  dem  Stande  vorlings  Sprung  in  den  Stütz,  Stützein 
durch  die  ganze  Holmgasse,  Schwung  in  den  Liegestütz,  Armbeugen  und 
Strecken  und  Wende  ab,  b)  aus  dem  Stande  seitlings  Einflanken  in  den 
Stütz  und   Kehre  mit  Zwiegriff. 

Die  aufgezählten  Übungen  lassen  sich  sehr  gut  in  dem  Kopfe  des  Abi- 
turientenverzeichnisses unterbringen.  Jeder  Schüler  erhält  in  der  betreffenden 
Spalte  seine  Noten,  die  am  Ende  des  quer  beschriebenen  Blattes  die  Schluß- 
zensur ergeben. 

Ein  zweites  ebenso  beschriebenes  Blatt  enthält  in  seinem  Kopfe  die  Fragen, 
ob  der  Abiturient  Schwimmer,  Ruderer,  Radfahrer  ist,  ob  er  Mitglied  einer 
Turn-  oder  Sportvereines  war,  und  schließlich,  ob  er  Erfolge  im  Wetturnen 
usw.  aufzuweisen  hat.  Neben  den  Namen  der  Kandidaten  erscheint  hier  in 
der  betreffenden  Rubrik  ein  Ja  oder  ein  Nein. 

Auf  dem  gleichen  Blatte  werden  unter  „Bemerkungen"  anderweitige, 
für  die  Beurteilung  der  Oberprimaner  wichtige  Auskünfte  gegeben.  So  z.  B. 
ob  und  wann  einer  im  Verlaufe  der  Schulzeit  Führer  im  Wandervogel  war, 
wie  lange  und  weshalb  ein  anderer  vom  Turnen  dispensiert  wurde,  daß  ein 
dritter  innerhalb  einer  bestimmten  Zeit  Vorturner  war,  daß  ein  vierter  in- 
folge einer  überstandenen  Knochenerweichung  längere  Zeit  der  Schonung 
bedurfte  usw. 

Ganz  unten  folgen  in  der  Namenliste  des  ersten  Blattes  die  Dispensierten. 
Neben  einem  jeden  von  ihnen  steht  der  Inhalt  des  ärztlichen  Attestes,  auf 
das  hin  er  vom  Turnunterricht  befreit  war.  Hier  befinden  sich  die  Angaben 
über  den  vorliegenden  Herzfehler  z.  B.,  das  Nähere  über  die  Körperschwäche, 
die  zum  dauernden  Dispens  führte  u.  a.  m. 

Im  Abgangszeugnis  selbst  stehen  die  gleichen  Bemerkungen  bei  den 
vom  Turnen  Befreiten:  sie  erklären  das  Fehlen  der  Turnnote.  Bei  den  Ge- 
prüften steht  sie,  gegebenenfalles  erläutert,  erweitert  durch  die  obengekenn- 
zeichneten Ausführungen  über  die  Beteiligung  am  „Wandervogel",  über  die 
Führung  des  Vorsitzes  im  Schul turnverein  u.  ä.  m.  Auch  die  Aufforderung, 
irgendeinem  Turn-  oder  Sportverein  beizutreten,  kann  meines  Erachtens 
hinzugefügt  werden.  Zu  Michaelis  machte  an  unserer  Anstalt  ein  Ober- 
primaner das  Examen,  der  völlig  einseitig,  in  diesem  Falle  rechtsseitig,  aus- 
gebildet war  und  das  äußerlich  im  Bau  und  in  der  Haltung  des  Körpers  gar 
nicht  verleugnen  konnte.     Ihm  wurde  der  vorstehende  Rat  erteilt. 

In  den  obigen  Zeilen  wird  ein  erster  Versuch  geboten,  den  Bestimmungen 
der  Turnreifeprüfung  gerecht  zu  werden.  Abgesehen  wurde  für  dieses  Mal 
noch  von  der  Öffentlichkeit  des  Examens  und  zwar  auf  den  Wunsch  der 
Primaner  selbst.    Die  mit  am  Spiel  beteiligten  Schüler  waren  außer  den  der 


P.  Kaestner,  Die  Reifezeugnisse  der  Stuudierenden  der  preußischen  Universitäten.      365 

Prüfungskommission  angehörigen  Lehrern  die  alleinigen  Zuschauer.  Es 
wäre  wohl  angebracht,  die  gebotenen  Vorschläge  nach  dieser  Seite  hin  zu  er- 
gänzen. Vielleicht  ist  das  schon  bei  diesem  Herbstexamen  anderweit  geschehen. 

"Wie  bekannt  gegeben  wurde,  planen  die  nicht  akademisch  gebildeten 
Turnlehrer  eine  genaue  statistische  Bearbeitung  der  einzelnen  von  ihnen 
durchgeführten  Examina.  Stellen  wir  uns  unter  diesen  Verhältnissen  nicht 
abseits,  betätigen  wir  uns  an  unserem  Teile :  Die  Meinung  von  unserer  Minder- 
wertigkeit im  Turnunterricht,  der  zumal  in  Berlin  in  bestimmten  Kreisen 
nicht  selten  Ausdruck  gegeben  wird,  muß  beseitigt  werden.  Einschlägigen 
Angaben  über  Examenserfahrungen  sieht  gern  entgegen  der  Schriftführer 
des  „Verbandes  akademischer  Turnlehrer",  Studienrat  Poppe  in  Berlin-Treptow, 
Rethelstr.  8. 

Berlin.  Hartstein. 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  preußischen  Universitäten 
im  Wintersemester  1920/21. 

Ausländer  und  solche  Studierende,  die  nicht  im  Besitz  des  Reifezeugnisses 
einer  Vollanstalt  sind,  blieben  bei  der  Erhebung  unberücksichtigt. 

Die  erste  Zusammenstellung  umfaßt  alle  im  Wintersemester  1920/21 
an  den  preußischen  Universitäten  immatrikulierten  Studierenden,  die  zweite 
nur  diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Erhebung  im  ersten  Semester  standen. 
Im  Wintersemester  1920/21  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  1728  Studierende,  davon 
immatrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1564 

„        ,,                  „                ,,      Realgymnasiums  151 

„        „                 „             e^ner  Oberrealschule  13 

b)  in  der  Katholisch-Theologischen  Fakultät  1425  Studierende,  davon 
immatrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1424 

,,        „  ,,  „      Realgymnasiums  1 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  10199  Studierende,  davon  immatrikuliert: 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  6542 

„        ,,                 ,,                ,,      Realgymnasiums  2361 

„        ,,                 „             einer  Oberrealschule  1296 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  10886  Studierende,  davon  immatri- 
kuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  6544 

„        „  „  ,,      Realgymnasiums  2899 

„        „  „  einer  Oberrealschule  1443 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  16969  Studierende,  davon  immatri- 
kuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  8124 

„        „  „  „      Realgymnasiums  5083 

,,        „  „  einer  Oberrealschule  3762 


366  Pä"l  Kaestner, 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  713,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  397 

„        „                 „                ,,      Realgymnasiums  184 

„        ,,                  „             einer  Oberrealschule  132 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  1847,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1310 

„        „                  ,,                 ,,      Realgymnasiums  399 

„        ,,                 „             einer  Oberrealschule  138 

3.  Neuere  Philologie  1878,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  720 

„        ,,                  ,,                ,,      Realgymnasiums  744 

,,        ,,                  ,,             einer  Oberrealschule  414 

4.  Geschichte  791,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  478 

,,        ,,                  ,,                 ,,      Realgymnasiums  225 

„        „                  „             einer  Oberrealschule  88 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  3863,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1412 

„        „                  ,,                ,,      Realgymnasiums  1246 

„        „                  ,,             einer  Oberrealschule  1205 

6.  Sonstige  Studienfächer  7877,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  3807 

„        „                  „                „      Realgymnasiums  2285 

,,        ,,                  ,,             einer  Oberrealschule  1785 

II.  Von  den  unter  I  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

a)  in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät   108  Studierende,  davon 
immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  85 

,,        ,,                  ,,                ,,      Realgymnasiums  21 

,,        ,,                  ,,              einer  Oberrealschule  2 

b)  in   der  Katholisch-Theologischen  Fakultät  61  Studierende,  immatri- 
kuliert auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums; 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  731  Studierende,  davon  immatrikuliert: 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  450 

„        „                  „                „      Realgymnasiums  176 

,,        ,,                 ,,             einer  Oberrealschule  105 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  270  Studierende,  davon  immatrikuliert : 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  150 

„        „                  „                „      Realgymnasiums  76 

„        ,,                 ,,             einer  Oberrealschule  44 

e)  in  der  Philosoph.  Fakultät  1367  Studierende,  davon  immatrikuliert: 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  622 

„        „                 „                ,,      Realgymnasiums  426 

,,                 „             einer  Oberrealschule  319 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Universitäten.       367 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  44,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  23 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  12 

„        ,,                 .,             einer  Oberrealschule  9 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  47,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  32 

,,        ,,                  „                 ,,      Realgymnasiums  8 

,,        „                 „             einer  Oberrealschule  7 

3.  Neuere  Philologie  43,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  17 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  17 

,,        ,,                 ,,             einer  Oberrealschule  9 

4.  Geschichte  19,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  9 

,,        „                 „                „      Realgymnasiums  9 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  1 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  178,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  62 

„        „                 „                 ,      Realymnasiums  64 

„        ,,                 „             einer  Oberrealschule  52 

6.  Sonstige  Studienfächer  1036,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  479 

„        „                 ,,                „      Realgymnasiums  316 

„        ,,                 „             einer  Oberrealschule  241 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen 

Universitäten. 

Erlangen,  Freiburg,  Gießen,  Heidelberg,  Jena,  Leipzig,  München,  Rostock, 
Hamburg,  Tübingen  und  Würzburg  im  Wintersemester  1920/21. 
Bei  der  Erhebung  blieben  Ausländer  und  solche  Studierende,  die  nicht 
im  Besitz  des  Reifezeugnisses  einer  Vollanstalt  waren,  unberücksichtigt. 
Die  e  erste  Zusammenstellung  nmfaßt  alle  im  Wintersemester  1920/21  an 
den  genannten  Universitäten  immatrikulierten  Studierenden,  die  zweite  nur 
diejenigen,  welche  zur  Zeit  der  Erhebung  im  ersten  Semester  standen. 
I.  Im  Wintersemester  1920/21  waren  insgesamt  immatrikuliert: 

a    in  der  Evangelisch-Theologischen  Fakultät  1483  Studierende,  davon 
immatrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1424 

,,        ,,  ,,  ,,      Realgymnasiums  42 

,,        ,,  ,,  einer  Obe  realschule  17 

b)  in  der  Katholisch  Theologischen  Fakultät  647  Studierende,  davon 

immatrikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  631 

„        „  ,,  „      Realgymnasiums  16 


368  P^"^  Kaestner, 

c)  in  der  juristischen  Fakultät^)  8576  Studierende,  davon  immatrikuliert: 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  5381 

„        ,,                 ,,                ,,      Realgymnasiums  2111 

,,        „                  „             einer  Oberrealschule  1084 

d)  in  der  Medizinischen   Fakultät^)  10620  Studierende,  davon   imma- 
trikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  6053 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  2727 

„        ,,                 ,,             einer  Oberrealschule  1640 

e)  in  der  Philosophischen  Fakultät  11656  Studierende,  davon  imma- 
trikuliert : 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  5707 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  3212 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  2737 

Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  1750,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1038 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  448 

„        „                  ,,             einer  Oberrealschule  264 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  1517,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1080 

„        „                  „                „      Realgymnasiums  285 

„        „                  „             einer  Oberrealschule  152 
3.  Neuere  Philologie  1296,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  551 

,,        ,,                 „                ,,      Realgymnasiums  457 

einer  Oberrealschule  288 


n 


4.  Geschichte  669,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  380 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  185 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  104 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  3833,  und  zwa": 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1476 

„        ,,                 „                ,,      Realgymnasiums  1112 

„        ,,                 „             einer  Oberrealschule  1245 

6.  Sonstige  Studienfächer  2591,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  1182 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  725 

einer  Oberrealschule  684 


0  Einschließlich  der  Rechts-  und  Staatswissenschaftlichen  Fakultät  in  Freiburg, 
Würzburg  und  Hamburg  der  Staatswirtschaftüchen  Fakultät  in  München  und  der  Staats- 
wissenschaftlichen  Fakultät  in  Tübingen. 

')  Einschließlich  der  Tierärztlichen  Fakultäten  in  Gießen  und  München. 


Die  Reifezeugnisse  der  Studierenden  der  außerpreußischen  Universitäten.  369 

II.  Von  den  unter  I  aufgeführten  Studierenden  standen  im  ersten  Semester: 

a)  Inder  Evang.-Theol. Fakultät  137 Studierende,  davon  immatrikuliert: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines   Gymnasiums:  128 
„         ,                 „                „     Realgymnasiums    3 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  6 

b)  in  der  Kathol.-Theol.  Fakultät  1 16  Studierende,  davon  immatrikuliert : 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  112 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  4 

c)  in  der  Juristischen  Fakultät  1024  Studierende,  davon  immatrikuliert: 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  653 

„        „                  „                ,,      Realgymnasiums  211 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  160 

d)  in  der  Medizinischen  Fakultät  527  Studierende,  davon  immatrikuliert : 
auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  282 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  144 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  101 

e)  in  der  Philisophischen  Fakultät  1149  Studierende. 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  494 

„        „                 „                ,,      Realgymnas  ums  326 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  329 
Hiervon  studierten: 

1.  Philosophie  206,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  108 

„        „                 ,,                ,,      Realgynasium  62 

„        „                 „               einer  Oberrealschule  36 

2.  Klassische  Philologie  und  Deutsch  127,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  82 

,,        „                 „                  „      Realgymnasiums  30 

,,        ,,                 ,,               einer  Oberrealschule  15 

3.  Neuere  Philologie  92,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  39 

„        „                 „                „      Realgymnasiums  24 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  29 

4.  Geschichte  74,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnas  ums  34 

„        „                  „                ,,      Realgymnasiums  14 

„        „                 ,,             einer  Oberrealschule  26 

5.  Mathematik  und  Naturwissenschaften  347,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  120 

„        „                  „                ,,      Realgymnasiums  92 

„        „                 „             einer  Oberrealschule  135 

6.  Sonstige  Studienfächer  303,  und  zwar: 

auf  Grund  Reifezeugnisses  eines  Gymnasiums  111 

„        ,,                  ,,                ,,      Realgymniasums  104 

,,        „                 „             einer  Oberrealschule  88 


370  Paul  Kaestner, 

Statistisches  über  das  Frauenstudium. 

Im  Wintersemester  1920/21  studierten  an  den  preußischen  Universi- 
täten 6137  Frauen ;  im  Wintersemester  1919/20  waren  es  5904.  Auf  die  Fakul- 
täten verteilten  sie  sich  folgendermaßen:  1919/20  1920/21 
Theologische  Fakultät                                  45  . — 
Juristische  Fakultät                                    152  — 
Medizinische  Fakultät                               1184  — 
Philosophische  Fakultät                           4523                      — 
Von  den  6137  im  Wintersemester  1920/21  studierenden  Frauen  waren 
immatrikuliert  4832.   Die  übrigen  1305  waren  als  Gasthörerinnen  zugelassen. 
Die  4832  Immatrikulierten  verteilten  sich  wie  folgt: 

Theologische  Fakultät  44 

Juristische  Fakultät  167 

Medizinische  Fakultät  1156 

Philosophische  Fakultät  3465 


Die  Anfängerkurse  im  Griechischen  ffir  Studierende  der  Juristischen» 
Medizinischen  und  Philosophischen  Fakultät. 

Im  Wintersemester  1920/21  haben  an  den  Anfängerkursen  im  Grie- 
chischen für  Studierende  der  Juristischen,  Medizinischen  und  Philosophischen 
Fakultät  auf  den  preußischen  Hochschulen  im  ganzen  156  Studierende  teil- 
genommen, davon  34  Theologen,  13  Juristen,  71  Mediziner  und  102  Ange- 
hörige der  Philosophischen  Fakultät.  Von  letzteren  studierten  klassische 
Philologie  23,  neuere  Philologie  15,  Deutsch  23,  Geschichte  18,  Mathematik 
und  Naturwissenschaften  2,  Staatswissenschaften  5,  sonstige  Fächer  16. 
Von  den  Teilnehmern  an  den  Kursen  hatten  22  das  Reifezeugnis  eines  Gym- 
nasiums, 65  eines  Realgymnasiums,  23  einer  Oberrealschule,  2  eines  Pro- 
gymnasiums, 14  eines  Oberlyzeums,  30  eines  Lehrr  nnenseminars.  Preußen 
waren  134,  Deutsche  aus  anderen  Bundesstaaten  12,  Ausländer  10. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  an  diesem 
Kursus  wie  folgt:  Berlin  49,  Bonn  28,  Frankfurt  18,  Göttingen  18,  Greifswald 
4,  Halle  8,  Kiel  11,  Königsberg  6,  6,  Marburg  11,  Münster  3. 


Die  Kurse  zur  sprachlichen  Einführung  in  die  Quellen  des 

römischen  Rechts. 

Im  Wintersemester  1920/21  haben  an  den  Kursen  zur  sprachlichen  Ein- 
führung in  die  Quellen  des  römischen  Rechts  an  den  preußischen  Hochschulen 
im  ganzen  367  Studierende  der  Rechte,  1  Studierender  der  Theologischen, 
5  Studierende  der  Medizinischen  und  20  Studierende  der  Philosophischen 
Fakultät  (6  klassische  Philologie,  5  neuere  Philologie,  5  Deutsch,  4  Ge- 
schichte) und  9  Studierende  der  Staatswissenschaften  teilgenommen.  Das 
Reifezeugnis  eines  Gymnasiums  hatten  78,  eines  Realgymnasiums  165,  einer 
Oberrealschule  155.    Preußen  waren  355,  Deutsche  aus  anderen  Bundes- 


Richard  Gaede»  Unter  dem  Bakel.  37 1 

Staaten  35.  Ausländer  12.  Von  den  Studierenden  der  Rechtsw  ssenschaft 
standen  69  im  ersten  Semester,  46im  zweiten,  61  im  dritten,  41  im  vierten, 
33  im  fünften,  36  im  sechsten,  16  im  siebenten,  11  im  achten,  4  im  neunten, 
6  im  zehnten  bis  zwölften  Semester. 

Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teilnehmer  wie  folgt : 
Berlin  211,  Bonn  23,  Breslau  15,  Frankfurt  49,  Greifswald  5,  Halle  9, 
Königberg  19,  Marburg  17,  Münster  49. 


Lateinische  Sprachkurse  für  Absolventen  lateinloser  Schulen. 

Im  Wintersemester  1920/21  haben  an  den  lateinischen  Kursen  für  Absol- 
venten lateinloser  Schulen  614  Studierende  teilgenommen.  Hiervon  studierten 
12  Theologie,  80  Rechtswissenschaft,  295  Medizin  und  227  Fächer  aus  dem  Be- 
reich der  philosophischen  Fakultät,  nämlich  16  klassische  Philologie,  85  neuere 
Philologie  29  Deutsch,  13  Geschichte,  17  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaft, 26  Staatswissenschaft  und  33  sonstige  Fächer.  Von  den  Teilnehmern 
an  den  Kursen  hatten  das  Reifezeugnis  eines  Gymnasums  14,  eines  Real- 
gymnasiums 19,  einer  Oberrealschule  453,  eines  Progymnasiums  7,  eines  Leh- 
rerinnenseminars 97.  Auf  die  einzelnen  Universitäten  verteilen  sich  die  Teil- 
nehmer wie  folgt:  Berlin  154,  Bonn  58,  Breslau  46,  Frankfurt  95,  Göttingen 
23,  Greifswald29,  Halle  36,  Kiel  58,  Königsberg47,  Marburg 50,  Münster  18. 

Berlin-Neubabelsberg.  PaulKaestner. 


Unter  dem  Bakel. 

So  lautet  der  Titel  einer  Schrift,  die  alle  alten  Greifswalder  interessieren 
wird.  Jhr  Verfasser  Wobbe  hat  in  den  achtziger  Jahren  des  vorigen  Jahr- 
hunderts das  Greifswalder  Gymnasium  besucht,  auf  dem  in  ungefähr  der- 
selben Zeit  der  Minister  für  Wissenschaft,  Kunst  und  Volksbildung  Konrad 
Hänisch  herangebildet  wurde.  Aus  diesem  Grunde  dürfte  die  kleine  Schrift 
vielleicht  auch  das  Interesse  weiterer  Kreise  finden. 

Der  Verfasser  gehört  entschieden  zu  den  dei  minorum  gentium  und 
macht  sicher  selbst  keinen  Anspruch  darauf,  eine  ideale  Lebensauffassung 
zu  haben.  Bei  einem  Besuch  in  seiner  alten  Schule  fällt  ihm  vor  allem  auf, 
daß  an  Stelle  der  früheren  Öfen  Zentralheizung  eingeführt  ist  und  die  Schul- 
tische vorn  offen  sind;  er  bedauert  das,  weil  dadurch  manche  Gelegenheit 
zum  Ulk,  zur  Störung  des  Unterrichts  und  zur  Mogelei  für  die  heutige  Jugend 
hinweggeräumt  ist.  Derartige  Dinge  spielen  in  seiner  Erinnerung  eine  große 
Rolle  und  scheinen  ihm  noch  heute  eine  Hauptsache  im  Schulleben  zu  sein. 
Um  eine  Bibelstelle,  die  in  einer  seiner  Schulgeschichten  vorkommt,  auf- 
zusuchen, hat  er  einmal  gegen  seine  Gewohnheit  in  der  Bibel  gelesen,  vor- 
nehmlich im  Psalter,  „hatte  aber  bald  genug  an  dem  ewigen  Geweimer  und 
Geseires  des  Judenkönigs  David".  Wie  tief  er  sich  mit  einer  solchen  Be- 
merkung herabwürdigt,  dafür  fehlt  ihm  offenbar  die  Empfindung.  Aber 
er  verbindet  mit  einem  ausgezeichneten  Gedächtnis  eine  scharfe  Beobachtungs- 
gabe und  übertreibt  in  der  Charakteristik  seiner  Lehrer  nicht.     Das  muß 


372  Richard  Gaede, 

ich,  der  ich  in  den  sechziger  und  siebziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts 
das  Greifswalder  Gymnasium  besucht  habe,  ihm  bezeugen.  Es  war  in  der 
Tat  an  dieser  Schule  eine  merkwürdige  Sammlung  von  Lehrerexemplaren. 
Prügel  gab  es  viel,  sie  galten  offenbar  als  Haupterziehungsmittel.  Auch 
ich  besinne  mich  noch  deutlich,  daß  man  mehreren  Mitgliedern  des  Kolle- 
giums die  Wonne  anmerkte,  mit  der  sie  den  Bakel  handhabten.  Der  geist- 
reichste Lehrer,  der  in  guten  Stunden  den  Schülern  der  Oberklassen  wirk- 
lich manches  fürs  Leben  mitgab,  war  leider  schon  zu  meiner  Zeit  in  den  ersten 
Stadien  des  Deliriums,  und  das  hat  sich  entschieden  später  noch  verstärkt. 
Es  war  ihm  unmöglich  pünktlich  zu  sein,  er  war  in  den  Stunden  oft  hochgradig 
nervös,  war  durchaus  ein  Sklave  seiner  Launen  und  gab  der  Schule  vor  den 
Schülern  mit  Vorliebe  solche  Bezeichnungen  wie  ,, stinkiger  Affenkasten". 
Im  Delirium  hat  auch  ein  anderer  Lehrer  der  Anstalt  geendet,  nachdem 
er  durch  rohe  Behandlung  seiner  Schüler  manches  Unheil  angerichtet  hatte. 
Der  Geschichtslehrer  der  oberen  Klassen,  der  in  O  II  auch  den  deutschen 
Unterricht  hatte,  war  fast  blind,  außerdem  aber  auch  während  des  Unterrichts 
oft  geistesabwesend.  Die  Folge  war,  daß  die  Schüler  in  seinen  Stunden 
sich  fast  immer  mit  anderen  Dingen  beschäftigten,  einige  auch  sich  aus  der 
Schule  entfernten,  um  einen  Frühschoppen  zu  machen,  zu  dem  sie  ja  ihre 
Lehrer  öfter  pügern  sahen.  Ein  Lehrer,  der  auch  in  den  oberen  Klassen  im 
Griechischen  unterrichtete,  war  für  Hasen  und  andere  Geschenke  seiner  Schüler 
sehr  empfänglich,  ließ  sich  in  den  Ferien  gern  auf  dem  Lande  durchfüttern, 
und  wenn  er  auf  einem  Gute  lange  genug  gewesen  war,  von  seinem  hospes 
zu  einem  benachbarten  hospes  fahren,  ganz  wie  es  Tacitus  in  seiner  Ger- 
mania Kap. 21  schildert.  Derselbe  entblödete  sich  nicht,  gelegentlich  seine 
Stunden  vor  der  Zeit  zu  schließen  und  seine  Schüler  zu  ermahnen,  sie  möchten 
recht  leise  gehen,  damit  der  Direktor  nichts  merke,  und  hatte  noch  andere 
einem  Erzieher  recht  wenig  anstehende,  zum  Teil  sehr  unästhetische  Eigen- 
tümlichkeiten. Auch  in  den  unteren  und  mittleren  Klassen  unterrichteten 
einzelne  Lehrer,  deren  man  sich  nur  mit  Widerwillen  erinnert.  Nur  ganz 
wenige  Lehrer  gab  es,  deren  die  damaligen  Greifswalder  Gymnasiasten  mit 
Liebe  und  mit  dem  Gefühl  einer  Dankesschuld  zu  gedenken  Anlaß  haben. 
Ich  betone  noch  einmal,  daß  alles  Gesagte  buchstäblich  wahr  ist.  Wenn 
trotz  dieser  Verhältnisse  kaum  einer  aus  jener  Schülergeneration  verbummelt 
ist,  wie  Wobbe  hervorhebt  —  von  meinen  Kameraden  wüßte  ich  leider  doch 
mehrere  zu  nennen,  die  dieses  Schicksal  hatten  —  so  ist  das  der  guten  Wirkung 
der  Elternhäuser  zuzuschreiben.  Verfasser  dieser  Zeilen  hat  als  Student 
einmal  sein  Urteil  über  seine  Schule  in  folgenden  Versen  zusammengefaßt: 
„Am  meisten  hab'  ich  von  der  Mutter  empfahn.  Was  im  Kampfe  des  Lebens 
uns  nützen  kann,  Viel  hat  Vater,  Freund,  Schwester  hinzugetan  —  Die  Schule 
hinkt  ganz  hintenan."  Klingen  in  den  Worten  des  Erlasses  an  die  Schüler 
und  Schülerinnen  aus  dem  November  1918  Uli  1967,  die  von  Konrad  Hänisch 
unterzeichnet  sind :  ,,Möge  ein  neues  Verhältnis  von  Kameradschaft  zwischen 
Euch  und  Euren  Lehrern  entstehen,  möge  die  Luft  der  Schule  gereinigt 
werden  von  dem  Ungeist  der  toten  Unterordnung,  des  Mißtrauens  und  der 


Unter  dem  Bakel.'  373 

Lüge"  und  anderen  ähnlichen  Auslassungen  etwa  Schulerinnerungen  des 
Ministers  nach?  Es  wäre  kein  Wunder,  aber  anderseits  doch  nicht  ganz 
berechtigt,  Erlebnisse  jener  Zeit,  die  auch  damals  durchaus  nicht  auf  alle  Schulen 
zutrafen,  auf  unsrige  heutige  Schule  zu  übertragen  —  ein  Fehler,  der  leider 
vielfach  begangen  wird.  Daß  auch  in  der  heutigen  Schule  Mißgriffe  vorkommen, 
soll  damit  natürlich  nicht  geleugnet  werden. 

Eins  beweist  das  Wobbesche  Buch  wieder  einmal  sehr  deutlich,  näm- 
lich, daß  wir  Lehrer  sozusagen  auf  dem  Präsentierteller  stehen,  daß  unsre 
Unarten  und  Schwächen  noch  nach  Jahrzehnten  im  Gedächtnis  unserer  Schüler 
haften.  Bei  keinem  anderen  Stande  ist  das  in  dem  Maße  der  Fall,  in  fast 
keinem  anderen  Stande  richten  unwürdige  Vertreter  einen  so  großen  Schaden 
an.  Wann  wird  man  endlich  einsehen,  daß  Lehrer  und  Erzieher  nur  die  Tüch- 
tigsten sein  können  und  daß  man  auf  Mittel  sinnen  müßte,  solche  zur  Über- 
nahme dieses  schweren,  aber  schönen  Berufs  anzureizen  und  anderseits  min- 
derwertige Elemente  ihm  fern  zu  halten?  Wann  wird  man  in  Kreisen  von 
Erwachsenen  ,der  sogenannten  guten  Gesellschaft,  endlich  aufhören,  Schul- 
lüge und  Schulbetrug  als  gute  Witze  anzusehen  und  von  solchen  Sachen 
behaglich  schmunzelnd  zu  plaudern?  Ich  habe  das  sogar  von  einem  Geist- 
lichen erlebt.  Ein  so  zusammengesetztes  Lehrerkollegium,  wie  das  damalige 
Greifswalder,  wird  es  freilich  heute  kaum  noch  geben.  Es  ist  viel  guter  Wille 
unter  unseren  Standesgenossen  vorhanden,  gute  Kameraden  ihrer  Schüler 
zu  sein,  ein  Vertrauensverhältnis  mit  ihnen  zu  schaffen,  dadurch  aller  Un- 
ehrlichkeit und  Lüge  das  Grab  zu  graben  und  so  wirkliche  Erzieher  des  kom- 
menden Geschlechtes  zu  werden.  Jeder  Lehrer,  der  das  nicht  aus  vollem  Herzen 
anstrebt,  der  seinen  Schülern  gegenüber  noch  immer  den  Unteroffizierton 
anschlägt,  der  nicht  frisch  und  freudig  in  seinem  Beruf  wirkt,  der  werde 
sich  in  stillen  Stunden  der  Einkehr  klar  darüber,  daß  er  ein  Schädling  an 
unserem  Volkskörper  ist,  dessen  üble  Wirkung  noch  über  seinen  Tod  hinaus 
dauert. 

Einige  beherzigenswerte  pädagogische  Einzelheiten  entnehme  ich  noch 
dem  Wobbeschen  Buche. 

