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Full text of "Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums"

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University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/monatsschriftf55gese 


Monatsschrift 

FÜR 

GESCHICHTE  UND  WISSENSCHAFT 
DES  JUDENTUMS 

BEGRÜNDET     VON    Z.    FRANKEL. 


Organ  der  Gesellschaft 

zur 

Förderung  der  Wissenschaft  des  Judentums 

Herausgegeben 

von 

Dr.  M.  BRANN. 

Jg.  SS 

Fünfundfünfzigster  Jahrgang. 
NEUE  FOLGE,  NEUNZEHNTER  JAHRGANG. 


BRESLAU. 
KOEBNER'SCHE   VERLAGSBUCHHANDLUNG 

(BARASCH  UND  RIESENFELD.) 
1911. 


3>6 

101 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte 
der  Wissenschaft. 

Von  J.  Seheftelowitz. 

Wahrheit  ist  das  wesentliche  Ziel  jeder  wissenschaft- 
lichen Forschung.  Eine  Untersuchung,  die  den  Anspruch 
auf  wissenschaftliche  Geltung  erhebt,  muß  in  erster  Linie 
auf  gründlichen  und  zuverlässigen  Quellenstudien  beruhen. 
Jn  wie  fern  nun  ein  viel  gelesenes  Buch,  das  in  den  letzten 
Wochen  und  Monaten  beinahe  zum  Mittelpunkte  eines 
kleinen  Literaturkreises  geworden  ist,  dieser  elementaren 
Forderung  entspricht,  soll  in  den  nachfolgenden  Darle- 
gungen geprüft  werden.  Es  handelt  sich  um  die  »Christus- 
mythe« von  A.  D  r  e  w  s1).  Der  Gegenstand,  den  das  Buch 
behandelt,  gehört  in  den  Bereich  der  Religionsgeschichte 
—  ein  Gebiet,  das  auch  in  dieser  Zeitschrift,  insoweit  das 
Judentum  in  Frage  kommt,  eine  Pflegestätte  findet.  Im 
Grunde  hätte  sich  die  Prüfung  demnach  auf  die  Abschnitte 
beschränken  können,  die  sich  besonders  auf  das  Judentum 
beziehen.  Im  Interesse  der  Wahrheit  ist  es  aber  geboten, 
möglichst  das  Ganze  zu  berücksichtigen  und  einmal  gründ- 
lich die  Art  und  Weise  zu  beleuchten,  in  welcher  heute 
zahlreiche  mit  biblischen  Fragen  sich  beschäftigende  Ver- 
treter der  vergleichenden  Mythologie  auf  pseudo-wissen- 
schaftlicher  Grundlage  nach  unzulänglicher  Methode  be- 
liebige geschichtliche  Persönlichkeiten  in  mythologische 
Schemen  aufzulösen  bemüht  sind.  Von  religiöser  Vorein- 
genommenheit weiß  ich  mich  durchaus  frei  bei  meinem 
Urteil.  Uns  Juden  von  heute  interessiert  es  kaum,  ob  Jesus 
existiert  hat  oder  nicht.  Wir  stehen  daher  diesen  Forschun- 
gen völlig  unbefangen  gegenüber. 

»)  3.  Aufl.  Jena  1910. 

Monatsschrift,  56.  Jahrgang.  1 


2   Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschalt. 

In    einigen    bündigen,    stilvollen  Sätzen    führt   Drews 
zunächst,    ohne    eine    Begründung   zu  versuchen,    die  alt- 
israelitische  Religion  auf  den  Parsisrnus  zurück.   >Der  alte 
Volksgott   Jahve«    sagt    Drews    (S.   6)   —    »hat  sich  nach 
dem   Vorbilde    des    altpersischen    Ahuramazda    aus    einem 
Feuer-,    Licht-    und  Himmelsgott   zu   einem  Gotte    überir- 
discher   Lauterkeit   und  Heiligkeit    entwickelt.«    Dieses  ist 
schon  darum  unrichtig,  weil  bereits  Propheten  der  vorper- 
sischen  Zeit,   wie  Hosea,  Arnos,  Micha  die  göttliche  Welt- 
macht der  Gerechtigkeit  und  Liebe  verkündet  und  gelehrt 
haben,    daß  Gott   alle  Völker    richte,    und    er    ein  gütiger 
Vater    sei,   der   den  Menschen    nur  mit  blutendem  Herzen 
zu  dessen  eigenem  Wohle    strafe.     Zu  der  erhabenen  Idee 
dieser    Propheten,    daß  Gott    vom  Menschen    keine  Opfer 
verlange,    sondern  vor  allen    Dingen  Gerechtigkeit,    werk- 
tätige Liebe  und  Demut  (Micha  6,  C  -8;  Hos.  6,  6;  Am.  5, 
21—25;    Jer.  7,  21  —  23;  Jes.  1,  11— 17),  hat  sich  die  per- 
sische Religion  niemals  emporringen  können.   Drews  fährt 
aber  fort :    »Es  ist  sicher,  daß  der  alte,  israelitische  Jahve 
erst   unter   dem  Einflüsse    der  Perser   und  ihres  bildlosen 
Gottesdienstes  jenen  vergeistigten  Charakter  angenommen 
hat,    den    man  ihm  heute  nachrühmt«  (p.  7).    Auch  dieses 
widerspricht  völlig  den  Tatsachen.  Die  altpersischen  Quellen 
lehren    vielmehr,    daß   das    bereits    aus  vorpersischer  Zeit 
herrührende  altbiblische  Verbot,  sich  Gott  unter  dem  Bilde 
eines    körperlichen  Wesens    vorzustellen,    oder   die  Natur- 
kräfte   anzubeten,    der   altpersischen  Religion    stets    fremd 
gewesen  ist.  Auf  den  altpersischen  Achämenideninschriften 
sieht    man   vielmehr  die  oberste  Gottheit  Ahuramazda  ab- 
gebildet. Gerade  die  Anbetung  der  Natur  und  der  Elemente, 
die  Vergötterung    der  Gestirne,    des  Feuers,    des  Wassers 
und   der   Erde    sind    die   wesentlichen  Charakterzüge    des 
Ahuramazda-Glaubens.  Drews  entstellt  gänzlich  die  Ahura- 
mazda-Religion. 

Um    von    ihr    Judentum    und    Christentum    ableiten 


Die  Christusmytbe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.   3 

zu  können,  erfindet  er  eine  neue  persische  Religion.  Er 
behauptet,  der  Gott  Mithra  sei  identisch  mit  dem  persi- 
schen Heiland  Saoshyant.  »Mithra  ist  der  Mittler,  Retter 
und  Heiland  der  Welt«  (S.  7).  »Saoshyant  ist  in  der  Phan- 
tasie des  Volkes  unwillkürlich  zu  einem  göttlichen  Wesen 
verklärt  und  mit  der  Gestalt  des  Mithra  in  eins  zusammen- 
geflossen« (S.  9).  Unter  dem  Einfluß  dieser  persischen  An- 
schauung wäre  nach  Drews  »bei  den  biblischen  Propheten 
der  Messias  mehr  und  mehr  in  die  Rolle  eines  Gottkönigs 
eingerückt.«  (S.  9—10).  Dieses  von  Drews  als  feststehende 
Tatsache  Vorgetragene  entspricht  nicht  der  Wahrheit. 

Gemäß  der  altpersischen  Lehre  hat  weder  der  oberste 
Gott  Ahuramazda  noch  irgend  ein  anderer  Gott  mit  der 
Totenerweckung  und  der  Verjüngung  der  Welt  etwas  zu 
tun.  Dieses  ist  allein  das  Werk  des  Saoshyant  und  seiner 
Helfer,  die  aus  15  Männern  und  15  Jungfrauen  bestehen. 
Saoshyant  belohnt  oder  bestraft  dann  die  Menschen  im 
Auftrage  des  Ahuramazda  (Bundahish  c  30).  Dann  wird 
Ahuramazda  mit  seinen  sechs  Erzengeln  den  Satan  Angro- 
mainyu  und  dessen  dämonische  Schar  bekämpfen.  An 
diesem  jüngsten  Gericht  ist  Mithra  überhaupt  nicht  beteiligt. 
Mithra  ist  der  Gott  der  Sonne,  der  Wahrheit,  der  Verträge 
und  der  Beschützer  der  Triften.  Er  und  zwei  andere  Gott- 
heiten S  r  a  o  s  h  a  und  R  a  s  h  n  u  sind  die  Richter  der 
Einzelseele  unmittelbar  nach  ihrem  Tode  (vgl.  Yasht  10 — 12). 
Der  Heiland  Saoshyant  darf  demnach  unter  keinen  Um- 
ständen mit  Mithra  identifiziert  werden.  Saoshyant  wird  im 
altpersischen  Religionsbuch  Avesta,  Yasna  26,  10  aus- 
drücklich als  ein  Mensch  bezeichnet.  Wie  soll  man 
übrigens  Herrn  Drews  ernst  nehmen,  wenn  er  auf  S.  8 
behauptet,  S  r  a  o  s  h  a  wäre  nur  eine  andere  Bezeichnung 
für  Saoshyant?  Gesetzt  dieses  wäre  richtig,  dann 
würde  doch  mit  eiserner  Notwendigkeit  daraus  zu  folgern 
sein,  daß  Mithra  und  Saoshyant-S  r  a  o  s  h  a  zwei  ver- 
schiedene Gestalten  seien,  während  doch  ausdrücklich  an- 

V 


4    Die  Christtumythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

gegeben  wird,  daß  Mithra  und  zwei  andere  Gottheiten, 
Sraosha  und  Rashnu,  die  Richter  der  Unterwelt  sind. 
Ferner  sagt  er  S.  91  ausdrücklich,  daß  der  persische  Messias 
nur  ein  Meschia,  ein  Mensch,  sei,  während  er  ihn  oben 
mit  dem  unsterblichen  Gott  Mithra  identifiziert  hat. 

Seine  weitere  Behauptung,  daß  der  altisraelitische 
Messias  ein  Gottkönig  sei,  ist  nicht  minder  falsch.  Bereits 
die  Propheten  der  vorpersischen  Zeit  stellen  den  König- 
Messias  nur  als  den  weisen  Weltenkönig  aus  dem  Hause 
Davids  hin,  den  Gott  für  das  zukünftige  Gottesreich  be- 
stimmt hat  (vgl.  Schürer :  Geschichte  des  Jüdischen  Vol- 
kes 4.  Aufl.  II,  584  ff).  Eine  treffliche  Charakteristik  über 
das  messianische  Hoffen  des  Judentums  aus  dem  3.  Jahr- 
hundert n.  Chr.  gibt  uns  der  christliche  Verfasser  der  Phi- 
losophumena  IX,  30  :  Seinen  Ursprung,  sagen  die  Juden, 
werde  der  Messias  haben  aus  Davids  Geschlecht,  aber  nicht 
aus  einer  Jungfrau  und  dem  heiligen  Geiste,  sondern  von 
Mann  und  Weib,  wie  es  allen  bestimmt  ist,  aus  Samen 
geboren  zu  werden.  Dieser  werde  König  sein  über  sie,  ein 
kriegerischer  und  mächtiger  Mann,  der  das  ganze  Volk  der 
Juden  versammeln  und  mit  allen  Völkern  Krieg  führen 
und  den  Juden  Jerusalem  als  königliche  Stadt  aufrichten 
werde,  in  welcher  er  das  ganze  Volk  sammeln  und  wieder 
in  den  alten  Zustand  versetzen  werde,  so  daß  es  herrschen, 
den  Opferdienst  verwalten  und  lange  Zeit  in  Ruhe  wohnen 
werde.  Darnach  werde  sich  gegen  sie  insgesamt  Krieg  er- 
heben; und  in  jenem  Kampfe  werde  der  Messias  durchs 
Schwert  fallen.  Nicht  lange  darnach  werde  das  Ende  und 
die  Verbrennung  der  Welt  erfolgen,  und  so  werde  sich  das 
erfüllen,  was  man  inbetreff  der  Auferstehung  glaube,  dann 
werde  einem  jeden  die  Vergeltung  nach  seinen  Werken  zu 
teil  werden.« 

Drews  macht  den  altpersischen  Gott  Mithra  mit  Gewalt 
zum  Typus  der  Gestalt  Christi.  Er  nennt  Mithra  nicht  nur 
den  »göttlichen  Sohn«  (S.  16),  den  »Heiland  und  Retter  der 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A,  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.   5 

Welt«  (S.  16),  sondern  er  macht  ihn  auch  zum  Gott- Vater. 
?Ja,  er  war  im  Grunde  Ahuramazda  selbst,  aus  seiner  über- 
irdischen Lichtigkeit  gleichsam  herausgetreten  und  zu  kon- 
kreter Individualität  verdichtet«  (S.  7).  Von  diesem  ganzen 
Hirngespinst  weiß  die  Ahuramazda-Religion  nichts.  Der 
Gott  Mithra  kommt  bereits  im  Rigveda  der  alten  Inder 
vor  und  ist  daher  der  arischen  Urzeit  angehörig  und  be- 
deutend älter  als  der  spezifisch  altpersische  Gott  Ahura- 
mazda. Ursprünglich  scheint  er  überhaupt  von  der  Ahura- 
mazda-Religion ausgeschlossen  worden  zu  sein,  denn  in 
den  ältesten  Partien  des  Avesta  wird  Mithra  noch  nicht 
erwähnt,  ebenso  wenig  wird  er  in  den  ältesten  Achäme- 
nideninschriften  genannt.  Da  aber  von  der  arischen  Urzeit 
her  der  Glaube  an  Mithra  im  Volke  weiter  lebte,  scheint 
er  nachträglich  erst  in  die  altpersische  Religion  aufge- 
nommen zu  sein.  Bereits  in  einem  assyrischen  Text,  der 
aus  der  Zeit  vor  der  Zerstörung  Ninives  stammt,  wird  als 
nichtassyrischer  Name  für  den  Sonnengott  der  Mithra  er- 
wähnt (vgl.  Western:  Asia  Inscriptions  III,  S.  69,  Nr.  5,  63). 
Ebenso  wie  alle  übrigen  guten  Götter  ist  auch  Mithra  in 
der  altpersischen  Religion  ein  Geschöpf  des  höchsten  Gottes 
Ahuramazda  (vgl.  Yasht  19,  35,  98).  Die  Ahuramazda- 
Religion  hat  den  Mithra  weder  in  der  vorchristlichen 
Zeit  noch  in  der  nachchristlichen  Sassaniden-Periode  zum 
»Heiland  und  Retter  der  Welt«  werden  lassen.  Wohl  könnte 
dieses  in  den  Mithramysterien  der  spätrömischen  Kaiser- 
zeit, die  neben  persischen  Elementen  auch  viele  fremde 
Ideen  aufgenommen  hat,  der  Fall  gewesen  sein;  denn  diese 
nachchristlichen  Mithramysterien  haben,  ebenso  wie  der 
zur  gleichen  Zeit  auftretende  Isis-,  Serapis-,  oder  Saba- 
zioskult,  einen  wohl  vom  Einfluß  der  jüdischen  Religion 
herrührenden  monotheistischen  Zug  angenommen.  Es  bricht 
sich  in  diesen  Mysterien  die  Anschauung  Bahn,  daß  die 
höchste  Gottheit,  mag  sie  Mithras,  Isis,  Serapis  oder  Sabazios 
heißen,  das  einzig  göttliche  Wesen  sei,  das  aber  auch  unter 


6    Die  Christustnythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

verschiedenen  Formen  auftritt.  Diese  nachchristlichen 
Mysterien  sind  mehr  oder  weniger  vom  Judentum  beein- 
flußt. Dem  Parsismus,  mit  dem  allein  das  Judentum  in 
nähere  Beziehung  getreten  ist,  ist  die  Auffassung,  daß  der 
Gott  Mithra  beim  Jüngsten  Gerichte  als  Heiland  (S  a  o  s  h- 
y  a  n  t)  auftrete,  vollständig  fremd. 

Herr  Drews  aber  versteigt  sich  sogar  zu  der  Behaup- 
tung, daß  »nach  persischem  Glauben  Mithra  der  leidende 
Erlöser  und  Mittler  zwischen  Gott  und  Welt«  wäre  (Drews 
S.  45).  Er  sagt:  (S.  93)  »Aber  auch  Mithra  opfert  sich  für 
die  Menschheit,  denn  der  Stier,  dessen  Tötung  durch  den 
Gott  im  Mittelpunkt  aller  kultischen  Darstellungen  des 
Mithra  steht,  ist  ursprünglich  kein  anderer  als  Mithra  selbst.« 
Dieses  sein  eigenes  Phantasiestück  stützt  sich  weder  au' 
die  religiösen  Schriften  der  alten  Perser  noch  auf  die  nach- 
christliche Pehlevi-Literatur  der  Sassaniden,  in  denen  die 
Zarathustra-Religion  weiter  ausgebildet  ist,  Ein  mittelper- 
siches  Werk  aus  der  Sassanidenzeit  berichtet  nur,  daß  der 
Messias  Saoshyant,  unterstützt  von  seinen  Assistenten, 
am  Ende  der  Zeiten  den  himmlischen  Stier  Hadayosh, 
mit  dem  die  ersten  Menschen  ursprünglich  von  einer  Gegend 
zur  andern  reisten,  schlachten  werde.  Aus  dem  Fett  dieses 
Stieres  wird  er  dann  den  Unsterblichkeitstrank  herstellen, 
den  er  hierauf  allen  Frommen  verabreichen  wird  (s.  Bun- 
dahish  19, 13;  30,  25).  Auch  in  dem  nachchristlichen  Mithras- 
kult  spielt  dieser  Unsterblichkeitstrank,  der  aus  dem  Fette 
des  himmlischen  Stieres  gewonnen  wird,  eine  große  Rolle 
(vgl.  A.  Dieterich:  Bonner  Jahrh.  1902  S.  32).  Das  altper- 
sische Religionsbuch  Avesta  aber  kennt  diese  Vorstellung 
überhaupt  noch  nicht.  Dort  wird  nur  ein  himmlischer  Stie;- 
genannt,  welcher  der  Anwalt  der  irdischen  Rinder  ist.  So 
oft  die  irdischen  Rinder  von  den  Menschen  mißhandelt 
werden,  fleht  er  die  Hilfe  Ahuramazdas  an  (Yasna  29; 
Bundahish  c  4). 

Man     überblicke     nun    nochmals    die    Behauptungen 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft   7 

unseres  Mannes  der  Wissenschaft.  Nach  ihm  soll  zunächst 
der  Heiland  Saoshyant  kein  anderer  sein  als  der  Gott 
Mithra  selbst  und  zugleich  der  himmlische  Stier.  Wie  kann 
dieses  nur  möglich  sein,  da  doch  der  Messias  den  Stier 
schlachtet?  Um  diesen  Gott  Mithra  dann  mit  den  Christus- 
Erzählungen  in  völlige  Übereinstimmung  zu  bringen,  läßt 
Drews  den  Mithra  von  einer  jungfräulichen  Mutter  M  i  h  r 
abstammen.  Er  sagt  (S.  78):  »Bei  den  Persern  erscheint  die 
jungfräuliche  Mutter  M  i  t  h  r  a  s  unter  dem  Namen  M  i  h  r, 
was  ebensowohl  »Himmel«  wie  »Liebe«  bedeutet«  Allein 
diese  Aufstellung  ist  ganz  unmöglich,  denn  M  i  h  r  ist  die 
regelrechte  mittelpersische  und  neupersische  Lautentwick- 
lung des  altpersischen  Wortes  Mithra.  Demnach  verhält 
sich  Mihr  zu  Mithra  wie  neuenglisch  b  r  a  i  n  zu  alt- 
englisch: brcegen.  Mihr  ist  lautlich  wenigstens  über 
600  Jahre  jünger  als  altpersisch  Mithra  und  bedeutet  zunächst 
ebenso  wie  das  altpersische  Wort  »Freundschaft,  Gott  Büihra« 
ferner  »Liebe,  Sonne«  (aber  niemals  »Himmel«).  Daß  aber 
der  männliche  Mihr  gleichzeitig  die  jungfräuliche  Mutter 
seiner  eigenen  Person  sei  und  er  außerdem  wenigstens 
600  Jahre  älter  als  seine  Mutter  sei,  ist  nichts  anderes  als 
eine  bloße  Erfindung  des  Herrn  Professor  Drews. 

Nicht  Mithra,  sondern  der  Messias  wird  vielmehr  nach 
dem  Parsismus  von  einer  Jungfrau  geboren,  die  sich  in 
einem  See  badet,  in  welchem  etwas  vom  Samen  des  Za- 
rathustra  aufbewahrt  ist  (vgl.  Grdr.  d.  Iran.  Phil.  II,  p.  586; 
Epistles  of  Manu§£ihar  II,  3,  3;  Dad  i-Dinik  2,  10;  4S,  80). 

Gerade  die  aus  dem  Parsismus  hevorgegangenen 
Mithramysterien  sind  erst  gegen  Ende  des  ersten  Jahr- 
hunderts n.  Chr.  zu  den  Römern  gelangt.  Sie  sind  nicht 
direkt  von  Persien  nach  Europa  eingedrungen,  sondern  über 
Mesopotamien  und  Kleinasien,  so  daß  sie  nicht  nur  baby- 
lonische und  syrische  Anschauungen  in  sich  aufgenommen 
haben,  sondern  auch  entsprechend  den  übrigen  spätorien- 
talischen Kulten  sich  nicht  dem  monotheistischen  Einflüsse 


8   Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

des  Judentums  entziehen  konnten1).  Der  dem  syrischen  Kulte 
eigentümliche  Glaube,  daß  der  Sonnengott  die  frommen 
Seelen  zum  Himmel  führe  (vgl.  F.  Cumont:  Die  oriental 
Religion,  Leipzig  1910,  S.  292),  ist  auch  von  den  Mithra- 
mysterien  übernommen,  so  daß  Mithra  einerseits  zum 
psychopompen  Gott  wurde,  andererseits  mit  dem  Heiland 
identifiziert  wurde8),  der  am  Ende  der  Zeiten  alle  Menschen 
auferwecken  und  den  Frommen  den  wunderbaren  Trank 
der  Unsterblichkeit  reichen  wird.  Die  Idee  des  leidenden 
Messias  hat  das  Christentum  aus  dem  Judentum  genommen. 
Nach  Talmud  Sukka  52a  wird  vor  dem  Auftreten  des  Mes- 
sias ben  David  ein  Vorläufer  erscheinen,  nämlich 
Messias  ben  Josef,  der  im  Kampfe  gegen  die  Bösen 
fallen  wird.  Diese  Anschauung  hat  ihren  Ursprung  in  Jes. 
53,  2 — 10,  wo  von  einem  leidenden  und  sterbenden  Heiland 
die  Rede  ist.  »Nur  unsere  Leiden  trug  er,  und  unsere 
Schmerzen  lud  er  sich  auf .  . .  Strafe  traf  ihn  zu  unserem 
Heile,  und  durch  seine  Wunden  sind  wir  genesen«  (vgl. 
auch  Sanhedrin  98  b).  Darum  erscheint  auch  Jesus  als  Sohn 
des  Josef.  Gerade  zur  Zeit  des  Herodes  war  eine  sehn- 
suchtsvolle Erwartung  nach  dem  Messias  eingetreten.  Manche 
wollten  sogar  Johannes  den  Täufer  für  den  Messias  an- 
sehen (vgl.  Lucas  3,  15). 

Talmudische  Quellen  aus  dem  Jahre  100  n.  Chr. 
bezeichnen  Jesus  als  den  Sohn  des  Pantera  (bezw. 
Pandera)  aus  Nazareth.  Zur  Zeit  des  Rabbi  Akiba  und 
Ismael  wird  ein  Jünger  Jesu  erwähnt,  der  im  Namen  des 
JeSü'a  ben  Pantera  zu  heilen  pflegte  (vgl.  H.  L.  Strack, 
Jesus  nach  den  ältesten  jüdischen  Angaben,  1910,  S.  21  u. 
23  f.).  Auch  der  Kirchenvater  Origenes  (um  200  n.  Chr.) 
bestätigt,  daß  die  Juden    Jesus  für  den  Sohn  des  riavrr(px 


')  Siehe  hierüber  meine  Abhandlung  im  Arch.  f.  Religionswiss. 
HM,  Heft  3,  Abschnitt  8. 

»)  Vgl.  F.  Cumont,  Les  mysteres  de  Mithra  I  (Paris  1894;,. 
p.  310. 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drcws  im  Lichte  d.  Wissenschaft.     9 

halten  (Strack  ebenda  S.  9).  Dieses  scheint  der  ursprüng- 
liche Name  des  Vaters  des  historischen  Jesus  gewesen  zu 
sein.  Dieser  Personenname  kommt  in  griechischen  Inschriften 
häufig  vor  (vgl.  Deißmann,  Oriental.  Studien  für  Th.  Nöldeke 
1VJ06,  p.  873  f.).  Von  seinen  Jüngern  ist  wohl  Jesus  zunächst 
als  der  leidende  jüdische  Messias,  also  als  Messias  ben 
Josef  aufgefaßt  worden.  Demgemäß  hat  sein  Vater  von 
nun  ab  notwendigerweise  Josef  heißen  müssen.  Die  ältere 
Lesart  von  Matth.  1,  16,  wie  sie  die  syrischen  Handschriften 
bieten,  lautet  daher  »Josef,  dem  die  Jungfrau  Maria  verlobt 
war,  zeugte  Jesum,  welcher  Messias  genannt  wird  (vgl,  P. 
W.  Schmiedel  in  Protest,  Monatshefte  VI,  3,  S.  86).  Da  Josef 
als  der  Vater  Jesu  hingestellt  wurde,  hat  man  nun  zum 
Beweise  seiner  vornehmen  Abstammung  ein  langes  Ge- 
schlechtsregister für  Josef  aufgestellt  (Matth.  1,  1—16; 
Luk.  3,  23—38).  Wäre  Jesus  gleich  von  vornherein  als 
Messias  ben  David  aufgefaßt  worden,  so  hätte  die  älteste 
Überlieferung  nicht  Nazareth  (z.  B.  Luc.  1,  26;  2,  4),  sondern 
Bethlehem  als  seine  Geburtsstätte  erwähnt. 

Durch  Einfluß  der  im  römischen  Reiche  weit  ver- 
breiteten orientalischen  Mysterien  ist  dieser  leidende  und 
sterbende  Messias  im  Christentum  zu  einer  leidenden,  ster- 
benden und  wiederauferstehenden  Gottheit  geworden.  In 
manchen  orientalischen  Kulten,  die  gerade  bei  Beginn  der 
christlichen  Zeitrechnungin  Rom  einen  gewaltigen  Aufschwung 
genommen  haben,  leiden  und  sterben  die  Götter  wie  O  s  i ri  s, 
Attis,  Adonis  und  werden  von  einer  Göttin  beweint, 
von  Isis,  bezw.  Cybele  oder  Astarte.  Ebenso  wie  diesfr 
betrauern  auch  die  Mysten  in  ihren  Trauergottesdiensten 
den  dahingeschiedenen  Gott.  Aber  die  Gottheiten  stehen 
nachher  wieder  auf  und  mit  Jubel  wird  ihre  Wiederaufer- 
stehung von  den  Mysten,  die  deren  leidenvollen  Tod  und 
Wiederauferstehung  in  ihrer  Phantasie  durchzuleben  ver- 
suchen, gefeiert  (vgl.  Hepding,  Attis,  Gießen  1903,  S.  166  u. 
197).     In  einem  heiligen  Gebete  des  Attis-Kultus  heißt  es: 


10  Die  Christustnythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

»Fasset  Vertrauen,  ihr  Gläubigen,  denn  der  Gott  ist  gerettet; 
und  auch  für  uns  wird  aus  unseren  Mühsalen  Erlösung 
hervorsprießen«  (Hepding,  Attis,  S.  167)1).  Gerade  der  Attis- 
Kult  hatte  manche  Ähnlichkeiten  mit  christlichen  Bräuchen, 
was  schon  die  alten  Kirchenväter  bemerkten. 

Die  Magna  mater,  die  große  Mutter,  die  im 
Attis-Kult  die  Mutter  aller  Götter  ist,  verglich  man  mit  der 
Mutter  Gottes.  Auch  deren  Sohn  und  Geliebter  wird  nach 
seinem  Tode  wiederauferweckt.  Ein  christlicher  Autor,  der 
gegen  375  n.  Chr.  in  Rom  lebte,  bemerkt  hierzu:  »Am  24. 
März,  dem  Dies  sanguinis,  beging  man,  wie  wir  gesehen 
haben,  eine  Trauerfeier,  bei  welcher  die  Gallen  (die  Priester 
des  Attis-Kultes)  ihr  Blut  verspritzten  und  bisweilen  sich 
verstümmelten  zum  Gedächtnis  an  die  Verwundung,  welche 
den  Tod  des  Attis  verursacht  hatte,  und  man  schrieb  dem 
auf  solche  Weise  vergossenen  Blute  eine  versöhnende  und 
erlösende  Kraft  zu.  Die  Heiden  behaupteten  infolgedessen, 
daß  die  Kirche  ihre  heiligsten  Riten  nachgeahmt  hätte, 
indem  sie,  wie  jene,  aber  nach  ihnen,  um  die  Zeit  des 
Frühlingsaquinoktiums  ihre  Charwoche  feierte,  zur  Erinne- 
rung an  das  Opfer  am  Kreuz,    bei    welchem    das  Blut  des 


>)  Das  Urchristentum,  das,  wie  wir  am  Schlüsse  ausführen 
werden,  an  die  allgemeinen  Vorstellungen  der  heidnisch-römischen 
Zeit  angeknüpft  hat,  hat  sie  nur  christlich  umgedeutet.  Auch  dtr 
Christ  ist  bestrebt,  den  göttlichen  Christus  »zu  erkennen  und  die  Kraft 
seiner  Auferstehung  und  die  Gemeinschaft  seiner  Leiden,  daß  er  seinem 
Tode  ähnlich  werdec  (Philipper  3,  10).  Der  Christ  ist  »mit  Christo 
gekreuzigt«  (Gal.  2,  19)  und  »mit  Christo«  auferstanden«  (Kol.  3,  1). 
Das  Christentum  scheint  gerade  aus  dem  Attiskult  manche  Ideen  ent- 
lehnt zu  haben.  Attis  ist  »der  Erstling  derer,  die  sterben  und  wieder- 
auferstehen zu  einem  neuen  Loben«  (Hepding,  Attis,  S.  197).  Auch 
im  N.  T.  heißt  Christus  »der  Anfang  und  der  Erstgeborene  von  deu 
Toten«  und  »der  erste  aus  der  Auferstehung  von  den  Toten«,  er  ist 
»der  Erstling«  (I  Kor.  15,  20.  23;  Rom.  8,  29;  Kol.  1,  18;  Apostelg. 
26,  23;  Offenb.  1,  5).  Auf  der  Ähnlichkeit  der  C»3terfeier  der  griechi- 
schen Kirche  mit  dem  Attiskult  macht  Hepding,  S.  167,  Anm.  3  auf- 
merksam. 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.  11 

Lammes  Gottes  ihrer  Angabe  nach  die  Menschheit  erlöst 
habe«.  St.  Augustinus,  der  sich  über  diese  gotteslästerliche 
Äußerung  entrüstet,  erzählt,  daß  er  einen  solchen  Kybele- 
Priester  gekannt  habe,  der  dabei  blieb:  Et  ipse  Pileatus 
christianus  est'  »der  Gott  in  der  phrygischen  Mütze 
(d.  i.  Attis)  ist  ebenfalls  ein  Christ«  (F.  Cumont:  D.  oriental. 
Religionen,  Leipzig  1910,  p.  85).  Der  christliche  Messias  steht 
demnach  in  keiner  Beziehung  zu  Mithra. 

Von  manchen  anderen  groben  Fehlern  wimmelt  Drews' 
Buch.  So  sieht  er  auch  im  Perserkönig  Cyrus  den  Sonnengott 
Mithra.  Denn  nach  ihm  ist  »Cyrus  (gr.  Kyros)  im  persischen 
der  Name  der  Sonne,  Khoro,  und  Kyris  oder  Kiris  ist 
der  Name  des  Adonis  auf  Cypern ;  daraus  geht  hervor, 
daß  die  Geschichte  der  Geburt  des  Cyrus  durch  eine  Über- 
tragung aus  dem  Mythenkreise  des  Sonnengottes  auf  den 
König  Cyrus  zustandegekommen  ist«  (Drews  S.  53).  Ein 
wahrhafter  Rattenkönig  von  Konfusion.  Zunächst  heißt  der 
Perserkönig  in  den  Achämenideninschriften  Kurush  und 
wird  von  mehreren  Gelehrten  als  ein  arischer  Eigenname 
angesehen,  der  auch  im  altindischen  Epos  belegt  ist  (s. 
Bezzenbergers  Beitr.  z.  Kunde  d.  indogerm.  Sprachen  25, 
312  Windischmann:  Zendstudien  S.  137).  Diesen  altper- 
sischen Namen  will  nun  Drews  von  einem  persischen 
Wort  khoro  »Sonne«  ableiten.  Nur  schade,  daß  dieses  Wort 
im  Persischen  gar  nicht  existiert.  Meint  er  vielleicht  das 
altpersische  Wort  huwar  =  altindisch  s  u  v  a  r  Sonne, 
dessen  neupersische  Form  chvar  und  chur  ist?  Da  die 
Lautentwicklung  der  neupersischen  Formen  erst  in  nach- 
christlicher Zeit  stattfand,  so  kann  man  sie  doch  unmöglich 
zur  etymologischen  Erklärung  eines  altpersischen  Namens 
verwenden.  Das  arische  Wort  suvar  ,Sonne'  =  ap. 
huvar  kann  ebenfalls  nicht  zur  etymologischen  Erklärung 
des  k  in  Kurush  herangezogen  werden,  da  der  altper- 
sische Laut  niemals  zu  k  hätte  werden  können.  Ferner 
darf  Drews    unmöglich    altpersisch    Kurush  mit  Kiris, 


12   Die  Cbristusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

dem  Namen  des  Adonis  auf  Cypern,  zusammenbringen,  da 
einerseits  der  Adoniskult  aus  Phönizien  stammt,  andererseits 
Cypern  eine  ursprünglich  phönizische  Kolonie  ist,  so  daß 
Kiris  sicherlich  ein  semitisches  Wort  ist,  während  Kurush 
ein  indogermanischer  Name  ist.  Die  historische,  verglei- 
chende indogermanische  Sprachwissenschaft  existiert  aber 
nun  einmal  für  Drews  nicht.  Durch  diese  bekanntlich  etwa 
vor  70  Jahren  von  Bopp  begründete  Wissenschaft  will  sich 
seine  ungebundene  Phantasie  keineswegs  in  Fesseln  schla- 
gen lassen. 

Hier  noch  ein  kleines  Beispiel  seiner  zügellosen 
Kombinationsgabe :  »An  den  Namen  des  verjüngten  und 
wiederauferstandenen  Mithra,  an  Saoshyant  oder 
Sosiosch  erinnert  griech.  S  a  o  s,  der  Sohn  des  Zeus 
oder  des  Heilgottes  Hermes.  Sein  Name  kennzeichnet  ihn 
als  den  Opferer  (Sanskrit:  Sa  van  a  >Opfer«),  und  er 
erscheint  umsomehr  als  eine  abendländische  Form  des 
Opfergottes  und  Somabereiters  Agni,  als  auch  Dionysos 
den  Beinamen  S  a  o  s  oder  S  a  o  t  e  s  führte,  als  Spender 
des  Weines  sein  Blut  für  das  Heil  der  Welt  vergossen 
habe«  (Drews  S.  97).  Zunächst  ist  die  Form  Sosiosch 
eine  willkürliche  Erfindung;  dagegen  ist  altpersisch  Saosh- 
yant vom  altpersischen  Verb,  sav'  nutzen,  fördern, 
abgeleitet  und  ist  mit  sanskrit  c,  u  n  a  , Gedeihen'  urver- 
wandt. Nun  lehrt  die  vergleichende  historische  Sprach- 
wissenschaft, daß  altpersisch  s  (==  skr  $)  auf  ein  indo- 
germanisches k  zurückgeht,  das  in  der  griechischen  Sprach- 
geschichte stets  als  k  auftritt.  Folglich  kann  altpersisch 
Saoshyant  unmöglich  mit  gr.  S  a  o  s  zusammenhängen. 
Dieser  griechische  Name  Saos  darf  aber  auch  nicht  mit 
sanskrit  Sa  van  a  ,Soma-Libation' zusammengestellt  werden, 
da  skr.  s  =  indogermanisch  s  ist,  was  im  Griechischen 
vor  einem  Vokal  zu  einem  Hauchlaut  (Spiritus)  geworden 
ist.  Derartige  willkürliche  Zusammenstellungen  erinnern 
mich   lebhaft   an   meine  Gymnasialzeit,    wo    ich    als  Ober- 


Die  Christnsmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.  13 

sekündaner  englisch  brain  für  urverwandt  mit  griechisch 
f  r  6  n  («pp^v)  .Verstand*  hielt.  Solche  Wortspielerei  ent- 
hüllt sich  auch  in  folgendem  Satze,  den  wir  S.  91  lesen: 
Ȇbrigens  bedeutet  der  Ausdruck  Messias  in  gewissem 
Sinne  nur  einfach  ,der  Mensch';  dem  hebräischen  M  e- 
schiach  nämlich  entsprechen  die  Namen  Meschia  und 
Meschiane  [1]  wie  in  der  Mazda-Religion  die  ersten 
Sterblichen,  die  Ureltern  der  gefallenen  Menschheit  hießen, 
die  nun  ihrer  Wiedererhöhung  durch  einen  andern  Meschia 
, Menschen'  entgegenharrte.  Auch  den  Juden  war  diese  Be- 
deutung des  Wortes  Messias  nicht  fremd,  wenn  sie  den 
letzteren  als  den  neuen  Adam  in  die  Mitte  der  Zeiten 
stellten.  Denn  Adam  heißt  gleichfalls  soviel  wie  Mensch; 
der  Messias  als  der  neue  Adam  war  demnach  auch  für 
sie  nur  eine  Erneuerung  des  Urmenschen  in  erhöhter  und 
verbesserter  Gestalt«.  Alles  das  ist  natürlich  grundfalsch. 
In  dem  altpersischen  Religionswerk  A  v  e  s  t  a  wird 
der  Urmensch,  von  dem  die  ganze  Menschheit  abstammt, 
Gäyomareta  genannt,  dagegen  wird  der  Messias 
Saoshyant  als  der  »letzte  Mensch«  angesehen  (s.  Yasna 
26,  10;  Bundahish  24,  1;  3,  19  ff;  30,  7;  31,  1;  15).  Diese 
persische  Anschauung  ist  auch  in  die  jüdische  Kabbalistik 
eingedrungen.  Nachdem  Sohar  wird  der  Messias  die  letzte 
der  Seelen  sefn,  die  Gott  in  das  Körperleben  eingehen  läßt 
(vgl.  Graetz,  Gesch.  d,  Juden  VII8,  Leipzig  1894,  S.  68).  Zuerst 
erwähnen  die  frühestens  im  5.  Jhdt.  n.  Chr.  entstandenen, 
Parsi-Werke  der  Sassanidenzeit,  daß  das  aus  dem  Namen 
des  Gayomareta  hervorgegangene  Menschenpaar  Mataro 
und  Mätaroyäo  bezw.  Maharth  und  Mahartyäoyih 
hieß  (vgl.  Bundahish  15,  2;  E.  W.  West:  Pahlavi-Texts  P. 
1.  Oxford  1880  S.  53  Anm.)  Das  etwa  aus  dem  5.  Jhrh. 
stammende  Parsi-Werk:  Bundehish  (c  15,  6)  nennt  dieses 
Menschenpaar  auch  M  ä  s  h  y  a  und  M  ä  s  h  y  ö  f.  Da  aber 
Gäyomareta  der  erste  Mensch  ist,  so  wird  auch  der 
Heiland   Saoshyant  bei  der  Wiederauferstehung  zuerst 


14   Die  Chrislasmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft, 

diesen  ins  Leben  zurückrufen  (Bundahish  30,  7).  Übrigens 
wird  weder  im  Alten  Testament  noch  in  der  spezifisch 
jüdischen  Literatur  der  Messias  als  der  »neue  Adam« 
angesehen.  Hier  gibt  wenigstens  Drews  zu,  daß  der  per- 
sische Messias  ein  Mensch  sei  und  nicht  der  Gott  Mithra 
und  steht  somit  im  Widerspruch  zu  seinen  eigenen  obigen 
Behauptungen. 

Ferner  sollen  nach  Drews  (S.  11)  die  Juden  »die  Vor- 
stellungen einer  Auferstehung  der  Toten  und  eines  Jüngsten 
Gerichts«  natürlich  aus  dem  Parsismus  übernommen  haben. 
Allein  Edwin  Albert  hat  kürzlich  in  einer  sehr  gelehrten 
Arbeit:  »Die  israelitisch-jüdische  Auferstehungshoffnung« 
(Königsberg  1910)  nachgewiesen,  daß  der  israelitische  Aufer- 
stehungsglaube durchaus  als  auf  selbständiger  Entwicklung 
beruhend  angesehen  werden  muß  und  nichts  vom  Parsismus 
entlehnt  hat.  Die  weitere  Behauptung,  daß  die  Satansvor- 
stellung des  Alten  Testaments  ebenfalls  von  den  Persern 
stamme,  habe  ich  bereits  in  meinem  Werke:  Arisches  im 
Alten  Testament  II,  51—53  (Berlin  1903)  widerlegt. 

Um  so  unbegreiflicher  ist  es,  wie  er  in  seinem  Vor- 
wort zur  3.  Aufl.  sagen  kann:  »Ich  blicke  auch  den  ferneren 
Angriffen  der  Gegner  mit  völliger  Gemütsruhe  entgegen  im 
Vertrauen  darauf,  daß  eine  Arbeit,  wie  die  meinige,  die 
aus  ernsten  Beweggründen  entsprungen  und  mit  entsagungs- 
voller Hintanstellung  persönlicher  Vorteile  durchgeführt  ist, 
nicht  verloren,  sondern  dem  geistigen  Fortschritte  der 
Menschheit  nur  dienlich  sein  kann.«  Spricht  so  ein  Vertreter 
ernster  Wissenschaft,  der  in  seinem  Werke  nicht  einmal 
die  elementarsten  Grundsätze  wahrer  Wissenschaft  be- 
achtet hat? 

Nun  nur  noch  ein  Wort  über  die  Art  und  Weise,  wie 
Herr  Drews  das  aus  indischen  Religionsquellen  stammende 
Material  verwertet  hat.  In  den  letzten  Jahrzehnten  haben 
mehrere  Indologen  auf  viele  buddhistische  Legenden  hin- 
gewiesen, die  manche  Ähnlichkeiten  haben  mit  christlichen 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.  15 

Erzählungen  und  haben  ohne  weiteres  angenommen,  daß 
nur  Indien  die  Urquelle  für  solche  christliche  Erzählungen 
sein  könnte.  Allein  der  Leipziger  Indologe  Professor  Win- 
disch, der  im  Schlußkapitel  seines  vor  drei  Jahren  erschie- 
nenen Werkes  >Buddhas  Geburt«1)  die  zahlreichen  Über- 
einstimmungen der  buddhistischen  Erzählungen  mit  den 
christlichen  behandelt,  gelangt  zu  dem  Resultate,  daß  hier 
keine  Entlehnungen  stattgefunden  haben,  sondern  die  Ähn- 
lichkeiten zwischen  manchen  christlichen  und  buddhisti- 
schen Berichten  nur  als  Parallelen  im  eigentlichen  Sinne 
des  Wortes,  als  »Linien,  die  sich  nicht  berühren  und  nicht 
schneiden«,  aufzufassen  sind.  Drews,  der  nun  in  seinem 
Werke  das  von  den  lndologen  aufgehäufte  Material  wieder- 
gibt, behauptet,  ohne  die  obenerwähnte  gelehrte  Arbeit 
Windischs  zu  kennen,  daß  Indien  die  Urheimat  der  christ- 
lichen Erzählungen  sei.  Aber  er  begnügt  sich  nicht  mit  dem 
zuverlässigen,  sekundären  Material,  das  er  bei  den  Indo- 
'ogen  gefunden  hat,  sondern  erfindet  hiezu  noch  eigene 
beweiskräftige  Stücke. 

Der  indische  Gott  Püshan,  der  Beschützer  der  Pfade 
und  Herden,  wird  ohne  weiteres  mit  dem  Gotte  des  Feuers, 
Agni,  identifiziert  »Püshan  ist  nur  eine  Form  des  Agni« 
(S.  99).  Püshan  verhält  sich  aber  zu  Agni  wie  in  der  grie- 
chischen Mythologie  Pan  zu  Hephaistos.  Ich  muß  annehmen, 
daß  auch  hier  Drews  nur  aus  Unkenntnis  des  Materials 
zu  seiner  wunderlichen  Behauptung  gelangt  ist.  Denn 
Püshan  führt  häufig  den  Beinamen  Aghrni,  was  er 
wohl  entgegen  den  Lautgesetzen  mit  dem  Namen  Agni  in 
Beziehung  gebracht  zu  haben  scheint.  Nach  seiner  Meinung 
ist  neben  dem  persischen  Mithra  der  indische  Gott  Agni 
mit  dem  »Christusmythus«  verflochten.  Und  zwar  wird  der 
Agni  zu  diesem  Zwecke  gewaltsam  zurechtgestutzt.  Eigen- 
schaften, die  eigentlich  andern  Göttern  eigentümlich  sind, 
werden  ohne  weiteres  dem  Agni  zugesprochen.    So  nimmt 

J)  s=  Abhandlungen  d.  Sachs.  Qesellsch.    d.  Wissensch.   26,   IL 


16  Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

nach  den  indischen  Schriften  Vishnu  als  rettender  Gott 
zuweilen  die  Gestalt  eines  Fisches  an1),  ebenso  wie  Apollo 
den  in  Gefahr  schwebenden  Seefahrern  oft  in  der  Gestalt 
eines  Delphins  Hilfe  bringt.  Agni  dagegen  erscheint  niemals 
in  Fischgestalt.  Allein  Drews  behauptet :  »Auch  der  Fisch 
kommt  bereits  im  indischen  Feuerkultus  vor  und  scheint 
hier  ursprünglich  den  im  Wolkenwasser  schwimmenden 
Agni  zu  repräsentieren«  (S.  100).  Daß  übrigens  das  christ- 
liche Fischsymbol  nicht  aus  Indien  stammt,  hat  sehr  ein- 
gehend H.  Dölger  in  der  Römischen  Quartalschrift  1909 
bewiesen.  Es  stammt  wie  ich  es  in  einer  Arbeit  ausführ- 
lich dargelegt  habe,  aus  dem  Judentum.2)  Da  ich  in  meiner 
Abhandlung  das  gesamte  Material  über  das  Fischsymbol 
aus  den  jüdischen  Quellen  zusammengestellt  habe,  so  ver- 
mag ich  folgenden  Satz  von  Drews  einfach  als  ein  Phan- 
tasiegebilde zu  bezeichnen  :  »Die  Rabbiner  nannten  den 
Messias  Sohn  Ben  Josef  Dag,  Dagon  »den  Fisch«  und 
ließen  ihn  aus  dem  Fische  geboren  werden,  weshalb  die 
Juden  am  Versöhnungsfeste  noch  lange  einen  Fisch  zu 
schlachten  pflegen«  (S.  100).  Dieses  ist  vollständig  erfun- 
den. Ich  möchte  wissen,  in  welcher  primären  Quelle  Herr 
Drews  dieses  Ungetüm  gefangen  hat. 

Den  Agni  sucht  Drews  dann  weiter  gewaltsam  zum 
Urtypus  des  christlichen  Messias  zu  machen;  deshalb  er- 
findet er,  daß  Agni  bei  seiner  Geburt  getauft  worden  sei. 
Die  christliche  Taufe  geht  aber  weder  auf  Indien  noch  auf 
Persien  zurück,  sondern  hat  sich  aus  der  urjüdischen  Sitte 
entwickelt,  daß  ein  Heide,  der  in  die  jüdische  Gemeinschaft 
aufgenommen  werden  wollte,  ein  Tauchbad  im  fließenden 
Wasser  nehmen  mußte  (vgl.  Schürer:  Gesch.  d.  jüd.  Volkes, 
4.  Aufl.  III,  182  ff.).  Auf  altrömischen  Katakombenbildern  des 

')  Vgl.  Pischel:  Sitzungsberichte  d.  Preuß.  Akad.  d.  Wissensch. 
1905  S.  506«. 

*)  Meine  Arbeit  erscheint  Heft  1  bis  3  des  Archiv  für  Re- 
ligionswissenschaft 1911. 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.  17 

2.  Jahrhunderts  n.  Chr.  sieht  man  zuweilen  zum  Zeichen 
dafür,  daß  der  dahingeschiedene  Römer  der  judenchristlichen 
Gemeinde  angehört  habe,  bildlich  dargestellt,  wie  der  ehe- 
malige Heide  das  nach  jüdischem  Gesetze  vorgeschriebene 
Tauchbad  in  einem  Quellwasser  genommen  hat  (vgl.  A.  de 
Waal:  Roma  sacra,  München  1905,  S.  65  f.). 

Nur  noch  ein  charakteristisches  Beispiel  für  die  Trug- 
wissenschaft, hinter  der  sich  Unwissenheit  und  Methode- 
losigkeit  birgt,  will  ich  den  Lesern  anführen.  Drews  (S.  82) 
behauptet:  Ebenso  wie  der  jüdische  Messias,  Maschiach,  ein 
Gottesgesalbter  sei,  so  wäre  auch  der  Gott  Agni  bei  seiner 
Geburt  »gesalbt«  worden.  »Im  Hebräischen«  —  sagt  Drews 
S.  92  —  heißt  »Messias,  der  Gesalbte«,  aber  auch  Agni  führt 
als  Opfergott  den  Namen  »der  Gesalbte«,  akta;  ja  es 
scheint,  als  ob  Christus  als  Übersetzung  von  Messias 
mit  Agni  in  Beziehung  steht,  denn  der  Gott,  der  bei  seiner 
Geburt  mit  Milch  oder  dem  heiligen  Somatranke  und  Opfer- 
butter übergössen  wird,  führt  den  Kultbeinamen  Hari; 
dieses  Wort  bezeichnet  ursprünglich  den  durch  Salbung  mit 
Fett  und  Öl  hervorgebrachten  Lichtglanz»  Es  klingt  in  dem 
griechischen  Charis,  einem  Beinamen  der  Aphrodite,  an 
und  ist  in  dem  Verbum  chrio  »salben«  enthalten,  von 
welchem  Christos  die  Partizipialform  ist«. 

Dieser  scheinbar  von  Gelehrsamkeit  triefende  Satz  ist  aus 
Unmöglichkeiten  zusammengesetzt.  Untersuchen  wir:  1.  ob  der 
Begriff  des  Messias  sich  wirklich  mit  altindisch  akta  deckt; 
2.  ob  wirklich  Hari  der  mit  Fett  und  Öl  hervorgebrachte 
Lichtglanz  bedeutet;  3.  ob  Hari  lautlich  mit  griechisch 
Charis  und  chrio  zusammenhängt. 

Es  war  eine  altisraelitische  Sitte,  daß  der  Hohepriester 
und  der  König  stets  durch  eine  Ölsalbung  des  Hauptes  ge- 
weiht wurden.  Daher  ist  nicht  nur  der  Hohepriester  ein 
Maschiach  (»Gesalbter«,  3.  Mos.  cap..  4  u.  6),  sondern  auch 
der  König  ein  »Maschiach  Gottes«  oder  bloß  »Maschiach«. 
Selbst    heidnische  Könige,    wie  der    syrische  König  Hasael 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  2 


18  Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

(I  Kön.  19,  15)  und  Cyrus  (Jes.  45,  1)  erscheinen  als  »ge- 
salbt«. Gemäß  der  altbiblischen  Zukunftshoffnung  wird 
Israel,  einst  sittlich  geläutert  inmitten  der  Welt  dastehen. 
Die  ganze  Welt  wird  am  Ende  der  Zeiten  unter  dem  Szepter 
eines  mächtigen  und  weisen  Mäschiach,  eines  Königs 
aus  Davids  Geschlecht,  zu  einem  Gottesreiche  vereinigt 
sein.  Der  Mäschiach  hat  also  in  dieser  Auffassung  die  Be- 
deutung eines  Weltenkönigs  erlangt. 

Dagegen  kommt  im  Altindischen  nicht  die  Anschauung 
vor,  daß  Agni  durch  »Salbung«  bei  seiner  Geburt  göttlich 
geweiht  worden  wäre.  Agni  personifiziert  das  Feuer.  Der 
Götterbote  Mätaricvan  hatte  es  zuerst  vom  Himmel  her 
den  Menschen  gebracht.  Agni  und  Indra  gelten  als  die 
Zwillingsbrüder  von  demselben  Vater  Prajäpati  (Rigveda 
VI,  59,  2).  In  der  Gestalt  des  Blitzes,  der  durch  die  Wasser- 
wolken fährt,  wird  Agni  auch  als  der  »Sohn  der  Gewässerc 
(Apännapat)  gefeiert.  Da  das  Feuer  zu  den  wichtigsten 
Bestandteilen  eines  Opfers  gehört,  so  spielt  Agni  beim 
Opferzeremoniell  eine  sehr  hohe  Rolle.  Durch  das  Rei- 
ben zweier  Hölzer  wird  er  beim  Opfer  jeden  Tag  nach 
der  Väter  Weise  von  alters  her  auf  dem  Altare  erzeugt. 
Daher  heißt  er  auch  der  »jüngste«  (yaviStha)  Gott;  er 
bleibt  ewig  jung,  weil  er  immer  wieder  erzeugt  wird.  Ebenso 
wie  den  anderen  Göttern  werden  auch  ihm  Soma  und 
flüssige  Butter  als  Libation  dargebracht.  Agni  ist  zugleich 
Erzeuger,  Herr  und  Priester  des  Opfers,  welches  er  als  be- 
geisterter R§i  den  Göttern  übermittelt.  Daher  ist  er  der 
Freund  der  Menschen  und  Götter.  Das  Wort  akta,  das  mit 
Agni  zuweilen  in  Beziehung  steht,  hat  nicht  die  von  Drews 
angegebene  Bedeutung.  Ich  will  hier  mehrere  Beispiele  aus 
dem  Rigveda  für  akta  anführen  :  In  VI,  4,  6  ist  Agni 
»aktac  cocisha«  =  »mit  Glanz  versehen«;  in  VI,  5,  6 
heißt  Agni  dy  ubhi  r  aktas  »er  ist  mit  Licht  versehen«. 
I,  62,  8  charakterisiert  akta  die  Morgenröte:  »Die  mit 
schwarzen  und   lichten  Farben  versehene  (akta)  Morgen- 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.  19 

röte.«  X,  177,1  »Das  mit  göttlicher  Kraft  versehene  (aktam) 
Sonnenroß«.  Häufig  steht  akta  in  Verbindung  mit  der 
Somaflüssigkeit.  IV,  27,  5:  »Dann  trank  Indra  das  blanke 
Gefäß  aus,  den  mit  Milch  versehenen  (gobhir  aktam) 
fetten,  lichten  Somatrank«.  IX,  96,  22:  »Schon  sind  die 
gewaltigen  Ströme  des  Soma  ergossen,  mit  Milch  verse- 
hen (akto  gobhis)  gelangt  er  in  die  Gefäße«. 

Akta  hat  niemals  die  Bedeutung  »durch  Salbung  ge- 
weiht«. Auch  im  Altindischen  wird  der  König  geweiht,  aber 
diese  Zeremonie  besteht  darin,  daß  der  König  mit  Wasser 
besprengt  wird.  Das  technische  Wort  »zum  König  weihen« 
heißt  im  Altindischen  abhishic,  dieses  Wort  bedeutet 
eigentlich  »mit  Wasser  besprengen«,  Das  Substantiv  »die 
Königsweihe«  lautet  abhisheka,  das  eigentlich  »die  Be- 
sprengung  mit  Wassert  bedeutet.  Somit  haben  wir  nach- 
gewiesen, daß  altindisch  akta  sich  nicht  mit  dem  hebräi- 
schen Wort  Mäschiach  begrifflich  deckt. 

Ferner  bedeutet  auch  das  Wort  Hari,  womit  Agni 
oft  verbunden  ist,  nicht,  »den  mit  Fett  und  Öl  hervorge- 
brachten Lichtglanz«.  Hari  ist  im  Rigveda  ein  gewöhnliches 
Beiwort  des  Feuers,  der  Sonne,  des  Blitzes  und  des  Soma- 
getränkes  und  bedeutet,  ,feuerfarbig,  goldgelb,  glänzend* ; 
schließlich  werden  auch  die  göttlichen  Rosse  mit  Hari 
bezeichnet1).  Die  vergleichende  Sprachwissenschaft  lehrt 
nun,  daß  dieses  Wort  urverwandt  ist  mit  altpersisch 
Zaray  »goldfarben,  gelb',  lit.  2älas  ,rot',  lat.  helvus, 
altsächs.  gelo,  altengl.  geolo,  dtsch.  gelb.  Dagegen  ist 
griechisch  Chäris  abgeleitet  von  dem  Verb.  xa^w»  altind. 
haryati  ,gern  haben,'  ahd.  ger  ,begehrend',  dtsch.  gern. 
Weder  altindisch  Hari  noch  griechisch  Chäris  darf  dem- 
nach mit  griechisch  chrio  (*/ptw)  zusammengestellt  werden. 

Jetzt  erst  wird  der  Leser  imstande  sein,  die  Worte 
Drews,  die  er  in  seinem  Vorwort  (S.  VIII)  sagt,  richtig  zu 
bewerten :    »Wer  sich  im  Gebiete  der  Wissenschaft  umge- 

J)  Vgl.  H.  Grassmann:    Wörterbuch  z.  Rigveda   S.  1643-1649 

V 


20  Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wisssenschaft. 

sehen  hat,  weiß,  daß  für  Methode  von  jedem  Mitarbeiter 
meist  gerade  nur  dasjenige  angesehen  zu  werden  pflegt, 
was  er  selbst  als  eine  solche  ausübt,  und  daß  auch  der  viel- 
berufene Begriff  der  Wissenschaftlichkeit  sich  sehr  nach  rein 
zufälligen  und  persönlichen  Gesichtspunkten  richtet«. 

Also  zufällige  und  persönliche  Grundsätze  sollen  für  wis- 
senschaftliches Arbeiten  maßgebend  sein?  Es  ist  und  bleibt 
in  der  Tat  des  Herrn  Drews  eigenartigstes  Verdienst,  diesen 
Grundsatz  getreulich  in  seinem  Werke  durchgeführt  zu 
haben.  Selbstverständlich  kann  man  von  diesem  Grund- 
satze aus  sogar  beweisen,  daß  selbst  die  Lebensgeschichte 
des  niederländischen  Freiheitshelden  Egmont  »durch  eine 
Übertragung  aus  dem  Mythenkreise  des  leidenden  Messias  zu- 
standegekommen« sei.  Es  sei  mir  gestattet,  dies  von  mir  will- 
kürlich erfundene  Beispiel  ein  klein  wenig  näher  auszuführen, 
da  es  sehr  gut  dazu  geeignet  ist,  die  Kombinationen  einer 
Trugwissenschaft,  wie  sie  Prof.  Drews  in  seiner  »Christus- 
mythe« zur  Anwendung  gebracht  hat,   grell  zu  beleuchten. 

Ebenso  wie  die  Niederländer  im  16.  Jhdt.,  wurden  auch  die  Juden 
zur'Makkabäerzeit  von  einer  Fremdherrschaft  grausam  unterdrückt.  Die 
damaligen  niederländischen  Schriftsteller  scheinen  in  Anlehnung  an 
den  Makkabäerhelden  Jonathan  ihren  Naticnalhelden  Egmont  gestaltet 
zu  haben.  Der  Makkabäer  Jonathan  war  ein  populärer  Held,  —  ebenso 
Egmont.  Jonathan  schenkte  in  seiner  Treuherzigkeit  selbst  dem  Feinde 
Glauben,  —  ebenso  Egmont.  Jonathan  wird  unter  falschen  Vorspie- 
gelungen in  die  Burg  des  feindlichen  Statthalters  gelockt,  —  ebenso 
Egmont.  Jonathan  muß  seine  Treuherzigkeit  mit  dem  Leben  büßen, 
—  ebenso  Egmont.  Jonathan  ist  aber  nur  eine  mythische  Erscheinung. 
Schon  sein  Name  deutet  darauf  hin,  daß  er  im  Grunde  identisch  ist 
mit  Jonathan,  dem  heldenhaften  Sohn  Sauls,  dem  vordavidischen 
Messias.  Auch  jener  war  ein  volksbeliebter  Held,  der  durch  seine 
bewundernswerte  Tapferkeit  das  Volk  von  den  mächtigen  Philistern 
befreit  hat,  aber  schließlich  für  die  Sünden  seines  Geschlechts  den 
Tod  erleiden  mußte.  Jonathan  ist  das  Vorbild  des  leidenden  Messias 
und  eine  mythische  Gestalt,  die  auch  in  dem  Freiheitskampfe  der 
Juden  gegen  die  Römer  (etwa  um  70  n.  Chr.)  plötzlich  auftritt.  So 
berichtet  Josephus:  Bellum  Judaicum  VI,  2,  10:  »In  jenen  Tagen  trat 
aus  der  Mitte  der  Juden  ein  Mann  namens  Jonathan,  klein  und  unan- 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.  21 

sehnlich  von  Gestalt,  bei  dem  Grabmahl  des  Hohepriesters  Johannes 
hervor  .  .  .  und  forderte  den  Tapfersten  von  den  Römern  zum  Zwei- 
kampfe heraus.*  Die  Römer  wurden  von  gewaltiger  Furcht  ergriffen. 
Endlich  wagte  sich  ein  römischer  Held  mit  ihm  in  den  Zweikampf 
einzulassen.  »Bei  dem  nun  folgenden  Zweikampf*  —  so  berichtet 
Josephus,  —  »ließ  den  Römer,  obwohl  er  im  allgemeinen  dem  Juden 
überlegen  war,  sein  Glück  im  Stich,  so  daß  er  zu  Boden  fiel;  schnell 
sprang  Jonathan  herzu  und  tötete  ihn.«  Aber  bald  traf  den  Sieger 
ein  Pfeil  aus  der  Ferne,  und  tot  brach  Jonathan  zusammen.  Hier 
haben  wir  den  leidenden  Messias  »er,  der  nicht  wohlgeformt  und 
nicht  schön  war,  ...  ist  durchbohrt  wegen  unserer  Frevel«  (Jes. 
53,  2  und  5).  Da  der  Messias  nach  der  späteren  Überlieferung 
aus  dem  Geschlechte  Davids  stammen  muß,  so  sind  dem  Jonathan 
manche  Züge  von  Davids  Taten  angedichtet,  so  der  Kampf  Davids 
mit  Goliath.  Daß  dieser  Jonathan  ein  leidender  Messias  ist,  geht  auch 
daraus  hervor,  daß  er  plötzlich  zuerst  bei  dem  Grabmahl  des  J  o- 
hannes  auftritt.  Johannes  ist  aber  ebenfalls  eine  auf  den  Boden  der 
Geschichte  verpflanzte  Gestalt  des  leidenden  Messias.  Man  erinnere 
sich  doch  nur  an  Johannes  den  Täufer.  Auch  er  erstrebte  das 
Heil  des  jüdischen  Volkes;  auch  er  muß  als  Glaubensheld  für  das 
Wohl  seines  Volkes  den  Opfertod  erleiden.  Dieser  leidende  Messias 
Jonathan  tritt  dann  nach  der  Zerstörung  des  Tempels  noch  einmal  im 
Kampfe  gegen  die  Römer  auf.  Er  führte  viele  Juden  in  die  Wüste, 
wo  er  ihnen  Wunderzeichen  verhieß.  Er  wurde  jedoch  im  Kampfe 
gegen  die  Römer  besiegt,  gefangen  genommen,  ausgepeitscht  und  dann 
lebendig  verbrannt  (Josephus,  Bellum,  Jud.  VII,  11,  1—3).  Mithin 
sind  die  Züge  des  leidenden  Messias  auf  die  Gestalt  des  Egmont 
übertragen  worden. 

Und  alles  das  ohne  Apparate,  nur  mit  Hilfe  der  Zutaten, 
über  die  Herr  Drews  so  vorzüglich  verfügt,  und  mit  deren 
Anwendung  man  sehr  bequem  historisch  gut  beglaubigte 
Tatsachen  gewaltsam  verzerren  kann.  In  dieser  Art  und 
Weise  hat  er  sogar  Mardechai  und  Haman  zu  Typen  »des 
jüdischen  Messias«  gemacht,  und  damit  eine  Parodie  zum 
Estherbuch  geschaffen.  »Den  Evangelisten  schwebte  bei 
ihrer  Darstellung  der  letzten  Lebensschicksale  des  Messias 
Jesus  der  angeführte  Brauch  des  jüdischen  Purimfestes  vor: 
sie  schilderten  Jesus  als  den  Haman,  Barabbas  als  den 
Mardechai  des  Jahres«  (S.  41).  Den  Mardechai  als  »Messias« 
läßt  Drews  sowohl  in  altbabylonischen    Festen  als  auch  in 


22  Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  der  Wissenschaft. 

neupersischen   Festen    der  nachchristlichen  Zeit  mitwirken. 
Ich  will  kurz  über  diese   unhaltbare   Hypothese    referieren: 

1.  Der  Jude  Mardechai  ist  der  babylonische  Gott 
Marduk.  Als  solcher  führt  er  im  babylonischen  Neujahrsfest 
Zagmuk  den  Vorsitz. 

2.  In  dem  Satze  Esth.  8,  15,  in  welchem  geschildert 
wird,  daß  Mardechai  anstelle  des  gestürzten  Haman  mit 
einer  Krone  und  einem  Purpurmantel  angetan  war,  und 
die  Stadt  Susa  jauchzte  und  fröhlich  war,  sieht  Drews  eine 
Beschreibung  »des  alten  babylonischen  Sakäenkönigs,  des 
Darstellers  des  Marduk,  wie  er  seinen  Einzug  in  die  Haupt- 
stadt des  Landes  hielt  und  hiermit  das  neue  Jahr  herbei- 
führte« (S.  39).  Gleichzeitig  ist  Mardechai  der  Sklave,  der 
in  diesem  Sakäenfeste,  welches  zuerst  im  1.  J  h  r  h.  n. 
Chr.  von  Strabo  XI,  84  belegt  wird,  die  Hauptrolle  spielt 
und  am  Schlüsse  des  Festes  umgebracht  wird.  Während 
Strabo  berichtet,  daß  jenes  Fest,  in  welchem  Marduk  über- 
haupt nicht  vorkommt,  ebenso  wie  unser  heutiges  Sedan- 
fest  den  Sieg  verherrlicht,  den  ein  persischer  Feldherr  über 
die  feindlich  vordringenden  Saken  errungen  hatte,  macht 
Drews  daraus  einen  Mythos.  Nach  ihm  »spielte  der  baby- 
lonische Sakäenkönig  die  Rolle  des  Gottes«  Marduk- 
Mardechai  »und  erlitt  als  solcher  den  Tod  auf  dem 
Scheiterhaufen«  (S.  38).  Da  aber  die  Juden  bei  der  Über- 
nahme dieses  Festes  de  n  M  arduk  zum  Juden  Mardechai 
gemacht  hätten,  so  ließen  sie  anstelle  des  Juden  den  Haman 
sterben  (S.  40),  denn  auch  Haman  sei  ein  Messias,  ein 
»vermenschlichter  Gott«  (S.  207). 

3.  Mardechai  ist  aber  auch  der  »Bartlose*,  der  als 
solcher  in  einem  frühestens  um  1000  n.  Chr.  belegten  neu- 
persischen Feste  »den  Ritt  des  Bartlosen«  macht  (S.  39). 
Bei  dieser  Gelegenheit  wurde  ein  bartloser,  womöglich  ein- 
äugiger Hanswurst,  völlig  entkleidet  und  begleitet  von  einer 
königlichen  Leibwache  und  einer  Schar  von  Berittenen 
unter  dem  Hallo  der  Menge,  die  Palmzweige  trug  und  dem 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.  23 

Narrenkönig  zujauchzte,  auf  einem  Esel  in  feierlichem  Auf- 
zuge durch  die  Stadt  geleitet.  Innerhalb  einer  festgesetzten 
Zeit  mußte  er  seinen  Ritt  beendet  haben  und  verschwinden, 
widrigenfalls  er  sich  der  Gefahr  aussetzte,  von  der  Menge 
angehalten  und    mitleidslos  zu  Tode  geprügelt  zu  werden. 

4.  Ferner  »liegt  der  Erzählung  von  Esther  ein  Gegen- 
satz zwischen  den  Hauptgöttern  von  Babylon,  Marduk, 
l§tar  und  denjenigen  des  feindlichen  Elam  zu  Grunde,« 
denn  Harn  an  und  Waäti  wären  die  elamitischen  Götter 
Human  und  M  a  §  t  i. 

Bietet  nicht  mein  obiges  erfundenes  Musterbeispiel,  nach 
weichem  Egmont  ein  leidender  Messias  sei,  ein  viel  beweis- 
kräftigeres Material,  als  Drews  Phantasiestück  über  Mardechai  ? 

Bereits  in  meinem  Buche  »Arisches  im  Alten  Testament« 
habe  ich  diese  Hypothese  widerlegt  (vgl.  auch  Jampel  in 
dieser  Monatschrift,  Bd.  50, 289  ff.).  Das  Estherbuch  schildert 
echt  persische  Zustände.  Selbst  der  Satz  Esth.  8,  15  ent- 
hält nichts  Fremdartiges,  sondern  eine  ganz  ähnliche  Ehrung 
wird  auch  dem  Josef  am  ägyptischen  Hofe  zuteil  (vgl.  1. 
Mos.  41,  42  f.),  und  da  dieses  nach  den  Ägyptologen  der 
Sitte  der  Pharaonen  entspricht,  so  könnte  man  daraus 
schließen,  daß  verdienstvolle  Männer  auf  diese  Weise  an 
den  orientalischen  Höfen  ausgezeichnet  wurden.  Im  alten 
Persien  trugen  ebenso  wie  der  König  auch  der  Reichsver- 
weser und  die  sechs  Stammesfürsten  eine  Art  Krone  (xfrrapi?). 
Ferner  haben  die  Achämeniden  häufig  verdienstvollen  Männern 
einen  Purpurmantel  verliehen.  Nun  ist  Mardechai  im  Esther- 
buch von  Anfang  an  ein  Beamter  am  Königshofe  (vgl. 
Arisches  im  Alt.  Test.  II,  23  f.).  Mardechai  ist  zunächst  dem 
Haman,  dem  obersten  Würdenträger,  untergeordnet,  Haman 
wiederum  dem  Achaschwerosch.  Dieser  persische 
König,  der  in  den  altpersischen  Keilinschriften  Chschä- 
y  ä  rs  c  h  a  heißt,  steht  über  allen,  er  bestimmt  als  Herrscher 
das  Schicksal  aller  seiner  Untertanen,  er  verstößt  die 
Waschti,    er  setzt  die  Esther  ein,   er  gibt  Haman  die  Er- 


42  Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft' 

laubnis,  die  Juden  zu  vernichten,  er  erhebt  Mardechai,  er 
läßt  Haman  aufhängen.  Die  Namenähnlichkeit  zwischen  dem 
babylonischen  Gott  Marduk  und  Mardechai  ist  eine  Zufällig- 
keit. Zunächst  ist  der  Name  Mardechai  in  der  Bibel  auch 
sonst  belegt  Unter  den  Juden,  die  unter  Cyrus  von  Baby- 
lonien  wieder  nach  Jerusalem  zurückkehren,  findet  sich 
ebenfalls  ein  Mardechai.  Schon  der  hervorragende  Assyriologe 
J.Oppert  hatte  behauptet,  daß  derMardechai  des  Estherbuches 
nichts  mit  dem  babylonischen  Gotte  zu  tun  habe.  In  ba- 
bylonischen Kontrakten  ist  der  männliche  Personenname 
Marduka  vielfach  belegt.  Selbst  ein  Perser  zur  Zeit  des 
Artaxerxes  1.  heißt  so.  Dieser  Name  läßt  sich  ohne  weiteres 
aus  dem  Persischen  erklären.  Ebensogut  könnte  er  auch 
vom  babylonischen  Marduk  ursprünglich  abgeleitet  sein. 
Jedenfalls  war  dieser  Personenname  in  jener  Zeit  sehr  ge- 
bräuchlich. Nun  wissen  wir,  daß  die  Juden  in  der  babylo- 
nisch-persischen Zeit  teils  babylonische1)  teils  persische 
Namen  annahmen.  In  der  späteren  griechisch-römischen  Zeit 
führten  sie  teils  römische  teils  griechische  Namen2).  So  findet 
sich  auf  den  Grabsteinen  der  jüdischen  Katakomben  des 
alten  Rom  auch  der  Name  Isidorus.  Obgleich  in  jener 
heidnischen  Zeit  zu  Rom  auch  die  Isis  angebetet  worden 
war,  scheuten  sich  die  Juden  nicht  davor  diesen  von  einer 
bekannten  heidnischen  Göttin  abgeleiteten  Namen  zu  führen. 
Esther  darf  auch  nicht  mit  der  babylonischen  IStar  identifiziert 
werden.  Zunächst  hätte  babyl.  §  auch  im  Hebräischen  zu  § 
(seh)  werden  müssen.  Der  Talmud  (Megilla  13  a)  sagt,  daß  der 
Name  Esther  eigentlich  >Stern«  bedeute.  Dieses  weist  auf 
persischen  Ursprung  hin.  Im  Altpersischen  heißt  der  Stern 
star.  Auch  als  Frauenname  kommt  dieses  Wort  im  Per- 
sischen   vor.     Da    nun    jedem    Fremdwort,    das    mit  zwei 


»)  Vgl.  Samuel  Daiches:  The  Jews  in  Babylonia  in  the  Time  of 
Ezra  and  Nehemia  aecording  to  Babylonian  Inscriptions,  London 
.Jews'  College)  1910,  p.  11—29. 

s)  Vgl.  LZunz,  Gesammelte  Schriften  II  (Berlin  1876)  p.5-10 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.  25 

Konsonanten  anlautet,  im  Hebräischen  der  Vokal  «  (a)  vor- 
gesetzt wird,  so  mußte  altpersisch  star  zu  ine«  werden. 
Auch  ins  Syrische  ist  dieses  persische  Wort  eingedrungen, 
wo  es  kidd«  »Stern«  lautet.  Selbst  wenn  es  möglich  wäre, 
Esther  aus  IStar  abzuleiten,  würde  hier  nicht  die  Göttin 
zu  verstehen  sein,  da  IStar  auch  als  weiblicher  Per- 
sonenname in  babylonischen  Kontrakten  häufig  vorkommt. 
Ebensowenig  wie  Abraham  mit  dem  indischen  Gott 
Brahma  und  seine  Gattin  Sara  mit  der  indischen  Göttin 
Sarasvati  zu  schaffen  hat,  hat  Mardechai  mit  Marduk 
und  Esther  mit  l§tar  etwas  zutun.  Auch  Haman  und 
Wa§ti  sind  keine  Götter,  denn  einen  elamitischen  Gott 
Hamman  (Humman)  gibt  es  nicht,  sondern  nur  einen 
elamitischen  Gott  Chumbabu.  Chu(m)babu  kommt 
sogar  als  elamitischer  Personenname  vor  (vgl.  P.  Scheu, 
Textes  Elamites-semitiques  III,  p.  177,  Zeile  8).  Daneben 
sind  in  den  elamitischen  Inschriften  die  Götternamen 
Chumba  (bezw.  Chuba)  und  Chumban  zu  Tage  ge- 
treten (vgl.  P.  Jensen  (Wiener  Z.  f.  K.  d.  M.  III,  56  ff.).  »Ein 
Gott  Gubaba  wird  III  Rawlisnon  66.  Obv.  Z.  7  erwähnt, 
dazu  vgl.  Phot.  lexicon:  »Kußvißo;  6  y.xTS/ofxsvo;  tjj  MyjTpi  twv 
frsSv  dso<p6pviTo;«  (Rob.  Eisler,  Philologus,  Bd.  68  (1909),  S. 
172).  Nach  Rob.  Eisler  ist  dieser  elamitische  Göttername 
auch  in  dem  Namen  der  mittellykischen  Stadt  Kfytßx  ent- 
halten. Chumbabu  konnte  lautgesetzlich  unmöglich 
zu  hebr.  Haman  werden.  Eine  elamitische  Gottheit 
WaSti  (Ma§ti)  ist  bisher  überhaupt  noch  nicht  auf- 
gedeckt, sondern  Jensen  hat  statt  B  a  r  t  i  fälschlich 
Ma§ti  gelesen.  Ob  die  Gottheit  Barti  übrigens  weiblich 
sei,  ist  bisher  noch  nicht  erwiesen.  Das  Estherbuch  enthält, 
wie  ich  eingehend  nachgewiesen  habe,  etwa  50  altpersische 
Fremdwörter.  Der  Vater  Hamans  heißt  Hamedäta; 
dieser  Name  ist  echt  persisch  und  würde  deutsch  heißen 
»Ha  man  söhn«.  Da  nach  einem  altpersischen  Brauch  der 
Enkel  gewöhnlich  den  Namen  seines  Großvaters  annimmt, 


26  Die  Cbristnsmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

so  heißt  der  Sohn  des  Hamansohn  ganz  richtig  H  a- 
man.  Dieses  beweist,  daß  Haman  nur  aus  dem  Persi- 
schen stammen  kann.  Der  Ursprung  der  Esther-Erzählung 
weist  auf  Persien  hin.  Da  nun  die  altpersische  Sprache 
mehrere  altbabylonische  Wörter  aufgenommen  hat,  so  ist 
es  höchst  wahrscheinlich,  daß  in  derselben  auch  das  baby- 
lonische Wort  P  u  r  u,  Schicksalslos'  (=  hebr.  pur)  Aufnahme 
gefunden  habe.  Die  Babylonier  suchten  ja  seit  uralter  Zeit 
stets  die  Zukunft  vorherzubestimmen.  Da  es  gute  und  un- 
heilvolle Tage  gab,  so  mußte  man  bei  wichtigen  Ereignissen 
den  geeigneten  Tag  aus  den  Gestirnen  feststellen.  Diesen 
Brauch  übernahmen  die  alten  Perser  von  den  Babyloniern. 
Der  babylonische  technische  Ausdruck  puru  , Schicksals- 
los' wird  nicht  nur  den  Persern,  sondern  auch  den  dort 
wohnenden  Juden  geläufig  gewesen  sein.  Ganz  dieser  baby- 
lonisch-persischen Sitte  entsprechend  berichtet  der  Midrasch 
(zu  Esth.  3,  7),  daß  Haman  aus  den  Sternen  den  geeig- 
neten Tag  für  die  Vernichtung  der  Juden  gedeutet  habe. 
Für  die  Entstehung  des  Purimfestes  gibt  es  viele 
religionsgeschichtliche  Parallelen.  Auf  eine  ähnliche  Bege- 
benheit geht  unser  Chanukah-Fest  zurück.  Jahrhunderte 
lang  wurde  am  13.  Adar  der  Nikanortag  gefeiert, 
der  zur  Erinnerung  an  den  glänzenden  Sieg  über  den 
mächtigen  syrischen  Feldherrn  Nikanor  (um  160  v.  Chr.) 
eingesetzt  war.  Die  ägyptischen  Juden  hatten  ein  beson- 
deres Fest  zur  Erinnerung  an  die  wunderbare  Errettung, 
die  ihnen  einst  widerfahren  war,  als  Ptolemäus  Physkon 
sie  durch  trunkengemachte  Elephanten  hatte  töten  lassen 
wollen  (Joseph,  contra  Ap.  II,  5  vgl.  auch  3.  Makkabaerbuch). 
Der  12.  Adar  118  n.  Chr.,  der  Tag,  an  welchem  die  von 
Trajan  zum  Tode  verurteilten  jüdischen  Freiheitshelden 
Julianus  und  Pappus  von  Hadrian  wieder  in  Freiheit 
gesetzt  wurden,  wurde  als  Halbfeiertag  eingesetzt  und  unter 
dem  Namen  Jörn  Tirjanus  ,Trajanstag'  noch  lange  Zeit 
gefeiert.  Eine  andere  außerjüdische  Parallele  zu  dem  Purim- 


Die  Christusmytbe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.  27 

fest  bietet  eine  Inschrift  von  Pergamon,  nach  welcher  das 
pergamische  Volk  zur  Erinnerung  an  den  siegreichen  Feld- 
zug ihres  Königs  Attalos  III,  der  die  Stadt  von  einer 
drohenden  Gefahr  gerettet  hatte,  folgendes  Fest  beschließt. 
Jeder  achte  Monatstag  wird,  da  der  siegreiche  König  an 
einem  solchen  Tage  in  die  Landeshauptstadt  eingezogen 
ist,  für  einen  Festtag  erklärt ;  der  Jahrestag  ist  durch 
Prozession,  Opfer  und  Festessen  zu  feiern.  Auf  eine  ähn- 
liche Entstehung  des  altpersischen  Festes  »Magophonia« 
habe  ich  noch  in  meinem  »Arisches  im  Alt.  Test.«  II,  56 
hingewiesen. 

Es  ist  die  Pflicht  eines  jeden  Historikers,  die  Tat- 
sachen auf  sich  wirken  zu  lassen,  die  Überlieferung  unbe- 
fangen ohne  Vorurteil  zu  prüfen,  nicht  zwar  aus  dem  Zu- 
sammenhange der  Völkergeschichte  zu  isolieren,  aber  eben- 
sowenig etwas  in  eine  widerstrebende  Verbindung  hinein- 
zuzwängen. Die  Art  und  Weise  aber,  wie  Professor  Drews 
arbeitet,  kann  man  unmöglich  ernst  nehmen. 

Zum  Schlüsse  untersuchen  wir,  wie  die  Anschauung 
aufkommen  konnte,  daß  der  Mensch  Jesus  ein  Gott  sei. 
Drews  kühne  Vermutung,  daß  »der  mythische  Jesus  ur- 
sprünglich eine  Gottheit  war,  der  Mittler  und  Heilsgott  aller 
jener  jüdischen  Sektierer,  die  zum  Teil  bereits  dem  2.  Jhdt. 
vor  Chr.  angehören«,  ist  unhaltbar1).  Die  Vorstellung,  daß 
Jesus  selbst  Gott  sei,  ist  vielmehr  rein  kulturhistorisch  zu 
erklären. 

Schon  seit  den  ältesten  Zeiten  hielten  sich  die  orien- 
talischen Herrscher  Babyloniens  und  Ägyptens  für  göttliche 
Wesen  (vgl.  z.  B.  Orient.  Lit.  Ztg.  12,  1  f.  und  12,  108). 
Selbst  nach  ihrem  Tode  wurden  sie  noch  durch  Opfer  gött- 
lich verehrt2).  So  ließ  sich  nach  Daniel  (c-  6)  auch  Darius 
als  eine  Gottheit  feiern.  Mit  dieser  orientalischen  Vorstellung 

l)  Vgl.  H.  v.  Soden,  Hat  Jesus  gelebt?  Berlin  1910;  H.  Weinel, 
Ist  das  liberal«  Jesusbild  widerlegt?  Tübingen  1910. 

»)  Vgl.  L.  v.  Sybel,  Christliche  Antike  I  (1906)  p.  49,  Anm. 


28  Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

von  einem  göttlichen  Königtum  wurden  die  Griechen  und 
Römer  seit  Alexander  d.  Großen  recht  vertraut.  Seleukos 
wird  z.  B.  als  Zsu?  vixaTwp,  sein  Sohn  als  'Avtio^o?  'AtoXXwv 
<7WT/ip  anerkannt1).  Der  Hymnus,  den  die  Athener  zu  Ehren 
des  siegreichen  Demetrios  Poliorketes  (307  v.  Chr.)  dichteten, 
enthält  diese  Vorstellung  von  dem  Gottsein  eines  Fürsten: 
»Wie  die  Sonne  und  die  lieben  Sterne  erscheint  er  ihnen 
mit  seinen  Genossen  als  Sohn  Poseidons  und  der  Aphrodite. 
Die  anderen  Götter  sind  ja  doch  weit  fort,  sind  überhaupt 
nicht  oder  hören  uns  nicht.  Dich  aber  sehen  wir  Auge  in 
Auge,  nicht  Holz  oder  Stein,  sondern  leibhaftig;  darum 
beten  wir  zu  dir:  gib  uns  Frieden,  denn  du  bist  der  Herr«2). 
Antiochos  II.  wird  von  den  Milesiern,  die  er  258  v.  Chr. 
von  der  Tyrannis  befreit,  0so?  »Gott«  genannt3).  Man  er- 
blickte allgemein  in  dem  siegreichen  Fürsten,  der  den 
Staat  aus  einer  großen  Gefahr  gerettet  hat  und  ihm  Frieden 
und  Heil  gebracht  hat,  den  göttlichen  Heiland  fWr^p),  Die 
Diadochen  heißen  owr/ipes  »Heilande«  und  ebenso  ihre  Nach- 
folger, die  römischen  Statthalter4).  Unter  den  Römern  wird 
zuerst  Cäsar  als  Weltheiland  verherrlicht5). 

H.  Lietzmann  hat  in  seiner  Schrift:  Der  Weltheiland 
(Bonn  1909)  ausgeführt,  daß  besonders  der  römische  Dichter 
Vergil  das  Ideal  eines  königlichen  Heilands  für  das  rö- 
mische Reich  herbeigesehnt  hatte.  Gemäß  der  vierten  Ekloge 
Vergils  wird  ein  göttlicher  König,  ein  Sohn  Jupiters,  den 
Völkern  als  ihr  Heiland,  den  sehnlichst  erwarteten  Frieden 
bringen.  Bald  sah  man  auch  in  Augustus  diesen  göttlichen 
König,  den  Retter  der  Welt,  mit  dessen  Geburt  eine  neue 
Ära  hereingebrochen  ist.     »Der  Geburtstag  des  Gottes  hat 

*)  S.  Dittenberger,  Orientis  Inscr.  457,  Rohdes,  Psyche  II4,  S. 
359,  Anm.  5;  S.  375,  Anm.  1. 

2)  P.  Wendland,  Die  hellenisch-römische  Cultur,  S.  75. 

3)  Vgl.  R.  Herzog,  Sitz.  d.  Preuß.  Ak.  Wiss.  1905,  S.  984. 
<)  Vgl.  z.  B.  Cicero  in  Verrem  III,  II.  63,  154. 

6)  Dittenberger,  Syll.  inscr.  Gr.  I,  nr.  347,  vgl.  auch  O.  Hirsch- 
feld :  Zur  Gesch.  d.  röm.  Kaiserkultus,  S.  Preuß.  Ak.  Wiss.  1888,  p.  833  ff. 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.  29 

für  die  Welt  die  an  sie  sich  anknüpfenden  Heilsbotschaften 
heraufgeführt.  Von  seiner  Geburt  muß  eine  neue  Zeitrech- 
nung beginnen«1).  Nicht  nur  römische  Dichter,  sondern  auch 
die  Hellenen  preisen  den  Augustus  als  den  Bringer  des 
Weltfriedens,  als  Heiland2).  Plinius,  der  zur  Zeit  des  Kaisers 
Vespasianus  lebte,  hält  es  für  ganz  selbstverständlich,  daß 
man  wohlverdiente  Kaiser  für  Gottheiten  erklärt.  Er  sagt 
(Historia  nat.  II,  7)  betreffs  der  römischen  Kaiser:  »Solche 
Männer  unter  die  Gottheiten  zu  versetzen,  ist  eine  uralte 
Sitte  der  Dankbarkeit  gegen  hochverdiente  Männer,  und 
gewiß  sind  auch  die  Namen  aller  anderen  Götter  von  sol- 
chen verdienstvollen  Menschen  hergenommen«3).  Kaiser  Do- 
mitian,  Sohn  des  Vespasian,  nennt  sich  auch  0sou  ulo; 
»Sohn  Gottes«4).  Aurelian  hat  sich  ebenfalls  als  Deus 
anbeten  lassen5).  Diese  Vorstellung  von  der  heilbringenden, 
göttlichen  Macht  haftete  so  stets  an  den  Namen  Kaiser. 
Die  Überlieferung  des  Midrasch  Tanchuma  (zu  1  Mos. 
c.  2),  daß  der  römische  Kaiser,  nachdem  er  sich  alle  Reiche 
unterworfen  hatte,  sich  für  einen  Gott  erklärte,  beruht  somit 
auf  Wahrheit.  Diese  heidnische  Auffassung,  daß  der  Mensch 
ein  Gott  werden  könne,  hält  der  Midrasch  für  eine  Gottes- 
lästerung. Er  sagt,  selbst  Elias,  der  so  viele  Wunder  getan 
hätte,  habe  sich  nicht  für  einen  Gott  gehalten.  »Wer  sich 
für  einen  Gott    erklärt,    baut   gleichsam    einen    Palast   im 


*)  So  feiert  eine  ans  dem  Jahre  9  v.  Chr.  stammende  Inschrift 
den  Augustus,  vgl.  Mommsen  u.  v.  Wilamowitz  im  Deutsch.  Arch. 
Inst.  23,  Heft  3;  Christi.  Welt  1899,  Nr.  51. 

*)  Vgl.  Ancient  greek  Inscr.  in  the  British  Mus.  Nr.  894. 

3)  Eine  ähnliche  Vorstellung  existiert  im  Buddhismus.  So 
kann  der  Mensch  vermöge  seines  frommen  Lebenswandels  in  der 
nächsten  Geburt  in  der  Oötterwelt  als  Gott  wiedergeboren  werden. 
Ein  Gott  kann  aber  wegen  einer  begangenen  Sünde  wieder  als  ein 
Mensch,  ja  als  ein  Tier  geboren  werden  (vgl.  R.  Pischel,  Leben  u.  Lehre 
Buddhas,  Leipzig  1906,  S.  54). 

*)  Vgl.  C.  M.  Kaufmann,  Handbuch  d.  christl.  Arch.,  S.  294. 

*)  Wendland,  Die  hellen.-röm.  Kultur,  S.  93. 


30  Die  Cbristusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

reißenden  Strom«.  Infolge  dieser  heidnischen  Vorstellung, 
daß  hervorragende  Menschen  Abkömmlinge  von  Göttern 
seien,  hielten  die  Lykaonier  sogar  die  beiden  unter  ihnen 
predigenden  Apostel  Barnabas  und  Paulus  für  Gottheiten, 
denen  sie  Opfer  darbringen  wollten,  indem  sie  sprachen  : 
»Die  Götter  sind  den  Menschen  gleich  geworden  und  zu 
uns  herniedergekommen«1). 

Jesus  war  nun  von  seinen  Jüngern  als  messianischer 
König  hingestellt  worden2),  der  »das  Reich  Israel  wieder 
aufrichten«3)  wird.  In  den  Augen  der  Heiden  mußte  deshalb 
Jesus  unwillkürlich  als  ein  göttlicher  Sproß  erscheinen.  In 
der  Tat  hat  auch  A.  Deißmann4)  einen  Zusammenhang 
zwischen  der  göttlichen  Verehrung  Christi  und  dem  Kaiser- 
kult nachweisen  können.  »Das  Heidentum  für  die  Massen, 
die  sich  zum  Glauben  an  den  Gekreuzigten  bekannten, 
änderte  sich  nur  in  der  Form,  nicht  im  Wesen«5).  Das 
Christentum  hat  sich  seit  seiner  Entstehung  stets  an  die 
heidnischen  Anschauungen  desjenigen  Volkes  angelehnt, 
das  es  zu  bekehren  suchte.  So  hat  z.  B.  Mani,  der  um  240 
das.Christentum  in  Persien  einzupflanzen  suchte,  an  manche 
Ideen  des  Parsismus  angeknüpft  und  sie  nur  christlich  ge- 
färbt. Ebenso  hat  Paulus  das  Christentum  den  heidnischen 
Anschauungen  zum  Teil  anzupassen  gesucht. 

Paulus  sagt  selbst  (I  Kor.  9,  20 — 22)  :  »Denen,  die  ohne 
Gesetz  leben,bin  ich  als  ein  ohne  Gesetz  lebender  geworden,  auf 
daß  ich  die,  welche  ohne  Gesetz  sind,  gewinne.  Den  Schwa- 
chen bin  ich  geworden  als  ein  Schwacher,  auf  daß  ich  die 
Schwachen  gewinne.  Ich  bin  jedermann  verschiedenartig 
geworden,  auf  daß  ich  allenthalben  ja  etliche  selig  mache«. 


J)  Apostelgesch.  14,  11-12. 

»)  Mattb.  27,  11;    Marc.  15,  2;    Luc.  1,  33;    19,  3S;    23,   2  -3; 
Ap..  17,  7. 

»)  Ap.  1,  6. 

*)  Deissmann,  Licht  vom  Osten,  Tübingen  1909. 

&)  H.  Usener,  Dreiheit,  Bonn  1903. 


Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft.   31 

Dementsprechend  knüpft  er  seine  Bekehrungspredigt  in 
Athen  an  einen  heidnischen  Brauch  an,  indem  er  sagt:  »Ich 
bin  hier  durchgegangen  und  habe  eure  Gottesdienste  ge- 
sehen und  fand  einen  Altar,  darauf  war  geschrieben:  Dem 
unbekannten  Gott.  Nun  verkündige  ich  euch  denselben, 
dem  ihr  unwissend  Gottesdienst  tuU1).  Daher  nimmt  es 
nicht  Wunder,  wenn  noch  Justin  (um  150)  an  die  Wahrheit 
der  klassischen  Mythen  glaubt:  »In  alter  Zeit  sind  die  Dä- 
monen in  Menschengestalt  erschienen  und  haben  mit  Frauen 
Ehebruch  getrieben,  Knaben  geschändet  und  den  Menschen 
Schreckbilder  gezeigt,  so  daß  sie  von  Furcht  gepackt  und 
nicht  wissend,  daß  es  böse  Dämonen  waren,  sie  Götter 
nannten  und  die  einzelnen  mit  dem  Namen  anredeten,  wel- 
chen sich  ein  jeder  der  Dämonen  beilegte**).  Durch  die 
Heidenchristen,  welche  noch  unter  dem  Banne  der  damals 
vorherrschenden  Idee  standen,  daß  Herrscher  von  Göttern 
abstammten  und  selbst  Götter  seien,  kam  auch  die  An- 
schauung auf,  daß  »Gottes  Sohn«,  Christus,  von  einer  reinen 
Jungfrau  geboren  sei.  Im  Gegensatz  zu  der  klassischen 
Mythologie,  die  den  Göttern  sündhaften  Ehebruch  mit  ver- 
heirateten irdischen  Frauen  zuschrieb,  wollten  so  die  Hei- 
denchristen den  Gedanken  an  einen  Ehebruch  nicht  auf- 
kommen lassen8). 

»)  AposteJg.  17,  23. 

*)  Justin,  Apologie  I,  5. 

3)  Übrigens  war  bereits  im  Heidentum  die  göttliche  Abstam- 
mung häufig  mit  der  Vorstellung  der  unbefleckten  Empfängnis  ver- 
knüpft. Zu  Rom  durfte  niemand  zu  leugnen  wagen,  daß  Romulus  vom 
Gotte  Mars  mit  der  jungfräulichen  Rhea  Silvia  gezeugt  war.  Die  Schüler 
Piatos  waren  fest  überzeugt,  daß  Perictione  als  reine  Jungfrau  durch 
Apollo  Mutter  des  großen  Plato  wurde,  und  daß  der  Gott  selbst  diese 
Abstammung  des  Kindes  ihrem  Verlobten  Ariston  verkündet  hatte. 
Aus  der  Mythologie  erinnere  ich  nur  an  die  Verbindungen  des  Zeus 
mit  der  jungfräulichen  Danae,  Leda,  Io  oder  Europa.  Die  übernatür- 
lichen Geburten  behandelt  eingehend  E.  S.  Harlland,  Legend  of 
Perseus,  London  1894.  Vol.  1.  Auch  Buddha  wird  gemäß  einer  spä- 
teren Überlieferung   von   einer   unbefleckten  Jungfrau   geboren,   vgl. 


32  Die  Christusmythe  des  Prof.  A.  Drews  im  Lichte  d.  Wissenschaft. 

Die  Untersuchung  hat  somit  ergeben: 

1.  daß  Drews  Annahme,  der  jüdische  Messias  und  der 
christliche  Heiland  seien  vom  Parsismus  abgeleitet  und 
hätten  auch  Züge  vom  indischen  Gott  Agni  angenommen, 
gänzlich  erfunden  ist; 

2.  daß  Drews  das  Buch  Esther  völlig  unmethodisch 
und  romanhaft  behandelt  hat1); 

3.  daß  die  Geschichtlichkeit  der  menschlichen  Person 
Jesu  durch  Drews  Werk  wenigstens  nicht  erschüttert  ist. 

Windisch,  Buddhas  Geburt,  Leipzig  1908,  S.  156-173.  Daß  hier 
der  Buddhismus  nicht  das  Christentum  beeinflußt  hat,  hat  Windisch, 
S.  220  ff.  wahrscheinlich  gemacht. 

')  Drews  Ableitung  des  Purimfestes  vom  Sakäen-  und  Zagmuk- 
feste  und  dem  »Ritte  des  Bartlosent  sind  ohne  kritische  Prüfung  aus 
Frazers  Werk  »Golden  bough«  entnommen.  Aber  Drews  hätte  das 
Buch  des  Andrew  Lang,  Magic  and  religion  (London  1901)  kennen 
sollen,  worin  Frazers  Hypothesen  schon  zum  Teil  gründlich  wider- 
legt sind. 


Die  Männer  der  großen  Versammlung  und  die 
Gerichtshöfe  im  nachexllischen  Judentum. 

Von  S.  Funk. 

Zu  den  vielen  Fragen,  die  noch  ihrer  Lösung  harren, 
gehört  auch  die  der  Geschichte  und  der  Zusammensetzung 
der  »großen  Versammlung«  und  der  verschiedenen  Richter- 
kollegien zur  Zeit  des  zweiten  Tempels.  Über  die  ältere 
Zeit  sind  die  Quellen  äußerst  spärlich  und  über  die  spä- 
tere Zeit  weichen  die  Berichte  vielfach  von  einander  ab. 
So  schildert  Josephus  die  Richterkollegien  ganz  anders  als 
sie  uns  durch  die  talmudischen  Quellen  überliefert  werden. 
Die  meisten  Forscher  entscheiden  sich  nach  Kuenen  und 
Schürer,  den  zwei  Wortführern  im  Streite,  ohne  weiteres 
für  Josephus  und  lassen  die  hebräischen  Quellen  ganz 
unberücksichtigt.  Man  hat  es  gar  nicht  versucht,  den  Spuren 
der  Einrichtungen,  wie  sie  nach  Josephus  im  jüdischen 
Volke  bestanden  haben,  im  talmudischen  Schrifttume  nach- 
zugehen. Und  solche  müßten  sich  doch  in  den  älteren 
Quellenwerken  finden,  wenn  die  Angaben  des  erwähnten 
Historiographen  auf  Wahrheit  beruhen  sollen.  So  groß  ist 
ja  die  Zeitdifferenz  zwischen  Josephus  und  den  älteren 
Teilen  des  talmudischen  Schrifttums  denn  doch  nicht,  daß 
während  derselben  die  Zahl  der  Mitglieder  und  die  Art  der 
Zusammensetzung  so  bedeutender  und  wichtiger  Körper- 
schaften, wie  die  der  Synhedrien,  in  Vergessenheit  geraten 
sein  sollten!  Im  Nachstehenden  wollen  wir  den  Versuch 
machen,  einzelne  diesbezügliche  Angaben  des  Josephus  mit 
denen  des  Talmud  zu  vergleichen  und  bei  manchen  der- 
selben deren  Übereinstimmung  nachzuweisen.  Der  Über- 
sicht halber   wollen  wir   mit  den  kleinsten  der  Richterkol- 

Monatsschrift    55.  Jahrgang.  ■* 


34  Die  Männer  der  großen  Versammlung  und 

legien  den  Anfang  machen  und  im  Laufe  der  Abhandlung 
zum  höchsten  Forum,  zu  dem  der  »großen  Versammlung« 
aufsteigen,  welches  weit  mehr  den  Charakter  einer  gesetz- 
gebenden Körperschaft    hatte,    als  den    eines  Gerichtshofes. 

A 

D  ie  Zahl  der  Mitgliede  r   in   den   verschiedenen 

Gerichtshöfen. 

1)  Gerichtshof  für  (Civil-)  Geldprozesse. 
Nach  der  Mischna  Sanhedrin  I,  1,  bestand  das  kleinste 
Ortsgericht  aus  drei  Personen,  das  »kleine  Synhedrium«, 
der  eigentliche  Kriminalgerichtshof,  aus  2'^  und  endlich  das 
große  Synhedrium  aus  71  Mitgliedern.  Nach  Josephus 
scheint  die  kleinste  Ortsbehörde  aus  7  Personen  bestanden 
zu  haben.  Nach  seiner  Angabe  soll  nämlich  Moses  ange- 
ordnet haben:  »Es  sollen  gebieten  in  jeder  Stadt  sieben 
Männer,  und  jeder  Behörde  sollen  zur  Unterstützung  zwei 
Männer  vom  Stamme  Lewi  beigegeben  werden«.  (Antt.  IV, 
8,  14    ap/eTco-rav  exi<mjv  ~gmv  av^o?  etctc.':  .  .  .  ivA.Q-r,  öz  apj^j 

Man  könnte  bei  dieser  Stelle  zunächst  an  eine  Ver- 
waltungsbehörde denken.  Die  Verwaltungsbehörden  der 
Kommunen  bestanden  ja  noch  in  talmudischer  Zeit  aus 
sieben  Personen  (den  vyn  *31B  npatP,  Megilla  26  a  und  b). 
Aber  aus  Bell.  Jud.  II,  20,  5  geht  deutlich  hervor,  daß  die 
siebengliedrigen  Behörden,  die  Josephus  in  den  Städten 
Galiläas  einsetzte,  Richterkollegien  waren.  Sie  hatten  nur 
kleinere  Streitigkeiten  abzuurteilen,  nicht  aber  t<x  |asi'(<o 
Tcp-y-Y^'/Ta  y.al  Ta?  <p<mx,oc;  Stxa;,  deren  Aburteilung  vielmehr 
dem  von  Josephus  eingesetzten  Rat  der  Siebzig  vorbe- 
halten war.  Und  auch  bei  der  Wiedergabe  des  Gesetzes 
über  anvertrautes  Gut  (Exod.  22,  6)  setzt  Josephus  die 
Existenz  von  Sieben-Männer-Gerichten  voraus  (Antt.  IV,  8 
38):  el  hz  |A7)0*sv  £7ußo<Aov  Spöv  6  icurreuftcl;  <i::o}icrsv,   ä<f>i:<6f/.svo; 

S7Tt    TOU?    £%T7.    JtpiT«;    OUVUTtö    TOV    t>s6v    V.xX 


die  Gerichtshöfe  im  nachexilischen  Judentum.  35 

Schürer  (Gesch.  d.  jüd.  Volkes  3.  Aufl.  II,  177)  meint, 
daß  der  Widerspruch  auf  einem  Mißverständnis  beruhe;  die 
Mischna  will  nur  jene  Fälle  aufzählen,  zu  deren  Entschei- 
dung drei  Personen  genügen.  So  genügen  z.  B.  drei  Per- 
sonen zur  Entscheidung  in  Geldprozessen,  dreiundzwanzig 
Personen  zur  Entscheidung  in  schweren  Kriminalprozessen 
usw.  »Aber  nirgends«  —  meint  Schürer  —  »ist  gesagt,  daß 
es  Ortsgerichte  gegeben  habe,  welche  aus  drei  Personen 
bestanden.«  Daß  das  kleinste  Richterkollegium  nach  der 
Auffassung  der  babylonischen  Amoräer  nicht  immer  aus 
drei  Personen  bestehen  mußte  und  in  talmudischer  Zeit  nicht 
aus  drei  Personen  bestanden  hat,  hätte  Schürer  aus  San- 
hedrin  7  b  entnehmen  können,  wo  ja  ausdrücklich  berichtet 
wird,  daß  R.  Huna,  so  oft  eine  Gerichtsverhandlung  vor 
ihn  kam,  zehn  Gesetzeskundige  um  sich  versammelte, 
damit,  wie  er  sagte,  ihn  »nur  ein  Span  vom  Balken  (ein 
kleiner  Teil  der  Verantwortlichkeit)  treffe«1).  R.  Huna  hat 
wohl  nicht  ohne  besondern  Grund  gerade  10  Richter  zu 
den  Verhandlungen  berufen.  Er  hätte  ja  in  seinem  von 
Gelehrten  überfüllten  Lehrhause2)  zu  jeder  Zeit  auch  23 
Gesetzeskundige  finden  und  jeden  Fall  durch  ein  kleines 
Synhedrium  entscheiden  lassen  können.  Er  hätte  dadurch 
seine  Verantwortung  jedenfalls  noch  mehr  verringert,  und 
wenn  er  sich  mit  JO  Richtern  begnügte,  so  wird  es  mit 
der  Zahl  10  —  wenn  man  dazu  noch  den  vorherstehenden 
Ausspruch  des  R.  Josua  b.  Lewi  berücksichtigt,  der  ebenfalls 
von  10  Richtern  spricht  —  eine  besondere  Bewandtnis  haben. 
Auch  Maimuni  sieht  die  Zahl  10  nicht  als  eine  zufällige  an. 
»Obgleich«,    sagt   dieser,    »ein    Richterkollegium    von    drei 


J)  Vgl.  den  vorherstehenden  Ausspruch  R.  Josuas  b.  Lewi : 
»Wenn  zehn  zu  Gericht  sitzen,  so  hängt  die  Halsfessel  um  den  Hais 
dieser  aller«. 

*)  Vgl.  die  hyperbolische  Äußerung  der  Palästinenser  über  die 
große  Anzahl  seiner  Hörer  in  Kethubb.  und  Funk,  die  Juden  in  Ba- 
bylonien  I,  113. 

3« 


36  Die  Männer  der  großen  Versammlung  und 

(Richtern)  als  ein  komplettes  zu  betrachten  ist,  so  ist  es  doch, 
je  größer  die  Zahl  derselben  ist,  umso  lobenswerter;  und 
es  ist  gut,  daß  man  die  Prozesse  durch  elf, 
durch  mehr  als  zehn  Richter  entscheiden  lasse« 
(Jad  ha-chasakah  hilch.  Sanh.  II,  13).  Man  sieht,  daß  Maimuni 
auf  das  »mehr  als  zehn«  Gewicht  legt.  Nichts  ist  aber 
naheliegender,  als  die  Zehnzahl  auf  die  »edah«  zurückzu- 
führen, die  in  der  Bibel  als  Richterkollegium  bezeichnet 
wird  rriyn  ibdtbm  (Num.  35,  24,  25)  und  unter  welcher  man 
nach  der  Mischna  (Sanhedr.  I,  4)  zehn  Personen  verstanden 
hat.  Bekanntlich  darf  ja  auch  der  öffentliche  Gottesdienst 
nur  in  einer  »edah«  von  10  erwachsenen  Personen  abge- 
halten werden    (Megilla  23  b). 

Die  Palästinenser,  die  in  Bezug  auf  den  Kultus  auch 
einer  Versammlung  von  sieben  Personen  die  Rechte  einer 
öffentlichen  Versammlung  zuerkannt  haben  (vgl.  Soferim  9,  7), 
werden  darum  wohl  auch  schon  zur  Zeit  des  Josephus, 
die  Zahl  der  Richter  in  der  Regel  von  drei  nur  auf  sieben, 
nicht  auf  zehn  erhöht  haben.  Dies  mag  denn  auch  Josephus 
veranlaßt  haben,  stets  von  siebengliedrigen  Richterkollegien 
zu  sprechen.  Ob  ihm  die  Halachah  bekannt  war,  daß  zur 
Entscheidung  von  Geldprozessen  eigentlich  drei  Personen 
genügen,  läßt  sich  kaum  beweisen  und  ist  auch  nicht  an- 
zunehmen. Dies  stand  zur  Zeit  des  Josephus  vielleicht  auch 
nicht  ganz  fest.  Bekanntlich  gingen  die  Meinungen  über 
den  ersten  Satz:  »Geldprozesse  werden  durch  drei  (Richter) 
entschieden«,  der  weit  älter  ist  als  die  nachfolgenden  Sätze 
der  ersten  Mischna  in  Sanhedrin  schon  zur  Zeit  der  Tannaim 
auseinander.  Kein  Geringerer  als  R.  Juda  ha-Nasi  —  nach  der 
Mechilta  zu  Exod.  22,  8.  R.  Meir  —  verstand  diesen  Satz 
so,  daß  die  Majorität,  die  die  Entscheidung  fällt,  aus  drei 
Richtern  bestehen  solle,  die  Gesamtzahl  der  Richter  wäre 
demnach  mindestens  fünf  gewesen.  »Rabbi  sagt  (Geldpro- 
zesse) werden  durch  fünf  entschieden,  damit  jede  Entschei- 
dung durch  (eine  Majorität  von)   drei  Richtern  entschieden 


die  Gerichtshöfe  im  nachexilischen  Judentum.  37 

werde«  (Tosefta  1, 1).  Im  jerusalemischen  Talmud  (Sanhedrin 
I,  1)  wird  dies  von  R.  Abbahu,  der  von  der  erwähnten  To- 
sefta offenbar  keine  Kenntnis  hatte,  als  Frage  aufgeworfen: 
»Nach  Rabbis  Auffassung  (von  Exod.  22,  18)  durften  Geld- 
prozesse nur  durch  fünf  und  (schwere  Kriminalprozesse) 
durch  eine  Majorität  von  23  (also  eigentlich  durch  ein 
Richterkollegium  von  Ab)  entschieden  werden?!«1)  Und  als 
Antwort  wird  eine  Boraitha  von  R.  Chiskija  zitiert,  die, 
wie  die  Tosefta  infolge  der  Auslegung  dieses  Schriftverses 
für  Geldprozesse  in  der  Tat  fünf  Richter  vorschreibt2).  Es 
scheint  demnach  eine  ziemlich  verbreitete  Ansicht  existiert 
zu  haben,  welche  auch  bei  Geldprozessen  eine  Minimalzahl 
von  fünf  Personen  vorschrieb,  wozu  noch  die  zwei  Ge- 
richtsschreiber kamen  (s.  das.  I  b),  die  wohl  in  der  Regel 
als  gleichberechtigte  Richter  zugezogen  wurden,  so  daß  die 
Gesamtzahl  der  Richter  in  der  Regel  sieben  betrug. 

2)  Das  kleine  Synhedrium  (das  Kriminalgericht). 
Über  die  weitere  Konsequenz,  die  nach  R.  Abbahu 
von  jener  Auffassung  der  Mischna,  nach  welcher  er  mit 
der  Zahl  »drei«  die  Stimmen  der  Majorität  im  Richter- 
kollegium   feststellen    wollte,    gezogen    werden  müßte  und 


»)  Im  babylonischen  Talmud  Sanhedr.  3  heißt  es:  R.  Abbahu 
sagte  lästernd:  Demnach  müßte  das  große  Synhedrium  aqs  141  Mit- 
gliedern bestehen,  um  mit  einer  Majorität  von  71  Entscheidungen 
fällen  zu  können  und  das  kleine  Synhedrium  aus  45  Mitgliedern,  um 
mit  einer  Majorität  von  23  Richtern  entscheiden  zu  können.  In  der 
Bibel  hieß  es  aber  doch:  »Versammle  mir  70  Männer«  (Num.  11,  lo), 
beim  Zusammentritt  des  Gerichtshofes  sollen  es  nur  70  sein?!  Im 
palästin.  Talmud  wird  die  Frage  R.  Abbahus  von  vornherein  wohl  mit 
Rücksicht  auf  den  angeführten  Schriftvers  nur  auf  das  kleine  .Syn- 
hedrium, nicht  auf  das  große  ausgedehnt.  Bei  diesem  konnte  kein 
Zweifel  obwalten. 

2)  Von  einem  fünfgliedrigen  Kollegium,  welches  Besfihlüpse 
faßte,  wird  berichtet  in  der  Tos.  Tehar.  IX,  14,  Mikwaoth  VIII,  10, 
Schebiith  IV,  21  und  in  der  Mischna  Erubin  III,  4-  In  Ganzak.  wird 
von  R.  Jizchak,    richtiger   R.  Zadok,   eine  rituelle  Frage    an  R.  Josua 


38  Die  Männer  der  großen  Versammlung  und 

demnach  auch  die  Zahl  23  bei  schweren  Kriminalprozessen 
als  Norm  für  die  Stimmenzahl  der  Majorität  im  Richter- 
kollegium, nicht  aber  für  die  Gesamtzahl  der  Richter,  auf- 
gefaßt werden  sollte,  wird  weiter  nicht  gesprochen.  Es 
ist  auch  keine  Baraitha  bekannt,  die  in  der  richtigen  Kon- 
sequenz dieser  Ansicht  für  Richterkollegien  bei  Kriminalpro- 
zessen 45  Richter  vorschreiben  würde.  Es  ist  aber  doch  sehr 
wahrscheinlich,  daß  diese  Ansicht,  die  von  einem  so  be- 
deutenden Manne,  wie  dem  Mischnaredaktor  vertreten  wurde, 
auch  in  den  früheren  Jahrhunderten  ihre  Anhänger  hatte 
und  daß  ihr  in  der  Praxis  Rechnung  getragen  wurde. 

Aus  zwei  Notizen  des  Josephus  über  den  bekannten 
Prozeß  gegen  Herodes,  aus  seiner  Angabe  Antt.  XIV,  9,  4, 
nach  welcher  Herodes  beim  Antritt  seiner  Regierung  alle 
Mitglieder  des  Synhedriums  getötet  (wavracs  awejweive  tou; 
evt<3  <7uveSpiw)  und  aus  Antt.  XV,  1,  2,  nach  welcher  er  »die 
45  Vornehmsten  von  der  Partei  des  Antigonus«  getötet 
habe,  geht  nämlich  hervor,  daß  es  dazumal  ein  Synhedrium 
von  45  Richtern  gegeben  habe.  Wellhausen  (die  Pharisäer 
und  Sadduzäer,  Greifswald  1878,  S.  105)  glaubt  darum  an- 
nehmen zu  müssen,  daß  das  große  Synhedrium  aus  45 
Richtern  bestanden  habe.  Schürer  verweist  hingegen  mit 
Recht  auf  andere  Stellen  in  Josephus,  wie  Bell.  Jud.  II,  20,  5, 
Vfta  11  aus  welchen  mit  Sicherheit  auf  71  Richter  des 
großen  Synhedriums  zu  schließen  ist  und  meint,  daß  jenes 
TOxvTa?  des  Josephus  nicht  wörtlich  zu  nehmen  (Schürer, 
Gesch.  d.  jüd.  Volkes  usw.,  3.  Aufl.,  S.  198)  sein  werde. 
Herodes  hat  also  45  und  nicht  »alle«  Mitglieder  des  Syn- 
hedriums getötet.  Ist  aber  auch  das  angeführte  Wort  nicht 
wörtlich  gemeint,  so  ist  nicht  anzunehmen,  daß  Josephus 
■rcavTa?  arcsxTsive  Toug  £v  i&  <7uv£$p(o>  geschrieben  hätte,  wenn 


b.  Elischa  und  an  die  vier  Ältesten,  die  mit  ihm  waren,  also  an  ein 
fünfgliedriges  Kollegium  (Nasir  44  a)  gerichtet.  In  der  Pesikta  152a  und 
in  Levit.  rab.  29,  4  wird  der  Schriftvers  y  89,  16  auf  die  fünf  Lehrer 
bezogen,  die  die  Monatseinschaltung  vornehmen. 


die  Gerichtshöfe  im  nachexilischen  Judentum.  39 

Herodes  nur  45  von  71  Synhedrialmitgliedern  getötet  hätte. 
Die  genannten  Forscher,  wie  auch  Jelski,  der  Schürerfolgt, 
haben  wohl  übersehen,  daß  dem  Herodes  (nach  Antt.  XIV, 
9,  4)  Mordtaten  zur  Last  gelegt  wurden  und  ein  solcher 
Prozeß  nicht  zur  Kompetenz  des  großen,  sondern  des  kleinen 
Synhedriums  gehörte.  Ein  solches  mußte  nach  der  Über- 
lieferung R.Judas,  des  Mischnaredaktors,  konsequenterweise 
aus  45  Richtern  bestehen,  da  die  Majorität  23  betragen 
mußte.  Daß  aber  nicht  der  Gerichtshof  von  Galiläa,  der 
eigentlich  als  an  der  Stätte  der  Wirksamkeit  des  Herodes 
dazu  berufen  gewesen  wäre,  sondern  ein  kleines  Synhedrium 
in  Jerusalem  diesen  Prozeß  durchführte,  dessen  Richter  zu 
den  Vornehmsten  und  auch  zu  den  Mitgliedern  des  großen 
Synhedriums  gehörten,  ist  damit  zu  erklären,  daß  ein  an- 
deres Forum  nicht  den  Mut  gehabt  hätte,  einen  Herodes 
vor  den  Richterstuhl  zu  laden.  Auch  dieses  hätte  es  kaum 
gewagt,  wenn  ihn  Hyrkan  nicht  dem  Gerichte  überwiesen 
hätte.  Wagte  es  doch  angesichts  der  bewaffneten  Kriegs- 
schaar,  an  deren  Spitze  Herodes  vor  dem  Gerichte  erschien 
nur  ein  beherzter  Mann,  Eayias  (aller  Wahrscheinlichkeit 
nach  =  Schammai)  dem  Angeklagten  seine  Sünden  vorzu- 
halten  (Antt,  a.  a.  O.  3-5). 

3)    Das    große    Synhedrium. 

Das  große  Synhedrium  hat  auch  nach  Josephus  aus 
70  Mitgliedern  (außer  dem  Vorsitzenden)  bestanden  (vgl. 
Bell.  Jud.  II,  18,  6;  II,  20,  5;  IV,  5,  4;  Vita  11  und  Schürers 
Gesch.  II,  198);  wird  aber  nur  selten  vollzählig  zusammen 
gewesen  sein;  es  trat  nur  zusammen,  um  die  Prozesse  zu 
entscheiden,  die  nach  der  Mischna  (Sanhedrin  XI,  2)  zur 
Kompetenz  des  »Gerichtes  von  71«  gehörten,  zunächst  wo 
es  sich  um  Fälle  handelte,  über  welche  die  niedrigen  Ge- 
richte sich  nicht  einigen  konnten  (ebendas.  Tosefta  Sanhedr. 
VII  und  Joseph.  Antt.  IV,  8,  14).  Die  Richter  hatten  ja  ihren 
bürgerlichen  Beruf,    dem    sie  nachgehen   mußten.     Nur  ein 


40  Die  Männer  der  großen  Versammlung  und 

Dritteil,  nämlich  23  Richter  von  den  Mitgliedern  des  großen 
Synhedriums,  mußten  ständig  in  der  Quaderhalle  anwesend 
sein  (Sanhedr.  37  a,  vgl.  auch  jer.  Sanhedr.  19  c  und  Maimuni 
Hilch.  Sanhedr.  III,  2).  Bei  dem  erwähnten  Prozesse  gegen 
Herodes,  welcher  wohl  von  einem  aus  Mitgliedern  des  großen 
Synhedriums  >den  Vornehmsten  aus  der  Partei  des  Anti- 
gonos«  zusammengesetzten  Gerichtshofe  durchgeführt  wurde, 
waren  45  zugegen;  sei  es,  daß  man  auch  jener  Ansicht 
Rechnung  tragen  wollte,  die  für  die  entscheidende  Majo- 
rität bei  jedem  Kriminalprosse  23  Stimmen  forderte,  oder 
daß  man  nur  wegen  der  Bedeutung  des  großen  Pro- 
zesses das  Ansehen  des  Gerichtes  durch  diese  Maßregel 
erhöhen  wollte.  Denn  das  steht  ohne  Zweifel  fest,  daß 
diese  Ansicht,  ungeachtet  des  Umstandes,  daß  sie  von 
späteren  Tannaim  verfochten  wird,  in  der  Praxis,  die  viel- 
leicht verschiedenartig  gehandhabt  wurde,  wurzelte. 

4.  Die  Männer   der  großen  Versammlung. 

Die  »Große  Versammlung«  war  ursprünglich,  wie  be- 
reits erwähnt  wurde,  kein  Gerichtshof,  sondern  ein  regie- 
render oder  an  der  Regierung  mitbeteiligter  Senat.  Dieser 
übte  bis  zur  Zeit  des  Simon  Justus  im  Wesentlichen  alle 
Religionsbefugnisse  aus  und  war  zunächst  die  gesetzgebende 
Körperschaft  auf  religiösem  wie  auf  sozialem  Gebiete.  In 
der  griechisch-römischen  Zeit  sind  jene  Befugnisse  zum 
großen  Teile  auf  das  7igliedrige  Synhedrium  übergegangen1). 
Bei  wichtigeren  Einführungen  und  tief  ins  Leben  einschnei- 
denden Verordnungen  trat  jedoch  auch  in  späteren  Epochen 
eine  solche  »Versammlung«  zusammen  (vgl.  Halevy,  Do- 
roth  ha-rischonim  IIa,  S.  42).  Als  letzte  derartige  »Versamm- 
lung«,   welche    Beschlüsse    von    weittragender    Bedeutung 

»)  Darum  bezeichnet  es  Josephus  als  ?,  yspoucia  (Anlt.  IV,  8, 
14.  Vgl.  Schürer  II,  S.  190).  Der  Verfasser  von  Act.  5,  21  hat  aber 
richtig  das  Synedrium  von  der  Oerusia  unterschieden  und  ersteres 
für  einen  engeren  Begriff  gehalten  als  letztere.  Letztere  stand  höher 
und  hatte  85  Mitglieder.  Vgl.  hingegen  Schürer  II8,  S.  196.  Note  16. 


die  Gerichtshöfe  im  nachexilischen   Judentum.  41 

fasste,  wird  die  mian2)  (Versammlung)  z.  Z.  des  Patriarchen 
R.  Jehuda  II.  öfter  erwähnt  (Sabbath  3  a,  Jebam.  92  b,  Ke- 
thub.  2  b,  63  b,  78  b,  Gittin  72  b,  76  b,  Aboda  sara  37  b, 
Nidda  25  b  u.  35  b). 

Als  Urheber  der  von  dieser  Versammlung  gefassten 
Beschlüsse  werden  die  Teilnehmer  an  dieser  Versammlung 
an  den  erwähnten  Stellen  nur  lrnm  »unsere  Lehrer« 
schlechtweg  genannt;  wegen  ihrer  Bedeutung  wurden  sie 
auch  als  »gepanzerte  Männer«  (poin  -byz)  bezeichnet  und 
darum  ist  das  Zusammentreten  dieser  Körperschaften  in 
Jebam.  121  a  mit  on/vn  ausgedrückt.  An  derselben  Stelle 
wird  berichtet,  daß  diese  aus  85  Mitgliedern  bestanden 
habe.  Auch  zur  Zeit  des  Patriarchen  R.  Gamaliel  II  (80 — 
117)  hat  in  Jamnia  eine  85gliedrige  Gelehrtenversammlung 
getagt  (Tosefta  Kelim,  baba  b.  2,  14).  Fügt  man  noch  hinzu, 
daß  es  85  Männer  waren,  die  nach  Nechemja  (Kap.  8 — 10) 
den  Bund  mit  Gott  unterschrieben  haben  und  daß  schon 
in  vorexilischer  Zeit  eine  85gliedrige  Vertretung  erwähnt 
wird,  so  wird  man  die  Angabe  des  jerusalemischen  Tal- 
muds (Meg.  70  d),  nach  welcher  auch  die  »Große  Versamm- 
lung«, die  von  Esra  ins  Leben  gerufen  wurde,  Jahrhunderte 
hindurch  das  höchste  religiöse  und  juridische  Forum  ge- 
bildet, aus  85  Mitgliedern  bestanden  hat,  kaum  bezweifeln 
können. 

Diese  Zahl  ist  ihrem  Ursprünge  nach,  wenn  wir  den 
Umstand  berücksichtigen,  daß  wohl  auch  diese  oberste  Be- 
hörde wie  das  70gliedrige  Synedrium  der  Bibel  (Numeri  11, 
16,  24)  sich  aus  den  vornehmsten  Personen  der  12  Stämme 
zusammengesetzt  hat  (s.  Sanhedrin  17  a),  auf  die  sieben- 
gliedrigen  Vertretungen  der  Stämme  —  die  politische  Ver- 
waltung  der   Städte    lag   ja    noch  in  talmudischer  Zeit   in 

2)  Vgl.  Midr.  r.  zu  Hohel.  7,  14,  wo  die  Versammlungen  (miam 
des  Moses,  Josua,  David  und  Chiskija  als  »die  alten«  (Versammlungen), 
die  des  Esra,  Jochanan  b.  Sakka'i  und  R.  Meir  als  die  neuen  bezeichnet 
werden. 


42  Die  Männer  der  großen  Versammlung  etc. 

der  Hand  einer  siebengliedrigen  Vertretung  TOT  '^B  nyaty, 
Megilla  28  a  —  zurückzuführen  (12  X  ?  +  l)1).  Eine  Ver- 
sammlung von  7  Personen  war,  wie  bereits  erwähnt,  nach 
der  Ansicht  der  Palästinenser  cnjja  *ö3rT)  berechtigt,  einen 
öffentlichen  Gottesdienst  abzuhalten  (Soferim  9,  7).  Nach  der 
Anschauung  der  Patriarchen  Rabban  Gamliel  und  seines 
Sohnes  hatte  auch  die  wichtige  Funktion  der  Anordnung 
eines  Schaltjahres  ein  siebengliedriges  Kollegium  vorzu- 
nehmen (vgl.  die  Mischna  Sanhedr.  I,  2  und  hiezu  den 
Talmud  S.  IIb  jerusch.  Chagiga  III,  78  d  u.  a.  St.)  Wahr- 
scheinlich, weil  nach  ihrer  Ansicht  eine  Versammlung  von 
7  Lehrern  auch  eine  my  bildete.  R.  Elieser  begründet  näm- 
lich seine  Ansicht,  welche  zur  Einschaltung  eines  Monates 
ein  Kollegium  von  10  Personen  vorschreibt  mit  dem  Schrift- 
verse: b»  rnjia  an:  ov£k  ty  82,  1  (Pirke  di  R.  Elieser  VIII, 
vgl.  Exod.  r.  15,  20).  Die  Praxis,  wie  sie  von  den  Patri- 
archen geübt  wurde,  beruht  demnach  auf  der  Annahme, 
daß  auch  7  Personen  eine  rnj?  bilden.  In  diesen  zwei  ab- 
weichenden Ansichten  wird  auch  der  letzte  Grund  der  Dif- 
ferenz in  den  Angaben  über  die  Zahl  der  Mitglieder  zu 
suchen  sein.  Diese  wird  bekanntlich  in  Megilla  17  b  und 
jerusch.  Berachoth  mit  120  angegeben;  diese  Angabe  ent- 
spricht der  ersterwähnten  Ansicht  (10  X  12  =  120),  die 
auch  in  der  Mischna  in  Sanhedrin  1,  4,  Megilla  23  b  zum 
Ausdrucke  kommt,  und  die  in  der  späteren  Zeit  auch 
in  der  Praxis  bei  Zivilprozessen  insofern  als  maßgebend 
angesehen  wurde,  als,  wie  wir  oben  ausgeführt,  man  ein 
lOgliedriges  Richterkollegium  anstrebte. 

1)  Vgl.  Funk,  die  Entstehung  des  Talmud,  S.  36. 


Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen 


Von  D.  Feuchtwang-. 
2.  Der  Stein  Scnetüijja. 

(Schluß). 

Rosenmüller  (II,  2,  2,  245)  gibt  an,  der  Stein  der 
Moschee  sei  der,  auf  welchem  Jakob  schlief  (Raumer,  Pa- 
lästina I,  167,  Anm.)  Wie  fest  und  ununterbrochen  die  Kette 
der  Überlieferungen  ist,  zeigt  sich  an  diesen  arabischen 
Sagen,  die  sich  an  den  geheimnisvollen  Stein  knüpfen,  der 
uns  im  frühesten  Altertume  gleichwie  in  jüngster  Gegen- 
wart begegnet.  Hierher,  zum  »heiligen  Fels«,  wird  nach 
arabischer  Sage  am  jüngsten  Tage  die  Ka'aba  (auch  ein 
viereckiger  heiliger  Stein)  von  Mekka  kommen.  Ein  Beweis, 
daß  man  ihm  eine  ähnliche  Bedeutung  beimaß,  wie  jenem. 
Jesus  hat  nach  der  Sage  den  auf  dem  »heiligen  Fels« 
(Stein)  geschriebenen  heiligen,  unaussprechlichen  Namen 
Gottes  entdeckt  und  damit  seine  Heilungswunder  vollbracht. 
Man  erinnere  sich  an  die  Berichte,  nach  denen  der  Name 
Gottes  auf  dem  rwra  steht.  In  den  arab.  Überlieferungen 
laufen  offenbar  Ssgen  über  den  Stein  Jakobs,  den  Moriah, 
den  iTfitP   ineinander. 

Nach  der  Auffassung  Eislers  (Philclogus  LXVIII,  1,  117) 
ist  aber  auch  die  Ka'aba  nichts  anderes,  als  ein  N  a  b  e  1  s  t  e  i  n, 
denn  es  bedeutet  ursprünglich  Würfel,  Kreisel,  und  ist  soviel 
wie  Kußo?  =  cubus.  Der  Ka'abastein  ist  soviel  wie  der 
göttliche  Mutterstein  petra  genitrix  in  mithräischen  In- 
schriften. Pseudoplutarch  spricht  vom  Wunderstein  der 
kleinasiatischen  Göttermutter.     »Für  Kleinasien   ist  die  Be- 


44      Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

nennung  des  Aerolith-Fetischs  als  öp.cpy.>.6;  durch  die  Kybe- 
leepiklese  »Omphala«  gesichert.  r%  6jz<paX6<;  ist  die  Bezeich- 
nung des  Heiligtums  von  Paphos,  dem  Ausgangspunkte 
aller  griechischen  Aphroditenkulte;  d.  h.  für  den  Stein  der 
Kubra-Kypfis  auf  Cypern.  Die  Araber  denken  sich  den 
Nabel,  die  himmlische  Ka'aba,  über  ihrem  irdischen 
im  Mittelpunkt  der  Erde  gelegenen  Abbild:  den  Hagr  über 
dem  Stein  der  Steinmutter  Hagar  im  Himmel  schwebend. 
Die  Theologie  des  Islam  lehrt,  daß  das  Vorbild,  der  Typus 
der  Kaaba  im  Himmel  vor  der  Weltschöpfung  er- 
baut wurde  (Eisler,  Philologus,  Bd.  LXVIII,  Heft  1,  S.  1 18 ff). 
Wer  sieht  hier  nicht  die  übereinstimmenden  Momente  mit  den 
alten  Traditionen  der  Haggada  über  den  Schetijja-Stein  ? 
Es  ist  nun  aber  an  der  Zeit,  daß  wir  uns  um  die 
sprachliche  Bedeutung,  die  Wurzeln  der  Bezeichnungen 
rrniP  und  prrtp  kümmern.  Nicht  als  ob  ich  die  beiden  Be- 
griffe auch  philologisch  unbedingt  zusammenbringen  wollte, 
obzwar  ich  ihre  Verwandschaft  stark  vermute.  Die  Ety- 
mologie ist  durchaus  unsicher  (s.  Levy  unt.  biirrttf  ,ddv>  und 
XDKnT).  Levy  (a.  a.  0.)  leitet  beides  ohne  weiteres 
von  einer  Wurzel  ab.  Als  Grundwort  wird  w&  oder 
Ttf  angenommen.  Als  Bedeutung  für  n;r'"  t?N;a#)  gilt  all- 
gemein »Fundament,  Grund«;  was  ja  der,  allerdings 
seltenen,  hebr.  Wurzel  nriiy  =  setzen,  legen  entspricht.  Der 
Talmud  nimmt  überall  die  Wurzel  *>^  an.  Von  der  Wurzel 
nnr  kennen  wir  im  Hebr.  dann  das  mit  ^T.tf  (Grund)  gleich- 
bedeutende ttoty  (Ps.  11,  3;  Jes.  19,  10)  =  Säulen,  Pfeiler, 
Fundament.  Im  Toldoth  Jeschu  wird  n'JMP  durch  rr  +  n»'  er- 
klärt, d.  h.  Gott  hat  ihn  eingesetzt  (Krauß,  Das  Leben 
Jesu  278,  279).  Sowie  also  n?w  und  rr/w  sprachlich  ein 
Paar  zu  sein  scheinen,  so  sind  sie  es  sachlich  um  so 
gewisser.  Sie  gehören  demselben  Überlieferungs- 
kreise an,  stammen  aus  ältesterZeit  und  spielen 
auch  im  späteren  Ritus  und  feierlichen  Zere- 
moniale     des    Heiligtums    verwandte    Rollen; 


Djs  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien.    45 

dieses  Zeremoniale  hat  sich  in  unserem  Ritus  des  Ho- 
schana  rabbah  sogar  bis  heute  erhalten. 

Nicht  überflüßig  dürfte  es  sein,  darauf  hinzuweisen, 
daß  auch  im  ältesten  Griechenland  der  Segen  des  Re- 
gens durch  einen  Stein  herbeigeführt  wurde. 
Wurde  doch  der  Okeanos  in  Steingestalt  dargestellt.  Be- 
sprengen mit  Wasser  sollte  Regen  bringen.  Wir  haben  aber 
einen  sehr  merkwürdigen  Stein  im  griechischen 
Sagenkreise,  dessen  Wesen  im  Zusammenhange  mit  dem 
bis  nun  Erörterten  unser  Interesse  erweckt.  Es  ist  'Estioc 
(Über  Hestia-Vesta  vgl.  das  große  Werk:  Preuner,  »Hestia- 
Vesta«,  Tübingen  1864,  passim).  »Unter  den  zwölf  großen 
Gottheiten,  welche  die  Griechen  später  annahmen,  ist  Hestia 
die  einzige,  deren  Namen  allgemein  in  appellativem  Sinne 
Gebrauch  geblieben  ist«.  »Die  Grundbedeutung  von  Hestia 
muß  dahingestellt  bleiben;  wahrscheinlich  haben  hier  Vor- 
stellungen mitgewirkt,  die  nicht  vollständig  erkennbar  sind. 
Zu  dieser  Annahme  führt  eine  Parallelgestalt  der  Hestia 
nämlich  Kalypso.  Diese  wohnt  im  Nabel  des  Meeres. 
Nabel  ist  aber  die  Bezeichnung  für  Opferstätte, 
und  diese  selbst,  also  s^rta  heißt  {xsff6[A<pa>.o;,  d.  i.  Nabel« 
(Gruppe,  Griech.  Mythol.  S.  819,  820,  1402).  »Vermittler 
einer  Reihe  kosmischer  Anschauungen  und  Lehren  sind  die 
Semiten  (gegen  Usener,  Sintflutsage  244  ff.)«  »Es  wird 
niemand,  der  imstande  ist  zu  vergleichen,  nur  einen  Augen- 
blick im  Zweifel  sein,  daß  das  Feueropfer  der  griechischen 
Heiligtümer  dem  der  Jerusalemitischen  näher  verwandt  ist, 
als  dem  in  Indien«  (Gruppe  ibid.  722,  724). 

Als  älteste  Stelle  über  'Egtlo:  ist  anzusehen  Philolaos 
fr.  7.  (DFV2  I  242,  10):  fö  TtpöTov  äpaoTÖ-sv,  tö  £v,  ev  cß 
uicrw  tx?  (r^aipas  iaxia.  xatX&xax.  »Das  erst  Gefügte, 
das  Eine,  inmitten  der  Kugel  wird  Hestia  ge- 
heißen«. Die  Hestia  wurde  angeblich  schon  von  Parme- 
nides  als  §iy.7üupo;  jtOßcfi;  als  feuriger  Würfel  bezeichnet. 
Sie  ist  der  in  den  Kosmos  übertragene  würfelförmige  Nabel- 


46      Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

stein  des  Weltalls  ([/.scdu^aXo;)  (Anatolios  p.  30  (DFV2  I  111, 
43).  —  Dieser  )tußo?  ist  wahrscheinlich  identisch  mit 
jtußsX7j,  (Kybele),  d.  i.  die  große  Mutter  aller  Götter,  die 
Lebenspenderin,  die  ebenfalls  als  Stein  verehrt  wurde 
(Eisler  1.  c.)  Auf  Delos  ist  nach  alter  Überlieferung  der 
Nabel  der  Erde  (Epimenides  Fr.)  (DVF2  1  496,  10)  in 
Form  eines  Würfelsteines  oder  Altar.  Delos  liegt 
nach  dem  alten  griechischen  Weltbilde  in  der  Mitte  von 
4  Kontinenten;  es  ist  auch  die  Pforte  zur  Meeres- 
tiefe. Es  ruht  auf  vier  Säulen,  entsprechend  den  vier 
Weltrichtungen  und  den  vier  Röhren  des  Nabelstranges.  — 
'Ecttlx  ist  nach  Piaton  (Krat.  401c)  ein  Si^svixov  ovgjjux 
=  Fremdwort,  also  im  Griechischen  entlehnt.  Die 
oben  erwähnte  jcußiXv]  =  xuß&a  ist  bei  den  Römern  die 
Magna  mater  Idaea;  das  ist  aber  ein  heiliger  Meteor- 
stein, der  im  hannibalischen  Kriege  auf  Grund  eines  sibyl- 
linischen  Spruches  nach  Rom  gebracht  wurde.  Er  befand 
sich  ursprünglich  in  Pessinus  in  Galatium,  in  Kleinasien. 
(Liv.  29,  11)  »is  (Attalus)  legatos  (Romanorum)  comiter 
aeeeptos  Pessinuntem  in  Phrygiam  deduxit  sacrumque 
iis  lapidem,  quam  matrem  deum  esse  incolae  dicebant, 
tradidit  ac  deportare  Romam  iussit«.  »Die  große  Mutter« 
ist  früh  nach  Griechenland  gekommen.  Sie  ist  der  Religion 
von  Eleusis  angegliedert.  Die  pz*{ä^r>  P'"r'P  's*  aus  Asien 
in  vielfachem  Mutterkult  in  Griechenland  eingedrungen.  In 
Rom  hielt  die  große  Mutter  mit  ihrem  Fetisch,  der  aus 
Pessinus  stammen  sollte,  im  Jahre  204  ihren  Einzug.  Sie  hat 
Heiligtümer  in  Erdschlünden  (Dietrich,  Mutter  Erde  S.82.) 
Ich  lasse  es  vollkommen  dahingestellt 
und  bjin  weit  entfernt,  es  behaupten  zu  wollen, 
ob'EcTta  mit  K'fltP  zu  identifizieren  ist.  Schultz: 
Arch.  f,  Gesch.  d.  Philos.  XXII  deutet  es  an  (1909,  S.  216,  217, 
219).  Es  muß  aber  konstatiert  werden,  daß  'Estioc  der  mytho- 
logischen und  der  kosmischen  Bedeutung  des  R\n#  vollkom- 
men entspricht,  daß  beider  Ursprung  und  Etymon   unbekannt 


Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien.      47 

ist;  daß  'E^my.  aber  im  griechischen  Lehnwort  und  in  der 
hebräischen  Überlieferung  nur  volksetmyologische  Erklärung 
findet.  Das  weist  auf  uralten  gemeinsamen  Ur- 
sprung hin.  Es  mag  schließlich  auch  erwähnt  werden, 
daß  der  Schethijjastein  auch  in  der  Sibylle  erwähnt  wird. 
Friedländer  (Apologetik,  S.  89)  weist  darauf  hin,  identifiziert 
rvritP  mit  hostia  und  die  »Genesis  des  steinernen  Bildes« 
(des  Eselskopfes),  das  Antiochus  Epiphanes  im  Allerheiligsten 
gesehen  haben  soil,  ist  in  dem  geweihten  Steine  zu 
suchen,  auf  welchem  der  Hohepriester  am  Versöhnungstage 
das  Opferblut  gesprengt  hat.  Auf  ihn  wird  im  vierten  Sibyllen- 
buch angespielt,  wo  es  heißt:  »Denn  auch  als  Haus  hat  Er 
nicht  einen  im  Tempel  geweihten  Stein,  einen  schmerzlichen 
Schimpf  und  Schaden  der  Menschen«.  Auch  Rösch  (Theolog. 
Studien  und  Kritiken  1882,  S.  536)  vermutet  in  dem  rww 
den  Eselskopf.  Der  Esel  aber  war  —  das  möge  nicht  un- 
erwähnt bleiben  —  der  Hestia-Vesta  geweiht  (Preuner  1.  c. 
S.  38)  und  ist  das  Symbol  der  Fruchtbarkeit. 

3.  Die  Zeremonien. 

Die  mit  dem  Wasserschöpfen  und  Wasser- 
opfer verbundenen  Feierlichkeiten  werden  uns  im  Talmud 
ausführlich  beschrieben  (Sukka  V,  1—  5).  Das  Flötenspiel 
zur  Feier  der  (mtOtPfl  rra  nnEtP)  Freude  des  Wasserschöpfens 
dauerte  fünf  oder  sechs  Tage  (je  nachdem  Sabbat  hineinfiel 
oder  nicht).  Wer  dieses  Fest  nicht  gesehen  hat,  hat  über- 
haupt nie  im  Leben  Freude  gesehen.  Was  unter  naKWfl  JV2 
zu  verstehen  ist,  ist  nicht  vollkommen  klar.  Sicher  aber 
ist,  daß  dieses  Fest  sich  auf  das  Wasseropfer  am  Hütten- 
feste bezieht.  Darüber  sind  die  Kommentatoren  vollkommen 
einig.  Was  n2KW  bedeutet,  wußten  die  Gelehrten  nicht 
mehr  sicher;  es  wird  auch  mwn  anstatt  na«w  überliefert, 
und  beides  ist  nach  Mar  Sutra  richtig;  naiam  ist  richtig, 
weil  die  Abhaltung  des  Festes  hochgeehrt  und  wichtig  war, 
eine  Pflicht,    die  seit   den  Tagen    der  Schöpfung  gilt  <roxö 


48       Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

jrrina  '8'  ntytra  naai  rvi  nawp)  und  na«np  nicht  minder, 
denn  es  heißt:  nw'iVJWD'ö  D/iatfwi  »I  h  r  sollt  Wasser 
schöpfen  aus  denQuellen  des  Heils«  (Jes.  1 2,  3). 
Es  wird  aber  auch  »eine  überflüssige  Freude«  (nv/v  nnotf) 
genannt  (Sukka  50  b,  51  a).  Und  dort  wurde  »der  Geist  der 
Heiligkeit  geschöpft«.  Ich  kann  mich  mit  der  Ableitung  vom 
syr.  naitP  =  Fackel  (Aruch  compl.)  nicht  befreunden;  und  auch 
nicht  mit  den  Ausführungen  Venetianers(Die  eleu- 
syni sehen  Mysterien,  S.  3  ff.),  der  na«w  als  »Schö- 
pferin« erklärt  und  darauf  seine  ganze  Hypothese  der 
Gleichsetzung  der  gesamten  Zeremonien  und  Festlichkeiten 
gelegentlich  der  naKitrn  rra  nnatt»  mit  den  eleusynischen 
Mysterien  gründet,  obzwar  es,  wie  Venetianer  mit  sehr 
gutem  Blicke  gesehen  hat,  wahrscheinlich  ist,  daß  auch 
diese  das  Fest  beeinflußt  haben  könnten  (Jer.  Sukka  V,  1). 
Am  Ausgang  des  ersten  Tages  des  Hag  ging  man  in  die 
Frauenhalle  hinab  und  traf  große  Vorbereitungen.  Goldene 
Leuchter  wurden  aufgestellt  mit  goldenen  Schalen,  in  die 
Öl  gegossen  wurde,  Dochte  aus  den  Lumpen  alter  Priester- 
kleider wurden  gemacht.  Kein  Hof  in  Jerusalem,  der  nicht 
erleuchtet  gewesen  wäre  durch  die  Illumination  in  nawwn  rra. 
Die  Frommen  und  Ausgezeichneten  tanzten  mit  Fackeln 
in  den  Händen,  sangen  Lieder  und  Lobpreisungen,  die  Le- 
viten spielten  auf  ihren  Instrumenten  ohne  Zahl.  Posaunen 
wurden  geblasen.  Die  Frommen  sprachen:  »Heil  unserer 
Jugend,  die  unser  Alter  nicht  beschämt»;  die  Reuigen  sagten: 
»Heil  unserem  Alter,  daß  es  unsere  Jugend  gesühnt  hat«; 
Alle  sagen:  »Heil  dem,  der  nicht  gesündigt  hat  und  wer 
gesündigt  hat,  dem  wird,  wenn  er  sich  bekehrt,  verziehen«. 
Die  Leviten  sprachen:  »Lobet  Oott,  ihr  Diener  des  Ewigen, 
die  ihr  im  Hause  Gottes  stehet  in  der  Nacht«  (Ps.  134,  1); 
oder:  »Erhebet  eure  Hände  zum  Heiligtum  und  preiset  Gott« 
(ibid.  2).  Wenn  sie  auseinandergingen  sagte  einer  zum  andern: 
»Der  Ewige  segne  dich  von  Zijon  und  sieh'  das  Glück  Je- 
rusalems alle  Tage  deines  Lebens  und  sieh'  Kindeskinder; 


Das  Wasseropfer  and  die  damit  verbundenen  Zeremonien.      49 

Friede  über  Israel«.  Die  posaunenblasenden  Priester  stiegen 
in  die  Asarah  und  schritten  so  bis  zum  Osttore;  dort  wandten 
sie  sich  nach  Westen  und  sprachen:  Unsere  Väter  haben, 
wenn  sie  hier  waren  sich  mit  dem  Rücken  zum  Hekal  und 
mit  dem  Gesichte  nach  Osten  gewandt  der  Sonne  zu,  wir  aber 
»zu  Jah  sind  unsere  Augen  gewandt«;  oder:  »Wir  sind  zu  Jah, 
und  zu  Jah  sind  unsere  Augen  gerichtet«  (Sukka  50ab,Toseft. 
V).  Hillel  der  Alte  hat,  als  er  an  der  Wasserschöpffreude 
teilnahm,  gerufen:  »Wenn  ich  da  bin,  sind  alle  da,  wenn 
ich  nicht  da  bin,  wer  ist  da«?  Und  ferner  sagte  er:  »Meine 
Füße  trugen  mich  an  den  Ort,  den  ich  liebe;  kommst  du 
in  mein  Haus,  so  komme  ich  auch  in  das  deine,  kommst 
du  nicht  in  mein  Haus,  komme  ich  nicht  in  das  deine«. 
Simon,  Sohn  Gamliels  hat  beim  Freudenfeste  des  Wasser- 
schöpfens  fünf  brennende  Fackeln  geworfen  und  aufgefangen, 
Lewi  vor  Rabbi  acht  Messer,  Samuel  vor  dem  König  Sabur 
acht  gefüllte  Weinbecher,  Abaji  vor  Raba  acht  Eier.  R. 
Joma  ben  Chananja  erzählt,  daß  das  Freudenfest  sie  um 
den  Schlaf  brachte,  denn  ein  Dienst  reihte  sich  an  den 
andern,  so  daß  die  Diensttuenden  nur  einer  auf  der  Schulter 
des  anderen  ab  und  zu  ein  wenig  schlummern  konnten 
(Sukka  53  a). 

Ebensowenig  wie  das  Wassergießen  haben  diese  Fest- 
lichkeiten in  der  HS.  eine  Quelle  oder  Erklärung.  Die  For- 
scher alter  und  neuer  Zeit  bezeichnen  sie  als  »alte  Bräuche« 
(Jost,  Geschichte  I,  217).  Graetz  (111,  112)  faßt  das  Wasser- 
opfer richtig  als  »uralten  Brauch«  und  schildert  den  be- 
kannten Vorgang  beim  Wasseropfer  folgendermaßen  :  »Als 
er  (Alexander  Jannai)  einst  am  Hüttenfeste  als  Hoher- 
priester  fungierte,  sollte  er  einem  uralten  Brauch  zu- 
folge aus  einer  silbernen  Schale  Wasser,  als  Sinnbild 
der  Fruchtbarkeit,  auf  den  Altar  gießen.  Aber  um 
diese  von  den  Pharisäern  geltend  gemachte  religiöse  Sitte 
geflissentlich  zu  verhöhnen,  goß  er  das  Wasser  zu  seinen 
Füßen  nieder.  Mehr  brauchte  es  nicht,  um  den  Unwillen  der 

Monatsschrift.  65.  Jahrgang.  4 


50      Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

im  Tempelvorhofe  anwesenden  Volksmengen  zu  reizen. 
Mit  rücksichtsloser  Erbitterung  warfen  die  Anwesenden  die 
Festfrüchte  (Etrog),  welche  sie  in  Händen  hatten,  nach  dem 
ketzerischen  König  und  beschimpften  ihn  als  einen  un- 
würdigen Hohenpriester,  als  den  Enkel  einer  Gefangenen.« 
Hier  bringt  Graetz  die  Berichte  des  Talmud  (s.  oben)  mit 
denen  des  Josephus  (Ant.  XIII,  13,  5)  in  Verbindung,  der 
Alexander  Jannai  als  den  Opfernden  nennt,  ohne  zu  sagen, 
daß  er  das  Wasser  auf  seine  Füße  geschüttet  hätte  und 
identifiziert  den  anonymen  Sadduzäer  oder  Boathusäer  des 
Talmud  und  der  Tosefta  mit  Alexander  Jannai.  Die  beiden 
Berichterstattungen  scheinen  auch  wirklich  dasselbe  Ereignis 
im  Auge  zu  haben  (Graetz  III,  Note  13).  Das  wird  auch 
allgemein  angenommen  und  auch  von  Buch  ler  (Die 
Priester  und  der  Kultus  im  letzten  Jahrzehnt  des  Jerusa- 
lemitischen  Tempels.  S.  113)  ohne  weiteres  zugegeben.  Sowie 
die  Sadduzäer  seinerzeit  das  deutliche  Gefühl  hatten,  daß 
das  Wasseropfer  und  seine  Ceremonien  ein  fremdartiger 
Einschlag  im  heiligen  Tempeldienste  seien  und  die  Phari- 
säer wieder  die  Überzeugung  gewannen,  daß  man  einen  so 
uralten  Brauch  nur  mit  großer  Gefahr  bekämpfen  oder 
gar  beseitigen  könne;  ebenso  haben  alle  späteren  Beobachter 
dieser  Sitten  empfunden,  daß  sie  sich  nicht  mühelos  in 
den  Rahmen  sonstiger  gottesdienstlicher  Übungen  fügen, 
ohne  ihnen  eine  andere  Erklärung  als  die  eines  uralten 
Brauches,  einer  Volkssitte,  geben  zu  können  (s.  Delitzsch 
in  Riehm's  Handwörterbuch  d.  bibl.  Altertums  Art.  Trank- 
opfer und  Laubhüttenfest,  Baudissin,  Studien  z.  semit. 
Religionsgesch.  II,  150  u.  170,  Wellhausen,  Israelit,  u. 
Jüd.  Gesch.  5,  S.  305).  Das  Wasserschöpffest  wird  auch  in 
den  Evangelien  erwähnt  und  die  Stelle  zeigt,  daß  es  zur 
Zeit  Jesu  mit  größter  Feierlichkeit  begangen  worden  ist 
(Evang.  Joh.  7,  37  ff.).  Daß  die  Pharisäer  den  größten 
Einfluß  auf  den  Tempeldienst  hatten  und  die  alten  Volks- 
bräuche mit   möglichster   Heiligkeit   zu    umgeben    und   zu 


Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien.      51 

schützen  bestrebt  gewesen  sind,  beweist  Buch ler  (das.) 
auf  das  Eingehendste.  Sie  waren  nach  dem  Sturze  Anan 
ben  Anans  die  alleinigen  Herren  des  ganzen  Heiligtums. 
»Alles,  was  die  Sadduzäer  im  Opferdienste  bestritten  hatten, 
wurde  jetzt  mit  größter  Feierlichkeit  und  großem  Schau- 
gepränge vollzogen  —  so  das  Wasseropfer  am  Laubhütten- 
feste« (Büchler:  Kultus  usw.  S.  206). 

Nach  talmudischer  Überlieferung  sind  der  Gebrauch 
der  Bachweide  bei  dem  Umzüge  um  den  Altar,  sowie 
auch  das  Abschlagen  der  Zweige  an  den  Fußboden  als 
Dtt'2)  Jrua  oder  owaj  Tip»  (prophetische  Einrichtungen 
und  Überlieferungen)  zu  betrachten.  (Sukkot  44b,  jer. 
Sukka  IV,  55  b,  47.,  Büchler,  Das  Synhedrion  in  Jerusalem, 
S.  63,  Anm.)  Die  ganze  Feierlichkeit  des  Umzuges  wird 
in  Sukka  45a  (IV,  5)  ff.  genau  beschrieben.  Es  muß 
ähnlich  dem  Wasserschöpfen  und  Wassergußopfer,  eine 
höchst  feierliche,  großartige  Veranstaltung  gewesen  sein. 
Der  Altar  war  von  hohen  Weidenästen  umgeben.  Un- 
ter tönendem  Posaunenschall  wurde  der  Umzug  ge- 
macht, unter  Psalmensingen  und  Palmenschwingen.  Man 
sang  die  Worte  :  »Hilf  o  Gott,  Beglücke  o  Gott«  (Ps. 
118,  25)  oder  man  rief:  »Ich  und  Er!  Gib  Hilfe  (im  >:x 
kj  nywin  nach  der  Leseart  des  Jer.  Kini).  Am  siebenten 
Tage  wurde  der  Umzug  siebenmal  gemacht.  Biem  letzten- 
mal wurde  gerufen  :  nara  "]b  »Di»  »Schönheit  dir,  Altar«; 
oder:  »Gott  und  dir,  Altar«.  Bringen  wir  diese  Schil- 
derung in  Verbindung  mit  der  merkwürdigen  Beschrei- 
bung der  Festlichkeiten  beim  Wasseropfer  und  der  »Freude 
des  Wasserschöpfens«,  so  können  wir  uns  des  Eindruckes 
nicht  erwehren,  daß  wir  es  hier  mit  fremdartigen  Sitten 
und  Gebräuchen  zu  tun  haben ;  immer  abgesehen  vom 
eigentlichen  biblischen  Hüttenfeste,  mit  welchem  diese 
Festlichkeiten  nicht  in  unmittenbarem  Zusammenhange 
stehen  ;  denn  diese  Feste  sind,  so  alt  sie  sein  mögen, 
erst    später    wieder    zu    religiösen    aus     volkstüm- 

4* 


52      Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

liehen  umgewandelt  worden.  Das  haben  die  ältesten 
Forscher  schon  gesehen  (vgl.  Lipman  Heller  zu  Sukk.  IV, 
5;  Rascni  zu  Sukk.  45  a  und  oben).  Im  Mittelpunkte  all 
dieser  Veranstaltungen  steht  ursprünglich  und  naturgemäß 
die  Herbstfeier,  d.  h,  die  Bitte  um  Regen.  Das 
scheint  auch  auszudrücken  Sachär.  14,  17 :  »Wer  von  den 
Geschlechtern  der  Erde  nicht  nach  Jerusalem  kommt,  sich 
niederzuwerfen  vor  dem  König,  dem  Herrn  Zebaot  —  für 
den  fällt  nicht  der  Regen«,  Sätze,  die  am  ersten 
Tage  des  Sukkoth festes  noch  heute  in  den  Synagogen 
gelesen  werden.  Es  mag  hier  als  Ergänzung  zu  den 
früheren  Angaben  über  den  Lapis  manalis  hinzugefügt 
werden,  daß  in  Rom  beim  Bittfest  des  aquaelicium 
die  Matronen  mit  nackten  Füßen  und  auf- 
gelöstem Haare  und  die  Magistrate  ohne  die 
Abzeichen  ihrer  Würde  in  feierlicher  Prozes- 
sion nach  dem  Kapitole  zogen.  In  alter  Zeit  trat  bei 
dieser  Gelegenheit  auch  der  Lapis  manalis  in  Funktion. 
Die  Prozession  fand  bei  anhaltender  Dürre  statt,  wenn  um 
befruchtenden  Regen  gebetet  wurde.  (Wissawa,  Religion  und 
Kultus  der  Römer  pg.  106.) 

Am  ersten  Tage  des  Festes  wird  bis  heute  in  das 
Hauptgebet  die  oben  erwähnte  Regenbitte  einge- 
schaltet. Der  spätere  Ritus,  den  insbesondere  R.  Eleasar 
ben  Jakob  Kalir  (um  910)  durch  seine  Poesieen  bereichert 
hat,  hat  dann  diesen  ritualen  Gebrauch  ausgestaltet  und 
eine  ganze  Reihe  synagogaler  Poesien  ihm  angepaßt,  in 
welcher  der  uralte  Sinn  eines  Teiles  des  Herbstfestes 
neuerdings  zum  Ausdrucke  gelangt.  Nur  einige  wenige 
Beispiele  sollen  angeführt  werden :  »Am  achten  Tage  will 
ich  mein  Herz  wie  Wasser  ausschütten«  ;  »am  achten  Tage 
werden  die  Gesetze  des  befruchtenden  Regens  bestimmt 
ob  viel,  ob  wenig«,  heißt  es  im  Abendgebetritus.  In  der 
Tefillah,  welche  der  Vorbeter  laut  vorträgt,  heißt  es  gleich  zu 
Beginn:  »Der  Af-Bri  (Engel  des  Regens,  s.  Jahrg.  1910,  S.  551) 


Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien.      53 

treibt  Wasserdünste  zusammen,  formt  Wolken  und  leert 
sie  dann  als  Regengüsse  zur  Erde  aus.  Durch  diese  er- 
quickende Wasserlabung  bekränzt  die  Erde  sich  mit  Frucht- 
kränzen . . .  Auch  uns,  die  wir  dir  mit  allen  Kräften  an- 
hängen, sei  milde  gesinnt,  o  Herr,  und  verleihe  uns  des 
Regens  wohltätigen  Segen.« 

Darauf  folgt  das  große  Regengebet  <Dfc»:i),  an  das 
sich,  charakteristisch  genug,  ein  Gedicht  schließt,  dessen 
Strophen  die  zwölf  Monate  des  Jahres  in  ihrem  Verhältnis 
zu  Regen  und  Fruchtbarkeit  und  mit  direkter  Nennung  des 
Tierkreises  behandeln.  Die  den  Monat  Tisch  ri  besingende 
Strophe  lautet : 

>Er  segne  mit  den  kostbarsten  Früchten  der  Monde,  mit 
edlen  Früchten  der  Bäume;  Wasser  lasse  er  aus  den  Wolken 
strömen,  damit  königliche  Leckerbissen  bereitet  werden. 
Er  tränke  die  Gewächse  und  lasse  im  Monate  Tischri 
ihren  Samen  aufbrechen.  Entziehe  von  nun  das  Wasser 
nicht,  auf  daß  Regenschauer  niederbrausen.  Nimm  das 
Gebet  der  Flehenden  auf  wie  das  siebentägige  Gußopfer. 
Wasser  führe  dem  Lande  zu,  daß  es  dreifach  regne.  Auf 
die  sonneversengten  Pflanzen  spende  Regen,  damit  die 
Wage  sich  biege  unter  der  Fülle  des  Getreideertrags«. 

Wenn  ich  auch  mit  Bischoff  »Babylonisch-Astrales  im 
Weltbilde  des  Talmud  und  Midrasch«  (Leipzig  1907)  in 
vielen  Stücken  nicht  übereinstimme  und  glaube,  daß  er 
oft  zu  weit  geht,  so  hat  er  doch  in  vielen  Punkten  großen 
Scharfblick  bewiesen.  Und  der  astrale  Charakter  dieser  Gebete, 
die  auf  uralte  talmudische  Überlieferungen  zurückgehen  und 
im  Zusammenhange  unserer  Darstellung  in  besonderem 
Lichte  erscheinen,  ist  zweifellos.  Bischoff  sagt  ganz  richtig: 

»Im  Tischri  ist  die  Sonne  soeben  in  das  Sternbild  der 
Wage  (D'JtKB)  getreten;  diese  aber  ist  das  Symbol  des 
Richtens  und  zwar  vor  allem  des  Richtens  über  Verdienst 
und  Schuld.  Die  Rabbinen  wissen,  daß  das  Sternbijd  der 
Wage    mit   dem    himmlischen    Gerichtstage   in  Verbindung 


54       Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

stehe.  So  heißt  es  z.  B.  Psikt.  rabb.  C.  20  (94b):  »Gott 
sprach:  Nach  dem  Sternbilde  Jungfrau  erschaffe  ich  das 
Sternbild  Wage,  weil  des  Menschen  Taten  gerichtet  werden 
sollen;  sodann  den  Skorpion,  weil  der  Mensch,  wenn  er 
gewogen  worden  und  als  Frevler  befunden  ist,  in  die  Hölle 
gestürzt  wird«.  (Hinter  dem  Sternbilde  der  Wage  beginnt 
nämlich  die  Wasser-,  Winter-  und  Unterwelt-Region  des 
(südlichen)  Himmels.  Der  wägende  Gerichtstag  steht  ebenso 
vor  dem  Beginn  der  irdischen  Regen-,  Winter-  und  trüben 
Zeit,  und  an  ihm  sperrt  die  Hölle  ihren  Rachen  auf,  die 
Frevler  zu  verschlingen).  Auf  diese  Weise  wird  der  Herbst- 
Neujahrs-Gerichtstag  verständlicher  als  bisher«.  (Bischoff 
Babylonisch-Astrales  im  Weltbilde  des  Thalmud  und  Mid- 
rasch,  S.  66;  vgl.  Bezold,  Aren.  2.  S.  400 ff.  und  Jeremias 
»Das  alte  Testament  im  Lichte  des  alten  Orients«  S.  86 ff. 
Altbabylonische  Vorstellungen  sind  es,  die  in  diesen  jungen 
Gebeten  durchschlagen  und  uns  das  »Fest  der  Aufer- 
stehung« und  das  >Fest  der  Schicksalsbestim- 
mung« (Neujahr),  sowie  auch  das  ursprüngliche  Neu- 
jahrsfest der  babylonischen  Zeit  im  Frühling  in  Erinnerung 
bringen  (Jeremias  1.  c.) 

In  alten  und  auch  neuen  Ausgaben  der  Festgebet- 
ordnungen mmo)  sind  bei  den  einzelnen  Strophen  die 
Tierkreiszeichen  beigegeben.  Das  Regengebet 
schließt  mit  einem  Gedichte,  das  also  beginnt:  »Sei  einge- 
denk des  Ahnherrn  (Abraham),  dessen  Herz  dir  zueilte, 
wie  des  Wassers  St  römung.  Du  verliehest  ihm  deinen 
Segen,  und  er  erblühte  wie  ein  Baum,  am  Bache  gepflanzt. 
Du  warst  ihm  Schutz  und  Retter  in  Feuers-  und  Wassers- 
not; warst  ihm  immer  nahe,  weil  er  die  Saat  am  Lebens- 
quell gestreut;  seinetwegen  entzieh  uns  nicht 
das  Wasser«.  Das  ist  ein  Refrain  des  Gebetes.  Es  schließt 
mit  den  Strophen:  »Gedenke  des  über  die  Grundpfeiler 
Gesetzten  erring  t^b)  (Hohenpriesters)  der  fünfmal  seinen 
Leib  in  Wasser  tauchte  (am  Versöhnungstage),  fünfmal  die 


Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien.      55 

Hände  wusch  im  heiligen  Wasser  und  fünfmal  die  Wasser- 
sprengung vollzog«.  »Gedenke  der  zwölf  Stämme,  die  du  durch 
die  geteilten  Wasserwogen  führtest,  denen  du  das  bittere 
Wasser  versüßtest.  Ihre  Nachkommen  hangen  dir  treu  an  und 
geben  ihr  Blut  hin  wie  Wasser  für  dich.  Wende  du  es  ab,  wenn 
unser  Leben  Wasserfluten  bedrohen.  Umwillen  ihrer 
Tugend  begnade  uns  mit  Fülle  des  Wasserse- 
gens«. Das  ist  ein  zweiter  Refrain  des  Gedichtes.  Es  klingt 
aus  in  die  Worte:  »Denn  du,  Ewiger  unser  Gott,  bist  es, 
der  den  Wind  wehen  und  den  Regen  niederströmen 
läßt,  zum  Segen  und  nicht  zum  Fluche;  zur  Sättigung 
und  nicht  zum  Hunger;  zum  Leben  und  nicht  zum  Tode«. 

In  ganz  ähnlicher  Weise  sind  die  Gebete  gebaut,  die 
am  Passachfeste  als  Tausegen  gesprochen  werden;  also 
in  der  Frühlingszeit;  vollständig  analog  der  eben  be- 
handelten Gebetordnung  des  Herbstfestes.  Ich  will  auch 
hier  nur  einige  wenige  Beispiele  bringen,  welche  dieses 
Taurituale  besonders  charakterisieren.  »Die  Tehomoth 
sehnen  sich  nach  des  Taues  Träufeln,  sowie  die  ganze  Flur 
nach  ihm  schmachtet  ...Durch  die  Wunderkraft 
des  Taus  erwachen  einst  zum  Leben,  die  tief 
in  Grüften  schlummern«. 

»Zum  guten  Zeichen  ist  der  Tau;  er  bringt  Pflanzen 
hervor  und  verschafft  Freude  frohlockender  Jungfrau.  Er 
ernährt  ganze  Scharen,  läßt  sie  mächtig  und  zahllos  werden. 
Mit  des  Schöpfers  Stimme  möge  der  Tau  die  im  Staube 
Verborgenen  erwecken«. 

»Vernimm  dieses  Gebet  und  lasse  sie  in  Sicherheit 
wohnen  (die  zu  Dir  die  Augen  erheben);  Tau  werde  in 
Regengüssen  zugedacht  im  Monate  Marcheschwan.  Mit 
Wolken  beschütze  sie,  um  sie  wie  ein  zartes  Kind  zu 
tragen.  Segensreicher  Tau  umgebe  sie.  Dem  Himmel  be- 
fiehl, daß  er  Tau  gebe«. 

»Er  beglücke  mich  unter  den  Nationen  und  ich  will 
ihm  danken  in  meinem  Lobgesange.  Tautropfen  mögen  mich 


56       Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

bereichern,  um  bis  Ende  des  Monates  Tischri  Überfluß  an 
Tau  zu  geben,  damit  mein  Brod  fett,  mein  Most  süß  werde. 
Tau  erfülle  die  in  meinem  Gebete  ausgesprochenen  Bitten; 
wie  Regen  träufle  meine  Lehre«. 

In  diesem  Rituale  des  Pesach-  und  Sukkothfestes,  das 
allerdings  in  dieser  Form  erst  aus  dem  zehnten  Jahrhun- 
dert stammt,  erblicken  wir  deutlich  die  unverwischbaren 
Spuren  jener  uralten  Volksanschauungen  und  Volks- 
gebräuche gegen  die  sich  seinerzeit  die  Sadduzäer  ver- 
geblich aufgelehnt  hatten.  Die  alten  Pharisäer  und 
späteren  Rabbinen  haben  klugerweise  diese  starken, 
lebendigen  Triebe  der  Volksseele  erkannt  und  sie  mit  den 
Überlieferungen  und  Vorschriften  der  HS.  in  Einklang  zu 
bringen  verstanden,  ohne  deren  Reinheit  zu  trüben.  Das 
Volk  ist  eben  immer  stärker  als  das  Gesetz  und  das  drückt 
ja  der  Kanon  aus:  »Gebrauch  entwurzelt  Gesetz«  npu?  3fT3p 
roVl).  Von  der  alten,  talmudischen,  wie  von  der  späteren, 
rabbinischen  Zeit  gilt  das,  was  Büchler  (a.a.O.)  sagt:  Der 
Sieg  des  Volkes  über  die  ausschließende  Prie- 
sterschaft wurde  öffentlich  in  Begleitung  gro- 
ßer  Feierlichkeiten  vollzogen.  Das  allein  aber 
genügt  nicht  zur  Erklärung  der  feierlichen  Gebräuche  selbst. 
Wir  sind  uns  darüber  klar,  daß  die  Wasseropfer  am 
Hüttenfeste,  der  Zeit  des  Herbstregens,  eben  den 
Regen  entweder  erwirken  oder  auch  als  Himmelssegen 
verherrlichen  sollten.  Das  Sukkcthfest  ist  Hag  im  speziellen 
katexochischen  Sinne. 

in  aber  ist  im  ältesten  Sinne  Umkreisen  des 
Heiligtums;  im  weiteren  Sinne  Prozession  und  Wallfahrt 
zum  Heiligtume  und  erst  in  letzter  Bedeutung  Fest  im 
Allgemeinen.  Auch  im  alten  Arabien  gab  es  zur  Früh- 
ling- und  Herb  st  zeit  ein  Hag,  einen  Umgang  um 
Regen  um  den  heiligen  Stein.  Vorzugsweise  das 
Herbstfest  hat  sowohl  bei  Arabern  als  auch  beiden  He- 
bräern   den    Namen  in   (Wellhausen,  Reste  usw.  S.  141). 


Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien.      57 

Der  dem  Monate  Ti§ri  entsprechende  Muharram  war  auch 
bei  den  Arabern  durch  die  Hag  ausgezeichnet.  Das  sieben- 
malige Umkreisen  der  Bimah  (resp.  d.  Eben  Schetijjah)  mit 
den  Palmen,  erinnert  an  ähnliche  Gebräuche,  die  aus  der 
arabischen  und  griechischen  Überlieferung  bekannt  sind 
»Der  siebenmalige  Umlauf  der  Pilger  um  die  irdische  Kaaba 
ist  gleich  dem  Kreisen  der  Engel,  das  heißt,  der  heidnischen 
Planetengötter  um  den  mystischen  Stein  als  Weltmittel- 
punkt. Genau  dieselbe  Vorstellung  knüpft  sich  an  das  klein- 
asiatische Gegenbild  der  Kaaba,  die  Kybele  o^vM  als 
Göttin  des  heiligen  Berges  und  als  mystischer  Nabelstein 
=  opyctiri  Göttermutter  als  Weltmittelpunkt  des  s<rua.  Plato 
(Phaedros  XXVI,  247  a)  schildert  den  Reigen  der  Unsterb- 
lichen unter  Führung  des  Zeus  auf  ihrem  Flügelwagen 
das  Firmament  umkreisenden  Götter,  bei  dem  Hestia  allein 
im  Hause  der  Göttin  zurückbleibt«. 

Es  ist  nun  außer  Frage,  daß  das  biblische  Hüttenfest 
einen  ganz  anderen  Charakter  trägt  als  dieses  arabische 
Wallfahrtsfest.  Ebenso  ist  die  innere  Verwandtschaft  der 
gewiß  bereits  in  vorbiblischer  Zeit  im  Volke  lebenden  Sitten 
und  Gebräuche  zur  Zeit  des  Herbstregens,  wozu  wir  auch 
das  Wasseropfer  rechnen  dürfen,  gegeben.  Insbesondere  liegt 
die  Vermutung  nahe,  daß  der  rp/itf  p«  der  Gegenstand 
des  Zuzuges  der  wallfahrenden  Mengen  gewesen  sein  mag, 
denn  er  ist  ja  der  Weltmittelpunkt;  er  deckt  ja  die  Sint- 
flutgewässer und  um  ihn  und  zu  ihm  mag  der  »Vaqüf«  die 
Prozession  stattgefunden  haben,  als  deren  Umwandlung  die 
Umkreisung  des  Altars  mit  dem  Feststrauße  am 
Hüttenfeste  angesehen  werden  darf,  die  sich  bis  heute  im 
Ritus  der  Synagoge  erhalten  hat.  Die  Wiedergeburt 
des  alten  Gedankens  der  Wasser-  und  Regenfestlichkeit 
können  wir  auch  mit  Recht  in  dem  Ritus  des  Hoschanah 
rabba  und  des  siebenten  Tages  des  Chag  erblicken.  Wird 
doch  die  Einführung  des  Umzuges  um  den  Altar  mit  der 
»Arabah«,   Bachweide,  im   Talmud  selbst  (Sukkah  44  a)  als 


58      Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

»vergessen  und  wieder  eingeführt«  (OTTOl  n?m  oirow)  be- 
zeichnet. Ein  Rest  der  im  Jerusalemitischen  Tempel  abge- 
haltenen Riten  des  siebenten  Tages  des  Sukkothfestes  hat 
sich  bis  heute  im  Hoschanah-rabba  Ritus  erhalten.  Um  nun 
sogleich  die  wirkliche  Wiederkehr  uralter  Vorstel- 
lungen recht  deutlich  zu  illustrieren,  werden  wir  bei  einem 
der  sieben  Umzüge,  die  um  die  Bimah  mit  dem  Feststrauße 
und  dem  Arabahbündel  veranstaltet  werden  durch  folgendes 
Rezitativ  aufmerksam  gemacht :  Hilf !  (Hoschana)  dem 
Eben  schethija;  Gotteshause  deiner  Wahl,  Tenne  Arnons 
(II  Sam.  24,  18  ff.,  I  Chron.  21,  19  ff.,  Synonymon  für  Altar); 
dem  verborgenen  Heiligtum,  Berg  Moriah,  Berg  der  Erschei- 
nung, Stätte  deines  Ruhms,  einst  David  geweiht;  dem  schönen 
Libanon,  der  schönen  Braut,  Wonne  der  Erde,  der  vollen- 
deten Schöne  usw.«  Hier  haben  wir  zunächst  die 
Identifizierung  d  e  s  n  *  fl  W  \  3  K  m  i  t  dem  Heiligtum. 
Beim  Umzüge  wird  der  Vers  rezitiert:  »Die  Welt  wird 
durch  Gnade  gebaut«.  Natürlich,  der  Stein  ist  ja 
Grundstei  n  der  Welt.  Bei  einem  Umzüge  wird  gesagt: 
»Hilf!  Bewahre!  Die  Erde  vor  Fluth,  die  Herde  vor  Fehl- 
wurf, die  Tenne  vor  Kornwurm,  das  Korn  vor  Brand;... 
den  Ölbaum  vor  Abwurf,  den  Weizen  vor  Käfern,  die  Kelter 
vor  Jelq,  den  Weinberg  vor  Gewürm,  Spätfrucht  vor  Heu- 
schrecken usw.« 

Nach  Vollendung  der  Umzüge  werden  dann  in  der 
Gebetreihe  der  Hoschanoth  eine  große  Reihe  von  Anrufungen, 
welche  die  Hilfe  Gottes  erflehen  sollen,  rezitiert.  Unter  diesen 
sind  für  unsere  Zwecke  charakteristisch  die  Gruppen,  in 
denen  die  aus  Feuer  geretteten  biblischen  Persönlichkeiten 
als  Mittler  erwähnt  werden  und  darauf  die  aus  Wasser- 
gefahr unversehrt  hervorgegangenen;  ebenso  auch  diejeni- 
gen Personen,  welche  oder  an  denen  Feuer  oder  Wasser 
Wunder  vollbrachten,  z.  B.  »Hilf  uns  um  willen  des  ersten 
aller  Sänger  (David),  der,  als  er  nach  Wasser  durstete,  dir 
das  Wasser  als  Opfer  hingoß«.     »Hilf   uns    um  willen  des 


Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien,      59 

Reinen  der  im  Sturm  emporfuhr,  der  für  Gott  geeifert  (Elias) 
und  Himmelsfeuer  durch  sein  Gebet  erflehte,  so  daß  es 
Staub  und  Wasser  verzehrte«.  Um  willen  der  Getreuen  hilf» 
uns,  die  heute  vor  dir  ihr  Herz  ausschütten  wie  Wasser, 
um  vor  dir  die  Segenskraft  des  Regens  zu  erflehen  denen 
die  am  Schilfmeer  dir  Lieder  sangen«.  »Denen,  die  vor  dir 
das  Wasser  hingoßen  als  Opfer  und  aus  den  Quellen  des 
Heils  das  Wasser  schöpfen,  hilf!«  »Die  zu  Dir  um  Wasser 
flehen  so  bescheiden,  wie  die  Weiden  am  Bache,  gedenke 
unseres  Wasseropfers  und  hilf  uns«.  —  »Des  Himmels 
Pforten  öffne,  deinen  kostbaren  Schatz  erschließe  und  sende 
uns  dein  Heil«.  Am  Schluß  all  dieser  Gebete  wird  das 
Bachweidenbündel  am  Fußboden  (Hinweis  auf  die  Erde 
und  die  Unterwelt)  abgeklopft  und  dann  ein  Gebet  ge- 
sprochen, in  welchem  die  Hilfe  Gottes  um  willen  der  getreu 
beobachteten  Prophetengebräuche  erfleht  und  um  Regen 
gebetet  wird. 

Derganze  Komplex  von  Zeremonien  und  Riten,  festlichen 
Umzügen  und  Veranstaltungen,  volkstümlichen  Feiern  und 
Belustigungen,  die  sich  am  Hüttenfeste  vor  unseren  Augen 
abspielen  und  mit  dem  eigentlichen  Festgedanken,  wie  er 
biblischer  Überlieferung  entspricht,  nicht  in  engerem  Zu- 
sammenbange steht,  stellt  sich  uns  als  uralter  Ritus  dar, 
dereine  Herbstfeier  voraussetzt,  bei  welcher  die  ältesten, 
im  Volke  lebenden  mythischen  Vorstellungen  hervorleuchten 
und  alle  kosmischen  Beziehungen  deutlich  werden.  Es  han- 
delte sich  bei  diesen  Volksfesten  um  die  feierliche 
Begrüßung  der  Zeit  der  Herbstes  Tag-  und  Nacht- Gleiche,  in 
die  ja  nach  althebräischer  Vorstellung  die  Entschei- 
dung über  Regen  und  Segen  des  Jahres  fiel, 
insbesondere  aber  auch  nach  uralter  Überlieferung  die 
Erschaffung  der  Welt,  die  im  Tischri,  dem  klassi- 
schen Monate  der  Feste,  stattfand. 

Nicht  vergeblich  suchen  wir  nach  Parallelen  aus  alter 
und  jüngerer  Zeit  bei  den  Völkern  des  Orients.  Wir  erfahren 


60     Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

von  allerdings  der  Form  nach  sehr  verschiedenen,  dem 
Wesen  nach  aber  zweifellos  verwandten  und  auf  gleiche 
Vorstellungen  zurückgehenden  Festen  und  Gebräuchen. 
Naturgemäß  müssen  sich  solche  an  die  Jahreszeiten  an- 
lehnende Feste  mit  kosmischen  Beziehungen  nach  der  Art 
der  Zählung  und  Gestirnerechnung  der  Völker  richten.  Es 
werden  also  bei  solchen  Völkern,  die  Mondjahre  haben, 
gleich  den  Hebräern  jene  Feste  mit  ihnen  in  den  Herbst, 
solche  die  Sonnenjahre  haben,  wie  die  Perser,  in  das  Früh- 
jahr verlegt.  Oder  aber  es  wird,  wie  es  tatsächlich  der 
Fall  ist,  eine  künstliche  Harmonisierung  beider  Zeiten  und 
Feste  stattfinden  (vgl.  Benzinger,  Arch.2  167,  168). 

Jardin  (Voyages  en  Perse,  Paris  1811,  II,  270)  erzählt 
uns,  daß  die  alten  Perser  am  Noruz,  ihrem  Neujahrsfeste, 
das  auf  den  ersten  Frühjahrstag  fällt,  durch  gegenseitiges 
Begießen  mit  Wasser  feiern.  In  Syrien  finden  wir 
ein  höchst  merkwürdiges  Fest,  das  Kremer  (Mittelsyrien 
und  Damaskus,  S.  121  ff)  anschaulich  beschreibt. 

>Ein  sehr  merkwürdiges  Fest  der  Damaszener'  ist  im 
Monate  April  das  Nauruzfest  oder  Frühlingsfest,  welches 
drei  Tage  dauert.  Am  Abende  dieses  Festes  laufen  die 
Knaben  mit  angezündeten  in  Öl  getränkten  Spä- 
nen durch  die  Gassen,  reißen  sich  dieselben  aus  den  Händen 
oder  suchen  sich  sie  gegenseitig  auszulöschen  und  treiben 
allerlei  Unfug«  . . .  Daß  dieses  Nauruzfest  eines  der  ältesten 
Volksfeste  sei,  beweisen  die  Zeugnisse  der  morgenländischen 
Schriftsteller.  Von  diesem  Feste  sagt  Ibn  Ajäs  in  dem  Werke 
Nestik-el-Ezhäz  fi  Adschaib-el-Aktar  folgendes :  Das  Id  en- 
Naurüz  ist  das  erste  Fest  des  kosmischen  Jahres.  Es  ist  Sitte, 
an  diesem  Tage  Feuer  anzuzünden  und  Wasser 
aufzuspritzen.  Dieses  Fest  war  eines  der  größten  Feste 
rn  Ägypten.  Der  erste,  der  dieses  Fest  einsetzte,  soll  Dschem- 
dschüd,  der  bekannte  persische  Herrscher,  gewesen  sein.  Ibn 
Zaulak  sagt:  Im  Jahre  363  verbot  der  Chalif  el-Muizz-liddin- 
allah  das  Anzünden  von  Feuern  in  den  Gassen  und 


Das  Wasseropfer  und  die  dam.t  verbundenen  Zeremonien.      61 

Straßen  während  der  Nacht  des  Naurüz  sowie  das  Aus- 
gießen von  Wasser.  Der  Kadi  Abd-er-Rahim  el-Fädil 
erzählt  in  den  Jahren  584  ebenfalls  von  diesem  Feste  und 
daß  sich  die  Leute  einander  mit  Wasser  und  Wein 
bespritzten  und  mit  Eiern  bewarfen.  Im  Jahre  787 
verbot  der  oberste  Emir  Dehir-Barkük  unter  schweren 
Androhungen  gegen  Dawiderhandelnde  den  Unfug.  Ich  er- 
innere an  die  merkwürdigen  Berichte  des  Talmud  (Sukka 
53  a)  vom  Fackelwerfen,  Schwerterschwingen,  Eier-  und 
Becherwerfen,  die  sich  an  Nachrichten  über  die  Feiern  gele- 
gentlich der  Freude  des  Schöpffestes  anschließen. 

Goldziher  (Az  Islam,  S.  140)  spricht  von  diesem  Feste 
und  sagt:  »Die  muhammedanischen  Theologen  haben  leicht 
ein  Mittel  gefunden,  die  Feste  der  Feuer  anbetenden  Perser 
als  von  der  muhammedanischen  Religion  gebotene  beizu- 
behalten«. 

Sie  haben  einfach  verbreitet,  daß  am  Noruztage  der 
Prophet  den  Ali  zu  seinem  Nachfolger  bestimmt  habe.  So 
wurde  das  heidnische  Fest  ein  muhammedanisches.  Und 
weit  über  die  Grenzen  Persiens  hinaus,  selbst  in  Afrika 
wird  dieses  Fest  mit  all  seinen  Unarten  gefeiert,  mit  welchen 
das  Fest  der  Tag-  und  Nacht-Gleiche  im  Frühling  von  den 
heidnischen  Persern  begangen  wurde«.  In  Persien  selbst,  dem 
Heimatlande  des  Ncruz,  wird  das  Begießen  mit  Wasser  auch 
bei  anderen  Gelegenheiten  als  Volkssitte  geübt;  eine  große 
Rolle  spielt  diese  Sitte  auch  beim  Khasasuran-Frühlingsfest 
der  Armenier«.  »Der  Gebrauch  der  Fackeln  findet  sich  bei 
den  meisten  Völkern  an  den  Herbstfeiertagen;  so  war  es 
auch  bei  den  Juden  (simchath  beth  ha-Schoebha)«;  also  auch 
Goldziher  empfindet  die  nahe  Beziehung  deutlich. 

Rüppel  (Reisen  in  Abessynien  II,  S. 41 — 44)  schildert 
das  in  der  katholischen  Kirche  Abessyniens  gebräuchliche 
Fackelfest,  das  dort  in  ein  Fest  der  Auffindung  des  heiligen 
Kreuzes  verwandelt  worden  ist.  Es  fand  am  16.  Maskaram 
=  26.  September   (also  im  Herbste,   bei  den  Arabern  im 


62      Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

Frühling)  statt  und  wurde  zur  Erinnerung  an  die  Auf- 
findung des  heiligen  Kreuzes  durch  Helena,  die  Mutter  des 
Kaisers  Konstantin,  eingerichtet.  »Um  die  Kunde  jenes  Fun- 
des möglichst  schnell  von  Palästina  nach  Konstantinopel  zu 
bringen,  bediente  man  sich  der  Feuersignale  und  dies 
zu  versinnlichen  ist  der  Hauptzweck  der  in  Abessynien  bei 
diesem  Feste  gebräuchlichen  Zeremonien«  (Rüppel  a.  a.  O.). 
Nach  Sonnenuntergang  lodern  auf  allen  Hügeln  Freuden- 
feuer. 

Gesellschaften  von  Männern  ziehen  umher,  von 
denen  jeder  Bündel  brennender  Rohrstengel  trägt. 
Prozessionen  der  angesehensten  Männer  (vgl.  'tfyo  npj«) 
führen  Tänze  auf;  unter  Musikbegleitung,  Po- 
saunenschall werden  Fackeltänze  ausgeführt, 
Speise  und  Trank  in  Überfluß  verteilt. 

Das  Wassersprengen  ist  ja  auch  in  Europa  um  Ostern 
Sitte.  Die  Wasser w  ei  h  e  spielt  in  der  griechisch-katholi- 
schen Kirche  noch  gegenwärtig  eine  große  Rolle.  Die  große 
Wasserweihe  findet  am  Feste  Ephiphanias  statt  und  wird 
an  einem  Flusse  abgehalten.  Die  Ostervigi  li  e,  d.  h.  die 
Nacht  vor  dem  Ostertage,  wurde  unter  den  ersten 
christlichen  Kaisern  dadurch  gefeiert,  daß  die  Straßen 
mit  Fackeln  und  ries  igen  Wachsk  erz  en  taghell 
erleuchtet  wurden  und  man  sich  der  ausgelassenen 
Osterfreude  (dominica  gaudia)  hingab.  Diese  Festlichkeiten 
fanden  aber  am  Frühlingsvollmond,  d.h.  am  ersten  Vollmonds- 
tag der  Frühlings-,  Tag- und  Nachtgleiche,  statt.  Es  ist 
klar,  daß  in  allen  Riten  die  altheidnischen  Sitten 
passend  zugeschnitten  und  später  so  umgewandelt  worden 
sind,  daß  die  alten  Spuren  nur  dem  forschenden  Auge,  aber 
immer  noch  deutlich  genug,  erkennbar  sind.  Der  Weg,  den 
diese  Sitten  gewandert  sind,  ist  ein  weiter,  und  der  Zeitraum, 
der  zwischen  der  heutigen  Synagogenfeier  des  Hoschanah 
rabba  und  Tal-Geschem-Kultus  und  der  althebräischen 
Urzeit    einerseits    und    anderseits    zwischen    altheidnischer 


Das  Wasseropfer  und  die  damit  verbundenen  Zeremonien.      63 

Frühjahrs-Herbstesfeier  und  dem  Osterfeste  und  der  grie- 
chisch-katholischen Wasserweihe  liegt,  ist  ein  ungeheurer. 
Die  Überlieferung  kennt  eben  keine  Grenze,  weder  nach 
vorwärts  noch  nach  rückwärts1). 

Wir  haben  im  Verlaufe  der  Untersuchung  gesehen,  wie 
tiefgehend  diese  Zusammenhänge  sind,  wie  fast  unsichtbare 
Fäden  von  Zeiten  zu  Zeiten,  von  Volk  zu  Volk  hinüber- 
spinnen und  wie  alle  scheinbaren  Entlehnungen  und  An- 
lehnungen weder  das  eine  noch  das  andere  sind,  sondern 
Äußerungen  der  Volksseele  und  der  primitivsten  Triebe  der 
Menschen.  Und  diese  sind  schließlich  überall  die  gleichen  und 
kraftvollsten  und  lösen  allenthalben  ähnliche  Erscheinungs- 
formen aus.  Geburt  und  Tod,  Fruchtbarkeit  und  Entstehung, 
Erdensegen  und  Himmelsspende,  Wechsel  der  Tages-  und 
Jahreszeiten,  das  sind  die  mächtigsten  Beweger  des  Men- 
schengemüts. Und  in  den  verschiedenen  Zeiten  setzt  sich 
dieses  ursprünglichste  Empfinden  verschieden  in  religiöse 
Taten  um,  bis  endlich  der  reine  Monotheismus  die  rohe 
Sinnlichkeit  vergeistigt.  Diese  Vergeistigung  jedoch  wird 
wieder  aufs  Neue  durch  Verkörperlichung  durchbrochen  und 
aus  der  geborstenen  Hülle  dringen  die  mythischen  Kerne 
deutlich  hervor1). 

J)  Ich  spreche  meinen  Freunden,  den  Professoren  :  Dr.  Funk,  Dr. 
Krausz,  Dr.  Kornitzer,  Dr.  Kappelmacher,  Dr.  Berkowicz,  Dr.  Schultz 
meinen  herzlichen  Dank  aus  für  die  vielfachen  Anregungen  und 
Hinweise,  die  sie  mir  gaben. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen 

Zeitalter. 

Neue  Folge. 

Von  Simon  Eppen  stein. 

IV.  Sa  ad  ja  Gaon,  sein  Laben  und  seine  Schriften. 

(Fortsetzung.) 

Es  scheint  aber  dem  bisher  als  Kämpfer  erprobten 
Manne  auch  ferner  keine  Ruhe  beschieden  gewesen  zu  sein. 
Er  kam  in  einen  Kreis  hinein,  wo  man  zunächst  seine 
geistige  Größe  als  zu  überragend  fand,  zumal  er  nicht  dem 
Lande  entstammte,  das  die  Gelehrsamkeit  in  Erbpacht  ge- 
nommen zu  haben  glaubte.  Es  lebte  dort  der  gelehrte 
Mebasser  ha-Levi  ben  Nissim  ibn  rin^i?1),  der  mit  auf- 
merksamem Blick  sämtliche  Schriften  Saadja's  verfolgte, 
die  darin  vorkommenden  Versehen  zusammenstellte  und 
einer  Kritik  unterzog,  die  er  jedoch  wohl  erst  nach  dem 
Tode  des  Gaon,  in  einem  mehrbändigen  Werke  gesammelt, 
herausgab,  das  den  Titel  dki  aro  »d  liiio^x  tnob*  "f«VTAOK 
\ave^K  navia^R,  d.  h.  »Berichtigung  der  Versehen  in  den 
Schriften  des  aus  Fayüm  stammenden  Gaon«  führte8).  Einen 
ganz  bedeutsamen  Rivalen  in  geistiger  Beziehung  hatte 
Saadja  an  dem  reichen  und  gelehrten  Aaron  Ibn  Sargädo, 
mit  dem  arabischen  Vornamen  Khaläf,    der,    seinem    Beruf 

*)  Vgl.  über  ihn  Steinschneider,  Arab.  Lit.  d.  Juden,  S.70  §  33. 
Sein  vollständiger  Name  und  der  Titel  seines  Werkes  ergeben  sich 
aus  Schechters  Mitteilung  in  Saadyana,  S.  79.  (Vgl.  hierzu  auch  in 
den  Nachträgen.) 

*)  Vgl.  Harkavy,  Studien  V,  S.  63.  Die  Angriffe  auf  den  fnj« 
vgl.  dort  S.  70—73,  die  auf  das  Kitab  al-Wataik  in  Oeuvres,  T.  IX, 
S.  XXXVII— XXXVIII.  Besonders  für  Mebassers  Angriffe  auf  den 
Pentateuchkommentar  kommt  als  Quelle  auch  Juda  ibn  Bai'äm  in 
Betracht. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.    65 

nach  ein  Kaufmann,  ein  großes  Wissen  besaß,  das  er  in 
einem,  bisher  nur  noch  aus  Zitaten  bekannten  Pentateuch- 
kommentar  und  einer  Schrift  gegen  die  Annahme  von  der 
Präexistenz  der  Welt  niederlegte1).  Besonders  dieser,  den 
Saadja  nach  dem  Zeugnis  von  Nathan  Babli  »um  das 
Zehnfache«  übertraf,  gehörte  wohl  zu  denen,  welche  seinen 
Sturz  herbeizuführen  suchten2).  Zunächst  allerdings  scharten 
sich  um  ihn  sowohl  die  noch  übrig  gebliebenen  Gelehrten 
Sura's  wie  auch  die  angehenden  Kollegialmitglieder  von 
Pumbadita,  die  wohl  begierig  der  Belehrung  des  großen 
Fayumiten  lauschten3).  Gerade  die  letztere  Tatsache,  die 
sogar  der  eifersüchtig  den  Vorrang  Pumbadita's  wahrende 
Scherira  erwähnt,  läßt  uns  das  Ansehen  ermessen,  in  dem 
der  neue  Gaon  stand. 

Als  Haupt  der  Hochschule  hatte  Saadja  vor  allem  die 
Auslegung  des  Talmud  zu  pflegen  und  Normen  für  die 
Ausübung  des  Gesetzes  festzustellen.  Von  der  erstgenannten 
Leistung  des  Gaons  können  wir  uns  nur  aus  seinen  zahl- 
reichen Bescheiden  ein  Bild  machen,  da  wir  direkte  Tal- 
mudkommentare  von  ihm  kaum  mehr  besitzen4).  Daß  Saadja 
solche  verfaßt  hat,  ist,  meines  Erachtens,  gesichert  durch 
mehrere  Zitate,  die  wohl  nur  derartigen  Werken  entnommen 

')  Vgl.  über  ihn  zuletzt  Steinschn.  a.  a.  O.  S.  71  u.  Pozn.,  Zur 
jüd.-arab.  Literatur,  S.  47. 

2)  Vgl.  Nathan  Babli   bei  Neub.  a.  a.  O.  II,  S.  80:    n^S   XJpm 

mVx»  fei  noans  hm  d*txi  fW?  hv*  m  nfe  jtjw  yw  rrHjm  na  m 
ntpy  v*bp  sj'Dio  nvi  mo  *i  'jsx  mm  'x  dj?b  omty  n^o  rm  b*vr>v 
m  laia  in  xjprto  mm  nn\ 

3)  Vgl.  Scherira  bei  Neub.  a.  a.  O.  I,  S.  80,  Z.  2—3:  (Xö  Ppai 
did-t  pai  Sy  prcon  i^ity  [dt  x'onm  pnm  prwa  |o  twk  mm 
xrr-Q. 

4)  Der  in  Jerusalem  1908  von  Wertheimer  veröffentlichte  Komm. 
Saadja's  zu  Berachoth  ist  vielleicht  nur  als  eine  von  seinen  Schülern 
angelegte  Notizensammlung,  hauptsächlich  lexicalischer  Art,  anzusehen, 
in  der  allerdings  manches  von  Saadja  herrührt.  Die  von  Saadja  gelie- 
ferten Erklärungen  zu  einzelnen  Talmudstellen  sind  in  der  5.  Abtei- 
lung von  Oeuvres  T.  IX  u.  d.  T.  D'ttip"^  zusammengestellt. 

Monatsschrift,  55    Jahrgang. 


66    Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

sein  können.  So  heißt  es  Saadyana  Nr.  30,  S.  59  ausdrücklich 
in  einem  von  Dosa,  dem  Sohn  Saadja's,  ergangenen  Re- 
sponsum :  ym  P9H89  |«a  yj  "pK  p«j  n0n*ba  pro»*  rne«i, 
was  doch  wohl  auf  einen  Kommentar  zu  Pesachim  schließen 
läßt.  Ferner  läßt  vielleicht  ibid.  Nr.  XXXII,  S.  60—61,  die 
Erklärung  von  vott»  einen  Kommentar  zu  Sota  annehmen; 
es  ist  auch  nicht  ausgeschlossen,  daß  Saadja  einen  solchen 
zum  Traktat  Sabbat  oder  dessen  siebenten  Abschnitt, 
unter  dem  Titel  roK^o  maa  yde/i,  verfaßt  hat1).  Auch  eine 
methodologische  Schrift  größeren  Umfanges,  unter  dem  Titel 
Sdiö^k  2«ro,  können  wir  wohl  Saadja  zuschreiben8);  der 
uns  vorliegende  Kommentar  zu  den  13  Deutungsregeln8) 
mag  einen  Teil  desselben  bilden. 

Sehr  groß  war  die  Tätigkeit,  die  Saadja  als  Gesetzes- 
lehrer entfaltete.  Schon  in  Ägypten  hat  er  sicher  den  Grund 
hiezu  gelegt  mit  einem  Werke  über  nii  mu^ri4).  Ob  er  nur 
einzelne  Probleme  der  Halacha  behandelt  hat,  oder  ein 
ganzes  Werk  über  alle  Gesetzesbestimmungen  verfaßt  hat, 
vermögen  wir  nicht  zu  entscheiden. 

Die  halachischen  Schriften  Saadja's  sind  bereits  zuletzt 
von  Steinschneider6)  und  Poznariski6)  bibliographisch  behan- 

*)  Vgl.  die  Bücherliste  in  der  REJ.  XXXIX,  S.  200  Nr.  28  und 
ebendort  S.  203,  ferner  Saadyana  Nr.  XLVII,  S.  128,  Z.  1.  Da  dort 
auch  ausdrücklich  die  C^JW  .TJ731K  mit  einem  Werke  über  .TU  Jl'afel 
rt^JJD  "W?  genannt  sind,  dürfte  die  Annahme  von  der  Autorschaft 
Saadja's  für  dieses  Werk  recht  wahrscheinlich  sein.  (Vgl.  auch  in  den 
Nachträgen.) 

a)  Vgl.  die  genannten  Bücherlisten  a.  a.  O.  Aus  dem  in  der 
vorigen  Anm.  erörterten  Grunde  halte  ich  auch  die  Identifizierung 
Bachers  in  R£j.  a  a.  O.  S.  204  mit  dem  S.  199  unten  genannten 
bsiC1?»  2Nn3  für  ausgeschlossen.   (Vgl.  auch  in  den  Nachträgen.) 

s)  Zuletzt  veröffentlicht  von  Müller  a.  a.  O.  S.  73—83;  vgl.  auch 
ebendort  S.  XXIII— XXXIII.  Bekanntlich  war  dieser  Kommentar  auch 
s  rabisch  abgefaßt,  wie  das  genannte  Einleitungswerk. 

*)  Er  erwähnt  dieses  im  Jezirakotnm.,  ed.  Lambert,  S.  43. 

»)  A.  a.  O.,  S.  48-50. 

•)  a.  a.  O.  S.  41  f. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.     67 

delt  worden,  wozu  noch  als  Fund  aus  jüngster  Zeit  eine 
Schrift  über  das  Wucherverbot  hinzukommt1).  Erhalten  ist 
uns  von  der  Fülle  des  einst  vorhandenen  verhältnismäßig 
nur  recht  wenig.  Vollständig  besitzen  wir  nur  die  Schrift 
über  das  Eherecht,  jinaia^K  2«ro  =  nwivn  noo8).  Größere 
oder  kleinere  Bruchstücke  haben  wir  von  der  Schrift  über 
die  Pfänder  it»t£«  axns  oder  ftjrii^K  oton«,  von  der  uns  das 
Ende  erhalten  ist,  und  worin  über  die  Fälle  gehandelt  wird, 
bei  welchen  die  Ersatzpflicht  des  Aufbewahrenden  nicht 
eintritt3).  Zum  handlichen  Gebrauch  behufs  Orientierung  in 
dringenden  Fällen  hat  Saadja  jedenfalls  auch  einen  kurzen 
Auszug  aus  dem  umfangreicheren  Werk  veranstaltet4)  Auch 
von  der  Schrift  über  Zeugenschaft  und  Dokumente  kennen 
wir  außer  einem  Zitat  in  einem  späteren  Responsum8)  und 
bei  Saadja's  Kritiker  Mebasser6;,  nur  wenige  Zeilen  der 
Einleitung7),  ohne  daß  das  Geringste  über  die  Materie 
selbst  darin  enthalten  ist.  Wie  aus  dem  Fragment  hervorgeht, 
sollte  es  einen  Teil  eines  größeren,  verwandte  Themata 
behandelnden  Compendiums  bilden;  indesssen  haben  ihn  die 
dringende  Notwendigkeit  einer  Zusammenstellung  dieser 
Bestimmungen  für  das  Volk  und  der  sich  daraus  ergebende 


J)  Vgl.  Hirschfeld  in  JQR.  XVIII,  S.  119-120.  Sie  ist  dort  be- 
titelt: jn  WD  [titfj  *3*fc*  'D  Slp.  Danach  Ist,  wie  Hirschfeid  a.  a. 
O.,  mit  Recht  vermutet,  diese  Abhandlung  vielleicht  ein  Teil  eines 
Kompendiums  über  eine  umfassendere  Oesetzespartfe. 

8)  Herausgegeben  von  Joel  Müller  in  Oeuvres  T.  IX,  S.  1—53 
im  arab.  Original  mit  hebr.  Übersetzung  von  S.  Horovitz. 

3)  In  Saadyana  Nr.  XI  u.  XII,  S.  37-41.  Das  zweite  Stück  ent- 
hält nur  den  letzten  Teil  des  vorhergehenden. 

*)  Vgl.  T'schuboth  ha-Geonim,  ed.  Härkavy  (Studien  Th.  IV)  S. 
238,  wo  in  Nr.  456,  in  einer  an  Isak  Alfassi  gerichteten  Anfrage,  dieses 
als:  rtfHVjK  iXflSD  zitiert  wird. 

6)  Vgl.  ebendort,  Nr.  251,   S.  108—109. 

8)  Vgl.  Harkavy  in  den  Nachträgen  zur  Einleitung  von  Oeuvres 
T.  IX,  S.  XXXV1I-XXXVIII,  sub  Nr.  2. 

7)  Vgl.  Hirschfeld  in  JQR,  XVI,  S.  299. 

5* 


68  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

Nutzen  bestimmt,  gerade  mit  dieser  Materie  zu  beginnen1). 
Schließlich  ist  von  den  die  Jurisdiktion  behandelnden  Ge- 
genständen noch  der  Anfang  der  Abhandlung  über  das 
Zinsverbot  zu  erwähnen2).  —  Eine  vollständigere  Übersicht 
über  Saadja's  juridische  Schriften  würden  wir  aus  einer 
größeren  Erschließung  der  betreffenden  Werke  des  sehr 
produktiven  Samuel  ben  Hofni  gewinnen,  der  Saadja  sehr 
oft  zitiert8). 

Was  das  Rituale  betrifft,  so  ist  von  den  uns  teil- 
weise erhaltenen  Schriften  zu  nennen  ein  Werk  über  die 
Schlachtregeln,  wovon  aber  Saadja  selbst  auch  einen  Auszug 
veranstaltete;  aus  beiden  ist  uns  je  ein  Zitat  erhalten4). 
Ferner  über  T'refoth,  moiöS«  3KM,  wovon  auf  uns  ein  in 
arabischen  Lettern  geschriebenes  Fragment  gekommen  ist, 
das  die  Teile  der  Lunge  behandelt5),  während^  sonst  noch 
in  einem  späteren  Responsum  etwas  daraus  . zitiert  wird'). 

Die  halachischen  Schriften  Saadja's  chronologisch  zu 
ordnen  ist  ziemlich  gewagt,  da  uns  hiezu  eine  Handhabe 
weder  in  den  wenigen  uns  erhaltenen,  noch  in  den  Schriften 
anderer  geboten  ist.  Vielleicht  läßt  sich  annehmen,  daß 
einige  das  Ritual  behandelnde  Schriften,  wie  wir  es  von 
der  über  die  Menstruation  mit  einiger  Wahrscheinlichkeit 
sagen  können,  schon  in  Ägypten  entstanden  sind,  während 


!)  Vgl.  ebendort:    XJX  ^ib»  nptb*  XTiX  |B  ü  nein  nyoxj   b*p 

njxn  itw  (o  mn»  xbS  mb*  irtna  pnox  (x  nwi  w  rwtatA  iny 

fW  JfMttfl  Xö  Dfcy  tthffl  .tSx  fm*b*.  Von  der  Wichtigkeit  gerade 
solcher  Zusammenstellungen  zeugt  es  auch,  daß  schon  der  Qaon  Hai 
b.  David  ein  HVftVrl  'B  verfaßt  hat,  von  dem  Harkavy  in  B2  B^BHn 
BW  Nr.  9,  Beilage  zu  nJDBH  Bd.  111  (Wilna  1896),  S.  45-52  einen 
Teil  veröffentlicht  hat. 

2)  Veröffentlicht  von  Hirschfeld  a.  a.  O.  XVII,  S.  120. 

3)  Vgl.  hierüber  Harkavy  a.  a.  O.  S.  XXXVIII,  sub  Nr.  3. 
*)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  XXXVII,  sub  Nr.  1. 

5)  Vgl.  Saadyana  Nr.  XLIX,  S.  132—133.    Der  Text  ist  vielfach 
ohne  diakritische  Punkte. 

6)  Vgl.  T'schuboth  ha-Q.,  ed.  Harkavy,   Nr.  331  S.  158. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.    69 

die  Werke  juridischen  Inhalts  möglicherweise  der  Zeit 
seines  Wirkens  als  Gaon,  als  er  zugleich  oberster  Richter 
war,  ihre  Entstehung  verdanken.  Man  könnte,  wenn 
der  Schluß  nicht  zu  kühn  erschiene,  dies  auch  daraus  fol- 
gern, daß  die  einzige  uns  vollständig  erhaltene,  das  Rechts- 
gebiet betreffende  Schrift,  das  mtrivn  'D,  in  seiner  Anlage, 
besonders  aber  der  Terminologie,  den  entsprechenden 
Werken  mohammedanischer  Rechtslehrer  nachgebildet  zu 
sein  scheint1);  dem  islamitischen  Einfluß  dürfte  aber  Saadja 
gerade  in  Babylonien,  wo  dieser  am  stärksten  war,  zu- 
gänglich gewesen  sein. 

Zu  den  in  Babylonien  entstandenen  Schriften,  die 
auch  zum  Teil  in  das  halachische  Gebiet  gehören,  ist 
auch  der  Siddur  zu  rechnen2),  da  er  nicht  nur  die 
Stammgebete  und  Pijjutim,  sondern  auch  die  das  Gebet- 
ritual betreffenden  Vorschriften  enthält;  der  Titel  desselben 
lautete:  itkie^ki  n«i^«  2Kro3).  Aus  dem  Werke  sind 
uns  bis  jetzt  nur  eine  große  Anzahl  von  Zitaten  be- 
kannt. Hoffentlich  erhalten  wir  nun  bald  alles  davon  Vor- 
handene nebst  Ergänzungen  aus  Genisafunden  durch  die 
schon  lange  vorbereitete  Ausgabe  von  J.  Bondi.  Ein  be- 
sonderes poetisches  Stück  daraus  ist  uns  längst  bekannt, 
nämlich  eine  sogenannte  Ashara  zum  Wochenfest,  eine 
Aufzählung  der  613  Gebote  in  mehrfacher  gerader  und 
umgekehrter  alphabetischer  Reihenfolge4).  Dieser  Partie  ließ 
vielleicht  Saadja   einen    sogenannten  nw\   vorangehen,    in 


l)  Vgl.  Steinschneider  a.  a.  O.  S.  48,  Goldziher  in  REJ.  XXXVIII, 
S.  270-271. 

■)  Vgl.  hierüber  zuletzt  J.  Bondi,  Der  Siddur  des  R'Saadja  Oaon, 
Frankf.  a.  M.  1904.  Den  Nachweis  von  der  Entstehung  des  Werkes 
in  Babylonien  erbringt  Bondi  a.  a.  O.  S.  9. 

3)  Die  Einleitung  war  wohl  auch  besonders  in  einem  aiji  aKD2 
rxbxb«  vorhanden.  Vgl.  die  Bücherliste  in  REJ.  XXXIX,  S.  200  Nr. 
30  u.  Saadyana  Nr.  XLVII,  S.  128  Z.  3. 

*)  Zuletzt  veröffentlicht  in  Oeuvres  IX,  S.  57—69.  Vgl.  auch 
ebendoit  S.  XVIII,  fgg. 


70  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

dem  er  die  Gebote  in  24  Gruppen  einteilt,  und  wovon  uns 
aus  einer  fragmentarischen  Erklärung  des  letzten  surani- 
schen  Gaon,  Samuel  ben  Hofni,  die  ersten  acht  Gruppen 
erhalten  sind1).  —  Von  liturgischen  Stücken  liegen  uns  nun 
eine  Anzahl  sonst  nicht  bekannter  Dichtungen  Saadja's  vor*), 
darunter  eine  Erklärung  der  Tefilla  in  arabischer  Sprache8). 
Bemerkenswert  ist  ferner,  daß  wir  jetzt  Saadja  als  Verfasser 
der  mit  den  Worten  *tro:  nbm  beginnenden  Selicha  für  den 
Fasttag  des  Gedalja  kennen  lernen4),  wie  auch  eines  Klage- 
rufes in  einem  liturgischen  Stück  für  Purim  oder  den  Esther- 
fasttag, wo  es  heißt:  dwt  nustPöi  iip  •>bn»  üV  nnv  mjzitf5). 
Betrachten  wir  nun  die  halachischen  Schriften  Saadja's 
näher,  so  finden  wir,  daß  sie  an  methodischer  Anordnung, 
wie  an  ausführlicher  Darstellung,  die  Compendien  seiner 
Vorgänger  hierin,  des  R.  Jehudai  Gaon  und  Simon  Kajjära, 
bei  weitem  übertrafen6).  Es  zeigt  sich  hier  der  wissenschaftlich 


»)  Vgl.  Saadyana  Nr.  XV,  S.  43. 

2)  Über  die  bisher  bekannten  synagogalen  Poesieen  Saadja's  vgl. 
Zunz,  Liieraturgesch.  S.  95— 98,  Landshuth,  Amrnude  Aboda  S.  286  ff. 
Eine  bisher  nicht  bekannte  Aboda  Saadja's  veröffentlicht  Elbogen, 
Studien  usw.,  S.  122 — 125.  Bisher  nicht  bekannte  Liturgieen  Saadja's  sind 
u.  a.  Saadyana  Nr.  XVII,  S.  45—46,  ein  Ofan  für  Pessah,  beginnend 
hr6j5J7  bpbpb  bp  sy  hy  nur.,  XVIII,  S.  47  ein  Silluk  für  Jomkippur 
W\"1?K  '.*!  nB>np,  Nr.  XXII.  S.  48—49,  eine  Selicha  für  denselben  Tag, 
beginnend  mit  "IHK  nWDJS  KHK,  ferner  in  Nr.  XXIII,  S.  52—53  ein 
in  längere  alphabetische  Stücke  zerfallender  Pijjut,  der  den  Titel  führt: 
KlpD^K  SJKinx  "WiJHt,  d.  h.  Aufzählung  der  Buchstaben,  beginnend  mit 
den  Worten:  TOS  p3D  tat. 

3)  Saadyana  Nr.  XXV,  S.  52. 
*)  Nr.  XVIII,  S.  46. 

6)  A.  a.  O.  Nr.  XLIII,  S.  49—50,  beginnend  mit:  wsb  *xuhfi 
fhH  VifpTk  ">V2.  Schechter  hält  es  für  eine  Liturgie  zu  Purim,  wäh- 
rend der  Inhalt  und  Über-  wie  Nachschrift  "j^D  bx  es  als  Selicha  für 
den  Esther-Fasttag  erscheinen  lassen. 

«)  Vgl.  auch  Müller,  Oeuvres  IX,  S.  X.  Indessen  ist  dessen  Be- 
hauptung, daß  Saadja,  gleich  Maimonides,  weder  Autoren  noch  Talmud- 
aussprüche anführe,  zu  allgemein  gehaltet],  da  z.  B.  im  Fragment  des 
JMlBJPn  'C  sich  viele  Zitate   finden. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.  71 

gebildete  Systematiker,  der,  zugleich  mit  dem  ihn  erleuch- 
tenden philosophischen  Sinn,  auch  die  Halacha  als  Gegen- 
stand des  Denkens  hinstellt  und  auch  dadurch  die  Tradition 
hoch  über  die  teils  willkürlich  schaltende,  teils  durch  sklavisch 
treue  Auffassung  des  Bibelwortes  eingeengte  Gesetzes- 
Auslegungder  Karäer  hinaushebt.  So  läßt  er  der  Abhandlung 
über  Zeugenschaft  und  Dokumente  eine  philosophische 
Betrachtung  über  das  Recht  vorangehen,  welches  das 
höchste  der  durch  Erkennen  anzueignenden  Dinge  sei;  dieses 
Rechtsgefühl  besitze  besonders  derjenige,  der  mit  einem 
von  allen  Anfechtungen  unbeirrten  Verstand  begabt  sei, 
und  es  sei  ausgeprägt  bei  denen,  deren  Seele  sich  davon 
leiten  lasse.  Diese  Bestimmung  des  Rechtes,  die  bei  allen 
Gelehrten  verbreitet  ist,  bestätige  auch  das  Wort  der  Schrift 
in  Prov.  8,  9.  —  Bezeichnend  für  die  klare  Rechtsauffassung 
Saadja's,  die  auch  durch  keine  dogmatische  Erwägung  be- 
einflußt ist,  ist  eine  Äußerung  in  der  Schrift  über  Pfänder. 
Dort  sagt  er1),  in  Ausdeutung  der  Bestimmung,  daß  bei 
einem  Verlust  durch  Angriff  von  einem  reißenden  Tiere  der 
Aufbewahrende  nicht  haftbar  ist,  folgendes:  Der  Eigentümer 
kann  nicht  sagen:  wenn  du  selbst  herbeigeeilt  wärest,  würde 
Gott  dir  Gelegenheit  zur  Rettung  gegeben  haben,  wie  David 
von  sich  rühmt  (I  Sam.  17,  36),  daß  er  dem  Löwen  und 
Bären  die  Beute  entrissen  habe,  denn  das  seien  außerge- 
wöhnliche Wunder.  —  Im  Talmud,  Baba  mezia  83a,  wird 
von  Rab  erzählt,  daß,  als  Rabba  bar  bar  Chana  an  den 
von  ihm  gemieteten  Trägern,  die  ihm  ein  Faß  zerbrochen 
hatten,  sich  schadlos  halten  wollte,  er  diesen  nicht  nur  zur 
Zurückgabe  des  ihnen  genommenen  Gewandes  anhielt,sondern 
auch  zur  Auszahlung  des  bedungenen  Lohnes,  mit  Hinweis 
auf  Spr.  2,  20.  Hierzu  bemerkt  Saadja  in  derselben  Schrift"), 


»)  Vgl.  das  Fragment  in  JQR  XVI,  S.  299  die  Stelle   beginnend 
mit  hkb^jfio^K  vpvx  pnhx  SyxJ  u.  s.  w. 

s)  Vgl.  Saadyana  Nr.  XI,  S.  37,  Z.  16-38,  Z.  20  oben. 


72  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

daß  man  wohl  dieses,  was  unsere  Weisen  cuiö  "pi  und 
ü'pnit  mm«  nennen,  befolgen  sollte;  jedoch  habe  eine  solche 
Entscheidung  nicht  der  Richter  zu  treffen,  sondern  sie  stehe 
allein  dem  Eigentümer  zu.  Der  Richter  müsse,  wie  es  in 
Lev.  20,  15  ausgesprochen  ist,  in  seinem  Urteil  sich  vor 
jedem  Übermaß  zurückhalten,  er  dürfe  weder  Unrecht  tun 
noch  falsches  Mitleid  haben1). 

Es  ist  nun  nicht  zu  verwundern,  daß  ein  in  jeder  Be- 
ziehung geistig  so  hochstehender  und  von  einem  tiefinner- 
lichen Rechtsgefühl  erfüllter  Mann  in  der  Umgebung  vielfach 
die  Rücksicht  gegen  andere  außer  Acht  lassender  und 
kleinlich  denkender  Menschen  alsbald  Anstoß  erregen  mußte. 
Zwei  Jahre  nur  bestand  ein  leidliches  Verhältnis  zwischen 
dem  Gaon  und  dem  Exilarchen,  bis  eine  Rechtsverletzung 
des  letzteren,  wobei  auch  sein  eigenes  Interesse  in  Betracht 
kam,  und  die  Saadja  nicht  gutheißen  mochte,  den  von  diesem 
auch  jetzt  noch  vermiedenen  Konflikt  herbeiführte2).  Der 
Gaon  hatte8)  wiederholt  eine  Erklärung  seiner  Weigerung 
zu  umgehen  sich  bemüht,  jedoch  infolge  der  Beschwörung 
der  Abgesandten  des  Exilarchen  seine  Bedenken  geäußert. 
Auch  den  zuerst  von  Juda,  dem  Sohne  David's,  in  Ehr- 
erbietung4) gemachten  Versuchen,  ihn  umzustimmen,  wider- 
setzte sich  Saadja,  bis  jener  sich  zu  Drohungen  hinreißen 
ließ,  die  Saadja's  Umgebung   auch  zu  Tätlichkeiten    gegen 

')  A.  a.  O.  S.  39  (Bl.  2  v.)  Z.  9  fgg.:  ty  ftÄnDtot  mi  |K  X1?« 
*)w  *bi  "•/n"  xb)  f*pj->  xSi  TV  ab  cski-iSk  \xsfo  nsxnbs  ty  ab  -[btttäx 
bi  -ob  xtrn  *b  tiBtPön  Siy  wyn  xb  nbtpb. 

*)  Bekanntlich  mußten  die  Geonim  die  gerichtlichen  Entschei- 
dungen der  Exilarchen  bestätigen;  vgl.  Monatsschr.  1908  S.  336,  An- 
merkung 2. 

8)  Die  Darstellung  nach  Nathan  Babli  bei  Neubauer  a.  a  O.  II, 
S.  80—81. 

*)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  81,  wo  es  heißt,  daß  Juda  dem  Saadja  nicht 
die  Worte  seines  Vaters:   7VDW  Wl   b*l   Difin  übermittelte,  vielmehr: 

pm  wa  nptfffiB  xnr  kVb»  na  rmispn  nx  cinrrp  povßi  rwpn  ib  iok 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.     73 

Juda  reizten.    Nun  entsetzte  der  Exilarch  den  Gaon  seines 
Amtes,    indem  er  ihn    zugleich    in  den  Bann  tat,    und  den 
aus    einer   alten  Geonimfamilie  stammenden1),  jedoch  sehr 
jungen  und  unreifen  Josef  ben  Jacob,    mit    dem  Beinamen 
Bar  Satia2),  zum  Leiter  der  Hochschule  ernannte,  während 
wiederum    Saadja  den    Josia,   genannt  Hassan,  einen   Ver- 
wandten des  David3),  zum  Exilarchen  erwählte.  Obwohl  der 
Gaon  die  reichsten  Männer  Bagdad's,   darunter  auch  Isaak 
und    Sahl,    die    Söhne    des    Netira,   zu    seinen    Anhängern 
zählen  konnte,  gelang  es  dennoch  seinen  Gegnern,    denen 
sich  auch  der  auf  ihn  eifersüchtige  Aaron  Ibn  Sargädo  und 
Konen  Zedek   von    Pumbadita    zugesellten,    mit    Hilfe    der 
Regierung  Saadja  endgiltig  des  Gaonats  zu  entsetzen.  Der 
Kampf,   den  diese  Reibungen    hervorriefen,    hat    leider  viel 
Häßliches  gezeitigt.     Nur  weniges    ist  uns  von  den  diesen 
Streit  betreffenden  Schriften  erhalten,  aber  auch  dies  genügt 
uns,  einen  Blick  zu  tun  in  die  auf  beiden  Seiten  herrschende 
Feindschaft,  wobei  aber, —  der  Wahrheit  die  Ehre,  —  anerkannt 
werden  muß,    daß  das  größere  Maß  von  Gehässigkeit  auf 
der  Seite  von  Saadja's  Gegnern  zu  suchen  ist.  Wie  wir  aus 
einem  durch  einen    Karäer  uns   erhaltenen  Fragment   einer 
Schrift  Aaron  Ibn  Sargädo's4)  nun  wissen,  wurde  von  David's 
Anhängern,  oder  von  diesem  selbst,  es  so  dargestellt,  als  ob^ 

»)  So  wird  Josef  in  einem  Pamphlet  gegen  Saadja  —  siehe 
weiter  unten  —  bei  Harkavy,  Studien  Th.  V,  S.  228  Anm.  9  genannt, 
da  er  von  Natronai  ben  Hilai  abstammt. 

s)  Diese  Bezichnung  ist  sicher  nur  ein  Beiname,  wie  aus 
Scherira  bei  Neubauer  a.  a.  O.  I,  S.  40  Z.  5:  tOBD  "D3  ynn,  ent- 
sprechend der  Wendung  ebendort  Z.  1  betreff  Saadja  ^vds  J^Ti 
hervorgeht. 

3)  Während  die  anderen  Quellen  diesen  als  Bruder  des  David 
nennen,  —  so  auch  bei  Harkavy,  a.  a.  O.  S.  227,  Z.  2  v.  oben  —  be- 
zeichnet ihn  Scherira  a.  a.  O.  als  \Tinx  fnn,  also  als  Schwiegersohn 
«eines  Biuders. 

*)  Es   ist    das   zuletzt   von   Harkavy   in   Studien  V,  S.  225—235 

veröffentlichte   Fragment,    das  er   dem   Sahl   ben  Mazliah  zuschreibt, 

Vermutung,   die  umso   eher  an  Wahrscheinlichkeit   gewinnt,   als 


74     Beiträge  zur  Oeschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitaltei. 

Saadja,  entgegen  den  eidlichen  Versicherungen,  die  er  dem 
Exilarchen  gegeben,  keine  gemeinsame  Sache  mit  dessen 
Gegnern  zu  machen,  dennoch  gegen  diesen  Zettelungen 
angestiftet  und  sich  mit  seinen  Feinden  verbündet  habe1). 
Ferner  habe  er,  sich  in  seiner  Eigenschaft  als  Hochschul- 
präsident überhebend,  vielfache  Erpressungen  und  Unge- 
rechtigkeiten zu  schulden  kommen  lassen*),  so  daß 
der  Exilarch  oft  um  Hilfe  angerufen  wurde8).  Es  wurde 
ferner  gegen  Saadja  der  Vorwurf  einer  öffentlichen  Ent- 
weihung des, Sabbat  durch  Tragen  und  dergleichen4),  eines 
unsittlichen  Lebenswandels  in  Verbindung  mit  mehreren 
Genossen6),    einer   ketzerischen  Denkart    und    Verächtlich- 

dieser  Karäer  auch  Mitteilungen  über  den  Streit  mit  Ben  Meir  ge- 
macht hat,  in  denen  ein  schadenfroher  Ton  nicht  zu  verkennen  ist. 
Vgl.  auch  den  Nachweis  von  Harkavy  a.  a.  O.  S.  223,  daß  darin  die 
Streitschrift  Aaron  ibn  Sargädo's  benutzt  ist,  indem  dessen  eigene 
Worte  hebräisch  wiedergegeben  werden,  während  der  Karäer  seine 
fortschreitende  Beschreibung  des  Inhalts  in  arab.  Sprache  gibt. 

l)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  225-227  u.  besonders  S.  232,  Z.  5  v.  u. 

i)  Vgl.  a.  a.  o ,  S.  226  z.  7  fgg.':  *$p  pw  nw>  B>xi  ctro  mono 
THffi  in&'  Sap  wna  npava  in»  blipd  viitvb  am  . . .  jidd  pajw  .  . . 

DBDJJ'D   U.  S.  W. 

3)  So    allein    ist  der  Sinn  der  arab.  Worte  a.  a.  O ,  Z.  13—14; 

rJfiMJlDK1?»  'to  mxy  Otubx  "fX,  so  daß  mir  die  dort  von  Harkavy,  Anm. 
14  gegebene  Übersetzung:  ,loj>  lisrmil  nyttlD.l  03110  12C  ganz  un- 
klärlich  erscheint,  zumal  sie  dem  Zusammenhang  gar  nicht  ent- 
spricht. 

*)  Vgl.  Harkavy  a.  a.  O-f  S.  227,  Z.  4—8;  vgl.  auch  ebendort, 
S.  225. 

s)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  227—28.  Unter  den  dort  genannten  Genossen 
Saadja's  werden  auch  die  TJ?3  '33  erwähnt.  Es  ist  nun  merkwürdig, 
daß  in  dem  von  mir  in  Monatsschrift  1908,  S.  332—333  skizzierten 
Pamphlet  gegen  Bostanai,  —  vgl.  jetzt  auch  Worman  im  JQR.  XX  S., 
214, —  in  Verbindung  mit  den  Nachkommen  David  ben  Sakkai's  behufs 
Diskreditierung  der  Exilarchen  die  tJJS  tkd,  die  Nachkommen  des  Boas, 
genannt  werden.  Sollen  es  etwa  dieselben  sein,  wie  die  in  dieser, 
doch  jedenfalls  vom  Exilarchen  inspirierten  Schrift?  Hier  heißt  es 
übrigens:  fMJnVB  TJJ3  ya  0,1  pm  v&*l.  Soll  durch  deren  Einge- 
ständnis ihre  Schuld  gemildert  erscheinen? 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.  75 

machung  der  Thora  und  ihrer  Gebote  erhoben1).  Auch  wird 
er  deswegen  angegriffen,  weil  er  eigenmächtig,  aus  Anlaß 
einer  Seuche,  einen  Fasttag  angeordnet  habe,  was  sich  jedoch 
als  wirkungslos  erwiesen  habe2).  Schließlich  verunglimpften 
sie  auch  seine  Abkunft,  indem  sie  auf,  Grund  der  Berichte 
angeblich  glaubwürdiger  Zeugen  aus  Palästina  und  schrift- 
licher Mitteilungen  von  dort,  ihn  als  von  Proselyten  aus 
Dilaz  in  der  Provinz  Fayüm  stammend  bezeichneten8). 

Wir  ersehen  schon  hieraus,  mit  welchen  verläumderi- 
schen  Mitteingegen  Saadja gekämpft  wurde,  indem  man  sich 
sogar  nicht  scheute,  sich  der  ehemaligen  Gegner  in  Palästina, 
deren  Bezwingung  man  doch  hauptsächlich  nur  jenem  ver- 
dankte, als  Helfershelfer  zu  bedienen.  Diesem  großen  Maß 
von  Gehässigkeit  entspricht  auch  der  uns  noch  erhaltene 
Bann,  der  die  volle  Schärfe  der  den  Gelehrten  und  dem 
Exilarchen  zu  Gebote  stehenden  Mittel  anwendet,  zugleich 
jedoch  die  großen  Verdienste  des  Gegengaon  hervorhebt4), 
und  als  map  ana  überall  verkündet  werden  sollte5).  Beson- 
ders aber  muß  das  von  Aaron  Ibn  Sargädo  verfaßte  Pamphlet 
den  höchsten  Ton  der  Feindseligkeit  und  Verläumdung 
angeschlagen  Inben,  wie  die  Anfangsworte:  cnan  jö  Dmp'BR 
®&xb  n«  it  i»a  D"j£nn  beweisen6),  so  daß  selbst  der 
karäische  Compitator  sie  als  belanglos  oder  vielmehr  als  zu 
gehässig  bezeichnet7). 

i)  Vgl.  a.  n.  O-,  S.  228,  Z.  6—7:  c«ro  «n  mirpca  rtr1  b*  "pvc 

*)  Vgl.  ebendort  S.  229  Z.  5  fgg.;  vgl.  auch  S.  224  oben. 

3)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  229,  Z.  1  —7  oben,  u.  betretis  Dilaz  S.  234,  Antn.  9. 

J  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  233-234. 

*)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  234,  Z.  12  u.  Anm.  7. 

«)  Vgl.  a.  a.  O.,  Z.  15-16. 

i)  Ich  würde  anstatt  Kirnst  vorschlagen  die  Lesung  X","n5?; 
denn  als  belanglos  wird  derKaräer  sie  nicht  angesehen  haben,  da  er, 
wie  aus  Harkavy's  Mitteilung,  S.  224,  hervorgeht,  einige  der  Anklage- 
punkte gleichfalls  Saadja  vorhält.  Auch  die  Wendung:  StMÄSÄ»  DTD  »ich 
habe  sie  selbst  schriftlich  nicht  weiter  festgelegt«,  weist  eher  auf  KnhW 
hin:  »wegen  ihrer  Abstoßenheit*. 

(Fortsetzung  folgt). 


Fragmente  von  Gabirols  Diwan. 

Von  H.  Brody. 

In  einer  Anzahl  von  losen  Blättern  und  Blattfragmenten, 
die  ich  zu  untersuchen  Gelegenheit  hatte1),  erkannte  ich 
die  Reste  eines  Diwans  von  Salomo  lbn  Gabirol,  und  ich 
halte  den  Fund  für  so  wichtig,  daß  ich  von  ihm  weiteren 
Kreisen  Mitteilung  machen  will.  Abgesehen  davon,  daß  wir 
hier  zum  ersten  Male  ein  umfangreicheres  Bruchstück  der 
Gedichtsammlung  eines  der  hervorragendsten  Dichter  der 
klassischen  Periode  kennen  lernen,  bieten  die  vergilbten 
Blätter,  trotz  des  außerordentlich  schlechten  Zustandes,  in 
dem  sie  sich  befinden,  des  Interessanten  genug.  Wir  finden 
hier  die  Quellen  wieder,  aus  denen  Moses  lbn  Esra  eine 
Anzahl  seiner  Gabirol-Zitate  geschöpft  hat,  und  lernen  diese 
Zitate,  deren  Sinn  verkannt  wurde,  recht  verstehen;  der 
Geist  des  großen  Dichters  spricht  zu  uns  auch  aus  den 
Trümmern  seines  Werkes;  wir  haben  ein  neues  Mittel,  um 
einige  der  bereits  bekannten,  aber  nicht  ganz  korrekt  über- 
lieferten Gedichte  des  Sängers  aus  Malaga  wieder  herzu- 
stellen; wir  gewinnen  die  Möglichkeit,  Gabirol'sche  Gedichte, 
die  sicher  sehr  bald  aus  dem  Dunkel  der  Genisa  ans  Tages- 
licht werden  gefördert  werden,  als  solche  zu  erkennen. 
Das  letzte  Moment  halte  ich  für  eines  der  wichtigsten.  Die 
Gelehrten,  denen  die  Schätze  der  Genisa  zugänglich  sind, 
haben  bisher  außer  dem  Ben-Sira  hauptsächlich  den  Re- 
sponsen  der  Geonim  ihre  Aufmerksamkeit  gewidmet.  Nur 
die  Gebetstücke  und  Aboda-Fragmente  haben  noch  in  El- 
bogen  einen  warmen  Freund  gefunden.  Die  zahllosen  poe- 
tischen Stücke  blieben  vernachlässigt,  trotzdem  auch  auf 
diesem   Gebiete    alle    Forschung    ab   ovo    beginnen    muß, 


Fragmente  von  Qabirols  Diwan.  77 

wozu  eine  nähere  Kenntnis  des  neuen,  in  Fülle  vorhan- 
denen Materials  nötig  ist.  In  der  letzten  Zeit  scheint  man 
sich  endlich  den  poetischen  Fragmenten  zuwenden  zu 
wollen.  Speziell  von  J.  Davidson  in  New-York  darf  man  wert- 
volle Leistungen  auf  diesem  Gebiete  erwarten.  Da  ist  es 
denn  von  Wert,  wenn  durch  die  Voröffentlichung  von 
Fragmenten,  deren  Autor  bekannt  ist,  die  Identifikation 
neuer  Funde  ermöglicht  wird.  Es  wird  hoffentlich  nicht  lange 
dauern,  und  wir  werden  in  der  Lage  sein,  die  Lücken,  die 
unser  Ms.  aufweist,  nach  andern  Handschriften  auszufüllen. 

Im  Folgenden  werde  ich  die  einzelnen  Blätter  der 
Reihe  nach,  wie  ich  sie  geordnet  und  paginiert  habe,  be- 
sprechen. Soweit  es  sich  um  bereits  gedruckte  Stücke 
handelt,  werde  ich  nur  auf  die  wichtigsten  Varianten  auf- 
merksam machen.  Stücke,  die  ich  nicht  an  der  Hand  an- 
derer Manuskripte  komplettieren  kann,  gebe  ich  genau  so 
wieder,  wie  sie  meine  Vorlage  bietet,  ohne  Vokalisation, 
ohne  Korrektur,  ohne  Kommentar.  Vorschläge  zur  Text- 
verbesserung gebe  ich  in  den  Fußnoten;  mit  Fragezeichen 
versehe  ich  Worte,  die  ich  nicht  mit  voller  Sicherheit  lesen 
konnte.  Eine  vollständige  Bearbeitung  erfahren  zwei  Stücke 
Vit\StV  u.  »n«  TP),  ferner  das  Fragment  Bl.  4a — 5b  von  Vers  16 
ab  aus  dem  zur  Stelle  angegebenen  Grunde. 

Bl.  la— b:  Fragment  von  rpaiffl?  &$  *WK  WBJ  (Dukes2) 
S.  10,  Nr.  7;  Sachs  rvnnn  II,  S.  1).  Vers  2  hat  hier  nbvb 
vxd  für  vwi  n^pa  bezw.  g>K  bx  n&VT,  Vers  5:  -pa^  mpn 
(das  Wort  mpn  fehlt  in  den  Ausgaben);  zwischen  Vers  7 — 8 
hier  noch: 

ronrm  noi«  *»*n  nx"\r\  xbr\  nra  [rvap  in«]. 

Vers  9:  »e6k3  für  'tt>j«a3);  Vers  22:  »a  für  *d;  Vers  26: 
"|Ta"i  fürnvai;  Vers  27  fehlt,  hingegen  ist  der  in  dem  von 
Sachs  mitgeteilten  Text  enthaltene  Vers  nPW  nrn  aiB  xb 
auch  hier  vorhanden. 

Bl.  2  a— 3a:  Fragment  eines  Gedichtes,  dessen  An- 
fang fehlt: 


Fragmente  von  Gabirols  Diwan. 


jiib*mi  • 

n  nh  Iwm 

Rtäp}   D»»3M 33 

niöpa  (6.  i  .  wm  nen  »*m^ 

maba  i*6a  wro  »b  am 

/iiai/n  D^iy  /h33*ibb>  nya 

/raan  t  ♦  .  ♦  .  ib*mvvj 

meto  »jbm«  (6i&»  33^> 

/iiaip/i  kiub^  v>rr  (?)  ov>na 


(7/11BB>   .  .  ♦  83 $>3 

man«  orr/iwo  wi 
/nanp  }b:*iki  rw^ina 

illBXJtfl  D"I*>3B  rfibi 
möORö   fröa   #D3  *,B3 

mapi  pp  py  (9D3  :i«i 

ma^Kn  /inj«1?  mn 

mav;i?/i  iksjb3  D3n  3^3 

/11B13/1  ro»  »tm  ™p  inj 

ma  nn«  B3  )ma  nsan 

maus  jrrpian  ^n  ^a 

.  .  .  i^a  /ni3K  o'/oiwi 

/I1B1P/I   pniT   '3313  .   •  OVO 

(10/riDinn3  .♦  ins  nrnm  ow  nua 
maipan  ^3  '^j?  ^>r  "[BipB 


ieth  V3R  itt>«  pnw  pai[2a] 
jnai  a>*R  dihtp  jnai 

BfPJD   »#  (4,DJ?D   1B3   "ItPM 

o'O'psn  vona  p«T'i 
o  WS  &M3  d.tjdki   5 

na   11K3   11«   B!V3DB   MY1 

naoi  nasri  m«bca  m*i 
p*in  ni»i3  anjs  p*  v»ö 
/liBi^na  inaB  r«M  33^01 
.  .  ♦  1/13  ^n33  wm  trpsi  10 

•  ;•'«  o'njrrip  o*t^»«a[2b] 

p*lpV   033   }Btn   «131 

i^«3  anb  (8nai>  .  .  .  bi 

pi  'iv  D*ni?  jarn  toai  15 

oi»a  yua  »b3B  -»sai 

D'Btra  nn  (9my3  ^mni 

orrbM  py  nvjaa  pa»  .  . 

on^M  narn  a>iJt<ri  a>D3i 

S)M  %  )BB>   .   .   ♦  DM  20 

anp^>  naa  13/131  .  . 
T  nnb  «ba  iva^  ,  .  . 


isai  }3  nanj?  .  . 
'3sS  tsn  .... 


25 


nMW3.n  ~\vb  '3  /nrya^a] 

"n^>  Y/I1^PB  13*1 
an'i  ony  "joa  ("töv  .  . 
Hierauf  folgt  eine    arabische  Überschrift12)   zu  einem 
Gedichte,  das  BI.'  3b — 4a  seine  Fortsetzung  findet  und  dem 
ein  von  Moses  Ibn  Esra  zitierter  Vers  (7)    entnommen  ist. 
Das  Gedfcht,  soweit  es  erhalten  ist,  lautet: 


Dpnn  T3  b>V   WM   31?  'BB>33 


»naM  »a  naMa  piu«  vhn 


Bp3l   nbD    WJI'   TJ?  0^33  (?)  ^31   1BB>0  D^lMl  L*bJ 


Fragmente  von  Oabirols  Diwan. 


79 


opBvn  *<*  »T»aq  &m 

Dpi?  wd  "ib»«  dtpb  ^ib^ 

DpIM  d  . .  j  (?)  nB>» . . .  »3  3Wn»l 

(18Dp[x3  i^Hft?  &>]»i  a'uy  p»3 

op-n  (l4*]t5D'n«  DJi« 

op'jn  *b<»  a$»5n  hj? 

DpW2  .... 

Dp»B«  .  .  ♦  rn  ib>« 
Dpro  f  ♦  ♦  hin  »«na^ 

(15Dpe>i3  D'/idb»  j...b>3  bip  wi* 

DpS»  .   .   .   n  .  ♦  133   »JW31 

Dp*öK  f3  rrtha  wm 

opa»  pn»  r»  n«  no3' 

•  ''?.  S*pp   DDlpD 


p3ir  pby  mai«  dk  *ib>» 

'  D3H3  pa  p&jki  1^»3 

pjm  3TW3£j  nans  onan 

'3  nan  r6[»]  &A  fiBflfl  ^>»i 

mr*i'  nip 

03123  DÜ3  wam/r  w» 


.     .      .     .     .      .      .10  [4  a] 

sps  'bm  '33^  pv3n 
po*»»  pn»e  "n^  nym 
e"»  D3n  Vi»  in  ibs 

^»b«  'V3  wya  1$»»3 

16.  .  an:  p  vnxy  nniftflh  15 
d*did3  uteri'  bton  w% 

übvy\  "3i3  i^e>3  ovm 


Bl.  4b — 5b  enthält  ein  Gedicht,  das  am  Anfang  defekt 
ist  (es  fehlt  aber  kaum  mehr  als  eine  Zeile)  und  gleichfalls 
einen  von  Moses  Ibn  Esra  zitierten  Vers  (19)  enthält,  auf 
den  ich  noch  zurückkomme.  Zunächst  lassen  wir  den  Text 
folgen: 


{an  pion  (17,rv  n3*»i 
|BD3l  vmnb  vd  bv  piira 

JB'Db  tt"tö  ^J?  D3D3 

jam  ^dd  n:y>  d»  »"ip 

\onb  Stp-»  na  /wip 

pina  »sha^  '»dj  1133 

p"T3  »an  (,0rfaa  »3  ny 

jö'p*  *i/iD3i  f '»  »rjft 

pöil   #BB>   (|D»J   VI» 

p\ni  jtoa  itrjDj  {2lviV2 

jaipa  imxsa  »j  iy  tkb 

pip3  d»  »ji«p  nrosn 

(".  .  .  «w  KjjujanB  133^ 

(?"|a«safc  (?)  *»D3  niw  n»S  *w» 

janp  nn  wa  i^«3 

l^rp  arg  h?  q  1p;: 


\ ^3  n» 

nim  ma 

antw  n*n»'  (18*np  .  .  . 

f^ki  »3"  wo  .  .  . 
matr  psn  i«np»  d  ".  •  •   * 
»Wfi  rm»6fl  (19,n»n  .  . 

jym^m  »tt  »na  .  . 

nirökh  (?)  piM  33  .  . 
i^>»3  3ij?  rw^  m«'  "W8 

iS»3  bin  ftwf*  nj . .  3  i° 

msttma  onwon  ^y  bi 

njoii  ins  ja?n  W 

*ittM0  'bt^  'bi  p»a  nsp 

ffkfo  D^n^S   *«TD31  15  [5a] 


80  Fragmente  von  Qabirols  Diwan. 

(25fo#P3  pn  nnbw  l»*p§  »3  m$%  iy_  13  nbnp  np^Tj 
(86fB#i  n#yT  "\%%  iv.  iferii  nfra  ptoyT  ns^p  ^  to, 
jpvtt  -101«  (27f  p-rp  «in  i#i*        -i&ko  "tia$  hj?  ip  ip;ioi 

(*V?"p#?  1«  n^nps?  103  >:>#:?  w.nioi  höt  nitfK  20 

(öni  ahn  n&jni  (T^flPJ      p¥i<T  n#  tfa  ^na  n&$"]ö3 

(3,|öD:b3  nisftn  fo:?n  Tj^ii  tapT  ntjK  antjWl^S  iiWJ 

(''[öV^i '^  mr1?!  rnatp*  D7Ä1  ^  nVbs  ip.T: 

("pp^ij^  "ntsto  rfinßpn  las'  DWp  fr  ttgßtf*  oai  25 

jorni  iji  nS  n#jr7|  nt#^  o^n  nteb  löjy'  nriof 

("l^^na  n^.  *t£  töi-n$DN  /vdii  101*7  ruga»  «T&n 

(85(^rj^l  'ö^fli  W  ^1  pn^  n^b  anp  "TO* 

(87<  ♦  ♦  oi  1133  ni'iqp  /von  (3co^hs#  [>**£  ^i:sn  rnri 

(59jo#33  a»*i  »n;  13;  to*1  (88n$3P  p«  7öj£  -r^i>i  30 

("PW1  JH  nl»Jjp  "tni  n&:p  vq-ip  TO  "id  ifrj 

:(42}0#K|  ibl  i-^pi  Q'npj  (*"#*3$  ntgp  ^iinDtfi 

Ich  habe  es  versucht,  den  Text  von  Vers  16  ab  wieder 
herzustellen.  Über  die  Einzelheiten  geben  die  Anmerkungen 
Rechenschaft.  Fassen  wir  den  Inhalt  der  Verse  zusammen, 
so  ergibt  sich,  daß  vom  Weine  die  Rede  ist,  den  der  Freund 
(oder  das  Schicksal?)  dem  Dichter  reicht.  Er  schildert  den 
Becher,  dann  den  Wein  und  dessen  Wirkungen,  diese  in 
sehr  ausführlicher  Weise.  Was  kann  nun  der  von  Moses 
Ibn  Esra  zitierte  Vers  19  in  diesem  Zusammenhange  sagen? 
Nichts  anderes,  als  daß  der  Wein  süß  und  herb  zugleich 
ist,  denn  es  ist  ein  alter  Wein  »aus  den  Tagen  des  Omar 
und  Teman«.  Ähnlich  sagt  der  Dichter  an  einer  andern 
Stelle:48) 

ntf*7*n  tf'Ehm  rü  rot       upr  ins  yfo  tst»  i&» 

•»•vir  •:*:"       )  -  :  :      I    »  :  •:  »t 

Welchen  Sinn  hat  man  aber  in  unsern  Vers  hinein- 
gelegt? Dukes44)  führt  aus  einem  Briefe  des  Amram  b. 
Peziza  den  Passus  an:  [1.  tw]  nn?  bv  a'tPfl  b"i  in«  oon  iWll 

•b  mm»  nm  ,"'oi  ia  laytai«  na«  mb«  bwz  :no  ikjksw  ir»f?iT 


Fragmente  von  Qabirols  Diwan.  81 

mm  od  o*a  rb  twemi  ,nai«  ttfm  ;a\n  pj6k  pro)  panp  mnv 
Ina^a  ma  m  /np'iraa  »b»  ir«  "mram  vwn  mv  »Cime*  ^ 
Geiger46)  bezeichnet  diese  Auffassung  als  ein  Mißverständ- 
nis; nach  ihm  will  der  Dichter  sagen,  »das  Lied  trage  den 
alten,  schwerfälligen  Charakter  an  sich.«  Wir  sehen  heute, 
daß  auch  diese  Annahme  falsch  ist.  Nicht  den  Tadel  eines 
schlechten  Gedichtes,  sondern  das  Lob  eines  guten  Weines 
enthält  der  Vers.  Es  ist  mir  nicht  bekannt,  in  welchem 
Zusammenhange  Moses  Ibn  Esra  unsern  Vers  anführt,  sicher 
ist,  daß  er  nicht  allein  seinen  wahren  Sinn  gekannt,  sondern 
ihn  auch  nachgebildet  hat,  wenn  er  singt:46) 

P5vg  \&p  jata  |V.     30  04 103  "in#  nfrjj  d"io 

Unter  der  Überschrift  Kr«  nbl  folgt  (Bl.  5  b)  Vers  1—11 
des  Jekuthiel  gewidmeten  Gedichtes  yr\  wr  3313  (Dukes 
S.  28,  Nr.  16;  meine  Gabirol-Ausg.  S.  4,  Nr.  2).  Vers  8  hat 
das  Fragment  DJ?  für  iy,  wodurch  meine  in  den  Anmer- 
kungen S.  1  (vgl.  S.  6)  gegebene  Erklärung  gestützt  wird. 
Bl.  6a— b:  Z.  51—88  des  Gedichtes  nasnn  r^rm  (Dukes 
Nr.  68,  S.  67  f.).  Z.  56  liest  unser  Ms.  WM  für  mMM,  das 
keinen  Sinn  gibt;  Z.  62:  o'^iy  DBM  für  DWJJ  13»1  ;  Z.  63: 
nanm  (so  auch  Ms.  Oxf.  1970  und  Sachs,  D*wn  'V»  p.  3"^») 
für  nanm;  Z.  75:  »eu»  für  wk  ;  Z.  76:  dtoki  in»  für  mv 
D'Wa;  Z.  77:  nein  3^  (wie  Oxf.  1970)  für  naan  &,  und  gast 
(Oxf.  1970:  «am)  für  «aap;  Z.  82:  onma  irran  (wie  Oxf.  1970) 
für  oman  »iran. 

Bl.  7  a — b:    Fragment    eines    sonst    unbekannten  Ge- 
dichtes: 

ami  aräna  ^oa  aiai      D'ja^B  aia  (?)  D»aa  . .  •  "iffx 

anna  nrai  (4Vi  ♦ .  ai^i  ogfan  iro^  jru  wk 

(?)  am?«  ay«  a'swnam  pmtr»  (48nnt2*  »jbi»  n^ao 

a'vaaa  a^3«  v/iisyia^  jnaa»  i3«  t6i  na  i^>i 

ann«  am  Ana*  bji  inwa  itciv  »bn   5 

amipi  (?)  yv  omni»  npi    (?)  i/ijn^  d'dij*  ibv  »ai  an« 

arrcsan  rann  yni    jibki  mn»  pi  m*»a  »  ♦  5»  »  • 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  " 


82 


Fragmente  von  Oabirols  Diwan. 


ü»vm  er«  dki  ^»«w  ^ 

oniu»  dj  D*any  itb  ^y 

anwa  tf«3  ^3«  #k  djw 

on»»  iay  'Bct^o  ^3  b«n 

onan 

D*VD3n 

(BOomar  »  .  »  »'  öria  »aim 
nney  ^rm  nan  oy  nvm 

(51D>  ♦  SD  »3VP11  "1D1K  noi 


vjjy  mae  i#k  rrn  3  ♦  ♦ .. 
....  b*nb  (?)  pn  .  .  . 
bx  »j  ...  io 

oa»3»  ny  (?)  Dmp'  ra'3  Wn 
("npnx  .  .  .  03  «>3^  -itr« 

(?)  33*6  Bp  (?)  l»flB»  yj  DM  WM 
Dy   mono   ^»3P   TB3   .    .   . 

ippao  mj  ^»31  nsis  ^3i  15 
fliona  pp  DiT^ya  tdoi 
(?)  n^iyan  nina  TaR  nai 

[7b] 


(?)  ony  .  .  D»fl  .  .  .  miöTö 

annon  jt6j^>  totidi 

amaa  |a  £  »jki  ax  ioa 

(8*d*tbm  inWi/ia  arr^y 

amya  ^  nya  arrai 

BniltW  VJB^  ia*3twii 

oniso  nBirfci  apb^i 

amy:  »ja  nyr  ny 

D'Tra  B'  ,  .  .  1BJ  .  .  .  *ltfK 

onp*  a»y»n  ....  33 
.annwi  »j^ya  m*  iaa 


'52 


pvp»  v#n  '«^»oa  d^iki 
d\*  .  .  an  ihvuö  f ap^  20 
my:a  (63'^"ü  t«mi 

"6X3  »Vtt>  »JB  im  ppi 
DT1WBD  ^3  £n»   r1?«! 

mn«  Dm»B33  Mb  ir« 

anjp  Tiaaai  nwaoi  25 

^  ("nro  aya  ibib  »n« 

D»irjn  Sl3»  Ttt  itopi 

n^nan  (M,5tnm  ama 

'ja?  nraft  pya  »aiw 


Es  ist  aus  dem  Gedichte  nicht  mit  Sicherheit  zu  er- 
sehen, wem  es  gewidmet  ist.  Was  der  Dichter  von  dem 
Gelobten  sagt,  würde  auf  Samuel  ha-Nagid  sehr  gut  passen. 
Die  von  Dukes  S.  74  sub  n  und  n  nach  Moses  Ibn  Esra, 
Josef  b.  Aknin  und  Parchon  angeführten  Verse  Gabirols 
entsprechen  in  Reim  und  Metrum  unserem  Gedichte. 

Auf  das  vorhergehende  Stück  folgen  (Bl.  7  b),  nach 
einer  arabischen  Überschrift,57)  die  ersten  zwei  Verse  eines 
Gedichtes: 

npra  Mnn  nub  nn^»  npia  pya  m'v  ivr*  pia 

np/u  fiffiJI  »n^  ayn  iibki  B*awan  runp  Tipci 

Bl.  8a — 12b:  Fragmente  von  dem  Klageliede  über  den 
Tod  Jekutiels   (meine  Gabirol-Ausgabe  S.  12,   weitere  An- 


Fragmente  von  Gabirols  Diwan.  33 

gaben  das.  Anmerk.  S.  3*3),  Z.  25— Ende  umfassend.  Von 
Varianten  erwähne  ich:  Z.  27:  opm  für  o»pn  (richtig  nach 
Exod.  3,  21);  Z.  75:  «W»  für  .ttRJ';  Z.  181:  rmmn  für  mio/in 
(richtig  nach  Deut.  14,  1  und  ö.);  Z.  203:  DH'om  für  onom 
(richtig  nach  Ps.  12,  2). 

Bl.  13a — b:  Ein  Liebeslied,  von  dem  hier  nur  einzelne 
Worte  lesbar  sind,  das  ich  aber  schon  vor  Jahren  in  einem 
Genisa-Blatt  des  Herrn  Israel  Levi-Paris  gefunden  habe. 
Es  lautet:58) 

(«tppv-o  rv^ö?  vn  dk.1.    nttjtyj  ^q/?l  "»BKA  "N$*S 
(6,D>pnb  wbs  :hr6  D^nai  rrtoito'  mim  rfiyrt 

I  •      •  :  t  :   •  -:  »  •    t    ;  :        t    »  t  :   •  n 

owa  n"nS:a'  pnani    i"iWBtej!  n:  nna  -rata  -itfj*  5 
<e4ü>pn.s  Enelfa  nnm  rm/n  n^j?  Nö^fl  njn 

wp>¥B  DwrbiiS  trjntfK       nß|n  l»mWa  n¥b>  dki  10 

I  •       •    :  r  *  j  r"         r    •:  TT-:  T  "  j  t    ;    •  •• 

Bl.  13a:  Ein  Klagelied,  das  zunächst  wieder  dadurch 
unser  Interesse  erregt,  daß  es  einen  von  Moses  lbn  Esra 
zitierten,  von  Schreiner71)  mitgeteilten  Vers  (3)  enthält.  In 
der  Überschrift,  die  rfttaM  rmv  b"[t  nbi]  lautet,  ist  das  Wort 
.1K3K  unsicher,  ebenso  das  Wort  »3«  in  Vers  9,  so  daß  man 
nicht  mit  Sicherheit  behaupten  kann,  daß  wir  ein  Klagelied 
des  Dichters  über  den  Tod  seines  Vaters78)  vor  uns  haben. 
Das  Gedicht  lautet: 

J.33.D  (7^rftn  .  ,  nm»3  ik  naan  (78]tpc  .  .  .  n  bv 

fOKItf   ATB   '00   "\TV   1K      om   flDW   t?K3   1   .    .   .   ♦   b   1K 

(76n3«*p  r\wn  xb  aro*  jr»      13  E*u*  [rn]o  »a  antci  Bp»n 

6* 


84 


Fragmente  von  Oabirols  Diwan. 


natrriD  nwa  dk  »a  n/wm  *6 
naaiyo  rrVu  (?)  »a . .  ♦  tn  y»  '3 

na'i«  "i^  (?)  >a«  niwi  «^ 

nat^  i*bj  na  (".  ♦  an  .  •»  ♦ 

naaca  "pap  hv  rrmv  (?)  tk 

na/via  iwn  iTOfj&  fw 


inn«  iuw  wm  noan  i1? 
ioa  «>*«  n*u  itw/n  non 

*aaa 

(?)  na  A  *aa^  p*  imn  ja  i6 

tf  toa  ^lon«  njvn  may  ^B3a 

nn«  miaa  ^an  nn^tr  7« 

.  ♦ .  "j  ♦ . .  v .  ♦  na  (?)  nDKD  t6  10 

nViaj  "j/noa  vqv  -itp»  »^ 

18-ip'  on  »aaia  D'pntfü  'a 


Bl.  13  b — d:    Fragment  eines  Gedichtes,   das  fch  voll- 
ständig in  dem  bereits  erwähnten  Ms.  Levi  gefunden  habe78): 

o vj  —  - 


u 


vmbi  tü^i  -ins'  »3  pa£ 
(81Vr6Nttf  >3  ^Dörntfah-^jn 

....         .        •     t  -:        •  *i; 

v^np1?  '5  Hflpj  nöO«  ^3« 

vrqttfn  d^.i  pny;  ?jiö3i 

vmpy,  üb  tfbx  h\n  *b\ 

vrijpp  >sk  (85nl-ini>  üb  "litfK 


m'33'  *D3tf  »ij»je  -lorn 

v/nn;  ^  >3  (82?fi  neos  tfVj 

nSyn  13  ^  ni>n  (83vterj 

iN"]pT3  »5ö"T3^n  ,-iödi 

D^Dn  Vnp3  ibö  *i!\*ptl 

Tina  ^ö'  >:n  >|  o:sw 
tj^-^  31  p]>;  nnb  bin 


(86vr,n^p 

iwnn«-D«  >s  öia^  py:«  üb)      (87^ip|  j?sty  1  ?fV3?^  njij 

(»iv™  iöfc  sü  tp  toi         131m  vrapoiTaa  3/xri 

twmn^ietfrn  13  tfrort       vrchT  3JriDn  oik  dki 

Bl.  13  d — 13  f:  Fragmente  des  Gedichtes  beim  Abschied 
von  Saragossa  0«ipa  inj,  Dukes  S.  1,  Nr.  1),  u.  zw.  Vers 
1—9,  19—37,  40—  Ende.  Die  Überschrift  lautet:  Ki'8  rrVi 
nöDpio  ja  n;na  {n  »d.  Von  Varianten  seien  die  folgenden 
hervorgehoben  :  Vers  7  oyo  8ip*v  für  nxp  01p»«;  Vers  31: 
»3löäp  py(wie  in  n'n)  für  »JlöJp  oy;  Vers  42:  »^  i«np  für  i«ip; 
Vers  45:  »mna  für  *e  ioa. 


Fragmente  von  Oabirols  Diwan.  85 

Hierauf  folgen  (13  f)  die  unleserliche  arab.  Überschrift 
[pijpßöte  [yV2  ynv]  nb)  und  die  ersten  Worte  cwrm  bt*  töiki) 
des  von  Harkavy  in  DW  oj  wm  Nr.  4  (tPDMn  Bd.  VI)  mit- 
geteilten Klageliedes90). 

Bl  16a:  Fragment  von  -pm  *3'3i  (Dukes  S.  38  Nr.  25)f 
Vers  17—22,  ohne  nennenswerte  Variante.  Vgl.  Bl.  29a — b. 

Bl.  16b— 17a:  Fragment  von  ^n  »n«  (Sachs,  »vt> 
DTWPI  p.  n  Nr.  4),  Vers  2—16  und  23  bis  Ende.  Vers  4  liest 
unser  Ms.  no,tJ>«n^  für  *B#nb ;  Vers  9:  piairö  für  itnrft; 
Vers  14:  rfflVfl^  für  nen  ^>K;  Vers  15:  ijjik  für  •Sin;  Vers 
16:  neiAffl  (wie  Sachs'  Vorlage)  für  ms^bm. 

Auf  derselben  Seite  (17  a)  beginnt  ein  Fragment  von 
ain  ö*ia  ik  pnan  (Dukes  S.  42  Nr.  30),  das  bis  Bl.  17  c  sich 
erstreckt  und  Vers  1—8,  21,  22,  15,  16,  17,  18,  19  (in 
dieser  Reihenfolge!)  enthält.  Folgende  Varianten  sind  be- 
achtenswert: Vers  5  var  für  nar  (vgl.  oben  zu  Bl.  4  b— 5  b); 
Vers  7:  »ipe>i  . .  .  13  *n»  *bm  für  *idwi"~\t  ^iki  (korrekt  auch 
in  Oxf.  1970,  wo  kdiü  für  das  sinnlose  np»ö);  Vers  8:  ruam 
für  narflj  Vers  16:  tum  für  rum. 

Bl.  17  c— d  ein  Gedicht,  anfangend:  *3$>3W  naiw  'fianKi, 
das  hier  nur  fragmentarisch  erhalten  aber  deshalb  von 
Wert  ist,  weil  wir  darin  eine  Stütze  finden  für  die  Tradi- 
tion, nach  welcher  das  Gedicht  Gabirol  zum  Verfasser  hat. 
Das  Gedicht  selbst  habe  ich  komplett  in  einem  Ms.  ge- 
funden91), über  welches  ich  an  anderer  Stelle  ausführlich 
berichten  werde. 

Bl.    17  d:    Fragment   eines    Gedichtes,    dessen  Anfang 
aus  dem   von  Neubauer   veröffentlichten  Register  Gabirol'- 
scher  Dichtungen92)    bekannt   ist.    Der    erhaltene  Teil    des 
Gedichtes,  .  . .  nbb»  narn  rfci  überschrieben,  lautet: 
mir«  »i»r  "bv  (?)  *tv  «»  £»K3  bnz:  »aw  p^«i 

mwp  ona  nb'bn  ir«  p^»na  fewa  prwm 

nvKB  rpflnpa  n^aa  (?)  rw^a  nnbn  runni 

MToa  orra  rtb»in  wk  D»»as  maao  r6'«a 

mwäh  Vy  i^jnn  nrüa  rm»K  caaiaa  ruram 


86  Fragmente  von  Oabirols  Diwan. 

(93/npjM  D»wjn  o'»»  pn  iawa  p,c3  n^Vn  rim 

rmra  nnp  (9*o^8  .  »  D'ana  naÄ  pnr  '3313  .  .  . 

Bl.  18a— 19a:  Vers  8— Ende  des  von  Geiger  nach 
Ms.  Carmoly  (später  Halberstam)  veröffentlichten  Gedichtes 
^yoa  n«.  Vers  9  liest  unser  Ms.  richtig:  "j^n;  Vers  10:  "ii8; 
Vers  11  ist  das  Wort  vor  unp  (wahrscheinlich  ji38)  ver- 
wischt; Vers  12:  nw;  Vers  14:  mons  für  rata;  nain(?)  für 
naifl;  für  nwi,  das  Geiger  (jüd.  Zeitschrift  V,  130)  in  "|Bj?i 
emendiert,  hat  unser  Ms.  DWi,  womit  man  freilich  nichts 
anfangen  kann;  Vers  15:  on^'  für  mr6;  Vers  21:  i«na  n» 
für  das  unverständliche  waa  l*i\  das  Geiger  zur  Not  nach 
Ez.  27,  32  erklären  will,  wo  aber  B?,?3  steht.  Vers  27  hat  auch 
unser  Ms.  r6n  nw,  was  Geiger  mit  Unrecht  als  einen  geist- 
reichen Calembour  bezeichnet9^);  aber  für  i«m  lesen  wir 
hier  I8fl3.  Danach  will  der  Dichter  sagen:  man  achte  die  Türe 
—  weil  sie  mit  Zedern  belegt  ist,  also  ein  schönes  Äußere 
hat  (vergl.  Hohel.  8,  9)  —  dem  innern  Gemache  gleich, 
man  verkenne  den  Unterschied  zwischen  äußerem  Glanz 
und  innerem  Wert.  Vers  29  läßt  sich  nach  unserem  Ms. 
nicht  herstellen,  weil  die  erste  Vershälfte  nicht  vollständig 
erhalten  ist.  Vers  35,  von  welchem  Geiger  gesteht,  daß  an 
ihm  seine  Vermutungen  scheitern,  soll  lauten: 

1833  dsk  no  non^oi  rrrcu  »a»  13^  lajimi 

i«:3  (nennen)  von  nj3,  wie  18T3  (Vers  3)  von  rtt3,  i«"ip  (Vers  5) 
von  riip  u.  dgl.,  wofür  ja  auch  die  Bibel  Beispiele  liefert. 
Auf  Vers  36  folgt  ein  Vers,  der  bei  Geiger  fehlt: 

;8^3  .  .  .  ^i8B>  JB3  "jim  3P  r\)byb  mya  ponm 

Vers  37  ist  zu  lesen:  ^id'  ybü  'jma  ^3  t»i,  wodurch  alle 
Schwierigkeiten  beseitigt  sind. 

Bl.  19a— 20b:  Überschrift:  8i'8  nb\  hierauf: 
wr  a-ir  S«1?              ....  b»i        ^tya  row         itojm  B^BX 
(T)->nDDnD(?;DiiKi            . . .  ojmi       imin  nic^Ki          bhw  jnw 
[Wbl 

wa  |»:di  cnie  •*&*         aru 

tpb  ^m         nyanB  wjm         njna  nona    njnri  ....  5 


Fragmente  von  Gabirols  Diwan. 


87 


tiim  mt  ms 
■»rno  npyna 

Wffil  »Ml 

TipB  py  Q3i 

(«Tl.  B?  WM  DM1 

■»nawi  omi^y 

flp^  T   "1DMJ11 

tjb  Timmn 
*nn  mon  dki 

toi  bimb  *rui 
TO3  to  mm 

mi1?  ty  nanai 

miBB  nrui 
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ni^MM. . . 

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25 


niM  [3  (?)  ">R3B>1 

BI.  21  a— b  enthält  ein  größeres  Fragment  (Vers  16—51) 
des  von  mir  in  dieser  Zeitschrift  (Bd.  54,  1910,  S.  325  ff.) 
veröffentlichten  Entschuldigungsgedichtes  an  Samuel  ha- 
Nagid.100)  Obwohl  sehr  lückenhaft,  trägt  das  Bruchstück 
doch  sehr  viel  zur  Diorthose  des  Textes  bei.  Ich  lasse  hier 
die  Varianten  folgen: 

Vers  16:  ymv  02  (1  Kon.  19,  28;  Jes.  37,  29)  für 
•pitw  ona. 

Vers  17:  *a»ö  für  b»ö. 

Vers  18:  pm  für  pi,  gegen  das  Metrum,  wie  Ms.  Oxf. 

Vers  19:  p-?at  für  pnsr;  die  zweite  Vershälfte  lautet: 
•pitt^p  !a  -pan  »a. 

Vers  20:  ny  für  jiy,  wie  Ms.  Oxf. 

Vers  23:  non  »gi  yi?K,  wodurch  die  Lücke  ausge- 
füllt ist.101) 


88  Fragmente  von  Oabirols  Diwan. 

Vers  28:  es  i«  für  dki,  vielleicht  Emendation,  um  das 
Versmaß  herzustellen. 

Vers  29:  -prai  für  ^i»A 

Vers  32  stimmt  mit  meinen  Korrekturen  überein. 

Zwischen  Vers  34  und  35    ist  Vers  40  eingeschoben. 

Vers  35  stimmt  mit  meinen  Korrekturen  überein. 

Vers  36:  bw  für  h\2SP;  3HMT  für  irm  (so  deutlich  in 
Ms.  Oxf.);  ysi»  für  Trat 

Vers  37:  iain  p  *)£»«  (etwa  »3Trl  und  "|*>  —  für  dich?); 
"ttttw,  wie  ich  korrigiert  habe,  und  T  für  nx,  wie  Ms.  Oxf. 

Vers  38:  pnr/i  für  jnrn. 

Vers  40,  der  sich,  wie  bemerkt,  zwischen  Vers  34—  35 
befindet,  hat  yvsa  für  ytüü. 

Vers  44  ist  unleserlich,  weshalb  ich  wpa  nicht  kon- 
trollieren kann. 

Vers  45:  nojn  für  myi;  die  zweite  Vershälfte  lautet: 
T:?K3  nn  "jap  »o,  was  auch  unverständlich  ist. 

Vers  46  fehlt. 

Vers  48b  lautet:  TJip?  iy  "]r\vr\  ovo. 

Vers  49  b  lautet:  yy\va  »njJB2,  ein  Wort  fehlt  also, 
ebenso  50a.  Ich  vermute  übrigens,  daß  der  Schreiber  49b 
und  50a  irrtümlicher  Weise  weggelassen  hat,  und  *njJö2 
TJMU  50  b  bildet,  woran  sich  51  gut  anschließt. 

Vers  51b  lautet:  -pari»  mW3  ntwttt  «b. 

Bl.  22a— 23b:  Fragment  eines  Gedichtes,  in  welchem 
wir  einen  von  Moses  Ibn  Esra  zitierten  Vers  (22)  finden, 
von  dem  Dukes102)  sagt,  er  bilde  »einen  interessanten 
Beitrag  zur  Geschichte  der  menschlichen  Täuschungen.« 
Ich  lasse  den  Text  folgen: 

»fllpfl  ....  ♦    ♦ 

'iisa  n^n:  »3  rform  *6       -njn  wa  man  »bpwi  ^m« 
tiiwb  nte«  warne  ^y  dji  isanb  'ajnaa  nw« 


'mi£D  na»  »b  nawn  tbtp  a»anp  ^y  ms«  o  . 

^nyoi  np*n  naan  ,l?i«  Dana    ..... 


»juhk  jina  www  ...  p 


5 


Fragmeitte  von  Qabirols  Diwan. 


89 


[22b] 

'/£fitt>  njnja  rtu6n  mvo  i«r:  /iupd«  (108flib«o»n  fc 

»Äa»»  mno  n»i*i»  pai  lan»  »ai«»3  »/»ww  tsyaa 

'rupf  »in«  mpa  awnR  »ni»  »tpd:  »in«  »33^>  roa* 

»ros  oji  »möi  »atn  jirrfc  wrn*»  '3  (?)  b  nwvb  no  10 

»jniam  »x?2£D  «im  »ppd  «im  »nm  , , ,  »hwp  mai«  d« 

»/wen  Tajj»  »:a?  ja»  »ei  »/uian  »n«Bm  'Ppd 

»jr»n  »ina  wm  »8»d:  (104»arn  syiTi»  dji  cpTt* 

[23a] 

»jipaa  ntwj  i*"l*a"  fcaa  »nj»  »ca  i«a  (106,n  .  .  .  '3  n  15 

»flp^n  i^  jn«  rwj*  ^atpn  a«i  b»a»"i  ins»  »^  ts^an  o«n 

Tiasn  mn/i  nobe»  naan  1^1  imnb  »v  ^«f?  ;»«  d« 

tto  ^we»  na  ibd«  A  nbs*  ay  *naa  ^y  'j«  d^i« 


»jnmp  «i^a  p«  n^a«  u* 
»Apn«  nroj»  la  »m  p-rs 
»fl«a  n:nn«a  ^a«  nai» 


airy«  . ., .  b  n  ♦  • .  a 
♦ime»  pisa  p«  noD»  £  20 
n/wi  bani  »n»tt»  71««  na 

[23b] 

■mapa  »^  na^>  »a  D'3*i«a» 
»:«i  oa  1W1*  m»ns  a»rnn 

n^DJ  oa  D'iJi«na  tr«a  r«  1^  25 
■naya  D3»ö»  **j*  mna  nnan 
n^p  »ya^»  »:ia»in  «:  ^« 

eine    arabische  Überschrift107) 


»■neu  ,  .  «n  o»jni»  naan 

'nmp  n«T^>  it5»a  laa  a»m« 

»JlMp  1^3«  iv  ^a«  «^ 

»/ms  na^  'Ja  rm*H  «^ 

:  (106'flEtr«  -jya  naan  nb« 

Hierauf  folgt  (Bl.  23  b) 

und  der  erste  Vers  eines  Gedichtes : 

.D»»»^t*  nw  -a  nyn  naan^>  nan  .  aio  »tt 

Fragmente  dieses  Gedichtes    enthält  Bl.  27  und  28  a. 
Ich  lasse  hier  als  Spezimen  noch  drei  Verse  folgen  : 

d»b»b*db  oe*»a^  imn  mpi  rnpn  maiai 

d'bj3«  »nun  amjna  £«3  on'3*  »*wp 

d»oi^  rniD3      tt>«i  a»at*>33  rra      (l08t*»n««  D3  Tat? 
Bl.  24  a— 24  b  :  Fragment  von  tt»«  p3»*in  (Dukes,  S.  41, 
Nr.  29),    und    zwar   Vers  9,  5-7,  10,  8,  12,  17    (in  dieser 
Reihenfolge;    zwischen  12  u.  17  eine  Lücke).    Keine    nen- 
nenswerte Variante.    Hierauf  die  Überschrift  «r«  rfri  und  : 
»ann  d»  rbwb  ia«n  bm  *a«a  "|mna  .  .  ♦  . 


90  Fragmente  von  Gabirols  Diwan. 

»am  »j»f  -py  »3  bid»  mann  nai  -j^i  .  .  . 

♦sru  t  bv  "|T  mim  (?)  n^rn  */njr  .  .  dx  .  . 

*3pV   (lMT:P   3^>3    1«   D'JOD  dViJ&   .   .    .    V   •    •    • 

»2  ♦  .  .  mo  j  ♦  •  "j^  »3  m«ap  n^a 

Bl.  25  a :  Fragment  von  rWfl  £  (Dukes,  S.  37,  Nr.  24), 
Vers  10—16.  Vers  11  hat  hier,  wie  Oxf.  1970,  »rTOtA  für 
vwmb,  131  für  nai.  In  Übereinstimmung  mit  Ms.  Oxf.  lautet 
auch  hier  Vers  12:  v»rb  w*wn  *6  non«n  dx  und  nani«  für  »anitt 

Bl.  25  b:  Vers  88—47  von  snn  nap  (Dukes,  S.  13,  Nr. 
9;  Sachs,  .m/in  I,  S.  47;  Luzzatto,  nnj«  S.  1044).  Vers  41b 
lautet  hier:  d*jd$>b  »fc  innw  an  *i»k» 

Bl.  26  a,  einer  anderen  Handschrift  zugehörig,  enthält 
Vers  5  u.  9  von  nwr\  )b  (vgl.  zu  Bl.  25  a)  und  auf  der 
Rückseite  drei  Verse  eines  Gedichtes  mit  dem  Reime  yr : 

yxb  hbp  m*a  »mibk  ma  .  .  . 

■paa  'nnasti  *anyc2a  nn«  K^n 

Bl.  27  a— 38  a,  vgl.  zu  Bl.  23  b.  Die  Rückseite  bietet 
einen  kleinen  Rest  von  mJ  viDri  übw>  (Dukes,  S.  7  Nr.  5). 
Mit  Ms.  Carmoly  bei  Geiger  S.  128  übereinstimmend  liest 
unser  Ms.  in  Vers  4  tan  für  13*11  und  Vers  5  oiX3tt>  '«n  für 
ö»pw  'an. 

Bl.  29  a -b,  ein  unbedeutendes  Fragment  von  b  WIM 
(Dukes,  S.  62  Nr.  62),  dann  von  "pfln  *3»31  (Vers  1—16; 
vgl.  zu  Bl.  16  a),   ohne  Variante  von  Bedeutung. 

Bl.  30a— b:  Fragment  eines  religiösen  Gedichtes  mit 
dem  Refrain  -|ae>  TTK  na  ir:n«  '%  das  ich  noch  nicht  iden- 
tifizieren konnte.  Wenn  die  Reihenfolge  der  Strophen  hier 
richtig  gegeben  ist,  dann  kann  nicht  Gabirol  der  Verfasser 
sein  und  das  Blatt  nicht  als  unserer  Sammlung  zugehörig  be- 
trachtet werden.  Auf  eine  nur  sehr  fragmentarisch  erhaltene 
Strophe  folgen  zwei  verhältnißmäßig  gut  leserliche  Strophen, 
deren  erste  im  Akrostichon  die  Buchstaben  nenp  enthalten 


Fragmente  von  Qabirols  Diwan.  19 

zu  haben  scheint,  während  die  zweite  [n]"ii,T  zeichnet.  Diese 
Strophen  lauten: 

»ys  onb  r»yo  n*  ai 

m»'  -pns  min  vi  .  ♦  . 

mwa  .  .  .  D^iy  jv*^n 

rnona  ?öa  Dfl^aoi 

Tay  ^npoa  "\bbr\b  Yiap  nrra  tw  'ta  bz  >a 

t'd  "jar  tik  no  irjrm  n 

ip'ya  »an*?  >aa^  at>' 

ipm  van  a^at^an 

iptf  nnia  »iKia  trn  law 

ipnai  p«  lf  a  ^un 

ipip'  »jna  ....  [30  b] 

"[öl?  D"n  Tipa  '3  ip'  na  "phv 

'31  na  ir:HK  'n 
Hierauf  folgt  eine  schlecht  erhaltene  Strophe  und  end- 
lich,  gleichfalls  in  argem  Zustande,  eine  Strophe    mit  dem 
Akrostichon   [n]ab#. 

Bl.  31b — 32  b:  Fragmente  von  Gabirols  Asharoth,  die 
n#yn  »b  rosa  von  o*yvb  rwjnaw  bis  mm  "in,  dann  von  >ta 
]pin  bis  [mr]  rtVSP  atra  umfassend.  Ohne  wesentliche  Va- 
riante. 

Bl.  33a:  Fragment  eines  Gedichtes,  anderes  Papier 
und  andere  Schrift.  Ob  unserer  Sammlung  angehörig  und 
von  Gabirol?  Hier  der  Text: 

nL,,t,3   ("012>n   ,t,y   ncm   inD  n)ül    n8-,D1   D'3313   .   .   • 

n,l?it>3  naarn  naua  mn  tu  naaa  tfftn  mwna  jnn 

r?V»aw  ntn«  *6i  *pm  n*i  -aa  aom  nv»3  .  .  . 

. .  b  « •  b  . .  ta  pn«  *rya  papa       .  .  .  n  nm  rmo  nyja  .  .  . 

.tV^i  ^an  nr  lman  »n    . .  la  imb  ab*  *«»  "paVa  kjk 
rr^ejn  .  #  Aa  ...  3  n»'i  vom        pon  mir  uran  a*n^«n  bk 

Dfe  Liste  der  Gabirol'schen  Gedichte  wird  demnach 
durch  folgende  Stücke  bereichert: 


92  Fragmente  von  Oabirols  Diwan. 

»bjW   ObD«    1 

iry  itt>«  jna  2 

nö«a  piit«  *6n  3 

nan  'nan«i  4 

mm  ao  »tt  5 

1DD  -jb  m»  TT*  6 

n/Am  onxp  7 

(111"I«»c[a  o»pn»Ji  ^y  8 

Hierzu  kommen  die  Stücke,  deren  Anfänge  in  unseren 
Fragmenten  fehlen,  und  das  Gedicht  ^»naj  »an  ybm,  dessen 
Anfang  aus  dem  von  Neubauer  veröffentlichten  Register 
bekannt  war.  Vier  von  den  Gabirol-Zitaten  bei  Moses  ibn 
Esra  werden  durch  die  oben  gemachten  Mitteilungen  zum 
erstenmale  nachgewiesen,  darunter  eines,  dessen  Sinn  bis 
heute  völlig  verkannt  wurde  und  erst  jetzt  richtig  ver- 
standen werden  kann. 

Anmerkungen: 

')  Die  Blätter  befinden  sich  im  Besitze  des  gelehrten  Sammlers, 
Herrn  Elkan  N.  Adler  in  London,  und  sind  mir  durch  die  gütige  Ver- 
mittlung des  Herrn  J.  Last  in  Ramsgate  zugegangen.  Beiden  Herren 
sei  mein  Dank  ausgesprochen. 

*)  Hier  und  im  folgenden  =  L.  Dukes,  nühw  »W,  Hannover  1858. 

3)  Die  verzeichneten  Varianten  finden  sich  auch  in  Ms.  Berlin  4° 
N.  576  Bl.  152,  wo  unser  Gedicht  bis  Vers  18  enthalten  ist.  Danach  habe 
ich  den  Vers  mjp  in«  ergänzt;  für  rwa  hat  Ms.  Berl.  niiiar,  gegen 
das  Versmaß. 

*)  Nach  Vers  4  wäre  hier  'D^S  zu  lesen. 

B)  Wohl  tj>\ 

«)  I.  TW? 

')  Zu  ergänzen:  DlDtPa  DpJ. 

8)  Etwa  n»J>ö  DBJJD1? 

»)  So! 

w)  Das  Metrum  spricht  dafür,  daß  na^VWJ  zu  streichen  ist. 

11)    ■VQtfVi, 

»*)  »iny  rpfyu  wsn  nepin  [ö  "nnr  rrb*  pyipxb*  fps  'b*  ansi 


Fragmente  vor  Gabirols  Diwan.  93 

is)  Ich  ergänze  den  Vers  nach  dem  von  Geiger,  Salomo  Gabi- 
rol  S.  128  mitgeteilten  Zitate  bei  Moses  ibn  Esra,  wo  aber  bii  für 
hib  steht. 

")  Die  Sache  und  das  Metrum  fordern  "pOTW  |3  (Exod.  35, 34  f). 

")  So;  beide  Vershälften    contra  metr. 

'•)  bwro. 

»)  l.  am 

")  Wohl  mp\ 

*•)  Vnm  oder  "tfitfl* 

»•)  1.  nb*ti,  Jes.  59,  3 ;  Klagel.  4,  14. 

»»)  Wohl  vrjD. 

")  |BBW,  Jes.  6,  10. 

M)  So;  für  fiitb  ist  viell.  nxb,  für  [on^   —  jom  zu  lesen. 

M)  =  ps^n  p\  nach  Ez.  27,  18;  so  auch  in  dem  Gedichte 
p-Q  1K  p*on  (Dukes,  S.  42  Nr.  30  Vers  4) :  enr  pnm  1B>K  psSn  |«% 
Ms.  hat  3*?n. 

26)  Vgl.  Jes.  10,  16.  Der  Becher  ist  dünn  (fein)  und  blaß  (weiß) 
als  hätte  ihH  eine  Krankheit  befallen.  Ms.  hat  nSiri33  psil  für  np3"P 
13  n^riö;  meine  Korrektur  will  nur  der  Sache  gerecht  werden;  vgl. 
Jeh.  ha-Lewi,  Diwan  I  S.  21,  Nr.  16  Z.  1:  fiHB  ^38  njffi  T&i',  das. 
II,  S.  224,  Nr.  12  Z.  37:  fWjrp  «S  BJ>B31  nSn;  weitere  Belege  an 
anderer  Stelle. 

s«)  Scheint  aber  der  Becher  an  sich  blaß  (vgl.  Lev.  13,  3  u.  ö.), 
so  ändert  sich  das,  sobald  er  mit  dem  roten  Weine  gefüllt  wird.  Dies 
scheint  der  Sinn  des  Verses  zu  sein,  vorausgesetzt,  daß  er  korrekt 
überliefert  ist.  Vgl.  Jakob  b.  Elasar  bei  ßrody-Albrecht,  TOfl  IJNP, 
S.  163  Nr.  142  Vers  1—2. 

*7)  Ms.  Jöfflj.  falsch  geschrieben  und  durch  die  Vokalisation 
korrigiert. 

*•)  Das  Manna  selbst  hatte  ja  die  Farbe  des  Bedolach  (vgl. 
Num.  11,  7). 

*•)  Ms.  mtes. 

3°)  Ms.  fuvib  i3  ifntfivn  «jp1  n,^,B,  pjrm  oip^  njn.  —  \&nb  ist 
poetische  Lizenz  für  \sünb,  II.  Sam.  14,  19. 

81)  Bp  ist  mir  hier  nicht  klar.  Von  ntpin  ist  im  Ms.  nur  das 
n  zu  sehen. 

,f)  IpT,  Pi'el  im  Sinne  des  Hif'il.  33*7  HH  in  Deleth  und  Soger 
ist  verdächtig. 

")  Hos.  10,  14,  nach  Gabirol  wohl  =  "titMBSP,  König  von 
Assyrien. 

«)  d.  h.  seine  Ratgeber  (Est.  1,  10);  }Bi,"iB  ist  als  der  erste  und 
wegen  des  Reimes  genannt. 


94  Fragmente  von  Oabirols  Diwan. 

»»)  Num.  13,  22  u.  ö. 

3ti)  Ein  in  diesem  Zusammenhange  oft  gebrauchtes  Bild;  vgl. 
z.  B.  Moses  ibn  Esra  in  seinem  Gedichte  viik  imp  VX  cvm  "IJNP 
S.  63,  Nr.  56,  Vers  7):  man  k^i  -uy  7m  nV1  |  ">ma  DWVl  b.t't'BJ  iVb:; 
ders.  WWW  S.  36:  B1W  nS»  |ma  3^  |  1133  p*)  13  "DIP  tt^n. 

*7)  Ich  finde  kein  Reimwort,  das  hierher  passen  würde. 

")  Er  bringt  die  Mühsal  der  Erde  in  Vergessenheit;  vgl. 
Qen.  41,  51. 

8»)  Der  von  Sorgen  Qeplagte  wird  wie  einer,  dem  das  Leben 
angenehm  ist.  Hier  und  in  den  folgenden  Versen  werden  biblische 
Eigennamen  appellativisch  gebraucht.  —  TCl,  Ms.  "i . . .  si. 

40)  Anch  der  Wein  selbst  wurde  schließlich  im  Rausche  ver- 
gessen; er  hat  sich  eben  als  untreuer  Freund  gezeigt.  Vgl.  Cbarisi, 
Tachkemoni  Pf.  50  (ed.  Amsterd.  p.  70b;  ed.  Kaminka  S.  401): 

wwi  wn:  las  w*)W  Kim        ^  jbk:  vrcrn  piw  |3i 

wty\  tb  »aa^i  rm  twb^         rwa  "»a  "wai  vmarra 

^emiS  idw  um  nty  Kim      -o-ips  mar  nwi  itibp »au 

41)  »Vater  des  Geschenks«,  der  Gastgeber,  dessen  Haus  die 
Zecher  nicht  verlassen  konnten,  bevor  sie  ihren  Rausch  ausgeschlafen 
haben. 

**)  Jes.  59,  10. 

*»)  Dukes,  S.  42,  Nr.  30,  Vers  5.  Ich  lese  T3P  (für  H3»1  bei 
Dukes)  nach  unserem  Ms.,  vgl.  zu  Bl.  17a. 

*4)  Ltbl.  d.  Orient  1851  col.  375.  Aehnlich  übrigens  auch  bei 
Gabischon  in  nnSBTi  iaj>  p.  TjJdf. 

«)  Salomo  Gabirol  S.  128. 

*•)  WW\n  S.  41.  Bei  Moses  Ibn  Esra  finden  wir  auch  das  Wort 
1B  in  dem  Sinne  angewendet,  wie  im  Verse  Gabirols;  vergl.  WWW 
S.  31 :  1BJND  cjiSD  pna1  f3K  |  "lö  J^a  B13H  "6  |n,  ferner  ("i>Pri  -ijw  S.  64, 
Nr.  56  Vers  10) :  ünb  31J?1  B"Pb:  na  ^31  18% 

<7)  Wohl  mtoj^i. 

*8)  So  für  ipIKtf,  nach  I.  Chron.  12,  39,  wegen  des  Metr. 

49  j  Viel!,  np-iün  (neyas  od.)  nas. 

80)  Wahrsch.  amscn  Plana 

")  anxp. 

*)  anuan. 

M)  Wegen  des  Metr.  ist,  trotz  Hiob  31,  18,  ^bli  zu  vokalisieren. 

•*)  =  on.BK  (I.  Kön.  20,  38;  41). 

M)  11J13  KD  ? 

66)  So,  nicht  istnm. 

67)  |>K,"it7K  ^y  inA*  tonn  na»  'b  nSi. 


Fragmente  von  Qabirols  Diwan.  95 

'«)  Die  Ueberschrift  lautet  ^'»  kspk  bxp),  in  Ms.  Levi  (wo  das 
Stück  als  Nr.  m  bezeichnet  ist):  "OJNj^k  ^?3K1  "Slp  IKttX  [Ol. 

M)  Nur  als  Bild  der  weiten  Entfernung  aufzufassen. 

*°)  In  unserem  Ms.  flWDJM  für  fliaafjfl  u.  . .  .  lnD  .TJ1BV  un- 
leserlich; in  Ms.  Levi  W«  unleserlich  und  lan  für  loxn,  oxi  gibt 
keinen  befriedigenden  Sinn  und  ist  viell.  falsch. 

e>)  Gemeint  sind  die  Blicke.  ,T$3  wie  ^pbs,  Gen.  27,  3.  Nach 
unserem  Texte  (nach  Ms.  Levi)  fehlt  das  Subjekt.  In  Ms.  Adler 
fehlen  Vers  3—4. 

«2)  Vgl.  Ps.  32,  8 ;  42,  2  (wonach  D\7»DK  b$  zu  lesen  wäre ; 
Jiy  mit  bx  Joel  1,  20). 

*5)  Die  Augenbrauen.  Vgl.  meine  Bemerkung  zu  P'l  ""TIP  ^3 
TAI  S.  37.  Anm.  17—18. 

c*)  Küsse. 

")  Meiner  Tränen  sind  so  viele,  wie  meiner  Bedrängnisse  (Leiden). 
D'piüö,  Plur.  zu  plitö,  Deut.  28,  53  u.  ö.  Der  Uebergang  zur  Klage 
über  die  Trennung  der  Freunde  ist  unermittelt,  aber  nicht  auffallend. 

66)  D^pmn  D'S'lpn  bezieht  sich  auf  Hn1 :  ihr  Freunde,  weit  ent- 
fernt und  doch  so  nahe  (meinem  Herzen).  Die  Wendung  liebt  be- 
sonders Jeh.  ha-Lewi.  Für  "»pisto  hat  Ms.  Adler  müD. 

")  Vgl.  Hiob  17,  11. 

68)  Kann  der  Ruhe  finden,  dessen  Auge  man  (unbestimmtes 
Subjekt,  das  Schicksal)  bedrängt,  daß  es  kein  Schlaf  befalle.  —  X5£D\ 
Ms.  Levi:  XJCoru  0)21),  Ms.  Adler  ü"0n. 

«»)  Ms.  Adler  hat  bx  ffitt  und  blOI« 

,e)  \y\,  Ms.  Adler:  [W,  alpinen  (die  zerrissenen)  u.  pici  (er 
befreie)  ist  Wortspiel.  D^plÄVl  wohl  von  plX  abgeleitet  (wie  nach 
einigen    Hiob  41,  15.  16),  die  Bedrückten. 

71)  Le  Kitab  al-Mouhädara  S.  42  Anm.  3.  MbE.  nennt  hier  Ga- 
birol  nicht. 

78)  Aus  einem  Klageliede  Gabirols  über  den  Tod  seines  Vaters 
führt  bekanntlich  Abraham  Ibn  Daud  den  Vers  an:  |  mi333  «3  njD 
hwi  3TJH  I  nmaCl  npb)  |  n-iKCH  qj»Ö.  Ein  anderes  Klagelied  aus  dem- 
selben Anlaß,  anfangend:  ttjh  10k  H31T1,  befindet  sich  in  Ms.  Oxf. 
1970,  fol.  170  b. 

T3)  -jb>dj  Qipnvn  (oder  1»M  D^33JH). 

Tl)  Sei  ruhig  und  bedenke:  der  Tod  will  die  Menschen  er- 
mahnen, die  nicht  hören  wollten.  Für  niD  "O  hat  unser  Ms.  "WZ  (?); 
für  niiVl  *b  hat  Schreiner  nwi  )b;  13  haben  beide  Vorlagen. 

")  Wohl  pK. 

")  Drei  Buchstaben  —  nicht    B$1  —  unleserlich. 


96  Fragmente  von  Qabirols  Diwan. 

»•)  Wahrscheinlich  JWäPli 

T»)  Die  Ueberschrift  lautet:  HB1SK1  3Nri3  iKynOK  1p  xi1*  fK3i 
^Mpl  fllPa»^»  iTTTO;  in  Ms.  Levi  (wo  es  mit  *n  bezeichnet  ist) 
kürzer:  K3KI13  KIT»  "lKJJnDK  pw  ^K  nSl. 

•o)  Vgl.  Lev.  25,  23.  30.  42. 

»>)  Ms.  Adler:  pJJlK  und  vnnte. 

•»)  -p.  fehlt  in  Ms.  Adler. 

8»)  Jer.  4,  28. 

M)  Nach  Exod.  17,  4. 

»»)  Ps.  124,  3;  iMs.  Adler:  DDriS. 

»•)  Unterlasse  es,  deines  Lehrers  Schuld  deiner  eigenen  hinzu- 
zufügen, dann  werde  ich  diese  verzeihen,  und  mag  sie  noch  so  groß 
sein  (nach  Gen.  4,  12).  Vers  9—11  fehlen  in  Ms.  Adler. 

87)  Nach  Exod.  18,  19;    Num.  24,  14.  Ms.  *\b  für  rwfe. 

88)  Vgl.  Hiob  22,  28.  Zur  Sache  vgl.  meine  Bemerkung  in  fcs 
•TOSM  B>"*1  '1f  S.  19  Anm.  18. 

8»)  Vgl.  Prov.  17,  18;  24,  30;  Hiob  8,  18.  Der  Vers  fehlt  in 
Ms.  Adler. 

*)  Bl.  14—15  habe  ich  nachträglich  an  eine  andere  Stelle  ge- 
bracht (als  Bl.  31—32). 

•i)  Das  Ms.  gehört  dem  Karäer  Samuel  Chasan  in  Eupatoria  und 
ist  mir  durch  Dr.  Poznanski-Warschau    zugänglich    gemacht  worden. 

•»)  Qedenkbuch  zur  Erinnerung  an  D.  Kaufmann,  S.  279  ff. 

83)  60  +  20  +  10  =  90,  nach  Abot  Kap.  V,  Mischna  21.  Vgl. 
Ttobv  ■>*W  S.  42,  Nr.  30  Vers  6  und  Dukes,  Philosophisches  aus  dem 
zehnten  Jahrh.  S.  104  Anm.  3. 

M)  B^KW. 

9*a)  Vgl.  auch  Brüll,  Jahrb.  VIII,  S.  43. 

98)  iiorr1 . . . 

96)  Wohl  vnB. 

97)  ins  'rn  ^aipa. 

97a)  '131  [JWD]  DJ>  B,1?K?3  ,[n»]p,1  'JDT. 
••)  nx,  Jer.  36,  22.  23.' 

99)  =  <f\\  nTn  (mit  Jod)  Jubelruf;  "t"H  (ohne  Jod),  edomi- 
tische  Könige. 

ioo)  Herr  Oberrabbiner  Löw-Szeged  macht  mich  auf  folgende 
Druckfehler   aufmerksam:    S.  327  Z.  23  1.  na  für  n«;    S.  328  Z.  30  1. 

ntfn  für  n#n;   das.  Anm.  1  1.   v^JJL*ä£*vwc  und  ^-jltla/i  (zweimal  O»  Jür 

*  gedruckt).  S.  326  Z.  8  liest  er:  \r\X  "MO  BWI  für  [UM  11SS3  DND ; 
S.  327  Z.  23:  ">xlK  "]fj  jnw,  vgl.  jedoch  die  LA.  unserer  Handschrift. 
Ms.  Oxf.  hat  allerdings  deutlich  "\b* 


Fragmente  von  Gabirols  Diwan.  97 

101)  Vgl.  die  vorhergehende  Anm. 

