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Monatsschrift
FÜR
GESCHICHTE UND WISSENSCHAFT
DES JUDENTUMS
BEGRÜNDET VON Z. FRANKEL.
Organ der Gesellschaft
zur
Förderung der Wissenschaft des Judentums
Herausgegeben
von
Dr. M. BRANN.
Jg. SS
Fünfundfünfzigster Jahrgang.
NEUE FOLGE, NEUNZEHNTER JAHRGANG.
BRESLAU.
KOEBNER'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG
(BARASCH UND RIESENFELD.)
1911.
3>6
101
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte
der Wissenschaft.
Von J. Seheftelowitz.
Wahrheit ist das wesentliche Ziel jeder wissenschaft-
lichen Forschung. Eine Untersuchung, die den Anspruch
auf wissenschaftliche Geltung erhebt, muß in erster Linie
auf gründlichen und zuverlässigen Quellenstudien beruhen.
Jn wie fern nun ein viel gelesenes Buch, das in den letzten
Wochen und Monaten beinahe zum Mittelpunkte eines
kleinen Literaturkreises geworden ist, dieser elementaren
Forderung entspricht, soll in den nachfolgenden Darle-
gungen geprüft werden. Es handelt sich um die »Christus-
mythe« von A. D r e w s1). Der Gegenstand, den das Buch
behandelt, gehört in den Bereich der Religionsgeschichte
— ein Gebiet, das auch in dieser Zeitschrift, insoweit das
Judentum in Frage kommt, eine Pflegestätte findet. Im
Grunde hätte sich die Prüfung demnach auf die Abschnitte
beschränken können, die sich besonders auf das Judentum
beziehen. Im Interesse der Wahrheit ist es aber geboten,
möglichst das Ganze zu berücksichtigen und einmal gründ-
lich die Art und Weise zu beleuchten, in welcher heute
zahlreiche mit biblischen Fragen sich beschäftigende Ver-
treter der vergleichenden Mythologie auf pseudo-wissen-
schaftlicher Grundlage nach unzulänglicher Methode be-
liebige geschichtliche Persönlichkeiten in mythologische
Schemen aufzulösen bemüht sind. Von religiöser Vorein-
genommenheit weiß ich mich durchaus frei bei meinem
Urteil. Uns Juden von heute interessiert es kaum, ob Jesus
existiert hat oder nicht. Wir stehen daher diesen Forschun-
gen völlig unbefangen gegenüber.
») 3. Aufl. Jena 1910.
Monatsschrift, 56. Jahrgang. 1
2 Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschalt.
In einigen bündigen, stilvollen Sätzen führt Drews
zunächst, ohne eine Begründung zu versuchen, die alt-
israelitische Religion auf den Parsisrnus zurück. >Der alte
Volksgott Jahve« sagt Drews (S. 6) — »hat sich nach
dem Vorbilde des altpersischen Ahuramazda aus einem
Feuer-, Licht- und Himmelsgott zu einem Gotte überir-
discher Lauterkeit und Heiligkeit entwickelt.« Dieses ist
schon darum unrichtig, weil bereits Propheten der vorper-
sischen Zeit, wie Hosea, Arnos, Micha die göttliche Welt-
macht der Gerechtigkeit und Liebe verkündet und gelehrt
haben, daß Gott alle Völker richte, und er ein gütiger
Vater sei, der den Menschen nur mit blutendem Herzen
zu dessen eigenem Wohle strafe. Zu der erhabenen Idee
dieser Propheten, daß Gott vom Menschen keine Opfer
verlange, sondern vor allen Dingen Gerechtigkeit, werk-
tätige Liebe und Demut (Micha 6, C -8; Hos. 6, 6; Am. 5,
21—25; Jer. 7, 21 — 23; Jes. 1, 11— 17), hat sich die per-
sische Religion niemals emporringen können. Drews fährt
aber fort : »Es ist sicher, daß der alte, israelitische Jahve
erst unter dem Einflüsse der Perser und ihres bildlosen
Gottesdienstes jenen vergeistigten Charakter angenommen
hat, den man ihm heute nachrühmt« (p. 7). Auch dieses
widerspricht völlig den Tatsachen. Die altpersischen Quellen
lehren vielmehr, daß das bereits aus vorpersischer Zeit
herrührende altbiblische Verbot, sich Gott unter dem Bilde
eines körperlichen Wesens vorzustellen, oder die Natur-
kräfte anzubeten, der altpersischen Religion stets fremd
gewesen ist. Auf den altpersischen Achämenideninschriften
sieht man vielmehr die oberste Gottheit Ahuramazda ab-
gebildet. Gerade die Anbetung der Natur und der Elemente,
die Vergötterung der Gestirne, des Feuers, des Wassers
und der Erde sind die wesentlichen Charakterzüge des
Ahuramazda-Glaubens. Drews entstellt gänzlich die Ahura-
mazda-Religion.
Um von ihr Judentum und Christentum ableiten
Die Christusmytbe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 3
zu können, erfindet er eine neue persische Religion. Er
behauptet, der Gott Mithra sei identisch mit dem persi-
schen Heiland Saoshyant. »Mithra ist der Mittler, Retter
und Heiland der Welt« (S. 7). »Saoshyant ist in der Phan-
tasie des Volkes unwillkürlich zu einem göttlichen Wesen
verklärt und mit der Gestalt des Mithra in eins zusammen-
geflossen« (S. 9). Unter dem Einfluß dieser persischen An-
schauung wäre nach Drews »bei den biblischen Propheten
der Messias mehr und mehr in die Rolle eines Gottkönigs
eingerückt.« (S. 9—10). Dieses von Drews als feststehende
Tatsache Vorgetragene entspricht nicht der Wahrheit.
Gemäß der altpersischen Lehre hat weder der oberste
Gott Ahuramazda noch irgend ein anderer Gott mit der
Totenerweckung und der Verjüngung der Welt etwas zu
tun. Dieses ist allein das Werk des Saoshyant und seiner
Helfer, die aus 15 Männern und 15 Jungfrauen bestehen.
Saoshyant belohnt oder bestraft dann die Menschen im
Auftrage des Ahuramazda (Bundahish c 30). Dann wird
Ahuramazda mit seinen sechs Erzengeln den Satan Angro-
mainyu und dessen dämonische Schar bekämpfen. An
diesem jüngsten Gericht ist Mithra überhaupt nicht beteiligt.
Mithra ist der Gott der Sonne, der Wahrheit, der Verträge
und der Beschützer der Triften. Er und zwei andere Gott-
heiten S r a o s h a und R a s h n u sind die Richter der
Einzelseele unmittelbar nach ihrem Tode (vgl. Yasht 10 — 12).
Der Heiland Saoshyant darf demnach unter keinen Um-
ständen mit Mithra identifiziert werden. Saoshyant wird im
altpersischen Religionsbuch Avesta, Yasna 26, 10 aus-
drücklich als ein Mensch bezeichnet. Wie soll man
übrigens Herrn Drews ernst nehmen, wenn er auf S. 8
behauptet, S r a o s h a wäre nur eine andere Bezeichnung
für Saoshyant? Gesetzt dieses wäre richtig, dann
würde doch mit eiserner Notwendigkeit daraus zu folgern
sein, daß Mithra und Saoshyant-S r a o s h a zwei ver-
schiedene Gestalten seien, während doch ausdrücklich an-
V
4 Die Christtumythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
gegeben wird, daß Mithra und zwei andere Gottheiten,
Sraosha und Rashnu, die Richter der Unterwelt sind.
Ferner sagt er S. 91 ausdrücklich, daß der persische Messias
nur ein Meschia, ein Mensch, sei, während er ihn oben
mit dem unsterblichen Gott Mithra identifiziert hat.
Seine weitere Behauptung, daß der altisraelitische
Messias ein Gottkönig sei, ist nicht minder falsch. Bereits
die Propheten der vorpersischen Zeit stellen den König-
Messias nur als den weisen Weltenkönig aus dem Hause
Davids hin, den Gott für das zukünftige Gottesreich be-
stimmt hat (vgl. Schürer : Geschichte des Jüdischen Vol-
kes 4. Aufl. II, 584 ff). Eine treffliche Charakteristik über
das messianische Hoffen des Judentums aus dem 3. Jahr-
hundert n. Chr. gibt uns der christliche Verfasser der Phi-
losophumena IX, 30 : Seinen Ursprung, sagen die Juden,
werde der Messias haben aus Davids Geschlecht, aber nicht
aus einer Jungfrau und dem heiligen Geiste, sondern von
Mann und Weib, wie es allen bestimmt ist, aus Samen
geboren zu werden. Dieser werde König sein über sie, ein
kriegerischer und mächtiger Mann, der das ganze Volk der
Juden versammeln und mit allen Völkern Krieg führen
und den Juden Jerusalem als königliche Stadt aufrichten
werde, in welcher er das ganze Volk sammeln und wieder
in den alten Zustand versetzen werde, so daß es herrschen,
den Opferdienst verwalten und lange Zeit in Ruhe wohnen
werde. Darnach werde sich gegen sie insgesamt Krieg er-
heben; und in jenem Kampfe werde der Messias durchs
Schwert fallen. Nicht lange darnach werde das Ende und
die Verbrennung der Welt erfolgen, und so werde sich das
erfüllen, was man inbetreff der Auferstehung glaube, dann
werde einem jeden die Vergeltung nach seinen Werken zu
teil werden.«
Drews macht den altpersischen Gott Mithra mit Gewalt
zum Typus der Gestalt Christi. Er nennt Mithra nicht nur
den »göttlichen Sohn« (S. 16), den »Heiland und Retter der
Die Christusmythe des Prof. A, Drews im Lichte d. Wissenschaft. 5
Welt« (S. 16), sondern er macht ihn auch zum Gott- Vater.
?Ja, er war im Grunde Ahuramazda selbst, aus seiner über-
irdischen Lichtigkeit gleichsam herausgetreten und zu kon-
kreter Individualität verdichtet« (S. 7). Von diesem ganzen
Hirngespinst weiß die Ahuramazda-Religion nichts. Der
Gott Mithra kommt bereits im Rigveda der alten Inder
vor und ist daher der arischen Urzeit angehörig und be-
deutend älter als der spezifisch altpersische Gott Ahura-
mazda. Ursprünglich scheint er überhaupt von der Ahura-
mazda-Religion ausgeschlossen worden zu sein, denn in
den ältesten Partien des Avesta wird Mithra noch nicht
erwähnt, ebenso wenig wird er in den ältesten Achäme-
nideninschriften genannt. Da aber von der arischen Urzeit
her der Glaube an Mithra im Volke weiter lebte, scheint
er nachträglich erst in die altpersische Religion aufge-
nommen zu sein. Bereits in einem assyrischen Text, der
aus der Zeit vor der Zerstörung Ninives stammt, wird als
nichtassyrischer Name für den Sonnengott der Mithra er-
wähnt (vgl. Western: Asia Inscriptions III, S. 69, Nr. 5, 63).
Ebenso wie alle übrigen guten Götter ist auch Mithra in
der altpersischen Religion ein Geschöpf des höchsten Gottes
Ahuramazda (vgl. Yasht 19, 35, 98). Die Ahuramazda-
Religion hat den Mithra weder in der vorchristlichen
Zeit noch in der nachchristlichen Sassaniden-Periode zum
»Heiland und Retter der Welt« werden lassen. Wohl könnte
dieses in den Mithramysterien der spätrömischen Kaiser-
zeit, die neben persischen Elementen auch viele fremde
Ideen aufgenommen hat, der Fall gewesen sein; denn diese
nachchristlichen Mithramysterien haben, ebenso wie der
zur gleichen Zeit auftretende Isis-, Serapis-, oder Saba-
zioskult, einen wohl vom Einfluß der jüdischen Religion
herrührenden monotheistischen Zug angenommen. Es bricht
sich in diesen Mysterien die Anschauung Bahn, daß die
höchste Gottheit, mag sie Mithras, Isis, Serapis oder Sabazios
heißen, das einzig göttliche Wesen sei, das aber auch unter
6 Die Christustnythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
verschiedenen Formen auftritt. Diese nachchristlichen
Mysterien sind mehr oder weniger vom Judentum beein-
flußt. Dem Parsismus, mit dem allein das Judentum in
nähere Beziehung getreten ist, ist die Auffassung, daß der
Gott Mithra beim Jüngsten Gerichte als Heiland (S a o s h-
y a n t) auftrete, vollständig fremd.
Herr Drews aber versteigt sich sogar zu der Behaup-
tung, daß »nach persischem Glauben Mithra der leidende
Erlöser und Mittler zwischen Gott und Welt« wäre (Drews
S. 45). Er sagt: (S. 93) »Aber auch Mithra opfert sich für
die Menschheit, denn der Stier, dessen Tötung durch den
Gott im Mittelpunkt aller kultischen Darstellungen des
Mithra steht, ist ursprünglich kein anderer als Mithra selbst.«
Dieses sein eigenes Phantasiestück stützt sich weder au'
die religiösen Schriften der alten Perser noch auf die nach-
christliche Pehlevi-Literatur der Sassaniden, in denen die
Zarathustra-Religion weiter ausgebildet ist, Ein mittelper-
siches Werk aus der Sassanidenzeit berichtet nur, daß der
Messias Saoshyant, unterstützt von seinen Assistenten,
am Ende der Zeiten den himmlischen Stier Hadayosh,
mit dem die ersten Menschen ursprünglich von einer Gegend
zur andern reisten, schlachten werde. Aus dem Fett dieses
Stieres wird er dann den Unsterblichkeitstrank herstellen,
den er hierauf allen Frommen verabreichen wird (s. Bun-
dahish 19, 13; 30, 25). Auch in dem nachchristlichen Mithras-
kult spielt dieser Unsterblichkeitstrank, der aus dem Fette
des himmlischen Stieres gewonnen wird, eine große Rolle
(vgl. A. Dieterich: Bonner Jahrh. 1902 S. 32). Das altper-
sische Religionsbuch Avesta aber kennt diese Vorstellung
überhaupt noch nicht. Dort wird nur ein himmlischer Stie;-
genannt, welcher der Anwalt der irdischen Rinder ist. So
oft die irdischen Rinder von den Menschen mißhandelt
werden, fleht er die Hilfe Ahuramazdas an (Yasna 29;
Bundahish c 4).
Man überblicke nun nochmals die Behauptungen
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft 7
unseres Mannes der Wissenschaft. Nach ihm soll zunächst
der Heiland Saoshyant kein anderer sein als der Gott
Mithra selbst und zugleich der himmlische Stier. Wie kann
dieses nur möglich sein, da doch der Messias den Stier
schlachtet? Um diesen Gott Mithra dann mit den Christus-
Erzählungen in völlige Übereinstimmung zu bringen, läßt
Drews den Mithra von einer jungfräulichen Mutter M i h r
abstammen. Er sagt (S. 78): »Bei den Persern erscheint die
jungfräuliche Mutter M i t h r a s unter dem Namen M i h r,
was ebensowohl »Himmel« wie »Liebe« bedeutet« Allein
diese Aufstellung ist ganz unmöglich, denn M i h r ist die
regelrechte mittelpersische und neupersische Lautentwick-
lung des altpersischen Wortes Mithra. Demnach verhält
sich Mihr zu Mithra wie neuenglisch b r a i n zu alt-
englisch: brcegen. Mihr ist lautlich wenigstens über
600 Jahre jünger als altpersisch Mithra und bedeutet zunächst
ebenso wie das altpersische Wort »Freundschaft, Gott Büihra«
ferner »Liebe, Sonne« (aber niemals »Himmel«). Daß aber
der männliche Mihr gleichzeitig die jungfräuliche Mutter
seiner eigenen Person sei und er außerdem wenigstens
600 Jahre älter als seine Mutter sei, ist nichts anderes als
eine bloße Erfindung des Herrn Professor Drews.
Nicht Mithra, sondern der Messias wird vielmehr nach
dem Parsismus von einer Jungfrau geboren, die sich in
einem See badet, in welchem etwas vom Samen des Za-
rathustra aufbewahrt ist (vgl. Grdr. d. Iran. Phil. II, p. 586;
Epistles of Manu§£ihar II, 3, 3; Dad i-Dinik 2, 10; 4S, 80).
Gerade die aus dem Parsismus hevorgegangenen
Mithramysterien sind erst gegen Ende des ersten Jahr-
hunderts n. Chr. zu den Römern gelangt. Sie sind nicht
direkt von Persien nach Europa eingedrungen, sondern über
Mesopotamien und Kleinasien, so daß sie nicht nur baby-
lonische und syrische Anschauungen in sich aufgenommen
haben, sondern auch entsprechend den übrigen spätorien-
talischen Kulten sich nicht dem monotheistischen Einflüsse
8 Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
des Judentums entziehen konnten1). Der dem syrischen Kulte
eigentümliche Glaube, daß der Sonnengott die frommen
Seelen zum Himmel führe (vgl. F. Cumont: Die oriental
Religion, Leipzig 1910, S. 292), ist auch von den Mithra-
mysterien übernommen, so daß Mithra einerseits zum
psychopompen Gott wurde, andererseits mit dem Heiland
identifiziert wurde8), der am Ende der Zeiten alle Menschen
auferwecken und den Frommen den wunderbaren Trank
der Unsterblichkeit reichen wird. Die Idee des leidenden
Messias hat das Christentum aus dem Judentum genommen.
Nach Talmud Sukka 52a wird vor dem Auftreten des Mes-
sias ben David ein Vorläufer erscheinen, nämlich
Messias ben Josef, der im Kampfe gegen die Bösen
fallen wird. Diese Anschauung hat ihren Ursprung in Jes.
53, 2 — 10, wo von einem leidenden und sterbenden Heiland
die Rede ist. »Nur unsere Leiden trug er, und unsere
Schmerzen lud er sich auf . . . Strafe traf ihn zu unserem
Heile, und durch seine Wunden sind wir genesen« (vgl.
auch Sanhedrin 98 b). Darum erscheint auch Jesus als Sohn
des Josef. Gerade zur Zeit des Herodes war eine sehn-
suchtsvolle Erwartung nach dem Messias eingetreten. Manche
wollten sogar Johannes den Täufer für den Messias an-
sehen (vgl. Lucas 3, 15).
Talmudische Quellen aus dem Jahre 100 n. Chr.
bezeichnen Jesus als den Sohn des Pantera (bezw.
Pandera) aus Nazareth. Zur Zeit des Rabbi Akiba und
Ismael wird ein Jünger Jesu erwähnt, der im Namen des
JeSü'a ben Pantera zu heilen pflegte (vgl. H. L. Strack,
Jesus nach den ältesten jüdischen Angaben, 1910, S. 21 u.
23 f.). Auch der Kirchenvater Origenes (um 200 n. Chr.)
bestätigt, daß die Juden Jesus für den Sohn des riavrr(px
') Siehe hierüber meine Abhandlung im Arch. f. Religionswiss.
HM, Heft 3, Abschnitt 8.
») Vgl. F. Cumont, Les mysteres de Mithra I (Paris 1894;,.
p. 310.
Die Christusmythe des Prof. A. Drcws im Lichte d. Wissenschaft. 9
halten (Strack ebenda S. 9). Dieses scheint der ursprüng-
liche Name des Vaters des historischen Jesus gewesen zu
sein. Dieser Personenname kommt in griechischen Inschriften
häufig vor (vgl. Deißmann, Oriental. Studien für Th. Nöldeke
1VJ06, p. 873 f.). Von seinen Jüngern ist wohl Jesus zunächst
als der leidende jüdische Messias, also als Messias ben
Josef aufgefaßt worden. Demgemäß hat sein Vater von
nun ab notwendigerweise Josef heißen müssen. Die ältere
Lesart von Matth. 1, 16, wie sie die syrischen Handschriften
bieten, lautet daher »Josef, dem die Jungfrau Maria verlobt
war, zeugte Jesum, welcher Messias genannt wird (vgl, P.
W. Schmiedel in Protest, Monatshefte VI, 3, S. 86). Da Josef
als der Vater Jesu hingestellt wurde, hat man nun zum
Beweise seiner vornehmen Abstammung ein langes Ge-
schlechtsregister für Josef aufgestellt (Matth. 1, 1—16;
Luk. 3, 23—38). Wäre Jesus gleich von vornherein als
Messias ben David aufgefaßt worden, so hätte die älteste
Überlieferung nicht Nazareth (z. B. Luc. 1, 26; 2, 4), sondern
Bethlehem als seine Geburtsstätte erwähnt.
Durch Einfluß der im römischen Reiche weit ver-
breiteten orientalischen Mysterien ist dieser leidende und
sterbende Messias im Christentum zu einer leidenden, ster-
benden und wiederauferstehenden Gottheit geworden. In
manchen orientalischen Kulten, die gerade bei Beginn der
christlichen Zeitrechnungin Rom einen gewaltigen Aufschwung
genommen haben, leiden und sterben die Götter wie O s i ri s,
Attis, Adonis und werden von einer Göttin beweint,
von Isis, bezw. Cybele oder Astarte. Ebenso wie diesfr
betrauern auch die Mysten in ihren Trauergottesdiensten
den dahingeschiedenen Gott. Aber die Gottheiten stehen
nachher wieder auf und mit Jubel wird ihre Wiederaufer-
stehung von den Mysten, die deren leidenvollen Tod und
Wiederauferstehung in ihrer Phantasie durchzuleben ver-
suchen, gefeiert (vgl. Hepding, Attis, Gießen 1903, S. 166 u.
197). In einem heiligen Gebete des Attis-Kultus heißt es:
10 Die Christustnythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
»Fasset Vertrauen, ihr Gläubigen, denn der Gott ist gerettet;
und auch für uns wird aus unseren Mühsalen Erlösung
hervorsprießen« (Hepding, Attis, S. 167)1). Gerade der Attis-
Kult hatte manche Ähnlichkeiten mit christlichen Bräuchen,
was schon die alten Kirchenväter bemerkten.
Die Magna mater, die große Mutter, die im
Attis-Kult die Mutter aller Götter ist, verglich man mit der
Mutter Gottes. Auch deren Sohn und Geliebter wird nach
seinem Tode wiederauferweckt. Ein christlicher Autor, der
gegen 375 n. Chr. in Rom lebte, bemerkt hierzu: »Am 24.
März, dem Dies sanguinis, beging man, wie wir gesehen
haben, eine Trauerfeier, bei welcher die Gallen (die Priester
des Attis-Kultes) ihr Blut verspritzten und bisweilen sich
verstümmelten zum Gedächtnis an die Verwundung, welche
den Tod des Attis verursacht hatte, und man schrieb dem
auf solche Weise vergossenen Blute eine versöhnende und
erlösende Kraft zu. Die Heiden behaupteten infolgedessen,
daß die Kirche ihre heiligsten Riten nachgeahmt hätte,
indem sie, wie jene, aber nach ihnen, um die Zeit des
Frühlingsaquinoktiums ihre Charwoche feierte, zur Erinne-
rung an das Opfer am Kreuz, bei welchem das Blut des
>) Das Urchristentum, das, wie wir am Schlüsse ausführen
werden, an die allgemeinen Vorstellungen der heidnisch-römischen
Zeit angeknüpft hat, hat sie nur christlich umgedeutet. Auch dtr
Christ ist bestrebt, den göttlichen Christus »zu erkennen und die Kraft
seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, daß er seinem
Tode ähnlich werdec (Philipper 3, 10). Der Christ ist »mit Christo
gekreuzigt« (Gal. 2, 19) und »mit Christo« auferstanden« (Kol. 3, 1).
Das Christentum scheint gerade aus dem Attiskult manche Ideen ent-
lehnt zu haben. Attis ist »der Erstling derer, die sterben und wieder-
auferstehen zu einem neuen Loben« (Hepding, Attis, S. 197). Auch
im N. T. heißt Christus »der Anfang und der Erstgeborene von deu
Toten« und »der erste aus der Auferstehung von den Toten«, er ist
»der Erstling« (I Kor. 15, 20. 23; Rom. 8, 29; Kol. 1, 18; Apostelg.
26, 23; Offenb. 1, 5). Auf der Ähnlichkeit der C»3terfeier der griechi-
schen Kirche mit dem Attiskult macht Hepding, S. 167, Anm. 3 auf-
merksam.
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 11
Lammes Gottes ihrer Angabe nach die Menschheit erlöst
habe«. St. Augustinus, der sich über diese gotteslästerliche
Äußerung entrüstet, erzählt, daß er einen solchen Kybele-
Priester gekannt habe, der dabei blieb: Et ipse Pileatus
christianus est' »der Gott in der phrygischen Mütze
(d. i. Attis) ist ebenfalls ein Christ« (F. Cumont: D. oriental.
Religionen, Leipzig 1910, p. 85). Der christliche Messias steht
demnach in keiner Beziehung zu Mithra.
Von manchen anderen groben Fehlern wimmelt Drews'
Buch. So sieht er auch im Perserkönig Cyrus den Sonnengott
Mithra. Denn nach ihm ist »Cyrus (gr. Kyros) im persischen
der Name der Sonne, Khoro, und Kyris oder Kiris ist
der Name des Adonis auf Cypern ; daraus geht hervor,
daß die Geschichte der Geburt des Cyrus durch eine Über-
tragung aus dem Mythenkreise des Sonnengottes auf den
König Cyrus zustandegekommen ist« (Drews S. 53). Ein
wahrhafter Rattenkönig von Konfusion. Zunächst heißt der
Perserkönig in den Achämenideninschriften Kurush und
wird von mehreren Gelehrten als ein arischer Eigenname
angesehen, der auch im altindischen Epos belegt ist (s.
Bezzenbergers Beitr. z. Kunde d. indogerm. Sprachen 25,
312 Windischmann: Zendstudien S. 137). Diesen altper-
sischen Namen will nun Drews von einem persischen
Wort khoro »Sonne« ableiten. Nur schade, daß dieses Wort
im Persischen gar nicht existiert. Meint er vielleicht das
altpersische Wort huwar = altindisch s u v a r Sonne,
dessen neupersische Form chvar und chur ist? Da die
Lautentwicklung der neupersischen Formen erst in nach-
christlicher Zeit stattfand, so kann man sie doch unmöglich
zur etymologischen Erklärung eines altpersischen Namens
verwenden. Das arische Wort suvar ,Sonne' = ap.
huvar kann ebenfalls nicht zur etymologischen Erklärung
des k in Kurush herangezogen werden, da der altper-
sische Laut niemals zu k hätte werden können. Ferner
darf Drews unmöglich altpersisch Kurush mit Kiris,
12 Die Cbristusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
dem Namen des Adonis auf Cypern, zusammenbringen, da
einerseits der Adoniskult aus Phönizien stammt, andererseits
Cypern eine ursprünglich phönizische Kolonie ist, so daß
Kiris sicherlich ein semitisches Wort ist, während Kurush
ein indogermanischer Name ist. Die historische, verglei-
chende indogermanische Sprachwissenschaft existiert aber
nun einmal für Drews nicht. Durch diese bekanntlich etwa
vor 70 Jahren von Bopp begründete Wissenschaft will sich
seine ungebundene Phantasie keineswegs in Fesseln schla-
gen lassen.
Hier noch ein kleines Beispiel seiner zügellosen
Kombinationsgabe : »An den Namen des verjüngten und
wiederauferstandenen Mithra, an Saoshyant oder
Sosiosch erinnert griech. S a o s, der Sohn des Zeus
oder des Heilgottes Hermes. Sein Name kennzeichnet ihn
als den Opferer (Sanskrit: Sa van a >Opfer«), und er
erscheint umsomehr als eine abendländische Form des
Opfergottes und Somabereiters Agni, als auch Dionysos
den Beinamen S a o s oder S a o t e s führte, als Spender
des Weines sein Blut für das Heil der Welt vergossen
habe« (Drews S. 97). Zunächst ist die Form Sosiosch
eine willkürliche Erfindung; dagegen ist altpersisch Saosh-
yant vom altpersischen Verb, sav' nutzen, fördern,
abgeleitet und ist mit sanskrit c, u n a , Gedeihen' urver-
wandt. Nun lehrt die vergleichende historische Sprach-
wissenschaft, daß altpersisch s (== skr $) auf ein indo-
germanisches k zurückgeht, das in der griechischen Sprach-
geschichte stets als k auftritt. Folglich kann altpersisch
Saoshyant unmöglich mit gr. S a o s zusammenhängen.
Dieser griechische Name Saos darf aber auch nicht mit
sanskrit Sa van a ,Soma-Libation' zusammengestellt werden,
da skr. s = indogermanisch s ist, was im Griechischen
vor einem Vokal zu einem Hauchlaut (Spiritus) geworden
ist. Derartige willkürliche Zusammenstellungen erinnern
mich lebhaft an meine Gymnasialzeit, wo ich als Ober-
Die Christnsmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 13
sekündaner englisch brain für urverwandt mit griechisch
f r 6 n («pp^v) .Verstand* hielt. Solche Wortspielerei ent-
hüllt sich auch in folgendem Satze, den wir S. 91 lesen:
Ȇbrigens bedeutet der Ausdruck Messias in gewissem
Sinne nur einfach ,der Mensch'; dem hebräischen M e-
schiach nämlich entsprechen die Namen Meschia und
Meschiane [1] wie in der Mazda-Religion die ersten
Sterblichen, die Ureltern der gefallenen Menschheit hießen,
die nun ihrer Wiedererhöhung durch einen andern Meschia
, Menschen' entgegenharrte. Auch den Juden war diese Be-
deutung des Wortes Messias nicht fremd, wenn sie den
letzteren als den neuen Adam in die Mitte der Zeiten
stellten. Denn Adam heißt gleichfalls soviel wie Mensch;
der Messias als der neue Adam war demnach auch für
sie nur eine Erneuerung des Urmenschen in erhöhter und
verbesserter Gestalt«. Alles das ist natürlich grundfalsch.
In dem altpersischen Religionswerk A v e s t a wird
der Urmensch, von dem die ganze Menschheit abstammt,
Gäyomareta genannt, dagegen wird der Messias
Saoshyant als der »letzte Mensch« angesehen (s. Yasna
26, 10; Bundahish 24, 1; 3, 19 ff; 30, 7; 31, 1; 15). Diese
persische Anschauung ist auch in die jüdische Kabbalistik
eingedrungen. Nachdem Sohar wird der Messias die letzte
der Seelen sefn, die Gott in das Körperleben eingehen läßt
(vgl. Graetz, Gesch. d, Juden VII8, Leipzig 1894, S. 68). Zuerst
erwähnen die frühestens im 5. Jhdt. n. Chr. entstandenen,
Parsi-Werke der Sassanidenzeit, daß das aus dem Namen
des Gayomareta hervorgegangene Menschenpaar Mataro
und Mätaroyäo bezw. Maharth und Mahartyäoyih
hieß (vgl. Bundahish 15, 2; E. W. West: Pahlavi-Texts P.
1. Oxford 1880 S. 53 Anm.) Das etwa aus dem 5. Jhrh.
stammende Parsi-Werk: Bundehish (c 15, 6) nennt dieses
Menschenpaar auch M ä s h y a und M ä s h y ö f. Da aber
Gäyomareta der erste Mensch ist, so wird auch der
Heiland Saoshyant bei der Wiederauferstehung zuerst
14 Die Chrislasmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft,
diesen ins Leben zurückrufen (Bundahish 30, 7). Übrigens
wird weder im Alten Testament noch in der spezifisch
jüdischen Literatur der Messias als der »neue Adam«
angesehen. Hier gibt wenigstens Drews zu, daß der per-
sische Messias ein Mensch sei und nicht der Gott Mithra
und steht somit im Widerspruch zu seinen eigenen obigen
Behauptungen.
Ferner sollen nach Drews (S. 11) die Juden »die Vor-
stellungen einer Auferstehung der Toten und eines Jüngsten
Gerichts« natürlich aus dem Parsismus übernommen haben.
Allein Edwin Albert hat kürzlich in einer sehr gelehrten
Arbeit: »Die israelitisch-jüdische Auferstehungshoffnung«
(Königsberg 1910) nachgewiesen, daß der israelitische Aufer-
stehungsglaube durchaus als auf selbständiger Entwicklung
beruhend angesehen werden muß und nichts vom Parsismus
entlehnt hat. Die weitere Behauptung, daß die Satansvor-
stellung des Alten Testaments ebenfalls von den Persern
stamme, habe ich bereits in meinem Werke: Arisches im
Alten Testament II, 51—53 (Berlin 1903) widerlegt.
Um so unbegreiflicher ist es, wie er in seinem Vor-
wort zur 3. Aufl. sagen kann: »Ich blicke auch den ferneren
Angriffen der Gegner mit völliger Gemütsruhe entgegen im
Vertrauen darauf, daß eine Arbeit, wie die meinige, die
aus ernsten Beweggründen entsprungen und mit entsagungs-
voller Hintanstellung persönlicher Vorteile durchgeführt ist,
nicht verloren, sondern dem geistigen Fortschritte der
Menschheit nur dienlich sein kann.« Spricht so ein Vertreter
ernster Wissenschaft, der in seinem Werke nicht einmal
die elementarsten Grundsätze wahrer Wissenschaft be-
achtet hat?
Nun nur noch ein Wort über die Art und Weise, wie
Herr Drews das aus indischen Religionsquellen stammende
Material verwertet hat. In den letzten Jahrzehnten haben
mehrere Indologen auf viele buddhistische Legenden hin-
gewiesen, die manche Ähnlichkeiten haben mit christlichen
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 15
Erzählungen und haben ohne weiteres angenommen, daß
nur Indien die Urquelle für solche christliche Erzählungen
sein könnte. Allein der Leipziger Indologe Professor Win-
disch, der im Schlußkapitel seines vor drei Jahren erschie-
nenen Werkes >Buddhas Geburt«1) die zahlreichen Über-
einstimmungen der buddhistischen Erzählungen mit den
christlichen behandelt, gelangt zu dem Resultate, daß hier
keine Entlehnungen stattgefunden haben, sondern die Ähn-
lichkeiten zwischen manchen christlichen und buddhisti-
schen Berichten nur als Parallelen im eigentlichen Sinne
des Wortes, als »Linien, die sich nicht berühren und nicht
schneiden«, aufzufassen sind. Drews, der nun in seinem
Werke das von den lndologen aufgehäufte Material wieder-
gibt, behauptet, ohne die obenerwähnte gelehrte Arbeit
Windischs zu kennen, daß Indien die Urheimat der christ-
lichen Erzählungen sei. Aber er begnügt sich nicht mit dem
zuverlässigen, sekundären Material, das er bei den Indo-
'ogen gefunden hat, sondern erfindet hiezu noch eigene
beweiskräftige Stücke.
Der indische Gott Püshan, der Beschützer der Pfade
und Herden, wird ohne weiteres mit dem Gotte des Feuers,
Agni, identifiziert »Püshan ist nur eine Form des Agni«
(S. 99). Püshan verhält sich aber zu Agni wie in der grie-
chischen Mythologie Pan zu Hephaistos. Ich muß annehmen,
daß auch hier Drews nur aus Unkenntnis des Materials
zu seiner wunderlichen Behauptung gelangt ist. Denn
Püshan führt häufig den Beinamen Aghrni, was er
wohl entgegen den Lautgesetzen mit dem Namen Agni in
Beziehung gebracht zu haben scheint. Nach seiner Meinung
ist neben dem persischen Mithra der indische Gott Agni
mit dem »Christusmythus« verflochten. Und zwar wird der
Agni zu diesem Zwecke gewaltsam zurechtgestutzt. Eigen-
schaften, die eigentlich andern Göttern eigentümlich sind,
werden ohne weiteres dem Agni zugesprochen. So nimmt
J) s= Abhandlungen d. Sachs. Qesellsch. d. Wissensch. 26, IL
16 Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
nach den indischen Schriften Vishnu als rettender Gott
zuweilen die Gestalt eines Fisches an1), ebenso wie Apollo
den in Gefahr schwebenden Seefahrern oft in der Gestalt
eines Delphins Hilfe bringt. Agni dagegen erscheint niemals
in Fischgestalt. Allein Drews behauptet : »Auch der Fisch
kommt bereits im indischen Feuerkultus vor und scheint
hier ursprünglich den im Wolkenwasser schwimmenden
Agni zu repräsentieren« (S. 100). Daß übrigens das christ-
liche Fischsymbol nicht aus Indien stammt, hat sehr ein-
gehend H. Dölger in der Römischen Quartalschrift 1909
bewiesen. Es stammt wie ich es in einer Arbeit ausführ-
lich dargelegt habe, aus dem Judentum.2) Da ich in meiner
Abhandlung das gesamte Material über das Fischsymbol
aus den jüdischen Quellen zusammengestellt habe, so ver-
mag ich folgenden Satz von Drews einfach als ein Phan-
tasiegebilde zu bezeichnen : »Die Rabbiner nannten den
Messias Sohn Ben Josef Dag, Dagon »den Fisch« und
ließen ihn aus dem Fische geboren werden, weshalb die
Juden am Versöhnungsfeste noch lange einen Fisch zu
schlachten pflegen« (S. 100). Dieses ist vollständig erfun-
den. Ich möchte wissen, in welcher primären Quelle Herr
Drews dieses Ungetüm gefangen hat.
Den Agni sucht Drews dann weiter gewaltsam zum
Urtypus des christlichen Messias zu machen; deshalb er-
findet er, daß Agni bei seiner Geburt getauft worden sei.
Die christliche Taufe geht aber weder auf Indien noch auf
Persien zurück, sondern hat sich aus der urjüdischen Sitte
entwickelt, daß ein Heide, der in die jüdische Gemeinschaft
aufgenommen werden wollte, ein Tauchbad im fließenden
Wasser nehmen mußte (vgl. Schürer: Gesch. d. jüd. Volkes,
4. Aufl. III, 182 ff.). Auf altrömischen Katakombenbildern des
') Vgl. Pischel: Sitzungsberichte d. Preuß. Akad. d. Wissensch.
1905 S. 506«.
*) Meine Arbeit erscheint Heft 1 bis 3 des Archiv für Re-
ligionswissenschaft 1911.
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 17
2. Jahrhunderts n. Chr. sieht man zuweilen zum Zeichen
dafür, daß der dahingeschiedene Römer der judenchristlichen
Gemeinde angehört habe, bildlich dargestellt, wie der ehe-
malige Heide das nach jüdischem Gesetze vorgeschriebene
Tauchbad in einem Quellwasser genommen hat (vgl. A. de
Waal: Roma sacra, München 1905, S. 65 f.).
Nur noch ein charakteristisches Beispiel für die Trug-
wissenschaft, hinter der sich Unwissenheit und Methode-
losigkeit birgt, will ich den Lesern anführen. Drews (S. 82)
behauptet: Ebenso wie der jüdische Messias, Maschiach, ein
Gottesgesalbter sei, so wäre auch der Gott Agni bei seiner
Geburt »gesalbt« worden. »Im Hebräischen« — sagt Drews
S. 92 — heißt »Messias, der Gesalbte«, aber auch Agni führt
als Opfergott den Namen »der Gesalbte«, akta; ja es
scheint, als ob Christus als Übersetzung von Messias
mit Agni in Beziehung steht, denn der Gott, der bei seiner
Geburt mit Milch oder dem heiligen Somatranke und Opfer-
butter übergössen wird, führt den Kultbeinamen Hari;
dieses Wort bezeichnet ursprünglich den durch Salbung mit
Fett und Öl hervorgebrachten Lichtglanz» Es klingt in dem
griechischen Charis, einem Beinamen der Aphrodite, an
und ist in dem Verbum chrio »salben« enthalten, von
welchem Christos die Partizipialform ist«.
Dieser scheinbar von Gelehrsamkeit triefende Satz ist aus
Unmöglichkeiten zusammengesetzt. Untersuchen wir: 1. ob der
Begriff des Messias sich wirklich mit altindisch akta deckt;
2. ob wirklich Hari der mit Fett und Öl hervorgebrachte
Lichtglanz bedeutet; 3. ob Hari lautlich mit griechisch
Charis und chrio zusammenhängt.
Es war eine altisraelitische Sitte, daß der Hohepriester
und der König stets durch eine Ölsalbung des Hauptes ge-
weiht wurden. Daher ist nicht nur der Hohepriester ein
Maschiach (»Gesalbter«, 3. Mos. cap.. 4 u. 6), sondern auch
der König ein »Maschiach Gottes« oder bloß »Maschiach«.
Selbst heidnische Könige, wie der syrische König Hasael
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 2
18 Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
(I Kön. 19, 15) und Cyrus (Jes. 45, 1) erscheinen als »ge-
salbt«. Gemäß der altbiblischen Zukunftshoffnung wird
Israel, einst sittlich geläutert inmitten der Welt dastehen.
Die ganze Welt wird am Ende der Zeiten unter dem Szepter
eines mächtigen und weisen Mäschiach, eines Königs
aus Davids Geschlecht, zu einem Gottesreiche vereinigt
sein. Der Mäschiach hat also in dieser Auffassung die Be-
deutung eines Weltenkönigs erlangt.
Dagegen kommt im Altindischen nicht die Anschauung
vor, daß Agni durch »Salbung« bei seiner Geburt göttlich
geweiht worden wäre. Agni personifiziert das Feuer. Der
Götterbote Mätaricvan hatte es zuerst vom Himmel her
den Menschen gebracht. Agni und Indra gelten als die
Zwillingsbrüder von demselben Vater Prajäpati (Rigveda
VI, 59, 2). In der Gestalt des Blitzes, der durch die Wasser-
wolken fährt, wird Agni auch als der »Sohn der Gewässerc
(Apännapat) gefeiert. Da das Feuer zu den wichtigsten
Bestandteilen eines Opfers gehört, so spielt Agni beim
Opferzeremoniell eine sehr hohe Rolle. Durch das Rei-
ben zweier Hölzer wird er beim Opfer jeden Tag nach
der Väter Weise von alters her auf dem Altare erzeugt.
Daher heißt er auch der »jüngste« (yaviStha) Gott; er
bleibt ewig jung, weil er immer wieder erzeugt wird. Ebenso
wie den anderen Göttern werden auch ihm Soma und
flüssige Butter als Libation dargebracht. Agni ist zugleich
Erzeuger, Herr und Priester des Opfers, welches er als be-
geisterter R§i den Göttern übermittelt. Daher ist er der
Freund der Menschen und Götter. Das Wort akta, das mit
Agni zuweilen in Beziehung steht, hat nicht die von Drews
angegebene Bedeutung. Ich will hier mehrere Beispiele aus
dem Rigveda für akta anführen : In VI, 4, 6 ist Agni
»aktac cocisha« = »mit Glanz versehen«; in VI, 5, 6
heißt Agni dy ubhi r aktas »er ist mit Licht versehen«.
I, 62, 8 charakterisiert akta die Morgenröte: »Die mit
schwarzen und lichten Farben versehene (akta) Morgen-
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 19
röte.« X, 177,1 »Das mit göttlicher Kraft versehene (aktam)
Sonnenroß«. Häufig steht akta in Verbindung mit der
Somaflüssigkeit. IV, 27, 5: »Dann trank Indra das blanke
Gefäß aus, den mit Milch versehenen (gobhir aktam)
fetten, lichten Somatrank«. IX, 96, 22: »Schon sind die
gewaltigen Ströme des Soma ergossen, mit Milch verse-
hen (akto gobhis) gelangt er in die Gefäße«.
Akta hat niemals die Bedeutung »durch Salbung ge-
weiht«. Auch im Altindischen wird der König geweiht, aber
diese Zeremonie besteht darin, daß der König mit Wasser
besprengt wird. Das technische Wort »zum König weihen«
heißt im Altindischen abhishic, dieses Wort bedeutet
eigentlich »mit Wasser besprengen«, Das Substantiv »die
Königsweihe« lautet abhisheka, das eigentlich »die Be-
sprengung mit Wassert bedeutet. Somit haben wir nach-
gewiesen, daß altindisch akta sich nicht mit dem hebräi-
schen Wort Mäschiach begrifflich deckt.
Ferner bedeutet auch das Wort Hari, womit Agni
oft verbunden ist, nicht, »den mit Fett und Öl hervorge-
brachten Lichtglanz«. Hari ist im Rigveda ein gewöhnliches
Beiwort des Feuers, der Sonne, des Blitzes und des Soma-
getränkes und bedeutet, ,feuerfarbig, goldgelb, glänzend* ;
schließlich werden auch die göttlichen Rosse mit Hari
bezeichnet1). Die vergleichende Sprachwissenschaft lehrt
nun, daß dieses Wort urverwandt ist mit altpersisch
Zaray »goldfarben, gelb', lit. 2älas ,rot', lat. helvus,
altsächs. gelo, altengl. geolo, dtsch. gelb. Dagegen ist
griechisch Chäris abgeleitet von dem Verb. xa^w» altind.
haryati ,gern haben,' ahd. ger ,begehrend', dtsch. gern.
Weder altindisch Hari noch griechisch Chäris darf dem-
nach mit griechisch chrio (*/ptw) zusammengestellt werden.
Jetzt erst wird der Leser imstande sein, die Worte
Drews, die er in seinem Vorwort (S. VIII) sagt, richtig zu
bewerten : »Wer sich im Gebiete der Wissenschaft umge-
J) Vgl. H. Grassmann: Wörterbuch z. Rigveda S. 1643-1649
V
20 Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wisssenschaft.
sehen hat, weiß, daß für Methode von jedem Mitarbeiter
meist gerade nur dasjenige angesehen zu werden pflegt,
was er selbst als eine solche ausübt, und daß auch der viel-
berufene Begriff der Wissenschaftlichkeit sich sehr nach rein
zufälligen und persönlichen Gesichtspunkten richtet«.
Also zufällige und persönliche Grundsätze sollen für wis-
senschaftliches Arbeiten maßgebend sein? Es ist und bleibt
in der Tat des Herrn Drews eigenartigstes Verdienst, diesen
Grundsatz getreulich in seinem Werke durchgeführt zu
haben. Selbstverständlich kann man von diesem Grund-
satze aus sogar beweisen, daß selbst die Lebensgeschichte
des niederländischen Freiheitshelden Egmont »durch eine
Übertragung aus dem Mythenkreise des leidenden Messias zu-
standegekommen« sei. Es sei mir gestattet, dies von mir will-
kürlich erfundene Beispiel ein klein wenig näher auszuführen,
da es sehr gut dazu geeignet ist, die Kombinationen einer
Trugwissenschaft, wie sie Prof. Drews in seiner »Christus-
mythe« zur Anwendung gebracht hat, grell zu beleuchten.
Ebenso wie die Niederländer im 16. Jhdt., wurden auch die Juden
zur'Makkabäerzeit von einer Fremdherrschaft grausam unterdrückt. Die
damaligen niederländischen Schriftsteller scheinen in Anlehnung an
den Makkabäerhelden Jonathan ihren Naticnalhelden Egmont gestaltet
zu haben. Der Makkabäer Jonathan war ein populärer Held, — ebenso
Egmont. Jonathan schenkte in seiner Treuherzigkeit selbst dem Feinde
Glauben, — ebenso Egmont. Jonathan wird unter falschen Vorspie-
gelungen in die Burg des feindlichen Statthalters gelockt, — ebenso
Egmont. Jonathan muß seine Treuherzigkeit mit dem Leben büßen,
— ebenso Egmont. Jonathan ist aber nur eine mythische Erscheinung.
Schon sein Name deutet darauf hin, daß er im Grunde identisch ist
mit Jonathan, dem heldenhaften Sohn Sauls, dem vordavidischen
Messias. Auch jener war ein volksbeliebter Held, der durch seine
bewundernswerte Tapferkeit das Volk von den mächtigen Philistern
befreit hat, aber schließlich für die Sünden seines Geschlechts den
Tod erleiden mußte. Jonathan ist das Vorbild des leidenden Messias
und eine mythische Gestalt, die auch in dem Freiheitskampfe der
Juden gegen die Römer (etwa um 70 n. Chr.) plötzlich auftritt. So
berichtet Josephus: Bellum Judaicum VI, 2, 10: »In jenen Tagen trat
aus der Mitte der Juden ein Mann namens Jonathan, klein und unan-
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 21
sehnlich von Gestalt, bei dem Grabmahl des Hohepriesters Johannes
hervor . . . und forderte den Tapfersten von den Römern zum Zwei-
kampfe heraus.* Die Römer wurden von gewaltiger Furcht ergriffen.
Endlich wagte sich ein römischer Held mit ihm in den Zweikampf
einzulassen. »Bei dem nun folgenden Zweikampf* — so berichtet
Josephus, — »ließ den Römer, obwohl er im allgemeinen dem Juden
überlegen war, sein Glück im Stich, so daß er zu Boden fiel; schnell
sprang Jonathan herzu und tötete ihn.« Aber bald traf den Sieger
ein Pfeil aus der Ferne, und tot brach Jonathan zusammen. Hier
haben wir den leidenden Messias »er, der nicht wohlgeformt und
nicht schön war, ... ist durchbohrt wegen unserer Frevel« (Jes.
53, 2 und 5). Da der Messias nach der späteren Überlieferung
aus dem Geschlechte Davids stammen muß, so sind dem Jonathan
manche Züge von Davids Taten angedichtet, so der Kampf Davids
mit Goliath. Daß dieser Jonathan ein leidender Messias ist, geht auch
daraus hervor, daß er plötzlich zuerst bei dem Grabmahl des J o-
hannes auftritt. Johannes ist aber ebenfalls eine auf den Boden der
Geschichte verpflanzte Gestalt des leidenden Messias. Man erinnere
sich doch nur an Johannes den Täufer. Auch er erstrebte das
Heil des jüdischen Volkes; auch er muß als Glaubensheld für das
Wohl seines Volkes den Opfertod erleiden. Dieser leidende Messias
Jonathan tritt dann nach der Zerstörung des Tempels noch einmal im
Kampfe gegen die Römer auf. Er führte viele Juden in die Wüste,
wo er ihnen Wunderzeichen verhieß. Er wurde jedoch im Kampfe
gegen die Römer besiegt, gefangen genommen, ausgepeitscht und dann
lebendig verbrannt (Josephus, Bellum, Jud. VII, 11, 1—3). Mithin
sind die Züge des leidenden Messias auf die Gestalt des Egmont
übertragen worden.
Und alles das ohne Apparate, nur mit Hilfe der Zutaten,
über die Herr Drews so vorzüglich verfügt, und mit deren
Anwendung man sehr bequem historisch gut beglaubigte
Tatsachen gewaltsam verzerren kann. In dieser Art und
Weise hat er sogar Mardechai und Haman zu Typen »des
jüdischen Messias« gemacht, und damit eine Parodie zum
Estherbuch geschaffen. »Den Evangelisten schwebte bei
ihrer Darstellung der letzten Lebensschicksale des Messias
Jesus der angeführte Brauch des jüdischen Purimfestes vor:
sie schilderten Jesus als den Haman, Barabbas als den
Mardechai des Jahres« (S. 41). Den Mardechai als »Messias«
läßt Drews sowohl in altbabylonischen Festen als auch in
22 Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte der Wissenschaft.
neupersischen Festen der nachchristlichen Zeit mitwirken.
Ich will kurz über diese unhaltbare Hypothese referieren:
1. Der Jude Mardechai ist der babylonische Gott
Marduk. Als solcher führt er im babylonischen Neujahrsfest
Zagmuk den Vorsitz.
2. In dem Satze Esth. 8, 15, in welchem geschildert
wird, daß Mardechai anstelle des gestürzten Haman mit
einer Krone und einem Purpurmantel angetan war, und
die Stadt Susa jauchzte und fröhlich war, sieht Drews eine
Beschreibung »des alten babylonischen Sakäenkönigs, des
Darstellers des Marduk, wie er seinen Einzug in die Haupt-
stadt des Landes hielt und hiermit das neue Jahr herbei-
führte« (S. 39). Gleichzeitig ist Mardechai der Sklave, der
in diesem Sakäenfeste, welches zuerst im 1. J h r h. n.
Chr. von Strabo XI, 84 belegt wird, die Hauptrolle spielt
und am Schlüsse des Festes umgebracht wird. Während
Strabo berichtet, daß jenes Fest, in welchem Marduk über-
haupt nicht vorkommt, ebenso wie unser heutiges Sedan-
fest den Sieg verherrlicht, den ein persischer Feldherr über
die feindlich vordringenden Saken errungen hatte, macht
Drews daraus einen Mythos. Nach ihm »spielte der baby-
lonische Sakäenkönig die Rolle des Gottes« Marduk-
Mardechai »und erlitt als solcher den Tod auf dem
Scheiterhaufen« (S. 38). Da aber die Juden bei der Über-
nahme dieses Festes de n M arduk zum Juden Mardechai
gemacht hätten, so ließen sie anstelle des Juden den Haman
sterben (S. 40), denn auch Haman sei ein Messias, ein
»vermenschlichter Gott« (S. 207).
3. Mardechai ist aber auch der »Bartlose*, der als
solcher in einem frühestens um 1000 n. Chr. belegten neu-
persischen Feste »den Ritt des Bartlosen« macht (S. 39).
Bei dieser Gelegenheit wurde ein bartloser, womöglich ein-
äugiger Hanswurst, völlig entkleidet und begleitet von einer
königlichen Leibwache und einer Schar von Berittenen
unter dem Hallo der Menge, die Palmzweige trug und dem
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 23
Narrenkönig zujauchzte, auf einem Esel in feierlichem Auf-
zuge durch die Stadt geleitet. Innerhalb einer festgesetzten
Zeit mußte er seinen Ritt beendet haben und verschwinden,
widrigenfalls er sich der Gefahr aussetzte, von der Menge
angehalten und mitleidslos zu Tode geprügelt zu werden.
4. Ferner »liegt der Erzählung von Esther ein Gegen-
satz zwischen den Hauptgöttern von Babylon, Marduk,
l§tar und denjenigen des feindlichen Elam zu Grunde,«
denn Harn an und Waäti wären die elamitischen Götter
Human und M a § t i.
Bietet nicht mein obiges erfundenes Musterbeispiel, nach
weichem Egmont ein leidender Messias sei, ein viel beweis-
kräftigeres Material, als Drews Phantasiestück über Mardechai ?
Bereits in meinem Buche »Arisches im Alten Testament«
habe ich diese Hypothese widerlegt (vgl. auch Jampel in
dieser Monatschrift, Bd. 50, 289 ff.). Das Estherbuch schildert
echt persische Zustände. Selbst der Satz Esth. 8, 15 ent-
hält nichts Fremdartiges, sondern eine ganz ähnliche Ehrung
wird auch dem Josef am ägyptischen Hofe zuteil (vgl. 1.
Mos. 41, 42 f.), und da dieses nach den Ägyptologen der
Sitte der Pharaonen entspricht, so könnte man daraus
schließen, daß verdienstvolle Männer auf diese Weise an
den orientalischen Höfen ausgezeichnet wurden. Im alten
Persien trugen ebenso wie der König auch der Reichsver-
weser und die sechs Stammesfürsten eine Art Krone (xfrrapi?).
Ferner haben die Achämeniden häufig verdienstvollen Männern
einen Purpurmantel verliehen. Nun ist Mardechai im Esther-
buch von Anfang an ein Beamter am Königshofe (vgl.
Arisches im Alt. Test. II, 23 f.). Mardechai ist zunächst dem
Haman, dem obersten Würdenträger, untergeordnet, Haman
wiederum dem Achaschwerosch. Dieser persische
König, der in den altpersischen Keilinschriften Chschä-
y ä rs c h a heißt, steht über allen, er bestimmt als Herrscher
das Schicksal aller seiner Untertanen, er verstößt die
Waschti, er setzt die Esther ein, er gibt Haman die Er-
42 Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft'
laubnis, die Juden zu vernichten, er erhebt Mardechai, er
läßt Haman aufhängen. Die Namenähnlichkeit zwischen dem
babylonischen Gott Marduk und Mardechai ist eine Zufällig-
keit. Zunächst ist der Name Mardechai in der Bibel auch
sonst belegt Unter den Juden, die unter Cyrus von Baby-
lonien wieder nach Jerusalem zurückkehren, findet sich
ebenfalls ein Mardechai. Schon der hervorragende Assyriologe
J.Oppert hatte behauptet, daß derMardechai des Estherbuches
nichts mit dem babylonischen Gotte zu tun habe. In ba-
bylonischen Kontrakten ist der männliche Personenname
Marduka vielfach belegt. Selbst ein Perser zur Zeit des
Artaxerxes 1. heißt so. Dieser Name läßt sich ohne weiteres
aus dem Persischen erklären. Ebensogut könnte er auch
vom babylonischen Marduk ursprünglich abgeleitet sein.
Jedenfalls war dieser Personenname in jener Zeit sehr ge-
bräuchlich. Nun wissen wir, daß die Juden in der babylo-
nisch-persischen Zeit teils babylonische1) teils persische
Namen annahmen. In der späteren griechisch-römischen Zeit
führten sie teils römische teils griechische Namen2). So findet
sich auf den Grabsteinen der jüdischen Katakomben des
alten Rom auch der Name Isidorus. Obgleich in jener
heidnischen Zeit zu Rom auch die Isis angebetet worden
war, scheuten sich die Juden nicht davor diesen von einer
bekannten heidnischen Göttin abgeleiteten Namen zu führen.
Esther darf auch nicht mit der babylonischen IStar identifiziert
werden. Zunächst hätte babyl. § auch im Hebräischen zu §
(seh) werden müssen. Der Talmud (Megilla 13 a) sagt, daß der
Name Esther eigentlich >Stern« bedeute. Dieses weist auf
persischen Ursprung hin. Im Altpersischen heißt der Stern
star. Auch als Frauenname kommt dieses Wort im Per-
sischen vor. Da nun jedem Fremdwort, das mit zwei
») Vgl. Samuel Daiches: The Jews in Babylonia in the Time of
Ezra and Nehemia aecording to Babylonian Inscriptions, London
.Jews' College) 1910, p. 11—29.
s) Vgl. LZunz, Gesammelte Schriften II (Berlin 1876) p.5-10
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 25
Konsonanten anlautet, im Hebräischen der Vokal « (a) vor-
gesetzt wird, so mußte altpersisch star zu ine« werden.
Auch ins Syrische ist dieses persische Wort eingedrungen,
wo es kidd« »Stern« lautet. Selbst wenn es möglich wäre,
Esther aus IStar abzuleiten, würde hier nicht die Göttin
zu verstehen sein, da IStar auch als weiblicher Per-
sonenname in babylonischen Kontrakten häufig vorkommt.
Ebensowenig wie Abraham mit dem indischen Gott
Brahma und seine Gattin Sara mit der indischen Göttin
Sarasvati zu schaffen hat, hat Mardechai mit Marduk
und Esther mit l§tar etwas zutun. Auch Haman und
Wa§ti sind keine Götter, denn einen elamitischen Gott
Hamman (Humman) gibt es nicht, sondern nur einen
elamitischen Gott Chumbabu. Chu(m)babu kommt
sogar als elamitischer Personenname vor (vgl. P. Scheu,
Textes Elamites-semitiques III, p. 177, Zeile 8). Daneben
sind in den elamitischen Inschriften die Götternamen
Chumba (bezw. Chuba) und Chumban zu Tage ge-
treten (vgl. P. Jensen (Wiener Z. f. K. d. M. III, 56 ff.). »Ein
Gott Gubaba wird III Rawlisnon 66. Obv. Z. 7 erwähnt,
dazu vgl. Phot. lexicon: »Kußvißo; 6 y.xTS/ofxsvo; tjj MyjTpi twv
frsSv dso<p6pviTo;« (Rob. Eisler, Philologus, Bd. 68 (1909), S.
172). Nach Rob. Eisler ist dieser elamitische Göttername
auch in dem Namen der mittellykischen Stadt Kfytßx ent-
halten. Chumbabu konnte lautgesetzlich unmöglich
zu hebr. Haman werden. Eine elamitische Gottheit
WaSti (Ma§ti) ist bisher überhaupt noch nicht auf-
gedeckt, sondern Jensen hat statt B a r t i fälschlich
Ma§ti gelesen. Ob die Gottheit Barti übrigens weiblich
sei, ist bisher noch nicht erwiesen. Das Estherbuch enthält,
wie ich eingehend nachgewiesen habe, etwa 50 altpersische
Fremdwörter. Der Vater Hamans heißt Hamedäta;
dieser Name ist echt persisch und würde deutsch heißen
»Ha man söhn«. Da nach einem altpersischen Brauch der
Enkel gewöhnlich den Namen seines Großvaters annimmt,
26 Die Cbristnsmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
so heißt der Sohn des Hamansohn ganz richtig H a-
man. Dieses beweist, daß Haman nur aus dem Persi-
schen stammen kann. Der Ursprung der Esther-Erzählung
weist auf Persien hin. Da nun die altpersische Sprache
mehrere altbabylonische Wörter aufgenommen hat, so ist
es höchst wahrscheinlich, daß in derselben auch das baby-
lonische Wort P u r u, Schicksalslos' (= hebr. pur) Aufnahme
gefunden habe. Die Babylonier suchten ja seit uralter Zeit
stets die Zukunft vorherzubestimmen. Da es gute und un-
heilvolle Tage gab, so mußte man bei wichtigen Ereignissen
den geeigneten Tag aus den Gestirnen feststellen. Diesen
Brauch übernahmen die alten Perser von den Babyloniern.
Der babylonische technische Ausdruck puru , Schicksals-
los' wird nicht nur den Persern, sondern auch den dort
wohnenden Juden geläufig gewesen sein. Ganz dieser baby-
lonisch-persischen Sitte entsprechend berichtet der Midrasch
(zu Esth. 3, 7), daß Haman aus den Sternen den geeig-
neten Tag für die Vernichtung der Juden gedeutet habe.
Für die Entstehung des Purimfestes gibt es viele
religionsgeschichtliche Parallelen. Auf eine ähnliche Bege-
benheit geht unser Chanukah-Fest zurück. Jahrhunderte
lang wurde am 13. Adar der Nikanortag gefeiert,
der zur Erinnerung an den glänzenden Sieg über den
mächtigen syrischen Feldherrn Nikanor (um 160 v. Chr.)
eingesetzt war. Die ägyptischen Juden hatten ein beson-
deres Fest zur Erinnerung an die wunderbare Errettung,
die ihnen einst widerfahren war, als Ptolemäus Physkon
sie durch trunkengemachte Elephanten hatte töten lassen
wollen (Joseph, contra Ap. II, 5 vgl. auch 3. Makkabaerbuch).
Der 12. Adar 118 n. Chr., der Tag, an welchem die von
Trajan zum Tode verurteilten jüdischen Freiheitshelden
Julianus und Pappus von Hadrian wieder in Freiheit
gesetzt wurden, wurde als Halbfeiertag eingesetzt und unter
dem Namen Jörn Tirjanus ,Trajanstag' noch lange Zeit
gefeiert. Eine andere außerjüdische Parallele zu dem Purim-
Die Christusmytbe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 27
fest bietet eine Inschrift von Pergamon, nach welcher das
pergamische Volk zur Erinnerung an den siegreichen Feld-
zug ihres Königs Attalos III, der die Stadt von einer
drohenden Gefahr gerettet hatte, folgendes Fest beschließt.
Jeder achte Monatstag wird, da der siegreiche König an
einem solchen Tage in die Landeshauptstadt eingezogen
ist, für einen Festtag erklärt ; der Jahrestag ist durch
Prozession, Opfer und Festessen zu feiern. Auf eine ähn-
liche Entstehung des altpersischen Festes »Magophonia«
habe ich noch in meinem »Arisches im Alt. Test.« II, 56
hingewiesen.
Es ist die Pflicht eines jeden Historikers, die Tat-
sachen auf sich wirken zu lassen, die Überlieferung unbe-
fangen ohne Vorurteil zu prüfen, nicht zwar aus dem Zu-
sammenhange der Völkergeschichte zu isolieren, aber eben-
sowenig etwas in eine widerstrebende Verbindung hinein-
zuzwängen. Die Art und Weise aber, wie Professor Drews
arbeitet, kann man unmöglich ernst nehmen.
Zum Schlüsse untersuchen wir, wie die Anschauung
aufkommen konnte, daß der Mensch Jesus ein Gott sei.
Drews kühne Vermutung, daß »der mythische Jesus ur-
sprünglich eine Gottheit war, der Mittler und Heilsgott aller
jener jüdischen Sektierer, die zum Teil bereits dem 2. Jhdt.
vor Chr. angehören«, ist unhaltbar1). Die Vorstellung, daß
Jesus selbst Gott sei, ist vielmehr rein kulturhistorisch zu
erklären.
Schon seit den ältesten Zeiten hielten sich die orien-
talischen Herrscher Babyloniens und Ägyptens für göttliche
Wesen (vgl. z. B. Orient. Lit. Ztg. 12, 1 f. und 12, 108).
Selbst nach ihrem Tode wurden sie noch durch Opfer gött-
lich verehrt2). So ließ sich nach Daniel (c- 6) auch Darius
als eine Gottheit feiern. Mit dieser orientalischen Vorstellung
l) Vgl. H. v. Soden, Hat Jesus gelebt? Berlin 1910; H. Weinel,
Ist das liberal« Jesusbild widerlegt? Tübingen 1910.
») Vgl. L. v. Sybel, Christliche Antike I (1906) p. 49, Anm.
28 Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
von einem göttlichen Königtum wurden die Griechen und
Römer seit Alexander d. Großen recht vertraut. Seleukos
wird z. B. als Zsu? vixaTwp, sein Sohn als 'Avtio^o? 'AtoXXwv
<7WT/ip anerkannt1). Der Hymnus, den die Athener zu Ehren
des siegreichen Demetrios Poliorketes (307 v. Chr.) dichteten,
enthält diese Vorstellung von dem Gottsein eines Fürsten:
»Wie die Sonne und die lieben Sterne erscheint er ihnen
mit seinen Genossen als Sohn Poseidons und der Aphrodite.
Die anderen Götter sind ja doch weit fort, sind überhaupt
nicht oder hören uns nicht. Dich aber sehen wir Auge in
Auge, nicht Holz oder Stein, sondern leibhaftig; darum
beten wir zu dir: gib uns Frieden, denn du bist der Herr«2).
Antiochos II. wird von den Milesiern, die er 258 v. Chr.
von der Tyrannis befreit, 0so? »Gott« genannt3). Man er-
blickte allgemein in dem siegreichen Fürsten, der den
Staat aus einer großen Gefahr gerettet hat und ihm Frieden
und Heil gebracht hat, den göttlichen Heiland fWr^p), Die
Diadochen heißen owr/ipes »Heilande« und ebenso ihre Nach-
folger, die römischen Statthalter4). Unter den Römern wird
zuerst Cäsar als Weltheiland verherrlicht5).
H. Lietzmann hat in seiner Schrift: Der Weltheiland
(Bonn 1909) ausgeführt, daß besonders der römische Dichter
Vergil das Ideal eines königlichen Heilands für das rö-
mische Reich herbeigesehnt hatte. Gemäß der vierten Ekloge
Vergils wird ein göttlicher König, ein Sohn Jupiters, den
Völkern als ihr Heiland, den sehnlichst erwarteten Frieden
bringen. Bald sah man auch in Augustus diesen göttlichen
König, den Retter der Welt, mit dessen Geburt eine neue
Ära hereingebrochen ist. »Der Geburtstag des Gottes hat
*) S. Dittenberger, Orientis Inscr. 457, Rohdes, Psyche II4, S.
359, Anm. 5; S. 375, Anm. 1.
2) P. Wendland, Die hellenisch-römische Cultur, S. 75.
3) Vgl. R. Herzog, Sitz. d. Preuß. Ak. Wiss. 1905, S. 984.
<) Vgl. z. B. Cicero in Verrem III, II. 63, 154.
6) Dittenberger, Syll. inscr. Gr. I, nr. 347, vgl. auch O. Hirsch-
feld : Zur Gesch. d. röm. Kaiserkultus, S. Preuß. Ak. Wiss. 1888, p. 833 ff.
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 29
für die Welt die an sie sich anknüpfenden Heilsbotschaften
heraufgeführt. Von seiner Geburt muß eine neue Zeitrech-
nung beginnen«1). Nicht nur römische Dichter, sondern auch
die Hellenen preisen den Augustus als den Bringer des
Weltfriedens, als Heiland2). Plinius, der zur Zeit des Kaisers
Vespasianus lebte, hält es für ganz selbstverständlich, daß
man wohlverdiente Kaiser für Gottheiten erklärt. Er sagt
(Historia nat. II, 7) betreffs der römischen Kaiser: »Solche
Männer unter die Gottheiten zu versetzen, ist eine uralte
Sitte der Dankbarkeit gegen hochverdiente Männer, und
gewiß sind auch die Namen aller anderen Götter von sol-
chen verdienstvollen Menschen hergenommen«3). Kaiser Do-
mitian, Sohn des Vespasian, nennt sich auch 0sou ulo;
»Sohn Gottes«4). Aurelian hat sich ebenfalls als Deus
anbeten lassen5). Diese Vorstellung von der heilbringenden,
göttlichen Macht haftete so stets an den Namen Kaiser.
Die Überlieferung des Midrasch Tanchuma (zu 1 Mos.
c. 2), daß der römische Kaiser, nachdem er sich alle Reiche
unterworfen hatte, sich für einen Gott erklärte, beruht somit
auf Wahrheit. Diese heidnische Auffassung, daß der Mensch
ein Gott werden könne, hält der Midrasch für eine Gottes-
lästerung. Er sagt, selbst Elias, der so viele Wunder getan
hätte, habe sich nicht für einen Gott gehalten. »Wer sich
für einen Gott erklärt, baut gleichsam einen Palast im
*) So feiert eine ans dem Jahre 9 v. Chr. stammende Inschrift
den Augustus, vgl. Mommsen u. v. Wilamowitz im Deutsch. Arch.
Inst. 23, Heft 3; Christi. Welt 1899, Nr. 51.
*) Vgl. Ancient greek Inscr. in the British Mus. Nr. 894.
3) Eine ähnliche Vorstellung existiert im Buddhismus. So
kann der Mensch vermöge seines frommen Lebenswandels in der
nächsten Geburt in der Oötterwelt als Gott wiedergeboren werden.
Ein Gott kann aber wegen einer begangenen Sünde wieder als ein
Mensch, ja als ein Tier geboren werden (vgl. R. Pischel, Leben u. Lehre
Buddhas, Leipzig 1906, S. 54).
*) Vgl. C. M. Kaufmann, Handbuch d. christl. Arch., S. 294.
*) Wendland, Die hellen.-röm. Kultur, S. 93.
30 Die Cbristusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
reißenden Strom«. Infolge dieser heidnischen Vorstellung,
daß hervorragende Menschen Abkömmlinge von Göttern
seien, hielten die Lykaonier sogar die beiden unter ihnen
predigenden Apostel Barnabas und Paulus für Gottheiten,
denen sie Opfer darbringen wollten, indem sie sprachen :
»Die Götter sind den Menschen gleich geworden und zu
uns herniedergekommen«1).
Jesus war nun von seinen Jüngern als messianischer
König hingestellt worden2), der »das Reich Israel wieder
aufrichten«3) wird. In den Augen der Heiden mußte deshalb
Jesus unwillkürlich als ein göttlicher Sproß erscheinen. In
der Tat hat auch A. Deißmann4) einen Zusammenhang
zwischen der göttlichen Verehrung Christi und dem Kaiser-
kult nachweisen können. »Das Heidentum für die Massen,
die sich zum Glauben an den Gekreuzigten bekannten,
änderte sich nur in der Form, nicht im Wesen«5). Das
Christentum hat sich seit seiner Entstehung stets an die
heidnischen Anschauungen desjenigen Volkes angelehnt,
das es zu bekehren suchte. So hat z. B. Mani, der um 240
das.Christentum in Persien einzupflanzen suchte, an manche
Ideen des Parsismus angeknüpft und sie nur christlich ge-
färbt. Ebenso hat Paulus das Christentum den heidnischen
Anschauungen zum Teil anzupassen gesucht.
Paulus sagt selbst (I Kor. 9, 20 — 22) : »Denen, die ohne
Gesetz leben,bin ich als ein ohne Gesetz lebender geworden, auf
daß ich die, welche ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwa-
chen bin ich geworden als ein Schwacher, auf daß ich die
Schwachen gewinne. Ich bin jedermann verschiedenartig
geworden, auf daß ich allenthalben ja etliche selig mache«.
J) Apostelgesch. 14, 11-12.
») Mattb. 27, 11; Marc. 15, 2; Luc. 1, 33; 19, 3S; 23, 2 -3;
Ap.. 17, 7.
») Ap. 1, 6.
*) Deissmann, Licht vom Osten, Tübingen 1909.
&) H. Usener, Dreiheit, Bonn 1903.
Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft. 31
Dementsprechend knüpft er seine Bekehrungspredigt in
Athen an einen heidnischen Brauch an, indem er sagt: »Ich
bin hier durchgegangen und habe eure Gottesdienste ge-
sehen und fand einen Altar, darauf war geschrieben: Dem
unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch denselben,
dem ihr unwissend Gottesdienst tuU1). Daher nimmt es
nicht Wunder, wenn noch Justin (um 150) an die Wahrheit
der klassischen Mythen glaubt: »In alter Zeit sind die Dä-
monen in Menschengestalt erschienen und haben mit Frauen
Ehebruch getrieben, Knaben geschändet und den Menschen
Schreckbilder gezeigt, so daß sie von Furcht gepackt und
nicht wissend, daß es böse Dämonen waren, sie Götter
nannten und die einzelnen mit dem Namen anredeten, wel-
chen sich ein jeder der Dämonen beilegte**). Durch die
Heidenchristen, welche noch unter dem Banne der damals
vorherrschenden Idee standen, daß Herrscher von Göttern
abstammten und selbst Götter seien, kam auch die An-
schauung auf, daß »Gottes Sohn«, Christus, von einer reinen
Jungfrau geboren sei. Im Gegensatz zu der klassischen
Mythologie, die den Göttern sündhaften Ehebruch mit ver-
heirateten irdischen Frauen zuschrieb, wollten so die Hei-
denchristen den Gedanken an einen Ehebruch nicht auf-
kommen lassen8).
») AposteJg. 17, 23.
*) Justin, Apologie I, 5.
3) Übrigens war bereits im Heidentum die göttliche Abstam-
mung häufig mit der Vorstellung der unbefleckten Empfängnis ver-
knüpft. Zu Rom durfte niemand zu leugnen wagen, daß Romulus vom
Gotte Mars mit der jungfräulichen Rhea Silvia gezeugt war. Die Schüler
Piatos waren fest überzeugt, daß Perictione als reine Jungfrau durch
Apollo Mutter des großen Plato wurde, und daß der Gott selbst diese
Abstammung des Kindes ihrem Verlobten Ariston verkündet hatte.
Aus der Mythologie erinnere ich nur an die Verbindungen des Zeus
mit der jungfräulichen Danae, Leda, Io oder Europa. Die übernatür-
lichen Geburten behandelt eingehend E. S. Harlland, Legend of
Perseus, London 1894. Vol. 1. Auch Buddha wird gemäß einer spä-
teren Überlieferung von einer unbefleckten Jungfrau geboren, vgl.
32 Die Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte d. Wissenschaft.
Die Untersuchung hat somit ergeben:
1. daß Drews Annahme, der jüdische Messias und der
christliche Heiland seien vom Parsismus abgeleitet und
hätten auch Züge vom indischen Gott Agni angenommen,
gänzlich erfunden ist;
2. daß Drews das Buch Esther völlig unmethodisch
und romanhaft behandelt hat1);
3. daß die Geschichtlichkeit der menschlichen Person
Jesu durch Drews Werk wenigstens nicht erschüttert ist.
Windisch, Buddhas Geburt, Leipzig 1908, S. 156-173. Daß hier
der Buddhismus nicht das Christentum beeinflußt hat, hat Windisch,
S. 220 ff. wahrscheinlich gemacht.
') Drews Ableitung des Purimfestes vom Sakäen- und Zagmuk-
feste und dem »Ritte des Bartlosent sind ohne kritische Prüfung aus
Frazers Werk »Golden bough« entnommen. Aber Drews hätte das
Buch des Andrew Lang, Magic and religion (London 1901) kennen
sollen, worin Frazers Hypothesen schon zum Teil gründlich wider-
legt sind.
Die Männer der großen Versammlung und die
Gerichtshöfe im nachexllischen Judentum.
Von S. Funk.
Zu den vielen Fragen, die noch ihrer Lösung harren,
gehört auch die der Geschichte und der Zusammensetzung
der »großen Versammlung« und der verschiedenen Richter-
kollegien zur Zeit des zweiten Tempels. Über die ältere
Zeit sind die Quellen äußerst spärlich und über die spä-
tere Zeit weichen die Berichte vielfach von einander ab.
So schildert Josephus die Richterkollegien ganz anders als
sie uns durch die talmudischen Quellen überliefert werden.
Die meisten Forscher entscheiden sich nach Kuenen und
Schürer, den zwei Wortführern im Streite, ohne weiteres
für Josephus und lassen die hebräischen Quellen ganz
unberücksichtigt. Man hat es gar nicht versucht, den Spuren
der Einrichtungen, wie sie nach Josephus im jüdischen
Volke bestanden haben, im talmudischen Schrifttume nach-
zugehen. Und solche müßten sich doch in den älteren
Quellenwerken finden, wenn die Angaben des erwähnten
Historiographen auf Wahrheit beruhen sollen. So groß ist
ja die Zeitdifferenz zwischen Josephus und den älteren
Teilen des talmudischen Schrifttums denn doch nicht, daß
während derselben die Zahl der Mitglieder und die Art der
Zusammensetzung so bedeutender und wichtiger Körper-
schaften, wie die der Synhedrien, in Vergessenheit geraten
sein sollten! Im Nachstehenden wollen wir den Versuch
machen, einzelne diesbezügliche Angaben des Josephus mit
denen des Talmud zu vergleichen und bei manchen der-
selben deren Übereinstimmung nachzuweisen. Der Über-
sicht halber wollen wir mit den kleinsten der Richterkol-
Monatsschrift 55. Jahrgang. ■*
34 Die Männer der großen Versammlung und
legien den Anfang machen und im Laufe der Abhandlung
zum höchsten Forum, zu dem der »großen Versammlung«
aufsteigen, welches weit mehr den Charakter einer gesetz-
gebenden Körperschaft hatte, als den eines Gerichtshofes.
A
D ie Zahl der Mitgliede r in den verschiedenen
Gerichtshöfen.
1) Gerichtshof für (Civil-) Geldprozesse.
Nach der Mischna Sanhedrin I, 1, bestand das kleinste
Ortsgericht aus drei Personen, das »kleine Synhedrium«,
der eigentliche Kriminalgerichtshof, aus 2'^ und endlich das
große Synhedrium aus 71 Mitgliedern. Nach Josephus
scheint die kleinste Ortsbehörde aus 7 Personen bestanden
zu haben. Nach seiner Angabe soll nämlich Moses ange-
ordnet haben: »Es sollen gebieten in jeder Stadt sieben
Männer, und jeder Behörde sollen zur Unterstützung zwei
Männer vom Stamme Lewi beigegeben werden«. (Antt. IV,
8, 14 ap/eTco-rav exi<mjv ~gmv av^o? etctc.': . . . ivA.Q-r, öz apj^j
Man könnte bei dieser Stelle zunächst an eine Ver-
waltungsbehörde denken. Die Verwaltungsbehörden der
Kommunen bestanden ja noch in talmudischer Zeit aus
sieben Personen (den vyn *31B npatP, Megilla 26 a und b).
Aber aus Bell. Jud. II, 20, 5 geht deutlich hervor, daß die
siebengliedrigen Behörden, die Josephus in den Städten
Galiläas einsetzte, Richterkollegien waren. Sie hatten nur
kleinere Streitigkeiten abzuurteilen, nicht aber t<x |asi'(<o
Tcp-y-Y^'/Ta y.al Ta? <p<mx,oc; Stxa;, deren Aburteilung vielmehr
dem von Josephus eingesetzten Rat der Siebzig vorbe-
halten war. Und auch bei der Wiedergabe des Gesetzes
über anvertrautes Gut (Exod. 22, 6) setzt Josephus die
Existenz von Sieben-Männer-Gerichten voraus (Antt. IV, 8
38): el hz |A7)0*sv £7ußo<Aov Spöv 6 icurreuftcl; <i::o}icrsv, ä<f>i:<6f/.svo;
S7Tt TOU? £%T7. JtpiT«; OUVUTtö TOV t>s6v V.xX
die Gerichtshöfe im nachexilischen Judentum. 35
Schürer (Gesch. d. jüd. Volkes 3. Aufl. II, 177) meint,
daß der Widerspruch auf einem Mißverständnis beruhe; die
Mischna will nur jene Fälle aufzählen, zu deren Entschei-
dung drei Personen genügen. So genügen z. B. drei Per-
sonen zur Entscheidung in Geldprozessen, dreiundzwanzig
Personen zur Entscheidung in schweren Kriminalprozessen
usw. »Aber nirgends« — meint Schürer — »ist gesagt, daß
es Ortsgerichte gegeben habe, welche aus drei Personen
bestanden.« Daß das kleinste Richterkollegium nach der
Auffassung der babylonischen Amoräer nicht immer aus
drei Personen bestehen mußte und in talmudischer Zeit nicht
aus drei Personen bestanden hat, hätte Schürer aus San-
hedrin 7 b entnehmen können, wo ja ausdrücklich berichtet
wird, daß R. Huna, so oft eine Gerichtsverhandlung vor
ihn kam, zehn Gesetzeskundige um sich versammelte,
damit, wie er sagte, ihn »nur ein Span vom Balken (ein
kleiner Teil der Verantwortlichkeit) treffe«1). R. Huna hat
wohl nicht ohne besondern Grund gerade 10 Richter zu
den Verhandlungen berufen. Er hätte ja in seinem von
Gelehrten überfüllten Lehrhause2) zu jeder Zeit auch 23
Gesetzeskundige finden und jeden Fall durch ein kleines
Synhedrium entscheiden lassen können. Er hätte dadurch
seine Verantwortung jedenfalls noch mehr verringert, und
wenn er sich mit JO Richtern begnügte, so wird es mit
der Zahl 10 — wenn man dazu noch den vorherstehenden
Ausspruch des R. Josua b. Lewi berücksichtigt, der ebenfalls
von 10 Richtern spricht — eine besondere Bewandtnis haben.
Auch Maimuni sieht die Zahl 10 nicht als eine zufällige an.
»Obgleich«, sagt dieser, »ein Richterkollegium von drei
J) Vgl. den vorherstehenden Ausspruch R. Josuas b. Lewi :
»Wenn zehn zu Gericht sitzen, so hängt die Halsfessel um den Hais
dieser aller«.
*) Vgl. die hyperbolische Äußerung der Palästinenser über die
große Anzahl seiner Hörer in Kethubb. und Funk, die Juden in Ba-
bylonien I, 113.
3«
36 Die Männer der großen Versammlung und
(Richtern) als ein komplettes zu betrachten ist, so ist es doch,
je größer die Zahl derselben ist, umso lobenswerter; und
es ist gut, daß man die Prozesse durch elf,
durch mehr als zehn Richter entscheiden lasse«
(Jad ha-chasakah hilch. Sanh. II, 13). Man sieht, daß Maimuni
auf das »mehr als zehn« Gewicht legt. Nichts ist aber
naheliegender, als die Zehnzahl auf die »edah« zurückzu-
führen, die in der Bibel als Richterkollegium bezeichnet
wird rriyn ibdtbm (Num. 35, 24, 25) und unter welcher man
nach der Mischna (Sanhedr. I, 4) zehn Personen verstanden
hat. Bekanntlich darf ja auch der öffentliche Gottesdienst
nur in einer »edah« von 10 erwachsenen Personen abge-
halten werden (Megilla 23 b).
Die Palästinenser, die in Bezug auf den Kultus auch
einer Versammlung von sieben Personen die Rechte einer
öffentlichen Versammlung zuerkannt haben (vgl. Soferim 9, 7),
werden darum wohl auch schon zur Zeit des Josephus,
die Zahl der Richter in der Regel von drei nur auf sieben,
nicht auf zehn erhöht haben. Dies mag denn auch Josephus
veranlaßt haben, stets von siebengliedrigen Richterkollegien
zu sprechen. Ob ihm die Halachah bekannt war, daß zur
Entscheidung von Geldprozessen eigentlich drei Personen
genügen, läßt sich kaum beweisen und ist auch nicht an-
zunehmen. Dies stand zur Zeit des Josephus vielleicht auch
nicht ganz fest. Bekanntlich gingen die Meinungen über
den ersten Satz: »Geldprozesse werden durch drei (Richter)
entschieden«, der weit älter ist als die nachfolgenden Sätze
der ersten Mischna in Sanhedrin schon zur Zeit der Tannaim
auseinander. Kein Geringerer als R. Juda ha-Nasi — nach der
Mechilta zu Exod. 22, 8. R. Meir — verstand diesen Satz
so, daß die Majorität, die die Entscheidung fällt, aus drei
Richtern bestehen solle, die Gesamtzahl der Richter wäre
demnach mindestens fünf gewesen. »Rabbi sagt (Geldpro-
zesse) werden durch fünf entschieden, damit jede Entschei-
dung durch (eine Majorität von) drei Richtern entschieden
die Gerichtshöfe im nachexilischen Judentum. 37
werde« (Tosefta 1, 1). Im jerusalemischen Talmud (Sanhedrin
I, 1) wird dies von R. Abbahu, der von der erwähnten To-
sefta offenbar keine Kenntnis hatte, als Frage aufgeworfen:
»Nach Rabbis Auffassung (von Exod. 22, 18) durften Geld-
prozesse nur durch fünf und (schwere Kriminalprozesse)
durch eine Majorität von 23 (also eigentlich durch ein
Richterkollegium von Ab) entschieden werden?!«1) Und als
Antwort wird eine Boraitha von R. Chiskija zitiert, die,
wie die Tosefta infolge der Auslegung dieses Schriftverses
für Geldprozesse in der Tat fünf Richter vorschreibt2). Es
scheint demnach eine ziemlich verbreitete Ansicht existiert
zu haben, welche auch bei Geldprozessen eine Minimalzahl
von fünf Personen vorschrieb, wozu noch die zwei Ge-
richtsschreiber kamen (s. das. I b), die wohl in der Regel
als gleichberechtigte Richter zugezogen wurden, so daß die
Gesamtzahl der Richter in der Regel sieben betrug.
2) Das kleine Synhedrium (das Kriminalgericht).
Über die weitere Konsequenz, die nach R. Abbahu
von jener Auffassung der Mischna, nach welcher er mit
der Zahl »drei« die Stimmen der Majorität im Richter-
kollegium feststellen wollte, gezogen werden müßte und
») Im babylonischen Talmud Sanhedr. 3 heißt es: R. Abbahu
sagte lästernd: Demnach müßte das große Synhedrium aqs 141 Mit-
gliedern bestehen, um mit einer Majorität von 71 Entscheidungen
fällen zu können und das kleine Synhedrium aus 45 Mitgliedern, um
mit einer Majorität von 23 Richtern entscheiden zu können. In der
Bibel hieß es aber doch: »Versammle mir 70 Männer« (Num. 11, lo),
beim Zusammentritt des Gerichtshofes sollen es nur 70 sein?! Im
palästin. Talmud wird die Frage R. Abbahus von vornherein wohl mit
Rücksicht auf den angeführten Schriftvers nur auf das kleine .Syn-
hedrium, nicht auf das große ausgedehnt. Bei diesem konnte kein
Zweifel obwalten.
2) Von einem fünfgliedrigen Kollegium, welches Besfihlüpse
faßte, wird berichtet in der Tos. Tehar. IX, 14, Mikwaoth VIII, 10,
Schebiith IV, 21 und in der Mischna Erubin III, 4- In Ganzak. wird
von R. Jizchak, richtiger R. Zadok, eine rituelle Frage an R. Josua
38 Die Männer der großen Versammlung und
demnach auch die Zahl 23 bei schweren Kriminalprozessen
als Norm für die Stimmenzahl der Majorität im Richter-
kollegium, nicht aber für die Gesamtzahl der Richter, auf-
gefaßt werden sollte, wird weiter nicht gesprochen. Es
ist auch keine Baraitha bekannt, die in der richtigen Kon-
sequenz dieser Ansicht für Richterkollegien bei Kriminalpro-
zessen 45 Richter vorschreiben würde. Es ist aber doch sehr
wahrscheinlich, daß diese Ansicht, die von einem so be-
deutenden Manne, wie dem Mischnaredaktor vertreten wurde,
auch in den früheren Jahrhunderten ihre Anhänger hatte
und daß ihr in der Praxis Rechnung getragen wurde.
Aus zwei Notizen des Josephus über den bekannten
Prozeß gegen Herodes, aus seiner Angabe Antt. XIV, 9, 4,
nach welcher Herodes beim Antritt seiner Regierung alle
Mitglieder des Synhedriums getötet (wavracs awejweive tou;
evt<3 <7uveSpiw) und aus Antt. XV, 1, 2, nach welcher er »die
45 Vornehmsten von der Partei des Antigonus« getötet
habe, geht nämlich hervor, daß es dazumal ein Synhedrium
von 45 Richtern gegeben habe. Wellhausen (die Pharisäer
und Sadduzäer, Greifswald 1878, S. 105) glaubt darum an-
nehmen zu müssen, daß das große Synhedrium aus 45
Richtern bestanden habe. Schürer verweist hingegen mit
Recht auf andere Stellen in Josephus, wie Bell. Jud. II, 20, 5,
Vfta 11 aus welchen mit Sicherheit auf 71 Richter des
großen Synhedriums zu schließen ist und meint, daß jenes
TOxvTa? des Josephus nicht wörtlich zu nehmen (Schürer,
Gesch. d. jüd. Volkes usw., 3. Aufl., S. 198) sein werde.
Herodes hat also 45 und nicht »alle« Mitglieder des Syn-
hedriums getötet. Ist aber auch das angeführte Wort nicht
wörtlich gemeint, so ist nicht anzunehmen, daß Josephus
■rcavTa? arcsxTsive Toug £v i& <7uv£$p(o> geschrieben hätte, wenn
b. Elischa und an die vier Ältesten, die mit ihm waren, also an ein
fünfgliedriges Kollegium (Nasir 44 a) gerichtet. In der Pesikta 152a und
in Levit. rab. 29, 4 wird der Schriftvers y 89, 16 auf die fünf Lehrer
bezogen, die die Monatseinschaltung vornehmen.
die Gerichtshöfe im nachexilischen Judentum. 39
Herodes nur 45 von 71 Synhedrialmitgliedern getötet hätte.
Die genannten Forscher, wie auch Jelski, der Schürerfolgt,
haben wohl übersehen, daß dem Herodes (nach Antt. XIV,
9, 4) Mordtaten zur Last gelegt wurden und ein solcher
Prozeß nicht zur Kompetenz des großen, sondern des kleinen
Synhedriums gehörte. Ein solches mußte nach der Über-
lieferung R.Judas, des Mischnaredaktors, konsequenterweise
aus 45 Richtern bestehen, da die Majorität 23 betragen
mußte. Daß aber nicht der Gerichtshof von Galiläa, der
eigentlich als an der Stätte der Wirksamkeit des Herodes
dazu berufen gewesen wäre, sondern ein kleines Synhedrium
in Jerusalem diesen Prozeß durchführte, dessen Richter zu
den Vornehmsten und auch zu den Mitgliedern des großen
Synhedriums gehörten, ist damit zu erklären, daß ein an-
deres Forum nicht den Mut gehabt hätte, einen Herodes
vor den Richterstuhl zu laden. Auch dieses hätte es kaum
gewagt, wenn ihn Hyrkan nicht dem Gerichte überwiesen
hätte. Wagte es doch angesichts der bewaffneten Kriegs-
schaar, an deren Spitze Herodes vor dem Gerichte erschien
nur ein beherzter Mann, Eayias (aller Wahrscheinlichkeit
nach = Schammai) dem Angeklagten seine Sünden vorzu-
halten (Antt, a. a. O. 3-5).
3) Das große Synhedrium.
Das große Synhedrium hat auch nach Josephus aus
70 Mitgliedern (außer dem Vorsitzenden) bestanden (vgl.
Bell. Jud. II, 18, 6; II, 20, 5; IV, 5, 4; Vita 11 und Schürers
Gesch. II, 198); wird aber nur selten vollzählig zusammen
gewesen sein; es trat nur zusammen, um die Prozesse zu
entscheiden, die nach der Mischna (Sanhedrin XI, 2) zur
Kompetenz des »Gerichtes von 71« gehörten, zunächst wo
es sich um Fälle handelte, über welche die niedrigen Ge-
richte sich nicht einigen konnten (ebendas. Tosefta Sanhedr.
VII und Joseph. Antt. IV, 8, 14). Die Richter hatten ja ihren
bürgerlichen Beruf, dem sie nachgehen mußten. Nur ein
40 Die Männer der großen Versammlung und
Dritteil, nämlich 23 Richter von den Mitgliedern des großen
Synhedriums, mußten ständig in der Quaderhalle anwesend
sein (Sanhedr. 37 a, vgl. auch jer. Sanhedr. 19 c und Maimuni
Hilch. Sanhedr. III, 2). Bei dem erwähnten Prozesse gegen
Herodes, welcher wohl von einem aus Mitgliedern des großen
Synhedriums >den Vornehmsten aus der Partei des Anti-
gonos« zusammengesetzten Gerichtshofe durchgeführt wurde,
waren 45 zugegen; sei es, daß man auch jener Ansicht
Rechnung tragen wollte, die für die entscheidende Majo-
rität bei jedem Kriminalprosse 23 Stimmen forderte, oder
daß man nur wegen der Bedeutung des großen Pro-
zesses das Ansehen des Gerichtes durch diese Maßregel
erhöhen wollte. Denn das steht ohne Zweifel fest, daß
diese Ansicht, ungeachtet des Umstandes, daß sie von
späteren Tannaim verfochten wird, in der Praxis, die viel-
leicht verschiedenartig gehandhabt wurde, wurzelte.
4. Die Männer der großen Versammlung.
Die »Große Versammlung« war ursprünglich, wie be-
reits erwähnt wurde, kein Gerichtshof, sondern ein regie-
render oder an der Regierung mitbeteiligter Senat. Dieser
übte bis zur Zeit des Simon Justus im Wesentlichen alle
Religionsbefugnisse aus und war zunächst die gesetzgebende
Körperschaft auf religiösem wie auf sozialem Gebiete. In
der griechisch-römischen Zeit sind jene Befugnisse zum
großen Teile auf das 7igliedrige Synhedrium übergegangen1).
Bei wichtigeren Einführungen und tief ins Leben einschnei-
denden Verordnungen trat jedoch auch in späteren Epochen
eine solche »Versammlung« zusammen (vgl. Halevy, Do-
roth ha-rischonim IIa, S. 42). Als letzte derartige »Versamm-
lung«, welche Beschlüsse von weittragender Bedeutung
») Darum bezeichnet es Josephus als ?, yspoucia (Anlt. IV, 8,
14. Vgl. Schürer II, S. 190). Der Verfasser von Act. 5, 21 hat aber
richtig das Synedrium von der Oerusia unterschieden und ersteres
für einen engeren Begriff gehalten als letztere. Letztere stand höher
und hatte 85 Mitglieder. Vgl. hingegen Schürer II8, S. 196. Note 16.
die Gerichtshöfe im nachexilischen Judentum. 41
fasste, wird die mian2) (Versammlung) z. Z. des Patriarchen
R. Jehuda II. öfter erwähnt (Sabbath 3 a, Jebam. 92 b, Ke-
thub. 2 b, 63 b, 78 b, Gittin 72 b, 76 b, Aboda sara 37 b,
Nidda 25 b u. 35 b).
Als Urheber der von dieser Versammlung gefassten
Beschlüsse werden die Teilnehmer an dieser Versammlung
an den erwähnten Stellen nur lrnm »unsere Lehrer«
schlechtweg genannt; wegen ihrer Bedeutung wurden sie
auch als »gepanzerte Männer« (poin -byz) bezeichnet und
darum ist das Zusammentreten dieser Körperschaften in
Jebam. 121 a mit on/vn ausgedrückt. An derselben Stelle
wird berichtet, daß diese aus 85 Mitgliedern bestanden
habe. Auch zur Zeit des Patriarchen R. Gamaliel II (80 —
117) hat in Jamnia eine 85gliedrige Gelehrtenversammlung
getagt (Tosefta Kelim, baba b. 2, 14). Fügt man noch hinzu,
daß es 85 Männer waren, die nach Nechemja (Kap. 8 — 10)
den Bund mit Gott unterschrieben haben und daß schon
in vorexilischer Zeit eine 85gliedrige Vertretung erwähnt
wird, so wird man die Angabe des jerusalemischen Tal-
muds (Meg. 70 d), nach welcher auch die »Große Versamm-
lung«, die von Esra ins Leben gerufen wurde, Jahrhunderte
hindurch das höchste religiöse und juridische Forum ge-
bildet, aus 85 Mitgliedern bestanden hat, kaum bezweifeln
können.
Diese Zahl ist ihrem Ursprünge nach, wenn wir den
Umstand berücksichtigen, daß wohl auch diese oberste Be-
hörde wie das 70gliedrige Synedrium der Bibel (Numeri 11,
16, 24) sich aus den vornehmsten Personen der 12 Stämme
zusammengesetzt hat (s. Sanhedrin 17 a), auf die sieben-
gliedrigen Vertretungen der Stämme — die politische Ver-
waltung der Städte lag ja noch in talmudischer Zeit in
2) Vgl. Midr. r. zu Hohel. 7, 14, wo die Versammlungen (miam
des Moses, Josua, David und Chiskija als »die alten« (Versammlungen),
die des Esra, Jochanan b. Sakka'i und R. Meir als die neuen bezeichnet
werden.
42 Die Männer der großen Versammlung etc.
der Hand einer siebengliedrigen Vertretung TOT '^B nyaty,
Megilla 28 a — zurückzuführen (12 X ? + l)1). Eine Ver-
sammlung von 7 Personen war, wie bereits erwähnt, nach
der Ansicht der Palästinenser cnjja *ö3rT) berechtigt, einen
öffentlichen Gottesdienst abzuhalten (Soferim 9, 7). Nach der
Anschauung der Patriarchen Rabban Gamliel und seines
Sohnes hatte auch die wichtige Funktion der Anordnung
eines Schaltjahres ein siebengliedriges Kollegium vorzu-
nehmen (vgl. die Mischna Sanhedr. I, 2 und hiezu den
Talmud S. IIb jerusch. Chagiga III, 78 d u. a. St.) Wahr-
scheinlich, weil nach ihrer Ansicht eine Versammlung von
7 Lehrern auch eine my bildete. R. Elieser begründet näm-
lich seine Ansicht, welche zur Einschaltung eines Monates
ein Kollegium von 10 Personen vorschreibt mit dem Schrift-
verse: b» rnjia an: ov£k ty 82, 1 (Pirke di R. Elieser VIII,
vgl. Exod. r. 15, 20). Die Praxis, wie sie von den Patri-
archen geübt wurde, beruht demnach auf der Annahme,
daß auch 7 Personen eine rnj? bilden. In diesen zwei ab-
weichenden Ansichten wird auch der letzte Grund der Dif-
ferenz in den Angaben über die Zahl der Mitglieder zu
suchen sein. Diese wird bekanntlich in Megilla 17 b und
jerusch. Berachoth mit 120 angegeben; diese Angabe ent-
spricht der ersterwähnten Ansicht (10 X 12 = 120), die
auch in der Mischna in Sanhedrin 1, 4, Megilla 23 b zum
Ausdrucke kommt, und die in der späteren Zeit auch
in der Praxis bei Zivilprozessen insofern als maßgebend
angesehen wurde, als, wie wir oben ausgeführt, man ein
lOgliedriges Richterkollegium anstrebte.
1) Vgl. Funk, die Entstehung des Talmud, S. 36.
Das Wasseropfer und die damit verbundenen
Von D. Feuchtwang-.
2. Der Stein Scnetüijja.
(Schluß).
Rosenmüller (II, 2, 2, 245) gibt an, der Stein der
Moschee sei der, auf welchem Jakob schlief (Raumer, Pa-
lästina I, 167, Anm.) Wie fest und ununterbrochen die Kette
der Überlieferungen ist, zeigt sich an diesen arabischen
Sagen, die sich an den geheimnisvollen Stein knüpfen, der
uns im frühesten Altertume gleichwie in jüngster Gegen-
wart begegnet. Hierher, zum »heiligen Fels«, wird nach
arabischer Sage am jüngsten Tage die Ka'aba (auch ein
viereckiger heiliger Stein) von Mekka kommen. Ein Beweis,
daß man ihm eine ähnliche Bedeutung beimaß, wie jenem.
Jesus hat nach der Sage den auf dem »heiligen Fels«
(Stein) geschriebenen heiligen, unaussprechlichen Namen
Gottes entdeckt und damit seine Heilungswunder vollbracht.
Man erinnere sich an die Berichte, nach denen der Name
Gottes auf dem rwra steht. In den arab. Überlieferungen
laufen offenbar Ssgen über den Stein Jakobs, den Moriah,
den iTfitP ineinander.
Nach der Auffassung Eislers (Philclogus LXVIII, 1, 117)
ist aber auch die Ka'aba nichts anderes, als ein N a b e 1 s t e i n,
denn es bedeutet ursprünglich Würfel, Kreisel, und ist soviel
wie Kußo? = cubus. Der Ka'abastein ist soviel wie der
göttliche Mutterstein petra genitrix in mithräischen In-
schriften. Pseudoplutarch spricht vom Wunderstein der
kleinasiatischen Göttermutter. »Für Kleinasien ist die Be-
44 Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
nennung des Aerolith-Fetischs als öp.cpy.>.6; durch die Kybe-
leepiklese »Omphala« gesichert. r% 6jz<paX6<; ist die Bezeich-
nung des Heiligtums von Paphos, dem Ausgangspunkte
aller griechischen Aphroditenkulte; d. h. für den Stein der
Kubra-Kypfis auf Cypern. Die Araber denken sich den
Nabel, die himmlische Ka'aba, über ihrem irdischen
im Mittelpunkt der Erde gelegenen Abbild: den Hagr über
dem Stein der Steinmutter Hagar im Himmel schwebend.
Die Theologie des Islam lehrt, daß das Vorbild, der Typus
der Kaaba im Himmel vor der Weltschöpfung er-
baut wurde (Eisler, Philologus, Bd. LXVIII, Heft 1, S. 1 18 ff).
Wer sieht hier nicht die übereinstimmenden Momente mit den
alten Traditionen der Haggada über den Schetijja-Stein ?
Es ist nun aber an der Zeit, daß wir uns um die
sprachliche Bedeutung, die Wurzeln der Bezeichnungen
rrniP und prrtp kümmern. Nicht als ob ich die beiden Be-
griffe auch philologisch unbedingt zusammenbringen wollte,
obzwar ich ihre Verwandschaft stark vermute. Die Ety-
mologie ist durchaus unsicher (s. Levy unt. biirrttf ,ddv> und
XDKnT). Levy (a. a. 0.) leitet beides ohne weiteres
von einer Wurzel ab. Als Grundwort wird w& oder
Ttf angenommen. Als Bedeutung für n;r'" t?N;a#) gilt all-
gemein »Fundament, Grund«; was ja der, allerdings
seltenen, hebr. Wurzel nriiy = setzen, legen entspricht. Der
Talmud nimmt überall die Wurzel *>^ an. Von der Wurzel
nnr kennen wir im Hebr. dann das mit ^T.tf (Grund) gleich-
bedeutende ttoty (Ps. 11, 3; Jes. 19, 10) = Säulen, Pfeiler,
Fundament. Im Toldoth Jeschu wird n'JMP durch rr + n»' er-
klärt, d. h. Gott hat ihn eingesetzt (Krauß, Das Leben
Jesu 278, 279). Sowie also n?w und rr/w sprachlich ein
Paar zu sein scheinen, so sind sie es sachlich um so
gewisser. Sie gehören demselben Überlieferungs-
kreise an, stammen aus ältesterZeit und spielen
auch im späteren Ritus und feierlichen Zere-
moniale des Heiligtums verwandte Rollen;
Djs Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien. 45
dieses Zeremoniale hat sich in unserem Ritus des Ho-
schana rabbah sogar bis heute erhalten.
Nicht überflüßig dürfte es sein, darauf hinzuweisen,
daß auch im ältesten Griechenland der Segen des Re-
gens durch einen Stein herbeigeführt wurde.
Wurde doch der Okeanos in Steingestalt dargestellt. Be-
sprengen mit Wasser sollte Regen bringen. Wir haben aber
einen sehr merkwürdigen Stein im griechischen
Sagenkreise, dessen Wesen im Zusammenhange mit dem
bis nun Erörterten unser Interesse erweckt. Es ist 'Estioc
(Über Hestia-Vesta vgl. das große Werk: Preuner, »Hestia-
Vesta«, Tübingen 1864, passim). »Unter den zwölf großen
Gottheiten, welche die Griechen später annahmen, ist Hestia
die einzige, deren Namen allgemein in appellativem Sinne
Gebrauch geblieben ist«. »Die Grundbedeutung von Hestia
muß dahingestellt bleiben; wahrscheinlich haben hier Vor-
stellungen mitgewirkt, die nicht vollständig erkennbar sind.
Zu dieser Annahme führt eine Parallelgestalt der Hestia
nämlich Kalypso. Diese wohnt im Nabel des Meeres.
Nabel ist aber die Bezeichnung für Opferstätte,
und diese selbst, also s^rta heißt {xsff6[A<pa>.o;, d. i. Nabel«
(Gruppe, Griech. Mythol. S. 819, 820, 1402). »Vermittler
einer Reihe kosmischer Anschauungen und Lehren sind die
Semiten (gegen Usener, Sintflutsage 244 ff.)« »Es wird
niemand, der imstande ist zu vergleichen, nur einen Augen-
blick im Zweifel sein, daß das Feueropfer der griechischen
Heiligtümer dem der Jerusalemitischen näher verwandt ist,
als dem in Indien« (Gruppe ibid. 722, 724).
Als älteste Stelle über 'Egtlo: ist anzusehen Philolaos
fr. 7. (DFV2 I 242, 10): fö TtpöTov äpaoTÖ-sv, tö £v, ev cß
uicrw tx? (r^aipas iaxia. xatX&xax. »Das erst Gefügte,
das Eine, inmitten der Kugel wird Hestia ge-
heißen«. Die Hestia wurde angeblich schon von Parme-
nides als §iy.7üupo; jtOßcfi; als feuriger Würfel bezeichnet.
Sie ist der in den Kosmos übertragene würfelförmige Nabel-
46 Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
stein des Weltalls ([/.scdu^aXo;) (Anatolios p. 30 (DFV2 I 111,
43). — Dieser )tußo? ist wahrscheinlich identisch mit
jtußsX7j, (Kybele), d. i. die große Mutter aller Götter, die
Lebenspenderin, die ebenfalls als Stein verehrt wurde
(Eisler 1. c.) Auf Delos ist nach alter Überlieferung der
Nabel der Erde (Epimenides Fr.) (DVF2 1 496, 10) in
Form eines Würfelsteines oder Altar. Delos liegt
nach dem alten griechischen Weltbilde in der Mitte von
4 Kontinenten; es ist auch die Pforte zur Meeres-
tiefe. Es ruht auf vier Säulen, entsprechend den vier
Weltrichtungen und den vier Röhren des Nabelstranges. —
'Ecttlx ist nach Piaton (Krat. 401c) ein Si^svixov ovgjjux
= Fremdwort, also im Griechischen entlehnt. Die
oben erwähnte jcußiXv] = xuß&a ist bei den Römern die
Magna mater Idaea; das ist aber ein heiliger Meteor-
stein, der im hannibalischen Kriege auf Grund eines sibyl-
linischen Spruches nach Rom gebracht wurde. Er befand
sich ursprünglich in Pessinus in Galatium, in Kleinasien.
(Liv. 29, 11) »is (Attalus) legatos (Romanorum) comiter
aeeeptos Pessinuntem in Phrygiam deduxit sacrumque
iis lapidem, quam matrem deum esse incolae dicebant,
tradidit ac deportare Romam iussit«. »Die große Mutter«
ist früh nach Griechenland gekommen. Sie ist der Religion
von Eleusis angegliedert. Die pz*{ä^r> P'"r'P 's* aus Asien
in vielfachem Mutterkult in Griechenland eingedrungen. In
Rom hielt die große Mutter mit ihrem Fetisch, der aus
Pessinus stammen sollte, im Jahre 204 ihren Einzug. Sie hat
Heiligtümer in Erdschlünden (Dietrich, Mutter Erde S.82.)
Ich lasse es vollkommen dahingestellt
und bjin weit entfernt, es behaupten zu wollen,
ob'EcTta mit K'fltP zu identifizieren ist. Schultz:
Arch. f, Gesch. d. Philos. XXII deutet es an (1909, S. 216, 217,
219). Es muß aber konstatiert werden, daß 'Estioc der mytho-
logischen und der kosmischen Bedeutung des R\n# vollkom-
men entspricht, daß beider Ursprung und Etymon unbekannt
Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien. 47
ist; daß 'E^my. aber im griechischen Lehnwort und in der
hebräischen Überlieferung nur volksetmyologische Erklärung
findet. Das weist auf uralten gemeinsamen Ur-
sprung hin. Es mag schließlich auch erwähnt werden,
daß der Schethijjastein auch in der Sibylle erwähnt wird.
Friedländer (Apologetik, S. 89) weist darauf hin, identifiziert
rvritP mit hostia und die »Genesis des steinernen Bildes«
(des Eselskopfes), das Antiochus Epiphanes im Allerheiligsten
gesehen haben soil, ist in dem geweihten Steine zu
suchen, auf welchem der Hohepriester am Versöhnungstage
das Opferblut gesprengt hat. Auf ihn wird im vierten Sibyllen-
buch angespielt, wo es heißt: »Denn auch als Haus hat Er
nicht einen im Tempel geweihten Stein, einen schmerzlichen
Schimpf und Schaden der Menschen«. Auch Rösch (Theolog.
Studien und Kritiken 1882, S. 536) vermutet in dem rww
den Eselskopf. Der Esel aber war — das möge nicht un-
erwähnt bleiben — der Hestia-Vesta geweiht (Preuner 1. c.
S. 38) und ist das Symbol der Fruchtbarkeit.
3. Die Zeremonien.
Die mit dem Wasserschöpfen und Wasser-
opfer verbundenen Feierlichkeiten werden uns im Talmud
ausführlich beschrieben (Sukka V, 1— 5). Das Flötenspiel
zur Feier der (mtOtPfl rra nnEtP) Freude des Wasserschöpfens
dauerte fünf oder sechs Tage (je nachdem Sabbat hineinfiel
oder nicht). Wer dieses Fest nicht gesehen hat, hat über-
haupt nie im Leben Freude gesehen. Was unter naKWfl JV2
zu verstehen ist, ist nicht vollkommen klar. Sicher aber
ist, daß dieses Fest sich auf das Wasseropfer am Hütten-
feste bezieht. Darüber sind die Kommentatoren vollkommen
einig. Was n2KW bedeutet, wußten die Gelehrten nicht
mehr sicher; es wird auch mwn anstatt na«w überliefert,
und beides ist nach Mar Sutra richtig; naiam ist richtig,
weil die Abhaltung des Festes hochgeehrt und wichtig war,
eine Pflicht, die seit den Tagen der Schöpfung gilt <roxö
48 Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
jrrina '8' ntytra naai rvi nawp) und na«np nicht minder,
denn es heißt: nw'iVJWD'ö D/iatfwi »I h r sollt Wasser
schöpfen aus denQuellen des Heils« (Jes. 1 2, 3).
Es wird aber auch »eine überflüssige Freude« (nv/v nnotf)
genannt (Sukka 50 b, 51 a). Und dort wurde »der Geist der
Heiligkeit geschöpft«. Ich kann mich mit der Ableitung vom
syr. naitP = Fackel (Aruch compl.) nicht befreunden; und auch
nicht mit den Ausführungen Venetianers(Die eleu-
syni sehen Mysterien, S. 3 ff.), der na«w als »Schö-
pferin« erklärt und darauf seine ganze Hypothese der
Gleichsetzung der gesamten Zeremonien und Festlichkeiten
gelegentlich der naKitrn rra nnatt» mit den eleusynischen
Mysterien gründet, obzwar es, wie Venetianer mit sehr
gutem Blicke gesehen hat, wahrscheinlich ist, daß auch
diese das Fest beeinflußt haben könnten (Jer. Sukka V, 1).
Am Ausgang des ersten Tages des Hag ging man in die
Frauenhalle hinab und traf große Vorbereitungen. Goldene
Leuchter wurden aufgestellt mit goldenen Schalen, in die
Öl gegossen wurde, Dochte aus den Lumpen alter Priester-
kleider wurden gemacht. Kein Hof in Jerusalem, der nicht
erleuchtet gewesen wäre durch die Illumination in nawwn rra.
Die Frommen und Ausgezeichneten tanzten mit Fackeln
in den Händen, sangen Lieder und Lobpreisungen, die Le-
viten spielten auf ihren Instrumenten ohne Zahl. Posaunen
wurden geblasen. Die Frommen sprachen: »Heil unserer
Jugend, die unser Alter nicht beschämt»; die Reuigen sagten:
»Heil unserem Alter, daß es unsere Jugend gesühnt hat«;
Alle sagen: »Heil dem, der nicht gesündigt hat und wer
gesündigt hat, dem wird, wenn er sich bekehrt, verziehen«.
Die Leviten sprachen: »Lobet Oott, ihr Diener des Ewigen,
die ihr im Hause Gottes stehet in der Nacht« (Ps. 134, 1);
oder: »Erhebet eure Hände zum Heiligtum und preiset Gott«
(ibid. 2). Wenn sie auseinandergingen sagte einer zum andern:
»Der Ewige segne dich von Zijon und sieh' das Glück Je-
rusalems alle Tage deines Lebens und sieh' Kindeskinder;
Das Wasseropfer and die damit verbundenen Zeremonien. 49
Friede über Israel«. Die posaunenblasenden Priester stiegen
in die Asarah und schritten so bis zum Osttore; dort wandten
sie sich nach Westen und sprachen: Unsere Väter haben,
wenn sie hier waren sich mit dem Rücken zum Hekal und
mit dem Gesichte nach Osten gewandt der Sonne zu, wir aber
»zu Jah sind unsere Augen gewandt«; oder: »Wir sind zu Jah,
und zu Jah sind unsere Augen gerichtet« (Sukka 50ab,Toseft.
V). Hillel der Alte hat, als er an der Wasserschöpffreude
teilnahm, gerufen: »Wenn ich da bin, sind alle da, wenn
ich nicht da bin, wer ist da«? Und ferner sagte er: »Meine
Füße trugen mich an den Ort, den ich liebe; kommst du
in mein Haus, so komme ich auch in das deine, kommst
du nicht in mein Haus, komme ich nicht in das deine«.
Simon, Sohn Gamliels hat beim Freudenfeste des Wasser-
schöpfens fünf brennende Fackeln geworfen und aufgefangen,
Lewi vor Rabbi acht Messer, Samuel vor dem König Sabur
acht gefüllte Weinbecher, Abaji vor Raba acht Eier. R.
Joma ben Chananja erzählt, daß das Freudenfest sie um
den Schlaf brachte, denn ein Dienst reihte sich an den
andern, so daß die Diensttuenden nur einer auf der Schulter
des anderen ab und zu ein wenig schlummern konnten
(Sukka 53 a).
Ebensowenig wie das Wassergießen haben diese Fest-
lichkeiten in der HS. eine Quelle oder Erklärung. Die For-
scher alter und neuer Zeit bezeichnen sie als »alte Bräuche«
(Jost, Geschichte I, 217). Graetz (111, 112) faßt das Wasser-
opfer richtig als »uralten Brauch« und schildert den be-
kannten Vorgang beim Wasseropfer folgendermaßen : »Als
er (Alexander Jannai) einst am Hüttenfeste als Hoher-
priester fungierte, sollte er einem uralten Brauch zu-
folge aus einer silbernen Schale Wasser, als Sinnbild
der Fruchtbarkeit, auf den Altar gießen. Aber um
diese von den Pharisäern geltend gemachte religiöse Sitte
geflissentlich zu verhöhnen, goß er das Wasser zu seinen
Füßen nieder. Mehr brauchte es nicht, um den Unwillen der
Monatsschrift. 65. Jahrgang. 4
50 Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
im Tempelvorhofe anwesenden Volksmengen zu reizen.
Mit rücksichtsloser Erbitterung warfen die Anwesenden die
Festfrüchte (Etrog), welche sie in Händen hatten, nach dem
ketzerischen König und beschimpften ihn als einen un-
würdigen Hohenpriester, als den Enkel einer Gefangenen.«
Hier bringt Graetz die Berichte des Talmud (s. oben) mit
denen des Josephus (Ant. XIII, 13, 5) in Verbindung, der
Alexander Jannai als den Opfernden nennt, ohne zu sagen,
daß er das Wasser auf seine Füße geschüttet hätte und
identifiziert den anonymen Sadduzäer oder Boathusäer des
Talmud und der Tosefta mit Alexander Jannai. Die beiden
Berichterstattungen scheinen auch wirklich dasselbe Ereignis
im Auge zu haben (Graetz III, Note 13). Das wird auch
allgemein angenommen und auch von Buch ler (Die
Priester und der Kultus im letzten Jahrzehnt des Jerusa-
lemitischen Tempels. S. 113) ohne weiteres zugegeben. Sowie
die Sadduzäer seinerzeit das deutliche Gefühl hatten, daß
das Wasseropfer und seine Ceremonien ein fremdartiger
Einschlag im heiligen Tempeldienste seien und die Phari-
säer wieder die Überzeugung gewannen, daß man einen so
uralten Brauch nur mit großer Gefahr bekämpfen oder
gar beseitigen könne; ebenso haben alle späteren Beobachter
dieser Sitten empfunden, daß sie sich nicht mühelos in
den Rahmen sonstiger gottesdienstlicher Übungen fügen,
ohne ihnen eine andere Erklärung als die eines uralten
Brauches, einer Volkssitte, geben zu können (s. Delitzsch
in Riehm's Handwörterbuch d. bibl. Altertums Art. Trank-
opfer und Laubhüttenfest, Baudissin, Studien z. semit.
Religionsgesch. II, 150 u. 170, Wellhausen, Israelit, u.
Jüd. Gesch. 5, S. 305). Das Wasserschöpffest wird auch in
den Evangelien erwähnt und die Stelle zeigt, daß es zur
Zeit Jesu mit größter Feierlichkeit begangen worden ist
(Evang. Joh. 7, 37 ff.). Daß die Pharisäer den größten
Einfluß auf den Tempeldienst hatten und die alten Volks-
bräuche mit möglichster Heiligkeit zu umgeben und zu
Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien. 51
schützen bestrebt gewesen sind, beweist Buch ler (das.)
auf das Eingehendste. Sie waren nach dem Sturze Anan
ben Anans die alleinigen Herren des ganzen Heiligtums.
»Alles, was die Sadduzäer im Opferdienste bestritten hatten,
wurde jetzt mit größter Feierlichkeit und großem Schau-
gepränge vollzogen — so das Wasseropfer am Laubhütten-
feste« (Büchler: Kultus usw. S. 206).
Nach talmudischer Überlieferung sind der Gebrauch
der Bachweide bei dem Umzüge um den Altar, sowie
auch das Abschlagen der Zweige an den Fußboden als
Dtt'2) Jrua oder owaj Tip» (prophetische Einrichtungen
und Überlieferungen) zu betrachten. (Sukkot 44b, jer.
Sukka IV, 55 b, 47., Büchler, Das Synhedrion in Jerusalem,
S. 63, Anm.) Die ganze Feierlichkeit des Umzuges wird
in Sukka 45a (IV, 5) ff. genau beschrieben. Es muß
ähnlich dem Wasserschöpfen und Wassergußopfer, eine
höchst feierliche, großartige Veranstaltung gewesen sein.
Der Altar war von hohen Weidenästen umgeben. Un-
ter tönendem Posaunenschall wurde der Umzug ge-
macht, unter Psalmensingen und Palmenschwingen. Man
sang die Worte : »Hilf o Gott, Beglücke o Gott« (Ps.
118, 25) oder man rief: »Ich und Er! Gib Hilfe (im >:x
kj nywin nach der Leseart des Jer. Kini). Am siebenten
Tage wurde der Umzug siebenmal gemacht. Biem letzten-
mal wurde gerufen : nara "]b »Di» »Schönheit dir, Altar«;
oder: »Gott und dir, Altar«. Bringen wir diese Schil-
derung in Verbindung mit der merkwürdigen Beschrei-
bung der Festlichkeiten beim Wasseropfer und der »Freude
des Wasserschöpfens«, so können wir uns des Eindruckes
nicht erwehren, daß wir es hier mit fremdartigen Sitten
und Gebräuchen zu tun haben ; immer abgesehen vom
eigentlichen biblischen Hüttenfeste, mit welchem diese
Festlichkeiten nicht in unmittenbarem Zusammenhange
stehen ; denn diese Feste sind, so alt sie sein mögen,
erst später wieder zu religiösen aus volkstüm-
4*
52 Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
liehen umgewandelt worden. Das haben die ältesten
Forscher schon gesehen (vgl. Lipman Heller zu Sukk. IV,
5; Rascni zu Sukk. 45 a und oben). Im Mittelpunkte all
dieser Veranstaltungen steht ursprünglich und naturgemäß
die Herbstfeier, d. h, die Bitte um Regen. Das
scheint auch auszudrücken Sachär. 14, 17 : »Wer von den
Geschlechtern der Erde nicht nach Jerusalem kommt, sich
niederzuwerfen vor dem König, dem Herrn Zebaot — für
den fällt nicht der Regen«, Sätze, die am ersten
Tage des Sukkoth festes noch heute in den Synagogen
gelesen werden. Es mag hier als Ergänzung zu den
früheren Angaben über den Lapis manalis hinzugefügt
werden, daß in Rom beim Bittfest des aquaelicium
die Matronen mit nackten Füßen und auf-
gelöstem Haare und die Magistrate ohne die
Abzeichen ihrer Würde in feierlicher Prozes-
sion nach dem Kapitole zogen. In alter Zeit trat bei
dieser Gelegenheit auch der Lapis manalis in Funktion.
Die Prozession fand bei anhaltender Dürre statt, wenn um
befruchtenden Regen gebetet wurde. (Wissawa, Religion und
Kultus der Römer pg. 106.)
Am ersten Tage des Festes wird bis heute in das
Hauptgebet die oben erwähnte Regenbitte einge-
schaltet. Der spätere Ritus, den insbesondere R. Eleasar
ben Jakob Kalir (um 910) durch seine Poesieen bereichert
hat, hat dann diesen ritualen Gebrauch ausgestaltet und
eine ganze Reihe synagogaler Poesien ihm angepaßt, in
welcher der uralte Sinn eines Teiles des Herbstfestes
neuerdings zum Ausdrucke gelangt. Nur einige wenige
Beispiele sollen angeführt werden : »Am achten Tage will
ich mein Herz wie Wasser ausschütten« ; »am achten Tage
werden die Gesetze des befruchtenden Regens bestimmt
ob viel, ob wenig«, heißt es im Abendgebetritus. In der
Tefillah, welche der Vorbeter laut vorträgt, heißt es gleich zu
Beginn: »Der Af-Bri (Engel des Regens, s. Jahrg. 1910, S. 551)
Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien. 53
treibt Wasserdünste zusammen, formt Wolken und leert
sie dann als Regengüsse zur Erde aus. Durch diese er-
quickende Wasserlabung bekränzt die Erde sich mit Frucht-
kränzen . . . Auch uns, die wir dir mit allen Kräften an-
hängen, sei milde gesinnt, o Herr, und verleihe uns des
Regens wohltätigen Segen.«
Darauf folgt das große Regengebet <Dfc»:i), an das
sich, charakteristisch genug, ein Gedicht schließt, dessen
Strophen die zwölf Monate des Jahres in ihrem Verhältnis
zu Regen und Fruchtbarkeit und mit direkter Nennung des
Tierkreises behandeln. Die den Monat Tisch ri besingende
Strophe lautet :
>Er segne mit den kostbarsten Früchten der Monde, mit
edlen Früchten der Bäume; Wasser lasse er aus den Wolken
strömen, damit königliche Leckerbissen bereitet werden.
Er tränke die Gewächse und lasse im Monate Tischri
ihren Samen aufbrechen. Entziehe von nun das Wasser
nicht, auf daß Regenschauer niederbrausen. Nimm das
Gebet der Flehenden auf wie das siebentägige Gußopfer.
Wasser führe dem Lande zu, daß es dreifach regne. Auf
die sonneversengten Pflanzen spende Regen, damit die
Wage sich biege unter der Fülle des Getreideertrags«.
Wenn ich auch mit Bischoff »Babylonisch-Astrales im
Weltbilde des Talmud und Midrasch« (Leipzig 1907) in
vielen Stücken nicht übereinstimme und glaube, daß er
oft zu weit geht, so hat er doch in vielen Punkten großen
Scharfblick bewiesen. Und der astrale Charakter dieser Gebete,
die auf uralte talmudische Überlieferungen zurückgehen und
im Zusammenhange unserer Darstellung in besonderem
Lichte erscheinen, ist zweifellos. Bischoff sagt ganz richtig:
»Im Tischri ist die Sonne soeben in das Sternbild der
Wage (D'JtKB) getreten; diese aber ist das Symbol des
Richtens und zwar vor allem des Richtens über Verdienst
und Schuld. Die Rabbinen wissen, daß das Sternbijd der
Wage mit dem himmlischen Gerichtstage in Verbindung
54 Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
stehe. So heißt es z. B. Psikt. rabb. C. 20 (94b): »Gott
sprach: Nach dem Sternbilde Jungfrau erschaffe ich das
Sternbild Wage, weil des Menschen Taten gerichtet werden
sollen; sodann den Skorpion, weil der Mensch, wenn er
gewogen worden und als Frevler befunden ist, in die Hölle
gestürzt wird«. (Hinter dem Sternbilde der Wage beginnt
nämlich die Wasser-, Winter- und Unterwelt-Region des
(südlichen) Himmels. Der wägende Gerichtstag steht ebenso
vor dem Beginn der irdischen Regen-, Winter- und trüben
Zeit, und an ihm sperrt die Hölle ihren Rachen auf, die
Frevler zu verschlingen). Auf diese Weise wird der Herbst-
Neujahrs-Gerichtstag verständlicher als bisher«. (Bischoff
Babylonisch-Astrales im Weltbilde des Thalmud und Mid-
rasch, S. 66; vgl. Bezold, Aren. 2. S. 400 ff. und Jeremias
»Das alte Testament im Lichte des alten Orients« S. 86 ff.
Altbabylonische Vorstellungen sind es, die in diesen jungen
Gebeten durchschlagen und uns das »Fest der Aufer-
stehung« und das >Fest der Schicksalsbestim-
mung« (Neujahr), sowie auch das ursprüngliche Neu-
jahrsfest der babylonischen Zeit im Frühling in Erinnerung
bringen (Jeremias 1. c.)
In alten und auch neuen Ausgaben der Festgebet-
ordnungen mmo) sind bei den einzelnen Strophen die
Tierkreiszeichen beigegeben. Das Regengebet
schließt mit einem Gedichte, das also beginnt: »Sei einge-
denk des Ahnherrn (Abraham), dessen Herz dir zueilte,
wie des Wassers St römung. Du verliehest ihm deinen
Segen, und er erblühte wie ein Baum, am Bache gepflanzt.
Du warst ihm Schutz und Retter in Feuers- und Wassers-
not; warst ihm immer nahe, weil er die Saat am Lebens-
quell gestreut; seinetwegen entzieh uns nicht
das Wasser«. Das ist ein Refrain des Gebetes. Es schließt
mit den Strophen: »Gedenke des über die Grundpfeiler
Gesetzten erring t^b) (Hohenpriesters) der fünfmal seinen
Leib in Wasser tauchte (am Versöhnungstage), fünfmal die
Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien. 55
Hände wusch im heiligen Wasser und fünfmal die Wasser-
sprengung vollzog«. »Gedenke der zwölf Stämme, die du durch
die geteilten Wasserwogen führtest, denen du das bittere
Wasser versüßtest. Ihre Nachkommen hangen dir treu an und
geben ihr Blut hin wie Wasser für dich. Wende du es ab, wenn
unser Leben Wasserfluten bedrohen. Umwillen ihrer
Tugend begnade uns mit Fülle des Wasserse-
gens«. Das ist ein zweiter Refrain des Gedichtes. Es klingt
aus in die Worte: »Denn du, Ewiger unser Gott, bist es,
der den Wind wehen und den Regen niederströmen
läßt, zum Segen und nicht zum Fluche; zur Sättigung
und nicht zum Hunger; zum Leben und nicht zum Tode«.
In ganz ähnlicher Weise sind die Gebete gebaut, die
am Passachfeste als Tausegen gesprochen werden; also
in der Frühlingszeit; vollständig analog der eben be-
handelten Gebetordnung des Herbstfestes. Ich will auch
hier nur einige wenige Beispiele bringen, welche dieses
Taurituale besonders charakterisieren. »Die Tehomoth
sehnen sich nach des Taues Träufeln, sowie die ganze Flur
nach ihm schmachtet ...Durch die Wunderkraft
des Taus erwachen einst zum Leben, die tief
in Grüften schlummern«.
»Zum guten Zeichen ist der Tau; er bringt Pflanzen
hervor und verschafft Freude frohlockender Jungfrau. Er
ernährt ganze Scharen, läßt sie mächtig und zahllos werden.
Mit des Schöpfers Stimme möge der Tau die im Staube
Verborgenen erwecken«.
»Vernimm dieses Gebet und lasse sie in Sicherheit
wohnen (die zu Dir die Augen erheben); Tau werde in
Regengüssen zugedacht im Monate Marcheschwan. Mit
Wolken beschütze sie, um sie wie ein zartes Kind zu
tragen. Segensreicher Tau umgebe sie. Dem Himmel be-
fiehl, daß er Tau gebe«.
»Er beglücke mich unter den Nationen und ich will
ihm danken in meinem Lobgesange. Tautropfen mögen mich
56 Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
bereichern, um bis Ende des Monates Tischri Überfluß an
Tau zu geben, damit mein Brod fett, mein Most süß werde.
Tau erfülle die in meinem Gebete ausgesprochenen Bitten;
wie Regen träufle meine Lehre«.
In diesem Rituale des Pesach- und Sukkothfestes, das
allerdings in dieser Form erst aus dem zehnten Jahrhun-
dert stammt, erblicken wir deutlich die unverwischbaren
Spuren jener uralten Volksanschauungen und Volks-
gebräuche gegen die sich seinerzeit die Sadduzäer ver-
geblich aufgelehnt hatten. Die alten Pharisäer und
späteren Rabbinen haben klugerweise diese starken,
lebendigen Triebe der Volksseele erkannt und sie mit den
Überlieferungen und Vorschriften der HS. in Einklang zu
bringen verstanden, ohne deren Reinheit zu trüben. Das
Volk ist eben immer stärker als das Gesetz und das drückt
ja der Kanon aus: »Gebrauch entwurzelt Gesetz« npu? 3fT3p
roVl). Von der alten, talmudischen, wie von der späteren,
rabbinischen Zeit gilt das, was Büchler (a.a.O.) sagt: Der
Sieg des Volkes über die ausschließende Prie-
sterschaft wurde öffentlich in Begleitung gro-
ßer Feierlichkeiten vollzogen. Das allein aber
genügt nicht zur Erklärung der feierlichen Gebräuche selbst.
Wir sind uns darüber klar, daß die Wasseropfer am
Hüttenfeste, der Zeit des Herbstregens, eben den
Regen entweder erwirken oder auch als Himmelssegen
verherrlichen sollten. Das Sukkcthfest ist Hag im speziellen
katexochischen Sinne.
in aber ist im ältesten Sinne Umkreisen des
Heiligtums; im weiteren Sinne Prozession und Wallfahrt
zum Heiligtume und erst in letzter Bedeutung Fest im
Allgemeinen. Auch im alten Arabien gab es zur Früh-
ling- und Herb st zeit ein Hag, einen Umgang um
Regen um den heiligen Stein. Vorzugsweise das
Herbstfest hat sowohl bei Arabern als auch beiden He-
bräern den Namen in (Wellhausen, Reste usw. S. 141).
Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien. 57
Der dem Monate Ti§ri entsprechende Muharram war auch
bei den Arabern durch die Hag ausgezeichnet. Das sieben-
malige Umkreisen der Bimah (resp. d. Eben Schetijjah) mit
den Palmen, erinnert an ähnliche Gebräuche, die aus der
arabischen und griechischen Überlieferung bekannt sind
»Der siebenmalige Umlauf der Pilger um die irdische Kaaba
ist gleich dem Kreisen der Engel, das heißt, der heidnischen
Planetengötter um den mystischen Stein als Weltmittel-
punkt. Genau dieselbe Vorstellung knüpft sich an das klein-
asiatische Gegenbild der Kaaba, die Kybele o^vM als
Göttin des heiligen Berges und als mystischer Nabelstein
= opyctiri Göttermutter als Weltmittelpunkt des s<rua. Plato
(Phaedros XXVI, 247 a) schildert den Reigen der Unsterb-
lichen unter Führung des Zeus auf ihrem Flügelwagen
das Firmament umkreisenden Götter, bei dem Hestia allein
im Hause der Göttin zurückbleibt«.
Es ist nun außer Frage, daß das biblische Hüttenfest
einen ganz anderen Charakter trägt als dieses arabische
Wallfahrtsfest. Ebenso ist die innere Verwandtschaft der
gewiß bereits in vorbiblischer Zeit im Volke lebenden Sitten
und Gebräuche zur Zeit des Herbstregens, wozu wir auch
das Wasseropfer rechnen dürfen, gegeben. Insbesondere liegt
die Vermutung nahe, daß der rp/itf p« der Gegenstand
des Zuzuges der wallfahrenden Mengen gewesen sein mag,
denn er ist ja der Weltmittelpunkt; er deckt ja die Sint-
flutgewässer und um ihn und zu ihm mag der »Vaqüf« die
Prozession stattgefunden haben, als deren Umwandlung die
Umkreisung des Altars mit dem Feststrauße am
Hüttenfeste angesehen werden darf, die sich bis heute im
Ritus der Synagoge erhalten hat. Die Wiedergeburt
des alten Gedankens der Wasser- und Regenfestlichkeit
können wir auch mit Recht in dem Ritus des Hoschanah
rabba und des siebenten Tages des Chag erblicken. Wird
doch die Einführung des Umzuges um den Altar mit der
»Arabah«, Bachweide, im Talmud selbst (Sukkah 44 a) als
58 Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
»vergessen und wieder eingeführt« (OTTOl n?m oirow) be-
zeichnet. Ein Rest der im Jerusalemitischen Tempel abge-
haltenen Riten des siebenten Tages des Sukkothfestes hat
sich bis heute im Hoschanah-rabba Ritus erhalten. Um nun
sogleich die wirkliche Wiederkehr uralter Vorstel-
lungen recht deutlich zu illustrieren, werden wir bei einem
der sieben Umzüge, die um die Bimah mit dem Feststrauße
und dem Arabahbündel veranstaltet werden durch folgendes
Rezitativ aufmerksam gemacht : Hilf ! (Hoschana) dem
Eben schethija; Gotteshause deiner Wahl, Tenne Arnons
(II Sam. 24, 18 ff., I Chron. 21, 19 ff., Synonymon für Altar);
dem verborgenen Heiligtum, Berg Moriah, Berg der Erschei-
nung, Stätte deines Ruhms, einst David geweiht; dem schönen
Libanon, der schönen Braut, Wonne der Erde, der vollen-
deten Schöne usw.« Hier haben wir zunächst die
Identifizierung d e s n * fl W \ 3 K m i t dem Heiligtum.
Beim Umzüge wird der Vers rezitiert: »Die Welt wird
durch Gnade gebaut«. Natürlich, der Stein ist ja
Grundstei n der Welt. Bei einem Umzüge wird gesagt:
»Hilf! Bewahre! Die Erde vor Fluth, die Herde vor Fehl-
wurf, die Tenne vor Kornwurm, das Korn vor Brand;...
den Ölbaum vor Abwurf, den Weizen vor Käfern, die Kelter
vor Jelq, den Weinberg vor Gewürm, Spätfrucht vor Heu-
schrecken usw.«
Nach Vollendung der Umzüge werden dann in der
Gebetreihe der Hoschanoth eine große Reihe von Anrufungen,
welche die Hilfe Gottes erflehen sollen, rezitiert. Unter diesen
sind für unsere Zwecke charakteristisch die Gruppen, in
denen die aus Feuer geretteten biblischen Persönlichkeiten
als Mittler erwähnt werden und darauf die aus Wasser-
gefahr unversehrt hervorgegangenen; ebenso auch diejeni-
gen Personen, welche oder an denen Feuer oder Wasser
Wunder vollbrachten, z. B. »Hilf uns um willen des ersten
aller Sänger (David), der, als er nach Wasser durstete, dir
das Wasser als Opfer hingoß«. »Hilf uns um willen des
Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien, 59
Reinen der im Sturm emporfuhr, der für Gott geeifert (Elias)
und Himmelsfeuer durch sein Gebet erflehte, so daß es
Staub und Wasser verzehrte«. Um willen der Getreuen hilf»
uns, die heute vor dir ihr Herz ausschütten wie Wasser,
um vor dir die Segenskraft des Regens zu erflehen denen
die am Schilfmeer dir Lieder sangen«. »Denen, die vor dir
das Wasser hingoßen als Opfer und aus den Quellen des
Heils das Wasser schöpfen, hilf!« »Die zu Dir um Wasser
flehen so bescheiden, wie die Weiden am Bache, gedenke
unseres Wasseropfers und hilf uns«. — »Des Himmels
Pforten öffne, deinen kostbaren Schatz erschließe und sende
uns dein Heil«. Am Schluß all dieser Gebete wird das
Bachweidenbündel am Fußboden (Hinweis auf die Erde
und die Unterwelt) abgeklopft und dann ein Gebet ge-
sprochen, in welchem die Hilfe Gottes um willen der getreu
beobachteten Prophetengebräuche erfleht und um Regen
gebetet wird.
Derganze Komplex von Zeremonien und Riten, festlichen
Umzügen und Veranstaltungen, volkstümlichen Feiern und
Belustigungen, die sich am Hüttenfeste vor unseren Augen
abspielen und mit dem eigentlichen Festgedanken, wie er
biblischer Überlieferung entspricht, nicht in engerem Zu-
sammenbange steht, stellt sich uns als uralter Ritus dar,
dereine Herbstfeier voraussetzt, bei welcher die ältesten,
im Volke lebenden mythischen Vorstellungen hervorleuchten
und alle kosmischen Beziehungen deutlich werden. Es han-
delte sich bei diesen Volksfesten um die feierliche
Begrüßung der Zeit der Herbstes Tag- und Nacht- Gleiche, in
die ja nach althebräischer Vorstellung die Entschei-
dung über Regen und Segen des Jahres fiel,
insbesondere aber auch nach uralter Überlieferung die
Erschaffung der Welt, die im Tischri, dem klassi-
schen Monate der Feste, stattfand.
Nicht vergeblich suchen wir nach Parallelen aus alter
und jüngerer Zeit bei den Völkern des Orients. Wir erfahren
60 Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
von allerdings der Form nach sehr verschiedenen, dem
Wesen nach aber zweifellos verwandten und auf gleiche
Vorstellungen zurückgehenden Festen und Gebräuchen.
Naturgemäß müssen sich solche an die Jahreszeiten an-
lehnende Feste mit kosmischen Beziehungen nach der Art
der Zählung und Gestirnerechnung der Völker richten. Es
werden also bei solchen Völkern, die Mondjahre haben,
gleich den Hebräern jene Feste mit ihnen in den Herbst,
solche die Sonnenjahre haben, wie die Perser, in das Früh-
jahr verlegt. Oder aber es wird, wie es tatsächlich der
Fall ist, eine künstliche Harmonisierung beider Zeiten und
Feste stattfinden (vgl. Benzinger, Arch.2 167, 168).
Jardin (Voyages en Perse, Paris 1811, II, 270) erzählt
uns, daß die alten Perser am Noruz, ihrem Neujahrsfeste,
das auf den ersten Frühjahrstag fällt, durch gegenseitiges
Begießen mit Wasser feiern. In Syrien finden wir
ein höchst merkwürdiges Fest, das Kremer (Mittelsyrien
und Damaskus, S. 121 ff) anschaulich beschreibt.
>Ein sehr merkwürdiges Fest der Damaszener' ist im
Monate April das Nauruzfest oder Frühlingsfest, welches
drei Tage dauert. Am Abende dieses Festes laufen die
Knaben mit angezündeten in Öl getränkten Spä-
nen durch die Gassen, reißen sich dieselben aus den Händen
oder suchen sich sie gegenseitig auszulöschen und treiben
allerlei Unfug« . . . Daß dieses Nauruzfest eines der ältesten
Volksfeste sei, beweisen die Zeugnisse der morgenländischen
Schriftsteller. Von diesem Feste sagt Ibn Ajäs in dem Werke
Nestik-el-Ezhäz fi Adschaib-el-Aktar folgendes : Das Id en-
Naurüz ist das erste Fest des kosmischen Jahres. Es ist Sitte,
an diesem Tage Feuer anzuzünden und Wasser
aufzuspritzen. Dieses Fest war eines der größten Feste
rn Ägypten. Der erste, der dieses Fest einsetzte, soll Dschem-
dschüd, der bekannte persische Herrscher, gewesen sein. Ibn
Zaulak sagt: Im Jahre 363 verbot der Chalif el-Muizz-liddin-
allah das Anzünden von Feuern in den Gassen und
Das Wasseropfer und die dam.t verbundenen Zeremonien. 61
Straßen während der Nacht des Naurüz sowie das Aus-
gießen von Wasser. Der Kadi Abd-er-Rahim el-Fädil
erzählt in den Jahren 584 ebenfalls von diesem Feste und
daß sich die Leute einander mit Wasser und Wein
bespritzten und mit Eiern bewarfen. Im Jahre 787
verbot der oberste Emir Dehir-Barkük unter schweren
Androhungen gegen Dawiderhandelnde den Unfug. Ich er-
innere an die merkwürdigen Berichte des Talmud (Sukka
53 a) vom Fackelwerfen, Schwerterschwingen, Eier- und
Becherwerfen, die sich an Nachrichten über die Feiern gele-
gentlich der Freude des Schöpffestes anschließen.
Goldziher (Az Islam, S. 140) spricht von diesem Feste
und sagt: »Die muhammedanischen Theologen haben leicht
ein Mittel gefunden, die Feste der Feuer anbetenden Perser
als von der muhammedanischen Religion gebotene beizu-
behalten«.
Sie haben einfach verbreitet, daß am Noruztage der
Prophet den Ali zu seinem Nachfolger bestimmt habe. So
wurde das heidnische Fest ein muhammedanisches. Und
weit über die Grenzen Persiens hinaus, selbst in Afrika
wird dieses Fest mit all seinen Unarten gefeiert, mit welchen
das Fest der Tag- und Nacht-Gleiche im Frühling von den
heidnischen Persern begangen wurde«. In Persien selbst, dem
Heimatlande des Ncruz, wird das Begießen mit Wasser auch
bei anderen Gelegenheiten als Volkssitte geübt; eine große
Rolle spielt diese Sitte auch beim Khasasuran-Frühlingsfest
der Armenier«. »Der Gebrauch der Fackeln findet sich bei
den meisten Völkern an den Herbstfeiertagen; so war es
auch bei den Juden (simchath beth ha-Schoebha)«; also auch
Goldziher empfindet die nahe Beziehung deutlich.
Rüppel (Reisen in Abessynien II, S. 41 — 44) schildert
das in der katholischen Kirche Abessyniens gebräuchliche
Fackelfest, das dort in ein Fest der Auffindung des heiligen
Kreuzes verwandelt worden ist. Es fand am 16. Maskaram
= 26. September (also im Herbste, bei den Arabern im
62 Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
Frühling) statt und wurde zur Erinnerung an die Auf-
findung des heiligen Kreuzes durch Helena, die Mutter des
Kaisers Konstantin, eingerichtet. »Um die Kunde jenes Fun-
des möglichst schnell von Palästina nach Konstantinopel zu
bringen, bediente man sich der Feuersignale und dies
zu versinnlichen ist der Hauptzweck der in Abessynien bei
diesem Feste gebräuchlichen Zeremonien« (Rüppel a. a. O.).
Nach Sonnenuntergang lodern auf allen Hügeln Freuden-
feuer.
Gesellschaften von Männern ziehen umher, von
denen jeder Bündel brennender Rohrstengel trägt.
Prozessionen der angesehensten Männer (vgl. 'tfyo npj«)
führen Tänze auf; unter Musikbegleitung, Po-
saunenschall werden Fackeltänze ausgeführt,
Speise und Trank in Überfluß verteilt.
Das Wassersprengen ist ja auch in Europa um Ostern
Sitte. Die Wasser w ei h e spielt in der griechisch-katholi-
schen Kirche noch gegenwärtig eine große Rolle. Die große
Wasserweihe findet am Feste Ephiphanias statt und wird
an einem Flusse abgehalten. Die Ostervigi li e, d. h. die
Nacht vor dem Ostertage, wurde unter den ersten
christlichen Kaisern dadurch gefeiert, daß die Straßen
mit Fackeln und ries igen Wachsk erz en taghell
erleuchtet wurden und man sich der ausgelassenen
Osterfreude (dominica gaudia) hingab. Diese Festlichkeiten
fanden aber am Frühlingsvollmond, d.h. am ersten Vollmonds-
tag der Frühlings-, Tag- und Nachtgleiche, statt. Es ist
klar, daß in allen Riten die altheidnischen Sitten
passend zugeschnitten und später so umgewandelt worden
sind, daß die alten Spuren nur dem forschenden Auge, aber
immer noch deutlich genug, erkennbar sind. Der Weg, den
diese Sitten gewandert sind, ist ein weiter, und der Zeitraum,
der zwischen der heutigen Synagogenfeier des Hoschanah
rabba und Tal-Geschem-Kultus und der althebräischen
Urzeit einerseits und anderseits zwischen altheidnischer
Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien. 63
Frühjahrs-Herbstesfeier und dem Osterfeste und der grie-
chisch-katholischen Wasserweihe liegt, ist ein ungeheurer.
Die Überlieferung kennt eben keine Grenze, weder nach
vorwärts noch nach rückwärts1).
Wir haben im Verlaufe der Untersuchung gesehen, wie
tiefgehend diese Zusammenhänge sind, wie fast unsichtbare
Fäden von Zeiten zu Zeiten, von Volk zu Volk hinüber-
spinnen und wie alle scheinbaren Entlehnungen und An-
lehnungen weder das eine noch das andere sind, sondern
Äußerungen der Volksseele und der primitivsten Triebe der
Menschen. Und diese sind schließlich überall die gleichen und
kraftvollsten und lösen allenthalben ähnliche Erscheinungs-
formen aus. Geburt und Tod, Fruchtbarkeit und Entstehung,
Erdensegen und Himmelsspende, Wechsel der Tages- und
Jahreszeiten, das sind die mächtigsten Beweger des Men-
schengemüts. Und in den verschiedenen Zeiten setzt sich
dieses ursprünglichste Empfinden verschieden in religiöse
Taten um, bis endlich der reine Monotheismus die rohe
Sinnlichkeit vergeistigt. Diese Vergeistigung jedoch wird
wieder aufs Neue durch Verkörperlichung durchbrochen und
aus der geborstenen Hülle dringen die mythischen Kerne
deutlich hervor1).
J) Ich spreche meinen Freunden, den Professoren : Dr. Funk, Dr.
Krausz, Dr. Kornitzer, Dr. Kappelmacher, Dr. Berkowicz, Dr. Schultz
meinen herzlichen Dank aus für die vielfachen Anregungen und
Hinweise, die sie mir gaben.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen
Zeitalter.
Neue Folge.
Von Simon Eppen stein.
IV. Sa ad ja Gaon, sein Laben und seine Schriften.
(Fortsetzung.)
Es scheint aber dem bisher als Kämpfer erprobten
Manne auch ferner keine Ruhe beschieden gewesen zu sein.
Er kam in einen Kreis hinein, wo man zunächst seine
geistige Größe als zu überragend fand, zumal er nicht dem
Lande entstammte, das die Gelehrsamkeit in Erbpacht ge-
nommen zu haben glaubte. Es lebte dort der gelehrte
Mebasser ha-Levi ben Nissim ibn rin^i?1), der mit auf-
merksamem Blick sämtliche Schriften Saadja's verfolgte,
die darin vorkommenden Versehen zusammenstellte und
einer Kritik unterzog, die er jedoch wohl erst nach dem
Tode des Gaon, in einem mehrbändigen Werke gesammelt,
herausgab, das den Titel dki aro »d liiio^x tnob* "f«VTAOK
\ave^K navia^R, d. h. »Berichtigung der Versehen in den
Schriften des aus Fayüm stammenden Gaon« führte8). Einen
ganz bedeutsamen Rivalen in geistiger Beziehung hatte
Saadja an dem reichen und gelehrten Aaron Ibn Sargädo,
mit dem arabischen Vornamen Khaläf, der, seinem Beruf
*) Vgl. über ihn Steinschneider, Arab. Lit. d. Juden, S.70 § 33.
Sein vollständiger Name und der Titel seines Werkes ergeben sich
aus Schechters Mitteilung in Saadyana, S. 79. (Vgl. hierzu auch in
den Nachträgen.)
*) Vgl. Harkavy, Studien V, S. 63. Die Angriffe auf den fnj«
vgl. dort S. 70—73, die auf das Kitab al-Wataik in Oeuvres, T. IX,
S. XXXVII— XXXVIII. Besonders für Mebassers Angriffe auf den
Pentateuchkommentar kommt als Quelle auch Juda ibn Bai'äm in
Betracht.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 65
nach ein Kaufmann, ein großes Wissen besaß, das er in
einem, bisher nur noch aus Zitaten bekannten Pentateuch-
kommentar und einer Schrift gegen die Annahme von der
Präexistenz der Welt niederlegte1). Besonders dieser, den
Saadja nach dem Zeugnis von Nathan Babli »um das
Zehnfache« übertraf, gehörte wohl zu denen, welche seinen
Sturz herbeizuführen suchten2). Zunächst allerdings scharten
sich um ihn sowohl die noch übrig gebliebenen Gelehrten
Sura's wie auch die angehenden Kollegialmitglieder von
Pumbadita, die wohl begierig der Belehrung des großen
Fayumiten lauschten3). Gerade die letztere Tatsache, die
sogar der eifersüchtig den Vorrang Pumbadita's wahrende
Scherira erwähnt, läßt uns das Ansehen ermessen, in dem
der neue Gaon stand.
Als Haupt der Hochschule hatte Saadja vor allem die
Auslegung des Talmud zu pflegen und Normen für die
Ausübung des Gesetzes festzustellen. Von der erstgenannten
Leistung des Gaons können wir uns nur aus seinen zahl-
reichen Bescheiden ein Bild machen, da wir direkte Tal-
mudkommentare von ihm kaum mehr besitzen4). Daß Saadja
solche verfaßt hat, ist, meines Erachtens, gesichert durch
mehrere Zitate, die wohl nur derartigen Werken entnommen
') Vgl. über ihn zuletzt Steinschn. a. a. O. S. 71 u. Pozn., Zur
jüd.-arab. Literatur, S. 47.
2) Vgl. Nathan Babli bei Neub. a. a. O. II, S. 80: n^S XJpm
mVx» fei noans hm d*txi fW? hv* m nfe jtjw yw rrHjm na m
ntpy v*bp sj'Dio nvi mo *i 'jsx mm 'x dj?b omty n^o rm b*vr>v
m laia in xjprto mm nn\
3) Vgl. Scherira bei Neub. a. a. O. I, S. 80, Z. 2—3: (Xö Ppai
did-t pai Sy prcon i^ity [dt x'onm pnm prwa |o twk mm
xrr-Q.
4) Der in Jerusalem 1908 von Wertheimer veröffentlichte Komm.
Saadja's zu Berachoth ist vielleicht nur als eine von seinen Schülern
angelegte Notizensammlung, hauptsächlich lexicalischer Art, anzusehen,
in der allerdings manches von Saadja herrührt. Die von Saadja gelie-
ferten Erklärungen zu einzelnen Talmudstellen sind in der 5. Abtei-
lung von Oeuvres T. IX u. d. T. D'ttip"^ zusammengestellt.
Monatsschrift, 55 Jahrgang.
66 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
sein können. So heißt es Saadyana Nr. 30, S. 59 ausdrücklich
in einem von Dosa, dem Sohn Saadja's, ergangenen Re-
sponsum : ym P9H89 |«a yj "pK p«j n0n*ba pro»* rne«i,
was doch wohl auf einen Kommentar zu Pesachim schließen
läßt. Ferner läßt vielleicht ibid. Nr. XXXII, S. 60—61, die
Erklärung von vott» einen Kommentar zu Sota annehmen;
es ist auch nicht ausgeschlossen, daß Saadja einen solchen
zum Traktat Sabbat oder dessen siebenten Abschnitt,
unter dem Titel roK^o maa yde/i, verfaßt hat1). Auch eine
methodologische Schrift größeren Umfanges, unter dem Titel
Sdiö^k 2«ro, können wir wohl Saadja zuschreiben8); der
uns vorliegende Kommentar zu den 13 Deutungsregeln8)
mag einen Teil desselben bilden.
Sehr groß war die Tätigkeit, die Saadja als Gesetzes-
lehrer entfaltete. Schon in Ägypten hat er sicher den Grund
hiezu gelegt mit einem Werke über nii mu^ri4). Ob er nur
einzelne Probleme der Halacha behandelt hat, oder ein
ganzes Werk über alle Gesetzesbestimmungen verfaßt hat,
vermögen wir nicht zu entscheiden.
Die halachischen Schriften Saadja's sind bereits zuletzt
von Steinschneider6) und Poznariski6) bibliographisch behan-
*) Vgl. die Bücherliste in der REJ. XXXIX, S. 200 Nr. 28 und
ebendort S. 203, ferner Saadyana Nr. XLVII, S. 128, Z. 1. Da dort
auch ausdrücklich die C^JW .TJ731K mit einem Werke über .TU Jl'afel
rt^JJD "W? genannt sind, dürfte die Annahme von der Autorschaft
Saadja's für dieses Werk recht wahrscheinlich sein. (Vgl. auch in den
Nachträgen.)
a) Vgl. die genannten Bücherlisten a. a. O. Aus dem in der
vorigen Anm. erörterten Grunde halte ich auch die Identifizierung
Bachers in R£j. a a. O. S. 204 mit dem S. 199 unten genannten
bsiC1?» 2Nn3 für ausgeschlossen. (Vgl. auch in den Nachträgen.)
s) Zuletzt veröffentlicht von Müller a. a. O. S. 73—83; vgl. auch
ebendort S. XXIII— XXXIII. Bekanntlich war dieser Kommentar auch
s rabisch abgefaßt, wie das genannte Einleitungswerk.
*) Er erwähnt dieses im Jezirakotnm., ed. Lambert, S. 43.
») A. a. O., S. 48-50.
•) a. a. O. S. 41 f.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 67
delt worden, wozu noch als Fund aus jüngster Zeit eine
Schrift über das Wucherverbot hinzukommt1). Erhalten ist
uns von der Fülle des einst vorhandenen verhältnismäßig
nur recht wenig. Vollständig besitzen wir nur die Schrift
über das Eherecht, jinaia^K 2«ro = nwivn noo8). Größere
oder kleinere Bruchstücke haben wir von der Schrift über
die Pfänder it»t£« axns oder ftjrii^K oton«, von der uns das
Ende erhalten ist, und worin über die Fälle gehandelt wird,
bei welchen die Ersatzpflicht des Aufbewahrenden nicht
eintritt3). Zum handlichen Gebrauch behufs Orientierung in
dringenden Fällen hat Saadja jedenfalls auch einen kurzen
Auszug aus dem umfangreicheren Werk veranstaltet4) Auch
von der Schrift über Zeugenschaft und Dokumente kennen
wir außer einem Zitat in einem späteren Responsum8) und
bei Saadja's Kritiker Mebasser6;, nur wenige Zeilen der
Einleitung7), ohne daß das Geringste über die Materie
selbst darin enthalten ist. Wie aus dem Fragment hervorgeht,
sollte es einen Teil eines größeren, verwandte Themata
behandelnden Compendiums bilden; indesssen haben ihn die
dringende Notwendigkeit einer Zusammenstellung dieser
Bestimmungen für das Volk und der sich daraus ergebende
J) Vgl. Hirschfeld in JQR. XVIII, S. 119-120. Sie ist dort be-
titelt: jn WD [titfj *3*fc* 'D Slp. Danach Ist, wie Hirschfeid a. a.
O., mit Recht vermutet, diese Abhandlung vielleicht ein Teil eines
Kompendiums über eine umfassendere Oesetzespartfe.
8) Herausgegeben von Joel Müller in Oeuvres T. IX, S. 1—53
im arab. Original mit hebr. Übersetzung von S. Horovitz.
3) In Saadyana Nr. XI u. XII, S. 37-41. Das zweite Stück ent-
hält nur den letzten Teil des vorhergehenden.
*) Vgl. T'schuboth ha-Geonim, ed. Härkavy (Studien Th. IV) S.
238, wo in Nr. 456, in einer an Isak Alfassi gerichteten Anfrage, dieses
als: rtfHVjK iXflSD zitiert wird.
6) Vgl. ebendort, Nr. 251, S. 108—109.
8) Vgl. Harkavy in den Nachträgen zur Einleitung von Oeuvres
T. IX, S. XXXV1I-XXXVIII, sub Nr. 2.
7) Vgl. Hirschfeld in JQR, XVI, S. 299.
5*
68 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
Nutzen bestimmt, gerade mit dieser Materie zu beginnen1).
Schließlich ist von den die Jurisdiktion behandelnden Ge-
genständen noch der Anfang der Abhandlung über das
Zinsverbot zu erwähnen2). — Eine vollständigere Übersicht
über Saadja's juridische Schriften würden wir aus einer
größeren Erschließung der betreffenden Werke des sehr
produktiven Samuel ben Hofni gewinnen, der Saadja sehr
oft zitiert8).
Was das Rituale betrifft, so ist von den uns teil-
weise erhaltenen Schriften zu nennen ein Werk über die
Schlachtregeln, wovon aber Saadja selbst auch einen Auszug
veranstaltete; aus beiden ist uns je ein Zitat erhalten4).
Ferner über T'refoth, moiöS« 3KM, wovon auf uns ein in
arabischen Lettern geschriebenes Fragment gekommen ist,
das die Teile der Lunge behandelt5), während^ sonst noch
in einem späteren Responsum etwas daraus . zitiert wird').
Die halachischen Schriften Saadja's chronologisch zu
ordnen ist ziemlich gewagt, da uns hiezu eine Handhabe
weder in den wenigen uns erhaltenen, noch in den Schriften
anderer geboten ist. Vielleicht läßt sich annehmen, daß
einige das Ritual behandelnde Schriften, wie wir es von
der über die Menstruation mit einiger Wahrscheinlichkeit
sagen können, schon in Ägypten entstanden sind, während
!) Vgl. ebendort: XJX ^ib» nptb* XTiX |B ü nein nyoxj b*p
njxn itw (o mn» xbS mb* irtna pnox (x nwi w rwtatA iny
fW JfMttfl Xö Dfcy tthffl .tSx fm*b*. Von der Wichtigkeit gerade
solcher Zusammenstellungen zeugt es auch, daß schon der Qaon Hai
b. David ein HVftVrl 'B verfaßt hat, von dem Harkavy in B2 B^BHn
BW Nr. 9, Beilage zu nJDBH Bd. 111 (Wilna 1896), S. 45-52 einen
Teil veröffentlicht hat.
2) Veröffentlicht von Hirschfeld a. a. O. XVII, S. 120.
3) Vgl. hierüber Harkavy a. a. O. S. XXXVIII, sub Nr. 3.
*) Vgl. a. a. O. S. XXXVII, sub Nr. 1.
5) Vgl. Saadyana Nr. XLIX, S. 132—133. Der Text ist vielfach
ohne diakritische Punkte.
6) Vgl. T'schuboth ha-Q., ed. Harkavy, Nr. 331 S. 158.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 69
die Werke juridischen Inhalts möglicherweise der Zeit
seines Wirkens als Gaon, als er zugleich oberster Richter
war, ihre Entstehung verdanken. Man könnte, wenn
der Schluß nicht zu kühn erschiene, dies auch daraus fol-
gern, daß die einzige uns vollständig erhaltene, das Rechts-
gebiet betreffende Schrift, das mtrivn 'D, in seiner Anlage,
besonders aber der Terminologie, den entsprechenden
Werken mohammedanischer Rechtslehrer nachgebildet zu
sein scheint1); dem islamitischen Einfluß dürfte aber Saadja
gerade in Babylonien, wo dieser am stärksten war, zu-
gänglich gewesen sein.
Zu den in Babylonien entstandenen Schriften, die
auch zum Teil in das halachische Gebiet gehören, ist
auch der Siddur zu rechnen2), da er nicht nur die
Stammgebete und Pijjutim, sondern auch die das Gebet-
ritual betreffenden Vorschriften enthält; der Titel desselben
lautete: itkie^ki n«i^« 2Kro3). Aus dem Werke sind
uns bis jetzt nur eine große Anzahl von Zitaten be-
kannt. Hoffentlich erhalten wir nun bald alles davon Vor-
handene nebst Ergänzungen aus Genisafunden durch die
schon lange vorbereitete Ausgabe von J. Bondi. Ein be-
sonderes poetisches Stück daraus ist uns längst bekannt,
nämlich eine sogenannte Ashara zum Wochenfest, eine
Aufzählung der 613 Gebote in mehrfacher gerader und
umgekehrter alphabetischer Reihenfolge4). Dieser Partie ließ
vielleicht Saadja einen sogenannten nw\ vorangehen, in
l) Vgl. Steinschneider a. a. O. S. 48, Goldziher in REJ. XXXVIII,
S. 270-271.
■) Vgl. hierüber zuletzt J. Bondi, Der Siddur des R'Saadja Oaon,
Frankf. a. M. 1904. Den Nachweis von der Entstehung des Werkes
in Babylonien erbringt Bondi a. a. O. S. 9.
3) Die Einleitung war wohl auch besonders in einem aiji aKD2
rxbxb« vorhanden. Vgl. die Bücherliste in REJ. XXXIX, S. 200 Nr.
30 u. Saadyana Nr. XLVII, S. 128 Z. 3.
*) Zuletzt veröffentlicht in Oeuvres IX, S. 57—69. Vgl. auch
ebendoit S. XVIII, fgg.
70 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
dem er die Gebote in 24 Gruppen einteilt, und wovon uns
aus einer fragmentarischen Erklärung des letzten surani-
schen Gaon, Samuel ben Hofni, die ersten acht Gruppen
erhalten sind1). — Von liturgischen Stücken liegen uns nun
eine Anzahl sonst nicht bekannter Dichtungen Saadja's vor*),
darunter eine Erklärung der Tefilla in arabischer Sprache8).
Bemerkenswert ist ferner, daß wir jetzt Saadja als Verfasser
der mit den Worten *tro: nbm beginnenden Selicha für den
Fasttag des Gedalja kennen lernen4), wie auch eines Klage-
rufes in einem liturgischen Stück für Purim oder den Esther-
fasttag, wo es heißt: dwt nustPöi iip •>bn» üV nnv mjzitf5).
Betrachten wir nun die halachischen Schriften Saadja's
näher, so finden wir, daß sie an methodischer Anordnung,
wie an ausführlicher Darstellung, die Compendien seiner
Vorgänger hierin, des R. Jehudai Gaon und Simon Kajjära,
bei weitem übertrafen6). Es zeigt sich hier der wissenschaftlich
») Vgl. Saadyana Nr. XV, S. 43.
2) Über die bisher bekannten synagogalen Poesieen Saadja's vgl.
Zunz, Liieraturgesch. S. 95— 98, Landshuth, Amrnude Aboda S. 286 ff.
Eine bisher nicht bekannte Aboda Saadja's veröffentlicht Elbogen,
Studien usw., S. 122 — 125. Bisher nicht bekannte Liturgieen Saadja's sind
u. a. Saadyana Nr. XVII, S. 45—46, ein Ofan für Pessah, beginnend
hr6j5J7 bpbpb bp sy hy nur., XVIII, S. 47 ein Silluk für Jomkippur
W\"1?K '.*! nB>np, Nr. XXII. S. 48—49, eine Selicha für denselben Tag,
beginnend mit "IHK nWDJS KHK, ferner in Nr. XXIII, S. 52—53 ein
in längere alphabetische Stücke zerfallender Pijjut, der den Titel führt:
KlpD^K SJKinx "WiJHt, d. h. Aufzählung der Buchstaben, beginnend mit
den Worten: TOS p3D tat.
3) Saadyana Nr. XXV, S. 52.
*) Nr. XVIII, S. 46.
6) A. a. O. Nr. XLIII, S. 49—50, beginnend mit: wsb *xuhfi
fhH VifpTk ">V2. Schechter hält es für eine Liturgie zu Purim, wäh-
rend der Inhalt und Über- wie Nachschrift "j^D bx es als Selicha für
den Esther-Fasttag erscheinen lassen.
«) Vgl. auch Müller, Oeuvres IX, S. X. Indessen ist dessen Be-
hauptung, daß Saadja, gleich Maimonides, weder Autoren noch Talmud-
aussprüche anführe, zu allgemein gehaltet], da z. B. im Fragment des
JMlBJPn 'C sich viele Zitate finden.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 71
gebildete Systematiker, der, zugleich mit dem ihn erleuch-
tenden philosophischen Sinn, auch die Halacha als Gegen-
stand des Denkens hinstellt und auch dadurch die Tradition
hoch über die teils willkürlich schaltende, teils durch sklavisch
treue Auffassung des Bibelwortes eingeengte Gesetzes-
Auslegungder Karäer hinaushebt. So läßt er der Abhandlung
über Zeugenschaft und Dokumente eine philosophische
Betrachtung über das Recht vorangehen, welches das
höchste der durch Erkennen anzueignenden Dinge sei; dieses
Rechtsgefühl besitze besonders derjenige, der mit einem
von allen Anfechtungen unbeirrten Verstand begabt sei,
und es sei ausgeprägt bei denen, deren Seele sich davon
leiten lasse. Diese Bestimmung des Rechtes, die bei allen
Gelehrten verbreitet ist, bestätige auch das Wort der Schrift
in Prov. 8, 9. — Bezeichnend für die klare Rechtsauffassung
Saadja's, die auch durch keine dogmatische Erwägung be-
einflußt ist, ist eine Äußerung in der Schrift über Pfänder.
Dort sagt er1), in Ausdeutung der Bestimmung, daß bei
einem Verlust durch Angriff von einem reißenden Tiere der
Aufbewahrende nicht haftbar ist, folgendes: Der Eigentümer
kann nicht sagen: wenn du selbst herbeigeeilt wärest, würde
Gott dir Gelegenheit zur Rettung gegeben haben, wie David
von sich rühmt (I Sam. 17, 36), daß er dem Löwen und
Bären die Beute entrissen habe, denn das seien außerge-
wöhnliche Wunder. — Im Talmud, Baba mezia 83a, wird
von Rab erzählt, daß, als Rabba bar bar Chana an den
von ihm gemieteten Trägern, die ihm ein Faß zerbrochen
hatten, sich schadlos halten wollte, er diesen nicht nur zur
Zurückgabe des ihnen genommenen Gewandes anhielt,sondern
auch zur Auszahlung des bedungenen Lohnes, mit Hinweis
auf Spr. 2, 20. Hierzu bemerkt Saadja in derselben Schrift"),
») Vgl. das Fragment in JQR XVI, S. 299 die Stelle beginnend
mit hkb^jfio^K vpvx pnhx SyxJ u. s. w.
s) Vgl. Saadyana Nr. XI, S. 37, Z. 16-38, Z. 20 oben.
72 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
daß man wohl dieses, was unsere Weisen cuiö "pi und
ü'pnit mm« nennen, befolgen sollte; jedoch habe eine solche
Entscheidung nicht der Richter zu treffen, sondern sie stehe
allein dem Eigentümer zu. Der Richter müsse, wie es in
Lev. 20, 15 ausgesprochen ist, in seinem Urteil sich vor
jedem Übermaß zurückhalten, er dürfe weder Unrecht tun
noch falsches Mitleid haben1).
Es ist nun nicht zu verwundern, daß ein in jeder Be-
ziehung geistig so hochstehender und von einem tiefinner-
lichen Rechtsgefühl erfüllter Mann in der Umgebung vielfach
die Rücksicht gegen andere außer Acht lassender und
kleinlich denkender Menschen alsbald Anstoß erregen mußte.
Zwei Jahre nur bestand ein leidliches Verhältnis zwischen
dem Gaon und dem Exilarchen, bis eine Rechtsverletzung
des letzteren, wobei auch sein eigenes Interesse in Betracht
kam, und die Saadja nicht gutheißen mochte, den von diesem
auch jetzt noch vermiedenen Konflikt herbeiführte2). Der
Gaon hatte8) wiederholt eine Erklärung seiner Weigerung
zu umgehen sich bemüht, jedoch infolge der Beschwörung
der Abgesandten des Exilarchen seine Bedenken geäußert.
Auch den zuerst von Juda, dem Sohne David's, in Ehr-
erbietung4) gemachten Versuchen, ihn umzustimmen, wider-
setzte sich Saadja, bis jener sich zu Drohungen hinreißen
ließ, die Saadja's Umgebung auch zu Tätlichkeiten gegen
') A. a. O. S. 39 (Bl. 2 v.) Z. 9 fgg.: ty ftÄnDtot mi |K X1?«
*)w *bi "•/n" xb) f*pj-> xSi TV ab cski-iSk \xsfo nsxnbs ty ab -[btttäx
bi -ob xtrn *b tiBtPön Siy wyn xb nbtpb.
*) Bekanntlich mußten die Geonim die gerichtlichen Entschei-
dungen der Exilarchen bestätigen; vgl. Monatsschr. 1908 S. 336, An-
merkung 2.
8) Die Darstellung nach Nathan Babli bei Neubauer a. a O. II,
S. 80—81.
*) Vgl. a. a. O. S. 81, wo es heißt, daß Juda dem Saadja nicht
die Worte seines Vaters: 7VDW Wl b*l Difin übermittelte, vielmehr:
pm wa nptfffiB xnr kVb» na rmispn nx cinrrp povßi rwpn ib iok
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 73
Juda reizten. Nun entsetzte der Exilarch den Gaon seines
Amtes, indem er ihn zugleich in den Bann tat, und den
aus einer alten Geonimfamilie stammenden1), jedoch sehr
jungen und unreifen Josef ben Jacob, mit dem Beinamen
Bar Satia2), zum Leiter der Hochschule ernannte, während
wiederum Saadja den Josia, genannt Hassan, einen Ver-
wandten des David3), zum Exilarchen erwählte. Obwohl der
Gaon die reichsten Männer Bagdad's, darunter auch Isaak
und Sahl, die Söhne des Netira, zu seinen Anhängern
zählen konnte, gelang es dennoch seinen Gegnern, denen
sich auch der auf ihn eifersüchtige Aaron Ibn Sargädo und
Konen Zedek von Pumbadita zugesellten, mit Hilfe der
Regierung Saadja endgiltig des Gaonats zu entsetzen. Der
Kampf, den diese Reibungen hervorriefen, hat leider viel
Häßliches gezeitigt. Nur weniges ist uns von den diesen
Streit betreffenden Schriften erhalten, aber auch dies genügt
uns, einen Blick zu tun in die auf beiden Seiten herrschende
Feindschaft, wobei aber, — der Wahrheit die Ehre, — anerkannt
werden muß, daß das größere Maß von Gehässigkeit auf
der Seite von Saadja's Gegnern zu suchen ist. Wie wir aus
einem durch einen Karäer uns erhaltenen Fragment einer
Schrift Aaron Ibn Sargädo's4) nun wissen, wurde von David's
Anhängern, oder von diesem selbst, es so dargestellt, als ob^
») So wird Josef in einem Pamphlet gegen Saadja — siehe
weiter unten — bei Harkavy, Studien Th. V, S. 228 Anm. 9 genannt,
da er von Natronai ben Hilai abstammt.
s) Diese Bezichnung ist sicher nur ein Beiname, wie aus
Scherira bei Neubauer a. a. O. I, S. 40 Z. 5: tOBD "D3 ynn, ent-
sprechend der Wendung ebendort Z. 1 betreff Saadja ^vds J^Ti
hervorgeht.
3) Während die anderen Quellen diesen als Bruder des David
nennen, — so auch bei Harkavy, a. a. O. S. 227, Z. 2 v. oben — be-
zeichnet ihn Scherira a. a. O. als \Tinx fnn, also als Schwiegersohn
«eines Biuders.
*) Es ist das zuletzt von Harkavy in Studien V, S. 225—235
veröffentlichte Fragment, das er dem Sahl ben Mazliah zuschreibt,
Vermutung, die umso eher an Wahrscheinlichkeit gewinnt, als
74 Beiträge zur Oeschichte und Literatur im gaonäischen Zeitaltei.
Saadja, entgegen den eidlichen Versicherungen, die er dem
Exilarchen gegeben, keine gemeinsame Sache mit dessen
Gegnern zu machen, dennoch gegen diesen Zettelungen
angestiftet und sich mit seinen Feinden verbündet habe1).
Ferner habe er, sich in seiner Eigenschaft als Hochschul-
präsident überhebend, vielfache Erpressungen und Unge-
rechtigkeiten zu schulden kommen lassen*), so daß
der Exilarch oft um Hilfe angerufen wurde8). Es wurde
ferner gegen Saadja der Vorwurf einer öffentlichen Ent-
weihung des, Sabbat durch Tragen und dergleichen4), eines
unsittlichen Lebenswandels in Verbindung mit mehreren
Genossen6), einer ketzerischen Denkart und Verächtlich-
dieser Karäer auch Mitteilungen über den Streit mit Ben Meir ge-
macht hat, in denen ein schadenfroher Ton nicht zu verkennen ist.