Wobbe  erinnert  sich,  daß  er  als  Vorschüler  einmal  die  Aufgabe  bekommen 
hat,  die  Weihnachtsgeschichte  auswendig  zu  lernen,  ohne  daß  ihm  die  fremden 
Ausdrücke  irgendwie  erklärt  worden  wären.  Er  hat  stundenlang  den  Text 
vor  sich  hingemurmelt  und  ihn  doch  nicht  fassen  können,  da  er  mit  Begriffen 
wie  „Schätzung",  „Landpfleger",  „Syrien"  u.  a,  nichts  anzufangen  wußte. 
Schließlich  ist  er  in  Tränen  ausgebrochen,  und  die  Angst  hat  ihn  noch  bis 
in  seine  kindlichen  Träume  verfolgt.  Derartige  Mißgriffe  waren  damals 
allerdings  an  der  Tagesordnung  —  so  erinnere  ich  mich  bestimmt,  daß  uns 
im  Anfang  der  Untersekunda  gleich  ohne  jede  Einführung  in  den  neuen 
Schriftsteller  50  Vergilverse  vorzubereiten  aufgegeben  wurde,  eine  Aufgabe, 
die  ohne  gedruckte  Übersetzung  auch  der  beste  Schüler  nicht  leisten  konnte 
—  sie  sind  heute  wohl  ausgeschlossen.  Aber  sollten  die  heute  so  häufigen 
Angriffe  auf  den  Religionsunterricht  und  die  bekannten  Ministerialerlasse 


374  Richard  Gaede,  Unter  dem  Bakel. 

über  ihn  vielleicht  zum  Teil  eine  Nachwirkung  von  Kindertränen  sein,  die 
geweint  wurden  über  zu  starke  Gedächtnisbelastung  durch  Auswendig- 
lernen unverstandener  Bibelabschnitte  und  Katechismusstellen?  —  Ein 
andrer  Lehrer  der  unteren  Klassen  hat  seinen  Schülern  einmal  die  Angst 
der  Eltern  um  den  zwölfjährigen  Jesus,  als  sie  ihn  nicht  finden  konnten, 
so  drastisch  ausgemalt,  daß  Wobbe  ihn  noch  heute  dabei  vor  sich  sieht, 
wenn  er  an  diese  Geschichte  denkt.  Die  Religionslehrer  der  unteren  Klassen 
müssen,  soweit  es  nicht  schon  geschieht,  entschieden  aus  Büchern  wie  denen 
von  Else  zur  Hellen-Pfleiderer,  Matschulat  u.  ä.  lernen,  wie  man  Kindern 
biblische  Geschichten  erzählt.  Erst  dann  wird  dieser  heute  so  viel  angefochtene 
Unterricht  die  Lieblingsstunde  der  Schüler  und  Schülerinnen  werden  und 
das  wirken,  was  er  soll. 

Wobbes  Bemerkung,  daß  der  natürliche  Wissensdrang  der  Schüler  in 
der  Schule  abgetötet,  daß  z.  B.  in  der  Botanik  allerlei  Unkraut,  aber  nicht 
die  Getreidearten  und  Obstbäume  unsres  Landes,  in  der  Zoologie  wohl  der 
Löwe  und  das  Warzenschwein,  aber  nicht  die  Haustiere  genauer  durchge- 
nommen wurden,  trifft  auf  den  heutigen  Unterricht  nicht  mehr  zu,  ganz 
unberechtigt  ist  sie  aber  auch  heute  nicht.  Die  Hinweise  auf  das  die  Schüler 
umgebende  Leben  der  Gegenwart  und  die  Anleitung  zu  seiner  Beobachtung 
könnten  in  allen  Lehrstunden  noch  häufiger  sein. 

Ein  gutmütiger,  aber  etwas  langweiliger  Lehrer  der  mittleren  und  unteren 
Klassen  ließ  nach  Wobbes  Erinnerung  mit  Vorliebe  zur  Strafe  Gedichte 
auswendig  lernen,  deren  Auswahl  er  den  Schülern  überließ,  und  ließ  sie  in 
der  Lesestunde  vortragen.  Da  kam  es  denn  wohl  vor,  daß  einzelne  auch 
längere  Gedichte,  die  ihnen  gefielen,  lernten,  um  recht  viel  von  der  Stunde 
damit  hinzubringen.  „Strafarbeiten"  sind  ja  heute  verboten,  und  vollends 
auf  die  Geschmacklosigkeit,  Gedichte  zur  Strafe  auswendig  lernen  zu  lassen, 
wird  wohl  kein  Lehrer  mehr  verfallen.  Aber  daß  Primaner,  wenn  sie  nicht 
präpariert  waren,  einen  Lehrer,  der  sich  gern  reden  hörte,  durch  allerhand 
Querfragen  veranlaßten,  von  seinem  Thema  abzuweichen  und  die  Stunde 
mehr  oder  weniger  totzuschlagen,  habe  ich  noch  unlängst  gehört. 

Über  Wobbes  Forderung,  der  Minister  solle  Schwimmen,  Rudern,  Schlitt- 
schuhlaufen auf  der  Schule  obligatorisch  machen,  ließe  sich  reden,  da  wir  ja 
heute  daran  denken  müssen,  für  den  Wegfall  unserer  trefflichen  Heeresschule 
recht  viel  Ersatz  zu  schaffen.  Daß  übrigens  für  die  körperliche  Ausbildung 
vor  dem  Weltkriege  auf  unseren  Schulen  erheblich  mehr  geschah  als  in  den 
siebziger  und  achtziger  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts,  ist  allbekannt. 
Ob  die  obligatorische  Forderung  darin  viel  bessern  würde,  darf  man  bezweifeln. 

Darin  hat  Wobbe  durchaus  Recht,  daß  er  es  einen  Verlegenheitstrick 
der  Lehrer  nennt,  wenn  sie  einen  Schüler  zur  Strafe  aus  der  Klasse  weisen  ; 
er  hätte  auch  einen  schärferen  Ausdruck  dafür  gebrauchen  können.  Sollte 
das  wirklich  noch  irgendwo  vorkommen,  so  ist  es  aufs  schärfste  zu  verurteilen. 
Ich  weiß,  daß  so  hinausgewiesene  Schüler  nicht  nur,  wie  Wobbe  erzählt, 
draußen  Zigaretten  rauchten,  sondern  auch  aus  den  Überziehern  ihrer  Kame- 
raden Frühstück  und  Geld  stahlen  und  es  zu  diesem  Zweck  darauf  anlegten, 


Leben  Jesu,  angez.  von  Kannegießer.  375 

hinausgewiesen  zu  werden.  Es  könnte  sich  auch  gelegentlich  dabei  die  hübsche 
Geschichte  wiederholen,  die  der  lebende  Historiker  Eduard  Meyer  sich  als 
Schüler  in  Hamburg  einmal  geleistet  hat.  Von  einem  Lehrer,  der  keine  Zucht 
halten  konnte,  hinausgewiesen,  klopft  er  nach  einiger  Zeit  an  die  Tür  und 
bittet,  wieder  in  die  Klasse  kommen  zu  dürfen,  wird  aber  mit  seiner  Bitte 
abgfewiesen.  Als  bald  darauf  der  Lehrer  einen  Schüler  abschickt,  um  ihn 
zurückzuholen,  kommt  dieser  Schüler  allein  wieder  mit  dem  Bescheid:  „Nun 
will  Meyer  nicht." 

Hannover.  Richard  Gaede. 


IL  Bücherbesprechungen. 
a)  Einzelbesprechungen. 

Leben  Jesu  von  Walther  Classen.  Hamburg  1919.  Verlag  C.  Boysen. 
zweite,  völlig  umgearbeitete  Auflage.  109  S.  8®.  3  M.,  geb.  5  M. 
Walther  Classens  Schriftstellerei  bewegt  sich  auf  religiös-sozial-päda- 
gogischem Gebiete.  In  seiner  Großstadtjugend  sucht  er  der  seelischen 
Not  derselben  abzuhelfen,  in  seinen  Romanen  Kreuz  und  Amboß,  Fritjof 
Reimarus,  die  Söhne  des  Apostels  weht  soziale  Gesinnung  und  dog- 
menfreies Christentum,  in  seinem  ,, Alten  Testament"  und  „Urchristen- 
tum", in  seinemBuch  „Jesu  Worte  und  Taten"  und  ,, Christus  heute" 
(C.  H.  Beck,  München)  will  er  die  alten  Wahrheiten  von  unzeitgemäßen 
Zusätzen  und  lehrmäßigen  Einengungen  befreien  und  sie  der  Gegenwart 
dadurch  um  so  beherzigenswerter  darstellen.  Denselben  Zweck  verfolgt  er 
in  seinem  Leben  Jesu.  Er  will  Jesus  nicht  als  einen  magischen  „Halbgott 
über  die  Erde  wandeln"  lassen,  er  will  auch  nicht  den  Schüler  durch  den 
Religionsunterricht  „zu  einem  erfahrenen  Christen"  machen.  Aber  er  ist 
der  Überzeugung  in  Jesu  „einer  Kraft  zu  begegnen,  wie  sie  so  nur  einmal 
eingetreten  ist  in  die  Welt".  Um  sich  selbst  und  die  Schüler  von  dieser  Kraft 
ergreifen  zu  lassen,  will  er  Jesus  schildern  als  Prophet,  als  Weisen,  als  Künstler, 
als  Erretter  seines  Volkes,  als  Schöpfer  einer  neuen  Gemeinschaft  der  Geister 
der  durch  seinen  Willen  zum  Tode  schließlich  der  Heiland  wurde.  In  diesen 
sieben  Kapiteln  wird  das  Leben  Jesu  in  leicht  verständlicher,  zu  Herzen 
gehender  Weise  erzählt  und  ausgelegt,  wobei  eine  Reihe  wertvoller  metho- 
discher Fingerzeige  für  den  praktischen  Unterricht  gegeben  wird.  Be- 
achtenswert ist  der  mehrfache  Hinweis  auf  Goethes  Frömmigkeit,  deren 
Ursprünglichkeit  uns  die  von  Jesus  näher  bringen  soll.  Auch  sonst  werden 
Beziehungen  zur  Gegenwart  aufgesucht,  um  unsere  Fragen  von  Jesu  Licht 
beleuchten  zu  lassen.  Ernstere  Bedenken  sind  mir  bei  dem  Lesen  des  Lesen 
nicht  aufgestoßen.  Die  Synagoge  in  Kapernaum  S.  37  ist  z.T.  bereits 
ausgegraben.  S.  84  leugnet  der  Verfasser  die  Abstammung  Jesu  von 
David.  In  dem  ausführlichen  Werke  von  Lepsius  wird  sie  festgehalten.  Die 
Frage  S.  90  Anm.  2  beantwortet  Lepsius  II  S.  275.  Sehr  brauchbar  ist  das 


376  Aristoteles,  Topik,  angez.  von  O.  Braun. 

übersichtliche  Verzeichnis  der  verwerteten  Erzählungen  aus  den  Evangelien 
(S.  104f.).  Warum  ist  das  Johannes-Evangelium  nicht  benutzt?  Sind  in 
ihm  wirklich  gar  keine  geschichtlich  wertvollen  Erinnerungen  niedergelegt? 
—  Das  freimütig  und  mit  warmer  Anteilnahme  geschriebene  Buch  enthält 
in  seiner  knappen  Fassung  sehr  viele  wichtige  und  praktisch  gut  verwert- 
bare Gedanken,  so  daß  es  als  eine  höchst  erfreuliche  Erscheinung  bezeichnet 
und  für  den  Unterricht,  besonders  auf  den  mittlerenKlassen,  lebhaft  empfohlen 
werden  kann. 

Berlin.  Kannegießer. 

Aristoteles,  Topik.  Neu  übersetzt  und  mit  einer  Einleitung  und  erklärenden 
Anmerkungen  versehen  von  Dr.  theol.  Eugen  Rolf  es  (Philosophische 
Bibliothek  Bd.  12).  Leipzig  1919.  F.  Meiner.  227  S.  7  M.  und  50%  Teue- 
rungszuschlag. 

Rolfes  hat  schon  in  derselben  Bibliothek  Metaphysik  und  Nikomachische 
Ethik  übertragen  und  diese  Übersetzungen  haben  ihn  als  vorzüglichen  Kenner 
der  Aristotelischen  Philosophie  und  tüchtigen  Philologen  gezeigt.  Der  Gegen- 
stand ist  im  vorliegenden  Bande  nicht  weniger  schwierig,  und  R.  hat  auch 
diesmal  seine  Aufgabe  in  bester  Weise  erledigt.  Die  Topik  ist  die  Lehre  von 
den  einen  Wahrscheinlichkeitsschluß  begründenden  allgemeinen  Sätzen. 
Oder,  wie  Aristoteles  selbst  sagt:  „Unsere  Arbeit  verfolgt  die  Aufgaben, 
eine  Methode  zu  finden,  nach  der  wir  über  jedes  aufgestellte  Problem  aus 
wahrscheinlichen  Sätzen  Schlüsse  bilden  können  und,  wenn  wir  selbst  Rede 
stehen  sollen,  in  keine  Widersprüche  geraten."  —  Einleitung  und  zahlreiche 
Anmerkungen  erläutern  den  schwierigen  Text,  so  daß  eine  besonders  wert- 
volle Ausgabe  entstanden  ist. 

Kurt  Stemberg,  Einführung  in  die  Philosophievom  Standpunkt 
des  Katechismus.  (Wissen  und  Forschen  Bd.  VIU.)  Leipzig  1919. 
F.  Meiner.  XIII,  291  S.  7  M. 
Wie  haben  zahlreiche  und  gute  Einleitungen  in  die  Philosophie  —  war 
es  nötig,  diese  noch  zu  schreiben?  Die  Frage  wäre  zu  verneinen,  wenn  der 
Verfasser  eine  allgemeine  Einleitung  geschrieben  hätte.  Das  ist  aber  nicht 
der  Fall  —  es  ist  eine  Einführung  in  den  Katechismus,  in  die  kritische,  neu- 
kantische  Philosophie,  nicht  mehr  und  nicht  weniger.  Der  Titel  deutet  das 
an,  und  in  dieser  Beschränkung  ist  das  Buch  verdienstlich.  Der  Verfasser 
ist  durch  kleinere  Arbeiten  im  Sinne  des  Neu-Kantanismus  in  Fachkreisen 
nicht  unbekannt;  daß  er  das  ganze  System  gründlichst  beherrscht  und  in 
ihm  lebt,  zeigt  dieses  Buch.  Es  ist  nicht  leicht  geschrieben  und  wird  dem 
Anhänger  Mühe  machen;  aber  das  Hegt  vielfach  am  Stoff,  denn  gerade  der 
Kritizismus  steht  mit  seiner  Grundauffassung  dem  gewöhnlichen  Denken 
ziemlich  fern.  Man  muß  aber  konstatieren,  daß  St.  die  Schwierigkeiten 
meist  nach  Möglichkeit  durch  flüssige  und  einfache  Darstellung  erleichtert 
hat.  Das  Buch  beginnt  mit  einem  Abschnitt  „Das  Problem  der  Philosophie", 
der  Hauptabschnitt  behandelt  „Die  Erkenntnis  des  Wahren",  der  letzte 


Piatons  Diologe,  angez.  von  O.  Braun.  377 

„Die  Erkenntnis  des  Guten".  Die  Geschichte  der  Philosophie  ist  bei  den  ein- 
zelnen Fragen  in  lockerer  Form  berücksichtigt,  doch  scheint  mir,  daß  dem 
Verfasser  das  Historische  nicht  so  liegt,  wie  das  Systematische.  Es  ist  an  dieser 
Stelle  nicht  angebracht,  sich  mit  der  Grundauffassung  St.s  ,mit  dem  neu- 
kantischen  System  überhaupt  auseinanderzusetzen  —  ich  kann  St.  in  keiner 
Weise  darin  zustimmen,  daß  er  nur  den  Kritizismus  als  wissenschaftliche 
Philosophie  gelten  lassen  will.  Das  ist  eine  Engigkeit  und  Kurzsichtigkeit 
gegenüber  der  ganzen  Fülle  philosophischer  Arbeit  in  der  Gegenwart,  die 
nicht  zulässig  ist.  Die  Argumente  sind  bekannt,  die  St.  vorbringt  —  vor 
allem  die  Ablehnung  der  ,, weltanschaulichen"  Philosophie  als  einer  unwisse- 
schaftlichen,  und  die  Bekämpfung  empirischer  Forschung,  durch  ständige 
Wiederholung  werden  diese  Behauptungen  nicht  wahrer;  sie  entspringen 
aus  einer  einseitig  rationalistischen  Lehrmeinung  und  halten  sich  für  die 
wahre  und  einzige  Philosophie  —  die  aber  gibt  es  nicht.  Es  fehlt  hier  völlig 
der  Sinn  für  die  Kulturbedeutung  der  Philosophie,  über  ihre  Bedeutung 
als  Wissenschaftslehre  hinaus.  ,, Wissenschaft  zu  sein,  d.  h.  Wissen  zu  schaffen, 
vermag  nur  eine  Philosophie,  die  selbst  vom  Wissen,  von  der  Wissenschaft, 
handelt"  (S.  16).  Freuen  wir  uns,  daß  Philosophie  von  jeher,  vor  allem  aber 
von  Piaton  bis  zu  Kant,  Hegel  und  Nietzsche  mehr  gewesen  ist,  als  diese 
bloß  gelehrte  Wissenschaftstheorie.  —  Sehe  ich  von  dieser  prinzipiellen  Ab- 
lehnung ab,  so  ist  das  Buch  St.s  eine  gute  Einführung  in  den  Kritizismus. 

Piatons  Dialoge  (Timaios  und  Kritias);  Piaton,  Apologie  und  Kriton.    Über- 
setzt und  erläutert  von  Otto  Apelt  (Philosoph.  Bibliothek  Bd.  179  und 
180).   Leipzig  1919.   F.  Meiner.  224  S.    108  S.  7,80  M.,  2,70  M.  und  50% 
Zuschlag. 
Die  vorliegenden  Bände  setzen  die  bekannte  Ausgabe  fort  und  verdienen 
die  Anerkennung  wie  die  schon  vorhandenen.     In  philosophischer  Treue 
und  doch  gefälliger  Form  wird  der  Text  wiedergegeben,  überall  kommt  der 
philosophische  Gedankengehalt  zu  klarem  Ausdruck.    Apelt  gibt  gute  Ein- 
führungen, Inhaltsübersichten  und  Anmerkungen,  wobei  er  die  richtige  Mitte 
hält  zwischen  Zuviel  und  Zuwenig.    Die  Ausgaben  sind  sehr  zu  empfehlen. 
Basel.  Otto   Braun. 

Ferdinand  Sommer,  Lateinische  Schulgrammatik  mit  sprachwissen- 
schaftlichen Anmerkungen.  Frankfurt  a.  M.  1920.  Moritz  Diester- 
weg.     XVI  u.  186  S.    8». 

Das  Buch  bedeutet  seinem  Inhalte  nach  einen  bedeutenden,  entschei- 
denden Fortschritt,  und  zum  Teil  kann  dies  auch  von  seiner  Formgebung 
gesagt  werden.  Wir  besaßen  bisher  noch  keine  Schulgrammatik,  die  auch 
die  Syntax  vom  streng  sprachwissenschaftlichen  Standpunkte  von  Grund 
auf  entwickelt  und  dargelegt  hätte,  und  auch  keine,  die  die  Formenlehre 
in  so  knapp3r  Form  vom  gleichen  Standpunkte  aus  geboten  hätte.  E.  Niep- 
manns  Sprachlehre  ist  bis  jetzt  leider  nicht  über  die  Laut-  und  Formenlehre 
hinausgediehen,  und  dieser  Teil  selbst  bietet  für  den  Kopf  des  Lateinrekruten 

Monatschrift  f.  höh.  Schulen.    XX.  |hrg.  25 


378      Ferdinand  Sommer,  Lateinische  Schulgrammatik,  angez.  von  Franz  Cramer. 

ZU  viel  und,  trotz  der  meisterhaften,  aus  langjähriger  Lehrkunst  heraus- 
geborenen Form  und  Fassung  der  Regeln,  in  etwas  zu  gelehrtem  Gewände^). 
Ferd.  Sommer,  der  Hochschullehrer  und  Verfasser  des  wissenschaftlichen 
„Handbuchs  der  lateinischen  Laut-  und  Formenlehre",  hätte,  wie  er  im  Vor- 
wort sagt,  es  kaum  gewagt,  eine  Schulgrammatik  zu  schreiben,  hätte  es  nicht 
der  Krieg  mit  sich  gebracht,  daß  er  über  drei  Jahre  an  einer  Lehranstalt 
Lateinunterricht  zu  geben  Gelegenheit  hatte.  Man  wird  ihm  sehr  gern  das 
Zeugnis  geben,  daß  diese  Lehrtätigkeit  in  der  schulmäßigen  Fassung  des 
Lehrbuches  sich  aufs  vorteilhafteste  wiederspiegelt.  Besondere  Aufmerksam- 
keit verdient  die  äußerst  knappe  Form  und  die  überraschend  starke  vielleicht 
zuweit  gehende  Zusammendrängung  des  Stoffes.  Freilich  hatte  er  hier  Vor- 
bilder an  andern,  z.  B.  Stegemann,  den  er  selbst  anerkennend  nennt.  Wenn 
Verfasser  sagt,  in  der  Syntax  habe  er  besonders  Wert  darauf  gelegt,  „bei  den 
vom  Deutschen  abweichenden  Konstruktionen,  die  dem  lateinischen  Ge- 
brauch zugrunde  liegenden  Auffassungen  möglichst  hervortreten  zu  lassen", 
so  hat  er  dabei  zweifellos  Geschick  walten  lassen:  aber  allerdings  sind  hier 
schon  gewiegte  Meister  vor  ihm  tätig  gewesen,  vor  allem  der  in  diesen  Dingen 
unübertroffene  Paul  Harre.  Während  die  ,,vom  Deutschen  abweichenden 
Transitiva"  bei  S.  (§  141  B  1)  sich  folgendermaßen  ausnehmen: 

f  u  g  e  r  e  fliehen   (hostes  vor  dem  Feinde),      sequi  folgen. 

d  e  f  i  c  e  r  e  ausziehen,  feh!en.  adaequare  gleichkommen,  erreichen. 

i  u  V  a  r  e  helfen  (unterstützen). 

geht  ganz  anders  Harre  vor  (§  138): 

ich  helfe  dir  =  ich  unterstütze  dich      adiuro  te; 

es  wird  mir  geholfen  =  ich  werde  unterstützt      adiuvor; 

ich  fliehe  vor  dir  =  ich  meide  dich      fugio  te; 

ich  entfliehe  dir  =  ich  vermeide  dich  effugio  te  usw. 
Eine  sehr  wichtige  Frage  ist  es,  ob  die  auf  sprachwissenschaftliche  Grund- 
-lage  gestellte  Formenlehre  in  der  vorliegenden,  sicherlich  vereinfachten 
Darstellung  schon  dem  kleinen  Lateinanhänger  eine  genießbare  Nahrung 
sein  kann.  Ein  Beurteiler  hat  es  bereits  verneint;  wir  möchten  uns  nicht 
so  ohne  weiteres  anschließen.  Es  ist,  denke  ich,  selbstverständlich,  daß  bei 
weitem  nicht  alles,  was  ein  wirkliches  Sprachbuch  (im  Gegensatz  etwa  zu 
einem  dem  Übungsbuch  beigegebenen  Regelanhang)  bietet,  bei  der  ersten 
Durchnahme  für  den  Anfänger  verdaulich  und  überhaupt  berechnet  ist.  Und 
auch  das,  was  aus  dem  Gebotenen  vom  Anfänger  aufzunehmen  ist,  wird 
doch  heutzutage  erst  vom  lebendigen  Unterricht  vorbereitet,  ehe  das  Sprach- 
buch eingesehen  wird.  Der  Lehrer  ist  berufen,  zunächst  aus  der  Anschauung 
der  Übungssätze  in  die  Sache  hineinzuführen,  das  von  den  Schülern  unter 


0  J'ing^t  hatte  ich  Gelegenheit,  an  der  von  E.  Niepmann  geleiteten  Anstalt  (Bonn) 
den  Sprachunterricht  auf  allen  Klassenstufen  kennen  zu  lernen;  ich  bekenne,  daß  meine 
Erwartungen  übertroffen  sind,  und  daß  die  Möglichkeit,  auch  beim  Anfangsunterricht 
der  sprachwissenschaftlichen  Wahrheit  gerecht  zu  werden,  mir  als  handgreifliche  Wirk- 
lichkeit entgegentrat. 


Ferdinand  Sommer,  Lateinische  Schulgrammatik,  angez.  von  Frani  Gramer.     379 

» 
seiner  Führung  Beobachtete  lebendig  werden  zu  lassen,  es  ist  zu  erläutern 
und  zu  vertiefen,  es  dann  —  möglichst  unter  Eigenarbeit,  Selbstfinden  der 
Schüler  —  in  Wort  und  Regel  zu  fassen  und  endlich  das  so  gefundene  Gesetz 
im  gedruckten  Buch  zur  sichern  Einprägung  vor  Augen  zu  führen.  Und  hierzu 
kann  des  Verfassers  Darstellung  sehr  wohl  die  Grundlage  bieten,  soviel  auch 
noch  nach  der  Seite  der  schulmäßigen  Methodik  zu  wünschen  und  zu  ändern 
bleibt.  So  sind  zweifellos  kurze  gereimte  Geschlechtsregeln,  wie  sie  auch  Niep- 
mann  als  langjährigerPraktiker  nicht  verschmäht,  den  trockenenFeststellungen 
und  Aufzählungen  (vgl.  §  39)  entschieden  vorzuziehen. 

Freilich  wird  überhaupt  der  Gesichtswinkel,  unter  dem  wir  ein  Sprach- 
buch betrachten,  sich  ändern  müssen,  je  nachdem  wir  den  Zweck  des  Gram- 
matikunterrichts festsetzen.  Eckstein  (Heidelberg) im  „Humanist. Gymnasium" 
(1921  S.  39)  urteilt:  „Grammatik  als  Selbstzweck  hat  in  unserer  Zeit  keine 
Berechtigung,  sie  will  nur  das  Rüstzeug  zur  Lektüre  zu  liefern", 
so  stehe  ich  auf  anderm  Standpunkt;  soweit  der  Lateinunterricht  auf  Gym- 
nasien in  Frage  kommt,  ist  die  Stellung  der  Sprachbetrachtung  und  Sprach- 
übung ebensosehr  eine  beherrschende  wie  eine  dienende.  Gerade  heute  —  und 
Sommers  Buch  ist  dessen  ein  Zeichen  —  kann  der  selbständige  Bildungswert 
der  lateinischen  Spracherziehung,  d.  h.  die  geistige  Zucht  durch  Überwindung 
der  Sprachunterschiede  und  die  denkende  Betrachtung  der  Spracheigenart, 
sich  auswirken.  Es  gilt  ja,  in  die  Seele  des  jeweiligen  Volkstums  einzudringen, 
das  uns  beschäftigt ;  das  unmittelbarste  Erzeugnis  der  Seele  aber  ist  die  Sprache 
sie  ist  der  Seele  Spiegel.  Was  aber  könnte  bildender  sein  als  das  verständ- 
nisvolle Versenken  in  die  Schöpfungen  der  Volksseele?  (vgl.  m.  Handbuch 
des  lat.  Unterr.  S.  151  u.  169). 

Die  vorliegende  Grammatik  ist  kein  bloßes  „Lernbuch",  d.  h.  eine  für 
das  jeweilige  Klassenalter  zurechtgestutzte  Sammlung  von  Regeln  für  Schüler, 
und  ich  sollte  meinen,  wir  wären  über  das  Zeitalter  hinaus,  in  dem  solche 
Lembüchlein  als  das  ausschließlich,  d.  h.  für  alle  Klassenstufen,  alle  Schul- 
gattungen und  alle  Bildungszwecke  Richtige  galten.  Eine  Sprachlehre, 
die  in  die  denkende  Erfassung  des  Sprachgeistes  in  allmählich  (mit  dem 
Fortschreiten  des  Schülers)  wachsendem  Maße  einführen  will,  wird  auch  für 
die  Wiederholung  auf  höheren  Stufen  das  Nötige  bieten.  Und  hierfür 
bieten  in  S.'s  Laut-  und  Formenlehre  viele  Einzelheiten,  zumal  in  den  unter 
dem  Text  angebrachten  Anmerkungen  den  willkommenen  Stoff  (womit 
nicht  gesagt  ist,  daß  nicht  auch  für  die  Syntax  des  Verfassers  Ähnliches  gilt). 
Die  Tatsache,  daß  der  Sextaner  nichts  mit  Anmerkungen  wie  (Nr.  13): 
„miles  aus  milets,  miless,  dies  läßt  sich  im  Altlatein  noch  nach- 
weisen", anzufangen  weiß,  beweist  nichts  gegen  ihre  NützHchkeit  an  sich. 
Schon  daß  dem  jungen  Lehrer  dergleichen  zum  Bewußtsein  kommt,  ist 
—  nach  dem  heutigen  Stande  der  Dinge  —  ein  zweifelloser  Vorteil. 
Leider  sieht  es,  trotz  allen  Vorschriften  der  Prüfungsordnung  auch  heute 
noch  mit  der  sprachwissenschaftlichen  Vorbildung  der  Prüfungskandidaten 
noch  lange  nicht  so  aus,  wie  es  sein  sollte.  Ist  hier  einmal  ein  Wandel  zum 
Bessern  eingetreten  (und  er  bahnt  sich  doch  unverkennbar  an),  wird  manche 
„Anmerkung"  überflüssig  werden,  deren  Inhalt  dann  dem  mündlichen  Ver- 

25* 


380     Ferdinand  Sommer,  Lateinische  Schulgrammatik,  angez.  von  Franz  Cramer. 

fahren  zwischen  Lehrer  und  Schüler  vorbehalten  werden  kann,  oder  —  sie 
wandert  in  verkürztem  Ausdruck  in  den  Text;  denn  daß  die  Anmerkung 
„die  einzig  statthafte"  Form  für  die  Ergebnisse  der  modernen  Sprachforschung 
sei  (Vorwort  S.  III)  vermag  ich  keineswegs  anzuerkennen.  Immerhin  sind 
die  Anmerkungen  zweckdienlicher  als  die  von  andern  Verfassern  (u.a.  Schmalz, 
Landgraf)    vorgezogenen    Sonderhefte. 