10*)  Ltbl.  d.  Orient  1851  col.  376;  angeführt  auch  bei  Dukes 
ßHWlp  büi  S.  21  Anm.  1  (wo  auch  ein  ähnlicher  Vers  von  MbE  ent- 
halten); ~übv  ,|VB>  3.  73;  Schreiner,  1.  c.  S.  17  Anm.  17. 

i°»)  So  für  jii^Btrn. 

10«)  So,  contr.  metr. 

tos)  «jfwn* 

,0<)  So,  contra  metr. 

iw)  ,.mMtbp  rvto  *i?a  npi  tvbk  \vvpxh*  fvz  "bx  nH 

i08)  So,  contra  metr. 

»•»)  i.  nw. 

"°)  Durch  zwei  Punkte  als  falsch  bezeichnet,  wohl  nspp» 
»»)  Oder  ntPBJ  D^JH  ty. 


* 


Monatsschrift,  55.  Jahrgang. 


Besprechungen. 

Die  Verhältnisse  der  israelitischen  Kultusgemeinden  in  Bayern  nach  dem 
Stande  des  Jahres  1907. 

Unter  diesem  Titel  bringt  die  von  Ministerialrat  Dr.  F.  Zahn 
redigierte  Zeitschr.  des  k.  bayer.  Statist.  Bureaus  im  3.  Heft  des  lau- 
fenden Jahrgangs  eine  in  Anordnung  und  Darstellung  gelungene  Ver- 
arbeitung einer  vom  K.  bayer.  Kultusministerium  veranstalteten,  also 
deutlichen  Erhebung  über  die  Verhältnisse  der  israelitischen  Privat- 
kirchenanstalt  in  Bayern.  Nach  einer  Einleitung,  die  eine  gedrängte 
Übersicht  über  die  für  die  bayerischen  Kultusgemeind?n  geltenden 
Sätze  des  öffentlichen  Rechtes  bringt,  folgen  statistische  Daten  zu 
folgenden  Punkten. 

I.  Kultus  und  Religionslehre : 

1.  Synagogen, 

2.  Betsäle. 

3.  Ritualbäder, 

4.  Friedhöfe. 

II.  Kultusbeamte  und  Kultusbedienstete: 

1.  Rabbiner  und  Rabbinatssubstitute, 

2.  Religionslehrer, 

3.  Kultusbedienstete. 

III.  Die  israelitischen  Volksschulen  und  ihre  Lehrkräfte. 

IV.  Finanzen  der  Kultusgemeinden: 
1«  Verwaltung  des  Vermögens, 

2.  das  Vermögen, 

3.  die  Schulden, 

4.  Reinvermögen, 

5.  Umlagen, 

6.  Selbständiges  Stiftungsvermögen. 

Es  wird  bei  späteren  Erörterungen  über  die  Form  des  bayeri- 
schen Judenedikts  von  1813  noch  auf  die  vorliegende  Untersuchung, 
sowie  auf  die  bereits  im  Jahre  1908  publizierte,  ebenfalls  recht  wert- 
volle Denkschrift  des  israelitischen  Lehrervereines  zurückzukommen 
sein. 


Besprechungen.  99 

Für  heute  sei  nur  noch  konstatiert,  daß  die  Angaben  über  die 
Rabbiner  infolge  mangelhafter  Information  durch  die  Außenbehörden 
teilweise   unrichtig   sind.    In  Wirklichkeit   beträgt  ihre  Zahl  21  -f-  1 
exponierter  Rabbinatssubstitute  und  zwar  entfallen,  auf: 
Oberbayern  1 

Pfalz  4 

Oberpfalz  2 

Oberfranken  3 

Mittelfranken  4 

Unterfranken  6 

Schwaben  2 

22 
Im  Ganzen  zeichnet   sich  die  Arbeit  durch  ihren  wissenschaft- 
lichen Ton,    der  auch   in  der  Benutzung  der    einschlägigen  Literatur 
zum  Ausdruck   kommt,   vorteilhaft   vor    den   trockenen  Zahlenreihen 
aus,  die  uns  sonst  häufig  von  amtlicher  Stelle  geboten   werden. 

München.  R.  Wassermann. 


* 


V 


D.   Neumark:    Geschichte   der  Jüdschen  Philosophie   das  Mittelalters. 
Berlin.  Buchhandl.  Georg  Reimer  1907.  615  S.  und  XXIV.  8°. 

Neumark  beginnt  seine  Geschichte  der  jüdischen  Religionsphi- 
losophie des  Mittelalters  —  mit  der  Bibel.  Das  ist  nicht  Geschwätzig- 
keit, sondern  die  Konsequenz  seiner  grundsätzlichen  Überzeugung. 
Das  jüdische  Geistesleben  aller  Jahrhunderte  ist  ihm  eine  absolute, 
geschlossene  Einheit,  sodaß  eine  einzelne  Erscheinung  nicht  an  sich, 
sondern  nur  aus  den  Ganzen  heraus  verstanden  werden  kann.  Fremde 
Kulturen,  die  auf  das  Judentum  eingewirkt  haben,  erklären  niemals 
irgend  ein  Pliaenomen  der  jüdischen  Geistesgeschichte,  sondern  sind 
nur  der  äußere  Anlaß,  der  mechanische  Reiz,  der  den  Genius  des 
jüdischen  Volkes  zum  Hervorbringen  seiner  eigentümlichen  Schöpfungen 
anregt.  Ihre  besondere  Note  erhält  die  jüdische  Geschichte  durch 
das  Vorherrschen  des  Religiösen.  Die  Entwickelung  der  Religion  Israels 
aber  liegt  in  der  allmählichen  Überwindung  von  Mythologie  und 
Mystik  (S.  4).  Gegen  sie  haben  die  Propheten  der  Bibel  gekämpft, 
nach  ihnen  führen  Mischna  und  die  genialen  Vertreter  der  talmudischen 
Dialektik  den  Kampf  weiter,  bis  die  Entwickelung  in  der  klassischen 
Religionsphilosophie  des  Mittelalters  ihren  Gipfelpunkt  erreicht. 

Wenn  religiöse  Entwickelung  gleichbedeutend  ist  mit  dem  Kampf 
gegen  Mythologie,  dürfen  mythische  Vorstellungen  auf  keiner  Stufe 
des  geschichtlichen  Prozesses  fehlen,  sonst  wäre  die  Entwicke'ung  zum 
Abschluß  gelangt.  Es  ist  demnach  durchaus  konsequent,  wenn  Nei;- 
mark  es  unternimmt,  In  der  Bibel  und  aller  späteren  religiösen  Lite- 
ratur des  Judentums  mythische  Anschauungen  nachzuweisen.  Aus 
dem  Gedankenkreis  des  Pentateuch  gehören  seiner  Ansicht  nach  der 
Engelglaube  und  der  die  babylonische  Ideenlehre  reflektierende  Mythos 
von  der  Erschaffung  des  Menschen  im  Ebenbilde  Gottes  in  diese 
Klasse.  Im  Deuteronomium  hat  die  mosaische  Religion  nach  langem 
Kampf  diese  mythologischen  Reste  aus  der  babylonischen  Heimat 
überwunden.  Damit  ist  der  Kampf  aber  nicht  beendet.  Jeremia  ver- 
teidigt die  Reinheit  des  monotheistischen  Glaubens,  während  Ezechiel 
nicht  nur  gegen  ihn  für  den  Engelglauben  eintritt,  sondern  durch  die 
visionäre  Beschreibung  des  göttlichen  Thronwagens  aller  späterer: 
Mystik  den  Stoff  giebt.  Den  Kampf  gegen  den  Engelglauben  setzt 
die  Mischna  fort,  sie  versucht  auch  die  Bereschith-  und  Merkabalehre 


Besprechungen.  101 

zu  unterdrücken,  nimmt  aber  mit  den  Dogma  von  der  Praeexistenz 
der  Thora  und  dem  Auferstehungsglauben  neue  mythische  Vor- 
stellungen auf. 

Unter  Bereschith  ist  die  Platonische  Ideenlehre,  unter  Merkaba 
Engel-  und  Emanationslehre  zu  verstehen.  Mit  der  Ideenlehre  hängt 
die  Frage  nach  demUrstoff  zusammen.  Das  Problem  der  Ursubstanz  wird 
auch  von  der  Merkaba  behandelt,  wenn  auch  die  Lösung  in  beiden 
eine  verschiedene  ist.  Hier  haben  wir  also,  wenn  auch  in  mythischer 
Form,  den  Stoff  für  die  Religionsphilosophie  des  Mittelalters.  In 
iannaitischer  Zeit  ist  die  Bereschithlehre  von  Rabbi  Akiba  mit  der 
Merkaba  verbunden  worden.  Im  Kampf  gegen  die  Karäer,  die  auf  die 
talmudischen  Fabeln  hinweisen,  um  das  traditionsgläubige  Judentum 
zu  diskreditieren,  trennen  sich  Ideen-  und  Merkabalehre,  und  es  sind 
die  Vorbedingungen  für  die  Entstehung  der  klassischen  Religions- 
;>hilosophie  gegeben.  Man  brauchte  nur  das  in  den  Jahrhunderte 
füllenden  halachischen  Diskussionen  erstarkte  logische  Denken  auf 
die  mythischen  Agadas  anzuwenden  und  so  die  Ideenlehre  zu  über- 
winden, dann  entstanden  die  philosophischen  Systeme  der  mittelalter- 
lichen Denker.  »Die  Überwindung  der  Ideenlehre  war  der  Weg 
zur  Begründung  der  dialektischen  Philosophie  im  Judentum«  (S.  132). 

Die  Platonische  Ideenlehre  greift  nicht  erst  in  der  Zeit  der 
letzten  Tannaim  in  die  Entwickelung  der  jüdischen  Religion  ein,  wir 
finden  sie  bereits  in  der  Diskussion  Hillels  und  Schammais  über  die 
Frage,  wann  der  Plan  zur  Weltschöpfung  entstanden  ist,  ganz  deut- 
lich in  Mischle,  in  der  Merkabavision  des  Ezechiel  und  in  einzelnen 
Erzählungen  des  Pentateuch. 

Bereschith  und  Merkaba  haben  sich  in  der  Zeit  Saadias  zu 
trennen  begonnen.  Sie  streben  aber  nach  ihrer  ursprünglichen  Ein- 
heit. Durch  ihre  Wiedervereinigung  entsteht  die  Kabbala,  die  nichts 
anderes  ist,  als  der  weitere  Ausbau  der  alten  Merkabavorstellungen. 
Nicht  die  neuplatonischen  Gedasken,  die  in  ihr  verarbeitet  sind,  sind 
die  Hauptsache  und  das  Charakteristische,  sondern  die  talmudischen 
und  midraschischen  Elemente.  »Wie  bei  der  Entwickelung  der  jüdischen 
Philosophie  und  der  Mystik  die  Loslösung  der  Ideenlehre  von  der 
Merkaba  den  Anfang  der  Philosophie  bedeutet,  obschon  diese  mit 
der  Ideenlehre  lange  noch  zu  kämpfen  hat,  so  bedeutet  auch  das 
Wiedereindringen  der  Ideenlehre  in  die  Philosophie  erst  da  das  Ende 
der  Philosophie,  wo  mit  der  Ideenlehre  auch  die  Merkabalehre  ein- 
zudringen beginnt.  Die  eigentliche,  dialektische  Philosophie  des 
Judentums  hat  mit  der  Ausscheidung  der  Merkaba  aus  der  Spekulation 
begonnen  und  mit  dem  Wiedereindringen  derselben  aufgehört«  (S.  209). 

So  lösen  sich  alle  Rätsel  der  jüdischen  Geschichte.  Wir  wissen 


102  Besprechungen. 

nun,  warum  sich  das  Altertum  zu  den  mythischen  Lehren  Piatos,  das 
Mittelalter  zu  Aristoteles  hingezogen  fühlt.  Zwischen  ihnen  liegt  die 
Zeit  der  juristisch-logischen  Schulung.  Wir  wissen  auch,  was  unter 
Mystik  zu  verstehen  ist.  Sie  ist  der  Form  nach  mythisch,  dem  Inhalte 
nach    Emanationslehre,    Merkaba. 

Diese  flüchtige  Skizzierung  des  Inhalts  soll  nur  die  wesent- 
lichen Gedanken  hervortreten  lassen,  die  philosophischen  Grund- 
begriffe, die  auf  ihre  Richtigkeit  hin  untersucht  werden  sollen. 
Das  philologisch-historische  Detail  soll  dann  ausführlicher  be- 
handelt werden. 

Eins  ist  von  vornherein  klar,  N.  geht  von  einem  falschen 
Begriff  der  Religion  aus,  er  könnte  sonst  die  religiöse  Entwicke- 
lung  nicht  in  der  klassischen  Religions  ph  ilosophie  gipfeln 
lassen,  sodaß  Maimonides  etwa  an  die  Stelle  des  Jeremia  tritt,  und 
die  Propheten  die  Vorläufer  der  mittelalterlichen  Denker  werden. 
Alle  Religionsphilosophie  setzt  als  die  begriffliche,  wissenschaftliche 
Bearbeitung  religiöser  Anschauungen  Religion  als  unabhängiges, 
selbständiges  Phaenomen  voraus,  und  ebensowenig,  wie  aus  einer 
Religion  im  Verlaufe  ihrer  Entwickelung  Wissenschaft  werden  kam-, 
kann  ein  reiigionsphilosophisches  System  der  Höhepunkt  eines  reli- 
gions-geschichtlichen  Prozesses  werden. 

Das  bedeutet  nicht  eine  völlige  Trennung  von  Religion  und 
Religionsphilosophie,  sie  stehen  zweifellos  in  Beziehung  zu  einander, 
nur  muß  ihr  Verhältnis  anders  bestimmt  werden.  Religion  strebt  von 
sich  aus  nicht  nach  philosophischer  Formulierung  ihrer  Lehren, 
sondern  ist  sich  selbst  genug.  Erst  im  Kampf  gegen  andere  Religionen, 
wenn  es  darauf  ankommt,  ihren  Lehrinbalt  möglichst  scharf  und 
deutlich  zu  entwickeln,  damit  die  Differenzen  sichtbar  werden,  ruft 
sie  die  Religionsphilosophie  zur  Hilfe,  die  ihr  den  vieldeutigen  Inhalt 
ihrer  Bildersprache  in  Begriffe  faßt.  So  entstehen  dogmatische  Be- 
griffe und  theologische  Systeme.  Doch  in  den  Augenblick,  in  dem 
sie  in  den  historischen  Prozeß  der  Religion  als  neue  Elemente  ein- 
treten, erhalten  sie  den  autoritativen,  dogmatischen  Charakter  reli- 
giöser Vorstellungen,  das  heißt :  sie  hören  auf  philosophisch  zu  sein. 
Für  die  Religion  aber  bedeuten  sie  keine  Höherentwickelung,  sondern 
im  Gegenteil  Erstarrung,  sodaß  alle  schöpferische,  religiöse  Arbeit 
die  festgewordenen  Formen  der  Religion  wieder  aufzulösen  und  in 
Fluß  zu  bringen  hat. Wenn  ein  Beweis  für  unsere  Ausführungen  erbracht 
werden  soll,  wird  ihre  Richtigkeit  am  leichtesten  durch  den  Hinweis 
auf  die  Dogmen  der  christlichen  Religion  erkennbar.  Sie  sind  ohne  Zweifel , 
das  Resultat  religionsphilosophischen  Denkens.  Doch  daß  in  ihnen 
die    Entwickelung   der   christlichen    Frömmigkeit    eine   höhere    Stufe 


Besprechungen.  103 

erreicht  hat,  als  vor  ihrer  dogmatischen  Formulierung,  wird  niemand 
im  Ernst  behaupten.  Weit  eher  wird  man  sagen  können,  daß  alle 
dogmatische  Bindung  trotz  der  größeren  gedanklichen  Klarheit  ein 
Symptom  des  Stillstands,  oder  des  Verfalls  ist.  Die  Höherentwickelung 
der  Religion  beruht  nicht  auf  ihrer  Verbindung  mit  Philosophie, 
also  auf  ihrer  begrifflichen  Fassung,  sondern  auf  dem  Hervortreten 
neuer  religiöser  Gedanken. 

Richtet  sich  die  Verteidigung  nicht  gegen  andere  Religionen 
oder  ketzerische  Ansichten,  sondern  gegen  die  Autorität  entgegen- 
stehender wissenschaftlicher  Lehren,  dann  entstehen  religionsphilo- 
sophische Systeme  als  Versuche  der  Harmonisierung  und  des  Aus- 
gleichs. Bedeutung  haben  sie  stets  nur  für  den  Kreis  der  Intellektuellen, 
und  wenn  sie  ihren  Zweck,  die  Wahrheit  der  Religion  zu  erweisen, 
erfüllen  sollen,  dürfen  sie  nicht  dogmatisch  und  autoritativ  werden. 
Sie  bleiben  dann  außerhalb  der  religiösen  Entwickelung  und  be- 
gleiten sie;  zugleich  spiegelt  sich  in  ihnen  die  Entwickelung  der 
Wissenschaft.  Es  ist  demnach  vollkommen  unmöglich,  Religion  und 
Religionsphilosophie  als  auf  einander  folgende  Stufen  einer  einzigen 
Entwicklungsreihe  aufzufassen.  Wenn  Philosophie  der  Religion  ihr 
Wesen  behalten  und  wissenschaftliche  Erkenntnis  bleiben  soll,  muß 
sie  ihren  eigenen  Weg  gehen.  Religionsphilosophische  Systeme  ge- 
hören nicht  in  die  Geschichte  der  Religion,  sondern  in  die  der  Wis- 
senschaft. 

Ebenso  verkehrt  ist  es,  die  Propheten,  die  Schöpfer  der  Religion, 
zu  Rationalisten  und  Aufklärern  zu  degradieren,  deren  Aufgabe  die 
freiung  vom  Mythos  ist.  Ihre  ganze  Größe  beruht  darauf,  daß  sie 
den  Mut  haben,  ihrem  tiefen,  schöpferischen  Gefühl  unbedingt  zu 
trauen,  und  die  ungeheure  Wirkung,  die  sie  ausüben,  erklärt  sich 
gerade  daraus,  daß  in  ihren  Reden  die  leidenschaftliche  Erregung  des 
Erlebens  zittert  und  in  poetischem  Schaffen  sich  entlädt.  Wenn  Neu- 
mark darauf  hinweist,  daß  im  More  Nebuchim  des  Maimonides  der- 
jenige Prophet  für  den  größten  gilt,  bei  dem  im  Augenblick  der 
Offenbarung  der  Verstand  seine  volle  Klarheit  sich  bewahrt,  muß 
auch  betont  werden,  daß  gerade  Maimonides  mit  vollem  Recht  in 
der  Phantasie  das  natürliche  Organ  der  Prophetie  erblickt.  Die  Be- 
hauptung, daß  die  Propheten  die  Begründer  der  wissenschaftlichen 
Ethik  sind  (S.  25),  oder  daß  Jeremia  den  kosmologischen  Gottesbeweis 
zum  ersten  Male  aufstellt  (S.  17),  zeigen  nur  zu  deutlich,  daß  der  Ver- 
fasser das  eigentliche  Wesen  der  Religion  verkennt  und  die  Grenzen 
zwischen  ihr  und  philosophischer  Erkenntnis  in  Unklarheit  und  Nebel 
verschwinden  läßt. 

Wenn  irgend  etwas,  war  Gottes  Existenz    den   Propheten   un- 


104  Besprechungen. 

mittelbar  gewiß,  sie  war  ihnen  das  einzig  Sichere  und  Reale  und 
bedurfte  keiner  logischen  Beweise,  und  Gott  war  ihnen  niemals  nur 
das  sittliche  Ideal,  sonders  zugleich  das  höchste  und  einzige  Welt* 
prinzip.  Das  beweist  selbst  vom  Standpunkt  Wellhausens  das  II. 
Kapitel  der  Oenesis,  das  zu  den  ältesten  Teilen  des  Pentateuch  ge- 
hört. Nicht  erst  Jeremia  und  Ezechiel  entwickeln  also,  wie  N.  behauptet 
(S.  17),  kosmogonische  Lehren,  um  den  Ansturm  babylonischer  Mythen 
abzuwehren,  sondern  der  Schöpfungsgedanke  gehört  zum  Urbestand 
der  mosaischen  Religion.  Das  Streben  der  Propheten  ist  aber  nicht 
auf  Philosophie,  auf  begriffliche  Erkenntnis,  sondern  auf  sittliche 
Erziehung  gerichtet.  Die  Schöpfer  der  Religion  und  die  mittelalterlichen 
Denker  gehören  zwei  vollkommen  getrennten,  grundverschiedenen 
Klassen  an,  und  wenn  N.  ihr  Rangverhältnis  umkehrt  und  die  Blüte 
der  jüdischen  Religionsgeschichte  nicht  im  Prophetismus,  sondern  in 
der  klassischen  Religionsphilosophie  sieht,  hat  seine  Behauptung  nur 
den  Wert  eines  paradoxen  Einfalls. 

Die  Orundthese  N's,  daß  die  Geschichte  der  jüdischen  Religion 
fortschreitende  Rationalisierung,  Kampf  gegen  Mythologie  bedeutet, 
widerspricht  dem  Wesen  der  Religion.  Die  Propheten  kämpfen  nicht 
gegen  das  Irrationale,  sondern  gegen  sittliche  Irrtümer.  Ihre  natür- 
liche Sprache,  das  notwendige  Ausdrucksmittel  für  ihre  Lehren,  sind 
Bilder  und  Symbole,  die  aus  poetischen  Formen  leicht  selbständige 
Wesen,  also  mythisch  werden.  Mit  größerem  Recht  könnte  man 
demnach  behaupten,  daß  die  Geschichte  der  jüdischen  Religion  ein 
Anwachsen  mythologischer  Vorstellungen  aufweist.  Der  Engelglaube 
ist  im  Pentat?uch  und  den  prophetischen  Büchern  im  Vergleich  zur 
nachbiblischen  Zeit  unausgebildet  und  unbestimmt.  Das  spricht  der 
Talmud  in  dem  bekannten  Satz  aus,  daß  die  Namen  der  Engel  aus 
Babylon  stammen.  Er  ist  selbst  in  der  Maimunischen  Philosophie 
nicht  überwunden,  sondern  zu  höherer  Dignität  gelangt.  Die  separaten 
Intelligenzen,  mit  denen  Maimonides  die  Engel  gleichsetzt,  sind  aus 
dem  Weltbilde  dieses  Denkers  weit  weniger  wegzudenken,  als  die 
Engel  aus  der  Gedankenwelt  der  Bibel.  Der  Dämonenglaube,  dem 
wir  im  Talmud  so  oft  begegnen,  fehlt  in  ihr  bis  auf  geringe  Spuren. 
Von  phantastischen  Messiasvorstellungen  ist  in  ihr  weit  weniger,  als 
in  späterer  Zeit  zu  findea,  und  die  späten  apokalyptischen  Lehren 
des  Daniel  sind  nur  ein  Anfang.  Der  Grundauffassung  Neumarks 
fehlt  also  vollkommen  die  geschichtliche  Basis. 

Er  hilft  sich  damit,  daß  er  zwischen  offiziellen  Lehren  und 
geduldeten  Vorstellungen  unterscheidet.  Doch  ist  das  sinaitische 
Bundesbuch  "mit  seinen  zahlreichen  Engelgeschichten  weniger  autori- 
tativ, als  das  Deuteronomium,    das  sie    angeblich    mit  klarer  Absicht 


Besprechungen.  105 

ausschließt  ?  Hat  Ezechiel  weniger  Autorität,  als  Jeremia  ?  Und  wie 
will  uns  N.  seine  Behauptung  plausibel  machen,  daß  der  babylonische 
Prophet,  anstatt  für  die  Reinheit  des  monotheistischen  Gedankens  zu 
kämpfen,  gegen  Jeremia  für  den  Engelglauben  eintritt  (S.  18)  ?  Der 
Priestercodex  mit  seinem  gesetzlichen  Denken,  dem  heiligen  Ernst 
in  der  Behandlung  cultischer  Fragen  steht  der  Schule  des  Priesters 
Ezechiel  ohne  Frage  näher,  als  der  Jeremias.  Wenn  nun  im  P.  C. 
der  Engelglaube  fehlt,  wird  damit  die  Behauptung,  daß  Ezechiel  für 
ihn  eingetreten  ist,  hinfällig.  Von  einem  Kampf  Jeremias  gegen  den 
Engelglauben  kann  gleichfalls  nicht  die  Rede  sein.  Die  Engel  der 
Bibel  sind  nichts,  als  die  ausführenden  Boten  Gottes,  ohne  jede 
Selbständigkeit,  beeinträchtigen  also  auch  nicht  seine  Einheit.  Was 
N.  über  diese  Frage  sagt,  ist  absolut  unbegründet.  Wer  den  Priester- 
codex in  der  Schule  Jeremias  und  das  Heiligkeitsgesetz  in  der 
Ezechiels  entstehen  läßt,  stellt  offenbar  einer  vorgefaßten  Theorie 
zu  Liebe  die  Wahrheit  auf  den  Kopf. 

Warum  hat  die  Mischna,  wenn  sie  wirklich  gegen  den  mythi- 
schen Engelg'auben  kämpft,  nach  Neumarks  eigener  Darstellung  mit 
»dem  Dogma  der  Praeexistenz  der  Thora«  und  dem  Auferstehuags- 
glauben  neue  mythische  Vorstellungen  aufgenommen  ?  Gehören  die 
agadischen  Teile  des  Talmud  den  Amoräern  weniger  zum  offiziellen 
Judentum,  als  die  halachischen  Diskussionen  ?  Dann  hätte  R.  Aschi  sie 
bei  der  Redaktion  des  Talmud  schwerlich  aufgenommen.  Wer  die  Ge- 
schichte des  Judentums  nicht  gewaltsam  konstruiert,  sondern  in  ihrem 
tatsächlichen  Verlauf  objektiv  betrachtet,  gelangt  zu  dem  Ergebnis, 
daß  die  Formel,  die  N.  für  sie  aufstellt,  vollkommen  falsch  ist. 

Den  Übergang  vom  mythologischen  zum  philosophischen 
Denken  vermittelt  nach  seiner  Darstellung  der  Talmud.  »Der  schon 
längst  im  geistigen  Leben  des  Judentums  wirksame  alexandrinische 
Piatonismus,  der  jetzt  neu  hinzutretende  Aristotelismus,  der  Muta- 
zilismus  und  alle  anderen  Impulse  von  aussen,  auf  die  uns  unsere 
Untersuchung  bald  führen  wird,  alles  dies  ist  die  zugegebene 
Voraussetzung,  aber  der  Urquell,  in  den  alle  diese  weit  von 
den  Bergen  her  rieseindcn  Wasseradern  einmünden,  muß  in  den 
Tiefen  des  Volksgeistes  selbst  entsprungen,  die  lebendige  Kraft,  die 
alles  zum  Blühen  und  Knospen  treibt  und  die  Frucht  zur  Reife 
bringt,  kann  nur  dem  Herzen  des  Volkes  entsprungen  sein.  Der  Geist 
des  jüdischen  Volkes  aber  ist  der  Geist  der  Haiachat  (S.  138).  »Das 
Judentum  besitzt  keinen  nennenswerten  Philosophen,  oder  philoso- 
phischen Forscher,  der  nicht  seinen  Geist  zuerst  an  der  Halacha 
diszipliniert  hat*  (S.  140).  »Die  größten  Autoritäten  der  Halacha  sind 
zugleich  diejenigen,  welche  die  höchsten  Höhen  des  philosophischen 


106  Besprechungen. 

Gedankens  erklimmen«.  »Maimuni,  der  größte  Philosoph  der  klas- 
sischen Periode  und  des  Judentums  überhaupt  ist  zugleich  der  größte 
Haiachist  aller  Zeiten«.  S.  135.  Daß  eine  so  enge  Beziehung  zwischen 
juristischem  und  philosophischem  Denken,  wie  sie  hier  behauptet 
wird,  in  Wirklichkeit  nicht  besteht,  wird  zunächst  durch  die  Tatsache 
bewiesen,  daß  bei  den  Römern,  die  das  klassische  System  des  Rechts 
geschaffen  haben,  kein  namhafter  Philosoph  und  bei  dem  genialen  Philo- 
sophenvolk der  Antike,  den  Hellenen,  kein  bedeutender  Jurist  zu  finden 
ist.  Das  ist  sehr  leicht  zu  erklären.  Die  formale  logische  Schulung  des 
Denkens  und  der  Blick  für  die  praktischen  Konsequenzen  gesetzlicher 
Bestimmungen  sind  von  dem  philosophischen  Erkenntnistrieb  und 
der  Fähigkeit,  theoretische  Probleme  zu  finden  und  aufzulösen,  un- 
abhängig. Wenn  also  wirklich  der  Geist  des  jüdischen  Volkes  der 
Geist  der  Halacha  wäre,  was  keineswegs  zutrifft,  wäre  es  für  die 
Lösung  philosophischer  Aufgaben  noch  sehr  wenig  disponiert.  Aber 
auch  die  jüdische  Geschichte  widerlegt  die  Behauptung  von  der 
Identität  juristischer  und  philosophischer  Begabung.  An  Genialität  des 
juristisch.-logischen  Denkens  wird  Raschi  auch  von  Maimonides  nicht 
übertroffen,  seine  religiösen  Anschauungen  aber  sind  von  einer 
rührenden  Kindlichkeit  und  Naivität,  und  sein  Bibelkommentar  giebt 
nicht  philosophische  Exegese,  sondern  mythische  Agada.  Dies  eine 
Faktum  schon  hätte  N.  zeigen  können,  daß  juristische  Logik  nicht 
zu  philosophischem  Denken  zu  führen  braucht.  Sie  bilden  sogar 
vielfach  Gegensätze.  Nur  so  wird  es  verständlich,  daß  die  Talmudisten 
den  More  Nebuchim  leidenschaftlich  bekämpfen,  daß  Ascheri  seine 
Autorität  auf  halachischem  Gebiet  gegen  das  Studium  der  Philosophie 
geltend  macht,  Nachmanides  die  Mystik  neu  begründet,  in  Polen, 
dem  klassischen  Lande  des  einseitigen  Talmudstudiums,  die  chassi- 
dische  Mystik  entstanden  ist. 

Sie  ist  offenbar  eine  Reaktion  gegen  die  einseitige  Verstandes- 
bildung durch  den  Talmudismus,  der  die  Ansprüche  des  Gemüts 
unbefriedigt  läßt,  weil  er  die  Religion  intellektualisiert,  anstelle  des 
religiösen  Gefühls  logische  Ableitung  und  Begründung  setzt.  Diese 
Intellektualisierung  verwechselt  N.  mit  Rationalisierung,  dem  Streben 
nach  philosophischer  Erkenntnis  und  übersieht,  daß  der  Talmud, 
wie  alle  Juristerei,  eine  vorwiegend  praktische  Tendenz  des  Denkens 
zeigt,  nicht  einmal  seine  eigenen  Grundlagen  wissenschaftlich  unter- 
sucht, sondern  sich  mit  einer  theologisch-dogmatischen  Begründung 
seiner  Prinzipien  begnügt.  Die  talmudische  Dialektik  hat  sich  sehr 
wohl  mit  phantastischer  Mythologie  vertragen,  wie  die  Beispiele  R 
Akibas  und  des  Babyloniers  Rab  beweisen,  die  N.  trotz  ihrer  Bedeu- 
tung   für   die    Entwickelung    des  Talmud   zu  Begründern  mystischer 


Besprechungen.  107 

Systeme  macht.  Ebenso,  wie  für  die  arabische  Philosophie  und  die 
christliche  Scholastik,  war  die  Disziplinierung  durch  die  Halacha 
auch  für  die  Entstehung  der  jüdischen  Religionsphilosophie  nicht  die 
Voraussetzung. 

Die  Denkweise  des  Talmud  ist  durchaus  dogmatisch  gebunden. 
Die  Existenz  Gottes,  die  Göttlichkeit  der  Bibel,  die  Wunderberichte 
der  hlg.  Schrift  werden  den  Tannaim  und  Amoräern  niemals  proble- 
matisch. Daher  ist  es  von  vornherein  ausgeschlossen,  daß  die  Anfänge 
der  jüdischen  Philosophie  im  Talmud  gefunden  werden.  Auch  seine 
agadischen  Teile  bilden  in  dieser  Hinsicht  keine  Ausnahme.  Wenn 
man  unter  Philosophie  autonomes,  systematisches  Denken  versteht, 
und  etwas  anderes  bedeutet  sie  ja  nicht,  verdienen  auch  die  philo- 
sophisch klingenden  Sätze  einzelner  Tannaim  und  Amoräer  nicht  die 
Bezeichnung  »philosophisch«.  Das  wird  auch  durch  den  Hinweis 
Bereschith  und  Merkaba  nicht  widerlegt.  Welche  Spekulationen 
man  ursprünglich  darunter  verstanden  hat,  läßt  sich  mit  Sicherheit 
nicht  ermitteln.  Wenn  man  aus  den  wenigen  Daten  aus  späterer  Zeit 
Rückschlüsse  ziehen  darf,  begnügten  sich  die  Tannaim  nicht  mit  den 
klaren  Angaben  der  Genesis,  sondern  suchten  in  das  Geheimnis  des 
göttlichen  Schaffens  tiefer  einzudringen  und  aus  den  Andeutungen  der 
heiligen  Schrift  die  einzelnen  Phasen  der  Weltentstehung  genauer  zu 
erkennen.  Es  handelt  sich  hier  also  nicht  um  selbständige  philosophische 
Untersuchung,  sondern  um  agadische  Bibelexegese.  Der  Versuch,  die 
Entstehung  der  Welt  aus  dem  Nichts  zu  beweisen  und  begreiflich  zu 
machen,  also  die  Schöpfungslehre  des  Judentums  wissenschaftlich  zu 
begründen,  wird  nicht  unternommen,  eine  Widerlegung  der  entgegen- 
stehenden naturphilosophischen  Theorieen  nirgends  versucht.  Religiöse, 
kosmogonische  Mythen  aber  sind  nicht  Philosophie.  Sie  ist  immer  erst 
da  vorhanden,  wo  eine  natürliche  Erklärung  der  Erscheinungen  ver- 
sucht wird.  Durch  Bereschith  und  Merkaba  aber  wird  die  biblische 
Schöpfungslehre  nicht  klarer  und  natürlicher,  sondern  verworren  und 
phantastisch.  Das  Geheimnis  des  göttlichen  Schaffens  übt  auf  das 
Gefühl  der  Tannaim  einen  so  mächtigen  Eindruck  aus,  daß  ihre 
Phantasie  die  Schöpfertätigkeit  Gottes  genauer  zu  beschreiben  unter- 
nimmt, das  Interesse  ist  also  nicht  philosophischer,  sondern  religiöser 
Art.  Darum  ist  es  vollkommen  verfehlt,  in  diesen  Mythen  nach  den 
ersten  Spuren  der  späteren  philosophischen  Probleme  zu  suchen. 
Wenn  die  Engel  einer  Agada  zufolge  aus  dem  Schweiß  der  Chajoth 
entstehen,  wird  damit  noch  lange  nicht  die  natürliche  Emanation  der 
Materie  aus  Gott  gelehrt  (S.  81).  Ebensowenig  beweist  die  Vorstellung 
von  dem  Schnee  unter  dem  Thronwagen  das  Vorhandensein  des 
Substanzproblems  (S.  75).  Dies  alles  ist  religiöse  Poesie,  die  sich  an 


108  Besprechungen. 

die  Bibel  anlehnt,  mylische  Dichtung  und  nicht  philosophische  Speku- 
lation. Daß  die  Philosophen  des  Mittelalters  nach  einer  Anknüpfung 
im  talmudischen  Schrifttum  suchen,  erklärt  sich  aus  dem  Bestreben, 
ihie  Anschauung  zu  legitimieren  und  beweist  nicht,  daß  die  jüdische 
Philosophie  aus  den  talmudischen  Agadas  hervorgegangen  ist.  Sie 
ist  nicht  infolge  der  Überwindung  der  Ideenlehre  durch  die  halachiscbe 
Dialektik  entstanden,  sondern  entspringt,  von  dem  apologetischen  Inter- 
esse und  dem  Einfluß  des  Milieus  abgesehen,  wie  alle  Philosophie 
einem  wissenschaftlichen  Erkenntnistrieb,  der  in  einzelnen  Köpfen 
durch  das  Studium  der  arabisch-aristotelischen  Schriften  erwacht  ist. 

In  seinem  Streben,  die  absolute  Einheit  des  jüdischen  Geistes 
nachzuweisen,  begnügt  sich  N.  nicht  damit,  die  mittelalterliche  Phi- 
losophie aus  dem  talmudischen  Schrifttum  abzuleiten,  sondern  sucht 
nach  den  Spuren  der  Platonischen  Ideenlehre  auch  in  der  Bibel.  Er 
findet  sie  im  Pentateuch  in  der  Erzählung  von  der  Schöpfung  des 
Menschen  im  Ebenbilde  Gottes  und  in  dem  Bericht  von  dem  Urbild 
des  Stiftzeltes,  das  Gott  Mose  hat  schauen  lassen  (S.  22).  In  beiden 
Fällen  hat  offenbar  das  Wort  *Bildc  den  Verfasser  irregeführt.  Es 
braucht  nicht  erst  gesagt  zu  werden,  daß  die  pentateuchischen  Er- 
zählungen falsch  verstanden  sind.  Von  einer  Ideenlehre  im  Penta- 
teuch zu  sprechen,  ist  so  sinnlos,  daß  jede  Widerlegung  sich 
erübrigt. 

Nicht  vernünftiger  ist  die  Behauptung,  daß  Ezechiels  Merkaba 
eine  kosmogonische  Theorie  versucht  und  Elemente  der  babylonischen 
Ideenlebre  enthält  (S.  74. 75).  Was  unter  babylonischer  Ideenlehre  zu 
verstehen  ist,  hat  N.  nicht  verraten.  Ezechiels  Vision  des  göttlichen 
Thronwagens  ist  schwer  zu  enträtseln,  daß  er  aber  keine  selbständige 
Kosmogonie  entwirft,  die  mit  dem  ersten  Kapitel  der  Genesis  rivali- 
siert, ist  klar.  Am  einleuchtendsten  scheint  noch  die  Auffassung 
Bertholets  zu  sein,  der  in  den  Worten  des  Propheten  eine  Schil- 
derung der  göttlichen  Allmacht  und  Allwissenheit  erblickt. 

Ernstere  Beachtung  verdient  die  Behauptung,  daß  in  Mischle 
Oedanken  der  griechischen  Philosophie  zu  finden  sind,  wenn  man  in 
Betracht  zieht,  daß  die  Entstehung  dieses  Buches  angeblich  in  die  Zeit 
hellenischen  Einflusses  fällt.  Aber  auch  hier  kann  von  platonischer  Ideen- 
lehre nicht  die  Rede  sein  (S.  77).  Ob  die  praeexistente  >Weisheitc  als 
selbständiges  Wesen  hypostasiert,  oder  nur  dichterisch  personifiziert 
ist,  läßt  sich  mit  Sicherheit  nicht  entscheiden.  Frankenberg  neigt  in 
seinem  Kommentar  zu  der  letzteren  Ansicht.  Sie  hat  viel  für  sich, 
wenn  man  bedenkt,  daß  auch  die  »Torheitc  in  Mischle  personifiziert 
ist.  In  jedem  Falle  bedeutet  die  >WeisheiU  nichts  anderes,  als  Thora, 
sie  ist  keineswegs   mit  dem  Philonischen   Logos,   dem    Inbegriff   der 


Besprechungen.  109 

Ideen  Piatos,  zu  identifizieren.  Eine  so  unhistorische  Gleichsetzung 
ist  bei  einem  modernen  Historiker  der  jüdischen  Philosophie  unbe- 
greiflich. 

Dem  Verfasser  der  Spruchbuchs  bedeutet  Thora  die  Summe  der 
Gesetze  des  Judentums,  und  wenn  er  sie  für  ewig  und  praeexistent 
erklärt  und  bei  der  Schöpfung  mitwirken  läßt,  will  er  dem  Gedanken 
Ausdruck  geben,  daß  die  Erfüllung  der  religiösen  Gesetze  Sinn  und 
Zweck  des  Weltalls  ist,  ein  Gedanke,  der  auch  im  Midrasch  wieder- 
kehrt. Sobald  man^in  der  Thora  göttliche  Weisheit  sah,  war  ihre  Prae- 
existenz  von  selbst  gegeben,  sonst  wäre  Gott  ja  vor  der  sinaitischet! 
Offenbarung  ohne  Weisheit.  Mit  platonischer  Ideeniehre  aber  hat 
dies  nichts  zu  tun,  es  sei  denn,  daß  man  das  System  Piatos  seines 
klaren  Sinnes  beraubt.  Daß  platonische  Gedanken  in  späten  Midraschin. 
mehr  oder  weniger  deutlich  anklingen,  soll  nicht  geleugnet  werden, 
aber  um  so  vorsichtiger  muß  die  Interpretation  der  älteren  Litera- 
tur sein. 

Auch  das  mischnische  »Dogma  von  der  Praeexistenz  der  Thora* 
braucht  nicht  im  Sinne  der  Ideenlehre  aufgefaßt  zu  werden.  Ein  Ein- 
fluß des  alexandrinischen  Philosophen  in  der  Mischna  ist  nicht  nach- 
weisbar, es  ist  also  kein  Anhaltspunkt  dafür  vorhanden,  daß  unter 
Thora  »Logos«  verstanden  wird.  Ebenso  ist  die  Gleichsctzung  von 
Bereschith  und  Pardes  mit  der  Ideenlehre  Piatos  unbewiesen  und 
unwahrscheinlich.  Trotz  der  überlegenen  Kritik,  die  hier  an  Graetz 
geübt  wird,  behält  seine  Ansicht  die  größere  Wahrscheinlichkeit. 
Nur  wenn  R.  Akiba  und  die  3  anderen  Tannaim,  die  der  Talmud 
nennt,  sich  in  Probleme  der  Gnosis  vertieft  haben,  wird  Achers  Ab- 
fall vom  Judentum  verständlich.  Die  gnostische  Philosophie  hat  eine 
entschieden  antijüdische  Tendenz,  sucht  zu  beweisen,  daß  der 
Schöpfergott,  der  sich  am  Sinai  offenbart  hat,  tiefer  steht,  als  der 
christliche  Gott  der  Liebe,  die  platonische  Ideenlehre  aber  läßt  sich 
mit  der  Religion  der  Bibel,  wie  Philos  Beispiel  zeigt,  relativ  leicht 
verbinden. 

Was  N.  mit  allen  seinen  willkürlichen  Behauptungen  und 
Konstruktionen  erreicht,  ist  schwer  einzusehen.  Die  jüdische  Philo- 
sophie des  Mittelalters  soll  aus  der  natürlichen  Entwickelung  des 
jüdischen  Geistes  erklärt  werden.  Dieses  Resultat  aber  wird  dadurch 
gewonnen,  daß  fremde,  heidnische  Anschauungen  bereits  in  der  Thora 
nachgewiesen  werden.  Erst  durch  ihre  Überwindung  und  nicht  durch 
eine  höhere  Entwickelung  der  jüdischen  Gedanken  soll  dann  die 
jüdische  Religion  ihren  Höhepunkt  erreichen.  Das  ist,  von  aller 
historischen  Unrichtigkeit  abgesehen,  ein  innerer  und  unlösbarer 
Widerspruch. 


110  Besprechungen. 

Die  Überwindung  der  Ideenlehre  soll  der  Weg  zur  diale- 
ktischen Philosophie  sein.  Zuvor  aber  muß  sie  sich  von  der  Merkaba 
trennen.  Das  ist  zunächst  historisch  falsch,  denn  noch  im  More 
Nebuchim  wird  eine  von  aller  Polemik  freie  Erklärung  der  Ezechiel- 
schen  Vision  versucht.  Außerdem  ist  die  Emanationslehre  nicht  not- 
wendig mystisch.  Auch  Hegel  läßt  ja  die  Natur  durch  die  Selbst- 
entfaltung des  absoluten  Geistes  im  dialektischen  Prozeß  entstehen, 
ohne  darum  Mystiker  zu  werden.  Wenn  aber  Neumark  die  Behaup- 
tung aufstellt,  daß  Merkaba  und  Ideenlehre  das  Streben  haben,  ihre 
ursprüngliche  Einheit  wiederherzustellen,  so  ist  das  selbst  nur  die 
modernste  Variation  eines  uralten  Mythos. 

Die  ganze,  275  Seiten  umfassende  Einleitung  nimmt  dem  Buch 
den  Charakter  einer  ernsten  wissenschaftlichen  Arbeit.  Sie  war  umso 
überflüssiger,  als  bei  der  Darstellung  der  mittelalterlichen  Philosophie 
die  angeblichen  biblischen  und  talmudischen  Quellen  vollkommen 
ignoriert  wurden.  Anstatt  zu  zeigen,  wie  im  einzelnen  die  Ideenlehre 
überwunden  wird,  bietet  N.  einen  breiten  Excurs  über  Aristoteles. 
Die  neuen  Resultate,  die  hier  gewonnen  werden,  sind  nicht  sehr 
glaubhaft.  Widersprüche  im  aristotelischen  System  sind  speziell  bei 
der  Behandlung  des  Substanzproblems  zweifellos  vorhanden.  Trotz- 
dem ist  Aristoteles  ein  viel  zu  scharfer  und  klarer  Kopf,  um 
zwei  einander  direkt  ausschließende  Theorieen  über  Materie  und 
Form  gleichzeitig  zu  vertreten.  Der  Standpunkt  der  Physik  wird 
von  ihm  selbst  als  durch  die  Interessen  des  Physikers  bedingt 
bezeichnet  und  unterscheidet  sich  nicht  grundsätzlich  von  dem  der 
Metaphysik.    Nur    der    Gesichtspunkt  wechselt  in  der  Untersuchung. 

Bald  handelt  es  sich  um  Substrat  und  Qualität,  Subjekt  und 
Prädikat,  bald  um  die  Differenz  des  Unentwickelten  und  Entwickelten, 
von  Möglichkeit  und  Wirklichkeit.  Immer  aber  sind  Stoff  und  Form 
zwei  selbständige  Prinzipien,  die  Formen  logisch  abstrahierbar,  sodaß 
ein  völlig  unbestimmter  Urstoff,  oder  reine  Potentialität  übrig  bleibt. 
In  Wirklichkeit  aber  ist  der  Urstoff  ebensowenig  ohne  jede  Qualität, 
wie  die  Aktualisierung  der  Formen  jemals  begonnen  hat.  Das  Streben 
der  Natur,  alle  Formen  bis  zur  höchsten  zu  durchlaufen,  die  qualita- 
tive Umwandlung  der  Stoffe  lehrt  Aristoteles  immer  in  derselben 
Weise,  durchbricht  also  niemals  sein  dynamisches  Prinzip.  Alle 
Unterschiede,  die  N.  hier  so  entschieden  und  bestimmt  behauptet, 
sind  in  Wirklichkeit  nicht  vorhanden. 

Damit  fällt  auch  sein  ganzer  Aufbau  der  jüdischen  Religions- 
philosophie. Er  unterscheidet  eine  Saadja-Gruppe,  die  den  Standpunkt 
der  Physik,  die  Annahme  einer  mit  einer  Urqualität  verbundeuen 
Materie,    und    eiue   Gabirol-Oruppe,   die   den    Standpunkt  der  Meta- 


Besprechungen.  111 

physik  vertritt  und  eine  substantielle  Potentialität  annimmt.  Der  erste 
Standpunkt  soll  sich  mit  dem  jüdischen  Schöpfungsglauben  leichter 
verbinden  lassen,  als  der  zweite.  Auch  das  trifft  nicht  zu.  Der  Ge- 
danke, daß  Gott  einen  Urkeim  geschaffen  hat,  aus  dem  sieh  das 
Universum  allmählich  stufenweise  entwickelt  hat,  ist  logisch  durch- 
aus einwandsfrei.  Richtig  ist  an  der  Unterscheidung  der  beiden 
Gruppen  nur,  daß  die  eine  dem  Aristoteles,  die  andere  dem  Neu- 
platonismus  näher  steht.  Alles  andere  ist  Konstruktion. 

Es  wäre  ungerecht,  wollten  wir  nicht  die  erstaunliche  Belesen- 
heit und  den  achtunggebietenden  Fleiß  des  Verfassers  anerkennen, 
aber  es  fehlen  ihm  neben  richtigen  philosophischen  Anschauungen 
philologische  Kritik  und  historisches  Denken.  Wo  er  größere  Zu- 
sammenhänge auffinden  will,  verläßt  ihn  vollkommen  die  Besonnenheit 
des  Urteils.  Es  ist  höchst  bedauerlich,  daß  der  wissenschaftliche  Er- 
trag so  vieler  Arbeit  so  gering  ist. 

Julius  L  e  w  k  o  w  i  t  z^ 


Erwiderungen. 

Von  Herrn  J.  Froraer  erhalte  ich  folgende  Zuschrift: 
In  dem  54.  Jahrgang  dieser  Zeitschrift  befindet   sich    eine  Be- 
sprechung meines   Buches    »Der   Organismus   des   Judentums»,    die 
Unwahrheiten  enthält.  Gemäß  §  11  des  Preßgesetzes  ersuche  ich  um 
Abdruck  der  folgenden 

Berichtigung: 

1.  Unwahr  ist,  daß  das  »eigentliche  Einleitende»  in  dem  ge- 
nannten Werke  »aus  mehr  oder  weniger  wörtlichen  Abschreibungen 
der  ganz  geläufigen  Hand-  und  Wörterbücher«  besteht.  Wahr  ist 
vielmehr,  daß  das  »eigentlich  Einleitende«,  wie  überhaupt  das  ganze 
Werk  formal  und  inhaltlich  vollkommen  originell  ist. 

2.  Unwahr  ist,  daß  ich  das  eine  Mal  we-haschekabat  sera  (das 
Sperma)  gelesen  und  »das  andere  Mal  zwei  Seiten  zur  Verteidigung 
dieses  Schnitzers«  geschrieben  habe.  Wahr  ist  vielmehr,  daß  ich  : 

a)  im  Texte  richtig  wehaschikbat  vokalisiert  und  in  der  Anmer- 
kung gesagt  habe:  »Trad.  LA.  —  Grammat.  LA.:  wehaschekabat 
Damit  sollte  nur  —  wie  ich  im  »Organismus  des  Judentums«,  Seite 
186  und  267  ausgeführt  habe  —  gezeigt  werden,  welchen  geringen 
Wert  die  grammatische  Lesart  hat,  daß  ich  ferner: 

b)  zur  »Verteidigung  dieses  Schnitzers«  nicht  zwei  Seiten,  son- 
nur  eine  halbe  Seite  geschrieben  habe.  Dr.  J.  Fromer. 

* 

Darauf  sendet  Herr  Aptowitzer  folgende 
Entgegnung: 

Ad.  1.  Die  Behauptung,  daß  in  dem  Buch  »Der  Organismus  des 
Judentums«  von  Dr.  Jakob  Fromer  das  »eigentliche  Einleitende«  — 
d.  s.  die  Inhaltsangaben,  die  literarhistorischen  und  bibliographischen 
Daten  —  »formal  und  inhaltlich  vollkommen  originell  ist«,  ist  —  voll- 
kommen originell,  da  diese  Daten  tatsächlich  in  den  geläufigen 
Handbüchern,  z.  B.  in  Stracks  Einleitung  in  den  Talmud,  enthalten 
sind. 

Nach  dem  Eindruck,  den  die  Bücher  des  Dr.  Fromer  auf  mich 
machten,  mußte  ich  zur  Überzeugung  gelangen,  daß  er  die  erwähnten 


Erwiderungen.  113 

Daten  den  Handbüchern  entnommen  hat,  wie  die  meisten  seiner 
Zitate  aus  dem  Talmud  dem  Wörterbuche  Levy's  entnommen  sind. 
Dies  meinte  ich  mit  dem  von  Dr.  Fromer  berichtigten  Satz. 

Daß  Herr  Fromer  gerade  diesen  Satz  berichtigt,  ist  übrigens 
sehr  merkwürdig.  Lange  vor  meinem  Referat  hat  L.  Ooldschmidt  in 
seiner  Kritik  des  Fromerschen  Buches,  wie  ich  in  demselben  Aufsatze 
S.  561  erwähne,  folgendes  geschrieben : 

S.  21,  Anm.  2:  »Das  ganze  Buch  besteht  aus  Zitaten,  teils 
wörlich  abgeschrieben  mit  Nennung  der  Quelle,  teils  umgemodelt 
ohne  Nennung  derselben.  Abgedroschene  Phrasen  sind  —  weiß  Qott 
woher  —  zusammengeschleppt,  während  Wissenswertes  nicht  zu 
finden  ist.  Auf  S.  20  (Nomadenperiode  der  Juden)  wird  ein  langes  und 
breites  Qefasel  über  den  Charakter  der  Nomaden  gegeben,  wahr- 
scheinlich aus  irgend  einem  Lexikon  abgeschrieben,  während  von  der 
Nomadenperiode  der  Juden  kein  Wort  zu  finden  ist«. 

S.  39,  Anm.  1:  »Die  Zitate  aus  dem  Talmud  in  seinem  Buche 
sind  nach  secundären  Angaben  abgeschrieben«. 

S.  49:  »Das  eigentliche  Buch  schließt  mit  Seite  231;  dann  be- 
ginnt eine  rein  mechanische,  wahrscheinlich  aber  aus  Stracks  »Ein- 
leitung in  den  Talmud«  abgeschriebene  Inhaltsabgabe  der  Mischna, 
der  sich  dann  das  oben  besprochene  Probestück  aus  dem  Talmud 
anschließt.  Von  diesen  231  Seiten  besteht  ungefähr  die  Hälfte  aus 
einer  mechanischen  wörtlichen  Abschrift  von  Zitaten,  auf  die  die 
Schriftsteller,  die  er  benutzt  oder  abgeschrieben  hat,  besonders  O  e  i- 
ger,  verweisen«. 

Qegen  diese  Ausführungen  Goldschmidts  findet  sich  in  Fromers 
ausführlicher  Qegenkritik  kein  Wörtchen  des  Protestes! 

Angesichts  dieses  Schweigens  an  den  Satz  »qui  tacet,  consentire 
videtur«  zu  denken,  ist  bis  jetzt  nicht  verboten  gewesen. 

Ad  2  a.  Daß  Herr  Fromer  im  Text  wehaschichbat  vokalisiert 
und  in  der  Anmerkung  behauptet  hat:  »grammatische  Lesart  webasch- 
kabat«,  ist  richtig«.  Wer  aber  einmal  in  einem  mit  Textfragen  sich 
beschäftigenden  Buche  geblättert  hat,  weiß,  daß  die  Vornahme  einer 
Korrektur,  das  Vorschlagen  einer  Lesart  kurz  durch  »lesen«  ausge- 
drückt wird,  In  diesem  Sinne  schrieb  ich,  daß  Fromer  wehaschkabat 
liest,  wie  ich  ja  auch  nur  aus  dem  grammatischen  Sprachgebrauch 
die  »Schnitzerhaftigkeit«  dieser  Lesung  nachgewiesen  habe.  Daß  Herrn 
Fromer  dieser  Gebrauch  des  Zeitwortes  »lesen«  nicht  bekannt  Ist, 
habe  ich  nicht  vorausgesetzt. 

Ad  2b.  Die  Verteidigung  des  Schnitzers  »wehaschkabat«  befindet 
sich  in  Fromers  Broschüre  gegen  Goldschmidt  auf  Seite  22  und  23, 
also  auf  2  Seiten.  Daß  die  Behauptung:  »wer  die  Schwierigkeit,   die 

g 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang. 


114  Erwiderungen. 

die  Lesung  wehaschkabat  veranlaßt,  nicht  kennt,  der  versteht  nichts 
von  der  hebräischen  Grammatik«  mit  zur  Verteidigung  dieser  Lesung 
gehört,  wird  doch  auch  Herr  Dr.  Fromer  nicht  in  Abrede  stellen 
wollen.  Um  aber  eine  weitere  Berichtigung  seitens  Herrn  Fromers  zu 
vermeiden,  konstatiere  ich  ausdrücklich,  daß  die  Verteidigung  des 
Schnitzers  »wehaschkabat«:  nicht  zwei  volle  Seiten  umfaßt. 

V.  Aptowitzer. 


Herr  B.  Jacob  sendet  die  nachfolgende  Erwiederung  ein. 

Unter  der  Überschrift:  »Neueste  exegetische  Methoden«  hat 
Herr  S.Jampel,  S.  395,  Jahrg.  1910  dieser  Zeitschrift  auch  meinem  1905 
erschienenen  Penttateuch  einige  Zeilen  gewidmet.  Da  der  Aufsatz  für 
einen  weiteren  Leserkreis  bestimmt  zu  sein  scheint  und  erhebliche 
Irrtümer  enthält,  so  dürfte  eine  Richtigstellung  nicht  unangebracht  sein. 

Zu  den  neuesten  exegetischen  Methoden  zählt  Jampel  nämlich 
auch  den  von  mir  vertretenen  Standpunkt,  daß,  um  zunächst  hievon 
zu  reden,  die  chronologischen  Angaben  des  Pentateuch  ein 
künstliches  System  sind.  Ich  will  mich  nicht  dabei  aufhalten,  daß  der 
Herr  Referent  über  den  Begriff  »exegetisch»  nur  unklare  Vorstellungen 
zu  haben  scheint.  Mit  der  Exegese  haben  diese  Dinge  wenig  oder 
gar  nichts  zu  tun.  Aber  nach  dem  Ausdruck,  den  Herr  Jampel  ge- 
braucht und  den  Ausführungen,  die  er  daran  anknüpft,  scheint  er  über- 
haupt mit  der  Pentateuchforschung  wenig  bekannt  zu  sein.  Denn 
abgesehen  natürlich  von  der  Orthodoxie,  welche  die  biblische  Ge- 
schichte von  Adam  an  für  buchstäbliche  historische  Wahrheit  hält, 
ist  mir  auch  nicht  ein  Forscher  bekannt,  welcher  anderer 
Meinung  ist.  Es  ist  die  einstimmige  Meinung  aller  Gelehrten, 
daß  den  Zahlenreihen  von  Adam  bis  Noah,  sodann  von  Noah  bis 
Abraham,  ferner  den  Zeitangaben  für  das  Leben  der  Erzväter  und 
den  Aufenthalt  der  Israeliten  in  Ägypten  ein  künstliches  System 
zu  gründe  liegt.  Jeder  wissenschaftliche  Kommentar  zur  Genesis, 
jedes  Handbuch,  jedes  Realwörterbuch  berichtet  darüber.  So  beginnt, 
um  ein  beliebiges  Beispiel  herauszugreifen,  der  konservative  Kittel  den 
Artikel  »Zeitrechnung«  in  der  Prot.  Reaiencyclopädie  4,  Bd.  XXI,  p. 
369  folgendermaßen:  »I.  Das  System.  Ein  chronologisches  System  hat 
es  zweifellos  innerhalb  des  A.  T.  gegeben,  vielleicht  sogar  mehrere, 
die  einander  kreuzen  .  .  .  man  ist  in  der  Hauptsache  heute  über  den 
Standpunkt,  sie  (diese  Zahlen)  geschichtlich  verstehen,  bez.  sie  als 
reine  Geschichte  »retten«  zu  wollen,  hinausgewachsen«.  Ein  anderer 
(Bosse)  beginnt:  »Was  die  früheren  Bearbeiter  dieser  Fragen  angeht, 
sind  sich  fast  alle  über  den  systematischen  Charakter  der  Chronolo- 
gien einig.  Ihr  Aufbau,  nicht  ihre  historische  Richtigkeit  ist  darzulegen !« 


Erwiderungen.  115 

Oder  es  überschreiben  Zimmern-Winkler,  S.  319  ihres  Werkes:  »Die 
Keilinschriften  und  das  A.  T.'« :  Die  biblische  Chronologie  ein 
Schema,  und  bemerken  dazu:  »Von  vornherein  ist  hiernach  selbst- 
verständlich, daß  auch  der  Chronologie  der  israelitischen  Überlieferung 
ein  derartiges  Schema  zugrunde  liegte.  In  der  Tat  ist  dies  ganz  selbst- 
verständlich. Sobald  man  einmal  die  Geschichtlichkeit  der  Zahlen 
leugnet  —  und  diese  Freiheit  nehme  ich  mir  allerdings  mit  tausend 
anderen  —  und  man  nicht  annehmen  will,  daß  der  Verfasser  gedan- 
kenlos irgendwelche  Zahlen,  die  ihm  gerade  in  den  Sinn  kamen, 
niederschrieb,  ohne  zu  fragen,  ob  sie  zu  einander  stimmen,  entsteht 
sogleich  die  Frage,  warum  er  Adam  gerade  930,  Set  912,  Enosch 
905  Jahre  alt  werden  läßt  und  nicht,  sagen  wir,  830,  750,  620  o.  ä. 
Es  entsteht  die  Frage  nach  dem  System,  aus  dem  diese  Zahlen  sich 
ergeben.  Die  Versuche  dieses  System  aufzudecken,  sind,  wie  ich  schon 
auf  S.  1  meines  Buches  berichte,  zahlreich,  und  die  Literatur  darüber 
schier  unübersehbar.  Den  meisten  Anklang  hatten  bisher  die  Berech- 
nungen von  Oppert  gefunden,  der  in  den  biblischen  Zahlen  der  Urzeit 
eise  arithmetische  Reduktion  eines  babylonischen  Systems  sieht  und 
von  A.  v.  Gutschmid  u.  Th.  Nöldeke,  welche  annehmen,  daß  die 
Theorie  einer  Weltzeit  von  4000  Jahren  zugrunde  liege,  von  welcher 
für  die  Zeit  V3n  Schöpfung  und  Auszug  */»  =  2666  angesetzt  sei. 
Aber  es  vergeht  kaum  ein  Jahr,  in  dem  nicht  neue  Versuche  auftauchen. 
Einer  der  letzten  ist  der  von  Bosse  in  den  Mitteil.  d.  vorderasiatischen 
Gesellsch.  1908  (der  mein  Buch  nicht  zu  kennen  scheint),  wonach 
zwei  chronologische  Systeme  zusammengearbeitet  seien;  das  erste 
mit  der  Generationszahl  40  berechne  von  Adams  Geburt  bis  zum 
Ende  des  Exils  50X40  =  2000  Jahre,  wozu  aber  Korrekturen  des 
biblischen  Textes  nötig  sind,  das  zweite,  auf  der  Zahl  260  beruhend, 
wolle  ein  sog.  großes  Jahr  von  3166  =  124X260  -f-  46  Jahren  erzielen. 
Auch  nach  Bosse  sind  mir  noch  mehrere  Versuche  bekannt  geworden. 
Ich  muß  es  daher  als  eine  unverdiente  Ehre  ablehnen,  der  Er- 
finder dieser  »neuesten*  (!)  exegetischen  Methode  zu  sein.  Meine  Lösung 
ist  eine  unter  vielen,  die  jedenfalls  das  Verdienst  in  Anspruch  nehmen 
kann,  daß  sie  die  Sache  nur  aus  den  Aussagen  der  Bibel  selbst  er- 
klärt, daß  sie  sich  jeder  willkürlichen  Textänderung  enthält,  daß  sie 
den  Nachweis  bis  in  die  kleinsten  Details  führt  und  in  sich  voll- 
kommen widerspruchslos  ist.  Ja  ich  zeige,  daß  sogar  der  sprachliche 
Ausdruck  für  die  Zahlen  die  Art  ihrer  künstlichen  Berechnung  ver- 
rät. So  glaube  ich  allerdings,  daß  nunmehr  der  Schlüssel  des  Rätsels 
gefunden  ist.  Es  gereicht  mir  zur  Genugtuung,  daß  z.  B.  ein  so  nam- 
hafter Forscher,  wie  der  bekannte  Assyriologe  Alfr.  Jeremias  sich  be- 
reits  zu   meinen   Resultaten    bekennt:    »Die   Lösung    des    Exempels 

8* 


116  Erwiderungen. 

gefunden  zu  haben  ist  das  Verdienst  des  Göltinger  Gelehrten  B.  Jacob, 
der  in  seinem  Buche  »Der  Pentateuch«  in  überraschender  Weise  ge- 
zeigt hat,  wie  usw.  (»Die  Zeitrechnung  der  biblischen  Urgeschichtet 
in  der  » Reformation c  1903  p.  66  ff.)- 

Ebenso  unverständlich  ist  mir  der  Ausdruck  des  Herrn  Jampel, 
wenn  er  sich  auf  meine  Behandlung  der  Genealogien  und  Volks- 
zählungen beziehen  soll.  Daß  auch  diese  von  einem  künstlichen 
System  getragen  werden,  ist  gleichfalls  oft  und  längst  von  mir  be- 
hauptet worden.  Meinungsverschiedenheit  herrscht  wiederum  nur  über 
die  Art  und  Ausarbeitung  des  Systems.  So  ist  z.  B.  längst  beobachtet 
und  für  künstliche  Konstruktion  erklärt  worden,  daß  in  den  Genea- 
logien die  schematische  Zahl  12  herrscht,  daß  von  den  vier  Frauen 
Jakobs  die  Herrinnen  doppelt  so  viel  Söhne  und  doppelt  so  viel 
Nachkommen  als  die  Mägde  haben  (8:  4,  32:  16,  14:  7).  Schon  vor 
vierzig  Jahren  hat  Nöldeke  anschaulich  gemacht,  wie  die  in  jedem  Be- 
tracht unmöglichen  600.000  Israeliten  der  beiden  Zählungen  des  Buches 
Numeri  auf  die  zwölf  Stämme  künstlich  so  verteilt  sind,  daß  jedes- 
mal sechs  Stämme  über  und  sechs  Stämme  unter  50.000  erhalten.  Auch 
hier  ist  an  meinen  Untersuchungen  nicht  die  »Methode«  neu,  d.  b. 
das  prinzipielle  Verhältnis  zu  der  angeblichen  Geschichtlichkeit  der 
Zahlen  und  die  Annahme  irgendeines  künstlichen  Systems,  sondern 
die  Art  und  Vollständigkeit  der  Lösung.  Daher  schreibe  ich  S.  98: 
»daß  diese  Zahlen  unhistorisch  sind,  wird  selbst  die  entschlossenste 
Apologetik  nicht  leugnen  können.  Wenn  es  überhaupt  etwas  Unmög- 
liches im  Pentateuch  gibt,  so  sind  es  die  sechsmalhunderttausend 
erwachsenen  Israeliten  in  der  Steinwüste  des  Sinai,  ungerechnet  die 
Weiber  und  Kinder.  Die  Zahlen  sind  also  erdacht.  Das  System,  nach 
dem  sie  künstlich  aufgestellt  sind,  ist  aber  noch  nicht  entdeckt,  nur 
von  Nöldeke  ist  eine  glückliche  und  wichtige  Beobachtung  gemacht 
worden«. 

Aus  den  ebenangeführten  Worten  ersieht  man  auch,  daß  es  eine 
Irreführung  ist,  wenn  man  es  so  darstellt,  als  leugneten  wir  die  Ge- 
schichtlichkeit wegen  des  nachgewiesenen  Zahlensystems.  Es  ist  mir 
und  sicherlich  auch  meinen  Vorgängern  keineswegs  die  Erwägung 
fern  geblieben,  daß  sich  oft  die  überraschendsten  Zahlenverhältnisse 
auch  da  ergeben,  wo  eine  Absichtlichkeit  ausgeschlossen  ist.  Ich  selbst 
warne  vor  Übereilung,  indem  ich  S.  23  in  den  meiner  Berechnung 
vorangeschickten  »Grundsätzen«  sage:  »eine  größere  Reibe  von  Zahlen 
läßt  immer  eine  Menge  von  Kombinationen  zu«.  Das  Verhältnis  ist 
vielmehr  dies,  daß  uns  die  Nichtgeschichtiichkeit  im  allgemeinen  aus 
anderen  Erwägungen  feststand,  ja  daß  sie  die  Voraussetzung  war,  ehe 
wir  an  die  Berechnung  herangingen.  Der  Nachweis  ihrer  Künstlichkeit 


Erwiderungen.  117 

ist  nur  das  bestätigende  Siegel  und  allerdings  geeignet,  jene  Erwä- 
gungen noch  erheblich  zu  verstärken  und  die  letzten  Zweifel  zu 
beseitigen. 

Umgekehrt  wird,  wer  aus  dogmatischen  Gründen  an  der  Ge- 
schichtlichkeit unter  allen  Umständen  festzuhalten  entschlossen  ist, 
von  keinem  künstlichen  System  etwas  wissen  wollen  und  liege  es 
auch  sonnenklar  am  Tage.  Für  ihn  sind  die  aufgedeckten  Verhältnisse 
immer  »Zufall«,  wenn  auch  ein  merkwürdiger  Zufall,  er  wird  sich 
auf  andere  zufällige  Zahlenverhältnisse  berufen  u.  dgl.  mehr.  Für 
wen  Adam  tatsächlich  930,  Set  912,  Enosch  905,  Methusalem  969  Jahre 
alt  geworden  ist,  der  darf  meine  »neueste«  Methode  natürlich  eben- 
sowenig gelten  lassen  als  die  meiner  Vorgänger.  Es  bleibt  höchstens 
ein  Ausweg,  der  in  der  Tat  schon  beschritten  worden  ist,  wo  man 
sich  der  frappanten  Arithmetik  ehrlicher  Weise  nicht  entzog:  die  An- 
nahme einer  von  Gott  prästabilierten  Zahlenharmonie. 

Ebenso  wie  mit  der  Geschichte,  d.  i.  der  Chronologie  und  Ge- 
nealogie, verhält  es  sich  mit  dem  Gesetz  des  Pentateuchs.  Daß  die 
Stiftshütte  mit  ihrem  ganzen  Apparat,  so  wie  sie  irr.  Pentateucu 
beschrieben  wird,  ein  Phantasiegebilde  ist,  steht  der  Kritik  gleichfalls 
längs  u.  .  Ich  habe  nur  zuguterletzt  nachgewiesen,  wie  auch  ihre 
Konzeption  von  gewissen  Grundzahlen  beherrscht  wird.  Übrigens 
behaupte  ich  trotzdem,  daß  die  Beschreibung  kein  reines  Phantasie- 
gebilde in  dem  Sinne  Ist,  daß  der  Verfasser,  losgelöst  von  jeder 
Wirklichkeit,  sich  all  diese  Dinge  ausgedacht  hat.  Seine  Darstellung 
ist  die  konsequente  Idealisierung  und  systematische  Vereinfachung 
eines  tatsächlich  geübten  Kultus,  nicht  eine  geschichtliche  freie  Be- 
schreibung (S.  345). 

Tiefer  in  die  Exegese  greifen  die  »Abzahlungen  in  den 
Gesetzen  der  Bücher  Leviticus  und  Numeri«  ein,  die  ich  1908  in 
einer  besonderen  Arbeit  veröffentlicht  habe,  um  die  Zahl  in  den  Ge- 
setzen, deren  Untersuchung  meine  weitere  Aufgabe  wäre,  vorweg  zu 
erledigen.  Allein  auch  hierin  war  ich  nicht  ohne  Vorgänger.  Bereits 
vor  siebzig  Jahren  hat  Bertheau  in  einem  umfangreichen  Buche:  »Die 
sieben  Gruppen  mosaischer  Gesetze«  eine  zahlenmäßige  Ordnung  des 
ganzen  Gesetzesstoffes  Rachzuweisan  versucht.  Warum  er  scheitern 
mußte,  habe  ich  in  meiner  Arbeit  einleitend  angedeutet.  Will  man  es 
aber  auch  ferner  noch  reinen  Zufall  nennen,  daß,  wie  ich  aufgedeckt 
habe  z.  B.  in  Lev.  11  gerade  3X12  Tiere  genannt  sind?  daß  es  12 
mal  heißt:  »unrein  sei  es  euch«,  daß  2X12  die  Wörter  Unrein  oder 
Rein  vorkommen,  daß  die  Zahl  der  speziellen  Unreinheiten  (c.  31— 38) 
gerade  12  ist?  —  Daß  in  c.  13,  14  (der  Aussatz)  es  2X12  Fälle  sind, 
iu  denen  der  Priester  auf  Rein  oder  Unrein  entscheidet,  daß  das  Re- 


118  Erwiderungen. 

sultat  des  Verfahrens  in  2X12  Sätzen  angegeben  ist,  daß  2X12  Eade- 
aussagen  vom  Träger  des  Aussatzes  gemacht  werden,  daß  diesen 
2X12  Schlußsätzen  2X12  Satzanfänge  entsprechen,  daß  der  Priester 
in  4X12  Handlungen  funktioniert,  daß  er  70  Mal  namentlich  genannt 
ist,  daß  der  Aussatzflecken  70  Mal  namhaft  gemacht  wird,  desglei- 
chen die  Fristen  70  Tage  ergeben,  daß  12  Mal  der  zu  Sühnende 
genannt  ist?  —  Daß  c.  15  zweimal  12  und  wiederum  zweimal  12 
Fälle  der  Unreinheit  aufzählt?  —  Daß  c.  18  die  Zahl  der  verbotenen 
Verbindungen  2X12  ist,  daß  2X12  Mal  die  Blöße  genannt  ist?  — 
Daß  c.  19  4X12  (vielleicht!)  Gebote  und  Verbote  enthält?  —  Daß  in 
c.  12  immer  wieder  die  Zahl  12  auftritt?  —  Daß  in  c.  21,  22  gerade 
12  Gebrechen  des  Priesters  und  12  des  Opfertieres  gezählt  sind?  — 
—  Und  so  zahllose  Fälle,  in  denen  immer  wieder  die  Zahlen  12  und 
70  wiederkehren. 

Der  gegenwärtig  noch  mächtigen  Richtung  müssen  meine  Er- 
gebnisse natürlich  sehr  fatal  sein.  Denn  sie  untergraben  das  Funda- 
ment des  ganzen  Baues,  die  Quellenscheidung  des  Pentateuchs,  die 
angeblich  zu  den  allergesichertsten  Resultaten  der  Bibelkritik  gehört. 
Vielleicht  glaubt  man  sie  um  so  eher  beiseite  schieben,  oder  tot- 
schweigen zu  können,  als  es  sich  ja  um  einen  outsider  handelt. 
Aber  die  Tage  der  Herrschaft  dieser  Richtung  sind  gezählt. 
Eben  erst  hat  sich  wieder  ein  früherer  namhafter  Anfänger  Prof. 
Eerdmanns  in  Leiden  öffentlich  von  ihr  losgesagt,  während  die 
entwicklungsgeschichtliche  Theorie  schon  läagst  ihre  Not  hat,  ihr 
Terrain  zu  verteidigen.  Jedoch  muß  ich  anerkennen,  daß  ein  mit  dem 
Pentateuch  so  gründlich  vertrauter  Forscher  wie  Holzinger  bereits, 
wenn  auch  zögernd,  den  Anfang  gemacht  hat,  sich  mit  meinen  Er- 
gebnissen abzufinden  (Deutsche  Literaturztg.  1910,  p.  2319  f.),  Be- 
sonders aber  darf  ich  auf  die  Besprechung  Bachers  in  der  Or.  Ltztg. 
1909  p.  268  ff.  hinweisen,  der  einzigen  gründlichen  und  sachgemäßen, 
die  bisher  erschiene»  ist.  Nach  zahlreichen  Beanstandungen  von  Ein- 
zelheiten schließt  er:  ich  stehe  nicht  an,  diese  Nachweise  systema- 
tischer Zahlenverhältnisse  im  Text  der  pentateuchischen  Gesetzes- 
abschnitte als  ein  höchst  überraschendes  und  merkwürdiges  Ergebnis 
minutiöser  Beobachtung  anzuerkennen.  Der  Verfasser  darf  das  Ver- 
dienst in  Anspruch  »ehmen,  als  Erster  »die  im  Text  der  Thora  sich 
bergenden  Zahlengeheimnisse  enthüllt  zu  haben«. 

Daß  auch  die  naive  Gläubigkeit  vor  den  Resultaten  unserer 
Forschung  erschrickt,  verstehe  ich,  aber  es  ist  nicht  wohlgetan,  vor 
ihnen  gewaltsam  die  Augen  zu  verschließen.  Nach  meiner  Über- 
zeugung ist  die  Auseinandersetzung  mit  der  Bibelkritik  ohne  inner- 
lich   unwahre    apologetische    Tendenz    gegenwärtig    die    eigentliche 


Erwiderungen.  119 

Lebensfrage  für  das  Judentum.  Auch  über  mangelnde  »Ehrfurcht«  zu 
jammern,  hat  keinen  Zweck.  Die  Wissenschaft  hat  die  Wahrheit  zu 
ermitteln,  nichts  anderes.  Wem  dies  schmerzlich  ist  oder  pietätslos 
erscheint,  der  tut  freilich  besser,  davonzubleiben.  Immerhin  sei  aber 
bemerkt,  daß  die  despektirlichen  Redensarten  von  dem  »Elaborat 
eines  an  Zahlensucht  leidenden  Skribenten,  dessen  mathematische 
Kenntnisse  das  Niveau  eines  Volksschülers  nicht  überschritten  haben«, 
nicht  bei  mir  zu  finden  sind,  sondern  nur  in  dem  Referat  des  Herrn 
jampel. 

Daß  meine  und  meiner  Vorgänger  Untersuchungen  mit  den 
kabbalistischen  Zahlen-  und  Buchstabenspielereien  alter  und  neuester 
Zeit  nichts  zu  tun  haben,  brauche  ich  wohl  kaum  zu  sagen.  (Ein 
höchst  ergötzliches  Beispiel  hat  neuestens  Steuernagel  ZAW.  1910, 
p.  10  f.  geliefert).  B.  Jacob. 


Darauf  antwortet  Herr  S.  Jampel: 

Die  Überschrift :  »Neueste  exegetische  Methoden« 
wollte  nur  die  verschiedenen  Literaturerzeugnisse,  die  besprochen 
werden  sollten,  unter  einen  möglichst  passenden  Hut  bringen.  Da 
mit  Ausnahme  des  Herrn  Jacob  die  c.  anderthalb  tausend  Leser 
keinen  Anstoß  daran  genommen  haben,  so  beweist  sein  vereinzelter 
Widerspruch,  daß  im  allgemeinen  das  Richtige  getroffen  war.  Auf 
ihn  und  seine  Arbeit  bezieht  sich  übrigens  —  was  er  sorgfältig  ver- 
schweigt —  die  Sonderüberschrift :  »Die  arithmetische  Me- 
thode« und  da  er  gegen  diese  nichts  einwendet,  so  ist  sie  offenbar 
mit  der  gewählten  Bezeichnung  richtig  charakterisiert. 

Auf  seine  weiteren  Ausführungen  einzugehen,  erübrigt  sich 
umsomehr,  als  alles,  was  er  hier  sagt,  bereits  in  seinen  Büchern  steht 
under  nicht  das  mindeste  Neue  beibringt.  Über  die  Anschauungen, 
die  er  mir  im  ersten  Teil  seiner  Entgegnung  zuschreibt,  habe  ich  mich 
noch  nie  in  der  Öffentlichkeit  geäußert.  Alle  seine  Geschosse  fliegen 
demnach  einfach  über  mein  armes  Haupt  hinweg.  Was  aber  ich  über 
seine  Darlegungen  kritisch  gesagt  habe,  kann  ich  Stück  für  Stück  be- 
weisen. Ich  habe  u.  a.  gesagt,  daß  die  »von  ihm  nachgewiesenen 
Zahlen  nicht  immer  ohne  weiteres  stimmen«.  Man  liest  z.  B.  bei  ihm 
Pentateuch,  S.  17 :  »*|ffl  mit  folgender  Jahreszahl«  findet  sich  nur 
an  vier  Bibelstellen.  Es  steht  aber  an  fünfen,  vgl.  II,  Kö.  14,  17.  Mit 
i  Bruchteilen  von  Jahren  zu  rechnen«,  meint  er  S.  18,  »kann  nicht  die 
Absicht  [der  Bibel]  sein«.  Vgl.  aber  Ri.  19,  2.  20,  47.  I.  Sa.  27,  7. 
IL  Sa.  2,  11.  5,  5.  6,  11.  24,  8.  I.  Kö.  11,  16.  IL  Kö.  15,  8. 
23,  31.  24,  8.  I.  Chr.  3,  4.  13,  14.  21,  12.    IL  Chr.  36,  2.  9.     Rechnet 


120  Erwiderungen. 

also  die  Bibel  wirklich  nicht  mit  Bruchteilen  von  Jahren?  S.  40  f 
wird  uns  gesagt,  daß  der  Aufenthalt  der  Israeliten  in  Ägypten  215 
Jahre  gedauert  habe  und  S.  42  wird  bewiesen,  daß  er  216  Jahre 
gedauert  haben  müsse.  So  könnte  ich  fast  Seite  für  Seite  seines 
Buches  durchsehen,  wenn  die  Redaktion  es  mir  im  Rahmen  dieser 
Erwiderung  gestattete. 

Nur  noch  Zweierlei.  Erstens :  die  Ehre  der  Vaterschaft  an  dem 
»an  Zahlensucht  leidenden  Skribenten,  dessen  mathematische  Kennt- 
nisse das  Niveau  eines  Volksschülers  nicht  überragen,«  muß  ich  ent- 
schieden ablehnen.  Es  ist  gar  nicht  meine  Art,  so  zu  schreiben.  Die 
Wendung  ist  vielmehr,  wie  ich  genau  weiß,  eine  Lesefrucht  aus  den 
Büchern  des  Herrn  Jacob.  Zwar  kann  ich  das  Zitat  im  Augenblick  nach 
Seite  und  Zeile  nicht  nachweisen.  Wenn  ich  aber  wieder  einmal  Ge- 
legenheit habe,  zu  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  zu  reden,  will  ich  das 
Versäumte  nachholen.  Ferner:  dem  Versuch,  mich  mit  Autoritäten  tot 
zu  schlagen,  muß  ich  entgegen  treten.  Autoritäten  gelten  mir  so  gut 
wie  nichts.  Nur  zwei  Instanzen  erkenne  ich  rückhaltslos  an :  die  Ur- 
kunden, die  mir  vorliegen,  und  den  gesunden  Menschenverstand,  mit 
dem  sie  zu  prüfen  und  zu  beurteilen  sind.  Wenn  es  Herrn  Jacob 
eine  Qenugtuung  bereitet,  daß  der  und  jener  große  Mann  vor  und 
mit  ihm  denselben  Irrweg  eingeschlagen  hat,  so  gönne  ich  ihm 
gern  diesen  mildernden  Umstand,  den  er  für  sich  geltend  macht. 

Einig  sind  wir  in  dem  Bestreben,  unbefangen  die  Wahrheit  zu 
ermitteln.  Aber  seinen  Weg  mache  ich  nicht  mit.  »Zahlen  haben 
etwas  Dämonisches«  sagt  er  a.  a.  O.  S.  23.  Dämonischem  nachzugehen, 
ist  nicht  meine  Passion,  und  ich  glaube,  daß  die  Gelehrten  mir  Recht 
geben  werden.  S.  Jampel. 


■k 


I. 


Achter  Jahresbericht  der  Gesellschaft  zur  Förderang 
Wissenschaft  des  Judentums. 


der 


Auf  das  abgelaufene  Geschäftsjahr  1909/10  darf  die  Gesellschaft 
mitrgleicher  Befriedigung  wie  auf  die  Vorjahre  zurückblicken.  Sie 
ist  in; demselben  den  in  den  Vorjahren  erfolgreich  beschrittenen  Weg 
weitergegangen. 

In  der  Generalversammlung  der  Gesellschaft  am  29.  Dezember 
1909  wurde  der  bisherige  Ausschuß,  in  der  konstituierenden  Sitzung 
des  Ausschusses  der  bisherige  Vorstand,  i*  den  außerdem  anstelle 
des  verstorbenen  Herrn  Dr.  Gustav  Karpeles  Herr  Rabbiner  Dr.  Bloch- 
Posen  als  Schriftführer  eintrat,  wiedergewählt. 

An  neuen  Mitgliedern  haben  wir  im  Berichtsjahre  abermals 
über  100  gewonnen.  Da  wir  aber  gerade  in  diesem  Jahre  mehr  als 
sonst  Mitglieder  durch  den  Tod  verloren  haben,  so  ist  im  Endresultat 
die  Anzahl  unserer  Mitglieder  nur  von  1209  auf  1278  gestiegen; 
außerdem  stieg  die  Zahl  der  immerwährenden  Mitglieder  von  31 
auf  33.  Ihre  Verteilung  auf  die  einzelnen  Länder  veranschaulicht 
folgende  Tabelle: 


Ortschaften 

Immerw.  j    Zahl. 
Mitglieder 

Deutschland  .... 

227 

25 

962 

Österreich-Ungarn     . 

71 

3 

199 

Vereinigte  Staaten  v. 

Nordamerika     und 

Canada 

18 

— 

33 

Rußland    .    . 

5 

— 

13 

Niederlande 

5 

7 

Schweiz    . 

. 

4 

13 

Italien  .    .    . 

. 

4 

— 

4 

Schweden 

3 

— 

3 

England    . 

2 

— 

24 

Belgien     . 

2 

3 

1 

Dänemark 

1 

— 

7 

Frankreich 

1 

1 

5 

122 


Protokolle. 


Ortschaften     lmm,"rw-     Zahl 
Mitglieder 


Rumänien. 
Transvaal . 
Bulgarien  . 
Luxemburg 
Türkei  .  . 
Indien  .    . 


1 

1 

1 

1 

— 

2 

1 

— 

1 

.      . 

1 

— 

1 

1 

— 

1 

1 

— 

1 

33 


1278 


Unsere  Einnahmen  betrugen  43,912*23  M  gegenüber  Ausgaben 
in  Höhe  von  32,47380  M.  Die  Einnahmen  aus  den  jährlichen  Mit- 
gliederbeiträgen weisen  infolge  der  dankenswerten  Beitragserhöhung 
verschiedener  Oemeinden  und  Körperschaften  und  entsprechend  dem 
Zuwachs  an  Mitgliedern  einen  Mehrbetrag  von  170845  M  gegenüber 
dem  Vorjahre  auf.  Ferner  haben  wir  besondere  Zuwendungen  in 
Höhe  von  14,000  M  für  das  Corpus  Tannaiticum  zu  verzeichnen, 
welche  wir  dem  von  dem  unterzeichneten  erstem  Vorsitzenden  ge- 
weckten Interesse  der  Frau  Marie  Errera-Brüssel  und  der  Herren 
Baron  Edmund  von  Rothschild-Paris  und  Generalkonsul  Franz  Phi- 
lippson-Brüssel  verdanken.  Aus  diesen  14,000  M  sind  bereits  in  diesem 
Jahre  die  Ausgaben  für  das  Corpus  Tannaiticum  gedeckt  worden, 
während  aus  dem  Restbetrag  von  9769*73  M  ein  besonderer  Fonds 
für  dieses  Unternehmen  gebildet  wird.  Infolge  dieser  Entlastung 
unserer  Kasse  schließen  wir  nur  mit  einem  Fehlbetrag  von  150140  M 
gegenüber  1668-70  M  im  Vorjahre  ab,  obwohl  die  Ausgaben  für  die 
Herausgabe  unserer  Werke  gerade  im  Berichtsjahre  eine  nicht  unbe- 
trächtliche Höhe  erreicht  haben. 

Wie  in  den  Vorjahren  erhielten  unsere  Mitglieder  auch  in 
diesem  Jahre  die  »Monatsschrift  für  Geschichte  und 
Wissenschaft  des  Judentums«  und  das  »Jahrbuch  für 
jüdische  Geschichte  und  Literatur«,  Jahrgang  1910, 
sowie  auf  Wunsch  den  II.  Band  der  Gesammelten  Schriften 
von  D.  Kaufmann,  herausg.  von  M.  Brann  und  die  Mittei- 
lungen des  Gesamtarchivs  der  deutschen  Juden, 
herausg.  von  E.  T  ä  u  b  1  e  r.  Ferner  haben  wir  wie  früher  unsern 
Mitgliedern  den  Bezug  einer  größeren  Anzahl  von  Büchern  und  Zeit- 
schriften zu  ermäßigten  Preisen  vermittelt. 

Ausser  der  Monatsschrift  1910  gab  die  Gesellschaft  heraus: 

1.  S.  Krauß,  Talmudische  Archäologie,  Bd.  I  (Bd.  6 
des  Grundrisses  der  Gesamtwissenschaft  des 
Judentums). 


Protokolle.  123 

2.  H.  Stcinthal,  Über  Jnden  und  Judentum,  hrsg. 
von  O.  Karpeles,   2.  Aufl.   hrsg.  von   N.  M.  Nathan. 

3.  J.  Rösel,  Die  Reichssteuern  der  deutschen 
J  ude  n  g  em  e  i  nd  e  n  von  ihren  Anfängen  bis 
zur   Mitte   des    XIV.  Jahrhunderts. 

Mit  Subvention  der  Gesellschaft  sind  erschienen: 
Abraham   benlsaak,  Sefer   ha-Eschkol,  hrsg.  von 

Seh.  A 1  b  e  c  k,  Lieferung  1. 
A.Ackermann,  Münzmeister  Lippold. 
E.  Ben  Jehuda,  Thesaurus   des  gesamten  hebrä- 
ischen Sprachschatzes,   Bd.  II,  Lieferung  1  — 10. 
M.  Quttmann,   Talmudische  Realenzyklopädie, 

Heft  7. 
R.  Jona  Gerund i,    Kommentar  zu  den  Sprüchen, 

hrsg.  von  A.  Löwenthal. 
Menachen    ben    Salomo    Meiri,    Magen    Aboth, 

24  talmudische  Abhandlungen,  hrsg.  von  L.  Last. 
In  den  ersten  Monaten  des  nächsten  Jahres  werden  der  zweite 
Band  der  Talmudischen  Archäologie  von  S.  Krauß,  ferner 
die  von  der  Gesellschaft  mit  reichen  Mitteln  subventionierte  arabische 
Ausgabe  der  Herzenspflichten  von  Bachja  von  A.  Yahuda 
erscheinen;  sodann  wird  auch  der  dritte  Band  der  Neuesten  Ge- 
schichte des  jüdischen  Volkes  von  M.  Philippson 
im  Laufe  des  nächsten  Jahres  dem  Druck  übergeben  werden  können. 
Von  dem  ersten  Bande  des  letztgenannten  Werkes  ist  eine  von  J. 
Schermann-Odessa  veranstaltete,  mit  einem  Vorwort  des  Ver- 
fassers versehene,  russische  Ausgabe  erschienen;  der  zweite  Band 
befindet  sich  unter  der  Presse. 

Die  »Monatsschrift  für  Geschichte  und  Wissen- 
schaft des  Judentums«  hat  den  verschiedenen  Gebieten  un- 
serer Wissenschaft  eine  möglichst  gleichmäßige  Pflege  zuteil  werden 
lassen.  Die  Aufsätze  behandeln  Gegenstände  aus  dem  Bereiche  der 
Bibelwissenschaft,  der  Traditionsliteratur,  der  Geschichte  und  Litera- 
turgeschichte. Auch  den  hebräischen  Sprachstudien  und  der  Ent- 
wicklung der  exegetischen  und  religionsphilosophischen  Literatur 
sind  einige  Beiträge  gewidmet.  Wenn  dabei  größtenteils  die  Ge- 
schichte des  Mittelalters  und  der  Neuzeit  berücksichtigt  worden  ist, 
so  liegt  das  an  der  bereits  mehrfach  hervorgehobenen  Tatsache,  daß 
noch  immer  die  Arbeitsfreudigkeit  der  jüdischen  Gelehrten  sich 
diesem  weit  ausgedehnten  Felde  gern  zuwendet.  Die  Rundschau  über 
einzelne  Sondergebiete  ist  in  diesem  Jahre  fortgesetzt  worden. 

Daneben  wurden,    wie  es  seit   einigen  Jahren  üblich  ist,    Auf- 


124  Protokolle. 

sätze  veröffentlicht,  welche  geeignet  sind,  das  Interesse  weilerer  ge- 
bildeter Kreise  unserer  Gemeinschaft  zu  erwecken.  Wenn  die  mate- 
riellen Mittel  der  Gesellschaft  es  ermöglichten,  den  Umfang  unserer 
Zeitschrift  zu  erweitern,  so  würde  nach  dieser  Richtung  hin  noch 
mehr  geboten  werden  können;  denn  das  Angebot  geeigneter  Ab- 
handlungen ist  fortdauernd  in  diesem  Bereich  fast  ebenso  groß,  wie 
auf  dem  Gebiete  der  strengen  Wissenschaft.  Die  wichtigsten  neu 
erschienenen  Bücher  sind  nach  Gebühr  gründlich  und  unparteiisch 
besprochen  worden.  Die  bibliographische  Übersicht  über  die  litera- 
rische Produktion  des  vorigen  Jahres  ist  in  der  bisherigen  Weise 
fortgesetzt  worden. 

Die  Kommission  für  die  Germania  j  u  d  a  i  c  a  hat  ihre  Vor- 
arbeiten für  Band  I  beendigt  und  acht  Probeartikel  der  Öffentlichkeit 
vorgelegt.  Zahlreiche  Gelehrte  haben  sich  datüber  geäußert  und  waren, 
abgesehen  von  unwesentlichen  Ausstellungen,  mit  Form,  Umfang  und 
Inhalt  durchaus  einverstanden. 

Inzwischen    haben    die    Herren    Mitarbeiter   die    Fertigstellung 
ihrer  Beiträge  derartig  gefördert,    daß  im  Laufe  des  Jahres  1911    mit 
dem  Druck  des  ersten  Bandes  wird   begonnen  werden  können.    Zu- 
gleich  ist   mit    der  Anlegung   der  Orts-  und  Personen-Verzeichnisse 
ür  Band  II  der  Anfang  gemacht  worden1). 

Die  Arbeiten  an  dem  Corpus  Tannalticum  schreiten 
fort.  Die  Sammlung  der  agadischen  Baraithas  ist  fast  zum  Abschluß 
gelangt.  Mit  der  Drucklegung  dieser  Sammlung  wird  demnächst  be- 
gonnen werden  können.  Auch  die  Bearbeitung  der  Toseftaausgabe 
nimmt  einen  guten  Fortgang.  Von  der  geplanten  Mischnaaus- 
gabe  mit  sich  anschließender  Baraitha-Sammlung  ist  ein  Probebogen 
an  hervorragende  Fachgelehrte  des  In-  und  Auslandes  versandt 
worden.  Es  sind  bereits  zahlreiche  Gutachten  eingegangen,  die  zum 
Teil  sehr  schätzenswertes  Material  enthalten,  das  bei  der  endgiltigen 
Gestaltung  dieses  bedeutsamen  Werkes  gebührende  Berücksichtigung 
finden  wird.  Der  verehrten  Herren,  die  unserer  Bitte,  uns  bei  diesem 
Unternehmen  mit  ihrem  Rate  beizustehen,  so  bereitwillig  nachge- 
kommen, sei  hiermit  der  verbindlichste  Dank  ausgesprochen.1) 

Der  Ausschuß  bewilligte  in  seinen  Sitzungen  vom  29.  Dezember 

i)  Wir  lassen  hier  die  Namen  der  an  den  Arbeiten  für  die  «Germania  judalca« 
beteiligten  Herren  folgen;  es  sind  dies  die  Herren  Dir.  B  rann-Breslau,  Freimann 
Frankfurt  a.  M.,  Frei  ma  n  n- Holleschau,  Gins  barger-  Sulz  l.  E.,  Kober-Wies- 
baden,  Lewinsky- Hildesheim,  Löwenst ein-Mosbach.  Salf eld- Mainz,  Tyko- 
cin  sky- Berlin. 

»)  An  den  Arbeiten  für  das  >Corpus  Tannaiticum«  sind  beteiligt  die  Herren 
Drr.  Baneth -Berlin,  Berdyczewski-Breslau,  Horo vitz-Breslau,  Judele  witsch- 
Berlin,  Nagelberg-Triesch,  Rosenberg-Ancona. 


Protokolle.  125 

1909  und  30.  Juni  1910  Subventionen:  1.  Herrn  AI  b  e  ck- Warschau 
für  seine  Edition  des  H  a  e  s  c  h  k  o  1.  2.  Herrn  Ben  Jehud  a-Jeru- 
salem  für  die  Fortsetzung  seines  Thesaurus  der  hebräisch  ea 
Sprache.  3.  Herrn  B  ri  sk-Jerusalem  für  seine  Edition  von  Grab- 
inschriften in  Jerusalem.  4.  Herrn  J  a  w  i  t  z-Berlin  für  die 
Fortsetzung  seiner  Geschichte  Israels.  5.  Herrn  Last- 
Ramsgate  für  Meiris  Magen  Aboth.  6.  Herrn  Rabk 
Dr.  T  h  e  o  d  o  r-Bojanowo  für  die  Fortsetzung  seiner  Ausgabe  des 
öreschit  rabba.  7.  Herrn  Dr.  T  h  o  m  s  e  n-Dresden  für  den 
zweiten  Band  seiner  Bibliographie  der  Palästinaliteratur. 
8.  Herrn  Privatdozent  Dr.  Falk-Genf  für  seine  Ausgabe  der  Bücher 
Samuelis  in  deutschen  N  i  b  el  u  n  ge  n  s  t  r  o  p  h  e  n  des 
15.  Jahrhunderts.  9.  Herrn  F  r  i  e  d  b  e  r  g- Frankfurt  a.  M. 
für  seine  Bibliographie  der  hebräischen  Literatur. 

10.  Herrn  L  a  m  m-Berlin  für  das  Michaeli  s'sche  Werk  über 
die    Rechtsverhältnisse    der  Juden    in  Preußen. 

1 1.  Herrn  Dr.  L  ö  w  e  n  t  h  a  1-Hamburg  für  den  Kommentar 
des  JonaGerundi  zudenSpüchen.  12.  Dem  Gesamt- 
archiv  derdeutschenjudenfür  seine  Mitteilungen. 
13.  Dem  Verband  für  Statistik  der  Juden.  14.  Dem 
Verein    Mekize    Nirdamim    für   ihre   Veröffentlichunge 

1 5.  Dem  Zentralverein  deutscher  Staatsbürger 
jüdischen  Glaubens  für  die  Festschrift  zur  Säku- 
larfeier   der    preußischen  Judenemanzipation. 

Aus  Anlaß  der  100.  Wiederkehr  des  Geburtstages  des  Rabbiners 
Dr.  Ludwig  P  h  i  1  i  p  p  s  o  n  am  28.  Dezember  1911  veranstalten 
dessen  Söhne  eine  Ausgabe  ausgewählter  Aufsätze  ihres  Vaters.  Wir 
sind  schon  jetzt  in  der  Lage,  unsern  Mitgliedern  mitteilen  zu  können, 
daß  ihnen  dieses  Werk  Ende  1911  kostenlos  zugehen  wird. 

Für  das  neue  Geschäftsjahr  stellen  wir  insern  Mitgliedern 
dieselben  Werke,  die  wir  im  letzten  Jahresbericht,  S.  3,  vgl.  Monats- 
schrift 1910,  S.  123,  angezeigt  haben,  zu  ermäßigten  Preisen  zur  Ver- 
fügung. Auch  weisen  wir  hin  auf  das  von  A.  Hyman-London,  E,  3a 
Tenter  St.  North,  Goodmansfields  mit  Unterstützung  englischer  Ge- 
sellschaften herausgegebene  Werk  Toledot  Tannaim  we-Amoraim, 
welches  Werk  vom  Verfasser  zum  Preise  von  12,25  M.  zu  beziehen  ist. 

Die  Einziehung  der  Jahresbeiträge  erfolgt  in  den  in  der  Mit- 
gliederliste mit  einem  *  versehenen  Orten  durch  die  dort  an  erster 
Stelle  genannten  Vertrauensleute ;  von  denjenigen  Einzelmitgliedern, 
die  ihren  Beitrag  bis  zum  28.  Februar  1911  nicht  an  unseren  Schatz- 
meister, Herrn  Paul  Veit  Simon,  Berlin  W.  56,  Hinter  der  katholischen 
Kirche  1,  Postscheckkonto  Berlin  7030,  abgeführt  haben,  werden  wir 


126  Protokolle. 

diesen  nach  vorheriger  Mitteilung  durch  die  Post  einziehen.  Wir 
bitten  unsere  verehrten  Mitglieder  dringend,  uns  in  der  Einziehung 
der  Beiträge  freundlichst  unterstützen  zu  wollen,  da  nur  der  Eingang 
der  Beiträge  den  Bestand  und  die  Arbeit  der  Gesellschaft  zu  gewähr- 
leisten vermag.  Ebenso  bitten  wir  wiederholt  um  sofortige  Mitteilung 
von  Wohnungsänderungen  an  unsern  stellvertretenden  Schriftführer 
Herrn  Dr.  N.  M.  Nathan,  Berlin  N.  24,  Artilleriestr.  9,  an  den  auch 
Beitrittserklärungen  zu  richten  sind. 

Zum  Schlüsse  danken  wir  unseren  Mitgliedern  und  Vertrauens- 
leuten, die  wie  in  den  früheren  so  auch  in  dem  abgelaufenen  Geschäfts- 
jahre unserer  Gesellschaft  ihr  Interesse  bekundet  und  ihr  neue  Mit- 
glieder zugeführt  haben.  Möge  es  auch  in  dem  neuen  Geschäftsjahre 
so  bleiben,  zum  Besten  unserer  Arbeit  und  zum  Wohle  unserer 
Glaubensgemeinschaft. 

Berlin,  im  Dezember  1910. 

Philippson.  Guttmann.  Bloch. 

II. 

Protokoll    über   die    Sitzung    des    Ausschusses   der   Gesellschaft   zur 

Förderung  der  Wissenschaft  des  Judentums 

am  Diensiag,  den  27.  Dezember  1910,  im  Büro  des  D.  J.  G.  B.,  Berlin 
W.,  Steglitzerstraße  85  I.,  vormittags  10  Uhr. 

Anwesend  die  Herren:  Baneth,  Bloch,  Brann,  Cohen,  El- 
bogen,  Guttmann,  Lucas,  Maybaum,  Philippson,  Porges,  P.  V.  Simon, 
Simonsen,  Weiße  und  Nathan  als  stellvertretender  Schriftführer. 

Entschuldigt  die  Herren:  Adler,  Blau,  Cohn,  Schwarz, 
Steckelmacher,  Vogelstein,  Werner. 

Der  Vorsitzende  Philippson  eröffnet  die  Sitzung  um  lO1/*  Uhr 
und  verweist  auf  den  gedruckt  vorliegenden  Jahresbericht.  Im  An- 
schluß daran  werden  die  Anträge  Guttmann,  die  Druckkosten 
einer  populären  Biographie  Philippsons,  die  aus  Anlaß  seines  hun- 
dertsten Geburtstages  am  28.  Dezember  1911  erscheinen  wird,  zu 
übernehmen,  und  Cohen,  die  Winterausschußsitzung  und  die  Gene- 
ralversammlung der  Gesellschaft  1911  am  23.  Dezember  dieses 
Jahres  abzuhalten  und  den  Vortrag  der  G.-V.  Ludwig  Philippson  zu 
widmen,  angenommen. 

In  Sachen  des  C.  T.  erstattet  Guttmann  über  den  Stand  der 
Mischnaharbeiten  und  über  die  zum  Probebogen  der  Mischnah- 
ausgabe eingegangenen  Urteileinsbesondere  Baneth  Bericht.  Es 
wird  beschlossen: 


Protokolle.  127 

1.  der  Mischnahausgabe  nur  eine  Rezension  zugrunde  zulegen,  mit 
der  Einschränkung,  daß  an  denjenigen  Stellen,  an  denen  die  bei- 
den Mischnahtexte  sehr  wesentlich  differieren,  ausnahmsweise  beide 
Texte  nebeneinander  gestellt  werden, 

2.  einen  neuen  Probebogen  für  die  Mischnahausgabe  herauszugeben, 

3.  die  Tosefta  in  einzelnen  Heften  zu  publizieren  und  zwar  unab- 
hängig vom  Erscheinen  der  Mischnah, 

3.  die  Mehrkosten  der  Bücheranschaffungen  für  die  Bearbeitung  der 
Tosefta  nachträglich  zu  bewilligen. 

Beim  Berichte  Branns  über  die  G.  J.  werden  Herrn  Dr. 
Tykocinsky  seine  jährliche  Remuneration  erhöht  und  Herrn  Dr.  Löwen- 
stein-Mosbach  eine  Reisesubvention  für  das  von  ihm  beabsichtigte 
Corpus  approbationum  bewilligt.  Zur  Vorbereitung  des  II.  Bandes 
der  G.  J.  wird  eine  aus  den  Herren  Brann,  Freimann,  Geiger,  Lucas, 
Porges  bestehende  Kommission  eingesetzt,  welche  mit  dem  Vorstand 
des  Gesamtarchivs  der  deutschen  Juden  bebufs  gemeinsamer  Ausar- 
beitung eines  Urkundenkatalogs  für  die  Geschichte  der  d.  J.  in  Ver- 
bindung treten  soll. 

Zum  Maimonideswerk  berichtet  Guttmann,  daß  der  II.  Band 
in  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  1911  druckfertig  vorliegen  wird. 

Der  Ausschuß  votiert  den  Herren  Baneth,  Brann,  Frei- 
mann, Guttmann  den  herzlichsten  Dank  für  ihre  Arbeiten. 

Subventionen  werden  bewilligt  den  Herren:  Alb ek- Warschau 
für  seine  Eschkolausgabe,  Bamberger-Wandsbeck  ein  einmaliger 
Betrag  für  seine  Grabsteinforschungen  auf  Fehmarn,  Klein-Dolmjar 
für  seine  Studienreisen  nach  Palästina,  Theodor-Bojanowo  für  seine 
Ausgabe  des  Bereschit  Rabba,  H  eppner-Koschmin  für  seine  Arbeit 
über  die  Juden  und  die  jüdischen  Gemeinden  in  der  Pr.  Posen. 

Die  übrigen  Gesuche  werden  abgelehnt. 

Der  Vorsitzende  lädt  die  Anwesenden  zur  Eröffnungsfeier  des 
Gesamtarchivs  d.  d.  J.  ein. 

Die  Anwesenden  erheben  sich  zu  Ehren  des  verstorbenen,  um 
die  jüdische  Allgemeinheit  verdienten  Dr.  Hirsch  Hildesheimer  von 
ihren  Sitzen. 

Schluß  1»/,  Uhr. 

Philippson.  Nathan. 


128  Protokolle. 


III. 


Protokoll  über  die  Generalversammlung  der  Gesellschaft  zur  Fördering 
der  Wissenschaft  des  Judentums 

am  Dienstag,  den  27.  Dezember  1910,  abends  8  Uhr  in  der  Aula  der 
Knabenschule  der  jüdischen  Gemeinde,  Berlin  N,GroßeHamburgerstr.  27. 

Der  Vorsitzende  eröffnet  die  Generalversammlung  und  konsta- 
tiert, daß  sie  satzungsgemäß  einberufen  worden  ist. 

Nach  Erstattung  des  Jahres-  und  Kassenberichtes  wird  dem 
Ausschuß  und  dem  Schatzmeister  die  Entlastung  erteilt.  Der  bisherige 
Ausschuß,  desgleichen  die  bisherigen  Revisoren  werden  durch  Zuruf 
wieder  gewählt. 

Darauf  hält  Herr  Doz.  Dr.  Horovitz-Breslau  seinen  Vortrag 
über  die  Stellung  des  Aristoteles  bei  den  Juden  des  Mittelalters,  der 
von  der  zahlreich  anwesenden  Hörerschaft  mit  Aufmerksamkeit  und 
andauerndem  Beifall  entgegengenommen  wird.  Mit  lebhaften  Dankes- 
worten an  den  Vortragenden  schließt  der  Vorsitzende  die  General- 
versammlung. 

Schluß  9«/4  Uhr. 

Philippson.  Nathan. 

IV. 

Protokoll   über  die  Sitzung  des  Aasschusses  der  Gesellschaft  zur  För- 
derung der  Wissenschaft  des  Judeitums 

am  Dienstag,  den  27.  Dezember  1910,  abends  9V4  Uhr,  in  der  Aula  der 
Knabenschule  der  jüdischen  Gemeinde,  Berlin  N,  GroßeHamburgerstr.  27. 

Der  neugewählte  Ausschuß  konstitutiert  sich  und  wählt  durch 
Zuruf  den  bisherigen  Vorstand  wieder. 

Die  Fachkommissionen  werden  bestätigt. 

Schluß  97«  Uhr. 

Philippson.  Nathan. 


* 


Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  ist  untersagt. 

Für  die  Redaktion  verantwortlich :    Dr.  M.  BRAN'N  in  Breslau. 

Druck  von  Adolf  Alkalay  &  Sohn  in  Preßburg. 


Kürzen  and  Längen  in  der  Bibel. 

Von  M.  Güdemann. 

»Der  Hauptreiz  jeder  Rede  ist  die  Kürze, 
Dient  auch  der  schlechtesten  zur  Würze, 
Doch  selbst  die  beste,  wenn  zu  lang, 
Macht  ihrem  Hörer  angst  und  bang.«- 

Diese  Verse  entstammen  nicht  der  Feder  eines  Dichters 
was  man  ihnen  auch  wohl  ansieht.  Wenn  ich  sie  dennoch 
an  die  Spitze  meiner  Untersuchung  stelle,  so  geschieht  es 
deshalb,  weil  ich  selbst  sie  gemacht,  oder,  wenn  man  will, 
verbrochen  habe.  Dies  kam  so.  Seit  einem  halben  Jahr- 
hundert habe  ich  berufsmäßig  öffentlich  zu  reden,  genauer 
gesagt,  zu  predigen.  Die  Erfahrungen,  die  ich  während 
dieses  langen  Zeitraumes  zu  sammeln  Gelegenheit  hatte, 
haben  in  mir  die  Erkenntnis  gezeitigt,  daß  die  meisten 
Menschen  ihr  Urteil  über  eine  Rede  hauptsächlich  nach 
deren  Kürze  oder  Länge  bestimmen.  Wie  oft  hört  man  von 
einer  Rede  sagen  :  »Sie  war  gut,  aber  zu  lang!«  Hier  wird 
das  anfängliche  Lob  durch  den  nachfolgenden  Tadel  in 
Schatten  gestellt.  Da  ist  vielleicht  das  andere  Urteil  vor- 
zuziehen, das  von  einer  Rede  besagt :  »Sie  war  zwar 
nicht  gut,  aber  kurz.«  Hier  klingt  der  anfängliche  Ta- 
del in  ein  Lob  aus,  das  ihm  seine  Schärfe  raubt.  So 
viel  hängt  bei  Beurteilung  einer  Rede  von  ihrer  Kürze  oder 
Länge  ab.  Dieser  durch  lange  Erfahrung  gereiften  Erkennt- 
nis habe  ich  gelegentlich  in  den  angeführten  Versen  Aus- 
druck gegeben.  Sie  sind  der  Niederschlag  wieder  und  wie- 
der gemachter  Wahrnehmungen.  Auf  einen  höheren  Wert 
machen  sie  keinen  Anspruch. 

Auch    die    rhetorische  Entwicklung    vollzieht   sich  an 

Q 

Monatsschrift    55.  Jahrgang. 


130  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

der  Hand  dieser  Erfahrung.  Der  angehende  Redner  weiß 
zuerst  keinen  Anfang  und  nachher  kein  Ende  zu  finden. 
Zuerst  ist  er  gleich  fertig  mit  seiner  Rede,  dann  gerät  sie 
zu  kurz,  später  kann  er  nicht  fertig  werden,  dann  wird  sie 
zu  lang.  Erst  fortgesetzte  Übung  ergibt  das  richtige  Längen- 
maß. Stimmen  dann  Form  und  Inhalt  überein,  dann  lautet 
das  Urteil :  kurz  und  gut.  Das  ist  das  beste,  was  man  von 
einer  Rede  sagen  kann,  aber  es  ist  bemerkenswert,  daß 
dieses  höchste  Lob  einer  Rede  von  ihr  rühmt,  daß  sie 
kurz  ist,  noch  bevor  sie  hervorhebt,  daß  sie  gut  ist.  Es 
kommt  also  immer  wieder  auf  die  Kürze  an. 

Aber  nicht  bloß  der  Redner,  sondern  auch  der  Schrift- 
steller hat  sich  an  dieses  Urteil  zu  halten.  Der  Leser  will 
ebensowenig  wie  der  Hörer  gelangweilt  sein,  sondern  will 
Kurzweil  haben.  Diese  Ausdrücke  entsprechen  den  Empfin- 
dungen, die  durch  die  Länge  oder  Kürze  der  Darstellung 
hervorgerufen  werden,  woraus  folgt,  daß  der  Autor  die 
Länge  vermeiden  und  der  Kürze  sich  befleißigen  muß. 
Letztere  ist  unter  allen  Umständen  von  Vorteil.  Ist  die 
Darstellung  gut,  so  steigert  die  Kürze  den  Erfolg,  den  die 
Länge  nur  abschwächen  kann.  Ist  sie  aber  nicht  gut  und 
dabei  lang,  so  setzt  sich  der  Autor  dem  zweifachen  Tadel 
aus,  daß  man  ihm  »der  langen  Rede  kurzen  Sinn«  zum 
Vorwurf  macht. 

Länge  und  Kürze  sind  jedoch  relative  Begriffe.  Lang 
ist,  was  langweilt,  und  kurz,  was  Kurzweil  schafft.  Deshalb 
kann  die  Länge  kurz  und  die  Kürze  lang  erscheinen.  Länge 
und  Kürze  sind  demnach  künstlerische  Kriterien  von  der 
größten  Bedeutung,  denn  nur  ein  Künstler  weiß  mit  beiden 
umzugehen  und  sie  je  an  ihrem  Orte  wirksam  zu  ver- 
wenden. Dies  ist  einer  von  den  Vorzügen  des  an  Vorzügen 
so  reichen  biblischen  Stils.  Insbesondre  erteilt  die  Tora 
hierüber  eine  so  eingehende  und  umfassende  Belehrung, 
wie  man  sie  schwerlich  aus  irgend  einem  anderen  klassischen 
Buche  schöpfen  kann.  Unsere  alten    Lehrer   haben  bereits 


Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel.  131 

die  auf  der  gründlichsten  Kenntnis  der  biblischen  Diktion 
beruhende  Behauptung  ausgesprochen  :  »Die  Worte  der 
Tora  sind  stellenweise  dürftig  und  stellenweise  reichlich« 
(Jer.  Rosch  ha-Sch.  III,  5),  was  soviel  sagen  will  wie  :  die 
Tora  weist  bald  Kürzen,  bald  Längen  auf;  natürlich  beab- 
sichtigte, einen  künstlerischen  Zweck  verfolgende.  Eine 
zusammenfassende  Prüfung  wird  diese  Voraussetzung 
bestätigen  und  einen  Beitrag  zur  Würdigung  der  großen 
Kunst  des  biblischen  Stils,  insbesondere  der  biblischen 
Erzählungskunst,  ergeben.  Aber  das  ist  keineswegs  das 
einzige  Ergebnis.  Ist  man  erst  einmal  auf  das  Geheimnis 
der  Anwendung  von  Kürzen  und  Längen  gekommen,  so 
wird  man  erkennen,  daß  ihre  Bedeutung  weit  über  das 
ästhetische  Gebiet  hinausgeht,  daß  sie  vielmehr  auch  in 
exegetischer  und  selbst  bibelkritischer  Hinsicht  aufschluß- 
reicher sind,  als  viele  andere  Hilfsmittel,  die  das  gewöhn- 
liche kritische  Rüstzeug  ausmachen.  Dies  soll  in  der  nach- 
stehenden Untersuchung,  in  der  zuerst  die  Kürzen,  sodann 
die  Längen  in  einer,  wenn  auch  auf  Vollständigkeit  keinen 
Anspruch  machenden  Sammlung  vereinigt  sind,  nachgewiesen 
werden. 

I. 
Von  prägnantester  Kürze  ist  gleich  der  Zuruf  Gottes 
an  Adam:  *Wo  bist  du?«  (I.  B.  M.  3,  9),  womit  die  lange 
Verlegenheitsantwort  Adams :  »Deine  Stimme  hörte  ich  im 
Garten  und  fürchtete  mich,  weil  ich  nackt  bin,  und  ver- 
steckte mich*  (das.  das.  10)  in  charakteristischem  Kontrast 
steht.  —  Die  Antwort,  die  Rebekka  auf  die  Frage  der 
Ihrigen  :  »Willst  du  mit  diesem  Manne  gehn  ?«  (I.  B.  M. 
24,  58)  erteilt:  »Ich  will  gehn«  (wofür  im  Hebräischen  nur 
ein  Wort  steht)  ist  ebenfalls  durch  ihre  die  Entschlossen- 
heit ausdrückende  Kürze  bezeichnend.  —  V/ie  die  Tora  mit 
einem  Zuge,  in  wenigen  Worten,  einen  ganzen  Situations- 
bericht liefert,  ersieht  man  aus  den  sprichwörtlich  gewor- 
denen Worten  Jakobs,  die  er  an  Laban  richtete  :  »Ich  will 


132  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

dir  sieben  Jahre  dienen  um  Rahel,  deine  jüngere 
Tochter«  (I.  B.  M.  29,  18).  Ein  Muster  von  Kürze  und 
Deutlichkeit.  Den  Gegenzug  bilden  die  Worte  Labans,  womit 
er  Jakob  nachträglich  auch  Rahel  zu  geben  verspricht  »um 
den  Dienst,  den  du  bei  mir  dienen  wirst  noch  andere  sieben 
Jahre«  (das.  das.  27).  Hier  ist  die  weitläufigere  Genauigkeit 
in  der  Zeitbestimmung  der  Ausdruck  des  schlechten  Ge- 
wissens. —  Der  kurze  Vermerk  »und  siehe  ein  Traum!«, 
der  nach  dem  zweitmaligen  »da  erwachte  Pharao«  (I.  B.  M. 
41,  7),  nicht  aber  nach  dem  erstmaligen  (das.  das.  4)  sich 
findet,  will  sagen,  wie  RSBM  z.  St.  ausführt,  daß  nun- 
mehr erst  der  ganze  Traumvorgang  Pharao  zum  Bewußt- 
sein gekommen  ist,  so  zu  sagen  eine  exegtische  Note  im 
Texte  selbst.  —  Unter  den  Gebeten  ist  wohl  das  denkbar 
kürzeste  das  Moses  für  seine  Schwester:  »Ach,  Herr,  heile 
sie  doch  !«  (IV.  B.  M.  12,  13),  worüber  sich  Berach.  34a 
sinnige  Bemerkungen  finden. 

Diplomatischer   Natur   ist  die  kurze  Bemerkung  über 
Abraham  bei  seiner  Verhandlung  mit  Efron  über  die  Höhle 

Machpela:  »Und  Abraham  verstand «  (I.  B.  M.  23,  16.) 

Damit  wird  Abraham  der  Takt  zugeschrieben,  womit  er 
herausfühlte,  daß  es  Efron  bei  aller  höflichen  Abwehr  des 
Geldes  denn  doch  auf  den  vollen  Kaufpreis  ankam.  —  Von 
feiner  Diplomatie  ist  auch  die  kurze,  aber  inhaltreiche  Bot- 
schaft der  Gesandten  Jakobs  nach  ihrer  Rückkehr  von 
Esau:  »Wir  sind  gekommen  zu  deinem  Bruder,  zu  Esau« 
(I.  B.  Mos.  32,  7).  Mehr  sagen  sie  nicht,  aber  das  ist  auch 
genug,  denn  nach  dem  Midrasch  (s.  Raschi)  wollten  die 
Gesandten  damit  zu  Jakob  sagen:  »Du  hast  zwar  gemeint, 
wir  würden  deinen  Bruder  finden,  aber  er  benimmt  sich 
gegen  dich  wie  E  s  a  u.«  Daß  dies  der  tatsächliche  Sinn 
der  kurzen  Rede  ist,  beweist  der  Gebrauch  des  Wortes 
Bruder  und  die  gleichzeitige  Anführung  seines  Namens 
(wovon  eins  von  beiden,  zumal  Jakob  gegenüber,  hätte 
unterbleiben    können)   neben    der  zweimaligen  Anwendung 


Kürzen  and  Längen  in  der  Bibel.  133 

der  Präposition,  wodurch  jeder  der  beiden  Ausdrücke  sein 
besonderes  Gewicht  erhält.  Überdies  wird  die  Auffassung 
des  Midrasch  durch  die  Wortstellung,  indem  zuerst  von 
dem  Bruder  und  sodann  von  Esau  die  Rede  ist,  bestätigt. 
Endlich  wäre,  falls  die  Botschaft  nicht  in  diesen  Worten 
enthalten  sein  sollte,  überhaupt  keine  vorhanden,  was  eine 
seitsame  Erledigung  des  den  Gesandten  von  Jakob  erteilten 
Auftrages  sein  würde.  Denn  die  weitere  Auskunft,  welche 
die  Gesandten  geben,  »Und  auch  zieht  er  dir  mit  vier- 
hundert Mann  entgegen,«  gehört  nicht  mit  zu  der  von 
Jakob  erwarteten  Botschaft  über  den  Empfang  der  Ge- 
sandten bei  Esau,  vielmehr  dient  sie,  besonders  durch  die 
im  Druck  hervorgehobenen  Anschlußkonjunktionen,  die 
sonst  unbegründet  wären,  zur  Illustration  der  in  den  ersten 
Worten  enthaltenen  Andeutung,  die  auch  Jakob  sofort  ver- 
standen hat,  wie  aus  dem  unmittelbar  folgenden  Satz : 
»Und  Jakob  fürchtete  sich  sehr,  und  es  ward  ihm  bange« 
klar  hervorgeht.  Es  bleibt  nur  zu  untersuchen,  auf  welche 
Weise  die  Gesandten  sich  über  die  Meinung  Jakobs  ver- 
gewissert hatten,  daß  sie  einen  brüderlich  gesinnten  Mann 
finden  würden.  Da  eine  Äußerung  Jakobs  über  diesen 
Punkt  nicht  vorliegt,  so  müssen  wir  annehmen,  daß  die 
einleitenden  Worte  des  Erzählers  (das.  das.  4).  »Und  Jakob 
sendete  Boten  vor  sich  her  an  Esau,  seinen  Bruder« 
im  Sinne  Jakobs  und  zwar  so  zu  verstehen  sind,  daß 
Jakob  den  Gesandten  andeuten  wollte,  sie  gingen  zwar 
zu  Esau,  würden  aber  in  ihm  den  Bruder  finden,  worauf 
alsdann  die  Gesandten  nach  ihrer  Rückkehr  durch  die 
Umkehrung  der  von  Jakob  gebrauchten  Wortstellung  in 
diplomatischer  Weise  ihm  andeuten,  was  rund  heraus  zu 
sagen,  sie  aus  Zartgefühl  oder  aus  Rücksicht  auf  ihr  Dienst- 
verhältnis abgehalten  sein  mochten,  daß  er  sich  getäuscht 
habe  und  daß  sie  zwar  zu  dem  Bruder  zu  kommen  gehofft, 
aber  Esau  angetroffen  hätten.  Hier  wird  also  durch  bloße 
Wortstellung  ein  Situationsbericht  erstattet,  der  durch  weit- 


134  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

läufige  Ausführung  nicht  erschöpfender  hätte  sein  können, 
und  es  ist  dem  feinen  Spürsinn  des  Midrasch  zu  danken, 
daß  wir  über  diesen  Punkt,  und  damit  über  eine  Eigenart 
des  biblischen  Stils  Aufklärung  erhalten.  In  diesem  Sinne 
ist  denn  auch  das  nachfolgende  Gebet  Jakobs  abgefaßt: 
»Rette  mich  von  der  Hand  meines  Bruders,  von  der  Hand 
Esaus«  (das.  das.  12,  vgl.  Raschi).  Jakob  will  sagen:  er 
ist  zwar  mein  Bruder,  aber  er  benimmt  sich  gegen  mich 
wie  der  Bösewicht  Esau. 

Daß  der  Erzähler  den  Namen  Esau  gleich  bei  der 
ersten  Bekanntschaft,  die  wir  mit  seinem  Träger  machen, 
bereits  als  Typus,  und  zwar  der  Schlechtigkeit  gebraucht, 
entspricht  der  biblischen  Eigentümlichkeit  kurzgefaßter, 
durch  bloße  Apposition  oder  auf  ähnliche  Weise  bewirkter 
Charakteristik.  So  S2gt  die  Tora  :  »Die  Männer  der  Stadt, 
die  Männer  von  Sodom«  (I.  B.  Mos.  19,  4).  Hier  ist  Sodom 
bereits  ein  typischer  Ausdruck  (s.  Raschi),  wie  Jes.  1,  10. 
In  demselben  Sinne  ist  der  Satz  zu  verstehen  :  »Und  Isak 
säte  in  diesem  Lande  und  fand  in  diesem  Jahre  das 
Hundertfache,  weil  ihn  Gott  gesegnet  hatte«  (I.  B.  Mos. 
26,  \2).  Das  beide  Male  gebrauchte  hinweisende  Fürwort 
will  sagen  :  Das  Land  war  schlecht  und  das  Jahr  war 
schlecht,  was  den  großen  Erfolg  umso  bemerkenswerter 
macht  (Raschi  nach  dem  Midrasch).  Ebenso  heißt  es : 
»Nachdem  er  geschlagen  den  Sichon,  König  des  Emori,  der 
in  Hesbon  wohnte,  und  den  Og,  König  von  Basan,  der  zu 
Asterot  in  Edrei  wohnte«  (V.  B.  Mos.  1,  4).  Die  näheren 
Angaben  über  die  bereits  mehrfach  erwähnten  Könige  und 
ihre  Residenzen  wären  überflüssig  und  sinnlos,  wenn  nicht 
in  dem  vorliegenden  Zusammenhange  damit  ausgedrückt 
werden  sollte,  daß  der  Sieg  über  an  sich  gewaltige 
Könige,  die  noch  dazu  in  gewaltigen  Festungen 
saßen,  erfochten  wurde,  was  ihn  umso  bedeutungsvoller 
macht  (Sifre  und  danach  Raschi).  Fügen  wir  dieser  Rubrik 
noch  die  Schilderung  Esaus  und  seines  Verkaufs  der  Erst- 


Kürzen  and  Längen  in  der  Bibel.  135 

geburt  hinzu.  »Und  Esau  aß  und  trank  und  stand  auf  und 
ging  weg  und  verachtete  (so)  die  Erstgeburt«  (I.  B.  Mos. 
25,  34).  Eine  Sturzwelle  von  durch  die  Polysyndese  noch 
beschleunigten  Schilderungsworten  ergießt  sich  damit  über 
das  Haupt  des  im  Hebräischen  erst  gegen  Ende  des  Satzes 
genannten  Esau,  was  einen  wirksameren  Eindruck  machtr 
als  eine  lange  Entrüstungsäußerung  hervorzubringen  ver- 
mocht hätte. 

Wie  die  Tora  in  den  obigen  Beispielen  auf  kurzem 
Wege  durch  die  bloße  Wortstellung  die  beabsichtigte  Wir- 
kung ausübt,  so  bedient  sie  sich  zu  demselben  Zwecke 
der  Umstellung  von  Sätzen  und  Satzteilen.  Es  wird  wohl 
keinem  zufällig  erscheinen,  wenn  Moses  den  zwei  Stämmen 
auf  ihre  Bitte :  »Schafhürden  möchten  wir  hier  für  unser 
Vieh  bauen  und  Städte  für  unsre  Kinder«  (IV.  B.  Mos. 
32,  16),  die  beiden  Satzteile  umstellend  antwortet :  »Baut 
euch  Städte  für  eure  Kinder  und  Hürden  für  eure  Schafe« 
(das.  das.  24).  Moses  gibt  vielmehr  auf  diese  Weise,  wie 
Raschi  (zu  v.  16)  ausführt,  den  Bittstellern  zu  verstehen, 
daß  die  Rücksicht  auf  die  Kinder  der  auf  das  Vieh  voran- 
geht. Dieser  Wink  wurde  denn  auch  von  ihnen,  wie  ihre 
Erwiderung  (v.  26)  beweist,  verstanden,  ebenso  wie  ein 
anderer,  noch  bedeutsamerer,  von  dem  weiterhin  die  Rede 
sein  wird. 

In  gleicher  Weise  wird  in  den  Segensverheißungen 
des  fünften  Buches  der  Tora  der  Satz  vorangestellt :  »Ge- 
segnet sei  deine  Leibesfrucht«  (V.  B.  Mos.  28,  4).  Erst 
nachher  folgt:  »Gesegnet  dein  Korb  und  dein  Trog«  (das. 
das.  5).  Diese  Ordnung  rechtfertigt  sich  durch  sich  selbst. 
Der  an  den  Kindern  sich  bewährende  Segen  Gottes  erscheint 
vor  allem  begehrenswert.  Aber  bei  den  Flüchen  ist  die 
Ordnung  verkehrt.  »Verflucht  dein  Korb  und  dein  Trog,  ver- 
flucht deine  Leibesfrucht«  (das.  das.  17).  Damit  ist  ausgedrückt, 
daß  der  Fluch  schon  in  der  Abstumpfung  des  Gefühles  für 
die  Kinder,   abgesehen    von    deren    Unglück   an    sich    und 


136  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

seiner  Rückwirkung  auf  die  Eltern,  zum  Ausdruck  kommt, 
so  daß  jede  höhere  Empfindung  gegen  den  Hunger  zurück- 
tritt. Nachmanides  erblickt  in  der  verschiedenen  Anordnung 
der  Reihenfolge  eine  andere  Absicht,  die  mir  aber  dem 
Gedankengang  weniger  zu  entsprechen  scheint.  Vielmehr 
zeigt  die  weitere  Ausführung,  in  welcher  der  Vater  und 
sogar  die  Mutter  aus  Hunger  an  ihren  Kindern  sich  ver- 
greifen, daß  der  Zustand  der  Verwünschung  mit  der  Ab- 
stumpfung jedes  edlern  Gefühls  durch  den  Hunger  beginnt 
und  in  dem  Verzehren  der  eigenen  Kinder  seine  höchste 
Steigerung  erfährt. 

Noch  einmal  in  demselben  Kapitel  bedient  sich  die 
Tora  dieses  Verfahrens  der  Umstellung  von  Sätzen  zur 
Hervorbringung  starker  rhetorischer  und  paränetischer 
Wirkung  auf  kürzestem  Wege.  Um  diesen  Punkt  zu  erläutern, 
muß  vorausgeschickt  werden,  daß  nach  V.  B.  Mos.  20,  5  ff. 
im  Kriegsfälle  die  Oberste  vor  der  Schlacht  folgende  Ansprache 
an  das  Heer  richten  mußten  :  »Wer  ist,  der  ein  neues  Haus 
gebaut,  und  hat  es  nicht  eingeweiht,  er  gehe  und  kehre  zurück 
in  sein  Haus,  daß  er  nicht  sterbe  im  Kriege  und  ein  andrer 
Mann  es  einweihe.  Und  wer  ist,  der  einen  Weinberg  ange- 
pflanzt und  hat  ihn  nicht  gelöst,  er  gehe  und  kehre  zurück 
in  sein  Haus,  daß  er  nicht  sterbe  im  Kriege  und  ein  andres' 
Mann  ihn  löse.  Und  wer  ist,  der  sich  eine  Frau  verlobt 
und  hat  sie  nicht  heimgeführt,  er  gehe  und  kehre  zurück 
in  sein  Haus,  daß  er  nicht  sterbe  im  Kriege  und  ein  anderer 
Mann  sie  heimführe.«  In  der  Reihenfolge,  deren  die  Tora 
bei  Aufzählung  der  obigen  Beurlaubungsgründe  sich,  wie 
vorauszusetzen  ist,  mit  Absicht  bedient,  erblickt  der  Talmud 
(Sota  44a)  aus  eben  diesem  Grunde  eine  zu  beherzigende 
Lebensregel,  die  dem  Manne  empfiehlt,  bei  Einrichtung 
seines  Lebens  dieselbe  Reihenfolge  einzuhalten,  nämlich 
zuerst  einen  festen  Wohnsitz  zu  gründen,  sodann  sich  einen 
Erwerbszweig  zu  schaffen  und  erst  nachher  ein  Weib  zu 
nehmen.    Also   auch   hier   hätten    wir   in   den    angeführten 


Kürzen  u«d  Längen  in  der  Bibel.  137 

Sätzen,  abgesehen  von  der  Bedeutung,  die  ihnen  an  und 
für  sich  im  Hinblicke  auf  ihren  bestimmten  Zweck  zukommt, 
einen  bloß  durch  ihre  Anordnung  vermittelten  guten  Rat 
zu  erblicken,  dem  der  Talmud  auf  die  Spur  gekommen  ist. 
Dies  wird  durch  das  Folgende  bestätigt.  Die  Tora  bezieht 
sich  nämlich  in  den  Flüchen  auf  dieselben  Momente,  jedoch 
in  einer  von  der  obigen  ganz  verschiedenen  Ordnung  und 
Ausführung.  »Du  wirst  dir  eine  Frau  verloben,  aber  ein 
anderer  Mann  wird  sie  heimführen,  du  wirst  ein  Haus 
bauen  und  nicht  darin  wohnen,  einen  Weinberg  wirst  du 
pflanzen  und  ihn  nicht  lösen«  (V.  B.  Mos.  28,  30).  Vergleicht 
man  die  obige  ruhige,  ebenmäßige  und  breite  Behandlung 
der  wichtigsten  Lebensmomente  mit  den  zuletzt  angeführten, 
auf  dieselben  Akte  sich  beziehenden  Fluchworten,  so  gewinnt 
man  den  Eindruck,  als  ob  diese  kurzatmigen,  in  einen 
einzigen  Satz  zusammengedrängten  Verwünschungen  vor 
lauter  Ingrimm  von  dem  Redner  nur  so  herausgestoßen 
wären  und  alles  kunterbunt  durcheinander  würfen.  Die 
Nebeneinanderstellung  rechtfertigt  also  die  oben  erwähnte 
Auffassung  des  Talmud,  und  Maimonides  (Deot  V,  11)  hat 
ohne  Zweifel  Recht,  wenn  er,  offenbar  auf  jener  Auffassung 
fußend,  bemerkt,  daß  der  Fluch  nicht  bloß  in  den  ausgespro- 
chenen Wirkungen,  sondern  schon  in  der  Verkehrtheit  der 
Lebensführung  sich  äußere,  was  eben  von  der  Tora  auch 
äußerlich  durch  die  Umstellung  der  Satzglieder  angedeutet 
werde,  denn,  sagt  er,  es  sei  schon  ein  Fluch  für  den  Mann, 
wenn  er,  die  vernünftige  Lebensordnung  umkehrend,  zuerst 
heirate,  dann  ein  Haus  baue  und  zuletzt  einen  Erwerbszweig 
suche,  oder,  wenn  dies  mißlingt,  der  öffentlichen  Wohltätig- 
keit zur  Last  falle.  Maimonides  gibt  nämlich  auffallender- 
weise, was  natürlich  von  den  Kommentatoren  bereits  be- 
merkt und  zurechtzulegen  versucht  wird,  an  beiden  Stellen 
eine  andere  Reihenfolge  an,  als  in  der  Tora  vorliegt,  so 
zwar,  daß  er  bei  der  Wiedergabe  der  an  das  Heer  zu 
richtenden  Ansprache  des  Weinbergs  an  erster,  und  bei  dem 


138  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

Fluch  an  letzter  Stelle  gedenkt.  Anzunehmen,  daß  Maimo- 
nides  aus  dem  Gedächtnisse  zitiert  habe  und  daß  ihm  des- 
halb ein  Versehen  unterlaufen  sei,  wie  es  augenscheinlich 
im  Moreh  III,  40  bei  der  Schätzung  der  Fall  ist,  muß  als 
unzulässig  bezeichnet  werden,  da  wir  in  diesem  Fall  ein 
zweimaliges  Versehen  voraussetzen  müßten,  was  doch  nicht 
angeht.  Es  scheint  vielmehr,  daß  Absicht  vorliegt  und  daß 
sich  Maimonides  erlaubt  hat,  die  betreffenden  Stellen  durch 
Versetzung  den  Verhältnissen  seiner  Zeit,  denen  auch  die 
heutigen  entsprechen,  anzupassen.  Denn  heute  wird  ein 
junger  Mann,  der  eine  vernünftige  Lebensordnung  befolgt, 
zuerst  danach  trachten,  sich  durch  die  Wahl  seines  Berufes 
eine  Existenz  zu  gründen,  im  Sinne  der  Tora  gesprochen 
einen  Weinberg  pflanzen,  und  die  Hinausschiebung  dieser 
Obliegenheit  nach  der  Heirat  würde  sicherlich  ein  Fluch 
sein,  während  in  einem  seßhaften,  ackerbautreibenden  Volke, 
das  die  Tora  im  Auge  hat,  der  Bau  eines  Hauses,  wozu 
heute  die  meisten  Menschen  nicht  das  nötige  Vermögen 
besitzen,  viele  auch  keine  Lust  haben,  den  notwendigen 
und  nicht  eben  kostspieligen  Anfang  der  Selbständigkeit 
bildete.  Dem  sei  jedoch,  wie  ihm  wolle,  so  dokumentieren 
•die  betreffenden  Stellen  der  Tora  ihre  Kunst,  einmal  durch 
die  bloße  Reihenfolge  von  Sätzen  lehrhaft  zu  wirken,  sodann 
durch  deren  Umstellung  einen  wirksamen  Kontrast  hervor- 
zubringen, was  sonach  auf  kürzestem  Wege  durchgeführt  wird. 
Auf  demselben  Wege  erfolgt  eine  Verschärfung  der 
Strafrede  im  III.  B.  Mos.  26,  42  durch  den  Satz:  »Ich 
werde  gedenken  meines  Bundes  mit  Jakob  und  auch 
meines  Bundes  mit  Isak  und  auch  meines  Bundes  mit 
Abraham  werde  ich  gedenken  und  des  Landes  werde  ich 
gedenken.«  Als  Äußerung  des  Wohlwollens,  wie  die  Fassung 
vermuten  läßt,  hat  dieser  Satz  keinen  Sinn,  da  ihm  die 
schlimmsten  Drohungen  nicht  bloß  vorangehen,  sondern 
auch  unmittelbar  folgen.  Man  muß  also  der  geistreichen 
Erklärung    des  R.  Jesaja  Hurwitz  (rv^tF  z.  St.)  beistimmen, 


Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel.  139 

wonach    der   Sinn    dieses  Satzes    ist,    daß  Gott  durch  die 
Erinnerung   an   die  Erzväter  usw.  in  noch  heftigeren  Zorn 
über   das   solcher  Ahnen    unwürdige  Volk   geraten  werde. 
Dies  weitläufiger  auszuführen,  wäre  nur  eine  Abschwächung 
gewesen,  daher  die  bloße  Einschaltung  dieses  Gedenkens. 
In   dieses  Gebiet  des  Gebrauchs  der  Kürze  als  wirk- 
samen Darstellungsmittels  gehört  auch  die  Verschweigung. 
Sie  ist  natürlich  die  kürzeste,  aber  oft  beredteste  Ausdrucks- 
weise.  Von    einer  Person    oder  Sache  nicht  sprechen,    wo 
man    eine    Mitteilung    darüber    erwartet,    sagt   unter  Um- 
ständen mehr,  als  die  ausführlichste  Rede.  Man  muß  aber 
ein  aufmerksamer  Leser  sein,  um  eine  solche  Verschweigung 
zu  erkennen.  Das  waren  wie  kein  anderer  jemals  die  Lehrer 
des    Midrasch    und    des   Talmud,    welche  Werke,    wie  ich 
anderweitig  ausgeführt  und  auch  bereits  in  dieser  Abhand- 
lung  gezeigt   habe,    eine   unerschöpfliche  Fundgrube    von 
Anleitungen  und  Winken  darbieten,  ohne  welche  die  Bibel 
überhaupt  nicht  verstanden  werden  kann,  wovon  aber  die 
christlichen    Exegeten    keine  Notiz  nehmen.    So  sagt  Gott 
zu    Moses:    »Gehe   du    und    d  i  e  Ä  1 1  e  s  t  e  n  Israels  zu 
dem  König  von  Mizraim  und  sprechet  zu  ihm  usw.«  (II.  B. 
Mos.  3,  18.)  Damit  ergeht  also  an  Moses  die  ausdrückliche 
Forderung,    daß    die  Ältesten    an    seiner  Seite  vor  Pharao 
erscheinen  sollen.  Es  heißt  auch  weiter:  »Und  Moses  ging 
und  Aron  und  versammelten  alle  Ältesten  der  Kinder 
Israel«  (das.  4,  29).  Unmittelbar  darauf  aber  sagt  die  Tora: 
»Und   danach    kamen    Moses    und  Aron    und  sprachen  zu 
Pharao«    (das.   5,    1).    Von    der  Anwesenheit    der  Ältesten 
schweigt  die  Tora.  Drängt  sich  da  nicht  die  Frage  auf,  die 
der   Midrasch    tatsächlich  aufwirft:    »Wo  sind  die  Ältesten 
geblieben?«  Es  hätte  die  Tora  nur  ein  Wort  gekostet,  um 
ihre  Gegenwart  bei  der  Audienz  zu  konstatieren!  Man  muß 
also    mit   dem  Midrasch    annehmen,    daß  sie  sich,    wie  er 
sagt,     einer    nach    dem    anderen    weggeschlichen     hatten, 
welches    Verschulden     die     Tora    vornehm     genug    ist, 


140  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

bloß  durch  Verschweigen  anzudeuten.  Der  Beredtsamkeit 
geschieht  dennoch  kein  Abbruch.  Diese  Erklärung  ist  so 
menschlich  wahr  wie  der  Vorgang,  den  sie  voraussetzt. 

Ein  anderes  Beispiel  dieser  beredten  Verschweigung 
findet  sich  in  der  Erzählung  von  Bileam.  Gleich  im  Anfang 
derselben  bemerkt  die  Tora,  daß  der  König  von  Moab  die 
Ältesten  Midjans  einlud,  sich  mit  ihm  gegen  Israel  zu  ver- 
bünden (IV.  B.  Mos.  22,  4  ff.).  Daraufhin  begeben  sich  »die 
Ältesten  Moabs  und  die  Ältesten  Midjans«  gemeinschaftlich 
zu  Bileam  und  überbringen  ihm  die  Einladung  des  Königs 
von  Moab,  zu  ihm  zu  kommen  und  Israel  zu  verfluchen. 
Bileam  will  aber  erst  die  Entscheidung  Gottes  abwarten 
und  lädt  die  Gesandten  ein,  bei  ihm  zu  übernachten.  Darauf 
heißt  es  wörtlich :  »Da  blieben  die  Fürsten  von  Moab  bei 
Bileam.«  Auch  hier  drängt  sich  die  Frage  auf,  der  denn 
auch  der  Talmud  Ausdruck  verleiht,  wo  denn  die  Gesandten 
von  Midjan  geblieben  seien?  Sie  werden  weder  hier  noch 
in  dem  weiteren  Verlaufe  der  Begebenheit  erwähnt.  Man 
muß  also  mit  dem  Talmud  (Sanh.  105  a)  annehmen,  daß 
die  Ältesten  Midjans  von  der  Einladung  Bileams,  bei  ihm 
zu  übernachten,  keinen  Gebrauch  machten  und  abreisten. 
Deshalb  erwähnt  die  Tora  bloß  von  den  Fürsten  Moabs, 
daß  sie  bei  Bileam  über  Nacht  blieben,  und  es  beweist  eine 
bemerkenswerte  Schärfe  der  Auffassung  seitens  des  Talmud, 
daß  er  aus  dem  Berichte  der  Tora  die  Abreise  der  Fürsten 
von  Midjan  richtig  erkannt  hat.  Denn  daß  die  Tora  durch 
die  Nichterwähnung  oder  Verschweigung  ihres  Verbleibens 
ihre  Abreise  andeuten  will,  ist  zweifellos,  da  es  sie  ja  nur 
ein  Wort  gekostet  hätte,  das  Gegenteil  zu  konstatieren. 
Ob  der  Talmud  weiterhin  die  Abreise  der  Midjaniten  richtig 
motiviert,  wenn  er  bemerkt,  sie  hätten  sich  angesichts  der 
Erklärung  Bileams,  vorerst  die  Entscheidung  Gottes  anzu- 
rufen, gesagt:  »Gibt  es  einen  Vater  (in  diesem  Falle  Gott), 
der  seinen  Sohn  (nämlich  Israel)  haßt  und  verfluchen  läßt?«, 
mag  dahingestellt  bleiben.    Das  Motiv  entspricht  jedenfalls 


Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel.  141 

der  Verschlagenheit  Midjans,  das  von  vornherein  auf  die 
ganze  Verwünschungskampagne  kein  besonderes  Vertrauen 
gesetzt  haben  mag  und  auf  eine  praktischere  Art  selbständig 
Israel  eine  sehr  empfindliche  Schlappe  versetzte.  Aber  es 
entsteht  die  Frage,  weshalb  die  Tora  die  Abreise  der 
Ältesten  von  Midjan  nicht  ausdrücklich  und  unzweideutig 
mitteilt?  Von  Schonung  oder  stillschweigendem  Tadel,  wie 
bei  den  Ältesten  Israels,  kann  doch  hier  keine  Rede  sein. 
Auf  diese  Frage  erteilt  der  Talmud  keine  Antwort.  Sie 
liegt  aber  in  der  Satyre,  wodurch  die  ganze  Erzählung  ge- 
kennzeichnet wird  und  deren  Zielscheibe  hauptsächlich 
Bileam,  aber  auch  Moab  ist.  Schon  der  Kriegsplan  des 
letzteren,  der  auf  einer  bloßen  Verwünschung  aufgebaut 
ist,  muß  grotesk  genannt  werden.  Das  Sichbittenlassen 
Bileams  macht  die  Situation  Moabs  noch  lächerlicher.  Wenn 
Midjan  auch  an  der  Einladung  Bileams  sich  beteiligt,  so 
läßt  es  sich  doch  auf  das  lange  Antichambrieren  bei  ihm 
nicht  ein,  überläßt  die  Moabiter  sich  selbst,  die  dadurch 
ganz  hilflos  erscheinen,  und  zieht  ab.  Letzteres  konnte  die 
Tora  aber  nicht  ausdrücklich  heraus  sagen,  denn  in  diesem 
Falle  wäre  die  Aufmerksamkeit  des  Lesers  von  Moab  ab- 
gelenkt worden,  was  sie  vermeiden  will.  Dashalb  schweigt 
sie  einfach  von  den  Ältesten  Midjans,  was  dem  aufmerk- 
samen Leser  genug  sagt  und  sein  Interesse  an  dem 
weiteren  Schicksal  des  nun  auf  sich  allein  angewiesenen 
Moab  nur  steigern  kann. 

In  diese  Gattung  der  Darstellung  durch  teilweise  Ver- 
schweigung gehört  auch  die  Erzählung  der  Tora  von  Josef 
und  seinen  Brüdern.  Hier  erfahren  wir  von  dem  Jammer 
Josefs  über  die  ihm  zugefügte  Unbill  und  von  seinen 
flehentlichen,  unerhörten  Bitten  nur  durch  eine  reumütige 
Bemerkung  der  Brüder  (I.  B.  Mos.  42,  21),  die  Tora  selbst 
übergeht  die  Klagen  und  Bitten  Josefs  mit  Stillschweigen. 
Dieser  Umstand  ist  bereits  Nachmanides  aufgefallen.  Aus 
dem    Zusammenhange    der    vorliegenden  Darstellung,    die 


142  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

mehrere  derartige  Beispiele  anführt,  wird  man  die  Über- 
zeugung gewinnen,  daß  auch  in  der  Erzählung  von  Josef 
die  Verschweigung  seiner  Leiden  und  Bitten  auf  Absicht 
beruht,  was  ich  in  meinem  mehrfach  gedruckten  Vortrage 
»Wie  sollen  wir  die  Bibel  lesen?«  begründet  und  ausge- 
führt habe.  Ich  muß  mich  hier  darauf  beschränken,  auf 
diesen  Vortrag  zu  verweisen,  um  auf  eine  andere  Art  der 
Anwendung  der  Kürze  aufmerksam  zu  machen. 

Diese  gehört  zu  den  besonderen  Feinheiten,  ich  möchte 
sagen  zu  den  Delikatessen  des  biblischen  Vortrages,  deren 
Bekanntschaft  wir  gleichfalls  dem  Midrasch  verdanken. 
Durch  den  Gebrauch  eines  gewissen  Wortes  in  einem  be- 
stimmten Satze,  das  in  einem  andern  von  ähnlicher  Fassung 
weggelassen  oder  durch  ein  anderes  ersetzt  wird,  also  auf 
kürzestem  Wege,  werden  kontrastierende  Effekte  von  großer 
Wirkung  erzielt.  Nur  stehen  die  betreffenden  Sätze  nicht 
immer  nebeneinander,  sondern  sind  durch  mehr  oder  minder 
große  Zwischenräume  getrennt,  und  es  gehört  eine  Fin- 
digkeit und  Beherrschung  des  Toratextes  dazu,  wie  sie 
nur  den  Lehrern  des  Midrasch  eigen  war,  um  das  Ge- 
trennte zu  vergleichen  und  aus  der  Vergleichung  folgende 
Regel  abzuleiten:  Bei  günstigen  Zuständen  nimmt  die  Tora 
auf  Israel  Bezug,  bei  ungünstigen  abstrahiert  sie  von  Israel 
und  bedient  sich  einer  allgemeinen  Ausdrucksweise.  Zur 
Bestätigung  dieser  Regel  führt  der  Midrasch  die  folgenden 
Beispiele  an: 

1)  Bei  den  Opfern  heißt  es:  »Wenn  einer  von  euch 
ein  Opfer  dem  Ewigen   darbringt  usw.«    (III.  B.  Mos.  1,  2). 

Dagegen:  »Wenn  einer auf  der  Haut  seines  Fleisches 

eine  Geschwulst  usw.  bekommt«  (das.  13,  2).  Die  Fassung 
beider  Sätze  ist  dieselbe,  obwohl  sie  durch  zwölf  Kapitel 
von  einander  getrennt  sind,  aber  der  erstere,  der  von 
Opfern,  also  einer  frommen  Verrichtung  handelt,  nimmt 
auf  Israel  Bezug,  während  der  letztere,  der  sich  mit  einem 
Krankheitszustande  beschäftigt,  diese  Beziehung  vermeidet, 


Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel.  143 

indem  er  das  betreffende  Fürwort  unterdrückt,  was  ich 
durch  Einschaltung  von  Punkten  an  der  betreffenden  Stelle 
angedeutet  habe.  Es  müßte  mit  merkwürdigen  Dingen  zu- 
gegangen sein,  wenn  in  den  gleich  gefaßten,  aber  inhaltlich 
kontrastierenden  Sätzen  die  Beziehung  auf  Israel  (»von 
euch«)  nicht  mit  Absicht  das  eine  Mal  gebraucht  und  das 
andere  Mal  unterdrückt  sein  sollte. 

2)  In  dem  Satze:  »Es  sei  denn,  daß  unter  dir  kein 
Dürftiger  ist«  (V.  B.  Mos.  15,  2),  also  bei  Voraussetzung 
eines  günstigen  Zustandes,  gebraucht  die  Tora  das  Israel 
betreffende  Beziehungswort,  um  wenige  Verse  nachher,  bei 
ungünstiger  Prophezeiung,  zu  sagen:  »Denn  nicht  aufhören 
wird  der  Dürftige  innerhalb  des  Landes«  (das.  v.  1 1), 
wo  also  die  unmittelbare  Beziehung  auf  Israel  weggelassen 
und  durch  einen  allgemein  gehaltenen  Ausdruck  ersetzt 
wird. 

3)  Bei  der  Verkündigung  des  Segens  und  des  Fluches 
bedient  sich  die  Tora  im  ersteren  Falle  des  Ausdruckes: 
»Diese  sollen  dastehen,  um  das  Volk  zu  segnen«  (das. 
27,  12).  Dagegen  wird  in  dem  unmittelbar  folgenden  Satze 
nicht  gesagt:  »Und  diese  sollen  dastehen,  um  das  Volk 
zu  verfluchen«,  sondern:  »Und  diese  sollen  dastehen  wegen 
des  Fluches «,  so  daß  also,  wie  hier  durch  einge- 
schaltete Punkte  angedeutet  ist,  die  unmittelbare  Beziehung- 
auf das  Volk  vermieden  wird. 

Die  vorstehende,  auf  Vollständigkeit,  wie  gesagt,  keinen 
Anspruch  machende  Übersicht  zeigt  dennoch  an  den  aus 
den  verschiedenen  Büchern  der  Tora  angezogenen  Beispielen 
deren  Einheitlichkeit  im  Gebrauch  der  Kürze.  Zu- 
gleich erhalten  wir  daraus  ein  Bild  von  der  Mannigfaltig- 
keit dieses  Gebrauchs  und  seiner  Zwecke.  Wenn  auch  die 
Kürze  ein  Attribut  jeder  guten  Darstellung  ist,  so  verleiht 
doch  ihre  abwechslungsreiche  Anwendung  der  Tora  eine 
bestimmte  Eigentümlichkeit,  die  auch  in  ihrem  gesetzge- 
berischen Teile    vorherrscht,    und  wie    der    agadische    Mi- 


144  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

drasch,  was  an  mehreren  Beispielen  gezeigt  wurde,  in  den 
erzählenden  und  paränetischen  Partien  der  Tora  die  feinen 
Beziehungen  von  kaum  warnehmbaren  Andeutungen  und 
selbst  Verschweigungen  auf  eine  fast  divinatorische  Weise 
herauszufinden  und  bloßzulegen  weiß,  so  verfährt  der  hala- 
chische  Midrasch  mit  demselben  wissenschaftlichen  Geschick 
und  Erfolg  in  dem  gesetzlichen  Teile.  Um  nur  ein  Beispiel 
aus  diesem  Gebiete  anzuführen,  so  fehlen  in  dem  Abschnitt 
über  die  »vier  Hüter«  (II.  B.  Mos.  22,  6  ff.)  diejenigen  ge- 
setzlichen Bestimmungen,  auf  die  es  hauptsächlich  ankommt, 
nämlich  daß  es  sich  in  der  die  Verse  6 — 9  umfassenden 
Verordnung  um  u  nentgeltl  ic  h  e  Obhut,  dagegen  in  den 
Versen  9 — 12  um  bezahlte  handelt  —  eine  Auslassung, 
die  in  keinem  anderen  Gesetzbuche  der  Welt  vorkommen 
dürfte.  Dennoch  ist  diese  talmudische  Feststellung  un- 
zweifelhaft richtig,  und  man  braucht  sich  dafür  nicht  ein- 
mal auf  die  Tradition  zu  berufen,  sondern  sie  ergibt  sich, 
wie  RSBM  und  Nachmanides  nachweisen,  aus  dem  Kon- 
text von  selbst.  Man  muß  nur  die  Tora  so  zu  lesen  ver- 
stehen, wie  sie  gelesen  sein  will,  was  die  alten  Lehrer  des 
Midrasch  und  der  Halacha,  die  in  ihr  atmeten  und  lebten, 
weg  hatten  und  worin  ihnen  kein  anderer  gleichkommt. 
Sie  sind  auch  die  besten  Interpreten  der  hier  behandelten 
Kürzen  der  Tora,  deren  Bedeutung  aber  erst  recht  nach  dem 
Grundsatze  :  »contraria  juxta  composita  magis  elucescunt« 
durch  Vergleichung  mit  den  Längen  hervortreten  wird. 

II. 
Es  sind  zweierlei  Längen  zu  unterscheiden,  subje- 
ktive und  objektive.  Die  ersteren  finden  sich  in  den  Ein- 
gängen feierlicher  Ansprachen  oder  Gesänge  und  dienen 
dem  Redner  oder  Sänger  dazu,  seine  Persönlichkeit  nicht 
bloß  einzuführen,  sondern  auch  geltend  zu  machen,  wo- 
durch natürlich  eine  Länge  entsteht,  in  welcher  der  Autor 
von  sich  selbst  redet  und  die  scheinbar  ohne  Schaden  für 


Kü/zen  und  Längen  in  der  Bibel.  145 

das  Ganze  wegbleiben  könnte,  in  der  man  aber  bei  genü- 
gender Aufmerksamkeit  das  notwendige  Piedestal  erkennt, 
auf  dem  der  Autor  erst  seinen  Worten  die  rechte  Schall- 
und  Tragweite  verleiht.  Diese  Betonung  des  Persönlich- 
keitsbewußtseins ist  ausschließlich  und  durch- 
gängig in  der  Tora  zu  finden,  ein  Moment,  das  für  die 
Bestimmung  ihres  Alters  und  ihres  einheitlichen  Charakters 
gewiß  von  der  größten  Wichtigkeit,  aber  niemals  bemerkt 
und  daher  auch  nicht  in  Anschlag  gebracht  worden  ist. 
Im  späteren  Prophetismus  fehlt  diese  Geltendmachung  der 
eigenen  Persönlichkeit  gänzlich,  der  Prophet  will  gar  nicht 
als  solcher  hervortreten,  er  ist  nur  der  Träger  und  Ver- 
künder der  göttlichen  Botschaft,  hinter  welcher  Aufgabe 
seine  Person  verschwindet.  Dies  ist  schon  in  der  üblichen 
Einführungsformel:  »So  spricht  der  Ewige«  ausgedrückt.  Um 
mich  eines  Vergleiches  zu  bedienen,  so  verschwindet  bei 
Homer  ebenso  die  Person  des  Dichters  hinter  der  gleich 
anfangs  angerufenen  Muse  oder  Göttin.  In  den  Psalmen 
wiederum  ist  zwar  alles  persönlich  gefärbt,  aber  doch  nur 
in  der  Art,  wie  sie  das  Gebet,  der  Gemütserguß,  die  aus 
dem  eigenen  Leben  geschöpfte  Betrachtung  mit  sich  bringt, 
dagegen  kann  von  einem  Persönlichkeitsbewußtsein  und 
von  der  Betonung  der  eigenen  Persönlichkeit  keine  Rede 
sein,  da  hier  vielmehr  gerade  das  Gegenteil,  die  Erkenntnis 
von  der  Nichtigkeit  des  Menschen,  das  Charakteristische 
ist.  Ich  will  zu  bemerken  nicht  unterlassen,  daß  die  Ver- 
fasser der  Evangelien  die  Selbstbetonung  des  Vortragenden 
als  das  archaistische  Moment  in  der  Tora  gut  erkannt  und 
zum  Beispiel  in  der  Bergpredigt  »Ich  aber  sage  euch«  ge- 
schickt angewendet  haben.  Die  Beweisstücke  für  das  Ge- 
sagte sind  die  folgenden: 

1.  Zuerst  der  sogenannte  Segen  Jakobs  (I.  B.  Mos. 
49,  1.  ff).  Die  Ansprache  beginnt :  »Versammelt  euch  und 
ich  will  euch  verkünden,  was  euch  begegnen  wird  in  späten 
Zeiten.    Tretet  zusammen  und  höret,    Söhne  Jakobs,    und 

MonaUschrift,   55.  Jahrgang. 


146  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

hört  auf  Israel,  euren  Vater  !c  Das  ist  eine  subjektive 
Länge,  für  einen  bloßen  An- oder  Aufruf,  zu  wortreich  (man 
vgl.  dagegen  Richter  9,  7),  aber  sie  erklärt  sich  als  die 
Selbstbetonung  des  redenden  Vaters,  der  ganz  aus  der 
eigenen  Erfahrung  dem  Drange  der  Persönlichkeit  folgend 
sich  an  seine  Söhne  wendet.  Deshalb  hat  Abraham  Ibn 
Esra  Recht,  wenn  er  den  Titel  des  Segens  für  diese  An- 
sprache ablehnt,  weil  in  diesem  Falle  (abgesehen  von  dem 
seinerseits  angeführten  Grunde)  eine  derartige  das  Persön- 
liche ausbreitende  Vorausschickung  keinen  Sinn  hätte,  wie 
sie  auch  bei  dem  wirklichen  Segen  Moses  im  Eingange 
(V.  B.  Mos.  33,  1)  fehlt. 

2.  Dagegen  ist  sie  umso  mehr  am  Orte  und  macht 
sich  auch  umso  bemerklicher  in  dem  Sänge  Moses'  am 
Schilfmeer  (II.  B.  Mos.  15,  1  ff.).  Er  beginnt:  »Singen  will 
ich  dem  Ewigen,  denn  mit  Hoheit  hat  er  sich  erhoben, 
Roß  und  Reiter  hat  er  geschleudert  ins  Meer.  Mein  Sieg 
und  mein  Sang  ist  Jah,  er  war  meine  Rettung,  der  ist 
meine  Macht  und  ich  will  seine  Schöne  preisen,  der  Gott 
meines  Vaters  und  ich  will  ihn  erheben«.  Diese  Einleitung 
ist  ganz  persönlich  gehalten,  sie  macht  den  Eindruck,  als 
ob  der  Sänger  das  ganze  Rettungswerk  nur  von  seinem 
persönlichen  Standpunkte  betrachte.  Er  lebt  so  in  den 
Dingen,  daß  die  Dinge  erst  in  ihm  und  durch  ihn  Leben 
zu  gewinnen  scheinen.  So  erblicken  wir  den  Vorgang  in 
dem  Spiegel  des  Persönlichkeitsbewußtseins  des  großen 
Führers.  Erst  nach  dieser  subjektiv  gehaltenen  Einleitung 
beginnt  die  objektiv  durchgeführte  Schilderung  des  göttli- 
chen Rettungswerks. 

In  dieselbe  Form  gekleidet  ist  das  Lied  der  Deborah 
(Richter  5).  Zuerst  die  persönlich  gehaltene,  aber  kürzer 
gefaßte  Einleitung  (v.  3)  »Höret  Könige,  horchet  auf  Fürsten, 
dem  Ewigen  will  ich  singen,  saitenspielen  dem  Ewigen, 
dem  Gotte  Israels«  ;  worauf  dann  die  gegenständliche 
Schilderung  einsetzt.     Diese  wird    aber  nicht,    wie  in  dem 


Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel.  147 

Sänge  Moses'  ruhig  durchgeführt,  sondern  wiederholt  durch 
das  persönliche  Moment  unterbrochen.  »Bis  .daß  ich  auf- 
stand, Debora,  aufstand  eine  Mutter  in  Israel«  (v.  7).  »Sei 
•wach,  wach,  Debora,  sei  wach,  wach,  sing'  ein  Lied  U 
(v.  12.)  Durch  diese  Unterbrechung  und  Wiederholung  wird 
das  Persönlichkeitsbewußtsein  bis  zur  Prätension  und 
Überhebung  gesteigert,  woran  man  das  Weib,  die  muliebris 
impotentia,  erkennen  kann,  während  das  Maßvolle,  Ruhige 
in  dem  Sänge  Moses'  auf  männliche  Urheberschaft  zurück- 
führt. Das  höhere  Alter,  das  man  gewöhnlich  dem  Lied  der 
Deborah  zuerkennt,  dürfte  schon  aus  diesem  einzigen 
Grund  vielmehr  dem  Gesang  Moses'  zuzusprechen  sein. 

3.  Mit  einer  breit  ausgeführten,  das  Persönlichkeits- 
bewußtsein stark  betonenden  Einleitung  beginnt  auch  der 
Schwanengesang  Moses'  (V.  B.  Mos.  32,  1  ff).  »Lauschet, 
ihr  Himmel,  und  ich  will  reden,  und  es  höre  die  Erde  die 
Worte  meines  Mundes.  Es  träufle  wie  Regen  meine  Lehre, 
es  fließe  wie  Tau  meine  Rede,  wie  Regenschauer  aufs 
Grüne,  und  wie  Güsse  auf  das  Gras,  denn  den  Namen  des 
Ewigen  rufe  ich  an,  gebet  unsrem  Gott  die  Ehre !«  Hierauf 
folgt,  ohne  Unterbrechung  durch  Hervorhebung  der  eigenen 
Persönlichkeit,  die  großartige  Schilderung  von  der  Selbst- 
bezeugung Gottes  in  Israel.  Wenn  die  alten  Lehrer  zum 
Vergleiche  mit  den  ersten  Worten  dieser  Ansprache  Moses 
den  Anfang  der  ersten  Rede  Jesaja's  heranziehen,  so  tun 
sie  dies  nur  deshalb,  um  auf  die  verschiedene  Beziehung 
des  Hörens  und  Lauschens  in  den  beiden  Anfängen  auf- 
merksam zu  machen  (bei  Moses  :  Lauschet  ihr  Himmel,  es 
höre  die  Erde,  dagegen  bei  Jesaja  :  Höret  ihr  Himmel,  und 
lausche,  o  Erde !)  und  diesen  Umstand  agadisch  auszu- 
legen, aber  die  Person  des  Propheten  tritt  mit  der  Begrün- 
dung des  Aufrufs :  »denn  der  Ewige  redet-  sofort  hinter 
diesen  zurück.  Nebenbei  gesagt,  läßt  Homer  (II.  XV,  36) 
die  Gemahlin  des  Zeus  beim  Schwur  ebenfalls  Himmel 
und  Erde,  freilich  auch  den  Styx  anrufen : 

10* 


148  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibe!. 

:Nnn  denn,  so  hör'  es  die  Erde,  so  hör  es  der  Himmel  da   droben,. 
Zeuge  auch  sei  mir  die  stygische  Flut,    die  zum  Hades  hinabstürzt.« 

Was  ich  hier  als  Persönlichkeitsgefühl  in  den  Eingängen 
der  in  der  Tora  befindlichen  feierlichen  Ansprachen  und 
Gesänge  bezeichnet  und  nachgewiesen  habe,  bedarf  jedoch 
einer  näheren  Erläuterung,  damit  dieses  Moment,  worauf 
man  heute  immer  gefaßt  sein  muß,  nicht  von  Seiten  der 
»unvoreingenommenen«  christlichen  Bibel-Kritik  zum  Nach- 
teil der  Tora  im  Gegensatz  zum  Neuen  Testamente  aus- 
gelegt werde.  Ich  bin  deshalb  vorsichtig  genug  gewesen, 
hervorzuheben,  daß  dieser  Ausdruck  des  Persönlichkeits- 
bewußtseins von  den  Verfassern  der  Evangelien  der  Tora 
abgelauscht  und  in  dem  »Ich  aber  sage  euch«  der  Berg- 
predigt wiedergegeben  ist.  Es  liegt  nämlich  in  dieser  Selbst- 
betonung nichts  Vordringliches  und  keine  Selbstbespiegelung, 
was  ja  mit  der  Charakteristik  Moses',  als  des  demütigsten 
aller  Menschen,  gar  nicht  in  Einklang  zu  bringen  wäre. 
Dieses  Persönlichkeitsbewußtsein  bedeutet  vielmehr  das 
vollständige  Aufgehen  in  der  Gewißheit  der  gewonnenen 
Gotteserkentnis,  mit  einem  Wort,  die  restlose  Verschmelzung 
mit  dem  göttlichen  Geiste,  der  aus  dem  Munde  des  von 
ihm  Erfüllten  so  selbstverständlich  und  unzweifelhaft  sich 
verlautbart,  daß  es  der  Versicherung  der  Einführungsformel 
»So  spricht  der  Ewige«  nicht  bedarf. 

Daß  diese  Selbstbetonung  in  den  feierlichen  Reden 
Moses'  charakteristisch  ist,  erkennt  man  am  besten  daraus, 
daß  die  Tora  sie  auch  bei  dem  heidnischen  Widerspiel 
Moses',  bei  Bileam,  anwendet,  aber  auch  gemäß  der  sati- 
rischen Behandlung  dieses  Afterpropheten  in  ihr  Gegenteil, 
in  äußerliche  Wichtigtuerei,  Aufgeblasenheit  und  Einbildung 
verzerrt.  Man  vergleiche  nur,  ob  sich  Aussprüche,  wie  die 
Bileams,  bei  denen  die  Selbstbespiegelung  fingerdick  aufge- 
strichen ist  und  denen  man  schon  aus  der  Ferne  ansieht, 
daß  sie  ironisch  gemeint  sind,  bei  Moses  auch  nur  in 
äußerster  Verdünnung   finden !    Bei  Bileam    verstärken  sie 


Kürzen  nnd  Längen  in  der  Bibel.  149 

sich  jedoch  mit  seiner  zunehmenden  Ohnmacht.  Zuerst  sagt 
er  noch  maßvoll  von  seiner  Berufung  :  »Von  Aram  ließ  mich 
holen  Balak,  der  König  Moabs  u.  s.  w.«  (IV.  B.  Mos.  23,  7), 
um  mit  großem  Pathos  fortzufahren :  »Auf  Balak,  o  höre  ! 
Neige  her  das  Ohr  zu  mir,  Sohn  des  Zippor  1«  (das.  das. 
18)  und  endlich  in  ganz  außer  Rand  und  Band  geratener 
Aufgeblasenheit  zu  bramarbasieren:  »Spruch  Bileams,  des 
Sohnes  Beor,  Spruch  des  Mannes  geoffenbarten  Auges, 
Spruch  dessen,  der  Reden  Gottes  hört,  der  Gesichte  des 
Allmächtigen  sieht,  hinfallend  und  enthüllter  Augen«  (das. 
24,  3  ff),  was  sich  noch  einmal  (das.  das.  15  ff)  wiederholt. 
Man  sieht  ordentlich  an  dem  zunehmenden  Wortreichtum, 
wie  Bileam  der  Kamm  schwillt,  wobei  noch  hervorzuheben 
ist,  daß  der  hebräische  Ausdruck  für  »Spruch«  —  ms:  — 
im  allgemeinen  nur  mit  folgendem  Gottesnamen  gebräuch- 
lich ist,  während  er  von  Bileam  für  sich  in  Anspruch 
genommen  wird.  In  dieser  Ausartung  und  Verzerrung  des 
Persönlichkeitsgefühls  haben  wir  also  die  Probe  für  die 
Aufstellung,  daß  es  tatsächlich,  aber  in  edelstem  Sinne 
das  Merkmal  feierlicher  Reden  und  Gesänge  in  der  Tora 
ist,  wodurch  denn  in  den  Eingängen  die  Selbstbetonung 
in  größerer  oder  geringerer  subjektiver  Länge  erfolgt. 

Ihr  zur  Seite  gehen  die  objektiven  Längen,  die,  v/eil 
von  verschiedenen  Gesichtspunkten  ausgehend,  unter  sich 
verschieden  sind.  Hierher  gehören  zunächst  die  auch  bei 
den  klassischen  Epikern  sich  findenden,  mit  eingeschach- 
telten Wiederholungen  versehenen  Erzählungen  von  soge- 
nannter epischer  Breite.  Die  naive  Freude  des  Erzählers 
teilt  sich  unwillkürlich  auch  dem  Leser  oder  Zuhörer  mit 
und  verhindert,  daß  die  Wiederholungen  Langeweile  in 
ihm  hervorbringen. 

1.  Das  Standardbeispiel  dieser  Gattung  ist  die  Braut- 
werbung Eliesers  (I.  B.  Mos.  24).  Für  diese  behagliche, 
durch  Wiederholung  ausgesponnene  Erzählung  bietet  der 
Midrasch    die    Erklärung,    daß  Gott  an  der  Erzählung  des 


150  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

Patriarchendieners  mehr  Gefallen  gefunden  habe,  als  an 
der  Unterweisung  der  Nachkommen  der  Erzväter,  da  die 
Geschichte  von  der  Brautwerbung  Eliesers  doppelt  in  der 
Tora  vorkomme,  während  wichtige  Lehren  bloß  angedeutet 
seien.  Damit  ist  aber  nur  eine  natürliche  Erscheinung  erklärt, 
nämlich  die  von  dem  Erzähler  auf  den  Leser  oder  Zuhörer 
übergehende  Freude  an  dem  Bericht.  Wir  können  uns  an 
einer  schönen  Geschichte  nicht  satt  hören.  So  geht  es 
uns  auch  bei  dieser  Geschichte,  und  es  ist  das  Geheimnis 
der  Erzählungskunst,  daß  wir  offenbare  Längen  nicht  nur 
nicht  als  solche  empfinden,  sondern  uns  dabei  noch  für 
zu  kurz  abgespeist  halten.  Es  wäre  aber  ein  Irrtum,  wenn 
wir  mit  dieser  allgemeinen  Charakteristik  die  Erzählungs- 
kunst der  Tora  für  erschöpft  halten  wollten.  Die  Geschichte 
von  der  Brautwerbung  Eliesers  erteilt  darüber  die  beleh- 
rendsten Fingerzeige.  Einmal  ist  die  Wiederholung  keine 
sklavisch  getreue,  sondern  es  sind  hie  und  da  scheinbar 
belanglose  Änderungen  angebracht,  die  uns  aber  wie  plötz- 
lich aufblitzende  Lichter  die  feinsten  Züge  an  den  Beteiligten 
wahrnehmen  lassen.  Eine  der  bemerkenswertesten  dieser 
Änderungen  besteht  darin,  daß  Elieser,  während  er  in  dem 
Bericht  des  Erzählers  Rebekka  zuerst  beschenkt  (das.  \y 
22)  und  nachher  über  ihre  Herkunft  befragt  (das.  v.  23), 
in  seinem  eigenen  Berichte  die  Vorgänge  umkehrt.  Diese 
Änderung  ist  natürlich  schon  den  Alten  aufgefallen  und 
von  ihnen  besprochen  worden.  Sie  ist  darauf  zurückzu- 
führen, daß  der  Erzähler  das  felsenfeste  Gottvertrauen 
Eliesers  bezeugt.  Für  ihn  war  nach  dem  Eintreffen  des 
verabredeten  Zeichens,  nämlich  der  Tränkung  der  Kameele, 
der  Erfolg  bereits  gewiß  und  jeder  Irrtum  ausgeschlossen. 
Würde  nun  Elieser  selbst  den  Vorgang  so  wie  er  sich  tat- 
sächlich abgespielt,  berichtet  haben,  so  hätte  er,  um  seine 
scheinbare  Voreiligkeit  zu  begründen,  auf  sein  Gottver- 
trauen sich  berufen  müssen,  wodurch  er  sich  aber  einer 
anmaßlichen  Selbstsicherheit  schuldig  gemacht  haben  würden 


Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel.  15f 

Deshalb  änderte  er  die  Reihenfolge  der  Vorgänge,  wodurch 
in  dem  mit  dem  tatsächlichen  Sachverhalt  vetrauten  Leser 
eine  stille  Bewunderung  Eliesers  erweckt  wird,  die  dessen 
bescheidene,  seine  Voraussicht  unterdrückende  Darstellung 
notwendig  hervorbringen  muß.  Dies  sind  ungemein  feine  und 
wirksame  Beleuchtungseffekte  in  dieser  Erzählung,  die  auf 
die  natürlichste  und  ungezwungenste  Weise  herbeigeführt 
werden.  Daß  Elieser  ferner  in  seinem  Eigenberichte  den 
Wert  des  Rebekka  übergebenen  Geschenkes  verschweigt, 
ist  bei  der  vornehmen  Haltung,  die  wir  nun  bereits  an  ihm 
wahrgenommen  haben,  selbstverständlich,  aber  der  Erzähler 
seinerseits  sieht  sich  umso  mehr  zur  genauen  Wertangabe 
veranlaßt,  um  die  Vornehmheit  Elieser's  in  die  richtige  Be- 
leuchtung zu  rücken.  Auch  die  Art,  wie  er  sich  vorstellt, 
entspricht  dieser  Haltung.  »Der  Knecht  Abrahams  bin  ich« 
(das.  34).  Das  »Ich«  kommt  zuletzt.  Der  Talmud  (Bab. 
kamma  92b)  allerdings  erklärt  diese  Vorstellung  mit  dem 
Sprichwort,  daß  man  eine  nicht  gerade  schmeichelhafte 
Eigenschaft,  die  man  etwa  besitzt,  lieber  selber  angebe, 
ehe  man  von  anderen  dazu  genötigt  und  in  Verlegenheit 
gebracht  wird.  Aber  ein  Knecht  Abrahams  zu  sein,  erschien 
in  den  Augen  Elieser's  gewiß  nicht  unehrenhaft.  Er  unter- 
läßt es  sogar,  sich  den  vornehmeren  Titel  eines  Hausver- 
walters Abrahams  beizulegen,  womit  dieser  ihn  ausge- 
zeichnet hat  (das.  15, 2).  So  schlingen  sich  durch  die  Wieder- 
holung feine  Änderungen,  die  wie  glitzernde  Edelsteine 
das  bereits  Bekannte  in  immer  neuer,  reizvoller  Beleuchtung 
zeigen.  Insoferne  gehört  diese  Schilderung  des  schon  an  sich 
anmutigen  Vorganges  zu  den  glänzendsten  Zeugnissen  der 
biblischen  Erzählungskunst,  insbesondere  belehrt  sie  dar- 
über, wie  man  lang  sein  kann,  ohne  langweilig  zu  werden. 
2.  Wenn  vorhin  die  Meinung  der  alten  Lehrer,  daß 
die  Tora  mit  der  wiederholentlichen  Erzählung  von  der 
Brautwerbung  Eliesers  eine  Auszeichnung  desselben  beab- 
sichtige, als  eine  agadische,  wissenschaftlicher   Auffassung 


152  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

nicht  entsprechende  Erklärung  bezeichnet  wurde,  so  gibt 
es  für  manche  Wiederholungen  und  Längen  der  Tora  in 
der  Tat  keine  andere.  So  für  die  zwölfmalige  Aufzählung 
der  einander  buchstäblich  gleichen  Darbringungen  der 
Stammesfürsten  nach  der  Tempelweihe  (IV.  B.  Mos.  7, 
12  ff).  Man  wird  hier  der  Erklärung  Nachmanides  beistim- 
men müssen,  der  bemerkt,  daß  »die  Tora  absichtlich  Na- 
men, Opfer  und  Opfertage  jedes  einzelnen  Stammesfürsten 
angibt,  sich  aber  nicht  damit  begnügt,  bloß  den  ersten  mit 
einer  genauen  Beschreibung  seiner  Konsekration  zu  ver- 
sehen und  dann  bezüglich  der  anderen  darauf  zu  verwei- 
sen, denn  diese  summarische  Behandlung  wäre  eine  Ver- 
kürzung der  Ehre  der  übrigen  gewesen.«  Von  diesem  Ge- 
sichtspunkte ist  offenbar  auch  die  siebenmalige  Aufzählung 
der  an  den  Hüttenfesttagen  darzubringenden  Opfer  zu  be- 
urteilen, die  abgesehen  von  der  ungleichen  Zahl  der  Farren 
ganz  gleich  sind  (das.  29,  13  ff).  Es  sollte  eben  durch  die 
Wiederholung  jeder  Tag  als  ein  besonderer  Festtag  deklariert 
werden,  während  es  in  der  Vorschrift  über  die  an  den 
sieben  Tagen  des  Pessachfestes  darzubringenden  Opfer 
summarisch  heißt:  »So  sollt  ihr  opfern  täglich  sieben  Tage 
lang  usw.«  (das.  28,  24).  Mit  dieser  Auffassung  stimmt  be- 
kanntlich die  traditionelle  Liturgie  vollständig  überein. 
Derselbe,  in  dem  Vorstehenden  nachgewiesene  Gesichts- 
punkt der  Tora  war,  wie  man  nunmehr  einsehen  wird,  für 
sie  bestimmend  zu  der  ausführlichen  Behandlung  der  auf 
die  Stiftshütte  bezüglichen  Vorschriften  und  ihrer  Durch- 
führung. Es  herrscht  eben  eine  vollständige  Gleichmäßig- 
keit hinsichtlich  der  Anwendung  der  Kürze  und  Länge  in 
allen  Büchern  der  Tora,  wenn  auch,  was  die  Länge  betrifft, 
das  vierte  Buch  davon  die  meisten  Proben  darbietet. 

3.  Besonders  hervorzuheben  ist  in  dieser  Richtung 
die  ungemein  in  die  Länge  gezogene  Verhandlung  Moses' 
mit  den  beiden  Stämmen  Rüben  und  Gad  über  ihre  An- 
siedlung  in  Gilead  (das.  c.  32).  Nach  vorgängiger  Beseitigung 


Kürzen  uad  Längen  in  der  Bibel.  153 

des  Mißverständnisses,  als  ob  die  Stämme  an  der  Erobe- 
rung Palästinas  sich  nicht  beteiligen  wollten,  wäre  eigent- 
lich bis  auf  die  von  Moses,  wie  bereits  oben  erwähnt 
wurde,  auf  feine  Weise  gerügte  Bevorzugung  der  Schafe 
vor  den  Kindern  alles  in  Ordnung.  Nun  aber  beginnen  erst 
ausgedehnte  Wechselreden.  Eine  Weitläufigkeit,  die  auch 
dann  noch  auffallend  bleibt,  wenn  man  mit  dem  Talmud 
diese  Abmachung  als  das  Substrat  und  Vorbild  für  bedin- 
gungsweise Verträge  betrachtet,  laut  welcher  Auffassung 
R.  Meir  den  Satz  aufgestellt  hat :  »Jeder  bedingungsweise 
Vertrag,  der  nicht  in  der  Form  des  mit  den  Stämmen 
Rüben  und  Gad  abgeschlossenen  Vertrages  konzipiert  wird, 
ist  ungültig«  (Kidduschin  61a).  Aber  die  Wechselreden  ge- 
winnen eine  wahrhaft  künstlerische  Bedeutung  von  großer 
Tragweite,  sobald  man  an  der  Hand  Isak  Arama's  in  Akeda 
z.  St.  erkennt,  daß  es  sich  dabei,  abgesehen  von  ihrem 
soeben  besprochenen  juristischen  Zweck,  um  eine  in  feiner 
Weise  durchgeführte  ethische  Absicht,  nämlich  um  die  an 
die  Stämme  wegen  ihres  Hochmuts  und  gänzlicher  Außer- 
achtlassung Gottes  gerichtete  und  erfolgreiche  Zurecht- 
weisung handelt.  Die  Stämme  sagen:  »Wir  wollen  uns 
wacker  rüsten  vor  den  Kindern  Israels,    bis    daß    wir   sie 

gebracht  haben  an  ihre  Stelle Wir    werden    nicht 

zurückkehren  in  unsre  Häuser,  bis  die  Kinder  Israel 
für  sich  erworben  haben,  jeder  sein  Erbe«  (das.  v.  IG  ff). 
Hier  ist  von  Gott  mit  keinem  Worte  die  Rede,  alle  voraus- 
sichtlichen Erfolge  schreiben  die  Stämme  sich  selbst  zu. 
Nun  beachte  man,  wie  Moses  in  seiner  Antwort  die  ver- 
messene Rede  der  Stämme,  ohne  es  ausdrücklich  hervor- 
zuheben, aber  dennoch  völlig  verständlich  rektifiziert ! 
»Wenn  ihr  das  tut,  wenn  ihr  euch  rüstet  vor  dem 
Ewigen  zum  Kampfe,  und  es  zieht  von  euch  jeder  Ge- 
rüstete über  den  Jordan  vor  dem  Ewigen,  bis  er  aus- 
getrieben hat  seine  Feinde  vor  ihm,  und  ist  das  Land 
unterworfen    vor   dem  Ewigen,    und  ihr  kehrt  hernach 


154  Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel. 

zurück,  so  seid  ihr  schuldfrei  vor  dem  Ewigen  und  vor 
Israel,  und  dieses  Land  bleibe  euch  zum  Besitze  vor 
dem  Ewigen.  Wenn  ihr  aber  nicht  also  tut,  siehe,  so 
habt  ihr  gefehlt  gegen  den  Ewigen....«  (das.  v. 
20  ff). 

Es  genügt  die  bloße  Wiedergabe  der  Antwort  Moses, 
um,  wenn  man  einmal  auf  die  durch  den  Druck  hervor- 
gehobenen Stellen  aufmerksam  geworden  ist,  die  still  ver- 
haltene Zurechtweisung  herauszufühlen.  Statt  die  Stämme 
abzukanzeln,  schiebt  Moses  bloß  zwischen  ihre  eigenen  Worte, 
deren  er  sich  absichtlich  in  seiner  Entgegnung  bedient,  Gott 
als  denjenigen  ein,  auf  den  alles  ankommt  und  dessen  bloße 
Werkzeuge  die  Menschen  sind.  Die  Stämme  haben  denn 
auch  den  Wink  verstanden  und  geben  dies  zu  erkennen, 
wenn  sie,  was  sonst  überflüssig  wäre,  noch  einmal  an- 
heben :  »Deine  Knechte  werden  tun,  sowie  mein  Herr  ge- 
bietet   und  deine  Knechte  werden  hinüberziehen,  alle 

Gerüstete  zum  Heere,  vor  dem  Ewigen  in  den  Krieg, 
sowie  mein  Herr  redet«  (das.  v.  25  ff).  Dieselbe  auf  Gott 
hinweisende  Rede  und  Gegenrede  findet  sich  denn  auch 
in  der  Ansprache  Moses'  an  seine  Nachfolger  und  in  der 
Erwiderung  der  Stämme,  wodurch  die  große  Ausführlichkeit 
in  dem  Berichte  über  diese  Angelegenheit  ihre  befriedigende 
Erklärung  findet. 

4.  Am  Schlüsse  dieser  Abhandlung  zum  1.  Buche  der 
Tora  zurückkehrend,  möchte  ich  noch  auf  die  Ansprache 
Juda's  an  Josef  (44,  18  ff.)  aufmerksam  machen,  von  der 
Nachmani  sagt,  daß  er  ihre  Länge  nicht  verstehe.  Nach 
der  von  ihm  versuchten  Erklärung  enthält  die  Rede  den 
versteckten  Vorwurf  einer  von  Josef  angestellten  und  auf 
die  Zurückbehaltung  Benjamins  angelegten  Intrigue,  worauf 
auch  eine  Bemerkung  der  alten  Lehrer  hindeutet.  Ist  man 
einmal  bis  zu  dieser  Annahme  gekommen,  so  bedarf  es  nur 
eines  Schrittes  bis  zu  der  Vermutung,  daß  in  den  Brüdern 
die  Wiedererkennung  Josefs  aufdämmert.  Gewißheit  konnte 


Kürzen  und  Lägen  in  der  Bibel.  155 

darüber  nur  dadurch  erzielt  werden,  daß  Josef  Kenntnis 
von  dem  durch  die  Zurückbehaltung  Benjamins  zu  befürch- 
tenden tödlichen  Eindruck  auf  den  schon  ohnehin  tief  er- 
schütterten Vater  erlange.  Dieser  Aufgabe  unterzieht  sich 
Juda,  sie  begründet  den  Inhalt  und  die  Länge  seiner  Aus- 
führungen. 


Die  Ecke  mit  der  letzten  Garbe. 

Von  Ludwig1  Levy. 

Zahlreiche  germanische  Erntebräuche  gingen  aus  dem 
Glauben  hervor,  mitten  im  Getreide  halte  sich  ein  Dämon 
auf,  welcher  beim  Schneiden  des  Kornfeldes  vor  den  Strei- 
chen der  Sichel  immer  weiter  zurückweiche,  sich  immer 
tiefer  in  das  Feld  zurückziehe,  bis  er  schließlich  zwischen 
den  letzten  Halmen  gefangen  werde.  Setzte  der  Wind  die 
Ähren  des  Getreideackers  leiser  oder  stärker  in  wellen- 
förmige Bewegung,  so  sah  die  Phantasie  des  Volkes  den 
»Windhund«  oder  »Windwolf«  durch  das  Getreide  schlei- 
chen. Kam  der  Schnitter  mit  der  Sichel  ins  Feld,  um  die 
reifen  Ähren  zu  schneiden,  so  flüchtete  sich  der  Hund  oder 
Wolf,  der  bei  Windstille  träge  zwischen  den  Halmen  des 
Ackers  lag  oder  im  Sturme  heulend  aufraffte,  was  er  an 
Ähren  in  die  Höhe  reißen  konnte,  vor  der  menschlichen 
Arbeit  immer  weiter,  bis  die  Halme  der  letzten  Ecke  sein 
letztes  Versteck  wurden1).  Ohne  mit  den  Halmen  selbst 
identifiziert  zu  werden,  waren  die  Korngeister  doch  in 
einem  sehr  hohen  Grade  an  Leben  daran  gebunden. 
Nach  einer  weitverbreiteten  Vorstellung  war  das  Abschnei- 
den des  Getreides  und  Grases  zugleich  der  Tod  des  darin 
wohnenden  Dämons.  Die  Tötung  des  Korndämons  aber,  ob 
er  nun  Roggenwolf,  Erntebock,  Roggenhund,  Roggenmuhme 
oder  Roggenmutter  oder  noch  anders  hieß,  war  ein  Frevel, 
der  den  Tod  des  Täters  zur  Folge  hatte.  Daher  vielfach 
der   Aberglaube,    der   Schnitter    der   letzten  Garbe    müsse 

')   Mannhardt,    Roggenwolf    und    Roggenbund,    Danzig    1865, 
S.  1,  5,  20. 


Die  Ecke  mit  der  letzten  Garbe.  157 

sterben1).  Durch  diese  Furcht  entstand  aus  der  wohl  äl- 
teren, weil  primitiveren,  theriomorphischen  Form  der  Sitte, 
die  in  der  Gefangennahme  des  Dämons  in  der  letzten  Garbe 
gipfelte,  der  Glaube  an  eine  menschlich  gestaltete  Gottheit, 
die  über  das  Gedeihen  des  Feldes  wacht,  und  der  der 
Mensch  in  demütiger  Verehrung  die  letzten  Erntebüschel 
weiht.  Diese  Sitte  bestand  z.  B.  früher  in  Mecklenburg,  wo 
man  für  Wodans  Roß  die  letzten  Halme  ungemäht  auf 
dem  Acker  stehen  ließ.  Eine  Mischung  beider  Formen  der 
Erntesitte  findet  sich  in  Groß-Trebbow  bei  Schwerin,  wo 
die  letzten  Ähren  nicht  vom  Felde  geholt  werden,  sondern 
dem  Wolf  als  Futter  für  sein  Pferd  stehen  bleiben2). 

Weitverbreitet  ist  auch  die  Vorstellung,  man  müsse 
dem  Dämon  ein  Büschel  Ähren  auf  dem  Felde  bei  der  Ernte 
übrig  lassen,  damit  er  sich  davon  den  Winter  über  nähren 
könne.  Denn  der  Dämon  lebe  von  dem  Getreide,  das  er 
um  seiner  eigenen  Ernährung  willen  hervorbringe,  wie  die 
Biene  zu  ihrer  Speise  den  Honig  zusammenträgt.  Der  Mensch 
nimmt  ihm  die  Früchte  seiner  Tätigkeit  zum  Gebrauch  für 
sich  selbst,  ist  aber  verpflichtet,  ihm  wenigstens  einen  Rest  zu 
lassen.  Daher  ließ  man  in  der  Gegend  von  Gardelegen  einige 
Halme  auf  dem  Acker  stehen  mit  den  Worten:  »Das  solider 
Bock  behalten.«  Im  südlichen  Schweden  entspricht  der  deut- 
schen Roggenmutter  die  Gloso.  Für  sie  läßt  der  Bauer  einige 
ungemähte  Ähren  auf  dem  Felde,  einige  Äpfel  auf  dem 
Baume  zurück  mit  der  ausdrücklichen  Bestimmung :  »Das 
soll  die  Gloso  haben«8). 

Läßt    man    beim  Schneiden   der  Frucht    der  Roggen- 
mutter etwas  Getreide  übrig,  so  sagt  man  : 
Wir  geben's  der  Alten, 
Sie  soll  es  behalten, 

J)  Mannhardt,  Die  Korndämonen,  Berlin  1868,  S.  5. 
8)  Roggenwolf  S.  44. 

3)  Korndämonen  S.  8,  auch  Mannhardt,  Antike  Wald-  und  Feld- 
kulte. Berlin  1877,  S.  170. 


158  Die  Ecke  mit  der  letzten  Garbe. 

Sie  sei  uns  im  nächsten  Jahr 
So  gut,  wie  sie  es  diesmal  war1). 

Wenn  man  dem  Korndämon  nicht  einen  Rest  des 
Getreides  als  Unterhalt  für  den  Winter  auf  dem  Felde  stehen 
läßt,  fällt  er  dem  Bauer  im  Winter  in  die  Scheune  und 
frißt  sie  leer2). 

Wir  stehen  hier  vor  einem  Brauche,  der,  wie  es  scheint, 
auf  der  -ganzen  Erde  heimisch  war.  So  berichtet  auch  Hol- 
werda  in  der  »Religion  der  Griechen«8)   von    der  Gottheit, 
die  in  jedem    fruchtbestandenen  Felde    haust,    und    sobald 
man  zu  mähen  anfängt,    mit   jedem  Schwaden,    der    unter 
den  Streichen  der  Sichel  fällt,  zurückweicht,  bis  ihr  endlich 
nur  die  letzte  Garbe   als  Zufluchtsort   verbleibt,    die    dann 
als  das  die  Gottheit  enthaltende  Idol  betrachtet  wird.  Aber 
auch    heute    noch    ist    diese    Vorstellung    in     Hinterindien 
lebendig,  und  zwar  umfaßt  dort   der  Brauch    nach  Bastian 
außer    den    Getreidefeldern    auch    die  Wälder.    »Ist  es  zur 
Urbarmachung  des  Bodens  notwendig,    die  Wälder   auszu- 
roden, so  überläßt  man  dieses  bedenkliche  Geschäft  gerne 
verachteten  Rassen,   die,   um   das  Ärmliche    ihrer  Lage   zu 
erleichtern,  auch  sündhafte  Schandtaten  nicht  scheuen,  und 
dem  Zorne  der  Götter  zu  trotzen  wagen.     In    Hinterindien 
sind    besonders    die   Karen    damit    beauftragt,    und     nach 
Schv/eden  berief  man  die  Finnen.  Stets  aber  läßt  man  dem 
Geistervolk   des    Waldes    einen    Teil   seiner   früheren    Be- 
hausung zurück,  seien  es  auch  nur  ein  paar  kahle  Stümpfe 
auf  der  Stelle  des  früheren  Waldes.  Dieser  Stumpf  ist  dann 
selbst  ein   Gott  und  mag  durch    hermesartige    Gesichtsan- 
schnitzung  bis  zur  Statue  verschönt  werden«4). 


J)  Korndämonen.  S.  22. 

8)  Antike  Wald-  und  Feldkulte  S.  170,  192. 

3)  In  Chantepie  de  la  Saussaye,  Religionsgeschichte  *  II,  S  252 

4)  Bastian,  Der  Baum  in  vergleichender  Ethnologie,  Zeitschrift 
f.  vergl.  Völkerpsychologie,  V,  1.  288.  300.  Über  die  Parallelen  im 
griechischen  Brauch  bei  der  Eiresione  vgl.  Mannhardt,  Antike  Wald- 


Die  Ecke  mit  der  letzten  Garbe.  159 

Sollten  wir  in  diesem  über  große  Teile  der  Erde  ver- 
breiteten und  zweifellos  in  graue  Vorzeit  zurückreichenden 
Brauche,  die  Ecke  mit  den  letzten  Ähren  stehen  zu  lassen, 
nicht  eine  Analogie  zu  dem  Gebot  Lev.  19,  9  und 
23,  22  vor  uns  haben :  »Wenn  ihr  erntet  in  eurem  Lande, 
so  sollst  Du  nicht  ganz  abernten  die  Ecke  Deines  Feldes?« 
Es  wäre  denkbar,  daß  Israel  den  Brauch  schon  vorfand 
und  zwar  in  der  heidnischen  Form,  nach  der  man  die  Ecke 
ungemäht  den  Dämonen  stehen  ließ.  Diesen  Brauch  hätte 
dann  Israel  übernommen,  ihm  zugleich  aber  eine  Wendung 
ins  Ethische  gegeben  durch  die  schöne,  menschenfreundliche 
Bestimmung,  die  Ecke  solle  für  die  Armen  und  Dürftigen, 
die  nichts  zu  ernten  haben,  übrig  bleiben.  Darin  besteht 
ein  Teil  der  religionsgeschichtlichen  Bedeutung  des  Volkes 
Israel,  daß  es  manches  vorgefundene,  ursprünglich  wertlose 
Gut  umprägte  und  in  eine  höhere  Sphäre  hob.  Beweisen 
läßt  sich  diese  Vermutung  wohl  nicht.  Sie  bleibt  eine 
Hypothese.  Aber  selbst  wenn  sie  der  Wahrheit  nicht 
entsprechen  sollte,  bleibt  es  völkerpsychologisch  interessant 
und  charakteristisch,  daß  sowohl  bei  den  heidnischen  Völkern 
als  bei  Israel  die  Ecke  des  Feldes  nicht  abgeerntet  wurde 
und  stehen  blieb,  bei  den  Heiden  für  die  Dämonen,  in  Is- 
rael —  für  die  Armen. 


und  Feldkulte   S.  237.    Über   ähnliche   Bräuche    auf    Formosa,    siehe 
Mannh.  Roggenwolf,  S.  22. 


Nachbemerkung.  Der  vorstehende  Aufsatz  lag  mir  längst 
vor,  als  v.  Qalls  Abhandlung  1910  in  den  ZATW  erschien.  Da  der 
Herr  Verfasser  etwas  reichhaltigeres  Material  beibringt  und  durchaus 
selbständig  zu  seinem  Ergebnis  gelangt  ist,  lasse  ich  seine  Darlegungen 
auch  heute  noch  unverändert  in  die   Öffentlichkeit  gehen.     M.  Br. 


Wie  verMelt  sich  das  Judentum  zu  Jesus  und  dem 
entstehenden  Christentum? 

Von  M.  Freimann. 

(Schluß1).) 

Versuchen  wir,  uns  verständlicher  zu  machen. 

In  den  mittleren  Dezennien  des  ersten  christlichen 
Jahrhunderts,  in  denen  die  jüdische  Nation  in  Todeszuckungen 
lag,  unter  dem  unerträglichen  Druck  der  römischen  Gewalt- 
herrschaft sich  windend,  hatte  die  Sehnsucht  nach  dem 
Erscheinen  des  Messias  die  höchste  Spannung  erreicht.  Da 
und  dort  tauchten  falsche  Messiasse  auf,  Betrüger  und  be- 
trogene Betrüger:  und  sie  alle  schürten  die  Flamme  der 
Empörung  gegen  Rom,  versprachen,  das  Land  aus  den 
gierigen  Krallen  der  habsüchtigen  und  blutgierigen  Proku- 
ratoren zu  befreien  und  fanden  zahlreichen  Anhang.  In  Rom 
erkannte  man  nur  zu  bald  die  Gefahr,  die  von  Seite  der 
durch  die  Messiaserwartungen  bis  zum  Wahnwitz  erhitzten 
jüdischen  Volksmassen  drohte  und  man  unterdrückte  mit 
großer  Härte  jede  revolutionäre  Regung,  bewachte  mit 
Argusaugen  jede  Ansammlung.  Aus  Rom  selbst  vertrieb 
Claudius  die  »von  einem  Christus  aufgewiegelten,  unaufhör- 
lich tumultuierenden  Juden2«).  Man  war  hier  eben  gut  unter- 
richtet über  den  nationalen  Charakter  der  messianischen 
Bewegung  und  wußte,  daß  er  um  so  gefährlicher  sei,  als  er 
aus    einem    religiösen  Fanatismus    seine  Nahrung  sog  und 

>)  Vgl.  Jahrg.  1910,  S.  697  tf. 

2)  Suet.  Claud.  25:  Judaeos  impulsore  Chresto  assidue  tumul- 
tuantes  Roma  expulit.  Daß  die  Römer  statt  »Christus«  (Messias) 
sChrestus«  hörten  und  aussprachen,  wissen  wir  von  Tertullian,  Apol.  3.. 
wo  dieser  den  Heiden  zuruft:  Sed  cum  perperam  Chrestianus  pro- 
nunciatur  a  vobis  (nam  nee  nominis  certa  est  notitia  penes  vos)  de 
suavitate  vel  benignitate  compositum  est.  Cf.  Justin.  Apol.  I,  3. 


Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus  etc.  161 

daß  er  nicht  bloß  die  Befreiung  von  Rom  anstrebte,  son- 
dern sogar  die  Weltherrschaft  verhieß.  »Die  Meisten«,  so 
berichtet  Tacitus  aus  jener  tief  aufgewühlten  Zeit,  »lebten 
der  Überzeugung,  es  sei  in  den  Schriften  der  Priester  ver- 
heißen, daß  der  Orient  um  diese  Zeit  erstarken  und  daß 
die  aus  Judäa  Ausgehenden  die  Weltherrschaft  erringen 
werden«1).  Und  bei  Suetonius  lesen  wir:  »Es  herrschte  im 
ganzen  Orient  eine  alte  und  beharrliche  Meinung, 
es  sei  vom  Schicksal  bestimmt,  daß  um  diese  Zeit  die  aus 
Judäa  Ausgehenden  die  Weltherrschaft  an  sich  reißen  wer- 
den. Diese,  wie  der  Ausgang  lehrt,  dem  römischen  Impe- 
rator geltende  Verheißung,  bezogen  die  Juden  auf  sich 
und  empörten  sich«2).  Ebenso  bestätigt  Josephus,  daß  die 
sichere  Erwartung,  der  Messias  werde  eingreifen,  die  Juden 
zur  Empörung  gegen  Rom  trieb.  »Was  die  Juden«,  sagt  er, 
»am  meisten  zum  Aufstande  anfeuerte,  war  ein  zweideu- 
tiges Orakel  in  ihren  Schriften,  dahin  lautend:  ,in  jenen 
Tagen  werde  Einer  aus  ihren  Grenzen  ausgehen  und  die 
Welt  beherrschen'.  Dies  bezogen  sie  auf  einen  Einheimi- 
schen, und  viele  Schriftgelehrte  wurden  in  der  Erklärung 
irre.  Offenkundig  aber  bezog  es  sich  auf  Vespasian,  der  in 
Judäa  zum  Kaiser  ausgerufen  wurde«3).  Die  jüdische  Sibylle 
spricht  schon  um  die  Mitte  des  zweiten  vorchristlichen 
Jahrhunderts  von  der  zu  erwartenden  jüdischen  Weltherr- 
schaft, drückt  aber  diese  Hoffnung  noch  verblümt  aus,  in- 
dem sie  das  jüdische  Volk  erstarren  und  »zum  Wegweiser 
des  Lebens  aller  Sterblichen«  werden  läßt4). 

!)  Hist.  V,  13:  Pluribus  persuasio  inerat  antiquis  sacerdotum 
litteris  contineri,  eo  tempore  fore  ut  valesceret  oriens,  profecti  Judaea 
rerum  potirentur. 

*)  Suet.  Vesp,  4:  Percrebuerat  Oriente  toto  vetus  et  constans 
opinio,  esse  in  fatis,  ut  eo  tempore  Judaea  profecti  rerum  potiren- 
tur etc. 

')  B.  J.  VI,  5,  4. 

4)  Orac.  sib.  III,  195:  xal  tot'  &&voc  u-e^oto  0toü  rcaXiv 
xapxcpov   egtoci,   Ot  TCavTEffct  ßpofoT<n  ßiou  xatrofrrrfoi  e<T<TOVT0U. 

Monatsschrift.  65.  Jahrgang.  1 1 


162  Wis  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

Alle  diese  Zeugnisse  beweisen,  daß  man  in  Rom  gar 
wohl  wußte,  wessen  man  sich  von  der  messianischen  Be- 
wegung zu  versehen  hatte,  weshalb  man  sehen  unter 
Claudius,  wo  man  doch  von  einem  Christus  Jesus  noch 
nichts  wußte,  die  aufständischen  Bewegungen  in  der  Juden- 
schaft auf  messianische  Aufwiegelungen  (impulsore  Chresto) 
zurückführte.  Ja  man  hatte  sogar  davon  Kenntnis,  daß 
dieser  Christus  aus  dem  Davidischen  Königshause  hervor- 
gehen werde,  und  noch  unter  Trajan  wurde  nach  messia- 
nistischen  Sprößlingen  aus  dem  Hause  Davids   gefahndet1). 

Dieses  vorausgeschickt,  läßt  sich  die  Verurteilung 
Jesu  besser  verstehen. 

Warum  ließ  der  herodäische  Vierfürst  Antipas  den 
Täufer  in  den  Kerker  werfen  und  enthaupten?  Josephus 
gibt  uns  darauf  eine  bündige  Antwort.  Die  Bewegung  war 
eine  messianische,  und  »Herodes  begann  zu  fürchten, 
die  hinreißende  Beredsamkeit  des  Mannes,  die  eine  solche 
Macht  auf  die  Menschen  ausübte,  möchte  leicht  einen  Auf- 
ruhr herbeiführen;  darum  hielt  er  es  für  angezeigter,  ihn 
früher  aus  dem  Wege  zu  räumen,  bevor  noch  irgend 
eine  Neuerung  von  ihm  ausgegangen,  als  später  nach  einer 
bereits  erfolgten  Umwälzung  die  Unschlüssigkeit  bereuen 
zu  müssen.  — Auf  diesen  Argwohn  hin  wurde  Johannes 
in  Fesseln  geschlagen  und  enthauptet«2). 

Ein  bloßer  Argwohn  also  genügte  in  jenen  Zeiten, 
um  selbst  völlig  unpolitische,  rein  religiöse  Bewegungen, 
wie  die  zur  Buße  und  zur  Taufe  auffordernde  Johanneische 
zu  ersticken  und  den  unschuldigen  Urheber  aus  dem  Wege 
zu  räumen.  Und  warum  floh  Jesus,  als  ihn  die  Nachricht 
von  der  Hinrichtung  des  Täufers  traf?  Nun,  weil  ja  der- 
selbe Argwohn  auch  ihm  verhängnisvoll  werden  konnte. 
Auch  er  hatte  einen  starken  Anhang  im  Volke  und  ver- 
folgte anfänglich  die  gleiche  Mission.    Was  half  es  da,  daß 

>)  VgL  Htgesipp  bei  Euseb.  H.  E.  III,  32. 

»)  Ast.  XVIII,  5,2. 


und  dem  entstehenden  Christentum?  163 

er  erklärte,  der  Politik  völlig  fern  zu  stehen,  da  sein  Reich 
nicht  von  dieser  Welt?  Es  war  eine  Zeit,  in  der  man  nicht 
mehr  nach  der  Ursache  einer  Ansammlung  fragte,  sondern 
sie  blind  unterdrückte.  Die  bleiche  Furcht  vor  dem  Ge- 
spenst des  Messianismus,  der  horror  vor  den  Judaeis  im- 
pulsore  Chresto  assidue  tumultuantibus  hielt  nicht  bloß 
die  römischen  sondern  auch  die  Herodäischen  Machthaber 
in  Atem  und  trieb  sie  an,  unterschiedlos  jede  Volksan- 
sammlung zu  unterdrücken. 

Nicht  ohne  geschichtlichen  Untergrund  läßt  die  Sage 
schon  den  ersten  Herodes  aufs  tiefste  erschrecken,  als  er 
vernimmt,  daß  die  Weisen  vom  Morgenlande  den  Stern 
des  neugeborenen  Königs  der  Juden  aufgehen  gesehen,  und 
»alle  Hohenpriester  und  Schriftgelehrten  versammeln,  um 
von  ihnen  zu  erforschen,  wo  Christus  sollte  geboren  wer- 
den.« Und  als  er  erfuhr,  daß  geweissagt  sei,  seine  Geburt 
werde  in  Bethlehem-Juda  erfolgen,  habe  er  alle  Kinder 
daselbst  tödten  lassen.  Der  geschichtliche  Kern  der  Sage 
ist  aber  der,  daß  im  Volke  schon  zur  Zeit  des  ersten  He- 
rodes die  Hoffnung  auf  das  baldige  Erscheinen  des  Mes- 
sias lebendig  war,  und  daß  die  Machthaber  argwöhnisch 
die  messianischen  Regungen  belauerten,  entschlossen,  sie 
im  Keime  zu  ersticken. 

Jesus  nun,  der  stets  von  Volksmassen  umgeben  war, 
wußte  sich  von  allem  Anfang  dem  Tode  geweiht.  Um  aber 
nicht  schon  am  Beginn  seiner  Lehrtätigkeit  hinweggerafft 
und  an  der  Verbreitung  seiner  Botschaft  gehindert  zu  wer- 
den, vermied  er  es  sorgfältig,  den  Verdacht  zu  erregen,  als 
Messias  auftreten  zu  wollen.  Darum  verbot  er  seinen  Jün- 
gern, die  in  ihm  den  erwarteten  Messias  zu  erblicken  an- 
fingen, diese  ihre  Vermutung  laut  werden  zu  lassen.  Und 
wie  wenig  er  tatsächlich  aus  seiner  Reserve  heraustrat, 
seine  ganze  Wirksamkeit  auf  die  Volksbelehrung  und  auf 
Krankenheilung  beschränkend,  lehrt  am  deutlichsten  die 
Tatsache,  daß  Josephus,  der  von  jeder  nur  irgendwie  be- 
ll* 


164  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

merkenswerten  Bewegung  seiner  Zeit  Notiz  nimmt,  vorr 
Jesus  keine  Kenntnis  hat,  während  er  den  Täufer  und  die 
von  ihm  hervorgerufeneTaufbewegunghaarscharf  zeichnet  und 
auch  sonst  von  verschiedenen  falschen  Messiasen  zu  berichten 
weiß.  Und  schließlich  entzog  sich  Jesus  der  Aufmerksam- 
keit der  Machthaber  dadurch,  daß  er  Jerusalem,  das  Zen- 
trum alles  politischen  und  religiösen  Lebens,  solange  es 
nur  immer  anging,  mied  und  sich,  sobald  er  sich  verfolgt 
wähnte,  in  die  Gegenden  jenseits  des  Jordans,  wo 
er  großen  Anhang  hatte  und  sich  geborgen  wußte,  zurück- 
zog1). Kam  er  aber  nach  Jerusalem,  so  war  sein  Untergang 
gewiß.  Und  das  wußte  er :  er  ging  auch  dahin,  um  zu 
sterben8).  Denn  die  Anklage  gegen  ihn  war  bald  erhoben. 
Fragt  sich  nur,  wer  sie  erhob. 

Wer  aber  hatte  eigentlich  ein  vitales  Interesse  an  der 
Beseitigung  Jesu?  Das  jüdische  Volk  nicht.  Das  geht  vielfach 
aus  den  Evangelien  selber  hervor,  obgleich  diese  letzteren 
andererseits  wieder  bemüht  sind,  alle  Schuld  der  Kreuzigung 
auf  dieses  zu  wälzen.  Die  volksführenden  pharisäischen 
Gesetzlehrer  nicht;  das  lehren  uns  Josephus,  die  Apostel- 
geschichte und  der  Talmud.  Nach  Lucas  waren  es  merk- 
würdigerweise Pharisäer,  die  Jesum  zur  Flucht  mahnten, 
da  Herodes  ihn  töten  wolle8).  Bleiben  nur  die  von  ihm  an 
den  Pranger  gestellten  »heuchlerischen  Pharisäer«,  die  wie 
die  entarteten  Cyniker  jener  Zeit,  an  allen  Straßenecken, 
wo  immer  politische  und  materielle  Vorteile  zu  erhaschen 
waren,  ihre  verderbliche  Tätigkeit  entfalteten,  die  unter 
dem  Mantel  pharisäischer  Frömmigkeit  Ehr-  und  Habsucht 
verbargen.  Die  »Gefärbten«,  wie  sie  die  Gesetzeslehrer 
des  Talmud  nannten,  vor  ihnen  in  den  allerstärksten  Aus- 
drücken warnend,  sie  als  die  »Geißel  der  Pharisäer«  be- 
zeichnend.    Diese  waren    noch    weit  gefährlicher    als  jene 

J)  Joh.  10,  40. 
')  Luc.  13,  33. 
s)  Luc.  13,  31. 


uüd  dem  entstehenden  Christentum?  165 

herrsch-begierigen  Pharisäer,  die  unter  den  letzten  Has- 
monäern  eine  politische  Rolle  spielten.  Der  größte  Phari- 
säerfeind, Alexander  Jannäus,  der  die  pharisäische  Partei 
sein  ganzes  Leben  hindurch  auf  Tod  und  Leben  bekämpfte, 
fand  nicht  diese,  sondern  ihre  Auswüchse,  die  heuchlerischen 
»Scheinpharisäer«,  als  die  gefährlichen.  Auf  seinem  Todten- 
bette  beschwichtigte  er,  wie  der  Talmud  berichtet,  seine 
verzagte  Gemahlin  mit  den  Worten:  »Fürchte  dich  nicht 
vor  den  Pharisäern,  auch  nicht  vor  denen,  die  keine 
Pharisäer  sind,  aber  fürchte  dich  vor  den  Gefärbten, 
den  Scheinpharisäern,  welche  die  Schandtaten  eines 
Simri  üben  und  den  Lohn  des  für  Gott  eifernden  Pinchas, 
des  Sohnes  Eleasars,  beanspruchen«1). 

Das  waren  die  Ankläger  Jesu.  Und  die  Anklage?  Sie 
^rgab  sich  ihnen  von  selbst :  Aufwiegelung  und  Empörung 
gegen  Rom.  —  Matthäus  und  Marcus  bemühen  sich  aller- 
dings, die  politische  Spitze  der  Anklage  zu  verschleiern 
und  das  Vorurteil  zu  erwecken,  daß  Jesus  der  Gottes- 
lästerung, obgleich  eine  solche  nicht  nachgewiesen  werden 
konnte,  beschuldigt  wurde.  Nach  Matthäus  suchten  die 
Hohenpriester  und  Ältesten  und  der  ganze  Rat  falsches 
Zeugnis  wider  Jesus,  auf  daß  sie  ihn  töteten,  und  fanden 
keines,  obwohl  viele  falsche  Zeugen  herantraten.  Zuletzt 
traten  zwei  falsche  Zeugen  herzu  und  sprachen:  »Er  hat 
gesagt:  ich  kann  den  Tempel  Gottes  abbrechen  und  in 
drei  Tagen  denselben  wieder  aufbauen«2).  Marcus  hin- 
wiederum berichtet :  »Aber  der  Hohepriester  und  der  ganze 
Rat  suchten  Zeugnis  wider  Jesum,  auf  daß  sie  ihn  zum 
Tode  brächten,  und  fanden  nichts.  Viele  gaben  falsches 
Zeugnis  wider  ihn,  aber  ihr  Zeugnis  stimmte  nicht  über- 
ein. Und  etliche  standen  auf  und  gaben  falsches  Zeugnis 
wider  ihn  und  sprachen :  Wir  haben  gehört,  daß  er  sagte : 
ich  will    den  Tempel,    der    mit  Händen    gemacht    ist,    ab- 

i)  Sota  22b.  vgl.  j.  Sota  5,  5.   Berach.  9,  4  u.  a.  St. 
2)  Math.  26,  59-62. 


166  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

brechen  und  in  drei  Tagen  einen  anderen  bauen,  der 
nicht  mit  Händen  gemacht  sei.  Aber  ihr  Zeugnis  stimmte 
noch  nicht  übe  rein«1). 

Bei  aller  Abweichung  in  einzelnen  nicht  ganz  un- 
wesentlichen Punkten  stimmen  doch  die  beiden  Berichte  in 
der  Hauptsache  überein  :  daß  die  Anklage  wegen  Gottes- 
lästerung auf  Grund  eines  Ausspruches  erhoben  wurde,  der 
Jesu  erst  nach  seinem  Tode  von  dem  Hellenisten  Stephanus 
in  den  Mund  gelegt  und  um  dessen  Willen  letzterer  ge- 
steinigt wurde2).  Denn  daß  ihn  Jesus  in  Wirklichkeit  getan, 
wird  ja  selbst  von  beiden  Evangelisten,  insbesondere  von 
Marcus,  mit  dem  größten  Nachdruck  bestritten.  Bei  Lucas 
findet  sich  denn  auch  diese  Anklage  nicht  vor.  Nach  ihm 
war  gleich  die  erste  Frage,  welche  »die  Ältesten  des  Volkes, 
die  Hohenpriester  und  die  Schriftgelehrten«  an  ihn  richteten: 
»Bist  du  Christus«8)?  —  Auch  bei  Matthäus  und  Marcus 
fragt  der  »Hohepriester«  Jesum,  ohne  sich  weiter  um  die 
Aussage  der  Zeugen,  die  ihm  unwesentlich  scheint,  zu 
kümmern,  direkt:  »Bist  du  Christus,  der  Sohn  Gottes*4;? 
—  Das  war  tatsächlich  die  eigentliche  und  ausschließliche 
Anklage.  Sie  genügte  vollkommen,  um  seine  Verurteilung 
herbeizuführen :  Sich  zum  Messias  erklären,  hieß  Gottes- 
lästerer und  Aufruhrstifter  sein.  Das  wurde  selbst  nach 
Matthäus  und  Marcus  als  die  alleinige  Ursache  seiner  Kreu- 
zigung angesehen:  »Und  oben  zu  seinen  Häupten,«  so  heißt 
es  da,  »setzten  sie  die  Ursache  seines  Todes  und  war 
geschrieben:  dieses  ist  Jesus,  der  Judenkönig«5). 

Und  wie  lautet    bei    Lucas  die  Anklage   vor  Pilatus? 


*)  Marc.  14,  55—59. 

2)  Ap.  6,  14;  7,  48. 

3)  Luc.  22,  66-67. 

*)  Matth.  26,  63;  Marc.  14,  61. 

6)  Mt.  27, 37:  xal  i-siKxav  ercivco  Tfl5  xe©aXffe  TTjV  äixiav 
xt\.     Und  Mc.  15, 26:     xat    TJV    vi    £7uvpa©7)    rffe    änia?    auToO 


und  dem  entstehenden  Christentum  ?  167 

»Sie  fingen  an,  ihn  zu  verklagen  und  sprachen:  diesen  finden 
wir,  daß  er  das  Volk  abwendet  und  verbietet,  dem  Kaiser 
die  Steuer  zu  zahlen  und  spricht,  er  seiChristus,  König«1). 

Lautete  aber  die  Anklage  auf  Empörung  gegen  den 
Kaiser  und  war  somit  der  Statthalter  in  erster  Linie  ver- 
pflichtet einzuschreiten,  wie  er  ja  sonst  bei  ähnlicher  Ge- 
legenheit mit  der  Exekution  rasch  zur  Hand  war,  so  ist 
davon  im  Falle  Jesu  nichts  zu  verspüren.  Er  muß  vielmehr 
mit  aller  Macht  dazu  erst  gedrängt  werden.  —  Wir  sehen 
hier  nämlich  die  Evangelisten  einen  ganz  merkwürdigen 
Wetteifer  mit  einander  entwickeln,  um  jede  Blutschuld  von 
Pilatus  ab-  und  den  Juden  aufzuwalzen.  Am  wenigsten 
beteiligt  sich  noch  an  diesem  Wetteifer  das  Evangelium 
nach  Marcus.  Aber  schon  bei  Matthäus  ist  es  das  von  dem 
Hohenpriester  und  den  Ältesten  aufgestachelte  Volk,  welches 
nach  dem  Blute  Jesu  lechzt  und  ungestüm  seine  Kreuzi- 
gung fordert.  Pilatus  aber  wäscht  sich  vordem  Volke  die 
Hände  und  spricht:  »ich  bin  unschuldig  an  dem  Blut  dieses 
Gerechten;  es  ist  eure  Sache«2). 

Diese  Darstellung  ist  sicherlich  keine  authentische.  Sie 
stammt  aus  einer  Zeit,  die  auf  jene  der  Kreuzigung  Jesu 
schon  weit  zurückblickt,  so  daß  der  Verfasser  von  Dingen, 
die  sich  damals  ereigneten  und  noch  in  seiner  Zeit  nach- 
klangen mit  Recht  schreiben  konnte:  >bis  auf  den  heu- 
tigen Tag«8);  oder:  »Solches  ist  eine  allgemeine  Rede 
bei  den  Juden  bis  auf  den  heutigen  Tag«4). 

Und  wie  sträubt  sich  Pilatus  erst  bei  Lucas,  Jesum 
dem  Kreuzestod  zu  überliefern.  Er  findet  durchaus  kein 
todeswürdiges  Verbrechen  an  ihm  und  er  bemüht  sich 
wiederholt,  ihn  freizugeben.  Aber  die  Juden  schreien  immer 
wieder:    kreuzige,  kreuzige  ihn!    Noch  mehr:    er  hatte  ihn 

i)  Luc.  23,  2. 

2)  Matth.  27,  24. 

3)  Matth.  27,  8. 
*)  Matth.  28,  15. 


168  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

zu  Herodes  geschickt  und  »auch  dieser  hatte  nichts  Todes- 
würdiges an  ihm  gefunden«1).  Und  weiter,  Herodes,  vor 
welchem  Jesus  nach  der  Enthauptung  des  Johannes  aus 
Furcht,  gleichfalls  von  ihm  getötet  zu  werden,  geflohen 
war;  er  war  voll  Freude,  »als  er  Jesum  sah,  denn  er  hätte 
ihn  längst  gern  gesehen,  denn  er  hatte  viel  von  ihm  ge- 
hört«2). —  Es  ist  wahr,  Lucas  hat  dafür  gesorgt,  daß  man 
ihm  hier  keinen  krassen  Widerspruch  nachweisen  könne. 
Denn  bei  einer  früheren  Gelegenheit,  wo  er  den  über  die 
Nachricht  von  den  Taten  Jesu  erschrockenen  Herodes  sagen 
läßt :  »Johannes  habe  ich  getötet ;  wer  ist  aber  dieser,  von 
dem  ich  solches  höre?*  fügt  er  hinzu:  »Und  er  begehrte 
ihn  zu  sehen«3).  Wie  man  sieht,  hat  sich  Lucas  hier  vor- 
sorglich gedeckt;  allein  man  merkt  die  Absicht,  die  dahin 
geht,  den  überlieferten  Stoff  einer  bestimmten  Tendenz 
zuliebe  solange  zu  meistern,  bis  er  ihr  gefügig  geworden. 
Man  denke:  der  »Fuchs  Herodes«,  der  Henker  des  Johannes, 
vor  welchem  Jesus,  von  den  Pharisäern  gewarnt,  flieht; 
er  sehnt  sich  nach  dem  Anblick  Jesu  und  findet  ihn  eben- 
sowenig schuldig,  wie  Pilatus4)! 

Noch  größer  als  bei  Matthäus  und  Lucas  sind  bei 
Johannes  die  Anstrengungen,  die  Pilatus  macht,  um  Jesus 
den  blutgierigen  Händen  der  Juden  zu  entreißen,  jede  Mit- 
schuld an  seinem  Tode  weit  von  sich  zu  weisen  und  jene 
als  die  einzig  Schuldigen  hinzustellen.  Allein,  was  er  auch 
versuchen  mag,  ihn  frei  zu  machen,  es  ist  vergebens.  Die 
»Juden«  verlangen  ungestüm  seine  Kreuzigung,  mit  dem 
Kaiser  drohend  und  schreiend:  »Läßt  du  diesen  los,  so 
bist  du  des  Kaisers  Freund  nicht.  Denn  wer  sich 
zum  König  macht,  der  ist  wider  den  Kaiser«5)! 


»)  Luc.  23,  14  u.  15. 
»)  Luc.  23,  8. 

3)  Luc.  9,  9. 

4)  Luc.  23,  8  u.  15. 
*)  Joh.  19,  6-12. 


und  dem  entstehenden  Christentum?  159 

So  sehen  wir  denn  in  der  ganzen  evangelischen  Ge- 
schichte, soweit  sie  das  Verhältnis  des  Judentums  zu  Jesus 
behandelt,  die  Tendenz  vorherrschen,  die  »Schriftgelehrten 
und  Pharisäer«,  und  in  der  Folge  das  gesamte  jüdische 
Volk  als  den  Erzfeind  und  unversöhnlichen  Gegner  Jesu 
darzustellen,  eine  Tendenz,  die  erst  im  zweiten  Jahrhundert 
zur  allgemeinen  Geltung  sich  durchgerungen  hatte. 

Auch  die  Schilderungen  des  Kreuzestodes  Jesu,  wie 
sie  uns  in  den  kanonischen  Evangelien  vorliegen,  verraten 
deutlich  Spuren  späterer,  umgestaltender  Hände.  —  Zu- 
nächst fällt  es  stark  auf,  daß  von  dem  »Ärgernis  des 
Kreuzes«,  gegen  welches  Paulus  noch  so  schwer  ankämpfen 
muß,  in  dem  kanonischen  Evangelien  kaum  mehr  die  Rede 
ist;  ferner,  daß  mit  dem  Augenblicke,  wo  Jesus  zum 
Opfertod  geführt  wird,  es  von  den  Juden  recht  stille  wird; 
und  während  Pilatus  soviel  Sympathie  und  Mitgefühl  für 
Jesus  an  den  Tag  gelegt  und  seine  Freilassung  durchzu- 
setzen sich  bemüht  hatte,  sind  es  seine  Kriegsknechte,  die 
ihn  mit  ausgesuchter  Grausamkeit  martern  und  mit  Hohn 
und  Spott  seinen  letzten  Atemzug  vergiften.  Von  den 
Juden  aber  ist  kaum  im  Vorbeigehen  mehr  die  Rede.  Bei 
Lucas  sind  es  die  »Oberen«  des  Volkes,  bei  Marcus  »die 
Hohenpriester  und  Schriftgelehrten«,  bei  Matthäus  »die 
Hohenpriester,  Schriftgelehrten  und  Ältesten«,  die,  als  er 
am  Kreuze  hing,  »spöttische  Reden  führten«.  Bei  dem  vier- 
ten Eyangelisten  aber,  der  bis  dahin  die  »Juden*  nicht 
blutdürstig  genug  schildern  konnte,  fehlen  die  letzteren  bei 
der  Kreuzigung.  Die  Kriegsknechte  des  Pilatus  haben  jetzt 
ihre  Rolle  übernommen  und  üben  unerhörte  Rache.  Und 
wofür?  Was  hat  er  ihnen  getan?  Und  hat  ihn  ihr  Gebieter 
Pilatus  nicht  für  unschuldig  erklärt?  Hat  er  ihn  nicht  frei- 
geben wollen  ?  —  Doch  stellen  wir  die  Frage  richtiger : 
war  es  überhaupt  notwendig,  den  Kreuzestod  Jesu  unter 
soviel  Marter  und  Hohn  erfolgen  zu  lassen,  wie  ihn  die 
Evangelien    übereinstimmend    darstellen?    —    Darauf    gibt 


170  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

es  nur  eine  befriedigende  Antwort:  Mit  der  Verurteilung 
Jesu  beginnt  ein  neues,  auf  ganz  anderen  Prämissen  auf- 
gebautes Kapitel  der  evangelischen  Geschichte,  das  erst  in 
einer  Zeit  abgefaßt  wurde,  in  der  nicht  mehr  das  Leben 
und  Wirken,  sondern  der  Opfertod  und  die  Auferstehung 
im  Mittelpunkt  des  Interesses  standen;  in  der,  dank  der 
weitausgreifenden  paulinischen  Missionsarbeit,  das  Bild  von 
dem  leidenden  Messias  bereits  weiten  Kreisen  ver- 
traut gemacht  worden  war;  in  der  man  nicht  mehr  mit  den 
Synoptikern  das  Evangelium  Jesu  von  der  Taufe  des  Jo- 
hannes sondern  mit  Paulus  von  dem  Kreuzestod  den  Anfang 
nehmen  ließ. 

Opfertod  und  Auferstehung  Jesu  bilden  jetzt  das  neue 
Evangelium,  von  welchem  aus  Paulus  die  jüdisch-nationale 
Welt  aus  allen  Angeln  hebt  und  Jesum  zum  Weltheiland 
macht.  Das  war  die  erlösende  Botschaft,  die  er  empfangen 
und  weitergibt:  ^caß  Christus  gestorben  sei  für  die  Sünden 
der  Menschen  nach  der  Schrift«1).  Somit  war  das  Mar- 
tyrium Jesu  unerläßlich  für  das  Heil  der  Welt;  es  warder 
Ratschluß  Gottes,  verheißen  durch  die  Propheten.  Und  so 
mußte  er  die  Prophezeiungen  bis  auf  das  Tüpfelchen  vom 
i  erfüllen,  den  Kelch  der  Leiden,  wie  vorgeschrieben,  bis 
zur  Neige  leeren.  Er  mußte,  da  er  die  Erfüllung  der  Weis- 
sagung von  dem  leidenden  Knecht  Gottes  war,  allen  Jam- 
mer, allen  Spott  und  Hohn  und  alle  Marter  über  sich 
ergehen  lassen,  die  dem  Knecht  Gottes  durch  den  Mund  des 
Propheten  auferlegt  wurde.  Daher  die  Begleiterscheinungen 
seines  Kreuzestodes,  daher  die  Qualen  auf  seinem  letzten 
Gange,  die  er  alle  erdulden  mußte :  »daß  die  Schrift  er- 
füllt würde«. 

Der  evangelische  Bericht   von   dem  Kreuzestode  Jesu 

J)  1  Kor.  15,  3:  rizpscW/.a.  y*P  üjxTv  sv  TtpcoToi?,  o  y.od  xap- 
eXaßov,  ort  ^ptaTÖ;  ä^sdaViV  uTrip  tüv  iu,apTuöv  0[x<3v,  xaxä 
xolc  y  p  a  <p  ä  c.  ;Cf.  Oal.  1,  4;  2  Kor.  8,  9;  Rom.  4,  25;  15,  21 ;  Hebr- 
2,  14,  17;  Phil'.  1,  6-9;  1.  Tim.  2,  6;  Tit.  2,  14  u   v    a.  St. 


und  dem  entstehenden  Christentum?  171 

ist  ganz  zweifellos  erst  unter  dem  mächtigen  und  sugge- 
stiven Einfluß  dieser  erlösenden  paulinischen  Botschaft,  die 
von  dem  »Christus  nach  dem  Fleische«  völlig  absah  und 
sich  ausschließlich  mit  dem  gekreuzigten  und  auferstan- 
denen Christus  beschäftigte1),  geschrieben  worden.  Und  da 
er  im  ständigen  Hinblick  auf  die  einschlägigen  prophetischen 
Stellen  abgefaßt  und  der  Leidensweg  Jesu  diesen  nachge- 
zeichnet wurde,  so  mußte  die  Zeichnung  eine  stereotype 
werden :  daher  die  beobachtenswerte  Übereinstimmung  in 
diesem  Punkte  bei  allen  vier  Evangelien. 

Und  ist  es  nicht  bezeichnend  genug,  daß  gerade  Lucas 
es  ist,  der  diese  Paulinische  Botschaft  von  dem  leidenden 
Messias  und  seinem  Opfertod  in  auffälliger  Weise  vor- 
bereitet? Nach  ihm  erschien  der  Auferstandene  zuerst  zweien 
seiner  Jünger  auf  dem  Wege  nach  Emmaus  und  sprach  zu 
ihnen:  »0  ihr  Unverständigen  und  trägen  Herzens,  zu 
glauben,  was  die  Propheten  geredet  haben;  mußte  nicht 
Christus  solches  leiden,  um  in  seine  Herrlich- 
keit einzugehen?«  Hierauf  legte  er  ihnen,  von  Moses 
und  allen  Propheten  anfangend,  »alle  Schriften  aus,  die  von 
ihm  gesagt  waren«2).  Dann  erschien  er  den  Aposteln  in 
Jerusalem  und  sprach  zu  ihnen:  »Das  ist  es,  was  ich  euch 
gesagt  habe,  da  ich  noch  bei  euch  war,  es  müsse  alles 
erfüllt  werden,  was  von  mir  im  Gesetz  Mosis,  in  den  Pro- 
pheten und  in  den  Psalmen  geschrieben  steht.  Darauf  öff- 
nete er  ihnen  das  Verständnis,  die  Schrift  zu  verstehen 
und  sagte  ihnen:  Also  ists  geschrieben  und  also 
mußte  der  Christ  leiden  und  auferstehen  von  den 
Teten  am  dritten  Tag«3). 

Davon  aber,  daß  der  Auferstandene  seinen  Jüngern 
eine  solche  Aufklärung  über  die  Notwendigkeit  seines  Lei- 
dens, um  in  seine  Herrlichkeit  einzugehen,  gegeben,  wissen 

')  2  Kor.  5,  16. 

9)  Luc.  24,  25  u.  26. 

s)  Luc,  26,  4-1—46. 


172  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

die  übrigen  Evangelien  nichts.  Das  ist  genuin  paulinische 
Auffassung,  wie  denn  die  ganze  evangelische  Darstellung 
der  Kreuzigung  und  Auferstehung  aus  dieser  Quelle  ge- 
flossen1). Hier  gab  es  sonst  keine  ursprüngliche 
sichere  Überlieferung.  Die  Jünger  Jesu  waren  von  der  über 
sie  hereingebrochenen  Katastrophe  zerschmettert,  und  es 
mußte  lange  gedauert  haben,  bis  sie  sich  wieder  gefaßt 
und  auf  neuer  Grundlage  ihre  messianischen  Hoffnungen 
aufgebaut  hatten :  auf  der  Grundlage  der  Kreuzigung  und 
Auferstehung.  —  Liest  man  aber  die  beiden  letzten  Kapitel 
der  Evangelien,  so  gleitet  man  glatt  von  der  Kreuzigung 
Jesu  zur  Wiedersammlung  seiner  Anhänger  hinüber,  nicht 
ahnend,  daß  dazwischen  eine  ganze  Welt  neuer  Gedanken 
liege,  daß  sich  erst  im  Paulinismus  die  Vorstellung  von 
dem  Opfertod  und  der  Auferstehung  zur  Idee  der  Welt- 
erlösung verdichtete,  die  nachträglich  in  den  Evan- 
gelien zum  Ausdruck  gebracht  wurde.  —  Sieht  man  näher 
zu,  so  findet  man  es  selbst  bei  Marcus  und  Lucas  ange- 
deutet, daß  der  Glaube  an  die  Auferstehung  Jesu,  an 
welchen  Paulus  sich  mit  soviel  Inbrunst  klammert,  nicht 
aus  den  Kreisen  der  Apostel  hervorgegangen  ist,  sondern 
in  dieselben  hineingetragen  wurde.  Beide  Evangelisten  be- 
richten, daß  die  Apostel  diesem  Glauben  Zweifel  entgegen- 
brachten, die  von  dem  Auferstandenen  bezwungen  werden 
mußten :  er  schalt  sie  trägen  Herzens,  daß  sie  den  Weis- 
sagungen nicht  Glauben  schenken  wollten2).  Er  schalt  ihren 
Unglauben  und  ihres  Herzens  Härtigkeit,  daß  sie  nicht 
geglaubt  hatten  denen,  die  ihn  gesehen  hatten 
auferstände  n«3). 

War  aber  der  paulinische  Christus  das  gottgewollte 
Opferlammm,  das  gerne  der  Welt  Sünden  auf  sich  nahm, 
so  konnten  die  Juden,  sofern  sie  ihn  nach  dem  Ratschlüsse 

l)  Das  geht  unverkennbar  aus  1  Kor.  15,  3— S  hervor. 
*)  Luc.  24,  25. 
3)  Marc.  16,  14. 


und  dem  entstehenden  Christentum?  173 

Gottes  der  Schlachtbank  auslieferten,  wohl  Opferer,  aber 
keine  Schlächter  sein.  Ihre  Mitwirkung  hatte  sonach 
mit  der  Verurteilung  Jesu  ein  Ende  erreicht.  Und  so  ver- 
schwinden sie  denn  auch,  selbst  nach  den  Evangelien,  fast 
gänzlich  vom  Schauplatze  der  Kreuzigung. 

Aber  die  Leiden  und  die  Schmach,  die  dem  Knecht 
Gottes  zum  Zwecke  der  Welterlösung  durch  den  Mund  der 
Propheten  auferlegt  wurden,  durften  Jesu,  sollte  seine  Mes- 
sianität  gegen  jeden  Zweifel  gefeit  sein,  nicht  erspart 
bleiben.  Er  mußte  alle  einschlägigen  Prophezeiungen  buch- 
stäblich erfüllen.  Wer  aber  sollte  die  Henkerarbeit  ver- 
richten, »daß  die  Schrift  erfüllt  werde?«  Es  blieb  also  nichts 
übrig,  als  die  Kriegsknechte  des  Pilatus  damit  zu  betrauen. 

Diese  Auffassung  von  dem  Opfertod  Jesu  und  der 
Beteiligung  der  Juden  daran  teilten  noch  die  frommen 
Kirchenlehrer  in  der  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts,  und 
sie  sahen  den  letzteren  gern  ihre  »Mitschuld«  nach,  wenn 
sie  sie  bereuten.  Hier  ein  klassisches  Beispiel.  Bei  Justin 
Martyr  sprechen  die  Juden:  »Ja,  wenn  der  Vater  wollte, 
daß  Jesus  solches  leide,  um  durch  seine  Wunden  dem 
Menschengeschlecht  Heilung  zu  bringen,  dann  hätten  wir 
doch  nicht  unrecht  gehandelt.«  Worauf  Justin:  »Gewiß, 
wenn  ihr  eure  Sünden  bereut,  ihn  als  den  Christus  an- 
erkennt, seine  Gebote  haltet  und  diese  eure  Entschul- 
digung vorbringt,  wird  euch  Vergebung  der  Sünden«1). 

Am  wenigsten  aber  findet  sich  bei  Paulus  eine  An- 
klage gegen  die  Juden,  daß  sie  Jesum  mit  ihrem  Hasse 
verfolgt  oder  gar  dem  Kreuzigungstod  überliefert  hätten. 
Besäßen  wir  nicht  die  kanonischen  Evangelien,  die 
weit  jünger  als  die  paulinischen  Briefe  sind,  wir  wüßten 
weder  aus  den  letzteren,  noch  aus  den  sonstigen  neu- 
testamentlichen  Briefen,  noch  auch  aus  der  Apokalypse 
etwas  über  eine  jüdische  Verfolgung  Jesu.  Ist  es  wohl  an- 
zunehmen, daß  Paulus,   wofern    ihm    das    in    den  kanoni- 

J)  Dial.  c.  95. 


174  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

sehen  Evangelien  geschilderte  so  haßerfüllte  Verhalten  der 
Juden  Jesu  gegenüber  bekannt  gewesen  wäre,  davon  ge- 
schwiegen hätte?  Er  spricht  aber  nur  von  dem  Unglauben 
und  der  Blindheit  der  Juden,  jedoch  niemals  davon,  daß 
sie  mit  ungestümem  Wüten  auf  Pilatus  einstürmten, 
ihm  ins  Ohr  schreiend:  »Kreuzige,  kreuzige  ihn!«  Wie 
konnte  Paulus,  hielt  er,  wie  die  kanonischen  Evangelien, 
die  Juden  für  die  eigentlichen  Mörder  Jesu,  ihnen  »das 
Zeugnis  geben,  daß  sie  für  Gott  eifern,  wenn  auch 
mit  Unverstand«1)?  Und  selbst  da,  wo  er  einmal  von  jenen 
spricht,  die  Jesum  gekreuzigt  haben,  hat  er  sicherlich  nicht 
die  Juden  darunter  verstanden.  Die  betreffende  Stelle  lautet: 
»Davon  wir  aber  reden,  das  ist  dennoch  Weisheit  bei  den 
Vollkommenen,  nicht  eine  Weisheit  dieser  Welt,  auch  nicht 
der  Obersten  dieser  Welt2),  welche  vergehen,  son- 
dern wir  reden  von  der  heimlichen,  verborgenen  Weisheit 
Gottes,  welche  Gott  verordnet  hat  vor  der  Welt  zu  unserer 
Herrlichkeit,  welche  keiner  von  den  Obersten  dieser 
Welt  erkannt  hat3);  denn  wo  sie  die  erkannt  hätten, 
hätten  sie  den  Herrn  der  Herrlichkeit  nicht 
gekreuzigt«4).  —  Wer  möchte  sich  wohl  zu  behaupten 
getrauen,  Paulus  habe  hier  unter  den  Obersten  dieser 
Welt  die  »Schriftgelehrten  und  Pharisäer«  oder  das  jüdi- 
sche Volk  gemeint? 

Nun  wird  man  mir  sicher  einwenden,  daß  doch  Paulus 
selbst,  als  er  noch  »über  die  Maßen  für  das  väter- 
liche Gesetz  eiferte«,  »die  Gemeinde  Gottes«,  wie 
er  dies  offen  im  Galaterbrief  bekennt  und  wie  die  Apostel- 
geschichte es  weiter  ausführt  und  ausschmückt,  »über  die 
Maßen  verfolgte  und  verstörte«.  Allein  diese  Verfolgung 
galt,  wie  noch  näher  gezeigt  werden  soll,  keineswegs  dem 

')  Rom.  10,  2. 

2)  oüSs   twv   äp^ovrwv  toü   alwvo;  TOUTOU. 

3)  oöSsic  t&v  ap^6vToiv  alwvo;  toutou  «t>.. 
*j  1  Kor.  2,  6-3. 


und  dem  entstehenden  Christentum?  175 

Christusglauben,  sondern  dem  jüdisch-hellenistischen 
Antinomismus,  der  schon  nach  der  Kreuzigung  Jesu 
ungestüm  in  die  christliche  Gemeinde  eindrang.  —  Die 
gesetzesfreie  Predigt  des  Stephanus  —  nicht  die  An- 
hängerschaft an  Jesus  —  führte  zu  einem  Volksauflauf, 
dem  letzterer  zum  Opfer  fiel.  Und  an  diesem  Aufruhr  be- 
teiligte sich  der  gesetzeseifrige  Saulus  in  hervor- 
ragender Weise1)  und  empfand,  wie  die  Apostelgeschichte 
hervorhebt,  Befriedigung  über  den  Tod  des  Stephanus.  — 
Daß  diese  Verfolgung  ausschließlich  gegen  die  gesetzes- 
freien Hellenisten  sich  richtete  und  nicht  gegen  die  gesetzes- 
treuen Anhänger  Jesu,  geht  unzweideutig  daraus  hervor, 
daß  die  letzteren  von  ihr  garnicht  berührt  wurden,  da  ja 
ihre  Häupter,  die  Apostel,  unangefochten  in  Jerusalem  bleiben 
durften,  während  der  Anhang  des  Stephanus  auswandern 
mußte. 

Man  hat  sich  aber  von  Anbeginn  mit  der  Apostel- 
geschichte daran  gewöhnt,  in  jüdischen  Verfolgungen  anti- 
nom  istischer  Tendenzen  stets  »jüdische  Christenverföi- 
gungen«  zu  sehen,  und  so  merkte  und  merkt  man  bis  auf 
den  heutigen  Tag  nicht  mehr,  daß  die  gesetzestreue  ur- 
christliche Gemeinde  den  jüdisch-hellenistischen  Antinomis- 
mus nicht  minder  verfolgte,  als  es  das  pharisäische  Juden- 
tum tat. 

Ich  kann  also  aus  den  paulinischen  Briefen,  den  ältesten 
christlichen  Dokumenten,  ich  mag  sie  drehen  und  wenden 
wie  ich  will,  die  Überzeugung  schlechterdings  nicht  ge- 
winnen, daß  das  jüdische  Volk  Jesum  verfolgt  oder  gar  der 
Schlachtbank  überliefert  habe.  Ich  habe  vielmehr  allen  Grund 
zu  vermuten,  daß  Paulus  selber  diese  Überzeugung  nicht 
gehegt;  denn  was  konnte  ihn  hindern,  sie  in  seinem  harten 
Kampf  gegen  »jüdischen  Unglauben  und  jüdische  Blindheit« 
zum  Ausdruck  zu  bringen  ? 

')  App.  8,  1:  Soc'jXo;;  $-;  r,v  fjuvs'jSoxoiv  tyi  y.vxioiizi  kutou 
(Sxscpavou). 


176  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus  etc. 

Wenn  aber  Paulus  die  »Obersten  dieser  Welt«  als  die 
Henker  Jesu  bezeichnet,  so  hat  er  darunter  ebensowenig, 
wie  die  Apokalypse  unter  dem  »Würger  des  Lammes« 
das  jüdische  Volk  gemeint. 

Wer  ist  denn  dieser  Würger  in  der  Apokalypse,  dieser 
ingrimmige  Verfolger  Jesu1),  der  vom  Blute  der  Heiligen 
trieft  ?  Es  ist  »die  große  Babylon,  die  Mutter  der  Buhlerei 
und  aller  Gräuel  auf  Erden;  das  Weib,  daß  auf  den  sieben 
Bergen  sitzt,  trunken  von  dem  Blut  der  Heiligen  und  von 
dem  Blut  der  Zeugen  Jesu«2):  das  weltversündigende  und 
weltverschlingende  Rom,  die  Verkörperung  des  Anti- 
messias  in  den  Augen  des  Apokalyptikers  wie  in  jenen 
der  Juden! 


*)  Apok.  17,  14. 
»)  Apok.  17,  5—9. 


Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre. 

Von  V.  Aptowitzer. 
(III.  Fortsetzung). 

Aus  der  Genisah  ist  noch  ein  anderer  wertvoller 
Schatz  gehoben  worden:  eine  umfangreiche  Sammlung  ga- 
onäischer  Response n,  die  ebenfalls  von  L.  Ginz- 
berg  herausgegeben  wurde1). 

Die  Sammlung  besteht  aus  47  Fragmenten,  die  der 
Cambridger  Bibliothek,  der  Bodlejana  (9),  dem  British  Mu- 
seum (2)  und  einer  Privatsammlung  (1)  entnommen  sind. 
Die  ersten  18  Fragmente  (S.  1 — 165)  hat  Ginzberg  schon 
früher  in  JQR.  XVI— XX  veröffentlicht. 

Eigentliche  Responsen  enthalten  blos  34  Frag- 
mente. S.  56 — 71  enthalten  Verzeichnisse  von  Responsen,  N. 
10  (S.  87—88)  Fragment  eines  Briefes  aus  Bagdad,  N.  34 
(S.  272)  ein  Stück  vom  nneo  des  R.  Nissim,  N.  35  (S.  278 
bis  279)  Fragment  eines  Schreibens  R.  Scheriras  od.  R. 
Hais  an  Jehuda  Alluf  aus  Kairuan,  N.  39—43  Stücke  der 
Sche'elthoth  mit  den  in  den  Ausgaben  fehlenden  rvwin, 
N.  44—45  Stücke  aus  Halachoth  Gedoloth,  46  Fragment 
von  niaiSö  twhn,  47  ein  Blatt  Halachoth  unbekannter  Her- 
kunft. 

Die  Einleitungen,  die  der  Herausgeber  den  einzelnen 
Fragmenten  vorausschickt,  enthalten  Inhaltsangabe,  Unter- 
suchungen über  die  Autorschaft  und  Angaben  über  das 
anderweitige  Vorkommen  der  einzelnen  Responsen.  Die 
Texte  sind  mit  Quellennachweisen,  den  notwendigsten  Kor- 

*)  Geonica  by  Louis  Ginzberg  II,  Genizah  Studies.  (Texts 
and  Studies  of  the  Jewish  theological  Seminary  of  America,  vol.  II)« 
New  York  1909. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  *• 


178  Die  ta'mudsche  Literatur  der  letzten  Jahre. 

rekturen  und  sonstigen  kurzen  Bemerkungen  versehen. 
Es  zeigt  sich  hier  die  gründliche  Sachkentnis 
des  Herausgebers  und  seine  große  Vertrautheit  mit 
der  einschlägigen  Literatur. 

Ein  Verzeichnis  der  Responsen  nach  der  Ordnung  des 
Schulchan  Aruch,  ein  Index  der  erklärten  Talmudstellen, 
ein  ausführliches  Namen-  und  Sachregister  erleichtern  die 
Benützung  des  Buches.  Die  7  Seiten  Ergänzungen  und  Be- 
richtigungen zeigen  den  Fleiß  des  Herausgebers  und  sein 
Bestreben,  möglichst  Vollkommenes  zu  bieten. 

Wie  die  gaonäische  Literatur  im  allgemeinen,  ist  auch 
diese  neueste  Sammlung  gaonäischer  Texte  in  erster  Reihe 
für  den  Talmudisten  und  Halachaforscher  von 
Wichtigkeit.  Hierin  liegt  ihre  eigentliche  Bedeutung.  Be- 
kanntes erscheint  hier  in  anderer,  oft  besserer  Textgestalt 
und  des  ganz  neuen  bietet  unsere  Sammlung  nicht  wenig. 
Manches  davon  ist  recht  auffallend.  So  wird  —  um  nur 
das  Auffallendste  hervorzuheben  —  in  Responsum  N.  5  auf 
S.  195  gegen  die  Übereinstimmung  aller  bekannten  Quel- 
len1) erklärt,  daß  das  Verbot  Deut.  22,  10  buchstäblich  zu 
fassen  ist  und  daß  daher  andere  Arbeiten  —  der  Gaon 
spricht  von  Dreschen  —  mit  ungleichartigen  Tieren  ge- 
stattet sind. 

Aber  auch  die  Philologen  und  Historiker  kom- 
men bei  unserer  Sammlung  auf  ihre  Rechnung,  besonders 
die  letzteren.  Sie  lernen  neue  Namen  kennen,  erfahren  von 
Beziehungen  zwischen  Babylonien  und  Palästina  sowie  zwi- 
schen ersterem  und  Europa  und  finden  im  allgemeinen 
reiche  Aufschlüsse  zur  Kenntnis  der  gaonäischen  Zeit.  Auch 
das  liturgische,  das  in  unserer  Sammlung  reichlich  ver- 
treten ist,  ist  in  dieser  Beziehung  von  Wichtigkeit. 

Die  in  den  Einleitungen  zu  den  einzelnen  Fragmenten 
gewonnenen  Resultate    hat  Ginzberg    vielfach   vertieft    und 


')  Vgl.  jedoch  meine  Bemerkung  zu  dieser  Stelle. 


Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre.  179 

erweitert  und  in  einem  besonderen  Band  zusammen- 
gefaßt1). 

Dieser  Band  zerfällt  in  zwei  ungleiche  Teile.  Der 
zweite,  größere  Teil  (S.  72—207)  bietet  eine  Übersicht 
über  die  halachische  Literatur  der  Gaonim.  Ich  hebe  hervor 
die  Ausführungen  über:  Plan  und  Zweck  der  Sche'eltoth 
(S.  86—95);  die  Sche'eltoth  und  der  Jeruschalmi  (S.  78—36), 
mit  dem  fast  vollständig  gelungenen  Nachweis,  daß  es  für  die 
Annahme,  R.  Achai  habe  den  Jeruschalmi  benützt,  keinen 
einzigen  sicheren  Anhaltspunkt  gibt;  die  Abhandlung  über 
die  Halachoth  G  edoloth  (S.  95— 111)  :  ihr  Autor 
ist  R.  Jehudai;  die  Abhandlung  über  Seder  Rab 
Amram  (S.  119—154);  Saadjas  Bedeutung  in  der 
Hai  ach  a  (S.  162—167):  Saadja  der  bedeutendste  hala- 
chische Autor  der  gaonäischen  Zeit;  Ursprung  der  Samm- 
lungen gaonäischer  Responsen  (S.  182—200),  mit  einem 
sehr  nützlichen  Verzeichnis  der  gaonäischen  Zitate  in  den 
3  gedruckten  Werken  ben  Barsillais,  in  Machsor  Vitry  und 
Schibbole  ha-Leket. 

Im  ersten  Teil  (S.  1—72)  behandelt  Ginzberg  einige 
historische  Fragen  betreffend  die  gaonäische  Zeit.  Hervor- 
zuheben sind  besonders  die  Ausführungen  über  :  die  we- 
sentlichen Züge  des  Gaonats  (S.  6 — 14),  die  Konflikte  zwi- 
schen dem  Exilarchat  und  dem  Gaonat  von  Pumbaditha 
(S.  14-22,  62-66),  den  Bericht  Nathan  ha-Bablis. 

Von  den  Resultaten  Ginzbergs  sind  viele  absolut 
sicher.  Zu  diesen  gehören  auch  die  meisten  der  zahlreichen 
Berichtigungen  der  Irrtümer  Isaak  Halevys.  Die  nicht 
sicheren  Aufstellungen  G.'s  sind  teils  nicht  genügend  be- 
wiesen, teils  direkt  abzulehnen. 

Ich  hoffe  auf  den  ersten  Band  der  G  e  o  n  i  c  a  in  einem 
anderen    Zusammenhang    ausführlich    zurückkommen    zu 

l)  Qeonica  by  Louis  Ginzberg  I,  The  Qeonim  and  their 
halakic  writings  (Textes  and  Studies  of  the  Jewish  theological  Semi- 
nary  of  America,  vol.  I).  New  York  1909. 

12* 


180  Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre. 

können.  Hier  will  ich  nur  bemerken,  daß  Ginzbergs  Arbeit, 
die  durch  tief  es  Ei  ndri  nge  n,  großen  Scharfsinn 
und  große  Gelehrsamkeit  sich  auszeichnet,  soviel 
des  Neuen,  Interessanten  und  Anregenden  bietet,  daß  sie 
selbst  von  denjenigen,  welche  den  Aufstellungen  des  Ver- 
fassers nicht  zustimmen,  als  ein  äußerst  wertvoller  Beitrag 
zur  gaonäischen  Geschichte  und  Literaturgeschichte  aner- 
kannt werden  muß. 

Zwei  Themata  dieser  Geschichte  behandelt  S.  P  o- 
znanski  in  seiner  Schrift  Studien  zur  gaonäischen 
Epoche1):  1.  das  Verhältnis  der  Gaonim  zum 
J  eruschalm  i  und  2.  die  Allufim  oder  rvhi  »e>JO» 

In  der  ersten  Abhandlung  (S.  3—44)  beschränkt 
sich  Poznanski  auf  eine  Zusammenstellung  und  Prüfung 
der  älteren  Ansichten  und  Angaben,  ohne  neues  zu  bieten. 
Er  gelangt  zu  folgendem  Resultat:  1.  Der  erste  Gaon,  der 
den  Jeruschalmi  benützt  hat,  ist  R.  Acha,  der  Verfasser 
der  Sche'eltoth.  2.  Im  allgemeinen  haben  die  älteren  Gaonim 
den  Jeruschalmi  wenig  benützt.  —  Punkt  1  erweist  sich  durch 
den  Nachweis  Ginzbergs  als  unsicher.  Gegen  Punkt  2,  die 
Ansicht  Rapoports  und  Frankeis,  der  sich  auch  Ginzberg2) 
anschließt,  ist  eine  Anzahl  bisher  nicht  berücksichtigter 
gaonäischer  Entscheidungen  geltend  zu  machen,  die,  auf 
ihr  Verhältnis  zum  Jeruschalmi  untersucht,  ein  positives 
Resultat  ergeben  dürften.  Einige  darauf  bezügliche  Hinweise 
findet  man  in  meinen  Einzelbemerkungen  zu  Ratners  Pes- 
sachim    und   Ginzbergs  Geonica. 

Wichtig  und  verdienstlich  ist  die  Veröffentlichung  und 
Übersetzung  des  arabischen  Genizahfragments,  das  viel- 
leicht   ein  Stück  aus  einem  alten  Kommentar  zum  Jeru- 


»)  D'Jliun  neipfi^  D^yron  B^UP  B^jy,  Studien  zur  gaonä- 
ischen Epoche,  Heft  I,  Warschau  1909.  Separatabdruck  aus  Ha- 
kedem  I,  II. 

2)  Geonica  I,  S.  77,  Note  2. 


Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre  181 

schalmi  ist.  Dieses  Fragment  ist  nachher  auch  in  Ginzbergs 
Yerushalmi  Fragments,  S.  298 — 301,  veröffentlicht  worden. 

In  der  zweiten  Abhandlung  (S.  45— 67)  bespricht  P. 
zuerst  die  Einrichtung  der  babylonischen  Lehrhäuser  und 
gibt  dann  eine  sehr  fleißige,  sehr  sorgfältige  und  sehr  nütz- 
liche Zusammenstellung  aller  Nachrichten  über  die  Allu- 
fim  oder  nhz  »ttWi.  Hier  zeigt  sich  Poznanskis  gewohnte 
Gründlichkeit. 

Probleme  der  Literaturgeschichte  in  weiterem 
Sinne  behandeln  Guttmann,  Rosenthal  und  Schwarz. 

Guttmann  gibt  in  der  jüngsten  Programmarbeit  des 
Budapester  Rabbinerseminars  die  ersten  zwei  Abschnitte 
einer  »Einleitung  in  die  Halacha«1).  Der  erste  Ab- 
schnitt handelt  über  die  Bedeutung  des  Wortes 
Halacha  und  der  damit  verwandten  Termini.  Das  zweite 
Kapitel  beschäftigt  sich  mit  dem  Entwicklungsgang  der 
Halacha:  welche  Prinzipien  und  welche  Autorität  waren  für 
die  Dezision,  für  die  Fixierung  der  Halacha  maßgebend? 

Auf  die  letztere  Frage  antwortet  G.:  »Die  auf  alle 
Fragen  des  Lebens  sich  erstreckende  Halacha  kann  ihren 
einheitlichen  Charakter  nicht  anders  als  durch  einheitliche 
Behandlung  und  zentrale  Verfügungen  bewahrt  haben. 
Einen  gesetzbestimmenden  Mittelpunkt  muß  es  zu  allen 
Zeiten  gegeben  haben«.  Mit  dem  Auftreten  Schammais  und 
Hilleis  wurde  das  halachische  Zentrum  in  zwei  selbstän- 
dige, mit  gleicher  Autorität  ausgestattete  Schulen  oder  Be- 
hörden gespalten.  Erst  in  Jabneh  wurde  die  Einheit  der 
Halacha  wiederhergestellt. 

Die  erste  Frage  beantwortet  G.  folgendermaßen:  Die 
Halacha  »ist  innig  mit  dem  Leben  verbunden;  die  das  Ge- 
setz   betreffenden    Deutungen    sind    keine    bloße    geistige 

J)  Zur  Einleitung  in  die  Halacha.  Von  Prof.  Dr.  Mi- 
chael Guttmann.  Erstes  Heft.  Budapest  1909.  Druck  von  Adolf 
Alkalay  &  Sohn,  Preßburg  (32.  Jahresbericht  der  Landes-Rabbiner- 
schule  in  Budapest). 


}82  Die  talmudiscbe  Literatur  der  letzten  Jahre. 

Schulgymnastik,  sie  bilden  vielmehr  die  Überbrückm? 
zwischen  dem  Buchstaben  und  der  Praxis.  Eine  Darstellung 
des  Entwicklungsganges  der  Halacha  dürfen  wir  nicht  aus- 
schließlich aus  ihren  theoretischen  Elementen  konstruieren; 
wir  müssen,  um  richtig  und  gerecht  urteilen  zu  können, 
den  geschichtlichen  Hintergrund  genau  kennen  lernen«. 

Diese  These  zu  begründen  und  im  einzelnen  nachzu- 
weisen, wird  die  Aufgabe  der  folgenden  Kapitel  sein,  die 
gewiß  viel  neues  und  interessantes  bringen  werden,  die 
eigentlichen  »Bausteine  zu  einer  allgemeinen  Einleitung  in 
die  Halacha«.  Die  uns  vorliegenden  zwei  Abschnitte  erle- 
digen blos  die  notwendige  Vorarbeit,  ohne  wesentlich  neues 
zu  bieten.  Daß  aber  schon  die  Zusammenstellung  und 
Erörterung  des  t  erm  in  o logisch  en  Materials  sehr  ver- 
dienstlich ist,  braucht  kaum  gesagt  zu  werden. 

Wie  Guttmann  das  Werden  der  Halacha,  so  versucht 
L.  Rosenthal  in  seinem  Buche  Ȇber  den  Zusam- 
menhang der  Mischnah«1),  von  dem  jetzt  der  erste 
Teil  in  zweiter  Auflage  erschienen  ist,  die  Entstehung  der 
Halachaordn  ung  aus  geschichtlichem  Hinter- 
grund zu  erklären.  Dieser  Hintergrund  ist  nach  R.  der 
Kampf  des  Pharisäismus  gegen  den  Saddu- 
zäismus.  Nach  R.  hat  es  schon  vor  Schammai  und  Hillel 
zwei  antisadduzäische  Mischnahordnungen  gegeben.  Die 
erste,  gegen  Ende  des  zweiten  Jahrhunderts  vor  der  ge- 
wöhnlichen Zeitrechnung,  enthielt  nur  »die  allgemeinen 
Kundgebungen  gegen  die  Feinde  der  mündlichen  Lehre«. 
Die  zweite,  spätestens  von  Schemaja  und  Abtalion  herrüh- 
rend, ging  mehr  ins  einzelne,  indem  sie  die  älteren  aus- 
führlichen   Schilderungen    kürzte    und   so   die  Streitpunkte 

*)  Über  den  Zusammenhang  der  Misch  na.  Ein  Beitrag 
zu  ihrer  Entstehungsgeschichte  von  Rabbiner  Dr.  Ludwig  A.  Rosen- 
thal. Erster  Teil:  Die  Sadduzäerkämpfe  und  die  Mischnasammlungen 
vor  dem  Auftreten  HillePs.  Straßburg  1909.  Verlag  von  Karl  J.  Trübner. 
Preis  5  Mk. 


Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre.  183 

durch  einzelne  Halachasätze  im  Sinne  der  Überlieferung  zu 
entscheiden  suchte. 

Dies  der  Kern  der  Rosenthalschen  Hypothese,  die  er 
selbst  als  Vermutung  und  kühnen  Versuch  bezeichnet. 

Die  Kühnheit  liegt  aber  nicht  in  der  Annahme  anti- 
sadduzäischer  Tendenz  als  Antrieb,  den  Stoff  der  münd- 
lichen Lehre  zu  ordnen.  Gewichtige  Gründe,  wie  gegen 
die  Geigersche  Hypothese  von  der  halachasch äffen- 
den Wirkung  des  Antisadduzäismus,  können  gegen  die 
Rosenthalsche  Modifizierung  dieser  Hypothese  in  die  An- 
nahme der  Zurückweisung  des  Sadduzäismus  als  halacha- 
ordnendes  Motiv  nicht  geltend  gemacht  werden.  Diese 
Annahme  hat  sogar  vieles  für  sich. 

Soweit  ist  Rosenthals  Hypothese  sehr  brauchbar  und 
gar  nicht  kühn.  Die  Kühnheit  beginnt  erst  mit  der  Über- 
treibung, mit  der  Annahme,  daß  die  aus  gegensadduzäischer 
Tendenz  entstandene  Halachaordnung  auch  die  erste 
und  älteste  war.  Dies  ist  aber  nicht  mehr  kühn,  son- 
dern einfach  undenkbar.  Schon  aus  der  bloßen  Beschäfti- 
gung mit  Lehrsätzen  ergeben  sich  notwendig  und  unbeab- 
sichtigt gewiße  Aneinanderreihungen,  Zusammenstellungen 
und  Gruppierungen,  besonders  wenn  diese  Lehrsätze  keine 
philosophische  Grübeleien  und  abstrakte  Spekulationen, 
sondern  Satzungen  für  die  Praxis,  Gesetze  für  das  Leben 
sind.  Wie  hat  die  autoritative  Schule  oder  Behörde  in  Fragen 
des  Tempeldienstes  und  der  Reinheitsgesetze  entscheiden, 
die  Gesetze  über  Mein  und  Dein,  Schuldner  und  Gläubiger, 
Schaden  und  Ersatz  handhaben  können,  ohne  daß  aus  der 
praktischen  Anwendung  auch  eine  gewisse  Ordnung  der 
Lehrsätze  sich  ergeben  hätte?  Bleiben  wir  bei  der  Recht- 
sprechung. Der  Richter  urteilt  im  Falle  A  nach  dem  Prin- 
zip a,  dasselbe  Prinzip  muß  er  auch  in  den  Fällen  B,  C... 
X  anwenden.  Die  Fälle  A  . . .  X  wiederholen  sich  aber  wäh- 
rend seiner  Praxis  mehrmals,  so  daß  infolge  des  Assozia- 
tionsgesetzes der  Rechtsfall  A  beim  Richter  die  Vorstellung 


184  Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre. 

der  Fälle  B,  C  . . .  X  auslöst.  Ist  nun  der  Richter  zugleich 
Lehrer,  so  kann  er  —  auch  dies  ist  ein  psychologisches 
Gesetz  —  seinem  Schüler  die  Entscheidung  in  den  Fällen 
A...X  nur  in  der  Weise  überliefern,  daß  er  bei  der  Be- 
handlung des  Falles  A  nach  dem  Prinzip  a  auch  die  an- 
deren nach  demselben  Prinzip  zu  beurteilenden  Fälle  heran- 
zieht. Die  Zusammenstellung  der  Fälle  A  . . .  X  mit  dem 
gemeinsamen  Entscheidungsprinzip  a,  der  Fälle  A1  . .  X1 
mit  dem  Prinzip  a1  usw.  ergibt  sich  auf  diese  Weise 
n  atur  notwe  ndig  ohne  äußere  Veranlassung.  Halacha- 
ordnungen  nach  naturgemäßen,  inneren  Prin- 
zipien sind  also  so  alt  wie  die  Halacha  selbst. 
Sie  sind  aus  Theorie  und  Praxis  von  selbst  herausge- 
wachsen. Dies  bedarf  ebensowenig  eines  Beweises  wie 
jedes  andere  psychologische  Gesetz. 

Später  entstanden  nach  1  i  t  erar  i  seh  -  k  ü  nstlich  e  n 
Prinzipien  gemachte  Ordnungen,  die  die  ursprünglichen 
naturgemäßen  Zusammenhänge  oft  zerrissen  und 
sprengten.  Das  nächstliegende  literarische  Ordnungsprinzip 
ist  die  Reihenfolge  der  Gesetze  in  der  Schrift.  Die  Ordnung 
nach  dem  Seder  Mikra  darf  daher  als  die  älteste 
künstliche  Halachaordnung  angesehen  werden.  Daß  spä- 
ter auch  der  Kampf  gegen  den  Sadduzäismus  und  andere 
Häresien  künstliche  Halachaordnungen  ins  Leben  gerufen, 
ist  nicht  unwahrscheinlich.  Soviel  kann  man  von  der  Ro- 
senthalschen  Hypothese   behalten   und  nützlich  verwenden. 

Auch  die  Ausführungen  R.'s  über  die  Rücksicht  auf 
das  Gedächtnis  als  Ordnungsprinzip:  nach  gewissen  Schlag- 
wörtern, Zahlenverhältnissen,  End-  und  Stabreim  und  dgl. 
enthalten  ebenfalls  ein  Körnchen  Wahrheit.  Daß  die  Ord- 
nung nach  innern  Gesichtspunkten  als  die  älteste 
und  ursprünglichste  angesehen  werden  muß,  ist  oben  aus- 
geführt worden. 

»Ich  würde  mich  —  versichert  R.  —  glücklich  schätzen, 
sollte  es  mir  gelungen  sein,    etwas   zur  inneren  Einleitung 


Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre.  13  5 

in  die  Geschichte  der  Mischnah  geboten  zu  haben«.  Dies 
ist  ihm  in  der  Tat  gelungen.  Denn  etwas,  u.  z.  Inter- 
essantes und  Anregendes,  bietet  R.'s  Arbeit  auch 
demjenigen,  der  sich  seiner  Hypothese  gegenüber  ableh- 
nend verhält. 

Die  Halacha  ist  die  »Überbrückung  zwischen  dem 
Buchstaben  und  der  Praxis«.  Bei  der  Untersuchung  einer 
Brücke  ist  aber  die  wichtigste  Frage  die  nach  den  Pfeilern, 
auf  denen  sie  ruht.  So  ist  auch  die  Untersuchung  über 
Beschaffenheit  und  Tragfähigkeit  der  Pfeiler  der  mündlichen 
Lehre,  d.  i.  der  h er me neutischen  Regeln  die  erste 
und  wichtigste  Aufgabe  einer  Geschichte  der  Ha- 
lacha. Mit  dieser  Aufgabe  beschäftigt  sich  seit  mehreren 
Jahren  Rektor  A.  Schwarz1).  Seine  jüngste  Arbeit  auf 
diesem  Gebiete  behandelt  die  dritte  Middah,  den  B  i  n  j  a  n 
Ab  und  die  mit  ihm  verwandten  hermeneutischen  Regeln2). 

Das  Buch  zerfällt  in  drei  Teile.  Der  erste  Teil  be- 
schäftigt sich  mit  der  Auffassung  des  Binjan  Ab  bei  den 
älteren  Methodologen  und  Erklärern  der  Baraitha  des  R. 
Ismael.  In  dieser  Auseinandersetzung  ist  dem  scharfsinnig- 
sten Sifrakommentator,  dem  RABD,  der  erste  Platz  und  der 
breiteste  Raum  gewidmet.  Schwarz  findet  bei  den  Metho- 
dologen, die  mehr  mit  den  zwei  Formen  des  Binjan  Ab: 
in«  2in3ü  und  D*3VO  Wn  als  mit  dessen  eigentlichem  Wesen 
sich  beschäftigen,  auf  die  Frage:  was  ist  der  B.  A.?  keine 
befriedigende  Antwort.  Er  steigt  daher  zu  den  Quellen 
hinauf,  um  aus  der  Anwendung  der  Middah  ihr  Wesen  zu 
erschließen. 

Diese  Untersuchung,  der  Hauptzweck  des  Buches,  wird 
aber  nicht  schon  jetzt  in  Angriff  genommen.  Der  Verfasser 

1)  Die  hermeneutische  Analogie  in  der  talmud.  Literatur  (1897). 
Der  hermeneutische  Syllogismus  in  der  talmud.  Literatur  (1901). 

2)  Die  hermeneutische  Induktion  in  der  talmudi- 
schen Literatur.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Logik.  Von  Rektor 
Prof.  Dr.  Adolf  Schwarz.  Wien  1909  (XVI.  Jahresbericht  der  isra- 
elitisch-theologischen Lehranstalt  in  Wien). 


186  Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre. 

hält  es  für  notwendig,  zuerst  das  Verhältnis  des  irsa  na 
zum  B.  A.  zu  beleuchten.  Da  aber  der  irsa  ne-Schluß  nichts 
anderes  als  eine  der  vielen  Formen  des  Analogieschlusses 
ist,  so  muß  er  sämtliche  Analogieschlüsse  der  tannaitischen 
Literatur  untersuchen.  Dies  ist  der  Inhalt  des  zweiten 
Teiles,  dessen  Resultate  die  folgenden  sind: 

1.  Die  mit  Dtra  eingeleitete  Vergleichsurteile  sind  en- 
thymematische  Analogieschlüsse.  Beispiel: 
Mischnah  Berachoth  IX  5  Kinr  d#3  nmn  hv  *psh  ßrw  3'*fr 
naHün  bv  yoa.  »M.  das  Gute  und  S.  das  Schlimme,  sind  ein- 
ander darin  gleich,  daß  sie,  von  Gott  ausgehend,  unserem 
Heile  dienen  (a).  Wenn  nun  a  bei  M  ein  Grund  dafür  ist, 
daß  wir  Gott  preisen,  P,  so  muß  es  auch  bei  S  dieselbe 
Folge  haben.  M  ist  P;   S  ist  in  a  gleich  M;  S  ist  P«. 

2.  irso,  irsa  na  sind  Analogieschlüsse  von  der  Form: 
M  ist  P,  S  ist  in  a  =  M;  ergo  SP.  Beispiel:  Berachoth  VII  3 
"»ma  *m«i  paina  tir  roian  rraa  irsa  na  «a^pv  "i  no«.  »R. 
Akiba  konkludiert  von  M,  dem  öffentlichen  Gottesdienst, 
auf  S,  das  gemeinsame  Tischgebet,  mittelst  a,  des  Momentes 
der  Gleichheit  zwischen  beiden.  Die  Gleichheit  besteht  in 
der  Aufforderung  an  die  Anwesenden,  Gott  zu  preisen  .  .  . 
Der  öffentliche  Gottesdienst,  M,  kennt  hinsichtlich  der  Auf- 
forderung an  die  Anwesenden  von  zehn  Personen  aufwärts 
keinen  Unterschied,  P.  Das  gemeinsame  Tischgebet  gleicht 
dem  öffentlichen  Gottesdienst  darin,  daß  es  mit  einer  Auf- 
forderung an  die  Teilnehmenden  seinen  Anfang  nimmt.  S 
ist  in  a  gleich  M;  ergo  ist  SP,  d.  h.  das  gemeinsame  Tisch- 
gebet hat  von  zehn  Personen  aufwärts  immer  dieselbe  Auf- 
forderung«. Diese  Schlüsse  unterscheiden  sich  also  von  den 
ctra-Schlüssen  außer  durch  die  fragende  (zetistische)  Form 
noch  dadurch,  daß  bei  ihnen  das  Moment  der  Gleichheit 
ausdrücklich  hervorgehoben  wird.  Dies  ist  aber  nicht  immer 
der  Fall  und  insofern  sind  auch  die  irsa-Schlüsse  enthy- 
mematisch. 

3.  Die  irsa  na-Schlüsse  haben    sich  zu  vollst ftndi- 


Die  talmndische  Literatur  der  letzten  Jahre.  1S7 

gen  Analogieschlüssen  entwickelt,  die  sich  von  jenen 
dor  Logik  nicht  inhaltlich,  aber  formell  dadurch  unterscheiden^ 
daß  erstens  bei  ihnen  die  zweite  Prämisse  mit  der  Kon- 
klusion verbunden  und  zweitens  die  Prämisse:  S  ist  in 
a  =  M  an  die  Spitze  gestellt.  Beispiel:  Terumoth  V  4 
mic«  n«eoi  cub  mT«  hfiffitoi  S*mn  'kbip  fnb  bbr\  rra  na« 
h^yjl  nsBö  p,k  n^iy  rrtUHö  na  tränst.  »Da  die  unreine  Hebe 
für  den  Ahroniden  genau  so  wie  die  reine  Hebe  für  den 
Nichtahroniden  zum  Essen  verboten  ist,  konkludieren  die 
Hilleliten,  S  ist  in  a  gleich  M;  M  ist  P;  ergo  ist  auch  S  P.« 

4.  Die  bisher  behandelten  drei  Klassen  der  hermeneu- 
tischen  Analogieschlüsse  fallen  also  ihrem  Wesen  nach  mit 
den  Analogieschlüssen  der  Logik  in  eines  zusammen,  da  in 
beiden  von  der  teilweisen  auf  die  vollständige  Gleichheit 
zweier  Dinge  geschlossen  wird.  Zwar  dienen  die  hermeneu- 
tischen  Analogieschlüsse  dem  besonderen  Zweck  der  Ge- 
setzesinterpretation, da  aber  in  ihnen  die  biblischen  Bestim- 
mungen begrifflich  in  Parallele  gebracht  werden,  so  sind 
sie  rein  logische. 

5.  Die  Hermeneutik  hat  aber  auch  solche  Analogie- 
schlüsse, die  nicht  die  biblischen  Bestimmungen  nach  ihren 
begrifflichen  Inhalt  in  Parallele  stellen,  sondern  den  Text 
der  heiligen  Schrift  interpretieren.  Die  Logizität  auch  dieser 
Schlüsse  nach  Form  und  Inhalt  ist  unanfechtbar,  aber  wegen 
ihrer  Auslegung  des  Textes  sind  sie  exegetischer 
Natur.  Exegetische  Analogieschlüsse  sind  die  n:tt>  nrn  und 
der  V8*rT,  oder  der  isorrhematische  und  der  juxta- 
positionelle  Analogieschluß.  Die  nw  ffrta  ist  ein  voll- 
ständiger Analogieschluß  und  unterscheidet  sich  von  diesem 
nur  dadurch,  daß  bei  ihr  die  erste  Prämisse  nicht  S  ist  in 
a  =  M  lautet,  sondern  S  ist  in  i  (isorrhem)  =  M.  Der 
Zusammenhang  zwischen  a  und  P  ist  ein  kausaler,  zwischen 
i  und  P  ein  bloß  autoritativer:  da  die  Thora  den  bloß  zweimal 
gebrauchten  Ausdruck  in  der  einen  Stelle  näher  bestimmt 
hat,  so  schließen  wir,    daß  diese  nähere  Bestimmung  auch 


188  Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre. 

für  die  andere  Stelle  gilt.  Aus  dem  isorrhematischen  hat 
sich  der  juxtapositionelle  Analogieschluß  entwickelt.  »Es  lag 
sehr  nahe,  nachdem  man  das  grammatikalische  Wort  in  der 
Gestalt  des  Isorrhems  zur  Analogie  herangezogen,  zu  demsel- 
ben Zwecke  auch  auf  das  syntaktische  Element,  auf  die  Wort- 
stellung im  Satze  zu  rekurrieren«.  Unter  t>p>n  verstehen  die 
Amoräer  zwei  aufeinanderfolgende  Worte  oder  Satzteile  in 
einem  und  demselben  Verse.  »Diese  zwei  Worte  stehen  infolge 
der  Assoziation,  von  welcher  die  Thora  sich  leiten  läßt,  im 
Verhältnis  des  M  zu  S,  so  daß  wir  das  P  bei  M  ohne  wei- 
teres auf  S  übertragen.  Den  Unter-  und  Schlußsatz  des 
juxtapositionellen  Analogieschlusses  lesen  wir  aus  dem 
Schlußworte  heraus,  aber  es  wäre  doch  ein  Irrtum  zu  meinen, 
daß  dem  »p»n  aus  diesem  Grunde  der  Vorzug  vor  der 
w'y  zuerkannt  werden  müsse.  Nein,  was  ihn  nach  der  Be- 
hauptung des  Talmud  gegen  jedweden  Einwand  schützt, 
ist  das  kausale  Verhältnis,  in  welchem  P  zu  a  steht.  Wäh- 
rend also  im  isorrhematischen  Analogieschluß  der  Übersatz 
lautete:  S  ist  durch  i  gleich  M,  hat  der  juxtapositionelle 
genau  so  wie  der  vollständige  Analogieschluß  den  Übersatz: 
S  ist  in  a  gleich  M.« 

Nachdem  der  Verfasser  die  verschiedenen  Formen  der 
Analogieschlüsse  als  Vorstufen  des  Binjan  Ab  beleuchtet 
hat,  wendet  er  sich  im  dritten  Teil  seines  Buches  dem 
Binjan  Ab  selbst  und  seinen  einzelnen  Entwicklungsphasen 
zu.  Die  Ausführung  darüber  gipfelt  in  dem  Satze:  der 
Binjan  Ab  ist  ein  regelrechter  Induktions- 
schluß. Der  Binjan  Ab  nrtK  ainoa  ist  ein  Spezies-Induk- 
tionsschluß, der  Binjan  Ab  D^iro  »3#a  ein  Genus-Induk- 
tionsschluß. Wie  seine  Vorstufe,  der  Analogieschluß,  gabelt 
sich  auch  der  Binjan  Ab  in  den  rein  logischen  und  den 
exegetischen  Induktionsschluß. 

Schwarz  antwortet  also,  wie  wir  gesehen,  auf  die  Frage, 
ob  die  talmudische  Hermeneutik  den  Anforderungen  der 
Wissenschaft  zu  entsorechen   geeignet  sei,    mit  einem  ent- 


Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre.  189 

schiedenen  Ja.  Und  noch  eine  weitere  Frage,  eine  nicht 
minder  wichtige,  beantwortet  er  in  diesem  Buche  besonders 
scharf:  wie  alt  ist  die  talmudische  Hermen  eutik? 
Die  Antwort  darauf  faßt  Schwarz  am  Schlüsse  der  Aus- 
führung über  die  nw  riTÖ  in  folgenden  Sätzen  zusammen: 
»Ich  kann  dieses  Kapitel  nicht  besser  schließen,  als  mit  dem 
Hinweis  auf  die  tiefe  und  weite  Kluft,  welche  mich  von 
Abraham  Geiger  trennt.  Nach  Geiger  sind  die  ersten  Anfänge 
der  »»j  in  der  Mischnah  zu  suchen.  Nach  meinen  Unter- 
suchungen hat  die  Wz  lange  vor  der  Redaktion  unserer 
Mischnah  den  Charakter  einer  Middah  verloren.  Nach  Geiger 
weiß  Hillel  noch  nichts  von  einer  vrs,  nach  den  Ergebnissen 
meiner  Forschungen  tritt  die  &")  mit  Hillel  in  ihre  zweite 
Entwicklungsphase.  Nach  Geiger  ist  die  talmudische  Her- 
meneutik blutjung,  nach  meiner  Auffassung  ist  sie  steinalt. 
Das  ist  ein  wissenschaftlich  begründeter  Abstand  von  vielen 
Jahrhunderten«.  —  Schwarz'  Buch  ist  ein  3K  pj3. 

Von  Übersetzungen  rabbinischer  Texte  seien  hier 
die  Arbeiten  Stracks  und  Wunsches  erwähnt. 

Strack  lieferte  eine  sehr  gute  Übersetzung  der 
Mischnahtraktate  San  hedrin-Makkoth1)  und  Abo  da 
sara2),  letztere  in  zweiter  Auflage.  Der  Übersetzung  ist  ein 
nach  Handschriften  und  alten  Drucken  sorgfältig  edierter 
Text  zu  Grunde  gelegt.  Die  die  Übersetzung  fortlaufend 
begleitenden  Fußnoten  bringen  die  nötigen  Erklärungen 
und  die  Noten  zum  hebr.  Text  die  Varianten.  Ein  zwischen 
Text  und  Übersetzung  eingeschobenes  Vocabular  verzeichnet 
die  in  den  übersetzten  Traktaten  vorkommenden  nachbib- 


')  Sanhedrin  Makkoth.  Die  Mischnatraktate  über  Strafrecht 
und  Gerichtsverfahren.  Nach  Handschriften  und  alten  Drucken  her- 
ausgegeben, übersetzt  und  erläutert.  Von  Prof.  D.  Dr.  Hermann  L. 
Strack.  Leipzig  1910.  J.  C.  Hinrichs'sche  Buchhandlung. 

■)  Aboda  sara.  Der  Mischnatraktat  »Götzendienst«.  Heraus- 
gegeben von  Prof.  D.  Dr.  Hermann  L.  Strack  (zweite,  neubear- 
beitete Auflage  mit  deutscher  Übersetzung.  Leipzig  1909.  J.  C.  Hin- 
richs'sche Buchhandlung. 


190  Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre. 

lischen  Wortbildungen.  Die  Einleitung  gibt  den  Inhalt  der 
Traktate  an,  nennt  die  in  ihnen  zu  Worte  kommenden 
Lehrer  und  gibt  Rechenschaft  über  die  benützten  Hand- 
schriften und  Drucke   sowie  sonstige  Hilfsmittel. 

Strack's  Übersetzungen  sind  in  erster  Reihe  für  An- 
fänger und  Studierende  bestimmt;  für  diese  sind  sie  das 
beste  und  geeigneteste  Hilfsmittel,  in  die  talmudische  Lite- 
ratur einzudringen.  Die  Texte  aber  und  die  zum  Traktat 
Abodah  sarah  reichlich  herangezogenen  Parallelen  aus  dem 
Kultus  des  klassischen  Altertums  sind  auch  für  den  Tal- 
mudisten  von  Nutzen. 

Daß  St.'s  Übersetzungen  und  Erläuterungen  sich  durch 
Zuverlässigkeit  und  Objektivität  auszeichnen,  ist,  in  Hin- 
blick auf  andere  derartige  Arbeiten,  nicht  überflüssig  her- 
vorzuheben. 

Von  Wünsche's  Übersetzung  der  kleinen  Mid- 
raschim  sind  zwei  weitere  Lieferungen  erschienen.  Bd. 
III1)  und  IV2).  Im  dritten  Band  sind  folgende  Midraschim 
übersetzt:  Traktat  von  den  Grabesleiden,  Fragen  des  R. 
Elieser  (über  Wiederbelebung  der  Toten),  Der  Tag  des  Ge- 
richtes, Gan  Eden,  Fragmente  zu  Gan  Eden,  Traktat  von 
den  himmlischen  Hallen,  Die  Mauern  und  Hallen  von  Gan 
Eden  und  seine  Bewohner,  Das  Mahl  der  Gerechten,  Das 
Gehinnom,  Gan  Eden  und  Gehinnom,  Eine  Geschichte  von 
R.  Josua  b.  Levi,  Messias-Haggada,  Die  Zeichen  des  Mes- 
sias, Über  das  neue  Jerusalem,  den  Tempel,  den  Messias 
und  die  Freuden  in  Gan  Eden,  Die  Mysterien  des  R.  Simon 
ben  Jochai,  Gebet  des  R.  Simon  ben  Jochai,  Midrasch  Konen, 
Das  Noa-Buch,  Von  der  Bildung  des  Kindes,  Eine  andere  Re- 

')  Aus  Israels  Lehrhallen,  Kleine  Midraschim  zur  jü- 
dischen Eschatologie  und  Apokalyptik.  Zum  ersten  Male  übersetzt 
und  durch  religionsgeschichtliche  Exkurse  erläutert  von  Aug.  Wün- 
sche. III.  Bd.  Leipzig,  1909.  Eduard  Pfeiffer.  M.  6.20. 

*)  Aus  Israels  Lehrhallen.  Kleine  Midraschim  zur  jüdischen 
Ethik,  Buchstaben-  und  Zahlen-Symbolik.  Zum  ersten  Male  übersetzt 
von  Aug.  Wünsche.  IV.  Bd.   Leipzig  1909.    Ed.  Pfeiffer.   Mk.  7,80. 


Die  talmadische  Literatur  der  letzten  Jahre.  191 

zension  über  die  Bildung  des  Kindes.  Der  vierte  Band 
enthält:  Midrasch  Le'olam,  Midrasch  Gadol  und  Gedolah, 
Perek  Schalom  (vom  Frieden),  Midrasch  der  Zehn  Worte, 
Dreizehn  ethische  Erzählungen,  Zwei  Erzählungen,  Erste  Re- 
zension des  Alphabeth-Midrasch  des  R.  Akiba,  Zweite  Re- 
zension des  Alphabet-Midrasch  des  R.  Akiba,  Midrasch  des 
R.  Akibah  ben  Joseph,  Deutung  der  Buchstaben  und  Buch- 
stabenverbindungen des  hebräischen  Alphabets  im  Traktate 
Schabbat,  Midrasch  Ma'ase  Thora. 

Die  Übersetzung  wird  von  kurzen  Nachweisen  und 
Erläuterungen  begleitet.  Den  einzelnen  Stücken  sind  Quellen- 
nachweise und  Inhaltsangaben  vorausgeschickt.  Die  Stücke 
Midrasch  Leolam  und  Midrasch  Gadol  und  Gedoloh  sind 
durch  eine  Sammlung  von  mit  denselben  Schlagworten  be- 
ginnenden Stellen  aus  Talmud  und  Midrasch  ergänzt.  Der 
dritte  Band  liefert  in  einem  Anhang:  Quellennachweise  aus 
Talmud  und  Midrasch. 

Daß  die  Übersetzung  der  kleinen  Midraschim  nütz- 
lich und  wichtig  ist,  beweist  die  Tatsache,  daß  seit 
dem  Erscheinen  der  Wünscheschen  Übersetzungen  diese 
Midraschstücke  viel  häufiger  benützt  werden  als  früher. 
Desto  mehr  wird  ein  Index  vermißt,  wie  ich  vielfach  klagen 
höre.  Hoffentlich  wird  im  Schlußband  diesem  dringenden 
Bedürfnis  in  ausführlicher  und  erschöpfender  Weise  ent- 
sprochen werden. 

Die  Vorzüglichkeit  der  Wünsche'schen  Überset- 
zungen im  allgemeinen  habe  ich  in  der  Anzeige  der  ersten 
zwei  Bände  hervorgehoben1).  Daß  einzelne  Ungenauigkeiten 
in  diesem  Bande  in  geringerer  Zahl  vorkommen  als  in  den 
ersten  Bänden,  konstatiere  ich  gern. 

In  diesem  Zusammenhang  sind  noch  einige  Schriften 
zu  erwähnen,  in  denen  die  talmudische  Literatur  nicht 
Zweck,  sondern  Mittel  der  Forschung  ist. 

In    erster    Reihe   ist   Büchler's    Monographie    über 

»)  Monatsschrift  1908,  S.  451  f. 


192  Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre. 

das  jüdische  Sepphoris  im  zweiten  und  dritten  Jahr- 
hundert zu  nennen1).  Die  Untersuchung  beschäftigt  sich 
mit  den  weltlichen  Leitern  der  Gemeinde,  den  jüdischen 
Richtern,  den  reichen  Männern,  der  Bevölkerung,  den  Ge- 
lehrten und  ihrem  Unterhalt.  Die  Hauptresultate  seiner 
Untersuchung  faßt  Büchler  in  folgenden,  hier  gekürzt 
wiedergegebenen  Thesen   zusammen: 

Leiter  der  Gemeinde  waren  eine  Anzahl  wohlhabender 
und  vornehmer  Juden,  als  die  »Großen«,  »Häupter«  und 
—  als  Repräsentanten  der  jüdischen  Bevölkerung  der  rö- 
mischen Regierung  gegenüber  —  »Parnassim«  bezeichnet. 
Als  Mitglieder  des  städtischen  Rates  waren  sie  für  die 
pünktliche  und  volle  Leistung  der  regelmäßigen  und  außer- 
ordentlichen Steuern  verantwortlich.  In  dieser  Eigenschaft 
ließen  sie  die  Bevölkerung  ihre  Macht  fühlen.  Auch  als 
Inhaber  des  Richteramtes  ließen  sie  sich  Mißbräuche  zu- 
schulden kommen.  Die  Gelehrten  lebten  in  großer  Armut 
und  wurden  von  den  Großen  und  Reichen  verachtet  und 
wegen  ihrer  Zurechtweisungen  gehaßt.  Es  wurden  gegen 
sie  gehässige  und  herabsetzende  Anklagen  erhoben,  wozu 
einzelne  durch  ihre  Lebensführung  auch  Anlaß   gaben. 

Galiläa  kommt  bei  Büchler  nie  gut  weg.  Das  wissen 
wir  besonders  aus  seinem  galiläischen  Am  ha-Arez.  So  ist 
auch  diese  Schilderung  der  Zustände  innerhalb  der  jüdi- 
schen Bevölkerung  in  der  Hauptstadt  Galiläas  im  II.  und 
III.  Jahrhundert  etwas  zu  düster  ausgefallen.  Denn  wiewohl 
B.  seine  Thesen  mit  einer  großen  Fülle  Quellenmaterials 
belegen  kann,  so  muß  man  doch  bedenken,  daß  dieses 
Material  zum  weitaus  größten  Teil  dem  agadischen 
Schrifttum  entnommen  ist  und  daß  Sittenpredigten  und 
Strafreden  nur  cum  grano  salis  für  die  wirkliche  Geschichte 
zu  verwerten  sind. 


*)  The  Political  and  the  Social  Leaders  of  the  Je- 
wish  Community  of  Sepphoris  in  the  second  and  third  ceRturies, 
by  A.  Buch ler  (Jews'  College  Publication  N.  1). 


Die  taimcdiscbe  Literatur  der  letzten  Jahre.  193 

Selten  wird  in  engem  Raum  so  viel  Inhalt  geboten 
wie  in  dieser  scharfsinnigen,  gründlichen,  kulturhistorisch 
hochinteressanten  Monographie  Büchlers.  Dies  zeigt  sich 
schon  äußerlich  in  dem  14  Kleindruckseiten  starken  Index 
zu  bloß  711)  Seiten  Text. 

Ein  viel  erörtertes  Thema  behandelt  Strack  von 
neuem:  Jesus  im  Talmud2).  Neben  Travers  Herford's 
Chrlstianity  in  Talmud  and  Midrash«  ist  H.  Laibles  »Jesus 
Christus  im  Talmud«  das  ausführlichste  Werk  über  dieses 
Thema.  Da  dieses  Buch  vergriffen  ist  und  einer  Neubear- 
beitung desselben  viele  Hindernisse  sich  in  den  Weg  stellten, 
entschloß  sich  Strack  zu  seiner  vorliegenden  Arbeit.  Über 
das  Neue,  welches  Strack  bietet,  berichtet  er  selbst:  »Meine 
jetzt  vorliegende  Arbeit  gibt  einerseits  weniger.  Ich  habe 
hauptsächlich  die  Überlieferung  zu  Worte  kommen  lassen, 
längere  Erörterungen  über  Bedeutung,  bezw.  Bedeutungslo- 
sigkeit des  Überlieferten  vermieden  . . .  Andererseits  erheb- 
lich mehr.  Erstens  sind  außer  einigen  auf  Jesum  bezüglichen 
Stellen  die,  gleichviel  aus  welchem  Grunde,  wichtig  er- 
scheinenden älteren  Erwähnungen  der  Minim  neu  aufge- 
nommen. Zweitens  ist  mehr  für  Genauigkeit  des  Wortlautes 
der  mitgeteilten  Texte  geschehen  (durch  Vergleichung  alter 
Drucke  und  einiger  Handschriften).  Drittens  habe  ich  .  .  . 
den  Versuch  gemacht  die  durch  griechische 
und  lateinische  Kirchenlehrer  auf  uns  gekom- 
menen jüdischen  Äußerungen  über  Jesum  zu 
sammeln«. 