Vgl. auch den Nachweis von Harkavy a. a. O. S. 223, daß darin die
Streitschrift Aaron ibn Sargädo's benutzt ist, indem dessen eigene
Worte hebräisch wiedergegeben werden, während der Karäer seine
fortschreitende Beschreibung des Inhalts in arab. Sprache gibt.
l) Vgl. a. a. O., S. 225-227 u. besonders S. 232, Z. 5 v. u.
i) Vgl. a. a. o , S. 226 z. 7 fgg.': *$p pw nw> B>xi ctro mono
THffi in&' Sap wna npava in» blipd viitvb am . . . jidd pajw . . .
DBDJJ'D U. S. W.
3) So allein ist der Sinn der arab. Worte a. a. O , Z. 13—14;
rJfiMJlDK1?» 'to mxy Otubx "fX, so daß mir die dort von Harkavy, Anm.
14 gegebene Übersetzung: ,loj> lisrmil nyttlD.l 03110 12C ganz un-
klärlich erscheint, zumal sie dem Zusammenhang gar nicht ent-
spricht.
*) Vgl. Harkavy a. a. O-f S. 227, Z. 4—8; vgl. auch ebendort,
S. 225.
s) Vgl. a. a. O., S. 227—28. Unter den dort genannten Genossen
Saadja's werden auch die TJ?3 '33 erwähnt. Es ist nun merkwürdig,
daß in dem von mir in Monatsschrift 1908, S. 332—333 skizzierten
Pamphlet gegen Bostanai, — vgl. jetzt auch Worman im JQR. XX S.,
214, — in Verbindung mit den Nachkommen David ben Sakkai's behufs
Diskreditierung der Exilarchen die tJJS tkd, die Nachkommen des Boas,
genannt werden. Sollen es etwa dieselben sein, wie die in dieser,
doch jedenfalls vom Exilarchen inspirierten Schrift? Hier heißt es
übrigens: fMJnVB TJJ3 ya 0,1 pm v&*l. Soll durch deren Einge-
ständnis ihre Schuld gemildert erscheinen?
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 75
machung der Thora und ihrer Gebote erhoben1). Auch wird
er deswegen angegriffen, weil er eigenmächtig, aus Anlaß
einer Seuche, einen Fasttag angeordnet habe, was sich jedoch
als wirkungslos erwiesen habe2). Schließlich verunglimpften
sie auch seine Abkunft, indem sie auf, Grund der Berichte
angeblich glaubwürdiger Zeugen aus Palästina und schrift-
licher Mitteilungen von dort, ihn als von Proselyten aus
Dilaz in der Provinz Fayüm stammend bezeichneten8).
Wir ersehen schon hieraus, mit welchen verläumderi-
schen Mitteingegen Saadja gekämpft wurde, indem man sich
sogar nicht scheute, sich der ehemaligen Gegner in Palästina,
deren Bezwingung man doch hauptsächlich nur jenem ver-
dankte, als Helfershelfer zu bedienen. Diesem großen Maß
von Gehässigkeit entspricht auch der uns noch erhaltene
Bann, der die volle Schärfe der den Gelehrten und dem
Exilarchen zu Gebote stehenden Mittel anwendet, zugleich
jedoch die großen Verdienste des Gegengaon hervorhebt4),
und als map ana überall verkündet werden sollte5). Beson-
ders aber muß das von Aaron Ibn Sargädo verfaßte Pamphlet
den höchsten Ton der Feindseligkeit und Verläumdung
angeschlagen Inben, wie die Anfangsworte: cnan jö Dmp'BR
®&xb n« it i»a D"j£nn beweisen6), so daß selbst der
karäische Compitator sie als belanglos oder vielmehr als zu
gehässig bezeichnet7).
i) Vgl. a. n. O-, S. 228, Z. 6—7: c«ro «n mirpca rtr1 b* "pvc
*) Vgl. ebendort S. 229 Z. 5 fgg.; vgl. auch S. 224 oben.
3) Vgl. a. a. O., S. 229, Z. 1 —7 oben, u. betretis Dilaz S. 234, Antn. 9.
J Vgl. a. a. O., S. 233-234.
*) Vgl. a. a. O., S. 234, Z. 12 u. Anm. 7.
«) Vgl. a. a. O., Z. 15-16.
i) Ich würde anstatt Kirnst vorschlagen die Lesung X","n5?;
denn als belanglos wird derKaräer sie nicht angesehen haben, da er,
wie aus Harkavy's Mitteilung, S. 224, hervorgeht, einige der Anklage-
punkte gleichfalls Saadja vorhält. Auch die Wendung: StMÄSÄ» DTD »ich
habe sie selbst schriftlich nicht weiter festgelegt«, weist eher auf KnhW
hin: »wegen ihrer Abstoßenheit*.
(Fortsetzung folgt).
Fragmente von Gabirols Diwan.
Von H. Brody.
In einer Anzahl von losen Blättern und Blattfragmenten,
die ich zu untersuchen Gelegenheit hatte1), erkannte ich
die Reste eines Diwans von Salomo lbn Gabirol, und ich
halte den Fund für so wichtig, daß ich von ihm weiteren
Kreisen Mitteilung machen will. Abgesehen davon, daß wir
hier zum ersten Male ein umfangreicheres Bruchstück der
Gedichtsammlung eines der hervorragendsten Dichter der
klassischen Periode kennen lernen, bieten die vergilbten
Blätter, trotz des außerordentlich schlechten Zustandes, in
dem sie sich befinden, des Interessanten genug. Wir finden
hier die Quellen wieder, aus denen Moses lbn Esra eine
Anzahl seiner Gabirol-Zitate geschöpft hat, und lernen diese
Zitate, deren Sinn verkannt wurde, recht verstehen; der
Geist des großen Dichters spricht zu uns auch aus den
Trümmern seines Werkes; wir haben ein neues Mittel, um
einige der bereits bekannten, aber nicht ganz korrekt über-
lieferten Gedichte des Sängers aus Malaga wieder herzu-
stellen; wir gewinnen die Möglichkeit, Gabirol'sche Gedichte,
die sicher sehr bald aus dem Dunkel der Genisa ans Tages-
licht werden gefördert werden, als solche zu erkennen.
Das letzte Moment halte ich für eines der wichtigsten. Die
Gelehrten, denen die Schätze der Genisa zugänglich sind,
haben bisher außer dem Ben-Sira hauptsächlich den Re-
sponsen der Geonim ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Nur
die Gebetstücke und Aboda-Fragmente haben noch in El-
bogen einen warmen Freund gefunden. Die zahllosen poe-
tischen Stücke blieben vernachlässigt, trotzdem auch auf
diesem Gebiete alle Forschung ab ovo beginnen muß,
Fragmente von Qabirols Diwan. 77
wozu eine nähere Kenntnis des neuen, in Fülle vorhan-
denen Materials nötig ist. In der letzten Zeit scheint man
sich endlich den poetischen Fragmenten zuwenden zu
wollen. Speziell von J. Davidson in New-York darf man wert-
volle Leistungen auf diesem Gebiete erwarten. Da ist es
denn von Wert, wenn durch die Voröffentlichung von
Fragmenten, deren Autor bekannt ist, die Identifikation
neuer Funde ermöglicht wird. Es wird hoffentlich nicht lange
dauern, und wir werden in der Lage sein, die Lücken, die
unser Ms. aufweist, nach andern Handschriften auszufüllen.
Im Folgenden werde ich die einzelnen Blätter der
Reihe nach, wie ich sie geordnet und paginiert habe, be-
sprechen. Soweit es sich um bereits gedruckte Stücke
handelt, werde ich nur auf die wichtigsten Varianten auf-
merksam machen. Stücke, die ich nicht an der Hand an-
derer Manuskripte komplettieren kann, gebe ich genau so
wieder, wie sie meine Vorlage bietet, ohne Vokalisation,
ohne Korrektur, ohne Kommentar. Vorschläge zur Text-
verbesserung gebe ich in den Fußnoten; mit Fragezeichen
versehe ich Worte, die ich nicht mit voller Sicherheit lesen
konnte. Eine vollständige Bearbeitung erfahren zwei Stücke
Vit\StV u. »n« TP), ferner das Fragment Bl. 4a — 5b von Vers 16
ab aus dem zur Stelle angegebenen Grunde.
Bl. la— b: Fragment von rpaiffl? &$ *WK WBJ (Dukes2)
S. 10, Nr. 7; Sachs rvnnn II, S. 1). Vers 2 hat hier nbvb
vxd für vwi n^pa bezw. g>K bx n&VT, Vers 5: -pa^ mpn
(das Wort mpn fehlt in den Ausgaben); zwischen Vers 7 — 8
hier noch:
ronrm noi« *»*n nx"\r\ xbr\ nra [rvap in«].
Vers 9: »e6k3 für 'tt>j«a3); Vers 22: »a für *d; Vers 26:
"|Ta"i fürnvai; Vers 27 fehlt, hingegen ist der in dem von
Sachs mitgeteilten Text enthaltene Vers nPW nrn aiB xb
auch hier vorhanden.
Bl. 2 a— 3a: Fragment eines Gedichtes, dessen An-
fang fehlt:
Fragmente von Gabirols Diwan.
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nMW3.n ~\vb '3 /nrya^a]
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an'i ony "joa ("töv . .
Hierauf folgt eine arabische Überschrift12) zu einem
Gedichte, das BI.' 3b — 4a seine Fortsetzung findet und dem
ein von Moses Ibn Esra zitierter Vers (7) entnommen ist.
Das Gedfcht, soweit es erhalten ist, lautet:
Dpnn T3 b>V WM 31? 'BB>33
»naM »a naMa piu« vhn
Bp3l nbD WJI' TJ? 0^33 (?) ^31 1BB>0 D^lMl L*bJ
Fragmente von Oabirols Diwan.
79
opBvn *<* »T»aq &m
Dpi? wd "ib»« dtpb ^ib^
DpIM d . . j (?) nB>» . . . »3 3Wn»l
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DpS» . . . n . ♦ 133 »JW31
Dp*öK f3 rrtha wm
opa» pn» r» n« no3'
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sps 'bm '33^ pv3n
po*»» pn»e "n^ nym
e"» D3n Vi» in ibs
^»b« 'V3 wya 1$»»3
16. . an: p vnxy nniftflh 15
d*did3 uteri' bton w%
übvy\ "3i3 i^e>3 ovm
Bl. 4b — 5b enthält ein Gedicht, das am Anfang defekt
ist (es fehlt aber kaum mehr als eine Zeile) und gleichfalls
einen von Moses Ibn Esra zitierten Vers (19) enthält, auf
den ich noch zurückkomme. Zunächst lassen wir den Text
folgen:
{an pion (17,rv n3*»i
|BD3l vmnb vd bv piira
JB'Db tt"tö ^J? D3D3
jam ^dd n:y> d» »"ip
\onb Stp-» na /wip
pina »sha^ '»dj 1133
p"T3 »an (,0rfaa »3 ny
jö'p* *i/iD3i f '» »rjft
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jaipa imxsa »j iy tkb
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(". . . «w KjjujanB 133^
(?"|a«safc (?) *»D3 niw n»S *w»
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l^rp arg h? q 1p;:
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f^ki »3" wo . . .
matr psn i«np» d ". • • *
»Wfi rm»6fl (19,n»n . .
jym^m »tt »na . .
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ffkfo D^n^S *«TD31 15 [5a]
80 Fragmente von Qabirols Diwan.
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(öni ahn n&jni (T^flPJ p¥i<T n# tfa ^na n&$"]ö3
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(''[öV^i '^ mr1?! rnatp* D7Ä1 ^ nVbs ip.T:
("pp^ij^ "ntsto rfinßpn las' DWp fr ttgßtf* oai 25
jorni iji nS n#jr7| nt#^ o^n nteb löjy' nriof
("l^^na n^. *t£ töi-n$DN /vdii 101*7 ruga» «T&n
(85(^rj^l 'ö^fli W ^1 pn^ n^b anp "TO*
(87< ♦ ♦ oi 1133 ni'iqp /von (3co^hs# [>**£ ^i:sn rnri
(59jo#33 a»*i »n; 13; to*1 (88n$3P p« 7öj£ -r^i>i 30
("PW1 JH nl»Jjp "tni n&:p vq-ip TO "id ifrj
:(42}0#K| ibl i-^pi Q'npj (*"#*3$ ntgp ^iinDtfi
Ich habe es versucht, den Text von Vers 16 ab wieder
herzustellen. Über die Einzelheiten geben die Anmerkungen
Rechenschaft. Fassen wir den Inhalt der Verse zusammen,
so ergibt sich, daß vom Weine die Rede ist, den der Freund
(oder das Schicksal?) dem Dichter reicht. Er schildert den
Becher, dann den Wein und dessen Wirkungen, diese in
sehr ausführlicher Weise. Was kann nun der von Moses
Ibn Esra zitierte Vers 19 in diesem Zusammenhange sagen?
Nichts anderes, als daß der Wein süß und herb zugleich
ist, denn es ist ein alter Wein »aus den Tagen des Omar
und Teman«. Ähnlich sagt der Dichter an einer andern
Stelle:48)
ntf*7*n tf'Ehm rü rot upr ins yfo tst» i&»
•»•vir •:*:" ) - : : I » : •: »t
Welchen Sinn hat man aber in unsern Vers hinein-
gelegt? Dukes44) führt aus einem Briefe des Amram b.
Peziza den Passus an: [1. tw] nn? bv a'tPfl b"i in« oon iWll
•b mm» nm ,"'oi ia laytai« na« mb« bwz :no ikjksw ir»f?iT
Fragmente von Qabirols Diwan. 81
mm od o*a rb twemi ,nai« ttfm ;a\n pj6k pro) panp mnv
Ina^a ma m /np'iraa »b» ir« "mram vwn mv »Cime* ^
Geiger46) bezeichnet diese Auffassung als ein Mißverständ-
nis; nach ihm will der Dichter sagen, »das Lied trage den
alten, schwerfälligen Charakter an sich.« Wir sehen heute,
daß auch diese Annahme falsch ist. Nicht den Tadel eines
schlechten Gedichtes, sondern das Lob eines guten Weines
enthält der Vers. Es ist mir nicht bekannt, in welchem
Zusammenhange Moses Ibn Esra unsern Vers anführt, sicher
ist, daß er nicht allein seinen wahren Sinn gekannt, sondern
ihn auch nachgebildet hat, wenn er singt:46)
P5vg \&p jata |V. 30 04 103 "in# nfrjj d"io
Unter der Überschrift Kr« nbl folgt (Bl. 5 b) Vers 1—11
des Jekuthiel gewidmeten Gedichtes yr\ wr 3313 (Dukes
S. 28, Nr. 16; meine Gabirol-Ausg. S. 4, Nr. 2). Vers 8 hat
das Fragment DJ? für iy, wodurch meine in den Anmer-
kungen S. 1 (vgl. S. 6) gegebene Erklärung gestützt wird.
Bl. 6a— b: Z. 51—88 des Gedichtes nasnn r^rm (Dukes
Nr. 68, S. 67 f.). Z. 56 liest unser Ms. WM für mMM, das
keinen Sinn gibt; Z. 62: o'^iy DBM für DWJJ 13»1 ; Z. 63:
nanm (so auch Ms. Oxf. 1970 und Sachs, D*wn 'V» p. 3"^»)
für nanm; Z. 75: »eu» für wk ; Z. 76: dtoki in» für mv
D'Wa; Z. 77: nein 3^ (wie Oxf. 1970) für naan &, und gast
(Oxf. 1970: «am) für «aap; Z. 82: onma irran (wie Oxf. 1970)
für oman »iran.
Bl. 7 a — b: Fragment eines sonst unbekannten Ge-
dichtes:
ami aräna ^oa aiai D'ja^B aia (?) D»aa . . • "iffx
anna nrai (4Vi ♦ . ai^i ogfan iro^ jru wk
(?) am?« ay« a'swnam pmtr» (48nnt2* »jbi» n^ao
a'vaaa a^3« v/iisyia^ jnaa» i3« t6i na i^>i
ann« am Ana* bji inwa itciv »bn 5
amipi (?) yv omni» npi (?) i/ijn^ d'dij* ibv »ai an«
arrcsan rann yni jibki mn» pi m*»a » ♦ 5» » •
Monatsschrift, 55. Jahrgang. "
82
Fragmente von Oabirols Diwan.
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(?) n^iyan nina TaR nai
[7b]
(?) ony . . D»fl . . . miöTö
annon jt6j^> totidi
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amya ^ nya arrai
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D'Tra B' , . . 1BJ . . . *ltfK
onp* a»y»n .... 33
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^ ("nro aya ibib »n«
D»irjn Sl3» Ttt itopi
n^nan (M,5tnm ama
'ja? nraft pya »aiw
Es ist aus dem Gedichte nicht mit Sicherheit zu er-
sehen, wem es gewidmet ist. Was der Dichter von dem
Gelobten sagt, würde auf Samuel ha-Nagid sehr gut passen.
Die von Dukes S. 74 sub n und n nach Moses Ibn Esra,
Josef b. Aknin und Parchon angeführten Verse Gabirols
entsprechen in Reim und Metrum unserem Gedichte.
Auf das vorhergehende Stück folgen (Bl. 7 b), nach
einer arabischen Überschrift,57) die ersten zwei Verse eines
Gedichtes:
npra Mnn nub nn^» npia pya m'v ivr* pia
np/u fiffiJI »n^ ayn iibki B*awan runp Tipci
Bl. 8a — 12b: Fragmente von dem Klageliede über den
Tod Jekutiels (meine Gabirol-Ausgabe S. 12, weitere An-
Fragmente von Gabirols Diwan. 33
gaben das. Anmerk. S. 3*3), Z. 25— Ende umfassend. Von
Varianten erwähne ich: Z. 27: opm für o»pn (richtig nach
Exod. 3, 21); Z. 75: «W» für .ttRJ'; Z. 181: rmmn für mio/in
(richtig nach Deut. 14, 1 und ö.); Z. 203: DH'om für onom
(richtig nach Ps. 12, 2).
Bl. 13a — b: Ein Liebeslied, von dem hier nur einzelne
Worte lesbar sind, das ich aber schon vor Jahren in einem
Genisa-Blatt des Herrn Israel Levi-Paris gefunden habe.
Es lautet:58)
(«tppv-o rv^ö? vn dk.1. nttjtyj ^q/?l "»BKA "N$*S
(6,D>pnb wbs :hr6 D^nai rrtoito' mim rfiyrt
I • • : t : • -: » • t ; : t » t : • n
owa n"nS:a' pnani i"iWBtej! n: nna -rata -itfj* 5
<e4ü>pn.s Enelfa nnm rm/n n^j? Nö^fl njn
wp>¥B DwrbiiS trjntfK nß|n l»mWa n¥b> dki 10
I • • : r * j r" r •: TT-: T " j t ; • ••
Bl. 13a: Ein Klagelied, das zunächst wieder dadurch
unser Interesse erregt, daß es einen von Moses lbn Esra
zitierten, von Schreiner71) mitgeteilten Vers (3) enthält. In
der Überschrift, die rfttaM rmv b"[t nbi] lautet, ist das Wort
.1K3K unsicher, ebenso das Wort »3« in Vers 9, so daß man
nicht mit Sicherheit behaupten kann, daß wir ein Klagelied
des Dichters über den Tod seines Vaters78) vor uns haben.
Das Gedicht lautet:
J.33.D (7^rftn . , nm»3 ik naan (78]tpc . . . n bv
fOKItf ATB '00 "\TV 1K om flDW t?K3 1 . . . ♦ b 1K
(76n3«*p r\wn xb aro* jr» 13 E*u* [rn]o »a antci Bp»n
6*
84
Fragmente von Oabirols Diwan.
natrriD nwa dk »a n/wm *6
naaiyo rrVu (?) »a . . ♦ tn y» '3
na'i« "i^ (?) >a« niwi «^
nat^ i*bj na (". ♦ an . •» ♦
naaca "pap hv rrmv (?) tk
na/via iwn iTOfj& fw
inn« iuw wm noan i1?
ioa «>*« n*u itw/n non
*aaa
(?) na A *aa^ p* imn ja i6
tf toa ^lon« njvn may ^B3a
nn« miaa ^an nn^tr 7«
. ♦ . "j ♦ . . v . ♦ na (?) nDKD t6 10
nViaj "j/noa vqv -itp» »^
18-ip' on »aaia D'pntfü 'a
Bl. 13 b — d: Fragment eines Gedichtes, das fch voll-
ständig in dem bereits erwähnten Ms. Levi gefunden habe78):
o vj — -
u
vmbi tü^i -ins' »3 pa£
(81Vr6Nttf >3 ^Dörntfah-^jn
.... . • t -: • *i;
v^np1? '5 Hflpj nöO« ^3«
vrqttfn d^.i pny; ?jiö3i
vmpy, üb tfbx h\n *b\
vrijpp >sk (85nl-ini> üb "litfK
m'33' *D3tf »ij»je -lorn
v/nn; ^ >3 (82?fi neos tfVj
nSyn 13 ^ ni>n (83vterj
iN"]pT3 »5ö"T3^n ,-iödi
D^Dn Vnp3 ibö *i!\*ptl
Tina ^ö' >:n >| o:sw
tj^-^ 31 p]>; nnb bin
(86vr,n^p
iwnn«-D« >s öia^ py:« üb) (87^ip| j?sty 1 ?fV3?^ njij
(»iv™ iöfc sü tp toi 131m vrapoiTaa 3/xri
twmn^ietfrn 13 tfrort vrchT 3JriDn oik dki
Bl. 13 d — 13 f: Fragmente des Gedichtes beim Abschied
von Saragossa 0«ipa inj, Dukes S. 1, Nr. 1), u. zw. Vers
1—9, 19—37, 40— Ende. Die Überschrift lautet: Ki'8 rrVi
nöDpio ja n;na {n »d. Von Varianten seien die folgenden
hervorgehoben : Vers 7 oyo 8ip*v für nxp 01p»«; Vers 31:
»3löäp py(wie in n'n) für »JlöJp oy; Vers 42: »^ i«np für i«ip;
Vers 45: »mna für *e ioa.
Fragmente von Oabirols Diwan. 85
Hierauf folgen (13 f) die unleserliche arab. Überschrift
[pijpßöte [yV2 ynv] nb) und die ersten Worte cwrm bt* töiki)
des von Harkavy in DW oj wm Nr. 4 (tPDMn Bd. VI) mit-
geteilten Klageliedes90).
Bl 16a: Fragment von -pm *3'3i (Dukes S. 38 Nr. 25)f
Vers 17—22, ohne nennenswerte Variante. Vgl. Bl. 29a — b.
Bl. 16b— 17a: Fragment von ^n »n« (Sachs, »vt>
DTWPI p. n Nr. 4), Vers 2—16 und 23 bis Ende. Vers 4 liest
unser Ms. no,tJ>«n^ für *B#nb ; Vers 9: piairö für itnrft;
Vers 14: rfflVfl^ für nen ^>K; Vers 15: ijjik für •Sin; Vers
16: neiAffl (wie Sachs' Vorlage) für ms^bm.
Auf derselben Seite (17 a) beginnt ein Fragment von
ain ö*ia ik pnan (Dukes S. 42 Nr. 30), das bis Bl. 17 c sich
erstreckt und Vers 1—8, 21, 22, 15, 16, 17, 18, 19 (in
dieser Reihenfolge!) enthält. Folgende Varianten sind be-
achtenswert: Vers 5 var für nar (vgl. oben zu Bl. 4 b— 5 b);
Vers 7: »ipe>i . . . 13 *n» *bm für *idwi"~\t ^iki (korrekt auch
in Oxf. 1970, wo kdiü für das sinnlose np»ö); Vers 8: ruam
für narflj Vers 16: tum für rum.
Bl. 17 c— d ein Gedicht, anfangend: *3$>3W naiw 'fianKi,
das hier nur fragmentarisch erhalten aber deshalb von
Wert ist, weil wir darin eine Stütze finden für die Tradi-
tion, nach welcher das Gedicht Gabirol zum Verfasser hat.
Das Gedicht selbst habe ich komplett in einem Ms. ge-
funden91), über welches ich an anderer Stelle ausführlich
berichten werde.
Bl. 17 d: Fragment eines Gedichtes, dessen Anfang
aus dem von Neubauer veröffentlichten Register Gabirol'-
scher Dichtungen92) bekannt ist. Der erhaltene Teil des
Gedichtes, . . . nbb» narn rfci überschrieben, lautet:
mir« »i»r "bv (?) *tv «» £»K3 bnz: »aw p^«i
mwp ona nb'bn ir« p^»na fewa prwm
nvKB rpflnpa n^aa (?) rw^a nnbn runni
MToa orra rtb»in wk D»»as maao r6'«a
mwäh Vy i^jnn nrüa rm»K caaiaa ruram
86 Fragmente von Oabirols Diwan.
(93/npjM D»wjn o'»» pn iawa p,c3 n^Vn rim
rmra nnp (9*o^8 . » D'ana naÄ pnr '3313 . . .
Bl. 18a— 19a: Vers 8— Ende des von Geiger nach
Ms. Carmoly (später Halberstam) veröffentlichten Gedichtes
^yoa n«. Vers 9 liest unser Ms. richtig: "j^n; Vers 10: "ii8;
Vers 11 ist das Wort vor unp (wahrscheinlich ji38) ver-
wischt; Vers 12: nw; Vers 14: mons für rata; nain(?) für
naifl; für nwi, das Geiger (jüd. Zeitschrift V, 130) in "|Bj?i
emendiert, hat unser Ms. DWi, womit man freilich nichts
anfangen kann; Vers 15: on^' für mr6; Vers 21: i«na n»
für das unverständliche waa l*i\ das Geiger zur Not nach
Ez. 27, 32 erklären will, wo aber B?,?3 steht. Vers 27 hat auch
unser Ms. r6n nw, was Geiger mit Unrecht als einen geist-
reichen Calembour bezeichnet9^); aber für i«m lesen wir
hier I8fl3. Danach will der Dichter sagen: man achte die Türe
— weil sie mit Zedern belegt ist, also ein schönes Äußere
hat (vergl. Hohel. 8, 9) — dem innern Gemache gleich,
man verkenne den Unterschied zwischen äußerem Glanz
und innerem Wert. Vers 29 läßt sich nach unserem Ms.
nicht herstellen, weil die erste Vershälfte nicht vollständig
erhalten ist. Vers 35, von welchem Geiger gesteht, daß an
ihm seine Vermutungen scheitern, soll lauten:
1833 dsk no non^oi rrrcu »a» 13^ lajimi
i«:3 (nennen) von nj3, wie 18T3 (Vers 3) von rtt3, i«"ip (Vers 5)
von riip u. dgl., wofür ja auch die Bibel Beispiele liefert.
Auf Vers 36 folgt ein Vers, der bei Geiger fehlt:
;8^3 . . . ^i8B> JB3 "jim 3P r\)byb mya ponm
Vers 37 ist zu lesen: ^id' ybü 'jma ^3 t»i, wodurch alle
Schwierigkeiten beseitigt sind.
Bl. 19a— 20b: Überschrift: 8i'8 nb\ hierauf:
wr a-ir S«1? .... b»i ^tya row itojm B^BX
(T)->nDDnD(?;DiiKi . . . ojmi imin nic^Ki bhw jnw
[Wbl
wa |»:di cnie •*&* aru
tpb ^m nyanB wjm njna nona njnri .... 5
Fragmente von Gabirols Diwan.
87
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25
niM [3 (?) ">R3B>1
BI. 21 a— b enthält ein größeres Fragment (Vers 16—51)
des von mir in dieser Zeitschrift (Bd. 54, 1910, S. 325 ff.)
veröffentlichten Entschuldigungsgedichtes an Samuel ha-
Nagid.100) Obwohl sehr lückenhaft, trägt das Bruchstück
doch sehr viel zur Diorthose des Textes bei. Ich lasse hier
die Varianten folgen:
Vers 16: ymv 02 (1 Kon. 19, 28; Jes. 37, 29) für
•pitw ona.
Vers 17: *a»ö für b»ö.
Vers 18: pm für pi, gegen das Metrum, wie Ms. Oxf.
Vers 19: p-?at für pnsr; die zweite Vershälfte lautet:
•pitt^p !a -pan »a.
Vers 20: ny für jiy, wie Ms. Oxf.
Vers 23: non »gi yi?K, wodurch die Lücke ausge-
füllt ist.101)
88 Fragmente von Oabirols Diwan.
Vers 28: es i« für dki, vielleicht Emendation, um das
Versmaß herzustellen.
Vers 29: -prai für ^i»A
Vers 32 stimmt mit meinen Korrekturen überein.
Zwischen Vers 34 und 35 ist Vers 40 eingeschoben.
Vers 35 stimmt mit meinen Korrekturen überein.
Vers 36: bw für h\2SP; 3HMT für irm (so deutlich in
Ms. Oxf.); ysi» für Trat
Vers 37: iain p *)£»« (etwa »3Trl und "|*> — für dich?);
"ttttw, wie ich korrigiert habe, und T für nx, wie Ms. Oxf.
Vers 38: pnr/i für jnrn.
Vers 40, der sich, wie bemerkt, zwischen Vers 34— 35
befindet, hat yvsa für ytüü.
Vers 44 ist unleserlich, weshalb ich wpa nicht kon-
trollieren kann.
Vers 45: nojn für myi; die zweite Vershälfte lautet:
T:?K3 nn "jap »o, was auch unverständlich ist.
Vers 46 fehlt.
Vers 48b lautet: TJip? iy "]r\vr\ ovo.
Vers 49 b lautet: yy\va »njJB2, ein Wort fehlt also,
ebenso 50a. Ich vermute übrigens, daß der Schreiber 49b
und 50a irrtümlicher Weise weggelassen hat, und *njJö2
TJMU 50 b bildet, woran sich 51 gut anschließt.
Vers 51b lautet: -pari» mW3 ntwttt «b.
Bl. 22a— 23b: Fragment eines Gedichtes, in welchem
wir einen von Moses Ibn Esra zitierten Vers (22) finden,
von dem Dukes102) sagt, er bilde »einen interessanten
Beitrag zur Geschichte der menschlichen Täuschungen.«
Ich lasse den Text folgen:
»fllpfl .... ♦ ♦
'iisa n^n: »3 rform *6 -njn wa man »bpwi ^m«
tiiwb nte« warne ^y dji isanb 'ajnaa nw«
'mi£D na» »b nawn tbtp a»anp ^y ms« o .
^nyoi np*n naan ,l?i« Dana .....
»juhk jina www ... p
5
Fragmeitte von Qabirols Diwan.
89
[22b]
'/£fitt> njnja rtu6n mvo i«r: /iupd« (108flib«o»n fc
»Äa»» mno n»i*i» pai lan» »ai«»3 »/»ww tsyaa
'rupf »in« mpa awnR »ni» »tpd: »in« »33^> roa*
»ros oji »möi »atn jirrfc wrn*» '3 (?) b nwvb no 10
»jniam »x?2£D «im »ppd «im »nm , , , »hwp mai« d«
»/wen Tajj» »:a? ja» »ei »/uian »n«Bm 'Ppd
»jr»n »ina wm »8»d: (104»arn syiTi» dji cpTt*
[23a]
»jipaa ntwj i*"l*a" fcaa »nj» »ca i«a (106,n . . . '3 n 15
»flp^n i^ jn« rwj* ^atpn a«i b»a»"i ins» »^ ts^an o«n
Tiasn mn/i nobe» naan 1^1 imnb »v ^«f? ;»« d«
tto ^we» na ibd« A nbs* ay *naa ^y 'j« d^i«
»jnmp «i^a p« n^a« u*
»Apn« nroj» la »m p-rs
»fl«a n:nn«a ^a« nai»
airy« . ., . b n ♦ • . a
♦ime» pisa p« noD» £ 20
n/wi bani »n»tt» 71«« na
[23b]
■mapa »^ na^> »a D'3*i«a»
»:«i oa 1W1* m»ns a»rnn
n^DJ oa D'iJi«na tr«a r« 1^ 25
■naya D3»ö» **j* mna nnan
n^p »ya^» »:ia»in «: ^«
eine arabische Überschrift107)
»■neu , . «n o»jni» naan
'nmp n«T^> it5»a laa a»m«
»JlMp 1^3« iv ^a« «^
»/ms na^ 'Ja rm*H «^
: (106'flEtr« -jya naan nb«
Hierauf folgt (Bl. 23 b)
und der erste Vers eines Gedichtes :
.D»»»^t* nw -a nyn naan^> nan . aio »tt
Fragmente dieses Gedichtes enthält Bl. 27 und 28 a.
Ich lasse hier als Spezimen noch drei Verse folgen :
d»b»b*db oe*»a^ imn mpi rnpn maiai
d'bj3« »nun amjna £«3 on'3* »*wp
d»oi^ rniD3 tt>«i a»at*>33 rra (l08t*»n«« D3 Tat?
Bl. 24 a— 24 b : Fragment von tt»« p3»*in (Dukes, S. 41,
Nr. 29), und zwar Vers 9, 5-7, 10, 8, 12, 17 (in dieser
Reihenfolge; zwischen 12 u. 17 eine Lücke). Keine nen-
nenswerte Variante. Hierauf die Überschrift «r« rfri und :
»ann d» rbwb ia«n bm *a«a "|mna . . ♦ .
90 Fragmente von Gabirols Diwan.
»am »j»f -py »3 bid» mann nai -j^i . . .
♦sru t bv "|T mim (?) n^rn */njr . . dx . .
*3pV (lMT:P 3^>3 1« D'JOD dViJ& . . . V • • •
»2 ♦ . . mo j ♦ • "j^ »3 m«ap n^a
Bl. 25 a : Fragment von rWfl £ (Dukes, S. 37, Nr. 24),
Vers 10—16. Vers 11 hat hier, wie Oxf. 1970, »rTOtA für
vwmb, 131 für nai. In Übereinstimmung mit Ms. Oxf. lautet
auch hier Vers 12: v»rb w*wn *6 non«n dx und nani« für »anitt
Bl. 25 b: Vers 88—47 von snn nap (Dukes, S. 13, Nr.
9; Sachs, .m/in I, S. 47; Luzzatto, nnj« S. 1044). Vers 41b
lautet hier: d*jd$>b »fc innw an *i»k»
Bl. 26 a, einer anderen Handschrift zugehörig, enthält
Vers 5 u. 9 von nwr\ )b (vgl. zu Bl. 25 a) und auf der
Rückseite drei Verse eines Gedichtes mit dem Reime yr :
yxb hbp m*a »mibk ma . . .
■paa 'nnasti *anyc2a nn« K^n
Bl. 27 a— 38 a, vgl. zu Bl. 23 b. Die Rückseite bietet
einen kleinen Rest von mJ viDri übw> (Dukes, S. 7 Nr. 5).
Mit Ms. Carmoly bei Geiger S. 128 übereinstimmend liest
unser Ms. in Vers 4 tan für 13*11 und Vers 5 oiX3tt> '«n für
ö»pw 'an.
Bl. 29 a -b, ein unbedeutendes Fragment von b WIM
(Dukes, S. 62 Nr. 62), dann von "pfln *3»31 (Vers 1—16;
vgl. zu Bl. 16 a), ohne Variante von Bedeutung.
Bl. 30a— b: Fragment eines religiösen Gedichtes mit
dem Refrain -|ae> TTK na ir:n« '% das ich noch nicht iden-
tifizieren konnte. Wenn die Reihenfolge der Strophen hier
richtig gegeben ist, dann kann nicht Gabirol der Verfasser
sein und das Blatt nicht als unserer Sammlung zugehörig be-
trachtet werden. Auf eine nur sehr fragmentarisch erhaltene
Strophe folgen zwei verhältnißmäßig gut leserliche Strophen,
deren erste im Akrostichon die Buchstaben nenp enthalten
Fragmente von Qabirols Diwan. 19
zu haben scheint, während die zweite [n]"ii,T zeichnet. Diese
Strophen lauten:
»ys onb r»yo n* ai
m»' -pns min vi . ♦ .
mwa . . . D^iy jv*^n
rnona ?öa Dfl^aoi
Tay ^npoa "\bbr\b Yiap nrra tw 'ta bz >a
t'd "jar tik no irjrm n
ip'ya »an*? >aa^ at>'
ipm van a^at^an
iptf nnia »iKia trn law
ipnai p« lf a ^un
ipip' »jna .... [30 b]
"[öl? D"n Tipa '3 ip' na "phv
'31 na ir:HK 'n
Hierauf folgt eine schlecht erhaltene Strophe und end-
lich, gleichfalls in argem Zustande, eine Strophe mit dem
Akrostichon [n]ab#.
Bl. 31b — 32 b: Fragmente von Gabirols Asharoth, die
n#yn »b rosa von o*yvb rwjnaw bis mm "in, dann von >ta
]pin bis [mr] rtVSP atra umfassend. Ohne wesentliche Va-
riante.
Bl. 33a: Fragment eines Gedichtes, anderes Papier
und andere Schrift. Ob unserer Sammlung angehörig und
von Gabirol? Hier der Text:
nL,,t,3 ("012>n ,t,y ncm inD n)ül n8-,D1 D'3313 . . •
n,l?it>3 naarn naua mn tu naaa tfftn mwna jnn
r?V»aw ntn« *6i *pm n*i -aa aom nv»3 . . .
. . b « • b . . ta pn« *rya papa . . . n nm rmo nyja . . .
.tV^i ^an nr lman »n . . la imb ab* *«» "paVa kjk
rr^ejn . # Aa ... 3 n»'i vom pon mir uran a*n^«n bk
Dfe Liste der Gabirol'schen Gedichte wird demnach
durch folgende Stücke bereichert:
92 Fragmente von Oabirols Diwan.
»bjW ObD« 1
iry itt>« jna 2
nö«a piit« *6n 3
nan 'nan«i 4
mm ao »tt 5
1DD -jb m» TT* 6
n/Am onxp 7
(111"I«»c[a o»pn»Ji ^y 8
Hierzu kommen die Stücke, deren Anfänge in unseren
Fragmenten fehlen, und das Gedicht ^»naj »an ybm, dessen
Anfang aus dem von Neubauer veröffentlichten Register
bekannt war. Vier von den Gabirol-Zitaten bei Moses ibn
Esra werden durch die oben gemachten Mitteilungen zum
erstenmale nachgewiesen, darunter eines, dessen Sinn bis
heute völlig verkannt wurde und erst jetzt richtig ver-
standen werden kann.
Anmerkungen:
') Die Blätter befinden sich im Besitze des gelehrten Sammlers,
Herrn Elkan N. Adler in London, und sind mir durch die gütige Ver-
mittlung des Herrn J. Last in Ramsgate zugegangen. Beiden Herren
sei mein Dank ausgesprochen.
*) Hier und im folgenden = L. Dukes, nühw »W, Hannover 1858.
3) Die verzeichneten Varianten finden sich auch in Ms. Berlin 4°
N. 576 Bl. 152, wo unser Gedicht bis Vers 18 enthalten ist. Danach habe
ich den Vers mjp in« ergänzt; für rwa hat Ms. Berl. niiiar, gegen
das Versmaß.
*) Nach Vers 4 wäre hier 'D^S zu lesen.
B) Wohl tj>\
«) I. TW?
') Zu ergänzen: DlDtPa DpJ.
8) Etwa n»J>ö DBJJD1?
») So!
w) Das Metrum spricht dafür, daß na^VWJ zu streichen ist.
11) ■VQtfVi,
»*) »iny rpfyu wsn nepin [ö "nnr rrb* pyipxb* fps 'b* ansi
Fragmente vor Gabirols Diwan. 93
is) Ich ergänze den Vers nach dem von Geiger, Salomo Gabi-
rol S. 128 mitgeteilten Zitate bei Moses ibn Esra, wo aber bii für
hib steht.
") Die Sache und das Metrum fordern "pOTW |3 (Exod. 35, 34 f).
") So; beide Vershälften contra metr.
'•) bwro.
») l. am
") Wohl mp\
*•) Vnm oder "tfitfl*
»•) 1. nb*ti, Jes. 59, 3 ; Klagel. 4, 14.
»») Wohl vrjD.
") |BBW, Jes. 6, 10.
M) So; für fiitb ist viell. nxb, für [on^ — jom zu lesen.
M) = ps^n p\ nach Ez. 27, 18; so auch in dem Gedichte
p-Q 1K p*on (Dukes, S. 42 Nr. 30 Vers 4) : enr pnm 1B>K psSn |«%
Ms. hat 3*?n.
26) Vgl. Jes. 10, 16. Der Becher ist dünn (fein) und blaß (weiß)
als hätte ihH eine Krankheit befallen. Ms. hat nSiri33 psil für np3"P
13 n^riö; meine Korrektur will nur der Sache gerecht werden; vgl.
Jeh. ha-Lewi, Diwan I S. 21, Nr. 16 Z. 1: fiHB ^38 njffi T&i', das.
II, S. 224, Nr. 12 Z. 37: fWjrp «S BJ>B31 nSn; weitere Belege an
anderer Stelle.
s«) Scheint aber der Becher an sich blaß (vgl. Lev. 13, 3 u. ö.),
so ändert sich das, sobald er mit dem roten Weine gefüllt wird. Dies
scheint der Sinn des Verses zu sein, vorausgesetzt, daß er korrekt
überliefert ist. Vgl. Jakob b. Elasar bei ßrody-Albrecht, TOfl IJNP,
S. 163 Nr. 142 Vers 1—2.
*7) Ms. Jöfflj. falsch geschrieben und durch die Vokalisation
korrigiert.
*•) Das Manna selbst hatte ja die Farbe des Bedolach (vgl.
Num. 11, 7).
*•) Ms. mtes.
3°) Ms. fuvib i3 ifntfivn «jp1 n,^,B, pjrm oip^ njn. — \&nb ist
poetische Lizenz für \sünb, II. Sam. 14, 19.
81) Bp ist mir hier nicht klar. Von ntpin ist im Ms. nur das
n zu sehen.
,f) IpT, Pi'el im Sinne des Hif'il. 33*7 HH in Deleth und Soger
ist verdächtig.
") Hos. 10, 14, nach Gabirol wohl = "titMBSP, König von
Assyrien.
«) d. h. seine Ratgeber (Est. 1, 10); }Bi,"iB ist als der erste und
wegen des Reimes genannt.
94 Fragmente von Oabirols Diwan.
»») Num. 13, 22 u. ö.
3ti) Ein in diesem Zusammenhange oft gebrauchtes Bild; vgl.
z. B. Moses ibn Esra in seinem Gedichte viik imp VX cvm "IJNP
S. 63, Nr. 56, Vers 7): man k^i -uy 7m nV1 | ">ma DWVl b.t't'BJ iVb:;
ders. WWW S. 36: B1W nS» |ma 3^ | 1133 p*) 13 "DIP tt^n.
*7) Ich finde kein Reimwort, das hierher passen würde.
") Er bringt die Mühsal der Erde in Vergessenheit; vgl.
Qen. 41, 51.
8») Der von Sorgen Qeplagte wird wie einer, dem das Leben
angenehm ist. Hier und in den folgenden Versen werden biblische
Eigennamen appellativisch gebraucht. — TCl, Ms. "i . . . si.
40) Anch der Wein selbst wurde schließlich im Rausche ver-
gessen; er hat sich eben als untreuer Freund gezeigt. Vgl. Cbarisi,
Tachkemoni Pf. 50 (ed. Amsterd. p. 70b; ed. Kaminka S. 401):
wwi wn: las w*)W Kim ^ jbk: vrcrn piw |3i
wty\ tb »aa^i rm twb^ rwa "»a "wai vmarra
^emiS idw um nty Kim -o-ips mar nwi itibp »au
41) »Vater des Geschenks«, der Gastgeber, dessen Haus die
Zecher nicht verlassen konnten, bevor sie ihren Rausch ausgeschlafen
haben.
**) Jes. 59, 10.
*») Dukes, S. 42, Nr. 30, Vers 5. Ich lese T3P (für H3»1 bei
Dukes) nach unserem Ms., vgl. zu Bl. 17a.
*4) Ltbl. d. Orient 1851 col. 375. Aehnlich übrigens auch bei
Gabischon in nnSBTi iaj> p. TjJdf.
«) Salomo Gabirol S. 128.
*•) WW\n S. 41. Bei Moses Ibn Esra finden wir auch das Wort
1B in dem Sinne angewendet, wie im Verse Gabirols; vergl. WWW
S. 31 : 1BJND cjiSD pna1 f3K | "lö J^a B13H "6 |n, ferner ("i>Pri -ijw S. 64,
Nr. 56 Vers 10) : ünb 31J?1 B"Pb: na ^31 18%
<7) Wohl mtoj^i.
*8) So für ipIKtf, nach I. Chron. 12, 39, wegen des Metr.
49 j Viel!, np-iün (neyas od.) nas.
80) Wahrsch. amscn Plana
") anxp.
*) anuan.
M) Wegen des Metr. ist, trotz Hiob 31, 18, ^bli zu vokalisieren.
•*) = on.BK (I. Kön. 20, 38; 41).
M) 11J13 KD ?
66) So, nicht istnm.
67) |>K,"it7K ^y inA* tonn na» 'b nSi.
Fragmente von Qabirols Diwan. 95
'«) Die Ueberschrift lautet ^'» kspk bxp), in Ms. Levi (wo das
Stück als Nr. m bezeichnet ist): "OJNj^k ^?3K1 "Slp IKttX [Ol.
M) Nur als Bild der weiten Entfernung aufzufassen.
*°) In unserem Ms. flWDJM für fliaafjfl u. . . . lnD .TJ1BV un-
leserlich; in Ms. Levi W« unleserlich und lan für loxn, oxi gibt
keinen befriedigenden Sinn und ist viell. falsch.
e>) Gemeint sind die Blicke. ,T$3 wie ^pbs, Gen. 27, 3. Nach
unserem Texte (nach Ms. Levi) fehlt das Subjekt. In Ms. Adler
fehlen Vers 3—4.
«2) Vgl. Ps. 32, 8 ; 42, 2 (wonach D\7»DK b$ zu lesen wäre ;
Jiy mit bx Joel 1, 20).
*5) Die Augenbrauen. Vgl. meine Bemerkung zu P'l ""TIP ^3
TAI S. 37. Anm. 17—18.
c*) Küsse.
") Meiner Tränen sind so viele, wie meiner Bedrängnisse (Leiden).
D'piüö, Plur. zu plitö, Deut. 28, 53 u. ö. Der Uebergang zur Klage
über die Trennung der Freunde ist unermittelt, aber nicht auffallend.
66) D^pmn D'S'lpn bezieht sich auf Hn1 : ihr Freunde, weit ent-
fernt und doch so nahe (meinem Herzen). Die Wendung liebt be-
sonders Jeh. ha-Lewi. Für "»pisto hat Ms. Adler müD.
") Vgl. Hiob 17, 11.
68) Kann der Ruhe finden, dessen Auge man (unbestimmtes
Subjekt, das Schicksal) bedrängt, daß es kein Schlaf befalle. — X5£D\
Ms. Levi: XJCoru 0)21), Ms. Adler ü"0n.
«») Ms. Adler hat bx ffitt und blOI«
,e) \y\, Ms. Adler: [W, alpinen (die zerrissenen) u. pici (er
befreie) ist Wortspiel. D^plÄVl wohl von plX abgeleitet (wie nach
einigen Hiob 41, 15. 16), die Bedrückten.
71) Le Kitab al-Mouhädara S. 42 Anm. 3. MbE. nennt hier Ga-
birol nicht.
78) Aus einem Klageliede Gabirols über den Tod seines Vaters
führt bekanntlich Abraham Ibn Daud den Vers an: | mi333 «3 njD
hwi 3TJH I nmaCl npb) | n-iKCH qj»Ö. Ein anderes Klagelied aus dem-
selben Anlaß, anfangend: ttjh 10k H31T1, befindet sich in Ms. Oxf.
1970, fol. 170 b.
T3) -jb>dj Qipnvn (oder 1»M D^33JH).
Tl) Sei ruhig und bedenke: der Tod will die Menschen er-
mahnen, die nicht hören wollten. Für niD "O hat unser Ms. "WZ (?);
für niiVl *b hat Schreiner nwi )b; 13 haben beide Vorlagen.
") Wohl pK.
") Drei Buchstaben — nicht B$1 — unleserlich.
96 Fragmente von Qabirols Diwan.
»•) Wahrscheinlich JWäPli
T») Die Ueberschrift lautet: HB1SK1 3Nri3 iKynOK 1p xi1* fK3i
^Mpl fllPa»^» iTTTO; in Ms. Levi (wo es mit *n bezeichnet ist)
kürzer: K3KI13 KIT» "lKJJnDK pw ^K nSl.
•o) Vgl. Lev. 25, 23. 30. 42.
»>) Ms. Adler: pJJlK und vnnte.
•») -p. fehlt in Ms. Adler.
8») Jer. 4, 28.
M) Nach Exod. 17, 4.
»») Ps. 124, 3; iMs. Adler: DDriS.
»•) Unterlasse es, deines Lehrers Schuld deiner eigenen hinzu-
zufügen, dann werde ich diese verzeihen, und mag sie noch so groß
sein (nach Gen. 4, 12). Vers 9—11 fehlen in Ms. Adler.
87) Nach Exod. 18, 19; Num. 24, 14. Ms. *\b für rwfe.
88) Vgl. Hiob 22, 28. Zur Sache vgl. meine Bemerkung in fcs
•TOSM B>"*1 '1f S. 19 Anm. 18.
8») Vgl. Prov. 17, 18; 24, 30; Hiob 8, 18. Der Vers fehlt in
Ms. Adler.
*) Bl. 14—15 habe ich nachträglich an eine andere Stelle ge-
bracht (als Bl. 31—32).
•i) Das Ms. gehört dem Karäer Samuel Chasan in Eupatoria und
ist mir durch Dr. Poznanski-Warschau zugänglich gemacht worden.
•») Qedenkbuch zur Erinnerung an D. Kaufmann, S. 279 ff.
83) 60 + 20 + 10 = 90, nach Abot Kap. V, Mischna 21. Vgl.
Ttobv ■>*W S. 42, Nr. 30 Vers 6 und Dukes, Philosophisches aus dem
zehnten Jahrh. S. 104 Anm. 3.
M) B^KW.
9*a) Vgl. auch Brüll, Jahrb. VIII, S. 43.
98) iiorr1 . . .
96) Wohl vnB.
97) ins 'rn ^aipa.
97a) '131 [JWD] DJ> B,1?K?3 ,[n»]p,1 'JDT.
••) nx, Jer. 36, 22. 23.'
99) = <f\\ nTn (mit Jod) Jubelruf; "t"H (ohne Jod), edomi-
tische Könige.
ioo) Herr Oberrabbiner Löw-Szeged macht mich auf folgende
Druckfehler aufmerksam: S. 327 Z. 23 1. na für n«; S. 328 Z. 30 1.
ntfn für n#n; das. Anm. 1 1. v^JJL*ä£*vwc und ^-jltla/i (zweimal O» Jür
* gedruckt). S. 326 Z. 8 liest er: \r\X "MO BWI für [UM 11SS3 DND ;
S. 327 Z. 23: ">xlK "]fj jnw, vgl. jedoch die LA. unserer Handschrift.
Ms. Oxf. hat allerdings deutlich "\b*
Fragmente von Gabirols Diwan. 97
101) Vgl. die vorhergehende Anm.
10*) Ltbl. d. Orient 1851 col. 376; angeführt auch bei Dukes
ßHWlp büi S. 21 Anm. 1 (wo auch ein ähnlicher Vers von MbE ent-
halten); ~übv ,|VB> 3. 73; Schreiner, 1. c. S. 17 Anm. 17.
i°») So für jii^Btrn.
10«) So, contr. metr.
tos) «jfwn*
,0<) So, contra metr.
iw) ,.mMtbp rvto *i?a npi tvbk \vvpxh* fvz "bx nH
i08) So, contra metr.
»•») i. nw.
"°) Durch zwei Punkte als falsch bezeichnet, wohl nspp»
»») Oder ntPBJ D^JH ty.
*
Monatsschrift, 55. Jahrgang.
Besprechungen.
Die Verhältnisse der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern nach dem
Stande des Jahres 1907.
Unter diesem Titel bringt die von Ministerialrat Dr. F. Zahn
redigierte Zeitschr. des k. bayer. Statist. Bureaus im 3. Heft des lau-
fenden Jahrgangs eine in Anordnung und Darstellung gelungene Ver-
arbeitung einer vom K. bayer. Kultusministerium veranstalteten, also
deutlichen Erhebung über die Verhältnisse der israelitischen Privat-
kirchenanstalt in Bayern. Nach einer Einleitung, die eine gedrängte
Übersicht über die für die bayerischen Kultusgemeind?n geltenden
Sätze des öffentlichen Rechtes bringt, folgen statistische Daten zu
folgenden Punkten.
I. Kultus und Religionslehre :
1. Synagogen,
2. Betsäle.
3. Ritualbäder,
4. Friedhöfe.
II. Kultusbeamte und Kultusbedienstete:
1. Rabbiner und Rabbinatssubstitute,
2. Religionslehrer,
3. Kultusbedienstete.
III. Die israelitischen Volksschulen und ihre Lehrkräfte.
IV. Finanzen der Kultusgemeinden:
1« Verwaltung des Vermögens,
2. das Vermögen,
3. die Schulden,
4. Reinvermögen,
5. Umlagen,
6. Selbständiges Stiftungsvermögen.
Es wird bei späteren Erörterungen über die Form des bayeri-
schen Judenedikts von 1813 noch auf die vorliegende Untersuchung,
sowie auf die bereits im Jahre 1908 publizierte, ebenfalls recht wert-
volle Denkschrift des israelitischen Lehrervereines zurückzukommen
sein.
Besprechungen. 99
Für heute sei nur noch konstatiert, daß die Angaben über die
Rabbiner infolge mangelhafter Information durch die Außenbehörden
teilweise unrichtig sind. In Wirklichkeit beträgt ihre Zahl 21 -f- 1
exponierter Rabbinatssubstitute und zwar entfallen, auf:
Oberbayern 1
Pfalz 4
Oberpfalz 2
Oberfranken 3
Mittelfranken 4
Unterfranken 6
Schwaben 2
22
Im Ganzen zeichnet sich die Arbeit durch ihren wissenschaft-
lichen Ton, der auch in der Benutzung der einschlägigen Literatur
zum Ausdruck kommt, vorteilhaft vor den trockenen Zahlenreihen
aus, die uns sonst häufig von amtlicher Stelle geboten werden.
München. R. Wassermann.
*
V
D. Neumark: Geschichte der Jüdschen Philosophie das Mittelalters.
Berlin. Buchhandl. Georg Reimer 1907. 615 S. und XXIV. 8°.
Neumark beginnt seine Geschichte der jüdischen Religionsphi-
losophie des Mittelalters — mit der Bibel. Das ist nicht Geschwätzig-
keit, sondern die Konsequenz seiner grundsätzlichen Überzeugung.
Das jüdische Geistesleben aller Jahrhunderte ist ihm eine absolute,
geschlossene Einheit, sodaß eine einzelne Erscheinung nicht an sich,
sondern nur aus den Ganzen heraus verstanden werden kann. Fremde
Kulturen, die auf das Judentum eingewirkt haben, erklären niemals
irgend ein Pliaenomen der jüdischen Geistesgeschichte, sondern sind
nur der äußere Anlaß, der mechanische Reiz, der den Genius des
jüdischen Volkes zum Hervorbringen seiner eigentümlichen Schöpfungen
anregt. Ihre besondere Note erhält die jüdische Geschichte durch
das Vorherrschen des Religiösen. Die Entwickelung der Religion Israels
aber liegt in der allmählichen Überwindung von Mythologie und
Mystik (S. 4). Gegen sie haben die Propheten der Bibel gekämpft,
nach ihnen führen Mischna und die genialen Vertreter der talmudischen
Dialektik den Kampf weiter, bis die Entwickelung in der klassischen
Religionsphilosophie des Mittelalters ihren Gipfelpunkt erreicht.
Wenn religiöse Entwickelung gleichbedeutend ist mit dem Kampf
gegen Mythologie, dürfen mythische Vorstellungen auf keiner Stufe
des geschichtlichen Prozesses fehlen, sonst wäre die Entwicke'ung zum
Abschluß gelangt. Es ist demnach durchaus konsequent, wenn Nei;-
mark es unternimmt, In der Bibel und aller späteren religiösen Lite-
ratur des Judentums mythische Anschauungen nachzuweisen. Aus
dem Gedankenkreis des Pentateuch gehören seiner Ansicht nach der
Engelglaube und der die babylonische Ideenlehre reflektierende Mythos
von der Erschaffung des Menschen im Ebenbilde Gottes in diese
Klasse. Im Deuteronomium hat die mosaische Religion nach langem
Kampf diese mythologischen Reste aus der babylonischen Heimat
überwunden. Damit ist der Kampf aber nicht beendet. Jeremia ver-
teidigt die Reinheit des monotheistischen Glaubens, während Ezechiel
nicht nur gegen ihn für den Engelglauben eintritt, sondern durch die
visionäre Beschreibung des göttlichen Thronwagens aller späterer:
Mystik den Stoff giebt. Den Kampf gegen den Engelglauben setzt
die Mischna fort, sie versucht auch die Bereschith- und Merkabalehre
Besprechungen. 101
zu unterdrücken, nimmt aber mit den Dogma von der Praeexistenz
der Thora und dem Auferstehungsglauben neue mythische Vor-
stellungen auf.
Unter Bereschith ist die Platonische Ideenlehre, unter Merkaba
Engel- und Emanationslehre zu verstehen. Mit der Ideenlehre hängt
die Frage nach demUrstoff zusammen. Das Problem der Ursubstanz wird
auch von der Merkaba behandelt, wenn auch die Lösung in beiden
eine verschiedene ist. Hier haben wir also, wenn auch in mythischer
Form, den Stoff für die Religionsphilosophie des Mittelalters. In
iannaitischer Zeit ist die Bereschithlehre von Rabbi Akiba mit der
Merkaba verbunden worden. Im Kampf gegen die Karäer, die auf die
talmudischen Fabeln hinweisen, um das traditionsgläubige Judentum
zu diskreditieren, trennen sich Ideen- und Merkabalehre, und es sind
die Vorbedingungen für die Entstehung der klassischen Religions-
;>hilosophie gegeben. Man brauchte nur das in den Jahrhunderte
füllenden halachischen Diskussionen erstarkte logische Denken auf
die mythischen Agadas anzuwenden und so die Ideenlehre zu über-
winden, dann entstanden die philosophischen Systeme der mittelalter-
lichen Denker. »Die Überwindung der Ideenlehre war der Weg
zur Begründung der dialektischen Philosophie im Judentum« (S. 132).
Die Platonische Ideenlehre greift nicht erst in der Zeit der
letzten Tannaim in die Entwickelung der jüdischen Religion ein, wir
finden sie bereits in der Diskussion Hillels und Schammais über die
Frage, wann der Plan zur Weltschöpfung entstanden ist, ganz deut-
lich in Mischle, in der Merkabavision des Ezechiel und in einzelnen
Erzählungen des Pentateuch.
Bereschith und Merkaba haben sich in der Zeit Saadias zu
trennen begonnen. Sie streben aber nach ihrer ursprünglichen Ein-
heit. Durch ihre Wiedervereinigung entsteht die Kabbala, die nichts
anderes ist, als der weitere Ausbau der alten Merkabavorstellungen.
Nicht die neuplatonischen Gedasken, die in ihr verarbeitet sind, sind
die Hauptsache und das Charakteristische, sondern die talmudischen
und midraschischen Elemente. »Wie bei der Entwickelung der jüdischen
Philosophie und der Mystik die Loslösung der Ideenlehre von der
Merkaba den Anfang der Philosophie bedeutet, obschon diese mit
der Ideenlehre lange noch zu kämpfen hat, so bedeutet auch das
Wiedereindringen der Ideenlehre in die Philosophie erst da das Ende
der Philosophie, wo mit der Ideenlehre auch die Merkabalehre ein-
zudringen beginnt. Die eigentliche, dialektische Philosophie des
Judentums hat mit der Ausscheidung der Merkaba aus der Spekulation
begonnen und mit dem Wiedereindringen derselben aufgehört« (S. 209).
So lösen sich alle Rätsel der jüdischen Geschichte. Wir wissen
102 Besprechungen.
nun, warum sich das Altertum zu den mythischen Lehren Piatos, das
Mittelalter zu Aristoteles hingezogen fühlt. Zwischen ihnen liegt die
Zeit der juristisch-logischen Schulung. Wir wissen auch, was unter
Mystik zu verstehen ist. Sie ist der Form nach mythisch, dem Inhalte
nach Emanationslehre, Merkaba.
Diese flüchtige Skizzierung des Inhalts soll nur die wesent-
lichen Gedanken hervortreten lassen, die philosophischen Grund-
begriffe, die auf ihre Richtigkeit hin untersucht werden sollen.
Das philologisch-historische Detail soll dann ausführlicher be-
handelt werden.
Eins ist von vornherein klar, N. geht von einem falschen
Begriff der Religion aus, er könnte sonst die religiöse Entwicke-
lung nicht in der klassischen Religions ph ilosophie gipfeln
lassen, sodaß Maimonides etwa an die Stelle des Jeremia tritt, und
die Propheten die Vorläufer der mittelalterlichen Denker werden.
Alle Religionsphilosophie setzt als die begriffliche, wissenschaftliche
Bearbeitung religiöser Anschauungen Religion als unabhängiges,
selbständiges Phaenomen voraus, und ebensowenig, wie aus einer
Religion im Verlaufe ihrer Entwickelung Wissenschaft werden kam-,
kann ein reiigionsphilosophisches System der Höhepunkt eines reli-
gions-geschichtlichen Prozesses werden.
Das bedeutet nicht eine völlige Trennung von Religion und
Religionsphilosophie, sie stehen zweifellos in Beziehung zu einander,
nur muß ihr Verhältnis anders bestimmt werden. Religion strebt von
sich aus nicht nach philosophischer Formulierung ihrer Lehren,
sondern ist sich selbst genug. Erst im Kampf gegen andere Religionen,
wenn es darauf ankommt, ihren Lehrinbalt möglichst scharf und
deutlich zu entwickeln, damit die Differenzen sichtbar werden, ruft
sie die Religionsphilosophie zur Hilfe, die ihr den vieldeutigen Inhalt
ihrer Bildersprache in Begriffe faßt. So entstehen dogmatische Be-
griffe und theologische Systeme. Doch in den Augenblick, in dem
sie in den historischen Prozeß der Religion als neue Elemente ein-
treten, erhalten sie den autoritativen, dogmatischen Charakter reli-
giöser Vorstellungen, das heißt : sie hören auf philosophisch zu sein.
Für die Religion aber bedeuten sie keine Höherentwickelung, sondern
im Gegenteil Erstarrung, sodaß alle schöpferische, religiöse Arbeit
die festgewordenen Formen der Religion wieder aufzulösen und in
Fluß zu bringen hat. Wenn ein Beweis für unsere Ausführungen erbracht
werden soll, wird ihre Richtigkeit am leichtesten durch den Hinweis
auf die Dogmen der christlichen Religion erkennbar. Sie sind ohne Zweifel ,
das Resultat religionsphilosophischen Denkens. Doch daß in ihnen
die Entwickelung der christlichen Frömmigkeit eine höhere Stufe
Besprechungen. 103
erreicht hat, als vor ihrer dogmatischen Formulierung, wird niemand
im Ernst behaupten. Weit eher wird man sagen können, daß alle
dogmatische Bindung trotz der größeren gedanklichen Klarheit ein
Symptom des Stillstands, oder des Verfalls ist. Die Höherentwickelung
der Religion beruht nicht auf ihrer Verbindung mit Philosophie,
also auf ihrer begrifflichen Fassung, sondern auf dem Hervortreten
neuer religiöser Gedanken.
Richtet sich die Verteidigung nicht gegen andere Religionen
oder ketzerische Ansichten, sondern gegen die Autorität entgegen-
stehender wissenschaftlicher Lehren, dann entstehen religionsphilo-
sophische Systeme als Versuche der Harmonisierung und des Aus-
gleichs. Bedeutung haben sie stets nur für den Kreis der Intellektuellen,
und wenn sie ihren Zweck, die Wahrheit der Religion zu erweisen,
erfüllen sollen, dürfen sie nicht dogmatisch und autoritativ werden.
Sie bleiben dann außerhalb der religiösen Entwickelung und be-
gleiten sie; zugleich spiegelt sich in ihnen die Entwickelung der
Wissenschaft. Es ist demnach vollkommen unmöglich, Religion und
Religionsphilosophie als auf einander folgende Stufen einer einzigen
Entwicklungsreihe aufzufassen. Wenn Philosophie der Religion ihr
Wesen behalten und wissenschaftliche Erkenntnis bleiben soll, muß
sie ihren eigenen Weg gehen. Religionsphilosophische Systeme ge-
hören nicht in die Geschichte der Religion, sondern in die der Wis-
senschaft.
Ebenso verkehrt ist es, die Propheten, die Schöpfer der Religion,
zu Rationalisten und Aufklärern zu degradieren, deren Aufgabe die
freiung vom Mythos ist. Ihre ganze Größe beruht darauf, daß sie
den Mut haben, ihrem tiefen, schöpferischen Gefühl unbedingt zu
trauen, und die ungeheure Wirkung, die sie ausüben, erklärt sich
gerade daraus, daß in ihren Reden die leidenschaftliche Erregung des
Erlebens zittert und in poetischem Schaffen sich entlädt. Wenn Neu-
mark darauf hinweist, daß im More Nebuchim des Maimonides der-
jenige Prophet für den größten gilt, bei dem im Augenblick der
Offenbarung der Verstand seine volle Klarheit sich bewahrt, muß
auch betont werden, daß gerade Maimonides mit vollem Recht in
der Phantasie das natürliche Organ der Prophetie erblickt. Die Be-
hauptung, daß die Propheten die Begründer der wissenschaftlichen
Ethik sind (S. 25), oder daß Jeremia den kosmologischen Gottesbeweis
zum ersten Male aufstellt (S. 17), zeigen nur zu deutlich, daß der Ver-
fasser das eigentliche Wesen der Religion verkennt und die Grenzen
zwischen ihr und philosophischer Erkenntnis in Unklarheit und Nebel
verschwinden läßt.
Wenn irgend etwas, war Gottes Existenz den Propheten un-
104 Besprechungen.
mittelbar gewiß, sie war ihnen das einzig Sichere und Reale und
bedurfte keiner logischen Beweise, und Gott war ihnen niemals nur
das sittliche Ideal, sonders zugleich das höchste und einzige Welt*
prinzip. Das beweist selbst vom Standpunkt Wellhausens das II.
Kapitel der Oenesis, das zu den ältesten Teilen des Pentateuch ge-
hört. Nicht erst Jeremia und Ezechiel entwickeln also, wie N. behauptet
(S. 17), kosmogonische Lehren, um den Ansturm babylonischer Mythen
abzuwehren, sondern der Schöpfungsgedanke gehört zum Urbestand
der mosaischen Religion. Das Streben der Propheten ist aber nicht
auf Philosophie, auf begriffliche Erkenntnis, sondern auf sittliche
Erziehung gerichtet. Die Schöpfer der Religion und die mittelalterlichen
Denker gehören zwei vollkommen getrennten, grundverschiedenen
Klassen an, und wenn N. ihr Rangverhältnis umkehrt und die Blüte
der jüdischen Religionsgeschichte nicht im Prophetismus, sondern in
der klassischen Religionsphilosophie sieht, hat seine Behauptung nur
den Wert eines paradoxen Einfalls.
Die Orundthese N's, daß die Geschichte der jüdischen Religion
fortschreitende Rationalisierung, Kampf gegen Mythologie bedeutet,
widerspricht dem Wesen der Religion. Die Propheten kämpfen nicht
gegen das Irrationale, sondern gegen sittliche Irrtümer. Ihre natür-
liche Sprache, das notwendige Ausdrucksmittel für ihre Lehren, sind
Bilder und Symbole, die aus poetischen Formen leicht selbständige
Wesen, also mythisch werden. Mit größerem Recht könnte man
demnach behaupten, daß die Geschichte der jüdischen Religion ein
Anwachsen mythologischer Vorstellungen aufweist. Der Engelglaube
ist im Pentat?uch und den prophetischen Büchern im Vergleich zur
nachbiblischen Zeit unausgebildet und unbestimmt. Das spricht der
Talmud in dem bekannten Satz aus, daß die Namen der Engel aus
Babylon stammen. Er ist selbst in der Maimunischen Philosophie
nicht überwunden, sondern zu höherer Dignität gelangt. Die separaten
Intelligenzen, mit denen Maimonides die Engel gleichsetzt, sind aus
dem Weltbilde dieses Denkers weit weniger wegzudenken, als die
Engel aus der Gedankenwelt der Bibel. Der Dämonenglaube, dem
wir im Talmud so oft begegnen, fehlt in ihr bis auf geringe Spuren.
Von phantastischen Messiasvorstellungen ist in ihr weit weniger, als
in späterer Zeit zu findea, und die späten apokalyptischen Lehren
des Daniel sind nur ein Anfang. Der Grundauffassung Neumarks
fehlt also vollkommen die geschichtliche Basis.
Er hilft sich damit, daß er zwischen offiziellen Lehren und
geduldeten Vorstellungen unterscheidet. Doch ist das sinaitische
Bundesbuch "mit seinen zahlreichen Engelgeschichten weniger autori-
tativ, als das Deuteronomium, das sie angeblich mit klarer Absicht
Besprechungen. 105
ausschließt ? Hat Ezechiel weniger Autorität, als Jeremia ? Und wie
will uns N. seine Behauptung plausibel machen, daß der babylonische
Prophet, anstatt für die Reinheit des monotheistischen Gedankens zu
kämpfen, gegen Jeremia für den Engelglauben eintritt (S. 18) ? Der
Priestercodex mit seinem gesetzlichen Denken, dem heiligen Ernst
in der Behandlung cultischer Fragen steht der Schule des Priesters
Ezechiel ohne Frage näher, als der Jeremias. Wenn nun im P. C.
der Engelglaube fehlt, wird damit die Behauptung, daß Ezechiel für
ihn eingetreten ist, hinfällig. Von einem Kampf Jeremias gegen den
Engelglauben kann gleichfalls nicht die Rede sein. Die Engel der
Bibel sind nichts, als die ausführenden Boten Gottes, ohne jede
Selbständigkeit, beeinträchtigen also auch nicht seine Einheit. Was
N. über diese Frage sagt, ist absolut unbegründet. Wer den Priester-
codex in der Schule Jeremias und das Heiligkeitsgesetz in der
Ezechiels entstehen läßt, stellt offenbar einer vorgefaßten Theorie
zu Liebe die Wahrheit auf den Kopf.
Warum hat die Mischna, wenn sie wirklich gegen den mythi-
schen Engelg'auben kämpft, nach Neumarks eigener Darstellung mit
»dem Dogma der Praeexistenz der Thora« und dem Auferstehuags-
glauben neue mythische Vorstellungen aufgenommen ? Gehören die
agadischen Teile des Talmud den Amoräern weniger zum offiziellen
Judentum, als die halachischen Diskussionen ? Dann hätte R. Aschi sie
bei der Redaktion des Talmud schwerlich aufgenommen. Wer die Ge-
schichte des Judentums nicht gewaltsam konstruiert, sondern in ihrem
tatsächlichen Verlauf objektiv betrachtet, gelangt zu dem Ergebnis,
daß die Formel, die N. für sie aufstellt, vollkommen falsch ist.
Den Übergang vom mythologischen zum philosophischen
Denken vermittelt nach seiner Darstellung der Talmud. »Der schon
längst im geistigen Leben des Judentums wirksame alexandrinische
Piatonismus, der jetzt neu hinzutretende Aristotelismus, der Muta-
zilismus und alle anderen Impulse von aussen, auf die uns unsere
Untersuchung bald führen wird, alles dies ist die zugegebene
Voraussetzung, aber der Urquell, in den alle diese weit von
den Bergen her rieseindcn Wasseradern einmünden, muß in den
Tiefen des Volksgeistes selbst entsprungen, die lebendige Kraft, die
alles zum Blühen und Knospen treibt und die Frucht zur Reife
bringt, kann nur dem Herzen des Volkes entsprungen sein. Der Geist
des jüdischen Volkes aber ist der Geist der Haiachat (S. 138). »Das
Judentum besitzt keinen nennenswerten Philosophen, oder philoso-
phischen Forscher, der nicht seinen Geist zuerst an der Halacha
diszipliniert hat* (S. 140). »Die größten Autoritäten der Halacha sind
zugleich diejenigen, welche die höchsten Höhen des philosophischen
106 Besprechungen.
Gedankens erklimmen«. »Maimuni, der größte Philosoph der klas-
sischen Periode und des Judentums überhaupt ist zugleich der größte
Haiachist aller Zeiten«. S. 135. Daß eine so enge Beziehung zwischen
juristischem und philosophischem Denken, wie sie hier behauptet
wird, in Wirklichkeit nicht besteht, wird zunächst durch die Tatsache
bewiesen, daß bei den Römern, die das klassische System des Rechts
geschaffen haben, kein namhafter Philosoph und bei dem genialen Philo-
sophenvolk der Antike, den Hellenen, kein bedeutender Jurist zu finden
ist. Das ist sehr leicht zu erklären. Die formale logische Schulung des
Denkens und der Blick für die praktischen Konsequenzen gesetzlicher
Bestimmungen sind von dem philosophischen Erkenntnistrieb und
der Fähigkeit, theoretische Probleme zu finden und aufzulösen, un-
abhängig. Wenn also wirklich der Geist des jüdischen Volkes der
Geist der Halacha wäre, was keineswegs zutrifft, wäre es für die
Lösung philosophischer Aufgaben noch sehr wenig disponiert. Aber
auch die jüdische Geschichte widerlegt die Behauptung von der
Identität juristischer und philosophischer Begabung. An Genialität des
juristisch.-logischen Denkens wird Raschi auch von Maimonides nicht
übertroffen, seine religiösen Anschauungen aber sind von einer
rührenden Kindlichkeit und Naivität, und sein Bibelkommentar giebt
nicht philosophische Exegese, sondern mythische Agada. Dies eine
Faktum schon hätte N. zeigen können, daß juristische Logik nicht
zu philosophischem Denken zu führen braucht. Sie bilden sogar
vielfach Gegensätze. Nur so wird es verständlich, daß die Talmudisten
den More Nebuchim leidenschaftlich bekämpfen, daß Ascheri seine
Autorität auf halachischem Gebiet gegen das Studium der Philosophie
geltend macht, Nachmanides die Mystik neu begründet, in Polen,
dem klassischen Lande des einseitigen Talmudstudiums, die chassi-
dische Mystik entstanden ist.
Sie ist offenbar eine Reaktion gegen die einseitige Verstandes-
bildung durch den Talmudismus, der die Ansprüche des Gemüts
unbefriedigt läßt, weil er die Religion intellektualisiert, anstelle des
religiösen Gefühls logische Ableitung und Begründung setzt. Diese
Intellektualisierung verwechselt N. mit Rationalisierung, dem Streben
nach philosophischer Erkenntnis und übersieht, daß der Talmud,
wie alle Juristerei, eine vorwiegend praktische Tendenz des Denkens
zeigt, nicht einmal seine eigenen Grundlagen wissenschaftlich unter-
sucht, sondern sich mit einer theologisch-dogmatischen Begründung
seiner Prinzipien begnügt. Die talmudische Dialektik hat sich sehr
wohl mit phantastischer Mythologie vertragen, wie die Beispiele R
Akibas und des Babyloniers Rab beweisen, die N. trotz ihrer Bedeu-
tung für die Entwickelung des Talmud zu Begründern mystischer
Besprechungen. 107
Systeme macht. Ebenso, wie für die arabische Philosophie und die
christliche Scholastik, war die Disziplinierung durch die Halacha
auch für die Entstehung der jüdischen Religionsphilosophie nicht die
Voraussetzung.
Die Denkweise des Talmud ist durchaus dogmatisch gebunden.
Die Existenz Gottes, die Göttlichkeit der Bibel, die Wunderberichte
der hlg. Schrift werden den Tannaim und Amoräern niemals proble-
matisch. Daher ist es von vornherein ausgeschlossen, daß die Anfänge
der jüdischen Philosophie im Talmud gefunden werden. Auch seine
agadischen Teile bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Wenn
man unter Philosophie autonomes, systematisches Denken versteht,
und etwas anderes bedeutet sie ja nicht, verdienen auch die philo-
sophisch klingenden Sätze einzelner Tannaim und Amoräer nicht die
Bezeichnung »philosophisch«. Das wird auch durch den Hinweis
Bereschith und Merkaba nicht widerlegt. Welche Spekulationen
man ursprünglich darunter verstanden hat, läßt sich mit Sicherheit
nicht ermitteln. Wenn man aus den wenigen Daten aus späterer Zeit
Rückschlüsse ziehen darf, begnügten sich die Tannaim nicht mit den
klaren Angaben der Genesis, sondern suchten in das Geheimnis des
göttlichen Schaffens tiefer einzudringen und aus den Andeutungen der
heiligen Schrift die einzelnen Phasen der Weltentstehung genauer zu
erkennen. Es handelt sich hier also nicht um selbständige philosophische
Untersuchung, sondern um agadische Bibelexegese. Der Versuch, die
Entstehung der Welt aus dem Nichts zu beweisen und begreiflich zu
machen, also die Schöpfungslehre des Judentums wissenschaftlich zu
begründen, wird nicht unternommen, eine Widerlegung der entgegen-
stehenden naturphilosophischen Theorieen nirgends versucht. Religiöse,
kosmogonische Mythen aber sind nicht Philosophie. Sie ist immer erst
da vorhanden, wo eine natürliche Erklärung der Erscheinungen ver-
sucht wird. Durch Bereschith und Merkaba aber wird die biblische
Schöpfungslehre nicht klarer und natürlicher, sondern verworren und
phantastisch. Das Geheimnis des göttlichen Schaffens übt auf das
Gefühl der Tannaim einen so mächtigen Eindruck aus, daß ihre
Phantasie die Schöpfertätigkeit Gottes genauer zu beschreiben unter-
nimmt, das Interesse ist also nicht philosophischer, sondern religiöser
Art. Darum ist es vollkommen verfehlt, in diesen Mythen nach den
ersten Spuren der späteren philosophischen Probleme zu suchen.
Wenn die Engel einer Agada zufolge aus dem Schweiß der Chajoth
entstehen, wird damit noch lange nicht die natürliche Emanation der
Materie aus Gott gelehrt (S. 81). Ebensowenig beweist die Vorstellung
von dem Schnee unter dem Thronwagen das Vorhandensein des
Substanzproblems (S. 75). Dies alles ist religiöse Poesie, die sich an
108 Besprechungen.
die Bibel anlehnt, mylische Dichtung und nicht philosophische Speku-
lation. Daß die Philosophen des Mittelalters nach einer Anknüpfung
im talmudischen Schrifttum suchen, erklärt sich aus dem Bestreben,
ihie Anschauung zu legitimieren und beweist nicht, daß die jüdische
Philosophie aus den talmudischen Agadas hervorgegangen ist. Sie
ist nicht infolge der Überwindung der Ideenlehre durch die halachiscbe
Dialektik entstanden, sondern entspringt, von dem apologetischen Inter-
esse und dem Einfluß des Milieus abgesehen, wie alle Philosophie
einem wissenschaftlichen Erkenntnistrieb, der in einzelnen Köpfen
durch das Studium der arabisch-aristotelischen Schriften erwacht ist.
In seinem Streben, die absolute Einheit des jüdischen Geistes
nachzuweisen, begnügt sich N. nicht damit, die mittelalterliche Phi-
losophie aus dem talmudischen Schrifttum abzuleiten, sondern sucht
nach den Spuren der Platonischen Ideenlehre auch in der Bibel. Er
findet sie im Pentateuch in der Erzählung von der Schöpfung des
Menschen im Ebenbilde Gottes und in dem Bericht von dem Urbild
des Stiftzeltes, das Gott Mose hat schauen lassen (S. 22). In beiden
Fällen hat offenbar das Wort *Bildc den Verfasser irregeführt. Es
braucht nicht erst gesagt zu werden, daß die pentateuchischen Er-
zählungen falsch verstanden sind. Von einer Ideenlehre im Penta-
teuch zu sprechen, ist so sinnlos, daß jede Widerlegung sich
erübrigt.
Nicht vernünftiger ist die Behauptung, daß Ezechiels Merkaba
eine kosmogonische Theorie versucht und Elemente der babylonischen
Ideenlebre enthält (S. 74. 75). Was unter babylonischer Ideenlehre zu
verstehen ist, hat N. nicht verraten. Ezechiels Vision des göttlichen
Thronwagens ist schwer zu enträtseln, daß er aber keine selbständige
Kosmogonie entwirft, die mit dem ersten Kapitel der Genesis rivali-
siert, ist klar. Am einleuchtendsten scheint noch die Auffassung
Bertholets zu sein, der in den Worten des Propheten eine Schil-
derung der göttlichen Allmacht und Allwissenheit erblickt.
Ernstere Beachtung verdient die Behauptung, daß in Mischle
Oedanken der griechischen Philosophie zu finden sind, wenn man in
Betracht zieht, daß die Entstehung dieses Buches angeblich in die Zeit
hellenischen Einflusses fällt. Aber auch hier kann von platonischer Ideen-
lehre nicht die Rede sein (S. 77). Ob die praeexistente >Weisheitc als
selbständiges Wesen hypostasiert, oder nur dichterisch personifiziert
ist, läßt sich mit Sicherheit nicht entscheiden. Frankenberg neigt in
seinem Kommentar zu der letzteren Ansicht. Sie hat viel für sich,
wenn man bedenkt, daß auch die »Torheitc in Mischle personifiziert
ist. In jedem Falle bedeutet die >WeisheiU nichts anderes, als Thora,
sie ist keineswegs mit dem Philonischen Logos, dem Inbegriff der
Besprechungen. 109
Ideen Piatos, zu identifizieren. Eine so unhistorische Gleichsetzung
ist bei einem modernen Historiker der jüdischen Philosophie unbe-
greiflich.
Dem Verfasser der Spruchbuchs bedeutet Thora die Summe der
Gesetze des Judentums, und wenn er sie für ewig und praeexistent
erklärt und bei der Schöpfung mitwirken läßt, will er dem Gedanken
Ausdruck geben, daß die Erfüllung der religiösen Gesetze Sinn und
Zweck des Weltalls ist, ein Gedanke, der auch im Midrasch wieder-
kehrt. Sobald man^in der Thora göttliche Weisheit sah, war ihre Prae-
existenz von selbst gegeben, sonst wäre Gott ja vor der sinaitischet!
Offenbarung ohne Weisheit. Mit platonischer Ideeniehre aber hat
dies nichts zu tun, es sei denn, daß man das System Piatos seines
klaren Sinnes beraubt. Daß platonische Gedanken in späten Midraschin.
mehr oder weniger deutlich anklingen, soll nicht geleugnet werden,
aber um so vorsichtiger muß die Interpretation der älteren Litera-
tur sein.
Auch das mischnische »Dogma von der Praeexistenz der Thora*
braucht nicht im Sinne der Ideenlehre aufgefaßt zu werden. Ein Ein-
fluß des alexandrinischen Philosophen in der Mischna ist nicht nach-
weisbar, es ist also kein Anhaltspunkt dafür vorhanden, daß unter
Thora »Logos« verstanden wird. Ebenso ist die Gleichsctzung von
Bereschith und Pardes mit der Ideenlehre Piatos unbewiesen und
unwahrscheinlich. Trotz der überlegenen Kritik, die hier an Graetz
geübt wird, behält seine Ansicht die größere Wahrscheinlichkeit.
Nur wenn R. Akiba und die 3 anderen Tannaim, die der Talmud
nennt, sich in Probleme der Gnosis vertieft haben, wird Achers Ab-
fall vom Judentum verständlich. Die gnostische Philosophie hat eine
entschieden antijüdische Tendenz, sucht zu beweisen, daß der
Schöpfergott, der sich am Sinai offenbart hat, tiefer steht, als der
christliche Gott der Liebe, die platonische Ideenlehre aber läßt sich
mit der Religion der Bibel, wie Philos Beispiel zeigt, relativ leicht
verbinden.
Was N. mit allen seinen willkürlichen Behauptungen und
Konstruktionen erreicht, ist schwer einzusehen. Die jüdische Philo-
sophie des Mittelalters soll aus der natürlichen Entwickelung des
jüdischen Geistes erklärt werden. Dieses Resultat aber wird dadurch
gewonnen, daß fremde, heidnische Anschauungen bereits in der Thora
nachgewiesen werden. Erst durch ihre Überwindung und nicht durch
eine höhere Entwickelung der jüdischen Gedanken soll dann die
jüdische Religion ihren Höhepunkt erreichen. Das ist, von aller
historischen Unrichtigkeit abgesehen, ein innerer und unlösbarer
Widerspruch.
110 Besprechungen.
Die Überwindung der Ideenlehre soll der Weg zur diale-
ktischen Philosophie sein. Zuvor aber muß sie sich von der Merkaba
trennen. Das ist zunächst historisch falsch, denn noch im More
Nebuchim wird eine von aller Polemik freie Erklärung der Ezechiel-
schen Vision versucht. Außerdem ist die Emanationslehre nicht not-
wendig mystisch. Auch Hegel läßt ja die Natur durch die Selbst-
entfaltung des absoluten Geistes im dialektischen Prozeß entstehen,
ohne darum Mystiker zu werden. Wenn aber Neumark die Behaup-
tung aufstellt, daß Merkaba und Ideenlehre das Streben haben, ihre
ursprüngliche Einheit wiederherzustellen, so ist das selbst nur die
modernste Variation eines uralten Mythos.
Die ganze, 275 Seiten umfassende Einleitung nimmt dem Buch
den Charakter einer ernsten wissenschaftlichen Arbeit. Sie war umso
überflüssiger, als bei der Darstellung der mittelalterlichen Philosophie
die angeblichen biblischen und talmudischen Quellen vollkommen
ignoriert wurden. Anstatt zu zeigen, wie im einzelnen die Ideenlehre
überwunden wird, bietet N. einen breiten Excurs über Aristoteles.
Die neuen Resultate, die hier gewonnen werden, sind nicht sehr
glaubhaft. Widersprüche im aristotelischen System sind speziell bei
der Behandlung des Substanzproblems zweifellos vorhanden. Trotz-
dem ist Aristoteles ein viel zu scharfer und klarer Kopf, um
zwei einander direkt ausschließende Theorieen über Materie und
Form gleichzeitig zu vertreten. Der Standpunkt der Physik wird
von ihm selbst als durch die Interessen des Physikers bedingt
bezeichnet und unterscheidet sich nicht grundsätzlich von dem der
Metaphysik. Nur der Gesichtspunkt wechselt in der Untersuchung.
Bald handelt es sich um Substrat und Qualität, Subjekt und
Prädikat, bald um die Differenz des Unentwickelten und Entwickelten,
von Möglichkeit und Wirklichkeit. Immer aber sind Stoff und Form
zwei selbständige Prinzipien, die Formen logisch abstrahierbar, sodaß
ein völlig unbestimmter Urstoff, oder reine Potentialität übrig bleibt.
In Wirklichkeit aber ist der Urstoff ebensowenig ohne jede Qualität,
wie die Aktualisierung der Formen jemals begonnen hat. Das Streben
der Natur, alle Formen bis zur höchsten zu durchlaufen, die qualita-
tive Umwandlung der Stoffe lehrt Aristoteles immer in derselben
Weise, durchbricht also niemals sein dynamisches Prinzip. Alle
Unterschiede, die N. hier so entschieden und bestimmt behauptet,
sind in Wirklichkeit nicht vorhanden.
Damit fällt auch sein ganzer Aufbau der jüdischen Religions-
philosophie. Er unterscheidet eine Saadja-Gruppe, die den Standpunkt
der Physik, die Annahme einer mit einer Urqualität verbundeuen
Materie, und eiue Gabirol-Oruppe, die den Standpunkt der Meta-
Besprechungen. 111
physik vertritt und eine substantielle Potentialität annimmt. Der erste
Standpunkt soll sich mit dem jüdischen Schöpfungsglauben leichter
verbinden lassen, als der zweite. Auch das trifft nicht zu. Der Ge-
danke, daß Gott einen Urkeim geschaffen hat, aus dem sieh das
Universum allmählich stufenweise entwickelt hat, ist logisch durch-
aus einwandsfrei. Richtig ist an der Unterscheidung der beiden
Gruppen nur, daß die eine dem Aristoteles, die andere dem Neu-
platonismus näher steht. Alles andere ist Konstruktion.
Es wäre ungerecht, wollten wir nicht die erstaunliche Belesen-
heit und den achtunggebietenden Fleiß des Verfassers anerkennen,
aber es fehlen ihm neben richtigen philosophischen Anschauungen
philologische Kritik und historisches Denken. Wo er größere Zu-
sammenhänge auffinden will, verläßt ihn vollkommen die Besonnenheit
des Urteils. Es ist höchst bedauerlich, daß der wissenschaftliche Er-
trag so vieler Arbeit so gering ist.
Julius L e w k o w i t z^
Erwiderungen.
Von Herrn J. Froraer erhalte ich folgende Zuschrift:
In dem 54. Jahrgang dieser Zeitschrift befindet sich eine Be-
sprechung meines Buches »Der Organismus des Judentums», die
Unwahrheiten enthält. Gemäß § 11 des Preßgesetzes ersuche ich um
Abdruck der folgenden
Berichtigung:
1. Unwahr ist, daß das »eigentliche Einleitende» in dem ge-
nannten Werke »aus mehr oder weniger wörtlichen Abschreibungen
der ganz geläufigen Hand- und Wörterbücher« besteht. Wahr ist
vielmehr, daß das »eigentlich Einleitende«, wie überhaupt das ganze
Werk formal und inhaltlich vollkommen originell ist.
2. Unwahr ist, daß ich das eine Mal we-haschekabat sera (das
Sperma) gelesen und »das andere Mal zwei Seiten zur Verteidigung
dieses Schnitzers« geschrieben habe. Wahr ist vielmehr, daß ich :
a) im Texte richtig wehaschikbat vokalisiert und in der Anmer-
kung gesagt habe: »Trad. LA. — Grammat. LA.: wehaschekabat
Damit sollte nur — wie ich im »Organismus des Judentums«, Seite
186 und 267 ausgeführt habe — gezeigt werden, welchen geringen
Wert die grammatische Lesart hat, daß ich ferner:
b) zur »Verteidigung dieses Schnitzers« nicht zwei Seiten, son-
nur eine halbe Seite geschrieben habe. Dr. J. Fromer.
*
Darauf sendet Herr Aptowitzer folgende
Entgegnung:
Ad. 1. Die Behauptung, daß in dem Buch »Der Organismus des
Judentums« von Dr. Jakob Fromer das »eigentliche Einleitende« —
d. s. die Inhaltsangaben, die literarhistorischen und bibliographischen
Daten — »formal und inhaltlich vollkommen originell ist«, ist — voll-
kommen originell, da diese Daten tatsächlich in den geläufigen
Handbüchern, z. B. in Stracks Einleitung in den Talmud, enthalten
sind.
Nach dem Eindruck, den die Bücher des Dr. Fromer auf mich
machten, mußte ich zur Überzeugung gelangen, daß er die erwähnten
Erwiderungen. 113
Daten den Handbüchern entnommen hat, wie die meisten seiner
Zitate aus dem Talmud dem Wörterbuche Levy's entnommen sind.
Dies meinte ich mit dem von Dr. Fromer berichtigten Satz.
Daß Herr Fromer gerade diesen Satz berichtigt, ist übrigens
sehr merkwürdig. Lange vor meinem Referat hat L. Ooldschmidt in
seiner Kritik des Fromerschen Buches, wie ich in demselben Aufsatze
S. 561 erwähne, folgendes geschrieben :
S. 21, Anm. 2: »Das ganze Buch besteht aus Zitaten, teils
wörlich abgeschrieben mit Nennung der Quelle, teils umgemodelt
ohne Nennung derselben. Abgedroschene Phrasen sind — weiß Qott
woher — zusammengeschleppt, während Wissenswertes nicht zu
finden ist. Auf S. 20 (Nomadenperiode der Juden) wird ein langes und
breites Qefasel über den Charakter der Nomaden gegeben, wahr-
scheinlich aus irgend einem Lexikon abgeschrieben, während von der
Nomadenperiode der Juden kein Wort zu finden ist«.
S. 39, Anm. 1: »Die Zitate aus dem Talmud in seinem Buche
sind nach secundären Angaben abgeschrieben«.
S. 49: »Das eigentliche Buch schließt mit Seite 231; dann be-
ginnt eine rein mechanische, wahrscheinlich aber aus Stracks »Ein-
leitung in den Talmud« abgeschriebene Inhaltsabgabe der Mischna,
der sich dann das oben besprochene Probestück aus dem Talmud
anschließt. Von diesen 231 Seiten besteht ungefähr die Hälfte aus
einer mechanischen wörtlichen Abschrift von Zitaten, auf die die
Schriftsteller, die er benutzt oder abgeschrieben hat, besonders O e i-
ger, verweisen«.
Qegen diese Ausführungen Goldschmidts findet sich in Fromers
ausführlicher Qegenkritik kein Wörtchen des Protestes!
Angesichts dieses Schweigens an den Satz »qui tacet, consentire
videtur« zu denken, ist bis jetzt nicht verboten gewesen.
Ad 2 a. Daß Herr Fromer im Text wehaschichbat vokalisiert
und in der Anmerkung behauptet hat: »grammatische Lesart webasch-
kabat«, ist richtig«. Wer aber einmal in einem mit Textfragen sich
beschäftigenden Buche geblättert hat, weiß, daß die Vornahme einer
Korrektur, das Vorschlagen einer Lesart kurz durch »lesen« ausge-
drückt wird, In diesem Sinne schrieb ich, daß Fromer wehaschkabat
liest, wie ich ja auch nur aus dem grammatischen Sprachgebrauch
die »Schnitzerhaftigkeit« dieser Lesung nachgewiesen habe. Daß Herrn
Fromer dieser Gebrauch des Zeitwortes »lesen« nicht bekannt Ist,
habe ich nicht vorausgesetzt.
Ad 2b. Die Verteidigung des Schnitzers »wehaschkabat« befindet
sich in Fromers Broschüre gegen Goldschmidt auf Seite 22 und 23,
also auf 2 Seiten. Daß die Behauptung: »wer die Schwierigkeit, die
g
Monatsschrift, 55. Jahrgang.
114 Erwiderungen.
die Lesung wehaschkabat veranlaßt, nicht kennt, der versteht nichts
von der hebräischen Grammatik« mit zur Verteidigung dieser Lesung
gehört, wird doch auch Herr Dr. Fromer nicht in Abrede stellen
wollen. Um aber eine weitere Berichtigung seitens Herrn Fromers zu
vermeiden, konstatiere ich ausdrücklich, daß die Verteidigung des
Schnitzers »wehaschkabat«: nicht zwei volle Seiten umfaßt.
V. Aptowitzer.
Herr B. Jacob sendet die nachfolgende Erwiederung ein.
Unter der Überschrift: »Neueste exegetische Methoden« hat
Herr S.Jampel, S. 395, Jahrg. 1910 dieser Zeitschrift auch meinem 1905
erschienenen Penttateuch einige Zeilen gewidmet. Da der Aufsatz für
einen weiteren Leserkreis bestimmt zu sein scheint und erhebliche
Irrtümer enthält, so dürfte eine Richtigstellung nicht unangebracht sein.
Zu den neuesten exegetischen Methoden zählt Jampel nämlich
auch den von mir vertretenen Standpunkt, daß, um zunächst hievon
zu reden, die chronologischen Angaben des Pentateuch ein
künstliches System sind. Ich will mich nicht dabei aufhalten, daß der
Herr Referent über den Begriff »exegetisch» nur unklare Vorstellungen
zu haben scheint. Mit der Exegese haben diese Dinge wenig oder
gar nichts zu tun. Aber nach dem Ausdruck, den Herr Jampel ge-
braucht und den Ausführungen, die er daran anknüpft, scheint er über-
haupt mit der Pentateuchforschung wenig bekannt zu sein. Denn
abgesehen natürlich von der Orthodoxie, welche die biblische Ge-
schichte von Adam an für buchstäbliche historische Wahrheit hält,
ist mir auch nicht ein Forscher bekannt, welcher anderer
Meinung ist. Es ist die einstimmige Meinung aller Gelehrten,
daß den Zahlenreihen von Adam bis Noah, sodann von Noah bis
Abraham, ferner den Zeitangaben für das Leben der Erzväter und
den Aufenthalt der Israeliten in Ägypten ein künstliches System
zu gründe liegt. Jeder wissenschaftliche Kommentar zur Genesis,
jedes Handbuch, jedes Realwörterbuch berichtet darüber. So beginnt,
um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen, der konservative Kittel den
Artikel »Zeitrechnung« in der Prot. Reaiencyclopädie 4, Bd. XXI, p.
369 folgendermaßen: »I. Das System. Ein chronologisches System hat
es zweifellos innerhalb des A. T. gegeben, vielleicht sogar mehrere,
die einander kreuzen . . . man ist in der Hauptsache heute über den
Standpunkt, sie (diese Zahlen) geschichtlich verstehen, bez. sie als
reine Geschichte »retten« zu wollen, hinausgewachsen«. Ein anderer
(Bosse) beginnt: »Was die früheren Bearbeiter dieser Fragen angeht,
sind sich fast alle über den systematischen Charakter der Chronolo-
gien einig. Ihr Aufbau, nicht ihre historische Richtigkeit ist darzulegen !«
Erwiderungen. 115
Oder es überschreiben Zimmern-Winkler, S. 319 ihres Werkes: »Die
Keilinschriften und das A. T.'« : Die biblische Chronologie ein
Schema, und bemerken dazu: »Von vornherein ist hiernach selbst-
verständlich, daß auch der Chronologie der israelitischen Überlieferung
ein derartiges Schema zugrunde liegte. In der Tat ist dies ganz selbst-
verständlich. Sobald man einmal die Geschichtlichkeit der Zahlen
leugnet — und diese Freiheit nehme ich mir allerdings mit tausend
anderen — und man nicht annehmen will, daß der Verfasser gedan-
kenlos irgendwelche Zahlen, die ihm gerade in den Sinn kamen,
niederschrieb, ohne zu fragen, ob sie zu einander stimmen, entsteht
sogleich die Frage, warum er Adam gerade 930, Set 912, Enosch
905 Jahre alt werden läßt und nicht, sagen wir, 830, 750, 620 o. ä.
Es entsteht die Frage nach dem System, aus dem diese Zahlen sich
ergeben. Die Versuche dieses System aufzudecken, sind, wie ich schon
auf S. 1 meines Buches berichte, zahlreich, und die Literatur darüber
schier unübersehbar. Den meisten Anklang hatten bisher die Berech-
nungen von Oppert gefunden, der in den biblischen Zahlen der Urzeit
eise arithmetische Reduktion eines babylonischen Systems sieht und
von A. v. Gutschmid u. Th. Nöldeke, welche annehmen, daß die
Theorie einer Weltzeit von 4000 Jahren zugrunde liege, von welcher
für die Zeit V3n Schöpfung und Auszug */» = 2666 angesetzt sei.
Aber es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht neue Versuche auftauchen.
Einer der letzten ist der von Bosse in den Mitteil. d. vorderasiatischen
Gesellsch. 1908 (der mein Buch nicht zu kennen scheint), wonach
zwei chronologische Systeme zusammengearbeitet seien; das erste
mit der Generationszahl 40 berechne von Adams Geburt bis zum
Ende des Exils 50X40 = 2000 Jahre, wozu aber Korrekturen des
biblischen Textes nötig sind, das zweite, auf der Zahl 260 beruhend,
wolle ein sog. großes Jahr von 3166 = 124X260 -f- 46 Jahren erzielen.
Auch nach Bosse sind mir noch mehrere Versuche bekannt geworden.
Ich muß es daher als eine unverdiente Ehre ablehnen, der Er-
finder dieser »neuesten* (!) exegetischen Methode zu sein. Meine Lösung
ist eine unter vielen, die jedenfalls das Verdienst in Anspruch nehmen
kann, daß sie die Sache nur aus den Aussagen der Bibel selbst er-
klärt, daß sie sich jeder willkürlichen Textänderung enthält, daß sie
den Nachweis bis in die kleinsten Details führt und in sich voll-
kommen widerspruchslos ist. Ja ich zeige, daß sogar der sprachliche
Ausdruck für die Zahlen die Art ihrer künstlichen Berechnung ver-
rät. So glaube ich allerdings, daß nunmehr der Schlüssel des Rätsels
gefunden ist. Es gereicht mir zur Genugtuung, daß z. B. ein so nam-
hafter Forscher, wie der bekannte Assyriologe Alfr. Jeremias sich be-
reits zu meinen Resultaten bekennt: »Die Lösung des Exempels
8*
116 Erwiderungen.
gefunden zu haben ist das Verdienst des Göltinger Gelehrten B. Jacob,
der in seinem Buche »Der Pentateuch« in überraschender Weise ge-
zeigt hat, wie usw. (»Die Zeitrechnung der biblischen Urgeschichtet
in der » Reformation c 1903 p. 66 ff.)-
Ebenso unverständlich ist mir der Ausdruck des Herrn Jampel,
wenn er sich auf meine Behandlung der Genealogien und Volks-
zählungen beziehen soll. Daß auch diese von einem künstlichen
System getragen werden, ist gleichfalls oft und längst von mir be-
hauptet worden. Meinungsverschiedenheit herrscht wiederum nur über
die Art und Ausarbeitung des Systems. So ist z. B. längst beobachtet
und für künstliche Konstruktion erklärt worden, daß in den Genea-
logien die schematische Zahl 12 herrscht, daß von den vier Frauen
Jakobs die Herrinnen doppelt so viel Söhne und doppelt so viel
Nachkommen als die Mägde haben (8: 4, 32: 16, 14: 7). Schon vor
vierzig Jahren hat Nöldeke anschaulich gemacht, wie die in jedem Be-
tracht unmöglichen 600.000 Israeliten der beiden Zählungen des Buches
Numeri auf die zwölf Stämme künstlich so verteilt sind, daß jedes-
mal sechs Stämme über und sechs Stämme unter 50.000 erhalten. Auch
hier ist an meinen Untersuchungen nicht die »Methode« neu, d. b.
das prinzipielle Verhältnis zu der angeblichen Geschichtlichkeit der
Zahlen und die Annahme irgendeines künstlichen Systems, sondern
die Art und Vollständigkeit der Lösung. Daher schreibe ich S. 98:
»daß diese Zahlen unhistorisch sind, wird selbst die entschlossenste
Apologetik nicht leugnen können. Wenn es überhaupt etwas Unmög-
liches im Pentateuch gibt, so sind es die sechsmalhunderttausend
erwachsenen Israeliten in der Steinwüste des Sinai, ungerechnet die
Weiber und Kinder. Die Zahlen sind also erdacht. Das System, nach
dem sie künstlich aufgestellt sind, ist aber noch nicht entdeckt, nur
von Nöldeke ist eine glückliche und wichtige Beobachtung gemacht
worden«.
Aus den ebenangeführten Worten ersieht man auch, daß es eine
Irreführung ist, wenn man es so darstellt, als leugneten wir die Ge-
schichtlichkeit wegen des nachgewiesenen Zahlensystems. Es ist mir
und sicherlich auch meinen Vorgängern keineswegs die Erwägung
fern geblieben, daß sich oft die überraschendsten Zahlenverhältnisse
auch da ergeben, wo eine Absichtlichkeit ausgeschlossen ist. Ich selbst
warne vor Übereilung, indem ich S. 23 in den meiner Berechnung
vorangeschickten »Grundsätzen« sage: »eine größere Reibe von Zahlen
läßt immer eine Menge von Kombinationen zu«. Das Verhältnis ist
vielmehr dies, daß uns die Nichtgeschichtiichkeit im allgemeinen aus
anderen Erwägungen feststand, ja daß sie die Voraussetzung war, ehe
wir an die Berechnung herangingen. Der Nachweis ihrer Künstlichkeit
Erwiderungen. 117
ist nur das bestätigende Siegel und allerdings geeignet, jene Erwä-
gungen noch erheblich zu verstärken und die letzten Zweifel zu
beseitigen.
Umgekehrt wird, wer aus dogmatischen Gründen an der Ge-
schichtlichkeit unter allen Umständen festzuhalten entschlossen ist,
von keinem künstlichen System etwas wissen wollen und liege es
auch sonnenklar am Tage. Für ihn sind die aufgedeckten Verhältnisse
immer »Zufall«, wenn auch ein merkwürdiger Zufall, er wird sich
auf andere zufällige Zahlenverhältnisse berufen u. dgl. mehr. Für
wen Adam tatsächlich 930, Set 912, Enosch 905, Methusalem 969 Jahre
alt geworden ist, der darf meine »neueste« Methode natürlich eben-
sowenig gelten lassen als die meiner Vorgänger. Es bleibt höchstens
ein Ausweg, der in der Tat schon beschritten worden ist, wo man
sich der frappanten Arithmetik ehrlicher Weise nicht entzog: die An-
nahme einer von Gott prästabilierten Zahlenharmonie.
Ebenso wie mit der Geschichte, d. i. der Chronologie und Ge-
nealogie, verhält es sich mit dem Gesetz des Pentateuchs. Daß die
Stiftshütte mit ihrem ganzen Apparat, so wie sie irr. Pentateucu
beschrieben wird, ein Phantasiegebilde ist, steht der Kritik gleichfalls
längs u. . Ich habe nur zuguterletzt nachgewiesen, wie auch ihre
Konzeption von gewissen Grundzahlen beherrscht wird. Übrigens
behaupte ich trotzdem, daß die Beschreibung kein reines Phantasie-
gebilde in dem Sinne Ist, daß der Verfasser, losgelöst von jeder
Wirklichkeit, sich all diese Dinge ausgedacht hat. Seine Darstellung
ist die konsequente Idealisierung und systematische Vereinfachung
eines tatsächlich geübten Kultus, nicht eine geschichtliche freie Be-
schreibung (S. 345).
Tiefer in die Exegese greifen die »Abzahlungen in den
Gesetzen der Bücher Leviticus und Numeri« ein, die ich 1908 in
einer besonderen Arbeit veröffentlicht habe, um die Zahl in den Ge-
setzen, deren Untersuchung meine weitere Aufgabe wäre, vorweg zu
erledigen. Allein auch hierin war ich nicht ohne Vorgänger. Bereits
vor siebzig Jahren hat Bertheau in einem umfangreichen Buche: »Die
sieben Gruppen mosaischer Gesetze« eine zahlenmäßige Ordnung des
ganzen Gesetzesstoffes Rachzuweisan versucht. Warum er scheitern
mußte, habe ich in meiner Arbeit einleitend angedeutet. Will man es
aber auch ferner noch reinen Zufall nennen, daß, wie ich aufgedeckt
habe z. B. in Lev. 11 gerade 3X12 Tiere genannt sind? daß es 12
mal heißt: »unrein sei es euch«, daß 2X12 die Wörter Unrein oder
Rein vorkommen, daß die Zahl der speziellen Unreinheiten (c. 31— 38)
gerade 12 ist? — Daß in c. 13, 14 (der Aussatz) es 2X12 Fälle sind,
iu denen der Priester auf Rein oder Unrein entscheidet, daß das Re-
118 Erwiderungen.
sultat des Verfahrens in 2X12 Sätzen angegeben ist, daß 2X12 Eade-
aussagen vom Träger des Aussatzes gemacht werden, daß diesen
2X12 Schlußsätzen 2X12 Satzanfänge entsprechen, daß der Priester
in 4X12 Handlungen funktioniert, daß er 70 Mal namentlich genannt
ist, daß der Aussatzflecken 70 Mal namhaft gemacht wird, desglei-
chen die Fristen 70 Tage ergeben, daß 12 Mal der zu Sühnende
genannt ist? — Daß c. 15 zweimal 12 und wiederum zweimal 12
Fälle der Unreinheit aufzählt? — Daß c. 18 die Zahl der verbotenen
Verbindungen 2X12 ist, daß 2X12 Mal die Blöße genannt ist? —
Daß c. 19 4X12 (vielleicht!) Gebote und Verbote enthält? — Daß in
c. 12 immer wieder die Zahl 12 auftritt? — Daß in c. 21, 22 gerade
12 Gebrechen des Priesters und 12 des Opfertieres gezählt sind? —
— Und so zahllose Fälle, in denen immer wieder die Zahlen 12 und
70 wiederkehren.
Der gegenwärtig noch mächtigen Richtung müssen meine Er-
gebnisse natürlich sehr fatal sein. Denn sie untergraben das Funda-
ment des ganzen Baues, die Quellenscheidung des Pentateuchs, die
angeblich zu den allergesichertsten Resultaten der Bibelkritik gehört.
Vielleicht glaubt man sie um so eher beiseite schieben, oder tot-
schweigen zu können, als es sich ja um einen outsider handelt.
Aber die Tage der Herrschaft dieser Richtung sind gezählt.
Eben erst hat sich wieder ein früherer namhafter Anfänger Prof.
Eerdmanns in Leiden öffentlich von ihr losgesagt, während die
entwicklungsgeschichtliche Theorie schon läagst ihre Not hat, ihr
Terrain zu verteidigen. Jedoch muß ich anerkennen, daß ein mit dem
Pentateuch so gründlich vertrauter Forscher wie Holzinger bereits,
wenn auch zögernd, den Anfang gemacht hat, sich mit meinen Er-
gebnissen abzufinden (Deutsche Literaturztg. 1910, p. 2319 f.), Be-
sonders aber darf ich auf die Besprechung Bachers in der Or. Ltztg.
1909 p. 268 ff. hinweisen, der einzigen gründlichen und sachgemäßen,
die bisher erschiene» ist. Nach zahlreichen Beanstandungen von Ein-
zelheiten schließt er: ich stehe nicht an, diese Nachweise systema-
tischer Zahlenverhältnisse im Text der pentateuchischen Gesetzes-
abschnitte als ein höchst überraschendes und merkwürdiges Ergebnis
minutiöser Beobachtung anzuerkennen. Der Verfasser darf das Ver-
dienst in Anspruch »ehmen, als Erster »die im Text der Thora sich
bergenden Zahlengeheimnisse enthüllt zu haben«.
Daß auch die naive Gläubigkeit vor den Resultaten unserer
Forschung erschrickt, verstehe ich, aber es ist nicht wohlgetan, vor
ihnen gewaltsam die Augen zu verschließen. Nach meiner Über-
zeugung ist die Auseinandersetzung mit der Bibelkritik ohne inner-
lich unwahre apologetische Tendenz gegenwärtig die eigentliche
Erwiderungen. 119
Lebensfrage für das Judentum. Auch über mangelnde »Ehrfurcht« zu
jammern, hat keinen Zweck. Die Wissenschaft hat die Wahrheit zu
ermitteln, nichts anderes. Wem dies schmerzlich ist oder pietätslos
erscheint, der tut freilich besser, davonzubleiben. Immerhin sei aber
bemerkt, daß die despektirlichen Redensarten von dem »Elaborat
eines an Zahlensucht leidenden Skribenten, dessen mathematische
Kenntnisse das Niveau eines Volksschülers nicht überschritten haben«,
nicht bei mir zu finden sind, sondern nur in dem Referat des Herrn
jampel.
Daß meine und meiner Vorgänger Untersuchungen mit den
kabbalistischen Zahlen- und Buchstabenspielereien alter und neuester
Zeit nichts zu tun haben, brauche ich wohl kaum zu sagen. (Ein
höchst ergötzliches Beispiel hat neuestens Steuernagel ZAW. 1910,
p. 10 f. geliefert). B. Jacob.
Darauf antwortet Herr S. Jampel:
Die Überschrift : »Neueste exegetische Methoden«
wollte nur die verschiedenen Literaturerzeugnisse, die besprochen
werden sollten, unter einen möglichst passenden Hut bringen. Da
mit Ausnahme des Herrn Jacob die c. anderthalb tausend Leser
keinen Anstoß daran genommen haben, so beweist sein vereinzelter
Widerspruch, daß im allgemeinen das Richtige getroffen war. Auf
ihn und seine Arbeit bezieht sich übrigens — was er sorgfältig ver-
schweigt — die Sonderüberschrift : »Die arithmetische Me-
thode« und da er gegen diese nichts einwendet, so ist sie offenbar
mit der gewählten Bezeichnung richtig charakterisiert.
Auf seine weiteren Ausführungen einzugehen, erübrigt sich
umsomehr, als alles, was er hier sagt, bereits in seinen Büchern steht
under nicht das mindeste Neue beibringt. Über die Anschauungen,
die er mir im ersten Teil seiner Entgegnung zuschreibt, habe ich mich
noch nie in der Öffentlichkeit geäußert. Alle seine Geschosse fliegen
demnach einfach über mein armes Haupt hinweg. Was aber ich über
seine Darlegungen kritisch gesagt habe, kann ich Stück für Stück be-
weisen. Ich habe u. a. gesagt, daß die »von ihm nachgewiesenen
Zahlen nicht immer ohne weiteres stimmen«. Man liest z. B. bei ihm
Pentateuch, S. 17 : »*|ffl mit folgender Jahreszahl« findet sich nur
an vier Bibelstellen. Es steht aber an fünfen, vgl. II, Kö. 14, 17. Mit
i Bruchteilen von Jahren zu rechnen«, meint er S. 18, »kann nicht die
Absicht [der Bibel] sein«. Vgl. aber Ri. 19, 2. 20, 47. I. Sa. 27, 7.
IL Sa. 2, 11. 5, 5. 6, 11. 24, 8. I. Kö. 11, 16. IL Kö. 15, 8.
23, 31. 24, 8. I. Chr. 3, 4. 13, 14. 21, 12. IL Chr. 36, 2. 9. Rechnet
120 Erwiderungen.
also die Bibel wirklich nicht mit Bruchteilen von Jahren? S. 40 f
wird uns gesagt, daß der Aufenthalt der Israeliten in Ägypten 215
Jahre gedauert habe und S. 42 wird bewiesen, daß er 216 Jahre
gedauert haben müsse. So könnte ich fast Seite für Seite seines
Buches durchsehen, wenn die Redaktion es mir im Rahmen dieser
Erwiderung gestattete.
Nur noch Zweierlei. Erstens : die Ehre der Vaterschaft an dem
»an Zahlensucht leidenden Skribenten, dessen mathematische Kennt-
nisse das Niveau eines Volksschülers nicht überragen,« muß ich ent-
schieden ablehnen. Es ist gar nicht meine Art, so zu schreiben. Die
Wendung ist vielmehr, wie ich genau weiß, eine Lesefrucht aus den
Büchern des Herrn Jacob. Zwar kann ich das Zitat im Augenblick nach
Seite und Zeile nicht nachweisen. Wenn ich aber wieder einmal Ge-
legenheit habe, zu den Lesern dieser Zeitschrift zu reden, will ich das
Versäumte nachholen. Ferner: dem Versuch, mich mit Autoritäten tot
zu schlagen, muß ich entgegen treten. Autoritäten gelten mir so gut
wie nichts. Nur zwei Instanzen erkenne ich rückhaltslos an : die Ur-
kunden, die mir vorliegen, und den gesunden Menschenverstand, mit
dem sie zu prüfen und zu beurteilen sind. Wenn es Herrn Jacob
eine Qenugtuung bereitet, daß der und jener große Mann vor und
mit ihm denselben Irrweg eingeschlagen hat, so gönne ich ihm
gern diesen mildernden Umstand, den er für sich geltend macht.
Einig sind wir in dem Bestreben, unbefangen die Wahrheit zu
ermitteln. Aber seinen Weg mache ich nicht mit. »Zahlen haben
etwas Dämonisches« sagt er a. a. O. S. 23. Dämonischem nachzugehen,
ist nicht meine Passion, und ich glaube, daß die Gelehrten mir Recht
geben werden. S. Jampel.
■k
I.
Achter Jahresbericht der Gesellschaft zur Förderang
Wissenschaft des Judentums.
der
Auf das abgelaufene Geschäftsjahr 1909/10 darf die Gesellschaft
mitrgleicher Befriedigung wie auf die Vorjahre zurückblicken. Sie
ist in; demselben den in den Vorjahren erfolgreich beschrittenen Weg
weitergegangen.
In der Generalversammlung der Gesellschaft am 29. Dezember
1909 wurde der bisherige Ausschuß, in der konstituierenden Sitzung
des Ausschusses der bisherige Vorstand, i* den außerdem anstelle
des verstorbenen Herrn Dr. Gustav Karpeles Herr Rabbiner Dr. Bloch-
Posen als Schriftführer eintrat, wiedergewählt.
An neuen Mitgliedern haben wir im Berichtsjahre abermals
über 100 gewonnen. Da wir aber gerade in diesem Jahre mehr als
sonst Mitglieder durch den Tod verloren haben, so ist im Endresultat
die Anzahl unserer Mitglieder nur von 1209 auf 1278 gestiegen;
außerdem stieg die Zahl der immerwährenden Mitglieder von 31
auf 33. Ihre Verteilung auf die einzelnen Länder veranschaulicht
folgende Tabelle:
Ortschaften
Immerw. j Zahl.
Mitglieder
Deutschland ....
227
25
962
Österreich-Ungarn .
71
3
199
Vereinigte Staaten v.
Nordamerika und
Canada
18
—
33
Rußland . .
5
—
13
Niederlande
5
7
Schweiz .
.
4
13
Italien . . .
.
4
—
4
Schweden
3
—
3
England .
2
—
24
Belgien .
2
3
1
Dänemark
1
—
7
Frankreich
1
1
5
122
Protokolle.
Ortschaften lmm,"rw- Zahl
Mitglieder
Rumänien.
Transvaal .
Bulgarien .
Luxemburg
Türkei . .
Indien . .
1
1
1
1
—
2
1
—
1
. .
1
—
1
1
—
1
1
—
1
33
1278
Unsere Einnahmen betrugen 43,912*23 M gegenüber Ausgaben
in Höhe von 32,47380 M. Die Einnahmen aus den jährlichen Mit-
gliederbeiträgen weisen infolge der dankenswerten Beitragserhöhung
verschiedener Oemeinden und Körperschaften und entsprechend dem
Zuwachs an Mitgliedern einen Mehrbetrag von 170845 M gegenüber
dem Vorjahre auf. Ferner haben wir besondere Zuwendungen in
Höhe von 14,000 M für das Corpus Tannaiticum zu verzeichnen,
welche wir dem von dem unterzeichneten erstem Vorsitzenden ge-
weckten Interesse der Frau Marie Errera-Brüssel und der Herren
Baron Edmund von Rothschild-Paris und Generalkonsul Franz Phi-
lippson-Brüssel verdanken. Aus diesen 14,000 M sind bereits in diesem
Jahre die Ausgaben für das Corpus Tannaiticum gedeckt worden,
während aus dem Restbetrag von 9769*73 M ein besonderer Fonds
für dieses Unternehmen gebildet wird. Infolge dieser Entlastung
unserer Kasse schließen wir nur mit einem Fehlbetrag von 150140 M
gegenüber 1668-70 M im Vorjahre ab, obwohl die Ausgaben für die
Herausgabe unserer Werke gerade im Berichtsjahre eine nicht unbe-
trächtliche Höhe erreicht haben.
Wie in den Vorjahren erhielten unsere Mitglieder auch in
diesem Jahre die »Monatsschrift für Geschichte und
Wissenschaft des Judentums« und das »Jahrbuch für
jüdische Geschichte und Literatur«, Jahrgang 1910,
sowie auf Wunsch den II. Band der Gesammelten Schriften
von D. Kaufmann, herausg. von M. Brann und die Mittei-
lungen des Gesamtarchivs der deutschen Juden,
herausg. von E. T ä u b 1 e r. Ferner haben wir wie früher unsern
Mitgliedern den Bezug einer größeren Anzahl von Büchern und Zeit-
schriften zu ermäßigten Preisen vermittelt.
Ausser der Monatsschrift 1910 gab die Gesellschaft heraus:
1. S. Krauß, Talmudische Archäologie, Bd. I (Bd. 6
des Grundrisses der Gesamtwissenschaft des
Judentums).
Protokolle. 123
2. H. Stcinthal, Über Jnden und Judentum, hrsg.
von O. Karpeles, 2. Aufl. hrsg. von N. M. Nathan.
3. J. Rösel, Die Reichssteuern der deutschen
J ude n g em e i nd e n von ihren Anfängen bis
zur Mitte des XIV. Jahrhunderts.
Mit Subvention der Gesellschaft sind erschienen:
Abraham benlsaak, Sefer ha-Eschkol, hrsg. von
Seh. A 1 b e c k, Lieferung 1.
A.Ackermann, Münzmeister Lippold.
E. Ben Jehuda, Thesaurus des gesamten hebrä-
ischen Sprachschatzes, Bd. II, Lieferung 1 — 10.
M. Quttmann, Talmudische Realenzyklopädie,
Heft 7.
R. Jona Gerund i, Kommentar zu den Sprüchen,
hrsg. von A. Löwenthal.
Menachen ben Salomo Meiri, Magen Aboth,
24 talmudische Abhandlungen, hrsg. von L. Last.
In den ersten Monaten des nächsten Jahres werden der zweite
Band der Talmudischen Archäologie von S. Krauß, ferner
die von der Gesellschaft mit reichen Mitteln subventionierte arabische
Ausgabe der Herzenspflichten von Bachja von A. Yahuda
erscheinen; sodann wird auch der dritte Band der Neuesten Ge-
schichte des jüdischen Volkes von M. Philippson
im Laufe des nächsten Jahres dem Druck übergeben werden können.
Von dem ersten Bande des letztgenannten Werkes ist eine von J.
Schermann-Odessa veranstaltete, mit einem Vorwort des Ver-
fassers versehene, russische Ausgabe erschienen; der zweite Band
befindet sich unter der Presse.
Die »Monatsschrift für Geschichte und Wissen-
schaft des Judentums« hat den verschiedenen Gebieten un-
serer Wissenschaft eine möglichst gleichmäßige Pflege zuteil werden
lassen. Die Aufsätze behandeln Gegenstände aus dem Bereiche der
Bibelwissenschaft, der Traditionsliteratur, der Geschichte und Litera-
turgeschichte. Auch den hebräischen Sprachstudien und der Ent-
wicklung der exegetischen und religionsphilosophischen Literatur
sind einige Beiträge gewidmet. Wenn dabei größtenteils die Ge-
schichte des Mittelalters und der Neuzeit berücksichtigt worden ist,
so liegt das an der bereits mehrfach hervorgehobenen Tatsache, daß
noch immer die Arbeitsfreudigkeit der jüdischen Gelehrten sich
diesem weit ausgedehnten Felde gern zuwendet. Die Rundschau über
einzelne Sondergebiete ist in diesem Jahre fortgesetzt worden.
Daneben wurden, wie es seit einigen Jahren üblich ist, Auf-
124 Protokolle.
sätze veröffentlicht, welche geeignet sind, das Interesse weilerer ge-
bildeter Kreise unserer Gemeinschaft zu erwecken. Wenn die mate-
riellen Mittel der Gesellschaft es ermöglichten, den Umfang unserer
Zeitschrift zu erweitern, so würde nach dieser Richtung hin noch
mehr geboten werden können; denn das Angebot geeigneter Ab-
handlungen ist fortdauernd in diesem Bereich fast ebenso groß, wie
auf dem Gebiete der strengen Wissenschaft. Die wichtigsten neu
erschienenen Bücher sind nach Gebühr gründlich und unparteiisch
besprochen worden. Die bibliographische Übersicht über die litera-
rische Produktion des vorigen Jahres ist in der bisherigen Weise
fortgesetzt worden.
Die Kommission für die Germania j u d a i c a hat ihre Vor-
arbeiten für Band I beendigt und acht Probeartikel der Öffentlichkeit
vorgelegt. Zahlreiche Gelehrte haben sich datüber geäußert und waren,
abgesehen von unwesentlichen Ausstellungen, mit Form, Umfang und
Inhalt durchaus einverstanden.
Inzwischen haben die Herren Mitarbeiter die Fertigstellung
ihrer Beiträge derartig gefördert, daß im Laufe des Jahres 1911 mit
dem Druck des ersten Bandes wird begonnen werden können. Zu-
gleich ist mit der Anlegung der Orts- und Personen-Verzeichnisse
ür Band II der Anfang gemacht worden1).
Die Arbeiten an dem Corpus Tannalticum schreiten
fort. Die Sammlung der agadischen Baraithas ist fast zum Abschluß
gelangt. Mit der Drucklegung dieser Sammlung wird demnächst be-
gonnen werden können. Auch die Bearbeitung der Toseftaausgabe
nimmt einen guten Fortgang. Von der geplanten Mischnaaus-
gabe mit sich anschließender Baraitha-Sammlung ist ein Probebogen
an hervorragende Fachgelehrte des In- und Auslandes versandt
worden. Es sind bereits zahlreiche Gutachten eingegangen, die zum
Teil sehr schätzenswertes Material enthalten, das bei der endgiltigen
Gestaltung dieses bedeutsamen Werkes gebührende Berücksichtigung
finden wird. Der verehrten Herren, die unserer Bitte, uns bei diesem
Unternehmen mit ihrem Rate beizustehen, so bereitwillig nachge-
kommen, sei hiermit der verbindlichste Dank ausgesprochen.1)
Der Ausschuß bewilligte in seinen Sitzungen vom 29. Dezember
i) Wir lassen hier die Namen der an den Arbeiten für die «Germania judalca«
beteiligten Herren folgen; es sind dies die Herren Dir. B rann-Breslau, Freimann
Frankfurt a. M., Frei ma n n- Holleschau, Gins barger- Sulz l. E., Kober-Wies-
baden, Lewinsky- Hildesheim, Löwenst ein-Mosbach. Salf eld- Mainz, Tyko-
cin sky- Berlin.
») An den Arbeiten für das >Corpus Tannaiticum« sind beteiligt die Herren
Drr. Baneth -Berlin, Berdyczewski-Breslau, Horo vitz-Breslau, Judele witsch-
Berlin, Nagelberg-Triesch, Rosenberg-Ancona.
Protokolle. 125
1909 und 30. Juni 1910 Subventionen: 1. Herrn AI b e ck- Warschau
für seine Edition des H a e s c h k o 1. 2. Herrn Ben Jehud a-Jeru-
salem für die Fortsetzung seines Thesaurus der hebräisch ea
Sprache. 3. Herrn B ri sk-Jerusalem für seine Edition von Grab-
inschriften in Jerusalem. 4. Herrn J a w i t z-Berlin für die
Fortsetzung seiner Geschichte Israels. 5. Herrn Last-
Ramsgate für Meiris Magen Aboth. 6. Herrn Rabk
Dr. T h e o d o r-Bojanowo für die Fortsetzung seiner Ausgabe des
öreschit rabba. 7. Herrn Dr. T h o m s e n-Dresden für den
zweiten Band seiner Bibliographie der Palästinaliteratur.
8. Herrn Privatdozent Dr. Falk-Genf für seine Ausgabe der Bücher
Samuelis in deutschen N i b el u n ge n s t r o p h e n des
15. Jahrhunderts. 9. Herrn F r i e d b e r g- Frankfurt a. M.
für seine Bibliographie der hebräischen Literatur.
10. Herrn L a m m-Berlin für das Michaeli s'sche Werk über
die Rechtsverhältnisse der Juden in Preußen.
1 1. Herrn Dr. L ö w e n t h a 1-Hamburg für den Kommentar
des JonaGerundi zudenSpüchen. 12. Dem Gesamt-
archiv derdeutschenjudenfür seine Mitteilungen.
13. Dem Verband für Statistik der Juden. 14. Dem
Verein Mekize Nirdamim für ihre Veröffentlichunge
1 5. Dem Zentralverein deutscher Staatsbürger
jüdischen Glaubens für die Festschrift zur Säku-
larfeier der preußischen Judenemanzipation.
Aus Anlaß der 100. Wiederkehr des Geburtstages des Rabbiners
Dr. Ludwig P h i 1 i p p s o n am 28. Dezember 1911 veranstalten
dessen Söhne eine Ausgabe ausgewählter Aufsätze ihres Vaters. Wir
sind schon jetzt in der Lage, unsern Mitgliedern mitteilen zu können,
daß ihnen dieses Werk Ende 1911 kostenlos zugehen wird.
Für das neue Geschäftsjahr stellen wir insern Mitgliedern
dieselben Werke, die wir im letzten Jahresbericht, S. 3, vgl. Monats-
schrift 1910, S. 123, angezeigt haben, zu ermäßigten Preisen zur Ver-
fügung. Auch weisen wir hin auf das von A. Hyman-London, E, 3a
Tenter St. North, Goodmansfields mit Unterstützung englischer Ge-
sellschaften herausgegebene Werk Toledot Tannaim we-Amoraim,
welches Werk vom Verfasser zum Preise von 12,25 M. zu beziehen ist.
Die Einziehung der Jahresbeiträge erfolgt in den in der Mit-
gliederliste mit einem * versehenen Orten durch die dort an erster
Stelle genannten Vertrauensleute ; von denjenigen Einzelmitgliedern,
die ihren Beitrag bis zum 28. Februar 1911 nicht an unseren Schatz-
meister, Herrn Paul Veit Simon, Berlin W. 56, Hinter der katholischen
Kirche 1, Postscheckkonto Berlin 7030, abgeführt haben, werden wir
126 Protokolle.
diesen nach vorheriger Mitteilung durch die Post einziehen. Wir
bitten unsere verehrten Mitglieder dringend, uns in der Einziehung
der Beiträge freundlichst unterstützen zu wollen, da nur der Eingang
der Beiträge den Bestand und die Arbeit der Gesellschaft zu gewähr-
leisten vermag. Ebenso bitten wir wiederholt um sofortige Mitteilung
von Wohnungsänderungen an unsern stellvertretenden Schriftführer
Herrn Dr. N. M. Nathan, Berlin N. 24, Artilleriestr. 9, an den auch
Beitrittserklärungen zu richten sind.
Zum Schlüsse danken wir unseren Mitgliedern und Vertrauens-
leuten, die wie in den früheren so auch in dem abgelaufenen Geschäfts-
jahre unserer Gesellschaft ihr Interesse bekundet und ihr neue Mit-
glieder zugeführt haben. Möge es auch in dem neuen Geschäftsjahre
so bleiben, zum Besten unserer Arbeit und zum Wohle unserer
Glaubensgemeinschaft.
Berlin, im Dezember 1910.
Philippson. Guttmann. Bloch.
II.
Protokoll über die Sitzung des Ausschusses der Gesellschaft zur
Förderung der Wissenschaft des Judentums
am Diensiag, den 27. Dezember 1910, im Büro des D. J. G. B., Berlin
W., Steglitzerstraße 85 I., vormittags 10 Uhr.
Anwesend die Herren: Baneth, Bloch, Brann, Cohen, El-
bogen, Guttmann, Lucas, Maybaum, Philippson, Porges, P. V. Simon,
Simonsen, Weiße und Nathan als stellvertretender Schriftführer.
Entschuldigt die Herren: Adler, Blau, Cohn, Schwarz,
Steckelmacher, Vogelstein, Werner.
Der Vorsitzende Philippson eröffnet die Sitzung um lO1/* Uhr
und verweist auf den gedruckt vorliegenden Jahresbericht. Im An-
schluß daran werden die Anträge Guttmann, die Druckkosten
einer populären Biographie Philippsons, die aus Anlaß seines hun-
dertsten Geburtstages am 28. Dezember 1911 erscheinen wird, zu
übernehmen, und Cohen, die Winterausschußsitzung und die Gene-
ralversammlung der Gesellschaft 1911 am 23. Dezember dieses
Jahres abzuhalten und den Vortrag der G.-V. Ludwig Philippson zu
widmen, angenommen.
In Sachen des C. T. erstattet Guttmann über den Stand der
Mischnaharbeiten und über die zum Probebogen der Mischnah-
ausgabe eingegangenen Urteileinsbesondere Baneth Bericht. Es
wird beschlossen:
Protokolle. 127
1. der Mischnahausgabe nur eine Rezension zugrunde zulegen, mit
der Einschränkung, daß an denjenigen Stellen, an denen die bei-
den Mischnahtexte sehr wesentlich differieren, ausnahmsweise beide
Texte nebeneinander gestellt werden,
2. einen neuen Probebogen für die Mischnahausgabe herauszugeben,
3. die Tosefta in einzelnen Heften zu publizieren und zwar unab-
hängig vom Erscheinen der Mischnah,
3. die Mehrkosten der Bücheranschaffungen für die Bearbeitung der
Tosefta nachträglich zu bewilligen.
Beim Berichte Branns über die G. J. werden Herrn Dr.
Tykocinsky seine jährliche Remuneration erhöht und Herrn Dr. Löwen-
stein-Mosbach eine Reisesubvention für das von ihm beabsichtigte
Corpus approbationum bewilligt. Zur Vorbereitung des II. Bandes
der G. J. wird eine aus den Herren Brann, Freimann, Geiger, Lucas,
Porges bestehende Kommission eingesetzt, welche mit dem Vorstand
des Gesamtarchivs der deutschen Juden bebufs gemeinsamer Ausar-
beitung eines Urkundenkatalogs für die Geschichte der d. J. in Ver-
bindung treten soll.
Zum Maimonideswerk berichtet Guttmann, daß der II. Band
in der ersten Hälfte des Jahres 1911 druckfertig vorliegen wird.
Der Ausschuß votiert den Herren Baneth, Brann, Frei-
mann, Guttmann den herzlichsten Dank für ihre Arbeiten.
Subventionen werden bewilligt den Herren: Alb ek- Warschau
für seine Eschkolausgabe, Bamberger-Wandsbeck ein einmaliger
Betrag für seine Grabsteinforschungen auf Fehmarn, Klein-Dolmjar
für seine Studienreisen nach Palästina, Theodor-Bojanowo für seine
Ausgabe des Bereschit Rabba, H eppner-Koschmin für seine Arbeit
über die Juden und die jüdischen Gemeinden in der Pr. Posen.
Die übrigen Gesuche werden abgelehnt.
Der Vorsitzende lädt die Anwesenden zur Eröffnungsfeier des
Gesamtarchivs d. d. J. ein.
Die Anwesenden erheben sich zu Ehren des verstorbenen, um
die jüdische Allgemeinheit verdienten Dr. Hirsch Hildesheimer von
ihren Sitzen.
Schluß 1»/, Uhr.
Philippson. Nathan.
128 Protokolle.
III.
Protokoll über die Generalversammlung der Gesellschaft zur Fördering
der Wissenschaft des Judentums
am Dienstag, den 27. Dezember 1910, abends 8 Uhr in der Aula der
Knabenschule der jüdischen Gemeinde, Berlin N,GroßeHamburgerstr. 27.
Der Vorsitzende eröffnet die Generalversammlung und konsta-
tiert, daß sie satzungsgemäß einberufen worden ist.
Nach Erstattung des Jahres- und Kassenberichtes wird dem
Ausschuß und dem Schatzmeister die Entlastung erteilt. Der bisherige
Ausschuß, desgleichen die bisherigen Revisoren werden durch Zuruf
wieder gewählt.
Darauf hält Herr Doz. Dr. Horovitz-Breslau seinen Vortrag
über die Stellung des Aristoteles bei den Juden des Mittelalters, der
von der zahlreich anwesenden Hörerschaft mit Aufmerksamkeit und
andauerndem Beifall entgegengenommen wird. Mit lebhaften Dankes-
worten an den Vortragenden schließt der Vorsitzende die General-
versammlung.
Schluß 9«/4 Uhr.
Philippson. Nathan.
IV.
Protokoll über die Sitzung des Aasschusses der Gesellschaft zur För-
derung der Wissenschaft des Judeitums
am Dienstag, den 27. Dezember 1910, abends 9V4 Uhr, in der Aula der
Knabenschule der jüdischen Gemeinde, Berlin N, GroßeHamburgerstr. 27.
Der neugewählte Ausschuß konstitutiert sich und wählt durch
Zuruf den bisherigen Vorstand wieder.
Die Fachkommissionen werden bestätigt.
Schluß 97« Uhr.
Philippson. Nathan.
*
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift ist untersagt.
Für die Redaktion verantwortlich : Dr. M. BRAN'N in Breslau.
Druck von Adolf Alkalay & Sohn in Preßburg.
Kürzen and Längen in der Bibel.
Von M. Güdemann.
»Der Hauptreiz jeder Rede ist die Kürze,
Dient auch der schlechtesten zur Würze,
Doch selbst die beste, wenn zu lang,
Macht ihrem Hörer angst und bang.«-
Diese Verse entstammen nicht der Feder eines Dichters
was man ihnen auch wohl ansieht. Wenn ich sie dennoch
an die Spitze meiner Untersuchung stelle, so geschieht es
deshalb, weil ich selbst sie gemacht, oder, wenn man will,
verbrochen habe. Dies kam so. Seit einem halben Jahr-
hundert habe ich berufsmäßig öffentlich zu reden, genauer
gesagt, zu predigen. Die Erfahrungen, die ich während
dieses langen Zeitraumes zu sammeln Gelegenheit hatte,
haben in mir die Erkenntnis gezeitigt, daß die meisten
Menschen ihr Urteil über eine Rede hauptsächlich nach
deren Kürze oder Länge bestimmen. Wie oft hört man von
einer Rede sagen : »Sie war gut, aber zu lang!« Hier wird
das anfängliche Lob durch den nachfolgenden Tadel in
Schatten gestellt. Da ist vielleicht das andere Urteil vor-
zuziehen, das von einer Rede besagt : »Sie war zwar
nicht gut, aber kurz.« Hier klingt der anfängliche Ta-
del in ein Lob aus, das ihm seine Schärfe raubt. So
viel hängt bei Beurteilung einer Rede von ihrer Kürze oder
Länge ab. Dieser durch lange Erfahrung gereiften Erkennt-
nis habe ich gelegentlich in den angeführten Versen Aus-
druck gegeben. Sie sind der Niederschlag wieder und wie-
der gemachter Wahrnehmungen. Auf einen höheren Wert
machen sie keinen Anspruch.
Auch die rhetorische Entwicklung vollzieht sich an
Q
Monatsschrift 55. Jahrgang.
130 Kürzen und Längen in der Bibel.
der Hand dieser Erfahrung. Der angehende Redner weiß
zuerst keinen Anfang und nachher kein Ende zu finden.
Zuerst ist er gleich fertig mit seiner Rede, dann gerät sie
zu kurz, später kann er nicht fertig werden, dann wird sie
zu lang. Erst fortgesetzte Übung ergibt das richtige Längen-
maß. Stimmen dann Form und Inhalt überein, dann lautet
das Urteil : kurz und gut. Das ist das beste, was man von
einer Rede sagen kann, aber es ist bemerkenswert, daß
dieses höchste Lob einer Rede von ihr rühmt, daß sie
kurz ist, noch bevor sie hervorhebt, daß sie gut ist. Es
kommt also immer wieder auf die Kürze an.
Aber nicht bloß der Redner, sondern auch der Schrift-
steller hat sich an dieses Urteil zu halten. Der Leser will
ebensowenig wie der Hörer gelangweilt sein, sondern will
Kurzweil haben. Diese Ausdrücke entsprechen den Empfin-
dungen, die durch die Länge oder Kürze der Darstellung
hervorgerufen werden, woraus folgt, daß der Autor die
Länge vermeiden und der Kürze sich befleißigen muß.
Letztere ist unter allen Umständen von Vorteil. Ist die
Darstellung gut, so steigert die Kürze den Erfolg, den die
Länge nur abschwächen kann. Ist sie aber nicht gut und
dabei lang, so setzt sich der Autor dem zweifachen Tadel
aus, daß man ihm »der langen Rede kurzen Sinn« zum
Vorwurf macht.
Länge und Kürze sind jedoch relative Begriffe. Lang
ist, was langweilt, und kurz, was Kurzweil schafft. Deshalb
kann die Länge kurz und die Kürze lang erscheinen. Länge
und Kürze sind demnach künstlerische Kriterien von der
größten Bedeutung, denn nur ein Künstler weiß mit beiden
umzugehen und sie je an ihrem Orte wirksam zu ver-
wenden. Dies ist einer von den Vorzügen des an Vorzügen
so reichen biblischen Stils. Insbesondre erteilt die Tora
hierüber eine so eingehende und umfassende Belehrung,
wie man sie schwerlich aus irgend einem anderen klassischen
Buche schöpfen kann. Unsere alten Lehrer haben bereits
Kürzen und Längen in der Bibel. 131
die auf der gründlichsten Kenntnis der biblischen Diktion
beruhende Behauptung ausgesprochen : »Die Worte der
Tora sind stellenweise dürftig und stellenweise reichlich«
(Jer. Rosch ha-Sch. III, 5), was soviel sagen will wie : die
Tora weist bald Kürzen, bald Längen auf; natürlich beab-
sichtigte, einen künstlerischen Zweck verfolgende. Eine
zusammenfassende Prüfung wird diese Voraussetzung
bestätigen und einen Beitrag zur Würdigung der großen
Kunst des biblischen Stils, insbesondere der biblischen
Erzählungskunst, ergeben. Aber das ist keineswegs das
einzige Ergebnis. Ist man erst einmal auf das Geheimnis
der Anwendung von Kürzen und Längen gekommen, so
wird man erkennen, daß ihre Bedeutung weit über das
ästhetische Gebiet hinausgeht, daß sie vielmehr auch in
exegetischer und selbst bibelkritischer Hinsicht aufschluß-
reicher sind, als viele andere Hilfsmittel, die das gewöhn-
liche kritische Rüstzeug ausmachen. Dies soll in der nach-
stehenden Untersuchung, in der zuerst die Kürzen, sodann
die Längen in einer, wenn auch auf Vollständigkeit keinen
Anspruch machenden Sammlung vereinigt sind, nachgewiesen
werden.
I.
Von prägnantester Kürze ist gleich der Zuruf Gottes
an Adam: *Wo bist du?« (I. B. M. 3, 9), womit die lange
Verlegenheitsantwort Adams : »Deine Stimme hörte ich im
Garten und fürchtete mich, weil ich nackt bin, und ver-
steckte mich* (das. das. 10) in charakteristischem Kontrast
steht. — Die Antwort, die Rebekka auf die Frage der
Ihrigen : »Willst du mit diesem Manne gehn ?« (I. B. M.
24, 58) erteilt: »Ich will gehn« (wofür im Hebräischen nur
ein Wort steht) ist ebenfalls durch ihre die Entschlossen-
heit ausdrückende Kürze bezeichnend. — V/ie die Tora mit
einem Zuge, in wenigen Worten, einen ganzen Situations-
bericht liefert, ersieht man aus den sprichwörtlich gewor-
denen Worten Jakobs, die er an Laban richtete : »Ich will
132 Kürzen und Längen in der Bibel.
dir sieben Jahre dienen um Rahel, deine jüngere
Tochter« (I. B. M. 29, 18). Ein Muster von Kürze und
Deutlichkeit. Den Gegenzug bilden die Worte Labans, womit
er Jakob nachträglich auch Rahel zu geben verspricht »um
den Dienst, den du bei mir dienen wirst noch andere sieben
Jahre« (das. das. 27). Hier ist die weitläufigere Genauigkeit
in der Zeitbestimmung der Ausdruck des schlechten Ge-
wissens. — Der kurze Vermerk »und siehe ein Traum!«,
der nach dem zweitmaligen »da erwachte Pharao« (I. B. M.
41, 7), nicht aber nach dem erstmaligen (das. das. 4) sich
findet, will sagen, wie RSBM z. St. ausführt, daß nun-
mehr erst der ganze Traumvorgang Pharao zum Bewußt-
sein gekommen ist, so zu sagen eine exegtische Note im
Texte selbst. — Unter den Gebeten ist wohl das denkbar
kürzeste das Moses für seine Schwester: »Ach, Herr, heile
sie doch !« (IV. B. M. 12, 13), worüber sich Berach. 34a
sinnige Bemerkungen finden.
Diplomatischer Natur ist die kurze Bemerkung über
Abraham bei seiner Verhandlung mit Efron über die Höhle
Machpela: »Und Abraham verstand « (I. B. M. 23, 16.)
Damit wird Abraham der Takt zugeschrieben, womit er
herausfühlte, daß es Efron bei aller höflichen Abwehr des
Geldes denn doch auf den vollen Kaufpreis ankam. — Von
feiner Diplomatie ist auch die kurze, aber inhaltreiche Bot-
schaft der Gesandten Jakobs nach ihrer Rückkehr von
Esau: »Wir sind gekommen zu deinem Bruder, zu Esau«
(I. B. Mos. 32, 7). Mehr sagen sie nicht, aber das ist auch
genug, denn nach dem Midrasch (s. Raschi) wollten die
Gesandten damit zu Jakob sagen: »Du hast zwar gemeint,
wir würden deinen Bruder finden, aber er benimmt sich
gegen dich wie E s a u.« Daß dies der tatsächliche Sinn
der kurzen Rede ist, beweist der Gebrauch des Wortes
Bruder und die gleichzeitige Anführung seines Namens
(wovon eins von beiden, zumal Jakob gegenüber, hätte
unterbleiben können) neben der zweimaligen Anwendung
Kürzen and Längen in der Bibel. 133
der Präposition, wodurch jeder der beiden Ausdrücke sein
besonderes Gewicht erhält. Überdies wird die Auffassung
des Midrasch durch die Wortstellung, indem zuerst von
dem Bruder und sodann von Esau die Rede ist, bestätigt.
Endlich wäre, falls die Botschaft nicht in diesen Worten
enthalten sein sollte, überhaupt keine vorhanden, was eine
seitsame Erledigung des den Gesandten von Jakob erteilten
Auftrages sein würde. Denn die weitere Auskunft, welche
die Gesandten geben, »Und auch zieht er dir mit vier-
hundert Mann entgegen,« gehört nicht mit zu der von
Jakob erwarteten Botschaft über den Empfang der Ge-
sandten bei Esau, vielmehr dient sie, besonders durch die
im Druck hervorgehobenen Anschlußkonjunktionen, die
sonst unbegründet wären, zur Illustration der in den ersten
Worten enthaltenen Andeutung, die auch Jakob sofort ver-
standen hat, wie aus dem unmittelbar folgenden Satz :
»Und Jakob fürchtete sich sehr, und es ward ihm bange«
klar hervorgeht. Es bleibt nur zu untersuchen, auf welche
Weise die Gesandten sich über die Meinung Jakobs ver-
gewissert hatten, daß sie einen brüderlich gesinnten Mann
finden würden. Da eine Äußerung Jakobs über diesen
Punkt nicht vorliegt, so müssen wir annehmen, daß die
einleitenden Worte des Erzählers (das. das. 4). »Und Jakob
sendete Boten vor sich her an Esau, seinen Bruder«
im Sinne Jakobs und zwar so zu verstehen sind, daß
Jakob den Gesandten andeuten wollte, sie gingen zwar
zu Esau, würden aber in ihm den Bruder finden, worauf
alsdann die Gesandten nach ihrer Rückkehr durch die
Umkehrung der von Jakob gebrauchten Wortstellung in
diplomatischer Weise ihm andeuten, was rund heraus zu
sagen, sie aus Zartgefühl oder aus Rücksicht auf ihr Dienst-
verhältnis abgehalten sein mochten, daß er sich getäuscht
habe und daß sie zwar zu dem Bruder zu kommen gehofft,
aber Esau angetroffen hätten. Hier wird also durch bloße
Wortstellung ein Situationsbericht erstattet, der durch weit-
134 Kürzen und Längen in der Bibel.
läufige Ausführung nicht erschöpfender hätte sein können,
und es ist dem feinen Spürsinn des Midrasch zu danken,
daß wir über diesen Punkt, und damit über eine Eigenart
des biblischen Stils Aufklärung erhalten. In diesem Sinne
ist denn auch das nachfolgende Gebet Jakobs abgefaßt:
»Rette mich von der Hand meines Bruders, von der Hand
Esaus« (das. das. 12, vgl. Raschi). Jakob will sagen: er
ist zwar mein Bruder, aber er benimmt sich gegen mich
wie der Bösewicht Esau.
Daß der Erzähler den Namen Esau gleich bei der
ersten Bekanntschaft, die wir mit seinem Träger machen,
bereits als Typus, und zwar der Schlechtigkeit gebraucht,
entspricht der biblischen Eigentümlichkeit kurzgefaßter,
durch bloße Apposition oder auf ähnliche Weise bewirkter
Charakteristik. So S2gt die Tora : »Die Männer der Stadt,
die Männer von Sodom« (I. B. Mos. 19, 4). Hier ist Sodom
bereits ein typischer Ausdruck (s. Raschi), wie Jes. 1, 10.
In demselben Sinne ist der Satz zu verstehen : »Und Isak
säte in diesem Lande und fand in diesem Jahre das
Hundertfache, weil ihn Gott gesegnet hatte« (I. B. Mos.
26, \2). Das beide Male gebrauchte hinweisende Fürwort
will sagen : Das Land war schlecht und das Jahr war
schlecht, was den großen Erfolg umso bemerkenswerter
macht (Raschi nach dem Midrasch). Ebenso heißt es :
»Nachdem er geschlagen den Sichon, König des Emori, der
in Hesbon wohnte, und den Og, König von Basan, der zu
Asterot in Edrei wohnte« (V. B. Mos. 1, 4). Die näheren
Angaben über die bereits mehrfach erwähnten Könige und
ihre Residenzen wären überflüssig und sinnlos, wenn nicht
in dem vorliegenden Zusammenhange damit ausgedrückt
werden sollte, daß der Sieg über an sich gewaltige
Könige, die noch dazu in gewaltigen Festungen
saßen, erfochten wurde, was ihn umso bedeutungsvoller
macht (Sifre und danach Raschi). Fügen wir dieser Rubrik
noch die Schilderung Esaus und seines Verkaufs der Erst-
Kürzen and Längen in der Bibel. 135
geburt hinzu. »Und Esau aß und trank und stand auf und
ging weg und verachtete (so) die Erstgeburt« (I. B. Mos.
25, 34). Eine Sturzwelle von durch die Polysyndese noch
beschleunigten Schilderungsworten ergießt sich damit über
das Haupt des im Hebräischen erst gegen Ende des Satzes
genannten Esau, was einen wirksameren Eindruck machtr
als eine lange Entrüstungsäußerung hervorzubringen ver-
mocht hätte.
Wie die Tora in den obigen Beispielen auf kurzem
Wege durch die bloße Wortstellung die beabsichtigte Wir-
kung ausübt, so bedient sie sich zu demselben Zwecke
der Umstellung von Sätzen und Satzteilen. Es wird wohl
keinem zufällig erscheinen, wenn Moses den zwei Stämmen
auf ihre Bitte : »Schafhürden möchten wir hier für unser
Vieh bauen und Städte für unsre Kinder« (IV. B. Mos.
32, 16), die beiden Satzteile umstellend antwortet : »Baut
euch Städte für eure Kinder und Hürden für eure Schafe«
(das. das. 24). Moses gibt vielmehr auf diese Weise, wie
Raschi (zu v. 16) ausführt, den Bittstellern zu verstehen,
daß die Rücksicht auf die Kinder der auf das Vieh voran-
geht. Dieser Wink wurde denn auch von ihnen, wie ihre
Erwiderung (v. 26) beweist, verstanden, ebenso wie ein
anderer, noch bedeutsamerer, von dem weiterhin die Rede
sein wird.
In gleicher Weise wird in den Segensverheißungen
des fünften Buches der Tora der Satz vorangestellt : »Ge-
segnet sei deine Leibesfrucht« (V. B. Mos. 28, 4). Erst
nachher folgt: »Gesegnet dein Korb und dein Trog« (das.
das. 5). Diese Ordnung rechtfertigt sich durch sich selbst.
Der an den Kindern sich bewährende Segen Gottes erscheint
vor allem begehrenswert. Aber bei den Flüchen ist die
Ordnung verkehrt. »Verflucht dein Korb und dein Trog, ver-
flucht deine Leibesfrucht« (das. das. 17). Damit ist ausgedrückt,
daß der Fluch schon in der Abstumpfung des Gefühles für
die Kinder, abgesehen von deren Unglück an sich und
136 Kürzen und Längen in der Bibel.
seiner Rückwirkung auf die Eltern, zum Ausdruck kommt,
so daß jede höhere Empfindung gegen den Hunger zurück-
tritt. Nachmanides erblickt in der verschiedenen Anordnung
der Reihenfolge eine andere Absicht, die mir aber dem
Gedankengang weniger zu entsprechen scheint. Vielmehr
zeigt die weitere Ausführung, in welcher der Vater und
sogar die Mutter aus Hunger an ihren Kindern sich ver-
greifen, daß der Zustand der Verwünschung mit der Ab-
stumpfung jedes edlern Gefühls durch den Hunger beginnt
und in dem Verzehren der eigenen Kinder seine höchste
Steigerung erfährt.
Noch einmal in demselben Kapitel bedient sich die
Tora dieses Verfahrens der Umstellung von Sätzen zur
Hervorbringung starker rhetorischer und paränetischer
Wirkung auf kürzestem Wege. Um diesen Punkt zu erläutern,
muß vorausgeschickt werden, daß nach V. B. Mos. 20, 5 ff.
im Kriegsfälle die Oberste vor der Schlacht folgende Ansprache
an das Heer richten mußten : »Wer ist, der ein neues Haus
gebaut, und hat es nicht eingeweiht, er gehe und kehre zurück
in sein Haus, daß er nicht sterbe im Kriege und ein andrer
Mann es einweihe. Und wer ist, der einen Weinberg ange-
pflanzt und hat ihn nicht gelöst, er gehe und kehre zurück
in sein Haus, daß er nicht sterbe im Kriege und ein andres'
Mann ihn löse. Und wer ist, der sich eine Frau verlobt
und hat sie nicht heimgeführt, er gehe und kehre zurück
in sein Haus, daß er nicht sterbe im Kriege und ein anderer
Mann sie heimführe.« In der Reihenfolge, deren die Tora
bei Aufzählung der obigen Beurlaubungsgründe sich, wie
vorauszusetzen ist, mit Absicht bedient, erblickt der Talmud
(Sota 44a) aus eben diesem Grunde eine zu beherzigende
Lebensregel, die dem Manne empfiehlt, bei Einrichtung
seines Lebens dieselbe Reihenfolge einzuhalten, nämlich
zuerst einen festen Wohnsitz zu gründen, sodann sich einen
Erwerbszweig zu schaffen und erst nachher ein Weib zu
nehmen. Also auch hier hätten wir in den angeführten
Kürzen u«d Längen in der Bibel. 137
Sätzen, abgesehen von der Bedeutung, die ihnen an und
für sich im Hinblicke auf ihren bestimmten Zweck zukommt,
einen bloß durch ihre Anordnung vermittelten guten Rat
zu erblicken, dem der Talmud auf die Spur gekommen ist.
Dies wird durch das Folgende bestätigt. Die Tora bezieht
sich nämlich in den Flüchen auf dieselben Momente, jedoch
in einer von der obigen ganz verschiedenen Ordnung und
Ausführung. »Du wirst dir eine Frau verloben, aber ein
anderer Mann wird sie heimführen, du wirst ein Haus
bauen und nicht darin wohnen, einen Weinberg wirst du
pflanzen und ihn nicht lösen« (V. B. Mos. 28, 30). Vergleicht
man die obige ruhige, ebenmäßige und breite Behandlung
der wichtigsten Lebensmomente mit den zuletzt angeführten,
auf dieselben Akte sich beziehenden Fluchworten, so gewinnt
man den Eindruck, als ob diese kurzatmigen, in einen
einzigen Satz zusammengedrängten Verwünschungen vor
lauter Ingrimm von dem Redner nur so herausgestoßen
wären und alles kunterbunt durcheinander würfen. Die
Nebeneinanderstellung rechtfertigt also die oben erwähnte
Auffassung des Talmud, und Maimonides (Deot V, 11) hat
ohne Zweifel Recht, wenn er, offenbar auf jener Auffassung
fußend, bemerkt, daß der Fluch nicht bloß in den ausgespro-
chenen Wirkungen, sondern schon in der Verkehrtheit der
Lebensführung sich äußere, was eben von der Tora auch
äußerlich durch die Umstellung der Satzglieder angedeutet
werde, denn, sagt er, es sei schon ein Fluch für den Mann,
wenn er, die vernünftige Lebensordnung umkehrend, zuerst
heirate, dann ein Haus baue und zuletzt einen Erwerbszweig
suche, oder, wenn dies mißlingt, der öffentlichen Wohltätig-
keit zur Last falle. Maimonides gibt nämlich auffallender-
weise, was natürlich von den Kommentatoren bereits be-
merkt und zurechtzulegen versucht wird, an beiden Stellen
eine andere Reihenfolge an, als in der Tora vorliegt, so
zwar, daß er bei der Wiedergabe der an das Heer zu
richtenden Ansprache des Weinbergs an erster, und bei dem
138 Kürzen und Längen in der Bibel.
Fluch an letzter Stelle gedenkt. Anzunehmen, daß Maimo-
nides aus dem Gedächtnisse zitiert habe und daß ihm des-
halb ein Versehen unterlaufen sei, wie es augenscheinlich
im Moreh III, 40 bei der Schätzung der Fall ist, muß als
unzulässig bezeichnet werden, da wir in diesem Fall ein
zweimaliges Versehen voraussetzen müßten, was doch nicht
angeht. Es scheint vielmehr, daß Absicht vorliegt und daß
sich Maimonides erlaubt hat, die betreffenden Stellen durch
Versetzung den Verhältnissen seiner Zeit, denen auch die
heutigen entsprechen, anzupassen. Denn heute wird ein
junger Mann, der eine vernünftige Lebensordnung befolgt,
zuerst danach trachten, sich durch die Wahl seines Berufes
eine Existenz zu gründen, im Sinne der Tora gesprochen
einen Weinberg pflanzen, und die Hinausschiebung dieser
Obliegenheit nach der Heirat würde sicherlich ein Fluch
sein, während in einem seßhaften, ackerbautreibenden Volke,
das die Tora im Auge hat, der Bau eines Hauses, wozu
heute die meisten Menschen nicht das nötige Vermögen
besitzen, viele auch keine Lust haben, den notwendigen
und nicht eben kostspieligen Anfang der Selbständigkeit
bildete. Dem sei jedoch, wie ihm wolle, so dokumentieren
•die betreffenden Stellen der Tora ihre Kunst, einmal durch
die bloße Reihenfolge von Sätzen lehrhaft zu wirken, sodann
durch deren Umstellung einen wirksamen Kontrast hervor-
zubringen, was sonach auf kürzestem Wege durchgeführt wird.
Auf demselben Wege erfolgt eine Verschärfung der
Strafrede im III. B. Mos. 26, 42 durch den Satz: »Ich
werde gedenken meines Bundes mit Jakob und auch
meines Bundes mit Isak und auch meines Bundes mit
Abraham werde ich gedenken und des Landes werde ich
gedenken.« Als Äußerung des Wohlwollens, wie die Fassung
vermuten läßt, hat dieser Satz keinen Sinn, da ihm die
schlimmsten Drohungen nicht bloß vorangehen, sondern
auch unmittelbar folgen. Man muß also der geistreichen
Erklärung des R. Jesaja Hurwitz (rv^tF z. St.) beistimmen,
Kürzen und Längen in der Bibel. 139
wonach der Sinn dieses Satzes ist, daß Gott durch die
Erinnerung an die Erzväter usw. in noch heftigeren Zorn
über das solcher Ahnen unwürdige Volk geraten werde.
Dies weitläufiger auszuführen, wäre nur eine Abschwächung
gewesen, daher die bloße Einschaltung dieses Gedenkens.
In dieses Gebiet des Gebrauchs der Kürze als wirk-
samen Darstellungsmittels gehört auch die Verschweigung.
Sie ist natürlich die kürzeste, aber oft beredteste Ausdrucks-
weise. Von einer Person oder Sache nicht sprechen, wo
man eine Mitteilung darüber erwartet, sagt unter Um-
ständen mehr, als die ausführlichste Rede. Man muß aber
ein aufmerksamer Leser sein, um eine solche Verschweigung
zu erkennen. Das waren wie kein anderer jemals die Lehrer
des Midrasch und des Talmud, welche Werke, wie ich
anderweitig ausgeführt und auch bereits in dieser Abhand-
lung gezeigt habe, eine unerschöpfliche Fundgrube von
Anleitungen und Winken darbieten, ohne welche die Bibel
überhaupt nicht verstanden werden kann, wovon aber die
christlichen Exegeten keine Notiz nehmen. So sagt Gott
zu Moses: »Gehe du und d i e Ä 1 1 e s t e n Israels zu
dem König von Mizraim und sprechet zu ihm usw.« (II. B.
Mos. 3, 18.) Damit ergeht also an Moses die ausdrückliche
Forderung, daß die Ältesten an seiner Seite vor Pharao
erscheinen sollen. Es heißt auch weiter: »Und Moses ging
und Aron und versammelten alle Ältesten der Kinder
Israel« (das. 4, 29). Unmittelbar darauf aber sagt die Tora:
»Und danach kamen Moses und Aron und sprachen zu
Pharao« (das. 5, 1). Von der Anwesenheit der Ältesten
schweigt die Tora. Drängt sich da nicht die Frage auf, die
der Midrasch tatsächlich aufwirft: »Wo sind die Ältesten
geblieben?« Es hätte die Tora nur ein Wort gekostet, um
ihre Gegenwart bei der Audienz zu konstatieren! Man muß
also mit dem Midrasch annehmen, daß sie sich, wie er
sagt, einer nach dem anderen weggeschlichen hatten,
welches Verschulden die Tora vornehm genug ist,
140 Kürzen und Längen in der Bibel.
bloß durch Verschweigen anzudeuten. Der Beredtsamkeit
geschieht dennoch kein Abbruch. Diese Erklärung ist so
menschlich wahr wie der Vorgang, den sie voraussetzt.
Ein anderes Beispiel dieser beredten Verschweigung
findet sich in der Erzählung von Bileam. Gleich im Anfang
derselben bemerkt die Tora, daß der König von Moab die
Ältesten Midjans einlud, sich mit ihm gegen Israel zu ver-
bünden (IV. B. Mos. 22, 4 ff.). Daraufhin begeben sich »die
Ältesten Moabs und die Ältesten Midjans« gemeinschaftlich
zu Bileam und überbringen ihm die Einladung des Königs
von Moab, zu ihm zu kommen und Israel zu verfluchen.
Bileam will aber erst die Entscheidung Gottes abwarten
und lädt die Gesandten ein, bei ihm zu übernachten. Darauf
heißt es wörtlich : »Da blieben die Fürsten von Moab bei
Bileam.« Auch hier drängt sich die Frage auf, der denn
auch der Talmud Ausdruck verleiht, wo denn die Gesandten
von Midjan geblieben seien? Sie werden weder hier noch
in dem weiteren Verlaufe der Begebenheit erwähnt. Man
muß also mit dem Talmud (Sanh. 105 a) annehmen, daß
die Ältesten Midjans von der Einladung Bileams, bei ihm
zu übernachten, keinen Gebrauch machten und abreisten.
Deshalb erwähnt die Tora bloß von den Fürsten Moabs,
daß sie bei Bileam über Nacht blieben, und es beweist eine
bemerkenswerte Schärfe der Auffassung seitens des Talmud,
daß er aus dem Berichte der Tora die Abreise der Fürsten
von Midjan richtig erkannt hat. Denn daß die Tora durch
die Nichterwähnung oder Verschweigung ihres Verbleibens
ihre Abreise andeuten will, ist zweifellos, da es sie ja nur
ein Wort gekostet hätte, das Gegenteil zu konstatieren.
Ob der Talmud weiterhin die Abreise der Midjaniten richtig
motiviert, wenn er bemerkt, sie hätten sich angesichts der
Erklärung Bileams, vorerst die Entscheidung Gottes anzu-
rufen, gesagt: »Gibt es einen Vater (in diesem Falle Gott),
der seinen Sohn (nämlich Israel) haßt und verfluchen läßt?«,
mag dahingestellt bleiben. Das Motiv entspricht jedenfalls
Kürzen und Längen in der Bibel. 141
der Verschlagenheit Midjans, das von vornherein auf die
ganze Verwünschungskampagne kein besonderes Vertrauen
gesetzt haben mag und auf eine praktischere Art selbständig
Israel eine sehr empfindliche Schlappe versetzte. Aber es
entsteht die Frage, weshalb die Tora die Abreise der
Ältesten von Midjan nicht ausdrücklich und unzweideutig
mitteilt? Von Schonung oder stillschweigendem Tadel, wie
bei den Ältesten Israels, kann doch hier keine Rede sein.
Auf diese Frage erteilt der Talmud keine Antwort. Sie
liegt aber in der Satyre, wodurch die ganze Erzählung ge-
kennzeichnet wird und deren Zielscheibe hauptsächlich
Bileam, aber auch Moab ist. Schon der Kriegsplan des
letzteren, der auf einer bloßen Verwünschung aufgebaut
ist, muß grotesk genannt werden. Das Sichbittenlassen
Bileams macht die Situation Moabs noch lächerlicher. Wenn
Midjan auch an der Einladung Bileams sich beteiligt, so
läßt es sich doch auf das lange Antichambrieren bei ihm
nicht ein, überläßt die Moabiter sich selbst, die dadurch
ganz hilflos erscheinen, und zieht ab. Letzteres konnte die
Tora aber nicht ausdrücklich heraus sagen, denn in diesem
Falle wäre die Aufmerksamkeit des Lesers von Moab ab-
gelenkt worden, was sie vermeiden will. Dashalb schweigt
sie einfach von den Ältesten Midjans, was dem aufmerk-
samen Leser genug sagt und sein Interesse an dem
weiteren Schicksal des nun auf sich allein angewiesenen
Moab nur steigern kann.
In diese Gattung der Darstellung durch teilweise Ver-
schweigung gehört auch die Erzählung der Tora von Josef
und seinen Brüdern. Hier erfahren wir von dem Jammer
Josefs über die ihm zugefügte Unbill und von seinen
flehentlichen, unerhörten Bitten nur durch eine reumütige
Bemerkung der Brüder (I. B. Mos. 42, 21), die Tora selbst
übergeht die Klagen und Bitten Josefs mit Stillschweigen.
Dieser Umstand ist bereits Nachmanides aufgefallen. Aus
dem Zusammenhange der vorliegenden Darstellung, die
142 Kürzen und Längen in der Bibel.
mehrere derartige Beispiele anführt, wird man die Über-
zeugung gewinnen, daß auch in der Erzählung von Josef
die Verschweigung seiner Leiden und Bitten auf Absicht
beruht, was ich in meinem mehrfach gedruckten Vortrage
»Wie sollen wir die Bibel lesen?« begründet und ausge-
führt habe. Ich muß mich hier darauf beschränken, auf
diesen Vortrag zu verweisen, um auf eine andere Art der
Anwendung der Kürze aufmerksam zu machen.
Diese gehört zu den besonderen Feinheiten, ich möchte
sagen zu den Delikatessen des biblischen Vortrages, deren
Bekanntschaft wir gleichfalls dem Midrasch verdanken.
Durch den Gebrauch eines gewissen Wortes in einem be-
stimmten Satze, das in einem andern von ähnlicher Fassung
weggelassen oder durch ein anderes ersetzt wird, also auf
kürzestem Wege, werden kontrastierende Effekte von großer
Wirkung erzielt. Nur stehen die betreffenden Sätze nicht
immer nebeneinander, sondern sind durch mehr oder minder
große Zwischenräume getrennt, und es gehört eine Fin-
digkeit und Beherrschung des Toratextes dazu, wie sie
nur den Lehrern des Midrasch eigen war, um das Ge-
trennte zu vergleichen und aus der Vergleichung folgende
Regel abzuleiten: Bei günstigen Zuständen nimmt die Tora
auf Israel Bezug, bei ungünstigen abstrahiert sie von Israel
und bedient sich einer allgemeinen Ausdrucksweise. Zur
Bestätigung dieser Regel führt der Midrasch die folgenden
Beispiele an:
1) Bei den Opfern heißt es: »Wenn einer von euch
ein Opfer dem Ewigen darbringt usw.« (III. B. Mos. 1, 2).
Dagegen: »Wenn einer auf der Haut seines Fleisches
eine Geschwulst usw. bekommt« (das. 13, 2). Die Fassung
beider Sätze ist dieselbe, obwohl sie durch zwölf Kapitel
von einander getrennt sind, aber der erstere, der von
Opfern, also einer frommen Verrichtung handelt, nimmt
auf Israel Bezug, während der letztere, der sich mit einem
Krankheitszustande beschäftigt, diese Beziehung vermeidet,
Kürzen und Längen in der Bibel. 143
indem er das betreffende Fürwort unterdrückt, was ich
durch Einschaltung von Punkten an der betreffenden Stelle
angedeutet habe. Es müßte mit merkwürdigen Dingen zu-
gegangen sein, wenn in den gleich gefaßten, aber inhaltlich
kontrastierenden Sätzen die Beziehung auf Israel (»von
euch«) nicht mit Absicht das eine Mal gebraucht und das
andere Mal unterdrückt sein sollte.
2) In dem Satze: »Es sei denn, daß unter dir kein
Dürftiger ist« (V. B. Mos. 15, 2), also bei Voraussetzung
eines günstigen Zustandes, gebraucht die Tora das Israel
betreffende Beziehungswort, um wenige Verse nachher, bei
ungünstiger Prophezeiung, zu sagen: »Denn nicht aufhören
wird der Dürftige innerhalb des Landes« (das. v. 1 1),
wo also die unmittelbare Beziehung auf Israel weggelassen
und durch einen allgemein gehaltenen Ausdruck ersetzt
wird.
3) Bei der Verkündigung des Segens und des Fluches
bedient sich die Tora im ersteren Falle des Ausdruckes:
»Diese sollen dastehen, um das Volk zu segnen« (das.
27, 12). Dagegen wird in dem unmittelbar folgenden Satze
nicht gesagt: »Und diese sollen dastehen, um das Volk
zu verfluchen«, sondern: »Und diese sollen dastehen wegen
des Fluches «, so daß also, wie hier durch einge-
schaltete Punkte angedeutet ist, die unmittelbare Beziehung-
auf das Volk vermieden wird.
Die vorstehende, auf Vollständigkeit, wie gesagt, keinen
Anspruch machende Übersicht zeigt dennoch an den aus
den verschiedenen Büchern der Tora angezogenen Beispielen
deren Einheitlichkeit im Gebrauch der Kürze. Zu-
gleich erhalten wir daraus ein Bild von der Mannigfaltig-
keit dieses Gebrauchs und seiner Zwecke. Wenn auch die
Kürze ein Attribut jeder guten Darstellung ist, so verleiht
doch ihre abwechslungsreiche Anwendung der Tora eine
bestimmte Eigentümlichkeit, die auch in ihrem gesetzge-
berischen Teile vorherrscht, und wie der agadische Mi-
144 Kürzen und Längen in der Bibel.
drasch, was an mehreren Beispielen gezeigt wurde, in den
erzählenden und paränetischen Partien der Tora die feinen
Beziehungen von kaum warnehmbaren Andeutungen und
selbst Verschweigungen auf eine fast divinatorische Weise
herauszufinden und bloßzulegen weiß, so verfährt der hala-
chische Midrasch mit demselben wissenschaftlichen Geschick
und Erfolg in dem gesetzlichen Teile. Um nur ein Beispiel
aus diesem Gebiete anzuführen, so fehlen in dem Abschnitt
über die »vier Hüter« (II. B. Mos. 22, 6 ff.) diejenigen ge-
setzlichen Bestimmungen, auf die es hauptsächlich ankommt,
nämlich daß es sich in der die Verse 6 — 9 umfassenden
Verordnung um u nentgeltl ic h e Obhut, dagegen in den
Versen 9 — 12 um bezahlte handelt — eine Auslassung,
die in keinem anderen Gesetzbuche der Welt vorkommen
dürfte. Dennoch ist diese talmudische Feststellung un-
zweifelhaft richtig, und man braucht sich dafür nicht ein-
mal auf die Tradition zu berufen, sondern sie ergibt sich,
wie RSBM und Nachmanides nachweisen, aus dem Kon-
text von selbst. Man muß nur die Tora so zu lesen ver-
stehen, wie sie gelesen sein will, was die alten Lehrer des
Midrasch und der Halacha, die in ihr atmeten und lebten,
weg hatten und worin ihnen kein anderer gleichkommt.
Sie sind auch die besten Interpreten der hier behandelten
Kürzen der Tora, deren Bedeutung aber erst recht nach dem
Grundsatze : »contraria juxta composita magis elucescunt«
durch Vergleichung mit den Längen hervortreten wird.
II.
Es sind zweierlei Längen zu unterscheiden, subje-
ktive und objektive. Die ersteren finden sich in den Ein-
gängen feierlicher Ansprachen oder Gesänge und dienen
dem Redner oder Sänger dazu, seine Persönlichkeit nicht
bloß einzuführen, sondern auch geltend zu machen, wo-
durch natürlich eine Länge entsteht, in welcher der Autor
von sich selbst redet und die scheinbar ohne Schaden für
Kü/zen und Längen in der Bibel. 145
das Ganze wegbleiben könnte, in der man aber bei genü-
gender Aufmerksamkeit das notwendige Piedestal erkennt,
auf dem der Autor erst seinen Worten die rechte Schall-
und Tragweite verleiht. Diese Betonung des Persönlich-
keitsbewußtseins ist ausschließlich und durch-
gängig in der Tora zu finden, ein Moment, das für die
Bestimmung ihres Alters und ihres einheitlichen Charakters
gewiß von der größten Wichtigkeit, aber niemals bemerkt
und daher auch nicht in Anschlag gebracht worden ist.