Wenn  Verfasser  die  Syntax  bestimmt  als  ,,die  Lehre  vom  Satz  und 
der  Funktion  seiner  einzelnen  Teile"  (§  129),  so  ist  das  kein  wissenschaft- 
licher Fortschritt.  Da  hatte  doch  K.  Reinhardt  das  von  ihm  herausge- 
gebene (später  von  E.  Bruhn  bearbeitete)  Grammatikbuch  doch  immerhin 
richtiger  „Formen-  und  Satzlehre"  benannt,  damit  wohl  andeutend,  daß 
er  nur  einen  Ausschnitt  aus  der  Gesamtgrammatik  geben  wolle.  Denn 
Satzlehre  und  Syntax  sind  keineswegs  gleichbedeutend,  auch  nicht,  wenn 
man  hinzusetzt:  „und  der  Funktion  [das  Fremdwort  ist  unnötig]  seiner 
einzelnen  Teile".  Die  Syntax  ist  die  Lehre  von  den  Wortgefügen;  so  wird 
auch  nicht  der  Satz  durch  ,, Kasus"  bestimmt  (§  138),  sondern  eine  Wort- 
gruppe. Natürlich  können  praktische  Rücksichten  hier  eine  Vermischung 
der  Anordnungsgrundsätze  rätlich  erscheinen  lassen;  aber  darauf  wäre 
doch  in  einer  wissenschaftlich  angelegten  Sprachlehre  aufmerksam  zu  machen. 
Im  übrigen  kann  gerade  die  Sommersche  Syntax  dem  Lehrer  außerordent- 
lich nützliche  Dienste  tun;  denn  während  für  Laut- und  Formenlehre  bereits 
handliche,  wenn  auch  nicht  immer  zuverlässige  Wegweiser  ihre  Dienste  tun 
können,  hat  die  lateinische  Syntax  bisher  solcher  zusammenfassender  Hilfs-, 
mittel  entbehrt.  Um  nur  eine  Einzelheit  hervorzuheben:  keine  einzige 
Schulgrammatik  hat  bisher  meines  Wissens  die  Erklärung  für  die  auffallende 
Verwendung  des  „Perfekts"  in  den  Typen  dixerit  quis  und  ne  dixeris  aus- 
drücklich gegeben;  daß  hier  die  Wirkung  des  alten,  mit  dem  Perfekt  zu- 
sammengefallenen Aorist  vorliegt,  wird  S.  124  mit  dankenswerter  Deutlich- 
keit gasagt. 

Daß  man  mit  vielen  Einzelheiten  in  der  Syntax  nicht  völlig  übereinstimmen 
wird,  ist  zumal  bei  einer  solchen  Neuschöpfung  begreiflich.  Näher  darauf 
einzugehen  fehlt  der  Raum.  Hier  nur  Weniges.  Die  Begriffsbestimmung: 
„Rhetorische  Fragen  sind  dem  Inhalt  nach  Behauptungen"  usw.  ist  zu 
eng:  sie  enthalten  eine  Behauptung  oder  ein  Begehren  in  Frageform 
(z.  B.:  Quin  conscendamus  equos?  =  Laßt  uns  die  Pferde  besteigen!)  — 
Wenn  es  heißt  (S.  166  am  Schluß) :  „Potentiahtät  liegt  stets  vor,  wenn  sich  die 
Umschreibung  mit  ,sollte'  einsetzen  läßt",  so  ist  das  zwar  richtig,  aber  dar- 
über hinaus  gibt  es  auch  noch  andere  Fälle  (vgl.  meinen  „Lateinunterricht" 
S.  103 f.).  —  Die  Bestimmung:  „Innerlich  abhängig  sind  die  untergeordneten 
Sätze,  deren  Inhalt  als  bloß  vorgestellt  gilt",  ist  zu  weit  gefaßt;  auch  die 
Fassung:  „Der  con.  pot.  bezeichnet  den  Vcrbalvorgang  als  möglich"  (§  218) 
ist  für  den  Schüler  irreführend;  eher:  „als  möglich  gedacht".  —  Die  (frei- 
Uch  landläufige)  Einteilung  der  Sätze  nach  „Beurteilung,  Frage  oder  Be- 
gehren" (§  216)  entspricht  nicht  den  psychologischen  und  logischen  Verhält- 
nissen:  in   Wirklichkeit  werden   hier  zwei   Einteilungsgründe  miteinander 


Graf  Hermann  Keyserling,  Das  Reisetagebuch  eines  Pliilosoplien,  angez.  vcn  P.  Lorentz.    381 

vermengt:  1.  Fragende  Sätze  und  nichtfragende  Sätze,  2.  Aussage-  und 
Begehrungssätze.  Fragesätze  sind  nichts  weiter  als  ein  in  Frage  gestelltes 
Aussagen  oder  Begehren  (sind  sie  dies  nur  zum  Schein,  nur  der  Form  nach, 
so  handelt  es  sich  um  rhetorische  Fragen,  s.  o.).  —  Ausdrücke  wie:  ,, kon- 
statierendes Perfekt"  (§  215  B  2  u,217  B  1)  halte  ich  nicht  für  glücklich 
geprägt,  auch  abgesehen  von  dem  unnötig  eingeführten  Fremdwort;  zweck- 
mäßiger ist  der  (an  der  erstbezeichneten  Stelle)  zur  Auswahl  beigefügte  Aus- 
druck: ,, urteilendes  Perfekt".  Aber  dieses  feststellende  oder  urteilende 
Perfekt  umfaßt  nicht  den  ganzen  hierhin  gehörenden  Umkreis  der  Anwen- 
dungsfälle; denn  das  präsentische  Perfekt,  das  S.  in  eine  Anmerkung  ver- 
weist, ist  gleichberechtigt  und  gehört  zur  gleichen  Gattung.  Harre  faßt  (ganz 
richtig  im  Gegensatz  zum  aoristischen  Gebrauch)  beides  (1.  urteilendes, 
2.  präsentisches  Perfekt)  unter  dem  Begriff  ,, eigentliches  Perfekt"  zu- 
sammen. 

Während  ich  dies  schreibe,  kommt  mir  des  Verfassers  neues  Buch:  „Ver- 
gleichende Syntax  der  Schulsprachen"  in  die  Hand,  das  die  ,,Lat.  Schul- 
grammatik" in  der  glücklichsten  Weise  ergänzt  und  vertieft.  Darüber  viel- 
leicht bei  späterer  Gelegenheit. 

Münster  i.  Westf.  Franz  Gramer. 

Graf  Hermann   Keyserling,  Das    Reisetagebuch    eines    Philosophen. 
Darmstadt,  Otto  Reichl,  1920.    4.  Aufl.     Geb.  150  M. 

Mit  keinem  deutschen  Philosophen  hat  sich  die  heutige  Öffentlichkeit 
mehr  beschäftigt  als  mit  Hermann  Keyserling.  Als  Leiter  der  Schule  der 
Weisheit  in  Darmstadt,  als  Freund  und  Fürsprecher  des  indischen  Dichter- 
Philosophen  Rabindranath  Tagore  ist  er  begeistert  verehrt,  ist  er  heftig  be- 
fehdet worden.  Als  ein  Hauptvermittler  der  Weisheit  des  Ostens,  von  der 
der  Westen  Wesentliches  lernen  solle,  gilt  er  seit  der  Veröffentlichung  seines 
Reisetagebuches  eines  Philosophen.  Daß  dieses  eine  so  starke  und  reiche 
Verbreitung  gefunden  hat,  beweist  noch  nicht  allein  seinen  Wert.  Freilich 
reizt  es  zunächst  durch  die  Fülle  wundervoller  Schilderungen  von  Land  und 
Leuten,  Natur  und  Kultur  in  Indien,  China  und  Japan  und  übrigens  auch 
in  Amerika  —  man  darf  nicht  vergessen,  daß  Keyserling  ursprünglich  Natur- 
forscher ist  —  aber  das  Wichtigste,  was  sich  doch  erst  dem  in  seinem  vollen 
Wert  erschließt,  der  selbst  viel  über  die  Ursachen  der  großen  Wendung  nach- 
gedacht hat,  die  heute  unsere  abendländischeKultur  durchmacht,  das  ist  freilich 
der  fortwährende  Vergleich  zwischen  Morgenland  und  Abendland,  zwischen 
der  in  Indien,  China  und  Japan  ausgeprägten  Wesensart  und  Weltanschauung 
mit  der  europäisch-amerikanischen,  die,  abgesehen  von  der  Verschiedenheit 
der  daran  beteiligten  Völkerrassen,  ohne  die  Grundlage  des  Christentums 
nicht  zu  denken  ist.  Und  das  ruft  nun  noch  den  besondeii  fesselnden  Ein- 
druck hervor,  daß  der  reisende  Philosoph  mit  seiner  proteus-artigen  Natur 
in  jede  der  drei  großen  orientalischen  Kulturen  geradezu  wie  durch  eine 
Metempsychose  eingeht :  er  lebt  dort  nicht  nur  wie  ein  Inder,  Chinese  und  Ja- 
paner, es  gelingt  ihm,  auch  wie  diese  zu  denken  und  zu  fühlen.  Dabei  kommen 


382     Graf  Hermann  Keyserling,  Das  Reisetagebiich  eines  Philosoplien,  angez.  von  P.  Lorentx. 

Vorzüge  wie  Mängel  • —  von  unserm  abendländisch-christlichen  Standpunkt 
aus  so  zu  bezeichnen,  nicht  „vom  Atman"  her,  wo  diese  Ausdrücke  keinen 
Sinn  hätten  —  des  Morgenlandes  und  des  Abendlandes  zu  höchst  wirksamer  An- 
schauung ;  zuweüen  scheint  es,  aber  es  scheint  auch  nur  so,  als  ob  jenes  unbe- 
dingt den  Vorzug  verdiene.  Das  trifft  denn  freilich  da  auch  zu,  wo  der  Westen 
alles  Hauptgewicht  auf  die  Tat,  die  Leistung,  den  Erfolg  als  solche  legt, 
während  dem  Morgenländer  unbedingt  der  Sinn,  der  dabei  zum  Ausdruck 
kommt,  das  Bedeutendste  ist.  Und  die  Sinnhaftigkeit  all  unseres  Tuns  wieder 
stärker  zu  bewerten,  das  tut  uns  christlichen  Abendländern  heute  vor  allem 
not.  Nicht  dürfen  wir,  gleich  dem  Osten,  um  des  Sinns  willen  uns  von  der 
Erscheinung  überhaupt  abwenden,  aber  ebensowenig  dürfen  wir  allen  Sinn 
in  der  E'^scheinung  zum  Ausdruck  bringen  wollen.  Das  lernen  wir  doch 
ja,  namentlich  von  Indien,  daß  das  Festhalten  an  der  Substanzialität  von 
Name  und  Form  ein  verhängnisvoller  Irrtum  ist,  als  ob  irgendwie  intellek- 
tuelle Gestaltung  metaphysisch  ernst  genommen  werden  dürfe.  Auf  Schritt 
und  Tritt  bemerkt  man,  auch  wo  der  Verfasser  es  nicht  ausdrücklich 
sagt,  daß  seine  im  Sinn  eines  wahren  Fortschritts  erkämpfte  Anschauung 
unverkennbar  Goethisches  Gepräge  trägt  —  einmal  bezeichnet  er  Goethe 
auch  geradezu  als  den  No^malmenschen  — ,  namentlich  in  der  Forderung, 
den  statischen  Wah^^heitsinn  durch  den  dynamischen  zu  ersetzen.  An  China 
ist  als  Hauptsache  zu  lernen,  was  „Konk'^etisierung  einer  Idee"  heißen  kann; 
selten  ist  so  restlos  in  schlechthin  allen  Lebensäußerungen  eines  Volkes 
die  zu  Grunde  liegende  Idee  verkörpert  worden.  Der  Japaner  mit  seinem" 
ungewöhnlich  fein  ausgeprägten  Natu'^verständnis  zeigt  dem  Reisenden, 
„wie  unglaublich  weit  man  kommen  kann,  ohne  wesenhaft  zu  sein."  An  dem 
Amerikanertum  erkennt  Keyserling  die  Potenzierung  der  Lebenskraft  und 
des  Lebensgefühls,  die  Steigerung  der  Fähigkeiten,  Vergrößerung  des  psy- 
chischen Betriebskapitals  unbedingt  an,  das  Entsetzliche  aber  daran  ist 
ihm  der  Beweis,  daß  sich  ohne  Seele,  ohne  geistige  Interessen,  ohne 
Gefühlskultur  ein  innerliches  volles  Leben  führen  läßt. 

Worauf  Keyserling  letzten  Endes  hinaus  will,  was  er  auch  in  dem 
Schriftchen:  „Was  uns  not  tut,  was  ich  will"  ausdrücklich  dargelegt 
hat  sowie  in  dem  „Weg  zur  Vollendung"  —  ist  folgendes:  Philosophie 
ist  nicht  Wissenschaft,  sondern  Leben  in  Form  des  Wissens.  Das  Buch  des 
Lebens  aber  liegt  oberhalb  aller  Gestaltung  des  Intellekts.  Der  Mensch  ist 
genau  so  unsterblich  wie  sein  Ideal  und  genau  so  wirklich,  wie  die  Kraft, 
mit  der  er  ihm  dient.  Er  sieht  an  Stelle  des  bisher  vom  Abendlande  vorzugs- 
weise gepflegten  Ideals  der  typischen  Vollkommenheit  das  Heil  künftig  in  dem 
,, Ideal  der  spezifischen  Vollendung."  Versteht  man  dies  recht  und  gelingt  es 
ihm,  in  seiner  ,, Schule  der  Weisheit",  ihm  und  den  andern,  die  dort  nicht 
eben  eigentlich  lehren,  sondern  ihr  wertvolles  Leben  darstellen,  dann  kann 
davon  viel  Segen  ausgehen,  und  es  braucht  licht  die  Gefahr  damit  ver- 
bunden zu  sein,  daß  wir  Deutsche,  heute  von  Weltwirkung  nach  außen  so  völlig 
abgeschnitten,  wieder  allzu  tief  in  bloße  Beschaulichkeit  versinken,  wir  können 
vielmehr,  als  Vertreter  jeder  Art  von  Beruf  auch  im  öffentlichen  Leben,  von 


Kurd  Niedlich,  Deutsche  Religion,  ang?z.  von  P.  Lorentz.  383 

ihm  lernen,  durch  Ausbildung  unserer  spezifischen  Vollendung  das  Wesen- 
hafte unseres  gesamten  Volkes  zu  steigern  und  zur  Geltung  in  der  Welt  zu 
bringen.  Hier  liegt  doch  die  Berührung  zwischen  Keyserlings  Philosophie 
und  der  Fichtes  als  Möglichkeit  vor.  Auch  im  Reisetagebuch  ist  sie  dem 
schärferen  Auge  erkennbar. 

Kurd  Niedlich,  Deutsche  Religion.  Langensalza,  Kortkamp.     1921.  Geh. 

1,80  M. 
Kurd   Niedlich,  Die    germanische    Mythen-    und    Märchenwelt    als 

Quelle  deutscherWeltanschauung.  Leipzig,  Dürr,  1921.  Geh. 6,50 M. 
Kurd  Niedlich,  Jahwe  oder  Jesus.  Leipzig,  Dürr,  1921.  Geh.  7,50  M.  ^^ 
In  seinem  „Heimatschutz  als  Erziehung  zu  deutscher  Kultur"  (siehe 
Monatschrift  für  höh.  Schulen  1920  S.  395)  war  Niedlich  bereits  auch  für 
die  Um-  und  Ausgestaltung  unseres  Religionsunterrichts  in  wahrhaft  deut- 
schem Sinne  nachdrücklich  eingetreten.  Jetzt  führt  er  seine  Gedanken  über 
diesen  Stoff  in  drei  Sonderschriften  näher  aus.  Die  erste,  hervorgegangen 
aus  Vorträgen  in  der  heimatkundlichen  Vereinigung  des  Berliner  Lehrer- 
vereins und  an  der  Arndt-Hochschule,  gibt  einen  Grundriß  zum  Neubau. 
Es  wird  da  sehr  eindringlich  die  bittere  Not  gezeigt,  unter  der  das  kirchliche 
Christentum  und  vor  allem  der  schulmäßige  Religionsunterricht  leidet,  die 
ungeheure  Kluft,  die  zwischen  der  überlieferten  Auffassung  christlicher 
Religionswahrheiten  als  Erfüllungen  alt  jüdischer  Verheißungen  und  einem 
deutschen  Religionsempfinden  klafft,  wie  es,  in  vorchristlicher  Zeit  geschaffen, 
trotzdem  Heliand,  trotz  der  deutschen  Mystik,  trotz  Luther  und  Schleier- 
macher bisher  nie  wirklich  mit  der  Jesusreligion  des  neuen  Testamentes 
eine  organische  Verbindung  eingegangen  ist.  Diese  endlich  anzubahnen  ist 
das  Ziel,  das  Niedlich  sich  gesteckt  hat  und  für  das  er  mannhaft  kämpft. 
Darum  zeigt  er  uns,  wie  in  den  germanischen  Mythen  und  Märchen  eine  Fülle 
von  urdeutscher  echtester  Religiosität  steckt,  die  sehr  wohl  als  Vorstufe  für 
die  echte  Jesusreligion  benutzt  werden  kann.  Von  dem  Recht  der  Deutung 
bisher  nicht  einwandfrei  erklärter  Mythen-  und  Märchenzüge  macht  er  dabei 
ausgiebigen  Gebrauch.  Daß  dann  die  Jahwereligion  durch  die  seit  Paulus 
die  ursprüngliche  Jesusreligion  vielfach  verdeckt  und  in  alttestamentlicher 
Weise  umgedeutet  worden  ist  und  heute  eben  als  offizielles  Christentum  in 
Kirche  und  Schule  gelehrt  wird,  scharf  bekämpft  werden  muß,  das  versteht 
sich  von  selbst.  Niedlich  baut  auf  der  Forschung  der  Religionswissenschaft 
wie  der  Germanistik  und  der  Geschichte  seine  Ausführungen  auf  und  hat 
selbst  im  Unterricht  an  höheren  Schulen  schon  reichlich  Gelegenheit  gehabt, 
nach  dem  von  ihm  gewiesenen  Ziel  zu  streben.  Er  besitzt  ein  ungewöhnlich 
scharfes  Auge  für  den  Unterschied  zwischen  germanischer  und  semitischer  Auf- 
fassung von  Religion,welchletztere  ja  von  Jesus  selbst  aufs  schärfste  bekämpft 
wird.  Daß  er  in  manchem  Punkt  über  das  Ziel  hinausschießt,  daß  er  im 
Kampfeseifer  zuweilen  sich  im  Ausdruck  vergreift,  ist  zu  entschuldigen.  Wer 
etwas  Neues  durchsetzen  will,  darf  nicht  immer  allzu  ängstlich  abwägen. 
Schwer,  sehr  schwer  freilich  wird  es  sein,  über  eine  2000jährige  Überlieferung 


384    Conrad  Bornhak,  Deutsche  Geschichte  unter  Wilhelm  IL,  angez.  von  Karl  Reichel. 

hinweg  an  deutsch-volksmäßige  Grundauffassung  anzuknüpfen,  das  muß  eine 
Arbeit  von  ganzen  Geschlechtern  werden.  Darum  wird  zunächst  einmal  überall 
dem  nachzuspüren  sein,  was  sich  doch  bis  heute  unter  der  Decke  erhaltenhat 
und  je  zuweilen  auch  in  der  christlichen  Religion,  wie  eben  bei  Eckehart,  bei 
Luther,  Joh.  Seb.Bach  und  anderen  zum  Ausdruck  gekommen  ist.  Dazu  werden 
die  vielfach  recht  gut  gelungenen  Ausführungen  des  Anhangs^besonders  dienlich 
sein;  sie  geben  einmal  eine  Gegenüberstellung  der  s*jmitischen  Anschauungen 
mit  den  indisch-germanischen  und  der  Jesusreligion  und  ziehen  sodann 
Grundlinien  für  eine  deutsche  Kirche.  ,,Mit  großen  leuchtenden  Kinder- 
augen das  hinnehmen,  was  wir  als  Kämpfer  errungen!"  Was  mit  diesem 
Grundton  deutscher  Religiosität  nicht  in  Einklang  tönen  will,  das  sollte 
doch  endgültig  aus  unserer  religiösen  Erziehung  ausgeschieden  werden,  und 
mag  es  in  noch  so  ehrwürdigen  Urkunden  überliefert  sein.  Zur  Mitarbeit 
seien  alle  aufgerufen,  die  in  der  Vertiefung  unserer  religiösen  Anschauungen 
und  ihrer  Verschmelzung  mit  unserem  gesamten  Fühlen  und  Denken  eine 
Hauptvorbedingung  für  die  Aufrichtung  unseres  Volkes  sehen. 

Spandau.  P.  Lorentz. 

Conrad  Bornhak:  Deutsche    Geschichte   unter    Wilhelm  II.     348  S. 

2  Seiten  Vorwort.  12  Seiten  Personen-  und  Sachverzeichnis.  A.  Deichertsche 

Verlagsbuchhandlung  Dr.  Scholl.    Leipzig  u.  Erlangen  1921.    27  M.,  eleg. 

geb.  35  M. 

In  der  Deichertschen  Verlagsbuchhandlung  ist  ein  Werk  von  Conrad 

Bornhak,  ,, Deutsche  Geschichte  unter  Kaiser  Wilhelm  IL,  erschienen,  das 

in  allen  seinen  Teilen  anregend  und  belehrend  ist  und  die  weiteste  Verbreitung 

verdient. 

Der  Verfasser  rechnet  Wilhelm  IL  zu  den  genialen  Sprossen  des  Hohen- 
zollerngeschlechts,  von  dem  man  berechtigt  war,  viel  zu  fordern  und  zu  er- 
warten. Mit  großer  Schärfe  kritisiert  er  das  unberechenbare,  sprunghafte 
Wesen  des  Kaisers,  sein  häufiges  und  wenig  taktvolles  Auftreten  in  der  Öffent- 
lichkeit, besonders  seine  vielen  Reden.  Dadurch  wurde  das  große  Kapital, 
das  in  der  großen  Zeit  des  alten  Kaisers  und  Bismarcks  aufgespart  war, 
restlos  aufgebraucht.  Für  völlig  verfehlt  hält  er  sein  Verhalten  gegen- 
über der  Sozialdemokratie,  mit  der  er  allein  fertig  zu  werden  hoffte.  Jn  Wirk- 
lichkeit ist  diese  mit  ihm  fertig  geworden.  Da  der  Kaiser  sein  eigener  Kanzler 
sein  wollte,  war  ein  längeres  Zusammenarbeiten  mit  Bismarck  nicht  mög- 
lich. In  dessen  Entlassung  sieht  Bornhak  die  Ursache  für  die  Untergrabung 
der  Hohenzollernmacht  und  den  späteren  Sturz  des  Kaisertums. 

Die  Ära  Caprivi  war  in  ihrer  inneren  und  äußeren  Politik  verhängnis- 
voll. Die  Lösung  des  Rückversicherungsvertrages  wie  die  Versöhnungs- 
politik, die  in  Preußen  den  Polen  gegenüber  befolgt  wurde,  trieb  Rußland 
in  die  Arme  Frankreichs,  dessen  Revanchepolitik  nach  dem  Abschluß  des 
russisch-französischen  Bündnisses  belebt  wurde.  Die  Schwenkung  in  der 
Schutzzollpolitik  führte  zur  Begründung  des  Bundes  der  Landwirte, 
der  deutsch-englische  Vertrag  über  die  Abgrenzung  der  afrikanischen  Kolo- 


Conrad  Bornhak,  Deutsche  Geschichte  unter  Wilhelm  II.,  angez.  von  Karl  Reichel.     385 

nialgebiete  zur  Gründung  des  Alldeutschen  Verbandes,  und  die 
verfehlte  Polenpolitik  rief  den  Deutschen  Ostmarkenverein  ins  Leben. 
Diese  Verbände  beeinflußten  fortan  das  politische  Leben,  als  unter  dem  Reichs- 
kanzler Hohenlohe  Deutschlands  Eintreten  in  die  Weltpolitik  begann. 

Als  Bülow  Mitte  des  Jahres  1897  die  Leitung  des  Auswärtigen  Amtes 
übernahm  und  Tirpitz  Staatssekretär  des  Reichsmarineamts  wurde,  setzte 
eine  intensive  Flotten-  und  Kolonialpolotik  ein,  die  Reibungen  mit  England, 
dann  auch  mit  Rußland  und  Frankreich  hervorrief.  Mit  Recht  hebt  Bornhak 
hervor,  daß  wir  nur  die  Wahl  hatten,  entweder  Flottenpolitik  und 
Weltpolitik  gegen  England  mit  Rückendeckung  durch  Ruß- 
land oder  türkische  Politik  gegen  Rußland  im  engsten  Bunde 
mit  England  zu  führen.  Als  Bülow  1900  selber  Reichskanzler  wurde,  hielt 
er  nur  allzusehr  an  dem  Grundsatz  der  freien  Hand  und  der  offenen  Tür 
fest,  so  daß  wir  schließlich  zwischen  zwei  Stühlen  saßen.  Die  von  England 
wiederholt  versuchte  Annäherung  wiesen  wir  zurück.  Daher  begann  König 
Eduard,  unterstützt  durch  eine  skrupellose  Presse,  seine  Einkreisungspolitik, 
schürte  in  Paris  den  Krieg  schon  während  der  Marokkokrisis  im  Jahre  1905 
und  trat  nach  dem  Rücktritt  Delcasses  in  Algeciras  für  die  französischen 
Interessen  ein.  Ebenso  handelte  er  während  der  bosnischen  Krisis  im  Jahre 
1908  zugunsten  Rußlands,  nachdem  dieses  bei  der  Zusammenkunft  des 
Königs  mit  dem  Zaren  in  Reval  für  den  Vernichtungskrieg  gegen  Deutsch- 
land gewonnen  war.  Nur  weil  Rußland  mit  seinen  Rüstungen  noch  nicht 
fertig  war,  vermochte  Bülow  durch  sein  energisches  Eintreten  für  Österreich- 
Ungarn  damals  den  Krieg  zu  verhindern. 

Es  war  dies  Bülows  letzter  politischer  Erfolg,  da  seine  Stellung  im  No- 
vember 1908  infolge  der  Enthüllungen  des  Daily  Telegraph  über  Gepräche 
des  Kaisers  schwer  erschüttert  wurde.  Bornhak  meint  wohl  kaum  mit  Recht, 
daß  Bülow  es  damals  darauf  abgesehen  habe,  den  Kaiser  der  öffentlichen 
Meinung  preiszugeben,  um  kaiserliche  Reden  und  Gespräche,  die  eine  ge- 
ordnete Geschäftsführung  erschwerten,  für  die  Zukunft  zu  verhindern.  Dies 
sei  ihm  auch  gelungen.  Doch  der  Kaiser  habe  ihn  durchschaut  undd  aber 
eine  baldige  Entlassung  des  Reichskanzlers  beschlossen.  Bornhak  führt 
das  Wort  des  Kaisers  an:  ,, Bülow  macht  noch  die  Reichsfinanzreform,  dann 
geht  er."  Da  diese  Reform  scheiterte,  trat  Bülow  zurück,  und  zwar  aus  parla- 
mentarischen Gründen.  ,,Der  Kaiser  hatte  über  Bülow  triumphieren  wollen, 
doch  Bülow  triumphierte  über  den  Kaiser,  noch  in  seinem  Sturze  groß." 

Auf  Bülow  folgte  Bethmann-Hollweg,  der  Bureaukrat.  Bornhak  macht 
darauf  aufmerksam,  daß  seit  den  Zeiten  Manteuffels  in  den  fünfziger  Jahren 
des  vorigen  Jahrhunderts  zum  ersten  Male  wieder  ein  Verwaltungsbeamter 
an  der  Spitze  des  Staates  stand,  Bethmann  war  in  seiner  Schmiegsamkeit 
ganz  ,,der  Reichskanzler  nach  dem  Sinne  des  Kaisers".  Seine 
äußere  Politik  ging  darauf  aus,  sich  für  einen  Festlandskrieg  die  Neutralität 
Englands  zu  sichern,  ohne  zu  merken,  daß  England  es  war,  das  den  Fest- 
landskrieg gegen  uns  vorbereitete. 


386    J.  Norrenberg,  Handbuch  d.  naturwissenschaftl.  u.  mathemat.Unterrichts,  angr.v.Wolff. 

Schon  bei  Ausbruch  der  neuen  Marokkokrisis  im  Jahre  1911  trat  uns 
England  schroff  entgegen.  Die  Nachgiebigkeit,  die  wir  infolgedessen  bei 
einem  neuen  Marokkoabkommen  Frankreich  gegenüber  bewiesen,  war  be- 
sonders gefährlich,  weil  die  Besetzung  von  Tripolis  durch  die  Italiener  die 
unmittelbare  Folge  der  deutsch-französischen  Verständigung  war.  Deutsch- 
land und  Österreich  gerieten  dadurch  der  Türkei  gegenüber  in  eine  äußerst 
schwierige  Lage.  Noch  schlimmer  war,  daß  der  erfolgreiche  Raubzug  der 
Italiener  die  beiden  Balkankriege  zur  Folge  hatte,  die  auch  unserer  Macht- 
stellung schwere  Schläge  versetzten.  Die  Türkei  war  aus  Europa  fast  heraus- 
gedrängt, Rumänien  schloß  sich  eng  an  Rußland  an,  und  Italien,  das  mit 
der  Türkei  zerfallen  war,  wurde  nach  der  Erwerbung  von  Tripolis  immer 
abhängiger  von  der  Entente.  Wir  aber  ließen  uns  durch  Lord  Haidane, 
dessen  Besuch  in  Berlin  nur  ein  abgekartetes  Spiel  war,  über  das  Ohr  hauen 
und  verzichteten  auf  eine  große  Flottenvorlage. 

So  standen  die  Dinge,  als  der  Weltkrieg  ausbrach.  Mit  einer  Übersicht 
über  das  Ergebnis  des  Krieges  schließt  Bornhak  sein  Werk  ab.  Sein  Urteil 
über  Bethmann-Hollweg  ist  mit  Recht  ein  hartes.  Er  trägt  nach  seiner  Meinung 
die  Schuld  an  dem  Verlust  des  Krieges,  dem  Zusammenbruch  der  Heimat- 
front und  dem  Ausbruch  der  Revolution,  der  Kaiser  nur  insofern,  als  er 
„die  personifizierte  Unfähigkeit"  acht  Jahre  lang  als  obersten  Be- 
rater hielt. 