Der  Übersetzung  sind  notwendige  Erläuterungen  bei- 
gefügt. Was  das  Material  betrifft,  so  hat  zwar  Strack  auch 
die  Stellen  aufgenommen,   deren  Nichtbeziehung  auf  Jesus 

l)  Von  den  78  Textseiten  entfallen  6  auf  die  Einleitung  und  1 
auf  das  Facit. 

*)  Jesus,  die  Häretiker  und  die  Christen  nach  den 
ältesten  jüdischen  Asgaben.  Texte,  Übersetzungen  und  Erläuterungen 
von  Prof.  D.  Dr.  Hermann  L.  Strack.  Leipzig  1910.  J.  C  Hinrich's- 
sche  Buchhandlung. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  ** 


194  Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre. 

fängst  feststeht,  er  macht  aber  jedesmal  auf  diese  Tatsache 
aufmerksam,  so  daß  »das  schon  früher  unbefangenen  For- 
schern sehr  dürftig  erschienene  Material  an  Nachrichten 
noch  mehr  zusammenschrumpft«.  Auch  die  Mischna  Synh. 
X,  2  gehört  sicherlich  nicht  hieher.  Bileam  ist  der  heidnische 
Prophet  dieses  Namens1). 

Auch  bei  der  Behandlung  dieses  Themas  hat  St.  den 
Theologen  und  Apologeten  ausgezogen  und  läßt  nur  den 
streng  objektiven  ruhig-kalten  Wissenschaftler  das  Wort 
führen. 

Strack  hat  in  den  Anmerkungen  zu  seiner  Überset- 
zung des  Mischnahtraktates  Abodah  sarah  die  römischen 
und  griechischen  Kultaltertümer  zur  Erklärung  der  Mischnah 
herangezogen.  Die  entgegengesetzte  Richtung  schlägt  ein 
kleines  Schriftchen  von  Gymnasialprofessor  Dr.  Hans 
Blau  fuß  ein8),  B.  sucht  in  dem  Traktat  Abodah  sarah 
Materialien  zur  römischen  Kultusarchäologie.  Er 
beschränkt  sich  nicht  auf  die  Mischnah,  sondern  entnimmt 
seinen  Stoff  auch  der  Toseftha  und  den  beiden  Tal- 
muden.  Die  Zitate  —  berichtet  der  Verfasser  —  »entstam- 
men, was  Mischnah,  Tosefta  und  Jerusalemer  Talmud  an- 
langt, aus  eigenen,  derzeit  noch  ungedruckten  Übersetzungen 
desvVerfassers.  Stellen  aus  dem  babylonischen  Talmud  sind 
nach  der  Übersetzung  Ewalds   gegeben«. 

Dies  war  keine  glückliche  Wahl.  Auch  des  Verfassers 
eigene  Übersetzungen  und  Erklärungen  sind  zuweilen  ganz 
verfehlt3).    Da   aber  die  Vergleichungsresultate  selbst  unter 

»)  Vgl.  Herford,  S.  69  und  Bacher  JQR.  XVII,  S.  177. 

*)  Römische  Feste  und  Feiertage  nach  den  Traktaten 
über  fremden  Dienst  (Aboda  sara)  in  Mischna,  Tosefta,  Jerusalemer 
und  babylonischem  Talmud.  Beilage  zum  Jahresberichte  des  königl. 
neuen  Gymnasiums  in  Nürnberg  für  das  Schuljahr  1908/1909.  Nürn- 
berg 1909. 

8)  S.  11,  Anm.  6.  Ab.  sara  8b  berichtet  R.  Josef,  der  babylo- 
nische Amora  des  3./4.  Jahrhunderts,  und  nicht  R.  Jose  b.  Chalaftha. 
Aus    den  Anmerkungen  S.  5,  5    und  11,  5   ergibt    sich,    daß    B.  Mar 


Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre.  195 

diesen  Fehlern  nicht  leiden,  so  behält  das  interessante 
Schriftchen  seinen  Wert,  nicht  bloß  für  den  klassischen 
Archäologen,  sondern  auch  für  den  Talmudforscher. 

Das  Resultat  ist  im  allgemeinen  ein  positives,  d.  h. 
daß  die  Rabbinen  mit  den  römischen  Kultbräuchen  und 
religiösen  Sitten  gut  vertraut  waren,  so  daß  ihre  Angaben, 
auch  wenn  sie  aus  anderen  Quellen  nicht  belegt  werden 
können,  für  die  römische  Archäologie  in  Betracht  zu  ziehen 
sind. 


Samuel  und  Samuel  für  zwei  verschiedene  Personen  hält.  —  S.  30, 
Anm.  2.  Rasch i  ist  nicht  R.  Salomon  Jarcbi,  sondern  Jizchaki,  der 
Sohn  Isaaks. 

(Fortsetzung  folgt.) 


* 


13» 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit 

Von  Adolf  Büchler. 

Über  die  tatsächliche  Beobachtung  mehrerer  Verbote 
der  Thora,  deren  Übertretung  mit  Todesstrafe  belegt  wird, 
und  über  die  wirkliche  Vollstreckung  dieser  Strafe  sind  wir 
in  nur  ganz  wenigen  Fällen  unterrichtet1).  Es  fehlt  jedweder 
Bericht  von  tatsächlichen  Vorkommnissen  bis  zu  den  letzten 
Jahrzehnten  vor  dem  Untergange  des  jüdischen  Staates; 
und  auch  für  diese  letzte  Zeit  fließen  die  Quellen  nur  dürftig, 
wenn  auch  reicher,  als  für  die  fünf  Jahrhunderte  seit  dem 
babylonischen  Exile  zusammengenommen.  Dieses  gilt  auch 
von  der  Bestrafung  des  Ehebruches,  die  nach  Leviticus  20, 
10  und  Deut.  22,  22  für  beide  Beteiligte  der  Tod  war, 
nach  Ezech.  16,  38— 41;  23,  45—48  durch  Steinigung,  nach 
den  Rabbinen  durch  Erdrosselung.  Auch  Josephus  (Contra 
Apionem  II  24.  30)  erwähnt  gelegentlich,  daß  auf  Ehebruch 

')  Es  ist  daher  völlig  unbegründet,  wenn  Eduard  Meyer,  Ge- 
schichte  des  Alterthums  III,  212  von  der  Zeit  unmittelbar  nach  Esra 
und  Nehemia  sagt:  »Die  Thora  hatte  Gesetzeskraft,  die  Strafen,  die 
sie  auf  jede  Übertretung  setzte,  wurden  rücksichtslos  durchgeführt, 
die  strenge  Sabbatheiligung,  die  peinliche  Beobachtung  der  Reinheits- 
und Opfervorschriften,  die  Beseitigung  alles  dessen,  was  als  heidnischer 
Greuel  galt,  erzwungen«.  Meyer  hat  es  gerade  hier  unterlassen,  für 
diesen  so  inhaltsschweren  Satz  auch  nur  einen  einzigen  Beleg  anzu- 
geben. Ich  vermute,  daß  ihm  hiefür  das  Neue  Testament  als  Quelle 
diente,  das  jedoch  nicht  einmal  für  die  judäischen  Verhältnisse  zur 
Zeit  Jesu  ohne  Weiteres  verwendet  werden  darf.  Ich  gestehe,  daß  mir 
die  Kenntniß  der  von  Meyer  angenommenen  Tatsachen  fehlt ;  be- 
sonders aber  ist  mir  die  Bemerkung  über  die  Reinheitsvorschriften 
unverständlich,  mehr  als  die  über  die  Strafen.  Es  ist  für  die  Behandlung 
der  jüdischen  Geschichte  traurig  bezeichnend,  daß  ein  Forscher  ersten 
Ranges  solche  Behauptungen  ohne  jeden  Beleg  aufstellen  darf. 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexüi3chen  Zeit.        197 

der  Tod  stand.  Einen  tatsächlichen  Vorfall  berichtet  nur 
ein  Zeit-  und  Altersgenosse  des  Josephus,  R.  Eleasar  b. 
R.  Zadok  (Sanhedr.  VII,  2,  b.  52ab  u.  Parallelen),  daß  er 
nämlich  als  Kind  gesehen  habe,  wie  eine  unzüchtige  Priester- 
tochter auf  Bündeln  von  Weinreben  verbrannt  wurde.  An 
der  Richtigkeit  der  Meldung  zu  zweifeln,  liegt  keine  Ver- 
anlassung vor.  Ferner  erzählt  bekanntlich  das  Büchlein 
Susanna,  daß  diese  Ehefrau  für  ihren  Ehebruch  hingerichtet 
werden  sollte,  und  zwar  nach  Vers  62  durch  Hinabstürzen 
in  eine  Schlucht  (LXX),  nach  einer  syrischen  Version  durch 
Steinigung1).  Ob  aber  diese  strenge  Strafe  in  der  nach- 
exilischen  Zeit  auch  ausgeführt  oder  auch  nur  als  zu  Recht 
bestehend  von  den  Gerichten  anerkannt  wurde,  ist  von  den 
Exegeten  zu  Prov.  6  und  7,  zu  Sirach  23  und  zu  Matth.  1, 
18  ff.,  Joh.  8,  1—12  eingehend  erörtert,  in  der  jüngsten 
Zeit  zumeist  verneint  und  von  nur  Wenigen  bejaht  worden. 
Die  Frage  scheint  mir  aber  jetzt  nach  dem  umfangreichen  und 
gründlichen  Kommentare  von  Smend  über  Sirach  nochmali- 
ger Behandlung  wert,  weil  ihre  Untersuchung  einen,  wie  mir 
scheint,  wichtigen  Beitrag  zur  Geschichte  der  tatsächlichen 
Durchführung  der  pentateuchischen  Strafgesetze  liefert. 

1.  In  Sirach  23  liegt  weder  ein  formuliertes  Gesetz, 
noch  der  Bericht  von  einem  Vorfall  vor;  aber  die  Art  und 
Weise,  wie  Sirach  den  Ehebrecher  und  die  Ehebrecherin 
vor  den  Folgen  ihrer  Sünde  warnt,  spiegelt  nicht  nur  das 
Denken  des  Spruchdichters,  sondern  natürlich  auch  die  da- 
maligen Verhältnisse  und  auch  die  gesetzlichen  Strafen 
wieder,  die  zu  jener  Zeit  auf  Ehebruch  standen.  Doch  bietet 
der  nur  griechisch  und  syrisch  vorliegende  Wortlaut  wesent- 
liche exegetische  Schwierigkeiten  dar,  von  deren  Lösung 
die  Beantwortung  der  geschichtlichen  Frage  zum  großen 
Teile  abhängt.  Sirach  behandelt  in  zwei,  auch  äußerlich 
geschiedenen  Sätzen    den    ehebrecherischen  Mann   und  die 

')  Siehe  Monatsschrift  f.  Qeschichte  u.  Wissenschaft  des  Juden- 
tums L,  1906,  65;  ff. 


198        Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexiliscben  Zeit. 

Ehebrecherin.  Von  dieser  sagt  er  (23,  22—27  nach  RyselPs 
Übersetzung  in  Kautzsch's  Apokryphen  I,  351)  :  > Ebenso 
ergeht  es  auch  einer  Frau,  wenn  sie  ihren  Mann  verlassen 
hat  und  von  einem  anderen  einen  Erben  zur  Welt  bringt. 
(23)  Zuerst  nämlich  hat  sie  dem  Gesetze  des  Höchsten 
zuwidergehandelt,  und  zweitens  verging  sie  sich  gegen  ihren 
Mann,  und  zum  Dritten  hat  sie  durch  Hurerei  Ehebruch 
getrieben,  hat  von  einem  anderen  Mann  Kinder  zur  Welt 
gebracht.  (24)  Eine  solche  Frau  wird  in  die  Gemeindever- 
sammlung abgeführt  werden  und  über  ihre  Kinder  wird 
Heimsuchung  kommen.  (25)  Nicht  werden  es  ihre  Kinder 
zum  Einwurzeln  bringen  und  ihre  Zweige  werden  keine 
Frucht  darreichen.  (26)  Sie  wird  ihr  Andenken  zum  Fluch 
hinterlassen  und  ihre  Schande  wird  nie  ausgetilgt  werden. 
(27)  Und  die  sie  überleben,  werden  erkennen,  daß  nichts 
besser  ist,  als  die  Furcht  des  Herrn,  und  daß  nichts  süßer 
ist,  als  die  Beobachtung  der  Gebote  des  Herrn«.  Diese  Er- 
mahnung macht  den  Eindruck,  als  ob  der  Ehebruch  nur 
dann  eine  so  schwere  Sünde  wäre,  wenn  aus  ihm  ein 
Kind  hervorgeht.  Auch  hat  man  hier  ohne  Grund  ausge- 
sprochen gefunden2),  daß  die  Frauen  aus  Furcht  vor 
Scheidung  wegen  Kinderlosigkeit  oder  aus  Schande  über 
Kinderlosigkeit  Ehebruch  begingen,  um  Kinder  zu  bekom- 
men3). Der  Spruchdichter  faßt  vielmehr  den  schwersten 
Fall  des  Ehebruches  mit  seinen  fortwirkenden  Folgen  ins 
Auge,  der  nicht  nur  in  der  sündigen  Tat  besteht,    sondern 

*)  ouTtö;  xctt  YUV75  in  Vers  22  entspricht  Vers  16:  ein  Ehebrecher 
begeht  viele  Sünden,  ebenso  die  Ehebrecherin  drei.  Dieses  ergibt  sich 
deutlich  aus  der  unmittelbar  folgenden  Aufzählung.  Wäre  nach  den 
Kommentatoren  zu  übersetzen,  dann  ist  die  Strafe  in  Vers  24  von 
oÜTo)$    zu  weit  entfernt. 

s)  Frankenberg  in  Zeitschrift  für  alttestameatl.  Wissenschaft 
XV,  233  ff. 

3)  Daß  Frauen  solches  getan,  finde  ich  nirgends  angedeutet 
Anders  ist  der  bei  den  a'.ten  Arabern  festgestellte  Fall  bei  R.W.  Smith, 
Kinship  and  Marriage,  2d  edition  1903,  p.  132:  When  a  man  desired 
a  goodly  seed,   he  might  call  upon  bis  wife  to  cohabit  with  another 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nacbexilischen  Zeit.        199 

auch  die  bürgerliche  Ordnung  stört1).  In  solchem  Falle  hat 
die  Frau  drei  Sünden  begangen :  gegen  das  Gesetz  Gottes, 
das  den  Ehebruch  strengstens  verbietet;  zweitens  gegen 
ihren  Gatten,  dem  allein  sie  gehört ;  und  drittens  gegen  ihre 
Familie  dadurch,  daß  sie  das  Kind  eines  fremden  Mannes 
ins  Haus  gebracht  hat2). 

man  tili  she  became  pregnant  by  him.  The  child  as  in  similar  case 
in  Hindu  law,  was  the  hnsband's  son.  Vgl.  Wellhausen  in  Oöttinger 
Gelehrten  Nachrichten  1893,  457. 

•)  Genau  so  stellen  die  Tannaiten  und  Amoräer  die  Größe  der 
Sünde   an    deren  Folgen  dar.    R.  Simon  b.  Menaßja  in  Chagiga  I,  7 

sagt:  ...ttdd  ruBis  tHti  .tiijh by  tan  rn  .ppn?  fcy  uw  rmj»  rnnt 

Pfpn-1  1TWIT  KIT  büS*     In    der    Baraitha  b.  Chagiga  9  b,   Toss.  I,  7: 

ü-jk  ?n3  .jpw  1233  Ttrpr  wen  dtx  3313  ,tbik  iraao  p  ppatr  w  mn 
(s  ttb3  nteS  moKi  vw  nsrx  Vy  »an  ?aK  ,jpiw  i^ta  •vn-v»  "ipdk 
1*7  "|Tm  B^IJH,  Wenn  jemand  stiehlt  oder  raubt,  kann  er  durch  Rück- 
erstattung des  Gestohlenen  oder  Geraubten  alles  wieder  gutmachen; 
wer  aber  mit  dem  Weibe  eines  Anderen  Umgang  gepflogen  und  da- 
dnrch  dem  Gatten  das  Zusammenleben  mit  seiner  Frau  unmöglich 
gemacht  hat,  wird  aus  der  Welt  gestoßen  und  geht  dahin.  R.  Simon 
b.  Lakisch  läßt  Gott  von  den  Ehebrechern  sagen  (Aboda  sara  54  b)  : 
Nicht  genug,  daß  diese  Sünder  meine  Münze  frei  mißbrauchen,  zwingen 
sie  mich  noch,  meinen  Stempel  darauf  zu  drücken.  Derselbe  Lehrer 
sagt  (Lev.  rab.  23,  12;  Pesikta  rab.  24,  124b;  Num.  rab.  9,  1):  Gott 
prägt  der  Frucht  des  Ehebruches  die  Gesichtszüge  des  Ehebrechers 
auf,  um  dessen  Schuld  offenkundig  zu  machen.  Vgl.  Bacher,  Paläst. 
Amoräer  I.  360  ff.  Von  Gott  stammen  nämlich  nebst  der  Seele  und 
den  Sinnen  auch  die  Gesichtszüge,  C3D  "iflDTp  (Baraitha  Nidda  31  a), 
er  kann  sie  sonach  nach  seinem  Willen  gestalten.  Daß  "inDTp  in  der 
Baraitha  mit  -PtcpTa  im  Satze  des  R.  Simon  b.  Lakisch  identisch  ist 
und  beide  auf  ^apaxT/ip  zurückgehen  (Bacher,  Paläst.  Amoräer  II, 
343,  Note  3),  unterliegt  keinem  Zweifel;  aber  das  Wort  philologisch 
zu  erklären,  ist  bisher  noch  nicht  gelungen.  Die  Ableitung  bei  Krauß, 
Lehnwörter  II,  548  b  ff.  ist  unmöglich.  Das  Gesicht  als  Ganzes  ist 
gleichzeitig  im  Ebenbilde  Gottes  geschaffen,  vgl.  Mechiltha  zu  Exod. 
20,  17,  p.  70  b:    mOTa    BJ?DD    l'rKa    ailDfl  1^J>  TTjm  DT  TB1BMP  *D  TD 

DTun  rix  rwy  witoi  dt»  <a  nai  dtx.t  dt  tbhp  noa;»  t^d-t.  Dafür 
auch  DipD  bv  \Wp*X  in  Midrasch  ^  55,  3;  17,  8:  vfy  p  jwn^m  TDK 
nr-oo  nrnorn  btx.t  vtb  ddttd  mip"«  *b»  'Vt>:  di?b>3  >ttd  hd 
Dipo  bv  paipnrt  DipD  >:n  niTBWi. 

*)  Dieses  ist  in  zwei  Sätzen  ausgedrückt,  das  ist  unzweifelhaft;, 


2C0        Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit 

Die  Strafe  dieser  Frau  für  ihre  dreifache  Sünde  geben 
die  beiden  Zeilen  vom  24.  Vers.  Das  hebräische  Original 
ist  schwer  zu  ermitteln.  Smend  (Die  Weisheit  des  Jesus 
Sirach  213)  bemerkt  hiezu :  »Syroh.  s^aythtesrai  bfhpnn  (= 
sie  wird  beschimpft  werden?),  Syr.  für  a:  und  auch  sie 
wird  aus  der  Gemeinde  herausgehen.  Man  könnte  dazu 
K'iiin  Esra  10,3.  19  vergleichen;  aber  auch  von  der  Hinaus- 
führung vor  die  Stadt  oder  vor  das  Haus,  etwa  zur  Todes- 
strafe, vgl.  Genes.  38,  24,  Deut.  22,  21.«  Hiernach  wäre 
das  Hebräische :  pnpc  rprmiy  rinV  bvi  bnpn  bx  K3\n  irn 
(nach  Exod.  20,  5  D^a  bv  jna«  pj>  TpiB,  Edersheim).  Was 
der  Dichter  vom  Schicksal  der  Kinder  im  Folgenden  sagt, 
ist  ganz  klar:  sie  werden  keine  dauernden  Wurzeln  schlagen, 
und  wenn  sie  erwachsen  sind,  werden  sie  keine  Kinder 
bekommen.  Der  Gedanke  ist,  daß  nur  legitime  Kinder  am 
Leben  bleiben1);  die  Frau  aber  hinterläßt  ihr  Andenken  zum 
Fluch  (Jes.  65,  15:  nynvb  oaatr  Dfinm)  und  man  wird  ihrer 
Schande  lange  gedenken  (Prov.  6,  33  nnan  »b  WBTrtt).  »Und 
die  sie  überleben«  wird  im  Hebräischen,  wie  schon  Smend 
gesehen  hat,  onsnni  gelautet  haben,  wie  in  Deut.  19,  20 
ikvi  ww  nnKtwro,  wofür  Deut.  13,  12 ;  21,  21  hxw  tel 
pOT*»l  *iyotr\  Deut.  17,  13  ijw  nyn  ^ai  hat,  in  all  diesen 
Stellen  nach  der  Bestrafung  eines  Sünders  mit  dem  Tode. 
Der  Sinn  des  Satzes  ist:  die  Frau  und  ihre  Kinder  gehen 
zu  Grunde  und  ihr  Geschick  schreckt  andere  ab.  Dieses 
scheint  mir  dafür  zu  sprechen,    daß  die  Ehebrecherin  hin- 

aber  der  Begriff,  der  beiden  zu  Grunde  liegt,  ist  nicht  ganz  klar,  vgl. 
Fritzsche.  Das  Original  dürfte  gelautet  haben:  jnr  Tiü'pr,  FPBK  JllJ?a 
'laa  W>xti,  und  der  Übersetzer  machte  zwei  Sätze  daraus. 

>)  Vgl.jer.  Kidd.IV,  65d,  23;  Jebarn.  VIII,  9c,  64:   w;n  '31  1DK 
dk  r^aai  n^ya  ian  «*ao  um  -pia  wr^n  r,:v  o^arf?  cwb  nnx 

D^Nton1?  üü"\tb  xbv  Cltfa  JHDJ?  ^Blü  ontoon,  R.  Chanina  sagte:  Einmal 
in  sechzig  oder  siebzig  Jahren  sendet  Gott  eine  Pest  über  die  Welt, 
die  alle  Kinder  aus  Unzucht  vernichtet,  aber  auch  legitime  werdea 
hinweggerafft,  damit  die  Sünder  nicht  bekannt  werden.  Vgl.  auch 
Fritzsche  zur  Stelle  ur.d  Frankenberg  in  ZATW.  XV,  234. 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischea   Zeit.        291 

gerichtet  wurde,  was  Vers  24  und  26  ohnehin  deutlich 
genug  besagen,  die  von  dem  Andenken  der  Frau  sprechen. 
Dann  ist  «V,n  der  Terminus  für  die  Todesstrafe  der  Un- 
züchtigen, wie  das  griechische  i^xyd-r^z^x:  allein  schon  das 
Hinausführen  zur  Hinrichtung  bedeutet,  (Pape  s.  v.  z^i^m 
führt  hiefür  Herod.  6,  91,  Xenophon,  Anab.  1,  6,  10,  Hell. 
6,  4,  37  an). 

Wegen  Vers  26  a  jedoch  und  mit  Rücksicht  darauf, 
daß  mit  keinem  Worte  angedeutet  wird,  daß  die  Ehebrecherin 
auf  frischer  That  ertappt  oder  durch  Zeugen  des  Ehebruches 
überwiesen  wurde,  scheint  es  mir  keineswegs  ausge- 
schlossen, daß  es  sich  hier  um  eine  Frau  handelt,  die  von 
ihrem  Gatten  des  Ehebruches  bloß  verdächtigt  wird  und 
nach  Num.  5,  15  ff.  durch  das  Wasser  der  Bitterkeit  ihrer 
Sünde  überwiesen  werden  soll.  Nach  der  genauen  Vorschrift 
der  Mischna  Sota  I,  3  wurde,  wie  ganz  natürlich,  eine  solche 
Frau  erst  vor  die  Ortsbehörde  geführt,  vor  der  der  Gatte 
seinen  Verdacht  vortrug ;  die  Frau  wurde  dann  von  zwei 
Mitgliedern  der  Behörde  zur  obersten  Behörde  nach  Jeru- 
salem geleitet,  wo  ihre  Sache  bis  zur  Entscheidung  ge- 
führt wurde.  Haben  wir  auch  keine  Nachrichten  darüber, 
daß  dieses  Verfahren  auch  schon  zur  Zeit  Sirachs  befolgt 
wurde,  so  liegt  es  in  der  Natur  der  Sache,  daß  der  Gatte 
sich  mit  seinem  Verdachte  an  seine  Ortsbehörde  wendete, 
wenn  er  diesen  überhaupt  in  die  Öffentlichkeit  brachte.  Die 
Frau  wird  dann  zur  Gemeinde  zur  Rechtfertigung  hinaus- 
geführt; gelingt  es  auch  nicht,  sie  des  Ehebruches  zu  über- 
führen, so  büßen  ihre  aus  Sünde  hervorgegangenen  Kinder 
die   Sünde  ihrer  Mutter1);  die  Frau    aber   hinterläßt    ihren 

!)  Vgl.  Sirach  26,  19:  >Mein  Sohn,  die  Blüte  deines  Alters  be- 
wahre gesund  und  gib  nicht  Fremden  deine  Kraft  hin.  (20)  Hast  du 
aus  dem  ganzen  Fe'd  einen  Acker  mit  gutem  Boden  ausgesucht,  so 
säe  deinen  eigenen  Samen  im  Vertrauen  auf  deine  edle  Abkunft.  (21) 
So  werden  deine  Sprößlinge  am  Leben  bleiben  und  mit  dem 
Freimute,  den  edle  Abkunft  verleiht,  groSwachsen«.  Allerdings  sieht 
der  Gedankengang  in  diesen  Sätzen  nicht  jüdisch  aus  und  man  könnte 


202        Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit. 

Namen  als  Gegenstand  des  Schwures  und  Fluches,  wie  die 
in  Num.  5,  21. 

2.  Was  den  ehebrecherischen  Mann  betrifft,  so  lautet 
der  entsprechende  Passus  in  Sirach  23,  16b  :  »Ein  Mensch, 
der  an  seinem  eigenen  Fleische  hurt,  wird  nicht  eher  auf- 
hören ...  als  bis  er  gestorben  ist.  (18)  Der  Mensch,  der  von 
seinem  Bette  weg  weitergeht,  spricht  bei  sich  selbst:  »Wer 
sieht  mich  denn?  Finsternis  ist  rings  um  mich  und  die 
Wände  verdecken  mich  und  niemand  sieht  mich,  was  sollte 
ich  mich  scheuen  ?  Meiner  Sünden  wird  der  Höchste  nicht 
gedenken  ?  Und  die  Augen  der  Menschen  sind  es,  die  er 
fürchtet ....  (21)  So  wird  denn  ein  solcher  in  den  Straßen 
der  Stadt  gestraft  werden  und,  wo  er  sich  dessen  nicht 
versah,  wird  er  aufgegriffen  werden«.  Die  Schwierigkeit  des 
Hysteron  Proteron  im  letzten  Satze  haben  schon  die  Ver- 
sionen durch  Umstellung,  beziehungsweise  Änderung  zu 
beseitigen  gesucht.  Ist  die  Reihenfolge  beim  Griechen  richtig, 
so  muß  eyJtac-/]\bi<j£Tai  einem  andern  Worte  als  Strafe  ent- 
sprechen. Syrer  hat  dafür  sneru  «ranon  »pwn  «an  =  er 
wird  schon  geführt  werden.  Smend  bemerkt  hiezu  (p.  112): 
»Das  war  die  Strafe  des  Ehebrechers  und  der  Ehebrecherin 
bei  den  Arabern.  Peschit.  hat  dasselbe  Num.  25,  4  für  jppin 
(LXX  TapaSetY^aT^tü),  obwohl  da  etwas  ganz  anderes  gemeint 
ist.  Lat.  fügt  hier  bei :  et  quasi  pullus  equinus  fugabitur. 
Muhammed  warf  den  Juden  vor,  daß  sie  mit  den  Ehe- 
brechern nicht  nach  dem  Gesetze  verfuhren.  In  der  Tat  ist 
auch  hier  weder  bei  dem  Ehebrecher,  noch  in  Vers  24  bei 
der  Ehebrecherin  von  der  Todesstrafe  die  Rede,  was  für 
das  Verständnis  von  Joh.  von  Interesse  ist«.  Der  hebräische 


zweifeln,  ob  diese  vom  Verfasser  herrühren,  besonders,  da  sie  nicht 
in  allen  Handschriften  stehen  und  deshalb  als  unecht  angesehen  wer- 
den. Hebräisch  dürften  sie  gelautet  haben:  hx)  ,"pH  'D'S  1DBM  US 
-pn'H'j'iro  ijnt  jnn  ,flj>pa  niv  hzn  .nmto  npbn  -\b  *im  .-^ti  d-ht1?  [im 
nnin-n  ^nnctro  iharn  ,-\b  ymxiot  wi  ,nra.  Das  letzte  Wort  ist  bloß 
geraten  nach  dem  syrischen  ;d  *q^  und  dem  griechischen  £v  7:app7)<ri«r 
das  bei  LXX  für  JVi'DCp  steht. 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit.        203 

Text  dürfte  etwa  gelautet  haben  :  ab  r&0  "itt>22  fui?  Wlk 
■upk  iv  Vm»  *6i  bj»'  ünb  bi  ejru  wxb  «rs  n  ipan  ip  bin' 
b»djv  rv  dibsi  tp  «awa  nv  . . .  i«nyo  rinn  bpk  .jtb\  Die 
Worte  muw  W3,  die  schon  Fritzsche  erkannt  hat,  bedeuten 
nicht,  wie  auch  Smend  meint,  Verwandtenehen,  sondern, 
wie  im  Satze  vom  Unzuchttreibenden  in  Prov.  5,511  m^»23 
■pKtri  TW3,  den  Körper  und  den  Penis.  LXX  hat  nvixa  av 
x-axaTpißw-jt  (Tapxe?  cwaaTÖ;  cou,  wörtlich  wie  Sirach,  und 
natürlich  entlehnt  diese  Worte  in  der  gleichen  Bedeutung1). 
v~w  scheint  mir  nach  Prov.  10,  y  yiv  VTfl  trpyoi  gewählt 
zu  sein,  das  nach  Jud.  8,  16  on;  snn  als  Strafen  erklärt 
wird ;  der  Syrer  hat  snr  übersetzt,  der  Grieche  nach  dem 
Zusammenhange2).  Die  erste  Frage  ist,  ob  hier  von  einem 
Ehebrecher  die  Rede  ist.  Schon  der  Ausgangspunkt  zeigt, 
daß  dieses  nicht  der  Fall  ist,  da  hier  nur  die  Beziehung  des 
unzüchtigen  Treibens  zum  eigenen  Ehebett  des  Mannesr 
nicht  die  zum  Weibe  des  Nebenmenschen  besprochen  wird. 
Außerdem  fehlt  jeder  Hinweis  darauf,  daß  der  Unzüchtige 
mit  einem  Eheweibe  Umgang  pflegt,  wie  in  einer  andern 
gleich  zu  besprechenden  Stelle  im  Sirach.  Der  Dichter 
geißelt  hier  vielmehr  die  unersättliche  Leidenschaft  des 
Unzüchtigen,  der  nicht  wählerisch  und  dem  jedes  Weib  gut 
genug   ist ;    er    verläßt    sein    Eheweib    und    sucht   fremde 

»)  Vgl.  auch  zum  Beispiel  ^  73,  26  SöVl  ^XV  nbs,  wo  "nNtf 
den  Körper  nach  seiner  außen  sichtbaren  Seite,  *22*?  das  Innere  be- 
deutet. Für  mit  hat  Syrer  THB  in  41,  17;  42,  11 ;  vgl.  8,  2;  19,  2  und 
das  aramäische  Fragment  der  Testamente  der  XII  Patriarchen  in  Jew. 
Quart  Review  XIX,  571  unten:  ^3  [DI  HXDttl  tflD  ^3  jD  na  ~\b  imm 
nut,  wo  der  Grieche  öctco  7cavTÖ?  <7uvou<Jiacao'j  =  Beischlaf,  hat. 

2)Das  gleiche  Wort  ist  in  Sirach  12,  8  zu  ermitteln,  wo  der  Grieche 
hat :  e«fc  exSixyiOvicsTat  ev  xyx&oXq  6  <p£),o?  xai  ou  xpußTffcsTai  ev 
/taxoT;  6  s/d-po?.  Da  werden  für  das  erste  Verbum  als  Varianten  be- 
zeichnet: eu.(&-/)\M<jeTai,  iTtifmcd'riGzxa.i,  bopav/fasTat,  Lat.  Slav.  ag- 
noscetur,  Syrer  csnrtJ  K7.  Alle  diese  Varianten  gehen  auf  das  hebräische 
Original  zurück,  das  entweder  ffysm  oder  n^M,  oder  JHV  hatte;  der 
eine  Übersetzer  sah  darin  Strafen,  der  andere  Offenbaren.  Der  He- 
bräer hat  in  der  Tat  jhi\ 


204        Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexiiischea  Zeit 

Häuser  auf.  Daß  auch  diese  Untreue  gegen  die  eigene 
Gattin  als  Sünde  gegeißelt  wird,  zeigt,  daß  Sirachs  Zeit- 
alter und  Umgebung  an  die  Sittlichkeit  der  Juden  einen 
strengern  Maßstab  angelegt  hat,  als  uns  Frankenberg  und 
andere  Ausleger  der  Proverbia  glauben  machen  möchten. 
Wäre  hier  von  Ehebruch  die  Rede,  so  dürfte  der  Hinweis 
auf  die  schwere  Sünde  gegen  die  Ehe  des  Andern  nicht 
fehlen.  Der  Unzüchtige  nun  wird  in  den  Straßen  gefangen 
und  gezüchtigt  werden.  Damit  ist  nicht  das  Gericht  ge- 
meint, das  ja  nicht  in  den  Straßen,  sondern  am  Tore  oder 
sonstwo  seinen  Sitz  hat.  Vielmehr  wird  der  Unzüchtige 
von  Leuten  auf  der  Straße,  die  ihn  verdächtigen  oder  be- 
zichtigen, auch  in  ihre  Häuser  Schande  gebracht  zu  haben, 
aufgegriffen  und  durchgeprügelt,  und  noch  mehr,  wo  er  es 
gar  nicht  befürchtet  hat,  ergriffen  werden.  Von  Bloßstellen 
zur  Strafe  ist  hier  ebensowenig  die  Rede,  wie  von  der 
Todesstrafe,  die  nicht  in  den  Straßen  vollstreckt  werden 
konnte,  und  die  einen  Unzüchtigen  in  dem  hier  voraus- 
gesetzten Falle  gar  nicht  treffen  durfte1). 

Anders  Verhaltes  sich  mit  9,8:  »Wende  das  Auge  ab 
von  einem  wohlgestalteten  Weibe  und  betrachte  nicht  ge- 
nau fremde  Schönheit2) .. .  (9)  Mit  einer  verheirateten  Frau 

')  So  wird  auch  zum  Beispiel  in  25,  2  und  42,  8  die  Unzucht 
des  Greises  gegeißelt,  von  Ehebruch  ist  keine  Rede. 

-)  Beachtung  verdient  in  diesem  Zusammenhange  41,  22: 
catr/yvta&z  .  .  .  ärro  opiffsco;  Y'jvxty-^  STadpa;  .  .  .  (22)  */.al  ircö 
xaTavoyfceo);  "ß}Vaux.üq  0-avSpou,  axö  xsptspY*wcs  rcaiourKDS  x-jtov»  ' 
y.al  u,?i  sxwrr^;  surl  tyjv  xo'/rr,v  aür/fo.  Hebräer  hat  bloß:  ^xtS'SMö 
.  .  .  ?K  nipnnoi  mi  fHMt;  Smend  (337)  nemerkt:  »Griechisch  xati  <k%6 
xaTravo7i<7Sto;  yuvouy.ö;  OxivSpou  ist  wohl  =  HT'iyss  [JiarnDi  ödet- 
en n;lj?r3,  vgl.  zu  9,  5.  9.  Hebr.  las  wohl  von  [rcriHDi  mt  auf 
BBIBflrTßl  my:  über.  Das  22a  zu  vermutende  niy:  bedeutet  nach  Gr. 
hier  die  Sklavin  .  .  .  Indessen  darf  hier  die  Jungfrau  nicht  fehlen, 
vgl.  9,  5  und  ITU»  30,  20;  Deut.  22,  18.  Welches  hebr.  Wort  hinter 
axö  xsotsoY£'x?  steck:,  ist  unklar.  Aeth.  versteht:  verführen.  Mai 
könnte  an  n#)?  (jes.  23,  12)  denken,  das  Gr.  als  po%J  verstand.  Syroh. 
ÄD'nXD  (Anschauen)  nach  dem  Vorigen«.    Mir  scheint,  erst  fUN  JtttX 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit.         205 

pflege  überhaupt  keinen  Umgang  und  halte  nicht  mit  ihr 
beim  Wein  üppige  Gelage  ab;  damit  sich  nicht  dein  Sinn 
zu  ihr  hinneige  und  du  durch  deine  Leidenschaft  ins  Ver- 
derben stürzest.«  Syrer  hat  statt  der  letzten  Worte :  »und 
du  mit  schuldigem  Blute  in  die  Unterwelt  hinabsteigt.«  In 
der  Anführung  dieser  Sirachstelle  in  Synh.  100  b  (Jebam. 
63  b)  heißt  es:  mr,n  bs  d*cw  iflwin  ü*T\  Tftfi  twk  Imwa  % 
während  der  Hebräer  hat:  mm  \y\  n^i  inntrin  ntr«  TM 
r\rw  bx  g&n  0*2121  2^>  n*^x  man  (D  ♦ . «  mbr\  tr«2.  Der  Wort- 
laut des  letzten  Satzes  ist  durch  die  Leseart  a^ßflcn  statt 
TuvcuaaTi  und  durch  den  Syrer  gesichert  (vgl.  Fritzsche, 
Edersheim,  Ryssel  und  Smend).  Der  Sinn  könnte  sein,  daß 
der  Ehebrecher  mit  dem  Gatten  in  Streit  geraten  und  ge- 
tötet werden  könnte.  Aber  was  es  wirklich  heißt,  kann 
schon  wegen  man  und  auch  nach  I  Reg.  2,  9  nx  nrrnm 
b'.»W  212  iii2*rr  nicht  zweifelhaft  sein:  es  ist  die  Todes- 
strafe, nicht,  wie  Fritzsche  mit  Hinweis  auf  IlSam.  11;  12,  9 
meint,    die  Beseitigung  des  Ehemannes1).     Und   so    glaube 

gestanden  zu  haben,  nicht  mr,  dann  ^j?2  fltPK,  dann  vielleicht  das 
nenhebr.  VsfltPn  oder  mjtt  2310*1  bin  nach  Jerem.  31,  21;  "WfirWl  ttb 
IT32W3  hy  =  ffSStfü  Ticnil  *b  nach  Prov.  6,  24.  25:  }H  flPXD  "pCB^ 
*]32^2  .TB"1  TCnn  Vx  rmaa  \*vb  fipbtfb.  Nach  den  anderen  Sätzen 
dürfte  ocird  7reeisp*feia§  die  Tätigkeit  des  Unzüchtigen  bedeuten  und 
ist  xouSicxr,;  objectiver  Genitiv.  Den  letzten  Satz  deutet  Smend,  p. 
514  zu  Cap.  23,  14  als  Päderastie,  deren  Opfer  die  jüdischen  Jüng- 
linge am  griechischen  Hofe  wurden.  Vgl.  auch  Testam.  Reuben,  Cap.  3: 
Achtet  nicht  auf  den  Blick  eines  Weibes  und  seid  nicht  allein  mit 
einer  verheirateten  Frau  und  gebt  euch  nicht  ab  mit  der  Beschäftigung 
der  Weiber.  4,  1:  Achtet  also  nicht  auf  die  Schönheit  der  Weiber  und 
merkt  nicht  auf  ihr  Tun. 

')  Stünde  DTD131  nicht,  dann  wäre  bloß  der  frühzeitige  Tod 
cnd  vielleicht,  wie  in  dem  verwandten  Satze  der  Rabbinen  in  Aboth 
1,  5 :  nnnp  totti  v&fpS  njn  ß-na  nwxn  cy  nrr»  risrm  dikp  jet  ^3 
DÄTJ  tfW*  1B1D1  ITWl,  die  Höllenstrafe  gemeint.  Doch  beweist  diese 
Parallele  keineswegs,  daß  auch  Sirach  nur  an  diese  und  nicht  an  die 
Todesstrafe  denkt.  Denn  die  Hölle  ist  nur  für  Sünden  angedroht,  die 
der  Kenntnis  der  Strafbehörde  entzogen  bleiben,  nicht  aber  für  er- 
wiesenen Ehebruch.  So  auch  zum  Beispiel  in  Sirach  19,  2:  Wein  und 


206         Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nacbexilischen  Zeit. 

ich,  hierin  einen  Beweis  dafür  sehen  zu  können,  daß  auch 
zur  Zeit  Sirachs  auf  erwiesenen  Ehebruch  die  Todesstrafe 
stand.  Die  bisher  angeführten  Stellen  sprechen  keineswegs 
dagegen,  da  sie  die  geheim  gebliebene  Sünde  des  Ehe- 
bruches behandeln,  gegen  die  nur  moralische,  religiöse 
und  praktische  Bedenken  seitens  des  Spruchdichters  vor- 
gebracht werden  konnten. 

3.  Es  soll  hiemit  keineswegs  in  Abrede  gestellt  wer- 
den, daß  Ehebruch  und  unzüchtiger  Verkehr  der  Geschlechter 
vorkamen.  Die  häufigen  Ermahnungen  Sirachs  weisen 
darauf  hin,  daß  Verführung  seitens  der  Männer,  wie 
Lockungen  seitens  der  Frauen  und  Dirnen  dem  Spruch- 
dichter  große  Sorge  bereiteten.  Aber  die  Folgen  dersel- 
ben   für   die  Beteiligten  in  Form  von  behördlichen  Strafen 


Weiber  machen  Verständige  abwendig  und  wer  sich  an  Dirnen  hängt, 
ist  tollkühner.  (3)  Maden  und  Würmer  bekommen  ihn  zn  eigen,  und 
wer  tollkühn  darauf  loslebt,  wird  hinweggerafft.  Der  Hebräer  hat  : 
tpSjd  rrnrn  my  pdji  aS  lfne1  nW\  p  (vgl.  6,  3:  ntiiwi  my  vb: 
-orwn  kjib>  nnDtfi  rrtya);  der  Syrer:  ponimm  »2b  ptnDD  »r\n:»i  «ton 
-in  «rjn  "von  toya  [D-nom  ma  wji  xns^n  »vt:  .12»:  »m\b 
t\TW>2  'SDl  »Vb)  aWH.  Wieso  nsw  dem  griechischen  ToXfAYipÖTepo? 
entspricht,  ist  schwer  zn  sagen.  Smend  meint,  der  Grieche  habe  ".t 
gelesen  und  nach  2b  ^tsk  ein  neuhebräisches  Denominativum,  wi< 
in  Sanhedr.  109b  verstanden;  sehr  unwahrscheinlich.  Soll  es  etwa 
2b  12»*  11131t  nym  geheißen  haben?  lHl^nJ''  nj^im  non,  wie  in  10,  11 
=  er  wird  vor  der  Zeit  sterben.  Nicht  klar  ist  26,  22:  »Eine  Verheiratete 
aber  wird  als  Turm  des  Todes  für  die,  die  sich  mit  ihr  einlassen,  ange- 
sehen werden«  (siehe  die  Kommentare).  Qeiger,  Urschrift  241  meint, 
daß  im  Syrer :  "]'«  pT  man  «nnjx  /aemriri  dtd  xbn  »twi  «nn:« 
•ornnri  rA  ppannoi  \^»b  wim-r  vi  »bim  die  Worte  man  kjwi» 

das  Eheweib  des  Mannes  =  r'x  HPK  bedeuten,  das  im  Gegensätze 
zum  buhlerischen  Weibe  ein  fester  Turm  ist.  KfllDI  sei  erst  später 
hineingekommen,  als  die  Bedeutung  von  K1331  nicht  mehr  verstanden 
und  der  Satz  anders  gestellt  wurde.  Nestles  Hinweis  auf  II  Makkab. 
13,  5  scheint  mir  keineswegs  das  Richtige  zu  treffen.  Freilich  wird 
die  Echtheit  des  Stückes  26,  19—27,  das  in  vielen  Handschriften  nicht 
steht,  angezweifelt,  und  sind  Schlüsse  aus  dem  angeführten  Satze  auf 
die  Todesstrafe  für  Ehebruch  unsicher. 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit.        207 

werden  nirgends  besprochen.  Bezeichnend  ist  hiefür  42, 
11  :  »Mein  Sohn,  halte  deine  Tochter  in  strengem  Ge- 
wahrsam, daß  sie  nicht  deinen  Namen  in  schlechten  Geruch 
bringe,  zum  Stadtgespräch  und  zum  Fluch  unter  den  Leuten, 
daß  sie  dich  nicht  in  Schande  bringe  in  der  Versammlung  am 
Tore«.  Aus  dem  unmittelbar  Folgenden  ist  zunächst  klar,  daß 
es  sich  um  die  unverheiratete  Tochter  im  Hause  des  Vaters 
handelt;  auch  wenn  das  hebräische  "\Ki  und  nicht  y6im 
lautete.  Sie  pflegt  Umgang  mit  einem  Freunde,  die  Nachbarn 
bemerken  es  und  sprechen  abfällig  vom  Hause  des  unacht- 
samen Vaters;  in  kurzer  Zeit  verbreitet  sich  die  Kunde 
davon  in  der  Stadt  und  man  spricht  überall  von  dem  un- 
züchtigen Verhältnisse1).  Der  nächste  Schritt  ist  die  Be- 
sprechung der  Schande  im  Stadttore,  wo  nach  Prov.  31,  31 
auch  das  Lob  der  tüchtigen  und  braven  Frau  gesungen 
wurde;  oder,  falls  eine  Gerichtsverhandlung  gemeint  ist, 
könnte  nach  Deut.  22,  20  an  die  Entdeckung  der  Unzucht  des 
Mädchens  nach  der  Verheiratung  gedacht  werden2).  Dafür 
sprechen  die  einleitenden  Worte  zu  dieser  Ermahnung  an 
den  Vater  in  42,  93):  »Eine  Tochter  ist  für  ihren  Vater  ein 

J)  Für  ftbbp  hat  der  Grieche  xai  Zyx.\r\';ov  XaoS,  weshalb 
Smend  als  Text  nSnpi  gibt. 

2)  Smend  sagt  in  mir  unverständlicher  Weise:  »Zuerst  entsteht 
ein  Gerede,  dann  rottet  sich  das  Volk  zusammen  was  zu  einer  Ge- 
richtsverhandlung führt«.  Warum  sollte  da,  trotz  26,  5,  eine  so  ernste 
Zusammenrottung  erfolgen? 

»)  In  Synhedr.  100b  lautet  dieser  Satz  bekanntlich:  n^ttb  m 
xqv  rurffjyja  „nnenn  kqv  nnuaps  .ftWa  [»"  ab  rnnso  ,»w  njioüo 
küv  nrpn  janä  nb  W  »b  xqv  r\xw:  »kboti  »b  »nv  maa  ,ru?n 
CB&2  nVyn.  Man  beachte  zunächst  die  aus  der  halachischen  Literatur 
genügend  bekannten  Lebensalter  der  Frau.  Am  deutlichsten  ist  das 
Alter  der  Mannbarkeit  ausgedrückt  als  dasjenige,  in  welchem  das 
Mädchen  heiraten  soll.  Ebenso  sagt  Rab  in  Lev.  rab.  21,  8  Ende :  "jrD 
ib  mm  "pnjJ  "nrttf  rV*a»  ist  deine  Tochter  mannbar,  erkläre  deinen 
Sklaven  für  frei  und  gib  sie  ihm  zur  Frau.  In  min  i"NPJJD  #"HD  (bei 
Jellinek  Brno."!  t*S  II,  98)  und  in  Wipn  lrail  ""pis  (Schönblum  nvbv 
OTiriDJ  onoo)    ist   derselbe    Satz    R.  Akiba  zugeschrieben  (s.  Bacher, 


208  Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexiliscfcen  Zeit. 

Schatz,  der  ihn  wach  hält,  und  die  Sorge  um  sie  verscheucht 
ihm  den  Schlaf:  in  ihrer  Mädchenzeit,  daß  sie  nicht  ver- 
blühe, und  ist  sie  verheiratet,  daß  sie  nicht  widerwärtig 
sei.  (10)  In  ihrer  Jungfrauschaft,  daß  sie  sich  nicht  be- 
rücken lasse,  und  im  Hause  ihres  Eheherrn,  daß  sie  nicht 
ausschweifend  lebe;  im  Hause  ihres  Vaters,  daß  sie  nicht 
schwanger  werde,  und  im  Hause  ihres  Mannes,  daß  sie 
nicht  unfruchtbar  sei«1). 


Agada  der  Tannailen  I,  271,  4);  in  Peßach.  113a:  vb  J3  JJBn.T  »31  ")BX 

■nrw  ni»  "m  ^bjr»  nwjja  cpd  im»  nsnn  'rx  jÄvn*  *v:x  lwü 
l'vxin  ruuno  -jfitpxa  nvn  nm  ,nb  fni  -psy  führt  R.  josua  b.  Levi  das- 

relbe  im  Namen  der  Männer  von  Jerusalem  an.  In  Lev.  rab.  21,  8 
wird  erzählt:  R.  Chananja  b.  Chachinai  studierte  als  verheirateter 
Mann  mehrere  Jahre  bei  R.  Akiba  in  Bne-B'rak  und  kümmerte  sich 
um  seine  Familie  in  der  Ferne  nicht.  Nun  ließ  ihm  seine  Frau  einmal 
sagen:  nx'tPHl  K»  «TW3  "JUS,  und  auch  R.  Akiba  sagte,  um  ihn  zum 
Nachhausegehen  zu  veranlassen,  zu  ihm:  "S"1  n*)3"D  D3  \h  WV  "ü  bz 
fiX,,tt>v),  wer  eine  mannbare  Tochter  hat,  gehe  nach  Hause  und  ver- 
heirate sie.     In  der  Baraitha    Sanhedr.  76a  unten:   fix  bbnr\  bx  ,X"0fi 

nt  icik  K3"pj?  *3i  .fp6  im  fix  x'tpcn  nt  "loix  *uj>^x  w  .nnunS  ins 
^m»'3  yj)  -|S  |*«  xs^py  -ai  bupb  xns  3*1  "icx  .man  im  xrircn 
fi"iyi3  1D3  xntPBm  Bliy  j?en  x'jx  bezieht  R.  Akiba  Lev.  19,  29  a  auf  einen 
Vater,  der  seine  mannbare  Tochter  nicht  verheiratet.  Vgl.  Jebam.  62  b 
unten  die  Baraitha :  ibüb  ifi^  rH33KTl  !Bl»  ifitrx  fix  B.TXH  [»1  i:n 
1B1X  aUDM  I^V  {plE)1?  "pBB  |KMWH1  mB"  *p"D  TW»!  V»  "pTterTI 
■jSnx  Bl^tf  "O  njPt1!,  wer  seine  Frau  liebt  wie  sich  selbst,  wer  sie 
höher  achtet  als  sich  selbst,  wer  seine  Söhne  und  seine  Töchter  auf 
den  geraden  Weg  leitet  und  sie  nahe  an  ihrer  Reife  verheiratet, 
dessen  Haus  ist  wohlbestellt,  nach  Hiob  5,  24.  Als  zwölfjähriges 
Mädchen  ist  sie  der  Gefahr  ausgesetzt,  sich  mit  jungen  Leuten  ein- 
zulassen, von  ihrem  eigenen  Triebe  verleitet;  bei  der  einjährigen 
dagegen  geht  die  Verführung  vom  Manne  aus.  Als  alte  Frau  betreibt 
sie  Zauberei,  was  sehr  bezeichnend  ist;  wie  wir  noch  in  tannaitischer 
Zeit  finden,  daß  die  Frauen  allgemein  Zauberei  trieben  (s.  Büchler, 
Der  galiläische  Am  ha-Arez  202,  1). 

J)  Der  Wortlaut  dieser  Sätze  im  Talmud  stimmt  weder  mit  dem 
Griechen,  noch  dem  Syrer,  noch  dem  Hebräer.  Für  Verblühen,  das 
zur  Mädchenzeit  gar  nicht  paßt,  bat  Hebräer  "r>2fi,  Syrer  xnBi'fi  «* 
daß  sie  nicht  geschmäht  werde  (Smend).  Dieses  und  das  Griechische 
führen  auf  'rBJfi  zurück,    das    das  letztere  nach  dem  häufigen  tOi  im 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit.        209 

Mit  der  Tochter  im  Hause  des  Vaters  befaßt  sich  auch 
26,  10 — 12:  »Bei  einer  Tochter,  die  immer  lüstern  ist,  halte 
strenge  Wacht,  damit  sie  nicht,  wenn  sie  bemerkt,  daß 
diese  nachgelassen  hat,  sich  gebrauchen  lasse.  (11)  Hüte 
dich  davor,  wollüstigem  Auge  nachzugehen,  und  wundere 
dich  nicht,  wenn  es  sich  dann  an  dir  vergeht.  (12)  Wie  ein 
durstiger  Wanderer  den  Mund  öffnet  und  von  jedem  Wasser 
trinkt,  so  wird  sie  sich  gegenüber  jedem  Pfahle  niedersetzen 
und  wird  vor  dem  Pfeile  den  Köcher  öffnen.«  Allerdings 
sind  die  Kommentatoren  über  den  Zusammenhang  zwischen 
den  einzelnen  Sätzen  dieser  Stelle  nicht  einig,  und  worin 
sie  übereinstimmen,  scheint  mir  nicht  befriedigend.  Vers  12 
ist,  wie  er  steht,  die  Fortsetzung  von  Vers  10,  und  beide 
handeln  von  der  Tochter,  die  Verlockungen  nicht  nur  leicht 
nachgibt,  sondern  solchen  auch  bereit  entgegenkommt. 
Dagegen  spricht  Vers  11  scheinbar  vom  Vater  und  zer- 
stört den  Zusammenhang.  Dieser  Umstand  hat  Fritzsche 
veranlaßt,  Vers  10  als  eine  abgeschlossene  Mahnung 
an  den  Vater  anzusehen,  nämlich  seine  Tochter  zu  über- 
wachen ;  11  und  12  aber  als  eine  eigene  Mahnung  an 
jeden  Mann,  sich  selbst  vor  unzüchtigen  Frauen  in  Acht 
zu  nehmen;  und  da  hiedurch  Vers  12 cd  das  Subjekt 
verliert,  nämlich  die  Tochter,  wird  es  ganz  ohne  jedes 
Recht  aus  dem  wollüstigem  Auge  ergänzt  (vgl.  auch  Eders- 
heim    und  Ryssel).  Aber  wie  mir  scheint,  beseitigt  die  Rück- 

Kal  als  Verblühen  auffaßte,  während  der  Syrer  darin  "?2»J,  wie  in  Deut 
32,  15  llijw  nilt  Sari,  sah.  Aber  was  ist  das  hebr.  "tti?  Stnends  Vor- 
schlag, "nun  zu  lesen,  beseitigt  die  Schwierigkeit  nicht.  Da  das  Zitat 
im  Talmud  nJTJi  hat,  das  aramäisch  und  syrisch  *M  heißt,  wie  es  auch 
Neubauer*Cowley  übersetzen,  so  muß  entweder  das  freilich  Unwahr- 
scheinliche angenommen  werden,  daß  TU  auch  hebräisch  war,  oder 
daß  der  Satz  aus  dem  Syrischen  rückübersetzt  ist.  KntDJtn  ist  ein  ge- 
ringer Fehler  für  Kintltn,  wie  schon  Levi  gesehen  hat ;  es  bedeutet  : 
sich  unzüchtig  benehmen,  und  ist  eine  andere  Übersetzung  von  n:tr. 
"ipyr  als  Denominativum  von  mp?  (Oenes.  r.  45,  4)  ist  gleichfalls 
syrisch  (Smend). 

14 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  " 


210        Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit. 

Übersetzung  ins  Hebräische  alle  Schwierigkeiten  und  er- 
giebt  als  durchgehendes  Subjekt  die  Tochter.  Nach  42,  11 
lautete    10a:   -lotPD  pmn  (mjtfi)  "jna  bv1),   dann:   kmi  nun  jb 

l)  Für  äSiaTpe7TTo)  hat  Syrer  xrrBtfn,  wofür  Smend  ntne  i"6lj> 
oder  nSaj  vorschlägt;  ich  habe  nty  gesetzt,  das  in  6,  4;  19,  3;  40,  30 
deutlich  gierig  heißt.  In  6,  4  ist  vom  Qelüste  der  Seele  die  Rede  : 
♦  Eine  (sinnlichen  Genüssen  fröhnende)  böse  Seele  richtet  den  zu 
Qrunde,  der  sie  zu  eigen  hat,  und  sie  macht  ihn  zum  Qespötte  der 
Feinde«.  19,  3:  »Wein  und  Weiber  ....  eine  tollkühne  Seele  wird 
hinweggerafft«.  23,  4:  »Lüsterne  Augen  gib  mir  nicht  und  die  Be- 
gierde laß  fern  von  mir  sein.  (6)  Das  Lustverlangen  des  Bauches 
und  die  sinnliche  Lust  mögen  sich  meiner  nicht  bemächtigen  und 
schamlosem  Sinn  gib  mich  nicht  hin«.  Hier  haben  Codices  den  Zusaz 
YtvavTcoSri  J^u/viv,  was  eben  n?JJ  IPBJ  ist.  Syrer  hat  in  23,  6  b  B>c; 
KAB^Sn,  wie  in  26,  10,  das  bereits  Smend  als  Übersetzung  von  ,"nj?  CDj 
erkannt  hat  mit  dem  Hinweis  auf  die  obigen  drei  Parallelstellen. 
Heißt  aber  nvj  PBJ  Gier  und  Wollust?  In  der  Bibel  steht  neben  tj? 
ein  Nomen  oderVerbum,  um  die  Eigenschaft  genauer  zu  bezeichnen, 
wie  Prov.  21,  29  TUBa  JJBn  B"X  tjh,  7,  13  ,TJB  ffijjn,  Deut.  28,  50 
DMB  tj?  M3,  Daniel  8,  23  BUB  TJ>  *[bü,  Kobel.  8,  1  XW  vjd  tjm,  Jesaia 
56,  11  B>Bi  ■>?$  D»ate?Tl,  wo  die  Fortsetzung  flJÖW  1JH1  «^  zeigt,  daß 
die  Gier,  PBJ  unersättlich  ist.  Vgl.  aS  'ptm  BUB  Vp  Ezech.  2,  4,  "»ptn 
n*8  in  Ezech.  3,  7,  Jesaia  48,  4  nnnj  "jnatBl,  Ezech.  3,  8  :  -pjß  DX  UinJ 
BnXB  flBiyb  ptn  ^nitB  flKl  BHUB  ABl]?1?  Cptn«  In  Beza  25  b  lesen  wir  :  xjn 

rai  wn  .pty  fntp  ubb  bxwb  min  n:n:  fiö  ubb  ,tkb  •o-n  irora 
{n:nc  Mn  ptin  ,tfn  "pia  irnpn  *ibk  /ibS  m»K  u^b  ^xyB«"  *ai 
Ski«'1':  mm  nan:  x^x«?  «>x  i^x  Sb>  Drrrn  naso  xa^x  .px  m  onS 
roriw  ,w»pS  p  pjHatf  ■'an  naxl  .bhub3  mayS  p^ia1  p»Si  hbix  Sa  px- 
nanaa  ty  P]x  b^bix  bh  mBiya  ta  nvna  aba  niBixa  Sx-ity  ,fn  pty 
nu'rxa  PjSit  P)X  B'naix  Wl  fiai,  im  Namen  R.  Meir's  wurde  gelehrt: 
Warum  wurde  die  Thora  Israel  gegeben?  Weil  die  Israeliten  stark 
sind.  Das  Lehrhaus  des  R.  Ismael  lehrte:  »Zu  seiner  Rechten  ein 
Feuergesetz  für  sie«  (Deut.  33,  2),  damit  meinte  Gott:  Für  sie  eignet 
sich  ein  Feuergesetz.  Andere  erklären  dieses:  Die  Art  Israels  ist 
Feuer;  wenn  ihnen  die  Thora  nicht  gegeben  worden  wäre,  hätte  kein 
Volk  vor  ihnen  bestehen  können.  So  sagte  R.  Simon  b.  Lakisch:  Es 
gibt  drei  Starke:  unter  den  Völkern  Israel,  unter  den  wilden  Tieren 
den  Hund,  unter  den  Vögeln  den  Hahn;  manche  sagen:  auch  die 
Ziege  unter  dem  Kleinvieh;  andere  fügen  noch  hinzu:  unter  den 
Bäumen  den  Kapperstrauch.  Welche  Art  von  Stärke  in  den  ersten 
Sätzen  gemeint  ist,  ist  an  sich  nicht  klar;  die  Parallelstelle  zum  letz- 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit.        211 

,-p  TAH!  »a  nann  ^ki  man  rrry  nn«  no^>a  matp  ,(^nsn 
^o  *:d$>  rns/i  p  ,i^  DWpn  ü-a  ^o  nmtpi  pd  nmon  «bj:  nn«3 
p^>  nriDt^K  nnom  t/t. 

Es  verdient  Beachtung,  daß  die  nachdrücklichen  Rat- 
schläge des  Dichters  nur  den  praktischen  Gesichtspunkt 
zeigen.  Er  läßt  wie  ein  wohlmeinender  Freund,  der  einen 
nur  auf  das  Materielle  achtenden  und  bloß  vom  greifbar 
Schädlichen  zu  beeinflußenden  Mann  zur  Vorsicht  in  Dingen 
der  Sittlichkeit  mahnen  will,  alles  Religiöse  und  im  Gesetze 
der  Thora  Gebotene  oder  Untersagte  mit  Absicht  beiseite, 
wie  dieses  die  Kommentatoren  zu  den  Proverbien  richtig 
hervorheben.     Deshalb     sucht    man     bei    Sirach     meistens 


teil  Satze  in  Exod.  rab.  42,  9  hat:  an  O'Bllfn  nvbv  ny  "ai  löX,  somit 
TJJ  =  S]l3£n,  wie  der  Syrer  im  Sirach  übersetzt.  Was  haben  aber  Hund, 
Hahn,  Ziege  und  Kapperstrauch  gemein?  In  Jes.  56,  11  :  VJJ  D'oSsni 
nyntP  ljn1  &b  B>b:  ist  die  Unersättlichkeit  des  Hundes  hervorgehoben, 
und  Sirach  26,  25  sagt:  »Ein  immerfort  lüsternes  Weib  wird  wie  ein 
Hund  gelten«,  wo  der  unersättliche  Geschlechtstrieb  gemeint  ist. 
Seine  Frechheit  tritt  aber  besondert  in  der  Begattung  auf  der  Straße 
hervor,  Gen.  rab.  36,  7:  ».TWia  ltföM*  n^Dl  an  ,ksx  in  K"n  ?3*i  "IDX 
WWW  DDTBD  l^Dl  DnifiB  cn  XX''  "p^S.  Das  Gleiche  gilt  vom  Hahn, 
wie  die  sprichwörtliche  Redensart  zeigt  in  Berach.  22a:  »TB*?fl  VT5  x'.'tP 
D^IMlfia  BfrWIW  ^SKB"titB  D'DSn,  jer.  Berach.  III,  6c  17:  npy  ^  "IBX 

pVianro  ^kw  i.t  *6w  x^x  nxn  n^aton  nx  irpnn  äS  [osty  bs  ,pax  "O 
^51X1  "nvi  nSijyi  UWB  B>DB>D  iS1?."»,  (damit  steht  der  Ausspruch  des 
R.  Chijja  von  der  Züchtigkeit  des  Hahnes,  der  vor  der  Paarung  der 
Henne  schmeichelt,  tya  "p  "in XI  D^Bö,  Erub.  100  b,  nicht  in  Wider- 
spruch). Beim  Kapperstrauch  ist,  wie  schon  Toßafoth  zu  Beza  25b  nach 
Maaßr.  IV,  6,  Sabb.  30b  unt.  erklären,  die  außerordentliche  Frucht- 
barkeit gemeint,  vgl.  jer.  Taanith  IV,  69  b  30  :  HX11  Xin  ITTJ»  m  1DX 
DlTB  TW  1J?  X\ntt>  ^XW  px  X\"!  HB^n  MD,  R.  Zeira  sagte :  Stehe  doch, 
wie  frech  Palästina  ist,  indem  es  (den  fremden  Beherrschern)  Früchte 
trägt  (b.  Kethub.  112a).  Andere  Schamlosigkeit  des  Hundes  in  Kob. 
rab.  1,  2. 

')  Wenn  es  nicht  zu  kühn  schiene,  würde  ich  für  y^azxxi 
nicht  -inon,  sondern  das  rabbinische  tPOriBTl  vorschlagen,  das  Gebraucht- 
werden  und  Beiwohnung  bedeutet.  Vgl.  Baba  mezia  84  b,  wo  die 
Witwe  des  R.  Simon  b.  Eleasar  dem  Rabbi,  der  ihr  einen  Heirats- 
antrag stellt,  sagen  ließ  :  bm  »  weiH^  tt>"iip  13  VBTWiV  ^3« 

14* 


212         Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeil. 

umsonst  die  zu  seiner  Zeit  geltenden  strafgesetzlichen 
Bestimmungen  betreffs  Ehebruch  und  Unzucht;  ohne  aber 
daß  diese  Wahrnehmung  zur  Annahme  berechtigen  würde, 
daß  das  strenge  Strafgesetz  der  Thora  nicht  in  Geltung 
stand  und  nicht  durchgeführt  wurde.  Von  Interesse  ist  es 
auch,  daß  die  Frau  in  all'  diesen  Ermahnungen  nicht  direkt 
angeredet  wird.  Der  Vater  wird  wiederholt  gewarnt,  seine 
Tochter  zu  überwachen,  der  Gatte  wird  über  seine  Pflichten 
gegen  seine  Frau  belehrt,  der  Jüngling,  der  gereifte  Mann 
und  der  Greis  werden  über  die  Folgen  von  Unzucht  und 
Ehebruch  aufgeklärt,  und  ihnen  die  schädlichen  und  gefähr- 
lichsten Verlockungen  der  Ehebrecherin  und  der  Dirne  in 
grellen  Farben  vorgeführt;  an  das  jüdische  Mädchen  und 
das  jüdische  Eheweib  wird  keine  Ermahnung  gerichtet. 
Wer  hieraus  Schlüsse  auf  die  Stellung  der  Frau  in  Judäa 
um  200  v.  d.  g.  Z.  zieht,  baut  auf  unsichern  Grund.  Denn  die 
Lehren  der  Spruchdichter  sind  ausschließlich  für  Männer 
und  Jünglinge  bestimmt  gewesen  und  aus  den  Schulen  der 
Weisheitslehrer  hervorgegangen,  in  denen  die  reife  männ- 
liche Jugend  zur  praktischen  Weisheit  angeleitet  wurde, 
wie  dieses  Frankenberg  so  gut  dargetan  hat.  Mädchen  und 
Frauen  hatten  zu  diesen  Schulen  keinen  Zutritt,  weshalb 
sie  auch  nicht  Gegenstand  der  Anrede  und  der  Belehrung 
waren.  Ihre  Erziehung  war  die  Aufgabe  des  Elternhauses 
und  dieses  trug  die  Verantwortung  für  deren  Mängel. 

4.  Das  nicht  ganz  sichere  Ergebnis  aus  Sirachs  Äußer- 
ungen, daß  auf  erwiesenen  Ehebruch  der  Tod  stand  und 
diese  Strafe  auch  vollstreckt  wurde,  ist  noch  mit  den 
Stellen  über  Ehebruch  und  Unzucht  in  den  Proverbien  zu 
vergleichen.  In  5,  5  heißt  es  vom  unzüchtigen  Eheweibe : 
imarv  mjra  biK»  mrs  nmi*  mfcft,  was  aber  natürlich  bildlich 
gemeint  ist  und  den  vorzeitigen,  aber  natürlichen  Tod  des 
Sünders  mit  den  Straffolgen  in  der  Gestalt  des  ^isir,  wie 
in  2,  18  bedeutet;    der  Strafende  ist  Gott  allein,  die  Sünde 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  Hachexilischen  Zeit.         213 

kam  überhaupt  nicht  vor  Richter  auf  Erden1).  7,  26  jedoch 
spricht  von  der  ehebrecherischen  Frau  und  den  Folgen  des 
Umganges  mit  ihr  in  viel  stärkeren,  deutlicheren  Worten : 
nmr  nn*ä  bivw  *inti  (27)  .rrahi  bz  d^o^pi  rrV*on  o^n  0*31  *3 
mn  mn  ^>s<,  sie  hat  viele  tot  niederstürzen  gemacht  und 
zahlreich  sind  die  von  ihr  Erschlagenen.  Frankenberg  im 
Kommentare  bemerkt  hiezu:  >^jn  und  am  sind  bildliche 
Ausdrücke  für  die  durch  die  Ehebrecherin,  das  heißt,  die 
(gerichtlichen)  Folgen  des  Ehebruches  (5,  9  ff.;  6,  32  ff.) 
ruinierten  Existenzen.«  Mir  scheint  auch  hier  das  Ge- 
richt keinerlei  Rolle  gehabt  zu  haben,  da  sonst  im  Ausdruck 
irgend  ein  Hinweis  auf  die  Strafe  sich  fände.  Sind  die 
starken  Ausdrücke  bildlich,  so  bezeichnen  sie  den  durch 
Gottes  Gericht  vor  der  Zeit  seines  Lebens  beraubten  ge- 
heimen Ehebrecher ;  der  Frau  als  Veranlassung  wird  diese 
Tötung  zur  Last  gelegt.  In  Prov.  22,  14:  nnr  'D  npicy  nnw 
dp  $>id»  'n  dw  und  23,  27:  nmi  mx  "uwi  rßtt  npiop  mw  »3 
ist  die  Ehebrecherin  und  die  Dirne  als  eine  Grube  be- 
zeichnet, aus  der  es  kein  Entrinnen  gibt ;  Gott  läßt  nur 
denjenigen  in  ihre  Hände  fallen,  auf  dem  ohnehin  der  Fluch 
Gottes  lastet  und  der  schwere  Strafen  von  ihm  zu  gewär- 
tigen hat*). 

*)  So  heißt  es  auch  bei  Menander  (in  Land's  Anecdota  Syriaca 
I,  64  ff.),  in  dessen  syrisch  erhaltenen  Sprüchen  Fraukenberg  ein  Pro- 
dukt jüdischer  Spruchweisheit  erkannt  hat  (Stade's  Zeitschrift  für  die 
alttestamentl.  Wissenschaft  XV,  226  ff.) :  Ehebruch  ist  der  Weg  zum 
Untergang;  wer  die  Ehe  bricht,  geht  zu  Qrunde  (69,  12).  Vgl.  Testa- 
ment Renbens  4:  Denn  die  Hurerei  ist  es,  die  den  Verstand  und  die 
Erkenntnis  verwirrt,  und  sie  führt  die  Jüngling?  in  den  Hades  vor 
ihrer  Zeit.  Denn  es  hat  auch  die  Hurerei  viele  zu  Qrunde  gerichtet. 
Denn  wenn  einer  auch  ein  Greis  ist  oder  hochgeboren,  so  macht 
sie  ihn  zur  Schmach  und  zum  Gespött  bei  Beliar  und  den  Menschen- 
kindern. 

»)  Vgl.  Sirach  21,  10:  Der  Weg  der  Sünder  ist  mit  Steinen 
gepflastert  und  da,  wo  er  endigt,  ist  die  Grube  des  Hades.  Smend 
p.  191  sagt  richtig,  daß  im  Hebräischen  gestanden  haben  muß :  n^nn 
nntf  1*3  JWOTK1  bp^D  yen  -[M,   der  Weg   des  Sünders   ist  anfangs 


214         Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit. 

Dagegen  bespricht  Prov.  5,  7—14  den  Fall,  daß  der 
Gatte  den  Ehebruch  entdeckt  und  sich  für  diesen  vom  Ehe- 
brecher Schweiggeld  zahlen  läßt.  Der  Ehebrecher  muß  sein 
ganzes  Vermögen,  das  er  schwer  erworben  hat,  hingeben, 
da  sonst  die  Sache  vor  mm  hr\p  gebracht  würde  (14),  was 
das  größte  Übel  wäre.  Was  die  Gemeinde  getan  hätte,  im 
Falle  der  Gatte  den  Ehebruch  anzeigte,  ist  nicht  angedeutet. 
Da  keine  Zeugen  der  Tat  geführt  werden  konnten,  wie  5, 
21  nahelegt,  daß  nur  Gott  dieselbe  mitangesehen,  kann 
es  nach  jüdischem  Gesetze  selbst  im  strengsten  Verfahren 
zu  keinem  Todesurteile  gekommen  sein.  Ob  vielleicht  schon 
damals  in  solchem  Falle  die  Geißelstrafe  angewendet  wurde? 
Jedenfalls  ist  die  Schande  der  Verhandlung  der  Sache  i 
öffentlicher  Gemeindeversammlung  eine  genug  schwere 
Strafe  für  den  Bürger  der  Stadt.  Hätte  er  den  Ehebruch 
geleugnet,  so  wäre  das  in  Num.  5,  11 — 31  vorgeschriebene 
Verfahren  anzuwenden  gewesen,  dem  eine  Verhandlung  vor 
der  Behörde  vorausgehen  mußte.  Nun  findet  sich  die  gleiche 
Ausführung  in  Prov.  6,  24—35:  Während  der  Dieb,  der 
ertappt  wird,  dadurch,  daß  er  den  Diebstahl  siebenfach  be- 
zahlen muß,  sein  ganzes  Vermögen  verliert,  setzt  der  Ehe- 
brecher sein  Leben  dem  Verderben  aus.  Er  versucht  es 
freilich,  sich  beim  erzürnten  Ehemann  durch  "ido  und  inr 
loszukaufen,  aber  der  Gatte  will  davon  nichts  wissen.  Was 
dieser  hierauf  tut,  ist  in  der  Angabe  der  Folgen  des  Ehe- 
bruches zu  finden  (33) :  nncn  sb  incim  t^s'  ]tbpi  yi:;  aber 
was  damit  gemeint  ist,  ist  nicht  klar.  Frankenberg  erklärt 
es  folgendermaßen  :  »Daß  der  Ehebrecher  gerade  mit  dem 
Tode  bestraft  wurde,  ist  nicht  gesagt,  und  nach  dem  Fol- 
genden und  sonstigen  Notizen  nicht  wahrscheinlich  ;  die 
Ehebrecherin    freilich    wurde    gesteinigt,     jjjj    scheinen    die 


von   Steinen    frei.     In  Baba  mezia  58b    sagt    R.  Chanina:    pTW  fei 

P3&B.TI  V*  impm  hy  »an  p  fhm  pbiy  pxi  p-p,rp  xvhvo  f"'R  osrab 

W3Rb  jn  üV  fuaoffl  DOnn  ITan  *»,   v/er  Ehebruch    begeht,    kommt 
in  die  Hölle  und  wird  nie  wieder  aus  ihr  befreit. 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nacbexilischen  Zeit.        215 

Prügel  zu  sein,  die  sich  der  ertappte  Ehebrecher  beim  Ehe- 
mann holt.  Wäre  der  Ehebrecher  mit  dem  Tode  bestraft 
worden,  so  hätte  der  Verfasser  hier  und,  so  oft  es  ihm 
darauf  ankam,  vor  den  bösen  Folgen  des  Ehebruches  zu 
warnen,  gewiß  das  Äußerste  nicht  verschwiegen.  In  den 
Proverbien  sowohl,  wie  bei  Sirach  erscheint  als  empfind- 
lichste Strafe  des  Ehebrechers  die  Schande  vor  der  Ge- 
meinde. Dpi  dt  ist,  wie  häufig  in  den  Propheten  (dv  praeg- 
nant)  der  Tag  des  öffentlichen  Gerichtes  als  der  Tag  der 
Rache,  nicht  etwa  der  Tag,  an  dem  der  beleidigte  Ehegatte 
eigenmächtig  seine  Ehre  an  dem  Frevler  rächt  (35)  Vor 
Gericht  konnten  die  streitenden  Parteien  einen  Sühnever- 
such machen;  wenn  dieser  keinen  Erfolg  hatte,  ließ  man 
dem  Rechte  seinen  Lauf.  Der  Frevler  bietet  dem  Beleidigten 
IM,  d.  h.  Sühngeld  an,  vgl.  Genes.  20,  16«.  Über  diesen 
ICD  spricht  sich  Frankenberg  (ZATW.  XV,  121)  nochmals 
aus;  er  sieht  darin  eine  Geldstrafe,  die  auf  Ehebruch  stand 
(Genes.  20,  16),  1D3  genannt  oder  inv,  welche  an  den 
Geschädigten  zu  zahlen  war.  »Mit  dieser  Abfindungssumme 
wird  es  gewöhnlich  sein  Bewenden  gehabt  haben.« 

Da  die  ganze  Auffassung  der  Stelle  und  die  ange- 
führten Schlüsse  von  der  Erklärung  des  Wortes  iod  ab- 
hängen, muß  ich  dem  oft  behandelten  Terminus  einige 
Worte  widmen.  Zunächst  sei  festgestellt,  daß  es  nirgends 
Schadenersatz  bedeutet,  sondern  das  Lösegeld  für  das 
verwirkte  Leben,  ein  hoher  Betrag,  bestimmt,  den  schwer 
Beleidigten  oder  Geschädigten  von  der  Forderung  nach 
Sühne  durch  den  Tod  abzubringen.  Nach  Exod.  21,  29  soll 
der  Eigentümer  wegen  der  Tötung  eines  Menschen  durch 
sein  stößiges  Rind  hingerichtet  werden.  jn:i  vbv  rwv  1D3  DK 
rby  rwv  w«  bx  WBJ  hhd,  wenn  ihm  ein  Sühngeld  statt  des 
Todes  auferlegt  wird,  so  gebe  er  den  Loskauf  seines  Lebens. 
In  Exod.  30,  12  ws:  im  »♦*  uwi,  Num.  35, 31  rran  vosb  im,  32 
ohne  t?Dj:  mb  *idd  lnpn  k^i,  Prov.  13,  8  ntry  #'K  rej  1B3 
als    Gegenwert    des     Lebens,    das    Gott    dem    Menschen 


216        Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit. 

wegnehmen  will,  Hiob  33,  22—24:  i/rm  Wüi  r\r\vh  aipfn 
"inino  natn  U3im  (24)  .  . .  pfe  -|i6a  vbv  »'  o«  (23)  .cnea^ 
1D3  *n«2£D  nnt?  m*iö,  Psalm  49,  8:  fiv  ai?  *tk  me*  mc  *6  n« 
djpdj  pne  ip'i  .1133  ovi^i6;  Leben  für  Leben  Jes.  43,  3: 
-pnnn  «3Di  #13  onxo  "pao  »nn:,  Prov.  21,  18:  p«n  pnvi?  idd. 
Der  Richter  nimmt  nD3  in  I  Sam  12,  3,  Arnos  5,  12,  um 
ein  Auge  zuzudrücken  und  nicht  den  Tod  des  Schuldigen 
zu  fordern;  in  Beziehung  zu  ihm  ist  es  wie  int?.  Es  folgt 
hieraus,  daß  der  Gatte  das  Recht  hat,  den  Tod  des  Ehe- 
brechers zu  fordern  und  das  woi  jvntPO  in  Prov.  6,  32 
wörtlich  zu  nehmen  ist.  Dieses  wird  von  dem,  von  den 
Exegeten  öfter  angezogenen  Beispiele  der  Abfindungssumme 
im  Falle  von  Ehebruch  in  Genes.  20,  16  bestätigt.  Denn 
Vers  3  sagt :  bvi  rbiyi  Kim  rmpb  itf«  nv&n  bv  na  "pn;  weil 
der  König  nicht  vor  die  Gemeinde  zur  Aburteilung  gebracht 
werden  kann,  greift  Gott  mit  seinem  Todesurteile  ein  und 
will  nach  7:  ^  *i#k  ^oi  rmx  man  ma  '2  in  3MP0  "ja»«  o«i  den 
König  und  seine  Angehörigen  töten.  In  welchen  Beziehungen 
das  große  Geschenk  in  Vers  14  und  16,  das  der  König 
dem  Abraham  wegen  Sarahs  gegeben  hat,  zum  Vergehen 
steht,  ist  zwar  nicht  ausdrücklich  gesagt,  aber  aus  Vers 
16  ziemlich  klar  ersichtlich:  der  Bruder  erhält  die  Ent- 
schädigung für  die  an  der  angeblich  unverheirateten  Sarah 
verübte  Gewalt  (Exod.  22,  16);  von  Ehebruch  und  von 
einer  Geldstrafe  für  denselben  ist  hier  keine  Spur  zu  ent- 
decken1). 


l)  Darnach  ist  auch  die  Behauptung,  zum  Beispiel  bei  Benzinger, 
Archäologie  341  zu  beurteilen:  «Ehebruch  mit  der  Frau  eines  Anderen 
ist  Eigentumsverletzungc  Warum  schreibt  dann  das  Qesetz  die  Todes- 
strafe und  nicht  irgend  eine  hohe  Geldentschädigung  vor,  wie  im 
Falle  der  Verführung  eines  Mädchens?  Wellhausens  Bemerkung 
(Israel,  u.  jüd.  Geschichte,  5.  Auflage,  216,  Note  4):  »In  den  Prover- 
bien  wird  nur  vor  Ehebruch  gewarnt  und  zwar  aus  höchst  äußerlichen 
Gründen c,  berücksichtigt  nicht  die  Schichte  der  Bevölkerung,  an 
die  sich  der  Dichter  wendet,  und  nicht  den  Kreis,  aus  dem  das  Buch 
hervorgegangen  ist,  und  nicht  die  Methode,  die  hier  durchgehends  in 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit.        217 

Die  in  Prov.  6,  33  aufgezählten  üblen  Erfahrungen 
des  Ehebrechers  treten  nach  dem  ganzen  Zusammenhange 
erst  ein,  nachdem  die  Versuche,  den  Gatten  zu  beschwich- 
tigen (V.  35),  gescheitert  sind.  Die  Auseinandersetzung 
zwischen  den  beiden  Männern  findet  nicht  vor  Gericht, 
sondern  unmittelbar  nach  der  Entdeckung  der  Tat  im  Hause 
des  Gatten  statt.  Der  Ehebrecher  bietet  ihm  eine  Löse- 
summe für  die  Schonung  seines  Lebens  an,  der  Gatte 
weist  sie  zurück  ;  da  bietet  jener  nebst  dem  ansehnlichen 
Betrage  noch  einen  weitern  ein»)  an;  alles  umsonst.  Es  folgen 
Schläge  und  die  Schande,  die  ihn  entweder  durch  die  Ver- 
breitung der  Nachricht  vom  Geschehenen  in  der  Stadt  trifft  oder 
durch  Herbeirufung  von  Leuten  ins  Haus,  die  die  Behandlung 
mitansehen. 

Möglich  ist  aber  auch,  daß  der  Gatte  die  Anzeige 
bei  Gericht  erstattet,  eine  Verhandlung  der  Anklage  wegen 
Ehebruches  vor  der  versammelten  Gemeinde  stattfindet,  die 
Schande  des  Ehebrechers  groß  ist,  es  aber  zu  einem  Todesur- 
teile nicht  kommt  aus  Mangel  an  den  unerläßlichen  Zeugen 
des  Tatbestandes;  aber  die  Schande  bleibt  unauslöschlich,  nv 
DM  ist  der  Tag  der  Abrechnung,  aber  diese  erfolgt  nicht 
vor  dem  Gerichte,  sondern  am  Tatorte  der  Sünde.  Das 
Wort  bedeutet    überall    rücksichtslose,    schwere  Strafe    für 

der  Belehrung  angewendet  wird.  Es  ist  die  Klasse  der  Bürger,  die  ihr 
Vermögen  schwer  erarbeiten  und  deren  Leben  von  ihrem  Besitzstande 
abhängt;  sie  haben  nur  soviel,  daß  sie  ihr  Laster  all  ihr  Hab  und  Out 
(Prov.  6,  31  ist  das  Vermögen  des  Hauses  genannt)  kosten  kann. 
Der  Dichter  hat  einzig  und  allein  die  schweren  materiellen  Gefahren 
der  Unzucht  vorgeführt,  weil  diese  und  nicht  die  moralischen  und 
religiösen  der  Richtung  seiner  Belehrung  entsprechen.  Unzucht  ist  ein 
Verstoß  gegen  die  Lehre  des  Vaters  und  der  Mutter  und  gegen  die 
Weisungen  des  Weisheitslehrers;  sie  ist  Unsinn,  Unverstand,  aufs 
Spiel  Setzen  der  ganzen  Lebensstellung,  Selbstmord.  Daher  vermißt 
man  jeden  Hinweis  auf  Qottes  Walten  und  auf  die  strengen  Bestim- 
mungen des  Gesetzes ;  zumal  die  Voraussetzung  ist,  daß  alles  so  ge- 
heim geschieht,  daß  eine  Entdeckung  nur  das  äußerste,  Anzeige  bei 
Gericht  fast  ausgeschlossen  ist. 


218        Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit. 

ein  schweres  Vergehen1),  das  gerichtlich  nicht  bestraft 
werden  konnte  und  erst  nach  längerer  Zeit,  bei  gegebener 
Gelegenheit,  außergerichtlich  vom  Beleidigten  oder  seinem 
Freunde  in  Zorn  und  Wut  geahndet  wird2).  Wenn  sonach 
Dpi  hier  in  der  festen  Bedeutung  steht,  wofür  die  es  auch 
sonst  begleitenden  Worte  ntop  und  nan  und  auch  böTP  »b 
entschieden  sprechen,  so  ist  darunter  das  Wüten  des  Ehe- 
mannes in  Schlägen  und  Beschimpfung  und  die  Übergabe 
des  Ehebrechers  an  das  Gericht  zu  verstehen;  denn  die 
Tötung,  die  diese  starken  Ausdrücke  alle  nahelegen, 
scheint  33b  nicht  zu  empfehlen.  Aber  das  Recht,  ihn  zu 
töten,   wird  der  Gatte  in  älterer  Zeit  wohl  gehabt  haben8). 

»)  Es  ist  parallel  mit  cby  gebraucht,  Deut.  32,  35:  übvi  ep3  *b, 
Jerem.  51,6:  nb  übvn  KM  SlD3  "b  KM  ,1Bp3  DJ?  »3,  Jes.  34,  8  :  cpj  Dl"1  "O 

jvst  niiS  m\bv  n:v  "b,  35, 4 :  »w  hii  bmSk  *?ioa  wa"1  Dp3  D3\ntot  narr. 

Wird  ein  Mord  begangen,  ist  die  Hinrichtung  des  Mörders  durch  das 
Gericht  niemals  Bp3  (Exod.  21,  20.  21;  Genes.  4,  15.24  gehören  nicht 
in  diese  Kategorie),  sondern  ein  vorgeschriebenes  Verfahren.  Wenn  aber 
die  Königin  Isebel  die  Propheten  töten  läßt  und  ihr  vielfacher  Mord 
wegen  ihrer  Stellung  nicht  bestraft  werden  kann,  so  ist  das  viele 
Jahre  spätere  Eingreifen  Gottes  für  das  vergossene  Blut  in  II  Reg. 
9,7:  May  Sa  -»dii  ewaan  May  sdi  ^rap3i  -pm  nxnx  rva  n«  nnwii 
^arK  TD  ',1  als  Bp3  bezeichnet.  Das  von  den  letzten  Davididen  in 
Jerusalem  vergossene  Blut  erfordert  Rache,  Ezech.  24,  8:  ap3  Cplb 
J)bü  mnS  ty  .1D1  rix  "nnj;  in  gleicher  Verbindung  Deut.  32,  43:  DI  *3 

y*vsh  zw  opai  Dip1  riay,  Psalm  79,  10:  dt  napa  wpb  D^aa  jrm 

"pDBM  "piay.  In  Psalm  94  haben  die  Hochmütigen  an  den  Hilflosen 
Gewalt  verübt,  ohne  daß  sie  von  irgend  jemand  zur  Verantwortung 
gezogen  werden  konnten.  Gott  als  Richter  der  Erde  soll  eingreifen, 
als  map;  bx  strafen.  Psalm  58,  11  :  pnT  VDJJD  ,Bp3  ,1tn  "3  p'HSt  rüW 
pxa  a-üsitt'  DVl^K  V  "]K  pMi6  na  "|X  bin  "idkm  .jHPlil  aia  für  ver- 
gossenes Blut. 

2)  Micha  5,  14:  DM3,1  I\»  üpi  nanai  F)X3  WVjn;  Jes.  63,  5:  dt»  "O 
b-ocki  'DK3  a-ay  didki  /3ri3DD  SM  Tiam  ijnii  ^  jjpini  . . .  *aVa  Dpa 
Mana ;  Nachum  i,  2 :  raMxb  km  -ID131  vis:'?  m  api3  nan  Sjm  M  api3 ; 
Ezech.  24,  8 :  Dp3  ap:b  IDn  nity.T?.  Neben  ,ian  auch  ,iK3p  Jes.  59,  17 : 
SiD3  vnsrt  nan  obtt"  Sya  riMia;  'rya  «iwp  ryaa  bjjm  nanata  Dpa  *i»  ra^*i 

.  .TQW6;  Zachar.  8,  2:    l1?  TiK3p  rAim  "Dm  .1^13  ,1K3p  p^srt  TMp. 

3)  Vgl.  Wellhausen,    Göttinger    Gelehrte  Nachrichten  1893,  447 


Die  Strafe  der  Ehebrecher  in  der  nachexilischen  Zeit.        219 

Fassen  wir  die  Ergebnisse  dieser  Untersuchung  kurz 
zusammen.  Unzüchtiger  Verkehr  und  Ehebruch  muß  in  der 
Stadt,  deren  Zustände  das  Buch  der  Proverbien  und  Sirach 
widerspiegeln,  in  den  bestimmten  Kreisen,  an  die  sich  deren 
Belehrungen  wenden,  und  zu  deren  Zeit  häufig  gewesen 
sein.  Auf  Ehebruch  stand  die  Todesstrafe,  die  aber  nur  in 
den  allerseltensten  Fällen  verhängt  werden  konnte,  weil  es 
naturgemäß  an  den  unerläßlichen  Zeugen  der  strafbaren 
Handlung  fehlte.  Zumeist  kam  es  auch  zur  Anzeige  seitens 
des  Gatten  der  Ehebrecherin  nicht,  weil  der  entdeckte 
Ehebrecher  demselben  sein  Vermögen  hingab,  um  sich  das 
Leben,  das  für  das  Vergehen  dem  Gatten  gesetzlich  oder 
praktisch  verfallen  war,  loszukaufen  und  der  Schande  einer 
öffentlichen  Gerichtsverhandlung  zu  entgehen.  Die  beiden 
Spruchbücher  sind  allerdings  gerade  über  die  Frage  der 
Todesstrafe  nicht  bestimmt  genug,  um  jeden  Zweifel  über 
deren  Geltung  auszuschließen. 

von  den  Arabern:  Ehebruch  der  Frau  wird  nicht  leicht  genommen 
(Agh.  VIII,  50  ff.),  öfter  sogar  blutig  gerächt.  S.  462:  Bei  den  Be- 
wohnern des  glücklichen  Arabiens  herrschte  nach  Strabo  (p.  783)  Viel- 
männerei, indem  alle  Verwandten  eine  gemeinsame  Frau  hatten.  Ein 
Ehebrecher  wird  mit  dem  Tode  bestraft. 


¥ 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischeu 

Zeitalter. 

Neue  Folge. 

Von  Simon  Eppenstein. 

IV.  Saadja  Gaon,  sein  Leben  und  seine  Schriften. 

(Fortsetzung.) 
Saadja  selbst  hatte  gewiß  bald  im  Anfang1)  seiner 
Amtsentsetzung  eine  Schrift  verfaßt,  die  den  Namen  'o 
^bin  führt,  das  heißt  »das  Buch  der  offenen  Widerlegung2)«. 
In  demselben  offenbart  sich  neben  der  großen  Erbitterung, 
die  den  Autor  erfüllte,  doch  auch  ein  großer  Geist,  der  selbst 
in   dem    großen    Leid,    das    ihm    widerfahren,   an   die    Be- 

*)  Ich  kann  Harkavy  und  auch  Pozp.anski  in  Monatsschr.  1900, 
S.  508  nicht  beistimmen,  wenn  sie  die  Abfassung  des  Sefer  Hagaluj  in 
das  Jahr  934  setzen.  Denn  die  in  dem  Pamphlet  gegen  Saadja  S.  229  Z. 
4—5  gerichtete  Anfrage,  warum  er  sich  nicht  vor  13  Jahren,  also  921, 
im  Streit  mit  dem  auch  seine  Abkunft  verunglimpfenden  Ben  Melr 
seiner  edlen  jüdischen  Abstammung  gerühmt  habe,  beweist  nichts, 
da  dieses  doch  erst  auf  Saadja's  erste  Ausgabe  des  Sefer  Hagaluj 
erfolgt  ist.  Soll  dieser  so  lange  Zeit  mit  dem  Aussenden  seiner  Ver- 
teidigungsschrift gewartet  haben? 

")  Aus  der  uns  erhaltenen  Einleitung  des  Werkes,  bei  Harkavy 
a.  a.  O.  181,  Z.  16,  geht  diese  Lesung  deutlich  hervor.  Allerdings  ent- 
spricht sie  nicht  ganz,  wie  schon  Bacher  in  RdEJ.  XXIV,  S.,  bemerkt,  dem 
arab.  Titel,  den  er  selbst  der  Schrift  a.  a.  O.  Z.  17  gibt,  "nxB1?«  2KJ13, 
das  man  nicht,  wie  Harkavy  meint,  als  der  Verbannte  auffassen  darf, 
da  Yitt  im  Arab.  nur  transitiv  gebraucht  wird,  »jemanden  verbannen«, 
sonst  aber  »abwehren«  bedeutet.  Der  Sinn  des  Titels  ist  also:  »das 
Buch  der  offenen  Abwehr«;  durch  die  folgenden  Worte:  mxn  norr 
usw.  ist  ein  Wortspiel  von  Saadja  beabsichtigt. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäi  sehen  Zeitalter.  221 

lehrung  des  Volkes  denkt.  Das  Werk  war  hebräisch  ge- 
schrieben, mit  Vokalen  und  Akzenten  versehen,  gleich  dem 
Sefer  ha-Moadim.  Leider  sind  uns  von  dem  eigentlichen 
hebräischen  Original  nur  die  Einleitung,  und  zwar  ziemlich 
lückenhaft,  und  Kapp.  1—3,  wenn  auch  nicht  vollständig, 
erhalten1).  Die  das  eigentliche  Werk  bildenden  ersten  sieben 
Kapitel2)  sind,  nach  der  uns  von  Saadja  gegebenen  Schil- 
derung, eine  Fundgrube  reicher  Belehrung  in  historischer 
und  literarischer  Hinsicht  im  Allgemeinen3),  wie  besonders 
betreffs  seiner  eigenen  Erlebnisse  und  seiner  literarischen 
Tätigkeit  gewesen4),  so  daß  der  Verlust  des  Originals  ein 
recht  bedauerlicher  ist.  Es  werden  ferner  theologische  The- 
mata, wie  Erklärung  der  Gebote,  in  Verbindung  mit  der 
Berechnung  der  Erlösung5),  behandelt.  Die  letzten  3  Kapite 
sind  besonders  sprachlichen  Inhalts,  mit  dem  ausgespro- 
chenen Zweck,  die  Kenntnis  der  Handhabung  des  Hebräi- 
schen in  Prosa  und  gebundener  Rede,  wie  in  mündlichem 
Ausdruck,  zu  verbreiten,  und  so  dem  durch  Überhand- 
nehmen des  Arabischen  zu  befürchtenden  Vergessen  der 
Muttersprache  vorzubeugen;  es  ist  somit  eine  Ergänzung 
seines  Erstlingswerkes,  des  Agrön6). 

Was  nun  das  Persönliche  des  Streites  betrifft,  so  ist  es 
nicht  zu  verwundern,  daß  Saadja  auch  seine  Gegner  angreift, 

»)  Vgl.  Saadyana  Nr.  I,  S.  4—7;  vgl,  auch  Schechter's  Vor- 
bemerkungen. 

*)  Eine  Analyse  des  ganzen  Werkes  gibt  Harkavy  a.  a.  O.,  S. 
142—145. 

s)  Vgl.  besonders  Saadyana,  S.  5,  das  erste  Kap.  des  Werkes,  wo 
von  der  Sammlung  der  mündlichen  Lehre  gesprochen  wird.  Merk- 
würdig ist,  daß  hier  der  Zeitraum  von  rund  500  Jahren  nach  flPin  pp, 
also  cirka  568—578  d.  gew.  Zeitrechnung,  als  Abschluß  des  ganzen 
Talmud  angenommen  wird,  während  in  Saadja's  Wiedergabe  in  der 
zweiten  Bearbeitung  nur  die  Zeit  des  Abschlußes  der  Mischna  an- 
gegeben ist. 

*)  Vgl.  hierüber  besonders  a.  a.  O.,  S,  143. 

6)  Dieses  wird  im  5.  Kap.  behandelt;  vgl.  a.  a.  O.,  S.  154,  Z.  6. 

e)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  155-156. 


222     Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitaltei . 

und  besonders  die  Ungerechtigkeiten  des  Exilarchen  erwähnt1), 
wobei  er  die  Namen  seiner  Feinde  mit  Anspielung  auf  ihre 
gehäßige  Tätigkeit  umgestaltet2).  Aus  ferneren  Andeutungen 
von  Saadja  selbst  ist  auch  zu  entnehmen,  daß  er  seine  eigenen 
perönlichen  Verdienste  und  Kenntnisse  ins  rechte  Licht  ge- 
stellt hat8).  —  Auf  diese  Schrift  hin  schwiegen  natürlich  die 
Gegner  nicht  und  verfaßten  eine  Entgegnung,  die  zum  Teil 
schon  vorher  von  uns  skizziert  wurde,  um  die  eigentlichen 
Angriffspunkte  der  Feinde  hervortreten  zu  lassen.  Unter 
anderen  wurde  ihm  auch  der  Vorwurf  gemacht,  daß  er  dieses 
Werk,  gleich  den  biblischen  Schriften,  mit  Vokalen  und 
Akzenten  versehen  habe,  wodurch  er  für  sich  selbst 
gleichsam  die  Prophetie  in  Anspruch  nehme4),  in  den 
Augen  des  Volkes  die  Heiligkeit  der  biblischen  Schriften 
herabsetze  und  sie  zu  Zweifeln  an  diesen  veranlasse6). 
Ferner  bemängelten  sie  eine  Anzahl  von  Saadja  gebrauchter 
Worte  und  Wendungen  als  unhebräisch.  Infolge  dessen  sah 
dieser  sich  veranlaßt,  das  Werk  behufs  gründlicher  Wider- 
legung der  gegen  ihn  gerichteten  Angriffe  in  einer  zweiten 
Ausgabe,  und  zwar  in  arabischer  Sprache,  mit  einem  fort- 
laufenden Kommentar  des  hebräischen  Originals,  aus  dem 
reichliche  Stellen  angeführt  werden,  zu  veröffentlichen  und 

»)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  187,  Z.  17  fgg. 

*)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  166-168. 

3)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  165,  vorl.  Z.  u.  fgg. 

*)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  161,  |Z.  18:  rVWJ  »1JH  «iH  fit«  Harkavy's 
Übersetzung,  S.  160,  Z.  18:  nxis:1?  MJP3J1  !W  gibt  nicht  prägnant  den 
Sinn  wieder;  es  müßte  ungefähr  heißen:  »lDlty1?  rHtlMJl  npi1?  !TO  '»3«. 
—  Hier  sei  auch  hingewiesen  auf  die  mißverständliche  Uebersetzung 

von  S.  161,  Z.  22;  «nj?XtDp:«3  npi  |DD  =  S.  160,  Z.  22  B>T15EB>  «1 
JOTW    *b   nnp^Bn,   wofür  es  doch   heißen    muß:    np^BBS  miöW  V31 

iDxyS  n:ri|T  *?  nmaii. 

5)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  161  Ende  bis  163  Anfang.  Die  Worte  S.  163, 

Z.  1—2:  nDD^X  ■'B  "p»n  Wl  sind  nicht  mit  Harkavy,  das.  S.  162,  Z. 
1—2  durch  pBflcntP  "IJJ  zu  übersetzen,  das  »begnügen«  bedeutet,  son- 
dern mit  pBD  tanv  IV- 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.   223 

ihm  eine  arabisch  geschriebene  Vorrede  voranzuschicken1); 
zugleich  rechtfertigt  er  auch  die  von  ihm  gebrauchten  he- 
bräischen Formen2).  In  dieser  Hinsicht  ist  das  Werk  auch 
für  die  Geschichte  des  Hebräischen  in  jener  Zeit3)  ein  inte- 
ressantes Dokument. 

Dem  Werke  in  dieser  Gestalt  gab  Saadja  wohl  den 
Titel  im/wk^ki  Wi3*6k  3«nD  »Buch  der  Gleichnisse  und 
der  Betrachtung«4)  um  so  aus  seinem  Leid  auch  eine 
Quelle  nachhaltiger  geistiger  und  sittlicher  Belehrung  für 
sein  Volk  zu  erschließen.  Saadja  führt  in  der  Vorrede  da- 
rüber Klage,  daß  die  Angriffe  seiner  Gegner  sich  nur  gegen 
einzelne  willkürlich  herausgegriffene  Worte  richte,  ohne  die 
gute  Tendenz  des  Werkes  zu  beachten,  womit  sie  den  vom 
Talmud  so  arg  getadelten  Spuren  des  Königs  Menaße  folgen5). 

Zur  Widerlegung  des  ihm  gemachten  Vorwurfes,  daß 
er  sein  Werk  gewissermaßen  als  prophetisches  ausgegeben, 
führt  er  aus,  daß  auf  dasselbe  doch  die  drei  Merkmale 
eines  solchen  nicht  zutreffen ;  weder  käme  die  Erwähnung 
einer  Offenbarung  oder  die  Belehrung  über  zu  tief  liegende 
Probleme  darin  vor,  noch  werde  die  Prophetie  in  Anspruch 
genommen  durch  Wunder,  der  Zeugnisse  anderer  Prophe- 
ten, noch  auch  werde  es  vom  Volke  unter  die  propheti- 
schen Bücher  gerechnet6).  Die  gelegentlich  dieser  Verteidi- 
gung   uns    von    ihm    gemachten    Mitteilungen    sind    sehr 


»)  Vgl.  das  von  Harkavy  a.  a.  O.  S.  186-193  veröffentlichte 
Stück,  welches  sich  anschließt  an  das  von  Lambert  in  REJ.  XL,  S. 
85  aus  der  Oenisa  edierte  Stück;  vgl.  auch  ebendort  S.  260,  ferner 
auch  Harkavy  a.  a.  O.,  S.  181,  Ende. 

2)  Vgl.  Harkavy  a.  a.  O.,  S.  150— 18k 

3)  Vgl.  besonders  a.  a.  O.,  S.  188  fgg. 

*)  Ich  kann  dem  Zweifel  bei  Steinschn.  a.  a.  O.,  S.  68,  sub  45 
nicht   beipflichten. 

6)  Vgl.  Hark.  a.  a.  O.,  S.  171,  Z.3-6. 

«)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  163,  Z.  8-15.  Das  Wort  ibid.  Z.  10:  *mb* 
übersetzt,  meines  Erachtens,  Harkavy  nicht  richtig  mit  ÜKIMTI  Jl^D, 
vielmehr  müßte  es  heißen:  iVKiaJ  njJBPX 


224  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

schätzenswert,  so  die  Zitate  aus  Ben  Sira1),  der  Hasmo- 
räerrolle2),  ferner  dem  sonst  nicht  bekannten,  aber  doch 
wohl  alten  Buch  des  Eleasar  Ben  Irais8);  schließlich 
läßt  es  uns  einen  Blick  in  die  Geistestätigkeit  der  schon 
damals  bedeutenden  kairuanischen  Gemeinde  tun,  wo  man 
—  wenn  die  uns  von  Harkavy  gegebene  Lesart  richtig  ist  — 
das  Werk  eines  Christen  nitt?  in's  Hebräische  übersetzt  hat4). 
Auf  diese  genannten,  der  Ethik  gewidmeten  Bücher,  die 
auch  mit  Vokalen  und  Akzenten  versehen  waren,  beruft 
sich  Saadja  zu  seiner  eigenen  Rechtfertigung,  wie  auch 
darauf,  daß  man  anstandslos  seitens  der  maßgebenden 
babylonischen  Schulen  sein  eigenes,  gegen  Ben  Meir  ge- 
richtetes DHtfian  'D  in  dieser  Form  erscheinen  ließ5).  Außer 
dem  allein  hier  sich  findenden  Bericht  Über  die  letztgenannte 
Streitaffaire  erfahren  wir  durch  Saadja  auch  von  seinem 
Auftreten  gegen  Hajaweih  aus  Balch6).  Auch  in  exegetischer 
Hinsicht  bietet  die  Vorrede  an  manchen  Stellen  wichtige 
Beiträge  für  seine  Auffassung  von  biblischen  Erzählungen7). 
Daß  dem  Sefer  Hagaluj  in  dieser  zweiten  Bearbeitung  auch 
in  literarischer  Hinsicht  Bedeutung  beigemessen  wurde, 
ersehen  wir  schon  daraus,  daß  der  obengenannte  Kritiker 
Mebasser  Halevi  auch  gegen  einzelne  Stellen  dieses  Werkes 
Einwände  gerichtet  hat8). 

>)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  177,  Z.  17  fgg. 

")  Vgl.  a.  a.  O.  S.  181,  Z.  8—10. 

s)  Vgl.  die  merkwürdigen,  z.T.  ganz  mit  Ben  Sira  übereinstim- 
menden Zitate  S.  179,  Z.  17  fgg.  und  die  auch  zu  einem  sicheren 
Resultat  nicht  führenden  Ausführungen  von  J.  Levi  in  REJ,  XLII, 
S.  270-273. 

M  Vgl.  Hark.  a.  a.  O.  S.  151,  Z.  18-20  und  die,  vielleicht  rich- 
tigere LA.  von  Rosen,  ebendort  Anm.  4,  wonach  es  sich  um  die 
Niederschrift  eines  mit  der  genannten  Persönlichkeit  zusammenhän- 
genden Ereignisses  handelt. 

6)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  151,  Z.  22  fgg. 
e)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  177,  Z.  12-14. 

7)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  171—177  und  oben. 

8)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  182-184.    Die    uns  dort  erhaltenen  Bemer- 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.  225 

Hatte  nun  so  Saadja,  vollauf  mit  seiner  Verteidigung 
beschäftigt,  doch  durch  die  gelegentlichen  Belehrungen  das 
Wort  der  Bibel,  daß  auch  das  Harte  und  Bittere  mitunter 
Süßes  zu  Tage  fördern  kann  —  pina  küt  wo  —  zu  Ehren  ge- 
bracht, —  so  hat  er  dieses  selbst,  das  die  Schrift  besonders  auf 
das  Licht  anwendet,  —  wyyh  "Hin  p\no  —  seinem  Volke  auch 
gereicht  in  einer  die  jüdische  Gedankenwelt  für  alle  Zeiten 
erleuchtenden  Schrift,  dem  religionsphilcsophischen  Haupt- 
werk, dem  er  den  Namen  rs*TKpnyfc6Ki  ajokck^k  2«fiD  ge- 
geben hat.  Ist  dieses  auch  im  weiteren  Verlauf  der  Zeiten  in 
Bezug  auf  Darstellung  überholt  worden,  haben  die  von  Saadja 
vertretenen  Anschauungen,  die  im  Kaläm  wurzeln,  auch 
teilweise  eine  Umwandlung  erfahren,  so  daß  dieses  eigent- 
liche Erstlingswerk  der  jüdischen  Religionsphilosophie  — 
wenn  wir  von  Mokammez  und  Isak  Israeli  absehen  —  hin- 
ter einem  More  Nebuhim  des  Maimonides  zurückstehen 
muß,  so  ist  es  doch  für  die  systematische  Behandlung  der 
verschiedenen  Probleme  des  Glaubens  und  dessen  Aus- 
gleiches mit  der  Vernunft  grundlegend  geworden.  Und,  wenn 
man  später  an  Maimonides  die  allzustarke  Beeinflußung 
durch  den  größten  griechischen  Denker,  Aristoteles,  geta- 
delt hat,  so  verdient  auch  Saadja's  Werk  wegen  seines  An- 
schlusses an  die  seiner  Zeit  herrschende  Theorie  des  Kaläm 
keine  Hintansetzung,  zumal  bedacht  werden  muß,  daß  der- 
selbe einerseits  eine  sichtliche  Befruchtung  durch  die  ältere 
griechische  Philosophie  erfahren  hat,  wie  es  in  jüngster 
Zeit  S.  Horovitz1)  eingehend  und  überzeugend  dargetan  hat, 

kungen  Mebaßer's  richten  sich  gegen  Saadja's  Vergleich  der  Weisheit 
mit  dem  Licht  in  der  Einleitung  des  Werkes,  wobei  Saadja  meint,  daß 
die  Weisheit  den  Toren  in  einer.  Kluger,  verwandelt,  und  auch  seine 
bekannte  Theorie  aufstellt,  daß  die  Finsternis  nicht  etwas  dem  Lichte  ele- 
mentar Entgegengesetztes,  sondern  nur  eine  Negation  desselben  ist. 
Hiergegen  wendet  sich  Mebaßer  mit  belanglosen  Ausführungen. 

>)  Vgl.  dessen  Abhandlung  im  Jahresbericht  des  Jüd.-Theolog. 
Seminars  zu  Breslau  1909:  Über  den  Einfluß  der  griechischen  Philo- 
sophie auf  die  Estwickelung  des  Kaläm. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  *' 


226    Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter 

andrerseits  auch,  nach  Schreiners  Beweisführung1),  so  man- 
ches dem  Einfluß  jüdischer  Lehren  zu  verdanken  hat. 

Es  muß  aber  auch  hervorgehoben  werden,  daß  außer 
dem  Kaläm  auch  die  griechische  Philosophie,  besonders  die 
des  Plato  und  des  Aristoteles,  nachhaltig  auf  Saadja  ein- 
gewirkt hat,  wie  es  besonders  Guttmann  eingehend  nach- 
gewiesen. Aber  auch  hierbei,  und  besonders  dem  großen 
Stagiriten  gegenüber,  hat  sich  der  Gaon  nicht  bloß  rezeptiv 
verhalten,  sondern  mit  kritisch  sichtendem  Blick  setzt  er 
sich  zuweilen  mit  diesen  Quellen  auseinander. 

Im  Allgemeinen  kann  man  Saadja  einen  Ekletiker 
nennen2).  Zur  ferneren  Beurteilung  seines  religionsphilo- 
sophischen Werkes  muß  auch  erwogen  werden,  daß,  ge- 
mäß der  ganzen  Richtung,  in  die  Saadja  gewissermaßen 
hineingedrängt  wurde,  auch  dieses  eigentlich  einen,  wenn 
auch  nicht  direkt  polemischen,  zum  mindesten  aber  ab- 
wehrenden Charakter  trägt,  wie  denn  in  der  Tat  sich  der 
Verfasser  des  öfteren  gegen  Irrlehren  innerhalb  solcher 
Kreise,  die  sich  zum  Judentum  rechnen,  und  Angriffe  von 
außen  wendet3).  Wenn  wir  den  Titel  des  Werkes  nach 
dem  arabischen  Original  betrachten,  so  soll  der  erste  Teil 
desselben,  /im8dk^r,  wohl  besagen,  wie  der  richtige  Glaube 
beschaffen  ist,  beziehungsweise  von  welchen  irrigen  Voraus- 
setzungen man  dabei  sich  fernzuhalten  hat*).  Indem  man 
aber,  von  den  Praemissen  des  Glaubens  ausgehend,  diesen 
auch    gedanklich    durchdringen    läßt,    kommt  man  zur  Bil- 

J)  Vgl.  Der  Kaläm  in  der  jüd.  Literatur,  Jahresbericht  der  Lehr- 
anstalt usw.,  Berlin  1895,  S.  3—4. 

2)  Vgl.  hierüber  zuletzt  Horovitz,  Die  Psychologie  Saadja's  im 
Jahresbericht,  Breslau  1898,  S.  1  fgg. 

3)  Vgl.  Horovitz  a.  a.  O.,  S.  75.  Ganz  besonders  sei  aber  ver- 
wiesen auf  Kaufmann's  Anhang  zu  seiner  Darstellung  der  Attributen- 
lehre Saadja's  in  seiner  Geschichte  der  Attributenlehre,  S.  78  fgg.: 
Der  schriftstellerische  Charakter  der  Emunotb,  worauf  wir  noch  zu- 
rückkommen. 

*)  Vgl.  Emunoth,  Einleitung,  ed.  Krakau  S.  7,  beginnend  mit 
den  Worten:  WJTO  HD  UübvriV  p^l  usw. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.     227 

düng  von  Meinungen,  wobei  es  nun  gilt,  auch  den  Maaß- 
stab  der  Vernunft  anzulegen,  immer  den  richtigen  Mittel- 
weg innehaltend.  Dies  kommt  zum  Ausdruck  in  dem  Wort 
nmiipflPifa,  das  eigentlich  »Verbindung  und  Knotung  von 
Schlüssen«  bedeutet.  In  dieser  Hinsicht  will  uns  die  von 
der  anonymen,  noch  immer  nur  handschriftlich  vorhandenen, 
älteren  Übersetzung,  oder  eigentlich  Paraphrase,  die  jedoch 
wohl  nicht  mit  Recht  dem  Berachja  Hanakdan  zugeschrieben 
wird,  gewählte  Bezeichnung:  ajnm  nnioKn  'D  piJiD 
mran  als  dem  Original  am  nächsten  stehend  erscheinen, 
da  in  ihr  besonders  das  Wort  runKprw6«  wohl  den  adae- 
quatesten  Ausdruck    findet2).    Nicht   ganz  so  genau  istjdie 

i)  Vgl.  ebendort:   ruc^i  bivn  mb^  \vyrt  naon  [xjhöpxdi 
cm  37om  roaa^a  raroaM. 

s)  Das  biblische  Wort  mann    in  Ps.  73  u.  Jes.  58,  6  wird  von 
Saadja  durch  das  arab.  npy  in  dem  Sinn  von  Gedanken,  Vereinigung 
und  Knüpf ung  von  Begriffen  wiedergegeben;  vgl.  meine  Ausführungen 
in  Monatsschrift    1896,    S.  413—414,  Anm.  5  s.  v.  und  ZHB.  VIII,   S. 
99.  —  Über  die  Autorschaft  des  R'Berechja  für  diese  Paraphrase  hat 
zuletzt  Guttmann   in    seiner  Besprechung   der   von  Gollancz   heraus- 
gegebenen   zwei  ethischen  Werke  von  Berechja  (The  Ethical  treatises 
of  Berechja  usw.,  London  1902),  in  Monatsschrift  1902,  S.  538   einige 
Argumente    beigebracht,   als    Stütze   für   die   schon  von  Rapoport  in 
Bikkure  Haittim  IX,  S.  30,  Anm.  25   mit  der  ihm   eigenen  Gründlich- 
keit  erörterte    eventuelle  Zugehörigkeit  zu  diesem  Autor,  die  zuletzt 
Steinschneider   in  HÜB.   S.  440—441,   Gollancz   selbst   a.  a.  O.,  Ein- 
leitung S.  XXXIX-XL  und  Porges  in  seiner  Besprechung  ZHB.  VII, 
S.  38—39  bekämpft  haben.    Die  von  diesem  erhobene   und  zum  Teil 
auch  von  Guttmann  gewürdigten  Bedenken   bestehen  darin,   daß  Be- 
rechja 1)   des   Arabischen  unkundig   gewesen   sei,   2)  den    um    diese 
Zeit  schon  verfaßten  Kusari  des  Jehuda  Halevi   nicht    gekannt    habe. 
Gegen   ersteres  ist  allerdings  zu  bemerken,   daß  Berechja  doch  wohl 
Arabisch  verstanden  hat  und  eine  Vorlage  in  einer  solchen  Sprache  ge- 
habt hat.    Es  finden  sich   nämlich  in  seinem  ethischen  Werke  Worte 
und  Formen,  die  sich  nur  so  erklären   lassen.    So  z.  B.  ed.  Gollancz 
S.  4,  Z.  10  v.  u.   n'D^non,   das  nur  durch  das  arab.  pB^Kio  =  »die- 
jenigen,   die   anderer  Ansicht   sindc  zu  erklären  ist;    ibid.  Z.^7  v^u. 
und  paßim  für  »körperlich«:  'OOtfiJ,  was  ganz  dem  arab.  "OKöD*  nach- 
gebildet ist;  S.  6—7  findet  sich  öfters  für  den  Wohltäter  und  den  die 

15* 


228  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

von  dem  jüngeren  Übersetzer,  Jehuda  Ibn  Tibbon,  ange- 
wendete Bezeichnung  mjni  nuie«,  woraus  die  gleichfalls  be- 
grifflich nicht  ganz  genaue  Übersetzung:  »Glauben  und 
Wissen«  entstanden  ist.  Am  richtigsten  dürfte  demgemäß 
der  neuerdings  von  Bloch  gewählte  Titel :  »das  Buch  der 
Glaubenslehren  und  der  Vernunftansichten«1)  sein.  Das 
Werk  Saadjas  hatte  wahrscheinlich.,  da  einerseits  weder 
die  Karäer  angegriffen,  noch  auch  die  von  selten  des  Islam 
erhobenen  Angriffe  betreffs  der  Auffassung  des  Gottesbegriffes 
oder  des  Aufhörens  der  Verbindlichkeit  des  Gesetzes 
—  des  sogenannten  loa  —  berührt  werden,  andererseits 
aber  gegen  das  Christentum  polemisiert  wird,  den  Zweck, 
die  gebildete  islamitische  Welt  mit  dem  Gedankeninhak 
des  Judentums  bekannt  zu  machen,  wobei  er  sich  natür- 
lich von  Ausfällen  gegen  solche  Kreise,  die  doch  immerhin 
zu  den  Juden  gerechnet  wurden,  wie  auch  von  einer  Pole- 
mik gegen  die  herrschende  Religion  in  gleicher  Weise  fem 


Wohüat  empfangenden :  D^Jttö  und  DJJJ1D,  was  sich  lediglich  dem  arab. 

EJ7JX  und  DJ?30  anschließt,  während  er  andererseits  den  Psaimisten 
als  D'Wö  =  ^ den  biblischen  Sänger «  anführt.  Ferner  hat  er  für  das 
arab.  iA^j  »Zusicherung«,  statt  des  üblichen  "nj?\  das  hebräisierte 
*Tpl.    Man  brachte  ferner  die  fast  durchgängige  Anwendung  von  ftby 

für  sQrund«  =  arab.  n?y  und  die  sehr  oft  vorkommende  Konstruktion 
von  flDfi  =  »sich  wundern«  mit  [C  =  arab.  fc  Zi'J, 

*)  Vgl.  WiHter  u.  Wünsche,  Die  jüd.  Literatur  usw.  II,  S  704. 
Die  von  Steinschneider  a.  a.  O.  S.  439  gebrauchte  Benennung:  »Reli- 
gionen und  Dogmen«  kann  m.  E.  nicht  als  zutreffend  angenommen 
werden,  wenn  sie  sich  auch  anlehnt  an  eine  schon  bei  Abraham  Ihn 
Daüd  sich  findende  Bezeichnung:  nimm  nUlQX.I,  da  derselbe  Auto. 
sich  auch  des  Titels  m*QDni  nUTOKfl  bedient,  also:  Buch  der  Glaubens- 
sätze und  der  philosophischen  Lehren;  vgl.  Kaufmann  a.  a.  O.  S. 
250—251,  Anmerkung  253.  Berechja  wendet  nur  die  Bezeichnung 
mJiDxn  'D  an.  Indessen  ist  das  stärkste  Argument  gegen  die  Autorschaft 
Berechja's  für  diese  Paraphrase,  daß  er  vom  VII.  Traktat  des  Emunot 
nicht  der  von  dieser  benutzten  zweiten  Rezension,  sondern  sich  der 
auch  von  Ibn  Tibbon  übersetzten  ersten  Fassung  des  DTEH  nwnn  IßKO 
bedient. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonaischen  Zeitalter.  229 

halten  mußte1).  Es  darf  uns  aber  darum  nicht  befremden, 
daß  der  Autor  dennoch  gegen  Irrlehren  wie  die  Hajaweihs 
Angriffe  richtet,  denn  dessen  Auschauungen  gingen  ja,  wie 
oben  dargetan  wurde,  im  letzten  Grunde  auch  auf  solche 
zurück,  die  auch  von  der  üblichen  Richtung  im  Islam  als 
ketzerisch  betrachtet  wurden2).  Um  jedoch  gewissen  Aus- 
wüchsen von  irrigen  Meinungen  in  Glaubenssachen  ent- 
gegenzutreten, entschloß  sich  Saadja  eine  ihm  besonders 
teure  Lehre,  die  von  Wiederbelebung  der  Toten,  in  einer 
gesonderten  Abhandlung  darzustellen3),  um  sie  gegenüber 
der  wohl  von  einigen  karäischen  Sektirern  in  Choräsän 
angestrebten  Anfechtung  —  die  in  einer  Deutung  dieser 
Verheißung  auf  die  nationale  Wiedererweckung  Israels  gip- 
felte4) —  allen  denjenigen,  die  sich  in  die  Lektüre  des 
großen  Werkes  nicht  vertiefen  mochten,  zugänglich  zu 
machen.  Nennt  er  doch  den  Glauben  an  B»nen  jr'ftn  die  er- 
habenste Zusicherung,  die  Gott  seinem  Volke  gegeben  hat. 
Die  Bedeutung  dieser  besonderen  Darstellung  für  die  Ge- 
samtheit ist  schon  frühzeitig  erkannt  und  der  meist  ver- 
breiteten Übersetzung,  der  des  Jehuda  Ibn  Tibbon,  zu 
Grunde  gelegt  worden. 

Das  große  Werk  Saadja's,  dessen  Inhalt  insgesamt 
und  im  Einzelnen  bereits  von  berufenen  Gelehrten  dar- 
gestellt  worden   ist5),    läßt    uns  den  Gaon  in  Wirklichkeit 

*;  Vgl.  die  treffenden  Ausführungen  von  Kaufmann  a.  a.  O 
S.  88—90. 

2)  Vgl.  hierüber  oben. 

8)  Das  arab.  Original  davon  bat  Bacher  in  der  »Festschrift  für 
Steinschneider»  (Leipzig  1896),  S.  98—112  der  hebr.  Abteilung  ver- 
öffentlicht, wobei  er  einige  Lücken  durch  Rückübersetzung  aus 
Tibbon's  Version  ergänzte.  Über  die  Verschiedenheiten  der  beiden 
Versionen  vgl.  Landauer  in  der  Vorrede  zur  Ausgabe  des  arab.  Ori- 
ginals, S.  VIII  fgg.  und  Bacher  in  der  Abhandlung  a.  a.  O.  deutsche 
Abt!g.,  S.  218—226,   wo   alles  Wissenswerte   angegeben  ist. 

*)  Vgl.  Bacher  a.  a.  O.  S.  224. 

*)  Vgl.  die  Literatur  bei  Steinschneider,  Die  arab.  Lit.  d.  Juden 
S.  66,  wozu   noch  anzufügen  ist:    Bloch's  Darstellung  in  Winter  und 


230  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

als  den  »Stolz  Jakobs«  erkennen,  der  ein  Lehrer  seines 
Volkes  im  weitesten  Sinn  geworden  ist  und  sicherlich  viel 
zur  Stärkung  des  religiösen  Gefühls  wie  auch  zur  Aner- 
kennung des  Judentums  in  außerjüdischen  Kreisen  beige- 
tragen hat,  wovon  die  Erwähnung  seiner  Schriften  selbst 
bei  mohammedanischen  Schriftstellern  ehrendes  Zeugnis 
ablegt 

Derselben  Zeit  seiner  unfreiwilligen  Muße  gehört 
wohl  auch  der  Kommentar  zu  Daniel  an,  in  dem  er 
seine  Auslegunskunst  besonders  an  den  schwierigen  Pro- 
blemen, die  dieses  Buch  bietet,  zeigen  konnte1).  Für  Saadja 
mußte  es  natürlich  einen  gewissen  Reiz  haben,  die  darin 
ausgesprochenen  Ankündigungen  zu  deuten.  Aber  auch 
Polemisches  gegen  die  Karaeer  hat  der  Kommentar  erhal- 
ten ;  so  sind  sicherlich  gegen  sie  seine  Ausführungen,  zu 
Cap.  10,  v.  3  gerichtet2),  worin  wohl  er  an  dem  Beispie! 
Daniel's  nachweisen  will,  daß,  wie  dieser  sich  nur  in  den 
drei  Wochen  seiner  Trauer  vom  Fleisch-  und  Weingenuß 
zurückgehalten,  so  auch  wir,  wenngleich  wir  von  der  Stätte 
des  Heiligtums  verbannt  sind,  uns  nicht  die  Buße  des  Ver- 
sagens dieser  Dinge  aufzuerlegen  brauchen.  Bekanntlich 
aber  haben  gerade  damals  die  Karaeer,  als  sogenannte 
O'pJKJi  DTttKJ  »Büßende  und  Klagende«  ihre  Befriedigung« 
in  der  Enthaltsamkeit  von  Fleisch  und  Wein  gefunden.  Es 
ist  natürlich,  daß  Saadja  auch,  ebenso  wie  im  5.  Cap.  des 
Sefer  Hagaluj  und  im  8.  Cap.  des  Kitäb  al  Amänät,  der 
Berechnung   des  Erlösungsjahres    eine  Betrachtung  bei  der 

Wünsehe  a.  a.  O,  S.  764  fgg.,  Bacher,  Die  Bibelexegese  bei  den  jüd. 
Religionsphilosophen,  Straßburg  1892,  S.  1—44,  Horowitz'  bereits  ge- 
nannte Abhandlung  über  S.'s  Psychologie  und  Engelkemper,  Die  reli- 
gionsphilosophische Lehre  Saadja  Gaon's  über  die  heilige  Schrift, 
Münster  1903. 

')  Vgl.  über  diesen  und  den  fälschlich  Saadja's  Namen  tra- 
genden, in  den  Milcraoth  Gedoloth  sich  findenden  Danielkommentar 
Poznanski  in  Hagoren  II,  S.  92—103. 

*)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  96-97. 


Beiträge  zur  Geschichte  und   Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.  231 

Erklärung  von  Cap.  8.  v.  14  widmet;    das  Endziel  der  Er- 
lösung hat  er  auf  das  Jahr  968  festgesetzt1). 

Es  ist  merkwürdig,  daß  in  diesen  drei,  in  den  Jahren 
der  Verbannung  entstandenen  Schriften  des  Gaon  er  be- 
sonders auch  der  Erlösung  seine  Aufmerksamkeit  zuwen- 
dete, einem  Thema,  das  schon  im  talmudischen  Zeitalter 
in  innige  Verbindung  gebracht  wurde  mit  der  Lehre  der 
Auferstehung  der  Toten2),  und  er  diese  Besprechung  da- 
rum auch  in  seinem  philosophischen  Hauptwerk  unmittel- 
bar an  die  Behandlung  des  letztgenannten  Problems  an- 
schloß. Sicherlich  hat  ihn  hiebei  der  Schmerz  über  die 
Zustände,  deren  Opfer  er  selbst  geworden  war,  geleitet, 
ein  Thema  zu  erörtern,  das  eigentlich  einem  so  nüchtern 
denkenden  und  den  Erwägungen  der  Vernunft  in  erster 
Reihe  folgenden  Manne  fern  liegen  mußte,  und  ferner  das 
Bestreben,  den  durch  die  religiösen  Wirren  im  Vertrauen 
auf  Gott  und  seine  Erlösung  wankend  Gemachten  einen 
Halt  zu  bieten.  Dies  hat  auch  der  solchen  Berechnungen 
abholde  Maimonides  betont3),  unter  Hervorhebung  der 
immer  nur  von  den  ernstesten  religiösen  Motiven  geleiteten 
Handlungsweise  Saadja's,  weswegen  seine  etwaigen  Irrtümer 
ihm  zu  gute  gehalten  werden  müßten4).  Dieser  selbst  sagt 
es  auch  ausdrücklich,    daß  eine  völlige  Rückkehr  zu  Gott, 

1)  Vgl.  Poznanski's  Aufsatz:  Die  Berechnung  des  Erlösungs- 
jahres bei  Saadja  (Miscellen  über  Saadja  III)  in  Monatsschr.  19C0,  S. 
4C0  fgg.  u.  S.  508  fgg;  besonders  S.  415-416  u.  S.  517. 

2)  Vgl.  die  Studie  von  M.  Löwy:  Messiaszeit  und  zukünftige 
Welt,  in  Monatsschr.  1897,  S.  392—409. 

s)  Vgl.  Iggereth  Teman,   im    Kobez,   ed.  Lichtenberg  II,  S   5  b. 

*)  Vgl.  ebendort:  \lfflBh  fW  D^DP  DtP1?  VPjfO  *?3a  piam  KVfl 
rjiwavna  flfW  b$  vby.  Es  ist  demnach  ein  unbegreifliches 
Mißverständnis  des  Jedaja  Penini,  wenn  er  in  seinem  be- 
kannten m^atnXTI  rnast  an  Salomon  ben  Adret,  in  dessen  Responsen, 
Wien  1812  Nr.  418,  S.  57b,  den  Maimonides  einen  Vorwurf  gegen 
Saadja  erheben  läßt,  daß  er  die  Berechnung  des  Endzieles  le- 
diglich auf  Berechnungen  und  Sternkunde  gestützt  habe,  während  die 
von  ihm  fälschlich  aufgefaßte  Stelle  bei  Maimonides :  "j'JVJOtP  ftO  f?3« 


232  Beitrüge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeiiaiier. 

ohne  Abwarten  des  Endzieles,  uns  von  unserer  Knechtung 
durch  die  Völker  befreien  könne1;. 

Dem  Gaon,  der,  obwohl  seiner  äußeren  Würde  ent- 
kleidet, doch  den  geistigen  Mittelpunkt  des  Judentums  bildete, 
sollte  aber  doch  alsbald  auch  persönliche  Genugtuung  wer- 
den, indem  der  Wille  des  selbst  unter  den  unerträglichen 
Zuständen  der  Zwietracht  und  der  Zersplitterung  unter  den 
beiden  obersten  Gewalten  leidenden  Volkes,  diesen  ein  Ende 
bereitete.  Ein  sehr  peinlicher  Rechtsvorfall,  bei  dem  sich  die 
Rücksichtslosigkeit  David  ben  Sakkai's  wieder  recht  deutlich 
zeigte,  veranlaßte  die  Einsichtigen,  darunter  den  Schwieger- 
vater des  unversönlichsten  Feindes  des  Gaons,  Aaron  Ibn 
Sargädos,  den  hochangesehenen  Bischr  ben  Aaron,  endlich 
das  Versöhnungswerk  in  die  Hand  zu  nehmen,  das  am  Esther- 
fasttag und  Purimfest  des  Jahres  928  in  einer  mehrtägigen 
gastlichen  Aufnahme  Saadja's  im  Hause  des  Exilachen  sei- 
nen Abschluß  fand2). 

Es  läßt  Saadja's  Charakter  von  der  glänzendsten 
Seite  erscheinen,  daß  er  nach  dem  bald  erfolgten  Tode  des 
Exilarchen  und  seines  Sohnes  sich  seines  noch  erziehungs- 
bedürftigen Enkels  annahm  und  ihm  einen  sorgfältigen 
Unterricht  zuteil  werden  ließ8). 

D.TSM2J31  B'MWI  DOSriD  r^K  ppiflfc'o  sich  keineswegs  auf  Saarija  be- 
zieht, indem  vbx  das  antizipierte  Objekt  des  folgenden  nD3n  usw.  ist. 

>)  Vgl.  Emunot  VIII,  ed.  Krakau,  S.  157. 

•)  Vgl.  Nathan  Babli  bei  Neubauer  a.  a.  O.  II,  S.  81-82.  Der 
von  ihm  angegebene  Name  von  Ibn  Sargädo's  Schwiegervater  Bisch'r 
dürfte  der  richtige  sein. 

s)  Vgl.  Neubauer  a.  a.  O.  II,  S.  82  Ende. 

(Fortsetzung  folgt). 


lie  „Wortvertansehimgsn"  Im  Kiiäb  ai-Luma'  des 

Abulwalid. 

Von  Prof.  W.  Bacher. 

Es  ist  sehr  bedauerlich,  daß  D.  Herzog  in  seinem 
hier  erschienenen,  offenbar  mit  Lust  und  Liebe  ausgearbei- 
teten Artikel  (Jahrg.  1999,  709—719,  J.  1910,  S,  82—102) 
nicht  das  arabische  Original  des  Abulwalid'schen  Haupt- 
werkes, also  weder  das  Kitäb-al  Luma',  noch  das  Kitäb-al 
usül  benützen  konnte.  Nicht  nur  ist  es  im  allgemeinen 
unstatthaft,  daß  speziell  bei  einem  philologischen  Gegen- 
stande nur  die  Übersetzung  des  betreffenden  Werkes  benützt 
wird  und  das  längst  edierte  Original  unverwertet  bleibt ; 
sondern  die  merkwürdige  Hypothese,  mit  der  Herzog  eine 
bekannte  literaturgeschichtliche  Schwierigkeit  zu  beseitigen 
vermeint,  wäre  wohl  unausgesprochen  geblieben,  wenn  er 
den  arabischen  Text  einiger  der  von  ihm  zitierten  Abulwalid- 
Stellen  vor  Augen  gehalten  hätte.  Gleich  die  ersten  Worte 
des  berühmten  28.  Kapitels  des  Rikma  (im  arabischen  Ori- 
ginal ist  es  Kap.  27):  nr\bu  rra  pcnrn'^n^ön  p  n^o  pt»3ö#  er 
konnte  er  nur  deshalb  als  Hauptstütze  für  seine  Hypothese 
ansehen,  v/eii  er  in  BP  einen  Hinweis  auf  andere,  ungenannte 
Bibelerklärer  erblickte.  Schon  die  Überschrift  des  Kapitels, 
dessen  ersten  Worten  entnommen,  hätte  ihn  belehren  können, 
daß  das  Subjekt  zu  j»«»at3  nicht  die  Erklärer,  sondern  die  Ur- 
heber der  hier  in  Betracht  kommenden  Bibeltexte  sind.  Meine 
Übersetzung  jener  Eingangsworte  (AMIG.2),  S.  19):  »Zuweilen 
wendet  man  irgend  einen  Ausdruck  an,  während  ein  anderer 

1)  Es  mu3  hier  mbon  gesetzt  werden;  dem  arab.  KD  ttb  (irgend 
ein  Ausdruck)  entspricht  hebr.  m^DH  p  fi^D. 

2)  Ich  verwende  die  Siegel  Herzogs. 


234  Die  »Wort vertauschungen«  im  Kitäb  al-Luma'  des  Abulwalid. 

beabsichtigt  ist«)  ist  ihm  entgangen ;  aber  er  zitiert  die 
ebenfalls  richtige  französische  Übersetzung  Metzgers  (»On 
emploie  etc.«),  erkennt  sie  jedoch  nicht  an,  was  an  sich 
ohne  Einblick  in  das  arabische  Original  unstatthaft  ist.  Bei 
dieser  Abweisung  der  auf  dem  Originale  beruhenden  Wieder- 
gabe von  j»K»3ö»  w  beruft  sich  Herzog  (S.  713,  Anm.  1) 
auf  eine  Stelle  in  Abulwalids  mwii  "icc  (Col.  345),  die  er 
aber  ebenfalls  wegen  Unkenntnis  des  arabischen  Originals 
mißverstanden  hat.  Der  von  ihm  zitierte  Passus  noM  "jx 
npn  px  mpoa  xin  iddd  px  iruia/£  fehlt  im  MS.,  aus  dem 
ich  das  Sefer  Schoraschim  edierte,  ich  fügte  es  aus  dem 
Originale  hinzu,  diese  Einfügung,  wie  stets,  mit  eckigen 
Klammern  bezeichnend.  nOK  ist  Wiedergabe  des  arabischen 
n^>ip  (492, 5),  also  ^ö*  zu  lesen  ;  Herzog  las  rito$  und  glaubte 
in  dem  Passus  ein  Zitat  erkennen  zu  sollen.  Und  auf  Grund 
solcher  Mißverständnisse  sagt  Herzog,  daß  jene  einleitenden 
Worte  »unmöglich  auf  eine  eigene  Arbeit  Ibn  Ganähs 
schließen  lassen«. 

Herzog  sagt  dann  weiter :  »Ibn  Ganäh  bekämpft 
sogar  im  zweiten  Teile  desselben  Hauptwerkes,  im  D'PWn  'D 
zwei  der  im  Kitäb  al-Luma'  mitgeteilten  Stellen.«  Von  diesen 
zwei  Stellen  wäre  die  eine  im  Artikel  DtPX  (p.  48)  zu  lesen  ; 
sie  lautet:  djpx  Dtrxn  bv  in  neir  wk  pyn  *??"£  e»»i,  was 
Herzog,  der  die  ersten  zwei  Worte  dieses  Satzes  gesperrt 
druckt,  offenbar  so  versteht,  daß  irgend  ein  Exeget  (*!?.'%'  ä»»i) 
das  Wort  Dtrx  so  erklärt  habe,  wie  es  im  Luma*  in  bezug 
auf  Lev.  5,  7  geschieht.  Aber  auch  abgesehen  davon,  daß 
dies  noch  nicht  ein  Bekämpfen  der  Ansicht,  dpx  bed.  nicht 
nur  >Schuld«,  sondern  auch  »Schuldopfer«,  genannt  werden 
kann,  so  liegt  hier  wieder  ein  arges  Mißverständnis  des 
hebräischen  w  vor.  Im  Original  (71,  9)  lautet  der  Passus: 
otrx  nnxbx  \y  m  iojad'  nb»  jxnp^x  'öd'  ipi.  Abulwalid  gibt 
also  hier  dieselbe  Erklärung,  die  er  dem  27.  (28.)  Kapitel 
des  ersten  Teiles  einverleibt  hat,  auch  im  zweiten  Teile, 
dem  Wörterbuche,    und    zwar    als    seine    eigene    Ansicht. 


Die  »Wortvertauschungen«  im  Kitäb  al-Luma'  des  Abulwalid.  235 

Noch    sonderbarer    ist  der  Hinweis  auf  N.  68  in  der  Liste 
Herzogs.     Hier    wird    aus    Abr.    Ibn    Esra's     Psalmen- 
kommentar  die    Erklärung  von    »t,  Ps.  77,  3,  als  statt  *rp 
stehend,  angeführt.  Aber  als  Urheber  dieser  Erklärung  nennt 
Ibn  Esra  den  von  ihm  wegen  seiner  Wortvertauschungen  oft 
bekämpften  Anonymus.  Bei  Abulwalid  findet  sie  sich  über- 
haupt nicht.  Vielmehr  erklärt  er  im  Wörterbuche,  Art.  v,  *V 
im  erwähnten  Psalmverse  im  Sinne  von  »Wunde«.  Da  nun 
gerade    Herzog    es  ist,  der  —  und   zwar  mit  Recht  —  die 
Identifizierung   jenes    Anonymus    mit    Abulwalid  bestreitet, 
weiß    ich    nicht,    warum    er   (1910,    99)    den    Widerspruch 
zwischen  der  Erklärung  des  Anonymus  und    der    in  Abul- 
walids   Wörterbuche    »merkwürdig«    findet;     ferner    ist    es 
unbegreiflich,  wie  er  diesen  vermeintlichen  Widerspruch  als 
Beispiel  dafür  anführt,  daß  Abulwalid  selbst  das  bekämpft, 
was  er  im  Luma'  behauptet.  —  Den    Hinweis    auf    N.    16 
verstehe  ich  ebenfalls  nicht,  da  doch  Abulwalid    in    beiden 
Teilen  seines  Hauptwerkes  den  Ausdruck    onn    D*tttt»n   »J'l? 
(Num.  16,  14)  als  Euphemismus  für  irrj?  erklärt;   die   ver- 
schiedene Ausdrucksweise  kann  doch  nicht  als  Widerspruch 
angesehen  werden. 

Ebenso  unhaltbar  ist  das  Argument,  das  Herzog  aus 
den  sieben  (Bibel-)Stellen  schöpft,  die  im  Luma'  unter  den 
Beispielen  für  »Wortumtauschung«  figurieren  und  die  Abul- 
walid im  Wörterbuche  zitiert,  »ohne  irgend  eine  Bemerkung 
über  deren  Erklärung  zu  machen,  was  er  aber  ganz  gewiß, 
wenn  diese  Wortumtauschung  sein  eigenes  Produkt  gewesen 
wäre,  nicht  unterlassen  hätte.«  Welches  Sophisma!  Wenn 
Abulwalid  diese  Bibelstellen,  nachdem  er  sie  im  Luma'  er- 
klärt hatte,  in  den  Artikeln  seines  Wörterbuches  nochmals 
zitiert,  so  tut  er  dies  zu  dem  durch  den  Plan  seines  Wörter- 
buches geforderten  Zwecke;  die  im  ersten  Teile  des  Werkes 
(dem  Luma')  bereits  gegebene  Erklärung  braucht  er  im 
zweiten  Teile  (des  Wörterbuches)  nicht  zu  wiederholen.  So 
JL.  B.,  um  die  erste  dieser  7  Stellen  zu  nennen,  zitiert  Abul- 


236  Die  »Wortveriauschungen  im  Kitäb   a'.-Luma'  des  Abulwalld. 

walfd  im  Wörterbuche  das  Wort  ~-p\  Exod.  22,  7,  lediglich 
als  Beispiel  für  die  Niphal-Form  des  Verbums  anp.  Oder 
läßt  sich  etwas  aus  dem  Umstände  folgern,  daß  Abulwalid 
im  Wörterbuche  unter  dem  Artikel  b&&  wegen  der  Verbal- 
form fcwffri  II.  Sam.  14,  19  citiert  und  dabei  nicht  angibt, 
daß  das  in  demselben  Verse  stehende  Verbum  irr  für  poc 
gesetzt  ist? 

Den  sieben  Stellen  gegenüber,  die  im  Wörterbuche 
Abulwalids  zitiert  werden,  ohne  daß  ihnen  die  sich  auf  »Wort- 
vertauschung«  beziehende  Erklärung  des  Luma'  beigegeben 
wäre,  stehen  mehr  als  doppelt  so  viel  Beispiele  dafür,  daß 
im  Wörterbuche  die  im  Kapitel  über  Wcrtvertauschung  sich 
findende  Erklärung  widerholt  wird.  Es  sind  das,  wie  von 
Herzog  selbst  sorgfältig  angegeben  ist,  die  Nummern  5,  11, 
15,17,39,  43,  47,  48,  53,  59,  65,  74,  77,  78,  79.  Für  diese 
Fälle  nimmt  H.  einfach  an,  daß  die  nach  seiner  Hypothese 
im  Luma*  aus  dem  Werke  des  Anonymus  übernommenen 
Erklärungen  im  Wörterbuche  durch  Abulwalld  ohne  weiteres 
adoptiert  wurden.  Beweisen  aber  diese  Beispiele  nicht  viel- 
mehr, wenn  das  noch  eines  Beweises  bedürfte,  daß  die 
»Wortvertauschung«  im  Luma'  nicht  adoptiertes  Gut  bildet, 
sondern  Abulwalids  Eigentum  ist,  das  er  als  solches, 
wo  ihm  das  für  nötig  erschien,  auch  im  Wörterbuche  ver- 
wendete ? 

Denn  es  darf  von  vornherein,  auch  ohne  die  hier  vor- 
ausgeschickte Widerlegung  der  Argumente  Herzogs,  fest- 
stehen, daß  seine  Hypothese  eine  grundlose  ist.  Wer  die  Art 
Abulwalids  kennt,  muß  es  als  unglaublich  betrachten,  daß 
er  jene  Wortvertauschung  »bloß  aus  einem  andern  Werke 
in  sein  Buch  aufgenommen  hat.«  Wie  um  eine  solche  An- 
nahme unmöglich  zu  machen,  leitet  Abulwalld  im  dritten 
Beispiel  des  berühmten  Capitels  über  stellvertretende  Rede- 
weise (I.  Sam.  25,  4)  seine  Erklärung  mit  den  Worten  ein: 
nap  mpxbai  (L.  294,  10,  =  R.  177,  17:  »a*j?a  anpm),  d.  h.i 
mir    gilt     es     als    wahrscheinlich.     Damit    bezeichnet      er 


Die  AVortverlauschungerj«  im  Kitäb  al-Luraa'  des  Abuiwalid.  237 

die  Erklärung  ausdrücklich  als  sein  Eigentum;  und  wir 
gehen  wohl  nicht  fehl,  wenn  wir  annehmen,  daß  diese 
Bezeichnung  auch  für  den  größeren  Teil  der  dann  folgen- 
den Beispiele  zu  gelten  hat1).  Denn  daß  Abuiwalid 
einzelne  der  Beispiele  anderswoher  geschöpft  hat,  zeigen 
die  ersten  zwei  Beispiele,  die  Erklärungen  von  Saadja  Gaon 
wiedergeben,  vcn  dem  auch  die  Erklärung  zu  Ps.  24,  4  oav 
=  *cci)  herrührt.  Die  Erklärungen  des  Gaon  waren  ge- 
wissermaßen Gemeingut  der  Bibelexegese  geworden,  und 
Abuiwalid  stellte  sie  wohl  absichtlich  zur  Rechtfertigung 
der  angewendeten  kühnen  Methode  an  die  Spitze.  Aber 
daß  er,  wie  der  positive  Teil  der  Hypothese  lautet,  das 
Werk  eines  Zeitgenossen,  des  Isaak  Ibn  Jaschusch,  für  den 
gesamten  ersten  Teil  des  Kapitels  von  der  stellvertretenden 
Redeweise  (Wortvertauschung)  einfach  ausgeschrieben  habe, 
ohne  mit  einem  Worte  auf  den  eigentlichen  Urheber  dieser 
Erklärungen  hinzuweisen,  ist  absolut  ausgeschlossen.  Wie 
die  durch  Ibn  Esra's  Äußerungen  über  die  »Wortver- 
tauschungen«  verursachten  Schwierigkeiten  zu  lösen  seien, 
soll  hier  nicht  weiter  erörtert  werden.  Noch  jetzt  erscheint 
mir  als  wahrscheinlich,  was  ich  in  meiner  Schrift:  »Aus 
der  Schrifterklärung  des  Abuiwalid  Merwan  Ibn  Ganah 
(1889)  ausgeführt  habe:  Isaak  Ibn  Jaschusch  oder  ein  Anderer 
nahm  die  Methode  Abulwalids  auf,  adoptierte  seine  Beispiele, 
vermehrte  sie  mit  anderen,  und  dieses  sein  Werk  ist  das 
von  Ibn  Esra  so  heftig  bekämpfte.  Die  Hilfshypothese 
Herzogs  von  einem  karäischen  Schriftsteller,  in  dessen 
Werke  I.  E.  die  Wortvertauschungen  des  Ibn  Jaschusch 
vorgelegen  wären  (Jhg.  1909,  S.  717),  ist  ganz  überflüssig. 
Ich  will  nur  noch  der   als    Stoffsammlung    verdienst- 


*)  Die  Erklärung  des  Ausdruckes  VDS  TS,  Gen.  25,  28  (bei 
Herzog  N.  3)  führt  Abuiwalid  selbst  im  weiteren  Teile  des  27,  (28.) 
Kapitels  unter  den  Metaphern  an  und  bezeichnet  sie,  mit  Hinweis  auf 
den  ersten  Teil  des  Kapitels,  als  »unsere  Erklärung«  (xjm!',  L.  315, 
6  =  1J1K3,  R.  192,  7.  v.  u.) 


238  Die  »Wortveriauschungeru  im  Kiiäb  a!-Luma'  des  Abulwalid. 

liehen  Arbeit  Herzogs  einige  Berichtigungen    widmen.     Zu- 
nächst bemerke  ich,  daß  in  der  Liste  Herzogs  eine  Gruppe 
von    Beispielen   fehlt,    in    denen  B|fl  statt  "P#  steht    (Prov. 
24,28)    oder    yv    statt   Dan    (Psalm  38,20,    1  Sam.  25,  21, 
Ps.    69,  5).     Allerdings    fehlt    diese    Gruppe    in    dem    von 
Herzog  allein  benützten  Rikma ;  aber  er  hat  es  —  und  das 
ist  auch  sonst  zu  bemerken    —    unterlassen,    von    meiner 
Berichtigung  und  Ergänzung  der  Rikma-Texte  Gebrauch  zu 
machen,  die  ich  meiner  Ausgabe  des  ü'VWn  'D,  S.  568—594 
beigegeben  habe.  —  Andererseits  bietet  Herzogs  Liste  Bei- 
spiele der  Wortvertauschung,  die  auf  unrichtiger  Auffassung 
der  Worte  Abulwalids  beruhen.     So    N.    45:    »Jesaja    7,20 
D^:nn  *w  statt  prnyn  rra«.    Aber  die  Jesajastelle  wird  von 
Abulwalid  nur  als   Beweis  dafür  zitiert,   daß  D'^l  pudenda 
bedeutet   (zur   Erklärung   von  II,  Sam.  19,  21).    Auch    hier 
wäre  der  Verfasser  vor  Irrthum  bewahrt   geblieben,    wenn 
er  meine    Ergänzung   des    betreffenden    Rikma-Textes    auf 
Grund  des    Originales    (n^tjntrn  'd,  S.    587)'  benützt    hätte. 
Merkwürdigerweise  gibt  er  selbst  die  Ergänzung  auf  Grund 
von    Metzgers    französischer    Übersetzung    unter  N.  39  (zu 
II.  Sam.  19,  25),  ohne  sie   aber   unter    N.  45  zu    beachten. 
—  N.  49,  zu  Jes.  29,  1:  »o-an  statt  EPVaan.«     Aber  die  Je- 
sajastelle wird  nur  als  Beweis  dafür   gebracht,    daß    unter 
an,  eig.  Fest,  die  am  Feste   geopferten  Schafe    und    Rinder 
(aber    nicht    bloß    >Schafe«)    gemeint    sind,    und    zwar  als 
Analogie  zur  Bedeutung  von  noo  in    Deut.    16, 2.    —    Die- 
selbe Bemerkung  gilt  auch  für  N.  70,  zu  Ps.    118,  27  :    »an- 
statt nyien  tws.«  —  Zu  streichen  ist  auch  N.  76  (Hiob  1,  11)- 
Denn  die  Hiobstelle  (yaa  by)  citiert  Abulwalid  nur  als  Ana- 
logie zu  seiner  zweiten  Erklärung  für    Num.  3,  4,    wonach 
piK  »3D  bv  bedeutet:    in  Gegenwart  Aharons,    vor   Aharon, 
ebenso  wie  "pc  bv  in  Hiob  1,  11  bedeutet:  in  deiner  Gegen- 
wart, vor  dir   (yv  pro  imims,  L.  299,  11  =  "popaai  7:02, 
R.  181,  30).  Bei  dieser  zweiten  Erklärung    handelt    es  sich 
also  gar  nicht  um  »Wortvertauschung«,    sondern    um    eine 


Die  »Wortvertanschungen«  im  Kitäb  al-Luma'  des  Abulwalid.  239 

Erklärung  von  »A3.     Nur  nach  der  ersten  Erklärung  Abul- 
walids  steht  pn»  »ja  bv  für  \*\nx  "na. 

Die  letzten  zwei  Beispiele  zeigen  zugleich,  daß  Herzog 
auf  unberechtigte  Weise  den  beim  Übersetzer  Jehuda  Ibn 
Tibbon  gefundenen  hebräischen  Ausdruck  so  anführt,  als  ob 
Abulwalid  selbst  ihn  als  Äquivalent  des  durch  Stellvertretung 
erklärten  Textwortes  angegeben  hätte,  während  tatsächlich 
bei  Abulwalid  sich  nur  der  entsprechende  arabische  Ausdruck 
findet.  Diese  unberechtigte  Übertragung  des  erklärenden 
hebräischen  Ausdruckes  vom  Übersetzer  auf  den  Verfasser 
findet  sich  noch  in  den  Nummern  3,  33,  39,  44,  79. 

Unter  N.  3  (S.  719,  Anm.  2)  berichtigt  Herzog  den 
Wortlaut  Ibn  Tibbons  nyn  anaim?  iaa  zu  a'anjm  ms*  D;  die- 
selbe Berichtigung  erlaubt  sich  Herzog  unter  N.  4L  Sie  ist 
unrichtig;  denn  Ibn  Tibbon  behält  den  arabischen  Kollektiv- 
singular yyfak  (»Die  Araber«)  in  der  hebräischen  Wieder- 
gabe bei1).  —  Unter  N.  15  (S.  86.  Anm.  5)  sagt  Herzog, 
statt  di?b  h  »n*  tt*mi  mm  bei  Ibn  Tibbon  (R.  178,  13) 
»müßte  es  dem  arabischen  Original  entsprechend  richtiger 
lauten«:  inra  mri  rhu).  Da  er  das  arabische  Original  nicht 
benützt  hat,  folgt  er  bei  dieser  »Berichtigung«  Ibn  Tibbons 
der  französischen  Übersetzung  Metzgers  (S.  287:  >et  le  mot 
B*m  est  superflu«).  In  Wirklichkeit  aber  ist  der  Passus  des 
Originals:  »:6a  K»m  nbipi  (L.  295,  6)  in  der  Übersetzung  tön 
Tibbons  wörtlich  wiedergegeben.  Dem  arab.  Terminus  'J^a 
entspricht  das  Substantiv  m:&  in  Abulw.'s  Wörterbuche,  Art. 
BJ,  was  Ibn  Tibbon  {awwn  'D  S.  94)  mit  yiV  M  fTW* 
wiedergibt  (pjy  =  aya>.  —  S.  89,  Anm.  1.  Die  korrekte 
Ergänzung  s.  a'wwn  'D,  Anhang.  S.  586  f.  —  Zu  N.  29 
(S.  90).  Hier  muß  ich  einen  Irrtum  berichtigen,  den  ich  mir 
selbst  habe  (AMIG,  S.  25.  Anm.  4)  zu  Schulden  kommen 
lassen,  Abulwalid  erklärt  in  *a»im\  I.  Sam.  25,  32  als  Euphe- 

*)  Aus  der  Unkenntnis  dieses  Sachverhaltes  stammt  auch  das. 
Ausrufungszeichen,  das  Herzog  unter  N.  79  den  aus  dem  Wb.  ange- 
führten Worten  3*$n  ciDiXB»  HD  beifügt. 


240  Die  »Wortvertauschungen«  im  Küäb  a!-Luma'  des  Abulwalid. 

mismus  für  r\ib  (vgl.  in  der  Traditionslitteratur  bw  tiwkiw 
b$w  für  ^«na?»)>  nicnt  für  '^'K^,  wie  Herzog  angibt.  Das 
Richtige  hat  David  Kimchi:  vnh  KIM  *1J3.  —  Zu  N.  53  (S.  96). 
Zu  Jerem.  22,  3  erklärt  Abulwalid,  pi#J?  nach  ^J  sei  Aequiva- 
lent  für  i?tf*>  ebenso  wie  in  Jerem.  33,  8  *Mpn  nach  DSW  (und 
orrrruij;)  Aequivalent  für  1VJ.«  Herzog  faßt  die  ganze  Stelle 
unrichtig  auf,  wenn  er  sagt,  pW$  stehe  nach  Abulwalid  für 
PW\  denn  nicht  von  dieser  aktiven  Bedeutung  der  Form 
^P?  ist  hier  die  Rede  (von  dieser  spricht  Abulwalid  in  der 
von  Herzog  zitierten  Stelle  des  Wörterbuches),  sondern  von 
der  Stellvertretung  des  einen  synonymen  Verbums  durch 
das  andere.  —  Zu  N.  79:  In  der  aus  dem  D'sntrn  'D,  Art. 
DS'K  zitierten  Stelle  gehören  die  letzten  Worte,  mit  denen  das 
arabische  Verbum  D/iKn  erklärt  wird  vybo  »isyn  \wbz  naa  faa 
Dty«.nn)  nicht  Abulwalid  an,  sondern  sind  eine  Glosse  des 
Übersetzers  Ibn  Tibbon,  weßhalb  ich  sie  auch  in  runde  Klam- 
mern gesetzt  habe,  die  aber  von  Herzog  weggelassen  wurden. 
Herzog  spricht  auch  von  einer  Benützung  der  Septua- 
gänta  durch  den  Urheber  der  Worttauschungen  und  schöpft 
daraus  sogar  ein  Argument  für  Identifizierung  desselben 
mit  Isaak  Ibn  Jaschusch  (Jhg.  1909.  S.  710,  715).  Aber  an 
den  betreffenden  Stellen  kann  lediglich  von  einer  exege- 
tischen Übereinstimmung  zwischen  der  alten  griechischen 
Übersetzung  und  dem  jüdischen  Bibelerklärer  die  Rede 
sein.  Übrigens  sind  von  den  durch  Herzog  erwähnten  11 
Beispielen  dieser  Übereinstimmung  auszunehmen:  N.  27,  I. 
Sam.  17,32  (hier  gibt  LXX  »Ji«  wieder,  statt  ms);  30,  N. 
26,  32  (wo  LXX  das  Textwort  b>'*6  übersetzt,  eine  Überein- 
stimmung mit  Luma  gar  nicht  stattfindet);  40,  II.  Sam.  21,  8 
(die  Lesung  std  für  Sd»o  ist  auch  außerhalb  der  LXX  be- 
zeugt). Aber  auch  die  Nummern  38  und  62  sind  auszu- 
schalten, weil  in  dieser  die  LXX  den  betreffenden  Passus 
überhaupt  nicht  enthält,  von  einer  Übereinstimmung  mit  dem 
Urheber  der  Wortvertauschung  hinsichtlich  des  fehlenden 
Passus  also  keine  Rede  sein  kann. 


Der  Streit  um  die  jüdische  Garküche  in  Bromberg 
am  Beginne  des  19.  Jahrhunderts1). 

Von  G.  Walter. 

Die  Zahl  der  bei  dem  Beginne  des  19.  Jahrhunderts 
in  Bromberg  ansässigen  Juden  war  eine  überaus  geringe. 
Am  1.  April  1803  unterzeichnen  beispielsweise  als  Brom- 
berger  Judenschaft  im  ganzen  5  Männer:  Aron  Lewin,  dessen 
Schwager  David  Salomon  samt  seinen  beiden  Söhnen  Ab- 
raham David  und  Victor  David  und  Schmul  Abraham2). 
Sind  für  die  Berechnung  der  gesamten,  damals  in  Brom- 
berg vorhandenen  jüdischen  Seelen  auch  hierzu  noch  die 
weiblichen  und  minorennen  männlichen  Glieder  der  Ge- 
meinde in  Anschlag  zu  bringen,  so  zeigt  die  angeführte 
Tatsache  zur  Genüge  doch  eins:  von  den  in  Bromberg 
wohnhaften  Glaubensgenossen  konnte  eine  jüdische  Gar- 
küche, eine  jüdische  Gastwirtschaft  wirklich  nicht  existieren. 
Wenn  sie  überhaupt  zu  einem  Nahrungszweige  werden 
sollte,  so  mußte  sie  ein  ausgedehnteres  Gebiet  vor  sich 
haben.  An  einem  solchen  fehlte  es  aber  in  Bromberg  des- 
halb nicht,  weil  die  ganze  Judenschaft  des  Netzedistriktes 
wegen  ihres  Handels  und  der  Landeskollegien  häufig  nach 
Bromberg  kommen  mußte.  Und  diese  jüdische  Bevölkerung 
war  eine  überaus  starke.  Ein  zeitgenössischer  Schriftsteller 
schätzte  sie  sogar  auf  etwa   7000  Seelen3). 

Diese  Garküche  wurde  nun  bis  zum  Jahre  1803  ziem- 


»)  Nach  den  Akten    (Bromberg   c.    hauptsächlich  361  I  und  II) 
des  königl.  Staatsarchivs  zu  Posen. 

2)  David  Salomons  Unterschrift  erfolgt  hierbei    in  hebräischen, 
die  der  übrigen  Genannten  in  deutschen  Schriftzeichen. 

3)  Holsche,  der  Netzedistrikt,  Königsberg,  1793. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  '" 


242  Der  Streit  um  d.  jüd.  Oarküche  in  Bromberg  am  Beginne  d.  19.  Jahrh . 

lieh  unangefochten  von  einer  Frau  Rebecka  Meyer  (einmal 
auch  Rebeke  Mayren  genannt)  betrieben.  Sie  lebte  schon 
seit  dem  Jahre  1777  in  Bromberg,  hatte  den  Petschier- 
stecher  Meyer  Michel  geheiratet  und  ihren  Mann  nach 
vielleicht  7jähriger  Ehe  im  Jahre  1788  durch  den  Tod  ver- 
loren. Beim  Tode  ihres  Mannes  war  ihr  ältester  Sohn  Wolff 
Meyer  etwa  6  Jahre  alt.  Die  Witwe  mußte  an  einen  Er- 
werb denken  und  griff  damals  wohl  zu  dem  obenerwähnten. 
Nahezu  15  Jahre  hatte  sie  ihn  wie  ein  Monopol  in  Hän- 
den gehalten.  Da  erwuchs  ihr  auf  einmal  eine  scharfe  Kon- 
kurrenz. 

Zwei  Konkurrenten  erstanden  der  Rebecka  Meyer 
gleichzeitig.  Der  eine  hieß  Hirsch  Lewin,  der  andere  Hirsch 
Gerson. 

Auch  Hirsch  Lewin  wurde  durch  eine  wenigstens 
augenblickliche  Notlage  dazu  getrieben,  sein  Brot  durch 
die  Garkocherei  zu  verdienen  zu  suchen.  Er  war  im  Jahre 
1803  Beamter  der  Gemeinde,  ihr  Schächter  geworden, 
»publiquer  Bediente«,  hatte  sich  aber  ihrer  Gunst  nicht 
lange  zu  erfreuen.  Schon  am  23.  August  1803  zeigen  Da- 
vid Salomon    und    Aron    Lewin1)  der  Behörde  an,  daß  sie 

*)  In  Oemeindeangelegenheiten  gingen  die  beiden  Verwandten 
allerdings  durchaus  nicht  immer  so  einträchtig  zusammen  (vgl.  übri- 
gens meinen  Artikel  »Die  drei  ersten  Grunderwerbsversuche «  in  der 
allg.  Zeitung  des  Judentums,  Jahrg.  71,  Nr.  28.)  Im  Jahre  1797  bekun- 
deten sie  gerade  in  der  Beamtenfrage  ihre  höchste  Uneinigkeit 
und  spielten  die  Schächter  gegen  einander  aus.  Von  David  Salo- 
mon wurde  damals  Israel  Samuel  engagiert,  der  sein  Befähigungs- 
zeugnis, seine  nbap,  vom  Oberlandesrabbiner  Hirschel  hatte,  von 
Aron  Lewin  war  damals  Hirsch  Oerson  als  Schächter  gehalten.  Es 
stimmt  somit  auch  nicht,  wenn  Herzberg,  Oeschichte  der  Juden  in 
Bromberg,  Frankfurt  am  Main  1903,  S.  24,  annimmt,  daß  Josua  Frän- 
kel  im  Jahre  1824  der  erste  Qemeindebeamte  war.  Hier  sei  nur  noch 
kurz  darauf  hingewiesen,  daß  im  Jahre  1801  als  Schächter  Hirsch 
Salomon  genannt  wird,  und  im  Oktober  1803  die  Bromberger  Juden 
darum  vorstellig  werden,  »Itzig  Joseph,  ein  Sohn  des  verstorbenen 
ordinalen  Schutzjuden  Joseph  Benjamin  aus  Strezelno*  auf  ein  Jahr 
als  Schächter  zur  Probe  zu  nehmen. 


Der  Streit  um  d.  jüd.  Garküche  in  Bromberg  am  Beginne  d.  19.  Jahrb.  243 

Hirsch  Lewin  nicht  gebrauchen  können  und  ihn  14  Tage 
nach  Michaelis  gehen  lassen  wollen.  Infolge  dessen  ent- 
schloß sich  Hirsch  Lewin,  Garkoch  zu  werden.  Er  erbot 
sich  am  27.  September  1803,  für  die  Konzession  zur  Be- 
treibung der  Garküche  25  Taler  einmalig  zum  städtischen 
Baufond  und  jährlich  3  Taler  zur  Kämmereikasse  zu  zahlen. 
Zugleich  bittet  er  darum,  alte  Kleider  kaufen  und  verkaufen 
zu  dürfen,  wofür  er  sich  zu  einer  Zahlung  von  10  Talern 
zum  städtischen  Baufond  und  2  Taler  jährlich  an  die 
Kämmereikasse  verpflichtet. 

Ganz  andere  Beweggründe  veranlaßten  Hirsch  Gerson, 
sich  am  3.  Oktober  1803  um  die  Konzession  zur  Garküche 
zu  bewerben.  Er  war  im  Jahre  1796  von  Aron  Lewin  als 
Schächter  und  Lehrer  nach  Bromberg  genommen,  als  Süd- 
preuße jedoch  am  16.  April  1798  bereits  wieder  ausge- 
wiesen worden.  Diese  Ausweisung  blieb  indessen  auf  dem 
Papiere  stehen,  weil  Hirsch  Gerson  bei  der  Verpachtung 
der  Bernsteingräberei  in  der  Lochower  königl.  Forst  der 
Meistbietende  unter  den  Juden  —  nur  solche  scheinen  als 
Pächter  damals  aufgetreten  zu  sein  —  geblieben  war1). 
Gerade  im  Jahre  1803  hatte  er  den  Pachtvertrag  wieder 
auf  sechs  Jahre  verlängert.  Es  lag  Hirsch  Gerson  nun  daran, 
beständig  in  Bromberg  sein  zu  dürfen  und  mit  einem 
»Concession  und  Toleration  Schein  versehen«  zu  werden. 
Zur  Begründung  seines  Gesuches  weist  Hirsch  Gerson 
einmal  auf  die  M  Leute  hin,  die  er  als  Bernsteingräber 
beständig  beschäftigt  >dies  sind  alles  arme  Leute  und  In- 
validen-Soldaten, welche  durch  mich  ihren  Unterhalt  ver- 
dienen und  wodurch  selbst  die  accise  Gefälle  und  andre 
Revenuen  des  Staates  vermehrt  werden,  weil  ich  und  alle 
meine  Leute  ihren  benöthigten  Unterhalt  aus  der  hiesigen 
Stadt    nehmen    müssen  und  hierdurch  auch    die  Städtsche 


>)  Hiernach  ist  Herzberg  a.  a.  O.  S.  32  richtig  zn  stellen,  wo 
die  erste  Entdeckung  von  Bernsteinadern  im  Kreise  Bromberg  für  das 
Jahr  1828  verzeichnet  wird. 

16* 


244  Der  Streit  um  d.  jüd.  Qarkücke  in  Bromberg  am  Beginne  d.  19.  Jahr  h. 

Consumtion  mit  befördert  wird«,  dann  aber  meint  er  sich 
auch  dadurch  verdienstlich  zu  machen,  daß  er,  da  ohnehin 
bei  ihm  die  Juden  speisen  würden,  die  er  zum  Führen  der 
Aufsicht  bei  der  Gräberei  halten  muß,  »öfters  6—8  und  für 
beständig  4«,  eine  jüdische  Garküche  unterhalten  und  dafür 
der  »hiesigen  Cämmerey  eine  jährliche  immerwährende  Ab- 
gabe von  10  Thalern,  auch  ev.  etwas  mehr«,  überdies  an 
den  städtischen  Baufond  50  Thaler  geben  will. 

In  der  Gemeinde  selbst  hatte  Rebecka  Meyer  viel 
Stimmung  für  sich.  Dem  Proteste,  den  sie  erhob,  standen 
von  ihren  Glaubensgenossen  bloß  der  Tolerirte  »vereydigte 
Dolmetscher«  Schmul  Abraham  und  sein  Sohn,  der  extra- 
ordinaire  Schutzjude  Jakob  Schmul  fern.  Aron  Lewin,  David 
Salomon  und  dessen  beide,  eingangs  genannten  Söhne 
schlössen  sich  diesem  Proteste  an.  Sogar  die  Magistrats- 
mitglieder ausschließlich  des  Bürgermeisters  Razgebor  stell- 
ten sich  auf  die  Seite  der  verwitweten  Meyer.  Dieser  selbst 
kämpfte  allerdings  gegen  sie  und  Hirsch  Gerson  um  so 
nachhaltiger  für  Hirsch  Lewin.  Die  Witwe  Meyer,  meint 
Razgebor,  hat  »kein  jus  contradicendi  wieder  die  Anstel- 
lung eines  zweiten«  Garkochs  und  kann  die  Sache  nicht 
im  Umfange  des  Lewin  führen.  Die  Bernsteingräberei  aber 
würde  auch  ohne  Hirsch  Gerson  nicht  brach  liegen  bleiben. 
»Ist  er  nicht  Pächter,  wird  sich  wohl  ein  anderer  finden.« 
Und  Lewin  sei  vor  allem  auch  aus  dem  Westpreußischen 
Departement,  ein  »in  der  Stadt  Gern  bice  gebohrener  Schutz 
Jude.«  In  gleicher  Weise  stellten  sich  uneingeschränkt  auch 
die  höheren  Instanzen,  der  Kriegs-  und  Steuerrat  Grisa- 
nowski,  wie  die  Westpreußische  Kammer-Deputation  auf 
die  Seite  des  Hirsch  Lewin.  Die  Kammer-Deputation  er- 
klärte am  7.  November  1803  sogar  schlankweg,  daß  die 
Protestierenden  gegen  den  ehemaligen  Schächter  nur  Rache 
üben  wollen  und  Brotneid  hätten. 

Wer  aber  nicht  bedingungslos  auf  alle  Wünsche  Hirsch 
Lewins  eingehen  wollte,  das  war  das  General-Direktorium 


Der  Streit  um  d.  jüd.  Garküche  in  Bromberg  am  Beginne  d.  19.  Jahrh.  245 

in  Berlin.  Am  19.  Dezember  1803  verfügte  es  ohne  weitere 
Angabe  von  Gründen,  daß  der  Handel  mit  alten  Kleidern 
dem  Lewin  überhaupt  nicht  zugestanden  werden  könne, 
Bezüglich  der  Konzession  zur  Garküche  setzte  es  den  Be- 
schluß aus,  bis  auch  über  Hirsch  Gerson  und  die  Rebecka 
Meyer  des  näheren  berichtet  sei,  und  stellte  sich  im  üb- 
rigen auf  den  rein  geschäftlichen  Standpunkt,  daß  es  »kein 
Bedenken  zu  haben  scheint,  die  Concession  einem  jeden 
von  ihnen  unter  der  Bedingung  des  Bestbietenden  zu  be- 
willigen.« 

Nun  schaltete  sich  Hirsch  Lewin  selber  aus  der  Reihe 
der  Konkurrenten  aus.  An  dem  Handeln  mit  Kleidern  hatte 
ihm  wohl  schließlich  mehr,  als  an  der  Garküche  gelegen. 
In  dem  dafür  angesetzten  Termine  gab  er  zu  Protokoll, 
daß  er  sein  Gesuch  um  Konzession  zur  Garküche  zurück- 
ziehe und  die  Tuchmacherei  oder  Leinweberei  erlernen 
wolle.  Die  Meyer  offerierte  für  die  Konzession  50  Thaier 
zum  städtischen  Baufond  und  zwei  Thaler  jährlich  zur 
Kämmereikasse  und  wurde  von  Hirsch  Gerson  bedeutend 
überboten,  der  nicht  weniger,  als  300  Thaler  zum  städti- 
schen Baufond,  100  Thaler  zur  Invalidenkassa  und  20  Tha- 
ler jährlich  zur  Kämmerei  zu  zahlen  sich  verpflichtete.  Bei 
diesem  Übergebote  schien  die  Sache  der  Meyer  vollstän- 
dig verloren.  Grisanowski  empfahl  rundweg,  dem  Gerson 
die  Konzession  zu  geben,  unter  der  Bedingung,  kein  an- 
deres Geschäft  zu  treiben.  Und  wenn  auch  die  Kammer- 
Deputation  noch  eine  Lanze  für  die  Meyer  zu  brechen 
suchte,  indem  sie  in  ihren  Bericht  den  Satz  einfließen  ließ, 
daß  der  armen  Witwe  wohl  ein  Nebenerwerb  zu  gönnen 
wäre,  so  konnte  sie  doch  nicht  umhin,  einzuräumen,  daß 
Gerson  mehr  geboten  hat,  und  es  ja  danach  einmal  gehen 
müsse.  Ja,  sie  schwächte  den  Hieb,  den  sie  Gerson  mit 
dem  Hinweis  darauf  versetzte,  daß  noch  kein  Jude  jemals 
zur  Invalidenkassa  etwas  gezahlt  habe,  und  es  darum  der 
Entscheidung    des    Königs    überlassen    bleiben    müsse,  ob 


246  Der  Streit  um  d.  jüd.  Garküche  in  Bromberg  am  Beginne  d.  19.  Jahrb. 

nicht  auch  die  100  Thaler  in  den  städtischen  Baufond 
fließen  sollen,  nicht  unerheblich  durch  die  Bemerkung  ab, 
daß  Gerson  für  die  Bewilligung  des  ordinairen  oder  extra- 
ordinairen  Schutzes  noch  ganz  andere  Summen  zahlen 
würde  und  wohl  nur  aus  Furcht  vor  dem  Widerspruch 
seitens  der  Juden  und  Christen  keinen  diesbezüglichen 
Antrag  gestellt  habe,  mit  anderen  Worten  durch  die  Be- 
merkung, daß  Gerson  ein  Steuerobjekt  sei,  welches  der 
Staat  sich  kaum  entgehen  lassen  dürfe. 

Da  gab  wieder  das  General-Direktorium  in  Berlin 
dem  Laufe  der  Angelegenheit  eine  unerwartete  Wendung. 
Wahrscheinlich  jetzt  erst  davon  unterrichtet,  daß  Hirsch 
Gerson  nicht  aus  dem  Westpreußischen  Departement  ge- 
bürtig war1),  verfügte  es  am  20.  Juni  1804,  daß  Gerson 
mit  seinem  Gesuch  völlig  abzuweisen  und  bald  nach  seiner 
Heimat  zu  befördern,  die  Konzession  zur  Garküche  aber 
bei  Untersagung  jedes  anderen  Handels  gegen  50  und  2 
Taler  an  die  Meyer  zu  erteilen  sei. 

An  der  Erteilung  dieser  Konzession  hatte  der  Staat 
allerdings  keine  große  Freude.  Bezüglich  der  50  Taler 
blieb  die  Meyer  eine  äußerst  säumige  Zahlerin.  Bald  mußte 
ihr  mit  exekutorischer  Beitreibung  der  Summe  gedroht 
werden,  bald  damit,  daß  die  Konzession  wieder  aufgehoben 
und  ihr  das  Gewerbe  nie  wieder  erlaubt  werden  würde. 
Erst  am  31.  Oktober  1805  konnte  der  Magistrat  die  Mel- 
dung erstatten,  daß  der  letzte  Rest  der  Summe  von  der 
Meyer  nun  bezahlt  sei. 

*)  In  dem  Bescheide  des  Direktoriums  wird  Qerson  nicht  als 
Südpreuße,  sondern  als  Neu-Ostpreuße  bezeichnet. 


Ein  Nachtrag  zu  „Wilhelm  Raabe  und  die  Jaden". 

Von  Q,  Rülf. 

In  dem  trefflichen  Aufsatze  »Die  Juden  bei  Wilhelm 
Raabe«,  den  die  »Monatsschrift«  im  Hefte  11/12  vom  vo- 
rigen Jahre  bringt,  wird  die  Frage  aufgeworfen:  ob  wir  aus 
dem  »Hungerpastor«  auf  eine  grundsätzliche  Abneigung 
des  Dichters  gegen  die  jüdische  Glaubensgemeinschaft 
schließen  dürfen  und  nach  gründlichster  Erörterung  verneint. 
So  überzeugend  die  Darstellung  nun  auch  ist,  so  werden 
sich  manche  Leser  des  großen  Dichters  durch  sie  doch 
nicht  abhalten  lassen,  diesen  auf  Grund  seines  »Hunger- 
pastors« immer  wieder  zum  Judenfeinde  zu  stempeln.  Darum 
ist  es  von  allgemeinem  Interesse,  zu  erfahren,  daß  Raabe 
selbst  sich  über  diesen  Punkt  mit  der  wünschenswertesten 
Deutlichkeit  ausgesprochen  hat.  Es  geschah  das  in  einem 
Briefe  an  eine  jüdische  Frau,  die  nach  der  Lektüre  des 
»Hungerpastors«  auch  einen  Augenblick  der  Meinung  war, 
ihr  Lieblingsdichter  Raabe  stehe  uns  gegenüber  nicht  auf 
der  Höhe  ungetrübter  Menschenliebe  und  ihm  dies  freimütig 
schrieb.  Brief  und  Antwort  gehören  zusammen.  Ich  über- 
gebe daher  mit  Genehmigung  der  verehrungswürdigen 
Dame,  Frau  Philippine  Ullmann  in  Stadtoldendorf,  beide  der 
Öffentlichkeit  und  wünschte,  daß  sie  auf  Grund  dieser  Mit- 
teilung die  weiteste  Verbreitung  finden1). 

I. 

Stadtoldendorf,  31.  1.  03. 
Hochverehrter  Meister! 
Als  ganz  junges  Mädchen    sonnte    ich  mich  schon  in 
Ihrem  Ruhme.    Es  erfüllte  mich  mit  tiefer  Freude,  daß  Sie 
einen  Teil  Ihrer  Kindheit    hier    in  Stadtoldendorf  verbracht 


')  Ich  kann  mich  dem  Wunsche  nur  anschließen  und  stelle  den 
Abdruck  mit  Quellenangabe  allen  öffentlichen  Blättern  anheim.    JVL  Br. 


248  Ein  Nachtrag  zu  »Wilhelm  Raabe  und  die  Juden«. 

haben,  Sie  und  ich  denselben  Lehrer,  Kantor  Bestian,  hatten. 
Auch  die  Erinnerung  an  Ihre  Eltern,  den  stattlichen  Justiz- 
amtmann, die  lebensfrohe  und  schöne  Mutter,  von  denen 
mir  Auguste  Windte,  unsere  Näherin,  oft  erzählte,  bewahrte 
ich  treu  im  Herzen.  Es  war  herrlich,  daß  wir  einen  Dichter 
unser  Eigen  nennen  konntenl  Und  als  Sie  nun  gar  die 
vielgeliebte  Heimat  mit  dichterischer  Poesie  verklärten,  die 
holdselige  Anneke  Mai  ihrem  Junker  erzählen  ließen,  daß 
sie  aus  dem  letzten  elenden  Häuschen  der  Homburgstraße 
stamme,  wie  waren  wir  da  alle  entzückt!  Nie  gingen  wir 
vorüber,  ohne  Ihrer  freudig  zu  gedenken,  von  Ihnen  zu 
sprechen.  Ach  und  nun  der  Abu  Telfan,  wie  fühlte  und 
lebte  ich  in  ihm,  und  doch  hatte  ich  nicht  den  Mut,  Sie 
anzureden,  verehrter  Meister,  als  wir  mal  zufällig  auf  der 
Homburg  zusammen  waren,  nicht  ich,  nicht  meine  Freundin! 
So  gingen  die  Jahre  hin,  meine  Lieblingslektüre  blieb  immer 
Raabe,  ich  lebte  und  litt  und  lachte  mit  den  Gestalten,  die 
er  uns  gegeben.  Nur  die  »Chronik  der  Sperlingsgasse«  und 
der  i  Hungerpastor«  blieben  mir  fremd.  Erst  jetzt  lese  ich 
diesen  und  sehe,  er  ist  eine  Ihrer  ernstesten  und  erziehlich- 
sten Schriften.  Sicher  ist  alles  richtig  von  Ihrer  Meisterhand 
gezeichnet.  Man  fühlt  und  erhebt  sich  an  dem  Hunger  von 
Hans  Unwirsch  —  man  hat  ihn  selbst  besessen,  sich  daran 
erfreut  bei  Mann  und  Kindern.  Dieser  Hunger  versöhnt  uns 
ja  immer  wieder  mit  all  der  Unbill  des  Lebens,  die  nie  und 
namentlich  den  Juden  gegenüber  ausbleibt.  Und  deshalb 
schmerzte  es  mich  auch  so  tief,  so  sehr,  daß  unser  viel- 
geliebter Raabe  neben  den  egoistischen  und  cynischen  Moses 
Freudenstein  keinen  anständigen  Menschen  unserer  Ab- 
stammung und  unseres  Bekenntnisses  gestellt  hat,  und  ich 
fühle  mich  veranlaßt  zu  der  Frage:  ist  Ihnen  auf  Ihrem 
langen  Lebenswege  kein  charaktervoller  Jude  begegnet?  Das 
wundervolle  Motto:  »Nicht  mitzuhassen,  mitzulieben  bin  ich 
da«  stellen  Sie  an  den  Anfang  des  Buches.  Wie  dankbar 
bewegten  mich  diese  himmlischen  Worte!    Leider   können 


Ein  Nachtrag  zu  >Wilhelm  Raabe  und  die  Judenc.  249 

sie  nicht  den  Schmerz  um  Moses  Freudenstein  wegwischen. 
Entsetzen  ergriff  mich  vor  der  Lebensanschauung,  die  Sie 
ihn  vortragen  lassen.  Danach  sind  wir  auch  in  den  Augen 
eines  Weisen  die  Parasiten,  die  nimmer,  trotz  ehrlichsten 
Strebens,  ernst  genommen  werden  können.  Und  auch  Heine, 
der  die  Nachtgedanken  schrieb,  die  so  schmerzhaft  die  Liebe 
zur  Mutter  und  zum  Vaterland  schildern,  muß  sich  diesem 
Urteil  beugen.  Der  Cynismus  vieler  meiner  Glaubens-  und 
Stammesgenossen,  der  so  widerwärtig  auf  Andere  wirkt, 
ist  aus  tiefstem  Elend  und  Schmerz  geboren,  er  ist  die 
Waffe  und  der  Trost  derer  geworden,  die  nicht  überwinden 
konnten.  Nichts  ist  systematischer  und  teuflischer  gepflegt 
worden,  wie  das  Vorurteil  gegen  uns.  Jahrtausende  saßen 
wir  in  dem  dunklen  Keller  hinter  schmutzigen  Fenster- 
scheiben, die  den  Durchblick  auf  die  goldne,  wärmende  und 
fröhliche  Sonne  nicht  gestatteten.  Ist  es  da  zu  verwundern, 
daß  solche  bizarre  Gestalten  geschaffen  wurden?  Sie  wissen 
es,  daß  unser  Werdegang  nur  von  Blut  und  Tränen  be- 
gleitet war,  dank  den  Trägern  der  Religion,  die  lehrt,  sogar 
die  Feinde  zu  lieben,  die  das  Gewissen  der  gedankenlosen 
Menge  und  auch  kluger  Köpfe  so  durchaus  beherrschten 
und  keinen  freien  Gedanken  aufkommen  ließen.  —  Deshalb 
begrüßen  wir  auch  jedes  gute,  warmherzige  Wort  mit  so 
tiefer,  inniger  Freude!  Und  nun,  verehrter  Meister,  leben 
Sie  wohl,  haben  Sie  innigsten  Dank  für  all'  die  guten 
Stunden,  die  Sie  mich  und  die  Meinen  genießen  ließen. 
Wirken  Sie  noch  lange  segensreich.  Ich  schließe  mit  den 
herrlichen  Versen  von  Hans  Unwirsch,  die  ja  unsere  Emp- 
findungen wiedergeben: 

Auf  alle  Höhen  —  Da  wollt  ich  steigen 
Zu  allen  Tiefen  —  Mich  niederneigen 
Das  Nah  und  Ferne  —  Wollt'  ich  verkünden, 
Geheimste  Wunder  —  Wollt'  ich  ergründen 
Gewaltig  Sehnen  —  Unendlich  Schweifen 
Im  ew'gen  Streben  —  Ein  Nieergreifen  — 


250  Ein  Nachtrag  zu  »Wilhelm  Raabe  und  die  Juden«. 

Das  war  mein  Leben. 

Nun  ist's  geschehen;  —  Aus  allen  Räumen 
Hab*  ich  gewonnen  —  Ein  holdes  Träumen. 
Nun  sind  umschlossen  —  Im  engsten  Ringe, 
Im  stillsten  Herzen  —  Weltweite  Dinge 
Lichtblauer  Schleier  —  Sank  nieder  leise 
In  Liebesweben  —  Goldzauberkreise  — 
Ist  nun  mein  Leben«. 

Wundervoll  ist  auch  die  Weihnachtspredigt  des  alten 
Pastors,    sie  wurde  mir   zum    weihevollsten  Gottesdienste! 
Und  nun  wirklich  Schluß!    Ihre    allzeit   getreue   Ver- 
ehrerin 

Philippine    Ulimann. 

II. 
Braunschweig,  den  4.  Februar  1903. 
Sehr   geehrte    Frau    Ullmann! 

Haben  Sie  Dank  für  die  lieben  Bilder  meiner  Eltern 
und  des  noch  nicht  zum  Fabriknest  gewordenen  Jugend- 
städtchens der  40er  Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts,  die 
Sie  mir  in  diesen  dunklen  melancholischen  Wintertagen  in 
der  Erinnerung  wachrufen!  Was  aber  den  übrigen  Teil  Ihrer 
freundlichen,  aber  doch  vorwurfsvollen  Zuschrift  anbetrifft, 
so  muß  ich  sagen,  daß  Sie  mir  Unrecht  tun.  Behandle  ich 
nicht  im  »Hungerpastor«  den  wirklichen  Juden  mit  allem 
Respekt?  Ist  es  meine  Schuld,  wenn  Sie  den  Renegaten 
noch  zu  den  Ihrigen  rechnen? 

Meine  Schriften  scheinen  Ihnen  doch  mehr  durch  den 
Zufall  in  die  Hand  gegeben  zu  werden;  ich  erlaube  mir 
daher,  Sie  auf  die  »Frau  Salome«  im  dritten  Bande  der 
Gesammelten  Erzählungen  aufmerksam  zu  machen.  Vielleicht 
entschädigt  die  jüdische  Dame  dort  Sie  für  Ihr  Mißfallen 
an  Herrn  Moses  Freudenstein,  alias  Dr.  Theophil  Stein! 

Auch  aus  »Höxter  und  Corvey«  in  demselben  Bande 
können  Sie  wohl  entnehmen,  daß  ich  nicht  zu  den  »Anti- 
semiten c    zu    zählen  bin,    sondern  nur  wie  unser  Herrgott 


Ein  Nachtrag  zu  »Wilhelm  Raabe  und  die  Juden*.  251 

in  seiner  Welt  mein  Licht  in  meiner  Kunst  leuchten  lasse 
über  —  Gerechte  und  Ungerechte. 

Juden  haben  in  meinem  Leben  immer  mit  zu  meinen 
besten  Freunden  und  verständnißvollsten  Lesern  gehört, 
und  daran  hat  sich  bis  heute  nichts  geändert. 

Also  —  auch  für  Ihr  Wohlergehen  mit  aufrichtigen 
Wünschen  und  freundlichem  Gruß 

Ihr  ergebener 
Wilh.    Raabe. 


* 


Notizen. 

1.  War  Malnonides  eine  Mechilta  zum  Deuteronomium  bekannt? 

In  dem  von  der  »Gesellschaft  zur  Förderung  der  Wissenschaft 
des  Judentums«  herausgegebenen  schönen  Buche:  Moses  ben  Maimon 
etc.  (Band  I,  1908)  behandelt  M.  Peritz  »Das  Buch  der  Gesetze« 
(mjtön  *1BC)  S.  439—474.  Am  Schlüsse  seiner  äußerst  gründlichen 
Abhandlung  nennt  er  die  von  Maim.  im  D'flC  angeführten  Werke 
bezw.  die  Quellen,  aus  denen  M.  geschöpft  hat.  Sehr  oft  werden  in 
diesem  Werke  M.'s  die  halachischen  Midraschim  angeführt;  die  von 
M.  genannten  Stellen  sind  fast  alle  auch  in  unseren  hal.  Midraschim 
nachweisbar.  [Zu  den  Zitaten  aus  der  Mechilta  d.  R.  S.  b.  Jochaj 
(Peritz  471  Anm.  10,  472  Anm.  4)  vergleiche  Hoffmanns  hebr. 
Einleitung  zu  seiner  ■QMFVT'SB  p.  VI,  sub  (n).]  Bei  Verbot  175  (zu 
Deut.  14,  19)  nennt  M.  als  Quelle  den  Sif  re  (PpJH  p«>  ^5  "neo  pt^i 
ntPJJD  Hb  rVSö  JOn),  diese  Stelle  ist  jedoch  in  unserem  Sifre 
nicht  zu  finden  (Peritz  471  Anm.  9).  Peritz  vermutet  nun,  daß 
diese  Stelle  einer  Mechilta  zum  Deuteronomium  entnommen  sei. 
Maim.  spricht  nämlich  in  der  Einleitung  zur  Mischna  über  eine  Me- 
chilta des  R.  Ismael,  die  sich  über  Exodus,  Lev.,  Num.  und  Deut, 
erstreckte.  Ein  so  gründlicher  Kenner  der  halachischen  Midraschim, 
wie  Hoff  mann  sagt  jedoch  —  nachdem  er  bereits  einen  großen 
Teil  der  Mech.  zum  Deut,  im  Midrasch  ha-gadol  entdeckt  und  da- 
raus veröffentlicht  hat1)  — ,  daß  M.  im  'an  ICD  »keine  Spur  von  einer 
Mechilta  zu  Lev.  und  Deut,  erblicken  läßt2j.«  Nur  an  wenigen  Stellen 
läßt  sich  vermuten,  daß  M.  im  Mischne  Tora  die  Mechilta  zum  Deut, 
benutzt  hat3).  Da  M.  an  der  angeführten  Stelle  ausdrücklich  Sifre 
als  seine  Quelle  nennt,  so  ist  eher  anzunehmen,  daß  ihm  ein  voll- 
ständigeres Sifreexemplar,  als  das  unsrige  ist,  vorlag. 

Dies  darf  umsomehr  angenommen  werden,  da  auch  im  *idd 
yxm  (n«l  'D,  Warschau  1879,  S.  191)  die  von  M.  zitierte  Stelle  als 
im  Sifre  vorhandene  angeführt  wird  (niryn  *b  mite  .  .  .  ,"IDD  \wb~\). 
In  der  Tat  hat  Hoff  mann  nachgewiesen,  daß  viele  Stellen,  die 
in  dem  uns  zu  Gebote  stehenden  Sifre  fehlen,  und  in  anderen 
Werken,  besonders  aber  im  Midr.  ha-gadol  zu  Deut,  vorhanden  sind, 

*)  Midrasch  Tannaim  zum  Deut.  Berlin  1908/9  I.  u.  II. 
a)  Zur  Einleitung  in    den    Midr.   Tann.    Sonderabdr.    aus    dem 
Jahrb.  der  jüd.-lit.  Gesellschaft  Frankf.  a.  M.  1908.  S.  20. 
3)  Vgl.  ibid. 


Notizen.  253 

ursprünglich  dem  Sifre  angehörten1).  Die  Copisten  haben  bei  der 
Anfertigung  der  Abschriften  viel  gesündigt ;  sie  haben  Stellen,  die 
ihnen  anstößig  erschienen  einfach  weggelassen,  aber  auch  sonst 
haben  sie  manches  nicht  in  ihr  Exemplar  aufgenommen.  Der  von  M. 
an  der  angeführten  Stelle  (noi7  OTtD  Nr.  175)  genannte  Satz  des  Sifre 
findet  sich  tatsächlich  im  Midr.  ha-gadol  (jetzt  abgedruckt  in  Midrasch 
Tannaim,  S.  75  Zeile  6) :  mXö  IT  lbSK1  ttb  03*?  K1H  Köü  P]1JH  ptt>  bll 
pB>3  mioxn  ntPJttl  «*?.  Dieses  Stück  ist  also  aus  unserem  Sifre  weg- 
gelassen worden,  die  Anführung  beiM.  und  "pj"m  'D  beweist  jedoch, 
daß  es  ursprünglich  darin  enthalten  war  und  daß  es  nicht  aus  der 
Mechilta  zum  Deut,  stammt2).  Demnach  kann  die  Frage,  ob  Maim. 
eine  Mech.  zum  Deut,  bekannt  war,  nicht  bejaht  werden,  wenn 
auch  die  Ignorierung  dieser  Mechilta,  (aus  der  sogar  ganze  Stücke 
aus  der  Genisa  ans  Tageslicht  gefördert  wurden)8),  »von  Seiten  der 
D'OiB'm  als  ein  Rätsel«  erscheinen  muß.4) 

Dr.  Samuel  Klein. 


2.  Juden  in  England,  aus  Deutschland  eingewandert.  Die  vor  1290 
in  England  lebenden  Juden  stammten,  laut  der  historischen  Nach- 
richten über  sie  und  laut  ihrer  französischen  Namen,  weitaus  zumeist 
aus  Frankreich.  Doch  zahlt  1274  Joce  of  Qermany  dem  Fiskus 
für  das  Wohnrecht  zu  Southampton  und  1275  kommt  in  England 
Samuel  of  Qermany  vor,  Rigg  Calendar  of  P  1  e  a  rolle 
of   theExchequer   of   thejews.  (1910)  II,  S.  173.259. 

F.  Liebermann. 


3.   Saadja's  Kiiäb-al-Tärich. 
Zu  Monatsschrift,  Jahrg.  1910  (LIV),  S.  595. 
Von  Saadja's    TDJ^K  axfla   sagt    Eppenstein,    das    es   auch 
den  Namen  "piKn  führte.    Er  beruft  sich  dabei   auf  Poznanski's   An- 
gaben in  JQR.  X,  260   (1898),    wo    ein    Citat  Jehuda   Ibn    Balaams 
aus  Saadja's  inKn^x  3«n3  erwähnt  wird.  Aber  die  Identifikation  der 
beiden  Bücher  ist  unberechtigt.  Sie  beruht  auf   der   bekannten    Liste 
der  Werke  Saadjas  im  Fihrist  des  muhammedanischen  Autors  Ibn  Ishäk 
al-Nadim,  in  welcher  eine  Nummer  lautet:  "inxnS«  im  313#7J*  3KHD» 
Naditn   gibt  aber  mit  "Tny'jK  axro  den  hebräischen  Titel  -injJn  -.DD 


»)  A.  a.  O.  S.  4  Anm.  1. 

*)  Hoff  mann   hat    auf   das  Zitat  bei  M.  nicht  hingewiesen. 

8)  Vgl.  Midr.  Tann.  56—62  und  69-71. 

*)  Hoff  mann,  Zur  Einl.  in  M.  Tann.  20  f. 


254  Notizen. 

wieder  und  fügt  zur  Erklärung  des  hebräischen  Wortes  *M3J)  hinzu, 
dieses  bedeute  arabisch  Ti-ixn  (Zeitrechnung).  Aber  das  von  Jehuda 
Ibn  ßalaam  zitierte  arabische  Werk  ist  ein  Buch  für  sich  und  hatte, 
wie  das  Citat  (im  Kommentar  Ibn  Balaams  zu  I.  Kön.  6.  1)  be- 
richtet, die  biblische  Chronologie  zum  Gegenstände.  In  der  Revue 
des  Etudes  Juives  XLIX  (1910),  S.  298—300,  habe  ich  es  plausibel 
zu  machen  versucht,  daß  dieses  arabische  Werk  Saadja's  —  mit 
einer  Erweiterung  —  noch  vorhanden  ist,  und  zwar  in  dem  ano- 
nymen Werke  desselben  Titels,  das  Neubauer,  Mediaeval  Jewish 
Chronicles  II,  89—110,  herausgegeben  hat  und  das  ich  in  der  Revue 
des  Etudes  Juives  XXXII,  139—144  besprochen  habe.  Nach  einer 
weiteren  Hypothese  von  mir,  die  ich  ebendaselbst  ausgesprochen 
habe,  wäre  Saadja's  Kitäb-al-Tärich  nichts  anderes  als  eine  Sonder- 
ausgabe der  zweiten  Pforte  von  Saadja's  hebräisch  und  arabisch  ab- 
gefaßter polemischer  Schrift  ^biT\  'D,  deren  Inhalt  nach  Saadja's  An- 
gabe (in  der  arabischen  Einleitung  zum  Sefer  Ha-Galüj)  fOcSx  "inxn 
(Chronologie  der  biblischen  Jahresangaben)  war.  —  Eppenstein  hätte 
übrigens  schon  bei  seinem  Gewährsmann  (JQR.  X,  260)  ersehen 
können,  daß  "inan*?«  Vt\  in  Nadims  Angabe  nicht  ein  zweiter  Titel 
des  Buches,  sondern  eine  arabische  Erklärung  des  hebräischen  Wortes 
TD)?  sein  will. 

Zu  S.  592  bemerke  ich  noch,  daß  rpyec1?«  jTiOtP'?«  nicht 
>durch  die  Tradition  gegebene  Gesetze«  sind,  wie  Eppenstein  über- 
setzt, um  daraus  den  antikaräischen  polemischen  Charakter  des  be- 
treffenden Werkes  Saadja's  zu  folgern,  sondern  die  Offenbarungs- 
gesetze, also  biblische  Gebote,  die  nicht  aus  der  Vernunfterwägung 
erschlossen  werden  können  (nrjJDlP  niJtD).  W.  Bacher. 


Besprechung. 


Schapiro,  Dr.  Israel.  Maimuni's  Mischnah -Kommentar  zum  Traktat 
Arachin.  Arabischer  Urtext  auf  Orund  von  zwei  Handschriften  zum 
ersten  Male  herausgegeben  und  mit  kritischen  und  erläuternden  An- 
merkungen   versehen.   Jerusalem    1910    (Gustav  Fock,  Leipzig),   VIII 

und  40  SS.,  8. 
Die   dieser   Edition    zu   Grunde    liegenden    zwei    arab.    Hand- 
schriften sind  Cod.  Ms.  Or.  Qu.  570  der  königl.  Bibliothek  zu  Berlin 
—  vom   Herausgeber  mit  B  bezeichnet  —  und   Cod.  Ms.  Or.  Qu, 


Besprechung.  255 

579  der  Nationalbibliothek  zu  Paris  —  vom  Herausgeber  mit  P  be- 
zeichnet. Es  ist  dies  eine  Dissertation,  wie  so  viele  andere  voran- 
gegangene Editionen  von  Teilen  dieses  Kommentars  als  Disserta- 
tionen benutzt  werden.  Jedoch  unterscheidet  sich  diese  Arbeit  von 
den  anderen  dadurch,  daß  hier  die  hebräische  Übersetzung  nicht 
mitabgedruckt  wurde  und  daß  die  Einleitung  und  Anmerkungen  in 
hebräischer  Sprache  vorliegen.  Warum  Seh.  das  so  gemacht  hat,  dar- 
über sagt  er  uns  gar  nichts.  Durch  den  Umstand,  daß  er  die  hebr. 
Übersetzung  nicht  korrigiert  dem  arab.  Text  gegenübergestellt  hat, 
hat  die  Arbeit  viel  an  Wert  verloren.  Denn  tatsächlich  ist  Maimo- 
nides'  Mischnah-Kommentar  für  uns  in  erster  Reihe  ein  wertvolles 
Hilfsmittel  zur  Erklärung  der  Mischnah  und  erst  in  zweiter  Reihe  ein 
in  dem  arabischen  Dialekt  des  11.  und  12.  Jahrhunderts  geschrie- 
benes umfangreiches  Werk.  Diejenigen  Studierenden  der  Mischnah, 
die  Arabisch  nie  gelernt  haben,  können  sich  der  Schapiro'schen  Edi- 
tion nicht  bedienen.  Nun  hat  Seh.  auf  einige  Unterschiede  zwischen 
dem  arab.  Text  und  der  hebr.  Übersetzung  hingewiesen,  aber  das 
geschah  in  sehr  unzureichender  Weise.  So  habe  ich  bei  der  Verglei- 
chung  der  ersten  fünf  Abschnitte  viele  wichtige  Abweichungen  zwi- 
schen dem  arab.  Text  und  der  hebr.  Übersetzung  gefunden,  auf  die 
Seh.  nicht  hingewiesen  hat1)  : 

Für  nzv  nb  1S1  omj  naiy'?  jmji  nein  *#*  Abschnitt  l,  Hala- 

chah  1  (S.  2,  Z.  3)  und  für  "KJDK  bpo:n  "W  pa  pPlTp  yitfl  "B  K3"0  npl 
mUTO  1,  4  (S.  4,  Z.  2  v.  u.)  fehlt  in  der  hebr.  Übersetzung  ein  Äqui- 
valent; arab.  DV  WJ>  .TMDJf^x  fO  "pV  II,  1  (S.  7,  Z.  5  v.  u.),  hebr. 
C*Di  X'Vin  [0  n»W  (st.  n'\1);  arab.  fW  topfl  \*b  (einige  Zeilen  weiter), 
hebr.  inx  DV  iDXitf  »6^  (st.  CO"1  W);  die  zweite  der  darauf  folgenden 

Zeilen  )bxp  *ffwijt\  b»tk  nyan  irrt*  }o  "pTt  ma  jot  nya  anto«  ictb 

hat  in  der  hebr.  Übersetzung  kein  Äquivalent;  daselbst  (S.  8,  Z.  9) 
arab.  nSp  |xi,  hebr.  neto  (st.  »«itn  cki);  arab.  p»J1  7P*D  ^k,  II,  6 
(S.  12,  Z.  11),  hebr.  3'p  ij>  (st.  a«p).    Für  den  ganzen  Passus  'B  ,TT3 

ntinx  nw  ^b  ddö1?*  rrow  pbx  K3*ai  n*  ncBab  ^b^  |x  cDä1?*  rmw 
napD  nw  ^B  nat^  D^l  mnm«  HI,  2  (S.  14,  Z.  6—7)  hat  die  hebr. 
Übersetzung  bloß  die  Worte  wm  nilb  nWIH  ITTOS  »Bin  'BBina  Ul^lT 

napo  rrwa  13  a^n  (anstatt  etwa  leitf'?  rme  mnra  rain  riaaina  lii^n 
mw  ö  am  «*m  rm%  nw»  rrraa  pain  rneui  mir  mo«  ^mn 
napo);  arab.  pattp  van  p»  ttwti  parap  wi  -pya1?*  }iA,  V,  2  (S.  20, 
z.  8—9),  hebr.  psiatp  von  px  Tiwn  paiaip  von  -pyw  'S1?  (statt 
TMffl  . . .  TiJ>3.1).  Auf  S.  3,  Anm.  3  (zu  I,  2)  weist  Schapiro  wohl  auf 


')  Ich  benutzte    drei  Talmud-Ausgaben:   Frankfurt  a.  M.    1720. 
Wilna  1853;  Warschau  1862. 


256  Besprechung. 

eisen  Passus  hin,  der  in  der  hebr.  Übersetzung  fehlt,  nimmt  sich 
aber  nicht  die  Mühe,  denselben  hebräisch  wiederzugeben.  Übrigens 
führt  Lipmann  Heller  diesen  Passus  in  seinen  Tossaphot  zur  Stelle 
an,  was  aber  Seh.  auch  übersehen  zu  haben  scheint.  Zu  Anm.  4  auf 
S.  12  (II,  6)  ist  zu  bemerken,  daß  alle  drei  Ausgaben,  die  ich  be- 
nutzte, wohl  c-irrn  "^se  haben. 

Im  Gegensätze  zu  der  —  um  keinen  härteren  Ausdruck  zu 
gebrauchen  -*  oberflächlichen  Behandlung  der  hebr.  Übersetzung  hat 
der  Herausgeber  der  sprachlichen  und  sachlichen  Erklärung  des  arab. 
Textes  seine  ganze  Aufmerksamkeit  zugewendet.  Die  zahlreichen 
wichtigen  Anmerkungen  bekunden  zur  Genüge,  daß  Seh.  die  ein- 
schlägige Literatur  sorgfältig  studierte  und  die  daselbst  gewonnenen 
Ergebnisse  richtig  zu  verwerten  verstand.  Er  ließ  es  sich  auch  nicht 
verdrießen,  die  in  dieser  Monatsschrift  veröffentlichten  Rezensionen 
über  Editionen  von  Teilen  dieses  Kommentars  zu  beachten,  was  Re- 
zensent von  den  anderen  ihm  bekannt  gewordeneu  Arbeiten  auf 
diesem  Gebiete  nicht  behaupten  kann.  Ferner  ist  anzuerkennen,  daß 
Seh.  auch  auf  abweichende  Lesarten  in  dem  Mischnatext  der  Hand- 
schrift hinweist  und  manche  Ausdrücke  der  Mischnah  in  geschickter 
Weise  zu  erklären  versucht.  Auffallender  Weise  hat  er  auf  die  nicht 
minder  wichtige  verschiedene  Lesart  der  Handschrift  in  Mischnah 
IV,  3:  JMtma  ■»*?  iksi  O'O  mrBD  Kim  ib  mm  nicht  aufmerksam  ge- 
macht. Die  Annahme  Schapiros  (S.  3,  Anm.  2),  daß  der  hebr.  Über- 
setzer auf  Grund  der  gegen  die  Lesart  tkd  "Ö  tisbft  erhobenen 
Einwände  selbständig  rnVT  "13  mbn  gesetzt  hat,  ist  m.  E.  schon 
deshalb  fraglich,  weil  der  Übersetzer  —  wie  er  selbst  in  seiner  Vor- 
rede angibt  —  sich  nur  sehr  wenig  mit  Talmudstudien  befaßte.  Übri- 
gens ist  es  sehr  auffallend,  daß  Seh.  den  Übersetzer  stets  ^id^K 
nennt,  da  jener  sich  selbst  doch  '^öSk  schreibt. 

Der  Druck  ist  schön,  Druckfehler  sind  selten. 

Stockholm.  M.  Fried. 


Unberechtigter  Nachdruck  aas  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  ist  untersagt. 


Für  die  Redaktion  verantwortlich :    Dr.  M.  BRANN  in  Breslau. 


Druck  von  Adolf  Alkalay  &  Sehn  in  Preßburg. 


„Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben". 

Von  M.  Güdemann. 

Unter  diesem  Titel  hat  Werner  Sombart  ein  Buch1} 
herausgegeben,  das  schon  durch  seinen  Umfang,  aber  auch 
durch  seinen  Inhalt  die  seit  vierzig  Jahren  erschienene 
Judenliteratur  wesentlich  bereichert.  Während  diese  größten- 
teils dem  Antisemitismus  ihre  Entstehung  verdankt,  mag 
sie  nun  pro  oder  contra  sein,  sagt  Sombart  im  Vorwort 
S.  XI  »mit  einem  so  starken  Nachdrucke,  daß  es  auffallen 
kann:  das  Buch  ist  ein  streng  wissenschaftliches 
Buch«.  Diese  Erklärung  war  mir,  als  ich  sie  las,  unver- 
ständlich. Ich  hatte  nichts  anderes  erwartet,  als  ein  streng 
wissenschaftliches  Buch  vor  mir  zu  haben.  Die  starke  Be- 
tonung dieses  Cachets  hat  mich  stutzig  gemacht.  Nach  der 
Lektüre  des  Buches  nehme  ich  an,  daß  diese  gleich  an- 
fangs abgegebene  Erklärung  eine  Kautel  —  Sombart  be- 
dient sich  dieses  Wortes  auf  S.  409  in  demselben  Sinne, 
in  dem  ich  es  hier  anwende  —  sein  sollte,  um  ihn  vor 
dem  Vorwurfe  antisemitischer  Anwandlung,  die  er  übrigens 
wiederholt  ablehnt,  zu  schützen.  Angesichts  mancher  Stellen 
in  dem  Buche  war  diese  Kautel  allerdings  notwendig.  Ich 
verweise  nur  auf  die  über  mehrere  Seiten  sich  erstreckende 
Darstellung  der  Sabbatvorabend- Andacht  des  »alten  Amschei 
Rothschild«  (S.  253  f),  worin  nicht  bloß  dieser,  sondern 
auch  jene  so  lächerlich  gemacht  wird,  wie  es  in  dem  ersten 
besten  »antisemitischen  Pamphlet«,  wie  Sombart  die  Er- 
zeugnisse dieser  Literatur  nennt  (S.  408),  auch  nicht  besser 
geschehen  könnte.  Ferner  verweise  ich  auf  die  Bemerkung: 

»)  Leipzig,  Duncker  u.  Humblot  1911.  XXVI  und  476  SS.  Preis 
M  9.—,  geb.  M  11.—. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  1  7 


258  Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben. 

»Im  übrigen  ist  die  jüdische  Küche  bekanntermaßen  ganz 
vorzüglich«  (S.  272),  die  in  ein  »streng  wissenschaftliches 
Buch«,  es  sei  denn  ein  solches  Kochbuch,  nicht  gehört. 
Dasselbe  gilt  auch  von  der,  nach  dem  Zugeständnis,  daß 
König  Salomo  »nicht  gerade  aus  glücklichen  Geschäften 
seinen  Reichtum  aufgebaut  hatte«,  eingeschalteten,  ironi- 
schen Bemerkung:  »(obgleich  man  nie  wissen  kann!)«  S.  379. 
Es  sind  dies  keineswegs  die  einzigen  Stellen,  bei  denen  ich 
mich  fragen  mußte,  ob  ich  denn  wirklich  ein  »streng  wissen- 
schaftliches Buch«  vor  mir  habe,  aber  sie  genügen,  um 
die  mir  mitunter  aufgestoßenen  Zweifel  begreiflich  zu 
machen.  Noch  eine  andere  Stelle  im  Vorwort  muß  ich  zur 
Sprache  bringen,  die  mich  stutzig  gemacht  hat,  die  ich  mir 
aber  nach  der  Lektüre  des  Buches  ebenfalls  als  eine  Kautel 
in  dem  oben  erwähnten  Sinne  erkläre.  Es  ist  die  mit 
womöglich  noch  stärkerem  Nachdruck,  als  womit  die  Wissen- 
schaftlichkeit betont  ist,  abgegebene  Äußerung:  »Dieses 
Buch  soll  seine  ganz  eigenartige  Note  dadurch  erhalten, 
daß  es  auf  500  Seiten  von  Juden  spricht,  ohne  auch  nur 
an  einer  einzigen  Stelle  so  etwas  wie  eine  Bewertung  der 
Juden,  ihres  Wesens  und  ihrer  Leistungen,  durchblicken 
zu  lassen«  (S.  X1I1).  Sombart  sucht  diese  Äußerung  und 
seinen  dadurch  bestimmten  Standpunkt  durch  eine  längere 
Begründung  zu  rechtfertigen.  Er  schließt  übrigens  das  Vor- 
wort mit  einem  hübschen,  man  kann  sagen,  für  die  Juden 
schmeichelhaften  Gedicht  Fontanes,  und  schickt  demselben 
das  Geständnis  voraus,  daß  »gewiß  sehr  viele  von  uns 
modernen  Menschen,  ganz  ohne  es  zu  wollen,  zu  einer 
Hochbewertung  gerade  der  Juden  gelangt  sind«  (S.  XV). 
Aber  ich  bilde  mir  ein,  daß  kein  einziger  Leser  die  oben 
angeführte  Äußerung,  wenn  sie  fehlte,  vermissen  würde. 
Jeder  Schriftsteller  hat  das  Recht,  Werturteile  über  die 
Sachen  und  Menschen,  über  die  .er  schreibt,  abzugeben, 
oder  sich  ihrer  —  soweit  dies  möglich  ist  —  zu  enthalten. 
Aber  de  telles  choses  se  fönt,  mais  elles  ne  se  disent  pas. 


Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben.  259 

Wozu  also  die  Erklärung,  wenn  sie  nicht  eine  Kautel  sein 
soll?  Übrigens  kommt  es  ja  nicht  allein  auf  das  Werturteil 
des  Verfassers,  sondern  auch,  und  weit  mehr  noch  auf  das- 
jenige an,  das  der  Leser  aus  seiner  Darstellung  schöpft, 
und  das  der  Verfasser  zu  verantworten  hat.  Schließlich  ist 
meiner  Meinung  nach  die  Vermeidung  des  Werturteils,  mag 
der  Verfasser  auch  noch  so  sehr  auf  der  Hut  sein,  un- 
möglich. Das  beweist  Sombart  nicht  bloß  indirekt  durch 
gelegentliche  Winke  und  Andeutungen,  sondern  ausdrück- 
lich und  unwiderleglich,  wofür  ich  nur  ein  Beispiel  anführe. 
Das  Kapitel  über  die  Wirtschaftsgesinnung,  worin  Sombart 
den  Juden  die  Erfindung  der  bedenklichsten  Geschäfts- 
praktiken »nachweist«,  schließt  auf  S.  179  mit  den  Worten: 
»Wenn  wir  das  »Sündenregister«,  überblicken,  das  man 
während  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  den  Juden  vorhielt, 
so  nehmen  wir  sehr  bald  wahr,  daß  (abgesehen  von  den 
grundsätzlich  nicht  in  Betracht  kommenden  verbrecherischen 
Manipulationen)  es  nichts  enthält,  was  der  moderne  Geschäfts- 
mann nicht  für  das  selbstverständlich  Richtige  erachtete,  was 
nicht  das  tägliche  Brot  in  jeder  modernen  Geschäftsführung 
bildete.«  Das  heißt  mit  den  Worten  der  bekannten  Anekdote: 
das  ganze  Dorf  mauschelt.  Nun  sehen  wir  uns  aber  die  Stelle 
auf  S.  432  an,  wo  Sombart  von  den  Wirkungen  des  Ghetto, 
die  aber  schon  im  Blute  der  Juden  vorbereitet  waren  und 
nicht  daraus  schwinden,  spricht:  »Es  sind  zum  Teil  die 
Gewohnheiten  der  sozial  niedrig  Stehenden  überhaupt,  die 
aber  natürlich  im  jüdischen  Blute  ein  ganz  merkwürdiges 
Gepräge  annehmen:  Neigung  zu  kleinen  Betrügereien, 
Aufdringlichkeit,  Würdelosigkeit,  Taktlosigkeit  usw.  Sie 
haben  sicher  eine  Rolle  gespielt,  als  die  Juden  darangin- 
gen, die  Feste  der  alten  handwerksmäßig-feudalen  Wirt- 
schaftsordnung zu  erobern;  in  dem  Kapitel,  das  vom  Auf- 
kommen einer  modernen  Wirtschaftsgesinnung  handelt, 
haben  wir  öfters  die  Wirkungen  gerade  dieser  Charakter- 
züge feststellen  können.«  Ist  dies  nun  nicht  ein  Werturteil, 

17* 


260  Die  Jaden  und  das  Wirtschaftsleben. 

wie  es  bestimmter  und  abfälliger  nicht  formuliert  werden 
kann  ?  Sombart  verweist  allerdings  auf  das  Kapitel  über 
die  Wirtschaftsgesinnung,  aber  davon,  daß  das  »Sünden- 
register« der  Juden  »das  tägliche  Brot  in  jeder  modernen 
Geschäftsführung  bildet«,  sagt  er  hier  nichts  mehr,  jetzt 
mauscheln  nur  noch  die  Juden,  und  die  »kleinen  Betrüge- 
reien usw.«  stecken  nunmehr,  wovon  man  in  dem  obigen 
Kapitel  noch  nichts  wußte,  im  Blute,  sind  also  erblich  und 
unausrottbar.  Ich  will  mit  diesen  Bemerkungen  den  wissen- 
schaftlichen Charakter  des  Buches  nicht  antasten,  sondern 
nur  hervorheben,  daß  ein  wenig  mehr  Vorsicht,  um  nicht 
zu  sagen,  Rücksicht  in  der  Tonfärbung  —  c'est  le  ton  qui 
fait  la  musique  —  jedem  absichtlichen  wie  unabsichtlichen 
Mißverständnis  vorgebeugt  und  alle  Kautelen  überflüssig 
gemacht  haben  würde.  Ich  bringe  aber  diese  Rekriminationen 
gleich  im  Eingange  meines  Referates  vor,  um  sie  vom 
Herzen  zu  haben,  und  desto  ungezwungener  dem  außeror- 
dentlichen Fleiß,  der  großen  Belesenheit  und  dem  syste- 
matischen Geschick  des  Verfassers  die  verdiente  Aner- 
kennung zollen  zu  können.  Damit  möchte  ich  nun  aber  so- 
zusagen in  einem  Aufwaschen  noch  eines  andern  Befrem- 
dens mich  entledigen,  das  die  eigentümliche  Bewertung 
der  »judaistischen«  d.  h.  der  von  Juden  über  Juden  und 
Judentum  verfaßten  Schriften  in  mir  hervorgerufen  hat. 
Sombart  spricht  wiederholt  von  »offiziös-jüdischer  Geschicht- 
schreibung« (z.  B.  S.  360).  Was  er  darunter  versteht,  ist 
mir  absolut  unerfindlich,  und  die  Bezeichnung,  welche  die 
Existenz  einer  für  das  Gesamtjudentum  maßgebenden 
jüdischen  Oberbehörde  voraussetzt,  nimmt  sich  bei  ihm, 
der  sich  doch  eingehend  mit  dem  Judentum  beschäftigt  hat, 
um  so  sonderbarer  aus,  als  er  wissen  muß,  daß  eine  solche 
Oberbehörde  nicht  vorhanden  ist  und  daß  jeder  Jude,  der 
über  jüdische  Geschichte  schreibt,  dies  ganz  und  gar  auf 
eigene  Faust  tut.  Soweit  ich  an  der  Sache  beteiligt  bin, 
kann  ich  das  auf  das  Bestimmteste  versichern.     Ferner  ist 


Die  Jaden  und  das  Wirtschaftsleben.  261 

mir  der  Satz  befremdlich:  »Das  »Reformjudentum«  kommt 
für  uns  überhaupt  nicht  in  Betracht.  Auf  Modernität  frisierte 
Bücher,  wie  die  neuzeitlichen  Darstellungen  der  »Ethik  des 
Judentums«  sind  für  unsre  Zwecke  gänzlich  belanglos.« 
(S.  24i).  Ich  muß  hierzu  mit  aller  Offenheit  bemerken,  daß 
ich  Herrn  Sombart  das  Recht  zu  dieser  Distinktion,  insofern 
es  sich  um  die  Erkenntnis  des  Judentums  handelt,  ent- 
schieden abspreche.  Er  würde  gegen  mich  ebenso  verfahren, 
wenn  ich  behaupten  würde,  daß  für  die  Erkenntnis  des 
Christentums  das  »Reformchristentum«,  also  der  Prote- 
stantismus nicht  in  Betracht  komme.  Herr  Sombart  stellt 
sich  mit  seiner  Distinktion  auf  den  Boden  des  päpstlichen 
Antimodernismus,  den  er  aber  nur  für  das  Judentum 
gelten  läßt;  aber  wenn  er  von  den  neuzeitlichen  Darstellungen 
der  »Ethik  des  Judentums«  sagt,  sie  seien  »auf  Modernität 
frisiert«,  so  muß  er  sich  gefallen  lassen,  daß  die  katholische 
Theologie  von  den  protestantischen  Darstellungen  der  christ- 
lichen Ethik  dasselbe  behauptet.  Was  als  »Ethik  des  Juden- 
tums« anzuerkennen  oder  abzulehnen  ist,  mag  strittig  sein, 
(ebenso  und  nicht  um  ein  Haar  anders  verhält  es  sich  mit 
der  »Ethik des  Christentums«),  aber  die  Entscheidung  darüber 
hängt  von  der  Frage  ab,  ob  und  in  wieweit  sie  den  allgemein 
anerkannten  jüdischen  Grundschriften  und  ethischen  Kom- 
pendien entspricht,  welche  letztere  sehr  zahlreich,  aber 
Herrn  Sombart  unbekannt  geblieben  sind.  Aber  die  erwähnten 
befremdlichen  Behauptungen  gehören  dem  Inventar  christlich- 
theologischer Bekämpfung  des  Judentums  an,  ebenso  wie 
die  auf  S.  239  ausgesprochene,  mit  bewunderungswürdiger 
Sicherheit  abgegebene  Erklärung,  daß  man  aus  den  jüdischen 
Religionsbüchern,  »besonders  aus  dem  Talmud  alles,  aber 
auch  alles  ,be  weisen'  kann«.  Auch  Bousset  sagt,  »daß  man 
mit  dem  System  der  dicta  probantia  aus  Mischna  und  Talmud 
beweisen  kann,  was  man  will«.  (Die  Religion  d.  Judent.  im 
neutestam.  Zeitalter  2.  Aufl.  S.  426  Anm.  1).  Nur  eins  kann 
man    natürlich    nicht    daraus    beweisen:    was  die  Meinung 


262  Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben. 

der  christlichen  Theologie  vom  Judentum  widerlegen  könnte. 
Es  sei  erlaubt,  dagegen  zu  bemerken,  daß  die  einander 
bestreitenden  Schulen  Hillels  und  Schammai's  gleicherweise 
dahin  bewertet  wurden,  daß  beide  die  Worte  des  lebendigen 
Gottes  lehren.  Das  heißt  mit  anderen  Worten:  der  Gaist  des 
Talmud  ist  trotz  der  kontroversen  Meinungen  einer,  nämlich 
der  Geist  der  schriftlichen  Lehre,  den  man  nicht  aus  jeder  be- 
liebigen Stelle  abziehen  kann,  denn  nicht  alles,  was  im  Talmud 
steht,  ist  der  Talmud.  Das  liegt  in  derKonzeption.  Übrigens  ist 
es  weder  der  Talmud,  noch  sind  es  die  anderen  Religions- 
bücher, aus  denen  man  die  Juden  kennen  lernt,  so  wenig 
wie  die  modernen  Gesetzsammlungen  genügen,  um  uns 
über  die  Völker  der  Gegenwart  aufzuklären.  Die  eigentliche 
Erkenntnisquelle  ist  das  Leben,  und  da  bedaure  ich,  daß 
Sombart  meine  Bücher  über  die  Geschichte  der  Erziehung 
und  der  Kultur  der  abendländischen  Juden  unbekannt  ge- 
blieben sind,  die  abgesehen  davon,  daß  sie  nach  Georg 
Caro,  Sozial-  und  Wirtschaftsgesch.  der  Juden  I,  459  »auch 
für  wirtschaftsgeschichtliche  Zwecke  mit  Erfolg  zu  benützen 
sind«,  die  Juden  nicht  abgesondert  für  sich,  sondern  in 
ihren  mannigfachen  Wechselbeziehungen  zu  ihrer  Umgebung 
schildern.  Doch  es  ist  Zeit,  die  Leser  mit  dem  Buche  selbst 
bekannt  zu  machen   und  seine  Ergebnisse  zu  prüfen. 

Das  Buch  zerfällt  in  zwei  Teile,  wovon  ich  den  ersteren 
als  den  deskriptiven,  den  anderen,  weit  umfangreicheren, 
als  den  aetiologischen  bezeichnen  möchte.  In  dem  ersteren 
zeigt  Sombart,  daß  es  die  aus  Spanien  und  Portugal  ver- 
triebenen Juden  waren,  die  in  ihren  neuen  Ansiedlungen 
in  den  nördlichen  Ländern  des  Erdballs  seit  dem  16.  Jahr- 
hundert den  Grund  zu  dem  Aufbau  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft legten.  Sie  beleben  den  internationalen  Warenhandel, 
sind  stark  beteiligt  an  der  Begründung  der  Kolonialwirt- 
schaft, ja  sogar  an  der  Begründung  des  modernen  Staates 
und  haben  den  wesentlichsten  Anteil  an  der  Heranbildung 
der  gegenwärtigen  Gestaltung  der  kaufmännischen  Erwerbs- 


Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben.  263 

tätigkeit,  deren  vielseitige  Äußerungen  Sombart  unter  der 
Bezeichnung  der  Kommerzialisierung  des  Wirtschaftslebens 
zusammenfaßt.  Dies  alles  wird  in  den  ersten  sechs  Kapiteln 
sehr  übersichtlich  und  mit  erschöpfender  Gründlichkeit  in 
zusammenhängender  Darstellung  nachgewiesen.  Sombart 
darf  behaupten  (S.  VII),  daß  er  zum  ersten  Male  ein  Bild 
von  der  wirtschaftlichen  Tätigkeit  der  Juden  während  der 
letzten  drei  Jahrhunderte,  wie  er  sagt,  skizziert  habe.  Den- 
noch bedurfte  es  meines  Erachtens  keiner  »Offenbarung« 
(S.  VI),  um  diese  Arbeit  zu  tun,  noch  war  das  »Erstaunen« 
(S.  15)  darüber  gerechtfertigt,  daß  man  noch  nicht  die 
historische  Tatsache  erkannt  hat,  die  Sombart  folgender- 
maßen bezeichnet :  »Wie  die  Sonne  geht  Israel  über  Europa: 
wo  es  hinkommt,  sprießt  neues  Leben  empor,  von  wo  es 
wegzieht,  da  modert  alles,  was  bisher  geblüht  hatte.«  (Das.) 
Die  Tatsache  war  mehr  oder  weniger  bekannt,  man  hat 
nur  früher  die  Juden  so  gering  geschätzt,  um  nicht  zu 
sagen,  verachtet,  daß  man  ihr  keine  Aufmerksamkeit  schenkte 
oder  sie  sich  nicht  eingestand.  Dazu  kam  die  Gering- 
schätzung des  Handels.  Wie  der  Jude  der  »Schacherjude« 
war,  so  waren  die  Engländer  das  Krämervolk.  Das  ist  nun 
allgemach  anders  geworden,  seitdem  es  Handelsminister 
und  Handelsämter  gibt,  seitdem  die  Staaten  miteinander 
Handelsverträge  abschließen,  Zollkriege  gegen  einander 
führen  und  auf  die  Meistbegünstigung  erpicht  sind,  seitdem 
die  Bauern  sich  zu  Molkereiverbänden  zusammentun,  um 
ihre  Milch  teuerer  an  den  Mann  zu  bringen,  seitdem  Ba- 
rone, Grafen,  Fürsten  Milch,  Bier  und  Kohlen  verkaufen, 
und  als  Verwaltungsräte  der  Großbanken  figurieren.  »Nach 
Golde  drängt,  am  Golde  hängt  doch  alles!«  Dieses  Wort 
Gretchens  vermisse  ich  in  dem  reichen  Zitatenschatz  Som- 
barts.  Was  für  einen  Sinn  hätte  es  aber  bei  den  geschil- 
derten Zuständen  noch,  von  dem  Schacherjuden  und  dem 
englischen  Krämervolke  zu  reden.  Es  ist  in  der  Tat  merk- 
würdig still  davon  geworden.    Da    ist    es    nun  ein  großes 


264  Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben. 

Verdienst  Sombarts,  daß  er  Versäumtes  nachgeholt,  das  Unbe- 
wußte oder  Verkannte  durch  sein  Buch  allen  zu  klarem 
Bewußtsein  gebracht  und  die  Juden  als  die  Urheber  der 
auf  ihrem  Höhepunkt  angelangten  und  alles  beherrschenden 
kapitalistischen  Wirtschaft  nachgewiesen  hat.  Es  klingt 
heute  schon  wie  ein  Anachronismus,  wenn  in  dem 
bekannten  Rückertschen  Gedicht  »Vom  Bäumlein,  das  an- 
dere Blätter  hat  gewollt«  gerade  »der  Jude  mit  großem 
Sack  und  großem  Bart«  erscheint  und  die  goldenen  Blätter 
einsteckt,  während  dieses  Einstecken  der  goldenen  Blätter 
heute  auch  »des  Schweißes  der  Edlen«,  um  nicht  zu  sagen 
der  Adeligen  wert  erscheint.  Oder  wenn  ferner  gerade  ein 
Jude  es  ist,  der  den  Küraß  in  Lenau's  gleichnamigem  Ge- 
dichte dem  Husaren  verkaufen  will,  um  nicht  erst  der  »hosen- 
verkaufenden jüdischen  Jünglinge«  Treitschke's  zu  gedenken. 
Aber  in  künftigen  Zeiten,  wenn  sich  einmal,  wie  es  Som- 
bart  jetzt  schon  scheint,  »der  Einfluß  des  Judenvolkes  zu 
verringern  beginnt«  (S.  VIII)  —  es  wäre  nicht  unmöglich, 
daß  die  Juden  aus  ihrem  erbgesessenen  Handelsgebiet  ganz 
verdrängt  würden  und  dann  in  einer  anderen  Karriere, 
etwa  in  der  ihnen  jetzt  ganz  verschlossenen  militärischen, 
ihr  Heil  suchen  müßten  —  würde  jener  Anachronismus  sich 
bis  zu  völliger  Unverständlichkeit  steigern.  Für  diese  Even- 
tualität hat  Sombarts  Buch  Vorsorge  getroffen:  es  hat  den 
historischen  Werdegang,  der  unter  der  Führung  der  Juden 
zu  dem  gegenwärtigen  Höhepunkt  der  kapitalistischen  Wirt- 
schaft führte,  auf  dem  sie  selbst  vielleicht  überflüssig  ge- 
worden sind,  aufgezeigt  und  festgehalten. 

Aber  Sombart  hat  sich  an  dieser  verdienstlichen  Lei- 
stung nicht  genügen  lassen.  Sein  Forschertrieb  hat  ihn 
gedrängt,  nach  gewonnener  Erkenntnis  der  Tatsache 
der  kapitalistischen  Bedeutung  der  Juden  auch  der  Er- 
kenntnis ihrer  Ursache  nachzugehen.  Diese  Untersuchung 
beginnt  meiner  Meinung  nach  schon  von  dem  sieben- 
ten   Kapitel    an     und    umfaßt    zwei    Drittel    des    Buches 


Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben.  265 

Hier  muß  ich  nun  bekennen,  daß  ich  Sombart  auf 
diesem  Wege  nicht  zu  folgen  vermag.  Es  wäre  ja  sehr 
schön,  wenn  man  eine  Art  Laplace'scher  Formel  finden 
könnte,  mit  der  man  in  Stand  gesetzt  würde,  die  Volks- 
individualitäten zu  erschließen,  mit  der  man  den  Beweis 
zu  führen  vermöchte,  daß  sie  so,  wie  sie  sind,  sein  müssen. 
Dann  wäre  die  Geschichtschreibung  Mathematik  und  man 
könnte  eine  geschichtliche  Untersuchung  mit  dem  Satz  ab- 
schließen: Quod  erat  demonstrandum.  Aber  soweit  sind 
wir  noch  nicht  und  werden  voraussichtlich  auch  nie  so 
weit  kommen,  es  wird  immer  ein  Ignorabimus  übrig  bleiben, 
auch  wenn  man,  wie  Sombart,  mit  dem  ungestümsten 
Forschungseifer,  oder  besser  Übereifer,  alle  Dunkelheiten 
durchdringen  zu  können  vermeint.  Sombart  nennt  sein 
Buch  ein  einseitiges  Buch  (S.  X).  Von  dieser  Einseitig- 
keit hat  er  sich  so  einnehmen  lassen,  daß  seine  Augen 
nur  auf  diese  sich  eingestellt  haben.  Zuerst  sagt  er:  »Ohne 
Juden  kein  moderner  Kapitalismus«.  (Das.)  Im  Laufe  seiner 
Beweisführung  erschöpft  sich  aber  das  Judentum,  oder  wie 
Sombart  sagt,  der  Judaismus  im  Kapitalismus,  der  »homo 
Judaeus«  (richtig  judaicus,  da  Judaeus  keine  Adjektivform 
ist)  und  der  homo  capitalisticus  gehören  derselben  Spezies 
an  (S.  281),  das  ist  doch  was  ganz  andres  als  was  zuerst 
behauptet  war.  Nun  sehen  wir  uns  aber  einmal  die  italieni- 
schen Juden  des  Mittelalters  an!  In  Süditalien  ist  die 
Färberei  fast  ganz  in  den  Händen  der  Juden,  die  Tincta 
oder  Tintoria  ist  auch  ohne  Beisatz  das  selbstverständliche 
jüdische  Steuerobjekt  (meine  Geschichte  II  312),  in  Sizilien 
aber  bittet  der  hohe  königliche  Rat  1492  in  einer  Immediat- 
vorstellung  Ferdinand  den  Katholischen  um  den  Aufschub 
der  Judenvertreibung  mit  Rücksicht  auf  die  Tatsache,  »daß 
in  diesem  Reiche  fast  alle  Handwerker  Juden  sind.  Wenn 
diese  alle  auf  einmal  abziehen,  so  wird  für  die 
Christen  ein  Mangel  an  Arbeitern  sich  heraus- 
stellen,   die    geeignet    sind,   den  Bedarf   von  me- 


266  Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben. 

chanischen  Gegenständen,  und  besonders  von 
Eisenarbeiten,  sowohl  zum  Beschlagen  der  Pferde 
wie  für  Erdarbeiten,  wie  auch  zur  Ausrüstung  von 
Schiffen,  Galeeren  und  anderen  Fahrzeugen  zu 
liefern«  (Das.  288).  (Nebenbei  gesagt  mag  dieses  aus 
dem  Leben,  gegriffene  Zitat  die  von  Sombart  behauptete 
Abneigung  der  Juden  gegen  schwere  körperliche  Arbeit, 
sowie  seinen  summarischen  Ausspruch  (S.  420)  beleuchten: 
»Von  dem  Fluche,  mit  dem  Adam  und  Eva  aus  dem 
Paradiese  gestoßen  wurden,  daß  der  Mensch  im  Schweiße 
seines  Angesichts  sein  Brot  essen  müsse,  haben  die  Juden 
in  allen  Zeiten  wenig  mitgetragen,  wenn  wir  den  körper- 
lichen Schweiß  darunter  verstehen  wollen«.  Aber  woher 
haben  denn  die  Juden  von  dem  Fluche  gewußt?)  Könnte 
man  nun  nicht  die  Befähigung  der  Juden  zur  Färberei,  zu 
Schmiede-  und  Erdarbeiten,  oder  zur  Diamantschleiferei, 
die,  soviel  ich  weiß,  ganz  in  den  Händen  der  Juden  liegt, 
ebenso  aus  dem  Blute,  aus  der  biologischen  Veranlagung 
abzuleiten  versucht  sein,  wie  es  Sombart  mit  der  kapita- 
listischen Befähigung  der  Juden  macht?  Wohin  würden  wir 
dann  am  Ende  geraten?  Immerhin  legt  uns  der  ungeheure 
Aufwand  von  Fleiß  und  Kunst  die  Pflicht  auf,  dem  System 
Sombarts  die  verdiente  Aufmerksamkeit  zu  widmen. 

Es  läßt  sich  auf  eine  Formel  zurückführen,  die  etwa 
mit  teils  Spinozistischen,  teils  Sombartischen  Worten  lauten 
würde:  Homo  judaicus  est  ex  suae  naturae  necessitate  homo 
capitalisticus.  Alles  was  der  Jude  besitzt,  sein  Gott,  seine 
Bibel,  seine  Religion,  seine  Sittlichkeit  ist  der  Ausfluß 
seiner  blutmäßigen  Veranlagung  und  hat  dann  wieder  unter 
äußeren  Begleitumständen  auf  die  Ausbildung  seiner  Eigen- 
art zurückgewirkt,  die  durch  die  »Geistigheit«  und  den 
»rechenhaften«  Charakter  jener  Momente  zur  kapitalistischen 
Befähigung  sich  zuspitzte  oder  herangezüchtet  wurde.  Vieles 
gewinnt  unter  dieser  Beleuchtung  ein  ganz  anderes  Gesicht, 
als    wir   zu  erblicken  bisher  gewohnt  waren.    Das    Ghetto 


Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben.  267 

war  nicht,  wie  man  früher  irrtümlich  annahm,  eine  Be- 
drückungsmaßregel, ein  Pferch,  um  die  Juden  zusammen- 
zuhalten, ihnen  Luft  und  Licht  zu  entziehen,  sondern  man 
kam  damit  ihrer  »Abschließung«  entgegen,  die  Juden  wollten 
es  so,  das  Ghetto  war  eine  »Konzession,  ein  Privilegium, 
nicht  etwa  eine  Feindseligkeit«  (S.  282.)  Nach  dieser  Theorie 
ist  es  nicht  mehr  als  billig,  Rußland  und  Rumänien  mit 
Rekriminationen  wegen  der  Ausweisungen  zu  verschonen, 
man  muß  ihnen  vielmehr  Abbitte  leisten,  da  sie  mit  dieser 
Maßregel  nur  dem  »ursprünglich  den  Hebräern  im  Blute 
steckenden  Nomadismus  und  Saharismus«  (S.  408)  ent- 
gegenkommen. Durch  den  angeborenen  Nomadismus  erklärt 
sich  auch  die  Tatsache,  daß  die  Juden  vorzugsweise  Städte- 
bewohner sind.  Sie  sind  es  nicht,  wie  man  bisher  annahm, 
deswegen,  weil  die  Städte  ihnen  mehr  Gelegenheit  geben 
zu  einer  erweiterten  Bildung  ihrer  Kinder,  zur  Befriedigung 
ihrer  religiösen  Bedürfnisse,  zur  Lebenserhaltung  —  sondern 
»die  Großstadt  ist  die  unmittelbare  Fortsetzung  der  Wüste 
—  sie  steht  der  dampfenden  Scholle  ebenso  fern  wie  diese 
und  zwingt  ihren  Bewohnern  ein  nomadisierendes  Leben 
auf  wie  diese«  (S.  416).  Rätselhaft  bleibt  hiernach  nur,  wie 
die  Juden  in  Ungarn  sich  so  sehr  um  die  Amelioriation 
des  Bodens  haben  verdient  machen  können,  was  wenigstens 
Hunfalvy  in  seiner  Ethnologie  von  Ungarn  —  ich  habe  das 
Buch  nicht  zur  Hand,  kann  also  die  Seitenzahl  der  deutschen 
Übersetzung  nicht  angeben  —  rühmend  hervorhebt.  Und 
da  ich  gerade  beim  Rätselhaften  bin,  so  nehme  ich  Ge- 
legenheit, auch  die  mittelalterlichen  Judenabzeichen,  die 
doch  wohl  Erkennungszeichen  sein  sollten,  unter  diese 
Rubrik  zu  verweisen,  da  ich  nun  von  Sombart  (S.  348)  er- 
fahre, »daß  schon  ein  mittelmäßiger  Beobachter  mit  ziem- 
licher Sicherheit«  die  jüdische  Abstammung,  oder  die  »jü- 
dische Physiognomie«  feststellen  kann.  Wozu  dienten  also 
die  Judenabzeichen?  Oder  sollte  es  im  Mittelalter  so  wenig 
selbst  mittelmäßige  Beobachter  gegeben  haben!  Ich  ertappe 


268  Die  Juden  nnd  das  Wirtschaftsleben. 

mich  darauf,  daß  ich  ein  sehr  schlechter  Beobachter 
sein  muß,  denn  ich  sehe  mich  oft  in  meiner  amtlichen 
Stellung  genötigt,  nach  der  Konfession  zu  fragen  und 
erhalte  die  jüdische  als  Antwort.  Rätselhaft  ist  mir 
ferner,  daß  Sombart  das  Neue  Testament  gegen  das 
Alte  ausspielt,  wenn  er  S.  259  sagt:  »Ebenso  oft 
wie  in  den  Schriften  des  Alten  Testaments  der  Reichtum 
gepriesen  wird,  ebenso  oft  wird  er  im  Neuen  Testament 
verflucht,  wird  die  Armut  verherrlicht.«  Ich  komme  auf  die 
Sache  selbst  zurück,  hier  will  ich  nur  meiner  Verwunderung 
darüber  Ausdruck  geben,  daß  Sombart  eine  Kontradiktion 
statuiert,  die  keine  ist,  denn  nach  ihm  liegt  ja  der  Schwer- 
punkt im  Blute,  die  Verfasser  des  Neuen  Testaments  waren 
aber  auch  Juden,  Sombart  führt  also  Juden  gegen  Juden 
ins  Gefecht,  wenn  auch  getaufte  gegen  ungetaufte,  worauf  es 
aber  bei  ihm  nicht  ankommt.  Denn  nach  ihm  bleibt  auch 
der  getaufte  Jude  ein  Jude,  soweit  die  historische  Erinne- 
rung reicht  (S.  9),  worin  freilich  die  Familie  Mendelssohn, 
der  frühere  Fürsterzbischof  von  Olmütz  Dr.  Theodor  Kohn 
usw.  nicht  mit  ihm  übereinstimmen  werden.  Doch  das  mag 
er  mit  den  getauften  Juden  abmachen. 

Das  größte  Gewicht  legt  Sombart  für  seinen  Zweck 
natürlich  auf  die  Religion  als  auf  die  hohe  Schule  des  Ka- 
pitalismus. Er  bedient  sich  der  hundertmal  widerlegten  christ- 
lich-theologischen Entstellungen  der  jüdischen  Religion  als 
Tragbalken  für  sein  System.  »Vertragsmäßige  Re- 
gelung aller  Beziehungen  zwischen  Gott 
und  Israel,  rechenhafte  Gemütsverfassung 
der  Gläubigen«  —  das  ist  nach  Sombart  die  jüdische 
Religion  —  »nicht  zu  verwechseln  mit  der  israelitischen 
Religion,  zu  der  die  jüdische  in  gewissem  Sinne  im  Gegen- 
satz steht«  (S.  242).  »Rationalismus  ist  der  Grundzug  des 
Judaismus  wie  des  Kapitalismus«  (Das.).  Sombart  führt 
zum  Beweise  Talmudzitate  und  mehrere  größtenteils  gänz- 
lich verstümmelte  hebräische  Worte  (S.  246),    ja  sogar  die 


Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben.  269 

Versteigerung   der   Mizwoth  an,   die  er   sich  irrtümlich  als 
ein  lautes  Verauktionieren  (S.   249)    vorstellt,   während  sie 
doch  geräuschloser   war   oder   ist,   als   die  Hantierung  mit 
dem    Klingebeutel    in    den    christlichen    Gotteshäusern.    In 
diesen  wird  auch  Geld  für  Arme  gesammelt,    was   ist  also 
daran    auszusetzen,    wie    es    in  den    jüdischen  geschieht? 
Also  diese  auf  Gegenleistung,  auf  die  Erwartung  des  Lohnes 
gegründete  Religion  vermochte  die  Juden  so  zu  begeistern, 
daß  sie    sich    ihretwegen    von    den  Kreuzfahrern  ermorden 
ließen,   daß    Mütter    ihretwegen    ihre   Kinder    schlachteten, 
daß  Männer  und  Frauen  ihretwegen    kühn  und  mutig  den 
Scheiterhaufen     bestiegen     und     noch    im    Verenden     den 
Namen  Gottes  heiligten,  daß   Eltern  und  Kinder  hundertmal 
ihretwegen  aus  ihrer  Heimat    und   von    den  Gräbern  ihrer 
Lieben  sich  vertreiben  ließen  ?    Das    ist   die  Vertrags-,  das 
ist  die  rechenhafte  Religion,    deren   oberstes  Gebot    lautet: 
»Du  sollst  lieben  den  Ewigen  deinen  Gott  mit  ganzem  Her- 
zen, mit  ganzer   Seele    und  ganzem    Vermögen!?«    Das  ist 
die  Religion,    die    Esra    —    »der    Sofer,    der    starrgeistige 
Schriftgelehrte«  —  dem  Volke  »aufoktroyierte«,  oder  welche 
die  Rabbiner  ihm  als  »Joch«  auferlegten?    Dazu    sind    die 
Juden    mit    ihrer    auch  von  Sombart    anerkannten    »Hart- 
näckigkeit«, die  rechten,    wie    die  Kämpfe    der  Makkabäer 
und  die  gegen  Rom  beweisen.  Sombart  fehlt  es  an  »Herzens- 
inbrunst«, an  »Wonnetrunkenheit«  in  dieser  Religion.  Jehuda 
Halevi,  von  dem  Sombart    nur   die   Zionide  kennt,    dachte 
darüber    anders.     »Überhaupt    ist    unser    Gesetz     geteilt 
zwischen    Ehrfurcht,    Liebe    und    Freude,    durch  jede  von 
diesen    kannst    du    dich    Gott    nähern.    Und    wenn  deine 
Freude    sich    bis    zum    Singen    und    Tanzen    steigert,    so 
ist  dies  Gottesdienst  und  Festhalten  am  göttlichen  Geiste«. 
(S.  meine  Apologetik  S.  187).  Auch  die  unbefangene  Freude 
an  der  Natur  ist  nach  Sombart  dem  Juden    durch  die  Re- 
ligion versagt,  weil  sie  Lobpreisungen  Gottes  beim  Anblick 
hervorbrechender    Baumblüten,    neuer    Früchte,    mächtiger 


270  Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben. 

Berge  und  Ströme  usw.  vorschreibt.  Also  der  Sänger  des 
104.  Psalms,  dessen  Schilderung  auch  Alexander  v.  Hum- 
boldt bewundert,  hatte  keine  unbefangene  Freude  an  der 
Natur,  weil  er  mit  dem  Ausruf  beginnt  und  schließt:  »Lob- 
preise meine  Seele,  den  Herrn!«  Und  auch  der  Dichter  des 
deutschen  Liedes  hatte  sie  nicht:  »Wer  hat  dich,  du  schöner 
Wald,  aufgebaut  so  hoch  da  droben?  Wohl  den  Meister 
will  ich  loben,  solang'  noch  meine  Stimm'  erschallt?«  Daß 
Heiligung  des  Lebens  nach  der  Lehre  des  Judentums  heißt: 
Gott  in  das  Leben  hineintragen  und  mit  ihm  des  Lebens 
sich  freuen,  nicht  aber  —  wie  nach  der  Lehre  des  Christen- 
tums —  das  Leben  als  ein  Jammertal  betrachten  und  Gott 
in  der  Weltflucht,  in  der  Klosterzelle  aufsuchen,  dafür  hat 
Sombart  offenbar  kein  Verständnis.  Er  hätte  sich  darüber 
durch  den  englischen  christlichen  Theologen  Travers  Her- 
ford belehren  lassen  können,  der  sagt:  »Was  gewöhnlich 
»leerer  Formalismus«  oder  »ernsthaft  behandelter  Tand« 
genannt  wird,  verdient  einen  besseren  Namen,  denn  es  ist 
—  irrtümlich  oder  nicht  —  eine  ehrenwerte  Bemühung,  das 
Prinzip  des  Gottesdienstes  auf  die  geringsten  Einzelheiten 
und  Handlungen  des  Lebens  anzuwenden«  (meine  Apolo- 
getik S.  155).  Zum  Unglück  sind  Sombart  Fromers  >Vom 
Ghetto  zur  modernen  Kultur«  und  Webers  »System  der 
altsynagogalen  Theologie«  in  die  Hände  gefallen,  oder  viel- 
mehr er  ist  ihnen  in  die  Hände  gefallen,  und  diese  haben 
ihm  die  Mittel  zur  Durchführung  seiner  Ansicht  von  der 
» Rationalisierung«  des  Lebens  durch  die  jüdische  Religion 
geboten.  Denn  nach  Sombart  ist  diese  Religion  ein  Ver- 
standesprodukt. Was  sie  aber  wirklich  ist,  sagt  bereits  der 
Sänger  des  Ps.  19,  der  mit  den  Worten  beginnt:  »Die  Him- 
mel erzählen  die  Ehre  Gottes  und  seiner  Händewerk  ver- 
kündet das  Firmament«  —  also  auch  Freude  an  der  Natur, 
wenn  auch  für  Sombart  vielleicht  nicht  unbefangen  —  in  dem 
es  aber,  worauf  es  für  unsern  Zweck  ankommt,  weiter 
heißt:    »Die    Lehre    Gottes    ist    vollkommen,  beruhigt  die 


Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben.  271 

Seele,  das  Zeugnis  Gottes  ist  zuverlässig,  macht  Toren 
weise.  Die  Vorschriften  Gottes  sind  gerade,  erfreuen  das 
Herz,  das  Gebot  Gottes  ist  klar,  erleuchtet  die  Augen«. 
Das  ist  im  Grunde  die  ganze  jüdische  Theologie,  die  Som- 
bart  vermißt.  Kein  Verstandesprodukt  also  ist  die  jüdische 
Religion,  sondern  das  Produkt  der  höchsten  Erkenntnis 
und  zum  Streben  nach  Erkenntnis  anregend,  sie  hat  die 
Mythologie  überwunden,  worin  andere  Religionen  noch 
heute  stecken,  sie  hat  keine  Unbegreiflichkeiten,  sie  lehrt 
nicht  andächtig  schwärmen,  sondern  gut  handeln,  benebelt 
und  berauscht  die  Sinne  nicht,  sondern  läutert  sie  und 
lenkt  sie  in  richtige  Bahn,  sie  lehrt  das  Leben  begreifen, 
sich  darin  zurechtfinden  und  es  durch  Sittlichkeit  heiligen. 
Daß  die  Bekennerschaft  einer  solchen  Religion,  gefestigt 
überdies  durch  die  Leiden,  die  sie  ihretwegen  ausstand, 
geistig  geschult  durch  das  eifrigste  Studium  der  Reli- 
gionsbücher, gereift  durch  die  vielseitigsten  Erfahrungen 
unter  den  gegebenen  Bedingungen  zu  den  besten  Pionieren 
der  kapitalistischen  Wirtschaft  herangebildet  wurde,  ist  auch 
ohne  Verrenkungen  und  Verdrehungen  dieser  Religion,  ohne 
daß  man  ihr  »die  Knochen  im  Leibe  zerbricht«,  wie  Som- 
bart  (S.  281)  sagt,  daß  sie  so  mit  ihren  Bekennern  ver- 
fahre, begreiflich.  Ich  kann  natürlich  nicht  auf  alles  Un- 
richtige, Mißverstandene,  Willkürliche  in  Sombarts  Dar- 
stellung von  dem  Wesen  der  jüdischen  Religion  eingehen, 
aber  was  er  von  dem  Reichtum  sagt,  muß  ich  noch  zur 
Sprache  bringen.  Das  Alte  Testament  soll,  wie  schon  erwähnt, 
den  Reichtum  eben  so  oft  verherrlichen,  wie  ihn  das  Neue 
verflucht.  Sombart  muß  ein  andres  Altes  Testament  haben 
als  ich,  denn  in  meinem  Exemplar,  das  ich  nach  der 
hebräischen  Konkordanz  abgesucht  habe,  finde  ich  nicht 
eine,  sage  nicht  eine  einzige  Stelle  dieser  Art.  Es  wimmelt 
hier  bei  Sombart  von  Mißverständnissen.  Er  führt  beispiels- 
weise Spr.  Sal.  3,  16  an:  »Langes  Leben  ist  in  ihrer  (der 
Weisheit)  Rechten  (Sombart  unrichtig:  in  ihren  (der  Weisen) 


272  Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben. 

Rechten);  in  ihrer  Linken  Reichtum  und  Ehre«.  Das  kann 
doch  nur  bedeuten:  Die  Weisheit  ist,  wofür  sonst  langes 
Leben,  Reichtum  und  Ehre  gehalten  wird,  nämlich  das 
höchste  Gut.  Das  heißt  doch  nicht  den  Reichtum,  sondern 
die  Weisheit  verherrlichen,  sowie  einer  der  sagt:  »Meine 
Frau  ist  mein  Reichtum«  nicht  diesen  sondern  jene  preist. 
Ebenso  »der  Weisen  Krone  ist  ihr  Reichtum«  (das.  14,  24) 
d.  h.  die  Weisen  trachten  nicht  nach  Reichtum,  da  sie  mit 
der  erhabensten  Krone,  der  Weisheit,  geschmückt  sind. 
Der  Vers  10,  15  (das.)  ist  nicht  zu  übersetzen  :  »Des 
Reichen  Habe  ist  ihm  eine  feste  Stadt«  —  obwohl  auch 
damit  nur  gesagt  würde,  wie  es  im  Leben  ist,  nicht  wie 
es  sein  soll  —  sondern:  »des  Reichen  Habe  ist  die  Festung 
seiner  Frechheit,«  und  variiert  mit  dem  Nachsatz  den  18,  23 
ausgesprochenen  Gedanken:  »Der  Arme  spricht  flehentlich, 
der  Reiche  aber  gibt  freche  Antwort.«  Ist  das  auch  eine 
Verherrlichung  des  Reichtums  ?  Man  beachte  dagegen  die 
durch  die  ganze  Tora  hindurchgehende  Aufforderung  zur 
Berücksichtigung  des  Armen,  des  Fremdlings,  der  Waise 
(von  der  Waisenpflege  steht  im  Neuen  Testament  auch  nicht 
ein  Sterbenswörtchen  vgl.  den  Artikel  »Waisenhäuser«  in 
Rein's  Encyklop.  Handbuch  der  Pädagogik:  »Der  Christen 
Fürsorge  für  Waisen  knüpfte  an  das  mosaische  Gesetz  an«). 
Ebenso  verlangen  Mischna  und  Talmud,  daß  des  Menschen 
Hausgenossen  die  Armen  sein  sollen  und  in  Uscha  mußte 
verboten  werden,  nicht  mehr  als  den  fünften  Teil  des  Ver- 
mögens zu  verschenken.  Auch  mit  Sombarts  bemerkter 
»Geldleihe«  steht  es  nicht  besser  wie  mit  der  von  ihm 
beobachteten  Verherrlichung  des  Reichtums.  Verheißungen 
wie  die  von  ihm  angeführten  (worin  er  auch  die  Verherr- 
lichung des  Reichtums  wittert):  »Du  wirst  leihen  vielen 
Völkern  und  von  ihnen  nichts  entlehnen,  du  wirst 
borgen  vielen  Völkern  und  ihnen  nichts  abborgen« 
können  nur  Arme  ins  Auge  fassen,  da  Reichen  gegenüber  die 
hier  durchschossenen  Nachsätze  sich  lächerlich  ausnehmen 


Die  Jaden  und  das  Wirtschaftsleben.  273 

würden.  Sombart  geht  es,  wie  es  heute  noch  vielen  Nicht- 
juden  geht.  Die  wenigen  reichen  Juden  haben  ihn  fasziniert, 
aber  die  800,000  Juden  in  Galizien,  vielleicht  der  15-te  Teil  aller 
Juden,  unter  denen  es  nur  wenige  Bemittelte  gibt,  sind  keine 
Neuheit  in  der  jüdischen  Geschichte,  wie  denn  auch  die  schon 
erwähnten  sizilianischen  Stände  an  den  König  schreiben:  »End- 
lich dürfte  nicht  übersehen  werden,  daß  einzelne  Juden  zwar 
reich,  andere  bemittelt,  die  übrigen  aber  so  arm  seien,  daß, 
wenn  nicht  der  Termin  des  Abzuges  aufgeschoben  würde, 
sie  vor  Hunger  sterben  müßten.  Dies  würde  eine  üble 
Meinung  von  der  Regierung  erwecken«  (meine  Geschichte 
II,  290).  Es  ist  also  nichts  mit  der  »Tatsache  des  jüdischen 
Reichtums«  und  nicht,  wie  Sombart  (S.  380)  sagt,  »der 
Faden«,  sondern  die  Fabel  von  dem  jüdischen  Reichtum 
zieht  sich  »von  Salomo  (warum  nicht  von  Moses,  der  von 
den  Splittern  der  Bundestafeln  nach  dem  Midrasch  reich 
geworden  sein  soll)  bis  Bleichröder  und  Barnato  durch  die 
Geschichte,  ohne  an  einer  Stelle  abzureißen«.  Kennt  Som- 
bart nicht  die  Anekdote  von  den  Russen,  die,  wenn  sie 
keinen  Schnaps  haben,  sagen:  »Sprechen  wir  wenigstens 
davon!«?  So  mag  es  den  Juden  mit  dem  Reichtum  ge- 
gangen sein  und  noch  gehen.  Die  »tote  Hand«  schweigt  na- 
türlich vom  Reichtum,  weil  sie  ihn  besitzt,  aber  »verflucht«. 
Ich  kann  die  Gastfreundschaft  dieser  Monatsschrift 
nicht  länger  in  Ansprach  nehmen,  sonst  hätte  ich  noch 
viel  über  und  gegen  die  Art  und  Weise  zu  sagen,  wie 
Sombart  eine  »jüdische  Eigenart«  statuiert  und  auf  jüdi- 
schen Sprichwörtern  baut.  Ich  fasse  daher  mein  Urteil 
über  das  Buch  Sombarts  kurz  dahin  zusammen,  daß  ich 
den  ersten  Teil  ein  Standard  work  nenne,  der  zweite  aber 
—  Sombart  wird  die  Wahl  meiner  Worte  verstehen  — 
zeugt  zwar  von  großem  Scharfsinn,  von  großer  Zweck- 
bedachtheit  und  Zielstrebigkeit,  aber  ein  »Tachlis«  sehe 
ich  nicht.  (Siehe  die  folgende  Anmerkung.) 


Monatsschrift,  55.  Jahrgang. 


13 


274  Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben. 

Um  wenigstens  die  krassesten  Irrtümer  zu  berichtigen  und  die 
ungerechtfertigsten  Behauptungen  zurückzuweisen,  gebe  ich  von  ihnen 
hier  eine  kurze  Liste.  Zu  S.  231.  Es  ist  keinem  »frommen  Juden«  ver- 
boten, unter  bestimmten  Umständen  Dinge  zu  berühren,  die  durch 
frühere  Berührung  »unrein«  geworden  sind,  denn  kein  Ding  kann  durch 
Berührung  »unrein«,  sondern  nur  unsauber  werden,  in  welchem  Falle 
es  kein  anständiger  Mensch  anfaßt.  Daß  Rothschild  die  Türklinke, 
bevor  sie  abgewischt  war,  und  im  Umlauf  gewesenes  Papiergeld 
nicht  in  die  Hand  nahm,  hat  mit  der  Religion  nichts  zu  tun.  — 
S.  279.  Die  Karenzzeit  nach  der  Geburt  eines  Knaben  dauert  nicht 
40,  und  nach  der  Geburt  eines  Mädchens  nicht  80  Tage,  sondern  im 
ersteren  Falle  7,  im  letzteren  14  Tage.  Das  steht  sogar  deutlich  im 
3.  Buch  Mos.  Kap.  12  zu  lesen.  Eine  Ausdehnung  der  Karenz  wird 
sogar  verboten.  —  S.  284.  Daß  »die  jüdische  Apologetik,  die  für  die 
Juden  schrieb  [ein  schalkhafter  Beisatz!],  diese  Anklagen  selbst  nie- 
mals zu  widerlegen  versucht«  habe,  ist  einfach  unwahr.  Sombart 
lese  in  meiner  Apologetik  das  3.  Kapitel,  wo  er  auf  S.  67  auch  Ber- 
tholet abgefertigt  und  auf  S.  85  eine  lesenswerte  Expektoration  eines 
orthodoxen  Rabbiners  aus  dem  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  ab- 
gedruckt findet.  Damit  ist  auch  der  S.  286  befindliche  Satz  wider- 
legt: »In  dieser  Form  ist  das  Gebot  •—  es  ist  das  198.  —  auch  in  den 
Schulchan  Aruch  übergegangen.  Die  modernen  Rabbiner,  denen  die 
—  ach  so  klaren!  —  Bestimmungen  des  jüdischen  Fremdenrechts 
unbequem  sind  (warum  eigentlich?)  [wieder  eine  kleine  Schalkhaftig- 
keit!], versuchen  dann  die  Bedeutung  solcher  Sätze  wie  das  198. 
Gebot  dadurch  abzuschwächen  usw.«  Hier  ist  Wort  für  Wort  eine 
falsche  Behauptung.  Die  Zählung  der  Gebote  bei  Maimonides  ist 
dessen  Privatansicht  und  für  keinen  verbindlich.  Insbesondere  ist  das 
198.  Gebot  nicht  als  Oebot  anerkannt  und  deshalb  auch  nicht  in 
den  Schulchan  Aruch  übergegangen.  Tatsächlich  enthält  Deuteron. 
23,  20  eigentlich  das  Verbot,  Zinsen  zu  geben,  was  Vers  21  nur  dem 
Fremden  gegenüber  gestattet  (und  womit  er  wohl  zufrieden  sein 
kann).  Es  ist  also  hier  vom  Zins  nehmen  gar  nicht  die  Rede.  Diese 
»ach  so  klare!  Bestimmung  des  jüdischen  Fremdenrechts«  ist  demnach 
trotz  ihrer  Klarheit  von  Sombart  nicht  verstanden.  Ferner  ist  seine 
Behauptung:  »Durch  die  Tradition  ist  gelehrt  worden,  daß  man 
dem  Fremden  auf  Wucher  leihen  soll«,  so  wenig  wahr,  daß  sie  viel- 
mehr lehrt,  daß  man  dies  nicht  tun  soll  (Makk.  24a).  Demnach  ist 
die  weitere  Behauptung  Sombarts  S.  287:  »Nur  Unkenntnis  oder 
Böswilligkeit  kann  leugnen,  daß  die  Verpflichtungen  dem  Fremden 
gegenüber  niemals  so  strenge  waren  als  dem  , Nächsten',  dem  Juden, 
gegenüber«  mit  dem  Bemerken  zurückzuweisen,  daß  »nur  Unkenntnis 


Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben.  275 

oder  Böswilligkeit«  den  »Nächsten«  auf  den  Juden  einschränken  und 
das  jüdische  Fremdenrecht  herabsetzen  kann,  für  welche  Erklärung 
ich  mich  wieder  auf  meine  Apologetik  berufe.  -  S.  324  »Die  Führer 
und  Weisen  des  Volkes  haben  die  Wichtigkeit,  ja  die  Notwendigkeit 
dieser  Schmiegsamkeit  und  Biegsamkeit  .  .  .  gepredigt«.  Zum  Be- 
weise werden  zwei  »Ermahnungen«  .angeführt,  in  denen  beiden  der 
»demutige  Geist«  empfohlen  wird.  Also  demütig  sein,  beißt  ins 
Judische  übersetzt  -  für  Sombart  -  schmiegsam   und  biegsam  sein' 


* 


18' 


Der  Auszug  aus  Ägypten  im  Lichte  der  Wissenschaft. 

Von  Emil  Levy. 

Was  berichten  uns  die  ägyptischen  Quellen  vom  Auszug 
der  Kinder  Israel  aus  Ägypten?  — 

Man  erwarte  nicht,  daß  eine  Fülle  historischen  Materials 
vorliegt,  aus  dem  wir  nur  so  zu  schöpfen  brauchen.  Dies 
ist  aus  zweierlei  Gründen  nicht  möglich.  Einmal  haben 
uns  die  Ägypter,  diese  größten  Prahlhänse  des  Altertums, 
keine  exakte  Geschichte  überliefert.  Die  Darstellungen,  die 
die  Könige  und  Fürsten  in  Wort  und  Bild  von  ihren 
Siegeszügen  an  den  Tempelwänden  und  Felsengräbern 
entwerfen,  wissen  nur  Rühmliches  zu  erzählen  und  feiern 
oft  Erfolge,  die  überhaupt  nicht  davongetragen  wurden. 
Unglückliche  Ereignisse  durch  Feindesmacht  werden  ent- 
weder vollständig  verschwiegen,  oder  man  gleitet  mit 
wenigen  Worten  dunklen  Inhaltes  über  sie  hinweg. 

Dazu  kommt  noch  ein  zweites  Moment.  Der  Schauplatz 
der  biblischen  Ereignisse  war  das  östliche  Delta.  Denkmäler 
aus  dem  Delta  sind  uns  nur  in  sehr  geringer  Zahl  erhalten, 
woran  die  Feuchtigkeit  des  Klimas  zum  Teil  schuld 
sein  mag. 

Demgemäß  kann  das  wissenschaftliche  Quellen- 
material für  unsere  Frage  nur  dürftig  sein;  daß  die 
Israeliten  mit  Gold  und  Silber  reich  beladen  aus  Ägypten 
zogen  und  das  Heer  der  Verfolger  im  Roten  Meere  ertrank, 
davon  wird  —  und  mögen  noch  zahlreiche  Entdeckungen 
erfolgen  —  in  einer  ägyptischen  Inschrift  niemals  gelesen 
werden. 

Somit  bleibt  uns  nur  der  Weg,  durch  Vergleichung 
des   biblischen    Berichtes    in    seinen    hauptsächlichen 


Der  Auszug  aus  Ägypten  im  Lichte  der  Wissenschaft.        277 

Angaben  (denn  nur  auf  das  Wesentliche  kommt  es 
uns  an)  mit  den  bestimmten  Verhältnissen  der  ägyptischen 
Geschichte,  die  er  voraussetzt,  die  Zeit  zu  fixieren,  die  für 
den  Auszug  mit  historischer  Logik  allein  in  Betracht  kommen 
kann;  und  bei  diesem  indirekten  Verfahren  sind  immerhin 
bedeutende  Resultate  zu  Tage  gefördert  worden.  Es  ist 
auch  heute  noch,  trotz  aller  gegenteiligen  Behauptungen, 
durchaus  wahrscheinlich,  daß  Ramses  II,  (1292—1225) 
der  Pharao  der  Bedrückung  war  und  daß  der  Auszug,  von 
dem  das  zweite  Buch  Moses  spricht,  unter  seinem  Sohne 
Meneptah  (1225—1215)  stattgefunden  hat. 

Der  geschichtliche    Zusammenhang,    in   den   wir    Be- 
drückung und  Auszug  einreihen  müssen,  ist  folgender: 


Um  das  Jahr  1670  drangen  semitische  Fremdstämme, 
die  Hyksos,  in  das  Delta  ein  und  beherrschten  von  hier 
aus  Ägypten.  Der  jüdische  Schriftsteller  Josephus  iden- 
tifiziert diese  Hyksos  mit  den  Israeliten  (Züge  der  Erz- 
väter!). Diese  hyperbolische  Annahme  ist  aber  dahin  zu 
modifizieren,  daß  die  Einwanderung  Israels  zur  Zeit  der 
stammverwandten  Hyksos  erfolgte  und  sich  aus  dieser 
Zeit  allein  geschichtspsychologisch  erklären  läßt. 

Nach  lOOjähriger  Fremdherrschaft  rafft  sich  Ober- 
ägypten zum  Freiheitskampfe  auf;  die  Heere  der  theba- 
nischen  Fürsten  dringen  nordwärts  gegen  die  Hyksos  vor. 
In  wiederholten  Feldzügen  werden  die  fremdländischen 
Eindringlinge  geschlagen  und  schließlich  wieder  aus  dem 
Delta  hinausgedrängt.  Aber  ein  großer  Teil  der  semitischen 
Bevölkerung  und  darunter  die  Hebräer  bleiben  im  Delta 
wohnhaft. 

Dieser  Freiheitskampf  ist  ein  Wendepunkt  in  der 
ägyptischen  Geschichte.  Das  Land  ist  aus  seinem  vieltausend- 
jährigen Schlafe  erwacht,  ein  kriegerischer  Geist  drängt 
mit  Macht  nach  außen.  Palästina  wird  dem  Pharaonenreich 


278        Der  Auszug  aus  Ägypten  im  Lichte  der  Wissenschaft. 

unterworfen,  und  am  Euphrat  errichten  die  Thutmosis  ihre 
Siegestafeln.  Aber  diese  glorreichen  Zustände  sind  nicht 
von  Dauer.  Unter  Amenophis  III  (1411 — 1375),  noch  mehr 
unter  dessen  Sohn  Amenophis  IV  (1375 — 1358),  dem  be- 
rüchtigten »Ketzerkönig«,  beginnt  der  Verfall  der  ägyptischen 
Hegemonie,  über  den  uns  die  bekannten  Tell-Amarna-Briefe 
aufklären.  Die  Kleinfürsten  Palästinas  suchen  das  ägyptische 
Joch  abzuschütteln  und  benutzen  die  Ohnmacht  der  Re- 
gierung zum  Austrag  ihrer  Parteistreitigkeiten.  Zu  den 
inneren  Zwisten  gesellt  sich  ein  gewaltiger  Feind  von 
außen.  Die  Hethiter  (Cheta1),  ursprünglich  in  Kleinasien 
wohnhaft,  erscheinen  plötzlich  als  die  Herren  des  nördlichen 
Syrien  und  schicken  sich  an,  auch  Palästina  den  Pharaonen 
zu  entreißen. 

Das  sind  die  geschichtlichen  Ereignisse,  die  im  Hinter- 
grund der  pentateuchischen  Exoduserzählung  liegen. 

Schon  Sethos  I.  (1313—1292)  mußte  mit  dem  Cheta- 
könig  und  den  ihm  verbündeten  palästinensischen  Fürsten 
um  den  Besitz  Palästinas  kämpfen  und  dasselbe  gilt  von 
seinem  Sohne  Ramses  II,  dem  Pharao  der  Be- 
drückung. (1292—1225.) 

Die  vielen  erbitterten  Feldzüge,  die  dieser  Fürst  ohne 
wesentliche  Erfolge  im  ersten  Drittel  seiner  langjährigen 
Regierung  gegen  die  Hethiter  führte,  machen  uns  die 
strengen  politischen  Maßregeln  gegen  die  im  Delta  hausen- 
den semitischen  Fremdstämme  durchaus  erklärlich.  Es  ist 
nicht  unmöglich,  daß  die  Hebräer  mit  den  palästinensischen 
Hethitern,  zu  denen  schon  Abraham  in  freundschaftlichen 
Beziehungen  stand,  sympathisierten.  Das  läßt  uns  die  Furcht 
des  Pharao  begreifen  :  »Wenn  Krieg  ausbricht,  könnten  die 
Israeliten  zu  unsern  Hassern  sich  schlagen  und  gegen  uns 
streiten.«  —  Infolge  der  vielen  Kämpfe  in  Palästina  und 
wohl  auch  um  die  unruhige  Bevölkerung  des  ehemaligen 
Hyksosterritoriums  in  Schach  zu  halten,  verlegtRamses  II. 

')  Zweifellos  identisch  mit  den  biblischen  rn  'ja 


Der  Auszug  aus  Ägypten  im  Lichte  der  Wissenschaft.        279 

seineResidenzausThebennordwärtsundzieht 
in  das  Delta.  &1R  T?£  öjti  Das  ist  der  neue  König, 
der  Josef  nicht  gekannt,  denn  zum  ersten  Male  sehen  die 
Semiten  des  Landes  Gosen  in  ihrer  Mitte  eine  national- 
ägyptische Hofhaltung ! 

Eine  fieberhafte  Tätigkeit  entfaltet  der  Pharao  im 
östlichen  Delta.  Seine  Residenz  Tanis  (Zoan)  wird  mit 
kolossalen  Tempeln  und  Bauwerken  geschmückt,  die  uralten 
Befestigungen,  die  von  den  Bitterseen  zum  Mittelmeer 
sich  ziehend  (etwa  der  Lauf  des  heutigen  Suezkanals)  das 
Land  im  Osten  gegen  die  Einfälle  der  Barbaren  schützten, 
werden  verstärkt.  Vor  allem  :  Um  den  in  Asien  einrückenden 
Heeren  hinreichend  Proviant  zuführen  zu  können,  laßt  Ramses 
an  der  östl.  Grenze  Magazinstädte  anlegen,  (rriaaoa  nj», 
Pithom  und  die  Ramsesstadt  treten  plötzlich 
in  den  Vordergrund.  Und  der  Pharao  braucht  sich 
nicht  lange  nach  Arbeitern  umzusehen  ;  die  freischweifenden 
Nomaden,  die  seit  Jahrhunderten  in  dem  Grenzdistrikt  ihre 
Herden  geweidet,  werden  zum  Frondienst  angehalten.  »Und 
sie  setzten  über  Israel  Fronmeister,  um  es  zu  drücken 
durch  ihre  Lastarbeiten ;  und  es  baute  Vorratsstädte  für 
Pharao,  Pithom  und  Ramses.«  Die  Reste  von  Pithom  sind 
beim  heutigen  Teil  el  Maschuta  aufgefunden  worden.  Die 
Stadt  lag  hart  am  Ostausgange  des  Wüstentales  Wadi 
Tumilat,  das  die  Verbindung  von  Gosen  mit  der  östlichen 
Wüste  vermittelte,  nicht  weit  entfernt  von  der  oben  er- 
wähnten Befestigung,  die  das  Thal  sperrte.  (Cf.  Karte  S.  282.) 

Die  Lage  der  Ramsesstadt  hat  sich  bis  heute  nicht 
mit  Sicherheit  feststellen  lassen.  Gewiß  ist  Moses,  der 
Führer  Israels,  dessen  Existenz  allein  schon  durch  den 
ägyptischen  Namen  (cf.  Thutmose,  Achmose ;  die  hebr. 
Erklärung  beruht  auf  Volksetymologie)  wissenschaftlich 
verbürgt  ist,  aus  politischen  Gründen  dem  Pharao  ver- 
dächtig geworden,  und  die  Ermordung  des  Ägypters 
wird     nur    der     letzte     Anlaß     zur    Flucht     nach    Midjan 


280        Der  Auszug  aus  Ägypten  im  Lichte  der  Wissenschaft. 

gewesen  sein.  Zu  dieser  Flucht  haben  wir  in  den  Lebens- 
schicksalen eines  vornehmen  Ägypters  aus  älterer  Zeit 
(Sinuhe-Roman)  ein  hochinteressantes  Parallelstück ;  leider 
verbietet  der  Raum,  auf  dies  Schriftstück  näher  einzugehen. 

Auch  in  Midjan  ist  Moses  in  ständiger  Fühlung  mit 
seinen  ägyptischen  Stammesgenossen  geblieben.  Während 
der  langen  Jahrzehnte  seines  Exils  scheinen  die  Israeliten 
nicht  so  sehr  gedrückt  worden  zu  sein,  was  sich  unge- 
zwungen aus  der  politischen  Lage  erklären  läßt.  In  seinem 
21ten  Regierungsjahr  schließt  nämlich  Ramses  II.  nach 
langen  Kämpfen  mit  dem  Chetafürsten  einen  Friedens- 
vertrag, der  ihm  das  südliche  Palästina  garantiert.  Damit 
entfiel  auch  die  Veranlassung,  die  semitischen  Deltastämme 
weiterhin  als  aufstandslüstern  und  »novarum  rerum  cupidi« 
zu  mißhandeln. 

Ohne  Zweifel  hat  erst  der  Nachfolger  Ramses  II.  wie- 
der straffere  Seiten  aufgezogen.  Dies  leuchtet  auch  aus  dem 
biblischen  Berichte  hervor.  Es  heißt  nämlich  (Exodus 
K.  11  V.  23):  »Es  geschah  in  jener  langen  Zeit,  daß  der 
König  vonÄgypten  starb,  und  es  ächzte  n  (wieder) 
die  Kinder  Israel  unter  der  Arbeit  und  sie 
schrieen....«  Die  geschichtliche  Forschung  enthüllt  uns 
abermals  das  Rätsel  des  verstärkten   Druckes. 

Auf  Ramses  II.  folgte  sein  Sohn  Meneptah,  der 
Pharao  des  Auszuges.  Im  5.  Jahre  seiner  Regierung 
wird  Ägypten  von  übermächtigen  Feinden  angegriffen  und 
an  den  Rand  des  Verderbens  gebracht.  Eine  wahre  Völker- 
wanderung brandet  ins  Land.  Seefahrende  Stämme  aus 
allen  Ländern  des  Meeres  dringen  in  das  Delta  ein.  Diese 
Gelegenheit  benützen  die  Libyer  und  überfallen  ihrerseits 
Ägypten  von  Westen  her.  Nach  gewaltigen  Anstrengungen 
erst  gelingt  es  Meneptah,  sich  zu  ermannen,  und  in  einer 
großen  Entscheidungsschlacht  werden  die  Feinde  geschlagen. 

Es  ist  nicht  unmöglich,  daß  die  Hebräer  wiederum  mit 
den    Eindringlingen     sympathisierten    und    deshalb    einem 


Der  Auszog  aus  Ägypten  im  Lichte  der  Wissenschaft.        281 

verstärkten  Drucke  ausgesetzt  wurden ;  lesen  wir  doch  in 
den  ägyptischen  Denkmälern,  daß  auch  die  palästinensischen 
Städte  wieder  wankelmütig  geworden  waren  und  aufs  neue 
erobert  werden  mußten!  (Cf.  weiter  unten  »Israel- 
in s  c  h  r  i  f  t«).  Die  große  Zahl  ägyptischer  Aufsichtsbeamten, 
die  der  Pharao  Meneptah  in  die  Festungen  der  Ostmark 
legte,  lassen  die  verhängnisvolle  Lage  des  Reiches  deut- 
lich erkennen.  Die  Grenzbeamten  führten  genau  Buch,  und 
nur  mit  Lebensgefahr  konnte  man  den  Versuch  machen, 
ohne  pharaonische  Erlaubnis  durch  den  Festungsgürtel  zu 
schlüpfen. 

Es  ist  nun  höchst  merkwürdig,  daß  die  Namen,1)  die 
die  Bibel  dem  östlichen  Grenzdistrikt  und  seinen  Befesti- 
gungen beilegt,  sich  genau  mit  den  Angaben  decken,  die 
uns  gerade  aus  der  Zeit  des  Meneptah  erhalten  sind. 
Sukkoth  bezeichnet  in  der  ägyptischen  Schreibung  Thuku 
die  Provinz,  in  welcher  Pithom  lag;  östlich  von  Gosen 
sich  erstreckend,  wurde  sie  bereits  zum  asiatischen  Besitz 
Ägyptens  gerechnet.  Etham  (ägypt.  Chetam)  ist  eine  der 
Festungsanlagen,  die  der  Stadt  Pithom  im  Osten  als  Forts 
vorgelagert  waren.  Migdol  kommt  unter  demselben  Na- 
men vor  als  Migdol  des  Königs  Meneptah,  eine 
Citadelle  nördlich  vom  Schilfmeer,  wobei  wohl  zu  beachten 
ist,  daß  das  Schilfmeer  im  Altertum  erst  in  dem  heutigen 
Krokodilsee  sein  nördliches  Ende  fand.  Pihachi- 
roth  ist  vielleicht  das  unter  Ptolemäus  II  genannte  Heilig- 
tum Pikeheret,  5  Kilometer  sw.  von  Ismailia,  während  man 
Baal-Zephon  wohl  auf  einer  Höhe  östlich  von  der 
Seenkette  suchen  muß.  —  So  erscheint  die  Reiseroute  der 
Israeliten,  wenn  auch  Einzelheiten  hin-  und  herschwanken, 
im  allgemeinen  durchaus  bestimmt  und  vorgezeichnet.  Süd- 
lich von  Migdol  flutete  das  sumpfige  Schilfmeer,  nörd- 
lich setzte  der  schon  erwähnte  Mauerwall  ein.  —  Auf  diese 


>)  Ich  folge  hierin  den  Ausführungen  von  H.  Brugsch  in  »Stein- 
inschrift  und  Bibelwort«.  S.  226  ff. 


282        Der  Auszug  aus  Ägypten  im  Lichte  der  Wissenschaft. 


Weise  war  die  Landschaft  militärisch  gesperrt,  nur  zwei 
Durchgänge  waren  möglich.  Im  Süden  der  Bastion  konnte 
man  nur  zur  Zeit  niedrigsten  Wasserstandes  einen  Durch- 
bruch riskieren,  nördlich  von  Migdol  beherrschte  die  Gärni- 
sonstruppe  der  »Mauern«  die  Heerstraße.  Eine  schematische 
Karte  mag  die  Situation  veranschaulichen. 


Nun  wird  uns  der  biblische  Bericht  klar  und  ver- 
ständlich. Schritt  für  Schritt  können  wir  die  Route  der 
Israeliten  verfolgen,  nachdem  sie  bei  dem  durch  Feindes- 
macht und  innere  Katastrophen  bedrängten  König  den 
freien  Abzug  erwirkt. 

»Als  der  Pharao  das  Volk  hatte  ziehen  lassen,  da 
führte  sie  Gott  nicht  den  Weg  nach  dem  Lande  der  Phi- 
lister, —  der  wäre  der  nächste  gewesen,  —  denn  Gott  dachte 
es  könnte  das  Volk  reuen,  wenn  sie  Kämpfe  vor  sich  sähen, 


Der  Auszug  aus  Ägypten  im  Liebte  der  Wissenschaft.        283 

und  sie  könnten  nach  Ägypten  zurückkehren.«  (II.  Mos. 
K.  13  V.  17).  Der  nächste  Weg  nach  Palästina,  durch  das  Land 
der  Philister,  hätte  über  die  Festungsmauer  geführt;  dort  aber 
hätte  es  leicht  mit  den  ägyptischen  Besatzungstruppen  zum 
Kampfe  kommen  können;  auch  in  Palästina  wären  die  Isra- 
eliten beim  Einmarsch  noch  immer  auf  ägyptischem  Terri- 
torium gewesen,  erst  nach  Jahrzehnten  zerbröckelte  hier  die 
Oberhoheit  der  Pharaonen  endgültig.  Darum  war  an  eine 
Eroberung  Kanaans    vorläufig    noch    gar    nicht  zu  denken. 

Die  Israeliten  brechen  von  ihrer  Landschaft  Gosen 
auf  und  ziehen  durch  den  Wadi  Tumilat  ostwärts.  »Dann 
brachen  sie  von  Sukkoth  (Thuku)  auf  und  lagerten  in 
Etham  am  Rande  der  (ägyptischen)  Wüste«  (II.  Mos.  13,  20). 
Nun  aber  geht  es  nicht  nach  Norden,  zur  Mauer,  wo  die 
offizielle  Durchgangspforte  aus  und  nach  Ägypten 
war,  sondern  nach  Südosten.  »Befiehl  den  Israeliten,  um- 
zukehren und  sich  vor  Pihachiroth  zwischen  Migdol  und 
dem  Meer  zu  lagern;  gerade  gegenüber  von  Baal-Zephon 
sollt  ihr  euch  am  Meere  lagern«  (Kap.  14,  2). 

Ein  solches  Vorgehen  muß  natürlich  dem  Pharao  als 
Kopflosigkeit  erscheinen  und  ihn  zum  gewaltsamen  Rück- 
transport der  scheinbar  Verirrten  ermutigen.  »Sie  haben 
sich  im  Lande  verirrt,  die  Wüste  (westlich  der  Grenze)  hält 
sie  umschlossen«  (V.  3).  Unmöglich  können  die  Ägypter 
auf  den  Gedanken  kommen,  daß  eine  so  gewaltige  Volks- 
masse durch  das  Meer  südlich  vom  Migdol  einen  Ausweg 
finden  wird. 

Das  Wunder  geschieht  dennoch.  Moses  wagt  den 
Durchbruch,  während  durch  einen  heftigen  Sturm  die  fla- 
chen Gewässer  des  Meerbusens  zurückgehalten  werden. 
Glücklich  gelangen  die  Israeliten  mit  ihrem  leichten  Ge- 
päck über  den  aufgeweichten  Boden  an  das  jenseitige  Ufer, 
indes  die  Streitwagen  der  Verfolger  sich  nur  mühsam 
fortbewegen  und  von  den  zurückflutenden  Wogen  über- 
rascht   werden.    Die  Umwallung    (hebr.  -n#)    liegt    zurück, 


284        Der  Anszug  aus  Ägypten   im  Lichte  der  Wissenschaft. 

die  Wüste  Schur,  die  nach  ihr  genannt  ist,  nimmt  die 
Israeliten  auf  —  — ,  eine  neue  Weltepoche  ist  ange- 
brochen. 

II. 

Ob  das  ganze  Israel  den  Auszug  mitgemacht  hat  und 
nicht  etwa  schon  früher  einzelne  Stämme  in  Kanaan  an- 
sässig gewesen  sind?  Nach  allem,  was  wir  von  den  Hyksos- 
kriegen  wissen,  können  wir  die  Frage  nicht  unbedingt 
verneinen.  Es  liegt  durchaus  im  Bereiche  der  geschicht- 
lichen Möglichkeit,  daß  Teile  des  israelitischen  Stammver- 
bandes schon  vor  dem  pentateuchischen  Exodus  nach  Asien 
zurückgeströmt  sind.  Wissenschaftliche  Spekulationen  gibt 
es  darüber  in  Hülle  und  Fülle,  und  wenn  wir  sie  auch 
nicht  alle  durchmustern  können,  so  soll  doch  die  berühmte 
Israe  1  ins  chrif  t  nicht  unerwähnt  bleiben. 

Wir  haben  bereits  (S.  280)  von  dem  großen  Siege 
gesprochen,  den  der  Pharao  Meneptah  über  die  Libyer  und 
Seevölker  davontrug.  Nach  altem  Brauch  hat  der  Pharao 
seinen  Triumph  in  einem  bombastischen  Siegeshymnus, 
der  auch  die  Bezwingung  der  palästinensischen  Städte  be- 
richtet, der  Nachwelt  mitgeteilt.  Die  Stelle,  welche  das 
Siegeslied  enthält,  wurde  im  Winter  1896  im  Grabtempel 
des  Meneptah  zu  Theben  aufgefunden.  Sie  wurde  alsbald 
weltberühmt,  weil  auf  ihr  im  Zusammenhang  mit  kanaanäi- 
schen  Städten  auch  ganz  unzweideutig  der  Name  > Israel« 
erwähnt  ist. 

Im  Zusammenhang  lautet  die  ganze  Stelle:1) 
»Verwüstet  ist  Libyen,  Cheta  in  Frieden, 
Erbeutet  das  Kanaan   mit  allen  Schlechten, 
Gefangen  geführt  ist  Askalon,  gepackt  Gezer,  Jenoam  ver- 
nichtet, 
Israel    —    seine    Leute    sind   wenig,   sein    Same 

existiert    nicht    mehr; 
Syrien  ist  geworden  zur  Witwe  für  Ägypten«. 

x)  Greßmann,  Altorieatal.  Texte  S.  195. 


Der  Auszug  aus  Ägypten  im  Lichte  der  Wissenschaft.        235 

Die  Erwähnung  Israels  in  dem  Siegesliede  des 
Pharao  des  Auszugs  ist  gewiß  merkwürdig  genug;  leider 
wissen  wir  aber  nicht  viel  damit  anzufangen.  Daraus,  daß 
»Israel«  in  Verbindung  mit  palästinensischen  Städten  ge- 
nannt ist,  wollen  die  Einen  den  Schluß  ziehen,  die  Hebräer 
wären  zur  Zeit  des  Meneptah  längst  in  Kanaan  ansässig 
gewesen,  und  identifizieren  das  »Israel«  der  Mineptah- 
Inschrift  mit  den  bekannten  Chabiri  der  Tel-Amarna- 
briefe  zur  Zeit  des  Amenophis  IV.  Andere  sehen  in  der 
Inschrift  eine  Stütze  für  die  biblische  Angabe.  Israel  hat 
unlängst  den  Auszug  angetreten,  und  mit  dem  Verschwinden 
in  der  Wüste  ist  das  Volk  für  den  König  (dessen  Unter- 
gang im  Roten  Meer  in  der  Bibel  nicht  berichtet  wird1) 
»existenzlos«  geworden.  Diese  Auffassung  scheint  aus  man- 
chen Gründen  die  richtige  zu  sein. 

Die  Annahme  eines  früheren  Exodus  findet  eine  Stütze 
in  der  Stelle  I  Reg.  6,  1,  wo  gesagt  wird,  daß  der 
Tempelbau  480  Jahre  nach  dem  Auszug  aus  Ägypten  statt- 
gefunden habe.  Dieser  Auszug  fiele  somit  um  1450 — 1440. 
Wenn  auch  die  Bibel  von  einem  wiederholten  Auszug  nichts 
weiß,  so  hat  doch  die  mündliche  Überlieferung  eine 
verklungene  Erinnerung  bewahrt,  daß  die  »Söhne  Eph- 
raims« den  Auszug  zu  früh  veranstalteten 
{Y&  wo)  und  sich  in  Palästina  eine  schwere  Niederlage 
holten  (Sanhedrin  92  b).  Erscheint  auch  dieser  Midrasch  als 
Ausdeutung  von  I  Chr.  7,  21,  so  ist  es  doch  wahrschein- 
lich, daß  in  diesen  beiden  Notizen  eine  historische  Re- 
miniszenz verborgen  ist,  und  es  wäre  nicht  unstatthaft, 
im  Zusammenhang  mit  dieser  Überlieferung  der  Chabiri 
zu  gedenken,  die  um  14C0  an  den  südlichen  Grenzen  Pa- 
lästinas auftauchen.  Die  These  eines  wiederholten  Exodus 
wird  bestätigt  durch  das  Schwanken  der  jüdischen  Über- 
lieferung in  Bezug  auf  die  Dauer  des  ägyptischen  Aufent- 
haltes.    Der  Pentateuch    spricht    von    einer   430]  ährigen 

*)  Seine  Leiche  ist  in  Theben  aufgefunden  worden. 


286        Der  Auszug  aus  Ägypten  im  Lichte  der  Wissenschaft. 

Knechtschaft,  während  die  Rabbinen  bekanntlich  nur  einen 
210 jähri gen  Aufenthalt  annehmen. 

Setzen  wir  nun  den  Auszug  unter  Meneptah  nach 
den  neuesten  Feststellungen  auf  ca.  J 220  fest,  so  ergibt  sich 

[1220  +  430  =]  1650  als  Datum  der  Einwanderung 
Jakobs.  Dies  paßt  vorzüglich  zu  den  Zeitverhältnissen.  Und 
andrerseits  ergibt  sich,  wenn  wir  diese  Zahl  1660  festhalten 
und  die  210jährige    Knechtschaft   der   Rabbinen  annehmen 

[1650—210  =]  1440  als  Datum  des  ersten  Auszuges  !  — 

In  der  Tat  eine  verblüffende  Übereinstimmung.  Wie 
man  sieht,  geht  die  rabbinische  Ansicht  von  den  210 
Jahren  parallel  mit  der  Notiz  von  I.  Reg.  K.  6/1.  — 
Es  scheint  mir  daher  einleuchtend,  daß  wir  sowohl  1440 
wie  auch  1220  als  in  Betracht  kommende  Data  festhalten 
und  also  einen  doppelten  Exodus  annehmen  müssen,  was 
bei  dem  Hin-  und  Herfluktuieren  des  semitischen  Elementes 
über  die  ägyptische  Reichsgrenze  nichts  Anormales  hat. 
Damit  entfallen  glücklich  alle  chronologischen  Schwierig- 
keiten. Jedenfalls  spricht  die  pentateu  ch  ische 
Erzählung  unbedingt  von  der  Regierungszeit 
des  Ramses  II  und  dem  Auszug  unter  Meneptah 
im  Jahre  1220.  Denn  von  den  3  Momenten  :  die  Israeliten 
bauen  Pithom  und  Ramses,  Ägypten  ist  von  auswärtigen 
Feinden  stark  bedroht,  und  der  Pharao  residiert  im  Delta, 
wäre  jedes  einzelne  schon  ausschlaggebend. 


Der  Selbstmord  nach  der  fialacha. 

Von  A.  Perlß. 

I. 

Drei  Arten  von  Mord  sind  im  peinlichen  Rechte  der 
Schrift  unerwähnt  geblieben:  der  Elternmord,1)  der  Kindes- 
mord2) und  der  Selbstmord.  Die  ersten  zwei  hat  sie  ganz 
und  gar  außer  Acht  gelassen.  Sie  hat  für  sie  weder 
Namen  noch  Beispiel.  Während  wir  schon  in  der  Vorhalle 
der  Torah  der  grauenhaften  Gestalt  des  Brudermörders 
begegnen,  hat  sie  des  Eltern-  und  Kindesmordes  weder  in 
ihren  epischen  Erzählungen  noch  in  ihren  strafrechtlichen 
Bestimmungen  auch  nur  mit  einem  Worte  gedacht.  Dieses 
Schweigen  ist  beredt  genug.  Die  selbstlose,  aufopfernde 
Liebe  der  Eltern  zu  den  Kindern,  die  Ehrfurcht  und  heilige 
Scheu  der  Kinder  vor  den  Eltern  hat  wohl  dieses  schau- 
derhafte Verbrechen,  von  dem  die  Mythen  und  Überliefe- 
rungen der  alten  Völker  so  viel  zu  erzählen  wissen,  in 
jüdischen  Familien  niemals  aufkommen  lassen.3) 

Der  Selbstmord  hingegen  muß  nur  seiner  sprachlichen 
Benennung  entbehren4)  die  Sache  selbst  wird  uns  in  vier 
Fällen5)    vorgeführt :     Saul    stürzt    sich    in     sein    eigenes 


»)  S.  Mechilta  81  b.  Sifra  105  a.  Sann.  72  b.  Maimuni  nyu  9, 10. 
Tut  Ch.  M.  425,  6  [vgl.  dagegen  Berachot  7  b].  Sifre  I,  1,  159.  B.  K. 
87  b.  Maim.  \S5£Tl  4,  7.  nxn  7,  15.  onßD  5,  5. 