Im späteren Prophetismus fehlt diese Geltendmachung der
eigenen Persönlichkeit gänzlich, der Prophet will gar nicht
als solcher hervortreten, er ist nur der Träger und Ver-
künder der göttlichen Botschaft, hinter welcher Aufgabe
seine Person verschwindet. Dies ist schon in der üblichen
Einführungsformel: »So spricht der Ewige« ausgedrückt. Um
mich eines Vergleiches zu bedienen, so verschwindet bei
Homer ebenso die Person des Dichters hinter der gleich
anfangs angerufenen Muse oder Göttin. In den Psalmen
wiederum ist zwar alles persönlich gefärbt, aber doch nur
in der Art, wie sie das Gebet, der Gemütserguß, die aus
dem eigenen Leben geschöpfte Betrachtung mit sich bringt,
dagegen kann von einem Persönlichkeitsbewußtsein und
von der Betonung der eigenen Persönlichkeit keine Rede
sein, da hier vielmehr gerade das Gegenteil, die Erkenntnis
von der Nichtigkeit des Menschen, das Charakteristische
ist. Ich will zu bemerken nicht unterlassen, daß die Ver-
fasser der Evangelien die Selbstbetonung des Vortragenden
als das archaistische Moment in der Tora gut erkannt und
zum Beispiel in der Bergpredigt »Ich aber sage euch« ge-
schickt angewendet haben. Die Beweisstücke für das Ge-
sagte sind die folgenden:
1. Zuerst der sogenannte Segen Jakobs (I. B. Mos.
49, 1. ff). Die Ansprache beginnt : »Versammelt euch und
ich will euch verkünden, was euch begegnen wird in späten
Zeiten. Tretet zusammen und höret, Söhne Jakobs, und
MonaUschrift, 55. Jahrgang.
146 Kürzen und Längen in der Bibel.
hört auf Israel, euren Vater !c Das ist eine subjektive
Länge, für einen bloßen An- oder Aufruf, zu wortreich (man
vgl. dagegen Richter 9, 7), aber sie erklärt sich als die
Selbstbetonung des redenden Vaters, der ganz aus der
eigenen Erfahrung dem Drange der Persönlichkeit folgend
sich an seine Söhne wendet. Deshalb hat Abraham Ibn
Esra Recht, wenn er den Titel des Segens für diese An-
sprache ablehnt, weil in diesem Falle (abgesehen von dem
seinerseits angeführten Grunde) eine derartige das Persön-
liche ausbreitende Vorausschickung keinen Sinn hätte, wie
sie auch bei dem wirklichen Segen Moses im Eingange
(V. B. Mos. 33, 1) fehlt.
2. Dagegen ist sie umso mehr am Orte und macht
sich auch umso bemerklicher in dem Sänge Moses' am
Schilfmeer (II. B. Mos. 15, 1 ff.). Er beginnt: »Singen will
ich dem Ewigen, denn mit Hoheit hat er sich erhoben,
Roß und Reiter hat er geschleudert ins Meer. Mein Sieg
und mein Sang ist Jah, er war meine Rettung, der ist
meine Macht und ich will seine Schöne preisen, der Gott
meines Vaters und ich will ihn erheben«. Diese Einleitung
ist ganz persönlich gehalten, sie macht den Eindruck, als
ob der Sänger das ganze Rettungswerk nur von seinem
persönlichen Standpunkte betrachte. Er lebt so in den
Dingen, daß die Dinge erst in ihm und durch ihn Leben
zu gewinnen scheinen. So erblicken wir den Vorgang in
dem Spiegel des Persönlichkeitsbewußtseins des großen
Führers. Erst nach dieser subjektiv gehaltenen Einleitung
beginnt die objektiv durchgeführte Schilderung des göttli-
chen Rettungswerks.
In dieselbe Form gekleidet ist das Lied der Deborah
(Richter 5). Zuerst die persönlich gehaltene, aber kürzer
gefaßte Einleitung (v. 3) »Höret Könige, horchet auf Fürsten,
dem Ewigen will ich singen, saitenspielen dem Ewigen,
dem Gotte Israels« ; worauf dann die gegenständliche
Schilderung einsetzt. Diese wird aber nicht, wie in dem
Kürzen und Längen in der Bibel. 147
Sänge Moses' ruhig durchgeführt, sondern wiederholt durch
das persönliche Moment unterbrochen. »Bis .daß ich auf-
stand, Debora, aufstand eine Mutter in Israel« (v. 7). »Sei
•wach, wach, Debora, sei wach, wach, sing' ein Lied U
(v. 12.) Durch diese Unterbrechung und Wiederholung wird
das Persönlichkeitsbewußtsein bis zur Prätension und
Überhebung gesteigert, woran man das Weib, die muliebris
impotentia, erkennen kann, während das Maßvolle, Ruhige
in dem Sänge Moses' auf männliche Urheberschaft zurück-
führt. Das höhere Alter, das man gewöhnlich dem Lied der
Deborah zuerkennt, dürfte schon aus diesem einzigen
Grund vielmehr dem Gesang Moses' zuzusprechen sein.
3. Mit einer breit ausgeführten, das Persönlichkeits-
bewußtsein stark betonenden Einleitung beginnt auch der
Schwanengesang Moses' (V. B. Mos. 32, 1 ff). »Lauschet,
ihr Himmel, und ich will reden, und es höre die Erde die
Worte meines Mundes. Es träufle wie Regen meine Lehre,
es fließe wie Tau meine Rede, wie Regenschauer aufs
Grüne, und wie Güsse auf das Gras, denn den Namen des
Ewigen rufe ich an, gebet unsrem Gott die Ehre !« Hierauf
folgt, ohne Unterbrechung durch Hervorhebung der eigenen
Persönlichkeit, die großartige Schilderung von der Selbst-
bezeugung Gottes in Israel. Wenn die alten Lehrer zum
Vergleiche mit den ersten Worten dieser Ansprache Moses
den Anfang der ersten Rede Jesaja's heranziehen, so tun
sie dies nur deshalb, um auf die verschiedene Beziehung
des Hörens und Lauschens in den beiden Anfängen auf-
merksam zu machen (bei Moses : Lauschet ihr Himmel, es
höre die Erde, dagegen bei Jesaja : Höret ihr Himmel, und
lausche, o Erde !) und diesen Umstand agadisch auszu-
legen, aber die Person des Propheten tritt mit der Begrün-
dung des Aufrufs : »denn der Ewige redet- sofort hinter
diesen zurück. Nebenbei gesagt, läßt Homer (II. XV, 36)
die Gemahlin des Zeus beim Schwur ebenfalls Himmel
und Erde, freilich auch den Styx anrufen :
10*
148 Kürzen und Längen in der Bibe!.
:Nnn denn, so hör' es die Erde, so hör es der Himmel da droben,.
Zeuge auch sei mir die stygische Flut, die zum Hades hinabstürzt.«
Was ich hier als Persönlichkeitsgefühl in den Eingängen
der in der Tora befindlichen feierlichen Ansprachen und
Gesänge bezeichnet und nachgewiesen habe, bedarf jedoch
einer näheren Erläuterung, damit dieses Moment, worauf
man heute immer gefaßt sein muß, nicht von Seiten der
»unvoreingenommenen« christlichen Bibel-Kritik zum Nach-
teil der Tora im Gegensatz zum Neuen Testamente aus-
gelegt werde. Ich bin deshalb vorsichtig genug gewesen,
hervorzuheben, daß dieser Ausdruck des Persönlichkeits-
bewußtseins von den Verfassern der Evangelien der Tora
abgelauscht und in dem »Ich aber sage euch« der Berg-
predigt wiedergegeben ist. Es liegt nämlich in dieser Selbst-
betonung nichts Vordringliches und keine Selbstbespiegelung,
was ja mit der Charakteristik Moses', als des demütigsten
aller Menschen, gar nicht in Einklang zu bringen wäre.
Dieses Persönlichkeitsbewußtsein bedeutet vielmehr das
vollständige Aufgehen in der Gewißheit der gewonnenen
Gotteserkentnis, mit einem Wort, die restlose Verschmelzung
mit dem göttlichen Geiste, der aus dem Munde des von
ihm Erfüllten so selbstverständlich und unzweifelhaft sich
verlautbart, daß es der Versicherung der Einführungsformel
»So spricht der Ewige« nicht bedarf.
Daß diese Selbstbetonung in den feierlichen Reden
Moses' charakteristisch ist, erkennt man am besten daraus,
daß die Tora sie auch bei dem heidnischen Widerspiel
Moses', bei Bileam, anwendet, aber auch gemäß der sati-
rischen Behandlung dieses Afterpropheten in ihr Gegenteil,
in äußerliche Wichtigtuerei, Aufgeblasenheit und Einbildung
verzerrt. Man vergleiche nur, ob sich Aussprüche, wie die
Bileams, bei denen die Selbstbespiegelung fingerdick aufge-
strichen ist und denen man schon aus der Ferne ansieht,
daß sie ironisch gemeint sind, bei Moses auch nur in
äußerster Verdünnung finden ! Bei Bileam verstärken sie
Kürzen nnd Längen in der Bibel. 149
sich jedoch mit seiner zunehmenden Ohnmacht. Zuerst sagt
er noch maßvoll von seiner Berufung : »Von Aram ließ mich
holen Balak, der König Moabs u. s. w.« (IV. B. Mos. 23, 7),
um mit großem Pathos fortzufahren : »Auf Balak, o höre !
Neige her das Ohr zu mir, Sohn des Zippor 1« (das. das.
18) und endlich in ganz außer Rand und Band geratener
Aufgeblasenheit zu bramarbasieren: »Spruch Bileams, des
Sohnes Beor, Spruch des Mannes geoffenbarten Auges,
Spruch dessen, der Reden Gottes hört, der Gesichte des
Allmächtigen sieht, hinfallend und enthüllter Augen« (das.
24, 3 ff), was sich noch einmal (das. das. 15 ff) wiederholt.
Man sieht ordentlich an dem zunehmenden Wortreichtum,
wie Bileam der Kamm schwillt, wobei noch hervorzuheben
ist, daß der hebräische Ausdruck für »Spruch« — ms: —
im allgemeinen nur mit folgendem Gottesnamen gebräuch-
lich ist, während er von Bileam für sich in Anspruch
genommen wird. In dieser Ausartung und Verzerrung des
Persönlichkeitsgefühls haben wir also die Probe für die
Aufstellung, daß es tatsächlich, aber in edelstem Sinne
das Merkmal feierlicher Reden und Gesänge in der Tora
ist, wodurch denn in den Eingängen die Selbstbetonung
in größerer oder geringerer subjektiver Länge erfolgt.
Ihr zur Seite gehen die objektiven Längen, die, v/eil
von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehend, unter sich
verschieden sind. Hierher gehören zunächst die auch bei
den klassischen Epikern sich findenden, mit eingeschach-
telten Wiederholungen versehenen Erzählungen von soge-
nannter epischer Breite. Die naive Freude des Erzählers
teilt sich unwillkürlich auch dem Leser oder Zuhörer mit
und verhindert, daß die Wiederholungen Langeweile in
ihm hervorbringen.
1. Das Standardbeispiel dieser Gattung ist die Braut-
werbung Eliesers (I. B. Mos. 24). Für diese behagliche,
durch Wiederholung ausgesponnene Erzählung bietet der
Midrasch die Erklärung, daß Gott an der Erzählung des
150 Kürzen und Längen in der Bibel.
Patriarchendieners mehr Gefallen gefunden habe, als an
der Unterweisung der Nachkommen der Erzväter, da die
Geschichte von der Brautwerbung Eliesers doppelt in der
Tora vorkomme, während wichtige Lehren bloß angedeutet
seien. Damit ist aber nur eine natürliche Erscheinung erklärt,
nämlich die von dem Erzähler auf den Leser oder Zuhörer
übergehende Freude an dem Bericht. Wir können uns an
einer schönen Geschichte nicht satt hören. So geht es
uns auch bei dieser Geschichte, und es ist das Geheimnis
der Erzählungskunst, daß wir offenbare Längen nicht nur
nicht als solche empfinden, sondern uns dabei noch für
zu kurz abgespeist halten. Es wäre aber ein Irrtum, wenn
wir mit dieser allgemeinen Charakteristik die Erzählungs-
kunst der Tora für erschöpft halten wollten. Die Geschichte
von der Brautwerbung Eliesers erteilt darüber die beleh-
rendsten Fingerzeige. Einmal ist die Wiederholung keine
sklavisch getreue, sondern es sind hie und da scheinbar
belanglose Änderungen angebracht, die uns aber wie plötz-
lich aufblitzende Lichter die feinsten Züge an den Beteiligten
wahrnehmen lassen. Eine der bemerkenswertesten dieser
Änderungen besteht darin, daß Elieser, während er in dem
Bericht des Erzählers Rebekka zuerst beschenkt (das. \y
22) und nachher über ihre Herkunft befragt (das. v. 23),
in seinem eigenen Berichte die Vorgänge umkehrt. Diese
Änderung ist natürlich schon den Alten aufgefallen und
von ihnen besprochen worden. Sie ist darauf zurückzu-
führen, daß der Erzähler das felsenfeste Gottvertrauen
Eliesers bezeugt. Für ihn war nach dem Eintreffen des
verabredeten Zeichens, nämlich der Tränkung der Kameele,
der Erfolg bereits gewiß und jeder Irrtum ausgeschlossen.
Würde nun Elieser selbst den Vorgang so wie er sich tat-
sächlich abgespielt, berichtet haben, so hätte er, um seine
scheinbare Voreiligkeit zu begründen, auf sein Gottver-
trauen sich berufen müssen, wodurch er sich aber einer
anmaßlichen Selbstsicherheit schuldig gemacht haben würden
Kürzen und Längen in der Bibel. 15f
Deshalb änderte er die Reihenfolge der Vorgänge, wodurch
in dem mit dem tatsächlichen Sachverhalt vetrauten Leser
eine stille Bewunderung Eliesers erweckt wird, die dessen
bescheidene, seine Voraussicht unterdrückende Darstellung
notwendig hervorbringen muß. Dies sind ungemein feine und
wirksame Beleuchtungseffekte in dieser Erzählung, die auf
die natürlichste und ungezwungenste Weise herbeigeführt
werden. Daß Elieser ferner in seinem Eigenberichte den
Wert des Rebekka übergebenen Geschenkes verschweigt,
ist bei der vornehmen Haltung, die wir nun bereits an ihm
wahrgenommen haben, selbstverständlich, aber der Erzähler
seinerseits sieht sich umso mehr zur genauen Wertangabe
veranlaßt, um die Vornehmheit Elieser's in die richtige Be-
leuchtung zu rücken. Auch die Art, wie er sich vorstellt,
entspricht dieser Haltung. »Der Knecht Abrahams bin ich«
(das. 34). Das »Ich« kommt zuletzt. Der Talmud (Bab.
kamma 92b) allerdings erklärt diese Vorstellung mit dem
Sprichwort, daß man eine nicht gerade schmeichelhafte
Eigenschaft, die man etwa besitzt, lieber selber angebe,
ehe man von anderen dazu genötigt und in Verlegenheit
gebracht wird. Aber ein Knecht Abrahams zu sein, erschien
in den Augen Elieser's gewiß nicht unehrenhaft. Er unter-
läßt es sogar, sich den vornehmeren Titel eines Hausver-
walters Abrahams beizulegen, womit dieser ihn ausge-
zeichnet hat (das. 15, 2). So schlingen sich durch die Wieder-
holung feine Änderungen, die wie glitzernde Edelsteine
das bereits Bekannte in immer neuer, reizvoller Beleuchtung
zeigen. Insoferne gehört diese Schilderung des schon an sich
anmutigen Vorganges zu den glänzendsten Zeugnissen der
biblischen Erzählungskunst, insbesondere belehrt sie dar-
über, wie man lang sein kann, ohne langweilig zu werden.
2. Wenn vorhin die Meinung der alten Lehrer, daß
die Tora mit der wiederholentlichen Erzählung von der
Brautwerbung Eliesers eine Auszeichnung desselben beab-
sichtige, als eine agadische, wissenschaftlicher Auffassung
152 Kürzen und Längen in der Bibel.
nicht entsprechende Erklärung bezeichnet wurde, so gibt
es für manche Wiederholungen und Längen der Tora in
der Tat keine andere. So für die zwölfmalige Aufzählung
der einander buchstäblich gleichen Darbringungen der
Stammesfürsten nach der Tempelweihe (IV. B. Mos. 7,
12 ff). Man wird hier der Erklärung Nachmanides beistim-
men müssen, der bemerkt, daß »die Tora absichtlich Na-
men, Opfer und Opfertage jedes einzelnen Stammesfürsten
angibt, sich aber nicht damit begnügt, bloß den ersten mit
einer genauen Beschreibung seiner Konsekration zu ver-
sehen und dann bezüglich der anderen darauf zu verwei-
sen, denn diese summarische Behandlung wäre eine Ver-
kürzung der Ehre der übrigen gewesen.« Von diesem Ge-
sichtspunkte ist offenbar auch die siebenmalige Aufzählung
der an den Hüttenfesttagen darzubringenden Opfer zu be-
urteilen, die abgesehen von der ungleichen Zahl der Farren
ganz gleich sind (das. 29, 13 ff). Es sollte eben durch die
Wiederholung jeder Tag als ein besonderer Festtag deklariert
werden, während es in der Vorschrift über die an den
sieben Tagen des Pessachfestes darzubringenden Opfer
summarisch heißt: »So sollt ihr opfern täglich sieben Tage
lang usw.« (das. 28, 24). Mit dieser Auffassung stimmt be-
kanntlich die traditionelle Liturgie vollständig überein.
Derselbe, in dem Vorstehenden nachgewiesene Gesichts-
punkt der Tora war, wie man nunmehr einsehen wird, für
sie bestimmend zu der ausführlichen Behandlung der auf
die Stiftshütte bezüglichen Vorschriften und ihrer Durch-
führung. Es herrscht eben eine vollständige Gleichmäßig-
keit hinsichtlich der Anwendung der Kürze und Länge in
allen Büchern der Tora, wenn auch, was die Länge betrifft,
das vierte Buch davon die meisten Proben darbietet.
3. Besonders hervorzuheben ist in dieser Richtung
die ungemein in die Länge gezogene Verhandlung Moses'
mit den beiden Stämmen Rüben und Gad über ihre An-
siedlung in Gilead (das. c. 32). Nach vorgängiger Beseitigung
Kürzen uad Längen in der Bibel. 153
des Mißverständnisses, als ob die Stämme an der Erobe-
rung Palästinas sich nicht beteiligen wollten, wäre eigent-
lich bis auf die von Moses, wie bereits oben erwähnt
wurde, auf feine Weise gerügte Bevorzugung der Schafe
vor den Kindern alles in Ordnung. Nun aber beginnen erst
ausgedehnte Wechselreden. Eine Weitläufigkeit, die auch
dann noch auffallend bleibt, wenn man mit dem Talmud
diese Abmachung als das Substrat und Vorbild für bedin-
gungsweise Verträge betrachtet, laut welcher Auffassung
R. Meir den Satz aufgestellt hat : »Jeder bedingungsweise
Vertrag, der nicht in der Form des mit den Stämmen
Rüben und Gad abgeschlossenen Vertrages konzipiert wird,
ist ungültig« (Kidduschin 61a). Aber die Wechselreden ge-
winnen eine wahrhaft künstlerische Bedeutung von großer
Tragweite, sobald man an der Hand Isak Arama's in Akeda
z. St. erkennt, daß es sich dabei, abgesehen von ihrem
soeben besprochenen juristischen Zweck, um eine in feiner
Weise durchgeführte ethische Absicht, nämlich um die an
die Stämme wegen ihres Hochmuts und gänzlicher Außer-
achtlassung Gottes gerichtete und erfolgreiche Zurecht-
weisung handelt. Die Stämme sagen: »Wir wollen uns
wacker rüsten vor den Kindern Israels, bis daß wir sie
gebracht haben an ihre Stelle Wir werden nicht
zurückkehren in unsre Häuser, bis die Kinder Israel
für sich erworben haben, jeder sein Erbe« (das. v. IG ff).
Hier ist von Gott mit keinem Worte die Rede, alle voraus-
sichtlichen Erfolge schreiben die Stämme sich selbst zu.
Nun beachte man, wie Moses in seiner Antwort die ver-
messene Rede der Stämme, ohne es ausdrücklich hervor-
zuheben, aber dennoch völlig verständlich rektifiziert !
»Wenn ihr das tut, wenn ihr euch rüstet vor dem
Ewigen zum Kampfe, und es zieht von euch jeder Ge-
rüstete über den Jordan vor dem Ewigen, bis er aus-
getrieben hat seine Feinde vor ihm, und ist das Land
unterworfen vor dem Ewigen, und ihr kehrt hernach
154 Kürzen und Längen in der Bibel.
zurück, so seid ihr schuldfrei vor dem Ewigen und vor
Israel, und dieses Land bleibe euch zum Besitze vor
dem Ewigen. Wenn ihr aber nicht also tut, siehe, so
habt ihr gefehlt gegen den Ewigen....« (das. v.
20 ff).
Es genügt die bloße Wiedergabe der Antwort Moses,
um, wenn man einmal auf die durch den Druck hervor-
gehobenen Stellen aufmerksam geworden ist, die still ver-
haltene Zurechtweisung herauszufühlen. Statt die Stämme
abzukanzeln, schiebt Moses bloß zwischen ihre eigenen Worte,
deren er sich absichtlich in seiner Entgegnung bedient, Gott
als denjenigen ein, auf den alles ankommt und dessen bloße
Werkzeuge die Menschen sind. Die Stämme haben denn
auch den Wink verstanden und geben dies zu erkennen,
wenn sie, was sonst überflüssig wäre, noch einmal an-
heben : »Deine Knechte werden tun, sowie mein Herr ge-
bietet und deine Knechte werden hinüberziehen, alle
Gerüstete zum Heere, vor dem Ewigen in den Krieg,
sowie mein Herr redet« (das. v. 25 ff). Dieselbe auf Gott
hinweisende Rede und Gegenrede findet sich denn auch
in der Ansprache Moses' an seine Nachfolger und in der
Erwiderung der Stämme, wodurch die große Ausführlichkeit
in dem Berichte über diese Angelegenheit ihre befriedigende
Erklärung findet.
4. Am Schlüsse dieser Abhandlung zum 1. Buche der
Tora zurückkehrend, möchte ich noch auf die Ansprache
Juda's an Josef (44, 18 ff.) aufmerksam machen, von der
Nachmani sagt, daß er ihre Länge nicht verstehe. Nach
der von ihm versuchten Erklärung enthält die Rede den
versteckten Vorwurf einer von Josef angestellten und auf
die Zurückbehaltung Benjamins angelegten Intrigue, worauf
auch eine Bemerkung der alten Lehrer hindeutet. Ist man
einmal bis zu dieser Annahme gekommen, so bedarf es nur
eines Schrittes bis zu der Vermutung, daß in den Brüdern
die Wiedererkennung Josefs aufdämmert. Gewißheit konnte
Kürzen und Lägen in der Bibel. 155
darüber nur dadurch erzielt werden, daß Josef Kenntnis
von dem durch die Zurückbehaltung Benjamins zu befürch-
tenden tödlichen Eindruck auf den schon ohnehin tief er-
schütterten Vater erlange. Dieser Aufgabe unterzieht sich
Juda, sie begründet den Inhalt und die Länge seiner Aus-
führungen.
Die Ecke mit der letzten Garbe.
Von Ludwig1 Levy.
Zahlreiche germanische Erntebräuche gingen aus dem
Glauben hervor, mitten im Getreide halte sich ein Dämon
auf, welcher beim Schneiden des Kornfeldes vor den Strei-
chen der Sichel immer weiter zurückweiche, sich immer
tiefer in das Feld zurückziehe, bis er schließlich zwischen
den letzten Halmen gefangen werde. Setzte der Wind die
Ähren des Getreideackers leiser oder stärker in wellen-
förmige Bewegung, so sah die Phantasie des Volkes den
»Windhund« oder »Windwolf« durch das Getreide schlei-
chen. Kam der Schnitter mit der Sichel ins Feld, um die
reifen Ähren zu schneiden, so flüchtete sich der Hund oder
Wolf, der bei Windstille träge zwischen den Halmen des
Ackers lag oder im Sturme heulend aufraffte, was er an
Ähren in die Höhe reißen konnte, vor der menschlichen
Arbeit immer weiter, bis die Halme der letzten Ecke sein
letztes Versteck wurden1). Ohne mit den Halmen selbst
identifiziert zu werden, waren die Korngeister doch in
einem sehr hohen Grade an Leben daran gebunden.
Nach einer weitverbreiteten Vorstellung war das Abschnei-
den des Getreides und Grases zugleich der Tod des darin
wohnenden Dämons. Die Tötung des Korndämons aber, ob
er nun Roggenwolf, Erntebock, Roggenhund, Roggenmuhme
oder Roggenmutter oder noch anders hieß, war ein Frevel,
der den Tod des Täters zur Folge hatte. Daher vielfach
der Aberglaube, der Schnitter der letzten Garbe müsse
') Mannhardt, Roggenwolf und Roggenbund, Danzig 1865,
S. 1, 5, 20.
Die Ecke mit der letzten Garbe. 157
sterben1). Durch diese Furcht entstand aus der wohl äl-
teren, weil primitiveren, theriomorphischen Form der Sitte,
die in der Gefangennahme des Dämons in der letzten Garbe
gipfelte, der Glaube an eine menschlich gestaltete Gottheit,
die über das Gedeihen des Feldes wacht, und der der
Mensch in demütiger Verehrung die letzten Erntebüschel
weiht. Diese Sitte bestand z. B. früher in Mecklenburg, wo
man für Wodans Roß die letzten Halme ungemäht auf
dem Acker stehen ließ. Eine Mischung beider Formen der
Erntesitte findet sich in Groß-Trebbow bei Schwerin, wo
die letzten Ähren nicht vom Felde geholt werden, sondern
dem Wolf als Futter für sein Pferd stehen bleiben2).
Weitverbreitet ist auch die Vorstellung, man müsse
dem Dämon ein Büschel Ähren auf dem Felde bei der Ernte
übrig lassen, damit er sich davon den Winter über nähren
könne. Denn der Dämon lebe von dem Getreide, das er
um seiner eigenen Ernährung willen hervorbringe, wie die
Biene zu ihrer Speise den Honig zusammenträgt. Der Mensch
nimmt ihm die Früchte seiner Tätigkeit zum Gebrauch für
sich selbst, ist aber verpflichtet, ihm wenigstens einen Rest zu
lassen. Daher ließ man in der Gegend von Gardelegen einige
Halme auf dem Acker stehen mit den Worten: »Das solider
Bock behalten.« Im südlichen Schweden entspricht der deut-
schen Roggenmutter die Gloso. Für sie läßt der Bauer einige
ungemähte Ähren auf dem Felde, einige Äpfel auf dem
Baume zurück mit der ausdrücklichen Bestimmung : »Das
soll die Gloso haben«8).
Läßt man beim Schneiden der Frucht der Roggen-
mutter etwas Getreide übrig, so sagt man :
Wir geben's der Alten,
Sie soll es behalten,
J) Mannhardt, Die Korndämonen, Berlin 1868, S. 5.
8) Roggenwolf S. 44.
3) Korndämonen S. 8, auch Mannhardt, Antike Wald- und Feld-
kulte. Berlin 1877, S. 170.
158 Die Ecke mit der letzten Garbe.
Sie sei uns im nächsten Jahr
So gut, wie sie es diesmal war1).
Wenn man dem Korndämon nicht einen Rest des
Getreides als Unterhalt für den Winter auf dem Felde stehen
läßt, fällt er dem Bauer im Winter in die Scheune und
frißt sie leer2).
Wir stehen hier vor einem Brauche, der, wie es scheint,
auf der -ganzen Erde heimisch war. So berichtet auch Hol-
werda in der »Religion der Griechen«8) von der Gottheit,
die in jedem fruchtbestandenen Felde haust, und sobald
man zu mähen anfängt, mit jedem Schwaden, der unter
den Streichen der Sichel fällt, zurückweicht, bis ihr endlich
nur die letzte Garbe als Zufluchtsort verbleibt, die dann
als das die Gottheit enthaltende Idol betrachtet wird. Aber
auch heute noch ist diese Vorstellung in Hinterindien
lebendig, und zwar umfaßt dort der Brauch nach Bastian
außer den Getreidefeldern auch die Wälder. »Ist es zur
Urbarmachung des Bodens notwendig, die Wälder auszu-
roden, so überläßt man dieses bedenkliche Geschäft gerne
verachteten Rassen, die, um das Ärmliche ihrer Lage zu
erleichtern, auch sündhafte Schandtaten nicht scheuen, und
dem Zorne der Götter zu trotzen wagen. In Hinterindien
sind besonders die Karen damit beauftragt, und nach
Schv/eden berief man die Finnen. Stets aber läßt man dem
Geistervolk des Waldes einen Teil seiner früheren Be-
hausung zurück, seien es auch nur ein paar kahle Stümpfe
auf der Stelle des früheren Waldes. Dieser Stumpf ist dann
selbst ein Gott und mag durch hermesartige Gesichtsan-
schnitzung bis zur Statue verschönt werden«4).
J) Korndämonen. S. 22.
8) Antike Wald- und Feldkulte S. 170, 192.
3) In Chantepie de la Saussaye, Religionsgeschichte * II, S 252
4) Bastian, Der Baum in vergleichender Ethnologie, Zeitschrift
f. vergl. Völkerpsychologie, V, 1. 288. 300. Über die Parallelen im
griechischen Brauch bei der Eiresione vgl. Mannhardt, Antike Wald-
Die Ecke mit der letzten Garbe. 159
Sollten wir in diesem über große Teile der Erde ver-
breiteten und zweifellos in graue Vorzeit zurückreichenden
Brauche, die Ecke mit den letzten Ähren stehen zu lassen,
nicht eine Analogie zu dem Gebot Lev. 19, 9 und
23, 22 vor uns haben : »Wenn ihr erntet in eurem Lande,
so sollst Du nicht ganz abernten die Ecke Deines Feldes?«
Es wäre denkbar, daß Israel den Brauch schon vorfand
und zwar in der heidnischen Form, nach der man die Ecke
ungemäht den Dämonen stehen ließ. Diesen Brauch hätte
dann Israel übernommen, ihm zugleich aber eine Wendung
ins Ethische gegeben durch die schöne, menschenfreundliche
Bestimmung, die Ecke solle für die Armen und Dürftigen,
die nichts zu ernten haben, übrig bleiben. Darin besteht
ein Teil der religionsgeschichtlichen Bedeutung des Volkes
Israel, daß es manches vorgefundene, ursprünglich wertlose
Gut umprägte und in eine höhere Sphäre hob. Beweisen
läßt sich diese Vermutung wohl nicht. Sie bleibt eine
Hypothese. Aber selbst wenn sie der Wahrheit nicht
entsprechen sollte, bleibt es völkerpsychologisch interessant
und charakteristisch, daß sowohl bei den heidnischen Völkern
als bei Israel die Ecke des Feldes nicht abgeerntet wurde
und stehen blieb, bei den Heiden für die Dämonen, in Is-
rael — für die Armen.
und Feldkulte S. 237. Über ähnliche Bräuche auf Formosa, siehe
Mannh. Roggenwolf, S. 22.
Nachbemerkung. Der vorstehende Aufsatz lag mir längst
vor, als v. Qalls Abhandlung 1910 in den ZATW erschien. Da der
Herr Verfasser etwas reichhaltigeres Material beibringt und durchaus
selbständig zu seinem Ergebnis gelangt ist, lasse ich seine Darlegungen
auch heute noch unverändert in die Öffentlichkeit gehen. M. Br.
Wie verMelt sich das Judentum zu Jesus und dem
entstehenden Christentum?
Von M. Freimann.
(Schluß1).)
Versuchen wir, uns verständlicher zu machen.
In den mittleren Dezennien des ersten christlichen
Jahrhunderts, in denen die jüdische Nation in Todeszuckungen
lag, unter dem unerträglichen Druck der römischen Gewalt-
herrschaft sich windend, hatte die Sehnsucht nach dem
Erscheinen des Messias die höchste Spannung erreicht. Da
und dort tauchten falsche Messiasse auf, Betrüger und be-
trogene Betrüger: und sie alle schürten die Flamme der
Empörung gegen Rom, versprachen, das Land aus den
gierigen Krallen der habsüchtigen und blutgierigen Proku-
ratoren zu befreien und fanden zahlreichen Anhang. In Rom
erkannte man nur zu bald die Gefahr, die von Seite der
durch die Messiaserwartungen bis zum Wahnwitz erhitzten
jüdischen Volksmassen drohte und man unterdrückte mit
großer Härte jede revolutionäre Regung, bewachte mit
Argusaugen jede Ansammlung. Aus Rom selbst vertrieb
Claudius die »von einem Christus aufgewiegelten, unaufhör-
lich tumultuierenden Juden2«). Man war hier eben gut unter-
richtet über den nationalen Charakter der messianischen
Bewegung und wußte, daß er um so gefährlicher sei, als er
aus einem religiösen Fanatismus seine Nahrung sog und
>) Vgl. Jahrg. 1910, S. 697 tf.
2) Suet. Claud. 25: Judaeos impulsore Chresto assidue tumul-
tuantes Roma expulit. Daß die Römer statt »Christus« (Messias)
sChrestus« hörten und aussprachen, wissen wir von Tertullian, Apol. 3..
wo dieser den Heiden zuruft: Sed cum perperam Chrestianus pro-
nunciatur a vobis (nam nee nominis certa est notitia penes vos) de
suavitate vel benignitate compositum est. Cf. Justin. Apol. I, 3.
Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus etc. 161
daß er nicht bloß die Befreiung von Rom anstrebte, son-
dern sogar die Weltherrschaft verhieß. »Die Meisten«, so
berichtet Tacitus aus jener tief aufgewühlten Zeit, »lebten
der Überzeugung, es sei in den Schriften der Priester ver-
heißen, daß der Orient um diese Zeit erstarken und daß
die aus Judäa Ausgehenden die Weltherrschaft erringen
werden«1). Und bei Suetonius lesen wir: »Es herrschte im
ganzen Orient eine alte und beharrliche Meinung,
es sei vom Schicksal bestimmt, daß um diese Zeit die aus
Judäa Ausgehenden die Weltherrschaft an sich reißen wer-
den. Diese, wie der Ausgang lehrt, dem römischen Impe-
rator geltende Verheißung, bezogen die Juden auf sich
und empörten sich«2). Ebenso bestätigt Josephus, daß die
sichere Erwartung, der Messias werde eingreifen, die Juden
zur Empörung gegen Rom trieb. »Was die Juden«, sagt er,
»am meisten zum Aufstande anfeuerte, war ein zweideu-
tiges Orakel in ihren Schriften, dahin lautend: ,in jenen
Tagen werde Einer aus ihren Grenzen ausgehen und die
Welt beherrschen'. Dies bezogen sie auf einen Einheimi-
schen, und viele Schriftgelehrte wurden in der Erklärung
irre. Offenkundig aber bezog es sich auf Vespasian, der in
Judäa zum Kaiser ausgerufen wurde«3). Die jüdische Sibylle
spricht schon um die Mitte des zweiten vorchristlichen
Jahrhunderts von der zu erwartenden jüdischen Weltherr-
schaft, drückt aber diese Hoffnung noch verblümt aus, in-
dem sie das jüdische Volk erstarren und »zum Wegweiser
des Lebens aller Sterblichen« werden läßt4).
!) Hist. V, 13: Pluribus persuasio inerat antiquis sacerdotum
litteris contineri, eo tempore fore ut valesceret oriens, profecti Judaea
rerum potirentur.
*) Suet. Vesp, 4: Percrebuerat Oriente toto vetus et constans
opinio, esse in fatis, ut eo tempore Judaea profecti rerum potiren-
tur etc.
') B. J. VI, 5, 4.
4) Orac. sib. III, 195: xal tot' &&voc u-e^oto 0toü rcaXiv
xapxcpov egtoci, Ot TCavTEffct ßpofoT<n ßiou xatrofrrrfoi e<T<TOVT0U.
Monatsschrift. 65. Jahrgang. 1 1
162 Wis verhielt sich das Judentum zu Jesus
Alle diese Zeugnisse beweisen, daß man in Rom gar
wohl wußte, wessen man sich von der messianischen Be-
wegung zu versehen hatte, weshalb man sehen unter
Claudius, wo man doch von einem Christus Jesus noch
nichts wußte, die aufständischen Bewegungen in der Juden-
schaft auf messianische Aufwiegelungen (impulsore Chresto)
zurückführte. Ja man hatte sogar davon Kenntnis, daß
dieser Christus aus dem Davidischen Königshause hervor-
gehen werde, und noch unter Trajan wurde nach messia-
nistischen Sprößlingen aus dem Hause Davids gefahndet1).
Dieses vorausgeschickt, läßt sich die Verurteilung
Jesu besser verstehen.
Warum ließ der herodäische Vierfürst Antipas den
Täufer in den Kerker werfen und enthaupten? Josephus
gibt uns darauf eine bündige Antwort. Die Bewegung war
eine messianische, und »Herodes begann zu fürchten,
die hinreißende Beredsamkeit des Mannes, die eine solche
Macht auf die Menschen ausübte, möchte leicht einen Auf-
ruhr herbeiführen; darum hielt er es für angezeigter, ihn
früher aus dem Wege zu räumen, bevor noch irgend
eine Neuerung von ihm ausgegangen, als später nach einer
bereits erfolgten Umwälzung die Unschlüssigkeit bereuen
zu müssen. — Auf diesen Argwohn hin wurde Johannes
in Fesseln geschlagen und enthauptet«2).
Ein bloßer Argwohn also genügte in jenen Zeiten,
um selbst völlig unpolitische, rein religiöse Bewegungen,
wie die zur Buße und zur Taufe auffordernde Johanneische
zu ersticken und den unschuldigen Urheber aus dem Wege
zu räumen. Und warum floh Jesus, als ihn die Nachricht
von der Hinrichtung des Täufers traf? Nun, weil ja der-
selbe Argwohn auch ihm verhängnisvoll werden konnte.
Auch er hatte einen starken Anhang im Volke und ver-
folgte anfänglich die gleiche Mission. Was half es da, daß
>) VgL Htgesipp bei Euseb. H. E. III, 32.
») Ast. XVIII, 5,2.
und dem entstehenden Christentum? 163
er erklärte, der Politik völlig fern zu stehen, da sein Reich
nicht von dieser Welt? Es war eine Zeit, in der man nicht
mehr nach der Ursache einer Ansammlung fragte, sondern
sie blind unterdrückte. Die bleiche Furcht vor dem Ge-
spenst des Messianismus, der horror vor den Judaeis im-
pulsore Chresto assidue tumultuantibus hielt nicht bloß
die römischen sondern auch die Herodäischen Machthaber
in Atem und trieb sie an, unterschiedlos jede Volksan-
sammlung zu unterdrücken.
Nicht ohne geschichtlichen Untergrund läßt die Sage
schon den ersten Herodes aufs tiefste erschrecken, als er
vernimmt, daß die Weisen vom Morgenlande den Stern
des neugeborenen Königs der Juden aufgehen gesehen, und
»alle Hohenpriester und Schriftgelehrten versammeln, um
von ihnen zu erforschen, wo Christus sollte geboren wer-
den.« Und als er erfuhr, daß geweissagt sei, seine Geburt
werde in Bethlehem-Juda erfolgen, habe er alle Kinder
daselbst tödten lassen. Der geschichtliche Kern der Sage
ist aber der, daß im Volke schon zur Zeit des ersten He-
rodes die Hoffnung auf das baldige Erscheinen des Mes-
sias lebendig war, und daß die Machthaber argwöhnisch
die messianischen Regungen belauerten, entschlossen, sie
im Keime zu ersticken.
Jesus nun, der stets von Volksmassen umgeben war,
wußte sich von allem Anfang dem Tode geweiht. Um aber
nicht schon am Beginn seiner Lehrtätigkeit hinweggerafft
und an der Verbreitung seiner Botschaft gehindert zu wer-
den, vermied er es sorgfältig, den Verdacht zu erregen, als
Messias auftreten zu wollen. Darum verbot er seinen Jün-
gern, die in ihm den erwarteten Messias zu erblicken an-
fingen, diese ihre Vermutung laut werden zu lassen. Und
wie wenig er tatsächlich aus seiner Reserve heraustrat,
seine ganze Wirksamkeit auf die Volksbelehrung und auf
Krankenheilung beschränkend, lehrt am deutlichsten die
Tatsache, daß Josephus, der von jeder nur irgendwie be-
ll*
164 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
merkenswerten Bewegung seiner Zeit Notiz nimmt, vorr
Jesus keine Kenntnis hat, während er den Täufer und die
von ihm hervorgerufeneTaufbewegunghaarscharf zeichnet und
auch sonst von verschiedenen falschen Messiasen zu berichten
weiß. Und schließlich entzog sich Jesus der Aufmerksam-
keit der Machthaber dadurch, daß er Jerusalem, das Zen-
trum alles politischen und religiösen Lebens, solange es
nur immer anging, mied und sich, sobald er sich verfolgt
wähnte, in die Gegenden jenseits des Jordans, wo
er großen Anhang hatte und sich geborgen wußte, zurück-
zog1). Kam er aber nach Jerusalem, so war sein Untergang
gewiß. Und das wußte er : er ging auch dahin, um zu
sterben8). Denn die Anklage gegen ihn war bald erhoben.
Fragt sich nur, wer sie erhob.
Wer aber hatte eigentlich ein vitales Interesse an der
Beseitigung Jesu? Das jüdische Volk nicht. Das geht vielfach
aus den Evangelien selber hervor, obgleich diese letzteren
andererseits wieder bemüht sind, alle Schuld der Kreuzigung
auf dieses zu wälzen. Die volksführenden pharisäischen
Gesetzlehrer nicht; das lehren uns Josephus, die Apostel-
geschichte und der Talmud. Nach Lucas waren es merk-
würdigerweise Pharisäer, die Jesum zur Flucht mahnten,
da Herodes ihn töten wolle8). Bleiben nur die von ihm an
den Pranger gestellten »heuchlerischen Pharisäer«, die wie
die entarteten Cyniker jener Zeit, an allen Straßenecken,
wo immer politische und materielle Vorteile zu erhaschen
waren, ihre verderbliche Tätigkeit entfalteten, die unter
dem Mantel pharisäischer Frömmigkeit Ehr- und Habsucht
verbargen. Die »Gefärbten«, wie sie die Gesetzeslehrer
des Talmud nannten, vor ihnen in den allerstärksten Aus-
drücken warnend, sie als die »Geißel der Pharisäer« be-
zeichnend. Diese waren noch weit gefährlicher als jene
J) Joh. 10, 40.
') Luc. 13, 33.
s) Luc. 13, 31.
uüd dem entstehenden Christentum? 165
herrsch-begierigen Pharisäer, die unter den letzten Has-
monäern eine politische Rolle spielten. Der größte Phari-
säerfeind, Alexander Jannäus, der die pharisäische Partei
sein ganzes Leben hindurch auf Tod und Leben bekämpfte,
fand nicht diese, sondern ihre Auswüchse, die heuchlerischen
»Scheinpharisäer«, als die gefährlichen. Auf seinem Todten-
bette beschwichtigte er, wie der Talmud berichtet, seine
verzagte Gemahlin mit den Worten: »Fürchte dich nicht
vor den Pharisäern, auch nicht vor denen, die keine
Pharisäer sind, aber fürchte dich vor den Gefärbten,
den Scheinpharisäern, welche die Schandtaten eines
Simri üben und den Lohn des für Gott eifernden Pinchas,
des Sohnes Eleasars, beanspruchen«1).
Das waren die Ankläger Jesu. Und die Anklage? Sie
^rgab sich ihnen von selbst : Aufwiegelung und Empörung
gegen Rom. — Matthäus und Marcus bemühen sich aller-
dings, die politische Spitze der Anklage zu verschleiern
und das Vorurteil zu erwecken, daß Jesus der Gottes-
lästerung, obgleich eine solche nicht nachgewiesen werden
konnte, beschuldigt wurde. Nach Matthäus suchten die
Hohenpriester und Ältesten und der ganze Rat falsches
Zeugnis wider Jesus, auf daß sie ihn töteten, und fanden
keines, obwohl viele falsche Zeugen herantraten. Zuletzt
traten zwei falsche Zeugen herzu und sprachen: »Er hat
gesagt: ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in
drei Tagen denselben wieder aufbauen«2). Marcus hin-
wiederum berichtet : »Aber der Hohepriester und der ganze
Rat suchten Zeugnis wider Jesum, auf daß sie ihn zum
Tode brächten, und fanden nichts. Viele gaben falsches
Zeugnis wider ihn, aber ihr Zeugnis stimmte nicht über-
ein. Und etliche standen auf und gaben falsches Zeugnis
wider ihn und sprachen : Wir haben gehört, daß er sagte :
ich will den Tempel, der mit Händen gemacht ist, ab-
i) Sota 22b. vgl. j. Sota 5, 5. Berach. 9, 4 u. a. St.
2) Math. 26, 59-62.
166 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
brechen und in drei Tagen einen anderen bauen, der
nicht mit Händen gemacht sei. Aber ihr Zeugnis stimmte
noch nicht übe rein«1).
Bei aller Abweichung in einzelnen nicht ganz un-
wesentlichen Punkten stimmen doch die beiden Berichte in
der Hauptsache überein : daß die Anklage wegen Gottes-
lästerung auf Grund eines Ausspruches erhoben wurde, der
Jesu erst nach seinem Tode von dem Hellenisten Stephanus
in den Mund gelegt und um dessen Willen letzterer ge-
steinigt wurde2). Denn daß ihn Jesus in Wirklichkeit getan,
wird ja selbst von beiden Evangelisten, insbesondere von
Marcus, mit dem größten Nachdruck bestritten. Bei Lucas
findet sich denn auch diese Anklage nicht vor. Nach ihm
war gleich die erste Frage, welche »die Ältesten des Volkes,
die Hohenpriester und die Schriftgelehrten« an ihn richteten:
»Bist du Christus«8)? — Auch bei Matthäus und Marcus
fragt der »Hohepriester« Jesum, ohne sich weiter um die
Aussage der Zeugen, die ihm unwesentlich scheint, zu
kümmern, direkt: »Bist du Christus, der Sohn Gottes*4;?
— Das war tatsächlich die eigentliche und ausschließliche
Anklage. Sie genügte vollkommen, um seine Verurteilung
herbeizuführen : Sich zum Messias erklären, hieß Gottes-
lästerer und Aufruhrstifter sein. Das wurde selbst nach
Matthäus und Marcus als die alleinige Ursache seiner Kreu-
zigung angesehen: »Und oben zu seinen Häupten,« so heißt
es da, »setzten sie die Ursache seines Todes und war
geschrieben: dieses ist Jesus, der Judenkönig«5).
Und wie lautet bei Lucas die Anklage vor Pilatus?
*) Marc. 14, 55—59.
2) Ap. 6, 14; 7, 48.
3) Luc. 22, 66-67.
*) Matth. 26, 63; Marc. 14, 61.
6) Mt. 27, 37: xal i-siKxav ercivco Tfl5 xe©aXffe TTjV äixiav
xt\. Und Mc. 15, 26: xat TJV vi £7uvpa©7) rffe änia? auToO
und dem entstehenden Christentum ? 167
»Sie fingen an, ihn zu verklagen und sprachen: diesen finden
wir, daß er das Volk abwendet und verbietet, dem Kaiser
die Steuer zu zahlen und spricht, er seiChristus, König«1).
Lautete aber die Anklage auf Empörung gegen den
Kaiser und war somit der Statthalter in erster Linie ver-
pflichtet einzuschreiten, wie er ja sonst bei ähnlicher Ge-
legenheit mit der Exekution rasch zur Hand war, so ist
davon im Falle Jesu nichts zu verspüren. Er muß vielmehr
mit aller Macht dazu erst gedrängt werden. — Wir sehen
hier nämlich die Evangelisten einen ganz merkwürdigen
Wetteifer mit einander entwickeln, um jede Blutschuld von
Pilatus ab- und den Juden aufzuwalzen. Am wenigsten
beteiligt sich noch an diesem Wetteifer das Evangelium
nach Marcus. Aber schon bei Matthäus ist es das von dem
Hohenpriester und den Ältesten aufgestachelte Volk, welches
nach dem Blute Jesu lechzt und ungestüm seine Kreuzi-
gung fordert. Pilatus aber wäscht sich vordem Volke die
Hände und spricht: »ich bin unschuldig an dem Blut dieses
Gerechten; es ist eure Sache«2).
Diese Darstellung ist sicherlich keine authentische. Sie
stammt aus einer Zeit, die auf jene der Kreuzigung Jesu
schon weit zurückblickt, so daß der Verfasser von Dingen,
die sich damals ereigneten und noch in seiner Zeit nach-
klangen mit Recht schreiben konnte: >bis auf den heu-
tigen Tag«8); oder: »Solches ist eine allgemeine Rede
bei den Juden bis auf den heutigen Tag«4).
Und wie sträubt sich Pilatus erst bei Lucas, Jesum
dem Kreuzestod zu überliefern. Er findet durchaus kein
todeswürdiges Verbrechen an ihm und er bemüht sich
wiederholt, ihn freizugeben. Aber die Juden schreien immer
wieder: kreuzige, kreuzige ihn! Noch mehr: er hatte ihn
i) Luc. 23, 2.
2) Matth. 27, 24.
3) Matth. 27, 8.
*) Matth. 28, 15.
168 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
zu Herodes geschickt und »auch dieser hatte nichts Todes-
würdiges an ihm gefunden«1). Und weiter, Herodes, vor
welchem Jesus nach der Enthauptung des Johannes aus
Furcht, gleichfalls von ihm getötet zu werden, geflohen
war; er war voll Freude, »als er Jesum sah, denn er hätte
ihn längst gern gesehen, denn er hatte viel von ihm ge-
hört«2). — Es ist wahr, Lucas hat dafür gesorgt, daß man
ihm hier keinen krassen Widerspruch nachweisen könne.
Denn bei einer früheren Gelegenheit, wo er den über die
Nachricht von den Taten Jesu erschrockenen Herodes sagen
läßt : »Johannes habe ich getötet ; wer ist aber dieser, von
dem ich solches höre?* fügt er hinzu: »Und er begehrte
ihn zu sehen«3). Wie man sieht, hat sich Lucas hier vor-
sorglich gedeckt; allein man merkt die Absicht, die dahin
geht, den überlieferten Stoff einer bestimmten Tendenz
zuliebe solange zu meistern, bis er ihr gefügig geworden.
Man denke: der »Fuchs Herodes«, der Henker des Johannes,
vor welchem Jesus, von den Pharisäern gewarnt, flieht;
er sehnt sich nach dem Anblick Jesu und findet ihn eben-
sowenig schuldig, wie Pilatus4)!
Noch größer als bei Matthäus und Lucas sind bei
Johannes die Anstrengungen, die Pilatus macht, um Jesus
den blutgierigen Händen der Juden zu entreißen, jede Mit-
schuld an seinem Tode weit von sich zu weisen und jene
als die einzig Schuldigen hinzustellen. Allein, was er auch
versuchen mag, ihn frei zu machen, es ist vergebens. Die
»Juden« verlangen ungestüm seine Kreuzigung, mit dem
Kaiser drohend und schreiend: »Läßt du diesen los, so
bist du des Kaisers Freund nicht. Denn wer sich
zum König macht, der ist wider den Kaiser«5)!
») Luc. 23, 14 u. 15.
») Luc. 23, 8.
3) Luc. 9, 9.
4) Luc. 23, 8 u. 15.
*) Joh. 19, 6-12.
und dem entstehenden Christentum? 159
So sehen wir denn in der ganzen evangelischen Ge-
schichte, soweit sie das Verhältnis des Judentums zu Jesus
behandelt, die Tendenz vorherrschen, die »Schriftgelehrten
und Pharisäer«, und in der Folge das gesamte jüdische
Volk als den Erzfeind und unversöhnlichen Gegner Jesu
darzustellen, eine Tendenz, die erst im zweiten Jahrhundert
zur allgemeinen Geltung sich durchgerungen hatte.
Auch die Schilderungen des Kreuzestodes Jesu, wie
sie uns in den kanonischen Evangelien vorliegen, verraten
deutlich Spuren späterer, umgestaltender Hände. — Zu-
nächst fällt es stark auf, daß von dem »Ärgernis des
Kreuzes«, gegen welches Paulus noch so schwer ankämpfen
muß, in dem kanonischen Evangelien kaum mehr die Rede
ist; ferner, daß mit dem Augenblicke, wo Jesus zum
Opfertod geführt wird, es von den Juden recht stille wird;
und während Pilatus soviel Sympathie und Mitgefühl für
Jesus an den Tag gelegt und seine Freilassung durchzu-
setzen sich bemüht hatte, sind es seine Kriegsknechte, die
ihn mit ausgesuchter Grausamkeit martern und mit Hohn
und Spott seinen letzten Atemzug vergiften. Von den
Juden aber ist kaum im Vorbeigehen mehr die Rede. Bei
Lucas sind es die »Oberen« des Volkes, bei Marcus »die
Hohenpriester und Schriftgelehrten«, bei Matthäus »die
Hohenpriester, Schriftgelehrten und Ältesten«, die, als er
am Kreuze hing, »spöttische Reden führten«. Bei dem vier-
ten Eyangelisten aber, der bis dahin die »Juden* nicht
blutdürstig genug schildern konnte, fehlen die letzteren bei
der Kreuzigung. Die Kriegsknechte des Pilatus haben jetzt
ihre Rolle übernommen und üben unerhörte Rache. Und
wofür? Was hat er ihnen getan? Und hat ihn ihr Gebieter
Pilatus nicht für unschuldig erklärt? Hat er ihn nicht frei-
geben wollen ? — Doch stellen wir die Frage richtiger :
war es überhaupt notwendig, den Kreuzestod Jesu unter
soviel Marter und Hohn erfolgen zu lassen, wie ihn die
Evangelien übereinstimmend darstellen? — Darauf gibt
170 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
es nur eine befriedigende Antwort: Mit der Verurteilung
Jesu beginnt ein neues, auf ganz anderen Prämissen auf-
gebautes Kapitel der evangelischen Geschichte, das erst in
einer Zeit abgefaßt wurde, in der nicht mehr das Leben
und Wirken, sondern der Opfertod und die Auferstehung
im Mittelpunkt des Interesses standen; in der, dank der
weitausgreifenden paulinischen Missionsarbeit, das Bild von
dem leidenden Messias bereits weiten Kreisen ver-
traut gemacht worden war; in der man nicht mehr mit den
Synoptikern das Evangelium Jesu von der Taufe des Jo-
hannes sondern mit Paulus von dem Kreuzestod den Anfang
nehmen ließ.
Opfertod und Auferstehung Jesu bilden jetzt das neue
Evangelium, von welchem aus Paulus die jüdisch-nationale
Welt aus allen Angeln hebt und Jesum zum Weltheiland
macht. Das war die erlösende Botschaft, die er empfangen
und weitergibt: ^caß Christus gestorben sei für die Sünden
der Menschen nach der Schrift«1). Somit war das Mar-
tyrium Jesu unerläßlich für das Heil der Welt; es warder
Ratschluß Gottes, verheißen durch die Propheten. Und so
mußte er die Prophezeiungen bis auf das Tüpfelchen vom
i erfüllen, den Kelch der Leiden, wie vorgeschrieben, bis
zur Neige leeren. Er mußte, da er die Erfüllung der Weis-
sagung von dem leidenden Knecht Gottes war, allen Jam-
mer, allen Spott und Hohn und alle Marter über sich
ergehen lassen, die dem Knecht Gottes durch den Mund des
Propheten auferlegt wurde. Daher die Begleiterscheinungen
seines Kreuzestodes, daher die Qualen auf seinem letzten
Gange, die er alle erdulden mußte : »daß die Schrift er-
füllt würde«.
Der evangelische Bericht von dem Kreuzestode Jesu
J) 1 Kor. 15, 3: rizpscW/.a. y*P üjxTv sv TtpcoToi?, o y.od xap-
eXaßov, ort ^ptaTÖ; ä^sdaViV uTrip tüv iu,apTuöv 0[x<3v, xaxä
xolc y p a <p ä c. ;Cf. Oal. 1, 4; 2 Kor. 8, 9; Rom. 4, 25; 15, 21 ; Hebr-
2, 14, 17; Phil'. 1, 6-9; 1. Tim. 2, 6; Tit. 2, 14 u v a. St.
und dem entstehenden Christentum? 171
ist ganz zweifellos erst unter dem mächtigen und sugge-
stiven Einfluß dieser erlösenden paulinischen Botschaft, die
von dem »Christus nach dem Fleische« völlig absah und
sich ausschließlich mit dem gekreuzigten und auferstan-
denen Christus beschäftigte1), geschrieben worden. Und da
er im ständigen Hinblick auf die einschlägigen prophetischen
Stellen abgefaßt und der Leidensweg Jesu diesen nachge-
zeichnet wurde, so mußte die Zeichnung eine stereotype
werden : daher die beobachtenswerte Übereinstimmung in
diesem Punkte bei allen vier Evangelien.
Und ist es nicht bezeichnend genug, daß gerade Lucas
es ist, der diese Paulinische Botschaft von dem leidenden
Messias und seinem Opfertod in auffälliger Weise vor-
bereitet? Nach ihm erschien der Auferstandene zuerst zweien
seiner Jünger auf dem Wege nach Emmaus und sprach zu
ihnen: »0 ihr Unverständigen und trägen Herzens, zu
glauben, was die Propheten geredet haben; mußte nicht
Christus solches leiden, um in seine Herrlich-
keit einzugehen?« Hierauf legte er ihnen, von Moses
und allen Propheten anfangend, »alle Schriften aus, die von
ihm gesagt waren«2). Dann erschien er den Aposteln in
Jerusalem und sprach zu ihnen: »Das ist es, was ich euch
gesagt habe, da ich noch bei euch war, es müsse alles
erfüllt werden, was von mir im Gesetz Mosis, in den Pro-
pheten und in den Psalmen geschrieben steht. Darauf öff-
nete er ihnen das Verständnis, die Schrift zu verstehen
und sagte ihnen: Also ists geschrieben und also
mußte der Christ leiden und auferstehen von den
Teten am dritten Tag«3).
Davon aber, daß der Auferstandene seinen Jüngern
eine solche Aufklärung über die Notwendigkeit seines Lei-
dens, um in seine Herrlichkeit einzugehen, gegeben, wissen
') 2 Kor. 5, 16.
9) Luc. 24, 25 u. 26.
s) Luc, 26, 4-1—46.
172 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
die übrigen Evangelien nichts. Das ist genuin paulinische
Auffassung, wie denn die ganze evangelische Darstellung
der Kreuzigung und Auferstehung aus dieser Quelle ge-
flossen1). Hier gab es sonst keine ursprüngliche
sichere Überlieferung. Die Jünger Jesu waren von der über
sie hereingebrochenen Katastrophe zerschmettert, und es
mußte lange gedauert haben, bis sie sich wieder gefaßt
und auf neuer Grundlage ihre messianischen Hoffnungen
aufgebaut hatten : auf der Grundlage der Kreuzigung und
Auferstehung. — Liest man aber die beiden letzten Kapitel
der Evangelien, so gleitet man glatt von der Kreuzigung
Jesu zur Wiedersammlung seiner Anhänger hinüber, nicht
ahnend, daß dazwischen eine ganze Welt neuer Gedanken
liege, daß sich erst im Paulinismus die Vorstellung von
dem Opfertod und der Auferstehung zur Idee der Welt-
erlösung verdichtete, die nachträglich in den Evan-
gelien zum Ausdruck gebracht wurde. — Sieht man näher
zu, so findet man es selbst bei Marcus und Lucas ange-
deutet, daß der Glaube an die Auferstehung Jesu, an
welchen Paulus sich mit soviel Inbrunst klammert, nicht
aus den Kreisen der Apostel hervorgegangen ist, sondern
in dieselben hineingetragen wurde. Beide Evangelisten be-
richten, daß die Apostel diesem Glauben Zweifel entgegen-
brachten, die von dem Auferstandenen bezwungen werden
mußten : er schalt sie trägen Herzens, daß sie den Weis-
sagungen nicht Glauben schenken wollten2). Er schalt ihren
Unglauben und ihres Herzens Härtigkeit, daß sie nicht
geglaubt hatten denen, die ihn gesehen hatten
auferstände n«3).
War aber der paulinische Christus das gottgewollte
Opferlammm, das gerne der Welt Sünden auf sich nahm,
so konnten die Juden, sofern sie ihn nach dem Ratschlüsse
l) Das geht unverkennbar aus 1 Kor. 15, 3— S hervor.
*) Luc. 24, 25.
3) Marc. 16, 14.
und dem entstehenden Christentum? 173
Gottes der Schlachtbank auslieferten, wohl Opferer, aber
keine Schlächter sein. Ihre Mitwirkung hatte sonach
mit der Verurteilung Jesu ein Ende erreicht. Und so ver-
schwinden sie denn auch, selbst nach den Evangelien, fast
gänzlich vom Schauplatze der Kreuzigung.
Aber die Leiden und die Schmach, die dem Knecht
Gottes zum Zwecke der Welterlösung durch den Mund der
Propheten auferlegt wurden, durften Jesu, sollte seine Mes-
sianität gegen jeden Zweifel gefeit sein, nicht erspart
bleiben. Er mußte alle einschlägigen Prophezeiungen buch-
stäblich erfüllen. Wer aber sollte die Henkerarbeit ver-
richten, »daß die Schrift erfüllt werde?« Es blieb also nichts
übrig, als die Kriegsknechte des Pilatus damit zu betrauen.
Diese Auffassung von dem Opfertod Jesu und der
Beteiligung der Juden daran teilten noch die frommen
Kirchenlehrer in der Mitte des zweiten Jahrhunderts, und
sie sahen den letzteren gern ihre »Mitschuld« nach, wenn
sie sie bereuten. Hier ein klassisches Beispiel. Bei Justin
Martyr sprechen die Juden: »Ja, wenn der Vater wollte,
daß Jesus solches leide, um durch seine Wunden dem
Menschengeschlecht Heilung zu bringen, dann hätten wir
doch nicht unrecht gehandelt.« Worauf Justin: »Gewiß,
wenn ihr eure Sünden bereut, ihn als den Christus an-
erkennt, seine Gebote haltet und diese eure Entschul-
digung vorbringt, wird euch Vergebung der Sünden«1).
Am wenigsten aber findet sich bei Paulus eine An-
klage gegen die Juden, daß sie Jesum mit ihrem Hasse
verfolgt oder gar dem Kreuzigungstod überliefert hätten.
Besäßen wir nicht die kanonischen Evangelien, die
weit jünger als die paulinischen Briefe sind, wir wüßten
weder aus den letzteren, noch aus den sonstigen neu-
testamentlichen Briefen, noch auch aus der Apokalypse
etwas über eine jüdische Verfolgung Jesu. Ist es wohl an-
zunehmen, daß Paulus, wofern ihm das in den kanoni-
J) Dial. c. 95.
174 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
sehen Evangelien geschilderte so haßerfüllte Verhalten der
Juden Jesu gegenüber bekannt gewesen wäre, davon ge-
schwiegen hätte? Er spricht aber nur von dem Unglauben
und der Blindheit der Juden, jedoch niemals davon, daß
sie mit ungestümem Wüten auf Pilatus einstürmten,
ihm ins Ohr schreiend: »Kreuzige, kreuzige ihn!« Wie
konnte Paulus, hielt er, wie die kanonischen Evangelien,
die Juden für die eigentlichen Mörder Jesu, ihnen »das
Zeugnis geben, daß sie für Gott eifern, wenn auch
mit Unverstand«1)? Und selbst da, wo er einmal von jenen
spricht, die Jesum gekreuzigt haben, hat er sicherlich nicht
die Juden darunter verstanden. Die betreffende Stelle lautet:
»Davon wir aber reden, das ist dennoch Weisheit bei den
Vollkommenen, nicht eine Weisheit dieser Welt, auch nicht
der Obersten dieser Welt2), welche vergehen, son-
dern wir reden von der heimlichen, verborgenen Weisheit
Gottes, welche Gott verordnet hat vor der Welt zu unserer
Herrlichkeit, welche keiner von den Obersten dieser
Welt erkannt hat3); denn wo sie die erkannt hätten,
hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht
gekreuzigt«4). — Wer möchte sich wohl zu behaupten
getrauen, Paulus habe hier unter den Obersten dieser
Welt die »Schriftgelehrten und Pharisäer« oder das jüdi-
sche Volk gemeint?
Nun wird man mir sicher einwenden, daß doch Paulus
selbst, als er noch »über die Maßen für das väter-
liche Gesetz eiferte«, »die Gemeinde Gottes«, wie
er dies offen im Galaterbrief bekennt und wie die Apostel-
geschichte es weiter ausführt und ausschmückt, »über die
Maßen verfolgte und verstörte«. Allein diese Verfolgung
galt, wie noch näher gezeigt werden soll, keineswegs dem
') Rom. 10, 2.
2) oüSs twv äp^ovrwv toü alwvo; TOUTOU.
3) oöSsic t&v ap^6vToiv alwvo; toutou «t>..
*j 1 Kor. 2, 6-3.
und dem entstehenden Christentum? 175
Christusglauben, sondern dem jüdisch-hellenistischen
Antinomismus, der schon nach der Kreuzigung Jesu
ungestüm in die christliche Gemeinde eindrang. — Die
gesetzesfreie Predigt des Stephanus — nicht die An-
hängerschaft an Jesus — führte zu einem Volksauflauf,
dem letzterer zum Opfer fiel. Und an diesem Aufruhr be-
teiligte sich der gesetzeseifrige Saulus in hervor-
ragender Weise1) und empfand, wie die Apostelgeschichte
hervorhebt, Befriedigung über den Tod des Stephanus. —
Daß diese Verfolgung ausschließlich gegen die gesetzes-
freien Hellenisten sich richtete und nicht gegen die gesetzes-
treuen Anhänger Jesu, geht unzweideutig daraus hervor,
daß die letzteren von ihr garnicht berührt wurden, da ja
ihre Häupter, die Apostel, unangefochten in Jerusalem bleiben
durften, während der Anhang des Stephanus auswandern
mußte.
Man hat sich aber von Anbeginn mit der Apostel-
geschichte daran gewöhnt, in jüdischen Verfolgungen anti-
nom istischer Tendenzen stets »jüdische Christenverföi-
gungen« zu sehen, und so merkte und merkt man bis auf
den heutigen Tag nicht mehr, daß die gesetzestreue ur-
christliche Gemeinde den jüdisch-hellenistischen Antinomis-
mus nicht minder verfolgte, als es das pharisäische Juden-
tum tat.
Ich kann also aus den paulinischen Briefen, den ältesten
christlichen Dokumenten, ich mag sie drehen und wenden
wie ich will, die Überzeugung schlechterdings nicht ge-
winnen, daß das jüdische Volk Jesum verfolgt oder gar der
Schlachtbank überliefert habe. Ich habe vielmehr allen Grund
zu vermuten, daß Paulus selber diese Überzeugung nicht
gehegt; denn was konnte ihn hindern, sie in seinem harten
Kampf gegen »jüdischen Unglauben und jüdische Blindheit«
zum Ausdruck zu bringen ?
') App. 8, 1: Soc'jXo;; $-; r,v fjuvs'jSoxoiv tyi y.vxioiizi kutou
(Sxscpavou).
176 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus etc.
Wenn aber Paulus die »Obersten dieser Welt« als die
Henker Jesu bezeichnet, so hat er darunter ebensowenig,
wie die Apokalypse unter dem »Würger des Lammes«
das jüdische Volk gemeint.
Wer ist denn dieser Würger in der Apokalypse, dieser
ingrimmige Verfolger Jesu1), der vom Blute der Heiligen
trieft ? Es ist »die große Babylon, die Mutter der Buhlerei
und aller Gräuel auf Erden; das Weib, daß auf den sieben
Bergen sitzt, trunken von dem Blut der Heiligen und von
dem Blut der Zeugen Jesu«2): das weltversündigende und
weltverschlingende Rom, die Verkörperung des Anti-
messias in den Augen des Apokalyptikers wie in jenen
der Juden!
*) Apok. 17, 14.
») Apok. 17, 5—9.
Die talmudische Literatur der letzten Jahre.
Von V. Aptowitzer.
(III. Fortsetzung).
Aus der Genisah ist noch ein anderer wertvoller
Schatz gehoben worden: eine umfangreiche Sammlung ga-
onäischer Response n, die ebenfalls von L. Ginz-
berg herausgegeben wurde1).
Die Sammlung besteht aus 47 Fragmenten, die der
Cambridger Bibliothek, der Bodlejana (9), dem British Mu-
seum (2) und einer Privatsammlung (1) entnommen sind.
Die ersten 18 Fragmente (S. 1 — 165) hat Ginzberg schon
früher in JQR. XVI— XX veröffentlicht.
Eigentliche Responsen enthalten blos 34 Frag-
mente. S. 56 — 71 enthalten Verzeichnisse von Responsen, N.
10 (S. 87—88) Fragment eines Briefes aus Bagdad, N. 34
(S. 272) ein Stück vom nneo des R. Nissim, N. 35 (S. 278
bis 279) Fragment eines Schreibens R. Scheriras od. R.
Hais an Jehuda Alluf aus Kairuan, N. 39—43 Stücke der
Sche'elthoth mit den in den Ausgaben fehlenden rvwin,
N. 44—45 Stücke aus Halachoth Gedoloth, 46 Fragment
von niaiSö twhn, 47 ein Blatt Halachoth unbekannter Her-
kunft.
Die Einleitungen, die der Herausgeber den einzelnen
Fragmenten vorausschickt, enthalten Inhaltsangabe, Unter-
suchungen über die Autorschaft und Angaben über das
anderweitige Vorkommen der einzelnen Responsen. Die
Texte sind mit Quellennachweisen, den notwendigsten Kor-
*) Geonica by Louis Ginzberg II, Genizah Studies. (Texts
and Studies of the Jewish theological Seminary of America, vol. II)«
New York 1909.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. *•
178 Die ta'mudsche Literatur der letzten Jahre.
rekturen und sonstigen kurzen Bemerkungen versehen.
Es zeigt sich hier die gründliche Sachkentnis
des Herausgebers und seine große Vertrautheit mit
der einschlägigen Literatur.
Ein Verzeichnis der Responsen nach der Ordnung des
Schulchan Aruch, ein Index der erklärten Talmudstellen,
ein ausführliches Namen- und Sachregister erleichtern die
Benützung des Buches. Die 7 Seiten Ergänzungen und Be-
richtigungen zeigen den Fleiß des Herausgebers und sein
Bestreben, möglichst Vollkommenes zu bieten.
Wie die gaonäische Literatur im allgemeinen, ist auch
diese neueste Sammlung gaonäischer Texte in erster Reihe
für den Talmudisten und Halachaforscher von
Wichtigkeit. Hierin liegt ihre eigentliche Bedeutung. Be-
kanntes erscheint hier in anderer, oft besserer Textgestalt
und des ganz neuen bietet unsere Sammlung nicht wenig.
Manches davon ist recht auffallend. So wird — um nur
das Auffallendste hervorzuheben — in Responsum N. 5 auf
S. 195 gegen die Übereinstimmung aller bekannten Quel-
len1) erklärt, daß das Verbot Deut. 22, 10 buchstäblich zu
fassen ist und daß daher andere Arbeiten — der Gaon
spricht von Dreschen — mit ungleichartigen Tieren ge-
stattet sind.
Aber auch die Philologen und Historiker kom-
men bei unserer Sammlung auf ihre Rechnung, besonders
die letzteren. Sie lernen neue Namen kennen, erfahren von
Beziehungen zwischen Babylonien und Palästina sowie zwi-
schen ersterem und Europa und finden im allgemeinen
reiche Aufschlüsse zur Kenntnis der gaonäischen Zeit. Auch
das liturgische, das in unserer Sammlung reichlich ver-
treten ist, ist in dieser Beziehung von Wichtigkeit.
Die in den Einleitungen zu den einzelnen Fragmenten
gewonnenen Resultate hat Ginzberg vielfach vertieft und
') Vgl. jedoch meine Bemerkung zu dieser Stelle.
Die talmudische Literatur der letzten Jahre. 179
erweitert und in einem besonderen Band zusammen-
gefaßt1).
Dieser Band zerfällt in zwei ungleiche Teile. Der
zweite, größere Teil (S. 72—207) bietet eine Übersicht
über die halachische Literatur der Gaonim. Ich hebe hervor
die Ausführungen über: Plan und Zweck der Sche'eltoth
(S. 86—95); die Sche'eltoth und der Jeruschalmi (S. 78—36),
mit dem fast vollständig gelungenen Nachweis, daß es für die
Annahme, R. Achai habe den Jeruschalmi benützt, keinen
einzigen sicheren Anhaltspunkt gibt; die Abhandlung über
die Halachoth G edoloth (S. 95— 111) : ihr Autor
ist R. Jehudai; die Abhandlung über Seder Rab
Amram (S. 119—154); Saadjas Bedeutung in der
Hai ach a (S. 162—167): Saadja der bedeutendste hala-
chische Autor der gaonäischen Zeit; Ursprung der Samm-
lungen gaonäischer Responsen (S. 182—200), mit einem
sehr nützlichen Verzeichnis der gaonäischen Zitate in den
3 gedruckten Werken ben Barsillais, in Machsor Vitry und
Schibbole ha-Leket.
Im ersten Teil (S. 1—72) behandelt Ginzberg einige
historische Fragen betreffend die gaonäische Zeit. Hervor-
zuheben sind besonders die Ausführungen über : die we-
sentlichen Züge des Gaonats (S. 6 — 14), die Konflikte zwi-
schen dem Exilarchat und dem Gaonat von Pumbaditha
(S. 14-22, 62-66), den Bericht Nathan ha-Bablis.
Von den Resultaten Ginzbergs sind viele absolut
sicher. Zu diesen gehören auch die meisten der zahlreichen
Berichtigungen der Irrtümer Isaak Halevys. Die nicht
sicheren Aufstellungen G.'s sind teils nicht genügend be-
wiesen, teils direkt abzulehnen.
Ich hoffe auf den ersten Band der G e o n i c a in einem
anderen Zusammenhang ausführlich zurückkommen zu
l) Qeonica by Louis Ginzberg I, The Qeonim and their
halakic writings (Textes and Studies of the Jewish theological Semi-
nary of America, vol. I). New York 1909.
12*
180 Die talmudische Literatur der letzten Jahre.
können. Hier will ich nur bemerken, daß Ginzbergs Arbeit,
die durch tief es Ei ndri nge n, großen Scharfsinn
und große Gelehrsamkeit sich auszeichnet, soviel
des Neuen, Interessanten und Anregenden bietet, daß sie
selbst von denjenigen, welche den Aufstellungen des Ver-
fassers nicht zustimmen, als ein äußerst wertvoller Beitrag
zur gaonäischen Geschichte und Literaturgeschichte aner-
kannt werden muß.
Zwei Themata dieser Geschichte behandelt S. P o-
znanski in seiner Schrift Studien zur gaonäischen
Epoche1): 1. das Verhältnis der Gaonim zum
J eruschalm i und 2. die Allufim oder rvhi »e>JO»
In der ersten Abhandlung (S. 3—44) beschränkt
sich Poznanski auf eine Zusammenstellung und Prüfung
der älteren Ansichten und Angaben, ohne neues zu bieten.
Er gelangt zu folgendem Resultat: 1. Der erste Gaon, der
den Jeruschalmi benützt hat, ist R. Acha, der Verfasser
der Sche'eltoth. 2. Im allgemeinen haben die älteren Gaonim
den Jeruschalmi wenig benützt. — Punkt 1 erweist sich durch
den Nachweis Ginzbergs als unsicher. Gegen Punkt 2, die
Ansicht Rapoports und Frankeis, der sich auch Ginzberg2)
anschließt, ist eine Anzahl bisher nicht berücksichtigter
gaonäischer Entscheidungen geltend zu machen, die, auf
ihr Verhältnis zum Jeruschalmi untersucht, ein positives
Resultat ergeben dürften. Einige darauf bezügliche Hinweise
findet man in meinen Einzelbemerkungen zu Ratners Pes-
sachim und Ginzbergs Geonica.
Wichtig und verdienstlich ist die Veröffentlichung und
Übersetzung des arabischen Genizahfragments, das viel-
leicht ein Stück aus einem alten Kommentar zum Jeru-
») D'Jliun neipfi^ D^yron B^UP B^jy, Studien zur gaonä-
ischen Epoche, Heft I, Warschau 1909. Separatabdruck aus Ha-
kedem I, II.
2) Geonica I, S. 77, Note 2.
Die talmudische Literatur der letzten Jahre 181
schalmi ist. Dieses Fragment ist nachher auch in Ginzbergs
Yerushalmi Fragments, S. 298 — 301, veröffentlicht worden.
In der zweiten Abhandlung (S. 45— 67) bespricht P.
zuerst die Einrichtung der babylonischen Lehrhäuser und
gibt dann eine sehr fleißige, sehr sorgfältige und sehr nütz-
liche Zusammenstellung aller Nachrichten über die Allu-
fim oder nhz »ttWi. Hier zeigt sich Poznanskis gewohnte
Gründlichkeit.
Probleme der Literaturgeschichte in weiterem
Sinne behandeln Guttmann, Rosenthal und Schwarz.
Guttmann gibt in der jüngsten Programmarbeit des
Budapester Rabbinerseminars die ersten zwei Abschnitte
einer »Einleitung in die Halacha«1). Der erste Ab-
schnitt handelt über die Bedeutung des Wortes
Halacha und der damit verwandten Termini. Das zweite
Kapitel beschäftigt sich mit dem Entwicklungsgang der
Halacha: welche Prinzipien und welche Autorität waren für
die Dezision, für die Fixierung der Halacha maßgebend?
Auf die letztere Frage antwortet G.: »Die auf alle
Fragen des Lebens sich erstreckende Halacha kann ihren
einheitlichen Charakter nicht anders als durch einheitliche
Behandlung und zentrale Verfügungen bewahrt haben.
Einen gesetzbestimmenden Mittelpunkt muß es zu allen
Zeiten gegeben haben«. Mit dem Auftreten Schammais und
Hilleis wurde das halachische Zentrum in zwei selbstän-
dige, mit gleicher Autorität ausgestattete Schulen oder Be-
hörden gespalten. Erst in Jabneh wurde die Einheit der
Halacha wiederhergestellt.
Die erste Frage beantwortet G. folgendermaßen: Die
Halacha »ist innig mit dem Leben verbunden; die das Ge-
setz betreffenden Deutungen sind keine bloße geistige
J) Zur Einleitung in die Halacha. Von Prof. Dr. Mi-
chael Guttmann. Erstes Heft. Budapest 1909. Druck von Adolf
Alkalay & Sohn, Preßburg (32. Jahresbericht der Landes-Rabbiner-
schule in Budapest).
}82 Die talmudiscbe Literatur der letzten Jahre.
Schulgymnastik, sie bilden vielmehr die Überbrückm?
zwischen dem Buchstaben und der Praxis. Eine Darstellung
des Entwicklungsganges der Halacha dürfen wir nicht aus-
schließlich aus ihren theoretischen Elementen konstruieren;
wir müssen, um richtig und gerecht urteilen zu können,
den geschichtlichen Hintergrund genau kennen lernen«.
Diese These zu begründen und im einzelnen nachzu-
weisen, wird die Aufgabe der folgenden Kapitel sein, die
gewiß viel neues und interessantes bringen werden, die
eigentlichen »Bausteine zu einer allgemeinen Einleitung in
die Halacha«. Die uns vorliegenden zwei Abschnitte erle-
digen blos die notwendige Vorarbeit, ohne wesentlich neues
zu bieten. Daß aber schon die Zusammenstellung und
Erörterung des t erm in o logisch en Materials sehr ver-
dienstlich ist, braucht kaum gesagt zu werden.
Wie Guttmann das Werden der Halacha, so versucht
L. Rosenthal in seinem Buche Ȇber den Zusam-
menhang der Mischnah«1), von dem jetzt der erste
Teil in zweiter Auflage erschienen ist, die Entstehung der
Halachaordn ung aus geschichtlichem Hinter-
grund zu erklären. Dieser Hintergrund ist nach R. der
Kampf des Pharisäismus gegen den Saddu-
zäismus. Nach R. hat es schon vor Schammai und Hillel
zwei antisadduzäische Mischnahordnungen gegeben. Die
erste, gegen Ende des zweiten Jahrhunderts vor der ge-
wöhnlichen Zeitrechnung, enthielt nur »die allgemeinen
Kundgebungen gegen die Feinde der mündlichen Lehre«.
Die zweite, spätestens von Schemaja und Abtalion herrüh-
rend, ging mehr ins einzelne, indem sie die älteren aus-
führlichen Schilderungen kürzte und so die Streitpunkte
*) Über den Zusammenhang der Misch na. Ein Beitrag
zu ihrer Entstehungsgeschichte von Rabbiner Dr. Ludwig A. Rosen-
thal. Erster Teil: Die Sadduzäerkämpfe und die Mischnasammlungen
vor dem Auftreten HillePs. Straßburg 1909. Verlag von Karl J. Trübner.
Preis 5 Mk.
Die talmudische Literatur der letzten Jahre. 183
durch einzelne Halachasätze im Sinne der Überlieferung zu
entscheiden suchte.
Dies der Kern der Rosenthalschen Hypothese, die er
selbst als Vermutung und kühnen Versuch bezeichnet.
Die Kühnheit liegt aber nicht in der Annahme anti-
sadduzäischer Tendenz als Antrieb, den Stoff der münd-
lichen Lehre zu ordnen. Gewichtige Gründe, wie gegen
die Geigersche Hypothese von der halachasch äffen-
den Wirkung des Antisadduzäismus, können gegen die
Rosenthalsche Modifizierung dieser Hypothese in die An-
nahme der Zurückweisung des Sadduzäismus als halacha-
ordnendes Motiv nicht geltend gemacht werden. Diese
Annahme hat sogar vieles für sich.
Soweit ist Rosenthals Hypothese sehr brauchbar und
gar nicht kühn. Die Kühnheit beginnt erst mit der Über-
treibung, mit der Annahme, daß die aus gegensadduzäischer
Tendenz entstandene Halachaordnung auch die erste
und älteste war. Dies ist aber nicht mehr kühn, son-
dern einfach undenkbar. Schon aus der bloßen Beschäfti-
gung mit Lehrsätzen ergeben sich notwendig und unbeab-
sichtigt gewiße Aneinanderreihungen, Zusammenstellungen
und Gruppierungen, besonders wenn diese Lehrsätze keine
philosophische Grübeleien und abstrakte Spekulationen,
sondern Satzungen für die Praxis, Gesetze für das Leben
sind. Wie hat die autoritative Schule oder Behörde in Fragen
des Tempeldienstes und der Reinheitsgesetze entscheiden,
die Gesetze über Mein und Dein, Schuldner und Gläubiger,
Schaden und Ersatz handhaben können, ohne daß aus der
praktischen Anwendung auch eine gewisse Ordnung der
Lehrsätze sich ergeben hätte? Bleiben wir bei der Recht-
sprechung. Der Richter urteilt im Falle A nach dem Prin-
zip a, dasselbe Prinzip muß er auch in den Fällen B, C...
X anwenden. Die Fälle A . . . X wiederholen sich aber wäh-
rend seiner Praxis mehrmals, so daß infolge des Assozia-
tionsgesetzes der Rechtsfall A beim Richter die Vorstellung
184 Die talmudische Literatur der letzten Jahre.
der Fälle B, C . . . X auslöst. Ist nun der Richter zugleich
Lehrer, so kann er — auch dies ist ein psychologisches
Gesetz — seinem Schüler die Entscheidung in den Fällen
A...X nur in der Weise überliefern, daß er bei der Be-
handlung des Falles A nach dem Prinzip a auch die an-
deren nach demselben Prinzip zu beurteilenden Fälle heran-
zieht. Die Zusammenstellung der Fälle A . . . X mit dem
gemeinsamen Entscheidungsprinzip a, der Fälle A1 . . X1
mit dem Prinzip a1 usw. ergibt sich auf diese Weise
n atur notwe ndig ohne äußere Veranlassung. Halacha-
ordnungen nach naturgemäßen, inneren Prin-
zipien sind also so alt wie die Halacha selbst.
Sie sind aus Theorie und Praxis von selbst herausge-
wachsen. Dies bedarf ebensowenig eines Beweises wie
jedes andere psychologische Gesetz.
Später entstanden nach 1 i t erar i seh - k ü nstlich e n
Prinzipien gemachte Ordnungen, die die ursprünglichen
naturgemäßen Zusammenhänge oft zerrissen und
sprengten. Das nächstliegende literarische Ordnungsprinzip
ist die Reihenfolge der Gesetze in der Schrift. Die Ordnung
nach dem Seder Mikra darf daher als die älteste
künstliche Halachaordnung angesehen werden. Daß spä-
ter auch der Kampf gegen den Sadduzäismus und andere
Häresien künstliche Halachaordnungen ins Leben gerufen,
ist nicht unwahrscheinlich. Soviel kann man von der Ro-
senthalschen Hypothese behalten und nützlich verwenden.
Auch die Ausführungen R.'s über die Rücksicht auf
das Gedächtnis als Ordnungsprinzip: nach gewissen Schlag-
wörtern, Zahlenverhältnissen, End- und Stabreim und dgl.
enthalten ebenfalls ein Körnchen Wahrheit. Daß die Ord-
nung nach innern Gesichtspunkten als die älteste
und ursprünglichste angesehen werden muß, ist oben aus-
geführt worden.
»Ich würde mich — versichert R. — glücklich schätzen,
sollte es mir gelungen sein, etwas zur inneren Einleitung
Die talmudische Literatur der letzten Jahre. 13 5
in die Geschichte der Mischnah geboten zu haben«. Dies
ist ihm in der Tat gelungen. Denn etwas, u. z. Inter-
essantes und Anregendes, bietet R.'s Arbeit auch
demjenigen, der sich seiner Hypothese gegenüber ableh-
nend verhält.
Die Halacha ist die »Überbrückung zwischen dem
Buchstaben und der Praxis«. Bei der Untersuchung einer
Brücke ist aber die wichtigste Frage die nach den Pfeilern,
auf denen sie ruht. So ist auch die Untersuchung über
Beschaffenheit und Tragfähigkeit der Pfeiler der mündlichen
Lehre, d. i. der h er me neutischen Regeln die erste
und wichtigste Aufgabe einer Geschichte der Ha-
lacha. Mit dieser Aufgabe beschäftigt sich seit mehreren
Jahren Rektor A. Schwarz1). Seine jüngste Arbeit auf
diesem Gebiete behandelt die dritte Middah, den B i n j a n
Ab und die mit ihm verwandten hermeneutischen Regeln2).
Das Buch zerfällt in drei Teile. Der erste Teil be-
schäftigt sich mit der Auffassung des Binjan Ab bei den
älteren Methodologen und Erklärern der Baraitha des R.
Ismael. In dieser Auseinandersetzung ist dem scharfsinnig-
sten Sifrakommentator, dem RABD, der erste Platz und der
breiteste Raum gewidmet. Schwarz findet bei den Metho-
dologen, die mehr mit den zwei Formen des Binjan Ab:
in« 2in3ü und D*3VO Wn als mit dessen eigentlichem Wesen
sich beschäftigen, auf die Frage: was ist der B. A.? keine
befriedigende Antwort. Er steigt daher zu den Quellen
hinauf, um aus der Anwendung der Middah ihr Wesen zu
erschließen.
Diese Untersuchung, der Hauptzweck des Buches, wird
aber nicht schon jetzt in Angriff genommen. Der Verfasser
1) Die hermeneutische Analogie in der talmud. Literatur (1897).
Der hermeneutische Syllogismus in der talmud. Literatur (1901).
2) Die hermeneutische Induktion in der talmudi-
schen Literatur. Ein Beitrag zur Geschichte der Logik. Von Rektor
Prof. Dr. Adolf Schwarz. Wien 1909 (XVI. Jahresbericht der isra-
elitisch-theologischen Lehranstalt in Wien).
186 Die talmudische Literatur der letzten Jahre.
hält es für notwendig, zuerst das Verhältnis des irsa na
zum B. A. zu beleuchten. Da aber der irsa ne-Schluß nichts
anderes als eine der vielen Formen des Analogieschlusses
ist, so muß er sämtliche Analogieschlüsse der tannaitischen
Literatur untersuchen. Dies ist der Inhalt des zweiten
Teiles, dessen Resultate die folgenden sind:
1. Die mit Dtra eingeleitete Vergleichsurteile sind en-
thymematische Analogieschlüsse. Beispiel:
Mischnah Berachoth IX 5 Kinr d#3 nmn hv *psh ßrw 3'*fr
naHün bv yoa. »M. das Gute und S. das Schlimme, sind ein-
ander darin gleich, daß sie, von Gott ausgehend, unserem
Heile dienen (a). Wenn nun a bei M ein Grund dafür ist,
daß wir Gott preisen, P, so muß es auch bei S dieselbe
Folge haben. M ist P; S ist in a gleich M; S ist P«.
2. irso, irsa na sind Analogieschlüsse von der Form:
M ist P, S ist in a = M; ergo SP. Beispiel: Berachoth VII 3
"»ma *m«i paina tir roian rraa irsa na «a^pv "i no«. »R.
Akiba konkludiert von M, dem öffentlichen Gottesdienst,
auf S, das gemeinsame Tischgebet, mittelst a, des Momentes
der Gleichheit zwischen beiden. Die Gleichheit besteht in
der Aufforderung an die Anwesenden, Gott zu preisen . . .
Der öffentliche Gottesdienst, M, kennt hinsichtlich der Auf-
forderung an die Anwesenden von zehn Personen aufwärts
keinen Unterschied, P. Das gemeinsame Tischgebet gleicht
dem öffentlichen Gottesdienst darin, daß es mit einer Auf-
forderung an die Teilnehmenden seinen Anfang nimmt. S
ist in a gleich M; ergo ist SP, d. h. das gemeinsame Tisch-
gebet hat von zehn Personen aufwärts immer dieselbe Auf-
forderung«. Diese Schlüsse unterscheiden sich also von den
ctra-Schlüssen außer durch die fragende (zetistische) Form
noch dadurch, daß bei ihnen das Moment der Gleichheit
ausdrücklich hervorgehoben wird. Dies ist aber nicht immer
der Fall und insofern sind auch die irsa-Schlüsse enthy-
mematisch.
3. Die irsa na-Schlüsse haben sich zu vollst ftndi-
Die talmndische Literatur der letzten Jahre. 1S7
gen Analogieschlüssen entwickelt, die sich von jenen
dor Logik nicht inhaltlich, aber formell dadurch unterscheiden^
daß erstens bei ihnen die zweite Prämisse mit der Kon-
klusion verbunden und zweitens die Prämisse: S ist in
a = M an die Spitze gestellt. Beispiel: Terumoth V 4
mic« n«eoi cub mT« hfiffitoi S*mn 'kbip fnb bbr\ rra na«
h^yjl nsBö p,k n^iy rrtUHö na tränst. »Da die unreine Hebe
für den Ahroniden genau so wie die reine Hebe für den
Nichtahroniden zum Essen verboten ist, konkludieren die
Hilleliten, S ist in a gleich M; M ist P; ergo ist auch S P.«
4. Die bisher behandelten drei Klassen der hermeneu-
tischen Analogieschlüsse fallen also ihrem Wesen nach mit
den Analogieschlüssen der Logik in eines zusammen, da in
beiden von der teilweisen auf die vollständige Gleichheit
zweier Dinge geschlossen wird. Zwar dienen die hermeneu-
tischen Analogieschlüsse dem besonderen Zweck der Ge-
setzesinterpretation, da aber in ihnen die biblischen Bestim-
mungen begrifflich in Parallele gebracht werden, so sind
sie rein logische.
5. Die Hermeneutik hat aber auch solche Analogie-
schlüsse, die nicht die biblischen Bestimmungen nach ihren
begrifflichen Inhalt in Parallele stellen, sondern den Text
der heiligen Schrift interpretieren. Die Logizität auch dieser
Schlüsse nach Form und Inhalt ist unanfechtbar, aber wegen
ihrer Auslegung des Textes sind sie exegetischer
Natur. Exegetische Analogieschlüsse sind die n:tt> nrn und
der V8*rT, oder der isorrhematische und der juxta-
positionelle Analogieschluß. Die nw ffrta ist ein voll-
ständiger Analogieschluß und unterscheidet sich von diesem
nur dadurch, daß bei ihr die erste Prämisse nicht S ist in
a = M lautet, sondern S ist in i (isorrhem) = M. Der
Zusammenhang zwischen a und P ist ein kausaler, zwischen
i und P ein bloß autoritativer: da die Thora den bloß zweimal
gebrauchten Ausdruck in der einen Stelle näher bestimmt
hat, so schließen wir, daß diese nähere Bestimmung auch
188 Die talmudische Literatur der letzten Jahre.
für die andere Stelle gilt. Aus dem isorrhematischen hat
sich der juxtapositionelle Analogieschluß entwickelt. »Es lag
sehr nahe, nachdem man das grammatikalische Wort in der
Gestalt des Isorrhems zur Analogie herangezogen, zu demsel-
ben Zwecke auch auf das syntaktische Element, auf die Wort-
stellung im Satze zu rekurrieren«. Unter t>p>n verstehen die
Amoräer zwei aufeinanderfolgende Worte oder Satzteile in
einem und demselben Verse. »Diese zwei Worte stehen infolge
der Assoziation, von welcher die Thora sich leiten läßt, im
Verhältnis des M zu S, so daß wir das P bei M ohne wei-
teres auf S übertragen. Den Unter- und Schlußsatz des
juxtapositionellen Analogieschlusses lesen wir aus dem
Schlußworte heraus, aber es wäre doch ein Irrtum zu meinen,
daß dem »p»n aus diesem Grunde der Vorzug vor der
w'y zuerkannt werden müsse. Nein, was ihn nach der Be-
hauptung des Talmud gegen jedweden Einwand schützt,
ist das kausale Verhältnis, in welchem P zu a steht. Wäh-
rend also im isorrhematischen Analogieschluß der Übersatz
lautete: S ist durch i gleich M, hat der juxtapositionelle
genau so wie der vollständige Analogieschluß den Übersatz:
S ist in a gleich M.«
Nachdem der Verfasser die verschiedenen Formen der
Analogieschlüsse als Vorstufen des Binjan Ab beleuchtet
hat, wendet er sich im dritten Teil seines Buches dem
Binjan Ab selbst und seinen einzelnen Entwicklungsphasen
zu. Die Ausführung darüber gipfelt in dem Satze: der
Binjan Ab ist ein regelrechter Induktions-
schluß. Der Binjan Ab nrtK ainoa ist ein Spezies-Induk-
tionsschluß, der Binjan Ab D^iro »3#a ein Genus-Induk-
tionsschluß. Wie seine Vorstufe, der Analogieschluß, gabelt
sich auch der Binjan Ab in den rein logischen und den
exegetischen Induktionsschluß.
Schwarz antwortet also, wie wir gesehen, auf die Frage,
ob die talmudische Hermeneutik den Anforderungen der
Wissenschaft zu entsorechen geeignet sei, mit einem ent-
Die talmudische Literatur der letzten Jahre. 189
schiedenen Ja. Und noch eine weitere Frage, eine nicht
minder wichtige, beantwortet er in diesem Buche besonders
scharf: wie alt ist die talmudische Hermen eutik?
Die Antwort darauf faßt Schwarz am Schlüsse der Aus-
führung über die nw riTÖ in folgenden Sätzen zusammen:
»Ich kann dieses Kapitel nicht besser schließen, als mit dem
Hinweis auf die tiefe und weite Kluft, welche mich von
Abraham Geiger trennt. Nach Geiger sind die ersten Anfänge
der »»j in der Mischnah zu suchen. Nach meinen Unter-
suchungen hat die Wz lange vor der Redaktion unserer
Mischnah den Charakter einer Middah verloren. Nach Geiger
weiß Hillel noch nichts von einer vrs, nach den Ergebnissen
meiner Forschungen tritt die &") mit Hillel in ihre zweite
Entwicklungsphase. Nach Geiger ist die talmudische Her-
meneutik blutjung, nach meiner Auffassung ist sie steinalt.
Das ist ein wissenschaftlich begründeter Abstand von vielen
Jahrhunderten«. — Schwarz' Buch ist ein 3K pj3.
Von Übersetzungen rabbinischer Texte seien hier
die Arbeiten Stracks und Wunsches erwähnt.
Strack lieferte eine sehr gute Übersetzung der
Mischnahtraktate San hedrin-Makkoth1) und Abo da
sara2), letztere in zweiter Auflage. Der Übersetzung ist ein
nach Handschriften und alten Drucken sorgfältig edierter
Text zu Grunde gelegt. Die die Übersetzung fortlaufend
begleitenden Fußnoten bringen die nötigen Erklärungen
und die Noten zum hebr. Text die Varianten. Ein zwischen
Text und Übersetzung eingeschobenes Vocabular verzeichnet
die in den übersetzten Traktaten vorkommenden nachbib-
') Sanhedrin Makkoth. Die Mischnatraktate über Strafrecht
und Gerichtsverfahren. Nach Handschriften und alten Drucken her-
ausgegeben, übersetzt und erläutert. Von Prof. D. Dr. Hermann L.
Strack. Leipzig 1910. J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung.
■) Aboda sara. Der Mischnatraktat »Götzendienst«. Heraus-
gegeben von Prof. D. Dr. Hermann L. Strack (zweite, neubear-
beitete Auflage mit deutscher Übersetzung. Leipzig 1909. J. C. Hin-
richs'sche Buchhandlung.
190 Die talmudische Literatur der letzten Jahre.
lischen Wortbildungen. Die Einleitung gibt den Inhalt der
Traktate an, nennt die in ihnen zu Worte kommenden
Lehrer und gibt Rechenschaft über die benützten Hand-
schriften und Drucke sowie sonstige Hilfsmittel.
Strack's Übersetzungen sind in erster Reihe für An-
fänger und Studierende bestimmt; für diese sind sie das
beste und geeigneteste Hilfsmittel, in die talmudische Lite-
ratur einzudringen. Die Texte aber und die zum Traktat
Abodah sarah reichlich herangezogenen Parallelen aus dem
Kultus des klassischen Altertums sind auch für den Tal-
mudisten von Nutzen.
Daß St.'s Übersetzungen und Erläuterungen sich durch
Zuverlässigkeit und Objektivität auszeichnen, ist, in Hin-
blick auf andere derartige Arbeiten, nicht überflüssig her-
vorzuheben.
Von Wünsche's Übersetzung der kleinen Mid-
raschim sind zwei weitere Lieferungen erschienen. Bd.
III1) und IV2). Im dritten Band sind folgende Midraschim
übersetzt: Traktat von den Grabesleiden, Fragen des R.
Elieser (über Wiederbelebung der Toten), Der Tag des Ge-
richtes, Gan Eden, Fragmente zu Gan Eden, Traktat von
den himmlischen Hallen, Die Mauern und Hallen von Gan
Eden und seine Bewohner, Das Mahl der Gerechten, Das
Gehinnom, Gan Eden und Gehinnom, Eine Geschichte von
R. Josua b. Levi, Messias-Haggada, Die Zeichen des Mes-
sias, Über das neue Jerusalem, den Tempel, den Messias
und die Freuden in Gan Eden, Die Mysterien des R. Simon
ben Jochai, Gebet des R. Simon ben Jochai, Midrasch Konen,
Das Noa-Buch, Von der Bildung des Kindes, Eine andere Re-
') Aus Israels Lehrhallen, Kleine Midraschim zur jü-
dischen Eschatologie und Apokalyptik. Zum ersten Male übersetzt
und durch religionsgeschichtliche Exkurse erläutert von Aug. Wün-
sche. III. Bd. Leipzig, 1909. Eduard Pfeiffer. M. 6.20.
*) Aus Israels Lehrhallen. Kleine Midraschim zur jüdischen
Ethik, Buchstaben- und Zahlen-Symbolik. Zum ersten Male übersetzt
von Aug. Wünsche. IV. Bd. Leipzig 1909. Ed. Pfeiffer. Mk. 7,80.
Die talmadische Literatur der letzten Jahre. 191
zension über die Bildung des Kindes. Der vierte Band
enthält: Midrasch Le'olam, Midrasch Gadol und Gedolah,
Perek Schalom (vom Frieden), Midrasch der Zehn Worte,
Dreizehn ethische Erzählungen, Zwei Erzählungen, Erste Re-
zension des Alphabeth-Midrasch des R. Akiba, Zweite Re-
zension des Alphabet-Midrasch des R. Akiba, Midrasch des
R. Akibah ben Joseph, Deutung der Buchstaben und Buch-
stabenverbindungen des hebräischen Alphabets im Traktate
Schabbat, Midrasch Ma'ase Thora.
Die Übersetzung wird von kurzen Nachweisen und
Erläuterungen begleitet. Den einzelnen Stücken sind Quellen-
nachweise und Inhaltsangaben vorausgeschickt. Die Stücke
Midrasch Leolam und Midrasch Gadol und Gedoloh sind
durch eine Sammlung von mit denselben Schlagworten be-
ginnenden Stellen aus Talmud und Midrasch ergänzt. Der
dritte Band liefert in einem Anhang: Quellennachweise aus
Talmud und Midrasch.
Daß die Übersetzung der kleinen Midraschim nütz-
lich und wichtig ist, beweist die Tatsache, daß seit
dem Erscheinen der Wünscheschen Übersetzungen diese
Midraschstücke viel häufiger benützt werden als früher.
Desto mehr wird ein Index vermißt, wie ich vielfach klagen
höre. Hoffentlich wird im Schlußband diesem dringenden
Bedürfnis in ausführlicher und erschöpfender Weise ent-
sprochen werden.
Die Vorzüglichkeit der Wünsche'schen Überset-
zungen im allgemeinen habe ich in der Anzeige der ersten
zwei Bände hervorgehoben1). Daß einzelne Ungenauigkeiten
in diesem Bande in geringerer Zahl vorkommen als in den
ersten Bänden, konstatiere ich gern.
In diesem Zusammenhang sind noch einige Schriften
zu erwähnen, in denen die talmudische Literatur nicht
Zweck, sondern Mittel der Forschung ist.
In erster Reihe ist Büchler's Monographie über
») Monatsschrift 1908, S. 451 f.
192 Die talmudische Literatur der letzten Jahre.
das jüdische Sepphoris im zweiten und dritten Jahr-
hundert zu nennen1). Die Untersuchung beschäftigt sich
mit den weltlichen Leitern der Gemeinde, den jüdischen
Richtern, den reichen Männern, der Bevölkerung, den Ge-
lehrten und ihrem Unterhalt. Die Hauptresultate seiner
Untersuchung faßt Büchler in folgenden, hier gekürzt
wiedergegebenen Thesen zusammen:
Leiter der Gemeinde waren eine Anzahl wohlhabender
und vornehmer Juden, als die »Großen«, »Häupter« und
— als Repräsentanten der jüdischen Bevölkerung der rö-
mischen Regierung gegenüber — »Parnassim« bezeichnet.
Als Mitglieder des städtischen Rates waren sie für die
pünktliche und volle Leistung der regelmäßigen und außer-
ordentlichen Steuern verantwortlich. In dieser Eigenschaft
ließen sie die Bevölkerung ihre Macht fühlen. Auch als
Inhaber des Richteramtes ließen sie sich Mißbräuche zu-
schulden kommen. Die Gelehrten lebten in großer Armut
und wurden von den Großen und Reichen verachtet und
wegen ihrer Zurechtweisungen gehaßt. Es wurden gegen
sie gehässige und herabsetzende Anklagen erhoben, wozu
einzelne durch ihre Lebensführung auch Anlaß gaben.
Galiläa kommt bei Büchler nie gut weg. Das wissen
wir besonders aus seinem galiläischen Am ha-Arez. So ist
auch diese Schilderung der Zustände innerhalb der jüdi-
schen Bevölkerung in der Hauptstadt Galiläas im II. und
III. Jahrhundert etwas zu düster ausgefallen. Denn wiewohl
B. seine Thesen mit einer großen Fülle Quellenmaterials
belegen kann, so muß man doch bedenken, daß dieses
Material zum weitaus größten Teil dem agadischen
Schrifttum entnommen ist und daß Sittenpredigten und
Strafreden nur cum grano salis für die wirkliche Geschichte
zu verwerten sind.
*) The Political and the Social Leaders of the Je-
wish Community of Sepphoris in the second and third ceRturies,
by A. Buch ler (Jews' College Publication N. 1).
Die taimcdiscbe Literatur der letzten Jahre. 193
Selten wird in engem Raum so viel Inhalt geboten
wie in dieser scharfsinnigen, gründlichen, kulturhistorisch
hochinteressanten Monographie Büchlers. Dies zeigt sich
schon äußerlich in dem 14 Kleindruckseiten starken Index
zu bloß 711) Seiten Text.
Ein viel erörtertes Thema behandelt Strack von
neuem: Jesus im Talmud2). Neben Travers Herford's
Chrlstianity in Talmud and Midrash« ist H. Laibles »Jesus
Christus im Talmud« das ausführlichste Werk über dieses
Thema. Da dieses Buch vergriffen ist und einer Neubear-
beitung desselben viele Hindernisse sich in den Weg stellten,
entschloß sich Strack zu seiner vorliegenden Arbeit. Über
das Neue, welches Strack bietet, berichtet er selbst: »Meine
jetzt vorliegende Arbeit gibt einerseits weniger. Ich habe
hauptsächlich die Überlieferung zu Worte kommen lassen,
längere Erörterungen über Bedeutung, bezw. Bedeutungslo-
sigkeit des Überlieferten vermieden . . . Andererseits erheb-
lich mehr. Erstens sind außer einigen auf Jesum bezüglichen
Stellen die, gleichviel aus welchem Grunde, wichtig er-
scheinenden älteren Erwähnungen der Minim neu aufge-
nommen. Zweitens ist mehr für Genauigkeit des Wortlautes
der mitgeteilten Texte geschehen (durch Vergleichung alter
Drucke und einiger Handschriften). Drittens habe ich . . .
den Versuch gemacht die durch griechische
und lateinische Kirchenlehrer auf uns gekom-
menen jüdischen Äußerungen über Jesum zu
sammeln«.
Der Übersetzung sind notwendige Erläuterungen bei-
gefügt. Was das Material betrifft, so hat zwar Strack auch
die Stellen aufgenommen, deren Nichtbeziehung auf Jesus
l) Von den 78 Textseiten entfallen 6 auf die Einleitung und 1
auf das Facit.
*) Jesus, die Häretiker und die Christen nach den
ältesten jüdischen Asgaben. Texte, Übersetzungen und Erläuterungen
von Prof. D. Dr. Hermann L. Strack. Leipzig 1910. J. C Hinrich's-
sche Buchhandlung.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. **
194 Die talmudische Literatur der letzten Jahre.
fängst feststeht, er macht aber jedesmal auf diese Tatsache
aufmerksam, so daß »das schon früher unbefangenen For-
schern sehr dürftig erschienene Material an Nachrichten
noch mehr zusammenschrumpft«. Auch die Mischna Synh.
X, 2 gehört sicherlich nicht hieher. Bileam ist der heidnische
Prophet dieses Namens1).
Auch bei der Behandlung dieses Themas hat St. den
Theologen und Apologeten ausgezogen und läßt nur den
streng objektiven ruhig-kalten Wissenschaftler das Wort
führen.
Strack hat in den Anmerkungen zu seiner Überset-
zung des Mischnahtraktates Abodah sarah die römischen
und griechischen Kultaltertümer zur Erklärung der Mischnah
herangezogen. Die entgegengesetzte Richtung schlägt ein
kleines Schriftchen von Gymnasialprofessor Dr. Hans
Blau fuß ein8), B. sucht in dem Traktat Abodah sarah
Materialien zur römischen Kultusarchäologie. Er
beschränkt sich nicht auf die Mischnah, sondern entnimmt
seinen Stoff auch der Toseftha und den beiden Tal-
muden. Die Zitate — berichtet der Verfasser — »entstam-
men, was Mischnah, Tosefta und Jerusalemer Talmud an-
langt, aus eigenen, derzeit noch ungedruckten Übersetzungen
desvVerfassers. Stellen aus dem babylonischen Talmud sind
nach der Übersetzung Ewalds gegeben«.
Dies war keine glückliche Wahl. Auch des Verfassers
eigene Übersetzungen und Erklärungen sind zuweilen ganz
verfehlt3). Da aber die Vergleichungsresultate selbst unter
») Vgl. Herford, S. 69 und Bacher JQR. XVII, S. 177.
*) Römische Feste und Feiertage nach den Traktaten
über fremden Dienst (Aboda sara) in Mischna, Tosefta, Jerusalemer
und babylonischem Talmud. Beilage zum Jahresberichte des königl.
neuen Gymnasiums in Nürnberg für das Schuljahr 1908/1909. Nürn-
berg 1909.
8) S. 11, Anm. 6. Ab. sara 8b berichtet R. Josef, der babylo-
nische Amora des 3./4. Jahrhunderts, und nicht R. Jose b. Chalaftha.
Aus den Anmerkungen S. 5, 5 und 11, 5 ergibt sich, daß B. Mar
Die talmudische Literatur der letzten Jahre. 195
diesen Fehlern nicht leiden, so behält das interessante
Schriftchen seinen Wert, nicht bloß für den klassischen
Archäologen, sondern auch für den Talmudforscher.
Das Resultat ist im allgemeinen ein positives, d. h.
daß die Rabbinen mit den römischen Kultbräuchen und
religiösen Sitten gut vertraut waren, so daß ihre Angaben,
auch wenn sie aus anderen Quellen nicht belegt werden
können, für die römische Archäologie in Betracht zu ziehen
sind.
Samuel und Samuel für zwei verschiedene Personen hält. — S. 30,
Anm. 2. Rasch i ist nicht R. Salomon Jarcbi, sondern Jizchaki, der
Sohn Isaaks.
(Fortsetzung folgt.)
*
13»
Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit
Von Adolf Büchler.
Über die tatsächliche Beobachtung mehrerer Verbote
der Thora, deren Übertretung mit Todesstrafe belegt wird,
und über die wirkliche Vollstreckung dieser Strafe sind wir
in nur ganz wenigen Fällen unterrichtet1). Es fehlt jedweder
Bericht von tatsächlichen Vorkommnissen bis zu den letzten
Jahrzehnten vor dem Untergange des jüdischen Staates;
und auch für diese letzte Zeit fließen die Quellen nur dürftig,
wenn auch reicher, als für die fünf Jahrhunderte seit dem
babylonischen Exile zusammengenommen. Dieses gilt auch
von der Bestrafung des Ehebruches, die nach Leviticus 20,
10 und Deut. 22, 22 für beide Beteiligte der Tod war,
nach Ezech. 16, 38— 41; 23, 45—48 durch Steinigung, nach
den Rabbinen durch Erdrosselung. Auch Josephus (Contra
Apionem II 24. 30) erwähnt gelegentlich, daß auf Ehebruch
') Es ist daher völlig unbegründet, wenn Eduard Meyer, Ge-
schichte des Alterthums III, 212 von der Zeit unmittelbar nach Esra
und Nehemia sagt: »Die Thora hatte Gesetzeskraft, die Strafen, die
sie auf jede Übertretung setzte, wurden rücksichtslos durchgeführt,
die strenge Sabbatheiligung, die peinliche Beobachtung der Reinheits-
und Opfervorschriften, die Beseitigung alles dessen, was als heidnischer
Greuel galt, erzwungen«. Meyer hat es gerade hier unterlassen, für
diesen so inhaltsschweren Satz auch nur einen einzigen Beleg anzu-
geben. Ich vermute, daß ihm hiefür das Neue Testament als Quelle
diente, das jedoch nicht einmal für die judäischen Verhältnisse zur
Zeit Jesu ohne Weiteres verwendet werden darf. Ich gestehe, daß mir
die Kenntniß der von Meyer angenommenen Tatsachen fehlt ; be-
sonders aber ist mir die Bemerkung über die Reinheitsvorschriften
unverständlich, mehr als die über die Strafen. Es ist für die Behandlung
der jüdischen Geschichte traurig bezeichnend, daß ein Forscher ersten
Ranges solche Behauptungen ohne jeden Beleg aufstellen darf.
Die Strafe der Ehebrecher in der nachexüi3chen Zeit. 197
der Tod stand. Einen tatsächlichen Vorfall berichtet nur
ein Zeit- und Altersgenosse des Josephus, R. Eleasar b.
R. Zadok (Sanhedr. VII, 2, b. 52ab u. Parallelen), daß er
nämlich als Kind gesehen habe, wie eine unzüchtige Priester-
tochter auf Bündeln von Weinreben verbrannt wurde. An
der Richtigkeit der Meldung zu zweifeln, liegt keine Ver-
anlassung vor. Ferner erzählt bekanntlich das Büchlein
Susanna, daß diese Ehefrau für ihren Ehebruch hingerichtet
werden sollte, und zwar nach Vers 62 durch Hinabstürzen
in eine Schlucht (LXX), nach einer syrischen Version durch
Steinigung1). Ob aber diese strenge Strafe in der nach-
exilischen Zeit auch ausgeführt oder auch nur als zu Recht
bestehend von den Gerichten anerkannt wurde, ist von den
Exegeten zu Prov. 6 und 7, zu Sirach 23 und zu Matth. 1,
18 ff., Joh. 8, 1—12 eingehend erörtert, in der jüngsten
Zeit zumeist verneint und von nur Wenigen bejaht worden.
Die Frage scheint mir aber jetzt nach dem umfangreichen und
gründlichen Kommentare von Smend über Sirach nochmali-
ger Behandlung wert, weil ihre Untersuchung einen, wie mir
scheint, wichtigen Beitrag zur Geschichte der tatsächlichen
Durchführung der pentateuchischen Strafgesetze liefert.
1. In Sirach 23 liegt weder ein formuliertes Gesetz,
noch der Bericht von einem Vorfall vor; aber die Art und
Weise, wie Sirach den Ehebrecher und die Ehebrecherin
vor den Folgen ihrer Sünde warnt, spiegelt nicht nur das
Denken des Spruchdichters, sondern natürlich auch die da-
maligen Verhältnisse und auch die gesetzlichen Strafen
wieder, die zu jener Zeit auf Ehebruch standen. Doch bietet
der nur griechisch und syrisch vorliegende Wortlaut wesent-
liche exegetische Schwierigkeiten dar, von deren Lösung
die Beantwortung der geschichtlichen Frage zum großen
Teile abhängt. Sirach behandelt in zwei, auch äußerlich
geschiedenen Sätzen den ehebrecherischen Mann und die
') Siehe Monatsschrift f. Qeschichte u. Wissenschaft des Juden-
tums L, 1906, 65; ff.
198 Die Strafe der Ehebrecher in der nachexiliscben Zeit.
Ehebrecherin. Von dieser sagt er (23, 22—27 nach RyselPs
Übersetzung in Kautzsch's Apokryphen I, 351) : > Ebenso
ergeht es auch einer Frau, wenn sie ihren Mann verlassen
hat und von einem anderen einen Erben zur Welt bringt.
(23) Zuerst nämlich hat sie dem Gesetze des Höchsten
zuwidergehandelt, und zweitens verging sie sich gegen ihren
Mann, und zum Dritten hat sie durch Hurerei Ehebruch
getrieben, hat von einem anderen Mann Kinder zur Welt
gebracht. (24) Eine solche Frau wird in die Gemeindever-
sammlung abgeführt werden und über ihre Kinder wird
Heimsuchung kommen. (25) Nicht werden es ihre Kinder
zum Einwurzeln bringen und ihre Zweige werden keine
Frucht darreichen. (26) Sie wird ihr Andenken zum Fluch
hinterlassen und ihre Schande wird nie ausgetilgt werden.
(27) Und die sie überleben, werden erkennen, daß nichts
besser ist, als die Furcht des Herrn, und daß nichts süßer
ist, als die Beobachtung der Gebote des Herrn«. Diese Er-
mahnung macht den Eindruck, als ob der Ehebruch nur
dann eine so schwere Sünde wäre, wenn aus ihm ein
Kind hervorgeht. Auch hat man hier ohne Grund ausge-
sprochen gefunden2), daß die Frauen aus Furcht vor
Scheidung wegen Kinderlosigkeit oder aus Schande über
Kinderlosigkeit Ehebruch begingen, um Kinder zu bekom-
men3). Der Spruchdichter faßt vielmehr den schwersten
Fall des Ehebruches mit seinen fortwirkenden Folgen ins
Auge, der nicht nur in der sündigen Tat besteht, sondern
*) ouTtö; xctt YUV75 in Vers 22 entspricht Vers 16: ein Ehebrecher
begeht viele Sünden, ebenso die Ehebrecherin drei. Dieses ergibt sich
deutlich aus der unmittelbar folgenden Aufzählung. Wäre nach den
Kommentatoren zu übersetzen, dann ist die Strafe in Vers 24 von
oÜTo)$ zu weit entfernt.
s) Frankenberg in Zeitschrift für alttestameatl. Wissenschaft
XV, 233 ff.
3) Daß Frauen solches getan, finde ich nirgends angedeutet
Anders ist der bei den a'.ten Arabern festgestellte Fall bei R.W. Smith,
Kinship and Marriage, 2d edition 1903, p. 132: When a man desired
a goodly seed, he might call upon bis wife to cohabit with another
Die Strafe der Ehebrecher in der nacbexilischen Zeit. 199
auch die bürgerliche Ordnung stört1). In solchem Falle hat
die Frau drei Sünden begangen : gegen das Gesetz Gottes,
das den Ehebruch strengstens verbietet; zweitens gegen
ihren Gatten, dem allein sie gehört ; und drittens gegen ihre
Familie dadurch, daß sie das Kind eines fremden Mannes
ins Haus gebracht hat2).
man tili she became pregnant by him. The child as in similar case
in Hindu law, was the hnsband's son. Vgl. Wellhausen in Oöttinger
Gelehrten Nachrichten 1893, 457.
•) Genau so stellen die Tannaiten und Amoräer die Größe der
Sünde an deren Folgen dar. R. Simon b. Menaßja in Chagiga I, 7
sagt: ...ttdd ruBis tHti .tiijh by tan rn .ppn? fcy uw rmj» rnnt
Pfpn-1 1TWIT KIT büS* In der Baraitha b. Chagiga 9 b, Toss. I, 7:
ü-jk ?n3 .jpw 1233 Ttrpr wen dtx 3313 ,tbik iraao p ppatr w mn
(s ttb3 nteS moKi vw nsrx Vy »an ?aK ,jpiw i^ta •vn-v» "ipdk
1*7 "|Tm B^IJH, Wenn jemand stiehlt oder raubt, kann er durch Rück-
erstattung des Gestohlenen oder Geraubten alles wieder gutmachen;
wer aber mit dem Weibe eines Anderen Umgang gepflogen und da-
dnrch dem Gatten das Zusammenleben mit seiner Frau unmöglich
gemacht hat, wird aus der Welt gestoßen und geht dahin. R. Simon
b. Lakisch läßt Gott von den Ehebrechern sagen (Aboda sara 54 b) :
Nicht genug, daß diese Sünder meine Münze frei mißbrauchen, zwingen
sie mich noch, meinen Stempel darauf zu drücken. Derselbe Lehrer
sagt (Lev. rab. 23, 12; Pesikta rab. 24, 124b; Num. rab. 9, 1): Gott
prägt der Frucht des Ehebruches die Gesichtszüge des Ehebrechers
auf, um dessen Schuld offenkundig zu machen. Vgl. Bacher, Paläst.
Amoräer I. 360 ff. Von Gott stammen nämlich nebst der Seele und
den Sinnen auch die Gesichtszüge, C3D "iflDTp (Baraitha Nidda 31 a),
er kann sie sonach nach seinem Willen gestalten. Daß "inDTp in der
Baraitha mit -PtcpTa im Satze des R. Simon b. Lakisch identisch ist
und beide auf ^apaxT/ip zurückgehen (Bacher, Paläst. Amoräer II,
343, Note 3), unterliegt keinem Zweifel; aber das Wort philologisch
zu erklären, ist bisher noch nicht gelungen. Die Ableitung bei Krauß,
Lehnwörter II, 548 b ff. ist unmöglich. Das Gesicht als Ganzes ist
gleichzeitig im Ebenbilde Gottes geschaffen, vgl. Mechiltha zu Exod.
20, 17, p. 70 b: mOTa BJ?DD l'rKa ailDfl 1^J> TTjm DT TB1BMP *D TD
DTun rix rwy witoi dt» <a nai dtx.t dt tbhp noa;» t^d-t. Dafür
auch DipD bv \Wp*X in Midrasch ^ 55, 3; 17, 8: vfy p jwn^m TDK
nr-oo nrnorn btx.t vtb ddttd mip"« *b» 'Vt>: di?b>3 >ttd hd
Dipo bv paipnrt DipD >:n niTBWi.
*) Dieses ist in zwei Sätzen ausgedrückt, das ist unzweifelhaft;,
2C0 Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit
Die Strafe dieser Frau für ihre dreifache Sünde geben
die beiden Zeilen vom 24. Vers. Das hebräische Original
ist schwer zu ermitteln. Smend (Die Weisheit des Jesus
Sirach 213) bemerkt hiezu : »Syroh. s^aythtesrai bfhpnn (=
sie wird beschimpft werden?), Syr. für a: und auch sie
wird aus der Gemeinde herausgehen. Man könnte dazu
K'iiin Esra 10,3. 19 vergleichen; aber auch von der Hinaus-
führung vor die Stadt oder vor das Haus, etwa zur Todes-
strafe, vgl. Genes. 38, 24, Deut. 22, 21.« Hiernach wäre
das Hebräische : pnpc rprmiy rinV bvi bnpn bx K3\n irn
(nach Exod. 20, 5 D^a bv jna« pj> TpiB, Edersheim). Was
der Dichter vom Schicksal der Kinder im Folgenden sagt,
ist ganz klar: sie werden keine dauernden Wurzeln schlagen,
und wenn sie erwachsen sind, werden sie keine Kinder
bekommen. Der Gedanke ist, daß nur legitime Kinder am
Leben bleiben1); die Frau aber hinterläßt ihr Andenken zum
Fluch (Jes. 65, 15: nynvb oaatr Dfinm) und man wird ihrer
Schande lange gedenken (Prov. 6, 33 nnan »b WBTrtt). »Und
die sie überleben« wird im Hebräischen, wie schon Smend
gesehen hat, onsnni gelautet haben, wie in Deut. 19, 20
ikvi ww nnKtwro, wofür Deut. 13, 12 ; 21, 21 hxw tel
pOT*»l *iyotr\ Deut. 17, 13 ijw nyn ^ai hat, in all diesen
Stellen nach der Bestrafung eines Sünders mit dem Tode.
Der Sinn des Satzes ist: die Frau und ihre Kinder gehen
zu Grunde und ihr Geschick schreckt andere ab. Dieses
scheint mir dafür zu sprechen, daß die Ehebrecherin hin-
aber der Begriff, der beiden zu Grunde liegt, ist nicht ganz klar, vgl.
Fritzsche. Das Original dürfte gelautet haben: jnr Tiü'pr, FPBK JllJ?a
'laa W>xti, und der Übersetzer machte zwei Sätze daraus.
>) Vgl.jer. Kidd.IV, 65d, 23; Jebarn. VIII, 9c, 64: w;n '31 1DK
dk r^aai n^ya ian «*ao um -pia wr^n r,:v o^arf? cwb nnx
D^Nton1? üü"\tb xbv Cltfa JHDJ? ^Blü ontoon, R. Chanina sagte: Einmal
in sechzig oder siebzig Jahren sendet Gott eine Pest über die Welt,
die alle Kinder aus Unzucht vernichtet, aber auch legitime werdea
hinweggerafft, damit die Sünder nicht bekannt werden. Vgl. auch
Fritzsche zur Stelle ur.d Frankenberg in ZATW. XV, 234.
Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischea Zeit. 291
gerichtet wurde, was Vers 24 und 26 ohnehin deutlich
genug besagen, die von dem Andenken der Frau sprechen.
Dann ist «V,n der Terminus für die Todesstrafe der Un-
züchtigen, wie das griechische i^xyd-r^z^x: allein schon das
Hinausführen zur Hinrichtung bedeutet, (Pape s. v. z^i^m
führt hiefür Herod. 6, 91, Xenophon, Anab. 1, 6, 10, Hell.
6, 4, 37 an).
Wegen Vers 26 a jedoch und mit Rücksicht darauf,
daß mit keinem Worte angedeutet wird, daß die Ehebrecherin
auf frischer That ertappt oder durch Zeugen des Ehebruches
überwiesen wurde, scheint es mir keineswegs ausge-
schlossen, daß es sich hier um eine Frau handelt, die von
ihrem Gatten des Ehebruches bloß verdächtigt wird und
nach Num. 5, 15 ff. durch das Wasser der Bitterkeit ihrer
Sünde überwiesen werden soll. Nach der genauen Vorschrift
der Mischna Sota I, 3 wurde, wie ganz natürlich, eine solche
Frau erst vor die Ortsbehörde geführt, vor der der Gatte
seinen Verdacht vortrug ; die Frau wurde dann von zwei
Mitgliedern der Behörde zur obersten Behörde nach Jeru-
salem geleitet, wo ihre Sache bis zur Entscheidung ge-
führt wurde. Haben wir auch keine Nachrichten darüber,
daß dieses Verfahren auch schon zur Zeit Sirachs befolgt
wurde, so liegt es in der Natur der Sache, daß der Gatte
sich mit seinem Verdachte an seine Ortsbehörde wendete,
wenn er diesen überhaupt in die Öffentlichkeit brachte. Die
Frau wird dann zur Gemeinde zur Rechtfertigung hinaus-
geführt; gelingt es auch nicht, sie des Ehebruches zu über-
führen, so büßen ihre aus Sünde hervorgegangenen Kinder
die Sünde ihrer Mutter1); die Frau aber hinterläßt ihren
!) Vgl. Sirach 26, 19: >Mein Sohn, die Blüte deines Alters be-
wahre gesund und gib nicht Fremden deine Kraft hin. (20) Hast du
aus dem ganzen Fe'd einen Acker mit gutem Boden ausgesucht, so
säe deinen eigenen Samen im Vertrauen auf deine edle Abkunft. (21)
So werden deine Sprößlinge am Leben bleiben und mit dem
Freimute, den edle Abkunft verleiht, groSwachsen«. Allerdings sieht
der Gedankengang in diesen Sätzen nicht jüdisch aus und man könnte
202 Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit.
Namen als Gegenstand des Schwures und Fluches, wie die
in Num. 5, 21.
2. Was den ehebrecherischen Mann betrifft, so lautet
der entsprechende Passus in Sirach 23, 16b : »Ein Mensch,
der an seinem eigenen Fleische hurt, wird nicht eher auf-
hören ... als bis er gestorben ist. (18) Der Mensch, der von
seinem Bette weg weitergeht, spricht bei sich selbst: »Wer
sieht mich denn? Finsternis ist rings um mich und die
Wände verdecken mich und niemand sieht mich, was sollte
ich mich scheuen ? Meiner Sünden wird der Höchste nicht
gedenken ? Und die Augen der Menschen sind es, die er
fürchtet .... (21) So wird denn ein solcher in den Straßen
der Stadt gestraft werden und, wo er sich dessen nicht
versah, wird er aufgegriffen werden«. Die Schwierigkeit des
Hysteron Proteron im letzten Satze haben schon die Ver-
sionen durch Umstellung, beziehungsweise Änderung zu
beseitigen gesucht. Ist die Reihenfolge beim Griechen richtig,
so muß eyJtac-/]\bi<j£Tai einem andern Worte als Strafe ent-
sprechen. Syrer hat dafür sneru «ranon »pwn «an = er
wird schon geführt werden. Smend bemerkt hiezu (p. 112):
»Das war die Strafe des Ehebrechers und der Ehebrecherin
bei den Arabern. Peschit. hat dasselbe Num. 25, 4 für jppin
(LXX TapaSetY^aT^tü), obwohl da etwas ganz anderes gemeint
ist. Lat. fügt hier bei : et quasi pullus equinus fugabitur.
Muhammed warf den Juden vor, daß sie mit den Ehe-
brechern nicht nach dem Gesetze verfuhren. In der Tat ist
auch hier weder bei dem Ehebrecher, noch in Vers 24 bei
der Ehebrecherin von der Todesstrafe die Rede, was für
das Verständnis von Joh. von Interesse ist«. Der hebräische
zweifeln, ob diese vom Verfasser herrühren, besonders, da sie nicht
in allen Handschriften stehen und deshalb als unecht angesehen wer-
den. Hebräisch dürften sie gelautet haben: hx) ,"pH 'D'S 1DBM US
-pn'H'j'iro ijnt jnn ,flj>pa niv hzn .nmto npbn -\b *im .-^ti d-ht1? [im
nnin-n ^nnctro iharn ,-\b ymxiot wi ,nra. Das letzte Wort ist bloß
geraten nach dem syrischen ;d *q^ und dem griechischen £v 7:app7)<ri«r
das bei LXX für JVi'DCp steht.
Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit. 203
Text dürfte etwa gelautet haben : ab r&0 "itt>22 fui? Wlk
■upk iv Vm» *6i bj»' ünb bi ejru wxb «rs n ipan ip bin'
b»djv rv dibsi tp «awa nv . . . i«nyo rinn bpk .jtb\ Die
Worte muw W3, die schon Fritzsche erkannt hat, bedeuten
nicht, wie auch Smend meint, Verwandtenehen, sondern,
wie im Satze vom Unzuchttreibenden in Prov. 5,511 m^»23
■pKtri TW3, den Körper und den Penis. LXX hat nvixa av
x-axaTpißw-jt (Tapxe? cwaaTÖ; cou, wörtlich wie Sirach, und
natürlich entlehnt diese Worte in der gleichen Bedeutung1).
v~w scheint mir nach Prov. 10, y yiv VTfl trpyoi gewählt
zu sein, das nach Jud. 8, 16 on; snn als Strafen erklärt
wird ; der Syrer hat snr übersetzt, der Grieche nach dem
Zusammenhange2). Die erste Frage ist, ob hier von einem
Ehebrecher die Rede ist. Schon der Ausgangspunkt zeigt,
daß dieses nicht der Fall ist, da hier nur die Beziehung des
unzüchtigen Treibens zum eigenen Ehebett des Mannesr
nicht die zum Weibe des Nebenmenschen besprochen wird.
Außerdem fehlt jeder Hinweis darauf, daß der Unzüchtige
mit einem Eheweibe Umgang pflegt, wie in einer andern
gleich zu besprechenden Stelle im Sirach. Der Dichter
geißelt hier vielmehr die unersättliche Leidenschaft des
Unzüchtigen, der nicht wählerisch und dem jedes Weib gut
genug ist ; er verläßt sein Eheweib und sucht fremde
») Vgl. auch zum Beispiel ^ 73, 26 SöVl ^XV nbs, wo "nNtf
den Körper nach seiner außen sichtbaren Seite, *22*? das Innere be-
deutet. Für mit hat Syrer THB in 41, 17; 42, 11 ; vgl. 8, 2; 19, 2 und
das aramäische Fragment der Testamente der XII Patriarchen in Jew.
Quart Review XIX, 571 unten: ^3 [DI HXDttl tflD ^3 jD na ~\b imm
nut, wo der Grieche öctco 7cavTÖ? <7uvou<Jiacao'j = Beischlaf, hat.
2)Das gleiche Wort ist in Sirach 12, 8 zu ermitteln, wo der Grieche
hat : e«fc exSixyiOvicsTat ev xyx&oXq 6 <p£),o? xai ou xpußTffcsTai ev
/taxoT; 6 s/d-po?. Da werden für das erste Verbum als Varianten be-
zeichnet: eu.(&-/)\M<jeTai, iTtifmcd'riGzxa.i, bopav/fasTat, Lat. Slav. ag-
noscetur, Syrer csnrtJ K7. Alle diese Varianten gehen auf das hebräische
Original zurück, das entweder ffysm oder n^M, oder JHV hatte; der
eine Übersetzer sah darin Strafen, der andere Offenbaren. Der He-
bräer hat in der Tat jhi\
204 Die Strafe der Ehebrecher in der nachexiiischea Zeit
Häuser auf. Daß auch diese Untreue gegen die eigene
Gattin als Sünde gegeißelt wird, zeigt, daß Sirachs Zeit-
alter und Umgebung an die Sittlichkeit der Juden einen
strengern Maßstab angelegt hat, als uns Frankenberg und
andere Ausleger der Proverbia glauben machen möchten.
Wäre hier von Ehebruch die Rede, so dürfte der Hinweis
auf die schwere Sünde gegen die Ehe des Andern nicht
fehlen. Der Unzüchtige nun wird in den Straßen gefangen
und gezüchtigt werden. Damit ist nicht das Gericht ge-
meint, das ja nicht in den Straßen, sondern am Tore oder
sonstwo seinen Sitz hat. Vielmehr wird der Unzüchtige
von Leuten auf der Straße, die ihn verdächtigen oder be-
zichtigen, auch in ihre Häuser Schande gebracht zu haben,
aufgegriffen und durchgeprügelt, und noch mehr, wo er es
gar nicht befürchtet hat, ergriffen werden. Von Bloßstellen
zur Strafe ist hier ebensowenig die Rede, wie von der
Todesstrafe, die nicht in den Straßen vollstreckt werden
konnte, und die einen Unzüchtigen in dem hier voraus-
gesetzten Falle gar nicht treffen durfte1).
Anders Verhaltes sich mit 9,8: »Wende das Auge ab
von einem wohlgestalteten Weibe und betrachte nicht ge-
nau fremde Schönheit2) .. . (9) Mit einer verheirateten Frau
') So wird auch zum Beispiel in 25, 2 und 42, 8 die Unzucht
des Greises gegeißelt, von Ehebruch ist keine Rede.
-) Beachtung verdient in diesem Zusammenhange 41, 22:
catr/yvta&z . . . ärro opiffsco; Y'jvxty-^ STadpa; . . . (22) */.al ircö
xaTavoyfceo); "ß}Vaux.üq 0-avSpou, axö xsptspY*wcs rcaiourKDS x-jtov» '
y.al u,?i sxwrr^; surl tyjv xo'/rr,v aür/fo. Hebräer hat bloß: ^xtS'SMö
. . . ?K nipnnoi mi fHMt; Smend (337) nemerkt: »Griechisch xati <k%6
xaTravo7i<7Sto; yuvouy.ö; OxivSpou ist wohl = HT'iyss [JiarnDi ödet-
en n;lj?r3, vgl. zu 9, 5. 9. Hebr. las wohl von [rcriHDi mt auf
BBIBflrTßl my: über. Das 22a zu vermutende niy: bedeutet nach Gr.
hier die Sklavin . . . Indessen darf hier die Jungfrau nicht fehlen,
vgl. 9, 5 und ITU» 30, 20; Deut. 22, 18. Welches hebr. Wort hinter
axö xsotsoY£'x? steck:, ist unklar. Aeth. versteht: verführen. Mai
könnte an n#)? (jes. 23, 12) denken, das Gr. als po%J verstand. Syroh.
ÄD'nXD (Anschauen) nach dem Vorigen«. Mir scheint, erst fUN JtttX
Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit. 205
pflege überhaupt keinen Umgang und halte nicht mit ihr
beim Wein üppige Gelage ab; damit sich nicht dein Sinn
zu ihr hinneige und du durch deine Leidenschaft ins Ver-
derben stürzest.« Syrer hat statt der letzten Worte : »und
du mit schuldigem Blute in die Unterwelt hinabsteigt.« In
der Anführung dieser Sirachstelle in Synh. 100 b (Jebam.
63 b) heißt es: mr,n bs d*cw iflwin ü*T\ Tftfi twk Imwa %
während der Hebräer hat: mm \y\ n^i inntrin ntr« TM
r\rw bx g&n 0*2121 2^> n*^x man (D ♦ . « mbr\ tr«2. Der Wort-
laut des letzten Satzes ist durch die Leseart a^ßflcn statt
TuvcuaaTi und durch den Syrer gesichert (vgl. Fritzsche,
Edersheim, Ryssel und Smend). Der Sinn könnte sein, daß
der Ehebrecher mit dem Gatten in Streit geraten und ge-
tötet werden könnte. Aber was es wirklich heißt, kann
schon wegen man und auch nach I Reg. 2, 9 nx nrrnm
b'.»W 212 iii2*rr nicht zweifelhaft sein: es ist die Todes-
strafe, nicht, wie Fritzsche mit Hinweis auf IlSam. 11; 12, 9
meint, die Beseitigung des Ehemannes1). Und so glaube
gestanden zu haben, nicht mr, dann ^j?2 fltPK, dann vielleicht das
nenhebr. VsfltPn oder mjtt 2310*1 bin nach Jerem. 31, 21; "WfirWl ttb
IT32W3 hy = ffSStfü Ticnil *b nach Prov. 6, 24. 25: }H flPXD "pCB^
*]32^2 .TB"1 TCnn Vx rmaa \*vb fipbtfb. Nach den anderen Sätzen
dürfte ocird 7reeisp*feia§ die Tätigkeit des Unzüchtigen bedeuten und
ist xouSicxr,; objectiver Genitiv. Den letzten Satz deutet Smend, p.
514 zu Cap. 23, 14 als Päderastie, deren Opfer die jüdischen Jüng-
linge am griechischen Hofe wurden. Vgl. auch Testam. Reuben, Cap. 3:
Achtet nicht auf den Blick eines Weibes und seid nicht allein mit
einer verheirateten Frau und gebt euch nicht ab mit der Beschäftigung
der Weiber. 4, 1: Achtet also nicht auf die Schönheit der Weiber und
merkt nicht auf ihr Tun.
') Stünde DTD131 nicht, dann wäre bloß der frühzeitige Tod
cnd vielleicht, wie in dem verwandten Satze der Rabbinen in Aboth
1, 5 : nnnp totti v&fpS njn ß-na nwxn cy nrr» risrm dikp jet ^3
DÄTJ tfW* 1B1D1 ITWl, die Höllenstrafe gemeint. Doch beweist diese
Parallele keineswegs, daß auch Sirach nur an diese und nicht an die
Todesstrafe denkt. Denn die Hölle ist nur für Sünden angedroht, die
der Kenntnis der Strafbehörde entzogen bleiben, nicht aber für er-
wiesenen Ehebruch. So auch zum Beispiel in Sirach 19, 2: Wein und
206 Die Strafe der Ehebrecher in der nacbexilischen Zeit.
ich, hierin einen Beweis dafür sehen zu können, daß auch
zur Zeit Sirachs auf erwiesenen Ehebruch die Todesstrafe
stand. Die bisher angeführten Stellen sprechen keineswegs
dagegen, da sie die geheim gebliebene Sünde des Ehe-
bruches behandeln, gegen die nur moralische, religiöse
und praktische Bedenken seitens des Spruchdichters vor-
gebracht werden konnten.
3. Es soll hiemit keineswegs in Abrede gestellt wer-
den, daß Ehebruch und unzüchtiger Verkehr der Geschlechter
vorkamen. Die häufigen Ermahnungen Sirachs weisen
darauf hin, daß Verführung seitens der Männer, wie
Lockungen seitens der Frauen und Dirnen dem Spruch-
dichter große Sorge bereiteten. Aber die Folgen dersel-
ben für die Beteiligten in Form von behördlichen Strafen
Weiber machen Verständige abwendig und wer sich an Dirnen hängt,
ist tollkühner. (3) Maden und Würmer bekommen ihn zn eigen, und
wer tollkühn darauf loslebt, wird hinweggerafft. Der Hebräer hat :
tpSjd rrnrn my pdji aS lfne1 nW\ p (vgl. 6, 3: ntiiwi my vb:
-orwn kjib> nnDtfi rrtya); der Syrer: ponimm »2b ptnDD »r\n:»i «ton
-in «rjn "von toya [D-nom ma wji xns^n »vt: .12»: »m\b
t\TW>2 'SDl »Vb) aWH. Wieso nsw dem griechischen ToXfAYipÖTepo?
entspricht, ist schwer zn sagen. Smend meint, der Grieche habe ".t
gelesen und nach 2b ^tsk ein neuhebräisches Denominativum, wi<
in Sanhedr. 109b verstanden; sehr unwahrscheinlich. Soll es etwa
2b 12»* 11131t nym geheißen haben? lHl^nJ'' nj^im non, wie in 10, 11
= er wird vor der Zeit sterben. Nicht klar ist 26, 22: »Eine Verheiratete
aber wird als Turm des Todes für die, die sich mit ihr einlassen, ange-
sehen werden« (siehe die Kommentare). Qeiger, Urschrift 241 meint,
daß im Syrer : "]'« pT man «nnjx /aemriri dtd xbn »twi «nn:«
•ornnri rA ppannoi \^»b wim-r vi »bim die Worte man kjwi»
das Eheweib des Mannes = r'x HPK bedeuten, das im Gegensätze
zum buhlerischen Weibe ein fester Turm ist. KfllDI sei erst später
hineingekommen, als die Bedeutung von K1331 nicht mehr verstanden
und der Satz anders gestellt wurde. Nestles Hinweis auf II Makkab.
13, 5 scheint mir keineswegs das Richtige zu treffen. Freilich wird
die Echtheit des Stückes 26, 19—27, das in vielen Handschriften nicht
steht, angezweifelt, und sind Schlüsse aus dem angeführten Satze auf
die Todesstrafe für Ehebruch unsicher.
Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit. 207
werden nirgends besprochen. Bezeichnend ist hiefür 42,
11 : »Mein Sohn, halte deine Tochter in strengem Ge-
wahrsam, daß sie nicht deinen Namen in schlechten Geruch
bringe, zum Stadtgespräch und zum Fluch unter den Leuten,
daß sie dich nicht in Schande bringe in der Versammlung am
Tore«. Aus dem unmittelbar Folgenden ist zunächst klar, daß
es sich um die unverheiratete Tochter im Hause des Vaters
handelt; auch wenn das hebräische "\Ki und nicht y6im
lautete. Sie pflegt Umgang mit einem Freunde, die Nachbarn
bemerken es und sprechen abfällig vom Hause des unacht-
samen Vaters; in kurzer Zeit verbreitet sich die Kunde
davon in der Stadt und man spricht überall von dem un-
züchtigen Verhältnisse1). Der nächste Schritt ist die Be-
sprechung der Schande im Stadttore, wo nach Prov. 31, 31
auch das Lob der tüchtigen und braven Frau gesungen
wurde; oder, falls eine Gerichtsverhandlung gemeint ist,
könnte nach Deut. 22, 20 an die Entdeckung der Unzucht des
Mädchens nach der Verheiratung gedacht werden2). Dafür
sprechen die einleitenden Worte zu dieser Ermahnung an
den Vater in 42, 93): »Eine Tochter ist für ihren Vater ein
J) Für ftbbp hat der Grieche xai Zyx.\r\';ov XaoS, weshalb
Smend als Text nSnpi gibt.
2) Smend sagt in mir unverständlicher Weise: »Zuerst entsteht
ein Gerede, dann rottet sich das Volk zusammen was zu einer Ge-
richtsverhandlung führt«. Warum sollte da, trotz 26, 5, eine so ernste
Zusammenrottung erfolgen?
») In Synhedr. 100b lautet dieser Satz bekanntlich: n^ttb m
xqv rurffjyja „nnenn kqv nnuaps .ftWa [»" ab rnnso ,»w njioüo
küv nrpn janä nb W »b xqv r\xw: »kboti »b »nv maa ,ru?n
CB&2 nVyn. Man beachte zunächst die aus der halachischen Literatur
genügend bekannten Lebensalter der Frau. Am deutlichsten ist das
Alter der Mannbarkeit ausgedrückt als dasjenige, in welchem das
Mädchen heiraten soll. Ebenso sagt Rab in Lev. rab. 21, 8 Ende : "jrD
ib mm "pnjJ "nrttf rV*a» ist deine Tochter mannbar, erkläre deinen
Sklaven für frei und gib sie ihm zur Frau. In min i"NPJJD #"HD (bei
Jellinek Brno."! t*S II, 98) und in Wipn lrail ""pis (Schönblum nvbv
OTiriDJ onoo) ist derselbe Satz R. Akiba zugeschrieben (s. Bacher,
208 Die Strafe der Ehebrecher in der nachexiliscfcen Zeit.
Schatz, der ihn wach hält, und die Sorge um sie verscheucht
ihm den Schlaf: in ihrer Mädchenzeit, daß sie nicht ver-
blühe, und ist sie verheiratet, daß sie nicht widerwärtig
sei. (10) In ihrer Jungfrauschaft, daß sie sich nicht be-
rücken lasse, und im Hause ihres Eheherrn, daß sie nicht
ausschweifend lebe; im Hause ihres Vaters, daß sie nicht
schwanger werde, und im Hause ihres Mannes, daß sie
nicht unfruchtbar sei«1).
Agada der Tannailen I, 271, 4); in Peßach. 113a: vb J3 JJBn.T »31 ")BX
■nrw ni» "m ^bjr» nwjja cpd im» nsnn 'rx jÄvn* *v:x lwü
l'vxin ruuno -jfitpxa nvn nm ,nb fni -psy führt R. josua b. Levi das-
relbe im Namen der Männer von Jerusalem an. In Lev. rab. 21, 8
wird erzählt: R. Chananja b. Chachinai studierte als verheirateter
Mann mehrere Jahre bei R. Akiba in Bne-B'rak und kümmerte sich
um seine Familie in der Ferne nicht. Nun ließ ihm seine Frau einmal
sagen: nx'tPHl K» «TW3 "JUS, und auch R. Akiba sagte, um ihn zum
Nachhausegehen zu veranlassen, zu ihm: "S"1 n*)3"D D3 \h WV "ü bz
fiX,,tt>v), wer eine mannbare Tochter hat, gehe nach Hause und ver-
heirate sie. In der Baraitha Sanhedr. 76a unten: fix bbnr\ bx ,X"0fi
nt icik K3"pj? *3i .fp6 im fix x'tpcn nt "loix *uj>^x w .nnunS ins
^m»'3 yj) -|S |*« xs^py -ai bupb xns 3*1 "icx .man im xrircn
fi"iyi3 1D3 xntPBm Bliy j?en x'jx bezieht R. Akiba Lev. 19, 29 a auf einen
Vater, der seine mannbare Tochter nicht verheiratet. Vgl. Jebam. 62 b
unten die Baraitha : ibüb ifi^ rH33KTl !Bl» ifitrx fix B.TXH [»1 i:n
1B1X aUDM I^V {plE)1? "pBB |KMWH1 mB" *p"D TW»! V» "pTterTI
■jSnx Bl^tf "O njPt1!, wer seine Frau liebt wie sich selbst, wer sie
höher achtet als sich selbst, wer seine Söhne und seine Töchter auf
den geraden Weg leitet und sie nahe an ihrer Reife verheiratet,
dessen Haus ist wohlbestellt, nach Hiob 5, 24. Als zwölfjähriges
Mädchen ist sie der Gefahr ausgesetzt, sich mit jungen Leuten ein-
zulassen, von ihrem eigenen Triebe verleitet; bei der einjährigen
dagegen geht die Verführung vom Manne aus. Als alte Frau betreibt
sie Zauberei, was sehr bezeichnend ist; wie wir noch in tannaitischer
Zeit finden, daß die Frauen allgemein Zauberei trieben (s. Büchler,
Der galiläische Am ha-Arez 202, 1).
J) Der Wortlaut dieser Sätze im Talmud stimmt weder mit dem
Griechen, noch dem Syrer, noch dem Hebräer. Für Verblühen, das
zur Mädchenzeit gar nicht paßt, bat Hebräer "r>2fi, Syrer xnBi'fi «*
daß sie nicht geschmäht werde (Smend). Dieses und das Griechische
führen auf 'rBJfi zurück, das das letztere nach dem häufigen tOi im
Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit. 209
Mit der Tochter im Hause des Vaters befaßt sich auch
26, 10 — 12: »Bei einer Tochter, die immer lüstern ist, halte
strenge Wacht, damit sie nicht, wenn sie bemerkt, daß
diese nachgelassen hat, sich gebrauchen lasse. (11) Hüte
dich davor, wollüstigem Auge nachzugehen, und wundere
dich nicht, wenn es sich dann an dir vergeht. (12) Wie ein
durstiger Wanderer den Mund öffnet und von jedem Wasser
trinkt, so wird sie sich gegenüber jedem Pfahle niedersetzen
und wird vor dem Pfeile den Köcher öffnen.« Allerdings
sind die Kommentatoren über den Zusammenhang zwischen
den einzelnen Sätzen dieser Stelle nicht einig, und worin
sie übereinstimmen, scheint mir nicht befriedigend. Vers 12
ist, wie er steht, die Fortsetzung von Vers 10, und beide
handeln von der Tochter, die Verlockungen nicht nur leicht
nachgibt, sondern solchen auch bereit entgegenkommt.
Dagegen spricht Vers 11 scheinbar vom Vater und zer-
stört den Zusammenhang. Dieser Umstand hat Fritzsche
veranlaßt, Vers 10 als eine abgeschlossene Mahnung
an den Vater anzusehen, nämlich seine Tochter zu über-
wachen ; 11 und 12 aber als eine eigene Mahnung an
jeden Mann, sich selbst vor unzüchtigen Frauen in Acht
zu nehmen; und da hiedurch Vers 12 cd das Subjekt
verliert, nämlich die Tochter, wird es ganz ohne jedes
Recht aus dem wollüstigem Auge ergänzt (vgl. auch Eders-
heim und Ryssel). Aber wie mir scheint, beseitigt die Rück-
Kal als Verblühen auffaßte, während der Syrer darin "?2»J, wie in Deut
32, 15 llijw nilt Sari, sah. Aber was ist das hebr. "tti? Stnends Vor-
schlag, "nun zu lesen, beseitigt die Schwierigkeit nicht. Da das Zitat
im Talmud nJTJi hat, das aramäisch und syrisch *M heißt, wie es auch
Neubauer*Cowley übersetzen, so muß entweder das freilich Unwahr-
scheinliche angenommen werden, daß TU auch hebräisch war, oder
daß der Satz aus dem Syrischen rückübersetzt ist. KntDJtn ist ein ge-
ringer Fehler für Kintltn, wie schon Levi gesehen hat ; es bedeutet :
sich unzüchtig benehmen, und ist eine andere Übersetzung von n:tr.
"ipyr als Denominativum von mp? (Oenes. r. 45, 4) ist gleichfalls
syrisch (Smend).
14
Monatsschrift, 55. Jahrgang. "
210 Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit.
Übersetzung ins Hebräische alle Schwierigkeiten und er-
giebt als durchgehendes Subjekt die Tochter. Nach 42, 11
lautete 10a: -lotPD pmn (mjtfi) "jna bv1), dann: kmi nun jb
l) Für äSiaTpe7TTo) hat Syrer xrrBtfn, wofür Smend ntne i"6lj>
oder nSaj vorschlägt; ich habe nty gesetzt, das in 6, 4; 19, 3; 40, 30
deutlich gierig heißt. In 6, 4 ist vom Qelüste der Seele die Rede :
♦ Eine (sinnlichen Genüssen fröhnende) böse Seele richtet den zu
Qrunde, der sie zu eigen hat, und sie macht ihn zum Qespötte der
Feinde«. 19, 3: »Wein und Weiber .... eine tollkühne Seele wird
hinweggerafft«. 23, 4: »Lüsterne Augen gib mir nicht und die Be-
gierde laß fern von mir sein. (6) Das Lustverlangen des Bauches
und die sinnliche Lust mögen sich meiner nicht bemächtigen und
schamlosem Sinn gib mich nicht hin«. Hier haben Codices den Zusaz
YtvavTcoSri J^u/viv, was eben n?JJ IPBJ ist. Syrer hat in 23, 6 b B>c;
KAB^Sn, wie in 26, 10, das bereits Smend als Übersetzung von ,"nj? CDj
erkannt hat mit dem Hinweis auf die obigen drei Parallelstellen.
Heißt aber nvj PBJ Gier und Wollust? In der Bibel steht neben tj?
ein Nomen oderVerbum, um die Eigenschaft genauer zu bezeichnen,
wie Prov. 21, 29 TUBa JJBn B"X tjh, 7, 13 ,TJB ffijjn, Deut. 28, 50
DMB tj? M3, Daniel 8, 23 BUB TJ> *[bü, Kobel. 8, 1 XW vjd tjm, Jesaia
56, 11 B>Bi ■>?$ D»ate?Tl, wo die Fortsetzung flJÖW 1JH1 «^ zeigt, daß
die Gier, PBJ unersättlich ist. Vgl. aS 'ptm BUB Vp Ezech. 2, 4, "»ptn
n*8 in Ezech. 3, 7, Jesaia 48, 4 nnnj "jnatBl, Ezech. 3, 8 : -pjß DX UinJ
BnXB flBiyb ptn ^nitB flKl BHUB ABl]?1? Cptn« In Beza 25 b lesen wir : xjn
rai wn .pty fntp ubb bxwb min n:n: fiö ubb ,tkb •o-n irora
{n:nc Mn ptin ,tfn "pia irnpn *ibk /ibS m»K u^b ^xyB«" *ai
Ski«'1': mm nan: x^x«? «>x i^x Sb> Drrrn naso xa^x .px m onS
roriw ,w»pS p pjHatf ■'an naxl .bhub3 mayS p^ia1 p»Si hbix Sa px-
nanaa ty P]x b^bix bh mBiya ta nvna aba niBixa Sx-ity ,fn pty
nu'rxa PjSit P)X B'naix Wl fiai, im Namen R. Meir's wurde gelehrt:
Warum wurde die Thora Israel gegeben? Weil die Israeliten stark
sind. Das Lehrhaus des R. Ismael lehrte: »Zu seiner Rechten ein
Feuergesetz für sie« (Deut. 33, 2), damit meinte Gott: Für sie eignet
sich ein Feuergesetz. Andere erklären dieses: Die Art Israels ist
Feuer; wenn ihnen die Thora nicht gegeben worden wäre, hätte kein
Volk vor ihnen bestehen können. So sagte R. Simon b. Lakisch: Es
gibt drei Starke: unter den Völkern Israel, unter den wilden Tieren
den Hund, unter den Vögeln den Hahn; manche sagen: auch die
Ziege unter dem Kleinvieh; andere fügen noch hinzu: unter den
Bäumen den Kapperstrauch. Welche Art von Stärke in den ersten
Sätzen gemeint ist, ist an sich nicht klar; die Parallelstelle zum letz-
Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit. 211
,-p TAH! »a nann ^ki man rrry nn« no^>a matp ,(^nsn
^o *:d$> rns/i p ,i^ DWpn ü-a ^o nmtpi pd nmon «bj: nn«3
p^> nriDt^K nnom t/t.
Es verdient Beachtung, daß die nachdrücklichen Rat-
schläge des Dichters nur den praktischen Gesichtspunkt
zeigen. Er läßt wie ein wohlmeinender Freund, der einen
nur auf das Materielle achtenden und bloß vom greifbar
Schädlichen zu beeinflußenden Mann zur Vorsicht in Dingen
der Sittlichkeit mahnen will, alles Religiöse und im Gesetze
der Thora Gebotene oder Untersagte mit Absicht beiseite,
wie dieses die Kommentatoren zu den Proverbien richtig
hervorheben. Deshalb sucht man bei Sirach meistens
teil Satze in Exod. rab. 42, 9 hat: an O'Bllfn nvbv ny "ai löX, somit
TJJ = S]l3£n, wie der Syrer im Sirach übersetzt. Was haben aber Hund,
Hahn, Ziege und Kapperstrauch gemein? In Jes. 56, 11 : VJJ D'oSsni
nyntP ljn1 &b B>b: ist die Unersättlichkeit des Hundes hervorgehoben,
und Sirach 26, 25 sagt: »Ein immerfort lüsternes Weib wird wie ein
Hund gelten«, wo der unersättliche Geschlechtstrieb gemeint ist.
Seine Frechheit tritt aber besondert in der Begattung auf der Straße
hervor, Gen. rab. 36, 7: ».TWia ltföM* n^Dl an ,ksx in K"n ?3*i "IDX
WWW DDTBD l^Dl DnifiB cn XX'' "p^S. Das Gleiche gilt vom Hahn,
wie die sprichwörtliche Redensart zeigt in Berach. 22a: »TB*?fl VT5 x'.'tP
D^IMlfia BfrWIW ^SKB"titB D'DSn, jer. Berach. III, 6c 17: npy ^ "IBX
pVianro ^kw i.t *6w x^x nxn n^aton nx irpnn äS [osty bs ,pax "O
^51X1 "nvi nSijyi UWB B>DB>D iS1?."», (damit steht der Ausspruch des
R. Chijja von der Züchtigkeit des Hahnes, der vor der Paarung der
Henne schmeichelt, tya "p "in XI D^Bö, Erub. 100 b, nicht in Wider-
spruch). Beim Kapperstrauch ist, wie schon Toßafoth zu Beza 25b nach
Maaßr. IV, 6, Sabb. 30b unt. erklären, die außerordentliche Frucht-
barkeit gemeint, vgl. jer. Taanith IV, 69 b 30 : HX11 Xin ITTJ» m 1DX
DlTB TW 1J? X\ntt> ^XW px X\"! HB^n MD, R. Zeira sagte : Stehe doch,
wie frech Palästina ist, indem es (den fremden Beherrschern) Früchte
trägt (b. Kethub. 112a). Andere Schamlosigkeit des Hundes in Kob.
rab. 1, 2.
') Wenn es nicht zu kühn schiene, würde ich für y^azxxi
nicht -inon, sondern das rabbinische tPOriBTl vorschlagen, das Gebraucht-
werden und Beiwohnung bedeutet. Vgl. Baba mezia 84 b, wo die
Witwe des R. Simon b. Eleasar dem Rabbi, der ihr einen Heirats-
antrag stellt, sagen ließ : bm » weiH^ tt>"iip 13 VBTWiV ^3«
14*
212 Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeil.
umsonst die zu seiner Zeit geltenden strafgesetzlichen
Bestimmungen betreffs Ehebruch und Unzucht; ohne aber
daß diese Wahrnehmung zur Annahme berechtigen würde,
daß das strenge Strafgesetz der Thora nicht in Geltung
stand und nicht durchgeführt wurde. Von Interesse ist es
auch, daß die Frau in all' diesen Ermahnungen nicht direkt
angeredet wird. Der Vater wird wiederholt gewarnt, seine
Tochter zu überwachen, der Gatte wird über seine Pflichten
gegen seine Frau belehrt, der Jüngling, der gereifte Mann
und der Greis werden über die Folgen von Unzucht und
Ehebruch aufgeklärt, und ihnen die schädlichen und gefähr-
lichsten Verlockungen der Ehebrecherin und der Dirne in
grellen Farben vorgeführt; an das jüdische Mädchen und
das jüdische Eheweib wird keine Ermahnung gerichtet.
Wer hieraus Schlüsse auf die Stellung der Frau in Judäa
um 200 v. d. g. Z. zieht, baut auf unsichern Grund. Denn die
Lehren der Spruchdichter sind ausschließlich für Männer
und Jünglinge bestimmt gewesen und aus den Schulen der
Weisheitslehrer hervorgegangen, in denen die reife männ-
liche Jugend zur praktischen Weisheit angeleitet wurde,
wie dieses Frankenberg so gut dargetan hat. Mädchen und
Frauen hatten zu diesen Schulen keinen Zutritt, weshalb
sie auch nicht Gegenstand der Anrede und der Belehrung
waren. Ihre Erziehung war die Aufgabe des Elternhauses
und dieses trug die Verantwortung für deren Mängel.
4. Das nicht ganz sichere Ergebnis aus Sirachs Äußer-
ungen, daß auf erwiesenen Ehebruch der Tod stand und
diese Strafe auch vollstreckt wurde, ist noch mit den
Stellen über Ehebruch und Unzucht in den Proverbien zu
vergleichen. In 5, 5 heißt es vom unzüchtigen Eheweibe :
imarv mjra biK» mrs nmi* mfcft, was aber natürlich bildlich
gemeint ist und den vorzeitigen, aber natürlichen Tod des
Sünders mit den Straffolgen in der Gestalt des ^isir, wie
in 2, 18 bedeutet; der Strafende ist Gott allein, die Sünde
Die Strafe der Ehebrecher in der Hachexilischen Zeit. 213
kam überhaupt nicht vor Richter auf Erden1). 7, 26 jedoch
spricht von der ehebrecherischen Frau und den Folgen des
Umganges mit ihr in viel stärkeren, deutlicheren Worten :
nmr nn*ä bivw *inti (27) .rrahi bz d^o^pi rrV*on o^n 0*31 *3
mn mn ^>s<, sie hat viele tot niederstürzen gemacht und
zahlreich sind die von ihr Erschlagenen. Frankenberg im
Kommentare bemerkt hiezu: >^jn und am sind bildliche
Ausdrücke für die durch die Ehebrecherin, das heißt, die
(gerichtlichen) Folgen des Ehebruches (5, 9 ff.; 6, 32 ff.)
ruinierten Existenzen.« Mir scheint auch hier das Ge-
richt keinerlei Rolle gehabt zu haben, da sonst im Ausdruck
irgend ein Hinweis auf die Strafe sich fände. Sind die
starken Ausdrücke bildlich, so bezeichnen sie den durch
Gottes Gericht vor der Zeit seines Lebens beraubten ge-
heimen Ehebrecher ; der Frau als Veranlassung wird diese
Tötung zur Last gelegt. In Prov. 22, 14: nnr 'D npicy nnw
dp $>id» 'n dw und 23, 27: nmi mx "uwi rßtt npiop mw »3
ist die Ehebrecherin und die Dirne als eine Grube be-
zeichnet, aus der es kein Entrinnen gibt ; Gott läßt nur
denjenigen in ihre Hände fallen, auf dem ohnehin der Fluch
Gottes lastet und der schwere Strafen von ihm zu gewär-
tigen hat*).
*) So heißt es auch bei Menander (in Land's Anecdota Syriaca
I, 64 ff.), in dessen syrisch erhaltenen Sprüchen Fraukenberg ein Pro-
dukt jüdischer Spruchweisheit erkannt hat (Stade's Zeitschrift für die
alttestamentl. Wissenschaft XV, 226 ff.) : Ehebruch ist der Weg zum
Untergang; wer die Ehe bricht, geht zu Qrunde (69, 12). Vgl. Testa-
ment Renbens 4: Denn die Hurerei ist es, die den Verstand und die
Erkenntnis verwirrt, und sie führt die Jüngling? in den Hades vor
ihrer Zeit. Denn es hat auch die Hurerei viele zu Qrunde gerichtet.
Denn wenn einer auch ein Greis ist oder hochgeboren, so macht
sie ihn zur Schmach und zum Gespött bei Beliar und den Menschen-
kindern.
») Vgl. Sirach 21, 10: Der Weg der Sünder ist mit Steinen
gepflastert und da, wo er endigt, ist die Grube des Hades. Smend
p. 191 sagt richtig, daß im Hebräischen gestanden haben muß : n^nn
nntf 1*3 JWOTK1 bp^D yen -[M, der Weg des Sünders ist anfangs
214 Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit.
Dagegen bespricht Prov. 5, 7—14 den Fall, daß der
Gatte den Ehebruch entdeckt und sich für diesen vom Ehe-
brecher Schweiggeld zahlen läßt. Der Ehebrecher muß sein
ganzes Vermögen, das er schwer erworben hat, hingeben,
da sonst die Sache vor mm hr\p gebracht würde (14), was
das größte Übel wäre. Was die Gemeinde getan hätte, im
Falle der Gatte den Ehebruch anzeigte, ist nicht angedeutet.
Da keine Zeugen der Tat geführt werden konnten, wie 5,
21 nahelegt, daß nur Gott dieselbe mitangesehen, kann
es nach jüdischem Gesetze selbst im strengsten Verfahren
zu keinem Todesurteile gekommen sein. Ob vielleicht schon
damals in solchem Falle die Geißelstrafe angewendet wurde?
Jedenfalls ist die Schande der Verhandlung der Sache i
öffentlicher Gemeindeversammlung eine genug schwere
Strafe für den Bürger der Stadt. Hätte er den Ehebruch
geleugnet, so wäre das in Num. 5, 11 — 31 vorgeschriebene
Verfahren anzuwenden gewesen, dem eine Verhandlung vor
der Behörde vorausgehen mußte. Nun findet sich die gleiche
Ausführung in Prov. 6, 24—35: Während der Dieb, der
ertappt wird, dadurch, daß er den Diebstahl siebenfach be-
zahlen muß, sein ganzes Vermögen verliert, setzt der Ehe-
brecher sein Leben dem Verderben aus. Er versucht es
freilich, sich beim erzürnten Ehemann durch "ido und inr
loszukaufen, aber der Gatte will davon nichts wissen. Was
dieser hierauf tut, ist in der Angabe der Folgen des Ehe-
bruches zu finden (33) : nncn sb incim t^s' ]tbpi yi:; aber
was damit gemeint ist, ist nicht klar. Frankenberg erklärt
es folgendermaßen : »Daß der Ehebrecher gerade mit dem
Tode bestraft wurde, ist nicht gesagt, und nach dem Fol-
genden und sonstigen Notizen nicht wahrscheinlich ; die
Ehebrecherin freilich wurde gesteinigt, jjjj scheinen die
von Steinen frei. In Baba mezia 58b sagt R. Chanina: pTW fei
P3&B.TI V* impm hy »an p fhm pbiy pxi p-p,rp xvhvo f"'R osrab
W3Rb jn üV fuaoffl DOnn ITan *», v/er Ehebruch begeht, kommt
in die Hölle und wird nie wieder aus ihr befreit.
Die Strafe der Ehebrecher in der nacbexilischen Zeit. 215
Prügel zu sein, die sich der ertappte Ehebrecher beim Ehe-
mann holt. Wäre der Ehebrecher mit dem Tode bestraft
worden, so hätte der Verfasser hier und, so oft es ihm
darauf ankam, vor den bösen Folgen des Ehebruches zu
warnen, gewiß das Äußerste nicht verschwiegen. In den
Proverbien sowohl, wie bei Sirach erscheint als empfind-
lichste Strafe des Ehebrechers die Schande vor der Ge-
meinde. Dpi dt ist, wie häufig in den Propheten (dv praeg-
nant) der Tag des öffentlichen Gerichtes als der Tag der
Rache, nicht etwa der Tag, an dem der beleidigte Ehegatte
eigenmächtig seine Ehre an dem Frevler rächt (35) Vor
Gericht konnten die streitenden Parteien einen Sühnever-
such machen; wenn dieser keinen Erfolg hatte, ließ man
dem Rechte seinen Lauf. Der Frevler bietet dem Beleidigten
IM, d. h. Sühngeld an, vgl. Genes. 20, 16«. Über diesen
ICD spricht sich Frankenberg (ZATW. XV, 121) nochmals
aus; er sieht darin eine Geldstrafe, die auf Ehebruch stand
(Genes. 20, 16), 1D3 genannt oder inv, welche an den
Geschädigten zu zahlen war. »Mit dieser Abfindungssumme
wird es gewöhnlich sein Bewenden gehabt haben.«
Da die ganze Auffassung der Stelle und die ange-
führten Schlüsse von der Erklärung des Wortes iod ab-
hängen, muß ich dem oft behandelten Terminus einige
Worte widmen. Zunächst sei festgestellt, daß es nirgends
Schadenersatz bedeutet, sondern das Lösegeld für das
verwirkte Leben, ein hoher Betrag, bestimmt, den schwer
Beleidigten oder Geschädigten von der Forderung nach
Sühne durch den Tod abzubringen. Nach Exod. 21, 29 soll
der Eigentümer wegen der Tötung eines Menschen durch
sein stößiges Rind hingerichtet werden. jn:i vbv rwv 1D3 DK
rby rwv w« bx WBJ hhd, wenn ihm ein Sühngeld statt des
Todes auferlegt wird, so gebe er den Loskauf seines Lebens.
In Exod. 30, 12 ws: im »♦* uwi, Num. 35, 31 rran vosb im, 32
ohne t?Dj: mb *idd lnpn k^i, Prov. 13, 8 ntry #'K rej 1B3
als Gegenwert des Lebens, das Gott dem Menschen
216 Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit.
wegnehmen will, Hiob 33, 22—24: i/rm Wüi r\r\vh aipfn
"inino natn U3im (24) . . . pfe -|i6a vbv »' o« (23) .cnea^
1D3 *n«2£D nnt? m*iö, Psalm 49, 8: fiv ai? *tk me* mc *6 n«
djpdj pne ip'i .1133 ovi^i6; Leben für Leben Jes. 43, 3:
-pnnn «3Di #13 onxo "pao »nn:, Prov. 21, 18: p«n pnvi? idd.
Der Richter nimmt nD3 in I Sam 12, 3, Arnos 5, 12, um
ein Auge zuzudrücken und nicht den Tod des Schuldigen
zu fordern; in Beziehung zu ihm ist es wie int?. Es folgt
hieraus, daß der Gatte das Recht hat, den Tod des Ehe-
brechers zu fordern und das woi jvntPO in Prov. 6, 32
wörtlich zu nehmen ist. Dieses wird von dem, von den
Exegeten öfter angezogenen Beispiele der Abfindungssumme
im Falle von Ehebruch in Genes. 20, 16 bestätigt. Denn
Vers 3 sagt : bvi rbiyi Kim rmpb itf« nv&n bv na "pn; weil
der König nicht vor die Gemeinde zur Aburteilung gebracht
werden kann, greift Gott mit seinem Todesurteile ein und
will nach 7: ^ *i#k ^oi rmx man ma '2 in 3MP0 "ja»« o«i den
König und seine Angehörigen töten. In welchen Beziehungen
das große Geschenk in Vers 14 und 16, das der König
dem Abraham wegen Sarahs gegeben hat, zum Vergehen
steht, ist zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber aus Vers
16 ziemlich klar ersichtlich: der Bruder erhält die Ent-
schädigung für die an der angeblich unverheirateten Sarah
verübte Gewalt (Exod. 22, 16); von Ehebruch und von
einer Geldstrafe für denselben ist hier keine Spur zu ent-
decken1).
l) Darnach ist auch die Behauptung, zum Beispiel bei Benzinger,
Archäologie 341 zu beurteilen: «Ehebruch mit der Frau eines Anderen
ist Eigentumsverletzungc Warum schreibt dann das Qesetz die Todes-
strafe und nicht irgend eine hohe Geldentschädigung vor, wie im
Falle der Verführung eines Mädchens? Wellhausens Bemerkung
(Israel, u. jüd. Geschichte, 5. Auflage, 216, Note 4): »In den Prover-
bien wird nur vor Ehebruch gewarnt und zwar aus höchst äußerlichen
Gründen c, berücksichtigt nicht die Schichte der Bevölkerung, an
die sich der Dichter wendet, und nicht den Kreis, aus dem das Buch
hervorgegangen ist, und nicht die Methode, die hier durchgehends in
Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit. 217
Die in Prov. 6, 33 aufgezählten üblen Erfahrungen
des Ehebrechers treten nach dem ganzen Zusammenhange
erst ein, nachdem die Versuche, den Gatten zu beschwich-
tigen (V. 35), gescheitert sind. Die Auseinandersetzung
zwischen den beiden Männern findet nicht vor Gericht,
sondern unmittelbar nach der Entdeckung der Tat im Hause
des Gatten statt. Der Ehebrecher bietet ihm eine Löse-
summe für die Schonung seines Lebens an, der Gatte
weist sie zurück ; da bietet jener nebst dem ansehnlichen
Betrage noch einen weitern ein») an; alles umsonst. Es folgen
Schläge und die Schande, die ihn entweder durch die Ver-
breitung der Nachricht vom Geschehenen in der Stadt trifft oder
durch Herbeirufung von Leuten ins Haus, die die Behandlung
mitansehen.
Möglich ist aber auch, daß der Gatte die Anzeige
bei Gericht erstattet, eine Verhandlung der Anklage wegen
Ehebruches vor der versammelten Gemeinde stattfindet, die
Schande des Ehebrechers groß ist, es aber zu einem Todesur-
teile nicht kommt aus Mangel an den unerläßlichen Zeugen
des Tatbestandes; aber die Schande bleibt unauslöschlich, nv
DM ist der Tag der Abrechnung, aber diese erfolgt nicht
vor dem Gerichte, sondern am Tatorte der Sünde. Das
Wort bedeutet überall rücksichtslose, schwere Strafe für
der Belehrung angewendet wird. Es ist die Klasse der Bürger, die ihr
Vermögen schwer erarbeiten und deren Leben von ihrem Besitzstande
abhängt; sie haben nur soviel, daß sie ihr Laster all ihr Hab und Out
(Prov. 6, 31 ist das Vermögen des Hauses genannt) kosten kann.
Der Dichter hat einzig und allein die schweren materiellen Gefahren
der Unzucht vorgeführt, weil diese und nicht die moralischen und
religiösen der Richtung seiner Belehrung entsprechen. Unzucht ist ein
Verstoß gegen die Lehre des Vaters und der Mutter und gegen die
Weisungen des Weisheitslehrers; sie ist Unsinn, Unverstand, aufs
Spiel Setzen der ganzen Lebensstellung, Selbstmord. Daher vermißt
man jeden Hinweis auf Qottes Walten und auf die strengen Bestim-
mungen des Gesetzes ; zumal die Voraussetzung ist, daß alles so ge-
heim geschieht, daß eine Entdeckung nur das äußerste, Anzeige bei
Gericht fast ausgeschlossen ist.
218 Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit.
ein schweres Vergehen1), das gerichtlich nicht bestraft
werden konnte und erst nach längerer Zeit, bei gegebener
Gelegenheit, außergerichtlich vom Beleidigten oder seinem
Freunde in Zorn und Wut geahndet wird2). Wenn sonach
Dpi hier in der festen Bedeutung steht, wofür die es auch
sonst begleitenden Worte ntop und nan und auch böTP »b
entschieden sprechen, so ist darunter das Wüten des Ehe-
mannes in Schlägen und Beschimpfung und die Übergabe
des Ehebrechers an das Gericht zu verstehen; denn die
Tötung, die diese starken Ausdrücke alle nahelegen,
scheint 33b nicht zu empfehlen. Aber das Recht, ihn zu
töten, wird der Gatte in älterer Zeit wohl gehabt haben8).