Der  Verfasser  hofft,  daß  der  Kaisergedanke  im  deutschen  Volke  immer 
lebendig  bleiben  wird,  und  daß  ein  neuer  Kaiser  das  Reich,  das  über  den  Zu- 
sammenbruch gerettet  worden  ist,  dereinst  unter  den  Farben  „schwarz- 
weiß-rot"  wieder  zu  neuer  Größe  hinaufführen  wird. 

Leider  haben  wir  auf  die  Ausführungen  Bornhaks  über  die  innere  Politik 
wegen  der  Raumnot  nicht  weiter  eingehen  können.  Diese  Ausführungen, 
die  sich  auch  mit  den  geistigen  und  wirtschaftlichen  Strömungen  in  der 
Regierungszeit  Wilhelms  II.  beschäftigen,  legen  ebenfalls  Zeugnis  ab  von 
der  sicheren  Beherrschung  des  Stoffes  durch  den  Verfasser  und  seinem 
klaren,  selbständigen  Urteil.  Sein  inhaltreiches  Buch  kann  daher  für 
den  Privatgebrauch  wie  zur  Anschaffung  für  die  Lehrerbibliotheken  aufs 
wärmste  empfohlen  werden. 

Charlottenburg.  Karl  Reichel. 

J. Norrenberg,  Handbuch  des  naturwissenschaftlichen  und  mathe- 

mathischen    Unterrichts.     VII.  Band. 
W.Lietzmann,  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts.  1.  Teil: 

Organisationen,  Allgemeine  Methode  und  Technik  des  Unterrichts.   337  S. 

Preis  geb.  18.  M.  2.  Teil :  Didaktik  der  einzelnen  Unterrichts  gebiete.  440  S. 

Preis  geb.  14  M.     Quelle  &  Meyer,  Leipzig  1919  und  1916. 

Die  Verlagsbuchhandlung  hat  mir  zwei  große,  frische  Maiblumensträuße 

auf  den  Tisch  gestellt.    Sie  enthalten  volles  saftiges  Grün  und  sind  reich  an 

bunten  Farben.    Wieviel  bunter  erscheinen  sie  aber,  wenn  man  sie  ganz  im 

Sinne  expressionistischer  Betrachtungsart  beschaut.  Denn  man  muß  zwischen 


W.  Llctzmann,  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts,  angez.  von  Wolff.    387 

den  Zeilen  dieser  zweibändigen  Methodik  und  Didaktik  des  mathematischen 
Unterrichtes  lesen,  will  man  sie  wirklich  erfassen  und  Nutzen  von  ihr  haben. 
Lietzmann,  mit  seiner  flotten,  schaffensreichen  und  arbeitsfreudigen  Feder, 
war  der  berufene  Autor  für  ein  solches  Werk.  Wer  die  Entwicklung  des  mathe- 
matischen Unterrichts  im  letzten  Dezennium  verfolgt  hat,  dem  ist  der  rührige 
Schriftsteller  auf  dem  Gebiete  mathematischer  Pädagogik  nicht  fremd  ge- 
blieben. Er  konnte  deshalb  auch  mit  jener  Literatur-  und  Sachkenntnis 
an  die  Arbeit  gehen,  die  einen  vollen  Erfolg  von  vornherein  gewährleistet. 

In  der  Form  der  Darbietung  ist  sich  Lietzmann  auch  in  diesem  Werk 
durchaus  treu  geblieben.  Nie  ist  es  seine  Art  gewesen  kategorisch  vorzu- 
gehen, mit  apodiktischer  Gewißheit  Wege  zu  weisen,  nein,  sein  Kennzeichen 
ist  es  anzuregen,  Interesse  zu  erwecken,  den  Leser  in  eine  Stoff- 
fülle zu  führen,  die  geordnet  aber  nicht  bis  ins  kleinste  durchgearbeitet  ist. 
Deshalb  sind  seine  Gedanken  nicht  immer  zu  Ende  gedacht  —  er  will  eben 
keine  Festlegung  auf  unbedingte  Prinzipien,  er  liebt  nicht  einen  und  nur  einen 
Standpunkt,  sondern  er  will  dem  Leser  in  seinen  Ideen,  dem  Pädagogen  in 
seinem  Handeln  Freiheit  lassen  und  ihm  die  Möglichkeit  geben,  selbständig 
den  Verhältnissen  entsprechend  den  Stoff  seinen  Schülern  zu  geben. 

Der  Vorarbeiten  auf  diesem  Gebiete  sind  nicht  viele.  Reidts  Anleitung 
für  den  mathematischen  Unterricht  erlebte  im  Jahre  1906  die  wohlverdiente 
Neuauflage,  der  Bearbeiter  hat  ihr  aber  die  neue  Gestalt,  die  sie  dem  Fortschritt 
entsprechend  verdient  hatte,  nicht  gegeben.  Simons  Didaktik  aus  dem 
Jahre  1895  trägt  einen  durchaus  subjektiven  Charakter.  In  neuerer  Zeit 
machte  Höflers  Didaktik  von  sich  reden.  Man  darf  wohl  sagen,  ohne  einseitig 
zu  urteilen :  in  Ermangelung  eines  besseren.  Dieses  Bessere  liegt  jetzt  als  viertes 
Glied  vor  uns :  eine  wahrhafte  moderne  und  die  ganze  neuere  Literatur  berück- 
sichtigende Arbeit  in  zwei  umfangreichen  Bänden. 

Der  erste  Band  befaßt  sich  mit  den  allgemeineren  Fragen  der  Unter- 
richtslehre. Er  ist  in  sechs  Kapitel  gegliedert,  die  die  Überschriften  tragen: 
die  mathematische  Wissenschaft  in  ihrer  Bedeutung  für  den  mathematischen 
Unterricht,  Bedeutung  und  Aufgabe  des  mathemathischen  Unterrichts, 
die  wissenschaftliche  und  praktische  Vorbildung  und  die  Fortbildung  des 
Mathematiklehrers,  Unterrichtsführung,  der  mathematische  Lehrplan,  Lehr- 
und  Lernmittel. 

Im  zweiten  Band  finden  wir  folgende  neun  Kapitel :  der  Rechenunterricht, 
der  propädeutische  geometrische  Unterricht,  Planimetrie,  Stereometrie, 
Trigonometrie,  Neuere  Geometrie,  Arithmetik,  Algebra,  Analysis. 

Jeder  Band  enthält  ein  ausführliches  Namen-  und  Sachregister,  so  daß 
man  sich  leicht  darin  zurechtfinden  kann. 

Das  interessante  Werk,  das  sich  auf  eine  erstaunlich  umfangreiche  Lite- 
raturkenntnis stützt,  ist  neuartig  in  vieler  Beziehung.  Zum  erstenmal  ist 
die  Mathematik  und  Didaktik  des  Mathematikunterrichtes  in  zwei  Bänden 
dargestellt,  zum  erstenmal  liegt  eine  methodische  Arbeit  vor  uns,  die  den 
Aufgaben  und  Forderungen  bis  in  die  jüngsten  Tage  Rechnung  trägt. 


388    W.  Dieck,  Stoffwahl  und  Lehrkunst  im  mathemat.  Unterricht,  angez.  von  Wolff. 

Der  Erfolg  ist  deshalb  bei  dem  im  Jahre  1916  erschienenen  zweiten 
Band  nicht  ausgeblieben.  Nun  liegt  die  ganze  Arbeit  vor  uns.  Daß  dieses 
Meisterwerk  allseitig  Anklang  finden  wird,  des  sind  wir  sicher. 

W.  Dieck,  Stoffwahl  und  Lehrkunst  im  mathematischen   Unter- 
richt   der    Unter-    und    Mittelschule    höherer    Lehranstalten. 
Druck  von  W.  Osterkamp,  Sterkrade   1918.     Kommissionsverlag  B.  G. 
Teubner,  Leipzig.  261  Seiten.    Preis  geheftet  6  M. 
Weit  bescheidenere  Ziele  als  das  vorhin  besprochene  Werk  stellt  sich 
das  vorliegende.   Und  doch  erfüllt  es  die  Aufgabe,  die  es  sich  nach  dem  Titel 
steckt,  durchaus.     Mit  großem  Interesse  und  mit  viel  Vergnügen  habe  ich 
das  Buch  durchgelesen,  dessen  Verfasser  ein  wahrer  Schulmeister  aus  Leib 
und  Seele  zu  sein  scheint.  Er  bespricht  den  Stoff  von  Sexta  bis  Untersekunda 
und  weist  auf  Schwierigkeiten  der  Sache  und  der  Pädagogik  hin.    Mit  viel 
Liebe  ist  da  viel  Kleinarbeit  in  siebenjähriger  Niederschrift  geleistet  worden, 
Kleinarbeit,  die  des  persönlichen  Momentes  nicht  entbehrt. 

Bei  all  diesen  Vorzügen  darf  ich  jedoch  nicht  versäumen  auf  literarische 
Unebenheiten  hinzuweisen,  die  eine  Kühnheit  des  Verfassers  hinsichtlich 
der  Gliederung  seines  Werkes  erkennen  lassen.  Er  hat  sich  arischeinend  ge- 
scheut, einige  Grundlagen  der  allgemeinen  und  besonderen  Unterrichts- 
lehre gesondert  vom  Stoff  zu  betrachten.  Diese  Teile  zwängt  er  nun  in  den 
Erörterungen  hinein,  ohne  daß  sie  dahin  gehören  oder  passen.  An  manchen 
Stellen  geht  er  auch  über  die  Mittelstufe  hinaus  wie  z.  B.  in  dem  Abschnitt: 
Die  Grundlagen  der  Geometrie. 

Natürlich  sind  diese  Mängel  nur  Äußerlichkeiten,  die,  an  sich  bedauerns- 
wert, dem  inneren  Kern  des  Ganzen  nicht  schaden,  ebenso  wie  so  manche 
Druckfehler  oder  Druckmängel,  die  sich  zum  Teil  durch  die  Kriegsverhält- 
nisse entschuldigen  werden. 

„Eben  diese  kleinen  Geheimnisse  des  Unterrichtserfolges  dem  Anfänger 
im  Lehramt  in  knapper  und  anregender  Form  an  die  Hand  zu  geben,  das 
ist  der  eigentliche  Zweck  dieses  Buches."  Mit  diesen  Worten  wird  die  Auf- 
gabe des  Buches  vom  Verfasser  gekennzeichnet. 

Hannover.  Wolff. 

Deutsche  Lieder.    Klavierausgabe  des  Deutschen  Kommersbuches.    Besorgt 
von  Dr.  Karl  Reisert.  Freiburg  i.  B.  Herdersche  Verlagsbuchhandlung. 
4».    (XVI,  614  S.    4  S.  Anhang.)    Geb.  in  Leinwand  21  M. 
Es  ist  dankbar  zu  begrüßen,  daß  die  Sammlung,  die  als  Kommersbuch 
in  erster  Linie  studentischer  Geselligkeit  dienen  soll,  sich  bestrebt,  den  Aka- 
demiker mehr  als  die  bisherigen  Klavierausgaben  vertraut  zu  machen  gerade 
mit  solchen  Liedern,  die  die  breiten  Massen  des  Volkes  mit  Vorliebe  singen. 
Sie  fördert  so  an  ihrem  Teile  ein  Berührungs-  und  Bindemittel  zwischen  den 
sozialen  Schichten  mit  und  ohne  akademische  Bildung,  dessen  Wichtigkeit 
mehr  noch  als  im  gedankenlos  genossenen  Frieden  vergangener  Universitäts- 
jahre jedem  Nachdenklichen  in  der  sorgenvollen  und  kampfestollen  Gegen- 


Deutsche  Lieder,  angez.  von  Breucker.  389 

wart  offenbar  geworden  ist.  Unsere  herrlichen  Wald-  und  Wanderlieder 
von  den  Tälern  weit  und  Höhen,  von  des  Müllers  Lust,  von  Heimat  und  Ab- 
schied, Webers  gewaltiger  Klang  von  der  erwachenden  Sonne  und  viele 
andere  nicht  rein  studentische  Gesänge  gehören  auf  die  akademische  Kneipe 
und  aus  ihr  hinaus  auf  die  Wanderwege  des  freien  Scholaren.  Mit  vollem 
Recht  sind  echte  Liederblüten,  die  erst  im  Weltkrieg  aufgingen,  der  Sammlung 
einverleibt  worden,  so  das  ergreifende  „Weiß  nitwo"  Jörg  Ritzels,  das  flotte 
Dragonerlied  von  Löns,  das  erschütternde  österreichische  Reiterlied  Zucker- 
manns und  manche  andere  Strophe  und  Melodie  zeitgenössischer  Sänger 
und  Helden,  deren  inneren  Reichtum  grausam  oft  der  große  Krieg  uns  erst 
offenbarte  und  dann  zerstörte.  Wenn  ein  Kommersbuch  auch  in  erster  Linie 
handfeste  Chorlieder  bieten  soll,  hat  in  ihm  doch  auch  der  zartere  Einzel- 
sang seine  Berechtigung  und  erzieherische  Bedeutung;  so  finden  sich  in  der 
Sammlung  unter  anderen  Schuberts  ,,Das  Meer  erglänzte  weit  hinaus", 
Webers  „Le'se,  le'se,  fromme  We^se",  Mendelssohns  „Leise  zieht  durch  mein 
Gemüt"  und  aus  dem  Kriege  Else  Weirauchs  inbrünstiges  ,, Gebet  der  Sol- 
datenbraut", die  im  Chorus  gesungen  freilich  viel  oder  allen  Zauber  verlören. 
Gefreut  hätte  ich  mich,  wenn  der  Herausgeber,  der  unsere  schönen  und  all- 
bekannten Weihnachtslieder  einfügte,  auch  das  in  Wort  und  Weise  monu- 
mentale Luthersche  ,,Ein  feste  Burg"  im  ,, Deutschen  Kommersbuch" 
deutschen  Studenten,  auch  katholischen,  nicht  vorenthalten  hätte;  denn 
nachdem  der  Weltkrieg  uns  alle  an  Leib  und  Seele  bis  ins  Innerste  durchge- 
rüttelt hat,  sollte  jeder  Deutsche  aus  diesem  Trutzlied  nicht  mehr  ein  kon- 
fessionelles, sondern  ein  nationales  Glaubensbekenntnis  heraushören  können. 
Verständlich  ist  mir,  daß  der  Verfasser  etwa  den  übermütigen  Papst,  der 
herrlich  in  der  Welt  lebt,  oder  auch  die  Brüder  vom  heiligen  Benedikt  weg- 
läßt; aber  Schillers  Schützenlied  aus  dem  Teil  und  sein  Räuberlied,  auch 
das  in  Inhalt  wie  Melodie  so  entzückend  leichte  Lied  von  Phyllis  und  der 
Mutter,  einige  übermütige  alteingesungene  Bierlieder  (Was  die  Welt  morgen 
bringt.  Wer  niemals  einen  Rausch  gehabt.  Wo  soll  ich  mich  hinkehren  u.  ä.), 
Bürgers  Gelöbnis  „Ich  will  einst  bei  Ja  und  Nein",  dazu  Scheffeische  Lieder  von 
allerlei  weit-  und  vorweltlichem  Getier  vermisse  ich  nicht  leicht  in  einem 
Studentenliederbuch  mit  über  700  Melodien ;  gern  hätte  ich  für  sie  Nichtigkeiten 
hingegeben  wie  die  vom  spazierenden  Frosch,  von  den  die  drei  Reiter  paro- 
dierenden drei  Radlern,  die  zum  Tore  hinausradeln,  von  der  letzten  Hose 
(während  die  „Letzte  Rose"  fehlt)  oder  vom  Bübchen,  das  unter  die  Sol- 
daten will  (so  hübsch  es  für  unsere  Kleinsten  ist).  Im  ganzen  aber  kann  man 
feststellen,  daß  sich  erfreulich  wenig  Gehaltloses  in  diesem  Liederbuch  findet 
und  daß  sich  das  Trennend- Konfessionelle  nirgendwo  vordrängt.  Der  An- 
hang, der  ursprünglich  vermutlich  mehr  als  zwei  ,, besondere  Lieder  des  Ver- 
bandes der  katholischen  Studentenvereine  Deutschlands"  enthalten  sollte, 
sonst  würde  die  Rückseite  des  Titelblatts  wohl  nicht  „einige"  versprechen, 
wirkt  unnötig  als  trennendes  Anhängsel,  wenn  auch  der  zweite  Sondersang 
machtvoll  in  Text  und  Ton  erklingt;  er  könnte  sich  getrost  in  die  große  Schar 
der  übrigen  einreihen.     Praktisch  ist  das  doppelte  Inhaltsverzeichnis:  das 


390    Franz  Hildebrand,  Die  höhere  Schule  und  der  Mensch,  angez.  von  L.  Mackensen. 

eine  nach  den  Liedanfängen  (mit  vereinzelten  Irrtümern  in  der  alphabe- 
tischen Folge),  das  andere  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  geordnet.  Alles 
in  allem  machen  die  „Deutschen  Lieder"  dem  literarischen  und  musikalischen 
Geschmack  des  Herausgebers  alle  Ehre  und  bieten  dem  Geschmack  jedes 
Studenten  und  jedes  sangesfreudigen  Deutschen  reiche  Anregung  und  För- 
derung; sie  gehören  nicht  nur  auf  die  Kneipe,  sondern  ins  deutsche  Haus 
als  eine  schöne  Friedensoffenbarung  deutscher  Kultur  und  Größe  mitten 
im  Weltkriege. 

Altena.  ^  Breucker. 

Franz  Hildebrand,  Die  höhere  Schule  und  der  Mensch.  Schulbetrieb 
und  Schulorganosation.  Gemeinverständlicher  systematischer  Grund- 
riß der  praktischen  Pädagogik,  Gotha,  F.  A.  Perthes.  160  S.  Geh.  5,50  M. 
In  der  fast  unübersehbaren  Fülle  der  pädagogischen  Literatur,  dei  uns 
die  letzten  Jahre  beschert  haben,  kann  das  vorliegende  Buch  besondere  Be- 
achtung für  sich  beanspruchen.  Hier  kommt  ein. echter  Jugendbildner  zu 
Worte,  der  mit  reicher  Erfahrung  und  klarer  Erkenntnis  aller  Mängel  und 
Leiden  der  höheren  Schule  eine  innige  Liebe  für  die  Jugend,  der  sein  Lebens- 
werk gilt,  und  eine  hohe,  ideale  Auffassung  seunes  Berufes  verbindet.  Im 
ersten  Teil,  der  vom  Schulbetrieb  handelt,  spricht  der  Verfasser  zunächst 
von  den  Forderungen,  die  an  die  Persönlichkeit  eines  Lehrers  und  Schul- 
leiters zu  stellen  sind,  sodann  von  der  Art  und  Weise  des  Schulbetriebes 
dem  Gesamtgeist  sowohl  wie  den  einzelnen  Seiten  des  Betriebes.  Oberstes 
Ziel  aller  Erziehung  ist  ihm  die  Ausstattung  der  Jugend  mit  einer  allgemein 
menschlichen  Bildung,  die  dem  Heranwachsenen  ermöglicht,  sich  in  der  großen 
Mannigfaltigkeit  der  Welt-  und  Lebensanschauungen  zurechtzufinden  und 
zu  einer  selbständigen  Weltanschauung  vorzudringen.  Nach  diesem  Ziele 
beurteilt  Hildebrand  den  Wert  der  einzelnen  Lehrfächer,  die  er  in  gesamt- 
bildnerische, teilbildnerische,  geschmackbildende  und  körperbildende  ein- 
teilt, und  stellt  eingehend  begründete  Richtlinien  für  den  Unterricht  in  ihnen 
auf.  Aus  den  für  den  Schulbetrieb  festgestellten  Erfordernissen  leitet  der 
Verfasser  im  zweiten  Teil  seiner  Ausführungen  die  für  die  Organisation  des 
höheren  Schulwesens  sich  ergebenden  Notwendigkeiten  ab.  Um  der  staat- 
lichen Ausstattung  mit  menschlich  allgemeiner  Bildung  eine  möglichst  weit- 
hegende Gleichmäßigkeit  zu  verleihen,  empfiehlt  er  auch  im  Bereiche  des 
höheren  Unterrichts,  wenifstens  während  der  ersten  vier  Lehrjahre,  eine  Ein- 
heitsschule, vom  fünften  Jahre  an  eine  Zweiheit  von  Schulgattungen,  eine 
realistische  und  eine  gymnasiale;  das  Gymnasium  könne  sich  auf  seinem 
eignen  Wirkungsgebiet,  oberhalb  des  gemeinsamen  Unterbaues,  ohne  das 
Griechische  und  dami  seine  Eigenart  aufzugeben,  den  neuzeitlichen  Real- 
gymnasium so  nähern,  daß  dieses  überflüssig  werde.  Auf  die  Schlußprüfungen 
will  Hildebrand  nicht  verzichten,  hält  aber  den  schriftlichen  Teil  aller  Schul- 
prüfungen für  entbehrlich  und  wünscht  an  die  Stelle  der  zwangvollen  münd- 
lichen Prüfung  eine  zwanglose  unterrichtliche  Bewährung  vor  Zeugen  in  der 
Weise  zu  sezten,  daß  eine  kleine  Kommission,  bestehend  aus  dem  Schulrat, 


Franz  Leberecht,  Neue  Wege  des  Schreibunterrichts,  angez.  von  Hans  Kurth.     391 

dem  Direktor  und  einem  Lehrer  oder  dem  Direktor  und  zwei  Lehrern,  die 
letzte  Woche  hindurch  oder  drei»  bis  vier  Tage  dem  Unterricht  der  Schluß- 
klasse wenigstens  in  den  Hauptfächern  beiwohne;  auf  diese  Weise  werde 
die  mündliche  Prüfung  ihres  Zufälligen  und  zugleich  Aufregenden  entkleidet 
und  die  Gefahr  der  Unpäßlichkeit  und  Befangenheit  am  bisherigen  Prüfungs- 
tage für  die  Schüler  beträchtlich  verringert.  Neben  der  Einsetzung  von  Eltern- 
beiräten für  die  einzelnen  Lehranstalten  wird  die  Einsetzung  eines  Gesamt- 
beirates für  das  ganze  Schulwesen  empfohlen,  der  die  Beziehungen  zwischen 
dem  Unterrichtsministerium  und  der  großen  Öffentlichkeit  zu  pflegen  hat 
und  die  oberste  Erziehungsbehörde  in  ein  fruchtbares  Verhältnis  zu  einer 
freieren,  auf  das  Pädagogium  gerichteten  Versammlung  setzen  soll. 
Berlin-Pankow.  L.  Mackensen. 

Franz  Leberecht,  Neue  Wege  des  Schreibunterrichts.  1.  Teil:  Deutsch- 
land und  England.  1920.  Verlag  für  Schriftkunde  und  Schriftunterricht. 
Heintze  und  Blackertz,  Berlin  NO  43.  Im  Format  von  18  x  231/2  cm, 
Vorwort  im  Umfange  einer  Seite  und  60  Seiten  Text. 

Ein  gutes  Werk,  gedruckt  in  Tiemann-Fraktur  von  der  Hof-,  Buch- 
und  Steindruckerei  Dietsch  &  Brückner,  Weimar.  Der  Außentitel  wurde 
geschrieben  von  Otto  Reichert,  Offenbach  a.  M. 

Belebt  durch  zahlreiche  wichtige  Abbildungen,  welche  in  der  Anordnung 
im  Satzbau  den  Schriftfreund  sehr  interessieren. 

Leberecht  vermittelt  uns  eine  Kenntnis  der  historischen  Schriftent- 
wicklung, regt  an  zur  Einsicht  in  die  psychologischen  und  physiologischen 
Vorgänge  beim  Schreiben  und  spricht  von  den  Erfahrungen  über  Form  und 
Wirkung  der  Schreibwerkzeuge. 

Eine  vergleichende  Betrachtnng  über  Ursprung,  Form  und  Ziele  der 
verschiedenen  Schriftreformer  bietet  uns  eine  Fülle  von  Anregung  auf  dem 
Gebiete  der  Schirftkunst  und  stellt  den  Gewinn  fest,  den  die  Schriftreform 
für  Schule  und  Leben  abwirft. 

Der  Verfasser  tritt  dafür  ein,  daß  die  deutsche  Schrift  der  deutschen 
Schule  und  dem  deutschen  Volke  erhalten  bleibe  und  daß  der  persönliche 
Ausdruck  des  Schreibers  sich  mit  dem  Charakter  entwickeln  möge. 

Darum  ist  dem  kleinen  Werk  eine  weite  Verbreitung  zu  wünschen. 

Berlin.  Hans  Kurth. 

Franz  Hilker,  Jugend  feiern.     Mit  Geleitwort  von  Paul  Obstreich.     Die 
Lebensschule.    Heft  1.    Schriftenfolge  entschiedener  Schulreformer.    52  S. 
Berlin  1921,  bei  Schwetschke  und  Sohn.    5,40  M. 
Die  Schule  zu  einer  Stätte  freier  Betätigung  zu  machen  ist  Ziel  der 
Schulreformer.   Wie  die  Jugend  Freude  selbst  schafft  und  erlebt,  zeigt  Hilker 
in  seiner  Schrift  ,, Jugendfeiern".   Unt'^r  einem  selbstgewählten  Leiter  werden 
die  Feiern  und  Feste  vorbereitet,  Lehrer  und  Schüler  arbeiten  gemeinsam 
daran.  Außer  Weihnachten  und  Sommersonnenwende  werden  auch  Semester- 
beginn und  Schluß  festlich  begangen,  teils  im  Freien,  teils  in  den  Räumen 


392    Dr.  Karl  Wölker,  Fürsorgeerziehung  als  Lebensschulung,  angez.  von  Kannegießer. 

der  Schule.  Alle  Schulvereine  wirken  mit  und  arbeiten  zusammen.  Hilker 
zeigt  an  einer  Reihe  von  Beispielen,  wie  die  Feste  gefeiert  werden  und  gibt 
anregende  Programme  zu  Märchennachmittagen,  Dichter-  und  musikalischen 
Feiern  und  Anweisungen  zu  dramatischen  Aufführungen.  Sicher  kann  die 
Schrift  vorbildlich  wirken  für  iie,  denen  die  kürstierische  Geschmacksbildung 
der  Jugend  am  Herzen  liegt.  Erziehung  zur  Lebensfreude,  die  erst  geschaffen 
wird  durch  freiwillige  gemeinsame  Arbeit,  wird  gefördert  durch  dieses  erste 
Heft  der  „Lebensschule". 

Dr.  Karl  Wölker,  Fürsorgeerziehung  als  Lebensschulung.  Ein  Auf- 
ruf zur  Tat.  Heft  3  der  Lebenschule.  Berlin  1921.  C.  A.  Schwetschke  u. 
Sohn.    32  S.    3,60  M. 

In  einem  Bändchen  der  von  den  Schulreformern  herausgegebenen  und 
„Lebensschule"  betitelten  Schriftenreihe  gibt  Karl  Wölker  unter  dem  Namen 
„Fürsorgeerziehung  als  Lebensschule"  eine  Erklärung  über  die  Grunsdätze, 
mit  denen  er  den  ,, Lindenhof"  geleitet  hat.  Diese  Grunsdätze  lassen  sich 
kurz  zusammenfassen  in  dem  einen  Worte  Liebe,  Liebe,  die  auch  zu  dem 
scheinbar  Hoffnungslosesten  Vertrauen  hat  und  ihm  zu  helfen  sucht.  Man 
würde  sich  freuen,  nun  auch  Näheres  über  die  praktische  Ausführung  dieses 
Gedankens  zu  hören.  —  Auf  eins  muß  aber  hingewiesen  werden.  Wölker 
scheint  die  Menschen  einzuteilen  in  die  „neuen  Menschen"  und  die  „alten 
Menschen",  welche  letztere  eigentlich  gar  keine  Menschen  sind.  Ist  diese 
Einteilung  nicht  zu  summarisch  und  daher  —  lieblos?  Ist  z.  B.  jemand, 
der,  entgegen  den  Grundsätzen  der  „neuen  Menschen"  Zwang  in  der  Welt 
für  unumgänglich  hält,  oder  der  sich  angesichts  eines  Versailler  Friedens- 
vertrages nicht  zur  Völkerversöhnung  bekennen  kann,  schon  gleich  ein  Ge- 
waltmensch oder  ein  Hasser?  Noch  eins:  Mir  scheint,  daß  in  der  Verachtung 
gegen  alle  derzeitigen  Organisationen  eine  große  Gefahr  liegt.  Denn  wir  brauchen 
diese  großen  Organisationen,  mögen  sie  sein,  wie  sie  wollen,  solange  wir  nicht 
Besseres  an  ihre  Stelle  setzen  können,  wenn  wir  nicht  das  Chaos  haben  wollen, 
das  leicht  auch  alle  Keime  zu  besserem  zerstören  kann. 

Berlin,  Kannegießer. 


-CN®v^ 


Druck  von  C.  Schulze  &  Co.  G.  m.  b.  H..  Gräfenhainichen. 


Verlag  der  Weidmannscheu   Buchhandlung  in  Berlin  SW  6S. 

Soeben  erschien: 

DIE 

GRIECHISCHEN  DIALEKTE 


VON 

FRIEDRICH  BECHTEL 


ERSTER   BAND 

DER  LESBISCHE,  THESS ALISCHE ,  BÖOTISCHE, 
ARKADISCHE  UND  KYPRISCHE  DIALEKT 


gr.  8.    (VI  u.  477  S.)    Geh.  78  M. 


Vorwort. 

In  der  Widmung  meiner  ersten  Bearbeitung  der  ionischen 
Inschriften  an  Wilhelm  Fröhner  schrieb  ich:  »Daß  alle  meine  Dialekt- 
studien nichts  als  Yorarbeiten  zu  einer  vergleichenden  Grammatik 
der  griechischen  Dialekte  sind,  welche  die  Geschichte  der  Sprache 
aus  der  Geschichte  der  Stämme  zu  begreifen  sucht,  wissen  Sie«. 
Heute  lege  ich  einen  Teil  der  Arbeit  vor,  deren  Aufgabe  in  diesen 
Worten  vorgezeichnet  ist.  Die  Gestalt,  die  mir  damals  vorschwebte, 
hat  im  Laufe  der  langen  Jahre,  bei  der  wiederholten  Behandlung 
in  Vorlesungen  und  in  der  Stille  des  Studierzimmers,  Veränderungen 
erfahren,  an  die  ich  1887  nicht  dachte.  Das  Wesentliche  davon  ist^ 
daß  nicht  mehr  Laut-  und  Formenlehre  allein  sondern  auch  Stamm- 
bildung, Syntax  und  Wortvorrat  in  die  Betiachtung  gezogen  werden. 