')  Sifre  II,  171.  183.  Makk.  8  b.  12  a.  J.  Makk.  2,  5.  Maim.  n*n 
1,  3.  B*M  5,  15. 

')  Saalschütz  Mos.  Recht  490. 

«)  Vgl.  Job  7,  15.  Rieht.  18,  25. 

•)  Nicht   wie    Saalschütz,  Mos.  Recht  549  will,  in  zweien. 


288  Der  Selbstmord    nach  der  Halacha. 

Schwert1).  Sein  Waffenträger')  stirbt  des  gleichen  Todes8). 
Achitofel  erwürgt  sich*).  Zimri  zündet  den  Palast  über  sich 
an6).  Einen  speziellen  Namen  hat  aber  die  Bibel,  wie  bemerkt, 
für  den  Selbstmord  nicht.  Den  Terminus  hat  erst  später  die 
Schule  geprägt.  Er  lautet  nvih  iosy  t:jko6). 

Spätere  Kommentatoren  bedienen  sich  der  fehlerhaften 
Bezeichnung  /roaty  nivo.  Es  dürfte  eher  loaiy  nm  heißen. 
In  Wahrheit  bedeutet  aber  ibxj?  n/ro  gar  nicht  den  Selbst- 
mord, sondern  wie  das  lateinische  morte  sua  mori  den  natur- 
gemäßen, ohne  gewaltsamen  Eingriff  von  Außen,  von  selbst 
eingetretenen  Tod.  R.  Akiba  will  eher  an  selbstveranlaßter 
Verdurstung  elend  zugrunde  gehen7)  »Daty  n/vo  mo»  20108) 
als  gegen  die  Ansicht  seiner  Genossen  ohne  Händewaschen 
Brod  essen.  Freilich  kommt  die  absichtliche  Enthaltung  von 
allen  zur  Fortfristung  des  Lebens    unbedingt    notwendigen 

*)  I.  Sam.  31,  4. 

s)  Nach  der  von  Raschi  nur  mit  Widerstreben  angenommenen 
Tradition:  Doeg.  Pesikta  d'R.  K.  28b.  Pes.  r.  51a.  Buber,  Anm.  143. 
Vgl.  Pirka  Schönbl.  nvbVI  XS3  16. 

s)  I.  Sam.  31,  5. 

*)  II.  Sam.  17,  23. 

6)  I.  Kon.  16,  18. 

6)  Das  Nomen  njn1?  lD5tj>  "lia^X  Hamburger,  Realencykl.  1110, 
kommt  nirgends  vor.  naxö  wie  in  ^xiP-D  flrix  VfiJ  "DXDH  ^2  oder 
D">S  icaty  ~&xh  xb*  Hjr  -[bn  X1?  Mech.  2a  Friedm.  ist  wohl  etwas 
zarter  als  JVBD  und  a*W,  die  auch  neben  einander  vorkommen  A.  Z. 
Übrigens  wird  loaty  nx  JVDö  nur  in  figürlichem  Sinne  in  der  Bedeu- 
tung von  Entsagung,  Entbehrung  und  Selbstverzicht  auf  die  Annehm- 
lichkeiten des  Lebens  angewendet.  rrDDtf  "03  X^X  pD"pflö  T\'1  px 
.TVj>  iDSty  Berachot  43b  und  dazu  Tanchuma  na  3.  ,Tm  tWX  13y  HO 
lDJty  JlX  IPtf  Tamid  32a.  Vgl.  Gitin  57  b,  Taanit  27b  und  im  X^X 
nbtyn  }C  »BJtJJ  <mpy  IM  . . .  Elia  rabba  137  Friedm.  Eine  bestimmte 
Art  der  Selbsttötung  ißaty  piinn,  Ber.  r.  34,  13.  richtiger  C3D"!  D  X  *JM1 
löaty  nx  p3inn  K'onb.  Vgl.  B.  K.  47b,  dann  in  figürlichem  Sinne: 
pan^  n»pa  dx  (xp-ie  Schönbl.  13b  pun^)  bna  (^X3  nbnn  Pes.  112a. 

7)  nwon  hm  rwpi  xaat,i  divd  nawo   Pirke  d'r.  E.  30.  Vgl. 

Taanit  IV,  5.  Ber.  r.  53,  14.  Echa  r.  2,  2.  Tanch.  WP  5. 

8)  Erubin  21b.  (BXJJ  DITO  IDID^  DX  ^ax  ,TDn.  Sanh.  68a. 


Der  Selbstmord  nach    der  Halacha.  289 

Nahrungsmitteln  der  Selbsttötung  ziemlich  nahe.  Doch  muß 
hier  außer  der  übertriebenen  Ängstlichkeit  des  religiösen 
Gewissens1)  auch  noch  in  Betracht  gezogen  werden,  daß 
ein  aus  mittelbarer  Veranlassung  oder  untätigem  Geschehen- 
lassen entstandenes  Vergehen  nach  der  Halacha  einer  viel 
milderen  Ahndung  kbi?  »sn  als  das  böswillig  beabsichtigte 
und  tätlich  ausgeführte  Verbrechen  anheimfällt    821    KJH2). 

Über  den  Selbstmörder  wird  eine  zweifache  Strafe 
verhängt:  a)  dem  Leichnam  werden  alle  ritual  festgesetzten 
Ehren,  die  man  sonst  der  Leiche  eines  natürlichen  Todes 
verstorbenen  zu  erweisen  pflegt,  verweigert,  b)  der  Seele  des 
Selbstmörders  wird  ihr  zukünftiges  Heil  abgesprochen.3) 

Diese  Strafbestimmung  wird  aber  an  eine  unerläß- 
liche Bedingung  geknüpft:  Die  Selbsttötung  muß  rwib  ge- 
schehen sein.  Wenn  aber  dieses  r\y\b  das  einzige  und 
alleinige  Kriterium  des  Selbstmordes  ist,  so  muß  zuförderst 

i)  Das.  Toss.  Schw.  aens:  n\"i  icity  by  vana.  A.Z.  27  b.,  Toss. 
Schw.  SrtP  Ende,  dann  54b,  Toss.  Schw.  an,  Ketub.  19a,  Toss.  Schw. 
1ö«%  Nachmani  rHJtDH  'D  1. 

8)  Sifre  I,    60.  Kidd.  43a.    Sanh.  76a.  Chulin  9a.  Maimuni  nSHI 

2,  i.  3,  io  not?  ny  ajna  «nyn  iTan  nx  nein.  So  will  der  auf  dem 

Scheiterhaufen  liegende  Chanina  ben  Teradjon  den  Mund  nicht  öffnen, 
um  durch  das  Einschlagen  der  Flammen  seinen  Feuertod  nicht  fak- 
tisch zu  beschleunigen  [1DXJJ3  K1.1  f?aJT  b*"\  H3JW  'Ö  MÄte**  a&lB 
A.  Z.  18  a.  Ganz  so  Jos.  Jüd.  Krieg  III,  8,  5.  Vgl.  B.  K.  9»bJ,  sieht  es 
aber  gerne,  daß  der  Scharfrichter  durch  Vergrößerung  des  Holz- 
stoßes sein  Ende  schneller  herbeiführe.  Bacher,  Agada  der  Tannaiten 
I,  398. 

3)  »3.1  Dbiyb  pSn  )b  pK  JijnS  1B¥J>  ISJfprT.  Der  Spruch  findet 
sich  in  dieser  oder  ähnlicher  Fassung  in  keiner  der  älteren  Quellen  vgl. 
Sanh.  XI.  j.  Sanh.  X.  Tosifta  Sanh.  XII.  Abot  d'R.  N.  36  und  wird  auch 
von  keinem  der  Decisoren  angezogen,  s.  Maimuni  naitPfl  III,  6.  J.  D. 
345.  Jos.  Jüd.  Krieg  III,  8,  5  spricht  jedoch  den  Gedanken  schon  aus. 
Die  Sentenz  dürfte  aus  B.  K.  91b  folgen.  Vgl.  Hirsch  Chajes  ^BK 
W3  27  b.  B.  A.  Weiss  mp">  }3Kj.  D.  56.  Maim.  das  hat  B'B"!  "OD1P  aus 
j.  Sanh.  X,  3  und  Sanh.  109  a  abgeleitet.  Eine  ähnliche  Sentenz  ^B 
Vrtlth  pT!  WK  IOTT3  folgt  aus  Pirke  d'R.  E.  33  Ende.  Ausdrücklich 
Pirke  d'R.  Hakk.  MJfMH  X3B  3, 

Monatsschrift.  B5.  Jahrgang.  19 


290  Der  Selbstmord   nach  der  Halacha. 

die  Bedeutung  dieses  Ausdruckes  und  seines  Gegensatzes 
r\vb  *b&  genau  festgestellt  werden,  um  die  Strafbarkeit 
der  Handlung  gesetzlich  bestimmen  zu  können1).  Nach 
Hamburger8)  bedeutet  nyib  den  >bewußten  und  ab- 
sichtlichen Selbst  vernichter,  der  bewußt  und  ab- 
sichtlich sich  selbst  vernichtet  hat«.  Aus  den  anzufüh- 
renden Stellen  wird  aber  mit  Evidenz  hervorgehen,  daß 
dieser  Terminus  auch  anderswo  kaum,  hier  aber  am  aller- 
wenigsten diesen  Sinn  haben  könne  und  daß  die  wahre 
Bedeutung  des  Wortes  eine  andere  sei: 

1)  mvsm  ">2)VV  lautet  ein  halachischer  Satz,  können 
nyib  *6tP  p  /iinb  p  angelegt  werden3).  Hier  kann  nvih 
offenbar  nur  das  Einverständnis,  die  freie  Einwilligung  be- 
deuten. Ebenso  injr6  «S«  öixb  piyo  }'«*). 

2)  Ist  jemand  als  Kriegsgefangener  gewaltsam  fort- 
geschleppt worden,  so  ist  die  Behörde  gehalten,  einen  seiner 
nächsten  Anverwandten  in  die  verlassenen  Güter  D'ttnai  'DOJ 
einzusetzen  und  mit  der  Verwaltung  derselben  zu  betrauen. 
Ist  aber  der  betreffende  i/ijr6  ausgewandert,  dann  ist  die 
Behörde  dieser  Pflicht  entbunden5).  Aus  der  Entgegen- 
stellung dieser  zwei  Arten  der  Entfernung  folgt,  daß  man 
unter  njn1?  Kit»  lediglich  ein  selbstgewähltes,  freiwilliges 
Auswandern  verstehen  könne. 

3)  Ist  seine  Opfergabe,    heißt  es   im    Priesterkodex6), 

*)  Moses  Sofer,  Responsen  J.  D.  325  bemüht  sich  eine  hala- 
chische  Definition  des  Wortes  zu  geben,  doch  ist  das  Ergebnis,  wel- 
ches auf  pilpulistischer  Unterlage  sich  aufbaut,  —  warum  z.  B.  der 
Gegensatz  von  fljn1?  IDlty  "DKD  nicht  njnb  1DXJ7  TSXD  WK,  sondern 
riJH1?  *bv  'V  '0  lautet  —  nicht  befriedigend. 

»)  Realencykl.  II,  1110. 

»)  Erubin  80  b.   Das.   46  b   paraphrasiert  Raschi   njn"?    wirklich 

mit  nmroB>. 

«)  Tosifta   Erubin  9,  8  p.  148,  27.  j.  Erub.  VI,  23  c.  65. 
»)  B.  M.    39b,   j.  Jeb.  XV,  3.    15a  11  ff.   Maim.   fllbrU   7,  4.  8. 
T.  Ch.  M.  285,  1.  9. 
•)  1,  3. 


Der  Selbstmord    nach  der  Halacha.  291 

ein  Ganzopfer,  dann  soll  er  es  bringen  freiwillig.  »Soll«, 
erklärt  die  Halacha,  das  will  sagen,  er  wird  dazu  gezwun- 
gen im«  pöttW  Tö^ö.  Also  auch  wider  seinen  Willen?  bl3» 
'JK  nM")  TBK»tt>  IV  im«  J'B13  ,TS*3  «H  ,Uimb  Vr>  ,uto  ^?.  Das 
nicht,  da  es  doch  ausdrücklich  heißt  -freiwillig«.  Wie  ist 
also  der  Widerspruch  zu  lösen?  Der  Widmer  wird  so  lange 
genötigt,  bis  er  erklärt:  Ich  will1).  Daraus  leitet  nun  Sa- 
muel den  Kanon  ab:  njn  Pi3*"iaB  n^iy-ui^ni?2).  Hier  wird  also 
das  späthebräische  nyib  dem  biblischen  fiii"^  gleichgesetzt. 

4)  Wen  Gott  liebt,  den  sucht  er  mit  Leiden  heim. 
Diese  Heimsuchungen  sind  aber  nur  dann  eine  Manifesta- 
tion göttlicher  Huld  n^nxa  übip,  wenn  sie  in  kindlicher 
Liebe  und  Ergebenheit  angenommen  und  ertragen  werden. 
Denn  Leiden  sind  eine  Sühne  wie  Opfer,  wm  da?«  irtP/i  d« 
nyib  pittr  ?)«  nyib  w&»  na.  Wie  also  das  Schuldopfer  gut- 
willig dargebracht  werden  soll,  so  müssen  auch  die  über 
uns  verhängten  Übel  freiwillig  aufgenommen  werden3). 
Hier  ist  nyib  schon  geradezu  für  n;n«  gesetzt. 

nyib  bezeichnet  also  nicht  die  bewußte  und  absicht- 
liche, sondern  die  freiwillig  ausgeführte  Handlung.  Es  fragt 
sich  nur,  wie  wir  uns  die  Gewißheit  verschaffen,  daß  der 
Täter  aus  freien  Stücken  gehandelt  habe,  da  sich  der  Wil- 
lensakt unsichtbar  im  Innern  der  Seele  vollzieht?  Die 
Antwort  lautet:  der  Täter  muß  seine  Einwilligung,  sein  aus 
freiem  Antriebe  erfolgtes  Zugeständnis  in  Worten  klar  und 
deutlich  kund  tun.  Das  drückt  nyib  in  folgenden  Stellen  aus: 


')  Sifra  z.  St.  (5  b)  Arachin  21b. 

2)  Ebenso  Chulin  13a  lninr  DSriJHS  ~  imnn?n  DDüin1?.  Vgl. 
Sifra  zu  22,  19  in"D  by  "n25tn  DK  pB13  pX8>  ID'rD  —  DDJlltlS.  Das 
unterscheidet  eben  die  Gemeinde  vom  Einzelnen,  daß  sie  selbst  zur 
Kundgebung  ihrer  Einwilligung  nicht  genötigt  werden  kann,  dann 
muß  aber  lrTO  by  in  *]3  by  emendiert  werden,  wie  es  Sifra  zu  23,  11 
lautet.  Der  Abschreiber  hat  wohl  die  Anfangsbuchstaben  yy  irrtüm- 
lich in  in*iD  by  aufgelöst. 

3)  Berachot  5  a.  Vgl.  nyib  1DXJJ  "Ppon  Nidda  13  b. 

19* 


292  Der  Selbstmord   nach  der  Halacha. 

5)  Die  Kreaturen  der  Urwelt,  heißt  es1),  sind  alle  in 
völlig  ausgereifter  Höhe,  und  [JVSi&i  \ny~6  erschaffen  wor- 
den2). Zu  \r\y~\b  erklärt  nun  Raschi,  daß  die  Geschöpfe 
zuerst  von  Gott  befragt  wurden,  ob  sie  auch  wirklich  er- 
schaffen sein  wollten  und  nur,  nachdem  sie  die  Frage  aus- 
drücklich bejaht  hatten,  wurden  sie  ins  Dasein  gerufen. 
Obschon  es  zur  Eigenart  Raschis  gehört,  das  Material  zu 
seinen  Erklärungen  aus  weitab  liegenden  Gebieten  herbei- 
zuschaffen, in  seinem  Kommentare  zu  verarbeiten,  ohne 
immer  die  Quelle  zu  nennen,  aus  welchen  er  seine  Daten 
schöpfte,3),  so  dürfte  sich  doch  in  diesem  Falle  im  rabb. 
Schrifttum  kaum  eine  Stelle  finden,  welcher  Raschi  diese 
befremdliche  Nachricht,  daß  die  noch  unerschaffenen  Wesen 
ihre  Bereitwilligkeit  in  die  Erscheinung  zu  treten,  schon 
im  Voraus  förmlich  ankündigen  mußten,  entnommen.  Diese 
Deutung  hat  Raschi  offenbar  aus  dem  Wortsinne  des  Aus- 
druckes \nyib  abgeleitet.  Ihm  bedeutet  der  Terminus  nicht 
etwa  auch  die  stumme,  latente  Bereitwilligkeit,  sondern 
die  vernehmbar  und  ausdrücklich  kundgegebene  Bejahung 
des  Willens  zur  selbstausgeführten  oder  auf  eigene  Ver- 
anlassung durch  Andere  vollzogene  Handlung. 

6)  Nur  ein  einzigesmal4)  wird  im  Verlaufe  der  Tal- 
mudischen Diskussion  dem  nmh  die  Bedeutung  einer  still- 
schweigenden Einwilligung  aufgezwungen,  um  den  Wider- 
spruch zwischen  zwei  halachischen  Normen   auszugleichen. 

»)  R.  H.  17  a. 

*)  DJTOl6  ist  wohl  nicht  eine  andere  Eigenschaft  außer  fnjnS 
sondern  blos  die  aramäische  Umschreibung  des  \tylb,  um  die  aga- 
dische  Deutung  an  DK31t  »ihr  Wollen«  anlehnen  zu  können.  Eine 
ähnliche  Erklärung  der  hebr.  Wurzel  xnit  Schemot  r.  25,  2  Ber.  r. 
10,  5  und  Pseudoraschi  das.  Tanch.  CßBB'D  17.  nxi  8.  \V2)t  bedeutet 
nirgends  Schönheit,  Pracht,  sondern  ausschließlich  Willen,  Wohlwollen. 
Vgl.  R.  H.  Tos.  Schw.  Anuch  sst  und  J.  Levy  Chald.  Wb.  106.  II,  312. 

3)  Beth  Talmud  II,  134. 

*)  Erubin  82b.  Vgl.  D">"irtK  DJH  hv  VTO  Arachim  23  a  u,  Raschi 
das.  in:  rt  nex«>. 


Der  Selbstmord    nach  der  Halacha.  293 

Aber  auch  da  geht  die  Erörterung  von  der  allgemeinen 
Annahme  aus  p«  nc«i  i&6  ssa  ,ojiihö,  daß  man  unter  ny]b 
die  ausdrücklich  abgegebene  Willenserklärung  zu  ver- 
stehen habe1). 

Von  dem  Begriffumfange  des  \r\yib  hängt  nun  die  ge- 
naue Bestimmung  des  \r\yib  *6tP  ab,  welches  niemals  den 
konträren,  sondern  ausschließlich  den  kontradiktorischen 
Gegensatz  zu  \r\yib  bildet.  Schließt  \r\yib  auch  die  ver- 
schwiegene Einwilligung  zur  Tat  in  sich  ein,  dann  be- 
deutet \r\yib  nbw  die  ausgesprochene  Verwahrung.  Ist  aber 
unter  \nyib  im  allgemeinen  wie  auch  beim  Selbstmorde 
mors  voluntaria  die  kundgegebene  freie  Willensäuße- 
rung zu  verstehen,  dann  ist  nyib  abv  nicht  das  Gegenteil, 
sondern  die  bloße  Verneinung  des  r\yib.  Der  nicht  ge- 
äußerte Wille,  heißt  auch  nyib  xbw2). 

Es  darf  also  als  gesichertes  Resultat  festgestellt  wer- 
den, daß  der  Begriffsinhalt  des  r\yib  sich  aus  zwei  not- 
wendigen Elementen  zusammensetzt:  einmal,  daß  die  Tat 
freiwillig,  aus  eigener  Entschließung,  ohne  Eingriff  zwin- 
gender Motive  oder  Kräfte  von  Außen  vollzogen  werde, 
und  ferner  daß  diese  Spontaneität  des  Willens,  ehe  er  durch 
die  Tat  zur  Erscheinung  gelangt,  auf  unzweideutige  Art 
geoffenbart  werden  müsse.  Wo  eines  dieser  Kriterien  fehlt, 
ist  die  Annahme  geboten,  daß  die  Tat  nicht  aus  freiem 
Willen  erfolgte,  wodurch  die  Verantwortlichkeit  und  Straf- 
barkeit des  Täters  aufhört,  oder  daß  die  Tat  von  einem 
Andern  verübt  worden  sei,  wenn  auch  der  Schein  noch  so 
nötigend  für  den  Selbstmord  zeugt.  Dazu  tritt  noch,  was 
aber  nicht  in  den  Begriffskreis  des  nyib  gehört,  als  drittes 
Moment  hinzu,  daß  der  Zusammenhang  zwischen  der  An- 

')  Erubin    82b    ähnlich    Keritut    13b:    -IDK1  1K1?  pX"6    »bv  'KD 

Wh  khj  Km. 

2)  Ähnliche    Bezeichnungen     dieser    Begriffesgegensätze     sind 

lms  by  —  ry-\b,  px-6  *bv  —  [snfc  Jeb.  14,  l.  ,ijm  ^-k  ik  —  r\t\\ 
lrmton  xbv  —  itdiüs. 


294  Der  Selbstmord    nach  der  Halacha. 

kündigung  des  freien  Willens  und  der  Ausführung  des- 
selben ein  so  enger  und  überzeugender  sein  müsse,  daß 
der  urteilende  Richter  dem  logischen  Zwange  unterworfen 
sei,  in  der  Tat  den  unmittelbaren  Einfluß  des  freien  Wil- 
lens und  im  freien  Willen  das  bestimmende  Motiv  der  Tat 
zu  erblicken.  Wo  auch  nur  eines  dieser  drei  Merkmale  fehlt, 
muß  darauf  erkannt  werden,  daß  die  Tat  nicht  in  die  Ka- 
tegorie des  Selbstmordes  gehört. 

Hätte  die  Halacha  zuerst  die  allgemeine  abstracte 
Regel  aufgestellt,  um  dann  die  allgemeine  Bestimmung  mit 
dem  einleitenden  ws  auf  spezielle  Fälle  anzuwenden,  so 
wäre  der  Sinn  des  nvih  'V  'o  wohl  nie  strittig  gewesen. 
Sie  schlägt  aber  hier,  wie  auch  sonst  so  oft  den  umge- 
kehrten Weg  ein.  Sie  führt  einige  konkrete  Beispiele  vor, 
um  dann  aus  den  gegebenen  Fällen  die  entscheidende  De- 
finition abzuleiten.  Aus  den  angeführten  Beispielen  geht 
aber  mit  Gewißheit  hervor,  daß  sie  die  Definition  des 
Selbstmordes  nach  den  oben  angegebenen  Prinzipien  kon- 
stituiert hat.  Die  Beispiele  lauten: 

a)  Ist  jemand  erdrosselt  an  einem  Baume  aufgehängt 
oder  erstochen  über  seinem  Schwerte  hingestreckt  gefun- 
den worden,  nyib  nbw  ibjw  T3Kon  ripma  n?  nn,  da  gilt  die 
Voraussetzung,  daß  hier  kein  Selbstmord  vorliegt1).  Ob- 
schon  die  Indizien  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  für  einen 
Selbstmord  sprechen  —  er  liegt  über  seinem  Messer  — 
muß  doch  eher  der  Vermutung  Raum  gegeben  werden, 
daß  ein  anderer  den  Mord  an  ihm  begangen  habe.  Es  wer- 
den ihm  also  die  Ehren  der  Bestattung  nicht  verweigert. 
Dasselbe  gilt  für  einen,  der  ins  Meer  gefallen,  den  der 
Strom  fortgeschwemmt  oder  wilde  Tiere  zerrissen    haben2). 

b)  Ist  jemand  vor  unseren  Augen  auf  den  Wipfel 
eines  Baumes  geklettert,  hinuntergefallen  und  gestorben, 
oder    auf    die    Spitze    eines  Daches  gestiegen,  hinunterge- 

l)  Setnachot  2,  3.  Es  muß  pjttiö  pKl  gelesen  werden. 
»)  Das.  2,  8. 


Der  Selbstmord    nach  der  Halacba.  295 

stürzt  und  gestorben,  wird  nicht  auf  Selbstmord  erkannt1). 
Hier  ist  die  Tat  wohl  gesehen,  aber  die  Ankündigung  der 
Freiwilligkeit  nicht  gehört  worden. 

c)  Hat  jemand  erklärt:  Ich  steige  auf  die  Spitze  des 
Daches  oder  des  Baumes,  stürze  mich  hinunter,  um  zu 
sterben  —  Kundgebung  des  freien  Entschlusses  —  und 
man  sah  ihn  auf  die  Spitze  des  Daches2)  oder  des  Baumes 
steigen,  zu  Boden  stürzen  und  sterben  —  enges  Nachein- 
ander und  Zusammenhang  der  Folge  mit  dem  Grunde  — 
der  allein  gilt  als  Selbstmörder,  dem  alle  Ehrenbezeugun- 
gen, die  man  dem  Leichnam  zu  erweisen  hat,  verweigert 
werden3).  Die  späteren  Codificatoren  haben  diese  Lehr- 
sätze nahezu  wörtlich4)  aufgenommen  und  zur  bindenden 
Norm  erhoben5). 

»)  Das.  2,  2. 

')  Das.  im  31*1  WXlb  muß  ergänzt  werden. 
8)  Das. 

*)  Maim.  'jsk  1,  fügt  zu  c  nblV  HK1  noch  DJJD  "|"H  TD  hinzu. 
Ihm  folgt  Karo  J.  D.  345,  2. 

»)  Maim.  tat  1,  T.  J.  D.  345. 


• 


Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  lesus  und  dem 
entstehenden  Christentum? 

Von  M.  Freimann. 

(Fortsetzung.) 
II. 

Auf  festerem,  weil  geschichtlichem  Boden  befinden  wir 
uns  bei  der  Prüfung  des  Verhaltens  des  Judentums  zu  dem 
entstehenden  Christentum.  Da  sind  wir  sogar  in  der  Lage, 
manche  bedeutsame  Darstellungen  der  Evangelien  zu  kon- 
trollieren und  des  ferneren,  zu  beobachten,  in  welcher  Weise 
und  zu  welchem  Zweck  die  mündlichen  Überlieferungen 
der  nazaräischen  Gemeinde  Jesu  in  der  apostolischen,  ins- 
besondere aber  in  der  nachapostolischen  Zeit,  teils  un- 
bewußt, teils  aber  infolge  herrschender  Voreingenommenheit, 
umgedeutet  wurden.  Es  wird  sich  uns  aber  auch  hier  er- 
geben, daß  man  nicht  berechtigt  sei,  von  einer  »jüdischen 
Verfolgung«  Jesu  und  des  entstehenden  Christentums  zu 
sprechen. 

Beginnen  wir  gleich  mit  der  Vorgeschichte  des  Christen- 
tums, mit  der  Johanneischen  Taufbewegung. 

Wie  sich  das  Judentum  zu  der  Hinrichtung  des 
Täufers  verhielt,  erfahren  wir  von  Josephus,  der  hierüber 
folgendes  berichtet :  »Diesen  hatte  nämlich  Herodes  töten 
lassen,  einen  vortrefflichen  Mann,  der  die  Juden  aufforderte, 
sich  der  Tugend  eifrig  zu  befleißigen,  gegen  einander  Ge- 
rechtigkeit, gegen  Gott  Frömmigkeit  zu  üben,  und  so  vor- 
bereitet, sich  zur  Taufe  zu  vereinigen;  denn  dann  werde 
die  Taufe  Gott  wohlgefällig  sein,  indem  sie  dieselbe  nicht  zum 
Zwecke  der  Sündenvergebung  anwendeten,  da  ja  ihre  Seele 


Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus  etc.  297 

schon  durch  ein  gerechtes  Leben  geheiligt  sei,  sondern  zur 
Heiligung  des  Leibes.  Da  nun  von  allen  Seiten  ihm  die 
Massen  zuströmten  —  sie  wurden  nämlich  durch  seine 
Rede  in  tiefste  Erregung  versetzt  —  begann  Herodes  zu 
fürchten,  die  hinreißende  Beredsamkeit  des  Mannes,  die 
eine  solche  Macht  auf  die  Menschen  ausübe,  könnte  leicht 
einen  Aufruhr  herbeiführen.  Er  hielt  es  daher  für  angezeigter, 
ihn  rechtzeitig  aus  dem  Weg  zu  räumen,  bevor  noch  irgend 
eine  Neuerung  von  ihm  ausgegangen,  als  später  nach  einer 
bereits  erfolgten  Umwälzung  die  Unschlüssigkeit  bereuen 
zu  müssen.  Auf  diesen  Argwohn  hin  wurde  Johannes  in 
Fesseln  gelegt,  nach  der  Festung  Machärus  gebracht  und 
daselbst  enthauptet.  Die  Juden  aber  hegten  die  Über- 
zeugung, daß  der  Tot  dieses  Mannes  die  Ursache  war  von 
dem  über  das  Heer  herein  gebrochenen  Verderben,  da  Gott 
dem  Herodes  zürnte«1). 

Der  Pharisäer  Josephus  verherrlicht  hier  förmlich  den 
Täufer  und  zeigt  uns,  in  welche  Stimmung  die  Hinrichtung 
desselben  die  Juden  versetzt  hatte.  Diese  waren  gegen 
Herodes  empört  und  sahen  in  der  Niederlage,  die  er  bald 
darauf  erlitt,  »eine  gerechte  Strafe  Gottes«,  weil  er  den 
»trefflichen  Mann«  hatte  tödten  lassen2). 

Die  Bewegung,  die  der  Täufer  hervorrief,  war  nicht 
nur  nach  der  Schilderung  der  Evangelien,  sondern  weit 
mehr  noch  nach  jener  des  Josephus  eine  mächtige,  und 
gleichwohl  standen  ihr  die  pharisäischen  Gesetzeslehrer 
indifferent  gegenüber:  nicht  die  leiseste  Erinnerung  an  die- 
selbe ist  in  den  Talmud  gedrungen. 

Die  Hinrichtung  des  Täufers  erfolgte,  wie  aus  des 
Josephus  historisch  treuer  Darstellung  zur  Gewißheit  her- 
vorgeht, aus  politischen  Gründen.  Der  Tetrarch  fürchtete, 

')  Ant.  XVIII,  5,  2. 

s)  Das.:  T0T5  Ss  'JouSaioti;  56?;  av  sxl  Tifxtopia  Tri  sxstvou 
tov    Ö^eö-pov    s*rct    tco    <TToa.TSuu.aTi    "(evtc&cLi,    toO    0eoö    y.axö; 

lHptO§7)    ftsXoVTO?. 


298  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

daß  die  Taufbewegung  zu  einem  Aufruhr  führen  könnte, 
und  er  beseitigte  den  Urheber  derselben  —  unter  starker 
Entrüstung  der  Juden. 

In  den  Evangelien  erfährt  dieser  Bericht  schon  eine 
dichterische,  aber  nicht  unbeabsichtigte  Ausschmückung. 
Die  Färbung  verrät  die  im  zweiten  Jahrhundert  herrschende 
Stimmung.  Hier  erscheint  der  Täufer  als  Vorbote  des  Messias 
und  eifernd  gegen  das  »Otterngezücht*  der  Pharisäer  und 
Sadduzäer.  Und  nicht  aus  Furcht  vor  Umwälzungen,  zu  denen 
die  von  ihm  hervorgerufene  Bewegung  führen  könnte, 
wird  er  von  dem  Vierfürsten  Herodes  ins  Gefängnis  ge- 
worfen und  enthauptet,  sondern  »wegen  der  Herodias,  des 
Weibes  seines  Bruders  Philippus.  Denn  Johannes  hatte  ihm 
gesagt,  es  ist  nicht  recht,  daß  du  sie  habest«1).  Und  nun 
folgt  die  romanhafte  Erzählung  von  dem  Töchterchen  der 
Herodias,  das  mit  seinem  Tanze  den  Vierfürsten  berückte 
und  zum  Lohne  das  Haupt  des  Johannes  auf  einer  Schüssel 
verlangte  und  erhielt.  Das  politische  Motiv  ist  hier  völlig 
unterdrückt.  Aus  leicht  begreiflichen  Gründen.  Der  Täufer 
durfte  nicht  als  Aufwiegler  sterben.  Wie  leicht  hätte  dies 
auf  die  Vermutung  leiten  können,  daß  auch  Jesus,  weil  er 
ähnliche  Besorgnisse  erregte,  von  dem  römischen  Land- 
pfleger gekreuzigt  worden  sei.  Liefen  doch  damals  alle  von 
den  falschen  Messiasen  erregten  Ansammlungen  auf  Em- 
pörung gegen  die  römischen  Tyrannei  hinaus.  —  Daher 
die  von  Josephus  abweichende  Darstellung  der  Evangelien. 
Daher  auch  die  phantasievolle  Erzählung  bei  Lucas  von 
der  Geburt  des  Täufers  und  seiner  Mutter  Beziehungen 
zu  Maria. 

In  der  Folge  wurden  sogar  den  ganz  präzise  lauten- 
den, über  die  Johanneische  Taufe  sich  verbreitenden  Worten 
des  Josephus  ein  ihnen  völlig  fern  liegender  Sinn  unter- 
schoben, um  sie  mit  dem  einschlägigen  evangelischen  Be- 
richte in  Einklang  zu  bringen.  Bei  Josephus  stellt  Johannes 

»)  Mt.  14,  3-21;  Mc.  6,  14-29;  Lc.  3,  19-20. 


und  dem  entstehenden  Christentum?  299 

an  die  Taufenden  die  Forderung:  »sich  eifrig  der  Tugend 
zu  befleißigen,  gegen  die  Menschen  Gerechtigkeit,  gegen 
Gott  Frömmigkeit  zu  üben,  und  so  vorbereitet,  sich 
zur  Taufe  zu  vereinigen;  denn  dann  werde  die 
Taufe  Gott  wohlgefällig  sein,  indem  sie  dieselbe 
nicht  zum  Zwecke  der  Sündenvergebung  an- 
wendeten, da  ja  ihre  Seele  sc  ho  n  durch  ein  geweihtes 
Leben  geh  ei  ligt  sei;  sondern  zur  Heiligung  des  Leibes«1). 
Hienach  hatte  die  Taufe  als  solche  keinerlei  Kraft  der 
Sündenvergebung,  sie  lag  vielmehr  in  der  vorhergegangenen 
inneren  Umwandlung  und  Heiligung. 

Was  aber  liest  im  dritten  Jahrhundert  Origenes  aus 
diesen  so  klaren  Worten  des  Josephus  heraus  ?  In  seiner 
Schrift  gegen  Celsus  sagt  er:  »Ich  will  Celsus  daran  erinnern, 
daß  ein  Geschichtschreiber,  der  kurz  nach  Johannes  und  Jesus 
lebte,  gleichfalls  erwähnt  hat,  daß  Johannes  gesandt  worden 
sei  zu  taufen  und  daß  er  zur  Vergebung  der  Sünden 
getauft  habe.  Im  achtzehnten  Buche  seiner  jüdischen  Alter- 
tümer bezeugt  er,  daß  Johannes  getauft  und  denen,  die 
sich  von  ihm  taufen  lassen  würden,  die  Vergebung  der 
Sünden  verheißen  habe*2). 

Hier  wird  also  Josephus  als  Zeuge  aufgerufen,  um 
zugunsten  der  evangelischen  Darstellung  das  Gegenteil 
von  dem,  was  er  tatsächlich  berichtete,  auszusagen.  Allein 
gegenüber  vielen  andern  Umdeutungen  stellen  sich  derartige 
Auslegungen  noch  immerhin  als  harmlose  Versuche  dar. 

Wir    haben    bereits    gesehen,    welche  Umdeutung  die 

l)  oütw  Y^p  xal  tyiv  ßdHcnanv  aTCoSsjcnriv  auTto  «pavetofl-at, 
(Ar)  iizl  tivcov  ä^apTaSwv  wapaiTYiffei  ypwaevwv,  aW  29'  ayveCa 
toQ  <7coy.aTO?,  &rs  Sri  xai  fYfe  ^uj^fte  StxaiornivYj  Tcposjotad-apjxivr)?. 

*)  Orig.  c.  Cels.  I,  47:  Öti  to,  'IwavvYiv  yz*(ov£va.i  ^OLTZiicvh, 
ü$  acpsötv  ajxap-r'/ijxdcTwv  ßae«fi£ovTCC,  ävsYpa^e  ti?  töv  [/.st'  oü 
xoVj  tou  'Iwavvou  xal  tou  'Itiou  ysYsv/ifxevwv.  'Ev  y*P  t<?  Ö)gtg>- 
xai^sjcdiTw  t%  'IouSaäyfc  äp^aioXoYia;  6  'Iwcr7i7Co;  |x«pirupeT  t$ 
'ItoavvT),  («)?  ßoMm<7T7i  YSY^'l^vw,  xai  **^pfflOV  f°Tl»  ßxTciTXjxevot;; 
e^aYYe^owivw. 


300  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

Predigt  Jesu  selbst  in  wesentlichen  Punkten  erfahren.  Hier 
ein  weiteres  markantes  Beispiel:  Jesus  sendet  seine  zwölf 
Apostel  aus  mit  der  bestimmten  Weisung:  »Gehet  nicht 
auf  der  Heiden  Straße  und  ziehet  nicht  in  der  Samariter 
Städte,  sondern  gehet  hin  zu  den  verlorenen  Schafen  aus 
dem  Hause  Israel«1).  —  Eines  Tags  melden  ihm  die  Jünger 
ein  kananitisches  Weib,  das  seine  Hilfe  in  Anspruch  nehmen 
will.  Er  erwidert  geärgert:  »Ich  bin  nicht  gesandt,  denn 
nur  zu  den  verlorenen  Schafen  aus  dem  Hause  Israel.«  Als 
aber  das  Weib  dennoch  kommt  und  vor  ihm  Hilfe  flehend 
niederfällt,  antwortet  er:  »Es  ist  nicht  fein,  daß  man  den 
Kindern    ihr    Brot    nehme    und  es  vor  die  Hunde  werfe«2). 

Man  mag  mit  Recht  bezweifeln,  ob  Jesus  solche  Eng- 
herzigkeit an  den  Tag  gelegt;  Tatsache  ist,  daß  solche 
Äußerungen  von  der  urchristlichen  Gemeinde,  die  so  ex- 
klusiv war,  überliefert  wurden.  Und  ebenso  gewiß  ist  es, 
daß  dieselben  landläufig  geworden  waren ;  sonst  würde  der 
Evangelist,  sie  nicht  aufgenommen  haben,  da  sie  ihm  höchst 
unbequem  sein  mußten.  Denn  ein  Evangelium,  das  darauf 
ausgeht,  die  heidnische  Welt  zu  gewinnen,  wird  seinem 
Verkünder  nicht  solche  die  nichtjüdische  Welt  weit  von  sich 
weisenden  Worte  in  den  Mund  legen. 

Wie  aber  finden  sich  die  Synoptiker,  die  sich  bereits 
von  den  Juden  abgewendet,  um  den  Heiden  das  Heil  zu 
verkünden,  mit  dieser  Überlieferung  ab  ?  Ganz  einfach.  Was 
der  lebende  Christ  anzudeuten  verabsäumt,  der  auferstandene 
holt  es  nach.  Er  erscheint  nach  seiner  Kreuzigung  den 
Jüngern  und  spricht  zu  ihnen:  »Gehet  hin  und  lehrt  alle 
Völker  und  tauft  sie  im  Namen  des  Vaters,  des  Sohnes 
und  des  heiligen  Geistes;  und  lehret  sie  halten  alles,  was 
ich  euch  befohlen  habe«3).  —  Lucas,  der  hier  den  Wider- 
spruch stärker  als  Mathäus  und  Markus  empfindet,  bemüht 

»)  Mt.  10,  5-6. 

»)  Mt.  15,  24—26. 

3)  Mt.  28,  19-20;  MC,  16,  15-16. 


und  dem  entstehenden  Christentum?  301 

sich,  ihn  abzuschwächen,  indem  er  den  auferstandenen 
Christ  sprechen  läßt:  »Also  ist's  geschrieben  und  also 
mußte  Christus  leiden  und  auferstehen  von  den  Todten 
am  dritten  Tag,  und  predigen  lassen  in  seinem  Namen 
Buße  und  Vergebung  der  Sünden  unter  allen  Völkern 
—  und  anheben  zu  Jerusalem«:1). 

Die  Botschaft  Jesu,  welche  die  nazaräische  Gemeinde 
aus  dem  Munde  des  Meisters  empfing  und,  mehr  oder 
minder  verstanden,  überlieferte,  hatte  im  Verlaufe  eines 
Jahrhunderts,  innerhalb  dessen  sie,  dank  der  intensiven 
Missionsarbeit  messianistischer  Diasporajuden  weite  Ver- 
breitung in  der  heidnischen  Welt  gefunden,  eine  gründliche 
Umgestaltung  erfahren.  Im  Heidentum  äußerte  sie  eine 
erstaunliche  Werbekraft.  Nicht  so  im  Judentum,  das  zuerst 
von  ihrer  Wahrheit  überzeugt  werden  sollte,  da  es  »den 
Vorzug  genoß,  daß  ihm  vertraut,  was  Gott  geredet 
hat«2),  »da  ihm  die  Kindschaft  gehört,  und  die  Herr- 
lichkeit und  der  Bund  und  das  Gesetz  und  der  Gottes- 
dienst und  die  Verheißungen,  und  aus  welchem  Christus 
herkommt«3).  —  Dieses  aber  blieb  ihr  nach  wie  vor,  zum 
mindesten  in  seinem  überwiegenden  pharisäischen  Teil, 
ferne  und  unerreichbar.  Die  ganze  Feindschaft  des  heid- 
nischen Christentums  kehrte  sich  sonach  naturgemäß  gegen 
das  ungläubige  und  widerstrebende  Judentum,  das,  blind 
gegen  die  christliche  Heilslehre,  Zeugnis  für  dieselbe  nicht 
ablegen  wollte.  Diese  Feindschaft  kommt  denn  auch  in  den 
kanonischen  Evangelien  zum  vollsten  Ausdruck.  —  Und 
sie  verraten  auch  darin  die  umarbeitende  Hand,  daß  in 
ihnen  nicht  die  »Schriftgelehrten  und  Pharisäer«  sondern 
Jesus  der  angreifende  und  herausfordernde  Teil  ist,  gegen 
dessen  vehemente  Angriffe  jene  sich  kaum  wehren.  Dieselbe 
passive    Rolle    spielen    auch    die  Juden    in  allen  uns  noch 

>)  Lc.  24,  46-47. 
>)  Rom.  3,  1—2. 
s)  Rom.  9,  3-5. 


302  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

erhaltenen,  zwischen  diesen  und  den  Christen  im  zweiten 
Jahrhundert  stattgehabten  Kontroversen.  Sie  sind  da 
überall  die  Herausgeforderten  und  verteidigen  nur  not- 
gedrungen und  ohne  Animosität  ihre  Positionen,  wäh- 
rend ihre  Gegner  die  ganze  Schale  ihres  Zornes  über 
sie  ausschütten.  In  diesem  Stile  sind  die  Wehrufe  Jesu 
gegen  die  »Schriftgelehrten  und  Pharisäer«  gehalten.  An 
den  ursprünglichen  evangelischen  Überlieferungen  wurde 
noch  im  zweiten  Jahrhundert  so  lange  herumkommentiert, 
bis  das  national-jüdische  Moment  aus  denselben  möglichst 
entfernt  und  der  Universalismus  völlig  herausgearbeitet  war. 
Und  diese  Arbeit  leistete  die  Großkirche  in  langem  Kampfe 
gegen  das  Judentum  und  den  Gnostizimus.  So  ist  es  denn 
nicht  ganz  aus  der  Luft  gegriffen,  wenn  der  Platoniker 
Celsus  noch  in  der  zweiten  Hälfte  des  zweiten  Jahrhunderts 
den  Christen  vorwirft,  es  gebe  Leute  unter  ihnen,  die  ihre 
Evangelien  drei-  und  viermal  verfälschen,  bis  sie  endlich 
das  sagen,  was  ihnen  gut  dünkt,  um  ihre  Widersacher 
widerlegen  zu  können1). 

Aus  derartigen  von  einer  späteren  Zeit  an  manchen 
Aussprüchen  Jesu  und  an  alten  Überlieferungen  vorgenom- 
menen Umdeutungen  entsprangen  die  vielen  Widersprüche, 
an  denen  die  Evangelien  leiden  und  vornehmlich  aus  dem 
Umstände,  daß  einzelne  dieser  Aussprüche,  weil  sie  schon 
landläufig  geworden,  in  ihrer  ursprünglichen  Form  belassen 
bleiben  mußten. 

Am  anschaulichsten  lernen  wir  das  Verhalten  des 
Judentums  und  seiner  Gesetzeslehrer  zur  Gemeinde  Jesu 
kennen  und  andererseits  die  Methode  beurteilen,  nach 
welcher  geschichtliche  Überlieferungen  umgemodelt  wurden, 
bis  sie  nicht  selten  gerade  das  Gegenteil  von  dem,  was 
sie  ursprünglich  meldeten,  berichten:  in  der  Behandlung, 
welche  die  Steinigung  des  Jacobus,  des  Bruders  Jesu, 
erfahren. 


!)  Orig.  contra  Cels.  II,  2. 


und  dem  entstehenden  Christentum  ?  303 

Der   rein   geschichtliche,    von    Josephus    geschilderte 
Hergang  ist  der  folgende. 

»Der  jüngere  Ananus,  von  dessen  Erhebung  zum 
Hohenpriester  wir  gesprochen  haben,  war  von  heftiger  und 
höchst  verwegener  Gemütsart.  Dabei  gehörte  er  zur  Sekte 
der  Sadduzäer,  die,  wie  schon  früher  bemerkt,  im  Gerichte 
liebloser  als  alle  anderen  Juden  verfahren.  Zur  Befriedigung 
seiner  Hartherzigkeit  glaubte  Ananus,  da  Festus  gestorben, 
Albinus  aber  noch  nicht  angekommen  war,  eine  günstige 
Gelegenheit  gefunden  zu  haben.  Er  versammelte  den  hohen 
Rat  zum  Gerichte  und  stellte  vor  denselben  den  Bruder 
des  Jesus  [der  Christus  genannt  wird],  Jacobus  mit  Namen, 
nebst  noch  einigen  Anderen,  klagte  sie  als  Übertreter  des 
Gesetzes  an  und  ließ  sie  zur  Steinigung  verurteilen.  Darüber 
jedoch  wurden  selbst  die  eifrigsten  und  dem  Gesetze 
ergebensten  Bürger  vom  tiefsten  Unwillen  erfaßt1).  Sie 
schickten  daher  heimlich  Abgesandte  an  den  König  und 
baten  ihn,  Ananus  brieflich  zu  verwarnen,  damit  ähnliche 
Dinge  sich  nicht  wiederholen;  denn  was  er  getan,  sei 
ein  schweres  Unrecht  gewesen.  Einige  von  ihnen  gingen 
sogar  Albinus  entgegen,  der  von  Alexandria  kam  und 
stellten  ihm  vor,  daß  Ananus  ohne  seine  Genehmigung 
den  hohen  Rat  zum  Gericht  einzuberufen,  nicht  berechtigt 
gewesen.  Auf  diese  Anklage  hin  schrieb  Albinus  an  Ananus 
im  tiefsten  Zorn,  ihm  schwere  Strafe  androhend.  Und  der 
König  Agrippa  entsetzte  ihn  schon  nach  dreimonatlicher 
Funktion  seines  Amtes«2). 

Kein  unvoreingenommener  Forscher  wird  die  Richtigkeit 
dieser  Darstellung,  die  einen  schlagenden  Beweis  für  unsere 
Auffassung  liefert,  anfechten  wollen.  Und  nun  überlege  man: 
der  Jude  Josephus,  Parteigänger  der  Pharisäer,  welche 
letzteren  seit  dem  Beginne  des  zweiten  Jahrhunderts    von 

1)    5(JOl    Se    eSoXOUV    £7USlXS<J"*XTOt    TÖW    Y.V.-ZX   TflV    7r6Xtv    eivcu, 

xal  Ta  ttept  tou;  vöjx.ou;  äxptßeT;,  ßapsox;  -fiveYxav  iizl  toutoi 
s)  Ant.  XX,  9,  1. 


304  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

der  Kirche  als  die  grimmigsten  Verfolger  Jesu  und  seiner 
Gemeinde  hingestellt  werden,  verurteilt  nicht  nur  in  ent- 
schiedenster Weise  das  an  Jacobus  verübte  Verbrechen; 
er  berichtet  des  weiteren,  daß  die  frommen  und  gesetzes- 
eifrigsten Juden  auf  das  tiefste  über  dasselbe  empört  waren 
und  Sühne  verlangten. 

Dieser  Bericht  des  Josephus  erfuhr  um  die  Mitte  des 
zweiten  Jahrhunderts,  wo  die  allgemeine  Kirche  bereits  aus 
den  Kämpfen  gegen  das  jüdische  Christentum  einerseits 
und  den  Gnostizismus  andererseits  als  Siegerin  hervor- 
gegangen war,  eine  vollständige  Umarbeitung.  Zunächst 
durch  Hegesipp.  Es  ist  ein  ganzer  Roman,  der  uns  jetzt 
geboten  wird,  der  die  Tendenz  verfolgt,  die  Steinigung  des 
Jacobus  den  Pharisäern  zur  Last  zu  legen.  Hegesipps 
Hypomneumata  sind  nicht  mehr  auf  uns  gekommen,  ver- 
mutlich weil  sie  Nachrichten  enthielten  und  Anschauungen 
vertraten,  die  der  Großkirche  nicht  mehr  förderlich  erschienen, 
und  so  teilten  sie  das  Los  unzähliger  anderer  in  jener  Zeit 
abgefaßter  religionsgeschichtlicher  Werke.  Aber  Eusebius 
hat  uns  manche  Bruchstücke  daraus  erhalten,  zumal  solche, 
die  in  seine  Darstellung  paßten,  und  er  berichtet  über  die 
Steinigung  des  Jacobus  wie  folgt:  »Am  genauesten  schildert 
das  Schicksal  des  Jacobus  Hegesipp,  welcher  der  Apostel- 
zeit am  nächsten  lebte,  im  fünften  Buche  seiner  Kommen- 
tarien, wo  erfolgendes  berichtet:  Gemeinsam  mit  den  Aposteln 
übernahm  die  Leitung  der  Gemeinde  der  Bruder  des  Herrn, 
Jacobus,  der  zum  Unterschied  von  vielen  anderen  desselben 
Namens  der  Gerechte  genannt  wurde.  Dieser  war  schon 
im  Mutterleib  heilig.  Er  trank  weder  Wein  noch  sonst 
scharfes  Getränk,  noch  nährte  er  sich  von  Fleischkost . . . 
Ihm  allein  war  gestattet,  in  das  Heiligtum  einzugehen.  Er 
trug  kein  wollenes  sondern  ein  Leinengewand.  Er  ging 
immer  allein  in  den  Tempel,  wo  man  ihn  auf  den  Knien 
liegend  und  Gott  für  das  Volk  um  Vergebung  flehen  sehen 
konnte.  —  Wegen    seiner   außerordentlichen  Gerechtigkeit 


und  dem  entstehenden  Christentum?  305 

wurde  er  der  Gerechte  genannt.  —  Einige  nun  von  den 
sieben  Sekten  im  Volke  —  fragten  ihn,  welches  die  Tür 
Jesu  sei  und  er  entgegnete  ihnen,  dieses  sei  der  Erlöser. 
Denn  einige  hatten  geglaubt,  daß  Jesus  der  Messias  sei. 
Die  genannten  Sekten  aber  glauben  weder  an  eine  Aufer- 
stehung, noch  daß  einer  kommen  werde,  jedem  nach  seinen 
Werken  zu  vergelten.  Wer  aber  gläubig  geworden,  ward  es 
durch  Jacobus.  Da  nun  auch  viele  von  den  Häuptern 
des  Volkes  glaubten,  so  entstand  unter  den  Juden,  Schrift- 
gelehrten  und  Pharisäern  eine  Unruhe,  und  sie  sagten, 
es  scheine,  daß  das  ganze  Volk  Jesum  als  den  Christ 
erwarte.  Sie  gingen  daher  zu  Jacobus  und  sagten  zu  ihm: 
wir  bitten  dich  das  Volk  zurückzuhalten,  da  es  inbetreff 
Jesu  die  irrige  Meinung  hegt,  er  sei  der  Christ.  Wir  bitten 
dich,  alle  zum  Passahfest  Erscheinenden  betreffs  Jesu  auf 
den  richtigen  Weg  zu  bringen,  damit  es  nicht  irregehe.  — 
Stelle  dich  auf  die  Spitze  des  Tempels,  damit  dich  alle 
sehen  und  das  ganze  Volk  dich  höre.  Die  genannten 
Schriftgelehrten  und  Pharisäer  stellten  ihn  auf 
die  Spitze  des  Tempels  und  riefen  ihm  die  Worte  zu:  du 
Gerechter,  dem  wir  alle  glauben  müssen,  da  das  Volk  in 
seinem  Irrtum  dem  gekreuzigten  Jesus  folgt,  sage  uns, 
welches  ist  die  Türe  Jesu,  des  Gekreuzigten?  Da  antwortete 
Jacobus  mit  lauter  Stimme:  was  fragt  ihr  mich  wegen  Jesus, 
des  Menschen  Sohn?  Er  sitzt  im  Himmel  zur  Rechten  der 
großen  Kraft  und  wird  einst  mit  den  Wolken  des  Himmels 
kommen.  Da  ihm  nun  viele  beistimmten  und  Jesum  wegen 
des  Zeugnisses  des  Jacobus  priesen  und  riefen:  Hosana  dem 
Sohne  David,  da  sprachen  wieder  dieselben  Schriftge- 
lehrten und  Pharisäer  zu  einander:  wir  haben  es 
schlimm  angefangen,  Veranlassung  zu  einem  solchen  Zeugnis 
für  Jesus  zu  geben;  laßt  uns  hinaufgehen  und  ihn  hinab- 
werfen, damit  sie  sich  fürchten  und  ihm  nicht  glauben! 
Und  sie  riefen  und  schrien:  0,  auch  der  Gerechte  steckt 
im  Irrtum!    Und  sie  erfüllten  das  Prophetenwort:  laßt  uns 

Monatitchrift,  55.  Jahrgang.  20 


306  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

den  Gerechten  aus  dem  Wege  schaffen,  denn  er  ist  uns 
hinderlich;  sie  werden  aber  die  Frucht  ihrer  Werke  genießen. 
Sie  gingen  demnach  hinauf,  warfen  den  Gerechten  herab 
und  sprachen  zu  einander:  Laßt  uns  Jacobus  den  Gerechten 
steinigen.  Und  sie  begannen  ihn  zu  steinigen;  denn  er  war 
noch  nicht  tod,  sondern  hatte  sich  umgewandt  nach  dem 
Sturze  und  betete  auf  den  Knien:  Ich  bitte  Dich  Herr,  Gott 
Vater,  vergib  ihnen,  denn  sie  wissen  nicht  was  sie  tun. 
Während  sie  ihn  so  steinigten,  rief  einer  von  den  Priestern 
von  den  Söhnen  des  Rachab  des  Sohnes  Rechabim,  von 
welchem  der  Prophet  Jeremia  Zeugnis  ablegt:  haltet  ein! 
was  tut  ihr?  der  Gerechte  betet  für  euch.  Da  nahm  einer 
von  ihnen,  ein  Walker,  ein  Holz  und  schlug  damit  den 
Gerechten  auf  den  Kopf.  Auf  diese  Art  fand  Jacobus  den 
Märtyrertod.  Sie  begruben  ihn  auf  demselben  Platze,  und 
noch  jetzt  ist  sein  Grabmal  bei  dem  Tempel  zu  sehen. 
Dieser  Jacobus  ist  Juden  und  Griechen  ein  wahrhaftiger 
Zeuge  geworden,  daß  Jesus  der  Messias.  —  Kurz  darauf 
überzog  Vespasian  Judäa  mit  Krieg  und  führte  seine  Be- 
wohner in  die  Gefangenschaft«1). 

Soweit  der  von  Eusebius  ausgezogene  Bericht  des 
Hegesipp  über  die  Steinigung  des  Jacobus. 

Jeder  Unbefangene  wird  hier  leicht  herausfinden,  wo 
Wahrheit  und  wo  Dichtung ;  wo  historische  Treue  und 
wo  Tendenz.  Und  doch  ist  die  Kirchengeschichte  der  Dar- 
stellung des  Hegesipp  gefolgt  und  hat  dieselbe  bis  auf  den 
heutigen  Tag  das  Feld  behauptet.  Es  ist  kein  Zweifel,  daß 
der  dichterischen  Schilderung  des  Hegesipp  Josephus  als 
Quelle  gedient  hat.  Und  wie  frei  hat,  um  die  Mitte  des 
zweiten  Jahrhunderts,  Hegesipp  mit  dem  überlieferten  Stoff 
geschaltet!  Bei  Josephus  ist  der  Mörder  des  Jacobus  ein 
hartgeherzter,  gewalttätiger  sadduzäischer  Hoherpriester ; 
bei  Hegesipp  legt  sich  ein  Priester  ins  Mittel  zugunsten 
des  Märtyrers.     Bei    dem    ersteren    sind  es  gerade  die  eif- 

')  Euseb.  H.  E.  II,  23. 


und  dem  entstehenden  Christentum?  307 

rigsten  Juden,  ihre  Schriftgelehrten,  »die  dem  Gesetze 
Ergebensten«,  welche  am  tiefsten  entrüstet  sind  über 
die  Steinigung  des  Jacobus  und  ungestüm  Bestrafung  des 
Urhebers  verlangen  ;  bei  dem  letzteren  sind  die  »Schrift- 
gelehrten und  Pharisäer«  die  einzig  Schuldigen  :  sie  spre- 
chen das  Urteil  über  Jacobus  und  legen  selbst  Hand  an 
ihn.  —  Wir  befinden  uns  eben  im  zweiten  Jahrhundert, 
in  welchem  immer  und  überall,  wo  die  Christusgemeinde, 
sei  es  im  Innern  durch  häretische  Sekten,  sei  es  von 
außenher,  zu  leiden  hat,  die  Urheber  und  Übeltäter  die 
»Schriftgelehrten  und  Pharisäer«  sind. 

Aber  damit  hat  die  Sache  noch  keineswegs  eine  end- 
giltige  Erledigung  gefunden.  Der  Bericht  des  Josephus  war 
einmal  da,  und  obgleich  er  der  Darstellung  des  Hegesipp 
stracks  widersprach,  durfte  er  doch  nicht  beseitigt  werden, 
da  er  ja  Zeugnis  für  die  Steinigung  des  Jacobus  ablegte. 
Da  galt  es,  die  Hauptdifferenz  in  beiden  Darstellungen  zu 
beseitigen,  die  darin  lag,  daß  Hegesipp  die  Urheber  der 
Steinigung  ganz  anderswo  sucht  als  Josephus.  Und  nun 
begann  die  Auslegungs-  und  Unterlegungsarbeit.  Es  mußte 
irgendwie  eine  Übereinstimmung  zwischen  beiden  ange- 
bahnt werden. 

Wir  haben  bereits  an  einem  Beispiel  gezeigt,  wie 
Origenes  die  Auffassung  der  Johanneischen  Taufe  zur 
Übereinstimmung  mit  der  evangelischen  zwingt.  Nach  der- 
selben Methode  wird  auch  hier,  inbezug  auf  die  Steinigung 
des  Jacobus,  vorgegangen.  Origenes  liest  eben  aus  Jo- 
sephus heraus,  was  dieser  niemals  niedergeschrieben  ;  er 
liest  ihn  eben  mit  dem  Hegesipp'schen  Kommentar.  Im 
ersten  Buche  gegen  Celsus  sagt  er  wörtlich  :  »da  Jo- 
sephus, der  doch  Jesum  nicht  als  den  Christ 
anerkannt1),   nach    den  Ursachen  forscht,   warum  Jeru- 

*)  Hier  zeigt  sich  unwiderleglich,  daß  die  vielbekannle  Christus- 
stelle bei  Josephus  Ant.  XVIII,  3,  3  eine  später  eingeschobene,  da 
Origenes  sie  noch  nicht  kennt.    Er   würde   sie    sonst    sicher    immer 

20* 


308  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

salem  zerstört  und  der  Tempel  eingeäschert  wurde,  so 
sagt  er  zwar  nicht,  was  er  sagen  sollte,  daß  nämlich 
dieses  Unglück  die  Juden  betroffen,  weil  sie  Jesus  ver- 
folgt und  den  von  den  Propheten  verheißenen  Messias  ge- 
kreuzigt haben,  er  kommt  aber  gleichwohl  der  Wahrheit 
nahe.  Denn  er  sagt:  dieses  Elend  sei  den  Juden 
darum  wi  de  rf  ah  ren,  damit  der  Tod  desJacobus, 
des  Gerechten,  der  ein  Bruder  Jesu  war,  den  man  den 
Christ  nannte,  an  ihnen  gerächt  werde,  den  sie  un- 
geachtet seiner  großen  Frömmigkeit  und  Gerechtigkeit  hin- 
gerichtet hatten«1).  Und  im  zweiten  Buche  gegen  Celsus 
wiederholt  Origenes  diese  Behauptung,  bemerkend :  »Jo- 
sephus  meint,  dieses  Unglück  habe  die  Stadt  Jerusalem 
betroffen,  weil  die  Juden  Jacobus  den  Gerechten,  den 
Bruder  Jesu,  genannt  der  Christ,  getötet  haben«2). 

Das  aber  ist  bei  Josephus  nirgends  zu  finden.  Es  ist  viel- 
mehr in  ihn  hineingelesen  worden,  um  den  zwischen  seinem 
und  Hegesipps  Jacobusberichte  herrschenden  krassen  Wider- 
spruch wenigstens  einigermaßen  zu  verschleiern  und  dem 
Judentum  die  Schuld  für  die  Steinigung  des  Jacobus  zur 
Last  zu  legen.  Denn  das  verlangten  die  Zeitverhältnisse, 
aus  denen  heraus  Hegesipp  schrieb.  Darum  deutet  auch 
Hegesipp  an,  daß  der  Untergang  Jerusalems  die  Strafe  war 
für  das  von  den  Juden  an  Jacobus  begangenen  Verbrechen; 
indem    er   seinen  Bericht  mit  den  Worten  schließt:    »Kurz 


wieder  aufgerufen  und  gewiß  nicht  behauptet  haben,  Josephus  habe 
Jesum  nicht  als  den  Christ  anerkannt:  xairoi  vs  ärciTTöW  t<3  'Ititoü 
w?  yjpiGTÜ.  Während  doch  Josephus  in  der  eingeschobenen  Stelle 
Jesus  fast  ins  Übermenschliche  erhebt,  erklärend,  er  sei  der  Christ : 
6  £pt?To;  outo;  tjv. 

')  Orig.  c.  Cels.  I,  47:  6  Üi  [Wot/ito;],  xxl  ««rrcep  or/.cov  o-i 
{jLaxfav  Tr&  aXv)^sia?  y£v^svo;,  (pvjrrl  txuto.  <7'j(Aßsßyi"/.evai  toT; 
'Iouöxiot;  xar'  sxöuajffiv  Maxwßou  to-j  oV/.afou,  o;  r,v  ä&sXpö;  lr,ToO 

TOU  'XsyojJ'-SVO'J  /jHTTOO,  STCSlS'OTCSp  öY/tXIOTXTOV   XÜTÖV  OVT3C  aTCiXT  EIVXV. 

■j  ib.  II,  13:  a>;  jjlsv  Iio?7)tco<;  XP*?81j  ^'*  'I&Koßov  rdv  &XKIOV, 

tov  aSeX<pöv  'Iy)7ox  toO  Xsyoaevou  ^ptTTOü  xtX. 


und  dem  entstehenden  Christentum  ?  309 

darauf  überzog  Vespasian  Judäa  mit  Krieg  und  führte  seine 
Bewohner  in  die  Gefangenschaft«.  Eine  Behauptung,  der 
Origenes  widerspricht,  das  Unglück,  meint  er,  sei  vielmehr 
von  den  Juden  dadurch  herbeigeführt  worden,  daß  sie  Je- 
sum  verfolgten  und  kreuzigten. 

So  blieb  es  denn  dabei,  daß  die  Juden  Jacobus  ge- 
steinigt und  daß  Josephus  selber  diese  Tatsache  verzeichnet 
habe.  Das  schreibt  denn  auch  Eusebius  dem  Origenes  nach, 
indem  er  zu  dem  von  ihm  zitierten  Berichte  des  Hegesipp 
bemerkt:  »Jacobus  aber  stand  in  so  hohem  Ansehen  und 
in  solchem  Rufe  wegen  seiner  Gerechtigkeit  bei  allen,  daß 
auch  die  Verständigeren  unter  den  Juden  glaubten,  daß 
sein  Märtyrertod  die  Ursache  der  bald  erfolgten  Belagerung 
von  Jerusalem  gewesen  und  daß  diese  aus  keinem  andern 
Grunde  erfolgt  sei  als  wegen  der  an  Jacobus  begangenen 
Blutschuld.  Josephus  wenigstens  trägt  kein  Be- 
denken, dieses  auch  zu  behaupten,  wenn  er 
sagt:  »dieses  traf  die  Juden  als  Strafe  dafür,  daß  sie 
an  Jacobus  dem  Gerechten,  welcher  war  ein  Bruder  Jesu, 
des  sogenannten  Christus,  gefrevelt:  denn  ihn  hatten  die 
Juden,  obwohl  er  ein  gerechter  Mann  war,  getötet«1). 

Nun  erfahren  wir  auch,  durch  wen  in  den  Jacobus- 
bericht  des  Josephus,  »welch  letzterer  doch  Jesum  nicht  als 
den  Christ  kannte«,  die  Worte:  »Jacobus  der  Bruder  Jesu, 
Christus  genannt«,  eingeführt  wurden.  Soviel  uns  be- 
kannt, ist  Origenes  der  erste,  der  sie  in  den  Josephus 
hineinlas. 

Wir  sind  also  in  der  Lage,  an  zwei  der  bedeutsamsten, 

J)  Dasselbe  wiederholt  auch  Hieronymus  im  ersten  Buch  gegen 
Jovinianus:  »Jacobus«  —  sagte  er—  »der  Bruder  des  Herrn  genannt, 
war  so  heilig,  gerecht  und  jungfräulich,  daß  der  jüdische  Geschicht- 
schreiber Josephus  behauptet,  Jerusalem  habe  sich  durch  sein  Blut 
den  Untergang  zugezogen  :  Transeamus  ad  Jacobum,  qui  frater  Domini 
dicebatur,  tantae  sanctitatis  tantaeqae  justitiae  et  perpetuae  virginitatis, 
ut  Josephus  quoqae  historicus  Indaeorum  propter  huius  necem 
Jerosolymam  subuersam  referat. 


310  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

aus  der  Urzeit  des  Christentum  uns  überlieferten  histori- 
schen Geschehnissen  das  Verhalten  des  pharisäischen  Ju- 
dentums zum  Christentum  zu  prüfen  und  gleichzeitig  die 
ursprüngliche  Version  in  der  ihr  im  zweiten  Juhrhundert 
gewordenen  Beleuchtung  zu  sehen.  Und  welches  ist  das 
Resultat,  das  sich  aus  dieser  Zusammenstellung  ergibt?  Ein 
doppeltes:  zunächst,  daß  die  ältesten,  über  den  Täufer  und 
über  Jacobus  bei  Josephus  uns  erhaltenen  Nachrichten  nicht 
nur  nichts  von  einer  jüdischen  Verfolgung  der  Verkünder 
der  neuen  Lehre  wissen,  daß  sie  im  Gegenteil  von  Sym- 
pathien berichten,  die  das  gesetzestreue  Judentum  der  ur- 
christlichen Bewegung  entgegenbrachte  und  von  einer  tief- 
gehenden Entrüstung,  die  es  gegen  die  Verfolger  derselben 
erfüllte.  Auf  der  andern  Seite  zeigt  sich  die  christliche 
Darstellung  derselben  Begebenheiten  von  der  ins  Auge 
springenden  Tendenz  beherrscht,  das  Judentum  in  den  ent- 
schiedensten Gegensatz  zum  Christentum  zu  stellen  und 
ihm  tötlichen  Haß  gegen  das  letztere  zu  unterschieben. 
Diese  so  unentwegt  und  so  konsequent  verfolgte  Tendenz 
hat  es  schließlich  dahin  gebracht,  daß  das  Urteil  über  das 
Verhalten  des  Judentums  zum  Urchristentum  vollständig 
getrübt  wurde,  daß  das  Verständnis  für  die  gegenteilige 
Darstellung  des  Josephus  und  für  mancherlei  mit  dieser 
übereinstimmende  Andeutungen  in  den  neutestamentlichen 
Schriften  immer  mehr  abhanden  kam,  und  daß  für  alle 
Zeiten  die  Urfeinde  des  Christentums:  »die  Schriftgelehrten 
und  Pharisäer«  blieben.  Die  Richtigkeit  der  Angaben  des 
Josephus  vermögen  nur  noch  jene  zu  würdigen,  welche 
die  pharisäischen  Gesetzeslehrer  und  die  innerhalb  des 
pharisäischen  Judentums  im  Zeitalter  Jesu  herrschenden 
religiösen  Bestrebungen  aus  dem  Talmud  kennen.  Diese 
werden  es  aber  auch  nicht  mehr  paradox  finden,  daß  die 
pharisäischen  Gesetzeslehrer,  die  in  ihrer  eigenen  Mitte 
gegen  ketzerische,  gesetzesverachtende,  die  Auferstehung 
leugnende    und    ditheistisch    gerichtete    Juden    schwer    zu 


and  dem  entstehenden  Christentum?  311 

kämpfen  hatten,  Sympathien  für  die  asketisch-frommen 
Messianisten,  die  treu  zum  Gesetz  hielten,  den  Glauben  an 
die  Auferstehung  zum  Kardinaldogma  machten,  den  einigen 
Gott  Abrahams,  Isaaks  und  Jacobs  anbeteten,  empfunden 
haben  sollten.  —  Die  Apostelgeschichte  ist  in  diesem  Falle 
sicherlich  eine  völlig  unverdächtige  Zeugin.  Sie  erzählt  von 
einem  Volksauflauf,  der  gegen  die  Apostel  von  den  Hohen- 
priestern und  den  Sadduzäern  hevorgerufen  wurde.  Jene 
wurden  vor  den  Rat  gestellt.  »Da  stand  aber  auf  im  Rat  ein 
Pharisäer  mit  Namen  Gamliel,  ein  Schriftgelehrter,  in  Ehren 
gehalten  von  allem  Volk  und  hieß  die  Apostel  ein 
wenig  hinausgehen  und  sprach  zu  ihnen:  »Ihr  Männer  von 
Israel,  nehmt  euer  selbst  wahr  an  diesen  Menschen,  was  ihr 
tun  sollt«.  Hierauf  wirft  er  einen  Rückblick  auf  die  jüngst- 
vergangenen pseudo-messianischen  Bewegungen  und  schließt 
seine  beschwichtigende  Ansprache  mit  den  Worten:  »Und 
nun  sage  ich  euch:  laßt  ab  von  diesen  Menschen  und  laßt 
sie  fahren.  Ist  der  Rat  oder  das  Werk  aus  dem  Menschen, 
so  wird's  untergehen;  ist's  aber  aus  Gott,  so  könnt  ihr's 
nicht  dämpfen;  auf  daß  ihr  nicht  erfunden  werdet,  als  die 
wider  Gott  streiten  wollen«1). 

So  schildert  selbst  die  Apostelgeschichte  die  Stimmung 
der  führenden  pharisäischen  Schriftgelehrten  gegen  die 
Apostel  Jesu;  und  sie  zeichnet  hier  naturgetreu.  Dieser 
Bericht  könnte  ebensogut  im  Talmud  stehen,  und  er  würde 
hier  nicht  im  mindesten  auffallen.  Freilich  darf  man  da 
nicht  an  die  herrschsüchtigen  Pharisäer  der  hasmonäischen 
Periode  und  insbesondere  der  Zeit  der  Alexandra  Salome 
denken,  wo  sie  sich  an  die  Regierung  herandrängten  und 
die  Zügel  derselben  in  die  Hände  zu  bekommen  trachteten. 
Seit  Herodes  war  der  politische  Pharisäismus  tot,  und  die 
Gesetzeslehrer,  die  religiösen  Führer  des  Volkes,  hatten 
nunmehr  nur  die  eine  Ambition:  ihre  Fähigkeiten  und  ihr 
Wissen  dem  Lehrhaus  zu  widmen,  sie  ausschließlich  in  den 

»)  Apg.  5,  34-39. 


312  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

Dienst  des  Ausbaues  der  Traditionslehre  zu  stellen.  Darin 
lebten  und  webten  sie  weitabgewandt  und  keine  Fühlung 
suchend  mit  dem  das  Gesetz  nur  lax  beobachtenden  »Land- 
volke«. Und  die  urchristliche  Bewegung  war  eine  eminent 
landvolkliche,  die  der  Einflußnahme  der  pharisäischen 
Gesetzeslehrer  völlig  entrückt  war.  Sahen  sich  die  letzteren 
überhaupt  zum  Kampfe  genötigt,  so  waren  die  Herausfor- 
derer sicherlich  Sektierer  aus  ihrer  eigenen  Mitte,  schrift- 
kundige Minäer,  die,  wie  R.  Tarphon  in  tiefster  Erbitterung 
ihnen  nachsagt,  »erkennen  und  dennoch  leugnen«, 
Minäer  von  Bedeutung  eines  »Acher«,  die  das  Gesetz  ver- 
warfen, zwei  Gottheiten  annahmen,  die  leibliche  Auferstehung 
leugneten,  »die  Fackel  der  Zwietracht  zwischen  Israel  und 
seinen  himmlischen  Vater  schleudern«1).  Die  religiösen  Be- 
wegungen im  »Landvolke«  aber,  in  den  Kreisen  der  »ver- 
lassenen Schafe  aus  dem  Hause  Israel«,  lagen  ihnen  ferne 
und  waren  umsoweniger  geeignet  sie  zu  erhitzen,  als  sie 
ja  weder  Gott  und  sein  Gesetz  noch  die  pharisäische  Auf- 
erstehungslehre antasteten. 

Nach  solchen  Proben  tendenziöser  Umarbeitung  von 
Überlieferungen  aus  urchristlicher  Zeit,  soweit  sie  sich  auf 
das  Verhältnis  des  Judentums  zu  Jesus  und  seiner  Gemeinde 
bezogen,  wird  wohl  die  Frage  gestattet  sein  :  ob  es  anzu- 
nehmen sei,  daß  dieselben  gesetzeseifrigen  Juden,  welche 
die  Hinrichtung  des  Täufers  so  tief  beklagten,  in  der  Stei- 
nigung des  Jacobus  ein  nach  Sühne  schreiendes  Verbrechen 
sahen;  daß  Häupter  der  pharisäischen  Gesetzeslehrer,  wie 
Gamaliel,  welche  gegen  die  Apostel  Jesu  Toleranz  geübt 
wissen  wollten,  gegen  Jesus  selbst,  der  sich  niemals  den 
Sohn  Gottes  nannte,  sich  niemals  öffentlich  für  den  Messias 
erklärte,  der  überdies  das  Gesetz  verherrlichte  und  es  als 
unvergänglich  pries;  soviel  Ingrimm  gehegt  und  mit  wilden 
Geberden  seine  Kreuzigung  erzwungen  haben  sollten?  Ich 


»)  Sabbath  116  a  u.  Par. 


und  dem  entstehenden  Christentum?  313 

für  meine  Person  vermag  für  eine  so  schreiende  Diskrepanz 
keine  Erklärung  zu  finden. 

Es  ist  doch  wahrlich  endlich  an  der  Zeit,  daß  einmal 
von  unbefangener  Seite  der  grundfalschen  und  irreführenden 
zum  Dogma  erstarrten  Ansicht,  nach  welcher  das  pharisäi- 
sche Judentum  von  Anbeginn  der  Erzfeind  Jesu  und  des 
Christentums  gewesen,  und  daß  von  ihm  alle  Verfolgung 
des  letzteren  ausgegangen,  mit  aller  Entschiedenheit  ent- 
gegengetreten werde.  Und  es  wäre  in  der  Tat  unsagbar 
traurig,  wenn  man  noch  heute  nicht,  wo  bereits  so  tiefe 
Einblicke  in  das  Dunkel  der  Entstehungsgeschichte  des 
Christentums  gewonnen  wurden,  dieses  schwere  Vergehen 
an  dem  Geist  der  Geschichte  und  der  Menschenliebe  sühnen 
wollte. 

Es  ist  ja  übrigens  gar  kein  Kompliment  für  den  Pha- 
risäismus,  wenn  gezeigt  wird,  wie  wenig  Aufmerksamkeit 
er  der  tiefgehenden  und  weitverzweigten  religiösen  Bewegung 
innerhalb  des  »Landvolkes«  widmete,  wie  wenig  Be- 
ziehung er  zu  dem  letzteren  hatte  und  unbekümmert  um 
dasselbe  sich  in  seine,  den  Verkehr  mit  der  Außenwelt 
erschwerenden  Traditionslehre  vertiefte,  die  Dinge  draußen 
gehen  lassend,  wie  es  Gott  gefällt.  »Ist  der  Rat  oder  das 
Werk  aus  den  Menschen«  —  dabei  beruhigt  sich  und  seine 
Umgebung  über  die  Fortschritte  der  urchristlichen  Bewe- 
gung das  pharisäische  Schuloberhaupt  Gamaliel  —  »so 
wird  es  untergehen;  ist  es  aber  aus  Gott,  so  könnt  ihres 
nicht  dämpfen«.  Das  war  tatsächlich  die  Stimmung,  von  der 
die  »Schriftgelehrten  und  Pharisäer^,  die  damaligen  Reprä- 
sentanten des  palästinensischen  Judentums,  beherrscht 
waren,  das  war  der  Standpunkt,  den  sie  Jesu  und  seinen 
Aposteln  gegenüber  einnahmen.  Das  findet  jeder  bestätigt, 
der  sich  mit  möglichster  Unvoreingenommenheit  in  das 
Wesen  des  Pharisäismus,  wie  es  uns  aus  dem  Tal- 
mud entgegentritt,  zu  vertiefen  sucht.  Die  evangelische 
Darstellung  desselben  aber  baut  sich  erst  auf  dem  späteren, 


314  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

Judentum  und  Christentum    gewaltsam    auseinander    deu- 
tenden und  auseinander  reißenden  Paulinismus  auf. 

Ein  gewichtiges,  bereits  oben  angedeutetes  Bedenken 
scheint  unserer  Auffassung,  nach  welcher  weder  Jesus  selbst 
noch  die  urchristliche  Gemeinde  schwere  Verfolgungen  von 
den  Juden  auszuhalten  hatten,  im  Wege  zu  stehen.  Man 
wird  uns  sicherlich  entgegenhalten,  daß  ja  die  Apostel- 
geschichte berichte,  es  habe  sich  gelegentlich  der  Steini- 
gung des  Stephanus  »eine  große  Verfolgung  über 
die  Gemeinde  zu  Jerusalem  erhoben.«  —  Wer 
aber  vermöchte  zu  beweisen,  daß  dieses  eine  Christen- 
verfolgung gewesen  und  daß  dieselbe  von  dem  pharisäi- 
schen Judentum  ausgegangen  ?  Stephanus,  ein  gesetzes- 
freier jüdischer  Hellenist  und  Diakon  der  urchristlichen 
Gemeinde,  wird  als  Verkünder  antinomistischer  Ten- 
denzen in  einem  Volksauflauf  gesteinigt.  Die  Erreger  dieses 
Aufruhrs  sind  keineswegs  pharisäische,  sondern  christ- 
gläubige Diasporajuden;  denn  sie  kommen,  wie  die 
Apostelgeschichte  ausdrücklich  hervorhebt,  aus  der  Syna- 
goge, »die  da  heißt  der  Libertiner  und  der  Kyrener  und 
der  Alexandriner  und  derer,  die  aus  Kilikien  und  Asien 
waren*1).  Nicht  Christgläubige  sondern  Gesetzes- 
verächter werden  hier  angeklagt.  Das  spricht  sich  ganz 
unzweideutig  darin  aus,  daß  nach  der  Steinigung  des  Ste- 
phanus seine  engeren  Gesinnungsgenossen,  die  gesetzes- 
freien Christen,  Jerusalem  verlassen  mußten,  während  die 
Apostel  Jesu,  welche  gesetzestreu  waren,  nach  wie  vor 
völlig  unangefochten  in  Jerusalem  bleiben  und  ungehindert 
ihre  christliche  Propaganda  betreiben  durften.  Hätte  aber 
diese  »Verfolgung«  den  Christen  als  solchen  gegol- 
ten, so  wären  doch  offenbar  die  Häupter  der  Gemeinde  in 
erster  Linie  von  ihr  betroffen  worden.  Diesen  aber  wurde 
kein  Haar  gekrümmt.  —  Hier  kämpften  eben  gesetzestreue 
gegen  gesetzesfreie  Christen,  und  die  ersteren  standen  dem 

*)  Apg.  9,  6 


und  dem  entstehenden  Christentum  ?  315 

pharisäischen  Judentum  ungleich  näher  als  dem  gesetzes- 
freien hellenistischen  Christentum. 

Allein  der  Kirchengeschichtsschreiber  Eusebius  läßt 
nun  einmal  »die  erste  , Christenverfolgung'  nach  dem 
Märtyrertod  des  Stephanus  von  den  Juden  selbst  verhängt« 
worden  sein1) ;  und  es  blieb  dabei  bis  auf  den  heutigen 
Tag.  Mit  Eusebius  behauptet  Hausrath  noch  in  seiner  letz- 
ten, jüngst  erschienenen  populären  Darstellung  der  urchrist- 
lichen Geschichte:  »Seit  diesem  ersten  Konflikt  zu  Jeru- 
salem   kamen  nun  stoßweise  jüdische  Christen- 
verfolgungen vor«2).  Und  ebenso  schreibt  er  dem  Eusebius 
den  folgenden  Satz  kritiklos  nach  :  »Während  Paulus  in 
Cäsarea  gefangen  lag,  begannen,  vielleicht  durch  seine 
Konflikte  mit  dem  Synhedrium  veranlaßt,  in  Jerusalem 
Christenverfolgungen  von  Neuem,  denen  schließ- 
lich der  Vorsteher  Jakobus  zum  Opfer  fiel.  Da  der  Prokura- 
tor den  Paulus  ihren  Händen  entzogen  hatte,  hielt  sich 
der  Haß  der  Juden  durch  Steinigung  des  Jaco- 
bus  schadlos«3).  Und  doch  muß  Hausrath  in  demselben 
Buche  angesichts  des  unzweideutig  lautenden  Jacobus- 
berichtes  bei  Josephus  sein  früheres  Urteil  dahin  korri- 
gieren:  »daß  die  Pharisäer  an  dem  Blute  des 
Jacobus  unschuldig*4).  Soviel  Inkonsequenz  und  Rat- 
losigkeit infolge  eines  heißen  Bemühens,  »jüdische 
Ch  ri  sten  Verfolgungen«  im  apostolischen  Zeitalter 
entdecken  und  verzeichnen  zu  können. 

Und  was  endlich  die  tumultösen  Auftritte  betrifft, 
die  der  Heidenapostel  wiederholt  hervorgerufen,  so  waren 
seine  Gegner  in  den  meisten  Fällen  nationalgesinnte,  ge- 
setzestreue, kurz  gesprochen,  nazaräische  Christen,  die  sich 
über  seine  gesetzesfreie  Predigt  entrüsteten  und  ungestüm 

!)  H.  E.  II,  1. 

J)  Hausrath,  Jesus  und  die  neutestamentl.  Schriftsteller,  S.  149  f. 
s)  Da3.  S.  545. 
*)  Das.  S.  583. 


316  Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus 

seine  Entfernung  verlangten.  Das  waren  die  erbittertsten 
Gegner  des  Paulus,  die  überall  das  Volk  gegen  ihn  auf- 
regten. >Du  siehst«  —  sagt  Jacobus  zu  Paulus,  von  seinem 
Erscheinen  in  Jerusalem  Unruhen  befürchtend  —  »du 
siehst,  wie  viel  tausend  Juden  sind,  die  gläubig  geworden 
sind  und  sind  alle  Eiferer  über  dem  Gesetz.  Sie  sind 
aber  berichtet  worden  wider  dich,  daß  du  lehrst  von  Moses 
abfallen  alle  Juden,  die  unter  den  Heiden  sind  und 
sagst,  sie  sollen  ihre  Kinder  nicht  beschneiden, 
auch  nicht  nach  derselbigen  Weise  wandeln.  Was 
denn  nun?«1) 

>)  Apg.  21,  20,  21. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen 

Zeitalter. 

Neue  Folge. 

Von  Simon  Eppenstein. 

IV.  Saadja  Gaon,  sein  Leben  und  seine  Schriften. 

(Fortsetzung.) 

Ob  nun  Saadia  noch  nachher  als  Gaon  gewirkt  hat 
oder  nicht,  darüber  lauten  die  Berichte  nicht  ganz  überein- 
stimmend. Nach  Angaben  Scherira's,  die  in  allen  Punkten, 
außer  da,  wo  er  selbst  das  Gegenteil  bemerkt1),  den  Stempel 
der  Zuverlässigkeit  tragen,  hat  Saadja  im  ganzen  14  Jahre 
amtiert2),  so  daß  er  bis  zu  seinem  Tode  das  Gaonat  be- 
kleidet hat,  und  dasselbe  geht  auch  aus  den  Mitteilungen 
Nathan  Babli's  hervor,  der  ausdrücklich  sagt,  daß  der  frü- 
here Gegengaon  Joseph  ben  Jakob  nun,  ohne  jegliche 
Funktion,  nur  mehr  die  Einkünfte  der  Würde  bezog  und 
nach  Saadja's  Tode  amtiert  hat3).  Demgegenüber,  glaube 
ich,  kommt  der  Bericht  Abraham  ibn  Daüd's,  daß  dieser 
nicht  mehr  das  Gaonat  ausgeübt  hat  und  seine  letzten 
Lebensjahre  in  MelanchoHe  dahinbrachte*),  kaum  in  ernst- 
haften Betracht.  Einen  Mann  wie  Saadja,  der  die  schwerste 
Zeit  der  Anfeindungen  sieben  Jahre  hindurch  in  unver- 
mindeter  geistiger  Spannkraft  gewirkt  hat,  dürfte  schwerlich 
eine    solche   Gemütsstimmung    bezwungen    haben,    zumal 

*)  Vgl.   sein  Eingeständnis   betreff   der   mangelhaften  Kenntnis 
von  den  Zuständen  in  Sura,  bei  Neubauer  I,  S.  36. 

*)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  40  "W  "V  myD  S"i  löT  VV  ^3. 
s)  Vgl.  Neubauer  a.  a.  O.  II,  S.  82-83. 
*)  Vgl.  Neubauer  a.  a.  O.  I,  S,  66  oben. 


318  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

ihm  die  vollste  Genugtuung  geworden  war,  die  ihn  man- 
ches früher  erfahrene  Leid  vergessen  machen  konnte.  Wir 
dürfen  wohl  annehmen,  daß  Saadja  in  den  nun  folgenden 
Jahren  sich  teils  der  Ausgestaltung  seiner  halachischen 
Schriften,  teils  der  erneuten  Bearbeitung  seiner  Bibel- 
erklärung gewidmet  hat ;  vielleicht  gehört  dieser  Zeit  auch 
die  einfache  Pentateuchübersetzung  an. 

Jedenfalls  hat  der  rastlos  schaffende  Mann  unermüd- 
lich auf  dem  Gebiet  der  Wissenschaft  gewirkt,  und  die 
wiederholte  Mühe,  die  er  auf  seine  Werke  verwendete,  legt 
Zeugnis  davon  ab,  wie  er  seine  Aufgabe  auffaßte.  Umsomehr 
müssen  wir  es  bedauern,  daß  sein  Leben  im  Jahre  942 
so  früh  endete,  und,  daß  der  Mann,  dessen  Herz  so  warm 
für  des  Judentums  Ehr  und  Wehr  schlug,  gerade  in 
dem  Alter  von  50  Jahren,  in  dem  er,  nach  den  Worten 
unserer  Weisen  —  nitj^>  D'tfen  p  —  mit  seinem  nach  allem 
Kämpfen  abgeklärten  Rat  die  geistige  Führung  des  Volkes 
noch  länger  hätte  segensreich  ausüben  können,  aus  seiner 
Tätigkeit  gerissen  wurde.  Gleich  den  zur  Arbeit  am  Heilig- 
tum berufenen  Leviten,  hatte  er  in  schwerer  Zeit,  wo  es 
galt,  dieses  immer  wieder  aufzurichten,  bis  zur  Ermattung 
der  Kräfte  gewirkt,  und  in  dem  Alter,  wo  diese  Diener  des 
Volkes  vom  Schauplatz  der  Arbeit  abtraten,  konnte  auch 
er  sein  Lebenswerk  abschließen.  Dieses  aber  war,  in  umge- 
kehrten Verhältnis  zu  der  Kürze  seines  Erdendaseins,  ein 
unendlich  reiches,  über  den  Tod  hinaus  segensvoll  wirken- 
des. Wohl  konnte  er  dem  Gaonat  dauernden  Glanz  nicht 
mehr  verleihen,  da  die  Zeitumstände  eine  andere  Gestaltung 
der  Dinge  mit  sich  brachten,  wohl  haben  die  Kämpfe  der 
Karäer  gegen  das  Rabbanitentum  nicht  aufgehört,  aber  das 
sogenannte  Ketzertum  konnte  durch  seine 
rastlosen  Bemühungen  als  unschädlich  ge- 
macht,   betrachtet   werden. 

Das  Karaeertum  hatte  wohl  eine  bedeutendere  Autori- 
tät,  die  noch  in  den  letzten  Lebensjahren  Saadja's  wirkte, 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.     319 

in  Jakob  Kirkissani1)  oder  Karkassani2),  der  i.  J.  937 — 938 
sein  großes  Werk  über  den  Pentateuch,  p'jnn^Ki  fwnb»  2«fiDf 
»Buch  der  Gärten  und  Beete«,  mit  dem  für  die  Sekten- 
geschichte so  aufschlußreichen  Gesetzbuch  —  inijk^k  *KfO 
2p&nai?Ki  —  »Buch  der  Leucht-  und  Warttürme«,  verfaßte; 
aber  gerade  das  offene  Eingeständnis  dieses  Schriftstellers 
für  die  Schwächen  seines  Bekenntnisses  und  der  ruhige 
Ton  seiner  Polemik  gegen  Saadja  —  den  er  unter  Ande- 
rem wegen  seiner  Theorie  über  das  hohe  Alter  des  Kalen- 
ders angriff  —  beweisen,  wie  sehr  der  große  Gaon  auf- 
klärend gewirkt  hatte.  Wenngleich  später  gehässige  Karaeer, 
wie  Salmon  ben  Ruheim,  der  erst  ungefähr  ein  Jahrzehnt 
nach  Saadja's  Tod  schriftstellerisch  gewirkt  hat,  mit  großer 
Erbitterung  gegen  ihren  so  gefährlichen  Gegner  auftreten3), 
wenn  der  mehr  produktive  als  originelle  Jefet  ben  Ali4)  und 
Andere  Angriffe  gegen  den  Fajjumiten  richteten, —  die  Aktions- 
kraft des  Karäismus  war  geschwächt,  denn  jenem  war  es 
gelungen,  wie  unsere  Weisen  es  so  prägnant  und  vielsagend 
ausdrücken:  Gerüst  b&  p^ö  K'Xir6,  die  Bekämpfer  der  Tradition 
gleichsam  ins  Herz  zu  treffen  und  ihren  wuchtigsten 
Angriffen  die  treffende  Schärfe  zu  nehmen,  so  daß  es  nur 
noch  stumpfe  Waffen  waren.  Wohi  hat  sich  der  Kampf  gegen 
Saadja  bis  in's  neunzehnte  Jahrhundert  fortgesetzt5),  aber 
es  gelang  den  Karaeern  nicht,  ihr  Vernichtungswerk  an 
Saadja's  gegen  sie  gerichteten  Werken  zu  vollführen.  Wenn 
uns  auch  die  Schrift  gegen  Anan  bis  jetzt  nicht  wieder 
aufzufinden  geglückt  ist,  so  hat  in  letzter  Zeit  die  Geniza 
aus  der  Heimat  des  Gaon  manches  wertvolle  Fragment  von 

')  Vgl.  über  ihn  jetzt  Poznanski  in  The  Karaite  literary  oppo- 
nents  etc.,  S.  8  —  11. 

*)  Über  diese  Schreibung  vgl.  Harkavy  im  Hagoren  VI.,  S.  29. 

8)  Vgl.  über  ihn  jetzt  Poznariski  a.  a.  O.,  S.  12—14. 

4)  Vgl.  a.  a.  O,,  S.  20—30. 

6)  Vgl.  die  Zusammenstellung  in  dem  obengenannten  Werk 
Poznanski's. 


320    Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

seinen  anderen  antikaräischen  Schriften  zu  Tage  gefördert, 
nachdem  andere  Autoren  des  Mittelalters  uns  mehreres 
davon  überliefert  hatten.  Die  größte  Genugtuung  muß  es 
aber  für  das  Andenken  Saadja's  sein,  daß  der  letzte  dieser 
seiner  Gegner,  der  hochbetagt  i.  J.  1874  gestorbene  Abra- 
ham b.  Samuel  Firkowitsch,  aus  einem  heftigen  Feind 
ein  reumütiger  Verehrer  des  großen  Mannes  geworden  ist1). 
Liegt  so  in  dieser  Tatsache  eine  Bewahrheitung  des  Wortes 
der  Schrift  in  Spr.  16,7:  in»  D^»»'  vtik  dj  BPH  »am  'n  mn% 
daß  dieses  Friedenswort  aus  Feindesmund  ein  Zeugnis  für  sein 
im  Sinne  der  Vorsehung  wohlgefälliges  Werk  ist,  so  erhöht 
sich  dieses  noch  dadurch,  daß  gerade  durch  Firkowitsch's 
Sammeleifer  uns  Teile  des  Agrön,  des  Sefer  Hagaluj 
und  der,  besonders  Antikaräisches  enthaltenden 
exegetischen  Schriften  desGaon  erhalten  wor- 
den sind,  wodurch  in  wesentlicher  Hinsicht  ein  neues  Licht 
auf  den  Lebens-  und  geistigen  Werdegang  Saadja's  gefallen 
ist;  auch  hier  bewahrheitet  sich  das  Wort  von  der  Kraft, 
die  das  Böse  will  und  doch  das  Gute  schafft. 

Neben  dieser  mehr  auf  negativer  Seite  liegenden  Be- 
deutung Saadja's  kann  nicht  genug  seine  positiv  erhaltende 
und  wissenschaftlich  erleuchtende  Tätigkeit  hervorgehoben 
werden.  Er  hat  seinem  Namen  volle  Ehre  bereitet,  er  hat  den 
altehrwürdigen  Bau  des  Judentums  mit  den  beiden  star- 
ken Säulen  der  Verpflichtung  zur  Tradition 
und  der  auf  einer  gesunden  Vernunftentwick- 
lung beruhenden  Wissenschaft  gestützt;  er  hat 
unseren  so  heftig  wegen  seiner  Treue  an  der  Überlieferung 
angegriffenen  Stamm  mit  dem  stärkenden  Brot  der  Lehre 
der  Wahrheit  gelabt  und  gekräftigt,  so  daß  das 
Judentum  noch  heut  als  eine  lebensfähige  Gemeinschaft 
dasteht,  und  auch  ferner  bestehen  wird,  —  sofern  es  nicht 
durch  Preisgabe  der  Tradition  und  Nachahmung  der,  gleich 
den  Praetentionen  des  Karaeer,    mehr  das  äußere  Gewand 

»)  Vgl.  Poznariski  a.  a.  O.,   S.  92-93. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.  321 

als  den  wahren  inneren  Gehalt  der  Wissenschaft  aufwei- 
senden literarischen  Bestrebungen,  selbst  die  stützenden 
Säulen  seines  Gebäudes  umstürzt. 


Die  Darstellung  von  Saadja's  Wirken  wäre  aber  nicht 
ganz  vollkommen,  wenn  nicht  noch  auch  sein  Sohn  Dosa 
und  einige  seiner  Schüler  in  Betracht  gezogen  würden. 
Ersterer,  jedenfalls  erst  in  den  letzten  Lebensjahren  des  Va- 
ters geboren,  hat  dessen  Unterricht  nicht  mehr  genossen1). 
Indes  hat  er,  wenn  auch  in  der  nur  bescheideneren  Rolle 
eines  Richters,  verdienstlich  als  Gesetzeslehrer  gewirkt  und 
auch  philosophisch  sich  betätigt.  Er  erreichte  ein  hohes 
Alter  und  stand  auch  außerhalb  Babyloniens,  wie  z.  B.  bei 
Hasdai  ibn  Schaprut,  in  hohem  Ansehen. 

Von  Saadja's  Schülern  ist  ein  gewisser  Ben  Ephraim 
aus  Palästina  zu  nennen,  dessen  vollständiger  Name  wahr- 
scheinlich lautete:  Jakob  ben  Samuel  Ben  Ephraim8).  Noch 
bei  Lebzeiten  des  Gaon  trat  er  schriftstellerisch  auf  und 
führte  eine  lebhafte  Polemik  mit  dem  Karäer  Jakob  Kir- 
kissani,  deren  Gegenstand  Themen  allgemein  dogmatischen, 
wie  auch  ritualen  Inhaltes  waren.  Sein  Auftreten  in  dieser 
Hinsicht  trug  ihm  auch  eine  Fehde  mit  Salmon  ben  Ruheim 
ein,  und  von  seiner  Erwiderung  auf  dessen  Angriffe  wegen 
der  Verbindlichkeit  der  Tradition  und  der  Wertlosigkeit  des 
Talmuds  infolge  der  in  ihm  sich  kundgebenden  Meinungsver- 
schiedenheiten —  die,  wie  bei  den  Schammaiten  und  Hilleliten 
angeblich  sogar  zu  Tätlichkeiten  führten  —  sind  sehr  wahr- 
scheinlich einige  interessante  Fragmente  noch  auf  uns  ge- 
kommen3). Er  hat  auch  ein  Werk  verfaßt  über  Widersprüche 

*)  Vgl.  die  eingehende  Studie  über  ihn  von  Poznanski  in  Ha- 
goren  VI,  S.  41-64  u.  S.  119  und  dazu  meine  Bemerkungen  m  ZHB. 
X,  S.  131.  Daß  Saadja  ältere  Kinder  schon  in  Ägypten  gehabt  hat, 
wurde  bereits  oben  erwähnt. 

2)  Vgl.  über  ihn  jetzt  Poznanski  im  Qedenkbuch  für  Kaufmann 
S.  169  u.  S.  187. 

•)  Vgl.  das  von  Schreiner  in  ZHB.  III,  S.  91-93  veröffentlichte 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  21 


322  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

in  chronologischer  Hinsicht  in  der  Bibel  und  42  derartige 
Fragen  zusammengestellt1).  Auch  Jephet  ben  All  richtete 
gegen  ihn  später  eine  Polemik8).  Daß  er  einen  Kommentar 
zum  jerusalemischen  Talmud  verfaßt  habe,  ist  nicht  mit 
Sicherheit  nachzuweisen8). 

Erst  in  allerletzter  Zeit  ist  der  Name  eines  anderen 
Schülers  Saadja's  bekannt  geworden,  Abraham  ben 
Mumar  oder  Muman  as-Seiräfi,  der  ein  Kitab 
al-Kasch'f  nräM  MWO),  entweder  kalendarischen  oder  philo- 
sophischen Inhalts,  verfaßt  hat,  das  wir  aber  lediglich  aus 
Anführungen  in  Bücherlisten  kennen*). 

Die  größte  Bedeutung  aber  unter  den  Jüngern  Saadia's 
kommt  dem  in  Bagdad  gebürtigen,  und  einer  ehemals  aus 
Spanien  dorthin  eingewanderten  Famile  entstammenden 
Dunasch  ben  Labrat  zu.  Seine  Stärke  liegt  beson- 
ders auf  dem  Gebiet  der  Sprachwissenschaft,  der  jaSaadjas 
Jugendarbeiten  galten.  Dunasch,  ein  selbständiger,  stark 
kritischer  Geist,  hat,  den  Spuren  seines  Lehrers  folgend, 
die  hebräische  Grammatik  und  Lexiographie  wesentlich  be- 
reichert, aber  auch  an  seinem  Meister  in  einem,  leider  nicht 
zweite  Genisafragment  und  dazu  Poznanski  ebendort  S.  ^2-177, 
feTner  das  von  letzterem  in  ZHB.  X,  S.  47-52  edierte  Bruchstuck  u. 
ebendort,  S.  46.  ^  ^  §   ^   ^  ^  ^    ^    ^  Bemerkungcn  p 

q  47  -  Es  ist  bemerkenswert,  daß  in  dem  von  Schechter  in  JQR. 
XIII,  S.  345  fgg.  zuerst  veröffentlichten  bibelkritischen  Fragment  auch 
solche  Schwierigkeiten   behandelt  werden. 

*\  Vgl  Poznanski,  The  karaite  literary  opponents  etc.,  S.  27-28. 

»)  Vgl.  Poznanski  in  Kaufmann-Gedenkbucb,  S.  181-82  und  in 

Hakedem  II,  S.  42.  vyyvii    <;   7Q  und 

*)  Vgl.  die  Vorbemerkung  in  Saadyana  Nr.  XXXVII,  b.  V)  una 

dazu  Poznanski  in  >Schechter's  Saadyana«,  S.  8  8.  v.  ^^7  h 
Anstatt  des  keinen  rechten  Sinn  gebenden  l)2*K  lese  ich  ^K,  d.h. 
aie  zweite  Hälfte  des  Buches«.  Übrigens  findet  sich  auch  m  der  von 
tdler  und  Broyde  in  JQR.  XIII,  S.  52  fgg.  veröffentlichten  Bacher- 
Me  unter  Nr.  59,  S.  54,  ein  Band,  enthaltend,  neben  zwe.  anhkarar- 
sehen  Schriften  Saadja's,  auch  das  r^sSa  SKID« 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.    323 

vollkommen  ausgearbeiteten,  und  höchst  wahrscheinlich  ur- 
sprünglich arabisch  geschriebenen  Werk1),  Kritik  geübt.  Indem 
er  aber  in  der  Kritik  gegen  Menahem  ben  S'ruk  die  Ver- 
gleichung  des  Hebräischen  mit  dem  Arabischen  gefördert 
und  besonders  in  der  Schrift  gegen  Saadja  die  ersten  Grund- 
züge der  neuen  Theorie  von  der  Triliteralität  der  Wurzeln 
gegeben  hat,  legte  er,  über  die  Leistungen  seines  Lehrers 
hinausgehend,  den  Grund  zu  dem  Aufschwung  der  heb- 
räischen Sprachwissenschaft,  der  nachmals  diese  in  ihren 
Ergebnissen  der  modernen  Philologie  mit  ihren  besseren 
Hilfsmitteln  würdig  an  die  Seite  stellte.  Er  hat  somit  auch 
das  Andenken  seines  Lehrers  in  ehrenvollster  Weise  mit 
einer  der  Glanzepochen  der  jüdischen  Literatur,  wie  der 
Geschichte  der  Wissenschaft  überhaupt,  dauernd  verknüpft. 
Aber  auch  noch  in  anderer  Hinsicht  ist  Saadja  von 
großer  Bedeutung  für  die  jüdische  Wissenschaft  geworden. 
An  seinen  Namen  knüpft  sich  zum  großen  Teil  deren 
Wiedererweckung  im  vorigen  Jahrhundert.  Denn  die  erste  der 
im  Geiste  der  historischen  Kritik  geschriebene  Biographieen 
der  Größen  unserer  Vergangenheit,  die  wir  dem  scharf- 
sinnigen Salomon  Juda  Rapoport  verdanken,— 
der  neben  Zunz  zu  den  Pfadfindern  der  neueren  jüdischen 
Wissenschaft  gehört,  —  war  die  auch  heute  noch  schätzens- 
werte, in  der  Form  wie  den  Untersuchungen  meisterhafte 
Würdigung  Saadja's0).  Und  auch  die  erste  Leistung  in  der 
jüdisch-arabischen  Literatur  seitens  des  genialen,  in  seinen 
philosophischen  Forschungen  noch  heute  maßgebenden 
Salomon  Munk,  galt  einer  Darstellung  von  Saadja's 
Werken4),   für  die  er  zum  Teil  selbst  neue,  wertvolle  Auf- 

*)  Vgl.  hierüber  meinen  Aufsatz  in  der  Monatsschrift  1902,  S 
74-79  und  Bacher  ebendort,  S.  478. 

*)  Vgl.  meine  Ausführungen  ebendort,  S.  72—75. 

8)  Erschienen  in  Bikkure  Haitim  IX,  Wien  1829,  S.  18-37. 

*)  Notice  sur  Saadia  Oaon,  erschienen  im  IX.  Bande  der  Ca- 
hen'schen  Bibel,  Paris  1838,  und  dazu  Ergänzungen  in  Commentaire 
de  R'Tanchoum  sur  Habakouk,  Paris  1843,   S.  104—111. 

21* 


324     Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter- 

Schlüsse  gebracht  hat.  So  hat  sich,  entsprechend  den  Wor- 
ten der  Schrift  der  Name  des  großen,  von  gerechtem  Stre- 
ben erfüllten  Gaon  für  alle  Zeiten  als  vom  segensvollsten 
Einfluß  erwiesen  und  die  tiefsten  Spuren  in  der  jüdischen 
Literatur  hinterlassen.  Mit  Recht  führt  er  darum  auch  in 
dieser  Hinsicht  den  ihm  von  Abraham  Ibn  Esra  beigelegten 
Ehrentitel  eines  Dipo  bl2  onanon  ttwi,  da  die  jüdische 
Wissenschaft  gewissermaßen  auch  jetzt  noch 
mit  seinen  Worten  zu  uns  redet. 

V.  Die  Erzählung  von  den  vier  gefangenen   Talnradisten. 

In  dem  an  und  für  sich  berechtigten  Streben,  die  so 
wunderbare  Entwickelung  in  der  Geschichte  und  Literatur 
des  Judentums  in  manchen  bedeutungsvollen  Phasen  mit 
einem  höheren  Walten  der  Vorsehung  in  Verbindung  zu 
bringen,  ist  wohl  auch  mancher  Fehlgriff  in  der  Geschichts- 
schreibung und  -forschung  zu  verzeichnen.  Ein  besonders 
bezeichnendes  Beispiel  bietet  hierfür  die  Erzähiung  von  den 
vier  gegen  Ende  der  Geonimzeit  gefangenen  Talmudlehrern, 
die  ein  intensiveres  Halachastudium  nach  Ägypten,  Nord- 
afrika, Spanien  und  Südfrankreich  gebracht  haben  sollen. 
Alte,  wie  neue  Geschichtsschreiber,  von  Abraham  Ibn  Daüd 
an,  wollen  darin  gleichsam  eine  göttliche  Fügung  erblicken. 
Indes  darf  dieses  Gefühl  für  ein  höheres  Walten  in  der 
Geschichte  uns  nicht  den  Blick  für  die  Realität  der  ge- 
schichtlichen Tatsachen  trüben,  und  so  muß  denn  nach 
verschiedenen  Richtungen  hin,  vom  literarischen  und  histo- 
rischen Standpunkt  aus,  der  Bericht  von  dem  so  interessanten 
Ereignis  als  unhaltbar  angesehen  werden.  Der  Erörterung 
dieses  auch  in  letzter  Zeit  noch  behandelten  Problems1)  soll 

l)  Es  kommen  hier  hauptsächlich  in  Betracht  die  Ausführungen 
von  Halevy  in  Doroth  Harischonim  III,  S.  283—302  und  Poznanski 
in  seiner  Studie  (XTVp  MMK  in  der  Harkavy-Festschrift,  besonders 
S.  192—194.  Von  sonstiger  hierher  gehörenden  Literatur  nenne 
ich,    ohne   allerdings   auf  Vollständigkeit   Anspruch  zu  erheben :    Ra- 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.    325 

die  folgende  Untersuchung  gewidmet  sein,  in  deren  Verlauf 
wir  noch  manche  andere  wichtige  literarhistorische  Ergeb- 
nisse gewinnen  dürften. 

Betrachten  wir  zunächst  den  als  Grundlage  der  Er- 
zählung dienenden  Bericht  des  Abraham  Ibn  Daüd.  Derselbe 
knüpft  an  das  durch  den  Tod  Chiskia's  erfolgte  gleichzeitige 
Verlöschen  des  Gaonats  und  des  Exilarchats  die  Mitteilung, 
daß  schon  vorher  infolge  einer  von  Gott  gefügten  Wendung 
—  n'zpn  ARD  nao  —  ein  Versiegen  der  Einnahmequellen  für 
die  Hochschulen  aus  den  anderen  Ländern  der  Diaspora 
eintrat.  Der  Verlauf  dieser  Wendung  war,  daß  ein  Admiral 
des  Kalif  Abdurrhaman  an-Nazzär  ausging,  um  Schiffe  auf- 
zugreifen und  bei  einer  Kreuzfahrt,  die  ihn  zuletzt  in  das 
griechische  Meer  führte,  eines  kaperte,  auf  dem  sich  vier 
große  Gelehrte  befanden,  die  von  Bari  nach  einem  Ort 
jyided  oder  pDDD  gingen,  und  zwar  zum  Zweck  von  nDJDn 
n^3.  Sie  wurden  alle  gefangen  und  verkauft,  wobei  der 
Chronist  bemerkt,  daß  sie  Niemandem  etwas  über  ihre 
Persönlichkeit  und  Gesetzeskenntnis  —  D/ionm  D2*B  —  ge- 
sagt hatten.     Drei  der  Gelehrten    kann  Ibn  Daüd   namhaft 

poport,  Biographie  des  R.  Chananael  Note  2,  Biographie  des  Hai 
Gaon,  Note  2,  ferner  D^öSn  flJtiap  ed.  Stern  S.  52;  Harkavy  in  den 
Nachträgen  zur  russ.  Übersetzung  von  Graetz  Bd.  VI,  S.  CXVI; 
Müller,  Die  Responsen  der  spanischen  Lehrer  (Jahresbericht  der  Lehr- 
anstalt für  die  Wissenschaft  des  Judentums)  S.  19—22;  Weiß  T1T7 
IV*  S.  235,  Anm.  2;  Leberecht,  Magazin  für  die  Literatur  des  Aus- 
lands, 1843  Nr.  143,  Literaturblatt  des  Orients,  1844,  S.  703,  Frankel, 
Zeitschrift  für  die  religiösen  Interessen  des  Judentums  1845  S.  99fgg 
und  Jahrg.  1846  S.  397 fgg.  und  S.  492  fgg.,  S.  Cassel,  Historische 
Versuche,  Berlin  1847,  S.  30-36,  Groß,  Magazin  etc.,  II,  S.  26  fgg., 
Berliner  in  Migdal  Chananael,  S.  V— VI;  Neubauer  in  JQR.  VI, 
S.  233  und  Halberstam  a.  a.  O.  S.  596,  Kaufmann  im  Magazin  V, 
S.  70  und  Chronik  des  Achimaaz  =  Monatsschrift  1896,  S.  470; 
Schechter  in  JQR.  XI,  S.  643  fgg.,  Güdemann,  Erziehungswesen 
der  Juden  in  Italien,  S.  16—17,  Brüll,  Jahrbücher  IV,  S.  179  fgg,  Israel 
Lewy  im  Jahresbericht  des  Seminars,  Breslau  1905,  S.  30—31  und 
Oinzberg,  Geonica  I  (New-York  1909)  S.  29. 


326    Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

machen,  während  er  betreff  des  vierten  nichts  mehr  weiß. 
Es  folgen  nun  die  Angaben  über  die  Schicksale  Schemarja's, 
Chuschiel's  und  Mosche's,  welch  letzterer  in  Cordoba 
als  eigentlicher  Pfadfinder  des  Talmudstudiums  begrüßt 
wurde. 

Soweit  der  Bericht  Abraham  Ibn  Daüd's.  Es  ist  nun 
merkwürdig,  daß,  während  er  das  Aufhören  der  Einnahmen 
der  Hochschulen  mit  dem  Raubzug  des  Ibn  Rumähis  in 
Verbindung  bringt,  er  doch  die  Gelehrten  nicht  direkt  als 
aus  Babylonien  stammend  angiebt,  ebensowenig,  wie  er  sie 
als  Sendboten  behufs  Einsammlung  von  Geldern  bezeichnet. 
Hiermit  stimmt  auch  die  Angabe  überein,  daß  die  Gefan- 
genen Niemandem  etwas  über  ihre  Persönlichkeit  und  ihr 
großes  Wissen  mitgeteilt  haben,  da  andrerseits  dieses  von 
selbst  bekannt  geworden  wäre.  Es  ist  dies  aber  jedenfalls 
eine  vielleicht  gewollte  Unklarheit  in  dem  Bericht  unseres 
Geschichtsschreibers.  Ebenso  wenig  trägt  zur  Aufhellung 
bei  die  Andeutung,  daß  die  Reise  zum  Zweck  von  n^o  nMSl 
unternommen  worden  sei.  Man  hat  es  nicht  als  glaubhaft 
angenommen,  daß  vier  Gelehrte  aus  diesem  Anlaß  sich  ins 
Ausland  begeben  haben  sollen,  und  wollte  darum  den 
Worten  nhs  nD3Dn,  entgegen  dem  durch  die  Mischna  Pea  I,  1 
feststehenden  Sprachgebrauch  für  die  Bemühung  zur  Aus- 
stattung von  Bräuten1),  die  gezwungene  Bedeutung  der 
»Einnahme  für  die  Hochschule«  unterlegen,  obwohl  Kallah 
nur  die  zweimal  jährlich  stattfindenden  Hauptversammlungen 
bezeichnet,  und  dann  auch  der  Plural  niM3fl  erforderlich 
wäre.  Sei  es  nun,  daß  man  die  genannten  Gelehrten  mit  Lebe- 
recht als  Sendboten  für  die  Hochschule  zu  Bari*),  oder  mit 


»)  Vgl.  Frankel,  Zeitschrift  etc.  1845  S.  100,  Note,  betreff  der 
wörtlichen  Auffassung  von  iibs  nDJSn,  wonach  es  sich  um  Beschaf- 
fung eines  Fonds  zu  dauernden  Ausgaben  für  Zwecke  der  Braut- 
ausstattung handelte. 

*)  Vgl.  Leberecht  in  Literaturblatt  des  Orients  Jahrg.  1844,  S. 
703  und  in  Frankeis  Zeitschrift  1845,  S.  100-101. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.    327 

Graetz  für  die  in  Babylonien,  speziell  in  Sura,  betrachtet, 
muß  jedoch  betont  werden,  daß  die  dementsprechende  Auf- 
fassung von  r\hs  nom  sich  insofern  ertledigt,  als  zu  keiner 
Zeit,  auch  nicht  am  Ende  der  Gaonenepoche  Boten  aus- 
gesandt wurden,  um  für  die  Hochschulen  zu  sammeln1). 
Die  Beiträge  wurden  diesen  vielmehr  aus  dem  Auslande 
zugesandt,  woselbst  sie  auch  Vertrauensmänner  und  In- 
kassanten hatten,  von  denen  die  ersteren  DH'pa,  d^skj,  die 
letzteren  npivri  'tfJU  ,D""i2TJ  genannt  wurden8).  Die  Unter- 
stützungen zerfielen  in  jährlich  feststehende  Beträge  mp'DB, 
Spenden,  die  wohl  den  an  den  Gaon  gerichteten  Anfragen 
für  diesen  und  die  Hochschule  selbst  beigefügt  wurden, 
ferner  in  mm:  und  in  die  crtrain,  Fünftel  des  Vermögens, 
worunter  vielleicht  eine  Art  Legat  von  Hinterlassenschaften 
zu  verstehen  ist8).  —  Für  die  Glaubwürdigkeit  Ibn  Daüd's 
Bericht  spricht  es  auch  nicht,  daß  er  den  vierten  der  Ge- 
fangenen nicht  zu  benennen  weiß  :  ein  Beweis  dafür,  daß 
auch  die  alte  Quelle,  aus  der  er  geschöpft  hat,  nicht  mehr 
recht  verläßlich  gewesen  sein  muß.  Aus  allen  diesen  Grün- 
den gegen  die  Zuverlässigkeit  von  Ibn  Daüd's  Darstellung 
erscheint  es  geboten,  die  einzelnen  Phasen  derselben,  an- 
knüpfend zunächst  an  den  Zustand  der  Hochschulen,  als- 
dann an  die  einzelnen  von  ihm  genannten  Gelehrten,  von 
neuem  zu  behandeln,  und  dann  das  Gesamtergebnis  zu 
betrachten,  wobei  wir  in  der  Lage  sind,  uns  der  neuesten 
Veröffentlichungen  aus  der  Genisa  zu  bedienen. 


')  Vgl.  auch  schon  Weiß  vm  IV4  S.  235  Anm. 

J)  Besonders  lehrreich  ist  hierfür  das  von  Margoliouth  in  JQR. 
XIV  S.  308-309  veröffentlichte  Qenisa-Stück. 

3)  Vgl.  hierfür  das  von  Cowley  veröffentlichte  Sendschreiben 
des  Nehemia  Gaon  von  Pumbadita,  nach  Spanien  in  JQR.  XIX,  S. 
105  und  dazu  Pozntriski  a.  a.  O.  S.  401,  ferner  Marx,  Untersuchungen 
zum  Siddur  des  Gaon  R'Amram  I,  S.  11,  Anm.  45,  und  Ginzberg 
a.  a.  O.  S.  14,  Anm.  2. 


328   Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

1.  Der  Zustand   der  Hochschulen   Babyloniens   in 
der  nachsaadjan  ischen  Zeit. 

Den  von  Ibn  Daüd  geschilderten  Tatsachen  entspricht 
allerdings  der  schlechte  materielle  Stand  der  beiden  Hoch- 
schulen in  der  nachsaadjanischen  Zeit,  dem  in  gleicher 
Weise  der  geistige  Verfall,  zunächst  der  von  Sura,  folgte, 
während  immerhin  Pumbadita  noch  durch  Scherira  und  Hat 
einige  Jahrzehnte  vom  Glänze  autoritativen  Ansehens  be- 
strahlt war.  Es  liegen  uns  darüber  interessante,  in  den 
letzten  Jahren  aus  der  Genisa  veröffentlichte  Dokumente 
vor.  So  richtet  die  Akademie  in  Pumbadita  im  Jahre  953 
in  einem  entweder  vom  Gaon  oder  einem  jedenfalls  sehr 
angesehenen  Mitglied  verfaßten  Schreiben  sehr  bewegliche 
Klagen  nach  Spanien  Ober  ihren  bedrängten,  erbarmungs- 
würdigen Zustand.1)  Es  wird  darin  erwähnt,  daß  schon  seit 
einiger  Zeit  keine  Spenden  von  dort  eingegangen  seien"). 
Von  einer  vor  zwei  Jahren  abgesandten  Summe  sei  nur 
mit  vieler  Mühe  eine  Kleinigkeit  durch  die  Klugheit  des 
Exilarchen  Salomo8)  gegen  die  Anmaßung  eines  >Räu- 
bers«  gerettet  worden,  der  ihnen  auch  den  durch  die  ebenso 
angesehenen,  wie  frommen  und  redlichen  Kaufleute  Ahron 
und  Mose,  Söhne  Abrahams,  zugegangenen  Betrag  hatte 
entreißen  wollen.4)  Die  infolge  der  allgemeinen  Bedürftigkeit 
in  der  Jeschiba    ausgebrochenen  Streitigkeiten    haben  die- 


')  Veröffentlicht  von  Cowley  in  JQR.  XVIII,  S.  401-403;  vgl. 
auch  dazu  Cowley  a.  a.  O.  S.  399—400  u.  Marx  a.  a.  O.  S.  768—770. 
—  Betreff  des  rätselhaften  ai»  1MHK  S.  402,  Z.  1  glaube  ich,  daß  dort 
eine  Corruptel  vorliegt.  Über  den  nicht  zu  eruierenden  Namen  des 
Verfassers  des  Schreibens  vgl.  jetzt  auch  Ginzberg,  Qeonica  I,  S.  7, 
Anm.  1. 

")  Vgl.  JQR.  a.  a.  O.  Z.  8  fgg. 

*)  Ein  solcher  ist  uns  sonst  nicht  bekannt.  Er  fehlt  in  der  von 
Kamenetzky  in  REJ.  LV,  S.  51  veröffentlichten  Liste  der  Nachfolger 
David  ben  Sakkai's. 

«)  Vgl.  a.  a.  O.  Z.  13-20. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.     329 

selbe  heruntergebracht1).  Alle  Ländereien  und  Gebiete,  die 
ihnen  bisher  Erträge  abgeworfen  haben,  seien  ihnen  verloren 
gegangen2).  Bemerkenswert  ist  in  diesem  Schreiben  auch 
die  Bitte  um  eine  für  den  Schreiber  selbst  bestimmte 
größere  Gabe3). 

l)  Vgl.  a.  a.  O.  Z.  21:  W3T)  na^a  w>v  npibnon  rtNT  Saai 
ibj>  ty  unten. 

a)  Vgl.  Z.  21  jmiBH  1^  pXl  bis  Z.  24. 

3)  Vgl.  s.  403,  z.  2:  py  o^yn  ^ki  "Btra  nam  nana  «natm 
(Fortsetzung  folgt.) 


Josef  Kohn-Zedek,  der  letzte  neubebräiscbe  Publizist 
der  galizischen  Haskala. 

Von  M.  Weisaberg-. 

Die  wichtigsten  Kampfmittel  der  galizischen  Haskala 
waren  :  das  Flugblatt,  der  Brief  und  die,  meistens  aposto- 
lische Absichten  verfolgende,  streitbare,  in  ihrem  Umfange 
kaum  über  das  Flugblatt  hinausgehende,  in  Form  von 
Jahrbüchern  erscheinende,  Zeitschrift.  Die  Geschichte  der 
galizischen  Haskala-Zeitschriften  ist  also  zugleich  der  wich- 
tigste Teil  der  Geschichte  des  jüdisch-galizischen  Humanis- 
mus selbst.  Die  Zufluchtsstätten  der  galizischen  Has- 
kala: Tarnopol,  Brody  und  Lemberg,  bildeten  denn  auch 
die  Ausgangspunkte  der  neuhebräischen  Publizistik  in  Ga- 
lizien.  Tarnopol,  welchem  das  Verdienst  gebührt,  durch 
Gründung  der  ersten  »Israelitischen  Freyschule«  in  slavischen 
Landen  die  Ideale  des  Humanismus  praktisch  verwirklicht 
zu  haben,  trat  schon  1814  mit  einer  Neuerung  hervor, 
die  für  alle  Zeit  mustergültig  wurde.  Die  genannte  Anstalt 
gab  nämlich  vom  ersten  Jahre  ihres  Bestehens,  3  Jahre 
hindurch,  die  erste  neuhebräische  Zeitschrift  in  Österreich 
heraus,  welche  zugleich  auch  die  erste  neuhebräische  Zeit- 
schrift für  die  Jugend  v/ar.  1814  erschien  der  erste,  jokj  TS 
(Treuer  Bote)  für  das  Jahre  5574.  Das  kleine,  schön  gedruckte 
Büchlein  im  grauen  Umschlage  enthält  alles,  was  einem 
jüdischen  Schüler,  der  sich  zum  frommen  Hausvater,  zum 
nützlichen  Bürger  herausbilden  will,  wissenswert  ist.  Also 
zuerst  die  notwendigen  Kalenderregeln  zur  Berechnung  des 
Monatsanfanges,  dann  .nuytmnn  vtd',  darauf  der  jüdische, 
römische  und  griechischkatholische  Kalender.  Dann  folgt 
die  Genealogie  der  russischen  Kaiserfamilie  (Das  Tarnopoler 


Josef  Kohn-Zedek,  der  letzte  neuhebräische  Publizist  etc.     331 

Land  war  1809—1816  russisch),  voraussichtliche,  merk- 
würdige astronomische  Vorfälle,  Weltchronik,  Jahrmärkte, 
Ritualgebräuche.  Der  literarische  Teil  führt  die  Aufschrift 
«abl  nfc  (Kalender  des  Herzens)  und  enthält  die  Rubriken: 
Seltene  Taten,  naturhistorische  Aufsätze,  moralische  Fabeln 
und  Rätsel. 

Den  Reigen  der  hebräischen  Zeitschriften  im  zweiten 
Mittelpunkte  des  galizisch-jüdischen  Humanismus,  in  Brody, 
deren  vornehmster,  dem  epochemachenden  »Hacholez«,  ich 
in  meinem  Buche  über  die  neuhebräische  Aufklärungs- 
literatur in  Galizien  (Leipzig  und  Wien  1898)  ein  beson- 
deres Kapitel  gewidmet  habe,  eröffnet  1817  ein  publizi- 
stisches Eoibryo,  eine  nur  handschriftlich  verbreitete  Zeit- 
schrift na»  nbiv,  deren  Redakteur,  der  geniale  Jakob  Sa- 
muel Byk,  um  sich  die  berühmtesten  Namen  der  galizischen 
Haskala  :  Rapaport,  Krochmal,  Levin  und  Goldberg  grup- 
pierte. Die  niemals  im  Drucke  erschienenen  Beiträge  sind 
im  Laufe  der  Zeit  zum  unersetzlichen  Schaden  der  neu- 
hebräischen Literatur  des  XIX.  Jahrhunderts  spurlos  ver- 
schwunden. 

Der  Vorort  des  galizisch-jüdischen  Humanismus,  Lem- 
berg,  tritt  erst  1824  mit  einer  hebräischen  Zeitschrift  auf 
den  Plan.  Es  ist  das  Meir  Halewi  Letteris'  ann  p]D«o  ,m»asn. 
'btr\w  »M$>.  Als  Druckort  fungiert  zwar  Leipzig  1824,  in 
Wirklichkeit  aber  war  es  Zölkiew.  Der  damals  blutjunge, 
weil  kaum  20  Jahre  alte,  Herausgeber  aber  befand  sich 
derzeit  in  Lemberg,  wo  er  an  der  Universität  orientalische 
und  europäische  Sprachen  studierte.  Mitarbeiter  waren: 
David  Friedländer,  der  Genosse  Mendelssohns,  Nachman 
Krochmal,  Abraham  Goldberg,  Schalom  Kohn,  Jakob  Samuel 
Byk  und  Jehuda  Leib  Misis.  Als  aber  der  letztere  in  einem 
Aufsatze  gegen  die  Lebensweise  der  polnischen  Juden  auf- 
trat, brach  ein  derartiger  Entrüstungssturm  im  Leserkreise 
aus,  daß  Letteris  die  Herausgabe  einstellen  mußte. 

Die  nächste  hebräische  Haskala-Zeitschrift  in  Lemberg 


332  Josef  Kohn-Zedek,    der  letzte  neuhebräische 

erscheint  1837 — 1839  und  führt  den  Titel:  '-.dd  "ipaoi  n«nnf 
,u:bt  *öan.  Die  Herausgeber:  der  auch  als  Dichter,  Drama- 
tiker und  Altertumsforscher  bedeutende  Nachman  Icchak 
Fischmann,  der  Kritiker  und  satirische  Epistelschreiber 
Jakob  Bodek  unterziehen  hier  die  Schriften  von  Rappaport, 
Zunz,  Reggio  und  Luzatto  einer  strengen,  abfälligen,  häu- 
fig auf  persönliche  Gehässigkeit  zurückzuführenden  Kritik. 
Die  Art  und  Weise,  wie  der  Hauptangegriffene,  Rappaport, 
ihnen  in  Kerem-Chemed  VI,  1841,  Brief  11  und  12  heim- 
leuchtet, ja  sie  literarisch  geradezu  abschlachtet,  ist  an 
farbenreichen,  aufregenden  Momenten  überreich.  Der  sieg- 
reiche Literaturheros  beendigt  die  grausame  Exekution  mit 
folgendem  Seufzer  der  Erleichterung:  p'KTCfl  nt^tr  n«  TnaKi 
p'üb  ntrn  m»n  «in  in«  riTa«  (Und  ich  machte  den  drei  Be- 
obachtern in  einem  einzigen  Monate  den  Garaus,  nämlich 
im  zweiten  Monate). 

Ihre  publizistische  Wiederauferstehung  erleben  die  drei 
Roim  —  nebenbei  die  tüchtigsten,  vielseitigsten  Publi- 
zisten des  galizisch-jüdischen  Humanismus  —  schon  1844 
In  diesem  Jahre  beginnen  sie  in  Lemberg  die  Herausgabe 
der  Zeitschrift:  noan  nai  nrr  nb  n-ortt?  vya  .Turin  n'bviv 
jrwnpn  U/1BP3  np»  ^ai  ,vip  »ana  mxa  mat^oi  o»v«*  ,nini. 
(1844 — 1845,  3  Bände,  gedruckt  in  Zofkiew,  Lemberg  und 
Prag).  In  dieser  Zeitschrift  sind  sie  nicht  mehr  Parteigänger, 

—  der  Roe  war  vor  allem  gegen  Rappaport  gerichtet  und 
sollte  dessen  Kandidatur  auf  den  Prager  Oberjuristenposten 
zu  Gunsten    des    genialen  Hirsch  Chajes  zu  Falle    bringen 

—  Kritiker,  sondern  simple  Literaten,  denen  es  vor  allem 
um  die  Pflege  der  hebräischen  Sprache  geht. 

Die  Zeitschrift  Jerusalem  sollte  vierteljährig  in  Heften 
von  je  6  Druckbogen  erscheinen,  aber  es  sind  in  2  Jahren 
bloß  3  Hefte  zu  Stande  gekommen.  Drei  Hefte  —  drei 
Druckereien:  Meyerhoffer-Zoikiew  ;  Schnayder- Lemberg; 
Landau-Prag.  Das  scheint  auf  Schwierigkeiten,  in  den 
Druckereien  Kredit  zu  erlangen,  hinzudeuten.    Der  Löwen- 


Publizist  der  galizischen  Haskala.  333 

anteil  der  Beiträge  gebührt  den  Herausgebern.  Fischmann 
ist  durch  religiös-patriotische  Gesänge  und  Abhandlungen 
zur  jüdischen  Altertumswissenschaft  vertreten;  Mohr  und 
Bodek  schreiben  über  jüdische  Literatur  und  Geschichte  im 
frühen  Mittelalter.  Bodek,  der  hämische  Frechling  aus 
dem  Roe,  versöhnt  uns  hier  durch  sentimental-humori- 
stische Reisebriefe  und  Glossen  zu  seinen  kritischen  Ab- 
handlungen. Naftali  Mendel  Schorr  ist  der  Hausdichter. 
Auch  sonst  überwiegen  die  Lemberger  Maskilim.  Es  sind 
aber  auch  die  Brody'er  und  Tarnopoler  vertreten.  Ganz 
besonders  hervorzuheben  sind:  eine  moralische  Fabel  in 
klassisch  biblischer  Sprache  von  Nachman  Krochmal  — 
wohl  das  einzig  Dichterische  aus  der  Feder  des  galizischen 
Mendelssohn  —  und  ein  begeistertes  Lob  der  Chassidim, 
welches  rückwärts  gelesen  sich  als  die  blutigste  Satire  auf 
dieselben  erweist.  Der  ungenannte  Autor  dieses  berühmt 
gewordenen  Palindromes  ist  der  Lehrer  des  jungen  Erter, 
der  später  getaufte  Zensor  hebräischer  Bücher,  Josef  Tarler. 

Indem  ich  mich  darauf  beschränken  will,  die  von  Ga- 
lizianern  in  Breslau,  Fürth,  Bamberg  und  Wien  herausge- 
gebenen hebräischen  Zeitschriften  (Jeschurun  von  J.  Kobak, 
1853 — 1868;  Awne  nezer  und  Zefirat  tiferet  von  Letteris- 
Wien  1853 — 1856;  Ozar  nechmad  von  Jicchak  Blumenfeld- 
Wien  1855  u.  1856;  Bikkurim  von  Naftali  Keller-Wien 
1865—1866)  bloß  zu  erwähnen,  wollen  wir  zu  Josef  Kohn- 
Zedek  übergehen,  der  trotz  mäßiger  Begabung  und  be- 
schränkter Kenntnisse,  durch  Ausdauer,  echte  Begeisterung 
und  heiße  Liebe  zum  jüdischen  Volke,  seiner  Literatur 
und  Geschichte  den  Gipfelpunkt  der  neuhebräischen  Publi- 
zistik in  Galizien  vorstellt. 

Josef  Kohn-Zedek  wurde  im  Jahre  5587  (1827)  als 
Sohn  des  privatisierenden  Talmudgelehrten  Ahron  des 
Magids  in  Lemberg  geboren.  Sein  Großvater  väterlicher- 
seits war  Rabbi  Meschulem,  Sohn  des  Rabbi  Joe!  Kohn-Zedek, 
der  nach   langjähriger    rabbinischer    Tätigkeit  in  Zörawno, 


334  Josef  Kohn-Zedek,    der  letzte  neuhebräische 

Korec  und  Bolechow,  von  1795 — 1810  als  Vorstadtrabbiner 
und  Magid  in  Lemberg  wirkte  und  durch  sein  Werk  /nriD 
•ma  berühmt  war.  Seine  Mutter  war  durch  Schönheit,  Geist 
und  Kenntnis  der  hebräischen  Sprache  sowie  der  im  prak- 
tisch-jüdischen Leben  gebräuchlichen  Ritualien  bekannt. 
Nach  dem  frühen  Tode  seines  Vaters  gelangte  Josef  durch 
die  zweite  Ehe  seiner  Mutter  in  den  Bannkreis  der  Brody'er 
Maskilim.  Kaum  16  Jahre  alt  (18.  Siwan  5603-1843)  hei- 
ratete er  die  Tochter  des  reichen  Gastwirtes  Malis  in  Lem- 
berg, des  Eigentümers  des  damals  stadtbekannten  Minjan- 
Malis.  Seine  literarische  Laufbahn  begann  Josef  Kohn-Ze- 
dek als  österreichisch-patriotischer  Schriftsteller  durch  seine 
Jubelschrift  "»labo  mpwv  Die  Kaiserrettung  Sr.  Majestät 
Franz  Josef  I.,  Lemberg  1853.  Diese  Schrift,  die  unter  an- 
derem eine  historisch  interessante  Übersicht  der  Geschichte 
der  galizischen  Juden  vor  dem  Regierungsantritte  Seiner 
Majestät  enthält,  brachte  dem  Verfasser  die  goldene  Me- 
daille für  Kunst  und  Wissenschaft  und  27  Anerkennungs- 
schreiben ein.  Als  patriotisch-dynastischer  Schriftsteller  be- 
tätigte sich  noch  Josef  Kohn-Zedek  durch  die  Schriften: 
•pnr  "m.  Gedicht  auf  Erzherzog  Karl  Ludwig,  Krakau  1857; 
"M  (31*»:  Kronjuwel  für  die  Habsburger  Dynastie,  hebräisch 
und  deutsch,  Lemberg  1856;  »obij?  fl3Sö»:  Ein  Denkmal  für 
die  Ewigkeit.  Trauergedicht  auf  den  Tod  des  Generals 
Radetzky,  hebräisch  und  deutsch,  Lemberg  1858.  Von 
1855 — 1874  gab  Josef  Kohn-Zedek  die  hebräischen  Zeit- 
schriften: Meged  jerachim  (1855—1859,  4  Teile);  Ozar 
chochmah  (1859  —  1862,  3  Teile);  Hajehudi  hanizchi  (1866, 
4  Hefte);  die  Wochenschrift  Hamewasser  mit  der  Beilage 
Hanescher,  sämtlich  in  Lemberg,  endlich  die  Monatsschrift 
Or  Tora  (Frankfurt  a.  M.  und  Lemberg  1874,  4  Hefte) 
heraus.  Außerdem  verfaßte  oder  edierte  er  noch  eine  ganze 
Reihe  exegetischer,  kritischer  und  historisch-heraldischer 
Werke.  1879  wanderte  Josef  Kohn-Zedek  nach  London  aus. 
Kurz  darauf  veröffentlichte  der   Lemberger  Litterat  Jehuda 


Publizist  der  galizischen  Haskala.  335 

Chaim  Leib  Korn  im  Königsberger  Wochenblatt  Hakol 
ein  Pamphlet  gegen  Josef  Kohn-Zedeks  literarische  und 
publizistische  Tätigkeit,  welches  viel  wichtiges  zur  Ge- 
schichte der  galizischen  Haskala  enthält.  Dem  alten,  galizi- 
schen  Journalisten  sollte  dadurch  offenbar  im  vorhinein 
die  Herausgabe  einer  neuen  hebräischen  Zeitschrift  verleidet 
werden.  Der  Geschmähte  antwortete  in  der  Schrift  'na«  nsw. 
London  1879.  Bis  1903  wirkte  Josef  Kohn-Zedek  als  Pre- 
diger im  East-Ende.  Die  ganze  Zeit  hindurch  war  er  ein 
regelmäßiger  Besucher  des  britischen  Museums  und  Be- 
nutzer der  hier  aufgehäuften  handschriftlichen  Schätze.  Im 
Juli  1903  wurde  er  auf  dem  Wege  dahin  vom  Schlage  ge- 
rührt. Im  Jänner  1904  hauchte  er  in  der  jüdischen  Heil- 
stätte für  unheilbare  Kranke  seine  Seele  aus. 

Wir  wollen  uns  hier  bloß  mit  Josef  Kohn-Zedek,  dem 
Publizisten,  beschäftigen.  Eine  kurze  Analyse  seiner  ver- 
schiedenen, kurzlebigen  Zeitschriften  wird  uns,  gerade  weil 
Josef  Kohn-Zedek  nur  ein  Durchschnittsliterat  war,  am 
besten  über  das  geistige  Niveau  der  galizischen  Judenschaft 
von  1855  informieren. 

Seine  erste  Zeitschrift  nannte  Kohn-Zedek  Meged 
Je  räch  im  (Segen  der  Monate).  Die  breitspurige  Aufschrift 
am  Titelblatt  deutet  genau  den  Inhalt  an.  Sie  lautet  in 
treuer  Übersetzung:  Segen  der  Monate,  enthaltend  Früchte 
der  Forschung,  Lehre,  Sitte,  des  logischen  Denkens,  der 
Moral,  des  Gleichnisses  und  des  Gesanges,  welche  blühten 
und  zu  Prachtfrüchten  heranreiften  auf  den  Beeten  der 
Weisen  und  Verständigen  im  Garten  der  Sprache  Ebers 
zur  Erheiterung  der  Verständigen  und  zur  Zeit  herange- 
diehen. Von  Josef  Kohn-Zedek.  Im  Jahre:  Kostet  bei 
mir  die  edlen  Monatsfrüchte,  weil  sie  köstlich 
sind.  Schon  Titel-  und  Umschlagblatt  verraten,  daß  wir 
uns  im  Bannkreise  des  Mussiv-  und  Melizimstiles  befinden, 
jenes  Stiles,  der  Gedanken  und  Gefühle  von  Menschen  des 
XIX.  Jahrhunderts  in  eine  Mosaik   aus    Verstrümmern  der 


336  Josef  Kohn  Zedek,   der  letzte  neuhebräische 

heil.  Schriften  und  der  mittelalterlichen  Pijutim  zwängen 
wollte.  Sogar  das  Jahr  des  Erscheinens  (1855)  läßt  uns, 
wie  wir  oben  bemerkt,  Josef  Kohn-Zedek  aus  einem  ana- 
grammatisch zugerichteten  Bibelverse  erraten.  Sogar  im 
prosaischen  Geschäftsverkehr  mit  seinen  Abonnenten  kommt 
uns  Kohn-Zedek  biblisch  oder  pajtanisch.  So  beginnt  auf 
der  Kehrseite  des  Umschlagblattes  zum  3.  Hefte  die  an 
die  Abonnenten  gerichtete  Aufforderung  zu  zahlen,  auf  fol- 
gende an  Versöhnungstagpijutim  anklingende  Weise:  Ge- 
schlossen ist  das  Ordnen  des  3.  Heftes  nach  dem 
Gesetze,  heute  bin  ich  bis  zum  Dritten  angelangt, 
heute  ist  Abonnentenempfang,  heute  ist  der  Zahl- 
tag für  die  aus  dem  Geschlechte  der  Zahler.  In  der 
Ankündigung  des  1.  Heftes  hatte  Kohn-Zedek  jährlich  50 
Druckbogen  in  12  Monatsheften  versprochen.  Doch  gelang 
es  ihm  in  fünf  Jahren  bloß  vier  Hefte  herauszugeben.  Die 
Einleitung  seiner  Zeitschrift  beginnt  Josef  Kohn-Zedek  mit 
der  demütigen  Bitte:  Meine  Brüder  und  Volksgenos- 
sen! Siehe,  ich  komme  heute  vor  Euer  Antlitz  mit 
meiner  Bitte  und  meinem  Wunsche:  Seid  mir  gnä- 
dig und  gewährt  ein  aufmerksames  Ohr  den  Wor- 
ten Eueres  Bruders  Josef...  Sein  Streben  ist  Preis  und 
Förderung  der  hebräischen  Sprache,  der  lieblichen  Sula- 
mit,  der  Himmelstochter,  die  uns  allein  von  allen 
unseren  Kleinodien  aus  uralter  Zeit  zurückgeblie- 
ben. Der  Erfolg  seiner  patriotischen  Gesänge  zum  Preis 
von  Herrscher  und  Herrscherin,  deren  Vorfahren  seinen 
Brüdern  seit  600  Jahren  Schutz  gewähren,  haben  ihn  er- 
mutigt aus  seiner  Verborgenheit  hervorzutreten.  Sein  Pro- 
gramm umfaßt:  Erklärung  dunkelgebliebener  heil.  Schriften, 
dunkler  Stellen  in  Talmud  und  Midrasch;  Bloßlegung  neuer 
Quellen;  Bibelforschungen,  Predigten,  Kritiken,  Lebensbilder 
berühmter  Juden,  Biographien  österreichischer  Kriegshelden, 
moralisch-politische  Forschungen,  jüdische  Geschichte,  di- 
daktisch religiöse  Gedichte,  Gelegenheits-  und  Zeitgedichte. 


Publizist  der  galizischen  Haskala.  337 

Für  dünne   Heftchen  von  je  58  Seiten    ein    wahrlich  über- 
reiches Programm,  das  nicht  ganz  eingehalten  werden  konnte. 
Das  erste,  wie    auch    die    folgenden    Hefte    enthalten 
gediegene  Beiträge  der  altrenommierten  Lemberger  Publizisten: 
Mohr,  Fischmann,  Schorr.    Der   hochverdiente    Editor   und 
Forscher  Salomon  Buber  verdient  hier  seine  ersten  Sporen. 
Merkwürdig   ist   im    ersten  Hefte    die    Abhandlung:    "nia^ 
par  niW2  tphyp,  (Ährengarben  auf  den  Gefilden  Jeschuruns) 
von    Mordechai  David  Strelisker  aus  Brody,   welche    unter 
anderem  die  Gründung  einer  hebräischen    Sprachakademie 
projektiert,    die    berechtigt    wäre,     neue    Ausdrücke    nach 
Regeln,  welche  aus  der  Eigenart  der    hebräischen  Wurzeln 
resultieren,  zu  schaffen.  Ist  aber  das  Projekt  an  sich  nicht 
schlecht,    so    sind    die    von    Strelisker    eingeführten    Neu- 
bildungen   seiner    eigenen  Erfindung:  aiJi^n   =   Telegraph, 
p]in  iö2  nb  nr»j?on  =  Maschine  Lokomotiv,  rrbirnjnan  = 
Medaille,  recht  sonderbar  und  geeignet,  Kopfschütteln  her- 
vorzurufen. Das  erste  Heft  gehört  fast  ganz  den  Mitarbeitern. 
Der  Redakteur  selbst   kommt  in  der  Einleitung    und  dann 
erst  hart  am  Schlüsse  zum  Worte  mit  einer    Predigt    über 
Prediger  und  Schriftsteller.  Dafür  aber  enthalten  die  übrigen 
Hefte  bemerkenswerte  Beiträge  vom  Redakteur.    So  bringt 
z.  B.  das  zweite  Heft    aus    der    Feder  Josef    Kohns    einen 
prosaischen,  in  ein  Lobgedicht  ausklingenden  Nekrolog  auf 
den  berühmten  Rabbi  Hirsch  Chajes,  der  kostbares  Material 
zur  Lebensbeschreibung   dieses   ausgezeichneten  Gelehrten 
enthält.  Das  dritte  Heft  ist  eigentlich  eine  FestnummerzurFeier 
der  glücklichen  Entbindung  Ihrer  Majestät  der  Kaiserin.  Das 
hier  enthaltene,  vom  Redakteur  verfaßte  hebr.    Gedicht  ist 
ganz  im  Psalmenstil  gehalten:  »Gebet  Kohn-Zedeks    in 
seiner  Verzückung,  als  er  vor  seinem  Gotte  für  die 
Königin  seine  Rede  ausschüttete.«  Hochbedeutsam  ist 
ferner  in  demselben  Hefte  Josef  Kohn-Zedeks  Abhandlung: 
Makkal  noam  we-choblim  (Sanfte  und  züchtigende  Rute)  über 
kritische  Grundsätze  beider  Talmude  in  Halacha  und  Agada, 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  " 


333  Josef  Kohn-Zedek,    der  letzte  neuhebräische 

Nachdem  Josef  Kohn-Zedek  die  Herausgabe  einer 
Monatsschrift  mißlungen  war,  wandelt  er  den  Meged  Jera- 
chim  in  ein  Literaturmagazin  um,  eine  Schatz- 
kammer für  hebräisches  Schrifttum  anaa  iiarn  -*x 
dhiö^ai  yw  mpa  /-ripn  'ana  »iwa  ,0'anp  nuwb  yn  trpxcn  Tty 
3*BH  W^B  r0VQKl  flvwp  ,Vm  »amai.  Die  Einleitung  —  Josef 
Kohn  nennt  sie  nnrne,  Vorhalle  —  enthält  kluge  und 
witzige  historische  Betrachtungen  über  Vorreden-Hakdamot, 
über  Titel  hebräischer  Werke,  welche  so  wenig  zum  In- 
halte passen,  ferner  eine  im  Musiv-  und  Paitanimstil  ge- 
haltene Charakteristik  der  hebräischen  Zeitschriften  vorn 
Meassef  bis  auf  unsere  Zeit.  »Und  es  bereitete  der  Meassef 
in  jenen  Tagen  der  Lehre,  der  Weisheit  und  der  heiligen 
Sprache  großes  Heil,  und  schritt  wie  eine  Feuersäule  vor 
dem  Lager  Israels  und  beleuchtete  die  Wege  der  Hzs- 
kala Der  Meassef  wurde  seinem  Volke  entrafft,  dar- 
über   wehklagte  man  im  Himmel  ....  Plötzlich  reiften  die 

ersten  Früchte  derZeiten  an  den  Wasserströmen 

Und  der  Lebensjahre  der  Erstlinge  der  Zeiten  waren 
zwölfe«.  In  diesem  Tone  geht  es  fort  bis  zu  Kohn-Zedek> 
unmittelbarem  Vorgänger  Meir  Letteris,  von  dessen  letzter 
Zeitschrift  »Awne  neser«  es  mit  einem  furchtbaren  Calem- 
bourg  heißt:  » ♦ »  nni8  Ktf*i  (bezieht  sich  auf  Letteris  Zeit- 
schrift Tnnen  flTDac»,  deren  unmittelbare  Fortsetzung  die 
Awne  neser  bildeten)  jnn  tr n p  ncf  mey^  v«öfl  »lbn 
■»aj?  imbin  ntai  d*b*  n*mv  a^env  now  ripaa  isd. 

Den  Schluß  dieser  großen,  farbenprächtigen,  21  Seiten 
fassenden  Einleitung,  welche  in  Wirklichkeit  eine  großartige 
Abhandlung  ist,  bilden  hochinteressante  Bemerkungen  über 
die  Herausgabe  hebräischer  Zeitschriften  in  Galizien,  weiche 
noch  heute  aktuell  sind.  In  Galizien,  führt  Josef  Kohn- 
Zedek  aus,  kann  nur  ein  Druckereibesitzer  eine  Zeitschrift 
herausgeben.  Zudem  sind  die  Mitarbeiter,  vielbeschäftigte 
Rabbiner  und  Geschäftsleute,  nicht  imstande,  regelmäßige, 
literarische  Monatsbeiträge  zu  liefern.     Deshalb  war  er  ge- 


Publizist  der  gaüzischen  Haskala.  31} 

^wungen,  aus  dem  'a'xv  1»;  einen  "roan  isnCi  zu  machen. 
Sein  neues  Organ  wird  seinem  Namen  Ehre  machen : 
"prsin  p  pviKn  nvn  irzin  "res  .t.t  ^WÖ..  Die  Leser  mögen 
sich  nicht  an  den  geringen  Umfang  des  ersten  Hefces 
stoßen.  Die  Zeitung  werde  sicherlich  stetig  wachsen.  Hier 
werden  Zeder,  Sonne  und  Mond  in  den  verschiedenen  Phasen 
ihres  Wachstums  zum  Vergleich  herangezogen :  ex  r^, 
\M2h2  rua  umna  »3  *b  IfiTflP  &TP  JÄ  ,tj?33  w&ni 
*JO»\  Der  1*03*1  nrs.  verspricht  biblische  und  talmudische 
Exegese;  talmudische  Encydcpädie ;  Beurteilung  der  Ge- 
genwart; religiöse  Gedichte,  welchen,  wenn  sie  den  drei 
Hauptbedingungen  :  Begeisterung,  Einbildungskraft  und  ge- 
sundem Menschenverstand  entsprechen,  metrische  Schwä- 
chen nachgesehen  werden  ;  theologische  Abhandlungen, 
Zeitgedichte,  wissenschaftliche  Prosa,  Übersetzungen  aus 
fremden  Sprachen,  nach  Art  von  Letteris  und  der  VVilna'er 
Maskilim  — nach  Judenart  — beschnitten  und  ganz  in  jüdischem 
Geiste.  Zeit  des  Erscheinens  :  zwanglos  ;  er  hofft  3 — 4mal 
jährlich  seinen  Lesern  kommen  zu  können.  Leider  war  sein 
Optimismus  wieder  einmal  grundlos.  Der  »nasn  tüx«  brachte 
es  nicht  einmal  zu  soviel  Heften,  wie  der  "dtiv  130„*  Von 
1859—1865  sind  bloß  3  Hefte  von  je  150  Seiten  —  Josef 
Kohn  nennt  sie  euphemistisch  Jahrgänge  —  erschienen. 

Der  TTB5R  "irx.  entfaltet  bereits  ein  reicheres  Programm. 
Der  Redakteur  denkt  nicht  mehr  an  bloße  Sprachförderung, 
sondern  behält  sich  auch  Kritik  der  Zeiterscheinungen  vor. 
Er  beschränkt  sich  auch  nicht  mehr  auf  galizisch-öster- 
reichische  Mitarbeiter,  sondern  zieht  selche  auch  aus  andern 
jüdischen  Zentren,  zumal  aus  Rußland  (Gotllober,  Ben- 
Jakob,  Plungian,  Zweifel)  heran. 

Die  dritte  journalistische  Gründung  Josef  Kohn- 
Zedeks  ist  die  Sammelschrift  "man  hihm  (Der  ewige  Jude, 
Lemberg  1866,  4  H.)  Er  will  hier  die  in  verschiedenen 
theologischen  Werken  und  Zeitschriften  zerstreuten  Berichte 
und  Abhandlungen    zur   altern    und    neuern  jüdischen  Ge- 

22e 


340  Josef  Koha-Zedek,    der  letzte  neuhebräische 

schichte  sammeln  und  herausgeben.  Das  erste  Heft  wird" 
durch  ein  von  Mattisjahu  Rabener  an  den  Herausgeber  ge- 
richtetes Gedicht  eingeleitet,  welches  dessen  Verdienste  um 
Literatur  und  Aufklärung  feiert:  >jjj?  jjpbi  "|nn  nnbw  nn»,, 
jnwnn  jrn  nr\»  . . .  irvnnn  ks*n  "jina  a^y^  jna  nun  .  . .  /£ik 
"c^tnvi  p*at  prfca  5>kw$>  aio  *i#aan  ^irar^mu  p»a. 

Auch  das  zweite  Heft  leitet  ein  Lobgedicht  auf  Josef 
Kohn-Zedek  ein,  welches  Mosche  Jissachar  Landau  aus 
Lemberg  (hier  als  der  Grabowtzer  Raw  bekannt)  zum  Ver- 
fasser hat.  Das  Poem  feiert  Kohn-Zedeks  Großtaten.  Er 
zeigte  seinem  Volke,  wie  sich  »Tora«  und  Weisheit  <naan) 
innig  verbinden,  er  belehrte  als  Erster  die  Juden  in 
hebräischer  Sprache  über  Politik  und  Wissenschaft,  er  ver- 
einigt getrennte  Ehegatten,  Eltern  und  Kinder,  bringt  ver- 
folgten Glaubensgenossen  Hilfe  und  errichtet  w  bsf\» 
"crmn1?  im  rra  ,n%y2ih,  um  Geheimnisse  der  Tora  aufzu- 
decken und  Weisheitsschätze  bloßzulegen. 

Während  aber  die  ersten  drei  Hefte  sich  mit  älterer 
jüdischer  Geschichte  befassen,  enthält  das  vierte  und  letzte 
Heft  bedeutsame  Beiträge  zur  zeitgenössischen  jüdischen 
Geschichte.  Und  so  begegnen  wir  hier  dem  an  Seine 
Majestät  im  Jahre  1848  seitens  der  ungarischen  Rabbiner 
gerichteten  Memorial:  n'itfvil  r\»  \yzbi  bma"  m  'pia  n«  p?r6„ 
"hieb  iöb  itrx,  dann  dem  Artikel  ;yanj?a  pK3  mw  rra  mu 
"D'iCDa^  1866  «in  Winfl  tfJ^a.  Die  Einleitung  zu  diesem  Auf- 
satz enthält  einen  hochinteressanten  Beitrag  über  das 
damalige  Verhalten  der  Polen  den  Juden  gegenüber,  ferner 
Bemerkungen  über  das  Lemberger  Gemeindestatut,  nach 
welchem  auf  100  Gemeinderäte  nur  15  Juden  fallen.  »Was 
frommt  euch,«  fährt  der  Bericht  fort,  »meint  ein  Judengegner, 
wenn  wir  euch  Vertreter  nach  Verhältnis  eurer  Anzahl  ge- 
währen, habt  ihr  etwa  40  Leute,  die  euch  im  Gemeinderat 
vertreten  können?  Die  Anzahl  eurer  Advokaten  ist  ja  so 
beschränkt.«  Darauf  antwortet  Josef  Kohn-Zedek:  n:/wj  na. 
*sn  /iraara  nnaa  wk  cnnan  a'jiaa?  ^a  cs%  ?  ntn  "aia  naroa  »w 


Publizist  der  galizischen  Haskala.  341 

a»BMj?  D'JDIki  dvg  ybv2  D3wa  ps*n  ?  jya«p^m«  c^r  cxn  ?  *vw 
p«  tmno  nxu  o?|  c^n  ix  p«  trin  na:n  nirnj  nssi  ?n:«^en 
?*i3j>  oys  tfovrtr 

Die  Tendenz  der  letzten  in  zwanglosen  Heften  er- 
scheinenden Zeitschrift  Josef  Kohn-Zedeks:  "mm  *iiN"  (4 
Hefte:  1—3.  Frankfurt  am  Main.  4.  Heft.  Lemberg  1874)  ist 
gegen  die  Ultrareformer,  zumal  gegen  die  destruktiven 
Tendenzen  von  Josua  H.  Schorrs  "pbnn„  gerichtet.  Die 
Bestimmung  des  •nun  TU«  heißt  es  in  dem  kurzen  Pro- 
gramm auf  der  rosigen  Umschlagsseite  (Das  große  Programm 
in  der  Einleitung  zählt  29  enggedruckte  Seiten)  des  ersten 
Heftes,  ist:  Entfachen  der  Liebesglut  in  der  Jugend  für 
nsan  und  min,,;  Ausrottung  von  »Dorn  und  Distel«  im 
Weinberge  Israels;  keine  bloße  Förderung  der  hebr.  Sprache, 
sondern  Pflege  der  Toraflamme,  Verhüten  ihres  Erlöschens; 
keine  Zeitungsneuigkeiten,  sondern  Geschichtskritik,  u  m 
den  gewaltigen  Arm  zu  offenbaren,  wel- 
cher begonnen  hatuns  zu  helfen,  aber  auch 
den  noch  immer  nicht  erschlafften  Arm 
unserer  Feinde;  Kontrolle  der  Tätigkeit  der  Rabbiner 
und  Kantoren,  sowie  auch  der  jüdischen  philantropischen 
Gesellschaften;  Gedichte  ausgezeichneter  Dichter,  aber  nur 
zum  Preise  Israels,  und  nur  in  der  Beilage.  Wozu  neue 
Sänger,  wenn  die  alten  Sänger  Ben-Gabirol  und  Jehuda 
Halevy  zum  Tempel  hinausgejagt  werden  ?  Diesem  Pro- 
gramme gemäß  enthält  der  'nrn  TW«  neben  polemischen, 
religionswissenschaftlichen  und  historischen  Artikeln,  neben 
der  gewissenhaften  Aufzählung  aller  Glaubensgenossen 
zu  Teil  gewordenen  Auszeichnungen,  auch  eine  Aufzählung 
der  sich  stets  erneuernden  jüdischen  Leiden.  In  chrono- 
logischer Ordnung,  nach  Tagen  und  Monaten,  setzt  uns 
Josef  Kohn-Zedek  den  blut-  und  jammerreichen  jüdischen 
Kalender  vor,  wobei  er  sich  besonders  gründlich  über  die 
Judenmetzeleien  von  1648  und  die  Schicksale  der  galizischen 
Juden  von  1848  an  ausspricht. 


342  Josef  Kchn-Zedek,    der  letzte  neuhebräische 

Der  "-Tn  1VH»  zerfällt  in  zwei  Teile.  Dem  reinwissen- 
schafllichen  ist  ein  zweiter  ausschließlich  aktuellen  Zeit- 
fragen gewidmeter  Teil  *^1T9»  tk.  beigegeben,  den  Josef 
Kchn-Zedek  in  Gemeinschaft  mit  seinem  Sohne  David 
(geb.  1848),  der  ihm  bereits  seit  1866  erfolgreiche  Mithilfe 
leistete,  herausgab.  Die  zweite  Aufschrift  dieses  Teiles: 
mnbi  Mtfb  ,ira*:j  bpo  bwe  ,müvfcb  ?«w  »:ab  ,paT  tbo« 
mpJi  wp  urrtro  m  »a  pinn  ^:2  nm  pK&  .wtob  man«  ksa 
pjn  Tina  n^pn  mnua  p*n  n;b  nwi  nfcna  rov  .«:  sb  w  ft 
ra-r^i  oirö  pan  na»  nj?  tau»  pae6  na»  h  *a  rmw  tnwfc 
to  ■£>  TSi  ist  in  mancher  Hinsicht  Zionismus  vor  Pinsker 
und  Herzl.  Auch  hier  behandelt  Kohn-Zedek  mit  Vorliebe 
das  Verhältnis  der  galizischen  Juden  zu  den  Polen.  Im 
Allgemeinen  billigt  er  das  einige  Vorgehen  von  Juden  und 
Polen,  beklagt  aber  bitter  die  Judenfeindlichkeit  der  dama- 
ligen polnischen  Presse.  Charakteristisch  ist  in  dieser  Be- 
ziehung der  Aufsatz:  »Gesetzgeber  und  Zeitungsschreiber« 
im  3.  Hefte.  Josef  Kohn  reproduziert  hier  eine  merkwür- 
dige Äußerung  Kaiser  Josephs  II.  über  das  Verhältnis  der 
galizischen  Juden  zu  den  Polen  und  Ruthenen:  Galizien  beher- 
bergt Polen,  Ruthenen  und  Juden.  Der  Pole  ist  sehr  stolz, 
der  Ruthene  sehr  unwissend,  der  Jude  sehr  scharfsinnig; 
deshalb  lebt  auch  einer  auf  Kosten  des  anderen.  Geht 
aber  einmal  den  Ruthenen  das  rechte  Licht  auf,  dann  zer- 
bricht der  Stolz  der  Polen,  die  Juden  machen  sich  frei  und 
v/erden  das  Zünglein  an  der  Wage,  falls  ihnen  aus  ihrer 
eigenen  Mitte  keine  Verräter  erstehen.  Erwähnenswert  ist 
in  diesem  Aufsatze  noch  die  Erzählung  einer  Episode  aus 
einer  Sitzung  des  österreichischen  Reichsrates  in  jenem 
Jahre  (1874),  deren  Helden  die  jüdischen  Abgeordneten 
Mises  und  Mendelsburg  waren.  Der  erste  klagte  über  die 
Vernachlässigung  der  deutschen  Sprache  in  den  galizischen 
Schulen.  Darauf  Mendelsburg  aus  Krakau:  Sind  etwa  die 
Juden  verpflichtet  Deutsche  zu  sein?  Ist  die  polnische 
Sprache  gegen  die  mosaische  Religion?  Gibt  es  etwa  keine 


Publizist  der  galizischen  Haskala.  343 

Juden  in  Frankreich  und  England,  die  gar  kein  »Deutsch« 
kennen?  Ich  bin  Jude,  hänge  aber  nur  an  der  polnischen 
Sprache!  Die  Polen  sind  keine  Judenfeinde,  sie  müssen  es 
aber  werden,  wenn  wir  einen  Staat  im  Staate  bilden  und 
zu  sehr  am  Deutschen  hangen.  Josef  Kohn  vermittelt :  Wir 
sollen  das  Polnische  pflegen,  aber  auch  das  Deutsche  nicht 
vernachlässigen.  Wir  sind  Freunde  der  Polen,  man  kann 
ihnen  aber  nicht  den  Vorwurf  ersparen,  daß  sie  den  Juden 
gegenüber  nicht  aufrichtig  vorgehen. 

Die  gediegensten,  umfangreichsten  Artikel  im  "min  TiK. 
stammen  vom  Redakteur.  Er  mußte  ja  selbt  sein  eigener 
fleißigster  Mitarbeiter  sein.  In  seiner  Einleitung,  in  welcher 
er  sich  über  Jehcschua  Heschel  Schorrs  destruktive  Wirk- 
samkeit, sowie  über  das  Los  der  hebräischen  Autoren 
weit  und  breit  ausspricht,  stellt  er  seinen  Mitarbeitern  erst 
dann  Honorar  in  Aussicht,  wenn  die  Abonnentenzahl  die 
Ziffer  600  überschritten  haben  werde.  Durch  die  Auszahlung 
on  Honorar  werde  das  Niveau  der  einzelnen  Beiträge  sich 
heben.  K"ibnp*t  jnBtttnb  vw  Br6i3?B^>  irt>  w  mp:  C3  '2  DPTai. 
Tvvnb  b«  -2  'ucn  tow£  ;*s  »3 .  .*.  bts  ubii  p  «H 

Die  größte  Tat  Josef  Kohns  aber,  die,  welcher  er 
seinen  Ruhm  in  der  ganzen  jüdischen  Welt  verdankte,  war 
die  Herausgabe  der  Wochenschrift  "wacn.  mit  der  Beilage 
•*.tr:n„;  kennt  man  dcch  in  jüdischen  Kreisen  heute  Josef 
Kohn  schlechthin  nur  als  den  -i^aen  bvz„.  Es  war  aber 
such  eine  Tat  beispielloser  Aufopferung  und  Ausdauer 
durch  fast  6  Jahre  —  vom  12./6.  1861  bis  15./U.  18G6  — 
ohne  Subvention,  ohne  eigenes  Kapital,  ein  politisches 
Wochenblatt  in  hebr.  Sprache  herauszugeben.  Denn  der 
"trrsrL,  war  das,  was  der  •rasrr»,  der  bedeutend  früher 
zu  erscheinen  begann,  nicht  war,  was  sogar  die  bis 
rtnn  erschienene  •fTrßXfl,  Nahum  Sokolows  auch  noch 
nicht  war :  das  erste  hebr.  Wochenblatt,  welches  mit 
weitem,  freiem  Blick  auf  das  Weltganze,  voll  Tempera- 
ment   und    Freisinn  über  innere  und  äußere  Politik,    über 


344  Josef  Kohn-Zedek,    der  letzte  neuhebräische 

die  österreichischen  Wirrnisse,  über  die  polnische  Inspe- 
ktion, die  Politik  der  Tuilerien  in  den  süßen  Lauten  eines 
Jesaias  und  in  kasuistischen  Wendungen  von  •,*2K«  und 
•Kai«  sprach.  Um  sich  aber  vom  ntpuaru  eine  treffende  Vor- 
stellung zu  machen,  reicht  eine  bloß  literarische  Würdigung, 
wie  eine  solche  übrigens  in  der  Beilage  zu  Nr.  15  der 
TiT'D^n»  vom  Jahre  1904  versucht  wurde,  nicht  hin.  Wir 
müssen  vielmehr,  um  unsern  Zweck  zu  erreichen,  einen 
kurzen  Spaziergang  durch  manche  Jahrgänge  des  n»aon» 
machen  und  bei  den  charakteristischen  Partien  kurz  ver- 
weilen. Die  erste  Nummer  des  »aa^  v\y  anra  pr*3PM>  ivsor.» 
"i?an  *jb  bv  trBHnnem  o»«w  anann  i?aa  ,bmv*  nennt  zwar  auf 
dem  Titelblatte  Abraham  Jicchak  Menkes  als  Herausgeber. 
Das  Umschlagsblatt  des  ersten  Jahrganges  aber  enthält  schon 
den  Vermerk:  yra  jna  v\ov  »jbö  "iicbn  £»aa  "pyi..  Das  Programm 
verspricht:  Jüdische  und  allgemeine  Neuigkeiten ;  Berichte  über 
den  Zustand  der  Juden  im  heiligen  Lande;  judaistische  Ab- 
handlungen; Verordnungen  der  Behörden.  Letztere  sollten  in 
deutscherSprache,  mit  jüdischen  Lettern  gedruckt  werden.  Die 
Aufschriften  der  Leitartikel  sind  von  der  ersten  bis  zur  letzten 
Nummer  schreiend,  aufregend,  antithetisch,  calembourisch, 
sprachwitzelnd,  an  Bibel-,  Talmud-  oder  Midraschverse  an- 
lehnend. Die  ersten  Leitartikel:  bkw  rauruaunn  nmtnp. 
''imim  handeln  vom  Nutzen  der  Geschichte,  zumal  in 
hebräischer  Sprache,  von  der  Ewigkeit  Israels.  Der  Leit- 
artikel: dö'bh  ,p*x  ms/BW  bv  frarriBtp  mmn  wm  rwn  »d'd-. 
"HK:a  pf»  *büb  waarl  mutet  wieder  vorzionistisch  an 
und  beginnt  jeden  Satz  mit  dem  Worte  Zion:  xpntan  p'3t. 
wi  »a  np  ^men  pnsr»  ,amax  vi?  1  |vs  —  was  ny  tratp  mraa 
. .  ♦  "Brpja  öbm  üpbn;  zum  Schluß  die  tröstliche  Nachricht : 
der  "itpaan«  werde  die  Tränen  Zions  in  seinen  Schlauch 
senken.  Daß  aber  dieser  Zionismus  bloß  literarischer  Natur 
war,  beweist  gleich  der  nächste  Leitartikel:  fmh  fünft 
"paa  "jfin^a  (Liebe  dein  Heimatland,  wie  dich  selbst),  der 
von    den    galizischen  Juden  österreichischen    Patriotismus 


Publizist  der  galizischen  Haskala.  345 

fordert.  Bisher  verrät  Josef  Kohn-Zedek  auf  jeden  Schritt 
den  Anfänger.  Von  Nr.  14  an  verspricht  er  einen  neuen  Kurs 
einzuschlagen:  aktuell  zu  werden.  Unter  den  wissenschaft- 
lichen Beiträgen  des  ersten  Jahrganges  ist  eine  Populär- 
geschichte Polens  hervorzuheben.  Auch  im  ■wann«  nimmt 
Kohn-Zedek  die  Gelegenheit  wahr,  das  Verhältnis  zwischen 
Juden  und  Polen  einer  Kritik  zu  unterziehen.  So  führt  er  z.  B. 
in  der  Nr.  7  vom  13/2.  1863  folgendesaus:  1848  beginnen 
die  Juden  sich  als  Söhne  ihres  Vaterlandes  zu  fühlen. 
Auch  die  Polen  beginnen  die  Juden  Brüder  zu  nennen. 
48  Polen  kommen  in  Galizien  auf  57  Ruthenen.  Die  Juden 
sind  also  das  Zünglein  an  der  Wage.  Nun,  fährt  Josef 
Kohn  fort,  mit  einer  Anlehnung  an  eine  bekannte  Stelle  in 
Jesaias,  ergreifen  10  Polen  den  Rockzipfel  eines  Juden  und 
sprechen  :  Lehne  deine  Hand  auf  das  Haupt  unseres  Er- 
wählten, an  welchem  unsere  Seele  Gefallen  findet.  Und 
doch  halten  im  Lemberger  Magistratsausschuß  die  Herren 
Armatys,  Rajski  und  Jabloriski  judenfeindliche  Reden. 
Ein  Glück  noch,  daß  die  Juden  Landesberg,  Kolischer,  Hö- 
nigsmann  und  der  edle  Christ  Rodakowski  ihnen  heim- 
geleuchtet haben.  In  derselben  Nummer  bespricht  Josef 
Kohn  den  polnischen  Aufstand  und  prophezeit  ihm  keinen 
Erfolg.  Polenfreundlich  ist  der  Leitartikel  von  Nr.  34  vom 
4/9.  1863.  ("ppn  1K  psn»  —  Land  oder  Leid.)  Es  ist  das 
eine  wahre  Lobhymne  auf  die  Heldentaten  der  polnischen 
Jnsurgenten.  Ebenso  der  Leitartikel  Nr.  41  vom  13/11.  1863. 
«13^  ni?„  —  die  Zeit  des  Schweigens  ist  vorbei  —  die  Zeit 
des  Redens  ist  da.  Die  polnische  Frage  ist  jetzt,  da  die 
Tuilerien  ihr  Verhalten  geändert  haben,  zur  europäischen 
Frage  geworden.  Die  Beilage  zum  nrann.  —  ntpn.  enthält 
talmudische  und  biblische  Exegese,  Kritik,  Linguistisches, 
Geschichte  der  Juden,  Biographien  verdienter  Juden  (S.  142, 
1863.  Biographie  von  Berek  Joselowitsch),  Biographien  be- 
rühmter NichtJuden,  Naturwissenschaftliches,  Geographisches, 
anziehende  Erzählungen,  Freundschaftsschreiben,  moralische 


346  Josef  Kohn-Zecitk,    der  letzte  neuhebräische 

Gedanken  —  ■s~,p^  "pTsn  nai  —  herzerquickende  Korres- 
pondenz des  Redakteurs  an  die  Abonnenten.  —  Am  reich- 
haltigsten ist  die  Rubrik  D»T»  Gedichte  —  da  uns  Kohn 
kein  einziges  Lobgedicht  auf  den  wiü  schuldig  bleibt. 
Dann  findet  man  hier  sehr  viel  Gediegenes  von  Keller, 
Rall,  Sperling,  Strelisker,  Rabener.  Der  letzte  druckt  hier 
-^eine  klassischen  Übersetzungen  aus  Byron,  Sperling 
Übersetzungen  von  Dr.  Rapaports  Gedichten,  ebenso  viele 
Original-Gedichte.  Dem  Jahrgange  1863  schließt  Kohn  ein 
Beiblatt  mit  den  neuesten  politischen  Nachrichten  an:  flia'bfi. 
~R  hiccnn  cp  n:tr  nnn«  -jn  htkis  18G3  morr^sa  d»öm  nan  0^*2? 
dwki  kp  miip  cjn'a  d^s?  rva^n  D%a$nnn  »knfc  u  vü'flA 
*a*jvinKri  c*2*n  nmp  *ns,  Das  Blatt  kommt  nicht  über  die  neunte 
Nummer  heraus.  Im  Jahre  1866  sucht  Kohn  dasselbe  Blatt 
in  einer  erneuerten,  auf  die  gesamteuropäische  Politik  zuge- 
schnittenen Form,  herauszugeben,  aber  auch  jetzt  ohne  Erfolg. 
Mitte  November  18(56  hört  der  ntfabn»  ganz  zu  erscheinen  auf. 

jetzt  einige  Bemerkungen  über  Stil  und  Tendenz  bei 
Josef  Kohn-Zedek. 

Sein  Stil  ist  das  Naivste,  Erquickendste  auf  der  Welt. 
Kein,  seine  Sprache  widerspiegelt  nicht  das  sogenannte 
wirkliche  Leben,  schmiegt  sich  nicht  an  das  Leben  des 
Tages  und  dessen  Bedürfnisse  an.  Aber  Kohn-Zedek  lebt  in 
Bibel  und  Talmud,  in  Midrasch  und  Peruschim,  in  Poskim 
und  Pijjutim.  Er,  der  Träumer  des  Ghetto,  lebt  in  einer 
Traumwelt  —  und  für  diese  Traumwelt  ist  gerade  der 
Melizimstil  der  passendste.  Und  so  ist  es  nicht  lächerlich, 
sondern  rührend,  wenn  er,  um  den  Tod  des  österreichischen 
Kriegshelden  Radetzky  zu  beklagen,  der  berühmten  Zionide 
des  Jehuda  Halevy  den  Ton  entlehnt.  n\v:r  "p^DC?  '*?«. 
■fpYiW  bvz  bv  ptf  /nun  whsi  rrfcna  mbv  ica  —  oder  wenn 
sein  Entrüstungsschrei  über  Jehoschua  Heschel  Schorrs 
Y'V"n„  an  das  Jubellied  erinnert,  mit  welchem  die  jüdi- 
schen Frauen  die  heimkehrenden  Helden  Dawid  und  Saul 
begrüßten:    »rrorra  -w  bwm  vtbta  dwb  wn«     Daß  aber 


Publizist  ccr  gallzischen  Haskala.  347 

Kohn-Zedek  auch  die  modernsten  hebräischen  Versmaße 
meisterhaft  zu  behandeln  versteht,  mögen  die  vielen  Ge- 
dichte beweisen,  in  welchen  er  das,  was  sein  Herz  am 
meisten  bewegt:  seine  Zeitschriften,  charakterisiert. 

Ja,  Josef  Kohn-Zedeks  Stil  beschränkt  sich  nicht  auf 
Melizoth;  diese  bilden  nur  eine  Seite  seines  Stiles:  seine 
poetische  Prosa,  den  Ausdruck  seiner  seelischen  Erregung. 
Er  ist  in  vielen  Abhandlungen,  zumal  in  seiner  Zeitschrift 
'nun  "ns„  jener  einfachen,  klaren,  leicht  mussierenden,  halb 
rabbinisch,  halb  im  -"  ps»^  gehaltenen,  hebräischem  Prosa 
fähig,  wie  sie  etwa  Franz  Delitzsch  an  Rapaport  rühmt. 

Besonders  hervorzuheben  ist  die  Tendenz  von  Josef 
Kohns  Zeitschriften.  Hier  sehen  wir  eine  regelrechte 
Evolution.  Er  beginnt  mit  Preis  und  Förderung  der  hebr. 
Sprache.  Aber  schon  in  seiner  zweiten  Zeitschrift  will  er 
besonders  auf  das  Leben  Einfluß  nehmen.  In  seiner  dritten 
und  vierten  Zeitschrift  findet  seine  Liebe  zum  ganzen 
Judentum  besonders  starken  Ausdruck.  Zugleich  sehen  wir 
den  Keim  einer  Tendenz,  die  Judenemanzipation  nicht 
als  das  Ende  der  Erlösung  anzusehen,  sondern  dieselbe 
auch  politisch  auszubauen,  ohne  ihr  auch  nur  im  mindesten 
irgend  eines  der  religiösen  Güter  zu  opfern.  Wir  können 
also  mit  gutem  Fug  und  Recht  Josef  Kohn-Zedek  einen 
Pfadführer  und  Wegweiser  der  hebräischen  Publizistik  der 
Gegenwart  nennen.  Josef  Kohn-Zedek  ist  ein  Idealist. 
Nicht  das  Erreichte  gereicht  dem  Strebenden  zum  Lobe, 
sondern  das  Gewollte,  das  Streben  selbst.  Trotz  aller  Ent- 
täuschungen schreitet  Josef  Kohn-Zedek  immer  vorwärts, 
von  einer  Enttäuschung  zur  anderen,  aber  auch  stets  einen 
Schritt  vorwärts.  Er  beschließt  würdig  die  Führerepoche 
der  galizischen  Haskala,  welche  seit  1815  ganz  Israel  vor- 
geleuchtet hat.  Was  Josef  Kohn-Zedek  nicht  erreicht,  aber 
trotz  allgemeinen  Kopfschüitelns  und  hämischer  Ver- 
dächtigung erstrebt  hat,  das  möge  unser  Ideal  bleiben  für- 
alle Zukunft. 


Notizen. 

Zur  Geschichte  der  Jaden  in  Hamburg  trägt  Einiges  bei  Ernst 
Baasch  in  seinem  Heil  »Der  Einfluß  des  Handels  auf  das  Geistes- 
leben Hamburgs«  (Pfingstblätter  des  Hansischen  Geschichtsvereins 
V)  Leipzig  1909.  Er  betont  den  Einfluß  der  Portugiesen  und  zitiert 
im  Gegensatz  zu  einer  Bußpredigt  von  1719,  die  die  Juden  als  frech 
schmäht,  das  Urteil  eines  früheren  Geistlichen  Schupp  (f  1661),  daß 
der  portugiesische  Jude  sich  oft  »in  Handel  und  Wandel  ehrlicher 
und  aufrichtiger  erweise  als  mancher  Christ.«        F.  Liebermann. 


In  der  Monatsschrift  Jahrg.  1904,  S.  604  ff.  kommt  A.  Epstein 
zu  dem  Resultate,  daß  die  Wormser  Thorarolle  auf  Hirschpergament 
mit  TKO  '3*1  1BD  nicht  identisch  ist,  und  daß  R.  Meir  aus  Rothen- 
burg sie  nicht  geschrieben  hat.  Das  letztere  bezweifelt  auch  bereits  Auer- 
bach in  seiner  Geschichte  der  israelitischen  Gem.  Halberstadt  (Halber- 
stadt 1866)  S.  184  und  führt  ebenfalls  den  von  Epstein  gebrachten 
Einwand  an,  daß  das  alte  Wormser  Minhagimbuch  jene  Thorarolle 
als  aus  Eger  stammend  bezeichnet.  Einen  zweiten  Einwand  bringt 
Auerbach  im  Namen  seines  Lehrers  R.  Koppel.  Die  besagte  Thora- 
rolle habe  am  Anfange  jeder  Kolumne  ein  1,  und  das  perhorresziere 
R.  Meir  aus  Rothenburg  (vgl.  Mordechai  m:tDp  Jtfsta  g.  Ende,  Ha- 
gahoth  Maimunijoth  zu  Maimonides  fimn  ISO  Tflsbft  VII,  10,  wo 
dieser  Brauch  dem  Schreiber  R.  Leontin  aus  Mühlhausen,  einem  Zeit- 
genossen R.  Meirs,  zugeschrieben  wird).  Auerbach  erzählt  noch, 
daß  sein  Lehrer  R.  Lob  Karlburg  (st.  1835  in  hohem  Alter,  vgl. 
Geiger,  Wissensch.  Zeitschr.  f.  jüd.  Theologie  I,  126)  es  für  wahr- 
scheinlich hielt,  daß  die  Thorarolle  von  Eger  nach  Worms  durch  R. 
Meir  aus  Eger  gebracht  wurde,  den  R.  Jacob  ha-Lewi  einst  in  dessen 
Laubhütte  besuchte,  wie  von  ihm  im  Maharil  a^b  R'dhn  berichtet 
wird.  Beide  seien  gleichzeitig  in  Worms  gewesen.  Später  habe  mau 
R.  Meir  aus  Eger  mit  R.  Meir  aus  Rothenburg  verwechselt,  da  der 
letztere  in  Worms  begraben  sei.  Das  VKB  n31  1ED  sei  mit  R.  Meir 
aus  Eger  in  Beziehung  zu  setzen.  Wer  es  geschrieben  habe,  das  sei 
ungewiß.  Louis  Lewin. 


Notizen.  349 


Die  Identität  dar  Familien  Theomim  und  Munk  haben  die  Her- 
ausgeber der  »Jüdischen  Privatbriefe  aus  dem  Jahre  1p19«,  die  Herren 
Alfr.  Landau  u.  Bernhard  Wachstein,  durch  eine  Reihe  glücklicher 
Kombinationen1)  tadellos  festgestellt.  Einige  handschriftliche  Notizen, 
die  mir  vor  einiger  Zeit  bekannt  geworden  sind,  bilden  gewißermaßen 
einen  urkundlichen  Beleg  für  diese  Feststellung.  Sie  rühren  von  der 
Hand  des  Prof.  Eduard  Munk  her  und  finden  sich  in  einer  hebr. 
Bibel2),  die  ihm  gehört  hat  und  jetzt  das  Eigentum  seines  Schwieger- 
sohnes, des  Herrn  Eduard  Caro  in  Glogau,  ist.  Den  Auftrag  zur 
Niederschrift  gab  ohne  Zweifel  Raphael  Löbel  Munk,  der  Vater  Eduard 
Munks.  Jedenfalls  fällt  durch  sie  ein  ungeahntes  Licht  auf  die  Nach- 
kommenschaft Israel  Theomims,  des  ältesten  Sohnes  des  Metzer 
Rabbiners,  R.  Jona  Theomim,  über  den  bisher  nur  lückenhafte  Nach- 
richten bekannt  geworden  sind3).  Selbst  die  Inschrift  seines  Grab- 
steines, die  seit  nahezu  180  Jahren  an  einer  leicht  zugänglichen  Stelle 
gedruckt  vorliegt,  ist,  so  viel  ich  sehen  kann,  unbemerkt  geblieben. 
Epitaphia  quoque  sua  fata  habent. 

Die  Notizen  aber  besagen  folgendes:  »Als  1813  die  Stadt 
[nämlich  Glogau]  belagert  wurde,  zerschmetterten    und  zerstörten  die 

»)  Vgl.  Jüd.  Privatbriefe  S.  IX.  4  51.67,  N.  2  u.  83,  N.  3  u.  unten 
S.  368.  Die  Umkehrung  der  Gleichung  ist  jedoch,  wie  bereits  Landau 
u.  Wachstein  bemerken,  nicht  berechtigt.  Keineswegs  gehören  alle 
Munks  zur  Familie  Theomim. 

2)  Es  ist  die  Leipziger  Ausgabe,  die  1756  bei  Bernh.  Christ. 
Breitkopf  erschienen  ist.  Die  Notizen  stehen  darin  unter  der  Über- 
schrift: »Grabschriften  unserer  Vorfahren«  auf  dem  letzten  Blatt  hinter 
dem  Verzeichnis  der  Haftarot.  Ich  gebe  sie  in  der  folgenden  Dar- 
stellung nach  der  chronologischen  Reihenfolge,  in  der  sie  zweifellos 
in  der  Urschrift  gestanden  haben.  Prof.  Munk  hat  die  beiden  Grab- 
schriften, die  für  ihn  das  wichtigste  Stück  der  Überlieferung  waren, 
an  die  Spitze   gestellt. 

3)  Was  wir  bisher  von  ihm  wissen,  hat  zuletzt  A.  Frei  mann 
in  der  von  ihm  besorgten  neuen  Ausgabe  des  "iBltP  JJpn  'D  von  Je- 
chiskija  Josua  Feiwel  Theomim  (Sonderausgabe  aus  der  Festschrift 
zum  70.  Geburtstage  Harkavys)  S.  2  ff.,  vgl.  ZfHB  XIII  (1909),  S.  66 
ff.,  und  zwar,  so  viel  ich  weiß,  sorgfältig  zusammengestellt. 


350  Notizen. 

Soldaten  alle  jüdischen  Grabsteine,  und  heute  hat  der  vornehm? 
Herr  Vorsteher,  R.  Raphaei  Lob  b.  Jesaia  Munk,  Enkel  des  hier  be- 
grabenen hochgeehrten  Mannes,  in  seiner  Opferfreudigkeit  dieses  neue 
Denkmal  am  Orabe  seines  Ururgroßvaters  zur  Ehre  seiner  Vorfahren 

errichten  lassen  am 1817«  *). 

Raphaei  Löbel  Munk  gehörte  um  die  Wende  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  zu  den  angesehensten  Männern  seiner  Vaterstadt.  Währer. d 
der  schweren  Heimsuchungen,  die  die  Ologauer  in  der  Franzosenze:t 
nach  der  Eroberung  der  Festung  zu  erdulden  hatten,  wählte  man  ihn 
1806  in  die  Kommission,  die  den  Ratsherren  zur  Wahrnehmung  des 
allgemeinen  Wohles  und  der  Gerechtsame  der  Stadt  zur  Seite  stehen 
sollte2).  Bei  der  Einführung  der  Städteordnung  wurde  er  im  Februar 
1809  zum  stellvertretenden  Mitglied  der  Stadtverordneten-Versammlung 
gewählt  und  trat  am  17.  August  desselben  Jahres  als  ordentliches 
Mitglied  ia  die  Versammlung  ein.  Im  Jahre  1811  berief  ihn  das  Ver- 
trauen seiner  Mitbürger  zum  zweiten  Mal  in  dieses  Ehrenamt3).  Auf 
den  neuen  Grabdenkmälern,  die  er  für  seine  Ahnen  errichten  ließ, 
erhielt  das  seines  Ururgroßvaters  folgende  Inschrift: 

2'Dixn  nnwöo  b'it  rw  "mmo  pxn  yvia  binw  mia  »asTi  ö"d 

jreb  rran  ran  y  p-v  ora  nmseb  T?n 

irai  '22i  v«  xcx  Bnnn  ■?? 

nao  "irrt  [y  rraaxi  J7tv  bhvx 

r,znb  -bsa  pixa  c'xno 

.-äs  bmw*  nai 

Sie  liest   sich  wie  eine  zweite,  etwas  kürzere  Fassung  der  U  - 


')  In  der  Aufzeichnung  Ed.  Munks  lautet  sie  wie  folgt:  I\2V2 
mastö  ^2  nx  nennen  *iwx  ln-ntrm  naw  p*Xöa  "ryn  -xa  wxs  rj?pn 
,,^,  .«22  2if?  ^xb*i  rna  c".s  pspn  ».ifmr.  anrnn  cmi  ^xw  *iap 
■ax  *ax  nap  ty  nxn  nsnnn  -21:0-  n^pm  na  f^oon  naan  (!}--:  pra 
p'B5?  t'Jr'pn  .....  Di"1  vmax  "122i7  üpt  V2X.  Schon  die  Lücke,  die 
für  das  Datum  des  Jahies  5577  sich  findet,  beweist,  daß  Prof.  Ed. 
Munk  die  ihm  vorliegende  Urschrift  nicht  mehr  entziffern  konnte. 
Die  dem  Namen  des  pietätvollen  Mannes  vorstehenden  Titulaturen 
machen  es  wahrscheinlich,  daß  er,  wie  ich  im  Text  vermute,  die 
Tatsache  von  einem  andern  hat  notieren  lassen. 

a)  Berndt,  Gesch.  der  Juden  in  Glogau,  S.  99.  Vgl.  auch  meine 
>Mittei!ungen  aus  Salomon  Munks  nachgelassenen  Briefen*  im  Jahr- 
buch für  jüd.  Gesch.  u.  Lit.  Bd.  II  (1S99),  S.  152,  Anm.  1. 

3)  Berndt  a.  a.  O.  S.  lC9f. 


Notizen.  351 

schrift,  vermutlich  darum,  weil  im  Laufe  der  Zeit  die  Lesbarkeit  d?r 
Inschrift  auf  dem  ersten  Denkmal  Schaden  erlitten  hatte.  Was  aber  auf 
dem  im  Jahre  1813  vernichteten  ersten  Denkmal  gestanden  ha*, 
wissen  wir  ans  einer  etwa  hundert  Jahre  früher  angefertigten  Abschrift, 
die  ohne  Zweifel  von  dem  Pastor  Chr.  Theophil  Unger1),  dem  »be- 
geisterten Sammler  für  jüdische  Bibliographie«,  herrührt  und  von  dem 
Hamburger  Pastor  Joh.  Chr.  Wolf  im  4.  Bande  seiner  berühmten 
Bibl.  Hebr.  S.  1215  mitgeteilt  ist.  Sie  hat  folgenden  Wortlaut: 

nan  ■•asi  \t;  »v:  p'-inn  hv 

na^o  ntim  \t  (2"--"i  ^  ^b* 

naa  ^kw  -iji  r.zrbw  n^s»  p»a  Bixra 

h"  .";r  Tinia  pxam  bxw<  vnrnti  «in  rr,- 

n-Tjtt  nruj6  [;ki  ran  a"1  ,nn*:p^  "p- 

(sM31Vn  »TOP  *«"    KJ?1X3   S?*?351 

.jTD^  n'BJi  (4r.sn  T1  •z  zvz 

Das  andere  Grabdenkmal  Heß  er  mit  folgender  Inschrift  ver- 
sehen : 

B'B 

rw:  [T»jrp  ibb   B'nj?a  '2  wrtnjn  d'id   ^kibm  ran  "jw   rr.a  ^rn 

.p*B^  rsn  (5:s  na  labiyb  -j^n  caxr  nneveo 

bvhvra  iinx  ü?B3  b*Äsn  ba  m  ."tb  pßBn  k-ib:  ^m  nacr  rra-n5?  ti*?  na 

.^«•wa  rr.vz:  naa  ^rsn  ittiVintfii  sv-ei  "iai  a^a  l^sa 

Darauf  bezieht  sich  dann  die  Schlußbemerkung:«)  »Auch  dieser 
Stein  wurde  von  R*  Raphael  Lob  b.  Israel  Munk,  dem  vornehmen 
Obervorsteher,  dem  Enkel  des  hier  Begrabenen,  errichtet  in  seinem 
Eifer  für  die  Ehre  seiner  Vorfahren,  die  im  Staube  ruhen.« 

*)  Über  Unger  (st.  16.  X.  1719)  vgl.  H.  B.  XVII,  88,  Stein- 
schneider, Katalog  der  hebr.  HSS.  der  Hamburger  S'.adtbibl.  S.  VIII. 
147  u.  meine  Abhandl.  »Eine  Sammlung,  Fürther  Grabschriften«  S.  IX. 

2)  So  ist  wohl  zu  lesen  statt  naa"1!  im  Text.  Vgl.  b.  Rosch  ha- 
Schanah  33b  f. 

s)  »aiSPn  ist  offenbar  ein  Schreibfehler.  Die  Wendung  aus  Ab. 
sara  24  a. 

4)  rrtPn  MBB  sind  offenbar  Schreibfehler.  Die  Munk'sche  Ab- 
schrift und  die  Totenlisten  haben  übereinstimmend  n'BJl. 

6)  Abweichend  hiervon  haben  die  Giogauer  Totenlistea  über- 
einstimmend das  Datum  ,va. 

e)  Sie  lautet  im  Urtext:  pÄpn  tpbxx  v$  er"  näH  [BJtl  03 
TTSab  s:p  a  ,-s  ^zp:r,  "733  "vi  -i-a  ^yv  n'a  \z  3'f?  'tkb'i  ,-■;  a*  d 
"an  p-sa  vr«  D-pnsn  vn^x. 


352  Notizen. 

Ans  diesen  steinernen  und  einigen  papierenen1)  Resten  wissen 
wir  nunmehr  etwa  folgendes  über  den  Lebensgang  und  die  Nach- 
kommenschaft R.  Israel  Theomims.  In  den  nationalen  Studien  war  er 
wohl  bewandert,  wenn  er  auch  niemals  ein  rabbinisches  Amt,  wie 
seine  Brüder,  Isaak  Maier  und  Josua  Feiwel2),  bekleidete.  Nach  dem 
Tode  des  Vaters,  16.  April  1669,  ließ  er  dessen  Buch  in  Amsterdam 
drucken  und  schrieb  ein  Vorwort  dazu.  Später  zog  er  wohl  nach 
Posen5)  und  siedelte  von  dort  nach  Ologau  über.  Hier  war  sein 
Schwager,  R.  Abigedor  b.  Schneior,  Rabbiner4),  und  hier  kam  auch  er 


')  Ich  habe  das  Aktenstück  A.  A.  II  21  b  des  Breslauer  Staats- 
archivs und  die  Totenlisten  der  Qlogauer  Gemeinde  benutzt.  Es  sind 
der  letzteren,  im  Besitz  des  »Heiligen  Stifts«  daselbst,  zwei  vorhanden: 
1.  ein  Folioband,  angelegt  von  Michael,  dem  Beamten  der  pn  (st. 
So.,  7.  Schebat  =  23.  Januar  1820)  im  Auftrage  des  Vorstandes  der 
Brüderschaft  am  (9.  Schebat  =)  19.  Januar  1796  und  fortgeführt 
von  dessen  Amtsnachfolger  Selig  b.  Isaac  Caro    (gest.  25.  Tischri    = 

1.  Oktober  1850).  Er  enthält  eine  chronologische  Übersicht  der  von 
1710—1850  alljährlich  Verstorbenen  und  als  Einführung  dazu  einige 
(13)  Daten  aus  früherer  Zeit  auf  25  Bl.,  dann  ein  Verzeichnis  der  in 
den  51  Qräberreihen  des  Friedhofes  Beerdigten  auf  (12)  +  52  BI. 
Das  Blatt  hinter  dem  Titelbl.  und  6  Bll.  am  Ende  sind  unbeschrieben. 

2.  Ein  alphabetisches  Register  dazu,  das  die  Namen  in  zeitlicher 
Reihenfolge  aufzählt  und  die  Qräberreihe  anzeigt,  in  einem  Oktav- 
band. Beide  Register  sind  mit  anerkennenswerter  Sorgfalt  geführt. 
Das   zweite    scheint   ganz   von   der   Hand   Selig  Caros    herzurühren. 

2)  Vgl.  Freimann  a.  a.  O. 

s)  Die  alphabetische  Totenliste  nennt  ihn  schlechtweg  R.  Is- 
rael Posner,  während  er  im  Folioband  JW  •ü  flXJn  STtt  bxw  V'D 
heißt.  Auch  der  Lissaer  Zweig  der  Familie,  die  Ahnen  des  Danziger 
Rabbiners,  des  Verfassers  des  VKO  ma  ICD,  nannten  sich  Posener. 
Vgl.  L.  Lewin,  Qesch.  d.  Juden  in  Lissa  S.  218  ff.,  334,  380.  Übrigens 
erhielt  Israels  Bruder,  Isaak  Meir,  16S5  eine  ehrenvolle  Berufung  zum 
Rabbinat  in  Posen,  die  zwei  Jahre  später  für  null  und  nichtig  erklärt 
wurde.  Vgl.  die  von  Buber  in  seinem  fizw:  mp  S.  43  nach  Ab- 
schriften, die  ihm  Ph.  Bloch  aus  den  Posener  Oemeindebüchern  ver- 
schafft hat,  veröffentlichten  Urkunden.  Vielleicht  bringen  weitere 
Urkundenfunde  einmal  Licht  in  die  dunkeln  Vorgänge.  In  Lissa 
stammte  auch  die  Familie  Norden  in  weiblicher  Linie  von  dem 
Metzer  Rabbiner  R.  Jonah  Theomim  ab.  Vgl.  D^Hp  fljn  S.  95,  102,. 
110  u.  Lewin  a.  a.  O.  S.  333. 

4)  S.  D^Hp  J1JH  S.  95,  102.  Friedberg,   plSt  T\mb,  2.  Aufl.  S.  90. 


Notizen.  353 

selbst  bald  zu  hohem  Ansehen.  Etwa  drei  Jahrzehnte  überlebte  er 
seinen  Schwager  (st.  23.  März  1675)1)  und  mehr  als  11  Jahre  seinen 
Sohn  Samuel  Feiwel,  den  Namensträger  eines  seiner  berühmten  Ahnen, 
der  am  (24.  Nissan  =)  19.  April  1694  in  Kremsier  die  letzte  Ruhestätte 
gefunden  hat').  Neues  Glück  wird  ihm  in  der  Familie  seiner  andern 
drei  Söhne,  die  in  Glogau  ihre  Heimat  fanden,  erblüht  sein.  Am 
Sonnabend,  den  (12.  Tammus  =)  4.  Juli  1705  ging  er  zur  ewigen 
Ruhe  ein. 

Von  den  in  Glogau  ansässigen  Söhnen  hieß  der  eine  Nathan. 
Von  ihm  wissen  wir  nur,  daß  seine  Frau  Malka  am  (18.  Tebeth  =) 
10.  Januar  1738,  sein  Sohn  Hirsch  am  (17.  Nissan  =)  4.  April  1768  und 
seine  Schwiegertochter  Esther  am  (13.  Cheschwan  =)  5.  Novemb.  1767 
gestorben  sind. 

Von  dem  anderen  Sohn  Juda  erfahren  wir8),  daß  er  »mit  allem, 
was  ihm  in  die  Hände  kam,  handelte«  und  ziemlich  bemittelt  war. 

Sie  beide  überragte  an  Einfluß  und  Ansehen  der  dritte  Sohn 
J  esaia.  Nach  den  Akten  gehörte  er  zu  den  Rentiers  und  Particuliers, 
deren  damals  acht  in  der  Gemeinde  gezählt  wurden.  Angeblich,  heißt 
es,  lebe  er  von  seinen  Interessen,  tatsächlich  aber  sei  er  ein  Rechts- 
consulent,  wobei  er  viel  Geld  verdiene.  So  die  Darstellung  der  den 
Juden  wenig  freundlichen  Kommission,  die  mit  der  Aufnahme  der 
Seelenzahl  der  Gemeinde  betraut  war*).  In  Wahrheit  war  er  der  Schtadlan 
oder  rechtskundige  Sachwalter,  der  die  Interessen  der  Gemeinde  und 
jedes  ihrer  Mitglieder  bei  der  Obrigkeit  wahrzunehmen  und  zu  ver- 
treten hatte.  Offiziell  gab  es  zwar  in  Glogau  einen  Beamten,  der  diesen 
Titel  führte,  damals  nicht.  Das  Gemeindestatut  vom  (19  Tebeth  =) 
23.  Dezember  1687  bestimmte  vielmehr  (Kap.  7,  §.  2),  daß  der  Monats- 
vorsteher verpflichtet  sei,  jedem  Gemeindemitgliede  als  Rechtsbeistand 
im  Verkehr  mit  der  christlichen  Obrigkeit  zur  Seite  zu  stehen.  Jedoch 
sei  der  Vorstand  befugt,  auch  ein  geeignetes  Gemeindemitglied  mit 
dieser  Aufgabe  zu  betrauen,  und  jedermann  müsse  ohne  weiteres, 
wenn  er  sich  nicht  schwere  Strafe,  die  der  Vorstand  nach  seinem 
Ermessen  festsetzen  dürfe,  aussetzen  wolle,  einen  solchen  Auftrag 
übernehmen*).  Wie  dringend  nötig  gerade  damals,  als  der  Rat  der  Stadt 


x)  Vgl.  die  Grabschrift  bei  Wolf  Bibl.  hebr.  IV,  1215. 

8j  Vgl.  Frankel-Grün,  Gesch.  d.  Juden  in  Kremsier,  I,  S.  113, 
Anm.  2,  wonach  1690  das  Todesjahr  wäre,  und  Kaufmann,  letzte  Ver- 
treibung. S.  184,  Anm.  9. 

s)  Bresl.  Staatsarchiv  AAII  21b. 

*)  Bresl.  Staatsarchiv  a.  a.  O. 

°,  Der  Passus  lautet;  b?2W2  innrni?  "|V^  a^ino  [BHWl]  CJiDH 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  23 


354  Notizen. 

erfahr,  daß  die  Seelenzahl  der  Gemeinde  auf  etwa  1200  Personen  ange- 
wachsen sei,  jeder,  der  seines  Heimatsrechts  nicht  ganz  sicher  war,  eines 
rechtskundigen  Beistandes  bedurfte,  wird  bei  anderer  Angelegenheit  im 
Einzelnen  nachgewiesen  werden1).  Jedenfalls  erfahren  wir  so  viel  aus 
der  knappen  Nachricht,  die  wir  auf  dem  Grabstein  lesen,  daß  R. 
Jesaia  mit  heißem  Bemühen  und  glücklichem  Erfolge  sich  seiner  Auf- 
gabe unterzogen  habe.  Er  starb  am  (25.,  nach  anderer  Nachricht»)  am 
16.  Ab  =)  6.  August  1733.  Von  seinen  beiden  Söhnen  wurde  Notel, 
d.  i.  Nata,  gest.  (26.  Tischri  =)  13.  Oktober  1762,  der  Vater  des 
Jesaia,  gest.  (4.  Elul  =)  16.  August  1798,  dessen  Sohn  R  a  p  h  a  e  1 
Löbel,  gest.  (2.  Adar  I  =)  3.  April  1832,  eben  derjenige  war,  der 
pietätsvoll  die  Grabsteine  seiner  Ahnen  wiederherstellen  ließ. 

Was  außerdem  die  Totenlisten  über  die  Nachkommen  Israel 
Theomims  berichten,  ist  aus  der  nebenstehenden  genealogischen 
Übersicht  (auf  S.  355)  zu  ersehen. 

Nur  die  folgenden  Mitglieder  der  Familie  Munk  ließen  «ich 
zwanglos  in  diesen  genealogischen  Rahmen  nicht  einfügen  : 

1.  Freudel,  Tochter  des  R.  Veitel  Munk,  Frau  des  R.  Jekuthiel 
b.  Meir  Sachs,  gest.  (29.  Cheschwan  =)  17.  November  1732.  Vielleicht 
war  sie  die  Tochter  des  am  28.  August  1724  verstorbenen  Hotzen- 
plotzer  Rabbiners1). 

2.  Elkana  b.  R.  Salomo  Munk,  st.  (1.  Tischri  =)  27.  September 
1764. 

3.  Chajja,  Frau  des  R.  Juda  Munk,  Tochter  d.  Abr.  Asch  aus  Posen, 
st.  (24.  Schebat  =)  15.  Febr.  1765. 

4.  Taube,  Frau  des  R.  Pinchas  Munk,  st.  (29.  Nissan  =) 
10.  April  1774. 

5.  Raliche,  d.  i.  Rahelchen,  Witwe  des  R.  Elkana  Munk,  st. 
(17.  Schebat  =)  3.  Februar  1798,  vermutlich  die  Witwe  des  sub  2 
erwähnten. 

6.  Freude    aus    Rawitsch,     Frau     des    R.    Salomo    Munk,    st. 


^bs  Trrn  -j^S  n"inoi  mtawna  "\h^  rrr  nra  by  bnpn  yw  pi  rm 

D^iTOon  wy  mxi  ^  DJps  DOTUDn  v.VS.  Die  Statuten,  die  Berndt 
a.  a.  O.  S.  45  nicht  finden  konnte,  will  ich  demnächst  in  ihrem  ganzen 
Wortlaut  veröffentlichen. 

*)  Vgl.  vorläufig  Berndt  a.  a.  O.  S.  39  ff.  u.  meine  Geschichte 
des  Landrabbinats  in  Schlesien  S.  11. 

•)  In  den  TotenlisteH  steht  die  Ziffer  »25«,  der  neue  Grabstein 
hat  »16*. 

*)  Vgl.  meine  Mitteilung  bei  Graetz-Kaufaiann,    S.  384b,  Anm 


Notizen. 


355 


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23* 


356  Notizen. 

(7.  Adar  =)  1.  März  1803,   vielleicht  die  Schwiegertochter  des  sub  2 
und  5  erwähnten  Ehepaares. 

Ebenso  wenig  habe  ich  bei  dieser  Umschau  unter  den  Mit- 
gliedern des  Qlogauer-Zweiges  des  Geschlechtes  Theomim-Munk 
Zuverlässiges  über  die  Vorfahren  des  berühmtesten  Trägers  dieses 
Namens,  über  Salomon  Munk,  der  eine  Zierde  der  Wissenschaft  des 
Judentums  geworden  ist,  ermitteln  können.  Die  Namen  seines  Vaters 
(Elieser  LippmaHn)  und  seines  Großvaters  (Samuel),  gemeinhin  für 
diese  Zeit  die  sicheren  Kennzeichen  genealogischen  Zusammenhanges, 
kommen  während  des  18.  Jahrhunderts  bei  den  Glogauer  Munks 
nicht  vor.  Aus  der  Stammrolle1)  der  Glogauer  Judenschaft,  die,  auf 
Grund  des  Juden-Gesetzes  vom  11.  März  1812,  schon  wenige  Tage 
später,  am  24.  März,  angelegt  worden  ist,  scheint  vielmehr  hervorzu- 
gehen, daß  sein  Vater  aus  Lissa  stammte,  wo  ebenfalls  ein  Zweig  der 
Familie  Theomim-Munk  ansäßig  war.  Er  kam  wohl  erst  1795  zum 
Antritt  seines  Amies  als  >Schammes  oder  Beglaubigter»  der  Gemeinde 
nach  Glogau  und  starb  plötzlich  bei  einem  Aufenthalt  in  Schlichtings- 
heim  am  (Purim  Schuschan  =)  11.  März  1811.  Die  Eintragung  über 
seinen  Familienstand  in  der  erwähnten  Stammrolle  hat  folgenden 
Wortlaut : l) 

»Malcke  Lippmann  Munk,    Witwe,   geb.  13.  April 
1772.  Kinder:  l.Amalie,  geb.  23.  April  1790.  —  2.  Char- 
lotte,   geb.  1.  Juni  1796.    —    3.    Samuel,    geb.    2.    August 
1801.  —  4.  Salomon,  geb.  14.  Mai  1805«.    Dazu  die  beson- 
dere Bemerkung:  »Die  Witwe  ist  17  Jahre  hier.  Ist  die  Witwe 
des  verstorbenen  Schammes  und  aus  Lissa  gebürtig.« 
Der  Prof.  Eduard  Munk,   von  dem  die  Nachrichten  über  seine 
Ahnen  herrühren,  benutzte  sein  Bibelexemplar   aber   auch    nach    der 
alten  Vätersitte  zur  Aufzeichnung   wichtiger    Ereignisse    aus   seinem 
eigenen  Leben.    Auf  der  Rückseite  des  Blattes,  dessen  Inhalt  bereits 
mitgeteilt  ist,  lesen  wir  u.  a.  von  seiner  Hand: 

»Die  Vermählung  mit  meiner  geliebten  Frau  Ulrike  geb.  Bam- 
berger war  22.  Oktober  1840,  K"nn  "HBT  .T3» 

l)  Sie  war  mir,  als  ich  1899  Mitteilungen  aus  Sal.  Munks  nach- 
gelassenen Briefen  machte,  —  vgl.  oben  S.  350,  Anm.  2  —  noch  nicht 
bekannt.  Vgl.  a.  a.  O.  S.  153.  Die  Eintragung  hat  in  der  Stammrolle  die 
Haushaltungsnummer  136  und  die  Personalnummern  413-417.  Da- 
durch werden  meine  Angaben  a.  a.  O.  S.  153,  Anm.  2  teilweise  er- 
gänzt und  berichtigt.  Das  richtige  Geburtsjahr  Sal.  Munks  war  übrigens 
trotz  der  Stammrolle  1803.  Seine  Mutter  starb  am  (18.  Ijar  =)  7.  Mai 
1844.  Vgl.  den  Brief  a.  a.  O.  S.  198. 


Notizen.  357 

«Meine  gel.  Tochter  Agnes  wurde  geboren  3.  Dezember  1842, 
a*"in  mto  n-i.« 

Es  folgt  dann  u.  a.  das  Datum  der  Hochzeit  dieser  Tochter 
am  9.  Januar  1866  und  der  Geburtstag  seines  ältesten  Enkels  Georg 
Martin  03110  pnst")  Caro,  am  29.  November  1867  (rrsin  iScs  'S), 
desselben,  der  für  den  von  unserer  Gesellschaft  herausgegebenen 
»Grundriß  der  Gesamtwissenscbaft  des  Judentums«  die  »Sozial-  und 
Wirtschaftsgeschichte  der  Juden  im  Mittelalter  uad  der  Neuzeit« 
schreibt  und  den  ersten  1908  erschienenen  Band  seinem  Großvater 
Eduard  Miink  gewidmet  hat.  Ein  neuer  Beweis  für  den  alten  Satz1) 
daß  die  »gelehrte  Forschung  immer  wieder  in  ihrer  alten  Herberge 
Einkehr  hält«  M.  Brann. 


i)  b.  Baba  mez.  85  a. 


& 


Besprechungen. 

Die  Abwanderung  der  Juden  aus  der  Provinz  Posen.  (Denkschrift  im 
Auftrage  des  Verbandes  der  deutschen  Juden  gefertigt  von  seinem 
ersten  Schriftführer  Justizrat  Bernhard  Breslauer.  Berlin  1909.  Druck 
von  Berthold  Levy,  Berlin  C.)  —  Die  Juden  Im  ßrossherzogtom  Hessen. 
(Im  Auftrage  der  Oroßloge  für  Deutschland  U.  O.  B'nei  B'riss,  be- 
arbeitet vom  Bureau  für  Statistik  der  Juden.  Berlin  1909.  Verlag  von 
Louis  Lamm )  —  Die  Entwicklang  der  jüdischen  Bevölkerung  in  München 
1875—1905.  (Ein  Beitrag  zur  Kommunalstatistik  von  Dr.  Jacob  Segall, 
herausgegeben  vom  Verein  für  die  Statistik  der  Juden,  E.  V.  München 
1910.  Verlag  des  Bureaus  für  Statistik  der  Juden,  Berlin.) 

Seit  den  letzten  Jahrzehnten,  in  denen  die  Industrialisierung 
Deutschlands  von  Jahr  zu  Jahr  immer  mehr  fortschreitet  und  die 
Zentralisierung  des  Handels  und  Verkehrs  in  den  Großstädten  zu- 
nimmt, hat  die  Binnenwanderung  einen  enormen  Umfang  angenommen. 
Aus  einer  vor  kurzem  für  das  Jahr  1909  veröffentlichten  Statistik  über 
den  Quittungskartenaustausch  aller  deutschen  Versicherungsanstalten 
ergibt  sich,  daß  für  dieses  Jahr  die  Summe  der  zugewanderten  und 
abgewanderten  Personen,  bezw.  Lohnarbeiter  über  16  Jahre  sich  auf 
mehr  als  vier  Millionen  beläuft,  wiewohl  die  Binnenwanderungen 
innerhalb  des  Bezirkes  einer  Versicherungsanstalt  dabei  nicht  in  Er- 
scheinung treten  und  außerdem  die  Statistik  des  Quittungskarten- 
austausches aus  mancherlei  Gründen  nicht  alle  Arbeiter  erfaßt.  Der 
Wanderungsverlust,  die  Differenz  zwischen  Ab-  und  Zuwanderung 
von  Arbeitern  stellt  sich  am  höchsten  bei  Schlesien  mit  101066,  bei 
Ostpreußen  mit  75  694,  bei  Posen  mit  74323,  bei  Westpreußen  mit 
65  430,  bei  Bayern  mit  54380  und  Sachsen-Anhalt  mit  51591.  Die 
größte  Anziehungskraft  haben  Berlin  und  Brandenburg  gehabt,  die 
einen  Wanderungsgewinn  von  über  115C00  Personen  aufweisen,  er- 
heblichen Zuzug  haben  noch  die  Rheinprovinz,  die  Hansastädte, 
Westfalen  und  Hessen-Nassau  zu  verzeichnen. 

Dem  Zuge  der  Zeit  sind  auch  die  deutschen  Staatsbürger  jüdi- 
schen Glaubens  gefolgt;  meist  nicht  gebunden  durch  immobilen 
Besitz,  haben  sie  ebenso  wie  die  Arbeiter  ihren  Wohnsitz  dorthin 
verlegt,    wo  sich  ihnen  eine  bessere  Existenzmöglichkeit  bot;    ihnen 


Besprechungen.  359 

wegen  der  geringen  Bodenständigkeit  einen  Vorwurf  zu  machen 
hieße  ihn  auch  gegen  sehr  erhebliche  Teile  der  deutschen  Bevölkerung 
nichtjüdischen  Glaubens  erheben,  was  aber  nicht  einmal  von  dem 
größten  Parteifanatiker  geschieht.  Unter  den  Zeitläuften  haben  natür- 
lieh  am  meisten  gelitten  die  östlichen  Grenzprovinzen  unseres  Vater- 
landes, die  ohne  Hinterland  und  meist  ohne  Industrie  in  der  Ent- 
wicklung nicht  gleichen  Schritt  mit  den  bevorzugteren  Teilen  Deutsch- 
lands hielten.  Bei  der  Provinz  Posen  kommt  noch  zu,  daß  ihm  ein 
eigentliches  Handelsemporium  fehlt  und  die  Nationalitätsstreitigkeiten 
dort  einen  Charakter  annahmen,  der  zum  Teil  den  Handel  unterband. 
Alle  diese  Ursachen  führten  zu  der  Abwanderung  der  Juden  aus  der 
Provinz  Posen,  die  zum  großen  Teil  dem  Handel  ergeben  waren. 
Die  Tabelle,  die  in  der  Denkschrift  über  die  Abwanderung  der  Juden 
aus  der  Provinz  Posen  enthalten  ist,  zeigt,  in  welchem  Umfange  sich 
die  jüdische  Bevölkerung  der  Provinz  Posen  in  fast  allen  Städten 
seit  den  60.  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  bis  zur  Gegenwart  ver- 
ringert hat.  Gemeinden  mit  stattlicher  jüdischer  Bevölkerungszahl, 
wie  z.  B.  Schwersenz,  Rogasen,  Grätz,  Rawitsch  und  andere  sind  zu 
Zwerggemeinden  herabgesunken,  und  fast  hat  es  den  Anschein,  als 
ob  noch  immer  nicht  der  Tiefstand  erreicht  ist  und  die  Entvölkerung 
der  Provinz  Posen  von  Juden  ihren  Fortgang  nimmt.  Die  traurigen 
jüdischen  Gemeindeverhältnisse  der  Provinz  springen  noch  mehr  ins 
Ange,  wenn  man  sich  die  Tabelle  B  der  Denkschrift  ansieht,  in  der 
aus  der  Gesamteinwohnerzahl  der  Prozentsatz  der  jüdischen  Ein- 
wohner in  den  Jahren  1849,  1885  und  1905  berechnet  ist.  Fast  alle 
Städte,  die  Landstädte  und  die  größeren  und  großen  Städte,  besonders 
aber  die  Stadt  Posen,  haben  seit  1849  an  Einwohnerschaft  zuge- 
nommen oder  sich  auf  der  alten  Höhe  gehalten,  der  Prozentsatz  der 
jüdischen  Einwohnerschaft  ist  aber  enorm  gefallen ;  selbst  die  Stadt 
Posen,  in  der  die  Juden  1849  ein  Fünftel  der  Bevölkerung  bilden, 
weist  im  Jahre  1895  nur  10  Prozent  Juden  auf,  ein  Satz,  der  im 
Jahre  1905,  wenn  auch  unter  Einfluß  der  Eingemeindungen,  auf 
5  Prozent  heruntergegangen  ist.  Der  Prozentsatz  der  Abwanderung 
erhöht  sich  noch,  wenn  der  Überschuß  der  Geburten  über  die  Todes- 
fälle mit  berücksichtigt  wird.  Einen  Anhalt  über  das  Ziel  der  Ab- 
wanderung der  Juden  gibt  die  Denkschrift  nur  andeutungsweise ; 
ihrem  Verfasser  dürfte  das  statistische  Material  gefehlt  haben  und 
gerade  dieses  würde  es  ermöglichen,  die  Gründe,  die  die  Denkschrift 
über  die  Abwanderung  der  Juden  aus  der  Provinz  angibt,  nachzu- 
prüfen. So  dankbar  man  dem  Verfasser  für  die  Aufrollung  des  histo- 
rischen Bildes  über  die  Entwicklung  der  jüdischen  Einwohnerschaft 
in  der  Provinz  sein    kann,    seine    Gründe   für  die  Abwanderung  der 


360  Besprechungen. 

Juden  aus  der  Provinz  Posen  und  die  Mittel  für  ihre  Beseitigung  sind 
keine  zwingenden  und  werden  ihre  Verteidiger  oder  Gegner,  je  nach 
dem  politischen  Standpunkt,  den  man  einnimmt,  finden,  wenn 
auch  gesagt  werden  muß,  daß  ein  jüngst  erschienener  Aufsatz  von 
Wassermann  in  einer  politischen  Revue  fast  zu  denselben  Folgerungen 
kommt,  wie  unsere  Denkschrift. 

Das  Oroßherzogtum  Hessen  hat  auch  eine  starke  Abwanderung 
der  Juden  nach  den  Großstädten  und  Industriezentren  aufzuweisen, 
die  aber  nicht  den  Umfang  derjenigen  aus  der  Provinz  Posen  er- 
reichte. Nach  den  statistischen  Angaben  des  vom  Bureau  für  Statistik 
der  Jaden  herausgegebenen  Bücher  >Die  Juden  im  Großherzogtum 
Hessen«  belief  sich  die  Zahl  der  Juden  im  Jahre  1822  auf  19530, 
stieg  dann  bis  zum  Jahre  1849  auf  das  Maximum  von  28  0C0,  um  bis 
zum  Jahre  1905  auf  rund  25000  herabzugehen.  Vom  Jahre  1822  bis 
1905  innerhalb  eines  83jährigen  Zeitraumes  lassen  sich  drei  Perioden 
unterscheiden;  in  der  ersten  bis  zum  Jahre  1849  reichenden  vermehren 
sich  die  Juden  erheblich  stärker  als  die  sonstige  Bevölkerung,  dann 
folgt  ein  Zeitraum  von  12  Jahren,  in  dem  das  Wachstum  der  Juden 
gleichen  Schritt  mit  der  übrigen  Einwohnerschaft  hält,  während 
in  der  dritten  mit  dem  Jahre  1861  beginnenden  Periode  die  Zahl  der 
Juden  absolut  und  relativ  abnimmt.  Die  Verschiebung,  die  eingetreten 
ist,  wird  klar  am  besten  durch  folgende  Prozentzahlen:  Während 
die  sonstigen  Religionsgemeinschaften  des  Großherzogtums  von  1849 
bis  auf  1905,  sich  um  50  Prozent  vermehrten,  haben  die  Juden  sich 
um  12  Prozent  vermindert.  Der  Hauptgrund  für  den  Rückgang  der 
jüdischen  Einwohnerschaft  in  Hessen  ist  in  der  Abwanderung,  wie 
in  Posen,  zu  finden,  der  eine  gleich  starke  Zuwanderung  nicht  ge- 
genübersteht. Der  Gesamtverlust  der  Juden  durch  Wanderung  beläuft 
sich  vom  Jahre  1867  bis  1905  auf  9278  Personen.  In  der  Hauptsache 
haben  die  Abwandernden  sich  nach  anderen  deutschen  Bundesstaaten, 
insbesondere  nach  Preußen  und  hier  wiederum  nach  dem  nahen 
Handelszentrum  Frankfurt  am  Main,  sodann  aber  auch  nach  Berlin 
und  dem  rheinischen  Industriegebiet  gewendet.  Infolge  der  Binnen- 
wanderung ist  aber  auf  dem  platten  Lande  eine  vollständige  Entvöl- 
kerung von  Juden  eingetreten.  Die  Zahl  der  Orte  mit  weniger  als 
10  Juden  ist  von  67  auf  102  gestiegen,  die  Zahl  der  Orte  mit  30  und 
mehr  Juden  von  309  auf  176  gesunken.  Die  moderne  Entwicklung 
und  die  Konzentration  haben  es  zuwege  gebracht,  daß  im  Laufe  des 
19.  Jahrhunderts  die  Klein-  und  Mittelgemeinden  an  Boden  verloren, 
während  die  Zahl  der  Großgemeinden  von  4  auf  7  gestiegen  ist 
und  die  jüdische  Bevölkerung  in  ihnen  von  3797  auf  10328  zuge- 
nommen hat.    Trotzdem    sind  die   abnormen   Verhältnisse   im  Groß- 


Besprechungen.  36! 

Herzogtum  Hessen  noch  nicht  so  weit  vorgeschritten,  wie  in  Preußen, 
wo  im  Jahre  1905  bereits  64,96  Prozent  aller  Juden  in  Städten  mit 
mehr  als  5C0  jüdischen  Einwohner  lebten  gegen  41,46  in  Hessen. 
In  unserem  großen  deutschen  Vaterland  stehen  wir  bald  vor  der 
Tatsache  der  Entvölkerung  des  platten  Landes  von  Juden  und  die 
Zeit  ist  nicht  mehr  fern,  wo  der  Zuzug  der  jüdischen  Bevölkerung 
aus  den  kleinen  Städten  und  Dörfern  in  die  Großstadt  aus  natürlichen 
Gründen  und  Mangel  an  Nachwuchs  unterbunden  sein  wird.  Die 
Quellen  des  Jungbrunnens  für  das  Judentum  versiegen  dann,  wodurch 
dem  Judentum  in  Deutschland  ein  unheilbarer  Schaden  erwachsen 
wird.  Hiezu  kommt  noch,  daß  die  jüdische  Einwanderung  aus  dem 
Ausland  nach  Preußen  und  den  andern  deutschen  Staaten  durch 
gesetzliche  Maßnahmen  mehr  oder  weniger  verhindert  wird.  So 
sympathisch  auch  immer  die  Kolonisationsbestrebungen,  ausländische 
Juden  jenseits  des  Meeres  in  Asien  und  anderswo  ansässig  zu  machen, 
erscheinen  mögen,  in  Deutschland  gibt  es  für  die  charitativen  Vereine 
hin  genügend  zu  tun,  deutsche  Juden  in  unserem  Vaterlande  zu  koloni- 
sieren, und  nicht  bloß  die  Vereine,  sondern  die  Riesengemeinden  mit 
ihren  großen  Mitteln  müssen  dafür  eintreten,  um  Wandel  zu  schaffen  und 
zu  erhalten  suchen,  was  noch  zu  retten  ist.  Will  man  aber  die  Schäden  der 
Entwicklung  der  jüdischen  Bevölkerung  in  ihrer  ganzen  Vollständigkeit 
aufdecken,  dann  bedarf  es  eines  klaren  Bildes,  das  nur  eine  allgemeine 
Statistik  über  die  deutschen  Juden  geben  kann.  Die  staatlichen  statisti- 
schen Ämter,  darin  stimmen  wir  den  Ausführungen  des  Vorwortes  zu 
der  »Statistik  der  Juden  im  Großherzogtum  Hessen«  voll  und  ganz  bei, 
können  bei  ihren  andersartigen  Zielen  naturgemäß  die  Verhältnisse  einer 
konfessionellen  Minderheit  nicht  so  eingehend  berücksichtigen,  als 
es  vom  Standpunkte  desjenigen,  der  sich  für  die  besonderen  Ver- 
hältnisse dieser  Minderheit  interessiert,  wünschenswert  erscheint. 
Aber  private  Erhebungen,  mögen  sie  durch  die  Logen  oder  durch  die 
Gemeinden  selbst  ihre  finanziellen  Unterstützungen  erfahren  und  von 
einem  in  mancherlei  Beziehung  verdienstvollen  Vereine,  wie  dem 
Vereine  für  jüdische  Statistik,  ausgehen,  genügen  nicht  für  diesen 
Zweck;  die  Großgemeinden,  vor  allem  der  Vorstand  der  jüdischen 
Gemeinde  von  Großberlin  mit  eiser  Seelenzahl  von  fast  150.000  muß 
ein  statistisches  Bureau  schaffen,  das  in  der  Lage  ist,  ständig,  nicht 
bloß  temporär,  die  wirtschaftliche  und  kulturelle  Entwicklung  des 
deutschen  Judentums  beleuchten  zu  können.  In  den  Vorständen  der 
jüdischen  Großgemeinde  sitzen  Männer  der  Praxis  und  Wissenschaft, 
die  den  Wert  der  Statistik  sonst  nicht  zu  unterschätzen  pflegen.  Daß 
aber  trotzdem  die  Organisation  zwecks  einer  umfassenden  Statistik 
über  die  deutschen  Juden  noch  so  sehr  in  den  Anfangsstadien  steckt, 


362  Besprechungen. 

ist  tief  bedauerlich ;  mindestens  ebenso  wichtig  wie  die  Frage,  ob 
der  Gottesdienst  nach  der  neuen  oder  anderen  Richtung  umgestaltet 
werden  soll,  muß  es  erscheinen,  ein  möglichst  geschlossenes  Bild 
aller  statistischen  Verhältnisse  der  Juden  zu  erhalten.  Auf  Selbsthilfe 
sind  die  Juden  gewohnt  zu  bauen,  und  wenn  der  Wille  nur  da  ist, 
wird  sich  auch  ein  Weg  finden  lassen,  um  derartige  Bestrebungen 
voll  und  ganz  durchzuführen. 

Wie  aber  eine  solche  Statistik  aufzumachen  ist,  dafür  hat  Dr. 
Segall  in  seiner  Schrift  »Die  Entwicklung  jüdischer  Bevölkerung  in 
München  von  1875  und  1905«  ein  glänzendes  Muster  gegeben.  Segal! 
beherrscht  die  Methodik  der  Statistik  in  ausgezeichnetem  Maße  und 
versteht  es,  die  trockenen  Zahlenreihen  durch  seinen  Text  zu  beleben 
und  klar  ohne  tendenziöse  Färbung  zu  veranschaulichen.  Die  jüdische 
Gemeinde  Münchens  verdankt  ihr  starkes  Wachstum  in  den  letzten 
20  Jahren  auch  dem  Zuzüge  vom  Lande  in  die  Stadt  und  der  Einwan- 
derung vom  Auslande.  In  der  Zusammensetzung  der  jüdischen  Be- 
völkerung selbst  hat  sich  während  dieser  Zeit  eine  Veränderung  von 
tiefgreifender  Bedeutung  vollzogen.  Während  in  den  Jahrfünften 
1875—1880  und  1880—1885  die  ortsgebürtigen  und  die  aus  dem 
sonstigen  Bayern  stammenden  Juden  den  Kern  der  Münchener  Ge- 
meinde bildeten,  begann  Ende  der  80er  Jahre  mit  dem  wirtschaft- 
lichen Aufschwung  Münchens  der  Zuzug  der  sonst  im  Deutschen 
Reich  gebürtigen  Juden,  namentlich  aus  Württemberg  und  Preußen, 
außerdem  setzte  noch  eine  erhebliche  Einwanderung  von  Ausländern 
ein.  Die  Folge  dieser  Umgestaltung  der  innern  Gliederung  der  jüdi- 
schen Masse  ist  einerseits  starker  Männerüberschuß,  Abnahme  der 
Kinderzahl  und  Zunahme  der  höheren  Altersklassen,  andererseits  im 
Zusammenhang  damit  ein  starkes  Nachlassen  in  dem  natürlichen 
Wachstum  der  jüdischen  Bevölkerung  infolge  Sinkens  der  Geburten 
und  der  Fruchtbarkeitsziffer.  Die  Sterblichkeitsziffer,  vor  allem  die  Säug- 
lingssterblichkeit, ist  überaus  günstig,  was  wohl  auf  den  wachsenden 
Wohlstand  der  Gemeindemitglieder  mit  zurückgeführt  werden  kann. 
Eine  Begleiterscheinung  des  Großstadtlebens  ist  der  hohe  Prozent- 
satz der  Mischehen  in  München,  der  dem  der  anderen  deutschen 
großen  Städte  gleichkommt. 

Wie  Segall,  hat  auch  Ruppin  in  seinem  Buche  über  die  Juden 
in  Hessen  neben  der  Entwicklung  der  jüdischen  Bevölkerung  im 
Großen  und  Ganzen  auch  die  Fragen  über  die  Geburten,  Ehe- 
schließungen und  Sterbefälle,  über  die  Taufen  und  Mischehen,  über 
die  Gliederung  der  Bevölkerung  nach  Geschlecht,  Alter  und  Familien- 
stand, über  die  Schulbildung  und  die  berufliche  Gliederung  eingehend 
erörtert.    Ob  seine  Schlußfolgerungen  und  Bemerkungen,  die  er  ein- 


Besprechungen.  363 

streut,  immer  vollkommen  zutreffen,  besonders  wo  er  auf  die  jüdischen 
Ehevermittlungen  zu  sprechen  kommt,  lassen  wir  dahin  gestellt  sein, 
jedenfalls  hat  er  ein  warmes  Herz  für  das  Judentum  und  ist,  wie 
Segall,  ein  Statistiker,  dessen  Schriften  lesens-  und  beachtenswert 
sind.  Seiner  wissenschaftlichen  Statistik  fügt  Segall  noch  einige  Kapitel 
über  die  Religions-  und  Kultusgemeinschaften  der  Juden  in  Hessen 
hinzu,  die  für  den  Fachmann  viel  Wissenswertes  enthalten. 

Beide  Verfasser,  Segall  und  Ruppin,  haben  zu  ihren  Arbeiten 
amtliches  Material  benutzen  können,  das  bei  letzterem  noch  durch 
eigene  Umfragen  bei  den  Vorstehern  der  jüdischen  Gemeinden  Hessens 
ergänzt  worden  ist.  Es  steht  zu  erwarten,  daß,  wenn  die  Groß- 
gemeinden erst  ihre  Statistischen  Bureaus  ins  Leben  rufen,  ihnen 
mindestens  dieselben  Quellen  zur  Verfügung  stehen  werden,  wie 
den  beiden  Autoren,  besonders  da  die  Vorstände  der  jüdischen 
Gemeinden  der  Großstädte  Männer  von  Einfluß  in  ihrer  Mitte  haben, 
die  ihre  kommunalen  und  staatlichen  Verbindungen  auszunützen 
verstehen  werden. 

Die  Segallsche  und  Ruppinsche  Arbeit  sind  wissenschaftlich 
und  praktisch  von  großem  Wert  und  können  jedem,  der  sich  für  die 
gegenwärtige  Lage  der  jüdischen  Bevölkerung  interessiert,  nur  warm 
empfohlen  werden. 

Charlottenburg.  Julius  Rothholz. 


& 


364  Besprechungen. 


Dr.    med.  et  phll.    Kotelmann:     Die   Ophthalmologie   bei   den   alten 
Hebräern,    ans  den  alt-  und   neutestamentlichen   Schriften    unter  Be- 
rücksichtigung des  Talmuds    dargestellt.    Hamburg  und  Leipzig,  bei 
L.  Voss,  1910.  VI  +  435. 

Der  Verfasser,  der  erst  im  höheren  Alter,  nachdem  er  vorher  als 
Pfarrer  und  dann  Jahre  hindurch  als  Gymnasiallehrer  gewirkt  hatte, 
zur  Augenheilkunde  überging,  hat  in  diesem  nach  seinem  Tode  erst 
im  Druck  erschienenen  Werke  gewissermaßen  seine  Lebensarbeit 
konzentriert  gegeben.  In  den  2874  Anmerkungen  steckt  die  Summe 
aller  der  Notizen  und  Einfälle,  die  der  Verfasser  in  nunmehr  als  30  Jahren 
aufsammelte.  Neben  der  hebräischen,  griechischen  und  lateinischen 
Literatur  wird  die  arabische,  spanische,  altfranzösische,  englische 
reichlich  zitiert.  Eine  wirklich  fachkundige  Beurteilung  dieses  Werkes, 
auch  in  allen  seinen  Zitaten  auf  deren  richtigen  Auffassung  usw. 
könnte  nur  von  einem  gleich  umfassend  gebildeten  Polyhistor,  wieder 
Verfasser  einer  war,  geliefert  werden.  Referent  muß  gestehen,  daß  er  von 
seinen,  im  wesentlichen  ophthalmologischen  und  nicht  philologischen 
Standpunkt  aus,  einigermaßen  durch  dieses  Buch  enttäuscht  wurde. 
Der  Verfasser  faßt  zunächst  schon  das  Thema  »Ophthalmologie«  so  weit 
als  möglich.  Er  handelt  außer  den  eigentlichen  Augenkrankheiten  und 
deren  Behandlung  auch  noch  eine  Menge  mehr  oder  weniger  lose 
hiemit  zusammenhängender  Dinge  ab :  die  Kenntnisse  der  Anatomie 
des  Aages  und  der  Physiologie ;  die  soziale  Stellung  des  Blinden  ; 
die  Art  der  Schrift,  der  Beleuchtung;  die  Kenntnisse  der  Farben, 
Farbenbezeichnungen,  deren  Vorkommen  im  Vergleich  zu  den  alt- 
griechischen Farbennamen  und  Belegstellen  (darüber  allein  49  Sjitea!) 
bei  Gelegenheit  der  ansteckenden  Augenleiden  werden  in  sehr  aus- 
führlicher Weise  die  Geschlechtskrankheiten  und  die  hiergegen  ge- 
rüsteten Verhütungsvorschriften  besprochen.  Dabei  steht  die  schließliche 
Ausbeute  an  wissenschaftlicher  Erkenntnis,  insbesondere  an  neuen 
Tatsachen  in  keinem  Verhältnis  zu  dem  Umfang  der  aufgewandten 
Arbeit  und  der  Darstellung.  Das  ganze  macht  mehr  den  Eindruck 
einer  Materialiensammlutig  zu  einem  noch  zu  schreibenden  Buche, 
als  den  eines  fertigen,  eigenen  Werkes.  Nicht  unwichtige  Fragen, 
z.  B.  die  nach  dem  Vorkommen  des  Trachoms  (der  sogenannten 
ägyptischen   Augenentzündung)    werden   mit  großem  gelehrten  Auf- 


Besprechungen.  365 

wand  indirekt  zu  beantworten  gesucht ;  es  wird  ausführlich  nach- 
gewiesen, daß  die  alten  Ägypter  stark  darunter  litten,  daß  die  heutigen 
Juden  nicht  immun  dagegen  sind  und  im  heutigen  Palästina  ebenfalls 
viele  Fälle  zu  beobachten  sind.  Daraus  wird  geschlossen,  daß  wahr- 
scheinlich Trachom  auch  bei  den  alten  Hebräern  grassiert  habe. 
Hierauf  folgt  auf  20  Seiten  die  sehr  gewagte  und  keinesfalls  hin- 
reichend motivierte  Hypothese,  der  Apostel  Paulus  habe  an 
Trachom  gelitten,  als  er  )}oY  äadeveiav  rffc  «jap/tri?"  in  Qalatien 
Station  machen  mußte. 

In  ähnlicher  unkritischer,  respektive  nicht  naturwissenschaftlicher 
Methodik  behauptet  Verfasser  das  Vorkommen  der  Kurzsichtigkeit  bei 
den  alten  Hebräern  aus  der  Tatsache  heraus,  daß  Schreiben  und  Lesen 
bei  ihnen  weit  verbreitet  war,  daß  ihre  Schrift  die  Augen  anstrengt 
und  daß  die  heutigen  Juden  zur  Kurzsichtigkeit  besonders  disponiert 
seien  (das  letztere  wird  zwar  öfters  behauptet,  aber  keineswegs  einwand- 
frei bewiesen).  Recht  interessant  ist  die  umfassende  Literaturzusammen- 
stellung bezw.  der  Blindenheilung  im  alten  Testament  (Tobias)  und 
im  neuen  (durch  Jesus  und  Ananias). 

Berlin.  A.  Crzellitzer. 


366  Besprechungen. 


Landau  Alfred  und  Wachstem  Bernhard,  Jüdische  Privatbriefe  aus 
dem  Jahre  1619.  Quellen  und  Forschungen  zur  Geschichte  der 
Juden  in  Deutsch-Österreich,  herausgegeben  von  der  historischen 
Kommission  der  israelitischen  Kultusgemeinde  in  Wien,  Band  III.  Mit 
8  Schrifttafeln.  Wien  und  Leipzig,  Wilhelm  Braumüller,  1911.  XLIX 
u.  133  u.  61  Seiten. 

»Briefe,  die  sie  nicht  erreichten*,  hat  auch  die  jüdische  Literatur 
jetzt  aufzuweisen.  Wachstein  und  Landau  veröffentlichen  47  Privat- 
briefe, die  von  den  verschiedensten  Einwohnern  der  Prager  Juden- 
gasse am  Freitag  Nachmittag,  den  22.  November  1619,  in  jüdisch- 
deutscher Sprache  zumeist,  geschrieben  und  an  ihre  Verwandten  und 
Bekannten  in  Wien  gerichtet  waren.  Unterwegs  geriet  der  Briefbeutel 
dem  Boten  des  als  Postmeister  fungierenden  Lob  SarelQutman  in  Verlust. 
Vermutlich  wurden  Bote  und  Beutel  von  umheistreifender  Soldateska 
abgefangen  —  warfen  doch  schon  die  Kriegswirren  des  dreißigjährigen 
Krieges  ihre  Schatten,  auch  auf  den  Inhalt  der  Briefe  selber!  Unbe- 
kannt, auf  welchem  Wege, gelangte  der  Briefstoß  in  die  Wiener  Archive, 
wurde  im  Staatsarchiv  wieder  entdeckt,  und  nunmehr  auf  Veranlassung 
der  historischen  Kommission  der  israelitischen  Kultusgemeinde  Wien 
als  dritter  Band  der  Quellen  und  Forschungen  zur  Geschichte  der 
Juden  in  Deutsch-Österreich  zur  Veröffentlichung  gebracht.  Wachstein 
und  Landau,  beide  allen  jüdischen  Spezialforschern  wohlvertraute 
und  von  diesen  hochgeschätzte  Männer,  hatten  ursprünglich,  jeder  für 
sein  eigenes  Arbeitsgebiet,  die  Briefe  durchstöbert,  entschlossen  sich 
dann  aber  zu  gemeinschaftlicher  Herausgabe  des  ganzen  Fundes  und 
bieten  eine  Edition,  die  ohne  Übertreibung  als  eine  klassische  be- 
zeichnet werden  darf.  Einer  glänzenden  ausführlichen  Einleitung 
über  Geschichte,  Form  und  Inhalt  der  Briefe  folgt  deren  Text  in 
deutscher  Übertragung  mit  zahlreichen  erklärenden,  historischen  und 
sprachwissenschaftlichen  Anmerkungen,  Stammtafel,  Personen-,  Sach- 
und  Ortsregister,  Verzeichnis  der  Abkürzungen  in  den  Originalen  und 
in  der  Übertragung,  alsdann  ein  Glossar  des  altdeutschen  Wortge- 
brauchs und  zum  Schlüsse  der  Originaltext  in  hebräischen  Lettern 
nebst  einer  Reihe  von  Lichtdrucken  als  Textproben  und  einigen  Siegel- 
abdrücken. Die  ganze  Ausgabe  erfreut  auch  schon  äußerlich  durch 
ihre  treffliche  buchhändlerische  Ausstattung. 


Besprechungen.  367 

Die  Bedeutung  der  Briefe  für  die  Kultur-,  Familien-  und 
Sprachgeschichte  der  Juden  läßt  sich  am  besten  mit  derjenigen  der 
Memoiren  der  Qlückel  von  Hameln  zusammenstellen.  Wie  diese  Selbst- 
aufzeichnungen für  die  zweite  Hälfte,  so  sind  die  Privatbriefe  für 
die  erste  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  eine  wissenschaftliche  Fund- 
grube für  die  Forschung  auf  jenen  Gebieten.  Das  psychologische 
Interesse,  das  sie  durch  den  Einblick  in  so  unverhüllt  und  unge- 
schminkt, weil  rein  vertraulich  zwischen  den  nächsten  Familienange- 
hörigen sich  gebende  Seelen-  und  Lebensäußerungen  erwecken,  ist 
schon  stark  genug;  es  wird  aber  noch  gehoben  durch  das  kultur- 
historische Interesse,  welches  der  Einblick  in  das  Milieu  der 
Judengasse  in  zwei  so  bedeutenden  Zentren  der  damaligen  Judenschaft, 
wie  Prag  und  Wien  es  waren,  hervorruft.  Alle  Stände,  alle  Alters- 
und Gesellschaftsklassen,  Männer  und  Frauen,  Gelehrte  und  Geschäfts- 
leute, Vornehme  und  Diener,  Lehrer  und  Schüler,  Vorsteher  und 
Gemeindeschreiber  sind  als  Briefschreiber  und  Adressaten  vertreten. 
Die  Briefe  geben  gleichsam  einen  ^Querschnitt«  durch  die  inneren 
und  äußeren  Zustände  der  Prager  Judenschaft,  und  es  fehlt  darum 
nichts,  was  nicht  darin  seinen  Ausdruck  fände.  Das  Hangen  und 
Bangen  um  die  materielle  Existenz,  die  Sorge  um  die  Familienange- 
hörigen, welche  zahlreich  sich  unterwegs  zu  Geschäften  oder  zum 
Studium  befinden,  der  unerschütterliche,  im  Charakter  und  in  der 
Religion  begründete  jüdische  Optimismus,  die  Hochachtung  vor  der 
Gelehrsamkeit,  die  in  idealster  Weise  alles  Streben  nach  Erwerb  weit 
überwiegt,  die  Selbstverständlichkeit,  mit  der  trotz  der  ausdrücklich 
zugestandenen  schwierigen  allgemeinen  Lage  auf  die  wechselseitige 
Beihülfe  der  Glaubensbrüder  gerechnet  wird,  das  alles  tritt  in  klassi- 
schen Typen  dem  Leser  der  Briefe  entgegen  und  prägt  sich  umso 
schärfer  aus,  als  der  Untergrund  nur  von  alltäglichen  Dingen  ausge- 
füllt wird:  von  Handelssachen,  Heiratsplänen,  Toilettensorgen,  Unter- 
stützungsgesuchen, Berichten  aus  dem  Familienleben  und  dergleichen. 
Hie  und  da  taucht  einmal  ein  Gegenstand  allgemeineren  Interesses 
auf,  die  Auslösung  von  Gefangenen  auf  Gemeindekosten  z.  B.,  wobei 
die  Art  der  Geldüberweisung,  überhaupt  auch  die  ganze  Art  des  Brief- 
verkehrs und  der  Postbeförderung  kulturhistorisch  interessant  ist.  Ein 
solches  kulturhistorisches  Kuriosum  stellt  auch  die  in  einigeH  Briefen 
verwendete  Geheimschrift  dar,  bei  der  das  Siegel  zwischen  Absender 
und  Empfänger  verabredet  war,  so  daß  Fremde  den  Inhalt  nicht  er- 
raten konnten.  In  einem  kleinen  Nachtrag  hat  Wachstein  die  nach 
langem  Mühen  endlich  entdeckte  Auflösung  der  in  der  Geheimschrift 
abgefaßten  Briefstellen  bekannt  gegeben;  es  handelt  sich  im  einen 
Falle  um  Geldgeschäfte,  im  anderen  um  eine  Heiratsvermittlung! 


368  Besprechungen. 

Wie  die  Memoiren  der  Glückel,  so  kommen  auch  die  Privat- 
briefe in  erster  Reihe  der  Familiengeschichte  und  ihrer  Erforschung 
zn  Gute,  und  auf  diesem  Qebiete  zeigt  sich  wiederum  die  bereits 
bewährte  Meisterschaft  Wachsteins.  Der  Scharfblick,  mit  dem  er 
Genealogien  hier  verbindet  und  dort  scheidet,  Familienbeziehungen 
aufdeckt,  Verwandtschaftszusammenhänge  feststellt  oder  bisherige 
genealogische  Irrtümer  und  Wirrnisse  enträtselt,  ist  ebenso  rühmens- 
wert wie  seine  Belesenheit  in  der  gesamten  Literatur  jener  Jahrhunderte. 
Was  er  nur  so  nebenbei  an  Korrekturen  für  Hock,  Kaufmann  und 
andere  familiengeschichtliche  Arbeiten  gibt,  was  er  an  kleineren  und 
größeren,  der  Lösung  noch  harrenden  Problemen  im  Vorübergehen 
aufdeckt,  ist  erstaunlich.  Seine  Anmerkungen  allein  sind  eine 
Fundgrube  für  die  Spezialforschung  auf  diesem  Gebiete.  Es  sind  be- 
sonders Prager,  Wiener  und  bayerische  Familien,  deren  Stämme  hier 
vielfache  und  wichtige  Ergänzungen  finden.  Eine  besondere  Rolle 
spielt  in  den  Briefen  die  Familie  Jomtob  Lipmann  Hellers,  der  selber 
als  Briefschreiber  in  Familien-  und  Heiratsangelegenheiten  auftritt ; 
ebenso  sind  die  bekannten  Familien  Theomim,  Mirels-Fraenkel,  Spira, 
Öttinger,  Lipschitz,  Auerbach,  Rapaport,  Fleckls,  Hammerschlag, 
Hildesheim,  Horowitz,  Landau,  Linz,  Maor  Katan,  Pribram,  Ulmo  u.  a. 
vielfach  vertreten.  Genealogisch  wichtig  ist  der  Nachweis,  daß  die  Fami- 
lienbezeichnung Munk  zu  derjenigen  der  Theomim  gehört,  ebenso 
daß  Pribram  und  Senders  identisch  sind.  Eine  gleiche  Identität  findet 
3ich  z.  B.  S.  35  zwischen  Welsch  und  Horowitz;  die  daselbst  ge- 
nannten Salman  b.  Jesaja  Horowitz  und  Abraham  Welsch  sind  Brüder. 
Hock  S.  91  wird  übrigens  ein  1633  verstorbener  Meschullam  Salman 
Perez  b.  Jesaja  Horowitz  und  S.  118  daselbst  ein  1660  verschiedener 
Kaiman  b.  R.  Meschullam  Welsch  erwähnt;  vielleicht  beide  hierher 
gehörig?  S.  66  der  Briefe  ist  statt  Chawa  Manschen  wohl  Chawa 
Manesen  (Frau  des  Manes)  zu  lesen.  S.  84  ist  der  Name  Nulmes 
auffällig;  vielleicht  ist  Ulmes,  Ulmo  gemeint.  S.  89  kann,  glaube  ich, 
nicht  auf  R.  Lipmann  Heller  bezogen  werden;  die  Titulatur  gerade 
von  der  Hand  des  Gemeindeschreibers  würde  doch  anders  lauten, 
die  Abkürzung  RM  kann  auf  den  Vatersnamen  gehen.  S.  92  u.  97  ist 
statt  Jakob  St?  n  wohl  Schotten  zu  lesen ;  dieser  Jakob  Schotten 
starb  nach  Hock  S.  359  zweiter  Paginierung  (die  Seiten  359—368  da- 
selbst sind  zweimal  paginiert)  im  Jahre  1624.  Zu  S.  18  der  Briefe  Anm. 
3  teile  ich  nicht  die  Ansicht,  daß  man  mit  dem  Titel  einer  »Rabbi- 
nerint so  freigebig  war;  auf  den  zahlreichen  von  mir  gesehenen 
Grabinschriften  in  Deutschland  war  jedenfalls  der  Titel  immer  zutref- 
fend, obwohl  man  gerade  bei  Epitaphien  mit  Ehrungen  nicht  geizte. 
Dagegen  gebrauchte  man  den  Ausdruck  SB  nicht  immer  zur  Bezeich- 


Besprechungen.  3o9 

nung  eines  speziellen  Verwandtschaftsverhältnisses,  sondern  auch,  um 
einfach  zu  sagen,  daß  irgend  eine  Verwandtschaft  gegenseitig  bestand; 
es  kann  deshalb  in  dem  Briefe  Nr.  19,  S.  43  dieser  Ausdruck  sehr 
wohl  auch  vom  Oheim  dem  Neffen  gegenüber  angewandt  werden. 
Sehr  interessant  ist  der  Brief  Nr.  2  des  Dr.  Ahron  Lucerna  an  seine 
Frau  mit  der  Schilderung  seiner  ärztlichen  Tätigkeit,  die  unwillkürlich 
an  den  bekannten  Brief  des  Maimonides  erinnert. 

Nächst  der  familiengeschichtlichen  Bedeutung  der  Privatbriefe 
sticht  die  sprach  geschichtliche  hervor.  Das  Jüdischdeutsch  der  Briefe 
und  das  der  Glückel  von  Hameln  stellen  zwei  durchaus  verschiedene 
sprachliche  Entwicklungsformen  dar,  von  denen  die  erstere  bei  weitem 
originaler  und  für  die  Forschung  nach  dem  Ursprung  des  Jargons 
bedeutend  charakteristischer  und  wertvoller  sich  erweist.  Schon  die 
zahlreichen  und  markanten,  altertümlichen  deutschen  Redewendungen 
und  Ausdrücke,  die  in  den  Briefen  vorkommen,  legen  davon  Zeugnis 
ab,  daß  wir  hier  den  Urquellen  dieser  Sprachbildung  wieder  ein  Stück 
näher  gerückt  sind.  Viele  solche  Wendungen  sind  im  Deutschen  heute 
verschollen  oder  umgebildet;  im  Glossar  hat  Landau  als  Meister 
dieses  Gebietes  sie  zusammengestellt,  erklärt  und  mit  Belegen  aus  der 
alten  deutschen  Literatur  versehen.  Viel  ungehobenes  Material  für 
diese  Forschungen  bieten  übrigens  die  in  der  Schaaloth  u-Teschnwoth- 
Literatur  zahlreich  eingestreuten  jüdisch-deutschen  Stücke  aus  den 
verschiedensten  Jahrhunderten  und  Gegenden.  Besonders  bedeutsam 
an  den  Privatbriefen  erweist  sich  auch  schon  der  äußere  Briefstil  in 
seiner  schlagenden  Übereinstimmung  mit  dem  deutschen  Briefstil  der 
Zeit;  dieselben  stehenden  Floskeln,  Anreden,  Phrasen  hier  wie  dort. 
Zum  Vergleich  ist  in  der  Einleitung  und  im  Glossar  besonders  der 
Briefwechsel  des  Nürnbergers  Balthasar  Paumgartner  herangezogen, 
der  nur  um  wenige  Jahrzehnte  älter  ist.  Die  Privatbriefe  bezeugen 
wiederum,  wie  trotz  alles  Abschlusses  der  Einfluß  der  Umgebung 
auf  die  Judengasse  stark  und  unabweisbar  blieb  und  die  soziale  und 
geistige  Atmosphäre  über  die  Mauern  hinüberreichte.  Auch  die  ver- 
wendeten hebräischen  Briefformeln  sind  von  Interesse  und  bieten 
vielfach  eine  Ergänzung  der  Zusammenstellungen  Buxtorfs.  Ganz 
besondere  Mühe  haben  sich  die  Herausgeber  mit  der  Auflösung  der 
vielen  Abbreviaturen  gegeben;  nur  ganz  Weniges  ist  dunkel  geblieben. 
Bei  der  üblichen  Bannformel  gegen  unberechtigtes  Öffnen  der  Briefe 
scheint  der  jugendliche  Schreiber  des  Briefes  Nr.  4  mit  dem  Worte 
»Chore  (S.  9  des  hebr.  Textes)  wohl  eher  an  ein  »Loch«  im  Briefe 
gedacht  zu  haben:  »Ein  Loch  macht  sich  gut  für  die  Schlange«,  d.  h. 
wer  den  Brief  verletzt,  ist  reif  für  den  Bann;  die  Übertragung  Wach- 
steias  »es  verdroß    die  Schlange  sehr«    (S.  16  des  deutschen  Textes) 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  " 


370  Besprechungen. 

läßt  die  Phrase  in  der  Tat  ganz  unverständlich.  Die  Übertragung  der 
Briefe  ist  natürlich  überhaupt  nicht  leicht  gewesen,  und  so  manches 
Fragezeichen,  das  die  Herausgeber  bei  der  Entzifferung  des  Textes 
selber,  wie  in  der  Übersetzung  vermerkt  haben,  gibt  von  den  Schwie- 
rigkeiten Kunde,  mit  denen  sie  zu  kämpfen  hatten.  S.  33  der  Über- 
tragung möchte  ich  statt  Pfen:  Pfaffen  lesen.  S.  34  statt  die  gesih:. 
die  Goje!  S..  49  bedeutet  die  Phrase  »eich  am  nechsten«:  zunächst 
an  euch.  S.  54  beim  Fragezeichen:  doch  ob  sich  es  G.  B.  »ungleich« 
zugangen  war.  S.  63  im  Briefschluß  heißt  das  Bejalde  des  hebräischen 
Textes:  der  Junge  unter  den  »Jungen«  der  Zeit;  es  ist  nichts  ausge- 
fallen, wie  Wachstein  in  der  Anmerkung  vermutet.  S.  66  bei  Anmerkung 
13:  pintlich  =  Bündelich,  Bündelchen  (oder  auch  Bändelchen?).  S.  71 
der  Ausdruck  »beschiken«  bezieht  sich  wohl  auf  den  Dukaten  und 
bedeutet:  ihn  beschneiden.  S.  73:  ein  frnske?  wohl:  »sie  is,  got  gen 
irs,  eine  Parneste«,  d.  h.  die  Frau  eines  Parnes  und  deshalb  recht 
stolz!  —  Daß  nicht  bloß  die  deutsche,  sondern  auch  die  hebräische 
Orthographie,  besonders  in  den  Frauenbriefen,  oft  recht  fehlerhaft 
ist,  braucht  nicht  wunder  zu  nehmen;  was  an  Wissen  und  Bildung 
fehlt,  wird  reichlich  durch  den  innigen  und  gemütvollen  Ton  aufge- 
wogen, der  gerade  in  den  Frauenbriefen  herrscht.  Es  sind  einige 
wahrhaft  klassische  Stücke  darunter,  die  wieder  Zeugnis  davon  ab- 
legen, daß  die  vielgerühmte  Kraft  des  jüdischen  Familienlebens  tat- 
sächlich alle  Lobsprüche  verdient,  die  ihr  auch  für  jene  schweren 
Zeiten  gezollt  werden.  So  haben  denn  die  Privatbriefe  auch  für  die 
praktische  Apologetik  des  Judentums  ihre  Bedeutung,  und  die  jüdische 
Wissenschaft  darf  darum  den  Herausgebern  Wachstein  und  Landau, 
wie  der  historischen  Kommission  der  Wiener  Kultusgemeinde  herz- 
lichen Dank  für  diese  nach  jeder  Richtung  hin  wertvolle  Edition  sagen. 
Nunmehr  steht  eine  neue  und  bedeutsame  Ausgabe  in  Sicht,  die 
Veröffentlichung  der  Wiener  Grabinschriften;  sie  liegt  wiederum  in 
Wachsteins  Händen,  und  nach  den  bisherigen  Proben,  die  er  von 
seiner  Art  zu  arbeiten  gegeben,  darf  man  ihr  mit  Spannung  entgegen- 
sehen. Möge  auch  sie  wohl  gelingen  und  ganz  ebenso  wie  die  Privat- 
briefe ein  schätzbares  Stück  der  historischen  Kleinforschung  werden, 
die,  so  unbedeutend  sie  scheinen  mag,  doch  unentbehrlich  für  den. 
Aufbau  des  großen  Gesamtbildes  bleibt  ! 

Nürnberg.  Freudenthal. 


•k 


Besprechungen.  371 


Zu  Ginzberg,  Geonica  II1)  habe  ich  im  einzelnen 
noch  folgendes  zu  bemerken  : 

S.  1,  Anm.  1.  Die  Lesart  des  Aruch  scheint  richtiger  zu  sein 
als  pijÄ,;B>.  Vgl.  Davidson,  Parody  in  Jewish  Literature  S.  21,  Note  33. 
Zur  Sache  vgl.  Raschi  Synhedr.  64b. 

S.  3,  Z.  8  gehört  das  Fragezeichen  wohl  zu  Vtpix,  da  es  bei 
P'Drn^  nicht  berechtigt  ist.  —  Das.  Z.  12  verstehe  ich  nicht  das 
Fragezeichen  zu  pprwi.  —  Das.  Anm.  17.  pjn^H  liest  R.  Meschullam 
in  Geonica  II,  S.  57,  N.  3  und  Tossafoth  z.  St. 

S.  4,  Anm.  8.  *nj  liest  auch  Schittah  mekubbezeth  z.  St.  und 
bemerkt:  in:  pDiu  v\ 

S.  16  lies  )b  1})  für  ab  "iy. 

S.  17,  Anm.  19.  jJDiy  ist  gewiß  Verschreibung  aus  j>DB>,  das 
sehr  gut  paßt:  nro  JJDtP« 

S.  19,  N.  1  zu  S.  26,  N.  1.  Vgl.  Halachoth  Gedoloth,  ed.  War- 
schau, 28a,  ed.  Berlin,  S.  50,  Seder  R.  Amram  41.  Responsen  der  Ga- 
onim  naiVJl  "njW,  N.  117,  mplDD  nisfcl,  N.  165  (npinn  I,  S.  297). 
Ma'aße  ha-Gaonim  S.  21,  N.  32. 

S.  20,  N.  4.  Vgl.  Pardes  30  c,  ed.  Warschau  N.  217,  81  a.  Dort 
stimmt  das  Zitat  mit  Chemdah  Genusah  N.  16,  1.  aber  pa*l  nDK"D  für 
j^lDXI  in  beiden  gaonäischen  Texten. 

S.  20,  N.  6  zu  S.  27,  N.  6.  Es  scheint,  daß  die  alten  Kodifika- 
toren  den  in  diesem  Responsum  zitierten  Satz  K3VD  ^3  |J3n  tlDKl 
HBntD  Xtin  KmjlJ,»;3  »im  doch  kennen.  R.  Gerschom:  .131X11 

(Wibi  ^3  np»*i3  nb  px  np»M  rw  oipo  ^sa  anm  loa  xnff)  ruBp. 
Raschi  Chullin  46b  unten rflDVlB  Ä3"iD*l  K3»n  ^3  KIIH  KJ1»J13»}M. 
Vgl.  noch  Rokeach  N.  382  und  Ittur,  ed.  Lemberg,  II  18  a3). 


»)  Vgl.  oben  S.  177. 

»)  Vgl.  Rokeach  N.  383. 

8)  Vgl.  noch  Pardes  N.  217,  81  a  oben.  Die  Quelle  dieses  Satzes 

sind  die  niaiarp  msSn,  vgl.  murin  bv  (min  i,  s.  36:  p-npp  |twn  cm 
nB»i»  piy?  wriw  Dipo  'jss  min  amüry  iwk. 

24* 


372  Besprechungen. 

S.  21,  N.  10—11.  Die  Entscheidung  des  Qaons  gegen  Rab  ist 
nicht  aurfällig,  weil  der  Oaon  selbst  (S.  28)  sich  auf  Cbullin  57  b: 
xr\T\})ÜV  "»n  S33  xna^n  Jvf?l  beruft,  ferner  entscheidet  auch  R.  Jo- 
chanan  HCitt  und  dann  lautet  der  Kanon:  pm1  "13  r^bn  \:nv  "Yi  31. 
S.  21,  N.  12  und  29,  N.  12.  Dieses  Thema  in  Hai.  G*d.,  ed. 
Warschau,  128b,  ed.  Berlin,  S.  524.  Vgl.  auch  Hildesheimer  z.  St.  Diese 
Entscheidung  hat  der  Kompilator  des  »Jeruschalmic  zu  Chullin  auf- 
genommen, Vgl.  Aptowitzer  in  der  Monatsschrift  1908,  S.  442. 

S.  21,  N.  13,  14.  Der  zweite  Teil  von  Resp.  13  und  das  ganze 
Resp.  14  werden  in  Or  Sarua  I,  114a  aus  Halachoth  Gedoloth 
angeführt.  —  Zu  N.  14.  Vgl.  D^ltflO  bv  [ITOU  S.  36,  R.  Gerschom  in 
Rokeach  N.  383,  Schibbole  ba-Leket  S.  200  und  jetzt  Ma'aße  ba- 
Geonim  S.  92. 

S.  21,  N.  15.  Zu  den  hier  und  Geonica  I,  S.  8  und  47  erwähnten 
Quellen  ist  noch  hinzuzufügen:  RABN  49d,  Ascheri  Chullin  III,  N. 
14.  Vgl.  Büchler  in  REJ  XLIV,  S.  240f.  und  Poznanski,  Studien  zur 
gaonäischen  Epoche  S.  61.  —  Lies  Or  Sarua  I,  114b,  wie  richtig  in 
Geonica  I,  S.  47. 

S.  21,  N.  17.  Nach  der  Mehrzahl  der  alten  Autoritäten,  darunter 
auch  Sche'eltoth  und  Alfassi,  gilt  der  Kanon  "'X'inaa  nabn  auch  gegen 
ältere  Amoräer.  Vgl.  Jad  Maleachi  N.  167,  16S1).  Der  Hinweis  auf 
Tossafoih  Kidduschin  45b  ist  ungenau,  da  dort  Sche'eltoth  und  A!- 
fassi  wie  Rabina  entscheiden  gegen  Samuel,  also  im  Sinne  des 
Gaons.  Dagegen  heißt  es  im  Seder  Tannaim*):  *\  b  ,  X  1  k:*iD 
K1D23  Xfiabji.  —  Die  Entscheidung  des  Gaons  stimmt  mit  Hai.  Gcd  , 
ed.  Berlin,  S.  5103).  Dagegen  Hai.  Pessukoth,  ed.  Schloßberg,  S.  13:. 
S.  22,  N.  20.  Die  Quelle  dieser  Erklärung  scheint  die  Ansicht 
jener  Tannaiteu  zu  sein,  die  in  libaxn  üb  Deut.  12,  24  einen  Hinweis 
auf  3^n3  1H?3  finden.  Vgl.  Friedmann  zu  Sifre  Deut.  §  76.  —  Dieses 
Responsum  ist  vollständig  erhalten  im  Pardes  21b,  ed.  Warschau 
N.  310.  Epstein  in  ha-Goren  IV,  S.  69f  macht  Palästina  als  Heimat 
dieses  Responsums  geltend,  vgl.  dagegen  Aptowitzer  in  REJ  1909 
S.  249  f. 

S.  24,  N.  31—32.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  auch  die  folgenden 
Responsen  R.  Hai  gehören.  N.  39  gehört  sicher  ihm.  Vgl.  Mül'er, 
Mafteach  S.  227,  N.  357. 

»)  Vgl.  noch  Rabiah  36c  oben  und  53a  N.  158. 
■)  Sehern  ha-Gedolim,  ed.  Ben  Jakob,  51b  N.  25. 
s)  Hildesheimers  Korrektur   ist   unnötig  und   unberechtigt.  Die 
Steile   ist   keineswegs    >P]1D  1)N  n^Tfla   M1ISJ1«,  der  Sinn   ist   einfach: 

[y^ae  trxi]  ybis  paanp  -jbb  t&bipb  x\n  -pi. 


Besprechungen.  373 

S.  26,  N.  3.  Für  "p^CT  ist  nicht  TpVfl  zu  lesen.  Die  Schreibung 
"p|?Vl  kommt  nicht  bloß  in  dieser  Sammlung  noch  einigemal1),  son- 
dern auch  in  anderen  Handschriften  vor.  So  in  Resp.  d.  Gaonim,  ed. 
Harkavy,  S.  54,  164,  203.  Vgl.  über  "fijfltl  Harkavys  Zusätze  zum  hebr. 
Graetz  IV,  S.  4«}.  "pH"!  in  Midr.  Tannaim  S.  28. 

S.  32,  Anm.  2.  Auch  R.  Nissim  liest  Kam  an  13  ny\  Ittur,  ed. 
Lemberg,  II,  10  b:  (Olri  3"U 

S.  32,  Anm.  3.  Diese  Lesart  als  Abschluß  der  Kontroverse 
zwischen  Rab  und  R.  bar  R.  Huna  ist  auch  undenkbar.  Der  Gaon 
meint  zweifellos  die  folgende  Kontroverse  zwischen  R.  Acha  und 
Rab  in  a,  in  diesem  Falle  aber  erklärt  sich  die  Bemerkung:  fytfl 
Ki'ain  iTJiD,  die  kein  Zitat  ist,  aus  dem  Kanon,  daß,  mit  3  Aus- 
nahmen :  xb'pb  wvria  'b*m  joain1?  xrm  a-ii  xbipb  «rm  nfjia  muin  Sb-»). 

S.  33,  Anm.  2.  JTJyrA  ist  in  p'.yfib  zu  emendieren.Vgl.  Pardes  21b. 

S.  38.  Anm.  Die  Übersetzung  JW  ist  gewiß  die  einzig  richtige. 
Die  Quelle  der  gaonäischen  Entscheidung  ist  Jeruschalmi  Sabbath 
I,  5  (3  c  l):  inio  njpmaö?  ejj  at,  folglich  ist  naon  B^atpjia  "irv.D  st. 
Vgl.  auch  die  Kommentare. 

S.  40,  Z.  27.  [DD  ist  gewiß  Verschreibung  aus  TnD,  dem  Targum 
von  3^38. 

S.  42,  Z.  14  lies:  nanm   Unsere  Texte:  paflgfe 

S.  48,  Anm.  3.  Zu  der  Stelle  S.  52,  Z.  27  in  bezug  auf  R.  Je- 
hudai:  bvwö)  rviBE'nai  emaai  ma^roi  ,*iatt>aai  xipija  ^na  ,Tnff  be- 
merkt Ginzberg:  »n'esin  is  here  not  the  >Tosefta«,  but  is  identical 
with  apocryphal  Midrashim  and  therefore  is  mentioned  after  Midrashc. 
D'BDIJl  aber  ist  hier  ganz  sicher  die  Toseftha.  Die  Aufzählung  der 
verschiedenen  Gebiete  der  Gelehrsamkeit  in  derselben  Reihenfolge 
wie  beim  Gaon  kommt  in  der  talmudischen  Literatur  oft  vor.  Z.  B 
Cant.  r.  zu  I,  5:  rvnaxi  mriBBin  i\übr\  ma^n  nima  n:tra  xnpa.  Die 
Zusammenstellung  maxi  XflBBiJl  ist  noch  häufiger4).  Midrasch  in 
diesen  Aufzählungen  bedeutet  nicht  die  Midraschim,  sondern  Aus- 
legung des  Bibeltexte s5). 

')  Vgl.  Index  S.  413  a  s.  v. 

»)  Vgl.  über  "pbin  noch  Harkavy,  Studien  und  Mitteilungen 
VIII,  S.  12, 197  f.  Die  Karäer  fassen  -pb'n  =  ^b  mn,  "[^  H  und  s0 
ist  gewiß  auch  in  dieser  Sammlung  S.  91,  Z.  21  für  p*?  lfl  zu  lesen. 
Vgl.  noch  Bacher,  JQR  XVII,  583. 

s)  Chullin  93  b  u.  Parallelen.  Vgl.  Jad  Maleacbi  N.  561. 

*)  Vgl.  Guttmann,  iiD^rn  nnBB  S.  406  f.  und  meine  Zusätze 
in  der  Monatsschrift  1910,  S.  553. 

6)  Vgl.  Bacher,  Exegetische  Terminologie  I,  S.  103  f. 


374  Besprechungen. 

S.  54.  Vgl.  Poznanski  in  Riv.  Isr.  V,  S.  130  und  VI,  S.  199. 

S.  55.  In  Pardes  62  a,  ed.  Warschau  N.  25  ist  von  einem  Bibel- 
kodex des  R.  Moses  ben  Meschullam  die  Rede,  der  aus  Baby- 
lon ien  stammte:  b22  pxö  IttVW  übwa  'in  ,1#d  "1  nin  bw  IBDH1)« 
Nach    D11B    Wpib  20  b    gehörte  dieser  Kodex  R.  Meschullam    selbst. 

S.  56,  Anm.  4.  Woher  weiß  Ginzberg,  daß  die  Stelle  Berachoth 
30b  gemeint  ist?  «TT  '11  ,TBp  .Tot  "l  a***1  kommt  auch  noch  Sab- 
bath  10  a  und  147  a  vor.  —  Das.  Anm.  6.  Resp.  d.  Gaon.,  ed.  Har- 
kavy,  S.  159  oben:  KJKfl  in  xai.  R.  Hai,  tnwm  bv  Htt\  II,  S.  39, 
nennt  einen  Amora  Kiin  in  ,in. 

S.  57,  N.  4.  Ein  Responsum  über  dieselbe  Frage  Geonica  II, 
S.  4. 

S.  58,  Anm.  3.  Bechoroth  45a  wird  Moses  nicht  erwähnt,  aber 
5  a.   Vielleicht  ist  diese  Stelle  gemeint   und  fliOB>  für  TVTW   zu  lesen, 

rro  ^B3  «mp  ■;»  rnnv.  Vgl.  s.  65,  n.  113. 

S.  86,  Anm.  2.  Vgl.  Seder  Tannaim:  ♦  .  .  lTnno  1313  MB1?."! 
("1JND3  TObn  pK  T3X  D1pB31.  Ittur  ed.  Lemberg29b:  rn^lD  J1K3  pDBl 

xb  P3KD  'rnx  iTnno  k1-*  13*13  rcj'Jri  pxi. 

S.  91,  Anm.  4.  Die  Emendation  ist  vielleicht  nicht  nötig,  wenn 
man  für  HitPl  :n»P  =  nsw;  liest,  talmudisch  ,T;rx,  ist  es  recht?  Vgl. 
Geonica  II,  173,  Z.  8. 

Das.  Z.  15.  KB"n  "»S)  lies  pn  "»31. 

Das.  Anm.  6.  plDlK  pK»  gibt  in  dieser  Stelle  keinen  Sinn.  '«2> 
ist  wahrscheinlich  =  UNtP  oder  *]KB*. 

S.  94,  N.  3:  »According  to  them  (the  codifiers),  a  bill  of  divorce 
is  rendered  void  by  a  correction  of  its  text«.  —  In  dieser  Allgemein- 
heit trifft  diese  Behauptung  nicht  zu.  Vgl.  Maimonides  ptPiTJ  IV,  15, 
Eben  ha-Eser,  N.  125.  Maimonides  war  nicht  der  erste,  der  in  dieser 
Frage  einen  erschwerenden  Standpunkt  einnahm,  das  taten  schon 
»Saadja  und  die  Gaonim«.  Vgl.  Ittur,  Abhandlung  8  (ed.  Lemberg  I, 
10  b).  Mit  dem  Responsum  in  Geonica  stimmt  das  Responsum  R. 
Nissims  (ben  Jakob)  in  Ittur  1.  c.s).  Vgl.  Geonica  II  S.  171. 

S.  94,  N.  5,  6.    Der  Gaon,   der   einen    neuen   Kanon   aufstellt: 

i)  Vgl.  Aptowitzer,  REJ  1908,  S.  92,  Anm.  2.  —  REJ  19C9,  S.  193, 
Anm.  behauptet  J.  N.  Epstein,  daß  diese  Pardesstelle  dem  Ma'aße 
ha-Geonim  entnommen  ist  und  beruft  sich  dabei  auch  auf  Epsteins 
Verzeichnis  in  der  Monatsschrift  1908,  S.  729  ff.  Ich  finde  weder  in  diesem 
Verzeichnis  noch  im  Ma'aße  ha-Gaonim  selbst  eine  Spur  davon. 

»)  Sehern  ha-Gedolim,  ed.  Ben  Jakob,  51a,  N.  22.  Vgl.  Jad  Ma- 
leachi  N.  238. 

»)  Vgl.  auch  Geonica  II,  S.  167  und  Anm.  2. 


Besprechungen.  375 

^JMDtt>3  ns^n  n:,"!X  13  XTK  311  SxiStf,  scheint  auf  dem  Standpunkt  zu 
stehen,  daß  der  Kanon  "»KTJD3  "3"7H  gegenüber  älteren  Amoräern 
keine  Geltung  hat1). 

S.  95,  N.  12.  QiBzberg  hat  den  Inhalt  des  Responsums  nicht 
richtig  erkannt.  Es  handelt  sich  keineswegs  um  die  Frage,  ob  bei 
HD'ßn  der  Grundsatz  löjty  )b  b$  CJp  B^Vü  pTK  px  keine  Geltung  hat. 
1.  Der  Gaon  spricht  in  beiden  Fällen  von  csn,  also  auch  dort,  wo 
es  auf  Grund  des  Geständnisses  nicht  zur  Zahlung  kommt.  2.  Die 
Ausdrucksweise  des  Gaons  zeigt,  daß  er  nichts  neues  sagen  will  und 
bloß  eine  bekannte  Tatsache  hervorhebt,  was  er  bei  der  Heranziehung 
des  in  der  Mischnah  mit  keiner  Silbe  angedeuteten  Momentes  von 
TICDD  doch  unmöglich  getan  hätte.  3.  Der  Gaon  sagt  nicht  D'Bfl 
TP^D  sondern  ,T>^  D'BD.  Dies  ist  Ginzberg  selbst  später  aufgefallen. 
Daher  bemerkt  er  in  den  Zusätzen  S.  423:  »The  langnage  of  this 
Responsum  is  rather  obscure;  D'BD  may  refer  to  the  person  as  well 
as  the  property«.  ff*?  D'Bn  kann  sich  aber  nur  auf  die  Person  be- 
ziehen. Es  ist  zweifellos,  daß  der  Gaon  folgendes  sagt:  Bei  einer 
Forderung  unter  normalen  Umständen  wird  der  Beschuldigte  auf 
GruHd  seines  Geständnisses  nicht  zur  Zahlung  des  wp  verurteilt,  weil 
dies  lBüy  ifi  by  übVÜ  wäre.  Wenn  aber,  wie  in  der  Mischnah  Sche- 
buoth  44b,  zwei  miteinander  raufen  und  der  eine  eine  Verletzung 
davonträgt  und  er  unmittelbar  darauf,  gleichsam  in  flagranti: 
CXpi  JV*b  D^Bm,  behauptet,  die  Verletzung  habe  ihm  sein  Gegner 
beigebracht2),  in  diesem  Falle  wird  der  Beschuldigte,  wenn  er  gesteht, 
zur  Zahlung  verurteilt,  weil  sein  Geständnis  kein  freiwilliges  ist,  son- 
dern durch  ein  gravierendes  Indiz  erzwungen  wird.  Des  Gaons  Sbitji 
«SV  ist  blBTl  Ki-i  der  Mischnah.  —  Die  Auffassung  des  Gaons  er- 
kennen wir  aus  Ibn  Megasch  und  Maimonides3).  Wir  erfahren  nun  auch 
aus  unserem  Responsum,  daß  in  gaonäischer  Zeit  die  Entschädigung 
für  nbsn  als  o;p  aufgefaßt  wurde,  wie  nach  Maimonides  und  gegen 
RABD  und  seine  Anhänger,  zu  denen  auch  sogar  Maggid  Mischneh 
gehört4). 

S.  95,  Anm.  I.  Schon  Rab  Amram  hat  die  ritten  verboten. 
Vgl.  Müller,  Mafteach  S.  126,  N.  58.  Vgl.  OS.  I  135  b  oben. 

S.101,  Z.l— 3.  Der  Gaon  meint,  da  Samuel  und  Rab  AdabarAhaba 


l)  Vgl.  oben  S.  367. 

8)  Vgl.  Tur  Choschen  Mischpat  N.  90  und  Toseftha  Schebuoth 
VI,  2. 

3)  Vgl.  Mischneh  Torah  p'Töl  bxn  V,  6  und  Maggid  Mischneh 
z.  St. 

4)  Vgl.  M.  Mischneh  a.  a.  O.  und  fjJBJi  |S>iö  I,  16. 


376  Besprechungen. 

die  Ansicht  des  Itpp  «jn  ignorieren  und  bloß  die  Ansicht  seines  Gegners 
diskutieren,  so  hat  nur  die  Ansicht  dieses  Gegners  halachischen  Wert. 
Dies  ist  methodologisch  sehr  wichtig.  Vgl.  Ascheri  Gittin  VIII,  N.  11, 
V,  N.  18  und  besonders  bx:r\2  p"ip  dazu,  der  die  erwähnte  Regel  für 
die  Mischnah  nicht  gelten  läßt.  [Vgl.  w.  u.  S.  384.] 

S.  102,  Z.  14.   Nach  c^jHJ  ist  zu  ergänzen:  D^IPD  ,1110  EX  KT. 

S.  103,  N.  XV,  Z.  3  und  9  "HJ?5?  1.  "HJM.  Aus  der  Erklärung  des 
Gaons  folgt,  daß  er  elvi  bei  iDJJ  B>13J  und  vjy  "inj?  nicht  gelesen. 

S.  106,  Anai.  2.  Richtiger  Index  S.  413  a  v.  cn  und  Zusätze  S. 
423,  daß  das  Wort  die  Bedeutung  ^Di  hat1).  Viell.  ist  auch  an  diesen 
Stellen  für  pin  0,1  zu  lesen  pr.1  0,1.  Vgl.  Magazin  1878  S.  62  (hebr.) 
ipri  ß'1  und  Saadja  bei  Ibn  Gajath  II  S.  100:  "Ol  Dil.  —  Das.  Anm. 
10.  In  den  Zusammenhang  paßt  es  besser  'EB>  üb  =  bwv  ttb  zu 
fassen.  Nach  G.  hätte  es  heißen  müssen :  «nrj  [rein  .  .  .  UJJBtP  xb"\ 
X12JX.  Gut  wäre  auch:  flJ?DB>  »b,  kennst  du  denn  nicht  den  Satz...? 
—  Die  Antwort  des  Gaons  ist  sehr  merkwürdig,  da  R.  Jochanan 
wörtlich  mit  der  Toseft  ha  übereinstimmt.  Wenn  dies  dem  Gaoa 
entgangen  war,  so  konnte  er  doch  die  im  Talmud  angeführte  Ba- 
raitha  nicht  übersehen. 

S.  114  f.  Vgl.  Rabiah  S.  43  f.,  wo  R.  Natronais  mono  nxo  mo 
in  sehr  abweichender  Form  mitgeteilt  wird.  [Vgl.  w.  u.  S.  3S2  f.) 

S.  119,  Z.  20  pftpn«  Wahrsch.  zu  lesen  proin  aram.  oder  pwairr 
hebr.2)  und  in  =  in  oder  n3). 

S.  122,  N.  1.  Wenn  es  sich  wirklich  um  den  von  Ginzberg  an- 
genommenen Fall  handelt  —  und  diese  Annahme  ist  sehr  wahrschein- 
lich —  so  entscheidet  der  Gaon  gegen  den  Talmud4). 

S.  134,  135.  vty  liest  im  Talmudtext  Hai.  gedoloth,  ed.  War- 
schau, 228a.  Die  Lesart  IBBM  bv  ist  aber  älter  als  R.  Chananel,  so 
lesen  Hai.  gedoloth,  ed.  Berlin,  S.  474.  Auch  inhaltlich  stimmt  R. 
Chananel  mit  den  Hai.  gedoloth,  während  R.  Hai  keinen  Unterschied 
macht  zwischen  tfxia  Wnft  und  ?]-C3  Dirn. 

S.  138  und  Anm.  1.  Menachoth  XI,  7  ist  nicht  die  Rede  von 
einem  »habit  of  the  less  eultured  priests«,  sondern  von  Priestern 

*)  Vgl.  über  c,1  in  dieser  Bedeutung  Harkavy,  Studien  V,  S. 
353,  VIII,  S.  43,  Note  1  und  S.  204.  Vgl.  auch  Low  in  WZKM.  XXI 
S.  415.  [Vgl.  w.  unten  S.  380,  382.] 

*)  Vgl.  Bacher,  Exegetische  Terminologie  I,  S.  63,  Anm.  4. 

8)  Über  1  =  Kamez  chatnf  (t:)  vgl.  Aptowitzer,  Das  Schrift- 
wort in  der  rabbinischen  Literatur  I  (Prolegomena)  S.  35. 

*)  Kethubboth  102b.  Vgl.  Halachoth  ged.,  ed.  Warschau,  138a, 
147  b. 


Besprechungen.  377 

mit  gutem  Magen.  Um  die  Mischnah  so  zu  verstehen,  ist  nicht 
nötig  \PS3W  zu  lesen.  So  heißt  es  auch  in  der  Mischnah  Aboda  sara 

29b:  n*n  nmitp  nc  vijnp  ffis-   Vgl.  Raschi  z.  st.  na"1  {njnp  liest 

auch  Jer.  Erubin  20 d,  15.  Der  Gegensatz  dazu  ist  müp  DJH,  vgl. 
Chullin  107  b  oben. 

S.  144,  N.  4  zu  Responsum  501  S.  150.  Vgl.  Hai.  gedolotb,  ed. 
Warschau,  288 a,  ed.  Berlin,  S.  473  f.  und  die  Bemerkungen  Traubs 
und  Hildesheimers. 

S.  145,  N.  6.  Vgl.  Ma'aße  ha-Geonim  S.  75,  N.  85. 

S.  145,  N.  7.  Vgl.  Hai.  Pesukoth  N.  89  (ha-Choker  I  S.  39,  40) 
und  D"0HPm  bv  [min  S.  32,  II,  S.  20. 

S.  146,  N.  17.  Vgl.  Chazan  zu  nriffn  "njw  N.  173  und  Apto- 
witzer  in  REJ.  1909,  S.  245. 

S.  168,  N.  6.  Dieselbe  Entscheidung  in  Hai.  ged.,  ed.  Berlin, 
S.  86  im  Namen  von  R.  Sar  Schalom,  R.  Amram  und  R.  Zemach  bar 
Salomo1). 

S.  169—172.  Vgl.  oben  S.  369  zu  S.  94,  N.  3. 

S.  175,  Z.  19  Ende.  1V1  lies  aien. 

S.  179,  N.  12.  Machsor  Vitry  S.  230,  N.  63:  noü  31  "HP  »Sil 
K331  [k:"*i]  'm  nübv  13.  Vgl.  noch  Hurwitz  z.  St.  und  Buber  zu 
Sefer  ha-Oreh  S.  100,  Anm.  3.  In  den  Novellen  des  Moses  Chalava 
zu  Pesachim65a:  (23K  ncx  la  iasi3  Kri'ra  3^.1  b'\  (inj  *xn  lrsii3) 
pi  rpä. 

S.  180,  Anm.  2.  Auch  Hai.  ged.,  ed.  Warschau,  60b  und  274a. 
Nach  Orchoth  Chajjim  I  löl^Tl  J1TBD  N.  5  ist  dies  auch  die  Ansicht 
R.  Amrams.  Der  Unterschied  zwischen  TtJS  CtPB  und  rvrov  DSP» 
scheint  schon  in  i^jisi  der  Hai.  ged.  angedeutet.  Vgl.  noch  Machkim, 
ed.  Freimann,  S.  33,  Z.  6  f.  und  meine  Bemerkung  Monatsschrift  1910 
S.  277.  Vgl.  «och  jmSBH  Nr.  29,  18  c. 

S.  181,  N.  16—17.    Responsum  17  (S.  185  unt.)  kommt   in  er- 


*)  Dasselbe  Responsum,  welches  in  miBTl  ■njjp  N.  235  R. 
Natronai  zugeschrieben  wird.  Vgl.  auch  Hai.  ged.,  ed.  Warschau,  35  a. 

*)  Danach  bei  Ihn  Gajat  II  S.  100  pKjpsx  zu  emendieren.  Bam- 
bergers und  Zombers  (awib  D^ncD  filD^.l,  S.  8'"0  Ausführungen  ent- 
fallen also. 

8)  So  auch  R.  S.  ben  Adereth,  Novellen  zu  Berachoth  IIa  v. 
firm  Ende  (neit  n")  und  14 a  v.  "]^b\  Or  Sarua  I  26b  unt.:  pMIlEXSl» 
Trotzdem  ist  es  nicht  sicher,  daß  uns.  Responsum  hier  R.  Zemach 
gehört,  da  auch  R.  Amram  so  entscheidet,  und  zwar  aus  dem- 
selben Grunde.  Vgl.  Siddur  41a  und  Or  Sarua  a.  a.  O. 


378  Besprechungen. 

weiterter  Form  vor  in  Ma'aße  ha-Gaonim  S.  191).  Freimann*)  meint, 
das  Responsum  hier  wäre  gekürzt.  Richtiger  ist,  daß  das  Responsum 
hier  ursprünglich  ist  und  in  Ma'aße  ha-Oaonim  erweitert  wurde.  — 
Aus  Ma'aße  ha-Qaonim  wird  es  sicher,  daß  es  sich  um  eine  Teig- 
walze handelt,  also  pSitP  =  arab.  Sübakun,  wie  Qinzberg  fragend 
vermutet. 

S.  181*  N.  18.  Vgl.  zu  diesem  Responsum  und  zu  N.  10  Tur  I, 
N.  467  und  jetzt  Ma'aße  ha-Qaonim  S.  19  f. 

S.  183,  Anm.  2.  Die  Korrektur  ist  nicht  nötig.  Es  ist  einfach 
für  pip"«  CJ?  zu  lesen :  jrp'cy. 

S.  188.  Die  Angabe  Aron  ben  Eliahs  und  Baschjazzis  scheint 
nicht  auf  Moreh  III,  49  zurückzugehen,  da  sie  selbst  an  an- 
derer Stelle  diesen  Grund  akzeptieren3).  Vgl.  Derech  Erez  I:  K-n4) 
iianm  ii Vi  emnn  xb  dipoi  ♦ .  ♦  rrty  2"n  mtvn  by.    Vgl.  auch 

Nachmanides  zu  Deut.  22,  10. 

S.  190,  N.  9—10  und  Anm.  1.  pn  für  x"on  und  umgekehrt  auch 
in  Hai.  ged.,  ed.  Berlin,  S.  59,  61,  122,  139,  162,  287  und  Geonica  II 
S.  248  Z.  8.  Vgl.  noch  Geonica  II,  S.  364,  Anm.  I5). 

S.  196,  Anm.  1.  Die  ganze  Anmerkung  ist  überflüssig,  da  ja  ix 
offenbar  aus  |mx  verschrieben  wurde. 

S.  206,  Anm.  1.  Für  IJJJS  p:tP  ist  gewiß  i:j>Sp:B>  zu  lesen.  Zur 
Angabe  ist  Resp.  der  Gaonim,  ed.  Harkavy,  N.  278,  S.  140  zu  verglei- 
chen, wo  R.  Hai  bemerkt:   arVTl   HSim  PPS?  IJXP  JlKTfl  WIBil  *3 

S.  206,  Anm.  3.  Für  B>j?a  ist  wahrscheinlich  nj?3  zu  lesen,  viell. 
V  i2.   Das  Responsum  kommt  vor  in  Eschkol,  ed.  Albeck,  S.  4  f. 

S.  207,  Anm.  3.  An  fp^JJl  ]T3  ist  gewiß  nicht  zu  denken.  Der 
richtige  Text  ergibt  sich  aus  S.  208,  Z.  4  und  209,  Z.  6:  niBns  xbv 
trtyl  —  Das.  Anm.  4.  Viell.  pari  roiJJl  =  p:an  njwa. 

S.  210,  N.  3.  Der  Versuch,  unser  Responsum  mit  dem  in  "nyjp 

*)  . .  ♦  Xi'i'HB  piipß>  (!)  nawtDl  irM  HB  BXlVltWl  Die  Lesart 
#1^  ist  besser  als  niBKf?  in  uns.  Responsum,  jedoch  auch  in  Ma'aße 
ha-Gaonim  zu  Schluß  Tfttvh. 

')  Einleitung  S.  XXIII,  N.  119.  Die  Hinweise  auf  unsere  Respon- 
sensammlung  sind  von  Freimann. 

a)  Vgl.  Addereth  Eliahu,  ed.  Odessa,  196  c. 

*)  Vgl.  Halachoth  gedoloth,  ed.  Warschau,  12  b,  ed.  Berlin,  S.  253. 

»)  Vgl.  noch  •or'tb  "p  N.  17,  Tossafoth  Sabbath  132a  oben, 
Chullin  104b  und  *m  mDCW  Erubin  lb  unt.  Vgl.  noch  Ratner, 
AhawathZion,  Pesachim,  S.  125,  126,  142  und  meine  Bemerkung  oben 
1910  S.  419.  Ausführlich  darüber  an  anderer  Stelle. 


Besprechungen.  379 

AIS  53  b  N.  2  zu  vereinigen,  indem  das  dort  vorkommende  jap  JT3 
als  »only  a  different  expression  for  "inx  H^3  in  our  fragment*  gefaßt 
wird,  scheitert  an  der  Angabe  niOS  wbv  b$  fllBX  vbv.  Auch  der 
ganze  Tenor  des  Responsums  in  f*'tt>  macht  es  unzweifelhaft,  daß  es 
nicht,  wie  in  uns.  Resp.,  auf  die  Zahl  der  Wohnräume  ankommt, 
sondern  auf  die  Bequemlichkeit  des  einen  Wohnraumes. 
Unser  Responsum  ist  zweifellos  identisch  mit  dem  hebräischen  Resp. 
R.  Zemachs  in  Mordechai  Kethubboth  N.  167  aus  Sefer  myilfpan1), 
zu  dem  Mordechai  mit  Recht  bemerkt:  rm  flrxp  l*iai  "pna  yc^ö 
nrm  -»jb?  nn^  b"bo  n^a  '^nai  bna  man  l'rsx  "inx  rraa  anay.  Eine 
Vereinigung  unseres  Fragmentes  mit  f'W  53b  N.  2  ist  daher  unmög- 
lich. Die  beiden  Responsa  müssen  zwei  verschiedenen  Gemach  zu- 
geschrieben werden  und  zwar  unser  Responsum,  das  von  einer 
Worterklärung  ausgeht,  R.  Zemach  ben  Paltoi  und  jenes  in  f»"B> 
R.  Zemach  ben  Chajjim. 

S.  217,  218  zu  Resp.  4  S.  221  f.  Eine  merkwürdige  Parallele  zu 
der  Ansicht  des  Gaons  findet  sich  bei  Mein,  Magen  Aboth,  ed.  Last, 
S.  63.  Er  bemerkt  in  bezug  auf  rryotf :  13  D^nn  Vft  xbw  xSx 
*nn  xa^ya  -ist ^ n  nin'Bn  mabi  nvpü  'B>a*n  a^van  xbx 
\b  rr»n  xb  it  nironi  ansia  nna  pjxi  ,ai*n  n-nna  x'ria  a^ama 
*]iDD3  nu"1»1  ^mv  (I.  'Dan)  a^aan  iyapB>  |oj  ^a(tt>)  x^x  "px  |a6  aipa 
-naxn  papa  ^kw  px  ma*3D  ww  maipaa  ?]xi  '"x  te  maipaS 
nnpyai  nanna.  Das.  S.  65:  fanin  inx1?  fn  B>aa  nrn  rata  dpa  'jaci 
orpiana  pjk  nvwpBi  naiina  paroa  vn  xS  w  rpai 

S.  222,  Z.  1  lies  nBWin  für  BHpn. 

S.  232  unt.  Der  Gaon  faßt  die  Regel  viel  allgemeiner :  wenn 
jemand  auf  den  Standpunkt  Rabs  oder  Samuels  steht  x  3  '  X  ^3X 
jin^a  im  'ö'BO  B'xpn,  da  hat  der  Kanon  pnr  '13  nbn  keine  Gel- 
tung. Dazu  ist  Seder  Tannaim  in  Sehern  ha-Gedolim,  ed.  Ben  Jakob, 
51  b  N.  24  zu  vergleichen2). 

S.  232,  Anm.  1.  Jad  Maleachi  N.  553  wird  die  Frage  nur  ge- 
legentlich gestreift.  Die  ausführliche  Behandlung  des  Themas  findet 
sich  in  N.  152. 

S.  237,  N.  11.  Die  Erklärung  in  uns.  Responsum  weicht 
wesentlich  von  Kethubboth  5  a  ab3),  so  daß  es  fraglich  ist,  ob  diese 
Talmudstelle  gemeint  ist. 

J)  Fehlt  in  Müllers  rtriBB» 

»)  Vgl.  auch  Jad  Maleachi    N    158  betreffend    die  Regel   mbn 

"SX  '3^  X3"I3, 

3)  x-ijm  xnS'B  anstatt  pn  irxtf  iai  und  xirn  ^B31,  dem  im 
Talmud  nichts  entspricht,  und  wodurch  die  Sentenz  ihres  ethischen 


380  Besprechungen. 

S.  237,  Anm.  1.  Ein  Responsum  des  R.  Samuel  n"?3  E>n  iff 
Ittur,  ed.  Lemberg,  I,  63a.  Vgl.  über  ihn  Poznanski,  Studien  zur  gao- 
r.äischen  Epoche,  S.  65  (=  ha-Kedem  II  S.  111).  Ein  zweiter  R. 
Samuel  n^3  tt»"1*!  war  der  Urgroßvater  Schemas,  der  in  seinem 
Namen  eine  Erklärung  mitteilt,  Resp.  der  Oaonim,  ed.  Harkavy,  N.  229. 
Vgl.  über  ihn  Poznanski  a.  a.  O.  Auch  von  zwei  anderen  babyloni- 
schen n'rs  TNT  werden  »opinions«  mitgeteilt:  R.  Simonai  und  Eleasar 
smn.  Vgl.  Poznanski  a.  a.  O.  S.  51  und  61. 