») Es ist parallel mit cby gebraucht, Deut. 32, 35: übvi ep3 *b,
Jerem. 51,6: nb übvn KM SlD3 "b KM ,1Bp3 DJ? »3, Jes. 34, 8 : cpj Dl"1 "O
jvst niiS m\bv n:v "b, 35, 4 : »w hii bmSk *?ioa wa"1 Dp3 D3\ntot narr.
Wird ein Mord begangen, ist die Hinrichtung des Mörders durch das
Gericht niemals Bp3 (Exod. 21, 20. 21; Genes. 4, 15.24 gehören nicht
in diese Kategorie), sondern ein vorgeschriebenes Verfahren. Wenn aber
die Königin Isebel die Propheten töten läßt und ihr vielfacher Mord
wegen ihrer Stellung nicht bestraft werden kann, so ist das viele
Jahre spätere Eingreifen Gottes für das vergossene Blut in II Reg.
9,7: May Sa -»dii ewaan May sdi ^rap3i -pm nxnx rva n« nnwii
^arK TD ',1 als Bp3 bezeichnet. Das von den letzten Davididen in
Jerusalem vergossene Blut erfordert Rache, Ezech. 24, 8: ap3 Cplb
J)bü mnS ty .1D1 rix "nnj; in gleicher Verbindung Deut. 32, 43: DI *3
y*vsh zw opai Dip1 riay, Psalm 79, 10: dt napa wpb D^aa jrm
"pDBM "piay. In Psalm 94 haben die Hochmütigen an den Hilflosen
Gewalt verübt, ohne daß sie von irgend jemand zur Verantwortung
gezogen werden konnten. Gott als Richter der Erde soll eingreifen,
als map; bx strafen. Psalm 58, 11 : pnT VDJJD ,Bp3 ,1tn "3 p'HSt rüW
pxa a-üsitt' DVl^K V "]K pMi6 na "|X bin "idkm .jHPlil aia für ver-
gossenes Blut.
2) Micha 5, 14: DM3,1 I\» üpi nanai F)X3 WVjn; Jes. 63, 5: dt» "O
b-ocki 'DK3 a-ay didki /3ri3DD SM Tiam ijnii ^ jjpini . . . *aVa Dpa
Mana ; Nachum i, 2 : raMxb km -ID131 vis:'? m api3 nan Sjm M api3 ;
Ezech. 24, 8 : Dp3 ap:b IDn nity.T?. Neben ,ian auch ,iK3p Jes. 59, 17 :
SiD3 vnsrt nan obtt" Sya riMia; 'rya «iwp ryaa bjjm nanata Dpa *i» ra^*i
. .TQW6; Zachar. 8, 2: l1? TiK3p rAim "Dm .1^13 ,1K3p p^srt TMp.
3) Vgl. Wellhausen, Göttinger Gelehrte Nachrichten 1893, 447
Die Strafe der Ehebrecher in der nachexilischen Zeit. 219
Fassen wir die Ergebnisse dieser Untersuchung kurz
zusammen. Unzüchtiger Verkehr und Ehebruch muß in der
Stadt, deren Zustände das Buch der Proverbien und Sirach
widerspiegeln, in den bestimmten Kreisen, an die sich deren
Belehrungen wenden, und zu deren Zeit häufig gewesen
sein. Auf Ehebruch stand die Todesstrafe, die aber nur in
den allerseltensten Fällen verhängt werden konnte, weil es
naturgemäß an den unerläßlichen Zeugen der strafbaren
Handlung fehlte. Zumeist kam es auch zur Anzeige seitens
des Gatten der Ehebrecherin nicht, weil der entdeckte
Ehebrecher demselben sein Vermögen hingab, um sich das
Leben, das für das Vergehen dem Gatten gesetzlich oder
praktisch verfallen war, loszukaufen und der Schande einer
öffentlichen Gerichtsverhandlung zu entgehen. Die beiden
Spruchbücher sind allerdings gerade über die Frage der
Todesstrafe nicht bestimmt genug, um jeden Zweifel über
deren Geltung auszuschließen.
von den Arabern: Ehebruch der Frau wird nicht leicht genommen
(Agh. VIII, 50 ff.), öfter sogar blutig gerächt. S. 462: Bei den Be-
wohnern des glücklichen Arabiens herrschte nach Strabo (p. 783) Viel-
männerei, indem alle Verwandten eine gemeinsame Frau hatten. Ein
Ehebrecher wird mit dem Tode bestraft.
¥
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischeu
Zeitalter.
Neue Folge.
Von Simon Eppenstein.
IV. Saadja Gaon, sein Leben und seine Schriften.
(Fortsetzung.)
Saadja selbst hatte gewiß bald im Anfang1) seiner
Amtsentsetzung eine Schrift verfaßt, die den Namen 'o
^bin führt, das heißt »das Buch der offenen Widerlegung2)«.
In demselben offenbart sich neben der großen Erbitterung,
die den Autor erfüllte, doch auch ein großer Geist, der selbst
in dem großen Leid, das ihm widerfahren, an die Be-
*) Ich kann Harkavy und auch Pozp.anski in Monatsschr. 1900,
S. 508 nicht beistimmen, wenn sie die Abfassung des Sefer Hagaluj in
das Jahr 934 setzen. Denn die in dem Pamphlet gegen Saadja S. 229 Z.
4—5 gerichtete Anfrage, warum er sich nicht vor 13 Jahren, also 921,
im Streit mit dem auch seine Abkunft verunglimpfenden Ben Melr
seiner edlen jüdischen Abstammung gerühmt habe, beweist nichts,
da dieses doch erst auf Saadja's erste Ausgabe des Sefer Hagaluj
erfolgt ist. Soll dieser so lange Zeit mit dem Aussenden seiner Ver-
teidigungsschrift gewartet haben?
") Aus der uns erhaltenen Einleitung des Werkes, bei Harkavy
a. a. O. 181, Z. 16, geht diese Lesung deutlich hervor. Allerdings ent-
spricht sie nicht ganz, wie schon Bacher in RdEJ. XXIV, S., bemerkt, dem
arab. Titel, den er selbst der Schrift a. a. O. Z. 17 gibt, "nxB1?« 2KJ13,
das man nicht, wie Harkavy meint, als der Verbannte auffassen darf,
da Yitt im Arab. nur transitiv gebraucht wird, »jemanden verbannen«,
sonst aber »abwehren« bedeutet. Der Sinn des Titels ist also: »das
Buch der offenen Abwehr«; durch die folgenden Worte: mxn norr
usw. ist ein Wortspiel von Saadja beabsichtigt.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäi sehen Zeitalter. 221
lehrung des Volkes denkt. Das Werk war hebräisch ge-
schrieben, mit Vokalen und Akzenten versehen, gleich dem
Sefer ha-Moadim. Leider sind uns von dem eigentlichen
hebräischen Original nur die Einleitung, und zwar ziemlich
lückenhaft, und Kapp. 1—3, wenn auch nicht vollständig,
erhalten1). Die das eigentliche Werk bildenden ersten sieben
Kapitel2) sind, nach der uns von Saadja gegebenen Schil-
derung, eine Fundgrube reicher Belehrung in historischer
und literarischer Hinsicht im Allgemeinen3), wie besonders
betreffs seiner eigenen Erlebnisse und seiner literarischen
Tätigkeit gewesen4), so daß der Verlust des Originals ein
recht bedauerlicher ist. Es werden ferner theologische The-
mata, wie Erklärung der Gebote, in Verbindung mit der
Berechnung der Erlösung5), behandelt. Die letzten 3 Kapite
sind besonders sprachlichen Inhalts, mit dem ausgespro-
chenen Zweck, die Kenntnis der Handhabung des Hebräi-
schen in Prosa und gebundener Rede, wie in mündlichem
Ausdruck, zu verbreiten, und so dem durch Überhand-
nehmen des Arabischen zu befürchtenden Vergessen der
Muttersprache vorzubeugen; es ist somit eine Ergänzung
seines Erstlingswerkes, des Agrön6).
Was nun das Persönliche des Streites betrifft, so ist es
nicht zu verwundern, daß Saadja auch seine Gegner angreift,
») Vgl. Saadyana Nr. I, S. 4—7; vgl, auch Schechter's Vor-
bemerkungen.
*) Eine Analyse des ganzen Werkes gibt Harkavy a. a. O., S.
142—145.
s) Vgl. besonders Saadyana, S. 5, das erste Kap. des Werkes, wo
von der Sammlung der mündlichen Lehre gesprochen wird. Merk-
würdig ist, daß hier der Zeitraum von rund 500 Jahren nach flPin pp,
also cirka 568—578 d. gew. Zeitrechnung, als Abschluß des ganzen
Talmud angenommen wird, während in Saadja's Wiedergabe in der
zweiten Bearbeitung nur die Zeit des Abschlußes der Mischna an-
gegeben ist.
*) Vgl. hierüber besonders a. a. O., S, 143.
6) Dieses wird im 5. Kap. behandelt; vgl. a. a. O., S. 154, Z. 6.
e) Vgl. a. a. O., S. 155-156.
222 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitaltei .
und besonders die Ungerechtigkeiten des Exilarchen erwähnt1),
wobei er die Namen seiner Feinde mit Anspielung auf ihre
gehäßige Tätigkeit umgestaltet2). Aus ferneren Andeutungen
von Saadja selbst ist auch zu entnehmen, daß er seine eigenen
perönlichen Verdienste und Kenntnisse ins rechte Licht ge-
stellt hat8). — Auf diese Schrift hin schwiegen natürlich die
Gegner nicht und verfaßten eine Entgegnung, die zum Teil
schon vorher von uns skizziert wurde, um die eigentlichen
Angriffspunkte der Feinde hervortreten zu lassen. Unter
anderen wurde ihm auch der Vorwurf gemacht, daß er dieses
Werk, gleich den biblischen Schriften, mit Vokalen und
Akzenten versehen habe, wodurch er für sich selbst
gleichsam die Prophetie in Anspruch nehme4), in den
Augen des Volkes die Heiligkeit der biblischen Schriften
herabsetze und sie zu Zweifeln an diesen veranlasse6).
Ferner bemängelten sie eine Anzahl von Saadja gebrauchter
Worte und Wendungen als unhebräisch. Infolge dessen sah
dieser sich veranlaßt, das Werk behufs gründlicher Wider-
legung der gegen ihn gerichteten Angriffe in einer zweiten
Ausgabe, und zwar in arabischer Sprache, mit einem fort-
laufenden Kommentar des hebräischen Originals, aus dem
reichliche Stellen angeführt werden, zu veröffentlichen und
») Vgl. a. a. O., S. 187, Z. 17 fgg.
*) Vgl. a. a. O., S. 166-168.
3) Vgl. a. a. O., S. 165, vorl. Z. u. fgg.
*) Vgl. a. a. O. S. 161, |Z. 18: rVWJ »1JH «iH fit« Harkavy's
Übersetzung, S. 160, Z. 18: nxis:1? MJP3J1 !W gibt nicht prägnant den
Sinn wieder; es müßte ungefähr heißen: »lDlty1? rHtlMJl npi1? !TO '»3«.
— Hier sei auch hingewiesen auf die mißverständliche Uebersetzung
von S. 161, Z. 22; «nj?XtDp:«3 npi |DD = S. 160, Z. 22 B>T15EB> «1
JOTW *b nnp^Bn, wofür es doch heißen muß: np^BBS miöW V31
iDxyS n:ri|T *? nmaii.
5) Vgl. a. a. O. S. 161 Ende bis 163 Anfang. Die Worte S. 163,
Z. 1—2: nDD^X ■'B "p»n Wl sind nicht mit Harkavy, das. S. 162, Z.
1—2 durch pBflcntP "IJJ zu übersetzen, das »begnügen« bedeutet, son-
dern mit pBD tanv IV-
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 223
ihm eine arabisch geschriebene Vorrede voranzuschicken1);
zugleich rechtfertigt er auch die von ihm gebrauchten he-
bräischen Formen2). In dieser Hinsicht ist das Werk auch
für die Geschichte des Hebräischen in jener Zeit3) ein inte-
ressantes Dokument.
Dem Werke in dieser Gestalt gab Saadja wohl den
Titel im/wk^ki Wi3*6k 3«nD »Buch der Gleichnisse und
der Betrachtung«4) um so aus seinem Leid auch eine
Quelle nachhaltiger geistiger und sittlicher Belehrung für
sein Volk zu erschließen. Saadja führt in der Vorrede da-
rüber Klage, daß die Angriffe seiner Gegner sich nur gegen
einzelne willkürlich herausgegriffene Worte richte, ohne die
gute Tendenz des Werkes zu beachten, womit sie den vom
Talmud so arg getadelten Spuren des Königs Menaße folgen5).
Zur Widerlegung des ihm gemachten Vorwurfes, daß
er sein Werk gewissermaßen als prophetisches ausgegeben,
führt er aus, daß auf dasselbe doch die drei Merkmale
eines solchen nicht zutreffen ; weder käme die Erwähnung
einer Offenbarung oder die Belehrung über zu tief liegende
Probleme darin vor, noch werde die Prophetie in Anspruch
genommen durch Wunder, der Zeugnisse anderer Prophe-
ten, noch auch werde es vom Volke unter die propheti-
schen Bücher gerechnet6). Die gelegentlich dieser Verteidi-
gung uns von ihm gemachten Mitteilungen sind sehr
») Vgl. das von Harkavy a. a. O. S. 186-193 veröffentlichte
Stück, welches sich anschließt an das von Lambert in REJ. XL, S.
85 aus der Oenisa edierte Stück; vgl. auch ebendort S. 260, ferner
auch Harkavy a. a. O., S. 181, Ende.
2) Vgl. Harkavy a. a. O., S. 150— 18k
3) Vgl. besonders a. a. O., S. 188 fgg.
*) Ich kann dem Zweifel bei Steinschn. a. a. O., S. 68, sub 45
nicht beipflichten.
6) Vgl. Hark. a. a. O., S. 171, Z.3-6.
«) Vgl. a. a. O. S. 163, Z. 8-15. Das Wort ibid. Z. 10: *mb*
übersetzt, meines Erachtens, Harkavy nicht richtig mit ÜKIMTI Jl^D,
vielmehr müßte es heißen: iVKiaJ njJBPX
224 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
schätzenswert, so die Zitate aus Ben Sira1), der Hasmo-
räerrolle2), ferner dem sonst nicht bekannten, aber doch
wohl alten Buch des Eleasar Ben Irais8); schließlich
läßt es uns einen Blick in die Geistestätigkeit der schon
damals bedeutenden kairuanischen Gemeinde tun, wo man
— wenn die uns von Harkavy gegebene Lesart richtig ist —
das Werk eines Christen nitt? in's Hebräische übersetzt hat4).
Auf diese genannten, der Ethik gewidmeten Bücher, die
auch mit Vokalen und Akzenten versehen waren, beruft
sich Saadja zu seiner eigenen Rechtfertigung, wie auch
darauf, daß man anstandslos seitens der maßgebenden
babylonischen Schulen sein eigenes, gegen Ben Meir ge-
richtetes DHtfian 'D in dieser Form erscheinen ließ5). Außer
dem allein hier sich findenden Bericht Über die letztgenannte
Streitaffaire erfahren wir durch Saadja auch von seinem
Auftreten gegen Hajaweih aus Balch6). Auch in exegetischer
Hinsicht bietet die Vorrede an manchen Stellen wichtige
Beiträge für seine Auffassung von biblischen Erzählungen7).
Daß dem Sefer Hagaluj in dieser zweiten Bearbeitung auch
in literarischer Hinsicht Bedeutung beigemessen wurde,
ersehen wir schon daraus, daß der obengenannte Kritiker
Mebasser Halevi auch gegen einzelne Stellen dieses Werkes
Einwände gerichtet hat8).
>) Vgl. a. a. O. S. 177, Z. 17 fgg.
") Vgl. a. a. O. S. 181, Z. 8—10.
s) Vgl. die merkwürdigen, z.T. ganz mit Ben Sira übereinstim-
menden Zitate S. 179, Z. 17 fgg. und die auch zu einem sicheren
Resultat nicht führenden Ausführungen von J. Levi in REJ, XLII,
S. 270-273.
M Vgl. Hark. a. a. O. S. 151, Z. 18-20 und die, vielleicht rich-
tigere LA. von Rosen, ebendort Anm. 4, wonach es sich um die
Niederschrift eines mit der genannten Persönlichkeit zusammenhän-
genden Ereignisses handelt.
6) Vgl. a. a. O. S. 151, Z. 22 fgg.
e) Vgl. a. a. O. S. 177, Z. 12-14.
7) Vgl. a. a. O. S. 171—177 und oben.
8) Vgl. a. a. O. S. 182-184. Die uns dort erhaltenen Bemer-
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 225
Hatte nun so Saadja, vollauf mit seiner Verteidigung
beschäftigt, doch durch die gelegentlichen Belehrungen das
Wort der Bibel, daß auch das Harte und Bittere mitunter
Süßes zu Tage fördern kann — pina küt wo — zu Ehren ge-
bracht, — so hat er dieses selbst, das die Schrift besonders auf
das Licht anwendet, — wyyh "Hin p\no — seinem Volke auch
gereicht in einer die jüdische Gedankenwelt für alle Zeiten
erleuchtenden Schrift, dem religionsphilcsophischen Haupt-
werk, dem er den Namen rs*TKpnyfc6Ki ajokck^k 2«fiD ge-
geben hat. Ist dieses auch im weiteren Verlauf der Zeiten in
Bezug auf Darstellung überholt worden, haben die von Saadja
vertretenen Anschauungen, die im Kaläm wurzeln, auch
teilweise eine Umwandlung erfahren, so daß dieses eigent-
liche Erstlingswerk der jüdischen Religionsphilosophie —
wenn wir von Mokammez und Isak Israeli absehen — hin-
ter einem More Nebuhim des Maimonides zurückstehen
muß, so ist es doch für die systematische Behandlung der
verschiedenen Probleme des Glaubens und dessen Aus-
gleiches mit der Vernunft grundlegend geworden. Und, wenn
man später an Maimonides die allzustarke Beeinflußung
durch den größten griechischen Denker, Aristoteles, geta-
delt hat, so verdient auch Saadja's Werk wegen seines An-
schlusses an die seiner Zeit herrschende Theorie des Kaläm
keine Hintansetzung, zumal bedacht werden muß, daß der-
selbe einerseits eine sichtliche Befruchtung durch die ältere
griechische Philosophie erfahren hat, wie es in jüngster
Zeit S. Horovitz1) eingehend und überzeugend dargetan hat,
kungen Mebaßer's richten sich gegen Saadja's Vergleich der Weisheit
mit dem Licht in der Einleitung des Werkes, wobei Saadja meint, daß
die Weisheit den Toren in einer. Kluger, verwandelt, und auch seine
bekannte Theorie aufstellt, daß die Finsternis nicht etwas dem Lichte ele-
mentar Entgegengesetztes, sondern nur eine Negation desselben ist.
Hiergegen wendet sich Mebaßer mit belanglosen Ausführungen.
>) Vgl. dessen Abhandlung im Jahresbericht des Jüd.-Theolog.
Seminars zu Breslau 1909: Über den Einfluß der griechischen Philo-
sophie auf die Estwickelung des Kaläm.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. *'
226 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter
andrerseits auch, nach Schreiners Beweisführung1), so man-
ches dem Einfluß jüdischer Lehren zu verdanken hat.
Es muß aber auch hervorgehoben werden, daß außer
dem Kaläm auch die griechische Philosophie, besonders die
des Plato und des Aristoteles, nachhaltig auf Saadja ein-
gewirkt hat, wie es besonders Guttmann eingehend nach-
gewiesen. Aber auch hierbei, und besonders dem großen
Stagiriten gegenüber, hat sich der Gaon nicht bloß rezeptiv
verhalten, sondern mit kritisch sichtendem Blick setzt er
sich zuweilen mit diesen Quellen auseinander.
Im Allgemeinen kann man Saadja einen Ekletiker
nennen2). Zur ferneren Beurteilung seines religionsphilo-
sophischen Werkes muß auch erwogen werden, daß, ge-
mäß der ganzen Richtung, in die Saadja gewissermaßen
hineingedrängt wurde, auch dieses eigentlich einen, wenn
auch nicht direkt polemischen, zum mindesten aber ab-
wehrenden Charakter trägt, wie denn in der Tat sich der
Verfasser des öfteren gegen Irrlehren innerhalb solcher
Kreise, die sich zum Judentum rechnen, und Angriffe von
außen wendet3). Wenn wir den Titel des Werkes nach
dem arabischen Original betrachten, so soll der erste Teil
desselben, /im8dk^r, wohl besagen, wie der richtige Glaube
beschaffen ist, beziehungsweise von welchen irrigen Voraus-
setzungen man dabei sich fernzuhalten hat*). Indem man
aber, von den Praemissen des Glaubens ausgehend, diesen
auch gedanklich durchdringen läßt, kommt man zur Bil-
J) Vgl. Der Kaläm in der jüd. Literatur, Jahresbericht der Lehr-
anstalt usw., Berlin 1895, S. 3—4.
2) Vgl. hierüber zuletzt Horovitz, Die Psychologie Saadja's im
Jahresbericht, Breslau 1898, S. 1 fgg.
3) Vgl. Horovitz a. a. O., S. 75. Ganz besonders sei aber ver-
wiesen auf Kaufmann's Anhang zu seiner Darstellung der Attributen-
lehre Saadja's in seiner Geschichte der Attributenlehre, S. 78 fgg.:
Der schriftstellerische Charakter der Emunotb, worauf wir noch zu-
rückkommen.
*) Vgl. Emunoth, Einleitung, ed. Krakau S. 7, beginnend mit
den Worten: WJTO HD UübvriV p^l usw.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 227
düng von Meinungen, wobei es nun gilt, auch den Maaß-
stab der Vernunft anzulegen, immer den richtigen Mittel-
weg innehaltend. Dies kommt zum Ausdruck in dem Wort
nmiipflPifa, das eigentlich »Verbindung und Knotung von
Schlüssen« bedeutet. In dieser Hinsicht will uns die von
der anonymen, noch immer nur handschriftlich vorhandenen,
älteren Übersetzung, oder eigentlich Paraphrase, die jedoch
wohl nicht mit Recht dem Berachja Hanakdan zugeschrieben
wird, gewählte Bezeichnung: ajnm nnioKn 'D piJiD
mran als dem Original am nächsten stehend erscheinen,
da in ihr besonders das Wort runKprw6« wohl den adae-
quatesten Ausdruck findet2). Nicht ganz so genau istjdie
i) Vgl. ebendort: ruc^i bivn mb^ \vyrt naon [xjhöpxdi
cm 37om roaa^a raroaM.
s) Das biblische Wort mann in Ps. 73 u. Jes. 58, 6 wird von
Saadja durch das arab. npy in dem Sinn von Gedanken, Vereinigung
und Knüpf ung von Begriffen wiedergegeben; vgl. meine Ausführungen
in Monatsschrift 1896, S. 413—414, Anm. 5 s. v. und ZHB. VIII, S.
99. — Über die Autorschaft des R'Berechja für diese Paraphrase hat
zuletzt Guttmann in seiner Besprechung der von Gollancz heraus-
gegebenen zwei ethischen Werke von Berechja (The Ethical treatises
of Berechja usw., London 1902), in Monatsschrift 1902, S. 538 einige
Argumente beigebracht, als Stütze für die schon von Rapoport in
Bikkure Haittim IX, S. 30, Anm. 25 mit der ihm eigenen Gründlich-
keit erörterte eventuelle Zugehörigkeit zu diesem Autor, die zuletzt
Steinschneider in HÜB. S. 440—441, Gollancz selbst a. a. O., Ein-
leitung S. XXXIX-XL und Porges in seiner Besprechung ZHB. VII,
S. 38—39 bekämpft haben. Die von diesem erhobene und zum Teil
auch von Guttmann gewürdigten Bedenken bestehen darin, daß Be-
rechja 1) des Arabischen unkundig gewesen sei, 2) den um diese
Zeit schon verfaßten Kusari des Jehuda Halevi nicht gekannt habe.
Gegen ersteres ist allerdings zu bemerken, daß Berechja doch wohl
Arabisch verstanden hat und eine Vorlage in einer solchen Sprache ge-
habt hat. Es finden sich nämlich in seinem ethischen Werke Worte
und Formen, die sich nur so erklären lassen. So z. B. ed. Gollancz
S. 4, Z. 10 v. u. n'D^non, das nur durch das arab. pB^Kio = »die-
jenigen, die anderer Ansicht sindc zu erklären ist; ibid. Z.^7 v^u.
und paßim für »körperlich«: 'OOtfiJ, was ganz dem arab. "OKöD* nach-
gebildet ist; S. 6—7 findet sich öfters für den Wohltäter und den die
15*
228 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
von dem jüngeren Übersetzer, Jehuda Ibn Tibbon, ange-
wendete Bezeichnung mjni nuie«, woraus die gleichfalls be-
grifflich nicht ganz genaue Übersetzung: »Glauben und
Wissen« entstanden ist. Am richtigsten dürfte demgemäß
der neuerdings von Bloch gewählte Titel : »das Buch der
Glaubenslehren und der Vernunftansichten«1) sein. Das
Werk Saadjas hatte wahrscheinlich., da einerseits weder
die Karäer angegriffen, noch auch die von selten des Islam
erhobenen Angriffe betreffs der Auffassung des Gottesbegriffes
oder des Aufhörens der Verbindlichkeit des Gesetzes
— des sogenannten loa — berührt werden, andererseits
aber gegen das Christentum polemisiert wird, den Zweck,
die gebildete islamitische Welt mit dem Gedankeninhak
des Judentums bekannt zu machen, wobei er sich natür-
lich von Ausfällen gegen solche Kreise, die doch immerhin
zu den Juden gerechnet wurden, wie auch von einer Pole-
mik gegen die herrschende Religion in gleicher Weise fem
Wohüat empfangenden : D^Jttö und DJJJ1D, was sich lediglich dem arab.
EJ7JX und DJ?30 anschließt, während er andererseits den Psaimisten
als D'Wö = ^ den biblischen Sänger « anführt. Ferner hat er für das
arab. iA^j »Zusicherung«, statt des üblichen "nj?\ das hebräisierte
*Tpl. Man brachte ferner die fast durchgängige Anwendung von ftby
für sQrund« = arab. n?y und die sehr oft vorkommende Konstruktion
von flDfi = »sich wundern« mit [C = arab. fc Zi'J,
*) Vgl. WiHter u. Wünsche, Die jüd. Literatur usw. II, S 704.
Die von Steinschneider a. a. O. S. 439 gebrauchte Benennung: »Reli-
gionen und Dogmen« kann m. E. nicht als zutreffend angenommen
werden, wenn sie sich auch anlehnt an eine schon bei Abraham Ihn
Daüd sich findende Bezeichnung: nimm nUlQX.I, da derselbe Auto.
sich auch des Titels m*QDni nUTOKfl bedient, also: Buch der Glaubens-
sätze und der philosophischen Lehren; vgl. Kaufmann a. a. O. S.
250—251, Anmerkung 253. Berechja wendet nur die Bezeichnung
mJiDxn 'D an. Indessen ist das stärkste Argument gegen die Autorschaft
Berechja's für diese Paraphrase, daß er vom VII. Traktat des Emunot
nicht der von dieser benutzten zweiten Rezension, sondern sich der
auch von Ibn Tibbon übersetzten ersten Fassung des DTEH nwnn IßKO
bedient.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonaischen Zeitalter. 229
halten mußte1). Es darf uns aber darum nicht befremden,
daß der Autor dennoch gegen Irrlehren wie die Hajaweihs
Angriffe richtet, denn dessen Auschauungen gingen ja, wie
oben dargetan wurde, im letzten Grunde auch auf solche
zurück, die auch von der üblichen Richtung im Islam als
ketzerisch betrachtet wurden2). Um jedoch gewissen Aus-
wüchsen von irrigen Meinungen in Glaubenssachen ent-
gegenzutreten, entschloß sich Saadja eine ihm besonders
teure Lehre, die von Wiederbelebung der Toten, in einer
gesonderten Abhandlung darzustellen3), um sie gegenüber
der wohl von einigen karäischen Sektirern in Choräsän
angestrebten Anfechtung — die in einer Deutung dieser
Verheißung auf die nationale Wiedererweckung Israels gip-
felte4) — allen denjenigen, die sich in die Lektüre des
großen Werkes nicht vertiefen mochten, zugänglich zu
machen. Nennt er doch den Glauben an B»nen jr'ftn die er-
habenste Zusicherung, die Gott seinem Volke gegeben hat.
Die Bedeutung dieser besonderen Darstellung für die Ge-
samtheit ist schon frühzeitig erkannt und der meist ver-
breiteten Übersetzung, der des Jehuda Ibn Tibbon, zu
Grunde gelegt worden.
Das große Werk Saadja's, dessen Inhalt insgesamt
und im Einzelnen bereits von berufenen Gelehrten dar-
gestellt worden ist5), läßt uns den Gaon in Wirklichkeit
*; Vgl. die treffenden Ausführungen von Kaufmann a. a. O
S. 88—90.
2) Vgl. hierüber oben.
8) Das arab. Original davon bat Bacher in der »Festschrift für
Steinschneider» (Leipzig 1896), S. 98—112 der hebr. Abteilung ver-
öffentlicht, wobei er einige Lücken durch Rückübersetzung aus
Tibbon's Version ergänzte. Über die Verschiedenheiten der beiden
Versionen vgl. Landauer in der Vorrede zur Ausgabe des arab. Ori-
ginals, S. VIII fgg. und Bacher in der Abhandlung a. a. O. deutsche
Abt!g., S. 218—226, wo alles Wissenswerte angegeben ist.
*) Vgl. Bacher a. a. O. S. 224.
*) Vgl. die Literatur bei Steinschneider, Die arab. Lit. d. Juden
S. 66, wozu noch anzufügen ist: Bloch's Darstellung in Winter und
230 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
als den »Stolz Jakobs« erkennen, der ein Lehrer seines
Volkes im weitesten Sinn geworden ist und sicherlich viel
zur Stärkung des religiösen Gefühls wie auch zur Aner-
kennung des Judentums in außerjüdischen Kreisen beige-
tragen hat, wovon die Erwähnung seiner Schriften selbst
bei mohammedanischen Schriftstellern ehrendes Zeugnis
ablegt
Derselben Zeit seiner unfreiwilligen Muße gehört
wohl auch der Kommentar zu Daniel an, in dem er
seine Auslegunskunst besonders an den schwierigen Pro-
blemen, die dieses Buch bietet, zeigen konnte1). Für Saadja
mußte es natürlich einen gewissen Reiz haben, die darin
ausgesprochenen Ankündigungen zu deuten. Aber auch
Polemisches gegen die Karaeer hat der Kommentar erhal-
ten ; so sind sicherlich gegen sie seine Ausführungen, zu
Cap. 10, v. 3 gerichtet2), worin wohl er an dem Beispie!
Daniel's nachweisen will, daß, wie dieser sich nur in den
drei Wochen seiner Trauer vom Fleisch- und Weingenuß
zurückgehalten, so auch wir, wenngleich wir von der Stätte
des Heiligtums verbannt sind, uns nicht die Buße des Ver-
sagens dieser Dinge aufzuerlegen brauchen. Bekanntlich
aber haben gerade damals die Karaeer, als sogenannte
O'pJKJi DTttKJ »Büßende und Klagende« ihre Befriedigung«
in der Enthaltsamkeit von Fleisch und Wein gefunden. Es
ist natürlich, daß Saadja auch, ebenso wie im 5. Cap. des
Sefer Hagaluj und im 8. Cap. des Kitäb al Amänät, der
Berechnung des Erlösungsjahres eine Betrachtung bei der
Wünsehe a. a. O, S. 764 fgg., Bacher, Die Bibelexegese bei den jüd.
Religionsphilosophen, Straßburg 1892, S. 1—44, Horowitz' bereits ge-
nannte Abhandlung über S.'s Psychologie und Engelkemper, Die reli-
gionsphilosophische Lehre Saadja Gaon's über die heilige Schrift,
Münster 1903.
') Vgl. über diesen und den fälschlich Saadja's Namen tra-
genden, in den Milcraoth Gedoloth sich findenden Danielkommentar
Poznanski in Hagoren II, S. 92—103.
*) Vgl. a. a. O. S. 96-97.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 231
Erklärung von Cap. 8. v. 14 widmet; das Endziel der Er-
lösung hat er auf das Jahr 968 festgesetzt1).
Es ist merkwürdig, daß in diesen drei, in den Jahren
der Verbannung entstandenen Schriften des Gaon er be-
sonders auch der Erlösung seine Aufmerksamkeit zuwen-
dete, einem Thema, das schon im talmudischen Zeitalter
in innige Verbindung gebracht wurde mit der Lehre der
Auferstehung der Toten2), und er diese Besprechung da-
rum auch in seinem philosophischen Hauptwerk unmittel-
bar an die Behandlung des letztgenannten Problems an-
schloß. Sicherlich hat ihn hiebei der Schmerz über die
Zustände, deren Opfer er selbst geworden war, geleitet,
ein Thema zu erörtern, das eigentlich einem so nüchtern
denkenden und den Erwägungen der Vernunft in erster
Reihe folgenden Manne fern liegen mußte, und ferner das
Bestreben, den durch die religiösen Wirren im Vertrauen
auf Gott und seine Erlösung wankend Gemachten einen
Halt zu bieten. Dies hat auch der solchen Berechnungen
abholde Maimonides betont3), unter Hervorhebung der
immer nur von den ernstesten religiösen Motiven geleiteten
Handlungsweise Saadja's, weswegen seine etwaigen Irrtümer
ihm zu gute gehalten werden müßten4). Dieser selbst sagt
es auch ausdrücklich, daß eine völlige Rückkehr zu Gott,
1) Vgl. Poznanski's Aufsatz: Die Berechnung des Erlösungs-
jahres bei Saadja (Miscellen über Saadja III) in Monatsschr. 19C0, S.
4C0 fgg. u. S. 508 fgg; besonders S. 415-416 u. S. 517.
2) Vgl. die Studie von M. Löwy: Messiaszeit und zukünftige
Welt, in Monatsschr. 1897, S. 392—409.
s) Vgl. Iggereth Teman, im Kobez, ed. Lichtenberg II, S 5 b.
*) Vgl. ebendort: \lfflBh fW D^DP DtP1? VPjfO *?3a piam KVfl
rjiwavna flfW b$ vby. Es ist demnach ein unbegreifliches
Mißverständnis des Jedaja Penini, wenn er in seinem be-
kannten m^atnXTI rnast an Salomon ben Adret, in dessen Responsen,
Wien 1812 Nr. 418, S. 57b, den Maimonides einen Vorwurf gegen
Saadja erheben läßt, daß er die Berechnung des Endzieles le-
diglich auf Berechnungen und Sternkunde gestützt habe, während die
von ihm fälschlich aufgefaßte Stelle bei Maimonides : "j'JVJOtP ftO f?3«
232 Beitrüge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeiiaiier.
ohne Abwarten des Endzieles, uns von unserer Knechtung
durch die Völker befreien könne1;.
Dem Gaon, der, obwohl seiner äußeren Würde ent-
kleidet, doch den geistigen Mittelpunkt des Judentums bildete,
sollte aber doch alsbald auch persönliche Genugtuung wer-
den, indem der Wille des selbst unter den unerträglichen
Zuständen der Zwietracht und der Zersplitterung unter den
beiden obersten Gewalten leidenden Volkes, diesen ein Ende
bereitete. Ein sehr peinlicher Rechtsvorfall, bei dem sich die
Rücksichtslosigkeit David ben Sakkai's wieder recht deutlich
zeigte, veranlaßte die Einsichtigen, darunter den Schwieger-
vater des unversönlichsten Feindes des Gaons, Aaron Ibn
Sargädos, den hochangesehenen Bischr ben Aaron, endlich
das Versöhnungswerk in die Hand zu nehmen, das am Esther-
fasttag und Purimfest des Jahres 928 in einer mehrtägigen
gastlichen Aufnahme Saadja's im Hause des Exilachen sei-
nen Abschluß fand2).
Es läßt Saadja's Charakter von der glänzendsten
Seite erscheinen, daß er nach dem bald erfolgten Tode des
Exilarchen und seines Sohnes sich seines noch erziehungs-
bedürftigen Enkels annahm und ihm einen sorgfältigen
Unterricht zuteil werden ließ8).
D.TSM2J31 B'MWI DOSriD r^K ppiflfc'o sich keineswegs auf Saarija be-
zieht, indem vbx das antizipierte Objekt des folgenden nD3n usw. ist.
>) Vgl. Emunot VIII, ed. Krakau, S. 157.
•) Vgl. Nathan Babli bei Neubauer a. a. O. II, S. 81-82. Der
von ihm angegebene Name von Ibn Sargädo's Schwiegervater Bisch'r
dürfte der richtige sein.
s) Vgl. Neubauer a. a. O. II, S. 82 Ende.
(Fortsetzung folgt).
lie „Wortvertansehimgsn" Im Kiiäb ai-Luma' des
Abulwalid.
Von Prof. W. Bacher.
Es ist sehr bedauerlich, daß D. Herzog in seinem
hier erschienenen, offenbar mit Lust und Liebe ausgearbei-
teten Artikel (Jahrg. 1999, 709—719, J. 1910, S, 82—102)
nicht das arabische Original des Abulwalid'schen Haupt-
werkes, also weder das Kitäb-al Luma', noch das Kitäb-al
usül benützen konnte. Nicht nur ist es im allgemeinen
unstatthaft, daß speziell bei einem philologischen Gegen-
stande nur die Übersetzung des betreffenden Werkes benützt
wird und das längst edierte Original unverwertet bleibt ;
sondern die merkwürdige Hypothese, mit der Herzog eine
bekannte literaturgeschichtliche Schwierigkeit zu beseitigen
vermeint, wäre wohl unausgesprochen geblieben, wenn er
den arabischen Text einiger der von ihm zitierten Abulwalid-
Stellen vor Augen gehalten hätte. Gleich die ersten Worte
des berühmten 28. Kapitels des Rikma (im arabischen Ori-
ginal ist es Kap. 27): nr\bu rra pcnrn'^n^ön p n^o pt»3ö# er
konnte er nur deshalb als Hauptstütze für seine Hypothese
ansehen, v/eii er in BP einen Hinweis auf andere, ungenannte
Bibelerklärer erblickte. Schon die Überschrift des Kapitels,
dessen ersten Worten entnommen, hätte ihn belehren können,
daß das Subjekt zu j»«»at3 nicht die Erklärer, sondern die Ur-
heber der hier in Betracht kommenden Bibeltexte sind. Meine
Übersetzung jener Eingangsworte (AMIG.2), S. 19): »Zuweilen
wendet man irgend einen Ausdruck an, während ein anderer
1) Es mu3 hier mbon gesetzt werden; dem arab. KD ttb (irgend
ein Ausdruck) entspricht hebr. m^DH p fi^D.
2) Ich verwende die Siegel Herzogs.
234 Die »Wort vertauschungen« im Kitäb al-Luma' des Abulwalid.
beabsichtigt ist«) ist ihm entgangen ; aber er zitiert die
ebenfalls richtige französische Übersetzung Metzgers (»On
emploie etc.«), erkennt sie jedoch nicht an, was an sich
ohne Einblick in das arabische Original unstatthaft ist. Bei
dieser Abweisung der auf dem Originale beruhenden Wieder-
gabe von j»K»3ö» w beruft sich Herzog (S. 713, Anm. 1)
auf eine Stelle in Abulwalids mwii "icc (Col. 345), die er
aber ebenfalls wegen Unkenntnis des arabischen Originals
mißverstanden hat. Der von ihm zitierte Passus noM "jx
npn px mpoa xin iddd px iruia/£ fehlt im MS., aus dem
ich das Sefer Schoraschim edierte, ich fügte es aus dem
Originale hinzu, diese Einfügung, wie stets, mit eckigen
Klammern bezeichnend. nOK ist Wiedergabe des arabischen
n^>ip (492, 5), also ^ö* zu lesen ; Herzog las rito$ und glaubte
in dem Passus ein Zitat erkennen zu sollen. Und auf Grund
solcher Mißverständnisse sagt Herzog, daß jene einleitenden
Worte »unmöglich auf eine eigene Arbeit Ibn Ganähs
schließen lassen«.
Herzog sagt dann weiter : »Ibn Ganäh bekämpft
sogar im zweiten Teile desselben Hauptwerkes, im D'PWn 'D
zwei der im Kitäb al-Luma' mitgeteilten Stellen.« Von diesen
zwei Stellen wäre die eine im Artikel DtPX (p. 48) zu lesen ;
sie lautet: djpx Dtrxn bv in neir wk pyn *??"£ e»»i, was
Herzog, der die ersten zwei Worte dieses Satzes gesperrt
druckt, offenbar so versteht, daß irgend ein Exeget (*!?.'%' ä»»i)
das Wort Dtrx so erklärt habe, wie es im Luma* in bezug
auf Lev. 5, 7 geschieht. Aber auch abgesehen davon, daß
dies noch nicht ein Bekämpfen der Ansicht, dpx bed. nicht
nur >Schuld«, sondern auch »Schuldopfer«, genannt werden
kann, so liegt hier wieder ein arges Mißverständnis des
hebräischen w vor. Im Original (71, 9) lautet der Passus:
otrx nnxbx \y m iojad' nb» jxnp^x 'öd' ipi. Abulwalid gibt
also hier dieselbe Erklärung, die er dem 27. (28.) Kapitel
des ersten Teiles einverleibt hat, auch im zweiten Teile,
dem Wörterbuche, und zwar als seine eigene Ansicht.
Die »Wortvertauschungen« im Kitäb al-Luma' des Abulwalid. 235
Noch sonderbarer ist der Hinweis auf N. 68 in der Liste
Herzogs. Hier wird aus Abr. Ibn Esra's Psalmen-
kommentar die Erklärung von »t, Ps. 77, 3, als statt *rp
stehend, angeführt. Aber als Urheber dieser Erklärung nennt
Ibn Esra den von ihm wegen seiner Wortvertauschungen oft
bekämpften Anonymus. Bei Abulwalid findet sie sich über-
haupt nicht. Vielmehr erklärt er im Wörterbuche, Art. v, *V
im erwähnten Psalmverse im Sinne von »Wunde«. Da nun
gerade Herzog es ist, der — und zwar mit Recht — die
Identifizierung jenes Anonymus mit Abulwalid bestreitet,
weiß ich nicht, warum er (1910, 99) den Widerspruch
zwischen der Erklärung des Anonymus und der in Abul-
walids Wörterbuche »merkwürdig« findet; ferner ist es
unbegreiflich, wie er diesen vermeintlichen Widerspruch als
Beispiel dafür anführt, daß Abulwalid selbst das bekämpft,
was er im Luma' behauptet. — Den Hinweis auf N. 16
verstehe ich ebenfalls nicht, da doch Abulwalid in beiden
Teilen seines Hauptwerkes den Ausdruck onn D*tttt»n »J'l?
(Num. 16, 14) als Euphemismus für irrj? erklärt; die ver-
schiedene Ausdrucksweise kann doch nicht als Widerspruch
angesehen werden.
Ebenso unhaltbar ist das Argument, das Herzog aus
den sieben (Bibel-)Stellen schöpft, die im Luma' unter den
Beispielen für »Wortumtauschung« figurieren und die Abul-
walid im Wörterbuche zitiert, »ohne irgend eine Bemerkung
über deren Erklärung zu machen, was er aber ganz gewiß,
wenn diese Wortumtauschung sein eigenes Produkt gewesen
wäre, nicht unterlassen hätte.« Welches Sophisma! Wenn
Abulwalid diese Bibelstellen, nachdem er sie im Luma' er-
klärt hatte, in den Artikeln seines Wörterbuches nochmals
zitiert, so tut er dies zu dem durch den Plan seines Wörter-
buches geforderten Zwecke; die im ersten Teile des Werkes
(dem Luma') bereits gegebene Erklärung braucht er im
zweiten Teile (des Wörterbuches) nicht zu wiederholen. So
JL. B., um die erste dieser 7 Stellen zu nennen, zitiert Abul-
236 Die »Wortveriauschungen im Kitäb a'.-Luma' des Abulwalld.
walfd im Wörterbuche das Wort ~-p\ Exod. 22, 7, lediglich
als Beispiel für die Niphal-Form des Verbums anp. Oder
läßt sich etwas aus dem Umstände folgern, daß Abulwalid
im Wörterbuche unter dem Artikel b&& wegen der Verbal-
form fcwffri II. Sam. 14, 19 citiert und dabei nicht angibt,
daß das in demselben Verse stehende Verbum irr für poc
gesetzt ist?
Den sieben Stellen gegenüber, die im Wörterbuche
Abulwalids zitiert werden, ohne daß ihnen die sich auf »Wort-
vertauschung« beziehende Erklärung des Luma' beigegeben
wäre, stehen mehr als doppelt so viel Beispiele dafür, daß
im Wörterbuche die im Kapitel über Wcrtvertauschung sich
findende Erklärung widerholt wird. Es sind das, wie von
Herzog selbst sorgfältig angegeben ist, die Nummern 5, 11,
15,17,39, 43, 47, 48, 53, 59, 65, 74, 77, 78, 79. Für diese
Fälle nimmt H. einfach an, daß die nach seiner Hypothese
im Luma* aus dem Werke des Anonymus übernommenen
Erklärungen im Wörterbuche durch Abulwalld ohne weiteres
adoptiert wurden. Beweisen aber diese Beispiele nicht viel-
mehr, wenn das noch eines Beweises bedürfte, daß die
»Wortvertauschung« im Luma' nicht adoptiertes Gut bildet,
sondern Abulwalids Eigentum ist, das er als solches,
wo ihm das für nötig erschien, auch im Wörterbuche ver-
wendete ?
Denn es darf von vornherein, auch ohne die hier vor-
ausgeschickte Widerlegung der Argumente Herzogs, fest-
stehen, daß seine Hypothese eine grundlose ist. Wer die Art
Abulwalids kennt, muß es als unglaublich betrachten, daß
er jene Wortvertauschung »bloß aus einem andern Werke
in sein Buch aufgenommen hat.« Wie um eine solche An-
nahme unmöglich zu machen, leitet Abulwalld im dritten
Beispiel des berühmten Capitels über stellvertretende Rede-
weise (I. Sam. 25, 4) seine Erklärung mit den Worten ein:
nap mpxbai (L. 294, 10, = R. 177, 17: »a*j?a anpm), d. h.i
mir gilt es als wahrscheinlich. Damit bezeichnet er
Die AVortverlauschungerj« im Kitäb al-Luraa' des Abuiwalid. 237
die Erklärung ausdrücklich als sein Eigentum; und wir
gehen wohl nicht fehl, wenn wir annehmen, daß diese
Bezeichnung auch für den größeren Teil der dann folgen-
den Beispiele zu gelten hat1). Denn daß Abuiwalid
einzelne der Beispiele anderswoher geschöpft hat, zeigen
die ersten zwei Beispiele, die Erklärungen von Saadja Gaon
wiedergeben, vcn dem auch die Erklärung zu Ps. 24, 4 oav
= *cci) herrührt. Die Erklärungen des Gaon waren ge-
wissermaßen Gemeingut der Bibelexegese geworden, und
Abuiwalid stellte sie wohl absichtlich zur Rechtfertigung
der angewendeten kühnen Methode an die Spitze. Aber
daß er, wie der positive Teil der Hypothese lautet, das
Werk eines Zeitgenossen, des Isaak Ibn Jaschusch, für den
gesamten ersten Teil des Kapitels von der stellvertretenden
Redeweise (Wortvertauschung) einfach ausgeschrieben habe,
ohne mit einem Worte auf den eigentlichen Urheber dieser
Erklärungen hinzuweisen, ist absolut ausgeschlossen. Wie
die durch Ibn Esra's Äußerungen über die »Wortver-
tauschungen« verursachten Schwierigkeiten zu lösen seien,
soll hier nicht weiter erörtert werden. Noch jetzt erscheint
mir als wahrscheinlich, was ich in meiner Schrift: »Aus
der Schrifterklärung des Abuiwalid Merwan Ibn Ganah
(1889) ausgeführt habe: Isaak Ibn Jaschusch oder ein Anderer
nahm die Methode Abulwalids auf, adoptierte seine Beispiele,
vermehrte sie mit anderen, und dieses sein Werk ist das
von Ibn Esra so heftig bekämpfte. Die Hilfshypothese
Herzogs von einem karäischen Schriftsteller, in dessen
Werke I. E. die Wortvertauschungen des Ibn Jaschusch
vorgelegen wären (Jhg. 1909, S. 717), ist ganz überflüssig.
Ich will nur noch der als Stoffsammlung verdienst-
*) Die Erklärung des Ausdruckes VDS TS, Gen. 25, 28 (bei
Herzog N. 3) führt Abuiwalid selbst im weiteren Teile des 27, (28.)
Kapitels unter den Metaphern an und bezeichnet sie, mit Hinweis auf
den ersten Teil des Kapitels, als »unsere Erklärung« (xjm!', L. 315,
6 = 1J1K3, R. 192, 7. v. u.)
238 Die »Wortveriauschungeru im Kiiäb a!-Luma' des Abulwalid.
liehen Arbeit Herzogs einige Berichtigungen widmen. Zu-
nächst bemerke ich, daß in der Liste Herzogs eine Gruppe
von Beispielen fehlt, in denen B|fl statt "P# steht (Prov.
24,28) oder yv statt Dan (Psalm 38,20, 1 Sam. 25, 21,
Ps. 69, 5). Allerdings fehlt diese Gruppe in dem von
Herzog allein benützten Rikma ; aber er hat es — und das
ist auch sonst zu bemerken — unterlassen, von meiner
Berichtigung und Ergänzung der Rikma-Texte Gebrauch zu
machen, die ich meiner Ausgabe des ü'VWn 'D, S. 568—594
beigegeben habe. — Andererseits bietet Herzogs Liste Bei-
spiele der Wortvertauschung, die auf unrichtiger Auffassung
der Worte Abulwalids beruhen. So N. 45: »Jesaja 7,20
D^:nn *w statt prnyn rra«. Aber die Jesajastelle wird von
Abulwalid nur als Beweis dafür zitiert, daß D'^l pudenda
bedeutet (zur Erklärung von II, Sam. 19, 21). Auch hier
wäre der Verfasser vor Irrthum bewahrt geblieben, wenn
er meine Ergänzung des betreffenden Rikma-Textes auf
Grund des Originales (n^tjntrn 'd, S. 587)' benützt hätte.
Merkwürdigerweise gibt er selbst die Ergänzung auf Grund
von Metzgers französischer Übersetzung unter N. 39 (zu
II. Sam. 19, 25), ohne sie aber unter N. 45 zu beachten.
— N. 49, zu Jes. 29, 1: »o-an statt EPVaan.« Aber die Je-
sajastelle wird nur als Beweis dafür gebracht, daß unter
an, eig. Fest, die am Feste geopferten Schafe und Rinder
(aber nicht bloß >Schafe«) gemeint sind, und zwar als
Analogie zur Bedeutung von noo in Deut. 16, 2. — Die-
selbe Bemerkung gilt auch für N. 70, zu Ps. 118, 27 : »an-
statt nyien tws.« — Zu streichen ist auch N. 76 (Hiob 1, 11)-
Denn die Hiobstelle (yaa by) citiert Abulwalid nur als Ana-
logie zu seiner zweiten Erklärung für Num. 3, 4, wonach
piK »3D bv bedeutet: in Gegenwart Aharons, vor Aharon,
ebenso wie "pc bv in Hiob 1, 11 bedeutet: in deiner Gegen-
wart, vor dir (yv pro imims, L. 299, 11 = "popaai 7:02,
R. 181, 30). Bei dieser zweiten Erklärung handelt es sich
also gar nicht um »Wortvertauschung«, sondern um eine
Die »Wortvertanschungen« im Kitäb al-Luma' des Abulwalid. 239
Erklärung von »A3. Nur nach der ersten Erklärung Abul-
walids steht pn» »ja bv für \*\nx "na.
Die letzten zwei Beispiele zeigen zugleich, daß Herzog
auf unberechtigte Weise den beim Übersetzer Jehuda Ibn
Tibbon gefundenen hebräischen Ausdruck so anführt, als ob
Abulwalid selbst ihn als Äquivalent des durch Stellvertretung
erklärten Textwortes angegeben hätte, während tatsächlich
bei Abulwalid sich nur der entsprechende arabische Ausdruck
findet. Diese unberechtigte Übertragung des erklärenden
hebräischen Ausdruckes vom Übersetzer auf den Verfasser
findet sich noch in den Nummern 3, 33, 39, 44, 79.
Unter N. 3 (S. 719, Anm. 2) berichtigt Herzog den
Wortlaut Ibn Tibbons nyn anaim? iaa zu a'anjm ms* D; die-
selbe Berichtigung erlaubt sich Herzog unter N. 4L Sie ist
unrichtig; denn Ibn Tibbon behält den arabischen Kollektiv-
singular yyfak (»Die Araber«) in der hebräischen Wieder-
gabe bei1). — Unter N. 15 (S. 86. Anm. 5) sagt Herzog,
statt di?b h »n* tt*mi mm bei Ibn Tibbon (R. 178, 13)
»müßte es dem arabischen Original entsprechend richtiger
lauten«: inra mri rhu). Da er das arabische Original nicht
benützt hat, folgt er bei dieser »Berichtigung« Ibn Tibbons
der französischen Übersetzung Metzgers (S. 287: >et le mot
B*m est superflu«). In Wirklichkeit aber ist der Passus des
Originals: »:6a K»m nbipi (L. 295, 6) in der Übersetzung tön
Tibbons wörtlich wiedergegeben. Dem arab. Terminus 'J^a
entspricht das Substantiv m:& in Abulw.'s Wörterbuche, Art.
BJ, was Ibn Tibbon {awwn 'D S. 94) mit yiV M fTW*
wiedergibt (pjy = aya>. — S. 89, Anm. 1. Die korrekte
Ergänzung s. a'wwn 'D, Anhang. S. 586 f. — Zu N. 29
(S. 90). Hier muß ich einen Irrtum berichtigen, den ich mir
selbst habe (AMIG, S. 25. Anm. 4) zu Schulden kommen
lassen, Abulwalid erklärt in *a»im\ I. Sam. 25, 32 als Euphe-
*) Aus der Unkenntnis dieses Sachverhaltes stammt auch das.
Ausrufungszeichen, das Herzog unter N. 79 den aus dem Wb. ange-
führten Worten 3*$n ciDiXB» HD beifügt.
240 Die »Wortvertauschungen« im Küäb a!-Luma' des Abulwalid.
mismus für r\ib (vgl. in der Traditionslitteratur bw tiwkiw
b$w für ^«na?»)> nicnt für '^'K^, wie Herzog angibt. Das
Richtige hat David Kimchi: vnh KIM *1J3. — Zu N. 53 (S. 96).
Zu Jerem. 22, 3 erklärt Abulwalid, pi#J? nach ^J sei Aequiva-
lent für i?tf*> ebenso wie in Jerem. 33, 8 *Mpn nach DSW (und
orrrruij;) Aequivalent für 1VJ.« Herzog faßt die ganze Stelle
unrichtig auf, wenn er sagt, pW$ stehe nach Abulwalid für
PW\ denn nicht von dieser aktiven Bedeutung der Form
^P? ist hier die Rede (von dieser spricht Abulwalid in der
von Herzog zitierten Stelle des Wörterbuches), sondern von
der Stellvertretung des einen synonymen Verbums durch
das andere. — Zu N. 79: In der aus dem D'sntrn 'D, Art.
DS'K zitierten Stelle gehören die letzten Worte, mit denen das
arabische Verbum D/iKn erklärt wird vybo »isyn \wbz naa faa
Dty«.nn) nicht Abulwalid an, sondern sind eine Glosse des
Übersetzers Ibn Tibbon, weßhalb ich sie auch in runde Klam-
mern gesetzt habe, die aber von Herzog weggelassen wurden.
Herzog spricht auch von einer Benützung der Septua-
gänta durch den Urheber der Worttauschungen und schöpft
daraus sogar ein Argument für Identifizierung desselben
mit Isaak Ibn Jaschusch (Jhg. 1909. S. 710, 715). Aber an
den betreffenden Stellen kann lediglich von einer exege-
tischen Übereinstimmung zwischen der alten griechischen
Übersetzung und dem jüdischen Bibelerklärer die Rede
sein. Übrigens sind von den durch Herzog erwähnten 11
Beispielen dieser Übereinstimmung auszunehmen: N. 27, I.
Sam. 17,32 (hier gibt LXX »Ji« wieder, statt ms); 30, N.
26, 32 (wo LXX das Textwort b>'*6 übersetzt, eine Überein-
stimmung mit Luma gar nicht stattfindet); 40, II. Sam. 21, 8
(die Lesung std für Sd»o ist auch außerhalb der LXX be-
zeugt). Aber auch die Nummern 38 und 62 sind auszu-
schalten, weil in dieser die LXX den betreffenden Passus
überhaupt nicht enthält, von einer Übereinstimmung mit dem
Urheber der Wortvertauschung hinsichtlich des fehlenden
Passus also keine Rede sein kann.
Der Streit um die jüdische Garküche in Bromberg
am Beginne des 19. Jahrhunderts1).
Von G. Walter.
Die Zahl der bei dem Beginne des 19. Jahrhunderts
in Bromberg ansässigen Juden war eine überaus geringe.
Am 1. April 1803 unterzeichnen beispielsweise als Brom-
berger Judenschaft im ganzen 5 Männer: Aron Lewin, dessen
Schwager David Salomon samt seinen beiden Söhnen Ab-
raham David und Victor David und Schmul Abraham2).
Sind für die Berechnung der gesamten, damals in Brom-
berg vorhandenen jüdischen Seelen auch hierzu noch die
weiblichen und minorennen männlichen Glieder der Ge-
meinde in Anschlag zu bringen, so zeigt die angeführte
Tatsache zur Genüge doch eins: von den in Bromberg
wohnhaften Glaubensgenossen konnte eine jüdische Gar-
küche, eine jüdische Gastwirtschaft wirklich nicht existieren.
Wenn sie überhaupt zu einem Nahrungszweige werden
sollte, so mußte sie ein ausgedehnteres Gebiet vor sich
haben. An einem solchen fehlte es aber in Bromberg des-
halb nicht, weil die ganze Judenschaft des Netzedistriktes
wegen ihres Handels und der Landeskollegien häufig nach
Bromberg kommen mußte. Und diese jüdische Bevölkerung
war eine überaus starke. Ein zeitgenössischer Schriftsteller
schätzte sie sogar auf etwa 7000 Seelen3).
Diese Garküche wurde nun bis zum Jahre 1803 ziem-
») Nach den Akten (Bromberg c. hauptsächlich 361 I und II)
des königl. Staatsarchivs zu Posen.
2) David Salomons Unterschrift erfolgt hierbei in hebräischen,
die der übrigen Genannten in deutschen Schriftzeichen.
3) Holsche, der Netzedistrikt, Königsberg, 1793.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. '"
242 Der Streit um d. jüd. Oarküche in Bromberg am Beginne d. 19. Jahrh .
lieh unangefochten von einer Frau Rebecka Meyer (einmal
auch Rebeke Mayren genannt) betrieben. Sie lebte schon
seit dem Jahre 1777 in Bromberg, hatte den Petschier-
stecher Meyer Michel geheiratet und ihren Mann nach
vielleicht 7jähriger Ehe im Jahre 1788 durch den Tod ver-
loren. Beim Tode ihres Mannes war ihr ältester Sohn Wolff
Meyer etwa 6 Jahre alt. Die Witwe mußte an einen Er-
werb denken und griff damals wohl zu dem obenerwähnten.
Nahezu 15 Jahre hatte sie ihn wie ein Monopol in Hän-
den gehalten. Da erwuchs ihr auf einmal eine scharfe Kon-
kurrenz.
Zwei Konkurrenten erstanden der Rebecka Meyer
gleichzeitig. Der eine hieß Hirsch Lewin, der andere Hirsch
Gerson.
Auch Hirsch Lewin wurde durch eine wenigstens
augenblickliche Notlage dazu getrieben, sein Brot durch
die Garkocherei zu verdienen zu suchen. Er war im Jahre
1803 Beamter der Gemeinde, ihr Schächter geworden,
»publiquer Bediente«, hatte sich aber ihrer Gunst nicht
lange zu erfreuen. Schon am 23. August 1803 zeigen Da-
vid Salomon und Aron Lewin1) der Behörde an, daß sie
*) In Oemeindeangelegenheiten gingen die beiden Verwandten
allerdings durchaus nicht immer so einträchtig zusammen (vgl. übri-
gens meinen Artikel »Die drei ersten Grunderwerbsversuche « in der
allg. Zeitung des Judentums, Jahrg. 71, Nr. 28.) Im Jahre 1797 bekun-
deten sie gerade in der Beamtenfrage ihre höchste Uneinigkeit
und spielten die Schächter gegen einander aus. Von David Salo-
mon wurde damals Israel Samuel engagiert, der sein Befähigungs-
zeugnis, seine nbap, vom Oberlandesrabbiner Hirschel hatte, von
Aron Lewin war damals Hirsch Oerson als Schächter gehalten. Es
stimmt somit auch nicht, wenn Herzberg, Oeschichte der Juden in
Bromberg, Frankfurt am Main 1903, S. 24, annimmt, daß Josua Frän-
kel im Jahre 1824 der erste Qemeindebeamte war. Hier sei nur noch
kurz darauf hingewiesen, daß im Jahre 1801 als Schächter Hirsch
Salomon genannt wird, und im Oktober 1803 die Bromberger Juden
darum vorstellig werden, »Itzig Joseph, ein Sohn des verstorbenen
ordinalen Schutzjuden Joseph Benjamin aus Strezelno* auf ein Jahr
als Schächter zur Probe zu nehmen.
Der Streit um d. jüd. Garküche in Bromberg am Beginne d. 19. Jahrb. 243
Hirsch Lewin nicht gebrauchen können und ihn 14 Tage
nach Michaelis gehen lassen wollen. Infolge dessen ent-
schloß sich Hirsch Lewin, Garkoch zu werden. Er erbot
sich am 27. September 1803, für die Konzession zur Be-
treibung der Garküche 25 Taler einmalig zum städtischen
Baufond und jährlich 3 Taler zur Kämmereikasse zu zahlen.
Zugleich bittet er darum, alte Kleider kaufen und verkaufen
zu dürfen, wofür er sich zu einer Zahlung von 10 Talern
zum städtischen Baufond und 2 Taler jährlich an die
Kämmereikasse verpflichtet.
Ganz andere Beweggründe veranlaßten Hirsch Gerson,
sich am 3. Oktober 1803 um die Konzession zur Garküche
zu bewerben. Er war im Jahre 1796 von Aron Lewin als
Schächter und Lehrer nach Bromberg genommen, als Süd-
preuße jedoch am 16. April 1798 bereits wieder ausge-
wiesen worden. Diese Ausweisung blieb indessen auf dem
Papiere stehen, weil Hirsch Gerson bei der Verpachtung
der Bernsteingräberei in der Lochower königl. Forst der
Meistbietende unter den Juden — nur solche scheinen als
Pächter damals aufgetreten zu sein — geblieben war1).
Gerade im Jahre 1803 hatte er den Pachtvertrag wieder
auf sechs Jahre verlängert. Es lag Hirsch Gerson nun daran,
beständig in Bromberg sein zu dürfen und mit einem
»Concession und Toleration Schein versehen« zu werden.
Zur Begründung seines Gesuches weist Hirsch Gerson
einmal auf die M Leute hin, die er als Bernsteingräber
beständig beschäftigt >dies sind alles arme Leute und In-
validen-Soldaten, welche durch mich ihren Unterhalt ver-
dienen und wodurch selbst die accise Gefälle und andre
Revenuen des Staates vermehrt werden, weil ich und alle
meine Leute ihren benöthigten Unterhalt aus der hiesigen
Stadt nehmen müssen und hierdurch auch die Städtsche
>) Hiernach ist Herzberg a. a. O. S. 32 richtig zn stellen, wo
die erste Entdeckung von Bernsteinadern im Kreise Bromberg für das
Jahr 1828 verzeichnet wird.
16*
244 Der Streit um d. jüd. Qarkücke in Bromberg am Beginne d. 19. Jahr h.
Consumtion mit befördert wird«, dann aber meint er sich
auch dadurch verdienstlich zu machen, daß er, da ohnehin
bei ihm die Juden speisen würden, die er zum Führen der
Aufsicht bei der Gräberei halten muß, »öfters 6—8 und für
beständig 4«, eine jüdische Garküche unterhalten und dafür
der »hiesigen Cämmerey eine jährliche immerwährende Ab-
gabe von 10 Thalern, auch ev. etwas mehr«, überdies an
den städtischen Baufond 50 Thaler geben will.
In der Gemeinde selbst hatte Rebecka Meyer viel
Stimmung für sich. Dem Proteste, den sie erhob, standen
von ihren Glaubensgenossen bloß der Tolerirte »vereydigte
Dolmetscher« Schmul Abraham und sein Sohn, der extra-
ordinaire Schutzjude Jakob Schmul fern. Aron Lewin, David
Salomon und dessen beide, eingangs genannten Söhne
schlössen sich diesem Proteste an. Sogar die Magistrats-
mitglieder ausschließlich des Bürgermeisters Razgebor stell-
ten sich auf die Seite der verwitweten Meyer. Dieser selbst
kämpfte allerdings gegen sie und Hirsch Gerson um so
nachhaltiger für Hirsch Lewin. Die Witwe Meyer, meint
Razgebor, hat »kein jus contradicendi wieder die Anstel-
lung eines zweiten« Garkochs und kann die Sache nicht
im Umfange des Lewin führen. Die Bernsteingräberei aber
würde auch ohne Hirsch Gerson nicht brach liegen bleiben.
»Ist er nicht Pächter, wird sich wohl ein anderer finden.«
Und Lewin sei vor allem auch aus dem Westpreußischen
Departement, ein »in der Stadt Gern bice gebohrener Schutz
Jude.« In gleicher Weise stellten sich uneingeschränkt auch
die höheren Instanzen, der Kriegs- und Steuerrat Grisa-
nowski, wie die Westpreußische Kammer-Deputation auf
die Seite des Hirsch Lewin. Die Kammer-Deputation er-
klärte am 7. November 1803 sogar schlankweg, daß die
Protestierenden gegen den ehemaligen Schächter nur Rache
üben wollen und Brotneid hätten.
Wer aber nicht bedingungslos auf alle Wünsche Hirsch
Lewins eingehen wollte, das war das General-Direktorium
Der Streit um d. jüd. Garküche in Bromberg am Beginne d. 19. Jahrh. 245
in Berlin. Am 19. Dezember 1803 verfügte es ohne weitere
Angabe von Gründen, daß der Handel mit alten Kleidern
dem Lewin überhaupt nicht zugestanden werden könne,
Bezüglich der Konzession zur Garküche setzte es den Be-
schluß aus, bis auch über Hirsch Gerson und die Rebecka
Meyer des näheren berichtet sei, und stellte sich im üb-
rigen auf den rein geschäftlichen Standpunkt, daß es »kein
Bedenken zu haben scheint, die Concession einem jeden
von ihnen unter der Bedingung des Bestbietenden zu be-
willigen.«
Nun schaltete sich Hirsch Lewin selber aus der Reihe
der Konkurrenten aus. An dem Handeln mit Kleidern hatte
ihm wohl schließlich mehr, als an der Garküche gelegen.
In dem dafür angesetzten Termine gab er zu Protokoll,
daß er sein Gesuch um Konzession zur Garküche zurück-
ziehe und die Tuchmacherei oder Leinweberei erlernen
wolle. Die Meyer offerierte für die Konzession 50 Thaier
zum städtischen Baufond und zwei Thaler jährlich zur
Kämmereikasse und wurde von Hirsch Gerson bedeutend
überboten, der nicht weniger, als 300 Thaler zum städti-
schen Baufond, 100 Thaler zur Invalidenkassa und 20 Tha-
ler jährlich zur Kämmerei zu zahlen sich verpflichtete. Bei
diesem Übergebote schien die Sache der Meyer vollstän-
dig verloren. Grisanowski empfahl rundweg, dem Gerson
die Konzession zu geben, unter der Bedingung, kein an-
deres Geschäft zu treiben. Und wenn auch die Kammer-
Deputation noch eine Lanze für die Meyer zu brechen
suchte, indem sie in ihren Bericht den Satz einfließen ließ,
daß der armen Witwe wohl ein Nebenerwerb zu gönnen
wäre, so konnte sie doch nicht umhin, einzuräumen, daß
Gerson mehr geboten hat, und es ja danach einmal gehen
müsse. Ja, sie schwächte den Hieb, den sie Gerson mit
dem Hinweis darauf versetzte, daß noch kein Jude jemals
zur Invalidenkassa etwas gezahlt habe, und es darum der
Entscheidung des Königs überlassen bleiben müsse, ob
246 Der Streit um d. jüd. Garküche in Bromberg am Beginne d. 19. Jahrb.
nicht auch die 100 Thaler in den städtischen Baufond
fließen sollen, nicht unerheblich durch die Bemerkung ab,
daß Gerson für die Bewilligung des ordinairen oder extra-
ordinairen Schutzes noch ganz andere Summen zahlen
würde und wohl nur aus Furcht vor dem Widerspruch
seitens der Juden und Christen keinen diesbezüglichen
Antrag gestellt habe, mit anderen Worten durch die Be-
merkung, daß Gerson ein Steuerobjekt sei, welches der
Staat sich kaum entgehen lassen dürfe.
Da gab wieder das General-Direktorium in Berlin
dem Laufe der Angelegenheit eine unerwartete Wendung.
Wahrscheinlich jetzt erst davon unterrichtet, daß Hirsch
Gerson nicht aus dem Westpreußischen Departement ge-
bürtig war1), verfügte es am 20. Juni 1804, daß Gerson
mit seinem Gesuch völlig abzuweisen und bald nach seiner
Heimat zu befördern, die Konzession zur Garküche aber
bei Untersagung jedes anderen Handels gegen 50 und 2
Taler an die Meyer zu erteilen sei.
An der Erteilung dieser Konzession hatte der Staat
allerdings keine große Freude. Bezüglich der 50 Taler
blieb die Meyer eine äußerst säumige Zahlerin. Bald mußte
ihr mit exekutorischer Beitreibung der Summe gedroht
werden, bald damit, daß die Konzession wieder aufgehoben
und ihr das Gewerbe nie wieder erlaubt werden würde.
Erst am 31. Oktober 1805 konnte der Magistrat die Mel-
dung erstatten, daß der letzte Rest der Summe von der
Meyer nun bezahlt sei.
*) In dem Bescheide des Direktoriums wird Qerson nicht als
Südpreuße, sondern als Neu-Ostpreuße bezeichnet.
Ein Nachtrag zu „Wilhelm Raabe und die Jaden".
Von Q, Rülf.
In dem trefflichen Aufsatze »Die Juden bei Wilhelm
Raabe«, den die »Monatsschrift« im Hefte 11/12 vom vo-
rigen Jahre bringt, wird die Frage aufgeworfen: ob wir aus
dem »Hungerpastor« auf eine grundsätzliche Abneigung
des Dichters gegen die jüdische Glaubensgemeinschaft
schließen dürfen und nach gründlichster Erörterung verneint.
So überzeugend die Darstellung nun auch ist, so werden
sich manche Leser des großen Dichters durch sie doch
nicht abhalten lassen, diesen auf Grund seines »Hunger-
pastors« immer wieder zum Judenfeinde zu stempeln. Darum
ist es von allgemeinem Interesse, zu erfahren, daß Raabe
selbst sich über diesen Punkt mit der wünschenswertesten
Deutlichkeit ausgesprochen hat. Es geschah das in einem
Briefe an eine jüdische Frau, die nach der Lektüre des
»Hungerpastors« auch einen Augenblick der Meinung war,
ihr Lieblingsdichter Raabe stehe uns gegenüber nicht auf
der Höhe ungetrübter Menschenliebe und ihm dies freimütig
schrieb. Brief und Antwort gehören zusammen. Ich über-
gebe daher mit Genehmigung der verehrungswürdigen
Dame, Frau Philippine Ullmann in Stadtoldendorf, beide der
Öffentlichkeit und wünschte, daß sie auf Grund dieser Mit-
teilung die weiteste Verbreitung finden1).
I.
Stadtoldendorf, 31. 1. 03.
Hochverehrter Meister!
Als ganz junges Mädchen sonnte ich mich schon in
Ihrem Ruhme. Es erfüllte mich mit tiefer Freude, daß Sie
einen Teil Ihrer Kindheit hier in Stadtoldendorf verbracht
') Ich kann mich dem Wunsche nur anschließen und stelle den
Abdruck mit Quellenangabe allen öffentlichen Blättern anheim. JVL Br.
248 Ein Nachtrag zu »Wilhelm Raabe und die Juden«.
haben, Sie und ich denselben Lehrer, Kantor Bestian, hatten.
Auch die Erinnerung an Ihre Eltern, den stattlichen Justiz-
amtmann, die lebensfrohe und schöne Mutter, von denen
mir Auguste Windte, unsere Näherin, oft erzählte, bewahrte
ich treu im Herzen. Es war herrlich, daß wir einen Dichter
unser Eigen nennen konntenl Und als Sie nun gar die
vielgeliebte Heimat mit dichterischer Poesie verklärten, die
holdselige Anneke Mai ihrem Junker erzählen ließen, daß
sie aus dem letzten elenden Häuschen der Homburgstraße
stamme, wie waren wir da alle entzückt! Nie gingen wir
vorüber, ohne Ihrer freudig zu gedenken, von Ihnen zu
sprechen. Ach und nun der Abu Telfan, wie fühlte und
lebte ich in ihm, und doch hatte ich nicht den Mut, Sie
anzureden, verehrter Meister, als wir mal zufällig auf der
Homburg zusammen waren, nicht ich, nicht meine Freundin!
So gingen die Jahre hin, meine Lieblingslektüre blieb immer
Raabe, ich lebte und litt und lachte mit den Gestalten, die
er uns gegeben. Nur die »Chronik der Sperlingsgasse« und
der i Hungerpastor« blieben mir fremd. Erst jetzt lese ich
diesen und sehe, er ist eine Ihrer ernstesten und erziehlich-
sten Schriften. Sicher ist alles richtig von Ihrer Meisterhand
gezeichnet. Man fühlt und erhebt sich an dem Hunger von
Hans Unwirsch — man hat ihn selbst besessen, sich daran
erfreut bei Mann und Kindern. Dieser Hunger versöhnt uns
ja immer wieder mit all der Unbill des Lebens, die nie und
namentlich den Juden gegenüber ausbleibt. Und deshalb
schmerzte es mich auch so tief, so sehr, daß unser viel-
geliebter Raabe neben den egoistischen und cynischen Moses
Freudenstein keinen anständigen Menschen unserer Ab-
stammung und unseres Bekenntnisses gestellt hat, und ich
fühle mich veranlaßt zu der Frage: ist Ihnen auf Ihrem
langen Lebenswege kein charaktervoller Jude begegnet? Das
wundervolle Motto: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich
da« stellen Sie an den Anfang des Buches. Wie dankbar
bewegten mich diese himmlischen Worte! Leider können
Ein Nachtrag zu >Wilhelm Raabe und die Judenc. 249
sie nicht den Schmerz um Moses Freudenstein wegwischen.
Entsetzen ergriff mich vor der Lebensanschauung, die Sie
ihn vortragen lassen. Danach sind wir auch in den Augen
eines Weisen die Parasiten, die nimmer, trotz ehrlichsten
Strebens, ernst genommen werden können. Und auch Heine,
der die Nachtgedanken schrieb, die so schmerzhaft die Liebe
zur Mutter und zum Vaterland schildern, muß sich diesem
Urteil beugen. Der Cynismus vieler meiner Glaubens- und
Stammesgenossen, der so widerwärtig auf Andere wirkt,
ist aus tiefstem Elend und Schmerz geboren, er ist die
Waffe und der Trost derer geworden, die nicht überwinden
konnten. Nichts ist systematischer und teuflischer gepflegt
worden, wie das Vorurteil gegen uns. Jahrtausende saßen
wir in dem dunklen Keller hinter schmutzigen Fenster-
scheiben, die den Durchblick auf die goldne, wärmende und
fröhliche Sonne nicht gestatteten. Ist es da zu verwundern,
daß solche bizarre Gestalten geschaffen wurden? Sie wissen
es, daß unser Werdegang nur von Blut und Tränen be-
gleitet war, dank den Trägern der Religion, die lehrt, sogar
die Feinde zu lieben, die das Gewissen der gedankenlosen
Menge und auch kluger Köpfe so durchaus beherrschten
und keinen freien Gedanken aufkommen ließen. — Deshalb
begrüßen wir auch jedes gute, warmherzige Wort mit so
tiefer, inniger Freude! Und nun, verehrter Meister, leben
Sie wohl, haben Sie innigsten Dank für all' die guten
Stunden, die Sie mich und die Meinen genießen ließen.
Wirken Sie noch lange segensreich. Ich schließe mit den
herrlichen Versen von Hans Unwirsch, die ja unsere Emp-
findungen wiedergeben:
Auf alle Höhen — Da wollt ich steigen
Zu allen Tiefen — Mich niederneigen
Das Nah und Ferne — Wollt' ich verkünden,
Geheimste Wunder — Wollt' ich ergründen
Gewaltig Sehnen — Unendlich Schweifen
Im ew'gen Streben — Ein Nieergreifen —
250 Ein Nachtrag zu »Wilhelm Raabe und die Juden«.
Das war mein Leben.
Nun ist's geschehen; — Aus allen Räumen
Hab* ich gewonnen — Ein holdes Träumen.
Nun sind umschlossen — Im engsten Ringe,
Im stillsten Herzen — Weltweite Dinge
Lichtblauer Schleier — Sank nieder leise
In Liebesweben — Goldzauberkreise —
Ist nun mein Leben«.
Wundervoll ist auch die Weihnachtspredigt des alten
Pastors, sie wurde mir zum weihevollsten Gottesdienste!
Und nun wirklich Schluß! Ihre allzeit getreue Ver-
ehrerin
Philippine Ulimann.
II.
Braunschweig, den 4. Februar 1903.
Sehr geehrte Frau Ullmann!
Haben Sie Dank für die lieben Bilder meiner Eltern
und des noch nicht zum Fabriknest gewordenen Jugend-
städtchens der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts, die
Sie mir in diesen dunklen melancholischen Wintertagen in
der Erinnerung wachrufen! Was aber den übrigen Teil Ihrer
freundlichen, aber doch vorwurfsvollen Zuschrift anbetrifft,
so muß ich sagen, daß Sie mir Unrecht tun. Behandle ich
nicht im »Hungerpastor« den wirklichen Juden mit allem
Respekt? Ist es meine Schuld, wenn Sie den Renegaten
noch zu den Ihrigen rechnen?
Meine Schriften scheinen Ihnen doch mehr durch den
Zufall in die Hand gegeben zu werden; ich erlaube mir
daher, Sie auf die »Frau Salome« im dritten Bande der
Gesammelten Erzählungen aufmerksam zu machen. Vielleicht
entschädigt die jüdische Dame dort Sie für Ihr Mißfallen
an Herrn Moses Freudenstein, alias Dr. Theophil Stein!
Auch aus »Höxter und Corvey« in demselben Bande
können Sie wohl entnehmen, daß ich nicht zu den »Anti-
semiten c zu zählen bin, sondern nur wie unser Herrgott
Ein Nachtrag zu »Wilhelm Raabe und die Juden*. 251
in seiner Welt mein Licht in meiner Kunst leuchten lasse
über — Gerechte und Ungerechte.
Juden haben in meinem Leben immer mit zu meinen
besten Freunden und verständnißvollsten Lesern gehört,
und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Also — auch für Ihr Wohlergehen mit aufrichtigen
Wünschen und freundlichem Gruß
Ihr ergebener
Wilh. Raabe.
*
Notizen.
1. War Malnonides eine Mechilta zum Deuteronomium bekannt?
In dem von der »Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft
des Judentums« herausgegebenen schönen Buche: Moses ben Maimon
etc. (Band I, 1908) behandelt M. Peritz »Das Buch der Gesetze«
(mjtön *1BC) S. 439—474. Am Schlüsse seiner äußerst gründlichen
Abhandlung nennt er die von Maim. im D'flC angeführten Werke
bezw. die Quellen, aus denen M. geschöpft hat. Sehr oft werden in
diesem Werke M.'s die halachischen Midraschim angeführt; die von
M. genannten Stellen sind fast alle auch in unseren hal. Midraschim
nachweisbar. [Zu den Zitaten aus der Mechilta d. R. S. b. Jochaj
(Peritz 471 Anm. 10, 472 Anm. 4) vergleiche Hoffmanns hebr.
Einleitung zu seiner ■QMFVT'SB p. VI, sub (n).] Bei Verbot 175 (zu
Deut. 14, 19) nennt M. als Quelle den Sif re (PpJH p«> ^5 "neo pt^i
ntPJJD Hb rVSö JOn), diese Stelle ist jedoch in unserem Sifre
nicht zu finden (Peritz 471 Anm. 9). Peritz vermutet nun, daß
diese Stelle einer Mechilta zum Deuteronomium entnommen sei.
Maim. spricht nämlich in der Einleitung zur Mischna über eine Me-
chilta des R. Ismael, die sich über Exodus, Lev., Num. und Deut,
erstreckte. Ein so gründlicher Kenner der halachischen Midraschim,
wie Hoff mann sagt jedoch — nachdem er bereits einen großen
Teil der Mech. zum Deut, im Midrasch ha-gadol entdeckt und da-
raus veröffentlicht hat1) — , daß M. im 'an ICD »keine Spur von einer
Mechilta zu Lev. und Deut, erblicken läßt2j.« Nur an wenigen Stellen
läßt sich vermuten, daß M. im Mischne Tora die Mechilta zum Deut,
benutzt hat3). Da M. an der angeführten Stelle ausdrücklich Sifre
als seine Quelle nennt, so ist eher anzunehmen, daß ihm ein voll-
ständigeres Sifreexemplar, als das unsrige ist, vorlag.
Dies darf umsomehr angenommen werden, da auch im *idd
yxm (n«l 'D, Warschau 1879, S. 191) die von M. zitierte Stelle als
im Sifre vorhandene angeführt wird (niryn *b mite . . . ,"IDD \wb~\).
In der Tat hat Hoff mann nachgewiesen, daß viele Stellen, die
in dem uns zu Gebote stehenden Sifre fehlen, und in anderen
Werken, besonders aber im Midr. ha-gadol zu Deut, vorhanden sind,
*) Midrasch Tannaim zum Deut. Berlin 1908/9 I. u. II.
a) Zur Einleitung in den Midr. Tann. Sonderabdr. aus dem
Jahrb. der jüd.-lit. Gesellschaft Frankf. a. M. 1908. S. 20.
3) Vgl. ibid.
Notizen. 253
ursprünglich dem Sifre angehörten1). Die Copisten haben bei der
Anfertigung der Abschriften viel gesündigt ; sie haben Stellen, die
ihnen anstößig erschienen einfach weggelassen, aber auch sonst
haben sie manches nicht in ihr Exemplar aufgenommen. Der von M.
an der angeführten Stelle (noi7 OTtD Nr. 175) genannte Satz des Sifre
findet sich tatsächlich im Midr. ha-gadol (jetzt abgedruckt in Midrasch
Tannaim, S. 75 Zeile 6) : mXö IT lbSK1 ttb 03*? K1H Köü P]1JH ptt> bll
pB>3 mioxn ntPJttl «*?. Dieses Stück ist also aus unserem Sifre weg-
gelassen worden, die Anführung beiM. und "pj"m 'D beweist jedoch,
daß es ursprünglich darin enthalten war und daß es nicht aus der
Mechilta zum Deut, stammt2). Demnach kann die Frage, ob Maim.
eine Mech. zum Deut, bekannt war, nicht bejaht werden, wenn
auch die Ignorierung dieser Mechilta, (aus der sogar ganze Stücke
aus der Genisa ans Tageslicht gefördert wurden)8), »von Seiten der
D'OiB'm als ein Rätsel« erscheinen muß.4)
Dr. Samuel Klein.
2. Juden in England, aus Deutschland eingewandert. Die vor 1290
in England lebenden Juden stammten, laut der historischen Nach-
richten über sie und laut ihrer französischen Namen, weitaus zumeist
aus Frankreich. Doch zahlt 1274 Joce of Qermany dem Fiskus
für das Wohnrecht zu Southampton und 1275 kommt in England
Samuel of Qermany vor, Rigg Calendar of P 1 e a rolle
of theExchequer of thejews. (1910) II, S. 173.259.
F. Liebermann.
3. Saadja's Kiiäb-al-Tärich.
Zu Monatsschrift, Jahrg. 1910 (LIV), S. 595.
Von Saadja's TDJ^K axfla sagt Eppenstein, das es auch
den Namen "piKn führte. Er beruft sich dabei auf Poznanski's An-
gaben in JQR. X, 260 (1898), wo ein Citat Jehuda Ibn Balaams
aus Saadja's inKn^x 3«n3 erwähnt wird. Aber die Identifikation der
beiden Bücher ist unberechtigt. Sie beruht auf der bekannten Liste
der Werke Saadjas im Fihrist des muhammedanischen Autors Ibn Ishäk
al-Nadim, in welcher eine Nummer lautet: "inxnS« im 313#7J* 3KHD»
Naditn gibt aber mit "Tny'jK axro den hebräischen Titel -injJn -.DD
») A. a. O. S. 4 Anm. 1.
*) Hoff mann hat auf das Zitat bei M. nicht hingewiesen.
8) Vgl. Midr. Tann. 56—62 und 69-71.
*) Hoff mann, Zur Einl. in M. Tann. 20 f.
254 Notizen.
wieder und fügt zur Erklärung des hebräischen Wortes *M3J) hinzu,
dieses bedeute arabisch Ti-ixn (Zeitrechnung). Aber das von Jehuda
Ibn ßalaam zitierte arabische Werk ist ein Buch für sich und hatte,
wie das Citat (im Kommentar Ibn Balaams zu I. Kön. 6. 1) be-
richtet, die biblische Chronologie zum Gegenstände. In der Revue
des Etudes Juives XLIX (1910), S. 298—300, habe ich es plausibel
zu machen versucht, daß dieses arabische Werk Saadja's — mit
einer Erweiterung — noch vorhanden ist, und zwar in dem ano-
nymen Werke desselben Titels, das Neubauer, Mediaeval Jewish
Chronicles II, 89—110, herausgegeben hat und das ich in der Revue
des Etudes Juives XXXII, 139—144 besprochen habe. Nach einer
weiteren Hypothese von mir, die ich ebendaselbst ausgesprochen
habe, wäre Saadja's Kitäb-al-Tärich nichts anderes als eine Sonder-
ausgabe der zweiten Pforte von Saadja's hebräisch und arabisch ab-
gefaßter polemischer Schrift ^biT\ 'D, deren Inhalt nach Saadja's An-
gabe (in der arabischen Einleitung zum Sefer Ha-Galüj) fOcSx "inxn
(Chronologie der biblischen Jahresangaben) war. — Eppenstein hätte
übrigens schon bei seinem Gewährsmann (JQR. X, 260) ersehen
können, daß "inan*?« Vt\ in Nadims Angabe nicht ein zweiter Titel
des Buches, sondern eine arabische Erklärung des hebräischen Wortes
TD)? sein will.
Zu S. 592 bemerke ich noch, daß rpyec1?« jTiOtP'?« nicht
>durch die Tradition gegebene Gesetze« sind, wie Eppenstein über-
setzt, um daraus den antikaräischen polemischen Charakter des be-
treffenden Werkes Saadja's zu folgern, sondern die Offenbarungs-
gesetze, also biblische Gebote, die nicht aus der Vernunfterwägung
erschlossen werden können (nrjJDlP niJtD). W. Bacher.
Besprechung.
Schapiro, Dr. Israel. Maimuni's Mischnah -Kommentar zum Traktat
Arachin. Arabischer Urtext auf Orund von zwei Handschriften zum
ersten Male herausgegeben und mit kritischen und erläuternden An-
merkungen versehen. Jerusalem 1910 (Gustav Fock, Leipzig), VIII
und 40 SS., 8.
Die dieser Edition zu Grunde liegenden zwei arab. Hand-
schriften sind Cod. Ms. Or. Qu. 570 der königl. Bibliothek zu Berlin
— vom Herausgeber mit B bezeichnet — und Cod. Ms. Or. Qu,
Besprechung. 255
579 der Nationalbibliothek zu Paris — vom Herausgeber mit P be-
zeichnet. Es ist dies eine Dissertation, wie so viele andere voran-
gegangene Editionen von Teilen dieses Kommentars als Disserta-
tionen benutzt werden. Jedoch unterscheidet sich diese Arbeit von
den anderen dadurch, daß hier die hebräische Übersetzung nicht
mitabgedruckt wurde und daß die Einleitung und Anmerkungen in
hebräischer Sprache vorliegen. Warum Seh. das so gemacht hat, dar-
über sagt er uns gar nichts. Durch den Umstand, daß er die hebr.
Übersetzung nicht korrigiert dem arab. Text gegenübergestellt hat,
hat die Arbeit viel an Wert verloren. Denn tatsächlich ist Maimo-
nides' Mischnah-Kommentar für uns in erster Reihe ein wertvolles
Hilfsmittel zur Erklärung der Mischnah und erst in zweiter Reihe ein
in dem arabischen Dialekt des 11. und 12. Jahrhunderts geschrie-
benes umfangreiches Werk. Diejenigen Studierenden der Mischnah,
die Arabisch nie gelernt haben, können sich der Schapiro'schen Edi-
tion nicht bedienen. Nun hat Seh. auf einige Unterschiede zwischen
dem arab. Text und der hebr. Übersetzung hingewiesen, aber das
geschah in sehr unzureichender Weise. So habe ich bei der Verglei-
chung der ersten fünf Abschnitte viele wichtige Abweichungen zwi-
schen dem arab. Text und der hebr. Übersetzung gefunden, auf die
Seh. nicht hingewiesen hat1) :
Für nzv nb 1S1 omj naiy'? jmji nein *#* Abschnitt l, Hala-
chah 1 (S. 2, Z. 3) und für "KJDK bpo:n "W pa pPlTp yitfl "B K3"0 npl
mUTO 1, 4 (S. 4, Z. 2 v. u.) fehlt in der hebr. Übersetzung ein Äqui-
valent; arab. DV WJ> .TMDJf^x fO "pV II, 1 (S. 7, Z. 5 v. u.), hebr.
C*Di X'Vin [0 n»W (st. n'\1); arab. fW topfl \*b (einige Zeilen weiter),
hebr. inx DV iDXitf »6^ (st. CO"1 W); die zweite der darauf folgenden
Zeilen )bxp *ffwijt\ b»tk nyan irrt* }o "pTt ma jot nya anto« ictb
hat in der hebr. Übersetzung kein Äquivalent; daselbst (S. 8, Z. 9)
arab. nSp |xi, hebr. neto (st. »«itn cki); arab. p»J1 7P*D ^k, II, 6
(S. 12, Z. 11), hebr. 3'p ij> (st. a«p). Für den ganzen Passus 'B ,TT3
ntinx nw ^b ddö1?* rrow pbx K3*ai n* ncBab ^b^ |x cDä1?* rmw
napD nw ^B nat^ D^l mnm« HI, 2 (S. 14, Z. 6—7) hat die hebr.
Übersetzung bloß die Worte wm nilb nWIH ITTOS »Bin 'BBina Ul^lT
napo rrwa 13 a^n (anstatt etwa leitf'? rme mnra rain riaaina lii^n
mw ö am «*m rm% nw» rrraa pain rneui mir mo« ^mn
napo); arab. pattp van p» ttwti parap wi -pya1?* }iA, V, 2 (S. 20,
z. 8—9), hebr. psiatp von px Tiwn paiaip von -pyw 'S1? (statt
TMffl . . . TiJ>3.1). Auf S. 3, Anm. 3 (zu I, 2) weist Schapiro wohl auf
') Ich benutzte drei Talmud-Ausgaben: Frankfurt a. M. 1720.
Wilna 1853; Warschau 1862.
256 Besprechung.
eisen Passus hin, der in der hebr. Übersetzung fehlt, nimmt sich
aber nicht die Mühe, denselben hebräisch wiederzugeben. Übrigens
führt Lipmann Heller diesen Passus in seinen Tossaphot zur Stelle
an, was aber Seh. auch übersehen zu haben scheint. Zu Anm. 4 auf
S. 12 (II, 6) ist zu bemerken, daß alle drei Ausgaben, die ich be-
nutzte, wohl c-irrn "^se haben.
Im Gegensätze zu der — um keinen härteren Ausdruck zu
gebrauchen -* oberflächlichen Behandlung der hebr. Übersetzung hat
der Herausgeber der sprachlichen und sachlichen Erklärung des arab.
Textes seine ganze Aufmerksamkeit zugewendet. Die zahlreichen
wichtigen Anmerkungen bekunden zur Genüge, daß Seh. die ein-
schlägige Literatur sorgfältig studierte und die daselbst gewonnenen
Ergebnisse richtig zu verwerten verstand. Er ließ es sich auch nicht
verdrießen, die in dieser Monatsschrift veröffentlichten Rezensionen
über Editionen von Teilen dieses Kommentars zu beachten, was Re-
zensent von den anderen ihm bekannt gewordeneu Arbeiten auf
diesem Gebiete nicht behaupten kann. Ferner ist anzuerkennen, daß
Seh. auch auf abweichende Lesarten in dem Mischnatext der Hand-
schrift hinweist und manche Ausdrücke der Mischnah in geschickter
Weise zu erklären versucht. Auffallender Weise hat er auf die nicht
minder wichtige verschiedene Lesart der Handschrift in Mischnah
IV, 3: JMtma ■»*? iksi O'O mrBD Kim ib mm nicht aufmerksam ge-
macht. Die Annahme Schapiros (S. 3, Anm. 2), daß der hebr. Über-
setzer auf Grund der gegen die Lesart tkd "Ö tisbft erhobenen
Einwände selbständig rnVT "13 mbn gesetzt hat, ist m. E. schon
deshalb fraglich, weil der Übersetzer — wie er selbst in seiner Vor-
rede angibt — sich nur sehr wenig mit Talmudstudien befaßte. Übri-
gens ist es sehr auffallend, daß Seh. den Übersetzer stets ^id^K
nennt, da jener sich selbst doch '^öSk schreibt.
Der Druck ist schön, Druckfehler sind selten.
Stockholm. M. Fried.
Unberechtigter Nachdruck aas dem Inhalt dieser Zeitschrift ist untersagt.
Für die Redaktion verantwortlich : Dr. M. BRANN in Breslau.
Druck von Adolf Alkalay & Sehn in Preßburg.
„Die Juden und das Wirtschaftsleben".
Von M. Güdemann.
Unter diesem Titel hat Werner Sombart ein Buch1}
herausgegeben, das schon durch seinen Umfang, aber auch
durch seinen Inhalt die seit vierzig Jahren erschienene
Judenliteratur wesentlich bereichert. Während diese größten-
teils dem Antisemitismus ihre Entstehung verdankt, mag
sie nun pro oder contra sein, sagt Sombart im Vorwort
S. XI »mit einem so starken Nachdrucke, daß es auffallen
kann: das Buch ist ein streng wissenschaftliches
Buch«. Diese Erklärung war mir, als ich sie las, unver-
ständlich. Ich hatte nichts anderes erwartet, als ein streng
wissenschaftliches Buch vor mir zu haben. Die starke Be-
tonung dieses Cachets hat mich stutzig gemacht. Nach der
Lektüre des Buches nehme ich an, daß diese gleich an-
fangs abgegebene Erklärung eine Kautel — Sombart be-
dient sich dieses Wortes auf S. 409 in demselben Sinne,
in dem ich es hier anwende — sein sollte, um ihn vor
dem Vorwurfe antisemitischer Anwandlung, die er übrigens
wiederholt ablehnt, zu schützen. Angesichts mancher Stellen
in dem Buche war diese Kautel allerdings notwendig. Ich
verweise nur auf die über mehrere Seiten sich erstreckende
Darstellung der Sabbatvorabend- Andacht des »alten Amschei
Rothschild« (S. 253 f), worin nicht bloß dieser, sondern
auch jene so lächerlich gemacht wird, wie es in dem ersten
besten »antisemitischen Pamphlet«, wie Sombart die Er-
zeugnisse dieser Literatur nennt (S. 408), auch nicht besser
geschehen könnte. Ferner verweise ich auf die Bemerkung:
») Leipzig, Duncker u. Humblot 1911. XXVI und 476 SS. Preis
M 9.—, geb. M 11.—.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 1 7
258 Die Juden und das Wirtschaftsleben.
»Im übrigen ist die jüdische Küche bekanntermaßen ganz
vorzüglich« (S. 272), die in ein »streng wissenschaftliches
Buch«, es sei denn ein solches Kochbuch, nicht gehört.
Dasselbe gilt auch von der, nach dem Zugeständnis, daß
König Salomo »nicht gerade aus glücklichen Geschäften
seinen Reichtum aufgebaut hatte«, eingeschalteten, ironi-
schen Bemerkung: »(obgleich man nie wissen kann!)« S. 379.
Es sind dies keineswegs die einzigen Stellen, bei denen ich
mich fragen mußte, ob ich denn wirklich ein »streng wissen-
schaftliches Buch« vor mir habe, aber sie genügen, um
die mir mitunter aufgestoßenen Zweifel begreiflich zu
machen. Noch eine andere Stelle im Vorwort muß ich zur
Sprache bringen, die mich stutzig gemacht hat, die ich mir
aber nach der Lektüre des Buches ebenfalls als eine Kautel
in dem oben erwähnten Sinne erkläre. Es ist die mit
womöglich noch stärkerem Nachdruck, als womit die Wissen-
schaftlichkeit betont ist, abgegebene Äußerung: »Dieses
Buch soll seine ganz eigenartige Note dadurch erhalten,
daß es auf 500 Seiten von Juden spricht, ohne auch nur
an einer einzigen Stelle so etwas wie eine Bewertung der
Juden, ihres Wesens und ihrer Leistungen, durchblicken
zu lassen« (S. X1I1). Sombart sucht diese Äußerung und
seinen dadurch bestimmten Standpunkt durch eine längere
Begründung zu rechtfertigen. Er schließt übrigens das Vor-
wort mit einem hübschen, man kann sagen, für die Juden
schmeichelhaften Gedicht Fontanes, und schickt demselben
das Geständnis voraus, daß »gewiß sehr viele von uns
modernen Menschen, ganz ohne es zu wollen, zu einer
Hochbewertung gerade der Juden gelangt sind« (S. XV).
Aber ich bilde mir ein, daß kein einziger Leser die oben
angeführte Äußerung, wenn sie fehlte, vermissen würde.
Jeder Schriftsteller hat das Recht, Werturteile über die
Sachen und Menschen, über die .er schreibt, abzugeben,
oder sich ihrer — soweit dies möglich ist — zu enthalten.
Aber de telles choses se fönt, mais elles ne se disent pas.
Die Juden und das Wirtschaftsleben. 259
Wozu also die Erklärung, wenn sie nicht eine Kautel sein
soll? Übrigens kommt es ja nicht allein auf das Werturteil
des Verfassers, sondern auch, und weit mehr noch auf das-
jenige an, das der Leser aus seiner Darstellung schöpft,
und das der Verfasser zu verantworten hat. Schließlich ist
meiner Meinung nach die Vermeidung des Werturteils, mag
der Verfasser auch noch so sehr auf der Hut sein, un-
möglich. Das beweist Sombart nicht bloß indirekt durch
gelegentliche Winke und Andeutungen, sondern ausdrück-
lich und unwiderleglich, wofür ich nur ein Beispiel anführe.
Das Kapitel über die Wirtschaftsgesinnung, worin Sombart
den Juden die Erfindung der bedenklichsten Geschäfts-
praktiken »nachweist«, schließt auf S. 179 mit den Worten:
»Wenn wir das »Sündenregister«, überblicken, das man
während des 17. und 18. Jahrhunderts den Juden vorhielt,
so nehmen wir sehr bald wahr, daß (abgesehen von den
grundsätzlich nicht in Betracht kommenden verbrecherischen
Manipulationen) es nichts enthält, was der moderne Geschäfts-
mann nicht für das selbstverständlich Richtige erachtete, was
nicht das tägliche Brot in jeder modernen Geschäftsführung
bildete.« Das heißt mit den Worten der bekannten Anekdote:
das ganze Dorf mauschelt. Nun sehen wir uns aber die Stelle
auf S. 432 an, wo Sombart von den Wirkungen des Ghetto,
die aber schon im Blute der Juden vorbereitet waren und
nicht daraus schwinden, spricht: »Es sind zum Teil die
Gewohnheiten der sozial niedrig Stehenden überhaupt, die
aber natürlich im jüdischen Blute ein ganz merkwürdiges
Gepräge annehmen: Neigung zu kleinen Betrügereien,
Aufdringlichkeit, Würdelosigkeit, Taktlosigkeit usw. Sie
haben sicher eine Rolle gespielt, als die Juden darangin-
gen, die Feste der alten handwerksmäßig-feudalen Wirt-
schaftsordnung zu erobern; in dem Kapitel, das vom Auf-
kommen einer modernen Wirtschaftsgesinnung handelt,
haben wir öfters die Wirkungen gerade dieser Charakter-
züge feststellen können.« Ist dies nun nicht ein Werturteil,
17*
260 Die Jaden und das Wirtschaftsleben.
wie es bestimmter und abfälliger nicht formuliert werden
kann ? Sombart verweist allerdings auf das Kapitel über
die Wirtschaftsgesinnung, aber davon, daß das »Sünden-
register« der Juden »das tägliche Brot in jeder modernen
Geschäftsführung bildet«, sagt er hier nichts mehr, jetzt
mauscheln nur noch die Juden, und die »kleinen Betrüge-
reien usw.« stecken nunmehr, wovon man in dem obigen
Kapitel noch nichts wußte, im Blute, sind also erblich und
unausrottbar. Ich will mit diesen Bemerkungen den wissen-
schaftlichen Charakter des Buches nicht antasten, sondern
nur hervorheben, daß ein wenig mehr Vorsicht, um nicht
zu sagen, Rücksicht in der Tonfärbung — c'est le ton qui
fait la musique — jedem absichtlichen wie unabsichtlichen
Mißverständnis vorgebeugt und alle Kautelen überflüssig
gemacht haben würde. Ich bringe aber diese Rekriminationen
gleich im Eingange meines Referates vor, um sie vom
Herzen zu haben, und desto ungezwungener dem außeror-
dentlichen Fleiß, der großen Belesenheit und dem syste-
matischen Geschick des Verfassers die verdiente Aner-
kennung zollen zu können. Damit möchte ich nun aber so-
zusagen in einem Aufwaschen noch eines andern Befrem-
dens mich entledigen, das die eigentümliche Bewertung
der »judaistischen« d. h. der von Juden über Juden und
Judentum verfaßten Schriften in mir hervorgerufen hat.
Sombart spricht wiederholt von »offiziös-jüdischer Geschicht-
schreibung« (z. B. S. 360). Was er darunter versteht, ist
mir absolut unerfindlich, und die Bezeichnung, welche die
Existenz einer für das Gesamtjudentum maßgebenden
jüdischen Oberbehörde voraussetzt, nimmt sich bei ihm,
der sich doch eingehend mit dem Judentum beschäftigt hat,
um so sonderbarer aus, als er wissen muß, daß eine solche
Oberbehörde nicht vorhanden ist und daß jeder Jude, der
über jüdische Geschichte schreibt, dies ganz und gar auf
eigene Faust tut. Soweit ich an der Sache beteiligt bin,
kann ich das auf das Bestimmteste versichern. Ferner ist
Die Jaden und das Wirtschaftsleben. 261
mir der Satz befremdlich: »Das »Reformjudentum« kommt
für uns überhaupt nicht in Betracht. Auf Modernität frisierte
Bücher, wie die neuzeitlichen Darstellungen der »Ethik des
Judentums« sind für unsre Zwecke gänzlich belanglos.«
(S. 24i). Ich muß hierzu mit aller Offenheit bemerken, daß
ich Herrn Sombart das Recht zu dieser Distinktion, insofern
es sich um die Erkenntnis des Judentums handelt, ent-
schieden abspreche. Er würde gegen mich ebenso verfahren,
wenn ich behaupten würde, daß für die Erkenntnis des
Christentums das »Reformchristentum«, also der Prote-
stantismus nicht in Betracht komme. Herr Sombart stellt
sich mit seiner Distinktion auf den Boden des päpstlichen
Antimodernismus, den er aber nur für das Judentum
gelten läßt; aber wenn er von den neuzeitlichen Darstellungen
der »Ethik des Judentums« sagt, sie seien »auf Modernität
frisiert«, so muß er sich gefallen lassen, daß die katholische
Theologie von den protestantischen Darstellungen der christ-
lichen Ethik dasselbe behauptet. Was als »Ethik des Juden-
tums« anzuerkennen oder abzulehnen ist, mag strittig sein,
(ebenso und nicht um ein Haar anders verhält es sich mit
der »Ethik des Christentums«), aber die Entscheidung darüber
hängt von der Frage ab, ob und in wieweit sie den allgemein
anerkannten jüdischen Grundschriften und ethischen Kom-
pendien entspricht, welche letztere sehr zahlreich, aber
Herrn Sombart unbekannt geblieben sind. Aber die erwähnten
befremdlichen Behauptungen gehören dem Inventar christlich-
theologischer Bekämpfung des Judentums an, ebenso wie
die auf S. 239 ausgesprochene, mit bewunderungswürdiger
Sicherheit abgegebene Erklärung, daß man aus den jüdischen
Religionsbüchern, »besonders aus dem Talmud alles, aber
auch alles ,be weisen' kann«. Auch Bousset sagt, »daß man
mit dem System der dicta probantia aus Mischna und Talmud
beweisen kann, was man will«. (Die Religion d. Judent. im
neutestam. Zeitalter 2. Aufl. S. 426 Anm. 1). Nur eins kann
man natürlich nicht daraus beweisen: was die Meinung
262 Die Juden und das Wirtschaftsleben.
der christlichen Theologie vom Judentum widerlegen könnte.
Es sei erlaubt, dagegen zu bemerken, daß die einander
bestreitenden Schulen Hillels und Schammai's gleicherweise
dahin bewertet wurden, daß beide die Worte des lebendigen
Gottes lehren. Das heißt mit anderen Worten: der Gaist des
Talmud ist trotz der kontroversen Meinungen einer, nämlich
der Geist der schriftlichen Lehre, den man nicht aus jeder be-
liebigen Stelle abziehen kann, denn nicht alles, was im Talmud
steht, ist der Talmud. Das liegt in derKonzeption. Übrigens ist
es weder der Talmud, noch sind es die anderen Religions-
bücher, aus denen man die Juden kennen lernt, so wenig
wie die modernen Gesetzsammlungen genügen, um uns
über die Völker der Gegenwart aufzuklären. Die eigentliche
Erkenntnisquelle ist das Leben, und da bedaure ich, daß
Sombart meine Bücher über die Geschichte der Erziehung
und der Kultur der abendländischen Juden unbekannt ge-
blieben sind, die abgesehen davon, daß sie nach Georg
Caro, Sozial- und Wirtschaftsgesch. der Juden I, 459 »auch
für wirtschaftsgeschichtliche Zwecke mit Erfolg zu benützen
sind«, die Juden nicht abgesondert für sich, sondern in
ihren mannigfachen Wechselbeziehungen zu ihrer Umgebung
schildern. Doch es ist Zeit, die Leser mit dem Buche selbst
bekannt zu machen und seine Ergebnisse zu prüfen.
Das Buch zerfällt in zwei Teile, wovon ich den ersteren
als den deskriptiven, den anderen, weit umfangreicheren,
als den aetiologischen bezeichnen möchte. In dem ersteren
zeigt Sombart, daß es die aus Spanien und Portugal ver-
triebenen Juden waren, die in ihren neuen Ansiedlungen
in den nördlichen Ländern des Erdballs seit dem 16. Jahr-
hundert den Grund zu dem Aufbau der kapitalistischen Wirt-
schaft legten. Sie beleben den internationalen Warenhandel,
sind stark beteiligt an der Begründung der Kolonialwirt-
schaft, ja sogar an der Begründung des modernen Staates
und haben den wesentlichsten Anteil an der Heranbildung
der gegenwärtigen Gestaltung der kaufmännischen Erwerbs-
Die Juden und das Wirtschaftsleben. 263
tätigkeit, deren vielseitige Äußerungen Sombart unter der
Bezeichnung der Kommerzialisierung des Wirtschaftslebens
zusammenfaßt. Dies alles wird in den ersten sechs Kapiteln
sehr übersichtlich und mit erschöpfender Gründlichkeit in
zusammenhängender Darstellung nachgewiesen. Sombart
darf behaupten (S. VII), daß er zum ersten Male ein Bild
von der wirtschaftlichen Tätigkeit der Juden während der
letzten drei Jahrhunderte, wie er sagt, skizziert habe. Den-
noch bedurfte es meines Erachtens keiner »Offenbarung«
(S. VI), um diese Arbeit zu tun, noch war das »Erstaunen«
(S. 15) darüber gerechtfertigt, daß man noch nicht die
historische Tatsache erkannt hat, die Sombart folgender-
maßen bezeichnet : »Wie die Sonne geht Israel über Europa:
wo es hinkommt, sprießt neues Leben empor, von wo es
wegzieht, da modert alles, was bisher geblüht hatte.« (Das.)
Die Tatsache war mehr oder weniger bekannt, man hat
nur früher die Juden so gering geschätzt, um nicht zu
sagen, verachtet, daß man ihr keine Aufmerksamkeit schenkte
oder sie sich nicht eingestand. Dazu kam die Gering-
schätzung des Handels. Wie der Jude der »Schacherjude«
war, so waren die Engländer das Krämervolk. Das ist nun
allgemach anders geworden, seitdem es Handelsminister
und Handelsämter gibt, seitdem die Staaten miteinander
Handelsverträge abschließen, Zollkriege gegen einander
führen und auf die Meistbegünstigung erpicht sind, seitdem
die Bauern sich zu Molkereiverbänden zusammentun, um
ihre Milch teuerer an den Mann zu bringen, seitdem Ba-
rone, Grafen, Fürsten Milch, Bier und Kohlen verkaufen,
und als Verwaltungsräte der Großbanken figurieren. »Nach
Golde drängt, am Golde hängt doch alles!« Dieses Wort
Gretchens vermisse ich in dem reichen Zitatenschatz Som-
barts. Was für einen Sinn hätte es aber bei den geschil-
derten Zuständen noch, von dem Schacherjuden und dem
englischen Krämervolke zu reden. Es ist in der Tat merk-
würdig still davon geworden. Da ist es nun ein großes
264 Die Juden und das Wirtschaftsleben.
Verdienst Sombarts, daß er Versäumtes nachgeholt, das Unbe-
wußte oder Verkannte durch sein Buch allen zu klarem
Bewußtsein gebracht und die Juden als die Urheber der
auf ihrem Höhepunkt angelangten und alles beherrschenden
kapitalistischen Wirtschaft nachgewiesen hat. Es klingt
heute schon wie ein Anachronismus, wenn in dem
bekannten Rückertschen Gedicht »Vom Bäumlein, das an-
dere Blätter hat gewollt« gerade »der Jude mit großem
Sack und großem Bart« erscheint und die goldenen Blätter
einsteckt, während dieses Einstecken der goldenen Blätter
heute auch »des Schweißes der Edlen«, um nicht zu sagen
der Adeligen wert erscheint. Oder wenn ferner gerade ein
Jude es ist, der den Küraß in Lenau's gleichnamigem Ge-
dichte dem Husaren verkaufen will, um nicht erst der »hosen-
verkaufenden jüdischen Jünglinge« Treitschke's zu gedenken.
Aber in künftigen Zeiten, wenn sich einmal, wie es Som-
bart jetzt schon scheint, »der Einfluß des Judenvolkes zu
verringern beginnt« (S. VIII) — es wäre nicht unmöglich,
daß die Juden aus ihrem erbgesessenen Handelsgebiet ganz
verdrängt würden und dann in einer anderen Karriere,
etwa in der ihnen jetzt ganz verschlossenen militärischen,
ihr Heil suchen müßten — würde jener Anachronismus sich
bis zu völliger Unverständlichkeit steigern. Für diese Even-
tualität hat Sombarts Buch Vorsorge getroffen: es hat den
historischen Werdegang, der unter der Führung der Juden
zu dem gegenwärtigen Höhepunkt der kapitalistischen Wirt-
schaft führte, auf dem sie selbst vielleicht überflüssig ge-
worden sind, aufgezeigt und festgehalten.
Aber Sombart hat sich an dieser verdienstlichen Lei-
stung nicht genügen lassen. Sein Forschertrieb hat ihn
gedrängt, nach gewonnener Erkenntnis der Tatsache
der kapitalistischen Bedeutung der Juden auch der Er-
kenntnis ihrer Ursache nachzugehen. Diese Untersuchung
beginnt meiner Meinung nach schon von dem sieben-
ten Kapitel an und umfaßt zwei Drittel des Buches
Die Juden und das Wirtschaftsleben. 265
Hier muß ich nun bekennen, daß ich Sombart auf
diesem Wege nicht zu folgen vermag. Es wäre ja sehr
schön, wenn man eine Art Laplace'scher Formel finden
könnte, mit der man in Stand gesetzt würde, die Volks-
individualitäten zu erschließen, mit der man den Beweis
zu führen vermöchte, daß sie so, wie sie sind, sein müssen.
Dann wäre die Geschichtschreibung Mathematik und man
könnte eine geschichtliche Untersuchung mit dem Satz ab-
schließen: Quod erat demonstrandum. Aber soweit sind
wir noch nicht und werden voraussichtlich auch nie so
weit kommen, es wird immer ein Ignorabimus übrig bleiben,
auch wenn man, wie Sombart, mit dem ungestümsten
Forschungseifer, oder besser Übereifer, alle Dunkelheiten
durchdringen zu können vermeint. Sombart nennt sein
Buch ein einseitiges Buch (S. X). Von dieser Einseitig-
keit hat er sich so einnehmen lassen, daß seine Augen
nur auf diese sich eingestellt haben. Zuerst sagt er: »Ohne
Juden kein moderner Kapitalismus«. (Das.) Im Laufe seiner
Beweisführung erschöpft sich aber das Judentum, oder wie
Sombart sagt, der Judaismus im Kapitalismus, der »homo
Judaeus« (richtig judaicus, da Judaeus keine Adjektivform
ist) und der homo capitalisticus gehören derselben Spezies
an (S. 281), das ist doch was ganz andres als was zuerst
behauptet war. Nun sehen wir uns aber einmal die italieni-
schen Juden des Mittelalters an! In Süditalien ist die
Färberei fast ganz in den Händen der Juden, die Tincta
oder Tintoria ist auch ohne Beisatz das selbstverständliche
jüdische Steuerobjekt (meine Geschichte II 312), in Sizilien
aber bittet der hohe königliche Rat 1492 in einer Immediat-
vorstellung Ferdinand den Katholischen um den Aufschub
der Judenvertreibung mit Rücksicht auf die Tatsache, »daß
in diesem Reiche fast alle Handwerker Juden sind. Wenn
diese alle auf einmal abziehen, so wird für die
Christen ein Mangel an Arbeitern sich heraus-
stellen, die geeignet sind, den Bedarf von me-
266 Die Juden und das Wirtschaftsleben.
chanischen Gegenständen, und besonders von
Eisenarbeiten, sowohl zum Beschlagen der Pferde
wie für Erdarbeiten, wie auch zur Ausrüstung von
Schiffen, Galeeren und anderen Fahrzeugen zu
liefern« (Das. 288). (Nebenbei gesagt mag dieses aus
dem Leben, gegriffene Zitat die von Sombart behauptete
Abneigung der Juden gegen schwere körperliche Arbeit,
sowie seinen summarischen Ausspruch (S. 420) beleuchten:
»Von dem Fluche, mit dem Adam und Eva aus dem
Paradiese gestoßen wurden, daß der Mensch im Schweiße
seines Angesichts sein Brot essen müsse, haben die Juden
in allen Zeiten wenig mitgetragen, wenn wir den körper-
lichen Schweiß darunter verstehen wollen«. Aber woher
haben denn die Juden von dem Fluche gewußt?) Könnte
man nun nicht die Befähigung der Juden zur Färberei, zu
Schmiede- und Erdarbeiten, oder zur Diamantschleiferei,
die, soviel ich weiß, ganz in den Händen der Juden liegt,
ebenso aus dem Blute, aus der biologischen Veranlagung
abzuleiten versucht sein, wie es Sombart mit der kapita-
listischen Befähigung der Juden macht? Wohin würden wir
dann am Ende geraten? Immerhin legt uns der ungeheure
Aufwand von Fleiß und Kunst die Pflicht auf, dem System
Sombarts die verdiente Aufmerksamkeit zu widmen.
Es läßt sich auf eine Formel zurückführen, die etwa
mit teils Spinozistischen, teils Sombartischen Worten lauten
würde: Homo judaicus est ex suae naturae necessitate homo
capitalisticus. Alles was der Jude besitzt, sein Gott, seine
Bibel, seine Religion, seine Sittlichkeit ist der Ausfluß
seiner blutmäßigen Veranlagung und hat dann wieder unter
äußeren Begleitumständen auf die Ausbildung seiner Eigen-
art zurückgewirkt, die durch die »Geistigheit« und den
»rechenhaften« Charakter jener Momente zur kapitalistischen
Befähigung sich zuspitzte oder herangezüchtet wurde. Vieles
gewinnt unter dieser Beleuchtung ein ganz anderes Gesicht,
als wir zu erblicken bisher gewohnt waren. Das Ghetto
Die Juden und das Wirtschaftsleben. 267
war nicht, wie man früher irrtümlich annahm, eine Be-
drückungsmaßregel, ein Pferch, um die Juden zusammen-
zuhalten, ihnen Luft und Licht zu entziehen, sondern man
kam damit ihrer »Abschließung« entgegen, die Juden wollten
es so, das Ghetto war eine »Konzession, ein Privilegium,
nicht etwa eine Feindseligkeit« (S. 282.) Nach dieser Theorie
ist es nicht mehr als billig, Rußland und Rumänien mit
Rekriminationen wegen der Ausweisungen zu verschonen,
man muß ihnen vielmehr Abbitte leisten, da sie mit dieser
Maßregel nur dem »ursprünglich den Hebräern im Blute
steckenden Nomadismus und Saharismus« (S. 408) ent-
gegenkommen. Durch den angeborenen Nomadismus erklärt
sich auch die Tatsache, daß die Juden vorzugsweise Städte-
bewohner sind. Sie sind es nicht, wie man bisher annahm,
deswegen, weil die Städte ihnen mehr Gelegenheit geben
zu einer erweiterten Bildung ihrer Kinder, zur Befriedigung
ihrer religiösen Bedürfnisse, zur Lebenserhaltung — sondern
»die Großstadt ist die unmittelbare Fortsetzung der Wüste
— sie steht der dampfenden Scholle ebenso fern wie diese
und zwingt ihren Bewohnern ein nomadisierendes Leben
auf wie diese« (S. 416). Rätselhaft bleibt hiernach nur, wie
die Juden in Ungarn sich so sehr um die Amelioriation
des Bodens haben verdient machen können, was wenigstens
Hunfalvy in seiner Ethnologie von Ungarn — ich habe das
Buch nicht zur Hand, kann also die Seitenzahl der deutschen
Übersetzung nicht angeben — rühmend hervorhebt. Und
da ich gerade beim Rätselhaften bin, so nehme ich Ge-
legenheit, auch die mittelalterlichen Judenabzeichen, die
doch wohl Erkennungszeichen sein sollten, unter diese
Rubrik zu verweisen, da ich nun von Sombart (S. 348) er-
fahre, »daß schon ein mittelmäßiger Beobachter mit ziem-
licher Sicherheit« die jüdische Abstammung, oder die »jü-
dische Physiognomie« feststellen kann. Wozu dienten also
die Judenabzeichen? Oder sollte es im Mittelalter so wenig
selbst mittelmäßige Beobachter gegeben haben! Ich ertappe
268 Die Juden nnd das Wirtschaftsleben.
mich darauf, daß ich ein sehr schlechter Beobachter
sein muß, denn ich sehe mich oft in meiner amtlichen
Stellung genötigt, nach der Konfession zu fragen und
erhalte die jüdische als Antwort. Rätselhaft ist mir
ferner, daß Sombart das Neue Testament gegen das
Alte ausspielt, wenn er S. 259 sagt: »Ebenso oft
wie in den Schriften des Alten Testaments der Reichtum
gepriesen wird, ebenso oft wird er im Neuen Testament
verflucht, wird die Armut verherrlicht.« Ich komme auf die
Sache selbst zurück, hier will ich nur meiner Verwunderung
darüber Ausdruck geben, daß Sombart eine Kontradiktion
statuiert, die keine ist, denn nach ihm liegt ja der Schwer-
punkt im Blute, die Verfasser des Neuen Testaments waren
aber auch Juden, Sombart führt also Juden gegen Juden
ins Gefecht, wenn auch getaufte gegen ungetaufte, worauf es
aber bei ihm nicht ankommt. Denn nach ihm bleibt auch
der getaufte Jude ein Jude, soweit die historische Erinne-
rung reicht (S. 9), worin freilich die Familie Mendelssohn,
der frühere Fürsterzbischof von Olmütz Dr. Theodor Kohn
usw. nicht mit ihm übereinstimmen werden. Doch das mag
er mit den getauften Juden abmachen.
Das größte Gewicht legt Sombart für seinen Zweck
natürlich auf die Religion als auf die hohe Schule des Ka-
pitalismus. Er bedient sich der hundertmal widerlegten christ-
lich-theologischen Entstellungen der jüdischen Religion als
Tragbalken für sein System. »Vertragsmäßige Re-
gelung aller Beziehungen zwischen Gott
und Israel, rechenhafte Gemütsverfassung
der Gläubigen« — das ist nach Sombart die jüdische
Religion — »nicht zu verwechseln mit der israelitischen
Religion, zu der die jüdische in gewissem Sinne im Gegen-
satz steht« (S. 242). »Rationalismus ist der Grundzug des
Judaismus wie des Kapitalismus« (Das.). Sombart führt
zum Beweise Talmudzitate und mehrere größtenteils gänz-
lich verstümmelte hebräische Worte (S. 246), ja sogar die
Die Juden und das Wirtschaftsleben. 269
Versteigerung der Mizwoth an, die er sich irrtümlich als
ein lautes Verauktionieren (S. 249) vorstellt, während sie
doch geräuschloser war oder ist, als die Hantierung mit
dem Klingebeutel in den christlichen Gotteshäusern. In
diesen wird auch Geld für Arme gesammelt, was ist also
daran auszusetzen, wie es in den jüdischen geschieht?
Also diese auf Gegenleistung, auf die Erwartung des Lohnes
gegründete Religion vermochte die Juden so zu begeistern,
daß sie sich ihretwegen von den Kreuzfahrern ermorden
ließen, daß Mütter ihretwegen ihre Kinder schlachteten,
daß Männer und Frauen ihretwegen kühn und mutig den
Scheiterhaufen bestiegen und noch im Verenden den
Namen Gottes heiligten, daß Eltern und Kinder hundertmal
ihretwegen aus ihrer Heimat und von den Gräbern ihrer
Lieben sich vertreiben ließen ? Das ist die Vertrags-, das
ist die rechenhafte Religion, deren oberstes Gebot lautet:
»Du sollst lieben den Ewigen deinen Gott mit ganzem Her-
zen, mit ganzer Seele und ganzem Vermögen!?« Das ist
die Religion, die Esra — »der Sofer, der starrgeistige
Schriftgelehrte« — dem Volke »aufoktroyierte«, oder welche
die Rabbiner ihm als »Joch« auferlegten? Dazu sind die
Juden mit ihrer auch von Sombart anerkannten »Hart-
näckigkeit«, die rechten, wie die Kämpfe der Makkabäer
und die gegen Rom beweisen. Sombart fehlt es an »Herzens-
inbrunst«, an »Wonnetrunkenheit« in dieser Religion. Jehuda
Halevi, von dem Sombart nur die Zionide kennt, dachte
darüber anders. »Überhaupt ist unser Gesetz geteilt
zwischen Ehrfurcht, Liebe und Freude, durch jede von
diesen kannst du dich Gott nähern. Und wenn deine
Freude sich bis zum Singen und Tanzen steigert, so
ist dies Gottesdienst und Festhalten am göttlichen Geiste«.
(S. meine Apologetik S. 187). Auch die unbefangene Freude
an der Natur ist nach Sombart dem Juden durch die Re-
ligion versagt, weil sie Lobpreisungen Gottes beim Anblick
hervorbrechender Baumblüten, neuer Früchte, mächtiger
270 Die Juden und das Wirtschaftsleben.
Berge und Ströme usw. vorschreibt. Also der Sänger des
104. Psalms, dessen Schilderung auch Alexander v. Hum-
boldt bewundert, hatte keine unbefangene Freude an der
Natur, weil er mit dem Ausruf beginnt und schließt: »Lob-
preise meine Seele, den Herrn!« Und auch der Dichter des
deutschen Liedes hatte sie nicht: »Wer hat dich, du schöner
Wald, aufgebaut so hoch da droben? Wohl den Meister
will ich loben, solang' noch meine Stimm' erschallt?« Daß
Heiligung des Lebens nach der Lehre des Judentums heißt:
Gott in das Leben hineintragen und mit ihm des Lebens
sich freuen, nicht aber — wie nach der Lehre des Christen-
tums — das Leben als ein Jammertal betrachten und Gott
in der Weltflucht, in der Klosterzelle aufsuchen, dafür hat
Sombart offenbar kein Verständnis. Er hätte sich darüber
durch den englischen christlichen Theologen Travers Her-
ford belehren lassen können, der sagt: »Was gewöhnlich
»leerer Formalismus« oder »ernsthaft behandelter Tand«
genannt wird, verdient einen besseren Namen, denn es ist
— irrtümlich oder nicht — eine ehrenwerte Bemühung, das
Prinzip des Gottesdienstes auf die geringsten Einzelheiten
und Handlungen des Lebens anzuwenden« (meine Apolo-
getik S. 155). Zum Unglück sind Sombart Fromers >Vom
Ghetto zur modernen Kultur« und Webers »System der
altsynagogalen Theologie« in die Hände gefallen, oder viel-
mehr er ist ihnen in die Hände gefallen, und diese haben
ihm die Mittel zur Durchführung seiner Ansicht von der
» Rationalisierung« des Lebens durch die jüdische Religion
geboten. Denn nach Sombart ist diese Religion ein Ver-
standesprodukt. Was sie aber wirklich ist, sagt bereits der
Sänger des Ps. 19, der mit den Worten beginnt: »Die Him-
mel erzählen die Ehre Gottes und seiner Händewerk ver-
kündet das Firmament« — also auch Freude an der Natur,
wenn auch für Sombart vielleicht nicht unbefangen — in dem
es aber, worauf es für unsern Zweck ankommt, weiter
heißt: »Die Lehre Gottes ist vollkommen, beruhigt die
Die Juden und das Wirtschaftsleben. 271
Seele, das Zeugnis Gottes ist zuverlässig, macht Toren
weise. Die Vorschriften Gottes sind gerade, erfreuen das
Herz, das Gebot Gottes ist klar, erleuchtet die Augen«.
Das ist im Grunde die ganze jüdische Theologie, die Som-
bart vermißt. Kein Verstandesprodukt also ist die jüdische
Religion, sondern das Produkt der höchsten Erkenntnis
und zum Streben nach Erkenntnis anregend, sie hat die
Mythologie überwunden, worin andere Religionen noch
heute stecken, sie hat keine Unbegreiflichkeiten, sie lehrt
nicht andächtig schwärmen, sondern gut handeln, benebelt
und berauscht die Sinne nicht, sondern läutert sie und
lenkt sie in richtige Bahn, sie lehrt das Leben begreifen,
sich darin zurechtfinden und es durch Sittlichkeit heiligen.
Daß die Bekennerschaft einer solchen Religion, gefestigt
überdies durch die Leiden, die sie ihretwegen ausstand,
geistig geschult durch das eifrigste Studium der Reli-
gionsbücher, gereift durch die vielseitigsten Erfahrungen
unter den gegebenen Bedingungen zu den besten Pionieren
der kapitalistischen Wirtschaft herangebildet wurde, ist auch
ohne Verrenkungen und Verdrehungen dieser Religion, ohne
daß man ihr »die Knochen im Leibe zerbricht«, wie Som-
bart (S. 281) sagt, daß sie so mit ihren Bekennern ver-
fahre, begreiflich. Ich kann natürlich nicht auf alles Un-
richtige, Mißverstandene, Willkürliche in Sombarts Dar-
stellung von dem Wesen der jüdischen Religion eingehen,
aber was er von dem Reichtum sagt, muß ich noch zur
Sprache bringen. Das Alte Testament soll, wie schon erwähnt,
den Reichtum eben so oft verherrlichen, wie ihn das Neue
verflucht. Sombart muß ein andres Altes Testament haben
als ich, denn in meinem Exemplar, das ich nach der
hebräischen Konkordanz abgesucht habe, finde ich nicht
eine, sage nicht eine einzige Stelle dieser Art. Es wimmelt
hier bei Sombart von Mißverständnissen. Er führt beispiels-
weise Spr. Sal. 3, 16 an: »Langes Leben ist in ihrer (der
Weisheit) Rechten (Sombart unrichtig: in ihren (der Weisen)
272 Die Juden und das Wirtschaftsleben.
Rechten); in ihrer Linken Reichtum und Ehre«. Das kann
doch nur bedeuten: Die Weisheit ist, wofür sonst langes
Leben, Reichtum und Ehre gehalten wird, nämlich das
höchste Gut. Das heißt doch nicht den Reichtum, sondern
die Weisheit verherrlichen, sowie einer der sagt: »Meine
Frau ist mein Reichtum« nicht diesen sondern jene preist.
Ebenso »der Weisen Krone ist ihr Reichtum« (das. 14, 24)
d. h. die Weisen trachten nicht nach Reichtum, da sie mit
der erhabensten Krone, der Weisheit, geschmückt sind.
Der Vers 10, 15 (das.) ist nicht zu übersetzen : »Des
Reichen Habe ist ihm eine feste Stadt« — obwohl auch
damit nur gesagt würde, wie es im Leben ist, nicht wie
es sein soll — sondern: »des Reichen Habe ist die Festung
seiner Frechheit,« und variiert mit dem Nachsatz den 18, 23
ausgesprochenen Gedanken: »Der Arme spricht flehentlich,
der Reiche aber gibt freche Antwort.« Ist das auch eine
Verherrlichung des Reichtums ? Man beachte dagegen die
durch die ganze Tora hindurchgehende Aufforderung zur
Berücksichtigung des Armen, des Fremdlings, der Waise
(von der Waisenpflege steht im Neuen Testament auch nicht
ein Sterbenswörtchen vgl. den Artikel »Waisenhäuser« in
Rein's Encyklop. Handbuch der Pädagogik: »Der Christen
Fürsorge für Waisen knüpfte an das mosaische Gesetz an«).
Ebenso verlangen Mischna und Talmud, daß des Menschen
Hausgenossen die Armen sein sollen und in Uscha mußte
verboten werden, nicht mehr als den fünften Teil des Ver-
mögens zu verschenken. Auch mit Sombarts bemerkter
»Geldleihe« steht es nicht besser wie mit der von ihm
beobachteten Verherrlichung des Reichtums. Verheißungen
wie die von ihm angeführten (worin er auch die Verherr-
lichung des Reichtums wittert): »Du wirst leihen vielen
Völkern und von ihnen nichts entlehnen, du wirst
borgen vielen Völkern und ihnen nichts abborgen«
können nur Arme ins Auge fassen, da Reichen gegenüber die
hier durchschossenen Nachsätze sich lächerlich ausnehmen
Die Jaden und das Wirtschaftsleben. 273
würden. Sombart geht es, wie es heute noch vielen Nicht-
juden geht. Die wenigen reichen Juden haben ihn fasziniert,
aber die 800,000 Juden in Galizien, vielleicht der 15-te Teil aller
Juden, unter denen es nur wenige Bemittelte gibt, sind keine
Neuheit in der jüdischen Geschichte, wie denn auch die schon
erwähnten sizilianischen Stände an den König schreiben: »End-
lich dürfte nicht übersehen werden, daß einzelne Juden zwar
reich, andere bemittelt, die übrigen aber so arm seien, daß,
wenn nicht der Termin des Abzuges aufgeschoben würde,
sie vor Hunger sterben müßten. Dies würde eine üble
Meinung von der Regierung erwecken« (meine Geschichte
II, 290). Es ist also nichts mit der »Tatsache des jüdischen
Reichtums« und nicht, wie Sombart (S. 380) sagt, »der
Faden«, sondern die Fabel von dem jüdischen Reichtum
zieht sich »von Salomo (warum nicht von Moses, der von
den Splittern der Bundestafeln nach dem Midrasch reich
geworden sein soll) bis Bleichröder und Barnato durch die
Geschichte, ohne an einer Stelle abzureißen«. Kennt Som-
bart nicht die Anekdote von den Russen, die, wenn sie
keinen Schnaps haben, sagen: »Sprechen wir wenigstens
davon!«? So mag es den Juden mit dem Reichtum ge-
gangen sein und noch gehen. Die »tote Hand« schweigt na-
türlich vom Reichtum, weil sie ihn besitzt, aber »verflucht«.
Ich kann die Gastfreundschaft dieser Monatsschrift
nicht länger in Ansprach nehmen, sonst hätte ich noch
viel über und gegen die Art und Weise zu sagen, wie
Sombart eine »jüdische Eigenart« statuiert und auf jüdi-
schen Sprichwörtern baut. Ich fasse daher mein Urteil
über das Buch Sombarts kurz dahin zusammen, daß ich
den ersten Teil ein Standard work nenne, der zweite aber
— Sombart wird die Wahl meiner Worte verstehen —
zeugt zwar von großem Scharfsinn, von großer Zweck-
bedachtheit und Zielstrebigkeit, aber ein »Tachlis« sehe
ich nicht. (Siehe die folgende Anmerkung.)
Monatsschrift, 55. Jahrgang.
13
274 Die Juden und das Wirtschaftsleben.
Um wenigstens die krassesten Irrtümer zu berichtigen und die
ungerechtfertigsten Behauptungen zurückzuweisen, gebe ich von ihnen
hier eine kurze Liste. Zu S. 231. Es ist keinem »frommen Juden« ver-
boten, unter bestimmten Umständen Dinge zu berühren, die durch
frühere Berührung »unrein« geworden sind, denn kein Ding kann durch
Berührung »unrein«, sondern nur unsauber werden, in welchem Falle
es kein anständiger Mensch anfaßt. Daß Rothschild die Türklinke,
bevor sie abgewischt war, und im Umlauf gewesenes Papiergeld
nicht in die Hand nahm, hat mit der Religion nichts zu tun. —
S. 279. Die Karenzzeit nach der Geburt eines Knaben dauert nicht
40, und nach der Geburt eines Mädchens nicht 80 Tage, sondern im
ersteren Falle 7, im letzteren 14 Tage. Das steht sogar deutlich im
3. Buch Mos. Kap. 12 zu lesen. Eine Ausdehnung der Karenz wird
sogar verboten. — S. 284. Daß »die jüdische Apologetik, die für die
Juden schrieb [ein schalkhafter Beisatz!], diese Anklagen selbst nie-
mals zu widerlegen versucht« habe, ist einfach unwahr. Sombart
lese in meiner Apologetik das 3. Kapitel, wo er auf S. 67 auch Ber-
tholet abgefertigt und auf S. 85 eine lesenswerte Expektoration eines
orthodoxen Rabbiners aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts ab-
gedruckt findet. Damit ist auch der S. 286 befindliche Satz wider-
legt: »In dieser Form ist das Gebot •— es ist das 198. — auch in den
Schulchan Aruch übergegangen. Die modernen Rabbiner, denen die
— ach so klaren! — Bestimmungen des jüdischen Fremdenrechts
unbequem sind (warum eigentlich?) [wieder eine kleine Schalkhaftig-
keit!], versuchen dann die Bedeutung solcher Sätze wie das 198.
Gebot dadurch abzuschwächen usw.« Hier ist Wort für Wort eine
falsche Behauptung. Die Zählung der Gebote bei Maimonides ist
dessen Privatansicht und für keinen verbindlich. Insbesondere ist das
198. Gebot nicht als Oebot anerkannt und deshalb auch nicht in
den Schulchan Aruch übergegangen. Tatsächlich enthält Deuteron.
23, 20 eigentlich das Verbot, Zinsen zu geben, was Vers 21 nur dem
Fremden gegenüber gestattet (und womit er wohl zufrieden sein
kann). Es ist also hier vom Zins nehmen gar nicht die Rede. Diese
»ach so klare! Bestimmung des jüdischen Fremdenrechts« ist demnach
trotz ihrer Klarheit von Sombart nicht verstanden. Ferner ist seine
Behauptung: »Durch die Tradition ist gelehrt worden, daß man
dem Fremden auf Wucher leihen soll«, so wenig wahr, daß sie viel-
mehr lehrt, daß man dies nicht tun soll (Makk. 24a). Demnach ist
die weitere Behauptung Sombarts S. 287: »Nur Unkenntnis oder
Böswilligkeit kann leugnen, daß die Verpflichtungen dem Fremden
gegenüber niemals so strenge waren als dem , Nächsten', dem Juden,
gegenüber« mit dem Bemerken zurückzuweisen, daß »nur Unkenntnis
Die Juden und das Wirtschaftsleben. 275
oder Böswilligkeit« den »Nächsten« auf den Juden einschränken und
das jüdische Fremdenrecht herabsetzen kann, für welche Erklärung
ich mich wieder auf meine Apologetik berufe. - S. 324 »Die Führer
und Weisen des Volkes haben die Wichtigkeit, ja die Notwendigkeit
dieser Schmiegsamkeit und Biegsamkeit . . . gepredigt«. Zum Be-
weise werden zwei »Ermahnungen« .angeführt, in denen beiden der
»demutige Geist« empfohlen wird. Also demütig sein, beißt ins
Judische übersetzt - für Sombart - schmiegsam und biegsam sein'
*
18'
Der Auszug aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft.
Von Emil Levy.
Was berichten uns die ägyptischen Quellen vom Auszug
der Kinder Israel aus Ägypten? —
Man erwarte nicht, daß eine Fülle historischen Materials
vorliegt, aus dem wir nur so zu schöpfen brauchen. Dies
ist aus zweierlei Gründen nicht möglich. Einmal haben
uns die Ägypter, diese größten Prahlhänse des Altertums,
keine exakte Geschichte überliefert. Die Darstellungen, die
die Könige und Fürsten in Wort und Bild von ihren
Siegeszügen an den Tempelwänden und Felsengräbern
entwerfen, wissen nur Rühmliches zu erzählen und feiern
oft Erfolge, die überhaupt nicht davongetragen wurden.
Unglückliche Ereignisse durch Feindesmacht werden ent-
weder vollständig verschwiegen, oder man gleitet mit
wenigen Worten dunklen Inhaltes über sie hinweg.
Dazu kommt noch ein zweites Moment. Der Schauplatz
der biblischen Ereignisse war das östliche Delta. Denkmäler
aus dem Delta sind uns nur in sehr geringer Zahl erhalten,
woran die Feuchtigkeit des Klimas zum Teil schuld
sein mag.
Demgemäß kann das wissenschaftliche Quellen-
material für unsere Frage nur dürftig sein; daß die
Israeliten mit Gold und Silber reich beladen aus Ägypten
zogen und das Heer der Verfolger im Roten Meere ertrank,
davon wird — und mögen noch zahlreiche Entdeckungen
erfolgen — in einer ägyptischen Inschrift niemals gelesen
werden.
Somit bleibt uns nur der Weg, durch Vergleichung
des biblischen Berichtes in seinen hauptsächlichen
Der Auszug aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft. 277
Angaben (denn nur auf das Wesentliche kommt es
uns an) mit den bestimmten Verhältnissen der ägyptischen
Geschichte, die er voraussetzt, die Zeit zu fixieren, die für
den Auszug mit historischer Logik allein in Betracht kommen
kann; und bei diesem indirekten Verfahren sind immerhin
bedeutende Resultate zu Tage gefördert worden. Es ist
auch heute noch, trotz aller gegenteiligen Behauptungen,
durchaus wahrscheinlich, daß Ramses II, (1292—1225)
der Pharao der Bedrückung war und daß der Auszug, von
dem das zweite Buch Moses spricht, unter seinem Sohne
Meneptah (1225—1215) stattgefunden hat.
Der geschichtliche Zusammenhang, in den wir Be-
drückung und Auszug einreihen müssen, ist folgender:
Um das Jahr 1670 drangen semitische Fremdstämme,
die Hyksos, in das Delta ein und beherrschten von hier
aus Ägypten. Der jüdische Schriftsteller Josephus iden-
tifiziert diese Hyksos mit den Israeliten (Züge der Erz-
väter!). Diese hyperbolische Annahme ist aber dahin zu
modifizieren, daß die Einwanderung Israels zur Zeit der
stammverwandten Hyksos erfolgte und sich aus dieser
Zeit allein geschichtspsychologisch erklären läßt.
Nach lOOjähriger Fremdherrschaft rafft sich Ober-
ägypten zum Freiheitskampfe auf; die Heere der theba-
nischen Fürsten dringen nordwärts gegen die Hyksos vor.
In wiederholten Feldzügen werden die fremdländischen
Eindringlinge geschlagen und schließlich wieder aus dem
Delta hinausgedrängt. Aber ein großer Teil der semitischen
Bevölkerung und darunter die Hebräer bleiben im Delta
wohnhaft.
Dieser Freiheitskampf ist ein Wendepunkt in der
ägyptischen Geschichte. Das Land ist aus seinem vieltausend-
jährigen Schlafe erwacht, ein kriegerischer Geist drängt
mit Macht nach außen. Palästina wird dem Pharaonenreich
278 Der Auszug aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft.
unterworfen, und am Euphrat errichten die Thutmosis ihre
Siegestafeln. Aber diese glorreichen Zustände sind nicht
von Dauer. Unter Amenophis III (1411 — 1375), noch mehr
unter dessen Sohn Amenophis IV (1375 — 1358), dem be-
rüchtigten »Ketzerkönig«, beginnt der Verfall der ägyptischen
Hegemonie, über den uns die bekannten Tell-Amarna-Briefe
aufklären. Die Kleinfürsten Palästinas suchen das ägyptische
Joch abzuschütteln und benutzen die Ohnmacht der Re-
gierung zum Austrag ihrer Parteistreitigkeiten. Zu den
inneren Zwisten gesellt sich ein gewaltiger Feind von
außen. Die Hethiter (Cheta1), ursprünglich in Kleinasien
wohnhaft, erscheinen plötzlich als die Herren des nördlichen
Syrien und schicken sich an, auch Palästina den Pharaonen
zu entreißen.
Das sind die geschichtlichen Ereignisse, die im Hinter-
grund der pentateuchischen Exoduserzählung liegen.
Schon Sethos I. (1313—1292) mußte mit dem Cheta-
könig und den ihm verbündeten palästinensischen Fürsten
um den Besitz Palästinas kämpfen und dasselbe gilt von
seinem Sohne Ramses II, dem Pharao der Be-
drückung. (1292—1225.)
Die vielen erbitterten Feldzüge, die dieser Fürst ohne
wesentliche Erfolge im ersten Drittel seiner langjährigen
Regierung gegen die Hethiter führte, machen uns die
strengen politischen Maßregeln gegen die im Delta hausen-
den semitischen Fremdstämme durchaus erklärlich. Es ist
nicht unmöglich, daß die Hebräer mit den palästinensischen
Hethitern, zu denen schon Abraham in freundschaftlichen
Beziehungen stand, sympathisierten. Das läßt uns die Furcht
des Pharao begreifen : »Wenn Krieg ausbricht, könnten die
Israeliten zu unsern Hassern sich schlagen und gegen uns
streiten.« — Infolge der vielen Kämpfe in Palästina und
wohl auch um die unruhige Bevölkerung des ehemaligen
Hyksosterritoriums in Schach zu halten, verlegtRamses II.
') Zweifellos identisch mit den biblischen rn 'ja
Der Auszug aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft. 279
seineResidenzausThebennordwärtsundzieht
in das Delta. &1R T?£ öjti Das ist der neue König,
der Josef nicht gekannt, denn zum ersten Male sehen die
Semiten des Landes Gosen in ihrer Mitte eine national-
ägyptische Hofhaltung !
Eine fieberhafte Tätigkeit entfaltet der Pharao im
östlichen Delta. Seine Residenz Tanis (Zoan) wird mit
kolossalen Tempeln und Bauwerken geschmückt, die uralten
Befestigungen, die von den Bitterseen zum Mittelmeer
sich ziehend (etwa der Lauf des heutigen Suezkanals) das
Land im Osten gegen die Einfälle der Barbaren schützten,
werden verstärkt. Vor allem : Um den in Asien einrückenden
Heeren hinreichend Proviant zuführen zu können, laßt Ramses
an der östl. Grenze Magazinstädte anlegen, (rriaaoa nj»,
Pithom und die Ramsesstadt treten plötzlich
in den Vordergrund. Und der Pharao braucht sich
nicht lange nach Arbeitern umzusehen ; die freischweifenden
Nomaden, die seit Jahrhunderten in dem Grenzdistrikt ihre
Herden geweidet, werden zum Frondienst angehalten. »Und
sie setzten über Israel Fronmeister, um es zu drücken
durch ihre Lastarbeiten ; und es baute Vorratsstädte für
Pharao, Pithom und Ramses.« Die Reste von Pithom sind
beim heutigen Teil el Maschuta aufgefunden worden. Die
Stadt lag hart am Ostausgange des Wüstentales Wadi
Tumilat, das die Verbindung von Gosen mit der östlichen
Wüste vermittelte, nicht weit entfernt von der oben er-
wähnten Befestigung, die das Thal sperrte. (Cf. Karte S. 282.)
Die Lage der Ramsesstadt hat sich bis heute nicht
mit Sicherheit feststellen lassen. Gewiß ist Moses, der
Führer Israels, dessen Existenz allein schon durch den
ägyptischen Namen (cf. Thutmose, Achmose ; die hebr.
Erklärung beruht auf Volksetymologie) wissenschaftlich
verbürgt ist, aus politischen Gründen dem Pharao ver-
dächtig geworden, und die Ermordung des Ägypters
wird nur der letzte Anlaß zur Flucht nach Midjan
280 Der Auszug aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft.
gewesen sein. Zu dieser Flucht haben wir in den Lebens-
schicksalen eines vornehmen Ägypters aus älterer Zeit
(Sinuhe-Roman) ein hochinteressantes Parallelstück ; leider
verbietet der Raum, auf dies Schriftstück näher einzugehen.
Auch in Midjan ist Moses in ständiger Fühlung mit
seinen ägyptischen Stammesgenossen geblieben. Während
der langen Jahrzehnte seines Exils scheinen die Israeliten
nicht so sehr gedrückt worden zu sein, was sich unge-
zwungen aus der politischen Lage erklären läßt. In seinem
21ten Regierungsjahr schließt nämlich Ramses II. nach
langen Kämpfen mit dem Chetafürsten einen Friedens-
vertrag, der ihm das südliche Palästina garantiert. Damit
entfiel auch die Veranlassung, die semitischen Deltastämme
weiterhin als aufstandslüstern und »novarum rerum cupidi«
zu mißhandeln.
Ohne Zweifel hat erst der Nachfolger Ramses II. wie-
der straffere Seiten aufgezogen. Dies leuchtet auch aus dem
biblischen Berichte hervor. Es heißt nämlich (Exodus
K. 11 V. 23): »Es geschah in jener langen Zeit, daß der
König vonÄgypten starb, und es ächzte n (wieder)
die Kinder Israel unter der Arbeit und sie
schrieen....« Die geschichtliche Forschung enthüllt uns
abermals das Rätsel des verstärkten Druckes.
Auf Ramses II. folgte sein Sohn Meneptah, der
Pharao des Auszuges. Im 5. Jahre seiner Regierung
wird Ägypten von übermächtigen Feinden angegriffen und
an den Rand des Verderbens gebracht. Eine wahre Völker-
wanderung brandet ins Land. Seefahrende Stämme aus
allen Ländern des Meeres dringen in das Delta ein. Diese
Gelegenheit benützen die Libyer und überfallen ihrerseits
Ägypten von Westen her. Nach gewaltigen Anstrengungen
erst gelingt es Meneptah, sich zu ermannen, und in einer
großen Entscheidungsschlacht werden die Feinde geschlagen.
Es ist nicht unmöglich, daß die Hebräer wiederum mit
den Eindringlingen sympathisierten und deshalb einem
Der Auszog aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft. 281
verstärkten Drucke ausgesetzt wurden ; lesen wir doch in
den ägyptischen Denkmälern, daß auch die palästinensischen
Städte wieder wankelmütig geworden waren und aufs neue
erobert werden mußten! (Cf. weiter unten »Israel-
in s c h r i f t«). Die große Zahl ägyptischer Aufsichtsbeamten,
die der Pharao Meneptah in die Festungen der Ostmark
legte, lassen die verhängnisvolle Lage des Reiches deut-
lich erkennen. Die Grenzbeamten führten genau Buch, und
nur mit Lebensgefahr konnte man den Versuch machen,
ohne pharaonische Erlaubnis durch den Festungsgürtel zu
schlüpfen.
Es ist nun höchst merkwürdig, daß die Namen,1) die
die Bibel dem östlichen Grenzdistrikt und seinen Befesti-
gungen beilegt, sich genau mit den Angaben decken, die
uns gerade aus der Zeit des Meneptah erhalten sind.
Sukkoth bezeichnet in der ägyptischen Schreibung Thuku
die Provinz, in welcher Pithom lag; östlich von Gosen
sich erstreckend, wurde sie bereits zum asiatischen Besitz
Ägyptens gerechnet. Etham (ägypt. Chetam) ist eine der
Festungsanlagen, die der Stadt Pithom im Osten als Forts
vorgelagert waren. Migdol kommt unter demselben Na-
men vor als Migdol des Königs Meneptah, eine
Citadelle nördlich vom Schilfmeer, wobei wohl zu beachten
ist, daß das Schilfmeer im Altertum erst in dem heutigen
Krokodilsee sein nördliches Ende fand. Pihachi-
roth ist vielleicht das unter Ptolemäus II genannte Heilig-
tum Pikeheret, 5 Kilometer sw. von Ismailia, während man
Baal-Zephon wohl auf einer Höhe östlich von der
Seenkette suchen muß. — So erscheint die Reiseroute der
Israeliten, wenn auch Einzelheiten hin- und herschwanken,
im allgemeinen durchaus bestimmt und vorgezeichnet. Süd-
lich von Migdol flutete das sumpfige Schilfmeer, nörd-
lich setzte der schon erwähnte Mauerwall ein. — Auf diese
>) Ich folge hierin den Ausführungen von H. Brugsch in »Stein-
inschrift und Bibelwort«. S. 226 ff.
282 Der Auszug aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft.
Weise war die Landschaft militärisch gesperrt, nur zwei
Durchgänge waren möglich. Im Süden der Bastion konnte
man nur zur Zeit niedrigsten Wasserstandes einen Durch-
bruch riskieren, nördlich von Migdol beherrschte die Gärni-
sonstruppe der »Mauern« die Heerstraße. Eine schematische
Karte mag die Situation veranschaulichen.
Nun wird uns der biblische Bericht klar und ver-
ständlich. Schritt für Schritt können wir die Route der
Israeliten verfolgen, nachdem sie bei dem durch Feindes-
macht und innere Katastrophen bedrängten König den
freien Abzug erwirkt.
»Als der Pharao das Volk hatte ziehen lassen, da
führte sie Gott nicht den Weg nach dem Lande der Phi-
lister, — der wäre der nächste gewesen, — denn Gott dachte
es könnte das Volk reuen, wenn sie Kämpfe vor sich sähen,
Der Auszug aus Ägypten im Liebte der Wissenschaft. 283
und sie könnten nach Ägypten zurückkehren.« (II. Mos.
K. 13 V. 17). Der nächste Weg nach Palästina, durch das Land
der Philister, hätte über die Festungsmauer geführt; dort aber
hätte es leicht mit den ägyptischen Besatzungstruppen zum
Kampfe kommen können; auch in Palästina wären die Isra-
eliten beim Einmarsch noch immer auf ägyptischem Terri-
torium gewesen, erst nach Jahrzehnten zerbröckelte hier die
Oberhoheit der Pharaonen endgültig. Darum war an eine
Eroberung Kanaans vorläufig noch gar nicht zu denken.
Die Israeliten brechen von ihrer Landschaft Gosen
auf und ziehen durch den Wadi Tumilat ostwärts. »Dann
brachen sie von Sukkoth (Thuku) auf und lagerten in
Etham am Rande der (ägyptischen) Wüste« (II. Mos. 13, 20).
Nun aber geht es nicht nach Norden, zur Mauer, wo die
offizielle Durchgangspforte aus und nach Ägypten
war, sondern nach Südosten. »Befiehl den Israeliten, um-
zukehren und sich vor Pihachiroth zwischen Migdol und
dem Meer zu lagern; gerade gegenüber von Baal-Zephon
sollt ihr euch am Meere lagern« (Kap. 14, 2).
Ein solches Vorgehen muß natürlich dem Pharao als
Kopflosigkeit erscheinen und ihn zum gewaltsamen Rück-
transport der scheinbar Verirrten ermutigen. »Sie haben
sich im Lande verirrt, die Wüste (westlich der Grenze) hält
sie umschlossen« (V. 3). Unmöglich können die Ägypter
auf den Gedanken kommen, daß eine so gewaltige Volks-
masse durch das Meer südlich vom Migdol einen Ausweg
finden wird.
Das Wunder geschieht dennoch. Moses wagt den
Durchbruch, während durch einen heftigen Sturm die fla-
chen Gewässer des Meerbusens zurückgehalten werden.
Glücklich gelangen die Israeliten mit ihrem leichten Ge-
päck über den aufgeweichten Boden an das jenseitige Ufer,
indes die Streitwagen der Verfolger sich nur mühsam
fortbewegen und von den zurückflutenden Wogen über-
rascht werden. Die Umwallung (hebr. -n#) liegt zurück,
284 Der Anszug aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft.
die Wüste Schur, die nach ihr genannt ist, nimmt die
Israeliten auf — — , eine neue Weltepoche ist ange-
brochen.
II.
Ob das ganze Israel den Auszug mitgemacht hat und
nicht etwa schon früher einzelne Stämme in Kanaan an-
sässig gewesen sind? Nach allem, was wir von den Hyksos-
kriegen wissen, können wir die Frage nicht unbedingt
verneinen. Es liegt durchaus im Bereiche der geschicht-
lichen Möglichkeit, daß Teile des israelitischen Stammver-
bandes schon vor dem pentateuchischen Exodus nach Asien
zurückgeströmt sind. Wissenschaftliche Spekulationen gibt
es darüber in Hülle und Fülle, und wenn wir sie auch
nicht alle durchmustern können, so soll doch die berühmte
Israe 1 ins chrif t nicht unerwähnt bleiben.
Wir haben bereits (S. 280) von dem großen Siege
gesprochen, den der Pharao Meneptah über die Libyer und
Seevölker davontrug. Nach altem Brauch hat der Pharao
seinen Triumph in einem bombastischen Siegeshymnus,
der auch die Bezwingung der palästinensischen Städte be-
richtet, der Nachwelt mitgeteilt. Die Stelle, welche das
Siegeslied enthält, wurde im Winter 1896 im Grabtempel
des Meneptah zu Theben aufgefunden. Sie wurde alsbald
weltberühmt, weil auf ihr im Zusammenhang mit kanaanäi-
schen Städten auch ganz unzweideutig der Name > Israel«
erwähnt ist.
Im Zusammenhang lautet die ganze Stelle:1)
»Verwüstet ist Libyen, Cheta in Frieden,
Erbeutet das Kanaan mit allen Schlechten,
Gefangen geführt ist Askalon, gepackt Gezer, Jenoam ver-
nichtet,
Israel — seine Leute sind wenig, sein Same
existiert nicht mehr;
Syrien ist geworden zur Witwe für Ägypten«.
x) Greßmann, Altorieatal. Texte S. 195.
Der Auszug aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft. 235
Die Erwähnung Israels in dem Siegesliede des
Pharao des Auszugs ist gewiß merkwürdig genug; leider
wissen wir aber nicht viel damit anzufangen. Daraus, daß
»Israel« in Verbindung mit palästinensischen Städten ge-
nannt ist, wollen die Einen den Schluß ziehen, die Hebräer
wären zur Zeit des Meneptah längst in Kanaan ansässig
gewesen, und identifizieren das »Israel« der Mineptah-
Inschrift mit den bekannten Chabiri der Tel-Amarna-
briefe zur Zeit des Amenophis IV. Andere sehen in der
Inschrift eine Stütze für die biblische Angabe. Israel hat
unlängst den Auszug angetreten, und mit dem Verschwinden
in der Wüste ist das Volk für den König (dessen Unter-
gang im Roten Meer in der Bibel nicht berichtet wird1)
»existenzlos« geworden. Diese Auffassung scheint aus man-
chen Gründen die richtige zu sein.
Die Annahme eines früheren Exodus findet eine Stütze
in der Stelle I Reg. 6, 1, wo gesagt wird, daß der
Tempelbau 480 Jahre nach dem Auszug aus Ägypten statt-
gefunden habe. Dieser Auszug fiele somit um 1450 — 1440.
Wenn auch die Bibel von einem wiederholten Auszug nichts
weiß, so hat doch die mündliche Überlieferung eine
verklungene Erinnerung bewahrt, daß die »Söhne Eph-
raims« den Auszug zu früh veranstalteten
{Y& wo) und sich in Palästina eine schwere Niederlage
holten (Sanhedrin 92 b). Erscheint auch dieser Midrasch als
Ausdeutung von I Chr. 7, 21, so ist es doch wahrschein-
lich, daß in diesen beiden Notizen eine historische Re-
miniszenz verborgen ist, und es wäre nicht unstatthaft,
im Zusammenhang mit dieser Überlieferung der Chabiri
zu gedenken, die um 14C0 an den südlichen Grenzen Pa-
lästinas auftauchen. Die These eines wiederholten Exodus
wird bestätigt durch das Schwanken der jüdischen Über-
lieferung in Bezug auf die Dauer des ägyptischen Aufent-
haltes. Der Pentateuch spricht von einer 430] ährigen
*) Seine Leiche ist in Theben aufgefunden worden.
286 Der Auszug aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft.
Knechtschaft, während die Rabbinen bekanntlich nur einen
210 jähri gen Aufenthalt annehmen.
Setzen wir nun den Auszug unter Meneptah nach
den neuesten Feststellungen auf ca. J 220 fest, so ergibt sich
[1220 + 430 =] 1650 als Datum der Einwanderung
Jakobs. Dies paßt vorzüglich zu den Zeitverhältnissen. Und
andrerseits ergibt sich, wenn wir diese Zahl 1660 festhalten
und die 210jährige Knechtschaft der Rabbinen annehmen
[1650—210 =] 1440 als Datum des ersten Auszuges ! —
In der Tat eine verblüffende Übereinstimmung. Wie
man sieht, geht die rabbinische Ansicht von den 210
Jahren parallel mit der Notiz von I. Reg. K. 6/1. —
Es scheint mir daher einleuchtend, daß wir sowohl 1440
wie auch 1220 als in Betracht kommende Data festhalten
und also einen doppelten Exodus annehmen müssen, was
bei dem Hin- und Herfluktuieren des semitischen Elementes
über die ägyptische Reichsgrenze nichts Anormales hat.
Damit entfallen glücklich alle chronologischen Schwierig-
keiten. Jedenfalls spricht die pentateu ch ische
Erzählung unbedingt von der Regierungszeit
des Ramses II und dem Auszug unter Meneptah
im Jahre 1220. Denn von den 3 Momenten : die Israeliten
bauen Pithom und Ramses, Ägypten ist von auswärtigen
Feinden stark bedroht, und der Pharao residiert im Delta,
wäre jedes einzelne schon ausschlaggebend.
Der Selbstmord nach der fialacha.
Von A. Perlß.
I.
Drei Arten von Mord sind im peinlichen Rechte der
Schrift unerwähnt geblieben: der Elternmord,1) der Kindes-
mord2) und der Selbstmord. Die ersten zwei hat sie ganz
und gar außer Acht gelassen. Sie hat für sie weder
Namen noch Beispiel. Während wir schon in der Vorhalle
der Torah der grauenhaften Gestalt des Brudermörders
begegnen, hat sie des Eltern- und Kindesmordes weder in
ihren epischen Erzählungen noch in ihren strafrechtlichen
Bestimmungen auch nur mit einem Worte gedacht. Dieses
Schweigen ist beredt genug. Die selbstlose, aufopfernde
Liebe der Eltern zu den Kindern, die Ehrfurcht und heilige
Scheu der Kinder vor den Eltern hat wohl dieses schau-
derhafte Verbrechen, von dem die Mythen und Überliefe-
rungen der alten Völker so viel zu erzählen wissen, in
jüdischen Familien niemals aufkommen lassen.3)
Der Selbstmord hingegen muß nur seiner sprachlichen
Benennung entbehren4) die Sache selbst wird uns in vier
Fällen5) vorgeführt : Saul stürzt sich in sein eigenes
») S. Mechilta 81 b. Sifra 105 a. Sann. 72 b. Maimuni nyu 9, 10.
Tut Ch. M. 425, 6 [vgl. dagegen Berachot 7 b]. Sifre I, 1, 159. B. K.
87 b. Maim. \S5£Tl 4, 7. nxn 7, 15. onßD 5, 5.
') Sifre II, 171. 183. Makk. 8 b. 12 a. J. Makk. 2, 5. Maim. n*n
1, 3. B*M 5, 15.
') Saalschütz Mos. Recht 490.
«) Vgl. Job 7, 15. Rieht. 18, 25.
•) Nicht wie Saalschütz, Mos. Recht 549 will, in zweien.
288 Der Selbstmord nach der Halacha.
Schwert1). Sein Waffenträger') stirbt des gleichen Todes8).
Achitofel erwürgt sich*). Zimri zündet den Palast über sich
an6). Einen speziellen Namen hat aber die Bibel, wie bemerkt,
für den Selbstmord nicht. Den Terminus hat erst später die
Schule geprägt. Er lautet nvih iosy t:jko6).
Spätere Kommentatoren bedienen sich der fehlerhaften
Bezeichnung /roaty nivo. Es dürfte eher loaiy nm heißen.
In Wahrheit bedeutet aber ibxj? n/ro gar nicht den Selbst-
mord, sondern wie das lateinische morte sua mori den natur-
gemäßen, ohne gewaltsamen Eingriff von Außen, von selbst
eingetretenen Tod. R. Akiba will eher an selbstveranlaßter
Verdurstung elend zugrunde gehen7) »Daty n/vo mo» 20108)
als gegen die Ansicht seiner Genossen ohne Händewaschen
Brod essen. Freilich kommt die absichtliche Enthaltung von
allen zur Fortfristung des Lebens unbedingt notwendigen
*) I. Sam. 31, 4.
s) Nach der von Raschi nur mit Widerstreben angenommenen
Tradition: Doeg. Pesikta d'R. K. 28b. Pes. r. 51a. Buber, Anm. 143.
Vgl. Pirka Schönbl. nvbVI XS3 16.
s) I. Sam. 31, 5.
*) II. Sam. 17, 23.
6) I. Kon. 16, 18.
6) Das Nomen njn1? lD5tj> "lia^X Hamburger, Realencykl. 1110,
kommt nirgends vor. naxö wie in ^xiP-D flrix VfiJ "DXDH ^2 oder
D">S icaty ~&xh xb* Hjr -[bn X1? Mech. 2a Friedm. ist wohl etwas
zarter als JVBD und a*W, die auch neben einander vorkommen A. Z.
Übrigens wird loaty nx JVDö nur in figürlichem Sinne in der Bedeu-
tung von Entsagung, Entbehrung und Selbstverzicht auf die Annehm-
lichkeiten des Lebens angewendet. rrDDtf "03 X^X pD"pflö T\'1 px
.TVj> iDSty Berachot 43b und dazu Tanchuma na 3. ,Tm tWX 13y HO
lDJty JlX IPtf Tamid 32a. Vgl. Gitin 57 b, Taanit 27b und im X^X
nbtyn }C »BJtJJ <mpy IM . . . Elia rabba 137 Friedm. Eine bestimmte
Art der Selbsttötung ißaty piinn, Ber. r. 34, 13. richtiger C3D"! D X *JM1
löaty nx p3inn K'onb. Vgl. B. K. 47b, dann in figürlichem Sinne:
pan^ n»pa dx (xp-ie Schönbl. 13b pun^) bna (^X3 nbnn Pes. 112a.
7) nwon hm rwpi xaat,i divd nawo Pirke d'r. E. 30. Vgl.
Taanit IV, 5. Ber. r. 53, 14. Echa r. 2, 2. Tanch. WP 5.
8) Erubin 21b. (BXJJ DITO IDID^ DX ^ax ,TDn. Sanh. 68a.
Der Selbstmord nach der Halacha. 289
Nahrungsmitteln der Selbsttötung ziemlich nahe. Doch muß
hier außer der übertriebenen Ängstlichkeit des religiösen
Gewissens1) auch noch in Betracht gezogen werden, daß
ein aus mittelbarer Veranlassung oder untätigem Geschehen-
lassen entstandenes Vergehen nach der Halacha einer viel
milderen Ahndung kbi? »sn als das böswillig beabsichtigte
und tätlich ausgeführte Verbrechen anheimfällt 821 KJH2).
Über den Selbstmörder wird eine zweifache Strafe
verhängt: a) dem Leichnam werden alle ritual festgesetzten
Ehren, die man sonst der Leiche eines natürlichen Todes
verstorbenen zu erweisen pflegt, verweigert, b) der Seele des
Selbstmörders wird ihr zukünftiges Heil abgesprochen.3)
Diese Strafbestimmung wird aber an eine unerläß-
liche Bedingung geknüpft: Die Selbsttötung muß rwib ge-
schehen sein. Wenn aber dieses r\y\b das einzige und
alleinige Kriterium des Selbstmordes ist, so muß zuförderst
i) Das. Toss. Schw. aens: n\"i icity by vana. A.Z. 27 b., Toss.
Schw. SrtP Ende, dann 54b, Toss. Schw. an, Ketub. 19a, Toss. Schw.
1ö«% Nachmani rHJtDH 'D 1.
8) Sifre I, 60. Kidd. 43a. Sanh. 76a. Chulin 9a. Maimuni nSHI
2, i. 3, io not? ny ajna «nyn iTan nx nein. So will der auf dem
Scheiterhaufen liegende Chanina ben Teradjon den Mund nicht öffnen,
um durch das Einschlagen der Flammen seinen Feuertod nicht fak-
tisch zu beschleunigen [1DXJJ3 K1.1 f?aJT b*"\ H3JW 'Ö MÄte** a&lB
A. Z. 18 a. Ganz so Jos. Jüd. Krieg III, 8, 5. Vgl. B. K. 9»bJ, sieht es
aber gerne, daß der Scharfrichter durch Vergrößerung des Holz-
stoßes sein Ende schneller herbeiführe. Bacher, Agada der Tannaiten
I, 398.
3) »3.1 Dbiyb pSn )b pK JijnS 1B¥J> ISJfprT. Der Spruch findet
sich in dieser oder ähnlicher Fassung in keiner der älteren Quellen vgl.
Sanh. XI. j. Sanh. X. Tosifta Sanh. XII. Abot d'R. N. 36 und wird auch
von keinem der Decisoren angezogen, s. Maimuni naitPfl III, 6. J. D.
345. Jos. Jüd. Krieg III, 8, 5 spricht jedoch den Gedanken schon aus.
Die Sentenz dürfte aus B. K. 91b folgen. Vgl. Hirsch Chajes ^BK
W3 27 b. B. A. Weiss mp"> }3Kj. D. 56. Maim. das hat B'B"! "OD1P aus
j. Sanh. X, 3 und Sanh. 109 a abgeleitet. Eine ähnliche Sentenz ^B
Vrtlth pT! WK IOTT3 folgt aus Pirke d'R. E. 33 Ende. Ausdrücklich
Pirke d'R. Hakk. MJfMH X3B 3,
Monatsschrift. B5. Jahrgang. 19
290 Der Selbstmord nach der Halacha.
die Bedeutung dieses Ausdruckes und seines Gegensatzes
r\vb *b& genau festgestellt werden, um die Strafbarkeit
der Handlung gesetzlich bestimmen zu können1). Nach
Hamburger8) bedeutet nyib den >bewußten und ab-
sichtlichen Selbst vernichter, der bewußt und ab-
sichtlich sich selbst vernichtet hat«. Aus den anzufüh-
renden Stellen wird aber mit Evidenz hervorgehen, daß
dieser Terminus auch anderswo kaum, hier aber am aller-
wenigsten diesen Sinn haben könne und daß die wahre
Bedeutung des Wortes eine andere sei:
1) mvsm ">2)VV lautet ein halachischer Satz, können
nyib *6tP p /iinb p angelegt werden3). Hier kann nvih
offenbar nur das Einverständnis, die freie Einwilligung be-
deuten. Ebenso injr6 «S« öixb piyo }'«*).
2) Ist jemand als Kriegsgefangener gewaltsam fort-
geschleppt worden, so ist die Behörde gehalten, einen seiner
nächsten Anverwandten in die verlassenen Güter D'ttnai 'DOJ
einzusetzen und mit der Verwaltung derselben zu betrauen.
Ist aber der betreffende i/ijr6 ausgewandert, dann ist die
Behörde dieser Pflicht entbunden5). Aus der Entgegen-
stellung dieser zwei Arten der Entfernung folgt, daß man
unter njn1? Kit» lediglich ein selbstgewähltes, freiwilliges
Auswandern verstehen könne.
3) Ist seine Opfergabe, heißt es im Priesterkodex6),
*) Moses Sofer, Responsen J. D. 325 bemüht sich eine hala-
chische Definition des Wortes zu geben, doch ist das Ergebnis, wel-
ches auf pilpulistischer Unterlage sich aufbaut, — warum z. B. der
Gegensatz von fljn1? IDlty "DKD nicht njnb 1DXJ7 TSXD WK, sondern
riJH1? *bv 'V '0 lautet — nicht befriedigend.
») Realencykl. II, 1110.
») Erubin 80 b. Das. 46 b paraphrasiert Raschi njn"? wirklich
mit nmroB>.
«) Tosifta Erubin 9, 8 p. 148, 27. j. Erub. VI, 23 c. 65.
») B. M. 39b, j. Jeb. XV, 3. 15a 11 ff. Maim. fllbrU 7, 4. 8.
T. Ch. M. 285, 1. 9.
•) 1, 3.
Der Selbstmord nach der Halacha. 291
ein Ganzopfer, dann soll er es bringen freiwillig. »Soll«,
erklärt die Halacha, das will sagen, er wird dazu gezwun-
gen im« pöttW Tö^ö. Also auch wider seinen Willen? bl3»
'JK nM") TBK»tt> IV im« J'B13 ,TS*3 «H ,Uimb Vr> ,uto ^?. Das
nicht, da es doch ausdrücklich heißt -freiwillig«. Wie ist
also der Widerspruch zu lösen? Der Widmer wird so lange
genötigt, bis er erklärt: Ich will1). Daraus leitet nun Sa-
muel den Kanon ab: njn Pi3*"iaB n^iy-ui^ni?2). Hier wird also
das späthebräische nyib dem biblischen fiii"^ gleichgesetzt.
4) Wen Gott liebt, den sucht er mit Leiden heim.
Diese Heimsuchungen sind aber nur dann eine Manifesta-
tion göttlicher Huld n^nxa übip, wenn sie in kindlicher
Liebe und Ergebenheit angenommen und ertragen werden.
Denn Leiden sind eine Sühne wie Opfer, wm da?« irtP/i d«
nyib pittr ?)« nyib w&» na. Wie also das Schuldopfer gut-
willig dargebracht werden soll, so müssen auch die über
uns verhängten Übel freiwillig aufgenommen werden3).
Hier ist nyib schon geradezu für n;n« gesetzt.
nyib bezeichnet also nicht die bewußte und absicht-
liche, sondern die freiwillig ausgeführte Handlung. Es fragt
sich nur, wie wir uns die Gewißheit verschaffen, daß der
Täter aus freien Stücken gehandelt habe, da sich der Wil-
lensakt unsichtbar im Innern der Seele vollzieht? Die
Antwort lautet: der Täter muß seine Einwilligung, sein aus
freiem Antriebe erfolgtes Zugeständnis in Worten klar und
deutlich kund tun. Das drückt nyib in folgenden Stellen aus:
') Sifra z. St. (5 b) Arachin 21b.
2) Ebenso Chulin 13a lninr DSriJHS ~ imnn?n DDüin1?. Vgl.
Sifra zu 22, 19 in"D by "n25tn DK pB13 pX8> ID'rD — DDJlltlS. Das
unterscheidet eben die Gemeinde vom Einzelnen, daß sie selbst zur
Kundgebung ihrer Einwilligung nicht genötigt werden kann, dann
muß aber lrTO by in *]3 by emendiert werden, wie es Sifra zu 23, 11
lautet. Der Abschreiber hat wohl die Anfangsbuchstaben yy irrtüm-
lich in in*iD by aufgelöst.
3) Berachot 5 a. Vgl. nyib 1DXJJ "Ppon Nidda 13 b.