Okt.  21.  Fortsetzung  auf  Seite  4. 


Probeseite. 


Declination  der  Nomina.  353 


•  §  65 

Gen.  Dat.  Dual,  der  o-Stärame. 
In  Orchomenos  trifft  man  eine  überraschende  Form  des  Gen. 
Dat.  Dualis  an : 

l.ieaa'/.od'ev  rölg  Kgavaivv  Gl.  214^, 
ifj.eGovv  %dlq  JidvfxoLvv  Gl.  214,5. 
Ich  sehe  in  diesen  Dualformen  Seitenstücke  zu  den  homeri- 
schen auf  -Oliv.  Betrachtet  man  -oifiv  als  ursprüngliche  Gestalt 
der  Endung,  so  sind  fxaaovv,  Jidv^oivv  in  der  Weise  aus  (xiooiFiv, 
Jiövfxoi-fiv  hervorgegangen,  daß  vi  in  unbetonter  Silbe  zu  w  redu- 
ciert  ward.  Auf  die  gleiche- Art  der  Reduction  weist  kjipr.  s^ogv^tj: 
neben  oq^ito)  müssen  ogvCe,  ojqvCov,  ojQv^a  u.  s.  f.  gelegen  haben. 
Der  erste  Dualis,  Kgävaiw,  ist  nach  Anleitung  der  beiden  andren 
auf  Kqavaioivv  aus  KgavaioiJ^iv  zurückzuführen.  Beachtenswert  ist, 
daß  im  Artikel  die  Dualform  durch  die  des  Plurals  ersetzt  worden 
ist.  Vermutlich  war  Toi^Ftv  über  toivv  zu  töiv  geworden,  indem 
die  Proklise  zur  Ausdrängung  des  v  führte;  die  Isoliertheit  des 
Ausgangs  hatte  dann  zur  Folge,  daß  lolv  durch  xdlg  abgelöst  ward. 

§66 
Dat.  Plur.  der  3.  Declination. 
Der  Dat.  Plur.  der  Stämme,  die  man  zur  3.  Declination  zu- 
sammenfaßt, schließt  auf  -fft,  niemals  auf  -eooi.     Z.  B. 
tQLoi  64; 
föffklv.ooi  262i8,  igrmaai  D'^  3O637,  TtoXitetovoi  ebd.  .^i; 

IsQOfXvdfXOVai    322.265    (J^ciYMvaL    514ig. 

Durch  dies  Festhalten  an  der  ursprünglichen  Endung  hebt 
sich  das  Arkadische  ab  vom  Lesbischen  und  den  übrigen  Lesb.  Dial. 
§  83  genannten  Dialekten.  Dagegen  stimmt  7colitBvovai  haarscharf 
zu  der  vereinzelten  thessalischen  Form  vTidgyovoL  (Thess.  Dial.  §  29. 
74),  die  eben  darum  auch  als  achäisch  aufgefaßt  worden  ist. 

§67 
^- Stämme. 
Die  Flexion  der  ^■- Stämme  wird,  wie  in  allen  Dialekten  außer 
dem  Ionisch -Attischen,  mit  einem  einzigen  Stamme  bestritten.    Ent- 
scheidend sind  die  Formen 

&eo/.idvTiog  271^1;    TQi/tavayÖQOiog  3g,  jxoXiog  Q^^'i 
^agccTti  2922  1  JJccvayÖQai  Sgg,  noXi  9^,  f^gr^oi  343i9. 
avv&iolg  (Acc.  Plur.)  343 eo- 

9Q 

Beohtel,  Die  jfriochischen  Dialekte  I.  .  ~ 


Probeseite. 


Personalendungen.     Infinitivendungen.  H71 

Infinitive  auf  -rat  trifft  man  außer  bei  den  Arkadeni  nur 
noch  bei  den  Kypriern,  bei  den  loniern  und  Attikern.  Alle  übrigen 
Griechen  suffigieren  -f-ievai  und  -^sv. 

2)  ö-Conjugation. 

Die  Bildung  des  Infinitivs  ist  in  den  verschiednen  Städten  nicht 
einheitlich:  in  Tegea  schließen  die  Infinitive  auf  -ev,  in  Orchomenos 
und  Lykösura  auf  -tjv.     Belege: 

drtlx^v  48,  IpKpaXvEv,  eTtrjQEidLev,  vrrccQxev  634.46.53,  dr/.dL€v 
D  ^30624;  darnach  zu  schreiben  veiuev  3^,  öcplev ^  u.  s.  f. 
(Tegea). 

(psQtjv  343^1,  Xaxfjv  j,  iay.s&fjv  Gl.  217  C4  (Orchomenos). 

TtaQSQTtTjv,  TtaQcpsQTjv  öMg  ^^  fLjkosura). 
Die  Erscheinung,  daß  in  Orchomenos  und  Lykösura  der  Infi- 
nitiv anders  gebaut  ist  als  in  Tegea  —  für  die  übrigen  Städte  fehlen 
noch  Zeugnisse  — ,  bringt  abermals  (§  11)  zur  Anschauung,  daß  das 
Arkadische  kein  einheitlicher  Dialekt  ist. 

Infinitive  auf  -ev  gibt  es  nördlich  vom  korinthischen  Meer  in 
Phokis  und  im  östlichen  Lokris,  im  Peloponnes  in  der  Argolis  und 
in  der  Landschaft  Achaia;  sie  erscheinen  ferner  bei  den  Herakleoten 
und  bei  den;  größten  Teile  der  Inseldorier.  Sie  stellen  die  älteste 
Infinitivbildung  dar,  die  sich  auf  griechischem  Boden  erreichen 
läßt  (Thess.  Dial.  §  108  Ende);  da  diese  in  Arkadien  nur  Achäern 
zugeschrieben  werden  kann,  darf  man  sagen,  daß  überall  da,  wo 
sie  zu  Tage  kommt,  Achäer  es  gewesen  sind,  die  sie  bewahrt  haben 
(Hoffmann  De  mixtis  Graecae  linguae  dialectis  60  ff.).  Die  zweite 
Endung,  die  aus  -eev  hervorgegangen  ist,  hat  ihres  gleichen  bei 
den  Lesbiern,  bei  einem  Teile  der  Thessaler,  bei  "den  loniern  und 
Attikern  und  bei  einem  Teile  der  Westgriechen.  Da  sich  heraus- 
gestellt hat,  daß  die  arkadischen  Infinitive  auf  -vai.  ihre  genaue 
Entsprechung  im  Ionischen  haben,  so  wird  man  die  nächsten  Ver- 
wandten der  arkadischen  Infinitive  auf  -rjv  ebenfalls  bei  den  loniern 
suchen,  sie  also  an  die  ionischen  Infinitive  auf  -slv  anschließen. 
So  führt  die  Betrachtung  der  Infinitive  der  ö-Conjugation  zu  dem 
Kesultate,  daß  im  Arkadischen  ein  achäisches  und  ein  ionisches 
Element  vereinigt  sind.  Seine  Anwendung  auf  frühere  Feststel- 
lungen wird  erfolgen,  wenn  noch  weitre  Zeugnisse  für  den  ionischen  ~ 
Bestandteil  beigebracht  sein  werden. 

24* 


Vorwort. 

Das  Buch  ist  so  angelegt,  daß  jeder  einzelne  Dialekt  sowoi 
4a  seiner  specifischen  Eigentümlichkeit  wie  nach  seiner  Stellung  zu 
den  übrigen  Dialekten  anschaulich  gemacht  wird.  Es  zerfällt  in 
eine  Eeihe  von  Einzeldarstellungen,  die  nach  den  gleichen  Gesichts- 
punkten angelegt  sind,  von  denen  jede  für  sich  eine  Einheit  bildet 
und  doch  mit  den  übrigen  in  Zusammenhang  gebracht  wird.  Jede 
behauptete  Tatsache  wird  mit  Zeugnissen  belegt.  Dabei  wird  Gewicht 
auf  die  Vollständigkeit  der  Tatsachen,  nicht  der  Zeugnisse  für  die 
Tatsachen  gelegt,  allerdings  aber  werden  die  Zeugnisse  nicht  nur 
bei  den  Steinen  sondern  auch  bei  den  Autoren  gesucht,  sofern  sie 
zu  haben  sind. 

Ich  habe  mich  bemüht  die  Ergebnisse  der  Dialektforschung, 
soweit  sie  als  gesichert  gelten  können,  in  gemeinverständlicher,  nicht 
in  linguistischer  Zeichensprache,  vorzutragen.  In  dem  Bestreben 
möglichst  nur  Sichres  zu  geben  habe  ich  einen  Abschnitt  über  den 
böotischen  Accent  bis  auf  einen  einzigen  Paragraphen  (S.  270),  in 
dem  ich  ausführe,  daß  das  Wissen  um  den  böotischen  Accent  auch 
heute  noch  eitel  Stückwerk  ist,  gestrichen,  und  die  Darstellung  des 
kyprischpn  Dialekts  auf  einer  Grundlage  aufgebaut,  deren  Schmal- 
heit niemand  mehr  bedauern  kann  als  ich.  Stünde  ich  nicht  in 
einem  Alter,  in  dem  alle  Veranlassung  dazu  gegeben  ist  des  Wortes 
axiäg  ovag  äv&gtüzcog  eingedenk  zu  sein,  so  hätte  ich  den  kyprischen 
Abschnitt  meines  Buches  bis  zum  Erscheinen  des  neuen  Corpus 
der  kyprischen  Inschriften  zurückgelegt. 

Das  Werk  soll  drei  Bände  umfassen.  Der  zweite  wird  die 
Darstellung  der  westgriechischen  Dialekte  bringen,  der  dritte  ist 
dem  Ionischen  zugedacht. 

Das  Register  zum  ersten  Bande  hat  Herr  Schulamtscandidat 
Alfred  Reußner  ausgearbeitet. 

Als  Leser  denke  ich  mir  Philologen,  die  sich  für  die  Geschichte 
der  griechischen  Sprache  interessieren.  Daß  es  solche  auch  in  den 
vom  Hasse  gegen  jede  überlegne  Bildung  angeschwellten  Zeiten, 
durch  die  wir  den  Weg  finden  müssen,  gibt,  weiß  ich.  Daß  sie 
auch  später,  wenn  sich  die  trübe  Flut  verlaufen  haben  wird,  die 
sogar  unsre  Hochschulen  verwüsten  möchte,  da  sein  werden,  wage 
ich  zu  hoffen,  weil  ich  den  Glauben  an  die  Zukunft  meines  Volkes 
nicht  aufgeben  kann. 

Halle,  21.  Juli  1921.  F.  Bechtel. 


I 

€ltmzntatbn^:  Elementary  English    [ 

1 
I 


I)etou00e0eben  oon 

C  Kl cmann    und   R^  €<f  ermann 

(Dberle^rer  an  öer  (Dbtrrealjdjule  Stu6.=Rat  am  Stäöt.  Redig  pmnajium 

in  Jena  in  KöIn=Cinöentf)aI 


£cl)r=  unb  Ubungsbu(^  für  öas  crftc  3<i^i^  cnglt[d)en  Untcrridjts  an 
ijö^eren  Sd)ulcn  unb  öen  grunblegenbcn  englifd)en  Untcrrid|t  an  ge= 
I)obcnen  DoIfs=  unb  ITtittelfdjuIcn.  Don  C  Riemann.  [IV  u.  150  $.] 
gr.  8.    1921.    Kart IlT.  6  — 

f)ieir3U  120%  tTeuentngsjufdilag  öes  Dcrlogs  (Abänderung  oorbcljaltcn)  g^ 

Srtft=^  und  iäbungebuc^  ^  6tammottf   | 

folgen  im  ^erbft  1921. 

Das  (Elcmcntarbud),  ftreng  mctt)obif^  aufgebaut  in  einem  bem  ^ 
allgemeinen  £ernpro3ef[e  entfpredjenben  Stufengang,  bringt  in  ber  bm  I 
ITIufterlefttonen  norangetienben  (Etnfüfjrung  in  £aut  unb  Sdjrift  ein  * 
in  ben  bisl)erigen  £el)rbüd)ern  nod)  nid)t  cinl)eitli(i)  bur^gefü{)rtes  Derfatjren, 
nämli(^  bie  £autierübungen  toirflid)  anf(^aulic^  unb  lebenbig  3U  geftalten. 
Statt  in  5orm  rton  toten  unb  o^ne  3ufamment)ang  gegebenen  ITTufter= 
mortem  unb  (Ein3elfä^en  bas  in  ben  £eljrpläncn  für  bcn  £autier!ur[us  oor- 
gefdjriebene  Übungsmoterial  3U  geben,  roerben  bie  3ur  (Erlernung  einer 
Don  Hnfang  an  ibiomatifd)en  Husfpradje  benötigten  BeifpieltDÖrter  aus  an» 
fd)aulid)en  unb  lebenbigen  Spredjübungen  gewonnen,  beren  3ntjalt  bem 
alltäglidjen  Zeh^n  unb  ber  €rfat)rungsu)elt  bes  Sdjülers  entnommen  ift. 
(flnf(^auung  oon  Sd)ul3immer,  KIcibung,  Körperteilen,  Serben,  3al}Ien  unb 
nad)  (Boutrtf(^er  Hrt  Deranfd|aulici)te  ?Eätigfeiten.)  Husfpra^e  unb  $d)rei= 
bung  finb  nii^t  Don  Dorn^erein  miteinonber  Dcrquicft,  ba  befonbers  im  ^ 
(Englifdjen  bas  S(^riftbilb  bie  (Erfaffung  bes  £autbeftanbes  beeinträ(^tigt.  I 
(Erft  nadjbem  bie  afuftifc^e  Hufnaljme  bes  Klanges  burdj  ptjonetifc^c  Sd^rift  " 
erarbeitet  ift,  toerben  bie  Beifpietoörter  roieberijolt  unb  in  bm  Sdjreibuwgen 
Dorgefüljrt,  bie  für  ben  betreffenben  £aut  bie  tt)pi[d)ften  finb. 

Huf  bem  auf  bem  £autier!urfus  gewonnenen  IDortfdja^  aufbauenb, 
folgt  ber  £el)tfltoff  in  5orm  oon  16  £efeftü(fen,  bie  grunbfä^Iic^  nur  ber 

(5ortfc§ung  ftclje  Seite  4) 


(Eycmplare  3ur  Prüfung  jtocds  Cinfülirung  ftcliett  ben  Sacf}« 
Icljrcrn  unb  slclircrlnnen  auf  tDunfd)  foftenlos  3ur  Verfügung 


I 


I 

! 

! 
I 
! 


i    Dcclag  oon  6«  6.  Seubncr  *  £cip3ig  und  6eriin    | 

/.6.6:2t.  220  P»ftf<^crfPonte  eeipjlg  «r.  51272 


(E  dernt  annsRicmann, 


Proben  oug  dem  ^Icmcnto c b u c^ 


Die  einseinen  £aute. 

A. 

Die  Dofale. 

1.  Kur3cs 

i  =  öeut[d|cm  i  \ 

n  Blicf: 

£e^rcr: 

£.: 

Schüler: 

dis  iz  9  fiygd. 
fou  9  fiygd  f 
dis  iz  d  fiygd. 

Dies  ift  ein  5ttger. 
3eige  einen  5i"9ßi^! 
Dies  ift  ein  Sieger. 

£.: 
£.: 

daet  iz  d  pin. 
wot  iz  doßt? 

Das  ift  eine  Stccfnaöcl. 
IDas  ift  6as? 

S(^.: 

it  iz  d  pin. 

(Es  ift  eine  Stcdnaöel. 

17 


HTcrfc:  5^09«  1:  '^^t  *^  ^is?  tDas  ift  öies? 
5rage  2:  wdt  iz  dcet?  XOa%  ift  5as? 
Hufforberung  3:  fou!     3eige! 


2.  Dumpfes  i,  unbetont,  fur3,  faft  na^  d  ^inflingenö: 


£.: 

dcdt  iz  dd  figd  tiventi. 

Das  ift  Ott 

£.: 

Wdt  iz  dcßt? 

$4: 

dcet  iz  dd  figd  twenti. 

'kopi-buk 

Sd)reibf)eft 

ilevn 

elf. 

Preparatory  Exercises. 

A.  Bcf^reibung  eines  Jjaufes  in  bcr  Hufeenanfic^t. 

B.  1. 1  enter  the  house  by  the  entrance-door.  Then  I  am  in  the 
hall.  The  hall  is  on  the  ground-floor.  From  the  ground-floor  we 
go  upstairs  to  the  first  story.  2.  The  room  in  which  we  sit  on 
chairs  is  the  sitting-room.  3.  The  room  in  which  we  eat  and  drink, 
where  we  have  d inner,  is  the  dining-room.  4.  The  room  in  which 
we  have  breakf  ast  in  the  morning  is  the  breakfast-room.  5.  We 
sleep  in  the  bed-room.  We  wash  in  the  bath-room.  6.  Our  mother 
prepares  dinner  in  the  kitchen.  7.  Things  which  we  eat  and  drink 
are  kept  in  the  larder  or  in  the  cellar.  8.  The  books  are  in  the 
library.  They  are  kept  in  the  book-case,  where  they  stand  on 
shelves. 


C.  üier  5äIIe.  ITominatit) 

Bob  is  a  Rugford  boy. 

©enitiü: 

Tom  is  Bob's  friend  =  Tom  is  the  f riend 

of  Bob. 

Datio: 

The  book  belongs  to  Bob. 

HKufatiD : 

Tom  asks  Bob. 

Dem  immer  öringenöcr  tDcröcnöcn  n)unf(i|c  na^  TDtcöcr» 
licrftcllung  6cs  fcftcn  £ot>ctt|>rcifes  im  Bud}* 
lian^el  folgenö,  fjobc  ic^,  toie  anöcre  miffenfdjaftUdjc 
Dcrieger,  auf  (5runö  einer  ctitfprcd|enöen  (Ert|öf)ung  öes 
Rabattes  mit  öcn  meinen  Derlag  »oräugsroeife  führen« 
öen  Sortimentsbud)f)anöIungen  Dereinbarungcn  getroffen, 
nadj  6encn  öiefe  üom  1.  3uli  1921  an 

mctttcn  gesamten  Dcrlag  ol^ne  (Sorttmcntcrs) 
TEcucrungsjufdjIag  an  6os  publicum  3u 
liefern  in  öer  £age  unö  oerpfltd^tet  fin6. 

(BIei(^3eitig  erfolgt  ötc  Bered)nung  meiner  Dcrlogs» 
xöerfe  aud|  meinerfcits  3U  feftcn  prcifen  oI)nc  (Derleger») 
Cculrungs3ufd)Iag.  Die  fünfttg  gültigen  Caöenprctfe  öer 
in  meinen  bistjerigcn  Dcr3eid)ntffen  unö  flnseigen  auf= 
gefüf)rten  IDerfe  betragen  im  allgemeinen  öas  2  %  fadjc 
—  für  S(f)ulbüd)cr  6as  2  V4fad)e  —  öer  f)ier  angegebenen 
Prcifc.  Diefc  finö  ober  aud)  als  freilbleibcnö  an3u- 
fefjen,  öa  öic  ^erftellungsfoften  —  aud)  bei  öen  bereits 
oor  öem  Kriege  gcörudten,  aber  jeiDeils  nur  nad|  Beöarf 
gcbunöenenBüdjern,  roo  öieBud)binöerfoften  6iefrüF)cren 
(Bcfamtljerftenungsfoften  öes  Bud)es  oft  um  ein  Dielfadjes 
überfteigen  —  ebcnfo  toie  öie  allgemeinen  (5efd}äftsun= 
loften  einer  f ortlauf enöen  DerSnöerung  unterworfen  finö. 

(Begenüber  öem  bisf)ertgenPreife3U3ÜgIid) Sortimenter» 
3ufd}lag  roirö,  abgefcf|en  oon  öer  flusfd/eiöung  jeöer 
TDillfür  in  öer  Bercd)nung  öes  öerlaufspreifes,  eine  Der= 
billigung  für  öas  Publifum  cr3iclt.  Heuerfdjeinungen 
roeröen  nunmefjr  cntfpredienö  au^  mit  feften  Preifcn  be» 
red)nct. 

Bei  Beurteilung  öer  Büd)erpreife  oerglei^c  man  öie 
Steigerung  öer  Preife  anöerer  ©egenftänöe  unö  bcrürf» 
fidjtigc,  öafe  öie  Cöl)ne  f|eutc  öas  8-10fod)e,  öie  ITtaterial. 
preife  öurd)fd)nittlid|  öas  12— 15fad)e  öer  Dorfriegs'scit 
betragen,  unö  öafe  fid|  öie  allgemeinen  Unfoften  nod)  öar« 
über  f)inaus  gefteigert  I)aben. 

.  Sollten  betreffs  öer  Bered)nung  eines  Buches  meines 
DerIagesirgenöa)eId)c3tDeifeIbcftct)cn,  fo  erbitte  i^öirefte 
ITIitteilung  an  mid). 

Bei  Cteferung  ins  auslonb  bercdjnc  id)  auf  öie 
ieroeils  gültigen  feftcn  Preife  für  alle  Büdner  meines  all» 


gemeinen  Dcrlogs,  ausgenommen  für  3eit[ci)rtften  unft"^ 
für  5ottfe^ungsunterncl)mcn,  einen 

Oalutaausgletd)  von 


200% 

150% 

bei  Cieferungen  naif 

bei  £tcferungen  naä\ 

Belgien 

Argentinien 

Dänemdrf 

Brafilien 

(Englanö  u.  f.  Kolonien 

(Ef)ile 

Sranfrcid) 

(Brie^enlonö 

EjoHanö 

3talicn 

3apan 

£uEemburg    * 

norroegcn 

'  Portugal 

Sdiroeöen 

Spanien 

Sc^roeij 

Dereinigten  Staaten  d.IT. 

-fl. 

Sd)ulbü(^er  liefert  itf-  mit  einem  Dalutaausgleid)  oon 
•  100  7o     '     ^    b3w.  757« 


Ceipsig,  1.  3uli  1921 


B.  (5.  tEeubner 


(Englifdjcs  Untcrridjtsrocrf 


Granimar  Exercises. 

A.  Die  Sd|ülcr  fagen  bcr  Reil)c  nadi:  1.  I  am  the  first,  I  am  the 
second,  and  s.  o.   2.  My  birthday  is  on  the  ... . 

B.  Sunday  is  the  first  day  of  the  week.  Which  day  is  Monday? 
Tuesday?  a.  s.  o. 

C.  January  is  the  first  month  of  the  year.  Which  month  is  February? 
March?  a.  s.  o. 

D.  1.  To-day  is  Monday  the  ninth  of  August  1920.  2  Yesterday 
was  Sunday  the  eighth  of  August  1920.  3.  The  day  before  yesterday 
was  Saturday  the  seventh  of  August  1920.  4.  To-morrow  will  be 
Tuesday  the  tenth  of  August  1920.  5.  The  day  after  to-morrow  will 
be  Wednesday  the  eleventh  of  August  1920. 

nimm  an:  To-day  is  Thursday  the  first  of  April  1918,  fc^c  nadf 
obigem  Beifpiel  Öie  cntfpre^cnöen  Angaben  baßu,  cbenfo  bei:  To-day  is 
Tuesday  the  twenty-second  of  March  1915.  To-day  is  Friday  the 
second  of  December  1902. 

Composition  Exercises. 

^A.  Tom's  Family.  What  do  you  know  about  Tom's  parents, 
brothers  and  sisters,  uncle  Harry,  uncle  John,  cousins,  grand- 
parents? 

B.  Our  Family.  (Schreibe  cntfprcdjenö  öerHrt,  iDictLom  oon  [einer 
5amilie  ersäljlt,  einige  Sä^c  über  öeine  (Eltern,  (Befd|rDi[ter  unö  Der= 
iDanbten.) 

JDtc  IDortfteJJAmg.    Order  of  Words. 
1  t)>  Honnolltenunö  ift:  [§  88 

Sabin  —  präbüat  —  (Dbjc^.>.",  The  servant  brings  the  boots  =  im 
I)cut|d)en:  i  T»er  Virctor  htttt~^jv  "  o  Stiefel.  2.  Die  Stiefel  bringt  6cr  Diener. 
At  six  o'd' O  fuCiÖüfc'^SS  Um  6  U!jr  läutet  eine  (Blorfe. 

s.     pT'  ^~p.         S. 

2.  Das  SubieÜ  ftel)t  oor  6cm  präbitat  {ahwe\6:}mb  oom  Deutfdjcn), 
au(^  roenn  Umftanbsbeftimmungen  am  Sa^anfang  fteljen. 

[§89 

3.  SubjcÜ  unb  (Dbjeft  treten  toegen  ber  5ormgIeid)I)eit  Don  ITomi» 
natiD  unb  Hffufatio  hinter  bem  präbifat  nid)t  3u[ammen. 

3m  Deutf^en  treten  Subjeft  unb  ©bjett  im  5ragefa^  3ufammen: 
Bürftete  ber  Diener  ben  Rod?   Die  Unterfdjeibung  von  Subjeft  unb 

©bjeft  bleibt  bur^  bie  befonberen  5ormen  für  IIominatiD  unb  flftufatio 

getoalirt. 

3m  (Englif(^en  totrb  bicfes  Sufammentreffen  bur^  bie  Umfc^reibung 

mit  to  do  oermieben  (§§  67,  68),  ogl.  ben  5rage--  unb  Husfagefa^: 

1.  Did  the   servant  brush       the  jacket?    Bürftete  öcr  Diener  öen  Rod? 

2.  The  servant  brushed  the  jacket.     Der  Diener  bürftete  öen  Rorf. 
Die  Rormalftellung  bleibt  aud)  im  ^ragefa^  geroofjrt. 


(E(Iermann»Ricmonn,  (Englif^es  Unterric^tsiDcrf 


flltersftufc  bcr  S^ülcr  angcpa&te  (Drigtnaltejtc  bringen.  Der  Stoff,  ocr» 
f^icbcncn  Sphären  (Sd)ule,  ^aus,  Sa^ilic.  (Barten,  Spiel  in  5orm  von 
(Ersä^Iungen,  Dialogen,  (Bebic^ten  ufto.)  entnommen,  ift  anf^ouU^  un6 
belebt  un6  läfet  \xä)  infolge  feines  realen  d^arafters  für  bie  mannigfai^ftcn 
$pre^=  unb  Umtoanblungsübungen  3aje(fmäöig  oertDcrten. 

Der  ;)uf bou  dct  £eltionen  erfolgt  in  berou^ter  Hnlel|nung  an  ben 
Unterri(^tsDerIauf .  Durd) eine DorbereitenbeÜbung,bieben neuen IDort: 
fc^a^  in  5orm  oon  anf^aulic^cn,  3um  Sprechen  geeigneten  (Ein3el[ä^cn  ju 
geroinnen  fuc^t,  roirb  auf  bas  lUufterftüc!  t)ingearbeitet.  Das  ficf)  I|ieran 
anfi^Iiefeenbe  Reading  Exercise,  bas  £}oupt|tü(f  jeber  £cftion,  toirb 
bur^  oielfeitigc  grammatif^e  unb  Spred)übungen  oertieft.  flu^er  Um= 
formungsfä^cn,  fragen  unb  beutfdjen  Überfe^ungsbcifpielen  toerbcn  bie 
fogcnannten  Composition  Exercises  gebracht,  bie  UTaterial  fotool)! 
für  freie  Sprcdjübungen  oIs  aud)  für  fleinc  Iticberft^riften  3ur  freien  Rw- 
loenbung  bes  (Belernten  bieten.  3ur  Hbtoec^flung  bes  Unterridjts  tDcrben 
au^er^alb  bes  feftcn  Raljmens  ber  teftionen  ftcfjcnbe  üeinereflusma^I» 
ftü(fe  l|in3ugefügt,  fursroeilige  (Befdji^ten,  Rätfei,  Sprüdje,  (Bcbicf|tc  ufro., 
bie  \\di  3U  bzn  üerfcf)iebenften  fjör»,  £efc'  unb  Überfe^ungsübungen  <^ut 
Dcrtoenben  laffen. 

auf  bcn  pl|onctifc^en  Hnljang,  bcr  bie  oier  erftcn  £cfeftüc!e  in  £aut- 
f(f)rift  barbictct,  folgt  ein  f urser  grammatifcf}erflbri&.  ITur  an  befanntc 
bcutj(^c  (Erfd)cinungen  anfnüpfenb,  bringt  biefcr  au&er  ber  elementaren 
Formenlehre  bas  Itottoenbigfte  aus  bcr  Stjntaj,  [urfjt  allen  Formalismus 
möglic^ft  3u  oermeiben  unb  bas  Beifpielmaterial  in  einer  fid)  3U  Sprcd)= 
Übungen  eignenbcn  Sorm3U  geben.  Das  rDörterDer3eic^nistDirbfd)Iicpd| 
no^  ergänst  burd|  eine  3ufammcnfa[fun''  ues  lOo-ii/bp^Ä  w.  'jaujg.'uppen. 

Dos  Cefc=  unb  Ubungsbud^,  bas  feiner  Anlage  nac^  Mit  bem 
Huf  bau  bcr  (EIementarbüd)er  überein  ftimmt,  n)äf|It  fcin^J^yj^j^-e  uirter  bem 
(Befid^tspunft,  bo^  nadi  beren  Durc^arbcttatt^  bis  S^u  -^.icn  (Einblid 
befommcn  Ijahen  ins  IDef cn  bes  frcmbcn  Dolfsdja-  '  •  öie  ftaat» 

li^en,  tDirtfdjoftlii^cn  unb  fo3iaIcn  Derljältniffe  b^^s  ontiiu/cu  wc^hcft^ej, 
ber  flltersftufc  ber  Sdjüler  entfprcd|cnb  aber  in  Befi^ränfung  auf  bas  Reale 
unb  flnfd)aulid)c. 

Die  (Brammattft  toill  bem  praftif^cn  Sprad)unterri(^t  bie  (Ergeb» 
niffc  ber  mobernen  fprat^toiffcnfc^aftlidicn  Foi^f^UTtg  nu^bar  matten,  in= 
bem  fic  bie  Sprache  nid|t  in  bas  altl)crgcbrad)te  Si^cma  unb  Regeltöcr! 
einpreßt,  fonbcrn  in  bem  ganscn  Aufbau  bcr  (Brammatit  toie  in  ber  Dar« 
ftellung  bcr  ein3elnen  fpra(^Iid)cn  (Jrfc^cinungcn  bie  in  bcr  englif(^en  Spraye 
gefc^mä&ig  töaltehben  Kräfte  aufscigt.  Dabei  rocrben  bie  flusbru(fs= 
mögli^!citen  bes  (Englif<^en  nai^  Übereinftimmung  unb  flbu)cid|ung  in 
öcrglcic^  unb  Be3icl)ung  3U  btmn  bcr  HTuttcrfpradjc  gefegt,  um  fo  btn 
(Erforbcrniffcn  ber  Bilbungsfd|ulc  cntfprcdjenb  ben  Spradjunterric^t  ber 
(Erfcnntnis  bes  IDefcns  ber  Sprad)e,  biefcs  feinften  flusbruds  menfd)Ii(^cr 
(Bciftestätig!cit,  bicnftbar  3U  mad{cn. 