S.  238,  Anm.  1.  Vgl.  Epstein,  Monatsschrift  1892,  S.  78;  ha- 
Choker  I  S.  35,  190,  II  S.  7. 

S.  239,  Anm.  3.  fflJ  '-.  liest  auch  Hai.  ged.,  ed  Berlin,  S.  642. 

S.  242,  N.  II,  Dieselbe  Erklärung  von  FFPIS  wie  in  diesem 
Responsum  bietet  auch  Responsum  XX  (S.  248)  für  die  Baraitha 
Gittin  25a,  den  locus  classicus  für  BV*Q»  Es  ist  daher  nicht 
richtig,  daß  nach  dem  Autor  von  Resp.  II  ,TV*n  in  B.  kamma  51  b  »has 
nothing  to  do  with  the  legal  maxim,  which  bears  this  name  in  Tal- 
rnudic  literature«.  Daher  ist  es  auch  nicht  sicher,  daß  der  Autor  von 
Responsum  II  die  ganze  Ausführung  Rabinas  nicht  gelesen.  Es  genügt 
anzunehmen,  daß  er  für  unser  IfriJJJttb  HTX1  gelesen  hat  kb'tiTDV 
WMMP«  —  Aus  der  Gleichheit  der  Erklärungen  von  riT13  in  Resp. 
II  und  XX  ist  zu  schließen,  daß  sie  einem  und  demselben  Autor  gehören. 

S.  243  lies  VIII  und  55a.  Wie  Ginzberg  die  Worte  fJTSV^  vpit 
als  lapsus  calami  erklären  kann,  ist  mir  unbegreiflich.  Am  Schluß 
des  Responsums  heißt  es  noch  einmal:  by  3"rPD  nnm  frjfatJI  bv 
pnMID,  Es  handelt  sich  also  ausdrücklich  auch  um  n$£"CT«  — 
So  hat  der  Gaon  die  Frage  des  Talmuds  erweitert,  rpai  muß  =  ik 
B'pa  gefaßt  werden. 

S.  244,  N.  XXI.  Kim?«  liest  auch  Hai.  ged.,  ed.  Berlin,  S.  351. 
So  auch  Resp.  der  Gaonim,  ed.  Harkavy,  N.  467.  Vgl.  auch  NN.  181, 
200,  287,  279  und  Harkavy  S.  353.  awnj«  liest  auch  Ben  Barsillai  in 
S.  ha-Schetaroth. 

S.  243  fehlt  die  Quellenangabe  zu  N.  XX:  Gittin  15a  und 
Parallelen. 

S.  258,  N.  2.  Das  Betrachten  der  H  andf lachen  ist  ja  nicht 
neu.  So  schon  Hai.  gedoloth  und  R.  Natronai.  Vgl.  Ibn  Gajath  I  151). 
Zum  mantischen  Grund  vgl.  Orchot  Chajjim  I,  ,1^13.1,  N.  15. 

Charakters  entkleidet  und  zu  einer  Verhaltungsmaßregel  um  des  lieben 
Friedens  willen  wird. 

»)  Natronai,  D'^IPJO  bv  frmn  I  50  N.  16,  cr.Bltil  D'D33.  Vgl. 
noch  PardesN.  111,  116;  Likkute  Pardes  IIb;  Machsor  Vitry  S.  117; 
Schibbole  ha-Leket  N.  130. 


Besprechungen.  381 

S.  261,  N.  10.  Über  dieses  Thema  vgl.  jetzt  Magen  Aboth,  ed. 
Last,  S.  155  f.  Dort  schließt  ein  ähnliches  Responsum  wie  das  in  Ha!. 
Pesukoth  N.  192  mit  den  Worten  mrtf"1  Tltfa  njön  [S1.  Vgl.  noch 
Or  Sarua  II  N.  257. 

S.  262,  Anm.  15.  xipx  rtacDXl  i3t  ja  geläufig,  xip  ^xö  M5BÖR1 
gibt  keinen  Sinn.  Der  Gaon  will  nicht  die  Stelle  wörtlich  zitieren. 

S.  263,  Anm.  2.  Für  xnx  1J1Ö  I.  wol:  xnxir.a. 

S.  290.  Daß  dieses  Fragment  aus  der  pumbaditanischen 
Schule  stammt,  folgt  auch  aus  Z.  5  f.  "ibd  ^ItD^I  XXlI'TJa  y2W 
1BB>2  HJ'1  TDTI3  bjJ  rniri,  während  beim  Schwur  selbst  kein 
fsn  r.B'p]  vorhanden  ist.  Dies  stimmt  mit  dem  Brauch  in  Pumba- 
ditha,  wie  wir  aus  plä  'HJW  76a,  N.  22  wissen,  und  pnx  i»tytf  73h 
oben  heißt  es:  b2",t  Kn^mxn  ,iii*iH  fioää  p^no  Kp";  xin  srnnji 
pn:a  x'jx  12  yatrj  x^i  rro  bsio  iMWjjj  jttwi  -.btb  'ry  rrc 
-  .  .  113B3  Alis  lim.  Der  Autor  dieser  Responsen  in  f»"&>  ist  R.  Hai, 
daher  ist  es  wahrscheinlich,  daß  auch  unser  Genisahfragment  R.  Hai 
gehört.  Dies  wird  aber  unzweifelhaft  durch  die  Tatsache,  daß  in 
unserem  Fragment  22»  auf  Grund  von  hüCW1  px-  J?p*:p  selbst  bei 
~XtP*in  als  unwirksam  erklärt  wird,  eine  Ansicht,  die  nur  von  R.  Hai 
vertreten  wurde,  während  sonst  die  pumbaciitanische  Schule  ein  sol- 
ches 3ÜR  bei  nxcnn  als  zulässig  erklärt.  Vgl.  Resp.  der  Gaonim,  ed. 
Harkavy,  S.  93 J). 

S.  293  unt.,  294  oben.  Zwischen  den  beiden  Fragmenten  scheint 
ein  gewisser  Zusammenhang  zu  bestehen.    Resp.  XII  in  Fragm.  2760 

s.  320,  z.  3:  msfm  |o  npiex*?  ixet?  rra  iö'ö1?  yntttn  wn  und 

Resp.  II  in  Fragm.  2862,  S.  329,  Z.  8:  'Vfi  [0  p:piDK^  prßlB  Wfl. 
Entweder  ist  das  erste  Fragment  vom  zweiten  abhängig  oder  beide 
gehören  einem  und  demselben  Autor,  d.  i.  R.  Amram. 

S.  294,  N.  2.  Zur  Erklärung  des  Gaons  ist  auf  Jer.  Bezah  IV  2 
(62c,  34)  nrPB  p  für  das  sonstige  TinB  [3  zu  verweisen. 

S.  298  behauptet  Ginzberg,  der  Kompilator  der  Agadath 
Bereschith  habe  »beyond  a  doubt«  in  der  Nachbarschaft  von 
Konstantinopei  zur  Zeit  R.  Hais  gelebt.  —  Welche  Anhaltspunkte 
gibt  es  dafür*)? 

S.  303  und  Anm.  2.  Über  R.  Zemach  vgl.  noch  Zunz,  Ritus 
S.  189;  Kohn,  Mordechai  ben  Hillel,  S.  156;  Halberstamm,  Jeschurun 

i)  Vgl.  dagegen  Pardes  26a,  ed.  Warschau  121a. 

2)  Ein  Anhaltspunkt  für  die  Abfassungszeit  der  Agadath  Bere- 
schith ist  viell.  die  Stelle  ed.  Buber,  S.  160  unt.:  "PHn  ni  föKJll.  Was 
spricht  aber  für  die  Nähe  Konstantinopels  als  Heimat  dieses  Midrascli- 
werkes? 


382  Besprechungen. 

V,  S.  137;  Beth  Talmud  IV,  S.  339.  Daß  R.  Zemach  Ab  Beth  Din 
nicht  Zem ach  ben  Chajjim,  sondern  Zemach  ben  Salomo  ist,  folgt 
aus  der  Tatsache,  daß  ein  Responsum,  welches  im  Machsor  Vitry 
S  280,  N.  63,  Z.  6  Salomo  K231  KJ«1  gehört,  bei  Ibn  Oajath  und 
Moses  Chalawa  im  Namen  von  R.  Zemach  Ab  Beth  Din  mitgeteilt 
wird.  Vgl.  oben  S.  372  zu  S.  179,  N.  12. 

S.  305,  Z.  17  in  der  Mischnah  Bechoroth  VI,  3  naian  für  uns. 
fH^n1),  wozu  Ginzberg  folgendes  bemerkt:  »=  iniin?  Or  did  the 
scribe  confuse  imin  »albugo«,  with  "oian  »serpent«?  «.  —  Die  erste 
Annahme  ist  entschieden  richtig,  aus  folgendem  Grunde.  Zu  Tnnn 
verweist  Aruch  v.  *inn  auf  Pseudo-Jon.  zu  Gen.  19,  11,  wo  CHUDS 
durch  KiTnilTD  wiedergegeben  wird,  wofür  aber  das  Fragmentargum  : 
nsisnn2)  bietet,  also  nnnn  =  "Dian.  Der  Wechsel  zwischen  2 
und  1,  11  ist  auch  sonst  nicht  selten3). 

J)  So  auch  S.  367   für   nmin  in  der  Mischnah  Bechoroth   41a. 

2)  So  manche  Texte  bei  Mussafia  und  Fragmententargum  ed. 
Ginsburger  S.  12. 

3)  So  in  unserer  Sammlung  selbst  nil  und  nai  in  der  Bedeu- 
tung: erleichtern,  vgl.  S.  206,  Z.  10  und  207,  Z.  7.  So  auch  S.  337, 
Z.  8  und  394,  Z.  1  *V\WX  und  "mrpK  für  -DTPa  und  "rnrTK.  Tosefta 
Berachoth  VI,  3  (Babli  58  b,  Jer.  13  b)  fpllfj  und  Mischnah  Bechoroth 
45b  \p2b*  Vgl.  auch  TilSD'-OSö  ,}^!l"|^32  u.  a.  Vgl.  noch  Aplowitzer. 
Das  Schriftwort  in  der  rabb.  Lit.  II,  S.  33,  Anm.  3. 


(Schluß  folgt.) 


• 


Protokoll 

der   Sitzung    des   Ausschusses   der   Gesellschaft   zur  Förderung  der 
Wissenschaft  des  Judentums 

am    Montag,    den   26.  Juni    1911,   vormittags    10  Uhr    im   Büro   des- 
D.  J.  O.  B.,  Berlin  W.,  Steglitzerstraße  85  I. 

Anwesend  die  Herren  Adler,  Baneth,  Bloch,  Elbogen, 
Guttmann,  Maybaum,  Philippson,  Porges,  Vogelstein,  Nathan,  stellvt. 
Schriftführer. 

Entschuldigt  die  Herren  Bacher,  Brann,  Cohen,  Cohn, 
Lucas,  Schwarz,  Simon,  Simonsen,  Steckelmacher,  Werner. 

Der  Vorsitzende  eröffnet  die  Sitzung  um  10y4  Uhr  und  erstattet 
den  Geschäftsbericht.  Die  Gesellschaft  hat  einen  neuerlichen  Gewinn 
von  86  Mitgliedern  zu  verzeichnen,  dem  allerdings  auch  ein  beträcht- 
licher Verlust  durch  Tod  und  Ausscheiden  gegenübersteht.  Die 
Baronin  von  Cohn-Oppenheim-Stiftung  in  Dessau  hat  für  das  Kalen- 
derjahr 1911  den  Betrag  von  1000  Mark  bewilligt.  Erschienen 
sind  von  Werken  der  Gesellschaft  K  r  a  u  ß,  Talm.  Archäologie 
Band.  II;  von  Philippson,  Neueste  Geschichte  des  jüdischen  Volkes 
Bd.  II  die  russische  Übersetzung;  außerdem  mehrere  von  der  Gesell- 
schaft subventionierte  Werke.  Das  Erscheinen  des  von  dem  verstor- 
benen S.  P.  Rabinowitz  begonnenen  Werkes  über  die  Geschichte 
der  Juden  in  Rußland  ist  sichergestellt;  der  mit  der  Abfassung  der 
historischen  Geographie  Palästinas  beauftragte  Herr  Dr.  S.  Klein  ist 
von  seiner  Reise  nach  Palästina  befriedigt  zurückgekehrt.  Mit  der 
Buchhandlung  Kauffmann-Frankfurt  a.  M.  ist  ein  Verlagsvertrag  für 
die  Germania  Judaica  abgeschlossen  worden.  Den  Herren  F.  Philipp- 
son-Brüssel  und  Prof.  Dr.  Bloch-Posen,  hat  der  Ausschuß  zu  ihrem 
60.  bezw.  70.  Geburtstag  die  Glückwünsche  der  Gesellschaft  ausge- 
sprochen. 

Im  Anschluß  an  den  Geschäftsbericht  dankt  Prof.  Bloch  für 
die  ihm  bereitete  Ehrung  und  verspricht,  seine  besten  Kräfte  in  den 
Dienst  der  Gesellschaft  zu  stellen. 

Über  die  Germania  Judaica  und  das  Maimonideswerk  erstattet 
Guttmann  —  über  erstere  in  Vertretung  des  durch  Krankheit  am 
Erscheinen  behinderten  Dr.  Brann  —  Bericht.  Es  wird  beschloßen,. 
das  Erscheinen  beider  Werke  nach  Möglichkeit  zu  beschleunigen. 


384  Protokoll. 

Über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Arbeiten  am  »Grundriß 
der  Oesamtwissenschaft  des  Judentumsc  wird  Bericht  erstattet.  Es 
wird  beschlossen,  diesen  Bericht  zu  vervielfältigen  und  den  Ausschuß- 
mitgliedern zuzustellen.  In  der  nächsten  Sitzung  soll  sodann  über 
die  Übertragung  der  noch  nicht  vergebenen  Teilwerke  des  Grund- 
risses an  neu  zu  berufende  Mitarbeiter  beraten  werden.  Für  die 
»allgemeine  jüdische  Literaturgeschichte«  wird  Herr  Prof.  Dr.  Marx- 
New-York  in  Aussicht  genommen.  —  Die  jüdisch  -  theologischen 
Anstalten  sollen  gebeten  werden,  geeignete  Kräfte  für  die  zu  verge- 
benden Werke  in  Vorschlag  zu  bringen. 

Zum  Corpus  Tannaiticura  wird  beschlossen,  Herrn  Dr.  Horo« 
witz  -  Breslau  mit  der  Durchsicht  der  rabbinischen  Literatur  zum 
Zwecke  der  Variantensammlung  für  die  Mischnaausgabe  zu  betrauer. 
Bei  der  Mischnaausgabe  soll  die  Ed.  pr.  zugrunde  gelegt  werden 
mit  der  Maßgabe,  daß  der  Herausgeber  berechtigt  ist,  dort,  wo  un- 
bedingt Druckfehler  oder  Irrtümer  vorliegen,  diese  durch  die  nach 
seinem  Ermessen  richtige  Lesart  zu  ersetzen. 

Herr  Dr.  Yahuda,  der  dem  Ausschuß  den  vollständigen  ge- 
druckten arabischen  Text  seiner  Bachj'aausgabe  vorlegt,  soll  gebeten 
werden,  den  Text  als  1.  und  in  kürzester  Zeit  die  Einleitung  als 
2.  Lieferung  seines  Bachja-Werkes  mit  Hintansetzung  aller  anderen 
Arbeiten  auszugeben.  Der  Ausschuß  kooptiert  die  Herren  Prof. 
Kalischer,    Mittwoch,    Sobernheim-Berlin    und    Poznanski-Warschau. 

Der  Ausschuß  bewilligt  Subventionen  dem  Verband  für  Statistik 
der  Juden,  Herrn  Ideisohn-Jerusalem,  Herrn  Weltsmann-Kalisch  für 
seine  Sammlung  von  Grabinschriften  in  der  Provinz  Posen  und  in 
Russisch-Polen,  Herrn  Guttmann-Budapest  für  seinen  Mafteach  ha- 
Talmud,  dem  Verein  Mekize  Nirdamim,  Herrn  Eppanstein-Bricsen 
für  seine  Ausgabe  des  Pentateuchkommentars  von  Abraham  Maimuai 
und  der  ZFH8.  Von  dem  von  Grunwald-Wien  herausgegebenen 
Werke  »Die  Hygiene  der  Juden«  sollen  20  Exx.  zum  Buchhändler- 
preise angekauft  werden.  Die  nächste  Ausschußsitzung  und  die 
ordentliche  Mitgliederversammlung  sollen  am  Dienstag,  den  2.  Januar 
1912  in  Berlin  stattfinden.  Den  Vortrag  übernimmt  Dr.  Elbogen. 
Schluß  12V,  Uhr.  Philippson.  Nathan. 


Unberechtigter  Nachdruck  ans  dem  Iahalt  dieser  Zeitschrift  ist  untersagt. 
Für  die  Redaktion  verantwortlich :    Dr.  M.  DRAN'N  in  Breslau. 


Druck  von  Adolf  Alkalay  &  Sehn  in  Preßburg. 


Die  Ethik  R.  Saadjas. 

Von  David  Rau  s.  A. 

Vorbemerkung.  Die  vorliegende  Abhandlung  gebe  ich  aus 
dem  Nachlaß  des  vor  kurzem  (14.  Febr.)  verstorbenen  Verfassers  heraus. 
Die  Anregung  dazu  erhielt  er  durch  die  vom  Lehrer-Kollegium  des  jü- 
disch-theologischen Seminars  in  Breslau  im  Jahre  1890  gestellte  Preis- 
aufgabe: »Darstellung  und  Beurteilung  der  Ethik  des  Saadjab.  Josephe. 
Der  von  ihm  damals  eingereichten  Arbeit  wurde  der  Joseph  Leh- 
mann'sche  Preis  zuerkannt.  Nach  den  Winken  und  Ratschlägen  des 
verewigten  Dr.  Rosin  hat  er  sie  dann  umgearbeitet.  In  dieser  Form 
kommt  sie  hier  zum  Abdruck.  Nur  einige  weitere,  besonders  neuere 
Literaturangaben  habe  ich  in  [Klammern]  hinzugefügt. 

Der  in  der  Blüte  der  Jahre  dem  rabbinischen  Amte  und  der 
Wissenschaft  des  Judentums  entrissene  Gelehrte  wurde  am  18.  Juli  1861 
in  Pr.-Friedland  (Bez.  Marienwerder)  geboren,  besuchte  1884—1893 
das  jüdisch-theologische  Seminar  und  war  nahezu  zwei  Jahrzehnte  als 
Rabbiner  in  Pleß  tätig.  Mit  reicher  Begabung,  gediegenem  und  gründ- 
lichem Wissen,  eisernem  Fleiße  und  seltener  Arbeitslast  verband  er 
eine  weit  über  das  gewöhnliche  Maß  hinausgehende  Bescheidenheit 
und  Zurückhaltung.  Diese  allein  haben  ihn  verhindert,  zahlreiche  ge- 
diegene Abhandlungen,  die  fertig  oder  fast  volleedet  in  seinem  Pulte 
lagen,  der  Öffentlichkeit  zu  übergeben.  Wie  die  Ethik  Saadjas,  hat 
er,  wie  er  mir  mitteilte,  auch  die  der  übrigen  jüdischen  Religions- 
philosophen behandelt.  Sein  Nachlaß  an  Büchern  und  handschrift- 
lichen Arbeiten  ist  der  Bibliothek  des  jüdisch-theologischen  Seminars 
überwiesen  worden.  Von  weiteren  religionsphilosophischen  Abhand- 
lungen habe  ich  vorläufig  nichts  gefunden.  Wenn  sie  mir  in  druck- 
reifer Form  zur  Hand  kommen,  sollen  sie  ebenfalls  veröffentlicht 
werden.  M.  Br. 

Einleitung. 

Die  bleibende  Bedeutung,  die  sich  Saadja\>  als  der 
Begründer  einer  jüdischen  Wissenschaft  unter  den  Rabba- 
niten    und  als  der  eigentliche  Schöpfer  der  jüdischen  Reli- 

x)  Saadja  ben  Joseph  al-Fajjümi,  geb.  892  zu  Fajjüm    in  Ober- 
Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  25 


386  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

gionsphilosophie1)  erworben  hat,  besteht  für  die  Entwick- 
lungsgeschichte des  jüdischen  Geisteslebens  hauptsächlich 
darin,  daß  er  den  gesamten  Glaubensschatz  seines  Volkes, 
wie  er  sich  durch  Bibel  und  Talmud  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte gebildet  hatte,  zum  erstenmale  in  seiner  Reinheit2) 
systematisch  dargestellt  und  bei  dem  von  ihm  versuchten 
Ausgleich  von  Religion  und  Philosophie  die  Originalität  und 
Selbständigkeit  des  jüdischen  Geistes  zu  wahren  verstanden 

ägypten,  seit  928  Gaon  (Rektor)  der  Hochschule  zu  Sura,  st.  942 
daselbst,  vgl.  Graetz,  Geschichte  der  Juden  V,  S.    302  ff.  [V*,  233  ff.] 

')  Schon  vor  Saadja  hatte  Isaak  Israeli  (845—940)  in  seinem  o 
TilTiD'n  einen  religionsphilosophischen  Versuch  gemacht,  in  dem  er 
dem  Eklektizismus  zuneigte.  Sein  Ruf  als  Arzt  war  aber  größer  als 
der  als  Philosoph  (vgl.  das  harte  Urteil  Maimünis  über  seine  Philo- 
sophie, Briefsammlung,  ed.  Amsterdam,  14  b  [Vgl.  über  ihn  jetzt 
Jacob  Guttmanns  Abhandlung  über  die  philosophischen  Lehren 
des  Isaak  b.  Salomon  Israeli  in  Bd.  X,  Heft  4  der  von  Cl.  Bäumker 
herausgegebenen  »Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  des 
Mittelalters«,  Münster  i.  W.  1911]).  Einen  größeren,  aber  ebenfalls 
ohne  weitere  Bedeutung  gebliebenen  Versuch  machte  dann  David 
Almokammez,  auch  Alraki  und  i^32M  genannt;  er  war  ebenfalls 
Arzt  und  ist  spätestens  937  gestorben.  Von  seinem  in  zwanzig  Ab- 
schnitten niedergelegten  System  sind  uns  nur  einzelne  Fragmente 
erhalten,  die  das  ganze  Werk  als  nach  dem  Muster  eines  mutaziliti- 
schen  Kaläm  angelegt  erscheinen  lassen.  Drei  dieser  Bruchstücke 
befinden  sich  in  dem  von  Halberstam  (Berlin  1888)  edierten  Jezirah- 
kommentar  des  Juda  ben  Barsillai,  S.  65,  77  ff.  und  zwar  Abschnitt  IX,  der 
das  Wesen  Gottes  (quidditas);  2.  teilweise  Abschnitt  X,  der  die  Eigen- 
schaften Gottes  und  3.  S.  151,  Abschnitt  XVI,  der  die  Vergeltung  im 
Jenseits  behandelt.  Teile  dieser  Bruchstücke  wurden  früher  vonLuzzatto 
in  Gabriel  Polacks  Halichot  Kedem,  S.  71—78  und  von  J.  Fürst  im 
Literaturblatt  des  Orients,  S.  617,  631  und  642  veröffentlicht.  [Vgl. 
Eppensteins  Bemerkungen  zu  Graetz  V4,  S.  322,  Anm.  5.] 

2)  In  wie  hohem  Grade  ihm  dies,  trotzdem  er  sich  dem  Einflüsse 
der  griech.  Philosophie  nicht  entziehen  konnte,  gelungen  ist,  beweist 
der  Umstand,  daß  er  nicht  nur  einer  der  bei  den  Juden  am  meisten 
gelesenen  Religionsphilosophen  war,  sondern  daß  in  der  Gegenwart 
sogar  seine  Ansichten  selbst  in  dogmatisch  sehr  wichtigen  Punkten 
in  den  Lehrbüchern  der  jüd.  Religion  häufig  wieder  zu  finden  sind. 
Vgl.  Graetz,  Geschichte  der  Juden  V,  S.  332    [V4,  312]. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  337 

hat.  Man  wird  dieses  Verdienst  umso  weniger  verkennen, 
wenn  man  bedenkt,  daß  der,  Saadja  an  Systematik  wie  an 
Tiefe  der  Gedanken  weit  überragende,  Alexandriner  Philo 
die  Rechtfertigung  des  Judentums  und  dessen  Lehren  vor 
dem  Forum  der  griechischen  Philosophie  nur  dadurch  zu 
bewirken  vermocht  hatte,  daß  er  mit  dem  Zauberstabe  alle- 
gorischer Deutung  die  konkreten  Personen  der  biblischen 
Erzählungen  in  abstrakte  Begriffe  verwandelte,  die  mosai- 
schen Gesetze  und  Vorschriften  in  einen  Gedanken-Äther 
auflöste,  und  dann  aus  den  in  ihrem  Wortsinn  vergewal- 
tigten jüdischen  Religionsurkunden  die  Gedanken  der 
griechischen  Philosophie  herauslas1).  In  Philo's  Geiste 
unterlag  das  Judentum  dem  bestrickenden  Reize  und  der 
spielenden  Gewandtheit  der  glänzend  ausgebildeten  griechi- 
schen Dialektik;  sein  Streben  befriedigte  aber  das  religiöse 
Bewußtsein  seines  Volkes  nicht,  und  darum  hat  die  jüdisch- 
alexandrinische  Philosophie  in  jüdischen  Kreisen  weder 
eine  weitere  Fortbildung  noch  überhaupt  Anerkennung 
gefunden.  Das  Bedürfnis  eines  Ausgleichs  zwischen  der 
überkommenen  Lehre  und  der  Philosophie  der  Zeit  war  für 
Saadja  dasselbe  wie  einst  für  Philo.  Lehre  und  Überlieferung 
waren  in  Gefahr,  im  Geiste  und  im  Gemüte  ihrer  Bekenner 
von  einer  grundverschiedenen  Bildung  und  Lebensrichtung 
verdrängt  zu   werden,    seitdem  einerseits   der   Karäismus2) 


')  Vgl.  Zeller,  Philos.  der  Griechen  III,  2.  Besonders  eingehend 
hat  diese  Art  der  Exegese  In  ihrem  Einfluß  auf  die  Anschauungen  des 
Judentums  Z.  Frankel  behandelt  in  seinem  Buche  »Über  den  Einfluß  der 
paläst.  Exegese   auf  die  alexandrinische  Hermeneutik«,    Leipzig  1851. 

2)  Der  Karäismus,  als  das  Prinzip  des  starren  Festhaltens  an 
dem  Buchstaben  der  Schrift,  im  Qegensatz  zur  Tradition,  als  dem 
»Prinzip  der  beständigen  Fortbildung*  wie  Geiger,  Wissensch.  Zeitschr. 
I,  S.  348  die  Überlieferung  bezeichnet,  hat  seine  Wurzeln  in  dem  vom 
Pharisäismus  überwundenen  Sadduzäismus,  zu  dem  später  noch  un- 
verkennbar der  gern  streng  nach  dem  Wortlaut  der  Schrift  entscheidende 
Schammai  und  dessen  Schule  hinneigte.  Erst  der  Streit  der  Suniten 
und  Schiiten  in  der  muhammedanischen  Welt  erweckte  den  vielleicht 

25* 


388  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

den  Talmudismus  immer  mehr  mit  wissenschaftlichem 
Waffen  bekämpfte  und  bedrängte,  und  andererseits  die 
wieder  zur  Geltung  gelangenden  Systeme  der  griechischen 
Philosophie1)  bei  dem  damals  allgemein  herrschenden 
Mangel  an  Verständnis  für  eine  geschichtliche  Betrachtung 
weite  Kreise  mit  Verwirrung  und  Zweifel  erfüllten.  In 
dieser  Zeit  der  Not  erschien  Saadja's  Werk  E  m  u  n  o  t  w  e- 
Deot2),  das  nach  dem  übereinstimmenden  Urteil  der 
Späteren9)  einer  das  religiöse  Bewußtsein  seines  Volkes 
rettenden  Tat  gleichkam.  Was  Saadja  in  diesem  Werke  ge- 
leistet hat,  ist  zweifach  beachtenswert.  Zunächst  übertrifft 
es    nach    dem    Urteil    Stöckl's4)     an    Wahrheitsgehalt    bei 

noch  nicht  ganz  erstorbenen  Qeist  des  sadduzäischen  Prinzips,  so  daß 
Anan  b.  David  750  in  Bagdad  die  Sekte  der  Bne  Mikra  oder  Karäer 
gründen  konnte. 

»)  Saadjas  Werke  bilden  eine  wertvolle  Quelle  für  die  geschicht- 
liche Kenntnis  vom  Übergang  der  arab.  Philosophie  aus  dem  engen 
Rahmen  der  Mutazila  zu  dem,  durch  syrische  und  arab.  Übersetzungen 
des  Plato,  Aristoteles,  der  aristotelischen  Kommentatoren  und  des 
Qalen  angebahnten,  arabischen  Aristotelismus,  vgl.  Guttmann,  Die 
Religionsphilosophie  des  Saadja,  S.  16;  Überweg-Heinze,  Grundrß  II, 
6.  Aufl.,  S.  185  ff.  Saadja  kennt  die  griechische  Philosophie  beinahe 
in  ihrem  ganzen  Umfange,  selbst  die  Systeme  der  alten  ionischen 
Naturphilosophen. 

2)  Arab.:  Kitäb  al  Amänät  w'al  I'tiqädät  von  Said  b.  Jüsuf,  wie 
ihn  die  Araber  nannten.  Es  behandelt  in  10  Abschnitten:  1.  Die  Kos- 
mologie, 2.  die  Einheit  Gottes,  3.  die  Gesetze  der  Offenbarung,  4.  die 
Willensfreiheit,  5.  Verdienst  und  Strafe  und  die  Theodicee,  6.  die 
Anthropologie,  7.-9.  die  Eschatologie  und  10.  die  Ethik. 

')  Selbst  Maimonides,  der  oft  gegen  ihn  polemisiert  und  ihn 
>in  den  Irrlehren  des  Kaläm  befangen«  nennt,  erkennt  in  dieser  Be- 
ziehung willig  Saadjas  große  Bedeutung  an;  vgl.  Brief  nach  Jemen, 
ed.  Holub,  S.  39.  In  gleicher  Weise  urteilte  später  über  ihn  R.  Meir 
b.  Todros  ha-Lewi  in  Kitäb  al-rasäil  (ed.  Brill),  S.  57a:  UTK  TW  ="2 
'tk-iut»  min  rtnrnrcj  Kin  vbcbtitf  ins»  bn  pwn  rr-tj'c  V3"n  »BS  -cxr, 
»wäre  Saadja  nicht  gewesen,  so  wäre  die  Tora  in  Israel  in  Verges- 
senheit geraten«. 

*)  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters,  Band  II,  Mainz 
1865,  S.  264.  Saadja  scheint  sein  Werk  übrigens  nicht  nur  für  jüdisciie 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  389 

weitem  die  Werke  der  Mutakallimun  und  ist  somit  das 
Beste,  was  uns  aus  dieser  Periode  der  arabischen  Philo- 
sophie erhalten  ist;  andererseits  ist  dieses  Buch  durch  die 
systematische  Darstellung  und  vernunftgemäße  Beleuchtung 
des  gesamten  Glaubens-  und  Lehrgehalts  des  Judentums 
sowie  durch  die  Aufstellung  von  Saadja's  Nachfolgern  all- 
gemein angenommener  Interpretationsregeln  für  den  bibli- 
schen   Text1)    die  Grundlage    der   ganzen    jüdischen  Reli- 

Leser  geschrieben  zu  haben.  Eine  Stelle  im  Emunot  we-Deot  II,  S.  45, 
er..  Sracky,  Leipzig  1S64  (nach  welcher  Ausgabe  wir  auch  weiterhin 
zitieren)  nrvüm  bü  2'vnb  JVON  zeigt,  daß  er  gegen  Islam  und  Christen- 
tern eine  rein  wissenschaftliche  Polemik  zu  führen  beabsichtigte.  Und 
in  der  Tat,  für  Israeliten  hätte  er  nicht  nötig  gehabt,  so  tief  auf  Pro- 
bleme, die  nur  für  Andersgläubige  einen  Wert  hatten,  einzugehen. 
Wenn  er  es  dennoch  tat,  so  geschah  es  wohl,  weil  sein  Buch  das 
allgemeine,  wissenschaftliche  Interesse  aller  Denker,  nicht  nur  der 
jüdischen,  beanspruchte;  denn  in  Bagdad,  wo  Saadja  studierte  und 
sein  Werk  verfaßte,  waren  Disputationen  und  Diskussionen  zwischen 
den  Vertretern  der  verschiedenen  Religionen  nichts  seltenes.  Vgl. 
Munk,  Melanges,  S.  312;  v.  Kremer,  Kulturgeschichte  des  Orients  II, 
399  ff.  Saadja  selbst  scheint  sich  an  solchen  Disputationen  beteiligt 
zu  haben,  wie  eine  Stelle  seines  Werkes  III,  S.  68  beweist;  wo  er 
des  Einwand  eines  Aschariten  und  seine  Antwort  darauf  berichiet: 
*.♦  ♦  "O  vmg  . . .  "lötfl  ntn  löKön  bj?  Dnatp  =yc*n  "DSl,  vgl.  zu  der  an- 
geführten Stelle  Schahrästani,  übersetzt  v.  Haarbrücker,  I,  100  ff. 

x)  Nur  wenn  eine  Bibelstelle  gegen  eine  durch  eine  der  vier 
Erkenntnisquellen  gewonnene  Wahrheit  verstößt,  ist  es  gestattet,  die 
Bibelstelle  so  zu  deuten,  daß  der  Widerspruch  beseitigt  wird.  Emunot 
we-Deot  V,  S.  93;  VII,  S.  109;  vgl.  dazu  Einleitung  S.  10  und  II, 
S.  44,  an  welchen  Stellen  er  auf  die  ausführliche  Behandlung  dieses 
Punktes  in  der  Einleitung  seines  Pentateuch-Kommentars  hinweist; 
diese  Interpretationsregel  Saadjas  wurde  von  fast  allen  späteren  Re- 
ligionsphilosophen angenommen;  vgl.  Abraham  Ibn  Daud  in  Emuna 
rsma  S.  1.  Maimonides,  More  II,  25,  29  ff;  Einleitung  zu  Sanhedrin 
X,  7.  Die  3  resp.  4  Erkenntnisquellen  Saadjas:  die  sinnlische  Wahr- 
nehmung, die  Vernunft,  die  Bibel  und  die  Tradition  finden  sich  auch 
bei  den  lauteren  Brüdern,  vgl.  Dieterici,  Anthropologie  der  Araber, 
S..  20;  die  Lehre  von  der  Weltseele  S.  38  und  besonders  99,  wo  die 
Überlieferung  ebenfalls  als  Erkenntnisquelle  angeführt  wird.  Die  alle- 
gorische Deutung   verwirft   Saadja   auf    das    entschiedenste,    Emunot 


390  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

gionsphilosophie  geworden.  Saadja  selbst  hatte,  wie  er 
dies  in  der  Einleitung  hervorhebt,  eigentlich  nur  beabsich- 
tigt, durch  eine  kritische  Betrachtung  eine  Läuterung  in 
den  Glaubensansichten  seiner  Zeitgenossen  herbeizuführen. 
Indem  er  so  aber  darnach  strebte,  den  Inhalt  der  Offen- 
barung als  mit  der  Vernunft  in  Einklang  stehend  darzu- 
stellen, gelangte  er  dazu,  den  gesetzlichen  Teil  des  Juden- 
tums, in  dem  Gebote  der  Religion,  der  Moral  und  des 
Rechts  unterschiedlos  in  einander  verschlungen  waren, 
einheitlich  auf  Prinzipien  zurückzuführen,  die  fast  aus- 
schließlich der  griechischen  Ethik  entlehnt  sind.  Die  For- 
derungen der  jüdischen  Lehre  wurden  hier  gewissermaßen 
zum  ersten  Male  auf  ihren  ethischen  Gehalt  untersucht,  und 
damit  war  der  Ethik  gleichsam  stillschweigend  der  Vorzug 
vor  dem  Offenbarungsgesetze  eingeräumt  worden,  das 
seinen  Wert  eben  erst  durch  seine  Übereinstimmung  mit 
der  Ethik  beweisen  sollte.  Saadja  hat  dadurch  zuerst  den 
entscheidenden  Schritt  getan,  auch  im  Judentum,  wie  es 
bei  den  Griechen  schon  sehr  früh  der  Fall  war,  die  ethischen 
Forderungen  als  etwas  Selbständiges  und  von  der  Re- 
ligion und  deren  sonstigen  Geboten  völlig  Unabhängiges 
zu  unterscheiden.  Diese  Trennung  von  Religion  und  Sitt- 
lichkeit hat  auch  bei  Saadja  auf  den  ersten  Blick  für  uns 
nichts  Auffallendes.  Er  hatte  ja  durch  Studium  die  griechi- 
sche Philosophie  kennen  gelernt  und  dadurch  geschlossene 
ethische  Systeme,  deren  Lehren  er  annehmen  konnte,  ob- 
gleich sie  aus  ganz  anderen  Prinzipien  abgeleitet  waren, 
als  die  gleichen  oder  ähnlichen  Lehren  des  Judentums. 
Diese  Prinzipien  hatten  außerdem  bei  seinen  ungläubigen 
und  zweifelsüchtigen  Glaubensgenossen  vollgültige  Auto- 
rität, die  Lehren  der  Religion  dagegen  wurden  vielfach 
verworfen  oder  doch  nicht  beachtet;  was  war  da  natürlicher 

wc-Deot  VII,  S.  112  und  113.  Über  die  allegorische  Deutung  in  den 
Schulen  der  Mutazila,  denen  Saadja  unter  allen  arabischen  Schulen, 
am  nächsten  stand;  s.  Schahrästani,  ed.  Haarbrücker,  I,  43,  75. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  391 

als  daß  Saadja,  um  den  jüdischen  Geboten  wieder  Aner- 
kennung zu  verschaffen,  sich  bemühte,  so  weit  es  möglich 
war,  die  Lehren  der  Religion  in  Lehren  der  Sittlichkeit 
umzuwandeln  und  die  religiösen  Gebote  und  Gesetze  aus 
ethischen  Prinzipien  abzuleiten  ?  Er  mußte  Licht  und  Ord- 
nung in  einem  Chaos  von  Sitten  und  Gesetzen  schaffen, 
das  Religion  und  Leben  im  Laufe  von  vielen  Jahrhunderten 
bei  einem  ganzen  Volke  angehäuft  hatten.  Er  wollte  das, 
was  das  gläubige  Gemüt  bisher  als  Machtgebot  seines 
Gott-Königs  verehrt  und  in  demütiger  Unterwerfung  unter 
den  Willen  des  Höchsten  treu  befolgt  und  geübt  hatte, 
als  das  eigentlichste  Postulat  der  menschlichen  Vernunft 
hinstellen  und  rechtfertigen.  Allein  so  naheliegend  und 
gerechtfertigt  aus  all'  diesen  Gründen  für  Saadja  die  Tren- 
nung von  Religion  und  Ethik  war,  so  braucht  man  sich 
doch  nur  zu  vergegenwärtigen,  in  wie  ganz  verschie- 
denen Verhältnissen  das  sittliche  Bewußtsein  zu  dem 
religiösen  Gottesbegriff  bei  Juden  und  Griechen  stand,  um 
die  ganze  Tragweite  des  kühnen  Versuchs,  das  bis  dahin 
einheitliche,  religiöse  Bewußtsein  des  Juden  nach  griechi- 
schem Muster  in  ein  ethisches  und  religiöses  zu  scheiden, 
genügend  zu  würdigen.  Die  Bibel  kennt  keinen  Unterschied 
zwischen  den  Gesetzen  der  Moral  und  denen  der  Religion  ; 
die  einen  sind  ihr  eben  so  göttlich  wie  die  anderen;  denn 
alle  wurzeln  in  dem  starken  Bewußtsein  von  der  Heiligkeit 
des  göttlichen  Wiliens,  in  dem  sie  den  Quell  der  Wahrheit, 
des  Rechts  und  der  Sittlichkeit  zugleich  sah  (Secharja  8, 
16 — 19).  Eine  Trennung  oder  auch  nur  eine  Unterscheidung 
von  Religion  und  Moral  war  nach  der  ganzen  Weltan- 
schauung des  Judentums  überhaupt  gar  nicht  denkbar, 
weil  das  sittliche  Bewußtsein  niemals  mit  dem  Bewußt- 
sein von  einem  persönlichen,  sittlichen  Gotte  in  Wider- 
spruch geraten  konnte.  »Den  ganzen  Luxus  naturphiloso- 
phischer Mystik,  der  so  nutzlos  die  übrigen  Religionen  des 
Altertums  beschwert,    hatten  die  Hebräer    hinweggeworfen, 


392  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

um  dem  einen  Rätsel  der  inneren  Welt,  dem  der  Sünde 
und  der  Gerechtigkeit  vor  Gott,  nachzuhängen  ;  ihnen  war 
Gott  ein  geschichtlicher  Gott,  dem  die  Natur  ein  Fuß- 
schemel seiner  Macht,  aber  das  Leben  der  Menschheit 
das  einzige  Augenmerk  seiner  Vorsehung  ist;  er  war  ihnen 
aber  auch  der  starke  und  eifrige  Gott,  der  die  Gerechtig- 
keit des  Herzens  will  und  die  Sünde  verfolgt  und  rächt, 
um  der  Sünde  willen«  (Lotze,  Mikrokosmos  111,  S.  147). 
Der  Gegensatz  zwischen  Religion  und  Ethik  trat  zuerst 
und  am  schärfsten  bei  den  Griechen  hervor.  Denn  wie  in 
allen  ursprünglichen  Verhältnissen  menschlicher  Kultur  war 
auch  bei  ihnen  die  Sittenlehre  in  die  Religion  verwebt. 
Allein  der  griechischen  Religion  fehlte  der  sittliche  Kern, 
und  darum  war  ihr  Bruch  mit  der  Moral  unvermeidlich. 
Schon  die  griechische  Volksmoral,  die  doch  von  der  Reli- 
gion ausging,  wurzelte  nicht  in  der  Gottheit,  als  der  ab- 
soluten, sittlichen  Persönlichkeit;  denn  die  griechischen 
Götter  waren  dem  Volksbewußtsein  nichts  weniger  als 
rein  sittliche  Wesen.  Selbst  zur  Zeit  des  Sophokles,  als  der 
griechische  Volksgeist  auf  seiner  sittlichen  Höhe  stand, 
scheute  man  sich  nicht,  ihnen  Mißgunst  und  Neid  gegen 
das  Menschengeschlecht  nachzusagen.  Die  griechische  Welt 
kannte  ein  solches  liebevolles  und  inniges  Verhältnis 
zwischen  der  Gottheit  und  den  Menschen,  wie  es  zum  Bei- 
spiel in  dem  biblischen  Satze:  Kinder  seid  ihr  des  Ewigen 
eures  Gottes«  (5.  M.  14,  1)  ausgedrückt  ist,  noch  nicht. 
Ihr  waren  die  Götter  nur  die  höheren  Mächte,  denen  der 
Mensch,  weil  er  ihnen  machtlos  unterworfen  war,  Furcht 
und  scheuvolle  Verehrung  schuldete.  Dieses  Verhältnis,  das 
nicht  auf  gegenseitiger  Liebe  beruhte,  konnte  auch  schon 
deshalb  nicht  als  eine  Quelle  der  Sittlichkeit  wirken,  weil 
man  die  Gottheit  als  heilig  weder  erkannte  noch  dachte1). 
Eine  Heiligung  der  Gesinnung  und  des  Lebenswandels,  wie 

»)    Vgl.  Chr.  Ernst  Luthard,    Die    antike    Ethik,    Leipzig    1337, 
S.  3  oben. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  393 

sie  das  Judentum  in  Hinblick  auf  den  heiligen  Gott  sehr 
nachdrücklich  verlangte1),  konnte  deshalb  auch  von  der 
griechischen  Gottesverehrung  niemals  ausgehen.  Die  ganze 
griechische  Sittlichkeit  bestand  in  der  Einhaltung  jener 
Ordnungen,  wie  sie  das  natürliche  Leben  und  der  Staat 
gebildet  hatten.  Maß  und  Schranke,  Twoocxrjvr,,  war  und  blieb 
das  charakteristische  Merkmal  des  Sittlichen  für  den  helle- 
nischen Geist  aller  Zeiten  ;  sie  war  die  strenge  Forderung 
der  Volksmoral  und  der  Religion.  Als  aber  durch  die  Ver- 
wicklungen einer  mannichfaltigeren  Lebensform  und  die 
Entwicklung  des  philosophischen  Denkens  die  überlieferte, 
positive  Religion  in  Verfall  geriet,  da  wankte  und  schwankte 
auch  der  ganze  Bestand  dessen,  was  überlieferungsmäßig 
als  heilig  und  sittlich  galt.  Denn  in  dem  Maße,  wie  die 
Macht  der  Überlieferung  dahinsank,  erstarkte  immer  mehr 
6er  Geist  des  unbedingten  Subjektivismus,  der  an  die 
Stelle  des  bisher  allgemein  Gültigen  das  individuelle  Meinen 
und  Belieben  setzte  und  in  dem  berühmten  Satze  des  Pro- 
tagons, daß  der  Mensch  das  Maß  aller  Dinge  sei,  wdtvrwv 
ypr,x7.To>v  uiTpov  av#p(07;o;,  seinen  treffendsten  Ausdruck  fand, 
Damit  war  aber  das  sittliche  Leben,  dessen  Norm  zu  be- 
stimmen jedem  Einzelnen  anheimgestellt  war,  in  Frage  ge- 

;)  3.  M.  19,2:  ^Heilig  sollt  ihr  werden,  denn  ich  der  Ewige,  euer 
Gott,  bin  heilig«.  Das.  11,  44  u.  45:  »Heiligt  euch,  daß  ihr  heilig 
werdet,  denn  ich  bin  heilig«.  20,  26:  »Und  ihr  sollt  mir  heilig  sein, 
de'jn  heilig  bin  ich  der  Ewige*.  Vgl.  Sifra  zu  3  M.  18,  4  ed.  Schloß- 
berg, Wien  1862,  S.  86:  ans  tr»npa  BN  VtiDTpM  '»Tp  a»  rx  ibVnn  xbi 
OST  bp  iO»  DK  BHpK  W  *]K  ,%V  nK.  Sifre  zu  5.  M.  11,  22  ed.  Fried- 
mann, Wien  1864,  S.  85  a:  aim  "in  nfiK  B}K  »pm  aim  K-.p;  aipan  na 
rvapn  na  ,pns  v,n  nna  bjk  pna  x~\p:  nspn  na  „bzb  c:n  rona  nwjn  pam 
man  *!fi  nnN  B)K  Yen  anp;  vgl.  Sabbat  133b;  das  ist  nach  obiger  Stelle 
des  Sifre  und  des  Talmud  Sota  14a  die  Erklärung  des  biblischen 
Gebotes:  »in  den  Wegen  Gottes  wandeln»  5.  M.  11,  21  und  13,  5; 
»die  Wege  Gottes,  das  sind  die  Eigenschaften  Gottes«.  Wie  Er  Nackte 
kleidet,  so  kleide  auch  du  Nackte;  wie  Er  Kranke  pflegt,  so  pflege 
auch  du  Kranke;  wie  Er  Trauernde  tröstet,  so  tröste  auch  du  Trauernde 
usw.« 


394  Die  Ethik  R.  Saadjas 

stellt.  Die  Folge  davon  war,  daß,  wie  Thukydides  klagt1), 
die  Unsittlichkeit  im  Volke  in  erschreckender  Weise  um 
sich  griff.  Es  war  daher  die  Aufgabe  der  edlen  Geister,  darau 
zu  sinnen,  wie  sie  Religion  und  Sittlichkeit  den  verödeten 
Gemütern  ihrer  Mitbürger  wieder  einpflanzen,  wankende 
Herzen  wieder  befestigen  könnten.  Bisher  ruhte  die  Moral 
auf  Tradition,  da  diese  aber  auch  unhaltbar  geworden,  so 
sollte  an  ihre  Stelle  die  Erkenntnis  treten.  Es  galt  also,  auf 
dem  Wege  der  Forschung  Prinzipien,  das  heißt:  allgemein 
anerkannte,  zweifellose  Grundgedanken,  aufzufinden,  die 
das  Fundament  der  sittlichen  Theorie  bilden  konnten,  um 
darauf  das  ganze  Gebäude  als  auf  festem  Grunde  zu  er- 
richten2). Den  ersten  Versuch  hierin  unternahm  Sokrates, 
indem  er  das  subjektive  Denken  aus  einer  auflösenden  Macht 
in  eine  bauende  umzuwandeln  sich  bestrebte  und  die  Men- 
schen als  Vernunftwesen  statt  an  die  Willkür  des  eigenen 
Beliebens  auf  die  Vernunft  verwies,  die  an  die  Stelle  der 
Meinung  das  Wissen  und  statt  des  Scheins  das  wahre 
Wesen  der  Dinge  (ti  sgtiv  s/.y.crTov  t&v  Svirwv),  den  Begriff, 
zu  erfassen  versucht.  Nach  Begriffen  denken  war  ihm 
Wahrheit,  aber  auch  nach  Begriffen  handeln  Tugend.  Die 
Tugend  also  ist  Wissen3).  Bei  dieser  Identifizierung  von 
Tugend  und  Wissen  ist  aber  die  Bedeutung  des  Wollen», 
als  des  eigentlichen  Faktors  sittlichen  Handelns  völlig  über- 
sehen und  verkannt.  Trotzdem  beherrscht  von  Sokrates  an 
dieses  Übergewicht  des  Intellekts  über  den  Willen  die  Denk- 
weise der  ganzen  antiken  Moralphilosophie4).   Die  sokratische 

')  Thucydides  II,  52,  53;  III,  82,  83. 

2)  Zeller,  Die  Philosophie  der  Griechen  II,  1  Einleitung.  L. 
Lazarus,  Zur  Charakteristik  der  talmud.  Ethik,  Breslau  1877,  S.  6.  | 

3)  Xenophon  Mem.  1,  1,  16;  III,  9,  5;  IV,  2,  20;  Aristoteles 
Ethic.  Nicom.  IV,  13:  cppov/i^ei;  (ozxo  slvy.-,  izkncnc,  Tri?  äpsry.;. 

*)  Luthardt,  Die  antike  Ethik,  S.  41.  Strümpell,  Die  Geschichte 
der  praktischen  Philosophie  der  Griechen  vor  Aristoteles,  Leipzig  1361, 
S.  13:  »Wir  nehmen  wahr,  daß  die  antike  Ethik,  wie  weit  sie  in  dieser 
Schrift  dargestellt  wird,  trotz  mancher  herrlicher  Gedanken  doch  von 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  395 

Tugend  des  Begriffs,  Piatos  Tugend  der  Idee,  die  dianoeti- 
sche  Tugend  des  Aristoteles  und  der  stoische  Weise,  »der 
sich  auf  sich  selbst  zurückzieht  und  sich  in  seiner  eigenen 
Gottheit  verehrt«1),  sind  die  einfachen  Folgen  dieses  aus- 
schließlich zur  Herrschaft  gelangten  Intellektualismus.  Bei 
dieser  Grundlage  aber  konnte  die  Ethik  niemals  praktische 
Geltung  für  das  Volksleben  erlangen  ;  denn  die  Erkenntnis 
ist  nur  Sache  weniger,  nicht  der  Menge.  Aber  auch  für  die 
Aristokratie  des  Geistes  blieb  sie  oft  ein  leerer,  geistiger 
Formalismus. 

Alle  die  Veranlassungen  und  Bedingungen,  welche  bei 
den  Griechen  der  Entwicklung  und  Ausbildung  der  wissen- 
schaftlichen Ethik  so  günstig  waren,  fehlten  im  biblisch- 
talmudischen  Judentum  fast  vollständig.  Den  Grund  für 
diese  Erscheinung  wird  man  hauptsächlich,  wie  wir  bereits 
oben  erwähnt  haben,  in  der  lebendigen  Vorstellung  des 
Juden  von  einem  persönlichen  und  sittlichen  Gotte  zu  su- 
chen haben.  Denn  es  hat  im  jüdischen  Bewußtsein  niemals 
ein  Zweifel  darüber  geherrscht,  »daß  Gott  der  Schöpfer 
eben  sowohl  einer  sittlichen  als  der  physischen  Weltord- 
nung sei,  daß  er  die  Quelle  aller,  auch  der  ethischen  Wahr- 
heit, und  daß  die  überlieferten  Sittengesetze  eben  diese 
Wahrheit  ausdrücken  und  enthalten«2).  Man  hat  deshalb 
in  den  schöpferischen  Zeiten  des  Talmud,  als  man  nach 
dem  Verluste  von  Vaterland,  Thron  und  Altar  unter  we- 
sentlich neuen  Bedingungen  das  Leben  des  zerstreuten 
Volkes  im  Einzelnen  wie  in  der  Gesamtheit  neu  zu  be- 
gründen und  zu  ordnen  hatte,  gar  keine  Veranlassung  ge- 
habt, nach  anderen  Normen  zu  suchen,  als  die  waren, 
die  überlieferungsmäßig  die  Religion  festgestellt  hatte. 
Das  ganze  Dasein  wurde  durch  das    Bestreben  der  talmu- 

einer  Ethik  des  Wollens,  in  der  genauen  Bedeutung  des  Begriffs, 
nur  erst  eine  schwache  Ahnung  hatte*. 

')  Luthardt,  Die  antike  Ethik,  S.  185. 

2J  L.  Lazarus,   Zur  Charakteristik  der  talmud.  Ethik,  S.  19. 


396  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

dischen  Weisen,  dem  mosaischen  Gesetze  eine  bis  ins  ein- 
zelne gehende  praktische  Geltung  zu  verschaffen,  in  seinen 
Höhen  und  seinen  Tiefen  von  der  Wiege  bis  zum  Grabe 
ein  ununterbrochener  Gottesdienst,  in  dem  jede  Handlung, 
auch  die  unbedeutendste,  von  religiöser  Weihe1)  getragen, 
in  dem  aber  auch  andererseits  jedes  ethische  Bewußtsein 
von  dem  religiösen  fast  gänzlich  verschlungen  war.  Die- 
selben talmudischen  Weisen  haben  in  einer  riesigen  Li- 
teratur mit  wahrhaft  religiösem  Eifer  und  haarscharfer 
Dialektik  das  ganze  menschliche  Leben  in  all  seinen  Be- 
ziehungen in  den  Kreis  ihrer  Untersuchung  gezogen;  sie 
haben  alles,  was  man  Gott  und  dem  Menschen  schuldet, 
mit  wahrhaft  peinlicher  Gewissenhaftigkeit  erwogen  und 
bestimmt;  und  doch  wird  man  nicht  umhin  können  zu  be- 
haupten, daß  die  Ethik  sehr  stiefmütterlich  vcn  ihnen  be- 
handelt ist,  oder  richtiger  gesagt,  daß  sie  unter  den  logi- 
schen Operationen  ihres  Verstandes  zur  kalten  Jurispru- 
denz erstarrte.  Es  zeigt  sich  darin  allerdings  die  sittliche 
Höhe  des  Judentums,  daß  nach  seiner  Auffassung  die  For- 
derungen der  Sittlichkeit  genau  von  derselben  verpflich- 
tenden Kraft  sind,  wie  die  Gesetze  des  strengen  Rechts. 
Sittlichkeit  und  Recht  galten  ihm  als  vollkommen  gleich- 
berechtigt2), und  eine  Verletzung  des  einen  war  wie  die 
Verletzung  des  anderen  vor  dem  jüdischen  Bewußtsein 
eine  gleich  sündhafte  Übertretung  des  göttlichen  Willens. 
Man  wird  trotzdem  nicht  verkennen,  daß  die  Selbständig- 
keit der  Ethik  sowohl  im  Leben  wie  in  der  wissenschaft- 
lichen Behandlung,  abgelöst  von  Religion  und  Jurisprudenz, 
in  verhältnißmäßig  nur  sehr  geringem  Grade  zur  Geltung 
kommen  konnte.  Das  Ethos  war  zwar  mächtig  und  das 
stärkste  Ferment  der  Religion"),    aber  es   lag    als    solches 


1)  Vgl.  J.  Fritz,  Aus  antiker  Wellanschauung.  Hagen    1836,  S.  193. 

2)  D.  Rosin,  Die  Ethik  des  Maimonides.  Breslau  1376,  S.  1. 

3)  Vgl.  H.    Steinthal,    Allgemein*    Ethik.    Berlin    1335,    S.  103, 
Anrn.  121;  S.  120—124,  Anrn.  229. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  397 

nicht  im  Bewußtsein  des  Volkes.  Man  hat  im  Talmud  so- 
gar Sinnsprüche  gesammelt,  unter  denen  sich  Grundsätze 
von  echtethischen  Werte  befinden1),  der  Talmud  hat  solche 
ethische  Grundprinzipien  selbst  in  der  Bibel2)  zu  finden 
geglaubt,  aber  nicht  um  darauf  ein  System  der  Sittenlehre 
zu  errichten.  Da  hier  nicht  wie  in  Griechenland  die  Tu- 
gend im  Wissen  bestand  und  nicht  die  Wissenschaft  der 
Weg  zur  Sittlichkeit  wars),  so  kam  es  sehr  wenig  darauf 
an,  in  welchem  Zusammenhange  die  Forderungen  der  Moral 
zu-  und  untereinander  stehen,  auch  nicht  wie  sie  sich  mit 
logischer  Notwendigkeit  aus  dem  obersten  Prinzip  ergeben, 
sondern  darauf  allein  war  alle  Aufmerksamkeit  gerichtet, 
die  bindenden  Verpflichtungen  der  göttlichen  Gesetze,  in 
denen  sittliche,  rechtliche  und  religiöse  Gebote  unzertrenn- 
lich und  organisch  mit  einander  verbunden  waren,  zu  einer, 
die  Gesinnung4)  jedes  Einzelnen  heiligenden  und  das  Le- 
ben des  ganzen  Volkes  beherrschenden  Macht  zu  gestalten. 
Eine    Ethik    in    dem    philosophischen    Sinne  der  Griechen 


*)  Abot  I,  2:  »Auf  drei  Dingen  beruht  die  Welt:  auf  Wissen- 
schaft, Religion  und  Menschenliebe*.  Das.  I,  18:  ^Durch  drei  Dinge 
hat  die  Welt  Bestand:  durch  Wahrheit,  Recht  und  Frieden«. 

-)  Makkot  23b:  Das  mosaische  Gesetz  enthält  613  Gebote. 
Diese  führte  David  (Ps.  15)  auf  elf  zurück.  Jesaja  (23,  16)  faßte  sie 
in  sechs  zusammen;  Micha  (6,  8)  in  drei:  Er  hat  dir  kund  getan,  o 
Mensch,  was  gut  ist,  und  was  der  Ewige  von  dir  fordert:  Recht  zu 
tun,  Liebe  zur  Milde,  und  demütigen  Wandel  mit  Gott,  deinem  Herrn. 
Dann  führte  sie  Jesaja  (56,  1)  wieder  auf  zwei  zurück:  »Beobachtet 
das  Recht  und  übt  die  Tugend«.  Endlich  faßte  sie  Habakuk  (2,  4) 
sogar  in  den  Einen  Ausspruch  zusammen  :  »Der  Gerechte  lebt  durch 
seine  Treue  (2,  4). 

3)  Vgl.  Plato,  Meno  77b:  »Niemand  kann  das  Böse  wollen; 
wer  das  Gute  erkannt  habe,  müsse  es  tun«. 

*)  Vgl.  Sanhedrin  106b:  »$3  ¥ßb  rY3pn  »Gott  will  das  Herz«. 
Joma  29  a:  n-cy»  Http  rr.zv  mmn  »Die  sündhafte  Gesinnung  ist 
schlimmer  als  die  Sünde*.  Abot  II,  17:  estf  ck6  rn- -ppyo  hzt 
»Alles,  was  du  tust,  geschehe  in  Hinblick  auf  Gott';  Kidduschin  41; 
Berachot  6;  Nasir  23b. 


398  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

hatte  und  konnte  das  Judentum  auch  schon  deshalb  nicht 
haben,  weil  es  sich  gar  nicht  an  das  spekulative  Wissen 
und  Erkennen1),  sondern  vorzugsweise  an  die  nach  Kant2) 
einzige  sittliche  Kraft  im  Menschen,  an  den  Willen3),  wendet. 
Nicht  nur  auf  den  Verstand,  sondern  auch  auf  Herz 
und  Sinn,,  auf  das  Gefühl  und  die  Phantasie  sucht  die 
Bibel  zu  wirken,  um  den  Willen  in  einer  fest  bestimmten 
Richtung  zu  lenken,  ihn  zu  läutern  und  zu  stärken4). 

')  Wohl  dringt  die  Bibel  an  zahlreichen  Stellen  auf  wissen 
und  Erkennen,  wie  in  Deuter.  4,  35.  39;  Jerem.  9,  23.  usw.,  allein  an 
allen  biblischen  und  talmudischen  Stellen  (Abot  II,  1 ;  Jalkut  I,  §  7 
und  §  107,  Chagiga  2;  Sabbat  86  usw.)  bedeutet  Wissen  und  Er- 
kennen nur  das  erfahrungsmäßige  Wahrnehmen  des  in  der  Natur  und 
Geschichte  wirkenden  Gottes,  oder  auch,  wie  in  Prov.  8,  10;  23,  12; 
24,  5;  11,  19;  Jes.  53,  11.  Ketubbot  68;  Nedarim  41;  Chagiga  14;  San- 
hedrin  30;  das.  52  usw.  das  empirische  Wahrnehmen,  Verstehen  und 
Wissen  der  in  der  Natur  wie  im  Menschenleben  sich  abspielenden 
Vorgänge  und  Ereignisse.  Niemals  ist  aber  damit  ein  spekulatives 
Schauen  oder  ein  methapbysisches  Folgern  durch  reine  Vernunft- 
begriffe gemeint.  Im  Talmud  ist  Methaphysis  und  spekulatives  Grübeln 
einfach  verboten:  Chagiga  II,  1.  Man  wird  deshalb  auch  behaupten 
können,  daß  ein  methaphysisches  Begründen  und  philosophisches 
Ausbauen  des  allerdings  stark  ausgeprägten  Ethos  im  mosaisch-tal- 
mudischen Judentum  gar  nicht  im  Bereich  der  Möglichkeit  lag. 

2)  »Es  ist  überall  nichts  in  der  Welt,  ja  auch  außer  derselben 
zu  denken  möglich,  was  ohne  Einschränkung  für  gut  könnte  gehalten 
werden,  als  ein  guter  Wille.  Der  gute  Wille  ist  durch  seile  Wir- 
kungen, nicht  durch  seine  Tauglichkeit  zur  Erreichung  eines  Zweckes 
gut,  sondern  allein  durch  das  Wollen«. 

8)  Vgl.  Genes.  2,  16-17;  4,  7;  Deuter.  30,  15-19;  11,  26—27; 
Jes.  1,  19—20  usw.  S.  Bahr,  Symbolik  des  mosaischen  Kultus  I,  S.  37; 
Friedrich  Schlegel,  Philosophie  der  Geschichte  I,  S.  165  u.  168. 

4)  Wir  finden  in  dieser  Beziehung  eine  schöne  Charakterisie- 
rung der  Bibel  bei  Saadja  selbst:  Eine  jede  Religionsurkunde,  sagt 
er  in  Emunot  we-Deot  III,  S.  65,  bestehe  aus  drei  Teilen:  1)  aus  Ge- 
boten und  Verboten,  die  er,  wie  aus  dem  dort  von  ihm  angeführten 
Beispiele  des  Fieberkranken  hervorgeht,  für  das  eigentliche  Heilmittel 
der  sittlichen  Gesundung  des  Menschen  hält,  2)  aus  Verheißungen 
und  Belohnungen  als  Vergeltung  für  deren  Beobachtung,  um  die 
Menschen  zur  Annahme  derselben  geneigter  zu  machen,  3)  aus  prak- 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  399 

Saadja  gebührt  das  Verdienst,  im  biblisch-talmudischen 
Judentume  zuerst  die  Ethik  als  gleichberechtigt  der  Re- 
ligion gegenübergestellt  und  sie  als  selbständige  Disziplin 
aus  ihrer  Verknüpfung  mit  verwandten  Gebieten  gelöst 
und  bearbeitet  zu  haben.  Wenn  er  sich  hierbei  auch  oft 
von  Gesichtspunkten  leiten  ließ,  die,  einer  fremden  Li- 
teratur entlehnt1),  zu  dem  ihm  durch  die  jüdische  Über- 
lieferung Gegebenen  nicht  immer  paßten,  so  hat  er  doch 
die  Eigentümlichkeiten  der  jüdischen  Religionslehren  besser 
zu  wahren  gewußt,  als  seine  Nachfolger,  die  das  Werk, 
das  er  begonnen,  wohl  vertieften  und  weiter  ausbauten, 
aber  auch,  wie  Maimonides,  manche  Besonderheiten  der 
Religionsquellen  der  griechischen  Philosophie  zuliebe  opfer- 
ten oder  Verschiedenheiten  zwischen  beiden  auf  Kosten 
der  ersteren  gewaltsam  ausglichen. 

Wie  sich  die  Ethik  Saadjas  aber  im  Einzelnen  ge- 
staltet, wollen  wir  in  Folgendem  dazustellen  versuchen. 

tischen  Beispielen  aus  der  Geschichte,  um  die  Gläubigen  zur  Nach- 
ahmung anzuspornen.  Erst  durch  alle  diese  sich  an  Herz  und  Gemüt 
wendenden  Momente  zusammen,  werde  eine  rechte  und  nachhaltige 
Wirkung  erzielt. 

x)  Wenn  Saadja  sein  Werk  auch  nach  dem  Muster  eines  mu- 
tazilitischen  Kaläm  angelegt  haben  mag  und  der  Einfluß  der  arabi- 
schen Scholastik  in  den  uns  oft  eigentümlich  erscheinenden  Problemen 
bei  ihm  sich  oft  stark  bemerkbar  macht,  —  Mose  b.  Esra  in  seiner 
aräb.  Poetik  und  Mose  von  Salerno  in  seinem  Moreh-Kommentar  be- 
zeichnen Saadja  ais  Mutakallimun,  Maimonides  nennt  ihn  im  »Briefe 
nach  Jemen«,  ed.  Holub,  S.  39  und  Moreh  I,  71  (an  letzterer  Stelle 
ohne  seinen  Namen  zu  nennen)  einen  Anhänger  des  Kaläm  —  so  gilt 
dies  doch  meistens  nur  von  den  dogmatischen  und  besonders  den 
eschatologiscaen  Partien  seines  Buches.  In  der  Ethik  —  mit  Aus- 
nahme von  der  Lehre  über  die  Willensfreiheit  —  richtet  er  sich  haupt- 
sächlich nach  griechischen   Vorbildern. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Das  laubhüttenfest  Chanukka. 

Von  R.  Leszynsky. 

Während  das  erste  Makkabäerbuch,  das  «iwiBOTi  n*a  "C31), 
wie  allgemein  anerkannt  wird,  eine  Übersetzung  aus  dem 
Hebräischen  darstellt,  ist  man  inbezug  auf  das  zweite  Buch 
der  Makkabäer  seit  Hieronymus  im  Allgemeinen  davon  über- 
zeugt, daß  es  von  vornherein  in  griechischer  Sprache  ab- 
gefaßt war8).  Nur  inbezug  auf  die  Briefe  oder  besser  den 
Brief,  der  die  Einleitung  des  Buches  bildet,  ist  man  einiger- 
maßen im  Zweifel,  obwohl  auch  hier  die  Annahme  einer 
Übersetzung  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  vielfach  verneint 
wird3).  Den  wenigen  Hebraismen,  die  man  gefunden  hat, 
und  die  sich  zur  Not  aus  dem  Einfluß  der  biblischen 
Sprache  auf  die  griechisch  redende  und  schreibende  Juden- 
heit  erklären  ließen,  stehen  nicht  nur  griechische  Wort- 
spiele gegenüber,  sondern  der  ganze  Stil  des  Buches  macht 
den  Eindruck,  als  ob  das  Original  griechisch  war.  »Das 
allein  untrügliche  Merkmal  einer  Übersetzung«,  schrieb 
Grimm  in  seinem  exegetischen  Handbuch4),  »nämlich  solche 
sprachliche  Schwierigkeiten,  die  sich  nur  unter  der  Voraus- 
setzung eines  Übersetzungsfehlers  heben  lassen,  ist  nicht 
vorhanden«.  Die  Berechtigung  dieser  Forderung  steht  außer 

1)  Bis  zur  Unkenntlichkeit  verstümmelt,  liegt  dieser  Titel  in 
dem  bekannten  2ap«4r,9-    ZaßavaueX    (=  2[<p]p    ß  7)ft  [A]<J  iiv  *  ie) 

vor.    Sämtliche   bisherige  Deutungen  ergaben  hochpoetische  Namen, 
aber  nicht  für  jene  Zeit  passende  Büchertitel. 

2)  Vgl.  Schürer,  Geschichte  des  jüdischen  Volkes  III  1909.  S.  455. 
')  Kamphausen  in  Kautzsch  Apokryphen  1900.  S.  85.    Dagegen 

Torrey,  Die  Briefe  II.  Makk.  ZATW.  XX,  S.  236  ff. 
*)  Leipzig  1857.  S.  24. 


Das  Laubhüttenfest  Chaankka.  401 

aller  Frage.  Gelingt  es  uns  nun  aber  eine  solche  Schwie- 
rigkeit zu  zeigen,  die  durch  ein  Mißverständnis  des  Über- 
setzers hervorgerufen  ist,  so  ist  damit  ebenso  stringent  die 
semitische  Grundsprache  des  zweiten  Makkabäerbuches 
oder  wie  wir  besser  sagen  werden  :  seiner  Quellen  be- 
wiesen. Ich  glaube  nun  diesen  Beweis  führen  zu  können. 
Die  Bedeutung  dieser  Entdeckung  wird  noch  dadurch  er- 
höht, daß  der  aufzuzeigende  Übersetzungsfehler  sich  an 
drei  Stellen  des  Buches  befindet  und  dadurch  die  Streit- 
fragen über  die  Komposition  des  Buches  entschieden  oder 
wenigstens  der  Entscheidung  näher  gebracht  werden.  Und 
nun,  um  mit  dem  zweiten  Makkabäer  zu  reden,  wollen  wir, 
nachdem  wir  uns  bei  der  Vorrede  so  lange  aufgehalten 
haben,  mit  der  Erzählung  beginnen. 

Nach  seinem  Siege  über  Lysias  zog  Juda  Makkabi, 
wie  das  erste  Makkabäerhuch1)  berichtet,  nach  Jerusalem, 
stellte  den  Tempel  wieder  her,  so  wie  er  früher  gewesen, 
und  weihte  ihn  am  25.  des  Monats  Kislev  von  neuem. 
Die  Feier  vollzog  sich  in  den  üblichen  Formen  unter  Lob- 
gesängen und  Gebeten,  Musik  und  Opfern.  Ein  Grund  für 
die  achttägige  Dauer  wird  ebenso  wenig  angegeben  wie 
eine  besondere  Zeremonie,  die  an  jenen  Tagen  zu  voll- 
ziehen sei.  Das  Anzünden  der  Lampen  des  Leuchters  im 
Tempel  nimmt  in  dem  Bericht  des  Makkabäers  keine  irgend- 
wie hervorragende  Stellung  ein,  wird  vielmehr  dem  Dar- 
bringen des  Räucherwerkes,  dem  Auflegen  der  Brote  etc. 
völlig  gleichgesetzt.  Josephus-)  kennt  dagegen  das  Fest 
bereits  unter  dem  Namen  des  Festes  der  Lichter,  obwohl 
er  sich  den  Namen  nicht  recht  erklären  kann.  Jedenfalls 
wurden  zu  seiner  Zeit,  wie  wir  ja  auch  aus  der  rabbini- 
schen  Überlieferung  wissen,  Lichter  angezündet3).  Die  an- 
fangs   unbestimmte  Art   der  Feier  war  damit  in  eine  feste 

»)  4,  36  ff. 

*)  Ant.  XII  7,  7.  §  325  ed.  Niese. 

s)  Sabb.  21  b. 

MosatSBchrift,  55.  Jahrgang. 


402  Das  Laubhüttenfest  Chanukka. 

Form  gegossen.  Wie  weit  dabei  heidnische  Gebräuche,  das 
Fest  der  Wintersonnenwende,  mitspielen,  ist  nicht  zu  sagen. 
Für  die  Juden  war  der  gegebene  Anknüpfungspunkt  das 
erstmalige  Anzünden  des  Tempelleuchters.  Das  Wunder  mit 
dem  Ölkrüglein  sollte  nur  die  achttägige  Dauer  des  Festes 
erklären1). 

Eine  ganz  merkwürdige  Auffassung  von  dem  Cha- 
nukkafeste  hat  nun  aber  das  II.  Makk.  Es  bringt  das  Fest 
in  eine  auffällige  Verbindung  mit  dem  Laubhüttenfest,  eine 
Schwierigkeit,  die  bisher  im  Allgemeinen  hingenommen 
wurde,  ohne  als  solche  empfunden  zu  werden.  Sehen  wir 
uns  die  betreffenden  Stellen  einmal  an.  In  c.  1,9  in  dem 
sogenannten  ersten  Briefe  der  palästinensischen  Juden  an 
ihre  ägyptischen  Brüder  heißt  es:  iuci  vOv  Iva  orpfiTe  to? 
riuipa;  T?j;  G/.7,vo7u7)Y£as  toS  Xa^Xeü  u.v)v6;  und  nun  feiert  die 
Tage  des  Hüttenfestes  des  Monats  Kislev.  Es  wird  also 
hier  ausdrücklich  Chanukka  nicht  etwa  dem  Hüttenfeste  nur 
verglichen,  sondern  direkt  so  genannt.  Die  zweite  verderbte 
Stelle  in  dem  sogenannten  zweiten  Briefe  des  Makkabäers 
Juda  an  die  ägyptischen  Juden  lautet  (II.  Mak.  1,  18): 
Iva  y.y.i    aurol    ayviTS  v?i;(cb;)    (j/f/ivoTr/iYia?    xai  tou  rcupo;  damit 

auch  ihr des   Hüttenfestes   [und    des    Feuers]   feiert. 

Man  ergänzt:  die  Tage  oder  auch:  nach  Art  der  Tage,  in 
jedem  Falle  ist  hier  wieder  Chanukka  Laubhüttenfest  ge- 
nannt, und  nur  weil  die  Stelle  so  wie  so  verderbt  ist,  hat 
man  bisher  auf  die  Lösung  der  Schwierigkeit  verzichtet. 
Endlich  an  einer  dritten  Stelle  erfahren  wir,  was  Chanukka 
überhaupt  mit  dem  Laubhüttenfeste  zu  tun  hat,  (10,6): 
xai  [ist    eüopoffuvv);  r,yov  vif/ipa;;    ö/.toj  <7*t)vo{jl7.tcov  Tporov,    [/.v/]- 


')  Das.  Megil!.  Taanit  zum  25.  Kislev.  Es  ist  vielleicht  nicht  ganz 
uninteressant  zu  bemerken,  daß  das  Wunder,  nach  dem  die  Heiden 
das  Öl  verunreinigt  hatten,  mit  der  Halacha  in  Konflikt  kommt.  Nach 
ihr  verunreinigte  die  Berührung  durch  Heiden  nicht.  Das  ist  viel- 
mehr erst  eine  spätere  rabbinische  Verordnung.  Die  Frage  mit  einer 
wenig  guten  Antwort  im  Sefer  Mizwoth   ha-Oadol  des  Mose  Cougy. 


Das  Laubhüttenfest  Channkka.  403 

..jjuove-jovTS;  w;  rpd  uiy.poO  XPr^v0'J  T^v  ~&v  «H&vöv  soprViv  sv  toT<; 
öpeciv  xocl  ev  toT?  c>7;7)Xaio'.;  dqptcav  Tpowov  yi<focv  vepjxsvoi.  o*iö 
^up70'j?  x«ei  xXxSou;  wpaioo;  in  Ss  xal  cpotvittoc;  s/ovts;  xtX. 
»und  mit  Freude  feierten  sie  acht  Tage  nach  Art  der  Zelte, 
indem  sie  sich  erinnerten,  wie  sie  vor  kurzer  Zeit  während 
des  Hüttenfestes  in  den  Bergen  und  Höhlen  nach  Art  der 
wilden  Tiere  ihr  Leben  fristeten.  Deshalb  trugen  sie  mit 
Weinlaub  umwundene  Stäbe  und  grünende  Zweige,  ferner 
aber  auch  Palmzweige  etc.«  Sehr  befriedigend  ist  diese 
Erklärung  nun  nicht.  Es  sieht  so  aus,  als  ob  sich  der 
Autor  dachte:  am  Hüttenfest  im  Monate  Tischri  lebten  die 
Juden  noch  infolge  der  Religionsverfolgung  in  den  Bergen, 
zwei  Monate  später  in  Kislev,  als  der  Sieg  errungen  war, 
erinnerten  sie  sich  nun  des  soeben  unter  so  traurigen 
Umständen  gefeierten  Festes  und  paßten  infolgedessen 
das  neue  Fest  dem  alten  an.  Das  ist  aber  ein  historischer 
Irrtum,  denn  wenn  Chanukka  auch  im  Kalender  unmittelbar 
auf  das  Hüttenfest  folgt,  so  gingen  doch  die  Siege  Juda 
Makkabis  zum  Teil  wenigstens  dem  letzten  Hüttenfeste  des 
Jahres  165  voraus;  die  Zeit  der  schlimmsten  Not,  da  die 
gesetzestreuen  Juden  sich  in  den  Bergen  versteckt  halten 
mußten,  war  damals  jedenfalls  seit  Jahren  vorbei;  dieser 
Erklärungsversuch  des  2.  Makk.  muß  also  scheitern.  Gleich- 
wohl ist  anzuerkennen,  daß  eine  auffallende  Ähnlichkeit 
zwischen  beiden  Festen  besteht,  und  zwar  kommen  eine 
ganze  Reihe  von  Momenten  in  Betracht1).  Einmal  die  acht- 
tägige Dauer  der  Feste,  denn  auch  das  Hüttenfest  ergibt 
mit  dem  unmittelbar  folgenden  Schlußfest  ein  Fest  von 
acht  Tagen.  Zweitens  sind  beide  die  Feste  der  Einweihung, 
sov/ohl  in  den  Berichten  über  die  Einweihung  des 
salomonischen  Tempels,  als  auch  bei  der  Einweihung 
des  zweiten  Tempels,  wie  endlich  bei  der  Einweihung 
der     Mauer    unter     Nehemia    spielt    das    Hüttenfest   eine 

!)  Vgl.  Krauss    La  fete  de  Hanoucca  Revue  des  Etudes  Juives 
XXX.  S.  28  ff. 

26* 


404  Das  Laubhüttenfest  Chanukka. 

Rolle1).  Und  endlich  ist  die  Art  der  Feier  bei  beiden  Festen 
dieselbe.  Nur  werden  am  Chanukka  Lichter  angezündet,  und 
das  ist  beim  Hüttenfeste  nicht  der  Fall.  Aber  wir  wiesen 
bereits  darauf  hin,  daß  diese  Sitte  für  die  älteste  Zeit  nicht 
nachweisbar,  und,  wie  wir  gleich  hinzufügen  dürfen,  in 
dieser  Form  auch  wenig  wahrscheinlich  ist.  Die  Anknüpfung 
an  das  erstmalige  Entzünden  des  Tempelleuchters  paßt 
gut,  aber  man  muß  bedenken,  daß  ungleich  wichtiger  als 
das  Licht  in  der  Lampe  ein  andres  Feuer  für  das  jüdische 
Volk  gewesen  ist,  und  das  war  das  Feuer  auf  dem  Aitar. 
Hätte  es  sich  nun  darum  gehandelt,  irgend  welche  der 
Tempeleinweihung  analoge  Symbole  aufzufinden,  dann 
wären  die  Freudenfeuer  auf  den  Bergen  der  Wichtigkeit 
des  Altars  entsprechend  passender  und  auch  für  ein  freies 
Bauernvolk  angemessener  gewesen  als  die  Lampen,  die 
mehr  auf  eine  städtische  Bevölkerung  hindeuten.  Wir  finden 
jedoch  in  unseren  Quellen  nicht  die  leiseste  Andeutung, 
daß  jemals  Chanukka  auf  eine  solche  Art  gefeiert  worden 
wäre,  denn  die  einzige  Stelle,  in  der  Chanukka  ein  Fest 
des  Feuers  genannt  zu  werden  scheint  11.  Mak.  1,  18,  ist 
verderbt.  Nur  so  viel  können  wir  mit  Sicherheit  behaupten, 
daß  es  dort  irgendwie  mit  dem  Feuer  verknüpft  wird.  Um 
zur  Feier    des  Festes    zu  ermuntern,    wird  eine  sagenhafte 

')  Nach  I.  Kön.  8,2  werden  die  Israeliten  am  Feste  versamme  \ 
d.  h.  also  am  15.  Tischri.  7  und  7  Tage  wird  gefeiert,  d.  h.  wohl 
sieben  Tzge  Hüttenfest  und  sieben  Tage  Einweihungsfest,  am  achten 
des  letzten  Festes  wird  das  Volk  entlassen,  d.  i.  am  29.  Das  Schluß- 
fest  wird  nicht  erwähnt.  Nach  der  Chronik  II  5,  3  wird  Israel  am 
Fest  versammelt,  dagegen  nach  7,  9  hielten  sie  am  SchlußFest  eine 
Fcstversammlung  ab  —  das  Fest  der  Altarweihe  hatte  bereits  vor 
dem  Hüttenfest  stattgefunden  —  und  v.  10  wird  das  Volk  am  23. 
Tischri  entlassen.  Hierbei  wird  der  Versöhnungstag  vergessen.  Analog 
wird  Esra  3,  4  nach  der  Erbauung  des  Altars  zuerst  die  Feier  des 
Laubhütter.festes  erwähnt,  erst  v.  6  wird  nachgetragen,  daß  bereits 
vom  ersten  Tischri  an  geopfert  wurde.  (Vgl.  auch  III.  Esr.  5,  53 ) 
Auch  an  die  Erbauung  der  Mauer  durch  Nehemia  schließt  sich  du 
Tischri  und  das  berühmte  Laubbüttenfest.  Neh.  8,  14  ff. 


Das  Laubhüttenfest  Chanukka.  405 

Geschichte  von  Nehemia  erzählt,  der  das  zur  Zeit  Jeremies 
versteckte  Altarfeuer,  in  Wasser  verwandelt,  wieder  auffand, 
dieses  Wasser  nun  auf  das  Holz,  die  Opfer  und  die  Steine 
gießen  ließ  (v.  21  u.  31),  worauf  es  sich  in  Feuer  ver- 
wandelte. Diese  Handlung  erinnert  aber  an  die  Zeremonien, 
die  am  Abend  des  ersten  Tages  des  Hüttenfestes  im  Tempel 
vorgenommen  wurden.  Da  war  ein  großes  Freudenfest,  man 
goß  Wasser  aus1),  man  zündete  Fackeln  und  Lichter  an 
(Mischna,  Sukka  V)  und  man  weiß  eigentlich  nicht  zu 
sagen,  woher  die  Zeremonie,  weshalb  an  diesem  Tage  und 
wozu  die  ganze  Freude.  Es  liegt  nahe  in  diesem  seltsamen 
Fest  das  Weihefest  des  Tempels  zu  erblicken,  und  dieser 
eir.e  Gedanke  erleuchtet  blitzartig  die  ganze  rätselhafte 
Erscheinung,  daß  sich  um  diese  kleinliche  Zeremonie  des 
Wssserausgießens  ein  heftiger  Kampf  zwischen  Sadduzäern 
und  Pharisäern  entspinnen  konnte*).  Natürlich !  —  die 
Pharisäer  bevorzugten  im  Gegensatz  zu  dem  makkabä- 
ischen    Chanukkafeste    absichtlich    das    alte  Weihefest    im 

')  Der  sekundären  Deutung  dieser  Handlung,  daß  symbolisch 
eise  Bitte  um  Regen  dadurch  ausgedrückt  sei,  steht  die  Stelle  I  Sam. 
7,  £   entgegen. 

s)  Sukka  48  b  kombiniert  mit  Jos.  Ant.  XIII,  13,  5  §  372.  Die 
reHgionsgeschichtlichen  Zusammenhänge,  die  Feuchtwang  in  den 
letzten  Nummern  dieser  Zeitschrift  zwischen  dem  Wasseropter  und 
fct'dnischen  Gebräuchen  nachgewiesen  hat,  berühren  unsere  These 
nich\.  Auch  Chanukka  ist  mit  dem  Feste  der  Wintersonnenwende 
.  verwandt  und  bleibt  deshalb  doch  Tempelweihe.  Insbesondere 
legt  die  Rolle,  die  der  .VAir  pK,  der  Grundstein,  bei  den  unerklärt 
geriebenen  Gebräuchen  spielt,  den  Gedanken  an  die  Grundstein- 
legung des  Heiiigtumes  nahe.  Ursprüngliche  Einweihungszeremonien, 
—  das  Wasseropfer  —  deren  Sinn  man  nicht  mehr  verstand,  wurden 
s>pä!er  mit  der  Bitte  um  Regen  in  Verbindung  gebracht,  der  Grund- 
steia  des  Tempels  wird  zum  Grundstein  der  Welt.  Fremde  Einflüss: 
wirken  dabei  mit.  Daß  ein  so  fernliegender  Gedanke  wie  die  Auf- 
erstehung der  Toten  in  diesen  Ideenkreis  mit  einbezogen  wird,  erklärt 
sich  aus  der  sadduzäischen  Opposition  gegen  Wasseropfer  und  Auf- 
trjtehnng. 


•405  Das  Laubhüttenfest  Chanukka. 

Tischri,  und  Alexander  Jannäus  hatte  den  Mut  die  Phari- 
säer zu  brüskieren,  er  wußte,  was  er  damit  sagen  wollte 
Chanukka,  nicht  Sukkot.  Die  Rivalität  zwischen  beiden 
Festen  hörte  erst  auf,  als  das  hasmonäische  Heldengeschlecht 
erloschen  war  und  der  idumäische  Sklave  auf  dem  Throne 
saß,  da  erschienen  die  Makkabäer  wieder  verklärt  als  die 
Retter  des  Volkes,  Chanukka  kam  zu  seinem  Rechte, 
der  Brauch,  Lichter  zu  entzünden,  kam  auf,  wie  an  dem 
Hüttenfeste  wurden  die  Hallelpsalmen  rezitiert  und  als 
Vorlesung  aus  der  Tora  die  Stelle  gewählt,  wo  die  Fürsten 
Gott  die  Weihgeschenke  darbringen.  Weshalb  diese  Stelle 
und  nicht  die  näherliegende,  wo  von  der  Einweihung  der 
Stiftshütte  die  Rede  ist?  Weil  man  gerade  an  die  Fürsten, 
an  die  Makkabäer,  erinnern  wollte,  eine  gradezu  dynasti- 
sche Maßregel;  also  war  die  Dynastie  schon  tot. 

Wir  müssen  nun  aber,  nachdem  wir  etwas  voraus- 
geeilt sind,  auf  eine  andere  Ähnlichkeit  zwischen  unseren 
beiden  Festen  aufmerksam  machen,  die  zu  noch  wichti- 
tigeren  Ergebnissen  führen  soll.  Das  Laubhüttenfest  ist  nicht 
nur  ein  Fest  der  Hütten,  sondern  weit  mehr  ein  Fest  des 
Laubes,  wie  es  ja  von  vornherein  ein  Erntefest  ist  (Exod. 
23,  16.  34,  22.).  Das  dritte  Buch  Moses  (23,  39  ff.  vgl. 
Jos.  Ant.  III  10,  4.  §  24»  Xill  13,  5  §  372)  redet  zuerst  von 
dem  Feststrauß,  den  Früchten  und  Zweigen,  mit  denen 
sich  Israel  vor  seinem  Gotte  freuen  soll,  erst  in  einem  An- 
hang daselbst  werden  die  Hütten  erwähnt.  Das  Deuterono- 
mium  gebietet  (16,  13):  Das  Laubhüttenfest  sollst  du  sieben 
Tage  feiern,  wenn  du  den  Ertrag  von  deiner  Tenne  und 
deiner  Kelter  einheimsest.  Die  rabbinische  Tradition1)  faßt 
das  nicht  nur  als  Zeitbestimmung,  sondern  auch  als  eine 
Vorschrift  für  die  Materialien,  aus  denen  die  Hütte  gebaut 
wird,  und  daß  sie  damit  im  Recht  ist,  beweist  die  Stelle 
Nehem.  8,  14  ff.,  nach  der  das  Volk  ins  Gebirge  zog  und 
Zweige    vom    Olivenbaum,    Zweige    vom    wilden    Ölbaum, 

»)  b.  Rosch  ha-Schanah  13  a.  Sukka  12  a. 


Das  Laubhüttenfest  Ciianukka.  407 

Zweige  von  Myrten,  Zweige  von  Palmen  und  Zweige  von 
dichtbelaubten  Bäumen  holte,  um  nach  der  Vorschrift  des 
Gesetzes  Laubhütten  zu  machen.  —  In  dem  Buche  der 
Jubiläen,  das  man  mit  Recht  in  die  Zeit  der  Makka- 
bäerkämpfe  setzt,  wird  das  Laubhüttenfest  mit  fol- 
genden Worten  beschrieben  (16,  30  ff.):  Es  ist  über  Israel 
angeordnet,  daß  sie  es  (das  Hüttenfest)  begehen  und  in 
Hütten  wohnen  und  daß  sie  Kränze  auf  ihr  Haupt  legen 
und  Laubzweige  und  Weiden  vom  Bache  nehmen.  Und 
Abraham  nahm  grüne  Palmenzweige  und  schöne  Baum- 
früchte, und  an  jedem  Tage  ging  er  mit  Zweigen  um  den 
Altar  herum.  Genau  auf  dieselbe  Weise  aber  scheint  man 
das  Chanukkafest  anfänglich  gefeiert  zu  haben,  wie  die  be- 
reits angeführte  Stelle  des  II.  Makk.  (10,  7)  ausdrücklich 
behauptet:  Man  trug  Thyrsosstäbe,  R  eis  er  und  Palm  zweige 
Ein  weiterer  Beleg  für  diese  Sitte  am  Chanukka  kann  viel- 
leicht in  dem  Judithbuche,  das  ebenfalls  Zustände  der  Mak- 
kabäerzeit  widerspiegelt,  gefunden  werden.  Es  heißt  dort 
(15,  19  f):  Judith  nahm  Zweige  in  ihre  Hände  und  gab 
sie  den  Weibern,  die  mit  ihr  waren,  dann  bekränzten  sie 
sich  mit  Ölzweigen.  —  Überhaupt  scheint  man  bei  freu- 
digen Gelegenheiten  zum  Palmzweig  gegriffen  zu  haben. 
Simon  zog  in  die  Burg  von  Jerusalem  ein  mit  Lobpreis 
und  Palmen  z  w  e  i  g  e  n  (I.  Makk.  13,  51),  als  Jesus  nach 
Jerusalem  kam,  soll  ihm  die  Menge  mit  Palmzweigen  ent- 
gegengezogen sein  (Joh.  12,  12.  Vgl.  Ap.  Joh.  7,  9).  Es  ist 
aber  zu  beachten,  daß  es  sich  hier  überall  um  ein  Symbol 
des  Sieges  (die  Siegespalme)  handelt,  während  am  Hütten- 
feste die  Freude  über  die  Ernte  (der  Erntekranz)  das  Ent- 
scheidende ist,  obwohl  der  Midrasch  auch  den  Feststrauß 
gelegentlich  als  Siegespalme  auffaßt  (Tanch.  Emor,  ed- 
Buber,  S.  99—100  Anm.  190,  Pesikta,  ed.  Buber,  S.  180a 
Anm.  36).  Zwei  aus  verschiedenen  Anlässen  herrührende 
Bräuche  gehen  so  ineinander  über.  Daß  diese  Sitte  für 
das   Chanukkafest    sich    nicht    hat    behaupten    können,  ist 


40S  Das  Laubhüttenfest  Chanukka. 

wiederum  leicht  zu  begreifen.  Die  Pharisäer  durften  es  nicht 
erlauben,  daß  ein  Gebot  der  Thora  auf  das  Fest  der  ketze- 
rischen Könige  übertragen  wurde,  und  auch  später  kehrte 
die  Sitte  nicht  wieder.  Ob  und  wieweit  die  Sitte,  sich  das 
Haupt  zu  bekränzen,  bei  den  Juden  Anklang  gefunden  hat1), 
ist  für  uns  ohne  Bedeutung.  Jedenfalls  haben  wir  auch 
inbezug  auf  die  Sitte  der  Zweige  eine  Ähnlichkeit  zwischen 
dem   Hüttenfest  und  Chanukka  feststellen  können. 

Bescheidene  Gemüter  werden  sich  mit  den  bisher  ge- 
wonnenen Resultaten  zufrieden  geben.  Nach  so  vielen  Ana- 
logien könnte  man  doch  wohl  mit  Recht  Chanukka  mit 
dem  Namen  des  Hüttenfestes  belegen.  Es  ist  das  ein 
kleiner,  unendlich  oft  begangener  logischer  Fehler.  Es  ist 
nämlich  nur  umgekehrt  richtig.  Man  hätte  Sukkot  Chanukka 
nennen  können,  es  war  ja  auch  ein  Tempelweihefest.  Da- 
gegen in  dem  Namen  Sukkot  lag  nichts  von  den  be- 
sprochenen Ähnlichkeiten,  sondern  nur  etwas  von  Hütte, 
und  das  Symbol  der  Hütte  kennt  nun  einmal  das  Tempel- 
weinefest  nicht.  Grade  das,  worauf  es  bei  dem  Namen  an- 
kommt, fehlt  bei  der  Analogie.  Hätte  Chanukka  statt  der 
vielen  Beziehungen  zum  Laubhütten  f  e  s  t  nur  eine  einzige 
Beziehung  zur  Laub  h  ü  1 1  e  gehabt,  dann  wäre  der  Name 
verständlich,  so  wäre  es  zwar  nicht  gewagt,  wenn  man 
Chanukka  statt  ein  Fest  der  Lichter  ursprünglich  ein  Fest 
der  Zweige  genannt  hätte.  Ein  Fest  der  Hütten  konnte  es 
nicht  heißen,  denn  nun  und  nimmer  haben  die  Juden  am 
Chanukka  sich  Hütten  gebaut. 

Zweig  aber  heißt  auf  hebräisch  (und  aramäisch) 
Sokha  pl.  sokhot  fttiD,  HttlD  (daneben  masc.  auch  mit  c 
geschrieben,  aram.  8310  fem.  Kfi2io),  ein  absolut  nicht 
ungebräuchliches  Wort  (vgl.  die  Wörterbücher2),  und  damit 

*)  II  Makk.  6,  7.  lud.  15,  13.  Iub.  16,  30.  Tacit.  Hist.  5,  5.  j. 
Sota  IX,  16,  24  b,  schon  Jes.  28,  1.   Vgl.  noch  Test.  Levi  ?,  8  f. 

*)  Dasselbe  Wort  liegt  vielleicht  auch  Ps.  42,  5  vor  ^p?  inj/«, 
gewöhnlich  dort  als  »Menge«  gefaßt,  wofür  aber  keine  Belege  ange- 


Das  Laubhütter.fest  Cbanukka.  409 

j£sen  sich  auf  überraschende  Weise  alle  die  Rätsel,  die 
uns  bisher  beschäftigt  haben.  Man  nannte  Chanukka  in 
beabsichtigtem  Gleichklang  Chag  ha-Sokhot,  das  Fest  der 
Zweige,  und  man  ahnte  nicht,  welche  Verwirrung  man  mit 
oem  hübschen  Wortspiel  anstiftete.  Ais  der  Name  des 
Festes  verschwand,  mußte  jeder,  der  die  Quellen  las,  aus 
dem  völlig  gleichgeschriebenen  Worte  (das  hinzugefügte 
oder  fehlende  i  spielt  keine  Rolle)  das  bekannte  Chag  ha  suk- 
kot,  das  Hüttenfest,  herauslesen,  und  bei  der  Übersetzung 
ins  Griechische  wurden  die  sokhot  zu  sxrjvtofutTa,  die  Zweige 
zu  Zelten.  Einen  schlagenden  Beweis  für  die  Richtigkeit 
dieser  Erklärung  liefert  die  Stelle  IL  Mak.  10,  0.  Dort  stand 
ursprünglich  in  der  hebräischen  Quelle:  Und  voller  Freude 
feierten  sie  die  acht  Tage  der  Zweige,  und  trugen  darum 
mit  Laub  umwundene  Stäbe  (der  Syrer  übersetzt  hier  wie 
such  sonst  Xwic)  und  schöne  Reiser  und  Palmzweige.  Das 
ist  uns  jetzt  völlig  verständlich.  Der  griechische  Übersetzer 
las  aber  hier  wie  auch  an  den  Stellen  1,  8  und  18  rilaio 
»Hütten«,  und  da  nunmehr  der  Nachsatz  unverständlich  war, 
besonders  das  »darum«,  so  schob  er  eine  allerdings  sehr 
gezwungene  und  ungenügende  Erklärung  ein  mit  den 
Worten,  »indem  sie  sich  erinnerten,  daß  sie  noch  vor  kurzer 
Zeit  während  des  Laubhüttenfestes,  wie  die  wilden  Tiere 
den  Bergen  und  Höhlen  ihr  Leben  gefristet  hatten.« 
Zugleich  aber  mußte  er  die  Stelle  verbessern,  indem  er 
statt  »acht  Tage  des  Hüttenfestes*  »acht  Tage  nach  Art 
des  Hüttenfestes«   schrieb1). 

geben  werden.  Da  es  sich  utn  das  Laubhüttenfest  handelt  (vgl.  pa."t 
25'i~)>  liegt  der  Gedanke  an  den  Feststrauß,  die  Zweige  nahe  (Ti.< 
jSk  H*3  nyiD.  Ich  ziehe  am  Feste  zum  Gotteshaus?) 

')  Vielleicht  darf  man  bei  dieser  Gelegenheit  auch  auf  eine 
Stelle  des  ersten  Mak.  hinweisen,  an  der  von  Kränzen  in  Verbinuaag 
mit  dem  Chanukkefest  die  Rede  ist.  Es  heißt  I  Mak.  4,  57:  sie 
schmückten  die  Vorderseite  des  Tempels  mit  goldenen  Kränzen  und 
mit  Schiidchen.  Ist  diese  Stelle  richtig  überliefert?  Woher  bekam 
man   >goldene  Kränze«    mit    einem    Maie    her?    Weich    außerordeit- 


410  Das  Laubbüttenfest  Chanakka. 

Ich  überlasse  es  den  Bibelforschern  zu  entscheiden . 
ob  dieser  Gedanke  auch  schon  für  die  Zeit  der  Bibel  frucht- 
bar gemacht  werden  kann,  ob  auch  das  Sukkotfest  im  An- 
fang ein  Sokhotfest  war,  ein  Fest  der  Zweige,  und  sich 
erst  später  wiederum  durch  das  naheliegende  Mißverständnis 
in  ein  Fest  der  Hütten  verwandelt  hat,  wobei  allerdings 
auch  noch  bei  der  Hütte  die  Hauptsache  die  Herstellung 
durch  Zweige  blieb;  für  uns  genügt  es,  nur  nachdrücklich 
festzustellen,  daß  zur  Zeit  der  Makkabäer  jedenfalls  schon 
lange  das  Hüttenfest  als  solches  bekannt  war  und  gefeiert 
wurde  und  an  den  Zusammenhang  mit  den  Zweigen  kein 
Mensch  mehr  dachte.  Auch  Mißverständnisse  können  sich 
in  der  Weltgeschichte  wiederholen.  Als  man  Chanukka  das 
Sokhotfest  nannte,  war  durch  die  Verschiedenheit  der  Aus- 
sprache eine  Verv/echselung  beider  Feste  unmöglich. 

Nunmehr  ist  es  aber  kaum  zu  kühn,  wenn  man  be- 
hauptet, daß  das  Chanukkafest  mit  seinem  alten  Namen  im 
alten  Testament  ausdrücklich  erwähnt  wird.  Man  bezieht 
die  letzten  eschatologischen  Kapitel  des  Sacharja  ziemlich 
allgemein  auf  die  Makkabäerzeit1).  Und  wenn  wir  nun  dort 
(14,  IG  ff.)  lesen:  daß  diejenigen,  die  von  den  Völkern  übrig 
bleiben,  Jahr  für  Jahr  nach  Jerusalem  hinaufziehen  sollen, 
um  das  Fest  der  Sukkot  zu  feiern,  und  falls  sie  das  nicht 
tun,  bestraft  werden  sollen,  insbesondere  die  Ägypter,  so 
kann  sich  das  nur  auf  Juden  beziehen.  Es  ist  aber  unklar, 
weshalb  grade  das  Hüttenfest  besonders  durch  die  Wall- 
fahrt ausgezeichnet  werden  soll  Sollte  nicht  auch  hier  das 
Sokhotfest,  das  Fest  der  Zweige  gemeint  sein?  Der  Prophet 


lieber,  merkwürdiger  Schmuck !  An  goldene  (oder  vergoldete)  Schilde 
ist  viel  eher  zu  glauben.  Sie  wurden  als  Zierde  der  Mauern  verwandt 
(Hohe  Lied  4,4.  Ez.  27,  11)  und  standen  schon  im  ersten  Tempel  (II 
Sam.  S,  7.  II  Kön.  11,  10.  II  Chr.  23,  9.  I  Kön.  10,  16  f.  14,  26.  U 
Chr.  12,  9),  Es  wäre  also  wohl  möglich,  daß  hier  im  hebräischea 
Urtext  nur  von  Kränzen  und  goldenen  Schilden  die  Rede  war. 
')  Vergl.  9,  13  (V  ^2  der  Kampf  gegen  die  Griechen. 


Das  Laubhüttenfest  Chanukka.  41t 

verlangt  hier  dann  von  den  auswärtigen  Juden  eine  Wall- 
fahrt nach  Jerusalem  zum  Chanukkafeste,  die  gefährdete 
Einheit  des  jüdischen  Volkes  sollte  durch  diese  Bestimmung 
gerettet  werden,  das  Fest  der  glorreichsten  nationalen  Erin- 
nerungen bekam  seinen  Platz  neben  den  Wallfahrtsfesten, 
und  besonders  die  ägyptischen  Juden,  denen  man  wegen 
ihres  Hellenismus  nicht  recht  traute,  wurden  besonders 
ermahnt  und  gewarnt.  Die  geforderte  Wallfahrt  nach  Jeru- 
salem setzte  sich  nicht  durch.  Aber  von  den  Bemühungen 
der  palästinensischen  Judenheit,  die  Brüder  der  Diaspora 
zur  Feier  des  Zweigefestes  zu  bewegen,  legt  auch  das  II. 
Mak.  ein  Zeugnis  ab,  dessen  Historizität  nunmehr  kaum 
noch  Zweifeln  begegnen  dürfte1;. 

Die  Geschichte  des  Chanukkafestes  würde  sich  nun- 
mehr folgendermaßen  darstellen  lassen.  Nach  der  auf  die 
Bibel  gestützten  Tradition  war  Sukkot  zugleich  das  Tempel- 
weihefest. Antiochus  Epiphanes  weihte  am  25.  Kislev,  dem 
Tage  der  Wintersonnenwende,  den  Tempel  dem  Zeus. 
Einige  Jahre  später  legten  die  Hasmonäer  die  Wiederein- 
weihung absichtlich  auf  denselben  Tag.  Man  hatte  nun- 
mehr zwei  Tempelweihefeste,  die  sich  gegenseitig  Konkur- 
renz machten  und  beeinflußten,  besonders  gingen  die  For- 
men des  alten  auf  das  neue  Fest  über.  Man  feierte  Cha- 
nukka zunächst  im  Tempel  mit  Opfern,  Lobgesängen  und 
Umzügen,  bei  denen  man  Zweige  (Siegespalmen)  trug, 
nannte  es  in  beabsichtigtem  Gleichklang  Chag  ha-Sokhot 
und  setzte  die  Dauer  entsprechend  dem  alten  Weihefeste 
auf  acht  Tage  fest.  Die  Hoffnung,  daß  die  auswärtigen 
Juden  das  Fest  im  Tempel  mitfeiern  würden,    setzte    sich 

')  Die  Forderung  einer  Wallfahrt  wird  in  dem  Briefe  II  Makk. 
1  und  2  nicht  direkt  ausgesprochen.  Andererseits  wird  aber  die 
Wichtigkeit  des  Opfers  stark  betont  und  die  Hoffnung  auf  eine 
Wiedervereinigung  der  Zerstreuten  mehrfach  ausgesprochen.  Es  liegt 
also  nahe,  daß  mit  der  geforderten  Beteiligung  an  der  Feier  eine 
Beteiligung  am  Opfer  gemeint  war. 


412  Das  Laubhütteafest  Chanukka. 

nicht  durch.  In  Judäa  selbst  bevorzugten  die  Pharisäer  im 
Gegensatz  zu  Chanukka  das  alte  Weihefest,  bis  durch  den 
Untergang  der  Hasmonäer  auch  diese  Partei  das  Fest  über- 
nahm und  die  nichtbiblischen  Zeremonien  des  Sukkot- 
festes  auf  Chanukka  übertrug.  Welchem  Feste  die  Illumi- 
nation ursprünglich  zukam,  vermögen  wir  nicht  mehr  zu 
entscheiden.  Es  ist  möglich,  daß  Herodes  die  Feier  des 
makkabäischen  Festes  zurückzudrängen  suchte  und  die  Tem- 
pelillumination verhinderte;  hatte  er  doch  die  Einweihung 
des  von  ihm  restaurierten  Tempels  auf  den  Tag  seines 
Regierungsantrittes  gelegt  (Jos.  Ant.  XV  11,  6).  Als  Reaktion 
hiergegen  eroberten  sich  die  Chanukkalichter  das  Haus  und 
überdauerten  infolgedessen  den  Tempel,  während  die  illu- 
mination  am  Sukkot  auf  den  Tempel  beschränkt  blieb  und 
daher  mit  diesem  zugleich  ihr  Ende  fand.  Der  Name  des 
Festes  schwankte  zunächst,  es  hieß  die  Tempelreinigung, 
dann  nach  dem  benutzten  Symbol  das  Fest  der  Zweige, 
als  diese  Sitte  abkam,  das  Lichtfest  und  endlich  das  Er- 
neuerungsfest fefwmrt*  und  Chanukka. 

Kehren  wir  nunmehr  zu  dem  Dokument  zurück,  von 
dem  wir  ausgegangen  waren,  zu  dem  II.  Makk.  und  unter- 
suchen wir,  ob  sich  auf  Grund  der  neuen  Erkenntnisse 
etwas  für  die  Beurteilung  des  einleitenden  Briefes  ergiebt. 

Die  Frage  ist  die,  ob  der  Brief  echt  ist,  d.  h.  ein  Do- 
kument bildet,  das  die  palästinensischen  Juden  wirklich 
an  die  ägyptischen  Brüder  geschickt  haben,  oder  ob  er  die 
freie  Komposition  eines  Schriftstellers  ist,  der  die  Tatsache  des 
schriftlichen  Verkehrs  kannte,  sei  dieser  nun  Iason  von 
Kyrene,  dessen  Werk  dem  II.  Mak.  zu  gründe  liegt,  oder 
der  Epitomator,  wie  man  den  Verfasser  des  II.  Makk.  zu 
nennen  pflegt,  der  das  Werk  Jasons  verkürzt  und  über- 
arbeitet hat.  Mit  dem  von  uns  nachgewiesenen  Übersetzungs- 
fehler fällt  nun  die  Möglichkeit  einer  freien  Komposition  durch 
einen  griechisch  schreibenden    Autor  fort,    Schwierigkeiten 


Das  Laubhüttenfest  Chanukka.  413 

schreibt  man  wohl  ab,  aber  man  macht  sie  nicht  aus  freien 
Stücken  selbst.  Ein  Autor,  der  das  Chanukkafest  ein  Fest 
der  Zweige  nennt,  muß  sehr  alt  sein,  wahrscheinlich  äiter 
als  der  Verfasser  des  I.  Makk.,  der  diese  Bezeichnung 
nicht  mehr  kennt.  Jedenfalls  ist  ein  hebräisches  (ara- 
mäisches) Original  von  lason  (oder  vom  Epitomator)  ins 
Griechische  übersetzt  worden,  und  zwar  ziemlich  treu,  denn 
er  übernimmt  ohne  einen  erklärenden  Zusatz  den  Ausdruck 
»die  Tage  der  Hütten«,  einen  Ausdruck,  den  er  selbst  nicht 
verstand.  Aber  trotz  dieser  verhältnismäßigen  Sorgfalt  trafen 
alle  Leiden  einer  Übersetzung  das  unglückliche,  seitdem 
arg  verkannte  Dokument.  Bereits  Graetz  (Geschichte  der 
Juden  III  Note  10)  und  Torrey  haben  unter  der  Voraus- 
setzung eines  hebräischen  Ursprungs  die  Einheit  und  Hi- 
storizität des  Sendschreibens  behauptet,  die  Einheit  verficht 
auch  Niese  (Kritik  der  beiden  Makkabäerbücher  S.  10  ff.), 
obwohl  er  meint,  daß  der  Epitomator  das  Schreiben  ver- 
faßt hat.  Gegen  die  Einheit  des  Schreibens  scheinen  nur 
drei  Stellen  zu  sprechen.  In  v.  7  heißt  es:  »Während  der 
Regierung  des  Demetrius  im  169.  Jahre  haben  wir  Juden 
an  euch  geschrieben  in  der  höchsten  Drangsal,  die  in  jenen 
Tagen  über  uns  kam,  seitdem  lason  ....  abtrünnig  ward, 
v.  8.  Da  beteten  wir  zum  Herrn  und  wurden  erhört. <  Wir 
haben  es  keineswegs  nötig,  mit  Niese  eine  besondere  Not 
für  das  Jahr  169  ausfindig  zu  machen.  Durch  die  Annahme, 
daß  hinter  dem  »Kih  uaro  wir  haben  geschrieben«  »Yiösb 
folgendermaßen«  ausgefallen  ist,  erklärt  sich  der  Vers  oder 
vielmehr  nur  so  ist  er  erklärbar.  Ohnedem  ist  der  ganze 
Passus  nicht  zu  konstruieren,  man  müßte  denn  die  sämt- 
lichen Verba  :  wir  beteten,  wurden  erhört,  opferten  usw. 
in  den  Nebensatz  einschachteln  und  bekäme  selbst  so 
keinen  Sinn.  So  dagegen  sagt  der  Autor  einfach  genug: 
rn  der  Trübsal  beteten  wir  (im  hebräischen  durch  das  l 
consecutivum  eingeleitet.  Ähnlich  Graetz,  der  »3  ergänzt, 
das  hintere^  nicht  so  leicht  ausfällt  wie  'n»b).  v.  9  gibt  nun 


-414  Das  Laubhüttenfest  Chanukka. 

Aem  angeblichen  ersten  Briefe  den  angeblichen  Inhalt:  »Und 
nun,  damit  ihr  die  Tage  der  Zweige  feiert  im  Monate  Kislev 
(v.  10)  im  188.  Jahre  —  (wir  zu  Jerusalem  ....  wünschen 
dem  Aristobul . . .  Heil).  Der  Inhalt  des  Briefes  wäre  zu  kurz, 
um  vollständig  zu  sein,  es  ist  nicht  einmal  gesagt,  auf  welchen 
Tag  denn  das  Fest  fällt.  Aber  auch  nach  den  Verteidigern  der 
Einheit  fehlt  zum  mindesten  ein:  »schreiben  wir  euch«  und 
selbst  dann  kann  ich  mir  den  hebräischen  Text  kaum  vor- 
stellen. Man  vermißt  auch  die  Worte  »xai  siutoi«  »damit 
auch  ihr  feiert«,  die  unmöglich  hätten  fehlen  dürfen. 
Korrumpiert  ist  der  Text  also  auf  alle  Fälle  und  am 
einfachsten  ließe  er  sich  auf  folgende  Weise  herstellen. 
Wir  ziehen  das  statt  v5v  zu  dem  btouc  ÖYöV/iJtoyroO  stai  öyäooö, 
wo  es  jedenfalls  hingehört.  Nach  v.  8  aber  erwartet  man 
unbedingt:  und  wir  feierten  die  Sokhottage  nraiDn  »ir  »PJi 
)hüD  BHM  (eventuell  passivisch  '&£3).  Sobald  der  Grieche 
hier  die  2.  Person  plur.  las,  war  die  Konfusion  da,  die 
auch  die  Umstellung  des  rmm  (x**  vuv]  herbeiführte.  Der 
erwähnte  Brief  enthielt  also  damals  nur  eine  einfache  Mit- 
teilung der  Geschehnisse,  noch  nicht  eine  direkte  Auf- 
forderung zur  Festfeier,  wenigstens  wird  dies  nicht  direkt 
gesagt.  Erst  jetzt  werden  die  ägyptischen  Juden  offiziell 
zur  Beteiligung  an  der  Festfeier  eingeladen. 

Eine  fernere  Schwierigkeit  bildet  die  Erwähnung  des 
Juda  in  v.  10.  Im  Jahre  188  Sei.  konnte  Juda  Makkabbi 
nicht  mehr  an  die  Ägypter  schreiben,  er  lag  seit  36  Jahren 
im  Grabe.  Man  hat  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  daß  aber 
gamicht  Juda  Makkabbi  oder  eine  sonstige  nähere  Bezeich- 
nung dasteht,  nur  hat  man  zu  gewaltsam  einen  anderen 
Namen  oder  einen  anderen  minder  berühmten  Mann  dafür 
einsetzen  wollen.  Die  syrische  Übersetzung  löst  hier  die 
Schwierigkeit  sozusagen  spielend,  sie  schreibt:  «lim  s:d 
also  nicht :  die  Gerusia  und  Juda,  sondern  die  Gerusia 
von  Juda,  das  jüdische  Synhedrium.  Da  man  ohne  wei- 
teres berechtigt  ist,  Aramaismen  in  dem  Briefe  anzunehmen, 


Das  Laabhüttenfest  Chanukka.  415 

so  hat  der   griechische  Übersetzer  wahrscheinlich  mim  für 
HW  n  oder  rnvra  gelesen1). 

Gegen  unsere  Annahme,  daß  im  II.  Makk.  ältere 
Quellen  benutzt  worden  sind,  hat  sich  Willrich  (Judaica, 
S.  145)  mit  aller  Entschiedenheit  ausgesprochen  auf  Grund 
der  Stelle  I.  Makk.  9,  22:  %cti  to.  TCspiffcra.  twv  Xoywv  'IooSa  xat 
twv  tcoXs[/.o>v  xal  Toiv  avSpxYociriwv  öv  sirofriae  )tai  T/fe  usyocXo- 
guvt,;  aÜTwv  oü  »«TeYpx^Ti,  -rcoXXaYy-p  ^v  <7<p6Spa,  Der  Geschichts- 
schreiber des  ersten  Makkabäerbuches  erklärt  also  rund 
heraus,  eine  reichhaltigere  schriftliche  Überlieferung  als  das 
von  ihm  über  Judas  Gebotene  existiere  nicht«.  Also,  schließt 
Willrich,  sind  lasons  detaillierte  Angaben,  soweit  sie  über 
das  I.  Makk.  hinausgehen,  erlogen  --  was  übrigens  weiter 
kein  Wunder  ist,  da  ja  nach  W.  sämtliche  jüdische  Schrift- 
steller der  hellenistischen  Zeit  bis  auf  Josephus  hinab  eine 
einzige  große  Fälscherbande  sind,  Iason  selbst  »ertappen 
wir  bei  der  frechsten  Fälschung  der  besten  Quellen«,  seine 
Manipulationen,  seine  Unverfrorenheit,  seine  pure  Willkür 
ist  für  unseren  »Historiker«  (Willrich  S.  144  f.)  charakte- 
ristisch. —  In  dem  uns  vorliegenden  Falle  ist  der  griechische 
Text  wieder  an  allem  Unheil  schuld.  Da  zweifellos  eine 
Überlieferung  abgesehen  vom  I.  Makk.  existiert  hat,  wie 
wir  das  aus  dem  II.  Makk.  und  aus  Josephus  wissen,  so 
löst  sich  die  Schwierigkeit  am  besten  wiederum  durch 
einen  Übersetzungsfehler.  In  dem  hebräischen  Text  stand 
die  bekannte  biblische  Phrase  na  nco*  »b  die  übrigen 
Heldentaten  Judas  sind  nicht  zu  zählen  vor  Menge;  der 
Übersetzer  nahm  das  Verbum  *icd  als  erzählen  und  über- 
setzte frei  ÄaTSYpa^Yi,  wobei  wahrscheinlich  die  Erinnerung 
an  die  biblischen  Stellen  (I  K.  11,41;  14,  19  etc.)  mitwirkte. 

Wer  war  nun  der  Übersetzer  jenes  Briefes?  Auch 
diese  Frage  wollen  wir  versuchen  zu  beantworten.  Der 
Epitomator  sagt  (c.  II.  2,  23  ff.),  was  er  mit  dem  Werke 
lasons  gemacht  hat,  er  hat  es  gekürzt,  umgearbeitet,  popu- 

»)  Vgl.  auch  Torrey  ZATW.  XX.  S.  234. 


416  Das  Laubhüttenfesi  Cbanukka. 

larisiert,  aber  übersetzt  hat  er  es  nicht,  weshalb  hätte  er 
das  verschweigen  sollen?  Das  ursprüngliche  Werk  Jasons 
war  also  bereits  griechisch  geschrieben.  Der  Übersetzungs- 
fehler, der  in  c.  10,  6  vorliegt,  fällt  ihm  also  zur  Last,  er 
hat  das  Sokhot,  das  er  in  einer  hebräischen  Quelle  las, 
mit  Zelte  übersetzt.  Die  angefügte  Erklärung  beginnend 
mit  dem  Worte  pr.u.ovsuovTs;  können  wir  vielleicht  auf 
das  Konto  des  Epitomators  setzen.  Nun  hängt  aber  der 
Bericht  über  die  Tempelweihe,  der  zweifellos  bei  lasen 
gestanden  hat,  (c.  10,  1  ff.)  gerade  wieder  durch  das  Miß- 
verständnis bezüglich  der  Sokhot  mit  dem  einleitenden 
Briefe  zusammen.  Und  der  Schluß  liegt  also  sehr  nahe, 
daß  auch  dieses  Schreiben  bereits  bei  Jason  gestanden 
hat.  Wir  müßten  sonst  annehmen,  daß  das  Schreiben  von 
einem  unbekannten  Hebräer  verfaßt,  vcn  einem  unbekannten 
Griechen  übersetzt  und  vom  Epitomator  oder  gar  einem 
Späteren  gefunden  und  übernommen  worden  sei,  wobei  der 
Grieche  denselben  Fehler  wie  lason  machte.  Lieber  nimmt 
man  an,  daß  lason  selbst  dieser  Grieche  war,  daß  er 
hebräisch  geschriebene  Quellen  benutzt  hat,  die  nicht  mit 
dem  ersten  Makkabäerbuch  identisch  sind,  daß  seine  Ge- 
schichte bis  zum  Jahre  188  hinabging  oder  zum  mindesten 
Episoden  aus  dieser  Zeit  noch  einflocht,  daß  er  jedenfalls 
nach  188  schrieb.  Der  Epitomator  will  nun  dieses  Werk 
in  eine  künstlerische  Form  gießen,  er  wählt  dazu  die  Brief- 
fcrm,  er  stellt  den  Brief  an  die  ägyptischen  Juden,  den  er 
bei  lason  fand,  voran  und  schließt  daran  die  ganze  Ge- 
schichte an,  gleich  als  ob  die  nachfolgende  Erzählung  das- 
jenige war,  womit  die  Palästinenser  die  ägyptischen  Juden 
zur  Festfeier  hätten    veranlassen  wollen. 

Es  wäre  an  und  für  sich  unfaßbar,  wie  jemand  auf 
den  Gedanken  gekommen  wäre,  die  Zugehörigkeit  des 
Briefes  zum  11.  Makk.  in  Frage  zu  stellen,  wenn  nicht  auch 
hier  eine  Schwierigkeit  vorläge.  Der  Bericht  über  Antiochus 
Tod  (c.  9)    stimmt    nicht    mit    der  Darstellung  des  Briefes 


Das  Laubhüttenfest  Chanukka.  417 

(1,  13)  überein.  Sollte  das  der  Epitomator,  wenn  er  wirklich 
den  Brief  selbst  an  die  Spitze  stellte,  nicht  gemerkt  haben? 
Also  war  es  ein  späterer  Redaktor,  der  den  Brief  an  seine 
jetzige  Stelle  setzte.  Dagegen  bemerkt  Niese  mit  Recht,  daß 
die  Schwierigkeit  nur  zurückgeschoben  ist,  denn  auch  der 
Spätere  hätte  den  Widerspruch  merken  müssen.  Dem  Epito- 
mator kam  es  jedoch  nicht  so  genau  darauf  an,  er  lehnt  ja 
selbst  die  Verantwortung  für  die  geschichtlichen  Berichte,  die 
er  gibt,  ab.  Es  ist  aber  auch  sehr  gut  möglich,  daß  bereits 
bei  lason  die  beiden  verschiedenen  Berichte  über  den  Tod 
des  Antiochus  (der  eine  innerhalb  des  Briefes)  vorgelegen 
haben.  Natürlich  hatte  er  sie  aus  verschiedenen  Quellen, 
lason  selbst  braucht  die  beiden  Berichte  weder  mit  ein- 
ander verglichen  noch  vereinigt  zu  haben,  sie  standen  ja 
an  sehr  verschiedenen  Stellen  in  seinem  Werke  von  fünf 
Büchern.  Wir  finden  genau  das  Gleiche  auch  bei  Josephus 
in  analogen  Fällen.  Deshalb  ist  die  Annahme,  daß  es  sich 
in  dem  Briefe  um  den  Tod  des  Antiochus  VII.  Sidetes 
handelt,  nicht  unbedingt  notwendig;  der  Zusammenhang 
deutet  doch  mehr  auf  Antiochus  Epiphanes.  Die  ganze 
Stelle  aber  als  eine  spätere  Einschaltung  zu  betrachten, 
wäre  zu  gewaltsam,  man  müßte  vorerst  den  Zweck  der 
späteren  Einschaltung  an  dieser  Stelle  nachweisen.  Aber 
alle  diese  Schwierigkeiten  selbst  zugegeben,  wiegt  die 
offenkundige  Tatsache,  daß  das  Buch  einheitlich  komponiert 
ist,  schwerer  als  alles1). 

Nun  fordert  allerdings  der  Brief  nur  zur  Teilnahme 
an  der  Chanukkafeier  auf,  und  dazu  gehört  nur  der  erste 
Teil  des  Buches  (bis  c.  10,  9),  der  zweite  Teil  des  Buches 
dagegen  gibt  die  Begründung  für  die  Feier  des  Nikanor- 
tages,   der  in  dem  Briefe  gar  nicht  erwähnt  wird.  Das  wäre 

*)  Vgl.  die  überzeugenden  Ausführungen  Nieses  S.  23.  Auch 
die  uns  ziemlich  unklaren  Darlegungen  über  das  Feuer  Nehemias 
werden  c.  10,  3  irgendwie  vorausgesetzt  oder  angedeutet.  In  I  Makk. 
fehlt  die   betreffende  Tatsache. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  27 


418  Das  Laubhüttenfest  Chanukka. 

allerdings  ein  gewichtiges  Argument  gegen  unsere  Be- 
hauptung, daß  der  Brief  von  vornherein  zum  Buche  gehöre 
—  aber  wohlverstanden  nur  dann,  wenn  wir  es  mit  einem 
Fälscher  zu  tun  hätten,  der  den  Brief  selbst  verfaßt  hätte. 
Aber  der  Brief  fand  sich  ja  bereits  bei  Iason  und  wurde 
vom  Epitomator  nur  benutzt.  Es  mag  ihm  sehr  ungelegen 
gewesen  sein,  daß  der  Nikanortag  in  dem  Schreiben  nicht 
erwähnt  war,  erst  dann  wäre  der  Brief  eine  tadellose  Ein- 
leitung zu  dem  beabsichtigtem  Werke  gewesen,  aber  auch 
so  ließ  er  sich  zur  Not  noch  verwenden.  An  eine  Fälschung, 
die  doch  so  leicht  gewesen  wäre,  hat  der  ehrliche  Verfasser 
nicht  gedacht.  Er  hat  die  Form,  die  er  nun  einmal  gewählt, 
streng,  man  kann  sagen  :  glänzend  durchgeführt.  Der  Ge- 
danke selbst,  diese  Form  mit  dem  Brief  als  Enleitung  zu 
nehmen,  ist  nicht  schlecht;  daß  unsere  historischen  Interessen 
weiter  gehen  als  der  Zweck  des  Schriftstellers,  ist  nicht 
dessen  Schuld.  Ein  Autor  schreibt  für  seine  Zeitgenossen 
und  sein  Publikum,  und  der  Epitomator  konnte  nichts  da- 
für, daß  Iasons  Werk  verloren  ging.  Wir  müssen  mit  dem 
vorlieb  nehmen,  was  wir  von  Iasons  Schriften  noch  haben, 
es  war  guter  historischer  Stoff,  den  er  in  seinen  Quellen 
vorfand.  Eine  gerechtere  Würdigung  seines  Werkes,  als  sie 
bis  vor  kurzem  üblich  war,  hat  bereits  Platz  gegriffen.  Auch 
unser  Nachweis,  daß  er  hebräische  Quellen  benutzte,  wird 
hoffentlich  in  dieser  Richtung  wirken. 


Unechte  Jeruschalmizitate. 

Von  V.  Apto witzer. 

Bekanntlich  zitieren  die  alten  Autoren  Aussprüche  und 
Ausführungen  aus  dem  Jeruschalmi,  die  in  unserem  Jeru- 
schalmitext  nicht  vorhanden  sind1).  Die  geläufige  Erklärung 
dieser  Erscheinung  ist  die  Annahme,  daß  unser  Jeruschalmi 
gekürzt  sei  und  die  von  den  alten  Autoren  zitierten  Jeru- 
schalmistellen  durch  die  Schuld  der  Kopisten  in  unseren 
Texten  fehlen.  Es  wird  auch  erklärt,  daß  unter  Jeruschalmi 
bei  den  alten  Autoren  nicht  immer  der  jerusalemische 
Talmud,  sondern  zuweilen  palästinische  Midraschim  zu 
verstehen  sind2). 

Diese  beiden  Erklärungen  sind  unhaltbar.  Daß  ein 
Kopist  zuweilen  eine  Stelle  wegläßt  kommt  oft  vor,  in 
unserem  Falle  aber  handelt  es  sich  nicht  um  einige  wenige 
Stellen,  sondern  um  hunderte  von  Zitaten.  Diese  Zitate 
v/erden  in  unserem  Jeruschalmi  nicht  vermißt,  die  meisten 
passen  in  die  bezüglichen  Stellen  garnicht  hinein  und  sehr 
viele  von  ihnen  zeigen  durch  Sprache  und  Inhalt,  daß  sie 
unmöglich  je  im  Jeruschalmi  gestanden  haben  konnten.  So 
ist  die  Annahme,  die  fraglichen  Jeruschalmizitate  fehlen 
in  unserem  Jeruschalmi,  ganz  verfehlt.  Die  zweite  Erklärung 
trifft  wohl  für  die  Zitate  agadischen  Inhalts  zu,  aber  bloß 
für  einen  Teil  derselben,  da  viele  ausdrücklich  aus  dem 
jerusalemischen  Talmud,  oft  auch  mit  Angabe  von  Trak- 
tat und  Abschnitt,  angeführt  werden.  Und  wie  sind  die 
halachischen  Stellen  zu  erklären? 


*)  S.  die  Literatur  bei  Apto witzer  in  der  Monatsschrift  1908,  S.  307, 
Anm.  2. 

*)  Monatsschrift  a.  a.  O.  315,  Anm.  2. 

27* 


420  Unechte  Jeruschalmizitate. 

Diese  Frage  besonders  war  es,  die  mich  zu  einer  ganz 
anderen  Lösung  des  Problems  der  in  unserem  Text  nicht 
vorhandenen  Jeruschalmizitate  geführt  hat.  Für  meine  These, 
die  Anfangs  mir  selbst  als  kühne  Hypothese  erschien,  fand 
ich  im  Laufe  der  Zeit  immer  neue  Beweise,  besonders  aber 
seit  ich  Gelegenheit  hatte,  mich  intensiv  mit  der  Haupt- 
quelle nichtvorhandener  Jeruschalmizitate,  dem  Rabiah, 
zu  beschäftigen.  Hier  sind  die  Beweise  so  zahlreich  und  so 
deutlich,  daß  ich  von  der  absoluten  Richtigkeit  meiner  These 
überzeugt  werden  mußte.  Ich  halte  es  nun  für  angemessen, 
schon  jetzt  meine  These  mitzuteilen,  da  das  Werk,  in  dem 
die  ausführliche  Behandlung  des  Themas  ihren  Platz  haben 
wird,  meine  Einleitung  zum  Rabiah,  nicht  so  bald  veröffent- 
licht werden  kann. 

Meine  These  lautet  wie  folgt:  Die  von  den  alten 
Autoren  zitierten  und  in  unseren  Texten  nicht  vorhandenen 
Jeruschalmistellen  haben,  einige  wenige  Ausnahmen  abge- 
rechnet, auch  nie  dem  Jeruschalmi  angehört,  sie 
sind  nicht  echt.  Es  hat  ein  Sammelwerk  gegeben, 
dessen  Grundstock  ein  Jeruschalmi  text  bildete, 
der  einerseits  formell  oft  gekü  rzt  un  d  anderer- 
seits inhaltlich  von  zahlreichen  Zusätzen  aus 
dem  Babli  und  anderen  agadischen  und  halachi- 
schen  Schriften,  besonders  der  gaonäischen  Li- 
teratur durchsetzt  war.  D  i  ese  r  Jeruschal  m  i  t  ext, 
den  ich  zum  Unterschiede  vom  eigentlichen  Jeruschalmi 
VübvfTC  pip  oder  »E&tfiT  ICD  nenne,  ist  die  Hauptquelle 
der  unechten  Jeruschalmizitate. 

Dies  der  Kern  meiner  These,  die  hier  nicht  weiter 
ausgeführt  werden  kann.  Auch  bezüglich  der  Begründung 
muß  ich  mich  auf  einige  wenige  Beispiele  beschränken. 

1.  Rabiah  18  a:  p  Brya  p  mvan  bs  »obenva  poiJi 
riöi  ,pi  ja  pn  pyn  ca  ibik  -nan  »'p  urwa  *bv  jbt  bz  B'pin» 
jibi  EnBB  pi   ♦ptwAi  pivK^n  n^narfo  wrvpb  ubb   ,p  na/NW 


Unechte  Jeruschalmizitate.  421 

(jnisoV)  uaa  [nV^]  (r\b)nb)  wdb  «an  vpovw  [«'xian  v^y]  pabnanvi 
wyaa  arr^p  a'aiao  mpr  -ikb^  ^a«  ,p^>e>  bsh  ubb  [mta^]. 

Diese  Stelle  kommt  in  unserem  Jeruschalmi  nicht  vor. 
Ihrem  Inhalte  nach  hätte  sie  ihren  Platz  in  Berachoth  VI,  l1) 
(10  a),  dort  aber  ist  die  Halacha  dieser  Stelle  in  ganz 
anderer  Form  und  von  der  Agada  nicht  die  geringste  Spur 
vorhanden.  Der  halachische  Teil  dieses  Zitates  kann  also 
nicht  neben  unserem  Text,  sondern  statt  seiner  im  Je- 
ruschalmi gestanden  haben.  Da  nun  unser  Text  zweifellos 
der  ursprüngliche  ist,  so  ist  der  des  Zitates  nicht  echt, 
sondern  aus  der  Ausführung  des  Jeruschalmi  abgeleitet. 
Auch  die  Unechtheit  des  agadischen  Teils  des  Zitates  läßt 
sich  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  nachweisen.  Wir  lesen 
nämlich  Tanchuma  nn^in  §  10 :  apö  o^Bt»  »o  IJ'31  UTD^' 
na  K-na  -paa  p»  aya  amtan  lrnm  w  "p  to^  "px  "wa  pe> 
"|i3o  pn  byt£t  pvi  p  pn  nie«  »mnoi  Tat  na  *or  >m  nax  p  pn 
hm»  pptfen  bsn  njitpo  iroia  «nrw  pn  nm  nai  ,pjn  na  «na 
maian  rs  $»ib»^  aps?^  bij  «mir  *6«  tij?  «bi  naran  'aj  by  -jDjna. 

Die  halachische  Antwort  ist  wörtlich  dem  Jeruschalmi 
(Berachoth  VI,  1)  entlehnt.  Hätte  nun  der  Autor  dieser  Je- 
lamdenustelle  oder  der  Redaktor  des  Tanchuma  eine  aga- 
dische  Begründung  der  Halacha  im  Jeruschalmi  vorgefunden, 
so  hätte  er  sie  ganz  gewiß  mit  herübergenommen.  Er  konnte 
das  aber  nicht  tun,  weil  er  in  seinem  Jeruschalmitext  keine 
darauf  bezügliche  Agada,  jedenfalls  nicht  die  von  Rabiah 
zitierte  agadische  Ausführung  gehabt.  So  gehört  diese  Agada 
nicht  dem  Jeruschalmi.  Rabiah  zitiert  daher  die  fragliche 
Jeruschalmistelle  nicht  aus  dem  Jeruschalmi,  sondern  aus 
dem  »abttiT  ibd» 

Zu  demselben  Schlüsse    muß  man  unentrinnbar  auch 

')  Als  von  dort  stammend  wird  sie  in  Rokeach  N.  352  angeführt: 
UDO  pana  vpajn  bunn p1  nanw  najan  na  panaa  iJraa  ^abem"» 
nstaSi  nhnb  mbb  na  ia  «ara  ,nainbi  paii-Kb  ubb  nbianbi  triTpS. 
Rokeach  N.  329 v.  vstiara^ö:  uaa  «nTpb  uaa  pane  vpay  p1  "'a Sw iv 
nainS  uaa  nbnanb. 


422  Unechte  Jeruschalmizitate. 

durch  die  Analyse  unzähliger  anderer  Zitate  gelangen.  Bei 
vielen  von  ihnen  kommen  zum  logischen  Schlüsse  noch 
äußere  Merkmale  hinzu,  durch  die  sie  auf  den  ersten  Blick 
als  unecht  erkannt  werden  müssen,  wie  zum  Beispiel  bei 
folgenden  Zitaten  : 

2.  Rabiah  2Sb  unt. :  yw  vbv  -psa  benaa  p  »b^bmv, 
ebenso  Rabiah  ms.  N.  423 :  *paa  Vornan  »a^Piv«  [rSDD  *6i 
bma?  und  daraus  in  Hagahoth  Maimonioth  mm  VIII,  N.  4: 
•nfowrai  bznv  rhy  "paS  arot?  (1.  (^xiat?)  nnat?  "\  njnpa  *6"n 
1*1313  «n\s.  Diese  Halacha  kommt  in  unserem  Jeruschalmi 
nicht  vor,  und  wird  auch  von  den  alten  Autoren  nicht  aus 
Jeruschalmi  angeführt.  Die  Tatsache  aber,  daß  eine  Reihe 
von  Autoren2)  sich  abmühen,  die  Benediktion  über  gekochten 
Wein  aus  dem  Jeruschalmi3)  herauszulesen,  beweist,  daß 
eine  ausdrückliche  Angabe  darüber  im  Jeruschalmi  nicht 
vorhanden  war.  Woher  hat  nun  Rabiah  sein  Zitat? 

Dies  erfahren  wir  aus  dem  Or  Sarua.  Dort  wird  zuerst 
in  ausführlicher  Weise  aus  dem  Jeruschalmi  nachzuweisen 
gesucht,  daß  über  gekochten  Wein  tsin  »tb  Kiia  zu  sprechen 
ist,  dann  heißt  es  am  Schluß  :  (4|*Dl3ö  ISO  's  'B^tnvai 
»im  "i  ptan  in«  hw  |*»n  n»  -iöb  pran  *xhv  pvi  bv  "pa  »/uwa 
»bS   >ß   (8'i^>3  «nan  »jwt  id«  im  [wnip  vitrn  iax  in  ^tii 

J)  "OBn  }3,  so  in  Rabiah.  In  den  gedruckten  111313  ny»  (B. 
Talmud  II)  finde  ich  diesen  p*r  nicht. 

*)  Vgl  Tossaiolh  B.  Batbra  Q7a  v.  xü,irK,  Ascheri  das.  VI,  N. 
10,  Or  Sarua  I,  N.  162,  Rokeach  N.  36:*,  Schibbole  ha-Leket  N.  145, 
Kaftor  wa-Ferach  Kap.  20  (ed.  Edelmann  71  b),  Responsen  S.  b.  Adereth 
N.  238  und  766,  TS3Z.  I,  N.  85  u.  a.  Vgl.  Resp.  M.  b.  Baruch,  ed. 
Prag,  N.  470,  fatwi  N.  322  v.  vhh'i,  Maobig  81  b  N.  53. 

s)  Sabbath  VIII,  1,  Pessachim  X;  1,  Schekaü.m  III,  l,Terumoth  II,  6. 
Aus  diesen  Stellen  entnehmen  die  erwähnten  Autoren,  daß  gekochter 
Wein  in  liturgische;  Beziehung  sich  nicht  von  ungekochtem  unterschei- 
det. Im  Gegensatz  dazu  will  nmjö."l  1DD,  HJ101  fon  VII,  10  aus  einer 
anderen  Jeruschalmistelie  in  Sabbaiii  VlII,  1  für  gekochten  Wein  'rsntP 
folgern. 

*)  Berachoth  VI,  5  (10c  m.). 

*)  Soweit  unser  Text. 


Unechte  Jeruschalmizitate.  423 

-paa  btnsB  isn  Rim  ♦aa'a  Kion  *aj  ^jn  panaip  »aa  fcfi 

Die  von  Rabiah  aus  Jeruschalmi  angeführte  Halacha, 
die  in  unseren  Texten  nicht  vorkommt  und  nachweisbar 
auch  vielen  alten  Autoren  nicht  aus  dem  Jeruschalmi  be- 
kannt war,  findet  sich  also  in  einer  dem  Text  beigefügten 
Erklärung  einer  Jeruschalmistelle.  Daß  diese  Erklärung 
die  Quelle  des  Rabiah  war,  ist  zweifellos. 

3.  Rokeach  N.  211:  nnyna  ba«  ♦ .  .  oneno  'ooa  pno« 
p  nnym  a"sa  jr»  »ö^iv  8>»pvn  iem  p*BBDi  ntt'a  ^rri  rinn«. 
In  unserem  Jeruschalmi,  Taanith  II,  15  (66a  unt.)  und  IV,  1 
(67c  unt.),  steht  nichts  davon,  vielmehr  wird  an  beiden 
Stellen  wiederholt  betont:  mWpi  rnaia  pip,  wie  in  der 
Mischnah  Megiiiah  IV,  8  (Jerusch.  III,  8).  So  kennen  auch 
die  alten  AutorehaJ  den  Brauch,  an  Fasttagen  £>m  vorzulesen, 
nur  aus  Soferim  (XVII,  7)  und  den  Gaonim3).  Diese  Tat- 
sachen allein  genügen,  um  mit  großer  Wahrscheinlichkeit 
behaupten  zu  können,  daß  der  »alte  Jeruschalmi«  des  Ro- 
keach nichts  anderes  ist  als  das  »a^ETi*  "icd,  das  die  fragliche 

1)  Die  Sprache  dieser  Erkläiung  ist  gaonäisch,  wie  die  Halacha, 
auf  der  sie  beruht.  Denn  die  Ansicht,  daß  über  gekochten  Wein  S3.*ltP 
zu  sprechen  ist,  ist  gaonäisch.  Vgl.  die  oben  S.  422,  Anm.  2-3  an- 
geführten Autoren,  ferner  Ibn  Giath  I,  S.  2,  Orchoth  Chajjim  I,  64  a,  Ittur, 
ed.  Lemberg,  II,  53  b.  Vgl.  nr.tttl  'V  N.  4,  258,  B'n  17.  In  Orchot  Chajjim 
ist  pn  nicht  Scherira,  wie  Müller,  nriBD  184  N.  23  meint,  sondern 
Raschi.  Vgl.  Kaftor  wa-Ferach  71b  und  Abudraham  IPlTp.  Dies  gilt 
von  allen  Anführungen  Müllers  im  Namen  Schemas  aus  Or.  Ch. 

2)  Tossafoth  Berachoth  18a  v.  "inö*?,  Pessachim  40b  v.  ^QK 
Megiiiah  31  b  v.  ipjti  und  Aboda  Sara  65  b  v.  bü»,  Machsor  Vitry  233 
u.  234,  Manhig,  ed.  Berlin,  47  a,  Ascheri  Megiiiah  IV,  N.  10  Ende. 
Mordechai  das.  N.  16,  t"X">~)  in  Schilte  ha-Gibborim  Megiiiah  III  Ende, 
Vgl.  nwo  üüb  hfl.  nnj?n  I,  15.  Vgl.  RN.  Taanith  I,  N.  809  und  Tur 
I,  566. 

s)  Vgl.  Halachoth  Ged.  ed.  Berlin,  S.  623,  D^itwn  Stf  fmin  I, 
42,  nna  mon  N.  4,  Seder  R.  Amram  35b  u.  43b  und  Marx'  Zusätze 
S.  16  u.  17,  Resp.  der  Gaonim  ed.  Ginzberg,  S.  263,  Or  Sarua  II, 
N.  392,   Hai.  Pessukoth,  S.  132,  Pardes  N.  164. 


424  Unechte  Jeruschalmizitate. 

HalachaausSoferim  oder  einer  gaonäischen  Schrift  herüberge- 
nommen hat.  Rokeach  meint  aber  offenbar  folgende,  in  Rabiah 
ms.  N.  594  und  (daraus)  Or  Sarua  II,  N.  416  Ende  angeführte 
Jeruschalmistelle :  p«  pm  «n«  ''Dia  ^Ö^ÄHTS  rwym  a'cai 
ffnfrfai  iwa  |mp  rea  ,'*>'3na  r6nna  imn  bj>  mna  pna 
nra  bn»i  xb>«  pnp  us  p«  VS^DJH  lx?  ,ü1  rrnn  niß,a:it^ 
,-|öj?  nw  'ax  i#«  ip*i^  boa  ja  ^'nnai  bjy  nwyo  a^iai 

Hier  verrät  auch  die  Sprache  der  Bemerkung  Vfc^D^l 
etc.  deutlich  ihren  nichtjeruschalmischen  Ursprung.  Dies 
wird  schon  von  Rabiah  hervorgehoben:  yatra  \Müb\\  jai 
K1H  p*tt  f^9  VtWy»^  aus  der  Sprache  folgt,  daß 
vtyay'etc.    einem  Gaon  gehört. 

Die  einstige  Existenz  eines  in  der  von  mir  gekenn- 
zeichneten Weise  bearbeiteten  Jeruschalmi  muß  also  schon 
auf  Grund  der  hier  angeführten  wenigen  Belege  mit  Sicher- 
heit vorausgesetzt  werden.  Dieser  »Jeruschalmi«  ist  die 
direkte  oder  indirekte  Quelle  der  meisten  unechten  Jeru- 
schalmizitate, besonders  bei  den  deutschen  und  französi- 
schen  Autoren. 

Eine  Anzahl  unechter  Jeruschalmistellen,  besonders 
bei  spanischen  Gelehrten,  erklärt  sich  aus  der  Tatsache, 
daß  viele  Autoren  den  Jeruschalmi2j  nur  aus  Sekundär- 
quellen, besonders  aus  dem  Kommentar  des  R.  Chinanel, 
anführen,  und  daher  nicht  immer  erkennen  konnten,  wo 
der  Jeruschalmi  aufhört  und  die  Quelle  beginnt.  So  war  es 
unvermeidlich,  daß  zuweilen  die  Worte  der  Quelle  für  Je- 
ruschalmi gehalten  wurden.  Di  aber  der  Kommentar  des 
R.  Chananel  sehr  viel  gaonäisches  Material  enthält,  so  er- 
klärt sich  auch  daraus  die  Tatsache,  daß  Gaonäisches  als 
Jeruschalmi  angeführt  wird. 


l)  So  weit  unser  Text;  niin'njPöaP  ist  viell.  schon  Erklärung. 
»)  Wie  oft  die  Toseftha.  Ein  markantes  Beispiel  bei  Aptowitzer 
in  Blau's  1J,1  pXD  IDUM  I,  S.  82    f. 


Unechte  Jeruschalmizitate.  425 

Manches  unechte  Jeruschalmizitat  findet  seine  Erklärung 
in  dem  Umstand,  daß  in  manchen  Kodizes  mit  dem  Jeru- 
schalmi  andere  Werke  und  Abhandlungen  vereinigt  waren1), 
die,  von  derselben  Hand  geschrieben  und  ohne  eigenen 
Namen,  unter  der  Flagge  des  Jeruschalmi  segelten. 

Daß  manche  Autoren  kabbalistische  Werke  als 
Jeruschalmi  anführen  und  daß  Jeruschalmistellen  direkt 
fabriziert  wurden,  ist  bekannt. 

2)  Ein  lehrreiches  Beispiel  in  Ch.  Horowiz'  xnpTlJ?  KDBCin 
V,  S.  81. 


[S.  422.  Anm.  2.  Tossafoth  Pessachim  109  b  v.  ^ysnx  Resp. 
M.  b.  Baruch  ed.  Berlin  S.  119. 

S.  423.  Anm.  3.  Resp.  der  Gaonim  ed.  Lyck  N.  79,  Chemdah 
Genusah  N.  144,  D^PiT  »IM  S.  10  N.  20,  r.ühv  vbf\p  S.  38  N.  40, 
Ibn  Giat  I  23,  Rokeach  N.  227]. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

Von  I.  Elbog-en. 

So  verschieden  die  Bedeutung  der  jüdischen  Feiertage 
sein  mag,  die  Tefilla  an  ihnen  ist  von  einer  auffallenden 
Gleichmäßigkeit.GegenüberderMannichfaltigkeit,  die  wir  vom 
Sabbat  her  gewöhnt  sind,  der  gleich  vier  verschiedene  Texte 
besitzt,  ist  es  eine  geradezu  erhabene  Einförmigkeit,  der 
wir  hier  begegnen.  Die  drei  Gebete  für  Morgen,  Mittag, 
Abend  sind  völlig  gleichlautend  und  selbst  die  scheinbar  so 
gänzlich  verschiedene  Mußaftefilla  hat  im  Grunde  den 
gleichen  Wortlaut,  der  vermehrt  ist  um  eine  durch  den 
ursprünglichen  Zweck  dieses  Gebetes  veranlaßte  Erweiterung. 
Auch  die  beiden  so  fern  voneinander  liegenden  Festestypen, 
die  geschichtlichen  Feste  a^Ji  wbw  und  die  religiösen  Feste 
D'Kiu  D'D\  sind  geeint  durch  die  Gleichartigkeit  ihres  Ge- 
betes; die  Tefilla  für  den  Versöhnungstag  unterscheidet  sich 
nur  ganz  wenig  von  der  der  Wallfahrtstage,  und  wenn  die 
für  den  Neujahrstag  auch  gänziich  aus  dem  üblichen  Rahmen 
herauszufallen  scheint,  der  Kern  ist  doch  auch  hier  derselbe. 
Es  ist  die  Harmonie  der  Religion,  die  hier  ausklingt,  alle 
Feste  sind  geweiht  durch  die  Einheit  des  gleichen  über- 
ragenden religiösen  Gedankens. 

Der  Ursprung  dieser  Tefilla  führt  in  ganz  alte  Zeit. 
Es  ist  nicht  viel,  was  wir  von  ihr  wissen,  nur  Stichworte 
verraten  die  Quellen,  aber  diese  sind  verhältnismäßig  reich- 
haltig und  aus  recht  früher  Epoche.  Zur  Zeit  von  Bet  Hillel 
und  Bet  Schammai,  d.  h.  am  Anfange  unserer  Zeitrechnung, 
steht  die  Siebenzahl  der  Gebetstücke  (Eulogien)  patr  seil,  mm 
fest,  controvers  ist  nur  die  Frage,  ob  am  Sabbat  ein  be- 
sonderes Stück  eingefügt  werden,  oder  ob  seine  Erwähnung 


Die  Tefilla  für  die  Festtage  427 

mit  einem  der  vorhandenen  vereint  werden  soll;  die  letztere 
Ansicht  bleibt  maßgebend1).  Von  diesen  sieben  Stücken 
gehören  die  drei  ersten  und  die  drei  letzten  der  täglichen 
Tefilla  an,  neu  ist  nur  das  mittlere,  das  vierte  Stück.  Die 
Mischna  nennt  es  orn  nwnp2);  nach  einer  viel  erörterten 
Stelle  im  Traktat  Sofrim3),  die  sich  hier  in  einem  völlig 
neuen  Lichte  zeigen  soll,  heißt  es  auch  Dif?p4). 

Der  Wortlaut  dieses  Gebetes  ist,  abgesehen  von  den 
bei  der  Überlieferung  alter  Texte  stets  vorhandenen  kleinen 
Abweichungen  —  auf  die  hier  infolgedessen  nicht  einge- 
gangen werden  soll  —  in  allen  Riten  der  gleiche,  nn« 
Uflina  und  ih  jnm  als  Einleitung,  «n  rby  als  die  spezielle 
Festbitte,  tinpvm  mit  dem  vom  Sabbat  her  bekannten  uttHp 
•p/nxaa  als  allgemeine  religiöse  Bitte.  Wie  gesagt,  lassen 
sich,  wenn  nicht  die  Texte,  so  doch  Stichworte  daraus  schon 
in  alter  Zeit  belegen,  umna  nna  wird  von  Ulla  bar  Rab  in 
Gegenwart  von  Raba5),  also  ca  330,  als  ganz  bekanntes 
Gebet  gesprochen;  )ih  jnm  wird  im  Anschluß  an  die  von 
Rab  und  Mar  Samuel,  ca  230,  verfaßte  »Perle«  lijmm  er- 
wähnt6), «m  r\hv  freilich  kommt  im  Talmud  nicht  mit  Namen 


»)  Tos.  Ber.  III,  13  (S.  7,  13  ff.):  rra  naura  nrr6  bnw  aia  öv 
■mj?  •'Des  aits  ov  *?tn  iöjw  *:aa  raw  bte  -iöiki  rwiö©  bbsna  anam  "köw 
d^d&i  na'tf  bvz  b'nna  ratr  bbsna  an&\x  b^r\  rvai  naw  bwa  "rnnöi 
nawn  P*ipa  nna  cmn  ^k  "ibw  jn:  n  ysaKa  ovn  nwnp  -iäini  natp  b^a 
D^ötm  blPWI,  vgl.  Beza  17  a. 

*)  Rosch  ha-Schana  IV,  5  (32a),  vgl.  auch  Anm.  1. 

3)  Sofrim  19,  7  wfeppVTk 

*)  Darauf  haben  Laudshuth,  Siddur  S.  468  und  Rosenthal  in 
Graetz  Gesch.  IV,  S.  470,  III.  Aufl ,  hingewiesen. 

6)  b.  Joma  87  b:  umna  nnaa  nna  K3*n  ,Töp  rrn:  an  ia  xbiy 
rvnatri  irrt  na  las  n»a  D^Dl.  Er  betet  vor  Raba  (über  nm  vgl.  meine 
Studien  zur  Gesch.  des  jüd.  Gottd.,  S.  34  ff.)  auch  Pes.  117  b,  fragt 
ihn  und  Abbaje  über  Toravorlesung  Meg.  21b  und  24b. 

e)  Ber.  33b:  .  ..uimm  Sana  fcmna  \b  vspm  KWT  "?Kiöffi  ano 
•131  i:b  jnm.  Zu  UTlIffl  vgl.  mein  Eingang  und  Ausgang  des  Sabbats 
nach  talm.  Quellen  in  der  >Festschrift  zu  Isr.  Lewy's  siebzigstem  Ge- 
bMrtstagc,  S.  V  (187). 


428  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

vor,  wird  aber  gewöhnlich  hinter  der  Bezeichnung  trtn  bw 
tjnn1),  die  aus  tannaitischer  Zeit  stammt,  vermutet.  iJK'tP.Ti 
wird  ebenfalls  von  Mar  Samuel  genannt2),  von  der  Bitte 
Tnixaa  iwip  spricht  ein  Amoräer  des  folgenden  Jahrhun- 
derts3), während  die  Eulogie  DUöTfll  bsw  «npa  ebenfalls 
bereits  von  dem  aus  Babylonien  stammenden  Tannaiten 
Nathan  erwähnt4),  allerdings  in  amoräischer  Zeit  noch 
umstritten  wurde5J. 

Die  Mußaf tefilla  beginnt  und  schließt  wie  die  übrigen, 
nur  hat  sie  zwischen  )lh  [flfll  und  UK'ttMi  an  Stelle  von 
Km  nbw  einen  anderen  Einschub:  lrKBfl  »»Dl  mit  den  Bibel- 
versen über  die  Opfer  der  einzelnen  Tage  und  pm  1^3  mit 
der  Bitte  um  Wiederherstellung  der  Wallfahrt.  Die  Änderung 
und  Erweiterung  der  Formel  für  die  Mußaftefilla  geht  auf 
Rab  zurück  und  wurde  von  seinem  Kollegen  Mar  Samuel 
bekämpft6).  Die  Erweiterung  sollte  in  der  Rezitation  der 
Opferverse  bestehen,  und  als  Einleitung  dazu  wurde  ein 
einfacher  Satz,  wie  jtjdib  pipi  dt  'Ton  irinain  n«  yxb  WPJi 
als  hinreichend  betrachtet7). 

*)  Ber.  49  a  und  b:  uhi  u>xi  btt?  i"3n  xSi  nyta   schon  von  Rab 

und  Samuel  als  ganz  bekannt  gebraucht.  In  der  Baraita  Tos.  Ber.  III, 

10,  S.  7,  6  steht  allerdings  üVfl  nwiip  dafür,    Sabb.  24a,    Erub.  40b, 

Beza  17a  jnixiai  pj»ö;  R.  Chananel  zu  Beza   zitiert  löixi  V39  b^snai 

Kai  rby  xix. 

s)  j.  Ber.  IX,  3  (13d):  "ps  iox  bxiö»  .  .  .  (seil,  um  na)  n'rsna 

1J»r»m  löi1?  zum  Text  vgl.  Ratoer,  S.  203  u. 

3)  b.  Pes.  H7b:  »pmat&a  wip  xmbsn  .  .  .  kii  n  nö«. 

*)  S.  oben  S.  427,  Anm.  1.  In  Beza  17a  ist  hinter  iyi  der  Name 
(fli  ausgefallen;  allerdings  betrifft  da  die  Eulogie  das  Zusammentreffen 
vom  Sabbat  und  Feiertag. 

6)  b.  Pes.  das. :  "naxpi  "am  xmsöisi  "aob  xrrropx  X3i  iök 
trb  xraxi  d-jöt.ti  "?xit£r  trnpD  xpiTpa  pai  xrnbita  pa  «ata  xnva  .  .  . 
"oi  'iDi  ^nw  fcnpa  xsia  xö-o  pa  xnatP3  pa  xmbin  xsnx  xjx.  Vgl. 
dort  auch  die  Erzählungen  über  die  wirklichen  Vorkommnisse. 

e)  j.  Ber.  IV,  6  (8  c):  px  'öK  bxiötti  i3i  na  vinb  1/iit  iöK  an 
nai  13  unn1?  inac» 

7)  Das.  vgl.  Rosenthal  a.  a.  O.  472.  Der  Fragesteller  ist  kiti  '1 
""DT1  'i  Wj%  Abweichende  Textüberlieferungen  bei  Ratner,  S.  114  f. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  429 

Dieser  Satz  ist  fast  wörtlich  noch  im  Gebet  erhalten, 
aber  es  kam  eine  Einleitung  hinzu,  die  die  Erklärung  enthielt, 
warum  keine  Opfer  mehr  dargebracht  werden  (m*&n  *jbot>, 
und  die  Bitte,  den  Tempel  und  den  Opferdienst  baldigst 
wiederherzustellen  qma^o  Tiaa  r^»J);  beide  aber  sind  nicht 
Selbstzweck,  sondern  nur  Mittel  für  die  Überleitung  zur 
Rezitation  der  Opferverse,  die  nach  einem  agadischen  Aus- 
spruche als  vollgiltiger  Ersatz  für  das  Darbringen  der  Opfer 
angesehen  wurden1).  wby  am  jarn  nba  ist  dann  eine  diesem 
Stücke  nachgebildete  Bitte  um  Wiederherstellung  auch  der 
Wallfahrt.  Das  Gebet  für  den  Neujahrstag  hat  noch  eine 
andere  mit  dem  Charakter  dieses  Festes  zusammenhängende 
Erweiterung,  die  eine  besondere  Abhandlung  erfordert. 

In  diese  einzigartige  Übereinstimmung  der  Texte  mit 
den  Quellen  tritt  störend,  was  in  der  ausführlichsten  Quelle 
über  die  Festgebete  überliefert  ist,  in  Mass.  Sofrim.  Dort 
heißt  es  zunächst:  BH,a  VDtn$>  *pa  D133  P  ^cna  P  nDs:i 
njnaa  jna  ioi«  nyia  b&  lbinai  ntn  nnan  jn  ava  nrn  unp  «npe 
13  T3tö  p«i  nrn  msyn  *p*avn  ava  nai«  »yawi  ara  nrn  »ji^b 
nrn  Jinnatpn  an  avai  nrn  ^*rp  «tpa  B"*a  *iai«  ropia»  ana .  ♦ .  an 
(Sofr.  XIX,  3.  4,  ed.  Müller,  S.  XXXVI). 

Für  Sukkot  fehlt  die  Angabe,  was  bei  der  Mangel- 
haftigkeit unseres  Textes  von  M.  Sofrim  nicht  verwun- 
dern darf. 

Der  Text  lautet  in  den  Turim2):  *ps  D'aa  p  n^a/ia  p 
nrn  'jV?a  m  dv  nrn  tenip  «ipa  aiö  av  va?n^,  und  mit  dieser 
Variante  läßt  sich  der  Satz  mit  unseren  Formeln  schon  in 
Einklang  bringen.  Denn  wenn  auch  nrn  ttHip  xipa  3TB  dt  n» 
nicht    allgemein    üblich    ist,    so  ist  es  doch    aus    Amram3) 

')  Daß  sie  im  seph.  Ritus  heute  nicht  rezitiert  werden,  dürfte  auf 
Kürzung  aus  späterer  Zeit  beruhen.  Amrams  Siddur  hat  die  Bibelverse 
vgl.  Abudraham  zu  Mussaf  der  Feste. 

2)  B"V1  miK  §  582,  vgl.  Müller,  S.  264,  Note  10.  In  Manhig 
m  'n  §  5  g.  E.:  'j6a  dv  nn  nnpiaa  n»v?  -psw  b'hbib  rrcon  tnxö  pi 
nn  »np  »opia  dv  pni  ron. 

3)  Vgl.  44b:  ntn  »np  K-ipe  bib  dv  rx  nn  jroin  dv  nx;43a: 


430  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

bekannt  und  wird  von  den  Sepharadim  noch  heute  ver- 
wendet ;  allerdings  geht  dort  der  Name  des  Festes  voran1), 
nur  Maimuni2)  folgt  ganz  dem  Brauche  von  Sofrim.  Hin- 
gegen ist  der  in  Sofrim  folgende  Unterschied  zwischen  den 
ersten  und  den  folgenden  Tagen  des  Pesach,  abgesehen  von 
der  Weglassung  des  B>*jp  kiöb  in  der  sepharadischen  Liturgie, 
gar  nicht  bekannt.  —  Ebenfalls  nur  aus  der  sepharadischen 
Liturgie,  die  sich  hierin  von  allen  Gebetbüchern  unterscheidet 
und  allein  mit  Amram  übereinstimmt,  läßt  sich  ein  Teil  der 
Angaben  für  Neujahr  und  Versöhnungstag  belegen.  Die  wich- 
tigste Bestimmung  freilich,  daß  man  am  Neujahrstage  auch 
desNeümonds  Erwähnungtun  muß, istselbst dort  nichtbefolgt. 
Es  heißi  Sofrim  XIX,  5  (das.)3):  ora  vsmb  "px  nmn  tPtna 
ara1  ntn  nwr\  d*«t  orai  mr\  anm  vmai  nm  trup  «ipo  aio 
rwn  piam  *vaitP  vpr\.  Auch  die  Mischna  in  Erubin  III  Ende 
erwähnt  tnn  u>«i  in  einer  Formel  für  den  Neujahrstag,  die 
babylonischen  Amoräer  jedoch  erklärten  das  von  Anfang  an 
im  Gebet  für  unstatthaft4).  Während  es  so  aus  dem  baby- 
ionischen Ritus  und  danach  aus  allen  Gebetbüchern  ver- 
schwunden ist,  hat  es  sich  in  Palästina,  wie  Sofrim  zeigt, 
offenbar  erhalten.  Endlich  heißt  es  für  den  Versöhnungstag 
(Sofr.  XIX,  6):  ova  tbw  *6x  .  .  .  »t  -a  pvaro  p«  Diman  ora 
bms  omni  ntn  ppn  rbw  ova  ntn  nwpn  oiat  ova  ron  t^ip  mpö 
^y  "|ta  DiYJHPd  by  "icaai  D'arna  ^sw  iöjj  maiy^  ti»/miy?  nb^D^ 
#ip  wipw  D*JO?ni  nmoan  mati  ^siä>'  cnpa  p«n  tat  Auch  diese 
Formel  findet  sich  in  keinem  Gebetbuch. 


umir,  fna  jöt  nin  mrnwn  Jn  ov  nx  könnte  allerdings  den  Anschein 
des  Fehlens  hervorrufen,  aber  hier  ist  wohl  nur  das  Mscr.  abgekürzt, 
wie  es  auch  bei  Peßach  sehr  kurz  ist,  vgl.  dagegen  Marx,  Untersu- 
chungen etc.,  S.  23  zu  37  b. 

«)  Vgl.  Müller,  das.  Note  11  ff. 

*)  r\:vn  b-D  ni^en  -na  z.  St. 

')  Der  Text  (vgl.  Müller  S.  266)  ist  nach  Machsor  Vitry,  S. 
360  zu  verbessern  und  danach  hier  zitiert. 

*)  Erub.  40  a  sagt  R.  Huna  (ca.  270)  l^sbi  ]*ab  r6ij?  nnN  pnsT 
vgl.  Müller  das.,  Note  16. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  431 

Aber  was  bedeuten  diese  geringfügigen  Abweichungen 
gegenüber  den  Schwierigkeiten  der  nun  folgenden  Stelle 
über  die  Tefilla  der  Festtage  :  ftim  pfc'Ki  Di»  po^pött*  atrai 
pw  rraiyai  nruea  nsra  n^cru  caiö  co»  po^po  "ja  "ma  bv 
wk*  "  «3«  vnrmi  ir$>i»  ^ma^a  "naa  rta  irma«  »n^m  mfo*  wib'p 
^«w  lay  enpo  "|na  a'amm  d»*t6  ainai  utrrrm  "Di  «an  n^'  bb» 
«Hp  'tnpai  D'iOTni  mau»  nnai  (XIX,  7  das.).  Zum  Text  ist 
zu  bemerken,  daß  Agudda  ijna  —  pa^pat»  at»ai  wegläßt  und 
a"  pa^pa  "ja  beginnt1)  ;  Elia  Wilna  liest  310  an  prai  av 
p*in«n2).  Diese  kleinen  Verbesserungen  helfen  wenig,  der 
Text  spottet  scheinbar  jeder  Erklärung.  Daß  die  lange 
Eulogie  von  der  durch  Tannaim  bezeugten  abweicht,  darüber 
würden  wir  hinwegkommen,  auch  das  neben  nnatt»  nyia 
unbegreifliche  a^ni?  ainai  würde  sich  durch  Streichung  be- 
seitigen lassen3).  Wie  aber  sind  yitt^a  "naa  nb*  und  nby 
«a*i  neben  einander  zu  verstehen?  Wir  kennen  in  den  uns 
geläufigen  Texten  nur  das  eine  oder  das  andere.  Und  wenn 
wir  selbst  K31  'by  als  durch  seine  häufige  Verwendung  in 
den  Text  geratene  Worte  streichen,  so  bleibt  die  letzte  und 
schwierigste  Frage,  was  hat  "]ma^a  *riaa  rta  mit  nrua  natt» 
jvaijfl  zu  tun?  Wir  kennen  es  gerade  nicht  von  diesen 
Gebeten,  sondern  nur  von  Mußaf  her !  Man  müßte  denn 
vor  den  gewaltsamsten  Eingiiffen  in  den  Text  nicht  zurück- 
schrecken und  mit  Baer  lesen  :  wnbx  «jk  ima^a  *naa  nb*  jhk 
»'a:i  nbvi  et?4).  Selbst  der  sonst  so  vorsichtige  Landshuth 
weiß  sich  nur  dadurch  zu  helfen,  daß  er  mit  der  sepha- 
radischen  Liturgie  yizb  nvy:  DW  wnblk  «J«  liest  und  die 
drei  Worte  jvaijn  nruo  istv  streichen  will5).  Auch  Müller6) 
findet  «an  nby   in    diesem  Zusammenhange    sehr    auffällig 

i)  Müller,    S.  268,    Note  22;    vgl.     den    Kommentar    von    Jak. 
Naumburg,  in  der  Talmudausgabe  von  Wilna,  ed.  Komm. 
■)  Das. 

3)  So  tun   Elia  Wilna  und  J.  Müller,  letzterer    liest    dafür    'Dl. 
*)  ^x-ibp  miar  'D,  S.  352  ohne  nähere  Begründung. 
*)  ab  ]VW  'C,  S.  468. 
«)  1.  c.  S.  269,  N.  26,  27. 


432  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

und  ist  geneigt,  es  in  Verbindung  mit  dem  ebenfalls  un- 
verständlichen Dt£>  zu  lesen  iiKIJl  i"6yj  Cttn  ;  ferner  sieht  er 
in  irmaK  v6ki  mftM  den  Anfang  des  Stückes  i:*«an  »jboi, 
der  durch  Amram1)  in  dieser  Weise  bezeugt  ist.  Nach  alle- 
dem sollen  in  dieser  Halacha  als  Stichworte  die  wesent- 
lichsten Sätze  der  üblichen  M  u  ßaf  tef i  1 1  a  angedeutet 
sein.  Und  das,  obwohl  es  ausdrücklich  heißt:  rttttDa  istva 
JV2-IJ7TI ! !  Einen  Augenblick  hat  Müller  die  Möglichkeit  in 
Erwägung  gezogen,  daß  sich  in  alten  Zeiten  das  Mußafgebet 
in  der  Form  nicht  von  den  anderen  Gebeten  unter- 
schied2), aber  er  hat  diese  Idee  nicht  weiter  verfolgt. 
Endlich  muß  der  neueste  Erklärungsversuch  von  W.  Jawitz3) 
erwähnt  werden,  der  geneigt  ist,  die  ganze  Stelle  für  ver- 
setzt zu  erklären,  in  'Di  n^J  eine  Erinnerung  an  lrKtan  »jdöi 
und  in  wnbx  KJK  eine  solche  an  pm  -j^o  lr/iia«  t6ki  w<ib* 
zu  erblicken.  So  gering  ist  der  Kredit,  den  der  Text  im 
Traktat  Sofrim  bei  allen  Forschern  genießt. 

Auch  diese  schwierige  Stelle  —  eine  wahre  crux  in- 
terpretum  —  hat  jetzt  ihre  Lösung  gefunden.  Sie  ist  ein 
Rätsel,  nur  so  lange  wir  sie  an  den  uns  bekannten  Ge- 
beten messen,  und  klärt  sich  völlig  befriedigend  auf,  sobald 
uns  neue  Texte  zufließen. 

Dafür  hat,  wie  in  anderen  Fällen,  die  Genisah  von  Kairo 
gesorgt.  Bei  einer  flüchtigen  Durchsicht  der  in  Oxford  und 
Cambridge  aufbewahrten  Genisahfragmente  habe  ich  Liturgien 
entdeckt,  die  sich  auf  alle  4  Festtagsgebete  beziehen.  Die 
Feiertage  sind  bis  auf  Schabuoth  sämtlich  vertreten; 
dieses  fehlt  nicht  darum,  weil  die  Gebete  etwa  abweichen, 
sondern  ausschließlich  aus  dem  Grunde,  weil  es  mir  an 
Zeit  fehlte,  in  Cambridge,  wo  der  größte  Teil  der  Genisah- 
Fragmente  aufbewahrt  wird,  die  Kästen  für  Pesach  und 
Schabuoth  durchzusehen.   Von  den  Texten  liegen  mir  Pho- 


»)  S.  41b. 

*)  a.  a.  O.  S.  268,  N.  24. 

3)  rvo-on  -npa,  Berlin  1910,  S.  25  f. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  433 

tographien  vor;  nur  bei  einem,  den  ich  nicht  näher  bezeichnen 
konnte  (A,  3),  muß  ich  mich  auf  meine  Notizen  verlassen.  Kurz 
vor  Abschluß  dieser  Abhandlung  erfreute  mich  E.  N.  Adler 
in  London  durch  Überlassung  einiger  Originale  aus  seiner 
rühmlichst  bekannten  reichhaltigen  Handschriften-Sammlung. 
Ihm,  sowie  den  Verwaltungen  der  Bibliotheken  in  Oxford  und 
Cambridge  sei  auch  an  dieser  Stelle  herzlichster  Dank  gesagt. 

Die  Texte  sollen  genau  nach  den  Handschriften  zum 
Abdruck  kommen,  zumeist  selbst  da,  wo  sich  Bibelstellen  und 
anderswo  bekannte  Gebete  darin  finden.  Bei  der  überra- 
schenden Neuheit  dieser  Tefilla  schreckte  ich  auch  vor 
Wiederholungen  desselben  Textes  nicht  zurück;  nur  wenn 
biblische  Zitate  mehrmals  wiederkehren,  sind  sie  durch 
den  Hinweis  auf  die  betreffende  Stelle  der  heiligen  Schrift 
abgekürzt  worden. 

Die  Reihenfolge  der  Texte  ist  nach  dem  Kalender 
geordnet,  und  zwar  werden  zuerst  die  anderen,  dann  die 
Mussaf-Tefillas   mitgeteilt. 

A.  1)  für  Pesach: 

Fragment  E.  N.  Adler 

2  Bll.  10  X  13  cm,  12  Zeilen 

fol.  la 

a'tra  D*no  D^pa  o'a^iy 
_Woa  bvn  tiio  rinn 
io  T^ö   D'fia  rrna  D«n 

cnon  rrna  —2    5 
pai  "|Btt>  k*wi  n/1«  wnp 

x  tpnpn 
"|ey  ^«is"3  mm  nnx 
jvan  pw  jntai  oy  hin  10 
»js^  Dtt"jni  nwb  ^aa 


nanaa  oaipm  aiin 


')  Vgl.  JQR.  X,  656 ;  piDl  prn. 
Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  28 


«34  Die  Tefiüa  für  die  Festtage. 

fol.    lb 

cnS  \i\m  »ro  in  nwx 

nritfn  crv  c*»crö 

c*3'&  rmsoi  o^prt  rcx 

»rii  cn«n  Dii«  wy  nva 

D'TpTö    *:*nbx   *""   i:S  jnni  cna  5 

n«  |i»tr'?  D*jm  nn[ür]^» 

dv  r«  mn  enp  x^ps  er 

aviaa  trip  "Hipö^i  3ib 
"nym  (*n^«        7*/nifta  10 
iK-ip/i  *irx  »np  '«ipc  *• 
»ins  snmBa  CDS 
2  a  und  2  b  Mussaf  zu  Pesach  beginnt  bei  Num.  28,  18  Ende 

cm  pm  "^o 
vnn  3*bdi  3iB  \yhp 
wie  der  übliche  Text. 

2)  Für  Rosch  ha-Schanah : 

Fragment    aus    Cambridge 
Taylor- Schlechter  Collection  10  H.  34,  2  BI1. 
fol.  2  a 
nsi  -.ö«^  rwa  hx  mrr  (siavi 
tr*rna  is«^  ton«"  *J3  •?« 
C3^>  371»  snnS  nn«3  »yavn 
enp  snpi:  njmn  p-:?  pnaw 

wjmi  s^  iriiap  nat6o  ^:  5 
lrntai         '"'^  rwa  onanpm 
'3i  froa^ö  rh:  irroa«  »rr?»i 

»ipc  rn  nn»  "pa  (*(3«n:  dkd)  'ai  Ktt'i 
«nnai  cif  nptni  banw  10 

>)  sie ! 

»)  Lev.  23,  4  f. 

3)  Lev.  23,  23  ff 

*)  In  ganz  kleinen  Lettern  hinzugefügt. 


Die  Tefilla  für  die  Festlage.  435 

nyipi  nynn  pisti  (le'w 
np  "«-.poi  D»3erm  nnnr 

3)  Für  Jom  Kippur: 

Fragment  aus  Cambridge 
Taylor-Schechter  Collection 
(wahrscheinlich    aus    H  5  ?) 

oy  bis  -jap  nwa  rnna  nn« 

ovanfe  ps^  bao  iran  pur«  mr 

jv,t3d  nanita  emp/n  smn  'ja^> 

nrnni  d«w  0*002*0  on^>  jrmi  »ro  in 

wjr  •>«•«  d'diö  aisoi  o"pn  no« 

|nm  ona  »m  dikh  djiim 

Tra»i>3  (*]K  tö3 

imaks  ii23  jtVj 

4)  Für  Sukkot: 

Taylor-Schechter  Coliection  10  H42 

fol.    1  b 

naic  5«  dt  nnao  maat  15 

'31  *«  ex:  app»a  p»o  "ivbi  b*i)  \vvb  Kai 

*noe*  w    "i^en  »r£>K  -pars  Thfc  rrVrn 

(8m^3t  *D  ixjana  «C3  mna  nn«i  n/ien 

5)  Für  Schemini  Azeret: 

1.  Fragment   E.  N.  Adler 
4  Bll.  zu  je  14  Zeilen.   12  X  16  cm 

fol.  3  a 
anjnsbi 

(*^>ir    Dlp'l 

n/iK  *Änpn  ^«m  *n»fioi  *po    5 
in?  cy  ^ao  "jap  ^kws  nmna 


a)  Einmal  ist  wobl  S"BHn  statt  ü'iV  zu  lesen. 

»)  Lev.  23,  27. 

3)  Wie  ich  geschrieben  habe  am  Eingange  des  Gebets. 

*)  Er  erhebe  sich  nnd  spreche  die  Tefilla. 


28» 


436  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

Dtf'am  p?r^  bx  n-acn  jrnr* 

ma^ao  ponna  caipm  a-iin  *xh 

antr  o'iactra  ar6  jnm  »rc  "in 

n^ija  mxai  D'pin  na«  nmni  10 

nna  »m  Di«n  an«  nrr  wk 

o^jna  luniia  ut&k  '",  üb  fnm 

jik  mn  anp  inpa  dv  nx  nnar^ 

dv!?i  nnaa>i?  otn  ms»  vor  er 

fol.  3  b 

■unina  awaa  »Tp  unpo^i  3ia 

dv3  v"^  iwk  lanpfl  d*b*  (tapav 

o3^>  nw  «np  ripo  «revn 

ba  »ti  ms»  *"»fc  nr«  onaipm 

(2-]s  nniöi  wn  *6  rniap  naxba    5 

'irarn  vmh  ov  wp  mtfena 

urm  pwi  nxian  nx  03bdr3 

ptPXTi  ara   d'b*  nyar  V,H  3n  nM 

^yi  p/ia»  »jwn  oral   pnac 

(3ava  ibkj  o'x-an  -pay  t  10 
rix  iana"i  ayn  rix  r6a'  »rävn 
♦aiai  o^rae»  arv^nx^  laVi  n^an 
*n*rt»  '•'  n#j>  *is>«  nami  ba  ^y  a^ 
nansi  *iay  fcmip»$n  naj? 
fol.    4  a 
iDDa  (*jnp»i  "iax^>  aina  "|«np 
cvn  ja  ova  ov  o'rosn  min 
wm  pirwiri  ovn  nyi  pvnin 
*r&vn  ovai  tva»  ni?aa>  an 
nx  ("lten        ♦BBtfaa  b  mar  5 
nn^ni  *ra»n  ova  rrm  o'btt 


>)  Lev.  23,  36. 
*)  Das.  39. 
3)  I  Kön.  8,  66. 
<)  Neh.  8,  18. 
»)  Ez.  43,  27. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  437 

nx  n;;an  by  mnsn  wy 
»mm  cra^r  mi  oynby 

-)33  nb:  u»maK  »ahn  uiota  10 

Sj  t»  ir^y  iwani  ywn  mnoa 
irnsraji  onan  pa  je  ima  a">p  »n 
w*n{»n  »•'  uK'am  p«  »rove  djd 
fol.  4b 

jva  s^it^i  nana  "p\y  jrstS 

nom  D^>iy  nnaty:  i&Hpa 

nSrn  ^;2  imabm  "|^a  v"  "prya 

hkt  y»a»  *ia»i  n^y  uvfo*  «:« 

uwdi  "rps*  na»»  yae»»  mni    5 

-]uik  iry  "jap  jviat  w:npB 

-v,;  -jmy  iSiar  "j^rn  -jenpa 

a»am^i  nai»$»  ysA  whm  ",  "]/iö»^b 

»a*a»  Dva  ntn  trip  «ipa  (*oi»a 

lynhx  *'?  naio^  13  wöi  rwi  Jmy  10 

ira^a  D'cn^i  nanak  a  wnpu 

^em  ^xn  (2nnm  pn  u*n^K  "'  nein 

»a  iyyy  ybx  »3  u»jma  u&  (2nnm 

nnmpj  ■paV  nn«  aimi  pari  ^« 

2.  Bodl.  Heb.  e  36  (2715)  no.  1. 
Cat.  col.  123. 

fol.  2  a. 

(3^k  nfo  $>«  fna  ^  10 

'ii  mna  nn«         *  vmpn  b*n 

dt  n«  nnae^  a^nyia  nan«a  uvi^m  '»  üb  jnm 

n?n  mxy  'J»a»  er  /ix  ntn  wipEmaa 

a)  Von  hier  bis  r*5ty  auf  einer  radierten  Stelle,  weil'derjSchrei- 
ber  offenbar  aus  einer  Vorlage  einen  falschen  Feiertag  abgeschrieben 
hatte. 

■)  sie! 

8)  Er  schließe  daran  an  die  Tefilin  bis 


438  Die  Teiilla  für  die  Festtage. 

im  r\D2  vnp  tnpobi  aus   aw  ora>i  nnarS 
ora  -"'b  rwx  lanpn  0*0»  (lnya;r  15 

rw«  o/iaipm  oaS  mr  *np  mpo  wovn 
'«:i  wyn  xS  miay  n:xSa  Sa  x\i  msp  V,S 
d3edx3  Tai^n  sn[nS  er  i*»y  rwana  (**[«] 
fol.  2  b. 
Dva  d*d'  nyatr  »'  sn  nx  lainn  pxn  ranan  rot 
7*73j?  t  byi  pnaw  »rarn  ovai  pnae»  (Viral 
©w  djm  rix  nStr  *j*Bvn  (3ova  iaxj  mraan 
Sa  Sy  aS  arai  cna»  Dfr^nife  ia$»*i  -|San  nx 
ley  ^«-urSi  nay  *inS  »"  ?wr  irx  rjaran    5 
■Sxn  Ann  tb*D3  (**npM  naxS  aina  "jttnp  nanai 
«Ti  pinxn  ovn  "?yi  prirai  dwi  ja  ora  or 
:  BBtt?a3  m$y  »i*B*n  m*ai  d*b'  nysr  :n 
nahm  *2*Dvn  ora  rvm  d»öm  nx  (5iSa'i  wi 
ca'aSr  inn  cavi^p  nx  naran  Sy  o'nan  i»r  10 
")3"i  rta  'ax  tiSki  u*nta  •  cmSx  m  dsj  aanx  »iwrn 
jnsp  »jw  or  nxi  'w  enpa  "»  x"a 
«np  *mpoi  D'jarm  nnar  Hpiai 
's*n  nrj?  (6,Sx  mSsSx  cn'i 
fol.  3  a. 
nnar  njnoi  m«p  -ratr  er  nxi  Ski»'  x  -pa  »•»  x*a  2 

e»ip  •otsdi  c:ani 
vgl.  Bodl.  e  34  fol.  63  a,  S. 

3.  Taylor-Schechter  Coli.  10  H  41. 
fol.  2  a. 
«nna  er  itpy  ntrar-  ■)«  wpn  xS  (Vnap 
nx  unn  pxn  nxian  nx  caacxs  »yavn 


*)  imina  ainaa.  Lev.  23,  36. 

J)  Das.  39. 

8)  I  Kon.  8,  66. 

«)  Neh.  8,  18. 

*)  Ez.  43,  27. 

fi)  Er  beende  die  Tctilla  bis 

"•)  Lev.  23,  36  Ende  usw.  wie  oben. 


Die  Tefiüa  für  die  Festtage.  439 

btji  \wav  \msr\n  ara  n-r  nya»  M  :n 
cx'3;n  -paj?  t  bpi  .pna»  'ra«M 
Tyi3i  eyn  n*  r6»  »awn  a?3  -.a«i    5 
»3101  a'nattf  cr6n«7  ia$n  -j^on  n« 

na?  "rn^  -n  nry  irs  n3*an  bz  bv  ib 
-.ax1?  2iP3  i'snp  haiai         iay  ^k-ib^i 


er;  er  avi^an  m\n  icD2  uns 


an  wi  pn«n  avn  iyi  ptp«nn  arn  ;o  10 

act?a3  mity  *ya»n  arai  Bvr  nyar 

ni6ni  »rawn  ava  rvm  b'bm  n«  fori 

B3»m$hj>  n«  naten  bv  traun  wy 

,0'nhi  "  as:  e:nx  »Ji'sni  BanA»  rwi 

'&a  -r\sobs  ma  n^j  «ma«  viVsi  wA*  15 

■y':>y  «:raii  yinrn  mnaa  ^ay  ^«w  ^>y 

wnwoü  a»ian  paa  ir-mo  aipi  »n  ^3  'ry5? 

•jvy  p»jA  %,:nbs  "  um?am  pn  Tiara  aia 

aSi?  rtnatra  "jenpa  n'a  dW^i  n:ia 

fol.  2  b. 

:rn:^ai  -^a  'jRir  »mV«  »  ya>ya  naR'i 
n«T  m*  «a^i  n^jr  un£n  «jk  .r6vt)  S32 
uwpa  urana?  ipe3  w  paa»*  mn* 
-janpa  "]^3*n  *jsi«  "]vy  r»KTtt*3  n»a  -jap  p">at 
mia^  -p»^  tt.b^e  -jna  "im»  "j^na?  "piya    5 
»rae»  a"a  rvr\  anp  «npa  ova  D'om^ 
lripa  lin^w  »"  naia?  la  inai  nrn  map 
«n^n  »•*  nns  nein  ua^ö  B*am^i  71212b  ia 
up*anm  iybv  ami  ^iam  $>xn  rmm  pn 
irry  -,J?«  *3  u*nms  vh  nnm  Iran  Iran  10 
pKip:  "pa^  nn«  otth  pan  Sx  »a 
»raa>  bt  nrn  «ftp  xipa  ar  »n*i 
-»am  ronn  träfis  ^  ppi  sjib  rvn  nijjy 
$5ia  n«  u?^»k  "  mrvm  •uwe^ 
p  nntm  n-as  -rs*3  o^»^»  Tiyia  15 
um«i  mna  lay  ^»-x"a  '3  n^a  «anan 


440  Die  Tcfilla  für  die  Festtage. 

nron  nan«3  nm  msty  »ans»  am  nrrp- 
am  ^«ir»  enpo  »  nn«  3  un^nn 
-trpei  D^erm  nnce*  nyiei  map  'rar 
cnp 

B.  Mussatteliila. 
1)  Für  Pesach. 

Bodl.  Heb.  g  2  (2700). 
Catal.  col.  92. 

fol.   21a. 

(*rft  'n'p'O'*'«  wiött^  D'Tjno  nanaa  '^«  »»  üb  jnm 

ny3i«3  'wirn  «nnai  (:3,na  '33  spia  »anp  »a 
dv  wy  ntranai  ."-b  nae  ttnr6  an  -\vv  12 
ara  .^a«»  nnra  d»ö»  nyar  jn  nrn  *nr6 
«^>  irw  n3«^>a  ^3  B3^>  tp  "ip  'ipa  |ir«in 
-^p3  »33  ans  *»»$>  rfoy  ntr«  onanpni  .wn  15 

21b. 

"an  na»  »ja  B"tP33  nyaan  in«  ^»«i  ow 
nenVe»  »et»a  n^iba  r\bc  annjai  ,B3^>  i»n» 
.itpyn  ^»»6  D»jntry  wi  ieb  a-ant^y    3 
•aon  nyae*^  nn«n  s>33^  ntpyn  [\ivv  p*wy 
n^>y  *T3^>a  ,B3^y  -:a3^  irw  n»on  ryn 
rfr»2  nbx  n«  wjwi  Tann  rbwb  wx  npan    6 
nin»3  n»"i  ntr«  an^  a*a'  nyar  nvh  iryn 
'«  /va  vy^>  .laoji  wp»  Tann  n^>iy  ^y  '*7 
'33  'fei  *ayo  B»i^»t8»a  ^  ni«m^  w»fcn  i^y    9 
■/na«  »nVm  w»nb«  'ai  '3T  ^3  'v  '3  'eye  (4an^tt»  'na 
ui&run  nna»a»  nan«a  ^>«  pna  «in  (6«aa 


')  Und  dies  ist  die  Mussaftefilla. 
»)  =  a'npn1?  nn  vnp  «ipo  ov  nx. 
s)  =  -jrniro  SVD3  Num.  28,  16—24. 
*)  Deut.  16,  16. 
')  Wie  oben  steht  bis 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  441 

enpo  .2  ('"in  '-pi  'v  'an  'n  r\»  yttb  nryai  12 
mW«  p/i3*i  .(^'ip  ■bi  'm  '»  'Di  mnan  am  ^«n»1 
(3m22  mbx  ^na  nrua  nhx\ 
22  a. 


(4171p'   ^in   F|D1D   PTA»      •      .      -11 

ijnoi  nnsrb  d'ijnd  nsnxs  lrnta  m  iab  fnm 
nwa  '22  ppio  pnp  .12  yipnfc  iraton  an 

2)  Für  Rosch  ha-Schana 

Tayl.  Schecht.  Coli.  10  H  31 

(s.  ob.  S.  434). 

fol.  2  a. 

rutwi  »ai  ppia  13- 
.namn2  rm«i  tpnpn  ^«m  .Tnai  pa  (5ij?2> 
tnm?  inx2  *ra»n  (•«nroi 
fol.  2  b. 

na^a  ^2  D2^  mm  tnp  «ipo    1 
mm  njmn  er  irwi  *6  moj 
mma  m*6  r6u>  cütj?)  :d:^ 
etc.  Num.  29,  2—6. 

mma  nnfc  ceb»d3  Dmawi  12* 

»fAw  UtAn  üb  mm 
bi?  mSa  im2^a  n^>a  Trwan 


*)  =  rip  *&npöi  ö^btrri  nnatr  ■Hjnar 

:i)  Und  er  beende  die  Tefilla.  Die  Minchatefilla  ist  gleich  der 
für  den  Morgen. 

*)  In  der  Mussaftefilla  der  Halbfeste  spreche  er. 

s)  Nachträglich  mit  kleinen  Buchstaben  zwischen  die  Zeilen 
geschrieben. 

«)  Num.  29,  I. 


442  Dje  Tefilla  für  die  Festtage. 

3i  Für  Jörn  Kippur. 

1.  Bodl.  Heb.  f.  21  (2727,  No.  11)'). 

Catalog  col.  142. 

fol.  G4b. 

b*r\  '2  ny5?  •"»  'pw  zz  tb\sh  *    6 
mna  nr\»  .vnpn 

»»a  iy  "jflia^a  rta  irrta«  täki  u*"k 
hm  irma«  t6ki  w*  <  (fu»«w^> 

'ai  *m^w  nwo  cy  10 

2.  Bodl.  Heb.  e  40  (2705,  16)'). 

Cat.  col.  97. 

fol.  55  b. 

-[ins  jn  pai 
n/nna  nn« 
s?«h  «arm  pn«  nnan« 
nrens  cy  rra  m» 
3.  Bodl.  Heb.  e  41  (2721)  no.  13. 
Cat.  col.  136. 
fol.  116  a. 
'y  *py  bitrw  (nai  u*ni3«  p*o? 
1^13»  I^dm  -jrnpa  "prot  fr? 
»"  "|ii3  inara  *jr.n^o  ]n-y  "java 
cv  »m  D'om^i  mib^  "po^  ur&a 
nrn  anean  eis  nr  ron  enp  &npa    5 
pyn  n^na  ai»  nrn  jiyn  rwv^D  nr 
w  \y  ^'D  nm  pw  maa  or  nrn 
uvwfc  ewii  r6rm  irnra 
•naan  "ia*in  n«  uvita  *'»  ufc  a^pi 


*)  Die  dort  mit  dem  Fragezeichen  versehene  Augabe  »for  ',T1« 
ist  demnach  zu  berichtigen.  Vgl.  zu  diesem  Fragment  Rivista  Israeiitica 
JV,  1907,  S.  188  ff. 

2)  Gemeint  ist  bis  ttnpw^  WITOrYwin;  vgl.  weiter  S.  444. 

3)  Vgl.  Elbogen,  Studien  zur  Gesch.  des  jüd.  Gottesdienstes, 
S.  96  f.,  S.  170  f.  Obiges  nach  Angabe  des  Katalogs. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  443 

ara  (^a  "pray  ntra  »t  by  ^nrr\2  10 

^aa  aanx  rmb  oybv  ^S3'  mn 

*i2iz:  •  nnan  »•»  *jdV  Davwwsn 

py  «na  "paa  ^x  (2,a  aina  ivnp 

*6  in?ru  msw^  ytya  Sy  -rnyi 

31»'  mmi  nan  pen  '3  ffi*  ty^  pnroi  15 

fol.  116  b. 
nftsaa  •ptown  www  tpua'  udiiv 
icn  apy^  na«  pn  :  ansan  ^3  o» 
"a*a  imat6  r\y2v:  wm  omarä 
raia  n«  um1?«  »'  wK»»m  anp 
mm  mos  wita  Df?tt>a  "pyia    5 
mrra  "jap  ^niera  %a  n^a  i;anan  ja 
nyia  n«i  a'ayn  ^aa  iwip  w«i 
rwyji  wf&run  panai  narma  "|«np 
pipi  ar  »i*ön  ?rnain  n«  y:c^ 
r«i  ?kw  snpa  **  n/i«  -jna  spio   10 
pj?n  nrr^a  ar  ns  mn  omean  Dia  av 
n^ai  ^ma  nrn  \vjn  n^na  ar  n«  ntn 
■jay  nmy^i  lrnax  rmiy^  u*nwj£ 
'thjh  10«  *naya  onama  ^xw  JV3 
.('ama»  *Vk  p'ita  pa»i  uv£«  "»  rwi  15 
nwriii  ^x  mn  top*i  117  a 

4)  Für  Sukkot: 

1.  Tayl.  Schlecht.  Coli.  10   H.  41 

(vgl.  oben  S.  438  ff.) 

fol.  la 

in«  a'ty  YW  o»»aa  "iew  (^nym«? 

nawi  nnroa  Tann  n^iy  "ra^a  riKorr 


i)  Lev.  16,  30. 
»)  Micha  7,  18—20. 

s)  Bis  zum  Ende.  Dann  spreche  er  die  folgenden  Tachanunitn 
(=  Selichot). 

<)  Num.  29,  15  Erde.  16. 


444  Die  Tefiila  für  die  Festtage. 

t^d  nmaba  "naa  n^>a  um3M  *n^*i  uvt^k 

u'^3?  »warn  jwim  mnoa  nai?  torw  ^p 
lantatiDJi  D»un  paa  uiw  aipi  »n  bi  "yvb    5- 
nry  p'i6  u»nta  "  uwani  p^«  wmj  d:d 
oSy  nnaipa  nanpa  rra  o^wrvh  nro 
^aa  imabai  -|^a  bin**  »m^n  'n  T8»j?e  naan 
n«i'  s?\r  Riai  nfcjr  imbi  «as    .mwo 
pia?  «»anpu  wxmi  ipc'  -la?1  po»*  natv  10 
-jEnpa  i^a%n  fina  p»p  bmir  n*a  "|oy 
naiö^  "paD$>  "jjiö'Vb  "pa  -|/ny  "f?iar  -jawa 
an  ova  n?n  enp  xipa  ara  D'om^i 
*aipa  ia\-6«  «  naia^  1a  lanai  nrn  mron 
iot£m  'n  nn«  noin  laaVa  o'arn^  naia^  ia  15' 
uy»im  ia^y  emi  hom  hin  rmm  jan 
t^k  »a  ii»nnsH3  ia^>  rmm  u»an  warn 
.ntnpa  "pa^>  nn«  oinm  pari  S«  *a  u»rp 
mapn  an  dv  nrn  tenp  »ipa  nr  vn 
w/iyra^  t>«m  n^rm  ia*jmx  ^aV  ppi  epo  nrn  20 
fol.  lb 
•pas^>  nma  d«n  U'-iiko  maa  van  u»a»jn 
■jmi/ia  ainaa   !3*^n  'aro  ri^ra 
»■»  *:a  ins  nma?  ^a  nm»  nara  c*ayc  Ob^ip 
anai  matcn  ana  nna'  i»k  mpaa  "jm^ti 
:c  nx  nur  t6i  niawn  anai  niyia#a    5 
■pmw  'n  nDiaa  it  nanaa  »*n  ,opn  »" 
ns  ut&m  M  ux^m  ,*]^  j/u  ir« 
jvam  me«  *i#Ka  a^tj^  rnnyia  roia 
mna  T,ay  bnv  a  »a  nbo  iaa*ian  p 
u-nain  n«  ras^  mw?ai  /irvp  iam«i  10 

»"  nns  ra  .spie  \zy\  dv  'Tan 
nnar  »npiai  mron  am  ?kib>*  tnpa 
.trnp  '«ipai  tArm  caarm 
.(sjiim^36m  i:k  'f?«  ia»rr?K  »n  ran 

J)  Deut.  16,  16. 

*)  Bis  zntn  Ende  der  Tefiila. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  445 

2.  Fragment    E.  N.  Adler 

(s.  oben   S.  433  u.  435  ff.) 

fol.  1  a 

»nbai  vmb*  .nawi  nnnaa  (h'ann 

$>9  -pba  Tnia^a  rnaa  n^j  u^na* 

n*bj?  «»am  pcm  mnoa  Tay  ^«i»» 

onan  pao  unne  aip  *n  ^a  (sie!)  tj; 

rairani  ps  wra  oaa  lriranui    5 
ii-a  d^emtVi  nana  tt?  p»j£  uf&i  v> 
■ppyo  noiri  aSij?  nnat^a  -jttnpa 
uy&m  n:k  rbwa  $>aa  ima^>ai  -|ba  *" 
vat^  mm  nur  &»r  wa*i  r6ir 
u.  s.  w.,  s.  S.  437   mit  folgenden  Abweichungen  —  es  fehlt 
hier  hxw  rra  hinter  Tay,    es  fehlt  fwo,    "|BHpa    steht  vor 
I^dm,   vor  raa^«  (z-  12)  wö*  '"    ,ia*r&K   "»   nein  (Z.  15) 
ia$>  npm  kam  \na  (Z.  16—17). 

fol.   lb 

m»  wi  nnsnpa  "pa$>  nn»  mrm 

nrn  mann  an  or  nn  t^-rp  «ipa 

psni  nirrm  u*nnat  ba^>  ppi  pjid 

u**ukD  Jvaa  vwi  irrjn  u'njnvrä 

ia»Van  *aj?e  tri^tra  "piA  ntna  dkm 

D»oya  »lba»  imina  ia^y  ainaa 

usw.  Dt.  16,  16 

na«a  an  nran  anai 

Dt.  16,  17 

-b  \n:  w«  ynb»  »»  naiaa  rr 

2a 

■pj>ta  nana  n«  «»mj«  »  uttHerm 

iamK  nrnna  u.  s.  w.  m^&'a 

n-atri  nanxa  ^np  njnai  nrwrp 

^kiü"  anpa  »'»  rm«  mia  0iar6na'r! 

D'astm  nnetr  »tjhdi  roaon  am 

»)  Num.  29,  16. 


c 

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x> 

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5^ 

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o 

n 

er 

5 

446  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 


3.  Fragment  E.  N.  Adler. 
Das.  2  b. 

Brnpn  'ram  •  rrnai  *  pa 

*"  üb  {/im         *  iinma  rm» 

nnotri?  Dnjno  narroa  o*n^M 

d  a^ipnb  nrn  maon  :n  "unoa    5 

(scvai  "|flTwa  ainaa  p,oib  pnp 

i»r  dw  npa  »aa  one  wn 

npain  me>  »aa  c-rraa  dw  o%b* 

DiT2mi  Dnrooi  4  d'ö'o/i  trs? 

c-cca:  ct::^  d^'K^  oneb  10 

n*»n  *?n«  d*tp  twi  •  ooroa 

dtomi  nnruDi  Tzr\r\  r\by  laSe 

r»b«nb8  cn 
-.trj?  vwy  c*-c  »r^rn  (4ovai 


])  Und  er  beende  die  Tefilla. 
*)  Die  Mussaftefilla  reicht  bis 
-)  Nnm.  29,  17—19. 
4)  Das.  20. 


(Schluß  folgt } 


Ble  Hamen  dar  Frankfurter  luden  Ms  zum  Jahre  1400. 

Von  I,  Kraeauer. 

Mit  Recht  hat  man  von  jeher  den  Eigennamen  bei 
allen  Völkern  eine  hohe  Beachtung  geschenkt.  Denn  sie 
sind  nicht  etwas  Zufälliges  oder  Gleichgiltiges,  son- 
dern ein  Spiegel  der  Anschauungen  und  Vorstellungen,  die 
die  einzelnen  Völker  zu  verschiedenen  Zeiten  beherrscht 
haben.  Daher  war  überall  die  Namensgebung  als  ein  wich- 
tiger Vorgang  betrachtet  und  wie  bei  anderen  Völkern  auch 
bei  den  Juden  mit  religiöser  Weihe  umgeben.  Die  Ideale, 
die  man  in  sich  trug,  seine  Wünsche  und  Hoffnungen  prägte 
man  in  dem  Namen  aus,  den  man  dem  neuen  Weltbürger 
mit  auf  den  Lebensweg  gab.  Darum  bergen  die  Namen, 
besonders  in  der  Jugendzeit  der  Völker,  »eine  geheime  Ge- 
schichte, es  sind  Annalen  in  Chifferschrift,  zu  welcher  gei- 
stige Forschung  den  Schlüssel  gibt«1). 

Für  uns  sind  die  Namen  der  Juden  ein  Beweis  dafür, 
daß  sie  sich  nicht  ängstlich  von  der  Außenwelt  abge- 
schlossen haben,  sondern  an  dem  Kulturleben  der  Völker, 
unter  denen  sie  wohnten,  mehr  oder  minder  Anteil  nahmen; 
mit  deren  Sprache  eigneten  sie  sich  auch  deren  Namen  an. 
So  haben  sie  bereits  zur  Zeit  der  babylonischen  Gefangen- 
schaft Namen  von  den  Babyloniern  und  von  den  Persern, 
in  deren  Mitte  sie  weilten,  entlehnt.  Die  Herrschaft  der 
Griechen,  der  Ptolemäer  und  später  der  Seleuciden  brachte 
ihnen  griechische  Namen2)    und  mit  der  zunehmenden  Ab- 

J)  S.  Namen  der  Juden,  in  Zunz'  gesammelten  Schriften,  Band 
2,  S.  2. 

*)  S.  bei  Zunz  a.  a.  O.  ein  Verzeichnis  solcher  von  Seite  5  bis 
Seite  10. 


448        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre   1400. 

hängigkeit  von  Rom  drangen  auch  römische  Elemente  in 
die  Namensgebung  ein.  Zur  Zeit  des  Geschichtsschreibers 
Josephus  finden  wir  in  Palästina  ein  buntes  Gemisch  von 
persischen,  syrischen,  griechischen,  römischen,  altbiblischen, 
nachexilischen  und  neuhebräischen  Namen.  Zuweilen  ging 
der  fremde  Name  neben  dem  einheimischen  einher,  wir 
haben  dann  einen  Doppelnamen1). 


Das  Mittelalter  änderte  daran  nichts.  Obwohl  die  Kirche 
auf  den  Konzilien  und  den  Provinzialsynoden  sich  bemühte, 
die  Juden  von  der  christlichen  Umgebung  möglichst  abzu- 
sondern, nahmen  diese  auch  solche  Namen  an,  die  bei  den 
Christen  üblich  waren.  Ebenso  bedienten  sich  die  Juden 
unter  moslemitischer  Herrschaft  arabischer  Namen2). 

Im  Mittelalter  bis  tief  in  die  Neuzeit  hinein  führte  die 
Mehrzahl  der  Juden  nur  Vornamen8);  man  bedurfte  also, 
um  Verwechslungen  zu  vermeiden,  noch  besonderer  Unter- 
scheidungsmittel, auf  die  wir  später  eingehen  werden. 

Schon  frühzeitig  kam  der  pietätvolle  Brauch  auf,  Namen 
der  Verstorbenen  den  Nachkommen  beizulegen,  in  der  Weise, 
daß  der  Enkel  nach  dem  Großvater  väterlicher,  seltener 
mütterlicher  Seite  genannt  ward.  Mit  der  zweiten  Hälfte  des 
Mittelalters  achtete  man  besonders  darauf.  Ferner  bürgerte 
sich  die  Sitte  ein,  den  Knaben  bei  der  Beschneidung  mit 
einem  zweiten  Namen  —  Zunz  nennt  ihn  den  kirchlichen4)  — 


J)  So  Jojakim-Alkimos,  Salome  Alexandra,  Alexander  Jannai  usw. 

2)  Die  Belege  hierfür  bei  Zunz  a.  a.  O.  S.  21  und  22. 

3)  In  Frankfurt  hatte  erst  das  fürstprimatische  Edikt  vom  30. 
September  1S09  bestimmt,  daß  sämtliche  Schutzjuden  bestimmte  deut- 
sche Namen  führen  sollten.  Die  Namen  Abraham,  Moses,  Eiias  usw. 
sollten  künftig  nur  als  Vornamen  gebraucht,  die  Söhne  denselben  Fa- 
miliennamen wie  der  Vater  und  der  neu  angenommene  Familienname 
bei  Unterzeichnung  aller  geschäftlichen  Akten  allein  gültig  sein.  (S. 
Stricker  in  seinem  Auisatz  über  Judennamen  in  Mitteilungen  des  Ver- 
eins für  Gesch.  usw.  IV,  455). 

<)  a.  a.  O.  S.  25. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400-        449 

zu  versehen,  mit  dem  er  zu  den  gottesdienstlichen  Funktionen 
in  der  Synagoge  aufgerufen  wurde  und  der  sich  auch  auf 
den  Grabsteinen  findet. 

In  manchen  Fällen  läßt  sich  eine  Beziehung  zwischen 
dem  bürgerlichen  und  dem  kirchlichen  Namen  nachweisen, 
sei  es,  daß  diese  die  hebräische  Übersetzung  jener  sind, 
wie  Hirsch  =  Zewi,  Benedict  =  Baruch,  Friedel  =  Salomo, 
oder  daß  sie  mit  ihnen  der  Bedeutung  nach  verwandt,  wie 
Gottschalk  =  Eljakim,  oder  dem  Klange  ähnlich  sind,  wie 
Kaiman  =  Kalonymus,  Bonam  =  Benjamin.  Bisweilen  ge- 
hören sie  symbolisch  zusammen,  so  Wolf  =  Benjamin, 
Löwe  =  Jehuda1).  Aber  in  den  überwiegenden  Fällen 
herrscht  bei  der  Auswahl  der  kirchlichen  Beinamen  »geradezu 
Willkür«.  Wie  hängt  z.  B.  Gumprecht  mit  Mordechai,  Süß- 
kind mit  Alexander  usw.  zusammen  ? 

Der  bürgerliche  Name  war  ausschließlich  für  das  ge- 
wöhnliche Leben  maßgebend,  nur  ihn  kannten  die  Christen, 
er  allein  findet  sich  in  den  Urkunden  und  in  den  Aufzeich- 
nungen der  Behörden. 


I. 
Beschäftigen  wir  uns  zunächst  mit  den  Namen,  die 
sich  auf  den  Grabsteinen  des  hiesigen  israelitischen  Fried- 
hofes bis  zum  Jahre  1400  finden2).  Es  sind  deren  75,  von 
den  darauf  befindlichen  Namen  gehen  auf  griechischen  Ur- 
sprung zurück: 

A. 
Alexander 

Fifis  (aus  Phoebus)  (Wenn  es  nicht  vielmehr  aus  dem  latei- 
nischen Vivus3)  stammt). 

>)  a.  a.  O.  S.  26. 

■)  Herausgegeben  von  Horovitz,  Die  Inschriften  des  alten  Fried- 
hofes der  israelitischen  Gemeinde  zu  Frankfurt  a.  M. 
*)  Vgl.  die  Bemerkungen  im  metf  'D  s.  v.  V2V. 


Morst  s Schrift,  55.  Jnhrgang. 


29 


450        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.. 

Gemma  oder  Gimma 

Helene 

Kalonymus. 

B. 

Auf  lateinisch-romanischen: 

|  Bela 

|  Belt 

|  Bona 

|  Buna 

Gente  (aus  Gentil) 

Oliva 

Senior 

Sprinz  (abgekürzt  für  Spiranza,  Esperanza)1). 

C. 
Auf  deutschen: 
Adelheid 
Blume 
Brune 
Brunchen 
Edelin 
Freude 
Guda,  Gutta 
Gutheil 
Jutta 
Kela 

Liebermann 
Meittin*) 
Minna 
Roslin 

Schune  (Schoene) 
Seligman 
Susze  (oder  Suse  ?)3). 

')  Oder  deutscher  Name  =  Sperber  ?  (s.  weiter  unten). 
■)  So  ist  für  Meissin  zu  lesen,  s.  Horovitz  I.  c.  S.  754,  Ergän- 
zungen Nr.  30  und  Zunz  a.  a.  O.  S.  40. 

s)  Suse  wäre  Abkürzung  von  Susanna,  also  hebräischer  Herkunft. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.        451 

D. 
Hebräischer  Herkunft: 
Aaron 
Abraham 
Ahahu  ? 

Ascher  [Lemlin,  Senior]1) 
Asriel 
Baruch 
David 

Elchin  (aus  späterer  Zeit) 
Eleasar  [Lasar] 
Elieser  [Liepman] 
Eljakim  [Gottschalk] 
Ephraim  [Fischel] 
Hanna 
Jakob 

Jekutiel  [Kaufmanj 
Joel 
Joseph 
lsaak 
lsachar 

Juda  [Lewe,  Lob] 
Levi  [Lieberman] 
Menachem 

Meschullam  [Phoebus] 
Mirjam 

IYlordechai  [Gumpel] 
Mose 
Natan 
Nehemia 
Salomo 
Samuel 


')  In  eckigen  Klammern  setze  ich  die  Namen,  die  vermutlich 
im  gewöhnlichen  Leben  gebraucht  wurden,  so  heißt  es  auch  auf  einem 
Grabstein  Levi,  genannt  Lieberman. 

29* 


452        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Sara 

Simcha  [Bonem,  Simon] 

Simeon       ) 

Tanchum    )    aus  sPäterer  Zeit 

Thirza 

Uri  [PhoebusJ 

Zerlin  (Verkleinerung  für  Sara) 

Unter  den  28  nichthebräischen  Namen  auf  den  Grab- 
steinen finden  sich  nicht  weniger  als  22  Frauennamen, 
unter  den  17  deutschen  Namen  15  Frauennamen.  Am  be- 
liebtesten war  anscheinend  der  Name  Bella.  Das  Beiwort 
heilig  bei  einigen  Namen  deutet  darauf  hin,  daß  sein  Träger 
den  Märtyrertod  erlitten  hatte. 

IL 

Namen  in  Urkunden,  Memor-,  Gerichts-,  Bedebüchern 
usw.  von  1241  —  1400. 

Bevor  wir  uns  mit  diesen  Namen  beschäftigen,  sei 
eine  kleine,  nicht  uninteressante  Abschweifung  gestattet. 

Der  Beiname  Jude  begegnet  uns  nicht  selten  während 
dieses  Zeitraumes  in  den  zeitgenössischen  Quellen,  und  es 
ist  nicht  immer  auf  den  ersten  Blick  ersichtlich,  ob  damit 
wirklich  ein  Jude  bezeichnet  wird  oder  vielmehr  ein  Chris". 
Jude  ist  in  diesem  Falle  entweder  der  Familienname  oder 
nur  der  Beiname,  der  später  zum  Familiennamen  wurde. 

In  allen  Ständen,  sogar  im  geistlichen,  lernen  wir 
Christen  mit  dem  Familiennamen  »Jude«  kennen.  Wie  sie 
zu  dem  Namen  gekommen  sind,  wird  sich  wohl  nur  in  den 
seltensten  Fällen  nachweisen  lassen. 

E  de  1  le  u  te  : 

Herman  Jude,  Johannitermeister  in  Frankfurt1) 

l)  S.  Böhmer-Lau  1314,  Dezember  12:  Frater  Hermannus  dictum 
Jude  commendator  superior  domus  in  Frankenvord,  ordinis  predicti 
(sc.  saneti  Johannis),  Band  II,  S.  3,  Nr.  4.  Reimer,  Hess.  Urk.  II,  S, 
17,  Nr.  21  vom  18.  November  1302. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  14GÜ.        453 

Ritter  Jude1) 

Herr  Johann  Jude1) 

Wilhelm  Jude,  Edelknecht*!. 

B  ü  rgerliche : 

EHechin  Jude  in  dem  neuen  Kloster4) 

Fykelin,  genannt  Jude,  Schuhmacher6 

Folz  Jude6) 

Fritz  Jude7) 

Grede  Jüdin  (judden)8) 

Hans  (Johannes)  Jude,  ein  Schütze8; 

Hans  Jude1*) 

Henkin  Jude11) 

Henselin  Jude12) 

Herman  Jude,  von  Echzil13) 

Johann  Jude,  von  Treysa14) 

Juddechin  von  Butzbach15) 

Klasechin  Jude,  Koch  der  Barfüßer16) 

Klawes  Jude,  Grabenmacher  (Grebner)17) 


»)  Reimer  a.  a.  O.  I,  S.  189  vom  4.  Mai  1235. 

*)  Qerichtsbuch  XXXV1I1,  fol.  36  vom  Jahre  1399. 

3)  a.  a.  O.  XXXIX,  fol.  21  vom  Jahre  1400. 

*)  a.  a.  O.  XI,  fol.  54  vom  Jahre  1371. 

*)  Böhmer-Lau  II,  565  (Insatzbuch  §  142)  vom  Jahre  1339. 

«)  Gerichtsbuch  XXXVII,  fol.  9  vom  Jahre  1398. 

7)  a.  a.  O.  VII,  fol.  69  vom  Jahre  1359. 

*)  a.  a.  O.  fol.  124  vom  selben  Jahre. 

»)  Rechenb.  1364,  fol.  34,  42,  47. 

'•)  Gerichtsb.  VII,  fol.  55. 

•»)  a.  a.  O.  IV,  18  vom  Jahre  1346. 

'»)  a.  a.  O.  XXIII,  76  vom  Jahre  1383. 

»)  IV,  27. 

•«)  VII,  20. 

>»)  XXIII,  76. 

'«)  XII,  22  vom  Jahre  1371, 

f7)  Gerichtsb.  XXXVI,  fol.  8  v.  J.  1397. 


454        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Konrad  Jude,    von  Mainz1)    (identisch  mit  Konzechin  Jude 

von   Mainz)2) 
Judde  mollner  (Müller)3) 
Nikolaus  Jude*) 
Peter  Jude5) 

Peter  Jude,  Schmied  von  Rotenburg*5) 
Rodechin  Jude7). 

Diese  Anzahl  ließe  sich  leicht  noch  vermehren. 


Auch  Zusammensetzungen  mit  Jude  sind  nicht  selten. 

Die  in  Frankfurt  gebräuchlichsten  sind: 

Judinamme  so  Hartmud  consecutus  est  super  Judinamme8) 

oder  Henricus  Judenamme  hat  bekant9) 

Judingut,  so  Gunthir  Judingut10).  Diese  Zusammensetzung 
war  sehr  beliebt,  sie  findet  sich  öfters  in  den  Gerichts- 
büchern. 

Judenhut,  so  Hans  Judenhut11) 

Katherine  Judenhutin12) 

Judenkoch,  so  Gobil  Judenkoch13) 

Judemennen,  so  Katherine  Judemennen14). 


")  XX,  19  v.  J.  1380. 

2)  XXIX,  63  v.  J.  1390. 

s)  XX,  99. 

<)  VII,  fol.  61. 

*)  Bedebuch  1364. 

«)  Gerichtsb.  XX,  99. 

">)  XIV  v.  J.  1394. 

*)  IV,  156. 

*)  VII,  81. 

'<>)  Rechenbuch  1366,  fol.  49. 

«i)  Gerichtsb.  XXXII,  21  v.  J.  1392. 

lS)  Gerichtsb.  III,  97. 


)     'JCIILLIISU.     111,     VI. 

13)  Dieser  Name  findet  sich  häufig  in  den  Gerichtsbüchern. 
'*)  Dieser  Name  findet  sich  häufig  in  den  Gerichtsbüchern. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Jaden  bis  zum  Jahre  1400.        455 

Judenspijs,  so  Heile,  Jekel,  Katherina  Judenspijs1) 
Judenschisze,  so  Henne  Judensch.2). 


Versuchen  wir  nun,  unser  zahlreiches  Namenmaterial 
nach  seiner  Herkunft  zu  ordnen. 

A. 
Deutschen  Ursprungs  sind: 
(Die  deutschen  Namen  zum  Teil  verstümmelt). 

Achselrad,  12418) 

Adelheid,  1241  und  1382  Gerichtsb.,  verkürzt  in  Alheid  1371 
Gerichtsb.,  1393  Rechenb.,  Elheid  1375  Gerichtsb. 

Ailke  1389  Ger.,  wohl  identisch  mit  Aleka,  Ger.  1333  und 
mit  Alike.  Urk.  1303;  Frauenname,  entweder  verstüm- 
melt aus  Adelheid  (s.  Aronius  Reg.  S.  334  und  335) 
oder  vielleicht  mit  Elisabet  zusammenhängend. 

Anselm,  zuerst  1262*);  1288  ist  ein  Anselm  Judenmeister 
(magister  iudeorum) 

Ber  1330  Ger.;  wohl  identisch  mit  Bern,  ein  bei  den  Frank- 
furter Juden  sehr  beliebter  Name 

Berner  (aus  Bern)  1349  Ger. 

Berthold  1342  Ger. 

Bischof  1347  Ger. 

Blume  1395  Grabstein 

Brune  1241  und  1368  Ger. 

Brunnechin,  Brünlin,  Frauenname,  1342  und  1398  Ger. 

Buerlin  1346,  Burlin  1335  Ger.6) 

])  Dieser  Name  findet  sich  häufig  in  den  Gerichtsbüchern. 

s)  Dieser  Name  findet  sich  häufig  in  den  Qerichtsbüchern. 

*)  Näheres  über  diesen  Namen  bei  Salfeld,  S.  386.  Die  Jahres- 
zahl bezieht  sich  auf  das  erste  Auftreten  des  Namens. 

*)  Im  Judenschreinsbuch  der  Laurenzpfarre  zu  Köln  von  Hoe- 
niger  und  Stern,  S.  15,  Nr.  78  und  79,  Aronius,  Reg.  zur  Gesch.  der 
Juden,  S.  300,  Nr.  720. 

6)  In  der  Schweiz,  Bürlin,  s.  Augusta  Steinberg,  Studien  zur 
Gesch.  der  Juden  in  der  Schweiz  während  des  Mittelalters,  S.  5. 


456        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Bure  1340  (dafür  auch  Pure  1341  Ger.) 

Burklin  1333  Ger. 

Canolt  (Abraham  Canolt  von  Mainz  1378  Ger.) 

Dabeieben    (Dobeleben,  Tobeleben)  1343  Ger.     Der    zweite 

Teil  des  Wortes  deutscher  Herkunft. 
Dube  (Taube)  1340  Ger. 
Eberlin  1392  Ger.1)  Diminutiv  zu  Eber2) 
Edelheit  1378  Gerichtsb.  =  Adelheid 
Eichhorn  1394  Gerichtsb.,  Rechenb. 
Ele,  Elechin  1372  Ger.,  letzteres  Kosename  für  Ella* 
Elheide,  s.  Adelheid  1388  Insatzbuch 

Ensgen  1372  Gerichtsb.  (eigentlich  aus  dem  hebr.  Jochanan) 
Ensechin  1372  Gerichtsbuch 
Enselin  1368  Rechenb.,  in  der  Schweiz  Ensi4) 
Falk  1329  Bürgerb. 
Fedechin  (?)  1376  Ger. 
Fischlin  1339  Bedeb.,  auch  Fislin 
Foss,  Voss  (niederdeutsch  für  Fuchs)  1374  Ger. 
Friedrich  1241,  1349  Rech. 
Freude  1379  Rech.,  auch  Freyde  Ger.  1364.  In  der  Schweiz 

Fröde,  Fröide6),  Koseform  Fraudechin  1342  Ger. 
Frommechin  1344  Ger. 
Fromut  1339  =  Frumit  1400 
Fronkind  1385  Rechenb.    (Nicht    zu    verwechseln  mit  Fro- 

kind)6) 
Frummler  1384  Ger. 
Fuschs  =  Fuchs?7) 

')  In  der  Schweiz,  Eberli  1.  c.  S.  6.  Über  den  Stamm,  s.  Sa'feld, 
Mariyrologium,  S.  392. 

*)  Doch  brachten  ihn  die  Juden  auch  mit  Abraham  zusammen, 
a.  a.  O. 

»)  a.  a.  O.  S.  392,  Zunz  48. 

*)  Steinberg,  S.  5. 

6)  Steinberg  a.  a.  O.  S.  5. 

•)  Salfeld,  S.  394. 

?)  Zunz,  S.  37. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Jnden  bis  zum  Jahre  1400.        457 

Gadehelp  (Gotthilf)  1333  Ger. 

Gans,    auch  als  Beiname,    wie  Seligman  Gans,    1392  Ger. 

Diminutiv  Gänschen  1391  Bedeb. 
Gela,  Gele1)  (die  Fröhliche)  1344  Ger.,    Diminutiv  Gelechin 

1344  Ger. 
Gerhuse  (Frauenname)  1347 
Gnanna2) 

Golda  1241  und  1316  Bürg.,    Guldin  1374  Ger.,    Goldine8). 
Gadelieb,  Gotlieb  1333  Ger. 
Gotschalk,  Gadeschalch  (älteste  Erwähnung  eines  Frankfurter 

Juden)  c.  1175-1191 
Gude!,  Gudela,  Gudla,  Gudda,  Guddechin,  Gudin,  Gut,  Gute, 

Gutlin.  Zahlreich  in  Ger.,  Bürgerb.  und  Urkunden,  zuerst 

1241. 
Gudelicht?  Jüdin  1348  Ger. 
Gudelindis,  Jüdin  1318  Ger. 
Gumpracht,  Gumprecht,  Gumpert,  erscheint  zuerst  1330  Ger.. 

(»im  Kampfe  strahlend«) 
Gutheil  1340,  Kölner  Schreinsb.  S.  163  und  165 
Gutheid    (wenn  nicht  verschrieben  für  Gutheil)    1346   Ger. 
Guthil  1241  (Frauenname)4) 
Gutkind  1349  Ger. 
Halda  für  Hilda  139J  Ger. 
Hase  1393  Rechenb. 
Haseman  1387  Rechenb.  1388  Ger.5) 
Heydorn  (für  Hagedorn?)  Hedorn  1328  Bürgerb. 
Heilman,  in  Frankfurt  zuerst  1343,  von  da  ab  außerordent- 
lich häufig  in  den  Ger.,  Rechenb.  usw. 
Heldelin,  Jüdin  1339  Ger. 

')  a.  a.  O.  S.  48. 
s)  Salfeld  1.  c. 
■)  a.  a.  O.  395. 

4)  Gutheldis  in  Köln  1270,  s.  Breßlau,  Hebr.  Bibliographie  1869 
(Namen  der  Juden  im  Mittelalter)  S.  54—57. 

«)  Zuerst  in  Würzburg  1298,  s.  Salfeld,  S.  397. 


-458        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Hemmelin  1399  Ger.1) 

Hesse  1399  Ger. 

Herz  1369  Ger. 

Hirsch  1391  Ger. 

Hitzlin   1340  Ger.2)  =  Hitzschla  1338    Ger.  (=  Huschlin?) 

l(Y)selin.l365  Bürg. 

Isfugel  1346  Ger. 

Jodelin  =  Judelin  1342  Ger.,  verkürzt  zu  Jeidlin  1348  Ger.8) 

Judeman  1328  Bürgerb. 

Jütlin  (Jüdin}  1394    Rechenb.,    Koseform    für    Jutta,    Jutte 

1241  und  1339  Ger.,  ein  sehr  beliebter  Frauenname*) 
Kaufman  1375  Bürgerb. 
Kele  =  Gele  1344  Ger. 
Die  Kesemechirn   1394  Rechenb. 
Concelin  1390  Ger. 
Kosterman,  deutschen  Ursprungs? 
Kruse  1333  Ger. 

Kunse  1340  Ger.  =  Kunz  (in  der  Schweiz  Küntze)5) 
Lebechin,  Kosename  für  Lewe?  1398  Ger. 
Lebekuchin  1341  Ger. 
Lebelange  1374  Ger.  (auch  Lebelang0) 

Lemmelin   1 

i  o^rhin  1341   Ger.7) 

Lemcnin  ; 

Lybe  1340  Ger.,  Liebing  1335  Ger. 

Lieberman  (vereinzelt  Lifirman)  bei  den  Juden  sehr  beliebter 

Name,  zuerst  1347  Ger.,  in  Köln  schon  1135—52*1 

')  Er  stammte  aus  Weißenburg  (Mittelfranken). 
2)  Die  Heitere,  s.  Zunz,  S.  49,  Salfeld,  S.  398. 
:i)  Nach  Salfeld,  S.  400,  aber  Kosename  für  Juda. 
*)  Salfeld,  S.  400  denkt  weniger  an  das  ahd.  Guta   als  an  eine 
Zusammenziehung  aus  Judith. 
6)  Steinberg,  S.  6. 

6)  Salfeld,  S.  401. 

7)  Beiname  zu  Ascher,  S.  402    auf   Lampe,    Koseform  zu  Lam- 
bert zurückgehend. 

8)  s.  Aronius,  S.  350. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.        459 

Liebman  (Lipman),   ebenfalls  sehr  beliebt,  zuerst  1341  Ger. 

Liebertrud  1382  Ger.,  Libirtrud 

Man,  Manna,  Manne,  Mans,  Manes,  Mens  1339  Ger.1) 

Magetin  =  Matyn  =  Meitin  =  Metlin  (Mädchen)  1382  Rech.8) 

Menchen,  Menchin,  Mennechin  1328  Bürgerb.,  1335  Ger. 
(Ableitung  von  Man) 

Menlin   1340  Ger. 

Merkel3),  Merkiln  1365  Bürg. 

Merkelin,  Jüdin  1362  Ger. 

Merlin  1400  Ger.4) 

Michel  1360  Rech,  (wenn  man  den  Namen  nicht  anf  das 
hebräische  Michael  zurückführen  will).  In  der  Schweiz 
Michelin5) 

Minna,  Mynna  1339  Ger. 

Minnegud,  Mynngut  c.  1262 — 1266.  Aronius  Regest.  S. 
300,  Nr.  720 

Minneman,  Minman   1339  Ger. 

Maseman,  Masman,  Mazeman,  Moseman,  Museman  =  Mo- 
sesmann 1335  Ger.6) 

Minnechin,  Jüdin  1340  Ger. 

Morlmynne  (der  zweite  Bestandteil  deutsch,  der  erste  zwei- 
felhaft) 

Nasin  für  Nase? 

Nennichen  (Frau;  1364  Rech.,  Kosename  für  Gnanna 

Ockia  =  Ocka  (s.  Förstermann  S.  1174  unter  Ocka,  und 
Salfeld  S.  407). 


')  Vom  althochd.  Man.  Daß  dieser  Name  ursprünglich  nicht 
aus  Menachem,  dessen  Beiname  er  geworden  ist,  abgekürzt  wurde, 
beweist  die  Schreibung  Manna. 

s)  In  Köln  auch  Megethin,  Meitel.  Aronius,  S.  351. 

s)  Über  diesen  Namen,  s.  Zunz,  S.  41  oben. 

4)  S.  Salfeld,  S.  404.  Güdemann  führt  den  Namen  auf  mittel- 
hochdeutsch, Merl-Amsel  zurück. 

'■>)  Steinberg,  S.  5. 

l)  Thomas  der  Frankf.  Oberhof  etc.  liest  dafür  beständig  Na- 
semau.  S.  auch  Zunz,  S.  40. 


460        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Oswald  1348  Ger. 

Oppenheimer  1392  Ger. 

Ricze  (Ritze)  1373  Ger.,  Koseform  Rizelin  1385  Ger.,  auf  and. 
Richza  zurückgehend.  Andere  Formen  dafür  sind1)  Riczscha 
1390Ger.,  Ritschelen  1394Ger.,  Ritschlen  1390Ger.,Rietslin 
1397  Ger.,  Roszschlin  1291  Ger.,  Rutschelin  1390  Ger. 
Rutschlen   1398  Ger.,  Ry(i)tschla  1391  Ger. 

Richza  1241. 

Rycza  (Rytza)  1341  Ger. 

Ryka  1379  Ger.,  Rykela,  Koseform  davon,  1400  Ger.,  eine 
andere  Koseform  ist  Richlin,  nicht  zu  verwechseln  mit 
Rechlin  (1383  Ger.),  das  mit  Rachel  zusammenhängt; 
vielleicht  gehört  zu  Ryke  auch  Rygeline  1376  Rechenb. 

Rodebucz  1342  Ger.,  wahrscheinlich  deutscher  Herkunft. 

Rußerman  1345  Ger.,  gleichfalls. 

Salman,  auch  Saleman  ist  nicht  immer  auf  das  hebr.  Salomo 
zurückzuzuführen,  öfters  auch  auf  das  deutsche  Salman, 
Gewährsmann,  Vormund  (s.  Salfeld  S.  412). 

Sanderman  1384  Ger.,  der  zweite  Bestandteil  des  Wortes 
ist  deutsch 

Schoneman  (Scheneman)  1241. 

Schona  1339  Ger.,  Schone  (Frauenname)  1335  Insatzbuch8) 

Schonewip  1341  Ger. 

Sela,  deutschen  Ursprungs?  =  Selin,  Jüdin3)  1344  Ger. 

Seid,  Seide  1335  Ger.,  1346  Urk. 

Selgman,  Seiigman  1341  Ger. 

Selekeit,  Selikeit,  Selkeyd  (Frauenname)  1371   Ger. 

Selis,  verschr.  für  Selig  1379  Ger. 

Senger 

Sentelin,  für  Seltelin?  Koseform  für  Selda  1340  Ger. 

Stral  c.  1349 

')  S.  auch  Richedis,  Richeza  usw.  bei  Aronius,  S.  536. 
s)  a.  a.  O.  S.  35S. 

a)  Dagegen  ist  Se!e  bei  Aronius,  S.  314,  Nr.  749  ein  Rostocker 
Jude. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.        46t 

Stulcze  (Stultze)  1336  Urk. 

Susze,  Jüdin  1382  Gerichtsb.    Dagegen  geht  Suse  auf  das 

hebr.  Susanna  zurück. 
Suszeln,  Mannesname  1397  Gerichtsb. 
Suzelin  1347,  Kosename  zu  Süß 
Süßkind,  zuerst  1328  Bürgerb. 
Suzman  1335  Gerichtsb. 
Tilo  1347  Gerichtsb. 
Tron  1333  Gerichtsb. 

Trcstlin,  Drostelin  1335  Gerichtsb.,  Koseform  zu  Trost 
Wolff,  findet  sich  vor  1389  im  Gerichtsb.  und  Insatzb.  nicht 
Wolffechin  [   1389  Gerichtsb. 
Wolffelin     |    1390  Gerichtsb. 

B. 
Die  Namen   lateinischen  oder  romanischen  Ursprungs 
treten  viel  spärlicher  auf. 

Es  sind  folgende: 
Bela1),  Belta.  Belta  ist  wohl  ein  Schreibfehler  1241,  1341  Ger 
Bendit  (aus  benedictus)  1341  Ger. 
Bonam,  Bonnunn  (bon  homme)  1343  Ger. 
Bone  1383  Ger,,  auch  Bonet 
Boneiang,  Bonifant,  Bufant  1379  Ger.  (bon  enfant) 
Bunno  1339  Ger.2) 
Dolze  1339,  auch  Dulze  1375  Ger. 
Fantechin,  Koseform  von  enfant 

Fide  (aus  dem  Lateinischen?)  1342  Ger.,  Koseform  Fedelin 
Vifand  (In  der   Schweiz  Vifan,   Steinberg  S.  9),  Vifes,  Vifis, 

Vivis. 
Vifus,   Vifs,    Vyuez,    zahlreich    in    den    Ger.,     zuerst    1328 

im  Bürg.  Die  Koseformen  sind  Fifelin,  Pfyfelin,  auch  Vifel, 

davon  Fifelman3)  1340  Ger.    Alle  diese   Formen  hängen 

mit  Vivus  (nicht  Phoebus)  zusammen. 

>)  Zunz,  S.  44,  Salfeld,  S.  3S8. 

»)  Salfeld,  S.  389. 

3)  In  Mitteilungen    zur   jüdischen  Volkskunde   von   Orunwald, 


462        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Gentil  (gentil)  1241,  verstümmelt  in  Gente,  Genge,  vielleicht 
hängt  auch  Jenlin  damit  zusammen,  1347  Ger. 

Krissan  1346,  aus  Crescentius?  In  der  Schweiz  Cresce  nee*) 

Leo  1347  Ger. 

Martin  1340  Ger. 

Memmelin  1388  Ger.  (mamma)4),  dahin  gehört  auch  Mai- 
mone  1241 

Mylin  =  Mullin  (weibl.  Name),  1393  Ger.  Romanisch?6) 

Netta  1847  Ger.  Romanisch? 

Petrus  1341  Ger. 

Sennor  1346  Ger.,   verkürzt  Sne,  Sneon 

Snyer  aus  senior. 

C. 
Griechischen    Ursprungs: 

Heiina  1368  Ger. 

C(K)alman,  aus  Kalonymus  zusammengezogen. 

Gimma,  Grabstein  1347 

Granam,   aus  Geronymus,    Hieronymus    zusammengezogen 

Rite,  Frauenname,  vielleicht  verkürzt  aus  margarita. 

Offmia  1241  aus  Euphemia. 

Sendir,  Sendelin,  Senderlin,  Koseform  für  Alexander. 

D. 
Die    hebräischen    Namen    sind  mit  wenigen  Aus- 
nahmen alttestamentarischer  Herkunft: 

Aaron,  Aron 

Abraham,  Abram 

Ascher  (lmal)  1241 

Bariys,  Baroch,  Baruch,  Borech,  Borich 

XIV.  Jahrgang,  erstes  Heft  (1911)  wird  Fifelmen  wunderlicher  Weise 
gedeutet  als  einer,  der  sich  auf  die  Feifei  (mhd.  vivel,  Pferdekrank- 
heit) versteht. 

»)  Steinberg,  S.  9. 

«)  Salfeld,  S.  404. 

*)  Salfeld,  S.  406. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.        463 

Baza 

Bassene 

Baszene      f    gehen   zurück    auf    Bathseba    1241,    vielleicht 

Besslin       i    aucn  Besaw,  Besserold,  Bezla  (s.  auch  Salfeld 

Beszeler      ]    S.  418) 

Beszera 

Chaim  (Frauenname),  1346  Urk.  (nur  lmal) 

Damar  (2mal) 

Daneier  (lmal)  für  Daniel 

Dauid,  Dauoed,  Dazud 

Dedya  (lmal)  verstümmelt  für  Jedidjah  (Liebling,  Gottel) 

Dobeleben,  Dabeieben,  Tobeleben,  im  ersten  Teil  des  Wortes 
steckt  entweder  der  Name  Tobias  oder  Tob  (Gut),  daher 
in  der  Schweiz  Gutleben  (Steinberg  S.  7) 

(Schluß  folgt.) 


-k 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen 

Zeitalter. 

Neue  Folge. 

Von  Simon  Eppenstein. 

V.  Die  Erzählung  von  den  vier  gefangenen  Talnradisten. 

(Fortsetzung.) 

In  demselben  flehentlichen  Ton  gehalten  ist  zum  Teil  ein 
von  Nehemia,  dem  Sohne  Kohen  Zedeks  und  Nachfolger  Ahron 
Ibn  Sargädu's,  gleichfalls  nach  Spanien  gerichtetes,  vom 
Jahre  962  datierendes  Schreiben1).  Dasselbe  ergeht  sich  in 
flehentlichen  Bitten  um  eine  genügende  Unterstützung,  aber 
auch  in  ziemlich  geharnischten  Vorwürfen  wegen  der  so 
lange  geübten  Vernachlässigung  der  Hochschule,  was  die 
Gemeinden  nun  durch  ausgiebigere  Spenden  wett  machen 
müßten2),  falls  sie  sich  nicht  dem  Zorn  seitens  deren  Leiter 
aussetzen  wollten3).  Was  nun  in  diesem  Briefe  besonders  auf- 
fällt, ist  das  geringe  Selbstbewußtsein,  das  einem  etwaigen 
Zweifel  der  spanischen  Gemeinden  an  der  durch  persönliche 
und  ererbte  Vorzüge  berechtigten  Gaonatswürde  des  Schrei- 
bers Raum  giebt4),  ihn  aber  durch  die  Tatsache  entkräftet, 
daß    nach    dem   Tode  Ahron  lbn   Sargädu's  alle  Gelehrten 

')  Veröffentlicht  von  Cowley  in  jQR.  XIX,  S.  105-106;  vgl. 
dazu  Poznanski  a.  a.  O.,   S.  399—401. 

»)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  106,  13-14:   DWn    nnil    D3IÖ-U    1^B3n   DJ 

DT\nbv  xb  "»a  unjn  cnir^m  o:  nawnn  ommn  xb  wk3  u^mni  najw 

s)  Vgl.  a.  a.  O.  Z.  9—10. 

«)  Vgl.  S.  105,  Z.  22  fgg.:  i:nix  dsipw  nby:  im  wnoxD  m  sov 
i:nnijf  nrroxa  ,-tdd  aob  w  «e»  ix  lrnna«  bv  ca^tro  ddj-x  ircxr 
na  irrxTi  i:rtuan  oj>  »JiriBVD  S-riaai  uroptai. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.     465 

mit  ihm  in  Frieden  leben1).  In  seltsamem  Kontrast  hierzu 
stehen  die  Äußerungen  Nehemia's,  daß  er  mit  der  Auffor- 
derung zu  reichlichen  Spenden  den  Gemeinden  eigentlich  nur 
Anlaß  zu  einem  verdienstvollen  Werke  geben  wolle"). 

Selbst  das  Ansehen  der  pumbaditanischen  Hochschule 
zur  Zeit  Scheriras  konnte  deren  materiellen  Niedergang  nicht 
aufhalten.  Von  besonderem  Interesse  ist  hierbei  ein  von. 
diesem  Gaon  nach  einer  jedenfalls  bedeutenden  Stadt  des 
»Westens«  gerichtetes  Schreiben3;.  Darin  wird  darauf 
hingewiesen,  daß  nur  noch  mit  vieler  Mühe  die  Versamm- 
jungen in  den  Kallamonaten  aufrecht  erhalten  werden 
können*)  und,  daß  sein  damals  schon  im  Mannesalter  ste- 
hender Sohn  Hai  sich  nicht  die  Mühe  verdrießen  lasse,  sich 
dem  Unterricht  der  Minderbegabten  zu  widmen5).  Die  Not  der 
Gelehrten  und  Schüler  zwinge  den  Gaon  sogar,  der  eigenen 
Familie  Entbehrungen  aufzuerlegen6),  und  nur  diese  bedrängte 
Lage,  bei  deren  Andauern  die  Gelehrten  ihr  Brot  sich  durch 
andere  Beschäftigung  zu  suchen  genötigt  wären,  habe  ihm 
manches  bittere  Wort  gegen  die  Angesehenen  der  Judenheit 
in  den  anderen  Ländern,  >die  Berge  Israels«,  eingegeben, 
was  Scherira  mit  dem  Hinweis  auf  Nehemia  13,  10  ff. 
rechtfertigt7).  Sowie  in  talmudischer  Zeit  die  einzelnen  Ge- 
lehrten, trotzdem  sie  selbst  eine  eigene  Lehrstätte  besaßen, 
doch  den  Mittelpunkt  der  Thoraforschung  aufsuchten,  so 
solle  auch  jetzt  in  der  Diaspora  von  überallher  durch  An- 

l)  Vgl.  s.  106,  z.  6  fgg.:  iBoan  ""inx  üb  nviip  BNTnn  MttjHim 
">ai  vpsah  DmBn  ufo*  tPDann  Sa  mnna. 

*)  Vgl.  105  Ende:  mb  mann  by  naia  dj?  Dama^  wnna  ^Mi 

DSD*  DTPIttÖ  wu 

3)  Veröffentlicht  in  Schechter's  Saadyana  Nr.  XLV,  S.  118—121. 
*)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  118,  Z.  2  fgg. 

6)  Vgl.  a.  a.  o.  z.  9—11  uroa  dipSi  Qiübb  npw  u-nna  "«n  nai 
OTa  -pvi  aam  mnpn  yn  imo^  bimvb  jh1  »b  "ibw- 

•)  Vgl.  a.  a.  O.  Z.  12:  pyjio  i:n:x  u^ij>  "»BDI  lrpSnai  wbibdi 
p1?  pamn« 

7)  Vgl.  a.  a.  O.  Z.  17  -  S.  119,   Z.  5. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  «0 


4^5    Beiträge  zur  Oeschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

fragen  wegen  Entscheidungen  die  Jeschiba  als  Zentralpunkt 
angesehen  werden.  Das  Unterlassen  dieses  früher  geübten 
Brauches  habe  das  Ansehen  der  Hochschulen  erschüttert,  und 
der  Gaon  wolle  zu  Gott  beten,  daß  Er  sie  nicht  dafür  strafe1). 
»Ihr  werdet  vielleicht  sagen,  es  genüge,  daß  ihr  in  einer  be- 
haglichen Lage  bleibt;  eure  Lehrversammlungen  werden  rieht 
verderben,  möge  darum  die  Hochschule  zugrunde  gehen. 
So  wisset  denn,  daß  deren  Führer  eure  Häupter  sind;  der 
Körper  aber  richtet  sich  nach  dem  Kopf,  und  wie  kann, 
wenn  dieser  verdirbt,  jener  gesund  bleiben  ?«2)  Darum  sollten 
sie  den  Mut  der  Jeschiba  und  ihrer  Mitglieder  durch  ihre 
Fürsorge  stärken,  damit  »die  vier  Ellen  der  Halacha«  nicht 
untergehen;  denn,  trotzdem  dieThora  auch  ander- 
wärts sich  ausgebreitet,  so  sei  dennoch  deren  eigentliche 
Stätte  noch  immer  hier,  wo  gleichsam  das  Sanhedrin  ver- 
treten sei3). 

An  dieses  Schreiben  schließt  sich  inhaltlich  ein  an- 
deres desselben  Gaon  an*),  das,  da  in  ihm  Schemarja  direkt 
genannt  ist,  sicher  nach  Ägypten  gerichtet  wurde.  Es 
sind  dieselben  Klagen  über  die  Vernachlässigung  der  Je- 
schiba in  materieller  und  ideeller  Hinsicht.  Die  Unterord- 
nung unter  sie  müßte  als  eine  heilige  Pflicht  betrachtet 
werden,  wie  einst  gegenüber  dem  Heiligtum0)-  Wie  könnten 

*)  Vgl.  S.  119,  BI.  2r.  —  S.  120,  Z.  115. 

s)  Vgl.  a.  a.  O.  Bl.  2  v.  Z.  3—7:    '3  3233*73    [lTÖKn    T«BK    3XV 

vhn  ,nnnjw  nawn  ns-amö  [inner"  xSi  osnaiana  by  cnx  p-xwn 
rx-n  -irmi  rpjn  übw\  rm  rtmr  "p«i  crürtr  cyvm  22  non  32-r«"i 

•)  Vgl.  S.  120,  Z.  12.  —  S.  121. 

«j  Saadyana  Nr.  XLVI,  S.  122—124.  Der  Rest  ist  einer  halacbi- 
seben  Erörterung  gewidmet.  Wir  müssen  hierbei,  wegen  mancher 
stilistischer  Übereinstimmungen  dieses  Schreibens  mit  dem  vorher- 
gehenden, Poznaiiski  in  seinem  »Schechter's  Saadyana«  S.  5  bei- 
pflichten, der  es  Scherira  zueignet,  gegen  Schechter  a.  a.  O.  S.  121, 
der  Samuel  b.  Chofni  als  Autor  annimmt. 

6)  Vgl.  S.  122,  Z.  6  fgg.  Leider  ist  der  Anfang  stark  ver- 
stümmelt. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.  467 

demnach  die  auswärtigen  Gelehrten,  obwohl  durch  Ansehen 
hervorragend,  des  Mittelpunktes  vergessen,  zumal  sich  doch 
wohl  mancher  Zweifel  auch  bei  ihnen  ergeben  müsse1)?  Sie 
sollten  bedenken,  daß  man  nur  von  einem  ganz  bevorzugten 
Lehrer  —  p?]2M2  31  »so  —  sich  in  der  Gesetzeskenntnis 
unterrichten  lassen  dürfe,  damit  alle  Zweifel  behoben 
würden2).  Babylon  sei  jetzt  der  Ort  der  Sch'china3),  und 
dort,  in  der  durch  das  Andenken  von  Ezechiel,  Daniel  und 
Esra  geheiligten  Synagoge  werde  für  das  Wohl  der  Glaubens- 
genossen gebetet4).  Diese,  durch  den  Handel  reich  geworden, 
könnten  allerdings  nicht,  wie  die  Glaubensgensgenossen  am 
Sitz  der  Hochschulen,  sich  ausschließlich  der  Thora  widmen, 
sondern  nur  so  weit,  als  es  sich  ermöglichen  lasse,  wie  es 
auch  die  Deutung  der  Weisen  im  Sifre  zu  "prr  jibdki  Deut, 
11,  14  ausführe5).  Wenn  dieses  wenige  Studium  aber  Be- 
stand haben  sollte,  müßten  sie  durch  Anfragen  bei  der 
Hochschule  Belehrung  nachsuchen6).  So  wie,  nach  der  Deu- 
tung unserer  Weisen  zu  Deut.  33,  18,  der  handelsbeflissene 
Sebulun  für  Isachar,  den  Bewohner  des  Lehrhauses  zu 
sorgen  hatte,  so  hätten  sie  dieselbe  Pflicht  gegenüber  den 
Jeschiboth7).  Weiterer  Mahnungen  wolle  der  Gaon  sich 
enthalten,  um  ihnen  und  sich  Unannehmlichkeiten  zu  er- 
sparen;   zudem  seien  sie  ihm  so  lieb,  wie  er  sich  selbst8). 

»)  Vgl.  S.  122,  30—31:  cnr!28>  BflK  fM  pK  HD1D  QWW1  lpO«n 

pxtp  iiPBN  ik  an«  B"6vu  o-'onn  . . .  rew  ns  Drtpwi  njnn  ma  n* 

IX  "11  M  1DJ  nip^BD  D3T3. 

2)  Vgl.  S.  123,  Z.  32—34. 

»)  Vgl.  a.  a.  O.,  Z.  39—41. 

*)  Vgl.  a.  a.  O.,  Z.  44  fgg. 

ß)  Vgl.  a.  a.  O.,  Z.  48  fgg.,  beginnend  mit:  ornB>}?5  Wrw  anxi. 
Vgl.  ferner  Z.  50:  T\bW2  *h*  D^Tl  «IX  pXl. 

»)  Sicher  ist  dies  der  Sinn  der  Stelle  a.  a.  O.  Z.  50—51:  Rffll 
i:nxc  vmbi  bi*vh  . . .  teu  dsh-o  o«pn^  w». 

')  Vgl.  S.  124,  63  fgg.;  zur  Deutung  der  Bibelstelle  vgl.  Be- 
reschith  Rabba  c.  72. 

»)  Vgl.  a.  a.  O.  Z.  68—69,  und  besonders  die  Worte:  UU»  '3 
•ob  cairn  ort«. 

30» 


463  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

Darum  sollten  sie  seinen  dringenden  Bitten  Gehör  geben1), 
einander  in  der  Pflicht  der  Unterstützung  der  Hochschule 
bestärken  und,  in  Beherzigung  dieser  Mahnung,  des  Stolzes 
Israels,  der  Jeschiba,  und  »der  vier  Ellen  der  Halacha,  die 
Gott  allein  in  der  Welt  habe«2),  sich  erbarmen. 

Es  entspricht  nun  den  berechtigten,  zeitweiligen  Klagen 
über  die  Vernachlässigung  der  pumbaditanischen  Hochschule, 
wenn  andererseits  die  ihr  durch  einen  Gönner  mit  Rat  und 
Tat  erwiesene  Unterstützung  in  beredten  Worten  gepriesen 
wird.  Ein  solcher  Mäcen  war  der  wegen  seiner  Hilfsbereit- 
schaft mit  dem  Titel  eines  Alluf  ausgezeichnete  Jacob 
ben  Joseph  ^  2  1  y  aus  Egypten,  für  den  Ha;  in 
seiner  Eigenschaft  als  Ab  bet-Din  in  arabischer  Sprache  ein 
methodologisches  Werk  über  den  Talmud  verfaßt  hat3). 
Der  genannte  Wohltäter  besuchte  auch  die  Akademie,  und 
sein  Weggang  wurde  wie  der  eines  teuren  Mitgliedes  be- 
dauert, denn  »Gott  habe  ihn,  gleich  Joseph,  zur  Rettung 
gesandt«,  auch  seien  ihm  Verordnungen  zu  Gunsten  der 
Hochschule  zu  verdanken4). 

Wenn  nun,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Lage  der 
pumbaditanischen  Hochschule  eine  mißliche  war,  so  darf 
uns  die  Not  der  schon  vor  Saadjas  Zeit  innerlich  stark  er- 
schütterten Schwesteranstalt  zu  Sura,  die  ja  ehemals  sogar 
das  Primat  hatte,  gewiß  nicht  Wunder  nehmen.  Von  Seiten 
dieser  liegt  uns  nur  ein  von  Samuel  ben  Hofni  nach  Kai- 
ruän  gerichtetes  Schreiben  vor5),  das  aber  für  die  Verhält- 

l)  Vgl.  hierzu  und  zum  Folgenden  a.  a.  O.,  Z.  73  fgg. 

*)  Vgl.  hierzu  die  Parallelstelle  in  Nr.  XLV,  S.  121,  17  fgg. 
Vgl.  auch  Babli  Beracholh  8a. 

*)  Vgl.  über  ihn  Steinschneider  in  ZHB.  VI,  S.  158,  Poznanski 
in  Hakedem  II,  S  103,  Marx  in  ZHB.  XIII,  S.  72  und  in  JQR.  New 
Series  I,  S.  100—101.  Siehe  auch  noch  weiter  unten. 

*)  Vgl.  besonders  Marx  in  ZHB.   a.  a.  O. :    ,Tn    Q"0    im«    'S 

r,vhz>h  cr,b  jv.nnbi  pxa  rvnKtr  cnb  eib>?  e.t:b^  ip6b>  oTitan  rwwa 

*)  Veröffentlicht   von    Margoliouth    in   JQR.    XIV,    S.  307   fgg. 


Eeiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.    469 

nisse  der  suranischen  Hochschule  selbst  und  ihre  Bezie- 
hungen zu  Pumbadita  sehr  aufschlußreich  ist.  Es  ist  ja 
bekannt,  daß  nach  Saadja's  Tod  schon  aus  Mangel  an  ge- 
eigneten Gelehrten  die  alte  Lehrstätte  von  Sura  als  Gao- 
natssitz  nicht  mehr  in  Betracht  kam.  Noch  987,  bei  Ab- 
fassung seines  berühmten  Sendschreibens  über  die  Träger 
der  Tradition,  berichtet  Scherira:  srirna  mn  xb  »an  inai 
K*ona  Rnaa,  resp.j  *M*no  R*cna  «noa  »o*b  «firm  tri1).  Es  ist 
wohl  noch  dort  eine  Anzahl  Gelehrter  vorhanden  gewesen, 
die,  gewissermaßen  in  privater  Tätigkeit,  den  Jüngern  das 
Talmudstudium  vermittelten,  aber  die  eigentliche  Akademie 
als  sogenannte  nbb)3  KÄTflO  scheint  zeitweise  aufgehoben 
gewesen  zu  sein.  Auch  v/ohl  noch  zu  der  Zeit,  als  schon  Hai  die 
Würde  eines  Ab  beth-Din  bekleidete  und  selbständige  Ent- 
scheidungen traf,  gab  es  in  Sura  selbst  noch  keinen  Gaon, 
sondern  das  von  einigen  suranischen  Gelehrten  zur  schein- 
baren Aufrechterhaltung  der  früheren  Jeschiba  gewählte 
Oberhaupt  hielt  sich  in  Basra  auf,  wohin,  nach  Scherira's 
Bericht,  sich  schon  Jacob  ben  Joseph  bar  Satia  zurückgezogen 
hatte2).  Wir  wissen  dies  nämlich  aus  der  uns  noch  erhal- 
xenen  Überschrift  einer  Reihe  von  Responsen8),  die  uns 
meldet,  daß  ehemalige  Schüler  Hai's  von  Basra  aus,  wo 
sie  im  Bereich  des  suranischen  Resch-Metibta  sich  aufhielten, 
an  ihn  Anfragen  aus  dem  Gebiet  des  bei  ihm  durchge- 
nommenen Tractats  richteten4). 

Gegen  Ende  von  Scherira's  Gaonat  mag  eine  Be- 
wegung entstanden  sein,  Sura  wieder  selbständig  zu  ma- 
chen, und  Samuel  ben  Hofni,  ein  Enkel  von  Kohen-Zedek, 
dessen  Familie  mit  der  durch  ihre  Ahnenreihe  von  Geonim 
zu  der  Würde    mehr  berechtigten  des  Scherira    rivalisierte, 


')  Vgl.  ed.  Neubauer,  S.  40  und  ebendort  Note  9. 

2>  Vgl.  ed.  Neubauer,   S.  40. 

»}  Vgl.  Oinzberg  Geonlca  II,  S.  71  (JQR.  XVIII,  S.  442). 

*)  Vgl.  a.  a.  O.  Z.  7  fg.  tot  '£  "oVi  r.-cx'-r,  msaft  je  niA» 

■r  nyc  wm  min  ni'rz  am. 


470      Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischea  Zeitalter 

wurde  Oberhaupt  der  von  Neuem  errichteten  Schule  von 
Sura1),  die  also  aus  ihrer  eigenen  Mitte  entweder  keinen 
geeigneten  Vertreter  mehr  stellen  konnte,  oder  aber  auch 
in  der  scheinbaren  Selbständigkeit  ganz  abhängig  war  von 
der  einst  mit  ihr  nicht  vollständig  gleichberechtigten  pum- 
baditanischen  Jeschiba.  Nur  so  ist  es  auch  zu  verstehen, 
daß  dasjenige,  was  an  Spenden  einging,  von  Scherira  zum 
größeren  Teil  für  Pumbadita  beansprucht  wurde,  im  All- 
gemeinen aber  die  auswärtigen  Gemeinden,  die  wohl  über 
die  Verhältnisse  in  Sura  im  Unklaren  waren,  Samuel  nicht 
die  richtige  Anerkennung  zollten2)  und  darum  mit  ihren 
Geldbeiträgen  sehr  zurückhielten.  Erst  kurz  vor  dem  Tode 
Scherira's  kam  ein  Ausgleich  zustande,  dahingehend,  daß 
fortan  die  ohne  nähere  Bestimmung  eingehenden  Gelder 
je  zur  Hälfte  für  Sura  und  Pumbadita  verwendet  werden 
sollten.  Seine  Krönung  fand  dieses  Übereinkommen  da- 
durch, daß  Hai  eine  Tochter  Samuel's  zur  Gattin  —  ver- 
mutlich in  zweiter  Ehe  —  nahm8). 

In  seinem  Schreiben  bemerkt  nun  Samuel  ben  Chofni, 
daß  er  den  Bevollmächtigten  und  Inkassanten  der  Hoch- 
schule in  Kairuän,  Joseph  ben  Berechja,  in  diesem  Sinne 
geschrieben  habe,    der  auf    seine  Bitten  hin    dazu   ernannt 

i)  Vg!.  Harkavy  in  D^P1  D31  a*B>in  No.  7  (Beigabe  zu  Rabbinowitz 
SniP1  'D1  '13*1  IV),  S.  9.  Indessen  ist  aus  den  Worten  des  in  JQR.  XIV 
S.  308  veröffentlichten  Fragments  zu  entnehmen,  daß  noch  vor  Scherira's 
Tod  die  Wiederaufrichtung  Sura's  mit  Samuel  b.  Hofni   erfolgte. 

J)  Dies  geht  aus  den  Worten  ain  Eingang  des  genannten  Fragmenis 
hervor:  <:pn  DUtfBi  :tB3ri3  uce  b"h:  px  rrrpn  r:rB>\-  ^na  \sr-s»  'd 
't^lth  B*3TJ*TO  *:cy  rPBSni  na^Vl,  ein  Selbstlob,  das  nur  in  diesem 
Sinne  verstanden  werden  kann.  (Vgl.  auch  in  den  Nachträgen). 

8)  Vgl.  a.  a.  O. :  KT1B*    3T1B  p31    1W3    11BJ  Ülbv  !WJW  "2  S]X1 

n,yi  W3  |nnm  sin  ijjö  lnasasr  ";r  pxa  bjji  b*w3  wb»bk  bib  m  pw 
nn«  hz  zv2  nutaii  mmn  *ja  *a  bubi  ubvs  bwji  wa  lana*-'  uns 
na*v,n  "örn  roBTM  *n  crc  w  ib*ki  idj?  tuo  pm  iB3Q}°j  'S  wr  ubb 
i;;nn?  Wim  üS  B«5ttl  SPpl'jn  Wl\  Auch  aus  den  letzten  Worten  ist  zu 
entnehmen,  daß  die  auswärtigen  Gemeinden  noch  immer  an  eine 
Einheit  der  beiden  Jeschiboth  dachten. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen    Zeitalter.    471 

worden  sei.  Er  ersucht  den  Adressaten  des  Briefes,  jenen 
zu  bestimmen,  daß  er  keineswegs  von  anderen  Einflüssen 
sich  leiten  lassen  solle,  da  er  durchaus  die  Wahrheit  ge- 
schrieben habe.  Weil  nun  manche  Willkür  seitens  Unbe- 
fugter zu  befürchten  sei,  sollten  die  Gemeinden  nicht  jedem 
beliebigen  Bittsteller  Gehör  geben,  sondern  entweder  für 
den  Gaon  selbst  persönlich  bestimmte  Spenden  oder  solche 
für  die  Jeschiba  im  Allgemeinen  schicken.  In  letzterem 
Falle  wäre  es  das  Beste,  bald  am  Aufgabeort  je  eine  Hälfte 
für  das  Oberhaupt  und  die  Kollegialmitglieder  festzusetzen, 
damit  jeder  Streit  vermieden  werde.  Er  habe  ferner  gehört, 
daß  der  heimgegangene  Wohltäter1)  einem  Mitgliede  des 
Collegiums  150  Drachmen  gesandt  habe,  die  aber  wohl 
eigentlich  für  alle  Gelehrten  bestimmt  waren.  Wenn  weiter 
keine  Bestimmung  darüber  getroffen  würde,  dürfte  vielleicht 
der  Betreffende  es  sich  selbst  aneignen  wollen.  Er  müsse 
aber  darüber  vor  Gott  und  den  Gemeinden  klagen  :  sollte 
ein  einziger  durch  eine  so  große  Summe  reich  werden, 
während  hundert  andere  das  Brot  der  Armut  essen  müßten? 
Gewiß  wollten  die  Kairuäner  einer  falschen  Ausstreuung, 
durch  die  den  Würdigen  ihr  Blut  gleichsam  vergossen  und 
Geldschäden  zugefügt  wird,  nicht  Vorschub  leisten^.  Darum 
sollten  sie  alsbald  den  Alluf  Jjseph,  Sohn  des  heimge- 
gangenen  Jacob,    in  Egypten    über  die  Sachlage  aufklären. 

* 

Wir  gewinnen  aus  diesen  interessanten  Schriftstücken 
einen  Einblick  einerseits  in  den  beklagenswerten  materiellen 
Zustand  der  Hochschulen,  und  andrerseits  in  die  bereits 
damals  nicht  zu  unterschätzende  Bedeutung  der  auswärtigen 


')  Das  ist  wohl  sicher  Joseph  b2ij>  in  Egypten,  dessen  Sohn 
Jakob  bereits  oben  erwähnt  wurde,  und  der  weiter  unten  am  Ende 
des  Schreibens  genannt  wird. 

2)  rrtrtm  'p  "3jn  th«  tb>jp  kih  Shj  poo  m  '3  ds^ki  p?»  '-  ^ki 
W3JJD  3T5  K#B21  CD"12  X2D  D3^.  Das  letztere  Wort  ist  mir  nicht 
recht  verständlich.  Die  Wendung  c-D"!2  K2B  ist  eine  feine  Variierung 
von  I  Sam.  25,  26  auf  das  neuhebr.  ron   >Geld«. 


472    Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

Lehrhäuser.     Nirgends   aber     wird     von     diesen    als 
direkten  Gründungen  der  babylonischen  Jeschiba's 
gesprochen;    der  Vergleich    zwischen  den  ersteren    und 
den    von    den    verschiedenen  Tannaim    geleiteten  Schulen 
spricht    bereits   genug  davon,   daß  sie    sich    also    mit  den 
Akademieen  in  Babylonien  gleichberechtigt    fühlen    durften 
und  verstärkt    somit  das  von  uns    soeben  hervorgehobene 
argumentum    ex    silentio.     Somit    ist   das  Problem 
zunächst     für     Pumbadita,     von    wo     Kaufmann    die    vier 
Gelehrten  abstammen  lassen  will1),  erledigt.  Aber  auch  für 
ihre  Herkunft  von  Sura   ist  nun    jede  Unterlage  entzogen, 
da,  wie  wir  nachgewiesen  zu  haben  glauben,    diese  Hoch- 
schule als  solche  gar  nicht  mehr  in  Betracht  kam,    indem 
sie  zeitweise    mit    der  von  Pumbadita    vereinigt  war.     Die 
Behauptung  von  Graetz2),   daß  Saadja's  Nachfolger  Joseph 
ben  Jacob  bar  Satia    die  Sendboten    ausgesandt  habe,    um 
der  Verarmung  seiner  Jeschiba    zu  steuern3),    erledigt  sich 
durch  die  Erwägungen,    dsß  erstens  Scherira   ausdrücklich 
als  Grund  für  das  Eingehen  der  Hochschule  von  Sura  nicht 
Mangel  an  Geld,  sondern  die  vollständige  Zurückdrängung 
durch  Ahron  Ibn  Sargädu  angibt,  und  zweitens,  daß,  wenn 
daselbst  vier  so    hochgelehrte  Männer  vorhanden  gewesen 
wären,    doch,   wie  Halevy  bemerkt4),   einer    von   ihnen  die 
Führung  hätte  übernehmen  müssen,  da  er  dem  pumbadita- 
nischen  Gaon  gegenüber  wohl  auch  sein  Wort  zur  Geltung 
hätte  bringen  können5). 

')  Vgl.  Magazin  V,  S.  70  u.  auch  in  der  Besprechung  von  Qü- 
demanns  Gesch.  des  Erziehungswesens  etc.  in  Italien,  GGA.  1387 
(Ges.  Sehr.  II,  S.  227). 

*)  A.  a.  O.  S.  471. 

*)  Ed.  Neubauer  a.  a.  O. 

*)  Vgl.  Doroth  Harischonim  III,  S.  291. 

B)  Scherira  a.  a.  O.  bemerkt  nämüch  in  diesem  Sinne  vor;  Jo- 
seph bar  Satia,   daß   p«3   ^riiX  "1  ,TVD   I^M  HB  proiB  TjÄ  MV!    K^l 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.     473- 

2.    Schema rja   ben    Elchanan    und  sein   Sohn 
Elch  a n  an. 

In  den  bisher  besprochenen  Senschreiben  begegnen 
wir  bereits  zweimal  dem  Namen  R.  Schemarja's1).  Es 
fällt  nun  besonders  ins  Gewicht,  daß  Scherira  von  ihm 
wiederholt  als  dem  b'KKffl  vaKii  inan  {ptn2)  spricht,  und 
einmal  auch  in  diesem  Zusammenhang  des  ihm  unter- 
stehenden yiap  tsrns,  also  eines  beständigen  Lehrhauses, 
gedacht  wird,  in  dem  Schüler  lernten3).  Hieraus  ergiebt  sich 
nun  zunächst  für  unseren  Gelehrten  eine  genauere,  spätere 
Zeit,  als  die  von  Graetz  angenommene,  da  er  eben  Zeit- 
genosse von  Scherira  und  Hat  war.  Schemarja  entstammte 
jedenfalls  einer  in  Egypten  schon  ansäßigen  Familie,  da 
auch  sein  Vater  Elchanan  als  »snn  3in,  also  als  Vor- 
sitzender eines  Schulhauses,  genannt  wird4).  Der  Einwand 
von  Graetz,  daß  außerhalb  Babyloniens  keine  bedeutenden 
Gelehrten  waren,  erledigt  sich  betreffs  Egyptens  durch  die 
Erwägung,  daß,  ebensowenig  wie  Saadja's  Leistungen  auf 
dem  Boden  dieses  Landes  ohne  ein  größeres  geistiges 
Milieu  denkbar  sind5),  so  auch  andererseits  der  von  diesem 
großen  Mann  durch  Unterricht  an  wißbegierige  Jünglinge 
ausgestreute  Same  der  Belehrung6)  unmöglich  so  schnell, 
ohne  eine  dauernde  Nachwirkung  zu  hinterlassen,  verweht 
worden  sein  kann.  Als  ein,  vielleicht  allerdings  zu  äußer- 
liches Moment  für  die  egyptische  Abstammung  könnte  aber 

')  Vgl.  Saadyana,  S.  119,  wo  die  Lücke  in  Z.  16  wolil  mit  Sche- 
marja's Namen  zu  ergänzen  ist,  u.  S.  124,  Z.  85. 
»)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  119,  17  u.  124,  85. 
3)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  119,  84. 
*)  So  unterzeichnet  Schemarja's  Sohn,  Elchanan,  in  einem  Brief: 

p  b*w*  bs  bv  pn  rra  am  mw  [2  ijnr  bs  bv  v»n  »so  \xnb* 

mm  3V1  pH1;«;  vgl.  Worman,  Terms  of  Adreß  in  Genizah  Letters, 
ia  JQR.  XIX,  S.  729. 

»)  Vgl.  hierüber  Monatsschrift  1910,  S.  191-192. 

•)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  315. 


474    Beiträge  zur  Geschichte  und   Literatur  im  gaonäisctien  Zeitalter 

der  Name  nnDW  selbst,  in  seiner  Bildung  an  myc  erinnernd, 
angesehen  werden1). 

Zu  beachten  ist  nun  besonders  das  Verhältnis  von 
R'Schemarja  zu  den  Geonim.  Er  stand  mit  ihnen  jedenfalls 
in  Verbindung,  wenn  uns  auch  nicht  direkte  Bescheide  von 
diesen  an  ihn  vorliegen.  Aber,  so  wie  Saadja,  behufs  Ver- 
vollkommnung seiner  Kenntnisse  die  Hochschule  in  Sura 
aufsuchte,  hat  auch  Schemarja  in  der  einzigen,  damals  zu 
Pumbadita  bestehenden,  geweilt,  um  sein  Wissen  zu  ver- 
tiefen. Es  liegt  uns  hierüber  auch  ein  Dokument  vor  in 
einem,  leider  lücken-  und  fehlerhaft  enthaltenen  Schreiben 
Hais,  dessen  Autenthie  allerdings  angefochten  wurde. 
Dieses  von  Neubauer  zuerst  veröffentlichte  Fragment2)  ist 
an  einen  Alluf3)  gerichtet  und  spricht  in  einem  sehr  ge- 
tragenen, fast  durchwegs  musivischen  Stil,  nach  einem  Preis 
von  Gottes  Gnade,  von  dem  Adressaten  als  von  einem 
Lichte,  das  den  ihm  folgenden  den  Weg  erhellen  kann,  und 
als  von  einem  unerschöpflichen  Quell,  dessen  Wasser  er- 
quickend wirkt5).  Es  wird  von  ihm  ferner  gesagt,  daß  er 
einen  Baum  des  Lebens  in  Mitten  seines  Volkes  gepflanzt; 
auf  seinen  Sohn  soll  er  auch  ferner  achten,  da  auch  er 
zur  köstlichen  Frucht  heranreifen  werde6).  Dann  wird  mit- 
geteilt,   daß   die    Sendung    des    vertrauten    Freundes    und 


•)  Vgl.  auch  die  Ausführungen  Halevy's  a.  a.  O.  S.  290  über 
die  gegen  eine  babylonische  Abstammung  zeugende  Form  der  Namen 
der  vier  Gelehrten. 

*)  Vgl.  JQR.  VI,  S.  222—223. 

')  Vgl  den  auch  verstümmelten  Anfang:    "ppjjc    ^~;:2^~2,,    f\\b*. 

*)  Vgl.  a.  a.  O.  irs'rm  -iik  rwu  121 . .  •  uv&m  vb  ntrm  ii«n 

6)  Vgl.  a.  a.  O.  "O  . . .  itd'j?  wnh  b*kdx  mpvnb  njpa  m  pjfo 

«)  Vgl.  a.  a.  o.  2i;n  uijn  [iv  mb  nrx  -]03?3  nyt)3  m  o^n  ?v 
■rhy  -prj?  cjp  *p  rixo«  |2  Sjn  . . .  by»  vskd  r.n'nnh  vrVjfl  ^skoS 
nwun1?  vvhyi  bswah  ric  -\r. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.      475 

Bundesgenossen,  der  auch  in  inniger  Liebe  an  den  Adres- 
saten hängt,  R'Jacob,  richtig  eingegangen  sei1).  Nach 
einigen,  infolge  einer  Lücke  nicht  ganz  genau  festzustel- 
lenden Ausführungen,  die,  unter  anderem,  Segenswünsche 
für  den  Empfänger  enthalten,  wird  Kenntnis  genommen  von 
der  Hervorhebung  des  ausgezeichneten  Lehrers 
R'Schemarja,  des  KjHTü  mw  wm,  der  hauptsächlich 
an  dieser  Verordnung  beteiligt  war2).  Der  Schreiber  be- 
merkt, daß  er  selbst  bisher,  wie  irgend  ein  anderer,  die 
Vorzüge  dieses  Löwen  unter  seinen  Genossen,  pnuna»  *ik, 
seine  wunderbare  Weisheit  und  seinen  eindringenden  Ver- 
stand kenne,  der  sich  in  seinen  Fragen,  Antworten 
und  Lösungen  kundgebe8).  Deswegen  habe  ihn  auch  der 
Gaon  seiner  Zeit  zum  miPö4)  und  zum  Haupt  der  großen 
Reihe  unter  den  drei  Reihen  der  Jeschiba  ernannt5).  Auch 
Schemarja's  einziger  Sohn  Elchanan,  der  bei  ihnen  gleichsam 
großgezogen  worden  sei6),  stehe  bei  ihm  in  großem  An- 
sehen, weswegen  er  mit  einigen  anderen  seiner  Genossen 
die  Semicha  erhalten  habe.  Schon  jetzt,  am  Beginn  seiner 
Laufbahn,  zeigt  jeder  Brief  und  jede  Anfrage  von  ihm  einen 

!)  ^jtoi  i:tc  b>w  mtt  rmbvti  yn  nyS  vr  rp^K  nSir  law 
apjp  x:mi  '-»o  wy  ncno  insnKs  nocn  13  penn  nmx  uivia. 

2)  »jm-a  rmw>  cxn  mctr  n  uarr*  ww  p-2112  y\  hv  '.mva 
J1K1  "lipro  tPmn  X'n  '3%  —  Es  ist  bemerkenswert,  daß  hier  Hai  dem 
R.  Schemarja  die  Bezeichnung  pH31ü  31  beilegt,  während  Scherira  in 
Saadyana,  S.  125,  32  als  solchen   nur   den  Gaon    gelten    lassen    will. 

3)  y»svTJH  ppnw  vwtpi  vnwan  mni  wntun  futtoa  ijjijhi 
vmbvt  rona  ■wv  nnwa  inai  [JQR.  a.  a  o.  rjtmw]. 

*)  Dieses  Wort  ist  wohl  M3®Ö  zu  lesen,  und  will  besagen, 
daß  Schemarja  Hauslehrer  und  Liturg  beim  Gaon  war  und  somit 
eine  mehr  familiäre  Stellung  bekleidete.  Denn  der  Ausdruck  -Jtro  = 
"OB*  war  nun  in  der  palästinensischen  Schule  üblich,  und  die  hiermit 
gleichbedeutende  Würde  eines  pn  JV3  3«  hat  ja  Hat    inae  gehabt. 

B)  Vgl.  hierüber  Monatsschrift  1908,  S.  342,  Poznanski  in  Ha- 
Jcedem  II,  S.  93,  jedoch  dagegen  Marx  in  ZHB.  XIII,  72  und  Ginz- 
fcerg,  Geonica  I,  S.  207. 

•)  WWfl  vhwi  RV!. 


476  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeifa!*- 

Fortschritt,    sodaß  von    ihm  in    späteren  Jahren  noch  v  e 
mehr  zu  erwarten  sei l). 

Dieses  interessante  Schriftstück  ist  sicher  an  den 
wiederholt  als  Alluf  bezeichneten  Jacob  ben  Nissim  in 
Kairuän  gerichtet2),  und  seine  besondere  Lobpreisung  s-.eht 
im  Einklang  mit  der  ihm  von  den  Geonim  beigelegten  Be- 
zeichnung 1:2*?  tswa8).  Der  hier  erwähnte  Sohn  des  Adres- 
saten ist  der  nachmals  so  berühmt  gewordene  R'Nissim, 
während  der  hier  als  vertrauter  Freund  und  Bundesgenosse 
genannte  R'Jacob,  dessen  Sendung  der  Empfänger  dieses 
Schreibens  den  Hai  übermittelt  hat,  kein  anderer  sein  kann, 
als  der  bereits  erwähnte  Jacob  ben  Joseph  brv,  den  der 
Gacn  wiederholt  so  nennt4),  und  an  den  auch  wieder  um 
cer  Gacn  einen  Brief  von  Jacob  ben  Nissim  gesandt  hat. 
Auch  in  diesem  handelte  es  sich,  nach  dem  Zusammenhang 
zu  urteilen,  um  eine  Tekana  zugunsten  der  Hochschule  5). 
Von  einer  solchen,  bei  der  auch  Sehern  ar  ja  in  erster 
Reihe  mitgewirkt,  wird  auch  hier  gesprochen.  Zu  rti 
mag  er  durch  ein  von  Scherira  nach  allen  westlichen 
Ländern  gerichtetes,  dringendes  Schreiben  angeregt  worden 
sein6).  Die  in  dem  Schreiben  angewendeten  Lobeserhebun- 

»)  BTtteai  mina  djj  mt  bs  iwivmn  fo  msits  nvsv  rntow  bn 
coxjn  cai  by  PfTjrn  sj^i"1  yv  roiiaa*?  ppr  '3  w». 

2)  Vgl.  auch  den  Schluß,  S.  223:    bv    IflJHa    BM3B>   JOS   V  a«i 

k\-  i:cj?o  xh  mano  wb  rwia  iwkö  pj*4?«. 

»)  Vgl.  Harkavy,  T'schuboth  ha-Oeonim  Nr.  549,  S.  270, 

4)  Vgl.  Marx  a.  a.  O.    x:2Tl  Kilo  IJJVD  B"X  «TT  13*1333  "I^SX 

nzb  '12»  r*oi'  '3"n  no  p  vuwi  13338*0  Witt"  j^k  apj>\  Da  in  un- 
serem Fragment  von  zwei  verschiedenen  Männern  die  Rede  ist,  so 
kann  der  zuletzt  als  » Vertrauter«  genannte  R.  Jakob  nicht  Jakob  be~ 
Nissim  sein,  sondern  nur  Jakob    b^y. 

*)  Vgl.  a.  a.  o.  v*ram  tittn  mpnn  vn  imi  nx  n  ■pjrna  *a 

Wjm  X^l  1B,,J  |3  fD1?"!  . .  Vgl.  auch  Marx  in  JQR.,  New  Series,  a.  a.  O. 
6)  Vgl.  Saadyana  Nr.  XLV,  S.  119,  16  fgg:  H3HK3  B3Wn3*fl  "itfK3i 

•vosn  bs  mos  (?)  ona  wo»n  mao  px  'ran  ^«w^  t  i::rn  nan  [3 

^"SXill  T3Kfl  VIKfl  3"V1  fp'"  nx,  woraus  auf  ein  energisches  Mahn- 
schreiben zu  schließen  ist.  Zum  Ausdruck  TS'lPl  vgl.  I  Chron.  IS,  3. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  geonäischen  Zeitalter.    477 

gen    pflegten    die  Geonim    aber    nur   au  s  wärt  ige  on9_ 
Jehrten  oder  Mäcenen  zu  widmen,  und  die  darin  erwähnten 
Ehrenstellungen  hat  man  Schemarja  bei  seinem  Aufenthalt 
in   Pumbadita,  wie  seiner  Zeit  Saadja  in  Sura1),   verliehen. 

Die  von  uns  angeführten  Berührungen  des  Fragments 
mit  dem  auf  Jacob  *?2iy  bezüglichen,  lassen  uns  dessen 
Echtheit  gegenüber  den  Ausführungen  Halevys8)  als  ge- 
sichert erscheinen.  Denn  die  von  diesem  als  Gegenbeweis 
angeführte  Weitläufigkeit  der  Sprache  und  Häufung  von 
Ehrentiteln  finden  wir  fast  durchgehends  in  den  von  uns 
behandelten  Sendschreiben  Scherira's  und  Hat's,  wie  auch  am 
Schluß  von  Responsen3).  Aus  diesen  beiden  miteinander 
zusammenhängenden  Schriftstücken  ersehen  wir  aber  auch, 
caß  ein  inniger  Zusammenhang  betreffs  des  gemeinsamen 
Verhältnisses  zu  den  babylonischen  Hochschulen  zwischen 
Kairuän  und  Egypten  bestand4). 

Aber  auch  zu  der  in  seiner  Zeit  mehr  an  Bedeutung 
gewinnenden  palästinenischen  Hochschule  stand  Schemarja 
in  Verbindung,  wie  aus  der  Über-  und  Unterschrift  eines 
an  ihn  von  mirmtp  'tr^tpn  hws&&  gerichteten  Briefes  ersicht- 
lich ist,  in  dem  er  genannt  wird  msw  ro»*  Tairon  nvmn  am 
mpn  niw  bMin  ain  pnbx  i  p  D'Ton  rotfw6). 

»)  Vgl.  Monatsschrift  1910,  S.  459. 

2)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  299,  wo  er  es  gar  in  die  maimonidische 
Zeit  verlegen  will. 

3)  Vgl.  z.  B.  die  Lobeserhebungen  auf  den  Resch  Kalla  Jehuda 
in  Kaiman  in  Harkavy,  Resp.  der  Geonim,  Nr.  442,   S.  234—235. 

*)  Vgl.  ar.ch  Poznanski  in  Hakedem  II,  S.  103. 
5)  Vgl.  Worman    in  JQR.  XIX,  S.  729,  Nr.  XXI    und   ebendort 
Anra.  3. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua. 

Von  H.  Tykoelnski. 

R.  Isaak  b.  Mose  bietet  uns  in  seinem  Werke  Or 
Sarua,  wie  kein  andrer  seiner  Zeitgenossen,  eine  Fülle  von 
Nachrichten  über  jüdische  Gelehrte  seiner  Zeit  und  der 
Vergangenheit.  Auch  für  die  Geschichte  der  Sitten  und  Ge- 
bräuche ist  er  uns  eine  unschätzbare  Fundgrube.  Zur 
bessern  Verwertung  seiner  Nachrichten  ist  es  von  großer 
Wichtigkeit,  genauer  festzustellen,  wann  er  gelebt  und 
gewirkt  hat. 

Über  seine  Lebenszelt  schwanken  noch  sehr  die  An- 
sichten. Zunz  läßt  ihn,  wie  es  scheint,  bis  1260  leben1), 
H.  Groß  zwischen  1200  und  12702),  H.  Vogelstein  zwischen 
1190  und  12603)  und  J.  Wellesz  zwischen  1185  und  1255*)-. 
Eine  eingehende  Untersuchung  über  diesen  Punkt  wird 
sicher  nicht  überflüssig  sein. 

Einige  wenige  sichere  Daten  für  die  Bestimmung  seines 
Zeitalters  bietet  10S.  (=  Isaak  Or  Sarua)  in  seinem  eignen 
Werke.  In  dem  Abschnitt  Ab.  Sara  erzählt  er  von  einer 
Ketubba,  über  deren  Gültigkeit  er  befragt  worden  ist,  weil 
im  Datum  die  Jahrtausende  nicht  klar  angegeben  waren. 
Er  meint  dabei,  daß  man  ja  doch  nur  vier  Jahrtausende 
darunter  verstehen  könne,  das  fünfte  Jahrtausend  nach 
Erschaffung  der  Welt  hätte  ja  damals  sein  Ende  noch  nicht 

')  Steinschneider,  Hebr.  Bibliogr.  1865,  S.  2. 

2)  MS.  1871,  S.  251  g.  unt.  —  Ihm  folgen  M.  Schloesinger 
(Jew.  Encykl.  VI,  S.  627  a)  u.  S.  N.  Bernstein  (ha-Zefira  1902,  Nr. 
229  u.  232). 

5)  MS.  1905,  S.  701  unt.,  703  unt. 

*)  Wellesz,  Jahrb.  d.  jüd.-liter.  Gesellsch.  1906.  S.  116  unt. 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua.  479- 

erreicht;  d.  h.  es  war  spätestens  12391).  An  derselben  Stelle 
nennt  der  Verfasser  das  Jahr,  in  dem  er  das  schrieb,  aus- 
drücklich 12462).  Ferner  kennen  wir  ein  Schreiben  des  R. 
Abigedor  ha-Kohen  an  IOS.,  in  dem  dieser  um  ein  Gut- 
achten wegen  einer  am  4.  November  1239  vollzogenen  Trauung 
gebeten  wird3).  Ein  weiteres  Schreiben  enthält  ein  Gutachten 
des  IOS.  über  die  Angelegenheit  der  während  der  Juden- 
verfolgung in  Frankfurt  zur  Taufe  gezwungenen  Braut4): 
Diese  Verfolgung  war  im  Jahre  12415). 

Wir  besitzen  also  sichere  Daten  für  die  literarische 
Tätigkeit  des  IOS.  während  der  Jahre  1239—1246.  Nun 
wissen  wir  aber,  daß  seine  Wirksamkeit  als  Gelehrter  einen 
weit  größern  Zeitraum  umfaßte.  Er  selbst  erzähit  uns  in 
dem  Traktate  Gittin,  daß  er  ungefähr  30  Jahre  zuvor  in 
einem  Zivilprozeß  als  Richter  gesessen  hätte6).  Daraus  er- 
sehen wir  zugleich,  daß  er  nicht  in  jungen  Jahren  gestorben 
sein  konnte.  Das  ergibt  sich  auch  daraus,  daß  seine 
Enkelin  bei  seinen  Lebzeiten  in  heiratsfähigem  Alter  stand7), 
Die  Frage  ist  nun  die,  ob  die  Jahre  1239  bis  1246  sich  am 
Anfange  oder  am  Ende  seiner  Laufbahn  befinden. 

')  ar.Di . . .  »nsrm  .  • .  njm«  a^ni  dms^k  n;p  ariai  ibidm  nyov- 
D-ef»  njD"wa  im1  ser^i  bwn  a-c^s  nyanx  tb»  yetrc  csSx :  IOS.  IV, 
S.  32  b,  Nr.  107. 

*j  '»tp.i  ?\bxh  w  rt;»a  fra^pi  n:vn  na  loa  ebd.  s.  32b  unt. 

3)  nx-na1:  a's'rx  nit'on  rutp  vhü3  n*v5  o-ir  !WB>a  nae>a  *tr??3 
üb'.}}  :     IOS.  I,  S.  208  b,  Nr.  745. 

*)  IOS.  I,  S.  213  a,  Nr.  747. 

ä)  Aronius,  Regesten  Nr.  529. 

u)  Sy  p'.xn  \$vv  \tytvb  [3i»"i  pa  ra  t«,-:»  mv  Wiva  nr- 
•rrzvwib  anac  «mte  Ta  -*?  wnhw  Tna ^  ruo  pjhjv:  I,  S.  199b  M. 

-')  I,  S.  214  b  unt.  Nr.  750.  —  Der  von  MR.  (=  Rga.  Meir  a. 
Rotenburg),  ed.  Crem.  Nr.  7,  als  hoher  Greis  bezeichnete  Isaak  ist 
nicht,  wie  Groß  (MS.  1871,  S.  251  unt.)  u.  H.  Vogelstein  (MS.  19C5, 
S.  703  ob.)  annehmen,  unser  IOS.,  sondern  wahrscheinlich  derselbe, 
an  den  er  die  Responsa  Nr.  53,  93  u.  114  in  der  ed.  Crem,  richtet 
u.  den  er  ■'jHVöi  »Bl^H  nennt.  Is.  b.  Mose  gegenüber  hätte  sich  Meir 
in    der   Unterschrift    gewiß    als    seinen    Schüler  und  nicht  als  seinen 


480  Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua. 

Berücksichtigen  wir,  daß  sein  Lehrer  R.  Simcha  b. 
Samuel,  der  im  4.  Jahrzehnt  des  13.  Jahrhunderts  gestorben 
sein  muß1),  ihn  in  der  Regel  als  seinen  Kollegen  anredet2), 
so  dürfte  Isaak  nicht  viel  jünger  gewesen  sein  als  sein 
Lehrer.  Erwägen  wir  auch,  daß  er  R.  Jehuda  den  Frommen, 
der  1217  gestorben  ist3),  oft  ausdrücklich  als  seinen  Lehrer 
bezeichnet4),  so  gelangen  wir  zu  dem  Ergebnis,  daß  seine 
Lehrjahre  in  die  Zeit  vor  1217  zurückreichen.  Fernere  Er- 
wägungen führen  uns  zur  Überzeugung,  daß  IOS.  die  Ab- 
fassung seines  Werkes  zwar  nach  dem  Tode  Jehudas  des 
Frommen,  aber  doch  noch  bei  Lebzeiten  seines  1224  verstor- 
benen Lehrers  R.  Jehuda  b.  Isaak5)  begonnen  hat.  Während 
er  Jeh.  d.  Fr.  stets  als  verstorben  erwähnt4),  bezeichnet 
er  Jeh.  b.  1s.  in  den  ersten  Abschnitten  des  1.  Teils  seines 
Werkes  oft  ausdrücklich  als  lebend6). 

Andre  Gründe  veranlassen  uns,  die  Wirksamkeit  Isaaks 
als  Rabbiner  noch  früher  beginnen  zu  lassen.  R.  Joel  b. 
Isaak,  der  um  1200  gestorben  sein  dürfte7),  beruft  sich  in 
seinem  Briefwechsel  mit  R.  Ephraim  b.  Isaak  auf  die  Ansicht 
des  Isaak  Chasan  in  Böhmen,  die  ihm  der  Rabbiner  Isaak 
b.  Mose  mündlich  mitgeteilt  hat8).  Nicht  im  Widerspruche 
damit  steht  es,  wenn  IOS.  während  des  Unterrichtes  bei 
seinem  Lehrer  Elieser,  sich  auf  den  erwähnten  Briefwechsel 

Freund  "jaVUC  bezeichnet.  Unter  den  Respondenten  des  Meir  gibt 
es  übrigens  noch  zwei  andere  Gelehrte  namens  Isaak:  ed.  Crem. 
Nr.  21  u.  190. 

')  Siehe  weiter  unt.  S.  487. 

•)  IOS.  I,  Nr.  759,  760,  761,  763. 

e)  Groß  MS.  1871,  S.  252,  Anm.  2. 

*)  I,  S.  22  a,  Nr.  11,  S.  41  a,  Nr.  114,  S.  109  b,  Nr.  399  u.  an 
vielen  andern  Orten. 

6)  Sal.  Lurja,  Rga.  Nr.  29. 

6)  Siehe  weiter  unt.  S.  434. 

7)  Groß  MS.  1885,  S.  370  unt. 

Jtn  nrraa  prttP  "\  nm:  IOS.  I,  S.  H7b  ob. 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua.  481 

i wischen  Joe!  und  Ephraim  bezieht1).  Daraus  geht  nur 
hervor,  daß  er  erst  nach  seinem  Gespräche  mit  Joel  und 
nach  dessen  Briefwechsel  mit  Ephraim  b.  Isaak  den  Unterricht 
üei  Elieser  b.  Joel  genossen  hat.  Wenn  er  von  Joel  Rabbiner 
genannt  wird,  so  besagt  das,  daß  er  schon  zur  Zeit  des 
Briefwechseis  zwischen  ihm  und  Ephraim,  also  spätestens 
im  Jahre  1200,  noch  bevor  er  die  Schule  Eliesers  besucht 
hatte,  das  erforderliche  Alter  und  auch  das  genügende 
Maß  von  Wissen  besaß,  das  ihn  des  Titels  würdig  machte*). 
Daß  IOS  mit  Joel  persönlich  verkehrt  hat,  ist  wohl  auch  daraus 
zu  entnehmen,  daß  er  ihn  zweimal  seinen  Lehrer  nennt8). 
Sein  eigentlicher  Lehrer  war  er  nicht,  da  er  ihn  sonst  nir- 
gends als  solchen  bezeichnet,  er  wird  wohl  nur  gelegent- 
lich von  ihm  eine  Belehrung  empfangen  haben. 

Wir  besitzen  sogar  von  IOS.  ein  Gutachten,  das  als 
Zeugnis  seiner  frühesten  gelehrten  Tätigkeit  in  das  1.  Jahr 
des  13.  Jahrhunderts  hinaufreicht.  Das  Gutachten  betrifft 
die  Aussage  eines  NichtJuden,  der  ungefragt  bezeugt,  einen 
ihm  bekannten  toten  Juden  im  Wasser  schwimmend  ge- 
sehen zu  haben,  und  Isaak  erklärt  die  Frau  für  berechtigt, 
sich  wieder  zu  verheiraten4).  Dieser  Fall  ist  ohne  Zweifel 
derselbe,  über  den  Simcha  b.  Samuel  und  Elieser  b.  Joel  ihre 

*)  I,  S.  118  a  ganz  ob. 

2)  Die  gewöhnliche  Annahme,  daß  Ephraim  b.  Isaak  schon 
1175  gestorben  sei  (Groß  in  MS.  1885,  S.  310  unt.,  Michael,  Or  ba- 
Chajjim  Nr.  511,  S.  248,  Freimann  in  MS.  1909,  S.  596)  ist  allerdings 
nach  dieser  Ausführung  nicht  aufrecht  zu  halten.  Zakuto,  auf  den 
man  sich  beruft,  ist  für  eine  so  frühe  Zeit  wenig  zuverlässig.  Übrigens 
gibt  die  betreffende  Stelle  (Juchasin,  ed.  London,  S.  218)  nur  das  Jahr 
1 175  an,   ohne  zu  sagen,  daß  Ephr.  in  diesem  Jahre  gestorben  wäre. 

3)  IOS.  I,  S.  18  a,  Nr.  30;  II,  S.  175  b,  Mitte,  Nr.  428.  Aller- 
dings kann  hier  "TIO  eine  Abkürzung  von  Ullö  sein. 

4)  CO"  rp  s]it  "-'s")»  D'boü  D"i3)j  w  täihto  pT;n  nn  s'k 
h^i  r\::"i  ab  nj?-  DWffil  ny  d5ä  n-om  tidj  irni  pv  ryatts  lhivam 
jrtsyrrt  rann  wk  "k  "o-ra  pspsb  pm  ijwk  wirrt  >rt  rahi . .  •  -or 
■rtn  xxo:  ttta  tapaa  nun  bv  m  -raa  caarrto  nn^rt  ^  miidi  \wvt] 
nma  kjtdj  mm  pexa  narrte!  cpo  wm  imhjo:  i  s.  196  a,  Nr.  695. 

Monatsschrift.  65.  Jahrgang.  Jl 


482  Lebenszeit  und  Heimat  des  lsaak  Or  Sarua. 

Gutachten  abgeben,  und  wo  es  sich  um  die  Ermordung 
des  Alexander  bei  der  Festung  Sayn  am  Rhein  handelt1). 
Für  die  Identität  der  beiden  Fälle  spricht  die  Örtlichkeit. 
und  die  Jahreszeit.  IOS.  spricht  nämlich  von  einer  Zeit, 
die  weder  heiß  noch  kalt  war,  und  der  Fall  des  Alexander 
ereignete  sich  kurz  vor  dem  Laubhüttenfest2).  Beide  Fälie 
geschehen  zur  Kriegszeit  am  Rhein.  Nun  wissen  wir  aber, 
daß  Alexander  zur  Zeit  des  zweiten  Feldzuges  Königs 
Philipp  von  Schwaben  nach  dem  Niederrhein  gegen  König 
Otto  IV.  ermordet  wurde.  Das  mußte  also  im  Jahre  1199, 
wohl  im  Monat  September  geschehen  sein3).  Das  Gut- 
achten des  Elieser  b.  Joel,  das  etwa  anderthalb  Jahre  darauf 
abgegeben  worden  ist,  stammt  somit  aus  dem  Jahre  1201. 
und  in  dasselbe  Jahr  gehört  auch  ohne  Zweifel  das  den- 
selben Fall  behandelnde  Gutachten  des  IOS.  Wenn  er  aber 
schon  1201  ein  solches  Ansehen  genoß,  so  müssen  wir 
sein  Geburtsjahr  in  die  Zeit  vor  1180  setzen. 

Zu  demselben  Schluß  führt  uns  auch  eine  andere 
Erwägung:  IOS.  nennt  R.  Isaak  b.  Mordechai  in  dem 
zweiten  Teil  seines  Buches,  wo  er  nur  viermal  erwähnt 
wird,  dreimal  und  im  dritten  Teil  einmal  seinen  Lehrer*!. 
Allerdings  bringt  er  niemals  eine  mündliche  Mitteilung  von 
ihm,  er  bezeichnet  ihn  auch  sonst,    obwohl  er  ihn  sehr  oft 


J)  nmn  rnr  [xr%T]  (ktbi)  ~^;s-  um  ivi  unm  mjDab*  *a*i 
T/TonWipn  'ipnrotaa  i-rra-pa  nontan  nrna  \ti  [wn]  (ktbib) 
iv  paiSeipS  'rrv  tr-:,irv  iban  c»  na  mhv  ijn   vtbvv:   -.-:  bv  cd^'i 

-;-»n ;•;:  ;tn—  oiafr-oa  wp  "»to ^a ixuanbj xb\ . . .  »an«  "[hon 

bttt  *\tmr\  nana  nrna  vm  . . ,  wsvn  swa  p*vn  iinan  rann  'rix  . . . 
pj^Dip^  x'ih'  owm  -rr  na^  . . .  "Brian  djpi  rSvv  nn:  bv  p:  bi  " 
:  *sn*  nar*>  avip  m  iS  rrn  no  nsn  -p  j?t:  1A1 . . .  -.r-a^  ar  iA  ram  . . . 