19*
292 Der Selbstmord nach der Halacha.
5) Die Kreaturen der Urwelt, heißt es1), sind alle in
völlig ausgereifter Höhe, und [JVSi&i \ny~6 erschaffen wor-
den2). Zu \r\y~\b erklärt nun Raschi, daß die Geschöpfe
zuerst von Gott befragt wurden, ob sie auch wirklich er-
schaffen sein wollten und nur, nachdem sie die Frage aus-
drücklich bejaht hatten, wurden sie ins Dasein gerufen.
Obschon es zur Eigenart Raschis gehört, das Material zu
seinen Erklärungen aus weitab liegenden Gebieten herbei-
zuschaffen, in seinem Kommentare zu verarbeiten, ohne
immer die Quelle zu nennen, aus welchen er seine Daten
schöpfte,3), so dürfte sich doch in diesem Falle im rabb.
Schrifttum kaum eine Stelle finden, welcher Raschi diese
befremdliche Nachricht, daß die noch unerschaffenen Wesen
ihre Bereitwilligkeit in die Erscheinung zu treten, schon
im Voraus förmlich ankündigen mußten, entnommen. Diese
Deutung hat Raschi offenbar aus dem Wortsinne des Aus-
druckes \nyib abgeleitet. Ihm bedeutet der Terminus nicht
etwa auch die stumme, latente Bereitwilligkeit, sondern
die vernehmbar und ausdrücklich kundgegebene Bejahung
des Willens zur selbstausgeführten oder auf eigene Ver-
anlassung durch Andere vollzogene Handlung.
6) Nur ein einzigesmal4) wird im Verlaufe der Tal-
mudischen Diskussion dem nmh die Bedeutung einer still-
schweigenden Einwilligung aufgezwungen, um den Wider-
spruch zwischen zwei halachischen Normen auszugleichen.
») R. H. 17 a.
*) DJTOl6 ist wohl nicht eine andere Eigenschaft außer fnjnS
sondern blos die aramäische Umschreibung des \tylb, um die aga-
dische Deutung an DK31t »ihr Wollen« anlehnen zu können. Eine
ähnliche Erklärung der hebr. Wurzel xnit Schemot r. 25, 2 Ber. r.
10, 5 und Pseudoraschi das. Tanch. CßBB'D 17. nxi 8. \V2)t bedeutet
nirgends Schönheit, Pracht, sondern ausschließlich Willen, Wohlwollen.
Vgl. R. H. Tos. Schw. Anuch sst und J. Levy Chald. Wb. 106. II, 312.
3) Beth Talmud II, 134.
*) Erubin 82b. Vgl. D">"irtK DJH hv VTO Arachim 23 a u, Raschi
das. in: rt nex«>.
Der Selbstmord nach der Halacha. 293
Aber auch da geht die Erörterung von der allgemeinen
Annahme aus p« nc«i i&6 ssa ,ojiihö, daß man unter ny]b
die ausdrücklich abgegebene Willenserklärung zu ver-
stehen habe1).
Von dem Begriffumfange des \r\yib hängt nun die ge-
naue Bestimmung des \r\yib *6tP ab, welches niemals den
konträren, sondern ausschließlich den kontradiktorischen
Gegensatz zu \r\yib bildet. Schließt \r\yib auch die ver-
schwiegene Einwilligung zur Tat in sich ein, dann be-
deutet \r\yib nbw die ausgesprochene Verwahrung. Ist aber
unter \nyib im allgemeinen wie auch beim Selbstmorde
mors voluntaria die kundgegebene freie Willensäuße-
rung zu verstehen, dann ist nyib abv nicht das Gegenteil,
sondern die bloße Verneinung des r\yib. Der nicht ge-
äußerte Wille, heißt auch nyib xbw2).
Es darf also als gesichertes Resultat festgestellt wer-
den, daß der Begriffsinhalt des r\yib sich aus zwei not-
wendigen Elementen zusammensetzt: einmal, daß die Tat
freiwillig, aus eigener Entschließung, ohne Eingriff zwin-
gender Motive oder Kräfte von Außen vollzogen werde,
und ferner daß diese Spontaneität des Willens, ehe er durch
die Tat zur Erscheinung gelangt, auf unzweideutige Art
geoffenbart werden müsse. Wo eines dieser Kriterien fehlt,
ist die Annahme geboten, daß die Tat nicht aus freiem
Willen erfolgte, wodurch die Verantwortlichkeit und Straf-
barkeit des Täters aufhört, oder daß die Tat von einem
Andern verübt worden sei, wenn auch der Schein noch so
nötigend für den Selbstmord zeugt. Dazu tritt noch, was
aber nicht in den Begriffskreis des nyib gehört, als drittes
Moment hinzu, daß der Zusammenhang zwischen der An-
') Erubin 82b ähnlich Keritut 13b: -IDK1 1K1? pX"6 »bv 'KD
Wh khj Km.
2) Ähnliche Bezeichnungen dieser Begriffesgegensätze sind
lms by — ry-\b, px-6 *bv — [snfc Jeb. 14, l. ,ijm ^-k ik — r\t\\
lrmton xbv — itdiüs.
294 Der Selbstmord nach der Halacha.
kündigung des freien Willens und der Ausführung des-
selben ein so enger und überzeugender sein müsse, daß
der urteilende Richter dem logischen Zwange unterworfen
sei, in der Tat den unmittelbaren Einfluß des freien Wil-
lens und im freien Willen das bestimmende Motiv der Tat
zu erblicken. Wo auch nur eines dieser drei Merkmale fehlt,
muß darauf erkannt werden, daß die Tat nicht in die Ka-
tegorie des Selbstmordes gehört.
Hätte die Halacha zuerst die allgemeine abstracte
Regel aufgestellt, um dann die allgemeine Bestimmung mit
dem einleitenden ws auf spezielle Fälle anzuwenden, so
wäre der Sinn des nvih 'V 'o wohl nie strittig gewesen.
Sie schlägt aber hier, wie auch sonst so oft den umge-
kehrten Weg ein. Sie führt einige konkrete Beispiele vor,
um dann aus den gegebenen Fällen die entscheidende De-
finition abzuleiten. Aus den angeführten Beispielen geht
aber mit Gewißheit hervor, daß sie die Definition des
Selbstmordes nach den oben angegebenen Prinzipien kon-
stituiert hat. Die Beispiele lauten:
a) Ist jemand erdrosselt an einem Baume aufgehängt
oder erstochen über seinem Schwerte hingestreckt gefun-
den worden, nyib nbw ibjw T3Kon ripma n? nn, da gilt die
Voraussetzung, daß hier kein Selbstmord vorliegt1). Ob-
schon die Indizien mit großer Wahrscheinlichkeit für einen
Selbstmord sprechen — er liegt über seinem Messer —
muß doch eher der Vermutung Raum gegeben werden,
daß ein anderer den Mord an ihm begangen habe. Es wer-
den ihm also die Ehren der Bestattung nicht verweigert.
Dasselbe gilt für einen, der ins Meer gefallen, den der
Strom fortgeschwemmt oder wilde Tiere zerrissen haben2).
b) Ist jemand vor unseren Augen auf den Wipfel
eines Baumes geklettert, hinuntergefallen und gestorben,
oder auf die Spitze eines Daches gestiegen, hinunterge-
l) Setnachot 2, 3. Es muß pjttiö pKl gelesen werden.
») Das. 2, 8.
Der Selbstmord nach der Halacba. 295
stürzt und gestorben, wird nicht auf Selbstmord erkannt1).
Hier ist die Tat wohl gesehen, aber die Ankündigung der
Freiwilligkeit nicht gehört worden.
c) Hat jemand erklärt: Ich steige auf die Spitze des
Daches oder des Baumes, stürze mich hinunter, um zu
sterben — Kundgebung des freien Entschlusses — und
man sah ihn auf die Spitze des Daches2) oder des Baumes
steigen, zu Boden stürzen und sterben — enges Nachein-
ander und Zusammenhang der Folge mit dem Grunde —
der allein gilt als Selbstmörder, dem alle Ehrenbezeugun-
gen, die man dem Leichnam zu erweisen hat, verweigert
werden3). Die späteren Codificatoren haben diese Lehr-
sätze nahezu wörtlich4) aufgenommen und zur bindenden
Norm erhoben5).
») Das. 2, 2.
') Das. im 31*1 WXlb muß ergänzt werden.
8) Das.
*) Maim. 'jsk 1, fügt zu c nblV HK1 noch DJJD "|"H TD hinzu.
Ihm folgt Karo J. D. 345, 2.
») Maim. tat 1, T. J. D. 345.
•
Wie verhielt sich das Judentum zu lesus und dem
entstehenden Christentum?
Von M. Freimann.
(Fortsetzung.)
II.
Auf festerem, weil geschichtlichem Boden befinden wir
uns bei der Prüfung des Verhaltens des Judentums zu dem
entstehenden Christentum. Da sind wir sogar in der Lage,
manche bedeutsame Darstellungen der Evangelien zu kon-
trollieren und des ferneren, zu beobachten, in welcher Weise
und zu welchem Zweck die mündlichen Überlieferungen
der nazaräischen Gemeinde Jesu in der apostolischen, ins-
besondere aber in der nachapostolischen Zeit, teils un-
bewußt, teils aber infolge herrschender Voreingenommenheit,
umgedeutet wurden. Es wird sich uns aber auch hier er-
geben, daß man nicht berechtigt sei, von einer »jüdischen
Verfolgung« Jesu und des entstehenden Christentums zu
sprechen.
Beginnen wir gleich mit der Vorgeschichte des Christen-
tums, mit der Johanneischen Taufbewegung.
Wie sich das Judentum zu der Hinrichtung des
Täufers verhielt, erfahren wir von Josephus, der hierüber
folgendes berichtet : »Diesen hatte nämlich Herodes töten
lassen, einen vortrefflichen Mann, der die Juden aufforderte,
sich der Tugend eifrig zu befleißigen, gegen einander Ge-
rechtigkeit, gegen Gott Frömmigkeit zu üben, und so vor-
bereitet, sich zur Taufe zu vereinigen; denn dann werde
die Taufe Gott wohlgefällig sein, indem sie dieselbe nicht zum
Zwecke der Sündenvergebung anwendeten, da ja ihre Seele
Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus etc. 297
schon durch ein gerechtes Leben geheiligt sei, sondern zur
Heiligung des Leibes. Da nun von allen Seiten ihm die
Massen zuströmten — sie wurden nämlich durch seine
Rede in tiefste Erregung versetzt — begann Herodes zu
fürchten, die hinreißende Beredsamkeit des Mannes, die
eine solche Macht auf die Menschen ausübe, könnte leicht
einen Aufruhr herbeiführen. Er hielt es daher für angezeigter,
ihn rechtzeitig aus dem Weg zu räumen, bevor noch irgend
eine Neuerung von ihm ausgegangen, als später nach einer
bereits erfolgten Umwälzung die Unschlüssigkeit bereuen
zu müssen. Auf diesen Argwohn hin wurde Johannes in
Fesseln gelegt, nach der Festung Machärus gebracht und
daselbst enthauptet. Die Juden aber hegten die Über-
zeugung, daß der Tot dieses Mannes die Ursache war von
dem über das Heer herein gebrochenen Verderben, da Gott
dem Herodes zürnte«1).
Der Pharisäer Josephus verherrlicht hier förmlich den
Täufer und zeigt uns, in welche Stimmung die Hinrichtung
desselben die Juden versetzt hatte. Diese waren gegen
Herodes empört und sahen in der Niederlage, die er bald
darauf erlitt, »eine gerechte Strafe Gottes«, weil er den
»trefflichen Mann« hatte tödten lassen2).
Die Bewegung, die der Täufer hervorrief, war nicht
nur nach der Schilderung der Evangelien, sondern weit
mehr noch nach jener des Josephus eine mächtige, und
gleichwohl standen ihr die pharisäischen Gesetzeslehrer
indifferent gegenüber: nicht die leiseste Erinnerung an die-
selbe ist in den Talmud gedrungen.
Die Hinrichtung des Täufers erfolgte, wie aus des
Josephus historisch treuer Darstellung zur Gewißheit her-
vorgeht, aus politischen Gründen. Der Tetrarch fürchtete,
') Ant. XVIII, 5, 2.
s) Das.: T0T5 Ss 'JouSaioti; 56?; av sxl Tifxtopia Tri sxstvou
tov Ö^eö-pov s*rct tco <TToa.TSuu.aTi "(evtc&cLi, toO 0eoö y.axö;
lHptO§7) ftsXoVTO?.
298 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
daß die Taufbewegung zu einem Aufruhr führen könnte,
und er beseitigte den Urheber derselben — unter starker
Entrüstung der Juden.
In den Evangelien erfährt dieser Bericht schon eine
dichterische, aber nicht unbeabsichtigte Ausschmückung.
Die Färbung verrät die im zweiten Jahrhundert herrschende
Stimmung. Hier erscheint der Täufer als Vorbote des Messias
und eifernd gegen das »Otterngezücht* der Pharisäer und
Sadduzäer. Und nicht aus Furcht vor Umwälzungen, zu denen
die von ihm hervorgerufene Bewegung führen könnte,
wird er von dem Vierfürsten Herodes ins Gefängnis ge-
worfen und enthauptet, sondern »wegen der Herodias, des
Weibes seines Bruders Philippus. Denn Johannes hatte ihm
gesagt, es ist nicht recht, daß du sie habest«1). Und nun
folgt die romanhafte Erzählung von dem Töchterchen der
Herodias, das mit seinem Tanze den Vierfürsten berückte
und zum Lohne das Haupt des Johannes auf einer Schüssel
verlangte und erhielt. Das politische Motiv ist hier völlig
unterdrückt. Aus leicht begreiflichen Gründen. Der Täufer
durfte nicht als Aufwiegler sterben. Wie leicht hätte dies
auf die Vermutung leiten können, daß auch Jesus, weil er
ähnliche Besorgnisse erregte, von dem römischen Land-
pfleger gekreuzigt worden sei. Liefen doch damals alle von
den falschen Messiasen erregten Ansammlungen auf Em-
pörung gegen die römischen Tyrannei hinaus. — Daher
die von Josephus abweichende Darstellung der Evangelien.
Daher auch die phantasievolle Erzählung bei Lucas von
der Geburt des Täufers und seiner Mutter Beziehungen
zu Maria.
In der Folge wurden sogar den ganz präzise lauten-
den, über die Johanneische Taufe sich verbreitenden Worten
des Josephus ein ihnen völlig fern liegender Sinn unter-
schoben, um sie mit dem einschlägigen evangelischen Be-
richte in Einklang zu bringen. Bei Josephus stellt Johannes
») Mt. 14, 3-21; Mc. 6, 14-29; Lc. 3, 19-20.
und dem entstehenden Christentum? 299
an die Taufenden die Forderung: »sich eifrig der Tugend
zu befleißigen, gegen die Menschen Gerechtigkeit, gegen
Gott Frömmigkeit zu üben, und so vorbereitet, sich
zur Taufe zu vereinigen; denn dann werde die
Taufe Gott wohlgefällig sein, indem sie dieselbe
nicht zum Zwecke der Sündenvergebung an-
wendeten, da ja ihre Seele sc ho n durch ein geweihtes
Leben geh ei ligt sei; sondern zur Heiligung des Leibes«1).
Hienach hatte die Taufe als solche keinerlei Kraft der
Sündenvergebung, sie lag vielmehr in der vorhergegangenen
inneren Umwandlung und Heiligung.
Was aber liest im dritten Jahrhundert Origenes aus
diesen so klaren Worten des Josephus heraus ? In seiner
Schrift gegen Celsus sagt er: »Ich will Celsus daran erinnern,
daß ein Geschichtschreiber, der kurz nach Johannes und Jesus
lebte, gleichfalls erwähnt hat, daß Johannes gesandt worden
sei zu taufen und daß er zur Vergebung der Sünden
getauft habe. Im achtzehnten Buche seiner jüdischen Alter-
tümer bezeugt er, daß Johannes getauft und denen, die
sich von ihm taufen lassen würden, die Vergebung der
Sünden verheißen habe*2).
Hier wird also Josephus als Zeuge aufgerufen, um
zugunsten der evangelischen Darstellung das Gegenteil
von dem, was er tatsächlich berichtete, auszusagen. Allein
gegenüber vielen andern Umdeutungen stellen sich derartige
Auslegungen noch immerhin als harmlose Versuche dar.
Wir haben bereits gesehen, welche Umdeutung die
l) oütw Y^p xal tyiv ßdHcnanv aTCoSsjcnriv auTto «pavetofl-at,
(Ar) iizl tivcov ä^apTaSwv wapaiTYiffei ypwaevwv, aW 29' ayveCa
toQ <7coy.aTO?, &rs Sri xai fYfe ^uj^fte StxaiornivYj Tcposjotad-apjxivr)?.
*) Orig. c. Cels. I, 47: Öti to, 'IwavvYiv yz*(ov£va.i ^OLTZiicvh,
ü$ acpsötv ajxap-r'/ijxdcTwv ßae«fi£ovTCC, ävsYpa^e ti? töv [/.st' oü
xoVj tou 'Iwavvou xal tou 'Itiou ysYsv/ifxevwv. 'Ev y*P t<? Ö)gtg>-
xai^sjcdiTw t% 'IouSaäyfc äp^aioXoYia; 6 'Iwcr7i7Co; |x«pirupeT t$
'ItoavvT), («)? ßoMm<7T7i YSY^'l^vw, xai **^pfflOV f°Tl» ßxTciTXjxevot;;
e^aYYe^owivw.
300 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
Predigt Jesu selbst in wesentlichen Punkten erfahren. Hier
ein weiteres markantes Beispiel: Jesus sendet seine zwölf
Apostel aus mit der bestimmten Weisung: »Gehet nicht
auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter
Städte, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus
dem Hause Israel«1). — Eines Tags melden ihm die Jünger
ein kananitisches Weib, das seine Hilfe in Anspruch nehmen
will. Er erwidert geärgert: »Ich bin nicht gesandt, denn
nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel.« Als
aber das Weib dennoch kommt und vor ihm Hilfe flehend
niederfällt, antwortet er: »Es ist nicht fein, daß man den
Kindern ihr Brot nehme und es vor die Hunde werfe«2).
Man mag mit Recht bezweifeln, ob Jesus solche Eng-
herzigkeit an den Tag gelegt; Tatsache ist, daß solche
Äußerungen von der urchristlichen Gemeinde, die so ex-
klusiv war, überliefert wurden. Und ebenso gewiß ist es,
daß dieselben landläufig geworden waren ; sonst würde der
Evangelist, sie nicht aufgenommen haben, da sie ihm höchst
unbequem sein mußten. Denn ein Evangelium, das darauf
ausgeht, die heidnische Welt zu gewinnen, wird seinem
Verkünder nicht solche die nichtjüdische Welt weit von sich
weisenden Worte in den Mund legen.
Wie aber finden sich die Synoptiker, die sich bereits
von den Juden abgewendet, um den Heiden das Heil zu
verkünden, mit dieser Überlieferung ab ? Ganz einfach. Was
der lebende Christ anzudeuten verabsäumt, der auferstandene
holt es nach. Er erscheint nach seiner Kreuzigung den
Jüngern und spricht zu ihnen: »Gehet hin und lehrt alle
Völker und tauft sie im Namen des Vaters, des Sohnes
und des heiligen Geistes; und lehret sie halten alles, was
ich euch befohlen habe«3). — Lucas, der hier den Wider-
spruch stärker als Mathäus und Markus empfindet, bemüht
») Mt. 10, 5-6.
») Mt. 15, 24—26.
3) Mt. 28, 19-20; MC, 16, 15-16.
und dem entstehenden Christentum? 301
sich, ihn abzuschwächen, indem er den auferstandenen
Christ sprechen läßt: »Also ist's geschrieben und also
mußte Christus leiden und auferstehen von den Todten
am dritten Tag, und predigen lassen in seinem Namen
Buße und Vergebung der Sünden unter allen Völkern
— und anheben zu Jerusalem«:1).
Die Botschaft Jesu, welche die nazaräische Gemeinde
aus dem Munde des Meisters empfing und, mehr oder
minder verstanden, überlieferte, hatte im Verlaufe eines
Jahrhunderts, innerhalb dessen sie, dank der intensiven
Missionsarbeit messianistischer Diasporajuden weite Ver-
breitung in der heidnischen Welt gefunden, eine gründliche
Umgestaltung erfahren. Im Heidentum äußerte sie eine
erstaunliche Werbekraft. Nicht so im Judentum, das zuerst
von ihrer Wahrheit überzeugt werden sollte, da es »den
Vorzug genoß, daß ihm vertraut, was Gott geredet
hat«2), »da ihm die Kindschaft gehört, und die Herr-
lichkeit und der Bund und das Gesetz und der Gottes-
dienst und die Verheißungen, und aus welchem Christus
herkommt«3). — Dieses aber blieb ihr nach wie vor, zum
mindesten in seinem überwiegenden pharisäischen Teil,
ferne und unerreichbar. Die ganze Feindschaft des heid-
nischen Christentums kehrte sich sonach naturgemäß gegen
das ungläubige und widerstrebende Judentum, das, blind
gegen die christliche Heilslehre, Zeugnis für dieselbe nicht
ablegen wollte. Diese Feindschaft kommt denn auch in den
kanonischen Evangelien zum vollsten Ausdruck. — Und
sie verraten auch darin die umarbeitende Hand, daß in
ihnen nicht die »Schriftgelehrten und Pharisäer« sondern
Jesus der angreifende und herausfordernde Teil ist, gegen
dessen vehemente Angriffe jene sich kaum wehren. Dieselbe
passive Rolle spielen auch die Juden in allen uns noch
>) Lc. 24, 46-47.
>) Rom. 3, 1—2.
s) Rom. 9, 3-5.
302 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
erhaltenen, zwischen diesen und den Christen im zweiten
Jahrhundert stattgehabten Kontroversen. Sie sind da
überall die Herausgeforderten und verteidigen nur not-
gedrungen und ohne Animosität ihre Positionen, wäh-
rend ihre Gegner die ganze Schale ihres Zornes über
sie ausschütten. In diesem Stile sind die Wehrufe Jesu
gegen die »Schriftgelehrten und Pharisäer« gehalten. An
den ursprünglichen evangelischen Überlieferungen wurde
noch im zweiten Jahrhundert so lange herumkommentiert,
bis das national-jüdische Moment aus denselben möglichst
entfernt und der Universalismus völlig herausgearbeitet war.
Und diese Arbeit leistete die Großkirche in langem Kampfe
gegen das Judentum und den Gnostizimus. So ist es denn
nicht ganz aus der Luft gegriffen, wenn der Platoniker
Celsus noch in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts
den Christen vorwirft, es gebe Leute unter ihnen, die ihre
Evangelien drei- und viermal verfälschen, bis sie endlich
das sagen, was ihnen gut dünkt, um ihre Widersacher
widerlegen zu können1).
Aus derartigen von einer späteren Zeit an manchen
Aussprüchen Jesu und an alten Überlieferungen vorgenom-
menen Umdeutungen entsprangen die vielen Widersprüche,
an denen die Evangelien leiden und vornehmlich aus dem
Umstände, daß einzelne dieser Aussprüche, weil sie schon
landläufig geworden, in ihrer ursprünglichen Form belassen
bleiben mußten.
Am anschaulichsten lernen wir das Verhalten des
Judentums und seiner Gesetzeslehrer zur Gemeinde Jesu
kennen und andererseits die Methode beurteilen, nach
welcher geschichtliche Überlieferungen umgemodelt wurden,
bis sie nicht selten gerade das Gegenteil von dem, was
sie ursprünglich meldeten, berichten: in der Behandlung,
welche die Steinigung des Jacobus, des Bruders Jesu,
erfahren.
!) Orig. contra Cels. II, 2.
und dem entstehenden Christentum ? 303
Der rein geschichtliche, von Josephus geschilderte
Hergang ist der folgende.
»Der jüngere Ananus, von dessen Erhebung zum
Hohenpriester wir gesprochen haben, war von heftiger und
höchst verwegener Gemütsart. Dabei gehörte er zur Sekte
der Sadduzäer, die, wie schon früher bemerkt, im Gerichte
liebloser als alle anderen Juden verfahren. Zur Befriedigung
seiner Hartherzigkeit glaubte Ananus, da Festus gestorben,
Albinus aber noch nicht angekommen war, eine günstige
Gelegenheit gefunden zu haben. Er versammelte den hohen
Rat zum Gerichte und stellte vor denselben den Bruder
des Jesus [der Christus genannt wird], Jacobus mit Namen,
nebst noch einigen Anderen, klagte sie als Übertreter des
Gesetzes an und ließ sie zur Steinigung verurteilen. Darüber
jedoch wurden selbst die eifrigsten und dem Gesetze
ergebensten Bürger vom tiefsten Unwillen erfaßt1). Sie
schickten daher heimlich Abgesandte an den König und
baten ihn, Ananus brieflich zu verwarnen, damit ähnliche
Dinge sich nicht wiederholen; denn was er getan, sei
ein schweres Unrecht gewesen. Einige von ihnen gingen
sogar Albinus entgegen, der von Alexandria kam und
stellten ihm vor, daß Ananus ohne seine Genehmigung
den hohen Rat zum Gericht einzuberufen, nicht berechtigt
gewesen. Auf diese Anklage hin schrieb Albinus an Ananus
im tiefsten Zorn, ihm schwere Strafe androhend. Und der
König Agrippa entsetzte ihn schon nach dreimonatlicher
Funktion seines Amtes«2).
Kein unvoreingenommener Forscher wird die Richtigkeit
dieser Darstellung, die einen schlagenden Beweis für unsere
Auffassung liefert, anfechten wollen. Und nun überlege man:
der Jude Josephus, Parteigänger der Pharisäer, welche
letzteren seit dem Beginne des zweiten Jahrhunderts von
1) 5(JOl Se eSoXOUV £7USlXS<J"*XTOt TÖW Y.V.-ZX TflV 7r6Xtv eivcu,
xal Ta ttept tou; vöjx.ou; äxptßeT;, ßapsox; -fiveYxav iizl toutoi
s) Ant. XX, 9, 1.
304 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
der Kirche als die grimmigsten Verfolger Jesu und seiner
Gemeinde hingestellt werden, verurteilt nicht nur in ent-
schiedenster Weise das an Jacobus verübte Verbrechen;
er berichtet des weiteren, daß die frommen und gesetzes-
eifrigsten Juden auf das tiefste über dasselbe empört waren
und Sühne verlangten.
Dieser Bericht des Josephus erfuhr um die Mitte des
zweiten Jahrhunderts, wo die allgemeine Kirche bereits aus
den Kämpfen gegen das jüdische Christentum einerseits
und den Gnostizismus andererseits als Siegerin hervor-
gegangen war, eine vollständige Umarbeitung. Zunächst
durch Hegesipp. Es ist ein ganzer Roman, der uns jetzt
geboten wird, der die Tendenz verfolgt, die Steinigung des
Jacobus den Pharisäern zur Last zu legen. Hegesipps
Hypomneumata sind nicht mehr auf uns gekommen, ver-
mutlich weil sie Nachrichten enthielten und Anschauungen
vertraten, die der Großkirche nicht mehr förderlich erschienen,
und so teilten sie das Los unzähliger anderer in jener Zeit
abgefaßter religionsgeschichtlicher Werke. Aber Eusebius
hat uns manche Bruchstücke daraus erhalten, zumal solche,
die in seine Darstellung paßten, und er berichtet über die
Steinigung des Jacobus wie folgt: »Am genauesten schildert
das Schicksal des Jacobus Hegesipp, welcher der Apostel-
zeit am nächsten lebte, im fünften Buche seiner Kommen-
tarien, wo erfolgendes berichtet: Gemeinsam mit den Aposteln
übernahm die Leitung der Gemeinde der Bruder des Herrn,
Jacobus, der zum Unterschied von vielen anderen desselben
Namens der Gerechte genannt wurde. Dieser war schon
im Mutterleib heilig. Er trank weder Wein noch sonst
scharfes Getränk, noch nährte er sich von Fleischkost . . .
Ihm allein war gestattet, in das Heiligtum einzugehen. Er
trug kein wollenes sondern ein Leinengewand. Er ging
immer allein in den Tempel, wo man ihn auf den Knien
liegend und Gott für das Volk um Vergebung flehen sehen
konnte. — Wegen seiner außerordentlichen Gerechtigkeit
und dem entstehenden Christentum? 305
wurde er der Gerechte genannt. — Einige nun von den
sieben Sekten im Volke — fragten ihn, welches die Tür
Jesu sei und er entgegnete ihnen, dieses sei der Erlöser.
Denn einige hatten geglaubt, daß Jesus der Messias sei.
Die genannten Sekten aber glauben weder an eine Aufer-
stehung, noch daß einer kommen werde, jedem nach seinen
Werken zu vergelten. Wer aber gläubig geworden, ward es
durch Jacobus. Da nun auch viele von den Häuptern
des Volkes glaubten, so entstand unter den Juden, Schrift-
gelehrten und Pharisäern eine Unruhe, und sie sagten,
es scheine, daß das ganze Volk Jesum als den Christ
erwarte. Sie gingen daher zu Jacobus und sagten zu ihm:
wir bitten dich das Volk zurückzuhalten, da es inbetreff
Jesu die irrige Meinung hegt, er sei der Christ. Wir bitten
dich, alle zum Passahfest Erscheinenden betreffs Jesu auf
den richtigen Weg zu bringen, damit es nicht irregehe. —
Stelle dich auf die Spitze des Tempels, damit dich alle
sehen und das ganze Volk dich höre. Die genannten
Schriftgelehrten und Pharisäer stellten ihn auf
die Spitze des Tempels und riefen ihm die Worte zu: du
Gerechter, dem wir alle glauben müssen, da das Volk in
seinem Irrtum dem gekreuzigten Jesus folgt, sage uns,
welches ist die Türe Jesu, des Gekreuzigten? Da antwortete
Jacobus mit lauter Stimme: was fragt ihr mich wegen Jesus,
des Menschen Sohn? Er sitzt im Himmel zur Rechten der
großen Kraft und wird einst mit den Wolken des Himmels
kommen. Da ihm nun viele beistimmten und Jesum wegen
des Zeugnisses des Jacobus priesen und riefen: Hosana dem
Sohne David, da sprachen wieder dieselben Schriftge-
lehrten und Pharisäer zu einander: wir haben es
schlimm angefangen, Veranlassung zu einem solchen Zeugnis
für Jesus zu geben; laßt uns hinaufgehen und ihn hinab-
werfen, damit sie sich fürchten und ihm nicht glauben!
Und sie riefen und schrien: 0, auch der Gerechte steckt
im Irrtum! Und sie erfüllten das Prophetenwort: laßt uns
Monatitchrift, 55. Jahrgang. 20
306 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
den Gerechten aus dem Wege schaffen, denn er ist uns
hinderlich; sie werden aber die Frucht ihrer Werke genießen.
Sie gingen demnach hinauf, warfen den Gerechten herab
und sprachen zu einander: Laßt uns Jacobus den Gerechten
steinigen. Und sie begannen ihn zu steinigen; denn er war
noch nicht tod, sondern hatte sich umgewandt nach dem
Sturze und betete auf den Knien: Ich bitte Dich Herr, Gott
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.
Während sie ihn so steinigten, rief einer von den Priestern
von den Söhnen des Rachab des Sohnes Rechabim, von
welchem der Prophet Jeremia Zeugnis ablegt: haltet ein!
was tut ihr? der Gerechte betet für euch. Da nahm einer
von ihnen, ein Walker, ein Holz und schlug damit den
Gerechten auf den Kopf. Auf diese Art fand Jacobus den
Märtyrertod. Sie begruben ihn auf demselben Platze, und
noch jetzt ist sein Grabmal bei dem Tempel zu sehen.
Dieser Jacobus ist Juden und Griechen ein wahrhaftiger
Zeuge geworden, daß Jesus der Messias. — Kurz darauf
überzog Vespasian Judäa mit Krieg und führte seine Be-
wohner in die Gefangenschaft«1).
Soweit der von Eusebius ausgezogene Bericht des
Hegesipp über die Steinigung des Jacobus.
Jeder Unbefangene wird hier leicht herausfinden, wo
Wahrheit und wo Dichtung ; wo historische Treue und
wo Tendenz. Und doch ist die Kirchengeschichte der Dar-
stellung des Hegesipp gefolgt und hat dieselbe bis auf den
heutigen Tag das Feld behauptet. Es ist kein Zweifel, daß
der dichterischen Schilderung des Hegesipp Josephus als
Quelle gedient hat. Und wie frei hat, um die Mitte des
zweiten Jahrhunderts, Hegesipp mit dem überlieferten Stoff
geschaltet! Bei Josephus ist der Mörder des Jacobus ein
hartgeherzter, gewalttätiger sadduzäischer Hoherpriester ;
bei Hegesipp legt sich ein Priester ins Mittel zugunsten
des Märtyrers. Bei dem ersteren sind es gerade die eif-
') Euseb. H. E. II, 23.
und dem entstehenden Christentum? 307
rigsten Juden, ihre Schriftgelehrten, »die dem Gesetze
Ergebensten«, welche am tiefsten entrüstet sind über
die Steinigung des Jacobus und ungestüm Bestrafung des
Urhebers verlangen ; bei dem letzteren sind die »Schrift-
gelehrten und Pharisäer« die einzig Schuldigen : sie spre-
chen das Urteil über Jacobus und legen selbst Hand an
ihn. — Wir befinden uns eben im zweiten Jahrhundert,
in welchem immer und überall, wo die Christusgemeinde,
sei es im Innern durch häretische Sekten, sei es von
außenher, zu leiden hat, die Urheber und Übeltäter die
»Schriftgelehrten und Pharisäer« sind.
Aber damit hat die Sache noch keineswegs eine end-
giltige Erledigung gefunden. Der Bericht des Josephus war
einmal da, und obgleich er der Darstellung des Hegesipp
stracks widersprach, durfte er doch nicht beseitigt werden,
da er ja Zeugnis für die Steinigung des Jacobus ablegte.
Da galt es, die Hauptdifferenz in beiden Darstellungen zu
beseitigen, die darin lag, daß Hegesipp die Urheber der
Steinigung ganz anderswo sucht als Josephus. Und nun
begann die Auslegungs- und Unterlegungsarbeit. Es mußte
irgendwie eine Übereinstimmung zwischen beiden ange-
bahnt werden.
Wir haben bereits an einem Beispiel gezeigt, wie
Origenes die Auffassung der Johanneischen Taufe zur
Übereinstimmung mit der evangelischen zwingt. Nach der-
selben Methode wird auch hier, inbezug auf die Steinigung
des Jacobus, vorgegangen. Origenes liest eben aus Jo-
sephus heraus, was dieser niemals niedergeschrieben ; er
liest ihn eben mit dem Hegesipp'schen Kommentar. Im
ersten Buche gegen Celsus sagt er wörtlich : »da Jo-
sephus, der doch Jesum nicht als den Christ
anerkannt1), nach den Ursachen forscht, warum Jeru-
*) Hier zeigt sich unwiderleglich, daß die vielbekannle Christus-
stelle bei Josephus Ant. XVIII, 3, 3 eine später eingeschobene, da
Origenes sie noch nicht kennt. Er würde sie sonst sicher immer
20*
308 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
salem zerstört und der Tempel eingeäschert wurde, so
sagt er zwar nicht, was er sagen sollte, daß nämlich
dieses Unglück die Juden betroffen, weil sie Jesus ver-
folgt und den von den Propheten verheißenen Messias ge-
kreuzigt haben, er kommt aber gleichwohl der Wahrheit
nahe. Denn er sagt: dieses Elend sei den Juden
darum wi de rf ah ren, damit der Tod desJacobus,
des Gerechten, der ein Bruder Jesu war, den man den
Christ nannte, an ihnen gerächt werde, den sie un-
geachtet seiner großen Frömmigkeit und Gerechtigkeit hin-
gerichtet hatten«1). Und im zweiten Buche gegen Celsus
wiederholt Origenes diese Behauptung, bemerkend : »Jo-
sephus meint, dieses Unglück habe die Stadt Jerusalem
betroffen, weil die Juden Jacobus den Gerechten, den
Bruder Jesu, genannt der Christ, getötet haben«2).
Das aber ist bei Josephus nirgends zu finden. Es ist viel-
mehr in ihn hineingelesen worden, um den zwischen seinem
und Hegesipps Jacobusberichte herrschenden krassen Wider-
spruch wenigstens einigermaßen zu verschleiern und dem
Judentum die Schuld für die Steinigung des Jacobus zur
Last zu legen. Denn das verlangten die Zeitverhältnisse,
aus denen heraus Hegesipp schrieb. Darum deutet auch
Hegesipp an, daß der Untergang Jerusalems die Strafe war
für das von den Juden an Jacobus begangenen Verbrechen;
indem er seinen Bericht mit den Worten schließt: »Kurz
wieder aufgerufen und gewiß nicht behauptet haben, Josephus habe
Jesum nicht als den Christ anerkannt: xairoi vs ärciTTöW t<3 'Ititoü
w? yjpiGTÜ. Während doch Josephus in der eingeschobenen Stelle
Jesus fast ins Übermenschliche erhebt, erklärend, er sei der Christ :
6 £pt?To; outo; tjv.
') Orig. c. Cels. I, 47: 6 Üi [Wot/ito;], xxl ««rrcep or/.cov o-i
{jLaxfav Tr& aXv)^sia? y£v^svo;, (pvjrrl txuto. <7'j(Aßsßyi"/.evai toT;
'Iouöxiot; xar' sxöuajffiv Maxwßou to-j oV/.afou, o; r,v ä&sXpö; lr,ToO
TOU 'XsyojJ'-SVO'J /jHTTOO, STCSlS'OTCSp öY/tXIOTXTOV XÜTÖV OVT3C aTCiXT EIVXV.
■j ib. II, 13: a>; jjlsv Iio?7)tco<; XP*?81j ^'* 'I&Koßov rdv &XKIOV,
tov aSeX<pöv 'Iy)7ox toO Xsyoaevou ^ptTTOü xtX.
und dem entstehenden Christentum ? 309
darauf überzog Vespasian Judäa mit Krieg und führte seine
Bewohner in die Gefangenschaft«. Eine Behauptung, der
Origenes widerspricht, das Unglück, meint er, sei vielmehr
von den Juden dadurch herbeigeführt worden, daß sie Je-
sum verfolgten und kreuzigten.
So blieb es denn dabei, daß die Juden Jacobus ge-
steinigt und daß Josephus selber diese Tatsache verzeichnet
habe. Das schreibt denn auch Eusebius dem Origenes nach,
indem er zu dem von ihm zitierten Berichte des Hegesipp
bemerkt: »Jacobus aber stand in so hohem Ansehen und
in solchem Rufe wegen seiner Gerechtigkeit bei allen, daß
auch die Verständigeren unter den Juden glaubten, daß
sein Märtyrertod die Ursache der bald erfolgten Belagerung
von Jerusalem gewesen und daß diese aus keinem andern
Grunde erfolgt sei als wegen der an Jacobus begangenen
Blutschuld. Josephus wenigstens trägt kein Be-
denken, dieses auch zu behaupten, wenn er
sagt: »dieses traf die Juden als Strafe dafür, daß sie
an Jacobus dem Gerechten, welcher war ein Bruder Jesu,
des sogenannten Christus, gefrevelt: denn ihn hatten die
Juden, obwohl er ein gerechter Mann war, getötet«1).
Nun erfahren wir auch, durch wen in den Jacobus-
bericht des Josephus, »welch letzterer doch Jesum nicht als
den Christ kannte«, die Worte: »Jacobus der Bruder Jesu,
Christus genannt«, eingeführt wurden. Soviel uns be-
kannt, ist Origenes der erste, der sie in den Josephus
hineinlas.
Wir sind also in der Lage, an zwei der bedeutsamsten,
J) Dasselbe wiederholt auch Hieronymus im ersten Buch gegen
Jovinianus: »Jacobus« — sagte er— »der Bruder des Herrn genannt,
war so heilig, gerecht und jungfräulich, daß der jüdische Geschicht-
schreiber Josephus behauptet, Jerusalem habe sich durch sein Blut
den Untergang zugezogen : Transeamus ad Jacobum, qui frater Domini
dicebatur, tantae sanctitatis tantaeqae justitiae et perpetuae virginitatis,
ut Josephus quoqae historicus Indaeorum propter huius necem
Jerosolymam subuersam referat.
310 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
aus der Urzeit des Christentum uns überlieferten histori-
schen Geschehnissen das Verhalten des pharisäischen Ju-
dentums zum Christentum zu prüfen und gleichzeitig die
ursprüngliche Version in der ihr im zweiten Juhrhundert
gewordenen Beleuchtung zu sehen. Und welches ist das
Resultat, das sich aus dieser Zusammenstellung ergibt? Ein
doppeltes: zunächst, daß die ältesten, über den Täufer und
über Jacobus bei Josephus uns erhaltenen Nachrichten nicht
nur nichts von einer jüdischen Verfolgung der Verkünder
der neuen Lehre wissen, daß sie im Gegenteil von Sym-
pathien berichten, die das gesetzestreue Judentum der ur-
christlichen Bewegung entgegenbrachte und von einer tief-
gehenden Entrüstung, die es gegen die Verfolger derselben
erfüllte. Auf der andern Seite zeigt sich die christliche
Darstellung derselben Begebenheiten von der ins Auge
springenden Tendenz beherrscht, das Judentum in den ent-
schiedensten Gegensatz zum Christentum zu stellen und
ihm tötlichen Haß gegen das letztere zu unterschieben.
Diese so unentwegt und so konsequent verfolgte Tendenz
hat es schließlich dahin gebracht, daß das Urteil über das
Verhalten des Judentums zum Urchristentum vollständig
getrübt wurde, daß das Verständnis für die gegenteilige
Darstellung des Josephus und für mancherlei mit dieser
übereinstimmende Andeutungen in den neutestamentlichen
Schriften immer mehr abhanden kam, und daß für alle
Zeiten die Urfeinde des Christentums: »die Schriftgelehrten
und Pharisäer« blieben. Die Richtigkeit der Angaben des
Josephus vermögen nur noch jene zu würdigen, welche
die pharisäischen Gesetzeslehrer und die innerhalb des
pharisäischen Judentums im Zeitalter Jesu herrschenden
religiösen Bestrebungen aus dem Talmud kennen. Diese
werden es aber auch nicht mehr paradox finden, daß die
pharisäischen Gesetzeslehrer, die in ihrer eigenen Mitte
gegen ketzerische, gesetzesverachtende, die Auferstehung
leugnende und ditheistisch gerichtete Juden schwer zu
and dem entstehenden Christentum? 311
kämpfen hatten, Sympathien für die asketisch-frommen
Messianisten, die treu zum Gesetz hielten, den Glauben an
die Auferstehung zum Kardinaldogma machten, den einigen
Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs anbeteten, empfunden
haben sollten. — Die Apostelgeschichte ist in diesem Falle
sicherlich eine völlig unverdächtige Zeugin. Sie erzählt von
einem Volksauflauf, der gegen die Apostel von den Hohen-
priestern und den Sadduzäern hevorgerufen wurde. Jene
wurden vor den Rat gestellt. »Da stand aber auf im Rat ein
Pharisäer mit Namen Gamliel, ein Schriftgelehrter, in Ehren
gehalten von allem Volk und hieß die Apostel ein
wenig hinausgehen und sprach zu ihnen: »Ihr Männer von
Israel, nehmt euer selbst wahr an diesen Menschen, was ihr
tun sollt«. Hierauf wirft er einen Rückblick auf die jüngst-
vergangenen pseudo-messianischen Bewegungen und schließt
seine beschwichtigende Ansprache mit den Worten: »Und
nun sage ich euch: laßt ab von diesen Menschen und laßt
sie fahren. Ist der Rat oder das Werk aus dem Menschen,
so wird's untergehen; ist's aber aus Gott, so könnt ihr's
nicht dämpfen; auf daß ihr nicht erfunden werdet, als die
wider Gott streiten wollen«1).
So schildert selbst die Apostelgeschichte die Stimmung
der führenden pharisäischen Schriftgelehrten gegen die
Apostel Jesu; und sie zeichnet hier naturgetreu. Dieser
Bericht könnte ebensogut im Talmud stehen, und er würde
hier nicht im mindesten auffallen. Freilich darf man da
nicht an die herrschsüchtigen Pharisäer der hasmonäischen
Periode und insbesondere der Zeit der Alexandra Salome
denken, wo sie sich an die Regierung herandrängten und
die Zügel derselben in die Hände zu bekommen trachteten.
Seit Herodes war der politische Pharisäismus tot, und die
Gesetzeslehrer, die religiösen Führer des Volkes, hatten
nunmehr nur die eine Ambition: ihre Fähigkeiten und ihr
Wissen dem Lehrhaus zu widmen, sie ausschließlich in den
») Apg. 5, 34-39.
312 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
Dienst des Ausbaues der Traditionslehre zu stellen. Darin
lebten und webten sie weitabgewandt und keine Fühlung
suchend mit dem das Gesetz nur lax beobachtenden »Land-
volke«. Und die urchristliche Bewegung war eine eminent
landvolkliche, die der Einflußnahme der pharisäischen
Gesetzeslehrer völlig entrückt war. Sahen sich die letzteren
überhaupt zum Kampfe genötigt, so waren die Herausfor-
derer sicherlich Sektierer aus ihrer eigenen Mitte, schrift-
kundige Minäer, die, wie R. Tarphon in tiefster Erbitterung
ihnen nachsagt, »erkennen und dennoch leugnen«,
Minäer von Bedeutung eines »Acher«, die das Gesetz ver-
warfen, zwei Gottheiten annahmen, die leibliche Auferstehung
leugneten, »die Fackel der Zwietracht zwischen Israel und
seinen himmlischen Vater schleudern«1). Die religiösen Be-
wegungen im »Landvolke« aber, in den Kreisen der »ver-
lassenen Schafe aus dem Hause Israel«, lagen ihnen ferne
und waren umsoweniger geeignet sie zu erhitzen, als sie
ja weder Gott und sein Gesetz noch die pharisäische Auf-
erstehungslehre antasteten.
Nach solchen Proben tendenziöser Umarbeitung von
Überlieferungen aus urchristlicher Zeit, soweit sie sich auf
das Verhältnis des Judentums zu Jesus und seiner Gemeinde
bezogen, wird wohl die Frage gestattet sein : ob es anzu-
nehmen sei, daß dieselben gesetzeseifrigen Juden, welche
die Hinrichtung des Täufers so tief beklagten, in der Stei-
nigung des Jacobus ein nach Sühne schreiendes Verbrechen
sahen; daß Häupter der pharisäischen Gesetzeslehrer, wie
Gamaliel, welche gegen die Apostel Jesu Toleranz geübt
wissen wollten, gegen Jesus selbst, der sich niemals den
Sohn Gottes nannte, sich niemals öffentlich für den Messias
erklärte, der überdies das Gesetz verherrlichte und es als
unvergänglich pries; soviel Ingrimm gehegt und mit wilden
Geberden seine Kreuzigung erzwungen haben sollten? Ich
») Sabbath 116 a u. Par.
und dem entstehenden Christentum? 313
für meine Person vermag für eine so schreiende Diskrepanz
keine Erklärung zu finden.
Es ist doch wahrlich endlich an der Zeit, daß einmal
von unbefangener Seite der grundfalschen und irreführenden
zum Dogma erstarrten Ansicht, nach welcher das pharisäi-
sche Judentum von Anbeginn der Erzfeind Jesu und des
Christentums gewesen, und daß von ihm alle Verfolgung
des letzteren ausgegangen, mit aller Entschiedenheit ent-
gegengetreten werde. Und es wäre in der Tat unsagbar
traurig, wenn man noch heute nicht, wo bereits so tiefe
Einblicke in das Dunkel der Entstehungsgeschichte des
Christentums gewonnen wurden, dieses schwere Vergehen
an dem Geist der Geschichte und der Menschenliebe sühnen
wollte.
Es ist ja übrigens gar kein Kompliment für den Pha-
risäismus, wenn gezeigt wird, wie wenig Aufmerksamkeit
er der tiefgehenden und weitverzweigten religiösen Bewegung
innerhalb des »Landvolkes« widmete, wie wenig Be-
ziehung er zu dem letzteren hatte und unbekümmert um
dasselbe sich in seine, den Verkehr mit der Außenwelt
erschwerenden Traditionslehre vertiefte, die Dinge draußen
gehen lassend, wie es Gott gefällt. »Ist der Rat oder das
Werk aus den Menschen« — dabei beruhigt sich und seine
Umgebung über die Fortschritte der urchristlichen Bewe-
gung das pharisäische Schuloberhaupt Gamaliel — »so
wird es untergehen; ist es aber aus Gott, so könnt ihres
nicht dämpfen«. Das war tatsächlich die Stimmung, von der
die »Schriftgelehrten und Pharisäer^, die damaligen Reprä-
sentanten des palästinensischen Judentums, beherrscht
waren, das war der Standpunkt, den sie Jesu und seinen
Aposteln gegenüber einnahmen. Das findet jeder bestätigt,
der sich mit möglichster Unvoreingenommenheit in das
Wesen des Pharisäismus, wie es uns aus dem Tal-
mud entgegentritt, zu vertiefen sucht. Die evangelische
Darstellung desselben aber baut sich erst auf dem späteren,
314 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
Judentum und Christentum gewaltsam auseinander deu-
tenden und auseinander reißenden Paulinismus auf.
Ein gewichtiges, bereits oben angedeutetes Bedenken
scheint unserer Auffassung, nach welcher weder Jesus selbst
noch die urchristliche Gemeinde schwere Verfolgungen von
den Juden auszuhalten hatten, im Wege zu stehen. Man
wird uns sicherlich entgegenhalten, daß ja die Apostel-
geschichte berichte, es habe sich gelegentlich der Steini-
gung des Stephanus »eine große Verfolgung über
die Gemeinde zu Jerusalem erhoben.« — Wer
aber vermöchte zu beweisen, daß dieses eine Christen-
verfolgung gewesen und daß dieselbe von dem pharisäi-
schen Judentum ausgegangen ? Stephanus, ein gesetzes-
freier jüdischer Hellenist und Diakon der urchristlichen
Gemeinde, wird als Verkünder antinomistischer Ten-
denzen in einem Volksauflauf gesteinigt. Die Erreger dieses
Aufruhrs sind keineswegs pharisäische, sondern christ-
gläubige Diasporajuden; denn sie kommen, wie die
Apostelgeschichte ausdrücklich hervorhebt, aus der Syna-
goge, »die da heißt der Libertiner und der Kyrener und
der Alexandriner und derer, die aus Kilikien und Asien
waren*1). Nicht Christgläubige sondern Gesetzes-
verächter werden hier angeklagt. Das spricht sich ganz
unzweideutig darin aus, daß nach der Steinigung des Ste-
phanus seine engeren Gesinnungsgenossen, die gesetzes-
freien Christen, Jerusalem verlassen mußten, während die
Apostel Jesu, welche gesetzestreu waren, nach wie vor
völlig unangefochten in Jerusalem bleiben und ungehindert
ihre christliche Propaganda betreiben durften. Hätte aber
diese »Verfolgung« den Christen als solchen gegol-
ten, so wären doch offenbar die Häupter der Gemeinde in
erster Linie von ihr betroffen worden. Diesen aber wurde
kein Haar gekrümmt. — Hier kämpften eben gesetzestreue
gegen gesetzesfreie Christen, und die ersteren standen dem
*) Apg. 9, 6
und dem entstehenden Christentum ? 315
pharisäischen Judentum ungleich näher als dem gesetzes-
freien hellenistischen Christentum.
Allein der Kirchengeschichtsschreiber Eusebius läßt
nun einmal »die erste , Christenverfolgung' nach dem
Märtyrertod des Stephanus von den Juden selbst verhängt«
worden sein1) ; und es blieb dabei bis auf den heutigen
Tag. Mit Eusebius behauptet Hausrath noch in seiner letz-
ten, jüngst erschienenen populären Darstellung der urchrist-
lichen Geschichte: »Seit diesem ersten Konflikt zu Jeru-
salem kamen nun stoßweise jüdische Christen-
verfolgungen vor«2). Und ebenso schreibt er dem Eusebius
den folgenden Satz kritiklos nach : »Während Paulus in
Cäsarea gefangen lag, begannen, vielleicht durch seine
Konflikte mit dem Synhedrium veranlaßt, in Jerusalem
Christenverfolgungen von Neuem, denen schließ-
lich der Vorsteher Jakobus zum Opfer fiel. Da der Prokura-
tor den Paulus ihren Händen entzogen hatte, hielt sich
der Haß der Juden durch Steinigung des Jaco-
bus schadlos«3). Und doch muß Hausrath in demselben
Buche angesichts des unzweideutig lautenden Jacobus-
berichtes bei Josephus sein früheres Urteil dahin korri-
gieren: »daß die Pharisäer an dem Blute des
Jacobus unschuldig*4). Soviel Inkonsequenz und Rat-
losigkeit infolge eines heißen Bemühens, »jüdische
Ch ri sten Verfolgungen« im apostolischen Zeitalter
entdecken und verzeichnen zu können.
Und was endlich die tumultösen Auftritte betrifft,
die der Heidenapostel wiederholt hervorgerufen, so waren
seine Gegner in den meisten Fällen nationalgesinnte, ge-
setzestreue, kurz gesprochen, nazaräische Christen, die sich
über seine gesetzesfreie Predigt entrüsteten und ungestüm
!) H. E. II, 1.
J) Hausrath, Jesus und die neutestamentl. Schriftsteller, S. 149 f.
s) Da3. S. 545.
*) Das. S. 583.
316 Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus
seine Entfernung verlangten. Das waren die erbittertsten
Gegner des Paulus, die überall das Volk gegen ihn auf-
regten. >Du siehst« — sagt Jacobus zu Paulus, von seinem
Erscheinen in Jerusalem Unruhen befürchtend — »du
siehst, wie viel tausend Juden sind, die gläubig geworden
sind und sind alle Eiferer über dem Gesetz. Sie sind
aber berichtet worden wider dich, daß du lehrst von Moses
abfallen alle Juden, die unter den Heiden sind und
sagst, sie sollen ihre Kinder nicht beschneiden,
auch nicht nach derselbigen Weise wandeln. Was
denn nun?«1)
>) Apg. 21, 20, 21.
(Fortsetzung folgt.)
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen
Zeitalter.
Neue Folge.
Von Simon Eppenstein.
IV. Saadja Gaon, sein Leben und seine Schriften.
(Fortsetzung.)
Ob nun Saadia noch nachher als Gaon gewirkt hat
oder nicht, darüber lauten die Berichte nicht ganz überein-
stimmend. Nach Angaben Scherira's, die in allen Punkten,
außer da, wo er selbst das Gegenteil bemerkt1), den Stempel
der Zuverlässigkeit tragen, hat Saadja im ganzen 14 Jahre
amtiert2), so daß er bis zu seinem Tode das Gaonat be-
kleidet hat, und dasselbe geht auch aus den Mitteilungen
Nathan Babli's hervor, der ausdrücklich sagt, daß der frü-
here Gegengaon Joseph ben Jakob nun, ohne jegliche
Funktion, nur mehr die Einkünfte der Würde bezog und
nach Saadja's Tode amtiert hat3). Demgegenüber, glaube
ich, kommt der Bericht Abraham ibn Daüd's, daß dieser
nicht mehr das Gaonat ausgeübt hat und seine letzten
Lebensjahre in MelanchoHe dahinbrachte*), kaum in ernst-
haften Betracht. Einen Mann wie Saadja, der die schwerste
Zeit der Anfeindungen sieben Jahre hindurch in unver-
mindeter geistiger Spannkraft gewirkt hat, dürfte schwerlich
eine solche Gemütsstimmung bezwungen haben, zumal
*) Vgl. sein Eingeständnis betreff der mangelhaften Kenntnis
von den Zuständen in Sura, bei Neubauer I, S. 36.
*) Vgl. a. a. O. S. 40 "W "V myD S"i löT VV ^3.
s) Vgl. Neubauer a. a. O. II, S. 82-83.
*) Vgl. Neubauer a. a. O. I, S, 66 oben.
318 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
ihm die vollste Genugtuung geworden war, die ihn man-
ches früher erfahrene Leid vergessen machen konnte. Wir
dürfen wohl annehmen, daß Saadja in den nun folgenden
Jahren sich teils der Ausgestaltung seiner halachischen
Schriften, teils der erneuten Bearbeitung seiner Bibel-
erklärung gewidmet hat ; vielleicht gehört dieser Zeit auch
die einfache Pentateuchübersetzung an.
Jedenfalls hat der rastlos schaffende Mann unermüd-
lich auf dem Gebiet der Wissenschaft gewirkt, und die
wiederholte Mühe, die er auf seine Werke verwendete, legt
Zeugnis davon ab, wie er seine Aufgabe auffaßte. Umsomehr
müssen wir es bedauern, daß sein Leben im Jahre 942
so früh endete, und, daß der Mann, dessen Herz so warm
für des Judentums Ehr und Wehr schlug, gerade in
dem Alter von 50 Jahren, in dem er, nach den Worten
unserer Weisen — nitj^> D'tfen p — mit seinem nach allem
Kämpfen abgeklärten Rat die geistige Führung des Volkes
noch länger hätte segensreich ausüben können, aus seiner
Tätigkeit gerissen wurde. Gleich den zur Arbeit am Heilig-
tum berufenen Leviten, hatte er in schwerer Zeit, wo es
galt, dieses immer wieder aufzurichten, bis zur Ermattung
der Kräfte gewirkt, und in dem Alter, wo diese Diener des
Volkes vom Schauplatz der Arbeit abtraten, konnte auch
er sein Lebenswerk abschließen. Dieses aber war, in umge-
kehrten Verhältnis zu der Kürze seines Erdendaseins, ein
unendlich reiches, über den Tod hinaus segensvoll wirken-
des. Wohl konnte er dem Gaonat dauernden Glanz nicht
mehr verleihen, da die Zeitumstände eine andere Gestaltung
der Dinge mit sich brachten, wohl haben die Kämpfe der
Karäer gegen das Rabbanitentum nicht aufgehört, aber das
sogenannte Ketzertum konnte durch seine
rastlosen Bemühungen als unschädlich ge-
macht, betrachtet werden.
Das Karaeertum hatte wohl eine bedeutendere Autori-
tät, die noch in den letzten Lebensjahren Saadja's wirkte,
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 319
in Jakob Kirkissani1) oder Karkassani2), der i. J. 937 — 938
sein großes Werk über den Pentateuch, p'jnn^Ki fwnb» 2«fiDf
»Buch der Gärten und Beete«, mit dem für die Sekten-
geschichte so aufschlußreichen Gesetzbuch — inijk^k *KfO
2p&nai?Ki — »Buch der Leucht- und Warttürme«, verfaßte;
aber gerade das offene Eingeständnis dieses Schriftstellers
für die Schwächen seines Bekenntnisses und der ruhige
Ton seiner Polemik gegen Saadja — den er unter Ande-
rem wegen seiner Theorie über das hohe Alter des Kalen-
ders angriff — beweisen, wie sehr der große Gaon auf-
klärend gewirkt hatte. Wenngleich später gehässige Karaeer,
wie Salmon ben Ruheim, der erst ungefähr ein Jahrzehnt
nach Saadja's Tod schriftstellerisch gewirkt hat, mit großer
Erbitterung gegen ihren so gefährlichen Gegner auftreten3),
wenn der mehr produktive als originelle Jefet ben Ali4) und
Andere Angriffe gegen den Fajjumiten richteten, — die Aktions-
kraft des Karäismus war geschwächt, denn jenem war es
gelungen, wie unsere Weisen es so prägnant und vielsagend
ausdrücken: Gerüst b& p^ö K'Xir6, die Bekämpfer der Tradition
gleichsam ins Herz zu treffen und ihren wuchtigsten
Angriffen die treffende Schärfe zu nehmen, so daß es nur
noch stumpfe Waffen waren. Wohi hat sich der Kampf gegen
Saadja bis in's neunzehnte Jahrhundert fortgesetzt5), aber
es gelang den Karaeern nicht, ihr Vernichtungswerk an
Saadja's gegen sie gerichteten Werken zu vollführen. Wenn
uns auch die Schrift gegen Anan bis jetzt nicht wieder
aufzufinden geglückt ist, so hat in letzter Zeit die Geniza
aus der Heimat des Gaon manches wertvolle Fragment von
') Vgl. über ihn jetzt Poznanski in The Karaite literary oppo-
nents etc., S. 8 — 11.
*) Über diese Schreibung vgl. Harkavy im Hagoren VI., S. 29.
8) Vgl. über ihn jetzt Poznariski a. a. O., S. 12—14.
4) Vgl. a. a. O,, S. 20—30.
6) Vgl. die Zusammenstellung in dem obengenannten Werk
Poznanski's.
320 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
seinen anderen antikaräischen Schriften zu Tage gefördert,
nachdem andere Autoren des Mittelalters uns mehreres
davon überliefert hatten. Die größte Genugtuung muß es
aber für das Andenken Saadja's sein, daß der letzte dieser
seiner Gegner, der hochbetagt i. J. 1874 gestorbene Abra-
ham b. Samuel Firkowitsch, aus einem heftigen Feind
ein reumütiger Verehrer des großen Mannes geworden ist1).
Liegt so in dieser Tatsache eine Bewahrheitung des Wortes
der Schrift in Spr. 16,7: in» D^»»' vtik dj BPH »am 'n mn%
daß dieses Friedenswort aus Feindesmund ein Zeugnis für sein
im Sinne der Vorsehung wohlgefälliges Werk ist, so erhöht
sich dieses noch dadurch, daß gerade durch Firkowitsch's
Sammeleifer uns Teile des Agrön, des Sefer Hagaluj
und der, besonders Antikaräisches enthaltenden
exegetischen Schriften desGaon erhalten wor-
den sind, wodurch in wesentlicher Hinsicht ein neues Licht
auf den Lebens- und geistigen Werdegang Saadja's gefallen
ist; auch hier bewahrheitet sich das Wort von der Kraft,
die das Böse will und doch das Gute schafft.
Neben dieser mehr auf negativer Seite liegenden Be-
deutung Saadja's kann nicht genug seine positiv erhaltende
und wissenschaftlich erleuchtende Tätigkeit hervorgehoben
werden. Er hat seinem Namen volle Ehre bereitet, er hat den
altehrwürdigen Bau des Judentums mit den beiden star-
ken Säulen der Verpflichtung zur Tradition
und der auf einer gesunden Vernunftentwick-
lung beruhenden Wissenschaft gestützt; er hat
unseren so heftig wegen seiner Treue an der Überlieferung
angegriffenen Stamm mit dem stärkenden Brot der Lehre
der Wahrheit gelabt und gekräftigt, so daß das
Judentum noch heut als eine lebensfähige Gemeinschaft
dasteht, und auch ferner bestehen wird, — sofern es nicht
durch Preisgabe der Tradition und Nachahmung der, gleich
den Praetentionen des Karaeer, mehr das äußere Gewand
») Vgl. Poznariski a. a. O., S. 92-93.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 321
als den wahren inneren Gehalt der Wissenschaft aufwei-
senden literarischen Bestrebungen, selbst die stützenden
Säulen seines Gebäudes umstürzt.
Die Darstellung von Saadja's Wirken wäre aber nicht
ganz vollkommen, wenn nicht noch auch sein Sohn Dosa
und einige seiner Schüler in Betracht gezogen würden.
Ersterer, jedenfalls erst in den letzten Lebensjahren des Va-
ters geboren, hat dessen Unterricht nicht mehr genossen1).
Indes hat er, wenn auch in der nur bescheideneren Rolle
eines Richters, verdienstlich als Gesetzeslehrer gewirkt und
auch philosophisch sich betätigt. Er erreichte ein hohes
Alter und stand auch außerhalb Babyloniens, wie z. B. bei
Hasdai ibn Schaprut, in hohem Ansehen.
Von Saadja's Schülern ist ein gewisser Ben Ephraim
aus Palästina zu nennen, dessen vollständiger Name wahr-
scheinlich lautete: Jakob ben Samuel Ben Ephraim8). Noch
bei Lebzeiten des Gaon trat er schriftstellerisch auf und
führte eine lebhafte Polemik mit dem Karäer Jakob Kir-
kissani, deren Gegenstand Themen allgemein dogmatischen,
wie auch ritualen Inhaltes waren. Sein Auftreten in dieser
Hinsicht trug ihm auch eine Fehde mit Salmon ben Ruheim
ein, und von seiner Erwiderung auf dessen Angriffe wegen
der Verbindlichkeit der Tradition und der Wertlosigkeit des
Talmuds infolge der in ihm sich kundgebenden Meinungsver-
schiedenheiten — die, wie bei den Schammaiten und Hilleliten
angeblich sogar zu Tätlichkeiten führten — sind sehr wahr-
scheinlich einige interessante Fragmente noch auf uns ge-
kommen3). Er hat auch ein Werk verfaßt über Widersprüche
*) Vgl. die eingehende Studie über ihn von Poznanski in Ha-
goren VI, S. 41-64 u. S. 119 und dazu meine Bemerkungen m ZHB.
X, S. 131. Daß Saadja ältere Kinder schon in Ägypten gehabt hat,
wurde bereits oben erwähnt.
2) Vgl. über ihn jetzt Poznanski im Qedenkbuch für Kaufmann
S. 169 u. S. 187.
•) Vgl. das von Schreiner in ZHB. III, S. 91-93 veröffentlichte
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 21
322 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
in chronologischer Hinsicht in der Bibel und 42 derartige
Fragen zusammengestellt1). Auch Jephet ben All richtete
gegen ihn später eine Polemik8). Daß er einen Kommentar
zum jerusalemischen Talmud verfaßt habe, ist nicht mit
Sicherheit nachzuweisen8).
Erst in allerletzter Zeit ist der Name eines anderen
Schülers Saadja's bekannt geworden, Abraham ben
Mumar oder Muman as-Seiräfi, der ein Kitab
al-Kasch'f nräM MWO), entweder kalendarischen oder philo-
sophischen Inhalts, verfaßt hat, das wir aber lediglich aus
Anführungen in Bücherlisten kennen*).
Die größte Bedeutung aber unter den Jüngern Saadia's
kommt dem in Bagdad gebürtigen, und einer ehemals aus
Spanien dorthin eingewanderten Famile entstammenden
Dunasch ben Labrat zu. Seine Stärke liegt beson-
ders auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft, der jaSaadjas
Jugendarbeiten galten. Dunasch, ein selbständiger, stark
kritischer Geist, hat, den Spuren seines Lehrers folgend,
die hebräische Grammatik und Lexiographie wesentlich be-
reichert, aber auch an seinem Meister in einem, leider nicht
zweite Genisafragment und dazu Poznanski ebendort S. ^2-177,
feTner das von letzterem in ZHB. X, S. 47-52 edierte Bruchstuck u.
ebendort, S. 46. ^ ^ § ^ ^ ^ ^ ^ ^ Bemerkungcn p
q 47 - Es ist bemerkenswert, daß in dem von Schechter in JQR.
XIII, S. 345 fgg. zuerst veröffentlichten bibelkritischen Fragment auch
solche Schwierigkeiten behandelt werden.
*\ Vgl Poznanski, The karaite literary opponents etc., S. 27-28.
») Vgl. Poznanski in Kaufmann-Gedenkbucb, S. 181-82 und in
Hakedem II, S. 42. vyyvii <; 7Q und
*) Vgl. die Vorbemerkung in Saadyana Nr. XXXVII, b. V) una
dazu Poznanski in >Schechter's Saadyana«, S. 8 8. v. ^^7 h
Anstatt des keinen rechten Sinn gebenden l)2*K lese ich ^K, d.h.
aie zweite Hälfte des Buches«. Übrigens findet sich auch m der von
tdler und Broyde in JQR. XIII, S. 52 fgg. veröffentlichten Bacher-
Me unter Nr. 59, S. 54, ein Band, enthaltend, neben zwe. anhkarar-
sehen Schriften Saadja's, auch das r^sSa SKID«
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 323
vollkommen ausgearbeiteten, und höchst wahrscheinlich ur-
sprünglich arabisch geschriebenen Werk1), Kritik geübt. Indem
er aber in der Kritik gegen Menahem ben S'ruk die Ver-
gleichung des Hebräischen mit dem Arabischen gefördert
und besonders in der Schrift gegen Saadja die ersten Grund-
züge der neuen Theorie von der Triliteralität der Wurzeln
gegeben hat, legte er, über die Leistungen seines Lehrers
hinausgehend, den Grund zu dem Aufschwung der heb-
räischen Sprachwissenschaft, der nachmals diese in ihren
Ergebnissen der modernen Philologie mit ihren besseren
Hilfsmitteln würdig an die Seite stellte. Er hat somit auch
das Andenken seines Lehrers in ehrenvollster Weise mit
einer der Glanzepochen der jüdischen Literatur, wie der
Geschichte der Wissenschaft überhaupt, dauernd verknüpft.
Aber auch noch in anderer Hinsicht ist Saadja von
großer Bedeutung für die jüdische Wissenschaft geworden.
An seinen Namen knüpft sich zum großen Teil deren
Wiedererweckung im vorigen Jahrhundert. Denn die erste der
im Geiste der historischen Kritik geschriebene Biographieen
der Größen unserer Vergangenheit, die wir dem scharf-
sinnigen Salomon Juda Rapoport verdanken,—
der neben Zunz zu den Pfadfindern der neueren jüdischen
Wissenschaft gehört, — war die auch heute noch schätzens-
werte, in der Form wie den Untersuchungen meisterhafte
Würdigung Saadja's0). Und auch die erste Leistung in der
jüdisch-arabischen Literatur seitens des genialen, in seinen
philosophischen Forschungen noch heute maßgebenden
Salomon Munk, galt einer Darstellung von Saadja's
Werken4), für die er zum Teil selbst neue, wertvolle Auf-
*) Vgl. hierüber meinen Aufsatz in der Monatsschrift 1902, S
74-79 und Bacher ebendort, S. 478.
*) Vgl. meine Ausführungen ebendort, S. 72—75.
8) Erschienen in Bikkure Haitim IX, Wien 1829, S. 18-37.
*) Notice sur Saadia Oaon, erschienen im IX. Bande der Ca-
hen'schen Bibel, Paris 1838, und dazu Ergänzungen in Commentaire
de R'Tanchoum sur Habakouk, Paris 1843, S. 104—111.
21*
324 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter-
Schlüsse gebracht hat. So hat sich, entsprechend den Wor-
ten der Schrift der Name des großen, von gerechtem Stre-
ben erfüllten Gaon für alle Zeiten als vom segensvollsten
Einfluß erwiesen und die tiefsten Spuren in der jüdischen
Literatur hinterlassen. Mit Recht führt er darum auch in
dieser Hinsicht den ihm von Abraham Ibn Esra beigelegten
Ehrentitel eines Dipo bl2 onanon ttwi, da die jüdische
Wissenschaft gewissermaßen auch jetzt noch
mit seinen Worten zu uns redet.
V. Die Erzählung von den vier gefangenen Talnradisten.
In dem an und für sich berechtigten Streben, die so
wunderbare Entwickelung in der Geschichte und Literatur
des Judentums in manchen bedeutungsvollen Phasen mit
einem höheren Walten der Vorsehung in Verbindung zu
bringen, ist wohl auch mancher Fehlgriff in der Geschichts-
schreibung und -forschung zu verzeichnen. Ein besonders
bezeichnendes Beispiel bietet hierfür die Erzähiung von den
vier gegen Ende der Geonimzeit gefangenen Talmudlehrern,
die ein intensiveres Halachastudium nach Ägypten, Nord-
afrika, Spanien und Südfrankreich gebracht haben sollen.
Alte, wie neue Geschichtsschreiber, von Abraham Ibn Daüd
an, wollen darin gleichsam eine göttliche Fügung erblicken.
Indes darf dieses Gefühl für ein höheres Walten in der
Geschichte uns nicht den Blick für die Realität der ge-
schichtlichen Tatsachen trüben, und so muß denn nach
verschiedenen Richtungen hin, vom literarischen und histo-
rischen Standpunkt aus, der Bericht von dem so interessanten
Ereignis als unhaltbar angesehen werden. Der Erörterung
dieses auch in letzter Zeit noch behandelten Problems1) soll
l) Es kommen hier hauptsächlich in Betracht die Ausführungen
von Halevy in Doroth Harischonim III, S. 283—302 und Poznanski
in seiner Studie (XTVp MMK in der Harkavy-Festschrift, besonders
S. 192—194. Von sonstiger hierher gehörenden Literatur nenne
ich, ohne allerdings auf Vollständigkeit Anspruch zu erheben : Ra-
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 325
die folgende Untersuchung gewidmet sein, in deren Verlauf
wir noch manche andere wichtige literarhistorische Ergeb-
nisse gewinnen dürften.
Betrachten wir zunächst den als Grundlage der Er-
zählung dienenden Bericht des Abraham Ibn Daüd. Derselbe
knüpft an das durch den Tod Chiskia's erfolgte gleichzeitige
Verlöschen des Gaonats und des Exilarchats die Mitteilung,
daß schon vorher infolge einer von Gott gefügten Wendung
— n'zpn ARD nao — ein Versiegen der Einnahmequellen für
die Hochschulen aus den anderen Ländern der Diaspora
eintrat. Der Verlauf dieser Wendung war, daß ein Admiral
des Kalif Abdurrhaman an-Nazzär ausging, um Schiffe auf-
zugreifen und bei einer Kreuzfahrt, die ihn zuletzt in das
griechische Meer führte, eines kaperte, auf dem sich vier
große Gelehrte befanden, die von Bari nach einem Ort
jyided oder pDDD gingen, und zwar zum Zweck von nDJDn
n^3. Sie wurden alle gefangen und verkauft, wobei der
Chronist bemerkt, daß sie Niemandem etwas über ihre
Persönlichkeit und Gesetzeskenntnis — D/ionm D2*B — ge-
sagt hatten. Drei der Gelehrten kann Ibn Daüd namhaft
poport, Biographie des R. Chananael Note 2, Biographie des Hai
Gaon, Note 2, ferner D^öSn flJtiap ed. Stern S. 52; Harkavy in den
Nachträgen zur russ. Übersetzung von Graetz Bd. VI, S. CXVI;
Müller, Die Responsen der spanischen Lehrer (Jahresbericht der Lehr-
anstalt für die Wissenschaft des Judentums) S. 19—22; Weiß T1T7
IV* S. 235, Anm. 2; Leberecht, Magazin für die Literatur des Aus-
lands, 1843 Nr. 143, Literaturblatt des Orients, 1844, S. 703, Frankel,
Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums 1845 S. 99fgg
und Jahrg. 1846 S. 397 fgg. und S. 492 fgg., S. Cassel, Historische
Versuche, Berlin 1847, S. 30-36, Groß, Magazin etc., II, S. 26 fgg.,
Berliner in Migdal Chananael, S. V— VI; Neubauer in JQR. VI,
S. 233 und Halberstam a. a. O. S. 596, Kaufmann im Magazin V,
S. 70 und Chronik des Achimaaz = Monatsschrift 1896, S. 470;
Schechter in JQR. XI, S. 643 fgg., Güdemann, Erziehungswesen
der Juden in Italien, S. 16—17, Brüll, Jahrbücher IV, S. 179 fgg, Israel
Lewy im Jahresbericht des Seminars, Breslau 1905, S. 30—31 und
Oinzberg, Geonica I (New-York 1909) S. 29.
326 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
machen, während er betreff des vierten nichts mehr weiß.
Es folgen nun die Angaben über die Schicksale Schemarja's,
Chuschiel's und Mosche's, welch letzterer in Cordoba
als eigentlicher Pfadfinder des Talmudstudiums begrüßt
wurde.
Soweit der Bericht Abraham Ibn Daüd's. Es ist nun
merkwürdig, daß, während er das Aufhören der Einnahmen
der Hochschulen mit dem Raubzug des Ibn Rumähis in
Verbindung bringt, er doch die Gelehrten nicht direkt als
aus Babylonien stammend angiebt, ebensowenig, wie er sie
als Sendboten behufs Einsammlung von Geldern bezeichnet.
Hiermit stimmt auch die Angabe überein, daß die Gefan-
genen Niemandem etwas über ihre Persönlichkeit und ihr
großes Wissen mitgeteilt haben, da andrerseits dieses von
selbst bekannt geworden wäre. Es ist dies aber jedenfalls
eine vielleicht gewollte Unklarheit in dem Bericht unseres
Geschichtsschreibers. Ebenso wenig trägt zur Aufhellung
bei die Andeutung, daß die Reise zum Zweck von n^o nMSl
unternommen worden sei. Man hat es nicht als glaubhaft
angenommen, daß vier Gelehrte aus diesem Anlaß sich ins
Ausland begeben haben sollen, und wollte darum den
Worten nhs nD3Dn, entgegen dem durch die Mischna Pea I, 1
feststehenden Sprachgebrauch für die Bemühung zur Aus-
stattung von Bräuten1), die gezwungene Bedeutung der
»Einnahme für die Hochschule« unterlegen, obwohl Kallah
nur die zweimal jährlich stattfindenden Hauptversammlungen
bezeichnet, und dann auch der Plural niM3fl erforderlich
wäre. Sei es nun, daß man die genannten Gelehrten mit Lebe-
recht als Sendboten für die Hochschule zu Bari*), oder mit
») Vgl. Frankel, Zeitschrift etc. 1845 S. 100, Note, betreff der
wörtlichen Auffassung von iibs nDJSn, wonach es sich um Beschaf-
fung eines Fonds zu dauernden Ausgaben für Zwecke der Braut-
ausstattung handelte.
*) Vgl. Leberecht in Literaturblatt des Orients Jahrg. 1844, S.
703 und in Frankeis Zeitschrift 1845, S. 100-101.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 327
Graetz für die in Babylonien, speziell in Sura, betrachtet,
muß jedoch betont werden, daß die dementsprechende Auf-
fassung von r\hs nom sich insofern ertledigt, als zu keiner
Zeit, auch nicht am Ende der Gaonenepoche Boten aus-
gesandt wurden, um für die Hochschulen zu sammeln1).
Die Beiträge wurden diesen vielmehr aus dem Auslande
zugesandt, woselbst sie auch Vertrauensmänner und In-
kassanten hatten, von denen die ersteren DH'pa, d^skj, die
letzteren npivri 'tfJU ,D""i2TJ genannt wurden8). Die Unter-
stützungen zerfielen in jährlich feststehende Beträge mp'DB,
Spenden, die wohl den an den Gaon gerichteten Anfragen
für diesen und die Hochschule selbst beigefügt wurden,
ferner in mm: und in die crtrain, Fünftel des Vermögens,
worunter vielleicht eine Art Legat von Hinterlassenschaften
zu verstehen ist8). — Für die Glaubwürdigkeit Ibn Daüd's
Bericht spricht es auch nicht, daß er den vierten der Ge-
fangenen nicht zu benennen weiß : ein Beweis dafür, daß
auch die alte Quelle, aus der er geschöpft hat, nicht mehr
recht verläßlich gewesen sein muß. Aus allen diesen Grün-
den gegen die Zuverlässigkeit von Ibn Daüd's Darstellung
erscheint es geboten, die einzelnen Phasen derselben, an-
knüpfend zunächst an den Zustand der Hochschulen, als-
dann an die einzelnen von ihm genannten Gelehrten, von
neuem zu behandeln, und dann das Gesamtergebnis zu
betrachten, wobei wir in der Lage sind, uns der neuesten
Veröffentlichungen aus der Genisa zu bedienen.
') Vgl. auch schon Weiß vm IV4 S. 235 Anm.
J) Besonders lehrreich ist hierfür das von Margoliouth in JQR.
XIV S. 308-309 veröffentlichte Qenisa-Stück.
3) Vgl. hierfür das von Cowley veröffentlichte Sendschreiben
des Nehemia Gaon von Pumbadita, nach Spanien in JQR. XIX, S.
105 und dazu Pozntriski a. a. O. S. 401, ferner Marx, Untersuchungen
zum Siddur des Gaon R'Amram I, S. 11, Anm. 45, und Ginzberg
a. a. O. S. 14, Anm. 2.
328 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
1. Der Zustand der Hochschulen Babyloniens in
der nachsaadjan ischen Zeit.
Den von Ibn Daüd geschilderten Tatsachen entspricht
allerdings der schlechte materielle Stand der beiden Hoch-
schulen in der nachsaadjanischen Zeit, dem in gleicher
Weise der geistige Verfall, zunächst der von Sura, folgte,
während immerhin Pumbadita noch durch Scherira und Hat
einige Jahrzehnte vom Glänze autoritativen Ansehens be-
strahlt war. Es liegen uns darüber interessante, in den
letzten Jahren aus der Genisa veröffentlichte Dokumente
vor. So richtet die Akademie in Pumbadita im Jahre 953
in einem entweder vom Gaon oder einem jedenfalls sehr
angesehenen Mitglied verfaßten Schreiben sehr bewegliche
Klagen nach Spanien Ober ihren bedrängten, erbarmungs-
würdigen Zustand.1) Es wird darin erwähnt, daß schon seit
einiger Zeit keine Spenden von dort eingegangen seien").
Von einer vor zwei Jahren abgesandten Summe sei nur
mit vieler Mühe eine Kleinigkeit durch die Klugheit des
Exilarchen Salomo8) gegen die Anmaßung eines >Räu-
bers« gerettet worden, der ihnen auch den durch die ebenso
angesehenen, wie frommen und redlichen Kaufleute Ahron
und Mose, Söhne Abrahams, zugegangenen Betrag hatte
entreißen wollen.4) Die infolge der allgemeinen Bedürftigkeit
in der Jeschiba ausgebrochenen Streitigkeiten haben die-
') Veröffentlicht von Cowley in JQR. XVIII, S. 401-403; vgl.
auch dazu Cowley a. a. O. S. 399—400 u. Marx a. a. O. S. 768—770.
— Betreff des rätselhaften ai» 1MHK S. 402, Z. 1 glaube ich, daß dort
eine Corruptel vorliegt. Über den nicht zu eruierenden Namen des
Verfassers des Schreibens vgl. jetzt auch Ginzberg, Qeonica I, S. 7,
Anm. 1.
") Vgl. JQR. a. a. O. Z. 8 fgg.
*) Ein solcher ist uns sonst nicht bekannt. Er fehlt in der von
Kamenetzky in REJ. LV, S. 51 veröffentlichten Liste der Nachfolger
David ben Sakkai's.
«) Vgl. a. a. O. Z. 13-20.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 329
selbe heruntergebracht1). Alle Ländereien und Gebiete, die
ihnen bisher Erträge abgeworfen haben, seien ihnen verloren
gegangen2). Bemerkenswert ist in diesem Schreiben auch
die Bitte um eine für den Schreiber selbst bestimmte
größere Gabe3).
l) Vgl. a. a. O. Z. 21: W3T) na^a w>v npibnon rtNT Saai
ibj> ty unten.
a) Vgl. Z. 21 jmiBH 1^ pXl bis Z. 24.
3) Vgl. s. 403, z. 2: py o^yn ^ki "Btra nam nana «natm
(Fortsetzung folgt.)
Josef Kohn-Zedek, der letzte neubebräiscbe Publizist
der galizischen Haskala.
Von M. Weisaberg-.
Die wichtigsten Kampfmittel der galizischen Haskala
waren : das Flugblatt, der Brief und die, meistens aposto-
lische Absichten verfolgende, streitbare, in ihrem Umfange
kaum über das Flugblatt hinausgehende, in Form von
Jahrbüchern erscheinende, Zeitschrift. Die Geschichte der
galizischen Haskala-Zeitschriften ist also zugleich der wich-
tigste Teil der Geschichte des jüdisch-galizischen Humanis-
mus selbst. Die Zufluchtsstätten der galizischen Has-
kala: Tarnopol, Brody und Lemberg, bildeten denn auch
die Ausgangspunkte der neuhebräischen Publizistik in Ga-
lizien. Tarnopol, welchem das Verdienst gebührt, durch
Gründung der ersten »Israelitischen Freyschule« in slavischen
Landen die Ideale des Humanismus praktisch verwirklicht
zu haben, trat schon 1814 mit einer Neuerung hervor,
die für alle Zeit mustergültig wurde. Die genannte Anstalt
gab nämlich vom ersten Jahre ihres Bestehens, 3 Jahre
hindurch, die erste neuhebräische Zeitschrift in Österreich
heraus, welche zugleich auch die erste neuhebräische Zeit-
schrift für die Jugend v/ar. 1814 erschien der erste, jokj TS
(Treuer Bote) für das Jahre 5574. Das kleine, schön gedruckte
Büchlein im grauen Umschlage enthält alles, was einem
jüdischen Schüler, der sich zum frommen Hausvater, zum
nützlichen Bürger herausbilden will, wissenswert ist. Also
zuerst die notwendigen Kalenderregeln zur Berechnung des
Monatsanfanges, dann .nuytmnn vtd', darauf der jüdische,
römische und griechischkatholische Kalender. Dann folgt
die Genealogie der russischen Kaiserfamilie (Das Tarnopoler
Josef Kohn-Zedek, der letzte neuhebräische Publizist etc. 331
Land war 1809—1816 russisch), voraussichtliche, merk-
würdige astronomische Vorfälle, Weltchronik, Jahrmärkte,
Ritualgebräuche. Der literarische Teil führt die Aufschrift
«abl nfc (Kalender des Herzens) und enthält die Rubriken:
Seltene Taten, naturhistorische Aufsätze, moralische Fabeln
und Rätsel.
Den Reigen der hebräischen Zeitschriften im zweiten
Mittelpunkte des galizisch-jüdischen Humanismus, in Brody,
deren vornehmster, dem epochemachenden »Hacholez«, ich
in meinem Buche über die neuhebräische Aufklärungs-
literatur in Galizien (Leipzig und Wien 1898) ein beson-
deres Kapitel gewidmet habe, eröffnet 1817 ein publizi-
stisches Eoibryo, eine nur handschriftlich verbreitete Zeit-
schrift na» nbiv, deren Redakteur, der geniale Jakob Sa-
muel Byk, um sich die berühmtesten Namen der galizischen
Haskala : Rapaport, Krochmal, Levin und Goldberg grup-
pierte. Die niemals im Drucke erschienenen Beiträge sind
im Laufe der Zeit zum unersetzlichen Schaden der neu-
hebräischen Literatur des XIX. Jahrhunderts spurlos ver-
schwunden.
Der Vorort des galizisch-jüdischen Humanismus, Lem-
berg, tritt erst 1824 mit einer hebräischen Zeitschrift auf
den Plan. Es ist das Meir Halewi Letteris' ann p]D«o ,m»asn.
'btr\w »M$>. Als Druckort fungiert zwar Leipzig 1824, in
Wirklichkeit aber war es Zölkiew. Der damals blutjunge,
weil kaum 20 Jahre alte, Herausgeber aber befand sich
derzeit in Lemberg, wo er an der Universität orientalische
und europäische Sprachen studierte. Mitarbeiter waren:
David Friedländer, der Genosse Mendelssohns, Nachman
Krochmal, Abraham Goldberg, Schalom Kohn, Jakob Samuel
Byk und Jehuda Leib Misis. Als aber der letztere in einem
Aufsatze gegen die Lebensweise der polnischen Juden auf-
trat, brach ein derartiger Entrüstungssturm im Leserkreise
aus, daß Letteris die Herausgabe einstellen mußte.
Die nächste hebräische Haskala-Zeitschrift in Lemberg
332 Josef Kohn-Zedek, der letzte neuhebräische
erscheint 1837 — 1839 und führt den Titel: '-.dd "ipaoi n«nnf
,u:bt *öan. Die Herausgeber: der auch als Dichter, Drama-
tiker und Altertumsforscher bedeutende Nachman Icchak
Fischmann, der Kritiker und satirische Epistelschreiber
Jakob Bodek unterziehen hier die Schriften von Rappaport,
Zunz, Reggio und Luzatto einer strengen, abfälligen, häu-
fig auf persönliche Gehässigkeit zurückzuführenden Kritik.
Die Art und Weise, wie der Hauptangegriffene, Rappaport,
ihnen in Kerem-Chemed VI, 1841, Brief 11 und 12 heim-
leuchtet, ja sie literarisch geradezu abschlachtet, ist an
farbenreichen, aufregenden Momenten überreich. Der sieg-
reiche Literaturheros beendigt die grausame Exekution mit
folgendem Seufzer der Erleichterung: p'KTCfl nt^tr n« TnaKi
p'üb ntrn m»n «in in« riTa« (Und ich machte den drei Be-
obachtern in einem einzigen Monate den Garaus, nämlich
im zweiten Monate).
Ihre publizistische Wiederauferstehung erleben die drei
Roim — nebenbei die tüchtigsten, vielseitigsten Publi-
zisten des galizisch-jüdischen Humanismus — schon 1844
In diesem Jahre beginnen sie in Lemberg die Herausgabe
der Zeitschrift: noan nai nrr nb n-ortt? vya .Turin n'bviv
jrwnpn U/1BP3 np» ^ai ,vip »ana mxa mat^oi o»v«* ,nini.
(1844 — 1845, 3 Bände, gedruckt in Zofkiew, Lemberg und
Prag). In dieser Zeitschrift sind sie nicht mehr Parteigänger,
— der Roe war vor allem gegen Rappaport gerichtet und
sollte dessen Kandidatur auf den Prager Oberjuristenposten
zu Gunsten des genialen Hirsch Chajes zu Falle bringen
— Kritiker, sondern simple Literaten, denen es vor allem
um die Pflege der hebräischen Sprache geht.
Die Zeitschrift Jerusalem sollte vierteljährig in Heften
von je 6 Druckbogen erscheinen, aber es sind in 2 Jahren
bloß 3 Hefte zu Stande gekommen. Drei Hefte — drei
Druckereien: Meyerhoffer-Zoikiew ; Schnayder- Lemberg;
Landau-Prag. Das scheint auf Schwierigkeiten, in den
Druckereien Kredit zu erlangen, hinzudeuten. Der Löwen-
Publizist der galizischen Haskala. 333
anteil der Beiträge gebührt den Herausgebern. Fischmann
ist durch religiös-patriotische Gesänge und Abhandlungen
zur jüdischen Altertumswissenschaft vertreten; Mohr und
Bodek schreiben über jüdische Literatur und Geschichte im
frühen Mittelalter. Bodek, der hämische Frechling aus
dem Roe, versöhnt uns hier durch sentimental-humori-
stische Reisebriefe und Glossen zu seinen kritischen Ab-
handlungen. Naftali Mendel Schorr ist der Hausdichter.
Auch sonst überwiegen die Lemberger Maskilim. Es sind
aber auch die Brody'er und Tarnopoler vertreten. Ganz
besonders hervorzuheben sind: eine moralische Fabel in
klassisch biblischer Sprache von Nachman Krochmal —
wohl das einzig Dichterische aus der Feder des galizischen
Mendelssohn — und ein begeistertes Lob der Chassidim,
welches rückwärts gelesen sich als die blutigste Satire auf
dieselben erweist. Der ungenannte Autor dieses berühmt
gewordenen Palindromes ist der Lehrer des jungen Erter,
der später getaufte Zensor hebräischer Bücher, Josef Tarler.
Indem ich mich darauf beschränken will, die von Ga-
lizianern in Breslau, Fürth, Bamberg und Wien herausge-
gebenen hebräischen Zeitschriften (Jeschurun von J. Kobak,
1853 — 1868; Awne nezer und Zefirat tiferet von Letteris-
Wien 1853 — 1856; Ozar nechmad von Jicchak Blumenfeld-
Wien 1855 u. 1856; Bikkurim von Naftali Keller-Wien
1865—1866) bloß zu erwähnen, wollen wir zu Josef Kohn-
Zedek übergehen, der trotz mäßiger Begabung und be-
schränkter Kenntnisse, durch Ausdauer, echte Begeisterung
und heiße Liebe zum jüdischen Volke, seiner Literatur
und Geschichte den Gipfelpunkt der neuhebräischen Publi-
zistik in Galizien vorstellt.
Josef Kohn-Zedek wurde im Jahre 5587 (1827) als
Sohn des privatisierenden Talmudgelehrten Ahron des
Magids in Lemberg geboren. Sein Großvater väterlicher-
seits war Rabbi Meschulem, Sohn des Rabbi Joe! Kohn-Zedek,
der nach langjähriger rabbinischer Tätigkeit in Zörawno,
334 Josef Kohn-Zedek, der letzte neuhebräische
Korec und Bolechow, von 1795 — 1810 als Vorstadtrabbiner
und Magid in Lemberg wirkte und durch sein Werk /nriD
•ma berühmt war. Seine Mutter war durch Schönheit, Geist
und Kenntnis der hebräischen Sprache sowie der im prak-
tisch-jüdischen Leben gebräuchlichen Ritualien bekannt.
Nach dem frühen Tode seines Vaters gelangte Josef durch
die zweite Ehe seiner Mutter in den Bannkreis der Brody'er
Maskilim. Kaum 16 Jahre alt (18. Siwan 5603-1843) hei-
ratete er die Tochter des reichen Gastwirtes Malis in Lem-
berg, des Eigentümers des damals stadtbekannten Minjan-
Malis. Seine literarische Laufbahn begann Josef Kohn-Ze-
dek als österreichisch-patriotischer Schriftsteller durch seine
Jubelschrift "»labo mpwv Die Kaiserrettung Sr. Majestät
Franz Josef I., Lemberg 1853. Diese Schrift, die unter an-
derem eine historisch interessante Übersicht der Geschichte
der galizischen Juden vor dem Regierungsantritte Seiner
Majestät enthält, brachte dem Verfasser die goldene Me-
daille für Kunst und Wissenschaft und 27 Anerkennungs-
schreiben ein. Als patriotisch-dynastischer Schriftsteller be-
tätigte sich noch Josef Kohn-Zedek durch die Schriften:
•pnr "m. Gedicht auf Erzherzog Karl Ludwig, Krakau 1857;
"M (31*»: Kronjuwel für die Habsburger Dynastie, hebräisch
und deutsch, Lemberg 1856; »obij? fl3Sö»: Ein Denkmal für
die Ewigkeit. Trauergedicht auf den Tod des Generals
Radetzky, hebräisch und deutsch, Lemberg 1858. Von
1855 — 1874 gab Josef Kohn-Zedek die hebräischen Zeit-
schriften: Meged jerachim (1855—1859, 4 Teile); Ozar
chochmah (1859 — 1862, 3 Teile); Hajehudi hanizchi (1866,
4 Hefte); die Wochenschrift Hamewasser mit der Beilage
Hanescher, sämtlich in Lemberg, endlich die Monatsschrift
Or Tora (Frankfurt a. M. und Lemberg 1874, 4 Hefte)
heraus. Außerdem verfaßte oder edierte er noch eine ganze
Reihe exegetischer, kritischer und historisch-heraldischer
Werke. 1879 wanderte Josef Kohn-Zedek nach London aus.
Kurz darauf veröffentlichte der Lemberger Litterat Jehuda
Publizist der galizischen Haskala. 335
Chaim Leib Korn im Königsberger Wochenblatt Hakol
ein Pamphlet gegen Josef Kohn-Zedeks literarische und
publizistische Tätigkeit, welches viel wichtiges zur Ge-
schichte der galizischen Haskala enthält. Dem alten, galizi-
schen Journalisten sollte dadurch offenbar im vorhinein
die Herausgabe einer neuen hebräischen Zeitschrift verleidet
werden. Der Geschmähte antwortete in der Schrift 'na« nsw.
London 1879. Bis 1903 wirkte Josef Kohn-Zedek als Pre-
diger im East-Ende. Die ganze Zeit hindurch war er ein
regelmäßiger Besucher des britischen Museums und Be-
nutzer der hier aufgehäuften handschriftlichen Schätze. Im
Juli 1903 wurde er auf dem Wege dahin vom Schlage ge-
rührt. Im Jänner 1904 hauchte er in der jüdischen Heil-
stätte für unheilbare Kranke seine Seele aus.
Wir wollen uns hier bloß mit Josef Kohn-Zedek, dem
Publizisten, beschäftigen. Eine kurze Analyse seiner ver-
schiedenen, kurzlebigen Zeitschriften wird uns, gerade weil
Josef Kohn-Zedek nur ein Durchschnittsliterat war, am
besten über das geistige Niveau der galizischen Judenschaft
von 1855 informieren.
Seine erste Zeitschrift nannte Kohn-Zedek Meged
Je räch im (Segen der Monate). Die breitspurige Aufschrift
am Titelblatt deutet genau den Inhalt an. Sie lautet in
treuer Übersetzung: Segen der Monate, enthaltend Früchte
der Forschung, Lehre, Sitte, des logischen Denkens, der
Moral, des Gleichnisses und des Gesanges, welche blühten
und zu Prachtfrüchten heranreiften auf den Beeten der
Weisen und Verständigen im Garten der Sprache Ebers
zur Erheiterung der Verständigen und zur Zeit herange-
diehen. Von Josef Kohn-Zedek. Im Jahre: Kostet bei
mir die edlen Monatsfrüchte, weil sie köstlich
sind. Schon Titel- und Umschlagblatt verraten, daß wir
uns im Bannkreise des Mussiv- und Melizimstiles befinden,
jenes Stiles, der Gedanken und Gefühle von Menschen des
XIX. Jahrhunderts in eine Mosaik aus Verstrümmern der
336 Josef Kohn Zedek, der letzte neuhebräische
heil. Schriften und der mittelalterlichen Pijutim zwängen
wollte. Sogar das Jahr des Erscheinens (1855) läßt uns,
wie wir oben bemerkt, Josef Kohn-Zedek aus einem ana-
grammatisch zugerichteten Bibelverse erraten. Sogar im
prosaischen Geschäftsverkehr mit seinen Abonnenten kommt
uns Kohn-Zedek biblisch oder pajtanisch. So beginnt auf
der Kehrseite des Umschlagblattes zum 3. Hefte die an
die Abonnenten gerichtete Aufforderung zu zahlen, auf fol-
gende an Versöhnungstagpijutim anklingende Weise: Ge-
schlossen ist das Ordnen des 3. Heftes nach dem
Gesetze, heute bin ich bis zum Dritten angelangt,
heute ist Abonnentenempfang, heute ist der Zahl-
tag für die aus dem Geschlechte der Zahler. In der
Ankündigung des 1. Heftes hatte Kohn-Zedek jährlich 50
Druckbogen in 12 Monatsheften versprochen. Doch gelang
es ihm in fünf Jahren bloß vier Hefte herauszugeben. Die
Einleitung seiner Zeitschrift beginnt Josef Kohn-Zedek mit
der demütigen Bitte: Meine Brüder und Volksgenos-
sen! Siehe, ich komme heute vor Euer Antlitz mit
meiner Bitte und meinem Wunsche: Seid mir gnä-
dig und gewährt ein aufmerksames Ohr den Wor-
ten Eueres Bruders Josef... Sein Streben ist Preis und
Förderung der hebräischen Sprache, der lieblichen Sula-
mit, der Himmelstochter, die uns allein von allen
unseren Kleinodien aus uralter Zeit zurückgeblie-
ben. Der Erfolg seiner patriotischen Gesänge zum Preis
von Herrscher und Herrscherin, deren Vorfahren seinen
Brüdern seit 600 Jahren Schutz gewähren, haben ihn er-
mutigt aus seiner Verborgenheit hervorzutreten. Sein Pro-
gramm umfaßt: Erklärung dunkelgebliebener heil. Schriften,
dunkler Stellen in Talmud und Midrasch; Bloßlegung neuer
Quellen; Bibelforschungen, Predigten, Kritiken, Lebensbilder
berühmter Juden, Biographien österreichischer Kriegshelden,
moralisch-politische Forschungen, jüdische Geschichte, di-
daktisch religiöse Gedichte, Gelegenheits- und Zeitgedichte.
Publizist der galizischen Haskala. 337
Für dünne Heftchen von je 58 Seiten ein wahrlich über-
reiches Programm, das nicht ganz eingehalten werden konnte.
Das erste, wie auch die folgenden Hefte enthalten
gediegene Beiträge der altrenommierten Lemberger Publizisten:
Mohr, Fischmann, Schorr. Der hochverdiente Editor und
Forscher Salomon Buber verdient hier seine ersten Sporen.
Merkwürdig ist im ersten Hefte die Abhandlung: "nia^
par niW2 tphyp, (Ährengarben auf den Gefilden Jeschuruns)
von Mordechai David Strelisker aus Brody, welche unter
anderem die Gründung einer hebräischen Sprachakademie
projektiert, die berechtigt wäre, neue Ausdrücke nach
Regeln, welche aus der Eigenart der hebräischen Wurzeln
resultieren, zu schaffen. Ist aber das Projekt an sich nicht
schlecht, so sind die von Strelisker eingeführten Neu-
bildungen seiner eigenen Erfindung: aiJi^n = Telegraph,
p]in iö2 nb nr»j?on = Maschine Lokomotiv, rrbirnjnan =
Medaille, recht sonderbar und geeignet, Kopfschütteln her-
vorzurufen. Das erste Heft gehört fast ganz den Mitarbeitern.
Der Redakteur selbst kommt in der Einleitung und dann
erst hart am Schlüsse zum Worte mit einer Predigt über
Prediger und Schriftsteller. Dafür aber enthalten die übrigen
Hefte bemerkenswerte Beiträge vom Redakteur. So bringt
z. B. das zweite Heft aus der Feder Josef Kohns einen
prosaischen, in ein Lobgedicht ausklingenden Nekrolog auf
den berühmten Rabbi Hirsch Chajes, der kostbares Material
zur Lebensbeschreibung dieses ausgezeichneten Gelehrten
enthält. Das dritte Heft ist eigentlich eine FestnummerzurFeier
der glücklichen Entbindung Ihrer Majestät der Kaiserin. Das
hier enthaltene, vom Redakteur verfaßte hebr. Gedicht ist
ganz im Psalmenstil gehalten: »Gebet Kohn-Zedeks in
seiner Verzückung, als er vor seinem Gotte für die
Königin seine Rede ausschüttete.« Hochbedeutsam ist
ferner in demselben Hefte Josef Kohn-Zedeks Abhandlung:
Makkal noam we-choblim (Sanfte und züchtigende Rute) über
kritische Grundsätze beider Talmude in Halacha und Agada,
Monatsschrift, 55. Jahrgang. "
333 Josef Kohn-Zedek, der letzte neuhebräische
Nachdem Josef Kohn-Zedek die Herausgabe einer
Monatsschrift mißlungen war, wandelt er den Meged Jera-
chim in ein Literaturmagazin um, eine Schatz-
kammer für hebräisches Schrifttum anaa iiarn -*x
dhiö^ai yw mpa /-ripn 'ana »iwa ,0'anp nuwb yn trpxcn Tty
3*BH W^B r0VQKl flvwp ,Vm »amai. Die Einleitung — Josef
Kohn nennt sie nnrne, Vorhalle — enthält kluge und
witzige historische Betrachtungen über Vorreden-Hakdamot,
über Titel hebräischer Werke, welche so wenig zum In-
halte passen, ferner eine im Musiv- und Paitanimstil ge-
haltene Charakteristik der hebräischen Zeitschriften vorn
Meassef bis auf unsere Zeit. »Und es bereitete der Meassef
in jenen Tagen der Lehre, der Weisheit und der heiligen
Sprache großes Heil, und schritt wie eine Feuersäule vor
dem Lager Israels und beleuchtete die Wege der Hzs-
kala Der Meassef wurde seinem Volke entrafft, dar-
über wehklagte man im Himmel .... Plötzlich reiften die
ersten Früchte derZeiten an den Wasserströmen
Und der Lebensjahre der Erstlinge der Zeiten waren
zwölfe«. In diesem Tone geht es fort bis zu Kohn-Zedek>
unmittelbarem Vorgänger Meir Letteris, von dessen letzter
Zeitschrift »Awne neser« es mit einem furchtbaren Calem-
bourg heißt: » ♦ » nni8 Ktf*i (bezieht sich auf Letteris Zeit-
schrift Tnnen flTDac», deren unmittelbare Fortsetzung die
Awne neser bildeten) jnn tr n p ncf mey^ v«öfl »lbn
■»aj? imbin ntai d*b* n*mv a^env now ripaa isd.
Den Schluß dieser großen, farbenprächtigen, 21 Seiten
fassenden Einleitung, welche in Wirklichkeit eine großartige
Abhandlung ist, bilden hochinteressante Bemerkungen über
die Herausgabe hebräischer Zeitschriften in Galizien, weiche
noch heute aktuell sind. In Galizien, führt Josef Kohn-
Zedek aus, kann nur ein Druckereibesitzer eine Zeitschrift
herausgeben. Zudem sind die Mitarbeiter, vielbeschäftigte
Rabbiner und Geschäftsleute, nicht imstande, regelmäßige,
literarische Monatsbeiträge zu liefern. Deshalb war er ge-
Publizist der gaüzischen Haskala. 31}
^wungen, aus dem 'a'xv 1»; einen "roan isnCi zu machen.
Sein neues Organ wird seinem Namen Ehre machen :
"prsin p pviKn nvn irzin "res .t.t ^WÖ.. Die Leser mögen
sich nicht an den geringen Umfang des ersten Hefces
stoßen. Die Zeitung werde sicherlich stetig wachsen. Hier
werden Zeder, Sonne und Mond in den verschiedenen Phasen
ihres Wachstums zum Vergleich herangezogen : ex r^,
\M2h2 rua umna »3 *b IfiTflP &TP JÄ ,tj?33 w&ni
*JO»\ Der 1*03*1 nrs. verspricht biblische und talmudische
Exegese; talmudische Encydcpädie ; Beurteilung der Ge-
genwart; religiöse Gedichte, welchen, wenn sie den drei
Hauptbedingungen : Begeisterung, Einbildungskraft und ge-
sundem Menschenverstand entsprechen, metrische Schwä-
chen nachgesehen werden ; theologische Abhandlungen,
Zeitgedichte, wissenschaftliche Prosa, Übersetzungen aus
fremden Sprachen, nach Art von Letteris und der VVilna'er
Maskilim — nach Judenart — beschnitten und ganz in jüdischem
Geiste. Zeit des Erscheinens : zwanglos ; er hofft 3 — 4mal
jährlich seinen Lesern kommen zu können. Leider war sein
Optimismus wieder einmal grundlos. Der »nasn tüx« brachte
es nicht einmal zu soviel Heften, wie der "dtiv 130„* Von
1859—1865 sind bloß 3 Hefte von je 150 Seiten — Josef
Kohn nennt sie euphemistisch Jahrgänge — erschienen.
Der TTB5R "irx. entfaltet bereits ein reicheres Programm.
Der Redakteur denkt nicht mehr an bloße Sprachförderung,
sondern behält sich auch Kritik der Zeiterscheinungen vor.
Er beschränkt sich auch nicht mehr auf galizisch-öster-
reichische Mitarbeiter, sondern zieht selche auch aus andern
jüdischen Zentren, zumal aus Rußland (Gotllober, Ben-
Jakob, Plungian, Zweifel) heran.
Die dritte journalistische Gründung Josef Kohn-
Zedeks ist die Sammelschrift "man hihm (Der ewige Jude,
Lemberg 1866, 4 H.) Er will hier die in verschiedenen
theologischen Werken und Zeitschriften zerstreuten Berichte
und Abhandlungen zur altern und neuern jüdischen Ge-
22e
340 Josef Koha-Zedek, der letzte neuhebräische
schichte sammeln und herausgeben. Das erste Heft wird"
durch ein von Mattisjahu Rabener an den Herausgeber ge-
richtetes Gedicht eingeleitet, welches dessen Verdienste um
Literatur und Aufklärung feiert: >jjj? jjpbi "|nn nnbw nn»,,
jnwnn jrn nr\» . . . irvnnn ks*n "jina a^y^ jna nun . . . /£ik
"c^tnvi p*at prfca 5>kw$> aio *i#aan ^irar^mu p»a.
Auch das zweite Heft leitet ein Lobgedicht auf Josef
Kohn-Zedek ein, welches Mosche Jissachar Landau aus
Lemberg (hier als der Grabowtzer Raw bekannt) zum Ver-
fasser hat. Das Poem feiert Kohn-Zedeks Großtaten. Er
zeigte seinem Volke, wie sich »Tora« und Weisheit <naan)
innig verbinden, er belehrte als Erster die Juden in
hebräischer Sprache über Politik und Wissenschaft, er ver-
einigt getrennte Ehegatten, Eltern und Kinder, bringt ver-
folgten Glaubensgenossen Hilfe und errichtet w bsf\»
"crmn1? im rra ,n%y2ih, um Geheimnisse der Tora aufzu-
decken und Weisheitsschätze bloßzulegen.
Während aber die ersten drei Hefte sich mit älterer
jüdischer Geschichte befassen, enthält das vierte und letzte
Heft bedeutsame Beiträge zur zeitgenössischen jüdischen
Geschichte. Und so begegnen wir hier dem an Seine
Majestät im Jahre 1848 seitens der ungarischen Rabbiner
gerichteten Memorial: n'itfvil r\» \yzbi bma" m 'pia n« p?r6„
"hieb iöb itrx, dann dem Artikel ;yanj?a pK3 mw rra mu
"D'iCDa^ 1866 «in Winfl tfJ^a. Die Einleitung zu diesem Auf-
satz enthält einen hochinteressanten Beitrag über das
damalige Verhalten der Polen den Juden gegenüber, ferner
Bemerkungen über das Lemberger Gemeindestatut, nach
welchem auf 100 Gemeinderäte nur 15 Juden fallen. »Was
frommt euch,« fährt der Bericht fort, »meint ein Judengegner,
wenn wir euch Vertreter nach Verhältnis eurer Anzahl ge-
währen, habt ihr etwa 40 Leute, die euch im Gemeinderat
vertreten können? Die Anzahl eurer Advokaten ist ja so
beschränkt.« Darauf antwortet Josef Kohn-Zedek: n:/wj na.
*sn /iraara nnaa wk cnnan a'jiaa? ^a cs% ? ntn "aia naroa »w
Publizist der galizischen Haskala. 341
a»BMj? D'JDIki dvg ybv2 D3wa ps*n ? jya«p^m« c^r cxn ? *vw
p« tmno nxu o?| c^n ix p« trin na:n nirnj nssi ?n:«^en
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Die Tendenz der letzten in zwanglosen Heften er-
scheinenden Zeitschrift Josef Kohn-Zedeks: "mm *iiN" (4
Hefte: 1—3. Frankfurt am Main. 4. Heft. Lemberg 1874) ist
gegen die Ultrareformer, zumal gegen die destruktiven
Tendenzen von Josua H. Schorrs "pbnn„ gerichtet. Die
Bestimmung des •nun TU« heißt es in dem kurzen Pro-
gramm auf der rosigen Umschlagsseite (Das große Programm
in der Einleitung zählt 29 enggedruckte Seiten) des ersten
Heftes, ist: Entfachen der Liebesglut in der Jugend für
nsan und min,,; Ausrottung von »Dorn und Distel« im
Weinberge Israels; keine bloße Förderung der hebr. Sprache,
sondern Pflege der Toraflamme, Verhüten ihres Erlöschens;
keine Zeitungsneuigkeiten, sondern Geschichtskritik, u m
den gewaltigen Arm zu offenbaren, wel-
cher begonnen hatuns zu helfen, aber auch
den noch immer nicht erschlafften Arm
unserer Feinde; Kontrolle der Tätigkeit der Rabbiner
und Kantoren, sowie auch der jüdischen philantropischen
Gesellschaften; Gedichte ausgezeichneter Dichter, aber nur
zum Preise Israels, und nur in der Beilage. Wozu neue
Sänger, wenn die alten Sänger Ben-Gabirol und Jehuda
Halevy zum Tempel hinausgejagt werden ? Diesem Pro-
gramme gemäß enthält der 'nrn TW« neben polemischen,
religionswissenschaftlichen und historischen Artikeln, neben
der gewissenhaften Aufzählung aller Glaubensgenossen
zu Teil gewordenen Auszeichnungen, auch eine Aufzählung
der sich stets erneuernden jüdischen Leiden. In chrono-
logischer Ordnung, nach Tagen und Monaten, setzt uns
Josef Kohn-Zedek den blut- und jammerreichen jüdischen
Kalender vor, wobei er sich besonders gründlich über die
Judenmetzeleien von 1648 und die Schicksale der galizischen
Juden von 1848 an ausspricht.
342 Josef Kchn-Zedek, der letzte neuhebräische
Der "-Tn 1VH» zerfällt in zwei Teile. Dem reinwissen-
schafllichen ist ein zweiter ausschließlich aktuellen Zeit-
fragen gewidmeter Teil *^1T9» tk. beigegeben, den Josef
Kchn-Zedek in Gemeinschaft mit seinem Sohne David
(geb. 1848), der ihm bereits seit 1866 erfolgreiche Mithilfe
leistete, herausgab. Die zweite Aufschrift dieses Teiles:
mnbi Mtfb ,ira*:j bpo bwe ,müvfcb ?«w »:ab ,paT tbo«
mpJi wp urrtro m »a pinn ^:2 nm pK& .wtob man« ksa
pjn Tina n^pn mnua p*n n;b nwi nfcna rov .«: sb w ft
ra-r^i oirö pan na» nj? tau» pae6 na» h *a rmw tnwfc
to ■£> TSi ist in mancher Hinsicht Zionismus vor Pinsker
und Herzl. Auch hier behandelt Kohn-Zedek mit Vorliebe
das Verhältnis der galizischen Juden zu den Polen. Im
Allgemeinen billigt er das einige Vorgehen von Juden und
Polen, beklagt aber bitter die Judenfeindlichkeit der dama-
ligen polnischen Presse. Charakteristisch ist in dieser Be-
ziehung der Aufsatz: »Gesetzgeber und Zeitungsschreiber«
im 3. Hefte. Josef Kohn reproduziert hier eine merkwür-
dige Äußerung Kaiser Josephs II. über das Verhältnis der
galizischen Juden zu den Polen und Ruthenen: Galizien beher-
bergt Polen, Ruthenen und Juden. Der Pole ist sehr stolz,
der Ruthene sehr unwissend, der Jude sehr scharfsinnig;
deshalb lebt auch einer auf Kosten des anderen. Geht
aber einmal den Ruthenen das rechte Licht auf, dann zer-
bricht der Stolz der Polen, die Juden machen sich frei und
v/erden das Zünglein an der Wage, falls ihnen aus ihrer
eigenen Mitte keine Verräter erstehen. Erwähnenswert ist
in diesem Aufsatze noch die Erzählung einer Episode aus
einer Sitzung des österreichischen Reichsrates in jenem
Jahre (1874), deren Helden die jüdischen Abgeordneten
Mises und Mendelsburg waren. Der erste klagte über die
Vernachlässigung der deutschen Sprache in den galizischen
Schulen. Darauf Mendelsburg aus Krakau: Sind etwa die
Juden verpflichtet Deutsche zu sein? Ist die polnische
Sprache gegen die mosaische Religion? Gibt es etwa keine
Publizist der galizischen Haskala. 343
Juden in Frankreich und England, die gar kein »Deutsch«
kennen? Ich bin Jude, hänge aber nur an der polnischen
Sprache! Die Polen sind keine Judenfeinde, sie müssen es
aber werden, wenn wir einen Staat im Staate bilden und
zu sehr am Deutschen hangen. Josef Kohn vermittelt : Wir
sollen das Polnische pflegen, aber auch das Deutsche nicht
vernachlässigen. Wir sind Freunde der Polen, man kann
ihnen aber nicht den Vorwurf ersparen, daß sie den Juden
gegenüber nicht aufrichtig vorgehen.
Die gediegensten, umfangreichsten Artikel im "min TiK.
stammen vom Redakteur. Er mußte ja selbt sein eigener
fleißigster Mitarbeiter sein. In seiner Einleitung, in welcher
er sich über Jehcschua Heschel Schorrs destruktive Wirk-
samkeit, sowie über das Los der hebräischen Autoren
weit und breit ausspricht, stellt er seinen Mitarbeitern erst
dann Honorar in Aussicht, wenn die Abonnentenzahl die
Ziffer 600 überschritten haben werde. Durch die Auszahlung
on Honorar werde das Niveau der einzelnen Beiträge sich
heben. K"ibnp*t jnBtttnb vw Br6i3?B^> irt> w mp: C3 '2 DPTai.
Tvvnb b« -2 'ucn tow£ ;*s »3 . .*. bts ubii p «H
Die größte Tat Josef Kohns aber, die, welcher er
seinen Ruhm in der ganzen jüdischen Welt verdankte, war
die Herausgabe der Wochenschrift "wacn. mit der Beilage
•*.tr:n„; kennt man dcch in jüdischen Kreisen heute Josef
Kohn schlechthin nur als den -i^aen bvz„. Es war aber
such eine Tat beispielloser Aufopferung und Ausdauer
durch fast 6 Jahre — vom 12./6. 1861 bis 15./U. 18G6 —
ohne Subvention, ohne eigenes Kapital, ein politisches
Wochenblatt in hebr. Sprache herauszugeben. Denn der
"trrsrL, war das, was der •rasrr», der bedeutend früher
zu erscheinen begann, nicht war, was sogar die bis
rtnn erschienene •fTrßXfl, Nahum Sokolows auch noch
nicht war : das erste hebr. Wochenblatt, welches mit
weitem, freiem Blick auf das Weltganze, voll Tempera-
ment und Freisinn über innere und äußere Politik, über
344 Josef Kohn-Zedek, der letzte neuhebräische
die österreichischen Wirrnisse, über die polnische Inspe-
ktion, die Politik der Tuilerien in den süßen Lauten eines
Jesaias und in kasuistischen Wendungen von •,*2K« und
•Kai« sprach. Um sich aber vom ntpuaru eine treffende Vor-
stellung zu machen, reicht eine bloß literarische Würdigung,
wie eine solche übrigens in der Beilage zu Nr. 15 der
TiT'D^n» vom Jahre 1904 versucht wurde, nicht hin. Wir
müssen vielmehr, um unsern Zweck zu erreichen, einen
kurzen Spaziergang durch manche Jahrgänge des n»aon»
machen und bei den charakteristischen Partien kurz ver-
weilen. Die erste Nummer des »aa^ v\y anra pr*3PM> ivsor.»
"i?an *jb bv trBHnnem o»«w anann i?aa ,bmv* nennt zwar auf
dem Titelblatte Abraham Jicchak Menkes als Herausgeber.
Das Umschlagsblatt des ersten Jahrganges aber enthält schon
den Vermerk: yra jna v\ov »jbö "iicbn £»aa "pyi.. Das Programm
verspricht: Jüdische und allgemeine Neuigkeiten ; Berichte über
den Zustand der Juden im heiligen Lande; judaistische Ab-
handlungen; Verordnungen der Behörden. Letztere sollten in
deutscherSprache, mit jüdischen Lettern gedruckt werden. Die
Aufschriften der Leitartikel sind von der ersten bis zur letzten
Nummer schreiend, aufregend, antithetisch, calembourisch,
sprachwitzelnd, an Bibel-, Talmud- oder Midraschverse an-
lehnend. Die ersten Leitartikel: bkw rauruaunn nmtnp.
''imim handeln vom Nutzen der Geschichte, zumal in
hebräischer Sprache, von der Ewigkeit Israels. Der Leit-
artikel: dö'bh ,p*x ms/BW bv frarriBtp mmn wm rwn »d'd-.
"HK:a pf» *büb waarl mutet wieder vorzionistisch an
und beginnt jeden Satz mit dem Worte Zion: xpntan p'3t.
wi »a np ^men pnsr» ,amax vi? 1 |vs — was ny tratp mraa
. . ♦ "Brpja öbm üpbn; zum Schluß die tröstliche Nachricht :
der "itpaan« werde die Tränen Zions in seinen Schlauch
senken. Daß aber dieser Zionismus bloß literarischer Natur
war, beweist gleich der nächste Leitartikel: fmh fünft
"paa "jfin^a (Liebe dein Heimatland, wie dich selbst), der
von den galizischen Juden österreichischen Patriotismus
Publizist der galizischen Haskala. 345
fordert. Bisher verrät Josef Kohn-Zedek auf jeden Schritt
den Anfänger. Von Nr. 14 an verspricht er einen neuen Kurs
einzuschlagen: aktuell zu werden. Unter den wissenschaft-
lichen Beiträgen des ersten Jahrganges ist eine Populär-
geschichte Polens hervorzuheben. Auch im ■wann« nimmt
Kohn-Zedek die Gelegenheit wahr, das Verhältnis zwischen
Juden und Polen einer Kritik zu unterziehen. So führt er z. B.
in der Nr. 7 vom 13/2. 1863 folgendesaus: 1848 beginnen
die Juden sich als Söhne ihres Vaterlandes zu fühlen.
Auch die Polen beginnen die Juden Brüder zu nennen.
48 Polen kommen in Galizien auf 57 Ruthenen. Die Juden
sind also das Zünglein an der Wage. Nun, fährt Josef
Kohn fort, mit einer Anlehnung an eine bekannte Stelle in
Jesaias, ergreifen 10 Polen den Rockzipfel eines Juden und
sprechen : Lehne deine Hand auf das Haupt unseres Er-
wählten, an welchem unsere Seele Gefallen findet. Und
doch halten im Lemberger Magistratsausschuß die Herren
Armatys, Rajski und Jabloriski judenfeindliche Reden.
Ein Glück noch, daß die Juden Landesberg, Kolischer, Hö-
nigsmann und der edle Christ Rodakowski ihnen heim-
geleuchtet haben. In derselben Nummer bespricht Josef
Kohn den polnischen Aufstand und prophezeit ihm keinen
Erfolg. Polenfreundlich ist der Leitartikel von Nr. 34 vom
4/9. 1863. ("ppn 1K psn» — Land oder Leid.) Es ist das
eine wahre Lobhymne auf die Heldentaten der polnischen
Jnsurgenten. Ebenso der Leitartikel Nr. 41 vom 13/11. 1863.
«13^ ni?„ — die Zeit des Schweigens ist vorbei — die Zeit
des Redens ist da. Die polnische Frage ist jetzt, da die
Tuilerien ihr Verhalten geändert haben, zur europäischen
Frage geworden. Die Beilage zum nrann. — ntpn. enthält
talmudische und biblische Exegese, Kritik, Linguistisches,
Geschichte der Juden, Biographien verdienter Juden (S. 142,
1863. Biographie von Berek Joselowitsch), Biographien be-
rühmter NichtJuden, Naturwissenschaftliches, Geographisches,
anziehende Erzählungen, Freundschaftsschreiben, moralische
346 Josef Kohn-Zecitk, der letzte neuhebräische
Gedanken — ■s~,p^ "pTsn nai — herzerquickende Korres-
pondenz des Redakteurs an die Abonnenten. — Am reich-
haltigsten ist die Rubrik D»T» Gedichte — da uns Kohn
kein einziges Lobgedicht auf den wiü schuldig bleibt.
Dann findet man hier sehr viel Gediegenes von Keller,
Rall, Sperling, Strelisker, Rabener. Der letzte druckt hier
-^eine klassischen Übersetzungen aus Byron, Sperling
Übersetzungen von Dr. Rapaports Gedichten, ebenso viele
Original-Gedichte. Dem Jahrgange 1863 schließt Kohn ein
Beiblatt mit den neuesten politischen Nachrichten an: flia'bfi.
~R hiccnn cp n:tr nnn« -jn htkis 18G3 morr^sa d»öm nan 0^*2?
dwki kp miip cjn'a d^s? rva^n D%a$nnn »knfc u vü'flA
*a*jvinKri c*2*n nmp *ns, Das Blatt kommt nicht über die neunte
Nummer heraus. Im Jahre 1866 sucht Kohn dasselbe Blatt
in einer erneuerten, auf die gesamteuropäische Politik zuge-
schnittenen Form, herauszugeben, aber auch jetzt ohne Erfolg.
Mitte November 18(56 hört der ntfabn» ganz zu erscheinen auf.
jetzt einige Bemerkungen über Stil und Tendenz bei
Josef Kohn-Zedek.
Sein Stil ist das Naivste, Erquickendste auf der Welt.
Kein, seine Sprache widerspiegelt nicht das sogenannte
wirkliche Leben, schmiegt sich nicht an das Leben des
Tages und dessen Bedürfnisse an. Aber Kohn-Zedek lebt in
Bibel und Talmud, in Midrasch und Peruschim, in Poskim
und Pijjutim. Er, der Träumer des Ghetto, lebt in einer
Traumwelt — und für diese Traumwelt ist gerade der
Melizimstil der passendste. Und so ist es nicht lächerlich,
sondern rührend, wenn er, um den Tod des österreichischen
Kriegshelden Radetzky zu beklagen, der berühmten Zionide
des Jehuda Halevy den Ton entlehnt. n\v:r "p^DC? '*?«.
■fpYiW bvz bv ptf /nun whsi rrfcna mbv ica — oder wenn
sein Entrüstungsschrei über Jehoschua Heschel Schorrs
Y'V"n„ an das Jubellied erinnert, mit welchem die jüdi-
schen Frauen die heimkehrenden Helden Dawid und Saul
begrüßten: »rrorra -w bwm vtbta dwb wn« Daß aber
Publizist ccr gallzischen Haskala. 347
Kohn-Zedek auch die modernsten hebräischen Versmaße
meisterhaft zu behandeln versteht, mögen die vielen Ge-
dichte beweisen, in welchen er das, was sein Herz am
meisten bewegt: seine Zeitschriften, charakterisiert.
Ja, Josef Kohn-Zedeks Stil beschränkt sich nicht auf
Melizoth; diese bilden nur eine Seite seines Stiles: seine
poetische Prosa, den Ausdruck seiner seelischen Erregung.
Er ist in vielen Abhandlungen, zumal in seiner Zeitschrift
'nun "ns„ jener einfachen, klaren, leicht mussierenden, halb
rabbinisch, halb im -" ps»^ gehaltenen, hebräischem Prosa
fähig, wie sie etwa Franz Delitzsch an Rapaport rühmt.
Besonders hervorzuheben ist die Tendenz von Josef
Kohns Zeitschriften. Hier sehen wir eine regelrechte
Evolution. Er beginnt mit Preis und Förderung der hebr.
Sprache. Aber schon in seiner zweiten Zeitschrift will er
besonders auf das Leben Einfluß nehmen. In seiner dritten
und vierten Zeitschrift findet seine Liebe zum ganzen
Judentum besonders starken Ausdruck. Zugleich sehen wir
den Keim einer Tendenz, die Judenemanzipation nicht
als das Ende der Erlösung anzusehen, sondern dieselbe
auch politisch auszubauen, ohne ihr auch nur im mindesten
irgend eines der religiösen Güter zu opfern. Wir können
also mit gutem Fug und Recht Josef Kohn-Zedek einen
Pfadführer und Wegweiser der hebräischen Publizistik der
Gegenwart nennen. Josef Kohn-Zedek ist ein Idealist.
Nicht das Erreichte gereicht dem Strebenden zum Lobe,
sondern das Gewollte, das Streben selbst. Trotz aller Ent-
täuschungen schreitet Josef Kohn-Zedek immer vorwärts,
von einer Enttäuschung zur anderen, aber auch stets einen
Schritt vorwärts. Er beschließt würdig die Führerepoche
der galizischen Haskala, welche seit 1815 ganz Israel vor-
geleuchtet hat. Was Josef Kohn-Zedek nicht erreicht, aber
trotz allgemeinen Kopfschüitelns und hämischer Ver-
dächtigung erstrebt hat, das möge unser Ideal bleiben für-
alle Zukunft.
Notizen.
Zur Geschichte der Jaden in Hamburg trägt Einiges bei Ernst
Baasch in seinem Heil »Der Einfluß des Handels auf das Geistes-
leben Hamburgs« (Pfingstblätter des Hansischen Geschichtsvereins
V) Leipzig 1909. Er betont den Einfluß der Portugiesen und zitiert
im Gegensatz zu einer Bußpredigt von 1719, die die Juden als frech
schmäht, das Urteil eines früheren Geistlichen Schupp (f 1661), daß
der portugiesische Jude sich oft »in Handel und Wandel ehrlicher
und aufrichtiger erweise als mancher Christ.« F. Liebermann.
In der Monatsschrift Jahrg. 1904, S. 604 ff. kommt A. Epstein
zu dem Resultate, daß die Wormser Thorarolle auf Hirschpergament
mit TKO '3*1 1BD nicht identisch ist, und daß R. Meir aus Rothen-
burg sie nicht geschrieben hat. Das letztere bezweifelt auch bereits Auer-
bach in seiner Geschichte der israelitischen Gem. Halberstadt (Halber-
stadt 1866) S. 184 und führt ebenfalls den von Epstein gebrachten
Einwand an, daß das alte Wormser Minhagimbuch jene Thorarolle
als aus Eger stammend bezeichnet. Einen zweiten Einwand bringt
Auerbach im Namen seines Lehrers R. Koppel. Die besagte Thora-
rolle habe am Anfange jeder Kolumne ein 1, und das perhorresziere
R. Meir aus Rothenburg (vgl. Mordechai m:tDp Jtfsta g. Ende, Ha-
gahoth Maimunijoth zu Maimonides fimn ISO Tflsbft VII, 10, wo
dieser Brauch dem Schreiber R. Leontin aus Mühlhausen, einem Zeit-
genossen R. Meirs, zugeschrieben wird). Auerbach erzählt noch,
daß sein Lehrer R. Lob Karlburg (st. 1835 in hohem Alter, vgl.
Geiger, Wissensch. Zeitschr. f. jüd. Theologie I, 126) es für wahr-
scheinlich hielt, daß die Thorarolle von Eger nach Worms durch R.
Meir aus Eger gebracht wurde, den R. Jacob ha-Lewi einst in dessen
Laubhütte besuchte, wie von ihm im Maharil a^b R'dhn berichtet
wird. Beide seien gleichzeitig in Worms gewesen. Später habe mau
R. Meir aus Eger mit R. Meir aus Rothenburg verwechselt, da der
letztere in Worms begraben sei. Das VKB n31 1ED sei mit R. Meir
aus Eger in Beziehung zu setzen. Wer es geschrieben habe, das sei
ungewiß. Louis Lewin.
Notizen. 349
Die Identität dar Familien Theomim und Munk haben die Her-
ausgeber der »Jüdischen Privatbriefe aus dem Jahre 1p19«, die Herren
Alfr. Landau u. Bernhard Wachstein, durch eine Reihe glücklicher
Kombinationen1) tadellos festgestellt. Einige handschriftliche Notizen,
die mir vor einiger Zeit bekannt geworden sind, bilden gewißermaßen
einen urkundlichen Beleg für diese Feststellung. Sie rühren von der
Hand des Prof. Eduard Munk her und finden sich in einer hebr.
Bibel2), die ihm gehört hat und jetzt das Eigentum seines Schwieger-
sohnes, des Herrn Eduard Caro in Glogau, ist. Den Auftrag zur
Niederschrift gab ohne Zweifel Raphael Löbel Munk, der Vater Eduard
Munks. Jedenfalls fällt durch sie ein ungeahntes Licht auf die Nach-
kommenschaft Israel Theomims, des ältesten Sohnes des Metzer
Rabbiners, R. Jona Theomim, über den bisher nur lückenhafte Nach-
richten bekannt geworden sind3). Selbst die Inschrift seines Grab-
steines, die seit nahezu 180 Jahren an einer leicht zugänglichen Stelle
gedruckt vorliegt, ist, so viel ich sehen kann, unbemerkt geblieben.
Epitaphia quoque sua fata habent.
Die Notizen aber besagen folgendes: »Als 1813 die Stadt
[nämlich Glogau] belagert wurde, zerschmetterten und zerstörten die
») Vgl. Jüd. Privatbriefe S. IX. 4 51.67, N. 2 u. 83, N. 3 u. unten
S. 368. Die Umkehrung der Gleichung ist jedoch, wie bereits Landau
u. Wachstein bemerken, nicht berechtigt. Keineswegs gehören alle
Munks zur Familie Theomim.
2) Es ist die Leipziger Ausgabe, die 1756 bei Bernh. Christ.
Breitkopf erschienen ist. Die Notizen stehen darin unter der Über-
schrift: »Grabschriften unserer Vorfahren« auf dem letzten Blatt hinter
dem Verzeichnis der Haftarot. Ich gebe sie in der folgenden Dar-
stellung nach der chronologischen Reihenfolge, in der sie zweifellos
in der Urschrift gestanden haben. Prof. Munk hat die beiden Grab-
schriften, die für ihn das wichtigste Stück der Überlieferung waren,
an die Spitze gestellt.
3) Was wir bisher von ihm wissen, hat zuletzt A. Frei mann
in der von ihm besorgten neuen Ausgabe des "iBltP JJpn 'D von Je-
chiskija Josua Feiwel Theomim (Sonderausgabe aus der Festschrift
zum 70. Geburtstage Harkavys) S. 2 ff., vgl. ZfHB XIII (1909), S. 66
ff., und zwar, so viel ich weiß, sorgfältig zusammengestellt.
350 Notizen.
Soldaten alle jüdischen Grabsteine, und heute hat der vornehm?
Herr Vorsteher, R. Raphaei Lob b. Jesaia Munk, Enkel des hier be-
grabenen hochgeehrten Mannes, in seiner Opferfreudigkeit dieses neue
Denkmal am Orabe seines Ururgroßvaters zur Ehre seiner Vorfahren
errichten lassen am 1817« *).
Raphaei Löbel Munk gehörte um die Wende des neunzehnten
Jahrhunderts zu den angesehensten Männern seiner Vaterstadt. Währer. d
der schweren Heimsuchungen, die die Ologauer in der Franzosenze:t
nach der Eroberung der Festung zu erdulden hatten, wählte man ihn
1806 in die Kommission, die den Ratsherren zur Wahrnehmung des
allgemeinen Wohles und der Gerechtsame der Stadt zur Seite stehen
sollte2). Bei der Einführung der Städteordnung wurde er im Februar
1809 zum stellvertretenden Mitglied der Stadtverordneten-Versammlung
gewählt und trat am 17. August desselben Jahres als ordentliches
Mitglied ia die Versammlung ein. Im Jahre 1811 berief ihn das Ver-
trauen seiner Mitbürger zum zweiten Mal in dieses Ehrenamt3). Auf
den neuen Grabdenkmälern, die er für seine Ahnen errichten ließ,
erhielt das seines Ururgroßvaters folgende Inschrift:
2'Dixn nnwöo b'it rw "mmo pxn yvia binw mia »asTi ö"d
jreb rran ran y p-v ora nmseb T?n
irai '22i v« xcx Bnnn ■??
nao "irrt [y rraaxi J7tv bhvx
r,znb -bsa pixa c'xno
.-äs bmw* nai
Sie liest sich wie eine zweite, etwas kürzere Fassung der U -
') In der Aufzeichnung Ed. Munks lautet sie wie folgt: I\2V2
mastö ^2 nx nennen *iwx ln-ntrm naw p*Xöa "ryn -xa wxs rj?pn
,,^, .«22 2if? ^xb*i rna c".s pspn ».ifmr. anrnn cmi ^xw *iap
■ax *ax nap ty nxn nsnnn -21:0- n^pm na f^oon naan (!}--: pra
p'B5? t'Jr'pn ..... Di"1 vmax "122i7 üpt V2X. Schon die Lücke, die
für das Datum des Jahies 5577 sich findet, beweist, daß Prof. Ed.
Munk die ihm vorliegende Urschrift nicht mehr entziffern konnte.
Die dem Namen des pietätvollen Mannes vorstehenden Titulaturen
machen es wahrscheinlich, daß er, wie ich im Text vermute, die
Tatsache von einem andern hat notieren lassen.
a) Berndt, Gesch. der Juden in Glogau, S. 99. Vgl. auch meine
>Mittei!ungen aus Salomon Munks nachgelassenen Briefen* im Jahr-
buch für jüd. Gesch. u. Lit. Bd. II (1S99), S. 152, Anm. 1.
3) Berndt a. a. O. S. lC9f.
Notizen. 351
schrift, vermutlich darum, weil im Laufe der Zeit die Lesbarkeit d?r
Inschrift auf dem ersten Denkmal Schaden erlitten hatte. Was aber auf
dem im Jahre 1813 vernichteten ersten Denkmal gestanden ha*,
wissen wir ans einer etwa hundert Jahre früher angefertigten Abschrift,
die ohne Zweifel von dem Pastor Chr. Theophil Unger1), dem »be-
geisterten Sammler für jüdische Bibliographie«, herrührt und von dem
Hamburger Pastor Joh. Chr. Wolf im 4. Bande seiner berühmten
Bibl. Hebr. S. 1215 mitgeteilt ist. Sie hat folgenden Wortlaut:
nan ■•asi \t; »v: p'-inn hv
na^o ntim \t (2"--"i ^ ^b*
naa ^kw -iji r.zrbw n^s» p»a Bixra
h" .";r Tinia pxam bxw< vnrnti «in rr,-
n-Tjtt nruj6 [;ki ran a"1 ,nn*:p^ "p-
(sM31Vn »TOP *«" KJ?1X3 S?*?351
.jTD^ n'BJi (4r.sn T1 •z zvz
Das andere Grabdenkmal Heß er mit folgender Inschrift ver-
sehen :
B'B
rw: [T»jrp ibb B'nj?a '2 wrtnjn d'id ^kibm ran "jw rr.a ^rn
.p*B^ rsn (5:s na labiyb -j^n caxr nneveo
bvhvra iinx ü?B3 b*Äsn ba m ."tb pßBn k-ib: ^m nacr rra-n5? ti*? na
.^«•wa rr.vz: naa ^rsn ittiVintfii sv-ei "iai a^a l^sa
Darauf bezieht sich dann die Schlußbemerkung:«) »Auch dieser
Stein wurde von R* Raphael Lob b. Israel Munk, dem vornehmen
Obervorsteher, dem Enkel des hier Begrabenen, errichtet in seinem
Eifer für die Ehre seiner Vorfahren, die im Staube ruhen.«
*) Über Unger (st. 16. X. 1719) vgl. H. B. XVII, 88, Stein-
schneider, Katalog der hebr. HSS. der Hamburger S'.adtbibl. S. VIII.
147 u. meine Abhandl. »Eine Sammlung, Fürther Grabschriften« S. IX.
2) So ist wohl zu lesen statt naa"1! im Text. Vgl. b. Rosch ha-
Schanah 33b f.
s) »aiSPn ist offenbar ein Schreibfehler. Die Wendung aus Ab.
sara 24 a.
4) rrtPn MBB sind offenbar Schreibfehler. Die Munk'sche Ab-
schrift und die Totenlisten haben übereinstimmend n'BJl.
6) Abweichend hiervon haben die Giogauer Totenlistea über-
einstimmend das Datum ,va.
e) Sie lautet im Urtext: pÄpn tpbxx v$ er" näH [BJtl 03
TTSab s:p a ,-s ^zp:r, "733 "vi -i-a ^yv n'a \z 3'f? 'tkb'i ,-■; a* d
"an p-sa vr« D-pnsn vn^x.
352 Notizen.
Ans diesen steinernen und einigen papierenen1) Resten wissen
wir nunmehr etwa folgendes über den Lebensgang und die Nach-
kommenschaft R. Israel Theomims. In den nationalen Studien war er
wohl bewandert, wenn er auch niemals ein rabbinisches Amt, wie
seine Brüder, Isaak Maier und Josua Feiwel2), bekleidete. Nach dem
Tode des Vaters, 16. April 1669, ließ er dessen Buch in Amsterdam
drucken und schrieb ein Vorwort dazu. Später zog er wohl nach
Posen5) und siedelte von dort nach Ologau über. Hier war sein
Schwager, R. Abigedor b. Schneior, Rabbiner4), und hier kam auch er
') Ich habe das Aktenstück A. A. II 21 b des Breslauer Staats-
archivs und die Totenlisten der Qlogauer Gemeinde benutzt. Es sind
der letzteren, im Besitz des »Heiligen Stifts« daselbst, zwei vorhanden:
1. ein Folioband, angelegt von Michael, dem Beamten der pn (st.
So., 7. Schebat = 23. Januar 1820) im Auftrage des Vorstandes der
Brüderschaft am (9. Schebat =) 19. Januar 1796 und fortgeführt
von dessen Amtsnachfolger Selig b. Isaac Caro (gest. 25. Tischri =
1. Oktober 1850). Er enthält eine chronologische Übersicht der von
1710—1850 alljährlich Verstorbenen und als Einführung dazu einige
(13) Daten aus früherer Zeit auf 25 Bl., dann ein Verzeichnis der in
den 51 Qräberreihen des Friedhofes Beerdigten auf (12) + 52 BI.
Das Blatt hinter dem Titelbl. und 6 Bll. am Ende sind unbeschrieben.
2. Ein alphabetisches Register dazu, das die Namen in zeitlicher
Reihenfolge aufzählt und die Qräberreihe anzeigt, in einem Oktav-
band. Beide Register sind mit anerkennenswerter Sorgfalt geführt.
Das zweite scheint ganz von der Hand Selig Caros herzurühren.
2) Vgl. Freimann a. a. O.
s) Die alphabetische Totenliste nennt ihn schlechtweg R. Is-
rael Posner, während er im Folioband JW •ü flXJn STtt bxw V'D
heißt. Auch der Lissaer Zweig der Familie, die Ahnen des Danziger
Rabbiners, des Verfassers des VKO ma ICD, nannten sich Posener.
Vgl. L. Lewin, Qesch. d. Juden in Lissa S. 218 ff., 334, 380. Übrigens
erhielt Israels Bruder, Isaak Meir, 16S5 eine ehrenvolle Berufung zum
Rabbinat in Posen, die zwei Jahre später für null und nichtig erklärt
wurde. Vgl. die von Buber in seinem fizw: mp S. 43 nach Ab-
schriften, die ihm Ph. Bloch aus den Posener Oemeindebüchern ver-
schafft hat, veröffentlichten Urkunden. Vielleicht bringen weitere
Urkundenfunde einmal Licht in die dunkeln Vorgänge. In Lissa
stammte auch die Familie Norden in weiblicher Linie von dem
Metzer Rabbiner R. Jonah Theomim ab. Vgl. D^Hp fljn S. 95, 102,.
110 u. Lewin a. a. O. S. 333.
4) S. D^Hp J1JH S. 95, 102. Friedberg, plSt T\mb, 2. Aufl. S. 90.
Notizen. 353
selbst bald zu hohem Ansehen. Etwa drei Jahrzehnte überlebte er
seinen Schwager (st. 23. März 1675)1) und mehr als 11 Jahre seinen
Sohn Samuel Feiwel, den Namensträger eines seiner berühmten Ahnen,
der am (24. Nissan =) 19. April 1694 in Kremsier die letzte Ruhestätte
gefunden hat'). Neues Glück wird ihm in der Familie seiner andern
drei Söhne, die in Glogau ihre Heimat fanden, erblüht sein. Am
Sonnabend, den (12. Tammus =) 4. Juli 1705 ging er zur ewigen
Ruhe ein.
Von den in Glogau ansässigen Söhnen hieß der eine Nathan.
Von ihm wissen wir nur, daß seine Frau Malka am (18. Tebeth =)
10. Januar 1738, sein Sohn Hirsch am (17. Nissan =) 4. April 1768 und
seine Schwiegertochter Esther am (13. Cheschwan =) 5. Novemb. 1767
gestorben sind.
Von dem anderen Sohn Juda erfahren wir8), daß er »mit allem,
was ihm in die Hände kam, handelte« und ziemlich bemittelt war.
Sie beide überragte an Einfluß und Ansehen der dritte Sohn
J esaia. Nach den Akten gehörte er zu den Rentiers und Particuliers,
deren damals acht in der Gemeinde gezählt wurden. Angeblich, heißt
es, lebe er von seinen Interessen, tatsächlich aber sei er ein Rechts-
consulent, wobei er viel Geld verdiene. So die Darstellung der den
Juden wenig freundlichen Kommission, die mit der Aufnahme der
Seelenzahl der Gemeinde betraut war*). In Wahrheit war er der Schtadlan
oder rechtskundige Sachwalter, der die Interessen der Gemeinde und
jedes ihrer Mitglieder bei der Obrigkeit wahrzunehmen und zu ver-
treten hatte. Offiziell gab es zwar in Glogau einen Beamten, der diesen
Titel führte, damals nicht. Das Gemeindestatut vom (19 Tebeth =)
23. Dezember 1687 bestimmte vielmehr (Kap. 7, §. 2), daß der Monats-
vorsteher verpflichtet sei, jedem Gemeindemitgliede als Rechtsbeistand
im Verkehr mit der christlichen Obrigkeit zur Seite zu stehen. Jedoch
sei der Vorstand befugt, auch ein geeignetes Gemeindemitglied mit
dieser Aufgabe zu betrauen, und jedermann müsse ohne weiteres,
wenn er sich nicht schwere Strafe, die der Vorstand nach seinem
Ermessen festsetzen dürfe, aussetzen wolle, einen solchen Auftrag
übernehmen*). Wie dringend nötig gerade damals, als der Rat der Stadt
x) Vgl. die Grabschrift bei Wolf Bibl. hebr. IV, 1215.
8j Vgl. Frankel-Grün, Gesch. d. Juden in Kremsier, I, S. 113,
Anm. 2, wonach 1690 das Todesjahr wäre, und Kaufmann, letzte Ver-
treibung. S. 184, Anm. 9.
s) Bresl. Staatsarchiv AAII 21b.
*) Bresl. Staatsarchiv a. a. O.
°, Der Passus lautet; b?2W2 innrni? "|V^ a^ino [BHWl] CJiDH
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 23
354 Notizen.
erfahr, daß die Seelenzahl der Gemeinde auf etwa 1200 Personen ange-
wachsen sei, jeder, der seines Heimatsrechts nicht ganz sicher war, eines
rechtskundigen Beistandes bedurfte, wird bei anderer Angelegenheit im
Einzelnen nachgewiesen werden1). Jedenfalls erfahren wir so viel aus
der knappen Nachricht, die wir auf dem Grabstein lesen, daß R.
Jesaia mit heißem Bemühen und glücklichem Erfolge sich seiner Auf-
gabe unterzogen habe. Er starb am (25., nach anderer Nachricht») am
16. Ab =) 6. August 1733. Von seinen beiden Söhnen wurde Notel,
d. i. Nata, gest. (26. Tischri =) 13. Oktober 1762, der Vater des
Jesaia, gest. (4. Elul =) 16. August 1798, dessen Sohn R a p h a e 1
Löbel, gest. (2. Adar I =) 3. April 1832, eben derjenige war, der
pietätsvoll die Grabsteine seiner Ahnen wiederherstellen ließ.
Was außerdem die Totenlisten über die Nachkommen Israel
Theomims berichten, ist aus der nebenstehenden genealogischen
Übersicht (auf S. 355) zu ersehen.
Nur die folgenden Mitglieder der Familie Munk ließen «ich
zwanglos in diesen genealogischen Rahmen nicht einfügen :
1. Freudel, Tochter des R. Veitel Munk, Frau des R. Jekuthiel
b. Meir Sachs, gest. (29. Cheschwan =) 17. November 1732. Vielleicht
war sie die Tochter des am 28. August 1724 verstorbenen Hotzen-
plotzer Rabbiners1).
2. Elkana b. R. Salomo Munk, st. (1. Tischri =) 27. September
1764.
3. Chajja, Frau des R. Juda Munk, Tochter d. Abr. Asch aus Posen,
st. (24. Schebat =) 15. Febr. 1765.
4. Taube, Frau des R. Pinchas Munk, st. (29. Nissan =)
10. April 1774.
5. Raliche, d. i. Rahelchen, Witwe des R. Elkana Munk, st.
(17. Schebat =) 3. Februar 1798, vermutlich die Witwe des sub 2
erwähnten.
6. Freude aus Rawitsch, Frau des R. Salomo Munk, st.
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D^iTOon wy mxi ^ DJps DOTUDn v.VS. Die Statuten, die Berndt
a. a. O. S. 45 nicht finden konnte, will ich demnächst in ihrem ganzen
Wortlaut veröffentlichen.
*) Vgl. vorläufig Berndt a. a. O. S. 39 ff. u. meine Geschichte
des Landrabbinats in Schlesien S. 11.
•) In den TotenlisteH steht die Ziffer »25«, der neue Grabstein
hat »16*.
*) Vgl. meine Mitteilung bei Graetz-Kaufaiann, S. 384b, Anm
Notizen.
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23*
356 Notizen.
(7. Adar =) 1. März 1803, vielleicht die Schwiegertochter des sub 2
und 5 erwähnten Ehepaares.
Ebenso wenig habe ich bei dieser Umschau unter den Mit-
gliedern des Qlogauer-Zweiges des Geschlechtes Theomim-Munk
Zuverlässiges über die Vorfahren des berühmtesten Trägers dieses
Namens, über Salomon Munk, der eine Zierde der Wissenschaft des
Judentums geworden ist, ermitteln können. Die Namen seines Vaters
(Elieser LippmaHn) und seines Großvaters (Samuel), gemeinhin für
diese Zeit die sicheren Kennzeichen genealogischen Zusammenhanges,
kommen während des 18. Jahrhunderts bei den Glogauer Munks
nicht vor. Aus der Stammrolle1) der Glogauer Judenschaft, die, auf
Grund des Juden-Gesetzes vom 11. März 1812, schon wenige Tage
später, am 24. März, angelegt worden ist, scheint vielmehr hervorzu-
gehen, daß sein Vater aus Lissa stammte, wo ebenfalls ein Zweig der
Familie Theomim-Munk ansäßig war. Er kam wohl erst 1795 zum
Antritt seines Amies als >Schammes oder Beglaubigter» der Gemeinde
nach Glogau und starb plötzlich bei einem Aufenthalt in Schlichtings-
heim am (Purim Schuschan =) 11. März 1811. Die Eintragung über
seinen Familienstand in der erwähnten Stammrolle hat folgenden
Wortlaut : l)
»Malcke Lippmann Munk, Witwe, geb. 13. April
1772. Kinder: l.Amalie, geb. 23. April 1790. — 2. Char-
lotte, geb. 1. Juni 1796. — 3. Samuel, geb. 2. August
1801. — 4. Salomon, geb. 14. Mai 1805«. Dazu die beson-
dere Bemerkung: »Die Witwe ist 17 Jahre hier. Ist die Witwe
des verstorbenen Schammes und aus Lissa gebürtig.«
Der Prof. Eduard Munk, von dem die Nachrichten über seine
Ahnen herrühren, benutzte sein Bibelexemplar aber auch nach der
alten Vätersitte zur Aufzeichnung wichtiger Ereignisse aus seinem
eigenen Leben. Auf der Rückseite des Blattes, dessen Inhalt bereits
mitgeteilt ist, lesen wir u. a. von seiner Hand:
»Die Vermählung mit meiner geliebten Frau Ulrike geb. Bam-
berger war 22. Oktober 1840, K"nn "HBT .T3»
l) Sie war mir, als ich 1899 Mitteilungen aus Sal. Munks nach-
gelassenen Briefen machte, — vgl. oben S. 350, Anm. 2 — noch nicht
bekannt. Vgl. a. a. O. S. 153. Die Eintragung hat in der Stammrolle die
Haushaltungsnummer 136 und die Personalnummern 413-417. Da-
durch werden meine Angaben a. a. O. S. 153, Anm. 2 teilweise er-
gänzt und berichtigt. Das richtige Geburtsjahr Sal. Munks war übrigens
trotz der Stammrolle 1803. Seine Mutter starb am (18. Ijar =) 7. Mai
1844. Vgl. den Brief a. a. O. S. 198.
Notizen. 357
«Meine gel. Tochter Agnes wurde geboren 3. Dezember 1842,
a*"in mto n-i.«
Es folgt dann u. a. das Datum der Hochzeit dieser Tochter
am 9. Januar 1866 und der Geburtstag seines ältesten Enkels Georg
Martin 03110 pnst") Caro, am 29. November 1867 (rrsin iScs 'S),
desselben, der für den von unserer Gesellschaft herausgegebenen
»Grundriß der Gesamtwissenscbaft des Judentums« die »Sozial- und
Wirtschaftsgeschichte der Juden im Mittelalter uad der Neuzeit«
schreibt und den ersten 1908 erschienenen Band seinem Großvater
Eduard Miink gewidmet hat. Ein neuer Beweis für den alten Satz1)
daß die »gelehrte Forschung immer wieder in ihrer alten Herberge
Einkehr hält« M. Brann.
i) b. Baba mez. 85 a.
&
Besprechungen.
Die Abwanderung der Juden aus der Provinz Posen. (Denkschrift im
Auftrage des Verbandes der deutschen Juden gefertigt von seinem
ersten Schriftführer Justizrat Bernhard Breslauer. Berlin 1909. Druck
von Berthold Levy, Berlin C.) — Die Juden Im ßrossherzogtom Hessen.
(Im Auftrage der Oroßloge für Deutschland U. O. B'nei B'riss, be-
arbeitet vom Bureau für Statistik der Juden. Berlin 1909. Verlag von
Louis Lamm ) — Die Entwicklang der jüdischen Bevölkerung in München
1875—1905. (Ein Beitrag zur Kommunalstatistik von Dr. Jacob Segall,
herausgegeben vom Verein für die Statistik der Juden, E. V. München
1910. Verlag des Bureaus für Statistik der Juden, Berlin.)
Seit den letzten Jahrzehnten, in denen die Industrialisierung
Deutschlands von Jahr zu Jahr immer mehr fortschreitet und die
Zentralisierung des Handels und Verkehrs in den Großstädten zu-
nimmt, hat die Binnenwanderung einen enormen Umfang angenommen.
Aus einer vor kurzem für das Jahr 1909 veröffentlichten Statistik über
den Quittungskartenaustausch aller deutschen Versicherungsanstalten
ergibt sich, daß für dieses Jahr die Summe der zugewanderten und
abgewanderten Personen, bezw. Lohnarbeiter über 16 Jahre sich auf
mehr als vier Millionen beläuft, wiewohl die Binnenwanderungen
innerhalb des Bezirkes einer Versicherungsanstalt dabei nicht in Er-
scheinung treten und außerdem die Statistik des Quittungskarten-
austausches aus mancherlei Gründen nicht alle Arbeiter erfaßt. Der
Wanderungsverlust, die Differenz zwischen Ab- und Zuwanderung
von Arbeitern stellt sich am höchsten bei Schlesien mit 101066, bei
Ostpreußen mit 75 694, bei Posen mit 74323, bei Westpreußen mit
65 430, bei Bayern mit 54380 und Sachsen-Anhalt mit 51591. Die
größte Anziehungskraft haben Berlin und Brandenburg gehabt, die
einen Wanderungsgewinn von über 115C00 Personen aufweisen, er-
heblichen Zuzug haben noch die Rheinprovinz, die Hansastädte,
Westfalen und Hessen-Nassau zu verzeichnen.
Dem Zuge der Zeit sind auch die deutschen Staatsbürger jüdi-
schen Glaubens gefolgt; meist nicht gebunden durch immobilen
Besitz, haben sie ebenso wie die Arbeiter ihren Wohnsitz dorthin
verlegt, wo sich ihnen eine bessere Existenzmöglichkeit bot; ihnen
Besprechungen. 359
wegen der geringen Bodenständigkeit einen Vorwurf zu machen
hieße ihn auch gegen sehr erhebliche Teile der deutschen Bevölkerung
nichtjüdischen Glaubens erheben, was aber nicht einmal von dem
größten Parteifanatiker geschieht. Unter den Zeitläuften haben natür-
lieh am meisten gelitten die östlichen Grenzprovinzen unseres Vater-
landes, die ohne Hinterland und meist ohne Industrie in der Ent-
wicklung nicht gleichen Schritt mit den bevorzugteren Teilen Deutsch-
lands hielten. Bei der Provinz Posen kommt noch zu, daß ihm ein
eigentliches Handelsemporium fehlt und die Nationalitätsstreitigkeiten
dort einen Charakter annahmen, der zum Teil den Handel unterband.
Alle diese Ursachen führten zu der Abwanderung der Juden aus der
Provinz Posen, die zum großen Teil dem Handel ergeben waren.
Die Tabelle, die in der Denkschrift über die Abwanderung der Juden
aus der Provinz Posen enthalten ist, zeigt, in welchem Umfange sich
die jüdische Bevölkerung der Provinz Posen in fast allen Städten
seit den 60. Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zur Gegenwart ver-
ringert hat. Gemeinden mit stattlicher jüdischer Bevölkerungszahl,
wie z. B. Schwersenz, Rogasen, Grätz, Rawitsch und andere sind zu
Zwerggemeinden herabgesunken, und fast hat es den Anschein, als
ob noch immer nicht der Tiefstand erreicht ist und die Entvölkerung
der Provinz Posen von Juden ihren Fortgang nimmt. Die traurigen
jüdischen Gemeindeverhältnisse der Provinz springen noch mehr ins
Ange, wenn man sich die Tabelle B der Denkschrift ansieht, in der
aus der Gesamteinwohnerzahl der Prozentsatz der jüdischen Ein-
wohner in den Jahren 1849, 1885 und 1905 berechnet ist. Fast alle
Städte, die Landstädte und die größeren und großen Städte, besonders
aber die Stadt Posen, haben seit 1849 an Einwohnerschaft zuge-
nommen oder sich auf der alten Höhe gehalten, der Prozentsatz der
jüdischen Einwohnerschaft ist aber enorm gefallen ; selbst die Stadt
Posen, in der die Juden 1849 ein Fünftel der Bevölkerung bilden,
weist im Jahre 1895 nur 10 Prozent Juden auf, ein Satz, der im
Jahre 1905, wenn auch unter Einfluß der Eingemeindungen, auf
5 Prozent heruntergegangen ist. Der Prozentsatz der Abwanderung
erhöht sich noch, wenn der Überschuß der Geburten über die Todes-
fälle mit berücksichtigt wird. Einen Anhalt über das Ziel der Ab-
wanderung der Juden gibt die Denkschrift nur andeutungsweise ;
ihrem Verfasser dürfte das statistische Material gefehlt haben und
gerade dieses würde es ermöglichen, die Gründe, die die Denkschrift
über die Abwanderung der Juden aus der Provinz angibt, nachzu-
prüfen. So dankbar man dem Verfasser für die Aufrollung des histo-
rischen Bildes über die Entwicklung der jüdischen Einwohnerschaft
in der Provinz sein kann, seine Gründe für die Abwanderung der
360 Besprechungen.
Juden aus der Provinz Posen und die Mittel für ihre Beseitigung sind
keine zwingenden und werden ihre Verteidiger oder Gegner, je nach
dem politischen Standpunkt, den man einnimmt, finden, wenn
auch gesagt werden muß, daß ein jüngst erschienener Aufsatz von
Wassermann in einer politischen Revue fast zu denselben Folgerungen
kommt, wie unsere Denkschrift.
Das Oroßherzogtum Hessen hat auch eine starke Abwanderung
der Juden nach den Großstädten und Industriezentren aufzuweisen,
die aber nicht den Umfang derjenigen aus der Provinz Posen er-
reichte. Nach den statistischen Angaben des vom Bureau für Statistik
der Jaden herausgegebenen Bücher >Die Juden im Großherzogtum
Hessen« belief sich die Zahl der Juden im Jahre 1822 auf 19530,
stieg dann bis zum Jahre 1849 auf das Maximum von 28 0C0, um bis
zum Jahre 1905 auf rund 25000 herabzugehen. Vom Jahre 1822 bis
1905 innerhalb eines 83jährigen Zeitraumes lassen sich drei Perioden
unterscheiden; in der ersten bis zum Jahre 1849 reichenden vermehren
sich die Juden erheblich stärker als die sonstige Bevölkerung, dann
folgt ein Zeitraum von 12 Jahren, in dem das Wachstum der Juden
gleichen Schritt mit der übrigen Einwohnerschaft hält, während
in der dritten mit dem Jahre 1861 beginnenden Periode die Zahl der
Juden absolut und relativ abnimmt. Die Verschiebung, die eingetreten
ist, wird klar am besten durch folgende Prozentzahlen: Während
die sonstigen Religionsgemeinschaften des Großherzogtums von 1849
bis auf 1905, sich um 50 Prozent vermehrten, haben die Juden sich
um 12 Prozent vermindert. Der Hauptgrund für den Rückgang der
jüdischen Einwohnerschaft in Hessen ist in der Abwanderung, wie
in Posen, zu finden, der eine gleich starke Zuwanderung nicht ge-
genübersteht. Der Gesamtverlust der Juden durch Wanderung beläuft
sich vom Jahre 1867 bis 1905 auf 9278 Personen. In der Hauptsache
haben die Abwandernden sich nach anderen deutschen Bundesstaaten,
insbesondere nach Preußen und hier wiederum nach dem nahen
Handelszentrum Frankfurt am Main, sodann aber auch nach Berlin
und dem rheinischen Industriegebiet gewendet. Infolge der Binnen-
wanderung ist aber auf dem platten Lande eine vollständige Entvöl-
kerung von Juden eingetreten. Die Zahl der Orte mit weniger als
10 Juden ist von 67 auf 102 gestiegen, die Zahl der Orte mit 30 und
mehr Juden von 309 auf 176 gesunken. Die moderne Entwicklung
und die Konzentration haben es zuwege gebracht, daß im Laufe des
19. Jahrhunderts die Klein- und Mittelgemeinden an Boden verloren,
während die Zahl der Großgemeinden von 4 auf 7 gestiegen ist
und die jüdische Bevölkerung in ihnen von 3797 auf 10328 zuge-
nommen hat. Trotzdem sind die abnormen Verhältnisse im Groß-
Besprechungen. 36!
Herzogtum Hessen noch nicht so weit vorgeschritten, wie in Preußen,
wo im Jahre 1905 bereits 64,96 Prozent aller Juden in Städten mit
mehr als 5C0 jüdischen Einwohner lebten gegen 41,46 in Hessen.
In unserem großen deutschen Vaterland stehen wir bald vor der
Tatsache der Entvölkerung des platten Landes von Juden und die
Zeit ist nicht mehr fern, wo der Zuzug der jüdischen Bevölkerung
aus den kleinen Städten und Dörfern in die Großstadt aus natürlichen
Gründen und Mangel an Nachwuchs unterbunden sein wird. Die
Quellen des Jungbrunnens für das Judentum versiegen dann, wodurch
dem Judentum in Deutschland ein unheilbarer Schaden erwachsen
wird. Hiezu kommt noch, daß die jüdische Einwanderung aus dem
Ausland nach Preußen und den andern deutschen Staaten durch
gesetzliche Maßnahmen mehr oder weniger verhindert wird. So
sympathisch auch immer die Kolonisationsbestrebungen, ausländische
Juden jenseits des Meeres in Asien und anderswo ansässig zu machen,
erscheinen mögen, in Deutschland gibt es für die charitativen Vereine
hin genügend zu tun, deutsche Juden in unserem Vaterlande zu koloni-
sieren, und nicht bloß die Vereine, sondern die Riesengemeinden mit
ihren großen Mitteln müssen dafür eintreten, um Wandel zu schaffen und
zu erhalten suchen, was noch zu retten ist. Will man aber die Schäden der
Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in ihrer ganzen Vollständigkeit
aufdecken, dann bedarf es eines klaren Bildes, das nur eine allgemeine
Statistik über die deutschen Juden geben kann. Die staatlichen statisti-
schen Ämter, darin stimmen wir den Ausführungen des Vorwortes zu
der »Statistik der Juden im Großherzogtum Hessen« voll und ganz bei,
können bei ihren andersartigen Zielen naturgemäß die Verhältnisse einer
konfessionellen Minderheit nicht so eingehend berücksichtigen, als
es vom Standpunkte desjenigen, der sich für die besonderen Ver-
hältnisse dieser Minderheit interessiert, wünschenswert erscheint.
Aber private Erhebungen, mögen sie durch die Logen oder durch die
Gemeinden selbst ihre finanziellen Unterstützungen erfahren und von
einem in mancherlei Beziehung verdienstvollen Vereine, wie dem
Vereine für jüdische Statistik, ausgehen, genügen nicht für diesen
Zweck; die Großgemeinden, vor allem der Vorstand der jüdischen
Gemeinde von Großberlin mit eiser Seelenzahl von fast 150.000 muß
ein statistisches Bureau schaffen, das in der Lage ist, ständig, nicht
bloß temporär, die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des
deutschen Judentums beleuchten zu können. In den Vorständen der
jüdischen Großgemeinde sitzen Männer der Praxis und Wissenschaft,
die den Wert der Statistik sonst nicht zu unterschätzen pflegen. Daß
aber trotzdem die Organisation zwecks einer umfassenden Statistik
über die deutschen Juden noch so sehr in den Anfangsstadien steckt,
362 Besprechungen.
ist tief bedauerlich ; mindestens ebenso wichtig wie die Frage, ob
der Gottesdienst nach der neuen oder anderen Richtung umgestaltet
werden soll, muß es erscheinen, ein möglichst geschlossenes Bild
aller statistischen Verhältnisse der Juden zu erhalten. Auf Selbsthilfe
sind die Juden gewohnt zu bauen, und wenn der Wille nur da ist,
wird sich auch ein Weg finden lassen, um derartige Bestrebungen
voll und ganz durchzuführen.
Wie aber eine solche Statistik aufzumachen ist, dafür hat Dr.
Segall in seiner Schrift »Die Entwicklung jüdischer Bevölkerung in
München von 1875 und 1905« ein glänzendes Muster gegeben. Segal!
beherrscht die Methodik der Statistik in ausgezeichnetem Maße und
versteht es, die trockenen Zahlenreihen durch seinen Text zu beleben
und klar ohne tendenziöse Färbung zu veranschaulichen. Die jüdische
Gemeinde Münchens verdankt ihr starkes Wachstum in den letzten
20 Jahren auch dem Zuzüge vom Lande in die Stadt und der Einwan-
derung vom Auslande. In der Zusammensetzung der jüdischen Be-
völkerung selbst hat sich während dieser Zeit eine Veränderung von
tiefgreifender Bedeutung vollzogen. Während in den Jahrfünften
1875—1880 und 1880—1885 die ortsgebürtigen und die aus dem
sonstigen Bayern stammenden Juden den Kern der Münchener Ge-
meinde bildeten, begann Ende der 80er Jahre mit dem wirtschaft-
lichen Aufschwung Münchens der Zuzug der sonst im Deutschen
Reich gebürtigen Juden, namentlich aus Württemberg und Preußen,
außerdem setzte noch eine erhebliche Einwanderung von Ausländern
ein. Die Folge dieser Umgestaltung der innern Gliederung der jüdi-
schen Masse ist einerseits starker Männerüberschuß, Abnahme der
Kinderzahl und Zunahme der höheren Altersklassen, andererseits im
Zusammenhang damit ein starkes Nachlassen in dem natürlichen
Wachstum der jüdischen Bevölkerung infolge Sinkens der Geburten
und der Fruchtbarkeitsziffer. Die Sterblichkeitsziffer, vor allem die Säug-
lingssterblichkeit, ist überaus günstig, was wohl auf den wachsenden
Wohlstand der Gemeindemitglieder mit zurückgeführt werden kann.
Eine Begleiterscheinung des Großstadtlebens ist der hohe Prozent-
satz der Mischehen in München, der dem der anderen deutschen
großen Städte gleichkommt.
Wie Segall, hat auch Ruppin in seinem Buche über die Juden
in Hessen neben der Entwicklung der jüdischen Bevölkerung im
Großen und Ganzen auch die Fragen über die Geburten, Ehe-
schließungen und Sterbefälle, über die Taufen und Mischehen, über
die Gliederung der Bevölkerung nach Geschlecht, Alter und Familien-
stand, über die Schulbildung und die berufliche Gliederung eingehend
erörtert. Ob seine Schlußfolgerungen und Bemerkungen, die er ein-
Besprechungen. 363
streut, immer vollkommen zutreffen, besonders wo er auf die jüdischen
Ehevermittlungen zu sprechen kommt, lassen wir dahin gestellt sein,
jedenfalls hat er ein warmes Herz für das Judentum und ist, wie
Segall, ein Statistiker, dessen Schriften lesens- und beachtenswert
sind. Seiner wissenschaftlichen Statistik fügt Segall noch einige Kapitel
über die Religions- und Kultusgemeinschaften der Juden in Hessen
hinzu, die für den Fachmann viel Wissenswertes enthalten.
Beide Verfasser, Segall und Ruppin, haben zu ihren Arbeiten
amtliches Material benutzen können, das bei letzterem noch durch
eigene Umfragen bei den Vorstehern der jüdischen Gemeinden Hessens
ergänzt worden ist. Es steht zu erwarten, daß, wenn die Groß-
gemeinden erst ihre Statistischen Bureaus ins Leben rufen, ihnen
mindestens dieselben Quellen zur Verfügung stehen werden, wie
den beiden Autoren, besonders da die Vorstände der jüdischen
Gemeinden der Großstädte Männer von Einfluß in ihrer Mitte haben,
die ihre kommunalen und staatlichen Verbindungen auszunützen
verstehen werden.
Die Segallsche und Ruppinsche Arbeit sind wissenschaftlich
und praktisch von großem Wert und können jedem, der sich für die
gegenwärtige Lage der jüdischen Bevölkerung interessiert, nur warm
empfohlen werden.
Charlottenburg. Julius Rothholz.
&
364 Besprechungen.
Dr. med. et phll. Kotelmann: Die Ophthalmologie bei den alten
Hebräern, ans den alt- und neutestamentlichen Schriften unter Be-
rücksichtigung des Talmuds dargestellt. Hamburg und Leipzig, bei
L. Voss, 1910. VI + 435.
Der Verfasser, der erst im höheren Alter, nachdem er vorher als
Pfarrer und dann Jahre hindurch als Gymnasiallehrer gewirkt hatte,
zur Augenheilkunde überging, hat in diesem nach seinem Tode erst
im Druck erschienenen Werke gewissermaßen seine Lebensarbeit
konzentriert gegeben. In den 2874 Anmerkungen steckt die Summe
aller der Notizen und Einfälle, die der Verfasser in nunmehr als 30 Jahren
aufsammelte. Neben der hebräischen, griechischen und lateinischen
Literatur wird die arabische, spanische, altfranzösische, englische
reichlich zitiert. Eine wirklich fachkundige Beurteilung dieses Werkes,
auch in allen seinen Zitaten auf deren richtigen Auffassung usw.
könnte nur von einem gleich umfassend gebildeten Polyhistor, wieder
Verfasser einer war, geliefert werden. Referent muß gestehen, daß er von
seinen, im wesentlichen ophthalmologischen und nicht philologischen
Standpunkt aus, einigermaßen durch dieses Buch enttäuscht wurde.
Der Verfasser faßt zunächst schon das Thema »Ophthalmologie« so weit
als möglich. Er handelt außer den eigentlichen Augenkrankheiten und
deren Behandlung auch noch eine Menge mehr oder weniger lose
hiemit zusammenhängender Dinge ab : die Kenntnisse der Anatomie
des Aages und der Physiologie ; die soziale Stellung des Blinden ;
die Art der Schrift, der Beleuchtung; die Kenntnisse der Farben,
Farbenbezeichnungen, deren Vorkommen im Vergleich zu den alt-
griechischen Farbennamen und Belegstellen (darüber allein 49 Sjitea!)
bei Gelegenheit der ansteckenden Augenleiden werden in sehr aus-
führlicher Weise die Geschlechtskrankheiten und die hiergegen ge-
rüsteten Verhütungsvorschriften besprochen. Dabei steht die schließliche
Ausbeute an wissenschaftlicher Erkenntnis, insbesondere an neuen
Tatsachen in keinem Verhältnis zu dem Umfang der aufgewandten
Arbeit und der Darstellung. Das ganze macht mehr den Eindruck
einer Materialiensammlutig zu einem noch zu schreibenden Buche,
als den eines fertigen, eigenen Werkes. Nicht unwichtige Fragen,
z. B. die nach dem Vorkommen des Trachoms (der sogenannten
ägyptischen Augenentzündung) werden mit großem gelehrten Auf-
Besprechungen. 365
wand indirekt zu beantworten gesucht ; es wird ausführlich nach-
gewiesen, daß die alten Ägypter stark darunter litten, daß die heutigen
Juden nicht immun dagegen sind und im heutigen Palästina ebenfalls
viele Fälle zu beobachten sind. Daraus wird geschlossen, daß wahr-
scheinlich Trachom auch bei den alten Hebräern grassiert habe.
Hierauf folgt auf 20 Seiten die sehr gewagte und keinesfalls hin-
reichend motivierte Hypothese, der Apostel Paulus habe an
Trachom gelitten, als er )}oY äadeveiav rffc «jap/tri?" in Qalatien
Station machen mußte.
In ähnlicher unkritischer, respektive nicht naturwissenschaftlicher
Methodik behauptet Verfasser das Vorkommen der Kurzsichtigkeit bei
den alten Hebräern aus der Tatsache heraus, daß Schreiben und Lesen
bei ihnen weit verbreitet war, daß ihre Schrift die Augen anstrengt
und daß die heutigen Juden zur Kurzsichtigkeit besonders disponiert
seien (das letztere wird zwar öfters behauptet, aber keineswegs einwand-
frei bewiesen). Recht interessant ist die umfassende Literaturzusammen-
stellung bezw. der Blindenheilung im alten Testament (Tobias) und
im neuen (durch Jesus und Ananias).
Berlin. A. Crzellitzer.
366 Besprechungen.
Landau Alfred und Wachstem Bernhard, Jüdische Privatbriefe aus
dem Jahre 1619. Quellen und Forschungen zur Geschichte der
Juden in Deutsch-Österreich, herausgegeben von der historischen
Kommission der israelitischen Kultusgemeinde in Wien, Band III. Mit
8 Schrifttafeln. Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller, 1911. XLIX
u. 133 u. 61 Seiten.
»Briefe, die sie nicht erreichten*, hat auch die jüdische Literatur
jetzt aufzuweisen. Wachstein und Landau veröffentlichen 47 Privat-
briefe, die von den verschiedensten Einwohnern der Prager Juden-
gasse am Freitag Nachmittag, den 22. November 1619, in jüdisch-
deutscher Sprache zumeist, geschrieben und an ihre Verwandten und
Bekannten in Wien gerichtet waren. Unterwegs geriet der Briefbeutel
dem Boten des als Postmeister fungierenden Lob SarelQutman in Verlust.