Bnirf  Don  3.  ®.  Icubner  in  Cetp3ig. 


t)crlo0  6.6*5!cubncr  '^^  in  Sdpjig  und  6crlin 


für  t>61>ete  ^nabenf<^ulen 

l)erausgegcben  oon 

Prof.  Dr.  Jci^  ©trot^mcycc  un6     Dr.  ^one  6tcot)mcycr 

Direttor  öes  IV.  Stäötijdien  Cijjeums  Direftor  öes  Rcalgijmnaiiums  mit  Realicbule 

3U  BerItn»n)iIiners6orf  ju  BerItn=(Dberid|öneniei6e 

^uegabe  B  für  Kcal^  und  (Dberceolfd^uUn  fotoie  für 
<dvmna|ien  und  Reolgymnolicn  no(^  Jcontfurter  6y|ltcm 

CPI»mi>nMt«Kft/4%  'le«!  '  für  Sejta.  3.  fluft.  mit  4  flbbilöunqcTi  im  üeyt.  (VI  u.  130  S.| 
x^iginKUmcPHgy«  ,921.  Kart.  m.  4.-.  üeil  2  für  Quinta  unö  Quarta.  2.  flufl.  mit  8  flb- 
bilöungcn  im  Sert,  2  tEafcIn  unö  1  plane  coti  Paris.    [X  u.  269  S.]    1919.    (Deb  m.  6.— 

<&COmmOttf>   3.  fluft.    [VIII  U.-260  S.]    1921.    (beb.       m.  8  - 

(tSU^rduf»  ^^f*'  ""*  Übungsbud)  für  Unter»,  (Dbertertia  unö  Unterfefunöa  öer  Reform«  unö 
^t/4;Kt>tmK»  Realanjtalten  unö  für  Untcr=  unö  fflbcrfetunba  öer  (Bt)mnafien  unö  Realgntir 
nafien  alten  Stiles.    2.  fluft.    ((Erjdieint  midiaelis  1921.] 

<Ftt>trt»ntAfUttA\  für  Serta,  (Quinta  unö  Quorta  in  einem  Baaöe.  mit  10  flbbilöungcn  im 
^IgmgniUCPm^   ^eyt,  3  dafeln  unö  1  plane  uon  Paris.    (X  u.  269  S.]    1921.    (Beb.  m.  8  - 

^rommottf»  iivu.  i89s.]  1920.  ©eb m.6.- 

Die  Dertür3te  Ausgabe  B  ijt  in  eriter  £inie  für  Sdjulen  mit  geringerer  U)0(iienjtunöen3al)l 
im  Sranjöiijdien  beftimmt,  öann  aud>  für  große  Klaffen,  in  öenen  öte  üurdjarbeitung  öer  unoer- 
fürsten  flusgabe  auf  Sdjroierigteiten  jto&en  toütbe. 

T^uegobc  C  für  ^vmnoficn  und  Kealgymnafien  alten  6til0 

tFit*t**i>t*t^*>Wutf\  für  (Quarta  unö  dertia.  2.  flufl.  mit  4  (Tafeln  unö  1  plane  oon  Paris. 
^IgmgntaCPUW)    [(jrldieint  3uni  1921.] 

(DbCtftufC  unö   6t0mm0tlg  fiel}e  Ausgabe  B. 

folgende  €d)lüfrel  liegen  cor:  ju  «Elcmcntarbu*  BIu.  ü  gel),  je  lU.  2—  (gleidjseitig  für  oer- 
für3te  Ausgabe),  3u  (Dberftufe  B  C  gel).  Tu.  4.—.  Z>ie  @cf>lüffel  iveröen  nur  an  £el)rer  abgegeben. 

Buf  fämtüd^e  Preife  ([euerungsjurcf)!«^  dee  Verlage  120%,  Bbänöerung  i>orbel>alten 

$üc  Ptcu|3cn  find  laut  ntiniJlteriolDCcfügung  oom  20,  5.  1^20 

[Uli  Hr.  11047  UHW]  die  un»crBür3tcn,  laut  Üccfügung  oom 

11.3,1921  [U  11  Hr.  10381  U  11 WJ  die  DetPür3tcn  Buagabcn  füc 

alle  6(^ulen  genet)mi0t 

«Exemplare  jur  Prüfung   ^v>e<S9  <£inföi)run0    pe^tn   den   $a<i)lei)rern   und 
-lel)rerinnen  auf  tDunfc^  Foffenlod  3ur  üerfügung 


V.  6.  VI:  21.  145  poftjAccfeonto  £eip5ig  Hr.  51272 


SttoIjmcr)cr,  fran3öfifd)cs  Untcrndjlstoerf 


Die  Aufgabe  6es  frem6fprad)Ud)en  Unterridjtes  an  unfcren  allgcmcin= 
bilöcnbcn  Sdjulcn  ift  au^et  bem  praftifdjcn  3tDe(!e  ber  Spra^crleinung 
eine  boppelte.  (Er  foll  in  bie  Kultur,  in  bas  IDefen  bes  frembcn  Dolfes  ein= 
füFjrcn.  Dorousfc^ung  bafür  i[t  bie  (Einfiifjrung  in  bef|en  Sprai^c;  bcnn 
bie  $prad)e  ift  ebenfo  feinfter  unb  fonscntriertefter  HusbrudE  ber  üoIfspfi)d)e 
roie  bie  (Brunblage  aller  t)öl)eren  geiftigcn  Betätigung  eines  üoifcs.  3um 
anberen  ^at  ber  Unterrid^t  in  ber  5f^f"öfprad)e  eine  allgemein  bilbenbc 
Aufgabe:  mit  ber  (Einfüt)rung  in  bie  Spradje  als  erftes  unb  feinftes  3n= 
ftrumcnt  bes  menf(^lid)cn  (Beiftes  bie  (Einfii^t  -in  bas  tDe[cn  menfc^Iii^en 
(Beiftcslebens  über!)aupt  ju  oertiefen.  (Er  ftetjt  babei  nic^t  neben  bem 
Unterri^te  in  ber  ITtutterfprad)c  ober  itjm  gegenüber,  fonbern  eng  uer» 
bunben  mit  itjm:  crft  b\ix6)  I)ergleid|ung  ber  Ausbru(fsmögli(^!eit  men[d)= 
Iid)en  Denfens  unb  5üt)Iens  in  meljreren  Sprad|en  coirb  bie  tiefere  (Einfid)t 
in  feine  (Elemente,  feinen  Reidjtum  unb  feine  5cinl)eiten  crmöglii^t. 

IDeId|e  ITlängel  unfere  Bilbung  nad)  beiben  Ridjtungen,  nadj  ber  ber 
roirtli^en  Kenntnis  fremben  Polfstums,  u?ie  naö)  ber  „pft)d)oIogif^en"  (Eim 
ftellung  überl^aupt  bisljer  getjabt,  tjat  uns  ber  Krieg  geletjrt.  Sie  gilt  es 
ab3uftenen.  (Einem  ridjtig  betriebenen  frembfpra^Iidjen  Unterrii^t  fällt 
babei  eine  entfd|eibenbe  Rolle  3U. 

3n  Übereinftimmung  mit  biefen  Aufgeben  erftrebt  bas  Stro!)mct)erf(^e 
Unterridjtsroer! 

l.Dertiefung  bes  Sprad^untcrridjts  burd)  pfi)d)oIogifd)=t)iftorif(^e  Be» 
tra(^tungstDeife,  inbem  bie  Spradje  als  etroas  £cbenbes,  Hatur» 
getoorbenes  aufgefaßt  unb  betjanbclt  mirb, 

2.  burd)  Austüat)!  ber  jeaseiligen  Altersftufe  angemeffener  (Originaltexte 
einen  objeftiocn  (Einblid  in  bie  geiftigen,  u)irtfd)aftli(^en  unb  poIi= 
tifc^en  Beftrebungen  bes  ^re^i^DoHes  3U  förbern, 

3.  ft)ftcmatifd^e  Anleitung  3um  üerftetjen  bes  gefprodjenen  löortes  unb 
3ur  5ät)igfeit,  fid)  im  münblid)en  unb  fd)riftlid)en  (Bebanfcnausbrud 
bes  5tQn3()fifd)en  frei  3U  bctoegen. 

Die  (Elcmentarbüdjer 

liegen  in  3rDCt  Ausgaben  cor.  Die  urfprünglidje  Ausgebe  in  3tt»ei  Seilen 
bietet  bem  £el|renben  bie  IKöglidifeit  einer  freieren  Austoat)!.  Auf  Am 
rcgung  ber  jenigen  Anftalten,  bie  roegen  geringerer  Stunbensaljl  ober  aus 
anberen  (Brünbcn  eine  Derfür3ung  bes  £eljrftoffes  toünfc^tcn,  ift  eine  Der= 
!ür3te  Ausgabe  I)in3uge!ommen.  3ugleid)  rourbe  mit  ber  mögli^ft  gebräng* 
ten  Darbietung  bes  Unierridjtsftoffcs  ber  burd)  bie  f)ot)en  fjerftellungsfoften 
bebingten  Steigerung  ber  Büd)erpreife  ßu  begegnen  gefud)t. 

Beibe  Ausgaben  finb,  in  ftrenger  Übereinftimmung  mit  bm  amtli(^en 
£el)rplänen  ftel)enb,  nad)  ber  grammatifd)en  Seite  l)in  ftreng  ntetl)obif^ 
aufgebaut,  fortfd)reitenb  üom  £ei(^ten  unb  (Einfad)en  3um  $d)tDierigen 
unb  Sufammengefe^ten.    So  ift  mit  jeber  £eftion  ein  gan3  bcftimmtcs 


Dem  immer  öringcnöcrn)cröcn6cnrDunfdicnad)tDte6cr= 
Ijcrftellung  öcs  fcftcn  £a6enpreife$  im  Bu^« 
^anbel  folgenö,  I)abe  id),  tote  anöerc  rDiffen[d)Qftltd|C  ♦    ^ 

Derlcgcr,  auf  ©runö  einer  cntfpre(i}en6en  (Erl|öl)ung  öes  ^ 

Rabattes  mit  öcn  meinen  Dcriag  Dorsugstüeifc  füfjren»  | 

&enSortimentsbu(f)I|anöIungcnDcreinbarungcn  getroffen,  j 

nad)  öenen  öicfe  oom  1.  3ult  1921  an  ^ 

meinen  gefomtcn  Derlag  ofjnc  (SorttmentcrO 
tleuerungs3ufd)lag  an  60$  publicum  3u 
liefern  in  6er  £age  unö  oerpflidjtet  finö. 

(BIeid)3eitig  erfolgt  öic  Beredjnung  meiner  t)erlags=  ■< 

tDcrfe  aud)  meinerfeits  3U  feften  Preifen  ofjne  (Derleger=)  ': 

tEcuerungs3ufd)Iag.  Die  fünftig  gültigen  £aöcnpreife  6er 
in  meinen  bisljerigen  öerseidjniffen  unö  fln3eigcn  auf=  » 

gefüljrten  tDerfe  betragen  im  allgemeinen  i^/xs  2  Vj  fadjc  i 

—  für  Sd)ulbüd]cr  öas  2  V4  fad)c  —  öer  l)ier  angegebenen  ■ 

Prcifc.  Diefe  finö  aber  aud)  als  frctblcjibcnö  an3u»  ■; 

feljen,  6a  öie  fjerftellungs!often  —  aud)  bei  öen  bereits  j 

Dor  6em  Kriege  geörudtcn,  aber  jetDeils  nur  nad)  Beöarf  ' 

gebun6enenBüd)ern,  ido  6ieBud)bin6erfoften  6iefrül)cren 
©cfamtljcrftellungsfoften  öes  Bud)es  oft  um  ein  öielfad)es  •: 

überftcigen  —  ebcnfo  toie  öie  allgemeinen  (5efd)äftsun=  ^ 

foften  einer  fortlaufenöcn  De^ränbcrung  unterujorfen  finb.  ; 

©egenüber  öcm  bisf)erigenPreife3U3Üglid)Sortimenlcr«  " 

3ufd)lag  toirö,  abgefcl)en  oon  öer  flusfdjeiöung  jeöer 
tDillfür  in  öer  Beredjnung  öesDerJaufspreifcs,  eine  Der= 
billigung  für  öas  publitum  crsielt.  neuerfd)cinungen 
raeröen  nunmelir  entfprc^enö  auc^  mit  feften  Preifen  be= 
red)net.  s 

Bei  Beurteilung  öer  Büd)erprcife  t>ergleid)c  man  öie  j 

Steigerung  öer  Prcifc  anöcrcr  (Begenftänöc  unö  berüd' 
fid)tigc,  öafe  öie  £öl)ne  I)eutc  öas  8-l0fad)e,  öie  ITtaterial« 
prcifc  öurii§fd)nittlid)  öas  12 — 15fad}c  öer  l>orfriegs3eit 
betragen,  unö  öafe  fid)  öie  allgemeinen  Unfoften  nod)-öar« 
über  l)inaus  gefteigert  l)aben. 

Sollten  betreffs  öer  Bereji)nung  eines  Bud)cs  meines 
üerlages  irgenötDcldjcStDeifelbcfteficn,  fo  erbitte ii^öircftc 
ITIitteilung  an  mid). 

Bei  £icfcrung  ins  £^uslan6  bcred)nc  id)  auf  Ott 
jetDeils  gültigen  feften  preifc  für  alle  Büd)er  meines  alU 


gemetnen  Derlags,  ousgcnommen  für  Scttfd^riftcn  vmb 
für  5ortfc§iingsunterncl|tnen,  einen 

Oalutaausgletd)  oon 


200  Vo 

150% 

bei  Cicfcrungen 

na(^ 

bei  £ieferungcn  nad| 

Belgien 

Argentinien 

Döncmarf 

Brafilien 

4ngIonö  u. 

\.  Kolonien 

<El)iIc 

Sranircid) 

©rie^cnlonb 

J}onan6 

.  3talicn 

3opon 

Cujcmburg 

Itorroegcn 

Portugal 

Sd)tDe5en 

Spanien 

Sdiroeiä 

Dereittigten 

Staoteno.lt. 

.fl. 

Sdiulbü(i^er  liefere  i(^  mit  einem  Dolutoausgleid)  oon 
100  Vo  H^'  75  7o 


Ceipäig.  1.  3ii^i  1921 


B.  (5.  tEcubner 


Die  (EIcTncntarbüd)cr 


grammatifi^cs  pcnfum  ju  crIcMgcn,  3U  6effen  (Einübung  mannigfal» 
ttge  Übungen  btencn,  über  bereu  Hrt  roctter  unten  nod)  ausfül)rltd)  ge= 
fprodjen  iDitb- 

Der  tJOrbercitenöe  £outtcrRurfU$  toill  3unäd)|t  bem  £el|rer  bas 
für  bte  in  ben £e^rplänen  oorgef^riebenen  Übungen  nottoenbige  XUaterial 
an  Übungsftoff  (auö)  in  £autfd)rift)  unb  Belehrungen  barbieten,  toobci 
i^m  burd)aus  überlaffen  bleibt,  was  er  baoon  ben  Schüler  unter  feiner 
Anleitung  unmittelbar  benu^en  laffen  toill.  (Er  bringt  tro^  ber  Kür3e  alles 
XDefentlidje,  von  fT)ftemQtif(f)er  Be^onblung  ift  abgefeljen;  ein  Derseicfjnis 
ber  Husfpradjejeirfjcn  unb  eine  Darbietung  ber  erften  £eftionen  in  pI)one= 
tifdjer  Umfc^rift  befdjiiefet  bcn  Kurfus. 

Der  £cfC:  Uttb  Übungsftoff  ift  berart  aufgebaut,  ba^  3unä(i)ft  ein 
fran30fifd)cs  £efeftücf,  gelegentli(^  au^  meljrcre,  teils  in  profa,  teils 
in  poefie  geboten  toerben,  röobei  bie  Poefie  3.  S.  in  So^^n  bes  £icbes  (mit 
Iloten)  abfi(^tlid)  rei(^Ii(^  t)erange3ogen  roorben  ift,  um  bas  flusioenbig« 
lernen  3U  förbern  unb  bas  (Befütjl  für  bie  (Eigenart  bes  fran3Öfif(i|en  Rtjt)tf)= 
mus,  ber  fid)  \a  an  oertonten  £iebern  am  fid)erften  empfinben  lä^t,  3U 
toerfcn.  3n  bem  IDortlout  ber  £efeftoffe  finb  tEeytänberungen  ni^t  Dor= 
genommen  roorben.  Die  nic^t  crt)eblid)en  baburc^  entftefjenben  Sd)toicrig= 
feiten  laffen  ficf)  unfdjtoer  überroinben,  ftel)en  febenfalls  nit^t  im  Derfjältnis 
3U  bem  großen  ö orteil,  ben  für  einen  in  ben  Büchern  überall  angcftrebten 
oertiefenbcn  Sprad|unterrid|t  bie  Darbietung  oollftänbig  originalen 
Spra^ftoffes  oon  oomtjerein  getoäljrt. 

Die  für  (Bpmnafien  unb  Realgtjmnafien  alten  Stils  beftimmtc  Aus» 
gäbe  C  insbefonbere  in  ber  2.  Auflage  bringt  bem  I)ö^eren  fliter  ber  S^üler 
biefer  Hnftalten  angemeffenen  £eftüreftoff. 

3ur  Dermittelung  ber  HectUctt  bienen  unabt)ängig  oon  b^n  eigentlid|en 
£eftüreftüden  bie  in  bunter  Hustoatjl  gegebenen,  meift  gan3  !ur3cn  Le^ons 
de  choses,  Le^onS  d'histoire  et  de  geographie,  bie  oon  £eid)tem  3um 
S(^tDereren  f ortf^reitenb ,  in  !on3entrifd)en  Krcifen  Kloffensimmcr  unb 
Sdjulgcbäubc,  bm  menf(^Iid)en  Körper,  Satnilie,  IDoIjnung,  Kleibung,  bie 
(5epfIogcn!|eiten  bes  täglidjcn  £ebens,  Reifen  nad|  5^onfreid)  unb  äl|nli(i)e 
Stoffe  beljanbeln.  3n  gan3  gemäßigter  So^m  ift  babei  bas  Prin3ip  ber 
(Bouinfdjen  Reitjen  3ur  Hntoenbung  gebradjt. 

Die  3ur  (Einübung  bes  grammatifd)en  £ernftoffcs  gebotenen  Exercices 
de  grammaire  3eigen  große  tUannigfaltigfeit  unb  bienen  fo  ber  Durd|- 
füljrung  bes  Prin3ips  ber  Hrbeitsfc^ule.  (Ergän3ungs«,  Umformungs= 
unb  Konjugotionsübungcn  roedjfeln  einanber  ah ,  fo  ba^  3.  B.  oon  einem 
StM  fic^  mit  £ei(^tig!eit  bur^  Huflöfung  oon  Hebenfä^en  in  £}auptfä^e 
unb  umge!el)rt,  burd)  Deränberung  ber  Subjefte,  ber  Qiempora  ufro.  fo 
Diele.  Dcrf^iebcne  Derfionen  tjerftellen  laffen,  baß  in  einer  Klaffe  oon  ettoa 
40  Sd)ülern  faft  jeber  Sdjüler  bie  fleinc  (5efd)i^te  in  einer  ettoas  ab-- 
roeid)enben  Soxm  toiebergeben  fann.  (Es  toerben  fem  er  51^0  gen  gebradjt, 


Stro^met)er,  fronjöfifdics  Uittcrtic^tstoerf 


bie  fo  angelegt  \'mb,  ba^  fie  3U  einer  immer  fclbftänbigeren  5orm  ber 
HntiDort  3a)ingen. 

Die  Exercices  de  composition  finb  nidjt  nur  als  Übungen  im  freien 
(Er3ät)Ien,  fonbcrn  au(^  3ur  Dorbereitung  Heiner  freier  Hieberfdjriftcn  ge= 
ba(f|t,  Sie  beginnen  mit  S^agen,  leiten  3ur  Ha(f)er3äF)Iung  bes  £efcftoffes 
t)in,  tt)obei  3Utt)eiIen  bie  5oi^"i  »on  Briefen  unb  Dialogen  geforbert  roirb, 
unb  regen  fd)Iie^Iid)  auf  ber  ©berftufe  3U  felbftänbiger  Darfteilung  an, 
inbem  nur  ben  (BcbanJengang  anbcutenbe  StirfjiDÖrter  aufgefüljrt  tocrben, 
toie  bas  aus  bin  auf  S.  8  gebotenen  Proben  erfic^tlic^  ift.  $vix  Bh- 
roei^felung  forgen  enblid)  fjier  unb  bort  eingeftreute  Maximes,  Proverbes. 
ßnigmes,  Charades  unb  Jeux  de  mots. 

Auf  bie  fran3Öfi[(^en  £efe»  unb  Übungsftüde  folgt  ein  furser  Hnijang, 
ber  eine  flusüoaf)!  oon  „Chansons  et  poesies"  mit  Hoten  bringt,  3ur 
(Erujeiterung  bes  f(^on  in  ben  BTufterleftionen  gebotenen  poetifd)en  Stoffes. 

flbfidjtlid)  uom  franjöfifdien  Seil  bes  Übungsbu^cs  getrennt,  fdjlie^en 
fid)  Ijieran  bie  öcutfdjcn  Übcrfc^ungsbctfpielc,  bie  vor  allem  3U 
Hausaufgaben  bienen  follen.  Sie  oerarbeiten  natürli(i}  ben  aus  ben  fran= 
3Öfifd)en  ITlufterftürfen  betannten  tDortfd|a^  unb  finb  fo  geftaltet,  ba'^  bie 
Qinüberfe^ung  mögli(f)ft  ibiomatifd|es  ^ransöfif^  ergibt. 

Der  ben  (EIemcntarbüd)ern  beigegebene  (Brammatt^djC  Htl^attg  be* 
f(^ränft  fid)  auf  bas  flllernötigfte,  möglid)ft  rolrb  aud|  fdjon  tjier  üerfudjt, 
bie  Sprad)e  auf  (Brunb  pfpdjologifdjcr  Dertiefung  3U  letjren.  Die  angeftrebte 
Pereinfadjung  madjt  fid)  befonbers  bei  ber  Be^anblung  bes  ücrbs  be= 
mcrtbar,  fou)oI)I  bes  „regelmäßigen"  als  bes  „unregelmäßigen",  burdjaus 
in  Übereinftimmung  mit  ben  neueren  £e^rplänen. 

Sd)on  bei  crftcrcm  tDuröc  forgfam  barauf  3ebaä)t  genommen,  md|t  öurd) 
umfangrcidjc  KonjugationstabcIIcn  t>on  allerlei  Derben  öas  abfdjrcdenöc  Bilö 
einer  üicltjctt  üon  5ormen  3U  crroeden,  6te  in  XDirflidjfctt  gar  ni6)t  beftc!)t. 
So  ift  bei  gletdjen  Sormen  aud)  für  oerfdjieöenartigc  Derben  nur  ein  paraötgma 
gegeben  tooröcn  (präfens  piural  für  donner,  rompre,  3mperfcft,  Sutür  für 
donner,  rompre,  obeir,  avoir,  6tre  gemeinfam).  3m  präfens  foll  öcm  Cernen» 
ben  oon  Dornl)erein  5te  Doppelgeftalt  öcr  (Enöungcn  im  Singular  (e,  es,  e  unö 
s,  s,  t)  unö  bie  (Einljcit  im  piural  oor  flugen  treten. 

Diefe  Sufammcnfaffung  bes  innerlid)  3ufammcnge]^örtgen  crleiditert  ober 
gan3  befonbers  bie  Durc^naljme  ber  unregelmäßigen  Derben.  Ejicr  toirb  ntdjt 
in  ber  btsl)€r  meift  nod)  übltdjcn  IDeife  jebes  Derb  gans  unb  für  fid)  be» 
^anbclt,  fonbcrn  bie  Durdjnaljmc  feil  naö)  fogcnannten  Querf^nitten  erfolgen, 
beren  im  gansen  oicr  oorgefeljen  finb,  ein  jcber  mit  einer  me^r  ober  minber 
großen  flnsal)!  Don  ©ruppen.  Die  oier  Querfdjnttte  finb:  präfensftamm,  perfeit» 
ftamm,  partt3iptalftamm  unb  Sutur.  3n  jcber  ©ruppc  tocrben  alle  oertwanbten 
€rf^cinungcn  burdi  bie  ganse  Rei^e  ber  fogcnannten  unregelmäßigen  Derben 
tjinburc^  3ufammengcftcIIt,  befprodjen  unb  geübt. 

Den  abfd)Iuß  bes  Bu(^es  bilbet  bas  tDÖrtcrocrjCtdjmS,  in  bem  3U 
ben  crften  3  £eftionen  bie  pl)onetifd)e  Umfd)rift  aller  Dofabeln  gegeben 
ift,  fpäter  nur  3U  f^roierigeren  XDörtern.  Der  berechtigten  mettjobif^en 
5orberung,  3toifd|en  probuftioem  unb  reseptiocm  IDortf^a^  3U  fd)eiben,  ift 


Die  fflementarbü^er  —  Die  ©betftufe 


öaöur^  (5cnügc  gcf^eljert,  ba%  feltencrc  XDörter  unb  tDcnbungcn,  6ic  ni^t 
ftets  gegcniöärtiges  gciftigcs  (Eigentum  öcs  Sdjülers  3U  fein  braud)cn,  im 
IDörterDcr3cid)nis  in  fleincrcm  Sa^  gegeben  tocrben.  Dem  t)ofabelDer3ei^= 
nis  finb  brei  tuv^e  Beilagen  I}{n3ugefügt,  nämlid)  eine  SufammenftcIIung 
einiger  befonbers  ^äufig  Dor!ommenber  IDortgruppcn  nad|  Stämmen  unb 
Ableitungen,  bann  bie  toidjtigften  im  Bu^c  oorfommenben  Stjnonijma 
unb  eine  SufammenftcIIung  einiger  I}omont)ma,  bie  erfotjrungsgemäö  oft 
Dertoedjfelt  toerben. 

Die  2.  Zuflöge  »om  (Etcmcntorbud)  C  l)at  eine  cingretfcnöc  Umgcftajtung 
eifa^rcn.  Den  I)öf)eren  gcifttgcn  flnforöerungen  cntfprc(f|cnö,  bie  in  ©tjmnafien 
unö  Realgtjmnaficn  alten  Stils  an  ötc  S(f|üler  311  ftcllen  finö,  touröen  bie  für 
biefe  (EnttDtdelungsftufe  3U  ftnölt(^  geljaltcnen  S^cjtc  öurdj  crnftere  crfc^t.  Seltner 
toeröen  ötc  lateinifdjen  Kenntniffe  öer  S(^ülcr  3U  flffo3iationst)iIfcn  oertDcrtet, 
inöcnt  bei  SormcnIef|re  unö  tDortfc^a^  6tc  oertoanöten  So^^"ten  unö  IDörtcr 
öes  Cateinifc^en  angegeben  tocröcn,  fotoeit  fie  uom  Sdjülcr  nod)  lebtjaft  cmpfunöen 
toeröcn,  roirfltd}  öer  oertieften  fluffaffung  6es  Spra(f)Iebens  öienen  fönnen  unö 
als  ®cöäd)tnisftü^en  von  Itu^en  finö.  Der  ÜberftdjtUdjfett  rocgeil  finö  öie  Iatct= 
ntfdjen  DergIetd)srDörter  unö  »formen  in  ftd)  ftarf'abljebenöer  Sd)riftform  gefegt 
unö  fo  angeorönet,  öafe  fie  öen  eigcntlid)en  Cernftoff  nid)t  beljinöcrn. 

Die  (Dberftufe 

bietet  fran3Öfif^e  £efeftüde,  Übungen  3ur  (Brammatif,  einen  poetifc^en 
Hnf)ang  unb  IDörterDer3c{c^niffe. 

Die  fran3Öfif(^en  £cfcftürfe  enthalten  nur  originales,  unge!ür3tes 
unb  an  feiner  Stelle  gcänbertes  5^0"3Öfif<i|.  3n^altli^  bringen  bie  cor 
allem  ben  großen  S^riftftellern  ber  neueften  3eit  entnommenen  Stüdc 
Stoffe  3ur  (Einfüljrung  in  bie  fran3Öfif(^e  Kultur:  (Er3ät)Iungcn  unb  toirf= 
li^  loertDoIIc  Hnef boten,  Biograpl)ifd)es  unb  £iterarif(^cs,  Sfi33en  aus 
ber  fran3Öfif^en  (Bef^i^te,  Sc^ilberungen  fran3öfif^er  Sitten,  fran3Öftf^er 
f anbfc^aften,  Stäbtc,  Denfmäler  unb  t)iftorifd)er  Stätten  u.  bgl.,  jeboc^  feine 
„Realien"  im  Sinne  trorfener,  äu^erlidier  Bef^reibungen  unwichtiger  flll» 
tägli^feiten.  Die  Stüde  finb  burc^roeg  fpra(^Ii(^  unb  infjaltlii^  gcfjaltDoII 
unb  anregenb  unb  geeignet,  bilbenb  unb  er3iel)enb  auf  bie  3ugenb  3U  ojirfen. 

Die  Übungen  3ur  ©rammatif,  auf  brei  3ci^re  »erteilt,  fo  ba^  für 
jebes  3a^r  ettoa  1 0  Kapitel  oorgefefjen  finb,  befteljen  im  allgemeinen  aus 
einem  fran3Öfif^en  unb  einem  beutf^en  Seil.  3m  fran3Öfifd|en  (Ecil 
roerben  Umformungen,  Umroanblungen  unb  bgl.  geboten.  flu(^  ^ier  ift  mög« 
Ud)fte  ITTannigfaltigfeit  unb  Dielfeitigfeit  angeftrebt.  Die  bcutf^  en  Übungen 
fd)Iieöcn  fi(^  3um  Seil  an  bie  fran3öfif^cn  Stüde  bes  Übungsbu(^es  an, 
3um  Seil  finb  fie  unabijängig  bauon.  Unter  ausgiebiger  Benu^ung  bes  im 
(Elementarbud)  ertoorbenen  Dofabelfc^a^es  ift  ber  (Brunbfa^  feftgel|altcn, 
ba%  in  i^nen  mögli(^ft  feine  fremben  Dof abeln  oorfommen. 