IOS.  I,  S.  194,  Nr.  693.  Siehe  auch  S.  208  a  unt. 

2)  Ebd.  S.  195b  M. 

s)  Ed.  Winkelmann, :  Philipp  v.  Schwaben  u.  Otto  IV.  Bd.  I, 
S.  146  unt. 

*)  II,  S.  9  Nr.  16  Schluß,  Nr.  257  S.  120b  Mitte,  Nr.  432 
S.  173a  unt.;  III,  Kamma,  S.  62a  M.  Nr.  413. 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua.  483 

anführt,  als  »unsern  Lehrer*1).  Offenbar  genoß  er  in  seiner 
Kindheit  wirklich  kurze  Zeit  Unterricht  bei  ihm.  Er  zählte 
ihn  jedoch  nicht  zu  seinen  Hauptlehrern,  wie  Jehuda  b.  Isaak, 
Elieser  b.  Joe!  und  Simcha,  deren  Jünger  er  in  reifem  Alter 
war,  und  die  daher  einen  entscheidenden  Einfluß  auf  seinen 
Geist  hatten.  Deshalb  nennt  er  ihn  später  bloß  »unser 
Lehrer.«  Jedenfalls  haben  wir  keinen  Grund  zu  bezweifeln, daß 
10S.  den  Isaak  b.  Mordechai  in  seiner  Kindheit  gekannt  hat. 
Von  diesem  aber  ist  uns  ein  Rechtsgutachten  bekannt,  das 
er  in  einer  Streitfrage  über  eine  nicht  genau  datierte,  1133 
geschriebene  Urkunde  gemeinsam  mit  Mose  b.  Joel  und 
gleichzeitig  mit  R.  Tarn,  1133  oder  nicht  lange  darnach 
abgegeben  hat2).  Er  muß  also  damals  wenigstens  ein 
Alter  von  20  Jahren  erreicht  haben,  und  wenn  wir  ihm 
auch  ein  noch  so  hohes  Alter  geben,  um  1190  gestorben 
sein.  IOS.  wird  demnach,  wenn  er  in  seinen  frühesten 
Jahren  von  ihm  Unterricht  empfangen  haben  soll,  schon 
vor  1180  geboren  sein. 

Haben  wir  nun  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  den  Beginn 
seiner  Lebenszeit  und  seiner  Wirksamkeit  ermittelt,  so  er- 
gibt sich  ohne  Schwierigkeit  auch  der  Zeitpunkt,  in  dem  wir 
das  Ende  seiner  Laufbahn  voraussetzen  dürfen.  Wie  wir 
oben  gesehen,  schrieb  er  noch  1246  den  Traktat  Ab.  Sara. 
Dieser  Abschnitt  ist  in  seinem  Werke  der  letzte,  und  wir 
sind  auch  berechtigt  anzunehmen,  das  er  zu  seinen  letzten 
Arbeiten  gehört.  Wir  berühren  damit  eine  in  vieler  Hin- 
sicht wichtige  Frage:  In  welcher  Reihenfolge  sind  die  ver- 
schiedenen Abschnitte  des  Buches  entstanden? 

IOS.  hat  nach  Ausarbeitung  seines  gesamten  Werkes 
noch  fortwährend  manches  nachgetragen,  besonders  hat  er 
vieles  aus  seinem  ausgedehnten  Briefwechsel  den  betref- 
fenden Traktaten  einverleibt.  Daher  kommt  es,  daß  er 
mehrmals  sowohl  auf  die  spätem  als  auch  auf  die  frühern 

')  Iran,  besonders  B.  Batra. 
»;  IOS.  IV,  S.  23  b  M. 

31* 


484  Lebenszeil  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua. 

Abschnitte  verweist1).  Sehen  wir  aber  von  diesen  Nach- 
fragen sowie  auch  von  den  wohl  nach  dem  Tode  des  Ver- 
fassers dem  ersten  Teile  angehängten  Rechtsgutachten 
ab2),  so  sind  die  einzelnen  Abschnitte  des  gesagten 
Werkes  der  Hauptsache  nach  in  der  Reihenfolge  entstanden, 
wie  sie  geordnet  sind. 

Für  den  letzten  Traktat  Ab.  Sara  gibt  uns  IOS.  selbst 
1246  als  Jahr  der  Abfassung  an.  Hinsichtlich  der  andern 
Abschnitte  besitzen  wir  für  die  Ermittlung  der  ungefähren 
Er.tstehungszeit  nur  in  der  dem  Namen  der  zitierten  ver- 
storbenen Autoren  beigefügten  Segensformel  einen  An- 
haltspunkt. Allerdings  darf  man  im  allgemeinen  derr.  Vor- 
handensein oder  Fehlen  von  V'j»t  kein  allzu  großes  Gewicht 
beilegen,  da  die  Abschreiber  wohl  vieles  willkürlich  abge- 
ändert haben  mögen.  Wenn  aber  IOS.  denselben  Lehrer 
in  dem  einen  Abschnitt  regelmäßig  ohne  Segensformel,  in 
dem  nachfolgenden  Abschnitt  dagegen  ebenso  regelmäßig 
als  verstorben  erwähnt ;  oder  wenn  er  in  demselben  Ab- 
schnitt den  einen  Gelehrten  stets  ohne,  den  andern  kon- 
sequent mit  b*st  anführt,  so  hat  die  Eulogie  in  solchem 
Fall  eine  große  Bedeutung.  Bei  Benutzung  dieses  Kriteriums 
kommen  wir  zu  beachtenswerten,  bis  auf  einen  gewissen 
Grad  sichern  Ergebnissen. 

In  dem  zum  ersten  Teile  gehörenden  Traktate  ßera- 
cnot  erwähnt  der  Verfasser  eine  ganze  Reihe  von  Gelehrten, 
wie  Isaak  b.  Samuel,  Simsen,  Elieser  a.  Böhmen,  Jehnia  den 
Frommen,  als  verstorben.  Dagegen  erwähnt  er  darin  seinen 
Lehrer  Jehuda  b.  Isaak  in  Paris  etwa  vierzigmal  ohne  b"38T, 
vierzehnmal    ausdrücklich  als  lebend8).    Wenn  er  irot-dem 

i)  Wellesz  MS.  1904,  S.  367  M.  u.  Jahrb.  d.  jüd.-liter.  Oesdlsck 
1906,  S.  117  unt.  ff. 

')  I,  S.  40 f.,  205ff. 

')  I,  S.  22  a  Nr.  11  u.  12,  S.  24  b  Nr.  26  Ende,  S.  26  Nr.  39 
u.  43,  S.  27b  Nr.  49,  S.  32b  Nr.  79,  S.  34a  Nr.  85,  S.  3ob  Nr.  97, 
S.  37b  Nr.  100,  S.  38a  Nr.  101,  S.  45a  Nr.  128,  S.  47  a  Nr.  133,  S.  50  a 
Nr.  148,  S.  51a  Nr.  149.    Siehe    auch  Wellesz    MS.  1934,   S.    3Ö3     ML 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua.  485 

diesmal  seinem  Namen  ^"3»  beifügt1),  so  kann  daran  nur  die 
Flüchtigkeit  der  Abschreiber  schuld  haben,  ebenso  wie  da- 
ran, daß  er  auch  Simcha  einmal  als  verstorben  bezeichnet, 
obwohl  er  ihn  ein  andersmal  ausdrücklich  als  lebend  nennt2}. 
De;  Traktat  Berachot  muß  daher  noch  vor  dem  Tode  des 
Jeftuda  b.  Isaak,  d.  h.  vor  1224,  abgefaßt  worden  sein.  In 
deir  der  Mischnaordnung  Moed  entsprechenden  zweiten  Tei'. 
wird  Jehuda  b.  Isaak  etwa  zwölfmal  erwähnt,  darunter  acht- 
mal mit  b"ziz),  Eleasara.  Worms  und  Simcha  äußerst  selten 
zuin  Teil  mit,  zum  Teil  ohne  b*ST.  Dagegen  wird  Elieser  b. 
Joe-  darin  über  fünfzigmal  ohne  die  dem  Toten  zukommende 
Segensformel  angeführt.  Wenn  er  auch  siebenmal  als  ver- 
storben zitiert  wird,  so  kommt  das  wenig  in  Betracht.  Der 
zweite  Teil  ist  also  noch  bei  Lebzeiten  des  Elieser,  aber 
nach  dem  Tode  des  Jehuda  b.  Isaak  entstanden.  Anders  ver- 
hält es  sich  mit  dem  3.  und  4.  Teil,  die  der  4.  Mischnaord- 
nung entsprechen.  Im  3.  Teil  kommt  Elieser  b.  Joel  etwa  68, 
im  4,  Teil  etwa  fünfundzwanzigmal,  und  mit  Ausnahme  eines 
einzigen  Males  stets  als  verstorben  vor,  ebenso  Simcha,  im 
3«  Teil  etwa  14,  im  4.  Tei!  dreizehnmal,  fast  immer  als  ver- 
storben. Die  Abfassung  dieser  beiden  Teile  ist  demnach 
ohnt  Zweifel  erst  nach  dem  Tode  der  beiden  genannten 
Lefcier  erfolgt. 

Etwas  zweifelhaft  ist  die  Entstehungszeit  der  außer 
dem  Traktat  Berachot  in  dem  1.  Teil  befindlichen  Ab- 
schritte. 

Die  noch  zur  Ordnung  Seraim  gehörenden  Abschnitte*) 
scheinen  noch  vor  dem  Tode  des  Elieser  b.  Joel  entstanden 
zu  sein,  der  darin  sechsmal  erwähnt,  aber  nur  einmal  als  ver- 
storben bezeichnet  wird,  vielleicht  sogar,  gleich  dem  Trak- 

1)  I,  S.  45  b  Nr.  130,  S.  50  a  Nr.  147,  S.  55  b  Nr.  163. 
-)  I,  S.  22  Nr.  11,  Nr.  199,  S.  61  b  Mitte. 

')  II,  S.  48a  M.,  S.  109b  Nr.  231.  S.  110a  ob.,    S.  113a  Nr.  250, 
S.  171a  M.,  S.  118  b  Nr.  449. 
<)  I,  S.  64ff. 


486  Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua. 

täte  Berachot,  noch  zu  Lebzeiten  des  dreimal  ohne  *yx\  zitierten 
Jehuda  b.  Isaak.  Der  viermal  angeführte  Simcha  wird  aller- 
dings zweimal  als  tot  genannt.  Ebenso  dürften  die  Abschatte 
Nidda1),  wo  Elieser  b.  Joel  elfmal  ohne  b*5H,  Schechita*), 
wo  er  dreizehnmal  (achtmal  ohne,  dreimal  mit  b"x',  zwei- 
mal ausdrücklich  als  lebend)  erscheint,  sowie  auch  der  Ab- 
schnitt Tefillin3),  wo  Simcha  nur  einmal  mit,  einundzwanzig- 
mal ohne  b"JH  vorkommt,  noch  vor  dem  Tode  dieser  beiden 
Lehrer  fertig  gewesen  sein.  Dagegen  wird  Elieser  b.  Joe!  in 
Terefot4)  14,  in  Gid  ha-Nasche5)  2  und  in  dem  Traktat  über 
Ehescheidung0)  fünfmal  als  verstorben  bezeichnet,  in  dem  zu- 
letzt erwähnten  Abschnitt  auch  Simcha  dreimal  als  verstorben. 
Bei  der  Abfassung  dieser  drei  Abschnitte  des  ersten  Teiles 
sind  also  die  beiden  Lehrer  des  IOS.  sicher  nicht  mehr 
am  Leben  gewesen.  Für  die  späte  Entstehung  des  Tra- 
ktates Gittin  spricht  schon  die  eben  erwähnte  Mitteilung 
des  Verfassers,  er  hätte  dreißig  Jahre  zuvor  als  Richter  in 
einer  Zivilklage  ein  Urteil  zu  fällen  gehabt.  Die  Abfassung 
muß  nach  P239  geschehen  sein,  da  wir  darin  schon  das 
aus  1239  stammende  Rechtsgutachten  an  Abigedor  finden7). 
In  Gid  ha-Nasche  bezeichnet  IOS.  R.  Meschullam,  wohl 
Meschullam  b.  David,  seinen  Korrespondenten  in  der  An- 
gelegenheit der  Frankfurter  Verfolgung  von  1241,  als  ver- 
storben8). Ebenso  war  bei  Abfassung  von  Mikwaot  sein 
Lehrer  Simcha  sowie  der  diesen  überlebende  Mose  b. 
Chisdai  tot9).  Überhaupt  dürften  dem  ursprünglich  wohl 
nur    aus    den    Traktaten    der    ersten  Mischnaordnung    be- 

»)  I,  S.  87  ff. 

»)  I,  S.  101  ff. 

3)  I,  S.  148  ff. 

*)  I,  S.  110  ff. 

»)  I,  S.  126  ff. 

e)  1,  S.  197  ff. 

')  I,  S.  198  a  Nr.  705  in  Verbind,  mit  S.  210  a  unt 

«)  I,  S.  130  b.  Nr.  458. 

«)  1,  S.  85  b. 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua.  487 

stehenden  1.  Teil  des  Or  Sarua  die  wenig  umfangreichen 
Traktate  der  3.,  5.  und  6.  Ordnung  erst  nachträglich  an- 
gehängt worden  sein.  Ebenso  hat  der  Verfasser  den  Ab- 
schnitt über  Mildtätigkeit  sowie  auch  das  einleitende  Al- 
phabet, die  Eiieser  b.  Joe!  und  Simcha  als  verstorben  be- 
zeichnen1), warscheinlich  erst  später  dem  Traktate  Bera- 
rhot  vorgesetzt. 

Über  die  Todeszeit  dieser  beiden  Lehrer  wissen  wir 
nichts  Bestimmtes.  Zur  Zeit  des  Streites  über  die  während 
der  Frankfurter  Verfolgung  von  1241  zur  Taufe  gezwungene 
B^aut  müssen  sie  schon  beide  tot  gewesen  sein,  da  sonst 
IOS.  es  nicht  unterlassen  hätte,  sie  in  einer  so  wichtigen 
Angelegenheit  um  ihre  Meinung  zu  befragen.  MeschuHam 
b.  David,  der  an  diesem  Streite  beteiligt  ist,  erwähnt  auch 
Simcha  als  gestorben2).  Um  1230  wird  Eiieser  b.  Joel,  der 
während  der  Schülerzeit  des  Meir  a.  Rotenburg  in  Würz- 
burg war,  ncch  gelebt  haben3).  Ebenso  Simcha,  dem  der 
in  einem  Briefe  des  IOS.  an  S.  als  verstorben  erwähnte 
Eiieser  im  Tode  vorausgegangen  zu  sein  scheint4).  Ihren 
Tod  dürfen  wir  wohl  etwa  um  die  Mitte  des  4.  Jahrzehnts 
des  13.  Jahrhunderts  setzen5). 

In  dem  Or  Sarua  lassen  sich  somit  drei  Perioden 
nachweisen:  eine  bis  1224  (die  Traktate  SeraTm),  eine 
zweite  von  1224  bis  etwa  1235  (2.  Teil)  und  eine  dritte 
von  etwa  1235  ab  (3.  und  4.  Teil  und  noch  einige  Ab- 
schnitte des  1.  Teiles).  Die  beiden  letzten  Teile  sind  jeden- 
falls später  entstanden6).  Und  es  liegt  sehr  nahe  anzu- 
nehmen, daß  der  1246  niedergeschriebene  Abschnitt  Ab. 
Sara,    der    letzte    des    vierten  Teiles,    auch    zu  den  zuletzt 

')  I,  S.  10  b  M.,  14  b,  15,  18  a. 
*)  Chajjim  Or  Sarua  Rga,  Steit.,  S.  73a. 
*)  Mo.  (Mordecbai),  Riva,  fol.  39  c  Nr.  1732. 
*)  IOS.  I,  S.  226  b  oben. 

■•)  Über  El.  b.  Joe!  siehe  Groß  (MS.  1885,  S.  375). 
*>)  Über  die  Zeit  der  Abfassung    siehe  auch   Wellesz  MS.  1904, 
S.  361,  363  u.  Jahrb.  1906  S.  119,  H.  Vogelstein  MS.  1905  S.  703/4. 


4SS  Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Saroa. 

abgefaßten  gehört.  Erwägen  wir  ferner,  daß  der  Verfassen- 
den Traktat  Berachot,  sowie  die  Traktate  der  Ordnung 
Moed,  besonders  die  der  Ordnung  Nesikin  eingehend  be- 
handelt, während  er  die  das  Eherecht  betreffenden  Traktat« 
verhältnismäßig  kurz  abmacht,  so  ist  es  nicht  unwahr- 
scheinlich, daß  sein  Tod  erfolgte,  bevor  er  diesen  Teil  voll- 
enden konnte.  Er  muß  also  nicht  lange  nach  der  Redaktion. 
von  Ab.  Sara,  vielleicht  gegen  1250,  in  einem  Alter  von 
70— 7©  Jahren,  gestorben  sein. 

JOS.  führte  ein  Wanderleben.  Er  hielt  sich  auf  in 
Frankreich,  in  Ungarn,  in  Speyer,  Regensburg,  Würzburg, 
Meißen,  Wien,  Sachsen  und  im  Lande  Kanaan.  Wo 
in  diesen  Ländern  und  Städten  mag  wohl  seine  Heimat 
gewesen  sein?  Er  selbst  bezeichnet  Sachsen,  worunter 
man  damals  Sachsen  — Wittenberg  verstand1),  zweimal  als 
>unser  Land«  und  Wien  als  »unsre  Stadt*.  Ein  andres 
Mal  erzählt  er,  daß  er  als  Knabe  in  Meißen  gewesen  ist. 
Einige  Andeutungen  weisen  uns  nach  Böhmen,  da  er  von 
seinen  dortigen  Lehrern  spricht.  Weitere  Bemerkungen  des 
10S.  führen  uns  nach  dem  Lande  Kanaan,  das  er  oft  er- 
wähnt und  als   »unser  Land     bezeichnet. 

Was  verstand  man  im  Mittelalter  unter  Kanaan?  Der 
Verfasser  des  Aruch  übersetzt  (*ihB  in  die  Sprache  Kana- 
ans mit  Öipö«  Das  Nächstliegende  ist,  an  das  griechische 
pfäsm  oder  an  ein  latinisiertes  Neutrum  des  griechischer 
Wortes  zu  denken,  aber  nicht  an  das  slavische  »Mak.«8). 
In  einer  an  Jehuda  ha-Kohen,  den  Verfasser  des  D'nntDD, 
im    11.  Jahrhundert    gerichteten  Anfrage    wird    von   einem 


')  Siehe  Rothert,  Karten  und  Skizzen  aus  der  Entwicklung  der 
größern  deutschen  Staaten  Nr.  2. 

-')  Siehe  Kohut,  Aruch  comp!.  VI,  S.  410.  —  Harkavys  Lese- 
art '2'PC  als  Abkürzung  vom  slavischen  HJ^Sipc  (Die  Juden  und  die 
sl avischen  Sprachen  S.  43  f.)  ist  zu  willkürlich.  Aus  IOS.  I,  S.  65  b 
Nr.  216,  wo  es  WSKNB  heißt,  ist  auf  die  richtige  Lesart  des  Aruch 
nicht  zu  schließen. 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  S^rua.  43} 

I  mischen  Kanaan  gesprochen'-).  Schon  dieser  Ausdruck 
zeig:,  daß  Kanaan  damals  sich  noch  weiter  hinaus  erstreckte. 
Offenbar  hatte  dieser  Begriff  etwas  Unbestimmtes  und 
mochte  wohl  hauptsächlich  den  Norden  und  Südosten 
Europas  umfaßt  haben.  Zur  Zeit  des  Verfassers  des  Josippor. 
besten:  eine  von  diesem  bestrittene  Ansicht,  daß  die  Slaven 
von  Kanaan  stammten2).  Ibn  Esra  versteht  unter  Kanaan 
Deutschland,  Dav.  Kimchi  Deutschland  und  die  Slaven- 
länder;.  Doch  bald  wird  der  Begriff  enger  begrenzt.  Die 
den:  Worte  Kanaan  anhaftende  Nebenbedeutung  Sklave*) 
hav  spezieil  in  Deutschland,  wo  man  bei  den  fortwährenden 
Kämpfen  mit  den  Slaven  viele  von  ihnen  zu  Hörigen  und 
Sklaven  machte  und  wo  Slaven  und  Skiaven  gleichbedeutend 
wurden5),  die  Identifizierung  von  Kanaan  mit  Slavenland 
zur  Folge  gehabt.  Das  zeigen  uns  deutlich  die  zahlreichen 
Glossen  in  der  Sprache  Kanaans  bei  manchen  jüdischen 
Autoren  des  Mittelalters,  die  sich  auf  den  ersten  Blick  als 
slavische  Wörter  zu  erkennen  geben6).  Viele  solcher  Glossen 
finde::    wir    bei  Abraham  b.  Asriel7)  und  besonders  bei  un- 

Serffl    10S.8). 

Wenn  die  Sprache  Kanaans  Slavisch  bedeutet,  so  ist 
jedenfalls  Kanaan  das  Land  der  Slaven  und  mag  wohl  im 

'-}  \V  |J?:3  px :  IOS.  I,  S.  !9ö  a  M.,  Nr.  694.  —  Das  außerdem  in 
kesponsum  zweimal  vorkommende    Kanaan    dürfte    wohl    Slave 
odei  NichtJude  überhaupt  bedeuten. 

'•}  Josippon,  ed.  Vened.,  fol.  1  b  unt. 

'■}  Siehe  deren  Kommentare  zu  Obadja  Ende. 

*)  Diese  Bedeutung  hat  Kanaan  bei  MR.,  ed.  Prag,  Nr.  887, 
'.  .  Berh,  S.  52,  Nr.  332  und  bei  Menachem  a.  Merseburg  (Rga  Jak. 
weij,  Vened.,  fol.  106  b  M.). 

e)  Siehe  Du  Cange   (Glossarium  VII,  S.  357/8),  Grimm   (Dtsch. 
Wrtb.  X,  1  S.  1310/11),  F.  Weigand  (Dtscn.  Wrtb.  II,  S.  674),  Palacky 
:  en  I,  S.  62  M.). 

«)  Harkavy,  S.  48  ff. 
}  MS.  1377,  S.  372  f.,  1882  S.  318. 

»)  Harkavy,  S.  54  ff.,  Wellesz  (MS.  1 904  S.  710/1),  Markon(ebd. 
1905,  S.  709  ff.) 


490  Lebenszeit  und  Heimat  des  Jsaak  Or  Santa. 

weitern  Sinne  alle  slavischen  Länder  umfaßt  haben.  Doch 
hat  dieses  Wort  sicher  noch  einen  engern  Sinn  gehabt  und 
ein  bestimmtes  Land  bedeutet.  Dies  ist  entschieden  bei 
IOS.  der  Fall.  Wenn  er  wiederholt  von  »unsern  Gebräu- 
chen im  Lande  Kanaan«  spricht,  so  kann  er  nur  ein  ganz 
bestimmtes  Land  und  nicht  die  unbestimmte  Ländermasse 
der  Slaven  gemeint  haben.  Schon  im  12.  Jahrhundert  ver- 
stand man  sehr  wohl  die  einzelnen  slavischen  Länder,  wie 
Rußland,  Polen  und  Böhmen  auseinander  zu  halten1).  IOS. 
der  stets  genaue  Bezeichnungen  liebt  und  Zweideutigkeiter 
vermeidet,  hätte,  wenn  er  verschiedene  slavische  Länder 
besucht  hätte,  sicher  nicht  unterlassen,  die  einzelnen  Län- 
der, in  denen  er  die  angeführten  Gebräuche  beobachtet, 
genauer  zu  bezeichnen.  Der  Ausdruck  UfliS^öS2)  der  ein 
Königreich  oder  ein  unter  einem  besondern  Herrscher  ste- 
hendes Land  bedeutet,  schließt  es  aus,  an  eine  Lär.der- 
masse  zu  denken. 

Welches  slavische  Land  dürfen  wir  unter  Kanaan  bei 
IOS.  verstehen  ?  Rußland  erwähnt  er  selbst  niemals,  Polen 
vielleicht  ein  einziges  Mai3).  In  Ungarn,  wo  sich  ebenfalls 
viele  Slaven  befanden,  hat  er  sich  wohl  aufgehalten,  doch 
nur  ganz  kurze  Zeit4),  Meißen,  die  Pr®vinz  Sachsen  und 
Österreich,  wo  im  13.  Jahrhundert  Überreste  von  Slaven. 
gelebt  haben  mochten,  wo  aber  das  deutsche  Element,  wenig- 
stens in  den  Städten,  nach  Jahrhunderte  langer  Kolonisation 
ohne  Zweifel  stark  vorherrschte,  kann  er  unmöglich  als 
slavische    Länder    bezeichnet    haben5;.     Er    kann    auch    in 

l)  Von  Rußland  und  Polen  erzählt  bei  IOS.  Elieser  aus  Böhmen  : 
IOS.  !,  S.  40  b  Nr.  113. 

*)  Siehe  S.  496,  Anm.  1. 

•)  I,  S.  112b  unt.  ist  wohl  rroSißa  statt  iri^M  zu  lesen? 

«)  Siehe  unten  S.  497,  Anm.  3. 

6)  Vollständig  unhaltbar  ist  die  Annahme  von  Zunz  (Binjatri-; 
a.  Tudela,  cd.  Ascher,  II,  S.  288  unt.),  IOS.  nenne  sein  Land  Kanaan, 
weil  Österreich  damals  unter  Ottokar  II.  zu  Böhmen  gehört  habe.  So 
Jagen  doch  die    politischen    Verhältnisse    nicht,    daß    Österreich     als 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua.  491 

einem  unter  deutscher  Herrschaft  stehenden  Lande,  wo  die 
in  den  Städten  zwischen  Deutschen  lebenden  Juden  sich 
doch  der  deutschen  Sprache  bedienen  mußten,  unmöglich 
Gelegenheit  gehabt  haben,  sich  mit  den  slavischen  Idiomen 
vertraut  zu  machen.  Ebenso  wenig  wird  dort  ein  Bedürfnis 
bestanden  haben,  schwer  verständliche  talmudische  Wörter 
in  eine  slavische  Sprache  übersetzt  zu  sehen.  Das  einzige 
slavische  Land,  zu  dem  IOS.  Beziehungen  hatte  und  an  das  er 
bei  Kanaan  denken  konnte,  ist  nur  Böhmen.  In  Böhmen  hatten 
seine  Lehrer  gewohnt.  Er  erwähnt  oft  Isaak  b.  Mcrdechai1), 
Isaak  ha-Laban2),  Eüeser  b.  Isaak3),  Mose  b.  Jakob1),  Abra- 
ham b.  Asriel5),  Jakob  ha-Laban5),  Isaak  Chasan0),  von 
denen  wir  wissen,  daß  sie  in  Böhmen  lebten.  Er  spricht  auch 
mehrmals  von  Böhmen7)  und  ist  über  Prag  unterrichtet8). 
Man  bedenke  ferner,  daß  Kanaan  schon  alte,  angesehene 
Gemeinden  besessen  haben  muß,  wenn  IOS.  so  oft  ihre 
Gebräuche  anführt  und  sie  denen  der  bedeutendsten  Ge- 
meinden in  Frankreich  und  am  Rhein  gegenüberstellt.  Das 
paßt  nur  auf  Böhmen,  wo  sich  schon  im  10.  und  11.  Jahr- 
hundert durch  sichere  Nachrichten  Gemeinden  nachweisen 
lassen9)  und  wo,  wie  wir  oben  gesehen,  wir  schon  im  12. 
Jahrhundert  bedeutende  Gelehrte  finden.    Dagegen  bezeugt 


Provinz  Böhmens  gegolten  haben  sollte.  Außerdem  nennt  er  ja,  wie 
wir  unten  S.  496  sehen,  schon  während  seines  Unterrichtes  bei  E!. 
b.  Joel  Kanaan  sein  Land. 

')  Siehe  oben  S.  482  f. 

*)  Tykocinski,  Prag  (MS.  1900  S.  351  mit.). 

»)  II,  S.  32b;unt,  S.  79a  Nr.  148  Schluß  und  noch  an  andern  Stellen. 

*)  I,  Nr.  25*  S.  24  a  Mitte,  II,  Nr.  424,  S.  174  a  ob.,  vergl.  Tos. 
Jebam.  fol.  24  a  Mitte. 

*)  Siehe  weiter  unt    S.  495. 

«)  Siehe  oben  S.  48C,  Anm.  8. 

7)  I,  S.  14  b  Nr.  8,  S.  117  b  ob.,  S.  199  b  Mitte  Nr.  707,  II. 
S.  40  b  Nr.  13,  Nr.  432  S.  177  b  unt.  und  178  a  unt. 

»)  I,  Nr.  378  S.  105  b  unt.,  Nr.  712  S.  200  b  M.  II,  Nr.  281 
S.  129  a  ob.  III,  B.  Kamma  S.  62  a  M.  Nr.  413. 

»)  Tykocinski,  Prag  (MS.  1909,  S.  345  f.). 


•492  Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua. 

unsEIieserb.  Isaak  aus  Böhmen  ausdrücklich,  daß  in  Rußland, 
Polen  und  Ungarn,  zu  seinerzeit  wenigstens,  die  Gemeinden 
schwach  und  die  Talmudstudien  wenig  entwickelt  waren1). 

Für  die  Gleichbedeutung  Kanaans  mit  Böhmen  finden 
wir  bei  IOS.  noch  ein  weiteres  deutliches  Zeugnis.  In  einem 
Meinungsstreit  zwischen  EphraTm  b.  Isaak  und  Joe!  b.  Isaak 
beruft  sich  dieser  darauf,  daß  ein  bedeutender  Gelehrter  Isaa'-- 
Chasan  in  Böhmen  es  für  erlaubt  hielt,  die  fragliche  Art  Feit 
zu  essen.  Darauf  erwidert  ihm  Ephraim  b.  Isaak,  im  Lande 
Kanaan  gebe  es  große  Weise,  die  das  Feit  nicht  genießen2) 
Diese  Antwort  hat  nur  dann  einen  Sinn,  wenn  Böhmen 
und  Kanaan  dasselbe  ist.  Ephraim  will  nicht  damit  beweisen, 
daß  es  überhaupt  Gelehrte  gibt,  die  es  nicht  essen,  denn 
er  hat  schon  im  Vorausgehenden  auf  Frankreich,  die  Lom- 
bardei und  sein  eigenes  Land  hingewiesen.  Ohne  Zweifel 
will  er  seinen  Gegner  damit  schlagen,  daß  selbst  in  Böhme? 
auf  das  sich  dieser  beruft,  große  Gelehrte  der  entgegen- 
gesetzten Meinung  sind.  Die  Identität  von  Böhmen  mit 
Kanaan  läßt  sich  auch  daraus  schließen,  daß  Abraham  b. 
Asriel,  der  zu  den  Alten  Böhmens  gezählt  wird3),  oft  von 
Glossen  in  der  Sprache  Kanaans  Gebrauch  macht. 

Verstehen  IOS.  und  Abraham  b.  Asriel  unter  Kanav 
Böhmen,  so  denkt  auch  der  von  IOS.  angeführte  und  nach  Prag 
benannte  Isaak  b.  Mordechai,  wenn  er  bei  der  Mitteilung  eines 
Brauches  sagt:  >-In  Kanaan  habe  ich  gesehen«4),  nur  an 
Böhmen.  Dies  um  so  mehr,  als  IOS.  selbst  soeben  diesen 
Brauch  auch  von  Prag  mitteilt.  Da  auch  EphraTm  b.  IsaaV, 
wie  wir  oben  gesehen,  mit  Kanaan  Böhmen  meint,  so  wird 
uns  klar,  daß  diese  Bezeichnung  schon  im  12.  Jahrhundert 


')  IOS.  I,  S.  40  b,  Nr.  113. 

2;  Joel  b.  Is.  sagt:  . . .  fivil  \m  orraa  pns1  n  na*i  x~z:  irn  '3 
W<V  'n'K  TJ1D.  Antwort  des  Ephraim:  cosn  w  fj?:r  piO  nm 
".ms  p^31K  pXB>  QiBSinö  IOS.  I,  S.  117  b  ob. 

»)  Steinschneider,  Cod.  Berl.  II  (137S),  S.  55  ob. 

*)  IOS.  I,  Nr.  712,  S.  200  b  M. 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Serna.  493 

üblich  war.  Dann  dürfen  wir  annehmen,  daß  das  von  Elieser 
b.  Natan  aufgesuchte  Kanaan,  über  dessen  Gebräuche  er 
uns  mehrmals  berichtet1),  gleichfalls  Böhmen  ist.  Ebenso 
haben  wir  bei  MeTr  a.  Rotenburg  an  Böhmen  zu  denken., 
wenn  er  neben  Frankreich,  England  und  Deutschland  auch 
Kanaan  als  Beispiel  dafür  anführt,  daß  durch  verschiedene 
Sprachen  getrennte  Gebiete  als  verschiedene  Länder  zu 
betrachten  sind8).  D,  h.  die  Benennung  Kanaan  war  nicht 
10S.  allein,  sondern  den  damaligen  jüdischen  Gelehrten 
Deutschlands  überhaupt  eigen.  Damit  stimmt  die  Mitteilung 
Benjamins  aus  Tudela  überein.  Er  sagt :  »Von  da  ab  ist 
Böhmen,  das  Prag  genannt  wird.  Das  ist  der  Anfang  des 
Landes  Sklavonien,  und  die  Juden,  die  dort  wohnen,  nennen 
es  das  Land  Kanaan,  weil  die  Bewohner  dieses  Landes 
ihre  Söhne  und  Töchter  an  alle  Völker  verkaufen^3).  Die 
Stelle  ist  nicht  ganz  klar.  Grammatikalisch  kann  sich  »es« 
sowohl  auf  Böhmen  als  auch  auf  Sklavonien  beziehen, 
dem  Sinne  nach  jedoch  richtiger  auf  das  erstere.    Dies  um 


')  pam,  ed.  Prag,  fol.    S  d,  Nr.  8  Anf.,    fol.  61  a,  Nr.  327  Ende, 
fol.  70  a  ob. 

2)  fva  ntt-mf?   D-pi^n  |j»3  p-wi  »38M  \s,-i  pxi  no-tti  nx-u 
Mflrta  trpltavt  MR.  Crem.,  fo!.  40b,  Nr.  117.  —    Sal.  Lurja,  im  16. 
ishrhundert,  scheint  allerdings  unter  Kanaan,  wenn  er  sagt:  D.T3  \Wt~ 
j>;3  ]'&b  pj?2    X'flV    Polen    zu    verstehen,    wo    er   lebte:   Jam    schel 
<cheIomo,  Ghtin  (ed.  Bei!.),  Nr.  32  fol.  36 d  Mitte. 

8)  rronbpVM  px  r^nn  x\-  .nar*  nx-ip;n  «*fli  Dna  px  nuVni  ow 
b^zvz  jyjD  fix  db>  cmn  chi-\"  nw*  D^mpi  [omT  ip  ina  naij 
IWM  ^  D,TJn3l  DTP»  D'-a'D  KW?  pKM  1&,:x[B>]:  Binjamin  v.  Tu- 
dela, ed.  Orünhut-Adler,  S.  103.  —  Vgl.  ed.  Adler,  S.  72  d  hebr.  Textes, 
Anm.  12.  —  Über  d.  Bedeutung  v.  Kanaan,  siehe  auch  Zunz  (ßin- 
jamin  a.  Tudela,  ed.  Ascher  II,  S.  226/7),  Harkavy  S.  20  ff.,  Kohut 
(Aruch  complet.  I,  Einleit.,  S.  VII  Mitte,  IV,  S.  260  a  not),  Güdemann 
Gesch.  d.  Erziehungsw.  in  Frankr.  und  Deutschi.  S.  115,  Anm.  5), 
Brann  (Qesch.  der  Jud.  in  Schles.  S.  3,  Anm.  3),  Oastfreund  (Die 
Wiener  Rabbinen,  S.  11  ob,  13  ob.),  Salfeld  (Martyrolog.  S.  151. 
Ärim.  1),  Wellesz.  (MS.  1904,  S.  453  M.).  Eine  verkehrte  Auffassung 
von  Kanaan  hat  Grünhut-Adler  (Bitijam.  v.  Tud.  ed.  Frankf.  S.  136/7) 


494  Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua. 

so  wahrscheinlicher,  als  eine  Handschrift  die  Angabe  ent- 
hält, in  Kanaan  hätten  sich  damals  106  Juden  befunden. 
Für  den  ganzen  Komplex  der  Slavenländer  wäre  die  Zahl 
zu  gering,  und  der  Verfasser  hätte  schwerlich  so  eingehende 
Nachrichten  darüber  haben  können. 

Wir  wissen  nun,  daß  Kanaan  Böhmen  ist  und  daß 
IOS.  es  »unser  Land*  nennt.  Wir  kehren  jetzt  zu  unserer 
ersten  Frage  zurück  :  Welches  von  den  vier  Ländern  Öster- 
reich, Meißen,  Sachsen-Wittenberg  und  Böhmen  hat  am 
meisten  Anspruch  darauf,  als  die  Heimat  des  IOS.  zu  gelten? 
Zu  diesem  Zwecke  wollen  wir  die  Beziehungen  des  Ver- 
fassers zu  jedem    dieser  vier  Länder  genauer  untersuchen. 

Wien  erwähnt  IOS.  in  einem  von  dort  aus  an  seinen 
Lehrer  Simcha  gerichteten  Schreiben1).  In  der  Abhandlung 
über  Terefot  bezeichnet  er  W.  ausdrücklich  als  »unsre 
Stadt« 2).  Er  lebte  also  dort  schon  zu  Lebzeiten  seines 
Lehrers  S.,  aber  auch  während  der  Abfassung  der  erwähnten 
Abhandlung,  die  wohl  nach  dessen  Tode  geschah.  In 
Wien  traf  ihn  auch  Chajjim  b.  Mose,  der  Schwiegervater 
des  Abigedor8).  Wahrscheinlich  hat  IOS.  den  letzten  Ab- 
schnitt seines  Lebens  in  Wien  zugebracht,  weshalb  er 
von  MeTr  b.  Baruch,  Mordechai  und  auch  von  andern  Autoren 
in  der  Regel  nach  Wien  genannt  wird4).  Seine  Heimat  kann 
W.  nicht  sein,  da  er  außer  an  den  beiden  angeführten 
Stellen  nie  dieser  Stadt  gedenkt  und  keine  Gebräuche  aus 
deren  Gemeinde  anführt.  Ohne  Zweifel  kam  er  nach  W. 
erst  in  spätem  Alter,  und  machte  sich  erst  sehr  spät  mit 
den    dortigen    Verhältnissen    vertraut.    In    Meißen    hielt  er 

«)  K3"0  pJH  13  '3  :  I,  S.  225  b,  Nr.  762  Anf. 
2)  wiu  w>TJ>3  part  I,  Nr.  406,  S.  nob  nnt. 
s)  r,DD3  ppkvi  nroi  D'soni  i1?  "rnn  wie  *i"n  "sb  »rovrai:  Hag. 

Mo.,  Preßb.,  Kidd.  fol.  105  d  Nr.  570  Mitte.  —  Siehe  S.  Kohn,  Mor- 
dechai S.  104. 

4)  MR.,  Prag,  fol.  23  a  Nr.  111  u.  an  vielen  andern  Orten.  Mo., 
Riva,  fol.  24  d,  Nr.  1050,  fol.  53  c  Mitte  u.  sonst  noch  oft.  Schibbole 
ha-Leket,  ed.  Buber,  S.  233  M.,  255  ob. 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua.  495 

sich,  wie  er  selbst  erzählt,  als  Kind  auf1).  Aber  außer  an 
dieser  einzigen  Stelle  erwähnt  er  es  nirgends.  Mit  den 
Gemeindeverhältnissen  in  Sachsen,  das  er  zweimal  als 
»unser  Land«  bezeichnet  und  von  dem  er  Gebräuche  an- 
führt2), muß  er  vertraut  gewesen  sein.  Sicher  hat  er  sich 
dort  einmal  längere  Zeit  aufgehalten.  Doch  viel  inniger  als 
zu  Sachsen,  Meißen  und  Wien  sind  die  Beziehungen  des 
Verfassers  zu  Böhmen  oder  Kanaan. 

Im  Or  Sarua  erwähnt  Isaak  selbst  viermal  Prag, 
sechsmal  Böhmen8),  außerdem  erwähnt  er  es  elfmal  unter 
der  Bezeichnung  Kanaan.  Er  spricht  dreimal  von  'meinen 
Lehrern  in  Böhmen«4).  Er  nenntauch  Isaak  b.  Mordechai1), 
Jakob  b.  Isaak  ha-Laban6)  und  Abraham  b.  Asriei7),  die  Böhmen 
angehören,  seine  Lehrer.  Er  muß  wohl  bei  ihnen  in  Böhmen 
Unterricht  genossen  haben,  und  das  kann,  was  Isaak  b.  Mor- 
dechai  betrifft,  nur  in  seiner  Kindheit  geschehen  sein.  Mit  den 
Gebräuchen  in  Böhmen  oder  Kanaan  ist  er  besonders  \ er- 
traut, und  er  bezeichnet  dabei  Kanaan  fast  immer  ausdrück- 
lich als  sein  Land:  »Wie  wir  es  im  Lande  Kanaan  zu  tun 
pflegen«.  —  *Es  geschieht  täglich  in  unserem  Königreiche 
im  Lande  Kanaan«.  —  »In  unserem  Königreiche  im  Lande 
Kanaan    hütet    man  sich«  ...  —  »Unsere  Sitte  im   Lande 


')  noj3,n  rrsa  [-»"sn  pT"*a  vm  [öp  nj»  innen  ";kb»3  "»anist 
f3  JVÄ'JJ?  Y.DKW  Tom  flM?-»!  ma'j? :  IV,  S.  55b  unt.  —  Unter  ny;  ist 
natürlich  »Knabe«  und  nicht,  wie  Vogelstein  (MS.  1905  S.  702  ob.) 
meint,  »Jüngling«  zu  verstehen.  Ebenso  bedeutet  'roni  nicht»  ich  habe 
die  Entscheidung  getroffen«,  sondern  wie  auch  an  andern  Stellen  »ich 
war  der  Ansicht'.  Vgl.  Wellesz  (MS.  1904  S.  137  ob.  u.  Jahrb.  d. 
jüd.-liter.  Geseüsch.  1906  S.  116  unt.  f.) 

2,  VPXWV  px  irmsSo  iJC«  I,  S.  200b,  M.  Nr.  712.  —  WJliaVöS. 
KWWS:  II,  S.  138b,  Nr.  320  Ende. 

3;  Siehe  oben  S.  491. 

*)  I,  S.  14  b    Nr.  8,  II.  Nr.  432  S.  177  b  unt.  u.  178  a  unt. 

6)  S.  oben  S.  482. 

«,  II,  Nr.  432  S.  177  b  unt.  Siehe  auch  Schibbale  ha-Leket,  ed. 
Buber,  S.  366  unt. 

')  II,  S.  48  a  Nr.  91  u.  92. 


4-96  Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua. 

Kanaan«.  —  »Warum  wir  in  unserm  Königreiche  im  Lande 
Kanaan  gewohnt  sind«.  —  »Wir  im  Lande  Kanaan  haben 
den  Brauch«  —  »Wir  aber,  in  allen  unseren  Gemeinden  im 
Lande  Kanaan«1). 

Dieses  beweist  vor  allem,  daß  er  sich  lange  in  Böh- 
men aufgehalten  und  mit  den  Verhältnissen  der  dortigen 
Gemeinden  besonders  vertraut  war.  Das  beweist  aber  noch 
viel  mehr:  Abgesehen  von  Frankreich  und  den  Gemeinden 
am  Rhein,  die  wegen  ihrer  Bedeutung  als  Beispiel  gälten, 
führt  lOS.  die  Gebräuche  keines  anderen  Landes  so  >ft  an 
wie  die  Böhmens.  Von  Würzburg  bringt  er  uns  nur  zweimal 
Mitteilungen'2),  von  der  bedeutenden  Gemeinde  Regensburg 
ebenfalls  nur  zweimal*),  obwohl  er  doch  in  beiden  Städten 
gelebt  hat.  Dagegen  bringt  er  Gebräuche  und  andre  Mit- 
teilungen von  Kanaan  oder  Böhmen  oder  Prag  zwanzigmal. 
Diese  Vorliebe  läßt  sich  eben  nur  durch  seine  Abstammung 
erklären  und  dadurch,  daß  er  bei  seinen  Lehrern  in  Böhmen 
seinen  ersten  Unterricht  genoß. 

Seine  Abstammung  aus  Kanaan  betont  IOS  selbst  an 
einer  Stelle.  Während  des  Unterrichtes  bei  Elieser  b.  Joe! 
sagt  er  zu  seinem  Lehrer:  »Wir  in  unserm  Königreiche  im 
Lande  Kanaan  richten  uns  (in  bezug  auf  den  Genuß  einer 
gewissen  Art  Fett)  nach  R.  Ephraim,  ihr  aber  halte:  es 
nach  R.  Joe!  für  genießbar«4).  Also  schon  während  seiner 
Lehrjahre  und  seines  Aufenthaltes  außerhalb  Böhmens  be- 

')  [JH3  p»3  vniafroa  um*»:  i,  S.  JlSa  ob.  —  rr:-i  ux»  loa 
ijj»  pxa;  II,  s.  6a  Mitte.  —  |j>m  pxr  lrroa^os  or  ^33  onpjmu  II, 
s.  15  b  ob.  —  anr;«  j]»a  p«a  unntan:  n,  S.  16  a,  Nr.  33.  —  oruo 

|p3  p«3  :  II.  S.  19a  AI,  22a  unt.  —  p*a  Wni3^B3  p:,T:  ':XC  "3  hy 
JJ»a:  II,  S.  49b,  Nr.  95  Ende.  —  nvna  |pa  pR3  13KJ  II,  S.  176a,  Nr. 
429.  —  mim  fV33  p«3  UWBlpB  ^33  UN  lfPD:  IV,  S.  52  a,  Nr.  136 
Schluß.  —  }j»3  p«  erwähnt  IOS.  auch  II,  S.  39b  unt.  —  Siehe 
Wellesz  (Jahrb.  1906,  S.  192). 

a)  II,  Nr.  107  S.  53  a  mit.,  S.  157  b  Nr.  284. 

3)  I,  S.  85  b  uut.  11,  S.  23  a  nnt. 

4)  wd^m  *?-ati  v'itj>h  v,3K  wai  nie  v  ty  ana  p-so  wwa  »sman 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua.  497 

zeichnet  er  Böhmen  als  sein  Land.  Die  Abstammung  be- 
weisen auch  die  zahlreichen  Glossen  in  der  Sprache  Kanaans, 
die  darauf  schließen  lassen,  daß  er  schon  in  seiner  Kind- 
heit diese  Sprache  kannte.  Auf  einen  slavischen  Ursprung 
dürfte  auch  die  bei  10S.  vorkommende,  noch  heute  bei  den 
Cechen  und  teilweise  bei  den  andern  Slaven  übliche  Na- 
mensform Labe  für  Elbe  deuten1),  die  auch  die  Schreibart 
des  ersten  böhmischen  Chronisten  Cosmas,  im  12.  Jahr- 
hundert, entspricht,  während  die  deutschen  Chroniken  Albia 
oder  Albis  schreiben2).  Slavischen  Ursprungs  sind  auch 
die  Namensformen  der  Orte  Buden  und  Ostrigom  in  Ungarn, 
unter  welchen  10S.  sicher  Budapest  und  Gran,  im  Cechischen 
Budin  und  Ostfihom,  versteht3}. 

Man  hat  gemeint,  seine  slavischen  Worterklärungen 
können  seine  Abstammung  garnicht  beweisen,  da  er  ja  in 
vielen  Ländern  gelebt  hat  und  sich  auch  französischer  und 
deutscher  Wörter  bediene4).  Die  allerdings  in  großer  Zahl 
gebrauchten  französischen  Glossen  gehören  aber  zum  Teil 
nicht  ihm,  sondern  den  zitierten  Autoren5).  Dann  folgt  er 
nur  altern  Beispielen,  wenn  er  sich  der  schon  seit  lange 
bei  deutschen  und  französischen  Gelehrten  üblichen  und 
unentbehrlichen  französischen  Erklärungen  bedient.  Deutsche 
Wörter  finden  wir  bei  unserm  Verfasser  etwa  zehn.  Doch 
mehr  als  die  Hälfte  davon  gehören  andern  Autoren.  Von 
der  böhmischen  Sprache  dagegen  bringt  uns  IOS.,  der  sie, 


one»  wai  "nana  [Jos  fuo  vstahoa  vx\ . . .  tidxi  \b  ^r\b*v  dkt  nsbn : 
I,  S.  118  a  ob.  —  Siehe  auch  Groß  (MS.  1871,  S.  251,  Anm.  2). 

l)  in?i  Dirm  man  p»  rotaa  »nrra:  II,  S.  3a  unt.  —  Es  ist 
wohl  i^b  statt  nS  zu  lesen.  Im  Russischen  und  Polnischen  heißt  der 
Fluß  Elba  u.  Laba. 

*)  Pertz  SS.  IX,  Register. 

s)  DirittD*^  pnS  nan  pi6  ^nySp"'«  -cnon  "OK:  I,  S.  lula 
Mitte  Nr.  366.  —  Siehe  Wellesz  (MS.  1904  S.  448). 

*)  Wellesz  ebd.  S.  137. 

6)  Ebd.  S.  710  f. 

32 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  "• 


493  Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua. 

vielleicht  durch  das  Beispiel  des  Abraham  b.  Asriel  dazu  an- 
geregt, in  die  talmudische  Literatur  zuerst  eingeführt,  die  sehr 
bedeutende  Zahl  von  51  Wörtern1).  Es  verhält  sich  also 
mit  den  böhmischen  Glossen  ganz  anders  als  mit  den  fran- 
zösischen und  deutschen,  und  sie  lassen  auf  enge  Be- 
ziehungen des  Verfassers  zu  Böhmen  schließen.  Daß  IOS. 
seinen  Kodex  für  die  in  slavischen  Ländern  lebenden  Juden 
geschrieben  hätte2),  ist  nicht  anzunehmen,  doch  hatte  er 
offenbar  das  klare  Bestreben,  sein  Werk  den  Talmudjüngern 
seiner  Heimat,  denen  die  in  der  talmudischen  Literatur 
eingebürgerten  französischen  Glossen  fremd  waren,  durch 
böhmische  zu  erklären.  Man  darf  sogar  annehmen,  daß  er 
in  Böhmen  ein  Lehrhaus  leitete,  und  daß  sich  dort  bei  den 
Vorträgen  das  Bedürfnis  herausstellte,  zum  bessern  Ver- 
ständnis seiner  slavischen  Jünger  die  böhmische  Sprache 
zu  benützen.  Daß  er  in  Würzburg  lehrte,  wissen  wir  durch 
Me'i'r  aus  Rotenburg,  der  dort  von  ihm  Unterricht  empfing. 
Eine  Andeutung,  daß  er  eine  Schule  leitete,  finden  wir 
auch  bei  seinem  Korrespondenten  Jesaja  b.  Mali.  Dieser 
wünscht  ihm,  daß  Gott  sein  Gebiet  mit  Schülern  bereichern, 
und  er  die  Lehre  in  Israel  verbreiten  möge3). 

Wenn  IOS.  eine  Schule  in  Böhmen  leitete,  so  kann 
das  nur  nach  seiner  Rückkehr  aus  Deutschland  und  Frank- 
reich geschehen  sein.  Da  die  meisten  Stellen,  in  denen  er 
von  den  Gebräuchen  in  Kanaan  spricht,  sich  in  den  Trak- 
taten der  Ordnung  Moed,  besonders  im  Traktate  Sabbat 
befinden,  so  darf  wohl  angenommen  werden,  daß  sein  aber- 
maliger Aufenthalt  in  Böhmen  in  der  Zeit  der  Abfassung 
dieses  Teiles  geschah.  Die  Ordnung  Moed  ist  aber,  wie  wir 
oben  gesehen4),  vor  dem  dritten  und  vierten  Teil  und 
wahrscheinlich  noch  zu  Lebzeiten  seiner  Lehrer  Elieser  b.  Joe! 


»)  Markon,  MS.  1905  S.  709  ff. 
8)  Wellesz  S.  710. 
3)  IOS.  I,  S.  220  a  Nr.  754  Ende, 
*)  Siehe  oben  S.  485. 


Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarua.  499 

und  Simcha  entstanden.  Dieser  Aufenthalt  muß  jedenfalls 
dem  in  Wien,  vorausgegangen  sein,  wo  er,  wie  wir  schon 
oben  gezeigt  haben,  den  letzten  Abschnitt  seines  Lebens 
zubrachte.  Dagegen  geschah  es  wohl  nach  seinem  Aufent- 
halte in  Regensburg  und  Würzburg,  da  er  davon  im  Teile 
Moed  wie  von  etwas  Vergangenem  spricht.  Zur  Zeit  des 
Rechtsstreites,  in  dem  er  etwa  dreißig  Jahre  vor  Abfassung 
des  Abschnittes  Gittin  zwischen  einem  böhmischen  und 
einem  Regensburger  Juden  als  Richter  zu  entscheiden 
hatte,  wird  er  wohl  in  Regensburg  gewohnt  haben.  Das 
dürfte  Ende  des  zweiten  Jahrzehntes  geschehen  sein.  Von 
dort  aus  muß  er  nach  Würzburg  gegangen  sein,  wo  Mei'r 
aus  Rotenburg,  wohl  in  den  letzten  Jahren  des  dritten 
Jahrzehntes,  als  Knabe  sein  Lehrhaus  besuchte2). 

Nach  den  obigen  Darlegungen  dürften  wir  uns  den 
Lebenslauf  des  IOS.  in  folgender  Weise  vorstellen.  In  Böhmen 
hat  er  seine  Kinderjahre  und  sicher  auch  die  ersten  Jahre 
seiner  Jugend  verlebt.  Ob  er  auch  dort  geboren  ist,  wissen 
wir  nicht.  Vorübergehend  hielt  er  sich  als  Knabe  in  Meißen 
auf.  In  Böhmen  genoß  er  Unterricht  bei  Isaak  b.  Mordechai, 
Jakob  b.  Isaak  ha-Laban  und  Abraham  b.  Asriel.  Wohl  in  den 
letzten  Jahren  des  12.  Jahrhunderts,  vielleicht  nach  einem 
längern  Aufenthalte  in  Sachsen-Wittenberg,  ging  er  als  reifer 
Jüngling  nach  Deutschland  und  besuchte  die  bekannten 
Stätten  jüdischer  Gelehrsamkeit,  wo  er  als  Jünger  der  da- 
maligen Autoritäten,  Jehudas  des  Frommen,  Eliesers  b.  Joel, 
Simchas  in  Speyer  und  Eleasars  aus  Worms  sein  Wissen 
bereicherte.  Schon  im  Jahre  1201,  wohl  nach  seiner  Schüler- 
zeit bei  Elieser  b.  Joel  bekleidete  er  ein  Rabbineramt  in 
Deutschland,  vielleicht  am  Rhein,  von  wo  aus  er  zu  gleicher 
Zeit  mit  Elieser  b.  Joel  und  Simcha  ein  Gutachten  in  der 
Angelegenheit  des  ermordeten  Alexander  abgab.    Erst  nach 

>)  Siehe  oben  S.  479,  Anm.  6. 

2)  Mo.,  Kiva,  fol.  39  c  Nr.  1732.  —  Siehe  Groß  (MS.  1871. 
S.  257.) 

32* 


500  Lebenszeit  und  Heimat  des  Isaak  Or  Sarna. 

1215,  bis  zu  welcher  Zeit  er  wohl  in  Deutschland  lebte, 
treffen  wir  ihn  in  Paris  in  eifrigem  Verkehr  mit  seinem 
Lehrer  Jehuda  b.  Isaak  und  andern  bekannten  französischen 
Gelehrten.  Von  Paris  zurückgekehrt,  war  er  in  Regensburg 
und  Würzburg  als  Rabbiner  und  Schuloberhaupt  tätig.  Wohl 
erst  von  Süddeutschland  aus  ging  er  nach  Böhmen  zurück 
und  lebte  dort  wahrscheinlich  im  vierten  Jahrzehnt,  eine 
Reihe  von  Jahren,  bis  er  sich  endlich  in  Wien  niederließ, 
wo  er  wohl  bis  zu  seinem  Tode  geblieben  sein  mochte. 


Notiz. 


Zum  nijnap  nyp  des  R.  Isaac  ben  Reuben. 

Mein  Kollege  Professor  Louis  Ginzberg  macht  mich  darauf  auf- 
merksam, daß  das  von  mir  in  der  Lewy-Festscbrift  (S.  62—75)  ver- 
öffentlichte Genizahfragment,  das  ich  als  Überbleibsel  aus  einem  1DD 
|Hps  bezeichnet  hatte,  sich  auf  das  Engste  mit  dem  Text  des  den 
Namen  des  R.  Isaac  b.  Reuben  tragenden  nijnav  "nytP  berührt.  Ich 
habe,  diesem  dankenswerten  Hinweis  folgend,  die  beiden  Texte  mit 
einander  verglichen  und  stellte  hierbei  fest,  daß  deren  Identität  keine 
vollständige  ist.  Um  das  Verhältnis  der  Texte  zu  einander  zu  veran- 
schaulichen, stelle  ich  einen  Passus  aus  dem  Anfang  des  siebenten 
Abschnittes  (Lewy-Festschrift,  p.  71  f.1),  fliyctf  *-»JW  in  der  Wilnaer 
Talmudausgabe  fol.  lOd)  nach  beiden  Rezensionen  einander  gegen- 
über, wobei  ich,  der  Einfachheit  halber,  anstatt  des  arabischen  Ori- 
ginaltextes, die  von  mir  hergestellte  hebräische  Übersetzung  benütze. 

Genisahfragmen  t 

mjnap  ■'jm  mann  ^yn^n  piDH 
pm  ccitom  niw  \rm  pa  o^oim 
ibta  dhd  in«  So  nSyo  p-on  nnip  \y*v 
Pjnww  "Di  nnS  \b  onnren  &2*v\ 
mpea  [orem  oJ-noiBTHP  "ioxii  o^ioS 
um  -idip  wn  aww  prx*n  ..tjdtk  on 
«"«  [m  »a  'nmo  -o»  ^a  idibti  xim 
idib>  »arm  ■id»'?  a^s  im  ?]dd  iron  Sx 
vnrna  tswi  «im  iob>o  lown  mm  -dp 
iw  ix  iiB'  i«  "non  injn  Sx  b^x  jn"1  xs 
nava  ix  na»:  ix  noi  "iop1?  mana  Sai 
to«i  i»  mano  tanvn  dtix  «im  pxi 

■Olffl  3*31  '31  TD  IX  "13BW  WJH  OVO  «"* 

J)  Das  dem  siebenten  Abschnitt  vorausgehende  Stück  gehört, 
wie  ein  Vergleich  mit  dem  mjftSV  inj?«'  lehrt,  zum  achten  Abschnitt 
und  sollte  später  folgen.  Ich  hatte  mich  fälschlich  nach  der  Lage  der 
Blätter  gerichtet. 

■)  Wegen  homoioteleuton  das  Folgende  ausgefallen. 

»)  Sollte  'an  heißen.   Anscheinend  infolge  der  Lücke  korrigiert. 


*a*»*ia  naiK'^arn  -ijuph 
ifiwrwan  D'noivn  niyiav 

pna  pur   i^idip  d-'dvbi  ntö 
"101X1  iibbSi  arnS 

.n  rrona  onstan  wivnv 

(»picen  10X3  vVjn  o:n  tdw  'xn 


■mp  ix  -man  man  tot  »»« [ir  '3 

.■nerS  mna  Sai  nv  ix 

iDxa  rby\  bxwn  xin  (*an 

injn  oyc  vm  Sxk"  »a  piaen 


502 


Notiz. 


•ob*  kb>u  \n  «an  .pb  ix  i5B>:i 

X1H  T3B»  DK  "1BKJ  vtyl  "1318>ni 
n  l^X  "»"in  1"I3B>3  X3 

nvbv  f.Tjm 
nwa>    cjn    ibib»    bw    im 

JJTXB»  JH1XB  *?3    ty  pB1^B>PB 


.TXVll    VOBO  xb  xn   T3B>  BK1  V1B1B 

ibs  xipDB  c-moD  DnoitPfl  Wfl  "?j> 
n^xi  n»"B  p2"i  ur  d.tibi  on  ij-istb» 
psb>,!?b>  na«?  nowa  mw  wn  iBiB>amt.iM 
»in  D^'i;  onbyis  thd  ^bk  .'tibi  ^xib>b 
3«n  kwb>  hö  »in  n:iB»x'n  .mbjns  'J  ty 
ix  rtipö  je  [j>B"»8»  hd  bs  ty  njn3B>  ib 
oteSo  twi  npwn  nrnnS  (yvxB>)  pcx 
hb  «in  mwn  nSyem  .cjh  ibib>  »im 
}B  JJHDMP  no  Ss  ty  dSb»1?  in  B^n  «"„18» 
r'v'jiyn  n^stoni.Vnwn  «im  po»  in  mpe 
■pstpBBi  nj>ia8>n  pi:iBxnp5tpcBni5B,B>xin 

"138?    1B18>    CHI    D"1B3    SMWl^    3«H   Rft1 

njjaiK  iibx  ntai  -inxs  anw  isirm 

.'131  CT  Cn018> 


jnixa  ^33  a^np"1»  ^xie»  Sb>  wi 
.hbx'tb  pane  npeapin  ib  jn"XB> 

PXpBB  "lÖB^  "138»  1B1B»  SB»  1JH 
.1-13X1  H33J3    P5£pB3  B^nP*8>l 

pDJiK  \r,v  nnai  H"iibb>31  n^n 

i:t;b>  [Bi   .uiD3  lawni  iibb 

'i3i  jn  piaiw  "i 

Man  sieht  auf  den  ersten  Blick,  daß,  abgesehen  von  den  Lücken 
und  Fehlern  des  Textes  des  P1^13B>  i*iyv,  die  ohne  Zweifel  den  Ab- 
schreibern zur  Last  fallen,  der  Text  des  Genisahfragmentes  der  ur- 
sprünglichere ist,  daß  es  sich  aber  andererseits,  bei  der  weitgehenden 
Verschiedenheit  der  Darstellung,  sich  unmöglich  um  Übersetzung  und 
Original  handeln  kann.  Auch  die  Sprache  des  pipintP  '1JJ8»,  die  durch- 
aus glatt  und  korrekt  ist,  spricht  entschieden  gegen  die  letztere 
Annahme.  Am  ehesten  ließe  sich  das  Verhältnis  der  beiden  Texte  als 
das  eines  Exzerptes  zu  einem  Originalwerk  auffassen.  Im  Lichte  dieser 
Annahme  würde  die  vielfach  erörterte  Frage1)  über  die  Autorschaft 
des  P1J?138>  ,"iV8,/  das  einerseits  R.  Isaac  ben  Reuben,  andererseits 
Alfaßi  zugeschrieben  wird,  sowie  über  die  Identität  des  genannten 
R.  Isaac  ben  Reuben  mit  dem  gleichnamigen  Verfasser  der  pnrnx  und 
dem  Übersetzer  von  R.  Hai  Gaons  "iBBBl  npa  erhöhtes  Interesse  ge- 
winnen. Ohne  mir  in  dieser  verwickelten  und  für  mich  abseits  lie- 
genden Frage  eine  Entscheidung  anzumaßen,  darf  ich  vielleicht  die 
Vermutung  aussprechen,  daß  das  besprochene  Genisahfragment  ein 
Stück  aus  einem,  arabisch  geschriebenen  Originalwerk  über  Eide 
darstellt,  das  möglicherweise  dem  Alfaßi  angehört,  und  aus  dem  R.  Isaac 
ben  Reuben  später  ein  hebräisches  Exzerpt  angefertigt  hat. 

New- York.  Israel    Friedlaender. 


»)  Vgl.  Steinschneider,  Cat.  Bodl.  1148,  Katalog  Berlin  I,  Nr.  24 
(hierzu  Zeitschrift  für  Hebräische  Bibliographie  VII,  22),  Michael  nix 
ßitnn,    S.  510  f.,    Weiß  VB>*r)Ti  in  *1H    IV,  381,    Anna.  1  und  andere. 


Besprechungen. 


Künstlinger,  Dr.  David,  Altjüdische  Bibeldeutung.  Berlin,  M.  Poppelauer, 
1911,  36  SS.  Groß-4°. 

Der  Verfasser  versteht  unter  altjüdischer  Bibeldeutung  »die 
allegorische,  wie  sie  sich  häufig  in  der  talmudischen  Literatur  und 
ganz  besonders  (?)  in  den  Petihöt,  findet*.  Zum  »Ausgangspunkte 
der  Untersuchung«  dient  ihm  die  erste  Piska  der  Pesikta  de  Rab 
Kahana,  weicher  der  größte  Teil  der  Arbeit  (3.  11—35)  gewidmet  ist. 
In  etwas  lapidaren  Sätzen  bemerkt  der  Verfasser  in  der  Vorrede : 
»Folgende  Abhandlung  bezweckt  keinen  korrigierten  Text  und  keine 
besseren  Lesarten  herzustellen.  Sie  will  vielmehr  vermutungsweise 
den  ursprünglichen  Bau,  die  Morphologie,  jener  Petihöt  eruieren, 
die,  umgemodelt  und  verunstaltet,  jetzt  die  erste  Pesiqtä  (1.  Pisqä, 
cf.  S.  36)  ausmachen.«  »Die  Arbeit  erhebt  durchaus  keinen  Anspruch 
auf  Vollständigkeit.«  »Di>  einschlägige  Literatur  wird  ais  bekannt 
vorausgesetzt.«  Eine  neue  Arbeit  über  die  Pethichot  könnte  nun  niemand 
freudiger  als  ich  begrüßen,  der  ich  in  »Zur  Composition  der  agadi- 
schen  Homilien«  (Monatsschrift  1879)  die  Proömien  in  der  Pesikta 
d.  R.  K.  zuerst  eingehend  bebandelt  habe.  Die  Ergebnisse  meiner 
Untersuchung  wurden  auch  in  Blochs  »Studien  zur  Aggadah«  zu- 
sammengestellt ;  B.  unterließ  es  nicht  ausdrücklich  hervorzuheben, 
daß  die  Pethicha  von  mir  zuerst  erkannt  und  in  ihren  Merkmalen 
fixiert  worden  ist  (Monatsschr.  1885,  S.  174),  obwohl  er  über  das 
Wesen  der  Pethichot  eine  eigene  Theorie  entwickelt  (vgl.  das.  S.  183  f., 
S.  216  ff.).  In  Anlehnung  an  die  von  mir  gelieferten  Nachweise  be- 
handelten die  Proömien  in  Bereschit  rabba  Lerner  in  »Anlage  und 
Quellen  des  B.  r.«  (1882)  und  Maybaum  in  »Die  ältesten  Phasen  in  der 
Entwickelung  der  jüdisches!  Predigt«  (1901).  *  Proömien«  ist  ein  ge- 
läufiges Wort  auch  in  Bachers  großem  Agada- Werke  ;  reiches  Material 
findet  sich  im  Art.  nnB  in  B.'s  Terminologie  II,  S.  174  ff.  —  Statt 
»die  einschlägige  Literatur«  als  bekannt  vorauszusetzen,  oder  sie  mit 
einer  Zeile  abzutun,  hätte  Künstlinger  wenigstens  auf  die  genannten 
Arbeiten  hinweisen  sollen,  um  zu  den  in  ihnen  ausgesprochenen 
Ansichten  Stellung  zu  nehmen ;  das  wäre  für  die  Untersuchung 
ratsamer  gewesen,  als  zu  zitieren  llmal  das  Lisän  al  Arab,  2mal  Gäniz, 


504  Besprechungen. 

lmal  Itqän  usw.;  der  Leser  wäre  besser  informiert  gewesen  und  hätte 
auch  eine  bessere  Vorstellung  von  dem  Wesen  des  Pethichot  ge- 
wonnen, als  wenn  er  bei  Künstlinger  S.  8  f.  die  merkwürdigen  Sätze 
findet: 

»»Die  Völker  des  Altertums  sahen  in  jeder  Erscheinung  ein 
Zeichen,  einen  Wink  einer  höheren  Macht,  der  gedeutet  werden 
sollte.  In  diesem  Ende  legten  die  Barüti  der  Babylonier  Verzeich- 
nisse der  Deutungen  allerhand  Erscheinungen  an,  um  im  Falle  einer 
beobachteten  Erscheinung  die  von  den  früheren  Priestern  bereits 
festgesetzte  Deutung  zu  finden  oder  neue  hinzufügen.  Der  Stil  dieser 
eigenartigen  Verzeichnisse  setzt  die  Aequatio-Methode  voraus.  Denn 
der  Satz  z.  B. :  »Ist  die  Flamme  eines  Lichtes  grünlich,  so  wird  der 
Hausherr  und  die  Hausfrau  in  Unglück  geraten,«  geht  doch  offenbar 
auf  die  einfache  Qleichung  zurück:  »Grünliches  Flammenlicht  =  Un- 
glück der  Hauswirte«.  Die  Barüti  beschäftigen  sich  mit  der  Deutung 
von  Träumen,  Leberschau,  Bücherwahrsagung,  Tieromina  etc.  Wie 
jene  aus  allem  diesen  die  Zukunft  deuteten,  indem  sie  in  den  Er- 
scheinungen Zeichen  erblickten,  welche  auf  zukünftige  Zustände  hin- 
deuteten, so  fanden  die  alten  Erklärer  der  Bibel  außer  dem  eigent- 
lichen Sinne  der  im  göttlichen  Buche  enthaltene  Wörter  und  Worte 
noch  einen  andern  Sinn  (allegoria)  in  denselben,  der  auf  irgend  etwas 
Anderes,  im  Worte  nicht  direkt  Liegendes,  hindeutet.  Die  allegorische 
Auslegungsmethode  der  Bibel  ist  genau  dieselbe,  wie  wir  sie  in  der 
Traumdeutung  u.  drgl.  finden.  Dasselbe  kann  auch  vom  bvü  und  der 
fTPfl  behauptet  werden.  —  Die  Petiha  hingegen  ist,  wie  oben  bereits 
gezeigt  wurde,  eine  Weiterentwickelung  der  Einzeldeutung.  Sie  faßt 
einige  Einzeldeutungen  die  gewissermaßen  eine  Gruppe  bilden,  in 
eine  Einheit  zusammen,  setzt  diese  in  einen  Konnexus  mit  dem  zu 
deutenden  Bibelsatz  oder  Abschnitt,  in  dem  die  letzte  Einzeldeutung 
in  jenen  Satz  oder  Abschnitt  einmündet,  wodurch  eine  Inklusio 
notwendigerweise  entsteht.  Dem  Wesen  —  nicht  der  Kunstform  nach 
—  ist  die  Petiha  nächstverwandt  mit  dem  mä§äl.  Im  mäsäl  wird  eine 
dem  Leben  entnommene  Handlung  ....  als  Deutung  verwendet. 
Die  Petiha  nimmt  anstatt  der  Handlung  eine  bereits  vorhandene 
Gruppe  von  Einzeldeutungen, ^deren  Gesammtheit  und  ganz  speziell 
die  letzte,  den  zu  deutenden  Text  deutet.  Die  Petiha  ist  demnach, 
was  die  Form  anbetrifft :  eine  Fortentwickelung,  der  Einzeldeutung  ; 
was  den  Inhalt  anbetrifft :  eine  Art  mäsal.  Daß  die  Methode  der  Petiha 
mit  der  Traumdeutung  in  einem  gewissen  Zusammenhange  steht, 
beweist  derselbe  terminus  technicus,  der  bei  beiden  verwendet  wird: 
inD.  Da  pätar  aus  einer  noch  illitteraren  Zeit  stammt,  so  wird  es 
älter  als  pätah  sein  und  sich  wohl  ursprünglich  auf  die  Einzeldeutung 


Besprechungen.  505 

oder  eine  Gruppe  derselben  —  wie  eben  in  der  Traumdeutung  — 
bezogen  haben.  Erst  nach  dem  man  die  Petihä  bereits  geschaffen 
hatte,  verwendete  man  HIB  mit  nns  promiscue.  Allein  nicht  nur  pätar 
geht  auf  alte,  uralte  Orakelterminologie  zurück,  sondern  auch  pätah ; 
denn  wie  pätar  für  die  Deutung  des  Traumes  verwendet  wird,  so 
wird  pätah  für  die  Lösung  des  Rätsels  benutzt.  Wird  der  Traum 
gedeutet  nnB),  so  wird  das  Rätsel  JWT\  =  .ITIM  =  «DiniK  »Ver- 
schlossenes« gelöst,  (nnB)  »aufgeschlossen«.  Die  Terminologie 
nnß'byrano  ist  somit  dieser  ganz  gleich.  Auch  BniBO  erinnert  an  den 
Orakelterminus  »bei  purussü«,  der  Orakelentscheider  Bei.  Nach  all 
dem  Gesagten  dürfte  die  Agädä  GTUn,  ."H3K)  nicht  von  (3tosn)  TJD* 
sondern  man  und  TJö  von  jener  uralten  Orakelterminologie  her- 
stammen, man  ist  die  Entscheidung,  die  Deutung.  T2B  der  (das) 
Entscheidende,  der  (das)  Deutende.«  Unwillkürlich  wird  man  an  die 
Behauptung  erinnert,  daß  dem  »bei  purussü«  unter  anderen  synonymen 
Götternamen  bei  den  Minäern  1DK  h»,  D1D«  nbx,  Gott  dem  Orakel- 
entscheider  entspricht,  "idx  s=  IM,  ämir  =  T5D««. 

Ich  habe  diese  moiSn  **m  mit  wenigen  Kürzungen  wörtlich 
zitiert.  Muß  man  denn  soweit  ausholen,  auf  die  Baruti  zurückgreifen, 
an  den  Bei  purussü  erinnern,  um  die  so  schlichten  nifPJlfi  im  Midrasch 
erklären  zu  wollen  ! 

Aus  den  Ausdrücken  BnB"DBn,  bhb-djid,  BnB-1D"i,  nbrftDS, 
n^mno,  nns-onc,  tWtrb92,  die  Künstlinger  S.  4  ff.  behandelt  (ich 
verweise  auf  Bachers  Terminologie  Teil  I,  Artt.  OBH,  cno,  toi,  nnB, 
wo  auch  fast  alle  von  Künstlinger  besprochenen  Stellen  angeführt 
sind),  ist  durchaus  nicht  zu  folgern,  daß  nnB  bei  den  Pethichot  nur 
bedeuten  kann :  »etwas  nicht  Erschlossenes  —  erschließen«,  daß  die 
Pethicha  die  »Manipulation,  die  Art  und  Weise  des  Erschließens,  Er- 
klärens«  ist  (S.  6).  Unrichtig  ist  es  auch,  daß  man,  nach  dem  man  die 
Pethicha  geschaffen  hatte,  "WD  mit  nnB  promiscue  verwendet*).  Das 
Wesen  der  Pethicha  beschreibt  noch  K-  mit  folgenden  formel- 
reichen Worten:  »Wie  wir  oben  bereits  zu  sehen  Gelegenheit  hatten, 
erklärte  man  A  durch  B,  und  da  B  oft  ein  anderes  Bibelwort  oder 
ein  anderer  Bibelvers  war,  so  ist  eben  diese  Deutungsmethode  nichts 
anderes  als  die  Anwendung  einer  der  oben  bereits  erwähnten  Me- 
thoden. A  gilt  als  rasTim,    satüm   na'ül    etc.,    B  bewirkt,   daß  A  wird 

»)  Schon  Grünhut  in  DTOpfj  I.  S.  22  erklärte  nnB  als  synonym  mit 
nnB,  was  aber  auch  Bacher,  Terminologie  II,  S.  177  als  unhaltbar 
zurückweist.  Über  den  Gebrauch  von  nnB  im  jerus.  Talmud  und  in 
den  verschieden  Midraschin,  vgl.  das  S.  178  ff.,  wo  auch  die  von  K. 
als  Belege  notierten  Stellen,  angeführt  sind,  vgl.  ferner  Monatsschr. 
Jg.  1879,  S.  171  fg.  und  Jg.  1885,  S.  264  fg. 


5G6  Besprechungen. 

meföräS,  patüah  etc.  Nun  ist  bei  der  Petihä  nicht  ein  Wort,  sondern 
gewöhnlich  ein  Komplex  von  Worten,  ein  Satz,  ein  Abschnitt  gedeutet, 
erklärt.  Die  Pelina  ist  eine  weitere  Fortsetzung,  eine  Ausbildung  der 
einzelnen  Worterklärung  —  übertragen  auf  ein  Ganges.  riDD  folgt  auf 
den  zu  erklärenden  Satz  A  und  erst  die  im  Satz  B  enthaltenen  Deutungen 
(a-f-b-|-c  ztc),  insoferne  sie  abgeschlossen  sind  und  ein  neues  Licht 
auf  das  Ganze  werfen,  bilden  die  Petihä,  das  »Aufschlußgeben«  über 
den  noch  nicht  oder  nicht  so  verstandenen  Satz  A.  Daher  gehört 
zum  Wesen  der  Peühä  eine  Inclusio,  d.  h.  die  Erklärung  in  B,  die  A 
zu  deuten  haben,  müssen  am  Ende  in  A  (mit  oder  ohne  eine  hiefür 
geprägte  Formel)  einmünden,  ein  in  sich  eingeschlossenes  Ganzes 
sein.  Das  Schema  ist:  A=B.  Also  B=A.  Oder  aufgelöst: 
A=B  (=a+b-(-c  etc.)  Somit  (a-f-b-f-c  etc.  =)  B=A.  abc  sind  die  Deu- 
tungen der  einzelnen  Satzglieder  des  gedeuteten  B,  welches  im  Ganzen 
genommen  als  Erklärung  dem  A  dienen  soll.« 

Ich  empfehle  doch  die  immerhin  leichter  verständliche  Dar- 
stellung der  Pethichot,  die  genaueren  Angaben  über  ihre  verschiedeneu 
Arten  (die  einfachen,  erweiterten,  zusammengesetzten),  über  die  In- 
troductions-  und  Schlußformeln  usw.  in  meiner  Abhandlung  in  der 
Monatsschrift  a.  a.  O.  S.  108  ff.,  164  ff.,  271  ff.,  wie  bei  Lerner  a.  a. 
O.  S.  16  ff.,  S.  129  ff,  bei  Bloch  a.  a.  O.  S.  175  ff.,  210  ff.  und  May- 
barnn  a.  a.  O.  S.  14  ff.  —  Die  Erklärung  Künstlhiger's  trifft  schon 
bei  so  vielen  einfachen  Pethichot  nicht  zu,  und  bei  den  zahlreichen 
zusammengesetzten  Pethichot,  die  zumal  in  der  Pesikta  die  Regel 
bilden,  und  die  aus  mehreren  vermittels  der  Formel  X"7  oder  auf 
eine  andere  Weise  verbundenen  Teilen  oder  Gliedern  bestehen,  findet 
sich  doch  erst  in  dem  Schlußgliede  die  Beziehung  zu  dem  Schrift- 
verse, der  an  dtr  Spitze  der  Parascha  oder  Piska  (Homilie)  steht! 
Eine  solche  Pcthicha  ist  schon  in  der  Piska  ntPB  n^B  BV3  \T1  ent- 
halten, der  ersten  Piska  der  Pesikta  d.  R.  K.,  weiche  Künstlinger 
zum  Ausgangspunkte  seiner  Untersuchung  diente.  Es  ist  die  Pethicha 
über  Prov.  30,  4  (Pesikta  S.  5a  f.;  vgl.  auch  Pesikta  rabbati  S.  15a f., 
Bamidbar  rabba    Kap.    12,    Nr.  11    und    Midrasch    Mischie     Kap.  30.) 

-ty  ia  a-nan  irapn  m  b^b  «>  r\by  ^...nn  Ppx  sb  yv>i  cnv  nty  •'D 
bs  vs>:  iTa  "wx  nn  pjbs  ^b  \tb  in  bv  fl  tvi  tvi  njnina  b\-6k 
»i,t  ia  D'D»  fibv  'B  »h  . . .  rajn  B'B  -mit  e^b  ii5t  "»b  . . .  mn  "n 
vaena  vjintpjjB  p^na  *ir\v  nr]  b'b^ji  tiibi  b^bpS  nbty  w^djiv  w 
irr1?»  m  b^b»  nby  ^a  »n  . . .  lvmtpya  pbnv  irxp  m  [. . .  b'b  ns  %o 
wi  n*i*i  rotan  hm  nby  nvai  ia  a*nai  r\vu  n\  b^bb>  nbv  ^a  x*n . . . 

B^TU  U  1B3  135tJ  B'B  IIS  ^  B  T»J«1  J1K  "JIKÄa  n  11   (]DK  ^B  "HH  |D  !WD 

.'..im  nSs  o^a  "»fn  lEw-p*?. . .  ij»b  3*ik  n?  px  ^bbk  t  ba  a^pn  id 

(vrgl.  Monatsschrift  1879,  S.  172).    Nach    Künstlinger   freilich   bilden 


Besprechungen.  507 

diese  Deutungen  kein  »sogenanntes«  zusammengesetztes  Proömium, 
sondern  die  erste,  zweite  und  vierte  Deutung,  auch  wenn  sie  an 
anderen  Orten  selbständige,  echte  oder  unechte,  ganze  oder  frag- 
mentierte« Pethichot  gewesen  sein  mögen,  sind  »Parergaagädöt«  zu 
einer  Pethicha,  die  wohl  ursprünglich  der  Deut.  14,  22  verfaßt  war! 
Merkwürdig,  daß  sich  in  der  Piska  "itPj'n  "itPj?  in  der  Pesikta  (und  in 
Tanchuma,  ed.  Buber,  n«"i  Nr.  4—17,  Tanchuma  nun  Nr.  10—18),  wie 
in  der  Piska  in  der  Pesikta  rabbati  S.  126  a  ff.  keine  Spur  von  jener 
echten  Pethicha  findet,  wie  sie  Künstlinger  (S.  31)  konstruiert.  Die 
Deutung  von  Prov.  30,  4  in  der  Pesikta,  meint  Künstlinger,  klammert 
sich  an  das  Wort  Dp1,*!  TP1  und  setzte  es  mit  ,"!B*Ü  Tf\bi  DV3  \T1  in 
Verbindung,  um  eine  »künstliche  Inclusio«  zusammenzubringen,  und 
gibt  an,  wie  die  »falsche«  Pethicha  etwa  lautete  (S.  32). 

Mit  Hilfe  der  Theorie  von  den  »Parergaagädöt«  und  »Okka- 
sionsagädöt«  sucht  der  Verfasser  auch  »den  ursprünglichen  Bau,  die 
Morphologie«  der  anderen  Pathichot  in  der  ersten  Piska  der  Pesikta 
zu  eruieren. 

In  Bezug  auf  die  erste  Pethicha,  auf  deren  ganz  besonders 
eingehende  Behandlung  (3.  11—26;  Tabellen  S.  14—25)  der  Ver- 
fasser außerordentlich  viel  Mühe  und  Scharfsinn  verwandte,  gelangt 
er  zu  dem  Resultate:  »»Die  vergleichenden  Tabellen  der  Parerga-  und 
Okkasionsagadot  beweisen  klar  und  deutlich,  daß  PRK=PPA  (Pesikta 
Panim  Acherim  in  Tia^fl  rp"2  V,  S.  48 ff.)  nur  eine  Reihe  von 
Parerga-Okkasionagädöt  zu  einer  Petihä  nu*ö  r),{r3  D"PS  \T1 
vorstelle,  selbst  aber  keine  Petihä  seiu  könne.  Die  Parasiten- 
agädöt  zerfraßen  gänzlich  den  Stamm  der  ihnen  zugrundeliegenden 
Petihä,  von  der  kaum  noch  eine  Spur  zu  merken  ist.«« 

Das  ist  keine  Midrasch-Kritik  und  keine  Rekonstruktion  eines 
Midrasch,  das  ist  eine  Art  prähistorischer  Midrasch-Dichtung,  gegen 
die  man  Verwahrung  einlegen  muß.  In  welchen  Zeiträumen  sollen 
denn  die  »Parasitenagadot,«  die  Parergaagädöt«  und  die  »Okkasions- 
agadot«, welche  letztere  der  Verfasser  S.  11  »Parasiten  zweiter  Klasse« 
nennt,  ihr  zerstörendes  Werk  vollbracht  haben,  daß  sie  gänzlich  den 
Stamm  einer  Pethicha  »zerfraßen«,  von  der  die  Pethicha  in  der  so 
alten  Pesikta  kaum  mehr  noch  eine  Spur  zeigt?  Darf  man  so  gering 
von  den  Urhebern  der  alten  Midrsschim  denken,  daß  sie  allerlei  Bei- 
werk statt  echter  Deutungen  gaben  ?  Der  Verfasser,  der  seine  Ver- 
mutungen als  tatsächlich  erwiesen  hinstellt,  daß  die  erste  Piska, 
welche  Pethichot  zu  Num.  c.  VII  enthalten  sollte,  aus  echten  Pethichot 
zu  Lev.  IX,  1.  Lev.  IX  (od.  Ex.  XL),  Lev.  IX,  Deut.  XIV,  22.,  Num. 
VI,  24,  Ex.  XL,  34—35  besteht,  und  sagen  kann,  daß  diese  Pethichot 
zum  Zwecke  einer  Deutung   zu  Num.  VII  »so    ziemlich    ungeschickt, 


508  Besprechungen. 

umgemodelt«  worden  sind,  wirft  noch  die  Frage  auf,  was  den  oder 
die  Redaktoren  der  Pesikta  veranlaßte,  »echte  Pethichot  in  unechte 
umzuwandeln«,  und  meint,  die  Antwort  kann  nur  lauten,  er  oder  sie 
hatten  keine  echten  Pethichot  zu  Num.  VII  vorgefunden,  und  die 
echten  Pethichot  wurden  in  unechte  umgemodelt  —  weil  man  zu 
(Sabbat-)  Chanukka  Pethichot  für  die  entsprechende  Toralektion  haben 
wollte  usw.  (S.  34  f.).  Man  ersieht  nicht,  zu  welchem  Ergebnisse  der 
Verfasser  gelangt  wäre,  wenn  er  statt  der  Pethicha  WD  JI^D  DTO  \T1 
eine  andere  Piska  zum  Ausgangspunkt  der  Untersuchung  gewählt 
hätte.  Eine  so  weitgehende  Untersuchung  darf  nicht  auf  der  schmalen 
Grundlage  einer  einzigen  Piska  aus  einem  einzigen  Midraschwerke 
geführt  werden.  Von  den  ältesten  Midraschim  liegt  in  einer  Buberschen 
Edition  aus  der  Pesikta  der  Midrasch  Echa  rabbati  vor,  der  mit 
einer  ganzen  Sammlung  von  alten  ^Q^m  KnmriD  beginnt,  und  in 
meiner  kritischen  Ausgabe  des  Bereschit  rabba  bieten  auch  die 
bisher  erschienenen  Paraschos  ein  reiches  Material  zur  Behandlung 
der  Pethichot  .—  In  der  ganzen  Anlage  der  Pesikta  wie  der  Pesikta 
rabbati  und  der  anderen  Homilien-Midraschim,  Vajikra  rabba,  Tan- 
chuma  usw.  muß  immer  als  das  auffallendste  erscheinen,  daß  jede 
Piska,  Homilie,  die  durch  ihren  Aufbau,  ihren  formellen  Schluß, 
kunstgerecht  durchgeführt,  als  ein  abgeschlossenes  Qanzes  uns  vor- 
liegt, mehrere  Pethichot  zu  dem  betreffenden  Schriftabschnitte,  aber 
fortlaufende  Auslegungen  nur  zu  den  ersten  Versen  desselben  enthält 
—  vgl.  die  von  mir  Monatsschrift  1879,  S.  339  mitgeteilte  Ansicht 
Jellinek's,  ferner  meine  Ausführungen  Monatsschrift  das  S.  110  fg. 
Jg.  1881,  S.  505  fg.  Jg.  1885,  S.  361;  Maybaum,  Homiletik  S.  8,  und 
Die  ältesten  Phasen  etc.  S.  42.  Nach  Künstlinger  soll  schon  der 
Name  Pesikta  »fragmentum«  (von  pcs)  bedeuten!  »Das  Ende  der 
fortlaufenden  Erklärungen  ist  —  wie  dies  bei  allen  Piskäöt  der  Fall 
ist  —  abgeschnitten.  Der  oder  die  Redaktoren  gingen  wohl  von 
zweierlei  Gesichtspunkte  aus,  wenn  sie  jede  Pisqä  von  vorneherein 
als  ein  Fragment  ließen.  1.  Für  fortlaufende  Erklärungen  der  Bibel- 
verse waren  mehrere  MidräSim,  halächische  wie  agädische,  vorhanden 
gewesen.  Der  Vortragende  verfügte  somit  über  ein  ziemlich  reiches 
Material,  aus  dem  er  schöpfen  konnte.  2.  Der  Vortragende,  der  doch 
wohl  Exeget  vom  Fache  gewesen  war,  konnte  die  fortlaufenden 
Erklärungen  auch  selbst  zustande  bringen.  Nicht  so  leicht  war  es 
hingegen  von  jedermann  zu  verlangen,  er  solle  ein  Kunstgebilde, 
wie  die  Petihä  es  ist,  selber  schaffen  können.  Daher  verfertigte  man 
für  die  ausgezeichneten  Sabbate  und  Feste  Petihäformularien.  Man 
sammelte  aus  verschiedenen  Midräslm,  die  eine  Petihä  für  jede  Törä- 
lektion  und  fortlaufenden  Textkommentar  hatten,  die  Petihot  für  jene 


Besprechungen.  509 

Torälektion,  welche  an  den  ausgezeichneten  Sabbaten  und  Festtagen 
vorgelesen  wurde,  übernahm  einige  fortlaufende  Erklärungen  zu 
einigen  Sätzen  —  und  so  erstand  die  Pesiqtä.  Der  jeweilige  Exeget 
konnte  an  diesen  Tagen  eine  Petihä  .  .  .  aus  diesen  Formularien 
sich  auswählen,  um  vor  dem  Beginne  der  fortlaufenden  Erklärung  sie 
zu  verwerten.  Die  Peslqlä  .  .  .  bildet  ein  solches  Formularienbuch, 
aus  dem  der  Vortragende  .  .  .  Petihöt,  insoferne  er  sie  selber  nicht 
bilden  konnte,  für  seinen  Zweck  benutzte.  Den  Anfang  der  fortlaufen- 
den Erklärungen,  manchmal  (?)  auch  das  Schlußtrostwort  oder  die 
messianische  Verheißung,  nahm  die  Pesiqtä  mit  auf,  um  den  Charakter 
ihrer  Entstehung  anzuzeigen  (!).  Die  Midrä§im  bestanden  zuvörderst 
—  wie  man  aus  allen  uns  zugebote  stehenden  eruieren  kann  —  aus 
solchen,  die  sich  1.  mit  der  Einzeldeutung  des  ganzen  biblischen 
Textes,  2.  mit  einer  Petihä  als  generellen  Interpretation,  sowie  mit 
Einzeldeutungen  zu  den  Törälektionen  und  Haftäröt  —  und  3.  mit 
Formularien,  die  aus  Petihötsammlungen  mit  einem  Fragment  aus 
verschiedenen  Einzeldeutungen  bestehend,  befaßten.  Tanhüma-Jelam- 
denu-Wajjikra  r.  usw.  .  .  .  sind  nicht  minder  solche  Petihäformularien 
für  den  Vortrag  an  gewöhnliche  Sabbaten  .  .  .«  (S.  35  fg.).  Ich  habe 
auch  diese  Sätze  wörtlich  zitiert,  in  denen  Vermutungen  und  Ansichten 
des  Verfassers  mit  einer  Gewißheit  ausgesprochen  werden,  als  wären 
es  die  sichersten  Ergebnisse  einer  die  schwierigsten  Fragen  der 
Midraschforschung  zum  Abschluß  bringenden  »Geschichte  der  Agädä«, 
einer  Geschichte,  die  nach  Künstlinger  in  weiter  Ferne  liegt.  Dem 
Verfasser,  der  reiche  Kenntnisse  auf  dem  Gebiete  der  agadischen 
Literatur  besitzt  und  ein  sehr  ernster  Forscher  ist,  wünsche  ich,  daß 
seine  Abhandlung  nicht  nur  »einen  ganz  kleinen  Beitrag«  zur  Auf- 
hellung des  von  ihm  gekennzeichneten  Themas  liefern,  sondern  den 
Anlaß  zu  einer  erneuten,  umfassenden  Untersuchung  der  ganzen 
Pethichot-Frage  gebe.  J.Theodor. 


510  Besprechungen. 


R.  Straus.  Die  Juden  im  Königreich  Sizilien  unter  Normannen  und 
Staurern.  [Heidelberger  Abhandlungen  zur  mittleren  und  neueren 
Geschichte,  hrsg.  von  Kar!  Hampe  und  Hermann  Oncken,  30.  Heft  ] 
Heidelberg  (Carl  Winter)  1910. 
Die  Geschichte  Siziliens  und  Unteritaliens  im  11.  und  12. 
Jahrhundert  ist  von  der  Wissenschaft  in  den  letzten  Jahren  mehrfach 
in  Angriff  genommen  worden.  Denken  wir  nur  an  die  Arbeiten  Fer- 
dinand Chalandons  und  Erich  Caspars,  so  wird  zugestanden  werden 
müssen,  daß  große  Fortschritte  erzielt  worden  sind.  Viel  bleibt  aber 
—  sehen  wir  von  den  Quellenpublikationen  und  -editionen  ab,  wo  fast 
noch  alles  zu  tun  ist  —  auch  dem  darstellenden  Historiker  noch  zu 
leisten  übrig.  Denn  von  welcher  Seite  man  auch  an  die  Geschichte 
Siziliens  in  jener  Epoche  herantritt,  findet  man  eigenartige  Formen 
des  geschichtlichen  Lebens,  wie  es  in  einem  derartig  viel  gestaltigen 
Lande  nicht  anders  zu  erwarten  ist,  —  Einzeiuntersuchungen  werden 
also  hier  noch  in  großer  Zahl,  sei  es  für  die  Wirtschaftsgeschichte,  sei 
es  für  die  politische  oder  die  Kulturgeschichte  des  Landes,  geleistet 
werden  müssen,  ehe  nur  die  wichtigsten  Probleme  gelöst  sind.  So 
ist  es  höchst  dankenswert,  daß  Straus  die  Juden  jener  Zeit  zum  Gegen- 
stande einer  eigenen  Monographie  gemacht  hat.  Straus  gibt  zu,  daß 
bei  der  spärlichen  Überlieferung  die  Arbeit  einen  teilweise  konstruk- 
tiven Charakter  erlangt  habe  und  die  Auffassung  eine  subjektive  sei. 
Trotzdem  geliugt  es  ihm,  ein  abgerundetes  Bild  der  jüdischen  Ge- 
schichte jener  Epoche  zu  geben.  —  Der  eigentlichen  Untersuchung 
schickt  Straus  eine  Betrachtung  über  die  grundlegenden  politischen 
und  kulturellen  Verhältnisse  voraus,  die  das  Verständnis  der  jüdischen 
Zustände  ermöglichen  soll.  Sizilien  ist  ein  Nationalitätenstaat,  und  als 
die  Normannen  das  Land  besetzten,  mußten  sie  den  Juden  wie  den 
Sarazenen  und  Griechen  —  diesen  besonders  in  Unteritalien  —  das 
Recht  einer  besonderen  Nationalität  einräumen.  Damit  ist  schon  der 
Unterschied  Siziliens  von  den  übrigen  europäischen  Staaten  —  christ- 
lichen Nationalstaaten  —  in  Bezug  auf  die  Judenpolitik  gekennzeichnet. 
Die  Entwicklung  Siziliens  vom  Nationalitätenstaat  zum  christlichen 
Nationalstaat,  die  unter  dem  Einfluß  der  Kirche  sich  vollzieht,  be- 
deutet   für   die  Juden    eine    allmähliche  Umbildung   und  Verengung 


Besprechungen,  511 

ihrer  Lage.  Die  staatsrechtliche  Stellung  der  Juden  wurde  unter 
Friedrich  II.  juristisch  zur  Kamnierknechtschaft.  Doch  gestand  man 
ihnen  in  der  Rechtsübung  einige  Freiheiten  —  so  eigene  Notare  — 
zu.  Die  Steuerpolitik  des  Staates  gegenüber  den  Juden  ist  ein  Aus- 
fluß der  ja  für  Normannen  und  Staufer  so  überaus  charakteristischen 
Regaiienpolitik,  in  der  letzten  Endes  der  Schlüssel  für  ihre  Machc- 
fülle  im  Innern  zu  suchen  ist.  Färberei  und  Seidenindustrie  waren 
Staatsmonopole,  zugleich  aber  Judenmonopole,  indem  man  sie  in  die 
Hand  der  Juden  legte.  Dies  ist  die  Auffassung,  die  Straus  gegen 
Caro,  wie  es  mir  scheint,  mit  Recht  vertritt.  Die  Doppelstellung  dieser 
Monopole  ist  charakteristisch,  sie  machte  einerseits  die  Juden  vom 
Staate  völlig  abhängig,  andererseits  aber  wirtschaftlich  unabhängig, 
weil  im  Vorteil  gegen  jede  mögliche  Konkurrenz.  Die  öffentlich-recht- 
liche Stellung  der  Juden  wandelte  sich  in  derselben  Weise,  wie  der 
Staat  sieb  allmählich  christianisierte ;  so  hat  nur  unter  dem  Drucke 
der  Kirche  Friedrich  II.  1221  verordnet,  daß  die  Juden  auf  ihren 
Kleidern  ein  Zeichen  tragen  sollten,  1231  aber  nahm  er  diese  Ver- 
ordnung nicht  mehr  in  sein  Gesetzbuch  auf,  als  er  sah,  daß  auch 
durch  Zugeständnisse   ein  Frieden    mit  der  Kurie  nicht  möglich  war. 

Im  Mittelpunkte  des  Wirtschaftsleben  der  Juden  standen  die 
oben  genannten  Monopole.  Ihre  Finanzkraft  ist  nach  Straus  keine 
sehr  bedeutende  gewesen.  Die  Juden  sind  in  Sizilien  vornehmlich 
Handwerker,  nicht  Bankiers.  —  Von  der  sozialen  Verfassung  der 
Juden  sei  nur  die  Tatsache  genannt,  daß  durch  die  engen  Bezie- 
hungen zwischen  Staat  und  Juden  ein  eigener  Stand  von  jüdischen 
Günstiingen  sich  bildete,  der  neben  die  beiden  anderen  jüdischen 
Adelskasten  der  Reichen  und  Gelehrten  trat. 

Die  jüdische  Wissenschaft  jener  Zeit  ist  nicht  vornehmlich  eine 
talmudische  gewesen ;  die  Juden  haben  sich  in  den  meisten  Dis- 
ziplinen der  damaligen  Wissenschaft  betätigt.  Aber  eine  gewisse  Ab- 
hängigkeit des  jüdischen  Forschens  vom  Hofe,  der  es  anregte,  ist 
festzustellen.  Zusammenfassend  weist  Straus  darauf  hin,  daß  die  jü- 
dische Geschichte  Siziliens  eben  eine  von  der  jüdischen  Geschichte 
Nordeuropas  verschiedene  ist  und  daß  es  zu  Irrtümern  führen  muß, 
hier  und  dort  dieselben  Motive  anzunehmen. 

Der  besonderen  wissenschaftlichen  Beachtung  sei  der  Anhang 
der  Straus'schen  Arbeit  empfohlen,  der  die  wesentlichsten  Quel'.en- 
belege  zusammenstellt.  Gerade  für  sizilische  Geschichte,  wo  die 
Quellen  so  unendlich  zerstreut  sind,  ist  eine  derartige  Sammlung 
höchst  dankenswert.  Fehlt  ja  immer  noch  für  die  Normannen  eine 
Regestensammlung,  die  Garufi  zwar  plant,  aber  immer  noch  nicht 
vollendet  hat. 


512  Besprechungen. 

Man  wird  der  vorliegenden  Arbeit,  die  eine  wesentliche  Lücke 
in  der  jüdischen  und  allgemeinen  Geschichte  ausfüllt,  die  Anerkennug 
nicht  versagen  können,  daß  sie,  getragen  von  eingehendem  Verständnis 
für  die  allgemeinen  politischen  und  kulturellen  Zustände  jener  Zeit, 
in  streng  wissenschaftlicher  Form  eine  erschöpfende  Darstellung  auf 
Orund  des  bis  jetzt  vorhandenen  Quellenmaterials  gibt. 

Breslau.  Willy  C  o  h  n. 


* 


Unberechtigter  Nachdruck  ans  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  ist  untersagt. 


Für  die  Redaktion  verantwortlich :    Dr.  M.  BRANN  in  Breslau. 
Druck  von  Adolf  Alkalay  8r  Sohn  in  Preßburg. 


Die  Ethik  R.  Saadjas. 

Von  David  Rau  s.  A. 

(Fortsetzung.) 

Die  Ethik. 

Gruppierung  und  Behandlung  des  ethischen  Stoffes 

bei    Saadja. 

Saadja  hat  ein  zusammenhängendes  ethisches  System 
nicht  geliefert.  Ihm  ist  die  Ethik  zwar  eine  besondere  phi- 
losophische Disziplin  ;  da  sie  aber  in  den  von  ihm  berück- 
sichtigten Quellen  nur  als  ein  mit  anderen  ihr  verwandten 
Disziplinen  eng  verflochtener  Bestandteil  der  Religion  auf- 
tritt, so  war  er  gewissermaßen  aus  Rücksicht  auf  die 
Ökonomie  seines  den  ganzen  Glaubensinhalt  des  Judentums 
behandelnden  Systems  gezwungen,  ethische  Fragen  im  Zu- 
sammenhange mit  religiösen  und  anderen,  die  gerade  mit 
ihnen  verbunden  waren,  zu  behandeln.  So  erörtert  er  im 
dritten  Abschnitt  seines  religionsphilosophischen  Werkes 
Emunot  we-Deot,  der  über  Offenbarung  und  Gesetz,  über 
Prophetie  und  Tradition,  handelt,  die  Frage  vom  höchsten 
Gut  und  die  zur  Erlangung  der  Glückseligkeit  führenden 
Mittel  und  Wege.  Der  vierte  Abschnitt  behandelt  die  Stellung 
des  Menschen  in  der  Natur,  dessen  Vorzüge  und  die  Wil- 
lensfreiheit. Im  fünften  Abschnitt  bespricht  Saadja  die  Tu- 
gendlehre, die  verschiedenen  Stufen  des  religiösen  und 
sittlichen  Verhaltens  und  die  Lehre  von  der  Vergeltung 
während  er  aber  außerdem  noch  Fragen  rein  dogmatischer 
Art,  die  mit  der  Ethik  in  mehr  oder  weniger  naher  Bezie- 
hung stehen,  mit  gleicher  Ausführlichkeit  behandelt.  Am 
Ende  des  fünften  Abschnitts,   der  im  Großen  und  Ganzen 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  33 


514  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

seine  allgemeine  Ethik  beschließt,  bekennt  er  selbst,  daß 
seine  Darstellung  keine  erschöpfende  Behandlung  aller  dahin 
gehörenden  Gedanken  enthalte;  er  hoffe  aber,  daß  die  von 
ihm  gegebenen  Grundgedanken  für  das  Verhalten  des  Men- 
schen von  Nutzen  sein  werden1).  Erst  im  zehnten  Abschnitt 
stellt  er  eine  konkrete  Ethik  auf,  indem  er  das  praktische 
Leben  in  seinen  besonderen  Erscheinungen  auf  dreizehn 
verschiedene  Lebensrichtungen  zurückführt  und  sie  einer 
eingehenden  Prüfung  unterwirft.  Er  wägt  die  Vor-  und 
Nachteile  einer  jeden  sorgfältig  ab  und  gelangt  dadurch  zur 
Bestimmung  der  Grenzen,  innerhalb  deren  jede  Neigung 
berechtigt  ist,  über  die  hinaus  ihr  aber  nie  gefolgt  werden 
darf,  wenn  sie  den  Zwecken,  die  Gott  dem  Menschen  ge- 
geben, dienen  und  zur  Förderung  der  menschlichen  Glück- 
seligkeit beitragen  soll.  Aber  auch  seine  praktische  Ethik 
läßt,  obgleich  der  zehnte  Abschnitt  ihr  fast  ausschließlich 
gewidmet  ist,  eine  streng  logische  und  abschließende  Be- 
handlung ihres  Inhalts  vermissen.  Das  hat  Saadja  vielleicht 
selbst  gefühlt,  und  deshalb  bemerkt  er,  ein  vollständiges 
System  der  praktischen  Ethik  ergebe  sich,  wenn  man  alles 
das,  was  sich  in  jeder  der  dreizehn  verschiedenen  Lebens- 
richtungen nach  kritischer  Prüfung  als  richtig  und  erstre- 
benswert erweise,  zusammenstelle  und  zu  einem  Ganzen 
vereinige2).    Durch    die  ganze  Anlage  seines  Buches,  sowie 

»)    Emunot    we-Deot    V,    S     94:    D'rjpn  »rflOp  ibx  p  PTP  »5*1 

nb«  "jk  ,Drr,Ti  bv  dix  ^a  mjnä  vb*  yixv  no  o'btp»  ttti  xb  »ffs-w 

kto  ntjn  ar\b  D^TIO  1\T  D'Dnp  D-'rban. 

»)  Emunot  we-Deot  X,  S.  146:  fsn  b?  ITOKW  HDÖ  bbzi  fSpVn 
übv  mtrne  -ibd  pnpn  rvm  -ijnp  bsn.  Wolff  lest  diese  Stelle  nach 
dem  arabischen  Texte  (vgl.  Berliner,  Magazin  für  die  Wissenschaft 
des  Judentums  Bd.  VII,  S.  73—  K'O)  wie  folgt:  rWW  na»  bh?  pp«i 
niabtt?  mens  neo  y^pn  K-ipKi  *w  T33  psn  bo§  »und  ich  würde  das 
Zusammengestellte  ein  Buch  der  vollkommenen  Enthaltsamkeit  nennen«. 
Wir  zitieren  zwar  durchwegs  nach  der  Slucky'schen  Ausgabe,  Leipzig 
1864,  berücksichtigen  aber  immer  Abweichungen,  welche  sich  durch 
die  genauen  und  eingehenden  Vergleichungen  des  arab.  und  hebr. 
Textes  durch  Wolff  (Berliners  Magazin  VII,  73— 100;  ZDMO.  XXXIII, 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  515 

die  Unmöglichkeit,  den  ethischen  Stoff  anders  als  durch  die 
gleichzeitige  Behandlung  des  religiösen  zu  gewinnen,  ver- 
liert die  Ethik  bei  Saadja  die  Einheit.  Er  führt  die  Unter- 
suchung auf  den  ethischen  Gehalt  gewisser  Partieen  in  der 
Überlieferung  eine  Zeit  lang  fort,  bricht  dann  ab  und  geht, 
ohne  das  ethische  Resümee  gezogen  zu  haben,  auf  andere 
Fragen  ein.  Man  gelangt  dadurch  zu  dem,  wie  wir  später 
sehen  werden,  oft  berechtigten  Zweifel,  ob  ihm  innerhalb 
des  ihm  von  der  jüdischen  Überlieferung  (worunter  wir  bei 
Saadja  Bibel  und  Talmud  verstehen)  gegebenen  Stoffes  eine 
durchgehende  Unterscheidung  zwischen  religiösen  und  ethi- 
schen Forderungen  gelungen  ist.  Wir  werden  daher,  um 
uns  über  diesen  Punkt  klar  zu  werden  und,  im  Interesse 
der  systematischen  Einheit,  den  zerstreuten  Stoff  zu  ordnen, 
zuerst  die  Grundbegriffe  der  Ethik  und  dann  die  Ethik 
als  Tugend-  und  Güterlehre  zu  behandeln  versuchen. 

Bevor  wir  jedoch  an  spezifisch  ethische  Fragen  heran- 
treten, dürfte  es  gerechtfertigt  erscheinen,  zuerst  die  Er- 
kenntnistheorie Saadjas  kurz  auszuführen,  weil  sie  bei  ihm, 
wie  bei  jedem  Philosophen,  die  Grundlage  und  mithin  den 
Schlüssel  zum  Verständnis  seiner  ganzen  Philosophie  biktet. 

Wir  besprechen  hier  hauptsächlich 

die  Erkenutnisquellen  Saadjas  and  ihr  Verhältnis  zur  Ethik. 

Der  mächtige  Einfluß,  den  die  griechische  Philosophie 
auch  auf  Saadja  ausgeübt  hat,  zeigt  sich  vor  allem  darin, 
daß  ihm  wie  ja  auch  den  griechischen  Denkern  seit  So- 
krates,  die  wahre  Sittlichkeit  nur  auf  klarer  und  richtiger 
Erkenntnis  beruht.  So  sagt  er  sogleich  in    der  Einleitung1): 

69t  707)  Ooldziher  ZDMQ.  XXXV,  773-783,  D.  Kaufmann  ZDMO 
XXXVII,  230-249)  u.  D.  Simonsen  (in  Guttmanns  Religionsphilo- 
sophie  des  Saadja,  s.  dessen  Vorwort)  ergeben  habeu,  wodurch  der 
von  uns  benuzte  Text  als  zuverlässig  gelten  kann.  Bekanntlich  liegt 
der  ganze  arabische  Text  seit  1880  gedruckt  vor.  Der  V»*rf.  war  aber 
außer  Stande,  unmittelbar  aus  dieser  Quelle  zu  schöpfen. 
>)  Emunot  we-Deot  S.  2:  "Ol  aryv  "WK  ov\ 

33* 


516  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

»Diejenigen,  deren  Kenntnis  oder  deren  Anstrengung  im 
richtigen  Erkennen  der  Wahrheit  gering  ist,  heißen  Frevler, 
eben  weil  sie  an  der  Wahrheit  freveln.  Fromme  werden 
aber  diejenigen  genannt,  die  sich  ausdauernd  bemühen,  mit 
ihrem  Wissen  die  Wahrheit  zu  prüfen.  Die  Weisen  sind 
also  nur  dann  zu  loben,  und  die  Zweifel  schwinden  ihnen 
nur  dann,  wenn  sie  nach  einer  genauen  Kenntnis  ihres 
Gegenstandes  das  Joch  allseitiger  Erforschung  geduldig  bis 
zu  Ende  tragen.«  An  einer  anderen  Stelle1),  wo  er  sein  Buch, 
das  doch  der  wissenschaftlichen  Untersuchung  gewidmet  ist, 
empfiehlt,  heißt  es:  »Wenn  Gelehrte  und  Jünger  so  mit 
meinem  Buche  verfahren  werden,  so  wird  derjenige,  der 
schon  vorher  zu  einer  sicheren  Kenntnis  gelangt  war,  da- 
durch noch  mehr  an  derselben  festhalten,  dem  Zweifler 
wird  der  Zweifel  entschwinden,  der  an  die  Tradition  Glau- 
bende wird  seinen  Glauben  kritisch  und  denkend  er- 
fassen . . .,  dadurch  wird  das  Wesen  der  Menschen  (ihre 
Gedanken)  sich  bessern,  ihr  Gebet  aufrichtig  und  innig 
werden,  da  tn  ihrem  Herzen  der  göttliche  Mahner  ist,  der 
sie  von  Sünden  abhält  und  sie  zum  Rechten  anregt.  Ihr 
Glaube  wird  dann  aber  auch  in  ihrem  Tun  sich  bewähren, 
die  Mißgunst  des  einen  gegen  den  anderen  weltlicher 
Dinge  wegen  wird  schwinden,  gemeinsam  werden  sie  zu 
den  Männern  der  Weisheit  sich  wenden,  nicht  aber  frem- 
dem Wesen  sich  hingeben,  und  hierdurch  wird  ihnen  Heil, 
Barmherzigkeit  und  Glück  zuteil  werden.  All  dies  wird 
eintreten  mit  dem  Schwinden  der  Zweifel  und  mit  der  Be- 
seitigung des  Irrtums;  die  Erkenntnis  Gottes  und  seiner 
Lehre  wird  sich  dann  in  der  Welt  ausbreiten,  wie  das 
Wasser  in  den  Tiefen  des  Meeres,  und  es  erfüllt  sich  die 
Verheißung:  »Die  Erde  ist  voll  der  Erkenntnis  Gottes,  wie 
Wasser  den  Meeresgrund  bedecken  (Jes.  11,  9)c.  Allein  er 
unterscheidet  sich  doch  sehr  wesentlich  von  den  griechi- 
schen   Philosophen    durch    die    Beantwortung   der   Frage» 

')  Das.  S,  3  unten:  tov  *vöSnni  Dann  )nr  -\vx?h 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  517 

welches  die  Quellen  für  diese  Erkenntnis  seien.  Für  £o- 
krates  war  diese  Quelle  die  Dialektik,  die  große  Scheide- 
kunst, die  das  Wesentliche  von  dem  Unwesentlichen  trennte 
und  die  verschwommene  Vorstellung  in  einen  festen 
und  klaren  Begriff  zusammenzog.  Plato  hatte  auf  dem 
Wege  der  Dialektik  hinter  dem  Begriff  die  Idee  entdeckt 
und  geglaubt,  daß  diese  nur  mittelst  der  Vernunft,  frei 
und  unabhängig  von  jeder  sinnlichen  Wahrnehmung,  er- 
kannt werden  könnte.  Der  sokratisch-platonischen  Dialektik 
huldigte  zum  großen  Teile  auch  Aristoteles,  allein,  im  Ge- 
gensatz zu  Plato,  machte  er  die  sinnliche  Wahrnehmung 
zur  Grundlage  aller  Erkenntnis.  Von  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung steigt  der  Mensch,  wie  Aristoteles  lehrt1),  durch 
fortgesetzte  Abstraktionen  stufenweise  vom  Besonderen 
zum  Allgemeinen,  von  den  Wirkungen  zu  den  Ursachen 
und  so  zum  Ziel  unserer  Erkenntnis.  Saadja  folgt  nun  zu- 
nächst auch  hierin,  in  näherem  Anschluß  an  Aristoteles, 
der  griechischen  Philosophie.  Er  dringt  deshalb  ebenfalls 
auf  klare  Begriffsbestimmung  wie  Sokrates,  nimmt  mit 
Plato  eine  intuitive  Vernunfterkenntnis  an  und  macht  doch 
wie  Aristoteles  die  sinnliche  Wahrnehmung  zur  Grundlage 
alles  Wissens  und  Erkennens.  »Der  Anfang,  mit  dem  die 
menschlichen  Erkenntnisse  beginnen,«  sagt  er  in  der  Ein- 
leitung*), »wird  von  durcheinander  gemischten,  verwor- 
renen Anschauungen  gebildet;  die  dem  Menschen  eigene 
Vernunft  läßt  aber  nicht  nach,  jene  Begriffe  innerhalb 
einer  gewissen  Zeit  zu  klären  und  zu  läutern,  bis  die 
Zweifel  geschwunden,  und  die  klare,  mit  keinem  Zweifel 
mehr  versetzte  Erkenntnis  gewonnen  ist.  An  einem  an- 
deren Orte8)  heißt  es:  »Zur  Erkenntnis  eines  Dinges  muß 
man  zunächst  alle  diesem  eigentümlichen  Merkmale  sammeln. 

»)  Zeller  II,  2,  S.  138-140. 
')  Emunot  we-Deot  S.  4. 

»)  Jezirahkommentar,   S.  26    und  83   zu  11,  §  1.    \Vgl  Jetzt  ed 
Lambert  (Paris  1891)  S.  59). 


518  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

Die  gesammelten  Merkmale  werden  dann  der  Urteilskraft 
unterbreitet,  die  das  Wahre  und  Richtige  vom  Falschen 
und  Unrichtigen  sondert  und  sichtet.  Die  so  gewonnenen 
Erkenntnisse  werden  dann  vom  Gedächtnis  erfaßt  und 
aufbewahrt.  Dieser  ganze  Denkprozeß  beruht  aber  auf  der 
Voraussetzung  von  der  Richtigkeit  unserer  Sinneswahr- 
nehmungen.« Aber  nicht  nur  der  Begriff,  auch  die  höchste 
Erkenntnis  nimmt  bei  Saadja  wie  bei  Aristoteles  ihren 
Ausgang  von  der  sinnlichen  Wahrnehmung.  »Das  mensch- 
liche Wissen  hat  zu  seiner  Grundlage  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung; es  nimmt  seinen  Ausgang  von  den  groben 
Sinneseindrücken,  die  den  Menschen  unter  sich  und  auch 
mit  den  Tieren  gemeinsam  sind.  Allein  der  Mensch  bleibt 
bei  der  Erkenntnis  durch  die  Sinneswahrnehmung  nicht 
stehen ;  von  dieser  untersten  Erkenntnisstufe  steigt  er 
vielmehr  immer  höher  und  höher  hinauf,  bis  er  endlich  zu 
der  höchsten,  ihm  erreichbaren  Stufe  gelangt  ist.  Mit  jeder 
höheren  Stufe  der  Erkenntnis  nimmt  aber  die  sinnliche  Greif- 
barkeit seiner  Erkenntnisse  naturgemäß  immer  mehr  ab,  bis  der 
Mensch,  an  der  äußersten  Grenze  seiner  Erkenntnis  angelangt 
auch  die  feinste  und  höchste  Abstraktion  gewonnen    hat«1). 

1)  Emunot  we-Deot  II,  S.  39;  vgl.  hiermit  die  Entstehung  des 
Wissens  bei  Aristoteles,  Zeller  II,  2,  138—140.  Die  Abhängigkeit  Saad- 
jas von  Aristoteles  zeigt  sich  auch  sonst  noch  oft.  So  sagt  Saadja 
Em.  we-Deot  I,  S.  34:  "Dl  ibrtPS  jnv  Kin  Sdk  und  Einleitung  S.  6: 
'131  aba  r6iy  p:p  K\*l  '3  -iökji  fast  wie  Aristot.,  daß  sich  aus  der  Wahr- 
nehmung mittelst  des  Gedächtnisses  ein  allgemeines  Bild  erzeuge, 
indem  dasjenige  fes'gehalten  werde,  was  die  Begriffe  bildende  Ver- 
nunft von  dem  alle  sinnlichen  Wahrnehmungen  aufbewahrenden  und 
vereinigenden  Seelenvermögen  empfängt.  Daß  dieses  Vermögen  der 
aristotel.  Gemeinsinn  sei,  hat  schon  Guttmann  a.  a.  O.  S  71  be- 
merkt. Mit  Arist.  (Zeller  II,  2,  S.  133)  glaubt  auch  Saadja,  daß,  wenn 
das  Wissen  auch  vermittelst  der  Erfahrung  zustande  komme,  die 
Seele  den  Grund  ihres  Wissens  doch  in  sich  selbst  trage:  Emunot 
we-Deot  VI,  S.  98:  °oi  nüs^  riESn  nx?n  wesn  *d  &  -uann  p  nnNi, 
ferner,  daß,  wenn  die  Sinne  täuschen,  nicht  sie,  sondern  der  Verstand 
die  Schuld  daran  trage,  da  sie  nur  seine  Werkzeuge  seien.  Das:  «Die, 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  519 

Hier  wie  an  anderen  Stellen1)  betont  Saadja  die  sinnliche 
Wahrnehmung  als  die  einzige  Erkenntnisquelle,  und  doch 
hindert  ihn  das  nicht,  gleich  beim  Anfang  seiner  Unter- 
suchungen2) drei  natürliche  Erkenntnisquellen  anzunehmen, 
in  denen  alle  Wahrheit  und  Gewißheit  ihren  Ursprung 
habe:  1.  die  durch  die  fünf  Sinne  vermittelte  Wahrnehmung, 
2.  die  intuitive  Erkenntnis  der  Vernunft  und  3.  das  Er- 
kennen durch  Reflexion  und  logische  Schlüsse,  indem  man 
von  einer  durch  die  Sinne  wahrgenommenen  oder  durch 
die  Vernunft  erkannten  Wirkung  auf  eine  nicht  weiter  wahr- 
nehmbare oder  erkennbare  Ursache  schließen  muß.  Die  dritte 
Erkenntnisquelle  hat  die  beiden  ersten  zu  ihrer  Voraus- 
setzung; das  Verhältnis  aber,  in  welchem  die  zweite  zur 
ersten,  das  heißt  die  intuitive  Vernunfterkenntnis  zur  sinn- 
lichen Wahrnehmung  steht,  ist  mit  Sicherheit  bei  Saadja 
nicht  festzustellen9).  Wie  verhalten  sich  diese  drei  natür- 
lichen Erkenntnisquellen  zur  ethischen  Erkenntnis?  Die 
durch  die  Sinne  erlangte  Erkenntnis  hält  Saadja  für  eine 
unzweifelhaft  wahre,  sobald  sich  der  Mensch  dabei  nicht 
durch  die  Einbildung  täuschen  läßt,  so  daß  in  der  Er- 
kenntnis, die  aus  dieser  Quelle  fließt,  keine  Differenz  unter 
den  Menschen  stattfindet*).  Für  die  Ethik  liefert  diese 
Quelle  die  Erkenntnis  von  dem,  was  Lust  und  Schmerz 
bereitet  oder  angenehm  und  unangenehm  ist.  Außerdem 
beweist  Saadja  aus  ihr  die  Willensfreiheit  des   Menschen*). 

See.e  est  gibt  den  Sinneswerkzeugen  (»im 'bab)  die  Fähigkeit  zur 
sinnlichen  Wahrnehmung.  Vgl    D.  Kaufmann,  Die  Sinne,  S.  57. 

»)  Emunot    II,  S.  56;  vgl.  S.  7;  I,  41. 

»)  Das.  S.  7. 

3)  Aus  Emunot  S.  7:  W3  1BÖ  piENOS  -iBimi  und  aus  I,  S.  41 
unten,  wäre  die  Abhärgigkeit  der  Vernunfterkenntnis  von  der  Sinnes- 
wahrnehmung zu  folgern;  diesen  Stellen  stehen  aber  andere  gegen- 
über: I,  S.  34  und  37;  II,  S.  55,  an  denen  die  Unabhängigkeit  und 
Selbständigkeit  der  Vernunfterkenntnis  betont  wird. 

4)  Emunot    S.  8,  I,  S.  15. 

«)  Das.  IV,  S.78;  vgl.  X,  148  usw. 


520  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

Ebenso  wahr  und  zuverlässig  wie  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung ist  die  Erkenntnis  der  Vernunft,  sobald  der  Mensch 
sie  nicht  mit  den  Gebilden  des  Traumes  und  der  Phantasie 
verwechselt.  Diese  Erkenntnisquelle  spielt  in  der  Ethik 
Saadja's  die  bei  weitem  wichtigste  Rolle,  und  wir  glauben 
nicht  fehl  zu  gehen,  wenn  wir  behaupten,  daß  Saadja  sie 
Plato  entlehnt  hat,  bei  dem  ja  hauptsächlich  das  Wahre, 
Schöne  und  Gute  ein  eigentümliches  Gebiet  der  Erkenntnis 
ausmachen,  welches  die  Seele,  von  aller  Sinneswahrneh- 
mung unabhängig,  durch  eigene  und  selbständige  Tätigkeit 
hervorbringt.  Saadja  führt  wiederholt  als  Beispiel  einer 
Vernunfterkenntnis  den  Satz  an  »Die  Wahrheit  ist  gut,  die 
Lüge  ist  schimpflich«1),  außerdem  operiert  er  bei  den 
ethischen  Untersuchungen  im  dritten  Abschnitt  fast  aus- 
schließlich mit  dieser  Erkentnnisquelle.  Nicht  so  absolut 
sicher  und  zweifellos  ist  die  Erkenntnis,  die  wir  durch  lo- 
gische Folgerungen  erhalten.  Die  meisten  Abweichungen  und 
Verschiedenheiten  in  den  Ansichten  der  Menschen  haben 
deshalb  auch  gerade  in  dieser  Erkenntnisquelle  ihren  Grund. 
Saadja  läßt  deshalb  die  auf  diesem  Wege  gewonnene  Er- 
kenntnis nur  dann  als  wahr  gelten,  wenn  sie  die  einzige 
und  ausschließliche  Erklärung  für  eine  ihr  zu  Grunde  lie- 
gende Sinneswahrnehmung  oder  sonst  feststehende  Ver- 
nunfterkenntnis bildet,  wenn  sie  ferner  weder  einer  anderen 
Wahrheit  widerspricht  noch  in  sich  sich  selbst  einen  Wider- 
spruch enthält.  In  der  Ethik  weist  Saadja  auf  Grund  dieser 
Einschränkungen  das  hedonistische  Prinzip,  daß  das  An- 
genehme das  Gute  sei,  zurück8).  Auch  darin  ist  eine 
Anlehnung  an  Plato  oder  doch  wenigstens  eine,  wenn  auch 
vielleicht  aus  anderen  Gründen  herbeigeführte,  Überein- 
stimmung nicht  zu  verkennen.  Nichtsdestoweniger  ist  die 
Ethik  Saadja's  doch  sowohl  von  der  Plato's  als  auch  der 
des  Aristoteles   wie  überhaupt  der  griechischen    wesentlich 

*)  Emunot  S.  7,  8;  I,  S.  36  oben;  II,  S.  55. 
>)  Das.  S.  10;  vgl.  III,  S.  60. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  521 

dadurch  verschieden,  daß  er  neben  den  natürlichen  Er- 
kenntnisquellen eine  außerhalb  des  Menschen  liegende 
annimmt,  nämlich  »die  wahrhafte  Überlieferung«.  »Die  wahr- 
hafte Überlieferung«  enthält  nach  Saadja  sowohl  die  schrift- 
liche Lehre  als  auch  die  mündliche  Tradition1).  Obgleich 
sie  ihre  Gültigkeit  aus  den  drei  natürlichen  Erkenntnis- 
quellen herleitet,  bestätigt  sie  selbst  andererseits  wieder 
die  Richtigkeit  der  natürlichen  Erkenntnisquellen2),  so  daß 
eine  vollständige  Übereinstimmung  zwischen  den  Lehren 
der  »wahrhaften  Überlieferung«,  das  heißt  der  Offenbarung, 


*)  Emunot  S.  7 ;  das  II,  S.  49  bringt  Saadja  aus  der  Schrift  C|D 
31J13.1)  und  aus  der  Tradition  (Palpen  fC)  Beweise,  dort  nennt  er 
die  üesetzeslehrer  die  Schüler  der  Propheten.  Deshalb  nennt  er  auch 
(worüber  Guttmann,  Religionsph.  d.  Saadja,  S.  141,  Anm.  3  sich  wun- 
dert) die  unzweifelhaft  talmudischen  Bestimmungen  über  Eheschließung 
und  Erwerb  »prophetische. •,  Emunot  III,  S.  61 — 62.  Er  hält  das.  III, 
S.  72  die  Überlieferung  zur  Erklärung  der  Lehren  und  Gebote  der 
Offenbarung  ebenso  notwendig  wie  die  Vernunft. 

*)  Emunot  S.  7  u.  8.  Bemerkenswert  ist,  wie  Saadja  die  Wahr- 
heit der  »vierten  Erkenntnisquelle«  aus  den  drei  natürlichen  beweisen 
will.  Die  Wahrheit  der  Überlieferung  ist;  1.  durch  die  sinnliche  Wahr- 
nehmung bestätigt,  da  die  Offenbarungen  an  die  Propheten  stets  von 
Zeichen  und  Wundern  begleitet  waren,  Emunot  III,  S.  63 — 64;  das. 
S.  12;  sie  wird  2.  durch  die  Vernunfterkenntnis  bestätigt,  so  daß  sie 
auch  spätere  Geschlechter,  die  die  Zeichen  und  Wunder  nicht  gesehen, 
ebenfalls  überzeugt.  Gott  hat  nämlich  in  die  menschliche  Vernunft 
die  Geneigtheit  zur  Aufnahme  wahrhafter  Überlieferungen  gelegt,  so 
daß  sich  die  Seele  bei  ihnen  beruhigt  fühlt  und  ihren  Urkunden  und 
Berichten  Glauben  schenkt.  Im  übrigen  sind  ja  auch  im  gewöhnlichen 
Leben  die  meisten  Handlungen  der  Menschen  von  dem  Glauben  an 
die  Wahrheit  des  ihnen  durch  andere  Überlieferten  abhängig.  Ohne 
diesen  Glauben  wäre  kein  Handel  und  Wandel,  ja  nicht  einmal  der 
Bestand  eines  geordneten  Staatswesens  möglich.  Ohne  ihn  könnten 
wir  mit  Bestimmtheit  weder  unsere  Mutter  noch  unseren  Vater  an- 
geben und  gleich  den  Skeptikern  dürften  wir  nur  den  Wahrnehmungen 
Glauben  schenken.  III,  S.  65;  3.  ergibt  sich  die  Wahrheit  der  »wahr- 
haften Überlieferung«  auch  durch  die  Überlegung,  daß,  wenn  die 
Überlieferung  irrtümlich  aufgefaßt  oder  absichtlich  gefälscht  wäre, 
dies   wohl  möglicherweise    einem  Einzelnen  hätte  verborgen  bleiben 


522  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

und  den  Ergebnissen  der  menschlichen  Forschung  möglich 
ist.  In  welchem  Verhältnis  steht  diese  vierte  Erkenntnis- 
quelle zu  den  anderen,  oder  mit  anderen  Worten,  wie  ver- 
halten sich  Offenbarung  und  Vernunfterkenntnis  zu  einander 
und  in  welchem  Verhältnis  stehen  beide  zur  Ethik?  Alle 
Wahrheiten,  die  der  Mensch  aus  seinen  natürlichen  Er- 
kenntnisquellen schöpfen  will,  kann  er  nur  auf  dem  Wege 
sehr  mühevoller  Spekulation  und  nur  im  allmählichen 
Fortschritt  erlangen,  wobei  er  außerdem  fortwährend  der 
Gefahr  ausgesetzt  ist,  durch  einen  Fehler  in  der  Unter- 
suchung zu  einem  falschen  Resultate  zu  kommen.  Dem 
gegenüber  bietet  die  Offenbarung  die  höchsten  Erkennt- 
nisse dem  Menschen  mühelos  dar,  so  daß  auch  die  der 
philosophischen  Forschung  Entbehrenden  und  Unfähigen, 
ja  sogar  Weiber  und  Kinder,  sich  diese  anzueignen 
vermögen.  Die  Offenbarung  umfaßt  alle  Lehren  und  Ge- 
setze, deren  der  Mensch  überhaupt  bedarf;  die  Vernunft 
kann  diese  Lehren  und  Gesetze  zwar  ebenfalls  geben, 
allein  ihre  hauptsächlichste  Aufgabe  besteht  zunächst  darin, 
daß  sie  das,  was  die  Offenbarung  apodiktisch  lehrt  und 
befiehlt,  nach  angestrengtem  Nachdenken  auf  seinen  Wahr- 
heitsgehalt prüft  und  auf  sittliche  Gründe  zurückführt1), 
damit  der  Mensch  so  vom  Wissen  zum   Glauben  gelange2). 

können;  bei  einer  großen  Gesamtheit  ist  in  der  Überlieferung  weder 
eine  irrtümliche  Auffassung  noch  ein  Betrug  denkbar,  ohne  daß  sich 
zugleich  die  Überlieferung  von  diesem  als  Betrug  weiter  fortgepflanzt 
hätte,  das  III,  S.  66. 

»)  Emunot  S.  11  —  13. 

s)  Vgl.  Emunot  S.  3  ff.  Es  gehört  dies  gewissermaßen  zur 
Tendenz  seines  Buches.  Es  ist  interessant  in  dieser  Beziehung,  wie 
es  StöckI  getan  hat,  Saadja  mit  der  christlichen  Scholastik  zu  ver- 
gleichen. Saadja  ist  der  Ansicht,  daß  ohne  Erkenntnis  kein  echter 
Glaube  möglich  ist.  Anselm  v.  Canterbury  dagegen  lehrte  wie  Augustin, 
»daß  ohne  den  Glauben  keine  Erkenntnis  möglich  sei«.  Vgl.  H.  Ritter, 
Geschichte  der  christl.  Philosophie,  III,  Harnt  urg  1844,  S.  J25.  Es  gibt 
aber  auch  verwandte  Ansichten.  Saadja  am  nächsten  kommt  unter 
allen  christlichen  Scholastikern  Abälard,  der,  ebenfalls  »die  natürlichen 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  523 

Dieses  Abhängigkeitsverhältnis,  in  dem  die  Philosophie 
gewissermaßen  auch  nur  »die  Magd  der  Religion«  ist, 
kommt  hauptsächlich  in  den  metaphysischen  Forschungen 
Saadja's  zum  Ausdruck.  In  den  ethischen  Betrachtungen 
gewährt  er  der  Vernunft  mehr  Freiheit  und  Selbständigkeit, 
<loch  beschränkt  er  ihr  Vermögen  dahin,  daß  sie  die  Wahr- 
heiten des  praktischen  Lebens  nur  im  allgemeinen  zu 
finden,  keineswegs  aber  genau  zu  bestimmen  vermag. 
Wollte  man  daher  es  der  Vernunft  allein  überlassen  die 
Normen  festzustellen,  nach  denen  sich  das  Tun  und  Lassen 
der  Menschen  zu  richten  hätte,  so  wäre  man  in  sehr  vielen 
Punkten  ratlos  und  eine  Übereinstimmung  in  den  einzelnen 
gesetzlichen  Bestimmungen  fast  unmöglich.  Diesen  Mangel 
der  Vernunft  ersetzt  nun  vollständig  die  Offenbarung,  so 
■daß  sie  im  praktischen  Leben  als  die  notwendige  Ergän- 
zung der  menschlichen  Vernunft  unentbehrlich  ist1). 

Welche  Gestalt  die  Ethik  Saadja's  bei  diesen  Voraus- 
setzungen annehmen  muß,  ist  schon  hier  zu  erkennen.  Sie 
wird  nur  in  beschränktem  Maße  autonom  sein,  und  so  weit 
sie  heteronom  ist,  wird  sie  von  spezifisch  religiösen  und 
ähnlichen  Elementen  durchsetzt  sein.  Wir  wollen  nun  ver- 
suchen, die  Grundbegriffe  der  saadjanischen  Ethik  darzu- 
stellen, und  zwar  zunächst  ihren  Begriff  und  ihre  Kategorien. 

Erkenntnisse  als  Anfänge  unseres  Glaubens  betrachtete«,  und  daher 
nicht  den  Glauben  vor  dem  Wissen,  sondern  das  Wissen  vor  dem 
Glauben,  forderte,  s.  Ritter,  das  409  ff.  Thomas  v.  Aquino  hatte,  von 
Maimonides  beeinflußt,  ebenfalls  Vernunft  und  Offenbarung  als  zwei  Er- 
kenntnisquellen angenommen.  Allein  während  Saadja  die  Offenbarung 
mehr  für  ein  äußeres  Förderungsmittel  für  die  natürliche  Erkenntnis 
hielt,  weil  die  Offenbarung  nur  das  lehre,  was  die  menschliche  Ver- 
nunft selbst  erkennen  könne,  hielt  Thomas  sie  für  eine  absolute  Not- 
wendigkeit wegen  der  Mysterien,  die  jenseits  aller  Vernunft  liegen. 
Saadja  kennt  keine  Glaubensmysterien.  Stockt,  A.  Geschichte  d.  Pnilos. 
d.  Mittelalters  II,  S.  447. 

l)  Die  Spekulation  dient  nur  dazu,  uns  durch  Vernunftgründe 
von  der  Wahrheit  der  Offenbarungslehren  zu  überzeugen.  Em.  S.  12. 
Wer  philosophiert,   ohne   die  Schriften    der  Propheten    zu    beachten, 


524  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

III.  Die  Grandbegriffe  der  Ethik. 
1.  Die  Ethik  als  philosophische  Disziplin  und 
ihr  Begriff. 
Gegen  Ende  des  zehnten  Abschnittes  seines  religions- 
philosophischen Werkes  gibt  Saadja  in  Anlehnung  an  Ko- 
helet  eine  Einteilung  der  Wissenschaft,  wonach  er  sie  in 
drei  Disziplinen  scheidet.    Er  nennt  dort: 

1.  Die  Wissenschaft  von  den  Naturdingen  und  der 
Weltschöpfung  D^j?n  T)TV\  dwh  jiMfi,  die  von  der  sichtbaren 
Welt  ausgehend  zu  dem  höchsten  Objekt  des  Erkennens  auf- 
steigt und  Gott  als  den  Realgrund  alles  Seins  erkennt.  Es  ist 
dies  wohl  die  theoretische  Wissenschaft  der  Physik  und 
Metaphysik.  Rechnen  wir  hierzu  noch  die  Mathematik,  die 
er  wwn  rOK^o1)  oder  ony^m  nncn  wr2)  nennt,  so 
haben  wir  die  drei  Teile  der  theoretischen  Philosophie  bei 
Aristoteles8). 

2.  Die  Politik  mz^on  rmn,  die  sich  mit  der  Ordnung 
der  menschlichen  Gesellschaft  und  den  Mitteln  zu  ihrem 
Schutze  beschäftigt4). 

3.  Die  Religion  rwtvi  rmay  noon;  sie  ist  die  Wis- 
senschaft, welche  das  Verhältnis  des  Menschen  zur  Gott- 
heit zum  Inhalt  hat  und  das  ganze  Leben  des  Menschen 
sowohl  nach  innen  wie  nach  außen  auf  Grund  dieses  Ver- 
hältnisses nach  allen  Richtungen  hin  genau  bestimmt   und 

sündigt,  obgleich  er  ein  Philosoph  ist,  das.  S.  11.  Mehr  Freiheit  wird 
der  Vernunfterkenntnis  III,  S.  58  und  [besonders  III,  S.  61,  volle  Selb- 
ständigkeit aber  und  bestimmender  Einfluß  auf  das  praktische  Leben 
erst  im  zehnten  Abschnitt  zuerkannt. 

l)  Emunot  we-Deot,  Einleitung  S.  9. 

»)  das.  X,  S.  153  Mitte. 

s)  Zeller  II,  2,  S.  123.  Dieser  Einteilung  folgte  später  auch 
Maimonides  in  Mill.  higgajon,  p.  14. 

*)  Emunot  X,  S.  161,  dort  werden  die  drei  Disziplinen  als- 
HÖSn  aus  dem  jedesmaligen  Gegensatz  gefolgert.  Zur  Politik,  vgl. 
ibid.  X,  S.  154  die  »neunte  Lebensrichtungt  IV,  S.  76  oben:  jr>n  m* 

dik  ua  uprur  ny  »peStmi  no^on  r\:rnnb  ,rmnoni  phtmn  »roh. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  52S 

regelt*).  Die  Ethik  als  besondere  Disziplin  findet  in  diesem 
System  also  keine  Stelle.  Nehmen  wir  aber  an,  daß  hier 
Politik  und  Religion  die  Teile  der  praktischen  Philosophie 
bilden  und  also  der  Ethik  und  Politik  im  aristotelischen 
Systeme  entsprechen8),  dann  werden  wir,  wenn  wir  von 
der  umgekehrten  Folge  der  Teile  absehen,  die  Ethik  Sa- 
adja's  hauptsächlich  in  dessen  »Religion«  zu  suchen  haben. 
Indessen  es  scheint  doch  auch,  daß  Saadja,  unter  dem  Ein- 
fluß der  griechischen  Philosophie,  obgleich  er  die  Politik 
selbst  nicht  weiter  behandelt  hat,  wozu  er  ja  auch,  da  er 
hauptsächlich  nur  für  seine  Glaubensgenossen  schrieb, 
keine  Veranlassung  hatte,  die  Ethik  auch  als  eine  ^Politik 
im  engeren  Sinne«  betrachtet  hat,  und  sie  infolgedessen 
also  auch  zur  Politik  rechnet  Wie  wir  aus  gelegentlichen 
Bemerkungen  ersehen  und  auch  oben  schon  bemerkt  haben, 
besteht  die  Politik  in  der  »Leitung  des  Staatswesens«,  ihr 
Zweck  ist  die  Förderung  der  Wohlfahrt  der  menschlichen 
Gesellschaft8).  Die  Mittel  zur  Erlangung  dieses  Zweckes 
gibt  nur  »die  vernünftige  Überlegung  G1S9R)«  an4;,  indem 
sie  durch  Gesetze  und  Verbote  für  die  Aufrechterhaltung 
der  Ordnung  sorgt  und  die  Gesellschaft  vor  Untergang 
bewahrt.  Eine  Bedingung  zum  Bestände  des  staatlichen 
Gemeinwesens  ist  aber  auch  der  Glaube  an  die  Wahr- 
heit menschlicher  Überlieferung,    denn    ohne  diesen    würde 


l)  Unter  mi3J>  versteht  Saadja  den  praktischen  Teil  der  Re- 
ligion, der  als  Gottesdienst  im  weitesten  Sinne  das  ganze  Leben  des 
Menschen  umfaßt  Emunot  X,  S.  157:  riv^apn  ITOton  ^33  KT!  rffbjjn  »3 

*)  »Politische  Wissenschaft«  ist  der  von  Aristoteles  eingeführte 
Name  für  das  ganze  Gebiet  des  praktischen  Lebens,  welcher  Ethik 
und  Politik  umfaßt,  s.  N.  E.  VI,  8,  vgl.  Zeller  II,  2,  S.  127  u.  468. 

»)  Emunot  X.  S.  161;  VI,  76:  B*W  '33  upwu»  Ifi  X,  S.  154: 
Vfliipr  Wh»  «Si  ,Tne»  D*?iJH  JWI  »h  m-urn  ItVlH  Ohne  Regierung 
wäre  keine  Ordnung  in  der  Welt,  und  ihre  Wohlfahrt  könnte  nicht 
gefördert  werden. 

«)  Emunot  X,  S.  155:  noana  ott  '3  jt.t  *b  oS'jn  ino. 


526  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

jeder  den  obrigkeitlichen  Gesetzen  und  Anordnungen,  wo- 
fern er  bei  deren  Verkündigung  nicht  selber  zug  gen  war,, 
den  Gehorsam  versagen  und  dadurch  die  Staatsleiiung  un- 
möglich machen1).  Fast  analog  diesem  Begriff  der  Politik 
ist  auch  der  Begriff  der  saadjanischen  Ethik.  Sie  besteht 
ebenfalls  in  der  »Leitung«  nach  »vernünftiger  Überlegung«, 
aber  in  der  Selbstleitung*),  und  ihr  Zweck  besteht  eben- 
falls in  der  Förderung  der  Wohlfahrt,  aber  in  der  Wohlfahrt 
der  eigenen  Person8).  Die  Mittel,  die  zur  Erreichung  dieses 
Zieles  dienen,  gibt  ebenfalls  nur  die  Vernunft  an,  indem 
sie  als  oberste  Richterin  alle  Triebkräfte  der  Seele  so  re- 
gelt, daß  sie  jeder  einzelnen  von  ihnen  die  Zeit  und  das 
Maß  ihrer  Wirksamkeit  bestimmt,  wie  es  in  den  einzelnen 
Fällen  das  vollendete  Wohl  des  Menschen  gerade  erheischt4). 
Nach  dieser  Richtung  hin  bestimmt  Saadja  die  Form  und 
den  Inhalt  der  Ethik  hauptsächlich  im  zehnten  Abschnitt 
seines  religionsphilosophischen  Werkes.  Er  betrachtet  den 
Menschen  dort  vorwiegend  als  irdisches  Naturwesen,  dessen 
höchstes  eben  nur  auf  Erden  erreichbares  Ziel  das  geistige 
und  leibliche  Wohlbefinden  bildet.  Seine  Ethik  wird  dadurch, 
wie  Luthardt  die  antike  Ethik  bezeichnet,  »naturhaft  ;  sie 
sucht  deshalb  auch  nicht  das  menschliche  Leben  und  Han- 
deln mit  einem  Höheren,  jenseits  der  Menschengewalt  Lie- 
genden, in  Verbindung  zu  bringen,  dessen  absoluter  Wille 
die  Norm  für  den  Willen  und  das  ethische  Urteil  des  Men- 
schen abgeben  könnte,    sondern  sie  nimmt    ihren  Ausgang 


»)  das     III,    S.  65:  mSD  ^2ps  xb  .TU"!  nSlJD  WiW  kS  DK 

raronn  ntoa  ,p  mn  iSxi . . .  im»  i»tb>  nya  o»  *a  wenn  »*?i  cobti 

Dl»  *32B  HD1H  H3K1,  vgl.  III,  59  unten;  X,  lvi  unten; 

»)  das.  X,  S  145:  nfjfm  m»i  nruna  noanS  arsn*,  vgl.  1/ 
S.  36:  mnri  bx  "pah  ryn  ,obsv  bx  uoj>  d^i  ■a  ,*nj  idi»i.  vgl.  IV, 
S.  78:  iSsbo  ijjstt  rn:o  »inar  ex  vs  ,"cnn  p». 

8)  das.  X,  S.  144:  .  .  .  wp  ppn  ib  ahw  .  ,  ♦  mxapn.no  *?3» 
ropüisi  D'i»  wräjp  bz  wt  p  nrjr  -upjoi. 

*)  Emunot  X,  S.  145:  mron  by  pr  i»»  »in  rranH  na  Sa» 
,131  D"nrmn,  vgl.  S.  144  und  146. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  527 

vom  menschlichen  Seelenwesen  und  findet  den  Maßstab 
der  ethischen  Beurteilung  in  der  prüfenden  und  richtenden 
Kraft  der  Vernunft.  Was  diese  als  dem  irdischen  Wohle 
förderlich  erkennt  wird  als  'gut*  bezeichnet  und  dessen 
Gegenteil  als  »schlecht«.  Saadja  gibt  deshalb  recht  bezeich- 
nend dem  zehnten  Abschnitt  die  Überschrift  »Über  die 
beste  Art  der  menschlichen  Lebensführung  im  Diesseits«. 
Der  Begriff  der  Ethik,  wie  er  uns  hier  entgegen  tritt, 
verrät  sowohl  durch  seine  Verwandtschaft  mit  dem  Begriff 
der  Politik,  wie  hauptsächlich,  wie  wir  später  noch  sehen 
werden,  durch  sein  Prinzip,  den  Einfluß  der  griechischen 
Ethik  und  unterscheidet  sich  wesentlich  von  der  Fassung, 
die  die  Ethik  Saadja's  in  der  Religion  annimmt.  Im  zehnten 
Abschnitt  behandelt  Saadja  den  Menschen  als  ein  selbstän- 
diges, unabhängiges,  seine  eigene  Vernunft  als  höchste 
Richterin  anerkennendes  Wesen;  ganz  anders  ist  dem  gegen- 
über aber  nach  Saadja  die  Stellung  des  Menschen  in  der 
Religion.  Hier  verliert  er  seine  Unabhängigkeit,  seine  Ver- 
nunft wird  mangelhaft  und  er  tritt  als  Kind  in  ein  Ver- 
hältnis zu  Gott,  als  seinem  Vater,  der  zwar  das  Glück  des 
Kindes  will,  dafür  aber  auch  unbedingten  Gehorsam  ver- 
langt. Saadja  beginnt  daher  seine  Untersuchungen  über  den 
ethischen  Gehalt  der  Offenbarungslehren  gleich  mit  dem 
Hinweise,  daß  der  Mensch  sein  Dasein  nur  der  Güte  Gottes 
verdanke,  daß  Gott  ihm  außerdem  aber  noch  gnädig  die 
Mittel  gewährt  habe,  durch  die  er  die  ewige  Glückseligkeit 
und  das  höchste  Gut  erlangen  könnte.  Diese  Mittel  sind 
die  göttlichen  Gebote  und  Verbote.  Befolgt  der  Mensch  sie,  so 
wird  er  von  Gott  dafür  belohnt,  verwirft  er  sie  aber,  so 
wird  er  bestraft.  Gott  hat  sie  dem  Menschen  durch  die 
Propheten  offenbart  und  allein  aus  diesem  Grunde  sind  sie 
für  den  Menschen  von  verbindlicher  Kraft1).  Allein  Saadja 
verwirft,  wie  wir  schon  wissen,  den  blinden  Autoritäts- 
glauben   und    sieht    sich  deshalb   gezwungen,  die  Verbind- 

>)  Emunot  III,  S.  58. 


528  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

lichkeit  der  geoffenbarten  Gesetze  aus  einem  anderen  Grunde 
zu  erklären.  Er  versucht  daher,  sie  aus  der  menschlichen 
Vernunft  abzuleiten.  Hierdurch  erfahren  wir  aber,  welche 
Stellung  die  Ethik  in  der  Religion  einnimmt,  und  welches 
der  Begriff  der  religiösen  Ethik  ist.  Indem  Saadja  nämlich 
die  einzelnen  Gesetze  erklärend  durchgeht  und  je  nach 
ihrer  Zusammmengehörigkeit  gruppiert,  findet  er  viele,  zu 
deren  Anerkennung  die  menschliche  Vernunft  sich  geradezu 
gezwungen  fühle,  und  zwar  aus  Gründen,  die  je  nach  dem 
Inhalte  der  einzelnen  Gesetze  verschieden  sind.  Aber  selbst 
in  dieser  Verschiedenheit  der  Einzelgründe  vermag  er  noch 
ein  allen  Gemeinsames  zu  entdecken,  das  er  als  die  wahre 
Ursache  der  Verpflichtung  betrachtet,  die  wir,  unbeeinflußt 
von  irgend  welchem  Offenbarungsgedanken,  jenen  Gesetzen 
gegenüber  empfinden.  Dieses  ihnen  gemeinsame  Moment 
ist  der  sittliche  Wert,  den  unsere  Vernunft  ihnen  unmittel- 
bar zuerkennt,  indem  sie  nämlich  das  in  ihnen  Gebotene 
als  etwas  Gutes  und  das  in  ihnen  Verbotene  als  etwas 
Schimpfliches  beurteilt1).  Alle  diese  Gesetze  führen  den 
Namen  »Vernunftgesetze«.  Im  Gegensatz  zu  diesem  gibt 
es  aber  andere  Gesetze,  in  deren  Beurteilung  sich  unsere 
Vernunft  ganz  indifferent  verhält;  sie  findet  in  ihnen  an 
und  für  sich  weder  etwas  Gutes  noch  etwas  Schimpfliches*). 
Der  Mensch  fühlt  sich  zu  ihrer  Anerkennung  nur  ver- 
pflichtet, weil  sie  als  Gebote  der  Offenbarung  gelten3); 
Saadja  nennt  diese  Klasse  von  Gesetzen  daher  auch  »Offen- 
barungsgesetz«*).    Das     Merkmal,     das     den     Unterschied 

')  Emunot  III,  S.  59:  inaie  tibsvi  yttj  ,ia  nwov  nbxo  pjj>  Sdi 
vpm  üftafca  jnw  UDO  Tmnr  nna  p#  fot 

*)  das.:  DcstyS  B*iittöJW  ,Dmx  itia  bovn  p»  onan  /»;OT  pbvn 

3)  das.  S.  60:   trab*  mxo  aorpa  n?n3  nbynv  'D  by  s)*. 

«)  das.  S.  59  u.  61 :  cm  ,mxon  *pbn  ^p:  \fis\  m . . . 
. .  .  nvj?aff.-n  nv^arn  Im  Jezirah-Kommentar  zu  1,  §  1  nennt  er  die 
Vernunftgebote  CjniDn,  weil  sie  uns  schon  allein  durch  die  Vernunft 
bekannt  sind  rwaa  cynon;    die  Offenbarungsgesetze  aber  D'PDBMOH, 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  529 

zwischen  den  »Vernunft«-  und  »Offenbarungsgesetzen« 
bildet,  ist  ein  Hauptmoment  des  ethischen  Begriffs;  denn 
dieser  besteht  darin,  daß  wir  an  die  Betrachtung  von  Ver- 
hältnissen oder  Objekten  die  Prädikate  der  Wertschätzung 
des  Lobes  oder  des  Tadels,  der  Billigung  oder  der  Mißbil- 
ligung knüpfen1).  Wir  werden  demnach  die  »Vernunft- 
gesetze«, deren  Verbindlichkeit  der  Mensch  nicht  erst  aus 
der  Offenbarung  herleitet,  sondern  schon  infolge  einer 
sittlichen  Beurteilung  für  sich  anerkennt,  als  die  Gesetze 
der  Ethik  bezeichnen  dürfen.  Die  Ethik  tritt  hier  also  in 
der  Form  einer  Pflichtenlehre  hervor.  Indem  nämlich  die 
Vernunft  etwas  als  »gut«  anerkennt,  finden  wir  uns  ohne 
jegliche  Rücksicht  auf  irgend  einen  dadurch  etwa  zu  er- 
reichenden Zweck  gezwungen,  dieses  Gute  zu  tun.  Die 
beiden  verschiedenen  Begriffe  der  philosophischen  und  re- 
ligiösen Ethik  Saadja's  zeigen  deutlich  die  Verschiedenheit 
des  Bodens,  auf  dem  sie  gewachsen  sind.  Seine  philoso- 
phische   Ethik,   welche    eudämonistisch    das   Wohlbefinden 

weil  sie  uns  erst  von  außen  mittelst  des  Gehorsams  mitgeteilt  werden 
jtottH  OTVD  D^DBNDn.  Diese  Einteilung  und  Bezeichnung  war  auch 
in  den  Kreisen  der  Mutazila  bekannt.  Schahrastäni  I,  S.  40,  Anm. 
erklärt  fast  wie  Saadja:  Offenbarung  bedeute  eigentlich  das  Hören 
von  außen  im  Gegensatz  zu  der  Tätigkeit  der  eigenen  Vernunft.  Von 
Saadja  ab  bleiben  diese  von  ihm  in  die  jüdische  Literatur  eingeführte 
Bezeichnungen  allgemein  in  Geltung.  Joseph  Ibn  Zadik  (Mikrokosmos, 
S.  61)  und  Abraham  Ibn  Daud  (Emuna  rama,  ed.  Weil,  S.  75)  haben 
die  gleiche  Einteilung  und  Bezeichnung  der  Gebote.  Maimonides 
behält  die  Einteilung  zwar  bei,  verwirft  aber  die  Bezeichnungen,  weil 
(nach  Scheyer,  Psychol.  System  des  Maim.,  S.  26)  die  entsprechende 
arab.  Benennung  eigentlich  »Gesetze  der  theoretischen  Vernunft«  be- 
deute, worunter  aber  Maimonides  Gesetze  über  Glaubenswahrheiten 
verstanden  wissen  will,  vgl.  Rosin,  Die  Ethik  des  Maimonides,  S.  93. 
Auch  Aristoteles  unterscheidet  in  ähnlicher  Weise  N  E.  V,  10  ein 
natürliches  und  ein  gesetzliches  Recht;  ebenso  N.  E.  VIII,  14:  Das 
&x<xiov  sei  ein  zwiefaches,  ein  ungeschriebenes  und  ein  gesetzmäßiges. 
»)  L.  Strümpell,  Praktische  Philosophie  der  Griechen,  Leipzig 
1861.  S.  9  ff.;  T.  Ziller,  Allgem.  philos.  Ethik,  1880.  S.3ff.;  H.  Stein- 
thal, Allgem.  Ethik.  S.  31  ff. 

34 

M«Mts»chrift,  55.  Jahrgang. 


530  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

zum  Maßstab  alles  Strebens  macht  und  das  Gute  nur  re- 
lativ als  ein  zweckmäßiges  Mittel  schätzt,  ist  den  Griechen 
entlehnt.  Der  Pflichtbegriff  dagegen,  den  seine  religiöse 
Ethik  enthält,  ist  in  der  Bibel  und  auf  dem  Boden  des 
Judentums  zuerst  ausgebildet  worden1).  Das  Gute  darin 
wird  nicht  als  ein  Mittel  betrachtet,  sondern  es  ist  etwas 
Selbständiges,  Objektives,  das  um  seiner  selbst  willen  ver- 
wirklicht werden  soll.  Dieses  Nebeneinanderbestehen  einer 
relativen  und  einer  absoluten  Wertschätzung  beweist,  wie 
doppelsinnig  und  vieldeutig  der  Begriff  »gut«  bei  Saadja 
sein  muß.  Je  nach  der  Bedeutung  dieses  hauptsächlichsten 
Grundbegriffs  ändert  sich  aber  auch  das  Prinzip  der  Ethik, 
und  es  fragt  sich  daher,  ob  der  Begriff  »gut<  bei  Saadja 
so  beschaffen  ist  oder  wenigstens  einen  solchen  Faktor 
enthält,  daß  sich  daraus  ein  einheitliches  Prinzip  für  die 
beiden  von  Hause  aus  verschiedenen  Begriffe  seiner  Ethik 
herleiten  läßt.  Wir  übergehen  hier  das  Verhältnis  der  Re- 
ligion zur  Ethik,  welches  Saadja  recht  ausführlich  behan- 
delt, weil  wir  es  später  an  geeigneter  Stelle  erörtern,  haupt- 
sächlich aber,  weil  wir  erst  das  Prinzip  dersaadjanischen  Ethik 
kennen  müssen,  um  das  Ethische  der  Religionsgesetze,  das 
Saadja  in  ihnen  eben  nachweisen  will,  darnach  zu  beurteilen. 

*)  Nur  die  Stoiker  unter  den  griech.  Philosophen  hatten  an- 
gefangen, wenn  auch  im  Widerspruch  mit  ihrer  allgemeinen  Weh- 
ansicht, den  Grund  zum  richtigen  Begriff  der  Pflicht  zu  legen  (Ziller, 
Allg.  phil.  Ethik,  S.  107).  Schopenhauer,  welcher  das  Kant'sche  »Sitten- 
gesetz«, das  wie  bei  Saadja  unmittelbar  in  sich  das  unbedingt  ver- 
pflichtende Soll  enthält,  als  in  der  Ethik  gar  nicht  berechtigt,  verwirft, 
»erkennt  für  die  Einführung  des  Begriffes  Gesetz,  Vorschrift,  Soll  in 
die  Ethik  keinen  anderen  Ursprung  an,  als  einen  der  Philosophie 
fremden,  den  mosaischen  Dekalog« ;  Preisschrift  über  die  Grundlage 
der  Moral.  2.  Aufl.  Leipzig  1860,  S.  122,  vgl.  das.  S.  125:  »Die  Fas- 
sung der  Ethik  in  einer  imperativen  Form,  als  Pflichtenlehre  .  .  . 
stammt  mit  samt  dem  Sollen,  unleugbar  nur  aus  der  theologischen 
Moral  und  demnächst  aus  dem  Dekalog«,  vgl.  O.  Lehmann,  Über 
Kants  Prinzipien  der  Ethik  und  Schopenhauers  Beurteilung  derselben. 
Berlin  1880.  S.  91  ff. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Bas  „Steinewerfen"  in  Eoheleth3, 5,  in  der  Beufealicn- 
sage  und  im  Hermeskult1). 

Von  Ludwig-  Levy. 

»Alles  hat  seine  Zeit,«  so  leitet  Koheleth  sein  drittes 
Kapitel  ein,  hilflos  steht  der  Mensch  der  ehernen,  unab- 
änderlichen, von  Gott  gegebenen  Ordnung  der  Dinge  ge- 
genüber. Mit  V.  2  beginnen  7  Paare  von  Antithesen.  Jedes 
Antithesenpaar  bildet  ein  geschlossenes  Ganzes,  das  mit 
iiem  Vorhergehenden  und  Folgenden  nicht  zusammenhängt. 
Jedes  Paar  zerfällt  aber  in  2  eng  untereinander  zusammen- 
hängende Parallelen.  Das  erste  Antithesenpaar  beginnt  mit 
dem  Lebensanfang  und  Lebensende  des  Menschen  und 
(parallel)  der  Pflanze.  Daß  »weinen  und  lachen«  und  »klagen 
und  tanzen«  (V.  4)  Parallelen  sind,  braucht  nicht  erst  bewiesen 
zu  werden.  Dasselbe  gilt  für  »suchen  und  verloren  geben«, 
»erhalten  und  wegwerfen«  V.  6,  für  »zerreißen  und  nähen«, 
»schweigen  und  reden«,  beides  Äußerungen  der  Trauer  und 
ihrer  Beendigung  V.  7,  ebenso  für  »Liebe  und  Haß«,  im 
Völkerleben  »Krieg  und  Frieden«  V.  8.  Von  der  Erklärung 
der  Parallele  V.  3  wollen  wir  hier  absehen,  sie  würde  uns 
zu  weit  führen. 

Auffallend  und  bisher  unerklärt  ist  die  Parallele 
des  5.  Verses: 

ipwiü  ptr#  nins  pläjjf?  ny_ 

Es  ist  eine  Zeit  Steine  zu  werfen  und  eine  Zeit  Steine 
zu  sammeln,  eine  Zeit  zu  umarmen  und  eine  Zeit  dem  Um- 
armen fernzubleiben. 

')  Ein  Kapitel  aas  meinem  demnächst  erscheinenden  Koheleth* 
ketntnentar. 

34* 


532  Das  »Steine werfen c   in  Ko beleih  3,  5, 

Zu  diesem  Verse  schreibt  Delitzsch :  »Schwieriger  zu 
sagen  ist,  was  den  Verfasser  auf  die  zwei  folgenden  Gegen- 
satz-Paare hinführt  V.  5:  Steinewerfen  hat  seine  Zeit,  und 
Steinesammeln  hat  seine  Zeit;  Umfahen  hat  seine  Zeit  und 
Enthaltung  vom  Umarmen  hat  seine  Zeit.  Bestand  zu  des 
Verfassers  Zeit  schon  die  altjüdische  Sitte,  dem  Toten 
drei  Schaufeln  Erde  ins  Grab  nachzuwerfen,  und  führt  ihn 
dies  auf  das  d*»«  ybvn?  Man  bedarf  aber  so  zufälliger  Ge- 
dankenverknüpfung nicht,  denn  auch  das  Paar  5a  unter- 
stellt sich  noch  den  Gattungsbegriffen  des  Lebens  und  des 
Todes :  Steine  werfend  ruiniert  man  den  Acker  2  K  3,  25, 
und  Steine  zusammensuchend  und  entfernend  kultiviert 
man  ihn.  Folgt  nun  piar6,  weil  auch  das  mit  Armen  und 
Händen  geschieht  ?  Schwerlich,  sondern  dem  feindlichen, 
geflissentlich  schädigenden  Steinewerfen  tritt  die  Liebes- 
betätigung des  Umfahens  an  die  Seite.« 

Delitzsch's  Erklärung  befriedigt  nicht.  Das  Nachwerfen 
der  drei  Schaufeln  Erde  können  wir  bei  Seite  lassen,  denn 
abgesehen  davon,  daß  es  sich  um  Erde  und  nicht  um  Steine 
handelt,  entspricht  das  Nachwerfen  der  Erde  nicht  dem  Um- 
armen. Aber  auch  das  Ruinieren  der  Äcker  durch  Steine- 
werfen im  Kriege  korrespondiert  nicht  mit  Umarmen,  und 
selbst  wenn  wir  den  ersten  Halbvers  umdrehen,  so  daß 
das  Entsteinen  mit  Umarmen  korrespondiert,  so  ist  dies 
Kultivieren  des  Ackers  nur  sehr  gezwungen  mit  Umarmen 
in  Parallele  zu  setzen.  Delitzsch  folgen  die  meisten  neueren 
Erklärer,  so  Volck,  Wildeboer,  Siegfried.  Auch  andere  Er- 
klärungen wie  •  »eine  Mauer  zerstören«  für  Steinewerfen 
und  »zum  Festungsbau  sammeln«  (Graetz)  oder  »Werfen 
und  Sammeln  von  Schleudersteinen«  (Zapletal)  sind  ver- 
fehlt. 

Fragen  wir  zunächst :  Was  erwarten  wir  an  Stelle  von 
Steinewerfen  und  Steinesammeln  in  unserem  Vers?  Wenn 
wir  vom  zweiten  Halbvers  ausgehen:  »Eine  Zeit  ist  für's 
Umarmen  und  eine  Zeit    ist,    sich    vom  Umarmen   fernzu- 


in  der  Deukalkmsage  und  im  Hermeskult.  533 

halten,«  so  erwarten  wir  nach  Analogie  aller  übrigen  Ge- 
gensatzpaare im  ersten  Halbvers  etwas  Ähnliches.  Und  da 
hier  piar6  erotisch  gemeint  ist  wie  Spr.  4,  8  und  5,  20,. 
so  muß  »Steine  werfen«  und  »Steine  sammeln«  ein  sym- 
bolischer Ausdruck  für  »den  Liebesgen  u,ß  suchen« 
und  »den  Liebesgenuß  m  e  i  d  e  n«  sein. 

Sexuelle  Symbolik  war  zu  allen  Zeiten  und  bei  allen 
Völkern,  besonders  auf  primitiver  Kulturstufe,  weit  ver- 
breitet. Die  verschiedensten  Ausdrücke  dienen  als  ver- 
hüllende Bezeichnung  des  Geschlechtsaktes.  So  nennt  Stern 
B.  Medizin,  Aberglaube  usw.  II,  S.  136  die  Ausdrücke  »reiten«, 
»bedecken«,  »spielen«,  F.  S.  Krauss,  Die  Zeugung  in  Brauch, 
Glaube  und  Sitte  der  Südslaven  I.  S.  349  und  II.  S.  157 
»kneten«,  IL  S.  235  »Mehl  sieben«,  I.  S.  341  »Zupfropfen.« 
Zur  sexuellen  Symbolik  im  HL  s.  Haupt  P.  Bibl.  Liebes- 
lieder S.  36,  43,  68,  78,  in  talmudischer  Zeit  s.  b.  Sabb. 
63  a:  noi«  dir  vn  pn»  >#j«  thmv  *tw«  3i  id«  mtp  n  idk 
»Vma  pa  nb^av  7WHW  nca  ik  n^ap  nca  divt  myo  naa  iTar6 
no«  vi  -ona  i«  aitt  nana  "istp  aooa  ik  am  aooa  »Vtbi  pa  i« 
r\mh  ]bvi  *non  3*1.  Ein  solcher  Ausdruck  muß  auch  »Steine 
werfen«  sein.  In  die  Sphäre  des  Zeugens  und  Gebarens  rückt 
uns  zunächst  ein  D'ja«  verwandtes  Wort:  0*£"3N  Ex.  1,  16 
und  Jer.  18,  3.  In  Ex.  1,  16  D'i2«n  bv  jn*K-ii  kann  das  Wort 
nur  die  Bedeutung  » Schamteile«  haben,  in  der  es  ganz 
unzweideutig  von  der  Mechilta  zu  Ex.  15,  5  gebraucht  wird 
(Winter  und  Wünsche,  Übersetzung,  S.  128):  »Wie  ein  Stein, 
Mit  dem  Maße,  mit  welchem  ein  Mensch  mißt,  mißt  man 
ihm.  Sie  sprachen  :  So  sehet  auf  den  Zweistein.  Auch  du 
machtest  ihnen  die  Wasser  wie  einen  Zweistein,  und  die 
Wasser  schlugen  sie  an  den  Ort  des  Zweisteins,«  die  Scham. 
Die  Hebammen  sollen  auf  die  Vulva  blicken,  um  das  Kind, 
sobald  sie  sein  Geschlecht  erkannt  haben,  sofort  zu  töten. 
»Gebärstuhl«  gibt  keinen  Sinn.  Da  das  Weib  auf  ihm  sitzt, 
kann  man  ihn  nicht  sehen,  und  könnte  man  ihn  selbst 
sehen,    so  hätte  das    auch    keinen  Zweck.    Die  Hebamme 


534  Das  »Steinewerfen«  in  Koheleth   3,  5, 

muß  vielmehr  auf  die  Stelle  sehn,  wo  das  Kind  heraus- 
tritt, oder  auf  das  Kind  selbst  und  seine  Geschlechtsteile. 
0'J3«  können  nur  die  beiden  Ränder  der  Scheide  sein, 
oder  die  beiden  Hoden  (=  Steine)  des  Kindes,  s.  Baentsch 
(in  Nowacks  Handkomm.  z.  St.),  der  im  Namen  von  Völlers 
auf  das  arab.  merbana  (ma'bana)  Schamlosigkeit  und  mtbün 
(ma'bun)  Lustknabe  verweist,  >beide  Ausdrücke  zeigen 
wenigstens,  daß  auch  im  Arab.  sich  Ableitungen  von 
p«  in  der  Sphäre  des  pudendum  bewegen.«  Auch  der 
Midrasch  Ex.  r.  z.  St.  erklärt  d»J3K  als  Zeugungsorgane  des 
Weibes.  Auf  der  Suche  nach  der  Etymologie  des  Wortes 
gibt  er  verschiedene  Erklärungen,  die  eine  :  1H"W  mpo  0^3« 
u  njDJ,  also  Gebärmutter,  eine  zweite:  onr«  nun?  mprf 
ib"b  nstran  by  rmtw  pijhm  d*mk3  wp  mwt  ^v,  ferner  rwa 
D'33»r  jiujöxd  fr/iisr  ib*b  i\m3&.. 

Wenn  auch  diese  Etymologien  für  uns  nicht  mehr 
brauchbar  sind,  so  zeigen  sie  doch  jedenfalls,  daß  ü\2IjlN 
für  den  Midrasch  die  Geschlechtsorgane  bedeutete,  und 
daß  man  ein  tertium  comparationis  mit  D^DN  Steine  suchte. 
Aber  auch  D?3?N  Töpferscheibe  Jer.  18,  3  führt  uns 
in  das  Gebiet  des  Zeugens  und  Erschaffens.  Die  Men- 
schenschöpfung wird  im  babylonischen  und  ägyptischen 
Mythus  als  Töpferarbeit  dargestellt.  Auf  der  Töpfer- 
scheibe wird  der  Mensch  modelliert.  Eine  Abbildung 
aus  dem  Tempel  von  Luxor  zeigt  uns  den  ägyptischen 
Gott  Chnum,  wie  er  den  Menschen  auf  der  Töpferscheibe 
modelt1).  Bei  den  Babyloniern  ist  Ea  der  Menschenbildner 
und  heißt  »der  Töpfer«,  der  den  Menschen  aus  Lehm  er- 
schafft*). Da  so  viele  Momente  o*33«  in  die  Sphäre  des 
Zeugens,  Erschaffens,  Gebarens  rücken,  ist  es  natürlich, 
daß  mit  |2N  Stein  Bilder  und  Redensarten  geschaffen  wur- 
den,  die  auf  diese  Sphäre    hindeuten.     In  Jes.  51,  1    wird 

*)  Eine    Reproduktion    des    Bildes,   s.    bei   Jeremias:   das    Alte 
Testament  im  Lichte  des  alten  Orients*,  S.  146. 
")  Jeremias,  ATAO,  S.  167. 


in  der  Deukalionsage  und  im  Hermeskult.  5$* 

Abraham  der  Fels  genannt,  aus  dem  die  Israeliten  gehauen 
wurden.  Duhm  bemerkt  dazu:  »Abraham  und  Sara  werden 
mit  einem  Felsen,  genauer  einem  Steinbruch,  verglichen,  die 
Israeliten  mit  den  daraus  geförderten  Steinen.  Das  Bild  ist 
so  fremdartig,  daß  eine  besondere  Anspielung  darin  liegen 
mag.«  Das  Bild  ist  durchaus  nicht  so  fremdartig  und  ver- 
einzelt, vgl.  Jer.  2,  27:  die  da  sprechen  zum  Stein:  Du  hast 
uns  geboren,  Matth.  3,  9:  Gott  vermag  dem  Abraham  aus 
diesen  Steinen  Kinder  zu  erwecken,  Odyssee  XIX,  162: 
Aber  sage  mir  doch,  aus  welchem  Geschlechte  du  herstammst, 
denn  du  stammst  nicht  vom  Steine,  Bertholet,  Religions- 
geschichtliches Lesebuch,  S.  210:  Agni  aus  dem  Stein  ge- 
boren. In  denselben  Zusammenhang  gehört  auch  die  Fels- 
geburt des  Mithras,  die  petra  genitrix.  Gewiß  sind  das 
meist  Bilder,  aber  Bilder,  die  durch  bekannte  Redeweisen 
und  Anspielungen  hervorgerufen  wurden.  Bei  den  Juden 
konnte  schon  der  Gleichklang  von  ma«  p«  Steine  mit  D»aa  p 
Söhne  derartige  Bilder  begünstigen,  vgl.  Ibn  Esra  zu  Ex.  1,  16. 
Eine  solche,  ursprünglich  allgemein  verstandene  Redeweise 
war  »Steine  werfen«.  Jeder  Zweifel,  der  noch  über  die  Be- 
deutung des  Ausdrucks  bestehen  könnte,  wird  durch  den 
Midrasch  Koheleth  r.  behoben.  Er  bemerkt  zu  unserem  Verse: 
nytP3  —  d*:3«  dos  ny\  ,frnna  ^rwmv  fW3  —  d'J3«  jbwb  ny 
niftOtt  *]rt?RtP.  »Es  ist  eine  Zeit  Steine  zu  werfen,  wenn  dein 
Weib  (levitisch)  rein  ist,  und  eine  Zeit  Steine  zu  sammeln, 
wenn  dein  Weib  unrein  ist.«  Hieraus  geht  klar  hervor,  daß 
der  Midrasch  »Steine  werfen«  im  Sinne  des  Geschlechts- 
verkehrs nimmt,  der  während  der  Menstruationszeit,  in  der 
das  Weib  unrein  ist,  den  Juden  verboten  ist.  »Steine 
sammeln«  bedeutet  dann  Zeugungskräfte  sammeln,  in  der 
Zeit  sexueller  Enthaltsamkeit.  Dem  Midrasch  war  also  noch 
der  Ausdruck  bekannt,  dessen  Bedeutung  den  Späteren 
verloren  ging1). 

')  Irgend  eine  Überlieferung,  vielleicht  auch  der  Midrasch,  hat 
Raschi  veranlaßt,  CiSK  ybvnb  mit  D"03  zusammenzubringen.    Er  er- 


536  Das  »Steinewerfen«  in  Koheleth  3,  5, 

Vollständig  jedoch  ging  der  Ausdruck  nkht  verloren: 
er  hat  sich  in  europäischen  Volksbräuchen  erhalten.  »Eine 
deutsche  Volkssage«  schreibt  Ploß1),  »läßt  die  Kinder  aus 
Steinen  kommen.  So  bringt  in  Cammin  der  Storch  die  Kinder 
vom  großen  Stein.«  In  der  Schweiz  ist  die  Vorstellung  ver- 
breitet, daß  der  von  einem  Gewitter  herabgeworfene  Stein 
den  Kindertrog  öffnet.  Donnert  es,  so  sagt  man  Leuten,  die 
ein  Kind  durch  den  Tod  verloren  haben,  zum  Trost:  es  ist 
wieder  ein  Stein  von  der  großen  Fluh  heruntergepoltert, 
jetzt  kann  die  Hebamme  wieder  ein  anderes  herausholen. 
Das  Landvolk  der  Schweiz  nennt  die  Nagelfluh  Titisteine 
oder  Kleinkindersteine.  Teti  heißt  Kindlein,  daher  Titisteine«. 
Noch  deutlicher  spricht  ein  anderer  Brauch  in  Pommern. 
»In  Pommern  bezeichnet  man  kleine,  rundliche,  glatte  Steine 
von  schwarzer  oder  milchweißer  Farbe  als  »Adebarsteine« 
(Storchsteine).  Diese  werfen  die  Kinder  sich  rückwärts  über 
den  Kopf  und  bitten  dabei  den  Adebar  um  ein  Brüderchen 
oder  ein  Schwesterchen*2).  »Steine  werfen«  ist  hier  genau 
wie  in  Koheleth  symbolische  Bezeichnung  für  Kinderzeugen. 
Ist  nun  die  Bedeutung  des  Ausdrucks  über  allen  Zweifel 
sichergestellt  und  zugleich  durch  sein  Vorkommen  In  Ko- 
heleth sein  hohes  Alter  bezeugt,  so  rückt  die  Deukalionsage 
in  ein  neues  Licht.  Bekanntlich  stimmt  diese  griechische 
Sintflutsage  mit  den  orientalischen  Flutsagen  in  den  meisten 
Zügen  überein.  Deukalion  und  Pyrrha  retten  sich  allein  in 
einem  hölzernen  Kasten  vor  der  großen  Flut,  die  auf  Zeus' 
Befehl  das  ganze  Menschengeschlecht  vernichtet.  Neun  Tage 
und  Nächte  fahren  sie  auf  dem  Wasser  umher,  endlich  landen 


klärt  D03K:  D^Sttno  ^KW  mS3  wie  «Hip  "03K  n»WWJl  Klagel.  4,  1, 
wo  Raschi   bemerkt:    niniB  D^SKS  D'TKDH  D^3.    DOS    sind    dort   die 

»)  Das  Kind  I,  S.  33. 

«)  Zeitschrift  für  Volkskunde  »Am  Urquell«,  herausgegeben  von 
F.  S.  Krauß,  Bd.V,  S.  255,  A.Haas,  Rügensche  Sagen,  N.  139.  Freund- 
liche Mitteilung  von  Herrn  Dr.  D.  Ernst  Oppenheim  in  Wien. 


in  der  Deukalionsage  und   in  ^Hermeskult.  537 

sie  auf  dem  Parnaß.  Deukalion  bringt  Zeus  ein  Opfer  dar, 
und  als  Zeus  ihm  einen  Wunsch  gestattet,  bittet  er  um 
Menschen.  Diese  entstehen,  indem  Deukalion  und  Pyrrha 
Steine,  »die  Gebeine  der  Mutter«,  hinter  sich  werfen,  die 
sich  in  Menschen  verwandeln.  Dieser  eine  Zug  ist  der  grie- 
chischen Sage  eigentümlich.  Sie  teilt  ihn  noch  mit  der  sla- 
vischen  Sage  vom  Regenbogen,  der  das  einzige  nach  der 
Tat  übriggebliebene  Menschenpaar  tröstet  und  ihnen  rät, 
über  Steine  zu  springen.  So  entstanden  neue  Menschen- 
paare1). Jeremias2)  weist  auf  die  oben  zitierte  Stelle  der 
Odyssee,  ferner  auf  die  Baitylien  hin,  die  beseelten  Steine, 
die  Uranos  mit  der  Erde  erzeugte,  und  schließt :  »Von 
unserem  Standpunkt  aus  müssen  wir  annehmen,  daß  auch 
hier  Ideen  vorliegen,  die  auf  eine  Wurzel  zurückgehen.  Und 
dann  kann  auch  der  orientalische  Ursprung  der  Deukalion- 
sage nicht  mehr  zweifelhaft  sein«.  —  Alles  weist  auf  Orientalin 
sehen  Ursprung  bis  auf  den  Zug  vom  »Steine  werfen«. 
Sollte  dieser  nicht  auch  vom  Orient  gekommen  sein  und 
zwar  als  gebräuchlicher  symbolischer  Ausdruck  für  »Zeugen«? 
Deukalion  bittet  um  Menschen,  die  Gottheit  fordert  ihn  und 
Pyrrha  auf,  Steine  zu  werfen,  vorher  aber  sagt  sie:  »Hüllt 
euch  Beide  das  Haupt  und  löst  die  gegürteten  Kleider«8). 
Diese  Aufforderung  wird  uns  nun  begreiflich,  zum  Werfen 
von  Steinen  braucht  man  die  Kleider  nicht  zu  lösen!  In 
diesem  Sinne  scheint  schon  Rabelais  die  Sage  verstanden 
zu  haben*):  »besser  kein  Herz  zu  haben  als  keinen  Zeu- 
gungsapparat, denn  in  ihm  ruht  wie  in  einem    Tabernakel 


»)  Jeremias  ATAO  S.  248. 

*)  a.  a.  O.,  S.  238,  Anm.  4. 

»)  Ovid,  Metatn.  I,  382:  Et  velate  Caput,  cinetasque  resolvite 
vestes. 

4)  Rabelais:  Pantagruel,  II.  Buch.  cap.  VIII,  S.  52  der  Über- 
setzung von  Engelbert  Hegaur  und  Dr.  Owlglaß.  Den  Hinweis  auf 
diese  Stelle  verdanke  ich  der  Liebenswürdigkeit  Dr.  D.  Ernst  Oppen- 
heims in  Wien. 


538  Das  »Steinewerfen«  in  Koheleth  3,  5« 

der  Samen,  der  das  ganze  Menschengeschlecht  erhält.  Ihr 
brauchtet  mir  nicht  100  Franken  zu  geben,  und  ich  will 
glauben,  daß  das  die  eigentlichen  Steine  waren,  mit  denen 
Deukalion  und  Pyrrha  das  durch  die  Sintflut  zernichtete 
Menschengeschlecht  wieder  herstellten«.  Die  Handlung  des 
Steinewerfens  ist  ein  Bildzauber,  der  symbolische  Akt  ruft 
auf  geheimnisvolle  Weise  die  beabsichtigte  Wirkung  hervor, 
wie  wenn  etwa  die  Indianer  durch  den  Büffeltanz  die  Büffel 
in  die  Fallen  locken  wollen. 

Wie  ist  aber  der  symbolische  Ausdruck  Steinewerfen 
=  zeugen  entstanden?  Über  einen  Gedankengang,  der  wohl 
in  graue  Urzeit  zurückreicht,  in  der  der  Menschengeist  noch 
andere  Wege  ging,  lassen  sich  natürlich  nur  Vermutungen 
aussprechen.  Eine  Parallele  zum  Werfen  von  Steinen  finden 
wir  im  Werfen  oder  Spritzen  von  Wasser=zeugen,  erschaffen. 
O.  Dähnhardt  berichtet  in  »Natursagen«  I,  S.  18,  von  einer 
indischen  Sage,  nach  der  die  Teufel  durch  Ausspritzen  von 
Meerwasser  entstanden.  Eine  ukrainische  Sage  erzählt  I, 
S.  49:  Gott  befahl  dem  Teufel  seine  Finger  ins  Meer  zu 
tauchen  und,  ohne  sich  umzusehen,  Wasser  hinter  sich  zu 
werfen.  Der  Teufel  war  ungehorsam,  sah  sich  um,  und  er- 
blickte seinesgleichen.  Darauf  setzte  er  den  Versuch  fort 
und  es  entstand  eine  unsägliche  Menge  Teufel.  Nach  einer 
Variante  sagte  Petrus  zum  Teufel:  Schaffe  dir  Helfer,  nimm 
Wasser,  spritze  hinter  dich.  So  vielmal  du  spritzest,  soviel 
Teufel  werden  entstehen.  Auch  auf  Adam  wird  die  Sage 
übertragen,  Dähnh.  I,  49.  Es  leuchtet  ein,  daß  Wasser  spritzen 
als  symbolischer  Ausdruck  für  den  Geschlechtsakt  nahe  lag. 
Wasserwerfen  dürfte  daher  die  ursprüngliche,  bei  einem  am 
Meere  wohnenden  Volke  entstandene  Fassung  des  Aus- 
drucks sein.  Das  Material  der  Menschenschöpfung  im  Mythus 
wechselt  nach  Gegend  und  Beschäftigung  der  Völker.  In 
der  mesopotamischen  Tiefebene  dachte  man  sich  den  Men- 
schen aus  Lehm  erschaffen,  im  Gebirge  aus  Steinen  hervor- 
gehämmert (Dähnhardt  I,  18,  Anm.  1.  I.  33),  unter  Schmieden 


in  der  Deukalionsage  und  im  Hermeskult.  539 

geschmiedet,  unter  Zimmerleuten  gehobelt  (Dähnhardt  I,  63). 
So  konnte  an  Stelle  des  »Wasserwerfens«  in  gebirgiger 
Gegend  »Steinewerfen«  entstehen.  Einen  Beweis  dafür,  daß 
das  Werfen  konstant  bleibt,  das  Material  aber  wechselt, 
liefert  die  Angabe  A.  v.  Humboldts1),  daß  die  Tamanaken 
am  Orinoko  sich  die  Menschen  aus  Dattelkernen  entstanden 
denken,  die  ein  bei  der  Flut  auf  hohen  Bergesgipfel  ge- 
flüchtetes Paar  über  sich  geworfen  habe.  Möglich  ist  auch, 
daß  die  oben  aus  der  Mechilta  zitierte  Bezeichnung  der 
Hoden  als  Steine  und  der  erwähnte  Gleichklang  von  J2N 
und  |2  bei  den  Semiten  zur  Bildung  des  Ausdrucks  beitrug. 

Wie  dem  auch  sei,  die  Bedeutung  des  Ausdrucks 
»Steinewerfen«  steht  jetzt  fest  und  kann  noch  zur  Lösung 
mancher  anderen  Schwierigkeiten  führen.  Die  älteste  Form 
des  Hermeskultes  bestand  im  Werfen  von  Steinen.  Auch 
im  Talmud  ist  dieser  Götzendienst  als  o^pio  /ra  *J3»  er- 
wähnt (b.  Ab.  sar.  51a,  b.  Bab.  mez.  25  b).  Die  Auffassung 
der  über  die  ganze  Erde  verbreiteten  Steinhaufen  als 
Erinnerungszeichen  an  irgend  eine  Person  oder  Tat  bietet 
für  den  Hermeskult  keine  Erklärung.  Ein  plausibler  Sinn 
ist  bisher  für  die  Hermaia  nicht  gefunden.  Schmidts  Auf- 
fassung2) der  Hermaia  als  symbolischer  Steinigung  eines 
Frevlers,  der  dem  Hermes  Chthonios  übergeben  worden  sei, 
befriedigt  nicht.  Wir  müssen  vielmehr  davon  ausgehen, 
daß  in  diesen  Steinhaufen  des  Hermes  ein  Phalluspfeiler 
stand.  Später  wurde  an  diesen  Pfeiler  auch  der  Kopf  des 
Gottes  angesetzt;  so  entstanden  die  Hermen.  Hermes  war 
auch  Gott  der  Zeugung  und  Fruchtbarkeit  und  wurde  als 
solcher  in  Phallusgestalt  verehrt.  Da  nun,  wie  wir  fest- 
gestellt haben,  Steinewerfen  ein  Symbol  des  Zeugens  war, 
so    leuchtet    es    ein,    daß    Hermes    verehrt    wurde,   indem 


')  A.  v.  Humboldt:   Ansichten    der   Natur   1,  240»  zit.    bei  H. 
Usener,  Die  Sintflutsagen,  S.  245. 

')  Chantepie  de  la  Saussaye,  Religionsgeschichte  II,  S.  301. 


540  Das  »Steinewerfen«  in  Koheleth  3,  5, . 

jeder  Vorübergehende  Steine  vor  den  Phallus  warf.  Er 
nahm  damit  symbolisch  die  dem  Gott  heilige  Handlung 
vor1).  Wenn  Liebrecht  F.*)  vermutete,  »die  Statue  derVenus  oder 
Diana  zu  Trier,  die  bis  vor  nicht  langer  Zeit  zum  Zeichen 
des  Sieges  Ober  das  Heidentum  von  jedermann  mit  Steinen 
beworfen  wurde,  habe  dieselben  zur  Römerzeit  wahrschein- 
lich als  Opfergaben  erhalten  so  befand  er  sich  auf  dem 
richtigen  Wege,  auch  die  Liebesgöttin  Venus  konnte  durch 
das  Symbol  des  Steinewerfens  verehrt  werden. 

Auch  der  Ursprung  einer  im  Altertum  weit  verbreiteten 
Rechtssitte  läßt  sich  vielleicht  auf  diesem  Wege  erklären. 
Auf  Ehebruch  stand  die  Strafe  der  Steinigung  (Dt.  22,  22 
Ex.  16,  40  Joh.  8,  5).  Ebenso  wurden  andere  sexuelle  De- 
likte durch  Steinigung  geahndet  (Dt.  22,  20  und  22,  24). 
Warum  wurden  derartige  Vergehen  gerade  durch  Steinigung 
oder  auch  Verbrennung  gestraft  ?  Das  für  das  hebräische 
Strafrecht  maßgebende  Prinzip  war  das  Jus  talionis:  Auge 
um  Auge,  Zahn  um  Zahn.  Zur  Talion  ist  auch  die  Be- 
strafung des  Gliedes  zu  rechnen,  mit  dem  gefrevelt  wird, 
das  Handabhauen  Dt.  25,  12.  Vgl.  dazu  die  Parallele  des 
Hammurabi-Gesetzes  §  195,  die  Hand  des  Sohnes,  der 
seinen  Vater  schlägt,  wird  abgehauen,  ebenso  die  Zunge 
des  Kindes,  das  Vater  oder  Mutter  verleugnet  (§  192),  vgl 
auch  die  Kastrierung  als  Strafe  des  Ehebruchs  bei  den 
Römern.  Dem  Talionsprinzip  entsprang  ferner  der  Gedanke, 
daß  die  Strafe  das  Abbild  der  Schuld  sein  solle.  Die  Art 
der  Todesstrafe  mußte  der  Art  des  begangenen  Frevels  ent- 
sprechen. Diese  Idee  erklärt  die  Anwendung  so  vieler 
Arten  der  Todesstrafe  im  Altertum.  Stark  entwickelt  war 
die  Symbolik  im  germanischen  Strafrecht,  schon  Tacitus 
fiel  die  distinctio  poenarum  ex  delicto   auf  (Germ.  c.  12).9) 

*)  Vgl.  dazu   das  Spermaopfer   an    den  heil.  Mitbrassteinen,   s. 
Eisler  R.,  Himmelszelt  und  Weltenmantel  I,  183  u.  II,  469  ff. 
a)  Germania,  Jahrg.  1877,  S.  29. 
*)  s.  D.  Ernst  Oppenheim  in    »Wiener  Studien«    XXX,  'APAfe, 


in  der  Deukalionsage  und  im  Hermeskult.  541 

Diese  Variierung  der  Strafe  nach  der  Art  der  Schuld  dürfte 
auch  der  Steinigung  als  Bestrafung  sexueller  Delikte  zu- 
grunde liegen.  Die  Ehebrecherin  oder  das  Mädchen,  das 
nicht  mehr  keusch  in  die  Ehe  getreten  war,  hatten,  sym- 
bolisch gesprochen,  durch  »Steinewerfen«  sich  vergangen, 
darum  sollten  sie  auch  durch  Steinewerfen  gestraft  werden. 
Angedeutet  wird  dieser  Zusammenhang  noch  dadurch,  daß 
die  Ehebrecherin  nackt  gesteinigt  wurde  (Ez.  16,  39).  Noch 
heute  wirft  bei  den  Insel- Esten,  wenn  ein  Paar  in  stupro 
«rtappt  wird,  der  Entdecker  sofort  einen  Stein  auf  die  Stelle 
und  dies  wird  von  anderen  wiederholt1).  Hier  hat  sich  die 
Steinigung  als  symbolische  Talion  erhalten.  Einmal  in  Auf- 
nahme gekommen,  wurde  dann  die  Steinigung  auch  auf 
andere  Verbrechen  angewendet,  aber  auch  in  diesen  an- 
deren Fällen  schimmert  das  jus  talionis  noch  durch.  So 
dürfte  bei  der  Steinigung  des  Gotteslästerers  (Lev.  24,  14; 
Deut.  17,  5;  1  K.  21,  10)  das  Homonym  o:n  =  lästern 
(s.  Ges.  Buhl16)  =  steinigen  die  Brücke  zwischen  Schuld 
und  Sühne  gebildet  haben. 

So  erklärt  sich  aber  auch,  warum  neben  der  Steinigung 
auch  Verbrennung  sowohl  im  Hammurabi-Gesetz,  als  auch 
in  der  Bibel  bei  sexuellen  Vergehen  zur  Anwendung  kommt, 
und  zwar  bei  der  Unzucht  der  Priesterstochter  Lev.  21,  9 
und  bei  Umgang  mit  einem  Weib  und  ihrer  Mutter  Lev. 
20,  14  Cod.  Hammur.  §  157,  außerdem  noch  bei  Tamar 
Gen.  38,  24.  Auch  das  Feuer  ist  bekanntlich  Symbol  der 
Zeugung.  So  bildet  auch  hier  die  Art  der  Bestrafung  das 
Abbild  der  Schuld.    Dasselbe  gilt  auch  von    dem    einzigen 


S.  4,  Anm.  2,  wo  Belege  aus  dem  griechischen  und  römischen  Rech 
angeführt  werden. 

!)  K.  Haberland  in  »Zeitschrift  für  Völkerpsychologie«  Bd.  12, 
S.  306.  Vgl.  dazu  die  Sage,  die  beiden  Steine  Asaph  und  Najlä  bei 
der  Kaaba  seien  die  Körper  eines  Frevlerpaares,  das  von  der  Qott- 
heit  während  eines  im  Tempel  vollzogenen  Geschlechtsaktes  zur 
Strafe  versteinert  wurde  (Lenormant,  Lettres  assyr.  II,  235). 


542  Das  »Steinewerfen«  in  Koheleth  etc. 

Fall  von  Anwendung  der  Verbrennung,  ohne  daß  ein 
sexuelles  Delikt  vorliegt:  bei  Diebstahl,  der  während  einer 
Feuersbrunst  begangen  wurde,  Jos.  7,  15.  25,  Achans  Dieb- 
stahl bei  der  Verbrennung  von  Jericho,  Cod.  Hammur.  §  25. 
Der  Ausdruck  »Steinewerfen«  in  Koheleth  8,  5  hat 
eine  Saite  im  menschlichen  Denken  und  Vorstellen  ange- 
schlagen, deren  Schwingungen  aus  grauer  Vorzeit  seltsam 
zu  uns  herüberklingen. 


* 


Ursprang,  Begriff  and  Umfang  der  allegorischen 

Schrittet  kläraag. 

Von  L.  Treitel. 

Es  ist  nachgerade  in  Fachschriften  und  anderwärts 
Mode  geworden,  auch  beim  palästinischen  Midrasch  von  Alle- 
gorie zu  reden,  so  sehr  man  sich  seit  langem  gewöhnt  hat,  die- 
selbe fast  ausschließlich  bei  Philo  zu  suchen.  So  soll  die  be- 
kannte Deutung  der  Erhebung  der  Hände  Moses  beim  Kampf 
mit  Amalek  auf  Gebet,  Aufblick  zu  Gott  im  Midrasch  alle- 
gorisch sein,  wie  es  in  einem  jüngst  erschienenen  Buche 
heißt,  und  vieles  dergleichen  mehr  dort;  ob  mit  Grund  oder 
Ungrund,  soll  sich  aus  nachstehender  Untersuchung  ergeben. 

Richtig  ist,  daß  Philo  nicht  der  einzige,  kaum  der 
erste  Vertreter  allegorischer  Auslegungsweise  ist.  Aber  nach 
Umfang  und  systematischer  Durchführung  ist  der  Name  des 
großen  Alexandriners  so  sehr  sich  deckend  mit  dieser  Art 
von  Schrifterklärung,  daß,  soll  die  Frage  an  der  Wurzel 
gefaßt  werden,  eine  Untersuchung  über  Begriff  der  Allegorie 
als  Auslegungsweise  wie  ihren  Anwendungsbereich  gar  nicht 
umhin  kann,  Philo  als  Ausgangspunkt  zu  nehmen.  Das 
Verständnis  Philos  selber  kann  dabei  nur  gewinnen.  Eines 
hat  der  Philoforschung  lange  gefehlt,  mußte  ihr  fehlen,  weil 
diese  ganze  Betrachtungsweise  jüngeren  Datums  ist;  ich 
meine  eine  durchgängige  Vergleichung  mit  palästinischem 
Midrasch.  Dankenswerte  Anfänge  sind  von  Z.  Frankel,  H. 
Graetz,  J.  Freudenthal  und,  nicht  zu  vergessen,  von  C. 
Siegfried  gemacht  worden,  in  jüngster  Zeit  auch  von  L. 
Cohn  in  dem  von  ihm  herausgegebenen  Übersetzungswerk« 
zu  den  »Schriften  der  jüd. -hellenistischen  Literatur«,;  die 
Vergleichung  ist  fortzusetzen  und  zu  vertiefen,  um  ins  in- 


544  Ursprung,    Begriff  und  Umfang 

nerste  Wesen  alexandrinischer  Allegoristik  einzudringen,  von 
wo  aus  erst  die  Frage  des  Anwendungsbereichs  der  Alle- 
gorie als  Schriftdeutung  zu  lösen  ist. 

Beginnen  wir  mit  der  Frage,  was  Philo  mit  allegorischer 
Auslegung  gewollt.  Auszugehen  ist  nicht  von  der  Annahme, 
daß  Philo  damit  nichts  weiter  als  Übereinstimmung  zwischen 
Denken  und  Glauben,  zwischen  griechischer  Philosophie  und 
dem  Nomos,  wie  er  das  mosaische  Schriftwort  nach  allen 
seinen  Teilen  nennt,  habe  herstellen  wollen,  und  Zwiespalt, 
wo  immer  er  sich  zeigt,  um  jeden  Preis  damit  habe  besei- 
tigen wollen,  es  hieße  das  ihm  gar  zu  berechnetes  Tun, 
gewissermaßen  Unterordnung  unter  die  Herrschaft  des 
Griechentums,  unterschieben,  wie  es  noch  J.  Freudenthal 
tut;  schreibt  doch  derselbe  in  seinen  »Hellenistischen  Stu- 
dien«, S.  74:  Allegorische  Deutung  tritt  erst  auf,  wo  ein 
Zwiespalt  zwischen  dem  Erklärer  und  dem  erklärten  Text 
besteht  und  durch  künstliche  Mittel  beseitigt  werden  soll. 
Nicht  viel  anders  die  Wertung  bei  E.  Zeller.  Er  sieht  ein 
Hilfsmittel  der  Ausgleichung  darin,  gleich  wie  die  Stoiker 
es  auf  griechischem  Religionsgebiete  angewendet  haben 
Bei  solcher  Auffassung  bleibt  vieles  von  den  Allegorien 
Philos  unerklärt.  Vieles  erscheint  gewaltsam,  zum  mindesten 
unnötig.  Die  Verschmelzung  von  griechischer  Philosophie 
und  mosaischem  Schriftwort,  der  alex.  Synkretismus,  ist 
Resultat,  die  Faktoren  dieses  ganzen  Gedanken-  und  Aus- 
legungsprozesses sind  zum  Teil  andere.  Auszugehen  ist 
vielmehr  von  einer  Art  mystischer  Verehrung,  die  Philo  für 
das  Wort  der  Schrift  gehabt ;  ihm  ist  alles  bis  auf  den 
Ausdruck,  die  kleinste  Nuance  desselben,  die  kleinste  Par- 
tikel inspiriert.  Dieser  seiner  Grundanschauung  mußte  es 
widerstreiten,  daß  in  der  heiligen  Schrift  nichts  weiter  zu 
erblicken  wären,  als  Erzählungen  von  Personen  und  äußeren 
Vorgängen,  die  von  ihren  Verfassern  nach  Art  der  Logo- 
graphen gegeben  wären.  Es  wäre  Gottes  Wort  nicht,  wenn 
es  nicht  geheime  Weisheit  enthielte.  Das  der  Gedankengang 


der  allegorischen  Schrifterkläruag.  545 

Philos,  das  sein  inneres,  philosophisches  Bedürfnis  bei 
allegorischer  Schrifterklärung,  wie  es  bereits  Z.  Frankel 
erkannt  hat,  vgl.  »Über  den  Einfl.  u.  u.  §  9,  Anm.  Geht  doch 
seine  Verehrung  gegen  das  Schriftwort  so  weit,  daß  er  tiefe- 
res Schriftverständnis  auch  nicht  für  möglich  hält  ohne  gött- 
liche Eingebung,  die  er  in  der  Tat  zeitweilig  besessen  haben 
will  (vgl.  E.  Zeller,  Philos  allegorische  Schriftauslegung). 
Neben  diesem  inneren,  subjektiven  Bedürfnis  wirken  freilich 
auch  äußere,  objektive  Gründe  mit,  so  insbesondere  sein 
apologetisches  Streben,  dem  zahlreiche  Stellen  seiner  Schriften, 
ganze  Bücher  gewidmet  sind.  Hier  ist  die  Absicht  einer 
Versöhnung  von  griechischer  Philosophie  besser,  dem  Geist 
seiner  Zeit  mit  dem  Schriftwort  unverkennbar.  Sei  es  nach 
der  einen  oder  anderen  Erklärung  von  Philos  Allegoristik, 
so  viel  ist  klar :  das  wahre  Verständnis  der  heil.  Schrift 
als  eines  Volks-  undErziehungsbuches,  als  eines  fortlaufenden 
und  zwar  volkstümlichen  Berichts  vom  wachsenden  Reiche 
Gottes  ist  ihm  gar  nicht  aufgegangen,  aber  ebenso  wenig 
auch  dem  palästinischen  Midrasch.  Alles  in  der  Schrift  wird 
so  Philo  unter  der  Hand  zu  »Bildern«,  die  ganz  anderes 
als  empirische  Dinge  bedeuten,  so  sieht  er  dort  in  Allem 
nichts  als  verdeckten,  versteckten  Sinn,  die  uxovoia,  wie  er 
es  nennt.  So  werden  ihm  gleich  im  Anfang  der  Genesis  die 
Namen  Adam  und  Eva  zu  Sinnbildern  von  Vernunft  und 
sinnlichem  Wahrnehmen,  das  Nacktsein  der  beiden  ist  ihm 
nicht  Nacktheit  des  Leibes,  bedeutet  ihm  vielmehr  ein  Ent- 
blößtsein von  Tugend,  die  Erzählung,  »daß  sie  sich  verbargen, 
daß  ein  Mensch,  wer  immer,  sich  vor  Gott  verbergen  will«, 
wird  ihm  gleich  zum  Bild  des  Gottesleugners,  wie  umgekehrt 
»«in  vor  Gott  stehen«,  wie  es  von  so  vielen  in  der  Schrift 
heißt,  ihm  Anerkennung  Gottes  als  Herrn  des  Weltalls  be- 
deutet. Die  »Schlange«  daselbst  ist  ihm  die  t)<W»i,  die  Lust 
—  er  ist  wohl  der  «rste  mit  dieser  Auffassung  —  doch  zunächst 
nicht  die  gemeine  Lust,  vielmehr  Verlangennach  Zusammen- 
wirken von  Vernunft  und  Sinnlichkeit  im  wissenschaftlichen 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  <** 


546  Ursprung,  Begriff   und  Umfang 

Sinne,  das  an  sich  unschuldig,  im  weiteren  Verlauf  des  Pro- 
zesses aber,  indem  es  für  den  vovJ;  »die  Vernunft«  Hindernis 
wird,  die  Führung  zu  behalten,  die  Leidenschaft  erzeugt,  und 
darum  fluchwürdig  wird  Leg.  Alleg.  III,  71  ff.,  107  ff.  In  dieses 
Gewebe  von  Allegorien  wird  gleich  auch  die  Erzählung  von 
der  Schlange  bei    Mose    IV.  M.  11,  21    hineingezogen    und 
diese  in  gleichem  Sinne  gedeutet.     Man    macht    dabei    die 
Beobachtung,  daß  Philo's  Aufbau  von  Allegorien  bemerkens- 
werte Ähnlichkeit  mit  der  Architektonik  des  palästinischen 
Midrasch  aufweist,    dort  wie  da   werden  Schriftstellen,   die 
nach    irgend    einer  Seite    etwas  Gemeinsames   zeigen,    auf 
einander   bezogen,    und  zwar  bei  Philo    mit   fast  endloser 
Breite,  wie  eben  obiges  Thema,  die  allegorische  Bedeutung 
des  von  den  ersten  Menschen  Erzählten,    durch    die  lange 
Paragraphenreihe,  Leg.  Alleg.  II,  §  19  bis  Schluß  des  Buches 
und  daselbst  III,  §  1  bis  199  ed.  C.  durchgeführt  wird.  Im 
Ausdruck  maßlos,  überschwenglich,  in  dem  Gedanken  zum 
großen  Teil  mystisch,  zu  Forderungen,  Annahmen  sich  ver- 
steigend, die  der  Wirklichkeit  und  ihren  Möglichkeiten  Hohn 
sprechen,  wie  wenn  er  seinen  Weisen  den  Tod  des  Leibes 
beschließen  läßt,  das.  III,  §74.  Nach  E.  Herriots  zutreffender 
Charakteristik  in  seinem  »Philon  le  Juif«  beginnt  Philo  mit 
Ekstase  und  endet  mit  Mystik.  So,  um  ein  zweites,  beson- 
ders instruktives  Beispiel  anzuführen;  de  Somn.  I,  §  52  ff. 
dies.  Ausg.  kann  er  nicht  glauben,  daß  die  Erzählung  von 
Abrahams  Wanderungen  um  ihrer  selbst  willen  da  sei,  wie  wenn 
sie  von  einem  Logographen  gegeben  wäre.  Er  sieht  vielmehr 
darin  den,  an  sich  ansprechenden,  sokratischen  Gedanken,  daß 
die  Philosophie    von    astronomischen    Dingen   beim    Men- 
schen, als  dem  würdigsten  Objekt  philosophischer  Forschung, 
Einkehr  zu  halten  habe.  Es  ist  zu  gerechter  Würdigung  dieses 
Strebens    nach   allegorischer  Auffassung   und  Deutung  der 
Schrift  bei  Philo  durchgängig  darauf  zu  achten,  daß  er  neben 
die  allegorische  Erklärung  auch  die  andere  nach  dem  Wortsinn 
setzt    oder  wo  er  sie    bei   anderen  findet,    sie    in   gleicher 


der    allegorischen  Schrifterklärung  547 

Weise  gelten  läßt,  wie  dies  besonders  in  den  Quaestiones 
in  Gen.  und  Exod.  geschieht.  Daselbst  führt  er  erstere  Er- 
klärung mit  der  Formel  ad  mentem,  letztere  mit  dem  Aus- 
druck ad  litteram  ein.  Das  Verhältnis  der  beiden  Auslegungs- 
arten bestimmter  de  Migr.  Abr.  §  93  dahin,  daß,  wenn  die 
buchstäbliche  Auffassung  des  Schriftwortes  den  Leib,  wie 
sich  E.  Zeller  ausdrückt,  darstelle,  die  andere  die  Seele  des 
Schriftwortes  bedeute. 

Woher  unserem  Alexandriner  die  Allegoristik  über- 
kommen ist?  Von  außen  nicht,  so  nahe  es  liegt,  hier  an 
die  Stoiker,  die  Gleiches  auf  dem  Gebiet  der  griechischen 
Mythe  angewendet,  —  was  auch  die  Meinung  E.  Zellers 
ist  —  als  seine  Lehrer  zu  denken.  Es  ist  bekannt,  daß 
Philo  für  sein  Verfahren  Vorgänger  hat,  er  beruft  sich 
wiederholt  auf  solche,  aber  es  sind  Juden,  wie  er  selbst. 
Die  Allegoristik,  wie  sie  bei  Philo  und  ebenso  bei  seinen 
Vorgängern  auftritt,  ist  —  darin  stimme  ich  dem  neueren 
Philo-Bearbeiter,  dem  schon  genannten  E.  Herriot  in  dem 
Kapitel  >Allegoristik  Philo's«  bei  —  auf  eigenstem  jüdischen 
Boden  erwachsen,  ist  ein  Produkt  des  im  jüdischen  Volke 
lebenden  Genius,  der  dem  abstrakten  Ausdrucke  für  Dinge, 
der  Abstraktion,  das  Bild,  den  bildlichen  Ausdruck,  vorzieht. 
Die  Propheten,  die  poetischen  Bücher  der  heil.  Schrift  sind 
nur  so,  unter  Berücksichtigung  dieses  Grundzugs  jüdischen 
Genius  zu  verstehen.  Und  eben  dieser  Genius  ist  es,  der 
bei  Philo,  da  die  mystische  Richtung  der  alexandrinischen 
Schule  bei  ihm  hinzutritt,  zur  Allegoristik  wird. 

Es  ist  des  öfteren  die  Frage  aufgeworfen  worden, 
warum  so  wenig  von  außerpentateuchischen  Büchern,  wa- 
rum nur  sporadisch  eine  Propheten-  oder  Psalmenstelle 
wie  I.  Sam.  2,  5  in  Q.  Deus  sit  immutab.  §  10  ff.,  Jerem. 
3,  4  in  De  Cher.  §  49  Gegenstand  philosophischer  Exe- 
gese, insbesondere  der  bei  ihm  beliebten  allegorischen  Aus- 
legung geworden  ist.  Ist  es  Zufall,  sind  es  innere  Gründe, 
die  ihn  bei    den    pentateuchischen  Büchern    haben    stehen 

35* 


548  Ursprang,  Begriff  und  Umfang 

lassen?  Indessen,  die  Erklärung  liegt  so  fern  nicht.  Es  lag 
für  Propheten  und  Hagiographen  gar  kein  Bedürfnis  einer 
Auslegung  vor,  wie  sie  bei  dem  Alexandriner  gegeben  wird, 
weder  ein  äußeres  noch  ein  inneres.  Gekannt  hat  Philo 
beides,  Propheten  und  Hagiographen,  in  welchem  Umfange, 
bleibt  dahingestellt;  aber  kirchliches  Ansehen  hatte  nur  der 
Nomos  oder  Pentateuch,  dieser  allein  erfreute  sich  gottes- 
dienstlichen Gebrauchs.  Das  Propheten- wie  das  Psalmen  wort, 
als  an  sich  schon  ethische  Lehre  enthaltend,  bot  auch  keine 
Aufforderung  zu  allegorischer  Auslegung.  Rein  literarisches 
Interesse  aber,  wie  das  eine  Bearbeitung  der  außerpenta- 
teuchischen  Bücher  hätte  haben  müssen,  kannte  die  Zeit 
Philos  noch  wenig;  sie  verlangte  lediglich  eine  Auslegung 
der  beim  Gottesdienst  im  Gebrauch  befindlichen  Bücher 
des  Pentateuchs.  Diesen  gegenüber  aber  macht  auch  Philo 
ausgiebigen,  ja  ausschweifenden  Gebrauch  von  allegorischer 
Auslegung;  die  biblischen  Personen,  biblischen  Vorgänge, 
selbst  Gesetzesbestimmungen  deutet  er  in  allegorischem 
Sinne  um,  macht  ailes  zu  allgemeinen  Typen,  zu  intellek- 
tuellen oder  ethischen  Begriffen.  Zeller  hat  recht,  wenn  er1) 
sagt:  sucht  er  (Philo)  auch  nicht  in  allem  einen  tieferen 
Sinn,  so  gibt  es  doch  schlechterdings  nichts,  worin  er  ihn 
nicht  hätte  finden  können,  wenn  er  gewollt  hätte.  Hier,  in 
das  Wort  des  Nomos,  als  welchen  Philo  bekanntlich  den 
ganzen  Pentateuch  ansieht,  drängt  er  all  seine  Psychologie 
und  Ethik,  seine  philosophischen  Spekulationen  hinein,  hier 
vollzieht  sich  der  sogenannte  alexandrinische  Syncretismus, 
der  Verschmelzungsprozeß  jüdischen  Glaubens,  jüdischer 
Lehre  mit  griechischem  Geiste,  griechischer  Bildung,  grie- 
chischer Philosophie.  Immerhin  bemerkt  man  bei  unserem 
Alexandriner  eine  gewisse  Selbstbeschränkung  in  bezug  auf 
Benutzung  biblischer  Personen  zu  Allegorien.  Es  sind  fast 
durchweg  Personen    der    prähistorischen    Zeit,    die    er    zu 

>)  Die  Philos.  d.  Griechen,  Bd.  III,  Abt.  3,  S.  347.  Anm.  6. 


der  allegorischen  Schrifterklärung.  549 

Trägern  von  Allegorieen  macht,  der  Pharao  in  der  Geschichte 
Mose's ;  auch  Vorgänge  noch  in  der  Wüste,  wie  das  Fallen 
des  Manna,  werden  von  ihm  gelegentlich  noch  zu  Alle- 
gorieen verflüchtigt,  nirgends  aber,  soweit  ich  sehe,  die 
Person  Mose's  selber.  Umgekehrt,  bedeuten  ihm  die  Na- 
men der  prähistorischen  Zeit,  die  er  an  der  einen  Stelle 
zu  Allegorien  verflüchtigt,  an  anderer  Stelle  wieder,  wie 
besonders  in  Quaest.  in  Gen.  et  Exod.  wirkliche  Per- 
sonen. 

Bedenklicher  erscheint  es,  wenn  selbst  Gesetzesbe- 
stimmungen bei  Philo  zu  Allegorien  verflüchtigt  werden; 
übrigens  ein  Verfahren,  das  er  bei  älteren  Alexandrinern 
bereits  vorfindet,  dessen  Gefährlichkeit  er  aber  auch  er- 
kennt. In  der  religionsgeschichtlich  besonders  wichtigen 
Stelle  De  Migr.  Abr.  §  89  ff.  verurteilt  er  es  geradezu  als 
zum  Abfall,  zur  Auflösung  der  Religion,  des  Gesetzes  im 
Judentum,  führend ;  solches  muß  auch  in  den  alexandrini- 
schen  Schulen  vorgekommen  sein,  nicht  allgemein,  Philo 
sagt  ausdrücklich  nur:  stei  -p-P  Ttv£<7  °^  T0"ff  P7^0^  v6{xou? 
<ru[Aßo/ux  xtX.  Er  selbst  macht,  wie  bereits  angegeben,  mit 
Allegoristik  auch  bei  Gesetzesbestimmungen  nicht  halt,  er 
legt  beispielsweise  die  Beschneidung  als  Befreiung  von  Be- 
gierde und  Lust  (de  spec.  legg.  I,  §  9  ff.),  das  Passah  als 
Aufgeben  ägyptischer  Denkweise  (Leg.  Alleg.  III,  §  9  ff.),  die 
zahlreichen  Bestimmungen  über  levitische  Reinheit  und 
Unreinheit  als  rein  ethische  Gedanken  aus  (de  spec.  legg. 
III,  §205  ff.),  doch  mit  dem  Unterschiede,  daß  Philo  dabei 
nicht  stehen  bleibt.  Davor  schützt  ihr  sein  Positivismus  in 
religionsgesetzlicher  Hinsicht.  Es  ist  wohl  nicht  eine  religi- 
onsgesetzliche Bestimmung  darunter,  die  nicht  an  anderer 
Stelle  wieder,  da  wo  Philo  recht  eigentlich  eine  Darstellung 
der  mosaischen  Gesetzgebung  giebt,  —  es  ist  das  in  der 
zweiten  Gruppe  seiner  Schriften  nach  L.  Cohn's  Einteilung 
—  in  buchstäblicher  Geltung  bei  ihm  wiederkehrte. 

Es  erhebt  sich  weiter  bei  den  zahlreichen  Fäden,  wie 


550  UrspruHg,  Begriff  und  Umfang 

sie  auf  religionswissenschaftlichem,  insbesondere  exegeti- 
schem Gebiete  zwischen  Alexandrien  und  Palästina  hin 
und  her  laufen,  die  Frage,  wie  sich  das  Verhältnis 
alexandri  n  ischer  Allegoristik  zum  palästini- 
schen M  id rasch,  wenn  überhaupt  solches  vorhanden, 
gestaltet  hat.  Es  ist  bislang  vielmehr  von  dem  an- 
deren, von  dem  Einfluß  palästinischer  Exegese  auf  alexan- 
drinische  Hermeneutik,  besonders  seit  Z.  Frankel's  epoche- 
machenden Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Septuaginta- 
forschung,  die  Rede  gewesen,  und  man  hat  sich  so  sehr 
gewöhnt,  Palästina  als  das  Mutterland  von  Alexandrien 
anzusehen,  daß  man  gemeint  hat,  fast  alles,  was  Alexan- 
drien von  jüdisch -hellenistischem  Schrifttum  besitze,  in 
seinen  Ursprüngen  von  dort  herschreiben  zu  müssen,  und 
es  liegt  ja  nach  dem  Gang  der  geschichlichen  Entwicklung 
der  Dinge  vollauf  Berechtigung  darin.  Daß  dieselbe  aber 
in  ihren  späteren  Etappen  auch  den  umgekehrten 
Weg  genommen,  also  daß  die  palästinensischen  Schulen 
wie  als  Gebende  auch  als  Empfangende  Alexandrien 
gegenüber  erscheine,  ist  bereits  auch  wieder  und  besonders 
durch  J.  Freudenthal  in  seinen  tiefgründigen  »Hellenist. 
Studien«  festgestellt  worden.  Und  so  lautet  auch  für  uns 
die  Frage :  Hat  die  eigentümlich  gefärbte  ale- 
xandrinische  Hermeneutik  ihren  Weg  auch 
nach  Palästina  gefunden?  Mit  anderen  Worten: 
Ist  ernstlich  und  im  wissenschaftlichen  Sinne,  wie  dies 
heute  schon  geschieht,  —  vereinzelt  auch  früher  schon  — 
von  Allegorien  auch  beim  palästinischen  Midrasch  zu  reden? 
Besteht  Verwandschaft  zwischen  beiden,  fallen  sie  gar  teil- 
weis zusammen?  Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  in  Fragen 
des  Midrasch  von  Zunzens  »Gottesd.  Vortr.  d.  Jud.«  diesem 
standard-book  für  Midraschforschung  ausgegangen  wird. 
Der  Altmeister  beginnt  im  Kap.  3  »Midrasch«  seine  dies- 
bezüglichen Ausführungen  mit  der  allgemeinen  Bemerkung: 
Über  ein  halbes  Jahrtausend  trifft  das  Auge  des  Beschauers 


der  allegorischen  Schrifterklärung.  55t 

bei  Juden,  Syrern,  Griechen,  Christen  fast  auf  nichts  als 
Midrasch,  Auslegung.  Und  gleich  dahinter:  An  der  Tages- 
ordnung war  überall  allegorische  Auslegung  und  kirchliche 
Anwendung  der  heiligen  Bücher  usw.  Es  ist  ersichtlich, 
daß  für  ihn  Midrasch  oder  Agada  und  Allegorie  nicht  aus- 
einanderfallende Begriffe  sind.  Auch  Graetz  im  Kommentar 
zu  Schir  ha-schirim,  in  der  Einleitung,  schreibt,  die  eigen- 
tümliche Auslegung  dieses  Buches,  wie  sie  in  Targum 
und  Midrasch  befolgt  wird,  rühre  von  der  Allegoristik 
der  alexandrinischen  Schule  her,  sie  habe  unter  dem 
Namen  Agada  auch  in  Palästina  Eingang  gefunden,  so 
sei  es  gekommen,  daß  die  erotischen  Dinge  im  Hohelied 
in  einem  höheren,  allegorischen  Sinne  genommen  wurden. 
Es  sind  Agada  und  Allegorie  eben  Grenzgebiete,  Dinge,  bei 
denen  die  Grenzen  auf  den  ersten  Blick  ineinander  fließen. 
Beiden  gemeinsam  ist,  daß  der  Wortsinn  aufgegeben,  das 
Wort  der  Schrift  in  höherem  Sinne  aufgefaßt  wird,  wie, 
wenn,  um  gleich  den  zweiten  Vers  in  Schir  ha-schirim  zum 
Beispiel  zu  nehmen,  >er  küßt  mich  mit  Küssen  seines 
Mundes,«  in  Targum  und  Midrasch  von  der  Herablassung 
der  Gottheit  zum  Volke  Israel  am  Sinai  erklärt,  aus  V.l 
daselbst  vermöge  eines  «naoj  Anspielung  auf  die  siebzig 
Völkerschaften,  die  der  Talmud  als  Inbegriff  der  alten  Welt 
zählt,  herausgelesen  wird.  Symbolische  Deutung,  ähnlich 
der  alexandrinischen  Schriftauslegung,  ist  ja  auch  dieses  ; 
dabei  bleibt  aber. ein  Unterschied  bestehen,  der  wesentlich 
ist,  und  den  ich  also  formulieren  möchte:  die  Allegorie  der 
Alexandriner  geht  durchwegs  auf  eine  esoterische*  mehr 
oder  weniger  mystische  Welt,  Personen  und  Sachen,  alles  wird 
in  Ideen  oder  doch  Gedankendinge  aufgelöst.  Demgegenüber 
bleibt  die  Agada,  oder  die  Auslegung  in  den  palästinischen 
Schulen,  auch  da,  wo  sie  sich  mit  ersterer  zu  berühren 
scheint,  der  ganzen  Denkrichtung,  Weltanschauung  der 
Rabbinen  gemäß  bei  der  Welt  des  Realen  stehen,  die  Per- 
sonen bleiben  Personen,  den  Erzählungen  des  Pentateuchs, 


552  Ursprung,  Begriff  und  Umfang 

vom  ersten  Kapitel  an,  wird  bei  aller  Vergeistigung,  Ver- 
tiefung ihres  Inhalts  nichts  von  ihrem  eigentlichen  Gehalt  als 
Bericht  von  Geschehnissen  genommen.  Sind  es  auch  nach 
Targum  und  Midrasch  nicht  der  Hirt  und  Sulamit,  seine 
Freundin,  mehr  in  Schir  ha-schirim,  die  das  traute  Zwie- 
gespräch irdischer  Liebe  führen,  statt  dessen  das  traute 
Verhältnis  der  beiden  auf  Gott  und  Israel  übertragen  wird, 
so  sind  doch  auch  diese  weit  entfernt  von  schattenhafter 
Gedankenwelt,  beide  doch  wieder  persönlich  gedacht.  Auf 
ersteres,  die  Umdeutung  in  eine  esoterische  oder  Gedanken- 
welt, hat  die  Bezeichnung  Allegorie,  wie  sie  in  der  Bibel- 
wissenschaft eingeführt  ist,  beschränkt  zu  bleiben,  letzteres 
aber,  und  es  begreift  dieses  das  große  Auslegungsgebiet  im 
Midrasch  der  palästinischen  Schulen,  stellt  vielmehr  den 
breiten  Strom  der  Agada  dar  mit  ihren  mannichfachen  Formen, 
wie  sie  der  Genius  der  Palästinenser  selbständig  erzeugt 
hat.  Will  man  ferner  Verständnis  dafür,  daß  sowohl  der  Agadist 
wie  der  Allegoriker  nicht  bei  einer  Erklärung  stehen  bleibt, 
daß  sie  sich  bei  der  Auslegung  gar  nicht  genug  tun  zu  können 
meinen,  darum  wie  aus  dem  Füllhorn  schaffender  Phantasie 
zu  zahlreichen  Schriftstellern  eine  Fülle  von  Erklärungen  ge- 
ben, so  ist  hier  auf  eine  Erklärung  hinzuweisen,  wie  sie  M. 
Joel,  Blicke  in  die  Religionsgeschichte  (I,  S.  52)  gibt:  es  sei 
das  die  Veneration  des  Schriftwortes  gewesen,  bei  der  es  für 
dürftig  gegolten,  daß  die  heil.  Schrift  nur  einen  Sinn  haben 
sollte;  diese  Anschauung,  zuerst  in  Alexandrien  aufgekom- 
men, habe  sich  dann  auch  der  palästinischen  Sphäre  mit- 
geteilt. Das  der  exegetische  Hintergrund  nicht  nur  für  die 
wechselnde  Fülle  von  Agadoth  oft  zu  einer  einzigen  Schrift- 
stelle, sondern  auch  für  die  zahlreichen  Halachoth,  wie  sie 
in  der  Schule  Akiba  ben  Joseph's  zum  ersten  Male  aufgestellt 
worden.  Läßt  dieser  Umstand  auch  nicht  alles  gerechtfertigt 
erscheinen,  so  macht  er  es  doch  erklärlich.  Mag  man  es 
seltsam,  Widerspruch  herausfordernd  finden,  wie  die  Me- 
thode   dieses    großen    Tannaiten  und  seines  Lehrers    Na- 


der  allegorischen  Schrifterklärung.  553 

chum  aus  Gimso,  von  dem  er  sie  überliefert  erhielt,  tat- 
sächlich von  Zeitgenossen  angegriffen  worden,  wenn  man 
jpöfll  j\"!N,  Partikeln,  die  lediglich  nach  Gesetzen  der  Sprache 
beigesetzt  erscheinen,  wie  neue  Agadoth  an  der  einen,  wie 
neue  Halachoth  an  der  anderen  Stelle  liest  oder  als 
Quelle  solcher  ansieht,  es  bleibe  dahingestellt,  ob  man  in 
diesem  Tannaitenkreise  sprachliches  Verständnis  für  die 
Partikeln  gehabt  hat  oder  nicht,  daß  sie  ganz  anderes  darin 
sehen,  es  erklärt  sich  eben  nur  aus  dem  Glauben  an  den 
Überreichtum  der  Schrift  bei  ihnen,  aus  der  Meinung  vom 
Übersinn,  den  in  der  Schrift  jedes  Wort  und  auch  die 
Partikel  haben  müsse,  und  den  man  nur  herauszudeuten  habe. 
Um  diese  Zeit,  und  ganz  im  Geiste  derselben,  muß  auch 
auf  ggadischem  Gebiete  die  leichte,  fast  spielende  Art  von 
Schriftauslegung,  die  an  die  heutige  Predigerart  erinnert, 
aufgekommen  sein,  Zeitverhältnisse  im  Schriftwort  wiederge- 
spiegelt zu  finden.  Es  ist  bekannt,  wie  in  der  Zeit  unseres 
Akiba  ben  Joseph,  der  ja  auch  eine  politische  Rolle  ge- 
spielt, zahlreiche  Stellen  der  Schrift  in  Vorträgen  der  Lehrer 
zu  Kampfesmitteln  benutzt  wurden,  kriegerischen  Geist  in 
der  jüd.  Nation  anzufachen.  Da  mußten  denn  Namen  von 
Personen  und  Dingen,  die  an  sich  etwas  ganz  anderes  be- 
deuten, je  nach  dem  Zusammenhang,  in  dem  sie  in  der 
Schrift  stehen,  sich  auf  einmal  gefallen  lassen,  symbolische 
Bedeutung  anzunehmen,  wonach  sie  Anspielung  auf  das, 
was  jene  Zeit  bewegte,  enthalten  sollten.  Eines  der  interes- 
santesten Beispiele  dieser  Art  ist  vielleicht  Midr.  Wajikra 
rabba  c.  13,  wo  boX]  nT  (11,  4)  aus  dem  Gesetzesabschnitt 
»ro»  auf  Babel  und  seine  fallende  Macht  und  so  das  Übrige 
von  Namen  der  unreinen  Tiere  bis  auf  r?nn  (11,  7)  auf 
Edom,  bekanntlich  den  symbolischen  Namen  des  damals 
so  gehaßten  Rom,  gedeutet  wird.  Das  alles  ist  Ausle- 
gungs-Agada,  besser  Anwendungs-Midrasch,  ist  homileti- 
scher Art,  auf  den  Augenblick  berechnet,  hat  mit  Alle- 
gorie als  stehender  Auslegung  nichts  zu  tun.     Erst  in  der 


554  Ursprnng,  Begriff   und  Umfang  etc. 

spätmittelalterlichen  Kabbala  kehrt  etwas  ähnliches  wie 
Philos  Allegoristik  wieder;  Kabbala  und  alexandrinische 
Allegorie  haben  in  Methode  wie  in  der  damit  neugeprägten 
Lehre  viel  Verwandtes,  worauf  bereits  Z.  Frankel  in  Ȇber 
d.  Einfl.  usw.«  §  9,  Anmkg.  hinweist.  Mit  Recht  heißt  die 
Kabbala  die  Geheimlehre;  es  sind  verborgene  Lehren, 
eine  theosophisch- mystische  Welt,  die  auch  da,  wie  be- 
sonders im  Sohar,  in  das  Wort  der  Schrift  hineingedeutet 
wird.  Wohl  hat  unser  Alexandriner  fast  unmittelbar  mit 
seiner  Allegoristik  einen  gelehrigen  Schüler  am  Apostel 
Paulus  gefunden,  dessen  antinomistische  Exegese,  wie  er 
sie  dem  Gesetzeswort  der  Bücher  Moses  gegenüber  übt, 
ganz  in  der  Art  philonischer  Allegorie  ist,  doch  gehört 
die  weitere  Untersuchung  darüber  nicht  mehr  zu  meinem 
Thema,  weil  es  außerhalb  des  Rahmens  alttestamentlicher 
Exegese  liegt. 

Ein  abschließendes  Urteil  über  allegorische  Schrift- 
auslegung insonderheit  bei  Philo  zu  fällen,  jst  nicht  leicht. 
Es  geht  doch  nicht  an,  sie  einfach  als  eine  einzige  große 
Verirrung  der  Exegese  abzutun.  Abgesehen  davon,  daß  sich 
unter  diesen  Allegorien  homiletische  Goldkörner  finden,  und 
nicht  in  geringer  Zahl,  ist  die  Allegoristik  doch  auch  eine 
geschichtliche,  durch  den  Geist  ihrer  Zeit  bedingte  Erschei- 
nung gewesen,  und  für  die  Auffassung  und  gerechte  Beur- 
teilung geschichtlicher  Erscheinungen  gilt  bekanntlich  der 
Grundsatz :  sie  rechtfertigen  sich  selbst,  wenn  sie  sich  als 
durch  den  Geist  ihrer  Zeit  bedingt,  nach  dem  Entwick- 
lungsgesetz, das  auch  da  gilt,  erweisen.  Die  Exegese  als 
Wissenschaft  hat  darum  nicht  für  immer  Schaden  genom- 
men, sie  ist  mit  mancherlei  Erkenntnis  bereichert,  darüber 
hinausgekommen. 


Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 
Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen. 

Von  M.  Frelmann. 

I. 

Es  ist,  wie  sich  schon  in  meinen  früheren  Artikeln 
gezeigt,  ein  tief  eingewurzelter  Irrtum,  zu  glauben,  daß  das 
pharisäische  Judentum  zu  dem  in  seiner  nächsten  Um- 
gebung enstandenen  und  zu  erstaunlich  rascher  Aus- 
breitung gelangten  Christentum  irgend  ein  inneres  Ver- 
hältnis gehabt,  es  sogar  von  seiner  Geburt  ab  auf  Le- 
ben und  Tod  bekämpft  habe.  Die  »Schriftgelehrten  und 
Pharisäer«  standen  vielmehr  von  Anbeginn  dem  Christentum 
kühl  und  indifferent  gegenüber.  Seitdem  sie  dem  korrum- 
pierenden Einflüsse  politischer  Aspirationen  entrückt  waren, 
gaben  sie  sich  ausschließlich  dem  Studium  der  Thora  hin: 
dem  Ausbau  der  das  Judentum  von  der  großen  Welt  ab- 
schließenden Traditionslehre,  so  daß  die  tiefgehenden  reli- 
giösen Bewegungen,  aus  denen  das  Christentum  hervor- 
ging, nur  einen  schwachen  Widerhall  im  jüdischen  Lehr- 
haus erweckten. 

Was  das  pharisäische  Judentum  aus  dem  lange  vor- 
hergesehenen Zusammenbruch  seiner  nationalen  Selbst- 
ständigkeit flüchtete  und  in  Sicherheit  brachte,  das  war 
einzig  und  allein  das  geschriebene  Gesetz,  und  zwar  in 
der  Hülle  der  »mündlichen  Überlieferung«.  Dar- 
über   hinaus   gab  es  für  dasselbe  keine  religiösen  Fragen. 

Von  Rabbi  Johanan  b.  Sakkhai,  dem  »Vater  der  Weis- 
heit und  der  künftigen  Geschlechter«,  erzählt  der  Talmud, 
daß  er  sich  während  der  Belagerung  Jerusalems  auf  eine 


556  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

Totenbahre,  um  die  Zeloten  zu  täuschen,  außerhalb  der 
Stadtmauer  zu  Vespasian  habe  bringen  lassen.  Diesem  habe 
er  prophezeit,  daß  er  die  Kaiserkrone  tragen  werde  und 
von  ihm  die  einzige  Gunst  sich  erbeten:  ihm  Jabneh  und 
seine  Weisen  als  Zuflucht  für  die  Pflege  der  Thora  zu  über- 
lassen. 

Dieser  Vater  des  künftigen  Rabbinismus  verkörpert 
so  recht  den  unverfälschten,  von  tiefster  Gesetzesfrömmig- 
keit erfüllten  Pharisäismus  im  Zeitalter  Jesu,  in  dessen 
vor  der  Außenwelt  sich  abschließende  Lehrhallen  eben- 
sowenig der  Lärm  des  Krieges  wie  der  des  Streites  um 
den  Messias  eindrang.  So  hat  denn  auch  die  talmudische 
Literatur  keine  Kenntnis  von  den  religiösen  Stürmen,  die 
über  den  Boden  der  griechischen  Diaspora  und  später  über 
jenen  des  Christentums  dahinbrausten.  Wäre  aber  die  all- 
gemein herrschend  gewordene  Anschauung  der  Kirche:  daß 
das  Christentum  schon  bei  seiner  Geburt  von  dem  Judentum 
tödtlich  verfolgt  wurde,  die  richtige;  das  gesamte  talmu- 
dische Schrifttum  hätte  von  dieser  als  so  unversöhnlich 
geschilderten  Feindschaft  infiziert  sein  müssen,  und  die 
überall  im  Talmund  Christenhaß  witternde  Zensur  hätte 
nicht  erst  nach  ungemein  spärlichen  und  höchst  frag- 
würdigen, fälschlich  auf  Jesus  und  das  Christentum  be- 
zogenen Stellen  fahnden  müssen,  um  sie  auszumerzen; 
sie  hätte  vielmehr  Talmud  und  Midrasch  in  Bauseh  und 
Bogen  vernichten  müssen,  da  sie  ja  von  diesem  Haß  durch- 
tränkt gewesen  wären.  In  Wirklichkeit  aber  weiß  der 
Talmud  nichts  Authentisches  über  Jesus  und  das  ent- 
stehende Christentum  zu  berichten,  und  wo  er  etwa  An- 
spielungen auf  beide  macht,  klingen  diese  so  verworren, 
daß  man  sie  auf  den  ersten  Blick  als  halbverklungene  und 
kaum  mehr  verstandene  Sagen  erkennen  muß.  Die  phari- 
säischen Gesetzesiehrer  hatten  eben  ihre  Schule  von  der 
Außenwelt  abgeschlossen  und  es  ängstlich  vermieden,  sich 
in  Religionsdisputationen    mit  Leuten,    die    außerhalb   des 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  557 

Judentums  standen,  ja  sogar  mit  häretischen  Juden,  ein- 
zulassen. Noch  um  die  Mitte  des  zweiten  christlichen  Jahr- 
hunderts sagt  der  Jude  Trypton  zu  Justin  Martyr,  der  ihm 
aus  der  Schrift  die  Göttlichkeit  und  Präexistenz  des  Christ 
beweisen  will:  »O  Mensch,  unsere  Gesetzeslehrer  haben 
recht,  wenn  sie  uns  vor  dem  Umgang  mit  jedem  von  euch 
warnen  und  uns  verbieten,  solche  Lehren,  wie  du  sie  vor- 
bringst, anzuhören;  denn  du  sprichst  viel  Lästerungen  aus«1). 
Über  Jesus  gab  es  überhaupt  keine  ursprügnlich 
jüdische  oder  rabbinische  Überlieferung.  Was  man  sich  in 
jüdischen  Kreisen  von  ihm  erzählte,  das  wußte  man  ledig- 
lich vom  Hörensagen  und  aus  den  evangelischen  Dar- 
stellungen. Daher  das  gänzliche  Fehlen  eigener  einschlägiger 
Nachrichten  im  Talmud.  Daher  kommt  es  auch,  daß  weder 
der  Jude  bei  Justin  Martyr  noch  jener  bei  Celsus  von  Jesu 
und  seinem  Wirken  anderes  wissen,  als  was  sie  aus  den 
Evangelien  oder  gerüchtweise  erfahren  haben,  und  daß  sie 
in  ihren  Widerlegungen  sich  ausschließlich  nur  auf  diese 
und  auf  das  Alte  Testament  berufen  müssen.  Wir  wissen 
es  ganz  bestimmt  und  haben  dafür  nicht  nur  indirekte 
sondern  auch  direkte  Beweise,  daß  zu  Beginn  des  zweiten 
und  sogar  des  fünften  Jahrhunderts  noch  keine  unver- 
fälscht jüdische  Überlieferungen  über  Jesus  und  seinen 
Kreuzestod  vorhanden  waren.  In  der  aus  dem  Anfang  des 
fünften  Jahrhunderts  stammenden  Altercatio  Simonis  et 
Theophili,  welche  nach  Harnaks  scharfsinniger  Untersuchung 
nichts  anderes  als  eine  nur  wenig  modifizierte  Kopie  der 
in  den  Zeiten  Hadrians  verfaßten  Altercatio  Jasonis  et 
Papisci  ist,  zeigt  sich  der  Jude  Simon  entsetzt  über  den 
Gedanken,  daß  Christus  so  schmachvolle  Leiden  habe  er- 
tragen müssen,  und  fügt  zweifelnd  hinzu:  »Wofern  es 
wahr  wäre,  was  ihr  berichtet,  daß  er  von  unseren 
Vätern  ans  Kreuz  geschlagen  wurde«.  Hierauf  fährt  er 
folgendermaßen  fort:  »Von  Haman  wissen  wir,  daß  er,  der 

*)  Dial.  c.  Tryph.  c.  38.  Vgl.  auch  c.  112. 


558  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

unser  Geschlecht  verderben  wollte,  von  unseren  Vätern, 
wie  er  es  verdiente,  ans  Kreuz  geheftet  wurde ;  und  so 
feiern  wir  denn  auch,  der  Überlieferung  gemäß,  zur  Erin- 
nerung an  dieses  freudige  Ereignis  alljährlich  ein  Freuden- 
fest. Von  Absalon  lesen  wir,  daß  er  zur  Strafe  für  sein 
gegen  den  Vater  geplantes  hochverräterisches  Verbrechen 
an  einem  Baum  hängen  geblieben.  Hat  nun  Christus  den 
schimpflichen  Kreuzestod  erlitten,  warum  ist  uns  hier- 
über von  unseren  Vätern  nichts  überliefert 
worden?  warum  findet  sich  in  unseren  Schriften 
keine  Erwähnung  seines  Martyriums,  daß  wir 
uns  darüber,  war  er  in  Wirklichkeit  ein  Feind 
unseres  Volkes,  freuen  könnten1)?« 

So  sprach  der  Jude  Papiscus  zu  Beginn  des  zweiten, 
und    so    sprach    der    Jude    Simon    zu    Beginn  des  fünften 


»)  Altercat.  Sim.  et  Theopb.  ed.  Harnack  1883,  p.  28  VI,  22: 
Aestuo  vehementi  cogitatione,  potuisse  Christum  tarn  maledictam  et 
ludibriosam  sustinere  passionem,  si  tarnen  vera  sunt,  quae  dici- 
tis,  a  patribus  nostris  crucis  patibulo  eum  esse  suffixum. 
Seimus  plane,  Aman  malidictum  a  patribus  nostris  pro  merito  suo  esse 
crueifixum,  qui  genus  nosttum  petierat  in  perditionem,  in  cuius  mortem 
peracto  revoluto  anno  gratulamur  et  solemnia  votorum  festa  celebra- 
mus,  quae  a  patribus  tradita  aeeepimus,  et  Absalon,  qui  ad  caedem 
patris  patrieida  fuit,  pependisse  illum  in  arbore  legimus.  Christus 
antem,  si  patibulum  mortis  huius  sustinuit  et  in  cruce  pependit,  cur 
non  hoc  ipsum  a  patribus  nostris  aeeepimus  nee  passum 
in  scripturis  nostris  invenimus,  ut,  utsi  inimicus  genti  no- 
strae  esset,  gauderemus?  —  Vollkommen  unverständlich  ist  uns, 
wie  Harnack  (das.  p.  53  f.)  dazu  gelangt,  diesen  Gedankengang  Simons 
in  folgender,  den  klaren  Sachverhalt  trübenden  Weise  widerzugeben: 
»Der  Judec  —  so  kommentiert  er  —  »geht  jetzt  zu  dem  stärksten 
Einwurf  über:  das  schimpfliche  Leiden  Christi.  Wenn  Christus  wirklich, 
wie  behauptet  wird,  an  das  Kreuz  geschlagen  worden  ist,  so  hat  er 
die  Strafe  erlitten,  welche  der  Verräter  Haman  und  der  Abtrünnige 
Absalon  mit  Recht  erhalten  haben.  Ferner,  wenn  es  wahr  ist,  daß  der 
ans  Kreuz  Oehenkte  der  Messias  gewesen,  warum  ist  in  den  heiligen 
Schriften  dieser  Tod  aicht  vorausverkündigt,  während  wir  jetzt 
den    Tod  dieses    Qekreuzigten    als    des    Feindes    unseres 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  559 

Jahrhunderts.  Sie  hatten  also  beide  noch  keine  väterlichen 
Überlieferungen«  betreffs  Jesu  und  seines  Opfertodes.  Und 
ihre  christlichen  Gegner  widersprechen  dem  nicht.  Das 
einzige,  was  sie  auf  diese  Zweifel  der  zu  bekehrenden 
Juden  zu  erwidern  vermögen,  ist  ihre  Berufung  auf  das 
alttestamentliche  Schrifttum,  wo  vorhergesagt  sei,  daß  der 
Messias  leiden  und  den  Kreuzestod  sterben  werde. 

Das  pharisäische,  oder  vielmehr  rabbinische  Judentum 
hat  sich  unter  den  Herodäern  allmälig  aus  dem  Welt- 
verkehr ausgeschaltet  und  die  Mission,  »das  Licht  der 
Heiden  zu  werden«,  der  griechischen  Diaspora  überlassen, 
welche  eine  erstaunliche  Werbekraft  in  der  heidnischen 
Welt  entwickelte.  —  Diese  äußerst  rührige  und  missions- 
freudige Diaspora  war  im  Zeitalter  Jesu,  bis  ins  Herz 
Judäas,  wo  sie  ihre  eigenen  Synagogen  hatten1),  vorge- 
drungen. Hier  gab  sie  den  mächtigen  Impuls  zur  Bildung 
des  Christentums. 

Doch  nicht  die  gesamte  »Diaspora  der  Hellenen« 
mündete  ins  Christentum  ein.  Die  breiten,  nationalgesinnten 
Schichten  derselben,  und  selbst  philosophisch  gebildete 
Juden  philonischer  Richtung,  die  noch  aus  Pietät  für  die 
gottgeliebten  Vorväter  das  Zermonialgesetz  nach  Möglichkeit 
beobachtet  wissen  wollten  ;  sie  konnten  sich  mit  der  Botschaft 
von  dem  »Ende  des  Gesetzes«  eben  so  wenig  als  mit  einem 
gekreuzigten  Christ  vertraut  machen.  Diese  nun  wurden 
die  heftigsten  Gegner  des  Christentums.  Auf  dem  weiten 
hellenistischen,  nicht  auf  dem  engen  pharisäischen  Boden 
war  der  Kampf  um  den  Christ  und  um  die  Befreiung  vom 
Gesetz  entbrannt,  an  allen  Enden  und  Ecken  lodernd.  Da 
standen  jüdische  Hellenisten  gegen  christgläubig  gewordene ; 


Volkes  bejubeln?«  —  Wie  man  sieht,  wird  hier  durch  die  Auf- 
fassung Harnacks  der  Sinn  der  Worte  Simons  in  den  wesentlichsten 
und  bezeichnendsten  Punkten  verwischt,  ja  geradezu  in  sein  Gegenteil 
gekehrt;  sicherlich  unbewußt. 

x)  Vgl.  Apostelgesch.  6,  9. 


560  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

nazaräische  Antinomisten  gegen  nazaräische  gesetzestreue 
Christen  ;  Apostel  des  jüdischen  gegen  Apostel  des  heid- 
nischen Christentums  —  man  denke  nur  an  das  Auftreten 
des  Paulus  gegen  Petrus,  dem  er  offen  Heuchelei  vorwirft1); 
an  das  Anathem,  das  er  gegen  die  zum  Gesetz  haltenden 
jerusalemischen  Apostel,  »wer  sie  auch  immer  sein  mögen«, 
schleudert2)  —  da  standen  jüdische  Christen  gegen  heid- 
nische Christen  und  umgekehrt,  bis  endlich  das  übermäßige 
Hereinfiuten  des  heidnischen  Elements  den  Sieg  entschied. 
Aber  selbst  das  christgläubig  gewordene  Nazaräertum  — 
ich  meine  die  Gemeinde  Jesu  —  stellt  keineswegs  ein 
einheitliches  Gebilde  dar.  Noch  im  dritten  Jahrhundert 
teilte  es  sich,  wie  wir  bei  Origenes  lesen,  in  verschiedene 
Parteien :  in  solche,  die  sich  von  den  alten  Gebräuchen 
unter  dem  Vorwand  abgekehrt,  daß  sie  Geheimnisse  und 
Symbole  seien  und  geistig  gefaßt  werden  müssen ;  und 
andere,  die  zwar  den  geistigen  Gehalt  des  Gesetzes  gelten 
ließen,  aber  dennoch  die  Gewohnheiten  der  Väter  beibe- 
hielten. Eine  dritte  Klasse  hielt  sich  ausschließlich  an  den 
Buchstaben  des  Gesetzes,  ohne  etwas  von  einer  geistigen 
Auffassung  desselben  wissen  zu  wollen,  glaubte  aber  dabei, 
daß  Jesus  derjenige  sei,  von  welchem  die  Propheten 
geweissagt  und  hielt  das  Gesetz  Mosis  nach  der  Weise  der 
Väter8). 


')  Galatcrbr.  2,  14. 

«)  Oal.  5,  10-11. 

8)  Orig.  contra  Cels.  II,  3.  —  Dieselben  Religionsparteien  finden 
wir  schon  in  der  vorchristlichen  griechischen  Diaspora  vor.  Die  ra- 
dikalen Allegoristen,  welche  das  Zeremonialgesetz  allegorisch  auflösten 
und  sich  der  Beobachtung  desselben  überhoben  erklärten;  ferner  die 
in  Philo  vertretene  konservative  jüdisch-hellenistische  Partei,  die  das 
Gesetz  gleichfalls  allegorisch  auslegte  und  geistig  auffaßte,  aber 
gleichwohl  dessen  wörtliche  Beobachtung  forderte:  »aus  Pietät  gegen 
die  heiligen  Männer  der  Vorzeit,  welche  die  nationalen  Einrichtungen 
angeordnet«  und  aus  Scheu,  die  religiösen  Gefühle  der  Menge  durch 
Nichtbefolgung  derselben  zu  verletzen;  und  endlich  die  große  Menge 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  561 

Und  die  Kirche,  die  sich  im  alleinigen  Besitz  der 
reinen  Lehre  Jesu  wähnte  und  sich  die  allgemeine 
nannte,  wie  schwer  hatte  sie  unter  der  Übermacht  der  un- 
gezählten gnostischen  Sekten,  die  den  christlichen  Boden 
bis  in  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  und  darüber 
hinaus  beherrschten,  zu  leiden!  Wie  hart  war  der  Kampf, 
den  sie  gegen  dieselben  führte,  wie  vergiftet  die  Pfeile,  die 
sie  gegen  einander  schleuderten! 

Dagegen  herrschte  auf  dem  pharisäischen  Boden  die 
heiligste  Stille.  Abgesehen  von  einem  ganz  ungefährlichen 
Geplänkel  mit  den  Sadduzäern  und  einer  Anzahl  von  Kontro- 
versen mit  jüdischen  Minäern,  welche  letztere,  weil 
sie  die  göttliche  Inspiration  der  Thora  und  die  Aufer- 
stehungslehre leugnen  und  zwei  Gottheiten  annehmen1), 
verketzert  werden,  vernehmen  wir  kein  lautes  Wort,  kein 
Reagieren  auf  die  ringsum  tosenden  Wogen  religiöser  Be- 
wegungen, aus  denen  die  Kirche  unter  schwerem  Ringen 
zur  Siegerin  sich  emporschwang. 

Bedürfte  es  noch  eines  weiteren  Beweises,  daß  das 
pharisäische  Judentum  sich  insbesondere  seit  dem  Aus- 
bruche des  messianischen  Bewegungen,  vollständig  von  der 
Außenwelt  abgekehrt  hatte,  sich  mit  brünstigem  Eifer  in 
seine  Traditionslehre  vertiefend,  und  daß  es  zu  dem  ent- 
stehenden Christentum  kein  Verhältnis  hatte,  keines  zu 
ihm  gewinnen  konnte;  so  läge  er  sicherlich  darin,  daß  in 
den  aus  den  beiden  ersten  christlichen  Jahrhunderten  auf 
uns  noch  gekommenen  Kontroversen  zwischen  Juden  und 
Christen  es  nicht  pharisäische  sondern  immer  na- 
tionalgesinnte hellenistische  Juden  sind,  die  auf 
die  christlichen  Angriffe  reagieren  oder  die  gegnerischen 
Positionen  angreifen.    Die  Wortführer  des  Judentums  sind 


der  Buchstabengläubigen.  —  Im  Pharisäismus  aber  gab  es  weder  eine 
solche  radikal-allegoristische,  noch  auch  eine  der  philonischen  ähnli- 
che Richtung. 

»)  J1V1BH  TIP. 
Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  36 


562  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

da  überall  griechische  Juden,  die  nicht  die  mindeste  Be- 
kannschaft mit  der  pharisäischen  Schriftauslegung  verraten, 
vielmehr  oft  größere  Unwissenheit  darin  an  den  Tag  legen 
als  selbst  ihre  aus  dem  Heidentum  stammenden  Gegner. 
Es  sind  Diasporajuden,  die  überhaupt  mehr  Vertrautheit 
mit  der  griechischen  Literatur,  Philosophie  und  Mythologie 
als  mit  dem  jüdischen  Schrifttum  zeigen,  griechische  Juden, 
die  nichts  weiter  als  ihren  monotheistischen  Standpunkt 
verfechten  und  die  Notwendigkeit  der  Beobachtung  be- 
stimmter nationaler  Gebräuche  betonen. 

An  erster  Stelle  sei  die  Altercatio  Jasonis  et  Papisci 
erwähnt.  Dieser  Dialog  —  die  älteste  uns  bekannt  ge- 
wordene Kontroverse  zwischen  Juden  und  Christen  —  ist 
zwar  nicht  mehr  auf  uns  gekommen,  doch  erwähnt  ihn 
der  platonische  Philosoph  Celsus  in  seinem  uns  noch  frag- 
mentarisch erhaltenen  »Logos  Alethes«  in  wegwerfendem 
Tone,  während  Origenes  ihn  verteidigt.  So  ist  es  un- 
schwer, sich  ein  Urteil  über  Form  und  Inhalt  desselben  zu 
bilden.  Der  Verfasser  des  Dialogs,  Aristo  von  Pella, 
zweifellos  ein  jüdischer  Christ,  ist  ein  Sohn  der  Diaspora 
von  Peräa,  wo  Jesus  viel  gewirkt  und  großen  Anhang  ge- 
funden hatte.  Papiscus,  der  sich  gegen  das  Christentum 
wehrt,  ist  ein  alexandrinischer  Jude,  und  Jason,  der  ihn 
bekehren  will,  ein  Christ  aus  den  Hebräern.  Der  Jude  nun, 
der  sich  dem  christlichen  Gegner  stellt,  muß  griechische 
Bildung  besessen  haben,  da  er  sich,  wie  dies  Origenes  be- 
zeugt, geschickt  zu  wehren  versteht1).  Es  handelt  sich  dieser 
Schrift,  wie  allen  ähnlichen  Kontroversen  jener  Zeit,  darum, 
dem  Juden  aus  dem  Alten  Testament  zu  beweisen :  daß 
Jesus  der  verheißene  Messias.  Beide,  Celsus  und  Origenes, 
orientieren  uns  über  den  Inhalt  und  die  Qualität  des 
Dialogs.  Selbst  aus  den  Äußerungen  des  letzteren,  der  ihn 
gegen  den  Christenbestreiter  Celsus  warm  in  Schutz  nimmt, 
geht  zur  Gewißheit  hervor,  daß  es  eine  recht  minderwertige 

»)  Orig.  c.  C.  IV,  52. 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  563 

Schrift  war.  Celsus  spricht  in  verächtlichen  Ausdrücken  von 
ihr:  sie  sei  von  der  Art,  daß  sie  geeigneter  sei,  den  Leser  zum 
Mitleid  und  zum  Unwillen  als  zum  Lachen  zu  reizen,  und 
er  verspüre  keine  Lust,  derartige  Dinge  zu  widerlegen;  die 
Torheit  derselben  müsse  einem  jeden,  der  Geduld  genug 
habe,  sie  zu  lesen,  in  die  Augen  springen1).  Darauf  erwidert 
Origenes:  Celsus  habe  sich  aus  den  vielen  guten  Werken, 
in  denen  die  heilige  Schrift  geistig  ausgelegt  werde,  eines 
der  schwächsten  ausgesucht,  welches  zwar  gut  genug,  den 
gemeinen  Mann  und  die  Einfältigen  im  Glauben  zu  stärken, 
aber  wenig  oder  nichts  beitrage,  verständige  Leute  zu 
überzeugen.  >lch  wollte,«  so  fährt  er  fort,  »daß  derjenige, 
der  da  hört,  wie  dreist  und  hochmütig  Celsus  von  der 
Streitschrift  des  Jason  und  Papiscus  über  den  Messias 
urteilt,  dieselbe  in  die  Hand  nehmen  und  in  Geduld  durch- 
lesen möchte.  Ich  bin  überzeugt,  daß  er  das  Urteil  unseres 
Widersachers  verwerfen  und  nichts  darin  finden  würde, 
das  Mitleid  und  Unwillen  verdient.  Wer  sie  unvoreinge- 
nommen liest,  findet  nicht  einmal  etwas  darin,  was  lachens- 
wert wäre:  Ein  Christ  streitet  mit  einem  Juden  unter 
Zugrundelegung  der  heiligen  Schrift,  die  auch  bei  den  Juden 
für  göttlich  gehalten  wird  und  zeigt  ihm,  daß  die  Weis- 
sagungen betreffs  des  Messias  in  der  Person  Jesu  erfüllt 
seien.  Der  Jude  wehrt  sich  mit  nicht  gewöhnlichem  Eifer 
und  spielt  in  der  Tat  die  Rolle  des  Juden  recht  geschickt«. 
Damit  wir  aber  keinen  Augenblick  in  Ungewißheit 
seien  über  die  Herkunft  der  in  diesem  Dialog  handelnden 
Personen,  erhalten  wir  hierüber  von  Celsus  so  greifbare 
Andeutungen,  daß  wir  diese  Altercatio  auf  den  ersten  Blick 
schon  als  ein  jüdi  seh -hell  e  n  ist  i  seh  e  s  Produkt  er- 
kennen müssen.  Celsus  verurteilt  gelegentlich  in  schärfster 
Weise  die  allegorische  Schriftauslegung  der  gebildeten  Juden, 
worunter  er,  wie  Origenes  hier  kommentiert,  die  Auslegungs- 

»)  Das.:  oliv  Sri  xal  Ila7Ci(7XOu  tivo?  xai 'Ixsovo?  ävrtXoYiav 
S-fvcüv,  ou  y^wto?,  äXki.  U.3&X0V  xal  (xi«jou?  ä£(av  xtX 

36' 


564  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

weise  eines  Aristobul,  Philo  und  ähnlicher  Anderer  meint 
und  fügt  unmittelbar  darauf  hinzu:  »Von  solcher  Art 
habe  ich  auch  die  Streitschrift  eines  gewissen  Papiscus  und 
eines  Jason  gefunden,  nicht  sowohl  des  Lachens  als  viel- 
mehr des  Mitleids  und  des  Unwillens  wert.« 

Zweifellos,  der  Dialog  ist  dem  freilich  schon  ganz  ver- 
dorrten Boden  des  jüdischen  Hellenismus  entstammt,  was 
überdies  auch  die  griechischen  Namen  des  Verfassers  und 
der  beiden  Streitenden  äußerlich  bezeugen. 

Besitzen  wir  nun  gar  in  der  zu  Beginn  des  fünften 
Jahrhunderts  von  Euagrius  herausgegebenen  Altercatio  Si- 
monis judaei  et  Theophili  christiani,  wie  Harnack  überzeu- 
gend nachgewiesen,  eine  Überarbeitung  der  Altercatio  Jasonis 
et  Papisci;  dann  sind  wir  nicht  bloß  in  der  Lage  uns  un- 
abhängig von  Celsus  und  Origenes  ein  Urteil  über  dieses 
letztere  Opus  zu  bilden,  das  aus  so  früher  Zeit  stammt, 
daß  Clemens  Alexandrinus  es  dem  Evangelisten  Lukas 
zuschreiben  durfte;  es  fällt  uns  auch  an  dem  Juden  Simon, 
vormals  Papiscus,  die  hellenistische  Geberde  auf.  Daß  Eu- 
agrius sich  die  Arbeit  zum  mindesten  soweit  sie  den  Juden 
betrifft  —  sehr  leicht  gemacht  hat,  zeigt  schon  ein  flüchtiger 
Blick  in  seine  Altercatio.  Er  läßt  den  Juden  nur  sehr  wenig 
und  zumeist  nur  das  sprechen,  was  dem  christlichen  Gegner 
nicht  nur  keine  Schwierigkeiten  bereitet,  sondern  ihn  geradezu 
in  seiner  Widerlegung  fördern  muß.  Von  dem  »Eifer  und  der 
Geschicklichkeit«,  die  Origenes  an  dem  Juden  Papiscus  rühmt, 
ist  bei  Simon  nicht  die  geringste  Spur  mehr  zu  entdecken. 
Sein  Judentum  ist  ebenso  farblos  wie  seine  Gegenwehr 
kraftlos,  und  es  gewinnt  den  Anschein,  als  ginge  er  von 
Anbeginn  darauf  aus,  dem  Gegner  zu  einem  billigen  Tri- 
umph zu  verhelfen.  Gleichwohl  geht  aus  dem  Dialog  soviel 
zur  Gewißheit  hervor,  daß  die  beiden  Streitenden, 
der  Jude  und  der  Christ,  auf  dem  Boden  der 
jüdisch-hellenistischen  Schriftauslegung  ste- 
hen, welche  beiden  geläufig  Ist,  und  die  auch  später  Justin 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  565 

Martyr  in  seinem  Redekampf  mit  den  Juden  auf  Schritt 
und  Tritt  in  Anwendung  bringt.  Hier  ein  markantes  Beispiel. 
Der  Christ  will  dem  Juden  beweisen,  daß  Christus  der 
Logos,  daß  er  aus  Gott  gezeugt,  daß  er  schon  bei  der 
Weltschöpfung  mitgewirkt  und  von  Anbeginn  als  Mittler 
zwischen  Gott  und  seinem  Volke  gedient  habe,  welchem 
er  beim  Auszug  aus  Ägypten  in  der  Wolkensäule  voran- 
schritt1). Und  wie  beweist  er  dies?  Ganz  einfach  :  er  zeichnet 
das  Bild  genau  nach,  welches  die  jüdisch-hellenistische 
Sophia  Salomonis  vcn  der  präexistenten  Weisheit  entwirft, 
nur  daß  er  diese  in  dem  Gekreuzigten  inkarniert  sein  läßt. 
Dabei  beruft  er  sich  auf  Proverb.  VIII,  wo  die  Weisheit 
bereits  hypostasiert  erscheint  und  von  sich  spricht:  »Gott 
schuf  mich  im  Anfang  seiner  Werke,  längst  vor  seiner 
Schöpfung;  von  Ewigkeit  bin  ich  eingesetzt  . .  .  Als  er  die 
Himmel  bereitete,  war  ich  dabei  ...  da  war  ich  bei  ihm 
als  Werkmeister  in...«  Darauf  erwidert  der  Jude  im 
Geiste  der  jüdisch-alexandrinischen  Schule:  das 
möchte  wohl  von  der  Weisheit  gesagt  worden  sein2). 

Eine  Anlehnung  aber  an  die  pharisäische  Auslegungs- 
methode oder  Denkweise  überhaupt  ist  nirgends  im  Dialog 
wahrzunehmen. 

II. 

Aus  demselben  Holz  wie  der  Jude  Papiscus  bei  Aristo 
ist  der  Jude  Tryphon  bei  Justin  Martyr,  sind  auch  die 
Vertreter  des  Christentums  in  beiden  Dialogen  geschnitzt. 
Die  letzteren  haben  viele  Verbindungspunkte  mit  den 
Juden,  die  sie  zu  dem  gekreuzigten  Christ  zu  bekehren 
sich  abmühen:  denn  sie  stehen  mit  ihnen  auf  demselben 
Boden  geschichtlicher  Entwicklung:  auf  dem  Beden  des 
jüdischen  Hellenismus.  Sowohl  Justin  Martyr  als  auch  vor 

»)  Altere.  Sim.  III,  11:  Vides  ergo:  Simon,  exeuntibus  patribus 
tuis  de  Aegypto,  quia  Christus  erat,  qui  in  columna  nubis  praece- 
debai  eos. 

*)  Altere.  III,  12:  Potest  hoc  pro  sapientia  dictum  esse. 


566  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

ihm  schon  Aristo  von  Pella  besitzen  bereits  einen  jüdisch- 
hellenistischen, zum  Zweck  der  Judenbekehrung  angelegten 
Katechismus,  in  welchem  sämtliche  auf  den  Messias  sich 
beziehenden  oder  gewaltsam  auf  ihn  gedeuteten  alttesta- 
mentlichen  Stellen  gesammelt  sind,  um  allen  Einwendungen 
der  Juden  gegen  einen  Gottmenschen,  gegen  einen  ge- 
kreuzigten Christ  und  gegen  die  gesetzesfreie  Lebensweise 
der  Christen  begegnen  zu  können.  Daher  auch  die  er- 
staunlich scheinende  Belesenheit  in  der  Schrift  und  die 
Schlagfertigkeit,  mit  der  sie  die  geeigneten  Bibelzitate  zur 
Hand  haben. 

Daß  nun  Tryphon  und  seine  Freunde,  die  mit  Justin 
über  den  Christ  und  über  die  Schrift  disputierten, 
griechische  Diasporajuden  waren,  deren  Juden- 
tum freilich  schon  arg  verweltlicht  und  für  die  Sichel  reif 
geworden  war,  das  lehrt  schon  ein  flüchtiger  Einblick  in 
den  Dialog  Justins. 

Eine  jüdische  Gesellschaft  gerät  von  ungefähr  auf  den 
im  Philosophenmantel  einherschreitenden  christgläubig  ge- 
wordenen Justin.  Der  Sprecher  dieser  Gesellschaft,  Tryphon 
mit  Namen,  spricht  ihn  folgendermaßen  an:  An  Argos  er- 
hielt ich  von  dem  Stoiker  Korinth  die  Lehre,  man  dürfe 
niemand  übersehen  oder  geringachten,  der  ein  solches  Kleid 
trage,  sondern  müsse  ihm  freundlich  nahen  und  seinen 
Umgang  suchen.  Denn  es  sei  möglich,  daß  man  dadurch 
sich  oder  ihm  nützen  könne,  was  beiden  Teile  zum  Vorteil 
gereiche.  Wenn  ich  nun  jemand  in  einer  solchen  Kleidung 
sehe,  so  suche  ich  mich  ihm  zu  nähern.  Das  ist  denn  auch 
der  Grund,  warum  ich  dich  angesprochen  habe.  Diese  aber 
—  auf  seine  Genossen  zeigend  —  folgen  mir  in  der  Er- 
wartung, etwas  Nützliches  von  dir  zu  hören.  Ich  heiße 
Tryphon,  bin  ein  Hebräer  aus  der  Beschneidung,  und  weil 
ich  den  gegenwärtigen  Krieg  floh,  halte  ich  mich  größten- 
teils in  Hellas  und  Korinth  auf.«  —  Auf  die  Frage  Justins, 
ob  er  denn    aus    der  Philosophie  soviel  Nutzen    zu  ziehen 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  567 

hoffe,  als  Moses  und  die  Propheten  zu  bieten  vermögen, 
erwidert  er:  »Enthält  denn  die  Lehre  der  Philosophen  nicht 
eine  gründliche  Darstellung  der  Gottheit?  Stellen  sie  nicht 
eingehende  Untersuchungen  an  über  die  göttliche  Allein- 
herrschaft und  Vorsehung?  Oder  ist  es  nicht  der  Haupt- 
zweck der  Philosophie,  das  Göttliche  zu  erforschen1)  ?« 

Kein  auch  nur  oberflächlicher  Kenner  des  pharisäischen 
Judentums  wird  ernstlich  behaupten  wollen,  daß  dieser 
Tryphon,  der  in  Argos  mit  Sokratikern  verkehrt,  um  sich 
von  ihnen  in  der  Erforschung  des  Göttlichen  fördern  zu 
lassen,  der  dem  jüdischen,  von  Rabbi  Akiba  mit  flammender 
Begeisterung  geschürten  Aufstand  gegen  Rom  unter  Bar- 
Kochba  in  leichtfertiger  Bequemlichkeit  den  Rücken  kehrt, 
sich  größtenteils  in  den  griechischen  Ländern  aufhält,  der 
die  heidnische  Philosophie  in  einen  Rang  mit  Moses  und 
den  Propheten  stellt  ein  pharisäischer  Jude,  oder  gar — wie 
man  behaupten  will  —  ein  pharisäischer  Gesetzeslehrer  sei. 

Auch  sonst  spielt  sich  dieser  Tryphon  gern  als  Lieb- 
haber der  Philosophie  auf.  —  Wo  Justin  ihm  und  seinen 
Genossen  in  beredten  Worten  die  Seligkeit  schildert,  die 
er  empfunden,  als  ihm  die  Botschaft  Jesu  erschlossen  wurde, 
wie  da  ein  Feuer  der  Begeisterung  in  seinem  Innern  auf- 
loderte für  die  Propheten  und  jene  Männer,  welche  die 
Freunde  Christi  seien;  erwidert  Tryphon:  »Ich  bewundere 
deinen  Eifer  für  Gott,  würde  es  aber  für  besser  halten, 
wenn  du  der  Philosophie  eines  Plato  oder  eines  anderen 
Philosophen  weiter  gefolgt  wärest  in  Übung  der  Stärke,  in 
der  Überwindung  und  Mäßigung,  als  dich  von  falschen 
Lehrern  irreführen  zu  lassen  und  Leuten  zu  folgen,  die 
keine  Achtung  verdienen.  Denn  wärest  du  bei  der  Lehre 
jener  Philosophen  geblieben,  so  würde  bei  einem  sünden- 
freien Leben  die  Hoffnung  auf  ein  besseres  Los  dein  An- 
teil sein«2). 

*)  Justin  Dial.  c.  1. 
•)  Dial.  c.  8. 


568  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

Merkwürdige  Exemplare  von  Pharisäern  fürwahr,  die 
ohne  jede  Scheu  sich  mit  griechischer  Philosophie  und 
Mythologie  befassen.  Auch  über  letztere  weiß  Tryphon 
Bescheid,  und  er  versteht  es,  sie  an  wichtiger  Stelle  anzu- 
rufen. Seinem  Gegner,  der  aus  der  Schrift  die  jungfräuliche 
Geburt  des  Christ  herauslesen  will,  hält  er  entgegen:  «Diese 
ganze  Weissagung  bezieht  sich  auf  Ezechias,  wie  ja  auch 
seine  Schicksale  es  bestätigen.  —  In  den  Fabeln  der  Griechen 
wird  erzählt,  daß  Perseus  von  Danae,  einer  Jungfrau,  der 
sich  Zeus  in  Gestalt  eines  goldenen  Regens  genaht,  geboren 
worden  sei.  Ihr  solltet  euch  schämen,  ähnliches  zu  be- 
haupten   euch  nicht  erdreisten,  solch  abenteuerliche 

Dinge  auszusprechen,  sonst  werdet  ihr  mit  Recht  des  Unsinns 
beschuldigt«1). 

Überhaupt  schließt  das  Judentum  Tryphons  seine 
Zugehörigkeit  zur  pharisäischen  Schule  aus.  Ungleich  näher 
steht  Tryphon  dem  christlichen  Nazaräismus,  mit  dem  er 
sowohl  die  Vorstellung  von  dem  Messias  als  auch  jene 
von  der  fortdauernden  Verbindlichkeit  gewisser  National- 
gesetze  teilt.  Und  tatsächlich  bekundet  er  im  Dialog  ein 
lebhaftes  Interesse  für  das  nazaräische  Christentum,  welches 
er  höher  bewertet  als  Justins  philosophisch  konstruiertes 
heidnisches,  aus  einem  Logos-Gott  geborenes  Christentum. 
Besehen  wir  uns  doch  das  Judentum  Tryphons  ein 
wenig  in  der  Nähe.  Worin  besteht  es  eigentlich?  Läßt  es 
etwa  die  leiseste  Andeutung  einer  Hinneigung  zur  phari- 
säischen Traditionslehre  oder  auch  nur  eine  Bekanntschaft 
mit  derselben  durchschimmern?  Das  dürfte  wohl  kaum  ein 
mit  dem  Wesen  des  Pharisäismus  vertrauter  Leser  dieses 
Dialogs  behaupten  wollen.  Eher  als  bei  dem  Juden  Tryphon 
wird  man  noch  bei  Justin  selber  eine  entfernte  Bekannt- 
schaft mit  pharisäischer  Denkweise  entdecken.  Der  ganze 
Schwerpunkt  der  jüdischen  Religion  liegt  für  Tryphon:  in 
dem    Glauben    an    einen    Gott,    in    der  Beobachtung  der 

»)  Dial.  c.  67. 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  569 

Beschneidung,  der  Sabbathe,  und  Festtage  und  der  Reinheits- 
vorschriften. Der  Kampf  um  diese  religiösen  Güter  zieht 
sich  wie  ein  roter  Faden  durch  den  ganzen  Dialog.  Ein 
anderes  Judentum  kennt  er  nicht.  Schon  zu  Beginn  seiner 
Unterhaltung  mit  Justin  rät  er  diesem:  »Wenn  du  mich  an- 
hören willst,  denn  ich  betrachte  mich  bereits  als  deinen 
Freund,  so  beschneide  dich,  dann  halte  die  Feste  und 
Neumonde  Gottes  und  tue  alles  mit  redlichem  Herzen 
wie  es  vorgeschrieben  ist,  und  du  wirst  sicher  Gnade  finden«1). 
Diese  jüdisch-hellenistischen  Marktphilosophen  glichen 
auf  ein  Haar  unseren  modernen,  nur  oberflächlich  philo- 
sophisch gebildeten  und  ebenso  oberflächlich  mit  ihrer  eigenen 
Religion  vertrauten  Juden.  Sie  waren  und  blieben  letzten 
Endes  Juden  aus  unüberwindlicher  Abneigung  gegen  heid- 
nisches Wesen  und  heidnischen  Götzendient.  Darum  will 
Tryphon  auch  nach  außenhin  den  Juden  von  dem  Heiden 
unterschieden  wissen.  Darum  wirft  er  auch  seinem  christ- 
lichen Gegner  vor,  daß  sein  Christentum  reines  Heidentum 
sei.  »Ich  habe  mich«,  sagt  er,  »bemüht,  euere  Lehren  zu 
studieren.  Insbesondere  können  wir  nicht  begreifen,  daß 
ihr,  die  ihr  Gott  zu  fürchten  vorgebt  und  auch  für  besser 
haltet  als  die  andern,  euch  in  eurer  Lebensweise 
in  nichts  von  den  Heiden  unterscheidet;  keine 
Feste  und  Sabbathefeier t,  keine  Beschneidung 
beobachtet  und  auf  einen  gekreuzigten  Menschen  eure 
Hoffnung  setzt.  Wie  könnt  ihr  erwarten,  Gutes  von  Gott 
zu  erlangen,  wenn  ihr  seine  Gebote  nicht  achtet?  Oder 
hast  du  nicht  gelesen,  daß  die  Seele  aus  dem  Volke  aus- 
gerottet wird,  die  am  achten  Tag  nicht  beschnitten  wird? 
—  Diesen  Bund  ganz  verwerfend,  kümmert  ihr  euch  nicht 
um  die  auf  demselben  gegründeten  Einrichtungen  und  lebt 
in  der  Einbildung,  Gott  zu  erkennen,  obgleich  ihr  nichts 
von  dem  beobachtet,  was  die  Vertreter  Gottes  üben«8). 

»)  Dial.  c.  8. 
•)  Dial.  c.  10. 


570  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

Man  wende  mir  nicht  ein,  daß  der  Jude  bloß  von 
den  Heiden  oder  heidnischen  Christen  ein  Minimum  von 
Gesetzesbeobachtung  forderte,  daß  er  aber  selber,  als 
geborner  Jude,  das  ganze  Gesetz  für  verbindlich  hielt.  Dem 
widerspricht  Tryphon  selbst.  Dem  Gegner,  der  ihn  über- 
zeugen will,  daß  nach  dem  Erscheinen  des  Christ  es  nicht 
mehr  angehe,  die  Gesetze  Mosis  zu  halten,  räumt  er  ein, 
daß  nach  der  Zerstörung  des  Tempels  manche  gesetzliche 
Vorschriften  gegenstandslos  und  hinfällig  geworden;  und 
auf  dessen  weitere  Frage,  welche  Gebote  nach  wie  vor 
gehalten  werden  müssen,  erwidert  er:  »jene  des  Sabbath, 
der  Beschneidung,  der  Neumonde  und  der 
Reinigungsbäder,  wie  sie  Moses   vorgeschrieben"1). 

Das  ist  das  Um  und  Auf  seines  Judentums.  Und 
dieses  beton    er  immer  und  überall. 

Und  in  diesem  Tryphon  wollte  man  den  heißblütigen 
Gesetzeslehrer  Rabbi  Tarphon  erkennen2),  der,  wie  der 
Talmud  berichtet,  alle  minäischen  Schriften  verbrannt  wissen 
wollte,  und  bei  einer  drohenden  Gefahr  eher  in  einem 
heidnischen  Tempel  als  in  den  Häusern  dieser  Ketzer  Zu- 
flucht zu  suchen  anrät ! 

Neben  der  Diskussion  über  das  Zeremonialgesetz  be- 
wegt sich  alles  im  Dialog  um  die  Frage  nach  dem  Christ. 
Hier  verteidigt  der  sonst  blasierte  griechische  Jude,  der 
eingestandenermaßen  in  einer  Kontroverse  über  Religion 
nichts  weiter  als  geistige  Anregung  und  Zerstreuung  sucht, 
mit  einer  Energie,  die  man  ihm  nicht  zugemutet  hätte,  seinen 
Monotheismus,  den  er  durch  die  Erhebung  des  Christ  in 
die  Sphäre  der  Gottheit  getrübt,  ja  sogar  zerstört  sieht. 
Er  fordert  Justin  auf,  seine  Beweise  für  die  Behauptung, 
daß    die  Propheten    noch    einen    andern  Gott  neben    dem 

*)  Dial.  c.  46:  Tö  <7aßßaTt£siv  X^o)  xai  to  TCepiTejxvecrdoct  xal 
tö  -ra  £jx[/.7)va  «puXocffTSiv  xat  tö  ßa7CTi£s<r9,ai  ä^ajjLSvov  tivo;  cjv 
KTnriYopeOsTat  Otcö  Mtousew;  x  iv  (xuvouaia  ysvojjlsvov. 

»)  Zuletzt  noch  Schürer,  Gesch.  des  jüd.  Volkes  II»,  378. 


Kontroversen  zwischen  Juden  nnd  Christen.  571 

Weltschöpfer  gekannt,  darzulegen  und  fügt  warnend  hinzu  : 
»Hüte  dich  aber,  Sonne  oder  Mond  zu  nennen,  da  ja  ge- 
schrieben steht,  daß  Gott  den  Heiden  gestattet  habe,  sie 
als  Götter  anzubeten.«  —  »Die  Propheten,«  so  fährt  er 
fort,  »bedienen  sich  oft  solcher  Redensarten,  sie  sagen  bei- 
spielsweise :  dein  Gott  ist  ein  Gott  der  Götter  und  ein 
Herr  der  Herren,  mit  dem  Zusatz  :  der  Große,  der  Mächtige, 
der  Furchtbare.  Oft,  sage  ich ;  aber  sie  nennen  sie  nicht 
Götter,  als  ob  sie  es  in  Wirklichkeit  wären,  sondern  nach 
der  Lehre,  die  wir  von  der  gesunden  Vernunft  erhalten 
haben,  daß  der  Gott,  der  Alles  geschaffen,  allein  der  Herr 
aller  sogenannten  Götter  und  Herren  sei.  Denn  daß  er 
selbst  die  Bezeichnung  »Götter«  tadle,  bezeugt  der  heilige 
Geist  durch  David  :  »Die  Götter  der  Heiden,  die  vermeint- 
lichen Götter,  sind  Bilder  der  Dämonen«.  Er  spricht  sogar 
den  Fluch  aus  über  jene,  die  solche  machen  und  über  ihre 
Anbeter«1).  Und  da  Justin  ihm  Stellen  aus  der  Schrift  vor- 
führt, die  seine  Behauptung  von  der  Existenz  einer 
zweiten  Gottheit  zu  bestätigen  scheinen,  ruft  er,  sichtlich 
geängstigt  aus :  »ich  weiß  nicht,  was  ich  dem  gegenüber 
von  den  Worten  des  Jesaia  denken  soll,  nach  welchen 
Gott  seine  Herrlichkeit  keinem  andern  überlassen  wolle, 
sprechend :  Ich  bin  der  Herrr  und  Gott,  dies  ist  mein 
Name.  Ich  will  meine  Herrlichkeit  keinem  andern  geben 
noch  meine  Vollkommenheit«8)  Und  im  Verlaufe  der  weiteren 
Ausführungen  Justins  fällt  er,  förmlich  aufschreiend,  diesem 
ins  Wort:    »Heilig  ist,    was  Gottes  ist!    Eure    Erklärungen 


»)  Dial.  c.  55. 

*)  Dial.  c.  65.  Auch  der  Jude  des  Euagrius  beginnt  seine 
Kontroverse  mit  der  Einheit  Gottes,  sprechend  :  Sacri  venerandique 
Deuteronomii  vox  resultans  dicit:  Videte,  quoniam  ego  sum,  et  non 
est  alius  praeter  me  deus  ?  Et  Esaias  dicit :  Ego  primus  et  ego  novis 
simus,  et  praeter  me  non  est  deus.  —  Quid  illud  quod  ait :  Praete- 
me  non  est  deus?  —  Ergo  tuduos  deos  facis.  Cf.  Altere.  Sim. 
-6. 


572  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

aber  sind,  wie  deine  Auslegungen  beweisen,  erkünstelt, 
ja  sie  enthalten  Gotteslästerungen1)  U 

Gleichem  Unglauben  begegnet  Justin  bei  Tryphon  und 
seinen  Freunden,  wenn  er  ihnen  aus  der  Schrift  beweisen 
will,  daß  der  Messias  präexistent  und  daß  er  nach  den 
Weissagungen  der  Propheten  von  einer  Jungfrau  geboren 
werden  und  den  Fluch  des  Kreuzestodes  auf  sich  laden 
werde.  Und  wenn  Justin  ihnen  schon  neue  Zugeständnisse 
in  der  einen  oder  anderen  Richtung  abgerungen  zu  haben 
glaubt,  dann  häufen  sich  erst  neue  Schwierigkeiten,  die 
sich  seinem  weiteren  Versuche,  darzutun,  daß  der  Christ 
in  der  Person  Jesu  Fleisch  geworden  sei,  entgegentürmen. 
Wir  haben  bereits  gesehen,  daß  Tryphon  diese  Glaubens- 
lehren in  das  Reich  der  Mythe  verweist.  Er  betrachtet  es 
als  Lästerung,  wenn  Justin  in  Nachzeichnung  der  Sophia 
bei  Pseudo-Salomo  die  Behauptung  aufstellt,  der  Gekreuzigte 
sei  mit  Moses  und  Ahron  gewesen,  habe  mit  ihnen  aus 
der  Wolkensäule  geredet8),  darauf  sei  er  im  Fleische  er- 
schienen und  werde  wieder  erscheinen;  auch  sei  man  ver- 
pflichtet ihn  anzubeten8).  Und  da  Justin,  unbekümmert  um 
solche  Proteste,  in  großer  Begeisterung  fortfährt,  Beweise 
aus  der  Schrift  zu  häufen,  unterbricht  ihn  Tryphon  mit 
den  Worten :  »Du  schwärmst,  das  ist  alles,  was  ich  dir 
hierauf  zu  sagen  habe«4).  Und  ein  andermal:  »Deine  Lehre 
scheint  mir  widersinnig  und  unbeweisbar;  denn  wenn  du 
behauptest,  dieser  Christus  sei  von  aller  Ewigkeit  her  ge- 
wesen, hernach  als  Mensch  geboren  worden  und  es  ge- 
blieben und  kein  von  Menschen  gezeugter  Mensch  sei;  so 
scheint  mir  das  paradox,  ja  töricht«5).  Und  wiederum:  »Du 


x)  Dial.  c.  79:   Ta  j/iv   tou  xkou  i.^ix  s<mv,   xi  §s  üpiiTspat 
E^-f/iTe',?  TSTE^vasj/ivai  xt>.. 

»)  Vgl.  Altere.  Sim.  et  Theoph.  III,  11. 
3)  Justin  Dial.  c.  38. 
*)  Dial.  c.  38. 
)  Dial.  c.  48. 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  573 

unternimmst  eine  unglaubliche  und  fast  unmögliche  Sache, 
wenn  du  beweisen  willst,  Gott  habe  geboren  und  Mensch 
werden  können«1). 

Einmal  macht  ein  Einwand  Tryphons  gegen  diese 
Lehren  sogar  den  allezeit  schlagfertigen  Justin  stutzig,  so 
daß  er  zugeben  muß,  daß  derselbe  bedeutsam  und  tat- 
sächlich geeignet  sei,  Zweifel  zu  erregen.  Tryphon  hält  ihm 
nämlich  entgegen  :  Weil  der  Prophet  Jesaia  vorhergesagt 
hat:  »es  werde  ein  Reis  aus  dem  Stamme  Jesse  hervor- 
sprossen, ein  Zweig  aus  seiner  Wurzel  aufsteigen,  auf 
welchem  der  Geist  des  Herrn,  der  Geist  der  Wahrheit  und 
des  Verstandes,  der  Geist  des  Rates  und  der  Stärke,  der 
Geist  der  Erkenntnis  und  der  Furcht  des  Herrn  ruhen 
werde ;«  weil  der  Prophet  dieses  vorhergesagt  hat,  willst 
du  behaupten,  dies  werde  von  Christus  gesprochen,  der 
selbst  zu  vorGott  gewesen,  nach  dem  Willen  Gottes 
Fleisch  geworden  und  durch  eine  Jungfrau  geboren  worden 
sei.  Sage  mir  nun  wie  kann  dieser  als  präexistent  ange- 
nommen werden,  wenn  er  mit  den  Kräften  des  heiligen 
Geistes,  erst  erfüllt  werden  muß,  da  er  ihrer  bedürftig 
ist2)  ?« 

Justin  zitiert  die  Worte  des  Propheten:  »Wer  wird 
seine  Herkunft  beschreiben  können?«  und  knüpft  daran 
die  Bemerkung:  »Wenn  ihr  dieses  prophetische  Wort  für 
wahr  haltet,  müßt  ihr  da  nicht  zugeben,  daß  er  nicht  aus 
menschlichem  Samengezeugtsei?*  Worauf  Tryphon:  »Warum 
aber  sagt  dann  das  Wort  zu  David  :  von  seinen  Lenden 
werde  Gott  sich  einen  Sohn  nehmen  —  und  ihn  auf  den 
Thron  seiner  Herrlichkeit  setzen9)?« 

Aber  selbst  wenn  Justin  seine  jüdischen  Gegner  soweit 
gebracht  zu  haben  wähnt,  .daß  sie  sich  nicht  mehr  vor 
seiner   Auffassung   des    Christ  entsetzen,  daß  sie  sich  viel- 

*)  Dial.  c.  63. 
*)  Dial.  c.  87. 
3)  Dial.  c.  68. 


574  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

mehr  mit  ihr  bereits  vertraut  zu  machen  anfangen; 
dann  erwächst  ihm  die  neue  Schwierigkeit,  sie  zu  über- 
zeugen, daß  dieser  Christ  in  Jesu  Gestalt  angenommen 
und  daß  er  es  sei,  auf  welchen  sich  die  Weissagungen  der 
Propheten  inbezug  auf  den  Messias  beziehen.  „Es  mag  sich 
so  verhalten,  wie  du  sagst«,  räumt  Tryphon  bereits  ein» 
»es  mag  vorausgesagt  worden  sein,  daß  der  Christ  leiden 
müsse  —  er  mag  nach  seiner  ersten  Ankunft,  in  der  er 
Leiden  ertragen  soll,  im  Glänze  wieder  komme,  um  alle 
Völker  zu  richten  und  ein  ewiger  König  und  Priester  zu 
sein;  beweise  mir  nun,  daß  di  e  ser  J  es us  i  n  Wirkli  ch- 
keit  derjenige  ist,  von  welchem  solches  geweis- 
sagt worden  i  st«1). 

Wie  die  Predigt  von  der  Gottheit  des  Messias,  schien 
auch  jene  von  seinem  Kreuzestod  den  Juden  unge- 
heuerlich. Sie  dünkte  ihnen  eine  Blasphemie.  Der  gekreu- 
zigte Christ  war,  wie  schon  Paulus  wiederholt  klagt,  ein 
stetes  »Ärgernis«2),  ein  »Stein  des  Anlaufens«3).  Die  Vor- 
stellung von  einem  leidenden  Messias  war  den  obersten 
und  mittleren  Schichten  des  jüdischen  Volkes  niemals  ge- 
läufig, man  stand  hier  der  einschlägigen  Prophezeiung  des 
Deuterojesaia  kühl  gegenüber,  und  in  den  Kreisen  der 
Schriftgelehrten  beschäftigte  man  sich  mit  ihr  erst,  wenn 
man  von  christlicher  Seite  auf  sie  gedrängt  wurde,  um  sie 
dann  auf  das  jüdische  Volk,  insbesondere  auf  die  Diaspora 
zu  deuten4).  Der  Messias  sowohl  des  pharisäischen  als 
auch  des  hellenistischen  Judentums  war  ein  Nationalheros, 
der  das  jüdische  Volk  aus  allen  Enden  und  Ecken  der 
Erde  sammeln,  es  in  die  Hefmat  zurückführen  und  alle 
übrigen  Nationen  zur  Anerkennung  und  Anbetung  des 
Gottes  Israels  bringen  werde.  Diese  Vorstellung  findet  sieht 


»)  Dial.  c.  36. 

»)  1  Kor.  1,  23  Qal.  5,  11. 

«)  Köm.  9,  32. 

«)  Vgl.  Orig.  c.  Cels.  I,  55. 


Kontroversen  zwischen  Jaden  [und  Christen.  575 

in  der  jüdischen  Sibylle1),  bei  Philo8),  und  nicht  minder 
auf  rabbinischem  Boden  eingebürgert,  auf  welch  letztem 
ein  Davids  pro  ß  als  Messias  erwartet  wurde.  Nur  in 
der  apokalyptischen  Literatur  wächst  er  bereits  zu  einer 
präexistenten,  göttlichen  Potenz  hinan.  Desgleichen  bei  den 
jüdisch-antinomistischen  Gnostikern,  die  in  ihm  den  Be- 
freier vom  Gesetz  und  Offenbarer  des  höchsten,  bislang 
noch  unerforschten  Gottes  sahen.  —  Ganz  anders  die 
Messiasvorstellungen  der  untersten  Volksschichten,  der 
»Mühseligen  und  Beladenen«,  der  messianistischen  Naza- 
räer.  Ihr  Ideal  war  der  leidende  Messias,  der  > Knecht 
Gottes«,  wie  ihn  der  Prophet  in  einer  epochalen  Vision  ge- 
schaut. Dieser  Messias  war  der  Gegenstand  ihrer  sehn- 
süchtigen Erwartung. 

Auch  die  Wortführer  des  Judentums  in  unserem  Dialog 
erwarten  einen  glorreichen  Davidsproß;  von  einem  gekreu- 
zigten, mit  dem  »Fluch  des  Gesetzes  beladenen«  Messias 
aber  wollen  sie  nichts  wissen.  Darum  erwidert  auch  Tryphon, 
wo  Justin  die  auf  den  Messias  bezüglichen  Stellen  bei 
Daniel  ins  Treffen  führt:  »Diese  und  ähnliche  Weissagun- 
gen zwingen  uns,  einen  im  hellen  Glänze  erscheinenden, 
erhabenen  Menschensohn  zu  erwarten,  der  von  dem 
Alten  der  Tage  ein  ewiges  Reich  empfangen  wird.  Euer 
sogenannter  Christus  aber  war  verachtet  und  ungeehrt,  so 
daß  er  ein  durch  das  Gesetz  Gottes  gänzliche  Verwerfung 
herbeiführendes  Urteil,  den  Kreuzestod,  erleiden  mußte«.3) 
Und  selbst  wo  Tryphon  zugibt,  daß  der  Messias  nach  dem 
Ausspruche  des  Propheten  leiden  werde,  will  er  nimmer 
glauben,  daß  er  den  schimpflichen  Kreuzestod  werde  sterben 
müssen.  Eine  solche  Auslegung  empörte  ihn  in  tiefster 
Seele.  »Du  weißt  wohl«,  sagt  er  zu  Justin,  »daß  unser 
ganzes  Volk  einen  Christ  erwartet.  Daß  nun  alle  Schriften, 

»)  Orac.  sib.  III,  46-50;  652-656. 

»)  De  execr.  II,  435, 

8)  Dial.  c.  32.  —  Ebenso  Altercatio  Sim.  et  Theoph.  VI,  22. 


576  Die    Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

die  du  angeführt,  sich  auf  ihn  beziehen,  geben  wir  zu. 
Auch  den  Namen  Jesus,  den  schon  der  Sohn  Nun  führte, 
trägt  er  nach  meinem  Bedünken  mit  Recht.  Allein,  daß  der 
Christ  auf  eine  so  schimpfliche  Weise  gekreuzigt  werden 
mußte,  das  können  wir  noch  nicht  begreifen.  Heißt  es 
doch  im  Gesetz:  der  Gekreuzigte  ist  verflucht.  Die  Schrift 
predigt  zwar  deutlich  von  einem  Christus,  der  Leiden  er- 
tragen muß;  wir  wünschen  jedoch  zu  vernehmen,  ob  du 
beweisen  kannst,  daß  er  die  im  Gesetz  mit  dem  Fluche 
belegten  Leiden  erdulden  mußte.  Daß  er  leiden  und  wie 
ein  Schaf  hingeführt  werden  werde,  wissen  wir  bereits; 
beweise  uns  nun,  daß  er  gekreuzigt  werden  und  einen 
entehrenden  und  schändlichen  Tod  sterben  mußte.  Denn 
das  vermögen  wir  nicht  einzusehen«1). 

Und  wenn  endlich  Justin  sich  seines  Sieges  über  die 
ungläubigen  Gegner  schon  sicher  zu  fühlen  anfängt,  wenn 
er  sie  unter  Vorführung  eines  überreichen  Beweismaterials 
aus  Moses  und  den  Propheten  von  der  Existenz  eines 
zweiten  Gottes  und  dessen  Identität  mit  dem  Christ  über- 
zeugt zu  haben  glaubt;  dann  vernichtet  Tryphon  alle  seine 
Hoffnungen  mit  dem  einen  Worte: 

»Euch,  die  ihr  aus  den  Heiden  kommt,  mag  er  immer- 
hin Herr,  Christus  und  offenbarter  Gott  sein  nach  den  An- 
deutungen der  Schrift,  da  ihr  euch  nach  seinem  Namen 
Christen  nennen  müßt.  Wir  aber,  die  wir  Diener  des  Gottes 
sind,  der  ihn  geschaffen,  wir  bedürfen  seiner  nicht,  weder 
inbezug  auf  das  Bekenntnis,  noch  inbezug  auf  die  An- 
betung«2). 