Vermutlich wurden Bote und Beutel von umheistreifender Soldateska
abgefangen — warfen doch schon die Kriegswirren des dreißigjährigen
Krieges ihre Schatten, auch auf den Inhalt der Briefe selber! Unbe-
kannt, auf welchem Wege, gelangte der Briefstoß in die Wiener Archive,
wurde im Staatsarchiv wieder entdeckt, und nunmehr auf Veranlassung
der historischen Kommission der israelitischen Kultusgemeinde Wien
als dritter Band der Quellen und Forschungen zur Geschichte der
Juden in Deutsch-Österreich zur Veröffentlichung gebracht. Wachstein
und Landau, beide allen jüdischen Spezialforschern wohlvertraute
und von diesen hochgeschätzte Männer, hatten ursprünglich, jeder für
sein eigenes Arbeitsgebiet, die Briefe durchstöbert, entschlossen sich
dann aber zu gemeinschaftlicher Herausgabe des ganzen Fundes und
bieten eine Edition, die ohne Übertreibung als eine klassische be-
zeichnet werden darf. Einer glänzenden ausführlichen Einleitung
über Geschichte, Form und Inhalt der Briefe folgt deren Text in
deutscher Übertragung mit zahlreichen erklärenden, historischen und
sprachwissenschaftlichen Anmerkungen, Stammtafel, Personen-, Sach-
und Ortsregister, Verzeichnis der Abkürzungen in den Originalen und
in der Übertragung, alsdann ein Glossar des altdeutschen Wortge-
brauchs und zum Schlüsse der Originaltext in hebräischen Lettern
nebst einer Reihe von Lichtdrucken als Textproben und einigen Siegel-
abdrücken. Die ganze Ausgabe erfreut auch schon äußerlich durch
ihre treffliche buchhändlerische Ausstattung.
Besprechungen. 367
Die Bedeutung der Briefe für die Kultur-, Familien- und
Sprachgeschichte der Juden läßt sich am besten mit derjenigen der
Memoiren der Qlückel von Hameln zusammenstellen. Wie diese Selbst-
aufzeichnungen für die zweite Hälfte, so sind die Privatbriefe für
die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Fund-
grube für die Forschung auf jenen Gebieten. Das psychologische
Interesse, das sie durch den Einblick in so unverhüllt und unge-
schminkt, weil rein vertraulich zwischen den nächsten Familienange-
hörigen sich gebende Seelen- und Lebensäußerungen erwecken, ist
schon stark genug; es wird aber noch gehoben durch das kultur-
historische Interesse, welches der Einblick in das Milieu der
Judengasse in zwei so bedeutenden Zentren der damaligen Judenschaft,
wie Prag und Wien es waren, hervorruft. Alle Stände, alle Alters-
und Gesellschaftsklassen, Männer und Frauen, Gelehrte und Geschäfts-
leute, Vornehme und Diener, Lehrer und Schüler, Vorsteher und
Gemeindeschreiber sind als Briefschreiber und Adressaten vertreten.
Die Briefe geben gleichsam einen ^Querschnitt« durch die inneren
und äußeren Zustände der Prager Judenschaft, und es fehlt darum
nichts, was nicht darin seinen Ausdruck fände. Das Hangen und
Bangen um die materielle Existenz, die Sorge um die Familienange-
hörigen, welche zahlreich sich unterwegs zu Geschäften oder zum
Studium befinden, der unerschütterliche, im Charakter und in der
Religion begründete jüdische Optimismus, die Hochachtung vor der
Gelehrsamkeit, die in idealster Weise alles Streben nach Erwerb weit
überwiegt, die Selbstverständlichkeit, mit der trotz der ausdrücklich
zugestandenen schwierigen allgemeinen Lage auf die wechselseitige
Beihülfe der Glaubensbrüder gerechnet wird, das alles tritt in klassi-
schen Typen dem Leser der Briefe entgegen und prägt sich umso
schärfer aus, als der Untergrund nur von alltäglichen Dingen ausge-
füllt wird: von Handelssachen, Heiratsplänen, Toilettensorgen, Unter-
stützungsgesuchen, Berichten aus dem Familienleben und dergleichen.
Hie und da taucht einmal ein Gegenstand allgemeineren Interesses
auf, die Auslösung von Gefangenen auf Gemeindekosten z. B., wobei
die Art der Geldüberweisung, überhaupt auch die ganze Art des Brief-
verkehrs und der Postbeförderung kulturhistorisch interessant ist. Ein
solches kulturhistorisches Kuriosum stellt auch die in einigeH Briefen
verwendete Geheimschrift dar, bei der das Siegel zwischen Absender
und Empfänger verabredet war, so daß Fremde den Inhalt nicht er-
raten konnten. In einem kleinen Nachtrag hat Wachstein die nach
langem Mühen endlich entdeckte Auflösung der in der Geheimschrift
abgefaßten Briefstellen bekannt gegeben; es handelt sich im einen
Falle um Geldgeschäfte, im anderen um eine Heiratsvermittlung!
368 Besprechungen.
Wie die Memoiren der Glückel, so kommen auch die Privat-
briefe in erster Reihe der Familiengeschichte und ihrer Erforschung
zn Gute, und auf diesem Qebiete zeigt sich wiederum die bereits
bewährte Meisterschaft Wachsteins. Der Scharfblick, mit dem er
Genealogien hier verbindet und dort scheidet, Familienbeziehungen
aufdeckt, Verwandtschaftszusammenhänge feststellt oder bisherige
genealogische Irrtümer und Wirrnisse enträtselt, ist ebenso rühmens-
wert wie seine Belesenheit in der gesamten Literatur jener Jahrhunderte.
Was er nur so nebenbei an Korrekturen für Hock, Kaufmann und
andere familiengeschichtliche Arbeiten gibt, was er an kleineren und
größeren, der Lösung noch harrenden Problemen im Vorübergehen
aufdeckt, ist erstaunlich. Seine Anmerkungen allein sind eine
Fundgrube für die Spezialforschung auf diesem Gebiete. Es sind be-
sonders Prager, Wiener und bayerische Familien, deren Stämme hier
vielfache und wichtige Ergänzungen finden. Eine besondere Rolle
spielt in den Briefen die Familie Jomtob Lipmann Hellers, der selber
als Briefschreiber in Familien- und Heiratsangelegenheiten auftritt ;
ebenso sind die bekannten Familien Theomim, Mirels-Fraenkel, Spira,
Öttinger, Lipschitz, Auerbach, Rapaport, Fleckls, Hammerschlag,
Hildesheim, Horowitz, Landau, Linz, Maor Katan, Pribram, Ulmo u. a.
vielfach vertreten. Genealogisch wichtig ist der Nachweis, daß die Fami-
lienbezeichnung Munk zu derjenigen der Theomim gehört, ebenso
daß Pribram und Senders identisch sind. Eine gleiche Identität findet
3ich z. B. S. 35 zwischen Welsch und Horowitz; die daselbst ge-
nannten Salman b. Jesaja Horowitz und Abraham Welsch sind Brüder.
Hock S. 91 wird übrigens ein 1633 verstorbener Meschullam Salman
Perez b. Jesaja Horowitz und S. 118 daselbst ein 1660 verschiedener
Kaiman b. R. Meschullam Welsch erwähnt; vielleicht beide hierher
gehörig? S. 66 der Briefe ist statt Chawa Manschen wohl Chawa
Manesen (Frau des Manes) zu lesen. S. 84 ist der Name Nulmes
auffällig; vielleicht ist Ulmes, Ulmo gemeint. S. 89 kann, glaube ich,
nicht auf R. Lipmann Heller bezogen werden; die Titulatur gerade
von der Hand des Gemeindeschreibers würde doch anders lauten,
die Abkürzung RM kann auf den Vatersnamen gehen. S. 92 u. 97 ist
statt Jakob St? n wohl Schotten zu lesen ; dieser Jakob Schotten
starb nach Hock S. 359 zweiter Paginierung (die Seiten 359—368 da-
selbst sind zweimal paginiert) im Jahre 1624. Zu S. 18 der Briefe Anm.
3 teile ich nicht die Ansicht, daß man mit dem Titel einer »Rabbi-
nerint so freigebig war; auf den zahlreichen von mir gesehenen
Grabinschriften in Deutschland war jedenfalls der Titel immer zutref-
fend, obwohl man gerade bei Epitaphien mit Ehrungen nicht geizte.
Dagegen gebrauchte man den Ausdruck SB nicht immer zur Bezeich-
Besprechungen. 3o9
nung eines speziellen Verwandtschaftsverhältnisses, sondern auch, um
einfach zu sagen, daß irgend eine Verwandtschaft gegenseitig bestand;
es kann deshalb in dem Briefe Nr. 19, S. 43 dieser Ausdruck sehr
wohl auch vom Oheim dem Neffen gegenüber angewandt werden.
Sehr interessant ist der Brief Nr. 2 des Dr. Ahron Lucerna an seine
Frau mit der Schilderung seiner ärztlichen Tätigkeit, die unwillkürlich
an den bekannten Brief des Maimonides erinnert.
Nächst der familiengeschichtlichen Bedeutung der Privatbriefe
sticht die sprach geschichtliche hervor. Das Jüdischdeutsch der Briefe
und das der Glückel von Hameln stellen zwei durchaus verschiedene
sprachliche Entwicklungsformen dar, von denen die erstere bei weitem
originaler und für die Forschung nach dem Ursprung des Jargons
bedeutend charakteristischer und wertvoller sich erweist. Schon die
zahlreichen und markanten, altertümlichen deutschen Redewendungen
und Ausdrücke, die in den Briefen vorkommen, legen davon Zeugnis
ab, daß wir hier den Urquellen dieser Sprachbildung wieder ein Stück
näher gerückt sind. Viele solche Wendungen sind im Deutschen heute
verschollen oder umgebildet; im Glossar hat Landau als Meister
dieses Gebietes sie zusammengestellt, erklärt und mit Belegen aus der
alten deutschen Literatur versehen. Viel ungehobenes Material für
diese Forschungen bieten übrigens die in der Schaaloth u-Teschnwoth-
Literatur zahlreich eingestreuten jüdisch-deutschen Stücke aus den
verschiedensten Jahrhunderten und Gegenden. Besonders bedeutsam
an den Privatbriefen erweist sich auch schon der äußere Briefstil in
seiner schlagenden Übereinstimmung mit dem deutschen Briefstil der
Zeit; dieselben stehenden Floskeln, Anreden, Phrasen hier wie dort.
Zum Vergleich ist in der Einleitung und im Glossar besonders der
Briefwechsel des Nürnbergers Balthasar Paumgartner herangezogen,
der nur um wenige Jahrzehnte älter ist. Die Privatbriefe bezeugen
wiederum, wie trotz alles Abschlusses der Einfluß der Umgebung
auf die Judengasse stark und unabweisbar blieb und die soziale und
geistige Atmosphäre über die Mauern hinüberreichte. Auch die ver-
wendeten hebräischen Briefformeln sind von Interesse und bieten
vielfach eine Ergänzung der Zusammenstellungen Buxtorfs. Ganz
besondere Mühe haben sich die Herausgeber mit der Auflösung der
vielen Abbreviaturen gegeben; nur ganz Weniges ist dunkel geblieben.
Bei der üblichen Bannformel gegen unberechtigtes Öffnen der Briefe
scheint der jugendliche Schreiber des Briefes Nr. 4 mit dem Worte
»Chore (S. 9 des hebr. Textes) wohl eher an ein »Loch« im Briefe
gedacht zu haben: »Ein Loch macht sich gut für die Schlange«, d. h.
wer den Brief verletzt, ist reif für den Bann; die Übertragung Wach-
steias »es verdroß die Schlange sehr« (S. 16 des deutschen Textes)
Monatsschrift, 55. Jahrgang. "
370 Besprechungen.
läßt die Phrase in der Tat ganz unverständlich. Die Übertragung der
Briefe ist natürlich überhaupt nicht leicht gewesen, und so manches
Fragezeichen, das die Herausgeber bei der Entzifferung des Textes
selber, wie in der Übersetzung vermerkt haben, gibt von den Schwie-
rigkeiten Kunde, mit denen sie zu kämpfen hatten. S. 33 der Über-
tragung möchte ich statt Pfen: Pfaffen lesen. S. 34 statt die gesih:.
die Goje! S.. 49 bedeutet die Phrase »eich am nechsten«: zunächst
an euch. S. 54 beim Fragezeichen: doch ob sich es G. B. »ungleich«
zugangen war. S. 63 im Briefschluß heißt das Bejalde des hebräischen
Textes: der Junge unter den »Jungen« der Zeit; es ist nichts ausge-
fallen, wie Wachstein in der Anmerkung vermutet. S. 66 bei Anmerkung
13: pintlich = Bündelich, Bündelchen (oder auch Bändelchen?). S. 71
der Ausdruck »beschiken« bezieht sich wohl auf den Dukaten und
bedeutet: ihn beschneiden. S. 73: ein frnske? wohl: »sie is, got gen
irs, eine Parneste«, d. h. die Frau eines Parnes und deshalb recht
stolz! — Daß nicht bloß die deutsche, sondern auch die hebräische
Orthographie, besonders in den Frauenbriefen, oft recht fehlerhaft
ist, braucht nicht wunder zu nehmen; was an Wissen und Bildung
fehlt, wird reichlich durch den innigen und gemütvollen Ton aufge-
wogen, der gerade in den Frauenbriefen herrscht. Es sind einige
wahrhaft klassische Stücke darunter, die wieder Zeugnis davon ab-
legen, daß die vielgerühmte Kraft des jüdischen Familienlebens tat-
sächlich alle Lobsprüche verdient, die ihr auch für jene schweren
Zeiten gezollt werden. So haben denn die Privatbriefe auch für die
praktische Apologetik des Judentums ihre Bedeutung, und die jüdische
Wissenschaft darf darum den Herausgebern Wachstein und Landau,
wie der historischen Kommission der Wiener Kultusgemeinde herz-
lichen Dank für diese nach jeder Richtung hin wertvolle Edition sagen.
Nunmehr steht eine neue und bedeutsame Ausgabe in Sicht, die
Veröffentlichung der Wiener Grabinschriften; sie liegt wiederum in
Wachsteins Händen, und nach den bisherigen Proben, die er von
seiner Art zu arbeiten gegeben, darf man ihr mit Spannung entgegen-
sehen. Möge auch sie wohl gelingen und ganz ebenso wie die Privat-
briefe ein schätzbares Stück der historischen Kleinforschung werden,
die, so unbedeutend sie scheinen mag, doch unentbehrlich für den.
Aufbau des großen Gesamtbildes bleibt !
Nürnberg. Freudenthal.
•k
Besprechungen. 371
Zu Ginzberg, Geonica II1) habe ich im einzelnen
noch folgendes zu bemerken :
S. 1, Anm. 1. Die Lesart des Aruch scheint richtiger zu sein
als pijÄ,;B>. Vgl. Davidson, Parody in Jewish Literature S. 21, Note 33.
Zur Sache vgl. Raschi Synhedr. 64b.
S. 3, Z. 8 gehört das Fragezeichen wohl zu Vtpix, da es bei
P'Drn^ nicht berechtigt ist. — Das. Z. 12 verstehe ich nicht das
Fragezeichen zu pprwi. — Das. Anm. 17. pjn^H liest R. Meschullam
in Geonica II, S. 57, N. 3 und Tossafoth z. St.
S. 4, Anm. 8. *nj liest auch Schittah mekubbezeth z. St. und
bemerkt: in: pDiu v\
S. 16 lies )b 1}) für ab "iy.
S. 17, Anm. 19. jJDiy ist gewiß Verschreibung aus j>DB>, das
sehr gut paßt: nro JJDtP«
S. 19, N. 1 zu S. 26, N. 1. Vgl. Halachoth Gedoloth, ed. War-
schau, 28a, ed. Berlin, S. 50, Seder R. Amram 41. Responsen der Ga-
onim naiVJl "njW, N. 117, mplDD nisfcl, N. 165 (npinn I, S. 297).
Ma'aße ha-Gaonim S. 21, N. 32.
S. 20, N. 4. Vgl. Pardes 30 c, ed. Warschau N. 217, 81 a. Dort
stimmt das Zitat mit Chemdah Genusah N. 16, 1. aber pa*l nDK"D für
j^lDXI in beiden gaonäischen Texten.
S. 20, N. 6 zu S. 27, N. 6. Es scheint, daß die alten Kodifika-
toren den in diesem Responsum zitierten Satz K3VD ^3 |J3n tlDKl
HBntD Xtin KmjlJ,»;3 »im doch kennen. R. Gerschom: .131X11
(Wibi ^3 np»*i3 nb px np»M rw oipo ^sa anm loa xnff) ruBp.
Raschi Chullin 46b unten rflDVlB Ä3"iD*l K3»n ^3 KIIH KJ1»J13»}M.
Vgl. noch Rokeach N. 382 und Ittur, ed. Lemberg, II 18 a3).
») Vgl. oben S. 177.
») Vgl. Rokeach N. 383.
8) Vgl. noch Pardes N. 217, 81 a oben. Die Quelle dieses Satzes
sind die niaiarp msSn, vgl. murin bv (min i, s. 36: p-npp |twn cm
nB»i» piy? wriw Dipo 'jss min amüry iwk.
24*
372 Besprechungen.
S. 21, N. 10—11. Die Entscheidung des Qaons gegen Rab ist
nicht aurfällig, weil der Oaon selbst (S. 28) sich auf Cbullin 57 b:
xr\T\})ÜV "»n S33 xna^n Jvf?l beruft, ferner entscheidet auch R. Jo-
chanan HCitt und dann lautet der Kanon: pm1 "13 r^bn \:nv "Yi 31.
S. 21, N. 12 und 29, N. 12. Dieses Thema in Hai. G*d., ed.
Warschau, 128b, ed. Berlin, S. 524. Vgl. auch Hildesheimer z. St. Diese
Entscheidung hat der Kompilator des »Jeruschalmic zu Chullin auf-
genommen, Vgl. Aptowitzer in der Monatsschrift 1908, S. 442.
S. 21, N. 13, 14. Der zweite Teil von Resp. 13 und das ganze
Resp. 14 werden in Or Sarua I, 114a aus Halachoth Gedoloth
angeführt. — Zu N. 14. Vgl. D^ltflO bv [ITOU S. 36, R. Gerschom in
Rokeach N. 383, Schibbole ba-Leket S. 200 und jetzt Ma'aße ba-
Geonim S. 92.
S. 21, N. 15. Zu den hier und Geonica I, S. 8 und 47 erwähnten
Quellen ist noch hinzuzufügen: RABN 49d, Ascheri Chullin III, N.
14. Vgl. Büchler in REJ XLIV, S. 240f. und Poznanski, Studien zur
gaonäischen Epoche S. 61. — Lies Or Sarua I, 114b, wie richtig in
Geonica I, S. 47.
S. 21, N. 17. Nach der Mehrzahl der alten Autoritäten, darunter
auch Sche'eltoth und Alfassi, gilt der Kanon "'X'inaa nabn auch gegen
ältere Amoräer. Vgl. Jad Maleachi N. 167, 16S1). Der Hinweis auf
Tossafoih Kidduschin 45b ist ungenau, da dort Sche'eltoth und A!-
fassi wie Rabina entscheiden gegen Samuel, also im Sinne des
Gaons. Dagegen heißt es im Seder Tannaim*): *\ b , X 1 k:*iD
K1D23 Xfiabji. — Die Entscheidung des Gaons stimmt mit Hai. Gcd ,
ed. Berlin, S. 5103). Dagegen Hai. Pessukoth, ed. Schloßberg, S. 13:.
S. 22, N. 20. Die Quelle dieser Erklärung scheint die Ansicht
jener Tannaiteu zu sein, die in libaxn üb Deut. 12, 24 einen Hinweis
auf 3^n3 1H?3 finden. Vgl. Friedmann zu Sifre Deut. § 76. — Dieses
Responsum ist vollständig erhalten im Pardes 21b, ed. Warschau
N. 310. Epstein in ha-Goren IV, S. 69f macht Palästina als Heimat
dieses Responsums geltend, vgl. dagegen Aptowitzer in REJ 1909
S. 249 f.
S. 24, N. 31—32. Es ist wahrscheinlich, daß auch die folgenden
Responsen R. Hai gehören. N. 39 gehört sicher ihm. Vgl. Mül'er,
Mafteach S. 227, N. 357.
») Vgl. noch Rabiah 36c oben und 53a N. 158.
■) Sehern ha-Gedolim, ed. Ben Jakob, 51b N. 25.
s) Hildesheimers Korrektur ist unnötig und unberechtigt. Die
Steile ist keineswegs >P]1D 1)N n^Tfla M1ISJ1«, der Sinn ist einfach:
[y^ae trxi] ybis paanp -jbb t&bipb x\n -pi.
Besprechungen. 373
S. 26, N. 3. Für "p^CT ist nicht TpVfl zu lesen. Die Schreibung
"p|?Vl kommt nicht bloß in dieser Sammlung noch einigemal1), son-
dern auch in anderen Handschriften vor. So in Resp. d. Gaonim, ed.
Harkavy, S. 54, 164, 203. Vgl. über "fijfltl Harkavys Zusätze zum hebr.
Graetz IV, S. 4«}. "pH"! in Midr. Tannaim S. 28.
S. 32, Anm. 2. Auch R. Nissim liest Kam an 13 ny\ Ittur, ed.
Lemberg, II, 10 b: (Olri 3"U
S. 32, Anm. 3. Diese Lesart als Abschluß der Kontroverse
zwischen Rab und R. bar R. Huna ist auch undenkbar. Der Gaon
meint zweifellos die folgende Kontroverse zwischen R. Acha und
Rab in a, in diesem Falle aber erklärt sich die Bemerkung: fytfl
Ki'ain iTJiD, die kein Zitat ist, aus dem Kanon, daß, mit 3 Aus-
nahmen : xb'pb wvria 'b*m joain1? xrm a-ii xbipb «rm nfjia muin Sb-»).
S. 33, Anm. 2. JTJyrA ist in p'.yfib zu emendieren.Vgl. Pardes 21b.
S. 38. Anm. Die Übersetzung JW ist gewiß die einzig richtige.
Die Quelle der gaonäischen Entscheidung ist Jeruschalmi Sabbath
I, 5 (3 c l): inio njpmaö? ejj at, folglich ist naon B^atpjia "irv.D st.
Vgl. auch die Kommentare.
S. 40, Z. 27. [DD ist gewiß Verschreibung aus TnD, dem Targum
von 3^38.
S. 42, Z. 14 lies: nanm Unsere Texte: paflgfe
S. 48, Anm. 3. Zu der Stelle S. 52, Z. 27 in bezug auf R. Je-
hudai: bvwö) rviBE'nai emaai ma^roi ,*iatt>aai xipija ^na ,Tnff be-
merkt Ginzberg: »n'esin is here not the >Tosefta«, but is identical
with apocryphal Midrashim and therefore is mentioned after Midrashc.
D'BDIJl aber ist hier ganz sicher die Toseftha. Die Aufzählung der
verschiedenen Gebiete der Gelehrsamkeit in derselben Reihenfolge
wie beim Gaon kommt in der talmudischen Literatur oft vor. Z. B
Cant. r. zu I, 5: rvnaxi mriBBin i\übr\ ma^n nima n:tra xnpa. Die
Zusammenstellung maxi XflBBiJl ist noch häufiger4). Midrasch in
diesen Aufzählungen bedeutet nicht die Midraschim, sondern Aus-
legung des Bibeltexte s5).
') Vgl. Index S. 413 a s. v.
») Vgl. über "pbin noch Harkavy, Studien und Mitteilungen
VIII, S. 12, 197 f. Die Karäer fassen -pb'n = ^b mn, "[^ H und s0
ist gewiß auch in dieser Sammlung S. 91, Z. 21 für p*? lfl zu lesen.
Vgl. noch Bacher, JQR XVII, 583.
s) Chullin 93 b u. Parallelen. Vgl. Jad Maleacbi N. 561.
*) Vgl. Guttmann, iiD^rn nnBB S. 406 f. und meine Zusätze
in der Monatsschrift 1910, S. 553.
6) Vgl. Bacher, Exegetische Terminologie I, S. 103 f.
374 Besprechungen.
S. 54. Vgl. Poznanski in Riv. Isr. V, S. 130 und VI, S. 199.
S. 55. In Pardes 62 a, ed. Warschau N. 25 ist von einem Bibel-
kodex des R. Moses ben Meschullam die Rede, der aus Baby-
lon ien stammte: b22 pxö IttVW übwa 'in ,1#d "1 nin bw IBDH1)«
Nach D11B Wpib 20 b gehörte dieser Kodex R. Meschullam selbst.
S. 56, Anm. 4. Woher weiß Ginzberg, daß die Stelle Berachoth
30b gemeint ist? «TT '11 ,TBp .Tot "l a***1 kommt auch noch Sab-
bath 10 a und 147 a vor. — Das. Anm. 6. Resp. d. Gaon., ed. Har-
kavy, S. 159 oben: KJKfl in xai. R. Hai, tnwm bv Htt\ II, S. 39,
nennt einen Amora Kiin in ,in.
S. 57, N. 4. Ein Responsum über dieselbe Frage Geonica II,
S. 4.
S. 58, Anm. 3. Bechoroth 45a wird Moses nicht erwähnt, aber
5 a. Vielleicht ist diese Stelle gemeint und fliOB> für TVTW zu lesen,
rro ^B3 «mp ■;» rnnv. Vgl. s. 65, n. 113.
S. 86, Anm. 2. Vgl. Seder Tannaim: ♦ . . lTnno 1313 MB1?."!
("1JND3 TObn pK T3X D1pB31. Ittur ed. Lemberg29b: rn^lD J1K3 pDBl
xb P3KD 'rnx iTnno k1-* 13*13 rcj'Jri pxi.
S. 91, Anm. 4. Die Emendation ist vielleicht nicht nötig, wenn
man für HitPl :n»P = nsw; liest, talmudisch ,T;rx, ist es recht? Vgl.
Geonica II, 173, Z. 8.
Das. Z. 15. KB"n "»S) lies pn "»31.
Das. Anm. 6. plDlK pK» gibt in dieser Stelle keinen Sinn. '«2>
ist wahrscheinlich = UNtP oder *]KB*.
S. 94, N. 3: »According to them (the codifiers), a bill of divorce
is rendered void by a correction of its text«. — In dieser Allgemein-
heit trifft diese Behauptung nicht zu. Vgl. Maimonides ptPiTJ IV, 15,
Eben ha-Eser, N. 125. Maimonides war nicht der erste, der in dieser
Frage einen erschwerenden Standpunkt einnahm, das taten schon
»Saadja und die Gaonim«. Vgl. Ittur, Abhandlung 8 (ed. Lemberg I,
10 b). Mit dem Responsum in Geonica stimmt das Responsum R.
Nissims (ben Jakob) in Ittur 1. c.s). Vgl. Geonica II S. 171.
S. 94, N. 5, 6. Der Gaon, der einen neuen Kanon aufstellt:
i) Vgl. Aptowitzer, REJ 1908, S. 92, Anm. 2. — REJ 19C9, S. 193,
Anm. behauptet J. N. Epstein, daß diese Pardesstelle dem Ma'aße
ha-Geonim entnommen ist und beruft sich dabei auch auf Epsteins
Verzeichnis in der Monatsschrift 1908, S. 729 ff. Ich finde weder in diesem
Verzeichnis noch im Ma'aße ha-Gaonim selbst eine Spur davon.
») Sehern ha-Gedolim, ed. Ben Jakob, 51a, N. 22. Vgl. Jad Ma-
leachi N. 238.
») Vgl. auch Geonica II, S. 167 und Anm. 2.
Besprechungen. 375
^JMDtt>3 ns^n n:,"!X 13 XTK 311 SxiStf, scheint auf dem Standpunkt zu
stehen, daß der Kanon "»KTJD3 "3"7H gegenüber älteren Amoräern
keine Geltung hat1).
S. 95, N. 12. QiBzberg hat den Inhalt des Responsums nicht
richtig erkannt. Es handelt sich keineswegs um die Frage, ob bei
HD'ßn der Grundsatz löjty )b b$ CJp B^Vü pTK px keine Geltung hat.
1. Der Gaon spricht in beiden Fällen von csn, also auch dort, wo
es auf Grund des Geständnisses nicht zur Zahlung kommt. 2. Die
Ausdrucksweise des Gaons zeigt, daß er nichts neues sagen will und
bloß eine bekannte Tatsache hervorhebt, was er bei der Heranziehung
des in der Mischnah mit keiner Silbe angedeuteten Momentes von
TICDD doch unmöglich getan hätte. 3. Der Gaon sagt nicht D'Bfl
TP^D sondern ,T>^ D'BD. Dies ist Ginzberg selbst später aufgefallen.
Daher bemerkt er in den Zusätzen S. 423: »The langnage of this
Responsum is rather obscure; D'BD may refer to the person as well
as the property«. ff*? D'Bn kann sich aber nur auf die Person be-
ziehen. Es ist zweifellos, daß der Gaon folgendes sagt: Bei einer
Forderung unter normalen Umständen wird der Beschuldigte auf
GruHd seines Geständnisses nicht zur Zahlung des wp verurteilt, weil
dies lBüy ifi by übVÜ wäre. Wenn aber, wie in der Mischnah Sche-
buoth 44b, zwei miteinander raufen und der eine eine Verletzung
davonträgt und er unmittelbar darauf, gleichsam in flagranti:
CXpi JV*b D^Bm, behauptet, die Verletzung habe ihm sein Gegner
beigebracht2), in diesem Falle wird der Beschuldigte, wenn er gesteht,
zur Zahlung verurteilt, weil sein Geständnis kein freiwilliges ist, son-
dern durch ein gravierendes Indiz erzwungen wird. Des Gaons Sbitji
«SV ist blBTl Ki-i der Mischnah. — Die Auffassung des Gaons er-
kennen wir aus Ibn Megasch und Maimonides3). Wir erfahren nun auch
aus unserem Responsum, daß in gaonäischer Zeit die Entschädigung
für nbsn als o;p aufgefaßt wurde, wie nach Maimonides und gegen
RABD und seine Anhänger, zu denen auch sogar Maggid Mischneh
gehört4).
S. 95, Anm. I. Schon Rab Amram hat die ritten verboten.
Vgl. Müller, Mafteach S. 126, N. 58. Vgl. OS. I 135 b oben.
S.101, Z.l— 3. Der Gaon meint, da Samuel und Rab AdabarAhaba
l) Vgl. oben S. 367.
8) Vgl. Tur Choschen Mischpat N. 90 und Toseftha Schebuoth
VI, 2.
3) Vgl. Mischneh Torah p'Töl bxn V, 6 und Maggid Mischneh
z. St.
4) Vgl. M. Mischneh a. a. O. und fjJBJi |S>iö I, 16.
376 Besprechungen.
die Ansicht des Itpp «jn ignorieren und bloß die Ansicht seines Gegners
diskutieren, so hat nur die Ansicht dieses Gegners halachischen Wert.
Dies ist methodologisch sehr wichtig. Vgl. Ascheri Gittin VIII, N. 11,
V, N. 18 und besonders bx:r\2 p"ip dazu, der die erwähnte Regel für
die Mischnah nicht gelten läßt. [Vgl. w. u. S. 384.]
S. 102, Z. 14. Nach c^jHJ ist zu ergänzen: D^IPD ,1110 EX KT.
S. 103, N. XV, Z. 3 und 9 "HJ?5? 1. "HJM. Aus der Erklärung des
Gaons folgt, daß er elvi bei iDJJ B>13J und vjy "inj? nicht gelesen.
S. 106, Anai. 2. Richtiger Index S. 413 a v. cn und Zusätze S.
423, daß das Wort die Bedeutung ^Di hat1). Viell. ist auch an diesen
Stellen für pin 0,1 zu lesen pr.1 0,1. Vgl. Magazin 1878 S. 62 (hebr.)
ipri ß'1 und Saadja bei Ibn Gajath II S. 100: "Ol Dil. — Das. Anm.
10. In den Zusammenhang paßt es besser 'EB> üb = bwv ttb zu
fassen. Nach G. hätte es heißen müssen : «nrj [rein . . . UJJBtP xb"\
X12JX. Gut wäre auch: flJ?DB> »b, kennst du denn nicht den Satz...?
— Die Antwort des Gaons ist sehr merkwürdig, da R. Jochanan
wörtlich mit der Toseft ha übereinstimmt. Wenn dies dem Gaoa
entgangen war, so konnte er doch die im Talmud angeführte Ba-
raitha nicht übersehen.
S. 114 f. Vgl. Rabiah S. 43 f., wo R. Natronais mono nxo mo
in sehr abweichender Form mitgeteilt wird. [Vgl. w. u. S. 3S2 f.)
S. 119, Z. 20 pftpn« Wahrsch. zu lesen proin aram. oder pwairr
hebr.2) und in = in oder n3).
S. 122, N. 1. Wenn es sich wirklich um den von Ginzberg an-
genommenen Fall handelt — und diese Annahme ist sehr wahrschein-
lich — so entscheidet der Gaon gegen den Talmud4).
S. 134, 135. vty liest im Talmudtext Hai. gedoloth, ed. War-
schau, 228a. Die Lesart IBBM bv ist aber älter als R. Chananel, so
lesen Hai. gedoloth, ed. Berlin, S. 474. Auch inhaltlich stimmt R.
Chananel mit den Hai. gedoloth, während R. Hai keinen Unterschied
macht zwischen tfxia Wnft und ?]-C3 Dirn.
S. 138 und Anm. 1. Menachoth XI, 7 ist nicht die Rede von
einem »habit of the less eultured priests«, sondern von Priestern
*) Vgl. über c,1 in dieser Bedeutung Harkavy, Studien V, S.
353, VIII, S. 43, Note 1 und S. 204. Vgl. auch Low in WZKM. XXI
S. 415. [Vgl. w. unten S. 380, 382.]
*) Vgl. Bacher, Exegetische Terminologie I, S. 63, Anm. 4.
8) Über 1 = Kamez chatnf (t:) vgl. Aptowitzer, Das Schrift-
wort in der rabbinischen Literatur I (Prolegomena) S. 35.
*) Kethubboth 102b. Vgl. Halachoth ged., ed. Warschau, 138a,
147 b.
Besprechungen. 377
mit gutem Magen. Um die Mischnah so zu verstehen, ist nicht
nötig \PS3W zu lesen. So heißt es auch in der Mischnah Aboda sara
29b: n*n nmitp nc vijnp ffis- Vgl. Raschi z. st. na"1 {njnp liest
auch Jer. Erubin 20 d, 15. Der Gegensatz dazu ist müp DJH, vgl.
Chullin 107 b oben.
S. 144, N. 4 zu Responsum 501 S. 150. Vgl. Hai. gedolotb, ed.
Warschau, 288 a, ed. Berlin, S. 473 f. und die Bemerkungen Traubs
und Hildesheimers.
S. 145, N. 6. Vgl. Ma'aße ha-Geonim S. 75, N. 85.
S. 145, N. 7. Vgl. Hai. Pesukoth N. 89 (ha-Choker I S. 39, 40)
und D"0HPm bv [min S. 32, II, S. 20.
S. 146, N. 17. Vgl. Chazan zu nriffn "njw N. 173 und Apto-
witzer in REJ. 1909, S. 245.
S. 168, N. 6. Dieselbe Entscheidung in Hai. ged., ed. Berlin,
S. 86 im Namen von R. Sar Schalom, R. Amram und R. Zemach bar
Salomo1).
S. 169—172. Vgl. oben S. 369 zu S. 94, N. 3.
S. 175, Z. 19 Ende. 1V1 lies aien.
S. 179, N. 12. Machsor Vitry S. 230, N. 63: noü 31 "HP »Sil
K331 [k:"*i] 'm nübv 13. Vgl. noch Hurwitz z. St. und Buber zu
Sefer ha-Oreh S. 100, Anm. 3. In den Novellen des Moses Chalava
zu Pesachim65a: (23K ncx la iasi3 Kri'ra 3^.1 b'\ (inj *xn lrsii3)
pi rpä.
S. 180, Anm. 2. Auch Hai. ged., ed. Warschau, 60b und 274a.
Nach Orchoth Chajjim I löl^Tl J1TBD N. 5 ist dies auch die Ansicht
R. Amrams. Der Unterschied zwischen TtJS CtPB und rvrov DSP»
scheint schon in i^jisi der Hai. ged. angedeutet. Vgl. noch Machkim,
ed. Freimann, S. 33, Z. 6 f. und meine Bemerkung Monatsschrift 1910
S. 277. Vgl. «och jmSBH Nr. 29, 18 c.
S. 181, N. 16—17. Responsum 17 (S. 185 unt.) kommt in er-
*) Dasselbe Responsum, welches in miBTl ■njjp N. 235 R.
Natronai zugeschrieben wird. Vgl. auch Hai. ged., ed. Warschau, 35 a.
*) Danach bei Ihn Gajat II S. 100 pKjpsx zu emendieren. Bam-
bergers und Zombers (awib D^ncD filD^.l, S. 8'"0 Ausführungen ent-
fallen also.
8) So auch R. S. ben Adereth, Novellen zu Berachoth IIa v.
firm Ende (neit n") und 14 a v. "]^b\ Or Sarua I 26b unt.: pMIlEXSl»
Trotzdem ist es nicht sicher, daß uns. Responsum hier R. Zemach
gehört, da auch R. Amram so entscheidet, und zwar aus dem-
selben Grunde. Vgl. Siddur 41a und Or Sarua a. a. O.
378 Besprechungen.
weiterter Form vor in Ma'aße ha-Gaonim S. 191). Freimann*) meint,
das Responsum hier wäre gekürzt. Richtiger ist, daß das Responsum
hier ursprünglich ist und in Ma'aße ha-Oaonim erweitert wurde. —
Aus Ma'aße ha-Qaonim wird es sicher, daß es sich um eine Teig-
walze handelt, also pSitP = arab. Sübakun, wie Qinzberg fragend
vermutet.
S. 181* N. 18. Vgl. zu diesem Responsum und zu N. 10 Tur I,
N. 467 und jetzt Ma'aße ha-Qaonim S. 19 f.
S. 183, Anm. 2. Die Korrektur ist nicht nötig. Es ist einfach
für pip"« CJ? zu lesen : jrp'cy.
S. 188. Die Angabe Aron ben Eliahs und Baschjazzis scheint
nicht auf Moreh III, 49 zurückzugehen, da sie selbst an an-
derer Stelle diesen Grund akzeptieren3). Vgl. Derech Erez I: K-n4)
iianm ii Vi emnn xb dipoi ♦ . ♦ rrty 2"n mtvn by. Vgl. auch
Nachmanides zu Deut. 22, 10.
S. 190, N. 9—10 und Anm. 1. pn für x"on und umgekehrt auch
in Hai. ged., ed. Berlin, S. 59, 61, 122, 139, 162, 287 und Geonica II
S. 248 Z. 8. Vgl. noch Geonica II, S. 364, Anm. I5).
S. 196, Anm. 1. Die ganze Anmerkung ist überflüssig, da ja ix
offenbar aus |mx verschrieben wurde.
S. 206, Anm. 1. Für IJJJS p:tP ist gewiß i:j>Sp:B> zu lesen. Zur
Angabe ist Resp. der Gaonim, ed. Harkavy, N. 278, S. 140 zu verglei-
chen, wo R. Hai bemerkt: arVTl HSim PPS? IJXP JlKTfl WIBil *3
S. 206, Anm. 3. Für B>j?a ist wahrscheinlich nj?3 zu lesen, viell.
V i2. Das Responsum kommt vor in Eschkol, ed. Albeck, S. 4 f.
S. 207, Anm. 3. An fp^JJl ]T3 ist gewiß nicht zu denken. Der
richtige Text ergibt sich aus S. 208, Z. 4 und 209, Z. 6: niBns xbv
trtyl — Das. Anm. 4. Viell. pari roiJJl = p:an njwa.
S. 210, N. 3. Der Versuch, unser Responsum mit dem in "nyjp
*) . . ♦ Xi'i'HB piipß> (!) nawtDl irM HB BXlVltWl Die Lesart
#1^ ist besser als niBKf? in uns. Responsum, jedoch auch in Ma'aße
ha-Gaonim zu Schluß Tfttvh.
') Einleitung S. XXIII, N. 119. Die Hinweise auf unsere Respon-
sensammlung sind von Freimann.
a) Vgl. Addereth Eliahu, ed. Odessa, 196 c.
*) Vgl. Halachoth gedoloth, ed. Warschau, 12 b, ed. Berlin, S. 253.
») Vgl. noch •or'tb "p N. 17, Tossafoth Sabbath 132a oben,
Chullin 104b und *m mDCW Erubin lb unt. Vgl. noch Ratner,
AhawathZion, Pesachim, S. 125, 126, 142 und meine Bemerkung oben
1910 S. 419. Ausführlich darüber an anderer Stelle.
Besprechungen. 379
AIS 53 b N. 2 zu vereinigen, indem das dort vorkommende jap JT3
als »only a different expression for "inx H^3 in our fragment* gefaßt
wird, scheitert an der Angabe niOS wbv b$ fllBX vbv. Auch der
ganze Tenor des Responsums in f*'tt> macht es unzweifelhaft, daß es
nicht, wie in uns. Resp., auf die Zahl der Wohnräume ankommt,
sondern auf die Bequemlichkeit des einen Wohnraumes.
Unser Responsum ist zweifellos identisch mit dem hebräischen Resp.
R. Zemachs in Mordechai Kethubboth N. 167 aus Sefer myilfpan1),
zu dem Mordechai mit Recht bemerkt: rm flrxp l*iai "pna yc^ö
nrm -»jb? nn^ b"bo n^a '^nai bna man l'rsx "inx rraa anay. Eine
Vereinigung unseres Fragmentes mit f'W 53b N. 2 ist daher unmög-
lich. Die beiden Responsa müssen zwei verschiedenen Gemach zu-
geschrieben werden und zwar unser Responsum, das von einer
Worterklärung ausgeht, R. Zemach ben Paltoi und jenes in f»"B>
R. Zemach ben Chajjim.
S. 217, 218 zu Resp. 4 S. 221 f. Eine merkwürdige Parallele zu
der Ansicht des Gaons findet sich bei Mein, Magen Aboth, ed. Last,
S. 63. Er bemerkt in bezug auf rryotf : 13 D^nn Vft xbw xSx
*nn xa^ya -ist ^ n nin'Bn mabi nvpü 'B>a*n a^van xbx
\b rr»n xb it nironi ansia nna pjxi ,ai*n n-nna x'ria a^ama
*]iDD3 nu"1»1 ^mv (I. 'Dan) a^aan iyapB> |oj ^a(tt>) x^x "px |a6 aipa
-naxn papa ^kw px ma*3D ww maipaa ?]xi '"x te maipaS
nnpyai nanna. Das. S. 65: fanin inx1? fn B>aa nrn rata dpa 'jaci
orpiana pjk nvwpBi naiina paroa vn xS w rpai
S. 222, Z. 1 lies nBWin für BHpn.
S. 232 unt. Der Gaon faßt die Regel viel allgemeiner : wenn
jemand auf den Standpunkt Rabs oder Samuels steht x 3 ' X ^3X
jin^a im 'ö'BO B'xpn, da hat der Kanon pnr '13 nbn keine Gel-
tung. Dazu ist Seder Tannaim in Sehern ha-Gedolim, ed. Ben Jakob,
51 b N. 24 zu vergleichen2).
S. 232, Anm. 1. Jad Maleachi N. 553 wird die Frage nur ge-
legentlich gestreift. Die ausführliche Behandlung des Themas findet
sich in N. 152.
S. 237, N. 11. Die Erklärung in uns. Responsum weicht
wesentlich von Kethubboth 5 a ab3), so daß es fraglich ist, ob diese
Talmudstelle gemeint ist.
J) Fehlt in Müllers rtriBB»
») Vgl. auch Jad Maleachi N 158 betreffend die Regel mbn
"SX '3^ X3"I3,
3) x-ijm xnS'B anstatt pn irxtf iai und xirn ^B31, dem im
Talmud nichts entspricht, und wodurch die Sentenz ihres ethischen
380 Besprechungen.
S. 237, Anm. 1. Ein Responsum des R. Samuel n"?3 E>n iff
Ittur, ed. Lemberg, I, 63a. Vgl. über ihn Poznanski, Studien zur gao-
r.äischen Epoche, S. 65 (= ha-Kedem II S. 111). Ein zweiter R.
Samuel n^3 tt»"1*! war der Urgroßvater Schemas, der in seinem
Namen eine Erklärung mitteilt, Resp. der Oaonim, ed. Harkavy, N. 229.
Vgl. über ihn Poznanski a. a. O. Auch von zwei anderen babyloni-
schen n'rs TNT werden »opinions« mitgeteilt: R. Simonai und Eleasar
smn. Vgl. Poznanski a. a. O. S. 51 und 61.
S. 238, Anm. 1. Vgl. Epstein, Monatsschrift 1892, S. 78; ha-
Choker I S. 35, 190, II S. 7.
S. 239, Anm. 3. fflJ '-. liest auch Hai. ged., ed Berlin, S. 642.
S. 242, N. II, Dieselbe Erklärung von FFPIS wie in diesem
Responsum bietet auch Responsum XX (S. 248) für die Baraitha
Gittin 25a, den locus classicus für BV*Q» Es ist daher nicht
richtig, daß nach dem Autor von Resp. II ,TV*n in B. kamma 51 b »has
nothing to do with the legal maxim, which bears this name in Tal-
rnudic literature«. Daher ist es auch nicht sicher, daß der Autor von
Responsum II die ganze Ausführung Rabinas nicht gelesen. Es genügt
anzunehmen, daß er für unser IfriJJJttb HTX1 gelesen hat kb'tiTDV
WMMP« — Aus der Gleichheit der Erklärungen von riT13 in Resp.
II und XX ist zu schließen, daß sie einem und demselben Autor gehören.
S. 243 lies VIII und 55a. Wie Ginzberg die Worte fJTSV^ vpit
als lapsus calami erklären kann, ist mir unbegreiflich. Am Schluß
des Responsums heißt es noch einmal: by 3"rPD nnm frjfatJI bv
pnMID, Es handelt sich also ausdrücklich auch um n$£"CT« —
So hat der Gaon die Frage des Talmuds erweitert, rpai muß = ik
B'pa gefaßt werden.
S. 244, N. XXI. Kim?« liest auch Hai. ged., ed. Berlin, S. 351.
So auch Resp. der Gaonim, ed. Harkavy, N. 467. Vgl. auch NN. 181,
200, 287, 279 und Harkavy S. 353. awnj« liest auch Ben Barsillai in
S. ha-Schetaroth.
S. 243 fehlt die Quellenangabe zu N. XX: Gittin 15a und
Parallelen.
S. 258, N. 2. Das Betrachten der H andf lachen ist ja nicht
neu. So schon Hai. gedoloth und R. Natronai. Vgl. Ibn Gajath I 151).
Zum mantischen Grund vgl. Orchot Chajjim I, ,1^13.1, N. 15.
Charakters entkleidet und zu einer Verhaltungsmaßregel um des lieben
Friedens willen wird.
») Natronai, D'^IPJO bv frmn I 50 N. 16, cr.Bltil D'D33. Vgl.
noch PardesN. 111, 116; Likkute Pardes IIb; Machsor Vitry S. 117;
Schibbole ha-Leket N. 130.
Besprechungen. 381
S. 261, N. 10. Über dieses Thema vgl. jetzt Magen Aboth, ed.
Last, S. 155 f. Dort schließt ein ähnliches Responsum wie das in Ha!.
Pesukoth N. 192 mit den Worten mrtf"1 Tltfa njön [S1. Vgl. noch
Or Sarua II N. 257.
S. 262, Anm. 15. xipx rtacDXl i3t ja geläufig, xip ^xö M5BÖR1
gibt keinen Sinn. Der Gaon will nicht die Stelle wörtlich zitieren.
S. 263, Anm. 2. Für xnx 1J1Ö I. wol: xnxir.a.
S. 290. Daß dieses Fragment aus der pumbaditanischen
Schule stammt, folgt auch aus Z. 5 f. "ibd ^ItD^I XXlI'TJa y2W
1BB>2 HJ'1 TDTI3 bjJ rniri, während beim Schwur selbst kein
fsn r.B'p] vorhanden ist. Dies stimmt mit dem Brauch in Pumba-
ditha, wie wir aus plä 'HJW 76a, N. 22 wissen, und pnx i»tytf 73h
oben heißt es: b2",t Kn^mxn ,iii*iH fioää p^no Kp"; xin srnnji
pn:a x'jx 12 yatrj x^i rro bsio iMWjjj jttwi -.btb 'ry rrc
- . . 113B3 Alis lim. Der Autor dieser Responsen in f»"&> ist R. Hai,
daher ist es wahrscheinlich, daß auch unser Genisahfragment R. Hai
gehört. Dies wird aber unzweifelhaft durch die Tatsache, daß in
unserem Fragment 22» auf Grund von hüCW1 px- J?p*:p selbst bei
~XtP*in als unwirksam erklärt wird, eine Ansicht, die nur von R. Hai
vertreten wurde, während sonst die pumbaciitanische Schule ein sol-
ches 3ÜR bei nxcnn als zulässig erklärt. Vgl. Resp. der Gaonim, ed.
Harkavy, S. 93 J).
S. 293 unt., 294 oben. Zwischen den beiden Fragmenten scheint
ein gewisser Zusammenhang zu bestehen. Resp. XII in Fragm. 2760
s. 320, z. 3: msfm |o npiex*? ixet? rra iö'ö1? yntttn wn und
Resp. II in Fragm. 2862, S. 329, Z. 8: 'Vfi [0 p:piDK^ prßlB Wfl.
Entweder ist das erste Fragment vom zweiten abhängig oder beide
gehören einem und demselben Autor, d. i. R. Amram.
S. 294, N. 2. Zur Erklärung des Gaons ist auf Jer. Bezah IV 2
(62c, 34) nrPB p für das sonstige TinB [3 zu verweisen.
S. 298 behauptet Ginzberg, der Kompilator der Agadath
Bereschith habe »beyond a doubt« in der Nachbarschaft von
Konstantinopei zur Zeit R. Hais gelebt. — Welche Anhaltspunkte
gibt es dafür*)?
S. 303 und Anm. 2. Über R. Zemach vgl. noch Zunz, Ritus
S. 189; Kohn, Mordechai ben Hillel, S. 156; Halberstamm, Jeschurun
i) Vgl. dagegen Pardes 26a, ed. Warschau 121a.
2) Ein Anhaltspunkt für die Abfassungszeit der Agadath Bere-
schith ist viell. die Stelle ed. Buber, S. 160 unt.: "PHn ni föKJll. Was
spricht aber für die Nähe Konstantinopels als Heimat dieses Midrascli-
werkes?
382 Besprechungen.
V, S. 137; Beth Talmud IV, S. 339. Daß R. Zemach Ab Beth Din
nicht Zem ach ben Chajjim, sondern Zemach ben Salomo ist, folgt
aus der Tatsache, daß ein Responsum, welches im Machsor Vitry
S 280, N. 63, Z. 6 Salomo K231 KJ«1 gehört, bei Ibn Oajath und
Moses Chalawa im Namen von R. Zemach Ab Beth Din mitgeteilt
wird. Vgl. oben S. 372 zu S. 179, N. 12.
S. 305, Z. 17 in der Mischnah Bechoroth VI, 3 naian für uns.
fH^n1), wozu Ginzberg folgendes bemerkt: »= iniin? Or did the
scribe confuse imin »albugo«, with "oian »serpent«? «. — Die erste
Annahme ist entschieden richtig, aus folgendem Grunde. Zu Tnnn
verweist Aruch v. *inn auf Pseudo-Jon. zu Gen. 19, 11, wo CHUDS
durch KiTnilTD wiedergegeben wird, wofür aber das Fragmentargum :
nsisnn2) bietet, also nnnn = "Dian. Der Wechsel zwischen 2
und 1, 11 ist auch sonst nicht selten3).
J) So auch S. 367 für nmin in der Mischnah Bechoroth 41a.
2) So manche Texte bei Mussafia und Fragmententargum ed.
Ginsburger S. 12.
3) So in unserer Sammlung selbst nil und nai in der Bedeu-
tung: erleichtern, vgl. S. 206, Z. 10 und 207, Z. 7. So auch S. 337,
Z. 8 und 394, Z. 1 *V\WX und "mrpK für -DTPa und "rnrTK. Tosefta
Berachoth VI, 3 (Babli 58 b, Jer. 13 b) fpllfj und Mischnah Bechoroth
45b \p2b* Vgl. auch TilSD'-OSö ,}^!l"|^32 u. a. Vgl. noch Aplowitzer.
Das Schriftwort in der rabb. Lit. II, S. 33, Anm. 3.
(Schluß folgt.)
•
Protokoll
der Sitzung des Ausschusses der Gesellschaft zur Förderung der
Wissenschaft des Judentums
am Montag, den 26. Juni 1911, vormittags 10 Uhr im Büro des-
D. J. O. B., Berlin W., Steglitzerstraße 85 I.
Anwesend die Herren Adler, Baneth, Bloch, Elbogen,
Guttmann, Maybaum, Philippson, Porges, Vogelstein, Nathan, stellvt.
Schriftführer.
Entschuldigt die Herren Bacher, Brann, Cohen, Cohn,
Lucas, Schwarz, Simon, Simonsen, Steckelmacher, Werner.
Der Vorsitzende eröffnet die Sitzung um 10y4 Uhr und erstattet
den Geschäftsbericht. Die Gesellschaft hat einen neuerlichen Gewinn
von 86 Mitgliedern zu verzeichnen, dem allerdings auch ein beträcht-
licher Verlust durch Tod und Ausscheiden gegenübersteht. Die
Baronin von Cohn-Oppenheim-Stiftung in Dessau hat für das Kalen-
derjahr 1911 den Betrag von 1000 Mark bewilligt. Erschienen
sind von Werken der Gesellschaft K r a u ß, Talm. Archäologie
Band. II; von Philippson, Neueste Geschichte des jüdischen Volkes
Bd. II die russische Übersetzung; außerdem mehrere von der Gesell-
schaft subventionierte Werke. Das Erscheinen des von dem verstor-
benen S. P. Rabinowitz begonnenen Werkes über die Geschichte
der Juden in Rußland ist sichergestellt; der mit der Abfassung der
historischen Geographie Palästinas beauftragte Herr Dr. S. Klein ist
von seiner Reise nach Palästina befriedigt zurückgekehrt. Mit der
Buchhandlung Kauffmann-Frankfurt a. M. ist ein Verlagsvertrag für
die Germania Judaica abgeschlossen worden. Den Herren F. Philipp-
son-Brüssel und Prof. Dr. Bloch-Posen, hat der Ausschuß zu ihrem
60. bezw. 70. Geburtstag die Glückwünsche der Gesellschaft ausge-
sprochen.
Im Anschluß an den Geschäftsbericht dankt Prof. Bloch für
die ihm bereitete Ehrung und verspricht, seine besten Kräfte in den
Dienst der Gesellschaft zu stellen.
Über die Germania Judaica und das Maimonideswerk erstattet
Guttmann — über erstere in Vertretung des durch Krankheit am
Erscheinen behinderten Dr. Brann — Bericht. Es wird beschloßen,.
das Erscheinen beider Werke nach Möglichkeit zu beschleunigen.
384 Protokoll.
Über den gegenwärtigen Stand der Arbeiten am »Grundriß
der Oesamtwissenschaft des Judentumsc wird Bericht erstattet. Es
wird beschlossen, diesen Bericht zu vervielfältigen und den Ausschuß-
mitgliedern zuzustellen. In der nächsten Sitzung soll sodann über
die Übertragung der noch nicht vergebenen Teilwerke des Grund-
risses an neu zu berufende Mitarbeiter beraten werden. Für die
»allgemeine jüdische Literaturgeschichte« wird Herr Prof. Dr. Marx-
New-York in Aussicht genommen. — Die jüdisch - theologischen
Anstalten sollen gebeten werden, geeignete Kräfte für die zu verge-
benden Werke in Vorschlag zu bringen.
Zum Corpus Tannaiticura wird beschlossen, Herrn Dr. Horo«
witz - Breslau mit der Durchsicht der rabbinischen Literatur zum
Zwecke der Variantensammlung für die Mischnaausgabe zu betrauer.
Bei der Mischnaausgabe soll die Ed. pr. zugrunde gelegt werden
mit der Maßgabe, daß der Herausgeber berechtigt ist, dort, wo un-
bedingt Druckfehler oder Irrtümer vorliegen, diese durch die nach
seinem Ermessen richtige Lesart zu ersetzen.
Herr Dr. Yahuda, der dem Ausschuß den vollständigen ge-
druckten arabischen Text seiner Bachj'aausgabe vorlegt, soll gebeten
werden, den Text als 1. und in kürzester Zeit die Einleitung als
2. Lieferung seines Bachja-Werkes mit Hintansetzung aller anderen
Arbeiten auszugeben. Der Ausschuß kooptiert die Herren Prof.
Kalischer, Mittwoch, Sobernheim-Berlin und Poznanski-Warschau.
Der Ausschuß bewilligt Subventionen dem Verband für Statistik
der Juden, Herrn Ideisohn-Jerusalem, Herrn Weltsmann-Kalisch für
seine Sammlung von Grabinschriften in der Provinz Posen und in
Russisch-Polen, Herrn Guttmann-Budapest für seinen Mafteach ha-
Talmud, dem Verein Mekize Nirdamim, Herrn Eppanstein-Bricsen
für seine Ausgabe des Pentateuchkommentars von Abraham Maimuai
und der ZFH8. Von dem von Grunwald-Wien herausgegebenen
Werke »Die Hygiene der Juden« sollen 20 Exx. zum Buchhändler-
preise angekauft werden. Die nächste Ausschußsitzung und die
ordentliche Mitgliederversammlung sollen am Dienstag, den 2. Januar
1912 in Berlin stattfinden. Den Vortrag übernimmt Dr. Elbogen.
Schluß 12V, Uhr. Philippson. Nathan.
Unberechtigter Nachdruck ans dem Iahalt dieser Zeitschrift ist untersagt.
Für die Redaktion verantwortlich : Dr. M. DRAN'N in Breslau.
Druck von Adolf Alkalay & Sehn in Preßburg.
Die Ethik R. Saadjas.
Von David Rau s. A.
Vorbemerkung. Die vorliegende Abhandlung gebe ich aus
dem Nachlaß des vor kurzem (14. Febr.) verstorbenen Verfassers heraus.
Die Anregung dazu erhielt er durch die vom Lehrer-Kollegium des jü-
disch-theologischen Seminars in Breslau im Jahre 1890 gestellte Preis-
aufgabe: »Darstellung und Beurteilung der Ethik des Saadjab. Josephe.
Der von ihm damals eingereichten Arbeit wurde der Joseph Leh-
mann'sche Preis zuerkannt. Nach den Winken und Ratschlägen des
verewigten Dr. Rosin hat er sie dann umgearbeitet. In dieser Form
kommt sie hier zum Abdruck. Nur einige weitere, besonders neuere
Literaturangaben habe ich in [Klammern] hinzugefügt.
Der in der Blüte der Jahre dem rabbinischen Amte und der
Wissenschaft des Judentums entrissene Gelehrte wurde am 18. Juli 1861
in Pr.-Friedland (Bez. Marienwerder) geboren, besuchte 1884—1893
das jüdisch-theologische Seminar und war nahezu zwei Jahrzehnte als
Rabbiner in Pleß tätig. Mit reicher Begabung, gediegenem und gründ-
lichem Wissen, eisernem Fleiße und seltener Arbeitslast verband er
eine weit über das gewöhnliche Maß hinausgehende Bescheidenheit
und Zurückhaltung. Diese allein haben ihn verhindert, zahlreiche ge-
diegene Abhandlungen, die fertig oder fast volleedet in seinem Pulte
lagen, der Öffentlichkeit zu übergeben. Wie die Ethik Saadjas, hat
er, wie er mir mitteilte, auch die der übrigen jüdischen Religions-
philosophen behandelt. Sein Nachlaß an Büchern und handschrift-
lichen Arbeiten ist der Bibliothek des jüdisch-theologischen Seminars
überwiesen worden. Von weiteren religionsphilosophischen Abhand-
lungen habe ich vorläufig nichts gefunden. Wenn sie mir in druck-
reifer Form zur Hand kommen, sollen sie ebenfalls veröffentlicht
werden. M. Br.
Einleitung.
Die bleibende Bedeutung, die sich Saadja\> als der
Begründer einer jüdischen Wissenschaft unter den Rabba-
niten und als der eigentliche Schöpfer der jüdischen Reli-
x) Saadja ben Joseph al-Fajjümi, geb. 892 zu Fajjüm in Ober-
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 25
386 Die Ethik R. Saadjas.
gionsphilosophie1) erworben hat, besteht für die Entwick-
lungsgeschichte des jüdischen Geisteslebens hauptsächlich
darin, daß er den gesamten Glaubensschatz seines Volkes,
wie er sich durch Bibel und Talmud im Laufe der Jahr-
hunderte gebildet hatte, zum erstenmale in seiner Reinheit2)
systematisch dargestellt und bei dem von ihm versuchten
Ausgleich von Religion und Philosophie die Originalität und
Selbständigkeit des jüdischen Geistes zu wahren verstanden
ägypten, seit 928 Gaon (Rektor) der Hochschule zu Sura, st. 942
daselbst, vgl. Graetz, Geschichte der Juden V, S. 302 ff. [V*, 233 ff.]
') Schon vor Saadja hatte Isaak Israeli (845—940) in seinem o
TilTiD'n einen religionsphilosophischen Versuch gemacht, in dem er
dem Eklektizismus zuneigte. Sein Ruf als Arzt war aber größer als
der als Philosoph (vgl. das harte Urteil Maimünis über seine Philo-
sophie, Briefsammlung, ed. Amsterdam, 14 b [Vgl. über ihn jetzt
Jacob Guttmanns Abhandlung über die philosophischen Lehren
des Isaak b. Salomon Israeli in Bd. X, Heft 4 der von Cl. Bäumker
herausgegebenen »Beiträge zur Geschichte der Philosophie des
Mittelalters«, Münster i. W. 1911]). Einen größeren, aber ebenfalls
ohne weitere Bedeutung gebliebenen Versuch machte dann David
Almokammez, auch Alraki und i^32M genannt; er war ebenfalls
Arzt und ist spätestens 937 gestorben. Von seinem in zwanzig Ab-
schnitten niedergelegten System sind uns nur einzelne Fragmente
erhalten, die das ganze Werk als nach dem Muster eines mutaziliti-
schen Kaläm angelegt erscheinen lassen. Drei dieser Bruchstücke
befinden sich in dem von Halberstam (Berlin 1888) edierten Jezirah-
kommentar des Juda ben Barsillai, S. 65, 77 ff. und zwar Abschnitt IX, der
das Wesen Gottes (quidditas); 2. teilweise Abschnitt X, der die Eigen-
schaften Gottes und 3. S. 151, Abschnitt XVI, der die Vergeltung im
Jenseits behandelt. Teile dieser Bruchstücke wurden früher vonLuzzatto
in Gabriel Polacks Halichot Kedem, S. 71—78 und von J. Fürst im
Literaturblatt des Orients, S. 617, 631 und 642 veröffentlicht. [Vgl.
Eppensteins Bemerkungen zu Graetz V4, S. 322, Anm. 5.]
2) In wie hohem Grade ihm dies, trotzdem er sich dem Einflüsse
der griech. Philosophie nicht entziehen konnte, gelungen ist, beweist
der Umstand, daß er nicht nur einer der bei den Juden am meisten
gelesenen Religionsphilosophen war, sondern daß in der Gegenwart
sogar seine Ansichten selbst in dogmatisch sehr wichtigen Punkten
in den Lehrbüchern der jüd. Religion häufig wieder zu finden sind.
Vgl. Graetz, Geschichte der Juden V, S. 332 [V4, 312].
Die Ethik R. Saadjas. 337
hat. Man wird dieses Verdienst umso weniger verkennen,
wenn man bedenkt, daß der, Saadja an Systematik wie an
Tiefe der Gedanken weit überragende, Alexandriner Philo
die Rechtfertigung des Judentums und dessen Lehren vor
dem Forum der griechischen Philosophie nur dadurch zu
bewirken vermocht hatte, daß er mit dem Zauberstabe alle-
gorischer Deutung die konkreten Personen der biblischen
Erzählungen in abstrakte Begriffe verwandelte, die mosai-
schen Gesetze und Vorschriften in einen Gedanken-Äther
auflöste, und dann aus den in ihrem Wortsinn vergewal-
tigten jüdischen Religionsurkunden die Gedanken der
griechischen Philosophie herauslas1). In Philo's Geiste
unterlag das Judentum dem bestrickenden Reize und der
spielenden Gewandtheit der glänzend ausgebildeten griechi-
schen Dialektik; sein Streben befriedigte aber das religiöse
Bewußtsein seines Volkes nicht, und darum hat die jüdisch-
alexandrinische Philosophie in jüdischen Kreisen weder
eine weitere Fortbildung noch überhaupt Anerkennung
gefunden. Das Bedürfnis eines Ausgleichs zwischen der
überkommenen Lehre und der Philosophie der Zeit war für
Saadja dasselbe wie einst für Philo. Lehre und Überlieferung
waren in Gefahr, im Geiste und im Gemüte ihrer Bekenner
von einer grundverschiedenen Bildung und Lebensrichtung
verdrängt zu werden, seitdem einerseits der Karäismus2)
') Vgl. Zeller, Philos. der Griechen III, 2. Besonders eingehend
hat diese Art der Exegese In ihrem Einfluß auf die Anschauungen des
Judentums Z. Frankel behandelt in seinem Buche »Über den Einfluß der
paläst. Exegese auf die alexandrinische Hermeneutik«, Leipzig 1851.
2) Der Karäismus, als das Prinzip des starren Festhaltens an
dem Buchstaben der Schrift, im Qegensatz zur Tradition, als dem
»Prinzip der beständigen Fortbildung* wie Geiger, Wissensch. Zeitschr.
I, S. 348 die Überlieferung bezeichnet, hat seine Wurzeln in dem vom
Pharisäismus überwundenen Sadduzäismus, zu dem später noch un-
verkennbar der gern streng nach dem Wortlaut der Schrift entscheidende
Schammai und dessen Schule hinneigte. Erst der Streit der Suniten
und Schiiten in der muhammedanischen Welt erweckte den vielleicht
25*
388 Die Ethik R. Saadjas.
den Talmudismus immer mehr mit wissenschaftlichem
Waffen bekämpfte und bedrängte, und andererseits die
wieder zur Geltung gelangenden Systeme der griechischen
Philosophie1) bei dem damals allgemein herrschenden
Mangel an Verständnis für eine geschichtliche Betrachtung
weite Kreise mit Verwirrung und Zweifel erfüllten. In
dieser Zeit der Not erschien Saadja's Werk E m u n o t w e-
Deot2), das nach dem übereinstimmenden Urteil der
Späteren9) einer das religiöse Bewußtsein seines Volkes
rettenden Tat gleichkam. Was Saadja in diesem Werke ge-
leistet hat, ist zweifach beachtenswert. Zunächst übertrifft
es nach dem Urteil Stöckl's4) an Wahrheitsgehalt bei
noch nicht ganz erstorbenen Qeist des sadduzäischen Prinzips, so daß
Anan b. David 750 in Bagdad die Sekte der Bne Mikra oder Karäer
gründen konnte.
») Saadjas Werke bilden eine wertvolle Quelle für die geschicht-
liche Kenntnis vom Übergang der arab. Philosophie aus dem engen
Rahmen der Mutazila zu dem, durch syrische und arab. Übersetzungen
des Plato, Aristoteles, der aristotelischen Kommentatoren und des
Qalen angebahnten, arabischen Aristotelismus, vgl. Guttmann, Die
Religionsphilosophie des Saadja, S. 16; Überweg-Heinze, Grundrß II,
6. Aufl., S. 185 ff. Saadja kennt die griechische Philosophie beinahe
in ihrem ganzen Umfange, selbst die Systeme der alten ionischen
Naturphilosophen.
2) Arab.: Kitäb al Amänät w'al I'tiqädät von Said b. Jüsuf, wie
ihn die Araber nannten. Es behandelt in 10 Abschnitten: 1. Die Kos-
mologie, 2. die Einheit Gottes, 3. die Gesetze der Offenbarung, 4. die
Willensfreiheit, 5. Verdienst und Strafe und die Theodicee, 6. die
Anthropologie, 7.-9. die Eschatologie und 10. die Ethik.
') Selbst Maimonides, der oft gegen ihn polemisiert und ihn
>in den Irrlehren des Kaläm befangen« nennt, erkennt in dieser Be-
ziehung willig Saadjas große Bedeutung an; vgl. Brief nach Jemen,
ed. Holub, S. 39. In gleicher Weise urteilte später über ihn R. Meir
b. Todros ha-Lewi in Kitäb al-rasäil (ed. Brill), S. 57a: UTK TW ="2
'tk-iut» min rtnrnrcj Kin vbcbtitf ins» bn pwn rr-tj'c V3"n »BS -cxr,
»wäre Saadja nicht gewesen, so wäre die Tora in Israel in Verges-
senheit geraten«.
*) Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Band II, Mainz
1865, S. 264. Saadja scheint sein Werk übrigens nicht nur für jüdisciie
Die Ethik R. Saadjas. 389
weitem die Werke der Mutakallimun und ist somit das
Beste, was uns aus dieser Periode der arabischen Philo-
sophie erhalten ist; andererseits ist dieses Buch durch die
systematische Darstellung und vernunftgemäße Beleuchtung
des gesamten Glaubens- und Lehrgehalts des Judentums
sowie durch die Aufstellung von Saadja's Nachfolgern all-
gemein angenommener Interpretationsregeln für den bibli-
schen Text1) die Grundlage der ganzen jüdischen Reli-
Leser geschrieben zu haben. Eine Stelle im Emunot we-Deot II, S. 45,
er.. Sracky, Leipzig 1S64 (nach welcher Ausgabe wir auch weiterhin
zitieren) nrvüm bü 2'vnb JVON zeigt, daß er gegen Islam und Christen-
tern eine rein wissenschaftliche Polemik zu führen beabsichtigte. Und
in der Tat, für Israeliten hätte er nicht nötig gehabt, so tief auf Pro-
bleme, die nur für Andersgläubige einen Wert hatten, einzugehen.
Wenn er es dennoch tat, so geschah es wohl, weil sein Buch das
allgemeine, wissenschaftliche Interesse aller Denker, nicht nur der
jüdischen, beanspruchte; denn in Bagdad, wo Saadja studierte und
sein Werk verfaßte, waren Disputationen und Diskussionen zwischen
den Vertretern der verschiedenen Religionen nichts seltenes. Vgl.
Munk, Melanges, S. 312; v. Kremer, Kulturgeschichte des Orients II,
399 ff. Saadja selbst scheint sich an solchen Disputationen beteiligt
zu haben, wie eine Stelle seines Werkes III, S. 68 beweist; wo er
des Einwand eines Aschariten und seine Antwort darauf berichiet:
*.♦ ♦ "O vmg . . . "lötfl ntn löKön bj? Dnatp =yc*n "DSl, vgl. zu der an-
geführten Stelle Schahrästani, übersetzt v. Haarbrücker, I, 100 ff.
x) Nur wenn eine Bibelstelle gegen eine durch eine der vier
Erkenntnisquellen gewonnene Wahrheit verstößt, ist es gestattet, die
Bibelstelle so zu deuten, daß der Widerspruch beseitigt wird. Emunot
we-Deot V, S. 93; VII, S. 109; vgl. dazu Einleitung S. 10 und II,
S. 44, an welchen Stellen er auf die ausführliche Behandlung dieses
Punktes in der Einleitung seines Pentateuch-Kommentars hinweist;
diese Interpretationsregel Saadjas wurde von fast allen späteren Re-
ligionsphilosophen angenommen; vgl. Abraham Ibn Daud in Emuna
rsma S. 1. Maimonides, More II, 25, 29 ff; Einleitung zu Sanhedrin
X, 7. Die 3 resp. 4 Erkenntnisquellen Saadjas: die sinnlische Wahr-
nehmung, die Vernunft, die Bibel und die Tradition finden sich auch
bei den lauteren Brüdern, vgl. Dieterici, Anthropologie der Araber,
S.. 20; die Lehre von der Weltseele S. 38 und besonders 99, wo die
Überlieferung ebenfalls als Erkenntnisquelle angeführt wird. Die alle-
gorische Deutung verwirft Saadja auf das entschiedenste, Emunot
390 Die Ethik R. Saadjas.
gionsphilosophie geworden. Saadja selbst hatte, wie er
dies in der Einleitung hervorhebt, eigentlich nur beabsich-
tigt, durch eine kritische Betrachtung eine Läuterung in
den Glaubensansichten seiner Zeitgenossen herbeizuführen.
Indem er so aber darnach strebte, den Inhalt der Offen-
barung als mit der Vernunft in Einklang stehend darzu-
stellen, gelangte er dazu, den gesetzlichen Teil des Juden-
tums, in dem Gebote der Religion, der Moral und des
Rechts unterschiedlos in einander verschlungen waren,
einheitlich auf Prinzipien zurückzuführen, die fast aus-
schließlich der griechischen Ethik entlehnt sind. Die For-
derungen der jüdischen Lehre wurden hier gewissermaßen
zum ersten Male auf ihren ethischen Gehalt untersucht, und
damit war der Ethik gleichsam stillschweigend der Vorzug
vor dem Offenbarungsgesetze eingeräumt worden, das
seinen Wert eben erst durch seine Übereinstimmung mit
der Ethik beweisen sollte. Saadja hat dadurch zuerst den
entscheidenden Schritt getan, auch im Judentum, wie es
bei den Griechen schon sehr früh der Fall war, die ethischen
Forderungen als etwas Selbständiges und von der Re-
ligion und deren sonstigen Geboten völlig Unabhängiges
zu unterscheiden. Diese Trennung von Religion und Sitt-
lichkeit hat auch bei Saadja auf den ersten Blick für uns
nichts Auffallendes. Er hatte ja durch Studium die griechi-
sche Philosophie kennen gelernt und dadurch geschlossene
ethische Systeme, deren Lehren er annehmen konnte, ob-
gleich sie aus ganz anderen Prinzipien abgeleitet waren,
als die gleichen oder ähnlichen Lehren des Judentums.
Diese Prinzipien hatten außerdem bei seinen ungläubigen
und zweifelsüchtigen Glaubensgenossen vollgültige Auto-
rität, die Lehren der Religion dagegen wurden vielfach
verworfen oder doch nicht beachtet; was war da natürlicher
wc-Deot VII, S. 112 und 113. Über die allegorische Deutung in den
Schulen der Mutazila, denen Saadja unter allen arabischen Schulen,
am nächsten stand; s. Schahrästani, ed. Haarbrücker, I, 43, 75.
Die Ethik R. Saadjas. 391
als daß Saadja, um den jüdischen Geboten wieder Aner-
kennung zu verschaffen, sich bemühte, so weit es möglich
war, die Lehren der Religion in Lehren der Sittlichkeit
umzuwandeln und die religiösen Gebote und Gesetze aus
ethischen Prinzipien abzuleiten ? Er mußte Licht und Ord-
nung in einem Chaos von Sitten und Gesetzen schaffen,
das Religion und Leben im Laufe von vielen Jahrhunderten
bei einem ganzen Volke angehäuft hatten. Er wollte das,
was das gläubige Gemüt bisher als Machtgebot seines
Gott-Königs verehrt und in demütiger Unterwerfung unter
den Willen des Höchsten treu befolgt und geübt hatte,
als das eigentlichste Postulat der menschlichen Vernunft
hinstellen und rechtfertigen. Allein so naheliegend und
gerechtfertigt aus all' diesen Gründen für Saadja die Tren-
nung von Religion und Ethik war, so braucht man sich
doch nur zu vergegenwärtigen, in wie ganz verschie-
denen Verhältnissen das sittliche Bewußtsein zu dem
religiösen Gottesbegriff bei Juden und Griechen stand, um
die ganze Tragweite des kühnen Versuchs, das bis dahin
einheitliche, religiöse Bewußtsein des Juden nach griechi-
schem Muster in ein ethisches und religiöses zu scheiden,
genügend zu würdigen. Die Bibel kennt keinen Unterschied
zwischen den Gesetzen der Moral und denen der Religion ;
die einen sind ihr eben so göttlich wie die anderen; denn
alle wurzeln in dem starken Bewußtsein von der Heiligkeit
des göttlichen Wiliens, in dem sie den Quell der Wahrheit,
des Rechts und der Sittlichkeit zugleich sah (Secharja 8,
16 — 19). Eine Trennung oder auch nur eine Unterscheidung
von Religion und Moral war nach der ganzen Weltan-
schauung des Judentums überhaupt gar nicht denkbar,
weil das sittliche Bewußtsein niemals mit dem Bewußt-
sein von einem persönlichen, sittlichen Gotte in Wider-
spruch geraten konnte. »Den ganzen Luxus naturphiloso-
phischer Mystik, der so nutzlos die übrigen Religionen des
Altertums beschwert, hatten die Hebräer hinweggeworfen,
392 Die Ethik R. Saadjas.
um dem einen Rätsel der inneren Welt, dem der Sünde
und der Gerechtigkeit vor Gott, nachzuhängen ; ihnen war
Gott ein geschichtlicher Gott, dem die Natur ein Fuß-
schemel seiner Macht, aber das Leben der Menschheit
das einzige Augenmerk seiner Vorsehung ist; er war ihnen
aber auch der starke und eifrige Gott, der die Gerechtig-
keit des Herzens will und die Sünde verfolgt und rächt,
um der Sünde willen« (Lotze, Mikrokosmos 111, S. 147).
Der Gegensatz zwischen Religion und Ethik trat zuerst
und am schärfsten bei den Griechen hervor. Denn wie in
allen ursprünglichen Verhältnissen menschlicher Kultur war
auch bei ihnen die Sittenlehre in die Religion verwebt.
Allein der griechischen Religion fehlte der sittliche Kern,
und darum war ihr Bruch mit der Moral unvermeidlich.
Schon die griechische Volksmoral, die doch von der Reli-
gion ausging, wurzelte nicht in der Gottheit, als der ab-
soluten, sittlichen Persönlichkeit; denn die griechischen
Götter waren dem Volksbewußtsein nichts weniger als
rein sittliche Wesen. Selbst zur Zeit des Sophokles, als der
griechische Volksgeist auf seiner sittlichen Höhe stand,
scheute man sich nicht, ihnen Mißgunst und Neid gegen
das Menschengeschlecht nachzusagen. Die griechische Welt
kannte ein solches liebevolles und inniges Verhältnis
zwischen der Gottheit und den Menschen, wie es zum Bei-
spiel in dem biblischen Satze: Kinder seid ihr des Ewigen
eures Gottes« (5. M. 14, 1) ausgedrückt ist, noch nicht.
Ihr waren die Götter nur die höheren Mächte, denen der
Mensch, weil er ihnen machtlos unterworfen war, Furcht
und scheuvolle Verehrung schuldete. Dieses Verhältnis, das
nicht auf gegenseitiger Liebe beruhte, konnte auch schon
deshalb nicht als eine Quelle der Sittlichkeit wirken, weil
man die Gottheit als heilig weder erkannte noch dachte1).
Eine Heiligung der Gesinnung und des Lebenswandels, wie
») Vgl. Chr. Ernst Luthard, Die antike Ethik, Leipzig 1337,
S. 3 oben.
Die Ethik R. Saadjas. 393
sie das Judentum in Hinblick auf den heiligen Gott sehr
nachdrücklich verlangte1), konnte deshalb auch von der
griechischen Gottesverehrung niemals ausgehen. Die ganze
griechische Sittlichkeit bestand in der Einhaltung jener
Ordnungen, wie sie das natürliche Leben und der Staat
gebildet hatten. Maß und Schranke, Twoocxrjvr,, war und blieb
das charakteristische Merkmal des Sittlichen für den helle-
nischen Geist aller Zeiten ; sie war die strenge Forderung
der Volksmoral und der Religion. Als aber durch die Ver-
wicklungen einer mannichfaltigeren Lebensform und die
Entwicklung des philosophischen Denkens die überlieferte,
positive Religion in Verfall geriet, da wankte und schwankte
auch der ganze Bestand dessen, was überlieferungsmäßig
als heilig und sittlich galt. Denn in dem Maße, wie die
Macht der Überlieferung dahinsank, erstarkte immer mehr
6er Geist des unbedingten Subjektivismus, der an die
Stelle des bisher allgemein Gültigen das individuelle Meinen
und Belieben setzte und in dem berühmten Satze des Pro-
tagons, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, wdtvrwv
ypr,x7.To>v uiTpov av#p(07;o;, seinen treffendsten Ausdruck fand,
Damit war aber das sittliche Leben, dessen Norm zu be-
stimmen jedem Einzelnen anheimgestellt war, in Frage ge-
;) 3. M. 19,2: ^Heilig sollt ihr werden, denn ich der Ewige, euer
Gott, bin heilig«. Das. 11, 44 u. 45: »Heiligt euch, daß ihr heilig
werdet, denn ich bin heilig«. 20, 26: »Und ihr sollt mir heilig sein,
de'jn heilig bin ich der Ewige*. Vgl. Sifra zu 3 M. 18, 4 ed. Schloß-
berg, Wien 1862, S. 86: ans tr»npa BN VtiDTpM '»Tp a» rx ibVnn xbi
OST bp iO» DK BHpK W *]K ,%V nK. Sifre zu 5. M. 11, 22 ed. Fried-
mann, Wien 1864, S. 85 a: aim "in nfiK B}K »pm aim K-.p; aipan na
rvapn na ,pns v,n nna bjk pna x~\p: nspn na „bzb c:n rona nwjn pam
man *!fi nnN B)K Yen anp; vgl. Sabbat 133b; das ist nach obiger Stelle
des Sifre und des Talmud Sota 14a die Erklärung des biblischen
Gebotes: »in den Wegen Gottes wandeln» 5. M. 11, 21 und 13, 5;
»die Wege Gottes, das sind die Eigenschaften Gottes«. Wie Er Nackte
kleidet, so kleide auch du Nackte; wie Er Kranke pflegt, so pflege
auch du Kranke; wie Er Trauernde tröstet, so tröste auch du Trauernde
usw.«
394 Die Ethik R. Saadjas
stellt. Die Folge davon war, daß, wie Thukydides klagt1),
die Unsittlichkeit im Volke in erschreckender Weise um
sich griff. Es war daher die Aufgabe der edlen Geister, darau
zu sinnen, wie sie Religion und Sittlichkeit den verödeten
Gemütern ihrer Mitbürger wieder einpflanzen, wankende
Herzen wieder befestigen könnten. Bisher ruhte die Moral
auf Tradition, da diese aber auch unhaltbar geworden, so
sollte an ihre Stelle die Erkenntnis treten. Es galt also, auf
dem Wege der Forschung Prinzipien, das heißt: allgemein
anerkannte, zweifellose Grundgedanken, aufzufinden, die
das Fundament der sittlichen Theorie bilden konnten, um
darauf das ganze Gebäude als auf festem Grunde zu er-
richten2). Den ersten Versuch hierin unternahm Sokrates,
indem er das subjektive Denken aus einer auflösenden Macht
in eine bauende umzuwandeln sich bestrebte und die Men-
schen als Vernunftwesen statt an die Willkür des eigenen
Beliebens auf die Vernunft verwies, die an die Stelle der
Meinung das Wissen und statt des Scheins das wahre
Wesen der Dinge (ti sgtiv s/.y.crTov t&v Svirwv), den Begriff,
zu erfassen versucht. Nach Begriffen denken war ihm
Wahrheit, aber auch nach Begriffen handeln Tugend. Die
Tugend also ist Wissen3). Bei dieser Identifizierung von
Tugend und Wissen ist aber die Bedeutung des Wollen»,
als des eigentlichen Faktors sittlichen Handelns völlig über-
sehen und verkannt. Trotzdem beherrscht von Sokrates an
dieses Übergewicht des Intellekts über den Willen die Denk-
weise der ganzen antiken Moralphilosophie4). Die sokratische
') Thucydides II, 52, 53; III, 82, 83.
2) Zeller, Die Philosophie der Griechen II, 1 Einleitung. L.
Lazarus, Zur Charakteristik der talmud. Ethik, Breslau 1877, S. 6. |
3) Xenophon Mem. 1, 1, 16; III, 9, 5; IV, 2, 20; Aristoteles
Ethic. Nicom. IV, 13: cppov/i^ei; (ozxo slvy.-, izkncnc, Tri? äpsry.;.
*) Luthardt, Die antike Ethik, S. 41. Strümpell, Die Geschichte
der praktischen Philosophie der Griechen vor Aristoteles, Leipzig 1361,
S. 13: »Wir nehmen wahr, daß die antike Ethik, wie weit sie in dieser
Schrift dargestellt wird, trotz mancher herrlicher Gedanken doch von
Die Ethik R. Saadjas. 395
Tugend des Begriffs, Piatos Tugend der Idee, die dianoeti-
sche Tugend des Aristoteles und der stoische Weise, »der
sich auf sich selbst zurückzieht und sich in seiner eigenen
Gottheit verehrt«1), sind die einfachen Folgen dieses aus-
schließlich zur Herrschaft gelangten Intellektualismus. Bei
dieser Grundlage aber konnte die Ethik niemals praktische
Geltung für das Volksleben erlangen ; denn die Erkenntnis
ist nur Sache weniger, nicht der Menge. Aber auch für die
Aristokratie des Geistes blieb sie oft ein leerer, geistiger
Formalismus.
Alle die Veranlassungen und Bedingungen, welche bei
den Griechen der Entwicklung und Ausbildung der wissen-
schaftlichen Ethik so günstig waren, fehlten im biblisch-
talmudischen Judentum fast vollständig. Den Grund für
diese Erscheinung wird man hauptsächlich, wie wir bereits
oben erwähnt haben, in der lebendigen Vorstellung des
Juden von einem persönlichen und sittlichen Gotte zu su-
chen haben. Denn es hat im jüdischen Bewußtsein niemals
ein Zweifel darüber geherrscht, »daß Gott der Schöpfer
eben sowohl einer sittlichen als der physischen Weltord-
nung sei, daß er die Quelle aller, auch der ethischen Wahr-
heit, und daß die überlieferten Sittengesetze eben diese
Wahrheit ausdrücken und enthalten«2). Man hat deshalb
in den schöpferischen Zeiten des Talmud, als man nach
dem Verluste von Vaterland, Thron und Altar unter we-
sentlich neuen Bedingungen das Leben des zerstreuten
Volkes im Einzelnen wie in der Gesamtheit neu zu be-
gründen und zu ordnen hatte, gar keine Veranlassung ge-
habt, nach anderen Normen zu suchen, als die waren,
die überlieferungsmäßig die Religion festgestellt hatte.
Das ganze Dasein wurde durch das Bestreben der talmu-
einer Ethik des Wollens, in der genauen Bedeutung des Begriffs,
nur erst eine schwache Ahnung hatte*.
') Luthardt, Die antike Ethik, S. 185.
2J L. Lazarus, Zur Charakteristik der talmud. Ethik, S. 19.
396 Die Ethik R. Saadjas.
dischen Weisen, dem mosaischen Gesetze eine bis ins ein-
zelne gehende praktische Geltung zu verschaffen, in seinen
Höhen und seinen Tiefen von der Wiege bis zum Grabe
ein ununterbrochener Gottesdienst, in dem jede Handlung,
auch die unbedeutendste, von religiöser Weihe1) getragen,
in dem aber auch andererseits jedes ethische Bewußtsein
von dem religiösen fast gänzlich verschlungen war. Die-
selben talmudischen Weisen haben in einer riesigen Li-
teratur mit wahrhaft religiösem Eifer und haarscharfer
Dialektik das ganze menschliche Leben in all seinen Be-
ziehungen in den Kreis ihrer Untersuchung gezogen; sie
haben alles, was man Gott und dem Menschen schuldet,
mit wahrhaft peinlicher Gewissenhaftigkeit erwogen und
bestimmt; und doch wird man nicht umhin können zu be-
haupten, daß die Ethik sehr stiefmütterlich vcn ihnen be-
handelt ist, oder richtiger gesagt, daß sie unter den logi-
schen Operationen ihres Verstandes zur kalten Jurispru-
denz erstarrte. Es zeigt sich darin allerdings die sittliche
Höhe des Judentums, daß nach seiner Auffassung die For-
derungen der Sittlichkeit genau von derselben verpflich-
tenden Kraft sind, wie die Gesetze des strengen Rechts.
Sittlichkeit und Recht galten ihm als vollkommen gleich-
berechtigt2), und eine Verletzung des einen war wie die
Verletzung des anderen vor dem jüdischen Bewußtsein
eine gleich sündhafte Übertretung des göttlichen Willens.
Man wird trotzdem nicht verkennen, daß die Selbständig-
keit der Ethik sowohl im Leben wie in der wissenschaft-
lichen Behandlung, abgelöst von Religion und Jurisprudenz,
in verhältnißmäßig nur sehr geringem Grade zur Geltung
kommen konnte. Das Ethos war zwar mächtig und das
stärkste Ferment der Religion"), aber es lag als solches
1) Vgl. J. Fritz, Aus antiker Wellanschauung. Hagen 1836, S. 193.
2) D. Rosin, Die Ethik des Maimonides. Breslau 1376, S. 1.
3) Vgl. H. Steinthal, Allgemein* Ethik. Berlin 1335, S. 103,
Anrn. 121; S. 120—124, Anrn. 229.
Die Ethik R. Saadjas. 397
nicht im Bewußtsein des Volkes. Man hat im Talmud so-
gar Sinnsprüche gesammelt, unter denen sich Grundsätze
von echtethischen Werte befinden1), der Talmud hat solche
ethische Grundprinzipien selbst in der Bibel2) zu finden
geglaubt, aber nicht um darauf ein System der Sittenlehre
zu errichten. Da hier nicht wie in Griechenland die Tu-
gend im Wissen bestand und nicht die Wissenschaft der
Weg zur Sittlichkeit wars), so kam es sehr wenig darauf
an, in welchem Zusammenhange die Forderungen der Moral
zu- und untereinander stehen, auch nicht wie sie sich mit
logischer Notwendigkeit aus dem obersten Prinzip ergeben,
sondern darauf allein war alle Aufmerksamkeit gerichtet,
die bindenden Verpflichtungen der göttlichen Gesetze, in
denen sittliche, rechtliche und religiöse Gebote unzertrenn-
lich und organisch mit einander verbunden waren, zu einer,
die Gesinnung4) jedes Einzelnen heiligenden und das Le-
ben des ganzen Volkes beherrschenden Macht zu gestalten.
Eine Ethik in dem philosophischen Sinne der Griechen
*) Abot I, 2: »Auf drei Dingen beruht die Welt: auf Wissen-
schaft, Religion und Menschenliebe*. Das. I, 18: ^Durch drei Dinge
hat die Welt Bestand: durch Wahrheit, Recht und Frieden«.
-) Makkot 23b: Das mosaische Gesetz enthält 613 Gebote.
Diese führte David (Ps. 15) auf elf zurück. Jesaja (23, 16) faßte sie
in sechs zusammen; Micha (6, 8) in drei: Er hat dir kund getan, o
Mensch, was gut ist, und was der Ewige von dir fordert: Recht zu
tun, Liebe zur Milde, und demütigen Wandel mit Gott, deinem Herrn.
Dann führte sie Jesaja (56, 1) wieder auf zwei zurück: »Beobachtet
das Recht und übt die Tugend«. Endlich faßte sie Habakuk (2, 4)
sogar in den Einen Ausspruch zusammen : »Der Gerechte lebt durch
seine Treue (2, 4).
3) Vgl. Plato, Meno 77b: »Niemand kann das Böse wollen;
wer das Gute erkannt habe, müsse es tun«.
*) Vgl. Sanhedrin 106b: »$3 ¥ßb rY3pn »Gott will das Herz«.
Joma 29 a: n-cy» Http rr.zv mmn »Die sündhafte Gesinnung ist
schlimmer als die Sünde*. Abot II, 17: estf ck6 rn- -ppyo hzt
»Alles, was du tust, geschehe in Hinblick auf Gott'; Kidduschin 41;
Berachot 6; Nasir 23b.
398 Die Ethik R. Saadjas.
hatte und konnte das Judentum auch schon deshalb nicht
haben, weil es sich gar nicht an das spekulative Wissen
und Erkennen1), sondern vorzugsweise an die nach Kant2)
einzige sittliche Kraft im Menschen, an den Willen3), wendet.
Nicht nur auf den Verstand, sondern auch auf Herz
und Sinn,, auf das Gefühl und die Phantasie sucht die
Bibel zu wirken, um den Willen in einer fest bestimmten
Richtung zu lenken, ihn zu läutern und zu stärken4).
') Wohl dringt die Bibel an zahlreichen Stellen auf wissen
und Erkennen, wie in Deuter. 4, 35. 39; Jerem. 9, 23. usw., allein an
allen biblischen und talmudischen Stellen (Abot II, 1 ; Jalkut I, § 7
und § 107, Chagiga 2; Sabbat 86 usw.) bedeutet Wissen und Er-
kennen nur das erfahrungsmäßige Wahrnehmen des in der Natur und
Geschichte wirkenden Gottes, oder auch, wie in Prov. 8, 10; 23, 12;
24, 5; 11, 19; Jes. 53, 11. Ketubbot 68; Nedarim 41; Chagiga 14; San-
hedrin 30; das. 52 usw. das empirische Wahrnehmen, Verstehen und
Wissen der in der Natur wie im Menschenleben sich abspielenden
Vorgänge und Ereignisse. Niemals ist aber damit ein spekulatives
Schauen oder ein methapbysisches Folgern durch reine Vernunft-
begriffe gemeint. Im Talmud ist Methaphysis und spekulatives Grübeln
einfach verboten: Chagiga II, 1. Man wird deshalb auch behaupten
können, daß ein methaphysisches Begründen und philosophisches
Ausbauen des allerdings stark ausgeprägten Ethos im mosaisch-tal-
mudischen Judentum gar nicht im Bereich der Möglichkeit lag.
2) »Es ist überall nichts in der Welt, ja auch außer derselben
zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten
werden, als ein guter Wille. Der gute Wille ist durch seile Wir-
kungen, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung eines Zweckes
gut, sondern allein durch das Wollen«.
8) Vgl. Genes. 2, 16-17; 4, 7; Deuter. 30, 15-19; 11, 26—27;
Jes. 1, 19—20 usw. S. Bahr, Symbolik des mosaischen Kultus I, S. 37;
Friedrich Schlegel, Philosophie der Geschichte I, S. 165 u. 168.
4) Wir finden in dieser Beziehung eine schöne Charakterisie-
rung der Bibel bei Saadja selbst: Eine jede Religionsurkunde, sagt
er in Emunot we-Deot III, S. 65, bestehe aus drei Teilen: 1) aus Ge-
boten und Verboten, die er, wie aus dem dort von ihm angeführten
Beispiele des Fieberkranken hervorgeht, für das eigentliche Heilmittel
der sittlichen Gesundung des Menschen hält, 2) aus Verheißungen
und Belohnungen als Vergeltung für deren Beobachtung, um die
Menschen zur Annahme derselben geneigter zu machen, 3) aus prak-
Die Ethik R. Saadjas. 399
Saadja gebührt das Verdienst, im biblisch-talmudischen
Judentume zuerst die Ethik als gleichberechtigt der Re-
ligion gegenübergestellt und sie als selbständige Disziplin
aus ihrer Verknüpfung mit verwandten Gebieten gelöst
und bearbeitet zu haben. Wenn er sich hierbei auch oft
von Gesichtspunkten leiten ließ, die, einer fremden Li-
teratur entlehnt1), zu dem ihm durch die jüdische Über-
lieferung Gegebenen nicht immer paßten, so hat er doch
die Eigentümlichkeiten der jüdischen Religionslehren besser
zu wahren gewußt, als seine Nachfolger, die das Werk,
das er begonnen, wohl vertieften und weiter ausbauten,
aber auch, wie Maimonides, manche Besonderheiten der
Religionsquellen der griechischen Philosophie zuliebe opfer-
ten oder Verschiedenheiten zwischen beiden auf Kosten
der ersteren gewaltsam ausglichen.
Wie sich die Ethik Saadjas aber im Einzelnen ge-
staltet, wollen wir in Folgendem dazustellen versuchen.
tischen Beispielen aus der Geschichte, um die Gläubigen zur Nach-
ahmung anzuspornen. Erst durch alle diese sich an Herz und Gemüt
wendenden Momente zusammen, werde eine rechte und nachhaltige
Wirkung erzielt.
x) Wenn Saadja sein Werk auch nach dem Muster eines mu-
tazilitischen Kaläm angelegt haben mag und der Einfluß der arabi-
schen Scholastik in den uns oft eigentümlich erscheinenden Problemen
bei ihm sich oft stark bemerkbar macht, — Mose b. Esra in seiner
aräb. Poetik und Mose von Salerno in seinem Moreh-Kommentar be-
zeichnen Saadja ais Mutakallimun, Maimonides nennt ihn im »Briefe
nach Jemen«, ed. Holub, S. 39 und Moreh I, 71 (an letzterer Stelle
ohne seinen Namen zu nennen) einen Anhänger des Kaläm — so gilt
dies doch meistens nur von den dogmatischen und besonders den
eschatologiscaen Partien seines Buches. In der Ethik — mit Aus-
nahme von der Lehre über die Willensfreiheit — richtet er sich haupt-
sächlich nach griechischen Vorbildern.
(Fortsetzung folgt.)
Das laubhüttenfest Chanukka.
Von R. Leszynsky.
Während das erste Makkabäerbuch, das «iwiBOTi n*a "C31),
wie allgemein anerkannt wird, eine Übersetzung aus dem
Hebräischen darstellt, ist man inbezug auf das zweite Buch
der Makkabäer seit Hieronymus im Allgemeinen davon über-
zeugt, daß es von vornherein in griechischer Sprache ab-
gefaßt war8). Nur inbezug auf die Briefe oder besser den
Brief, der die Einleitung des Buches bildet, ist man einiger-
maßen im Zweifel, obwohl auch hier die Annahme einer
Übersetzung bis in die neueste Zeit hinein vielfach verneint
wird3). Den wenigen Hebraismen, die man gefunden hat,
und die sich zur Not aus dem Einfluß der biblischen
Sprache auf die griechisch redende und schreibende Juden-
heit erklären ließen, stehen nicht nur griechische Wort-
spiele gegenüber, sondern der ganze Stil des Buches macht
den Eindruck, als ob das Original griechisch war. »Das
allein untrügliche Merkmal einer Übersetzung«, schrieb
Grimm in seinem exegetischen Handbuch4), »nämlich solche
sprachliche Schwierigkeiten, die sich nur unter der Voraus-
setzung eines Übersetzungsfehlers heben lassen, ist nicht
vorhanden«. Die Berechtigung dieser Forderung steht außer
1) Bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, liegt dieser Titel in
dem bekannten 2ap«4r,9- ZaßavaueX (= 2[<p]p ß 7)ft [A]<J iiv * ie)
vor. Sämtliche bisherige Deutungen ergaben hochpoetische Namen,
aber nicht für jene Zeit passende Büchertitel.
2) Vgl. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes III 1909. S. 455.
') Kamphausen in Kautzsch Apokryphen 1900. S. 85. Dagegen
Torrey, Die Briefe II. Makk. ZATW. XX, S. 236 ff.
*) Leipzig 1857. S. 24.
Das Laubhüttenfest Chaankka. 401
aller Frage. Gelingt es uns nun aber eine solche Schwie-
rigkeit zu zeigen, die durch ein Mißverständnis des Über-
setzers hervorgerufen ist, so ist damit ebenso stringent die
semitische Grundsprache des zweiten Makkabäerbuches
oder wie wir besser sagen werden : seiner Quellen be-
wiesen. Ich glaube nun diesen Beweis führen zu können.
Die Bedeutung dieser Entdeckung wird noch dadurch er-
höht, daß der aufzuzeigende Übersetzungsfehler sich an
drei Stellen des Buches befindet und dadurch die Streit-
fragen über die Komposition des Buches entschieden oder
wenigstens der Entscheidung näher gebracht werden. Und
nun, um mit dem zweiten Makkabäer zu reden, wollen wir,
nachdem wir uns bei der Vorrede so lange aufgehalten
haben, mit der Erzählung beginnen.
Nach seinem Siege über Lysias zog Juda Makkabi,
wie das erste Makkabäerhuch1) berichtet, nach Jerusalem,
stellte den Tempel wieder her, so wie er früher gewesen,
und weihte ihn am 25. des Monats Kislev von neuem.
Die Feier vollzog sich in den üblichen Formen unter Lob-
gesängen und Gebeten, Musik und Opfern. Ein Grund für
die achttägige Dauer wird ebenso wenig angegeben wie
eine besondere Zeremonie, die an jenen Tagen zu voll-
ziehen sei. Das Anzünden der Lampen des Leuchters im
Tempel nimmt in dem Bericht des Makkabäers keine irgend-
wie hervorragende Stellung ein, wird vielmehr dem Dar-
bringen des Räucherwerkes, dem Auflegen der Brote etc.
völlig gleichgesetzt. Josephus-) kennt dagegen das Fest
bereits unter dem Namen des Festes der Lichter, obwohl
er sich den Namen nicht recht erklären kann. Jedenfalls
wurden zu seiner Zeit, wie wir ja auch aus der rabbini-
schen Überlieferung wissen, Lichter angezündet3). Die an-
fangs unbestimmte Art der Feier war damit in eine feste
») 4, 36 ff.
*) Ant. XII 7, 7. § 325 ed. Niese.
s) Sabb. 21 b.
MosatSBchrift, 55. Jahrgang.
402 Das Laubhüttenfest Chanukka.
Form gegossen. Wie weit dabei heidnische Gebräuche, das
Fest der Wintersonnenwende, mitspielen, ist nicht zu sagen.
Für die Juden war der gegebene Anknüpfungspunkt das
erstmalige Anzünden des Tempelleuchters. Das Wunder mit
dem Ölkrüglein sollte nur die achttägige Dauer des Festes
erklären1).
Eine ganz merkwürdige Auffassung von dem Cha-
nukkafeste hat nun aber das II. Makk. Es bringt das Fest
in eine auffällige Verbindung mit dem Laubhüttenfest, eine
Schwierigkeit, die bisher im Allgemeinen hingenommen
wurde, ohne als solche empfunden zu werden. Sehen wir
uns die betreffenden Stellen einmal an. In c. 1,9 in dem
sogenannten ersten Briefe der palästinensischen Juden an
ihre ägyptischen Brüder heißt es: iuci vOv Iva orpfiTe to?
riuipa; T?j; G/.7,vo7u7)Y£as toS Xa^Xeü u.v)v6; und nun feiert die
Tage des Hüttenfestes des Monats Kislev. Es wird also
hier ausdrücklich Chanukka nicht etwa dem Hüttenfeste nur
verglichen, sondern direkt so genannt. Die zweite verderbte
Stelle in dem sogenannten zweiten Briefe des Makkabäers
Juda an die ägyptischen Juden lautet (II. Mak. 1, 18):
Iva y.y.i aurol ayviTS v?i;(cb;) (j/f/ivoTr/iYia? xai tou rcupo; damit
auch ihr des Hüttenfestes [und des Feuers] feiert.
Man ergänzt: die Tage oder auch: nach Art der Tage, in
jedem Falle ist hier wieder Chanukka Laubhüttenfest ge-
nannt, und nur weil die Stelle so wie so verderbt ist, hat
man bisher auf die Lösung der Schwierigkeit verzichtet.
Endlich an einer dritten Stelle erfahren wir, was Chanukka
überhaupt mit dem Laubhüttenfeste zu tun hat, (10,6):
xai [ist eüopoffuvv); r,yov vif/ipa;; ö/.toj <7*t)vo{jl7.tcov Tporov, [/.v/]-
') Das. Megil!. Taanit zum 25. Kislev. Es ist vielleicht nicht ganz
uninteressant zu bemerken, daß das Wunder, nach dem die Heiden
das Öl verunreinigt hatten, mit der Halacha in Konflikt kommt. Nach
ihr verunreinigte die Berührung durch Heiden nicht. Das ist viel-
mehr erst eine spätere rabbinische Verordnung. Die Frage mit einer
wenig guten Antwort im Sefer Mizwoth ha-Oadol des Mose Cougy.
Das Laubhüttenfest Channkka. 403
..jjuove-jovTS; w; rpd uiy.poO XPr^v0'J T^v ~&v «H&vöv soprViv sv toT<;
öpeciv xocl ev toT? c>7;7)Xaio'.; dqptcav Tpowov yi<focv vepjxsvoi. o*iö
^up70'j? x«ei xXxSou; wpaioo; in Ss xal cpotvittoc; s/ovts; xtX.
»und mit Freude feierten sie acht Tage nach Art der Zelte,
indem sie sich erinnerten, wie sie vor kurzer Zeit während
des Hüttenfestes in den Bergen und Höhlen nach Art der
wilden Tiere ihr Leben fristeten. Deshalb trugen sie mit
Weinlaub umwundene Stäbe und grünende Zweige, ferner
aber auch Palmzweige etc.« Sehr befriedigend ist diese
Erklärung nun nicht. Es sieht so aus, als ob sich der
Autor dachte: am Hüttenfest im Monate Tischri lebten die
Juden noch infolge der Religionsverfolgung in den Bergen,
zwei Monate später in Kislev, als der Sieg errungen war,
erinnerten sie sich nun des soeben unter so traurigen
Umständen gefeierten Festes und paßten infolgedessen
das neue Fest dem alten an. Das ist aber ein historischer
Irrtum, denn wenn Chanukka auch im Kalender unmittelbar
auf das Hüttenfest folgt, so gingen doch die Siege Juda
Makkabis zum Teil wenigstens dem letzten Hüttenfeste des
Jahres 165 voraus; die Zeit der schlimmsten Not, da die
gesetzestreuen Juden sich in den Bergen versteckt halten
mußten, war damals jedenfalls seit Jahren vorbei; dieser
Erklärungsversuch des 2. Makk. muß also scheitern. Gleich-
wohl ist anzuerkennen, daß eine auffallende Ähnlichkeit
zwischen beiden Festen besteht, und zwar kommen eine
ganze Reihe von Momenten in Betracht1). Einmal die acht-
tägige Dauer der Feste, denn auch das Hüttenfest ergibt
mit dem unmittelbar folgenden Schlußfest ein Fest von
acht Tagen. Zweitens sind beide die Feste der Einweihung,
sov/ohl in den Berichten über die Einweihung des
salomonischen Tempels, als auch bei der Einweihung
des zweiten Tempels, wie endlich bei der Einweihung
der Mauer unter Nehemia spielt das Hüttenfest eine
!) Vgl. Krauss La fete de Hanoucca Revue des Etudes Juives
XXX. S. 28 ff.
26*
404 Das Laubhüttenfest Chanukka.
Rolle1). Und endlich ist die Art der Feier bei beiden Festen
dieselbe. Nur werden am Chanukka Lichter angezündet, und
das ist beim Hüttenfeste nicht der Fall. Aber wir wiesen
bereits darauf hin, daß diese Sitte für die älteste Zeit nicht
nachweisbar, und, wie wir gleich hinzufügen dürfen, in
dieser Form auch wenig wahrscheinlich ist. Die Anknüpfung
an das erstmalige Entzünden des Tempelleuchters paßt
gut, aber man muß bedenken, daß ungleich wichtiger als
das Licht in der Lampe ein andres Feuer für das jüdische
Volk gewesen ist, und das war das Feuer auf dem Aitar.
Hätte es sich nun darum gehandelt, irgend welche der
Tempeleinweihung analoge Symbole aufzufinden, dann
wären die Freudenfeuer auf den Bergen der Wichtigkeit
des Altars entsprechend passender und auch für ein freies
Bauernvolk angemessener gewesen als die Lampen, die
mehr auf eine städtische Bevölkerung hindeuten. Wir finden
jedoch in unseren Quellen nicht die leiseste Andeutung,
daß jemals Chanukka auf eine solche Art gefeiert worden
wäre, denn die einzige Stelle, in der Chanukka ein Fest
des Feuers genannt zu werden scheint 11. Mak. 1, 18, ist
verderbt. Nur so viel können wir mit Sicherheit behaupten,
daß es dort irgendwie mit dem Feuer verknüpft wird. Um
zur Feier des Festes zu ermuntern, wird eine sagenhafte
') Nach I. Kön. 8,2 werden die Israeliten am Feste versamme \
d. h. also am 15. Tischri. 7 und 7 Tage wird gefeiert, d. h. wohl
sieben Tzge Hüttenfest und sieben Tage Einweihungsfest, am achten
des letzten Festes wird das Volk entlassen, d. i. am 29. Das Schluß-
fest wird nicht erwähnt. Nach der Chronik II 5, 3 wird Israel am
Fest versammelt, dagegen nach 7, 9 hielten sie am SchlußFest eine
Fcstversammlung ab — das Fest der Altarweihe hatte bereits vor
dem Hüttenfest stattgefunden — und v. 10 wird das Volk am 23.
Tischri entlassen. Hierbei wird der Versöhnungstag vergessen. Analog
wird Esra 3, 4 nach der Erbauung des Altars zuerst die Feier des
Laubhütter.festes erwähnt, erst v. 6 wird nachgetragen, daß bereits
vom ersten Tischri an geopfert wurde. (Vgl. auch III. Esr. 5, 53 )
Auch an die Erbauung der Mauer durch Nehemia schließt sich du
Tischri und das berühmte Laubbüttenfest. Neh. 8, 14 ff.
Das Laubhüttenfest Chanukka. 405
Geschichte von Nehemia erzählt, der das zur Zeit Jeremies
versteckte Altarfeuer, in Wasser verwandelt, wieder auffand,
dieses Wasser nun auf das Holz, die Opfer und die Steine
gießen ließ (v. 21 u. 31), worauf es sich in Feuer ver-
wandelte. Diese Handlung erinnert aber an die Zeremonien,
die am Abend des ersten Tages des Hüttenfestes im Tempel
vorgenommen wurden. Da war ein großes Freudenfest, man
goß Wasser aus1), man zündete Fackeln und Lichter an
(Mischna, Sukka V) und man weiß eigentlich nicht zu
sagen, woher die Zeremonie, weshalb an diesem Tage und
wozu die ganze Freude. Es liegt nahe in diesem seltsamen
Fest das Weihefest des Tempels zu erblicken, und dieser
eir.e Gedanke erleuchtet blitzartig die ganze rätselhafte
Erscheinung, daß sich um diese kleinliche Zeremonie des
Wssserausgießens ein heftiger Kampf zwischen Sadduzäern
und Pharisäern entspinnen konnte*). Natürlich ! — die
Pharisäer bevorzugten im Gegensatz zu dem makkabä-
ischen Chanukkafeste absichtlich das alte Weihefest im
') Der sekundären Deutung dieser Handlung, daß symbolisch
eise Bitte um Regen dadurch ausgedrückt sei, steht die Stelle I Sam.
7, £ entgegen.
s) Sukka 48 b kombiniert mit Jos. Ant. XIII, 13, 5 § 372. Die
reHgionsgeschichtlichen Zusammenhänge, die Feuchtwang in den
letzten Nummern dieser Zeitschrift zwischen dem Wasseropter und
fct'dnischen Gebräuchen nachgewiesen hat, berühren unsere These
nich\. Auch Chanukka ist mit dem Feste der Wintersonnenwende
. verwandt und bleibt deshalb doch Tempelweihe. Insbesondere
legt die Rolle, die der .VAir pK, der Grundstein, bei den unerklärt
geriebenen Gebräuchen spielt, den Gedanken an die Grundstein-
legung des Heiiigtumes nahe. Ursprüngliche Einweihungszeremonien,
— das Wasseropfer — deren Sinn man nicht mehr verstand, wurden
s>pä!er mit der Bitte um Regen in Verbindung gebracht, der Grund-
steia des Tempels wird zum Grundstein der Welt. Fremde Einflüss:
wirken dabei mit. Daß ein so fernliegender Gedanke wie die Auf-
erstehung der Toten in diesen Ideenkreis mit einbezogen wird, erklärt
sich aus der sadduzäischen Opposition gegen Wasseropfer und Auf-
trjtehnng.
•405 Das Laubhüttenfest Chanukka.
Tischri, und Alexander Jannäus hatte den Mut die Phari-
säer zu brüskieren, er wußte, was er damit sagen wollte
Chanukka, nicht Sukkot. Die Rivalität zwischen beiden
Festen hörte erst auf, als das hasmonäische Heldengeschlecht
erloschen war und der idumäische Sklave auf dem Throne
saß, da erschienen die Makkabäer wieder verklärt als die
Retter des Volkes, Chanukka kam zu seinem Rechte,
der Brauch, Lichter zu entzünden, kam auf, wie an dem
Hüttenfeste wurden die Hallelpsalmen rezitiert und als
Vorlesung aus der Tora die Stelle gewählt, wo die Fürsten
Gott die Weihgeschenke darbringen. Weshalb diese Stelle
und nicht die näherliegende, wo von der Einweihung der
Stiftshütte die Rede ist? Weil man gerade an die Fürsten,
an die Makkabäer, erinnern wollte, eine gradezu dynasti-
sche Maßregel; also war die Dynastie schon tot.
Wir müssen nun aber, nachdem wir etwas voraus-
geeilt sind, auf eine andere Ähnlichkeit zwischen unseren
beiden Festen aufmerksam machen, die zu noch wichti-
tigeren Ergebnissen führen soll. Das Laubhüttenfest ist nicht
nur ein Fest der Hütten, sondern weit mehr ein Fest des
Laubes, wie es ja von vornherein ein Erntefest ist (Exod.
23, 16. 34, 22.). Das dritte Buch Moses (23, 39 ff. vgl.
Jos. Ant. III 10, 4. § 24» Xill 13, 5 § 372) redet zuerst von
dem Feststrauß, den Früchten und Zweigen, mit denen
sich Israel vor seinem Gotte freuen soll, erst in einem An-
hang daselbst werden die Hütten erwähnt. Das Deuterono-
mium gebietet (16, 13): Das Laubhüttenfest sollst du sieben
Tage feiern, wenn du den Ertrag von deiner Tenne und
deiner Kelter einheimsest. Die rabbinische Tradition1) faßt
das nicht nur als Zeitbestimmung, sondern auch als eine
Vorschrift für die Materialien, aus denen die Hütte gebaut
wird, und daß sie damit im Recht ist, beweist die Stelle
Nehem. 8, 14 ff., nach der das Volk ins Gebirge zog und
Zweige vom Olivenbaum, Zweige vom wilden Ölbaum,
») b. Rosch ha-Schanah 13 a. Sukka 12 a.
Das Laubhüttenfest Ciianukka. 407
Zweige von Myrten, Zweige von Palmen und Zweige von
dichtbelaubten Bäumen holte, um nach der Vorschrift des
Gesetzes Laubhütten zu machen. — In dem Buche der
Jubiläen, das man mit Recht in die Zeit der Makka-
bäerkämpfe setzt, wird das Laubhüttenfest mit fol-
genden Worten beschrieben (16, 30 ff.): Es ist über Israel
angeordnet, daß sie es (das Hüttenfest) begehen und in
Hütten wohnen und daß sie Kränze auf ihr Haupt legen
und Laubzweige und Weiden vom Bache nehmen. Und
Abraham nahm grüne Palmenzweige und schöne Baum-
früchte, und an jedem Tage ging er mit Zweigen um den
Altar herum. Genau auf dieselbe Weise aber scheint man
das Chanukkafest anfänglich gefeiert zu haben, wie die be-
reits angeführte Stelle des II. Makk. (10, 7) ausdrücklich
behauptet: Man trug Thyrsosstäbe, R eis er und Palm zweige
Ein weiterer Beleg für diese Sitte am Chanukka kann viel-
leicht in dem Judithbuche, das ebenfalls Zustände der Mak-
kabäerzeit widerspiegelt, gefunden werden. Es heißt dort
(15, 19 f): Judith nahm Zweige in ihre Hände und gab
sie den Weibern, die mit ihr waren, dann bekränzten sie
sich mit Ölzweigen. — Überhaupt scheint man bei freu-
digen Gelegenheiten zum Palmzweig gegriffen zu haben.
Simon zog in die Burg von Jerusalem ein mit Lobpreis
und Palmen z w e i g e n (I. Makk. 13, 51), als Jesus nach
Jerusalem kam, soll ihm die Menge mit Palmzweigen ent-
gegengezogen sein (Joh. 12, 12. Vgl. Ap. Joh. 7, 9). Es ist
aber zu beachten, daß es sich hier überall um ein Symbol
des Sieges (die Siegespalme) handelt, während am Hütten-
feste die Freude über die Ernte (der Erntekranz) das Ent-
scheidende ist, obwohl der Midrasch auch den Feststrauß
gelegentlich als Siegespalme auffaßt (Tanch. Emor, ed-
Buber, S. 99—100 Anm. 190, Pesikta, ed. Buber, S. 180a
Anm. 36). Zwei aus verschiedenen Anlässen herrührende
Bräuche gehen so ineinander über. Daß diese Sitte für
das Chanukkafest sich nicht hat behaupten können, ist
40S Das Laubhüttenfest Chanukka.
wiederum leicht zu begreifen. Die Pharisäer durften es nicht
erlauben, daß ein Gebot der Thora auf das Fest der ketze-
rischen Könige übertragen wurde, und auch später kehrte
die Sitte nicht wieder. Ob und wieweit die Sitte, sich das
Haupt zu bekränzen, bei den Juden Anklang gefunden hat1),
ist für uns ohne Bedeutung. Jedenfalls haben wir auch
inbezug auf die Sitte der Zweige eine Ähnlichkeit zwischen
dem Hüttenfest und Chanukka feststellen können.
Bescheidene Gemüter werden sich mit den bisher ge-
wonnenen Resultaten zufrieden geben. Nach so vielen Ana-
logien könnte man doch wohl mit Recht Chanukka mit
dem Namen des Hüttenfestes belegen. Es ist das ein
kleiner, unendlich oft begangener logischer Fehler. Es ist
nämlich nur umgekehrt richtig. Man hätte Sukkot Chanukka
nennen können, es war ja auch ein Tempelweihefest. Da-
gegen in dem Namen Sukkot lag nichts von den be-
sprochenen Ähnlichkeiten, sondern nur etwas von Hütte,
und das Symbol der Hütte kennt nun einmal das Tempel-
weinefest nicht. Grade das, worauf es bei dem Namen an-
kommt, fehlt bei der Analogie. Hätte Chanukka statt der
vielen Beziehungen zum Laubhütten f e s t nur eine einzige
Beziehung zur Laub h ü 1 1 e gehabt, dann wäre der Name
verständlich, so wäre es zwar nicht gewagt, wenn man
Chanukka statt ein Fest der Lichter ursprünglich ein Fest
der Zweige genannt hätte. Ein Fest der Hütten konnte es
nicht heißen, denn nun und nimmer haben die Juden am
Chanukka sich Hütten gebaut.
Zweig aber heißt auf hebräisch (und aramäisch)
Sokha pl. sokhot fttiD, HttlD (daneben masc. auch mit c
geschrieben, aram. 8310 fem. Kfi2io), ein absolut nicht
ungebräuchliches Wort (vgl. die Wörterbücher2), und damit
*) II Makk. 6, 7. lud. 15, 13. Iub. 16, 30. Tacit. Hist. 5, 5. j.
Sota IX, 16, 24 b, schon Jes. 28, 1. Vgl. noch Test. Levi ?, 8 f.
*) Dasselbe Wort liegt vielleicht auch Ps. 42, 5 vor ^p? inj/«,
gewöhnlich dort als »Menge« gefaßt, wofür aber keine Belege ange-
Das Laubhütter.fest Cbanukka. 409
j£sen sich auf überraschende Weise alle die Rätsel, die
uns bisher beschäftigt haben. Man nannte Chanukka in
beabsichtigtem Gleichklang Chag ha-Sokhot, das Fest der
Zweige, und man ahnte nicht, welche Verwirrung man mit
oem hübschen Wortspiel anstiftete. Ais der Name des
Festes verschwand, mußte jeder, der die Quellen las, aus
dem völlig gleichgeschriebenen Worte (das hinzugefügte
oder fehlende i spielt keine Rolle) das bekannte Chag ha suk-
kot, das Hüttenfest, herauslesen, und bei der Übersetzung
ins Griechische wurden die sokhot zu sxrjvtofutTa, die Zweige
zu Zelten. Einen schlagenden Beweis für die Richtigkeit
dieser Erklärung liefert die Stelle IL Mak. 10, 0. Dort stand
ursprünglich in der hebräischen Quelle: Und voller Freude
feierten sie die acht Tage der Zweige, und trugen darum
mit Laub umwundene Stäbe (der Syrer übersetzt hier wie
such sonst Xwic) und schöne Reiser und Palmzweige. Das
ist uns jetzt völlig verständlich. Der griechische Übersetzer
las aber hier wie auch an den Stellen 1, 8 und 18 rilaio
»Hütten«, und da nunmehr der Nachsatz unverständlich war,
besonders das »darum«, so schob er eine allerdings sehr
gezwungene und ungenügende Erklärung ein mit den
Worten, »indem sie sich erinnerten, daß sie noch vor kurzer
Zeit während des Laubhüttenfestes, wie die wilden Tiere
den Bergen und Höhlen ihr Leben gefristet hatten.«
Zugleich aber mußte er die Stelle verbessern, indem er
statt »acht Tage des Hüttenfestes* »acht Tage nach Art
des Hüttenfestes« schrieb1).
geben werden. Da es sich utn das Laubhüttenfest handelt (vgl. pa."t
25'i~)> liegt der Gedanke an den Feststrauß, die Zweige nahe (Ti.<
jSk H*3 nyiD. Ich ziehe am Feste zum Gotteshaus?)
') Vielleicht darf man bei dieser Gelegenheit auch auf eine
Stelle des ersten Mak. hinweisen, an der von Kränzen in Verbinuaag
mit dem Chanukkefest die Rede ist. Es heißt I Mak. 4, 57: sie
schmückten die Vorderseite des Tempels mit goldenen Kränzen und
mit Schiidchen. Ist diese Stelle richtig überliefert? Woher bekam
man >goldene Kränze« mit einem Maie her? Weich außerordeit-
410 Das Laubbüttenfest Chanakka.
Ich überlasse es den Bibelforschern zu entscheiden .
ob dieser Gedanke auch schon für die Zeit der Bibel frucht-
bar gemacht werden kann, ob auch das Sukkotfest im An-
fang ein Sokhotfest war, ein Fest der Zweige, und sich
erst später wiederum durch das naheliegende Mißverständnis
in ein Fest der Hütten verwandelt hat, wobei allerdings
auch noch bei der Hütte die Hauptsache die Herstellung
durch Zweige blieb; für uns genügt es, nur nachdrücklich
festzustellen, daß zur Zeit der Makkabäer jedenfalls schon
lange das Hüttenfest als solches bekannt war und gefeiert
wurde und an den Zusammenhang mit den Zweigen kein
Mensch mehr dachte. Auch Mißverständnisse können sich
in der Weltgeschichte wiederholen. Als man Chanukka das
Sokhotfest nannte, war durch die Verschiedenheit der Aus-
sprache eine Verv/echselung beider Feste unmöglich.
Nunmehr ist es aber kaum zu kühn, wenn man be-
hauptet, daß das Chanukkafest mit seinem alten Namen im
alten Testament ausdrücklich erwähnt wird. Man bezieht
die letzten eschatologischen Kapitel des Sacharja ziemlich
allgemein auf die Makkabäerzeit1). Und wenn wir nun dort
(14, IG ff.) lesen: daß diejenigen, die von den Völkern übrig
bleiben, Jahr für Jahr nach Jerusalem hinaufziehen sollen,
um das Fest der Sukkot zu feiern, und falls sie das nicht
tun, bestraft werden sollen, insbesondere die Ägypter, so
kann sich das nur auf Juden beziehen. Es ist aber unklar,
weshalb grade das Hüttenfest besonders durch die Wall-
fahrt ausgezeichnet werden soll Sollte nicht auch hier das
Sokhotfest, das Fest der Zweige gemeint sein? Der Prophet
lieber, merkwürdiger Schmuck ! An goldene (oder vergoldete) Schilde
ist viel eher zu glauben. Sie wurden als Zierde der Mauern verwandt
(Hohe Lied 4,4. Ez. 27, 11) und standen schon im ersten Tempel (II
Sam. S, 7. II Kön. 11, 10. II Chr. 23, 9. I Kön. 10, 16 f. 14, 26. U
Chr. 12, 9), Es wäre also wohl möglich, daß hier im hebräischea
Urtext nur von Kränzen und goldenen Schilden die Rede war.
') Vergl. 9, 13 (V ^2 der Kampf gegen die Griechen.
Das Laubhüttenfest Chanukka. 41t
verlangt hier dann von den auswärtigen Juden eine Wall-
fahrt nach Jerusalem zum Chanukkafeste, die gefährdete
Einheit des jüdischen Volkes sollte durch diese Bestimmung
gerettet werden, das Fest der glorreichsten nationalen Erin-
nerungen bekam seinen Platz neben den Wallfahrtsfesten,
und besonders die ägyptischen Juden, denen man wegen
ihres Hellenismus nicht recht traute, wurden besonders
ermahnt und gewarnt. Die geforderte Wallfahrt nach Jeru-
salem setzte sich nicht durch. Aber von den Bemühungen
der palästinensischen Judenheit, die Brüder der Diaspora
zur Feier des Zweigefestes zu bewegen, legt auch das II.
Mak. ein Zeugnis ab, dessen Historizität nunmehr kaum
noch Zweifeln begegnen dürfte1;.
Die Geschichte des Chanukkafestes würde sich nun-
mehr folgendermaßen darstellen lassen. Nach der auf die
Bibel gestützten Tradition war Sukkot zugleich das Tempel-
weihefest. Antiochus Epiphanes weihte am 25. Kislev, dem
Tage der Wintersonnenwende, den Tempel dem Zeus.
Einige Jahre später legten die Hasmonäer die Wiederein-
weihung absichtlich auf denselben Tag. Man hatte nun-
mehr zwei Tempelweihefeste, die sich gegenseitig Konkur-
renz machten und beeinflußten, besonders gingen die For-
men des alten auf das neue Fest über. Man feierte Cha-
nukka zunächst im Tempel mit Opfern, Lobgesängen und
Umzügen, bei denen man Zweige (Siegespalmen) trug,
nannte es in beabsichtigtem Gleichklang Chag ha-Sokhot
und setzte die Dauer entsprechend dem alten Weihefeste
auf acht Tage fest. Die Hoffnung, daß die auswärtigen
Juden das Fest im Tempel mitfeiern würden, setzte sich
') Die Forderung einer Wallfahrt wird in dem Briefe II Makk.
1 und 2 nicht direkt ausgesprochen. Andererseits wird aber die
Wichtigkeit des Opfers stark betont und die Hoffnung auf eine
Wiedervereinigung der Zerstreuten mehrfach ausgesprochen. Es liegt
also nahe, daß mit der geforderten Beteiligung an der Feier eine
Beteiligung am Opfer gemeint war.
412 Das Laubhütteafest Chanukka.
nicht durch. In Judäa selbst bevorzugten die Pharisäer im
Gegensatz zu Chanukka das alte Weihefest, bis durch den
Untergang der Hasmonäer auch diese Partei das Fest über-
nahm und die nichtbiblischen Zeremonien des Sukkot-
festes auf Chanukka übertrug. Welchem Feste die Illumi-
nation ursprünglich zukam, vermögen wir nicht mehr zu
entscheiden. Es ist möglich, daß Herodes die Feier des
makkabäischen Festes zurückzudrängen suchte und die Tem-
pelillumination verhinderte; hatte er doch die Einweihung
des von ihm restaurierten Tempels auf den Tag seines
Regierungsantrittes gelegt (Jos. Ant. XV 11, 6). Als Reaktion
hiergegen eroberten sich die Chanukkalichter das Haus und
überdauerten infolgedessen den Tempel, während die illu-
mination am Sukkot auf den Tempel beschränkt blieb und
daher mit diesem zugleich ihr Ende fand. Der Name des
Festes schwankte zunächst, es hieß die Tempelreinigung,
dann nach dem benutzten Symbol das Fest der Zweige,
als diese Sitte abkam, das Lichtfest und endlich das Er-
neuerungsfest fefwmrt* und Chanukka.
Kehren wir nunmehr zu dem Dokument zurück, von
dem wir ausgegangen waren, zu dem II. Makk. und unter-
suchen wir, ob sich auf Grund der neuen Erkenntnisse
etwas für die Beurteilung des einleitenden Briefes ergiebt.
Die Frage ist die, ob der Brief echt ist, d. h. ein Do-
kument bildet, das die palästinensischen Juden wirklich
an die ägyptischen Brüder geschickt haben, oder ob er die
freie Komposition eines Schriftstellers ist, der die Tatsache des
schriftlichen Verkehrs kannte, sei dieser nun Iason von
Kyrene, dessen Werk dem II. Mak. zu gründe liegt, oder
der Epitomator, wie man den Verfasser des II. Makk. zu
nennen pflegt, der das Werk Jasons verkürzt und über-
arbeitet hat. Mit dem von uns nachgewiesenen Übersetzungs-
fehler fällt nun die Möglichkeit einer freien Komposition durch
einen griechisch schreibenden Autor fort, Schwierigkeiten
Das Laubhüttenfest Chanukka. 413
schreibt man wohl ab, aber man macht sie nicht aus freien
Stücken selbst. Ein Autor, der das Chanukkafest ein Fest
der Zweige nennt, muß sehr alt sein, wahrscheinlich äiter
als der Verfasser des I. Makk., der diese Bezeichnung
nicht mehr kennt. Jedenfalls ist ein hebräisches (ara-
mäisches) Original von lason (oder vom Epitomator) ins
Griechische übersetzt worden, und zwar ziemlich treu, denn
er übernimmt ohne einen erklärenden Zusatz den Ausdruck
»die Tage der Hütten«, einen Ausdruck, den er selbst nicht
verstand. Aber trotz dieser verhältnismäßigen Sorgfalt trafen
alle Leiden einer Übersetzung das unglückliche, seitdem
arg verkannte Dokument. Bereits Graetz (Geschichte der
Juden III Note 10) und Torrey haben unter der Voraus-
setzung eines hebräischen Ursprungs die Einheit und Hi-
storizität des Sendschreibens behauptet, die Einheit verficht
auch Niese (Kritik der beiden Makkabäerbücher S. 10 ff.),
obwohl er meint, daß der Epitomator das Schreiben ver-
faßt hat. Gegen die Einheit des Schreibens scheinen nur
drei Stellen zu sprechen. In v. 7 heißt es: »Während der
Regierung des Demetrius im 169. Jahre haben wir Juden
an euch geschrieben in der höchsten Drangsal, die in jenen
Tagen über uns kam, seitdem lason .... abtrünnig ward,
v. 8. Da beteten wir zum Herrn und wurden erhört. < Wir
haben es keineswegs nötig, mit Niese eine besondere Not
für das Jahr 169 ausfindig zu machen. Durch die Annahme,
daß hinter dem »Kih uaro wir haben geschrieben« »Yiösb
folgendermaßen« ausgefallen ist, erklärt sich der Vers oder
vielmehr nur so ist er erklärbar. Ohnedem ist der ganze
Passus nicht zu konstruieren, man müßte denn die sämt-
lichen Verba : wir beteten, wurden erhört, opferten usw.
in den Nebensatz einschachteln und bekäme selbst so
keinen Sinn. So dagegen sagt der Autor einfach genug:
rn der Trübsal beteten wir (im hebräischen durch das l
consecutivum eingeleitet. Ähnlich Graetz, der »3 ergänzt,
das hintere^ nicht so leicht ausfällt wie 'n»b). v. 9 gibt nun
-414 Das Laubhüttenfest Chanukka.
Aem angeblichen ersten Briefe den angeblichen Inhalt: »Und
nun, damit ihr die Tage der Zweige feiert im Monate Kislev
(v. 10) im 188. Jahre — (wir zu Jerusalem .... wünschen
dem Aristobul . . . Heil). Der Inhalt des Briefes wäre zu kurz,
um vollständig zu sein, es ist nicht einmal gesagt, auf welchen
Tag denn das Fest fällt. Aber auch nach den Verteidigern der
Einheit fehlt zum mindesten ein: »schreiben wir euch« und
selbst dann kann ich mir den hebräischen Text kaum vor-
stellen. Man vermißt auch die Worte »xai siutoi« »damit
auch ihr feiert«, die unmöglich hätten fehlen dürfen.
Korrumpiert ist der Text also auf alle Fälle und am
einfachsten ließe er sich auf folgende Weise herstellen.
Wir ziehen das statt v5v zu dem btouc ÖYöV/iJtoyroO stai öyäooö,
wo es jedenfalls hingehört. Nach v. 8 aber erwartet man
unbedingt: und wir feierten die Sokhottage nraiDn »ir »PJi
)hüD BHM (eventuell passivisch '&£3). Sobald der Grieche
hier die 2. Person plur. las, war die Konfusion da, die
auch die Umstellung des rmm (x** vuv] herbeiführte. Der
erwähnte Brief enthielt also damals nur eine einfache Mit-
teilung der Geschehnisse, noch nicht eine direkte Auf-
forderung zur Festfeier, wenigstens wird dies nicht direkt
gesagt. Erst jetzt werden die ägyptischen Juden offiziell
zur Beteiligung an der Festfeier eingeladen.
Eine fernere Schwierigkeit bildet die Erwähnung des
Juda in v. 10. Im Jahre 188 Sei. konnte Juda Makkabbi
nicht mehr an die Ägypter schreiben, er lag seit 36 Jahren
im Grabe. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß aber
gamicht Juda Makkabbi oder eine sonstige nähere Bezeich-
nung dasteht, nur hat man zu gewaltsam einen anderen
Namen oder einen anderen minder berühmten Mann dafür
einsetzen wollen. Die syrische Übersetzung löst hier die
Schwierigkeit sozusagen spielend, sie schreibt: «lim s:d
also nicht : die Gerusia und Juda, sondern die Gerusia
von Juda, das jüdische Synhedrium. Da man ohne wei-
teres berechtigt ist, Aramaismen in dem Briefe anzunehmen,
Das Laabhüttenfest Chanukka. 415
so hat der griechische Übersetzer wahrscheinlich mim für
HW n oder rnvra gelesen1).
Gegen unsere Annahme, daß im II. Makk. ältere
Quellen benutzt worden sind, hat sich Willrich (Judaica,
S. 145) mit aller Entschiedenheit ausgesprochen auf Grund
der Stelle I. Makk. 9, 22: %cti to. TCspiffcra. twv Xoywv 'IooSa xat
twv tcoXs[/.o>v xal Toiv avSpxYociriwv öv sirofriae )tai T/fe usyocXo-
guvt,; aÜTwv oü »«TeYpx^Ti, -rcoXXaYy-p ^v <7<p6Spa, Der Geschichts-
schreiber des ersten Makkabäerbuches erklärt also rund
heraus, eine reichhaltigere schriftliche Überlieferung als das
von ihm über Judas Gebotene existiere nicht«. Also, schließt
Willrich, sind lasons detaillierte Angaben, soweit sie über
das I. Makk. hinausgehen, erlogen -- was übrigens weiter
kein Wunder ist, da ja nach W. sämtliche jüdische Schrift-
steller der hellenistischen Zeit bis auf Josephus hinab eine
einzige große Fälscherbande sind, Iason selbst »ertappen
wir bei der frechsten Fälschung der besten Quellen«, seine
Manipulationen, seine Unverfrorenheit, seine pure Willkür
ist für unseren »Historiker« (Willrich S. 144 f.) charakte-
ristisch. — In dem uns vorliegenden Falle ist der griechische
Text wieder an allem Unheil schuld. Da zweifellos eine
Überlieferung abgesehen vom I. Makk. existiert hat, wie
wir das aus dem II. Makk. und aus Josephus wissen, so
löst sich die Schwierigkeit am besten wiederum durch
einen Übersetzungsfehler. In dem hebräischen Text stand
die bekannte biblische Phrase na nco* »b die übrigen
Heldentaten Judas sind nicht zu zählen vor Menge; der
Übersetzer nahm das Verbum *icd als erzählen und über-
setzte frei ÄaTSYpa^Yi, wobei wahrscheinlich die Erinnerung
an die biblischen Stellen (I K. 11,41; 14, 19 etc.) mitwirkte.
Wer war nun der Übersetzer jenes Briefes? Auch
diese Frage wollen wir versuchen zu beantworten. Der
Epitomator sagt (c. II. 2, 23 ff.), was er mit dem Werke
lasons gemacht hat, er hat es gekürzt, umgearbeitet, popu-
») Vgl. auch Torrey ZATW. XX. S. 234.
416 Das Laubhüttenfesi Cbanukka.
larisiert, aber übersetzt hat er es nicht, weshalb hätte er
das verschweigen sollen? Das ursprüngliche Werk Jasons
war also bereits griechisch geschrieben. Der Übersetzungs-
fehler, der in c. 10, 6 vorliegt, fällt ihm also zur Last, er
hat das Sokhot, das er in einer hebräischen Quelle las,
mit Zelte übersetzt. Die angefügte Erklärung beginnend
mit dem Worte pr.u.ovsuovTs; können wir vielleicht auf
das Konto des Epitomators setzen. Nun hängt aber der
Bericht über die Tempelweihe, der zweifellos bei lasen
gestanden hat, (c. 10, 1 ff.) gerade wieder durch das Miß-
verständnis bezüglich der Sokhot mit dem einleitenden
Briefe zusammen. Und der Schluß liegt also sehr nahe,
daß auch dieses Schreiben bereits bei Jason gestanden
hat. Wir müßten sonst annehmen, daß das Schreiben von
einem unbekannten Hebräer verfaßt, vcn einem unbekannten
Griechen übersetzt und vom Epitomator oder gar einem
Späteren gefunden und übernommen worden sei, wobei der
Grieche denselben Fehler wie lason machte. Lieber nimmt
man an, daß lason selbst dieser Grieche war, daß er
hebräisch geschriebene Quellen benutzt hat, die nicht mit
dem ersten Makkabäerbuch identisch sind, daß seine Ge-
schichte bis zum Jahre 188 hinabging oder zum mindesten
Episoden aus dieser Zeit noch einflocht, daß er jedenfalls
nach 188 schrieb. Der Epitomator will nun dieses Werk
in eine künstlerische Form gießen, er wählt dazu die Brief-
fcrm, er stellt den Brief an die ägyptischen Juden, den er
bei lason fand, voran und schließt daran die ganze Ge-
schichte an, gleich als ob die nachfolgende Erzählung das-
jenige war, womit die Palästinenser die ägyptischen Juden
zur Festfeier hätten veranlassen wollen.
Es wäre an und für sich unfaßbar, wie jemand auf
den Gedanken gekommen wäre, die Zugehörigkeit des
Briefes zum 11. Makk. in Frage zu stellen, wenn nicht auch
hier eine Schwierigkeit vorläge. Der Bericht über Antiochus
Tod (c. 9) stimmt nicht mit der Darstellung des Briefes
Das Laubhüttenfest Chanukka. 417
(1, 13) überein. Sollte das der Epitomator, wenn er wirklich
den Brief selbst an die Spitze stellte, nicht gemerkt haben?
Also war es ein späterer Redaktor, der den Brief an seine
jetzige Stelle setzte. Dagegen bemerkt Niese mit Recht, daß
die Schwierigkeit nur zurückgeschoben ist, denn auch der
Spätere hätte den Widerspruch merken müssen. Dem Epito-
mator kam es jedoch nicht so genau darauf an, er lehnt ja
selbst die Verantwortung für die geschichtlichen Berichte, die
er gibt, ab. Es ist aber auch sehr gut möglich, daß bereits
bei lason die beiden verschiedenen Berichte über den Tod
des Antiochus (der eine innerhalb des Briefes) vorgelegen
haben. Natürlich hatte er sie aus verschiedenen Quellen,
lason selbst braucht die beiden Berichte weder mit ein-
ander verglichen noch vereinigt zu haben, sie standen ja
an sehr verschiedenen Stellen in seinem Werke von fünf
Büchern. Wir finden genau das Gleiche auch bei Josephus
in analogen Fällen. Deshalb ist die Annahme, daß es sich
in dem Briefe um den Tod des Antiochus VII. Sidetes
handelt, nicht unbedingt notwendig; der Zusammenhang
deutet doch mehr auf Antiochus Epiphanes. Die ganze
Stelle aber als eine spätere Einschaltung zu betrachten,
wäre zu gewaltsam, man müßte vorerst den Zweck der
späteren Einschaltung an dieser Stelle nachweisen. Aber
alle diese Schwierigkeiten selbst zugegeben, wiegt die
offenkundige Tatsache, daß das Buch einheitlich komponiert
ist, schwerer als alles1).
Nun fordert allerdings der Brief nur zur Teilnahme
an der Chanukkafeier auf, und dazu gehört nur der erste
Teil des Buches (bis c. 10, 9), der zweite Teil des Buches
dagegen gibt die Begründung für die Feier des Nikanor-
tages, der in dem Briefe gar nicht erwähnt wird. Das wäre
*) Vgl. die überzeugenden Ausführungen Nieses S. 23. Auch
die uns ziemlich unklaren Darlegungen über das Feuer Nehemias
werden c. 10, 3 irgendwie vorausgesetzt oder angedeutet. In I Makk.
fehlt die betreffende Tatsache.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 27
418 Das Laubhüttenfest Chanukka.
allerdings ein gewichtiges Argument gegen unsere Be-
hauptung, daß der Brief von vornherein zum Buche gehöre
— aber wohlverstanden nur dann, wenn wir es mit einem
Fälscher zu tun hätten, der den Brief selbst verfaßt hätte.
Aber der Brief fand sich ja bereits bei Iason und wurde
vom Epitomator nur benutzt. Es mag ihm sehr ungelegen
gewesen sein, daß der Nikanortag in dem Schreiben nicht
erwähnt war, erst dann wäre der Brief eine tadellose Ein-
leitung zu dem beabsichtigtem Werke gewesen, aber auch
so ließ er sich zur Not noch verwenden. An eine Fälschung,
die doch so leicht gewesen wäre, hat der ehrliche Verfasser
nicht gedacht. Er hat die Form, die er nun einmal gewählt,
streng, man kann sagen : glänzend durchgeführt. Der Ge-
danke selbst, diese Form mit dem Brief als Enleitung zu
nehmen, ist nicht schlecht; daß unsere historischen Interessen
weiter gehen als der Zweck des Schriftstellers, ist nicht
dessen Schuld. Ein Autor schreibt für seine Zeitgenossen
und sein Publikum, und der Epitomator konnte nichts da-
für, daß Iasons Werk verloren ging. Wir müssen mit dem
vorlieb nehmen, was wir von Iasons Schriften noch haben,
es war guter historischer Stoff, den er in seinen Quellen
vorfand. Eine gerechtere Würdigung seines Werkes, als sie
bis vor kurzem üblich war, hat bereits Platz gegriffen. Auch
unser Nachweis, daß er hebräische Quellen benutzte, wird
hoffentlich in dieser Richtung wirken.
Unechte Jeruschalmizitate.
Von V. Apto witzer.
Bekanntlich zitieren die alten Autoren Aussprüche und
Ausführungen aus dem Jeruschalmi, die in unserem Jeru-
schalmitext nicht vorhanden sind1). Die geläufige Erklärung
dieser Erscheinung ist die Annahme, daß unser Jeruschalmi
gekürzt sei und die von den alten Autoren zitierten Jeru-
schalmistellen durch die Schuld der Kopisten in unseren
Texten fehlen. Es wird auch erklärt, daß unter Jeruschalmi
bei den alten Autoren nicht immer der jerusalemische
Talmud, sondern zuweilen palästinische Midraschim zu
verstehen sind2).
Diese beiden Erklärungen sind unhaltbar. Daß ein
Kopist zuweilen eine Stelle wegläßt kommt oft vor, in
unserem Falle aber handelt es sich nicht um einige wenige
Stellen, sondern um hunderte von Zitaten. Diese Zitate
v/erden in unserem Jeruschalmi nicht vermißt, die meisten
passen in die bezüglichen Stellen garnicht hinein und sehr
viele von ihnen zeigen durch Sprache und Inhalt, daß sie
unmöglich je im Jeruschalmi gestanden haben konnten. So
ist die Annahme, die fraglichen Jeruschalmizitate fehlen
in unserem Jeruschalmi, ganz verfehlt. Die zweite Erklärung
trifft wohl für die Zitate agadischen Inhalts zu, aber bloß
für einen Teil derselben, da viele ausdrücklich aus dem
jerusalemischen Talmud, oft auch mit Angabe von Trak-
tat und Abschnitt, angeführt werden. Und wie sind die
halachischen Stellen zu erklären?
*) S. die Literatur bei Apto witzer in der Monatsschrift 1908, S. 307,
Anm. 2.
*) Monatsschrift a. a. O. 315, Anm. 2.
27*
420 Unechte Jeruschalmizitate.
Diese Frage besonders war es, die mich zu einer ganz
anderen Lösung des Problems der in unserem Text nicht
vorhandenen Jeruschalmizitate geführt hat. Für meine These,
die Anfangs mir selbst als kühne Hypothese erschien, fand
ich im Laufe der Zeit immer neue Beweise, besonders aber
seit ich Gelegenheit hatte, mich intensiv mit der Haupt-
quelle nichtvorhandener Jeruschalmizitate, dem Rabiah,
zu beschäftigen. Hier sind die Beweise so zahlreich und so
deutlich, daß ich von der absoluten Richtigkeit meiner These
überzeugt werden mußte. Ich halte es nun für angemessen,
schon jetzt meine These mitzuteilen, da das Werk, in dem
die ausführliche Behandlung des Themas ihren Platz haben
wird, meine Einleitung zum Rabiah, nicht so bald veröffent-
licht werden kann.
Meine These lautet wie folgt: Die von den alten
Autoren zitierten und in unseren Texten nicht vorhandenen
Jeruschalmistellen haben, einige wenige Ausnahmen abge-
rechnet, auch nie dem Jeruschalmi angehört, sie
sind nicht echt. Es hat ein Sammelwerk gegeben,
dessen Grundstock ein Jeruschalmi text bildete,
der einerseits formell oft gekü rzt un d anderer-
seits inhaltlich von zahlreichen Zusätzen aus
dem Babli und anderen agadischen und halachi-
schen Schriften, besonders der gaonäischen Li-
teratur durchsetzt war. D i ese r Jeruschal m i t ext,
den ich zum Unterschiede vom eigentlichen Jeruschalmi
VübvfTC pip oder »E&tfiT ICD nenne, ist die Hauptquelle
der unechten Jeruschalmizitate.
Dies der Kern meiner These, die hier nicht weiter
ausgeführt werden kann. Auch bezüglich der Begründung
muß ich mich auf einige wenige Beispiele beschränken.
1. Rabiah 18 a: p Brya p mvan bs »obenva poiJi
riöi ,pi ja pn pyn ca ibik -nan »'p urwa *bv jbt bz B'pin»
jibi EnBB pi ♦ptwAi pivK^n n^narfo wrvpb ubb ,p na/NW
Unechte Jeruschalmizitate. 421
(jnisoV) uaa [nV^] (r\b)nb) wdb «an vpovw [«'xian v^y] pabnanvi
wyaa arr^p a'aiao mpr -ikb^ ^a« ,p^>e> bsh ubb [mta^].
Diese Stelle kommt in unserem Jeruschalmi nicht vor.
Ihrem Inhalte nach hätte sie ihren Platz in Berachoth VI, l1)
(10 a), dort aber ist die Halacha dieser Stelle in ganz
anderer Form und von der Agada nicht die geringste Spur
vorhanden. Der halachische Teil dieses Zitates kann also
nicht neben unserem Text, sondern statt seiner im Je-
ruschalmi gestanden haben. Da nun unser Text zweifellos
der ursprüngliche ist, so ist der des Zitates nicht echt,
sondern aus der Ausführung des Jeruschalmi abgeleitet.
Auch die Unechtheit des agadischen Teils des Zitates läßt
sich mit großer Wahrscheinlichkeit nachweisen. Wir lesen
nämlich Tanchuma nn^in § 10 : apö o^Bt» »o IJ'31 UTD^'
na K-na -paa p» aya amtan lrnm w "p to^ "px "wa pe>
"|i3o pn byt£t pvi p pn nie« »mnoi Tat na *or >m nax p pn
hm» pptfen bsn njitpo iroia «nrw pn nm nai ,pjn na «na
maian rs $»ib»^ aps?^ bij «mir *6« tij? «bi naran 'aj by -jDjna.
Die halachische Antwort ist wörtlich dem Jeruschalmi
(Berachoth VI, 1) entlehnt. Hätte nun der Autor dieser Je-
lamdenustelle oder der Redaktor des Tanchuma eine aga-
dische Begründung der Halacha im Jeruschalmi vorgefunden,
so hätte er sie ganz gewiß mit herübergenommen. Er konnte
das aber nicht tun, weil er in seinem Jeruschalmitext keine
darauf bezügliche Agada, jedenfalls nicht die von Rabiah
zitierte agadische Ausführung gehabt. So gehört diese Agada
nicht dem Jeruschalmi. Rabiah zitiert daher die fragliche
Jeruschalmistelle nicht aus dem Jeruschalmi, sondern aus
dem »abttiT ibd»
Zu demselben Schlüsse muß man unentrinnbar auch
') Als von dort stammend wird sie in Rokeach N. 352 angeführt:
UDO pana vpajn bunn p1 nanw najan na panaa iJraa ^abem"»
nstaSi nhnb mbb na ia «ara ,nainbi paii-Kb ubb nbianbi triTpS.
Rokeach N. 329 v. vstiara^ö: uaa «nTpb uaa pane vpay p1 "'a Sw iv
nainS uaa nbnanb.
422 Unechte Jeruschalmizitate.
durch die Analyse unzähliger anderer Zitate gelangen. Bei
vielen von ihnen kommen zum logischen Schlüsse noch
äußere Merkmale hinzu, durch die sie auf den ersten Blick
als unecht erkannt werden müssen, wie zum Beispiel bei
folgenden Zitaten :
2. Rabiah 2Sb unt. : yw vbv -psa benaa p »b^bmv,
ebenso Rabiah ms. N. 423 : *paa Vornan »a^Piv« [rSDD *6i
bma? und daraus in Hagahoth Maimonioth mm VIII, N. 4:
•nfowrai bznv rhy "paS arot? (1. (^xiat?) nnat? "\ njnpa *6"n
1*1313 «n\s. Diese Halacha kommt in unserem Jeruschalmi
nicht vor, und wird auch von den alten Autoren nicht aus
Jeruschalmi angeführt. Die Tatsache aber, daß eine Reihe
von Autoren2) sich abmühen, die Benediktion über gekochten
Wein aus dem Jeruschalmi3) herauszulesen, beweist, daß
eine ausdrückliche Angabe darüber im Jeruschalmi nicht
vorhanden war. Woher hat nun Rabiah sein Zitat?
Dies erfahren wir aus dem Or Sarua. Dort wird zuerst
in ausführlicher Weise aus dem Jeruschalmi nachzuweisen
gesucht, daß über gekochten Wein tsin »tb Kiia zu sprechen
ist, dann heißt es am Schluß : (4|*Dl3ö ISO 's 'B^tnvai
»im "i ptan in« hw |*»n n» -iöb pran *xhv pvi bv "pa »/uwa
»bS >ß (8'i^>3 «nan »jwt id« im [wnip vitrn iax in ^tii
J) "OBn }3, so in Rabiah. In den gedruckten 111313 ny» (B.
Talmud II) finde ich diesen p*r nicht.
*) Vgl Tossaiolh B. Batbra Q7a v. xü,irK, Ascheri das. VI, N.
10, Or Sarua I, N. 162, Rokeach N. 36:*, Schibbole ha-Leket N. 145,
Kaftor wa-Ferach Kap. 20 (ed. Edelmann 71 b), Responsen S. b. Adereth
N. 238 und 766, TS3Z. I, N. 85 u. a. Vgl. Resp. M. b. Baruch, ed.
Prag, N. 470, fatwi N. 322 v. vhh'i, Maobig 81 b N. 53.
s) Sabbath VIII, 1, Pessachim X; 1, Schekaü.m III, l,Terumoth II, 6.
Aus diesen Stellen entnehmen die erwähnten Autoren, daß gekochter
Wein in liturgische; Beziehung sich nicht von ungekochtem unterschei-
det. Im Gegensatz dazu will nmjö."l 1DD, HJ101 fon VII, 10 aus einer
anderen Jeruschalmistelie in Sabbaiii VlII, 1 für gekochten Wein 'rsntP
folgern.
*) Berachoth VI, 5 (10c m.).
*) Soweit unser Text.
Unechte Jeruschalmizitate. 423
-paa btnsB isn Rim ♦aa'a Kion *aj ^jn panaip »aa fcfi
Die von Rabiah aus Jeruschalmi angeführte Halacha,
die in unseren Texten nicht vorkommt und nachweisbar
auch vielen alten Autoren nicht aus dem Jeruschalmi be-
kannt war, findet sich also in einer dem Text beigefügten
Erklärung einer Jeruschalmistelle. Daß diese Erklärung
die Quelle des Rabiah war, ist zweifellos.
3. Rokeach N. 211: nnyna ba« ♦ . . oneno 'ooa pno«
p nnym a"sa jr» »ö^iv 8>»pvn iem p*BBDi ntt'a ^rri rinn«.
In unserem Jeruschalmi, Taanith II, 15 (66a unt.) und IV, 1
(67c unt.), steht nichts davon, vielmehr wird an beiden
Stellen wiederholt betont: mWpi rnaia pip, wie in der
Mischnah Megiiiah IV, 8 (Jerusch. III, 8). So kennen auch
die alten AutorehaJ den Brauch, an Fasttagen £>m vorzulesen,
nur aus Soferim (XVII, 7) und den Gaonim3). Diese Tat-
sachen allein genügen, um mit großer Wahrscheinlichkeit
behaupten zu können, daß der »alte Jeruschalmi« des Ro-
keach nichts anderes ist als das »a^ETi* "icd, das die fragliche
1) Die Sprache dieser Erkläiung ist gaonäisch, wie die Halacha,
auf der sie beruht. Denn die Ansicht, daß über gekochten Wein S3.*ltP
zu sprechen ist, ist gaonäisch. Vgl. die oben S. 422, Anm. 2-3 an-
geführten Autoren, ferner Ibn Giath I, S. 2, Orchoth Chajjim I, 64 a, Ittur,
ed. Lemberg, II, 53 b. Vgl. nr.tttl 'V N. 4, 258, B'n 17. In Orchot Chajjim
ist pn nicht Scherira, wie Müller, nriBD 184 N. 23 meint, sondern
Raschi. Vgl. Kaftor wa-Ferach 71b und Abudraham IPlTp. Dies gilt
von allen Anführungen Müllers im Namen Schemas aus Or. Ch.
2) Tossafoth Berachoth 18a v. "inö*?, Pessachim 40b v. ^QK
Megiiiah 31 b v. ipjti und Aboda Sara 65 b v. bü», Machsor Vitry 233
u. 234, Manhig, ed. Berlin, 47 a, Ascheri Megiiiah IV, N. 10 Ende.
Mordechai das. N. 16, t"X">~) in Schilte ha-Gibborim Megiiiah III Ende,
Vgl. nwo üüb hfl. nnj?n I, 15. Vgl. RN. Taanith I, N. 809 und Tur
I, 566.
s) Vgl. Halachoth Ged. ed. Berlin, S. 623, D^itwn Stf fmin I,
42, nna mon N. 4, Seder R. Amram 35b u. 43b und Marx' Zusätze
S. 16 u. 17, Resp. der Gaonim ed. Ginzberg, S. 263, Or Sarua II,
N. 392, Hai. Pessukoth, S. 132, Pardes N. 164.
424 Unechte Jeruschalmizitate.
HalachaausSoferim oder einer gaonäischen Schrift herüberge-
nommen hat. Rokeach meint aber offenbar folgende, in Rabiah
ms. N. 594 und (daraus) Or Sarua II, N. 416 Ende angeführte
Jeruschalmistelle : p« pm «n« ''Dia ^Ö^ÄHTS rwym a'cai
ffnfrfai iwa |mp rea ,'*>'3na r6nna imn bj> mna pna
nra bn»i xb>« pnp us p« VS^DJH lx? ,ü1 rrnn niß,a:it^
,-|öj? nw 'ax i#« ip*i^ boa ja ^'nnai bjy nwyo a^iai
Hier verrät auch die Sprache der Bemerkung Vfc^D^l
etc. deutlich ihren nichtjeruschalmischen Ursprung. Dies
wird schon von Rabiah hervorgehoben: yatra \Müb\\ jai
K1H p*tt f^9 VtWy»^ aus der Sprache folgt, daß
vtyay'etc. einem Gaon gehört.
Die einstige Existenz eines in der von mir gekenn-
zeichneten Weise bearbeiteten Jeruschalmi muß also schon
auf Grund der hier angeführten wenigen Belege mit Sicher-
heit vorausgesetzt werden. Dieser »Jeruschalmi« ist die
direkte oder indirekte Quelle der meisten unechten Jeru-
schalmizitate, besonders bei den deutschen und französi-
schen Autoren.
Eine Anzahl unechter Jeruschalmistellen, besonders
bei spanischen Gelehrten, erklärt sich aus der Tatsache,
daß viele Autoren den Jeruschalmi2j nur aus Sekundär-
quellen, besonders aus dem Kommentar des R. Chinanel,
anführen, und daher nicht immer erkennen konnten, wo
der Jeruschalmi aufhört und die Quelle beginnt. So war es
unvermeidlich, daß zuweilen die Worte der Quelle für Je-
ruschalmi gehalten wurden. Di aber der Kommentar des
R. Chananel sehr viel gaonäisches Material enthält, so er-
klärt sich auch daraus die Tatsache, daß Gaonäisches als
Jeruschalmi angeführt wird.
l) So weit unser Text; niin'njPöaP ist viell. schon Erklärung.
») Wie oft die Toseftha. Ein markantes Beispiel bei Aptowitzer
in Blau's 1J,1 pXD IDUM I, S. 82 f.
Unechte Jeruschalmizitate. 425
Manches unechte Jeruschalmizitat findet seine Erklärung
in dem Umstand, daß in manchen Kodizes mit dem Jeru-
schalmi andere Werke und Abhandlungen vereinigt waren1),
die, von derselben Hand geschrieben und ohne eigenen
Namen, unter der Flagge des Jeruschalmi segelten.
Daß manche Autoren kabbalistische Werke als
Jeruschalmi anführen und daß Jeruschalmistellen direkt
fabriziert wurden, ist bekannt.
2) Ein lehrreiches Beispiel in Ch. Horowiz' xnpTlJ? KDBCin
V, S. 81.
[S. 422. Anm. 2. Tossafoth Pessachim 109 b v. ^ysnx Resp.
M. b. Baruch ed. Berlin S. 119.
S. 423. Anm. 3. Resp. der Gaonim ed. Lyck N. 79, Chemdah
Genusah N. 144, D^PiT »IM S. 10 N. 20, r.ühv vbf\p S. 38 N. 40,
Ibn Giat I 23, Rokeach N. 227].
Die Tefilla für die Festtage.
Von I. Elbog-en.
So verschieden die Bedeutung der jüdischen Feiertage
sein mag, die Tefilla an ihnen ist von einer auffallenden
Gleichmäßigkeit.GegenüberderMannichfaltigkeit, die wir vom
Sabbat her gewöhnt sind, der gleich vier verschiedene Texte
besitzt, ist es eine geradezu erhabene Einförmigkeit, der
wir hier begegnen. Die drei Gebete für Morgen, Mittag,
Abend sind völlig gleichlautend und selbst die scheinbar so
gänzlich verschiedene Mußaftefilla hat im Grunde den
gleichen Wortlaut, der vermehrt ist um eine durch den
ursprünglichen Zweck dieses Gebetes veranlaßte Erweiterung.
Auch die beiden so fern voneinander liegenden Festestypen,
die geschichtlichen Feste a^Ji wbw und die religiösen Feste
D'Kiu D'D\ sind geeint durch die Gleichartigkeit ihres Ge-
betes; die Tefilla für den Versöhnungstag unterscheidet sich
nur ganz wenig von der der Wallfahrtstage, und wenn die
für den Neujahrstag auch gänziich aus dem üblichen Rahmen
herauszufallen scheint, der Kern ist doch auch hier derselbe.
Es ist die Harmonie der Religion, die hier ausklingt, alle
Feste sind geweiht durch die Einheit des gleichen über-
ragenden religiösen Gedankens.
Der Ursprung dieser Tefilla führt in ganz alte Zeit.
Es ist nicht viel, was wir von ihr wissen, nur Stichworte
verraten die Quellen, aber diese sind verhältnismäßig reich-
haltig und aus recht früher Epoche. Zur Zeit von Bet Hillel
und Bet Schammai, d. h. am Anfange unserer Zeitrechnung,
steht die Siebenzahl der Gebetstücke (Eulogien) patr seil, mm
fest, controvers ist nur die Frage, ob am Sabbat ein be-
sonderes Stück eingefügt werden, oder ob seine Erwähnung
Die Tefilla für die Festtage 427
mit einem der vorhandenen vereint werden soll; die letztere
Ansicht bleibt maßgebend1). Von diesen sieben Stücken
gehören die drei ersten und die drei letzten der täglichen
Tefilla an, neu ist nur das mittlere, das vierte Stück. Die
Mischna nennt es orn nwnp2); nach einer viel erörterten
Stelle im Traktat Sofrim3), die sich hier in einem völlig
neuen Lichte zeigen soll, heißt es auch Dif?p4).
Der Wortlaut dieses Gebetes ist, abgesehen von den
bei der Überlieferung alter Texte stets vorhandenen kleinen
Abweichungen — auf die hier infolgedessen nicht einge-
gangen werden soll — in allen Riten der gleiche, nn«
Uflina und ih jnm als Einleitung, «n rby als die spezielle
Festbitte, tinpvm mit dem vom Sabbat her bekannten uttHp
•p/nxaa als allgemeine religiöse Bitte. Wie gesagt, lassen
sich, wenn nicht die Texte, so doch Stichworte daraus schon
in alter Zeit belegen, umna nna wird von Ulla bar Rab in
Gegenwart von Raba5), also ca 330, als ganz bekanntes
Gebet gesprochen; )ih jnm wird im Anschluß an die von
Rab und Mar Samuel, ca 230, verfaßte »Perle« lijmm er-
wähnt6), «m r\hv freilich kommt im Talmud nicht mit Namen
») Tos. Ber. III, 13 (S. 7, 13 ff.): rra naura nrr6 bnw aia öv
■mj? •'Des aits ov *?tn iöjw *:aa raw bte -iöiki rwiö© bbsna anam "köw
d^d&i na'tf bvz b'nna ratr bbsna an&\x b^r\ rvai naw bwa "rnnöi
nawn P*ipa nna cmn ^k "ibw jn: n ysaKa ovn nwnp -iäini natp b^a
D^ötm blPWI, vgl. Beza 17 a.
*) Rosch ha-Schana IV, 5 (32a), vgl. auch Anm. 1.
3) Sofrim 19, 7 wfeppVTk
*) Darauf haben Laudshuth, Siddur S. 468 und Rosenthal in
Graetz Gesch. IV, S. 470, III. Aufl , hingewiesen.
6) b. Joma 87 b: umna nnaa nna K3*n ,Töp rrn: an ia xbiy
rvnatri irrt na las n»a D^Dl. Er betet vor Raba (über nm vgl. meine
Studien zur Gesch. des jüd. Gottd., S. 34 ff.) auch Pes. 117 b, fragt
ihn und Abbaje über Toravorlesung Meg. 21b und 24b.
e) Ber. 33b: . ..uimm Sana fcmna \b vspm KWT "?Kiöffi ano
•131 i:b jnm. Zu UTlIffl vgl. mein Eingang und Ausgang des Sabbats
nach talm. Quellen in der >Festschrift zu Isr. Lewy's siebzigstem Ge-
bMrtstagc, S. V (187).
428 Die Tefilla für die Festtage.
vor, wird aber gewöhnlich hinter der Bezeichnung trtn bw
tjnn1), die aus tannaitischer Zeit stammt, vermutet. iJK'tP.Ti
wird ebenfalls von Mar Samuel genannt2), von der Bitte
Tnixaa iwip spricht ein Amoräer des folgenden Jahrhun-
derts3), während die Eulogie DUöTfll bsw «npa ebenfalls
bereits von dem aus Babylonien stammenden Tannaiten
Nathan erwähnt4), allerdings in amoräischer Zeit noch
umstritten wurde5J.
Die Mußaf tefilla beginnt und schließt wie die übrigen,
nur hat sie zwischen )lh [flfll und UK'ttMi an Stelle von
Km nbw einen anderen Einschub: lrKBfl »»Dl mit den Bibel-
versen über die Opfer der einzelnen Tage und pm 1^3 mit
der Bitte um Wiederherstellung der Wallfahrt. Die Änderung
und Erweiterung der Formel für die Mußaftefilla geht auf
Rab zurück und wurde von seinem Kollegen Mar Samuel
bekämpft6). Die Erweiterung sollte in der Rezitation der
Opferverse bestehen, und als Einleitung dazu wurde ein
einfacher Satz, wie jtjdib pipi dt 'Ton irinain n« yxb WPJi
als hinreichend betrachtet7).
*) Ber. 49 a und b: uhi u>xi btt? i"3n xSi nyta schon von Rab
und Samuel als ganz bekannt gebraucht. In der Baraita Tos. Ber. III,
10, S. 7, 6 steht allerdings üVfl nwiip dafür, Sabb. 24a, Erub. 40b,
Beza 17a jnixiai pj»ö; R. Chananel zu Beza zitiert löixi V39 b^snai
Kai rby xix.
s) j. Ber. IX, 3 (13d): "ps iox bxiö» . . . (seil, um na) n'rsna
1J»r»m löi1? zum Text vgl. Ratoer, S. 203 u.
3) b. Pes. H7b: »pmat&a wip xmbsn . . . kii n nö«.
*) S. oben S. 427, Anm. 1. In Beza 17a ist hinter iyi der Name
(fli ausgefallen; allerdings betrifft da die Eulogie das Zusammentreffen
vom Sabbat und Feiertag.
6) b. Pes. das. : "naxpi "am xmsöisi "aob xrrropx X3i iök
trb xraxi d-jöt.ti "?xit£r trnpD xpiTpa pai xrnbita pa «ata xnva . . .
"oi 'iDi ^nw fcnpa xsia xö-o pa xnatP3 pa xmbin xsnx xjx. Vgl.
dort auch die Erzählungen über die wirklichen Vorkommnisse.
e) j. Ber. IV, 6 (8 c): px 'öK bxiötti i3i na vinb 1/iit iöK an
nai 13 unn1? inac»
7) Das. vgl. Rosenthal a. a. O. 472. Der Fragesteller ist kiti '1
""DT1 'i Wj% Abweichende Textüberlieferungen bei Ratner, S. 114 f.
Die Tefilla für die Festtage. 429
Dieser Satz ist fast wörtlich noch im Gebet erhalten,
aber es kam eine Einleitung hinzu, die die Erklärung enthielt,
warum keine Opfer mehr dargebracht werden (m*&n *jbot>,
und die Bitte, den Tempel und den Opferdienst baldigst
wiederherzustellen qma^o Tiaa r^»J); beide aber sind nicht
Selbstzweck, sondern nur Mittel für die Überleitung zur
Rezitation der Opferverse, die nach einem agadischen Aus-
spruche als vollgiltiger Ersatz für das Darbringen der Opfer
angesehen wurden1). wby am jarn nba ist dann eine diesem
Stücke nachgebildete Bitte um Wiederherstellung auch der
Wallfahrt. Das Gebet für den Neujahrstag hat noch eine
andere mit dem Charakter dieses Festes zusammenhängende
Erweiterung, die eine besondere Abhandlung erfordert.
In diese einzigartige Übereinstimmung der Texte mit
den Quellen tritt störend, was in der ausführlichsten Quelle
über die Festgebete überliefert ist, in Mass. Sofrim. Dort
heißt es zunächst: BH,a VDtn$> *pa D133 P ^cna P nDs:i
njnaa jna ioi« nyia b& lbinai ntn nnan jn ava nrn unp «npe
13 T3tö p«i nrn msyn *p*avn ava nai« »yawi ara nrn »ji^b
nrn Jinnatpn an avai nrn ^*rp «tpa B"*a *iai« ropia» ana . ♦ . an
(Sofr. XIX, 3. 4, ed. Müller, S. XXXVI).
Für Sukkot fehlt die Angabe, was bei der Mangel-
haftigkeit unseres Textes von M. Sofrim nicht verwun-
dern darf.
Der Text lautet in den Turim2): *ps D'aa p n^a/ia p
nrn 'jV?a m dv nrn tenip «ipa aiö av va?n^, und mit dieser
Variante läßt sich der Satz mit unseren Formeln schon in
Einklang bringen. Denn wenn auch nrn ttHip xipa 3TB dt n»
nicht allgemein üblich ist, so ist es doch aus Amram3)
') Daß sie im seph. Ritus heute nicht rezitiert werden, dürfte auf
Kürzung aus späterer Zeit beruhen. Amrams Siddur hat die Bibelverse
vgl. Abudraham zu Mussaf der Feste.
2) B"V1 miK § 582, vgl. Müller, S. 264, Note 10. In Manhig
m 'n § 5 g. E.: 'j6a dv nn nnpiaa n»v? -psw b'hbib rrcon tnxö pi
nn »np »opia dv pni ron.
3) Vgl. 44b: ntn »np K-ipe bib dv rx nn jroin dv nx;43a:
430 Die Tefilla für die Festtage.
bekannt und wird von den Sepharadim noch heute ver-
wendet ; allerdings geht dort der Name des Festes voran1),
nur Maimuni2) folgt ganz dem Brauche von Sofrim. Hin-
gegen ist der in Sofrim folgende Unterschied zwischen den
ersten und den folgenden Tagen des Pesach, abgesehen von
der Weglassung des B>*jp kiöb in der sepharadischen Liturgie,
gar nicht bekannt. — Ebenfalls nur aus der sepharadischen
Liturgie, die sich hierin von allen Gebetbüchern unterscheidet
und allein mit Amram übereinstimmt, läßt sich ein Teil der
Angaben für Neujahr und Versöhnungstag belegen. Die wich-
tigste Bestimmung freilich, daß man am Neujahrstage auch
desNeümonds Erwähnungtun muß, istselbst dort nichtbefolgt.
Es heißi Sofrim XIX, 5 (das.)3): ora vsmb "px nmn tPtna
ara1 ntn nwr\ d*«t orai mr\ anm vmai nm trup «ipo aio
rwn piam *vaitP vpr\. Auch die Mischna in Erubin III Ende
erwähnt tnn u>«i in einer Formel für den Neujahrstag, die
babylonischen Amoräer jedoch erklärten das von Anfang an
im Gebet für unstatthaft4). Während es so aus dem baby-
ionischen Ritus und danach aus allen Gebetbüchern ver-
schwunden ist, hat es sich in Palästina, wie Sofrim zeigt,
offenbar erhalten. Endlich heißt es für den Versöhnungstag
(Sofr. XIX, 6): ova tbw *6x . . . »t -a pvaro p« Diman ora
bms omni ntn ppn rbw ova ntn nwpn oiat ova ron t^ip mpö
^y "|ta DiYJHPd by "icaai D'arna ^sw iöjj maiy^ ti»/miy? nb^D^
#ip wipw D*JO?ni nmoan mati ^siä>' cnpa p«n tat Auch diese
Formel findet sich in keinem Gebetbuch.
umir, fna jöt nin mrnwn Jn ov nx könnte allerdings den Anschein
des Fehlens hervorrufen, aber hier ist wohl nur das Mscr. abgekürzt,
wie es auch bei Peßach sehr kurz ist, vgl. dagegen Marx, Untersu-
chungen etc., S. 23 zu 37 b.
«) Vgl. Müller, das. Note 11 ff.
*) r\:vn b-D ni^en -na z. St.
') Der Text (vgl. Müller S. 266) ist nach Machsor Vitry, S.
360 zu verbessern und danach hier zitiert.
*) Erub. 40 a sagt R. Huna (ca. 270) l^sbi ]*ab r6ij? nnN pnsT
vgl. Müller das., Note 16.
Die Tefilla für die Festtage. 431
Aber was bedeuten diese geringfügigen Abweichungen
gegenüber den Schwierigkeiten der nun folgenden Stelle
über die Tefilla der Festtage : ftim pfc'Ki Di» po^pött* atrai
pw rraiyai nruea nsra n^cru caiö co» po^po "ja "ma bv
wk* " «3« vnrmi ir$>i» ^ma^a "naa rta irma« »n^m mfo* wib'p
^«w lay enpo "|na a'amm d»*t6 ainai utrrrm "Di «an n^' bb»
«Hp 'tnpai D'iOTni mau» nnai (XIX, 7 das.). Zum Text ist
zu bemerken, daß Agudda ijna — pa^pat» at»ai wegläßt und
a" pa^pa "ja beginnt1) ; Elia Wilna liest 310 an prai av
p*in«n2). Diese kleinen Verbesserungen helfen wenig, der
Text spottet scheinbar jeder Erklärung. Daß die lange
Eulogie von der durch Tannaim bezeugten abweicht, darüber
würden wir hinwegkommen, auch das neben nnatt» nyia
unbegreifliche a^ni? ainai würde sich durch Streichung be-
seitigen lassen3). Wie aber sind yitt^a "naa nb* und nby
«a*i neben einander zu verstehen? Wir kennen in den uns
geläufigen Texten nur das eine oder das andere. Und wenn
wir selbst K31 'by als durch seine häufige Verwendung in
den Text geratene Worte streichen, so bleibt die letzte und
schwierigste Frage, was hat "]ma^a *riaa rta mit nrua natt»
jvaijfl zu tun? Wir kennen es gerade nicht von diesen
Gebeten, sondern nur von Mußaf her ! Man müßte denn
vor den gewaltsamsten Eingiiffen in den Text nicht zurück-
schrecken und mit Baer lesen : wnbx «jk ima^a *naa nb* jhk
»'a:i nbvi et?4). Selbst der sonst so vorsichtige Landshuth
weiß sich nur dadurch zu helfen, daß er mit der sepha-
radischen Liturgie yizb nvy: DW wnblk «J« liest und die
drei Worte jvaijn nruo istv streichen will5). Auch Müller6)
findet «an nby in diesem Zusammenhange sehr auffällig
i) Müller, S. 268, Note 22; vgl. den Kommentar von Jak.