Die  bie  Derfür3te  Husgabe  abfd)Iie^enbc  in  Dorbcrcitung  befinbli^e 
©berftufe  B  foll  in  flnieljnung  an  bie  auf  ber  legten  HeupI)iIoIogen= 
tagung  in  E)aIIe  oufgcftellten  £eitfä^e  fi^  in  cr^ö^tem  ITta^c  bie  Aufgabe 


StroI)mct)cr,  fran3öfif<^es  Untcrrt(i|tstx>crt 


ftellcn,  bem  Sdjüler  einen  (Einblirf  in  bas  Kultur=  unb  (Beiftesleben  bes 
frcmben  öolfes  3U  bieten.  (Es  toirb  bas  Beftreben  bes  Derfaffers  fein, 
unter  tätiger  Beiljilfc  nam'^after  beutfdjer  Sdjulmänner  eine  fluscoat)!  oon 
Stütfen  3U  treffen,  bife  in  toertooller  Iiterarifd)er  unb  ber  flitersftufe  ent^ 
fpredjenber  5oi^^  ^'^^  möglidjft  üielfeitiges  Bilb  ber  fran3Öfifd)en  Kultur 
in  iljrem  tDerbcn  unb  itjrer  I)eutigen  (Seftoltung  bieten. 

3n  gleid)em  Sinne  bem  Stubium  bes  neu3eitli(^en  fran3Öfifd)en  £ebens 
bienenb,  ift  auf  Dielf adjen  IDunfd}  ein  (Ergän3ungsbud)  für  bie  oberftcn 
Klaffen  ber  RealooIIanftalten  für  bic  männliche  unb  toeiblidje  3ugenb 
einfdjliefelid)  ber  ®berlt}3een  in  Dorbereitung,  bas  aus  ®riginalfd)rift= 
ftellern  ins  Deutfdje  übertragene  Übungsftücfe  3um  Rüdüberfe^en  unb 
Umformungsübungen  (3.  B.  Derroanblung  bramatif^er  S3enen  in  Profa, 
periobenreidjer  tEejte  in  einfad)e  Sä^e,  affeftoolle  Rebe  in  refleftierenbc 
unb  umgetetjrt)  bringt,  3ur  toeiteren  Sd)ulung  im  münblid)en  unb  fdjrift» 
lid^en  (Beban!enausbru(f.  5^i^"ci^  coerben  3ur  (Ergän3ung  ber  Sd)uIgrom= 
matif  im  organifdjen  3ufammenl)ang  mit  biefer  erroeiternbe  unb  Der= 
tiefcnbe  Kapitel  geboten,  3U  beren  (Einübung  aud)  geeignetes  ITIaterial 
Dor  allem  ftiliftif(i|er  Hrt  oorgefetjen  ift.  (Ein  flbrife  ber  (5efd)id)te  bes 
5ran3Öfifd)en  mit  gan3  tur3en  proben  aus  bem  fllt-'  unb  ITlitteIfran3Öfif^en 
erfdjeint  als  Hntjang. 

3u  btn  fämtUd|en  Übungen  ber  (Elementarbüdjer  unb  ber  0berftufe 
erfd|eint  ein 

Sdjiüffel, 

ber  ausf(^Iie&Iid)  nur  an  £c^rer  (unter  peinlic^ftcr  Bcobadjtung  entfpredjen» 
ber  bies  fic^ernber  tUafenal^men)  abgegeben  loirb.  Bei  ber  (Eigenart  ber 
Übungen  fei  auf  ben  $(^IüffcI  befonbers  Ijingeroiefen,  ba  bie  üerfaffer  fid| 
barin  bemühen,  ocrfc^iebenartigc  £öfungen  ber  Aufgaben  3U  geben, 
Dor  allem  bei  ben  Exercices  de  composition. 

Die  (Brommatlft 

fud)t  burc^  pft)(^oIogif^c  Vertiefung  3um  Hadjbenfen  an3uregen; 
bie  Ijiftorlf^e  (EntroidEIung  ber  Sprache  roirb  nad|  ITTöglidifeit  berürf= 
ft^tigt.  Die  Darftellung  uerliert  iebo^  nie  bie  Hufgabc  einer  pra!= 
tifd)cn  Sc^ulgrammatif  aus  bem  Huge  unb  Ifält  barum  Hta^  in 
ber  f}eran3iel)ung  biefer  Dinge.  (Eine  pft)^oIogif(^e  (Erflärung  erfd)eint  nur 
ftatt^aft  unb  bann  allecbings  unbebingt  notroenbig,  toenn  babur(^  bas 
Derftänbnis  für  eine  grammatif^e  (Erfi^einung  erleid}tert  toirb,  roenn  bie' 
€rflärung  £i(^t  in  bas  IDefen  ber  bctrcffenben  $prad)e  ober  ber  Sprai^e 
Im  allgemeinen  toirft  unb  bamit  3um  Hadjbenfen  anregt.  Hu^  mu&  bie 
(Erflärung  tDir!Ii(^  feftfte^en;  3tDeifeII)afte  grammatif(^e  ^t)potI|efen 
ober  fpra(^fjiftorif(^e  (Erflärungen,  bie  ben  Sai^oerljalt  cerbunfcln  ober  in 
unnötiger  tDeifc  fc^totcrige  unb  frcmbartige  Spra^problemc  aufrollen,  finb 
grunbfä^Iii^  ausgefdjioffen. 


Die  (Brammotif 


(Etngcl)enbc  Rürffit^t  ift  ouf  Me  tDirfungen  bcr  Hnalogic  genommen 
tDorben;  flusbrüde,  btc  mefenilid)  ber  $d)riftfpra(^c,  ber  Umgangsfpradje, 
ber  familiären  flusbrudstocifc  ober  ber  Dolfsfpradjc  angetjören,  finb  als 
fol^c  ge!enn3eid)net.  Hu(^  auf  ben  erftarrenben  (Einfluß,  b^n  bie  fransöfi» 
f(^en  (Brammatifer  mit  iljren  „Regeln"  ausgeübt  Ijaben,  ift  tjingetoiefen. 
Huf  eine  flare  unb  oor  allem  natürlidje  (Einteilung  ift  befonbercr 
IDcrt  gelegt  u)orbcn,  SoxmenUlite  unb  Sijntaj  finb  nid|t  ftreng  ge- 
trennt, ba  bem  bei  einer  einigermaßen  auf  3nnerli(^feit  Hnfprurf)  mad)en» 
bcn  (Brammatif  bcbcntlidje  Sdjroierigfeiten  entgegenftetjcn  unb  auc^  mett|o» 
bifc^  eine  Sdjeibung  unnötig  ift,  ba  bas  IDiditigfte  ber  „5ormenIef|re"  auf  bcn 
(Elementar ftufen  erlebigt  ift  unb  eine  „sufammenfoffenbe  tDieberf)oIung  unb 
(Ergän3ung  ber  5ormenIef)rc"  buvd)  innige  Berüljrung  mit  ber  Sqntaj  nur 
Vertiefung  erfafjren  fann.  (Eine  (Einorbnung  fämtli^er  Sprac^erfc^einungen 
unter  Sa^arten  unb  Sa^teile  ift  ebcnfo  unüberfi(^tli(^  unb  gc3tx)ungcn  toie 
eine  folc^c  nur  naö)  IDortartcn.   Demgemäß  ift  bic  (Einteilung  folgenbc: 

1.  Der  £aut. 

2.  Das  tDort  unb  feine  öertoenbung.  Derb. 

3.  Die  Derbinbung  ber  tDortarten  3U  IDortgruppcn  unb  3um  Sa^. 

4.  Das  Satzgefüge  (Konjunftioncn). 

Die  Regeln  unb  (Erflärungcn  finb  ni^t  nur  flar  unb  fnapp, 
fonbern  au(^  möglidjft  lesbar  gcftaltet. 

Um  3U  3eigen,  toie  bie  (Brammatif  auf  eigener  Bcifpielfammlung  auf» 
gebaut  ift,  unb  um  ben  Sdjüler  3U  ofjnli^cn  Bcifpielfammlungen  an3u» 
regen,_  ba  bies  am  fidjerften  3ur  Be{|crrfd)ung  ber  (Befe^c  fül^rt,  ift  bei 
btn  Beifpielen  bie  (Quelle  angegeben;  bic  meiftcn  ftammen  aus  bcn 
(EIcmentarbüd|ern  ober  aus  ber  (Dberftufc.  3u  einer Dercinfac^ung 
gelangt  bie  (Brammati!  oor  allem  auc^,  inbem  fic  bem  IDörterbu(^  beläßt, 
tüos  bem  IDörterbuc^  3u!ommt;  fic  bcrü(!fi^tigt  Iejt!alif(^c  (Erfc^einungcn 
nur,  fotoeit  fic  Reifen,  ein  anf^auU(^cs  Bilb  oon  bem  d^aralter  ber  fran3Ö» 
f If ^en $pra(^e 3U entroerf cn  ober  basIDcfcnber(Erf^c{nung  3uerf äffen. 
Dcrmiebcn  finb  bie  oiclfac^  üblid)cn  langen  £iftcn  oon  IDortcrn,  bie 
in  beiben  Spradjen  abtDeid|cnbenSprad)gebrau^  Ijabcn,  roic  reflejioc  Derben, 
Derben  mit  abroeidienbcr  Reftion,  Derben,  bic  ben  Koniunftio  regieren  uftu. 

Dicfc  ermüöcn  unö  fdiredcn  ab,  toctt  fic  IHcmorierftoff  ftott  öes  Üenfftoffes 
bringen.  Sie  betonen  in  gröbfter  IDeife  bas,  was  man  gerabe  oermciöcn  toill, 
bie  Äußerlid|fcit ;  öcnn  nid)t  öie  „Derben  regieren"  ben  Konjunftio,  fonöcrn  bas 
oll  öen  betreffcnöen  (Etn3eIIjeiten  sugrunöc  Uegenöe  gemeinfame  Sprach» 
gcfe^  beötngt  fie.  (Es  roirö  aber  natürli(^  in  öer  (Brammatif  auf  bas  Be» 
fielen  foldjer  flbtoeidjungen  aufmcrffam  gemacht,  unö  3tDar  unter  beftänöigcm 
fjinroeis,  öafe  fie  il)rem  IDefen  nad|  in  oerf^icöener  fluffaffung  begrünöet  finö. 

3n  ber  jlDetten  auflade  ber  (Brammatif,  mit  ber  bic  je^t  oorliegenbc 
britte  Auflage  übereinftimmt,  finb  ücränbcrt  bie  Hbfd)nittc  über  bie  ITtobi 
unb  bas  Sa^gefüge,  erroeitert  bie  £lbfd)nitte  über  IDortbilbung  unb 
bie  Präpofitionen.    £}in3ugefügt  roiirbcn  ein  furser  Hbf^nitt  über  Be» 


Strofjmcijer,  fransöftfdjes  UntcrridjtstDer! 


tonung,  Silbentrennung  unb  3nterpunftion,  ein  alpl|abctif(^cs 
Dcrscic^nts  ber  Derben  bcr  toten  Koniugation  unb  na^  icbem 
größeren  Hbfdjnitt  eine  fur3c  Sufammenfaffung  ber  toic^tigften 
Regeln  3ur  IDieber^oIung. 

Sdion  aus  ber  turscn  auf  Seite  9  abgebrucften  probe  läfet  fi^  ctfeljen, 
toie  bie  Derfaffer  mit  oeraltetem  Regelroerf  aufräumen  unb  in  mc» 
tl)obifc^er  Klorljeit  unb  tDiffenfd)aftIid|er  (Bcfd|Ioffen^eit  bas 
löefentli^e  3U  bringen  toiffen. 


Proben  aus  öcn 
Exercices  de  composition. 

Sujet:  Louis  XI  et  le  gentilhomme  avare  (diaiogue). 

A.  Diaiogue  entre  le  gentilhomme  avare  et  un  autre  gentil- 
homme: Ils  parlent  du  paysan,  leur  voisin,  recompense  par  le 
roi.  Ils  racontent  son  histoire.  Ce  que  le  gentilhomme  veut  faire 
pour  ^tre  recompense  aussi. 

B.  Diaiogue  entre  le  gentilhomme  et  le  roi:  Le  gentilhomme 
entre.  Le  roi  admire  le  cheval  amene  par  le  gentilhomme.  Le 
gentilhomme  l'offre  au  roi.  Le  roi  le  recompense. 


Sujet:  La  France. 

L'eleve  fera  une  description  de  la  France,  en  racontant  dans 
un  certain  ordre  tout  ce  qu'il  a  appris  de  ce  pays.  II  parlera  donc: 

A.  Des  mers  qui  baignent  la  France. 

B.  Du  climat  de  la  France. 

C.  Des  montagnes  de  la  France. 

D.  Des  fleuves  qui  arrosent  la  France. 

E.  Des  routes,  canaux,  chemins  de  fer  de  la  France 

F.  Des  villes  et  des  villages  de  la  France. 

G.  Des  forts,  forteresses  et  ports  de  la  France. 
H.  Des  anciennes  provinces  francaises. 

1.   Des  departements  et  arrondissements  de  la  France. 

K.  Du  drapeau  fran^ais.  Enfin  et  surtout 

L.  De  Paris. 

11  peut  raconter  tout  cela  sous  la  forme  d'une  lettre  ä  un  de 
ses  amis,  en  decrivant  un  voyage  qu'il  a  fait  en  Imagination  ä 
travers  la  France.  11  consultera  pour  cela  la  carte  de  France. 


proben  aus  6cr  (Brammatif 


4.  Die  rDortftellung. 

L'eleve  cherche  le  mattre.  J§  ^*^- 

Le  maitre  cherche  l'eleve. 

"Da  öas  5i^an3ö[ifd|c  ^eute  feiife  bcfonöercn  5onncn  mcl)r  für  nomi= 
natiD  unö  HHufatto  befi^t  (ögl.  §  251),  i[t  es  bei  fubftantiDi[d)cm 
(Dbjcft  für  btc  Unter[d)eibung  oon  Subicft  unb  (Dbjcft 
mcift  3U  ber  Stellung:  Subjcft  —  Derb  —  (Dbicft  ge3tx)ungcn. 

flntn. 

Chemin  faisant,  il  rencontra  un  petit  moineau:  //  26«.  28b.  33c. 

Sans  coup  f4rir  (H.  D.).   ©f)nc  einen  Sdjiag  3U  fdjiagcn,  oljnc  S^roertftreid). 

Elle  a  tout  oublid,  —  Elle  n'a  rien  oubli4. 

A  tout  prendre  (H.  D.).  —  Sans  rien  te  dire  (Provins). 

Das  HItfran3öftfd)e,   öas  nod)  Kafus  unterfd|ieö,  voax  in  öer  Stellung  freier. 

3n  crftarrtcr  Sorm  f)aben  fid|  einige  tDenöungcn  mit  (Dbjett  cor  öem 

Derb  crljalten. 

Saft  regelmäßig,  außer  too  fie  ftarf  betont  finö,  ftefjen  tout  unö  rien  oor  öem 

2.  Partislp  Mtiö  öem  3nffnitio  (ogl.  §  93,  flnm.  2). 

[§  590. 
Germaine  est  couchee  dans  sa  jolie  chambre  bleue.  Elle  regarde 

de  ses  yeux  encore  languissants  sa  poupee  qui  repose  pres 

du  lit:  Ulla. 

Jeanne  avait  quatre  parrains  et  au  moins  huit  marraines.  On 
voit  ainsi,  par  le  nombre  des  parrains  et  marraines,  que  le 
manage  de  Jacques  d'Arc  et  d'Isabelle  Romee  6tait  en  consi- 
d^ration  dans  le  pays:  II  9ab,  20c. 

Unter  biefen  Umftänben  bilbetc  [i^  [eljr  balb  eine  gan3  ausgefproci|enc 
Vorliebe  bes  5ran3o[en  tjeraus,  beit  $0^  mit  bem  Subjcft  3U  bc= 
ginnen.  tDir  lieben  es,  3um  3u)ecf  ber  Hbroedjflung  aboerbiale 
Beftimmungen  in  btn  Hnfang  3U  fe^en.  („ITtit  itjren  nod| 
matten  Hugen  betradjtet  fie..."  „Hn  ber  3af)I  ber  Paten 
unb  Patinnen  fiel)t  man  fomit*.  .  .")•  5ür  ben  5i^fl"3oN 
roirft  ein  immer  iDiebert)oItes  Hnfangen  mit  bem  Subjeft  nic^t 
einförmig.  (Utan  3äljle  an  irgenbeinem  £e[e[tüd  bie  Sä^e,  bie 
mit  bem  Subjeft,  unb  bie,  bie  nic^t  mit  bem  Subjeft  anfangen!). 

flnm. 

Alors  la  poule  arrive:  /  5. 

Daraus  folgt  nidjt  ettoa,  öaß  öie  aöocrbialc  Beftimmung  nie  im  Anfang 
ftänöe;  es  ijt  nur  üiel  feltencr  öer  5all  als  im  Deutf(i}cn.  Die  aöoerbiale  Be» 
ftimmung  l)at  feinen  befonöers  beoor3ugten  pia^.  3l}re  Stellung  ridjtet  fid) 
nad)  öem  Sa^ton  (ogl.  §§  603,  604). 


Urteile  über  öas  Stroljmeijerjdje  Unterridjtstoerlt 

„StroI)met)er  oerctnigt  öic  0013x192 feiner  üorgänger  in  fi(^.  3n  öer  metfio» 
öifdjen  tüie  xr»iffcnfd)aftIi(f)cnDarftcIIung  öes Stoffes  ift  er  it)nen  burdjaus 
ebenbürtig,  an  founeräncr  Beljerrfdjung  öesSpradifornpIefes  jebod)  toeit 
überlegen.  £7ier  finöcn  toir  bei  aller  Sad)Ii(f)Icit  eine  toirflid)  perfönlidje  Stellung« 
naf)me  3um  Stoff;  alles  ift  öie  5ru(i)t  eigenen  lladjöenfens  unö  fdjärffter,  fein» 
fü^Iigfter  Beobadjtung.  Strofjmetjer  fjat  einen  Bli(f  für  öie  ^öfjen  unö  tliefcn 
öer  Spracfjentroidlung,  er  trennt  £ogifd)es  oom  UnIogif(f)en,  unterfdjeiöct  3n)if(^en 
(ErMärbarent  unö  Unerflärbarem,  oerfolgt  öas  (Berooröenc  in  feinem  toeitercn 
Sdjidfal,  „(5ebraucf|"  genannt,  fdjetöet  öie  Dolfsfpradje  oon  öer  £iteraturfpracf|e 
unö  inirft  öamit  audj  mandjes  $d)lagIi(J)t  auf  öcn  relatinen  IDert  öer  „Sd}ul= 
regeln"  uuö  öeren  De!)nbarfeit.  Unö  alle  öiefe  roertDoIIen  Beobadjtungen 
toeröengetragenooneiner  aufeeroröentlid)  reidjen  unö  öabeifelbftänöigen 
Beifpielfammlung.  Überall  befunöet  fid)  nidjt  nur  öie  fdjarffinnige  fprad)» 
Ii(^e  Beobadjtungsgabe  öcs  üerfaffers,  fonöern  aud)  fein  geübter  Blid  für 
öas  mctijoöifd)  (Erforöerlidje.  U)o  es  fi(^  irgenö  madien  läfet,  begrünöet 
Strot)met)er  öie  Sprad)crfd)einungen  biogenetifd).  Dies  l)erfal)ren  fe^t 
bereits  beim  erften  flbfdjnitt,  öer  £autlet)re,  ein  unö  toirö  aud)  in  öen  übrigen 
flbfd)nitten  im  toefentlidjen  beibefjalten.  Praftifd}  oerfteljt  Strofjmetjer  öiefe 
^iftorifd)e  Betradjtungsart  befonöcrs  für  öie  3aljlreid^cn  Ejinroeifc  auf  „ard|aifd)e" 
flusörudstoeife  aus3unü§en.  ITIan  freut  fid)  Dor  allem,  öafe  öie  in  öer  Sprad)» 
cntroidlung  foroeit  ausgreifenöe  XDirfung  öer  Analogie  f)ier  enölid)  aud) 
einmal  in  öer  Sd)ulgrammatif  öie  gcbül)renöe  Bead)tung  finöet. 

3n  mctI)oöifd)er  ^infid)t  mufe  öie  furse,  präsife,  öur^aus  praf» 
tif^e  Darbietung  öes  Stoffes  gerühmt  toeröen. 

. .  •  Das  tDören  öie  flusftellungen,  öie  id)  an  öem  Bu^e  3U  mad)en  I)ätte.  Dem 
oiclerlei  ®län3enöen  gegenüber  fönnen  fie  natürlid)  nid)t  in  öie  tDag  = 
fd)ale  fallen.  Das  Derölcnft  öcs  Budjes  ift  fo  unbcftrcitbar,  feine 
Bedeutung  für  öcn  $ortfd)ritt  in  öer  <5cfd)ld)tc  öer  $d)uIgrammotlft  fo 
fraglos,  feine  (Eigenort  fo  be3n)ingenö,  öoß  id)  nid)t  anfteljc,  In  il)m 
öle  befte  fron3öfifd)e  Sd)ulgrammatift  3U  feljen,  öle  tölr  In  met^oölf^cr  tole 
rolffenft^aftlldjcr  l)lnfid)t  3ur3clt  befi^cn. 

Die  eben  an  öer  ©rammatlR  gerül)mte  Suocrlöfflgftclt  öer  tDiffcnfd)oft: 
ad)cn  (Brunölage,  Sld)crl)elt  im  metl)oöifd)en  aufbau  unö  ungen)öi)nlldj 
felnfül)lige  r)crtroutI)clt  mit  öem  frcmöen  Sprodjtum  Ift  Im  ongemcinen 
ttud)  $troI)mei)ers  Übungsbüdjern  eigen.  tDie  fel)r  öie  Derfaffer  in  öer  Sprad)e 
felbft  3U  f)aufe  finö,  3eigt  fid)  3.  B.  in  öem  forgfdltig  getDäl)lten  Cefeftoff, 
öer  öur^aus  ed)tc,  moöerneSpra^mufter  bringt,  öie  formell  tcie  inl)altlid) 
öoc^  nie  über  öie  Saffungsfraft  öer  betrcffenöcn  Stufe  I)inausgel)en. 
Unter  öen  metI)oöifd)  glüdli^ftcn  unö  originellften  (Einfällen  möd)te  id)  öie 
Anleitung  3U  freien  Arbeiten  (in  5orm  oon  Sroge«)  ern)äf)nen,  öie  fd)on 
mit  öer  4.  Ceftion  öer  (Elementarftufe  einfe^t  unö  öann  in  öen  folgcnöen  Kapiteln 
unö  Bänöen mit  cntfpred)enöer Steigerung  toeitergcf ül)rt roirö.  Aneinfprad)igen 
Übungen  ift  aud)  fonft  fein  ITtangel,  fo  öafe  öiefes  Bud)  öer  5oröerung  öes 
freien  (Bebraud)s  öer  Sprad)e  in  Sd)rift  unö  tDort  tatfäd)lid)  nid)ts  fdjulöig  bleibt. 
Aud)  Überfc^ungsbcifpiele  (ausfdjliepd)  (Ein3elfä^e,  b3a).  Umformungen 
öer  Cefeftüde)  l)at  öer  Derfaffer  beigegeben.  3m  übrigen  l)ättcn  öie  Derf(^ieöcnen 
Bemerfungen  aus  öer  Befpred)ung  öer  (Brammatif  l)ier  finngemäge  Anroenöung 
3U  finöen.  (Ein  f  lein  es  Kunftftüd  ift  öie  öen  beiöeu  (Elcmentarbüc^ern  bei- 
gcgcbene  Cautlel)re;  fie  3ei^net  fid)  ebenfo  öurd)  praftifdje  (Originalität  toie 
tDtffcnfd)aftlid)e  ©enauigfeit  aus,  ift  alfo  in  jeöer  ^infid)t  öurd)aus  einroanöfrei; 
Ottc^  öer  Sd)üler  ^öt)erer  Klaffen  toirö  öiefe  Cautuntcrtoeifung  immer  toieöcr  mit 
neuem  Hu^en  oorne^men  fönnen. 


Hus  öen  Urteilen  über  öas  $tro!)mct)erfd|e  UntcrridjtstDerf  11 

anes  in  allem  ift  aud)  5er  (Befamteinbrudt  5er  Übuit9$bä({)er  oor^ 
Sfiglid),  un5  es  ftann  iteinem  Stoeifel  unterliegen,  5ag  5{e  Derfaffer  5as 
olerfod)e  3iel,  5as  fie  ft(i)  nod)  5cm  Dortoort  fted^ten,  tatfä(I}Iid)  erreid)t 
l)oben,  nömlidj:  1.  5te  Sprod)e  ouf  ©runö  pfpdjologifdjer  Pertiefung  ju 
Iel}ren,  2.  ed)tes  $rttn3Öfifdi  3U  bieten,  3.  öen  freien  ©ebraud}  5er  Sprodjc 
3U  för5ern,  4.  ein  pralttifc^es,  allen  Begabungsfdiattierungen  angepaßtes 
Bud)  3U  f  dl  äffen." 
(£u5i»{g  ©eijer  In  „Die  neueren  Spradjen".  Ban5  24  I^eft  6.  ©fttober  1916.) 

„Unferc  notgcörungen  nur  öic  I}auptfad)cn  I)en)orf)cbcnöe  Bcfdircibung  öet 
beiöen  (Eiemcntarbüd)cr  rotrö  öod)  unfdjxDer  crfenncn  laffett,  öafe  in  5em  Strof|= 
mcljerfdjcn  UntcrridjtstDerf  alles  3ufammentDir!t  un6  fi(^  gcgenfcitig  unterftü^t, 
loas  erforöerlid)  ift,  um  ,5cn  Untcrrid)t  in  öen  neueren  SrcTi^öfpradjen  im  Ejin= 
blid  auf  öas  le^te  3iel  6er  f|öf|ercn  Cefjranftalten  im  fprad)tDtffen[d)QftIid}en 
6cifte  3U  oerticfen'. 

Die  Ijauptmittel,  öercn  es  ftdj  beöicnt,  finö,  um  nod)  cinmol  3ufammen3u= 
faffen:  öie  ansieljcnöcn  tLejte  befter  moöerner  SdjriftftcIIer,  öie  fi)ftematif(^  an= 
georöneten  Übungen  3ur  Pflege  öes  freien  Husörurfs  unö  öie  öie  Sprad)erfd)ci= 
nungen  unter  Derroertung  öcr  t)iftorifd)en  unö  pftjdjologifdjen  (Brammatif  aus 
fidj  felbft  Ijeraus  erflörenöc  Beljanölung  öer  (brammatif. 

IDcnn  öer  ©rommatifbanö  unö  öie  (Dberftufc  öie  öurd)  öas  (Elcmentarbud) 
erregten  (Ertoartungen  erfüllen,  fo  Ijätten  mir  öamit  öas  fran3öfifd|eUnterrid)tsiDerf, 
öas  toir  für  xmfere  I)öf|eren  Sdjulcn  braud|cn,  unö  fönnten  oon  toeiterem  Sudicn 
unö  r>erfud)cn  abfeljen."    (Die  Ijöl).  Utäödjenfdjulen.  29.3olirg.  1916.  tjeftS.) 

„.  .  .  Strof|mei|ers  ®rammatif  ift  nid)t  öas  erfte  Bud)  feiner  Art,  aber  es 
toill  mir  fd)cinen,  als  ob  es  öas  beöeutenöfte  ift.  ... 

eigenartig  toic  öie  flnorönung  öer  gan3en  (Brammatif  ift  aud)  öie  Bef)anö' 
lung  öer  einsclncn  Kapitel,  öie  überall  forgfältigcs  Stuöium,  feines  fprad)» 
pfi)^ologifd)es  öcrftänönis  unö  ein  ni^t  gerDöl)nlid)es  päöagogifd)es  (Befc^id 
erfennen  läfet.  Das  Dogma  öer  Regel  I)at  feine  Rolle  ausgespielt,  3nöcm  öcr 
Derfaffcr  oon  öem  innerften  IDefen  fcöer  (Erfd)einung  ausgel)t,  toirö  fie,  too  es 
nötig  ift,  in  allen  i^ren  pi)afen  entroidelt,  fo  öafe  fie  gleid)fam  als  etu)as  £cbcn= 
öiges  »or  öie  Seele  tritt.  Ulan  oertiefe  ftd)  in  öen  flbfd)nitt  über  öen  Hrtifel, 
über  öie  Seiten,  über  öie  Präpofttionen,  über  öie  XDortftellung :  man  toirö  3U' 
geben  muffen,  öafe  öcr  Derfaffcr  feine  Aufgabe  in  feinfinniger  IDeifc  erfaßt  unö 
gelöft  I)at.  Dabei  l)at  er  es  oerftanöcn,  in  öer  Begren3ung  öes  Stoffes  öas 
lDid)tigfte  oom  Untoi^tigen  3u  unterf^ciöcn  unö  öas  (Entbeljrlidjc  tDeg3ulaffen. 
anöererfeits  tocröen  aud)  feinere  (Erfd)einungen  berüdfid)tigt,  fotoeit  fie  für  öas 
Derftänönis  oon  öcr  (Eigenart  öer  fran3Öfifd)en  Sprad)e  oon  Beöeutung  finö. 
.  .  .  Daö  öcr  Derfaffer  fid)  auf  fclbft  gcfammcltc  Bcifpiele  ftü^t,  öie  3um  größten 
Icil  öen  £el)rbüd)ern  entnommen  unö  mit  genauer  (Quellenangabe  t)crfel)cn 
finö,  crmöglid)t  u.  a.  öie  (Einreil)ung  in  einen  größeren  (Beöanfensufammcnljang 
unö  fü^rt  öen  S^üler  in  öie  nietf)oöe  rDiffenfd)aftlid)er  Hrbeit  ein.  .  .  ." 

(ntonatsfdjrift  für  Ijo^cre  $d)ulen.  1916.  tieft  5/6.) 