Überhaupt  war  es  für  Tryphon  und  seine  Freunde 
eine  feststehende  Tatsache,  daß  der  Messias  noch  nicht  er- 
schienen und  die  Diskussion,  in  die  sie  mit  Justin  ge- 
treten, war  von  ihnen  von  vornherein  als  eine  rein  aka- 
demische   gedacht.    Sie,   die   wie  das   gesamte  nationalge- 

»)  Dial.  c.  89. 
*,  Dial.  c.  64 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  577 

sinnte,  der  Christusbewegung  ferngebliebene  Judentum  in 
der  unerschütterlichen  Überzeugung  lebten,  der  Messias 
werde  erst  dann  kommen,  wenn,  wie  der  Prophet  Maleachi 
es  verkündet,  vorher  der  Prophet  Eliah  erscheinen  werde, 
um  seine  Ankunft  vorzubereiten,  sie  wußten  schon  vor  der 
Eröffnung  der  Unterhaltung  mit  Justin,  daß  sie  sich  —  wie 
dies  ja  auch  der  Ausgang  der  Diskussion  klar  beweist 
—  niemals  zu  seinen  Lehren  bekehren  werden.  Die  pro- 
phetische Überlieferung,  nach  welcher  Eliah  vor  Anbruch 
des  »großen  und  furchtbaren  Tages«  kommen  werde,  um 
dem  Messias  den  Weg  zu  bereiten,  war  im  Zeitalter  Jesu 
so  landläufig,  daß  selbst  Jesus  nach  den  Evangelien  ge- 
legentlich einer  diesbezüglichen  Interpellation  seiner  Jünger 
auf  dieselbe  Rücksicht  nehmen  mußte  und  sich  zu  der  Er- 
klärung gedrängt  sah:  Eliah  sei  bereits  erschienen,  ohne 
erkannt  worden  zu  sein,  und  zwar  in  der  Person  des  Täufers 
Johannes.  Darum  erklärt  denn  auch  Tryphon  wiederholt,  er 
könne  nimmer  glauben,  daß  der  Messias  bereits  erschienen 
sei,  da  Eliah  noch  nicht  gekommen.  »Wenn  aber,«  sagt  er, 
»Christus  geboren  ist  und  irgendwo  sich  befindet,  so  ist  er 
ungekannt,  ja  er  kennt  sich  nicht  einmal  selber  und  hat 
keine  Macht,  bis  Eliah  kommen  und  ihn  öffentlich  bekannt 
machen  wird.  Ihr  aber,  die  ihr  einem  leeren  Gerüchte 
folgt,  bildet  euch  selbst  einen  Christus»1). 
Und  ein  andermal:  »Weil  aber  Eliah  noch  nicht  gekommen 
ist,  so  glaube  ich  auch  nicht,  daß  Jesus  der  Christ  ist«1). 
Die  Kontroverse  zwischen  Justin  und  Tryphon  mußte 
unfruchtbar  verlaufen,  da  die  streitenden  Parteien  sich  nie 
und  nimmer  verstehen  und  verständigen  konnten.  Auf  der 
einen  Seite  ein  von  schwärmerischer  Begeisterung  für  den 
fleischgewordenen  Gott  Logos  erfüllter  heidnischer  Christ, 
auf  der  andern  ein  nüchterner  und  starrer  Monotheist,  den 
die  Vorstellung   von    einem  Gottmenschen  eine  frevle 

')  Dial.  c.  8. 
*)  Dial.  c.  49. 

Monatsschrift.  65.  Jahrgang.  37 


578  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

Gotteslästerung  dünkte.  Wären  Tryphon  und  seine  Ge- 
nossen pharisäische  Juden  gewesen  und  nicht  griechische, 
die  gern  jeden  Anlaß  ergriffen,  der  zu  spielend  dahin- 
fließenden Reden  und  Gegenreden  Gelegenheit  bot«1),  sie 
hätten  sich  nimmer  in  einen  Streit  über  den  »Sohn  Gottes» 
eingelassen.  »Kein  Jude«  —  sagt  Origenes,  der  hier  nur 
das  pharisäische  Judentum  im  Auge  hat  —  »kein  Jude 
gibt  zu,  daß  einer  der  Propheten  geweissagt  habe,  der 
Sohn  Gottes  werde  kommen;  nur  das  gestehen  sie,  daß 
die  Propheten  die  Ankunft  des  Messias  Gottes  verkündet 
haben.  Und  daher  fragen  sie  gleich,  wenn  sie  sich 
mit  uns  einlassen,  was  das  für  ein  Sohn  Gottes  sei,  als 
ob  die  Propheten  niemals  eines  solchen  erwähnt  hätten«8). 
Daß  das  jüdische  Volk  einen  »im  höchsten  Glänze 
erscheinenden  Menschensohn«  erwarte,  der  ein  ewiges 
Reich  bekommen  werde,  gibt  Tryphon  bereitwilligst  zu ; 
daß  dieser  aber  ein  Gottessohn,  wie  Justin  und  seine 
Kirche  ihn  darstellen,  sein  werde,  daß  weist  er  mit  aller 
Entschiedenheit  zurück.  »Ihr  solltet  euch  schämen«,  sagt 
er  entrüstet,  »fabelhafte  Dinge  wie  die  Griechen  zu  lehren' 
und  lieber  sagen,  euer  Jesus  sei  als  Mensch  von 
Menschen  gezeugt  worden,  wenn  ihr  uns  aber  aus 
der  Schrift  beweisen  wollt,  daß  er  in  Wahrheit  Christus 
sei,    so    solltet    ihr    lieber    sagen:    er   sei    durch    einen 

l)  Das  zeigt  auch  in  vollem  Maße  der  Ein-  und  Ausgang  des 
Dialogs.  An  seinem  Schlüsse  äußert  sich  Tryphon  über  das  Ge- 
samtergebnis der  Unterhaltung,  wie  folgt:  »Du  siehst  nun,  daß  wir 
uns  keine  besondere  Mühe  gegeben  .haben,  dich  zu 
widerlegen.  Ich  bekenne,  daß  ich  viel  Vergnügen  an  diesem 
Gespräch  hatte,  und  ich  glaube,  daß  auch  diese  (seine  Genossen)  mit 
mir  übereinstimmen.  Denn  wir  haben  mehr  gefunden  als  wir  er- 
warteten und  als  zu  erwarten  möglich  war.  Wenn  wir  öfter  derartige 
Gelegenheit  hätten,  würden  wir  mehr  Nutzen  aus  der  Erforschung 
dt  s  Wortes  ziehen.  Da  du  aber  im  Begriffe  stehst,  dich  zu  verab- 
.hieden,  so  unterlasse  es  nicht,  dich  künftig  zu  erinnern,  daß  du  hier 
reunde  zurückgelassen.« 

»)  Orfg.  c.  Cels.  I,  49. 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  579 

gesetzmäßigen  und  frommen  Wandel  würdig 
geworden,  zum  Christus  erklärt  zu  werden  und 
euch  nicht  erdreisten,  so  abenteuerliche  Lehren  vorzu- 
tragen«1). 

Tryphon  und  seine  Genossen  sind  griechische  Dias- 
porajuden, die,  wie  bereits  angedeutet,  weit  näher  als 
dem  pharisäischen  Judentum  dem  nazaräischen  Christen- 
tum stehen.  Mit  diesem,  dem  sie  ein  sichtliches  Interesse 
entgegenbrachten,  konnten  sie  sich  schließlich  verständigen, 
da  sie  einen  Christus,  wie  er  in  der  Vorstellung  der  naza- 
räischen Gemeinde  Jesu  lebte,  gern  gelten  lassen  wollten. 
»Mir  scheint«  —  sagt  Justin  zu  Tryphon  —  »die  Meinung 
derjenigen  richtiger,  welche  lehren,  Jesus  sei  als  Mensch 
vorzugsweise  gesalbt  und  Christus  geworden,  als  derjenigen, 
die  deine  Anschauungen  teilen.  Wir  alle  erwarten,  daß 
Christus  als  Mensch  von  Menschen  gezeugt 
kommen  und  von  Eliah  gesalbt  werden  wird.  Wenn  nun 
dieser  der  Christ  sein  soll,  dann  müssen  wir  allerdings 
vorerst  wissen,  ob  er  als  Mensch  von  Menschen 
gezeugt  wurd e«2). 

Daß  Tryphon  ein  gewisses  Interesse  dem  Nazaräismus 
entgegenbringt,  lehrt  schon  der  Umstand,  daß  er  seinen 
Gegner  ein  und  das  andermal  darüber  ausholt,  wie  er  über 
diejenigen  denke,  die  Jesus  als  einen  Messias  anerkennen, 
dabei  aber  nationaljüdische  Gebräuche,  wie  Beschneidung, 
Sabbathe  und  Festtage  beobachten.  Justin  antwortet  zu- 
nächst ausweichend  und  zögernd.  Erst  als  Tryphon  die 
Frage  wiederholt:  »wenn  jemand,  der  Jesum  als  den  Christ 
anerkennt  und  an  ihn  glaubt,  aber  dabei  nach  wie  vor 
mosaische  Verordnungen  beobachten  wollte,  würde  er  selig 
werden?«8)  rückt  Justin  mit  folgender  das  Verhältnis  des 
heidnischen    zum    nazaräischen    Christentum    jener   frühen 

x)  Dial.  c.  67:  ...  yXkv.  {xyi  Tsp<XToXoYS?v  xolu.y.xz. 
»)  Dial.  c.  49 
8)  Dial.  c.  46,  47. 

37* 


580  Die  Wortführer   des  Judentums  in  den  älteren 

Zeit,  und  umgekehrt  scharf  beleuchtenden  Antwort  heraus: 
»Nach  meinem  Bedünken  wird  ein  solcher  selig,  wofern  er 
nicht   andere,    will    sagen,    diejenigen,    die    durch  Christus 
von  dem  Irrtum  beschnitten  wurden,    verhalten  will,  diese 
Gesetze  zu  beobachten,  vorgebend,  man  könne  sonst  nicht 
selig   werden.«    —    Darauf   Tryphon :    »Warum    sagst  du : 
nach  meinem  Bedünken  wird  ein  solcher  selig?  Gibt 
es  denn  Leute,  die  behaupten,  er  könne  nicht  selig  werden?« 
>Allerdings«,    erwiderte  Justin,    »gibt  es  solche,   und  diese 
meiden  sogar  ihren  Umgang   und  würden  sie  nicht  beher- 
bergen. Diesen  aber  kann  ich  nicht  zustimmen.    —    Wenn 
nun  diese,    von    denen  vorhin    die  Rede    war,    wegen    der 
Schwachheit  ihrer  Erkenntnis  auch  neben  der  Hoffnung, 
die    sie    in  Christus  haben,  und    der  Erfüllung  der  ewigen 
Pflichten  der  Gerechtigkeit  und  Frömmigkeit  auch  die  von 
Moses  wegen  des  Volkes  Sinnlichkeit  eingeführten  Satzun- 
gen,   soweit    sie    noch    beobachtet    werden    können,    wie 
Sabbath  und  andere  Bräuche,   halten  wollen  und  den  Um- 
gang   mit   den  gläubigen  Christen  pflegen,    ohne  sie  über- 
reden   zu  wollen,    daß    sie    sich   beschneiden    müssen;    so 
halte  ich  dafür,  daß  sie  in  die  Gemeinschaft  aufgenommen 
und    als    Glieder    und    Brüder    angesehen    werden    sollen. 
Gibt    es  aber  aus  eurem  Volke,   die    an  Christus  glauben, 
die  aber  die  Christgläubigen  aus  dem  Heidentum  durchaus 
bestimmen  wollen,  ihr  Leben  nach  den  Vorschriften  Mosis 
einzurichten  und  sie  im  Weigerungsfalle  aus  ihrer  Gemein- 
schaft ausschließen,  so  kann  ich  ihnen  nicht  beistimmen«1). 
Sosehr  Tryphon    sich  gegen    die  Christologie  Justins 
wehrt,  so  scharf  er  sie  verurteilt,  er  bekundet  auf  der  an- 
deren   Seite    ein    lebhaftes    Interesse    für    das    nazaräische 
Christentum,  das  noch  bis  tief  ins  zweite  Jahrhundert  viel 
Werbekraft,  allerdings  zumeist  auf  jüdische  Kreise,  ausübt. 
Denn  dieses  Christentum  ist  es,  über  welches  hier  zwischen 
Tryphon  und  Justin  verhandelt  wird.    Diesem  erkennt  der 

»)  Dial.  c.  47. 


Kontroversen  zwischen  Juden  nnd  Christen.  581 

erstere  Existenzberechtigung  zu,  läßt  der  letztere  —  im 
Gegensatz  zu  der  jetzt  herrschend  werdenden  allgemeinen 
Kirche  —  noch   eine  gewisse  Toleranz  angedeihen. 

Von  den  christlichen  Nazaräern  wissen  wir,  daß  sie 
Juden  von  Geburt  und  bewandert  im  alttestamentlichen 
Schrifttum  waren,  daß  bei  ihnen  Gesetz  und  Propheten  und 
Hagiographen  im  hebräischen  Urtext  gelesen  wurden,  und 
daß  sie  sich  überhaupt  bloß  darin  von  den  Juden  unter- 
schieden, daß  sie  an  Christus  glaubten,  von  den  Christen 
aber  darin,  daß  sie  jüdisch  lebten  und  durch  Beobachtung 
der  Sabbathe  und  anderer  gesetzlicher  Vorschriften  an  das 
Gesetz  noch  gebunden  waren1). 

Von  den  Ebioniten,  einer  Abzweigung  der  Nazaräer, 
berichtet  Eusebius:  »Die  Alten  nannten  sie  mit  einem  be- 
sonderen Namen  Ebionäer,  weil  sie  geringe  und  arm- 
selige Vorstellungen  von  Christus  hatten.  Sie  hielten 
ihn  nämlich  bloß  für  einen  gewöhnlichen  Men- 
schen, der  nur  wegen  seiner  sittlichen  Voll- 
kommenheit für  gerecht  erklärt  worden  und 
im  übrigen  die  Frucht  des  Umganges  eines 
Mannes  mit  Maria  sei.  Nach  ihrer  Ansicht  war 
die  Beobachtung  des  Gesetzes  unerläßlich, 
da  man  nicht  durch  den  bloßen  Glauben  an 
Christus  und  durch  Einrichtung  des  Lebens- 
wandels nach  seiner  Lehre  die  Seligkeit  er- 
langen könne.  Andere  gleichen  Namens  vermieden 
zwar  die  widersinnige  Ungereimtheit,  die  Geburt  des  Herrn 
von  einer  Jungfrau  und  dem  heiligen  Geist  zu  leugnen, 
gaben  aber  dennoch  nicht  zu,  daß  er  vorher  existiert  habe, 
daß  er  der  Logos  Gott  und  die  persönliche  Weisheit  sei 
und  hegten  sonach  dieselbe  falsche  Ansicht  wie  die  erste- 
ren,  insbesondere,  da  auch  sie  auf  dieselbe  Art,  wie  jene, 
den  fleischlichen  Zeremonien  des  Gesetzes 
nachzukommen  sich  bestrebten.  Den  Sabbath  und 


»)  Vgl.  Epiph.  Haer.  XXIX,  7. 


582  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

die  sonstige  jüdische  Lebensweise  behielten  sie  wie  jene 
bei,  doch  feierten  sie  auch  den  Sonntag  wie  die  allgemeine 
Kirche  zur  Erinnerung  an  die  Auferstehung  Jesu.  Das  war 
die  Ursache,  warum  sie  den  Beinamen  Ebionäer  erhielten, 
der  die  Dürftigkeit  ihrer  Erkenntnis  anzeigt.  So  nämlich 
heißt  der  Dürftige  auf  Hebräisch«1). 

Das  ist  nun  dasselbe  Christentum,  an  welchem  der 
aus  dem  Heidentum  kommende  Justin,  der  Christ  im  Phi- 
losophenmantel, »Schwachheit  der  Erkenntnis«  bemängelt2), 
da  es  neben  dem  Glauben  an  den  Messias  noch  an  ge- 
wissen, »wegen  der  Sinnlichkeit  des  Volkes«  eingeführten 
mosaischen  Satzungen  hänge.  Und  diesem  selben  jüdischen 
Christentum  redet  Tryphon  das  Wort,  durchschimmern 
lassend,  daß  eine  Verständigung  mit  demselben  nicht  aus- 
geschlossen sei.  Daß  aber  eine  solche  in  der  Folge  völlig 
unmöglich  geworden,  das  hat  die  Großkirche  verschuldet, 
die,  zur  Herrschaft  gelangt,  die  Wege  der  antinomistischen 
Gnosis  wandelte,  deren  Christus,  den  Gott  Logos,  zu  dem 
ihrigen  machte,  das  Gesetz  verwarf  und  unbedingte  Unter- 
werfung unter  ihre  Dogmen  verlangte,  jede  andere  An- 
schauung verketzernd. 

Wie  man  sieht,  bewegt  sich  der  ganze  Streit  in  un- 
serem Dialog  fast  ausschließlich  um  das  Christusproblem, 
wobei  auch  über  das  Gesetz  und  über  die  Frage  der  weiteren 
Giltigkeit  desselben  verhandelt  wird.  Von  dem  Wesen  des 
Evangeliums  selbst  aber,  von  dessen  innerem  Werte  ist 
kaum  die  Rede.  Nur  einmal,  und  zwar  zu  Beginn  seiner 
Unterhaltung  mit  Justin,  kommt  Tryphon  selber  darauf  zu 
sprechen.  Allein  so  vorübergehend  und  flüchtig  dies  ge- 
schieht, seine  Äußerung  ist  bedeutsam  genug,  um  eine 
nähere  Beleuchtung  zu  verdienen. 

»Ich  habe«,  sagt  er  zu  Justin,  »es  mir  angelegen  sein 

»)  Euseb.  Hist.  EccI.  III,  27. 

»)  Dial.  c.  47;  xo  ädä-evs?  tyjc  Y^wf///];» 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  583 

lassen,  euer  sogenanntes  Evangelium  kennen  zu  lernen. 
Was  ich  jedoch  darin  fand,  scheint  mir  zu  groß  und 
wunderbar,  als  daß  ich  es  für  möglich  hielte, 
darnach  leben  zu  können«1). 

Es  ist  gar  sehr  bedauerlich,  daß  Justin,  der  sonst  mit 
so  breitem  Behagen,  auf  alle,  selbst  die  unbedeutendsten 
Einwendungen  Tryphons  eingeht  und  vielfach  ganz  über- 
flüssig sich  der  denkbarsten  Ausführlichkeit  befleißigt,  gerade 
auf  dieses  für  ihn  so  wertvolle  Zugeständnis  des  Juden 
Tryphon  mit  keinem  Worte  reagiert,  und  andererseits  kein 
Bedürfnis  empfindet,  den  Vorwurf  der  Unbrauchbarkeit  des 
Evangeliums  abzuwehren.  Denn  dieses  Urteil  aus  dem 
Munde  eines  Alltagsphilosophen  von  der  Qualität  eines 
Tryphon,  der  von  der  Religion  verlangt,  daß  sie  haupt- 
sächlich auf  das  Praktische  gerichtet  sei  und  Vorschriften 
und  Lehren  enthalte,  die  restlos  ausgeführt  und  beobachtet 
werden  können,  involviert,  so  anerkennend  es  auf  der  einen 
Seite  klingt,  zugleich  einen  schweren  Tadel.  Es  will  damit 
gesagt  sein:  das  erhabenste  Ideal  sei  unnütz,  wenn  es  un- 
erreichbar. Justin,  wie  gesagt,  überhört  beides:  das  Lob  und 
den  Tadel.  Wir  aber  würden  gern  erfahren  haben,  wie 
damals  die  große  Menge  der  unbefriedigt  aus  den  Philo- 
sophenschulen gekommenen  und  auf  das  Christentum  ge- 
ratenen Heiden,  die  dessen  Ausbreitung  so  ungemein  in 
der  heidnischen  Welt  gefördert  haben,  gerade  über  diesen 
so  bedeutsamen  Punkt  gedacht,  wie  sie  dem  Einwand:  dem 
Evangelium  hafte  der  große  Mangel  der  Unfruchtbarkeit 
seiner  Lehren  an,  begegneten.  Allein  Justin,  der  soviel 
Worte  über  die  Außenseite  des  Mosaismus  macht,  den  er 
als  zeitlich  überwunden  hinstellt,  ohne  nach  dem  Beispiele 
Jesu  in  dessen  Inneres:  in  »das  Schwerste  im  Gesetz«, 
eindringen    zu  können;    der   tiefere  Sinn    des  Evangeliums 

l)  Dial.  c.  10:  <V(/.wv  Si    jc&i    tx  sv  tw  "ksyo[i£vo)    süaL'ffs'kfa 


584  Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  ältesten 

hat  sich  ihm  ebensowenig  erschlossen,  er  würde  sich  sonst 
eine  so  einzige  Gelegenheit,  über  den  Juden  zu  triumphieren, 
wie  das  überaus  wichtige  Zugeständnis  Tryphons  sie  bot, 
nicht  haben  entgehen  lassen. 

Daß  ein  Dutzendphilosoph,  wieTryphon,  dem  Evangelium 
Jesu  bei  aller  Anerkennung  seiner  Vorzüge  die  praktische 
Durchführbarkeit  abspricht,  da  es  ja  einen  bis  zur  Selbst- 
aufhebung führenden  Altruismus  predigt,  darf  nicht  befrem- 
den. Ähnlich  wie  er,  urteilten  vor  ihm  schon  weit  tiefer  und 
religiöser  angelegte  Juden,  die  überdies  den  großen  Vorzug 
genossen,  unmittelbare  Jünger  Jesu  zu  sein  und  den 
Kommentar  zu  seinem  Evangelium  aus  des  Meisters  eigenem 
Munde  zu  vernehmen.  Man  erinnere  sich  nur  an  den  reichen 
Jüngling,  der  mit  der  Frage  an  Jesus  herantritt,  was  ihm, 
der  das  ganze  Gesetz  beobachtet  habe,  noch  zu  tun  übrig 
bleibe,  um  des  ewigen  Lebens  teilhaftig  zu  werden  ?  Auf 
die  Antwort  Jesu :  »wenn  du  vollkommen  sein  willst, 
so  gehe  hin,  verkaufe  was  du  hast  und  gib  es  den  Armen, 
so  wirst  du  einen  Schatz  im  Himmel  haben  —  und  komm 
und  folge  mir,«  geht  der  Jüngling  betrübt  von  dannen.  Aber 
auch  die  Jünger  Jesu,  da  sie  diese  Worte  vernahmen,  »ent- 
setzten sich  sehr  und  sprachen,  ja,  wer  kann  selig  werden?« 
Wenn  solches  nun  am  grünen  Holze  geschah,  was  sollte 
man  vom  dürren  erwarten?  Daß  nun  Tryphon  sich  für  ein 
unerreichbares  Ideal,  welches  nach  seiner  Auffassung  den 
Menschen  zum  Tantalus  machen  müsse,  nicht  sonderlich 
erwärmen  konnte,  ist  leicht  begreiflich.  Daß  aber  ein 
apostolischer  Lehrer  wie  Justin,  der  durch  sämtliche  Philo- 
sophenschulen gegangen,  ohne  seinen  Durst  nach  religiöser 
Offenbarung  stillen  zu  können,  bis  er  schließlich  in  den 
windstillen  Hafen  des  Christentums  einlief  und  sich  dem- 
selben in  schwärmerischer  Begeisterung  hingab,  sich  stets 
nur  auf  der  Oberfläche  der  evanglischen  Erkenntnis  bewegte, 
sich  nicht  klar  werdend  über  die  wahre  Bedeutung  seines 
Ideals,  für  welches  er  lebt,    wirbt  und  stirbt,    sich  niemals 


Kontroversen  zwischen  Juden  und  Christen.  585 

zu  der  Erkenntnis  emporringend,  daß  die  hohen  For- 
derungen des  Evangeliums  nur  für  die  nach  Voll- 
kommenheit strebenden  aufgestellt  wurde,  um  das 
Streben,  demselben  nachzueifern,  zu  verewigen:  das  ist 
jedenfalls  bezeichnend  genug.  Der  Umstand,  daß  selbst  die 
Säulen  der  Kirche  jener  Zeit  —  und  Justin  war  eine  der 
hervorragendsten  —  in  die  Tiefe  der  Botschaft  Jesu  nicht 
einzudringen  vermochten  und  ihr  ganzes  Denken  und 
Fühlen  an  die  Vergöttlichung  des  Christ  festankerten,  zeigt 
uns,  wie  überdrüssig  man  in  diesen  Kreisen  der  alten 
Götter  und  der  philosophischen  Spekulation  und  wie  er- 
lösungsbedürftig man  geworden,  so  daß  man  mit  sehn- 
suchtsvoller Hast  neuen,  wenn  auch  nur  halbverstandenen 
Idealen  zujubelte. 


* 


Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

Von  I.  Elbogren. 

(Schluß.) 

5)  Für  Schemini  Azeret. 

Bodl.  Hebr.  e  34  (2716),  no.  23. 

Cat.  col.  128. 

fol.  63  a1). 

m«*  ^otp  s]Dio  5 

ffxw  inr  dv  biv  Tay  hmwz  mna  nn« 
Pianna  aaipm  amn  »jiA  cr'jm  ptrS  ^>aa  rrm 
nnim  onr  d»bc»b  or6  */ini  td  "in  ma*ao 
m«n  oriK  ne*ir  wk  o»aio  nutoi  o'pin  na« 
ohjnö  nan«a  i:^n:m  u*nb«  »*'  i^>  »nm  ona  »m  10 
'rat?  ov»  n«  nrn  enp  mpa  dt  n«  nne«*^ 
imi/ia  'naa  ppia  pip  ia  anpn^  n?n  m^j? 
ba  aa^  rwui  m»  »rö«»n  (2ara 
n^j*  onaipm  wyn  »b  may  na*6a 
in«  fr«  in«  id  v,^>  nm  rm  ne*«  15 
anruai  ♦D»o*on  nyae»  n:&»  'ja  an?aa 
fol.  63  b. 
ttatyaa  an-aaaa  a*traa^i  b**h  ^b  onawi 
nnruai  rem  r^y  na^a  in«  romn  vyen 
aanua  nab  oanyma  v>^>  ltryn  nb»  •  naoai 
oa'aa^i  Damruö^i  aa/ii^iy^  oama"r:i 
^aa  ^«1»^  »33  ba  nt»a  ibr'i  •  oa^tp^i    5 
irr6x  •  ntra  n«  ,"'  mit  ib>k 


')  Die  Paginierung   muß    in   der    hier  angegebenen  Weise  ge- 
ändert werden. 

»)  Num.  29,  35-30,  1. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  587 

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I^m  -jsriK  -jry  ^*ntr>  n»a  ■pp  p»  15 
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fei.  61  a. 

nm  enp  *opa  ava  can^i  naio^  ■psfe 
uvi^k  *"  nawfe  ia  inar  nrn  maty  »a*a»  Dva 
»'»  nn«  nom  U3^a  B'ambi  naia^  u  mpa 
i:jr«nni  wbv  an-n  ^am  ^n  nrvn  pn  irrigst 
u*ry  i»^»  'a  unna»  i^  mim  u'jjn  warn    5 
nK-ipj  -p3b  nnx  amn  pan  ^»«  *a 
jnsey  »raw  ar  nrn  «np  *npa  av  »m 
(l,yw^  »kii  rt^nn  unrot  boV  ppi  sjib  nrn 
mt>»*»  "pjna  nana  n«  un^s*  »•»  uKnpm 
i>KW3  »3  rfto  i»i3/i  p  n»ani  rna«  nt^sa  10 
n«  i'JB^  ntyyai  nerrp  iani«i  mna  -py 
"  «  2  s]b*b  yanpi  bv  'Tan  irmam 
nyiai  ma#  *3*E8>  an  $>kw  «hdb 
ttnp  »jnpöi  B*3Brm  nnatr 

fol.  63  a. 

mary  »ra»  an  ne>Tp  iuvki  mna  Tay    1 
»'»  nns  'a  ur6nan  nnetpi  nanKB  nrn 
nnaty  *nHpi  maip  tbäh  ^xit"  trnpa 
Wnb$  *''  nan         »Tp  'Kipai  a'aarni 
Aus  diesen  Texten  gewinnen  wir  eine  Fülle  von  Ein- 
blicken in  die  Entwicklung  der  Festtagstefilla. 

!)  Hier  fehlt  die  Beziehung  auf  die  Wallfahrt,  vgl.  oben  S.  429 
ist  das  Absicht  oder  Versehen? 


588  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

A)  1.  Die  Introduktion  des  mittleren  Stückes  lautet 
nicht  u/nna  n/iK,  wie  b.  Joma  87  b,  sondern  beginnt  in  allen 
obigen  Texten  mit  [n]/nna  nun.  Das  Stück  verdient  vor 
dem  üblichen  in  mehr  als  einer  Beziehung  den  Vorzug. 
Es  ist  zwar  wortreicher,  aber  auch  inhaltsreicher,  es 
knüpft  die  Erzählung  an  die  Offenbarung  an,  geht  ohne  die 
vielen  Tautologien  auf  das  Ziel  los.  Die  Form  ist  hymnisch 
feierlich.  Von  bekannten  Gebeten  wäre  etwa  das  jvis  TWth 
im  Sabbatmußaf  des  seph.  Ritus  zum  Vergleich  heranzuziehen. 

2.  "üb  jnm,  das  sich  hier  inhaltlich  weit  besser  an  die 
vorhergehenden  Sätze  anschließt,  vermeidet  ebenfalls  hinter 
nnar^  Dnjna  das  Parallelglied  cpmfe  d»jsii  D'jn),  gibt  aber 
dafür  den  Festtag  genau  mit  den  Worten  von  M.  Sofrim  an: 
tnpD^i  y®  di^i  Tmcwb  nrn  rosten  [jn]  dv  n«  nm  trnp  tnpa  dv  /ik 
BHp£(S.  442),  nrn  D^iwn  diu  dt  nrn  tsnp  *opa  or  (S.  434), 
ron  roaon  jn  dt  nrn  t>np  tnpa  dv  (S.  444),  m  nrn  rnp  «ipa  dt  n« 
«np  sipa^i  2W  Di'bi  nnatr^  nrn  masy  >row  dt  (S.  436).  Auch 
für  die  Mittelf eiertage  ist  die  Bezeichnung  korrekt:  jn  njna 
roaan1)  (S.  441;,  roawi  in  nyia  (S.  446). 

3.  Ganz  neu  und  eigenartig  ist  die  biblische  Begrün- 
dung, die  an  Mb  j/i/n  anschließt.  Zunächst  nrnina  ainaa  mit 
Versen,  die  aus  dem  Abschnitt  über  die  Feste,  Lev.  Kap.  23, 
d.  h.  der  alten  Toravorlesung  für  die  Feste  entnommen  sind, 
(Megilla  IV).  Das  ist  der  Punkt,  bei  dem  wir  einen  Text  für 
das  Wochenfest  am  schmerzlichsten  vermissen  werden;  wir 
würden  gern  erfahren,  welches  Stück  für  das  Wochenfest 
verwendet  wurde,  ob  man  beim  Fehlen  passender  Verse 
in  Lev.  23  auch  hier,  wie  bei  der  Toravorlesung,  zu  rW3W 
ropav  Deut.  16,  9  seine  Zuflucht  nahm.  An  die  Pentateuch- 
verse  schließen  sich  nun  andere  aus  den  Propheten  und 
Hagiographen  an,  wie  es  sonst  lediglich  von  der  Mußaf- 
tefilla  für  den  Neujahrstag  bekannt  ist.  Freilich  belegt  sind 
die  Verse  nur  für  Schemini  Azereth,  aber  zweifellos  haben 

i)  Der  Text  stimmt  mit  der  Münchener  Handschrift  von  Sofrim 
überein,  vgl.  Müller,  S.  265,  N.  12. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  589 

wir  die  Ursache  nur  in  dem  fragmentarischen  Charakter 
unserer  Handschriften  zu  suchen;  denn  es  ist  nicht  einzu- 
sehen, weshalb  das,  was  drei  verschiedene  Handschriften 
für  ein  Fest  bieten,  bei  der  sonstigen  Übereinstimmung 
nicht  auch  für  die  anderen  Feste  gelten  soll. 

4.  Auf  die  Verse  folgt  die  Bitte  "jma^D  ma  76:  K"ik 
wiederum  wortgetreu  nach  M.  Sofrim,  alle  Verbesserungs- 
vorschläge werden  hinfällig.  Die  Fassung  von  rhi  ist  die 
aus  ir«on  »aeoi  bekannte,  allerdings  mit  zwei  Varianten,  die 
religionsgeschichtlich  von  höchster  Wichtigkeit  sind.  Der 
Gedanke  des  Gottesreiches  tritt  in  den  Handschriften 
weit  kraftvoller  hervor;  am  Anfang  fügen  sie  ipy  btir\vr>  bv  "p^a 
hinzu  und  am  Schlüsse  den  universalistischen  Satz  i-iüK'i 
rfotm  baa  l/na^ai  -j^a  [nty»*n^«]  n  -|wa,  den  wir  bisher  als 
Eigentümlichkeit  der  Tefilla  für  das  Neujahrsfest  zu  be- 
trachten pflegten,  der  aber  hier  an  allen  Festtagen  wieder- 
kehrt. Der  Zweck  der  Sammlung  der  Zerstreuten  ist  nach 
diesen  Texten  nicht  die  Wiederherstellung  der  Opfer,  son- 
dern die  Errichtung  des  Gottesreiches  auf  Erden. 

5.  Auch  die  Einleitung  zu  «a'i  nbw  stimmt  in  den 
Handschriften  genau  mit  den  Angaben  von  M.  Sofrim  kjk 
lrn^K  "r.  Das  Stück  selbst  zeigt  einige  Varianten  gegenüber 
der  bekannten  Fassung,  Kürzungen  und  Erweiterungen,  die 
darauf  schließen  lassen,  daß  der  gemeinsame  ursprüngliche 
Wortlaut  wesentlich  einfacher  war.  Der  Abschluß  p:n  bx  »a 
nxy:  "pa^>  PllW  mrni  ist  nicht  völlig  unbekannt,  wir  finden 
ihn,  wenigstens  als  Variante,  im  Machsor  Romania  ebenfalls 
für  die  Festtagstefilla.  Den  daran  anschließenden  Satz  mit 
der  Bitte  unjw^  tswii  nbnn  tt*/im  bA  ppi  fjid  .  .  ♦  dv  »n*i  hat 
außerdem  auch  der  seph.  Ritus  im  Mußaf  für  den  Neumonds- 
tag. Es  ist  ganz  seltsam,  wie  mitunter  einzelne  Sätze  der 
Gebete  versprengt  wurden1). 

i)  Das  Mußaf  für  den  Neumond  hat  in  den  Handschriften  der 
Qenisah  ebenfalls  die  hier  beschriebene  Form;  das  soll  ein  aadermal 
näher  ausgeführt  werden. 


590  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

6.  usw.Ti  stimmt  im  Wortlaut  am  besten  zu  der  Fas- 
sung des  italienischen  Ritus,  nur  daß  es  dort  ud-ü^  jvmi 
heißt.  Zu  beachten  ist  wiederum,  daß  "pmifoa  uwip  gänzlich 
fehlt  und  nur  ein  kurzer  Abschluß  mns  *pp  ^Kie^  »3  ähnlich 
wie  beim  Kiddusch  folgt.  Die  Eulogie  nmai  jm  bir\w  EHpc 
tJHp  »tnpoi  D'jorm  nratr  (S.  438),  ennoi  D^tr  tk*ii  'ir  tjnpa 
nnat?  nmai  nynn  pian  D'at?  (S.  434  f.)  usw.,  dv  r«i  n»»  unpo 
ntn  ppn  nn^D  er  n«  nrfi  tmsiil  oist  (S.  443)  usw.  rechtfertigt 
wiederum  die  Angabe  in  Mas.  Sofrim  für  alle  Feste;  wenn 
es  einmal  (S.  444)  heißt  D'^nm  D'iöTni,  so  ist  das  entweder 
Willkür  des  Abschreibers  oder  eine  lokale  Abweichung. 

UK'iPni  finden  wir  in  unseren  Texten  zu  allen  Festen 
ohne  Ausnahme,  auch  für  Jörn  Kippur,  wie  es  ja  nach 
M.  Sofrim  zu  erwarten  war  und  sich  auch  aus  Amram  belegen 
läßt.  Es  soll  hier  auf  die  Geschichte  der  Neujahrsgebete 
nicht  näher  eingegangen  werden;  bemerkt  sei  nur,  daß  die 
hier  verwerteten  Fragmente  sich  in  nichts  von  denen  der 
anderen  Feste  unterscheiden,  die  Einschaltung  "iror,  auch  den 
Brauch  von  -pne  jn  jMi,  zum  mindesten  im  Gebet  des  Ein- 
zelnen, nicht  kennen.  Auch  darauf  muß  hingewiesen  werden, 
daß  in  allen  Fragmenten  mit  jnm  nr\X  die  vom  babyloni- 
schen Talmud  (Ber.  12b)  verbotene  Eulcgie  trvipn  bmn 
sich  findet,  mehrmals  in  Verbindung  damit  das  nur  aus 
jer.  Rosch  ha-Schana  IV,  6  bekannte  rcnbsn  IHK1). 

B)  Betrachten  wir  die  Mußaftefilla,  so  müssen  wir 
zunächst  konstatieren,  daß  die  Struktur  genau  die  glei- 
che ist  wie  die  der  anderen  Tefilloth;  die  Elemente,  aus 
denen  sie  sich  zusammensetzt,  sind  nicht  verschieden.  Der 
hauptsächlichste  Unterschied,  der  durch  die  Bestimmung 
dieser  Tefilla  bedingt  ist,  findet  sich  am  Anfang  und  am 
Ende.  In  )ib  jnm  finden  wir  nach  dem  Namen  des  Festes 
den  Zweck  angegeben  pjdiö  py  12  a^ipffy  und  nun  folgen 
als  Begründung    naturgemäß    die  Verse   aus  Num.  28  und 

x)  Vgl.  Riv.  Isr.  IV,  1907,  S.  189;  vgl.  auch  den  persischen  Ritus, 
QR.  X,  S.  656. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  591 

29  mit  den  Opfervorschriften.  Zu  beachten  ist,  daß  die  Verse 
wortgetreu  folgen,  nicht  überarbeitet,  wie  z.  B.  o/iruo 
13103  onODii,  das  in  allen  Riten  üblich  ist.  Am  Schluß  wiederum 
finden  wir  den  Satz  p*ipi  Di'  'Ton  irriiain  dk  yiüb  n»jw 
*|Diö.  Er  führt  uns  direkt  an  die  Entstehung  der  Mußaftefilla 
zurück.  Die  oben  (S.  427)  bereits  berührte  Differenz  zwi- 
schen Rab  und  Mar  Samuel  lehrt  uns,  daß  am  Anfang  des 
III.  Jahrhunderts  die  Mußaftefilla  im  Wortlaut  mit  den  an- 
deren übereinstimmte.  Selbst  R.  Jose,  palästinischer  Lehrer  in 
der  ersten  Hälfte  des  IV.  Jahrhunderts,  begnügt  sich  damit, 
daß  die  Differenzierung  in  dem  einen  Satze  besteht:  n&'pn 
s]0iö  pipi  oi»  »Ton  irniüin  n«  *peb»  Das  war  nicht  eine 
theoretische  Auskunft,  die  er  seinem  Jünger,  dem  Babylonier 
Se'i'ra,  gab;  sie  entsprach  dem  in  den  Gebeten  herrschenden 
Brauche.  Jetzt,  wo  dieser  Satz  uns  das  erste  Mal  in  aus- 
geführten Gebettexten  begegnet,  sehen  wir,  daß  er  in  der 
Tat  (neben  den  Opferversen)  die  einzige  Abweichung  im 
Wortlaute  der  Tefilla  bildet. 

Denn  die  anderen  Bestandteile  der  Tefilla  sind  alle 
ebenfalls  in  das  Mußaf  übernommen,  auch  das  bisher  in 
M.  Sofrim  so  rätselhafte  K3»i  nbv\  Es  ist  in  den  Texten 
von  Sofrim  nichts  zu  ändern;  weder  darf  man  ir«ton  'jcoi 
einschieben,  denn  dieses  war  nicht  bekannt,  noch  darf  man 
K3»i  n^l»»  streichen,  denn  es  ist  in  einer  stattlichen  Anzahl 
von  Fragmenten  als  Bestandteil  des  Mußaf  überliefert.  Die 
Anschauung  des  R.  Paltuj  Gaon  (850),  daß  K3'i  n^j»'  ursprüng- 
lich zu  den  Sichronot  des  Neujahrsfestes  gehörte1),  mag 
richtig  sein  oder  nicht  —  wir  können  sie  vorläufig  noch 
nicht  gut  beweisen,  aber  der  Wortlaut  von  «a»i  n^j»»  mit 
der  häufigen  Erwähnung  von  p"OT,  U"OT  und  ppB,  tfTpD;  die 
ihnen  gleichgeachtet  werden  (Tos.  Rosch  ha-Schana  IV,  7, 
p.  213/2  ff.;  b.  R.  ha- Seh.  32b),  spricht  sehr  dafür        daran 

*)  Manhig  ftiVT\  tt>tn  n  §  5;  Resp.  nt133  man  Nr.  99,  der  Aus- 
zug hieraus  bei  Müller  ITJiKjn  rroitfnb  nnea  S.  88  ist  nicht  ganz 
korrekt. 


592  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

ist  kein  Zweifel  mehr  möglich,  daß  es  nach  der  Übernahme 
in  die  Festtagstefilla  auch  im  Mußaf  seinen  Platz  hatte. 
Unsere  Texte  zeigen  allerdings  noch  eine  Erweiterung 
der  Mußaftefilla,  die  zu  dem  uns  bekannten  Wortlaut  hin- 
überführt, nämlich  die  Bitte  um  Wiederherstellung  der 
Wallfahrt,  die  vor  umwn  mit  der  Formel  iwa  T«n  lrrm 
u*n«ö  und  mit  der  Begründung  aus  Deut.  16,  16  D'ays  vbv 
nwn  gegeben  ist.  Die  Erklärer  bringen  "pjno  nriD  in  ttM*vfn 
mit  dem  Schlüsse  dieses  Verses  zusammen.  Ist  etwa  der 
Ursprung  des  Satzes  in  dieser  Nebeneinanderstellung  in 
der  Mußaftefilla  zu  suchen  ? 


Fassen  wir  die  Einzelergebnisse  zu  einer  Gesamtan- 
schauung zusammen,  so  müssen  wir  zunächst  die  starke 
Übereinstimmung  des  Mußaf  mit  den  anderen  Tefilloth  fest- 
stellen. Sodann  aber  bilden  unsere  neuen  Texte  eine  glänzende 
Rechtfertigung  für  die  Überlieferung  des  Traktats  Sofrim  ; 
man  wird  in  Zukunft  die  Angaben  dieser  allerdings  im 
Einzelnen  schlecht  erhaltenen  Schrift  nicht  bei  jeder  Ab- 
weichung verwerfen  dürfen,  sondern  bis  auf  weitere  Nach- 
richten mit  dem  Urteil  zurückhalten  müssen.  Woher  stammen 
die  uns  befremdlichen  Mitteilungen  in  Sofrim?  Darauf  kann 
es  nur  eine  Antwort  geben,  aus  dem  alten  palästinischen 
Ritus.  Wie  die  gesamte  jüdische  Tradition  durch  babylo- 
nische Einflüsse  in  eine  andere  Richtung  gelenkt  worden 
ist,  so  sind  auch  die  uns  überlieferten  Gebete  von  Baby- 
lonien  aus  umgestaltet  worden,  die  alte  palästinische  Ge- 
betordnung verschwand  oder  erhielt  sich  nur  in  spärlichen 
unbeachteten  Resten.  Das  ist  der  große  Gewinn,  den  die 
Genisah  für  die  Liturgie  gebracht  hat,  daß  sie  uns  die 
Stammgebete  in  einem  neuen  oder  vielmehr  ganz  alt  en 
Stadium  der  Entwickelung  vorführt,  daß  sie  uns  ermöglicht, 
Einblicke  in  die  Entstehung  der  Liturgie  zu  tun1). 

«)  Ich  kann  mich  der  von  Isr.  Levi  (REJ.  1907,  S.  234)  vertretenen 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  593 

*Es  hat  Jahrhunderte  gedauert,  bevor  diejenige  Gebets- 
ordnung, der  wir  im  babylonischen  Talmud  begegnen,  sich 
befestigt  hat«.  Wenn  Zunz  (Ritus,  S.  2)  diesen  Ausspruch 
hauptsächlich  mit  Rücksicht  auf  die  späteren  Jahrhunderte 
getan  hat,  so  dürfen  wir  ihn  heute  auf  die  talmudische 
Zeit  selbst  übertragen.  Die  Gebetordnung  hat  manche 
Änderung  erfahren,  ehe  sie  die  im  babylonischen  Talmud 
überlieferte  Gestalt  annahm.  Welche  geistigen  Kämpfe  dazu 
geführt  haben,  bleibt  ein  Problem  für  die  weitere  Forschung. 

Anhang  I. 
In  einem  Fragmente  der  Bodleiana,  das  ein  zusam- 
menhängendes Stück  eines  Gebetbuches  für  Jörn  Kippur 
enthält,  findet  sich  eine  Schacharittefilla,  die  ihrer  Seltsam- 
keit wegen  hier  mitgeteilt  werden  soll.  Zunächst  finden  wir 
darin  die  palästinische  Tefilla,  die  zwei  ersten  Benediktionen 
ausgeführt,  die  mittleren  nur  durch  die  Stichworte  kurz  an- 
gedeutet, wobei  nmna  nm  auffälit.  Dann  heißt  es  :  »Man 
soll  (hinter  pmi?  rrr)  nicht  drei  Schritt  zurückgehen,  son- 
dern in  gebückter  Stellung  verharren  und  sprechen«.  Es 
folgt  "pins  \n  (}:üi),  im  großen  und  ganzen  in  der  bekannten 
Form;  nur  der  Schluß  von  "[bam  weicht  ab  durch  den  Zu- 
satz ifco  "prpT  TJiii2)  mit  den  Versen  Jes.  24,  23  (wo  der 
gleiche  Schluß  steht)  und  29,  22.  23  als  Beleg  und  mit  der 
Eulogie  wnpn  bunt  dbl^fl  tik.  Es  folgen  die  Malchujot, 
d.  h.  wby,  mp:  p  bv  und  die  Verse;  vor  'fiw  'i  auch  Ex.  15, 

Anschauung,  daß  es  sich  bei  den  Genisahtexten  um  Privatgebete 
handelt,  nicht  anschließen.  Dafür  sind  die  Formen  zu  mannigfach  und 
zu  sorgfältig  ausgebildet,  als  daß  sie  nur  für  Zwecke  der  Einzelnen 
gedient  haben  könnten.  Gewisse  Formen  haben  nur  für  den  öffent- 
lichen Gottesdient  einen  Sinn.  Wir  müssen  uns  mit  der  Anschauung 
vertraut  machen,  daß  in  alter  Zeit  durchaus  nicht  die  Einförmigkeit 
in  Gebetvorlagen  bestand,  die  später  üblich  wurde.  Eine  sehr  wichtige 
Gruppe  von  Varianten  bezieht  sich  auf  den  palästinischen  Ritus,  und 
innerhalb  dieses  war  wiederum  viel  mehr  freie  Bewegung  gestat'et, 
als  in  den  von  den  babylonischen  Geonim  beeinflußten  Ländern. 
s)  Vgi    auch  den  persischen  Ritus  in  JQR.  X,  S.  615. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  3c 


594  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

17,  aber  keine  anderen  Verse  aus  dem  Pentateuch,  die 
Hagiographen  sind  in  anderer  Reihe,  ferner  vermehrt  um  Ps. 
97,  1  und  146,  10,  bei  den  Propheten  außer  den  üblichen 
Versen  noch  Micha  2,  13.  'w  yatP  folgt  erst  hinter  der  Bitte 
-[So,  die  übrigens  völlig  dem  oben  Auseinandergesetzten 
entspricht  und  "Jflistea  U8Hp  nicht  kennt,  unmittelbar  vor  der 
Eulogie,  hat  also  die  gleiche  Stellung  wie  Lev.  26,  45  in 
den  Sichronoth  Num.  10,  10  in  den  Schofroth.  Die 
Eulogie  ist  wörtlich  die  oben  S.  443  f.  mitgeteilte.  Auf  die 
Malchujoth  —  wby  ist  ja  im  seph.  Ritus  und  im  deutschen 
bei  der  Wiederholung  des  Mußaf  noch  heute  üblich  —  folgt 
das  Sündenbekenntnis,  d.  h.  einleitend  pm  vr  und  dann 
»tan  by  mit  der  Singularform  *nKBIUP  und  einem  Alphabet 
sowie  den  verschiedenen  Opfern.  Von  da  geht  es  direkt  zu 
den  Selichot  über. 

Bodl.  Hebr.  e  41  (2721,   18). 

Catal.  col.  136. 

fol.  lila. 

nyi  nb^yb  *]*>o*  ♦''  -pa  *"  "|^o  ** 

mia  -\nbr\r\  w  *bi  rmen  'jidp  v> 

\n^*t  lr/ia«  vi^ki  irnbi  »'*  rm« 

bxn  apr  vAm  pnar  vib«  oma« 

rwp  \rby  b&  num  iiaan  Ww    5 

'»■ao  i:\n3K  pai  iraao  ptti  a'atp 

,">  n/i«  mia  im  in  ^>33  lrnoaD 

frctpa  1133  nn«         ♦Oman  pa 

o'c^w  »n  o^ny  p^  prn  d'kj 

^tan  TiiDi  min  3'tra  D'na  o'pa  10 

nan  p«i  D'/ia  mnai  D"n  ^ao 

'ai  trnp  nn«  .c/ian  rrna  '3  ~\b 

nn  *  "jap  ^«ib>'3  nmna  nn« 

t>ip»i  dm»  *6i  "pm  fl]»P^  ^K 

runa  'j  p]^3  ^«  laxm  kSi  jw6  vm  15 

^y  -pne  jn  •  ^ip>  {«  ^k  »an»  im 

fiKiatp  na  ^3  ^y  nnaw  Ttrpa  bi 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  595 

fol.   111b. 

yiQb  nn/ien  o*wj?on  ^3  "pKvi 
nn«  n*n»  ühs  wi  nvnan  ^»3 

flD3   D^>tf    33^>3    "]iljn    fll»J^ 

miaa  fi*a  ny  -pc^  poSr»    5 

n/ynatp  na  ^3  iw  am:  -[csn  "p'ö'a 

■pm*^  nfcnii  "ptpb  1133  \t\  pi 

o'bn'o^  no  pnno  -penin^  mpr> 

■pnjtSi  p»e>  *\vyh  nno»  -p» 

■u  zianpi  -ji3y  "ir6  pp  nn'as  10 

D'pHJt   J331   :"jn»»D    '»'    |3^ 

DToni  ttojp  d^ibh  lnaen  ikt 

nptnn  ^>m  rre  natop  nnViin  A»r  rma 

A^>»or  rayn  »a  nb3fl  {try3  rAia 

'o  'a  nrhvn  nehm  p«n  p  jnt  15 

'«  v'  «in  nn«  "j^oni  npyn  mno 

nvp  o^ivai  jvat  -i[na]  .  .  .  [ir]n^K 

fol.  112  a. 

rtxftti  (Vnom  31:133  *ri33  -|»3*pt  1331 

ina  jvK3Jt  v'  n^o  »a  nenn  rwui 

m33  rrpr  tmi  oteivsi  p»s 

jrm  wn  apr  n*a  ^«  »"  no«  .13  (2p^ 

k5i  apy»  »13»  nny  «^  Oman  n«    5 

ntryo  to»  in«*i3  *a  tnw  na  nny 

uPHpni  *m&  ir*ip»  ianpa  t 

iiiw  »n^«  n«i  apr  »np  n« 

nai^on  in«  '"  nns  "pi3  *«**>jr 

nsr^  1:^1?  '»npn  ^ani  10 

/npjns  -iirr^  f6ru  nnS  bsr\  pt6 

*h\  rim«n  naa  'is^y  «^  w« 

irpSn  otr  1A1  D'un  mnatpos  uaru 

cnir  Wien  ^33  lrbiu  *6i  ans 


')  Jes.  24,  23. 
•t  Jes.  29,  22-23. 


33* 


596  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 


b»  D^Dfloi  pm  ^>3nf?  o^n/wn  15 

»3^e  "[büb  onmwö  um  yw  a<b  b$ 

fol.  112  b. 

unfern  «im  •  ♦  ♦  d*o»  neu  «in  -jna  o»3feon 

p  ^>y  ,  •  ♦  lnVit  p«i  usfea  no«  ny  p«i 

D^iy  prfe .  ♦ .  V2vr\  »3  "]?j?  rnnDJi .  ♦ .  mp: 

.  ,  ,  "|DTJ^  H33*  W2  '33  ^31  »TW   nttfeöS   11 
^V   D^12   lfesp'l   UJT   Tp*  "]ütf   1133^ 

fol.  113  a. 

'3  ♦  ♦ .  •jfeöfll  ■JflTsVö 
"jfewi  *ry  »öfeiy  tv  uti  "jfe»  msfenn 
iöj»m  (^ömsn  "[mins  3in33  tum    3 
njn  d^i  i^ö»  "'  in»  ujt3  .  ♦ .  "|nferu  ins 

■lfeo  (2"'  löKfe  3in3  "jirnp  »Tanai    6 
fejn  -pa  (3"'  :  Bion  ^3  . .  ♦  vfr  nua 
il3lfeöf1  *»fe  (4,3  :  D'31  . . .  p«n 

D3'^K1   D'W   (51Ktf  :  D*U3   ^»Dl    10 


ofeiyfe  »•»  (6l^ö'  ;n^»D  Tuon  "jfeö  16 
fol.  112  b. 

nTifefen  im  infe  jvst  -[»nfe« 
(7n3  -10*0  o'K'san  "p3j?  r  bvi 

HJ?fe3öl  .  .  .  fe«W   1^0   *'»   1ÖK 

osfeö  i3jn  . , .  ixid  onuefe  f  tdü  (8n^y  Dvife«  p«     5 

•  O'JPenö   (91^V1   D1PK13   '"1   D.TJB^ 

■jfea^  >'»  (10rrm  x  ro&m  . .  ♦  jrat  ins 
idipi  inu .  ♦ .  pun  ^3  ^i? 


»)  Exod.  15,  17-18. 

»)  Ps.  93,  1. 

»)  Ps.  97,  1. 

*)  Ps.  22,  29. 

»)  Ps.  24,  7—10. 

«)  Ps.  146,  10. 

')  Jes.  44,  6. 

•)  Micha  2,  13. 

»)  Ob.  21. 

!0)  Sech.  14,  9. 


Die  Tefilla  für  die  Festtage.  597 

"|£o  unia«  »rftm  wfa*  in»  11 

»warn  711333  nu  obiyn  ^  ^y 
♦ . .  bvv  bs  yn  ♦  * » 
nn  itPK  ^3  noK'i  ♦ .  ♦  II 

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fol.  114  a. 

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^nob  nrn  \wn  rfarm  dt  nrn  pyn 

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^  rfco/ii  ^nom  w/miy  ^>3  ^>y  10 
y&b  •**&$&  «an  ^yi  uamh 
yxb  9\naarw  «an  ^>yi  dji«3 
nmy  nto  » ♦ .  crito»  'ia*33 
♦/man»  «an  ^jn  na  tots  ♦  ♦ ,  15 
fol.  114  b. 
dem  Wwtt  .♦.(?)  PiVwa  • .  ♦  3^»n  iwhna  "pa$> 

y*»»3  .  ♦  .  DW3  *  **  rti  1*3  i  ♦  .  JWBÖ3  .  ,  , 

py  -i>P'D3  . ,  ♦  ne  ^13'js  .  i .  jrir  k^3  ♦ .  ♦ 

Dir6  pK  »33«  i  ,  i  y#D3  i  ,  .  D'JD  mrys  . . . 

♦  ♦ .  vtn  nnp3  ,  ♦ . 
fol.  115  a. 

r  nsrrV»3  .  ♦  ♦  irsft  • . .  o»b:n  iwia 

«an  ^>yi  nnv*  ♦ . .  3y/i3  . . .  pnpas 

. . .  n«on  . . ,  dk>«  r*»y  3^n  »»»    6 

D'im«  rupbn  .  .  .  onw  »T3  n/va  . .  ♦  j3ip 

ysi*  v^y  3»n  »3Hr  «an  ^>yi  12 

rin  nantp  n^pa  pn  fva  jiijvd 

b"6j  p«v  *>yi  \j5  8*iw  ^»y  pam 

awi  D'"i^  an  t/jb^  (*i33  rc^»  15 

nnnaan  ymrn  '33  "piaa  kdj  'ich 

»)  Deut.  6,  6. 
»)  Dt.  29,  36. 


598  Die  Tefilla  für  die  Festtage. 

fol.   115  b. 

-.dk  -pay  im  rwrn  mwn  . . .  unVn  *"b 

'rpj . . .  O/ntn»  yivb 
^mai  wd  bis  mVk  »"  *a»pj    ."> 
D'o  ^y  pnn  *ju*dö  ^>ao  »a?n 
(2,np-in  "jk'^j  T  bv  airas  omna 
irn^K  *•  nnsnaai  DDn«  10  -ina«  , .  ♦  nybv 
nnru  n/ins  >jd  ^>y  -[/^cnDi  *]oj?  ^K-itp^> 
dv  n«  lyma«  'n^Ki  unb«  ♦"  Mb 
omern  Diac  dv  /ik  nrn  trnp  xipo 
n»  (sie!)  nrn  aniDan  diu  dt  m  nrn 
nb'Uü  dv  n«  nrn  pyn  nn^D  dv  15 
bzb  rnB3$>  n^'no^  nrrW  nrn  pyn 
?  lrrwan  ? 

Anhang  II. 

Varianten    zur    »babylonischen«  Tefilla   aus   Fragmenten 

E.  N.  Adlers. 

1.  A)  Zu  uta*!  nbv 

pian  rorot .  aiprr  ans'  ips»  •  •  *  y>j»  «a*  Thr 

cp*Drii  i'K'a:  pian)  *pay  ♦  ♦  '»o  'n  'vy  'banr  'n  lr/va« 

(na^o^)  irma«  v£ki  '«  n»  t/jd1?  inr  n»a  ^a  -py  nan 

(m-6)  luvh  \r\b  uwwh  n^i«a^>  nynr^  nana?  naia^ 

n^aba^i  no^oi?  nnas^i  \wvh  ubvbi  wh  ü'om^ 

nn  nrn  tnp  «ipo  aia  ora  py  ntonfa  «an  nrpfeofr 

ua^B  mps  . ,  ♦  unar  uwotiVi  ir^y  la  arrA  mn  pnatn 

pj'o  13  ine  (npw)  ms  ^ao  ia  (3ub^>ö  o'xa  •  •  •> 

nans/i  n«iDi  ia  ijkdd  na^t?  rmow  ia  uno»  nnwi 

1»oma  U'i?«  ruBi)  *  •  *  oin  D'an-n  nw  nana  oa  twa 

♦  ♦  ♦  wrv  fli^n'a  i'^«  *a  upvnm  «»am 

2.  Ein  anderes  Fragment  für  Sukkot  (Wip  K*ipa  ara 
nrn  maon  jn  ovi  nrn),  punktiert,  es  fehlen  in  ihm  die  oben 
in  (    )  gesetzten  Worte. 

3.  Ebenfalls  punktiert.  Der  Text  stimmt  mit  dem  üb- 

»)  Ps.  19,  14. 
9)  Ez.36,  25. 
3)  Wahrscheinlich  von  12  bis  13  ausgefallen. 


Die  Teiilla  für  die  Festtage.  599 

liehen  im  ganzen  überein,  nur  fehlen  ipo'  und  ü'jnpB, 
D^ttiT  steht  vor  rvtyo,  JT3  bl  -]öj?  wie  oben.  Hinter  uinrin 
n»r6  w  folgt  ebenfalls  rvshv  nno»  13  unotp  ms  ^>3ö  ia  uefa 
wfcp  omi  tram   oin  trami   njw«   "iana  nn:«i  pro  13   ufr»*i 

B)  Zu  u/nrn  nn« 

In  einem  Fragment  zu  Rosch  ha-Schana  (1  Blatt)  mit 
rhu  *  * 4  ctjmpi  (Jtmp  "1*12"  »Hp  "]ettn  wnp  nn« 
[«npj]  «nrtpn  &wm  bd&'03  /n«as  [n  naaj»i 
tjrnpn  i^en  . . .  -pia  npnxa 
ohne  -pnB  jn  pai  heißt  es  hinter  uniria  nn«: 

/inyy^  min  hhö^i  ypiv  »bb^o  ujptijii 
etc.  iA  pwi  "p:iin  Tn  ni5{D 
Es  ist   also    der  Anfang    von  ujmm  (Ber.  33  b)  ohne 
die  rrV"ün  eingeschaltet. 

C)  Zu  UKBfl    »JBB1 

Ein  Fragment  von  einem  Blatt  zu  Schabuoth  hat 
folgendes  kurze  Stück:  irxan  »JBDl  wie  üblich  bis  Tmh&ViV 
-|&Hpo   n»aa,   dann 

winaaa  wwni  umiij  u*taflv  '^«  'i  "p:c^o  psn  »rr 

'idi  rorotr  loa  "pian  ni^o3  namta  yxh  anpji  nipyj  d»v 

"'  inat  [?irby]  cm  «"«in  DiT3dji  ♦  ♦  .  omaan  ovav 

13*13   D^n^   13   UWH  H3"13^  13   UHpDl  H31B^   13   'b& 

uk'Emi  Deut.  16,  16  d»D£B  vbv  ai/iaa  wby  omi  Din  o^emi  nprar 

D)  Zu  pm  i^o  ijti3«  ti^xi  6« 

Die  Fragmente  beginnen  übereinstimmend  mit  f^o 
jorn   wie    Saadja2)    und    lesen    wbv  2W,    eines  auch  bbm. 

E)  Zu  vtnpm 

In  zwei  Fragmenten  endet  es  wie  im  Machsor  Vitry,  im 
italienischen  und  romanischen  Ritus  mit  ptptrsi  nnott>3  U^'PUni 
1»ip  **tjjib,  in  zwei  anderen  folgt  dahinter  '3m«  'w  "|3  inotf'i 
"|0tr  wie  in  der  Formel  des  ital.  Ritus  für  Freitag  Abend 
in  alter  Zeit3). 

l)  So  auch  im  Siddur  Saadjas. 

8)  Vgl.  Bondi,  Der  Siddur  des  Saadja,  S.  34. 

s)  Vgl.  b-r\v  z.  St. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Jaden  bis  znm  Jahre  1400. 

Von  I.  Kracauer. 

(Schluß.) 

Dyne  (Frauenname)  lmal,  1399  Ger. 

Elias,   Elion,  Elys 

Elieser  1241 

Elkin,  aus  Elkanah  (lmal)  1333  Ger. 

Ester  (in  der  Schweiz  Hester,  Hestre)1) 

Gerian,  Jüdin  1348   Ger.,    wohl    verschrieben    für    Meriam, 

UVIirjam,  in  der  Schweiz  Merya2),  s.  unten 
Gerson  1241,  Girson,  Kirsain,  Kirsan,  Kirson,  Kirszan,  auch 
Kirsing  1384  Ger. 

Halaphta  1241 

Halde,  für  Hulda?  Oder  deutschen  Ursprungs? 

Hanna,  Koseform  dafür  Hannel,  Henlin,  Henchin;  auch  Ennel 

kommt  vor. 
Hassede  lmal,  1389  Rech.,  mit  Chassid  zusammenhängend? 
Hebe  für  Eva 
Hebel,   Hebil  für  Abel 
Hesgel  für  Hesekiel  1375  Ger. 
Hiskia  1241 

Isaac,  Isac,  Ysaac,  Ysak 
I(Y)saechir  1375  Bürgerb. 
Ismahel 

Israhel,  Israel,  Izrael 
Jakob,  Koseform  dafür  ist  Jeckelin,  1347  Ger. 


!)  Steinberg,  S.  6. 

*)  a    a.  O    S    5. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.        601 

Jeckil,  1345  Ger.,  in  der  Schweiz  Jecki,  Jeckli1) 

Jechiel  1241 

Jekutiei   1241 

Jahel,  Joel,  Joe  1341  Ger.,  vielleicht  hängt  Joliep*)  damit 
zusammen,  wobei  der  zweite  Teil  deutsch  wäre.  1377 
Ger. 

Johanan  1339  Ger. 

Jochebed  1241 

Jonaut  =  Jonas  1341  Ger. 

Joseb,  Josib,  Josep,  Josip,  Joseph,  Jusip 

Joselin 

Juda  1241 

Katz,  zusammengezogen  aus  den  Anfangsbuchstaben  von 
Konen  Zedek,  lmal,  1382  Ger. 

Koppelin,  Koppelman,  der  erste  Bestandteil  Diminutiv  von 
Jakob  (s.  Salfeld  S.  4013) 

Lasar,  Lazan,  Lazar,  Lazarus 

Lewe,  Leve,  Levi,  Lewin.  Auch  die  weibliche  Form  Lewa 
findet  sich  1342  Ger.,  dagegen  kommt  der  Name  Levi 
in  den  Frankfurter  Urkunden  bis  zum  Jahre  1400  nur 
zweimal  vor. 

Lebechin,  Koseform  von  Leve,  1398  Ger. 

Lyste  lmal  1371  Ger.,  aus  Elisabeth  entstanden?  oder  ab- 
gekürzt aus  Liebsta  (and)?4) 

Meier,  Meyer,  Meiger,  1241 

Mergan,  Mergard  (1400  Rech.)  Meria,  Merian,  Meriana, 
Merion  =  Miriam 

Michahel,  Michael,  Michel 

Mordache  Mordechan,  Mordechey,  Morrechey,  Morcheie. 


x)  Steinberg,  S.  6. 

*)  An  das  französ.  jolie  ist  wohl  nicht  zu  denken. 

3)  Ein  Kobelinus  ist  1289  magister  universitatis  judeorum 
Herbipolensium,  s.  Breßlau,  Hebräische  Bibliographie  1869,  S.  54—57 
(Namen  der  Juden  im  Mittelalter). 

*)  S.  Salfeld,  S.  402,  der  Förstemann  I,  S.  850  zitiert. 


602        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Morel  lmal,  1341  Ger.,  Abkürzung  für  Samuel1) 

Mese,    Moesse,    Moise,     Moiste,     Moyse,    Moysse,     Moisze, 

Moische,  Morse,  Morsed,  Morsel,  Morset,  Morsit,  Morsze, 

Mose,  Moses,  Moyse,  Murset,  Müsse 
Moseman,  Museman,  auch  Maseman 
Namchir   1241 

Nasser  lmal,  1399,  wohl  aus  Manasse 
Natan  1241 
Nehemia  1241 

Pasze,  Passener  aus  Bathseba 
Pinesz,  Pinnies,  Pynnes  =  Pinchas 
Pure  (Frauenname)  1376  Rech.  Diminutiv  von  Zippora. 
Rahel  1241,  Rechelin,    Rechlin  Koseformen,   in  der  Schweiz 

Rechel2) 
Rebecka,  Ribecka  1241 
Rebelin,  , 

Ribbelin,  _,  .     ,  ...        .„. 

„   ,    ,.    '       , ,.      _    ,  ,.    <  zu  Rebecka  gehörend3) 
Rübe  n,  Rüb  n,  Rufe  in  l 


Ryvelin 

Rehabja  1241 

Ryle  1341  Ger.,  zu  Rachel  gehörig? 

Robin  =  Rüben,  in  der  Schweiz  Ruffen4) 

Salman,  Saleman,  Salmon  (s.  übrigens  oben) 

Samson  1333  Bürgerb.,  Simson  1241 

Samoval,  Samuel,  Sannel,  Sanuwel 

Sanwal,  Sanwel 

Sara,    Koseform    ist    Serechin    1399   Ger.,    in    der   Schweiz 

Serli6) 
Saulin,  Sauwel,  Sauwelin  (Koseform),  Sawel 
Schebe  (männlich)  lmal,  1373  Ger.,  vergl.  Bath-Scheba 


')  Salfeld,  S.  406  unter  Mulin. 
2)  Steinberg,  S.  4. 
»)  Salfeld,  S.  411. 
*)  Steinberg,  S.  9. 
5)  Steinberg,  S.  6 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.        6(3 

Seckelin  2mal,  1342  und  1392,    (Urk.    und  Ger.)    Koseform 

zu  Isak 
Salmolin,    Selmolin,    Semelin,    Semmelin,   Semolin,  Simelin, 

Symelin,    Simmel,    Simmelin,    Symeler,   alle   zu   Salomo 

oder  auch  Simeon  gehörend 
Semon,  Simeon,  Simon,  Symman  (1370  Ger.) 
Slomo,  Sloman,  Sluman  =  Salomo 
Smarge    =    Schemarja,    lmal    1371    Ger.,    in    der  Schweiz 

Smario1) 
Smohel,  Smoel,  Smoe  =  Samuel 
Suse  abgekürzt  aus  Susanna,  1241 
Thirzah  1241 
Thomas  lmal,  1340  Ger. 
Uri  1241 
Zerujah  1241 

Zippur  =  Zippora  lmal,  1241   Ger. 
Zorline,  Zornline,  Czorlin,  Zurlin,  Zerlin,  Kosename  von  Sara. 


Wir  haben  außerdem  noch  eine  Anzahl  Eigennamen, 
deren  Herkunft  zweifelhaft  ist.  Da  die  hebräischen  Laute 
dem  Schreiber  der  Gerichts-  und  Rechenbücher  zu  fremd 
waren,  konnte  er  keine  Vorstellung  damit  verbinden  und 
schrieb  die  Namen  ganz  entstellt  auf,  so  daß  es  oft  schwer 
hält,  die  richtigen  Namen  herauszufinden.  Derartige  Namen 
sind  : 
Beda 
Gemelin,    verschrieben   für   Semelin?   (Er  findet   sich  auch 

bei  Steinberg) 
Grasch,  auch  Crasch,  1380  Ger.,  Beiname 
Haipart,  Palpart,  bisweilen  auch  Halpbart  1335  Ger.,  Beiname 
Heisis  1347  Ger.  (Heiso  1349  Ger.) 
Huditz  1343  Ger.  (Mit  Jehuda  zusammenhängend?) 


»)  Steinberg,  S.  7. 


604        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Kadernetz,  Beiname  bis  1349 

Ketchin  1400  Ger. 

Kosser  1361  Ger.,  vielleicht  nao,  Beiname  von  Ascher,  vgl. 

jiiöwi  'D  fol.  10  a,  46  b. 
Loupach  1348  Ger. 
Phiser  1388  Ger.  (iryafc?) 
Pletsch  1391  Ger.,  Beiname 
Riebenzen  1391  Ger.    ) 

Ribitz  Bedeb.  )  W-  «n  ****»  im  ™°rn  'D  101  b- 

Smalgan  ==  Smarjeh? 


In  unserem  urkundlichen  Material  werden  bis  zum 
Jahre  1400  ungefähr  940  Juden,  beziehungsweise  Jüdinnen 
mit   etwas  über  2501)    verschiedenen    Namen    aufgeführt8). 

J)  Selbstverständlich  sind  diese  wie  die  folgenden  Zahlenangaben 
nur  annähernd  richtig.  Die  Beschaffenheit  des  urkundlichen  Materials 
schließt  eine  absolut  zuverlässige  Zählung  von  vornherein  aus.  Wir 
können  nicht  wissen,  ob  Falk  (1335— 1348  Qer.)  ohne  weiteren  Zusatz 
identisch  ist  mit  Falk  von  Münzenberg  (1343  Ger.),  oder  Fide  (1348  Ger.) 
mit  Fide,  Senderlins  Sohn  (in  Urkunden  1343  und  1344  erwähnt).  Wie 
verhalten  sich  beide  zu  Fide  von  Austburg  (1342—1349  Ger.)?  Oder 
ist  Gelechin,  filia  Masemanni  (1344  Ger.)  identisch  mit  Gelechin  oder 
mit  Gela  Mynnemans  snurche  (1344  Ger.)?  Ist  Sara,  die  kleine  under- 
kaufer,  identisch  mitSara,Tochter  Fifelins?  (Beide  finden  sich  1342  Ger.). 
Eine  weitere  Frage  ist:  Sollen  die  Diminutiv-  und  Koseformen  als 
besondere  Namen  gerechnet  werden?  (Also  Ensgen,  Ensechin,  Enselin 
oder  Gnde,  Gudla  oder  Ele,  Elechin).  Ich  habe  dies  in  der  Regel  nicht 
getan.  Trotzdem  habe  ich  eine  Namensstatistik  versucht,  da  ich  glaubte, 
daß  sie  manchem  nicht  unwillkommen  sei. 

*)  Kriegk,  Frankfurter  Bürgerzwiste  und  Zustände  im  Mittelalter, 
S.  519,  Anm.  239,  schreibt:  »Es  dürfte  seinen  Nutzen  haben,  einmal 
in  betreff  einer  mittelalterlichen  Stadt  alle  in  ihren  Urkunden  vor- 
kommenden jüdischen  Namenzusammenzustellen.  »Er  versucht  dies  auch 
auf  S.  54S— 553.  Leider  ist  seine  Arbeit  nicht  brauchbar.  Er  hat  dazu 
nicht  die  Gerichtsbücher  benutzt,  daher  fehlen  sehr  viele  Namen,  er 
zählt  nur  etwa  die  Hälfte  der  von  mir  gebrachten  Namen  auf  (etwa 
116),  er  kennt  nur  4  Abraham,  ich  29;  nur  4  Anselm,  ich  9  usw 
Sodann  sind  viele  Namen  bei  ihm  falsch  angeführt,  zum  Teil  bis  zur 
Unkenntlichkeit  verstümmelt,  so  Byf  für  Vifs,  Fyselman  von  Chrin  für 


Die  Nansen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.        605 

Von  diesen  Namen  sind  etwa: 

126  deutscher  Herkunft 

21  lateinisch-romanischer  » 

7  griechischer  » 

84  hebräischer  » 

15  zweifelhafter  » 

"253" 


Demnach  sind  etwa  die  Hälfte  der  Namen  von  1241 — 1400 
deutscher  und  etwas  mehr  als  ein  Drittel  hebräischer  Her- 
kunft. Ganz  anders  gestaltet  sich  das  Verhältnis,  wenn  wir 
nur  die  91   Namen  der  im  Jahre  1241  Erschlagenen  auf  ihre 
Herkunft  untersuchen.  Unter  diesen  sind: 
35  Namen  (von  61  Personen)  hebräisch 
11       »        (von  23  Personen)  deutsch,  darunter  8  Frauen- 
namen 
3       »         (von  5  Personen)  lateinisch 
1       »         (von  2  Personen)  griechisch. 

Je  später  wir   ins  Mittelalter    eintreten,    um  so  mehr 
nehmen  die  deutschen  Eigennamen  zu. 


Wir  bemerken  noch,    daß    eine  Reihe    von  Namen  in 
Frankfurt  Juden  und  Christen  gemeinsam  sind.     Dabei  ist 
aber  zu  beachten,  daß  diese  Namen  nicht  immer  auf  den- 
selben Ursprung  zurückgehen    (s.  die  Namen  Kaiman,  Sal- 
man,  Seckelin).  Solche  sind: 
Adelheid,  Alheid 
Bele 
Ber 

Berthold 
Beszelin1) 

Fyvelman  von  Jerusalem,  Heyger  von  Wesel  für  Meyer  von  Wesel, 
Finelin  für  Fiuelin,  Wynelin  für  Vyuelin,  Naseman  für  Maseman, 
Numeman  für  Minneman,  Pilman  von  Amort  für  Lipman  von  Er- 
wiler  usw. 

•)  S.  Förstemann,  Altdeutsches  Namensbuch,  S.  253—254. 


606        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Bischof 

Bone,  Frauenname  bei  Juden,  so  ist  Bone  die  Frau  des 
Seligman;  ebenso  bei  Christen,  Bone  ist  die  snurche 
Contzens  zur  Wiesen. 

Burlin,  bei  Juden  Frauenname,  Buerlin  ist  die  Frau  Damars 
(1346),  bei  Christen  Männername;  Burlin  snider  (Ge- 
richtsbuch 1339) 

Eberlin 

Eichhorn 

Fifelman,  in  der  Regel  Jude,  aber  auch  Hartmud  Fifelman 
Christ1) 

Frumelin,  Christ2) 

Frummler,  Jude  1384  Ger. 

Gadeliep 

Goldine,  auch  in  christlichen  Kreisen  gebräuchlich  (Salfeld, 
S.  395) 

Gudele,  auch  bei  Christen  Frauenname 

Gumprecht  (Gumpert),  in  der  Regel  bei  Juden,  doch  ver- 
einzelt auch  bei  Christen,  so  Gumprecht  deschenmechen 
(Taschenmacher)3),  Gumprecht  von  Carbin4).  Ein  Gum- 
precht ist  am  Ende  unseres  Zeitraumes  Stadtbote5) 

Heilman,  bei  Christen  und  Juden  in  Frankfurt  gleich  beliebt 

Henkin  christl.,  doch  auch  Henkin,  gener  Salikeid,  also  jüd.6; 

Hennelin,  Jüdin 

Hennechin,  Christin7) 

Jakob,  Jekel 

Jutte 


*)  Förstemann,  S.  747. 

■)  Oerichtsb.  XXVI,  11. 

3)  a.  a.  O.  fol.  57. 

<)  Ger.  XXIII,  8. 

B)  a.  a.  O.  19. 

6)  a.  a.  O.  XXXVII,  79. 

')  Oer.  IV,  146. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.        607 

Kaiman,  auch  bei  Christen,  so  Diplo  Kaiman1),  Ulin  Kai- 
man2) etc. 

Kruse3) 

Lewe.  Claus  Lewe  ist  Christ4) 

Lewin.  Luza  Lewin  ist  Christin5) 

Liebertrud.  Der  Name  erscheint  bei  Juden  in  Frankfurt  nicht 
vor  1382,  in  Würzburg  dagegen  12896),  in  Nürnberg 
13497).  Bei  Christen  Heintze  Lieberdrut8)  usw. 

Liepman,  auch  bei  Christen,  so  Liepman  ysenmenger  (Eisen- 
händler)9) 

Menchin  auch  bei  Christen,  so  Contze  Menchin10) 

Mennelin 

Michel 

Minneman  (Mynman),  erscheint  als  Name  bei  Juden  nur 
bis  1349,  von  da  ab  nur  bei  Christen,  so  Hans  Minne- 
man11); Rulman,  frater  Mynemans.  In  den  Gerichts- 
büchern erscheint  in  der  zweiten  Hälfte  des  XIV.  Jahr- 
hunderts öfters  die  Minnemenen,  sie  ist  Christin. 

Mose  auch  bei  Christen,  so  Contze  Mose1*) 


i)  Gerichtsb.  V,  19  vom  Jahre  1350. 
*)  a.  a.  O.  X,  33  vom  Jahre  1369. 

8)  Findet  sich  in  den  Qerichtsbüchern  in  den  Jahren  1334—1346 
auch  bei  Juden. 

*)  Gerichtsb.  IV,  49 

s)  a.  a.  O.  VIII,  6  vom  Jahre  1360. 

6)  Lyebertruet,  s .  Namen  der  Juden  im  Mittelalter  von  H. 
Breßlau,  in  der  Hebräischen  Bibliographie  1869,  S.  56. 

?j  S.  Salfeld,  Das  Martyrologium  des  Nürnberger  Memorbuches, 
S.  224.  Am  Rhein  scheint  der  Name  bis  1273  nicht  vorzukommen, 
wenigstens  findet  er  sich  nicht  bei  Aronius,  Regesten  zur  Geschichte 
der  Juden  usw. 

8)  Gerichtsbuch  XX,  8. 

»)  a.  a.  O.  XIX,  27  vom  Jahre  1379. 

10)  a.  a.  O.  XXIX,  11. 

n)  a.  a.  O.  VIII,  51. 

12)  Gerichtsb.  X,  33 


608        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jabre  1400 

Ocka1) 

Oswald  (1348  in  dem  Gerichtsbuch  dieses  Jahres) 

Peter,  Jude   von  Mainz  (1341— 1344)2) 

Salman,  auch  bei  Christen  in  Frankfurt  sehr  häufig;  ein 
Salman  ist  1317  Fährmann  (Böhmer-Lau  II,  S.  69  Sal- 
man vector),  ein  anderer  Richter  zu  Mainz;  so  hieß  auch 
ein  Haus  zum  Salman8)  und  ein  Gäßchen  in  der  Schnur- 
gasse Salmansgäßchen.  Salman  ist  bei  Christen  auch 
als  Vorname  beliebt,  so  Salman  Clobelauch 

Selkeid,  bei  Juden  auch  als  Frauennarne,  bei  Christen  da- 
gegen als  Mannesname,  so  Henne  Selekeid,  Henkin, 
gener  Selekeid4) 

Seckelin,  in  Frankfurt  vereinzelt  bei  Juden,  so  Seckelin  de 
Dypburg,  Ger.  1392,  sonst  bei  Christen.  Der  jüdische 
Name  stammt  von  Isaac,  der  christliche  von  sack 

Seligman,  sehr  häufig  bei  Juden,  doch  vereinzelt  auch  bei 
Christen,  so  Johan  Seligman  de  Sigen 

Suzman,  bei  Christen  als  Vorname,  so  Suzeman    Humpelo 

Wolff 

Wolffelin,  Wolffechin. 


Die  einzelnen  Namen  erfreuten  sich  naturgemäß  ver- 
schiedener Beliebtheit.  So  sind  vertreten: 
Samuel  mit   seinen    zahlreichen  Namensabwandlungen    an- 
nähernd 46  mal;    ihm    nächst  kommt  Mose  45  mal  (sein 
Bruder  Aaron  dagegen  nur  2mal>,   Jakob  37,  lsaak  37, 
Abraham    32,    Joseph    32,    Salman  32,    Gumprecht  20, 


*)  Förstemann,  S.  1174. 

2)  In  den  Oerichtsbüchern  dieser  Jahre.  Über  das  Vorkommen 
dieses  Namens  bei  den  Judtn,  s.  Zunz  a.  a.  O.  S.  34. 

•)  Später  verstümmelt  zum  Salmen,  s.  Battonn  III,  6.  So  ist  auch 
der  im  Rechenbuch  1377,  fol.  67  b  erwähnte  Salman  Christ.  Kriegk 
hält  ihn  mit  Unrecht  für  einen  Juden  und  damit  wird  auch  seine 
Auslegung  des  Wortes  »selig«  (Frankf.  Bürgerzw.  S.  452)  hinfällig. 

*)  Qerichtsb.  XX,  30  und  IV,  146. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.        609 

David  19,  Meier  18,  Jutta  15,  Sara  15,  Lewe  14,  Ber  13, 
Fifelin  13,  Anselm  12,  Kaiman  12,  Gude  11,  Joselin  U, 
Liebman  11,  Menchin  11,  Bela  10,  Simon  9,  Man  8,  Michael  8, 
Natan  8,  Seligman  8,  Süßkind  8,  Beßla  usw.  7,  Brunn  7, 
Fifis  7,  Gotschalk  7,  Rechelin  7,  Gerson  (Kirson)  6,  Johel  6, 
Saul  6,  Selmelin  6,  Golda  5,  Hanna  5,  Henlin  5,  Lieber- 
man  5,  Ritze  5,  Alheid  4,  Bone  4,  Burlin  4,  Heilman  4, 
Hitzla  4,  Israhel  4,  Kele  (Gele)  4,  Minna  4,  Suze  4 
Wolff  4,  Ailke  3,  Baruch  3,  Frumot  3,  Juda  3,  Lasar  3 
Megitin  (Meitin)  3,  Meriam  3,  Minneman  3,  Rahel  3, 
Rebecka  3,  Rebelin  3,  Rufelin  3,  Senderlin  3,  Smohe  3, 
Zippora  3  mal  usw.  usw. 


Sprachlich  es : 

Zahlreich  sind  die  Koseformen  auf  el,  lin  und  chin: 
die  auf  lin  scheinen  zu  überwiegen1). 

Wir  haben  auf  lin:  Beszelin,  Ennel,  Enselin,  Fischelin, 
Heldelin,  Henlin,  Jecklin,  Mennlin,  Rebelin,  Rißlin,  Rubelin, 
Ruffelin,  Schonlin,  Senderlin,  Sentelin,  Regelin,  Wolffelin, 
Zerlin,  Zorlin,  Zurlin. 

Auf  chin:  Ellechin,  Fantechin,  Fraudechin,  Gelechin, 
Gänschen,  Henchin,  Ketchin,  Lemchin,  Menchin,  Minnechin, 
Särchin,  Wollfechin. 

Bei  einem  und  demselben  Worte  finden  wir  sowohl 
die  Endung  chen  als  auch  len,  so  bei  Lemchin,  Lemmelin, 
Menchin,  Menlin,  Wolffechin,  Wolffelin. 

Nicht  selten  sind  die  Bildungen  auf  man:  Fifelman, 
Haseman,  Judeman,  Kaiman,  Kauffman,  Koppelman,  Koster- 
man,  Lieberman,  Liebman,  Maseman,  Minneman,  Mosman, 
Rußerman,  (Salman?),  Schoeneman,  Seligman. 


*)  Dietz,  Stammbuch  der  Frankfurter  Juden,  irrt  darnach,  wenn 
er  meint :  daß  die  Formen  mit  chen,    gen  in  dieser  Zeit  nur  äußerst 
selten  .  .  .  vorgekommen   seien.     Er   kennt    nur   ein  einziges  Beispiel 
dafür:  Mennichen  (1364). 
Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  3" 


610        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Niederdeutsche  Form  hat  nur  Voß,  der  Sohn  der  Zer- 
line  und  etwa  Dyfil  (Teufel). 

Als  imperativische  Form,  die  ja  in  den  Gerichtsbüchern 
des  XIV.  Jahrhunderts  und  auch  sonst  zahlreich  vertreten 
ist,  habe  ich  nur  Lebelang  ansehen  können  (Gerichtsbuch 
1374)1). 

Auf  folgende  sprachliche  Eigentümlichkeit  sei  noch 
hingewiesen:  Ist  »Jude«  Eigenname  —  Familienname  bei 
Christen  —  so  wird  der  Artikel  weggelassen,  also  Heilman 
Jude,  Hans  Jude  usw.,  doch  findet  er  sich  auch  vereinzelt 
wie  Clawes  Grebener  (Grabenmacher)  der  Jude,  Heilman 
der  Jude,  kursener  und  doch  sind  beide,  wie  aus  den  Ge- 
richtsbüchern hervorgeht,  Christen.  Andrerseits  fehlt  aus- 
nahmsweise bei  Juden  der  Artikel,  so  Lieber  man  Jude. 

Wir  haben  oben  gesehen,  daß  die  Mehrzahl  der  Juden 
nur  Vornamen,  keine  Familiennamen  führten.  Da  nun 
manche  Vornamen  außerordentlich  häufig  vorkamen  — 
ich  erinnere  nur  an  Mose,  Jakob,  Abraham,  Samuel  usw. 
—  so  mußte  man  sich  verschiedener  Auskunftsmittel  be- 
dienen, um  eine  Verwechslung  zu  vermeiden.  Der  Vorname 
mußte  demnach  noch  einen  Zusatz  erhalten.  Dieser  konnte 
verschiedener  Art  sein. 

1.  Er  konnte  sich  auf  eine  künstlerische  Fertigkeit  oder 
auf  besondere  geistige  Veranlagung  des  Betreffenden  be- 
ziehen. So  erhalten  Lazar  und  Salman  den  Zusatz  Senger, 
Gela  den  Zusatz  Hirn.  Dieser  Zusatz  kann  schließlich  den 
eigentlichen  Namen  verdrängen,  so  daß  wir  für  Salman  in 
den  Gerichtsbüchern  später  nur  Senger  finden; 

2.  oder  auf  körperlicher  Beschaffenheit:  So  heißt  Salman 
der  Lange2),    Isaak  der  Große;    ein  anderer  Salman    heißt 

>)  1398  finden  wir  im  Rechenbuch  einen  anderen  Lebelang  als 

Sohn  des  Süßkind. 

2)  Salman  longus  im  Qerichtsb.  1377. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Jaden  bis  zum  Jahre  1400.        611 

der  Rote1),  Gumpert  weißhäuptig*);  Abraham  führt  den 
Beinamen  Bart,  wahrscheinlich  von  seinem  langen  Barte8), 
ein  anderer  heißt  bloß  Nasin;  auch  hier  ist  der  eigentliche 
Name  verdrängt  worden.  Jacob  Halpbart,  Haipart,  hat  wohl 
den  Beinamen  ebenfalls  seines  Bartes  wegen  erhalten4). 

3.  Der  Zusatz  ist  ein  Spitz-  oder  Spottname,  so  Gold- 
knopf (auch  bei  Christen  um  diese  Zeit)  wie  Heilmann 
Goldknopf5)  (Gerichtsb.  1343),  Raubir,  Reibir,  wie  Abraham 
Raubir  (Gerichtsb.  1344),  Tufel,  wie  Jakob  Tufel  (Gerichtsb. 
1393),  Abraham  Dyfil  (Gerichtsb.  1367),  Lebekuchin,  wie 
Natan,  filius  Lebekuchin  (Gerichtsb.  1344  und  1380).  Hier 
hat  ebenfalls  der  Beiname  den  eigentlichen  ersetzt.  Es  findet 
sich  auch  der  Beiname  Hedorn,  dessen  Bedeutung  nicht 
klar  ist6);  ebeosowenig  wie  die  von  Pletsch  bei  Salman 
Pletsch  und  die  von  Crasch,  Craschin,  bei  Joseph  Craschin. 

4.  Auch  Beinamen,  von  Tieren  genommen,  finden  sich  hin 
und  wieder,  so  Fischelin,wie  Salman  Fischelin,Gans,Gänschen, 
Geißchen,  wie  Seligman  Gans  (Gerichtsb.  1391),  später  tritt  da- 
für nur  Gans  auf;  ferner  J(y)sfugel,  so  Ansei  Ysfugil  (Gerichtsb. 
1389)  oder  Jsfugel,  der  Diener  Senderlins  (Gerichtsb.  1346) 
oder  bloß  Isfugel  (Gerichtsb.  1395  und  1400)  in  gleicher 
Weise  Eichhorn  und  Voss.  Beide  sind  Söhne  der  Zorline 
(Gerichtsb.  1394 — 1396),  der  erste  Name  bezieht  sich  wohl 
auf  dessen  körperliche  Beweglichkeit,  der  zweite  auf  seine 

chlauheit7). 

5.  Die  Beinamen  beziehen  sich  auf  den  Beruf  und  das 


»)  Gerichtsb.  1375. 

*)  Wizhoubit  a.  a.  O.  1348. 

8)  Abraham  dictus  Bart  a.  a.  O.  um  1330. 

*)  Gerichtsb.  1346. 

6)  S.  Salfeld,  S.  395. 

6)  Auch  die  Form  Heydom,  vielleicht  aus  Hagedorn. 

7)  Vielleicht  gehören  hierher  die  Frauennamen  merlin  und  Sprinz. 
Güdemann  führt  jenen,  wie  bereits  erwähnt,  auf  mhd.  merlin  Amsel 
zurück,  Zunz  (s.  Salfeld,  S.  415)    und  Berliner    auf   Sprinze  Sperber. 

39* 


612        Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 

Gewerbe  der  Betreffenden,  so  Abraham  kistener  (Gerichtsb. 
1343),  Abraham  Judenwirt  (Gerichtsb.  1389),  Abram  knecht 
(Gerichtsb.  1382),  Gumprecht  der  Lehrmeister  (Gerichtsb. 
1343),  Baroch  Vorsänger  (Gerichtsb.  1397)  usw.  Der  Berufs- 
name steht  für  den  Eigennamen  bei  »die  Kesemechern« 
(1394  Rechenb.) 

6.  Oder  es  wird  der  Geburtsort  des  Juden  hinzu- 
gefügt. Entweder  wird  der  Ortsname  durch  die  Präposition 
von  (lateinisch  de)  mit  dem  Namen  verbunden,  so  Bela 
de  Dypurg,  Fifelin  von  Gießen,  oder  die  Präposition  fällt 
weg,  wie  Gumpert  Zurch  =  Gumpert  aus  Zürich.  Der 
Ortsname  erhält  auch  die  Endung  er,  wie  Lewe  Berner  = 
Lewe  aus  Bern,  Joseph  Gülcher  =  Joseph  aus  Jülich. 
Schließlich  kann  der  so  veränderte  Ortsname  überhaupt 
den  Eigennamen  vertreten,  wie  Oppenheimer  (Gerichtsb. 
1392),  Nassawer  (Gerichtsb.  1396).  Damit  vergl.  Isaechir, 
gen.  Spire1). 

Bekanntlich  sind  in  späterer  Zeit  sehr  viele  jüdische 
Eigennamen  auf  diese  Weise  entstanden,  für  unsere  Zeit 
konnte  ich  in  Frankfurt  nur  diese  beiden   nachweisen. 

7.  Ebenso  dienen  Stadtteile  oder  Häuser  zur  Namens- 
bezeichnung, so  Gumpert  an  der  Brücken,  Müsse  an  der 
Brücken,  oder  David  an  dem  Moyne;  ferner  Gumprecht 
zum  Storch  oder  zum  Swerte  usw.  Auch  hier  kann  die 
Präposition  wegfallen,  wie  Gumpert  Stork,  Seligman  in  der 
Nuwen  stad.  Die  beliebteste,  weil  natürlichste  Unterschei- 
dungsart, deren  sich  auch  die  damaligen  Christen  bedienten, 
war  die  Hinzufügung  des  Namens  der  nächsten  Verwandten, 
des  Vaters,  der  Mutter,  des  Bruders,  der  Schwester  oder 
des  Schwiegervaters,  des  Schwagers  und  der  Schwägerin, 
besonders  bei  solchen  Juden,  die  nach  Frankfurt  geheiratet 
hatten.  Bei  Frauen  wird  der  Name  des  Ehegatten  hinzu- 
gefügt, wie  Henlin,  Wolffechins  Frau,  nur  vereinzelt  heißt 
es  die  Iseckin,  d.  h.  Frau   des  lsak.     Nicht    selten    werden 

!)  Bürgerb.  1375. 


Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400.        613 

beide  Eigennamen  mit  Weglassung  der  Apposition  Frau 
neben  einander  gestellt,  wie  Merion  Fiden,  d.  h.  Merion, 
die  Frau  des  Fide;  so  heißt  es  auch  einmal  Salman  Meyer, 
d.  h.  Salman,  Sohn  des  Meyer1). 

Wie  also  die  Träger  eines  häufig  vorkommenden  Na- 
mens von  einander  unterschieden  wurden,  dafür  diene  fol- 
gendes Beispiel: 

Salman  kistener  (Schreiner) 

»         underkeufir 

»         longus  (der  Lange) 

»        Pletsch 

»         von  Mainz 

»         Senger 

>         gener  Fiden 

»        an  der  Bruckin 

»        Stork. 


Bei  einer  Anzahl  von  Namen  ist  der  erste  Bestandteil 
hebräisch,  der  zweite  deutsch,  so  bei  Dabe  (Tobe)  leben, 
Judeman,  Koppelman,  Maseman,  vielleicht  auch  bei  Joliep. 

* 

Herr  Dr.  Grunwald  aus  Wien  bittet  mich,  zu  meiner  Bemerkung 
über  Fivelman,  S.  461,  Anm.  3,  nachzutragen,  *daß  die  dort  angeführte 
Erklärung  Prof.  Heiligs  .  .  .  vom  Herausgeber  (Dr.  Grunwald)  zu- 
rückgewiesen wird,  und  daß  Dr.  Grunwald  im  Juliheft  der  »Mittei- 
lungen« bereits  eine  Deutung  gegeben  hat,  die  der  meinen  im  letzten 
Heft  entspricht.« 


»)  Gerichtsbücher  1393  und  1394. 


* 


Beiträge  znr  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen 

Zeitalter. 

Neue  Folge. 

Von  Simon  Eppenstein. 

V.  Die  Erzählung  von  den  vier  gefangenen  Talmndisten. 

(Fortsetzung.) 
In  diesem  Zusammenhang  sei  auch  noch  einiges  über 
Schemarja's  einzigen,  bereits  erwähnten  Sohn  Elchanan 
mitgeteilt.  Wir  begegnen  ihm  als  häufigen  Korrespondenten 
von  Scherira  und  Hai1).  Wir  wissen  ferner  von  ihm,  daß 
er  ausgedehnte  Reisen  unternommen  hat,  wobei  er  in 
Aleppo,  Damaskus  und  Palaestina  weilte,  wie  auch,  daß  er 
nachher  in  Kairuän  sich  aufgehalten  hat8).  Späterhin  den 
Rang  eines  "non  trxi  bekleidend,  «aßte  er  sich  jedenfalls 
eine  Art  Oberhoheit  gegenüber  der  babylonischen  Hoch- 
schule, wahrscheinlich  der  suranischen,  an,  worüber  der 
Gaon,  also  wohl  Samuel  ben  Chofni,  in  einem  kürzlich  ver- 
öffentlichten Genisa-Fragment3)  seiner  Verwunderung  Aus- 
druck giebt,    zumal  er  noch  nicht  einmal  die  Würde  eines 

!)  Vgl.  auch  Harkavy  a.  a.  O.,  S.  342. 

*)  Vgl.  hierüber  Poznariski  in  ZHB.  X,  S.  144  und  in  Harkavy- 
Festschrift  Nr.  11,  S.  187—188. 

a)  Vgl.  das  von  Kamenetzki  in  REJ.  LV,  S.  49—50  veröffent- 
lichte Genisafragment  und  dazu  Poznanski  a.  a.  O.,  S.  244—48.  Dessen 
Annahme,  daß  das  Datum  1322  =  1020  zum  zweiten  Brief  gehört, 
ist  dadurch  zu  stützen,  daß  auch  das  folgende  m  D"6tP  sichtlich  zu 
diesem  zu  beziehen  ist.  Ob  wir  aber  doch  ohne  weiteres  Samuel  b. 
Chofni  als  Verfasser  des  Protestes  gegen  Elchanan  annehmen  können, 
erscheint  mir  deswegen  zweifelhaft,  weil  wir  von  diesem  auch  Anfra- 
gen an  den  genannten  Gaon  haben,  wie  aus  Ginzberg,  Geonica  II, 
S.  59  (=•  JQR.  XVIII,  S.  430)  hervorgeht.  Vgl.  jetzt  auch  D.  KahaH  in 
Hakedem  III,  1—6. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischtn  Zeitalter.     615 

p  jva  2K  bekleidet1).  Deswegen  dürfe  er  sich  auch  nicht 
in  wichtige  Angelegenheiten,  wie  Neumonds-  und  Schalt- 
jahrsbestimmungen, mischen8).  Weiterhin  bemerkt  der 
Schreiber,  Elchanan  erstrebe  die  Herrschaft,  die  ihm  aber 
nicht  zu  teil  werde3).  Er  behaupte  zwar,  daß  er  den 
»Perek«  vorgetragen  habe,  aber  weder  hiervon  noch  von 
dem  Brauch  der  Jeschiboth  überhaupt,  wisse  man  etwas 
in  den  von  ihm  berührten  Städten  Aleppo,  Damaskus,  in 
Egypten  und  Palaestina.  Es  werde  von  Mitgliedern  der 
Jeschiba  berichtet,  Elchanan  habe  sich  bei  einem  Besuch, 
den  ihm  in  Bagdad  der  TWI  BWi  Asaf  gemacht,  dessen 
gerühmt,  daß  er  in  sehr  kurzer  Zeit  den  Talmud  durch- 
genommen habe,  wenn  auch  mit  manchen  Weglassungen*). 

* 

Indem  wir  nun  wieder  auf  Schemarja  zurückkommen, 
finden  wir,  daß  er  sich  auch  in  Kairuän  und  auch  in  weiter 
Ferne  eines  großen  Rufes  erfreute.  Von  ganz  besonderer 
Bedeutung  ist  nun  hierfür,    wie  für  die  Verhältnisse  Sche- 

*)  Vgl.  Kamenetzki  a.  a.  O.  S.  50,  Z.  6—7. 

')  Ich  halte  Kamenetzki's  Ergänzung  a.  a.  O.,  Z.  8:  IlS^a 
IPITpal  für  wohl  annehmbar,  gegen  Poznanski's  Zweifel,  a.  a.  O., 
S.  246.  Denn,  wenn  es  sich  auch  seit  Ben  Meir  nicht  mehr  um 
Änderungen  in  der  Festsetzung  von  kalendarischen  Bestimmungen 
handelte,  so  haben  doch  die  Ansprüche  Palästina's  inbezug  auf  die 
Prärogative  der  Bestimmung  des  Neumondes  nicht  aufgehört,  wie 
sie  ja  auch  später,  in  der  Mitte  des  11.  Jahrhuuderts,  sich  geltend 
machten,  was  wir  auch  aus  der  Ebjathar-Megilla  ersehen;  vgl.  hier- 
über Bornstein  in  der  Sokolow-Festschrift,  S.  48—49.  Wie  aber  be- 
reits oben  bemerkt,  stand  schon  Elchanan's  Vater,  Schemarja,  mit  der 
palästinensischen  Akademie  in  Verbindung.  Aus  diesem  Grunde  liegt 
es  auch  näher,  den  Schauplatz  von  Elchanan's  Ambitionen  nach  dem 
mit  Egypten  in  räumlicher  und  idealer  Beziehung  näher  verbundenen 
Palästina  zu  verlegen,  —  man  beachte  auch  die  mehr  verächtliche 
Bezeichnung  fj?JD  für  letzteres,  a.  a.  O.,  Z.  11  —  als  nach  Kairuan, 
mit  Poznanski,  a.  a.  O.,  S.  247,  das  sich  doch  Babylonien  fast  unbe- 
dingt unterordnete. 

»)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  50,  Z.  12—13. 

4)  Vgl.  ebend.  Z.  20-26  u.  Poznanski  a.  a.  O.,  S.  247. 


616  Beiträge  zur  Oeschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

marja's  und  Chuschiel's  der  von  Schechter  im  Jahre  1899 
in  JQR.  XI,  S.  643—650  veröffentlichte  Brief,  den  Chuschiel 
in  Gemeinschaft  mit  seinem  älteren  Sohn  Elchanan  an 
Schemarja  und  seinen  Sohn  Elchanan  gerichtet  hat.  Der- 
selbe ist  in  einem  dem  Pijjut  durchaus  verwandten  Stil 
geschrieben.  In  überschwänglicher  Sprache  wird  hier 
Schemarja  als  Gesetzeslehrer1),  wie  als  gewandter  Sti- 
list2), ferner  als  allzeit  mit  Rat  und  Tat  hilfsbereiter 
Gönner  geschildert3).  Wir  lernen  ihn  aber  auch  als  an- 
gesehenen und  begüterten  Mann  kennen,  »den  Gott  aus 
Liebe  zum  Überrest  seines  Volkes  zum  Führer  erhoben«*). 
Der  Schreiber  scheut  sich  fast,  von  der  Größe  des  Meisters  zu 
sprechen,  da  ein  Rühmen  desselben  beinahe  einer  Verdun- 
kelung seiner  Bedeutung  gleichkäme6).  Auch  seines  Sohnes 
Elchanan  wird  in  den  ehrenvollsten  Ausdrücken  gedacht6) 
und  die  ganze  Familie  besonders  gerühmt,  so  daß  R'Sche- 
marja  eigentlich  »in  der  Thora  als  der  Väter  Erbteil  fest 
wurzelt  und  mit  ihrer  Krone  sich  schmückt7)  und  die 
Würde,  die  er  bekleidet,  schon  als  fester  Besitz  für  ihn 
gilt«8).     Nach  einer  herzlichen  Grußformel    in  seinem    und 

»)  Vgl.  Schechter  a.  a.  O.,  S.  647,  Z.  9-12.  Zu  beachten  sind 
hier  besonders  die  Worte,  Z.  11:  tPIIB  ty  J>Bj3  1D3,JP\  wobei  wir 
lebhaft  an  die  oben  erwähnte  Bezeichnung  in  Scherira's  Sendschreiben, 
Saadyana  S.  120,  Z.  8  v.  unt.  und  S.  124,  Z.  84  für  die  dortige  Hoch- 
schule erinnert  werden. 

8)  Vgl.  a.  a.  O.,  Z.  13,  wo  das  erste  Wort  wohl  sicher  THD 
gewesen  sein  wird,  und  ferner  S.  649,  Z.  46  fgg.:   ruW?  nstnit"'!  .  .  . 

b^idb  i^ai  "O  incsn  jjibp  a^n  l^m  . . . 

8)  Vgl.    S.   647,   Z.  15:    BBltPD    pB    1*113    nWtt    f*JW   a»iM    nw 

*)  Vgl.  a.  a.  o.,  s.  648,  z.  21:  i^an  tpjna  lay  ikp  n^ara  w 
Ibis  '»tb  •»  -pnanS  lom  pypu 

«)  Vgl.  S.  648,  Z.  25  fgg. 
«)  Vgl.  S.  649,  Z.  43—44. 

7)  Vgl.  a.  a.  O.,  Z.  45:  na  ibkjpi  itubk  n'jnJB  piruwi, 
«)  Vgl.  s.  648,  z.  22:  m»3  vty  mwan  miyn.   Die  Worte  npm 
KICKS  flVrya  "6  sind  nicht  recht  verständlich.  Schechters  Erklärungs- 
versuch nach  Baba  Bathra  29  b  ist  nicht   ganz  einleuchtend. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.  617 

seines  Sohnes  Namen1)  bezieht  sich  auf  Chuschiel  die  wieder- 
holt gemachte  Mitteilung,  daß  sein  Verlassen  der  Heimat,  um 
in  einem  arabisch-islamitischen  Lande  sich  aufzuhalten, 
lediglich  zu  dem  Zweck  erfolgt  sei,  um  den  Meister  zu 
sehen2).  Aber  die  jahrelange  Sehnsucht  konnte  bis  jetzt 
noch  nicht  gestillt  werden,  da  Chuschiel  in  Kairuän  auf- 
gehalten sei8).  Außerdem  wollte  er  das  Eintreffen  seines 
Sohnes  Elchanan  abwarten,  das  im  Vorjahre  erfolgt  sei. 
Aber  auch  jetzt  sei  die  schon  fest  beschlossene  Abreise 
durch  die  dringenden  Vorstellungen  der  Kairuäner  ver- 
hindert worden,  die  ihn  mit  Beweisen  innigster  Zuneigung 
und  Verehrung  überhäuft  haben,  so  daß  er  nur  dem  Höch- 
sten danken  könne  für  die  Gunst,  die  er  bei  ihnen,  wie 
auch  bei  der  Regierung,  gefunden  habe.  Alle  Versuche  der 
Kairuäner  konnten  jedoch  ihn  und  seinen  Sohn  nicht  von 
dem  Antritt  der  Reise  zurückhalten4).  Während  nun  noch 
die  Verhandlungen  gepflogen  wurden6),  ereignete  es  sich 
plötzlich,  daß  der  Resch-Kalla  R'Jehuda  (ben  Joseph)  und 
R'Joseph  ben  Berechja6)  nach  Mehadia7)  reisen  mußten. 
Aus  dem  weiteren,  leider  vielfach  lückenhaften  Inhalt  des 
Briefes  ist  wohl  zu  ersehen,  daß  Vater  und  Sohn  sich 
auch  bereits  dorthin  begeben  hatten8),  daß  der  von  dort 
stammende  R'Abraham  ben  Nathan  ihn  nun  flehentlich  be- 
schworen, nicht  nach  so  kurzer  Zeit  ihn  zu  verlassen9) 
und,   daß  diesem    sich  die  Söhne   des  R'Joseph    und  auch 

»)  Vgl.  S.  649,  Z.  21—22. 
*)  A.  a.  O.,  Z.  58—60. 
»)  A.  a.  O.,  S.  649,  Z.  60.  —  S.  650,  Z.  1. 
<)  A.  a.  O.,  S.  650,  Z.  61-68. 
»)  A.  a.  O.,  Z.  69—70. 

«)  Vgl.    über    diese    Poznanski    in   der    Harkavy-Festschrift,   S. 
202—204. 

t)  Vgl.  Schechter  a.  a.  O.,  S.  650,   Z.  70.    So   ist   wohl   sicher 
statt  mc-Hö  zu  lesen. 

8)  Vgl.  Schechter  a.  a.  O.,  Z.  71  u.  75. 
»)  A.  a.  O.,  Z.  71—72. 


618    Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

R'Nissim1)  angeschlossen  haben.  Infolge  dessen,  haben  sie 
sich  dem  Willen  der  Kairuäner  doch  schließlich  gefügt8). 
Das  Ausbleiben  der  sonst  von  Schemarja  empfangenen 
Freundschaftsbriefe  betrübe  ihn  sehr;  er  hoffe  jedoch,  daß 
solche  ihm  wieder  zuteil  würden8).  Am  Rande  dieses 
Briefes  findet  sich  ein  den  Namen  ^K'tnn  '3*13  ergebendes 
Akrostichon,  dessen  Verse  immer  mit  .T  enden,  und  worin 
dieser  als  grundlegender  Gesetzeslehrer  gerühmt  wird;  zum 
Schluß  wird  er  als  pm«  131  pma«  T3  bezeichnet4). 

Dieser  Brief  bildet  ein  außerordentlich  wichtiges  Do- 
kument für  die  Widerlegung  der  bisher  über  das  ganze 
von  uns  behandelte  Problem  verbreiteten  Ansichten,  wie 
auch  zur  Festellung  der  persönlichen  Verhältnisse  von 
Schemarja,  seinem  Sohne  Elchanan  und  auch  von  Chuschiel. 
Wir  ersehen  auch  aus  ihm  zunächst,  daß  Schemarja  sicher 
einer  seit  einiger  Zeit  in  Egypten  ansässigen  Familie  an- 
gehört. Demnach  kann  es  sich  bei  ihm  unmöglich  um  einen 
durch  die  Mildtätigkeit  der  Glaubensgenossen  losgekauften 
Gefangenen  handeln.  Denn  man  kann  es  als  gewichtiges 
argumentum  ex  silentio  annehmen,  daß  in  einem 
solchen  Falle  sicher  Chuschiel  auf  die  durch  das  Leid  ge- 
meinsamer Gefangenschaft  noch  inniger  gestalteten  Be- 
ziehungen zwischen  ihnen  beiden  hingewiesen  hätte.  Auch 
die  in  dem  Schreiben  zum  Ausdruck  kommende  große 
Bedeutung  Schemarja's  als  Gesetzeslehrer,  entspricht  ganz 
dem  ihm  von  den  Geonim  gespendeten  Lob  als  solcher. 

Nach  der  Schilderung  Chuschiel's  müssen  wir  uns  die 
Stellung  Schemarja's  in  Kairo  ungefähr  als  die  eines  Nagid 
denken,  und  da  liegt  es  vielleicht  nicht  fern,  ihn  mit   dem 

!)  Dies  ist  wohl  sicher  kein  anderer,  als  der  nachmals  so  be- 
rühmt gewordene  R'Nißim  b.  Jakob  und  nicht,  wie  Schechter  a.  a.  O., 
S.  642,  meint,  der  gleichnamige  Großvater. 

»)  Vgl.  a.  a.  O ,  Z.  73.  Vor  "OJtDn  wird  wohl  i:"?©3  zu  ergänzen 
sein. 

»)  Vgl.  a.  a.  O.,  Z.  76  tgg. 

«)  Vgl.  ebemdort  S.  647—648. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter     619 

ägyptischen  Nagid  zu  identifizieren,  von  dem  wir  nach  einer 
Veröffentlichung  Elkan  Adler's1),  einen  Selbstbericht  über 
«eine  Installierung  und  seine  Wirksamkeit  besitzen.  Es 
wird  uns  da  in  diesem  von  einem  eine  außerordentliche 
Tätigkeit  kfür  das  Torastudium  entwickelnden  Vorgänger 
berichtet2),  wie  auch,  daß  ersterer  seinen  mit  großem  Beifall 
aufgenommenen  Lehrvorträgen  die  Ernennung  zum  Nagid 
zu  verdanken  habe8).  Ferner  erfahren  wir,  daß  er  von 
einem  Exilarchen  Chisdai  oder  Ibn  Chisdai,  der  als  iJ3»w 
$>«")#>  ba  nvbi  tPfcO  K'twn  'KiDn  bezeichnet  wird,  die  Auto- 
risation  erhalten  hat*)  und  daß,  falls  ihn  nicht  der  Kalif 
bestätigt  hätte,  ihm  der  Gaon  der  palästinensischen  Aka- 
demie zu  seiner  Würde  verholfen  hätte5).  Ohne  die  mannich- 
fachen  Dunkelheiten  dieses  Berichtes,  besonders  betreffs  der 
Identifizierung  des  Exilarchen,  zu  verkennen,  was  auch  bereits 
Poznanski  behandelt  hat6),  glaube  ich.  daß  für  einen  Hin- 
weis auf  Schemarja  Folgendes  spicht:  1.  Auch  ihm  wird, 
wie  bereits  oben  erwähnt,  eine  große  Darstellungs-  und 
Rednergabe    bei  den  Lehrvorträgen  nachgerühmt7),    2.  Be- 

')  Vgl.  JQR.  IX,  S.  717  fgg.  Vgl.  hierzu  besonders  Poznanski 
In  REJ.  XLVIII,  S.  162—165. 

*)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  718,  Z.  11:    l"H    W  bl  T\b*   1T3  'fl  fN!  *3 

n*MrÄi  min  b^inb  "ijjö  wbj  nx  -ptem. 

s)  Vgl.  s.  717,  z.  l  fgg:  dv  wi  bv  ti  wih*  *Tm  wni 
«mrai  w»ö  mim  ibw  no»  'ivu  '•a  ^kib^  ^a  wen?  npxai  'iai  np 
\wb  ^b  |xu  an^x  'n  sa  iKi  '3  "Jbo  IXT1  niöjn  cino  njjm  'raa  *m  -\vt> 
w  p|jp  fix  my1?  jijhS  omaS* 

4)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  717,  Z.  10  u.  Z.  14  fgg. 

6)  A.  a.  O.,  S.  718,  Z.  16  fgg. 

•)  Vgl.  REJ.  a.  a.  O.,  S.  163—164.  Trotz  der  zeitweiligen  guten 
Beziehungen  zwischen  Rabbaniten  und  Karäern  läßt  Sich  doch  kaum 
mit  Poznanski  a.  a.  O.  annehmen,  daß  der  Exilarch  ein  Karäer  ge- 
wesen sein  soll;  einen  solchen  würde  der  Nagid  doch  keineswegs 
mit  bltlV^  *?a  ptfbi  BMP1  bezeichnet  haben. 

T)  Vgl.  die  oben  erwähnte  Stelle  aus  dem  Brief  Chuschiel's 
an  Schemarja,  JQR.  XV,  S.  649,  Z.  46  fgg.  mit  dem  Schluß:  man  >a 
trxßnn  dm  wwSi  d^bix  tibijö  o^ina. 


620  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

treffs  des  so  sehr  gepriesenen  Vorgängers  könnte  haupt- 
sächlich Samuel  ben  Paltiel,  der  berühmte  Sproß  der  Achi- 
maazfamilie  in  Betracht  kommen,  der,  wie  wir  aus  der 
Achimaazchronik  wissen,  sich  als  sehr  opferfähig  für  die 
Förderung  des  Gesetzesstudiums  erwiesen  hat1),  was  auch 
sehr  gut  zur  Zeit  Schemarja's  paßt,  3.  Auch  von  Schemarja 
wissen  wir,  daß  er  zur  palästinensischen  Akademie  in 
innigen  Beziehungen  stand2).  Alle  diese  Momente  lassen 
uns  die  Annahme  von  der  Identität  dieses  Nagid  mit  Sche- 
marja als  nicht  ganz  unwahrscheinlich  ansehen. 

3.  R'C  hu  schiel.  Die  geistige  Tätigkeit  in  Süd- 
italien   und    in    Kairuän* 

Von  großer  Wichtigkeit  ist  das  von  Schechter  ver- 
öffentlichte Genisa-Dokument  für  uns  aber  auch  betreffs  des 
zweiten  angeblichen  Gefangenen,  R'C  hu  schiel.  Es  ergibt 
sich  zunächst  aus  ihm,  daß  dieser  jedenfalls  in  innigen 
Beziehungen  zu  R'Schemarja  stand,  die  wohl  wahrschein- 
lich persönlicher  Art  gewesen  sind,  und,  daß  er  sehr  viel 
Genaues  über  ihn  wußte.  Man  wäre  sogar  versucht,  aus 
dem  Umstände,  daß  beider  Väter  und  Söhne  den  Namen 
Elchanan  führten,  der  einem  bestimmten  Lande  besonders 
eigentümlich  ist,  und  den  wir  also  auch  als  in  einer  und 
derselben  Familie  üblichen  betrachten  müssen,  auf  eine, 
wenn  auch  nicht  nahe  Verwandtschaft  der  beiden  Gelehrten 
zu  schließen.  Es  ist  dies  allerdings  nur  eine  durch  äußer- 
liche Momente  sich  aufdrängende  Vermutung,  die  jedoch 
nicht  ganz  grundlos  ist,  wenn  auch  in  dem  Briefe  selbst 
von  Familienbeziehungen   nicht  gesprochen  wird. 

Einen  sicheren  Anhalt  bietet  uns  nun  das  Schreiben 
zunächst  in  bezug  auf  Chuschiels  Herkunft  durch  die  Worte8) 

J)  Vgl.  Neubauer,  Mediaeval  Jewish  Chronicles  II,  S.  130  und 
dazu  besonders  Kaufmann  in  ZDMG.  LXI,  S.  436  fgg.  und  De  Ooeje 
ebendort  LXII,  S.  75  fgg. 

*)  Vgl.  hierüber  oben. 

a)  Vgl.  JQR.  XI,  S.  649,  Z.  59-^60. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.  621 

«"«  n'n  »h  hutmm  p«a  wasfffo  ißt/fa  um^in  pw  u/wr  '5 
STB  *ä  n"«i  noJa  »Tita  [?*6k].  Diese  Gegenüberstellung 
seiner  bisherigen  Heimat  und  eines  unter  arabisch-islami- 
tischer Herrschaft  stehenden  Landes  zu  fernerem  Aufenthalt 
zeigt  deutlich,  daß  er  bisher  in  einem  christlichen 
Lande  gewohnt  hatte,  keineswegs  aber  seine  Heimat, 
das  doch  gleichfalls  islamitische  Babylon  gewesen  sein 
kann.  Als  solches  kann  daher  auch  nicht  das  von  Mena- 
chem  Mein  angegebene  Spanien  in  Betracht  kommen1), 
da  dieses  ebenfalls  zu  den  arabischen  Ländern  in  jener 
Zeit  zählte.  Wir  hätten  also  nur  die  Wahl  zwischen  Grie- 
chenland2) und  Süditalien.  Ersteres  kann  jedoch  schwerlich 
als  die  Heimat  Chuschiels  in  Betracht  kommen,  denn  dort 
war  die  Gesetzeskenntnis  in  zu  geringem  Maße  heimisch, 
als  daß  es  als  Pflanzstätte  eines  Gelehrten,  wie  Chuschiel, 
angesehen   werden  könnte. 

Wenn  wir  nun  zur  Bestimmung  von  dessen  Heimats- 
land vorerst  äußerliche  Momente  in  Erwägung  ziehen,  so 
weisen  die  Namen  Elchanan,  Chuschiel  und  Chananael,  wie 
unser  Gelehrter  seinen  schon  in  Kairuän  selbst  geborenen, 
nachmals  so  berühmt  gewordenen  Sohn  genannt  hat8),  auf 
Süditalien  hin.  Wir  begegnen  wiederholt  diesen  Namen  und 
zwar:  1.  Elchanan.  Fast  nämlich  zu  derselben  Zeit,  in  der  die 


*)  Vgl.  Neubauer,  Mediaeval  Jewish  Chronicles  II,  S.  225.  Auf 
diese  Mitteilung  hat  erst  jüngst  Marx  in  ZHB.  XIII,  S.  74  aufmerksam 
gemacht.  Vielleicht  ist  aber  diese  Angabe  von  *nDD  ebenso  zu  be- 
urteilen, wie  die  a.  a.  O.,  S.  224  betreffs  Saadja's  Herkunft.  Übrigens 
ist  in  dem  genannten  Text  statt  Mson  sicher  ram\  zu  lesen,  wie  es 
auch    bei  Meiri's  Nachschreiber,    Isaac    Lattes,  a.  a.  O.,  S   234  heißt. 

*)  Von  dort  will  Groß,  Magazin  a.  a.  O.  die  vier  Gelehrten 
herstammen  lassen. 

»)  Schechter's  Annahme,  JQR.  XI,  S.  645,  daß  der  Name  von 
Chuschiel's  Sohn  später  aus  Elchanan  in  Chananael  geändert  wurde, 
um  Verwechslungen  mit  dem  gleichnamigen  Sohne  Schemarja's  zu 
verhüten,  hat  Poznanski  in  Harkavy- Festschrift,  S.  187,  widerlegt,  in- 
dem er  zugleich  die  Existenz  des  Elchanan  als  eines  Sohnes  von 
Chuschiel  auch  anderweitig  nachgewiesen  hat. 


622  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

beiden  obengenannten  Söhne  von  Schemarja  und  Chuschiel 
wirkten,  finden  wir  in  Siponte1)  einen  Schüler  Hafs,  Leon 
ben  Elchanan*).  2.  Chuschiel.  in  dem  von  Elieser  ben  Nathan 
q*3Ki)  uns  erhaltenen  alten  Gutachten  von  den  früheren 
Gelehrten  der  süditalienischen  Stadt  Bari3)  figuriert  unter 
den  Unterzeichnern  ein  Chuschiel.  Ebenso  bedient  sich  der 
Verfasser  der  auf  das  geistige  und  soziale  Leben  der  Juden 
Unteritaliens  ein  zum  großen  Teil  ganz  neues  Licht  wer- 
fenden Chronik,  Achimaaz  ben  Paltiel4),  am  Schluß  der- 
selben für  den  Messias  der  uns  sonst  nirgends  entgegen- 
tretenden Bezeichnung  ^«nsnn5).  3.  Chananael.  Diesen  Namen 
finden  wir  a)  wiederholt  in  der  genannten  Chronik  des 
Achimaaz6),  b)  unter  den  Unterzeichnern  des  erwähnten 
Gutachtens  aus  Bari7),  c)  in  der  Einleitung  zum  Chakmoni 
des  Süditalieners  Sabbatai  Donnolo,  wo  dieser  einen  Cha- 
nanael unter  seinen  Verwandten  aufzählt8).  Es  handelt  sich 
also  hier  um  Namen,  die  diesem  Land  eigentümlich  sind, 
wie  überhaupt  dort  die  die  Endung  bx  tragenden  Namen 
üblich  gewesen  zu  sein   scheinen. 

Es  ist  nun  nicht  zu  verkennen,  daß  zwischen  dem 
in  der  Achimaazchronik  wiederholt,  in  der  Verwandtschaft 
Sabbatai  Donnolo's  und  den  Unterzeichnern  des  genannten 
Gutachtens  je  einmal  vorkommenden  Chananael,  wie  in 
dem  an  letzterer  Stelle  auftretenden  Chuschiel  irgendwelche 

»)  Mit  dieser  Stadt  will  auch  Brüll  in  Jahrb.  IX,  S.  105  das  in 
Ibn  Daud's  Bericht  vorkommende  priDDD  identifizieren. 

»)  Vgl.  Groß'  Studie  über  Isak  b.  Malki  Zedek  und  seine  süd- 
italienischen Zeitgenossen  im  Magazin  etc.  II,  S.  33. 

3)  Vgl.  j'SKI  'D  ed.  Albek,  Warschau  1904,  Nr.  38,  S.  30,  Anm.  8. 
—  Über  diese  Gutachten  siehe  weiter  unten. 

*)  Vgl.  Neubauer  a.  a.  O.  II,  S.  |1 11 — 132  und  Kaufmann  in 
Monatsschrift  1896,  S.  462—473,  496-509,  529—554. 

6)  Vgl.  Neubauer  a.  a.  O.,  S.  132,  Z.  8  von  unten. 

«)  Vgl.  zur  Orientierung  die  genealogische  Übersicht  bei  Bachtr 
in  REJ.  XXXII,  S.  146  und  Kaufmann  a.  a.  O.,  S.  552. 

')  Vgl.  ed.  Albek  a.  a.  O. 

«)  Vgl.  Chakmoni,  ed.  Castelli,  S.  3. 


Beiträge  zur  Qeschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.     623 

nähere  Beziehungen  mit  unserem  Chuschiel  und  dessen 
Sohn  Chananael  sich  ergeben,  zumal  auch  noch  andere 
Namen  wiederholt  in  diesen  drei  Urkunden  uns  begegnen, 
wie  besonders  der  Name  Sabbatai.  Aber  auch  der  seltene 
Name  Pappoleon  tritt  uns  sowohl  in  dem  Stammbaum  der 
Achimaaz-Familie,  wie  in  den  Mitgliedern  des  Gerichts- 
kollegiums von  Bari  entgegen.  Wir  wissen  nun  aber  be- 
stimmt, daß  der  im  Jahre  925  bei  der  Erstürmung  von 
Oria  durch  die  Sarazenen  um's  Leben  gekommene  Chassadja 
ben  Chananael  zugleich  der  Achimaaz-Familie  angehörte1), 
wie  auch,  daß  er  zwei  Brüder,  Pappoleon  und  Sabbatai 
hatte,  so  daß  der  in  dem  Gutachten  von  Bari  als  Sohn 
eines  Schabtai  genannte  Pappoleon  ein  Neffe  des  Chasdaja 
und  Enkel  des  Chananael  gewesen  ist.  Das  Vorkommen 
des  letzteren  Namens,  wie  das  eines  Chuschiel's,  läßt 
uns  die  Herkunft  des  letzteren  aus  der  berühmten  Achi- 
maaz-Familie und  in  weiterer  Verzweigung  aus  der  des 
Donnolo,  als  ziemlich  gesichert  annehmen. 

Von  den  Schicksalen  der  Achimaaz-Familie  ist  uns 
bekannt,  daß  eines  ihrer  Mitglieder,  Paltiel,  in  hoher  Gunst 
bei  dem  fatimidischen  Kalifen  A 1  m  u  i  z  z  stand,  dem  er 
sowohl  in  Mahdieh,  in  Nordafrika,  als  auch  in  Egypten, 
und  zwar  in  Kairo,  wertvolle  Dienste  leistete,  so  daß  er 
auch  unter  seinem  Nachfolger  eine  Vertrauensstellung  be- 
kleidete2). Er  war  auch  der  erste,  der  in  Egypten  die  Nagid- 
würde  bekleidete.  Er  starb  im  Jahre  976  und  wurde  von 
seinem  Sohn  Samuel,  der,  gleich  ihm,  durch  fürstliche  Wohl- 
tätigkeit sich  auszeichnete,  in  Jerusalem  begraben.  Unter 
den  Angehörigen  der  Familie,  die  sich  auch  in  der  Gnade 
des  islamischen  Fürsten  sonnen  konnten,  kennen  wir  auch 
einen  Chananael  II,  Oheim  des  Paltiel,  der,  nach  Bari  für 
einige  Zeit  zurückgekehrt,  mit  einem  Sohne,  Namens  Chassadja, 
nach  Mahdieh    sich    wieder   begab,    während   ein  älterer 

»)  Vgl.  Kaufmann,  Monatsschrift  1896,  S.  532,  Anm.  1. 
»)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  552. 


624   Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

Sohn,  Samuel,  in  Capua  zu  hohen  Ehren  gelangte  und  noch 
mit  den  Verwandten  gleichen  Namens  in  Egypten  gute 
Beziehungen  unterhielt.  Chananael  selbst  wurde  auch 
von  seinem  Großneffen  Samuel  in  Jerusalem  bestattet1). 
Aus  einem  Zweige  des  in  Süditalien  zurückgebliebenen 
Teiles  stammte  nun  wohl  unser  Chuschiel.  Von  den 
in  Egypten  zu  hohen  Ehren  gekommenen  Gliedern  der 
Familie  vermeldet  die  Chronik  nichts  weiter,  obwohl 
anzunehmen  ist,  daß  sie  sich  noch  fernerhin  unter  den  Fa- 
timiden  deren  Gunst  erfreut  haben  wird.  Wenn  nun  in 
dem  oben  dargestellten  Brief  Chuschiel's  an  Schemarja 
dieser  als  yfjl  ir  bezeichnet  wird,  so  gehen  wir  nicht 
fehl  in  der  Annahme,  daß  er  zu  den  unmittelbaren  Nach- 
folgern des  zweiten  Nagid,  Samuel  ben  Paltiel,  gehört  und 
somit  eine  durch  Gelehrsamkeit  wie  äußere  Macht  ausge- 
zeichnete Stellung  bekleidet  hat.  Die  Kunde  von  dem  hohen 
Rang  des  allerdings  wohl  schon  sehr  weitläufigen  Ver- 
wandten, die  zu  den  in  Italien  Gebliebenen  gedrungen 
sein  mag,  veranlaßte  vielleicht  Chuschiel,  zumal  die  Wirren 
in  der  süditalienischen  Heimat  nicht  die  nötige  Sicherheit 
boten,  den  hochangesehenen  Schemarja  aufzusuchen,  und 
so  sich  dauernd  im  Lande  der  Ismaeliten  niederzulassen, 
wobei  er  jedoch  in  Kairuän  aufgehalten  und  dort  der 
Gründer  einer  neuen  Richtung  des  Talmudstudiums  wurde. 
Wie  aus  Chuschiel's  eigenen  Angaben  hervorgeht,  ist  auch 
ihm  dort,  wie  eine  der  Familie  gleichsam  als  Erbteil  be- 
schiedene  Gabe,  die  Gunst  des  Fürsten  und  seiner  Großen 
zuteil  geworden.  Darum  preist  ihn  auch  Samuel  ha-Nagid 
in  einem  erst  jüngst  veröffentlichten  Gedicht  als  tu  »edlen 
Wohltäter«2).  Dasselbe  meldet  uns  aber  auch,  daß  Chu- 
schiel aus  eigenem  Antriebe  seine  Heimat  verlassen  hat  und 

l)  Vgl.  hierzu  und  zum  Folgenden  die  Darstellung  von  Kauf- 
mann in  Monatsschrift  a.  a.  O.,  S.  552  fgg. 

')  Vgl.  Brody  in  der  Festschrift  für  Berliner,  hebr.  Abtig.,  S. 
11,  Z.  2. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.  625 

nach  Afrika  gekommen  ist1),  in  einer  Weise,  die  den  Be- 
richt von  einer  gewaltsamen  Hinführung  nach  dort  aus- 
schließt2). Die  Verbindung  mit  dem  italienischen  Heimat- 
land hat  Chuschiel  dadurch  noch  bekundet,  daß  er  dem  im 
neuen  Wohnort  geborenen  Sohn  den  Namen  des  großen 
Ahnen,  Chananael,  beilegte. 

Wir  haben  nun  mit  einem  hohen  Grad  der  Wahr- 
scheinlichkeit die  unmittelbare  Abstammung  ChuschieFs  aus 
Süditalien  zu  erweisen,  zugleich  auch  sein  Verhältnis  zu 
Schemarja  darzulegen  versucht.  Für  unsere  Annahme  brauchen 
wir  aber  nicht  Zweifel  zu  hegen  infolge  des  Schweigens  des 
Chronisten  Achimaaz  über  Chuschiel,  da  dieser  nicht  einmal 
seines  berühmten  Verwandten  Sabbatai  Donnolo  und  des 
in  dessen  Jugendzeit  fallenden  Märtyrertodes  des  Chas- 
sadja  Erwähnung  tut9). 

Zu  diesen  allerdings  mehr  formellen  Gründen  treten 
aber  auch  innere,  auf  literarischen  Momenten  beruhende. 
Süditalien  bildete,  wie  Italien  überhaupt,  sicher  seit  län- 
gerer Zeit  ein  Centrum  jüdischer  Geistestätigkeit*),  wo  die 
intensivere  Pflege  der  Gesetzeskunde  eine  Stätte  gefunden 
hat.  Wenn  auch  die  dortigen  Gelehrten  nicht  mit  denen 
Babyloniens  an  Bedeutung  wetteifern  konnten,  so  haben 
sie  dennoch  für  die  nationalen  Studien  in  der  ihnen  eigenen 
Art  und  Geistesrichtung,  die  durch  die  traditionellen  Be- 
ziehungen zu  Palästina  gegeben  war,  manches  Wertvolle 
geschaffen.  Seit  dem  neunten  Jahrhundert  unter  dem  zwie- 
fachen Einfluß  der  einheimischen,  christlichen  Bevölkerung 
und  der  zeitweilig  eine  Herrschaft  aufrichtenden  Araber 
stehend,  und  mehr  Anteil  an  dem  gerade  dort  recht   man- 

»)  Brody,  das.,  S.  12,  Z.  11-12. 

*)  Vgl.  auch  Poznanski  a.  a.  O.,  S.  193. 

s)  Vgl.  auch  Kaufmann  a.  a.  O.,  S.  540—541. 

*)  Über  die  hier  in  Betracht  kommende  Literatur  im  Allgemei- 
nen, vgl.  Zunz  QV.»  S.  375  fgg.  (=  362  fgg.),  Rapaport,  Biographie 
des  Eleasar  Kalir  Note  17,  Weiß  TVH  IV,  S.  268  ff.,  Groß,  a.  a.  O., 
S.  21  ff. 

Monatsschrift,  56.  Jahrgang.  40 


626  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

nichfaltig  sich  gestaltenden  Leben  der  andersgläubigen  Um» 
gebung  nehmend,  als  die  Juden  in  Babylonien,  die  in  der 
Einförmigkeit  der  Verhältnisse  höchstens  von  den  Wellen 
der  theologischen  Bewegung  innerhalb  des  Islam  berührt 
wurden,  haben  die  Juden  Süditaliens  zunächst  eigenartige 
agadische  Schöpfungen  hervorgebracht,  die  dem  Grundstock 
dieser  Midraschim  deutlich  das  Gepräge  ihres  Landes  und 
ihrer  Zeit  aufdrücken.  Wir  denken  hierbei  zunächst  an  den 
uns  in  verschiedenen  Rezensionen  vorliegenden  Tanchuma- 
Jelamdenu,  für  dessen  spätere  Zeit  das  reine  Hebräisch 
hinlänglich  Zeugnis  ablegt1),  und  als  dessen  Entstehungs- 
ort bereits  Zunz  mit  gewichtigen  Gründen  das  südliche 
Italien  erkannt  hat. 

Besonders  aber  kommt  hierbei  in  Betracht  die  gegen- 
wärtige Gestalt  der  Pesikta  Rabbati.  Bereits  der  Altmeister 
Zunz  hat  ausführlich  über  diesesWerk  gehandelt  und  als  seinen 
Heimatsort  Griechenland  angenommen2).  Indessen  kann  es 
durch  die  Ausführungen  von  J.  L6vi3),  Bacher4)  und  Weiß5)  als 
gesichert  angenommen  werden,  daß  dieses  Midraschwerk 
in  der  uns  vorliegenden  Fassung,  aus  dem  wir  übrigens 
ein  eigenes  Zeugnis  seiner  Abfassung  nach  845  haben,  nach 
Südtalien  gehört.  Man  beachte  zunächst  die  wiederholt  vor- 
kommende Jelamdenuformel,  die  auf  die  Abhängigkeit  von 
den  in  Palästina  üblichen  derartigen  Werken  hinweist,  und 

»)  Vgl.  Neubauer  in  REJ.  VIII,  S,  226  ff.,  ferner  Weiß  in  rP3 
niD^n  I,  S.  37  ff.,  71  ff.,  71  ff.,  101  ff.;  Epstein  ebendort  S.  7  u.  S.  23. 

•)  Vgl.  GV.8,  S.  248—262.  Das  dort  (S.  256,  Anm.  2)  von  Zunz 
noch  angeführte  D^I^S,  S.  116  a,  Kalifen,  als  Hinweis  auf  Griechen- 
land, kann,  abgesehen  davon,  daß  dies  eher  auf  die  zeitweilige  Araber- 
herrschaft für  Italien  paßt,  deswegen  nicht  in  Betracht  kommen,  weil 
die  LA.  entweder  D^Dl'vS  oder  Dltt^B  lautet,  vgl.  Friedmanns  An- 
merkung zum  Text  a.  a.  O.  Nr.  16  und  Güderaann  im  Lexidion,  S. 
204  b  s.  v. 

»)  Vgl.  REJ.  XXIV,  S.  281—285  u.  XXXII.  S.  279-282. 

*)  A.  a.  O.  XXXIII,  S.  45  ff.;  vgl.  auch  Monatsschr.  XLI,  S. 
604  ff. 

6)  Vgl.  -im  III,  S.  283  ff. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  geonäischen  Zeitalter.    627 

auch  dies  führt  uns  auf  das  von  jeher  mit  jenem  Lande  in 
inniger  Beziehung  stehende  Italien  Aber  auch  andere  An- 
zeichen sprechen  für  die  süditalienische  Heimat.  Wir  finden 
in  ihm  nämlich  merkwürdigerweise  offenbare  Benutzungen 
von  Erzählungen  aus  den  apokryphischen  Büchern,  wie 
z.  B.  dem  vierten  Esrabuch,  was  sich  unter  anderem  in 
der  Erzählung  Nr.  26  Ende  (S.  131  b— 132  a)  zeigt1).  Auch 
eine  Benutzung  des  in  Süditalien  entstandenen  Josippon 
läßt  sich  nachweisen2).  Bemerkenswert  sind  ferner  die  Er- 
zählungen mit  Anklängen  an  christlich-messianische  Stellen, 
wie  sich  aus  der  Behandlung  des  besonders  in  christli- 
chen Kreisen  eingehend  in  messianischem  Sinne  gedeuteten 
Ps.  22  am  Ende  von  Nr.  36  und  in  Nr.  37  (S.  162  b— 163  a) 
ergibt3).  Auch  das  ganze  Kolorit  von  Nr.  36  mit  den  aus- 
führlichen Erörterungen  über  die  messianische  Zeit  läßt  uns 
an  Einflüsse  denken,  wie  sie  auf  die  Juden  gerade  in  dieser 
Gegend  zu  der  genannten  Zeit  einwirken  mußten4).  Wenn 
sonst  auch  in  der  alten  agadischen  Literatur  diesem  Problem 
eine  große  Beachtung  zuteil  wird,  so  findet  sich  indessen 
nirgends  eine  Ausspannung  des  Gedankens  von  den  Leiden 
des  Messias  selbst,  wie  sie  an  den  genannten  Stellen 
und  beispielsweise  uns  auch  in  dem  Ausspruch  von  dem 
IW&öfl  ~]hn  in  Nr.  31  (S.  146b)  entgegentritt5),  wo  wir  lesen: 
nuw  »d^  im  in  ^33  iD"na  omo«  no  non  epo  p*  1J,™3"> 11a**  b* 
THn6).  Diesen  Erwägungen  gegenüber,  die  schon  von  Asarja 

!)  Vgl.  REJ.  XXiV,  S.  281—285  u.  XXXII,  S.  279-282. 

»)  a.  a.  O.  XXXIII,  S,  41  fgg.;  vgl.  auch  Monatsschrift  XLI, 
S.  604  fgg. 

s)  Vgl.  T1T1  III,  S.  233  fgg. 

*)  Vgl.  Levi  in  REJ.  XXIV,  S.  280—282.  Die  Bemerkung  von 
Zunz  a.  a.  O.,  S.  256,  Anm.  c,  daß  dieses  Stück  der  Kinnah  Kalirs 
DBD  rm^DS  TK  zugrunde  liege,  was  auch  Friedmann  a.  a.  O.,  Anm. 
82  annimmt,  beruht  wohl  auf  einem  Irrtum,  da,  abgesehen  vom  dem 
Eingang,  der  Inhalt  ein  vollständig  verschiedener  ist. 

6)  Vgl.  auch  Levi  a.  a.  O.,  S.  284,  Anm.  3. 

8)  Vgl.  REJ.  XXXII,  S.  281. 

40* 


628  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

de  Rossi  und  Nachman  Krochmal  geltend  gemacht  wurden, 
können  die  von  Friedmann1)  und  Weiß2)  geäußerten  gegen- 
teiligen Ansichten,  daß  die  in  den  nichtjüdischen  Schriften 
zum  Ausdruck  kommenden  Gedanken  von  dem  leidenden 
Messias  jüdischen  Quellen  entlehnt  sind,  nicht  als  stichhaltig 
angesehen  werden.  Gerade  die  zuletzt  erwähnte  Stelle,  für 
die  Weiß  eine  Parallele,  resp.  Quelle,  im  Midrasch  Schocher 
Tob  zu  Ps.  2,  9  nachweisen  will*),  zeigt  eine  ganz  andere 
und  für  den  Redactor  der  Pesikta  Rabbati  typische  Umge- 
staltung des  dort  behandelten  Gedankens,  wo  die  Leiden 
in  der  dem  Auftreten  des  Messias  vorangehenden  Zeit  ge- 
schildert werden,  während  hier  von  denen  des  Messias 
selbst  gesprochen  wird.  Alle  diese  auf  eine  Rezeption 
fremder  Einflüsse  hinweisenden  Momente  verstärken  noch 
die  Annahme,  daß  die  viel  besprochene  Erwähnung  der  »ja 
n»3,  sowie  der  Einwohner  der  benachbarten  Städte,  in  Nr. 
28  (S.  135  b)  sich  tatsächlich  auf  die  Orte  Bari,  Tarent  und 
Otranto  bezieht,  in  denen  sich  eben  schon  seit  der  Zer- 
störung des  zweiten  Tempels  eine  bedeutende  Niederlassung 
von  Juden  befunden  hat,  und  die  auch  in  der  Achimaaz- 
chronik  eine  große  Rolle  spielen4).  Hierzu  kommen  noch 
die  guten  Beziehungen,  die  noch  bis  in  die  Mitte  des  10. 
Jahrhunderts  hinein  zwischen  Juden  und  Christen  in  diesem 
Lande  bestanden,  und  wovon  der  Verkehr  Sabbatai  Don- 
nolo's  mit  dem  Abt  von  Grotta  Ferrata,  dem  heiligen  Nilos, 
ein  Beispiel  ist. 

*)  Pesikta  rabb.,  S.  164—165,  Anm.  18. 

8)  Vgl.  TTT1  HI,  S.  287. 

3)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  278  und  dazu  Midrasch  Tehilim,  ed.  Buber, 
S.  28, 

*)  Vgl.  hierzu  Levi  in  REJ.  XXXII,  S.  278  fgg.,  Bacher  REJ. 
XXXIII,  S.  39  fgg.  u.  Monatsschrift  1897,  S.  601  fgg.,  gegen  Krauß 
ebendort  S.  554  fgg. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Besprechungen. 

nijna»  tisddi  man  rona  Vxt  pn*o  ja  nsna  wann  ruwon  bntb 
»nana  pna^  man  mnpn  sjpiDi  ■»anjwi  ibu  ^bb  rwin  rr-oy  nprpn  pnjno 
.avStotoxi  'j't  itjt^k  »ana  nruo  »Ta  pnairo  pnjnn  cjsbbi  oiiaS  «»an 

Kose  ben  Maimuns  Kommentar  zur  Mischnah,  Traktat  Makkoth 
nnd  Traktat  Schebuoth,  in  neuer  hebräischer  Übersetzung  aus  dem 
arabischen  Urtext  mit  prüfenden  und  erläuternden  Anmerkungen  von 
Manuel  (Manni)  Qottlieb,   Stiftsgelehrter,    Hannover  1909.  74  S.,  8. 

Von  demselben  Verfasser  erschien  im  Jahre  1906  eine  hebräische 
Übersetzung  von  Maimonides'  Kommentar  zum  Traktate  Sanhedrin, 
die  ich  in  dieser  Monatsschrift  (Jahrg.  1910,  S.  333—336)  rezensiert 
habe.  Ich  habe  dort  auch  mitgeteilt,  daß  Herr  Qottlieb  in  seiner  Ein- 
leitung zu  Sanhedrin  versprochen  hat,  den  Mischnahkommentar  des 
Maimonides  zur  ganzen  Ordnung  Nesikin  neu  zu  übersetzen.  Daß  er 
Wort  hält,  zeigt  uns  die  vorliegende  Arbeit.  In  dem  kurzen  Vorworte 
zu  derselben  weist  Gottlieb  auf  seine  Einleitung  zu  Sanhedrin  hin, 
die  eigentlich  als  Einleitung  für  das  ganze  Werk  gedacht  wurde,  und 
aus  welcher  ich  in  der  genannten  Besprechung  das  Wichtigste  ange- 
führt habe.  Auch  diese  Arbeit  liegt  ausschließlich  in  hebräischer 
Sprache  vor.  Als  arabischer  Text  diente  dem  Verfasser  Maimonides' 
Kommentar  zum  Traktate  Makkoth,  ed.  Barth  (Berlin  1880),  und  eine 
Handschrift  der  königl.  Bibliothek  zu  Berlin  (Ms.  or.  S.  569).  Nach- 
träglich (auf  der  letzten  Seite  der  Übersetzung)  bemerkt  der  Ver- 
fasser, daß  er  während  des  Druckes  der  vorliegenden  Schrift  Gele- 
genheit hatte,  die  Berliner  Handschrift  (Ms.  or.  S.  567),  welche  die 
alte  hebr.  Übersetzung  des  Kommentars  zu  Moed,  Naschim  und 
Nesikin  enthält,  zu  vergleichen.  Die  Handschriften  bezeichnet  er  mtt 
J,  a,  N.  In  einer  Anmerkung  zum  Vorworte  zeigt  uns  Gottlieb  an, 
daß  ein  weiterer  Teil  der  versprochenen  Übersetzung  (Edujoth  und 
Aboda  sara)  bereits  druckfertig  vorliegt. 

Im  allgemeinen  kann  iber  die  vorliegende  Arbeit  dasselbe  bei- 
fällige Urteil  abgegeben  werden,  wie  über  die  vorangegangene.  Hier 
wie  dort  hat  uns  Gottlieb  ei»e  sorgfältig  ausgearbeitete,  dem  talmu- 
mudischen  Idiom  entsprechende  Übersetzung  geboten,  für  die  ihm 
sicherlich  alle  dankbar  sein  werden,  die  sich  für  den  Talmud  und 
dessen  Kommentare  wahrhaft  interessieren.  Hier  wie  dort  beobachten 


30  Besprechungen. 

wir  dieselbe  Vertiefung  in  die  Halacha,  dieselbe  Gründlichkeit  und 
rabbinische  Belesenheit  des  Verfassers.  Kurz,  wenn  man  die  Anmer- 
kungen Gottliebs  liest,  empfängt  man  den  Eindruck,  die  Schrift  eines 
unserer  »Großen«  vor  sich  zu  haben.  Nun  hat,  wie  oben  kurz  erwähnt 
wurde,  Professor  Jakob  Barth  in  Berlin  bereits  im  Jahre  1880  den 
arabischen  Text  des  Maimonides-Kommentars  zu  Mßkkofh  ediert  und 
die  alte  hebräische  Übersetzung  nach  dem  arab.  Manuskript  verbessert« 
Es  läßt  sich  demnach  fragen,  ob  denn  Gottliebs  Übersetzung  des 
Kommentars  zu  Makkoth  noch  irgend  einen  Nutzen  habe.  Tatsächlich 
ist  Barths  Edition,  die  —  nebenbei  bemerkt  —  die  erste  des  Maimu- 
nischen  Mischnahkommentars  im  Urtexte  war,  so  exakt,  daß  sie  wirklich 
allen,  die  auf  diesem  Gebiete  arbeiten,  als  Muster  dienen  kann.  Allein 
Barth  berichtigte  bloß  die  offenkundigen  Fehler  der  Übersetzung  nach 
dem  arab.  Original  und  ließ  die  alte  Übersetzung  mit  ihren  sonstigen 
Unebenheiten  weiter  bestehen.  Dagegen  bietet  uns  Gottlieb  eine 
gänzlich  neue  Übersetzung,  die  allen  Anforderungen  gerecht  werden 
will.  Ferner  hat  Barth  seine  Edition  mit  bloß  kurzen  —  allerdings 
bündigen  —  Fußnoten  versehen,  während  Gottliebs  Anmerkungen 
nicht  minder  gründlich,  aber  bei  weitem  zahlreicher  und  ausführlicher 
sind. 

Den  Vorzug  der  Gottlieb'schen  Übersetzung  vor  der  Ibn  Jakubs 
habe  ich  bereits  in  meiner  oben  genannten  Besprechung  durch  mehrere 
Beispiele  darzutun  versucht.  Ich  erachte  es  daher  für  richtig,  auch 
hier  einige  Stellen  anzuführen,  die  meine  Annahme  durchaus  bestäti- 
gen. Allerdings  kann  ich  diese  hauptsächlich  dem  Kommentar  zn 
Makkoth  entnehmen,  dessen  arab.  Text  (ed.  Barth)  mir  vorliegt,  wäh- 
rend ich  den  arab.  Text  des  Kommentars  zu  Schebuoth  nicht  besitze. 
Herr  Gottlieb  hat  nämlich  auch  hier  den  arab.  Text  nicht  abgedruckt, 
sondern  bloß  hin  und  wieder  arabische  Ausdrücke  oder  Sätze  in 
Fußnoten  angegeben.  —  Makkoth,  Abschn.  2,  Hai.  1,  arab.:  btyO 
m-iji'?«  am  po^T  «njy  jcnair  "iin  \11  noSßD'rxs  d^  nbiym 
jjo^m  p-on  (x  i^k  (od.  rnacS«) ;   Ibn  Jakub :  px  k\i  nbjyc-  b:yan 

Pp\"!3BB>  -IJ>  DTIÖB>n  12  ptfDtPDÖl  pp^HD  US*K  pKJ3!W  ftpVti;  Goitlieb: 

\'x:in  n  pvoiwov  px  n\ni  p^nnb  "»wy  +m  p^ncn  ft^ajma  tojtoft 
p-nnXDi  \"p^2ü  cnv  -ty  o^ron  ^b  m  sjinS  irmoipcn;  das.  3,  l  (Barth 
S.  18,  Gottlieb  S.  13)  arab.;  DJP  inxi  1«S  wir  |K  Kl^K  CDpbtt  Kftft  |D1 
niD1«  »r\bi\  ""in;  I.  J.:  nvbv  nw  ^by  nnn  vtb  *yv  p  ü:  pbnn  ntoi 
pnout;  G. :  nif«  ttnbn  nn  wia  nnx  ikS  muis  Katw  my  mn  pbnn  pi; 
das.  3,  11,  arab. :  K-ixieriDK  rnnKiSx  rn'rj'?«  nin  "proi  pymx  nni:  k'td 
dikS  aiSft*  V6pn  *»b  fteinSi»  nixS«  f«  py  kds  ;  I.  J. :  D^jmit  naa  kS 
sun  mon  bijtm  nYDtfjw  "isop  102  m  w  "jm  n  rupft  mai ;  G. :  xb 
cyft)  vrt  ptyRsprs  pinu  th  nnxn  njnsn  nnix  -ixt?:  «bx  c^aixn  waj 


Besprechungen. 

mionn  mjfon  yna  -nm  vüü  nn:b  ww;  Schebuofh  4,  5,  arab. 
ftmnv  DStiy  "h;   I.  J. :  nnj>  oa^XK  ^  w*i   G. :  ny  da«;    das.  5,  4, 

arab. :  oityo  IHrtD  ^ ;  I.  J. :  JNT1  Siatp  im  ;  Q.  :  jjitI  p^pn  ''TD.  — 
Hier  läßt  Gottlieb  bloß  das  talmudische  Zitat  folgen,  welches  Mai- 
monides  arabisch  zitierte  —  das.  6,  2,  arab. :  njy  ttpO"1  iro  pa1  8*7  Tin 
ms  du1?,  I.  J.:  avn  aw  wob  jnu  130  rm*  xto  ,d'?,  Q.:  *nn  xto  »tj 
Dl^a  13l"«n  ^TB  lniOJflB  WB.  —  Dagegen  halte  ich  Ibn  Jakubs  o^JJ  D1P3 
für  das  arab.  HJ13  (Makkoth  3,  17)  und  "IPBK  ''K  für  -J3  kS  (das.)  für 
richtiger  als  Gottliebs  *|TT  DlSaa,  resp.  wn  kS,  weil  jene  gewöhn- 
licher und  durchaus  verständlicher  sind. 

Die  zu  Makkoth  1,  6  (Anm.  14)   von  G.  vorgeschlagene  Emen- 
dation  des  arab.  Textes   nach  der  hebr.  Übersetzung:   piw  XDDnSx 

(=  B*tyD  mann)  statt  pinan  n«3n^«  (=  b^ti  Ta  na  «r»,  nach 

Barth),  die  scheinbar  einen  besseren  Sinn  gibt,  ist  mit  E.  unrichtig, 
weil  es  nicht  anzunehmen  ist,  daß  beide  arabische  Handschriften,  die 
Barth  benutzte,  gerade  an  dieser  Stelle  fehlerhaft  seien  usd  beide 
noch  obendrein  dieselben  Fehler  haben,  während  die  sonst  fehler- 
hafte hebr.  Übersetzung  hier  die  richtige  Lesart  bewahrt  habe.  Ich 
glaube,  daß  Maimonides  mit  diesen  Worten  den  Satz  der  Mischna 
p"n  "lüyv  IV  erklären  will  und  meint,  obgleich  der  Verurteilte  nicht 
hingerichtet  worden  ist,  war  er  doch  ein  Mann  des  Todes,  da  die 
Richter  durch  die  Aussage  der  —  später  überführten  —  Zeugen,  die 
gesetzliche  Kraft  erhalten  hatten,  das  Todesurteil  zu  fällen  und  auch 
auszuführen.  Darnach  hätte  Barth  (a.  a.  O.  S.  8,  Anm.  1)  Recht,  der 
die  Lesart  der  hebr.  Übersetzung  verwirft  und  den  arab.  Text  wie 
folgt  wiedergibt:  l'ty  nräBW  HD3  HT  ^33  DW1  T3  D3  V  ^3K»  Es 
wäre  doch  richtig  gewesen,  wenn  Herr  Gottlieb  auch  diese  Stelle  in 
der  nachträglich  von  ihm  benutzten  hebräischen  Handschrift  (•)  ^'3) 
verglichen  und  uns  das  Resultat  angegeben  hätte. 

Ein  besonders  großes  Verdienst  hat  sich  Gottlieb  durch  die 
Übersetzung  des  Kommentars  zu  Schebuoth  erworben,  dessen  arabi- 
scher Text  bis  jetzt  noch  nicht  ediert  worden  ist.  Hier  zeigt  uns 
Gottlieb  in  den  Anmerkungen  die  zahlreichen  Fehler  der  alten  Über- 
setzung und  bietet  uns  an  ihrer  Stelle  eine  richtige  und  klare  Über- 
tragung des  arabischen  Textes.  Herr  Gottlieb  hat  auch  —  was  ich  in 
der  vorhergehenden  Besprechung  hervorzuheben  vergessen  habe  — 
den  Mischnatext  sorgfältig  geprüft,  indem  er  auf  die  Varianten  in  der 
Handschrift  hinwies  und  verschiedene  Lesarten  in  den  beiden  Tal- 
müden  zur  Vergleichung  heranzog.  Eine  wichtige  Variante,  die  Gottieb 
übersehen  hat,  möge  hier  ergänzt  werden,  nämlich  in  Mischna  4,  13, 
wo  die  Handschrift  133"»  .  ♦ .  1H3">  (für  "JS'"  . .  .  "p"«  der  Ausgaben)    hat. 

Zum  Schluß  kann  ich  nicht  umhin,  einige  Worte  zur  Rechtferti- 


632  Besprechungen. 

gung  Ibn  Jakubs  hinzuzufügen.  Ich  habe  schon  vorher  und  vorwiegend 
bei  der  Lektüre  der  vorliegenden  Arbeit  die  Beobachtung  gemacht, 
daß  die  meisten  Fehler  der  alten  hebr.  Übersetzung  des  Maimonides- 
Kommentars  auf  das  Konto  der  Abschreiber  zu  setzen  sind.  Ferner 
ist  in  Erwägung  zu  ziehen,  daß  die  alten  Übersetzungen  doch  die 
ersten  waren,  und  die  ersten  Übersetzer  es  doch  am  schwierigsten 
haben.  So  hatte  es  Gottlieb  viel  leichter,  den  arab.  Text  zu  übersetzen, 
indem  ihm  die  Übersetzung  Ibn  Jakubs  vorgelegen  hat. 

Stockholm.  M.  Fried. 


Besprechungen.  633 


(Schluß.) 

Zu  Qinzbergs  Qeonica  II  habe  ich  im  Einzelnen  noch  Fol- 
gendes zu  bemerken: 

S.  306,  307.  Die  ganze  Diskussion  über  die  Wendungen  '^no 
KVt  iKDtP  XtO  "OD  und  KV!  HKTrv  'JDD  ist  überflüssig  und  zum  Teil 
unbegreiflich,  da  diese  Wendungen  in  der  Tat  im  Talmud  vorkommen. 
XVI  ilKTrP  piranfi  kenne  ich  aus  vier  Stellen:  Sabbath  140a,  Sukkah 
19b,  Bezah  31a  und  Baba  Bathra  79b.  KVT  -»«DBr  nvj  *Ä  pXMflD  ist 
mir  zwar  aus  dem  Babli  nicht  bekannt,  aber  Jeruschalmi  Erubin 
III,  1  (20 d  44)  inbezug  auf  diese  Mischnah  heißt  es:  iKDB>  nvjT  "JDD1). 
Wenn  der  Gaon  diese  Stelle  meint,  so  hätten  wir  hier  einen  unwider- 
leglichen Beweis  dafür,  daß  Amram  den  Jer.  gekannt,  und  zwar 
gründlich  gekannt  hat.  [Vgl.  Beza  12b  oben:  XVI  tP'S  n:Vü  S'JIKI.] 

S.  306,  Anm.  Vgl.  zu  DnWJ  Jer.  Schekalim  46  b  18—28  und 
Challah  60  b  unt. 

S.  307,  Anm.  2.  Auch  Hai.  gedoloth,  ed.  Berlin,  S.  633.  Hai. 
ged.  verstehen  unter  ^"ibd  auch  Gen.  r.  —  Sifre  für  Mechiltha  vgl. 
Resp.  der  Gaonim  ed.  Harkavy  S.  107  und  Hoffmann,  Mechilta,  Ein- 
leitung S.  V*). 

S.  308.  »the  Seder  ha-Mischnab,  which  is  the  designation 
commonly  (?)  used  for  the  first  part  of  the  Seder-Tannaim  we- 
Amoraim«.  Mir  ist  diese  Bezeichnung  nicht  bekannt. 

S.  309,  N.  4  und  N.  7.  D"n  DD  15  b,  15  c. 

S.  310,  N.  12.  D"H  DD  14  d. 

S.  311  unt.  D^JH  EPOII  N.  224  und  Ascheri,  Halachoth  ketannoth, 
mm  N.  17:  R.  Hai.  Dagegen  jrnaan  N.  88:  Natronai. 

S.  313,  N.  22.  Dieses  Responsum  etwas  ausführlicher  in  Ma'- 
asse  ha-Geonim  S.  9. 

S.  313,  N.  29.  Die  Ausführung  gehört  zu  Responsum  30. 

i)  Weitere  Belege  aus  Jeruschalmi  sind  mir  jetzt  nicht  bekannt; 
diese  Wendung  scheint  aber  im  Jer.  öfter  vorzukommen,  da  der  Kom- 
pilator  des  »JeruschalmU  Chullin  sie  kennt.  Vgl.  43a. 

*)  Es  findet  sich  auch  umgekehrt  Mechiltha  für  Sifre,  vgl.  Saadyana, 
S.  79:  onmn  n^Xl  "OTT  nbDD,  ist  wohl  nichts  anderes  als  unser 
Sifre.  Vgl.  dagegen  Poznanski,  Schechters  Saadyana,  S.  28,  N.  26.  — 
Dieselbe  Bezeichnung  wie  bei  R.  Amram,  auch  bei  R.  Gerschom  und 
R.  Samuel  ben  Meir  zu  Baba  bathra  124  b. 


634  Besprechungen. 

S.  315  unt.  Daß  Maimonides  min  "IBB  X,  6  B11J7  in  Megillah 
32  a  auf  miKH  oder  ^in  bezieht,  und  nicht  vielmehr,  wie  Raschi, 
auf  die  Thorarolle  selbst,  ist  sehr  fraglich.  In  dem  Satze  n«  mif  K^l 
B11JJ  KintPB  mm  IBB  kann  K1HB>3  mindestens  ebensogut  auf  das  un- 
mittelbar vorhergehende  min  IBB  bezogen  werden  wie  auf  an«  XVTV3. 
B11V  »st  der  Oe gensatz  zu  ...  nirtBEöS  "JH3  KW  'B  bj?  P]K  in  der 
vorhergehenden  Halacha.  Bezöge  sich  anj;  auf  B1K,  so  hätten  beide 
Halachas  vereinigt  werden  müssen,  besonders  da  any  ülH  und  jpa 
fTTlBH   zu    einander    gehören:    B11JJ    KVttP3   min  1BD  I1K  BtX  tTOT  »^ 

prnan  iroS  n  w  kSi. 

S.  323,  Z.  19  und  Anm.  11.  Auch  Sa'adia  liest:  pmp  IT  mi2f:3 
[H  .13.  Vgl.  Sa'adias  Kommentar  zu  Berachoth,  ed.  Wertheimer,  3  a 
und  Note. 

S.  329,  Anm.  5.  Auch  Makkoth  13  a,  Temurah  13a. 

S.  337,  Anm.  4.  Ein  ähnlicher  Text  in  Hai.  ged.,  ed.  Berlin, 
120:  mVh...  ita)bV3V 

S.  350  unt.  DW  in  dem  Sche'elthotfragment  S.  373,  Z.  7  ge- 
hört nicht  zur  Einführung,  sondern  zum  Zitat:  .  .  .  a^EBB  WüV.  Daß 
mit  iTiBl  ein  in  Sedarim  eingeteilter  Midrasch  Tehillim  gemeint 
ist,  ist  sehr  unwahrscheinlich,  da  R.  Acha  sonst  nie  seine  Quellen 
namentlich  anführt,  -mal  ist  nicht  Namen,  sondern  TJW,  sie  ord. 
neten,  trugen  in  der  Ordnung  vor.  Vgl.  Erubin  21b  NfPBM  "HBB- 
Gemeint  kann  auch  sein  die  Stelle  Lev.  r.  V  Ende.  —  R.  Nissim 
ist  nicht  der  erste,  welcher  Midr.  Ps.  benützt  hat,  dies  tat  schon 
R.  Amram1). 

S.  377,  Anm.  3  und  388,  Anm.  7.  Über  1  für  Kamez  vgl.  Apto- 
witzer,  Das  Schriftwort  in  der  rabbinischen  Literatur  I  (Prolegomena) 
S.  35.  —  IIB  =■  1B  in  Hai.  pesukoth,  ed.  Schlossberg,  S.  83,  121, 
ff»JlE>Kl  bv  [min  II,  S.  7  unt.,  Buch  der  Frommen,  ed.  Berlin,  und 
Ma'asse  ha-Geonima).  Vgl.  auch  Anm.  73  zu  Ma'asse  ha-Oeonim  Seite  11. 

S.  424  zu  S.  167  N.  1.  Vgl.  auch  Epstein  in  ha-Choker  I,  S.  187  f. 

Nachtrag: 
S.  4,  Anm.  12.  Or  Sarua  I  47b,  N.  137  liest  auch  in  der  Stelle 
n  Berachoth  wie  der  Gaon. 

S.  21,  Anm.  1.  Nach  G.s  Emendation  gibt  die  Stelle  keinen 
rechten    Sinn.     Die   richtige    Erklärung    dieser  Stelle    bei    Poznanski, 


')  Vgl.   A.   Marx,    Untersuchungen    zum    Siddur   des   Gaon  R. 
Amram,  I,  S.  8,   Anm.  31. 

■)  Vgl.  das  Verzeichnis  S.  XIX.    Hinzuzufügen   ist:    S.   13,  68. 


Besprechungen.  635 

Studien  zur  gaonäischen  Epoche,  S.  61  f.  und  bei  Q.  selbst  in  Qeonica 
I,  S.  8  im  Text. 

S.  39,  Z.  16.  Die  Quelle:  Sabim  V,  11. 

S.  52,  Z.  25.  Eppenstein,  Monatsschrift  1908,  S.  618,  Anm.  1, 
meint,  daß  mit  lS^n  Dnmi  das  Fragment  eines  andern  Responsums 
beginnt.  Notwendig  ist  diese  Annahme  nicht. 

S.  53,  Z.  2.  WüVb  IDStJJ  J1K  TDKD  MVA  erklärt  G.  TDKD  als  die 
aramäische  Form  für  1D1D,  Mir  scheint  eine  aramäische  Form  in  einem 
hebr.  Satz  in  einer  hebr.  Stelle  unwahrscheinlich.  YDXO  ist  vielmehr 
als  Hifil  von  hebr.  "IDX  zu  fassen.  Für  die  Wendung  1D51JJ  rix  VDKD 
vgl  Seder  Eliah,  Kap.  27,  ed.  Friedmann,  S.  138  oben:  D^-nDK  px 
fOVth  JOpD^  (D5ty  p"iDlöB>  D^DSn  ""TD^n  xb*  (Ps.  68,  7),  wo  die 
Deutung  von  B*VBH  die  LA.  pYDKDtf  oder  pcxatf  fordert1). 

S.  56,  Z.  1  ppffD.  Diese  Bezeichnung  des  Traktats  Moed  Katon 
noch  Geonica  II  S.  58,  62,  68,  69.  So  auch  Aruch,  Salomo  ben  ha-Jathom 
und  jfnson  N.  28,  ed.  Livorno  1779,  17  a*).  So  auch  Mischnab,  ed. 
Lowe,  Yerushalmi  Fragments,  ed.  Ginzberg,  S.  85,  Z.  II3).  —  Das. 
und  S.  69  Holt?  für  ntSlD»  So  auch  ms.  Halberstamm  336*). 

S.  57.  xj?¥D  für  kjpjjd  KM  auch  SS  60,  61,  64,  68,  69  (XJjro). 
So  auch  Salomo  ben  ha-Jathom  oft6). 

S.  68,  Anm.  2.  Lies:  Moed  Katon  18b. 

S.  72.  Das  Responsum  ist  sehr  wahrscheinlich  nach  Palästina 
gerichtet  gewesen.  Dies  vermutet  auch  Eppenstein,  Monatsschrift 
1908,  S.  619  auf  Grund  »verschiedener  Anzeichen«,  die  ich  jedoch 
nicht  kenne.  Aber  der  vom  Gaon  in  so  heftiger  Weise  getadelte 
Brauch,  die  Mitgift  der  Braut  in  einem  die  wirkliche  Leistung  über- 
steigenden Betrag  einzuschreiben,  ist  aus  den  alten  palästinischen 
Quellen:  Mischnah,  Toseftha  und  Jeruschalmi  bekannt9).  Desto  auf- 
fallender ist  es,  daß  der  Gaon  keine  Kenntnis  davon  hat  und  die 
Überschätzung  der  Mitgift  als  Sn  und  njn  m,J3  bezeichnet.  Dagegen 
wird  pns  i"ij?tr  56b  unten  im  Sinne  des  Talmuds  entschieden.  Da  der 

l)  Jalkut  Ps.  §  795:  ♦ . .  xnpca  {D3tJ>  plD^ötf  deutet  D^YDH  von  r.  1D\ 

')  Die  aus  »Maschkin«  angeführte  Stelle  kommt  in  Moed  Katon 
nicht  vor,  sondern  Sabbath  136  a. 

s)  Vgl.  jetzt  auch  Chajes,  Salomo  ben  ha-Jathom's  Kommentar 
zu  MaSkin  (ed.  Mekize  Nirdamim,  Berlin  1909)  S.  VII,  Anm.  4  und  S. 
VIII,  Anm.  2.  [Vgl.  weiter  unt.  S.  382.] 

4)  Vgl.  JQR.  XIV,  S.  175. 

ß)  Vgl.  Chajes,  a.  a.  O.  S.  XXXI. 

•)  Kethubboth  VI,  3,  Toseftha  das.  VI  5-6,  Jer.  das.  30c— 30  d. 
Vgl.  auch  Mischneh  Torah  IW»  VIII,  11  und  n:Vü  ort1?  z.  St. 


636  Besprechungen. 

Gaon  in  uns.  Fragment  bezeugt,  daß  der  fragliche  Brauch  von  dem 
in  allen  bxw  fllDipö  abweicht,  so  muß  man  annehmen,  daß  das  Re- 
sponsum  in  p*t¥  •nytP  ebenfalls  nach  Palästina -gerichtet  war,  oder  daß 
der  Brauch  selbst  später  auch  in  Babylonien  oder  in  einem  andern, 
unter  palästinischem  Einfluß  stehenden  Lande  heimisch  wurde. 

S.  75,  Anm.  2.  Vgl.  Poznanski,  Schechters  Saadyana,  S.  17,  N.  2. 

S.  80,  N.  2  Ende.  Bei  R.  Chananel  in  Respfder  Gaonim,  ed. 
Lyck  (N.  113,  S.  34)  kommt  diese  Erklärung  nicht  vor,  sondern  bloß 
die  zweite  des  Aruch  s.  v.  tptt.)Dagegen  heißt  es  in  Saadjas  Komm, 
zu  Berachoth  pjTlö  WT1  MTJD.  Vgl.  auch  Wertheimer  z.  St. 

S.  90,  N.  4.  Soferim  X  8 ;  der  richtige  Text  in  Or  Sarua  I  N.  95. 

S.  91,  Z.  21  \lb  VI.  Gewiß  "p1?  CT  oder  "p^CT,  vgl.  oben  S. 
368  zu  S.  26,  Note  3. 

S.  96,  N.  19.  tr»!M  für  Resch  Gelutha  Geonica  II,  S.  83,  Z.  7 ; 
Resp.  der  Gaonim,  ed.  Harkavy,  S.  389. 

S.  106,  Anm.  2.  pon  DH  in  der  Bedeutung  HM:  Fragment  in 
ha-Kedem  II,  S.  87,  regelmäßig  in  jmaon1). 

S.  110  com  )ÜV  B>"![5D.  Über  diese  Benediktion  vgl.  Ratner, 
Ahawath  Zion,  Berachoth  S.  200  und  Aptowitzer  in  Monatsschrift 
1908,  S.  313.  Im  Jeruschalmi  bei  Rabiah  44b  lautet  der  Schluß: 
O'OIS  T,öB>  DK  BHpD  "»'KS.  Der  Ursprung  dieses  Gebetes  ist  also 
nicht  so  jung,  wenn  auch  die  Form,  in  der  wir  es  besitzen,  auf 
Seder  Eliah  zurückgeht*).  —  Die  Frage,  warum  die  Benediktion 
über  den  Tallith  fehlt,  in  Rabiah  44a,  wo  auch  dieselbe  Antwort, 
die  G.  gibt. 

S.  113,  N.  17.  »Until  now  the  custom  (of  using  Mazzoth  for 
DllXn  ■01*1,J?)  could  not  be  traced  beyond  the  thirteenth  Century«. 
Thirteenth  ist  wohl  Verschreibung  für  »twelfth«,  da  G.  selbst  in  der 
Note  auf  die  Polemik  gegen  diesen  Brauch  in  Jehuda  Hadassis 
Eschkol  ha-Kofer,  verfaßt  1149,  verweist.  Wir  wissen  aber  aus  andern 
Quellen,  daß  dieser  Brauch  schon  zur  Zeit  R.  Jehudais  verbreitet 
war.  Vgl.  ffWiri  bv  {min  I,  S.  14,  Sefer  ha-Ittim  S.  105.  Vgl.  noch 
Pardes  N  108,  Machsor  Vitry  S.  249,  N.  283. 

S.  120,  Z.  13  Hran  VBVf  \T.  Über  die  hebr.  Form  vgl.  Fried- 
mann, Einleitung  zu  Seder  Eliah,  S.  79.  Vgl.  Or  Sarua  I,  N.  582. 

S.  151,  N.  503.  Das  Responsum  auch  in  Ma'asse  ba-Geonim 
S.  75,  N.  85. 

*)  Vgl.  NN.  28,  34  (26  a,  26  c),  35,  37,  41,  43,  46,  54,  59,  60,  61, 
70    74,  82. 

»)  Vgl.  oben  1910,  S.  274  zu  Machkim,  S.  7,  Anm.  4.  Vgl.  Schib- 
bole  ha-Leket  S.  6. 


Besprechungen.  637 

S.  190,  N.  9—10.  pm  für  mm.  In  dem  erwähnten  Fragment 
in  ha-Kedem  II  wird  Toseftha  Kelim  2  II,  7  mit  pm  angeführt1).  — 
Das.  flfiSiJJ  für  nB3"K  auch  Geonica  II,  S.  266,  Z.  24  und  ha-Kedem 
II,  S.  84,  85. 

S.  195  unt.  pKP  TIDJ  TTJrl  llömi  1W3  »H1?  iS  1W0  ^Kltf'1 
HtPnnn  bj>  kSk  .TlStö.  Diese  Entscheidung  des  Qaons  ist,  wie  Ginz- 
berg  S.  187f.  hervorhebt,  sehr  auffallend,  da  nach  der  Halacha  auch 
andere  Arbeiten  mit  ungleichartigen  Tieren  verboten  sind.  Jedoch  ist 
der  Standpunkt  des  Gaons  nicht  ganz  neu.  Ich  finde  denselben  auch 
bei  Pseudo-Jonathan,  der  Deut.  22,  10  Tiemi  TiB>3  ttnnn  *b  fol- 
gendermaßen übersetzt:  Krpns  ^>3  3i  monai  joim  pm  pinn  *b 
p3M  pnni*  Während  also  zu  TiDmi  TW3.  die  halachische  Ausdeh- 
nung des  Verbotes  auf  alle  ungleichartige  Tiere  hinzugefügt  wird, 
fehlt  die  traditionelle  Erweiterung  des  Bnnn  »b,  etwa:  pinn  xSl 
ÄnTS'JJ  p*!3JJ.  Dies  ist  umso  auffallender,  als  beide  Halachas  in  den 
alten  Quellen  neben  einander  stehen.  Es  ist  daher  sehr  wahrschein- 
lich, daß  Jon.  die  Ausdehnung  des  Verbotes  auf  andere  Arbeiten 
nicht  anerkannt  hat.  [Vgl.  weiter  unt.  S.  385.] 

S.  211,  Anm.  2.  In  einem  Responsum  R.  Zemachs  in  jm3D."l 
N.  43  kommt  das  Wort  KpWlK  mehrmals  vor. 

S.  278.  In  ha-Kedem  III,  S.  6  teilt  D.  Kahana  einige  Zeilen  aus 
diesem  Briefe  mit,  in  denen  einige  abweichende  Lesarten  vorkommen: 
Zeile  6  rmpl  —  K.:  [JTWipl,  Z.  7  bsf\  ty  —  K.:  SlJl  ^J7,  was 
besser  paßt,  ibid.  mittel  —  K.:  mittpl,  Z.  11  rmnpsi  —  K.  besser 
rmnpi.  Vgl.  noch  Poznanski,  (KTTp  HMX  S.  47. 

S.  314,  N.  34.  Berachoth  42a  liest  Or  Sarua  I,  177b:  ^DK  TK' 
WX,  der  Vater  eines  Amoräers  namens  rtST  od.  «31,  Baba  mezia  14  a, 
Schebuoth  34b  und  37a,  Keritoth  24  a.  R.  Hai,  ffOWIh  ^V  jmin  II, 
S.  39,  zählt  unter  den  38  Rabbah:  ftt>31  pipen  tfl^Otn  Ti"1*  13  ,131 
(I.  H31  IUI«)  IfllK  H3"l  niaipD. 

S.  338,  Z.  7.  jnio  für  jniKD.  So  Toseftha  ms,  Erfurt,  Berachoth 
HI,  10,  11,  so  auch  Juda  ben  Barsillai  im  Jezirahkommentar»). 

S.  341,  N.  XXXIII.  Vgl.  Pesachim  48b  ^33  bv  ni"i33  und  Rj»n 
*>33"l.  Jer.  Challah  II  5  (58  c  unt.). 

S.  352,  Anm.  3.  KJPpVD  in  Hai.  ged.,  ed.  Berlin,  S.643  scheint 
in  der  Tat  die  Bedeutung  »Fluß«  zu  haben,  wie  in  den  Sche'eltoth. 
Vgl.  Tossafoth  Berachoth  35  a,  R,  Isak  Sir  Leon  z.  St.,  Tossafoth  R. 
Ascher  z.  St.  und  Or  Sarua  I  N.  326  Ende. 

*)  Erubin  27  a  richtig  mm. 
■)  Vgl.  Kaufmann  zu  S.  1,  Z.  6. 


638  Besprechungen. 

S.  385,  Anm.  3  p«  für  D1K.  Vgl.  Kilajim  VIII  5  und  Kom- 
mentare z.  St. 

S.  21,  N.  10-11.  Vgl.  Or  Sarua  I,  N.  341  Ende  und  N.  678 
Anf.  (und  II  25b  unt.)  Vgl.  auch  Jad  Maleachi  N.  193. 

S.  55  (meine  Bemerkung).  Die  Lesart  oVitn:  "ia  ntPD  n  wird 
auch  von  Or  Sarua  II  162  a  bestätigt. 

S.  56,  Z.  1.  pptfa  auch  Ittur  I  32b,  o«n  DD  12c,  Orch.  Chajjim 
II  509,  Kolbo  157  b,  157  c.  Ein  Werk  pptPD  Win  in  maWJl  faip 
D'DÖ-in  ed.  Lichtenberg  53a  und  58b.  —  Das.  HtDl»  Hai.  ged.,  Berlin, 
S.  63,  OS.  I  160  a,  Sefer  ba-Eschkol  (vgl.  Albecks  ,TUT  '•ppinD  "iDKD 
S.  11). 

S.  72.  Vgl.  das  Responsum  in  Or  Sarua  I  640. 

S.  106,  Anm.  2.  ^n  DH  Hai.  Oed.  Berlin  S.  59  (ed.  Warschau 
16a:  pDH),  Ibn  Gajath  II  S.  6. 

S.  113,  N.  18.  Das  Responsum  R.  Hais  ist  am  Ende  von  -Win 
pin  zu  Sabbat,  Warschau  1862,  abgedruckt,  aber  ohne  Autorname.  Die 
Entscheidung  R.  Hais  bei  Alfasi  Sabbath  XXII,  N.  543.  Vgl.  noch 
Hai.  ged.,  ed.  Warschau,  73  b,  ed.  Berlin,  S.  185.  In  pin  '»nn  a.  a. 
O.  noch  andere  Responsen  Hais. 

S.  114  f.  Das  Responsum  Natronais  ist  nun  in  drei  verschiede- 
nen Hauptrezensionen  bekannt:  I.  Genisah  und  Schibbole  ha-Leket  N.  1 ; 
II.  Seder  Amram  in  Marx'  Zusätzen  S.  1  und  2;  III.  Rabiah  S.  43  f. 
Die  wichtigsten  Differenzen  sind  folgende:  1.  I  zählt  die  Benediktionen 
über  pS'DD,  die  in  II  und  III  fehlen;  2.  In  I  fehlt  die  Berediktion 
über  Wein,  die  II  und  III  haben;  3. 1  zählt  drei  Benediktionen  nach  JJDIP 
abends,  während  II  und  III  TTOSa  ^ban  nicht  mitrechnen,  da  diese 
Benediktion  nicht  taimudisch  ist.  —  Pardes  N.  5,  Machsor  Vitry  S.  1, 
Siddur  Raschi  N.  1,  Manhig  ed.  Berlin  7a,  Abudraham  und  andere 
folgen  der  Rezension  II.  Rezension  III  unterscheidet  sich  von  I  und  II 
dadurch,  daß  sie  auch  die  agadischen  Begründungen  der  HND 
niDia  enthält,  die  in  II  R.  Amram  zu  gehören  scheinen  und  in  der 
Genisahrezension  fehlen.  Da  Rabiah  das  Responsum  Natronais  nicht 
dem  Seder  Amram  entnommen,  wie  noch  besonders  aus  der  Bemer- 
kung S.  44a,  Z.  8  hervorgeht,  so  ist  die  Ausführung  Albecks  in  seinem 
SiaVKn  1D1D  S.  7  f.  unrichtig. 

S.  115,  Anm.  1.  Die  Lesart  dieses  Responsums  ist  sehr  wichtig. 
Nicht  nur  deshalb,  weil  sie  in  keinem  andern  Text  vorkommt,  sondern 
besonders  wegen  ihrer  Übereinstimmung  mit  dem  Jeruschalmi, 
Berachoth  IX,  1.  Dies  ist  ein  wichtiges  Moment  im  Thema  Gaonim 
und  Jeruschalmi. 

S.  195  unt.  Daß  der  Qaon  in  bewußter  Opposition  zur  Halacha 
entscheidet,   ist   ausgeschlossen;    ebenso  ist  es  undenkbar,   daß    ihm 


Besprechungen.  639 

sämtliche  halachische  Stellen,  die  Tiöni  "WD  ntm  verbieten,  entgangen 
sind.  Es  bleibt  daher  nichts  anderes  übrig,  als  die  Entscheidung  des 
Gaon  auf  einen  Fall  zu  beziehen,  in  dem  das  Arbeiten  mit  ungleich- 
artigen Tieren  tatsächlich  gestattet  ist:  wenn  die  Tiere  nicht  zu- 
sammengekcppelt  sind.  Vgl.  Ascheri  Hil.  n1»^  N.  5  und  N.  7r 
Tur  II  N.  297  und  Keßef  Mischneh  d^Sd  IX,  7.  In  den  alten  Quellen 
ist  auch  nur  von  HTlPp  die  Rede.  Vgl.  außer  den  talmudischen  Quellen 
Hai.  ged.,  ed.  Warschau,  30  b  oben,  ed.  Berlin,  642.  Diese  Einschrän- 
kung ist  nach  der  gaonäischen  Erklärung  des  Verbotes,  Hai.  pes- 
sukoth,  ed.  Müller,  N.  10,  auch  sehr  logisch.  Wenn  nun  der  Gaon 
hinzufügt:  das  Verbot  betrifft  nur  W*n,  so  will  er  damit  nur  eine 
Arbeit  hervorheben,  die  ohne  Zusammenkoppelung  der  Tiere  nicht 
möglich  ist.  Vielleicht  ist  auch  [nniDTi]  Htmn  zu  lesen.  —  Ich  will 
nur  noch  bemerken,  daß  auch  Herr  A.  Epstein,  dem  ich  diese  Ent- 
scheidung des  Gaon  mitteilte,  sofort  an  dreschen  mit  unzusammen- 
gebundenen  Tieren  dachte  und  auf  Schenkels  Bibellexikon  verwies, 
wo  das  Dreschen  mit  frei  nebeneinander  trabenden  Tieren  erwähnt  wird. 

S.  219,  N.  10.  Die  Erklärung  von  SsJ1?  in  Hai.  ged.,  ed.  Berlin, 
S.  36. 

S.  264,  N.  1.  Ben  Barsillai  kennt  zwei  Responsen  R.  Hais  über 
dieses  Thema  und  macht,  DTljn  'D  S.  39,  auf  den  Widerspruch  zwi- 
schen beiden  aufmerksam.  Auffa.lend  ist  die  Auffassung  R.  Hais  in 
K'DB>"1  zu  Berachoth  27  b  oben. 

S.  265,  N.  2,  3.  Vgl.  R.  Chananel  in  RABN.  N.  169.  Seine  Aus- 
führung stimmt  mit  uns.  Resp.  überein. 

S.  306.  K\1  MKTrP  ttJPtflfi  auch  ms.  München  Moed  Katon  12b. 
K\1  iKDtf  mn  XrVJflö  Berachoth  23  b  oben.  Zum  Inhalt  des  Resp.  vgl. 
Or  Sarua  I  218b.  Vgl.  noch  Jebamoth  104a:  n*7  ^np  fWl. 

S.  329,  Z.  9—16.  Diese  Stelle  findet  sich  in  Machsor  Vitry  S. 
636  und  637  mit  dem  Wortlaut  unseres  Responsums.  Es  war  also 
auch  dem  Verfasser  des  MV.  bekannt.  Der  Satz  in  MV.  636  letzte 
Zeile  lautet:  «WB  «JIS^H  (0  ^plDK5?  »»,"1  »'3  ">:r\0  'ODKpn 
rPSfSt  fWTJtfH,  er  erklärt  sich  daraus,  daß  er  aus  der  vorhergehenden 
Ausführung  uns.  Responsums  mitzitiert  wurde.  Zu  beachten  ist  die 
Anführung:  'nöKpi. 

S.  332,  Z.  2—3.  Vgl.  334,  Z.  13—14.  Die  Stelle  in  D"n  DD  14  d 
unt.  aus  dem  Responsum  R.  Amrams,  dort  der  richtige  Text  DtP^lCol. 
—  Das.  N.  VII.  D"n  DD  15  b. 

S.  420.  Die  Stelle  Zeror  ha-Mor  97c  ist  nicht  in  »a  geonic 
writing«  zu  suchen,  sie  ist  nichts  anderes  als  die  Misch  nah  Negaim 
XIII  12  mit  dem  Komm,  des  R.  Simson. 


640  Besprechungen. 

S.  423.  Der  Ausdruck  wt  fli^m  ist  auch  sonst  bekannt.  Vgl. 
D,T  JUS^n  des  RABD.  in  Schönblums  C1BD  TVffbV  48  b,  49a;  m:B>n 
zu  Mischneh  Torah  VI  2;  Tur  I  N.  181 ;  Orchoth  Chajjim  I  2c  Anf.; 
Agur  N.  235;  Schitta  mek.  Berachoth  53  b  v.  01P3.  —  Wenn  Q.  aus 
dem  Vorkommen  des  Ausdruckes  D^T  nXTH  im  Seder  Eliah  auf  die 
Entstehung  dieses  Midraschwerkes  in  gaonäi scher  Zeit  schließt, 
so  hat  er  übersehen,  daß  dieser  Terminus  in  der  Mischnah  vor- 
kommt, und  aus  ihr  im  Talmud:  Challah  I,  9,  Bikkurim  II,  1  nnd 
Erubin  I,  9.  Chagigah  18  a,  Jebamoth  73a  und  B.  Mezia  52a.  Vgl. 
Erubin  17  b. 

[S.  101,  Z.  1—3  (meine  Bemerkung  oben  S.  370  f.).  Die  aus 
bx)T\)  p"ip  mitgeteilte  Ansicht  gehört  dem  Verfasser  des  wni,  zu 
Tur  III,  Nr.  235,  und  wird  von  i'p  bekämpft.  Die  mno  des  Qaons 
kennen :  R.  Chananel  und  Alfassi.  Vgl.  Ibn  Gajath  I,  34,  Ittur  II,  42  b, 
Maor  zu  Rosch  ha-Schana  27  a,  Schibbole  ha-Leket  Nr.  293,  Alfassi 
Oittin  VIII,  Nr.  549.] 

Wien.  V.  Aptowitzer. 


# 


Unberechtigter  Nachdruck  ans  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  ist  untersagt. 


Für  die  Redaktion  verantwortlich :    Dr.  M.  BRANN  in  Breslau. 
Druck  von  Adolf  Alkalay  8t  Sohn  in  Preßbnrg. 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine. 

Von  S.  Jampel. 

1.  Einleitende  Bemerkungen. 

Die  jüdischen  Inschriftenfunde,  welche  in  den  letzten 
Jahren  in  Oberägypten  gemacht  wurden,  repräsentieren 
zweifellos  eine  archäologische  Entdeckung  ersten  Ranges» 
Sämtliche  bisherigen  Inschriftenfunde,  so  groß  ihr  Gewinn 
für  die  israelitische  Religionsgeschichte  auch  sein  mag,  werden 
von  dieser  Entdeckung  aufgewogen.  Hauptsächlich  deswegen, 
weil  dies  die  ersten  Urkunden  sind,  welche  von  Juden 
biblischer  Zeit  stammen,  während  alle  bisherigen 
Funde  andern  Völkern  gehören  und  nur  indirekt  für  die 
Bibelwissenschaft  von  Interesse  sind.  Ferner  hat  man  es 
hier  nicht  mit  für  die  Zukunft  berechneten  subjektiven 
Zeichnungen  eines  Historienschreibers  zu  tun,  sondern  mit 
privaten  Notizen,  Aufzeichnungen,  Korrespondenzen  u.  dgl., 
die  lediglich  für  ihre  Gegenwart  bestimmt  waren  und  uns 
daher  einen  umso  klareren  Einblick  in  die  wirtschaftlichen 
und  religiösen  Verhältnisse  des  biblischen  Israel  gewähren. 

Das  vor  wenigen  Jahren  veröffentlichte  Familienarchiv 
aus  Assuan,  sowie  die  von  der  preußischen  Akad.  d.  Wis- 
sensch.  veröffentlichten  Urkunden  der  Judengemeinde  zu 
Elephantine  haben  wir  damals  in  der  Monatsschrift1)  be- 
handelt. Hier  soll  nun  die  neueste  Publikation  der  General- 
verwaltung der  königl.  Museen  in  Berlin,  welche  von  Ed. 
Sachau  entziffert,  transkribiert,  übersetzt  und  mit  fein- 
sinnigen Erläuterungen  versehen  worden  ist,  besprochen 
und  durch  einige  Bemerkungen    ergänzt  werden. 

*)  Jahrg.  51,  S.  617  ff. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  41 


642  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine. 

Was  vorerst  die  uns  schon  seit  mehr  als  2  Jahren 
bekannte  Judengemeinde  der  oberägyptischen  Nilinsel 
Elephantine  betrifft,  so  ist  ihr  früher  bezweifelter  militäri- 
scher Charakter  dank  der  neuesten  Veröffentlichung  ge- 
sichert; da  sie  in  allen  amtlichen  Schriftstücken  als  K^rn 
K'lliT  »die  judäische  Militärkoionie«  bezeichnet  wird.  Es 
waren  jedoch,  wie  aus  den  Urkunden  unzweideutig  her- 
vorgeht, keine  in  einer  Garnison  internierte  Soldaten, 
sondern  ganz  einfache  Bauern  und  Städter,  die  von  der 
persischen  Regierung,  welche  von  der  Mitte  des  6.  bis 
zum  Anfang  des  4.  vorchr.  Jahrhunderts  über  Ägypten 
herrschte,  mit  Boden  und  Besitz  beschenkt  worden  waren, 
wofür  sie  im  Kriegsfalle  zur  Leistung  von  Söldnerdiensten 
verpflichtet  waren.  Ja,  der  ihnen  von  der  Regierung  zuge- 
wiesene Landbesitz  hatte  nicht  einmal  den  Charakter  eines 
Pachtgutes,  sondern  ist  in  ihr  freies  unbeschränktes  Eigen- 
tum übergangen.  Es  war  dies  im  Grunde  nichts  anderes, 
als  eine  Besiedelung  der  Städte,  besonders  der  der  Grenz- 
gebiete mit  einem  fremden,  regierungsfreundlichen  Element, 
das  die  Herrschaft  der  Perser  dem  äußern  wie  dem  innern 
Feinde  gegenüber  verteidigen  sollte.  Dadurch  erklärt  es 
sich,  daß  auch  Frauen  solchen  Landbesitz  von  der  Regie- 
rung zugewiesen  erhielten.  Folgende  Inschrift  möge  das 
Gesagte  illustrieren. 

ma  nmbo  matt  to^a  tbmiTV&  27  nar  ddx  nv^  2  ora. 
n  t*naa  ibo  »a^  prj.»  pna«  db£»  /na  iittm^  rinnt«  navn  map 
JiarwM  üv  *3nöD  »»  K/iaa  a^a  ff?n  t6vi  an  mm  xsho  ja  \b  ian* 
".'iDi  '3t  «n:a3  *ai«  ^sa  k^  pn«  nr  im 
»Am  2.  Tage  des  Monats  Epifi  im  Jahre  27  des 
Königs  Darius  hat  Seluah,  Tochter  des  Kenajah  und  Jethoma 
ihre  Schwester  gesprochen  zu  Jahoor,  der  Tochter  des 
Schelomim.  Wir  haben  dir  gegeben  die  Hälfte  des  Loses, 
welches  uns  die  Richter  des  Königs  und  Rwk,  der  Heeres- 
oberst, gegeben  haben,  als  Tausch  gegen  die  Hälfte  des 
Loses,  das  dir  und  der  Nehebeth  zugekommen  ist.  An  keinem 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine.  643 

künftigen  Tage  sollen  wir  berechtigt  sein,  dein  Anrecht  auf 
dies  dein  Los  vor  Gericht  anzufechten.« 

Diese  Tauschurkunde,  die  hier  als  ein  Beispiel  von 
vielen,  ihrer  Kürze  wegen  mitgeteilt  ist,  erregt  aber  auch 
noch  anderweitig  großes  Interesse,  da  sie  uns  in  ganz 
auffälliger  Weise  die  unabhängige  Stellung  der  Frau  klar 
vor  Augen  führt. 

Auch  in  unzähligen  andern  jüdischen  Urkunden  aus 
Elephantine  und  Assuan  erscheint  die  Frau  vollkommen 
gleichberechtigt  mit  dem  Manne.  »Sie  verfügt  über  ihr 
Eigentum,  sei  es  liegendes,  sei  es  bewegliches,  sie  ist  eine 
selbständige  Person,  schließt  Verträge  ab,  erscheint  selbst 
vor  Gericht  und  hat  auch  im  Eherecht  und  ehelichen  Güter- 
recht die  vollkommene  Stellung  einer  geschäftsfähigen 
Person.«  In  der  Kultussteuer-Liste  der  elephantinischen 
Judengemeinde  ist  fast  ein  drittel  Frauennamen,  ja  sogar 
an  der  Spitze  steht  eine  weibliche  Person.  Besonders  be- 
zeichnend für  die  hohe  Stellung  der  Frau  ist  folgende 
Schenkungsurkunde  der  Eheleute  Hosejah  und  Jehochan 
an  ihre  Kinder,  in  welcher  die  Frau,  trotz  Anwesenheit 
ihres  Mannes,  das  Wort  führt.  (Vergl.  Pap.  34)  «£d^i  .  .  ►• 
/ras  pya  mb  nan*  jarna  nit  sisoa  \yro  n  kbdsi  rppaa  na  nma 
\m  na  rrnyo  ana  rh  vnr\w  xb  »a  na*n  n«ra  nasn  p  an  $»3H,tk 
na  jnjain  n,ne>  ua  «nn»i  jmn»i  nwin  aoa  n»  mco  n*J«?  na 
na  n\i?x  na  en«*  nnt?  n*^UD  na  »an  nnt?  «na  na  fiutaha 
fjnjT*  na  jm^Kna  ».  .  .  und  der  Saluah,  ihrer  Tochter :  da 
ich  die  Schätze  und  das  Geld,  was  in  dieser  Urkunde  ge- 
zeichnet ist,  Euch  aus  Liebe  gegeben  habe,  so  habe  ich 
jetzt  den  Willen,  sie  zurückzufordern  :  Wenn  sie  also  spricht 
ist  sie  schuldig,  nicht  soll  ihr  Gehör  gegeben  werden.  Ge- 
schrieben hat  Ma-usjah  bar  Natan  bar  Ananjah  diese 
Urkunde  nach  dem  Diktat  von  Hosajah  und  Jehochan. 
Zeugen  des  Inhaltes  sind  fruann  Sohn  des  f/u^Kra«  usw. 

Wenn  die  Behandlung  der  Frau  in  der  ganzen  Kultur- 
geschichte mit  Recht  als    der    zuverlässigste    Maßstab    für 

41* 


644  Die  neuen  Papyrustnnde  in  Eiephantine. 

die  Zivilisation  eines  Volkes  gilt,  so  muß  diese  Hoch- 
schätzung dei  Frau  in  den  oberägyptischen  Judenkolonien, 
die  sich  von  der  degradierenden  Stellung  des  Weibes  bei 
den  alten  Griechen,  Römern  und  Germanen  so  glänzend 
abhebt,  ein  rühmliches  Zeugnis  für  die  Stellung  der  Frau 
im  ganzen  biblischen  Israel  abgeben.  Denn  eine  solche  in 
der  psychischen  Anlage  eines  Volkes  begründete  und  das 
ganze  ethische  Leben  umfassende  Anschauung  ändert  sich 
nicht  mit  der  Mode  des  Tages.  Die  Monogamie  wird  in 
all  den  jüdischen  Urkunden  Oberägyptens  als  selbstver- 
ständlich vorausgesetzt. 

Folgende  Darlehensurkunde,  die  ebenfalls  von  einer 
Frau  stammt,  und  die  auch  noch  den  Vorzug  hat,  nicht 
nur  vollständig  erhalten  zu  sein,  sondern  die  auch  in 
ursprünglicher  Weise  gefaltet,  durch  Bindfaden  und  Siegel 
verschlossen  und  mit  äußerer  Aufschrift,  wie  mit  Emblemen 
auf  dem  Siegel  aufgefunden  wurde,  (vergl.  das  im  b.  Baba- 
bathra  160a  über  "Wipö  IM,  Mitgeteilte)  verdient  allgemein 
bekannt  zu  werden. 

kd^ö  *»DB,n/n«  9  n:w  nrnn  nvi?  5  dv  «in  "bozb  7  r\:vz. 
5*3  »t  niiT  tot  -q  tiiwzb  sm:  y  n  j&>;  -[bvo  ms  pvr  ms« 
«2*j>n  »ja*«  nj?3i»  «in  4  j^pv  sps  /ist  >b  nsn'  "\üxb  «ms 
ht^  8  pbn  F]D3  nin  1  m^  l  bprb  2  pbn  f]D3  *bv  nsT  niraiea 
pn  «Bö  pi  ins  in  niena  «n»3io  rDY  ««»yj  «/vsna  noö  p  nn 
■pai  oSt8>o  /i:k  nj?  «*icd3  s\na  »l  kjvsiöi  "ISD33  ^nvhxv  «H-  n:» 
vm  3nm  rpa  p3*>  »l  «ms  »fc  nstp/i  n  }3iy  bz  "]b  npbnb  \&bv 
"JCD33  «bo/in  ny  »*>  nsr/i  ir  ji?  ^si  j/us  py»  no«i  nsi4  ^noi 
tys  ru*.  niBDi  «msiai  "poss  ■j/iö'je»  -^  *ibk  bin  «*?i  Kjvaioi 
"|T3i  n»  mcDi  \2ijf  *Jö  ^npf?  i^  pi  po  onp  -fw  ^>sp«  bs«  «bi 
neos  n^  jid^'  }ion  »33  «/rsiöi  ru?  «sdss  ^rwbv  »bi  n/va  pi 
to^v  D^ra  ru«  nmiai  nst  neos  "]b  lo^tr  «^  j6i  ,«rrs"iai  nix 
«*j>i  njvsiai  -jcdss  «be/in  ny  onb  nsm  n  p"Wi  pt  ^>s  "■*>  np^o^ 
«bi  p3  psn*  p|«  "|*T*3  hjt  niDDi  pti  po  onp  Yby  p'jap*-  p**s' 
nnntyi  jnw  des  nix  mco  *::y  is  */*o  3ns  tys  ru»  meoi  ppw 
,vn«  p  y:«  n^c  13  rn«  n*V«i  na  nwi  yuyi  na  jwi«  in«*  ua 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine.  645 

1^»o  ma  ;mrv  nana  »r  nrr  ana  icd   Äußere  Aufschrift: 

»Am  7.  Kislew,  d.  i.  am  5.  Tage  des  Monat  Thot,  im 
Jahre  9  des  Königs  Artaxerxes,  hat  Jehochan,  Tochter  des 
Meschullach,  ja>j  in  der  Festung  Elephantine,  zu  Meschullam, 
dem  Sohne  des  Sakkur,  einem  Judäer  der  Festung  Ele- 
phantine, gesprochen  wie  folgt:  Du  hast  als  Darlehen  4 
Pfund  Silber,  d.  i.  4  gemäß  den  Gewichtsteinen  des  Königs 
gegeben.  Ich  werde  es  dir  verzinsen  mit  2  Chalur  für  ein 
Monat  für  ein  Pfund,  d.  i.  mit  8  Chalur  für  einen  Monat. 
Wenn  Zins  zum  Kapital  kommt,  werde  ich  dir  diesen  Zins- 
zuwachs ebenso  verzinsen  wie  das  Kapital.  Wenn  der 
Jahreswechsel  kommt  und  ich  dir  dein  Kapital  und  seinen 
Zins  gemäß  dieser  Urkunde  nicht  gegeben  habe,  dann  seid 
ihr,  du,  Meschullam,  und  deine  Kinder,  berechtigt,  als  Pfand 
zu  deiner  Sicherstellung  jede  Sache  zu  ergreifen,  die  du  in 
meinem  Besitze  findest,  ein  Haus  aus  Ziegelsteinen,  Silber 
und  Gold,  Bronze  und  Eisen,  Knecht  und  Magd,  Gerste  und 
Spelt  und  jedes  Nahrungsmittel,  das  du  in  meinem  Besitze 
findest,  bis  ich  dir  das  Kapital  samt  Zinsen  bezahlt  habe. 
Und  ich  werde  nicht  berechtigt  sein  zu  dir  zu  sprechen: 
»Ich  habe  deinen  Anspruch  auf  dein  Geld  und  seinen  Zins 
befriedigt,«  solange  noch  diese  Urkunde  in  deiner  Hand  ist. 
Auch  werde  ich  nicht  berechtigt  sein,  dich  zu  verklagen, 
vor  dem  Magistrat  und  dem  Richter,  indem  ich  spreche: 
»Du  hast  mir  ein  Pfand  abgenommen,«  solange  noch  diese 
Urkunde  in  deiner  Hand  ist.  Und  wenn  ich  sterbe,  ohne 
daß  du  Geld  und  Zinsen  erhalten  hast,  dann  sollen  meine 
Kinder  dir  Geld  und  Zinsen  voll  bezahlen.  Wenn  sie  dies 
aber  nicht  tun,  dann  bist  du,  o  Meschullam,  berechtigt, 
jedes  Pfand,  das  du  in  ihrem  Besitze  findest,  an  dich  zu 
nehmen,  bis  sie  dir  alles  bezahlen,  indem  sie  nicht  berechtigt 
sein  werden,  dich  vor  dem  Magistrat  und  dem  Richter  zu 
verklagen,  solange  diese  Urkunde  in  deiner  Hand  ist.  Wenn 
sie  doch  ins  Gericht  gehen,  sollen  sie  nicht  Recht  bekorr.  - 


646  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine. 

men,  solange  diese  Urkunde  in  deiner  Hand  ist.  Geschrieben 
hat  dies  der  Schreiber  Nathan  bar  Anani,  nach  dem  Diktat 
von  Jehochan.  Zeugen  der  Abschrift  Hosea  usw. 

Äußere  Aufschrift:  Das  ist  die  Geldurkunde, 
welche  Jehochan  usw.  dem  Meschullam  bar  Sakkur  aus- 
gestellt hat. 

Diese  aus  dem  Jahre  456  v.  Chr.  stammende  Schuld- 
urkunde beleuchtet  wie  ein  heller  Scheinwerfer  die  wich- 
tigsten Kulturmomente  jener  jüdischen  Kolonien.  Sie  ist 
erstens  juridisch  außerordentlich  interessant,  da  sie  an 
Exaktheit  und  advokatorischer  Finesse  von  einer  modernen 
Urkunde  kaum  übertroffen  wird  und  daher  für  die  Rechts- 
geschichte besonders  wertvoll  ist.  Sie  zeigt  uns  ferner  die 
Höhe  des  dortigen  Zinsfußes  *2  Chalur  —  eine  babylonische 
Münzenbezeichnung  —  pro  Schekel  für  ein  Monat«,  d.  i. 
nach  der  wahrscheinlichsten  Berechnung  24°/0  jährlich.  Sie 
beweist  ferner,  daß  Kinder  ohne  besondere  kontraktliche 
Abmachung  für  die  Schulden  ihrer  Eltern  nicht  herangezogen 
werden  konnten.  Der  Kreditor  dieser  Urkunde  mal  13  D^tPö 
begegnet  uns  10  Jahre  früher  in  den  assuanischen  Inschriften 
als  Bürger  jener  Stadt.  Ebenso  finden  wir  den  Schreiber 
»JJJ?  na  \r\i  in  den  Jahren  440,  446,  459  wieder.  Auch  dem 
Vater  des  Zeugen    rns!?E  12  vns   begegnen    wir  in  Assuan. 

Im  allgemeinen  lassen  diese  Dokumente  auch  bei 
dieser  Inselgemeinde  großen  Wohlstand  erkennen,  was  wir 
schon  aus  der  Beschreibung  ihres  so  sehr  luxuriös  ausge- 
statteten Tempels  deutlich  ersehen  konnten.  Wie  die  assu- 
anischen Juden,  so  treiben  auch  sie  verschiedene  Handels- 
geschäfte, sie  kaufen  und  verkaufen  Häuser  und  Grundstücke. 
Depositen,  Tausch-  und  Rechtsgeschäfte  sind  an  der  Tages- 
ordnung. Die  Kenntnis  des  Schreibens  und  Lesens  bei  jenen 
Juden  geht  aus  dieser  neuen  Publikation  viel  deutlicher 
als  aus  den  assuanischen  Urkunden  hervor,  da  hier  auch 
sämtliche  »öffentlichen  Schreiber«  Juden  sind;  ebenso  sind 
die  Zeugenunterschriften  meist  eigenhändig. 


Die  neuen  Papyrusfnnde  in  Elephantine.  647 

Die  hier  gefundene  aramäische  Übersetzung  des  im 
Altertum  berühmten  Achikar-Romanes  beweist,  daß  in  den 
Häusern  dieser  jüdischen  Kolonisten  auch  das  Bedürfnis 
nach  belehrender  und  erzieherischer  Unterhaltungslektüre 
bestanden  habe.  Übrigens  hat  man  es  hier  mit  keiner  bloßen 
Übersetzung  zu  tun.  Denn  die  eingeschalteten  Spruchdich- 
tungen, die  den  integrierenden  Bestandteil  dieser  Erzählung 
ausmachen,  dürfen,  da  sie  in  den  sonstigen  Achikarüber- 
setzungen  nicht  wiederkehren,  besonders  durch  ihre  An- 
lehnung an  Sprüche  Salomonis,  —  wovon  weiter  unten  — 
als  freie  Schöpfung  unseres  Übersetzers  angesehen  werden. 
Wenn  die  Gelehrten,  die  den  jüdischen  Ursprung  dieses  im 
apekryphischen  Tobithbuche  als  allbekannt  vorausgesetzten 
Romanes  bekaupten,  Recht  behielten  (Achikar  =  np»  n«), 
dann  dürften  wir  vielleicht  in  dieser  aramäischen  Ausgabe, 
welche  die  Namen  der  assyrischen  Könige  am  korrektesten 
wiedergibt,  das  Original  erblicken. 

Das  berühmte  dreisprachige  (assyrisch,  persisch,  susa- 
nisch) große  Keilschriftdenkmal  auf  der  Felswand  bei  Ba- 
histun  in  Persien,  die  größte  persische  Inschrift  überhaupt, 
liegt  hier  ebenfalls  in  aramäischer  Übersetzung  vor,  und  zeugt 
besonders  für  die  allgemeine  Lesefähigkeit  jener  jüdischen 
Kolonisten.  Die  Entzifferung  jener  enorm  großen  Keilinschrift, 
welche  seinerzeit  den  Weg  zur  assyriologischen  Forschung 
gebahnt  hat,  forderte  damals  eine  langjährige  mühsame 
Arbeit.  Wäre  unser  aramäischer  Text  damals  vorhanden  ge- 
wesen, er  hätte  die  Assyriologie  rascher  vorwärts  gebracht. 

2.  Politische  Verhältnisse. 
Durch  die  neuen  Funde  wissen  wir  jetzt,  daß  auch 
in  Elephantine  eine  große  persische  Garnison  stationiert 
war,  an  deren  Spitze  ein  Oberst  ab'n  an  und  mehrere 
Hauptleute  "pmö  standen.  Das  Heer  war  in  Regimenter 
fVin  eingeteilt,  deren  jedes  den  Namen  eines  Regiments- 
inhabers  trug.    Unter   den    erwähnten   Regimentsinhabern, 


648  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine. 

welche  sämtlich  keine  jüdischen  Titel  hatten,  interessiert 
uns  der  Name  maiaa  —  vgl.  bei  Jeremias  lamaiM,  der  sich 
zum  ebräischen  "iscnaiaa  wie  na  zu  ja  verhält,  —  am  meisten. 
Neben  der  Regimentseinteilung  finden  wir  auch  die  nriRa 
=  Hundert-Mann-Kompanien.  Unter  den  Bewohnern  Ele- 
phantines  unterscheiden  die  Inschriften  zwischen  bil  *b$2 
Söldnern  und  rpy  ^ya  Zivilisten,  unter  letzteren  wiederum 
zwischen  jonriö  städtischen  Bürgern  und  pPJ  Bewohnern 
ohne  Bürgerrecht.  Wir  finden  ferner  dortselbst  ein  königl. 
persisches  Verwaltungsgebäude  «abü  n*3,  in  welchem  eine 
Regierungskasse  RiaiR  existiert,  deren  Beamten  n  Rnanen 
RTU  genannt  werden. 

Der  persische  Statthalter  von  ganz  Ägypten  pata  AHB 
ist  jetzt  DtmR,  den  wir  aus  persischen  Quellen  als  einen 
Prinzen  und  ägyptischen  Statthalter  unter  Darius  II  kennen. 
Der  Gouverneur  von  Elephantine  ist  jetzt  jrm,  den  wir 
9  Jahre  vorher  als  Festungskommandanten  von  Assuan 
kennen  lernten.  Sein  Sohn  pea,  der  früher  als  Gerichts- 
präsident von  Assuan  erscheint,  ist  jetzt  Heerführer  dort- 
selbst. Er,  wie  sein  Vater  haben,  wie  später  noch  zu  er- 
wähnen ist,  das  Schicksal  der  elephantinischen  Juden- 
gemeinde in  andere  Bahnen  gelenkt. 

Auch  ein  öffentliches  Gericht,  dessen  Beamte  als  R'aas 
und  dessen  Polizisten  als  «'Dpi  bezeichnet  werden,  finden 
wir  in  dieser  Inselstadt.  Der  Terminus  für  das  Zitieren 
vor  Gericht  pb»  bv  R'ipoi  b*w  map  »ich  habe  Bitte  und 
Anrufung  gemacht  zu  unserm  Gotie«  (Tafel  26)  erinnert 
an  das  biblische  d.tj*»  "in  Ria»  ü*nb»  IV  (Exod.  23).  Die 
Eidesleistung  geschieht  rh^r  irra  »beim  Gotte  Jaho«,  den 
sie,  außer  R'BtP  rh^r,  wie  in  Esra  und  Nehemia,  auch 
nwas  !T  (Revue  biblique  XVI,  261)  nannten,  wodurch  uns 
Jesajahs  besondere  Hervorhebug  niRas:  "ib  D^arai  (19,  18) 
umso  verständlicher  wird.  Wenn  die  Jüdin  rrnöao  in  den 
assuanischen  Inschriften  (5)  bei  der  ägyptischen  Göttin 
Sati  schwört,  so  geschieht  dies  nicht  aus  heidnischen  Mo- 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine.  649 

tiven,  da  diese  Juden,  wie  wir  später  sehen  werden,  außer 
dem  Gott  ihrer  Väter  nur  noch  semitische  Götter,  die  sie  aus 
ihrer  palästinensischen  Heimat  mitgebracht  haben  (Jeremia 
44(  16 — 21)  verehrt  haben;  sondern  weil  sie  einen  Rechts- 
streit mit  einem  Ägypter  vor  einem  ägyptischen  Gericht 
führten,  in  welchem  Falle  im  Altertum  sonderbarerweise 
der  Eid  beim  Verehrungsobjekte  des  Klägers  geleistet 
zu  werden  pflegt.  Vgl.  Babli  Sanhedrin  63  b  ni»b  TDK 
'131  nain  ov  nierm*  ntpynp.  (Vgl.  ferner:  Jesaj.  19,  18.  und 
Jeremia  44,  26.  'i  \i  im«). 

Die  amtliche  Verwaltungssprache  in  den  oberägyp- 
tischen Kolonien  war  die  aramäische,  und  zwar  nicht  nur 
unter  der  jüdischen  Bevölkerung,  sondern  allgemein.  War 
ja  das  Aramäische  in  jenen  Jahrhunderten  die  offizielle 
Reichssprache  der  Perserherrschaft,  wie  es  damals  über- 
haupt eine  aramäische  Weltkultur  gegeben  hat.  Der  bib- 
lische Bericht  (Esra  4,  7),  wonach  nichtjüdische  Behörden 
mit  der  persischen  Reichsregierung  in  aramäischer  Schrift 
und  Sprache  korrespondiert  haben  jvoik  DjnuiDi  n*tn8  uro, 
dürfte  jetzt  von  der  Kritik  weniger  belächelt  werden. 

Das  Haupt  der  elephantinischen  Judengemeinde  bildet 
der  in  diesen  Inschriften  oft  genannte  rmDJ  13  mr,  der 
Vater  des  vornehmsten    assuanischen  Juden   CHT  "u  JVDriö, 

—  dem  wir  das  dort  gefundene  Familienarchiv  verdanken, 

—  und  Großvater  der  rrnö3D,  der  interessantesten  Person 
der  assuanischen  Urkunden1).  Wie  alle  amtlichen  Schrift- 
stücke, die  an  die  elephantinische  Gemeinde  gerichtet  sind, 
an  seine  Adresse  gehen,  (*?k  oder  khvt  *6ti  rWTMi  «tjt  ^k 
3'3  "?  K\in3i  rMT  'Kia  »An  Jedonjah  und  seine  Genossen,  das 
judäische  Heer«  oder  »An  meinen  Herrn  Jedonjah  und  die 
Priester  in  Jeb«),    so    trägt    auch   jedes  offizielle  Schreiben 

')  Das  Fragment  auf  Tafe!  35  .TOriD1?  fflJK  M\:»b  nnpbüb  -m2 
»deine  Tochter,  sie  zu  nehmen  zur  Ehe  gestatte  ich  dem  Mehasjahc, 
wird  wohi  der  Rest  eines  Briefes  Jedonjahs  betreffs  dar  Verlobung 
seines  genannten  Sohnes  sein. 


650  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine. 

dieser  Gemeinde  seine  Unterschrift  MmD)  ,tjt  Tiaj)  »dein 
Diener  Jedonjah  und  seine  Genossen«.  Die  große  Kultus- 
steuer-Liste dieser  Gemeinde  schließt  bei  der  Summierung 

mit   den  Worten    rmaj   12   mr  T2  in  kdi»  C5  *r  «bds    »das 

i 

Geld,  welches  an  jenem  Tage  gestanden  hat  in  der  Hand 
des  Jedonjah,  Sohn  des  Gemarjah«.  An  der  Spitze  der 
genannten  Steuerliste  steht  rrDMD  ~\2  nnw  jna  na^trc,  wohl 
die  Schwester  Jedonjahs. 

Entsprechend  dem  biblischen  Berichte  (Jerem.  44,  1) 
künden  uns  diese  neuen  Funde  von  Judenkolonien  in 
Ägypten  auch  außerhalb  dieser  südlichen  Grenzgebiete,  so 
in  Theben  Ki,  Memphis  'DOD  und  Abydos  &.2H»  In  der  letzt- 
genannten Stadt  scheint  der  hohe  jüdische  Staatsbeamte 
m:n,  der  Schreiber  des  später  noch  zu  erwähnenden  Passah- 
Erlasses,  gewohnt  zu  haben.  Die  hohe  Stellung  dieses  rTOÄl 
geht  außer  aus  diesem  Passah-Edikte.  welches  er  im  Auftrage 
des  Statthalters  und  im  Namen  des  Königs  proklamiert,  auch 
noch  aus  Tafel  12,  Z.  7—8  hervor,  woselbst  gesagt  wird, 
daß  einige  ägyptische  Behörden  den  Juden  in  Abydos  umso 
aufsässiger  sind,  »seitdem  Hananjah  nach  Ägypten  ge- 
kommen ist«,  deutlich  hervor.  Außerdem  ist  dort  von 
»Knappen  des  Hananjah«  rpjjn  ">ü\bv  in  einer  Weise  die 
Rede,  die  ihnen  den  Charakter  von  Polizisten  oder  Gerichts- 
dienern verleiht.  Beachtet  man  noch  folgende  Momente,  daß 
erstens  dieser  man  an  mehreren  Stellen  T;ü  genannt  wird 
und  daß  Nehemia  (1,  2)  ebenfalls  berichtet  <n«o  Tri«  »aan  Ki:n 
Dxrn,  ^y1  jnatrn  nts^n  tpim  bv  d^k*w  n-ivro  d*imki, 
was  im  Hinblick  auf  Esra  Ö,  21—23,  Nehem.  2—7  den 
Eindruck  macht,  daß  auch  er,  wie  sein  Bruder  Nehemia, 
im  persischen  Staatsdienste,  in  den  syrischen  Ländern  oder 
in  Ägypten  gewirkt  hat,  und  zieht  man  noch  hinzu,  daß 
diese  Passah-Ansage  nicht  sehr  lange  nach  Nehemias  Ver- 
eidigung der  jerusalmitischen  Gemeinde  auf  das  biblische 
Gesetz  (Nehem.  10)  erfolgt  ist,  dann  wird  die  schon  von 
Sichau  ausgesprochene  Vermutung,  wonach  wir  es  in  diesem 


Die  neuen  Papyrusfnnde  in  Elephantine.  651 

jüdisch-persischen    Beamten   Ägyptens    mit    einem    Bruder 
Nehemias  zu  tun  hätten,  immer  wahrscheinlicher. 

Noch  einen  anderen  im  höheren  persischen  Staats- 
dienste stehenden  Juden,  namens  »jjy,  lernen  wir  in  Ele- 
phantine kennen.  In  Tafel  8  —  9  wird  er  oyia  b$y\  tncn  'Jjy 
»Anani  der  Sekretär  und  der  Befehlshaber«  genannt,  vgl. 
auch  Tafel  33,  34.  In  der  großen  Petitionsschrift  (Pap.  1) 
teilen  die  elephantinischen  Juden  dem  Statthalter  von  Je- 
rusalem mit,  daß  sie  sich  in  dieser  Angelegenheit  an  die 
Nötabeln  der  jerusalemitischen  Gemeinde,  an  den  Hohen- 
priester Johanan  und  an  »Ostanes,  den  Bruder  des  Anani« 
gewandt  haben.  Dieser  Verwandtschaftshinweis  ist  für  seine 
hohe  Stellung  bezeichnend  genug. 

Nun  wird  aber  Tafel  12  einer  der  genannten  »oi^j? 
m:n  schon  wenige  Zeilen  weiter  als  ':3j;  oby  bezeichnet, 
woraus  zu  schließen  wäre,  daß  »MJJ  und  'jjn  identisch  seien; 
zumal  die  Aussprache  dieser  beiden  Kehlbuchstaben  auch 
im  heutigen  Orient  eine  ähnliche  ist.  Sachaus  Meinung,  daß 
»333?  übv  Tin  und  »jjn  zby  nn,  trotz  des  Zusammenhanges 
der  Erzählung,  nicht  identisch  seien,  ist  mehr  als  unwahr- 
scheinlich. Nach  unserer  Annahme  würde  der  in  Jerusalem 
zu  den  Führern  der  Gemeinde  gehörende  Ostanes,  ein 
Bruder  Nehemias  sein,  welcher  wie  jener,  —  «in  rpona 
ruwwifl  —  neben  seinen  jüdischen  Namen,  auch  den  per- 
sischen Titel  Ostan  führte.  Im  anderen  Falle  wäre  unser 
♦333?  mit  dem  zeitgenössischen  Nachkommen  Serubabels 
(1  Chr.  3,  24),  wie  schon  vermutet  wurde,  zu  identifizieren. 

3.  Zeitgeschichtliches. 

»Im  14.  Jahre  des  Darius  II.  (410  v.  Chr.),  als  Arsam 
fortgezogen  und  zum  König  gegangen  war,  machten  die 
Priester  des  Gottes  Chnub  in  der  Festung  Jeb  mit  Waidrang, 
der  hier  Gouverneur  war,  eine  geheime  Vereinbarung  fol- 
gender Art:  Den  Temnel  des  Gottes  Jaho    in  der  Festun«? 


652  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Eiephantine. 

Jeb  soll  man  von  dort  entfernen.  Darauf  schickte  jener 
Waidrang  Briefe  an  seinen  Sohn  Naphajan,  welcher  Heeres- 
oberst in  der  Festung  Assuan  war,  folgenden  Inhaltes:  Den 
Tempel  in  der  Festung  Jeb  soll  man  zerstören.  Darauf 
führte  Naphajan  Ägypter  herbei  samt  andern  Kriegsvolke; 
sie  kamen  nach  der  Festung  Jeb,  drangen  ein  in  den  Tempel, 
zerstörten  ihn  bis  auf  den  Grund«  (Pap.  1,  Z.  4—9). 

Die  kurze  und  nicht  ganz  einleuchtende  Angabe,  daß 
der  persische  Gouverneur  von  Eiephantine  sich  mit  den 
perserfeindlichen  Ägyptern  gegen  die  im  persischen  Söldner- 
dienste stehenden  Juden  verbunden  habe,  findet  ihre  Er- 
gänzung in  Pap.  Euting  A  3.  4.  »r  «noia  »?  nmatem  fHT 
cp3  mn  mn  *nme  *?  ami  av  mion  «ma  a»a  nay  nb»  aian 
^  iafp  poaai.  »Das  ist  die  Verräterei,  welche  diese  Priester 
des  Chnub  in  der  Festung  Jeb  begangen  haben,  gemein- 
schaftlich mit  Waidrang,  der  hier  Befehlshaber  war.  Geld 
und  Gut  haben    sie  ihm  gegeben. 

Weiter  erzählt  dieselbe  Gemeinde,  daß  sie,  nachdem 
ihr  Tempel  zerstört  wurde,  getrauert,  gefastet  und  gebetet 
haben  zum  Gotte  des  Himmels,  »der  sie  hat  sehen  lassen, 
daß  Waidrang  die  Fußspangen  entfernt  wurden,  daß  die 
Schätze,  die  er  erworben  hatte,  zugrunde  gegangen  sind, 
und,  daß  alle  Menschen,  die  jenem  Tempel  Böses  gewünscht 
hatten,  getötet  wurden«  (Pap.  1,  Z.  15—17:  nay  n»3  *rm 
tro»  «na  .w^  j^jtai  po*a«i  i^n  \wib  ppw  paai  ym  dj?  rxun 
nap  »»  poaa  bai  »mkn  p  K^ar  ip*oan  rra^a  -|t  aarwa  prtn  n 
i^öp  ^3  *]?  «iuk^  tP'K3  lya  »T  paa  ^3i  na«).  Mit  dieser  Pa- 
renthese weiß  Sachau  sich  keinen  Rat,  er  hat  alles  Mögliche 
und  Unmögliche  versucht,  auch  an  Interpolationen  und  an 
eine  Verschmelzung  zwei  verschiedener  Urkunden  hat  er 
schon  gedacht.  Endlich  sieht  er  sich  genötigt,  Z.  15—17 
als  einen  Orakelspruch,  der  den  Untergang  Waidrangs  und 
seines  Anhanges  prophezeit,  anzusehen  und  den  Inhalt 
dieser  Zeilen  trotz  der  durchgehend  regelrechten  Perfekt- 
form   ihrer  Verben,    mit    Futurum-exactum    wiederzugeben. 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine.  653 

Saehau  glaubt  Z.  15 — 17  nicht  als  historischen  Bericht 
fassen  zu  dürfen.  Denn,  so  fragt  er,  wie  sollen  die  Juden- 
feinde schon  gleich  nach  der  Tempelschändung  getötet 
worden  sein,  wenn  sie  jetzt,  3  Jahre  später,  immer  noch 
weinen  und  trauern,  weil  die  Genehmigung  zum  Wieder- 
aufbau des  Tempels  ihnen  immer  noch  verweigert  wird? 
(Vgl.  Z.  19—21).  Wer  hat  ihnen  ferner  diese  Genugtuung 
verschafft?  Ist  vielleicht  Arsam  inzwischen  zurückgekehrt 
und  hat  er  ihre  Feinde  bestraft?  Nun,  warum  wenden  sie 
sich  betreffs  Erlaubnis  zur  Wiederherstellung  des  Tempels 
an  den  Statthalter  von  Jerusalem? 

Meiner  Meinung  nach  schwinden  alle  diese  Schwie- 
rigkeiten, wenn  man  zur  Erläuterung  unseres  Textes,  den 
Papyrus  Euting,  der  trotz  seines  fragmentarischen  Charak- 
ters, in  den  erhaltenen  Partien  sehr  pragmatisch  ist,  richtig 
heranzieht.  In  demselben  berichten  nämlich  diese  Juden 
unzweideutig,  daß  es  sich  bei  diesem  Aufrühre  nicht  le- 
diglich um  eine  Judenverfolgung,  sondern  vielmehr  um 
eine  politische  Erhebung  der  elephantinischen  Ägypter 
gegen  die  persische  Herrschaft  gehandelt  hat.  Vgl.  A.  1 — 3 
üb  bano  DjnJöi  }pntt>  »b  pKö  }d  mm«  ma  «nso  »t  ♦  •  « 
»fto  bv  bin  om«  {«-»  na  «d^o  tpimm  14  wva  )b  nrrw« 
nzi  nsp  rfc*  aun  »t  «nea  »t  imvüim  tt*.  »Daß  die  Ägypter 
sich  empört  haben,  wir  aber  haben  von  unserm  Herrn 
nicht  gelassen,  und  etwas  Verderbliches  konnte  uns  nicht 
nachgewiesen  werden,  im  Jahre  14  des  Königs  Darius,  als 
unser  Herr  Arsam  sich  zum  König  begab,  das  ist  die  Ver- 
räterei, welche  die  Priester  des  Chnub  in  der  Festung  Jeb 
begangen  haben  usw.  Ferner  B.  1 — 5  .  . .  Ein  Brunnen,  der 
errichtet  war  mitten  in  der  Festung,  lieferte  genügend 
Wasser  für  das  Heer,  und  wenn  große  Heeresmassen 
waren,  holten  sie  Wasser  aus  diesem  Brunnen.  Jene 
Priester  des  Chnub  haben  diesen  Brunnen  verstopft.  Wenn 
eine  Untersuchung  stattfindet  vonseiten  der  Richter,  Be- 
amten und  Geheimpolizisten,  welche    über  Südägypten  ge- 


654  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine. 

setzt  sind,  wird  unserm  Herrn  das  bekannt  werden,  was 
wir  gesagt  haben«1). 

Hier  ist  ganz  deutlich  mitgeteilt,  daß  es  sich  bei  dieser 
Empörung  um  einen  politischen  Aufstand  seitens  der 
Ägypter  handelte,  bei  welchem  Waidrang,  der  königl.  per- 
sische Gouverneur  von  Elephantine  und  sein  Sohn  Naphajan, 
der  Festungskommandant  von  Assuan,  in  gewissenloser, 
verräterischer  Weise,  gegen  eine  Bestechung  (vgl.  oben 
"b  Ö.T  porm  PJD3)  den  Feinden  Persiens  große  Dienste  ge- 
leistet haben.  Daß  nun  dieser  Aufstand  gegen  die  persische 
Oberherrschaft,  trotz  Abwesenheit  der  Arsames,  bald  kräftig 
unterdrückt  wurde,  daß  Waidrang  samt  seinem  verräteri- 
schen Anhange  hart  bestraft  wurden,  ist  mehr  als  selbst- 
verständlich. Dadurch  aber  wird  die  Parenthese  in  Pap.  1, 
Z.  15 — 17  sehr  plausibel  und  alle  Schwierigkeiten  schwin- 
den. Daß  übrigens  schon  Waidrangs  Beteiligung  an  einer 
Verfolgung  der  im  persischen  Kriegsdienste  stehenden  Juden 
allein  ein  politisches  Verbrechen  gegen  die  persische  Re- 
gierung bedeuten  mußte,  ist  oben  schon    erwähnt  worden. 

Daß  Pap.  1  jenes  rein  politische  Moment  nicht  be- 
sonders hervorhebt,  erklärt  sich,  abgesehen  davon,  daß  dies 
mit  dem  Zwecke  dieses  Petitionsschreibens  nichts  direkt 
zu  tun  hat,  auch  noch  daraus,  daß  sie  dieses  Ereignis  drei 
Jahre  später  (Z.  30)  beim  Statthalter  Jerusalems  wohl  als 
bekannt  voraussetzen,  wie  dies  eben  in  der  genannten 
Parenthese  deutlich  der  Fall  ist. 

Auf  die  Frage,  warum  die  persischen  Behörden,  die 
den  elephantinischen  Aufstand  sofort  unterdrückt  haben, 
nicht  auch  den  Wiederaufbau  des  Tempels  genehmigen 
wollten  (vgl  Z.  28  mao^»  p  jpatf  Hb  »tt),  bietet  uns  schon 
Pap.  C,  der  die  endlich  erlangte  Erlaubnis   zur  Wiederher- 

')  ift  s^n  irpiwi*?  mon  »S  poi  »rha  fta  rpja  n  nr  nxa  'fr« 

*;tk  },n  liao  y  ma  -^n  ai:n  i  sr-«a  pne  x'o  ii  «*i32  m,T  FT9.1  ;n 
bzph  is-in?  jjtjv  BieB>ji  rwnea  paoo  •:  bwu  ntibt  vesn  (e  "isjun 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Eiephantine.  655 

Stellung  dieses  Gotteshauses  enthält,  eine  befriedigende 
Antwort.  Diese  Urkunde,  welche  die  Rückkehr  Arsams  nach 
Ägypten  schon  voraussetzt  und,  die  daher  keinen  strikten  Be- 
fehl, sondern  eine  Empfehlung  an  den  ägyptischen  Statthalter 
darstellt  (vgl.  Z.  2—3  jva  «nana  bv  ovn&  mp  id'd^  puaa 
'131  K»ötf  hb»  n).  »Du  sollst  in  Ägypten  sprechen  vor  Arsam 
über  das  Altarhaus  des  Gottes  des  Himmels  usw.«  besagt 
ausdrücklich,  daß  sie  nur  »Speiseopfer  und  Weihrauch*  in 
dem  neu  zu  erbauenden  Tempel  darbringen  sollen1). 

Daraus  ersehen  wir,  daß  seitens  der  persischen  Be- 
hörden die  Tieropfer  in  Oberägypten  nicht  gerne  gesehen 
waren,  was  zweifellos  aus  Rücksicht  auf  die  Ägypter,  denen 
die  Tiere  heilig  waren,  geschehen  ist,  zumal  der  elephanti- 
nische  Gott  Chnum  eine  Widdergestalt  hatte. 

Auf  diese  Urkunde  wird  in  einer  Inschrift  der  neuesten 
Publikation  wohl  Bezug  genommen,  wenn  dortselbst  (Pap. 
4,  Z.  8  f.)  gesagt  wird  na  wna  n*a  ♦  ♦ .  »t  k."6k  k.t  n  mitei 
rirus  ns\A  \nb  nun  iay;v  »h  lbpa  uy  iw  jpi  mn  ♦ . .  afp  »und 
der  Tempel  des  Gottes  Jaho,  welcher  ...  in  der  Festung 
Eiephantine,  wie  er  früher  war,  wieder  aufgebaut  sein  wird, 
und  Taube,  Turteltaube,  Ziege  . . .  daselbst  nicht  gemacht 
wird,  sondern  Weihrauch  und  Speiseopfer«  .  .  .  Diese  letztere 
Urkunde  stammt  ebenfalls  von  Jedonjah,  dem  Gemeinde- 
ältesten Elephantines  und  vier  anderen  Repräsentanten  der 
dortigen  Juden.  Der  Adressat  ist  unbekannt ;  da  die  Inschrift 
fragmentarisch  erhalten  ist.  Aus  der  Unterschrift  rvxi*  "pay 
»dein  Knecht  Jedonjah«  ist  jedoch  deutlich  zu  ersehen,  daß 
sie  an  eine  nichtjüdische  Behörde  gerichtet  war ;  da  sonst 
der  Schreiber  oairm  »euer  Bruder«  sich  zeichnet. 

Der  fragmentarisch  erhaltene  Pap.  15  berichtet  von 
einem  fernem  Aufstande  gegen  die  Juden,  bei  welchem  auch 

i)  Vgl.  z.  8-11  KnjiaSi  xnnjüi  \am,pb  nw  na  mrota  .Tjatf* 
"|T  Krme  by  pmp\  während  sie  in  ihrem  Bittschreiben  zweimal  nach- 
drücklich von  ftXtttyfl  xroinSi  xnno  »Speiseopfer,  Weihrauch  und 
Ganzopfer«  sprechen. 


656  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephaniine. 

der  berühmte  Jedonjah  und  noch  zwei  der  in  der  vorher- 
genannten Inschrift  erwähnte,  ums  Leben  gekommen  zu 
sein  scheinen.  Nachdem  zuerst  von  gefesselten  Frauen  die 
Rede  ist,  heißt  es  dann  Z.  4  f. :  »Siehe,  die  Namen  der 
Männer,  welche  gefunden  wurden  an  jeder  einzelnen  Türe 
und  getötet  (?)  wurden...  Jedonjah  bar  Gemarjah,  Hosea 
Jathom,  Hosea  bar  Natium  usw,  Die  ferneren  Zeilen  scheinen 
von  einem  Schadenersatz  zu  reden.  Da  wir  nun  wissen, 
daß  Ägypten  schon  wenige  Jahre  nach  der  obenerwähnten 
Tempelschändung  das  persische  Joch  endgültig  abgeworfen 
hat,  so  zweifeln  wir  gar  nicht  daran,  daß  die  oberägypti- 
schen Juden  nachher  vielen  solchen  Pogromen  ausgesetzt 
waren. 

4.  Alter  dieser  ägyptischen  Jaden. 

Betreffs  der  Herkunft  und  des  Alters  dieser  Kolo- 
nisten beschränkt  sich  Sachau  fast  ganz  auf  die  Notiz  bei 
Aristeas  (13),  die  von  verschleppten  jüdischen  Kriegern 
nach  Oberägypten  unter  Psammetich  II 594 — 89  spricht.  Wenn 
aber  nicht  bloß  der  amtliche  Bericht  der  elephantinischen 
Gemeinde  an  den  Statthalter,  sondern  auch  der  offizielle 
Bescheid  des  jerusalemitischen  und  samaritanischen  Paschas 
(Pap.  3)  es  besonders  hervorhebt,  daß  die  Perser  bei  ihrer 
ersten  Ankunft  in  Ägypten  —  zirka  540  —  diesen  großen, 
fünftorigen  Säulentempel  schon  vorgefunden  haben1),  so 
spürt  Sachau  selbst  die  Unwahrscheinlichkeit,  daß  jene 
verschleppten  jüdischen  Söldner  in  verhältnismäßig  kurzer 
Zeit  zu  so  wohlhabenden  Gemeinden,  wie  dieser  Tempel 
und  die  genannten  Steuerlisten  sie  voraussetzen,  sich  ent- 
wickelt hätten.  Die  biblischen  Notizen,  welche  das  Vor- 
handensein von  Israeliten  in  Ägypten  schon  im  7.  bis  8. 
vorchr.  Jahrh.  voraussetzen  (vgl.  besond.  Hosea  9,  6.  Je- 
saja    19,  8.   27,   13)    müssen    jetzt    die    ihnen    gebührende 

i)  Vgl.  Pap.  l,  Z.  13  nnstpn  n»  "]i  x-iux  pnatob  bv  wwa  vi\ 
ferner  Pap.  3,  Z.  5  *n3»  üip  fönp  fö  JWI  n». 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine.  657 

Würdigung  erfahren.  Jeremias  hat  586  mit  seiner  Emi- 
grantenschar jüdische  Kolonien  in  Ober-  und  Unterägypten 
bereits  vorgefunden  (Jerem.  44,  1.  24,  8).  Wie  Herodot  II, 
30  von  den  Grenzwachen  in  Elephantine  und  Daphne,  an 
der  südlichsten  und  nördlichsten  Grenze,  spricht,  so  er- 
wähnt auch  Jeremias  Judenkolonien  in  Patros  =  Ober- 
ägypten und  wenn  =  Daphne  an  der  asiatischen  Grenze. 
Daß  diese  oberägyptischen  Grenzgarnisonen  meist  mit  se- 
mitischen, besonders  palästinensischen  Söldnern  gefüllt 
waren,  geht  mit  aller  Deutlichkeit  hervor  nicht  nur  aus 
der  für  diesen  Zweck  schon  verwerteten  griechischen 
Söldnerinschrift  von  Abu-Simbel,  sondern  viel  sicherer 
noch  aus  einer  weniger  bekannten  ägyptischen  Inschrift 
eines  Chnumtempels  in  Elephantine  selbst.  In  dieser  In- 
schrift berichtet  Nez-Chor,  der  oberägyptische  Statthalter 
des  Pharao-Hofra  (vgl.  Jerem.  44,  30),  von  den  s  y  r  i  c  h- 
palästinensischen  Söldnern,  »die  in  ihr  Herz  ge- 
geben hatten  (=  den  Vorsatz  gefaßt  haben,  vgl.  b&  'flrui 
">2b),  nach  Meröe  (in  Äthiopien)  zu  ziehen.  Seine  Majestät 
(==  Hofra)  fürchtete  sich  wegen  der  Schlechtigkeit,  die 
sie  beginnen.  Ich  aber  befestigte  ihre  Vernunft  durch  Rat- 
schläge und  ließ  sie  nicht  nach  Nubien  ziehen,  sondern 
führte  sie  zu  dem  Ort,  wo  seine  Majestät  war.«  Daß  eine 
solche  Söldnerschar  Elephantines  unter  Psammetich  wirklich 
nach  Äthiopien  gezogen  und  sich  dort  niedergelassen  hat, 
berichtet  Herodot  a.  a.  0.  An  solche  Überläufer  denkt 
wohl  auch  Jesajah  11,  11,  wenn  er  von  den  versprengten 
Juden  in  »Pathros-Südägypten  und  Kusch«  spricht1)  undSe- 
charjah  10,  welche  Prophezeiung  auch  von  jüdisch-ortho- 
doxer Seite  Secharjah  1,  dem  Zeitgenossen  Jesajahs,  zuge- 
schrieben wird  (vgl.  Jawitz,  Gesch.  Israels  II  198).  Die  von 


*)  Daß  auch  unsere  Kolonisten  in  Elephantine,  Assuan  usw. 
nach  Ägyptens  Befreiung  von  der  Perserherrschaft  sich  in  Ägypten 
nicht  halten  konnten  und  wahrscheinlich  wie  die  Israeliten,  von  denen 
Jesajah  spricht,  und  die  Palästinenser,  von  welchen  in  der  ägyptiseheD 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  42 


658  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine 

diesen  oberägyptischen  Juden  verehrten  Gottheiten,  wie 
^K/va  DiV  ,^K/va  d»k  ,V«n*a  Bin  (vgl.  unten  S.  662)  weisen 
auf  nordpalästinensischen  Ursprung  hin  und  lassen  so  die 
Schlußfolgerung  zu,  daß  wenigstens  der  Kern  dieser  Juden 
dem  nordisraelitischen  Reiche  entstammte.  Jedoch  sind 
solche  Folgerungen  nur  mit  großem  Vorbehalt  zu  ver- 
werten. 

5.  Religiöse  Zustände. 

Die  elephantinischen  Funde  lassen  uns  bei  den  ober- 
ägyptischen Judenkolonien  eine  Vertrautheit  mit  den  bi- 
blischen Schriften  deutlich  erkennen.  Das  interessanteste 
Beispiel  hierfür  ist  der  Papyr.  6  der  neuesten  Publikation, 
welcher  ein  Passah-Edikt  enthält.  Diese  unschätzbare  außer- 
biblische nDD-Urkunde  aus  biblischer  Zeit  lautet  wörtlich 
folgendermaßen: 

unlesbar 1. 

trn^K  tik  ubv  man  aain«  jpwp  «Vn  ntms\  n»jv  2. 

bis  wbv   «a^B   ja   «3^o  ttnmm  5  nw  k?  xnw  nyDi  3. 

.Dann 

. . .  3iK  üb  ja  d/uk  nya  ...  4. 

. . .  b  21  dv  iv  15  dt  jbi  m  .  .  .  5. 

. . .  «  nTay  nrnmi  wi  pn  ...  6. 

. ...  K  im  ....  t  dihjb  $»ai  vwn  b  .  . .  7. 

JD*^>  21   DV  1J?   KtPBtP  3-IP0  ...   8. 

. . .  'or  pa  lonm  oa^i/ia  A»  . .  .  9. 

. .  .  «  ...  10. 

man  nain«  «mir  «^n  nniaai  rwrp  »n*  . . .  11. 

1) 

2)  Jedonjah  und  seine  Genossen,  die  judäische  Mi- 
litärkolonie. Euer  Bruder  Hananjah.  Das  Heil  meiner  Brüder 
mögen  die  Götter 

Inschrift  und  bei  Herodot  die  Rede  ist,  nach  Äthiopien  geflohen 
sind,  ist  mehr  als  wahrscheinlich.  Vielleicht  sind  sie  gar  die 
Vorfahren  der  heutigen  Falaschas? 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine.  659 

3)  und  nun  in  diesem  Jahre,  dem  Jahr  5  des  Königs 
Darius,  ist  vom  König  an  Arsam  geschickt  worden 

4)  jetzt  sollt  ihr  nun  also  zählen vier?  vierzehn? 

5)  und  vom   15.  bis  zum  21.  des 

6)  seit   rein    und  vorsichtig Arbeit 

7)  (nicht)    trinkt    und    jede    Sache,    in    der  Sauerteig 


ist 


8)  vom    Sonnenuntergang  bis  zum  21.  Nissan 

9)  geht  zu  eueren  Häusern  und  macht  Schluß  zwischen 
den  Tagen  

10) 

11)  Meine  Brüder,  Jedonjah  und  seine  Genossen,  die 
judäische  Militärkolonie.   Euer  Bruder  Hananjah. 

Dieses  Dokument,  welches  aus  dem  5.  Jahre  des 
Darius  (Z.  3)  stammt  und  somit  noch  älter  ist  als  das  früher 
publizierte  große  Petitionsschreiben  der  elephantinischen 
Judengemeinde  an  den  Statthalter  von  Jerusalem,  das  vom 
POTWi  H  riW  stammt,  läßt  bei  seinem  Verfasser  die  Be- 
kanntschaft mit  dem  bibl.  Text  mit  Sicherheit  erkennen. 
Die  Worte  v&w  anpa  und  tjyjuia  l^ltt  (Z.  8,  9)  sind  Paral- 
lelen zu  der  diesbezüglichen  biblischen  Stelle  war  aiya 
WDtffi  und  yhmb  rafell  (V.  B.  M.  16,  6.  7)  Z.  5.  8.  av  jm 
15  dv  iv  21  gibt  II.  B.  M.  12,  18  m»  IV  'Mi  er  wy  nj?3"»a 
B'wm  *rn«n  mit  einer  kleinen,  aber  beabsichtigten  Änderung 
wieder.  In  dem  erwähnten  Gesuch  an  den  jerusalmitischen 
Pascha,  Bagoes,  sind  die  Worte  (Z.  21)  o*rp  "j^  mrr  Plpun 
IK13&  nh&  ebenfalls  ein  Zitat  aus  Deuter.  24,  13.  Die  der 
genannten  Achikar-Erzählung  eingeflochtenen  didaktischen 
Sprüche  lassen  ihren  biblischen  Ursprung  deutlich  erkennen. 
Vgl.  z.  B.  Pap.  53,  Z.  3  -ion  [a  *na  ■pmnii  bx  Z.  4  -pana«  p 
man  *b  na  Pap.  54,  4  -pa  im  «noaa  ^a  (a  zu  Spr.  Sal.  13, 
24.  4,  23  ....  .  Ebenso  kann  die  genaue  Übereinstimmung 
der  Opferarten  nSiyi  rutii  Piruo  und  rmi^pi  «naia^i  «nna  in 
Pap.  1,  Z.  21,  25  mit  Esra  6,  9.  7,  17  keine  zufällige  sein. 
Meiner  Meinung  nach  bedeutet  das  rätselhafte  nrnPM  fl*TOV 

42. 


660  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine. 

welches  Z.  11,  Pap.  1  unter  den  elephantinischen  Tempel- 
räumen und  Tempelgeräten  aufgezählt  wird,  nichts  anderes 
als  »Kasten  des  Heiligtums«,  da  »mw  aramäisch  »Kasten« 
und  nr.tt'K  assyrisch  und  kanaanäisch  »heiliges  Gemach« 
oder  »Glückseligkeitsort«,  hebr.  w«,  n»K  bedeutet.  Dieser 
»Kasten  der  Heiligkeit«  würde  dem  in  allen  Synagogen  seit 
den  ältesten  Zeiten  postierten  empn  p«,  der  die  biblische 
Gesetzesrollen  birgt,  entsprechen1).  Das  alles,  besonders 
aber  die  Bezugnahme  auf  pentateuchische  Vorschriften,  ist 
im  Hinblick  auf  Nehemia  8,  14,  welches  Ereignis  sich  nur 
sehr  wenige  Jahre  vor  der  Abfassung  unserer  Passah-Ur- 
kunde  und  der  Petition  in  Pap.  1  zugetragen  hat,  und 
welches  für  die  bibelkritische  Deuteronomium-  und  Priester- 
kodexhypothese von  Wichtigkeit  ist  (vgl.  zu  Nehem.  das. 
11.  B.  M.  23  und  V.  B.  M.  16)  außerordentlich  beachtens- 
wert. Die  offizielle  Passah-Ansage  beweist  keineswegs,  daß 
dieses  Fest  den  oberägyptischen  Juden  bis  dahin  ganz 
unbekannt  war,  wenn  auch  die  nähere  Angabe  betreffs  des 
Nichtgenießens  alles  Gesäuerten  mehr,  als  die  alljährlich 
üblichen  kalendarischen  Proklamationen  in  Jerusalem  und 
die  Verkündigung  derselben  im  Auslande,  zu  sein  scheint. 
(Vgl.  Rosch  ha-Schanah  21  b  und  bezüglich  Ägypten,  jer. 
Erubin  c.  111.  (Schluß)  fol.  21a.  Das  Passahfest,  bei  dem 
die  besondere  Berücksichtigung  des  Monats  der  Ährenreife 
verlangt  wird  (V.  B.  M.  16,  1)  hat  bekanntlich  eine  solche 
Mahnung    durchaus   erfordert. 

Was  ferner  das  religiöse  Bewußtsein  der  oberägypti- 
schen Juden  betrifft,  so  ist  die  tiefe  Frömmigkeit,  welche 
aus  der  erwähnten  Petition  an  den  Statthalter  von  Jerusalem 
spricht,  schon  oft  bewundert  worden.  Ihr  zweimaliges  Be- 
tonen, daß  sie  seit  drei  Jahren,    seit  der  Zerstörung  ihres 

*)  Wenn  merkwürdiger  Weise  gerade  die  große  Hieroglyphen- 
inschrift des  Chnuntempels  bei  Elephantine,  die  nicht  über  das  4.-5. 
vorchr.  Jahrhundert  hinausreicht,  den  biblischen  Bericht  von  den  7 
Hungersjahren  kennt,  so  dürfte  dies  auch  kein  Zufall  sein. 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine.  661 

Tempels  »Trauerkleider  tragen,  fasten  und  beten,  keinen 
Wein  trinken,  sich  nicht  mit  Öl  salben,  und  daß  ihre  Frauen 
den  Witwen  ähnlich  seien«  (Pap.  1,  Z.  15,  19),  wie  ihr 
flehentliches  Bitten  um  die  Genehmigung  zum  Wiederaufbau 
dieses  Tempels  (ibid.  Z.  22—30),  wird  niemand  als  eine 
Heuchelei  bezeichnen. 

Aber  gerade  diese  wohltuende,  warme  Religiosität, 
diese  Anhänglichkeit  und  Liebe  zum  Tempel  ihres  Gottes 
Jaho  (im  ist  es,  die  uns  diese  Papyrusfunde  zu  der  für 
die  israelitische  Religionsgeschichte  bedeutsamsten  Entdek- 
kung,  die  je  gemacht  worden  ist,  stempelt.  Denn  das 
schwierigste  Problem  der  ganzen  biblischen  Geschichte  findet 
durch  sie  eine  ungeahnte  Lösung.  Der  auffällige  Widerspruch 
zwischen  Gesetz  und  Propheten,  dem  gegenüber  die  tra- 
ditionstreue Bibelforschung  seit  Jahrtausenden  in  der  größten 
Verlegenheit  ist,  findet  durch  diese  Urkunden  der  biblischen 
Zeit  seine  ganz  natürliche  Erklärung.  Die  radikal-kritische 
Bibelforschung  dagegen,  die  auf  Grund  jenes  Widerspruches 
die  ganze  biblische  Religionsgeschichte  auf  den  Kopf  stellt, 
die  aus  dem  ungeschwächten  Fortbestehen  des  Götzen- 
dienstes während  der  ganzen  biblischen  Periode  auf  das 
Nichtvorhandensein  des  biblischen  Gesetzes  schließen  zu 
müssen  glaubt,  verliert  durch  diese  Inschriftenfunde  ihren 
letzten  Halt. 

Den  Vorfahren  dieser  oberägyptischen  Juden  wirft 
Jeremias  (44)  ihren  Götzendienst  vor,  den  sie,  trotz  inniger 
Verehrung  des  Gottes  ihrer  Väter  (42),  dem  greisen  Pro- 
pheten gegenüber  offen  verteidigen,  und  von  welchem  sie 
keinesfalls  abzulassen  gedenken  (44,  15—19).  Es  wäre  da- 
nach verwunderlich,  wenn  diese  oberägyptischen  Juden 
jetzt,  kaum  2—3  Generationen  nach  Jeremias,  uns  schon 
als  reine  Monotheisten  entgegentreten  würden.  Tatsächlich 
ist  dies  nicht  der  Fall.  Wie  Hananjah,  der  Schreibendes 
Passahediktes,  seine  Grußformel  mitten  Worten] TiK?otar 
X7ii?K  »nach  dem  Heile  meiner  Brüder  mögen  die  Götter... i 


662  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine. 

einleitet,  so  schreibt  auch  der  Jude  pia  na  nbo'  (Pap.  43), 
ebenso  der  Jude  Hcsea  an  die  Jüdin  m^p  (Pap.  13)  RS1&H 
p]?  ^>33  TtJ^tr  i^KE"  ^3  »die  Götter  alle  mögen  dich  be- 
grüßen^ In  Pap.  27  sagt  der  jüdische  Kläger  rva?^  na  rra^D 
zu  seinem  Gegner  ^«naö-in  hv  1^  *y*  rra^o  kjk»  >Ich 
Malkija  verklage  dich  beim  Gotte  ^«/laoin,  und  Pap.  32 
berichtet  niBK^  vrai&ai  run»  \n:  na  D^trc&  str  oite  na  enjo. 
»Menachem  usw.  hat  geschworen  den  Meschullam  usw.  bei 
dem  Heiligtum  und  bei  Anatjeho«  (wiUP  ist  eine  gedachte 
Verbindung  des  tf*  mit  der  Kriegsgöttin  roy#  vgl-  »n  diesen 
Inschriften  die  Eigennamen  fian*  na  |W  £>8/o  und  ia  {njsin 
pubttfia,  ferner  die  Namen  ntffatffa,  apy^a).  Vgl.  auch  Tafel 
15  uwp  Wfbut  "iy  TJfli  ?]f»»a  ah?  nifl  »Hier  das  Heil  deines 
Hauses  und  deiner  Kinder  bis  die  Götter  verkünden. < 

Die  schon  genannte  Kultussteuerliste,  welche  einge- 
leitet wird  mit  den  Worten  P]ca  AT  n  n*w  K^n  nnctP  ruf« 
*»nb»  Ivb  »das  sind  die  Namen  der  judäischen  Militär- 
kclonie,  welche  gegeben  hat  Silber  für  den  Gott  Jaho« 
schließt  mit  der  Summierung  b*fczmb  ,6  bpv  12  Jena  vtb  «3 
12  {Ena  ^«na  MJ^>  ,7  jtma  »darin  sind  für  Jaho  12  Keresch 
und  6  Schekel,  für  Vxna  Dtrs  7  Keresch,  für  b»r\n  nv  12 
Keresch.  6«na  r\:?  ist  wie  VPJUP  gebildet,  ebenso  ist  DtPK 
^«na  eine  Verbindung  des  Gottes  jett»«  oder  as'*»*  (II  Kön. 
17)  mit  dem  Gotte  btt/D.  Der  Eigenname  »YB  ctr«  entspricht 
dem  maiaa  und  ci  DtfK  dem  bibl.  a*nrr). 

Diese  zahlreichen  Beispiele  lassen  betreffs  des  Poly- 
theismus dieser  oberägyptischen  Juden  auch  nicht  den 
leisesten  Zweifel  mehr  bestehen. 

Worin  besteht  nun  aber  die  so  außerordentlich  wich- 
tige Lehre,  welche  die  biblische  Religionswissenschaft  aus 
diesem  Momente  ziehen  soll?  Wir  wußten  von  jeher  aus 
den  Berichten  der  Königsbücher  und  den  Reden  der  Pro- 
pheten, daß  die  biblischen  Israeliten  neben  dem  Gotte 
ihrer  Väter  auch  andere  Götter  verehrt  haben.  Es  war  uns 
aus  der  Bibel  auch  stets  klar,  daß  dieselben  Israeliten,  trotz 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine.  663 

ihres  polytheistischen  Gebarens,  den  biblischen  Gott  als 
den  höchsten  anerkannt  haben,  wie  diese  oberägyptischen 
Kolonisten,  die,  trotz  der  vielen  von  ihnen  verehrten  an- 
deren Gottheiten,  den  Gott  Israels  k»b»  nnhx  nennen.  Wir 
wußten  aber  auch,  daß  sie  jene  außerisraelitischen  Gott- 
heiten, trotz  ihrer  genauen  Bekanntschaft  mit 
dem  biblischen  Gesetze  verehrt  haben,  und  doch 
konnten  wir  dies  der  unfehlbaren,  extremradikalen  Kritik 
gegenüber  nicht  beweisen.  Diese  unschätzbaren  Urkunden 
aus  biblischer  Zeit  haben  diesen  eklatanten  Beweis  zum 
erstenmal,  zur  Evidenz  geliefert.  Die  hyperradikale  Kritik 
wird  jetzt  anerkennen  müssen,  daß  sie  den  Einfluß  des 
biblischen  Gesetzes  auf  das  religiöse  Leben  des  alten 
Israel  ganz  falsch  eingeschätzt  hat.  Sie  wird  vielmehr  zu- 
geben müssen,  daß  aus  der  Nichtbeobachtung  eines  bibli- 
schen Gesetzes  keineswegs  auf  das  Nichtvorhandensein 
dieses  Gesetzes  geschlossen  werden  darf.  Diese  unwider- 
legbaren Zeugen  aus  der  biblischen  Periode  haben  jene  fast 
naiv  zu  nennende  Grundanschauung  der  ganzen  evolutio- 
nistischen  Methode  zu  schänden  gemacht  und  endgiltig 
gezeigt,  daß  keineswegs  eine  u  n  ü  berbr  ü  ckbare  Kluft 
zwischen  den  pentateuchischen  Gesetzen  einer- 
seits und  den  Berichten  der  Königsbücher  und 
den  Worten  der  Propheten  andererseits  besteht. 
Wenn  die  elephantinischen  Juden,  nach  den  Berichten 
in  Pap.  1—2,  fasteten,  weinten  und  den  Gott  des  Himmels 
anflehten,  daß  ihnen  bald  vergönnt  sein  möchte,  Speise-, 
Weihrauch-  und  Brandopfer  in  ihrem  Tempel  darzubringen, 
was  soviel  heißt,  als:  Gott  möge  ihnen  dazu  verhelfen,  das 
im  3.  und  5.  Buche  Mosis  dutzende  von  Malen  wieder- 
holte Verbot  des  Opferns  außerhalb  des  Zentralheilig- 
tums möglichst  häufig  zu  übertreten:  so  hat  dieses  Moment 
in  der  theologisch-wissenschaftlichen  Welt  einen  wahren 
Sturm  erregt.  Die  Radikalen  sind  überzeugt,  daß  das  3. 
B.  M.  damals  kaum  entstanden   und  das  5.  wenigstens  bei 


664  Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine. 

diesen  ägyptischen  Juden  noch  nicht  zur  Geltung  ge- 
kommen sein  könne.  Kein  geringerer  als  Nöldeke  hat  sich 
nach  fast  vierzigjähriger  Weigerung,  auf  Grund  dieser  Ur- 
kunde veranlaßt  gesehen,  Wellhausens  Priesterkodex- 
Theorie  höflichst  zu  akzeptieren,  während  die  Konserva- 
tiven zu  den  verzweifeltesten  Ausflüchten  gegriffen  haben. 
Wie  würde  doch  unser  Freund  Hananjah,  der  in  seiner 
Passah-Ankündigung  das  2.  und  5.  B.  M.  wörtlich  zitiert, 
während  er  wenige  Zeilen  vorher  die  Adressaten  im  Namen 
der  Götter  grüßt,  sich  höchlichst  amüsieren  über  diese 
Freudensausbrüche  und  Schreckensszenen  im  Kreise  un- 
serer protestantischen  Bibelforscher  anläßlich  der  Worte 
und  Wendungen,  die  in  seinen  Tagen  so  landläufig  und 
selbstverständlich  waren. 

Freilich  die  Lösung  des  religionspsychologischen  Rät- 
sels von  der  Harmonie  der  denkbar  schroffsten  Gegensätze 
im  Geiste  der  biblischen  Israeliten  haben  wir  von  diesen 
Urkunden  nicht  zu  erwarten.  Wir  können  diese  rätselhafte 
Erscheinung  in  allen  Perioden  der  Religionsgeschichte,  wie 
auch  im  religiösen  Leben  der  Gegenwart  wahrnehmen.  Wie 
es  psychologisch  begreiflich  ist,  daß  man  moralische  For- 
derungen aus  Gründen  moralischer  Schwäche  unbeachtet 
läßt,  ebenso  denkbar  ist  es,  daß  man  aus  abergläubischen 
Motiven,  oder  sonstigen  subjektiven  Meinungen,  religiösen 
Glaubenssätzen  gleichgültig  gegenübersteht.  Wenn  der 
Talmud  und  die  religiöse  Literatur  des  Mittelalters  der 
von  allen  Propheten  dem  Götzendienste  gleichgestellten 
Astrologie  huldigten,  weil  sie  den  herrschenden  Anschau- 
ungen ihrer  Zeit  nicht  widerstehen  konnten,  warum  soll 
David  nicht  aus  ebensolchen  Motiven  die  segenspendenden 
Teraphim  in  seinem  Hause  geduldet  haben,  warum  sollen 
nicht  unsere  Kolonisten,  unbeschadet  ihres  Glaubens  an 
die  unfaßbare,  überweltliche  Erhabenheit  des  tro»  nnbx, 
auch  den  Untergöttern  manchen  Einfluß  auf  bestimmte 
Naturkräfte  zugetraut  haben?     Sicherlich   haben  sie  diesen 


Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine.  665 

sekundären  Gottheiten,  denen  sie  vielleicht  nur  den  Cha- 
rakter von  höheren  intelligiblen  Substanzen  verliehen 
haben,  keine  uneingeschränktere  Gewalt,  als  die  Kabbala 
dem  Metatron,  zuerkannt.  Und  wer  wollte  wagen,  die  Kab- 
balisten  nicht  für  Monotheisten  zu  halten!  Wenn  der  orien- 
talische und  osteuropäische  Jude,  im  Notfalle  die  Zauberin 
aufsucht,  ohne  sich  um  die  diesbezüglichen  biblischen  Ver- 
bote zu  kümmern,  warum  sollte  nicht  Saul,  der,  der  bibli- 
schen Vorschrift  gemäß,  die  Totenbeschwörerinnen  und 
Zauberinnen  ausrotten  ließ,  in  der  Not  die  Hexe  von  En-dor 
aufgesucht  haben,  und  warum  sollen  ferner  die  »in  Elend 
und  Hunger  vergehenden«  jüdischen  Frauen  in  Ober- 
ägypten nicht  der  »Königin  des  Himmels«  geräuchert  haben? 

Wenn  wir  einerseits  berücksichtigen,  daß  Jeremias 
den  Polytheismus  der  Eltern  und  Großeltern  unserer  Ko- 
lonisten, sowohl  seinem  Charakter  wie  seinen  Motiven 
nach,  dem  ihrer  palästinensischen  Vorfahren  gleichstellt 
(Jerem.  44,  3.  8.  f  15 — 21),  und  andererseits  bedenken,  daß 
diese  Juden,  welche  Jeremias  schon  am  Beginne  des  H.  vor- 
chr.  Jahrh.  vorgefunden  hat,  und  die  die  exilische  Läuterung 
nicht  erfahren  haben,  für  uns  das  vorexilische  Israel  re- 
präsentieren und  uns  eine  klare  Illustration  biblischer  Po- 
lytheisten  bieten,  so  müssen  wir,  ohne  uns  zu  schämen, 
eingestehen,  daß  das  religiöse  Niveau  jener  Polytheisten  von 
uns  ungerechterweise  viel  zu  tief   eingeschätzt  worden  ist. 

Wahrlich,  eine  so  grelle  Beleuchtung  biblischer  Ver- 
hältnisse durch  zeitgenössische  Urkunden  übertrifft  alle 
unsere  Erwartungen.  Mögen  daher  unserer  Religionswissen- 
schaft noch  viele  solcher  Funde  vergönnt  sein.  Und  mögen 
auch  unsere  tonangebenden  Religionshistoriker  endlich  an- 
fangen umzulernen  und  ehrlich  zuzugestehen,  daß 
die  trad  itio  n  e  1 1  e  Auf  f  ass  u  n  g  der  altisraeliti- 
schen Religionsgeschichte  voll  und  ganz  ge- 
rechtfertigt  ist. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

Von  Louis  Ginzberg". 

I. 

>  Israel  wanderte  nicht  eher  ins  Exil,  als  es  in  vier- 
undzwanzig Sekten  zerfiel«.  Abgesehen  von  der  Zahl  vier- 
undzwanzig, die  man  wohl  als  eine  haggadische  Lizenz1) 
betrachten  darf,  enthält  dieser  Ausspruch  R.  Jochanans*) 
eine  tiefe  Wahrheit.  Der  Untergang  des  jüdischen  Staates  ist 
nicht  allein  der  Eroberungspolitik  der  Römer3)  zuzuschreiben, 
sondern  auch  dem  Parteihader  und  Sektenhaß  der  Juden,  die 
ihren  Staat  aus  den  Fugen  hoben,  lange  bevor  ein  römischer 
Soldat  den  Boden  Palästinas  betrat.  Die  Kämpfe  zwischen  den 
Pharisäern  und  Sadduzäern  sind  die  einzigen  sicheren  Daten 
in  der  inneren  jüdischen  Geschichte  während  des  Jahrhun- 
derts, welches  der  Zerstörung  des  Tempels  im  Jahre  70  voraus- 
ging. Die  Gegensätze  aber,  weiche  diese  Kämpfe  heraufbe- 
schworen, sind  uns  äußerst  mangelhaft  bekannt.Dierabbinische 
Tradition  sieht  im  Sadduzäismus  nichts  anderes  als  einen 
Abfall  von  der  wahren  Religion,  deren  Träger  die  Pharisäer 
waren.  Für  den  modernen  Historiker  dagegen  ist  der  Gegen- 
satz zwischen  Pharisäern  und  Sadduzäern  der  zwischen  einer 
kirchlichen  Partei  und  der  weltlichen  Macht.  Da  nun  der 
Talmud  und  Josephus,  bisher  die  einzigen  Quellen  für  unsere 
Kenntnis    des    Parteiwesens,    pharisäische  Tendenzen  ver- 

*)  Vgl.  R.  Hai  Oaon  in  'Aruk  s.  v.  1DJ?,  der  schon  die  Bemer- 
kung macht:  KDnjl  "»KSH  pB^S  TS  nöHp-p,  vgl.  jedoch  Responsen,  ed. 
Harkavy,  281. 

»)  Jer.  Sanhedr.  IX,  29c. 

z)  R.  Jochanan  spricht  zwar  von  dem  ersten  Exil,  aber  für 
Kenner  der  Haggada  bedarf  es  keiner  Beweise,  daß  die  Haggada  in 
ihrer  Darstellung  des  zweiten  Exils  biblisches  Material  verwendet. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  667 

folgen,  so  würden  ihre  Angaben  auch  dann  nicht  für  eine 
wahre  Beurteilung  der  Parteiverhältnisse  ausreichen,  wenn 
sie  bestimmter  und  reichhaltiger  wären  als  sie  es  sind.  »Au- 
diatur et  altera  pars«  ist  die  erste  Bedingung  für  das 
richtige  Urteil  des  Richters  wie  des  Historikers,  und  so 
lange  man  diese  Bedingung  nicht  erfüllen  kann,  muß  man 
mit  seinem  Urteil  zurückhalten. 

Sind  unsere  Kenntnisse  der  drei  großen  Sekten,  der 
Pharisäer,  Sadduzäer  und  Essäer  als  mangelhaft  zu  bezeichnen, 
so  sind  uns  die  vielen  Unter-  und  Nebenströmungen  der- 
selben nicht  einmal  dem  Namen  nach  bekannt.  Die  Anhänger 
dieser  Richtungen  erscheinen  in  der  talmudischen  Literatur 
unter  den  kollektiven  Bezeichnungen  cra  oder  n'Jian,  so 
daß  uns  jede  Möglichkeit  genommen  ist,  die  Individualität 
dieser  verschiedenen  Richtungen  kennen  zu  lernen1).  Nichts 
wäre  geeigneter  unsere  Unkenntnis  des  Sektenwesens  zu 
veranschaulichen,  als  wenn  wenigstens  einige  zusammen- 
hängende Blätter  aus  der  Hand  eines  alten  Sektierers  zu 
uns  gelangten. 

Diese  Überraschung  ist  uns  nun  in  der  Tat  zuteil 
geworden.  Die  Genisah  zu  Kairo,  diese  große  Fundgrube 
literarischer  Schätze,  hat  uns  eine  Schrift2)  aufbewahrt,  in 
der  wir  zum  ersten  Male  die  Stimme  eines  Sektierers  ver- 
nehmen, und  die  von  nun  an  zuerst  gehört  werden  muß, 
bevor  man  über  das  jüdische  Sektiererwesen  sprechen  will. 

Professor  Schechter,  der  glückliche  Entdecker  dieses 
Schatzes,  nennt  diese  Schrift:  »a  Zadokite  Work«  und  gibt 
in  der  Einleitung  zu  derselben  seine  Gründe  für  diese  Be- 

])  Daß  pa  manchmal  Juden-Christ  ist,  steht  fest,  aber  ebenso 
sicher  ist  es,  daß  häufig  dasselbe  Wort  ganz  etwas  anderes   bedeutet 

*)  Der  volle  Titel  ist:  Documents  of  Jewish  Sectaries  vol.  I. 
Fragments  of  a  Zadokite  work,  edited  from  Hebrew  manuscripts  in  the 
Cairo  Genizab  Collection  . . .  and  provided  with  an  English  Transla- 
tion, hitroduction  and  Notes  by  S.  Schechter  Cambrigde  University 
Press  1910. 


668  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

nennung.  Ich  werde  in  einem  besonderen  Abschnitt  über 
die  Sekte  sprechen,  deren  Credo  in  diesem  Fragment  nieder- 
gelegt ist.  Bei  dem  argen  Zustande  aber,  in  welchem  diese 
Schrift  sich  befindet,  halte  ich  es  für  richtig,  zuerst  den 
Text  genauer  zu  untersuchen  und  dann  zur  Diskussion 
desselben  überzugehen. 

II. 
Manche  in  den  folgenden  Abschnitten  vorgeschlagene 
Emendationen  zu  unserem    Texte1)    setzen   die   demselben 
eigentümliche  Orthographie  voraus,  weswegen  es  sich  em- 
pfiehlt in  Kürze  auf  diese  Eigentümlichkeiten  hinzuweisen. 

A)  Für  o  wird  in  folgenden  Fällen  1  gesetzt; 

1.  der    Infinitiv    constructus    des    Kai    wird    beinahe 
immer2)  plene  geschrieben:  8,  5  tib-ji  oipji;  6,  18  moe^i;  6,  21 
wrrhx;  6, 16  b)nbv,  2, 15  dik^i  ,-nm^i;  1,  7  b>it^;  l,  14  mopa;, 
5,  5  -nnj?;  8.  6  nu#i;  12,  6  -pott^»;  11,1   pmS;  10,  8  DlBtt6. 

2.  die  Nomina  segolata  haben  einige  Male  l  wo  die 
Massora  nur  die  defekte  Schreibart  kennt:  4,  12  pin;  12,  1 
«nip;  4,  6  enipn;  2,  5  mo;  2,  4  am;  1,  7  «nw; 

3.  das  Imperfect  Kai  wird  beinahe  immer  plene  geschrie- 
ben8): 8,  3  -potpn;  9,  2  -man  oipn;  3,  3  iidb»i;  16,  13  ivr; 
13,  12  $>wd<;  12,  13  tfiain;  12,  10  iioö»4). 

B)  Füre  findet  sich  »  in  folgenden  Fällen:  3,  16  ntty;  2,  7 
fiö^D;  2,  6  jvvkip;  1,  13  mniD;  13,  1  m*K*oi;  5,  14  DiTS'3; 
5,  14  »jpa:  9,  23  DTP;  1,  9  D'trtPK;  6,  20  tmm*03;  4, 6  bmtbi. 

C)  Für  o  steht  l  in  Fällen  wie:  11,  1  rtoip;  8,  2  DlpieV; 
12,  9  wn»;  1,  3  o^jnaa6);  14,  6  ontfi^6). 

*)  In  Betracht  kommt  nur  Fragm.  A,  während  B  in  den  meisten 
Fällen  der  massoretischen  Schreibart  folgt. 

*)  Nur  6,  10  noj?  und  7,  9  ipes  bilden  eine  Ausnahme. 

4)  Neben  13D\  das  aber  vielleicht  "i?D^  zu  lesen  ist;  vgl.  weiter 
unten  die  Erklärung  dieser  Stelle. 

*)  Vgl.  jedoch  14,  6  "tpBv 

6)  Gegen  die  Massora  haben  Sifri  und  Sifri  Z.  in  Nutn.  V,  fr 
b^üh  für  työS. 

6)  Daneben  aber  auch   14,  4  crwbvl 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  669 

D)  Für  u  steht  l  in:  2,  11  trina»;  11,  23  rfrü;  5,  12 
yn;  2,  9  noin,  wobei  zu  bemerken  ist,  daß  in  allen  diesen 
Fällen  Dagesch  forte  folgt1). 

Ebenso  steht  für  i  '  bei  folgendem  Dagesch  forte  in: 
4,  8  fcnn;  1,  6  wrh;  16  6  (?^jn)  bw,  3,  9  Drmtt'Ji. 

In  einem  Falle2)  —  4.  20  D'tPem  —  sogar  ohne  daß 
darauf  ein  Dagesch  forte  folgt.  Auffallend  aber  nicht  beispiel- 
los sind  1,  9  D**nM'ö5l  und  8,  5  -ntrj  wo  »  für  Schewa  ge- 
braucht wird. 

Trotz  der  Vorliebe  für  die  volle  Schreibart  finden  wir 
auch  defektive  Schreibarten,  wo  die  Massora  immer  oder 
vorwiegend  plene  hat  wie:  9,  10  D'tactyn;  10,  18  P~!;  11,  21 
epl*  und  ebenso  10,  9  v?  sowie  11,  2  i?£sr\  Zu  den  weiteren 
orthographischen  Eigentümlichkeiten  unseres  Fragments  ge- 
hören die  Auslassungen  der  Plural-  und  Feminin-Endungen 
der  Nomina  sowie  der  Suffixe:  5,  7  bnao  —  0'^H3ü;  5,  13 
p*?3)  =  mpn;  4,  18  kbö  =  riKBB;  2,  6  Vjn  =  rtan;  12,  8 
•W2n  =  JVinn;  2,  9  Tay»  =  oiaya»  Nach  aramäischer  Ortho- 
graphie findet  sich  6,  7  »M  für  am»  während  2,  3  n"»in 
die  im  Neuhebräischen  gebräuchliche  Schreibart  für  ,T*nn  ist. 

III. 
1,  2:  rat«3D  ^>33  ntrr  ödtpöi.  Der  Hinweis  S.  auf 
Gen.  18,  25  taotfo  rwjP  ist  nicht  ganz  genau,  denn  an 
dieser  biblischen  Stelle  bedeutet  '»ö  'V  »Gerechtigkeit  üben«, 
während  es  an  unserer  Stelle  mit  »Gericht  vollziehen«  zu  über- 
setzen ist,  wie  auch  S.  richtig  »execute  judgement«  hat. 
Die  biblische  Parallele  zu  diesem  Gebrauch  von  '»ö  y  ist 
Ps.  149,  9  bb#b  DH3  rrwyh  und  daher  auch  an  unserer  Stelle 
mit  3  konstruiert. 


»)  Auch  im  Ben  Sira  wird  in  zahlreichen  Fällen  1  geschrieben. 
Vgl.  Smend.  Einleitung. 

2)  Vgl.  auch  13,  11  lSawi,  wofür  auch  fov*  zu  lesen  ist. 

3)  Im  Text  Wt,  wahrscheinlich  aber  stand  ursprünglich  'p"1 
und  haben  die  Abschreiber  den  Strich  über  dem  p,  der  die  Abkür- 
zung andeuten  sollte,  für  ein  1  angesehen. 


670  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

1,  5:  'Ol  m«ö  wbw  D'W.  Trotz  on»y  ö\w  —  lj  10  — 
und  o*yai«  o*:»3  —  20,  15  —  ist  der  Gebrauch  von  o*jb> 
in  diesem  Verse  höchst  befremdend,  da  die  Zeit  durch  den 
folgenden  Satz  djyik  i/vr6  näher  bestimmt  wird  und  man 
daher  r\w  erwarten  würde. 

1,  7  :  nirao  eni»  . . .  noan.  S.  möchte  mit  Rücksicht 
auf  Jes.  60,  21  *)  lyoo  «hm  lesen,  aber  unser  Verfasser  hat 
wohl  an  Jer.  12,  2  ibm»  DJ  onyüj  gedacht,  und  man  über- 
setze daher,  »und  er  ließ  hervorsprießen  aus  Israel  und 
Aaron  die  Wurzel,  die  er  gepflanzt  hat«.  In  den  Jahren  des 
Leidens  konnte  Israel  sich  nicht  entwickeln,  es  existierte 
nur  als  eine  Wurzel  ohne  Zweige  und  Früchte;  erst  nach 
dem  Ablauf  der  Jahre  des  Leidens  konnte  es  sich  entfalten. 
Unser  Verfasser  spricht  hier  nicht  wie  S.  —  Einleitung  12  — 
annimmt,  von  einer  bestimmten  Person,  etwa  dem  Stifter  der 
Sekte,  sondern  vom  ganzen  Volke,  das  er  näher  als  Israel 
und  Aaron  bezeichnet.  Daher  auch  pfiKöi  ^itfo  man, 
während  der  Messias  ^K"it»>oi  priKS  rrtra  ist.  Sprachlich  ist 
zu  ju*BD  enw  noch  zu  bemerken,  daß  im  Talmudischen 
nyoo  =  biblisch  yüö  ist,  und  daß  ferner  in  diesem  Fragment 
die  Suffixe  häufig  unbezeichnet  bleiben,  so  daß  fiyos  so 
viel  wie  myco  ist. 

1,  12:  pirm  TVT3  rTtt>y  itt»  /1K.  S.  ist  vollständig  im 
Rechte  die  Worte  jnriK  insfür  einen  Schreibfehler  zu  erklären, 
da  doch  kaum  anzunehmen  sei,  unser  Verfasser  hätte  ge- 
schrieben »und  er  verkündete  den  spätem  Geschlechtern 
was  er  dem  spätem  Geschlechte  tat«,  wo  doch  das  spä- 
tere Geschlecht  sicher  für  eine  frühere  Zeit  steht  als  die 
späteren  Geschlechter.  Jedoch  ist  S.  Emendation  pcxi  "iH3 
kaum  haltbar,  denn  abgesehen  davon,  daß  sich  nicht  gut 
erklären  läßt  wie  aus  \vtnn,  \nnx  entstand,  kann  ptrtfi  im 
kaum  »former  generation«  bedeuten  wie  S.  übersetzt,  dies 
würde  heißen  oma^D  rrn  -f«  nna.  Man  lese  daher  ina 
pin    »das    Geschlecht   des   Zornes«,    die   Zeit   des  Leidens 

*)  So  das  Ketib,  das  Kere  "VüO. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  671 

ist  für  unsern  Verfasser  die  Zeit  des  Zornes.  —  1,5  —  und 
das  Geschlecht,  über  welches  Gott  das  Leiden  sandte,  ist 
das  Geschlecht  des  Zornes,  denn  nur  als  Folge  des  göttli- 
chen Zornes  ist  für  unsern  Verfasser  ihr  Leiden  erklär- 
lich. Der  Ausdruck  pin  in  entspricht  genau  dem  biblischen 
vnap  in  Jer.  7,  29,  während  «  das  in  pin«  für  pin  dem 
vorhergehenden  D'jnn«  sein  Dasein  verdankt1).  Möglich  wäre 
es  auch,  daß  \nm  Tria  ein  Doublette  zu  iwrwt*  wnnfr  ist, 
indem  neben  der  Leseart  'n«  "ib  X?"n*i  eine  zweite  '12  FtV"\ 
•n*  bestand,  die  dann  beide  in  den  Text  gerieten.  Jedoch 
ist  die  Verschreibung  von  pin  in  zu  pin»  '1  sehr  leicht 
erklärlich,  und  wir  dürfen  daher  pin  in  als  den  korrekten 
Text  betrachten. 

1,  15:  ata  »0*0.  Ähnliche  Ausdrücke  für  falsche  Lehren 
sind  D'jnn  O'a  »schlechtes  Wasser«  im  Spruche  Abtalions 
—  Abot.  1,  12 —  und  amay  o*a2j  »getrübtes  Wasser«,  Sifre 
Deut.  48  =  Midrasch  Tannaim  42.  Wie  in  den  rabbinischen 
Quellen  so  ist  auch  in  unserem  Texte  unter  »trügerisches 
Wasser«  falsche  Lehre  seitens  jüdischer  Lehrer  zu  verstehen 
und  nicht  etwa  heidnische  Lehren;  der  pi6n  #»«  ist  demnach 
sicher  ein  jüdischer  Gegner  der  Sekte  und  nicht  etwa  Anti- 
ochus  Epiphanes,  der  die  Juden  zum  Abfall  von  ihrer  Reli- 
gion zwang.  Auch  der  Ausdruck  Ppsn  deutet  darauf  hin,  daß 
der  b*bb  —  vgl.  4,  19  —  ein  falscher  Lehrer  sei,  denn  auch 
in  der  Schrift  wird  ipan  nur  von  den  Propheten,  falschen  wie 
wahren,  gebraucht. 

1,  15:  d^ij?  mnaji  nvnfrt  Dieser  Ausdruck  ist  nicht  wie 
S.  annimmt  Jes.  2,  11;  17  entnommen,  denn  an  diesen  Stellen 
bedeutet  dik  nvai  der  Stolz  des  Menschen,  was  hier  gar 
keinen  Sinn  gibt,  sondern  ist  Hab.  2,  6  oby  /vyaj  m#  nach- 
gebildet. Jedoch  ist  es  nicht  nötig  /maa  in  myaa  zu  ändern, 
da  unser  Verfasser  ziemlich    häufig   kleine  Änderungen    in 

i)  Vgl.  auch  Ps.  95,  10—11. 

»)  Meiri  Abot  1, 12  zitiert  aus  Sifre  die  vom  Midr.  Tannaim  ge- 
botene Leseart. 


572  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

den  biblischen  Zitaten  sich  erlaubt.  Man  wird  übrigens  nicht 
fehl  gehen,  wenn  man  n1n??  von  ^^a  »Höhe«  liest  und  nicht 
rnnaj,  obwohl  biblisch  wie  mischnisch  ^  dafür  gesagt  wird. 

1,  16:  b)2)  V"D%  Mit  Rücksicht  darauf,  daß  es  in  der 
Schrift  nie  anders  als  •}  Tut]  heißt  -  Deut.  19,  14;  27,  17; 
Hos.  5,  10  und  Spr.  22,  28  —  sowie  daß  unser  Verfasser 
—  5,  20  —  selbst  von  den  'jn  »roa  spricht,  wäre  man  ge- 
neigt jtd^i  in  yob)  zu  emendieren.  Es  ist  jedoch  nicht  aus- 
geschlossen, daß  hier  absichtlich  jron  für  ron  gebraucht  ist, 
denn  dies  drückt  den  Gedanken  des  Verfassers,  der  den 
Gegnern  vorwirft,  »sie  rissen  die  festgesetzten  Lehren  nieder« 
besser  aus,  als  das  biblische  'J  yDfl,  das  die  Grenzen,  ver- 
rücken, bedeutet.  Eine  interessante  Parallele  zu  unserem 
Verse  ist  der  Derasch  R.  Simons1)  zu  Spr.  22,  28,  der  die 
Worte  der  Schrift  »verrücke  nicht  die  uralte  Grenze,  welche 
deine  Väter  festsetzten«  dahin  erklärt:  b*  yrm*  itrytf  anao 
im«  nJtP/i  »einen  Brauch,  den  deine  Väter  einführten,  ver- 
ändere nicht«.  Diese  Midraschstelle  ist  wohl  die  Quelle 
für  die  Bemerkung  des  DH'Dn  ICD  S.  207,  ed.  Wistinetzki: 
.  .  .  owa^  irnn  bv  pw  noK*  *bv  &yw*i  .  .  .  bin  yon  »b 
jpi/iD  Kirw  las  jwa  bl  *bx  »verrücke  nicht  die  Grenze  .  .  . 
die  die  Vorfahren  festsetzten,  d.  h.  man  gebrauche  nicht  die 
für  die  Rezitation  des  Pentateuchs  festgesetzte  Kantilation 
beim  Vortrage  der  Propheten,  sondern  für  die  verschiedenen 
Teile  der  Schrift  die  verschiedenen  von  Alters  her  festge- 
setzte Melodien.«  Diese  Midraschstelle  ist  ferner  die  Quelle 
für  Midrasch  Aggada,  Deut.  199,  was  Buber  entgangen  ist. 

1,  19:  iKisn  3123  rran«    Der   Ausdruck    ikwi  3iö    ist 

»)  Midr.  Mischle  z.  St.,  ed.  Buber  93.  Vgl.  auch  Sifre  Deut.  188, 
wo  die  Stelle  in  Deut. . .  ron  Hb  auf  die  richtige  Überlieferung  der 
Lehren  der  einzelnen  Gelehrten  bezogen  wird;  der  Text  ist  wohl 
nach  Midr.  Tanneim  z.  St.  zu  emendieren.  Vgl.  auch  das  slavische 
Buch  Henoch  52,  9,  »gesegnet  sei  derjenige,  welcher  die  Grundfesten 
behält,  welche  die  Väter  in  uralter  Zeit  gründeten,«  wo  gleichfalls 
ein  Derasch  zu  Spr.  22,  28  vorliegt.  Im  äthiop.  Henoch  91,  2,  14  ist 
dieser  Derasch  verwischt. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  673 

biblisch  —  Hosea1)  10,  11  —  und  unsere  Stelle  muß  dem- 
nach übersetzt  werden:  »und  sie  wünschten  sich  einen 
feisten  Nacken«;  den  Gegnern  wird  vorgeworfen,  daß  sie 
nur  darauf  bedacht  sind,  sich  gehörig  auszufüttern.  Die  Spötter 
in  Israel,  bemerkt  der  Midrasch  —  Tanchuma,  ed.  Buber,  II, 
129  —  sprachen:  •mt  i«n,  seht  den  Fleischnacken  Moses', 
was  er  ißt,  gehört  den  Juden,  und  was  er  trinkt,  gehört 
den  Juden.  Auch  in  dieser  Midraschstelle  steht  "ikiu  für  den 
ganzen  Körper  und  ebenso  in  einem  Spruch  der  Weisen 
D\ncn  nnao  1,  29:  n««j  nvr»  p/v  xb  rrrapai  rhwa  poyno»  »a 
\cü  icoi  ap  »wer  dem  Studium  der  Thora  und  den  frommen 
Handlungen  obliegt,  der  kann  keinen  feisten  Hals  oder  fetten 
Körper  haben.«  Der  Vorwurf,  den  unser  Verfasser  gegen 
seine  Gegner  erhebt,  ist  der,  daß  sie  den  irdischen  Ge- 
nüssen fröhnen,  und  diese  Charakteristik  hat  eine  Parallele 
in  der  Himmelfahrt  Moses  VII,  4:  »da  sie  betrügerische 
Leute  sein  werden,  nur  sich  seibst  zu  Gefallen  lebend . .  . 
und  zu  jeder  Stunde  des  Tages  gern  schmausend  und  mit 
der  Kehle  schlingend«. 

2,  2:  D'Pfcn  »3*na  d::?«  nbjsi  Es  liegt  absolut  kein  Grund 
vor,  ddjtk  in  orry  zu  emendieren,  wie  S.  vorschlägt,  denn 
der  Verfasser  wollte  seine  Leser  nicht  auf  etwas  aufmerk- 
sam machen,  das  vor  den  Augen  der  Menschen  sich  ab- 
spielt oder  abgespielt  hat,  wie  in  2,  14,  sondern  er  will 
die  Strafe  der  Gottlosen  verkünden,  und  zwar  nicht  auf 
Erden,  sondern  im  Jenseits;  es  ist  eine  Lehre,  die  er  vor- 
trägt und  D3JTK  n^JK  der  einzige  zulässige  Ausdruck.  Frei- 
lich muß  man  bei  dieser  Auffassung  nicht  in  den  Irrturr. 
verfallen  owi  '5TI  mit  »den  Wegen,  welche  die  Bösewichter 
wandeln«  übersetzen,  die  Wege  sind  vielmehr  die  »K  '3nb 
—  2,  5  — ,  das  Gehenna,  wohin  die  Bösewichter  kommen, 
um  ihre  Strafe  zu  erhalten.  Der  biblische  Vers  Ps.  I,  6 
"DKfi  DWi  "pm  D'pnx   "]V7  ">   jnv    ?3,  an    den    wohl  unser 

»)  Vgl.  Ehrlich  z,  St.,  der  TnsjJ  mit  »erfassen«  übersetzte,  rieh 
tiger  wohl  »betrachten«. 

Monatsschrift.  65.  Jahrgang.  ^o 


674  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

Verfasser  bei  dieser  Stelle  dachte,  wird  im  Midrasch  The- 
hillim  z.  St.,  ed.  Buber,  24,  dahin  erklärt,  O'pnsn  n«  p  mm 
orrÄ  p"nai  DWWl  n«  pi  pv  pf?  p^iai,  »er  —  Gott  —  sitzt 
zu  Gericht  über  die  Frommen,  die  er  alsdann  nach  dem 
Paradiese  führt,  und  er  richtet  die  Gottlosen,  die  er  schuldig 
befindet,umim  Gehinnom  bestraftzuwerden«. Dieser  Midrasch 
versteht  demnach  unter  o'pnx  "pn  und  o'yttn  -pn  die  Wege, 
auf  welchen  die  Frommen  und  die  Gottlosen  sich  zu  ihren 
Bestimmungsorten  begeben.  Auch  Rabban  Jochanan  b. 
Sakkai  sprach1)  auf  seinem  Todtenbette  »von  zwei  Wegen, 
dem  einen,  der  nach  dem  Paradiese  führt,  und  dem  anderen 
nach  der  Hölle«. 

2,  4:  np-n  na*iy  Wie  schon  S.  bemerkte,  bedeutet  hier 
noiy  nicht  Schlauheit,  sondern,  wie  Sprüche2)  8,  12.  Ein- 
sicht, Verstand,  und  ich  möchte  noch  hinzufügen,  daß  im 
Talmud  auch  jtbib"iP  Verstand  ist,  nicht  Schlauheit,  wie  aus 
Niddah  45b  zu  ersehen  ist. 

2,  4:  ibj;  D'bk  "px  S.  verweist  auf  Exod.  34,  6;  aber 
dort  ist  TW  Adjektiv,  während  es  hier  ein  Nomen  ist,  wie 
iül>  zeigt,  und  wonach  vielleicht  "H*  zu  lesen  ist,  obwohl 
auch  Jerem.  15,  15  die  Massorah  T™  und  nicht  Tfc  liest. 
Möglich  ist  auch,  daß8)  rnwho  an  W  o^os  "pK  zu  lesen  ist; 
»er  ist  langmütig  und  bei  ihm  ist  Fülle  der  Verzeihungen«, 
und  für  diese  Annahme  spricht  die  Tatsache,  daß  im 
Rabbinischen  d^ok  man«  und  nicht  '«  "p«  gesagt  wird, 
wobei  allerdings  nicht  zu  vergessen  ist,  daß  gemäß  der  in 
unserem  Fragmente  auch  sonst  angewandten  Orthographie 
"p*  auch  für  man«  stehen  kann.  Vgl.  auch  Ben  Sira  XVI,  11 
iay  c]Ki  iram  *a, 

»)  Vgl.  Berachot  28  b;  Abot  R.Nathan  XXV,  79,  ed.  Schechter. 

*)  Eine  bessere  Parallele  zu  unserem  Texte  ist  Spr.  I,  4,  wo 
n)H  und  no*^  wie  in  unserem  Fragment  zusammengestellt  sind. 

»)  Ist  Jesaia  55,  7  mScS  r^  "3  nachgebildet;  in  der  liturgischen 
Formel  n^omn  tyai  mn^D  an  ist  ai  wohl  mit  »Meisten  zu  über- 
setzen, wie  der  Parallelismus  tya  verlangt. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  675 

2,  6:  bin  '3«ta  Bei  der  Häufigkeit  des  Ausdruckes 
7\bm  '0  in  der  talmudisch-midraschischen  Literatur  ist  es 
höchst  unwahrscheinlich,  daß  unser  Verfasser  von  bim  '3t6o 
oder  ^?  sprach.  Das  fehlende  n  am  Ende  ist  nicht  ein 
Schreibfehler,  sondern  die  in  unserem  Fragmente  auch  sonst 
gebrauchte  Orthographie,  die  das  Feminum  n  nicht  immer 
ausdrückt. 

2,  8:  otö  rinn  jw  awn.  Daß  dieser  Satz  korrumpiert 
ist,  bedarf  keiner  weiteren  Beweise.  Doch  läßt  sich  der 
richtige  Text  leicht  herstellen;  denn  er  ist  Ps.  5,  7  nach- 
gebildet, wonach  D'cn  min  zu  lesen  ist,  »Geschlechter 
beladen  mit,  Blutschuld«  entsprechend  dem  biblischen  tt»*tt 
3WP  ovtf.  Die  Blutschuld  ist  es  nämlich,  die  das  Verderben 
der  Sünder  verursacht.  Möglich  wäre  auch,  daß  dtk  nnn 
»die  Geschlechter  der  Menschen«  oder  cnp  n  »Geschlechter 
der  Urzeit«  zu  lesen  ist,  als  Parallele  zu  der  zweiten  Hälfte 
des  Verses  y^n  f°-  ADer  die  zitierte  Psalmstelle  spricht 
für  onjn. 

2,  9:  ooin  IV  '8.  Es  liegt  kein  Grund  vor,  mit  S.  hier 
eine  Lücke  anzunehmen;  man  lese  oain  nyio  und  übersetze: 
und  er  —  Gott  —  verbarg  sein  Antlitz  vor  der  Erde  zur  Zeit, 
die  bestimmt  war  für  ihre  —  der  Bösewichter  —  Vernichtung. 

2,  9,  10:  obw  »w  bsh  .  .  .  VT\  »Und  er  wußte  die 
Jahre  des  Bestehens,  die  Zahl  und  das  genaue  Ende  alles 
dessen,  was  existiert  und  existiert  hat,  sowie  das,  was 
kommen  wird  am  Ende  der  Jahre  (=  Zeiten)  der  Welt«. 
Gottes  Allwissenheit  erstreckt  sich  über  alles,  über  das 
Seiende  \1n'  das  Gewesene  W?nj  und  das  Zukünftige  Kit  na 
und  zwar  über  all  das  Einzelne  der  Ereignisse.  Die  Ortho- 
graphie wo  für  oföyo  und  neoa  für  onoon  sowie  »vi  für 
nm  —  Exod.  9,  3!  —  bietet  nach  dem  im  Abschnitt  II  Be- 
merkten nichts  Auffälliges,  da  in  diesem  Fragment  die  Suf- 
fixe häufig  ausgelassen  werden. 