Naumburg, in der Talmudausgabe von Wilna, ed. Komm.
■) Das.
3) So tun Elia Wilna und J. Müller, letzterer liest dafür 'Dl.
*) ^x-ibp miar 'D, S. 352 ohne nähere Begründung.
*) ab ]VW 'C, S. 468.
«) 1. c. S. 269, N. 26, 27.
432 Die Tefilla für die Festtage.
und ist geneigt, es in Verbindung mit dem ebenfalls un-
verständlichen Dt£> zu lesen iiKIJl i"6yj Cttn ; ferner sieht er
in irmaK v6ki mftM den Anfang des Stückes i:*«an »jboi,
der durch Amram1) in dieser Weise bezeugt ist. Nach alle-
dem sollen in dieser Halacha als Stichworte die wesent-
lichsten Sätze der üblichen M u ßaf tef i 1 1 a angedeutet
sein. Und das, obwohl es ausdrücklich heißt: rttttDa istva
JV2-IJ7TI ! ! Einen Augenblick hat Müller die Möglichkeit in
Erwägung gezogen, daß sich in alten Zeiten das Mußafgebet
in der Form nicht von den anderen Gebeten unter-
schied2), aber er hat diese Idee nicht weiter verfolgt.
Endlich muß der neueste Erklärungsversuch von W. Jawitz3)
erwähnt werden, der geneigt ist, die ganze Stelle für ver-
setzt zu erklären, in 'Di n^J eine Erinnerung an lrKtan »jdöi
und in wnbx KJK eine solche an pm -j^o lr/iia« t6ki w<ib*
zu erblicken. So gering ist der Kredit, den der Text im
Traktat Sofrim bei allen Forschern genießt.
Auch diese schwierige Stelle — eine wahre crux in-
terpretum — hat jetzt ihre Lösung gefunden. Sie ist ein
Rätsel, nur so lange wir sie an den uns bekannten Ge-
beten messen, und klärt sich völlig befriedigend auf, sobald
uns neue Texte zufließen.
Dafür hat, wie in anderen Fällen, die Genisah von Kairo
gesorgt. Bei einer flüchtigen Durchsicht der in Oxford und
Cambridge aufbewahrten Genisahfragmente habe ich Liturgien
entdeckt, die sich auf alle 4 Festtagsgebete beziehen. Die
Feiertage sind bis auf Schabuoth sämtlich vertreten;
dieses fehlt nicht darum, weil die Gebete etwa abweichen,
sondern ausschließlich aus dem Grunde, weil es mir an
Zeit fehlte, in Cambridge, wo der größte Teil der Genisah-
Fragmente aufbewahrt wird, die Kästen für Pesach und
Schabuoth durchzusehen. Von den Texten liegen mir Pho-
») S. 41b.
*) a. a. O. S. 268, N. 24.
3) rvo-on -npa, Berlin 1910, S. 25 f.
Die Tefilla für die Festtage. 433
tographien vor; nur bei einem, den ich nicht näher bezeichnen
konnte (A, 3), muß ich mich auf meine Notizen verlassen. Kurz
vor Abschluß dieser Abhandlung erfreute mich E. N. Adler
in London durch Überlassung einiger Originale aus seiner
rühmlichst bekannten reichhaltigen Handschriften-Sammlung.
Ihm, sowie den Verwaltungen der Bibliotheken in Oxford und
Cambridge sei auch an dieser Stelle herzlichster Dank gesagt.
Die Texte sollen genau nach den Handschriften zum
Abdruck kommen, zumeist selbst da, wo sich Bibelstellen und
anderswo bekannte Gebete darin finden. Bei der überra-
schenden Neuheit dieser Tefilla schreckte ich auch vor
Wiederholungen desselben Textes nicht zurück; nur wenn
biblische Zitate mehrmals wiederkehren, sind sie durch
den Hinweis auf die betreffende Stelle der heiligen Schrift
abgekürzt worden.
Die Reihenfolge der Texte ist nach dem Kalender
geordnet, und zwar werden zuerst die anderen, dann die
Mussaf-Tefillas mitgeteilt.
A. 1) für Pesach:
Fragment E. N. Adler
2 Bll. 10 X 13 cm, 12 Zeilen
fol. la
a'tra D*no D^pa o'a^iy
_Woa bvn tiio rinn
io T^ö D'fia rrna D«n
cnon rrna —2 5
pai "|Btt> k*wi n/1« wnp
x tpnpn
"|ey ^«is"3 mm nnx
jvan pw jntai oy hin 10
»js^ Dtt"jni nwb ^aa
nanaa oaipm aiin
') Vgl. JQR. X, 656 ; piDl prn.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 28
«34 Die Tefiüa für die Festtage.
fol. lb
cnS \i\m »ro in nwx
nritfn crv c*»crö
c*3'& rmsoi o^prt rcx
»rii cn«n Dii« wy nva
D'TpTö *:*nbx *"" i:S jnni cna 5
n« |i»tr'? D*jm nn[ür]^»
dv r« mn enp x^ps er
aviaa trip "Hipö^i 3ib
"nym (*n^« 7*/nifta 10
iK-ip/i *irx »np '«ipc *•
»ins snmBa CDS
2 a und 2 b Mussaf zu Pesach beginnt bei Num. 28, 18 Ende
cm pm "^o
vnn 3*bdi 3iB \yhp
wie der übliche Text.
2) Für Rosch ha-Schanah :
Fragment aus Cambridge
Taylor- Schlechter Collection 10 H. 34, 2 BI1.
fol. 2 a
nsi -.ö«^ rwa hx mrr (siavi
tr*rna is«^ ton«" *J3 •?«
C3^> 371» snnS nn«3 »yavn
enp snpi: njmn p-:? pnaw
wjmi s^ iriiap nat6o ^: 5
lrntai '"'^ rwa onanpm
'3i froa^ö rh: irroa« »rr?»i
»ipc rn nn» "pa (*(3«n: dkd) 'ai Ktt'i
«nnai cif nptni banw 10
>) sie !
») Lev. 23, 4 f.
3) Lev. 23, 23 ff
*) In ganz kleinen Lettern hinzugefügt.
Die Tefilla für die Festlage. 435
nyipi nynn pisti (le'w
np "«-.poi D»3erm nnnr
3) Für Jom Kippur:
Fragment aus Cambridge
Taylor-Schechter Collection
(wahrscheinlich aus H 5 ?)
oy bis -jap nwa rnna nn«
ovanfe ps^ bao iran pur« mr
jv,t3d nanita emp/n smn 'ja^>
nrnni d«w 0*002*0 on^> jrmi »ro in
wjr •>«•« d'diö aisoi o"pn no«
|nm ona »m dikh djiim
Tra»i>3 (*]K tö3
imaks ii23 jtVj
4) Für Sukkot:
Taylor-Schechter Coliection 10 H42
fol. 1 b
naic 5« dt nnao maat 15
'31 *« ex: app»a p»o "ivbi b*i) \vvb Kai
*noe* w "i^en »r£>K -pars Thfc rrVrn
(8m^3t *D ixjana «C3 mna nn«i n/ien
5) Für Schemini Azeret:
1. Fragment E. N. Adler
4 Bll. zu je 14 Zeilen. 12 X 16 cm
fol. 3 a
anjnsbi
(*^>ir Dlp'l
n/iK *Änpn ^«m *n»fioi *po 5
in? cy ^ao "jap ^kws nmna
a) Einmal ist wobl S"BHn statt ü'iV zu lesen.
») Lev. 23, 27.
3) Wie ich geschrieben habe am Eingange des Gebets.
*) Er erhebe sich nnd spreche die Tefilla.
28»
436 Die Tefilla für die Festtage.
Dtf'am p?r^ bx n-acn jrnr*
ma^ao ponna caipm a-iin *xh
antr o'iactra ar6 jnm »rc "in
n^ija mxai D'pin na« nmni 10
nna »m Di«n an« nrr wk
o^jna luniia ut&k '", üb fnm
jik mn anp inpa dv nx nnar^
dv!?i nnaa>i? otn ms» vor er
fol. 3 b
■unina awaa »Tp unpo^i 3ia
dv3 v"^ iwk lanpfl d*b* (tapav
o3^> nw «np ripo «revn
ba »ti ms» *"»fc nr« onaipm
(2-]s nniöi wn *6 rniap naxba 5
'irarn vmh ov wp mtfena
urm pwi nxian nx 03bdr3
ptPXTi ara d'b* nyar V,H 3n nM
^yi p/ia» »jwn oral pnac
(3ava ibkj o'x-an -pay t 10
rix iana"i ayn rix r6a' »rävn
♦aiai o^rae» arv^nx^ laVi n^an
*n*rt» '•' n#j> *is>« nami ba ^y a^
nansi *iay fcmip»$n naj?
fol. 4 a
iDDa (*jnp»i "iax^> aina "|«np
cvn ja ova ov o'rosn min
wm pirwiri ovn nyi pvnin
*r&vn ovai tva» ni?aa> an
nx ("lten ♦BBtfaa b mar 5
nn^ni *ra»n ova rrm o'btt
>) Lev. 23, 36.
*) Das. 39.
3) I Kön. 8, 66.
<) Neh. 8, 18.
») Ez. 43, 27.
Die Tefilla für die Festtage. 437
nx n;;an by mnsn wy
»mm cra^r mi oynby
-)33 nb: u»maK »ahn uiota 10
Sj t» ir^y iwani ywn mnoa
irnsraji onan pa je ima a">p »n
w*n{»n »•' uK'am p« »rove djd
fol. 4b
jva s^it^i nana "p\y jrstS
nom D^>iy nnaty: i&Hpa
nSrn ^;2 imabm "|^a v" "prya
hkt y»a» *ia»i n^y uvfo* «:«
uwdi "rps* na»» yae»» mni 5
-]uik iry "jap jviat w:npB
-v,; -jmy iSiar "j^rn -jenpa
a»am^i nai»$» ysA whm ", "]/iö»^b
»a*a» Dva ntn trip «ipa (*oi»a
lynhx *'? naio^ 13 wöi rwi Jmy 10
ira^a D'cn^i nanak a wnpu
^em ^xn (2nnm pn u*n^K "' nein
»a iyyy ybx »3 u»jma u& (2nnm
nnmpj ■paV nn« aimi pari ^«
2. Bodl. Heb. e 36 (2715) no. 1.
Cat. col. 123.
fol. 2 a.
(3^k nfo $>« fna ^ 10
'ii mna nn« * vmpn b*n
dt n« nnae^ a^nyia nan«a uvi^m '» üb jnm
n?n mxy 'J»a» er /ix ntn wipEmaa
a) Von hier bis r*5ty auf einer radierten Stelle, weil'derjSchrei-
ber offenbar aus einer Vorlage einen falschen Feiertag abgeschrieben
hatte.
■) sie!
8) Er schließe daran an die Tefilin bis
438 Die Teiilla für die Festtage.
im r\D2 vnp tnpobi aus aw ora>i nnarS
ora -"'b rwx lanpn 0*0» (lnya;r 15
rw« o/iaipm oaS mr *np mpo wovn
'«:i wyn xS miay n:xSa Sa x\i msp V,S
d3edx3 Tai^n sn[nS er i*»y rwana (**[«]
fol. 2 b.
Dva d*d' nyatr »' sn nx lainn pxn ranan rot
7*73j? t byi pnaw »rarn ovai pnae» (Viral
©w djm rix nStr *j*Bvn (3ova iaxj mraan
Sa Sy aS arai cna» Dfr^nife ia$»*i -|San nx
ley ^«-urSi nay *inS »" ?wr irx rjaran 5
■Sxn Ann tb*D3 (**npM naxS aina "jttnp nanai
«Ti pinxn ovn "?yi prirai dwi ja ora or
: BBtt?a3 m$y »i*B*n m*ai d*b' nysr :n
nahm *2*Dvn ora rvm d»öm nx (5iSa'i wi
ca'aSr inn cavi^p nx naran Sy o'nan i»r 10
")3"i rta 'ax tiSki u*nta • cmSx m dsj aanx »iwrn
jnsp »jw or nxi 'w enpa "» x"a
«np *mpoi D'jarm nnar Hpiai
's*n nrj? (6,Sx mSsSx cn'i
fol. 3 a.
nnar njnoi m«p -ratr er nxi Ski»' x -pa »•» x*a 2
e»ip •otsdi c:ani
vgl. Bodl. e 34 fol. 63 a, S.
3. Taylor-Schechter Coli. 10 H 41.
fol. 2 a.
«nna er itpy ntrar- ■)« wpn xS (Vnap
nx unn pxn nxian nx caacxs »yavn
*) imina ainaa. Lev. 23, 36.
J) Das. 39.
8) I Kon. 8, 66.
«) Neh. 8, 18.
*) Ez. 43, 27.
fi) Er beende die Tctilla bis
"•) Lev. 23, 36 Ende usw. wie oben.
Die Tefiüa für die Festtage. 439
btji \wav \msr\n ara n-r nya» M :n
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440 Die Tcfilla für die Festtage.
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B. Mussatteliila.
1) Für Pesach.
Bodl. Heb. g 2 (2700).
Catal. col. 92.
fol. 21a.
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21b.
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■/na« »nVm w»nb« 'ai '3T ^3 'v '3 'eye (4an^tt» 'na
ui&run nna»a» nan«a ^>« pna «in (6«aa
') Und dies ist die Mussaftefilla.
») = a'npn1? nn vnp «ipo ov nx.
s) = -jrniro SVD3 Num. 28, 16—24.
*) Deut. 16, 16.
') Wie oben steht bis
Die Tefilla für die Festtage. 441
enpo .2 ('"in '-pi 'v 'an 'n r\» yttb nryai 12
mW« p/i3*i .(^'ip ■bi 'm '» 'Di mnan am ^«n»1
(3m22 mbx ^na nrua nhx\
22 a.
(4171p' ^in F|D1D PTA» • . -11
ijnoi nnsrb d'ijnd nsnxs lrnta m iab fnm
nwa '22 ppio pnp .12 yipnfc iraton an
2) Für Rosch ha-Schana
Tayl. Schecht. Coli. 10 H 31
(s. ob. S. 434).
fol. 2 a.
rutwi »ai ppia 13-
.namn2 rm«i tpnpn ^«m .Tnai pa (5ij?2>
tnm? inx2 *ra»n (•«nroi
fol. 2 b.
na^a ^2 D2^ mm tnp «ipo 1
mm njmn er irwi *6 moj
mma m*6 r6u> cütj?) :d:^
etc. Num. 29, 2—6.
mma nnfc ceb»d3 Dmawi 12*
»fAw UtAn üb mm
bi? mSa im2^a n^>a Trwan
*) = rip *&npöi ö^btrri nnatr ■Hjnar
:i) Und er beende die Tefilla. Die Minchatefilla ist gleich der
für den Morgen.
*) In der Mussaftefilla der Halbfeste spreche er.
s) Nachträglich mit kleinen Buchstaben zwischen die Zeilen
geschrieben.
«) Num. 29, I.
442 Dje Tefilla für die Festtage.
3i Für Jörn Kippur.
1. Bodl. Heb. f. 21 (2727, No. 11)').
Catalog col. 142.
fol. G4b.
b*r\ '2 ny5? •"» 'pw zz tb\sh * 6
mna nr\» .vnpn
»»a iy "jflia^a rta irrta« täki u*"k
hm irma« t6ki w* < (fu»«w^>
'ai *m^w nwo cy 10
2. Bodl. Heb. e 40 (2705, 16)').
Cat. col. 97.
fol. 55 b.
-[ins jn pai
n/nna nn«
s?«h «arm pn« nnan«
nrens cy rra m»
3. Bodl. Heb. e 41 (2721) no. 13.
Cat. col. 136.
fol. 116 a.
'y *py bitrw (nai u*ni3« p*o?
1^13» I^dm -jrnpa "prot fr?
»" "|ii3 inara *jr.n^o ]n-y "java
cv »m D'om^i mib^ "po^ ur&a
nrn anean eis nr ron enp &npa 5
pyn n^na ai» nrn jiyn rwv^D nr
w \y ^'D nm pw maa or nrn
uvwfc ewii r6rm irnra
•naan "ia*in n« uvita *'» ufc a^pi
*) Die dort mit dem Fragezeichen versehene Augabe »for ',T1«
ist demnach zu berichtigen. Vgl. zu diesem Fragment Rivista Israeiitica
JV, 1907, S. 188 ff.
2) Gemeint ist bis ttnpw^ WITOrYwin; vgl. weiter S. 444.
3) Vgl. Elbogen, Studien zur Gesch. des jüd. Gottesdienstes,
S. 96 f., S. 170 f. Obiges nach Angabe des Katalogs.
Die Tefilla für die Festtage. 443
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fol. 116 b.
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mrra "jap ^niera %a n^a i;anan ja
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rwyji wf&run panai narma "|«np
pipi ar »i*ön ?rnain n« y:c^
r«i ?kw snpa ** n/i« -jna spio 10
pj?n nrr^a ar ns mn omean Dia av
n^ai ^ma nrn \vjn n^na ar n« ntn
■jay nmy^i lrnax rmiy^ u*nwj£
'thjh 10« *naya onama ^xw JV3
.('ama» *Vk p'ita pa»i uv£« "» rwi 15
nwriii ^x mn top*i 117 a
4) Für Sukkot:
1. Tayl. Schlecht. Coli. 10 H. 41
(vgl. oben S. 438 ff.)
fol. la
in« a'ty YW o»»aa "iew (^nym«?
nawi nnroa Tann n^iy "ra^a riKorr
i) Lev. 16, 30.
») Micha 7, 18—20.
s) Bis zum Ende. Dann spreche er die folgenden Tachanunitn
(= Selichot).
<) Num. 29, 15 Erde. 16.
444 Die Tefiila für die Festtage.
t^d nmaba "naa n^>a um3M *n^*i uvt^k
u'^3? »warn jwim mnoa nai? torw ^p
lantatiDJi D»un paa uiw aipi »n bi "yvb 5-
nry p'i6 u»nta " uwani p^« wmj d:d
oSy nnaipa nanpa rra o^wrvh nro
^aa imabai -|^a bin** »m^n 'n T8»j?e naan
n«i' s?\r Riai nfcjr imbi «as .mwo
pia? «»anpu wxmi ipc' -la?1 po»* natv 10
-jEnpa i^a%n fina p»p bmir n*a "|oy
naiö^ "paD$> "jjiö'Vb "pa -|/ny "f?iar -jawa
an ova n?n enp xipa ara D'om^i
*aipa ia\-6« « naia^ 1a lanai nrn mron
iot£m 'n nn« noin laaVa o'arn^ naia^ ia 15'
uy»im ia^y emi hom hin rmm jan
t^k »a ii»nnsH3 ia^> rmm u»an warn
.ntnpa "pa^> nn« oinm pari S« *a u»rp
mapn an dv nrn tenp »ipa nr vn
w/iyra^ t>«m n^rm ia*jmx ^aV ppi epo nrn 20
fol. lb
•pas^> nma d«n U'-iiko maa van u»a»jn
■jmi/ia ainaa !3*^n 'aro ri^ra
»■» *:a ins nma? ^a nm» nara c*ayc Ob^ip
anai matcn ana nna' i»k mpaa "jm^ti
:c nx nur t6i niawn anai niyia#a 5
■pmw 'n nDiaa it nanaa »*n ,opn »"
ns ut&m M ux^m ,*]^ j/u ir«
jvam me« *i#Ka a^tj^ rnnyia roia
mna T,ay bnv a »a nbo iaa*ian p
u-nain n« ras^ mw?ai /irvp iam«i 10
»" nns ra .spie \zy\ dv 'Tan
nnar »npiai mron am ?kib>* tnpa
.trnp '«ipai tArm caarm
.(sjiim^36m i:k 'f?« ia»rr?K »n ran
J) Deut. 16, 16.
*) Bis zntn Ende der Tefiila.
Die Tefilla für die Festtage. 445
2. Fragment E. N. Adler
(s. oben S. 433 u. 435 ff.)
fol. 1 a
»nbai vmb* .nawi nnnaa (h'ann
$>9 -pba Tnia^a rnaa n^j u^na*
n*bj? «»am pcm mnoa Tay ^«i»»
onan pao unne aip *n ^a (sie!) tj;
rairani ps wra oaa lriranui 5
ii-a d^emtVi nana tt? p»j£ uf&i v>
■ppyo noiri aSij? nnat^a -jttnpa
uy&m n:k rbwa $>aa ima^>ai -|ba *"
vat^ mm nur &»r wa*i r6ir
u. s. w., s. S. 437 mit folgenden Abweichungen — es fehlt
hier hxw rra hinter Tay, es fehlt fwo, "|BHpa steht vor
I^dm, vor raa^« (z- 12) wö* '" ,ia*r&K "» nein (Z. 15)
ia$> npm kam \na (Z. 16—17).
fol. lb
m» wi nnsnpa "pa$> nn» mrm
nrn mann an or nn t^-rp «ipa
psni nirrm u*nnat ba^> ppi pjid
u**ukD Jvaa vwi irrjn u'njnvrä
ia»Van *aj?e tri^tra "piA ntna dkm
D»oya »lba» imina ia^y ainaa
usw. Dt. 16, 16
na«a an nran anai
Dt. 16, 17
-b \n: w« ynb» »» naiaa rr
2a
■pj>ta nana n« «»mj« » uttHerm
iamK nrnna u. s. w. m^&'a
n-atri nanxa ^np njnai nrwrp
^kiü" anpa »'» rm« mia 0iar6na'r!
D'astm nnetr »tjhdi roaon am
») Num. 29, 16.
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446 Die Tefilla für die Festtage.
3. Fragment E. N. Adler.
Das. 2 b.
Brnpn 'ram • rrnai * pa
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d a^ipnb nrn maon :n "unoa 5
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npain me> »aa c-rraa dw o%b*
DiT2mi Dnrooi 4 d'ö'o/i trs?
c-cca: ct::^ d^'K^ oneb 10
n*»n *?n« d*tp twi • ooroa
dtomi nnruDi Tzr\r\ r\by laSe
r»b«nb8 cn
-.trj? vwy c*-c »r^rn (4ovai
]) Und er beende die Tefilla.
*) Die Mussaftefilla reicht bis
-) Nnm. 29, 17—19.
4) Das. 20.
(Schluß folgt }
Ble Hamen dar Frankfurter luden Ms zum Jahre 1400.
Von I, Kraeauer.
Mit Recht hat man von jeher den Eigennamen bei
allen Völkern eine hohe Beachtung geschenkt. Denn sie
sind nicht etwas Zufälliges oder Gleichgiltiges, son-
dern ein Spiegel der Anschauungen und Vorstellungen, die
die einzelnen Völker zu verschiedenen Zeiten beherrscht
haben. Daher war überall die Namensgebung als ein wich-
tiger Vorgang betrachtet und wie bei anderen Völkern auch
bei den Juden mit religiöser Weihe umgeben. Die Ideale,
die man in sich trug, seine Wünsche und Hoffnungen prägte
man in dem Namen aus, den man dem neuen Weltbürger
mit auf den Lebensweg gab. Darum bergen die Namen,
besonders in der Jugendzeit der Völker, »eine geheime Ge-
schichte, es sind Annalen in Chifferschrift, zu welcher gei-
stige Forschung den Schlüssel gibt«1).
Für uns sind die Namen der Juden ein Beweis dafür,
daß sie sich nicht ängstlich von der Außenwelt abge-
schlossen haben, sondern an dem Kulturleben der Völker,
unter denen sie wohnten, mehr oder minder Anteil nahmen;
mit deren Sprache eigneten sie sich auch deren Namen an.
So haben sie bereits zur Zeit der babylonischen Gefangen-
schaft Namen von den Babyloniern und von den Persern,
in deren Mitte sie weilten, entlehnt. Die Herrschaft der
Griechen, der Ptolemäer und später der Seleuciden brachte
ihnen griechische Namen2) und mit der zunehmenden Ab-
J) S. Namen der Juden, in Zunz' gesammelten Schriften, Band
2, S. 2.
*) S. bei Zunz a. a. O. ein Verzeichnis solcher von Seite 5 bis
Seite 10.
448 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
hängigkeit von Rom drangen auch römische Elemente in
die Namensgebung ein. Zur Zeit des Geschichtsschreibers
Josephus finden wir in Palästina ein buntes Gemisch von
persischen, syrischen, griechischen, römischen, altbiblischen,
nachexilischen und neuhebräischen Namen. Zuweilen ging
der fremde Name neben dem einheimischen einher, wir
haben dann einen Doppelnamen1).
Das Mittelalter änderte daran nichts. Obwohl die Kirche
auf den Konzilien und den Provinzialsynoden sich bemühte,
die Juden von der christlichen Umgebung möglichst abzu-
sondern, nahmen diese auch solche Namen an, die bei den
Christen üblich waren. Ebenso bedienten sich die Juden
unter moslemitischer Herrschaft arabischer Namen2).
Im Mittelalter bis tief in die Neuzeit hinein führte die
Mehrzahl der Juden nur Vornamen8); man bedurfte also,
um Verwechslungen zu vermeiden, noch besonderer Unter-
scheidungsmittel, auf die wir später eingehen werden.
Schon frühzeitig kam der pietätvolle Brauch auf, Namen
der Verstorbenen den Nachkommen beizulegen, in der Weise,
daß der Enkel nach dem Großvater väterlicher, seltener
mütterlicher Seite genannt ward. Mit der zweiten Hälfte des
Mittelalters achtete man besonders darauf. Ferner bürgerte
sich die Sitte ein, den Knaben bei der Beschneidung mit
einem zweiten Namen — Zunz nennt ihn den kirchlichen4) —
J) So Jojakim-Alkimos, Salome Alexandra, Alexander Jannai usw.
2) Die Belege hierfür bei Zunz a. a. O. S. 21 und 22.
3) In Frankfurt hatte erst das fürstprimatische Edikt vom 30.
September 1S09 bestimmt, daß sämtliche Schutzjuden bestimmte deut-
sche Namen führen sollten. Die Namen Abraham, Moses, Eiias usw.
sollten künftig nur als Vornamen gebraucht, die Söhne denselben Fa-
miliennamen wie der Vater und der neu angenommene Familienname
bei Unterzeichnung aller geschäftlichen Akten allein gültig sein. (S.
Stricker in seinem Auisatz über Judennamen in Mitteilungen des Ver-
eins für Gesch. usw. IV, 455).
<) a. a. O. S. 25.
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400- 449
zu versehen, mit dem er zu den gottesdienstlichen Funktionen
in der Synagoge aufgerufen wurde und der sich auch auf
den Grabsteinen findet.
In manchen Fällen läßt sich eine Beziehung zwischen
dem bürgerlichen und dem kirchlichen Namen nachweisen,
sei es, daß diese die hebräische Übersetzung jener sind,
wie Hirsch = Zewi, Benedict = Baruch, Friedel = Salomo,
oder daß sie mit ihnen der Bedeutung nach verwandt, wie
Gottschalk = Eljakim, oder dem Klange ähnlich sind, wie
Kaiman = Kalonymus, Bonam = Benjamin. Bisweilen ge-
hören sie symbolisch zusammen, so Wolf = Benjamin,
Löwe = Jehuda1). Aber in den überwiegenden Fällen
herrscht bei der Auswahl der kirchlichen Beinamen »geradezu
Willkür«. Wie hängt z. B. Gumprecht mit Mordechai, Süß-
kind mit Alexander usw. zusammen ?
Der bürgerliche Name war ausschließlich für das ge-
wöhnliche Leben maßgebend, nur ihn kannten die Christen,
er allein findet sich in den Urkunden und in den Aufzeich-
nungen der Behörden.
I.
Beschäftigen wir uns zunächst mit den Namen, die
sich auf den Grabsteinen des hiesigen israelitischen Fried-
hofes bis zum Jahre 1400 finden2). Es sind deren 75, von
den darauf befindlichen Namen gehen auf griechischen Ur-
sprung zurück:
A.
Alexander
Fifis (aus Phoebus) (Wenn es nicht vielmehr aus dem latei-
nischen Vivus3) stammt).
>) a. a. O. S. 26.
■) Herausgegeben von Horovitz, Die Inschriften des alten Fried-
hofes der israelitischen Gemeinde zu Frankfurt a. M.
*) Vgl. die Bemerkungen im metf 'D s. v. V2V.
Morst s Schrift, 55. Jnhrgang.
29
450 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400..
Gemma oder Gimma
Helene
Kalonymus.
B.
Auf lateinisch-romanischen:
| Bela
| Belt
| Bona
| Buna
Gente (aus Gentil)
Oliva
Senior
Sprinz (abgekürzt für Spiranza, Esperanza)1).
C.
Auf deutschen:
Adelheid
Blume
Brune
Brunchen
Edelin
Freude
Guda, Gutta
Gutheil
Jutta
Kela
Liebermann
Meittin*)
Minna
Roslin
Schune (Schoene)
Seligman
Susze (oder Suse ?)3).
') Oder deutscher Name = Sperber ? (s. weiter unten).
■) So ist für Meissin zu lesen, s. Horovitz I. c. S. 754, Ergän-
zungen Nr. 30 und Zunz a. a. O. S. 40.
s) Suse wäre Abkürzung von Susanna, also hebräischer Herkunft.
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400. 451
D.
Hebräischer Herkunft:
Aaron
Abraham
Ahahu ?
Ascher [Lemlin, Senior]1)
Asriel
Baruch
David
Elchin (aus späterer Zeit)
Eleasar [Lasar]
Elieser [Liepman]
Eljakim [Gottschalk]
Ephraim [Fischel]
Hanna
Jakob
Jekutiel [Kaufmanj
Joel
Joseph
lsaak
lsachar
Juda [Lewe, Lob]
Levi [Lieberman]
Menachem
Meschullam [Phoebus]
Mirjam
IYlordechai [Gumpel]
Mose
Natan
Nehemia
Salomo
Samuel
') In eckigen Klammern setze ich die Namen, die vermutlich
im gewöhnlichen Leben gebraucht wurden, so heißt es auch auf einem
Grabstein Levi, genannt Lieberman.
29*
452 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Sara
Simcha [Bonem, Simon]
Simeon )
Tanchum ) aus sPäterer Zeit
Thirza
Uri [PhoebusJ
Zerlin (Verkleinerung für Sara)
Unter den 28 nichthebräischen Namen auf den Grab-
steinen finden sich nicht weniger als 22 Frauennamen,
unter den 17 deutschen Namen 15 Frauennamen. Am be-
liebtesten war anscheinend der Name Bella. Das Beiwort
heilig bei einigen Namen deutet darauf hin, daß sein Träger
den Märtyrertod erlitten hatte.
IL
Namen in Urkunden, Memor-, Gerichts-, Bedebüchern
usw. von 1241 — 1400.
Bevor wir uns mit diesen Namen beschäftigen, sei
eine kleine, nicht uninteressante Abschweifung gestattet.
Der Beiname Jude begegnet uns nicht selten während
dieses Zeitraumes in den zeitgenössischen Quellen, und es
ist nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich, ob damit
wirklich ein Jude bezeichnet wird oder vielmehr ein Chris".
Jude ist in diesem Falle entweder der Familienname oder
nur der Beiname, der später zum Familiennamen wurde.
In allen Ständen, sogar im geistlichen, lernen wir
Christen mit dem Familiennamen »Jude« kennen. Wie sie
zu dem Namen gekommen sind, wird sich wohl nur in den
seltensten Fällen nachweisen lassen.
E de 1 le u te :
Herman Jude, Johannitermeister in Frankfurt1)
l) S. Böhmer-Lau 1314, Dezember 12: Frater Hermannus dictum
Jude commendator superior domus in Frankenvord, ordinis predicti
(sc. saneti Johannis), Band II, S. 3, Nr. 4. Reimer, Hess. Urk. II, S,
17, Nr. 21 vom 18. November 1302.
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 14GÜ. 453
Ritter Jude1)
Herr Johann Jude1)
Wilhelm Jude, Edelknecht*!.
B ü rgerliche :
EHechin Jude in dem neuen Kloster4)
Fykelin, genannt Jude, Schuhmacher6
Folz Jude6)
Fritz Jude7)
Grede Jüdin (judden)8)
Hans (Johannes) Jude, ein Schütze8;
Hans Jude1*)
Henkin Jude11)
Henselin Jude12)
Herman Jude, von Echzil13)
Johann Jude, von Treysa14)
Juddechin von Butzbach15)
Klasechin Jude, Koch der Barfüßer16)
Klawes Jude, Grabenmacher (Grebner)17)
») Reimer a. a. O. I, S. 189 vom 4. Mai 1235.
*) Qerichtsbuch XXXV1I1, fol. 36 vom Jahre 1399.
3) a. a. O. XXXIX, fol. 21 vom Jahre 1400.
*) a. a. O. XI, fol. 54 vom Jahre 1371.
*) Böhmer-Lau II, 565 (Insatzbuch § 142) vom Jahre 1339.
«) Gerichtsbuch XXXVII, fol. 9 vom Jahre 1398.
7) a. a. O. VII, fol. 69 vom Jahre 1359.
*) a. a. O. fol. 124 vom selben Jahre.
») Rechenb. 1364, fol. 34, 42, 47.
'•) Gerichtsb. VII, fol. 55.
•») a. a. O. IV, 18 vom Jahre 1346.
'») a. a. O. XXIII, 76 vom Jahre 1383.
») IV, 27.
•«) VII, 20.
>») XXIII, 76.
'«) XII, 22 vom Jahre 1371,
f7) Gerichtsb. XXXVI, fol. 8 v. J. 1397.
454 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Konrad Jude, von Mainz1) (identisch mit Konzechin Jude
von Mainz)2)
Judde mollner (Müller)3)
Nikolaus Jude*)
Peter Jude5)
Peter Jude, Schmied von Rotenburg*5)
Rodechin Jude7).
Diese Anzahl ließe sich leicht noch vermehren.
Auch Zusammensetzungen mit Jude sind nicht selten.
Die in Frankfurt gebräuchlichsten sind:
Judinamme so Hartmud consecutus est super Judinamme8)
oder Henricus Judenamme hat bekant9)
Judingut, so Gunthir Judingut10). Diese Zusammensetzung
war sehr beliebt, sie findet sich öfters in den Gerichts-
büchern.
Judenhut, so Hans Judenhut11)
Katherine Judenhutin12)
Judenkoch, so Gobil Judenkoch13)
Judemennen, so Katherine Judemennen14).
") XX, 19 v. J. 1380.
2) XXIX, 63 v. J. 1390.
s) XX, 99.
<) VII, fol. 61.
*) Bedebuch 1364.
«) Gerichtsb. XX, 99.
">) XIV v. J. 1394.
*) IV, 156.
*) VII, 81.
'<>) Rechenbuch 1366, fol. 49.
«i) Gerichtsb. XXXII, 21 v. J. 1392.
lS) Gerichtsb. III, 97.
) 'JCIILLIISU. 111, VI.
13) Dieser Name findet sich häufig in den Gerichtsbüchern.
'*) Dieser Name findet sich häufig in den Gerichtsbüchern.
Die Namen der Frankfurter Jaden bis zum Jahre 1400. 455
Judenspijs, so Heile, Jekel, Katherina Judenspijs1)
Judenschisze, so Henne Judensch.2).
Versuchen wir nun, unser zahlreiches Namenmaterial
nach seiner Herkunft zu ordnen.
A.
Deutschen Ursprungs sind:
(Die deutschen Namen zum Teil verstümmelt).
Achselrad, 12418)
Adelheid, 1241 und 1382 Gerichtsb., verkürzt in Alheid 1371
Gerichtsb., 1393 Rechenb., Elheid 1375 Gerichtsb.
Ailke 1389 Ger., wohl identisch mit Aleka, Ger. 1333 und
mit Alike. Urk. 1303; Frauenname, entweder verstüm-
melt aus Adelheid (s. Aronius Reg. S. 334 und 335)
oder vielleicht mit Elisabet zusammenhängend.
Anselm, zuerst 1262*); 1288 ist ein Anselm Judenmeister
(magister iudeorum)
Ber 1330 Ger.; wohl identisch mit Bern, ein bei den Frank-
furter Juden sehr beliebter Name
Berner (aus Bern) 1349 Ger.
Berthold 1342 Ger.
Bischof 1347 Ger.
Blume 1395 Grabstein
Brune 1241 und 1368 Ger.
Brunnechin, Brünlin, Frauenname, 1342 und 1398 Ger.
Buerlin 1346, Burlin 1335 Ger.6)
]) Dieser Name findet sich häufig in den Gerichtsbüchern.
s) Dieser Name findet sich häufig in den Qerichtsbüchern.
*) Näheres über diesen Namen bei Salfeld, S. 386. Die Jahres-
zahl bezieht sich auf das erste Auftreten des Namens.
*) Im Judenschreinsbuch der Laurenzpfarre zu Köln von Hoe-
niger und Stern, S. 15, Nr. 78 und 79, Aronius, Reg. zur Gesch. der
Juden, S. 300, Nr. 720.
6) In der Schweiz, Bürlin, s. Augusta Steinberg, Studien zur
Gesch. der Juden in der Schweiz während des Mittelalters, S. 5.
456 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Bure 1340 (dafür auch Pure 1341 Ger.)
Burklin 1333 Ger.
Canolt (Abraham Canolt von Mainz 1378 Ger.)
Dabeieben (Dobeleben, Tobeleben) 1343 Ger. Der zweite
Teil des Wortes deutscher Herkunft.
Dube (Taube) 1340 Ger.
Eberlin 1392 Ger.1) Diminutiv zu Eber2)
Edelheit 1378 Gerichtsb. = Adelheid
Eichhorn 1394 Gerichtsb., Rechenb.
Ele, Elechin 1372 Ger., letzteres Kosename für Ella*
Elheide, s. Adelheid 1388 Insatzbuch
Ensgen 1372 Gerichtsb. (eigentlich aus dem hebr. Jochanan)
Ensechin 1372 Gerichtsbuch
Enselin 1368 Rechenb., in der Schweiz Ensi4)
Falk 1329 Bürgerb.
Fedechin (?) 1376 Ger.
Fischlin 1339 Bedeb., auch Fislin
Foss, Voss (niederdeutsch für Fuchs) 1374 Ger.
Friedrich 1241, 1349 Rech.
Freude 1379 Rech., auch Freyde Ger. 1364. In der Schweiz
Fröde, Fröide6), Koseform Fraudechin 1342 Ger.
Frommechin 1344 Ger.
Fromut 1339 = Frumit 1400
Fronkind 1385 Rechenb. (Nicht zu verwechseln mit Fro-
kind)6)
Frummler 1384 Ger.
Fuschs = Fuchs?7)
') In der Schweiz, Eberli 1. c. S. 6. Über den Stamm, s. Sa'feld,
Mariyrologium, S. 392.
*) Doch brachten ihn die Juden auch mit Abraham zusammen,
a. a. O.
») a. a. O. S. 392, Zunz 48.
*) Steinberg, S. 5.
6) Steinberg a. a. O. S. 5.
•) Salfeld, S. 394.
?) Zunz, S. 37.
Die Namen der Frankfurter Jnden bis zum Jahre 1400. 457
Gadehelp (Gotthilf) 1333 Ger.
Gans, auch als Beiname, wie Seligman Gans, 1392 Ger.
Diminutiv Gänschen 1391 Bedeb.
Gela, Gele1) (die Fröhliche) 1344 Ger., Diminutiv Gelechin
1344 Ger.
Gerhuse (Frauenname) 1347
Gnanna2)
Golda 1241 und 1316 Bürg., Guldin 1374 Ger., Goldine8).
Gadelieb, Gotlieb 1333 Ger.
Gotschalk, Gadeschalch (älteste Erwähnung eines Frankfurter
Juden) c. 1175-1191
Gude!, Gudela, Gudla, Gudda, Guddechin, Gudin, Gut, Gute,
Gutlin. Zahlreich in Ger., Bürgerb. und Urkunden, zuerst
1241.
Gudelicht? Jüdin 1348 Ger.
Gudelindis, Jüdin 1318 Ger.
Gumpracht, Gumprecht, Gumpert, erscheint zuerst 1330 Ger..
(»im Kampfe strahlend«)
Gutheil 1340, Kölner Schreinsb. S. 163 und 165
Gutheid (wenn nicht verschrieben für Gutheil) 1346 Ger.
Guthil 1241 (Frauenname)4)
Gutkind 1349 Ger.
Halda für Hilda 139J Ger.
Hase 1393 Rechenb.
Haseman 1387 Rechenb. 1388 Ger.5)
Heydorn (für Hagedorn?) Hedorn 1328 Bürgerb.
Heilman, in Frankfurt zuerst 1343, von da ab außerordent-
lich häufig in den Ger., Rechenb. usw.
Heldelin, Jüdin 1339 Ger.
') a. a. O. S. 48.
s) Salfeld 1. c.
■) a. a. O. 395.
4) Gutheldis in Köln 1270, s. Breßlau, Hebr. Bibliographie 1869
(Namen der Juden im Mittelalter) S. 54—57.
«) Zuerst in Würzburg 1298, s. Salfeld, S. 397.
-458 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Hemmelin 1399 Ger.1)
Hesse 1399 Ger.
Herz 1369 Ger.
Hirsch 1391 Ger.
Hitzlin 1340 Ger.2) = Hitzschla 1338 Ger. (= Huschlin?)
l(Y)selin.l365 Bürg.
Isfugel 1346 Ger.
Jodelin = Judelin 1342 Ger., verkürzt zu Jeidlin 1348 Ger.8)
Judeman 1328 Bürgerb.
Jütlin (Jüdin} 1394 Rechenb., Koseform für Jutta, Jutte
1241 und 1339 Ger., ein sehr beliebter Frauenname*)
Kaufman 1375 Bürgerb.
Kele = Gele 1344 Ger.
Die Kesemechirn 1394 Rechenb.
Concelin 1390 Ger.
Kosterman, deutschen Ursprungs?
Kruse 1333 Ger.
Kunse 1340 Ger. = Kunz (in der Schweiz Küntze)5)
Lebechin, Kosename für Lewe? 1398 Ger.
Lebekuchin 1341 Ger.
Lebelange 1374 Ger. (auch Lebelang0)
Lemmelin 1
i o^rhin 1341 Ger.7)
Lemcnin ;
Lybe 1340 Ger., Liebing 1335 Ger.
Lieberman (vereinzelt Lifirman) bei den Juden sehr beliebter
Name, zuerst 1347 Ger., in Köln schon 1135—52*1
') Er stammte aus Weißenburg (Mittelfranken).
2) Die Heitere, s. Zunz, S. 49, Salfeld, S. 398.
:i) Nach Salfeld, S. 400, aber Kosename für Juda.
*) Salfeld, S. 400 denkt weniger an das ahd. Guta als an eine
Zusammenziehung aus Judith.
6) Steinberg, S. 6.
6) Salfeld, S. 401.
7) Beiname zu Ascher, S. 402 auf Lampe, Koseform zu Lam-
bert zurückgehend.
8) s. Aronius, S. 350.
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400. 459
Liebman (Lipman), ebenfalls sehr beliebt, zuerst 1341 Ger.
Liebertrud 1382 Ger., Libirtrud
Man, Manna, Manne, Mans, Manes, Mens 1339 Ger.1)
Magetin = Matyn = Meitin = Metlin (Mädchen) 1382 Rech.8)
Menchen, Menchin, Mennechin 1328 Bürgerb., 1335 Ger.
(Ableitung von Man)
Menlin 1340 Ger.
Merkel3), Merkiln 1365 Bürg.
Merkelin, Jüdin 1362 Ger.
Merlin 1400 Ger.4)
Michel 1360 Rech, (wenn man den Namen nicht anf das
hebräische Michael zurückführen will). In der Schweiz
Michelin5)
Minna, Mynna 1339 Ger.
Minnegud, Mynngut c. 1262 — 1266. Aronius Regest. S.
300, Nr. 720
Minneman, Minman 1339 Ger.
Maseman, Masman, Mazeman, Moseman, Museman = Mo-
sesmann 1335 Ger.6)
Minnechin, Jüdin 1340 Ger.
Morlmynne (der zweite Bestandteil deutsch, der erste zwei-
felhaft)
Nasin für Nase?
Nennichen (Frau; 1364 Rech., Kosename für Gnanna
Ockia = Ocka (s. Förstermann S. 1174 unter Ocka, und
Salfeld S. 407).
') Vom althochd. Man. Daß dieser Name ursprünglich nicht
aus Menachem, dessen Beiname er geworden ist, abgekürzt wurde,
beweist die Schreibung Manna.
s) In Köln auch Megethin, Meitel. Aronius, S. 351.
s) Über diesen Namen, s. Zunz, S. 41 oben.
4) S. Salfeld, S. 404. Güdemann führt den Namen auf mittel-
hochdeutsch, Merl-Amsel zurück.
'■>) Steinberg, S. 5.
l) Thomas der Frankf. Oberhof etc. liest dafür beständig Na-
semau. S. auch Zunz, S. 40.
460 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Oswald 1348 Ger.
Oppenheimer 1392 Ger.
Ricze (Ritze) 1373 Ger., Koseform Rizelin 1385 Ger., auf and.
Richza zurückgehend. Andere Formen dafür sind1) Riczscha
1390Ger., Ritschelen 1394Ger., Ritschlen 1390Ger.,Rietslin
1397 Ger., Roszschlin 1291 Ger., Rutschelin 1390 Ger.
Rutschlen 1398 Ger., Ry(i)tschla 1391 Ger.
Richza 1241.
Rycza (Rytza) 1341 Ger.
Ryka 1379 Ger., Rykela, Koseform davon, 1400 Ger., eine
andere Koseform ist Richlin, nicht zu verwechseln mit
Rechlin (1383 Ger.), das mit Rachel zusammenhängt;
vielleicht gehört zu Ryke auch Rygeline 1376 Rechenb.
Rodebucz 1342 Ger., wahrscheinlich deutscher Herkunft.
Rußerman 1345 Ger., gleichfalls.
Salman, auch Saleman ist nicht immer auf das hebr. Salomo
zurückzuzuführen, öfters auch auf das deutsche Salman,
Gewährsmann, Vormund (s. Salfeld S. 412).
Sanderman 1384 Ger., der zweite Bestandteil des Wortes
ist deutsch
Schoneman (Scheneman) 1241.
Schona 1339 Ger., Schone (Frauenname) 1335 Insatzbuch8)
Schonewip 1341 Ger.
Sela, deutschen Ursprungs? = Selin, Jüdin3) 1344 Ger.
Seid, Seide 1335 Ger., 1346 Urk.
Selgman, Seiigman 1341 Ger.
Selekeit, Selikeit, Selkeyd (Frauenname) 1371 Ger.
Selis, verschr. für Selig 1379 Ger.
Senger
Sentelin, für Seltelin? Koseform für Selda 1340 Ger.
Stral c. 1349
') S. auch Richedis, Richeza usw. bei Aronius, S. 536.
s) a. a. O. S. 35S.
a) Dagegen ist Se!e bei Aronius, S. 314, Nr. 749 ein Rostocker
Jude.
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400. 46t
Stulcze (Stultze) 1336 Urk.
Susze, Jüdin 1382 Gerichtsb. Dagegen geht Suse auf das
hebr. Susanna zurück.
Suszeln, Mannesname 1397 Gerichtsb.
Suzelin 1347, Kosename zu Süß
Süßkind, zuerst 1328 Bürgerb.
Suzman 1335 Gerichtsb.
Tilo 1347 Gerichtsb.
Tron 1333 Gerichtsb.
Trcstlin, Drostelin 1335 Gerichtsb., Koseform zu Trost
Wolff, findet sich vor 1389 im Gerichtsb. und Insatzb. nicht
Wolffechin [ 1389 Gerichtsb.
Wolffelin | 1390 Gerichtsb.
B.
Die Namen lateinischen oder romanischen Ursprungs
treten viel spärlicher auf.
Es sind folgende:
Bela1), Belta. Belta ist wohl ein Schreibfehler 1241, 1341 Ger
Bendit (aus benedictus) 1341 Ger.
Bonam, Bonnunn (bon homme) 1343 Ger.
Bone 1383 Ger,, auch Bonet
Boneiang, Bonifant, Bufant 1379 Ger. (bon enfant)
Bunno 1339 Ger.2)
Dolze 1339, auch Dulze 1375 Ger.
Fantechin, Koseform von enfant
Fide (aus dem Lateinischen?) 1342 Ger., Koseform Fedelin
Vifand (In der Schweiz Vifan, Steinberg S. 9), Vifes, Vifis,
Vivis.
Vifus, Vifs, Vyuez, zahlreich in den Ger., zuerst 1328
im Bürg. Die Koseformen sind Fifelin, Pfyfelin, auch Vifel,
davon Fifelman3) 1340 Ger. Alle diese Formen hängen
mit Vivus (nicht Phoebus) zusammen.
>) Zunz, S. 44, Salfeld, S. 3S8.
») Salfeld, S. 389.
3) In Mitteilungen zur jüdischen Volkskunde von Orunwald,
462 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Gentil (gentil) 1241, verstümmelt in Gente, Genge, vielleicht
hängt auch Jenlin damit zusammen, 1347 Ger.
Krissan 1346, aus Crescentius? In der Schweiz Cresce nee*)
Leo 1347 Ger.
Martin 1340 Ger.
Memmelin 1388 Ger. (mamma)4), dahin gehört auch Mai-
mone 1241
Mylin = Mullin (weibl. Name), 1393 Ger. Romanisch?6)
Netta 1847 Ger. Romanisch?
Petrus 1341 Ger.
Sennor 1346 Ger., verkürzt Sne, Sneon
Snyer aus senior.
C.
Griechischen Ursprungs:
Heiina 1368 Ger.
C(K)alman, aus Kalonymus zusammengezogen.
Gimma, Grabstein 1347
Granam, aus Geronymus, Hieronymus zusammengezogen
Rite, Frauenname, vielleicht verkürzt aus margarita.
Offmia 1241 aus Euphemia.
Sendir, Sendelin, Senderlin, Koseform für Alexander.
D.
Die hebräischen Namen sind mit wenigen Aus-
nahmen alttestamentarischer Herkunft:
Aaron, Aron
Abraham, Abram
Ascher (lmal) 1241
Bariys, Baroch, Baruch, Borech, Borich
XIV. Jahrgang, erstes Heft (1911) wird Fifelmen wunderlicher Weise
gedeutet als einer, der sich auf die Feifei (mhd. vivel, Pferdekrank-
heit) versteht.
») Steinberg, S. 9.
«) Salfeld, S. 404.
*) Salfeld, S. 406.
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400. 463
Baza
Bassene
Baszene f gehen zurück auf Bathseba 1241, vielleicht
Besslin i aucn Besaw, Besserold, Bezla (s. auch Salfeld
Beszeler ] S. 418)
Beszera
Chaim (Frauenname), 1346 Urk. (nur lmal)
Damar (2mal)
Daneier (lmal) für Daniel
Dauid, Dauoed, Dazud
Dedya (lmal) verstümmelt für Jedidjah (Liebling, Gottel)
Dobeleben, Dabeieben, Tobeleben, im ersten Teil des Wortes
steckt entweder der Name Tobias oder Tob (Gut), daher
in der Schweiz Gutleben (Steinberg S. 7)
(Schluß folgt.)
-k
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen
Zeitalter.
Neue Folge.
Von Simon Eppenstein.
V. Die Erzählung von den vier gefangenen Talnradisten.
(Fortsetzung.)
In demselben flehentlichen Ton gehalten ist zum Teil ein
von Nehemia, dem Sohne Kohen Zedeks und Nachfolger Ahron
Ibn Sargädu's, gleichfalls nach Spanien gerichtetes, vom
Jahre 962 datierendes Schreiben1). Dasselbe ergeht sich in
flehentlichen Bitten um eine genügende Unterstützung, aber
auch in ziemlich geharnischten Vorwürfen wegen der so
lange geübten Vernachlässigung der Hochschule, was die
Gemeinden nun durch ausgiebigere Spenden wett machen
müßten2), falls sie sich nicht dem Zorn seitens deren Leiter
aussetzen wollten3). Was nun in diesem Briefe besonders auf-
fällt, ist das geringe Selbstbewußtsein, das einem etwaigen
Zweifel der spanischen Gemeinden an der durch persönliche
und ererbte Vorzüge berechtigten Gaonatswürde des Schrei-
bers Raum giebt4), ihn aber durch die Tatsache entkräftet,
daß nach dem Tode Ahron lbn Sargädu's alle Gelehrten
') Veröffentlicht von Cowley in jQR. XIX, S. 105-106; vgl.
dazu Poznanski a. a. O., S. 399—401.
») Vgl. a. a. O. S. 106, 13-14: DWn nnil D3IÖ-U 1^B3n DJ
DT\nbv xb "»a unjn cnir^m o: nawnn ommn xb wk3 u^mni najw
s) Vgl. a. a. O. Z. 9—10.
«) Vgl. S. 105, Z. 22 fgg.: i:nix dsipw nby: im wnoxD m sov
i:nnijf nrroxa ,-tdd aob w «e» ix lrnna« bv ca^tro ddj-x ircxr
na irrxTi i:rtuan oj> »JiriBVD S-riaai uroptai.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 465
mit ihm in Frieden leben1). In seltsamem Kontrast hierzu
stehen die Äußerungen Nehemia's, daß er mit der Auffor-
derung zu reichlichen Spenden den Gemeinden eigentlich nur
Anlaß zu einem verdienstvollen Werke geben wolle").
Selbst das Ansehen der pumbaditanischen Hochschule
zur Zeit Scheriras konnte deren materiellen Niedergang nicht
aufhalten. Von besonderem Interesse ist hierbei ein von.
diesem Gaon nach einer jedenfalls bedeutenden Stadt des
»Westens« gerichtetes Schreiben3;. Darin wird darauf
hingewiesen, daß nur noch mit vieler Mühe die Versamm-
jungen in den Kallamonaten aufrecht erhalten werden
können*) und, daß sein damals schon im Mannesalter ste-
hender Sohn Hai sich nicht die Mühe verdrießen lasse, sich
dem Unterricht der Minderbegabten zu widmen5). Die Not der
Gelehrten und Schüler zwinge den Gaon sogar, der eigenen
Familie Entbehrungen aufzuerlegen6), und nur diese bedrängte
Lage, bei deren Andauern die Gelehrten ihr Brot sich durch
andere Beschäftigung zu suchen genötigt wären, habe ihm
manches bittere Wort gegen die Angesehenen der Judenheit
in den anderen Ländern, >die Berge Israels«, eingegeben,
was Scherira mit dem Hinweis auf Nehemia 13, 10 ff.
rechtfertigt7). Sowie in talmudischer Zeit die einzelnen Ge-
lehrten, trotzdem sie selbst eine eigene Lehrstätte besaßen,
doch den Mittelpunkt der Thoraforschung aufsuchten, so
solle auch jetzt in der Diaspora von überallher durch An-
l) Vgl. s. 106, z. 6 fgg.: iBoan ""inx üb nviip BNTnn MttjHim
">ai vpsah DmBn ufo* tPDann Sa mnna.
*) Vgl. 105 Ende: mb mann by naia dj? Dama^ wnna ^Mi
DSD* DTPIttÖ wu
3) Veröffentlicht in Schechter's Saadyana Nr. XLV, S. 118—121.
*) Vgl. a. a. O. S. 118, Z. 2 fgg.
6) Vgl. a. a. o. z. 9—11 uroa dipSi Qiübb npw u-nna "«n nai
OTa -pvi aam mnpn yn imo^ bimvb jh1 »b "ibw-
•) Vgl. a. a. O. Z. 12: pyjio i:n:x u^ij> "»BDI lrpSnai wbibdi
p1? pamn«
7) Vgl. a. a. O. Z. 17 - S. 119, Z. 5.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. «0
4^5 Beiträge zur Oeschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
fragen wegen Entscheidungen die Jeschiba als Zentralpunkt
angesehen werden. Das Unterlassen dieses früher geübten
Brauches habe das Ansehen der Hochschulen erschüttert, und
der Gaon wolle zu Gott beten, daß Er sie nicht dafür strafe1).
»Ihr werdet vielleicht sagen, es genüge, daß ihr in einer be-
haglichen Lage bleibt; eure Lehrversammlungen werden rieht
verderben, möge darum die Hochschule zugrunde gehen.
So wisset denn, daß deren Führer eure Häupter sind; der
Körper aber richtet sich nach dem Kopf, und wie kann,
wenn dieser verdirbt, jener gesund bleiben ?«2) Darum sollten
sie den Mut der Jeschiba und ihrer Mitglieder durch ihre
Fürsorge stärken, damit »die vier Ellen der Halacha« nicht
untergehen; denn, trotzdem dieThora auch ander-
wärts sich ausgebreitet, so sei dennoch deren eigentliche
Stätte noch immer hier, wo gleichsam das Sanhedrin ver-
treten sei3).
An dieses Schreiben schließt sich inhaltlich ein an-
deres desselben Gaon an*), das, da in ihm Schemarja direkt
genannt ist, sicher nach Ägypten gerichtet wurde. Es
sind dieselben Klagen über die Vernachlässigung der Je-
schiba in materieller und ideeller Hinsicht. Die Unterord-
nung unter sie müßte als eine heilige Pflicht betrachtet
werden, wie einst gegenüber dem Heiligtum0)- Wie könnten
*) Vgl. S. 119, BI. 2r. — S. 120, Z. 115.
s) Vgl. a. a. O. Bl. 2 v. Z. 3—7: '3 3233*73 [lTÖKn T«BK 3XV
vhn ,nnnjw nawn ns-amö [inner" xSi osnaiana by cnx p-xwn
rx-n -irmi rpjn übw\ rm rtmr "p«i crürtr cyvm 22 non 32-r«"i
•) Vgl. S. 120, Z. 12. — S. 121.
«j Saadyana Nr. XLVI, S. 122—124. Der Rest ist einer halacbi-
seben Erörterung gewidmet. Wir müssen hierbei, wegen mancher
stilistischer Übereinstimmungen dieses Schreibens mit dem vorher-
gehenden, Poznaiiski in seinem »Schechter's Saadyana« S. 5 bei-
pflichten, der es Scherira zueignet, gegen Schechter a. a. O. S. 121,
der Samuel b. Chofni als Autor annimmt.
6) Vgl. S. 122, Z. 6 fgg. Leider ist der Anfang stark ver-
stümmelt.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 467
demnach die auswärtigen Gelehrten, obwohl durch Ansehen
hervorragend, des Mittelpunktes vergessen, zumal sich doch
wohl mancher Zweifel auch bei ihnen ergeben müsse1)? Sie
sollten bedenken, daß man nur von einem ganz bevorzugten
Lehrer — p?]2M2 31 »so — sich in der Gesetzeskenntnis
unterrichten lassen dürfe, damit alle Zweifel behoben
würden2). Babylon sei jetzt der Ort der Sch'china3), und
dort, in der durch das Andenken von Ezechiel, Daniel und
Esra geheiligten Synagoge werde für das Wohl der Glaubens-
genossen gebetet4). Diese, durch den Handel reich geworden,
könnten allerdings nicht, wie die Glaubensgensgenossen am
Sitz der Hochschulen, sich ausschließlich der Thora widmen,
sondern nur so weit, als es sich ermöglichen lasse, wie es
auch die Deutung der Weisen im Sifre zu "prr jibdki Deut,
11, 14 ausführe5). Wenn dieses wenige Studium aber Be-
stand haben sollte, müßten sie durch Anfragen bei der
Hochschule Belehrung nachsuchen6). So wie, nach der Deu-
tung unserer Weisen zu Deut. 33, 18, der handelsbeflissene
Sebulun für Isachar, den Bewohner des Lehrhauses zu
sorgen hatte, so hätten sie dieselbe Pflicht gegenüber den
Jeschiboth7). Weiterer Mahnungen wolle der Gaon sich
enthalten, um ihnen und sich Unannehmlichkeiten zu er-
sparen; zudem seien sie ihm so lieb, wie er sich selbst8).
») Vgl. S. 122, 30—31: cnr!28> BflK fM pK HD1D QWW1 lpO«n
pxtp iiPBN ik an« B"6vu o-'onn . . . rew ns Drtpwi njnn ma n*
IX "11 M 1DJ nip^BD D3T3.
2) Vgl. S. 123, Z. 32—34.
») Vgl. a. a. O., Z. 39—41.
*) Vgl. a. a. O., Z. 44 fgg.
ß) Vgl. a. a. O., Z. 48 fgg., beginnend mit: ornB>}?5 Wrw anxi.
Vgl. ferner Z. 50: T\bW2 *h* D^Tl «IX pXl.
») Sicher ist dies der Sinn der Stelle a. a. O. Z. 50—51: Rffll
i:nxc vmbi bi*vh . . . teu dsh-o o«pn^ w».
') Vgl. S. 124, 63 fgg.; zur Deutung der Bibelstelle vgl. Be-
reschith Rabba c. 72.
») Vgl. a. a. O. Z. 68—69, und besonders die Worte: UU» '3
•ob cairn ort«.
30»
463 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
Darum sollten sie seinen dringenden Bitten Gehör geben1),
einander in der Pflicht der Unterstützung der Hochschule
bestärken und, in Beherzigung dieser Mahnung, des Stolzes
Israels, der Jeschiba, und »der vier Ellen der Halacha, die
Gott allein in der Welt habe«2), sich erbarmen.
Es entspricht nun den berechtigten, zeitweiligen Klagen
über die Vernachlässigung der pumbaditanischen Hochschule,
wenn andererseits die ihr durch einen Gönner mit Rat und
Tat erwiesene Unterstützung in beredten Worten gepriesen
wird. Ein solcher Mäcen war der wegen seiner Hilfsbereit-
schaft mit dem Titel eines Alluf ausgezeichnete Jacob
ben Joseph ^ 2 1 y aus Egypten, für den Ha; in
seiner Eigenschaft als Ab bet-Din in arabischer Sprache ein
methodologisches Werk über den Talmud verfaßt hat3).
Der genannte Wohltäter besuchte auch die Akademie, und
sein Weggang wurde wie der eines teuren Mitgliedes be-
dauert, denn »Gott habe ihn, gleich Joseph, zur Rettung
gesandt«, auch seien ihm Verordnungen zu Gunsten der
Hochschule zu verdanken4).
Wenn nun, wie wir gesehen haben, die Lage der
pumbaditanischen Hochschule eine mißliche war, so darf
uns die Not der schon vor Saadjas Zeit innerlich stark er-
schütterten Schwesteranstalt zu Sura, die ja ehemals sogar
das Primat hatte, gewiß nicht Wunder nehmen. Von Seiten
dieser liegt uns nur ein von Samuel ben Hofni nach Kai-
ruän gerichtetes Schreiben vor5), das aber für die Verhält-
l) Vgl. hierzu und zum Folgenden a. a. O., Z. 73 fgg.
*) Vgl. hierzu die Parallelstelle in Nr. XLV, S. 121, 17 fgg.
Vgl. auch Babli Beracholh 8a.
*) Vgl. über ihn Steinschneider in ZHB. VI, S. 158, Poznanski
in Hakedem II, S 103, Marx in ZHB. XIII, S. 72 und in JQR. New
Series I, S. 100—101. Siehe auch noch weiter unten.
*) Vgl. besonders Marx in ZHB. a. a. O. : ,Tn Q"0 im« 'S
r,vhz>h cr,b jv.nnbi pxa rvnKtr cnb eib>? e.t:b^ ip6b> oTitan rwwa
*) Veröffentlicht von Margoliouth in JQR. XIV, S. 307 fgg.
Eeiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 469
nisse der suranischen Hochschule selbst und ihre Bezie-
hungen zu Pumbadita sehr aufschlußreich ist. Es ist ja
bekannt, daß nach Saadja's Tod schon aus Mangel an ge-
eigneten Gelehrten die alte Lehrstätte von Sura als Gao-
natssitz nicht mehr in Betracht kam. Noch 987, bei Ab-
fassung seines berühmten Sendschreibens über die Träger
der Tradition, berichtet Scherira: srirna mn xb »an inai
K*ona Rnaa, resp.j *M*no R*cna «noa »o*b «firm tri1). Es ist
wohl noch dort eine Anzahl Gelehrter vorhanden gewesen,
die, gewissermaßen in privater Tätigkeit, den Jüngern das
Talmudstudium vermittelten, aber die eigentliche Akademie
als sogenannte nbb)3 KÄTflO scheint zeitweise aufgehoben
gewesen zu sein. Auch v/ohl noch zu der Zeit, als schon Hai die
Würde eines Ab beth-Din bekleidete und selbständige Ent-
scheidungen traf, gab es in Sura selbst noch keinen Gaon,
sondern das von einigen suranischen Gelehrten zur schein-
baren Aufrechterhaltung der früheren Jeschiba gewählte
Oberhaupt hielt sich in Basra auf, wohin, nach Scherira's
Bericht, sich schon Jacob ben Joseph bar Satia zurückgezogen
hatte2). Wir wissen dies nämlich aus der uns noch erhal-
xenen Überschrift einer Reihe von Responsen8), die uns
meldet, daß ehemalige Schüler Hai's von Basra aus, wo
sie im Bereich des suranischen Resch-Metibta sich aufhielten,
an ihn Anfragen aus dem Gebiet des bei ihm durchge-
nommenen Tractats richteten4).
Gegen Ende von Scherira's Gaonat mag eine Be-
wegung entstanden sein, Sura wieder selbständig zu ma-
chen, und Samuel ben Hofni, ein Enkel von Kohen-Zedek,
dessen Familie mit der durch ihre Ahnenreihe von Geonim
zu der Würde mehr berechtigten des Scherira rivalisierte,
') Vgl. ed. Neubauer, S. 40 und ebendort Note 9.
2> Vgl. ed. Neubauer, S. 40.
»} Vgl. Oinzberg Geonlca II, S. 71 (JQR. XVIII, S. 442).
*) Vgl. a. a. O. Z. 7 fg. tot '£ "oVi r.-cx'-r, msaft je niA»
■r nyc wm min ni'rz am.
470 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischea Zeitalter
wurde Oberhaupt der von Neuem errichteten Schule von
Sura1), die also aus ihrer eigenen Mitte entweder keinen
geeigneten Vertreter mehr stellen konnte, oder aber auch
in der scheinbaren Selbständigkeit ganz abhängig war von
der einst mit ihr nicht vollständig gleichberechtigten pum-
baditanischen Jeschiba. Nur so ist es auch zu verstehen,
daß dasjenige, was an Spenden einging, von Scherira zum
größeren Teil für Pumbadita beansprucht wurde, im All-
gemeinen aber die auswärtigen Gemeinden, die wohl über
die Verhältnisse in Sura im Unklaren waren, Samuel nicht
die richtige Anerkennung zollten2) und darum mit ihren
Geldbeiträgen sehr zurückhielten. Erst kurz vor dem Tode
Scherira's kam ein Ausgleich zustande, dahingehend, daß
fortan die ohne nähere Bestimmung eingehenden Gelder
je zur Hälfte für Sura und Pumbadita verwendet werden
sollten. Seine Krönung fand dieses Übereinkommen da-
durch, daß Hai eine Tochter Samuel's zur Gattin — ver-
mutlich in zweiter Ehe — nahm8).
In seinem Schreiben bemerkt nun Samuel ben Chofni,
daß er den Bevollmächtigten und Inkassanten der Hoch-
schule in Kairuän, Joseph ben Berechja, in diesem Sinne
geschrieben habe, der auf seine Bitten hin dazu ernannt
i) Vg!. Harkavy in D^P1 D31 a*B>in No. 7 (Beigabe zu Rabbinowitz
SniP1 'D1 '13*1 IV), S. 9. Indessen ist aus den Worten des in JQR. XIV
S. 308 veröffentlichten Fragments zu entnehmen, daß noch vor Scherira's
Tod die Wiederaufrichtung Sura's mit Samuel b. Hofni erfolgte.
J) Dies geht aus den Worten ain Eingang des genannten Fragmenis
hervor: <:pn DUtfBi :tB3ri3 uce b"h: px rrrpn r:rB>\- ^na \sr-s» 'd
't^lth B*3TJ*TO *:cy rPBSni na^Vl, ein Selbstlob, das nur in diesem
Sinne verstanden werden kann. (Vgl. auch in den Nachträgen).
8) Vgl. a. a. O. : KT1B* 3T1B p31 1W3 11BJ Ülbv !WJW "2 S]X1
n,yi W3 |nnm sin ijjö lnasasr ";r pxa bjji b*w3 wb»bk bib m pw
nn« hz zv2 nutaii mmn *ja *a bubi ubvs bwji wa lana*-' uns
na*v,n "örn roBTM *n crc w ib*ki idj? tuo pm iB3Q}°j 'S wr ubb
i;;nn? Wim üS B«5ttl SPpl'jn Wl\ Auch aus den letzten Worten ist zu
entnehmen, daß die auswärtigen Gemeinden noch immer an eine
Einheit der beiden Jeschiboth dachten.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 471
worden sei. Er ersucht den Adressaten des Briefes, jenen
zu bestimmen, daß er keineswegs von anderen Einflüssen
sich leiten lassen solle, da er durchaus die Wahrheit ge-
schrieben habe. Weil nun manche Willkür seitens Unbe-
fugter zu befürchten sei, sollten die Gemeinden nicht jedem
beliebigen Bittsteller Gehör geben, sondern entweder für
den Gaon selbst persönlich bestimmte Spenden oder solche
für die Jeschiba im Allgemeinen schicken. In letzterem
Falle wäre es das Beste, bald am Aufgabeort je eine Hälfte
für das Oberhaupt und die Kollegialmitglieder festzusetzen,
damit jeder Streit vermieden werde. Er habe ferner gehört,
daß der heimgegangene Wohltäter1) einem Mitgliede des
Collegiums 150 Drachmen gesandt habe, die aber wohl
eigentlich für alle Gelehrten bestimmt waren. Wenn weiter
keine Bestimmung darüber getroffen würde, dürfte vielleicht
der Betreffende es sich selbst aneignen wollen. Er müsse
aber darüber vor Gott und den Gemeinden klagen : sollte
ein einziger durch eine so große Summe reich werden,
während hundert andere das Brot der Armut essen müßten?
Gewiß wollten die Kairuäner einer falschen Ausstreuung,
durch die den Würdigen ihr Blut gleichsam vergossen und
Geldschäden zugefügt wird, nicht Vorschub leisten^. Darum
sollten sie alsbald den Alluf Jjseph, Sohn des heimge-
gangenen Jacob, in Egypten über die Sachlage aufklären.
*
Wir gewinnen aus diesen interessanten Schriftstücken
einen Einblick einerseits in den beklagenswerten materiellen
Zustand der Hochschulen, und andrerseits in die bereits
damals nicht zu unterschätzende Bedeutung der auswärtigen
') Das ist wohl sicher Joseph b2ij> in Egypten, dessen Sohn
Jakob bereits oben erwähnt wurde, und der weiter unten am Ende
des Schreibens genannt wird.
2) rrtrtm 'p "3jn th« tb>jp kih Shj poo m '3 ds^ki p?» '- ^ki
W3JJD 3T5 K#B21 CD"12 X2D D3^. Das letztere Wort ist mir nicht
recht verständlich. Die Wendung c-D"!2 K2B ist eine feine Variierung
von I Sam. 25, 26 auf das neuhebr. ron >Geld«.
472 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
Lehrhäuser. Nirgends aber wird von diesen als
direkten Gründungen der babylonischen Jeschiba's
gesprochen; der Vergleich zwischen den ersteren und
den von den verschiedenen Tannaim geleiteten Schulen
spricht bereits genug davon, daß sie sich also mit den
Akademieen in Babylonien gleichberechtigt fühlen durften
und verstärkt somit das von uns soeben hervorgehobene
argumentum ex silentio. Somit ist das Problem
zunächst für Pumbadita, von wo Kaufmann die vier
Gelehrten abstammen lassen will1), erledigt. Aber auch für
ihre Herkunft von Sura ist nun jede Unterlage entzogen,
da, wie wir nachgewiesen zu haben glauben, diese Hoch-
schule als solche gar nicht mehr in Betracht kam, indem
sie zeitweise mit der von Pumbadita vereinigt war. Die
Behauptung von Graetz2), daß Saadja's Nachfolger Joseph
ben Jacob bar Satia die Sendboten ausgesandt habe, um
der Verarmung seiner Jeschiba zu steuern3), erledigt sich
durch die Erwägungen, dsß erstens Scherira ausdrücklich
als Grund für das Eingehen der Hochschule von Sura nicht
Mangel an Geld, sondern die vollständige Zurückdrängung
durch Ahron Ibn Sargädu angibt, und zweitens, daß, wenn
daselbst vier so hochgelehrte Männer vorhanden gewesen
wären, doch, wie Halevy bemerkt4), einer von ihnen die
Führung hätte übernehmen müssen, da er dem pumbadita-
nischen Gaon gegenüber wohl auch sein Wort zur Geltung
hätte bringen können5).
') Vgl. Magazin V, S. 70 u. auch in der Besprechung von Qü-
demanns Gesch. des Erziehungswesens etc. in Italien, GGA. 1387
(Ges. Sehr. II, S. 227).
*) A. a. O. S. 471.
*) Ed. Neubauer a. a. O.
*) Vgl. Doroth Harischonim III, S. 291.
B) Scherira a. a. O. bemerkt nämüch in diesem Sinne vor; Jo-
seph bar Satia, daß p«3 ^riiX "1 ,TVD I^M HB proiB TjÄ MV! K^l
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 473-
2. Schema rja ben Elchanan und sein Sohn
Elch a n an.
In den bisher besprochenen Senschreiben begegnen
wir bereits zweimal dem Namen R. Schemarja's1). Es
fällt nun besonders ins Gewicht, daß Scherira von ihm
wiederholt als dem b'KKffl vaKii inan {ptn2) spricht, und
einmal auch in diesem Zusammenhang des ihm unter-
stehenden yiap tsrns, also eines beständigen Lehrhauses,
gedacht wird, in dem Schüler lernten3). Hieraus ergiebt sich
nun zunächst für unseren Gelehrten eine genauere, spätere
Zeit, als die von Graetz angenommene, da er eben Zeit-
genosse von Scherira und Hat war. Schemarja entstammte
jedenfalls einer in Egypten schon ansäßigen Familie, da
auch sein Vater Elchanan als »snn 3in, also als Vor-
sitzender eines Schulhauses, genannt wird4). Der Einwand
von Graetz, daß außerhalb Babyloniens keine bedeutenden
Gelehrten waren, erledigt sich betreffs Egyptens durch die
Erwägung, daß, ebensowenig wie Saadja's Leistungen auf
dem Boden dieses Landes ohne ein größeres geistiges
Milieu denkbar sind5), so auch andererseits der von diesem
großen Mann durch Unterricht an wißbegierige Jünglinge
ausgestreute Same der Belehrung6) unmöglich so schnell,
ohne eine dauernde Nachwirkung zu hinterlassen, verweht
worden sein kann. Als ein, vielleicht allerdings zu äußer-
liches Moment für die egyptische Abstammung könnte aber
') Vgl. Saadyana, S. 119, wo die Lücke in Z. 16 wolil mit Sche-
marja's Namen zu ergänzen ist, u. S. 124, Z. 85.
») Vgl. a. a. O., S. 119, 17 u. 124, 85.
3) Vgl. a. a. O., S. 119, 84.
*) So unterzeichnet Schemarja's Sohn, Elchanan, in einem Brief:
p b*w* bs bv pn rra am mw [2 ijnr bs bv v»n »so \xnb*
mm 3V1 pH1;«; vgl. Worman, Terms of Adreß in Genizah Letters,
ia JQR. XIX, S. 729.
») Vgl. hierüber Monatsschrift 1910, S. 191-192.
•) Vgl. a. a. O., S. 315.
474 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäisctien Zeitalter
der Name nnDW selbst, in seiner Bildung an myc erinnernd,
angesehen werden1).
Zu beachten ist nun besonders das Verhältnis von
R'Schemarja zu den Geonim. Er stand mit ihnen jedenfalls
in Verbindung, wenn uns auch nicht direkte Bescheide von
diesen an ihn vorliegen. Aber, so wie Saadja, behufs Ver-
vollkommnung seiner Kenntnisse die Hochschule in Sura
aufsuchte, hat auch Schemarja in der einzigen, damals zu
Pumbadita bestehenden, geweilt, um sein Wissen zu ver-
tiefen. Es liegt uns hierüber auch ein Dokument vor in
einem, leider lücken- und fehlerhaft enthaltenen Schreiben
Hais, dessen Autenthie allerdings angefochten wurde.
Dieses von Neubauer zuerst veröffentlichte Fragment2) ist
an einen Alluf3) gerichtet und spricht in einem sehr ge-
tragenen, fast durchwegs musivischen Stil, nach einem Preis
von Gottes Gnade, von dem Adressaten als von einem
Lichte, das den ihm folgenden den Weg erhellen kann, und
als von einem unerschöpflichen Quell, dessen Wasser er-
quickend wirkt5). Es wird von ihm ferner gesagt, daß er
einen Baum des Lebens in Mitten seines Volkes gepflanzt;
auf seinen Sohn soll er auch ferner achten, da auch er
zur köstlichen Frucht heranreifen werde6). Dann wird mit-
geteilt, daß die Sendung des vertrauten Freundes und
•) Vgl. auch die Ausführungen Halevy's a. a. O. S. 290 über
die gegen eine babylonische Abstammung zeugende Form der Namen
der vier Gelehrten.
*) Vgl. JQR. VI, S. 222—223.
') Vgl den auch verstümmelten Anfang: "ppjjc ^~;:2^~2,, f\\b*.
*) Vgl. a. a. O. irs'rm -iik rwu 121 . . • uv&m vb ntrm ii«n
6) Vgl. a. a. O. "O . . . itd'j? wnh b*kdx mpvnb njpa m pjfo
«) Vgl. a. a. o. 2i;n uijn [iv mb nrx -]03?3 nyt)3 m o^n ?v
■rhy -prj? cjp *p rixo« |2 Sjn . . . by» vskd r.n'nnh vrVjfl ^skoS
nwun1? vvhyi bswah ric -\r.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 475
Bundesgenossen, der auch in inniger Liebe an den Adres-
saten hängt, R'Jacob, richtig eingegangen sei1). Nach
einigen, infolge einer Lücke nicht ganz genau festzustel-
lenden Ausführungen, die, unter anderem, Segenswünsche
für den Empfänger enthalten, wird Kenntnis genommen von
der Hervorhebung des ausgezeichneten Lehrers
R'Schemarja, des KjHTü mw wm, der hauptsächlich
an dieser Verordnung beteiligt war2). Der Schreiber be-
merkt, daß er selbst bisher, wie irgend ein anderer, die
Vorzüge dieses Löwen unter seinen Genossen, pnuna» *ik,
seine wunderbare Weisheit und seinen eindringenden Ver-
stand kenne, der sich in seinen Fragen, Antworten
und Lösungen kundgebe8). Deswegen habe ihn auch der
Gaon seiner Zeit zum miPö4) und zum Haupt der großen
Reihe unter den drei Reihen der Jeschiba ernannt5). Auch
Schemarja's einziger Sohn Elchanan, der bei ihnen gleichsam
großgezogen worden sei6), stehe bei ihm in großem An-
sehen, weswegen er mit einigen anderen seiner Genossen
die Semicha erhalten habe. Schon jetzt, am Beginn seiner
Laufbahn, zeigt jeder Brief und jede Anfrage von ihm einen
!) ^jtoi i:tc b>w mtt rmbvti yn nyS vr rp^K nSir law
apjp x:mi '-»o wy ncno insnKs nocn 13 penn nmx uivia.
2) »jm-a rmw> cxn mctr n uarr* ww p-2112 y\ hv '.mva
J1K1 "lipro tPmn X'n '3% — Es ist bemerkenswert, daß hier Hai dem
R. Schemarja die Bezeichnung pH31ü 31 beilegt, während Scherira in
Saadyana, S. 125, 32 als solchen nur den Gaon gelten lassen will.
3) y»svTJH ppnw vwtpi vnwan mni wntun futtoa ijjijhi
vmbvt rona ■wv nnwa inai [JQR. a. a o. rjtmw].
*) Dieses Wort ist wohl M3®Ö zu lesen, und will besagen,
daß Schemarja Hauslehrer und Liturg beim Gaon war und somit
eine mehr familiäre Stellung bekleidete. Denn der Ausdruck -Jtro =
"OB* war nun in der palästinensischen Schule üblich, und die hiermit
gleichbedeutende Würde eines pn JV3 3« hat ja Hat inae gehabt.
B) Vgl. hierüber Monatsschrift 1908, S. 342, Poznanski in Ha-
Jcedem II, S. 93, jedoch dagegen Marx in ZHB. XIII, 72 und Ginz-
fcerg, Geonica I, S. 207.
•) WWfl vhwi RV!.
476 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeifa!*-
Fortschritt, sodaß von ihm in späteren Jahren noch v e
mehr zu erwarten sei l).
Dieses interessante Schriftstück ist sicher an den
wiederholt als Alluf bezeichneten Jacob ben Nissim in
Kairuän gerichtet2), und seine besondere Lobpreisung s-.eht
im Einklang mit der ihm von den Geonim beigelegten Be-
zeichnung 1:2*? tswa8). Der hier erwähnte Sohn des Adres-
saten ist der nachmals so berühmt gewordene R'Nissim,
während der hier als vertrauter Freund und Bundesgenosse
genannte R'Jacob, dessen Sendung der Empfänger dieses
Schreibens den Hai übermittelt hat, kein anderer sein kann,
als der bereits erwähnte Jacob ben Joseph brv, den der
Gacn wiederholt so nennt4), und an den auch wieder um
cer Gacn einen Brief von Jacob ben Nissim gesandt hat.
Auch in diesem handelte es sich, nach dem Zusammenhang
zu urteilen, um eine Tekana zugunsten der Hochschule 5).
Von einer solchen, bei der auch Sehern ar ja in erster
Reihe mitgewirkt, wird auch hier gesprochen. Zu rti
mag er durch ein von Scherira nach allen westlichen
Ländern gerichtetes, dringendes Schreiben angeregt worden
sein6). Die in dem Schreiben angewendeten Lobeserhebun-
») BTtteai mina djj mt bs iwivmn fo msits nvsv rntow bn
coxjn cai by PfTjrn sj^i"1 yv roiiaa*? ppr '3 w».
2) Vgl. auch den Schluß, S. 223: bv IflJHa BM3B> JOS V a«i
k\- i:cj?o xh mano wb rwia iwkö pj*4?«.
») Vgl. Harkavy, T'schuboth ha-Oeonim Nr. 549, S. 270,
4) Vgl. Marx a. a. O. x:2Tl Kilo IJJVD B"X «TT 13*1333 "I^SX
nzb '12» r*oi' '3"n no p vuwi 13338*0 Witt" j^k apj>\ Da in un-
serem Fragment von zwei verschiedenen Männern die Rede ist, so
kann der zuletzt als » Vertrauter« genannte R. Jakob nicht Jakob be~
Nissim sein, sondern nur Jakob b^y.
*) Vgl. a. a. o. v*ram tittn mpnn vn imi nx n ■pjrna *a
Wjm X^l 1B,,J |3 fD1?"! . . Vgl. auch Marx in JQR., New Series, a. a. O.
6) Vgl. Saadyana Nr. XLV, S. 119, 16 fgg: H3HK3 B3Wn3*fl "itfK3i
•vosn bs mos (?) ona wo»n mao px 'ran ^«w^ t i::rn nan [3
^"SXill T3Kfl VIKfl 3"V1 fp'" nx, woraus auf ein energisches Mahn-
schreiben zu schließen ist. Zum Ausdruck TS'lPl vgl. I Chron. IS, 3.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im geonäischen Zeitalter. 477
gen pflegten die Geonim aber nur au s wärt ige on9_
Jehrten oder Mäcenen zu widmen, und die darin erwähnten
Ehrenstellungen hat man Schemarja bei seinem Aufenthalt
in Pumbadita, wie seiner Zeit Saadja in Sura1), verliehen.
Die von uns angeführten Berührungen des Fragments
mit dem auf Jacob *?2iy bezüglichen, lassen uns dessen
Echtheit gegenüber den Ausführungen Halevys8) als ge-
sichert erscheinen. Denn die von diesem als Gegenbeweis
angeführte Weitläufigkeit der Sprache und Häufung von
Ehrentiteln finden wir fast durchgehends in den von uns
behandelten Sendschreiben Scherira's und Hat's, wie auch am
Schluß von Responsen3). Aus diesen beiden miteinander
zusammenhängenden Schriftstücken ersehen wir aber auch,
caß ein inniger Zusammenhang betreffs des gemeinsamen
Verhältnisses zu den babylonischen Hochschulen zwischen
Kairuän und Egypten bestand4).
Aber auch zu der in seiner Zeit mehr an Bedeutung
gewinnenden palästinenischen Hochschule stand Schemarja
in Verbindung, wie aus der Über- und Unterschrift eines
an ihn von mirmtp 'tr^tpn hws&& gerichteten Briefes ersicht-
lich ist, in dem er genannt wird msw ro»* Tairon nvmn am
mpn niw bMin ain pnbx i p D'Ton rotfw6).
») Vgl. Monatsschrift 1910, S. 459.
2) Vgl. a. a. O. S. 299, wo er es gar in die maimonidische
Zeit verlegen will.
3) Vgl. z. B. die Lobeserhebungen auf den Resch Kalla Jehuda
in Kaiman in Harkavy, Resp. der Geonim, Nr. 442, S. 234—235.
*) Vgl. ar.ch Poznanski in Hakedem II, S. 103.
5) Vgl. Worman in JQR. XIX, S. 729, Nr. XXI und ebendort
Anra. 3.
(Fortsetzung folgt.)
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua.
Von H. Tykoelnski.
R. Isaak b. Mose bietet uns in seinem Werke Or
Sarua, wie kein andrer seiner Zeitgenossen, eine Fülle von
Nachrichten über jüdische Gelehrte seiner Zeit und der
Vergangenheit. Auch für die Geschichte der Sitten und Ge-
bräuche ist er uns eine unschätzbare Fundgrube. Zur
bessern Verwertung seiner Nachrichten ist es von großer
Wichtigkeit, genauer festzustellen, wann er gelebt und
gewirkt hat.
Über seine Lebenszelt schwanken noch sehr die An-
sichten. Zunz läßt ihn, wie es scheint, bis 1260 leben1),
H. Groß zwischen 1200 und 12702), H. Vogelstein zwischen
1190 und 12603) und J. Wellesz zwischen 1185 und 1255*)-.
Eine eingehende Untersuchung über diesen Punkt wird
sicher nicht überflüssig sein.
Einige wenige sichere Daten für die Bestimmung seines
Zeitalters bietet 10S. (= Isaak Or Sarua) in seinem eignen
Werke. In dem Abschnitt Ab. Sara erzählt er von einer
Ketubba, über deren Gültigkeit er befragt worden ist, weil
im Datum die Jahrtausende nicht klar angegeben waren.
Er meint dabei, daß man ja doch nur vier Jahrtausende
darunter verstehen könne, das fünfte Jahrtausend nach
Erschaffung der Welt hätte ja damals sein Ende noch nicht
') Steinschneider, Hebr. Bibliogr. 1865, S. 2.
2) MS. 1871, S. 251 g. unt. — Ihm folgen M. Schloesinger
(Jew. Encykl. VI, S. 627 a) u. S. N. Bernstein (ha-Zefira 1902, Nr.
229 u. 232).
5) MS. 1905, S. 701 unt., 703 unt.
*) Wellesz, Jahrb. d. jüd.-liter. Gesellsch. 1906. S. 116 unt.
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua. 479-
erreicht; d. h. es war spätestens 12391). An derselben Stelle
nennt der Verfasser das Jahr, in dem er das schrieb, aus-
drücklich 12462). Ferner kennen wir ein Schreiben des R.
Abigedor ha-Kohen an IOS., in dem dieser um ein Gut-
achten wegen einer am 4. November 1239 vollzogenen Trauung
gebeten wird3). Ein weiteres Schreiben enthält ein Gutachten
des IOS. über die Angelegenheit der während der Juden-
verfolgung in Frankfurt zur Taufe gezwungenen Braut4):
Diese Verfolgung war im Jahre 12415).
Wir besitzen also sichere Daten für die literarische
Tätigkeit des IOS. während der Jahre 1239—1246. Nun
wissen wir aber, daß seine Wirksamkeit als Gelehrter einen
weit größern Zeitraum umfaßte. Er selbst erzähit uns in
dem Traktate Gittin, daß er ungefähr 30 Jahre zuvor in
einem Zivilprozeß als Richter gesessen hätte6). Daraus er-
sehen wir zugleich, daß er nicht in jungen Jahren gestorben
sein konnte. Das ergibt sich auch daraus, daß seine
Enkelin bei seinen Lebzeiten in heiratsfähigem Alter stand7),
Die Frage ist nun die, ob die Jahre 1239 bis 1246 sich am
Anfange oder am Ende seiner Laufbahn befinden.
') ar.Di . . . »nsrm . • . njm« a^ni dms^k n;p ariai ibidm nyov-
D-ef» njD"wa im1 ser^i bwn a-c^s nyanx tb» yetrc csSx : IOS. IV,
S. 32 b, Nr. 107.
*j '»tp.i ?\bxh w rt;»a fra^pi n:vn na loa ebd. s. 32b unt.
3) nx-na1: a's'rx nit'on rutp vhü3 n*v5 o-ir !WB>a nae>a *tr??3
üb'.}} : IOS. I, S. 208 b, Nr. 745.
*) IOS. I, S. 213 a, Nr. 747.
ä) Aronius, Regesten Nr. 529.
u) Sy p'.xn \$vv \tytvb [3i»"i pa ra t«,-:» mv Wiva nr-
•rrzvwib anac «mte Ta -*? wnhw Tna ^ ruo pjhjv: I, S. 199b M.
-') I, S. 214 b unt. Nr. 750. — Der von MR. (= Rga. Meir a.
Rotenburg), ed. Crem. Nr. 7, als hoher Greis bezeichnete Isaak ist
nicht, wie Groß (MS. 1871, S. 251 unt.) u. H. Vogelstein (MS. 19C5,
S. 703 ob.) annehmen, unser IOS., sondern wahrscheinlich derselbe,
an den er die Responsa Nr. 53, 93 u. 114 in der ed. Crem, richtet
u. den er ■'jHVöi »Bl^H nennt. Is. b. Mose gegenüber hätte sich Meir
in der Unterschrift gewiß als seinen Schüler und nicht als seinen
480 Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua.
Berücksichtigen wir, daß sein Lehrer R. Simcha b.
Samuel, der im 4. Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts gestorben
sein muß1), ihn in der Regel als seinen Kollegen anredet2),
so dürfte Isaak nicht viel jünger gewesen sein als sein
Lehrer. Erwägen wir auch, daß er R. Jehuda den Frommen,
der 1217 gestorben ist3), oft ausdrücklich als seinen Lehrer
bezeichnet4), so gelangen wir zu dem Ergebnis, daß seine
Lehrjahre in die Zeit vor 1217 zurückreichen. Fernere Er-
wägungen führen uns zur Überzeugung, daß IOS. die Ab-
fassung seines Werkes zwar nach dem Tode Jehudas des
Frommen, aber doch noch bei Lebzeiten seines 1224 verstor-
benen Lehrers R. Jehuda b. Isaak5) begonnen hat. Während
er Jeh. d. Fr. stets als verstorben erwähnt4), bezeichnet
er Jeh. b. 1s. in den ersten Abschnitten des 1. Teils seines
Werkes oft ausdrücklich als lebend6).
Andre Gründe veranlassen uns, die Wirksamkeit Isaaks
als Rabbiner noch früher beginnen zu lassen. R. Joel b.
Isaak, der um 1200 gestorben sein dürfte7), beruft sich in
seinem Briefwechsel mit R. Ephraim b. Isaak auf die Ansicht
des Isaak Chasan in Böhmen, die ihm der Rabbiner Isaak
b. Mose mündlich mitgeteilt hat8). Nicht im Widerspruche
damit steht es, wenn IOS. während des Unterrichtes bei
seinem Lehrer Elieser, sich auf den erwähnten Briefwechsel
Freund "jaVUC bezeichnet. Unter den Respondenten des Meir gibt
es übrigens noch zwei andere Gelehrte namens Isaak: ed. Crem.
Nr. 21 u. 190.
') Siehe weiter unt. S. 487.
•) IOS. I, Nr. 759, 760, 761, 763.
e) Groß MS. 1871, S. 252, Anm. 2.
*) I, S. 22 a, Nr. 11, S. 41 a, Nr. 114, S. 109 b, Nr. 399 u. an
vielen andern Orten.
6) Sal. Lurja, Rga. Nr. 29.
6) Siehe weiter unt. S. 434.
7) Groß MS. 1885, S. 370 unt.
Jtn nrraa prttP "\ nm: IOS. I, S. H7b ob.
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua. 481
i wischen Joe! und Ephraim bezieht1). Daraus geht nur
hervor, daß er erst nach seinem Gespräche mit Joel und
nach dessen Briefwechsel mit Ephraim b. Isaak den Unterricht
üei Elieser b. Joel genossen hat. Wenn er von Joel Rabbiner
genannt wird, so besagt das, daß er schon zur Zeit des
Briefwechseis zwischen ihm und Ephraim, also spätestens
im Jahre 1200, noch bevor er die Schule Eliesers besucht
hatte, das erforderliche Alter und auch das genügende
Maß von Wissen besaß, das ihn des Titels würdig machte*).
Daß IOS mit Joel persönlich verkehrt hat, ist wohl auch daraus
zu entnehmen, daß er ihn zweimal seinen Lehrer nennt8).
Sein eigentlicher Lehrer war er nicht, da er ihn sonst nir-
gends als solchen bezeichnet, er wird wohl nur gelegent-
lich von ihm eine Belehrung empfangen haben.
Wir besitzen sogar von IOS. ein Gutachten, das als
Zeugnis seiner frühesten gelehrten Tätigkeit in das 1. Jahr
des 13. Jahrhunderts hinaufreicht. Das Gutachten betrifft
die Aussage eines NichtJuden, der ungefragt bezeugt, einen
ihm bekannten toten Juden im Wasser schwimmend ge-
sehen zu haben, und Isaak erklärt die Frau für berechtigt,
sich wieder zu verheiraten4). Dieser Fall ist ohne Zweifel
derselbe, über den Simcha b. Samuel und Elieser b. Joel ihre
*) I, S. 118 a ganz ob.
2) Die gewöhnliche Annahme, daß Ephraim b. Isaak schon
1175 gestorben sei (Groß in MS. 1885, S. 310 unt., Michael, Or ba-
Chajjim Nr. 511, S. 248, Freimann in MS. 1909, S. 596) ist allerdings
nach dieser Ausführung nicht aufrecht zu halten. Zakuto, auf den
man sich beruft, ist für eine so frühe Zeit wenig zuverlässig. Übrigens
gibt die betreffende Stelle (Juchasin, ed. London, S. 218) nur das Jahr
1 175 an, ohne zu sagen, daß Ephr. in diesem Jahre gestorben wäre.
3) IOS. I, S. 18 a, Nr. 30; II, S. 175 b, Mitte, Nr. 428. Aller-
dings kann hier "TIO eine Abkürzung von Ullö sein.
4) CO" rp s]it "-'s")» D'boü D"i3)j w täihto pT;n nn s'k
h^i r\::"i ab nj?- DWffil ny d5ä n-om tidj irni pv ryatts lhivam
jrtsyrrt rann wk "k "o-ra pspsb pm ijwk wirrt >rt rahi . . • -or
■rtn xxo: ttta tapaa nun bv m -raa caarrto nn^rt ^ miidi \wvt]
nma kjtdj mm pexa narrte! cpo wm imhjo: i s. 196 a, Nr. 695.
Monatsschrift. 65. Jahrgang. Jl
482 Lebenszeit und Heimat des lsaak Or Sarua.
Gutachten abgeben, und wo es sich um die Ermordung
des Alexander bei der Festung Sayn am Rhein handelt1).
Für die Identität der beiden Fälle spricht die Örtlichkeit.
und die Jahreszeit. IOS. spricht nämlich von einer Zeit,
die weder heiß noch kalt war, und der Fall des Alexander
ereignete sich kurz vor dem Laubhüttenfest2). Beide Fälie
geschehen zur Kriegszeit am Rhein. Nun wissen wir aber,
daß Alexander zur Zeit des zweiten Feldzuges Königs
Philipp von Schwaben nach dem Niederrhein gegen König
Otto IV. ermordet wurde. Das mußte also im Jahre 1199,
wohl im Monat September geschehen sein3). Das Gut-
achten des Elieser b. Joel, das etwa anderthalb Jahre darauf
abgegeben worden ist, stammt somit aus dem Jahre 1201.
und in dasselbe Jahr gehört auch ohne Zweifel das den-
selben Fall behandelnde Gutachten des IOS. Wenn er aber
schon 1201 ein solches Ansehen genoß, so müssen wir
sein Geburtsjahr in die Zeit vor 1180 setzen.
Zu demselben Schluß führt uns auch eine andere
Erwägung: IOS. nennt R. Isaak b. Mordechai in dem
zweiten Teil seines Buches, wo er nur viermal erwähnt
wird, dreimal und im dritten Teil einmal seinen Lehrer*!.
Allerdings bringt er niemals eine mündliche Mitteilung von
ihm, er bezeichnet ihn auch sonst, obwohl er ihn sehr oft
J) nmn rnr [xr%T] (ktbi) ~^;s- um ivi unm mjDab* *a*i
T/TonWipn 'ipnrotaa i-rra-pa nontan nrna \ti [wn] (ktbib)
iv paiSeipS 'rrv tr-:,irv iban c» na mhv ijn vtbvv: -.-: bv cd^'i
-;-»n ;•;: ;tn— oiafr-oa wp "»to ^a ixuanbj xb\ . . . »an« "[hon
bttt *\tmr\ nana nrna vm . . , wsvn swa p*vn iinan rann 'rix . . .
pj^Dip^ x'ih' owm -rr na^ . . . "Brian djpi rSvv nn: bv p: bi "
: *sn* nar*> avip m iS rrn no nsn -p j?t: 1A1 . . . -.r-a^ ar iA ram . . .
IOS. I, S. 194, Nr. 693. Siehe auch S. 208 a unt.
2) Ebd. S. 195b M.
s) Ed. Winkelmann, : Philipp v. Schwaben u. Otto IV. Bd. I,
S. 146 unt.
*) II, S. 9 Nr. 16 Schluß, Nr. 257 S. 120b Mitte, Nr. 432
S. 173a unt.; III, Kamma, S. 62a M. Nr. 413.
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua. 483
anführt, als »unsern Lehrer*1). Offenbar genoß er in seiner
Kindheit wirklich kurze Zeit Unterricht bei ihm. Er zählte
ihn jedoch nicht zu seinen Hauptlehrern, wie Jehuda b. Isaak,
Elieser b. Joe! und Simcha, deren Jünger er in reifem Alter
war, und die daher einen entscheidenden Einfluß auf seinen
Geist hatten. Deshalb nennt er ihn später bloß »unser
Lehrer.« Jedenfalls haben wir keinen Grund zu bezweifeln, daß
10S. den Isaak b. Mordechai in seiner Kindheit gekannt hat.
Von diesem aber ist uns ein Rechtsgutachten bekannt, das
er in einer Streitfrage über eine nicht genau datierte, 1133
geschriebene Urkunde gemeinsam mit Mose b. Joel und
gleichzeitig mit R. Tarn, 1133 oder nicht lange darnach
abgegeben hat2). Er muß also damals wenigstens ein
Alter von 20 Jahren erreicht haben, und wenn wir ihm
auch ein noch so hohes Alter geben, um 1190 gestorben
sein. IOS. wird demnach, wenn er in seinen frühesten
Jahren von ihm Unterricht empfangen haben soll, schon
vor 1180 geboren sein.
Haben wir nun mit großer Wahrscheinlichkeit den Beginn
seiner Lebenszeit und seiner Wirksamkeit ermittelt, so er-
gibt sich ohne Schwierigkeit auch der Zeitpunkt, in dem wir
das Ende seiner Laufbahn voraussetzen dürfen. Wie wir
oben gesehen, schrieb er noch 1246 den Traktat Ab. Sara.
Dieser Abschnitt ist in seinem Werke der letzte, und wir
sind auch berechtigt anzunehmen, das er zu seinen letzten
Arbeiten gehört. Wir berühren damit eine in vieler Hin-
sicht wichtige Frage: In welcher Reihenfolge sind die ver-
schiedenen Abschnitte des Buches entstanden?
IOS. hat nach Ausarbeitung seines gesamten Werkes
noch fortwährend manches nachgetragen, besonders hat er
vieles aus seinem ausgedehnten Briefwechsel den betref-
fenden Traktaten einverleibt. Daher kommt es, daß er
mehrmals sowohl auf die spätem als auch auf die frühern
') Iran, besonders B. Batra.
»; IOS. IV, S. 23 b M.
31*
484 Lebenszeil und Heimat des Isaak Or Sarua.
Abschnitte verweist1). Sehen wir aber von diesen Nach-
fragen sowie auch von den wohl nach dem Tode des Ver-
fassers dem ersten Teile angehängten Rechtsgutachten
ab2), so sind die einzelnen Abschnitte des gesagten
Werkes der Hauptsache nach in der Reihenfolge entstanden,
wie sie geordnet sind.
Für den letzten Traktat Ab. Sara gibt uns IOS. selbst
1246 als Jahr der Abfassung an. Hinsichtlich der andern
Abschnitte besitzen wir für die Ermittlung der ungefähren
Er.tstehungszeit nur in der dem Namen der zitierten ver-
storbenen Autoren beigefügten Segensformel einen An-
haltspunkt. Allerdings darf man im allgemeinen derr. Vor-
handensein oder Fehlen von V'j»t kein allzu großes Gewicht
beilegen, da die Abschreiber wohl vieles willkürlich abge-
ändert haben mögen. Wenn aber IOS. denselben Lehrer
in dem einen Abschnitt regelmäßig ohne Segensformel, in
dem nachfolgenden Abschnitt dagegen ebenso regelmäßig
als verstorben erwähnt ; oder wenn er in demselben Ab-
schnitt den einen Gelehrten stets ohne, den andern kon-
sequent mit b*st anführt, so hat die Eulogie in solchem
Fall eine große Bedeutung. Bei Benutzung dieses Kriteriums
kommen wir zu beachtenswerten, bis auf einen gewissen
Grad sichern Ergebnissen.
In dem zum ersten Teile gehörenden Traktate ßera-
cnot erwähnt der Verfasser eine ganze Reihe von Gelehrten,
wie Isaak b. Samuel, Simsen, Elieser a. Böhmen, Jehnia den
Frommen, als verstorben. Dagegen erwähnt er darin seinen
Lehrer Jehuda b. Isaak in Paris etwa vierzigmal ohne b"38T,
vierzehnmal ausdrücklich als lebend8). Wenn er irot-dem
i) Wellesz MS. 1904, S. 367 M. u. Jahrb. d. jüd.-liter. Oesdlsck
1906, S. 117 unt. ff.
') I, S. 40 f., 205ff.
') I, S. 22 a Nr. 11 u. 12, S. 24 b Nr. 26 Ende, S. 26 Nr. 39
u. 43, S. 27b Nr. 49, S. 32b Nr. 79, S. 34a Nr. 85, S. 3ob Nr. 97,
S. 37b Nr. 100, S. 38a Nr. 101, S. 45a Nr. 128, S. 47 a Nr. 133, S. 50 a
Nr. 148, S. 51a Nr. 149. Siehe auch Wellesz MS. 1934, S. 3Ö3 ML
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua. 485
diesmal seinem Namen ^"3» beifügt1), so kann daran nur die
Flüchtigkeit der Abschreiber schuld haben, ebenso wie da-
ran, daß er auch Simcha einmal als verstorben bezeichnet,
obwohl er ihn ein andersmal ausdrücklich als lebend nennt2}.
De; Traktat Berachot muß daher noch vor dem Tode des
Jeftuda b. Isaak, d. h. vor 1224, abgefaßt worden sein. In
deir der Mischnaordnung Moed entsprechenden zweiten Tei'.
wird Jehuda b. Isaak etwa zwölfmal erwähnt, darunter acht-
mal mit b"ziz), Eleasara. Worms und Simcha äußerst selten
zuin Teil mit, zum Teil ohne b*ST. Dagegen wird Elieser b.
Joe- darin über fünfzigmal ohne die dem Toten zukommende
Segensformel angeführt. Wenn er auch siebenmal als ver-
storben zitiert wird, so kommt das wenig in Betracht. Der
zweite Teil ist also noch bei Lebzeiten des Elieser, aber
nach dem Tode des Jehuda b. Isaak entstanden. Anders ver-
hält es sich mit dem 3. und 4. Teil, die der 4. Mischnaord-
nung entsprechen. Im 3. Teil kommt Elieser b. Joel etwa 68,
im 4, Teil etwa fünfundzwanzigmal, und mit Ausnahme eines
einzigen Males stets als verstorben vor, ebenso Simcha, im
3« Teil etwa 14, im 4. Tei! dreizehnmal, fast immer als ver-
storben. Die Abfassung dieser beiden Teile ist demnach
ohnt Zweifel erst nach dem Tode der beiden genannten
Lefcier erfolgt.
Etwas zweifelhaft ist die Entstehungszeit der außer
dem Traktat Berachot in dem 1. Teil befindlichen Ab-
schritte.
Die noch zur Ordnung Seraim gehörenden Abschnitte*)
scheinen noch vor dem Tode des Elieser b. Joel entstanden
zu sein, der darin sechsmal erwähnt, aber nur einmal als ver-
storben bezeichnet wird, vielleicht sogar, gleich dem Trak-
1) I, S. 45 b Nr. 130, S. 50 a Nr. 147, S. 55 b Nr. 163.
-) I, S. 22 Nr. 11, Nr. 199, S. 61 b Mitte.
') II, S. 48a M., S. 109b Nr. 231. S. 110a ob., S. 113a Nr. 250,
S. 171a M., S. 118 b Nr. 449.
<) I, S. 64ff.
486 Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua.
täte Berachot, noch zu Lebzeiten des dreimal ohne *yx\ zitierten
Jehuda b. Isaak. Der viermal angeführte Simcha wird aller-
dings zweimal als tot genannt. Ebenso dürften die Abschatte
Nidda1), wo Elieser b. Joel elfmal ohne b*5H, Schechita*),
wo er dreizehnmal (achtmal ohne, dreimal mit b"x', zwei-
mal ausdrücklich als lebend) erscheint, sowie auch der Ab-
schnitt Tefillin3), wo Simcha nur einmal mit, einundzwanzig-
mal ohne b"JH vorkommt, noch vor dem Tode dieser beiden
Lehrer fertig gewesen sein. Dagegen wird Elieser b. Joe! in
Terefot4) 14, in Gid ha-Nasche5) 2 und in dem Traktat über
Ehescheidung0) fünfmal als verstorben bezeichnet, in dem zu-
letzt erwähnten Abschnitt auch Simcha dreimal als verstorben.
Bei der Abfassung dieser drei Abschnitte des ersten Teiles
sind also die beiden Lehrer des IOS. sicher nicht mehr
am Leben gewesen. Für die späte Entstehung des Tra-
ktates Gittin spricht schon die eben erwähnte Mitteilung
des Verfassers, er hätte dreißig Jahre zuvor als Richter in
einer Zivilklage ein Urteil zu fällen gehabt. Die Abfassung
muß nach P239 geschehen sein, da wir darin schon das
aus 1239 stammende Rechtsgutachten an Abigedor finden7).
In Gid ha-Nasche bezeichnet IOS. R. Meschullam, wohl
Meschullam b. David, seinen Korrespondenten in der An-
gelegenheit der Frankfurter Verfolgung von 1241, als ver-
storben8). Ebenso war bei Abfassung von Mikwaot sein
Lehrer Simcha sowie der diesen überlebende Mose b.
Chisdai tot9). Überhaupt dürften dem ursprünglich wohl
nur aus den Traktaten der ersten Mischnaordnung be-
») I, S. 87 ff.
») I, S. 101 ff.
3) I, S. 148 ff.
*) I, S. 110 ff.
») I, S. 126 ff.
e) 1, S. 197 ff.
') I, S. 198 a Nr. 705 in Verbind, mit S. 210 a unt
«) I, S. 130 b. Nr. 458.
«) 1, S. 85 b.
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua. 487
stehenden 1. Teil des Or Sarua die wenig umfangreichen
Traktate der 3., 5. und 6. Ordnung erst nachträglich an-
gehängt worden sein. Ebenso hat der Verfasser den Ab-
schnitt über Mildtätigkeit sowie auch das einleitende Al-
phabet, die Eiieser b. Joe! und Simcha als verstorben be-
zeichnen1), warscheinlich erst später dem Traktate Bera-
rhot vorgesetzt.
Über die Todeszeit dieser beiden Lehrer wissen wir
nichts Bestimmtes. Zur Zeit des Streites über die während
der Frankfurter Verfolgung von 1241 zur Taufe gezwungene
B^aut müssen sie schon beide tot gewesen sein, da sonst
IOS. es nicht unterlassen hätte, sie in einer so wichtigen
Angelegenheit um ihre Meinung zu befragen. MeschuHam
b. David, der an diesem Streite beteiligt ist, erwähnt auch
Simcha als gestorben2). Um 1230 wird Eiieser b. Joel, der
während der Schülerzeit des Meir a. Rotenburg in Würz-
burg war, ncch gelebt haben3). Ebenso Simcha, dem der
in einem Briefe des IOS. an S. als verstorben erwähnte
Eiieser im Tode vorausgegangen zu sein scheint4). Ihren
Tod dürfen wir wohl etwa um die Mitte des 4. Jahrzehnts
des 13. Jahrhunderts setzen5).
In dem Or Sarua lassen sich somit drei Perioden
nachweisen: eine bis 1224 (die Traktate SeraTm), eine
zweite von 1224 bis etwa 1235 (2. Teil) und eine dritte
von etwa 1235 ab (3. und 4. Teil und noch einige Ab-
schnitte des 1. Teiles). Die beiden letzten Teile sind jeden-
falls später entstanden6). Und es liegt sehr nahe anzu-
nehmen, daß der 1246 niedergeschriebene Abschnitt Ab.
Sara, der letzte des vierten Teiles, auch zu den zuletzt
') I, S. 10 b M., 14 b, 15, 18 a.
*) Chajjim Or Sarua Rga, Steit., S. 73a.
*) Mo. (Mordecbai), Riva, fol. 39 c Nr. 1732.
*) IOS. I, S. 226 b oben.
■•) Über El. b. Joe! siehe Groß (MS. 1885, S. 375).
*>) Über die Zeit der Abfassung siehe auch Wellesz MS. 1904,
S. 361, 363 u. Jahrb. 1906 S. 119, H. Vogelstein MS. 1905 S. 703/4.
4SS Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Saroa.
abgefaßten gehört. Erwägen wir ferner, daß der Verfassen-
den Traktat Berachot, sowie die Traktate der Ordnung
Moed, besonders die der Ordnung Nesikin eingehend be-
handelt, während er die das Eherecht betreffenden Traktat«
verhältnismäßig kurz abmacht, so ist es nicht unwahr-
scheinlich, daß sein Tod erfolgte, bevor er diesen Teil voll-
enden konnte. Er muß also nicht lange nach der Redaktion.
von Ab. Sara, vielleicht gegen 1250, in einem Alter von
70— 7© Jahren, gestorben sein.
JOS. führte ein Wanderleben. Er hielt sich auf in
Frankreich, in Ungarn, in Speyer, Regensburg, Würzburg,
Meißen, Wien, Sachsen und im Lande Kanaan. Wo
in diesen Ländern und Städten mag wohl seine Heimat
gewesen sein? Er selbst bezeichnet Sachsen, worunter
man damals Sachsen — Wittenberg verstand1), zweimal als
>unser Land« und Wien als »unsre Stadt*. Ein andres
Mal erzählt er, daß er als Knabe in Meißen gewesen ist.
Einige Andeutungen weisen uns nach Böhmen, da er von
seinen dortigen Lehrern spricht. Weitere Bemerkungen des
10S. führen uns nach dem Lande Kanaan, das er oft er-
wähnt und als »unser Land bezeichnet.
Was verstand man im Mittelalter unter Kanaan? Der
Verfasser des Aruch übersetzt (*ihB in die Sprache Kana-
ans mit Öipö« Das Nächstliegende ist, an das griechische
pfäsm oder an ein latinisiertes Neutrum des griechischer
Wortes zu denken, aber nicht an das slavische »Mak.«8).
In einer an Jehuda ha-Kohen, den Verfasser des D'nntDD,
im 11. Jahrhundert gerichteten Anfrage wird von einem
') Siehe Rothert, Karten und Skizzen aus der Entwicklung der
größern deutschen Staaten Nr. 2.
-') Siehe Kohut, Aruch comp!. VI, S. 410. — Harkavys Lese-
art '2'PC als Abkürzung vom slavischen HJ^Sipc (Die Juden und die
sl avischen Sprachen S. 43 f.) ist zu willkürlich. Aus IOS. I, S. 65 b
Nr. 216, wo es WSKNB heißt, ist auf die richtige Lesart des Aruch
nicht zu schließen.
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or S^rua. 43}
I mischen Kanaan gesprochen'-). Schon dieser Ausdruck
zeig:, daß Kanaan damals sich noch weiter hinaus erstreckte.
Offenbar hatte dieser Begriff etwas Unbestimmtes und
mochte wohl hauptsächlich den Norden und Südosten
Europas umfaßt haben. Zur Zeit des Verfassers des Josippor.
besten: eine von diesem bestrittene Ansicht, daß die Slaven
von Kanaan stammten2). Ibn Esra versteht unter Kanaan
Deutschland, Dav. Kimchi Deutschland und die Slaven-
länder;. Doch bald wird der Begriff enger begrenzt. Die
den: Worte Kanaan anhaftende Nebenbedeutung Sklave*)
hav spezieil in Deutschland, wo man bei den fortwährenden
Kämpfen mit den Slaven viele von ihnen zu Hörigen und
Sklaven machte und wo Slaven und Skiaven gleichbedeutend
wurden5), die Identifizierung von Kanaan mit Slavenland
zur Folge gehabt. Das zeigen uns deutlich die zahlreichen
Glossen in der Sprache Kanaans bei manchen jüdischen
Autoren des Mittelalters, die sich auf den ersten Blick als
slavische Wörter zu erkennen geben6). Viele solcher Glossen
finde:: wir bei Abraham b. Asriel7) und besonders bei un-
Serffl 10S.8).
Wenn die Sprache Kanaans Slavisch bedeutet, so ist
jedenfalls Kanaan das Land der Slaven und mag wohl im
'-} \V |J?:3 px : IOS. I, S. !9ö a M., Nr. 694. — Das außerdem in
kesponsum zweimal vorkommende Kanaan dürfte wohl Slave
odei NichtJude überhaupt bedeuten.
'•} Josippon, ed. Vened., fol. 1 b unt.
'■} Siehe deren Kommentare zu Obadja Ende.
*) Diese Bedeutung hat Kanaan bei MR., ed. Prag, Nr. 887,
'. . Berh, S. 52, Nr. 332 und bei Menachem a. Merseburg (Rga Jak.
weij, Vened., fol. 106 b M.).
e) Siehe Du Cange (Glossarium VII, S. 357/8), Grimm (Dtsch.
Wrtb. X, 1 S. 1310/11), F. Weigand (Dtscn. Wrtb. II, S. 674), Palacky
: en I, S. 62 M.).
«) Harkavy, S. 48 ff.
} MS. 1377, S. 372 f., 1882 S. 318.
») Harkavy, S. 54 ff., Wellesz (MS. 1 904 S. 710/1), Markon(ebd.
1905, S. 709 ff.)
490 Lebenszeit und Heimat des Jsaak Or Santa.
weitern Sinne alle slavischen Länder umfaßt haben. Doch
hat dieses Wort sicher noch einen engern Sinn gehabt und
ein bestimmtes Land bedeutet. Dies ist entschieden bei
IOS. der Fall. Wenn er wiederholt von »unsern Gebräu-
chen im Lande Kanaan« spricht, so kann er nur ein ganz
bestimmtes Land und nicht die unbestimmte Ländermasse
der Slaven gemeint haben. Schon im 12. Jahrhundert ver-
stand man sehr wohl die einzelnen slavischen Länder, wie
Rußland, Polen und Böhmen auseinander zu halten1). IOS.
der stets genaue Bezeichnungen liebt und Zweideutigkeiter
vermeidet, hätte, wenn er verschiedene slavische Länder
besucht hätte, sicher nicht unterlassen, die einzelnen Län-
der, in denen er die angeführten Gebräuche beobachtet,
genauer zu bezeichnen. Der Ausdruck UfliS^öS2) der ein
Königreich oder ein unter einem besondern Herrscher ste-
hendes Land bedeutet, schließt es aus, an eine Lär.der-
masse zu denken.
Welches slavische Land dürfen wir unter Kanaan bei
IOS. verstehen ? Rußland erwähnt er selbst niemals, Polen
vielleicht ein einziges Mai3). In Ungarn, wo sich ebenfalls
viele Slaven befanden, hat er sich wohl aufgehalten, doch
nur ganz kurze Zeit4), Meißen, die Pr®vinz Sachsen und
Österreich, wo im 13. Jahrhundert Überreste von Slaven.
gelebt haben mochten, wo aber das deutsche Element, wenig-
stens in den Städten, nach Jahrhunderte langer Kolonisation
ohne Zweifel stark vorherrschte, kann er unmöglich als
slavische Länder bezeichnet haben5;. Er kann auch in
l) Von Rußland und Polen erzählt bei IOS. Elieser aus Böhmen :
IOS. !, S. 40 b Nr. 113.
*) Siehe S. 496, Anm. 1.
•) I, S. 112b unt. ist wohl rroSißa statt iri^M zu lesen?
«) Siehe unten S. 497, Anm. 3.
6) Vollständig unhaltbar ist die Annahme von Zunz (Binjatri-;
a. Tudela, cd. Ascher, II, S. 288 unt.), IOS. nenne sein Land Kanaan,
weil Österreich damals unter Ottokar II. zu Böhmen gehört habe. So
Jagen doch die politischen Verhältnisse nicht, daß Österreich als
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua. 491
einem unter deutscher Herrschaft stehenden Lande, wo die
in den Städten zwischen Deutschen lebenden Juden sich
doch der deutschen Sprache bedienen mußten, unmöglich
Gelegenheit gehabt haben, sich mit den slavischen Idiomen
vertraut zu machen. Ebenso wenig wird dort ein Bedürfnis
bestanden haben, schwer verständliche talmudische Wörter
in eine slavische Sprache übersetzt zu sehen. Das einzige
slavische Land, zu dem IOS. Beziehungen hatte und an das er
bei Kanaan denken konnte, ist nur Böhmen. In Böhmen hatten
seine Lehrer gewohnt. Er erwähnt oft Isaak b. Mcrdechai1),
Isaak ha-Laban2), Eüeser b. Isaak3), Mose b. Jakob1), Abra-
ham b. Asriel5), Jakob ha-Laban5), Isaak Chasan0), von
denen wir wissen, daß sie in Böhmen lebten. Er spricht auch
mehrmals von Böhmen7) und ist über Prag unterrichtet8).
Man bedenke ferner, daß Kanaan schon alte, angesehene
Gemeinden besessen haben muß, wenn IOS. so oft ihre
Gebräuche anführt und sie denen der bedeutendsten Ge-
meinden in Frankreich und am Rhein gegenüberstellt. Das
paßt nur auf Böhmen, wo sich schon im 10. und 11. Jahr-
hundert durch sichere Nachrichten Gemeinden nachweisen
lassen9) und wo, wie wir oben gesehen, wir schon im 12.
Jahrhundert bedeutende Gelehrte finden. Dagegen bezeugt
Provinz Böhmens gegolten haben sollte. Außerdem nennt er ja, wie
wir unten S. 496 sehen, schon während seines Unterrichtes bei E!.
b. Joel Kanaan sein Land.
') Siehe oben S. 482 f.
*) Tykocinski, Prag (MS. 1900 S. 351 mit.).
») II, S. 32b;unt, S. 79a Nr. 148 Schluß und noch an andern Stellen.
*) I, Nr. 25* S. 24 a Mitte, II, Nr. 424, S. 174 a ob., vergl. Tos.
Jebam. fol. 24 a Mitte.
*) Siehe weiter unt S. 495.
«) Siehe oben S. 48C, Anm. 8.
7) I, S. 14 b Nr. 8, S. 117 b ob., S. 199 b Mitte Nr. 707, II.
S. 40 b Nr. 13, Nr. 432 S. 177 b unt. und 178 a unt.
») I, Nr. 378 S. 105 b unt., Nr. 712 S. 200 b M. II, Nr. 281
S. 129 a ob. III, B. Kamma S. 62 a M. Nr. 413.
») Tykocinski, Prag (MS. 1909, S. 345 f.).
•492 Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua.
unsEIieserb. Isaak aus Böhmen ausdrücklich, daß in Rußland,
Polen und Ungarn, zu seinerzeit wenigstens, die Gemeinden
schwach und die Talmudstudien wenig entwickelt waren1).
Für die Gleichbedeutung Kanaans mit Böhmen finden
wir bei IOS. noch ein weiteres deutliches Zeugnis. In einem
Meinungsstreit zwischen EphraTm b. Isaak und Joe! b. Isaak
beruft sich dieser darauf, daß ein bedeutender Gelehrter Isaa'--
Chasan in Böhmen es für erlaubt hielt, die fragliche Art Feit
zu essen. Darauf erwidert ihm Ephraim b. Isaak, im Lande
Kanaan gebe es große Weise, die das Feit nicht genießen2)
Diese Antwort hat nur dann einen Sinn, wenn Böhmen
und Kanaan dasselbe ist. Ephraim will nicht damit beweisen,
daß es überhaupt Gelehrte gibt, die es nicht essen, denn
er hat schon im Vorausgehenden auf Frankreich, die Lom-
bardei und sein eigenes Land hingewiesen. Ohne Zweifel
will er seinen Gegner damit schlagen, daß selbst in Böhme?
auf das sich dieser beruft, große Gelehrte der entgegen-
gesetzten Meinung sind. Die Identität von Böhmen mit
Kanaan läßt sich auch daraus schließen, daß Abraham b.
Asriel, der zu den Alten Böhmens gezählt wird3), oft von
Glossen in der Sprache Kanaans Gebrauch macht.
Verstehen IOS. und Abraham b. Asriel unter Kanav
Böhmen, so denkt auch der von IOS. angeführte und nach Prag
benannte Isaak b. Mordechai, wenn er bei der Mitteilung eines
Brauches sagt: >-In Kanaan habe ich gesehen«4), nur an
Böhmen. Dies um so mehr, als IOS. selbst soeben diesen
Brauch auch von Prag mitteilt. Da auch EphraTm b. IsaaV,
wie wir oben gesehen, mit Kanaan Böhmen meint, so wird
uns klar, daß diese Bezeichnung schon im 12. Jahrhundert
') IOS. I, S. 40 b, Nr. 113.
2; Joel b. Is. sagt: . . . fivil \m orraa pns1 n na*i x~z: irn '3
W<V 'n'K TJ1D. Antwort des Ephraim: cosn w fj?:r piO nm
".ms p^31K pXB> QiBSinö IOS. I, S. 117 b ob.
») Steinschneider, Cod. Berl. II (137S), S. 55 ob.
*) IOS. I, Nr. 712, S. 200 b M.
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Serna. 493
üblich war. Dann dürfen wir annehmen, daß das von Elieser
b. Natan aufgesuchte Kanaan, über dessen Gebräuche er
uns mehrmals berichtet1), gleichfalls Böhmen ist. Ebenso
haben wir bei MeTr a. Rotenburg an Böhmen zu denken.,
wenn er neben Frankreich, England und Deutschland auch
Kanaan als Beispiel dafür anführt, daß durch verschiedene
Sprachen getrennte Gebiete als verschiedene Länder zu
betrachten sind8). D, h. die Benennung Kanaan war nicht
10S. allein, sondern den damaligen jüdischen Gelehrten
Deutschlands überhaupt eigen. Damit stimmt die Mitteilung
Benjamins aus Tudela überein. Er sagt : »Von da ab ist
Böhmen, das Prag genannt wird. Das ist der Anfang des
Landes Sklavonien, und die Juden, die dort wohnen, nennen
es das Land Kanaan, weil die Bewohner dieses Landes
ihre Söhne und Töchter an alle Völker verkaufen^3). Die
Stelle ist nicht ganz klar. Grammatikalisch kann sich »es«
sowohl auf Böhmen als auch auf Sklavonien beziehen,
dem Sinne nach jedoch richtiger auf das erstere. Dies um
') pam, ed. Prag, fol. S d, Nr. 8 Anf., fol. 61 a, Nr. 327 Ende,
fol. 70 a ob.
2) fva ntt-mf? D-pi^n |j»3 p-wi »38M \s,-i pxi no-tti nx-u
Mflrta trpltavt MR. Crem., fo!. 40b, Nr. 117. — Sal. Lurja, im 16.
ishrhundert, scheint allerdings unter Kanaan, wenn er sagt: D.T3 \Wt~
j>;3 ]'&b pj?2 X'flV Polen zu verstehen, wo er lebte: Jam schel
<cheIomo, Ghtin (ed. Bei!.), Nr. 32 fol. 36 d Mitte.
8) rronbpVM px r^nn x\- .nar* nx-ip;n «*fli Dna px nuVni ow
b^zvz jyjD fix db> cmn chi-\" nw* D^mpi [omT ip ina naij
IWM ^ D,TJn3l DTP» D'-a'D KW? pKM 1&,:x[B>]: Binjamin v. Tu-
dela, ed. Orünhut-Adler, S. 103. — Vgl. ed. Adler, S. 72 d hebr. Textes,
Anm. 12. — Über d. Bedeutung v. Kanaan, siehe auch Zunz (ßin-
jamin a. Tudela, ed. Ascher II, S. 226/7), Harkavy S. 20 ff., Kohut
(Aruch complet. I, Einleit., S. VII Mitte, IV, S. 260 a not), Güdemann
Gesch. d. Erziehungsw. in Frankr. und Deutschi. S. 115, Anm. 5),
Brann (Qesch. der Jud. in Schles. S. 3, Anm. 3), Oastfreund (Die
Wiener Rabbinen, S. 11 ob, 13 ob.), Salfeld (Martyrolog. S. 151.
Ärim. 1), Wellesz. (MS. 1904, S. 453 M.). Eine verkehrte Auffassung
von Kanaan hat Grünhut-Adler (Bitijam. v. Tud. ed. Frankf. S. 136/7)
494 Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua.
so wahrscheinlicher, als eine Handschrift die Angabe ent-
hält, in Kanaan hätten sich damals 106 Juden befunden.
Für den ganzen Komplex der Slavenländer wäre die Zahl
zu gering, und der Verfasser hätte schwerlich so eingehende
Nachrichten darüber haben können.
Wir wissen nun, daß Kanaan Böhmen ist und daß
IOS. es »unser Land* nennt. Wir kehren jetzt zu unserer
ersten Frage zurück : Welches von den vier Ländern Öster-
reich, Meißen, Sachsen-Wittenberg und Böhmen hat am
meisten Anspruch darauf, als die Heimat des IOS. zu gelten?
Zu diesem Zwecke wollen wir die Beziehungen des Ver-
fassers zu jedem dieser vier Länder genauer untersuchen.
Wien erwähnt IOS. in einem von dort aus an seinen
Lehrer Simcha gerichteten Schreiben1). In der Abhandlung
über Terefot bezeichnet er W. ausdrücklich als »unsre
Stadt« 2). Er lebte also dort schon zu Lebzeiten seines
Lehrers S., aber auch während der Abfassung der erwähnten
Abhandlung, die wohl nach dessen Tode geschah. In
Wien traf ihn auch Chajjim b. Mose, der Schwiegervater
des Abigedor8). Wahrscheinlich hat IOS. den letzten Ab-
schnitt seines Lebens in Wien zugebracht, weshalb er
von MeTr b. Baruch, Mordechai und auch von andern Autoren
in der Regel nach Wien genannt wird4). Seine Heimat kann
W. nicht sein, da er außer an den beiden angeführten
Stellen nie dieser Stadt gedenkt und keine Gebräuche aus
deren Gemeinde anführt. Ohne Zweifel kam er nach W.
erst in spätem Alter, und machte sich erst sehr spät mit
den dortigen Verhältnissen vertraut. In Meißen hielt er
«) K3"0 pJH 13 '3 : I, S. 225 b, Nr. 762 Anf.
2) wiu w>TJ>3 part I, Nr. 406, S. nob nnt.
s) r,DD3 ppkvi nroi D'soni i1? "rnn wie *i"n "sb »rovrai: Hag.
Mo., Preßb., Kidd. fol. 105 d Nr. 570 Mitte. — Siehe S. Kohn, Mor-
dechai S. 104.
4) MR., Prag, fol. 23 a Nr. 111 u. an vielen andern Orten. Mo.,
Riva, fol. 24 d, Nr. 1050, fol. 53 c Mitte u. sonst noch oft. Schibbole
ha-Leket, ed. Buber, S. 233 M., 255 ob.
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua. 495
sich, wie er selbst erzählt, als Kind auf1). Aber außer an
dieser einzigen Stelle erwähnt er es nirgends. Mit den
Gemeindeverhältnissen in Sachsen, das er zweimal als
»unser Land« bezeichnet und von dem er Gebräuche an-
führt2), muß er vertraut gewesen sein. Sicher hat er sich
dort einmal längere Zeit aufgehalten. Doch viel inniger als
zu Sachsen, Meißen und Wien sind die Beziehungen des
Verfassers zu Böhmen oder Kanaan.
Im Or Sarua erwähnt Isaak selbst viermal Prag,
sechsmal Böhmen8), außerdem erwähnt er es elfmal unter
der Bezeichnung Kanaan. Er spricht dreimal von 'meinen
Lehrern in Böhmen«4). Er nenntauch Isaak b. Mordechai1),
Jakob b. Isaak ha-Laban6) und Abraham b. Asriei7), die Böhmen
angehören, seine Lehrer. Er muß wohl bei ihnen in Böhmen
Unterricht genossen haben, und das kann, was Isaak b. Mor-
dechai betrifft, nur in seiner Kindheit geschehen sein. Mit den
Gebräuchen in Böhmen oder Kanaan ist er besonders \ er-
traut, und er bezeichnet dabei Kanaan fast immer ausdrück-
lich als sein Land: »Wie wir es im Lande Kanaan zu tun
pflegen«. — *Es geschieht täglich in unserem Königreiche
im Lande Kanaan«. — »In unserem Königreiche im Lande
Kanaan hütet man sich« ... — »Unsere Sitte im Lande
') noj3,n rrsa [-»"sn pT"*a vm [öp nj» innen ";kb»3 "»anist
f3 JVÄ'JJ? Y.DKW Tom flM?-»! ma'j? : IV, S. 55b unt. — Unter ny; ist
natürlich »Knabe« und nicht, wie Vogelstein (MS. 1905 S. 702 ob.)
meint, »Jüngling« zu verstehen. Ebenso bedeutet 'roni nicht» ich habe
die Entscheidung getroffen«, sondern wie auch an andern Stellen »ich
war der Ansicht'. Vgl. Wellesz (MS. 1904 S. 137 ob. u. Jahrb. d.
jüd.-liter. Geseüsch. 1906 S. 116 unt. f.)
2, VPXWV px irmsSo iJC« I, S. 200b, M. Nr. 712. — WJliaVöS.
KWWS: II, S. 138b, Nr. 320 Ende.
3; Siehe oben S. 491.
*) I, S. 14 b Nr. 8, II. Nr. 432 S. 177 b unt. u. 178 a unt.
6) S. oben S. 482.
«, II, Nr. 432 S. 177 b unt. Siehe auch Schibbale ha-Leket, ed.
Buber, S. 366 unt.
') II, S. 48 a Nr. 91 u. 92.
4-96 Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua.
Kanaan«. — »Warum wir in unserm Königreiche im Lande
Kanaan gewohnt sind«. — »Wir im Lande Kanaan haben
den Brauch« — »Wir aber, in allen unseren Gemeinden im
Lande Kanaan«1).
Dieses beweist vor allem, daß er sich lange in Böh-
men aufgehalten und mit den Verhältnissen der dortigen
Gemeinden besonders vertraut war. Das beweist aber noch
viel mehr: Abgesehen von Frankreich und den Gemeinden
am Rhein, die wegen ihrer Bedeutung als Beispiel gälten,
führt lOS. die Gebräuche keines anderen Landes so >ft an
wie die Böhmens. Von Würzburg bringt er uns nur zweimal
Mitteilungen'2), von der bedeutenden Gemeinde Regensburg
ebenfalls nur zweimal*), obwohl er doch in beiden Städten
gelebt hat. Dagegen bringt er Gebräuche und andre Mit-
teilungen von Kanaan oder Böhmen oder Prag zwanzigmal.
Diese Vorliebe läßt sich eben nur durch seine Abstammung
erklären und dadurch, daß er bei seinen Lehrern in Böhmen
seinen ersten Unterricht genoß.
Seine Abstammung aus Kanaan betont IOS selbst an
einer Stelle. Während des Unterrichtes bei Elieser b. Joe!
sagt er zu seinem Lehrer: »Wir in unserm Königreiche im
Lande Kanaan richten uns (in bezug auf den Genuß einer
gewissen Art Fett) nach R. Ephraim, ihr aber halte: es
nach R. Joe! für genießbar«4). Also schon während seiner
Lehrjahre und seines Aufenthaltes außerhalb Böhmens be-
') [JH3 p»3 vniafroa um*»: i, S. JlSa ob. — rr:-i ux» loa
ijj» pxa; II, s. 6a Mitte. — |j>m pxr lrroa^os or ^33 onpjmu II,
s. 15 b ob. — anr;« j]»a p«a unntan: n, S. 16 a, Nr. 33. — oruo
|p3 p«3 : II. S. 19a AI, 22a unt. — p*a Wni3^B3 p:,T: ':XC "3 hy
JJ»a: II, S. 49b, Nr. 95 Ende. — nvna |pa pR3 13KJ II, S. 176a, Nr.
429. — mim fV33 p«3 UWBlpB ^33 UN lfPD: IV, S. 52 a, Nr. 136
Schluß. — }j»3 p« erwähnt IOS. auch II, S. 39b unt. — Siehe
Wellesz (Jahrb. 1906, S. 192).
a) II, Nr. 107 S. 53 a mit., S. 157 b Nr. 284.
3) I, S. 85 b uut. 11, S. 23 a nnt.
4) wd^m *?-ati v'itj>h v,3K wai nie v ty ana p-so wwa »sman
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua. 497
zeichnet er Böhmen als sein Land. Die Abstammung be-
weisen auch die zahlreichen Glossen in der Sprache Kanaans,
die darauf schließen lassen, daß er schon in seiner Kind-
heit diese Sprache kannte. Auf einen slavischen Ursprung
dürfte auch die bei 10S. vorkommende, noch heute bei den
Cechen und teilweise bei den andern Slaven übliche Na-
mensform Labe für Elbe deuten1), die auch die Schreibart
des ersten böhmischen Chronisten Cosmas, im 12. Jahr-
hundert, entspricht, während die deutschen Chroniken Albia
oder Albis schreiben2). Slavischen Ursprungs sind auch
die Namensformen der Orte Buden und Ostrigom in Ungarn,
unter welchen 10S. sicher Budapest und Gran, im Cechischen
Budin und Ostfihom, versteht3}.
Man hat gemeint, seine slavischen Worterklärungen
können seine Abstammung garnicht beweisen, da er ja in
vielen Ländern gelebt hat und sich auch französischer und
deutscher Wörter bediene4). Die allerdings in großer Zahl
gebrauchten französischen Glossen gehören aber zum Teil
nicht ihm, sondern den zitierten Autoren5). Dann folgt er
nur altern Beispielen, wenn er sich der schon seit lange
bei deutschen und französischen Gelehrten üblichen und
unentbehrlichen französischen Erklärungen bedient. Deutsche
Wörter finden wir bei unserm Verfasser etwa zehn. Doch
mehr als die Hälfte davon gehören andern Autoren. Von
der böhmischen Sprache dagegen bringt uns IOS., der sie,
one» wai "nana [Jos fuo vstahoa vx\ . . . tidxi \b ^r\b*v dkt nsbn :
I, S. 118 a ob. — Siehe auch Groß (MS. 1871, S. 251, Anm. 2).
l) in?i Dirm man p» rotaa »nrra: II, S. 3a unt. — Es ist
wohl i^b statt nS zu lesen. Im Russischen und Polnischen heißt der
Fluß Elba u. Laba.
*) Pertz SS. IX, Register.
s) DirittD*^ pnS nan pi6 ^nySp"'« -cnon "OK: I, S. lula
Mitte Nr. 366. — Siehe Wellesz (MS. 1904 S. 448).
*) Wellesz ebd. S. 137.
6) Ebd. S. 710 f.
32
Monatsschrift, 55. Jahrgang. "•
493 Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua.
vielleicht durch das Beispiel des Abraham b. Asriel dazu an-
geregt, in die talmudische Literatur zuerst eingeführt, die sehr
bedeutende Zahl von 51 Wörtern1). Es verhält sich also
mit den böhmischen Glossen ganz anders als mit den fran-
zösischen und deutschen, und sie lassen auf enge Be-
ziehungen des Verfassers zu Böhmen schließen. Daß IOS.
seinen Kodex für die in slavischen Ländern lebenden Juden
geschrieben hätte2), ist nicht anzunehmen, doch hatte er
offenbar das klare Bestreben, sein Werk den Talmudjüngern
seiner Heimat, denen die in der talmudischen Literatur
eingebürgerten französischen Glossen fremd waren, durch
böhmische zu erklären. Man darf sogar annehmen, daß er
in Böhmen ein Lehrhaus leitete, und daß sich dort bei den
Vorträgen das Bedürfnis herausstellte, zum bessern Ver-
ständnis seiner slavischen Jünger die böhmische Sprache
zu benützen. Daß er in Würzburg lehrte, wissen wir durch
Me'i'r aus Rotenburg, der dort von ihm Unterricht empfing.
Eine Andeutung, daß er eine Schule leitete, finden wir
auch bei seinem Korrespondenten Jesaja b. Mali. Dieser
wünscht ihm, daß Gott sein Gebiet mit Schülern bereichern,
und er die Lehre in Israel verbreiten möge3).
Wenn IOS. eine Schule in Böhmen leitete, so kann
das nur nach seiner Rückkehr aus Deutschland und Frank-
reich geschehen sein. Da die meisten Stellen, in denen er
von den Gebräuchen in Kanaan spricht, sich in den Trak-
taten der Ordnung Moed, besonders im Traktate Sabbat
befinden, so darf wohl angenommen werden, daß sein aber-
maliger Aufenthalt in Böhmen in der Zeit der Abfassung
dieses Teiles geschah. Die Ordnung Moed ist aber, wie wir
oben gesehen4), vor dem dritten und vierten Teil und
wahrscheinlich noch zu Lebzeiten seiner Lehrer Elieser b. Joe!
») Markon, MS. 1905 S. 709 ff.
8) Wellesz S. 710.
3) IOS. I, S. 220 a Nr. 754 Ende,
*) Siehe oben S. 485.
Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarua. 499
und Simcha entstanden. Dieser Aufenthalt muß jedenfalls
dem in Wien, vorausgegangen sein, wo er, wie wir schon
oben gezeigt haben, den letzten Abschnitt seines Lebens
zubrachte. Dagegen geschah es wohl nach seinem Aufent-
halte in Regensburg und Würzburg, da er davon im Teile
Moed wie von etwas Vergangenem spricht. Zur Zeit des
Rechtsstreites, in dem er etwa dreißig Jahre vor Abfassung
des Abschnittes Gittin zwischen einem böhmischen und
einem Regensburger Juden als Richter zu entscheiden
hatte, wird er wohl in Regensburg gewohnt haben. Das
dürfte Ende des zweiten Jahrzehntes geschehen sein. Von
dort aus muß er nach Würzburg gegangen sein, wo Mei'r
aus Rotenburg, wohl in den letzten Jahren des dritten
Jahrzehntes, als Knabe sein Lehrhaus besuchte2).
Nach den obigen Darlegungen dürften wir uns den
Lebenslauf des IOS. in folgender Weise vorstellen. In Böhmen
hat er seine Kinderjahre und sicher auch die ersten Jahre
seiner Jugend verlebt. Ob er auch dort geboren ist, wissen
wir nicht. Vorübergehend hielt er sich als Knabe in Meißen
auf. In Böhmen genoß er Unterricht bei Isaak b. Mordechai,
Jakob b. Isaak ha-Laban und Abraham b. Asriel. Wohl in den
letzten Jahren des 12. Jahrhunderts, vielleicht nach einem
längern Aufenthalte in Sachsen-Wittenberg, ging er als reifer
Jüngling nach Deutschland und besuchte die bekannten
Stätten jüdischer Gelehrsamkeit, wo er als Jünger der da-
maligen Autoritäten, Jehudas des Frommen, Eliesers b. Joel,
Simchas in Speyer und Eleasars aus Worms sein Wissen
bereicherte. Schon im Jahre 1201, wohl nach seiner Schüler-
zeit bei Elieser b. Joel bekleidete er ein Rabbineramt in
Deutschland, vielleicht am Rhein, von wo aus er zu gleicher
Zeit mit Elieser b. Joel und Simcha ein Gutachten in der
Angelegenheit des ermordeten Alexander abgab. Erst nach
>) Siehe oben S. 479, Anm. 6.
2) Mo., Kiva, fol. 39 c Nr. 1732. — Siehe Groß (MS. 1871.
S. 257.)
32*
500 Lebenszeit und Heimat des Isaak Or Sarna.
1215, bis zu welcher Zeit er wohl in Deutschland lebte,
treffen wir ihn in Paris in eifrigem Verkehr mit seinem
Lehrer Jehuda b. Isaak und andern bekannten französischen
Gelehrten. Von Paris zurückgekehrt, war er in Regensburg
und Würzburg als Rabbiner und Schuloberhaupt tätig. Wohl
erst von Süddeutschland aus ging er nach Böhmen zurück
und lebte dort wahrscheinlich im vierten Jahrzehnt, eine
Reihe von Jahren, bis er sich endlich in Wien niederließ,
wo er wohl bis zu seinem Tode geblieben sein mochte.
Notiz.
Zum nijnap nyp des R. Isaac ben Reuben.
Mein Kollege Professor Louis Ginzberg macht mich darauf auf-
merksam, daß das von mir in der Lewy-Festscbrift (S. 62—75) ver-
öffentlichte Genizahfragment, das ich als Überbleibsel aus einem 1DD
|Hps bezeichnet hatte, sich auf das Engste mit dem Text des den
Namen des R. Isaac b. Reuben tragenden nijnav "nytP berührt. Ich
habe, diesem dankenswerten Hinweis folgend, die beiden Texte mit
einander verglichen und stellte hierbei fest, daß deren Identität keine
vollständige ist. Um das Verhältnis der Texte zu einander zu veran-
schaulichen, stelle ich einen Passus aus dem Anfang des siebenten
Abschnittes (Lewy-Festschrift, p. 71 f.1), fliyctf *-»JW in der Wilnaer
Talmudausgabe fol. lOd) nach beiden Rezensionen einander gegen-
über, wobei ich, der Einfachheit halber, anstatt des arabischen Ori-
ginaltextes, die von mir hergestellte hebräische Übersetzung benütze.
Genisahfragmen t
mjnap ■'jm mann ^yn^n piDH
pm ccitom niw \rm pa o^oim
ibta dhd in« So nSyo p-on nnip \y*v
Pjnww "Di nnS \b onnren &2*v\
mpea [orem oJ-noiBTHP "ioxii o^ioS
um -idip wn aww prx*n ..tjdtk on
«"« [m »a 'nmo -o» ^a idibti xim
idib> »arm ■id»'? a^s im ?]dd iron Sx
vnrna tswi «im iob>o lown mm -dp
iw ix iiB' i« "non injn Sx b^x jn"1 xs
nava ix na»: ix noi "iop1? mana Sai
to«i i» mano tanvn dtix «im pxi
■Olffl 3*31 '31 TD IX "13BW WJH OVO «"*
J) Das dem siebenten Abschnitt vorausgehende Stück gehört,
wie ein Vergleich mit dem mjftSV inj?«' lehrt, zum achten Abschnitt
und sollte später folgen. Ich hatte mich fälschlich nach der Lage der
Blätter gerichtet.
■) Wegen homoioteleuton das Folgende ausgefallen.
») Sollte 'an heißen. Anscheinend infolge der Lücke korrigiert.
*a*»*ia naiK'^arn -ijuph
ifiwrwan D'noivn niyiav
pna pur i^idip d-'dvbi ntö
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Notiz.
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}B JJHDMP no Ss ty dSb»1? in B^n «"„18»
r'v'jiyn n^stoni.Vnwn «im po» in mpe
■pstpBBi nj>ia8>n pi:iBxnp5tpcBni5B,B>xin
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njjaiK iibx ntai -inxs anw isirm
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jnixa ^33 a^np"1» ^xie» Sb> wi
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PXpBB "lÖB^ "138» 1B1B» SB» 1JH
.1-13X1 H33J3 P5£pB3 B^nP*8>l
pDJiK \r,v nnai H"iibb>31 n^n
i:t;b> [Bi .uiD3 lawni iibb
'i3i jn piaiw "i
Man sieht auf den ersten Blick, daß, abgesehen von den Lücken
und Fehlern des Textes des P1^13B> i*iyv, die ohne Zweifel den Ab-
schreibern zur Last fallen, der Text des Genisahfragmentes der ur-
sprünglichere ist, daß es sich aber andererseits, bei der weitgehenden
Verschiedenheit der Darstellung, sich unmöglich um Übersetzung und
Original handeln kann. Auch die Sprache des pipintP '1JJ8», die durch-
aus glatt und korrekt ist, spricht entschieden gegen die letztere
Annahme. Am ehesten ließe sich das Verhältnis der beiden Texte als
das eines Exzerptes zu einem Originalwerk auffassen. Im Lichte dieser
Annahme würde die vielfach erörterte Frage1) über die Autorschaft
des P1J?138> ,"iV8,/ das einerseits R. Isaac ben Reuben, andererseits
Alfaßi zugeschrieben wird, sowie über die Identität des genannten
R. Isaac ben Reuben mit dem gleichnamigen Verfasser der pnrnx und
dem Übersetzer von R. Hai Gaons "iBBBl npa erhöhtes Interesse ge-
winnen. Ohne mir in dieser verwickelten und für mich abseits lie-
genden Frage eine Entscheidung anzumaßen, darf ich vielleicht die
Vermutung aussprechen, daß das besprochene Genisahfragment ein
Stück aus einem, arabisch geschriebenen Originalwerk über Eide
darstellt, das möglicherweise dem Alfaßi angehört, und aus dem R. Isaac
ben Reuben später ein hebräisches Exzerpt angefertigt hat.
New- York. Israel Friedlaender.
») Vgl. Steinschneider, Cat. Bodl. 1148, Katalog Berlin I, Nr. 24
(hierzu Zeitschrift für Hebräische Bibliographie VII, 22), Michael nix
ßitnn, S. 510 f., Weiß VB>*r)Ti in *1H IV, 381, Anna. 1 und andere.
Besprechungen.
Künstlinger, Dr. David, Altjüdische Bibeldeutung. Berlin, M. Poppelauer,
1911, 36 SS. Groß-4°.
Der Verfasser versteht unter altjüdischer Bibeldeutung »die
allegorische, wie sie sich häufig in der talmudischen Literatur und
ganz besonders (?) in den Petihöt, findet*. Zum »Ausgangspunkte
der Untersuchung« dient ihm die erste Piska der Pesikta de Rab
Kahana, weicher der größte Teil der Arbeit (3. 11—35) gewidmet ist.
In etwas lapidaren Sätzen bemerkt der Verfasser in der Vorrede :
»Folgende Abhandlung bezweckt keinen korrigierten Text und keine
besseren Lesarten herzustellen. Sie will vielmehr vermutungsweise
den ursprünglichen Bau, die Morphologie, jener Petihöt eruieren,
die, umgemodelt und verunstaltet, jetzt die erste Pesiqtä (1. Pisqä,
cf. S. 36) ausmachen.« »Die Arbeit erhebt durchaus keinen Anspruch
auf Vollständigkeit.« »Di> einschlägige Literatur wird ais bekannt
vorausgesetzt.« Eine neue Arbeit über die Pethichot könnte nun niemand
freudiger als ich begrüßen, der ich in »Zur Composition der agadi-
schen Homilien« (Monatsschrift 1879) die Proömien in der Pesikta
d. R. K. zuerst eingehend bebandelt habe. Die Ergebnisse meiner
Untersuchung wurden auch in Blochs »Studien zur Aggadah« zu-
sammengestellt ; B. unterließ es nicht ausdrücklich hervorzuheben,
daß die Pethicha von mir zuerst erkannt und in ihren Merkmalen
fixiert worden ist (Monatsschr. 1885, S. 174), obwohl er über das
Wesen der Pethichot eine eigene Theorie entwickelt (vgl. das. S. 183 f.,
S. 216 ff.). In Anlehnung an die von mir gelieferten Nachweise be-
handelten die Proömien in Bereschit rabba Lerner in »Anlage und
Quellen des B. r.« (1882) und Maybaum in »Die ältesten Phasen in der
Entwickelung der jüdisches! Predigt« (1901). * Proömien« ist ein ge-
läufiges Wort auch in Bachers großem Agada- Werke ; reiches Material
findet sich im Art. nnB in B.'s Terminologie II, S. 174 ff. — Statt
»die einschlägige Literatur« als bekannt vorauszusetzen, oder sie mit
einer Zeile abzutun, hätte Künstlinger wenigstens auf die genannten
Arbeiten hinweisen sollen, um zu den in ihnen ausgesprochenen
Ansichten Stellung zu nehmen ; das wäre für die Untersuchung
ratsamer gewesen, als zu zitieren llmal das Lisän al Arab, 2mal Gäniz,
504 Besprechungen.
lmal Itqän usw.; der Leser wäre besser informiert gewesen und hätte
auch eine bessere Vorstellung von dem Wesen des Pethichot ge-
wonnen, als wenn er bei Künstlinger S. 8 f. die merkwürdigen Sätze
findet:
»»Die Völker des Altertums sahen in jeder Erscheinung ein
Zeichen, einen Wink einer höheren Macht, der gedeutet werden
sollte. In diesem Ende legten die Barüti der Babylonier Verzeich-
nisse der Deutungen allerhand Erscheinungen an, um im Falle einer
beobachteten Erscheinung die von den früheren Priestern bereits
festgesetzte Deutung zu finden oder neue hinzufügen. Der Stil dieser
eigenartigen Verzeichnisse setzt die Aequatio-Methode voraus. Denn
der Satz z. B. : »Ist die Flamme eines Lichtes grünlich, so wird der
Hausherr und die Hausfrau in Unglück geraten,« geht doch offenbar
auf die einfache Qleichung zurück: »Grünliches Flammenlicht = Un-
glück der Hauswirte«. Die Barüti beschäftigen sich mit der Deutung
von Träumen, Leberschau, Bücherwahrsagung, Tieromina etc. Wie
jene aus allem diesen die Zukunft deuteten, indem sie in den Er-
scheinungen Zeichen erblickten, welche auf zukünftige Zustände hin-
deuteten, so fanden die alten Erklärer der Bibel außer dem eigent-
lichen Sinne der im göttlichen Buche enthaltene Wörter und Worte
noch einen andern Sinn (allegoria) in denselben, der auf irgend etwas
Anderes, im Worte nicht direkt Liegendes, hindeutet. Die allegorische
Auslegungsmethode der Bibel ist genau dieselbe, wie wir sie in der
Traumdeutung u. drgl. finden. Dasselbe kann auch vom bvü und der
fTPfl behauptet werden. — Die Petiha hingegen ist, wie oben bereits
gezeigt wurde, eine Weiterentwickelung der Einzeldeutung. Sie faßt
einige Einzeldeutungen die gewissermaßen eine Gruppe bilden, in
eine Einheit zusammen, setzt diese in einen Konnexus mit dem zu
deutenden Bibelsatz oder Abschnitt, in dem die letzte Einzeldeutung
in jenen Satz oder Abschnitt einmündet, wodurch eine Inklusio
notwendigerweise entsteht. Dem Wesen — nicht der Kunstform nach
— ist die Petiha nächstverwandt mit dem mä§äl. Im mäsäl wird eine
dem Leben entnommene Handlung .... als Deutung verwendet.
Die Petiha nimmt anstatt der Handlung eine bereits vorhandene
Gruppe von Einzeldeutungen, ^deren Gesammtheit und ganz speziell
die letzte, den zu deutenden Text deutet. Die Petiha ist demnach,
was die Form anbetrifft : eine Fortentwickelung, der Einzeldeutung ;
was den Inhalt anbetrifft : eine Art mäsal. Daß die Methode der Petiha
mit der Traumdeutung in einem gewissen Zusammenhange steht,
beweist derselbe terminus technicus, der bei beiden verwendet wird:
inD. Da pätar aus einer noch illitteraren Zeit stammt, so wird es
älter als pätah sein und sich wohl ursprünglich auf die Einzeldeutung
Besprechungen. 505
oder eine Gruppe derselben — wie eben in der Traumdeutung —
bezogen haben. Erst nach dem man die Petihä bereits geschaffen
hatte, verwendete man HIB mit nns promiscue. Allein nicht nur pätar
geht auf alte, uralte Orakelterminologie zurück, sondern auch pätah ;
denn wie pätar für die Deutung des Traumes verwendet wird, so
wird pätah für die Lösung des Rätsels benutzt. Wird der Traum
gedeutet nnB), so wird das Rätsel JWT\ = .ITIM = «DiniK »Ver-
schlossenes« gelöst, (nnB) »aufgeschlossen«. Die Terminologie
nnß'byrano ist somit dieser ganz gleich. Auch BniBO erinnert an den
Orakelterminus »bei purussü«, der Orakelentscheider Bei. Nach all
dem Gesagten dürfte die Agädä GTUn, ."H3K) nicht von (3tosn) TJD*
sondern man und TJö von jener uralten Orakelterminologie her-
stammen, man ist die Entscheidung, die Deutung. T2B der (das)
Entscheidende, der (das) Deutende.« Unwillkürlich wird man an die
Behauptung erinnert, daß dem »bei purussü« unter anderen synonymen
Götternamen bei den Minäern 1DK h», D1D« nbx, Gott dem Orakel-
entscheider entspricht, "idx s= IM, ämir = T5D««.
Ich habe diese moiSn **m mit wenigen Kürzungen wörtlich
zitiert. Muß man denn soweit ausholen, auf die Baruti zurückgreifen,
an den Bei purussü erinnern, um die so schlichten nifPJlfi im Midrasch
erklären zu wollen !
Aus den Ausdrücken BnB"DBn, bhb-djid, BnB-1D"i, nbrftDS,
n^mno, nns-onc, tWtrb92, die Künstlinger S. 4 ff. behandelt (ich
verweise auf Bachers Terminologie Teil I, Artt. OBH, cno, toi, nnB,
wo auch fast alle von Künstlinger besprochenen Stellen angeführt
sind), ist durchaus nicht zu folgern, daß nnB bei den Pethichot nur
bedeuten kann : »etwas nicht Erschlossenes — erschließen«, daß die
Pethicha die »Manipulation, die Art und Weise des Erschließens, Er-
klärens« ist (S. 6). Unrichtig ist es auch, daß man, nach dem man die
Pethicha geschaffen hatte, "WD mit nnB promiscue verwendet*). Das
Wesen der Pethicha beschreibt noch K- mit folgenden formel-
reichen Worten: »Wie wir oben bereits zu sehen Gelegenheit hatten,
erklärte man A durch B, und da B oft ein anderes Bibelwort oder
ein anderer Bibelvers war, so ist eben diese Deutungsmethode nichts
anderes als die Anwendung einer der oben bereits erwähnten Me-
thoden. A gilt als rasTim, satüm na'ül etc., B bewirkt, daß A wird
») Schon Grünhut in DTOpfj I. S. 22 erklärte nnB als synonym mit
nnB, was aber auch Bacher, Terminologie II, S. 177 als unhaltbar
zurückweist. Über den Gebrauch von nnB im jerus. Talmud und in
den verschieden Midraschin, vgl. das S. 178 ff., wo auch die von K.
als Belege notierten Stellen, angeführt sind, vgl. ferner Monatsschr.
Jg. 1879, S. 171 fg. und Jg. 1885, S. 264 fg.
5G6 Besprechungen.
meföräS, patüah etc. Nun ist bei der Petihä nicht ein Wort, sondern
gewöhnlich ein Komplex von Worten, ein Satz, ein Abschnitt gedeutet,
erklärt. Die Pelina ist eine weitere Fortsetzung, eine Ausbildung der
einzelnen Worterklärung — übertragen auf ein Ganges. riDD folgt auf
den zu erklärenden Satz A und erst die im Satz B enthaltenen Deutungen
(a-f-b-|-c ztc), insoferne sie abgeschlossen sind und ein neues Licht
auf das Ganze werfen, bilden die Petihä, das »Aufschlußgeben« über
den noch nicht oder nicht so verstandenen Satz A. Daher gehört
zum Wesen der Peühä eine Inclusio, d. h. die Erklärung in B, die A
zu deuten haben, müssen am Ende in A (mit oder ohne eine hiefür
geprägte Formel) einmünden, ein in sich eingeschlossenes Ganzes
sein. Das Schema ist: A=B. Also B=A. Oder aufgelöst:
A=B (=a+b-(-c etc.) Somit (a-f-b-f-c etc. =) B=A. abc sind die Deu-
tungen der einzelnen Satzglieder des gedeuteten B, welches im Ganzen
genommen als Erklärung dem A dienen soll.«
Ich empfehle doch die immerhin leichter verständliche Dar-
stellung der Pethichot, die genaueren Angaben über ihre verschiedeneu
Arten (die einfachen, erweiterten, zusammengesetzten), über die In-
troductions- und Schlußformeln usw. in meiner Abhandlung in der
Monatsschrift a. a. O. S. 108 ff., 164 ff., 271 ff., wie bei Lerner a. a.
O. S. 16 ff., S. 129 ff, bei Bloch a. a. O. S. 175 ff., 210 ff. und May-
barnn a. a. O. S. 14 ff. — Die Erklärung Künstlhiger's trifft schon
bei so vielen einfachen Pethichot nicht zu, und bei den zahlreichen
zusammengesetzten Pethichot, die zumal in der Pesikta die Regel
bilden, und die aus mehreren vermittels der Formel X"7 oder auf
eine andere Weise verbundenen Teilen oder Gliedern bestehen, findet
sich doch erst in dem Schlußgliede die Beziehung zu dem Schrift-
verse, der an dtr Spitze der Parascha oder Piska (Homilie) steht!
Eine solche Pcthicha ist schon in der Piska ntPB n^B BV3 \T1 ent-
halten, der ersten Piska der Pesikta d. R. K., weiche Künstlinger
zum Ausgangspunkte seiner Untersuchung diente. Es ist die Pethicha
über Prov. 30, 4 (Pesikta S. 5a f.; vgl. auch Pesikta rabbati S. 15a f.,
Bamidbar rabba Kap. 12, Nr. 11 und Midrasch Mischie Kap. 30.)
-ty ia a-nan irapn m b^b «> r\by ^...nn Ppx sb yv>i cnv nty •'D
bs vs>: iTa "wx nn pjbs ^b \tb in bv fl tvi tvi njnina b\-6k
»i,t ia D'D» fibv 'B »h . . . rajn B'B -mit e^b ii5t "»b . . . mn "n
vaena vjintpjjB p^na *ir\v nr] b'b^ji tiibi b^bpS nbty w^djiv w
irr1?» m b^b» nby ^a »n . . . lvmtpya pbnv irxp m [. . . b'b ns %o
wi n*i*i rotan hm nby nvai ia a*nai r\vu n\ b^bb> nbv ^a x*n . . .
B^TU U 1B3 135tJ B'B IIS ^ B T»J«1 J1K "JIKÄa n 11 (]DK ^B "HH |D !WD
.'..im nSs o^a "»fn lEw-p*?. . . ij»b 3*ik n? px ^bbk t ba a^pn id
(vrgl. Monatsschrift 1879, S. 172). Nach Künstlinger freilich bilden
Besprechungen. 507
diese Deutungen kein »sogenanntes« zusammengesetztes Proömium,
sondern die erste, zweite und vierte Deutung, auch wenn sie an
anderen Orten selbständige, echte oder unechte, ganze oder frag-
mentierte« Pethichot gewesen sein mögen, sind »Parergaagädöt« zu
einer Pethicha, die wohl ursprünglich der Deut. 14, 22 verfaßt war!
Merkwürdig, daß sich in der Piska "itPj'n "itPj? in der Pesikta (und in
Tanchuma, ed. Buber, n«"i Nr. 4—17, Tanchuma nun Nr. 10—18), wie
in der Piska in der Pesikta rabbati S. 126 a ff. keine Spur von jener
echten Pethicha findet, wie sie Künstlinger (S. 31) konstruiert. Die
Deutung von Prov. 30, 4 in der Pesikta, meint Künstlinger, klammert
sich an das Wort Dp1,*! TP1 und setzte es mit ,"!B*Ü Tf\bi DV3 \T1 in
Verbindung, um eine »künstliche Inclusio« zusammenzubringen, und
gibt an, wie die »falsche« Pethicha etwa lautete (S. 32).
Mit Hilfe der Theorie von den »Parergaagädöt« und »Okka-
sionsagädöt« sucht der Verfasser auch »den ursprünglichen Bau, die
Morphologie« der anderen Pathichot in der ersten Piska der Pesikta
zu eruieren.
In Bezug auf die erste Pethicha, auf deren ganz besonders
eingehende Behandlung (3. 11—26; Tabellen S. 14—25) der Ver-
fasser außerordentlich viel Mühe und Scharfsinn verwandte, gelangt
er zu dem Resultate: »»Die vergleichenden Tabellen der Parerga- und
Okkasionsagadot beweisen klar und deutlich, daß PRK=PPA (Pesikta
Panim Acherim in Tia^fl rp"2 V, S. 48 ff.) nur eine Reihe von
Parerga-Okkasionagädöt zu einer Petihä nu*ö r),{r3 D"PS \T1
vorstelle, selbst aber keine Petihä seiu könne. Die Parasiten-
agädöt zerfraßen gänzlich den Stamm der ihnen zugrundeliegenden
Petihä, von der kaum noch eine Spur zu merken ist.««
Das ist keine Midrasch-Kritik und keine Rekonstruktion eines
Midrasch, das ist eine Art prähistorischer Midrasch-Dichtung, gegen
die man Verwahrung einlegen muß. In welchen Zeiträumen sollen
denn die »Parasitenagadot,« die Parergaagädöt« und die »Okkasions-
agadot«, welche letztere der Verfasser S. 11 »Parasiten zweiter Klasse«
nennt, ihr zerstörendes Werk vollbracht haben, daß sie gänzlich den
Stamm einer Pethicha »zerfraßen«, von der die Pethicha in der so
alten Pesikta kaum mehr noch eine Spur zeigt? Darf man so gering
von den Urhebern der alten Midrsschim denken, daß sie allerlei Bei-
werk statt echter Deutungen gaben ? Der Verfasser, der seine Ver-
mutungen als tatsächlich erwiesen hinstellt, daß die erste Piska,
welche Pethichot zu Num. c. VII enthalten sollte, aus echten Pethichot
zu Lev. IX, 1. Lev. IX (od. Ex. XL), Lev. IX, Deut. XIV, 22., Num.
VI, 24, Ex. XL, 34—35 besteht, und sagen kann, daß diese Pethichot
zum Zwecke einer Deutung zu Num. VII »so ziemlich ungeschickt,
508 Besprechungen.
umgemodelt« worden sind, wirft noch die Frage auf, was den oder
die Redaktoren der Pesikta veranlaßte, »echte Pethichot in unechte
umzuwandeln«, und meint, die Antwort kann nur lauten, er oder sie
hatten keine echten Pethichot zu Num. VII vorgefunden, und die
echten Pethichot wurden in unechte umgemodelt — weil man zu
(Sabbat-) Chanukka Pethichot für die entsprechende Toralektion haben
wollte usw. (S. 34 f.). Man ersieht nicht, zu welchem Ergebnisse der
Verfasser gelangt wäre, wenn er statt der Pethicha WD JI^D DTO \T1
eine andere Piska zum Ausgangspunkt der Untersuchung gewählt
hätte. Eine so weitgehende Untersuchung darf nicht auf der schmalen
Grundlage einer einzigen Piska aus einem einzigen Midraschwerke
geführt werden. Von den ältesten Midraschim liegt in einer Buberschen
Edition aus der Pesikta der Midrasch Echa rabbati vor, der mit
einer ganzen Sammlung von alten ^Q^m KnmriD beginnt, und in
meiner kritischen Ausgabe des Bereschit rabba bieten auch die
bisher erschienenen Paraschos ein reiches Material zur Behandlung
der Pethichot .— In der ganzen Anlage der Pesikta wie der Pesikta
rabbati und der anderen Homilien-Midraschim, Vajikra rabba, Tan-
chuma usw. muß immer als das auffallendste erscheinen, daß jede
Piska, Homilie, die durch ihren Aufbau, ihren formellen Schluß,
kunstgerecht durchgeführt, als ein abgeschlossenes Qanzes uns vor-
liegt, mehrere Pethichot zu dem betreffenden Schriftabschnitte, aber
fortlaufende Auslegungen nur zu den ersten Versen desselben enthält
— vgl. die von mir Monatsschrift 1879, S. 339 mitgeteilte Ansicht
Jellinek's, ferner meine Ausführungen Monatsschrift das S. 110 fg.
Jg. 1881, S. 505 fg. Jg. 1885, S. 361; Maybaum, Homiletik S. 8, und
Die ältesten Phasen etc. S. 42. Nach Künstlinger soll schon der
Name Pesikta »fragmentum« (von pcs) bedeuten! »Das Ende der
fortlaufenden Erklärungen ist — wie dies bei allen Piskäöt der Fall
ist — abgeschnitten. Der oder die Redaktoren gingen wohl von
zweierlei Gesichtspunkte aus, wenn sie jede Pisqä von vorneherein
als ein Fragment ließen. 1. Für fortlaufende Erklärungen der Bibel-
verse waren mehrere MidräSim, halächische wie agädische, vorhanden
gewesen. Der Vortragende verfügte somit über ein ziemlich reiches
Material, aus dem er schöpfen konnte. 2. Der Vortragende, der doch
wohl Exeget vom Fache gewesen war, konnte die fortlaufenden
Erklärungen auch selbst zustande bringen. Nicht so leicht war es
hingegen von jedermann zu verlangen, er solle ein Kunstgebilde,
wie die Petihä es ist, selber schaffen können. Daher verfertigte man
für die ausgezeichneten Sabbate und Feste Petihäformularien. Man
sammelte aus verschiedenen Midräslm, die eine Petihä für jede Törä-
lektion und fortlaufenden Textkommentar hatten, die Petihot für jene
Besprechungen. 509
Torälektion, welche an den ausgezeichneten Sabbaten und Festtagen
vorgelesen wurde, übernahm einige fortlaufende Erklärungen zu
einigen Sätzen — und so erstand die Pesiqtä. Der jeweilige Exeget
konnte an diesen Tagen eine Petihä . . . aus diesen Formularien
sich auswählen, um vor dem Beginne der fortlaufenden Erklärung sie
zu verwerten. Die Peslqlä . . . bildet ein solches Formularienbuch,
aus dem der Vortragende . . . Petihöt, insoferne er sie selber nicht
bilden konnte, für seinen Zweck benutzte. Den Anfang der fortlaufen-
den Erklärungen, manchmal (?) auch das Schlußtrostwort oder die
messianische Verheißung, nahm die Pesiqtä mit auf, um den Charakter
ihrer Entstehung anzuzeigen (!). Die Midrä§im bestanden zuvörderst
— wie man aus allen uns zugebote stehenden eruieren kann — aus
solchen, die sich 1. mit der Einzeldeutung des ganzen biblischen
Textes, 2. mit einer Petihä als generellen Interpretation, sowie mit
Einzeldeutungen zu den Törälektionen und Haftäröt — und 3. mit
Formularien, die aus Petihötsammlungen mit einem Fragment aus
verschiedenen Einzeldeutungen bestehend, befaßten. Tanhüma-Jelam-
denu-Wajjikra r. usw. . . . sind nicht minder solche Petihäformularien
für den Vortrag an gewöhnliche Sabbaten . . .« (S. 35 fg.). Ich habe
auch diese Sätze wörtlich zitiert, in denen Vermutungen und Ansichten
des Verfassers mit einer Gewißheit ausgesprochen werden, als wären
es die sichersten Ergebnisse einer die schwierigsten Fragen der
Midraschforschung zum Abschluß bringenden »Geschichte der Agädä«,
einer Geschichte, die nach Künstlinger in weiter Ferne liegt. Dem
Verfasser, der reiche Kenntnisse auf dem Gebiete der agadischen
Literatur besitzt und ein sehr ernster Forscher ist, wünsche ich, daß
seine Abhandlung nicht nur »einen ganz kleinen Beitrag« zur Auf-
hellung des von ihm gekennzeichneten Themas liefern, sondern den
Anlaß zu einer erneuten, umfassenden Untersuchung der ganzen
Pethichot-Frage gebe. J.Theodor.
510 Besprechungen.
R. Straus. Die Juden im Königreich Sizilien unter Normannen und
Staurern. [Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren
Geschichte, hrsg. von Kar! Hampe und Hermann Oncken, 30. Heft ]
Heidelberg (Carl Winter) 1910.
Die Geschichte Siziliens und Unteritaliens im 11. und 12.
Jahrhundert ist von der Wissenschaft in den letzten Jahren mehrfach
in Angriff genommen worden. Denken wir nur an die Arbeiten Fer-
dinand Chalandons und Erich Caspars, so wird zugestanden werden
müssen, daß große Fortschritte erzielt worden sind. Viel bleibt aber
— sehen wir von den Quellenpublikationen und -editionen ab, wo fast
noch alles zu tun ist — auch dem darstellenden Historiker noch zu
leisten übrig. Denn von welcher Seite man auch an die Geschichte
Siziliens in jener Epoche herantritt, findet man eigenartige Formen
des geschichtlichen Lebens, wie es in einem derartig viel gestaltigen
Lande nicht anders zu erwarten ist, — Einzeiuntersuchungen werden
also hier noch in großer Zahl, sei es für die Wirtschaftsgeschichte, sei
es für die politische oder die Kulturgeschichte des Landes, geleistet
werden müssen, ehe nur die wichtigsten Probleme gelöst sind. So
ist es höchst dankenswert, daß Straus die Juden jener Zeit zum Gegen-
stande einer eigenen Monographie gemacht hat. Straus gibt zu, daß
bei der spärlichen Überlieferung die Arbeit einen teilweise konstruk-
tiven Charakter erlangt habe und die Auffassung eine subjektive sei.
Trotzdem geliugt es ihm, ein abgerundetes Bild der jüdischen Ge-
schichte jener Epoche zu geben. — Der eigentlichen Untersuchung
schickt Straus eine Betrachtung über die grundlegenden politischen
und kulturellen Verhältnisse voraus, die das Verständnis der jüdischen
Zustände ermöglichen soll. Sizilien ist ein Nationalitätenstaat, und als
die Normannen das Land besetzten, mußten sie den Juden wie den
Sarazenen und Griechen — diesen besonders in Unteritalien — das
Recht einer besonderen Nationalität einräumen. Damit ist schon der
Unterschied Siziliens von den übrigen europäischen Staaten — christ-
lichen Nationalstaaten — in Bezug auf die Judenpolitik gekennzeichnet.
Die Entwicklung Siziliens vom Nationalitätenstaat zum christlichen
Nationalstaat, die unter dem Einfluß der Kirche sich vollzieht, be-
deutet für die Juden eine allmähliche Umbildung und Verengung
Besprechungen, 511
ihrer Lage. Die staatsrechtliche Stellung der Juden wurde unter
Friedrich II. juristisch zur Kamnierknechtschaft. Doch gestand man
ihnen in der Rechtsübung einige Freiheiten — so eigene Notare —
zu. Die Steuerpolitik des Staates gegenüber den Juden ist ein Aus-
fluß der ja für Normannen und Staufer so überaus charakteristischen
Regaiienpolitik, in der letzten Endes der Schlüssel für ihre Machc-
fülle im Innern zu suchen ist. Färberei und Seidenindustrie waren
Staatsmonopole, zugleich aber Judenmonopole, indem man sie in die
Hand der Juden legte. Dies ist die Auffassung, die Straus gegen
Caro, wie es mir scheint, mit Recht vertritt. Die Doppelstellung dieser
Monopole ist charakteristisch, sie machte einerseits die Juden vom
Staate völlig abhängig, andererseits aber wirtschaftlich unabhängig,
weil im Vorteil gegen jede mögliche Konkurrenz. Die öffentlich-recht-
liche Stellung der Juden wandelte sich in derselben Weise, wie der
Staat sieb allmählich christianisierte ; so hat nur unter dem Drucke
der Kirche Friedrich II. 1221 verordnet, daß die Juden auf ihren
Kleidern ein Zeichen tragen sollten, 1231 aber nahm er diese Ver-
ordnung nicht mehr in sein Gesetzbuch auf, als er sah, daß auch
durch Zugeständnisse ein Frieden mit der Kurie nicht möglich war.