„Der  £efer  roirö  fid)  erinnern,  öa§  feine  fran3Öfifd)e  oöer  cnglifc^c  Sd)ul» 
grammalif  rooljl  eine  RTenge  Regeln  cntl)ielt,  aber  feiten  eine  (Erflärung  unö 
Begrünöung  öasu.  (Es  l)errf^te  bisl)er  im  iDefentlid)cn  öie  metl)oöc:  öu  l)aft 
founöfo  3U  fd)rciben  —  roarum,  geljt  ötd)  nid)ts  an.  Unö  fo  beöcutet  es  öenn 
einen  $iebenmeilcnftiefcl»5ortfd)ritt,  roenn  toir  enölid)  ein  fran3öfifd)es  Unter» 
rid)tstDcrl  erf)alten  I)abcn,  öas  öie  5orfd)ungen  öer  Sprad)rDiffenfd)aft .  . .  öcr 
Sd)ulc  3ugänglid)  mad)t....  (Es  ftammt  oon  Prof.  Dr.  5ri^  Strol)met)er ,  öem 
Direltor  öes  IV.  Stäötifd)en  £i)3eums  3U  IDilmersöorf,  einem  ITtanne,  öcr  päö» 
agogtfd)es  (Bef(^id  unö  D)iffenfd^aftlid)e  (Brünölid)feit  in  feltenem  erftaunlid^em 
lUafee  t)ercinigt.    £)icr  (unö  3umal  in   öcr  ®rammatif)  toirö  nid)t  mcl)r  bloß 


12  Aus  öcn  Urteilen  über  bas  StroIjTnetjcrfc^e  Unterri(^tstDerI 

fotnmanötcrt.  Unö  öarum  ift  es  aufs  tnmgfte  3U  roünfi^cn,  öofe  ötcfcs  Unter» 
ridjtsiDcrf  (crfditencn  bei  (Eeubncr)  nun  au6]  öie  Dcrbreitung  finbe,  öie  i^nt 
gebül)rt.  Der  Rud  naä)  oortDärts,  6cn  es  6cm  Sprod}untcrrid)t  gibt,  ift  fo  bt* 
öeutenö,  öafe  es  bercdjtigt  crfdjeint,  an  öicfcr  Stelle  öarauf  aufmcrffant  3u  madjen." 
(Prioatöosent  Dr.  (Eugen  Ccrd),  Ulündten,  im  „tlag"  o.  4.  3uli  1919.) 

„mir  fdjcint,  öafe  oon  allen  Sdjulgrammatifen  öie  3I)rige  bicjenige  ift,  öie 
es  am  bcften  oerftanbcn  Ijat,  öcr  Sdjule  fo  oiel,  ols  praftifd)  linö  öiöafttfd)  mögli(^ 
ift,  oon  öer  «)iffenfd)aftlid)en  Sprad)betra(i)tung  3U3ufü!)ren.  Das  ift  fein  Kom« 
plinient,  fonöern  eine  Uberseugung,  öie  idj  mir  im  legten  Semefter  gcbilöet  ^abe, 
als  id)  Seminarübungen  an  öer  Uniocrfität  f)ielt  über  öas  Dcr^ältnts  oon  S^ul» 
grammatif  unö  Spradjtoiffcnfdjaft." 
(Aus  3ufdirift  oon  UniD.»prof.Dr.  Korl  PoJ3ler,tnünd)en,  o.  3.  XI.  19  a.  ö.  Derf.) 

„3(^  fann  Derf affern  unö  Dcrleger  3U  öem  Gebotenen  nur  gratulieren;  öle 
Büd|er  roeröen  öort,  roo  fie  3ugrunöe  gelegt  roeröcn,  öen  Sdjülern  ein  gutes, 
tnoöcrnes  unö  töiomatifd)es  Sransöfifd)  unö  öie  Kcnntniffe  geben,  fid)  3unä(^ft 
in  öer  umgebenöcn  IDelt  fUcfeenö  unö  rid|tig  ausörüden  3U  fönnen.  Dem  Bud), 
öas  in  praftifdjer  tDeifc  öie  Soröerungen  öer  Reform  mit  öenen  einer  Der» 
mittelnöen  ITtetlioöe  oereinigt  unö  eine  ft)ftcmatifd|e  Dertoertung  öes 
IDortfdja^es  in  öen  t)erfd)icöencn  Übungen  3U  erreid)cn  oerfud)t,  ift  oiel» 
fa^e  (Erprobung  in  öer  prajis  3U  tDünfd)en."  (Prof.  Dr.  R.  ftdtermonit, 

(Dberftuöienrat,  Reftor  öes  Real«  unö  Reformgt)mnafiums  in  Itürnberg.) 

„Das  Strol)met)erfd)e  IDerf  l)abe  id)  mit  großem  3ntereffe  gclefen.  (Beraöc 
fold)  ein  Bud)  fud)lc  id).  (Es  ftef)t  cinsig  öa.  Die  (brammati!  ift  auf  roiffen» 
fd)aftlid)er  Bafis  aufgebaut  unö  erleid)tert  unö  föröert  fo  öas  üerftänönis  un« 
gemein.  Der  Bilöfdjmud  ift  fd)ön,  öie  Sprcd)übungcn  unö  Anleitungen  3U 
fluffä^en  fc!)r  gut.  I^oljc  flnforöerungcn  roeröen  an  öen  Sdjüler  geftellt,  aber 
öas  Bud)  ift  fo  intereffant,  öa^  öer  Sd)üler  es  aud)  fpäter  gern  in  öie  t^anö 
nel)men  roirö.  Die  Sprad)e  roirö  il)m  fo  lieb,  öafe  ii)m  ein  IDciterarbeiten  als 
felbftoerftänölid)  erfd)eint."   ((Dberlel)rerin  D.Ijer^ci,  Diftoriafd)ule,  (5rouöett3.) 

„ . . .  Das  mir  überfanöte  Bud)  l)at,  töie  öie  oorl)ergcbenöen  Strol)mei)erfd)en 
Büd)er,  meinen  tiefftcn  U)ünfd)en  entfprod)en.  (Es  ift  bei  toeitem  öas  oollfom« 
menftc  unö  anregenöfte  Bud)  öiefer  (battung,  öas  id)  fenne." 

((Dberl.  Koller,  Realgt)mn.,  ftljlen  i.  tD.) 

„3n  öer  grammatifd)en  Abteilung  ift  mir  cor  allem  öie  sroedmäfeigc  (bruppie» 
rung  öer  unregelmäßigen  Derben  unö  in  öer  tDortbilöung  Sie  Sufammenftellung 
Don  Stamm»  unö  abgeleiteten  IDörtern  Dorteill)aft  aufgefallen,  ein  öor3ug,  öen 
tDcnige  Büd)er  aufsuraeifen  l)aben. 

Der  £efeftoff  öer  (Dberftufc  ift  inljaltlid)  red)t  oielfeitig  unb  intereffant,  3U» 
mal  er  außer  literarifdjen  flbI)onölungen  oiel  Kulturgefd)id)tlid)es  über  £anö 
unö  £eute  bringt,  öas  öurd)  Dor3ügli(^e  Hbbilöungen  Deranfd)auli(^t  toirö. 
BefonÖers  fleißig  unö  cinge^enö  ift  öer  Übungsftoff,  öer  öas  (5rammatifd)e  3U 
oerticfen  ^at,  ousgearbeitet,  öer  an3ief)enöe  (Epifoöen  beöeutenöer  ITTänner  bringt. 
Scl)r  glüdlid)  ift  ferner  öie  flustoal)!  öer  (Bcöid)te  getroffen,  an  öie  fid)  no(^ 
reid)lid)es  ITlaterial  für  Huffa^übungen  anfd)ließt.  Da  öie  fran3öfifd)e  Husöruds» 
roeifc  überall  einfad),  flar,  aber  ftcts  iöiomatifd)  ift  unö  öas  Bud)  fid)  eines 
befonöers  guten  Drudes  erfreut,  fann  öeffcn  (Einfül)rung  uiarm  empfol)len  roeröen." 
(Prof.  £.  S^eibert,  Kaifcr-)Dilljelm=(Bi)mnafium,  (Dftetoöe  i.  (Dftpr.) 

„3d)  liobi  nad)  öem  Strof)mei)erfd)en  tOerfc  gearbeitet  uni)  öamit  öie  beften 
(£rfaf)rungen  gemad^t,  (Es  I)ält  infolge  feines  ed)ten  (Bemaltes  unö  feiner  auf 
pfi)d)ologifd)cr  (brunölage  aufgebauten  (Brammatif  öas  3ntercffe  öes  Sd)ülers 
gleid)  wad\  roie  aud)  öas  öes  £el)rers  (cor  allem  öeffen  £aune  unö  Stimmung). 
(Es  ftellt  öurd)aus  nidjt  3U  ^ol)e  flnforöerungen  on  öie  Sd)üler,  öa  öas  IDerf, 
meti)oöifd)  aufgebaut,  jeöen  neuen  Sd)ritt  genügenö  oorberettet." 

(ODberlcbrer  ^cinrid),  £ebrerfcminar,  £öbou.) 


;^ufrpco<^MI^otir<^^pryc^olo0ir<^ec<&rttn6lo0c 
Don  Prof.  Dr.  Jrl^  6tro^mcjfcr 

Direltor  öes  4.  Cp3eutns  3U  Berlin  » IDilmersborf 

[VI  u.  298  S.]    gr.  8.     1921.    (2eubners  pljilologifdje  Stubtcnbüd)cr.) 
(Bebunbcn  TIT.  16. — 

l7icr3u  iEeuerungs3ufd}Iag  bcs  Dcrlags  120'\,    aSönberung  oorbe()aIten 

Die  Dorltegenöc  (Brammotif  toül  ein  pfijdjologtfd)  begrünöetes  Aaraftcriftü 
fcf)es  Bilö  öcr  fransöfifdjen  Spraciic  enttocifcn,  bas  unter  Bcifcitelaffen  alles 
£efifaUfd)cn  unb  feltencr  Son6ererfd)emungen  iiid)t  etnfadj  Regeln  unö  Hus« 
nal^men  regiftrtcrt,  fonbem  bie  fpradjgcftaltcnbcn  Kräfte,  insbefonberc  btc 
IDirfungcn  ber  Analogie,  fjeroortjebt,  anbercrfcits  auf  bcn  erftarrcnbcn  (Ein» 
flufe  ber  (Brammattf er  l)intDeift  unb  flusbrurfsformen,  bie  ber  $d)rift- 
fpra,(f)c  ober  ber  Umgangsfpradje,  ber  familiären  flusbrudsroeifc  ober 
öcr  DoIIsfprad)c,  bie  ber  rcflcftierenben  ober  ber  cffcftoollcn  Rebe« 
tDcifc  eigen  finb,  als  fol(f)c  fennseidjuet.  Soroeit  bas  ntobernc  Sprad|empfinben 
nidjt  mit  ber  I)iftorif(f)cn  Spradjentiridlung  im  tDiberfprud)  fteljt,  ift  ferner 
ben  (Ergebniffen  ber  f)iftorifd)cn$pradiforfd)ung  Redjnung  getragen.  Der 
©e  famtauf bau  bes  Stoffes  toeid^t  oon  bem  bisljer  überlebten  flnorbnungs= 
prin3ip  ah  unb  fud)t  bas  Qrammatifdjc  RTatcrial  in  ben  nier  flbfd)nttten  Caut, 
EDort,  IDortgruppe,  Sa^gc^ge  3u  einer  organif(i}cn  (Einf)cit  3U  oerbinbcn. 
(Eine  S^IU  auf  eigenen  reidjtjaltigen  Sammlungen  beruljcnber  (Driginalbcifpiclc 
unb  ein  ausfü{)rltd)es  StidftDortDerjcidjnis  erl)öl)en  ben  tDert  bes  Budjes,  burd) 
bcffcn  (Erfdjeinen  sroeifellos  einem  bei  £el)rcnbcn  unb  Stubicrcnbcn  bes  5tan= 
3Öfifd)en  beftef)enben  Bebürfniffe  abget)olfcn  toirb. 

Don  bemfclbcn  Derfaffer  crfc^cint  in  flnlcl|nung  an  6ic  „  ^ransöfifc^c 
(Bramniati!"  bcmnäd|ft: 

^.übungebuc^  3ur  fron3ofi|<^en  6tammoti!'' 

(Entfjält  3ur  Einübung  ber  grammatifdjen  €rfd)einungcn  beutfdjc  aus  fran= 
3Öfifd)en  Sdjriftftellern  entnommene  Überfc^ungsfä^c  unb  fron3Öfifd)e 
(Driginalbeifpiclc  als  (Ergänsung  ber  Beifpiclfammlung  ber  (Brammatif. 

Die  moderne  fron3cfi|c^e  profa  (l  $70-1  ^20) 

Don  Dr.  D.  j^Umpercf 

Prof.  a.  b.  Sei}«,  fjocfijdiulc  In  Dresöen 

(dcubncrs  pI)iIoIogifd)e  Stubicnbüi^cr.)    pn  Dorbcreituhg  1921.] 

Das  Bud)  entfjält  aufeer  bin  eigentlidjcn  {Testproben,  btc  fo  3ufammengeftcllt 
roerben,  bafe  aus  iljnen  bie  (Entroidelung  ber  moberncn  Profa  mit  Be3ug  auf 
Darftellungsatt  unb  Sprad)bel)onblung  crfid)tlid)  toirb,  einen  längeren  ein« 
fül)rcnbcn  (Effaij,  ber  unter  l)iftorifd)en  (Befidjtspunftcn  einen  Übcrblid  über 
bie  irtittel  ber  Kompofition,  ber  (Eedjnif,  bes  Stils  ufto.  gibt.  3ur  Deranfdiau« 
lid)ung  bes  (Befagten  toirb  auf  d)orafteriftifd)e  Beifpiele  in  ben  tEcftproben 
befonbers  oermiefen.  Das  Bud}  toirb  insbefonberc  aud)  als  £eftürc  in  bcn 
oberen  Klaffen  ber  Realoollanftalten  befonbers  ber  (Dberlt)3ccn  unb  Stubien» 
onftaltcn  mit  ITu^en  3u  oerrDcnben  fein. 

ÜerlQ0  oon  6.6.(reubner  in  £eip3tg  und  6etitn 

ptetfe  freibleilienö 


6(0  n(ufptra<^H<^en  Untet(i<^t0 

Banb  I: 

2>U  <5rundiog(n 

Don  Prof.  Dr,  P^.  /HtOnftcin^   Stu&tenrat  am  SopI)f«ii=Real9t}mnaiium  in  Berlin 

[IV  u.  110  S.]    gr.  8.    1921.    Kort.  IK.  6.80 

l7ieT3u  Seuerun9S3ufd)Iag'&es  Oerlogs  120%,  Alifinbetung  t)or6ei}alten 

3nl)altsüber|id)t: 

I.  ^iflorif<^»fritlf(^cr  Ccil:  flnfid)ten  über  bas  IDefen  öer  Spradjc  als  foldjcr. 
Stele  öcs  frembfpradjlidjen  Stuöiums.     Die  lUetljoöen   öes  fremöfpra(f)ltd)cn 

Untcrridjts  nad)  il)ren  pfi)d)oIogi[d)en  ©runölagcn. 

II.  Z>ic  Prin3ipkn  tte  fremdfprQ(f)ii<^cn  Untcrrt(i>t0 :  Die  p{)t}fioIogifd)e  Seite 
öer  fremöen  Spradjc:  £aut  unö  Sdjrift.  Die  formale  Seite  öes  fremöfpradj» 
Iid)cn  Unterrid)ts.  Der  Spradjftoff  ober  BetDu6t|cinsint)aIt  5es  frcmöfprad)= 
lidjcn  Untcrrid|ts.  Die  Auf nafjtne  unö  ücrarbeitung  öes  Sprad)ftoffes  buxö)  öcn 
£crnenöen.  Der  Sprad}ftoff  oIs  ITItticI  öcr[(Einjüf|ruTig  in  öas  frcmöc  üolfstum. 

Dicfer  erftc  öie  allgemeinen  mctI|oöifd)en  (Brunölagcn  öes  neufprad)Iid)cn 
Unterrid)ts  bcfjanöeinöc  Banö  fud)t  öie  3um  üerftänönis  öer  fdjtoierigen 
Probleme  öcsfelben  nolroenöigc  fefte  lI)eorctifd}c  Bafis  3U  getoinnen,  aus  öem 
tOefcn  öer  Spradjc  als  menfdjlidjem  flusörudsmittel,  öem  pfijdiologifdjen  Der» 
Ijältnis  öer  Src^ttöfpradic  3ur  ITIutterfpradie,  öen  Aufgaben  öes  ncufprad)ltd)cn 
Untcrri(f)ts  an  öer  Bilöungsfd)ulc  unö  öer  pf)i)d)oIogie  öer  lernenöen  3w9e'ii>- 

3m  crften  ?EeiI  roirö  öer  (Bang  öes  metljoöifdjen  Denfcns  bis  3ur  (Begcn« 
toart  I)iftorif(f)»fritifd)  öargelegt  unö  erläutert,  öanad)  roeröen  öie  prinsipien 
öes  ncufprad)Iidicn  Unterridjts  in  allen  i^ren  Deräroeigungcn  entroidelt:  öie 
pI)t)fioIogif<f|C  Seite  öer  fremöen  Spradjc  (Caut  unö  Sd)rift)  unö  öie  formale 
Seite  öes  fremöfprad)lid)en  Unterridjts  (tDort  nad)  5or"i  «"ö  Beöcutung  für 
öie  (Ertoerbung  öes  IDorlfdja^es),  foroie  öie  flusörudsgcftaltung  öer  5tcmö= 
fprad)e  (öie  ©rammatif  nad)  (Erllärung,  Einübung  in  £cftüre,  Ejinübcrfe^ung 
unö  öirelten  Übungen) ;  ferner  toirö  öer  Sprad)ftoff  betrad)tet  als  (Begcnftanö 
öer  flppcrseption,  fotoie  in  feinen  fad)lid)en  (Brunölagen  unö  oom  Stanöpunit 
feiner  nationalen  ®runölage,  enöUd)  loirö  öie  flufnal)me  unö  öerorbeitung 
öes  Sprad)ftoffcs  unö  feine  Benu^ung  als  mittel  öer  (Einfül)rung  in  öas  fremöe 
Dolfstum  bcl)anöelt. 

IDciterc  Bänöc  follen  auf  öiefer  (Brunölage  öann  3unäd)ft  öas  (Englifd)c 
unö  5ran3öfifd)c  als  (Bcgenftanö  öes  Sd)ulunterrid)ts  öarlegen. 

Jn  t)orbcreltuti0  befinden  fi^: 

aond  11 :  aiett)odi0  öe»  cngüfc^cn  Unterrichte.   Don  Prof,  Dr.  pi).  ^ron^ein. 

6ond  HI:  inetl)odif  dea  fron3Ö|ifd)en  Unterric^ta. 

t)trla0  oon^*6.(rcubnct  in  itip^ig  und  Berlin 

pretjc  freibleibend 


COLLECTION  TEUBNER-TEUBNER'S  SCHOOLTEXTS 

Begründet v.  F.  Doerr,  H. P.Junker,  M.Walter, fortgesetzt v.  F. Doerr u.  L  Petry. 

Die  Sammlurig  will  die  Möglichkeit  bieten,  die  in  der  Schule  gelesenen  Schriftsteller  ganz 
In  ihrer  eigenen  Sprache  zu  erklären;  in  diese  Arbeit  teilen  sich  je  ein  deutscher  und  ein 
französieeher  oder  englischer  I?earbeiter.  Bei  der  Auswahl  des  Stoffes  ist  der  Gesichts- 
punkt maßgebend,  für  die  fremde  Sprache  und  Kultur  ein  nur  durchaus  charakteristisches 
Werk  zn  bringen.  Frähere  Sprachepochen  sind  mit  Proben  der  größten  Meister  vertreten, 
hauptsächlich  aber  soll  Wertvolles  aus  der  französischen  und  englischen  Literatur  des 
1&.  Jahrhundert«  geboten  werden,  die  wichtigsten  Ereignisse  der  Geschichte  des  betreffen- 
den Volkes  in  der  Darstellung  hervorragender  Historiker  vorgeführt  und  das  Leben  der 
beiden  Völker  nach  dem  jetzigen  Stande  in  den  Hauptzügen  geschildert  werden.  Der 
Kommentar  will  die  Leklüre  leichter,  genußreicher  und  fruchtbringender  gestalten,  und 
es  soll  darin  nur  das  zum  Verst&ndnis  der  Stücke  und  ihrer  Sprache  Nötige  gegeben 
werden.     Die  Bände  sind  meist  mit  charakteristischen  Abbildungen  vorsehen. 

COLLECTION   TEUBNER 


1.  Moliäre,  L'avare.   Von  Bornecqueund 

Junker.      Texte^kart.  .H   1.20;    Notes 

kart.  ^  — .  CO. 
8.  Michelet,  Jeanne  d'Aro.    Von  Charlity 

und  Kühn      Texte  kart.  Ji  1.20;  Notes 

kart.  JC  —.60. 

S.  Moli^re,  Les  femmes  savantes.  Von  Bor- 
necque  u.  Junker.  Texte  kart.  Ml.  — ; 
Notes  kart.  JC  1. — . 

4  Flaubert,  UncoBur  simple.  VonAnglade 
u.Meyer-Harder.  Texte  k&it.  M.  1.20; 
Notes  kart.  J(.  —.80. 

5.  Le  Midi  de  la  France.  (Morceaux  ehoisi«.) 
Von  Cirot  und  Petry. 

I.  Le  Midi  et  le  Sud-Ouest  Texte  kart. 
Jt  1.20;   Notes  kart.  M  —.60. 

6.  II.  La  Provence  et  la  Corae.    Texte  kart 

M  1.20;  Notes  kart.  Ji  —.60. 


7.  L'annöe  terribie.  (Morceaux  choisis.)  Von 
Co  in  tot  und  Sturmfels.  Texte  kart 
JC  1  40;  Notes  kart    JI  —  60. 

8.  Paris  I.  Von  Delbost  und  Petry. 
Texte  kart.  ^  1 .  80 ;  Notes  kart.  Ji.  —  80. 

9.  De Vigny,  Une  hlst.de  la Terreur. —  Laurette 
ou  le  Caohet  rouge.  Von  Denis  u.  Ost. 
Texte  kart.  .,«1.40;  Notes  kart.  ^C —  . 80. 

10.  La  Revolution  fran9aise.  I.  L'Assembl6e 
Constituante  et  rAssembiöe  Ldgislative. 
Von  Hardy  u.  Leicht.  Texte  kart. 
M  1.20;  Notes  kart.  M  -.80. 

11.  II.  La  Convention.    Von  Hardy  u. 

Leicht.     Texte   kart.  Ji  —.80;    Notes 
kart.  J(  —.80. 

12.  Moliere,  Les  pröcieuses  ridicules.  Von 
Bornecque  and  Junker.  Texte  kart. 
Ji  —.60;  Notes  kart.  Ji  —.80. 


TEUBNER'S  SCHOOL  TEXTS 


1.  Shakespeare,  Julius  Csesar.  Von  Moor- 
man  und  Junker.  Text  kart.  ^^t  1 . 20 ; 
Notes  kart.  Ji  —  .  80. 

2.  An  Introduction  to  Shakespeare.  Von 
Moorman.     Kart.  Ji  1.20. 

8  Shakespeare,  Macbeth.  Von  Moorman 
und  Junker.  Text  kart.  Ji  1.20;  Notes 
kart.  Ji  —.80. 

4.  Froude,  History  of the  Armada.  Von  P  e  a r o  e 

und  Kiedel.    Text  kart.  M  1.40;  Notes 
kart.  ^fC—.hO. 

5.  Shakespeare,  Merchant  of  Venloe.  Von 
Moorman  und  Sander.  Text  kart. 
^1.20;   Notes  kart.  Ji  —.80. 


6   Carnegie,  Empire  of  Business  (Selcctiom) 

V.  Ca rp enter   u.   Lindoraann.  Text 

kart.  Ji  1.20;  Notes  kart.  Ji  —.80 
7.  Besant,  Elizabethan  London.  VonDenby 

und  Böhm.    Text  kart.  M.  1.20;  Notes 

kart.  ^H.  —.80. 
8   Spencer,   Social  Statics.   Von  Allana. 

Besser.     Text     kart.     Ji   1.20;    Notes 

kart.  Ji  — .  80. 
t».  Ruskin, Unto this Last. V. Holt n. Leicht 

Text  kart.  Ji  1 .40;  Notes  kart.  J{  —.80. 

10.  Carlyle,  Selections  from  Oliver  CromweH's 
letters  and  Speeches  and  on  heroes, 
Lecture  VI.  Von  Allan  und  Besser. 
Text  kait.  Ji  1 .20;  Notes  kart.  M  —.80. 


In  Vorbereitung  befinden  sich: 
Shakespeare,  Henry  IV.    Von  Moorman  u.  Sander. 

Auf  sämtliche  Preise  Teuerungszuschlag  des  Verlags  120 ",,    (Abänderung  vorbehalten)  und 
teilweise  der  Buchhandlungen 

Verlag  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig  und  Berlin 


Preise  freibleibend 


Zum  neusprachlichen  Unterricht 

Andrew8,E.,A.,AshortHistory  ofEnglish  Literature.  2. Aufl. Kart. J^4.— 
Aronstein,  Ph.,  Methodik  des  neusprachlichen  Unterrichts.   I.  Die 

Grundlagen.    Kart.  M.  6.80.     II.  Methodik  des  englischen  Unterrichts. 

III.  Methodik  des  französischen  Unterrichts.    [U.  d.  Pr.  1921.] 
Cretin,  P.  M.,  La  France.    Passe.    Present.    Avenir.    .    .    .   Geb.  M  2.40 
Flagstad, Chr. B., Psychologie  der  Sprachpädagogik.  Versuche  zu  einer 

Darstellung  der  Prinzipien  des  fremdsprachlichen  Unterrichts  auf  Grund 

der  psychol.  Natur  der  Sprache.     Geh.  Ji  b.  — ,  geb JC  <o  .QO 

Friedrich, Fr.,  Auswahl  französischer  Lyrik  n.  einig.Fab.La  Fontaines. 

Nach  Stoffgebieten  geordnet  für  den  Schulgebrauch  hrsg.  Kart.  Jt  2. — 
Jespersen,  0.,  Lehrbuch  der  Phonetik.    Deutsch  von  H.  Davidsen. 

Mit  2  Tafeln.     3.  Auflage.     Geh.  JC  12.—,  geb ,H,  14.— 

Elementarbuch  d.  Phonetik.  Geh.J^S. — ,  geb JCöAO 

Phonetische  Grundfragen.  Mit2Fig.i.Text. Geh.  J^3.60,geb.</^6.— 

Growth  and  Structure  of  \h.?)  English  Language.   3.  Aufl. 

Geh.  Jt  3.—,  geb., Ji  4.50 

Jones,  D.,  100  poesies  enfantines.  Geh.  JC  1.80,  geb M  2.20 

Intonation   Curves.     Steif  geh J(  2.60 

An  Outline  of  Engl. Phonetics.Withl31ill.Geh.c//U0.-,geb.c/Ä:i2.- 

Krebs,  E.,  Abrege    de  l'histoire  de  la  littörature   fran9aise  de 

Corneille  ä  nos  jours.     5.  Auflage.    Kart Jt  1. — 

ündelöf, U.,  Grundzüge  d.  Geschichte  d.  engl.  Sprache.  Kart.  Ji  4t. — 
Meillet,  A.,  Einführg.  i.  d.vergl.  Grammatik  d.  indogerm.  Sprachen. 
•  VomVerf. genehm. u.durchges.Übers.v.W.Pr in tz.  Geh.</^7. — ,geb.c/^9.40 
Noel-Armfield,  6.,  100  Poems  for  Ghildren.  Steif  geh.  .  .  .  JC  2.— 
Passy,  P.,  Petite  Phonötique  comparee  des  principales  langues  euro- 

peennes.     2.  Auflage.     Geh.  oü  2. — ,  geb Ji  2  AQ 

etRambeau,  A.,Ghre8tomathie  fran^aise.  4.,verb.Aufl.  Geb.</^7. — 

Porzezinski,  V.,  Einleitung  in  die  Sprachwissenschaft.  Autorisierte 
Übertragung  aus  d.  Russ.  v.  E.  Böhme.     Geh.  Ji  %. — ,  geb.  </Ä  6. — 
Quiehl,  K.,  Französische  Aussprache  und  Si^rachfertigkeit.    Ein 
Hilfsbuch  zur  Einführung  in   die  Phonetik   und  Methodik   des  Fran- 
zösischen.    6.  Auflage.     Kart Ji  12.— 

Sakmann,  P.,  und  Dieriamm,  G.,  Französische  und  englische  Dichter 

und   Schriftsteller  in   der'Schule.     Geh.. M  1.40 

Sommer,  F.,  Vergleichende  Syntax  der  Schulsprachen  (Deutsch,  Englisch, 
Französisch,  Griechisch,  Lateinisch).    Mit  besonderer  Berücksichtigung 

des  Deutschen.    Geh.  JC  8. — ,  geb Ji  10 . — 

Thiergen-Hamann,  English  Anthology  containing  specimens  of  English 
Poetry  and  Prose  with  Lives  of  Authors.    From  the  14*1»  eentury  to  the 

present  day.    Mit  26  Illustrat.  und  1  Karte.    Geb Ji  GAO 

Thiergen,  0.,  Methodik  d.  neuphil.  Unterr.  3.  Aufl.  Ji  SAO,  geh.  Ji  Q. — 

Victor,  W.,  Deutsches  Lesebuch  in  Lautschrift.    I.  Fibel  u.  erst. 

Lesebuch.  ö.Aufl.  Geb. ^3.-  IL  Zweit.Lesebuch.2.Aufl.Geb.  J^3.- 

Kleines  Lesebuch  in  Lautschrift.  '  Kart Ji  — .80 

und  F.  Doerr,  Englisches  Lesebuch.  Unterstufe.  Teil  I.  Aus- 
gabe in  Lautschrift  von  E.R.Edwards.    2.  Aufl.    Geb.    .    ,   Ji  2.20 

Wähmer,  R.,  Spracherlernung  u.  Sprachwissenschaft  Die  Anglie- 
derung  des  Sprachunterrichts  in  den  wissenschaftl.  Bildungsplan  der 
höh.  Schule  dargelegt  am  Französischen.     Geh.  Ji  2.  — ,  geb.  Ji  2.^0 

Auf  sämtl.  Preise  Teuerungszuschlag  des  Verlags  120'\,  (Abänder.  vorbeh.)  u.  teilw.  der  Buchdig. 

Verlag  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig  und  Berlin 

Preise  freibleibend 

■Druck  von  B.  G.  Teubner  in  Leipzig.