2,  12:  ittnp  nn  irrem  TO  Qpim*  S.  übersetzt:  »And 
through  his  anvinted,  H.  made  them  know  his  Holy  Spirit.« 

43* 


676  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

Wollte  man  aber  sogar  S.  Ansicht  akzeptieren1),  wonach 
der  Messias  dieser  Sekte  auf  Erden  geweilt  hat  und  nur 
für  eine  Zeit  verschwunden  ist,  um  wieder  zu  erscheinen, 
so  könnte  an  dieser  Stelle  irrwö  unmöglich  mit  »seinem 
Messias«  übersetzt  werden,  denn  ojnvi  bezieht  sich  auf  die 
vergangenen  Geschlechter  im  Laufe  der  Geschichte,  während 
das  Erscheinen  dieses  Messias  erst  beim  Entstehen  dieser 
Sekte  stattfand.  Bedenkt  man  nun,  daß  dieser  Satz  dem 
von  Nehemia  —  9,  30  —  TK'aj  T3  "inna  oa  lyni  entspricht, 
so  ergiebt  sich,  daß  inT?  »seine  Gesalbten«  für  roraa  steht 
und  zwar  hat  unser  Verfasser  gemäß  seiner  Anschauung2) 
von  der  großen  Bedeutung  der  Patriarchen  für  die  wahre 
Lehre  absichtlich  in»»B  anstatt  VK'33  gebraucht,  wobei 
er  das  Beispiel  von  Ps.  105,  15  »rptföa  ijnn  bx,  befolgte,  wo 
»meine  Gesalbten«  so  viel  wie  die  Patriarchen3)  sind  und 
wo  ferner  nve>8  als  Parallele  zu  waaa  —  unn  btt  waa^i  steht 
Will  man  aber  die  Leseart  innPB  beibehalten,  so  muß  man 
pfäyvb  lesen  und  übersetzen:  »Und  während  all  dieser 
Jahre  ließ  er  erstehen .  .  .  damit  er  ihnen  —  am  Ende  der 
Zeiten  —  durch  seinen  Messias  seinen  heiligen  Geist  ver- 
künde«. Gegen  die  Auffassung  von  lnnPö  als  »sein  Messias« 
spricht  aber  die  Tatsache,  daß  unser  Verfasser  immer 
nur  von  dem  Messias  als  ^ki»»bi  pviNB  n»»o  spricht,  und  nicht 
von  **»  rrtpo. 

Sehr  bezeichnend  sind  die  Worte  na«  Kim  wip  nn 
das  nicht  allein  uns  als  hebräisches  Äquivalent  für 
7tveu|x.a  T7}<;  äX^eia?  gilt,  sondern  auch   für  die  Entwicklung 

*)  Vgl.  weiter  unten  Abschnitt  V. 

*)  Vgl.  Schechter  Einleitung  29.  Diese  Ansicht  tritt  auch  im 
Buche  der  Jubiläen  sehr  stark  hervor.  Übrigens  hält  auch  die  rabbi- 
nische  Tradition  —  Seder  Olam  XXI  —  »die  Väter«  für  Propheten, 
und  dies  ist  auch  die  Ansicht  Philos,  Quis  div.  haer.  sit  XII,  der  sogar 
darin  der  rabbinischen  Tradition  folgt,  daß  er  Noah  zu  den  Pro- 
pheten zählt. 

•)  Vgl.  Midr.  Tehill.  z.  St.  wann  ib*  WVD3  »meine  Oesalbten, 
darunter  sind  die  Väter  zu  verstehen.« 


Eine  jüdische  unbekannte  Sekte.  677 

dieses  Begriffes  von  Bedeutung  ist1).  Im  Buche  der  Jubiläen 
XXV,  15  ist  der  Geist  der  Wahrheit  na«  rrn  identisch  mit 
dem  untrüglichen  prophetischen  Geiste,  weßwegen  wir 
auch  in  einigen  Handschriften  »heiligen  Geist«  für  »Geist 
der  Wahrheit«  lesen,  dagegen  ist  für  unseren  Verfasser 
der  Geist  der  Wahrheit  der  Geist,  der  den  Menschen  zur 
Sittlichkeit  und  Frömmigkeit  leitet,  der  sich  zwar  am  deut- 
lichsten in  den  guten  und  frommen  Handlungen  der  »Ge- 
salbten Gottes«  offenbart,  aber  nichtsdestoweniger  einem 
jeden  Menschen  innewohnt,  so  daß  die  Sünder  durch  ihre 
sündhaften  Taten  diesen  heiligen  Geist  verunreinigen  — 
5,  11  —  indem  sie  sich  dessen  Leitung  widersetzen.  Genau 
dieselbe  Anschauung  findet  sich  im  Test.  XII.  Patr.,  wofür 
besonders  folgende  Stelle  —  Judah  XX,  1  —  sehr  lehrreich 
is.  »Erkennet  nun,  heißt  es  daselbst,  daß  sich  zwei  Geister 
mit  dem  Menschen  abgeben,  der  der  Wahrheit  und  der 
des  Irrtums,  und  der  mittlere  ist  der  der  Einsicht,  des  Ver- 
standes, wohin  er  neigen  will.«  Ähnlich  heißt  es  auch, 
Weisheit  Salomos  VII,  27:  »und  von  Geschlecht  zu  Ge- 
schlecht in  heilige  Seelen  übergehend,  begabt  sie  Freunde 
Gottes  und  Propheten  mit  Geist«. 

2,  13:  DrrövttV  idb>  emoai.  S.  hält  »»  für  einen  Schreib- 
fehler veranlaßt,  durch  das  folgende  vrinov«  gibt  aber  zu, 
daß,  wenn  man  auch  io#  streiche,  der  Satz  keinen  Sinn 
gibt.  In  Wirklichkeit  aber  liegt  kein  Grund  für  irgend 
welche  Emendationen  vor,  der  Satz  rtpnn  . . .  wnoai  bezieht 
sich  auf  die  otr  '«np  Zeile  11  und  man  übersetze:  Und  sie 
—  die  von  Gott  erwählten  —  hinterließen  unverwüstlichen 


*)  Vgl.  Ausführliches  darüber  Bousset,  Religion  desjudenthums, 
S.  343  und  375  ff.,  dessen  Ausführungen  jedoch  der  Berichtigung  be- 
dürfen; seine  Angabe,  daß  nach  der  Ansicht  der  Testamente  der  Patri- 
archen der  Messias  diesen  Geist  über  die  Frommen  ausgießen  werde, 
beruht  auf  einem  Irrtum,  denn  Judah  XXIV,  3  ist  vom  »Geiste  der 
Gnade«  und  nicht  von  dem  der  Wahrheit  die  Rede.  Wohl  aber  liegt 
diese  Vorstellung  vor  in  Joh.  XV,  26,  wo  aber  wahrscheinlich  7Cvei5[X(X 
vifc  dcV/jO-eiai;  einen  Grad  der  Prophetie  bezeichnet. 


678  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

Namen1),  die  er  —  Gott  —  aber  haßte,  führte  er  irre.  Die 
Bedeutung  von  aV  °fr  »sich  einen  Namen  machen«  ist  zwar 
nicht  biblisch,  wohl  aber  talmudisch,  wie  aus  Ber.  7  b  her- 
vorgeht, wo  Ps.  46,  10  mos  av  soviel  als  wo*  bw  erklärt 
wird. 

2,  18:  i?mo  m.  Es  liegt  kein  Grund  vor  nn  in  03  zu 
emendieren,  wie  S.  tut,  denn,  obwohl  der  Verfasser  in 
der  vorhergehenden  Zeile  D3  gebraucht,  so  handelt  es  sich 
hier  hauptsächlich  um  >eine«  Sünde,  die  den  Fall  der  Engel 
herbeiführte,  nämlich  r\m,  weswegen  der  Singular  na  ganz 
in  Ordnung  ist,  und  auch  Seite  3,  1  wird  auf  diese  Sünde 
mit  na  hingewiesen. 

2,  19:  pnwti  D»nn3l.  Die  Legende2)  erzählt,  daß  die 
Nachkommen  der  gefallenen  Engel  3000  Ellen  hoch  waren 
—  Henoch  7,  2  — ,  manche  gehen  noch  weiter  und  be- 
haupten, daß  Og,  der  unbedeutendste  unter  diesen  Riesen8), 
von  so  hoher  Statur  war,  daß  sein  Schenkel  mehr  als 
drei  Parasangen  maß,  Niddah  24  b.  Auf  solche  Anschauungen 
gehen  wohl  die  Worte  unseres  Textes  »und  wie  Berge 
waren  ihre  Körper«  zurück;  Test.  XII  Patr.,  Reuben  V,  7 
heißt  es  sogar:  die  gefallenen  Engel  reichten  bis  zum  Himmel. 

2,  19—20:  pu  *a  . . .  i«?B3  '3.  S.  liest  beide  Mal  p  üi 
für  »3,  aber  ohne  triftigen  Grund,  die  Konstruktion  in  diesem 
Satze  hängt  von  Z.  16  D'3i  '3  ab:  »Nicht  hänge  man  den 
sündhaften  Gedanken  und  den  Augen  der  Unzucht  nach, 
denn  viele4)  wurden  durch  dieselben  irregeführt  .  .  .  denn  es 
fielen  ihre  —  der  gefallenen  Engel  —  Söhne,  und  all  das 
Fleisch,  das  auf  dem  Trockenen  war,  ging  zugrunde.« 

')  Wörtlich:  mit  Deutlichkeit  setzen  sie  ihre  Namen;  unser 
Verfasser  gebraucht  OV  DV  in  dem  Sinne,  in  welchem  in  der  Schrift 
DW  nvy  gesagt  wird. 

»)  Vgl.  die  Legenden  über  die  Nachkommen  der  gefallenen  Eagel 
in  meinem    »Legends  ofthe  Jews«,  I,  125,  150,  160;  III,  268,343—346. 

3)  Vgl.  meine  Legends  of  the  Jews  III,  346. 

*)  cai  ist  vielleicht  an  dieser  Stelle  mit  »mächtige»«  zu  über- 
setzen. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  679 

2,  21:  Dirrp  jva»  im  "HDtf  vfo).  Dieser  Satz  ist  eine 
Anlehnung  an  Jesaia  22,  1 1  und  findet  sich  beinahe  wört- 
lich im  slav.  Henochbuche  VII,  3,  wo  die  gefallenen  Engel 
als  diejenigen  beschrieben  sind,  »welche  von  dem  Herrn 
abfielen,  den  Geboten  Gottes  nicht  gehorchten  und  nach 
ihrem  eigenen  Willen  handelten«.  Eine  andere  Anlehnung 
an  diese  Worte  Jesaias  findet  sich  Seite  3,  Zeile  6—7. 

3. 1:  D>mr:  an  na  an  nno^m.  S.  liest  Dfivnnwöi,  was  aber 
kaum  annehmbar  ist,  da  doch  nicht  anzunehmen  ist,  unser 
Verfasser  hätte  gesagt  »die  Familien  der  Söhne  Noahs  sind 
ausgerottet  worden«,während  doch  die  Gesamtmenschheit  nur 
die  Nachkommenschaft  der  Söhne  Noahs  ist.  Man  lese  ninoiPD 
an  »die  Familie  Harns«  sind  die  Kanaaniten,  die  ausgerottet 
worden  sind,  und  zwar  wegen  ihrer  unzüchtigen  Handlungen 
—  Lev.  18,  29  trroji  najnnn  — ,  weswegen  unser  Verfasser 
in  Übereinstimmung  mit  dieser  biblischen  Stelle  behauptet: 
D*moa  an  fD . . .  iyn  na,  wobei  na  auf  nur  in  2,  16  zurück- 
greift, wie  oben  bemerkt  worden  ist.  Wie  unser  Ver- 
fasser, so  spricht  auch  das  Buch  der  Jubiläen  20,  4;  22,  21 
von  der  Ausrottung  Kanaans;  »der  Same  Kanaans  wird 
ausgerottet  werden  aus  dem  Lande,  denn  in  der  Sünde 
Harns  hat  Kanaan  sich  vergangen1),  und  all  sein  Same  wird 
ausgerottet  werden  von  der  Erde,  und  alle  seine  Nachkom- 
men, und  kein  Abkömmling  von  diesen  wird  gerettet  werden 
am  Tage  des  Gerichtes«. 

3,  2:  nWM  an  ♦  ♦ ,  r\  S.  liest  am«  rwm,  was  aber 
meines  Erachtens  aus  sprachlichen  Gründen  kaum  zulässig 
ist,  höchstens  könnte  man  sagen  am«  "b  vwm  »und  Gott 
erwarb  sich  ihn  zum  Freunde«,  wie  auch  die  Mischnah  — 
Abot  1,  6  —  an  "$  jwy  sagt.  Wenn  die  Buchstaben  pn 
beibehalten  werden  sollten,  dann  kann  man  nur  am«  invjm 


')  Der  Orund  für  die  Ausrottung  Kanaans  ist  im  Buch  der  Ju- 
biläen verschieden  von  dem  in  unserem  Texte,  der  sich  enger  an 
Lev.  18,  29  anschließt.  Über  die  Zügellosigkeit  der  Kanaaniter  vgl. 
aneh  Pes.  113  b. 


6S0  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

»und  er  pries  ihn1)  als  seinen  Freund«,  wahrscheinlich  aber 
ist  einfach  in«"ip>i  zu  lesen,  »und  er  nannte  ihn  seinen 
Freund«,  womit  auf  Jes.  41,  8  »»rot  oma«  hingewiesen  wird, 
wie  auch  im  Buche  der  Jubiläen  19,  9;  31,19  und  Apoka- 
lypse Abrahams  IX  von  Abraham,  dem  Freunde  Gottes, 
gesprochen  wird.  Auf  die  zitierte  Bibelstelle  geht  wohl  auch  die 
Bezeichnung  Abrahams  als  TT  in  Mechilta,  Ber.  18  zurück1'). 

3,  4:  o^!j^>  nna  *^yai.  S.  übersetzt:  »and  men  of  the 
covenant  for  ever«,  aber  »Bundesgenossen«  ohne  nähere 
Bezeichnung  gibt  keinen  Sinn,  und,  wenn  man  den  Text 
hier  auch  sonst  nicht  emendieren  will,  so  muß  man  doch 
nna  als  Abkürzung  von  wna  erklären  ;  die  Patriarchen  sind 
seine  —  Gottes  —  Bundesgenossen.  Ich  glaube  jedoch  nicht, 
daß  o^ij^>  hier  am  Platze  ist,  da  eine  Parallele  zu  büb  er- 
wartet wird  und  daher  dürfte  sich  wohl  empfehlen  'bvD 
\vbyb  flrtt;  die  Benennung  Gottes  als  \vby  b*  war  bekannt- 
lich zur  Zeit  der  Hasmonäer,  die  sich  offiziell  als  die  Priester3) 
\vby  ^»«^  bezeichneten,  sehr  beliebt.  Vielleicht  ist  hier  Ben 
Sira  44,  20  benutzt,  wo  von  Abraham  gesagt  wird:  ntf« 
lay  maa  «ai  \vbv  maa  ia*\ 

3,  5:  bx  rvtta  by  TV$?  .  .  .  anstaa.  Die  Anschauung,  wo- 
nach Israel  in  Ägypten  von  Gott  abgefallen  war,  wird  in  der 
Bibel  nur  von  Ezechiel  —  20,  7.  8.  36  —  vertreten  und  in  der 
apokryphischen  Literatur  wird  von  dieser  Tatsache  ganz  still 
geschwiegen.  Die  Haggadah4)  dagegen  macht  kein  Geheimnis 
aus  der  Sündhaftigkeit  Israels  in  Ägypten,  und  es  ist  lehrreich, 

»)  Vgl.  Job  29,  11. 

2)  Diese  Stelle  ist  sowohl  Beer,  Leben  Abr.  431,  wie  Malter, 
Monatsschrift  1907,  713  entgangen. 

3)  Vgl.  Rosch  ha-Schanah  18  b  fvty  M  [na  Assumpt.  Mos. 
6,  1  sacerdotes  summi  Dei  und  Buch  der  Jubiläen  32,  1 :  und  Levi 
träumte,  daß  sie  ihn  eingesetzt  und  zum  Priester  des  höchsten  Oottes 
gemacht  hätten;  aber  auch  Ben  Sira  gebraucht  es  häufig,  vgl.  46,  5a, 
5c  und  47,  5  a. 

*)  Mechilta  Bo  5  »Israel  war  dem  Götzendienste  ergeben«,  u. 
a.  a.  O.  Vgl.  meine  Legends  II,  362. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  681 

daß  unser  Text  darin  mit  den  rabbinischen  Quellen  überein- 
stimmt. Der  besondere  Vorwurf  des  Blutgenusses,  den  unser 
Verfasser  gegen  Israel  in  Ägypten  erhebt,  stimmt  gleichfalls 
mit  der  Behauptung  des  Sifre  Deut  76  überein  peiaw  Witt» 
jV»  Dip  o*n  »sie  fröhnten  dem  Blutgenusse  vor  der  Offen- 
barung der  Torah«.  Allerdings  ist  nach  der  Ansicht  des  Sifre 
der  Genuß  des  Blutes  vor  der  Offenbarung  der  Torah  gar 
nicht  verboten  gewesen,  während  nach  der  Ansicht  unseres 
Verfassers  der  Blutgenuß  von  früher  —  wohl  seit  Noah1) 
—  verboten  war. 

3,  6 — 7:  dtot  niy\  Der  Ausdruck  o*o  enthält  mehr 
als  die  biblische  Stelle  Num.  14,  29,  worauf  hier  Bezug 
genommen  wird  und  es  ist  daher  nicht  unwahrscheinlich, 
daß  hier  in  Übereinstimmung  mit  der  Haggadah  —  Midr. 
Tehil.  1,  ed.  Buber  13  —  angedeutet  wird,  daß  nur  die 
Männer  o*nd?  aber  nicht  die  Frauen  in  der  Wildnis  gestor- 
ben sind» 

3,  7:  omn  ns  wn  lty  ttHpa  anh  ir»3.  Dieser  zweifels- 
ohne verderbte  Text  ist  wohl  in  folgenderweise  zu  emen- 
dieren:  n«  WJi  i«m  bv  ttHpa  anb  -\2i  nanaa  mwr  nis» 
131  ljmty  K^n  Dfin.  »Er  sprach  zu  ihnen  in  Kadesch,  auf  und 
nehmet  Besitz  vom  Lande,  sie  aber  jagten  dem  Eitlen1) 
nach  und  hörten  nicht  usw.«  Die  Worte  ist  und  ljni  sind 
infolge  von  Homoioteteuton  ausgefallen,  da  nicht  allein  irr 
sondern  auch  ljni  gleiche  Buchstaben  vorangehen,  denn  v  und 
s?  sind  zum  Verwechseln  ähnlich.  Möglich  wäre  auch,  daß 
der  ursprüngliche  Text  oeiy  n«  mR)  "\by  —  vgl.  Nehem. 
9,  16  und  17  —  lautete;  graphisch  jedoch  läßt  sich  der  vor- 

*)  Vgl.  Gen.  9,  4  und  Buch  der  Jubiläen  7,  28.  Nach  der  An- 
sicht der  Halachah  ist  der  Genuß  des  Blutes  den  Noachiden  nicht 
verboten. 

\)  mi  njm  ist  biblisch  —  Hos.  12,  2  —  und  es  liegt  kein  Grund 
vor,  mit  manchen  Nenern  den  überlieferten  Text  zu  beanstanden; 
eine  andere  Frage  ist,  ob  es  zu  njn  »weiden«  oder  njH  »Wohl- 
gefallen haben«  gehört. 


682  Eine  unbekannte  jüdische  Seide. 

Hegende  Text  nicht  gut  auf  eine  solche  Vorlage  zurück- 
führen. 

3,  14:  Hias  Hjnei  N2Hp  m/o».  Der  Ausdruck  ipip  nzv 
ist  biblisch  —  Nehem.  9,  14  —  und  rabbinisch,  so  z.  B. 
in  der  Liturgie  für  den  Freitagabend  —  ttmp,  wo  die  Formeln 
*]»*Tp  rüttn  wohl  zu  den  ältesten  Bestandteilen  dieses  Gebet- 
stückes gehört,  da  es  sich  in  allen  Versionen  des  vmp 
findet.  Die  Bemerkung  S.  »It  is  however  not  clear,  what  is 
meant  by  the  Holy  Sabbaths«  ist  mir  daher  ganz  unver- 
ständlich. 

3,  16:  "izn  DiTJD^»  nnc.  In  diesem  Verse  ist  zunächst 
zu  bemerken,  daß  schon  in  der  Schrift  —  Jes.  41,  18 
jmro  DvctP  bv  nncK  .  .  .  nno  »eine  Wasserstätte  entstehen 
lassen«  bedeutet.  Ferner  ist  zu  bemerken,  daß  für  d»31 
sicher  D"n  zu  lesen  ist,  worauf  der  Nachsatz  DiTDK'ei 
rrn'  *b  ganz  deutlich  hinweist  und  das  Ganze  lautet 
demnach:  »Er  ließ  für  sie  eine  Quelle  entstehen,  die  sie 
—  die  Frommen  in  Israel  —  zu  einer  Quelle  lebendigen 
Wassers  gruben«.  Was  der  Verfasser  mit  diesem  Satze  sagen 
will,  wird  weiter  unten  6,  4  »a»  cn  msim  mwi  x-n  ihxi 
bsnt»  näher  ausgeführt;  Gott  gab  Israel  die  Torah,  —  er 
ließ  für  sie  eine  Wasserstätte  entstehen  —  und  die  Be- 
rufenen unter  ihnen  machten  aus  dieser  Wasserstätte  eine 
Quelle  lebendigen  Wassers,  indem  sie  die  Torah  richtig 
deuteten  und  lehrten. 

3,  17:  l^mnn  om.  Das  Verbum  bbum  an  dieser  Stelle 
wie  8,  5  ist  wohl  von  bbl  »Mist«  denominiert  und  hat 
nichts  mit  ^ji  »wälzen«  zu  thun;  man  übersetze  daher  »und 
sie  befleckten  sich«;  ebenso  Ben  Sira  XII,  14:  vmjijo  ^unai 
»und  sich  besudelt  an  dessen  Sünden.«  Sprachlich  ist  auch 
ynim  als  eine  Nebenform  für  bwm  von  *?»j  verunreinigen 
möglich. 

3,  17:  BMJ«  y»oa.  S.  übersetzt  »transgression  of  man« 
und  verweist  auf  Sprüche  29,  6,  das  aber  gar  keine  Pa- 
rallele zu  unserer  Stelle  ist,  da  es  dort  m  »*K  y&ü2  »infolge 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  68& 

der  Sünde  des  Bösewichts«  heißt,  was  wohl  einen  guten  Sinn 
gibt,  während  »Sünde  des  Menschen«  einfach  unmöglich  ist. 
Es  unterliegt  für'mich  aber  keinem  Zweifel,  daß  nicht  »OK  son- 
dern tnj«  gelesen  werden  muß;  »u«  jnpd  »unheilbare  Sünde«. 
Die  göttliche  Verzeihung  ist  nach  biblischen  Sprachgebrauch 
die  Heilung  —  Jes.  6,  10  ib  Roll  a#i  u.  a.  v.  a.  O.  —  und 
eine  Sünde,  die  unverzeihlich  ist,  wird  als  unheilbar  be- 
zeichnet. Gott  jedoch,  fährt  unser  Verfasser  fort,  war  so 
gnädig,  daß  er  ihnen  sogar  die  unverzeihbaren  Sünden  vergab. 

3,  18:  i*6b  »n^.  Die  Verschreibung  von  ana  zu  'na  ist 
graphisch  wohl  leicht  zu  erklären,  besonders  da  in  unserem 
Fragmente  an  mit  i  geschrieben  wird,  —  2,  4  — ,  aber 
sachlich  paßt  hier  der  Ausdruck  »Fülle  der  Wunder«  sehr 
schlecht,  man  würde  non  ana  »Fülle  seiner  Gnade«,  inan«  ana 
»Fülle  seiner  Liebe«  oder  einen  ähnlichen  Ausdruck  er- 
warten, aber  nicht  Wunder,  denn  die  göttliche  Verzeihung 
Ditv  TJ?a  ica  ist  der  Ausfluß  seiner  Gnade  und  Barmherzig- 
keit, aber  nicht  seiner  Wundertätigkeit.  Ich  vermute,  daß 
in  ik^d  'na  ein  Ausdruck  wie  q'D^k  maaia  oder  ähnliches 
steckt;  der  Verfasser  wollte  sagen,  daß  Gott  ihnen  nicht 
einmal,  sondern  zehntausendmal  ihre  Sünden  verziehen  hat. 

4,  2:  on'byo.  S.  übersetzt  »from  them«,  es  kann  aber 
kein  Zweifel  darüber  herrschen,  daß  man  on  'bvn  lesen  muß, 
entsprechend  den  Worten  Ezekiels  non  'i?l?o;  zweifelhaft  ist 
nur,  ob  on  nur  eine  andere  Schreibweise  für  non  ist,  was 
bei  der  eigentümlichen  Orthographie  des  Fragments  wohl 
möglich  ist,  oder  ob  unser  Verfasser  wirklich  on  schrieb, 
da  er  auch  sonst  nicht  ganz  wörtlich  zitiert. 

4,  2:  b*w  'atf  on.  S.  entscheidet  sich  für  die  Lesung 
"?»  »Gefangenschaft«  aber  es  scheint  mir,  daß  "3&  »die 
Büßenden«,  »die  zu  Gott  Zurückgekehrten«  die  allein  rich- 
tige Lesung  ist.  Besonders  spricht  für  diese  Annahme  8, 
16  »und  dies  ist  das  Gesetz  für  die  'ae>  Israels,  die  sich 
abwendeten  vom  Wege  des  —  sündhaften  —  Volkes«,  wo 
'a#  näher  durch  »die  sich  abwendeten  usw.«  erklärt  wird, 


684  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

was  nur  dann  einen  befriedigenden  Sinn  gibt,  wenn  "??  und 
nicht  'ty  gelesen  wird.  S.  beruft  sich  auf  6,  5  zur  Be- 
stätigung seiner  Auffassung;  aber  in  diesem  Verse  ;gibt 
"?t?  mindestens  einen  ebenso  befriedigenden  Sinn  wie  *■?!?« 
»Die  zu  Gott  Zurückgekehrten«  ist  nur  ein  anderer  Ausdruck 
für  man  *K3,  wie  die  Anhänger  dieser  Sekte  bezeichnet 
werden,  sie  waren  zuerst  wie  der  Rest  des  Volkes  auf 
Irrwegen  begriffen,  sind  aber  durch  »den  Lehrer  der  Ge- 
rechtigkeit« zu  Gott  zurückgeführt  worden  —  1,  9,  20,  11  — 
weswegen  sie  mit  Recht  die  b^W  »3W  genannt  werden1). 
4, 3:  ^KW*nvi3  Dn  pnarm  Dieser  Satz  will  nicht,  wie  S.  be- 
hauptet, sagen,  daß  die  Söhne  Zadoks,die  Auserwählten  Israels 
sind,  sondern  daß  die  Auserwählten  Israels  vom  Propheten 
Ezechiel  in  44,  15  als  pm  »33  —  Söhne  der  Gerechtigkeit!  -- 
bezeichnet  sind.  In  echt  midraschischer  Weise  erklärt  unser 
Verfasser,  daß  der  Prophet  einen  Hinweis  enthält  auf  die 
Geschichte  der  Sekte;  unter  »Priester«  versteht  dieser  die 
Väter  der  Sekte,  die  zu  Gott  Zurückgekehrten,  unter  »Leviten«, 
diejenigen,  welche  den  Vätern  der  Sekte  sich  anschlössen2) 
und  unter  den  Söhnen  Zadoks8)  die  Auserwählten  Israels,  die 
am  Ende  der  Zeiten  erstehen  werden.  Nachdem  er  diesen 
Midrasch  zu  Ezechiels  Worten  gegeben  hat,  fügt  er  hinzu: 
dies  ist  die  Erklärung  ihrer  —  der  von  Ezechiel  erwähnten 
pnx  »32i  Q^b  D'ana  —  Namen  gemäß  ihrer  Geschichte,  der 
Periode4)  ihres  Bestehens,  der  Zahl  ihres  Leidens,  der  Jahre 
ihres  Verweilens  in  der  Fremde.  Dieser  Satz  enthält  dem- 
nach nicht  die  einleitenden  Worte  zu  einer  Geschichte  der 
Sekte,  wie  S.  annimmt,  sondern  greift  auf  das  Vorhergehende 

»)  Vgl.  auch  20,  7  JNPe  "aw. 

*)  Ein  Wortspiel  ü^b  und  ü^bi',  nach  Esther  9,  27  würde  man 
ün^bv  Cl'wn  und  nicht  DTTDJJ  erwarten,  jedoch  wird  auch  Ps.  83,  9 
,1^3  mit  ay  konstruiert. 

8)  Der  Midrasch  Lev.  r.  I  versteht  unter  pHJt  in  diesem  Verse 
den  Hohepriester  Aaron,  indem  er  p}Tt  im  Sinne  von  p^.at  »der  Ge- 
rechte« nimmt,  und  ein  solcher  Derasch  liegt  auch  in  unserer  Stelle  vor. 

*)  Über  diese  Bedeutung  von  f*p  vgl.  weiter  unten  zu  6,  10. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  685 

zurück,  indem  darauf  hingewiesen  wird,  daß  der  Prophet 
eine  Andeutung  auf  die  Geschichte  der  Sekte  enthält.  Nach 
dieser  Auffassung  beginnt  mit  orptrj?»  tpnei  ein  neuer  Satz 
und  dies  ist  eine  Beschreibung  —  wörtlich:  Deutung  — 
ihrer  Taten,  worauf  dann  eine  kurze  Charakteristik  der 
Frommen  folgt. 

4,  6 :  pen  . . .  dt»  ttHipn.  Dieser  Satz  enthält  den  Gegen- 
satz zu  1,19,  undda,wie  schon  zu  dieser  Stelle  bemerkt  worden 
ist,  in  den  Worten  TK15CT  3103  linai  der  Hang  zu  sinnlichen 
Genüssen  den  Gegnern  dieser  Sekte  vorgeworfen  wird,  so 
muß  in  dt»  »*ppn  ein  Lob  für  die  Anhänger  derselben 
stecken,  die  im  Gegensatz  zu  den  Gegnern  dem  Geistigen 
und  Heiligen  obliegen.  Ich  streiche  daher  das  »  in  dt» 
als  Dittographie  des  vorhergehenden  »  und  lese  cani»1) ; 
»sie  lieben  das  Heilige«  ist  ein  passender  Gegensatz  zu  den 
Worten  »sie  finden  Wohlgefallen  am  feisten  Nacken.«  Das 
folgende  Dli?3  hu  1D3  WM  übersetze  man  demnach:  »das  Gott 
zur  Sühne2)  für  sie  einsetzte«  und  gemeint  ist,  daß  das 
heilige  Leben3)  —  das  Leben  nach  dem  Gesetze  —  ihnen 
als  Sühne  für  die  früheren  Sünden  gilt. 

4,  9:  tpy&n  ppn  oiStf,  Für  ypn  muß  man  yp  lesen,  da 
wwn  ypn  nicht  Hebräisch  ist,  der  Schreibfehler  ist  wohl 
durch  ypn  D"6»2i  in  der  folgenden  Zeile  veranlaßt  worden. 
Möglich  ist  auch,  daß  0T2^  für  o*:»n  zu  lesen  sei,  ent- 
sprechend DT2M  "iodd^  in  der  folgenden  Zeile,  in  welchem 
Falle  ypr\  beizuhalten  ist. 

4,  10 — 12:  pinn  pm  . .  .  ppn  d^>»:si.  Zum  Verständnisse 
dieses   sehr  dunklen  Satzes  sei  bemerkt,   daß    für   unsern 

')  Graphisch  näher  zu  DT  wäre  a^fc,  aber  der  Ka!  r\y$  kommt 
sonst  nirgends  vor. 

')  Man  lese  entweder  ")Bb  oder  iBS  im  Sinne  :  als  Sühne  ein- 
setzen. 

*)  Möglich  auch,  daß  BHlpfl  hier  wie  gewöhnlich  das  Heiligtum 
ist,  und  daß  von  den  Begründern  der  Sekte  gesagt  wird,  daß  sie  das 
Heiligtum  lieben,  während  ihre  Gegner  gleichgiltig  sind  und  nur  um 
ihr  eigenes  Wohlergehen  bekümmert  sind. 


686  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

Verfasser  Jerusalem  die  heilige  Stedt  ist  und  bleibt.  Die 
Zeit  des  göttlichen  Zornes  begann  mit  der  Zerstörung  Je- 
rusalems durch  Nebukadnezar  —  1,  5  — ,  und  den  Gegnern 
wird  vorgeworfen,  daß  sie  das  Heiligtum  —  zu  Jerusalem 
—  verunreinigen,  5,  6.  Die  Verunreinigung  des  Tempels 
freilich  zwang  die  Anhänger  dieser  Sekte,  vom  jerusalemi- 
schen Tempel  sich  zurückzuziehen,  so  lange  die  Machthaber 
desselben  Männer  sind,  die  das  Gesetz  nicht  beobachten1),  und 
wie  die  Lage  der  Dinge  war,  versprachen  sie  sich  keine 
baldige  Besserung.  Ihre  einzige  Hoffnung  war,  daß  der  Mes- 
sias bei  seinem  Erscheinen  wieder  in  Jerusalem  einziehen 
und  dessen  Tempel  in  seiner  ursprünglichen  Heiligkeit  her- 
stellen werde.  Unser  Verfasser  spricht  daher:  >Und  während 
des  Verlaufes  dieser  Periode  von  Jahren2)  soll  niemand  dem 
Hause  Juda  sich  anschließen,  sondern  ein  jeder  stehe  auf 
seinen  Festungswall;  errichtet  ist  die  —  trennende  —  Wand, 
gar  fern  liegt  die  —  messianische  —  Zeit.«  In  diesen  Worten 
wird  gegen  jeden  Versuch  gewarnt  eine  Aussöhnung  mit 
Jerusalem  herbeizuführen,  die  Trennung  der  Sekte  von  dem 
Gros  des  Volkes  muß  fortdauern  bis  zur  Ankunft  des  Mes- 
sias, die  aber  noch  in  weiter  Ferne  liegt.  Der  Ausdruck  mapS 
(*TpatD  hy  wk  ist  Hab.  2,  1  -nita  by  nasrnKi  "nayx  'rnara  by 
nachgebildet,  während  pinn  prn  TOM  nnXM  eine  Umschreibung 
der  Worte  Michahs  —  7,  1 1  pn  pnr  . . ,  "pn  rvü^b  or  ist. 
4,  16:  ^KW3  Dfia  tfon  Rin  wk.  S.  bemerkt  richtig, 
daß  unser  Verfasser  hier  Ezechiel  14,  4  bam^  rva  nx'tfcn  \yvh 
benützt;  aber  verleitet  durch  die  übliche  Auffassung  dieser 
Ezechielstelle,  glaubt  er  dann  übersetzen  zu  müssen:  by 
which  Levi  took  Israel  in  their  hearts.  Aber  über  die  Be- 
deutung von  e>cn    in    unserem  Fragmente    kann  doch  un- 

')  Natürlich  nur  vom  Standpunkte  unseres  Verfassers. 

»)  Über  diese  Bedeutung  von  f»p  vgl.  weiter  unten  zu  6,  10. 

»)  Ich  lese  mstö  und  nicht  H1XD  wie  S.  hat,  1  und  i  sind  in 
Ms.  dieses  Fragments  kaum  zu  unterscheiden ;  möglich  ist  auch,  daß 
mia  durch  JTHlütD  in  Zeile  15  veranlaßt  ist. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  687 

möglich  Zweifel  herrschen,  wie  aus  Zeile  18  nra  8?d/t  und 
Zeile  20  o*tttolW  Dil  deutlich  hervorgeht,  wo  tron  nur  die 
Gefangennahme  der  Sünder  durch  den  Satan  bedeuten  kann. 
Demnach  ist  Subjekt  zu  win  gleichfalls  Belia'al,  der  das 
Haus  Israel  —  für  femvä  lese1)  bxw  r\y2  —  fängt  ver- 
mittelst seiner  drei  Netze.  Auch  in  Ezechiel  ist  nach  An- 
sicht  des   Talmud  —    Kidduschin  40a    und    Parallelstellen 

—  zu  erklären:  »damit  ich  das  Haus  Israel  erfasse,  d.  i.  zur 
Verantwortung  ziehe  —  für  das,  was  sie  in  ihrem  Gedanken 

—  Herzen  —  haben«.  Ob  nun  diese  Erklärung  des  Talmud 
die  richtige  ist,  oder  nicht,  tut  hier  nichts  zur  Sache2),  es 
genügt  für  uns  zu  wissen,  daß  die  Alten  diesen  Vers  Eze- 
chiels  so  auffaßten,  und  hierin  lag  auch  der  Grund  für 
unseren  Verfasser  diesen  Vers  zu  zitieren. 

4,  16:  omo  o:m.  S.  übersetzt:  »and  directed  their 
faces  to  the  three  kinds  of  righteousness«,  aber  wenn  man 
auch  |m  für  wm  lesen  wollte,  so  hat  diese  Erklärung  doch 
noch  andere  Schwierigkeiten.  Erstens  müßte  es  heißen 
•bv  bto  'S  JJVi  wie  Gen.  30,  40  und  nicht  rwbwb  und  ferner 
ist  der  Subjektwechsel  sehr  auffällig,  denn  wie  schon  be- 
merkt worden  ist,  kann  «in  iv»  sich  nur  auf  bv^2  beziehen, 
während  Subjekt  zu  djjvi  nur  %)b  sein  kann.  Ich  lese  daher 
OiTDij?  um  und  übersetze:  »die  drei  Netze  vermittels  welcher 
er  —  Belia'al  —  das  Haus  Israel  fing,  so  daß  sie  sich  von  den 
drei  Haupttugenden  abwendeten«.  Welche  die  drei  Tugenden 
sind,  wird  nicht  weiter  angegeben;  vielleicht  dachte  unser 
Verfasser  an  den  Spruch  Simon  des  Gerechten  Abot  1,  2: 
Auf  drei  Dingen  beruht  die  Welt,  auf  der  Torah,  dem  Gottes- 
dienste und  der  Wohltätigkeit.  Es  ist  aber  nicht  unmöglich, 
daß  die  Lehre  von  den  drei  Tugenden  eine   jüdische  Um- 

l)  Wahrscheinlich  stand  ursprünglich  h*W  '3  =  httlW  XFX 
das  dann  von  den  Schreibern  zu  einem  Worte  *?KlB^r  zusammen- 
gelogen worden  ist. 

•)  Ehrlich  1B1CD3  mpö  z.  St.  erklärt  diesen  Vers  wie  der  Talmudv 
ohne  aber   den  Talmud  zu  zitieren ' 


688  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

Wandlung  der  von  Plato  für  seinen  Idealstaat  aufgestellten  vier 
Tugenden  ist,  Sophia,  Andreia,  Sophrosyne  und  Dikaiosyne. 
Die  Tapferkeit,  Dikaiosyne,  bei  Plato  von  dem  Kriegerstand 
vertreten,  hat  nach  jüdischer  Auffassung  keine  Berechtigung 
weshalb  nur  drei  Tugenden  anstatt  der  ursprünglichen  vier 
genannt  werden. 

4,  17:  ttHpBn  .  .  .  rnxtn  trn  roHMnn.  Auch  in  der  rab- 
binischen  Literatur  wird  von  den  drei  Kardinalsünden  ge- 
sprochen, so  z.  B.  Mechilta,  Jihro  1  'Jü  jftpn  TTiüMA  nvn 
('vmbti  onn  »und  sie  —  Rahab  —  sprach,  drei  Sünden 
beging  ich«.  Die  drei  Sünden  werden  nicht  näher  bezeich- 
net8), aber  wir  werden  wohl  nicht  fehl  gehen,  wenn  wir 
behaupten,  daß  sie  für  Götzendienst,  Unzucht  und  Mord 
stehen,  Sünden,  die  man  nach  jüdischer  Lehre  unter  keinen 
Umständen  begehen  darf,  sei  es  auch  um  den  Preis, 
das  eigene  Leben  zu  erhalten  —  Sanh.  74a  u.  a.  m.  O.  — 
und  daher  als  Kardinalsünden  bezeichnet  werden  dürfen. 
Für  diese  Auffassung  spricht  die  Boraita,  Arachin  15  b,  wo 
die  nrvaj;  'j  ausdrücklich  als  diese  erwähnten  drei  Sünden 
bezeichnet  sind  und  ähnlich  die  Tosefta  Peah.  1,  2.  Lehr- 
reich für  diese  Frage  ist  auch  die  Behauptung  des  Sifra 
16,  16  wo  diese  drei  Sünden  als  die  drei  Unreinheiten  be- 
zeichnet   sind3).     Die    Vermutung    liegt    nun     nahe,     daß 

*)  Vgl.  die  Parallelstelle  Mech.  R.  Sim.  85,  wo  die  in  den  Aus- 
gaben —  aber  nicht  in  der  Oxforder  Handschrift  der  Mechilta!  —  sich 
findende  Glosse  1»l  np'm  nbn  ?TM3  mit  Recht  fehlt. 

*)  Die  götzendienerische  Rahab,  die  dazu  noch  bis  zur  Zeit 
ihrer  Bekehrung  eine  njit  war,  bekannte,  daß  sie  Götzendienst  und 
Unzucht  begangen  hat. Was  Mord  anbetrifft,  so  ist  vielleicht  darunter  Ab- 
treibung zu  verstehen,  was  nach  talmudischer  Ansicht  den  Heiden  als 
Mord  angerechnet  wird.  Vgl.  Sanhedrin  57b  und  Geiger,  Urschrift  437 f. 

3)  Vgl.  auch  Tosefta,  Ned.  II,  15  D"D1  "ODlttn  y  n^JOi  VJf ;  Me- 
chilta Jitbro,  Ba-Hodesch  cen  ro'Btf  Syi  jn  byt  vy  by  pa^n  en ; 
Gen.  R.  70  D^öl  ma^Pö  nviy  M^JD  ,rjm  . . .  ^IBPI  und  Gittin  6,  6 
unten:  >V  Mm  Dnn  r\WtW  JJ'J  DlToy  •:,  wo  aber  wohl  mit  R. 
Chananel  —  siehe  Tosaphot  z.  St  —  für  na»  Wll  ,DB>,"1  ^n  zu  lesen  ist 
und  dies  ist  eine  Abart  von   mt  rmay. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  689 

unser  Verfasser  für  seine  Zwecke  die  Kardinalsünden  nicht 
in  der  üblichen  Weise  geben  konnte,  es  ging  nicht  gut  an, 
den  Gegnern  Götzendienst  und  Mord  vorzuwerfen,  und  er 
setzte  daher  unredlich  erworbenen  Besitz1)  und  die  Verun- 
reinigung des  Tempels  an  die  Stelle  von  Götzendienst  und 
Mord. 

4,  19:  pD»a»  Sjön  ...  «in  ran.  Unser  Verfasser  erklärt 
das  dunkele  i^  in  Hosea  5,  11  mit  ppbö  »dem  Redner«  den 
er  näher  beschreibt  als  den  Redner,  dem  die  Leute  zurufen: 
»sprich«,  im  Gegensatz  zu  dem  wahren  Lehrer  und  Pro- 
pheten, den  das  Volk  nicht  anhören  will,  von  dem  es  in 
Michah  —  2,  7  —  heißt:  p&w  «J*BJ1  bi*>  Dieser  P|*»D,  der 
Führer  der  Gegner  unserer  Sekte,  ist  wohl  identisch  mit  dem 
1, 14  erwähnten  ttAft  tP'K,  und  derselbe  wird  hier  nicht  ohne 
Ironie  als  ein  Liebling  des  Volkes  beschrieben,  weil  er 
eben  ihnen  nur  das  vorträgt,  was  sie  wünschen  und  be- 
gehren. Wörtlich  lautet  dieser  Satz:  »der  Befehlende,  das 
ist  der  Redner,  von  dem  man  sagt,  sie   sprechen:  sprich!« 

4,  20,  21:  OiV'na  BW  *n»  nnp^>.  Diese  Worte  ent- 
halten die  Umschreibung  des  biblischen  Verbots  —  Lev. 
18, 18  — iv na  n*by  nnny  rvbzb  vwh  npn  vb  nsm»  h»  new, 
indem  nach  unserem  Verfasser  die  ersten  drei  Worte  zu 
übersetzen  sind  mit  »eine  Frau  neben  einer  anderen«,  was 
sprachlich  wohl  möglich  ist  und  sogar  in  der  Schrift  in 
dieser  Bedeutung  einige  Mal  vorkommt,  wie  z.  B.  Exod. 
26,  5.  6.  17.  Wir  können  auch  den  Grund  angeben,  warum 
die  Anhänger  dieser  Sekte  die  traditionelle  Auffassung  dieses 
biblischen  Verbotes  wie  sie  in  der  Mischnah  —  Jebamot 
1,1  —  in  der  Septuaginta  und  bei  Philo  —  ed.  Magney,  II, 
303  Ende  —  verwarfen.  Wie  unser  Verfasser  ausdrücklich 
sagt  —  5,  9  —  gelten  die  verbotenen  Grade  der  Verwandt- 
schaftsehen, obwohl  in  der  Schrift  nur  der  Mann  angeredet 
wird,    auch    für    die  Frauen,  und  wie  z.  B.  es  dem  Manne 

*)  Nach  \irin  ist  im  Ms.  ein  leerer  Raum  und  ist  etwa  nach 
6,  15  n$V\n  oder  JWCT  zu  ergänzen. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang.  44 


690  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

verboten  ist,  seine  Tante  zu  ehelichen,  so  ist  es  der  Frau 
verboten,  ihren  Onkel  zum  Ehegatten  zu  haben.  Da  nun  in 
der  Schrift  —  Lev.  18,  16  —  dem  Manne  verboten  ist,  die 
Frau  seines  Bruders  zu  ehelichen  auch  nach  dessen 
Tode1),  so  folgt  nach  dem  Prinzip  dieser  Sekte,  daß 
auch  die  Frau  ihren  Schwager  nicht  ehelichen  darf  auch 
nach  dem  Tode  ihrer  Schwester.  Demnach  können  die  Worte 
'131  nmns  hu  n&lti,  nicht  wörtlich  genommen  werden2),  denn 
die  Schrift  bemerkt  zu  diesem  Eheverbot  ausdrücklich 
rpTin  »während  die  erste  noch  am  Leben  ist",  da  doch 
die  Schwagerehe  für  immer  verboten  ist,  und  der  einfachste 
Weg,  diese  Schwierigkeit  zu  lösen,  war  nnin«  b&  WK  im  Sinne 
von  >einer  Frau  neben  der  andern«  aufzufassen.  Die  Karäer, 
die  dasselbe  Prinzip  wie  unser  Verfasser  mit  Bezug  auf 
die  Verwandtschaftsehen  vertreten,  behaupten  gleichfalls, 
daß  in  Lev.  18,  18  nmn«  b*  na>K  nicht  wörtlich  zu  nehmen 
sei3),  und  unter  den  verschiedenen  Erklärungen  dieses  Verses 
bei  den  Karäern  findet  sich  auch  die,  daß  er  gegen  Poly- 
gamie gerichtet  ist.  Freilich  behaupten  die  Karäer,  daß  das 
biblische  Verbot  nicht  ein  absolutes  ist,  sondern  wie  die 
Hinzufügung  des  Wortes  i-iib  zeigt    nur  dann   Geltung  hat, 

')  Darüber  herrscht  unter  den  jüdischen  Sekten  keine  Mei- 
nungsverschiedenheit, daß  die  in  Leviticus  18,  11  —  17  verbotenen 
Verwandschaftsehen  auch  nach  dem  Tode  des  Gatten  gelten,  was 
sicher  auch  der  wahren  Ansicht  der  Schrift   entspricht. 

s)  Abgesehen  davon,  wäre  auch  Vers  IS  ganz  überflüssig,  da 
er  in  16  enthalten  ist.  Vgl.  die  weiter  unteu  angeführte  Stelle  aus 
Anans  Gesetzbuch. 

3)  Der  erste  Karäer  von  dem  bekannt  ist,  daß  er  dieses  bib- 
lische Verbot  anders  als  die  Rabbaniten  auffaßt,  ist  Anan.  Vgl.  den 
Passus  in  seinem  GesetzkoJex  bei  Harkavy,  Studien  und  Mitteilungen 
VIII,  105,  109;  auf  Anans  Gesetzkodex  gehen  auch  die  Worte  Ha- 
dassis  hsv*  118b— 118  d  zurück,  was  Harkavy  entgangen  ist,  und 
ferner  wird  Anans  Ansicht  von  Kirkiss-.ni  —  Harkavy  a.  a.  O  129  — 
und  Daniel  Alkumsi  —  a.  a.  O.  191  —  akzeptiert.  Andere  Karäer  jedoch 
verwarfen  sowohl  Anans  wie  die  rabbanitische  Auffassung  von  ntP Kl 
nntnx  hu  wie  aus  Aharon  von  Nicomedia  a.  a.  O.  zu  ersehen  ist. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  691 

wenn  die  zweite  Ehe  eine  Beeinträchtigung  der  ersten  ist, 
d.  h.  wenn  es  die  Absicht  des  Mannes  ist,  seinen  ehelichen 
Pflichten  gegenüber  seiner  ersten  Frau  nicht  nachzukom- 
men, sonst  aber  wäre  Polygamie  gestattet.  Am  deut- 
lichsten äußert  sich  über  diese  Frage  Aharon  b.  Elijah  aus 
Nicomedia  in  seinem  (^np  p.  Naschim  IX,  146  b,  dessen  Worte 
ich  hierhersetzen  will:  o'nt?  ws  nxwb  iid«^  nsn  airontp 
fijwton  rrsn  wnn  ab  dke>  n:vr\  p«i  -n-nc  ov  rrivr  nya  dtw 
vb»  . . .  twa  vnp  nmeu  awan  ve>an  i33tj>  wwn  nst^S  mo«  w 
,  ,  ♦  npn  naao  yao*  »b  dk  ^a«  rwyi  mos  i«e>  inj»  *6#  naa  ^y 
ja  ^>y  maai  DMna  o^wjnn  oniDsn  ww  iiayai .  . .  ins  n?  p« 
«^  nana  pm  njrjo  p«  iwru  rrnn  n«  ^a«  ♦ .  .  a^na  run  renn 
nD«  Ott»  UM*.  Aus  dieser  Ausführung  ergibt  sich  nun  ganz 
deutlich,  daß  in  unserem  Texte  gar  keine  Rede  ist  von 
einem  Verbot  der  Ehescheidung,  wie  S.  behauptet,  sondern 
davon,  daß  unser  Verfasser  einen  Schritt  weiter  als  die  Karäer 
geht  und  Polygamie  verbietet,  so  lange  die  erste  Frau  am 
Leben  ist,  auch  wenn  keine  Beeinträchtigung  ihrer  Rechte 
stattfindet.  Natürlich  aber  ist  es  ihm  gestattet,  eine  zweite 
Frau  zu  ehelichen,  nachdem  er  von  der  ersten  geschieden 
ist,  da  er  dann  nur  eine  Frau  besitzt.  Die  Hinzufügung  von 
arPTta  =  p-rta  in  unserem  Texte  ist  der  Schrift  entlehnt,  und 
damit  soll  nur  gesagt  sein,  daß  dieses  Eheverbot  von  all  den 
anderen  sich  darin  unterscheidet,  daß  es  nur  so  lange,  als  er 
in  ehelicher  Gemeinschaft  mit  der  ersten  lebt,  gilt.  So  be- 
merkt Anan2)  —  a.  a.  O.  10  —  ausdrücklich  :  nMna  wbv  «ax  «pi 
aaja^>  nh  »w  nb  »njo  »»  ^a«  nao:a^>  n^>  ktdot  «in  snna 
'im  «nn«  na. 

5,  3—4:  nnntyyn  n«  nay  ipk  .  .  .  "Wb*  ma  ovo.    S. 
übersetzt:    »Eleazar  and  Joshua  and  the  Eiders  who  wor- 


l)  Auch  in  seinem  min  "WS  z.  St.  kurz  erwähnt. 

*)  Vgl.  auch  Hadassi  blVtt  ll^c :  . . ,  .TTia  !T^J>  D"ns"t  "0»  10«1 
'Ol  lnoa  intyx  rUWMin  .TnntP,  daß  auch  für  Hadassi  in  .T'm  die  Er- 
laubnis gegeben  ist,  nach  der  Scheidung  von  der  ersten  Schwester 
die  zweite  zu  ehelichen. 

44« 


692  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

shipped  Ashtarot«  und  verweist  auf  Richter  2,  13,  aber 
daselbst  —  7  bis  13  —  wird  ja  gerade  das  Gegenteil  be- 
hauptet, daß  die  Anbetung  der  Aschtarot  erst  begann,  nach- 
dem Joschua,  Eleasar  und  die  Ältesten  heimgegangen  waren. 
Wäre  es  nun  schon  an  und  für  sich  höchst  unwahrscheinlich, 
daß  unser  Verfasser  den  Abfall  Israels  von  der  Torah  mit 
Joschua  und  Eleasar  beginnen  ließe,  so  wird  diese  Annahme 
zur  Unmöglichkeit,  wenn  der  Verfasser  auf  eine  Bibelstelle 
sich  beruft,  die  gerade  das  Gegenteil  von  dieser  Behauptung 
enthält.  Ferner  wären  Joschua  und  sein  Geschlecht  Götzen- 
diener gewesen,  warum  denn  mo  ovo  »seit  dem  Tode«  und 
nicht  früher?  !  Nach  alledem  unterliegt  es  keinem  Zweifel, 
daß  das  Subjekt  zu  WK  nicht  jwi'l  irj^K1)  ist,  sondern  das 
vorhergehende  ^«wa  und  die  Stelle  lautet:  »denn  nicht 
wurde  —  die  heilige  Lade  —  aufgemacht  in  Israel,  seit 
dem  Tode  Joschuas,  Eleasars  und  der  Ältesten,  weil  sie  — 
die  Israeliten  —  die  Aschtarot  anbeteten«.  Und  dies  ist  in 
Übereinstimmung  mit  der  zitierten  Richterstelle.  Allerdings 
ist  an  dieser  Stelle  nicht  vom  Vergessensein  der  Thorah 
die  Rede,  sondern  nur  von  der  Anbetung  der  Götzen  nach 
dem  Tode  Joschuas  und  der  Ältesten,  aber  unser  Verfasser 
scheint  diese  Stelle  mit  Neh.  8,  17  und  II  Könige  23,  22 
kombiniert  zu  haben,  wo  von  den  Peßach-  und  Sukkotfesten 
gesagt  wird,  daß  sie  während  der  Richter-  und  Königs- 
periode nicht  beobachtet  wurden  mit  Ausnahme  zur  Zeit 
Joschuas.  Unser  Verfasser  behauptet  auf  Grund  dieser  bib- 
lischen Stelle,  daß  nach  dem  Tode  Joschuas  nicht  allein  die 
Anbetung  der  Götzen  begonnen  hat,  sondern  daß  auch  die 
Thorah  in  Vergessenheit  geraten  war. 

5,  4:  pm  moy  iv  f&u  ponn.  S's  Emendation  nbiü  für 
n^JJ  zu  lesen  ist  kaum  annehmbar,  da  >die  Schrift«  nie  ni?ja 

x)  Nach  der  samaritanischen  Legende  starb  Eleasar  nach  Jo- 
schua. Vgl.  das.  Sam.  Buch  Josua  XL  — ,  jedoch  ist  die  Erwähnung 
Eleasars  vor  Joschua  in  unserem  Texte  kein  absoluter  Beweis  dafür, 
daß  unser  Verfasser  den  Tod  Eleasars  vor  den  Joschuas  ansetzt. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  693 

»Rolle«  genannt  wird  und  unser  Verfasser  selbst  kurz  vor- 
her von  minn  ibd  sprach.  Auch  sein  zweiter  Vorschlag,  üb 
vor  nbtt  hinzuzufügen  ist  etwas  mißlich,  denn  in  unserem 
Fragmente  finden  sich  viele  Schreibfehler,  aber,  soweit  ich 
feststellen  konnte,  sind  in  demselben  keine  Worte  ausge- 
fallen, es  sei  denn  infolge  von  Homoioteleta,  was  aber  hier 
nicht  der  Fall  ist.  Man  lese  daher:  pnir  mar  r\v  nbii  poam 
»und  das  Verborgene  —  die  Thorah  —  kam  wieder  zum  Vor- 
schein zur  Zeit,  als  Zadok  erstand.«  Daß  mit  diesen  Worten 
auf  das  Auffinden  der  Thorah  zur  Zeit  Josias  —  II  Könige 
c.  22  —  Bezug  genommen  wird,  darüber  kann  kein  Zweifel 
herrschen,  besonders  wenn  man  das,  was  in  der  vorigen 
Bemerkung  über  die  Anschauung  unseres  Verfassers  bezüg- 
lich des  Vergessenseins,  in  welches  die  Thorah  geriet  während 
der  Zeit  der  Könige,  gesagt  ist,  berücksichtigt.  Freilich  ist 
es  höchst  befremdend,  daß  hier  das  Auffinden  der  Thorah 
Zadok  zugeschrieben  wird,  während  in  der  Schrift  —  II 
Könige  22  und  II  Chr.  34  —  es  Hilkijah  ist,  der  das  Buch 
der  Torah  fand.  Es  ist  jedoch  zu  bemerken,  daß  dieser 
Hilkijah  nach  I  Chr.  5,  38 — 39  ein  Enkel  Zadoks  war,  und 
die  Annahme  ist  wohl  berechtigt,  daß  unser  Verfasser  von 
diesem  Hohepriester  als  pnx  p  sprach1),  und  daß  später  p 
ausgefallen  ist  oder  absichtlich  von  den  Abschreibern  aus- 
gelassen worden  ist,  weil  ihnen  wohl  pnit,  aber  nicht  piv*  p 
bekannt  war. 

5,  5:  nm«  dt  *nf?o  TU  Wo  "6m»  S.  liest  lo^m  und 
übersetzt:    »But   they    concealed  the  deeds  of  David    save 

J)  Daß  er  aber  nicht  nach  seinem  Vater  o*\hv  p  genannt  wird, 
ist  nicht  auffallend,  da  auch  sonst  in  der  Schrift  einige  Male  der  Name 
des  Großvaters  anstatt  des  Vaters  gesetzt  wird.  Vgl.  z.  B.  I  Sam.  9,  1, 
wo  Kisch  als  der  Sohn  Abieis  erscheint,  obwohl  er  eigentlich  dessen 
Enkel  war,  und  ebenso  Neh.  12,  23,  wo  der  Hohepriester  pnv  als 
ZV'bx  p  erscheint,  obwohl  er  dessen  Enkel  war,  vgl.  Oraetz,  Ge- 
schichte II,  zweite  Hälfte  393.  Vgl.  auch  Nachmanides  zu  Exod.  2, 
16  und  Ibn  Esra  zu  Num.  10,  29,  die  viele  Belege  aus  der  Schrift 
für  diese  Eigentümlichkeit  anführen.  Für  ähnliche  Bezeichnungen  im 


694  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

only  the  blood  of  Uriah«.  Ich  glaube  jedoch;  daß  aus  mehr 
als  einem  Grunde  diese  Auffassung,  wonach  unser  Ver- 
fasser David  aus  der  Gemeinde  der  Frommen  ausstößt, 
ganz  unhaltbar  ist.  Zunächst  ist  absolut  nicht  abzusehen, 
wem  der  Vorwurf  gilt,  daß  sie  Handlungen  Davids  ver- 
heimlichten, etwa  den  Verfassern  der  Bücher  Samuels,  der 
Könige  und  Chronik?  Gelten  etwa  diese  Bücher  unserem 
Verfasser  nicht  für  heilig,  daß  er  ihren  Verfassern  Geschichts- 
fälschung vorwirft?  Es  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Be- 
weise, daß  unserem  Verfasser  diese  Bücher  für  kanonisch 
galten,  wie  seine  Benützung  derselben  zeigt.  Aber  auch 
zugegeben,  er  hätte  die  biblischen  Berichte  über  David 
nicht  wörtlich  genommen,  oder  ihnen  keinen  Glauben 
geschenkt,  wie  kam  er  dazu,  für  seine  Behauptung 
von  dem  sündhaften  Lebenswandel  Davids  Worte  der 
Schrift  zu  zitieren,  die  gerade  das  Gegenteil  behaupten, 
denn  daß  der  Satz  miK  .  .  .  l^in  an  I  Könige  15,  5  sich 
anlehnt,  wird  auch  von  S.  zugegeben.  Ferner  wäre  es  mehr 
als  deplaciert,  wenn  unser  Verfasser  die  Vielweiberei  Da- 
vids für  sündhaft  erklärte  und  dann  hinzufügte,  daß  diese 
Sünde  von  den  biblischen  Schriftstellern  verschwiegen  wird, 
während  die  einzige  Quelle  für  die  Vielweiberei  Davids  gerade 
diese  von  ihm  getadelten  Bücher  sind.  Nach  alldem  ergibt 
sich,  daß  an  dieser  Stelle  nicht  ein  Tadel  gegen  David  aus- 
gesprochen werde,  sondern  im  Gegenteil  die  Behauptung, 
daß  David  »die  Thorah  nicht  gelesen  hat«,  dahin  ergänzt 
werde,  daß  sonst  seine  Handlungen  gut  und  fromm  waren,  ab- 
gesehen vom  Blute  Uriahs;  und  dies  entspricht  den  Worten 
der  Schrift  I  Könige  15,  5.  Man  übersetze  daher  &£2  »und 
vorzüglich1)  waren  die  Handlungen  Davids«.  Möglich  auch, 

Mittelalter  ist  an  die  berühmten  Massoreten  Ben  Ascher  und  Ben 
Naphtali  zu  erinnern;  der  erste  hieß  Aaron  ben  Moses  ben  Ascher, 
der  zweite  Moses  b  David  b.  Naphtali,  vgl.  Baer-Stark  'jflD.1  Wi£rt 
X-XI. 

i)  Biblisch  rrtj»  -erhoben  sein«  Ps.  47,  10.  97,  9  mischnisch  r^p, 
besonders  häufig  nSijJD   »vorzüglich«. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  695 

daß  mit  S.  tts^jn  zu  lesen  ist;  aber  als  Subjekt  ist  dann 
»Bfjfla  zu  fassen,  und  der  Sinn  wäre:  und  diese  —  sünd- 
haften —  Taten  Davids  geschahen  aus  Unwissenheit1),  weil» 
wie  oben  von  unserem  Verfasser  hervorgehoben  worden 
ist,  David    mit    dem  Inhalt  der  Thorah  nicht  bekannt  war. 

5,  6:  bx  )b  D3?jn.  S.:  »and  God  abandoned  them  to 
him«,  was  aber  absolut  keinen  Sinn  gibt;  man  übersetze 
daher  »und  Gott  verzieh  ihm  dieselben«;  itj?  »eine  Schuld 
erlassen«  schon  biblisch,  Neh.  5,  10  *a\  M  m?yj.  Es  be- 
zieht sich  entweder  auf  nm«  Dl  —  wo  Ol  wohl  für  'Ol 
steht  und  daher  der  Piural  DarJPl  —  oder  auf  rn  ''tryö,  die 
Sünde,  die  David  nicht  wissentlich  beging;  vgl.  die  vor- 
hergehende  Bemerkung. 

5,  7:  mir  Dl  Jis  nKnn.  Auf  welche  halachische  Diffe- 
renz hier  angespielt  wird,  läßt  sich  mit  Bestimmtheit  nicht 
mehr  sagen,  aber  sicher  nicht  auf  die  Differenz  zwischen 
den  »Pharisäern  und  Samaritanern«2;  bezüglich  nmo  Dl,  denn 
dann  würde  es  hier  entweder  nmb  Ol  r\»  nunn  —  so  schon 
die  Schuien  Schammais  und  Hilleis,  Niddah  4,  3  —  oder 
firm  Dl  —  Lev.  12,  2,  heißen3).  Die  hier  in  Betracht  kom- 
mende Hai.  chah  hat  mit  einer  n;r  zu  tun,  und  nicht  mit  einer 
Tö  oder  r\lbvf  und  eine  Differenz  zwischen  den  Pharisäern  und 
Sadduzäern  in  na?  r\)zbn  erwähnt  die  Mischnah  Horajjot  I,  3, 
deren  Einzelheiten  zwar  nicht  ganz  klar  sind4)  —  vgl.  die 
talmudische  Auseinandersetzung  daselbst  — ,  so  viel  ist 
aber  sicher,  daß  die  Pharisäer  die  erschwerende  Ansicht 
vertraten;  demnach  entspricht  der  Standpunkt  unseres 
Verfassers  dem  der  Pharisäer,  da  auch  er  den  Gegnern 
vorwirft,  daß  sie  .12?  Dl  für  rein  erklären. 

l)  uby:,  der  biblische  wie  mischnische  Ausdruck  für  eine  aus 
Unwissenheit  begangene  Sünde. 

*)  Über  diese  Differenz  vgl.  weiter  unten  Abschnitt  IV. 

*)  Vgl.  Aharon  b.  Eliah  aus  Nicodemien  in  seinem  min  1D3 
Lev.  a.  a.  O.:  nveo  rrnrin  K^i  .IST  mpn  xbtf  iojc  [3  b$. 

*)  Die  Erklärung  des  Talmud  läßt  sich  kaum  m.t  dem  ein- 
fachen Wortsinn  der  Mischnah  vereinigen. 


696  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

5,  7:  orrns  na  n«  wm  D'npi^i.  Wie  S.  schon  bemerkt 
stimmt  unser  Verfasser  mit  den  Samaritanern  und  Karäern 
überein,  die  eine  Ehe  zwischen  Onkel  und  Nichte  für  Blut- 
schande erklären.  Die  Ansicht  Estori  Parchis1),  daß  diese 
beiden  Sekten  darin  arabischem  Gebrauch  folgten,  wird  von 
unserem  Text  widerlegt  und  wir  sehen  daraus,  daß  wir  es 
mit  einer  von  den  Pharisäern  abweichenden  alten  Halachah 
zutun  haben.  Ein  fernerer  Beweis  für  das  Alter  dieser  Halachah 
ist  die  Tatsache,  daß  auch  die  Falascha  solche  Ehen  ver- 
bieten. So  heißt  es  in  dem  von  Halevy  veröffentlichten 
Pseudepigraph  Baruch*),  fol.  120  r.,  daß  in  einer  Abteilung 
der  Hölle,  diejenigen  sich  befinden,  die  mit  ihren  Nichten 
Umgang  haben.  Sogar  aus  talmudischen  Quellen  läßt  sich 
nachweisen,  daß  eine  Opposition  gegen  diese  Ehen  existiert 
hat,  denn  nur  so  läßt  sich  erklären  warum  der  Talmud 
—  Jebamot  62  b,  Ende  —  gerade  solche  Ehen  als  eine  be- 
sonders Gott  gefällige  Handlung  empfiehlt3).  Die  Pharisäer 
hätten  wohl  nie  ihre  erleichternde  Entscheidung  durch- 
gesetzt, wenn  sie  einfach  solche  Ehen  nur  für  erlaubt  er- 
klärt hätten,  wenige  hätten  sich  bereit  gefunden,  Ehen  zu 
schließen,  die  von  manchen  als  Blutschande  angesehen 
werden.  Erst  als  die  Pharisäer  solche  Ehen  zu  einer 
gottgefälligen  Handlung  stempelten,  verlor  sich  die  Oppo- 
sition gegen  sie;  auf  der  einen  Seite  eine  von  den 
Pharisäern  als  gottgefällig  empfohlende  Handlung,  auf  der 
anderen  Seite  eine  häretische  Ansicht,  die  diese  Hand- 
lung  für   Sünde    erklärt    —    da  konnte   für    die  Mehrheit 

1)  mW  liriDS  V  Ende;  Zunz.  Ges.  Schrift.  II,  303;  Steinschnei- 
der. Polemische  Lit.  398,  Anm.  1,  und  Wreschner,  Samar.  Tradit.  XIV. 

2)  Erschienen  als  Anhang  zu  Te'ezaza  Sanbat,  Paris  1902. 

*)  Schorr  piVrtfl  VII,  34  glaubt  hierin  persischen  Einfluß  zu 
finden,  aber  in  den  von  ihm  aus  persischen  Quellen  angezogenen 
Stellen  werden  Verwandtschaftsehen  empfohlen,  die  den  Juden  als 
verboten  gelten  !  Über  die  Frage,  ob  der  Talmud  nur  ijnnx  '3  oder 
auch  vriK  'S  meint,  vgl.  Tosafot  z.  St.  und  Maimonides  Issure  Biah 
III,  14. 


Eine  unbekannte  jüdische  Sekte.  697 

der  Juden  die  Wahl  nicht  schwer  fallen1).  Die  Oppo- 
sition gegen  diese  Verwandtschaftsehe  scheint  sogar  in 
pharisäischen  Kreisen  existiert  zu  haben,  jedenfalls  erklärt 
sich  bei  dieser  Annahme  die  folgende  Geschichte  aus  dem 
Leben  R.  Eliesers  b.  Hyrkanos  am  Einfachsten.  R.  Elieser's 
Mutter  heißt  es  —  Jer.  Jebamot  XIII,  13c  —  drängte  in 
ihn  gar  sehr,  seine  Nichte  —  Schwesterntochter  —  zu 
ehelichen,  worauf  R.  Elieser  dieselbe  mehrmals  aufforderte, 
sich  zu  verehelichen.  Erst  als  sie  zu  ihm  sprach:  »Sieh, 
ich  bin  deine  Sklavin,  die  Füße  der  Knechte  meines 
Herrn  zu  waschen. <  —  I.  Sam.  25,  41  —  konnte  R.  Elieser 
sich  entschließen,  sich  mit  seiner  Nichte  zu  verehelichen, 
die  er  freilich  erst  dann  »erkannte«,  als  sie  Zeichen  der 
Pubertät  zeigte.  Der  Talmud  scheint  R.  Eliesers  Weigerung 
auf  die  Minderjährigkeit  seiner  Nichte  zurückzuführen2), 
jedoch  wäre  dann  nicht  zu  begreifen,  wie  R.  Elieser  der- 
selben raten  konnte,  sich  zu  verehelichen,  falls  er  gegen 
die  Ehen  Minderjähriger  war.  Am  einfachsten  erklärt  sich 
R.  Eliesers  Verhalten  dadurch,  daß  er,  häufig  der  Vertreter 
der  alten  Halachah,  auch  in  diesem  Falle  Rücksicht  nahm 
auf  die  Ansicht,  welche  eine  Ehe  zwischen  Onkel  und 
Nichte  für  verboten  hielt  und  daher  zuerst  dem  Drängen 
seiner  Mutter  nicht  nachgeben  wollte  und  seiner  Nichte 
daher  den  Rat  gab,  einen  anderen  Mann  zu  suchen.  Als  er 
aber  sah,  daß  auch  seine  Nichte  den  Wunsch  seiner  Mutter 
teilte,  hielt  er  es  für  ratsam,  sein  Bedenken  gegen  eine  solche 
Ehe  aufzugeben  und  heiratete  darauf  seine  Nichte,  obwohl 
sie  noch  nicht  geschlechtsreif  war,  enthielt  sich  aber  jedes 
ehelichen   Verkehrs,  bis  sie  herangewachsen  war3).    Höchst 

*)  Solche  rabbinische  Institutionen,  die  der  Opposition  gegen  die 
Sadduzäer  das  Dasein  verdanken,  gibt  es  ziemlich  viele.  Vgl.  z.  B. 
Cbagigah  II,  4  und  Menachot  X,  3. 

*)  Im  Talmud  wird  dies  zwar  nicht  direkt  behauptet,  aber  der 
Zusammenhang,  in  dem  diese  Anekdote  im  Talmud  erwähnt  wird, 
spricht    deutlich    für  die  von  den  Komentatoren  gegebene  Erklärung. 

3)  Obwohl  die  Halachah  das  Recht  des  Vaters  anerkennt,  seine 


698  Eine  unbekannte  jüdische  Sekte. 

lehrreich  für  das  Verhalten  des  offiziellen  Judentums  in 
dieser  Frage  ist  es,  daß  auch  im  Mittelalter  Stimmen  sich 
erhoben  gegen  solche  Ehen.  R.  Jehudah,  der  Fromme  aus 
Regensburg  —  starb  1217  —  verbietet  sie  in  seinem  'D 
O'TDn,  ed.  Wistinetzki  282,  sowie  in  seinem  Testament1), 
was  wohl  auf  karäischen  Einfluß  zurückzuführen  wäre,  da  R. 
Judah  und  sein  Kreis  auch  sonst  karäischen  Einfluß  verraten8). 

minderjährige  Tochter  zu  verehelichen,  so  finden  sich  im  Talmud 
scharfe  Worte  gegen  minderjährige  Ehen.  Vgl.  z.  B.  Niddah  13  b 
Kid.  41  a. 

l)  Die  TDR"!  v1  n«i5t  'st  mehrmals  separat  erschienen  und 
auch  als  Beilage  zu  dessen  D'TDn  ICD. 

8)  Karäischen  Einfluß  verrat  die  Behauptung  D'H'Dn  'D  283, 
daß  die  Ehe  einer  Schwägerin  Unglück  bringe,  die  Karäer  verbieten 
sie  ohne  weiteres,  wie  oben  zu  4,  20  bemerkt  worden  ist  !  Interessant 
ist  auch  die  Bemerkung  'Dn  'D  334,  daß  man  die  Bethäuser  der  Karäer 
respektvoll  behandeln  solle;  vgl.  ferr-er  Epstein  in  der  hebräischen 
Zeitschrift  "ipim  II,  1  —  11;  33  —  48;  natürlich  war  es  nur  eine  unbe- 
wußte Opposition,  da  ein  Mann  wie  R.  Jehudah  ganz  im  rabbin'schen 
Judentume   steckte. 

(Fortsetzung   folgt.) 


Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe. 

Von  S.  Funk. 

Der  Wirkungskreis  der  zwei  zuerst  behandelten  Gerichts- 
höfe ist  genau  präzisiert.  Das  kleinste  drei-,  beziehungsweise 
siebengliedrige  Richterkollegium  kann  als  Zivilgericht  be- 
zeichnet werden,  das  dreiundzwanzig-  oder  fünfundv/ierzig- 
gliedrige  Kollegium  war  das  eigentliche  Kriminalgericht; 
ersteres  hatte  Geldprozesse  zu  entscheiden,  letzteres  über 
Leben  und  Tod  zu  urteilen.  Nicht  so  leicht  ist  es,  die  Be- 
fugnisse des  großen  einundsiebziggliedrigen  Synhedrions  oder 
—  in  früheren  Zeiten  —  der  Gerusia  festzustellen.  Es  ist 
dies  umso  schwieriger,  als  die  politischen  Rechte  und 
Machtbefugnisse,  die  dieses  zeitweilig  in  sehr  ausgedehntem 
Maße  besessen  hat,  von  einzelnen,  gewalttätigen  Herrschern 
eingeschränkt  und  von  anderen  wieder  erweitert  wurden. 
Während  diese  z.  B.  in  der  griechischen  Zeit  als  ziemlich 
weitgehende  zu  denken  sind  —  die  hellenistischen  Könige 
begnügten  sich  in  der  Regel  mit  der  Zahlung  der  Abgaben 
und  der  Anerkennung  ihrer  Oberhoheit  (Schürer,  Gesch.  II, 
S.  191)  —  während  die  Königin  Salome  Alexandra  bloß  den 
Titel  Königin  führte,  die  Regierungsgewalt  aber  vollständig 
in  den  Händen  der  Pharisäer,  d.  h.  der  Gerusia,  welche 
aus  Pharisäern  bestand,    lag  (Joseph.  Antt.  XIII,  24)1),    hat 

')  »Salome  überließ,«  sagt  Wellhausen  (Qesch.  S.  237)  mit 
Recht,  das  Gericht  und  die  inneren  Angelegenheiten,  namentlich  die 
geistlichen,  gänzlich  dem  Synhedrion«.  Daß  die  Pharisäer  (nach  Joseph. 
Antt.  XIII,  16,  2)  die  Königin  erst  um  die  Bewilligung  bitten  mußten, 
die  Ratgeber  Jannajs  hinzurichten,  spricht  nicht  dagegen,  wie  Büchler 
(das  Synhedrion  in  Jerusalem  202  Nr.  180)  meint.  Abgesehen  davon,  daß 
das  große  Synhedrion  kein  Kriminalgerichtshof  war,  also  damit  nichts 
zu  tun  hatte,    fehlten   ja   auch    in    diesem  Falle    die  nach  jüdischem 


700  Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe. 

ein  Tyrann  wie  Herodes,  der  seine  Regierung  mit  der 
Hinrichtung  der  Synhedrialhäupter  begann  (ebendas.  XIV,  9, 
4  u.  XV,  1,  2)  die  Rechte  seines  aus  gefügigen  Elementen 
wieder  zusammengesetzten  Synhedriums,  wenn  er  es  nicht 
ganz  beseitigte,  was  das  Wahrscheinlichere  ist  (s.  w.  u.), 
jedenfalls  auf  ein  Minimum  reduziert1).  Auch  nach  der 
Mischna  waren  diese  erheblich.  Nach  Sanhedr.  1,  5  darf  ein 
(von  Gott)  nicht  gebotener  Krieg  nur  durch  Beschluß  des 
einundsiebziggliedrigen  Synhedrions  erklärt  werden,  hat 
dieses  die  Gerichtshöfe  für  die  einzelnen  Stämme  einzusetzen, 
ist  es  allein  berechtigt  über  ganze  Stämme  Urteile  zu  fällen, 
eine  Stadt  (wegen  Götzendienstes)  als  abtrünnig  zu  erklären 
und  sie  vernichten  zu  lassen.  Nach  der  Tosifta  (Sanhedr. 
III,  4)  bedarf  ein  neugewählter  König  oder  Hohepriester  der 
Zustimmung  des  Synhedrions  zur  Wahl.  Nach  einer  späteren 
Quelle  scheinen  selbst  Propheten  einer  Art  von  Autorisation 
oder  Beglaubigung  von  dieser  Behörde    zu    ihrem    heiligen 

Rechte  erforderlichen  Beweise  und  die  vorgeschriebene  Warnung,  die 
jedem  Verbrechen  vorangehen  mußte  (."isorm  D"HJJ>,  wenn  dieses  mit 
dem  Tode  bestraft  werden  sollte.  Es  war  ein  politischer  Akt,  ein 
Akt  politischer  Notwehr  (itJJtP  riKTin),  eine  Tat,  für  welche  das  Syn- 
hedrion  schon  aus  Vorsicht  nicht  allein  die  Verantwortung  tragen 
wollte.  Ist  bei  dem  greisen  Johann  Hyrkan  eine  Osinnungsänderung 
eingetreten,  so  hätte  dies  bei  einem  schwachen  Weibe  umso  leichter 
der  Fall  sein  können,  und  die  Pharisäer  mußten  auf  ihre  Hut  sein. 
Wellhausen  ist  auch  im  Rechte,  wenn  er  in  den  TCpsußuxspot,  die 
zur  Königin  Alexandra  gehen,  um  Klage  zu  führen  ge^en  Anstobul, 
der  sich  mit  Hilfe  des  unzufriedenen  Adels  der  festen  Plätze  be- 
mächtigte (Antt.  XIII,  16,  5),  die  D'jpt,  d.  h.  das  Synhedrion,  erblickt. 
Eine  oberste  Behörde  wird  es  jedenfalls  auch  zur  Zeit  der  Makkabäer 
gegeben  haben.  Die  Makkabäer,  denen  der  Eifer  für  das  Gesetz  das 
Schwert  in  die  Hand  gedrückt,  werden  die  Gerusia,  die  ja  schon  zur 
Zeit  Antiochus  des  Großen  von  Josephus  (Antt.  3,  3)  erwähnt  wird, 
sicherlich  nicht  abgeschafft  haben. 

»)  Joseph.  Antt.  XV,  6,  2;  vgl.  Schürer,  II,  195  und  Wieseler, 
Beiträge  zur  richtigen  Würdigung  der  Evangelien,  S.  215.  Vgl.  hin- 
gegen Büchler,  Das  Synhedrion  in  Jerusalem,  und  unsere  Ausführungen 
w.  u. 


Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe.  701 

Amte  benötigt  zu  haben.  Die  Propheten  Obadja  und  Jeremias 
sollen  nämlich  erst,  nachdem  ihnen  die  Bewilligung  zur 
Prophetie  vom  einundsiebziggliedrigen  Synhedrion  erteilt 
worden  war,  zu  wirken  begonnen  haben,  und  hätte  diese  von 
der  erwähnten  Behörde  zurückgenommen  werden  können1). 

Vor  allem  aber  war  das  Synhedrion  der  oberste  Ge- 
richtshof, an  den  sich  die  Gerichtshöfe  niederen  Ranges 
in  zweifelhaften  Fällen  zu  wenden  hatten  (Mischna  Sanhedr. 
XI,  2;  Joseph.  Antt.  IV,  8,  14).  In  der  späteren  Graezität 
wird  die  Bezeichnung  Synhedrion  eigentlich  nur  in  diesem 
Sinne  gebraucht  (vgl.  Schürer  II,  194).  Als  solches  hatte  es 
wohl  auch  deponierte  Waisengelder  zu  verwalten,  die  schon 
zur  Zeit  der  Griechen  im  Tempel  aufgehäuft  lagen  (II. 
Makk.  3,  10),  wie  denn  der  Gerichtshof  stets  als  Vormund 
der  Waisen  (d'bvp  bw  |n*3K)  galt. 

Das  jüdische  Synhedrion  war  aber  auch  in  religions- 
gesetzlichen Fragen  das  höchste  Forum.  Auch  die  Richter 
der  niedrigen  Kollegien  wußten  in  religionsgesetzlichen 
Fragen  Bescheid.  Zur  Lösung  von  neuen,  noch  nicht  ver- 
handelten Fragen  war  —  wenigstens  in  den  früheren,  vor- 
christlichen Jahrhunderten  —  nur  das  große  Synhedrion 
berechtigt.  Charakteristisch  hiefür  ist  die  Überlieferung  R. 
Joses,  eines  in  historischen  Dingen  verläßlichen  Gewährs- 
mannes2), in  der  bekannten,  oft  zitierten  Tosifta  (Sanhedrin 
VII,  2):  »In  früherer  Zeit,«  berichtet  dieser,  »gab  es  keine 
Kontroversen  in  Israel,  denn  der  einundsiebziggliedrige 
Gerichtshof  saß  in  der  Quaderhalle,  in  den  Städten  auf  dem 
Lande  gab  es  dreiundzwanziggliedrige  und  in  Jerusalem 
zwei  dreigliedrige  Gerichtshöfe,  der  eine  von  den  letzteren 
auf  dem  Tempelberge,  der  andere  im  Tempelvorhofe.  Hatte 
jemand  eine  Halacha  zu  erfragen,  so  ging   er  zum  Gerichts- 

')  Aggadath  Bereschith  Cap.  XIV  Ende,  vgl.  Büchler,  Das  Syn- 
hedrion in  Jerusalem.  S.  69,  Anm.  63. 

*)  Vgl.  Herzfeld,  Gesch.  d.  V.  Isr.  II,  S.  458  und  Graetz,  Gesch. 
III,  Note  22  und  30. 


702  Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe. 

hofe  seines  Wohnortes,  gab  es  daselbst  einen  solchen  nicht, 
so  ging  er  zum  Gerichtshofe  der  nächstliegenden  Stadt. 
Hatte  dieser  die  Halacha  gehört  (überliefert  bekommen),  so 
teilte  er  sie  jenem  mit,  wenn  nicht,  gingen  jener  und  der 
Hervorragende  des  betreffenden  Gerichtshofes  zum  Gerichts- 
kollegium  auf  dem  Tempelberge.  Hatte  dieses  die  Halacha 
gehört,  so  teilte  es  sie  mit,  wenn  nicht,  so  gingen  jene 
mit  dem  Hervorragendsten  dieses  Kollegiums  zum  Kollegium 
im  Vorhofe.  Hatte  dieses  sie  gehört,  so  teilte  es  sie  mit,  wenn 
nicht,  so  gingen  sie  alle  zum  Gerichtshofe  in  der  Quader- 
kammer. Hier  wurde  nun  die  Frage  aufgeworfen.  Hatte  das 
Beth-din  die  Halacha  gehört,  so  teilte  es  dieselbe  mit,  wenn 
nicht  so  erhob  man  sich  zur  (Stimmen-)Zählung.  Waren 
diejenigen  in  der  Majorität,  die  (den  Gegenstand)  für  unrein 
erklärten,  sogalt  derselbe  für  unrein,  waren  hingegen  die- 
jenigen in  der  Mehrzahl,  die  ihn  für  rein  erklärten,  so  war 
er  rein.  Von  dort  ging  so  die  Halacha  aus  und 
verbreitete  sich  in  ganz  Israel.  Als  aber  die 
Schüler  Schammais  und  Hilleis,  die  nicht  genügend  gedient 
hatten  (d.  h.  nicht  genügend  vorgebildet  waren),  sich  ver- 
mehrten, nahmen  die  Kontroversen  in  Israel  zu,  und  es 
entstanden  zwei  Lehren«  (Tosifta  Sanhedr.  VII,  2,  pag.  425, 
vgl.  Sabbath  86  b).  R.  Jose  führte,  wie  wir  sehen,  als  Bei- 
spiel eine  Frage  über  rein  und  unrein  an.  In  jedem  Ge- 
richtshofe saßen  also  gelehrte  Richter,  an  welche  man  sich 
auch  mit  religionsgesetzlichen  Fragen  wenden  konnte,  aber 
nur  der  »Gerichtshof  in  der  Quaderkammer«  war  befugt, 
Entscheidungen  in  neuen,  noch  nicht  gelösten  Fragen  zu 
treffen,  neue  Gesetze  zu  schaffen.  Dieses  war  die  höchste 
gesetzgebende  Behörde,  vor  deren  Forum  alle  richterliche 
Entscheidungen,  die  wichtigsten  Verwaltungsmaßregeln  wie 
auch  alle  religionsgesetzlichen  Fragen,  gehörten.  Man  wandte 
sich  an  diese  nach  einer  Baraitha  (Sanhedr.  86b,  87  a)  um 
Aufschluß:  in  Fragen,  die  den  Blutfluß  bei  Frauen  betreffen; 
in  Rechtsfragen,  in  zivil-  wie  in  strafrechtlichen;  in  Fragen, 


Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe.  703 

die  sich  auf  Aussatzschäden  verschiedener  Arten  beziehen; 
in  solchen,  die  auf  Banngüter,  auf  Schätzungen  von  geheiligten 
Gütern,  auf  Abgäben  des  Bodenertrages  Bezug  haben,  be- 
züglich der  Anordnungen,  die  zu  treffen  sind:  bei  einer  des 
Ehebruches  verdächtigten  Frau,  bei  der  Darbringung  eines 
Sühnopfers  für  einen  verübten  Mord,  dessen  Täter  nicht 
eruiert  werden  konnte,  bei  der  Reinigung  der  Aussätzigen 
usw. 

Nicht  zu  allen  Funktionen  war  die  Anwesenheit  von 
einundsiebzig  Mitgliedern  erforderlich.  So  genügte  zur  Vor- 
nahme des  (Deut.  21,  1)  vorgeschriebenen  Sühnopfers  für 
einen  ungesühnt  gebliebenen  Mord  eine  Abordnung  von 
drei  Richtern  des  Kollegiums1),  ebenso  waren  zur  Zeremonie 
des  Handauflegens  auf  das  Sündopfer  für  die  Gemeinde  nur 
drei  Mitglieder  nötig,  welche  Funktion  ebenfalls  zu  dem 
Pflichtenkreise  des  Sanhedrins  in  der  Quaderkammer  ge- 
hörte2). Auch  die  Einschaltung  eines  Monates  im  Schaltjahre 
erfolgte  durch  eine  Abordnung  von  sieben  Mitgliedern,  eine 
Funktion,  die  zu  den  wichtigsten  und  vornehmsten  Aufgaben 
des  großen  Sanhedrins  gezählt  wurde3). 

Ebenso  scheint  es  für  gewisse  Zweige  der  Verwaltung 
und  anderer  Landesangelegenheiten  Ausschüsse  oder  Sekti- 
onen gegeben  zu  haben.  Es  waren  das  jene  Männer,  die 
sich  mit  den  »Angelegenheiten  der  Gesamtheit«  ü'3t  »3"ns 
zu  befassen  hatten.  Diese  hatten  z.  B.  für  die  Instandhaltung 
der  Plätze,  Straßen  und  der  Zisternen  durch  Sendboten  zu 
sorgen  (Schekalim  I,  1).  Halevy  hat  auf  einige  Stellen  hin- 
gewiesen, in  welchen  von  solchen  Verwaltungsfunktionären 
die  Rede  ist.  Nach  Sabbath  114  a  mußte  jeder,  der  zum 
»Parneß«  für  die  Gesamtheit  gewählt  wurde,  in  allen  Trak- 


')  Mischna  Sota  IX,  2:  D^-BnT^tf  bnn  pT  Jvro  Xvbw. 

2)  Vgl.  Tosifta  Sanhedr.  III,  4. 

3)  Mechilta  Kap.  II  Ende,  ed.  Weiß,  S.  4.  K.  Joschija  sucht  nur 
einen  Schriftvers  zur  Begründung,  aber  die  Tatsache  selbst  wird  als 
bestehend  vorausgesetzt. 


704  Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe. 

taten  der  Überlieferung  Bescheid  wissen1)  (Doroth  ha-Ri- 
schonim  II  b,  S.  263 — 64).  Halevy  hat  daselbst  auch  die 
Vermutung  ausgesprochen,  daß  einzelne  Ehrenstellen  und 
Würden  innerhalb  der  nachtalmudischen  Methibhta,  wie  sie 
R.  Nathan,  der  Babylonier,  im  Juchasin  schildert,  von  den 
alten  Hochschulen  der  Tannaim  und  Amoraim  herrühren,  die 
an  die  Stelle  des  früheren  Synhedrion  getreten  sind.  Halevy 
denkt  zunächst  an  die  Anordnung  der  Sitzreihen  und  an 
die  Geschäftsordnung  bei  den  halachischen  Debatten.  Nach 
diesen  saßen  in  der  ersten  vor  dem  Methibhtahaupte  zehn 
Männer,  welche  die  erste  Reihe  genannt  wurde,  mit 
dem  Gesichte  dem  Methibhtahaupte  zugewendet.  Und  von 
den  zehn  Männern,  die  vor  ihm  saßen,  waren  sieben  Häupter 
der  Lehrversammlung  und  drei  Genossen  (onsn).  Jeder  der 
sieben  Häupter  der  Lehrversammlung  (Resch  Kalla)  war 
über  zehn  Mitglieder  des  Synhedrions  gesetzt,  die  den  Titel 
D'Di^K  führten2);  diese  siebzig  saßen  in  sieben  Reihen  usw. 
Diese  Einrichtung  läßt  sich  in  der  Tat  weit  hinauf  in  die 
talmudische  Zeit  verfolgen.  Von  den  Häuptern  der  Lehr- 
versammlung (Resche  Kalla)  ist  im  Talmud  öfter  die  Rede 

')  R.  Josua  b.  Chananja  sagt  zu  R.  Qamaliel  II  nach  dessen 
Absetzung:  "1DJ1D  ftXUW  ThS  ib  "»lK  (Berach.  28a).  Vgl.  die  Baraita  in  b. 
Horajoth  13  b:  TDICH  by  D'DJID  DJT3K  C'ncötP  D^DSn  iTöSn  ■»».  Die 
Bedeutung  ist  *=  Vorsteher,  Führer  einer  Gemeinde  oder  eines  Volkes. 
Vgl.  Joma76b:  Till  !WB  ^KW^  Bf\b  HDJJ  EP31B  D'DJIB  "0B>;  Taanith 
9a  werden  Moses,  Ahron  und  Mirjam  als  solche  genannt.  Chagiga 
5b:  TOXfl  b$  ntonefi  W1B.  Aus  Berach.  28a  und  55a  ist  ersichtlich, 
daß  er  sich  auch  um  das  leibliche  Wohl  der  ihm  Untergebenen  zu 
kümmern  hatte.  Dieser  Ausschuß  von  D^DJID  wird  das  Mittelglied 
zwischen  der  priesterlichen  Körperschaft  ap/ispsT;  und  den  Resche 
Kalla  sein,  wobei  natürlich  die  Funktionen  nicht  zu  allen  Zeiten  als 
genau  dieselben  zu  denken  sein  werden.  Sie  waren  Vorsteher  der 
Gerusia,  in  späterer  Zeit  der  Gelehrtenversammlung. 

')  Man  wäre  versucht,  diese  Einrichtung  schon  in  dem  Senate 
von  Sukkoth  zu  finden,  der  Richter  8,  14  erwähnt  wird.  "pSn  nirD,%. 
VPX  nyaten  D^a»  mpt  nxi  fiiDC  "nff  n«.  Es  waren  wohl  7  D-nt?  und 
70  n^pr. 


Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe.  705 

(vgl  z.  B.  Baba  b.  22  a).  Ebenso  werden  die  sieben  Sitz- 
reihen im  Lehrhause  des  R.  Jochanan  erwähnt,  in  welchen 
nur  die  hervorragendsten  Hörer  Platz  nehmen  durften 
(Baba  k.  117  a).  Ohne  Zweifel  ist  aber  auch  »die  erste 
Reihe«  (hob  «"in),  die  sich  in  nachtalmudischer  Zeit  aus 
sieben  Vorstehern  und  drei  Genossen  zusammensetzte,  einer 
alten  Einrichtung  nachgeahmt  und  zwar  den  »S£x<x  rcpöToi«, 
die  in  alter  Zeit  eine  Art  von  Ausschuß  mit  gewissen 
amtlichen  Funktionen  gebildet  haben1).  Wir  haben  schon  in 
unserer  »Entstehung  des  Talmuds«  auf  die  Gesandtschaft 
der  »zehn  Ersten«  an  Nero  hingewiesen,  die  im  Vereine 
mit  dem  Hohenpriester  und  dem  Schatzmeister  vor  diesem 
erschienen  sind,  um  einen  Streit  beizulegen,  der  wegen  einer 
Bauveränderung  im  Tempel  zwischen  den  jüdischen  Be- 
hörden und  dem  Prokurator  Festus  entstanden  war  (Joseph. 
Antt.  XX,  8,  11).  Wir  verweisen  hier  noch  auf  die  Tatsache, 
daß  Josephus  bei  seiner  Verwaltung  Galiläas  den  decem 
primi  zu  Tiberias  Wertsachen  des  Königs  Agrippa  zur  Auf- 
bewahrung übergibt  und  sie  dafür  verantwortlich  macht 
(Vita  13,  57)2).  Wir  werden  demnach  auch  in  den  »ersten 
Zehn«  der  alten  Zeit  zunächst  einen  solchen  Ausschuß  für 
o»ai  '3iis  zu  erblicken  haben. 

Qualifikation   der   Mitglieder. 

Wie  auf  die  innere  Einrichtung  des  Sanhedrin,  so 
wirft  der  erwähnte  Bericht  über  die  Methibhta  auch  auf 
die  Qualifikation  der  Synhedrialmitglieder  manches  Streif- 
licht. Es  ist  nämlich  sehr  bemerkenswert,  daß  nach  diesem 
Berichte,  die  Stellen  der  Resche  Kalla,  wie  die  der  Chaberim 

i)  Vgl.  Schürer  II,  172  und  Kuhn,  Die  städt.  und  bürgerl.  Ver- 
fassung I,  155.  Ihr  Hauptamt  war  die  Eintreibung  der  Steuern,  für 
deren  richtigen  Eingang  sie  mit  dem  Vermögen  hafteten  (vgl.  Digest. 
L,  4,  1,  1  und  ebendas.  L,  4,  18,  26). 

*)  Vgl.  Schürer  (II,  172  und  201),  der  hellen.  Einfluß  annimmt, 
der  ältere  jüd.  Ausschuß  war  der  siebengliedrige  Vorstand. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgang  45 


706  Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe. 

und  Allufim  erblich  waren,  d.  h.,  daß  sie  vom  Vater  auf  den 
Sohn  übergiengen,  wenn  dieser  das  nötige  Wissen  hatte 
und  würdig  war,  an  Stelle  des  Vaters  zu  treten.  >Das 
Verdienst  des  Vaters«  war  also,  wenn  die  nötigen  Vorbe- 
dingungen vorhanden  waren,  ausschlaggebend.  Und  nicht 
nur  das  Verdienst  des  Vaters,  sondern  auch  der  Ahnen  fiel 
stets  —  auch  in  talmudischer  Zeit  —  sehr  in  die  Wagschale, 
wo  es  sich  um  die  Wahl  von  Würdenträgern  handelte.  So  hatte 
auch  R.  Huna,  der  gelehrte  Schüler  Rabs,  seine  Wahl  zum 
Oberhaupte  seiner  Abstammung  zu  verdanken1).  Charakte- 
ristisch hiefür  ist  die  bittere  Klage  R.  Akibas,  als  R.  Eleasar 
b.  Asarja  bei  der  Patriarchenwahl  (an  Stelle  des  abgesetzten 
R.  Gamliel)  den  Sieg  über  ihn  davontrug:  »Nicht  weil  er 
ein  größerer  Gelehrter  ist  als  ich  (wurde  er  gewählt),  son- 
dern weil  er  von  größeren  Leuten  abstammt;  Heil  dem 
Manne,  dessen  Ahnen  sich  Verdienste  erworben,  Heil  jedem, 
dem  es  gegönnt  ist,  sich  an  einen  Nagel  hängen  zu  können.« 
Und  was  für  einen  Nagel  —  fragt  der  Talmud  —  hatte 
denn  R.  Eleasar  b.  Asarja?  Er  war  der  zehnte  (Abkömmling) 
von  Esra2).  Wir  sehen  also,  daß  vornehme  Abstammung, 
Dirr,  bei  den  Wahlen  der  Würdenträger  eine  überaus  große 
Rolle  gespielt  hat. 

Es  ist  darum  mehr  als  wahrscheinlich,  daß  auch  bei 
den  Männern  »der  großen  Versammlung«  und  in  späterer 
Zeit  bei  den  Mitgliedern  des  Synhedrions  der  Sohn  die 
Stelle  des  Vaters  übernahm8),  wenn  er   das  nötige  Wissen 

l)  Vgl.  Scheriras  Sendschreiben:   "OD   mm    K31B    MJin  "l    123*1 
*)  Jerus.  Taanith  IV,  t.  Vgl.  Berach.  27  b:  MD^H  M^pjf  '"6  ,TDpD 

oan  Minn  m-itp  p  ""J^x  '"^  mapo  tb*  üum  nw  mb  rnri  mS  way 
jotj?1?  "»t»?  mm  vB>y  «im. 

3)  Sanhedr.  IV,  4  spricht  wohl  von  Vakanzen,  wenn  der  Ver- 
storbene keinen  würdigen  oder  gelehrten  Sohn  hinterlassen  hat.  Von 
den  Mitgliedern  des  oben  erwähnten  Verwaltungsausschusses  wird 
.lies  ausdrücklich  gesagt.  Sifre  Deut.  16,  2:  Smw  "'DnD  hsh  pOD 
-K-!B>,  anj»  Minw  *?a  Sk-w  aipa  wai  Min  b'n  arrnrn  Dnnij»  B.Tiav 


Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe.  707 

hatte,  und  daß  auch  bei  dieser  obersten  Behörde  die  vor- 
nehme Abstammung  (Din")  keine  geringe  Rolle  spielte.  Der 
zweite  Vertreter  des  Volkes  in  der  Liste  jener  »großen 
Versammlung«,  die  den  Bund  mit  Gott  unterzeichnete(Nechem. 
Kap.  10),  führt  den  Namen  3Kiü  nno  »Statthalter  von  Moab«. 
Ein  sicherer  Beweis,  daß  die  Nachkommen  auf  die  Erinne- 
rung an  das  Ansehen  und  die  hohen  Stellungen  im  Staate, 
die  ihre  Ahnen  inne  hatten,  Wert  legten.  Denn  solche  Ämter 
wurden  in  der  vorexiüschen  Zeit  wohl  nur  den  Sprößlingen 
der  angesehensten  Familien  zugewiesen.  Unter  den  zwölf 
Statthaltern  oder  Hauptleuten,  die  zur  Zeit  Salomos  das 
Land  verwalteten,  waren  zwei  Schwiegersöhne  des  Königs 
(1  Kön.  IV,  11  u.  15).  Es  wird  darum  die  Bezeichnung  des 
Josephus  für  die  erwähnte  Behörde  als  yzpouaiai.,  als  adeligen 
Senat,  jedenfalls  insofern  eine  Berechtigung  haben,  als  die 
Mitglieder  oder  eine  große  Zahl  davon  angesehenen  Familien 
entstammten.  Denn  auch  bei  den  priesterlichen  undlevitischen 
Mitgliedern  dieses  Senates,  den  eigentlichen  Trägern  der 
Wissenschaft  —  diese  konnten  ja  ihre  ganze  Zeit  dem 
Studium  widmen,  da  sie  von  den  Zehnten  und  von  den 
Abgaben  lebten  —  kam  die  vornehmere  Abstammung  sehr 
in  Betracht.  Schon  zur  Zeit  Sauls  hören  wir  von  85  Priestern, 
die  in  der  Priesterstadt  Nob  »das  leinene  Ephod  trugen«, 
also  die  andern  überragten.  Nach  Targum  Jonathan  und 
den  Kommentatoren  sind  darunter  solche  gemeint,  die  fähig 
waren,  das  Hohepriesteramt  zu  bekleiden  oder  vielleicht  auch 
solche  die  es  bekleidet  hatten,  —  also  die  äp^tspeT?  der 
römischen  Zeit,  die  vornehmen  Priesterfamilien.  Als  oberste, 
regierende  oder  mitregierende  Behörde  hat  sie  gewiß  die 
einflußreichsten  Persönlichkeitun  zu  ihren  Mitgliedern  ge- 
zählt. Aber  damit  ist  freilich  nicht  gesagt,    daß  diese  nicht 

iWtn  "1Ö1JJ  133.  Dasselbe  wird  vom  T3  3R  im  Sifre  sutta  (Jalkut  Deut. 
416)    gesagt:    Vß,}  pari  "'DJJ  D^O  WÜ  M3TI  0*33  "6  VJW  T3  3kS  StfD 

Wien  -pi  \H  -idr  . . .  bmn  1330  pn  ipSn  -rn*  SsS  aha  min  p  frwi 

•'D'.pD  TR. 

45* 


708  Die    Kompetenz  der  Qericbtshöfe. 

die  nötigen  Kenntnisse  hatten.  Im  Gegenteil.  Wir  haben 
schon  in  unserer  2 Entstehung  des  Talmuds«  auf  die  Tatsache 
hingewiesen,  daß  auch  in  den  modernen  Staaten,  wo  der 
Adel  und  der  Klerus  das  Heft  in  Händen  haben,  die  Söhne 
der  Vornehmen  die  juridische  oder  geistliche  Laufbahn 
wählen,  um  hohe  Ämter  bekleiden  zu  können.  So  war 
es  auch  in  Judäa:  >Die  Söhne  der  Hohenpriester«  werden 
ja  noch  in  der  Mischna  als  Autoritäten  in  eherechtlichen 
Fragen  angeführt  (Kethubb.  XIII,  1—2,  vgl.  auch  ebendas.  I, 
5)  und  die  große  Menge  von  Briefen,  die  aus  den  »Provin- 
zen am  Meere«  an  diese  gerichtet  wurden,  enthielten  ohne 
Zweifel  religiöse  Anfragen  (Oholoth  XVII  Ende).  Wie  sich 
aber  die  Lehre  in  den  Häusern  der  vornehmsten  Familien 
erhalten  hat,  dafür  genügt  der  Hinweis  auf  die  Familie  der 
Patriarchen  in  Judäa,  die  von  königlichem  Geblüte  war, 
und  der  Jahrhunderte  hindurch  die  bedeutendsten  Gesetzes- 
lehrer, Männer  wie  Hillel,  R.  Gamaliel  I  und  II,  R.  Simon 
ben  Gamaliel,  R.  Jehuda  ha-Nassi  I  und  II  entstammten.  So 
wird  es  auch  in  manchen  anderen  vornehmen  Familien  ge- 
wesen sein. 

Wie  jede  Institution,  hat  auch  diese  im  Wechsel  der 
Zeiten  wichtige  Änderungen  erfahren.  Durch  den  griechischen 
Geist,  der  mit  Alexander  dem  Großen  seinen  Einzug  in 
Judäa  gehalten,  sind  manche  Stützen  des  Glaubens  wan- 
kend geworden.  Und  wie  in  allen  Ländern  und  zu  allen 
Zeiten,  waren  es  auch  in  Judäa  zunächst  die  reichsten  und 
vornehmsten  Kreise,  die  sich  der  Genußsucht  ergaben  und 
griechische  Sitten  annahmen  —  sie  wurden  Sadduzäer. 
Zuerst  natürlich  im  Leben,  dann  in  der  Lehre.  Das  Volk 
hielt  es  aber  mit  den  gesetzestreuen  Pharisäern,  die  dadurch 
den  größten  Einfluß  hatten.  Nicht  erst  seit  der  Regierung 
Salome  Alexandras  (76  v.  Chr.),  wie  Schürer  meint,  sondern 
bereits  früher.  Sie  standen  schon  zur  Zeit  Johann  Hyrkans 
»in  so  hohem  Ansehen  bei  dem  jüdischen  Volke,  daß  man 
auf  ihre  Worte  hörte,    selbst  wenn  diese  gegen  den  König 


Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe.  709 

oder  gegen  den  Hohenpriester  gerichtet  waren«  (Joseph. 
Antt.  XIII,  18).  Eine  Unterbrechung  trat  wohl  in  den 
letzten  Regierungsjahren  dieses  machtvollen  Fürsten  (st. 
103  v.  Chr.)  ein,  da  er,  von  den  Pharisäern  schwer  gekränkt, 
sich  den  Sadduzäern  anschloß  und  diesen  alle  Ämter  aus- 
lieferte (vgl.  Joseph.  Antt.  XIII,  10  und  Kiddusch.  66a).  Aber 
selbst  die  blutigen  Verfolgungen,  die  die  Pharisäer  unter 
ihm  und  noch  mehr  von  seinem  späteren  Nachfolger 
Alexander  Jannaj  (ebendas.  XIII,  13)  zu  erdulden  hatten, 
konnten  ihren  Einfluß  auf  das  Volk  nicht  brechen,  und  als 
der  letztere  seinen  Tod  herran nahen  fühlte  (st.  79),  konnte 
er  seiner  Frau  keinen  weiseren  Rat  erteilen,  als  es  mit  den 
Pharisäern  zu  halten,  »weil  diese  beim  Volke  viel  vermöchten« 
(ebendas.  XIII,  23).  Die  Reichen  und  Vornehmen  werden  es 
darum  nur  selten  gewagt  haben,  ihren  Neigungen  in  ihrer 
öffentlichen  Tätigkeit  zu  folgen.  Auch  die  Sadduzäer,  sagt 
Josephus  (ebendas.  XVIII,  1,  4),  halten  sich  in  ihrem  amt- 
lichen Wirken  an  die  Forderungen  der  Pharisäer,  »weil  sie 
das  Volk  sonst  nicht  ertragen  würde«.  Dies  wird  ganz  be- 
sonders in  rituellen  und  kultuellen  Dingen  der  Fall  gewesen 
sein.  »Alle  gottesdienstiichen  und  kultuellen  Angelegen- 
heiten,« sagt  der  erwähnte  Autor,  »Gebete  und  Opfer 
geschehen  nach  ihren  (der  Pharisäer)  Anordnungen« 
(ebendas.  XVIII,  13,  15).  In  diesen  Dingen  verstand  das 
Volk  keinen  Spaß.  Als  der  mächtige  Alexander  Jannaj 
die  am  Laubhüttenfeste  übliche  Wasserlibation,  den  Saddu- 
zäern zu  liebe,  nicht  auf  den  Altar,  sondern  auf  die  Erde 
goß,  wurde  selbst  dieser  Machthaber  mit  den  Paradiesäpfeln 
der  Tempelbesucher  beworfen  (vgl.  Joseph.  Antt.  XIII,  13,  5; 
Bell.  Jud.  1,  4,  3  und  Sukka  48  b).  Nur  von  Johann  Hyrkan 
wird  berichtet,  daß  er  einige  Änderungen  im  Kultus  vor- 
genommen und  bei  Strafe  die  Beobachtung  der  von  den 
Pharisäern  aufgestellten  Gesetze  verboten  habe  (vgl.  Maasser 
scheni  V,  15,  Sota  IX,  10  und  Joseph.  Antt.  XIII,  10,  5-6). 
Zu  dieser  Zeit    haben    jedenfalls   auch    die   Mitglieder   der 


710  Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe. 

obersten  Landesbehörde  gleich  dem  König  der  Partei  der 
Sadduzäer  angehört.  Aber  dies  hat  nur  kurze  Zeit  gedauert. 
Simon  ben  Schetach  hatdasSynhedrion  schon  unter  Alexander 
Jannaj  vollständig  regeneriert;  er  hat  es  durchgesetzt,  daß 
nur  solche  als  Mitglieder  ins  Synhedrium  gewählt  werden 
durften,  die  die  notwendigen  Gesetze  nach  der  Lehrweise 
der  Pharisäer  von  der  Bibel  deduzieren  konnten  (Megillath 
Taanith  X),  und  als  seine  Schwester  Salome*  Alexandra  im 
Jahre  79  v.  Chr.  die  Regierung  übernahm,  wurden  nicht 
nur  die  von  Johann  Hyrkan  verbotenen  Satzungen  wieder 
eingeführt  und  die  nicht  gesetzestreuen  Würdenträger  ihres 
Amtes  entsetzt  (Bell.  Jud.  I,  5,  2),  sondern  auch  die  Re- 
gierungsmacht ganz  in  die  Hände  der  Pharisäer  gelegt.  »Sie 
waren  mit  einem  Worte  in  Nichts  von  unbeschränkten 
Herrschern  verschieden«  (Antt.  XIII,  16,  2).  Solche  Macht- 
fülle  konnten  sie  nur  ausüben,  wie  Schürer  mit  Recht  be- 
merkt, »wenn  sie  in  der  obersten  Behörde,  der  Gerusia,  ein 
ausschlaggebender  Faktor  waren«  (Gesch.  1,  288).  Ob  die 
Mitglieder  dieser  Gerusia,  die  durch  Simon  ben  Schetach 
zusammengesetzt  wurde,  auch  Söhne  vornehmer  Familien 
waren,  wird  kaum  zu  beweisen  sein.  Wahrscheinlich  ist  es 
nicht.  Die  Vornehmen  waren  dazumal  sadduzäisch  gesinnt 
und  werden  ihre  Söhne  in  den  letzten  Jahrzehnten  der 
blutigen  Verfolgungen  gegen  die  Pharisäer  kaum  zu  diesen 
in  die  Schule  geschickt  haben. 

Diese  Gerusia  scheint  sich  keines  langen  Daseins  er- 
freut zu  haben.  Gabinius  teilte  das  jüdische  Gebiet  in  fünf 
cruvsSpta  (Antt.  XIV,  5,  4;  vgl.  auch  Sota  IX,  11)  was  eine 
vollständige  Umgestaltung  der  politischen  Verhältnisse  zur 
Folge  hatte.  Die  Gerusia  scheint  aufgelöst  worden  zu  sein. 
Ob  sie  von  Cäsar  (47  v.  Chr.)  wieder  in  ihre  Rechte  ein- 
gesetzt worden  ist,  wie  Schürer  (II,  193)  annimmt,  kann 
nicht  mit  voller  Sicherheit  behauptet  werden.  Das  <ruv£o*piov, 
vor  welchem  der  junge  Herodes  sich  zur  Zeit  Hyrkans  II 
wegen  seiner  Taten    in  Galiläa  verteidigen  muß,    ist  keine 


Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe.  7il 

Gerusia,  sondern  wie  bereits  oben  bemerkt  wurde,  ein 
Krirrsinalgerichtshof,  ein  fünfundvierziggliedriger,  ein  kleines 
Synhedrion  —  diese  Bezeichnung  wird  hierauch  zum  erstenmal 
gebraucht  —  und  ebensowenig  kann  von  der  Versammlung 
(eruvsSpiov),  vor  welcher  Herodes  den  alten  Hyrkan  seiner 
Schuld  überführte  (Antt  XV,  6,  2),  mit  Sicherheit  behauptet 
werden,  daß  diese  eine  mit  den  Rechten  der  alten  Gerusia 
oder  des  späteren  Synhedrion  ausgestattete  Behörde  war1). 
Diese  Behörde  scheint  erst  zur  Zeit  der  Prokuratoren 
wieder  in  ihre  Rechte  eingesetzt  worden  zu  sein.  Jose- 
phus  sagt  dies  mit  den  Worten,  daß  seit  dem  Tode  des 
Herodes  und  Archelaus  die  Verfassung  des  Staates 
eine  aristokratische  war,  unter  der  Oberleitung  der  Hohen- 
priester (Antt.  XX,  10,  4).  Die  Aristokraten  und  die 
Priester  kamen  also  wieder  zu  Macht  und  Würden,  die 
Leitung  des  Volkes  wurde  den  äp^ispst«;  anvertraut  (Antt.  XX, 
10,  5).  Judäa  hatte  wieder  seine  Gerusia  oder  richtiger  ein 
Synhedrion  mit  den  Rechten  der  Gerusia2).  Dieses  stand  in 
gewissen  Dingen    fast   über    dem    König.     Die    levitischen 

*)  Büchler,  S,  222  verweist  mit  Recht  darauf,  daß  in  einer  ganzen 
Anzahl  von  Fällen,  die  dem  Synhedrion  zur  Beurteilung  hätte  vorgelegt 
werden  müssen,  Herodes  selbst  oder  ein  aus  Verwandten  des  Königs 
zusammengesetztes  Tribunal  Urteile  fällte  und  bezweifelt  darum  den 
Bestand  eines  Synhedrlons  zur  Zeit  des  Herodes.  Keineswegs  hat  es, 
wenn  er  auch  ein  Schattensynhedrion  eingesetzt  haben  sollte,  politische 
Rechte  besessen;  es  war  höchstens  ein  höheres  Qerichtstribunal. 

')  Von  nun  an  war  in  der  Regel  das  71gliedrige  Synhedrion  das 
höchste  Forum  der  Juden;  nur  bei  besonders  wichtigen  Maßregeln 
wurde  die  Zahl  der  »gepanzerten  Männer«  auf  85,  wie  in  der  alten 
-Großen  Versammlung«  erhöht.  So  noch  in  der  bewegten  Zeit  des 
Rabban  Gamaliel  II  in  Jamnia  (Tosefta  Kelim,  Eaba  b.  II,  14)  und  zur 
Zeit  des  Patriarchen  Judall.  (Jebam.  121b).  Hiedurch  findet  auch  die 
Formel:  »tö  cruv£Spiov  xat  tcxjocv  T/iv  Yspoucrtav  tuv  ulöv  'I-rpr/jX« 
(Act.  5,  21)  die  sich  Schürer  nicht  gut  erklären  kann  (vgl.  Gesch.  II, 
196,  16),  ihre  lichtige  Erklärung.  Der  Verfasser  hat  keinen  »irrtüm- 
lichen« —  wie  Seh.  sagt  —  sondern  einen  sehr  richtigen  Begriff  von 
dem  Synhedrion  und  der  Gerusia  gehabt. 


712  Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe. 

Psalmensänger,  die  gleich  den  Priestern  leinene  Kleider 
tragen  wollten,  mußten  Agrippa  11  bitten,  beim  Synhedrion 
die  Erlaubnis  hierzu  zu  erwirken.  Mit  den  Vornehmen  kamen 
wieder  die  Anhänger  der  sadduzäischen  Richtung  zu  einfluß- 
reichen Stellungen.  Der  erwähnte  König  hat  die  höchsten 
Ämter,  ja  selbst  die  Würde  des  Hohenpriestertums  an  Sad- 
duzäer  verliehen  (Antt.  XX,  9,  1).  Aber  von  dieser  Epoche 
kann  mit  voller  Gewißheit  behauptet  werden,  daß  die  sad- 
duzäisch  gesinnten  Würdenträger  in  ihrem  öffentlichen 
Wirken,  besonders  aber  in  kultuellen  Dingen  sich  nach 
den  Lehren  der  Pharisäer  richteten.  Charakteristisch  hierfür 
ist  der  Ausspruch  des  Vaters  eines  Boethusischen  Hohen- 
priesters: Wenn  wir  auch  die  Vorschrift  (von  der  pharisäi- 
schen Lehre  abweichend)  deuten,  in  der  Praxis  handeln 
wir  nicht  danach,  sondern  richten  uns  nach  den  Worten 
der  Weisen  (Tosifta  Joma  I,  8).  Der  Hohepriester  R.  Jisch- 
mael  ben  Fabi,  derselbe,  den  nach  Josephus  (Antt.  XX,  8,  8) 
Agrippa  II  zu  dieser  hohen  Würde  erhob,  und  der  bei 
der  Verbrennnng  der  roten  Kuh  anfangs  nach  der  von  den 
Sadduzäern  gelehrten  Weise  verfuhr,  ließ  sich  von  den 
Pharisäern  eines  besseren  belehren  und  verbrannte  eine 
zweite  rote  Kuh  nach  der  Anordnung  der  Pharisäer  (Tosifta 
Para  III,  6  und  Midrasch  ha-gadol  zu  Deut.  19,  9).  Hatten 
darum  auch  die  Reichen  und  Vornehmen  in  politischen 
Dingen  die  Führung,  die  religiösen  und  geistigen  Leiter 
des  Volkes  waren  seit  Salome  Alexandra  die  Pharisäer  oder 
richtiger  gesagt  der  pharisäische  Geist  und  die  pharisäi- 
sche Lehre. 


Die  Ethik  R.  Saadjas. 

Von  David  Rau  s.  A, 
(Fortsetzung.) 

Wir  untersuchen  jetzt  daher 

2.     das    Gute    und    das    Böse    und    das    Prinzip 

der    Ethik. 

Die  Beurteilung  dessen,  was  gut  und  böse,  was  löb- 
lich und  schimpflich  ist,  hält  Saadja  für  eine  so  allgemeine 
Tatsache  des  menschlichen  Bewußtseins,  daß  nach  seiner 
Meinung  selbst  diejenigen,  welche  jede  sichere  Erkenntnis 
des  Wahren  und  Falschen  leugnen,  sich  ihr  nicht  ent- 
ziehen können1).  Allein  bei  näherer  Untersuchung  finden 
wir,  daß  »gut«  und  »böse«  für  Saadja  selbst  durchaus 
nicht  so  feststehende  Begriffe  sind,  wie  »wahr«  und»  falsch«. 
Während  er  zwei  präzise  Definitionen  von  »wahr  und 
falsch«*)  gibt,  suchen  wir  eine  so  bestimmte  und  allgemein 
gültige  Definition  von  »gut  und  böse«  bei  ihm  vergeblich. 
Das  Gute  ist  ihm  indessen  so  gut  wie  das  Wahre  eine  Er- 
kenntnis der  Vernunft,  und  es  läßt  sich  nachweisen,  daß 
»gut«  und  »wahr«  bei  ihm  nicht  nur  verwandte  Begriffe 
sind,  sondern  auch  daß  beide  sich  oft  geradezu  decken. 
Ein  feststehender,  oft  wiederkehrender  Satz  ist  bei  ihm  die 
Behauptung,  daß  »das  Wahre  gut  sei«,  oder  daß  wir  durch 
eine  intuitive  Erkenntnis  wissen,  daß  »das  Wahre  gut  und 

*)  Emunot  I,  36:   lmmc  mm»  EPWpao  nnrtK  iS  vw  *on  bzz 

D"pD  . . .  DTion  d'xbi  consan  dtdpd  onv  na  *3 . . .  njn  :6i  naio 

*)  das.  Einleitung  S.  6:  »Wahr  ist  der  Glaube  (die  Ansicht 
von  einem  Dinge),  wenn  man  ein  Ding  so  erkennt,  wie  es  ist,  falsch 


714  Die  Ethik  R.  Saacijas. 

das  Falsche  schimpflich  sei*1).  Er  nennt  das  Gute  und 
das  Böse  geradezu  »Wahrheiten«8),  und  er  prüft  deshalb  das 
Gute  genau  ebenso  wie  das  Wahre  an  dem  Satz  des  logischen 
Widerspruchs3).  Wahr  und  falsch  hält  er  für  zwei  sich 
ausschließende  Gegensätze,  zwischen  denen  ein  Drittes 
unmöglich  ist,  weil  Unwissenheit  nichts  Positives,  sondern 
bloß  eine  Negation  des  Wissens  sei4).  Denselben  Gegen- 
satz bilden  aber  nach  Saadja  auch  das  Gute  und  das  Böse. 
Das  Böse  ist  nichts  Reales,  »denn  wir  stimmen  alle  darin 
überein,  daß  Gott  das  Böse  nicht  geschaffen  habe«5),  wohl 
aber  das  Gute,  »denn  Gottes  Wirkungen  sind  notwendig 
gut«6).     Die  Verwandtschaft    zwischen  wahr  und  gut    geht 

wenn  man  es  als  Gegenteil  von  dem  erkennt,  was  es  wirklich  ist<. 
das.  III,  S.  60  oben:  »Wahrheit  ist  die  Aussage  von  einer  Sache,  wie 
sie  wirklich  ist  und  sich  verhält,  Lüge  (falsch)  hingegen  ist  die  Ans- 
sage  von  einer  Sache  nicht  wie  sie  wirklich  ist  und  sich  verhält«. 

')  Emunot  I,  S.  26:  Site  KW  piXH  ;  das.  S.  7:  mn  f»pn  jhd  Sa* 
njijD  atam  mto  pixnv   n»  .bzwz.  nbv*  "»px;  vgl.  II,  S.  55;  III,  s.  68. 

»i  das.  IV,  S.  80:  jnrr.  2«DT1  MICK. 

s)  das.  III,  S.  60:  Die  Lust  enthält  nB3M  und  mbx  zugleich 
und  deshalb  kann  sie  das  Gute  nicht  sein.  Denn  jede  Erkenntnis  die 
zwei  sich  gegenseitig  ausschließende  Gegensätze  enthält,  ist  falsch, 
vgl,  S.  10.  Bemerkenswert  ist  hierbei,  daß  der  Gegensatz  von  erkennt- 
nistheoretischen Begriffen  gebildet  wird,  während  wir  eigentlich  ethi- 
sche erwarten. 

«)  Emunot  II,  S.  40:    «r.tP  T\lbxb  pKl  .  •  .  »IIB'  ib  V  JHD  bl  .  .  . 

na*»  jhdm  ■hjjm  tfibsan  bztt . . . 

5)  das.  I,  S.  29:  JH  N"D  xb  »IISH  '»D  uf»  DiD'ODD  WUK1. 

e)  das.  VI,  S.  98:  EP3W1  OH»1»  D*75  V?j>b  "'S«  vgl.  IV,  S.  78 
II,  s.  57:  hbnjj  imwbm  fem  161  Siyo  wkpi  . . .  »*.wn  rwiy  tittiiv 
Dltt.1  DK  '»a  1HSJH.  Saadja  häit  noch  nicht  wie  später  Mainionides  die 
Materie  oder  den  Körper  des  Menschen  für  das  Böse  (vgl.  Rosin,  Die 
Ethik  des  Maimonides,  S.  52).  Auch  Joseph  Ibn  Zadik,  der  auch  sonst 
mit  Saadja  viele  Berührungspunkte  hat,  hält  (Mikrokosmos,  S.  38)  die 
Torheit  mbSD  und  das  Böse  JH.1  ebenfails  nicht  für  einfache  Gegen- 
sätze des  Guten,  sondern  wie  Saadja  für  Negationen  des  Guten.  In 
einem  handschriftlichen  J?zirahkommentar  des  Dunasch  ben  Tamira 
(1,  §  2)    heißt    es    ebenfalls:    K1?«    V*   jnn    ">3  1JH"1  nbl  ,  •  •  D'V:x  1JN5 

.  .  .  -ose  eva  rmyrA  pm  »ipi^Di  awi  m-tjH  vgl.  die  Stelle  bei 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  715 

bei  Saadja  so  weit,  daß  er  sie  oder  ihre  Gegenbegriffe 
falsch  und  schimpflich  fast  identifiziert  und  oft  promiscue 
gebraucht.  So  sagt  er  zum  Beispiel  an  einer  Stelle:  »Man 
dürfe  die  Wunder  des  Mose  gar  nicht  mit  den  Wundern 
der  ägyptischen  Zauberer  vergleichen,  denn  sie  bilden 
Gegensätze,  wie  eine  gute  und  eine  böse  Tat,  und  der 
dabei  gebrauchte  Ausdruck  der  Bibel  will  die  ägyptischen 
Zauberwerke  als  »schimpflich«  bezeichnen, nicht  als  »wahr«1). 
Hier  hat  »schimpflich«  offenbar  die  Bedeutung  von  »falsch«. 
In  ähnlicher  Weise  nennt  Saadja  auch  sonst  das  Irrige, 
Falsche  in  einer  Ansicht  das  Böse2).  Es  kann  uns  deshalb 
auch  nicht  wundern  daß  Saadja  diejenigen,  welche  die 
Wahrheit  erforschen.  Fromme,  und  diejenigen,  die  es  nicht 
tun,  Frevler  nennt3).  Wir  würden  nach  unserer  heutigen 
Anschauung  und  nach  unserem  Sprachgebrauch  statt  Fromme 
und  Frevler  in  diesem  Falle  weit  eher  Weise  und  Toren 
sagen.  Weise  und  Toren  hinwiederum  gelten  bei  Saadja  als 
ethische  Benennungen,  wofür  wir  die  Bezeichnung  Fromme 
und  Frevler  passender  halten4).  Der  Tor  oder  der  Unwis- 
sende kann  nach  Saadja  mit  Recht  als  Frevler  bezeichnet 
werden,  »weil  das  Böse  (Unrecht)  unter  anderem  aus  man- 
gelhafter Erkenntnis  der  Wahrheit   geschieht«5). 

Dadurch  aber,  daß  er  gut  und  wahr  für  verwandte 
Begriffe  hält,  haben  wir  über  den  Inhalt  des  Guten  selbst 
noch  gar  nichts  erfahren.     Wir    können    höchstens  daraus 

Guttmann  a.  a.  O.  S.  100,  Anm.  7.  Das  Böse  spielte  in  der  Kirchen- 
lehre vollständig  die  Rolle  der  Materie  in  Piatos  System.  Saadja  hält 
«ich  davon  fern,  Mamonides  ist  schon  davon  beeinflußt. 

»)  Emunot  in,  S.  64:  nna*1?  *b  obyt  nwaS  nt  -o  . . .  B,TBr6a 
vgl.  III,  S.  62  unten. 

2)  das.  II,  S.  47:  njn  ib"dvi  . .  ■  ysxnb  wiix  n^no  rm. 

J)  das.,  Einleitung  S.  2.  Fromme  =  B'pHX,  Frevler  =  o^jNtn, 
weil  sie  die  Wahrheit  vergewaltigen:  PONH  CDOin  üüV  ^BB. 

*)  das.  X,  S.  145;  vgl.  jedoch  IV,  S.  77  oben.  das.  IV,  S.  80, 
oben* 

6)  das.  IV,  S.  98:  ...  mas  wbv  bx  "o  i^  pK  bvyn  »a  wm 


716  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

schließen,  daß  wie  die  Vernunft  für  das  Erkennen  sie  auch 
ebenso  für  das  sittliche  Handeln  das  erste  Prinzip  werde 
bilden  müssen.  Allein  in  der  Erforschung  der  Wahrheit  legt 
die  Vernunft  »die  Realität  der  Dinge  ihrer  Erkenntnis  zu 
Grunde«  und  richtet  sich  nach  ihnen1),  wonach  soll  sich 
aber  die  Vernunft  in  der  Erkenntnis  des  Guten  richten 
oder  woran  erkennt  sie  das  Gute?  Diese  Frage  gerade 
hat  von  Sokrates  bis  zur  Gegenwart  die  verschiedensten 
Beantwortungen  gefunden,  und  diese  hauptsächlich  bilden 
die  Differenzpunkte  der  verschiedenen  ethischen  Systeme. 
Die  Vernunft  kann,  da  es  sich  in  der  Ethik  hauptsächlich 
um  den  Menschen  handelt,  das  Gute  als  etwas  auffassen,  das 
in  Beziehung  zum  menschlichen  Streben  steht.  Der  Mensch 
erstrebt  naturgemäß  sein  Wohlbefinden;  also  wird  die  Ver- 
nunft das  Wohlbefinden,,  sei  dieses  nun  das  Wohlbefinden 
des  Einzelnen  oder  der  Gesamtheit  oder  das  Wohlbefinden 
des  Einzelnen  und  zugleich  der  Gesamtheit  als  »Gut«  be- 
zeichnen. Folgerichtig  wird  sie  aber  auch  nicht  umhin 
können,  alles,  was  dieses  Gut  erreichen  hilft,  »gut«  zu 
nennen.  Die  Ethik  wird  dadurch  zur  Güterlehre,  die  alles 
nur  nach  dem  Maßstabe  des  Nutzens  und  Schadens  be- 
urteilt. Die  Vernunft  kann  aber  auch  das  Gute  mit  einem 
gewissen  Zustande  oder  einer  Beschaffenheit  des  Menschen 
oder  seines  Handelns  in  Beziehung  setzen  und  dann  diesen 
Zustand  oder  diese  Beschaffenheit  als  »gut«  bezeichnen. 
Die  Ethik  wird  dann  bei  diesem  Charakter  des  Guten  zur 
Tugendlehre.  Es  kann  sich  endlich  die  Vernunft  das  Gute 
auch  als  etwas  Selbständiges,  an  und  für  sich  Seiendes, 
wie  zum  Beispiel  den  Begriff  des  Wahren,  denken  und  es, 
weil  es  ein  absolut  Wertvolles  und  Würdiges  ist,  zugleich 
für  ein  Notwendiges  halten,  das  der  Mensch  in  seinen  Ge- 
sinnungen  und  Handlungen    zum  Ausdruck    bringen    muß. 

»)  Emunot  Einleitung  S.  6:  onann  mnDK  BVV  na  rttWDil  tiSTW 

*a  anm  w\vh  injn  ovv  »a  Tetaun  ^osm . . .  injn  dh^jj  avuei  vtv 
. . .  injn  in«  maVin  tmrsn  mno»,  vgl.  i,  S.  34  unten. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  717 

Die  Ethik  entwickelt  sich  bei  diesem  Begriff  des  Guten  zu 
einer  Pflichtenlehre.  Alle  diese  Begriffe  des  Guten,  und 
mithin  auch  alle  drei  Formen  der  Ethik,  finden  sich  bei 
Saadja,  jedoch  gehen  sie  nicht  getrennt  neben  einander  her, 
sondern  stehen  in  einem  gewissen  Abhängigkeitsverhältnis 
zu  einander  und  sind  mit  einander  verbunden.  Wir  werden 
trotzdem  versuchen,  sie  von  einander  zu  sondern  und  jeden 
Begriff  des  Guten  für  sich  untersuchen. 

Saadja  geht  wie  Aristoteles  in  seiner  Ethik  haupt- 
sächlich von  dem  Gedanken  aus,  daß  alle  menschliche 
Tätigkeit  nach  einem  Zwecke  strebe,  und  daß  dieser  Zweck 
zunächst  das  dem  Menschen  Nützliche  sei.  »Denn  der 
Mensch  würde  vergeblich  tätig  sein,  wenn  er  zwecklos 
handelte,  weil  er  seinen  Nutzen  außer  acht  ließe«1).  Daß, 
der  Mensch  das  Nützliche  daher  als  etwas  Gutes  schätzt 
ist  ganz  natürlich  und  folgt  auch  daraus,  daß  er  von  Natur 
»alles  verwirft,  was  ihm  schädlich  ist«2).  Das  Nützliche  ist 
für  Saadja  deshalb  allemal  das  Gute  und  das  Schädliche 
immer  das  Böse)3.  Nützlich  und  schädlich  sind  aber  nur 
relative  Begriffe,  die  den  Dingen  selbst  nicht  anhaften. 
»Denn  Gott  hat  nur  solche  Dinge  geschaffen,  die  sich  dazu 
eignen,  daß  der  Mensch,  je  nach  seiner  Wahl,  Gutes  oder 
Böses  in  ihnen  finde.  Wenn  er  zum  Beispiel  ißt  oder  trinkt, 
um  seinem  Bedürfnisse  zu  genügen,  so  findet  er  darin  das 
Gute,  nimmt  er  aber  mehr  davon,  als  er  verträgt,  so  ge- 
reicht es  ihm  zum  Unheil«4).  Der  Wert  kommt  den  Dingen 
also  nicht  von  vornherein  zu,  sondern  wird  ihnen  erst  bei- 
gelegt   infolge   des    Zweckes,    dem   sie   dienen,    oder   nach 

»)  Emunot  I,  S.  38:  kS1?  tyie  kihpd  rhvnb  tyiD  .t,t  DTKn  >D 
inSmr  rrjö  «in»  ^jdd  ,,-ity. 

*)  das.  IV,  S.  79:  \npw  1»K  inn  DN1D  D"7Kn  "O. 

3)  das.  I,  S.  26  wird  das  Gute  und  das  Böse  mit  dem  Nützli- 
chen und  Schädlichen  identisch  behandelt  und  ebenso  III,  S.  58—64. 

*)  das.  I,  S.  29:  nittb  ,T.T»  D^DID  DH  W«  D^SlS  «"O  "JK 
DK1  ,Dlto  HT  .T.T  .  .  .  1315t  *D3  SdxDI   SdJC  DK»  ,WHTiaa  jm  Dito  DTO 

jn  m  ,"i\t  Sdid  i:"k»  no  oio  ns*. 


718  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

den  Wirkungen,  die  sie  für  den  Menschen  haben.  Schmerzen 
und  Krankheiten  sind  unleugbar  Übel,  und  Saadja  gibt 
ihnen  mehr  als  einmal1)  das  Prädikat  »böse«,  nichtsdesto- 
weniger bezeichnet  er  sie  immer  als  »gut?,  wenn  er  in 
ihnen  einen  Zweck  entdeckt  zu  haben  glaubt2).  Umgekehrt 
erscheint  dem  Menschen  alles  als  »gut«,  was  er  begehrt 
oder  wonach  er  strebt8),  und  Saadja  leugnet  das  nicht 
etwa,  sondern  hält  die  menschlichen  Triebe  von  Natur  für 
durchaus  berechtigt4).  Einen  sittlichen  Wert  oder  Unwert 
jedoch  legt  er  dem  Begehren  und  dessen  Objekten  erst 
bei,  indem  er  sie  auf  einen  Zweck  bezieht  und  sie  nach 
ihren  Wirkungen  prüft6).  Was  dem  Zwecke  entspricht,  das 
ist  das  Nützliche  und  Gute,  was  dem  Zwecke  widerstrebt, 
das  ist  das  Schädliche  und  mithin  verwerflich6).  Welches 
dieser  Zweck  ist,  worauf  die  Vernunft  bei  der  Prädizierung 
der  Dinge  Rücksicht  zu  nehmen  hat,  bleibe  vorläufig  da- 
hingestellt. Wir  werden  später  sehen,  daß  er  nicht  auf  die 
Sphäre  des  handelnden  Subjekts  beschränkt  bleibt.  Gleich- 
viel, der  Wert  des  Guten  besteht  doch  immer  darin,  daß 
sich  das  menschliche  Streben   darauf   richtet    und  die  Ver- 


')  Emunot  X,  S.  148—156,  sie  bilden  dort  die  ständige  Gruppe 
der  Übel  und  die  Kehrseite  der  von  Saadja  zurückgewiesenen  soge- 
nannten höchsten  Güter. 

2)  das.  IV,  S.  76:  -naya  ,i^  caitt  btikscbi  ■ . .  d«WD  -iij;  T^crn 
.  .  .  jtt3<i  VKttna  31»'»,  das.  V,  S.  87:  *n  ,0'p'TOrl  b3B3  n*7j?in,n  Sbk 
.  .  .  ljHip 

3)  das.  X,  S.  145:  a^man  wjte  i3rtD,n^  . .  .  n»K  kim  mann  nai 
a-a-in  e^mSam  aion  rr-im  moh 

*)  das,  X,  S.  145:  iljfl  Bipo  K31BM  3MW  KnP  HDD  "IHK  ^33^  V 
13  WBT\W,  vgl.  das.  IV,  S.  77  oben. 

5)  das.  x,  S.  145:  ans  piann*?  mann  naa  payrr  m  . .  . 
imnK  .tww  tra  ,ia  j>j?"  m  j>3db  b^iju  idibi  irr-in«  ran*  bki  ,B3naSi 

UB'Qft  fjT«  MAI  |D  J>3B  PTltt  13*3  nXT  BKI  ,nn31B>B. 

•)  das.  iv,  s.  77 :  ^  lotim  rA  jnS  a.na  nahn  iw  miKnm  . . . 
.  .  .  Satfa  nBipaa  nam  nn«  ba  wvb  bk  *3  ,13  aa^ain  ttb  Bann  »3 
,nawB  nvr  *\r\nn  njta  ia  psyna  «in  om  • . .  riTOn  tdjhS  fiwn  rmtn 
n3i3B  n\T  ,mB"Kn  jb  ia  pejnwn. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  719 

nunft  das  Objekt  des  Strebens  als  zu  irgend  etwas  brauch- 
bar erkennt.  Da  nun  aber  unendlich  vieles  nützlich  und 
brauchbar  sein  kann,  so  muß  auch  das  Prädikat  »gut« 
ebensovielen  Objekten  zugeschrieben  werden,  und  das 
Gute  kann  durchaus  nicht  einzig  auf  ein  Objekt  allein  be- 
schränkt werden.  Saadja  erkennt  dies  im  zehnten  Abschnitt 
an  und  unterläßt  es  absichtlich  den  Begriff  des  Guten  zu 
fixieren,  ja  durch  seine  Kritik  der  dreizehn  verschiedenen 
Lebensrichtungen  bestreitet  er  sogar,  was  er  in  seiner  Re~ 
ligionsethik  behauptet1),  daß  es  bei  der  Mannichfaltigkeit 
der  menschlichen  Natur  einen  einheitlichen  Begriff  des 
höchsten  Gutes  geben  könne.  Ein  solcher  Begriff  erscheint 
ihm  dort  vielmehr  ganz  unberechtigt,  einmal  weil  wir  nicht 
bloß  eine  Neigung,  sondern  viele  Neigungen  haben,  die 
alle  berechtigt  sind2),  und  dann,  weil  jedes  Gute,  welches 
als  ein  vermeintlich  Höchstes  einseitig  erstrebt  wird,  bei 
näherer  Untersuchung  eine  ganze  Reihe  von  Übeln  in 
seinem  Gefolge  zeigt3).  Es  läßt  sich  das  Gute  nicht  ein- 
heitlich bestimmen,  und  Saadja  beweist  uns,  daß  selbst 
König  Salomo,  der  sich  mit  dieser  Frage  eingehend  be- 
schäftigte, es  nicht  vermocht  hat.  Er  fand  nur  immer  ein- 
zelne Objekte,  in  denen  das  Gute  enthalten  war,  und  konnte 
uns  nur  andeuten,  daß  das  Gute  nur  durch  Beobachtung 
auf  empirischem  Wege  zu  erforschen  sei4). 

Neben  dieser  relativen  Wertschätzung  des  Guten,  in 
der  als  gut  nur  gilt  was  nützlich,  und  als  böse  was  schäd- 
lich ist,  erkennt  Saadja  auch  einen  absoluten  Wert  des 
Sittlichen  an,  der  vom  Begehren    und  Streben   ganz   unab- 

»)  Emunot  III,  S.  58:  nubvn  rmnm  nmoan  nnSxnn. 
8)  das.  X,  S.  144  unten;  145  ff. 

*)  das.  X.  S.  147 — 158  in  der  Untersuchung  der  dreizehn  ver- 
schiedenen Lebensrichtungen 

*)  das.  X,  S.  146  oben:    ritt  pDJttHtP  TVl  (3  r\übv  Dann  TKXDtP 

'iai . . .  man  «in  no  vgpmh,  das.:  161  ...  nbttn  D*ijwn  T,ina  tot  *jk 
^-#3  nx  {"a  ~\wüh  ofci  ':«  'rnn  ,idkb>  ms  ,aion  mrw  nea  \"yb  n^i, 
vgl.  übrigens  Strümpell  a.  a.  O.  S.  247  über  Piatos  Begriff  des  Outen. 


720  Die  Ethik   R.  Saadjas. 

hängig  ist.  Während  in  der  relativen  Wertschätzung  das 
Objekt  erst  dadurch  gut  wird,  daß  wir  unser  Streben  darauf 
richten  und  unsere  Vernunft  es  als  ein  Mittel  zu  irgend 
einem  Zwecke  schätzt,  trägt  das  Gute  in  der  absoluten 
Wertschätzung  seinen  Wert  in  sich  selbst  und  erregt  da- 
durch allein  das  Wohlgefallen  der  Vernunft.  Schon  durch 
die  nahe  Verwandtschaft,  in  der  bei  Saadja  der  Begriff  des 
Guten  zum  Begriff  des  Wahren  stand,  ließe  sich  erkennen, 
daß  dem  Guten  ein  objektiver  Wert  zukommen  müsse. 
Diesen  objektiven  Wert  behauptet  Saadja  aber  auch  aus- 
drücklich und  unterscheidet  darin  sogar  zwei  Formen,  die 
wir  heute  zwar  sehr  wohl  unterschiedlich  beurteilen,  die  er 
noch,  wie  Plato  schon1)  vollkommen  konfundiert,  nämlich 
den  ästhetischen  und  den  rein  ethischen  Begriff  des  Guten. 
Die  ästhetische  Auffassung  des  Guten  hat  Saadja  unleug- 
bar der  antiken  Ethik  entlehnt.  Denn  es  war  ein  Nati- 
onalzug des  alten  Griechenland  das  Schöne  mit  dem 
Guten  in  der  engsten  Verbindung  zu  denken  und  dieses 
als  eine  Art  von  jenem  anzusehen.  Saadja  findet  aber  mit 
der  Meisterschaft,  mit  der  er  die  biblische  Literatur  beherrscht, 
die  ästhetische  Auffassung  des  Guten  schon  im  Buche  Ko- 
helet  vertreten  und  deutet  das  Gute  dort  als  das  Zeitgemäße 
oder  den  Umständen  nach  Passende  und  Angemessene2). 
Das  Gute  wird  hier  nicht  von  dem  Zwecke,  dem  es  etwa 
dient,  abhängig  gemacht  und  deshalb  auch  nicht  nach  dem 
Maße  des  Nutzens  oder  Schadens  geschätzt;  es  wird  gar 
nicht  in  Objekten,  sondern  vorwiegend  in  Verhältnissen  ge- 
sucht. Die  urteilende  Vernunft  läßt  den  Inhalt  des  Guten 
fast  gänzlich  außer  acht,    sie  kümmert  sich  nicht  im  min- 

')  Im  Phileb.  53  c  behauptet  Plato  den  objektiven  Wert  des 
Outen:  aurö  xat^  auröv  Sv,  oücta.  Über  das  Verhältnis  des  Schönen 
zum  Quien,  vgl.  Strümpell,  Praktische  Philos.  d.  Qriech.,  S.  226  ff. 

s)  Emunot     X,  S.   161:     ,TWW    ,.173   TDfll  HD"  1»H  D,T^JJ  SpDlfll 

San  rm  -idxp  ioa  .rmSna  xb  nb  mmn  rya  man»  nneno  nnn  bz 
inj>n  nc  ntpy.  Koh.  3,  n  das.:  avt»  i3i  *?d  niB>j>  mm  n&  unp  nnsrr 
"inya  dnd». 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  721 

desten  darum,  in  welchen  Beziehungen  es  für  uns  oder  für 
andere  brauchbar  und  nützlich  ist,  sondern  sieht  es  in 
Verhältnissen  liegen,  die  ihr  rein  formal  wie  das  Schöne, 
je  nachdem  sie  passend  sind  oder  nicht,  gefallen  oder  miß- 
fallen. Diese  Art  der  Wertschätzung,  in  der  das  ethische 
Urteil  nicht  von  einer  vorliegenden  Tat,  sondern  fast  aus- 
schließlich von  den  darin  liegenden  Verhältnissen  ausgeht 
und  von  ihnen  bestimmt  wird,  kommt  bei  Saadja  in  einer 
großen,  zusammenhängenden  Reihe  von  Beispielen  zum 
Ausdruck. 

Wir  führen  sie  mit  Weglassung  der  biblischen  Zitate 
im  Folgenden  an:  »Die  Gottesverehrung  der  Frommen 
hat  einen  höheren  Wert  als  die  anderer  Menschen;  umge- 
kehrt aber  gebührt  auch  der  Sünde  des  Frommen  eine 
schärfere  Verurteilung  als  der  anderer  Menschen.  Die  Gottes- 
verehrung an  einem  besonders  bevorzugten  Ort  gewinnt 
durch  denselben  an  Wert;  umgekehrt  wieder  ist  oft  die  an 
einem  solchen  Ort  begangene  Sünde  um  so  mehr  zu  ver- 
dammen. Dem  Jüngling  ist  die  von  ihm  geübte  Enthalt- 
samkeit als  ein  um  so  größeres  Verdienst,  dem  Greise  die 
begangene  Ausschweifung  als  ein  um  so  schimpflicheres 
Laster  anzurechnen.  Die  Redlichkeit  der  Armen  verdient  um 
so  höhere  Anerkennung,  der  Betrug  des  Reichen  um  so 
entschiedenere  Verurteilung.  Die  dem  Feinde  geleistete  Hilfe 
ist  als  ein  um  so  größeres  Verdienst,  der  dem  Freunde  zu- 
gefügte Schaden  als  eine  um  so  schwerere  Schuld  zu  be- 
trachten. Die  Demut  des  Vornehmen  verdient  um  so  größere 
Anerkennung,  der  Hochmut  des  Niedrigstehenden  um  so 
strengere  Verurteilung.  Die  Vergewaltigung  des  Armen,  die 
Beschädigung  des  Weisen  oder  eines  dem  Wohle  Anderer 
sich  widmenden  Menschen,  die  Bedrückung  einer  größeren 
Gemeinschaft,  die  Ausübung  einer  Sünde  an  einem  gott- 
geweihten Tage  müssen  um  so  schwerere  Vergehen,  hin- 
gegen die  Mildtätigkeit  des  Armen,  das  Fasten  eines  durch 
die  Genüsse  des  Lebens  verwöhnten  Menschen  als  um  so 

Mon  Jahrgang.  46 


722  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

größeres  Verdienst  angesehen  werden«1).  Man  wird  in  all 
diesen  Beispielen  nicht  verkennen,  daß  das,  was  hier  gelobt 
oder  getadelt  wird,  von  allem  Begehren  und  Streben  des 
urteilenden  Subjekts  vollkommen  unabhängig  ist.  Der  Grund 
für  die  ganz  besondere  Wertschätzung  der  dem  Feinde  ge- 
leisteten Hilfe  oder  der  vom  Armen  geübten  Redlichkeit  oder 
Mildtätigkeit  ist  weder  ein  zu  dämonistischer,  noch  ist  er  in 
Nützlichkeitsrücksichten  zu  suchen.  Er  liegt  vielmehr  darin, 
daß  die  Vernunft  die  Hilfeleistung,  die  Redlichkeit  und  die 
Mildtätigkeit  als  ein  an  und  für  sich  Würdiges  und  Wert- 
volles erkennt  und  sie  deshalb  schätzt.  Die  Schätzung 
wird  aber  größer,  wenn  sie  sich,  wie  in  den  meisten  der 
oben  angeführten  Fälle,  Verhältnisse  denkt,  in  denen  das 
Gute  gerade  gegen  alle  Rücksicht  auf  das  Wohl  und  den 
Vorteil  des  handelnden  Subjekts  geübt  wird;  darum  ist  die 
Enthaltsamkeit  des  Jünglings,  die  Redlichkeit  des  Armen, 
die  Hilfeleistung  des  Feindes,  die  Mildtätigkeit  des  Armen 
und  das  Fasten  des  Zärtlings  besonders  lobenswert.  Be- 
trachten wir  einmal  die  übrigen  der  oben  zitierten  Fälle 
näher:  »Die  Gottesverehrung  der  Frommen  hat  einen  hö- 
heren Wert  als  die  anderer  Menschen«.  »Die  Gottesverehrung 
an  einem  besonders  bevorzugten  Ort  gewinnt  durch  den- 
selben an  Wert«.  Alle  Sätze,  diese  sowohl  als  die  anderen, 
enthalten  eigentlich  eine  doppelte  Beurteilung:  erstens,  daß 
die  Gottesverehrung  einen  Wert  habe,  zweitens,  daß  sie 
unter  Umständen  einen  höheren  Wert  habe.  Diese  doppelte 
Beurteilung  liegt  natürlich  ebenso  auch  den  Gegensätzen 
zu  Grunde.  Erstens:  die  Sünde,  die  Ausschweifung,  der 
Betrug,  der  Hochmut  usw.  sind  verwerflich;  zweitens:  sie 
sind  unter  gewissen  Umständen  in  gesteigertem  Maße  ver- 
werflich. Wir  lassen  die  erste  Beurteilung  hier  vorläufig 
außer  acht  und  fragen,  worin  hat  die  zweite,  die  eine 
Steigerung  des  Lobes  oder  des  Tadels  herbeiführt,  ihren 
Grund?  Offenbar  darin,  daß  in  dem  jedesmaligen  Falle  ein 

»)  Emunot  V,  S.  92-93. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  723 

7rps7rov  in  den  gedachten  Umständen  und  Verhältnissen  ent- 
halten ist,  das  nun  entweder  gewahrt  oder  verletzt  wird. 
Dieses  7cp£rcov  oder  Passende  und  Angemessene  hat  seinen 
eigenen  selbständigen  Wert,  der  zu  dem  ersten  schon  vor- 
handenen noch  hinzukommt  und  dadurch  die  Steigerung 
bewirkt.  Die  Gottesverehrung  der  Frommen  hat  also  darum 
einen  höheren  Wert  als  die  anderer  Menschen,  weil  sie  den 
Frommen  ganz  besonders  ziemt,  und  ebenso  verdient  um- 
gekehrt, um  von  den  Gegensätzen  nur  ein  Beispiel  anzu- 
führen, der  Hochmut  des  Niedrigstehenden  deshalb  eine 
strengere  Verurteilung  als  der  des  Hochstehenden,  weil  er 
ihm  nicht  ziemt  und  deshalb  ganz  unpassend  ist.  Daß 
Saadja  alle  diese  Urteile  nach  ästhetischer  Wertschätzung 
gefällt  habe,  haben  wir  umsomehr  Grund  anzunehmen,  als 
er  selbst  das  Schöne  als  das  den  Umständen  nach  An- 
gemessene definiert  hat  und  dann,  weil  auch  bei  Plato,  von 
dem  Saadja  und  wahrscheinlich  schon  sein  Gewährsmann  Sa- 
lomo,  der  vermeintliche  Verfasser  des  Buches  Kohelet,  be- 
einflußt ist,  das  -rcpsTCov  dasjenige  ist,  welches  bewirkt,  daß 
alles,  womit  es  sich  verbindet,  als  y.<x1qv  erscheint1).  Der 
ästhetische  Wert  des  Sittlichen  bleibt  aber  nicht  auf  das 
wpexov  beschränkt,  sondern  nähert  sich  bei  Saadja  ähnlich 
wie  bei  Plato  dem  des  ethisch  Guten,  mit  dem  es  dann 
zusammenfällt.  Das  Schöne  ist  nicht  bloß,  wie  wir  es  nach 
Saadja  oben  definiert  haben,  das  der  Zeit  oder  den  Ver- 
hältnissen nach  Passende  und  Angemessene,  sondern  es 
hat  seinen  eigenen  Inhalt,  der  vorwiegend  den  Tugend- 
begriff in  sich  enthält,  aber  teilweise  auch  schon  in  den 
Pflichtbegriff  hinüberspielt  und  dadurch  mit  dem  Inhalt  des 
ethisch  Guten  übereinstimmt.  »Die  Vernunft«  heißt  es  an 
einer  Stelle3),  »hält  die  Gerechtigkeit  und  die  Rechtlich- 
keit für  etwas  Schönes,  und  ebenso  betrachtet  sie  als  etwasi 

!)  Plato,  Hippias  maj.  p.  294. 

»)  Emunot    IX,  S.  130:     flll^l    »WITtl    pn3£H    \bsvh   HB"»  p 

. . .  jnn  |o  vwrfa  ai»a. 

46* 


724  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

Schönes,  die  Menschen  zum  Guten  anzuleiten  und  sie  vor 
Bösem  zu  warnen.«  »Die  Ausübung  dessen,  was  seine  Ver- 
nunft als  etwas  Schönes  erkennt,  verursacht  dem  Menschen 
Gefahren  und  Unannehmlichkeiten  aller  Art1).  Zunächst 
sei  hier  darauf  hingewiesen,  daß  das,  was  hier  als  schön 
bezeichnet  wird,  wieder  durchaus  nichts  ist,  das  der  Mensch 
oder  die  Vernunft  um  eines  Zweckes  willen  oder  eines 
Vorteils  und  Genusses  wegen  schätzt.  Sein  objektiver  Wert 
ergibt  sich  auch  daraus,  daß,  während  hier  die  Gerechtig- 
keit als  etwas  Schönes  bezeichnet  ist,  sie  an  anderen 
Stellen  als  »gut«  prädiziert  wird2).  Wie  wir  aber  oben 
schon  gesehen  haben  und  auch  weiterhin  zeigen  werden, 
ist  das  Gute  des  trnt,  welches  Wort  bei  Saadja  sowohl 
Gerechtigkeit  wie  Wahrheit  bedeutet  3),  ein  absolutes  und 
objektives.  Mithin  wird  hier  auch  dem  Schönen  ein  ob- 
jektiver Wert  zuzuschreiben  sein4).  Als  »schön«  wird 
aber  ein  Zwiefaches  bezeichnet,  einmal  eine  Tugend  und 
dann  eine  Pflicht.  Denn  die  Unterweisung  Anderer  im  Guten 
und  Bösen  bezeichnet  Saadja  ausdrücklich  als  eine  Pflicht5). 
Das  Schöne  identifiziert  sich  nach  dieser  Richtung  also 
schon  mit  dem  ethisch  Guten,  aus  dem  er  den  Pflicht- 
begriff eben  ableitet.  Wir  können  deshalb  diese  Seite  des 
Schönen  außer  acht  lassen  und  wollen  jetzt  hauptsächlich 
das  Schöne  als  in  der  Tugend  liegend  beachten.  Gerechtig- 


»)  Emunot:  fTCl  K^l  .  .  .  D1K  ">A  flXJtf  VUMPrH  ,nbx  bl  J1K  D"p1 
. .  l'rSB''?  nt"V  HD3  T\b&  bl  bx  im«  IP3&,  daß  der  Mensch  es  wirk- 
lich übt,  geschieht  im  Vertrauen  auf  die  göttl.  Vergeltung. 

»)  das.  I,  S.  26:  sie  NY1  piSKll  n.  a.  m. 

s)  das  V,  S.  86  wird  der  p"H5t  dem  jjen  entgegengesetzt. 
IV,  S.  76  wird  jnif  mit  derselben  Bedeutung  wie  riDK  gebraucht  DDK 
"IK13D  plitl  iTMa;  Einleit.  S.  7  bildet  p-|3C  den  Gegensatz  zu  DT3, 
während  II,  S.  55  fiDX  in  derselben  Verbindung  den  Gegensatz  zu 
ST5  bildet.  Zu  der  letzteren  Steile  vgl.  ZDMO.  Bd.  33,  S.  707. 

*)  Auch  Plato  behandelt  das  Sixoaov,  xaxöv  und  aya^öv  als 
absolute  Begriffe  und  Werte  Rep.  V,  47oa;  vgl.  Zeller  II,  1  S.  545  ff. 

5)  das.  S.  3:  }d  i^k  BT»vn  *by  nain  m  tfryn  *s  wm 
^bv  pn. 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  725 

keit  und  Rechtlichkeit  sind  Begriffe,  die  nicht  Gegenstände 
bezeichnen,  sondern  ein  auf  bestimmtes  Verhalten  des  Men- 
schen angewendet  werden.  Saadja  selbst  rechnet  sie  zu 
den  Qualitäten  der  Seele  und  spricht  sie,  weil  sie  nur 
Akzidenzien  seien,  in  seinen  metaphysischen  Untersuchungen 
sogar  der  Gottheit  ab3).  Es  sind  also  gewisse  Eigen- 
schaften der  Seele,  die  der  ethischen  Beurteilung  unter- 
worfen sind  oder  richtiger  wohl,  da  Saadja  alle  Eigen- 
schaften und  Neigungen  an  und  für  sich  für  ethisch  ganz 
indifferent,  ja  sogar  für  berechtigt  hält2),  es  ist  eine  be- 
stimmte Art  und  Weise  des  menschlichen  Verhaltens  oder 
Handelns,  an  die  die  Vernunft  den  Maßstab  der  sittlichen 
Wertschätzung  legt.  Wir  zitieren  als  Beispiel  eine  Stelle, 
die  Saadja  zur  Widerlegung  der  dualistischen  Schöpfungs- 
theorie benutzt.  »Der  Mensch  zürnt  und  grollt,  dann  ver- 
söhnt er  sich  und  verzeiht  und  spricht,  ich  habe  verziehen. 
Wenn  es  nun  der  Gute  ist,  der  verzeiht,  so  war  es  doch 
auch  dieselbe  Person,  welche  vorher  zürnte,  und  wenn  es 
der  Böse  war,  welcher  verzeiht,  so  ist  er  doch  dadurch, 
daß  er  verzeiht,  wieder  gut  geworden.  Ferner  sehen  wir, 
daß  ein  Mensch  mordet  und  stiehlt  und  wenn  man  ihn 
zum  Geständnis  veranlaßt,  so  gesteht  er,  was  er  ge- 
sündigt und  was  er  verübt  hat.  Ist  es  nun  der  Böse,  welcher 
bekennt,  so  ist  er  durch  das  Bekenntnis  doch  längst  ge- 
recht geworden  und  das  Gerechtsein  ist  gut3).  »Wie  hier 
der  Begriff  p"rit  unverkennbar  einen  Zustand  oder  ein  Ver- 

»)  Emunot  II,  S.  52.  »Wenn  es  in  der  Schrift  heißt,  daß  Qott 
etwas  liebe  oder  hasse,  so  ist  das  so  aufzufassen,  daß  alles,  was  er 
uns  zu  lieben  und  zu  tun  befohlen  hat,  als  von  ihm  geliebt  anzu- 
sehen ist,  wie  es  heißt:  Der  Ewige  liebt  das  Recht  (Ps.  37,  28)  oder: 
Gerecht  ist  der  Ewige,  er  liebt  Gerechtigkeit  (Ps.  11,  7). 

»)  das.  X,  S.  144,  145. 

8)  das.  I,  S.  26:  Der  Verzeihende  also  wird  als  der  Gute 
und  der  Zürnende  als  der  Böse  prädiziert.  Ganz  besonders  beach- 
tenswert ist  der  Schluß:  an  kh  piÄtf  piat  iaa  min»  kh  jnn  am. 

wo  wir  p"i5t  verbal  nehmen. 


726  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

halten  des  Menschen  bezeichnet,  den  die  Vernunft  eben 
als  gut  erkennt,  so  liegt  auch  in  dem  synonymen  Begriff 
"HPV,  den  wir  oben  mit  Rechtlichkeit  übersetzt  haben,  ein 
Verhalten,  und  zwar  das  rechte  Verhalten  ausgedrückt.  Sa- 
adja  benützt  ohne  Ausnahme  das  Verbum  dieses  Begriffes 
in  der  Bedeutung  »ein  richtiges  Verhalten  lehren«?:1).  Wenn 
nun  ein  richtiges  Verhalten  der  Vernunft  als  »schön«,  also 
als  ein  für  sich  Wertvolles  gilt,  so  wird  sie  auch  darnach 
streben,  dem  Menschen  eine  solche  sittliche  Konstitution  zu 
geben,  die  unter  allen  Umständen  den  Vorzug  verdient 
und  den  Menschen  in  jeder  seiner  Natur  entsprechenden 
Beziehung  glücklich  sein  läßt.  Denn  das  Glück,  d.  h. 
das  Wohlbefinden,  bleibt  auch  für  Saadja  der  Angelpunkt 
alles  menschlichen  Strebens.  Nach  diesem  Gesichtspunkte 
ist  die  philosophische  Ethik  Saadjas  im  zehnten  Abschnitt, 
die  das  gesuchte  Gut  nicht  in  einem  einfachen  Objekt 
findet,  angelegt  und  so  allein  ist  sie  erst  richtig  zu  ver- 
stehen. Das  Gute  wird  dort  überhaupt  nicht  in  Objekten 
gesucht,  sondern  in  der  harmonischen  Vereinigung  aller  das 
innere    Leben  des  Menschen    konstituierenden    Elemente2), 


»)  Wir  verweisen  auf  Em.  S.  3  (siehe  S.  724  Anm.  5);  das.  III  S. 

60  unten:  ■snjwtfi  ,T\ihyo  bx  ijrrtp  ^3  i»\n  th.-i  Dix  •oaS  nnnSi.. . 

.  .  .  Dl»  ^a  Wfl^i  das.  V,  S.  87:  Ol«  "»»ö  D'31  13  ViB»rP  "IISJD^. 
Bemerkenswert  in  III,  S.  60  ist  der  Ausdruck  JTWfl  "]"H;  bei  Saadja 
ist  es  der  Weg,  das  Verhalten,  auf  dem  man  z<\  Vorzügen  gelangt, 
flbjm  bedeutet  wie  flJTTD  V,  S.  85  ff.  sittliche  Stufe.  mtP\1  *]"n  als 
ethisches  Maß  findet  sich  in  der  jüdischen  Literatur  häufig:  Abot  II, 
1  u.  rblttn  *p"l  II,  9;  Gabirol,  Tikkun  Middot  ha-Nefescb,  ed.  Lune- 
ville,  V,  3;  Maimonides,  Hüchot  Deot  I,  3 — 6.  Bachja,  Herzens- 
pflichten, ed.  Leipzig,  1846.  VIII,  3  p.  385,  IX,  3  p.  407,  408  hat  statt 
n*HT,n  "pin  immer  JTBM  "1T\,  es  bedeutet  das  aristotel.  Mittelmaß 
welches  von  fast  allen  jüd.  Religionsphilosophen  angenommen  wurde. 
Vgl.  Juda  Halewi,  Kusari,  ed.  Leipzig,  1853,  II,  50  Anfang;  Abraham 
Ibr  Daud;  vgl.  Rosin,  Ethik  d.  Maimonides,  S.  24;  ganz  besonders 
Maimonides  Hilchot  Deot  I,  4  ff. 

2)  Emunot    X,  S.  144:  [5...    'K  moa  VD"*  bl  rUTT  *b  D"Wfl**. 

. . .  w#  ppn  ib  obv  ,ttyoi  m  by  iwurn  runm  dikh  nno  nixapnnn 


Die  Ethik  R.  Saadjas.  727 

und  Saadja  hatte  insofern  Recht,  den  Zustand  und  das 
Verhalten  des  Menschen  oben  nach  ästhetischer  Schätzung 
zu  beurteilen,  als  das  Gute  ja  in  dem  richtigen  Maß  und 
Verhältnis  besteht,  das  zwischen  seinen  Bestandteilen  ob- 
walten muß.  Diese  Bestandteile  sind  aber  eben  die  dem 
Verhalten  des  Menschen  zu  Grunde  liegenden  oder  es  be- 
einflussenden Triebe,  Neigungen  und  Eigenschaften1).  Das 
Gute  liegt  also  gewissermaßen  in  der  glücklichen  Harmonie 
des  ganzen  Menschen.  Wird  diese  Harmonie  durch  einsei- 
tige Berücksichtigung  einer  Neigung  gestört,  so  wird  auch 
das  Gute  unvollkommen  und  mangelhaft2).  Eine  solche 
Bestimmung  des  Guten,  die  das  letztere  nur  in  dem  rich- 
tigen Verhältnisse  sieht,  das  zwischen  den  einzelnen  Nei- 
gungen und  Abneigungen  der  Seele  herrschen  müsse,  führt 
aber  notwendig  zu  einer  Ethik,  die  den  Schwerpunkt  des 
sittlichen  Ideals  nur  in  dem  schön  und  richtig  geordneten 
Verhältnis  des  Menschen  zu  sich  selbst  oder  der  einzelnen 
Teile  seines  Wesens  zu  einander  finden  kann.  Eine  solche 
Ethik  ist  denn  auch  die  philosophische  Ethik  Saadjas  im 
zehnten  Abschnitt  tatsächlich.  Sie  fragt  wohl  nach  der 
besten  Art  des  Handelns,  sie  versteht  aber  darunter  nicht 
die  Frage,  wie  das  handelnde  Subjekt  das  Gute  nach  außen 
hin  tun,  oder  wie  es  ein  Gutes  außerhalb  seiner  eigenen 
Interessensphäre  bewirken  solle,  sondern  wie  und  durch 
welche  Art    und    Weise    der   Tätigkeit    der   Gesamtzustand 

DV«>    rj'Jj?  hl  WP  }3  TNT    WK31  .  .  .  lSptPM    übpV    I1?*«    .  .  •  .T.T1 

copiriDi 

')  ."GH«  Liebe  und  HK9V  Haß  sind  für  Saadja  Kollektivbegriffe, 
sie  umfassen  die  vielen  Trieoe  und  Neigungen,  die  von  dem  unteren 
und  oberen  Begehrungsvermögen  ausgehen.  Jede  Neigung  wird  ,*Hö 
genannt      Als    ethische  Hauptregel    stellt  Saadja    deshalb   auf:    n\T# 

vnovi  einrv  nun  wbm  »lwnsa  bvn  on»n  x,  s.  145. 

2)  Emunot  X,  S.  '.46  bzx  .ahvrm  iltpo  .JpJinD  ni'JHJ  in«  ^31... 
niD-em  moto  dk  'a  [nan  n\T  kS  annannna.  Als  »vollkommen«  gilt 

bei  Saadja  a]  es,  was  weder  zu  viel  noch  zu  wenig    enthält:    *imn  s3 

pnon  kS*.  r.BDin  xb  in  px  n»K  xin  das.  III,  S.  73. 


728  Die  Ethik  R.  Saadjas. 

des  Individuums  am  harmonischsten  und  glücklichsten  ge- 
staltet werden  könne.  Es  ist  demnach,  trotz  der  obigen 
ästhetischen  Beurteilung,  eine  rein  objektive  Schätzung  im 
Grunde  nun  doch  nicht  vorhanden,  denn  die  maßvolle  und 
harmonische  Verbindung  derjenigen  geistigen  Elemente,  die 
in  ihrer  Ganzheit  das  gesuchte  Gut  konstituieren,  verlangt 
Saadja  nun  nicht  um  ihrer  selbst  willen,  sondern,  wie  er 
selbst  ausdrücklich  bemerkt1),  »weil  sie  für  den  Menschen 
von  größerem  Nutzen  ist«.  Die  Ethik  kommt  hier  bei  der 
ästhetischen  Auffassung  des  sittlichen  Lebens,  gleichviel 
ob  sie  objektiv  oder  relativ  ist,  über  den  harmonisch  ge- 
ordneten Gesamtzustand  des  Einzelnen  und  über  die  in 
sich  vollendete  Ausbildung  der  eigenen  Persönlichkeit  nicht 
hinaus;  sie  ist  vorwiegend  individualistisch. 

»)  Emunot    X,  S.  160:    nrjJiD   W    DHWllOfl   ^33   rPHPntP    (TOI 

nnv  )h  n^jND  n\-iw  ,vjnartKi  vtihd  mrn  vz  ,0-1*6.  Saadja  ver- 
gleicht dort  die  Harmonie  der  Farben  und  Töne  mit  der  Harmonie 
und  Eigenschaften   der  Seele. 

(Fortsetzung   folgt.) 


•k 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen 

Zeitalter. 

Neue  Folge. 
Von  Simon  Eppenstein. 

V.  Die  Erzählung   von  den  vier  gefangenen  Talnradisten. 

(Fortsetzung.) 

Die  unter  dem  Namen  der  Pesikta  Rabbathi  gehende 
Kompilation  erweist  sich  auch  dadurch  als  süditalienisches 
Erzeugnis,  daß  sie  in  späterer  Zeit  lediglich  von  Gelehrten 
Italiens,  Frankreichs  und  Deutschlands,  hingegen  von  denen 
Spaniens  gar  nicht  benutzt  wurde1),  was  wir  uns  nur  da- 
durch erklären  können,  daß  die  erstgenannten  Länder 
hauptsächlich  von  dem  ja  größtenteils  nach  Palästina  sich 
richtenden  Italien  beeinflußt  wurden,  während  Spanien  mehr 
nach  Babylonien  hinneigte. 

Ein  der  Pesikta  Rabbathi  teilweise  nahestehendes  li- 
terarisches Erzeugnis,  als  dessen  Entstehungsort  wir  gleich- 
falls das  südliche  Italien  ansehen  können,  ist  der  Seder 
Eliahu  Rabba  und  Sutta*).  Auch  dieses,  zweifelsohne  viele 
alte  Bestandteile  enthaltende,  eigenartige  agadische  Werk 
weist  durch  das  reinere  Hebräisch  auf  das  Vaterland  der 
Pesikta  Rabbathi    hin.     Diese    außerordentlich    anziehende 


»)  Vgl.  QV.»  S.  231—262. 

»)  Vgl.  jetzt  die  kritische  Ausgabe  von  Friedmann,  Wien  1900, 
und  desselben  hebräische  Einleitung,  Warschau— Wien  1902,  und 
hierzu  Theodor  in  Monatsschrift  1900,  S.  380-384,  550—561,  ferner 
ebendort  1903,  S.  70  ff.  Vgl.  ferner  Zunz  OV.«  S.  119—124,  Deren- 
bourg  in  REJ.  III,  S.  121-122,  Weiß  T1T1  III,  S.  288,  Qüdemann, 
Geschichte  des  Erziehungswesens  der  Juden  in  Italien,  S.  52  ff.  u. 
S.  300-303. 


730  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

Kompilation  setzt  einen  Verfasser  voraus,  der  in  einem 
europäischen  Lande  lebte,  wo  ein  schwunghafter  Handel 
blühte,  der  die  Juden  in  vielfachen  intimen  Verkehr  mit 
Andersgläubigen  brachte,  sodaß  eine  Mahnung  einerseits 
zur  strenger  Redlichkeit  und  Toleranz,  andererseits  zur  Heilig- 
haltung des  Lebenswandels  und  Pflege  der  Thora,  verbunden 
mit  Warnungen  vor  Nachahmung  fremder  Gebräuche,  durch- 
aus geboten  war.  Daß  der  letztere  Redactor  in  einem 
christlichen  Lande  lebte,  geht  auch,  meines  Erachtens,  deut- 
lich aus  der  mit  den  Worten  n^a  onai DTO 1DW  beginnenden 
Stelle  in  Abschnitt  8  (S.  45)  hervor,  wo  vor  einem  Handels- 
geschäft mit  einem  Nichtjuden  gewarnt  und  dieser  mit  na 
bezeichnet  wird.  Dieses  könnte  aber  unmöglich  sich  auf 
einen  Mohammedaner  beziehen,  da  der  genannte  Ausdruck, 
ursprünglich  für  Götzendiener  berechnet,  nicht  auf  die  dem 
Judentum  in  der  Anerkennung  der  unbedingten  Einheit 
Gottes  nahestehenden  Bekenner  des  Islam  angewendet 
werden  konnte.  Es  kann  demnach,  trotz  der  gelegentlichen 
Anspielungen  auf  Babylonien  und  des  etwaigen  Hinweises  auf 
Dispute  mit  Karäern,  nicht  dieses  Land  in  Betracht  kommen, 
wie  Zunz1)  und  Oppenheim2),  besonders  unter  Hervorhebung 
des  letzteren  Momentes,  annehmen,  sondern,  wenn  wir  noch 
das  leichte  und  reinere  Hebräisch  berücksichtigen,  nur  das 
südliche  Italien  oder  allenfalls  die  Gegend  von  Rom,  wie 
es  zuletzt  Güdemann  dargetan  hat3). 

Betrachten  wir  nun  die  Art  der  Drascha,  wie  sie  in 
der  Pesikta  Rabbathi  und  dem  Seder  Eliahu,  der  im  letzten 
Drittel  des  10.  Jahrhunderts  redigiert  wurde,  uns  entgegen- 
tritt, so  nehmen  wir  allerdings  eine  durch  einen  Zeitraum 
von  mehr  als  einem  und  einem  viertel  Jahrhundert  leicht 
erklärliche,  verschiedenartige  Entwickelung  wahr.    Indessen 

»)  Vgl.  GV.8  S.  119. 

8)  Vgl.  Beth-Talmud  I,  S.  265—270,  304-310  u.  fgg. 
3)  Vgl.  Geschichte  des  Erziehungswesens  bei  den  Juden  Italiens, 
S.  303. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.    731 

zeigen  uns  beide  Schriften,  wie  in  diesem  Lande  die  Be- 
lehrung des  Volkes,  teils  in  strikterer  Anlehnung  an  hala- 
chische  Themata,  wie  in  der  Pesikta  Rabbathi,  teils  in 
gelegentlicher  Einflechtung  gesetzlicher  Partieen,  in  öffent- 
lichem Vortrage  stattfand.  Als  ein  typisches  Beispiel  der 
unter  Weglassung  einer  einleitenden  Halacha  nur  ein  mo- 
ralisches und  historisches  Thema  behandelnden  Drascha 
haben  wir  in  der  Pesikta  Rabbathi  Nr.  26  mit  dem  Text- 
wort 'yn  rntaw  nwiM  nnb  nj»»  xbi  jKitn  nmo»  nvi  im 
ono  npmi  B'aion  iTMidi  nnwa1).  Es  sind  dies  freie  Reden, 
die  uns  an  die  von  der  Vortragstätigkeit  Süditaliens  in  der 
Achimaazchronik  gegebene  Darstellung  erinnern,  aus  der 
wir  den  Eindruck  gewinnen,  daß  dort  diese  Art  der  Unter- 
weisung allsabbatlich  über  ein  Thema  im  Anschluß  an 
irgend  ein  altes  Midraschwerk  stattfand2). 

Neben  dieser  homiletischen  Produktivität  widmeten  sich 
die  Süditaliener  aber  auch  der  Pflege  des  eigentlichen  Ge- 
setzesstudiums. Wenngleich  uns  hierüber,  im  Verhältnis  zu 
den  von  Babylonien  bekannten,  so  gut  wie  gar  nichts  er- 
halten ist,  so  lassen  einzelne  zersprengte  Bemerkungen  uns 
doch  ein  Bild  dieser  Tätigkeit  rekonstruieren.  Aus  den 
durch  Ascoli  edierten  Inschriften  wissen  wir  von  einem  in 
der  ersten  Hälfte  des  9.  Jahrhunderts  in  Venosa  wirkenden 
Nathan  ben  Ephraim,  der  als  gelehrter  Leiter  einer  Je- 
schiba  gerühmt  wird3).  Ferner  wird  berichtet,  daß  die  Juden 
in  Rom  mit  dem  Gaon  Sar  Schalom  von  Sura,  also  unge- 
fähr um  dieselbe  Zeit,  korrespondierten4).  Von  der  Be- 
schäftigung der  Süditaliener    mit  der  Geonimliteratur,   also 

!)  Vgl.  auch  Weiß  a.  a.  O.,  S.  283-284. 

2)  Vgl.  Neubauer  a.  a  O,  S.  125  u.  Kaufmann,  Monatsschrift 
a.  a.  O,  S.  472. 

8)  Vgl.  Kaufmann  a.  a.  O.,  S.  471,  Anm.  4  u.  5. 

*)  Vgl.  Zunz  QV.»  S.  375,  Anm.  66.  nach  K"iH  njw  Nr.  82, 
Kaufmann  a.  a.  O.  u.  Berliner  in  den  Nachträgen  zu  Harwiiz'  Einltg. 
in  das  Machsor  Vitry,    S.  176,    wollen    den   in  der  Achimaazchronik. 


732    Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

einer  Verbindung  mit  dem  Zentralpunkt  der  Gesetzeslehre, 
haben  wir  ein  vollgewichtiges  Zeugnis  für  das  Ende  des 
neunten  Jahrhunderts,  woselbst  schon  in  Italien  andere 
Rezensionen  der  Halachoth  des  Jehudai  Gaon  im  Umlauf 
waren,  die  durch  Gefangene  erst  von  dort  nach  den  Euphrat- 
ländern  gebracht  worden1).  Auch  die  mehrfach  erwähnte 
Achimäazchronik  entwirft  uns  ein  lebhaftes  Bild  von  der 
regen  Beschäftigung  mit  der  Halacha  in  Süditalien,  so  be- 
sonders auch  in  Oria,  wo  es  blühende  Schulen  gab,  in  denen 
die  geistigen  Turniere  der  Thorabeflissenen  stattfanden,  und 
ständige  Orte  zum  Forschen  in  der  Lehre2).  Größere  An- 
regungen hat  das  Studium  des  Talmud  wohl  durch  den  aus 
Bagdad,  dem  Sitz  der  Hochschulen  in  diese  Gegend  gekom- 
menen Ahron  erfahren,  der,  in  Oria  sich  niederlassend,  dort 
auch  eine  Jeschiba  gründete  und  den  Quell  seiner  Weisheit 
strömen  ließ8).  Daß  wir  aber  in  diesem  von  Achimaaz  als 
mit   übernatürlicher  Kraft    ausgerüsteten  Wundertäter,    der 

S.  125  genannten  Kinderlehrer  Mose  mit  dem  vielfach  zitierten  Mose 
aus  Pavia  identifizieren.  Hiergegen  spricht  aber  erstens  die  chrono- 
logische Unmöglichkeit,  da  letzterer,  nach  Halberstam  bei  Kohut, 
Aruch  completum,  S.  XXXVIII,  dem  elften,  ersterer  aber  dem  zehnten 
Jahrhundert  angehört,  und  zweitens  der  Umstand,  daß  ein  Kinderlehrer 
unmöglich  später  solche  Bedeutung  erlangt  haben  kann. 

*)  Vgl.  hierzu  Epsteirj's  Abhandlung  über  die  Halachoth  Ge 
doloth  in  Hagoren  III,  S.  64:    *miiT  31  10  bv  lSx  msbrUP  pJHV  1H 

pm"1"«  [w  nxo  "iijrtfri  mm  xSk  min'»  m  "nora  Sana  xrm  rvS  bn 
*7SsS  pXintP  ;  ferner  ebendort:  •p  -in«  .TDBO  2fl3  wnnx  rrx  TM  '* 
OHK1?  b^^ü  1K3P  in«  &2V.  Es  handelt  sich  hier  nicht  um  Raubzüge, 
wie  Epstein  meint,  sondern  um  die  gegen  Ende  des  9.  Jahrhunderts 
beginnenden  Einfälle  in  Süditalien,  zumal  unter  DHK  nur  Italien  — 
Rom  zu  verstehen  ist,  während  Griechenland  bei  Hai  mit  [V  bezeichne'- 
wird;  vgl   T'schuboth  ha-Geonim,  ed.  Harkavy  Nr.  125,  S.  105:  D^rn 

wwtostp  fo  ij^bS  piaöan  cToSnn. 

2)  Vgl.  Neubauer  a.  a.  O-,  S.  114,  Z.  16  ff.  Man  beachte  auch 
hier  den  Ausdruck  D'jJUp  rwnoi,  der  an  dieselben  Wendungen  in 
Scherira's  Sendschreiben  und  Chuschiel's  Brief  an  Scbemarja  erinnert. 

»)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  112,  Z.  11  ff.  und  S.  114,  Z.  22  ff.  und 
Kaufmann  a.  a.  O.,  S.  465  ff. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.     733 

nach  kurzem  Verweilen  in  Italien,  und  zwar  zuletzt  in  Bari, 
wieder  in  die  Heimat  eilte,  den  nach  Scherira's  Bericht  über- 
gangenen Gaonatsprätendenten  Ahron  oder  Abu  Ahron  wieder- 
finden können,  den  die  Traditionarier  mit  Mose  ben  Ka- 
lonymos  in  Verbindung  bringen,  ist  schon  durch  den  be- 
trächtlichen Zeitunterschied  von  ca.50  Jahren  ausgeschlossen1), 
wenn  auch  der  Gast  aus  Babylonien  als  3Ki  JMtfi  bezeichnet 
wird2).  Immerhin  fand  dieser  in  Süditalien,  wo  die  Beschäfti- 
gung mit  der  Mystik  eine  Stätte  hatte  und  eine  große 
Empfänglichkeit  für  übernatürliche  Vorgänge,  wie  für  Astro- 
logie, herrschte,  einen  geeigneten  Boden.  Auf  diesem  er- 
wuchsen nun  zunächst  Geistesprodukte  wie  der  Jezira- 
kommentar  des  Sabbatai  Donnolo,  der  beredtes  Zeugnis 
ablegt  von  den « in  diesem  Lande  eifrig  betriebenen  Stu- 
dien. 

Insofern  nun  eine  Beschäftigung  mit  den  im  Jezirabuch 
niedergelegten  Problemen  Anlaß    zu    mancher  mit  der  Ge- 

!)  Vgl.  Neubauer  in  REJ.  XXIII,  S.  230  ff. 

2)  Es  ist  fraglich,  ob  Achimaaz,  der  nur  eine  ganz  vage  Kenntnis 
von  den  Zuständen  in  Babylonien  gehabt  haben  dürfte,  —  vgl.  Kaufmann 
a.  a.  O.,  S.  471  oben  —  hier  überhaupt  3K  im  Sinne  von  pT  ITO  2K 
dem  präsumtiven  Nachfolger  im  Qaonat,  und  nicht  vielmehr  nur  mu- 
sivisch  gebraucht  hat,  —  Zur  Sache  selbst  vergleiche  noch  Halevy 
a.  a.  O.,  S.  238,  der  gegen  die  Verbindung  des  Abu  Ahron  mit  Mose 
ben  Kalonymos  den  triftigen  Grund  anführt,  daß,  wenn  man  ersterem 
den  Joseph  ben  Abba  gerade  wegen  seiner  großen  Meisterschaft  in 
den  Künsten  der  Mystik  vorgezogen  hätte,  man  ihn  doch  wiederum  nicht 
zum  Vater  der  Mysterien  stempeln  könne,  uud  seien  es  auch  nur  die 
ntafin  DHID.  Vgl.  übrigens  auch  Epstein  in  Hachoker  II,  S.  10  fgg. 
und  Groß  in  Monatsschrift  1906,  S.  696,  Anm.  1.  —  Noch  möchte  ich 
darauf  hinweisen,  daß  auch  in  der  Familie  der  Kalonyraiden  der  Name 
Chananael  mehrfach  vorkommt;  vgl.  auch  Zunz  GV.2  S.  378,  Anm.  a. 
Ob  nicht,  da  wir  einen  Zweig  dieses  Geschlechtes  in  Rom  finden, 
eine  Verbindung  zwischen  ihm  und  der  Achimaazfamilie  stattgefunden 
hat,  zumal  wir  einen  Kalonymos  um  das  Jahr  988  in  Begleitung 
Otto's  III  in  Süditalien  finden?  Andrerseits  geht  auch  aus  der  Re- 
sponsenliste  JQR.  XVIII,  S.  428  hervor,  daß  noch  im  letzten  Drittel 
des  10.  Jahrhunderts  Angehörige  dieser  Familie  in  Lucca  wohnten. 


734    Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonaiscen  Zeitalter. 

heimkunst  in  Verbindung  stehenden  Tätigkeit  gegeben  hat1), 
ist  zwischen  dem  Studium  dieses  Buches  und  der  in  den 
Sabbatai-  und  Achimaazfamilien  heimischen  Geheimkunst  ein 
Zusammenhang  angebahnt.  Wir  können  nämlich  feststellen 
daß  die  Neigung  zu  den  Geheimkünsten,  wie  sie  uns  in 
den  Berichten  der  Achimaazchronik  entgegentritt,  auch  noch 
am  Ende  des  zehnten  Jahrhunderts  in  Italien,  besonders  im 
Süden,  ebenso,  wie  in  dem  ihm  geistig  nahestehenden  Pa- 
lästina, geblüht  hat.  Wir  sehen  dies  aus  der  uns  in  einer 
dopptlten  Rezension  erhaltenen  Anfrage  des  Kairuaners 
Joseph  b.  Berechja  an  Hai  in  betreff  wunderbarer  Dinge2), 
die  zu  seiner  Zeit  von  Männern  aus  den  genannten  Ge- 
genden berichtet  wurden,  wie  Beschwörung  des  tosenden 
Meeres,  Tötung  und  Belebung  von  Menschen,  Anwendung 
des  göttlichen  Namens  in  besonderen  Zusammensetzungen, 
in  Lob-  und  Bußgebeten  und  dergleichen.  Hierbei  werden 
die  Gewährsmänner,  die  er  d^dkh  Dian  D'öDn  D'tPJK  nennt, 
als  btr\w  p«i  ohk  pK  'DOn  bezeichnet9).  Unter  diesem 
christlichen  Land  ist  aber  zweifelsohne  nur  das  im  Grunde 
christliche  Unteritalien  anzusehen,  da  die  hier  geschilderten 
Praktiken  ganz  mit  denen  in  der  Achimaazchronik  erzählten 
übereinstimmen,  deren  Helden  wiederholt  als  mit  derartigen 
übersinnlichen  und  mystischen  Kräften  ausgerüstet  auftreten. 
Noch  genauer  läßt  sich  das  in  der  Anfrage  genannte  christ- 

!)  Vgl.  Jezirakommentar  des  Jehuda  ben  Barsilai,  ed.  Halber- 
stam,  S.  102-103. 

*)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  103  fgg.  und  S.  302,  ferner  Ta'am  S'kenim, 
Frf.  a.  M.  1854,  S.  54  fgg. 

*)  Vgl.  Ta'am  S'kenim,  S.  54  Ende  u.  Jezirakommentar  a.  a.  O., 
S.  103,  Z   9-10  v.  unt. 

*)  Man  vergleiche  die  verschiedenen  Erzählungen  bei  Neubauer 
a.  a.  O. 

6)  So  in  Ta'am  S'kenim,  S.  56a,  Z.  6  v.  unten.  —  Ich  bemerke, 
daß  schon  im  Midrasch  rabba,  Kap.  67  zu  Oen.  27,  39,  wo  Esau 
pK  i)üVO  als  Wohnsitz  zugewiesen  wird,  als  dieses  \v  bv  K^ü'K 
angegeben  wird. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Lite^tur  im  gaonäischen  Zeitalter.        735 

liehe  Land  aus  der  Wendung  in  Hai's  Antwort  ersehen, 
wobei  von  »oiid  bnWK  gesprochen  wird,  indem  Rom  als 
Gesamtbegriff  für  Italien  zu  verstehen  ist. 

Was  nun  speziell  das  intensive  Studium  der  Halacha 
betrifft,  so  blühte  es  besonders  in  Bari,  Oria  und  Otranto1). 
In  der  erstgenannten  Stadt  lebte  gegen  Ende  des  zehnten 
Jahrhunderts  ein  Gelehrter  Mose  Kalfu,  den  der  Verfasser 
des  Aruch  zweimal  zitiert2).  Auch  die  gefeierte  nordfranzö- 
sische Autorität  R.  Jacob  Tarn  spricht  von  den  früheren  Ge- 
lehrten Bari's  und  Otranto's  mit  der  bekannten  Variierung  von 
Jes.  2,  33).  Von  der  praktischen,  religiösen  Tätigkeit  des 
Gelehrtenkollegiums  in  Bari  können  wir  uns  ein  Bild  ma- 
chen nach  dem  bereits  erwähnten,  uns  durch  Elieser  ben 
Nathan  erhaltenen  Gutachten,  das  sich  durch  die  Bemerkung 
n«a  *ö3n  irrmo  rrViwn  rawna  airo  frn  /iura  als  alt  und  durch 
den  griechisch  lautenden  Namen  des  einen  Unterzeichners, 
Papoleon,  als  noch  der  zweiten  Hälfte  des  zehnten 
Jahrhunderts  angehörend  kennzeichnet4).  Bemerkenswert 
ist  auch  die  an  die  geonäische  Schreibweise  erinnernde 
Wendung:  n'Dtfn  ja  lamrw  na6). 

Was  aber  dem  Talmudstudium  in  Süditalien  seine 
Eigentümlichkeit  verleiht,  ist  die  besondere  Berücksichtigung 
der  palästinensischen  Gemara   überhaupt  und   der  palästi- 

J)  Vgl.  Rapoport,  Biographie  Kalir's,  Note  17,  Zunz  GV.»  S. 
376,  Anm.  1. 

■)  Vgl.  Rapoport,  Biographie  R.  Nathan's,  Note  38  und  Bio- 
graphie Kalir's  a.  a.  O.,  Weiß  Tim  IV,  S.  272,  Groß,  Magazin  a.  a. 
O.,  S.  26. 

3)  Aus  den  Worten  R.  Tams  0,-rty  pilp  VTlW  »1K3  ^öart  031 
UM"ittiKD  Tl  1211  mifl  KXfl  ^»30  ''S  geht  deutlich  hervor,  daß  es  sich 
um  deren  Bedeutung  in  früherer  Zeit  handelt.  Rapoports  Einfügung 
1330  in  der  Biographie  Kalir's  findet  sich  nicht  im  Text  (vgl.  ed. 
Rosenthal,  Nr.  46  Ende,  S.  90). 

4)  Vgl.  auch  Rapoport  a.  a.  O. 

6)  Vgl.  z.  B.  Hai's  Gutachten  vom  Jahre  1011,  bei  Harkavy, 
Studien  IV,  S.  76,  Nr.  78:  tCDtf  |D  *:b  Win  ^  und  Amram  bar 
Scheschna   im  Eingang  seines  Siddur,  S.  la,  Z.  13:  SPO»  |D  ttirWW. 


736    Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter 

nensischen  Halacha  insbesondere.  Dies  zeigt  sich  namentlich 
in  den  Jelamdenustellen,  die  uns  die  Pesikta  Rabbathi  auf- 
bewahrt hat,  wo  wir  öfters  Entscheidungen  nach  dem  je- 
rusalemischeu  Talmud,  zum  Teil  in  direktem  Gegensatz 
zum  babylonischen,  begegnen.  —  Es  seien  hierfür  folgende 
Belege  angeführt: 

1.  Nr.  1  (S.  1  a),  das  lediglich  die  Ansicht  des  Jeru- 
schalmi  Berachoth,  S.  11c  wiedergibt1). 

2.  Nr.  9  Anfang  (S.  31  a  u.  31  b),  das  zuerst  ganz  nach 
Jeruschalmi  Berachoth  S.  11  b  gefaßt  ist  und  zuletzt  le- 
diglich die  Meinung  desselben  gegen  Babli  darstellt2). 

3.  Nr.  13,  wo  die  Fassung  der  Benediktion  jmstö  bv 
inDK  rtaü  n«np  ganz  der  im  Jeruschalmi  Sukka  53 d  für 
das  Anzünden  des  Chanukalichtes  vorgeschriebenen  Form 
roun  "U  npbin  FVBtß  bv  entspricht.  Auch  die  Schlußbenediktion 
nach  Vorlesung  der  Megilla  ist  bis  auf  ganz  geringfügige 
Abweichungen  der  Fassung  des  Jeruschalmi  Megilla  74d, 
Z.  14 — 15  von  unten,  nachgebildet3). 

4.  Nr.  38  erweist  sowohl  in  der  Lesart  nan  pai?  watf  mvay 
als  auch  in  der  Wiedergabe  des  Ausspruches  von  Samuel  eine 
deutliche  Benutzung  des  Jeruschalmi  Joma  45  c,  Z.  24  ff.*). 

5.  In  Nr.  40  sehen  wir  in  der  Zitierung  des  na  K3K  "\ 
MflS,  wie  in  der  Deutung  von  nstJ^T=  nwib,  den  Einfluß 
des  Jeruschalmi  Rosch  ha-Schana  57a,  vorletzte  Zeile6). 

6.  Die  Mitteilung  in  Nr.  41  natra  r\vnb  bnvf  m  -p'D*? 
n«  onapoi  D'aen»  ra  vrw  mpea  aarpa  xb»  mpo  ^>aa  pypin  p« 
D'ttHnn  n«i  a*wn  ist  nur  nach  der  diesbezüglichen  Bestimmung 

')  Vgl.  Friedmann  a.  a.  O.,  Anm.  4  u.  5. 

*)  Vgl.  Friedmann  z.  St.,  Anm.  4  u.  5. 

3)  Vgl.  ed.  Friedmann,  S.  53b,  Anm.  2  u.  3. 

*)  Vgl.  ebendort  S.  165a,  Anm.  3  u.  4.  Betreffs  der  in  der  Pe- 
skta  angegebenen  Zahl  von  10  Mitgliedern,  die  sich  im  Talmud  nicht 
findet,  möchte  ich  die  Erklärung  vorschlagen,  daß  die  Pesikta  das 
Wort  sich  vielleicht  so  gedacht  hat :  ">  =  fW  resp.  milP,  d.  h.  eine 
Reihe  von  10  Männern. 

5)  Vgl.  ed.  Friedmann,  S.  166,  Anm.  4  u.  6. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur;  im  gaonäischen  Zeitalter.       737 

des  Jeruschalmi,    die    auch  Tossafot   zu   Rosch   ha-Schana 
25  a,  Schlagwort  ^»n,  zitiert,  zu  erklären1). 

7.  Von  besonderem  Wert  für  unsere  Untersuchung  ist 
Nr.  43,  wo  die  Festsetzung  des  Endtermins  für  die  Bene- 
diktion über  den  neuen  Mond  ganz  nach  Jeruschalmi  Berachoth 
13  d,  Z.  44  fgg.  gegen  Babli  Sanhedrin  41  b— 41a  geschieht2). 

8.  Schließlich  ergibt  auch  das  halachische  Stück  der 
Pesiktafür  Schemini  Azereth,  beginnend  mit  fefi  »anDBM  pnT  '1 '« 
ICSI?  'J02,  eine  wesentliche  Abhängigkeit  von  Jeruschalmi 
Sukka  54  c3). 

Diese  Nachweisungen  dürften  zur  Genüge  das  Stu- 
dium des  jerusalemischen  Talmud  in  Süditalien  als  gesichert 
erscheinen  lassen.  Es  ist  nun  selbstverständlich,  daß  auch 
Chuschiel  aus  diesem  Lande  die  besondere  Wertschätzung 
des  von  den  Geonim,  vielleicht  mit  Ausnahme  des  Saadja 
Gaon,  nur  wenig  beachteten  und  für  die  Halacha  gegen- 
über dem  Babli  erst  in  zweiter  Reihe  in  Betracht  kommen- 
den palästinensischen  Talmuds4)  nach  Kairuän  gebracht  hat. 

Von  einer  Verbindung  dieser  Stadt  mit  Süditalien  er- 
fahren wir  durch  die  bereits  erwähnte,  von  Jacob  ben 
Nissims  Schülern  an  Hat  gerichtete  Anfrage  über  die  von 
dort  berichteten  Wundertaten,  die  ja  gerade  in  der  auch 
Chuschiel  nahestehenden  Achimaazfamilie  eine  Pflegestätte 
gefunden  hatten.  Vielleicht  schon  etwas  früher  hat  in  Kai- 
ruän auch  ein  anderes  Glied  dieser  Familie  seinen  Aufent- 
halt genommen:  es  ist  dies  der  in  einem  von  dort  aus 
ergangenen  Bittschreiben  behufs  Auslösung  von  Gefangenen6) 
genannte  Sendbote  Sabbatai    ben    Jehuda    ben    Schefatja6), 

l)  Vgl.  ed.  Friedmann,  S.  172  b,  Anm.  4. 

»)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  179  a,  Anm.  2. 

3)  Vgl.  a.  a.  O.,  S.  202a  und  Friedmann's  Bemerkungen  z.  St. 

*)  VfJ.  hierzu  jetzt  Poznanski  in  Hakedem  I,  S.  133—155  u.  II, 
S.  24-51  und  dazu  Marx  in  ZHB.  XIII,  S.  70-71. 

5)  Veröffentlicht  von  Wertheimer  in  o^PiT  "W  II,  S.  17b— 18a 

«)  Vgl.  a.  s.  O.,  S.  18  a  Ende  und  dazu  Poznanski's  Studie  i*:k 
(Kl"Vp  in  der  Harkavy-Festschrift,  S.  220,  Nr.  45. 

Monatsschrift,  55.  Jahrgan  47 


738     Beitrage  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

der  dort  als  o*TDn  tnty  D^m  15U  8^1001  psji  iw»  aitfn  cn8 
msö3  d'^idoi  rmna  d'di^k  bezeichnet  wird.  Nach  den  der 
genannten  Familie  ausschließlich  eigentümlichen  Namen 
Sabbatai  und  Amithai  und  der  Kennzeichnung  Juda's  als 
D'TDn  untp  D'^HJ  "iiu  dürfen  wir  wohl  Poznanski  beistimmen, 
wenn  er  diesen  der  Achimaazfamilie  zuweist1).  Es  war  also 
ein  ihm  äußerlich  nicht  ganz  fremdes  Milieu,  in  das  Chu- 
schiel  nun  eintrat. 

In  Kairuän,  das  schon  seit  der  Mitte  des  neunten 
Jahrhunderts  eine  bedeutende  Rolle  in  der  Literatur  hatte, 
war  stets  ein  inniges  Verhältnis  zu  den  Geonim  gepflegt 
worden,  wobei  auch  das  allgemeine  wissenschaftliche 
Streben  durch  das  eifrige  Studium  der  Halacha  nicht  beein- 
trächtigt worden  wäre2). 

Von  der  intensiven  Beschäftigung  mit  den  Werken  der 
Geonim  daselbst  legt  auch  Zeugnis  ab  die  wahrscheinlich 
schon  am  Ende  des  neunten  Jahrhunderts  in  Kairuän  er- 
folgte Bearbeitung  der  Halachoth  Gedoloth,  die  uns  jetzt  in 
der  Edition  Hildesheimer  vorliegt,  und  die  dort  mit  mancherlei 
Zusätzen  bereichert  worden  sind8):  eine  Tatsache,  die  doch 
wahrlich  nicht  auf  einen  Tiefstand  des  talmudischen  Stu- 
diums schließen  läßt.  Besonders  war  es  nun  in  der  zweiten 
Hälfte  des  zehnten  Jahrhunderts  der  wahrscheinlich  aus 
Babylon  dorthin  eingewanderte  Jacob  ben  Nissim  ben  Jo- 
schijahu  Ibn  Schahin4),  der  zu  Scherira  in  intimen  Bezie- 
hungen stand  und  ihm  durch  eine  Anfrage  Gelegenheit  zu 
seinem  für  die  Geschichte  der  Gesetzestradenten  und  der 
Geonim  so  bedeutungsvollen  Brief  gegeben  hat.   Er  bildete 

l)  Vgl.  Harkavy-Festschrift  a.  a.  O. 

8)  Vgl.  hierzu  und  zu  Kairuän's  Bedeutung  überhaupt  Poznariski's 
Studie  jxiTp  Wut,  besonders  S.  175—183,  ferner  auch  Halevy  a.  a.  O. 
S.  293  Afg. 

»)  Vgl.  Epstein  in  Hagoren  III,  S.  70-71. 

*)  Vgl.  über  ihn  jetzt  Poznanski  a.  a.  O.,  S.  204—207.  Der 
Name  Ibn  Schahin,  dem  wir  auch  bei  dem  von  Nissi  Naharwani 
gegen  Saadja  in  Aussicht  genommenen  Oaonatsprätendenten  begegnen, 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter.     739 

auch  ein  bedeutendes  Lehrhaus,  dem,  unter  anderen,  auch 
der  mit  Hat  Gaon  korrespondierende  Joseph  b.  Berechja 
angehörte,  und  das  vom  Gaon  mit  großer  Ehrerbie- 
tung genannt  wird1).  Eine  besondere  Bedeutung  kommt 
auch  zu  dem  kairuanischen  Gelehrten  Juda  ben  Joseph, 
den  auch  Chuschiel  in  seinem  Brief  an  Schemarja  erwähnt, 
wenn  wir  nach  dem  jüngst  aus  der  Genisa  veröffentlichten 
Eingang  eines  Bescheides  von  Hat  an  diesen2)  urteilen 
sollen,  worin  die  außerordentliche  Wohltätigkeit  Juda's,  eben- 
so wie  seine  bis  in  die  fernsten  Gegenden  sich  eines  großen 
Rufes  erfreuende  Gelehrsamkeit  mit  fast  überschwängli- 
chen  Worten  gepriesen  wird,  und  wobei  der  Gaon  bemerkt,  daß 
er  nicht  müde  werde,  das  Lob  des  Adressaten  zu  verkünden8). 
In  diesen  Kreis  der  kairuanischen  Gelehrten,  die  schon 
längere  Zeit  sich  gediegenen  Wissens  erfreuten,  kam  nun 
Chuschiel,  der  der  wohl  etwas  trockenen  Art  der  dortigen 
Lehrmethode  einen  mehr  diskussiven*)  und  lebhafteren 
Charakter  verlieh,  besonders  aber  neben  der  unbedingten 
Hingabe  an  die  geonäischen  Überlieferungen  auch  denen 
seines  Heimatlandes  Geltung  zu  verschaffen  wußte**).  Aller- 
dings haben  wir  von  ihm  keine  direkten  schriftlichen  Auf- 
zeichnungen, da  nur  der  aus  seiner  Jeschiba  herrührenden 
korrekten  Talmudexemplare  Erwähnung  getan  wird6).  Von 

weist  sicher  auf  babylonischen  Ursprung  hin.  Vgl.  auch  schon  Rapoport, 
der  in  Biographie  des  R.  Nissim,  Anm.  2,  diese  Vesmutung  ausspricht 
Indessen  braucht  der  Aufschwung  des  Talmudstudiums  in  Kairuän  nicht 
gerade,  wie  R.  meint,  auf  diese  Einwanderung  zurückgeführt  zu  werden. 

')  Vgl.  das  Responsum  in  Ta'am  S'kenim,  S.  54  fgg.  und  das 
bei  Harkavy,  Studien  IV,  Nr.  178,  S.  76.  Über  Joseph  b.  Berechja, 
vgl.  Poznariski  a,  a.  O.,  S.  203—204. 

»J  Vgl.  Ginzberg,  Geonica  II,  S.  278-279. 

3)  Vgl.  besonders  a.  a.  O.,  S.  279,  Z.  14  fgg. 

*)  Vgl.  Achinaazchronik  bei  Neubauer  a.  a.  O.,  S.  114,  Z.  17 — 18: 
cnyp  non^oa  o-naarioi  n^om1?!. 

6)  Vgl.  hierüber  weiter  unten. 

«)  Vgl.  Nachmani  Milchamoth  zu  Baba  kamma  85  b,  ferner 
Brüll,  Jahrbücher  IV,  S.  179  fgg.,  Weiß  a.  a.  O.,  S.  235. 

47* 


740  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter. 

Chuschiel's  Bedeutung  sprechen  aber  beredt  genug  das  von 
Samuel  ben  Nagdela  ihm  gewidmete  Loblied,  in  dem,  neben 
seiner  Größe  als  Lehrer,  hauptsächlich    seine  Tätigkeit  als 
Richter  und  Friedensstifter1)    wie  als  Anwalt  der  Bedrängten 
gepriesen  wird,    und    das  von  ebendemselben  nach  seinem 
Hinscheiden    an  seinen  Sohn    Chananael    gerichtete  Trost- 
schreiben*).  Aus  letzterem  ersehen  wir  Chuschiel's  Meister- 
schaft   als     scharfsinniger    Talmudforscher.    Ganz     beson- 
ders   können    wir    uns    ein    Bild    seiner  Lehrmethode  ent- 
werfen   auf  Grund  der  uns    von    seinem    Sohn    Chananael 
erhaltenen  Werke.  Vergleichen  wir  diese  mit  den  Talmud- 
erklärungen des  R.  Nissim,    der  als  Sohn    des  treuen  Ge- 
onimschülers  Jacob  b.  Nissim  sehr  stark  unter  dem  Einfluß 
der  babylonischen  Hochschulen  steht,    so    sehen  wir,    daß, 
während  Nissim's  Mafteach  in  seiner  Anlage  eine  Anleitung 
und  methodische  Einführung  in  das  Verständnis  des  Talmud 
geben  will8),  Chananael's  Kommentare  die  talmudische  Dis- 
kussion präzise  angeben,    mit  einigen  erklärenden  Worten, 
die  zudem  in  einem  schönen  Stil  geschrieben    sind,  so  daß 
sich  das  Verständnis  des  Themas  von  selbst  ergibt  und  die 
Halacha  leicht  festzustellen  ist4).  Was  nun  Chananael's  Kom- 
mentaren   ihre  Eigentümlichkeit  verleiht,    ist    die    vielfache 
Betonung    der  ihm  gewordenen  Überlieferungen,    an  denen 
er  auch  im  Gegensatz  zu  den  Entscheidungen  der  Gaonen 
festhält6),  und  die  auf  keinen  anderen  als  auf  seinen  Vater 
zurückgehen  können6),  wenn  er  auch  desselben  nur  wenig 

*)  Vgl.  Brody  in  der  Festschrift  für  Berliner,  hebr.  Abteilung. 
S.  11-12. 

2)  Veröffentlicht  zuletzt  in  korrektem  aramäischem  Text  von 
Reifmann  im  Magazin  IX,  hebr.  Artig.,  S.  2  fgg.,  in  hebr.  Übertragung 
ebendort,  S.  11  —  12.    Vgl.  auch  Berliner  in  Migdal  Chananel,  S.  VII. 

I)  Vgl.  Weiß  a.  a.  O ,  S.  236—238. 

<)  Vgl.  a.a.O.,  S.  238— 241  und  Berliner  a.a.O.,  S.VIIu.  S.  XIII 

*)  Vgl.  Weiß  a.  a.  O.,  S.  238-239,  Halevy  a.  a.  O.,  S.  292-293 
utid  Poznariski  in  Harkavy-Festschrift,  S.  193  u.  S.  198. 

6)  Vgl.  z.  B.  Ch.'s  Bemerkung  zu  Sabbat  8a,  psiD  nfoyp  \2Wl 
nsia^  W3HK  "DT,  worunter  ja  nur  sein  Vater  zu  verstehen  ist. 


Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  geonäischen  Zeitalter.    741 

Erwähnung  tut1).  Dessen  Einfluß  sehen  wir  aber  besonders 
in  den  Kommentaren  des  Sohnes  an  den  vielfachen  Wort- 
erklärungen aus  dem  Griechischen,  die  nur  ein  aus  Süd- 
italien, das  als  Großgriechenland  auch  in  der  jüdischen 
Literatur  mit  p»  bv  k'^tk  bezeichnet  wurde,  geben  konnte8). 
Besonders  die  Erklärung,  die  Chananael  zu  Sabbat  105  a  von 
dem  Worte  ranaij,  als  einer  Art  von  Kurzschrift,  gibt,  weist 
auf  die  Mitteilung  eines  mit  den  Gepflogenheiten  griechi- 
scher Herrscher  und  ihrer  Beamten  Vertrauten  hin3),  als 
welcher  eben  nur  sein  Vater  Chuschiel  in  Betracht  kom- 
men kann. 

Ganz  besonders  aber  zeigt  sich  der  Einfluß  Chuschiel's 
auf  seinen  Sohn,  wie  auf  seinen  Schüler  R.  Nissim,  darin,  daß 
er  sie  in  das  Studium  des  jerusalemischen  Talmud  ein- 
führte, den  diese  beiden  Gesetzeslehrer  sehr  häufig  zitieren, 
besonders  aber  R  Chananael,  der  ihm  nicht  nur  in  Fällen, 
wo  der  Babli  keine  endgiltige  Entscheidung  trifft,   sondern 

l)  Vgl.  Poznanski  a.  a  O.  S.  193  Ob  nicht  aber  doch  Sabbat 
15t  a,  wo  es  heißt  po  p  tP"iBD,  unter  diesem  R  Chuschiel  zu  ver- 
stehen ist? 

s)  Vgl.  schon  Rapoport,  Biographie  des  R.  Chananael,  Note  2 
u.  Note  23,  dessen  Zweifel  daselbst  wir  nunmehr  als  gehoben  an- 
sehen können;  vgl.  ferner  Berliner  a.  a.  O.,  S.  XIII.  Betrfffs  der  be: 
Hai  vorkommenden  griechischen  Worte,  die  Berliner,  ebenso  wie  die 
bei  Chananael,  auf  geonäiscrv  Überlieferungen  zurückführen  will,  vgl. 
Harkavy,  Studien  IV,  S.  374.  wo  er  aus  Hais  eigenen  Beme<  künden  dessen 
Unkenntnis  d*s  G'iechischen  nachweist,  das  der  Gaon  vielmehr  nur 
flüchtig  durch  Schüler  aus  Griechenland  kannte,  und  feiner  Poznanski 
a.  a   O ,  S    IQ?,  Anm    2. 

"ID"DT   VD3   Vitb   "PICO  "^cm   DB"B  SWS   "ICD1?   "]hü~[   "IQ'Xl   pp"*.tD'3   TI1K 

VW  r,h:o  nno  nnx  r.»"iP3i  [?o,:pjj;]  nos  rwcvcv  'Vo  vdo   sma 

pp'^tS'J.  Zu  der  Frage,  oi>  Chananael  diesen  Komme  tar  noch  zu  Leb- 
zeiten Hai's  verfaßt  hat,  den  er  zu  115  mit  den  Worten  'riOtSM  ij 
~yb  mcM  ,Trr  und  zu  12«  b  mit  dem  Zusatz  wom  ."WttJ  zitn-rt, 
während  er  ihn  zu  79  a  als  verstorben  erwähnt,  vgl.  Weiß  a.  a.  O., 
.S  238,  Anm.  9. 


742     Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeitalter 

auch  gegen  dessen  Meinung,  eine  maßgebende  Stimme  für 
die  Festsetzung  der  Halacha  einräumt1). 

Noch  sei  betreffs  des  R.  Chuschiel  bemerkt,  daß  der- 
selbe sicher  erst  1028  gestorben  ist,  da  Samuel  Ibn  Nagdela 
eine  Trauerfeier  um  ihn  zuerst  in  Granada  veranstaltet 
hat,  wohin  er  aber  erst  im  Jahre  1027  gekommen  ist2). 

Nach  dieser  ausführlichen  Darstellung  erhellt  nun  zur 
Genüge,  daß  der  Bericht  über  ChuschieFs  Herkunft  aus 
Babylonien,  seine  Gefangennahme  um  das  Jahr  Ü50  und 
ein  durch  ihn  nach  Kairuän  erst  verpflanztes  intensives 
Talmudstudium  jeder  Grundlage  entbehrt,  und  darum  in 
das  Reich  der  Legende  zu  verweisen  ist,  trotz  der  Aus- 
führungen von  J.  Lewy,  der,  auch  nach  der  Auffindung  des 
von  Schechter  veröffentlichten  Briefes  Chuschiel's  an  Sche- 
mata, meint,  daß  die  Erzählung  der  Chronisten  nicht  ganz 
aufgegeben  zu  werden  braucht,  und  an  der  babylonischen 
Abstammung  der  beiden  Gelehrten  festhält,  wobei  er  den 
ersteren  zum  Schüler  des  letzteren  stempelt3).  Ins  Gewicht 
fällt  aber  auch  hier  das  schon  oben  bei  Schemarja  berührte 
argumentum  ex  silentio  in  Chuschiel's  Brief,  da  er  bei 
der  ziemlich  genauen  Schilderung  seiner  Erlebnisse  seit  dem 
Verlassen  seiner  Heimat  sicher  seiner  etwaigen  Gefangen- 
nahme Erwähnung  getan  hätte. 

')  Vgl.  hierüber  Weiß  a.  a.  O.,  S.  239—240.  Wir  heben  noch 
besonders  hervor  die  Stelle  in  Chananael's  Kommentar  zu  Sulcka  37  b, 
wo  er  nach  Anführung  der  Überlieferung  von  Hai  Qaon  bemerkt: 
'^X^B,,  pK  TiD^fiD  Ht  1"2*l  *ip"j?  lno*; Hl  Ein  prägnantes  Beispiel  für 
die  Bevorzugung  des  Jeruschalmi  findet  sich  auch  im  Komm,  zu 
Sabbat  74b,  wo  er  in  bezug  auf  die  Bemessung  des  Zeitmaßes  für 
den  Ausdruck  "inSxS  gegen  Babli  Gittin27b  nach  dem  Jeruschalmi  ent- 
scheidet: \y-\zy rmiD ^"x  *nöt?m  wtdd  prrotpjn  fva...  p'Din  ^djm. 

*)  Vgl.  Ma-azin  V,  S.  65  und  Brüll  a.  a.  O.,  S.  180,  Harkavy, 
Biographie  des  Samuel  ha-Nagid  (Sichon  Larischonim  II,  1,  S.  9) 

s)  Im  Jahresbericht  des  Breslauer  Jüd.-theol.  Seminars  1905, 
S.  30-31. 

(Fortsetzung   folgt.) 


Besprechungen. 


Salomonski,  Martin,  Gemüsebau  und  -Gewächse  in  Palästina 
zur  Zeit  der  Mischnah.   Berlin,    Poppelauer,  1911.    71  S.  8<>.  M.  2.50. 

Der  Verfasser  ist  an  sein  Thema  leider  mit  unzureichender 
Sachkenntnis  und  unzulänglicher  philologischer  Schulung  herangetreten. 
Die  Arbeit  —  nach  einigen  Bemerkungen  Seybolds  zu  schließen, 
Tübinger  Dissertation  —  ist  ein  bedauerlicher  Rückschritt  gegen  die 
schönen  Monographien  Siegmund  Fränkel'scher  Schüler:  Krengel, 
Rieger  und  Vogelstein.  Dr.  Salomonski  hält  Jacob  Levy,  dessen  un- 
geheure Verdienste  um  die  talmudische  Lexikographie  auf  anderem  Ge- 
biete liegen,  für  eine  kompetente  Autorität  in  bezug  auf  naturhistoriscbe 
Realien.  Neben  Levy  beruft  er  sich  für  Realien  gern  auf  Sammter  und 
auf  lexikalische  Arbeiten  zweiter  Hand.  Obadja  aus  Bertinoro  und 
Israel  Lipschütz  rangieren  ihm  neben,  manchmal  vor  Haj  Gaon,  Mai- 
muni und  Aruch. 

Wer  sagen  kann:  »aus  Lauch  wurde  auch  Mehl  gemacht« 
(S.  28,  N.  7),  dem  geht  die  Befugnis  ab,  über  botanische  Fragen  mit- 
zusprechen. Dabei  zeigt  die  Verwechslung  von  WHD  und  nrBHS  in 
derselben  Frage  (S.  28  und  S.  49!),  daß  die  richtige  philologische 
Schulung  fehlt.  nitp  wird  S.  9  richtig  mit  Schwarzkümmel,  auf 
derselben  Seite  aber  dreimal  mit  Dill  wiedergegeben.  Daß  dem  Ver- 
fasser botanische  Kenntnisse  abgehen,  zeigt  Amalthaea  für  Althaea, 
S.  45  und  Portulaca  odoracea  für  pleracea  an  zwei  Stellen:  S.  55,  56. 
S.  26  sagt  der  Verfasser:  »Daß  ein  in  den  kranken  Schädel  eines 
Tieres  eingesetzter  Kürbisteil  dieses  gesund  erhalten  hätte,  kann  nicht 
ernst  genommen  werden.«  Es  handelt  sich  nicht  um  ein  Tier,  sondern 
um  einen  Menschen.  Wie  sehr  der  Verfasser  diese  Stelle,  für  die 
übrigens  Toßefta  Ohol.  II,  599,  7  auzuführen  war,  mißverstanden  hat 
und  wie  unbegründet  sein  abweisendes  Urteil  ist,  zeigt  die  Gegen- 
überstellung des  folgenden  Passus  aus  Preuß'  schönem  Buche  (Bibl.- 
talm.  Medizin  237):  »Die  älteren  talmudischen  Quellen  berichten  von 
ener  Trepanation  an  einem  Menschen  in  En  bül,  dem  man  später 
den  Schädeldefekt  mit  einer  getrockneten  Kürbisschale  deckte,  wie 
heute  die  Insulaner  mit  Kokosnußscheiben.  Kürbisschalen  zur  Dek- 
kung  von  Trepanationsdefekten  benutzen  auch  die  serbischen  Volks- 
chirurgen.« Hiezu  ist  nur  zu  bemerken,    daß  nach    dem  Wortlaut  der 


744  Besprechungen. 

Quelle  der  Schädeldefekt,  wie  es  scheint,  nicht  durch  Trepanation, 
sondern  durch  einen  Unglücksfall  verursacht  war. 

Die  sprachlichen  Kenntnisse  des  Verfassers  erscheinen  in  eigen- 
tümlichem Licht,  wenn  er  ijtD,  das  er  aus  der  Misch  na  belegt,  für 
aramäisch  hält,  wenn  er  p,TD  und  pJD  (S.  22,  N.  12"»  kombiniert 
oder  (S.  39,  N.  1)  zitiert:  D'^JÖ  bv  '"rntf,  oder  'M  b]}2  Ditf  und 
X'p^ta  (Krauß,  Lehnw.  II,  S.  154!)  zusammenwirft.  Das  systemlos 
zusammengeraffte  Pflanzenverzeichnis  auf  Seite  38  ff.  ist  unverarbei- 
tetes Rohmaterial,  das  der  Verfasser  mit  Hilfe  der  in  seiner  Vorbe- 
meikung  aufgezählten  Hilfsmittel  leicht  hätte  bearbeiten  können.  Den 
Glossen  Maimunis  und  anderer  steht  der  Verfasser  hilflos  gegenüber. 
Druckfehler  liefern  ihm  Schiagworte  für  neue  Pflanzen,  z.  B.  niD, 
S.  51,  das  Zuckermande!  in  den  Errata  zur  Stelle  als  Druckfehler  für 
"niytP  bezeichnet. 

Das  Werkchen  ist  nicht  frei  von  Mißverständnissen,  die  aus  der 
Flüchtigkeit,  mit  welcher  der  Verfasser  arbeitet,  stammen.  Er  sagt  z. 
B.  in  meinem  Namen:  das  griechische  ammi  stamme  von  K^J,  wäh- 
rend ich  es  auf  kjvdx  zurückgeführt  habe. 

Die  Abbildungen  sind  ziemlich  überflüssig.  Irreleitend  ist  es, 
wenn  für  Wassermelone  und  Zuckermelone  eine  Abbildung  geboten 
wird.  An  Druckfehlern  fehlt  es  nicht.  Statt  Kp'rD  schreibt  der  Ver- 
fasser im  Texte  S.  51  und  auf  Tafel  III  xp^D. 

Ich  erlasse  es  mir,  auf  die  sprachlichen  und  botanischen  Einzel- 
heiten einzugehen,  da  die  ganze  Arbeit  von  neuem  gemacht  werden 
muß. 

Szegedin,  im  Dezember  1911.  Immanuel  Low. 


Berichtigung. 

In  meiner  letzten  Besprechung  oben  S.  629  ff.  bitte  ich  folgende 
Druckfehler  zu  berichtigen: 

S.  630,  Ze'le  32  von  unten  muß  es  heißen:  pjoabK  WTiSn'' 
«n:y;  das.  Z.  3  v.  u.  lies  ibtt  statt  I^ä;  das.  Z.  3  v.  u.  I.  DTK*?  st. 
D-ikS;  S.  631,  Z  7  I.  D-iD  für  uvy;  das.  Z.  14  1.  in.  E.  st.  mit  E. ; 
das.  Z.  20  I.  icrtp  st.  IDJ'IP. 

Stockholm  M.  Fried. 


Notiz. 

Jüdische  Spitäler  im  Mittelalter.  Zugleich  eine  Bitte  von  Prof« 
Dr.  med.  K.  Baas,  Karlsruhe. 

Bei  Nachforschungen  über  das  Medizinalwesen  im  mittelalter- 
lichen Worms  fiel  mir  in  der  »Geschichte  der  rheinischen  Städte- 
kultur« von  H.  Boos  eine  kurze  Notiz  über  ein  jüdisches  Spital 
daselbst  auf. 

Obwohl  ich  nun  glaube,  im  mittelalterlichen  Hospitalwesen 
ziemlich  bewandert  zu  sein,  war  mir  doch  über  ein  jüdisches  Hospital 
zu  jener  Zeit  bis  dahin  gar  nichts  bekannt  geworden.  Auf  eine  An- 
frage bei  H.  Boos  antwortete  mir  dieser,  daß  seine  Angabe  sich  auf 
eine  spätere  Zeit  beziehe,  da  es  im  Mittelalter  solche  Häuser  nicht 
gegeben  habe.  Eine  mündliche  Rücksprache  mit  K.  Sudhoff,  Leipzig 
ergab,  daß  auch  diesem  von  solchen  Anstalten  noch  nichts  entgegen- 
getreten war;  ich  selbst  konnte  aber  damals  hinzufügen,  da  ich  über 
Frankfurt  a.  M.  eine  diesbezügliche  Notiz  gefunden  hatte:  Kriegk 
gibt  in  seinem  »Deutsches  Bürgertum  im  Mittelalter«  an,  daß  in 
Frankfurt  im  Mittelalter  ein  Judenspital  gewesen  sei. 

Inzwischen  habe  ich  nach  weiteren  Nachrichten  gesucht  und 
einiges  entdeckt:  Jäger  erwähnt  in  seinem  »Schwäbischen  Städtewesen 
im  Mittelalter«,  Bd.  I.,  1831  (Ulm),  daß  in  dieser  Stadt  neben  der 
Judenbadstube,  dem  Friedhof  auch  ein  Judenspital  bestanden  habe, 
welches  in  einer  Urkunde  von  1499  aufgeführt  wird. 

In  einem  Aufsatz  in  der  Westdeutschen  Zeitschrift  für  Ge- 
schichte, XII,  erwähnt  G.  Liebe  die  Verleihung  des  (jüdischen)  Spitals 
zu  Trier,  die  am  12.  Oktober  1422  geschah. 

Aronius,  Regesten  zur  Geschichte  der  Juden,  bringt  unter  Nr.  606 
aus  der  Zeit  »vor  1255«  eine  urkundliche  Angabe  über  ein  Haus  neben 
dem  Judenspital  in  Köln;  Brisch  setzt  in  seiner  »Geschichte  der 
Juden  in  Köln«  (I.  S.  19)  die  Erbauung  dieses  hospitales  in  das  elfte 
Jahrhundert,  jedoch  ohne  ausreichende  Begründung. 

In  einer  Urkunde  von  1210  schließt  Abt  Eberhard  von 
St.  Emmerau  in  Regensburg  mit  dem  Juden  Abraham  und  Ge- 
nossen einen  Vertrag  über  ein  Haus:  »Est  antem  domus  hospitalis 
Judeorum  in  Panzauswinckel«. 


746  Notiz. 

Dies  ist  alles,  was  ich  zur  Zeit  anführen  kann;  ob  Kassel  in 
den  mir  bis  jetzt  nicht  zugänglichen  »Studien  über  das  Hospitalwesen 
bei  den  Israeliten,  1869«  die  ich  als  in  ihren  Ergebnissen  zu  weit- 
gehend erwähnt  gefunden  habe,  mehr  bringt,  vermag  ich  nicht  zu  sagen. 

Jedenfalls  liegt  hier  ein  Thema  vor,  dem  nachzugehen  interessant 
und  wichtig  ist,  wenn  man  die  Stellung  der  jüdischen  Arzte  in  der 
mittelalterlichen  Geschichte  der  Medizin  bedenkt,  sowie  die  hygi- 
enischen Gesetze  des  Judentums  überhaupt.  Daher  richte  ich 
an  alle,  die  über  jüdische  Spitäler  im  Mittelalter 
etwas  wissen,  die  Bitte,  mir  ihr  Material  möglichst 
genau  und  weitgehend,  mit  guten  Quellenangaben 
und  Belegen  zukommen  zu  lassen;  das  Ergebnis  werde  ich 
dann  allen  Helfern  unterbreiten. 


* 


Bibliographische  Übersicht 

über  die  im  Jahre  1910  erschienenen  Schriften. 

Von  M   ßrann. 

I.  Zeitschriften  und  Sammelschriften. 

Bericht,  28.,    der  Lehranstalt    für   die  Wissenschaft  des  Judentums  in 

Berlin  (N.  24,  Arttlleriestr.  14),  (74  S.)  8.  Berlin,  Mayer  u.  Müller,  1910. 
Eisenstein,  J.  D.,  bxw  "lilix.  Jüdische  Encyklopädie  in  hebr.  Sprache. 

New-York.  Selbstverlag,  Bd.  IV.  ffnn-Jxn)  V  u.  320  S.    1910.    4. 
Hurwitz,  S..  TflJH.  Jahrbuch  für  Wissenschaft  und  Literatur.  Bd.  III, 

Berlin  1910. 
Jahrbuch    für   jüdische  Geschichte  u.  Literatur.    Herausgegeben   vom 

Verbände   der  Vereine   für   jüdische    Geschichte    und  Literatur   in 

Deutschland.  13.  Bd  Berlin,  M.  Poppelauer,  1910  (III,  2/2  u.  57  S.)  8. 
Jahrbuo  der  jüdisch-literarischen  Gesellschaft.  (Sitz:  Frankfurt  a.  M.) 

VII,  1909-5670.  (III,  381  u.  56  S.)  8.   Frkf   a.  M.  J.  Kauffmann  10. 
JewUh  Quarterly  Review,  new  Series.  Edited  for  thc  Dropsie  College 

for  hebr.  and  cognate  learning.  ByCyrus  Adler  and  S.  Seh  echter. 

Philadelphia.  Bd.  I.  4  Nrn.  1910.  8. 
Jewreskaja  Starina  (russ.)  Herausgegeben  v.  S.  M.  Dubnow.  Jahrg.  II. 

4  Nrn    St.  Petersburg  1910  (664  S)  8. 
Klausner,  J.  u.  Bialik,  Ch.  N.,  nL;B>n.  Monatsschrift  für  Literatur,  Wis- 

schaft  u.  Leben.  Bd.  20.  12  Nrn.  Odessa  1910.  8. 
Lewin,  B.,  "OiDSnn.  Literarisch-wissenschaftliches  Jahrbuch  des  Vereins 

jüdischer  gesetzestreuer   Studenten    »Tachkemoni«  in  Bern.  I   Jeru- 
salem 1910  (72  S.)  8 
Luncz,  A.  M..  ^xitri  pK  m^.    Literarischer,    palästinischer   Almanach 

f.  das  Jahr  1910/11.  XVI.  Jahrg.  Jerusalem,  A.  M.  Luncz,  1910.  (68, 

162  u.  52  S.)  8. 
—  dSbm*V.  Jahrbuch    zur  Beförderung  einer  wissenschaftlich  genauen 

Kenntnis  des  jetzigen  u.  des  alten  Palästinas.  VIII.   Jerusalem  1910 

(360  S.)  8. 
Mitteilungen  u.  Nachrichten  des  deutschen  Palästina-Vereins.  Hrsg.  im 

Auftrage  des  Vorstandes  v.  Lic.  Dr.  G.  Hölscher.    33.  Jahrg.    1910 

6  Nrn.  8.  Leipzig,  K.  Baedeker. 


748  Bibliographische  Übersicht. 

Ost  und  West.  Illustrierte  Monatsschrift  für  modernes  Judentum.  Jahrg. 
IX.  12  Nrn.  Berlin  1910. 

Palästina.  Monatsschrift  für  die  wirtschaftliche  Erschließung  Palästinas. 
Jahrg.  VII.  12  Nrn.  Berlin  1910. 

Palästina-Jahrbuch  des  deutschen  evangelischen  Instituts  für  Altertums- 
wissenschaft des  hl.  Landes  zu  Jerusalem.  Jahrg.  VI.  Berlin  1910. 

Reich,  Im  Deutschen.  Zeitschrift  des  Zentralvereins  deutscher  Staats- 
bürger jüdischen  Glaubens.  Jahrg.  XVI.  12  Nrn.  Berlin  1910. 

Revue  des  Etudes  Juives.  Publication  trimestrielle  de  la  Societe  des 
etudes  juives.  Paris,  Durlacher,  1910.  Tomes  LVI  u.  LVII.  Nr.  115—118. 

Rivista  israeütica.  Periodico  bimestrale  per  la  scienzia  e  la  vita  de 
giudaismo.  Jahrg.  VII,  6  Nrn.  1910. 

Slagter,  S.  M.,  npbn.  Maanblad  voor  Leer  en  Leven  des  Jodendoms. 
Organ  der  joedsch  literaire  club  te  Roterdam.  Roterdam,  I.  12  Nrn. 
1910.  8. 

Gzemle,  Magyar  Zsidö.  Herausg.  v.  Dr.  Ludwig  Blau.  Jahrg.  XXVIII. 
4  Nrn.  Budapest  1910. 

Zeitschrift  für  die  alttestamentliche  Wissenschaft.  Herausg.  v.  Karl 
Marti.  XXX.  Jahrg.  4  Nrn    Gießen,  Alfr.  Tögelmann,  1910. 

Zeitschrift  für  Demographie  und  Statistik  der  Juden.  Jahrg.  VI.  12  Nrn. 
Berlin  1910. 

Zeitschrift  für  hebr.  Bibliographie.  Herausg.  v.  Dr.  A.  Freimanu.  Jahrg. 
XIV.  6  Nrn.  Frkf.  a.  M.,  J.  Kauffrnann,  1910. 

II.  Hebr.  und  aramäische  Sprachwissenschaft. 

Ben  lehuda,  Ed.,  JVoyn  \wbn  p^D.  Tnesaurus  totius  hebraitatis.  Vol. 
II.  (D"2-npDn).  Beri.  Schönebg.,  Langenscheidt's  Verl.  1910.  (S. 
581     116Ü).  8. 

Sesenius,  W.,  Hebräisches  und  aramäisches  Handwörterbuch  über  das 
Alte  Testament  in  Verb,  mit  H.  Zimmern,  W.  Max  Müller  u.  O. 
Weber,  bearbeitet  v.  Franz  Buhl.  15.  Aufl.  Leipzig,  E.  W.  Vogel, 
1910  (XVII,  1006  S.)  8. 

^  öaig,  Ed.,  Hebräisches  und  aramäisches  Wörterbuch  zu»  Alten  Te- 
stament mit  Einschaltung  und  Analyse  aller  schwer  erkennbaren 
Formen  und  deutsch-hebr.  Wortregister.  Erste  Lieferung.  Leipzig 
1910  (VII,  1S2  S.)  8.      ^ 

Bermann,  S.,  JVVlCtP  .TfiDnSDnn.  Praktische  Chrestomathie  der  hebr. 
Sprache  für  die  Jugend.  Warschau,  Verlag  »Tuschijah«  1910  (VIII, 
169  S) 

Bauer,  H.,  Die  Tempora  im  Semitischen,  ihre  Entstehung  und  ihre 
Ausgestaltung  in  den  Einzelsprachen.  [Beiträge  zur  Assyriologie  u. 


Bibliographische  Übersicht.  749 

semit.    Sprachwissensch.    Herausgeg.   v.    Delitzch    u.  Haupt,    VIII, 

Heft  1]  Leipzig,  J.  C.  Hinrichs,  1910  (53  S.)  8. 
Gordcn,  Arj.  L.,  Die  Verbalformen  des  Pentateuch.  Herausgeg.  v.  El. 

Landau.  Jerusalem,  Luncz,  8. 
Neuhausen,    Ch.  S.,    D^yci   mDB^   rrtDJ   nimS*    Flexionstabellen    der 

Haupt-  und  Zeitwörter.  Newyork,  Druckermann,  1910.  (31  S.)  8. 
Priok,  Sah,   yynn   min.     Hebr.    Elementargrammatik    zum    Schulge- 

braucb.  Teil  I.  Odessa  1910  (4  u.  55  S.)  8. 


Margolis,  Prof.fcDr.  Marc  L..    Lehrbuch  der  aramäischen  Sprache    des 

babylonischen  Talmuds.  Grammatik,  Chrestomathie  und  Wörterbuch. 

Deutsche  Ausg.  (XVI.,  99  u.  184  S.)  4. 
Bauer,  L.,  Das  Palästinische  Arabisch.  Die  Dialekte  des  Städters  und 

des    Fellachen.   Grammatik,    Übungen    u.    Chrestomathie,  2.  vollst. 

umgearb.  Aufl.  Leipzig  1910  (X.,  256  S.)  8. 
Meissner,   Br.,    Seltene   assyrische    Ideogramme.    Leipzig    1910.  (XX., 

721  S.)  4. 

HL  Bibelwissenschaft. 

A'Jori,  B,  H.,  Old  Testament,  histoiy  and  literature.  London,  Long- 
mans,  1910  (333  S.)  8. 

Bainvel,  J.  V.,  De  scriptura  sacra.  Paris  1910.  (VIII.  214  S.)  8. 

Cumont,  Fr.,  Die  orientalischen  Religionen  im  römischen  Heidentum. 
Leipzig  u.  Berlin  1910.  (XXIV.,  344  S.)  8. 

Sunkel,  Prof.  Dr.  Herrn.,  Die  Religionsgeschichte  und  die  alttesta- 
mentlicbe  Wissenschaft.  Vortrag.  [Aus:  »Protokoll  d.  5.  Weltkongr. 
f.  freies  Christent.  u.  relig.  Fortschritt«],  8.  Berlin-Schöneberg. 
Protestant.  Schriftenvertrieb.  1910. 

Kittel,  R.,  Die  alttestamentliche  Wissenschaft,  in  ihren  wichtigsten 
Ergebnissen  mit  Berücksichtigung  des  Religionsunterrichts  darge- 
stellt. Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  1910,  (VIII,  224  S.)  8. 

Engert,  Th.,  Das  Alte  Testament  im  Lichte  modernistisch-katholischer 
Wissenschaft.  München  1910.  (VIII.,  226  S.)  8. 

König,  Ed.,  Das  alttestamentliche  Prophetentum  und  die  moderne 
Geschichtsforschung.  Gütersloh,  C.  Bertelsmann  1910.  (94  S)  8. 

(Uppers,  W.,  Das  Alte  Testament  u.  die  neueste  Forschung.  Königs- 
berg, Ev.  Buchh.  ca.  —  40. 

Löhr,  Max.,  Israels  Kulturentwicklung.  Straßburg,  K.  J.  Trübner. 


Gressmann,  Hugo,  Gunkel  Herrn.  HallerM.,  Schmidt  Hans, 
Stärk  W.,  Volz  P.,  Die  Schriften  des  Alten  Testaments,  in  Aus- 
wahl neu  übers,  u.  f.  die  Gegenwart  erklärt.  II.  Abt.  Prophetismus 


750  Bibliographische  Übersicht. 

u.  Gesetzgebg.  des  Alten  Testaments  im  Zusammenhange  d.  Gesch. 

Israels.  Lex -8.  Göttingen,  Vandenhoek  u.  Ruprecht. 
Bsranowitz,  D.  El.  ntP"in  "JTt  Beiträge  zur  Bibelexegese.  Wilna  1910. 

(32  S.)  8. 
mim  hv  ^Dl  ^"ipl  von  R.  Elia  Wilna.    Herausgeg.   von  El.  Landau. 

Jerusalem,  Luncz  1910.  8. 
Fraenkel,  B.,  "»iSfi  n^a.  Kabalistische  Auslegung  zum  Pentateuch.  Lem- 

berg,  Selbstverlag  (4)  u.  33  Bl.  8. 
ipschütz,  N.,  anB^  "n*T.  Kritik  der  Darstellung  J.  H.  Weiss'  in  seinem 

Vttnn    -1H   in,    bibl.    Zeit.    Heft    II.   Pietrkow,    Zederbaum,    1910. 

(124  S.)  8. 
Wiener,  H.  M.,  Essays  in  Pentateuchal  Criticism.    London,    E.   Stock, 

1910  (XIV,  239  S.)  8. 

Hetzenauer,  M.,  Introductio  in  librum  Genesis,  in  qua  etiam  de  au- 
thentia  Pentateuchi  necnon  de  inspiratione  et  interpretatione  scrip- 
turae  agitur.  Graecii  et  Viennae  1910  (VII,  120  S.)  8. 

Gunkel,  H.,  Genesis,  übers,  und  erkl.  3.  neubearb.  Aufl.  Mit  ausführ- 
lichen Registern  von  Paul  Schorlemer.  Göttingen,  Vandenhoek 
&  Rupprecht,  1910  (CIV,  510  S.)  8. 

Kirchner,  Aloys,  Die  babylonische  Kosmogonie  u.  der  biblische 
Schöpfungsbericht.  Ein  Beitrag  zur  Apologie  des  bibl.  Gottes- 
begriffes. (IV,  76  S.) 

Hilprecbt,  Herrn.  V.,  Der  neue  Fund  zur  Sintflutgeschichte  aus  der 
Tempelbibliothek  v.  Nippur.  Leipzig,  J.  C.  Hinrichs  Verl. 

Lotz,  Wilh.,  Abraham,    Isaak    u.   Jakob.    Gr.-Lichterfelde,    E,   Runge. 

Jensen,  P.  Moses,  Jesus,  Paulus.  3  Varianten  des  babylon.  Gott- 
menschen Gilgamesch.  Eine  Anklage  u.  e.  Appell.  3.  abermals 
bereicherte  Aufl.  4—6  Taus.  (64  S.)  8.  Frankfurt  a.  M.,  Neuer 
Frankfurter  Verlag.  1910. 

Knudtzon,  J.  A.,  Die  El-Amarna-Tafeln.  12.  Lfg.  (S.  1057—1152.)  1910. 

Eerdmans,  B.  D.,  Alttestamentliche  Studien.  III.  Das  Buch  Exodus. 
Giessen  1910  (III,  147  S.)  8. 

Weiss,  Prof.  Dr.  Joh.,  Das  Buch  Exodus.  Übers,  u.  erklärt.  (LXXI, 
363  S.)  8.  Graz,  Styria  1910. 

Puukko,  A.  Filemon,  Das  Denteronomium.  Eine  literarkrit.  Untersuchg. 
(VIII.  303  S.)  1910.  8. 


Ehrlich,  Arnold  B.,  Randglossen  zur  hebräischen  Bibel.  Textkritisches, 
Sprachliches  u.  Sachliches.  3.  Bd.  Josua,  Richter,  I  u.  II  Samuelis. 
(346  S.)  Lex.  8.  Leipzig  J.  C.  Hinrichs  Verl.  16. 

Dhorme,  P.,  Les  livres  de  Samuel.  Paris  1910.  (X,  448  S.)  8. 


Bibliographische  Übersicht.  751 

Maurenbrecher,  Max,  Die  Propheten.  (Skizze  der  Entwickig.  der  israel. 

Religion)  (66  S.)  1910. 
Eisenberg,  J.,  Das  Leben  der  Propheten  nach  der  arabischen  Legende, 

ins    Hebräische    übertr.    1.  Liefg.    Hiob    u.    Moses    (IV,    40   S.)   8. 

Leipzig,  M.  W.  Kaufmann.   1910. 
Hirsch,  Jul.,  Das  Buch  Jesaia   nach    dem   Forschungssystem  Rabbiner 

Samson  Raph.  Hirschs  übers.  Frankf.  a.  M.,  J.  Kauffmaun. 
Kober,  Reinh.,  Der  Prophet  Jesaja,  erklärt.  (154  S.)  Konstanz,  Christi. 

Buch-  u.  Kunstverlag,  C  Hirsch.  1910.  8. 
Leimbach,  Karl.  2.  Heft.  Das  Buch  des  Propheten  Jesaias.  Kap.  40—66 

übers,  u.  kurz  erkl.  2.  Aufl.  (147  S.)  1910.  8. 
Duhm,  B.,  Die  12  Propheten.    In  den  Versmaßen   der  Urschrift  über- 
setzt. Tübingen  1910  (XXXIX,  143  S.)  8. 
Procksch,  O.,  Die  kleinen  Prophetenschriften    vor   dem  Exil  (Hosea, 

Arnos,    Micha,    Nahum,    Habakuk,  Sephanja).    Calw.    u.    Stuttgart, 

Vereinsbuchb.  1910.  8. 
Lippl,  Jos.,  Das  Buch  des  Propheten  Sophonias.  Erklärt.  (XVI,  140  S.) 

1910.  8.  

Müller,  Pfr.  Olieb.,  Studien  zum  Text  der  Psalmen.  (77  S.)  1910.  8. 
Nobel,  Jos.,    Libanon.   Exegetisch-homiletischer    Kommentar    zu    den 

Psalmen.    I.    Tl.:   Buch    I.   u.    II  (560   S.)    8.    Halberstadt,    Selbst- 
verlag, 1910. 
Stuhrmana,  Dir.  P.  Heinr.,   Der  Psalter,  erklärt.  2  TIe.  168  u.  156  S.) 

Konstanz,  Christi.  Buch-  u,  Kunstverlag  C.  Hirsch.  1910.  8. 
Löwenthal,  Rabb.  Dr.  A.,  Jona  Gerundi   u.   sein  ethischer  Kommentar 

zu  den  Proverbien.    Gedr.  m.  Unterstützg.  der  >Zunzstiftg.«  u.  der 

»Gesellsch.  zur  Förderg.  der  Wissenschaft  des  Judentums«  zu  Berlin. 

(146  u.  36  S.)  8.  Berlin,  M.  Poppelauer,  1910. 
Lange,  Realschul-Dir.  Dr.  Gerson,  Das  Buch  Koheleth.  Übers,  u.  erklärt. 

(VI,  64  S.)  8.  Frankf.  a.  M.,  A.  J.  Hofmann,  1910. 
Lauenburg,  M.  S.,  Koheleth  mit  hebr.  Komm,  nobt?  "nox.   Warschau, 

Selbstverlag,  1910  (36  S.)  8. 
Breuer,  Rabb.  Dr.  Raph.,    Die  fünf  Megillotb,   übers,  u.  erläut.  5.  Tl. 

Esther  (VIII,  102  S.)  8.  Frankf.  a.  M.,  A.  J.  Hofmann,  1910. 
Torrey,  Ch.  C,  Ezra  Studies    Chicago,  University  of  Chicago  Press, 

1910  (XV,  346  S.)  8. 
Tneis,  Jobs.,  Geschichtliche  u.  literar-kritische  Fragen    in  Esra.  1.— 6. 

(Schluß-)Heft  (VIII,  87  u.  III  S.)  1910.  8. 
(Fortsetzung  folgt.) 


Neunter  Jahresbericht  der  Gesellschaft  zur  Förderung  der 
Wissenschaft  des  Judentums. 

Zu  unserem  tiefen  Schmerz  müssen  wir  den  nachstehenden 
neunten  Geschäftsbericht  unserer  Gesellschaft  wieder  mit  einem 
Nachruf  eröffnen.  Im  71.  Lebensjahre  ist  am  4.  August  d.  J.  das 
Mitglied  unseres  Ausschusses,  Herr  Rabb.  Dr.  Heynemann  Vogel- 
stein, Stettin,  uns  durch  den  Tod  entrissen  worden.  Der  Verstorbene 
hat  durch  Erstattung  zahlreicher  Gutachten  und  rege  Teilnahme  an 
unsern  Beratungen  sich  um  unsere  Gesellschaft  verdient  gemacht;  die 
»Praktische  Theologie  des  Judentums«,  welche  er  als  Teilwerk  unseres 
Grundrisses  der  Gesamtwissenschaft  des  Judentums  zu  schreiben 
übernommen  hatte,  hat  er  leider  nicht  vollendet.  Wir  werden  Heyne- 
mann Vogelstein,  seinen  vornehmen  Charakter  und  sein  schlichtes, 
freundliches  Wesen  nie  vergessen. 

Mit  den  Ergebnissen  des  abgelaufenen  Geschäftsjahres  können 
wir  im  wesentlichen  zufrieden  sein.  Die  Generalversammlung  der 
Gesellschaft  wählte  am  27.  Dezember  1910  den  bisherigen  Ausschuß 
der  Gesellschaft  durch  Zuruf  wieder,  und  in  der  am  gleichen  Tage 
stattfindenden  konstituierenden  Sitzung  bestätigte  der  Ausschuß  den 
bisherigen  geschäftsführenden  Vorstand  in  seinen  Ämtern.  In  den 
Ausschuß  eingetreten  sind  die  Herren  Prof.  Dr.  K  a  1  i  s  c  h  e  r-Berlin, 
Prof.  Dr.  Mittwoch-Berlin,  Prof.  Dr.  S  o  b  e  r  n  h  ei  m- Berlin  und 
Rabb.  Dr.  Poznanski  -Warschau. 

Unser  Mitgliederbestand  hat  eine  Zunahme  von  121,  eine  Ab- 
nahme von  39  Mitgliedern  zu  verzeichnen,  sodaß  wir  mit  einem  tat- 
sächlichen Gewinn  von  82  Mitgliedern  abschließen  ;  dazu  kommt  die 
Gewinnung  eines  neuen  immerwährenden  Mitgliedes.  Wir  lassen  wie 
bisher  eine  Tabelle  folgen,  aus  der  die  Verteilung  der  Mitglieder  auf 
die  einzelnen  Länder  ersichtlich  ist. 


Protokolle. 

Ortschaften 

immenw  1     Zahl. 
Mitglieder 

Deutschland  .    .    . 

225 

26 

1020 

Österreich-Ungarn 

77 

3 

216 

Vereinigte  Staaten 

von  Nordamerika 

19 

— 

35 

Rußland     .... 

6 

— 

17 

Niederlande 

6 

— 

10 

Schweiz     . 

4 

— 

14 

Italien    .    . 

4 

— 

4 

Schweden  . 

3 

— 

3 

England     . 

2 

— 

22 

Dänemark 

— 

6 

Frankreich 

1 

4 

Belgien 

3 

1 

Rumänien 

1 

— 

Bulgarien  . 

— 

1 

Luxemburg    . 

— 

1 

Serbien      .    . 

— 

1 

Türkei   .    .    . 

._ 

1 

Transvaal  .     . 

— 

2 

Argentinien    . 

— 

1 

Indien    .     .     • 

1 

753 


34 


1360 


Unsere  Einnahmen  betrugen  28.851,07  M.  gegenüber  buch- 
mäßigen Ausgaben  von  27.454,37  M.,  der  Fehlbetrag  ist  seit  dem 
Vorjahre  von  1.501,40  M.  auf  104,70  M.  gesunken.  Dieses  anscheinend 
günstige  finanzielle  Ergebnis  wird  aber  nur  dem  Umstände  verdankt, 
daß  wir  unsere  Kasse  durch  den  im  Vorjahre  begründeten  Sonder- 
fonds von  den  Ausgaben  für  das  Corpus  Tannaiticum  entlasten  konnten, 
die  im  Berichtsjahre  3.343,90  M.  betrugen,  so  daß  in  Wahrheit  unsere 
Ausgaben  die  Einnahmen  bei  weitem  übersteigen.  Dieses  Mißverhältnis 
hat  auch  die  Steigerung  der  Mitgliederzahl  nicht  beseitigen  können  : 
Der  Qesundung  und  Kräftigung  unserer  Finanzen  werden  wir  daher 
vorerst  unsere  stete  Beachtung  auch  weiter  widmen  müssen.  —  Mit 
besonderem  Danke  vermerken  wir  die  Bewilligung  eines  Zuschusses 
von  1000  M.  seitens  der  Baronin  Cohn-Oppenheim-Stiftung  in  Dessau, 
deren  erste  Rate  mit  500  M.  bereits  im  vorliegenden  Bericht  unter 
den  Einnahmen  erscheint. 


Monatsschrift,  56.  Jahrgang. 


48 


754  Protokolle. 

Unsere  Mitglieder  erhielten  auch  in  diesem  Jahre  die  Monats- 
schritt für  Qeschichte  und  Wissenschaft  des  Judentums  und  das 
Jahrbuch  für  jüdische  Geschichte  und  Literatur,  Jahrg.  1911,  ferner 
den  Vortrag  »Die  Stellung  des  Aristoteles  bei  den  Juden  des  Mittel- 
alters« von  Dr.  S.  H  o  r  o  v  i  t  z,  sowie  auf  Wunsch  den  2.  Band  der 
Gesammelten  Schriften  von  D.  Kaufmann,  hrsg.  von  M.  B  r  a  n  n, 
das  Werk  Aus  Lion  Gomperz'  Nachgelassene  Schriften  und  die 
Mitteilungen  des  Gesamtarchivs  der  deutschen  Juden,  hrsg.  von  E„ 
Tä  übler.  Ferner  vermittelten  wir  wie  früher  unseren  Mitgliedern 
den  Bezug  einer  Anzahl  von  Büchern,  darunter  die  aus  Anlaß  des 
70.  Geburtstages  des  Herrn  Prof.  Dr.  Lew  y-Breslau  erschienene 
Festschrift,  und  Zeitschriften  zu  ermäßigten  Preisen. 

Die  Gesellschaft  gab  außer  der  Monatsschrift  heraus :  1.  S. 
Krauß,  Talmudische  Archäologie,  Bd.  2.  2.  M.  P  h  i  1  i  p  p  s  o  n, 
Neueste  Geschichte  des  jüdischen  Volkes,  Bd.  3  (Bd.  7  und  8  des 
Grundrisses  der  Gesamtwissenschaft  des  Judentums).  3.  S.  Horovitz, 
Die  Stellung  des  Aristoteles  bei  den  Juden  des  Mittelalters. 

Im  Druck  befinden  sich  S.  Krauß,  Talmudische  Archäologie, 
Bd.  3  und  N.  Müller,  Die  jüdische  Katakombe  am  Monteverde  zu 
Rom.  Die  von  A.  Yahuda  veranstaltete  Originalausgabe  der  Herzens- 
pflichten  von  B  a  c  h  j  a  wird  im  Januar  1912  im  Buchhandel  erscheinen. 

Von  der  russischen  Übersetzung  der  Neuesten  Geschichte  des 
jüdischen  Volkes  von  M.  P  h  i  1  i  p  p  s  o  n  ist  der  2.  Band  erschienen  ; 
die  Übersetzung  der  Krauß'schen  Talmudischen  Archäologie  ins 
Hebräische  ist  beabsichtigt. 

Mit  Subvention  der  Gesellschaft  ist  erschienen:  1.  H  e  p  p  n  e  r- 
Herzberg,  Aus  Vergangenheit  und  Gegenwart  der  Juden  und  der 
jüdischen  Gemeinden  in  den  Posener  Landen,  Heft  17;  2.  M- 
Guttmann,  Mafteach  hatalmud.  Heft  8  (Schlußheft  des  1.  Bandes); 
3.  Talmud  Hierosolymitanum  ed.  A.  M.  Lu  n  c  z;  4.  I.  M.  Tolidano. 
Geschichte  der  Juden  in  Marokko.  Ferner  subventionierte  die  Gesell- 
schaft die  Publikationen  des  Vereins  Mekize  Nirdamim  und  des  Ver- 
bandes für  Statistik  der  Juden  sowie  die  Studienreise  des  Herrn 
Rabb.  Dr.  Klein-Tuzla  nach  dem  heiligen  Lande,  die  dieser  für 
die  Bearbeitung  seines  Grundrißteilwerkes:  »Historische  Geographie 
von  Palästina«  unternommen  hat. 

Die  Monatsschrift  für  Geschichte  und  Wissenschaft  des  Juden- 
tums ist  nach  wie  vor  bemüht  gewesen,  die  verschiedenen  Gebiete 
unserer  Sonderwissenschaft,  soweit  die  Neigung  der  Mitarbeiter  es 
zuließ,  gleichmäßig  zu  pflegen.  Das  Angebot  zum  Druck  geeigneter 
Abhandlungen  ist  noch  immer  in  erfreulichem  Wachstum  begriffen. 
Es  wäre  darum  im  Interesse  der  Wissenschaft  höchst  erwünscht,  wenn 


Protokolle.  755 

die  materiellen  Mittel  vorhanden  wären,  den  Umfang  der  Zeitschrift 
zu  erweitern.  Freilich  überwiegen  noch  immer  Beiträge  aus  dem 
Bereich  der  nachtalmudischen  Geschichte  und  Literatur.  Daneben  sind 
die  wichtigen  Veröffentlichungen  des  letzten  Jahres,  z.  B.  die  Sachaus 
über  die  Papyrusfunde  in  Elefantine  und  die  Mitteilungen  Schechters 
zur  Ketzergeschichte  aus  der  Kairiner  Genisa  ausführlich  behandel 
worden.  Die  übrigen  Aufsätze  behandeln  Gegenstände  aus  den  Ge- 
bieten der  Bibelwissenschaft,  der  Traditionsliteratur,  der  Geschichte 
der  exegetischen  und  religionsphilosophischen  Literatur.  Die  Ein- 
richtung, möglichst  in  jedem  Hefte  einen  Aufsatz  zu  veröffentlichen, 
der  geeignet  ist,  das  Interesse  weiterer  Leserkreise  zu  erwecken, 
ist  beibehalten  worden.  Die  wichtigsten  Neuerscheinungen  auf 
den  mannigfachen  Gebieten  sind  wie  bisher  eingehend  besprochen 
worden.  Im  neuen  Jahrgang  sollen  die  kurzen  Mitteilungen  aus 
Büchern  und  Zeitschriften,  die  sich  der  lebhaften  Zustimmung 
weiterer  Kreise  erfreuten,  wieder  aufgenommen  werden.  Die  kurze 
bibliographische  Übersicht  der  Neuerscheinungen  ist  in  der  bisherigen 
Weise  fortgesetzt  worden. 

Im  Anschluß  an  die  im  Dezember  1910  abgehaltene  Ausschuß- 
sitzung fand  eine  Sitzung  der  Kommission  für  das  Corpus  Tan- 
naiticum  statt.  In  dieser  wurde  nach  eingehender  Beratung  be- 
schlossen, daß  von  einem  Anschluß  der  Baraithas  an  die  Mischna- 
ausgabe  mit  Rücksicht  auf  die  dagegen  erhobenen  wichtigen  Bedenken 
abzusehen  sei.  Zur  Vervollständigung  des  kritischen  Apparates  sollen 
aus  der  älteren  nachtalmudischen  Literatur  die  in  ihr  sich  findenden 
Varianten  des  Mischnatextes  gesammelt  und  für  die  Edition  benutzt 
werden.  Herr  Seminardozent  Dr.  H  o  r  o  v  i  t  z-Breslau  hat  es  über- 
nommen, eine  solche  Variantensammlung  zu  veranstalten.  Die  Vor- 
arbeiten für  die  Toseftaedition  werden  von  Herrn  Rabb.  Dr.  Krengel- 
B.-Leipa  erfolgreich  weiter  fortgeführt. 

Die  Mitarbeiter  an  Teil  I  der  Germania  Judaica  haben 
ihre  Beiträge  zum  festgesetzten  Zeitpunkt  abgeliefert.  Nur  ein  einziger 
ist  im  Rückstand  geblieben.  Die  von  ihm  nicht  bearbeiteten  Artikel 
haben  darum  den  andern  Mitarbeitern  überwiesen  werden  müssen 
und  werden  hoffentlich  noch  vor  Ablauf  dieses  Jahres  fertig  gestellt 
sein.  Es  wird  dann  sofort  mit  der  Schlußredaktion  und  Drucklegung 
des  1.  Bandes  begonnen  werden.  Die  zur  Vorbereitung  des  2.  Bandes 
eingesetzte  Kommission  hat  am  9.  Oktober  d.  J.  in  Breslau  eine 
Sitzung  abgehalten  und  dabei  wesentlich  nach  den  Vorschlägen  des 
Herrn  Dr.  Täubler,  des  Leiters  des  Gesamtarchivs  der  deutschen 
Juden,  die  Grundsätze  festgestellt,  nach  denen  die  gemeinsame  Arbeit 

48* 


756  Protokolle. 

der  Redaktion    der    Germania  Judaica    und    des    Oesamtarchivs    der 
deutschen  Juden  erfolgen  soll. 

Für  den  zweiten  Band  des  Maimonideswerkes  liegt  eine 
größere  Anzahl  von  Abhandlungen  druckbereit  vor.  Einige  für  diesen 
Band  in  Aussicht  genommene  Abhandlungen  stehen  noch  aus.  Nach 
deren  Einlieferung  soll  mit  dem  Druck  begonnen  werden. 

Der  Ausschuß  bewilligte  in  seinen  Sitzungen  vom  27.  Dezember 
1910  und  26.  Juni  1911  Subventionen:  1.  Herrn  Rabb.  Dr.  Bam- 
berg e  r-Wandsbek  für  seine  Orabsteinforschungen  auf  Fehmarn; 
2.  Herrn  Rabb.  Dr.  H  e  p  p  n  e  r-Koschmin  für  seine  Studien  zur  Ge- 
schichte der  Juden  in  der  Provinz  Posen ;  3.  Herrn  Rabb.  Dr.  K 1  e  i  n 
Dolnja-Tuzla  für  seine  Studienreise  nach  Palästina;  4.  Herrn  Rabb. 
Dr.  Th  eo  d  or-Bojanowo  für  seine  Ausgabe  des  Bereschit  Rabba; 
und  1.  dem  Verbände  für  Statistik  der  Juden;  2.  dem  Verein  Mekize 
Nirdamim  für  ihre  Veröffentlichungen;  3.  Herrn  Doz.  Dr.  Eppen- 
stein-Berlin  für  seine  Ausgabe  des  Pentateuchkommentars  von 
Abraham  Maimuni;  4.  Herrn  Prof,  Dr.  G  ut  t  m  an-Budapest  für  seine 
talmudische  Realenzyklopädie;  5.  Herrn  I  d  e  1  s  o  h  n-Jerusalem  für 
seine  Studien  zur  Geschichte  der  jüdischen  Melodien;  6.  Herrn 
We  1  tsma  n  n-Kalisch  für  seine  Sammlung  von  Grabinschriften  in 
der  Provinz  Posen  und  in  Russisch-Polen;  7.  für  das  Werk  Die 
Hygiene  der  Juden,  hrsg.  von  Herrn  Dr.  Grunewald-Wien. 

Die  im  letzten  Jahresbericht  angekündigte  Ausgabe  der  Ge- 
sammelten Abhandlungen  von  Ludwig  Philippson  wird  Ende  des 
Monats  Dezember  zur  kostenlosen  Verteilung  an  unsere  Mitglieder 
kommen.  Wir  wiederholen  an  dieser  Stelle  die  Mitteilung,  daß  unsere 
Mitglieder  statt  des  broschierten  Exemplares  ein  gebundenes  gegen 
Zahlung  von  2  Mark  an  Herrn  Dr.  N.  M.  Nathan  erhalten  können. 
Ein  Verzeichnis  der  gleichfalls  von  Herrn  Dr.  N.  M.  Nathan  zu  be- 
ziehenden Schriften,  sowie  der  Schriften  der  Gesellschaft  überhaupt 
findet  sich  auf  S.  28  des  besonders  gedruckten  Berichtes. 

Betreffs  der  Entrichtung  der  Beiträge  für  das  neue  Geschäfts- 
jahr bitten  wir  unsere  Mitglieder  dringend,  diese  baldmöglichst  an 
unseren  Schatzmeister,  Herrn  Paul  Veit  Simon,  Berlin  W.  56 
Hinter  der  Katholischen  Kirche  1,  Postschekkonto  Berlin  7030,  ab- 
führen zu  wollen.  Wir  bitten  unsere  verehrlichen  Mitglieder  dringend 
und  wiederholt,  uns  in  der  finanziellen  Sicherstellung  der  Gesellschaft 
und  ihrer  Arbeiten  —  und  das  bedeutet  für  uns  der  prompte  Eingang  der 
Beiträge  —  unterstützen  zu  wollen.  Abgesehen  vo  n  der  Bedeutung  de 
Gesellschaft  für  die  jüdische  Allgemeinheit  leistet  sie  jedem  einzelnen 
Mitgliede  soviel,  daß  wir  dieses  Entgegenkommen  seitens  unserer 
Freunde  erwarten  dürfen. 


Protokolle.  757 

Wir  werden  das  Abonnement  auf  die  Zeitschrift  für  hebräische 
Bibliographie  für  alle  bisherigen  Besteller  erneuern.  Der  Betrag  hier- 
für ist  baldigst  mit  5,10  M.  an  Herrn  Dr.  N.  M.  N  a  t  h  a  n,  Berlin 
Nr.  24,  Große  Hamburgerstr.  29,  Postscheckkonto  Berlin  11776,  ein- 
zuzahlen, andernfalls  er  im  Januar  1912  durch  Postnachnahme  er- 
hoben wird. 

Beitrittserklärungen  und  Mitteilungen  von  Wohnungsverände- 
rungen  sind    gleichfalls  nur  an  Herrn  Dr.  N.  M.  Nathan  zu  richten. 

Es  ist  kein  leeres  Wort,  wenn  wir  am  Schlüsse  dieses  Berichtes 
den  Dank  an  unsere  Mitglieder  und  Vertrauensmänner,  die  unser 
Werk  durch  persönliche  Teilnahme  und  Anwerbung  neuer  Mitglieder 
verständnisvoll  unterstützen,  wiederholen.  Der  unterzeichnete  Vor- 
stand erblickt  in  dieser  Unterstützung  eine  Anerkennung  der  oft  sehr 
mühevollen  und  arbeitsreichen  Verwaltung  einer  so  weitverzweigten 
Organisation,  wie  es  unsere  Gesellschaft  ist.  Aber  wir  machen  auch 
die  für  uns  überaus  erfreuliche  Beobachtung,  daß  unsere  Tätigkeit 
nicht  ohne  Erfolg  geblieben  ist.  Das  offenbart  sich  nicht  nur  in  dem 
äußeren  Erstarken  der  Gesellschaft  und  dem  Anwachsen  ihrer  Mit- 
giiederzahl,  sondern  auch  in  dem  zunehmenden  Verständnis  für  das 
Judentum  und  seine  Wissenschaft  in  jüdischen  und  nichtjüdiscben 
Kreisen,  und  besonders  die  von  unserer  Gesellschaft  herausgegebenen 
Werke  haben  in  Fachkreisen  wie  im  gebildeten  Publikum  wegen 
ihrer  Gediegenheit  und  ihres  wissenschaftlichen  Charakters  rückhalt- 
lose Anerkennung  gefunden  und  bilden,  je  weniger  sie  dies  sein 
wollen,  um  so  mehr  die  trefflichste  Apologetik  des  Judentums  und 
seiner  Lehre.  Aus  dieser  Erkenntnis  erwächst  aber  für  alle  unsere 
Mitglieder  die  Verpflichtung,  sich  weiter  in  den  Dienst  unserer  Ge- 
sellschaft zu  stellen,  ihr  neue  Mitglieder  zuzuführen.  Nach  einem 
alten  Worte  unserer  Weisen  ist  die  Förderung  der  Wissenschaft  eine 
der  vornehmsten  Pflichten,  die  das  Judentum  seinen  Bekennern  auf- 
erlegt. 

Berlin,  im  November  1911. 

Philippson.    Guttmann.    Bloch. 

II. 
Protokoll  über  die  Sitzung  des  Ausschusses  der  Gesellschaft  zur  För- 
derung der  Wissenschaft  des  Judentums 
am  Mittwoch,    den   3.  Januar  1912,  vormittags   10  Uhr,   im  Büro  des 
D.  J.  G.  B.,  Berlin  W,  Steglitzerstraße  35  I. 
Anwesend   die   Herren:   Baneth,   Bloch,  Brann,  Cohen, 
Elbogen,    Guttmann,    Kalischer,    Maybaurr,    Philippson,  Porges,  Poz- 
nanski, Rosenthal,  Sobernheim,  Weisse,  Werner,  Nathan. 


758  Protokolle. 

Entschuldigt  dieHerren:  Adler,  Bacher,  Blau,  Kroner, 
Lucas,  Mittwoch,  Schwarz,  Simon,  Simonsen. 

Vor  dem  Eintritt  in  die  Tagesordnung  ergreift  Herr  Rabb.  Prof 
Dr.  G  u  1 1  m  a  n  n-Breslau  das  Wort  zu  folgender  Ansprache  : 

Gestatten  Sie  mir,  sehr  geehrter  Herr  Vorsitzender,  Sie  und 
Ihre  ganze  Familie  im  Namen  unserer  Gesellschaft  zu  dem  Gedenk- 
tage zu  beglückwünschen,  den  Sie  in  der  vergangenen  Woche  be- 
gangen haben.  Wir  aile,  die  ganze  deutsche  Judenheit,  ja,  diejuden- 
heit  aller  Länder  begeht  mit  Ihnen  in  dankbarer  Erinnerung  den  Tag, 
an  dem  ihr  vor  hundert  Jahren  Ludwig  Philippson  als  eine 
wahrhaft  providentielle  Persönlichkeit  ist  gegeben  worden.  Sie  wendet 
auf  ihn  den  Satz  der  Schrift  an,  den  wir  am  nächsten  Sabbat  lesen 
werden  :  »Juda,  dir  huldigen  deine  Brüder,  deine  Hand  am  Nacken 
deiner  Feinde,  es  bücken  sich  vor  dir  die  Söhne  deines  Vaters. « 
Lebt  doch  sein  Geist  noch  heute  in  unverwelklicher  Kraft  und  Frische 
unter  uns,  hat  er  doch  dem  Judentum  der  Gegenwart  in  hervor- 
ragendster Weise  seinen  Stempel  aufgedrückt.  So  fruchtbar  das  ver- 
gangene Jahrhundert  auch  an  großen  Männern  in  unserer  Mitte  ge- 
wesen ist,  die  für  das  Leben  oder  für  die  Wissenschaft  des  Judentums 
Hervorragendes  und  Bahnbrechendes  geleistet  haben,  keiner,  das  darf 
man  sagen,  hat  in  solchem  Umfange,  so  anregend  und  befruchtend, 
so  aufklärend  und  erleuchtend  wie  er  auf  das  Judentum  gewirkt.  Das 
große  Erlösungswerk,  das  ein  anderer  Sohn  der  Dessauer  Gemeinde 
begonnen,  ist  von  Ludwig  Philippson  in  glücklicher  Weise  fort- 
geführt worden.  Das  Judentum  aus  dem  geistigen  Ghetto  zu  befreien, 
in  das  es  ein  Martyrium  ohnegleichen,  eine  Leidensgeschichte  von 
Jahrtausenden  eingepfercht  hatte,  die  deutsche  Judenheit  der  Teil- 
nahme an  der  Kulturarbeit  und  dem  Geistesleben  des  deutschen 
Volkes  zuzuführen,  das  war  die  Aufgabe,  die  Moses  Mendels- 
sohn sich  gestellt  und  zu  deren  Verwirklichung  er  besonders  durch 
seine  Bibelübersetzung  den  Grund  gelegt  hat.  Aber  eines  ist  ihm 
nicht  gelungen  und  konnte  ihm  in  Anbetracht  der  damaligen  Zeit- 
verhältnisse nicht  gelingen,  die  Brücke  zu  schlagen  zwischen  dem 
von  ihm  streng  festgehaltenen  traditionellen  Judentum  und  den  An- 
schauungen und  Bedingungen  des  modernen  Lebens.  Er  hat  in  seinem 
»Jerusalem«  sich  ein  System  erdacht,  wie  man  ein  deutscher  Philosoph 
und  zugleich  ein  gesetzestreuer  Jude  sein  könne.  Aber  dieses  System 
war  gleichsam  auf  seine  Person  zugeschnitten  und  auf  die  Gesamt- 
heit nicht  übertragbar.  So  kam  es,  daß  in  der  ihm  folgenden  Gene- 
ration im  Kreise  der  nach  moderner  Bildung  strebenden  Juden  und 
in  erster  Reihe  in  seiner  Familie  selbst  ein  C^st  der  Auflösung  und 
Zersetzung  sich  geltend  machte,  der  das  Judentum  mit  den  schwersten 


Protokolle.  759 

Gefahren  bedrohte.  Diese  Aufgabe  der  Versöhnung  des  Judentums 
mit  dem  modernen  Kulturleben  hat,  freilich  unterstützt  durch  die 
Qunst  der  Umstände,  Ludwig  P  h  i  1  i  p  p  s  o  n  mit  bewundernswertem 
Erfolge  ihrer  Erfüllung  näher  geführt.  Er  hat  das  Selbstbewußtsein 
in  den  Juden  geweckt,  hat  sie  mit  Stolz  auf  ihre  Vergangenheit  er- 
füllt und  hat  ihnen  Mut  und  Vertrauen  zu  ihrer  Zukunft  eingeflößt. 
Ein  halbes  Jahrhundert  stand  er  auf  der  Warte,  hat  er,  mit  weit  aus- 
schauendem Blicke  die  Strömungen  des  Völkerlebens  beobachtend, 
sich  stets  in  Bereitschaft  gehalten,  für  das  Judentum  einzutreten,  mit 
unerschrockenem  Mute  jedem  entgegentretend,  der  die  Ehre  und  das 
Ansehen  des  Judentums  anzutasten  wagte.  Wo  immer  ein  Gegner 
sich  erhob  tVWV  V^K  BWl  da  trat  Jehuda  P  h  i  1  i  p  p  s  o  n  an  ihn 
heran  und  wehrte  seine  Angriffe  siegreich  ab.  Darum  kann  auch 
keiae  Partei  ausschließlichen  Anspruch  auf  ihn  erheben,  er  gehörte 
dem  ganzen  Judentum.  Mein  Vater,  fährt  der  Redner  fort,  ein  ge- 
lehrter Talmudist  alten  Schlages,  stand  in  keiner  Weise  auf  dem 
religiösen  Boden  P  h  i  1  i  p  p  s  o  n,  aber  so  sehr  war  auch  er  von 
dessen  Bedeutung  durchdrungen,  daß  er  eines  Tages  persönlich  für 
eine  Ehrung  dieses  verdienten  Mannes  eintrat.  Ludwig  P  h  i  1  i  p  p  s  o  n 
hat  seine  ganze  Persönlichkeit  in  den  Dienst  des  Judentums  gestellt, 
ja,  noch  mehr,  er  hat  der  von  ihm  übernommenen  Aufgabe  seine 
persönlichen  Neigungen  zum  Opfer  gebracht.  Die  Abhandlung  Her- 
mann Cohens,  die  in  die  von  der  Familie  unserer  Gesellschaft 
gewidmeten  gesammelten  Schriften  Ludwig  Philip p so ns  Aufnahme 
gefunden  hat  und  die  diesem  pietätsvollen  Werke  zu  besonderem 
Schmucke  gereicht,  hat  neuerdings  wieder  gezeigt,  wie  Großes  man 
von  Ludwig  P  h  i  1  i  p  p  s  o  n  auf  Grund  seiner  Jugendarbeit  auf  rein 
wissenschaftlichem  Gebiete  erwarten  durfte,  er  hat,  wenn  er  sich 
auch  der  Wissenschaft  nie  ganz  entfremdet  hat,  seine  persönlichen 
Neigungen  überwunden,  um  dem  ganzen  Judentum  zu  leben.  Und 
wie  wir  im  Schriftabschnitt  des  nächsten  Sabbats  von  unserem  Erz- 
vater Jakob  lesen,  daß  er  segnend  aus  dem  Leben  schied,  im  Hin- 
blick auf  seine  Kinder,  von  denen  er  sicher  war,  daß  sie  seinem 
Vermächtnis  die  Treue  wahren  würden,  so  durfte  auch  er  segnend 
aus  dem  Leben  scheiden.  Seine  Kinder  und  Schwiegerkinder  haben 
sein  Werk  fortgeführt,  insbesondere  sein  ältester  Sohn,  als  Führer 
der  deutschen  Judenheit,  als  Vorsitzender  des  Gemeindebundes  und 
als  Mitarbeiter  an  allen  großen  Organisationen  des  Deutschen  Juden- 
tums. Nicht  zuletzt  auch  als  Vorsitzender  unserer  Gesellschaft,  welche 
ja  eine  der  vornehmsten  Schöpfungen  Ludwig  Philippsons,  das 
Institut  zur  Förderung  jüdischer  Literatur,  wieder  zu  neuem  Leben 
erweckt  hat. 


760  Protokolle. 

Wir  bringen  dem  Namen  Ludwig  Philippson  unsere  Hul- 
digung dar  und  verbinden  damit  den  Wunsch,  daß  es  seinem  Sohne 
noch  lange  vergönnt  sein  möge,  im  Geiste  seines  Vaters  zu  wirken, 
unterstützt  von  der  Hochherzigkeit  seines  von  uns  allen  hochver- 
ehrten Bruders,  dem  unsere  Gesellschaft  ja  zu  besonderem  Danke 
verpflichtet  ist. 

Darauf  erwiderte  Prof.  Dr.  M.  Philippson:  Keine  Kund- 
gebung berühre  ihn  so  nahe,  wie  die  von  unserer  Gesellschaft  aus- 
gehende. Er  und  die  Seinigen  seien  der  Gesellschaft  schon  vielfach 
verpflichtet :  durch  die  Veröffentlichung  der  Biographie  seines  Vaters 
von  Feiner,  durch  die  für  den  Abend  des  heutigen  Tages  angesetzte 
Feier,  durch  die  Würdigung  der  Erstlingsschrift  Ludwig  Philipp- 
sons  durch  das  Ausschußmitglied,  den  allverehrten  Herrn  Geheim- 
rat Cohen,  und  nun  wieder  durch  die  von  tiefem  Empfinden  ge- 
tragenen Worte  des  Herrn  Prof.  G  u  1 1  m  a  n  n.  Es  sei  für  ihn  und 
die  Seinen  eine  Quelle  der  größten  Befriedigung,  die  historische  und 
kulturelle  Stellung  des  Vaters  wieder  anerkannt  zu  sehen.  Eine 
Zeitlang  habe  es  geschienen,  als  ob  das  Andenken  an  ihn  und  die 
Erinnerung  an  seine  Bedeutung  für  die  ganze  Judenheit,  insbesondere 
aber  für  Deutschland  und  die  östlichen  Juden,  zu  erlöschen  drohe. 
Zumal  in  einer  Zeit,  in  der  das,  was  den  Ewigkeitswert  nicht  in  sich 
trage,  wie  Spreu  verfliege,  begrüßten  daher  er  und  die  Seinen  mit 
besonderer  Genugtuung  die  Feier  des  Centenartages  des  unvergeß- 
lichen Vaters  allerorten.  Sie  sei  ein  Zeichen  des  Idealismus  und  der 
dankbaren  Gesinnung,  von  der  das  edle  jüdische  Volk  beseelt  sei,  an 
das  Ludwig  Philippson  Zeit  seines  Lebens  immer  geglaubt 
habe. 

SodanH  begrüßt  der  Vorsitzende  die  neu  in  den  Ausschuß  ein- 
getretenen Herren  Kalischer,  Poznahski  und  Sobernheim 
und  rühmt  in  ehrenden  Worten  das  Andenken  des  Ausschußmit- 
gliedes Rabb.  Dr.  H.  V  o  g  e  1  s  t  e  i  n-Stettin  ;  die  Versammlung  ehrt 
das  Andenken  des  Toten  durch  Erheben  von  den  Sitzen. 

Der  Geschäftsbericht  wird  erstattet.  Zu  dem  gedruckt  vorlie- 
genden Jahresbericht  wird  nachgetragen  :  Es  sind  erschienen  N.  Müller, 
Die  jüdische  Katakombe  am  Monteverde  in  Rom  ;  J.  Feiner,  Rabb. 
Dr.  L.  Ph  il  i  pps  o  n,  ein  Lebensbild.  An  der  Philippson-Fejer  in 
Magdeburg  haben  als  Vertreter  der  Gesellschaft  die  Herren  Rabb. 
Prof.  Dr.  Bloch  und  Dr.  Nathan  teilgenommen,  wobei  ihnen 
die  Ludwig-Philippson-Gedächtnis-Stiftung  zur  Verwaltung  durch  die 
Gesellschaft  übergeben  wurde.  Der  Ausschuß  genehmigt  die  durch  den 
Vorstand  bereits  erfolgte  Annahme  der  Stiftung  und  überweist  der 
Synagogengemeinde  Magdeburg   eine  Anzahl  Exemplare    der  Feiner* 


Protokolle.  761 

sehen  Schrift  zur  Verteilung  an  die  Schulkinder  der  dortigen  Oe- 
meindemitglieder. 

Innerhalb  des  Corpus  Tannaiticum  ist  die  Bearbeitung  der 
Tosefta  erheblich  fortgeschritten ;  die  Vorarbeiten  für  die  Mischna- 
ausgabe  werden  in  absehbarer  Zeit  beendet  sein.  Herr  Kah  an- 
München soll  in  Rom  die  Vergleichung  der  vatikanischen  Manu- 
skripte zu  Ende  führen.  Die  Mischnaedition  soll  in  Lieferungen 
erfolgen. 

Die  Schußvorbereitungen  für  den  Druck  des  I.  Bandes  der 
Germania  Judaica  sind  getroffen  ;  mit  dem  Druck  kann  noch 
1912  begonnen  werden.  Das  vom  Gesamtarchiv  beantragte  Teilgehalt 
für  die  Anstellung  eines  wissenschaftlichen  Hilfsarbeiters  für  die 
Ausarbeitung  des  Urkundenkatalogs  wird  bewilligt.  Für  die  Bear- 
beitung der  hebr.  Quellen  wird  ebenfalls  ein  Betrag  festgesetzt. 

Für  den  zweiten  Band  des  Maimonideswerkes  liegen  genügend 
Abbandlungen  vor  ;  der  Druck  soll  gleichfalls  1912  beginnen. 

Die  Übertragung  der  Grundrißteilwerke ;  Geschichte  der  jü- 
dischen Literatur  vom  Abschluß  des  Kanons  bis  zum  Erlöschen  des 
Gaonats  (mit  Ausschluß  der  hellenistischen  Literatur)  an  M  a  r  x-New- 
York,  Geschichte  der  Halacha  an  G  u  t  tman  n-Budapest,  Judentum 
und  Islam  an  Friedlände  r-New-York  wird  genehmigt. 

Zur  Beratung  der  übrigen  Vorschläge  wird  eine  Kommission 
aus  den  Herren  Brann,  Elbogen,  Nathan,  Porges,  Sobernheim,  Poz- 
nariski  mit  dem  Recht  der  Kooptation  und  Elbogen  als  Vorsitzendem 
gebildet. 

Subventionen  werden  bewilligt :  dem  Gesamtarchiv  der  deut- 
schen Juden  für  den  Bezug  einer  Anzahl  Exemplare  seiner  »Mittei- 
lungen« durch  die  Mitglieder  der  Gesellschaft,  Herrn  Dr.  E.Becker- 
Naumburg  a.  Qu.  für  sein  Werk  über  die  jüdischen  Katakomben  auf 
Malta,  Herrn  Last-Ramsgate  für  seine  Ausgabe  von  Kaspi's  Schriften, 
Herrn  Rabb.  Reich-Batorkeszi  für  seinen  Kommentar  zu  Erubin, 
Herrn  Rosanes-Rustschuk  für  den  zweiten  Band  seiner  Geschichte 
der  Juden  in  der  Türkei,  der  Buchhandlung  J.  Kaufmann-Frankfurt  a.  M. 
zur  Herausgabe  der  Z.  f.  H.  B.,  Herrn  Prof.  Strack-Groß-Lichterfelde, 
der  Betrag  für  em  Exemplar  seiner  photographischen  Ausgabe  des 
Münchener  Talmudkodex,  Herrn  Rabb.  Dr.  Theodor-Bojanowo  für 
seine  Ausgabe  der  Bereschit  rabba,  Herrn  Ben  Jehuda  für  den  vierten 
Band  seines  Thesaurus. 

Weitere  Anträge  werden  teils  abgelehnt,  teils  vertagt.  Schluß 
2  Uhr.  Philippson.    Nathan. 


762  Protokolle. 

III. 

Protokoll  über  die  ordentliche  Mitgliederversammlung    der  Gesellschaft 

zur  Förderung  der  Wissenschaft  des  Judentuns 

am  Mittwoch,    den  3.  Januar  1912,    abends  8  Uhr,    in    der    Aula    der 
Knabenschule    der    Jüdischen    Gemeinde,     Berlin    N,     Große    Ham- 

burgerstr.  27. 

Die  Generalversammlung  ist  dem  Andenken  Ludwig  Philippsons 
gelegentlich  der  100.  Wiederkehr  seines  Geburtstages  gewidmet.  Aus 
diesem  Anlaß  ist  vor  dem  Rednerpult  inmitten  eines  Blumengewindes 
das  lorbeerumkränzte  Bildnis  Philippsons  aufgestellt. 

An  der  Versammlung  nahmen  außer  vielen  Mitgliedern  und 
Gästen  eine  Reihe  von  Angehörigen  der  Familie  Philippson  teil. 

Der  Vorsitzende  eröffnet  die  Versammlung  um  halb  9  Uhr  mit 
einem  Nachruf  auf  das  Mitglied  des  Ausschusses  Rabb.  Dr.  H.  Vogel- 
stein, zu  dessen  Ehren  die  Anwesenden  sich  von  ihren  Sitzen  er- 
heben. Den  gedruckt  vorliegenden  Jahresbericht  ergänzt  der  Vorsitzende 
durch  Mitteilungen  über  die  Philippson-Feier  in  Magdeburg  und  die 
dort  der  Gesellschaft  übertragene  Philippson-Stiftung.  Der  Bericht 
wird  genehmigt,  dem  Vorstande  und  dem  Schatzmeister  wird  Entlastung 
erteilt;  Ausschuß  und  Revisoren  werden    durch  Zuruf  wiedergewählt. 

Darauf  hält  das  Mitglied  des  Ausschusses,  Dozent  Dr.  J. 
Elbogen-Berlin,  seine  Gedächtnisrede  auf  Ludwig  Philippson,  in  der 
er  ein  Lebensbild  dieses  Mannes  und  eine  umfassende  Schilderung 
seiner  vielseitigen  Tätigkeit  gibt.  Mit  Dankesworten  an  den  Vortra- 
genden schließt  der  Vorsitzende  die  Versammlung  um  9l/t  Uhr. 

Philippson.        Nathan. 

IV. 
Protokoll  über  die  konstituierende  Sitzung  des  Ausschusses  der  Gesell- 
schaft zur  Förderung  der  Wissenschaft  des  Judentums 

am  Mittwoch,  den  3.  Januar  1912,  abends  91/»  Uhr,  in  der  Aula  der 
Knabenschule  der  jüdischen  Gemeinde,  Berlin,  N ,  Große  Hamburger- 
straße 27. 

Der  wiedergewählte  Ausschuß  konstituiert  sich  und  bestätigt  den 
bisherigen  Vorstand  und  die  Fachkommission  in  ihren  Ämtern.  Danach 
setzt  sich  der  Vorstand  wie  folgt  zusammen: 

1.  Vorsitzender:  Prof.  Dr.  M.  Philippson -Berlin,  2.  Vor- 
sitzender: Rabb.  Prof.  Dr.  J.  Gut  tman  n-Breslau,  Schriftführer: 
Rabb.  Prof.  Dr.  Ph.  Bloch- Posen,  Schatzmeister:  Bankier  P.  V. 
Simon-Berlin,    stellvertr.  Schriftführer    Dr.  N.  M.  Nathan- Berlin. 

Schluß  93/4  Uhr. 

Philippson.        Nathan. 


Inhalts  -  Verzeiehnis. 

Seite 

Kürzen  und  Längen  in  der  Bibel.  Von  M.  Qüdemann.  129 — 155 
Der  Auszug  aus  Ägypten  im  Lichte  der  Wissenschaft.  Von 

Emil  Levy 276—286 

Die  Ecke  mit  der  letzten  Oarbe.  Von  Ludwig  Levy.  .  .  156—159 
Das  Steinewerfen  in  Koheleth  3,  5,  in  der  Deukalionsage  und 

im  Hermeskult.  Von  Ludwig  Levy 531 — 542 

Die  neuen  Papyrusfunde  in  Elephantine.  Von  S.  Jampel.  641—665 
Das  Laubhüttenfest  Chanucka.  Von  R.  Lesczynsky  .  400 — 418 
Das  Wasseropfer   und  die  damit  verbundenen  Zeremonien. 

Von  D.  Feuchtwang 43—63 

Die  Männer  der  großen  Versammlung  und  die  Gerichtshöfe 

im  nachexilischen  Judentum.  Von  S.  F  u  n  k  .  .  .  .  ,  33—42 
Die  Kompetenz  der  Gerichtshöfe.  Von  S.  F  u  n  k.  .  .  .  699—712 
Die  Strafe  des  Ehebruches  in  der  nachexilischen  Zeit.  Von 

Adolf  Büchlei       196-219 

Eine  unbekannte   jüdische  Sekte.    Von  Louis  Ginzberg.    666—698 
Ursprung,  Begriff  und  Umfang  der  allegorischen  Schrifter- 
klärung. Von  L.  Treifel 543—554 

Dte  Christusmythe    des    Prof.    A.    Drews    im    Lichte    der 

Wissenschaft.  Von  J.  Scheftelowitz 1—32 

Wie  verhielt  sich  das  Judentum  zu  Jesus  und  dem  eot- 
stehenden  Christentum  ?  (Schluß.)  Von  M.  Frei- 
mann     160—176    296-316 

Die  Wortführer  des  Judentums  in  den  älteren  Kontroversen 
zwischen  Juden  und  Christen.  Von  M.  Freimann     .     555—585 

Die  talmudische  Literatur  der  letzten  Jahre.  Von  V.  A  p  t  o- 

witzer 177-195 

Unechte  Jeruschalmizitate.  Von  V.  Apto  witzer     .    .    .  419—425 

Der  Selbstmord  nach  der  Haiacha.  Von  A.  P  e  r  1  s    .    .    .  287—295 

Die  Tefilla   für  die  Festtage.  Von  I.  E  1  b  o  g  e  n.  426-446     586—599 
Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  im  gaonäischen  Zeit- 
alter. (Fortsetzung.)  Von  Simon  Eppenstein    64—75,    220—232. 
317-329,  464-477,  614—628,  729—742. 


764 


Seite 
Die  Ethik    R.    Saadjas.   Von  David  Rau,   s.  A.   385—399,    513-53  >, 

713-728. 
Die  Wortvertauschnngeü    im     Kitäb    al-Luma    des    Abul- 

walid.  Von  W.  Bacher 233—240 

Fragmente  von  Gabirols  Diwan.  Von  H.  Brody.     .    .    .        76—97 

Lebenszeit  und  Heimat  von  Isaalc  Or  Sarua.  Von  H.  Ty- 
kocinski 478-500 

Die  Namen  der  Frankfurter  Juden  bis  zum  Jahre  1400. 
Von  I.Krakauer 447—463,    600-613 

Die  Juden  und  das  Wirtschaftsleben.  Von  M.  O  ü  d  e  m  a  n  n    257—275 

Josef  Kohn-Zedek,    der   letzte  neuhebräische  Publizist    der 

galizischen  Haskala.  von  M.  Weissberg 332—347 

Der  Streit  um  die  jüdische  Garküche  in  Bromberg  am  Be- 
ginne des  19.  Jahrhunderts.  Von  G.  Walter     .    .    .    .    241-246 

Ein  Nachtrag  zu  »Wilhelm  Raabe  und  die  Jaden«.  Von  G. 
Rülf 247-251 

Notizen. 

Saadjas  Kitäb    al-Tärich.    Von   W.    Bacher 253—254 

Zu  den  mjnntP  "njw  des  Isaak  b.  Rüben.  Von  I.  Fried- 
länder      501—502 

War  Maimonides  eine  Mechilta  zum  Deuteronomium  be- 
kannt ?  Von  Samuel  Klein 252—253 

Die  Wormser  ThoraroHe.  Von  Louis  L  e  w  i  n 348 

Juden  in  England    aus  Deutschland  eingewandert.    Von  F. 

Liebermann 253 

Jüdische  Spitäler  im  Mittelalter.   Von  K.  ßaas 745—746 

Zur  Geschichte  der  Juden  in  Hamburg.  Von  F.  Lieber- 
mann      348 

Die  Identität  der  Familien  Theomim  und  Munk.  Von 
M.  Brann 349-357 

Erwiderungen  :  Von  J.  F  r  o  m  e  r,  V.  A  p  t  o  w  i  t  z  e  r,  B. 
Jacob  und  S.  Ja  mpel 112-120 

Besprechungen. 

Breslauer,  Bernh.  Die  Abwanderung  der  Juden  aus  der 

Provinz  Posen.  Von  J.  Rotholz 358 

Drews,  A.    Die  Cbristnsmythe.  Von  J.  Scheftelowitz    .    .  1—32 

Ginzberg,  L.  Geonica  II.  Von  V.  Aptowitzer.  371—382,  633-  640 


765 

Seite 

ö  •  1 1 1  i  e  b,  M.  Mose  b.  Maimunis  Kommentar  zumMischnah- 
Traktat  Makkoth  u.  Schebuoth.  Von  M.  Fried     ....    629-632 

K  o  t  e  1  m  a  n  n.  Die  Ophthalmologie  bei  den  alten  Hebräern. 

Von  Art.  Crzellitzer 364-365 

Künstlinger,  David.  Altjüdische  Bibeldeutung.  Von  J. 
Theodor 503—509 

Landau,  Alfr.  u.  Wachstein  Bernh.  Jüdische  Privat- 
briefe aus  dem  Jahre  1619.  Von  M.  Freudenthal      .    .    .    366—370 

D.  N  e  u  m  a  r  k.  Geschichte  der  jüdischen  Philosophie  des 

Mittelalters.  Von  Julius  Lewkovvitz      ........     100 — 111 

Ruppin,  A.,  Die  Juden  im  Großherzogtum  Hessen.  Von 
J.  Rotholz 358 

S  a  c  h  a  u,  Ed.,  Aramäische  Papyrus  und  Ostraka.  2  Bde. 
Von  S.  Jarapei 641-655 

Salomonski,  Martin.  Gemüsebau-  und  Gewächse  in 

Palästina  zur  Zeit  der  Mischnah.  Von    Immanuel  Low    .    743 — 744 

Schapiro,  Israel.  Maimunis  Mischnah-Kommentar 
zum  Traktat  Arachin.  Von  M.  F  r  i  e  d 254—256 

Schechter,  S.     Documents  of  jewish  sectories.    Vol.  I. 

Von  L.  Ginzberg 666—698 

S  e  g  a  1 1,  Jac,  Die  Entwicklung  der  jüdischen  Bevölkerung 
ia  München.  Von  J.  Rotholz 357 

Sombart,  W.  Die  Juden    und  das  Wirtschaftsleben.  Von 

M.  G  ü  d  e  m  a  n  n       257—275 

St  raus,  R.,  Die  Juden  im  Königreich  Sizilien  unter  Nor- 
mannen und  Neuforn.  Von  Willy  C  o  h  n 510—512 

Die  Verhältnisse  der  israelitischen  Kultusgemeinden  in 
Bayern  nach  dem  Stande  des  Jahres  1907.  Von  R.  Was- 
sermann             98-99 

Jahresbericht  und  Protokolle  über  Sitzungen  der  Gesell- 
schaften zur  Förderung  der  Wissenschaft  des  Juden- 
tums      121—128,  383—384,  752—762 

Bibliographische  Übersicht  über  die  im  Jahre  1910  er- 
schienenen Schriften.  Vom  Herausgeber    .    .    .    .    747—751 


766 


Alphabetisches  Verzeichnis  der  Mitarbeiter. 


Aptowitzer,  V.,  S. 

177,  371,  419, 

Klein,  S., 

S.  52 

633 

Kracauer,  I., 

S. 

447,  600 

Baas,  K>, 
Bacher,  W., 

S.  745 
S.  233,  253 

Lesczynsky 
Lewy,  E., 

S.  400 
S.  276 

Brann,  M., 

S.  349,  747 

Levy,  L., 

S. 

156,  531 

Brody,  H., 

S.  76 

Lewin,  L., 

S.  348 

Büchler,  Ad., 

S.  196 

Lewkowitz,  J., 

S.  100 

Cohn,  W., 

S.  510 

Liebermann,  F., 

S. 

253    c48 

Crzellitzer,  A., 

S.  364 

Low,  Imm., 

S.  743 

Elbogen,  I., 
Eppenstein,  S.,  S. 

Feuchtwang,  D., 
Freimann,  M.,     S. 
Freudenthal,  M., 

S.  426,  5S6 

220,  317,  464, 

614,  729 

S.  43 

160,  296,  555 

S.  366 

Perls,  A., 
Rau,  D.  s.  A.,    S. 
Rotholz,  J., 
Rulf,  G., 
Scheftelo  .vitz,  J., 

385, 

S.  287 

513,  713 

S.  358 

S.  247 

S.  1 

Fried,  M., 

S.  254,  629 

Theodor,  I., 

S.  503 

Friedländer,  I., 

S.  501 

Treitel,  L., 

S.  543 

Funk,  S., 

S.  33,  699 

Tykocinski,  H., 

S.  478 

Ginzberg,  L., 

S.  666 

Walter,  G., 

S.  241 

Güdemann,  M., 

S.  129,  257 

Weissberg,  M., 

S.  332 

Jampel,  S., 

S.  641 

Wassermann, 

S.  98 

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Unberechtigter  Nachdruck  aus  dem  Inhalt  dieser  Zeitschrift  ist  untersagt. 
Für  die  Redaktion  verantwortlich :    Dr.  M.  BRANN  in  Breslau. 


Druck  von  Adolf  Alkalay  &  Sohn  in  Preßburg. 


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Monatsschrift  für  Geschichte 

101 

und  Wissenschaft  des 

M6 

Judentums 

Jg.  55 

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