Im Mittelpunkte des Wirtschaftsleben der Juden standen die
oben genannten Monopole. Ihre Finanzkraft ist nach Straus keine
sehr bedeutende gewesen. Die Juden sind in Sizilien vornehmlich
Handwerker, nicht Bankiers. — Von der sozialen Verfassung der
Juden sei nur die Tatsache genannt, daß durch die engen Bezie-
hungen zwischen Staat und Juden ein eigener Stand von jüdischen
Günstiingen sich bildete, der neben die beiden anderen jüdischen
Adelskasten der Reichen und Gelehrten trat.
Die jüdische Wissenschaft jener Zeit ist nicht vornehmlich eine
talmudische gewesen ; die Juden haben sich in den meisten Dis-
ziplinen der damaligen Wissenschaft betätigt. Aber eine gewisse Ab-
hängigkeit des jüdischen Forschens vom Hofe, der es anregte, ist
festzustellen. Zusammenfassend weist Straus darauf hin, daß die jü-
dische Geschichte Siziliens eben eine von der jüdischen Geschichte
Nordeuropas verschiedene ist und daß es zu Irrtümern führen muß,
hier und dort dieselben Motive anzunehmen.
Der besonderen wissenschaftlichen Beachtung sei der Anhang
der Straus'schen Arbeit empfohlen, der die wesentlichsten Quel'.en-
belege zusammenstellt. Gerade für sizilische Geschichte, wo die
Quellen so unendlich zerstreut sind, ist eine derartige Sammlung
höchst dankenswert. Fehlt ja immer noch für die Normannen eine
Regestensammlung, die Garufi zwar plant, aber immer noch nicht
vollendet hat.
512 Besprechungen.
Man wird der vorliegenden Arbeit, die eine wesentliche Lücke
in der jüdischen und allgemeinen Geschichte ausfüllt, die Anerkennug
nicht versagen können, daß sie, getragen von eingehendem Verständnis
für die allgemeinen politischen und kulturellen Zustände jener Zeit,
in streng wissenschaftlicher Form eine erschöpfende Darstellung auf
Orund des bis jetzt vorhandenen Quellenmaterials gibt.
Breslau. Willy C o h n.
*
Unberechtigter Nachdruck ans dem Inhalt dieser Zeitschrift ist untersagt.
Für die Redaktion verantwortlich : Dr. M. BRANN in Breslau.
Druck von Adolf Alkalay 8r Sohn in Preßburg.
Die Ethik R. Saadjas.
Von David Rau s. A.
(Fortsetzung.)
Die Ethik.
Gruppierung und Behandlung des ethischen Stoffes
bei Saadja.
Saadja hat ein zusammenhängendes ethisches System
nicht geliefert. Ihm ist die Ethik zwar eine besondere phi-
losophische Disziplin ; da sie aber in den von ihm berück-
sichtigten Quellen nur als ein mit anderen ihr verwandten
Disziplinen eng verflochtener Bestandteil der Religion auf-
tritt, so war er gewissermaßen aus Rücksicht auf die
Ökonomie seines den ganzen Glaubensinhalt des Judentums
behandelnden Systems gezwungen, ethische Fragen im Zu-
sammenhange mit religiösen und anderen, die gerade mit
ihnen verbunden waren, zu behandeln. So erörtert er im
dritten Abschnitt seines religionsphilosophischen Werkes
Emunot we-Deot, der über Offenbarung und Gesetz, über
Prophetie und Tradition, handelt, die Frage vom höchsten
Gut und die zur Erlangung der Glückseligkeit führenden
Mittel und Wege. Der vierte Abschnitt behandelt die Stellung
des Menschen in der Natur, dessen Vorzüge und die Wil-
lensfreiheit. Im fünften Abschnitt bespricht Saadja die Tu-
gendlehre, die verschiedenen Stufen des religiösen und
sittlichen Verhaltens und die Lehre von der Vergeltung
während er aber außerdem noch Fragen rein dogmatischer
Art, die mit der Ethik in mehr oder weniger naher Bezie-
hung stehen, mit gleicher Ausführlichkeit behandelt. Am
Ende des fünften Abschnitts, der im Großen und Ganzen
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 33
514 Die Ethik R. Saadjas.
seine allgemeine Ethik beschließt, bekennt er selbst, daß
seine Darstellung keine erschöpfende Behandlung aller dahin
gehörenden Gedanken enthalte; er hoffe aber, daß die von
ihm gegebenen Grundgedanken für das Verhalten des Men-
schen von Nutzen sein werden1). Erst im zehnten Abschnitt
stellt er eine konkrete Ethik auf, indem er das praktische
Leben in seinen besonderen Erscheinungen auf dreizehn
verschiedene Lebensrichtungen zurückführt und sie einer
eingehenden Prüfung unterwirft. Er wägt die Vor- und
Nachteile einer jeden sorgfältig ab und gelangt dadurch zur
Bestimmung der Grenzen, innerhalb deren jede Neigung
berechtigt ist, über die hinaus ihr aber nie gefolgt werden
darf, wenn sie den Zwecken, die Gott dem Menschen ge-
geben, dienen und zur Förderung der menschlichen Glück-
seligkeit beitragen soll. Aber auch seine praktische Ethik
läßt, obgleich der zehnte Abschnitt ihr fast ausschließlich
gewidmet ist, eine streng logische und abschließende Be-
handlung ihres Inhalts vermissen. Das hat Saadja vielleicht
selbst gefühlt, und deshalb bemerkt er, ein vollständiges
System der praktischen Ethik ergebe sich, wenn man alles
das, was sich in jeder der dreizehn verschiedenen Lebens-
richtungen nach kritischer Prüfung als richtig und erstre-
benswert erweise, zusammenstelle und zu einem Ganzen
vereinige2). Durch die ganze Anlage seines Buches, sowie
») Emunot we-Deot V, S 94: D'rjpn »rflOp ibx p PTP »5*1
nb« "jk ,Drr,Ti bv dix ^a mjnä vb* yixv no o'btp» ttti xb »ffs-w
kto ntjn ar\b D^TIO 1\T D'Dnp D-'rban.
») Emunot we-Deot X, S. 146: fsn b? ITOKW HDÖ bbzi fSpVn
übv mtrne -ibd pnpn rvm -ijnp bsn. Wolff lest diese Stelle nach
dem arabischen Texte (vgl. Berliner, Magazin für die Wissenschaft
des Judentums Bd. VII, S. 73— K'O) wie folgt: rWW na» bh? pp«i
niabtt? mens neo y^pn K-ipKi *w T33 psn bo§ »und ich würde das
Zusammengestellte ein Buch der vollkommenen Enthaltsamkeit nennen«.
Wir zitieren zwar durchwegs nach der Slucky'schen Ausgabe, Leipzig
1864, berücksichtigen aber immer Abweichungen, welche sich durch
die genauen und eingehenden Vergleichungen des arab. und hebr.
Textes durch Wolff (Berliners Magazin VII, 73— 100; ZDMO. XXXIII,
Die Ethik R. Saadjas. 515
die Unmöglichkeit, den ethischen Stoff anders als durch die
gleichzeitige Behandlung des religiösen zu gewinnen, ver-
liert die Ethik bei Saadja die Einheit. Er führt die Unter-
suchung auf den ethischen Gehalt gewisser Partieen in der
Überlieferung eine Zeit lang fort, bricht dann ab und geht,
ohne das ethische Resümee gezogen zu haben, auf andere
Fragen ein. Man gelangt dadurch zu dem, wie wir später
sehen werden, oft berechtigten Zweifel, ob ihm innerhalb
des ihm von der jüdischen Überlieferung (worunter wir bei
Saadja Bibel und Talmud verstehen) gegebenen Stoffes eine
durchgehende Unterscheidung zwischen religiösen und ethi-
schen Forderungen gelungen ist. Wir werden daher, um
uns über diesen Punkt klar zu werden und, im Interesse
der systematischen Einheit, den zerstreuten Stoff zu ordnen,
zuerst die Grundbegriffe der Ethik und dann die Ethik
als Tugend- und Güterlehre zu behandeln versuchen.
Bevor wir jedoch an spezifisch ethische Fragen heran-
treten, dürfte es gerechtfertigt erscheinen, zuerst die Er-
kenntnistheorie Saadjas kurz auszuführen, weil sie bei ihm,
wie bei jedem Philosophen, die Grundlage und mithin den
Schlüssel zum Verständnis seiner ganzen Philosophie biktet.
Wir besprechen hier hauptsächlich
die Erkenutnisquellen Saadjas and ihr Verhältnis zur Ethik.
Der mächtige Einfluß, den die griechische Philosophie
auch auf Saadja ausgeübt hat, zeigt sich vor allem darin,
daß ihm wie ja auch den griechischen Denkern seit So-
krates, die wahre Sittlichkeit nur auf klarer und richtiger
Erkenntnis beruht. So sagt er sogleich in der Einleitung1):
69t 707) Ooldziher ZDMQ. XXXV, 773-783, D. Kaufmann ZDMO
XXXVII, 230-249) u. D. Simonsen (in Guttmanns Religionsphilo-
sophie des Saadja, s. dessen Vorwort) ergeben habeu, wodurch der
von uns benuzte Text als zuverlässig gelten kann. Bekanntlich liegt
der ganze arabische Text seit 1880 gedruckt vor. Der V»*rf. war aber
außer Stande, unmittelbar aus dieser Quelle zu schöpfen.
>) Emunot we-Deot S. 2: "Ol aryv "WK ov\
33*
516 Die Ethik R. Saadjas.
»Diejenigen, deren Kenntnis oder deren Anstrengung im
richtigen Erkennen der Wahrheit gering ist, heißen Frevler,
eben weil sie an der Wahrheit freveln. Fromme werden
aber diejenigen genannt, die sich ausdauernd bemühen, mit
ihrem Wissen die Wahrheit zu prüfen. Die Weisen sind
also nur dann zu loben, und die Zweifel schwinden ihnen
nur dann, wenn sie nach einer genauen Kenntnis ihres
Gegenstandes das Joch allseitiger Erforschung geduldig bis
zu Ende tragen.« An einer anderen Stelle1), wo er sein Buch,
das doch der wissenschaftlichen Untersuchung gewidmet ist,
empfiehlt, heißt es: »Wenn Gelehrte und Jünger so mit
meinem Buche verfahren werden, so wird derjenige, der
schon vorher zu einer sicheren Kenntnis gelangt war, da-
durch noch mehr an derselben festhalten, dem Zweifler
wird der Zweifel entschwinden, der an die Tradition Glau-
bende wird seinen Glauben kritisch und denkend er-
fassen . . ., dadurch wird das Wesen der Menschen (ihre
Gedanken) sich bessern, ihr Gebet aufrichtig und innig
werden, da tn ihrem Herzen der göttliche Mahner ist, der
sie von Sünden abhält und sie zum Rechten anregt. Ihr
Glaube wird dann aber auch in ihrem Tun sich bewähren,
die Mißgunst des einen gegen den anderen weltlicher
Dinge wegen wird schwinden, gemeinsam werden sie zu
den Männern der Weisheit sich wenden, nicht aber frem-
dem Wesen sich hingeben, und hierdurch wird ihnen Heil,
Barmherzigkeit und Glück zuteil werden. All dies wird
eintreten mit dem Schwinden der Zweifel und mit der Be-
seitigung des Irrtums; die Erkenntnis Gottes und seiner
Lehre wird sich dann in der Welt ausbreiten, wie das
Wasser in den Tiefen des Meeres, und es erfüllt sich die
Verheißung: »Die Erde ist voll der Erkenntnis Gottes, wie
Wasser den Meeresgrund bedecken (Jes. 11, 9)c. Allein er
unterscheidet sich doch sehr wesentlich von den griechi-
schen Philosophen durch die Beantwortung der Frage»
') Das. S, 3 unten: tov *vöSnni Dann )nr -\vx?h
Die Ethik R. Saadjas. 517
welches die Quellen für diese Erkenntnis seien. Für £o-
krates war diese Quelle die Dialektik, die große Scheide-
kunst, die das Wesentliche von dem Unwesentlichen trennte
und die verschwommene Vorstellung in einen festen
und klaren Begriff zusammenzog. Plato hatte auf dem
Wege der Dialektik hinter dem Begriff die Idee entdeckt
und geglaubt, daß diese nur mittelst der Vernunft, frei
und unabhängig von jeder sinnlichen Wahrnehmung, er-
kannt werden könnte. Der sokratisch-platonischen Dialektik
huldigte zum großen Teile auch Aristoteles, allein, im Ge-
gensatz zu Plato, machte er die sinnliche Wahrnehmung
zur Grundlage aller Erkenntnis. Von der sinnlichen Wahr-
nehmung steigt der Mensch, wie Aristoteles lehrt1), durch
fortgesetzte Abstraktionen stufenweise vom Besonderen
zum Allgemeinen, von den Wirkungen zu den Ursachen
und so zum Ziel unserer Erkenntnis. Saadja folgt nun zu-
nächst auch hierin, in näherem Anschluß an Aristoteles,
der griechischen Philosophie. Er dringt deshalb ebenfalls
auf klare Begriffsbestimmung wie Sokrates, nimmt mit
Plato eine intuitive Vernunfterkenntnis an und macht doch
wie Aristoteles die sinnliche Wahrnehmung zur Grundlage
alles Wissens und Erkennens. »Der Anfang, mit dem die
menschlichen Erkenntnisse beginnen,« sagt er in der Ein-
leitung*), »wird von durcheinander gemischten, verwor-
renen Anschauungen gebildet; die dem Menschen eigene
Vernunft läßt aber nicht nach, jene Begriffe innerhalb
einer gewissen Zeit zu klären und zu läutern, bis die
Zweifel geschwunden, und die klare, mit keinem Zweifel
mehr versetzte Erkenntnis gewonnen ist. An einem an-
deren Orte8) heißt es: »Zur Erkenntnis eines Dinges muß
man zunächst alle diesem eigentümlichen Merkmale sammeln.
») Zeller II, 2, S. 138-140.
') Emunot we-Deot S. 4.
») Jezirahkommentar, S. 26 und 83 zu 11, § 1. \Vgl Jetzt ed
Lambert (Paris 1891) S. 59).
518 Die Ethik R. Saadjas.
Die gesammelten Merkmale werden dann der Urteilskraft
unterbreitet, die das Wahre und Richtige vom Falschen
und Unrichtigen sondert und sichtet. Die so gewonnenen
Erkenntnisse werden dann vom Gedächtnis erfaßt und
aufbewahrt. Dieser ganze Denkprozeß beruht aber auf der
Voraussetzung von der Richtigkeit unserer Sinneswahr-
nehmungen.« Aber nicht nur der Begriff, auch die höchste
Erkenntnis nimmt bei Saadja wie bei Aristoteles ihren
Ausgang von der sinnlichen Wahrnehmung. »Das mensch-
liche Wissen hat zu seiner Grundlage die sinnliche Wahr-
nehmung; es nimmt seinen Ausgang von den groben
Sinneseindrücken, die den Menschen unter sich und auch
mit den Tieren gemeinsam sind. Allein der Mensch bleibt
bei der Erkenntnis durch die Sinneswahrnehmung nicht
stehen ; von dieser untersten Erkenntnisstufe steigt er
vielmehr immer höher und höher hinauf, bis er endlich zu
der höchsten, ihm erreichbaren Stufe gelangt ist. Mit jeder
höheren Stufe der Erkenntnis nimmt aber die sinnliche Greif-
barkeit seiner Erkenntnisse naturgemäß immer mehr ab, bis der
Mensch, an der äußersten Grenze seiner Erkenntnis angelangt
auch die feinste und höchste Abstraktion gewonnen hat«1).
1) Emunot we-Deot II, S. 39; vgl. hiermit die Entstehung des
Wissens bei Aristoteles, Zeller II, 2, 138—140. Die Abhängigkeit Saad-
jas von Aristoteles zeigt sich auch sonst noch oft. So sagt Saadja
Em. we-Deot I, S. 34: "Dl ibrtPS jnv Kin Sdk und Einleitung S. 6:
'131 aba r6iy p:p K\*l '3 -iökji fast wie Aristot., daß sich aus der Wahr-
nehmung mittelst des Gedächtnisses ein allgemeines Bild erzeuge,
indem dasjenige fes'gehalten werde, was die Begriffe bildende Ver-
nunft von dem alle sinnlichen Wahrnehmungen aufbewahrenden und
vereinigenden Seelenvermögen empfängt. Daß dieses Vermögen der
aristotel. Gemeinsinn sei, hat schon Guttmann a. a. O. S 71 be-
merkt. Mit Arist. (Zeller II, 2, S. 133) glaubt auch Saadja, daß, wenn
das Wissen auch vermittelst der Erfahrung zustande komme, die
Seele den Grund ihres Wissens doch in sich selbst trage: Emunot
we-Deot VI, S. 98: °oi nüs^ riESn nx?n wesn *d & -uann p nnNi,
ferner, daß, wenn die Sinne täuschen, nicht sie, sondern der Verstand
die Schuld daran trage, da sie nur seine Werkzeuge seien. Das: «Die,
Die Ethik R. Saadjas. 519
Hier wie an anderen Stellen1) betont Saadja die sinnliche
Wahrnehmung als die einzige Erkenntnisquelle, und doch
hindert ihn das nicht, gleich beim Anfang seiner Unter-
suchungen2) drei natürliche Erkenntnisquellen anzunehmen,
in denen alle Wahrheit und Gewißheit ihren Ursprung
habe: 1. die durch die fünf Sinne vermittelte Wahrnehmung,
2. die intuitive Erkenntnis der Vernunft und 3. das Er-
kennen durch Reflexion und logische Schlüsse, indem man
von einer durch die Sinne wahrgenommenen oder durch
die Vernunft erkannten Wirkung auf eine nicht weiter wahr-
nehmbare oder erkennbare Ursache schließen muß. Die dritte
Erkenntnisquelle hat die beiden ersten zu ihrer Voraus-
setzung; das Verhältnis aber, in welchem die zweite zur
ersten, das heißt die intuitive Vernunfterkenntnis zur sinn-
lichen Wahrnehmung steht, ist mit Sicherheit bei Saadja
nicht festzustellen9). Wie verhalten sich diese drei natür-
lichen Erkenntnisquellen zur ethischen Erkenntnis? Die
durch die Sinne erlangte Erkenntnis hält Saadja für eine
unzweifelhaft wahre, sobald sich der Mensch dabei nicht
durch die Einbildung täuschen läßt, so daß in der Er-
kenntnis, die aus dieser Quelle fließt, keine Differenz unter
den Menschen stattfindet*). Für die Ethik liefert diese
Quelle die Erkenntnis von dem, was Lust und Schmerz
bereitet oder angenehm und unangenehm ist. Außerdem
beweist Saadja aus ihr die Willensfreiheit des Menschen*).
See.e est gibt den Sinneswerkzeugen (»im 'bab) die Fähigkeit zur
sinnlichen Wahrnehmung. Vgl D. Kaufmann, Die Sinne, S. 57.
») Emunot II, S. 56; vgl. S. 7; I, 41.
») Das. S. 7.
3) Aus Emunot S. 7: W3 1BÖ piENOS -iBimi und aus I, S. 41
unten, wäre die Abhärgigkeit der Vernunfterkenntnis von der Sinnes-
wahrnehmung zu folgern; diesen Stellen stehen aber andere gegen-
über: I, S. 34 und 37; II, S. 55, an denen die Unabhängigkeit und
Selbständigkeit der Vernunfterkenntnis betont wird.
4) Emunot S. 8, I, S. 15.
«) Das. IV, S.78; vgl. X, 148 usw.
520 Die Ethik R. Saadjas.
Ebenso wahr und zuverlässig wie die sinnliche Wahr-
nehmung ist die Erkenntnis der Vernunft, sobald der Mensch
sie nicht mit den Gebilden des Traumes und der Phantasie
verwechselt. Diese Erkenntnisquelle spielt in der Ethik
Saadja's die bei weitem wichtigste Rolle, und wir glauben
nicht fehl zu gehen, wenn wir behaupten, daß Saadja sie
Plato entlehnt hat, bei dem ja hauptsächlich das Wahre,
Schöne und Gute ein eigentümliches Gebiet der Erkenntnis
ausmachen, welches die Seele, von aller Sinneswahrneh-
mung unabhängig, durch eigene und selbständige Tätigkeit
hervorbringt. Saadja führt wiederholt als Beispiel einer
Vernunfterkenntnis den Satz an »Die Wahrheit ist gut, die
Lüge ist schimpflich«1), außerdem operiert er bei den
ethischen Untersuchungen im dritten Abschnitt fast aus-
schließlich mit dieser Erkentnnisquelle. Nicht so absolut
sicher und zweifellos ist die Erkenntnis, die wir durch lo-
gische Folgerungen erhalten. Die meisten Abweichungen und
Verschiedenheiten in den Ansichten der Menschen haben
deshalb auch gerade in dieser Erkenntnisquelle ihren Grund.
Saadja läßt deshalb die auf diesem Wege gewonnene Er-
kenntnis nur dann als wahr gelten, wenn sie die einzige
und ausschließliche Erklärung für eine ihr zu Grunde lie-
gende Sinneswahrnehmung oder sonst feststehende Ver-
nunfterkenntnis bildet, wenn sie ferner weder einer anderen
Wahrheit widerspricht noch in sich sich selbst einen Wider-
spruch enthält. In der Ethik weist Saadja auf Grund dieser
Einschränkungen das hedonistische Prinzip, daß das An-
genehme das Gute sei, zurück8). Auch darin ist eine
Anlehnung an Plato oder doch wenigstens eine, wenn auch
vielleicht aus anderen Gründen herbeigeführte, Überein-
stimmung nicht zu verkennen. Nichtsdestoweniger ist die
Ethik Saadja's doch sowohl von der Plato's als auch der
des Aristoteles wie überhaupt der griechischen wesentlich
*) Emunot S. 7, 8; I, S. 36 oben; II, S. 55.
>) Das. S. 10; vgl. III, S. 60.
Die Ethik R. Saadjas. 521
dadurch verschieden, daß er neben den natürlichen Er-
kenntnisquellen eine außerhalb des Menschen liegende
annimmt, nämlich »die wahrhafte Überlieferung«. »Die wahr-
hafte Überlieferung« enthält nach Saadja sowohl die schrift-
liche Lehre als auch die mündliche Tradition1). Obgleich
sie ihre Gültigkeit aus den drei natürlichen Erkenntnis-
quellen herleitet, bestätigt sie selbst andererseits wieder
die Richtigkeit der natürlichen Erkenntnisquellen2), so daß
eine vollständige Übereinstimmung zwischen den Lehren
der »wahrhaften Überlieferung«, das heißt der Offenbarung,
*) Emunot S. 7 ; das II, S. 49 bringt Saadja aus der Schrift C|D
31J13.1) und aus der Tradition (Palpen fC) Beweise, dort nennt er
die üesetzeslehrer die Schüler der Propheten. Deshalb nennt er auch
(worüber Guttmann, Religionsph. d. Saadja, S. 141, Anm. 3 sich wun-
dert) die unzweifelhaft talmudischen Bestimmungen über Eheschließung
und Erwerb »prophetische. •, Emunot III, S. 61 — 62. Er hält das. III,
S. 72 die Überlieferung zur Erklärung der Lehren und Gebote der
Offenbarung ebenso notwendig wie die Vernunft.
*) Emunot S. 7 u. 8. Bemerkenswert ist, wie Saadja die Wahr-
heit der »vierten Erkenntnisquelle« aus den drei natürlichen beweisen
will. Die Wahrheit der Überlieferung ist; 1. durch die sinnliche Wahr-
nehmung bestätigt, da die Offenbarungen an die Propheten stets von
Zeichen und Wundern begleitet waren, Emunot III, S. 63 — 64; das.
S. 12; sie wird 2. durch die Vernunfterkenntnis bestätigt, so daß sie
auch spätere Geschlechter, die die Zeichen und Wunder nicht gesehen,
ebenfalls überzeugt. Gott hat nämlich in die menschliche Vernunft
die Geneigtheit zur Aufnahme wahrhafter Überlieferungen gelegt, so
daß sich die Seele bei ihnen beruhigt fühlt und ihren Urkunden und
Berichten Glauben schenkt. Im übrigen sind ja auch im gewöhnlichen
Leben die meisten Handlungen der Menschen von dem Glauben an
die Wahrheit des ihnen durch andere Überlieferten abhängig. Ohne
diesen Glauben wäre kein Handel und Wandel, ja nicht einmal der
Bestand eines geordneten Staatswesens möglich. Ohne ihn könnten
wir mit Bestimmtheit weder unsere Mutter noch unseren Vater an-
geben und gleich den Skeptikern dürften wir nur den Wahrnehmungen
Glauben schenken. III, S. 65; 3. ergibt sich die Wahrheit der »wahr-
haften Überlieferung« auch durch die Überlegung, daß, wenn die
Überlieferung irrtümlich aufgefaßt oder absichtlich gefälscht wäre,
dies wohl möglicherweise einem Einzelnen hätte verborgen bleiben
522 Die Ethik R. Saadjas.
und den Ergebnissen der menschlichen Forschung möglich
ist. In welchem Verhältnis steht diese vierte Erkenntnis-
quelle zu den anderen, oder mit anderen Worten, wie ver-
halten sich Offenbarung und Vernunfterkenntnis zu einander
und in welchem Verhältnis stehen beide zur Ethik? Alle
Wahrheiten, die der Mensch aus seinen natürlichen Er-
kenntnisquellen schöpfen will, kann er nur auf dem Wege
sehr mühevoller Spekulation und nur im allmählichen
Fortschritt erlangen, wobei er außerdem fortwährend der
Gefahr ausgesetzt ist, durch einen Fehler in der Unter-
suchung zu einem falschen Resultate zu kommen. Dem
gegenüber bietet die Offenbarung die höchsten Erkennt-
nisse dem Menschen mühelos dar, so daß auch die der
philosophischen Forschung Entbehrenden und Unfähigen,
ja sogar Weiber und Kinder, sich diese anzueignen
vermögen. Die Offenbarung umfaßt alle Lehren und Ge-
setze, deren der Mensch überhaupt bedarf; die Vernunft
kann diese Lehren und Gesetze zwar ebenfalls geben,
allein ihre hauptsächlichste Aufgabe besteht zunächst darin,
daß sie das, was die Offenbarung apodiktisch lehrt und
befiehlt, nach angestrengtem Nachdenken auf seinen Wahr-
heitsgehalt prüft und auf sittliche Gründe zurückführt1),
damit der Mensch so vom Wissen zum Glauben gelange2).
können; bei einer großen Gesamtheit ist in der Überlieferung weder
eine irrtümliche Auffassung noch ein Betrug denkbar, ohne daß sich
zugleich die Überlieferung von diesem als Betrug weiter fortgepflanzt
hätte, das III, S. 66.
») Emunot S. 11 — 13.
s) Vgl. Emunot S. 3 ff. Es gehört dies gewissermaßen zur
Tendenz seines Buches. Es ist interessant in dieser Beziehung, wie
es StöckI getan hat, Saadja mit der christlichen Scholastik zu ver-
gleichen. Saadja ist der Ansicht, daß ohne Erkenntnis kein echter
Glaube möglich ist. Anselm v. Canterbury dagegen lehrte wie Augustin,
»daß ohne den Glauben keine Erkenntnis möglich sei«. Vgl. H. Ritter,
Geschichte der christl. Philosophie, III, Harnt urg 1844, S. J25. Es gibt
aber auch verwandte Ansichten. Saadja am nächsten kommt unter
allen christlichen Scholastikern Abälard, der, ebenfalls »die natürlichen
Die Ethik R. Saadjas. 523
Dieses Abhängigkeitsverhältnis, in dem die Philosophie
gewissermaßen auch nur »die Magd der Religion« ist,
kommt hauptsächlich in den metaphysischen Forschungen
Saadja's zum Ausdruck. In den ethischen Betrachtungen
gewährt er der Vernunft mehr Freiheit und Selbständigkeit,
<loch beschränkt er ihr Vermögen dahin, daß sie die Wahr-
heiten des praktischen Lebens nur im allgemeinen zu
finden, keineswegs aber genau zu bestimmen vermag.
Wollte man daher es der Vernunft allein überlassen die
Normen festzustellen, nach denen sich das Tun und Lassen
der Menschen zu richten hätte, so wäre man in sehr vielen
Punkten ratlos und eine Übereinstimmung in den einzelnen
gesetzlichen Bestimmungen fast unmöglich. Diesen Mangel
der Vernunft ersetzt nun vollständig die Offenbarung, so
■daß sie im praktischen Leben als die notwendige Ergän-
zung der menschlichen Vernunft unentbehrlich ist1).
Welche Gestalt die Ethik Saadja's bei diesen Voraus-
setzungen annehmen muß, ist schon hier zu erkennen. Sie
wird nur in beschränktem Maße autonom sein, und so weit
sie heteronom ist, wird sie von spezifisch religiösen und
ähnlichen Elementen durchsetzt sein. Wir wollen nun ver-
suchen, die Grundbegriffe der saadjanischen Ethik darzu-
stellen, und zwar zunächst ihren Begriff und ihre Kategorien.
Erkenntnisse als Anfänge unseres Glaubens betrachtete«, und daher
nicht den Glauben vor dem Wissen, sondern das Wissen vor dem
Glauben, forderte, s. Ritter, das 409 ff. Thomas v. Aquino hatte, von
Maimonides beeinflußt, ebenfalls Vernunft und Offenbarung als zwei Er-
kenntnisquellen angenommen. Allein während Saadja die Offenbarung
mehr für ein äußeres Förderungsmittel für die natürliche Erkenntnis
hielt, weil die Offenbarung nur das lehre, was die menschliche Ver-
nunft selbst erkennen könne, hielt Thomas sie für eine absolute Not-
wendigkeit wegen der Mysterien, die jenseits aller Vernunft liegen.
Saadja kennt keine Glaubensmysterien. Stockt, A. Geschichte d. Pnilos.
d. Mittelalters II, S. 447.
l) Die Spekulation dient nur dazu, uns durch Vernunftgründe
von der Wahrheit der Offenbarungslehren zu überzeugen. Em. S. 12.
Wer philosophiert, ohne die Schriften der Propheten zu beachten,
524 Die Ethik R. Saadjas.
III. Die Grandbegriffe der Ethik.
1. Die Ethik als philosophische Disziplin und
ihr Begriff.
Gegen Ende des zehnten Abschnittes seines religions-
philosophischen Werkes gibt Saadja in Anlehnung an Ko-
helet eine Einteilung der Wissenschaft, wonach er sie in
drei Disziplinen scheidet. Er nennt dort:
1. Die Wissenschaft von den Naturdingen und der
Weltschöpfung D^j?n T)TV\ dwh jiMfi, die von der sichtbaren
Welt ausgehend zu dem höchsten Objekt des Erkennens auf-
steigt und Gott als den Realgrund alles Seins erkennt. Es ist
dies wohl die theoretische Wissenschaft der Physik und
Metaphysik. Rechnen wir hierzu noch die Mathematik, die
er wwn rOK^o1) oder ony^m nncn wr2) nennt, so
haben wir die drei Teile der theoretischen Philosophie bei
Aristoteles8).
2. Die Politik mz^on rmn, die sich mit der Ordnung
der menschlichen Gesellschaft und den Mitteln zu ihrem
Schutze beschäftigt4).
3. Die Religion rwtvi rmay noon; sie ist die Wis-
senschaft, welche das Verhältnis des Menschen zur Gott-
heit zum Inhalt hat und das ganze Leben des Menschen
sowohl nach innen wie nach außen auf Grund dieses Ver-
hältnisses nach allen Richtungen hin genau bestimmt und
sündigt, obgleich er ein Philosoph ist, das. S. 11. Mehr Freiheit wird
der Vernunfterkenntnis III, S. 58 und [besonders III, S. 61, volle Selb-
ständigkeit aber und bestimmender Einfluß auf das praktische Leben
erst im zehnten Abschnitt zuerkannt.
l) Emunot we-Deot, Einleitung S. 9.
») das. X, S. 153 Mitte.
s) Zeller II, 2, S. 123. Dieser Einteilung folgte später auch
Maimonides in Mill. higgajon, p. 14.
*) Emunot X, S. 161, dort werden die drei Disziplinen als-
HÖSn aus dem jedesmaligen Gegensatz gefolgert. Zur Politik, vgl.
ibid. X, S. 154 die »neunte Lebensrichtungt IV, S. 76 oben: jr>n m*
dik ua uprur ny »peStmi no^on r\:rnnb ,rmnoni phtmn »roh.
Die Ethik R. Saadjas. 52S
regelt*). Die Ethik als besondere Disziplin findet in diesem
System also keine Stelle. Nehmen wir aber an, daß hier
Politik und Religion die Teile der praktischen Philosophie
bilden und also der Ethik und Politik im aristotelischen
Systeme entsprechen8), dann werden wir, wenn wir von
der umgekehrten Folge der Teile absehen, die Ethik Sa-
adja's hauptsächlich in dessen »Religion« zu suchen haben.
Indessen es scheint doch auch, daß Saadja, unter dem Ein-
fluß der griechischen Philosophie, obgleich er die Politik
selbst nicht weiter behandelt hat, wozu er ja auch, da er
hauptsächlich nur für seine Glaubensgenossen schrieb,
keine Veranlassung hatte, die Ethik auch als eine ^Politik
im engeren Sinne« betrachtet hat, und sie infolgedessen
also auch zur Politik rechnet Wie wir aus gelegentlichen
Bemerkungen ersehen und auch oben schon bemerkt haben,
besteht die Politik in der »Leitung des Staatswesens«, ihr
Zweck ist die Förderung der Wohlfahrt der menschlichen
Gesellschaft8). Die Mittel zur Erlangung dieses Zweckes
gibt nur »die vernünftige Überlegung G1S9R)« an4;, indem
sie durch Gesetze und Verbote für die Aufrechterhaltung
der Ordnung sorgt und die Gesellschaft vor Untergang
bewahrt. Eine Bedingung zum Bestände des staatlichen
Gemeinwesens ist aber auch der Glaube an die Wahr-
heit menschlicher Überlieferung, denn ohne diesen würde
l) Unter mi3J> versteht Saadja den praktischen Teil der Re-
ligion, der als Gottesdienst im weitesten Sinne das ganze Leben des
Menschen umfaßt Emunot X, S. 157: riv^apn ITOton ^33 KT! rffbjjn »3
*) »Politische Wissenschaft« ist der von Aristoteles eingeführte
Name für das ganze Gebiet des praktischen Lebens, welcher Ethik
und Politik umfaßt, s. N. E. VI, 8, vgl. Zeller II, 2, S. 127 u. 468.
») Emunot X. S. 161; VI, 76: B*W '33 upwu» Ifi X, S. 154:
Vfliipr Wh» «Si ,Tne» D*?iJH JWI »h m-urn ItVlH Ohne Regierung
wäre keine Ordnung in der Welt, und ihre Wohlfahrt könnte nicht
gefördert werden.
«) Emunot X, S. 155: noana ott '3 jt.t *b oS'jn ino.
526 Die Ethik R. Saadjas.
jeder den obrigkeitlichen Gesetzen und Anordnungen, wo-
fern er bei deren Verkündigung nicht selber zug gen war,,
den Gehorsam versagen und dadurch die Staatsleiiung un-
möglich machen1). Fast analog diesem Begriff der Politik
ist auch der Begriff der saadjanischen Ethik. Sie besteht
ebenfalls in der »Leitung« nach »vernünftiger Überlegung«,
aber in der Selbstleitung*), und ihr Zweck besteht eben-
falls in der Förderung der Wohlfahrt, aber in der Wohlfahrt
der eigenen Person8). Die Mittel, die zur Erreichung dieses
Zieles dienen, gibt ebenfalls nur die Vernunft an, indem
sie als oberste Richterin alle Triebkräfte der Seele so re-
gelt, daß sie jeder einzelnen von ihnen die Zeit und das
Maß ihrer Wirksamkeit bestimmt, wie es in den einzelnen
Fällen das vollendete Wohl des Menschen gerade erheischt4).
Nach dieser Richtung hin bestimmt Saadja die Form und
den Inhalt der Ethik hauptsächlich im zehnten Abschnitt
seines religionsphilosophischen Werkes. Er betrachtet den
Menschen dort vorwiegend als irdisches Naturwesen, dessen
höchstes eben nur auf Erden erreichbares Ziel das geistige
und leibliche Wohlbefinden bildet. Seine Ethik wird dadurch,
wie Luthardt die antike Ethik bezeichnet, »naturhaft ; sie
sucht deshalb auch nicht das menschliche Leben und Han-
deln mit einem Höheren, jenseits der Menschengewalt Lie-
genden, in Verbindung zu bringen, dessen absoluter Wille
die Norm für den Willen und das ethische Urteil des Men-
schen abgeben könnte, sondern sie nimmt ihren Ausgang
») das III, S. 65: mSD ^2ps xb .TU"! nSlJD WiW kS DK
raronn ntoa ,p mn iSxi . . . im» i»tb> nya o» *a wenn »*?i cobti
Dl» *32B HD1H H3K1, vgl. III, 59 unten; X, lvi unten;
») das. X, S 145: nfjfm m»i nruna noanS arsn*, vgl. 1/
S. 36: mnri bx "pah ryn ,obsv bx uoj> d^i ■a ,*nj idi»i. vgl. IV,
S. 78: iSsbo ijjstt rn:o »inar ex vs ,"cnn p».
8) das. X, S. 144: . . . wp ppn ib ahw . , ♦ mxapn.no *?3»
ropüisi D'i» wräjp bz wt p nrjr -upjoi.
*) Emunot X, S. 145: mron by pr i»» »in rranH na Sa»
,131 D"nrmn, vgl. S. 144 und 146.
Die Ethik R. Saadjas. 527
vom menschlichen Seelenwesen und findet den Maßstab
der ethischen Beurteilung in der prüfenden und richtenden
Kraft der Vernunft. Was diese als dem irdischen Wohle
förderlich erkennt wird als 'gut* bezeichnet und dessen
Gegenteil als »schlecht«. Saadja gibt deshalb recht bezeich-
nend dem zehnten Abschnitt die Überschrift »Über die
beste Art der menschlichen Lebensführung im Diesseits«.
Der Begriff der Ethik, wie er uns hier entgegen tritt,
verrät sowohl durch seine Verwandtschaft mit dem Begriff
der Politik, wie hauptsächlich, wie wir später noch sehen
werden, durch sein Prinzip, den Einfluß der griechischen
Ethik und unterscheidet sich wesentlich von der Fassung,
die die Ethik Saadja's in der Religion annimmt. Im zehnten
Abschnitt behandelt Saadja den Menschen als ein selbstän-
diges, unabhängiges, seine eigene Vernunft als höchste
Richterin anerkennendes Wesen; ganz anders ist dem gegen-
über aber nach Saadja die Stellung des Menschen in der
Religion. Hier verliert er seine Unabhängigkeit, seine Ver-
nunft wird mangelhaft und er tritt als Kind in ein Ver-
hältnis zu Gott, als seinem Vater, der zwar das Glück des
Kindes will, dafür aber auch unbedingten Gehorsam ver-
langt. Saadja beginnt daher seine Untersuchungen über den
ethischen Gehalt der Offenbarungslehren gleich mit dem
Hinweise, daß der Mensch sein Dasein nur der Güte Gottes
verdanke, daß Gott ihm außerdem aber noch gnädig die
Mittel gewährt habe, durch die er die ewige Glückseligkeit
und das höchste Gut erlangen könnte. Diese Mittel sind
die göttlichen Gebote und Verbote. Befolgt der Mensch sie, so
wird er von Gott dafür belohnt, verwirft er sie aber, so
wird er bestraft. Gott hat sie dem Menschen durch die
Propheten offenbart und allein aus diesem Grunde sind sie
für den Menschen von verbindlicher Kraft1). Allein Saadja
verwirft, wie wir schon wissen, den blinden Autoritäts-
glauben und sieht sich deshalb gezwungen, die Verbind-
>) Emunot III, S. 58.
528 Die Ethik R. Saadjas.
lichkeit der geoffenbarten Gesetze aus einem anderen Grunde
zu erklären. Er versucht daher, sie aus der menschlichen
Vernunft abzuleiten. Hierdurch erfahren wir aber, welche
Stellung die Ethik in der Religion einnimmt, und welches
der Begriff der religiösen Ethik ist. Indem Saadja nämlich
die einzelnen Gesetze erklärend durchgeht und je nach
ihrer Zusammmengehörigkeit gruppiert, findet er viele, zu
deren Anerkennung die menschliche Vernunft sich geradezu
gezwungen fühle, und zwar aus Gründen, die je nach dem
Inhalte der einzelnen Gesetze verschieden sind. Aber selbst
in dieser Verschiedenheit der Einzelgründe vermag er noch
ein allen Gemeinsames zu entdecken, das er als die wahre
Ursache der Verpflichtung betrachtet, die wir, unbeeinflußt
von irgend welchem Offenbarungsgedanken, jenen Gesetzen
gegenüber empfinden. Dieses ihnen gemeinsame Moment
ist der sittliche Wert, den unsere Vernunft ihnen unmittel-
bar zuerkennt, indem sie nämlich das in ihnen Gebotene
als etwas Gutes und das in ihnen Verbotene als etwas
Schimpfliches beurteilt1). Alle diese Gesetze führen den
Namen »Vernunftgesetze«. Im Gegensatz zu diesem gibt
es aber andere Gesetze, in deren Beurteilung sich unsere
Vernunft ganz indifferent verhält; sie findet in ihnen an
und für sich weder etwas Gutes noch etwas Schimpfliches*).
Der Mensch fühlt sich zu ihrer Anerkennung nur ver-
pflichtet, weil sie als Gebote der Offenbarung gelten3);
Saadja nennt diese Klasse von Gesetzen daher auch »Offen-
barungsgesetz«*). Das Merkmal, das den Unterschied
') Emunot III, S. 59: inaie tibsvi yttj ,ia nwov nbxo pjj> Sdi
vpm üftafca jnw UDO Tmnr nna p# fot
*) das.: DcstyS B*iittöJW ,Dmx itia bovn p» onan /»;OT pbvn
3) das. S. 60: trab* mxo aorpa n?n3 nbynv 'D by s)*.
«) das. S. 59 u. 61 : cm ,mxon *pbn ^p: \fis\ m . . .
. . . nvj?aff.-n nv^arn Im Jezirah-Kommentar zu 1, § 1 nennt er die
Vernunftgebote CjniDn, weil sie uns schon allein durch die Vernunft
bekannt sind rwaa cynon; die Offenbarungsgesetze aber D'PDBMOH,
Die Ethik R. Saadjas. 529
zwischen den »Vernunft«- und »Offenbarungsgesetzen«
bildet, ist ein Hauptmoment des ethischen Begriffs; denn
dieser besteht darin, daß wir an die Betrachtung von Ver-
hältnissen oder Objekten die Prädikate der Wertschätzung
des Lobes oder des Tadels, der Billigung oder der Mißbil-
ligung knüpfen1). Wir werden demnach die »Vernunft-
gesetze«, deren Verbindlichkeit der Mensch nicht erst aus
der Offenbarung herleitet, sondern schon infolge einer
sittlichen Beurteilung für sich anerkennt, als die Gesetze
der Ethik bezeichnen dürfen. Die Ethik tritt hier also in
der Form einer Pflichtenlehre hervor. Indem nämlich die
Vernunft etwas als »gut« anerkennt, finden wir uns ohne
jegliche Rücksicht auf irgend einen dadurch etwa zu er-
reichenden Zweck gezwungen, dieses Gute zu tun. Die
beiden verschiedenen Begriffe der philosophischen und re-
ligiösen Ethik Saadja's zeigen deutlich die Verschiedenheit
des Bodens, auf dem sie gewachsen sind. Seine philoso-
phische Ethik, welche eudämonistisch das Wohlbefinden
weil sie uns erst von außen mittelst des Gehorsams mitgeteilt werden
jtottH OTVD D^DBNDn. Diese Einteilung und Bezeichnung war auch
in den Kreisen der Mutazila bekannt. Schahrastäni I, S. 40, Anm.
erklärt fast wie Saadja: Offenbarung bedeute eigentlich das Hören
von außen im Gegensatz zu der Tätigkeit der eigenen Vernunft. Von
Saadja ab bleiben diese von ihm in die jüdische Literatur eingeführte
Bezeichnungen allgemein in Geltung. Joseph Ibn Zadik (Mikrokosmos,
S. 61) und Abraham Ibn Daud (Emuna rama, ed. Weil, S. 75) haben
die gleiche Einteilung und Bezeichnung der Gebote. Maimonides
behält die Einteilung zwar bei, verwirft aber die Bezeichnungen, weil
(nach Scheyer, Psychol. System des Maim., S. 26) die entsprechende
arab. Benennung eigentlich »Gesetze der theoretischen Vernunft« be-
deute, worunter aber Maimonides Gesetze über Glaubenswahrheiten
verstanden wissen will, vgl. Rosin, Die Ethik des Maimonides, S. 93.
Auch Aristoteles unterscheidet in ähnlicher Weise N E. V, 10 ein
natürliches und ein gesetzliches Recht; ebenso N. E. VIII, 14: Das
&x<xiov sei ein zwiefaches, ein ungeschriebenes und ein gesetzmäßiges.
») L. Strümpell, Praktische Philosophie der Griechen, Leipzig
1861. S. 9 ff.; T. Ziller, Allgem. philos. Ethik, 1880. S.3ff.; H. Stein-
thal, Allgem. Ethik. S. 31 ff.
34
M«Mts»chrift, 55. Jahrgang.
530 Die Ethik R. Saadjas.
zum Maßstab alles Strebens macht und das Gute nur re-
lativ als ein zweckmäßiges Mittel schätzt, ist den Griechen
entlehnt. Der Pflichtbegriff dagegen, den seine religiöse
Ethik enthält, ist in der Bibel und auf dem Boden des
Judentums zuerst ausgebildet worden1). Das Gute darin
wird nicht als ein Mittel betrachtet, sondern es ist etwas
Selbständiges, Objektives, das um seiner selbst willen ver-
wirklicht werden soll. Dieses Nebeneinanderbestehen einer
relativen und einer absoluten Wertschätzung beweist, wie
doppelsinnig und vieldeutig der Begriff »gut« bei Saadja
sein muß. Je nach der Bedeutung dieses hauptsächlichsten
Grundbegriffs ändert sich aber auch das Prinzip der Ethik,
und es fragt sich daher, ob der Begriff »gut< bei Saadja
so beschaffen ist oder wenigstens einen solchen Faktor
enthält, daß sich daraus ein einheitliches Prinzip für die
beiden von Hause aus verschiedenen Begriffe seiner Ethik
herleiten läßt. Wir übergehen hier das Verhältnis der Re-
ligion zur Ethik, welches Saadja recht ausführlich behan-
delt, weil wir es später an geeigneter Stelle erörtern, haupt-
sächlich aber, weil wir erst das Prinzip dersaadjanischen Ethik
kennen müssen, um das Ethische der Religionsgesetze, das
Saadja in ihnen eben nachweisen will, darnach zu beurteilen.
*) Nur die Stoiker unter den griech. Philosophen hatten an-
gefangen, wenn auch im Widerspruch mit ihrer allgemeinen Weh-
ansicht, den Grund zum richtigen Begriff der Pflicht zu legen (Ziller,
Allg. phil. Ethik, S. 107). Schopenhauer, welcher das Kant'sche »Sitten-
gesetz«, das wie bei Saadja unmittelbar in sich das unbedingt ver-
pflichtende Soll enthält, als in der Ethik gar nicht berechtigt, verwirft,
»erkennt für die Einführung des Begriffes Gesetz, Vorschrift, Soll in
die Ethik keinen anderen Ursprung an, als einen der Philosophie
fremden, den mosaischen Dekalog« ; Preisschrift über die Grundlage
der Moral. 2. Aufl. Leipzig 1860, S. 122, vgl. das. S. 125: »Die Fas-
sung der Ethik in einer imperativen Form, als Pflichtenlehre . . .
stammt mit samt dem Sollen, unleugbar nur aus der theologischen
Moral und demnächst aus dem Dekalog«, vgl. O. Lehmann, Über
Kants Prinzipien der Ethik und Schopenhauers Beurteilung derselben.
Berlin 1880. S. 91 ff.
(Fortsetzung folgt.)
Bas „Steinewerfen" in Eoheleth3, 5, in der Beufealicn-
sage und im Hermeskult1).
Von Ludwig- Levy.
»Alles hat seine Zeit,« so leitet Koheleth sein drittes
Kapitel ein, hilflos steht der Mensch der ehernen, unab-
änderlichen, von Gott gegebenen Ordnung der Dinge ge-
genüber. Mit V. 2 beginnen 7 Paare von Antithesen. Jedes
Antithesenpaar bildet ein geschlossenes Ganzes, das mit
iiem Vorhergehenden und Folgenden nicht zusammenhängt.
Jedes Paar zerfällt aber in 2 eng untereinander zusammen-
hängende Parallelen. Das erste Antithesenpaar beginnt mit
dem Lebensanfang und Lebensende des Menschen und
(parallel) der Pflanze. Daß »weinen und lachen« und »klagen
und tanzen« (V. 4) Parallelen sind, braucht nicht erst bewiesen
zu werden. Dasselbe gilt für »suchen und verloren geben«,
»erhalten und wegwerfen« V. 6, für »zerreißen und nähen«,
»schweigen und reden«, beides Äußerungen der Trauer und
ihrer Beendigung V. 7, ebenso für »Liebe und Haß«, im
Völkerleben »Krieg und Frieden« V. 8. Von der Erklärung
der Parallele V. 3 wollen wir hier absehen, sie würde uns
zu weit führen.
Auffallend und bisher unerklärt ist die Parallele
des 5. Verses:
ipwiü ptr# nins pläjjf? ny_
Es ist eine Zeit Steine zu werfen und eine Zeit Steine
zu sammeln, eine Zeit zu umarmen und eine Zeit dem Um-
armen fernzubleiben.
') Ein Kapitel aas meinem demnächst erscheinenden Koheleth*
ketntnentar.
34*
532 Das »Steine werfen c in Ko beleih 3, 5,
Zu diesem Verse schreibt Delitzsch : »Schwieriger zu
sagen ist, was den Verfasser auf die zwei folgenden Gegen-
satz-Paare hinführt V. 5: Steinewerfen hat seine Zeit, und
Steinesammeln hat seine Zeit; Umfahen hat seine Zeit und
Enthaltung vom Umarmen hat seine Zeit. Bestand zu des
Verfassers Zeit schon die altjüdische Sitte, dem Toten
drei Schaufeln Erde ins Grab nachzuwerfen, und führt ihn
dies auf das d*»« ybvn? Man bedarf aber so zufälliger Ge-
dankenverknüpfung nicht, denn auch das Paar 5a unter-
stellt sich noch den Gattungsbegriffen des Lebens und des
Todes : Steine werfend ruiniert man den Acker 2 K 3, 25,
und Steine zusammensuchend und entfernend kultiviert
man ihn. Folgt nun piar6, weil auch das mit Armen und
Händen geschieht ? Schwerlich, sondern dem feindlichen,
geflissentlich schädigenden Steinewerfen tritt die Liebes-
betätigung des Umfahens an die Seite.«
Delitzsch's Erklärung befriedigt nicht. Das Nachwerfen
der drei Schaufeln Erde können wir bei Seite lassen, denn
abgesehen davon, daß es sich um Erde und nicht um Steine
handelt, entspricht das Nachwerfen der Erde nicht dem Um-
armen. Aber auch das Ruinieren der Äcker durch Steine-
werfen im Kriege korrespondiert nicht mit Umarmen, und
selbst wenn wir den ersten Halbvers umdrehen, so daß
das Entsteinen mit Umarmen korrespondiert, so ist dies
Kultivieren des Ackers nur sehr gezwungen mit Umarmen
in Parallele zu setzen. Delitzsch folgen die meisten neueren
Erklärer, so Volck, Wildeboer, Siegfried. Auch andere Er-
klärungen wie • »eine Mauer zerstören« für Steinewerfen
und »zum Festungsbau sammeln« (Graetz) oder »Werfen
und Sammeln von Schleudersteinen« (Zapletal) sind ver-
fehlt.
Fragen wir zunächst : Was erwarten wir an Stelle von
Steinewerfen und Steinesammeln in unserem Vers? Wenn
wir vom zweiten Halbvers ausgehen: »Eine Zeit ist für's
Umarmen und eine Zeit ist, sich vom Umarmen fernzu-
in der Deukalkmsage und im Hermeskult. 533
halten,« so erwarten wir nach Analogie aller übrigen Ge-
gensatzpaare im ersten Halbvers etwas Ähnliches. Und da
hier piar6 erotisch gemeint ist wie Spr. 4, 8 und 5, 20,.
so muß »Steine werfen« und »Steine sammeln« ein sym-
bolischer Ausdruck für »den Liebesgen u,ß suchen«
und »den Liebesgenuß m e i d e n« sein.
Sexuelle Symbolik war zu allen Zeiten und bei allen
Völkern, besonders auf primitiver Kulturstufe, weit ver-
breitet. Die verschiedensten Ausdrücke dienen als ver-
hüllende Bezeichnung des Geschlechtsaktes. So nennt Stern
B. Medizin, Aberglaube usw. II, S. 136 die Ausdrücke »reiten«,
»bedecken«, »spielen«, F. S. Krauss, Die Zeugung in Brauch,
Glaube und Sitte der Südslaven I. S. 349 und II. S. 157
»kneten«, IL S. 235 »Mehl sieben«, I. S. 341 »Zupfropfen.«
Zur sexuellen Symbolik im HL s. Haupt P. Bibl. Liebes-
lieder S. 36, 43, 68, 78, in talmudischer Zeit s. b. Sabb.
63 a: noi« dir vn pn» >#j« thmv *tw« 3i id« mtp n idk
»Vma pa nb^av 7WHW nca ik n^ap nca divt myo naa iTar6
no« vi -ona i« aitt nana "istp aooa ik am aooa »Vtbi pa i«
r\mh ]bvi *non 3*1. Ein solcher Ausdruck muß auch »Steine
werfen« sein. In die Sphäre des Zeugens und Gebarens rückt
uns zunächst ein D'ja« verwandtes Wort: 0*£"3N Ex. 1, 16
und Jer. 18, 3. In Ex. 1, 16 D'i2«n bv jn*K-ii kann das Wort
nur die Bedeutung » Schamteile« haben, in der es ganz
unzweideutig von der Mechilta zu Ex. 15, 5 gebraucht wird
(Winter und Wünsche, Übersetzung, S. 128): »Wie ein Stein,
Mit dem Maße, mit welchem ein Mensch mißt, mißt man
ihm. Sie sprachen : So sehet auf den Zweistein. Auch du
machtest ihnen die Wasser wie einen Zweistein, und die
Wasser schlugen sie an den Ort des Zweisteins,« die Scham.
Die Hebammen sollen auf die Vulva blicken, um das Kind,
sobald sie sein Geschlecht erkannt haben, sofort zu töten.
»Gebärstuhl« gibt keinen Sinn. Da das Weib auf ihm sitzt,
kann man ihn nicht sehen, und könnte man ihn selbst
sehen, so hätte das auch keinen Zweck. Die Hebamme
534 Das »Steinewerfen« in Koheleth 3, 5,
muß vielmehr auf die Stelle sehn, wo das Kind heraus-
tritt, oder auf das Kind selbst und seine Geschlechtsteile.
0'J3« können nur die beiden Ränder der Scheide sein,
oder die beiden Hoden (= Steine) des Kindes, s. Baentsch
(in Nowacks Handkomm. z. St.), der im Namen von Völlers
auf das arab. merbana (ma'bana) Schamlosigkeit und mtbün
(ma'bun) Lustknabe verweist, >beide Ausdrücke zeigen
wenigstens, daß auch im Arab. sich Ableitungen von
p« in der Sphäre des pudendum bewegen.« Auch der
Midrasch Ex. r. z. St. erklärt d»J3K als Zeugungsorgane des
Weibes. Auf der Suche nach der Etymologie des Wortes
gibt er verschiedene Erklärungen, die eine : 1H"W mpo 0^3«
u njDJ, also Gebärmutter, eine zweite: onr« nun? mprf
ib"b nstran by rmtw pijhm d*mk3 wp mwt ^v, ferner rwa
D'33»r jiujöxd fr/iisr ib*b i\m3&..
Wenn auch diese Etymologien für uns nicht mehr
brauchbar sind, so zeigen sie doch jedenfalls, daß ü\2IjlN
für den Midrasch die Geschlechtsorgane bedeutete, und
daß man ein tertium comparationis mit D^DN Steine suchte.
Aber auch D?3?N Töpferscheibe Jer. 18, 3 führt uns
in das Gebiet des Zeugens und Erschaffens. Die Men-
schenschöpfung wird im babylonischen und ägyptischen
Mythus als Töpferarbeit dargestellt. Auf der Töpfer-
scheibe wird der Mensch modelliert. Eine Abbildung
aus dem Tempel von Luxor zeigt uns den ägyptischen
Gott Chnum, wie er den Menschen auf der Töpferscheibe
modelt1). Bei den Babyloniern ist Ea der Menschenbildner
und heißt »der Töpfer«, der den Menschen aus Lehm er-
schafft*). Da so viele Momente o*33« in die Sphäre des
Zeugens, Erschaffens, Gebarens rücken, ist es natürlich,
daß mit |2N Stein Bilder und Redensarten geschaffen wur-
den, die auf diese Sphäre hindeuten. In Jes. 51, 1 wird
*) Eine Reproduktion des Bildes, s. bei Jeremias: das Alte
Testament im Lichte des alten Orients*, S. 146.
") Jeremias, ATAO, S. 167.
in der Deukalionsage und im Hermeskult. 5$*
Abraham der Fels genannt, aus dem die Israeliten gehauen
wurden. Duhm bemerkt dazu: »Abraham und Sara werden
mit einem Felsen, genauer einem Steinbruch, verglichen, die
Israeliten mit den daraus geförderten Steinen. Das Bild ist
so fremdartig, daß eine besondere Anspielung darin liegen
mag.« Das Bild ist durchaus nicht so fremdartig und ver-
einzelt, vgl. Jer. 2, 27: die da sprechen zum Stein: Du hast
uns geboren, Matth. 3, 9: Gott vermag dem Abraham aus
diesen Steinen Kinder zu erwecken, Odyssee XIX, 162:
Aber sage mir doch, aus welchem Geschlechte du herstammst,
denn du stammst nicht vom Steine, Bertholet, Religions-
geschichtliches Lesebuch, S. 210: Agni aus dem Stein ge-
boren. In denselben Zusammenhang gehört auch die Fels-
geburt des Mithras, die petra genitrix. Gewiß sind das
meist Bilder, aber Bilder, die durch bekannte Redeweisen
und Anspielungen hervorgerufen wurden. Bei den Juden
konnte schon der Gleichklang von ma« p« Steine mit D»aa p
Söhne derartige Bilder begünstigen, vgl. Ibn Esra zu Ex. 1, 16.
Eine solche, ursprünglich allgemein verstandene Redeweise
war »Steine werfen«. Jeder Zweifel, der noch über die Be-
deutung des Ausdrucks bestehen könnte, wird durch den
Midrasch Koheleth r. behoben. Er bemerkt zu unserem Verse:
nytP3 — d*:3« dos ny\ ,frnna ^rwmv fW3 — d'J3« jbwb ny
niftOtt *]rt?RtP. »Es ist eine Zeit Steine zu werfen, wenn dein
Weib (levitisch) rein ist, und eine Zeit Steine zu sammeln,
wenn dein Weib unrein ist.« Hieraus geht klar hervor, daß
der Midrasch »Steine werfen« im Sinne des Geschlechts-
verkehrs nimmt, der während der Menstruationszeit, in der
das Weib unrein ist, den Juden verboten ist. »Steine
sammeln« bedeutet dann Zeugungskräfte sammeln, in der
Zeit sexueller Enthaltsamkeit. Dem Midrasch war also noch
der Ausdruck bekannt, dessen Bedeutung den Späteren
verloren ging1).
') Irgend eine Überlieferung, vielleicht auch der Midrasch, hat
Raschi veranlaßt, CiSK ybvnb mit D"03 zusammenzubringen. Er er-
536 Das »Steinewerfen« in Koheleth 3, 5,
Vollständig jedoch ging der Ausdruck nkht verloren:
er hat sich in europäischen Volksbräuchen erhalten. »Eine
deutsche Volkssage« schreibt Ploß1), »läßt die Kinder aus
Steinen kommen. So bringt in Cammin der Storch die Kinder
vom großen Stein.« In der Schweiz ist die Vorstellung ver-
breitet, daß der von einem Gewitter herabgeworfene Stein
den Kindertrog öffnet. Donnert es, so sagt man Leuten, die
ein Kind durch den Tod verloren haben, zum Trost: es ist
wieder ein Stein von der großen Fluh heruntergepoltert,
jetzt kann die Hebamme wieder ein anderes herausholen.
Das Landvolk der Schweiz nennt die Nagelfluh Titisteine
oder Kleinkindersteine. Teti heißt Kindlein, daher Titisteine«.
Noch deutlicher spricht ein anderer Brauch in Pommern.
»In Pommern bezeichnet man kleine, rundliche, glatte Steine
von schwarzer oder milchweißer Farbe als »Adebarsteine«
(Storchsteine). Diese werfen die Kinder sich rückwärts über
den Kopf und bitten dabei den Adebar um ein Brüderchen
oder ein Schwesterchen*2). »Steine werfen« ist hier genau
wie in Koheleth symbolische Bezeichnung für Kinderzeugen.
Ist nun die Bedeutung des Ausdrucks über allen Zweifel
sichergestellt und zugleich durch sein Vorkommen In Ko-
heleth sein hohes Alter bezeugt, so rückt die Deukalionsage
in ein neues Licht. Bekanntlich stimmt diese griechische
Sintflutsage mit den orientalischen Flutsagen in den meisten
Zügen überein. Deukalion und Pyrrha retten sich allein in
einem hölzernen Kasten vor der großen Flut, die auf Zeus'
Befehl das ganze Menschengeschlecht vernichtet. Neun Tage
und Nächte fahren sie auf dem Wasser umher, endlich landen
klärt D03K: D^Sttno ^KW mS3 wie «Hip "03K n»WWJl Klagel. 4, 1,
wo Raschi bemerkt: niniB D^SKS D'TKDH D^3. DOS sind dort die
») Das Kind I, S. 33.
«) Zeitschrift für Volkskunde »Am Urquell«, herausgegeben von
F. S. Krauß, Bd.V, S. 255, A.Haas, Rügensche Sagen, N. 139. Freund-
liche Mitteilung von Herrn Dr. D. Ernst Oppenheim in Wien.
in der Deukalionsage und in ^Hermeskult. 537
sie auf dem Parnaß. Deukalion bringt Zeus ein Opfer dar,
und als Zeus ihm einen Wunsch gestattet, bittet er um
Menschen. Diese entstehen, indem Deukalion und Pyrrha
Steine, »die Gebeine der Mutter«, hinter sich werfen, die
sich in Menschen verwandeln. Dieser eine Zug ist der grie-
chischen Sage eigentümlich. Sie teilt ihn noch mit der sla-
vischen Sage vom Regenbogen, der das einzige nach der
Tat übriggebliebene Menschenpaar tröstet und ihnen rät,
über Steine zu springen. So entstanden neue Menschen-
paare1). Jeremias2) weist auf die oben zitierte Stelle der
Odyssee, ferner auf die Baitylien hin, die beseelten Steine,
die Uranos mit der Erde erzeugte, und schließt : »Von
unserem Standpunkt aus müssen wir annehmen, daß auch
hier Ideen vorliegen, die auf eine Wurzel zurückgehen. Und
dann kann auch der orientalische Ursprung der Deukalion-
sage nicht mehr zweifelhaft sein«. — Alles weist auf Orientalin
sehen Ursprung bis auf den Zug vom »Steine werfen«.
Sollte dieser nicht auch vom Orient gekommen sein und
zwar als gebräuchlicher symbolischer Ausdruck für »Zeugen«?
Deukalion bittet um Menschen, die Gottheit fordert ihn und
Pyrrha auf, Steine zu werfen, vorher aber sagt sie: »Hüllt
euch Beide das Haupt und löst die gegürteten Kleider«8).
Diese Aufforderung wird uns nun begreiflich, zum Werfen
von Steinen braucht man die Kleider nicht zu lösen! In
diesem Sinne scheint schon Rabelais die Sage verstanden
zu haben*): »besser kein Herz zu haben als keinen Zeu-
gungsapparat, denn in ihm ruht wie in einem Tabernakel
») Jeremias ATAO S. 248.
*) a. a. O., S. 238, Anm. 4.
») Ovid, Metatn. I, 382: Et velate Caput, cinetasque resolvite
vestes.
4) Rabelais: Pantagruel, II. Buch. cap. VIII, S. 52 der Über-
setzung von Engelbert Hegaur und Dr. Owlglaß. Den Hinweis auf
diese Stelle verdanke ich der Liebenswürdigkeit Dr. D. Ernst Oppen-
heims in Wien.
538 Das »Steinewerfen« in Koheleth 3, 5«
der Samen, der das ganze Menschengeschlecht erhält. Ihr
brauchtet mir nicht 100 Franken zu geben, und ich will
glauben, daß das die eigentlichen Steine waren, mit denen
Deukalion und Pyrrha das durch die Sintflut zernichtete
Menschengeschlecht wieder herstellten«. Die Handlung des
Steinewerfens ist ein Bildzauber, der symbolische Akt ruft
auf geheimnisvolle Weise die beabsichtigte Wirkung hervor,
wie wenn etwa die Indianer durch den Büffeltanz die Büffel
in die Fallen locken wollen.
Wie ist aber der symbolische Ausdruck Steinewerfen
= zeugen entstanden? Über einen Gedankengang, der wohl
in graue Urzeit zurückreicht, in der der Menschengeist noch
andere Wege ging, lassen sich natürlich nur Vermutungen
aussprechen. Eine Parallele zum Werfen von Steinen finden
wir im Werfen oder Spritzen von Wasser=zeugen, erschaffen.
O. Dähnhardt berichtet in »Natursagen« I, S. 18, von einer
indischen Sage, nach der die Teufel durch Ausspritzen von
Meerwasser entstanden. Eine ukrainische Sage erzählt I,
S. 49: Gott befahl dem Teufel seine Finger ins Meer zu
tauchen und, ohne sich umzusehen, Wasser hinter sich zu
werfen. Der Teufel war ungehorsam, sah sich um, und er-
blickte seinesgleichen. Darauf setzte er den Versuch fort
und es entstand eine unsägliche Menge Teufel. Nach einer
Variante sagte Petrus zum Teufel: Schaffe dir Helfer, nimm
Wasser, spritze hinter dich. So vielmal du spritzest, soviel
Teufel werden entstehen. Auch auf Adam wird die Sage
übertragen, Dähnh. I, 49. Es leuchtet ein, daß Wasser spritzen
als symbolischer Ausdruck für den Geschlechtsakt nahe lag.
Wasserwerfen dürfte daher die ursprüngliche, bei einem am
Meere wohnenden Volke entstandene Fassung des Aus-
drucks sein. Das Material der Menschenschöpfung im Mythus
wechselt nach Gegend und Beschäftigung der Völker. In
der mesopotamischen Tiefebene dachte man sich den Men-
schen aus Lehm erschaffen, im Gebirge aus Steinen hervor-
gehämmert (Dähnhardt I, 18, Anm. 1. I. 33), unter Schmieden
in der Deukalionsage und im Hermeskult. 539
geschmiedet, unter Zimmerleuten gehobelt (Dähnhardt I, 63).
So konnte an Stelle des »Wasserwerfens« in gebirgiger
Gegend »Steinewerfen« entstehen. Einen Beweis dafür, daß
das Werfen konstant bleibt, das Material aber wechselt,
liefert die Angabe A. v. Humboldts1), daß die Tamanaken
am Orinoko sich die Menschen aus Dattelkernen entstanden
denken, die ein bei der Flut auf hohen Bergesgipfel ge-
flüchtetes Paar über sich geworfen habe. Möglich ist auch,
daß die oben aus der Mechilta zitierte Bezeichnung der
Hoden als Steine und der erwähnte Gleichklang von J2N
und |2 bei den Semiten zur Bildung des Ausdrucks beitrug.
Wie dem auch sei, die Bedeutung des Ausdrucks
»Steinewerfen« steht jetzt fest und kann noch zur Lösung
mancher anderen Schwierigkeiten führen. Die älteste Form
des Hermeskultes bestand im Werfen von Steinen. Auch
im Talmud ist dieser Götzendienst als o^pio /ra *J3» er-
wähnt (b. Ab. sar. 51a, b. Bab. mez. 25 b). Die Auffassung
der über die ganze Erde verbreiteten Steinhaufen als
Erinnerungszeichen an irgend eine Person oder Tat bietet
für den Hermeskult keine Erklärung. Ein plausibler Sinn
ist bisher für die Hermaia nicht gefunden. Schmidts Auf-
fassung2) der Hermaia als symbolischer Steinigung eines
Frevlers, der dem Hermes Chthonios übergeben worden sei,
befriedigt nicht. Wir müssen vielmehr davon ausgehen,
daß in diesen Steinhaufen des Hermes ein Phalluspfeiler
stand. Später wurde an diesen Pfeiler auch der Kopf des
Gottes angesetzt; so entstanden die Hermen. Hermes war
auch Gott der Zeugung und Fruchtbarkeit und wurde als
solcher in Phallusgestalt verehrt. Da nun, wie wir fest-
gestellt haben, Steinewerfen ein Symbol des Zeugens war,
so leuchtet es ein, daß Hermes verehrt wurde, indem
') A. v. Humboldt: Ansichten der Natur 1, 240» zit. bei H.
Usener, Die Sintflutsagen, S. 245.
') Chantepie de la Saussaye, Religionsgeschichte II, S. 301.
540 Das »Steinewerfen« in Koheleth 3, 5, .
jeder Vorübergehende Steine vor den Phallus warf. Er
nahm damit symbolisch die dem Gott heilige Handlung
vor1). Wenn Liebrecht F.*) vermutete, »die Statue derVenus oder
Diana zu Trier, die bis vor nicht langer Zeit zum Zeichen
des Sieges Ober das Heidentum von jedermann mit Steinen
beworfen wurde, habe dieselben zur Römerzeit wahrschein-
lich als Opfergaben erhalten so befand er sich auf dem
richtigen Wege, auch die Liebesgöttin Venus konnte durch
das Symbol des Steinewerfens verehrt werden.
Auch der Ursprung einer im Altertum weit verbreiteten
Rechtssitte läßt sich vielleicht auf diesem Wege erklären.
Auf Ehebruch stand die Strafe der Steinigung (Dt. 22, 22
Ex. 16, 40 Joh. 8, 5). Ebenso wurden andere sexuelle De-
likte durch Steinigung geahndet (Dt. 22, 20 und 22, 24).
Warum wurden derartige Vergehen gerade durch Steinigung
oder auch Verbrennung gestraft ? Das für das hebräische
Strafrecht maßgebende Prinzip war das Jus talionis: Auge
um Auge, Zahn um Zahn. Zur Talion ist auch die Be-
strafung des Gliedes zu rechnen, mit dem gefrevelt wird,
das Handabhauen Dt. 25, 12. Vgl. dazu die Parallele des
Hammurabi-Gesetzes § 195, die Hand des Sohnes, der
seinen Vater schlägt, wird abgehauen, ebenso die Zunge
des Kindes, das Vater oder Mutter verleugnet (§ 192), vgl
auch die Kastrierung als Strafe des Ehebruchs bei den
Römern. Dem Talionsprinzip entsprang ferner der Gedanke,
daß die Strafe das Abbild der Schuld sein solle. Die Art
der Todesstrafe mußte der Art des begangenen Frevels ent-
sprechen. Diese Idee erklärt die Anwendung so vieler
Arten der Todesstrafe im Altertum. Stark entwickelt war
die Symbolik im germanischen Strafrecht, schon Tacitus
fiel die distinctio poenarum ex delicto auf (Germ. c. 12).9)
*) Vgl. dazu das Spermaopfer an den heil. Mitbrassteinen, s.
Eisler R., Himmelszelt und Weltenmantel I, 183 u. II, 469 ff.
a) Germania, Jahrg. 1877, S. 29.
*) s. D. Ernst Oppenheim in »Wiener Studien« XXX, 'APAfe,
in der Deukalionsage und im Hermeskult. 541
Diese Variierung der Strafe nach der Art der Schuld dürfte
auch der Steinigung als Bestrafung sexueller Delikte zu-
grunde liegen. Die Ehebrecherin oder das Mädchen, das
nicht mehr keusch in die Ehe getreten war, hatten, sym-
bolisch gesprochen, durch »Steinewerfen« sich vergangen,
darum sollten sie auch durch Steinewerfen gestraft werden.
Angedeutet wird dieser Zusammenhang noch dadurch, daß
die Ehebrecherin nackt gesteinigt wurde (Ez. 16, 39). Noch
heute wirft bei den Insel- Esten, wenn ein Paar in stupro
«rtappt wird, der Entdecker sofort einen Stein auf die Stelle
und dies wird von anderen wiederholt1). Hier hat sich die
Steinigung als symbolische Talion erhalten. Einmal in Auf-
nahme gekommen, wurde dann die Steinigung auch auf
andere Verbrechen angewendet, aber auch in diesen an-
deren Fällen schimmert das jus talionis noch durch. So
dürfte bei der Steinigung des Gotteslästerers (Lev. 24, 14;
Deut. 17, 5; 1 K. 21, 10) das Homonym o:n = lästern
(s. Ges. Buhl16) = steinigen die Brücke zwischen Schuld
und Sühne gebildet haben.
So erklärt sich aber auch, warum neben der Steinigung
auch Verbrennung sowohl im Hammurabi-Gesetz, als auch
in der Bibel bei sexuellen Vergehen zur Anwendung kommt,
und zwar bei der Unzucht der Priesterstochter Lev. 21, 9
und bei Umgang mit einem Weib und ihrer Mutter Lev.
20, 14 Cod. Hammur. § 157, außerdem noch bei Tamar
Gen. 38, 24. Auch das Feuer ist bekanntlich Symbol der
Zeugung. So bildet auch hier die Art der Bestrafung das
Abbild der Schuld. Dasselbe gilt auch von dem einzigen
S. 4, Anm. 2, wo Belege aus dem griechischen und römischen Rech
angeführt werden.
!) K. Haberland in »Zeitschrift für Völkerpsychologie« Bd. 12,
S. 306. Vgl. dazu die Sage, die beiden Steine Asaph und Najlä bei
der Kaaba seien die Körper eines Frevlerpaares, das von der Qott-
heit während eines im Tempel vollzogenen Geschlechtsaktes zur
Strafe versteinert wurde (Lenormant, Lettres assyr. II, 235).
542 Das »Steinewerfen« in Koheleth etc.
Fall von Anwendung der Verbrennung, ohne daß ein
sexuelles Delikt vorliegt: bei Diebstahl, der während einer
Feuersbrunst begangen wurde, Jos. 7, 15. 25, Achans Dieb-
stahl bei der Verbrennung von Jericho, Cod. Hammur. § 25.
Der Ausdruck »Steinewerfen« in Koheleth 8, 5 hat
eine Saite im menschlichen Denken und Vorstellen ange-
schlagen, deren Schwingungen aus grauer Vorzeit seltsam
zu uns herüberklingen.
*
Ursprang, Begriff and Umfang der allegorischen
Schrittet kläraag.
Von L. Treitel.
Es ist nachgerade in Fachschriften und anderwärts
Mode geworden, auch beim palästinischen Midrasch von Alle-
gorie zu reden, so sehr man sich seit langem gewöhnt hat, die-
selbe fast ausschließlich bei Philo zu suchen. So soll die be-
kannte Deutung der Erhebung der Hände Moses beim Kampf
mit Amalek auf Gebet, Aufblick zu Gott im Midrasch alle-
gorisch sein, wie es in einem jüngst erschienenen Buche
heißt, und vieles dergleichen mehr dort; ob mit Grund oder
Ungrund, soll sich aus nachstehender Untersuchung ergeben.
Richtig ist, daß Philo nicht der einzige, kaum der
erste Vertreter allegorischer Auslegungsweise ist. Aber nach
Umfang und systematischer Durchführung ist der Name des
großen Alexandriners so sehr sich deckend mit dieser Art
von Schrifterklärung, daß, soll die Frage an der Wurzel
gefaßt werden, eine Untersuchung über Begriff der Allegorie
als Auslegungsweise wie ihren Anwendungsbereich gar nicht
umhin kann, Philo als Ausgangspunkt zu nehmen. Das
Verständnis Philos selber kann dabei nur gewinnen. Eines
hat der Philoforschung lange gefehlt, mußte ihr fehlen, weil
diese ganze Betrachtungsweise jüngeren Datums ist; ich
meine eine durchgängige Vergleichung mit palästinischem
Midrasch. Dankenswerte Anfänge sind von Z. Frankel, H.
Graetz, J. Freudenthal und, nicht zu vergessen, von C.
Siegfried gemacht worden, in jüngster Zeit auch von L.
Cohn in dem von ihm herausgegebenen Übersetzungswerk«
zu den »Schriften der jüd. -hellenistischen Literatur«,; die
Vergleichung ist fortzusetzen und zu vertiefen, um ins in-
544 Ursprung, Begriff und Umfang
nerste Wesen alexandrinischer Allegoristik einzudringen, von
wo aus erst die Frage des Anwendungsbereichs der Alle-
gorie als Schriftdeutung zu lösen ist.
Beginnen wir mit der Frage, was Philo mit allegorischer
Auslegung gewollt. Auszugehen ist nicht von der Annahme,
daß Philo damit nichts weiter als Übereinstimmung zwischen
Denken und Glauben, zwischen griechischer Philosophie und
dem Nomos, wie er das mosaische Schriftwort nach allen
seinen Teilen nennt, habe herstellen wollen, und Zwiespalt,
wo immer er sich zeigt, um jeden Preis damit habe besei-
tigen wollen, es hieße das ihm gar zu berechnetes Tun,
gewissermaßen Unterordnung unter die Herrschaft des
Griechentums, unterschieben, wie es noch J. Freudenthal
tut; schreibt doch derselbe in seinen »Hellenistischen Stu-
dien«, S. 74: Allegorische Deutung tritt erst auf, wo ein
Zwiespalt zwischen dem Erklärer und dem erklärten Text
besteht und durch künstliche Mittel beseitigt werden soll.
Nicht viel anders die Wertung bei E. Zeller. Er sieht ein
Hilfsmittel der Ausgleichung darin, gleich wie die Stoiker
es auf griechischem Religionsgebiete angewendet haben
Bei solcher Auffassung bleibt vieles von den Allegorien
Philos unerklärt. Vieles erscheint gewaltsam, zum mindesten
unnötig. Die Verschmelzung von griechischer Philosophie
und mosaischem Schriftwort, der alex. Synkretismus, ist
Resultat, die Faktoren dieses ganzen Gedanken- und Aus-
legungsprozesses sind zum Teil andere. Auszugehen ist
vielmehr von einer Art mystischer Verehrung, die Philo für
das Wort der Schrift gehabt ; ihm ist alles bis auf den
Ausdruck, die kleinste Nuance desselben, die kleinste Par-
tikel inspiriert. Dieser seiner Grundanschauung mußte es
widerstreiten, daß in der heiligen Schrift nichts weiter zu
erblicken wären, als Erzählungen von Personen und äußeren
Vorgängen, die von ihren Verfassern nach Art der Logo-
graphen gegeben wären. Es wäre Gottes Wort nicht, wenn
es nicht geheime Weisheit enthielte. Das der Gedankengang
der allegorischen Schrifterkläruag. 545
Philos, das sein inneres, philosophisches Bedürfnis bei
allegorischer Schrifterklärung, wie es bereits Z. Frankel
erkannt hat, vgl. »Über den Einfl. u. u. § 9, Anm. Geht doch
seine Verehrung gegen das Schriftwort so weit, daß er tiefe-
res Schriftverständnis auch nicht für möglich hält ohne gött-
liche Eingebung, die er in der Tat zeitweilig besessen haben
will (vgl. E. Zeller, Philos allegorische Schriftauslegung).
Neben diesem inneren, subjektiven Bedürfnis wirken freilich
auch äußere, objektive Gründe mit, so insbesondere sein
apologetisches Streben, dem zahlreiche Stellen seiner Schriften,
ganze Bücher gewidmet sind. Hier ist die Absicht einer
Versöhnung von griechischer Philosophie besser, dem Geist
seiner Zeit mit dem Schriftwort unverkennbar. Sei es nach
der einen oder anderen Erklärung von Philos Allegoristik,
so viel ist klar : das wahre Verständnis der heil. Schrift
als eines Volks- undErziehungsbuches, als eines fortlaufenden
und zwar volkstümlichen Berichts vom wachsenden Reiche
Gottes ist ihm gar nicht aufgegangen, aber ebenso wenig
auch dem palästinischen Midrasch. Alles in der Schrift wird
so Philo unter der Hand zu »Bildern«, die ganz anderes
als empirische Dinge bedeuten, so sieht er dort in Allem
nichts als verdeckten, versteckten Sinn, die uxovoia, wie er
es nennt. So werden ihm gleich im Anfang der Genesis die
Namen Adam und Eva zu Sinnbildern von Vernunft und
sinnlichem Wahrnehmen, das Nacktsein der beiden ist ihm
nicht Nacktheit des Leibes, bedeutet ihm vielmehr ein Ent-
blößtsein von Tugend, die Erzählung, »daß sie sich verbargen,
daß ein Mensch, wer immer, sich vor Gott verbergen will«,
wird ihm gleich zum Bild des Gottesleugners, wie umgekehrt
»«in vor Gott stehen«, wie es von so vielen in der Schrift
heißt, ihm Anerkennung Gottes als Herrn des Weltalls be-
deutet. Die »Schlange« daselbst ist ihm die t)<W»i, die Lust
— er ist wohl der «rste mit dieser Auffassung — doch zunächst
nicht die gemeine Lust, vielmehr Verlangennach Zusammen-
wirken von Vernunft und Sinnlichkeit im wissenschaftlichen
Monatsschrift, 55. Jahrgang. <**
546 Ursprung, Begriff und Umfang
Sinne, das an sich unschuldig, im weiteren Verlauf des Pro-
zesses aber, indem es für den vovJ; »die Vernunft« Hindernis
wird, die Führung zu behalten, die Leidenschaft erzeugt, und
darum fluchwürdig wird Leg. Alleg. III, 71 ff., 107 ff. In dieses
Gewebe von Allegorien wird gleich auch die Erzählung von
der Schlange bei Mose IV. M. 11, 21 hineingezogen und
diese in gleichem Sinne gedeutet. Man macht dabei die
Beobachtung, daß Philo's Aufbau von Allegorien bemerkens-
werte Ähnlichkeit mit der Architektonik des palästinischen
Midrasch aufweist, dort wie da werden Schriftstellen, die
nach irgend einer Seite etwas Gemeinsames zeigen, auf
einander bezogen, und zwar bei Philo mit fast endloser
Breite, wie eben obiges Thema, die allegorische Bedeutung
des von den ersten Menschen Erzählten, durch die lange
Paragraphenreihe, Leg. Alleg. II, § 19 bis Schluß des Buches
und daselbst III, § 1 bis 199 ed. C. durchgeführt wird. Im
Ausdruck maßlos, überschwenglich, in dem Gedanken zum
großen Teil mystisch, zu Forderungen, Annahmen sich ver-
steigend, die der Wirklichkeit und ihren Möglichkeiten Hohn
sprechen, wie wenn er seinen Weisen den Tod des Leibes
beschließen läßt, das. III, §74. Nach E. Herriots zutreffender
Charakteristik in seinem »Philon le Juif« beginnt Philo mit
Ekstase und endet mit Mystik. So, um ein zweites, beson-
ders instruktives Beispiel anzuführen; de Somn. I, § 52 ff.
dies. Ausg. kann er nicht glauben, daß die Erzählung von
Abrahams Wanderungen um ihrer selbst willen da sei, wie wenn
sie von einem Logographen gegeben wäre. Er sieht vielmehr
darin den, an sich ansprechenden, sokratischen Gedanken, daß
die Philosophie von astronomischen Dingen beim Men-
schen, als dem würdigsten Objekt philosophischer Forschung,
Einkehr zu halten habe. Es ist zu gerechter Würdigung dieses
Strebens nach allegorischer Auffassung und Deutung der
Schrift bei Philo durchgängig darauf zu achten, daß er neben
die allegorische Erklärung auch die andere nach dem Wortsinn
setzt oder wo er sie bei anderen findet, sie in gleicher
der allegorischen Schrifterklärung 547
Weise gelten läßt, wie dies besonders in den Quaestiones
in Gen. und Exod. geschieht. Daselbst führt er erstere Er-
klärung mit der Formel ad mentem, letztere mit dem Aus-
druck ad litteram ein. Das Verhältnis der beiden Auslegungs-
arten bestimmter de Migr. Abr. § 93 dahin, daß, wenn die
buchstäbliche Auffassung des Schriftwortes den Leib, wie
sich E. Zeller ausdrückt, darstelle, die andere die Seele des
Schriftwortes bedeute.
Woher unserem Alexandriner die Allegoristik über-
kommen ist? Von außen nicht, so nahe es liegt, hier an
die Stoiker, die Gleiches auf dem Gebiet der griechischen
Mythe angewendet, — was auch die Meinung E. Zellers
ist — als seine Lehrer zu denken. Es ist bekannt, daß
Philo für sein Verfahren Vorgänger hat, er beruft sich
wiederholt auf solche, aber es sind Juden, wie er selbst.
Die Allegoristik, wie sie bei Philo und ebenso bei seinen
Vorgängern auftritt, ist — darin stimme ich dem neueren
Philo-Bearbeiter, dem schon genannten E. Herriot in dem
Kapitel >Allegoristik Philo's« bei — auf eigenstem jüdischen
Boden erwachsen, ist ein Produkt des im jüdischen Volke
lebenden Genius, der dem abstrakten Ausdrucke für Dinge,
der Abstraktion, das Bild, den bildlichen Ausdruck, vorzieht.
Die Propheten, die poetischen Bücher der heil. Schrift sind
nur so, unter Berücksichtigung dieses Grundzugs jüdischen
Genius zu verstehen. Und eben dieser Genius ist es, der
bei Philo, da die mystische Richtung der alexandrinischen
Schule bei ihm hinzutritt, zur Allegoristik wird.
Es ist des öfteren die Frage aufgeworfen worden,
warum so wenig von außerpentateuchischen Büchern, wa-
rum nur sporadisch eine Propheten- oder Psalmenstelle
wie I. Sam. 2, 5 in Q. Deus sit immutab. § 10 ff., Jerem.
3, 4 in De Cher. § 49 Gegenstand philosophischer Exe-
gese, insbesondere der bei ihm beliebten allegorischen Aus-
legung geworden ist. Ist es Zufall, sind es innere Gründe,
die ihn bei den pentateuchischen Büchern haben stehen
35*
548 Ursprang, Begriff und Umfang
lassen? Indessen, die Erklärung liegt so fern nicht. Es lag
für Propheten und Hagiographen gar kein Bedürfnis einer
Auslegung vor, wie sie bei dem Alexandriner gegeben wird,
weder ein äußeres noch ein inneres. Gekannt hat Philo
beides, Propheten und Hagiographen, in welchem Umfange,
bleibt dahingestellt; aber kirchliches Ansehen hatte nur der
Nomos oder Pentateuch, dieser allein erfreute sich gottes-
dienstlichen Gebrauchs. Das Propheten- wie das Psalmen wort,
als an sich schon ethische Lehre enthaltend, bot auch keine
Aufforderung zu allegorischer Auslegung. Rein literarisches
Interesse aber, wie das eine Bearbeitung der außerpenta-
teuchischen Bücher hätte haben müssen, kannte die Zeit
Philos noch wenig; sie verlangte lediglich eine Auslegung
der beim Gottesdienst im Gebrauch befindlichen Bücher
des Pentateuchs. Diesen gegenüber aber macht auch Philo
ausgiebigen, ja ausschweifenden Gebrauch von allegorischer
Auslegung; die biblischen Personen, biblischen Vorgänge,
selbst Gesetzesbestimmungen deutet er in allegorischem
Sinne um, macht ailes zu allgemeinen Typen, zu intellek-
tuellen oder ethischen Begriffen. Zeller hat recht, wenn er1)
sagt: sucht er (Philo) auch nicht in allem einen tieferen
Sinn, so gibt es doch schlechterdings nichts, worin er ihn
nicht hätte finden können, wenn er gewollt hätte. Hier, in
das Wort des Nomos, als welchen Philo bekanntlich den
ganzen Pentateuch ansieht, drängt er all seine Psychologie
und Ethik, seine philosophischen Spekulationen hinein, hier
vollzieht sich der sogenannte alexandrinische Syncretismus,
der Verschmelzungsprozeß jüdischen Glaubens, jüdischer
Lehre mit griechischem Geiste, griechischer Bildung, grie-
chischer Philosophie. Immerhin bemerkt man bei unserem
Alexandriner eine gewisse Selbstbeschränkung in bezug auf
Benutzung biblischer Personen zu Allegorien. Es sind fast
durchweg Personen der prähistorischen Zeit, die er zu
>) Die Philos. d. Griechen, Bd. III, Abt. 3, S. 347. Anm. 6.
der allegorischen Schrifterklärung. 549
Trägern von Allegorieen macht, der Pharao in der Geschichte
Mose's ; auch Vorgänge noch in der Wüste, wie das Fallen
des Manna, werden von ihm gelegentlich noch zu Alle-
gorieen verflüchtigt, nirgends aber, soweit ich sehe, die
Person Mose's selber. Umgekehrt, bedeuten ihm die Na-
men der prähistorischen Zeit, die er an der einen Stelle
zu Allegorien verflüchtigt, an anderer Stelle wieder, wie
besonders in Quaest. in Gen. et Exod. wirkliche Per-
sonen.
Bedenklicher erscheint es, wenn selbst Gesetzesbe-
stimmungen bei Philo zu Allegorien verflüchtigt werden;
übrigens ein Verfahren, das er bei älteren Alexandrinern
bereits vorfindet, dessen Gefährlichkeit er aber auch er-
kennt. In der religionsgeschichtlich besonders wichtigen
Stelle De Migr. Abr. § 89 ff. verurteilt er es geradezu als
zum Abfall, zur Auflösung der Religion, des Gesetzes im
Judentum, führend ; solches muß auch in den alexandrini-
schen Schulen vorgekommen sein, nicht allgemein, Philo
sagt ausdrücklich nur: stei -p-P Ttv£<7 °^ T0"ff P7^0^ v6{xou?
<ru[Aßo/ux xtX. Er selbst macht, wie bereits angegeben, mit
Allegoristik auch bei Gesetzesbestimmungen nicht halt, er
legt beispielsweise die Beschneidung als Befreiung von Be-
gierde und Lust (de spec. legg. I, § 9 ff.), das Passah als
Aufgeben ägyptischer Denkweise (Leg. Alleg. III, § 9 ff.), die
zahlreichen Bestimmungen über levitische Reinheit und
Unreinheit als rein ethische Gedanken aus (de spec. legg.
III, §205 ff.), doch mit dem Unterschiede, daß Philo dabei
nicht stehen bleibt. Davor schützt ihr sein Positivismus in
religionsgesetzlicher Hinsicht. Es ist wohl nicht eine religi-
onsgesetzliche Bestimmung darunter, die nicht an anderer
Stelle wieder, da wo Philo recht eigentlich eine Darstellung
der mosaischen Gesetzgebung giebt, — es ist das in der
zweiten Gruppe seiner Schriften nach L. Cohn's Einteilung
— in buchstäblicher Geltung bei ihm wiederkehrte.
Es erhebt sich weiter bei den zahlreichen Fäden, wie
550 UrspruHg, Begriff und Umfang
sie auf religionswissenschaftlichem, insbesondere exegeti-
schem Gebiete zwischen Alexandrien und Palästina hin
und her laufen, die Frage, wie sich das Verhältnis
alexandri n ischer Allegoristik zum palästini-
schen M id rasch, wenn überhaupt solches vorhanden,
gestaltet hat. Es ist bislang vielmehr von dem an-
deren, von dem Einfluß palästinischer Exegese auf alexan-
drinische Hermeneutik, besonders seit Z. Frankel's epoche-
machenden Arbeiten auf dem Gebiete der Septuaginta-
forschung, die Rede gewesen, und man hat sich so sehr
gewöhnt, Palästina als das Mutterland von Alexandrien
anzusehen, daß man gemeint hat, fast alles, was Alexan-
drien von jüdisch -hellenistischem Schrifttum besitze, in
seinen Ursprüngen von dort herschreiben zu müssen, und
es liegt ja nach dem Gang der geschichlichen Entwicklung
der Dinge vollauf Berechtigung darin. Daß dieselbe aber
in ihren späteren Etappen auch den umgekehrten
Weg genommen, also daß die palästinensischen Schulen
wie als Gebende auch als Empfangende Alexandrien
gegenüber erscheine, ist bereits auch wieder und besonders
durch J. Freudenthal in seinen tiefgründigen »Hellenist.
Studien« festgestellt worden. Und so lautet auch für uns
die Frage : Hat die eigentümlich gefärbte ale-
xandrinische Hermeneutik ihren Weg auch
nach Palästina gefunden? Mit anderen Worten:
Ist ernstlich und im wissenschaftlichen Sinne, wie dies
heute schon geschieht, — vereinzelt auch früher schon —
von Allegorien auch beim palästinischen Midrasch zu reden?
Besteht Verwandschaft zwischen beiden, fallen sie gar teil-
weis zusammen? Es versteht sich von selbst, daß in Fragen
des Midrasch von Zunzens »Gottesd. Vortr. d. Jud.« diesem
standard-book für Midraschforschung ausgegangen wird.
Der Altmeister beginnt im Kap. 3 »Midrasch« seine dies-
bezüglichen Ausführungen mit der allgemeinen Bemerkung:
Über ein halbes Jahrtausend trifft das Auge des Beschauers
der allegorischen Schrifterklärung. 55t
bei Juden, Syrern, Griechen, Christen fast auf nichts als
Midrasch, Auslegung. Und gleich dahinter: An der Tages-
ordnung war überall allegorische Auslegung und kirchliche
Anwendung der heiligen Bücher usw. Es ist ersichtlich,
daß für ihn Midrasch oder Agada und Allegorie nicht aus-
einanderfallende Begriffe sind. Auch Graetz im Kommentar
zu Schir ha-schirim, in der Einleitung, schreibt, die eigen-
tümliche Auslegung dieses Buches, wie sie in Targum
und Midrasch befolgt wird, rühre von der Allegoristik
der alexandrinischen Schule her, sie habe unter dem
Namen Agada auch in Palästina Eingang gefunden, so
sei es gekommen, daß die erotischen Dinge im Hohelied
in einem höheren, allegorischen Sinne genommen wurden.
Es sind Agada und Allegorie eben Grenzgebiete, Dinge, bei
denen die Grenzen auf den ersten Blick ineinander fließen.
Beiden gemeinsam ist, daß der Wortsinn aufgegeben, das
Wort der Schrift in höherem Sinne aufgefaßt wird, wie,
wenn, um gleich den zweiten Vers in Schir ha-schirim zum
Beispiel zu nehmen, >er küßt mich mit Küssen seines
Mundes,« in Targum und Midrasch von der Herablassung
der Gottheit zum Volke Israel am Sinai erklärt, aus V.l
daselbst vermöge eines «naoj Anspielung auf die siebzig
Völkerschaften, die der Talmud als Inbegriff der alten Welt
zählt, herausgelesen wird. Symbolische Deutung, ähnlich
der alexandrinischen Schriftauslegung, ist ja auch dieses ;
dabei bleibt aber. ein Unterschied bestehen, der wesentlich
ist, und den ich also formulieren möchte: die Allegorie der
Alexandriner geht durchwegs auf eine esoterische* mehr
oder weniger mystische Welt, Personen und Sachen, alles wird
in Ideen oder doch Gedankendinge aufgelöst. Demgegenüber
bleibt die Agada, oder die Auslegung in den palästinischen
Schulen, auch da, wo sie sich mit ersterer zu berühren
scheint, der ganzen Denkrichtung, Weltanschauung der
Rabbinen gemäß bei der Welt des Realen stehen, die Per-
sonen bleiben Personen, den Erzählungen des Pentateuchs,
552 Ursprung, Begriff und Umfang
vom ersten Kapitel an, wird bei aller Vergeistigung, Ver-
tiefung ihres Inhalts nichts von ihrem eigentlichen Gehalt als
Bericht von Geschehnissen genommen. Sind es auch nach
Targum und Midrasch nicht der Hirt und Sulamit, seine
Freundin, mehr in Schir ha-schirim, die das traute Zwie-
gespräch irdischer Liebe führen, statt dessen das traute
Verhältnis der beiden auf Gott und Israel übertragen wird,
so sind doch auch diese weit entfernt von schattenhafter
Gedankenwelt, beide doch wieder persönlich gedacht. Auf
ersteres, die Umdeutung in eine esoterische oder Gedanken-
welt, hat die Bezeichnung Allegorie, wie sie in der Bibel-
wissenschaft eingeführt ist, beschränkt zu bleiben, letzteres
aber, und es begreift dieses das große Auslegungsgebiet im
Midrasch der palästinischen Schulen, stellt vielmehr den
breiten Strom der Agada dar mit ihren mannichfachen Formen,
wie sie der Genius der Palästinenser selbständig erzeugt
hat. Will man ferner Verständnis dafür, daß sowohl der Agadist
wie der Allegoriker nicht bei einer Erklärung stehen bleibt,
daß sie sich bei der Auslegung gar nicht genug tun zu können
meinen, darum wie aus dem Füllhorn schaffender Phantasie
zu zahlreichen Schriftstellern eine Fülle von Erklärungen ge-
ben, so ist hier auf eine Erklärung hinzuweisen, wie sie M.
Joel, Blicke in die Religionsgeschichte (I, S. 52) gibt: es sei
das die Veneration des Schriftwortes gewesen, bei der es für
dürftig gegolten, daß die heil. Schrift nur einen Sinn haben
sollte; diese Anschauung, zuerst in Alexandrien aufgekom-
men, habe sich dann auch der palästinischen Sphäre mit-
geteilt. Das der exegetische Hintergrund nicht nur für die
wechselnde Fülle von Agadoth oft zu einer einzigen Schrift-
stelle, sondern auch für die zahlreichen Halachoth, wie sie
in der Schule Akiba ben Joseph's zum ersten Male aufgestellt
worden. Läßt dieser Umstand auch nicht alles gerechtfertigt
erscheinen, so macht er es doch erklärlich. Mag man es
seltsam, Widerspruch herausfordernd finden, wie die Me-
thode dieses großen Tannaiten und seines Lehrers Na-
der allegorischen Schrifterklärung. 553
chum aus Gimso, von dem er sie überliefert erhielt, tat-
sächlich von Zeitgenossen angegriffen worden, wenn man
jpöfll j\"!N, Partikeln, die lediglich nach Gesetzen der Sprache
beigesetzt erscheinen, wie neue Agadoth an der einen, wie
neue Halachoth an der anderen Stelle liest oder als
Quelle solcher ansieht, es bleibe dahingestellt, ob man in
diesem Tannaitenkreise sprachliches Verständnis für die
Partikeln gehabt hat oder nicht, daß sie ganz anderes darin
sehen, es erklärt sich eben nur aus dem Glauben an den
Überreichtum der Schrift bei ihnen, aus der Meinung vom
Übersinn, den in der Schrift jedes Wort und auch die
Partikel haben müsse, und den man nur herauszudeuten habe.
Um diese Zeit, und ganz im Geiste derselben, muß auch
auf ggadischem Gebiete die leichte, fast spielende Art von
Schriftauslegung, die an die heutige Predigerart erinnert,
aufgekommen sein, Zeitverhältnisse im Schriftwort wiederge-
spiegelt zu finden. Es ist bekannt, wie in der Zeit unseres
Akiba ben Joseph, der ja auch eine politische Rolle ge-
spielt, zahlreiche Stellen der Schrift in Vorträgen der Lehrer
zu Kampfesmitteln benutzt wurden, kriegerischen Geist in
der jüd. Nation anzufachen. Da mußten denn Namen von
Personen und Dingen, die an sich etwas ganz anderes be-
deuten, je nach dem Zusammenhang, in dem sie in der
Schrift stehen, sich auf einmal gefallen lassen, symbolische
Bedeutung anzunehmen, wonach sie Anspielung auf das,
was jene Zeit bewegte, enthalten sollten. Eines der interes-
santesten Beispiele dieser Art ist vielleicht Midr. Wajikra
rabba c. 13, wo boX] nT (11, 4) aus dem Gesetzesabschnitt
»ro» auf Babel und seine fallende Macht und so das Übrige
von Namen der unreinen Tiere bis auf r?nn (11, 7) auf
Edom, bekanntlich den symbolischen Namen des damals
so gehaßten Rom, gedeutet wird. Das alles ist Ausle-
gungs-Agada, besser Anwendungs-Midrasch, ist homileti-
scher Art, auf den Augenblick berechnet, hat mit Alle-
gorie als stehender Auslegung nichts zu tun. Erst in der
554 Ursprnng, Begriff und Umfang etc.
spätmittelalterlichen Kabbala kehrt etwas ähnliches wie
Philos Allegoristik wieder; Kabbala und alexandrinische
Allegorie haben in Methode wie in der damit neugeprägten
Lehre viel Verwandtes, worauf bereits Z. Frankel in Ȇber
d. Einfl. usw.« § 9, Anmkg. hinweist. Mit Recht heißt die
Kabbala die Geheimlehre; es sind verborgene Lehren,
eine theosophisch- mystische Welt, die auch da, wie be-
sonders im Sohar, in das Wort der Schrift hineingedeutet
wird. Wohl hat unser Alexandriner fast unmittelbar mit
seiner Allegoristik einen gelehrigen Schüler am Apostel
Paulus gefunden, dessen antinomistische Exegese, wie er
sie dem Gesetzeswort der Bücher Moses gegenüber übt,
ganz in der Art philonischer Allegorie ist, doch gehört
die weitere Untersuchung darüber nicht mehr zu meinem
Thema, weil es außerhalb des Rahmens alttestamentlicher
Exegese liegt.
Ein abschließendes Urteil über allegorische Schrift-
auslegung insonderheit bei Philo zu fällen, jst nicht leicht.
Es geht doch nicht an, sie einfach als eine einzige große
Verirrung der Exegese abzutun. Abgesehen davon, daß sich
unter diesen Allegorien homiletische Goldkörner finden, und
nicht in geringer Zahl, ist die Allegoristik doch auch eine
geschichtliche, durch den Geist ihrer Zeit bedingte Erschei-
nung gewesen, und für die Auffassung und gerechte Beur-
teilung geschichtlicher Erscheinungen gilt bekanntlich der
Grundsatz : sie rechtfertigen sich selbst, wenn sie sich als
durch den Geist ihrer Zeit bedingt, nach dem Entwick-
lungsgesetz, das auch da gilt, erweisen. Die Exegese als
Wissenschaft hat darum nicht für immer Schaden genom-
men, sie ist mit mancherlei Erkenntnis bereichert, darüber
hinausgekommen.
Die Wortführer des Judentums in den ältesten
Kontroversen zwischen Juden und Christen.
Von M. Frelmann.
I.
Es ist, wie sich schon in meinen früheren Artikeln
gezeigt, ein tief eingewurzelter Irrtum, zu glauben, daß das
pharisäische Judentum zu dem in seiner nächsten Um-
gebung enstandenen und zu erstaunlich rascher Aus-
breitung gelangten Christentum irgend ein inneres Ver-
hältnis gehabt, es sogar von seiner Geburt ab auf Le-
ben und Tod bekämpft habe. Die »Schriftgelehrten und
Pharisäer« standen vielmehr von Anbeginn dem Christentum
kühl und indifferent gegenüber. Seitdem sie dem korrum-
pierenden Einflüsse politischer Aspirationen entrückt waren,
gaben sie sich ausschließlich dem Studium der Thora hin:
dem Ausbau der das Judentum von der großen Welt ab-
schließenden Traditionslehre, so daß die tiefgehenden reli-
giösen Bewegungen, aus denen das Christentum hervor-
ging, nur einen schwachen Widerhall im jüdischen Lehr-
haus erweckten.
Was das pharisäische Judentum aus dem lange vor-
hergesehenen Zusammenbruch seiner nationalen Selbst-
ständigkeit flüchtete und in Sicherheit brachte, das war
einzig und allein das geschriebene Gesetz, und zwar in
der Hülle der »mündlichen Überlieferung«. Dar-
über hinaus gab es für dasselbe keine religiösen Fragen.
Von Rabbi Johanan b. Sakkhai, dem »Vater der Weis-
heit und der künftigen Geschlechter«, erzählt der Talmud,
daß er sich während der Belagerung Jerusalems auf eine
556 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
Totenbahre, um die Zeloten zu täuschen, außerhalb der
Stadtmauer zu Vespasian habe bringen lassen. Diesem habe
er prophezeit, daß er die Kaiserkrone tragen werde und
von ihm die einzige Gunst sich erbeten: ihm Jabneh und
seine Weisen als Zuflucht für die Pflege der Thora zu über-
lassen.
Dieser Vater des künftigen Rabbinismus verkörpert
so recht den unverfälschten, von tiefster Gesetzesfrömmig-
keit erfüllten Pharisäismus im Zeitalter Jesu, in dessen
vor der Außenwelt sich abschließende Lehrhallen eben-
sowenig der Lärm des Krieges wie der des Streites um
den Messias eindrang. So hat denn auch die talmudische
Literatur keine Kenntnis von den religiösen Stürmen, die
über den Boden der griechischen Diaspora und später über
jenen des Christentums dahinbrausten. Wäre aber die all-
gemein herrschend gewordene Anschauung der Kirche: daß
das Christentum schon bei seiner Geburt von dem Judentum
tödtlich verfolgt wurde, die richtige; das gesamte talmu-
dische Schrifttum hätte von dieser als so unversöhnlich
geschilderten Feindschaft infiziert sein müssen, und die
überall im Talmund Christenhaß witternde Zensur hätte
nicht erst nach ungemein spärlichen und höchst frag-
würdigen, fälschlich auf Jesus und das Christentum be-
zogenen Stellen fahnden müssen, um sie auszumerzen;
sie hätte vielmehr Talmud und Midrasch in Bauseh und
Bogen vernichten müssen, da sie ja von diesem Haß durch-
tränkt gewesen wären. In Wirklichkeit aber weiß der
Talmud nichts Authentisches über Jesus und das ent-
stehende Christentum zu berichten, und wo er etwa An-
spielungen auf beide macht, klingen diese so verworren,
daß man sie auf den ersten Blick als halbverklungene und
kaum mehr verstandene Sagen erkennen muß. Die phari-
säischen Gesetzesiehrer hatten eben ihre Schule von der
Außenwelt abgeschlossen und es ängstlich vermieden, sich
in Religionsdisputationen mit Leuten, die außerhalb des
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 557
Judentums standen, ja sogar mit häretischen Juden, ein-
zulassen. Noch um die Mitte des zweiten christlichen Jahr-
hunderts sagt der Jude Trypton zu Justin Martyr, der ihm
aus der Schrift die Göttlichkeit und Präexistenz des Christ
beweisen will: »O Mensch, unsere Gesetzeslehrer haben
recht, wenn sie uns vor dem Umgang mit jedem von euch
warnen und uns verbieten, solche Lehren, wie du sie vor-
bringst, anzuhören; denn du sprichst viel Lästerungen aus«1).
Über Jesus gab es überhaupt keine ursprügnlich
jüdische oder rabbinische Überlieferung. Was man sich in
jüdischen Kreisen von ihm erzählte, das wußte man ledig-
lich vom Hörensagen und aus den evangelischen Dar-
stellungen. Daher das gänzliche Fehlen eigener einschlägiger
Nachrichten im Talmud. Daher kommt es auch, daß weder
der Jude bei Justin Martyr noch jener bei Celsus von Jesu
und seinem Wirken anderes wissen, als was sie aus den
Evangelien oder gerüchtweise erfahren haben, und daß sie
in ihren Widerlegungen sich ausschließlich nur auf diese
und auf das Alte Testament berufen müssen. Wir wissen
es ganz bestimmt und haben dafür nicht nur indirekte
sondern auch direkte Beweise, daß zu Beginn des zweiten
und sogar des fünften Jahrhunderts noch keine unver-
fälscht jüdische Überlieferungen über Jesus und seinen
Kreuzestod vorhanden waren. In der aus dem Anfang des
fünften Jahrhunderts stammenden Altercatio Simonis et
Theophili, welche nach Harnaks scharfsinniger Untersuchung
nichts anderes als eine nur wenig modifizierte Kopie der
in den Zeiten Hadrians verfaßten Altercatio Jasonis et
Papisci ist, zeigt sich der Jude Simon entsetzt über den
Gedanken, daß Christus so schmachvolle Leiden habe er-
tragen müssen, und fügt zweifelnd hinzu: »Wofern es
wahr wäre, was ihr berichtet, daß er von unseren
Vätern ans Kreuz geschlagen wurde«. Hierauf fährt er
folgendermaßen fort: »Von Haman wissen wir, daß er, der
*) Dial. c. Tryph. c. 38. Vgl. auch c. 112.
558 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
unser Geschlecht verderben wollte, von unseren Vätern,
wie er es verdiente, ans Kreuz geheftet wurde ; und so
feiern wir denn auch, der Überlieferung gemäß, zur Erin-
nerung an dieses freudige Ereignis alljährlich ein Freuden-
fest. Von Absalon lesen wir, daß er zur Strafe für sein
gegen den Vater geplantes hochverräterisches Verbrechen
an einem Baum hängen geblieben. Hat nun Christus den
schimpflichen Kreuzestod erlitten, warum ist uns hier-
über von unseren Vätern nichts überliefert
worden? warum findet sich in unseren Schriften
keine Erwähnung seines Martyriums, daß wir
uns darüber, war er in Wirklichkeit ein Feind
unseres Volkes, freuen könnten1)?«
So sprach der Jude Papiscus zu Beginn des zweiten,
und so sprach der Jude Simon zu Beginn des fünften
») Altercat. Sim. et Theopb. ed. Harnack 1883, p. 28 VI, 22:
Aestuo vehementi cogitatione, potuisse Christum tarn maledictam et
ludibriosam sustinere passionem, si tarnen vera sunt, quae dici-
tis, a patribus nostris crucis patibulo eum esse suffixum.
Seimus plane, Aman malidictum a patribus nostris pro merito suo esse
crueifixum, qui genus nosttum petierat in perditionem, in cuius mortem
peracto revoluto anno gratulamur et solemnia votorum festa celebra-
mus, quae a patribus tradita aeeepimus, et Absalon, qui ad caedem
patris patrieida fuit, pependisse illum in arbore legimus. Christus
antem, si patibulum mortis huius sustinuit et in cruce pependit, cur
non hoc ipsum a patribus nostris aeeepimus nee passum
in scripturis nostris invenimus, ut, utsi inimicus genti no-
strae esset, gauderemus? — Vollkommen unverständlich ist uns,
wie Harnack (das. p. 53 f.) dazu gelangt, diesen Gedankengang Simons
in folgender, den klaren Sachverhalt trübenden Weise widerzugeben:
»Der Judec — so kommentiert er — »geht jetzt zu dem stärksten
Einwurf über: das schimpfliche Leiden Christi. Wenn Christus wirklich,
wie behauptet wird, an das Kreuz geschlagen worden ist, so hat er
die Strafe erlitten, welche der Verräter Haman und der Abtrünnige
Absalon mit Recht erhalten haben. Ferner, wenn es wahr ist, daß der
ans Kreuz Oehenkte der Messias gewesen, warum ist in den heiligen
Schriften dieser Tod aicht vorausverkündigt, während wir jetzt
den Tod dieses Qekreuzigten als des Feindes unseres
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 559
Jahrhunderts. Sie hatten also beide noch keine väterlichen
Überlieferungen« betreffs Jesu und seines Opfertodes. Und
ihre christlichen Gegner widersprechen dem nicht. Das
einzige, was sie auf diese Zweifel der zu bekehrenden
Juden zu erwidern vermögen, ist ihre Berufung auf das
alttestamentliche Schrifttum, wo vorhergesagt sei, daß der
Messias leiden und den Kreuzestod sterben werde.
Das pharisäische, oder vielmehr rabbinische Judentum
hat sich unter den Herodäern allmälig aus dem Welt-
verkehr ausgeschaltet und die Mission, »das Licht der
Heiden zu werden«, der griechischen Diaspora überlassen,
welche eine erstaunliche Werbekraft in der heidnischen
Welt entwickelte. — Diese äußerst rührige und missions-
freudige Diaspora war im Zeitalter Jesu, bis ins Herz
Judäas, wo sie ihre eigenen Synagogen hatten1), vorge-
drungen. Hier gab sie den mächtigen Impuls zur Bildung
des Christentums.
Doch nicht die gesamte »Diaspora der Hellenen«
mündete ins Christentum ein. Die breiten, nationalgesinnten
Schichten derselben, und selbst philosophisch gebildete
Juden philonischer Richtung, die noch aus Pietät für die
gottgeliebten Vorväter das Zermonialgesetz nach Möglichkeit
beobachtet wissen wollten ; sie konnten sich mit der Botschaft
von dem »Ende des Gesetzes« eben so wenig als mit einem
gekreuzigten Christ vertraut machen. Diese nun wurden
die heftigsten Gegner des Christentums. Auf dem weiten
hellenistischen, nicht auf dem engen pharisäischen Boden
war der Kampf um den Christ und um die Befreiung vom
Gesetz entbrannt, an allen Enden und Ecken lodernd. Da
standen jüdische Hellenisten gegen christgläubig gewordene ;
Volkes bejubeln?« — Wie man sieht, wird hier durch die Auf-
fassung Harnacks der Sinn der Worte Simons in den wesentlichsten
und bezeichnendsten Punkten verwischt, ja geradezu in sein Gegenteil
gekehrt; sicherlich unbewußt.
x) Vgl. Apostelgesch. 6, 9.
560 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
nazaräische Antinomisten gegen nazaräische gesetzestreue
Christen ; Apostel des jüdischen gegen Apostel des heid-
nischen Christentums — man denke nur an das Auftreten
des Paulus gegen Petrus, dem er offen Heuchelei vorwirft1);
an das Anathem, das er gegen die zum Gesetz haltenden
jerusalemischen Apostel, »wer sie auch immer sein mögen«,
schleudert2) — da standen jüdische Christen gegen heid-
nische Christen und umgekehrt, bis endlich das übermäßige
Hereinfiuten des heidnischen Elements den Sieg entschied.
Aber selbst das christgläubig gewordene Nazaräertum —
ich meine die Gemeinde Jesu — stellt keineswegs ein
einheitliches Gebilde dar. Noch im dritten Jahrhundert
teilte es sich, wie wir bei Origenes lesen, in verschiedene
Parteien : in solche, die sich von den alten Gebräuchen
unter dem Vorwand abgekehrt, daß sie Geheimnisse und
Symbole seien und geistig gefaßt werden müssen ; und
andere, die zwar den geistigen Gehalt des Gesetzes gelten
ließen, aber dennoch die Gewohnheiten der Väter beibe-
hielten. Eine dritte Klasse hielt sich ausschließlich an den
Buchstaben des Gesetzes, ohne etwas von einer geistigen
Auffassung desselben wissen zu wollen, glaubte aber dabei,
daß Jesus derjenige sei, von welchem die Propheten
geweissagt und hielt das Gesetz Mosis nach der Weise der
Väter8).
') Galatcrbr. 2, 14.
«) Oal. 5, 10-11.
8) Orig. contra Cels. II, 3. — Dieselben Religionsparteien finden
wir schon in der vorchristlichen griechischen Diaspora vor. Die ra-
dikalen Allegoristen, welche das Zeremonialgesetz allegorisch auflösten
und sich der Beobachtung desselben überhoben erklärten; ferner die
in Philo vertretene konservative jüdisch-hellenistische Partei, die das
Gesetz gleichfalls allegorisch auslegte und geistig auffaßte, aber
gleichwohl dessen wörtliche Beobachtung forderte: »aus Pietät gegen
die heiligen Männer der Vorzeit, welche die nationalen Einrichtungen
angeordnet« und aus Scheu, die religiösen Gefühle der Menge durch
Nichtbefolgung derselben zu verletzen; und endlich die große Menge
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 561
Und die Kirche, die sich im alleinigen Besitz der
reinen Lehre Jesu wähnte und sich die allgemeine
nannte, wie schwer hatte sie unter der Übermacht der un-
gezählten gnostischen Sekten, die den christlichen Boden
bis in die Mitte des zweiten Jahrhunderts und darüber
hinaus beherrschten, zu leiden! Wie hart war der Kampf,
den sie gegen dieselben führte, wie vergiftet die Pfeile, die
sie gegen einander schleuderten!
Dagegen herrschte auf dem pharisäischen Boden die
heiligste Stille. Abgesehen von einem ganz ungefährlichen
Geplänkel mit den Sadduzäern und einer Anzahl von Kontro-
versen mit jüdischen Minäern, welche letztere, weil
sie die göttliche Inspiration der Thora und die Aufer-
stehungslehre leugnen und zwei Gottheiten annehmen1),
verketzert werden, vernehmen wir kein lautes Wort, kein
Reagieren auf die ringsum tosenden Wogen religiöser Be-
wegungen, aus denen die Kirche unter schwerem Ringen
zur Siegerin sich emporschwang.
Bedürfte es noch eines weiteren Beweises, daß das
pharisäische Judentum sich insbesondere seit dem Aus-
bruche des messianischen Bewegungen, vollständig von der
Außenwelt abgekehrt hatte, sich mit brünstigem Eifer in
seine Traditionslehre vertiefend, und daß es zu dem ent-
stehenden Christentum kein Verhältnis hatte, keines zu
ihm gewinnen konnte; so läge er sicherlich darin, daß in
den aus den beiden ersten christlichen Jahrhunderten auf
uns noch gekommenen Kontroversen zwischen Juden und
Christen es nicht pharisäische sondern immer na-
tionalgesinnte hellenistische Juden sind, die auf
die christlichen Angriffe reagieren oder die gegnerischen
Positionen angreifen. Die Wortführer des Judentums sind
der Buchstabengläubigen. — Im Pharisäismus aber gab es weder eine
solche radikal-allegoristische, noch auch eine der philonischen ähnli-
che Richtung.
») J1V1BH TIP.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 36
562 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
da überall griechische Juden, die nicht die mindeste Be-
kannschaft mit der pharisäischen Schriftauslegung verraten,
vielmehr oft größere Unwissenheit darin an den Tag legen
als selbst ihre aus dem Heidentum stammenden Gegner.
Es sind Diasporajuden, die überhaupt mehr Vertrautheit
mit der griechischen Literatur, Philosophie und Mythologie
als mit dem jüdischen Schrifttum zeigen, griechische Juden,
die nichts weiter als ihren monotheistischen Standpunkt
verfechten und die Notwendigkeit der Beobachtung be-
stimmter nationaler Gebräuche betonen.
An erster Stelle sei die Altercatio Jasonis et Papisci
erwähnt. Dieser Dialog — die älteste uns bekannt ge-
wordene Kontroverse zwischen Juden und Christen — ist
zwar nicht mehr auf uns gekommen, doch erwähnt ihn
der platonische Philosoph Celsus in seinem uns noch frag-
mentarisch erhaltenen »Logos Alethes« in wegwerfendem
Tone, während Origenes ihn verteidigt. So ist es un-
schwer, sich ein Urteil über Form und Inhalt desselben zu
bilden. Der Verfasser des Dialogs, Aristo von Pella,
zweifellos ein jüdischer Christ, ist ein Sohn der Diaspora
von Peräa, wo Jesus viel gewirkt und großen Anhang ge-
funden hatte. Papiscus, der sich gegen das Christentum
wehrt, ist ein alexandrinischer Jude, und Jason, der ihn
bekehren will, ein Christ aus den Hebräern. Der Jude nun,
der sich dem christlichen Gegner stellt, muß griechische
Bildung besessen haben, da er sich, wie dies Origenes be-
zeugt, geschickt zu wehren versteht1). Es handelt sich dieser
Schrift, wie allen ähnlichen Kontroversen jener Zeit, darum,
dem Juden aus dem Alten Testament zu beweisen : daß
Jesus der verheißene Messias. Beide, Celsus und Origenes,
orientieren uns über den Inhalt und die Qualität des
Dialogs. Selbst aus den Äußerungen des letzteren, der ihn
gegen den Christenbestreiter Celsus warm in Schutz nimmt,
geht zur Gewißheit hervor, daß es eine recht minderwertige
») Orig. c. C. IV, 52.
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 563
Schrift war. Celsus spricht in verächtlichen Ausdrücken von
ihr: sie sei von der Art, daß sie geeigneter sei, den Leser zum
Mitleid und zum Unwillen als zum Lachen zu reizen, und
er verspüre keine Lust, derartige Dinge zu widerlegen; die
Torheit derselben müsse einem jeden, der Geduld genug
habe, sie zu lesen, in die Augen springen1). Darauf erwidert
Origenes: Celsus habe sich aus den vielen guten Werken,
in denen die heilige Schrift geistig ausgelegt werde, eines
der schwächsten ausgesucht, welches zwar gut genug, den
gemeinen Mann und die Einfältigen im Glauben zu stärken,
aber wenig oder nichts beitrage, verständige Leute zu
überzeugen. >lch wollte,« so fährt er fort, »daß derjenige,
der da hört, wie dreist und hochmütig Celsus von der
Streitschrift des Jason und Papiscus über den Messias
urteilt, dieselbe in die Hand nehmen und in Geduld durch-
lesen möchte. Ich bin überzeugt, daß er das Urteil unseres
Widersachers verwerfen und nichts darin finden würde,
das Mitleid und Unwillen verdient. Wer sie unvoreinge-
nommen liest, findet nicht einmal etwas darin, was lachens-
wert wäre: Ein Christ streitet mit einem Juden unter
Zugrundelegung der heiligen Schrift, die auch bei den Juden
für göttlich gehalten wird und zeigt ihm, daß die Weis-
sagungen betreffs des Messias in der Person Jesu erfüllt
seien. Der Jude wehrt sich mit nicht gewöhnlichem Eifer
und spielt in der Tat die Rolle des Juden recht geschickt«.
Damit wir aber keinen Augenblick in Ungewißheit
seien über die Herkunft der in diesem Dialog handelnden
Personen, erhalten wir hierüber von Celsus so greifbare
Andeutungen, daß wir diese Altercatio auf den ersten Blick
schon als ein jüdi seh -hell e n ist i seh e s Produkt er-
kennen müssen. Celsus verurteilt gelegentlich in schärfster
Weise die allegorische Schriftauslegung der gebildeten Juden,
worunter er, wie Origenes hier kommentiert, die Auslegungs-
») Das.: oliv Sri xal Ila7Ci(7XOu tivo? xai 'Ixsovo? ävrtXoYiav
S-fvcüv, ou y^wto?, äXki. U.3&X0V xal (xi«jou? ä£(av xtX
36'
564 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
weise eines Aristobul, Philo und ähnlicher Anderer meint
und fügt unmittelbar darauf hinzu: »Von solcher Art
habe ich auch die Streitschrift eines gewissen Papiscus und
eines Jason gefunden, nicht sowohl des Lachens als viel-
mehr des Mitleids und des Unwillens wert.«
Zweifellos, der Dialog ist dem freilich schon ganz ver-
dorrten Boden des jüdischen Hellenismus entstammt, was
überdies auch die griechischen Namen des Verfassers und
der beiden Streitenden äußerlich bezeugen.
Besitzen wir nun gar in der zu Beginn des fünften
Jahrhunderts von Euagrius herausgegebenen Altercatio Si-
monis judaei et Theophili christiani, wie Harnack überzeu-
gend nachgewiesen, eine Überarbeitung der Altercatio Jasonis
et Papisci; dann sind wir nicht bloß in der Lage uns un-
abhängig von Celsus und Origenes ein Urteil über dieses
letztere Opus zu bilden, das aus so früher Zeit stammt,
daß Clemens Alexandrinus es dem Evangelisten Lukas
zuschreiben durfte; es fällt uns auch an dem Juden Simon,
vormals Papiscus, die hellenistische Geberde auf. Daß Eu-
agrius sich die Arbeit zum mindesten soweit sie den Juden
betrifft — sehr leicht gemacht hat, zeigt schon ein flüchtiger
Blick in seine Altercatio. Er läßt den Juden nur sehr wenig
und zumeist nur das sprechen, was dem christlichen Gegner
nicht nur keine Schwierigkeiten bereitet, sondern ihn geradezu
in seiner Widerlegung fördern muß. Von dem »Eifer und der
Geschicklichkeit«, die Origenes an dem Juden Papiscus rühmt,
ist bei Simon nicht die geringste Spur mehr zu entdecken.
Sein Judentum ist ebenso farblos wie seine Gegenwehr
kraftlos, und es gewinnt den Anschein, als ginge er von
Anbeginn darauf aus, dem Gegner zu einem billigen Tri-
umph zu verhelfen. Gleichwohl geht aus dem Dialog soviel
zur Gewißheit hervor, daß die beiden Streitenden,
der Jude und der Christ, auf dem Boden der
jüdisch-hellenistischen Schriftauslegung ste-
hen, welche beiden geläufig Ist, und die auch später Justin
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 565
Martyr in seinem Redekampf mit den Juden auf Schritt
und Tritt in Anwendung bringt. Hier ein markantes Beispiel.
Der Christ will dem Juden beweisen, daß Christus der
Logos, daß er aus Gott gezeugt, daß er schon bei der
Weltschöpfung mitgewirkt und von Anbeginn als Mittler
zwischen Gott und seinem Volke gedient habe, welchem
er beim Auszug aus Ägypten in der Wolkensäule voran-
schritt1). Und wie beweist er dies? Ganz einfach : er zeichnet
das Bild genau nach, welches die jüdisch-hellenistische
Sophia Salomonis vcn der präexistenten Weisheit entwirft,
nur daß er diese in dem Gekreuzigten inkarniert sein läßt.
Dabei beruft er sich auf Proverb. VIII, wo die Weisheit
bereits hypostasiert erscheint und von sich spricht: »Gott
schuf mich im Anfang seiner Werke, längst vor seiner
Schöpfung; von Ewigkeit bin ich eingesetzt . . . Als er die
Himmel bereitete, war ich dabei ... da war ich bei ihm
als Werkmeister in...« Darauf erwidert der Jude im
Geiste der jüdisch-alexandrinischen Schule: das
möchte wohl von der Weisheit gesagt worden sein2).
Eine Anlehnung aber an die pharisäische Auslegungs-
methode oder Denkweise überhaupt ist nirgends im Dialog
wahrzunehmen.
II.
Aus demselben Holz wie der Jude Papiscus bei Aristo
ist der Jude Tryphon bei Justin Martyr, sind auch die
Vertreter des Christentums in beiden Dialogen geschnitzt.
Die letzteren haben viele Verbindungspunkte mit den
Juden, die sie zu dem gekreuzigten Christ zu bekehren
sich abmühen: denn sie stehen mit ihnen auf demselben
Boden geschichtlicher Entwicklung: auf dem Beden des
jüdischen Hellenismus. Sowohl Justin Martyr als auch vor
») Altere. Sim. III, 11: Vides ergo: Simon, exeuntibus patribus
tuis de Aegypto, quia Christus erat, qui in columna nubis praece-
debai eos.
*) Altere. III, 12: Potest hoc pro sapientia dictum esse.
566 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
ihm schon Aristo von Pella besitzen bereits einen jüdisch-
hellenistischen, zum Zweck der Judenbekehrung angelegten
Katechismus, in welchem sämtliche auf den Messias sich
beziehenden oder gewaltsam auf ihn gedeuteten alttesta-
mentlichen Stellen gesammelt sind, um allen Einwendungen
der Juden gegen einen Gottmenschen, gegen einen ge-
kreuzigten Christ und gegen die gesetzesfreie Lebensweise
der Christen begegnen zu können. Daher auch die er-
staunlich scheinende Belesenheit in der Schrift und die
Schlagfertigkeit, mit der sie die geeigneten Bibelzitate zur
Hand haben.
Daß nun Tryphon und seine Freunde, die mit Justin
über den Christ und über die Schrift disputierten,
griechische Diasporajuden waren, deren Juden-
tum freilich schon arg verweltlicht und für die Sichel reif
geworden war, das lehrt schon ein flüchtiger Einblick in
den Dialog Justins.
Eine jüdische Gesellschaft gerät von ungefähr auf den
im Philosophenmantel einherschreitenden christgläubig ge-
wordenen Justin. Der Sprecher dieser Gesellschaft, Tryphon
mit Namen, spricht ihn folgendermaßen an: An Argos er-
hielt ich von dem Stoiker Korinth die Lehre, man dürfe
niemand übersehen oder geringachten, der ein solches Kleid
trage, sondern müsse ihm freundlich nahen und seinen
Umgang suchen. Denn es sei möglich, daß man dadurch
sich oder ihm nützen könne, was beiden Teile zum Vorteil
gereiche. Wenn ich nun jemand in einer solchen Kleidung
sehe, so suche ich mich ihm zu nähern. Das ist denn auch
der Grund, warum ich dich angesprochen habe. Diese aber
— auf seine Genossen zeigend — folgen mir in der Er-
wartung, etwas Nützliches von dir zu hören. Ich heiße
Tryphon, bin ein Hebräer aus der Beschneidung, und weil
ich den gegenwärtigen Krieg floh, halte ich mich größten-
teils in Hellas und Korinth auf.« — Auf die Frage Justins,
ob er denn aus der Philosophie soviel Nutzen zu ziehen
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 567
hoffe, als Moses und die Propheten zu bieten vermögen,
erwidert er: »Enthält denn die Lehre der Philosophen nicht
eine gründliche Darstellung der Gottheit? Stellen sie nicht
eingehende Untersuchungen an über die göttliche Allein-
herrschaft und Vorsehung? Oder ist es nicht der Haupt-
zweck der Philosophie, das Göttliche zu erforschen1) ?«
Kein auch nur oberflächlicher Kenner des pharisäischen
Judentums wird ernstlich behaupten wollen, daß dieser
Tryphon, der in Argos mit Sokratikern verkehrt, um sich
von ihnen in der Erforschung des Göttlichen fördern zu
lassen, der dem jüdischen, von Rabbi Akiba mit flammender
Begeisterung geschürten Aufstand gegen Rom unter Bar-
Kochba in leichtfertiger Bequemlichkeit den Rücken kehrt,
sich größtenteils in den griechischen Ländern aufhält, der
die heidnische Philosophie in einen Rang mit Moses und
den Propheten stellt ein pharisäischer Jude, oder gar — wie
man behaupten will — ein pharisäischer Gesetzeslehrer sei.
Auch sonst spielt sich dieser Tryphon gern als Lieb-
haber der Philosophie auf. — Wo Justin ihm und seinen
Genossen in beredten Worten die Seligkeit schildert, die
er empfunden, als ihm die Botschaft Jesu erschlossen wurde,
wie da ein Feuer der Begeisterung in seinem Innern auf-
loderte für die Propheten und jene Männer, welche die
Freunde Christi seien; erwidert Tryphon: »Ich bewundere
deinen Eifer für Gott, würde es aber für besser halten,
wenn du der Philosophie eines Plato oder eines anderen
Philosophen weiter gefolgt wärest in Übung der Stärke, in
der Überwindung und Mäßigung, als dich von falschen
Lehrern irreführen zu lassen und Leuten zu folgen, die
keine Achtung verdienen. Denn wärest du bei der Lehre
jener Philosophen geblieben, so würde bei einem sünden-
freien Leben die Hoffnung auf ein besseres Los dein An-
teil sein«2).
*) Justin Dial. c. 1.
•) Dial. c. 8.
568 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
Merkwürdige Exemplare von Pharisäern fürwahr, die
ohne jede Scheu sich mit griechischer Philosophie und
Mythologie befassen. Auch über letztere weiß Tryphon
Bescheid, und er versteht es, sie an wichtiger Stelle anzu-
rufen. Seinem Gegner, der aus der Schrift die jungfräuliche
Geburt des Christ herauslesen will, hält er entgegen: «Diese
ganze Weissagung bezieht sich auf Ezechias, wie ja auch
seine Schicksale es bestätigen. — In den Fabeln der Griechen
wird erzählt, daß Perseus von Danae, einer Jungfrau, der
sich Zeus in Gestalt eines goldenen Regens genaht, geboren
worden sei. Ihr solltet euch schämen, ähnliches zu be-
haupten euch nicht erdreisten, solch abenteuerliche
Dinge auszusprechen, sonst werdet ihr mit Recht des Unsinns
beschuldigt«1).
Überhaupt schließt das Judentum Tryphons seine
Zugehörigkeit zur pharisäischen Schule aus. Ungleich näher
steht Tryphon dem christlichen Nazaräismus, mit dem er
sowohl die Vorstellung von dem Messias als auch jene
von der fortdauernden Verbindlichkeit gewisser National-
gesetze teilt. Und tatsächlich bekundet er im Dialog ein
lebhaftes Interesse für das nazaräische Christentum, welches
er höher bewertet als Justins philosophisch konstruiertes
heidnisches, aus einem Logos-Gott geborenes Christentum.
Besehen wir uns doch das Judentum Tryphons ein
wenig in der Nähe. Worin besteht es eigentlich? Läßt es
etwa die leiseste Andeutung einer Hinneigung zur phari-
säischen Traditionslehre oder auch nur eine Bekanntschaft
mit derselben durchschimmern? Das dürfte wohl kaum ein
mit dem Wesen des Pharisäismus vertrauter Leser dieses
Dialogs behaupten wollen. Eher als bei dem Juden Tryphon
wird man noch bei Justin selber eine entfernte Bekannt-
schaft mit pharisäischer Denkweise entdecken. Der ganze
Schwerpunkt der jüdischen Religion liegt für Tryphon: in
dem Glauben an einen Gott, in der Beobachtung der
») Dial. c. 67.
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 569
Beschneidung, der Sabbathe, und Festtage und der Reinheits-
vorschriften. Der Kampf um diese religiösen Güter zieht
sich wie ein roter Faden durch den ganzen Dialog. Ein
anderes Judentum kennt er nicht. Schon zu Beginn seiner
Unterhaltung mit Justin rät er diesem: »Wenn du mich an-
hören willst, denn ich betrachte mich bereits als deinen
Freund, so beschneide dich, dann halte die Feste und
Neumonde Gottes und tue alles mit redlichem Herzen
wie es vorgeschrieben ist, und du wirst sicher Gnade finden«1).
Diese jüdisch-hellenistischen Marktphilosophen glichen
auf ein Haar unseren modernen, nur oberflächlich philo-
sophisch gebildeten und ebenso oberflächlich mit ihrer eigenen
Religion vertrauten Juden. Sie waren und blieben letzten
Endes Juden aus unüberwindlicher Abneigung gegen heid-
nisches Wesen und heidnischen Götzendient. Darum will
Tryphon auch nach außenhin den Juden von dem Heiden
unterschieden wissen. Darum wirft er auch seinem christ-
lichen Gegner vor, daß sein Christentum reines Heidentum
sei. »Ich habe mich«, sagt er, »bemüht, euere Lehren zu
studieren. Insbesondere können wir nicht begreifen, daß
ihr, die ihr Gott zu fürchten vorgebt und auch für besser
haltet als die andern, euch in eurer Lebensweise
in nichts von den Heiden unterscheidet; keine
Feste und Sabbathefeier t, keine Beschneidung
beobachtet und auf einen gekreuzigten Menschen eure
Hoffnung setzt. Wie könnt ihr erwarten, Gutes von Gott
zu erlangen, wenn ihr seine Gebote nicht achtet? Oder
hast du nicht gelesen, daß die Seele aus dem Volke aus-
gerottet wird, die am achten Tag nicht beschnitten wird?
— Diesen Bund ganz verwerfend, kümmert ihr euch nicht
um die auf demselben gegründeten Einrichtungen und lebt
in der Einbildung, Gott zu erkennen, obgleich ihr nichts
von dem beobachtet, was die Vertreter Gottes üben«8).
») Dial. c. 8.
•) Dial. c. 10.
570 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
Man wende mir nicht ein, daß der Jude bloß von
den Heiden oder heidnischen Christen ein Minimum von
Gesetzesbeobachtung forderte, daß er aber selber, als
geborner Jude, das ganze Gesetz für verbindlich hielt. Dem
widerspricht Tryphon selbst. Dem Gegner, der ihn über-
zeugen will, daß nach dem Erscheinen des Christ es nicht
mehr angehe, die Gesetze Mosis zu halten, räumt er ein,
daß nach der Zerstörung des Tempels manche gesetzliche
Vorschriften gegenstandslos und hinfällig geworden; und
auf dessen weitere Frage, welche Gebote nach wie vor
gehalten werden müssen, erwidert er: »jene des Sabbath,
der Beschneidung, der Neumonde und der
Reinigungsbäder, wie sie Moses vorgeschrieben"1).
Das ist das Um und Auf seines Judentums. Und
dieses beton er immer und überall.
Und in diesem Tryphon wollte man den heißblütigen
Gesetzeslehrer Rabbi Tarphon erkennen2), der, wie der
Talmud berichtet, alle minäischen Schriften verbrannt wissen
wollte, und bei einer drohenden Gefahr eher in einem
heidnischen Tempel als in den Häusern dieser Ketzer Zu-
flucht zu suchen anrät !
Neben der Diskussion über das Zeremonialgesetz be-
wegt sich alles im Dialog um die Frage nach dem Christ.
Hier verteidigt der sonst blasierte griechische Jude, der
eingestandenermaßen in einer Kontroverse über Religion
nichts weiter als geistige Anregung und Zerstreuung sucht,
mit einer Energie, die man ihm nicht zugemutet hätte, seinen
Monotheismus, den er durch die Erhebung des Christ in
die Sphäre der Gottheit getrübt, ja sogar zerstört sieht.
Er fordert Justin auf, seine Beweise für die Behauptung,
daß die Propheten noch einen andern Gott neben dem
*) Dial. c. 46: Tö <7aßßaTt£siv X^o) xai to TCepiTejxvecrdoct xal
tö -ra £jx[/.7)va «puXocffTSiv xat tö ßa7CTi£s<r9,ai ä^ajjLSvov tivo; cjv
KTnriYopeOsTat Otcö Mtousew; x iv (xuvouaia ysvojjlsvov.
») Zuletzt noch Schürer, Gesch. des jüd. Volkes II», 378.
Kontroversen zwischen Juden nnd Christen. 571
Weltschöpfer gekannt, darzulegen und fügt warnend hinzu :
»Hüte dich aber, Sonne oder Mond zu nennen, da ja ge-
schrieben steht, daß Gott den Heiden gestattet habe, sie
als Götter anzubeten.« — »Die Propheten,« so fährt er
fort, »bedienen sich oft solcher Redensarten, sie sagen bei-
spielsweise : dein Gott ist ein Gott der Götter und ein
Herr der Herren, mit dem Zusatz : der Große, der Mächtige,
der Furchtbare. Oft, sage ich ; aber sie nennen sie nicht
Götter, als ob sie es in Wirklichkeit wären, sondern nach
der Lehre, die wir von der gesunden Vernunft erhalten
haben, daß der Gott, der Alles geschaffen, allein der Herr
aller sogenannten Götter und Herren sei. Denn daß er
selbst die Bezeichnung »Götter« tadle, bezeugt der heilige
Geist durch David : »Die Götter der Heiden, die vermeint-
lichen Götter, sind Bilder der Dämonen«. Er spricht sogar
den Fluch aus über jene, die solche machen und über ihre
Anbeter«1). Und da Justin ihm Stellen aus der Schrift vor-
führt, die seine Behauptung von der Existenz einer
zweiten Gottheit zu bestätigen scheinen, ruft er, sichtlich
geängstigt aus : »ich weiß nicht, was ich dem gegenüber
von den Worten des Jesaia denken soll, nach welchen
Gott seine Herrlichkeit keinem andern überlassen wolle,
sprechend : Ich bin der Herrr und Gott, dies ist mein
Name. Ich will meine Herrlichkeit keinem andern geben
noch meine Vollkommenheit«8) Und im Verlaufe der weiteren
Ausführungen Justins fällt er, förmlich aufschreiend, diesem
ins Wort: »Heilig ist, was Gottes ist! Eure Erklärungen
») Dial. c. 55.
*) Dial. c. 65. Auch der Jude des Euagrius beginnt seine
Kontroverse mit der Einheit Gottes, sprechend : Sacri venerandique
Deuteronomii vox resultans dicit: Videte, quoniam ego sum, et non
est alius praeter me deus ? Et Esaias dicit : Ego primus et ego novis
simus, et praeter me non est deus. — Quid illud quod ait : Praete-
me non est deus? — Ergo tuduos deos facis. Cf. Altere. Sim.
-6.
572 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
aber sind, wie deine Auslegungen beweisen, erkünstelt,
ja sie enthalten Gotteslästerungen1) U
Gleichem Unglauben begegnet Justin bei Tryphon und
seinen Freunden, wenn er ihnen aus der Schrift beweisen
will, daß der Messias präexistent und daß er nach den
Weissagungen der Propheten von einer Jungfrau geboren
werden und den Fluch des Kreuzestodes auf sich laden
werde. Und wenn Justin ihnen schon neue Zugeständnisse
in der einen oder anderen Richtung abgerungen zu haben
glaubt, dann häufen sich erst neue Schwierigkeiten, die
sich seinem weiteren Versuche, darzutun, daß der Christ
in der Person Jesu Fleisch geworden sei, entgegentürmen.
Wir haben bereits gesehen, daß Tryphon diese Glaubens-
lehren in das Reich der Mythe verweist. Er betrachtet es
als Lästerung, wenn Justin in Nachzeichnung der Sophia
bei Pseudo-Salomo die Behauptung aufstellt, der Gekreuzigte
sei mit Moses und Ahron gewesen, habe mit ihnen aus
der Wolkensäule geredet8), darauf sei er im Fleische er-
schienen und werde wieder erscheinen; auch sei man ver-
pflichtet ihn anzubeten8). Und da Justin, unbekümmert um
solche Proteste, in großer Begeisterung fortfährt, Beweise
aus der Schrift zu häufen, unterbricht ihn Tryphon mit
den Worten : »Du schwärmst, das ist alles, was ich dir
hierauf zu sagen habe«4). Und ein andermal: »Deine Lehre
scheint mir widersinnig und unbeweisbar; denn wenn du
behauptest, dieser Christus sei von aller Ewigkeit her ge-
wesen, hernach als Mensch geboren worden und es ge-
blieben und kein von Menschen gezeugter Mensch sei; so
scheint mir das paradox, ja töricht«5). Und wiederum: »Du
x) Dial. c. 79: Ta j/iv tou xkou i.^ix s<mv, xi §s üpiiTspat
E^-f/iTe',? TSTE^vasj/ivai xt>..
») Vgl. Altere. Sim. et Theoph. III, 11.
3) Justin Dial. c. 38.
*) Dial. c. 38.
) Dial. c. 48.
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 573
unternimmst eine unglaubliche und fast unmögliche Sache,
wenn du beweisen willst, Gott habe geboren und Mensch
werden können«1).
Einmal macht ein Einwand Tryphons gegen diese
Lehren sogar den allezeit schlagfertigen Justin stutzig, so
daß er zugeben muß, daß derselbe bedeutsam und tat-
sächlich geeignet sei, Zweifel zu erregen. Tryphon hält ihm
nämlich entgegen : Weil der Prophet Jesaia vorhergesagt
hat: »es werde ein Reis aus dem Stamme Jesse hervor-
sprossen, ein Zweig aus seiner Wurzel aufsteigen, auf
welchem der Geist des Herrn, der Geist der Wahrheit und
des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der
Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn ruhen
werde ;« weil der Prophet dieses vorhergesagt hat, willst
du behaupten, dies werde von Christus gesprochen, der
selbst zu vorGott gewesen, nach dem Willen Gottes
Fleisch geworden und durch eine Jungfrau geboren worden
sei. Sage mir nun wie kann dieser als präexistent ange-
nommen werden, wenn er mit den Kräften des heiligen
Geistes, erst erfüllt werden muß, da er ihrer bedürftig
ist2) ?«
Justin zitiert die Worte des Propheten: »Wer wird
seine Herkunft beschreiben können?« und knüpft daran
die Bemerkung: »Wenn ihr dieses prophetische Wort für
wahr haltet, müßt ihr da nicht zugeben, daß er nicht aus
menschlichem Samengezeugtsei?* Worauf Tryphon: »Warum
aber sagt dann das Wort zu David : von seinen Lenden
werde Gott sich einen Sohn nehmen — und ihn auf den
Thron seiner Herrlichkeit setzen9)?«
Aber selbst wenn Justin seine jüdischen Gegner soweit
gebracht zu haben wähnt, .daß sie sich nicht mehr vor
seiner Auffassung des Christ entsetzen, daß sie sich viel-
*) Dial. c. 63.
*) Dial. c. 87.
3) Dial. c. 68.
574 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
mehr mit ihr bereits vertraut zu machen anfangen;
dann erwächst ihm die neue Schwierigkeit, sie zu über-
zeugen, daß dieser Christ in Jesu Gestalt angenommen
und daß er es sei, auf welchen sich die Weissagungen der
Propheten inbezug auf den Messias beziehen. „Es mag sich
so verhalten, wie du sagst«, räumt Tryphon bereits ein»
»es mag vorausgesagt worden sein, daß der Christ leiden
müsse — er mag nach seiner ersten Ankunft, in der er
Leiden ertragen soll, im Glänze wieder komme, um alle
Völker zu richten und ein ewiger König und Priester zu
sein; beweise mir nun, daß di e ser J es us i n Wirkli ch-
keit derjenige ist, von welchem solches geweis-
sagt worden i st«1).
Wie die Predigt von der Gottheit des Messias, schien
auch jene von seinem Kreuzestod den Juden unge-
heuerlich. Sie dünkte ihnen eine Blasphemie. Der gekreu-
zigte Christ war, wie schon Paulus wiederholt klagt, ein
stetes »Ärgernis«2), ein »Stein des Anlaufens«3). Die Vor-
stellung von einem leidenden Messias war den obersten
und mittleren Schichten des jüdischen Volkes niemals ge-
läufig, man stand hier der einschlägigen Prophezeiung des
Deuterojesaia kühl gegenüber, und in den Kreisen der
Schriftgelehrten beschäftigte man sich mit ihr erst, wenn
man von christlicher Seite auf sie gedrängt wurde, um sie
dann auf das jüdische Volk, insbesondere auf die Diaspora
zu deuten4). Der Messias sowohl des pharisäischen als
auch des hellenistischen Judentums war ein Nationalheros,
der das jüdische Volk aus allen Enden und Ecken der
Erde sammeln, es in die Hefmat zurückführen und alle
übrigen Nationen zur Anerkennung und Anbetung des
Gottes Israels bringen werde. Diese Vorstellung findet sieht
») Dial. c. 36.
») 1 Kor. 1, 23 Qal. 5, 11.
«) Köm. 9, 32.
«) Vgl. Orig. c. Cels. I, 55.
Kontroversen zwischen Jaden [und Christen. 575
in der jüdischen Sibylle1), bei Philo8), und nicht minder
auf rabbinischem Boden eingebürgert, auf welch letztem
ein Davids pro ß als Messias erwartet wurde. Nur in
der apokalyptischen Literatur wächst er bereits zu einer
präexistenten, göttlichen Potenz hinan. Desgleichen bei den
jüdisch-antinomistischen Gnostikern, die in ihm den Be-
freier vom Gesetz und Offenbarer des höchsten, bislang
noch unerforschten Gottes sahen. — Ganz anders die
Messiasvorstellungen der untersten Volksschichten, der
»Mühseligen und Beladenen«, der messianistischen Naza-
räer. Ihr Ideal war der leidende Messias, der > Knecht
Gottes«, wie ihn der Prophet in einer epochalen Vision ge-
schaut. Dieser Messias war der Gegenstand ihrer sehn-
süchtigen Erwartung.
Auch die Wortführer des Judentums in unserem Dialog
erwarten einen glorreichen Davidsproß; von einem gekreu-
zigten, mit dem »Fluch des Gesetzes beladenen« Messias
aber wollen sie nichts wissen. Darum erwidert auch Tryphon,
wo Justin die auf den Messias bezüglichen Stellen bei
Daniel ins Treffen führt: »Diese und ähnliche Weissagun-
gen zwingen uns, einen im hellen Glänze erscheinenden,
erhabenen Menschensohn zu erwarten, der von dem
Alten der Tage ein ewiges Reich empfangen wird. Euer
sogenannter Christus aber war verachtet und ungeehrt, so
daß er ein durch das Gesetz Gottes gänzliche Verwerfung
herbeiführendes Urteil, den Kreuzestod, erleiden mußte«.3)
Und selbst wo Tryphon zugibt, daß der Messias nach dem
Ausspruche des Propheten leiden werde, will er nimmer
glauben, daß er den schimpflichen Kreuzestod werde sterben
müssen. Eine solche Auslegung empörte ihn in tiefster
Seele. »Du weißt wohl«, sagt er zu Justin, »daß unser
ganzes Volk einen Christ erwartet. Daß nun alle Schriften,
») Orac. sib. III, 46-50; 652-656.
») De execr. II, 435,
8) Dial. c. 32. — Ebenso Altercatio Sim. et Theoph. VI, 22.
576 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
die du angeführt, sich auf ihn beziehen, geben wir zu.
Auch den Namen Jesus, den schon der Sohn Nun führte,
trägt er nach meinem Bedünken mit Recht. Allein, daß der
Christ auf eine so schimpfliche Weise gekreuzigt werden
mußte, das können wir noch nicht begreifen. Heißt es
doch im Gesetz: der Gekreuzigte ist verflucht. Die Schrift
predigt zwar deutlich von einem Christus, der Leiden er-
tragen muß; wir wünschen jedoch zu vernehmen, ob du
beweisen kannst, daß er die im Gesetz mit dem Fluche
belegten Leiden erdulden mußte. Daß er leiden und wie
ein Schaf hingeführt werden werde, wissen wir bereits;
beweise uns nun, daß er gekreuzigt werden und einen
entehrenden und schändlichen Tod sterben mußte. Denn
das vermögen wir nicht einzusehen«1).
Und wenn endlich Justin sich seines Sieges über die
ungläubigen Gegner schon sicher zu fühlen anfängt, wenn
er sie unter Vorführung eines überreichen Beweismaterials
aus Moses und den Propheten von der Existenz eines
zweiten Gottes und dessen Identität mit dem Christ über-
zeugt zu haben glaubt; dann vernichtet Tryphon alle seine
Hoffnungen mit dem einen Worte:
»Euch, die ihr aus den Heiden kommt, mag er immer-
hin Herr, Christus und offenbarter Gott sein nach den An-
deutungen der Schrift, da ihr euch nach seinem Namen
Christen nennen müßt. Wir aber, die wir Diener des Gottes
sind, der ihn geschaffen, wir bedürfen seiner nicht, weder
inbezug auf das Bekenntnis, noch inbezug auf die An-
betung«2).
Überhaupt war es für Tryphon und seine Freunde
eine feststehende Tatsache, daß der Messias noch nicht er-
schienen und die Diskussion, in die sie mit Justin ge-
treten, war von ihnen von vornherein als eine rein aka-
demische gedacht. Sie, die wie das gesamte nationalge-
») Dial. c. 89.
*, Dial. c. 64
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 577
sinnte, der Christusbewegung ferngebliebene Judentum in
der unerschütterlichen Überzeugung lebten, der Messias
werde erst dann kommen, wenn, wie der Prophet Maleachi
es verkündet, vorher der Prophet Eliah erscheinen werde,
um seine Ankunft vorzubereiten, sie wußten schon vor der
Eröffnung der Unterhaltung mit Justin, daß sie sich — wie
dies ja auch der Ausgang der Diskussion klar beweist
— niemals zu seinen Lehren bekehren werden. Die pro-
phetische Überlieferung, nach welcher Eliah vor Anbruch
des »großen und furchtbaren Tages« kommen werde, um
dem Messias den Weg zu bereiten, war im Zeitalter Jesu
so landläufig, daß selbst Jesus nach den Evangelien ge-
legentlich einer diesbezüglichen Interpellation seiner Jünger
auf dieselbe Rücksicht nehmen mußte und sich zu der Er-
klärung gedrängt sah: Eliah sei bereits erschienen, ohne
erkannt worden zu sein, und zwar in der Person des Täufers
Johannes. Darum erklärt denn auch Tryphon wiederholt, er
könne nimmer glauben, daß der Messias bereits erschienen
sei, da Eliah noch nicht gekommen. »Wenn aber,« sagt er,
»Christus geboren ist und irgendwo sich befindet, so ist er
ungekannt, ja er kennt sich nicht einmal selber und hat
keine Macht, bis Eliah kommen und ihn öffentlich bekannt
machen wird. Ihr aber, die ihr einem leeren Gerüchte
folgt, bildet euch selbst einen Christus»1).
Und ein andermal: »Weil aber Eliah noch nicht gekommen
ist, so glaube ich auch nicht, daß Jesus der Christ ist«1).
Die Kontroverse zwischen Justin und Tryphon mußte
unfruchtbar verlaufen, da die streitenden Parteien sich nie
und nimmer verstehen und verständigen konnten. Auf der
einen Seite ein von schwärmerischer Begeisterung für den
fleischgewordenen Gott Logos erfüllter heidnischer Christ,
auf der andern ein nüchterner und starrer Monotheist, den
die Vorstellung von einem Gottmenschen eine frevle
') Dial. c. 8.
*) Dial. c. 49.
Monatsschrift. 65. Jahrgang. 37
578 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
Gotteslästerung dünkte. Wären Tryphon und seine Ge-
nossen pharisäische Juden gewesen und nicht griechische,
die gern jeden Anlaß ergriffen, der zu spielend dahin-
fließenden Reden und Gegenreden Gelegenheit bot«1), sie
hätten sich nimmer in einen Streit über den »Sohn Gottes»
eingelassen. »Kein Jude« — sagt Origenes, der hier nur
das pharisäische Judentum im Auge hat — »kein Jude
gibt zu, daß einer der Propheten geweissagt habe, der
Sohn Gottes werde kommen; nur das gestehen sie, daß
die Propheten die Ankunft des Messias Gottes verkündet
haben. Und daher fragen sie gleich, wenn sie sich
mit uns einlassen, was das für ein Sohn Gottes sei, als
ob die Propheten niemals eines solchen erwähnt hätten«8).
Daß das jüdische Volk einen »im höchsten Glänze
erscheinenden Menschensohn« erwarte, der ein ewiges
Reich bekommen werde, gibt Tryphon bereitwilligst zu ;
daß dieser aber ein Gottessohn, wie Justin und seine
Kirche ihn darstellen, sein werde, daß weist er mit aller
Entschiedenheit zurück. »Ihr solltet euch schämen«, sagt
er entrüstet, »fabelhafte Dinge wie die Griechen zu lehren'
und lieber sagen, euer Jesus sei als Mensch von
Menschen gezeugt worden, wenn ihr uns aber aus
der Schrift beweisen wollt, daß er in Wahrheit Christus
sei, so solltet ihr lieber sagen: er sei durch einen
l) Das zeigt auch in vollem Maße der Ein- und Ausgang des
Dialogs. An seinem Schlüsse äußert sich Tryphon über das Ge-
samtergebnis der Unterhaltung, wie folgt: »Du siehst nun, daß wir
uns keine besondere Mühe gegeben .haben, dich zu
widerlegen. Ich bekenne, daß ich viel Vergnügen an diesem
Gespräch hatte, und ich glaube, daß auch diese (seine Genossen) mit
mir übereinstimmen. Denn wir haben mehr gefunden als wir er-
warteten und als zu erwarten möglich war. Wenn wir öfter derartige
Gelegenheit hätten, würden wir mehr Nutzen aus der Erforschung
dt s Wortes ziehen. Da du aber im Begriffe stehst, dich zu verab-
.hieden, so unterlasse es nicht, dich künftig zu erinnern, daß du hier
reunde zurückgelassen.«
») Orfg. c. Cels. I, 49.
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 579
gesetzmäßigen und frommen Wandel würdig
geworden, zum Christus erklärt zu werden und
euch nicht erdreisten, so abenteuerliche Lehren vorzu-
tragen«1).
Tryphon und seine Genossen sind griechische Dias-
porajuden, die, wie bereits angedeutet, weit näher als
dem pharisäischen Judentum dem nazaräischen Christen-
tum stehen. Mit diesem, dem sie ein sichtliches Interesse
entgegenbrachten, konnten sie sich schließlich verständigen,
da sie einen Christus, wie er in der Vorstellung der naza-
räischen Gemeinde Jesu lebte, gern gelten lassen wollten.
»Mir scheint« — sagt Justin zu Tryphon — »die Meinung
derjenigen richtiger, welche lehren, Jesus sei als Mensch
vorzugsweise gesalbt und Christus geworden, als derjenigen,
die deine Anschauungen teilen. Wir alle erwarten, daß
Christus als Mensch von Menschen gezeugt
kommen und von Eliah gesalbt werden wird. Wenn nun
dieser der Christ sein soll, dann müssen wir allerdings
vorerst wissen, ob er als Mensch von Menschen
gezeugt wurd e«2).
Daß Tryphon ein gewisses Interesse dem Nazaräismus
entgegenbringt, lehrt schon der Umstand, daß er seinen
Gegner ein und das andermal darüber ausholt, wie er über
diejenigen denke, die Jesus als einen Messias anerkennen,
dabei aber nationaljüdische Gebräuche, wie Beschneidung,
Sabbathe und Festtage beobachten. Justin antwortet zu-
nächst ausweichend und zögernd. Erst als Tryphon die
Frage wiederholt: »wenn jemand, der Jesum als den Christ
anerkennt und an ihn glaubt, aber dabei nach wie vor
mosaische Verordnungen beobachten wollte, würde er selig
werden?«8) rückt Justin mit folgender das Verhältnis des
heidnischen zum nazaräischen Christentum jener frühen
x) Dial. c. 67: ... yXkv. {xyi Tsp<XToXoYS?v xolu.y.xz.
») Dial. c. 49
8) Dial. c. 46, 47.
37*
580 Die Wortführer des Judentums in den älteren
Zeit, und umgekehrt scharf beleuchtenden Antwort heraus:
»Nach meinem Bedünken wird ein solcher selig, wofern er
nicht andere, will sagen, diejenigen, die durch Christus
von dem Irrtum beschnitten wurden, verhalten will, diese
Gesetze zu beobachten, vorgebend, man könne sonst nicht
selig werden.« — Darauf Tryphon : »Warum sagst du :
nach meinem Bedünken wird ein solcher selig? Gibt
es denn Leute, die behaupten, er könne nicht selig werden?«
>Allerdings«, erwiderte Justin, »gibt es solche, und diese
meiden sogar ihren Umgang und würden sie nicht beher-
bergen. Diesen aber kann ich nicht zustimmen. — Wenn
nun diese, von denen vorhin die Rede war, wegen der
Schwachheit ihrer Erkenntnis auch neben der Hoffnung,
die sie in Christus haben, und der Erfüllung der ewigen
Pflichten der Gerechtigkeit und Frömmigkeit auch die von
Moses wegen des Volkes Sinnlichkeit eingeführten Satzun-
gen, soweit sie noch beobachtet werden können, wie
Sabbath und andere Bräuche, halten wollen und den Um-
gang mit den gläubigen Christen pflegen, ohne sie über-
reden zu wollen, daß sie sich beschneiden müssen; so
halte ich dafür, daß sie in die Gemeinschaft aufgenommen
und als Glieder und Brüder angesehen werden sollen.
Gibt es aber aus eurem Volke, die an Christus glauben,
die aber die Christgläubigen aus dem Heidentum durchaus
bestimmen wollen, ihr Leben nach den Vorschriften Mosis
einzurichten und sie im Weigerungsfalle aus ihrer Gemein-
schaft ausschließen, so kann ich ihnen nicht beistimmen«1).
Sosehr Tryphon sich gegen die Christologie Justins
wehrt, so scharf er sie verurteilt, er bekundet auf der an-
deren Seite ein lebhaftes Interesse für das nazaräische
Christentum, das noch bis tief ins zweite Jahrhundert viel
Werbekraft, allerdings zumeist auf jüdische Kreise, ausübt.
Denn dieses Christentum ist es, über welches hier zwischen
Tryphon und Justin verhandelt wird. Diesem erkennt der
») Dial. c. 47.
Kontroversen zwischen Juden nnd Christen. 581
erstere Existenzberechtigung zu, läßt der letztere — im
Gegensatz zu der jetzt herrschend werdenden allgemeinen
Kirche — noch eine gewisse Toleranz angedeihen.
Von den christlichen Nazaräern wissen wir, daß sie
Juden von Geburt und bewandert im alttestamentlichen
Schrifttum waren, daß bei ihnen Gesetz und Propheten und
Hagiographen im hebräischen Urtext gelesen wurden, und
daß sie sich überhaupt bloß darin von den Juden unter-
schieden, daß sie an Christus glaubten, von den Christen
aber darin, daß sie jüdisch lebten und durch Beobachtung
der Sabbathe und anderer gesetzlicher Vorschriften an das
Gesetz noch gebunden waren1).
Von den Ebioniten, einer Abzweigung der Nazaräer,
berichtet Eusebius: »Die Alten nannten sie mit einem be-
sonderen Namen Ebionäer, weil sie geringe und arm-
selige Vorstellungen von Christus hatten. Sie hielten
ihn nämlich bloß für einen gewöhnlichen Men-
schen, der nur wegen seiner sittlichen Voll-
kommenheit für gerecht erklärt worden und
im übrigen die Frucht des Umganges eines
Mannes mit Maria sei. Nach ihrer Ansicht war
die Beobachtung des Gesetzes unerläßlich,
da man nicht durch den bloßen Glauben an
Christus und durch Einrichtung des Lebens-
wandels nach seiner Lehre die Seligkeit er-
langen könne. Andere gleichen Namens vermieden
zwar die widersinnige Ungereimtheit, die Geburt des Herrn
von einer Jungfrau und dem heiligen Geist zu leugnen,
gaben aber dennoch nicht zu, daß er vorher existiert habe,
daß er der Logos Gott und die persönliche Weisheit sei
und hegten sonach dieselbe falsche Ansicht wie die erste-
ren, insbesondere, da auch sie auf dieselbe Art, wie jene,
den fleischlichen Zeremonien des Gesetzes
nachzukommen sich bestrebten. Den Sabbath und
») Vgl. Epiph. Haer. XXIX, 7.
582 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
die sonstige jüdische Lebensweise behielten sie wie jene
bei, doch feierten sie auch den Sonntag wie die allgemeine
Kirche zur Erinnerung an die Auferstehung Jesu. Das war
die Ursache, warum sie den Beinamen Ebionäer erhielten,
der die Dürftigkeit ihrer Erkenntnis anzeigt. So nämlich
heißt der Dürftige auf Hebräisch«1).
Das ist nun dasselbe Christentum, an welchem der
aus dem Heidentum kommende Justin, der Christ im Phi-
losophenmantel, »Schwachheit der Erkenntnis« bemängelt2),
da es neben dem Glauben an den Messias noch an ge-
wissen, »wegen der Sinnlichkeit des Volkes« eingeführten
mosaischen Satzungen hänge. Und diesem selben jüdischen
Christentum redet Tryphon das Wort, durchschimmern
lassend, daß eine Verständigung mit demselben nicht aus-
geschlossen sei. Daß aber eine solche in der Folge völlig
unmöglich geworden, das hat die Großkirche verschuldet,
die, zur Herrschaft gelangt, die Wege der antinomistischen
Gnosis wandelte, deren Christus, den Gott Logos, zu dem
ihrigen machte, das Gesetz verwarf und unbedingte Unter-
werfung unter ihre Dogmen verlangte, jede andere An-
schauung verketzernd.
Wie man sieht, bewegt sich der ganze Streit in un-
serem Dialog fast ausschließlich um das Christusproblem,
wobei auch über das Gesetz und über die Frage der weiteren
Giltigkeit desselben verhandelt wird. Von dem Wesen des
Evangeliums selbst aber, von dessen innerem Werte ist
kaum die Rede. Nur einmal, und zwar zu Beginn seiner
Unterhaltung mit Justin, kommt Tryphon selber darauf zu
sprechen. Allein so vorübergehend und flüchtig dies ge-
schieht, seine Äußerung ist bedeutsam genug, um eine
nähere Beleuchtung zu verdienen.
»Ich habe«, sagt er zu Justin, »es mir angelegen sein
») Euseb. Hist. EccI. III, 27.
») Dial. c. 47; xo ädä-evs? tyjc Y^wf///];»
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 583
lassen, euer sogenanntes Evangelium kennen zu lernen.
Was ich jedoch darin fand, scheint mir zu groß und
wunderbar, als daß ich es für möglich hielte,
darnach leben zu können«1).
Es ist gar sehr bedauerlich, daß Justin, der sonst mit
so breitem Behagen, auf alle, selbst die unbedeutendsten
Einwendungen Tryphons eingeht und vielfach ganz über-
flüssig sich der denkbarsten Ausführlichkeit befleißigt, gerade
auf dieses für ihn so wertvolle Zugeständnis des Juden
Tryphon mit keinem Worte reagiert, und andererseits kein
Bedürfnis empfindet, den Vorwurf der Unbrauchbarkeit des
Evangeliums abzuwehren. Denn dieses Urteil aus dem
Munde eines Alltagsphilosophen von der Qualität eines
Tryphon, der von der Religion verlangt, daß sie haupt-
sächlich auf das Praktische gerichtet sei und Vorschriften
und Lehren enthalte, die restlos ausgeführt und beobachtet
werden können, involviert, so anerkennend es auf der einen
Seite klingt, zugleich einen schweren Tadel. Es will damit
gesagt sein: das erhabenste Ideal sei unnütz, wenn es un-
erreichbar. Justin, wie gesagt, überhört beides: das Lob und
den Tadel. Wir aber würden gern erfahren haben, wie
damals die große Menge der unbefriedigt aus den Philo-
sophenschulen gekommenen und auf das Christentum ge-
ratenen Heiden, die dessen Ausbreitung so ungemein in
der heidnischen Welt gefördert haben, gerade über diesen
so bedeutsamen Punkt gedacht, wie sie dem Einwand: dem
Evangelium hafte der große Mangel der Unfruchtbarkeit
seiner Lehren an, begegneten. Allein Justin, der soviel
Worte über die Außenseite des Mosaismus macht, den er
als zeitlich überwunden hinstellt, ohne nach dem Beispiele
Jesu in dessen Inneres: in »das Schwerste im Gesetz«,
eindringen zu können; der tiefere Sinn des Evangeliums
l) Dial. c. 10: <V(/.wv Si jc&i tx sv tw "ksyo[i£vo) süaL'ffs'kfa
584 Die Wortführer des Judentums in den ältesten
hat sich ihm ebensowenig erschlossen, er würde sich sonst
eine so einzige Gelegenheit, über den Juden zu triumphieren,
wie das überaus wichtige Zugeständnis Tryphons sie bot,
nicht haben entgehen lassen.
Daß ein Dutzendphilosoph, wieTryphon, dem Evangelium
Jesu bei aller Anerkennung seiner Vorzüge die praktische
Durchführbarkeit abspricht, da es ja einen bis zur Selbst-
aufhebung führenden Altruismus predigt, darf nicht befrem-
den. Ähnlich wie er, urteilten vor ihm schon weit tiefer und
religiöser angelegte Juden, die überdies den großen Vorzug
genossen, unmittelbare Jünger Jesu zu sein und den
Kommentar zu seinem Evangelium aus des Meisters eigenem
Munde zu vernehmen. Man erinnere sich nur an den reichen
Jüngling, der mit der Frage an Jesus herantritt, was ihm,
der das ganze Gesetz beobachtet habe, noch zu tun übrig
bleibe, um des ewigen Lebens teilhaftig zu werden ? Auf
die Antwort Jesu : »wenn du vollkommen sein willst,
so gehe hin, verkaufe was du hast und gib es den Armen,
so wirst du einen Schatz im Himmel haben — und komm
und folge mir,« geht der Jüngling betrübt von dannen. Aber
auch die Jünger Jesu, da sie diese Worte vernahmen, »ent-
setzten sich sehr und sprachen, ja, wer kann selig werden?«
Wenn solches nun am grünen Holze geschah, was sollte
man vom dürren erwarten? Daß nun Tryphon sich für ein
unerreichbares Ideal, welches nach seiner Auffassung den
Menschen zum Tantalus machen müsse, nicht sonderlich
erwärmen konnte, ist leicht begreiflich. Daß aber ein
apostolischer Lehrer wie Justin, der durch sämtliche Philo-
sophenschulen gegangen, ohne seinen Durst nach religiöser
Offenbarung stillen zu können, bis er schließlich in den
windstillen Hafen des Christentums einlief und sich dem-
selben in schwärmerischer Begeisterung hingab, sich stets
nur auf der Oberfläche der evanglischen Erkenntnis bewegte,
sich nicht klar werdend über die wahre Bedeutung seines
Ideals, für welches er lebt, wirbt und stirbt, sich niemals
Kontroversen zwischen Juden und Christen. 585
zu der Erkenntnis emporringend, daß die hohen For-
derungen des Evangeliums nur für die nach Voll-
kommenheit strebenden aufgestellt wurde, um das
Streben, demselben nachzueifern, zu verewigen: das ist
jedenfalls bezeichnend genug. Der Umstand, daß selbst die
Säulen der Kirche jener Zeit — und Justin war eine der
hervorragendsten — in die Tiefe der Botschaft Jesu nicht
einzudringen vermochten und ihr ganzes Denken und
Fühlen an die Vergöttlichung des Christ festankerten, zeigt
uns, wie überdrüssig man in diesen Kreisen der alten
Götter und der philosophischen Spekulation und wie er-
lösungsbedürftig man geworden, so daß man mit sehn-
suchtsvoller Hast neuen, wenn auch nur halbverstandenen
Idealen zujubelte.
*
Die Tefilla für die Festtage.
Von I. Elbogren.
(Schluß.)
5) Für Schemini Azeret.
Bodl. Hebr. e 34 (2716), no. 23.
Cat. col. 128.
fol. 63 a1).
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irr6x • ntra n« ,"' mit ib>k
') Die Paginierung muß in der hier angegebenen Weise ge-
ändert werden.
») Num. 29, 35-30, 1.
Die Tefilla für die Festtage. 587
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Wnb$ *'' nan »Tp 'Kipai a'aarni
Aus diesen Texten gewinnen wir eine Fülle von Ein-
blicken in die Entwicklung der Festtagstefilla.
!) Hier fehlt die Beziehung auf die Wallfahrt, vgl. oben S. 429
ist das Absicht oder Versehen?
588 Die Tefilla für die Festtage.
A) 1. Die Introduktion des mittleren Stückes lautet
nicht u/nna n/iK, wie b. Joma 87 b, sondern beginnt in allen
obigen Texten mit [n]/nna nun. Das Stück verdient vor
dem üblichen in mehr als einer Beziehung den Vorzug.
Es ist zwar wortreicher, aber auch inhaltsreicher, es
knüpft die Erzählung an die Offenbarung an, geht ohne die
vielen Tautologien auf das Ziel los. Die Form ist hymnisch
feierlich. Von bekannten Gebeten wäre etwa das jvis TWth
im Sabbatmußaf des seph. Ritus zum Vergleich heranzuziehen.
2. "üb jnm, das sich hier inhaltlich weit besser an die
vorhergehenden Sätze anschließt, vermeidet ebenfalls hinter
nnar^ Dnjna das Parallelglied cpmfe d»jsii D'jn), gibt aber
dafür den Festtag genau mit den Worten von M. Sofrim an:
tnpD^i y® di^i Tmcwb nrn rosten [jn] dv n« nm trnp tnpa dv /ik
BHp£(S. 442), nrn D^iwn diu dt nrn tsnp *opa or (S. 434),
ron roaon jn dt nrn t>np tnpa dv (S. 444), m nrn rnp «ipa dt n«
«np sipa^i 2W Di'bi nnatr^ nrn masy >row dt (S. 436). Auch
für die Mittelf eiertage ist die Bezeichnung korrekt: jn njna
roaan1) (S. 441;, roawi in nyia (S. 446).
3. Ganz neu und eigenartig ist die biblische Begrün-
dung, die an Mb j/i/n anschließt. Zunächst nrnina ainaa mit
Versen, die aus dem Abschnitt über die Feste, Lev. Kap. 23,
d. h. der alten Toravorlesung für die Feste entnommen sind,
(Megilla IV). Das ist der Punkt, bei dem wir einen Text für
das Wochenfest am schmerzlichsten vermissen werden; wir
würden gern erfahren, welches Stück für das Wochenfest
verwendet wurde, ob man beim Fehlen passender Verse
in Lev. 23 auch hier, wie bei der Toravorlesung, zu rW3W
ropav Deut. 16, 9 seine Zuflucht nahm. An die Pentateuch-
verse schließen sich nun andere aus den Propheten und
Hagiographen an, wie es sonst lediglich von der Mußaf-
tefilla für den Neujahrstag bekannt ist. Freilich belegt sind
die Verse nur für Schemini Azereth, aber zweifellos haben
i) Der Text stimmt mit der Münchener Handschrift von Sofrim
überein, vgl. Müller, S. 265, N. 12.
Die Tefilla für die Festtage. 589
wir die Ursache nur in dem fragmentarischen Charakter
unserer Handschriften zu suchen; denn es ist nicht einzu-
sehen, weshalb das, was drei verschiedene Handschriften
für ein Fest bieten, bei der sonstigen Übereinstimmung
nicht auch für die anderen Feste gelten soll.
4. Auf die Verse folgt die Bitte "jma^D ma 76: K"ik
wiederum wortgetreu nach M. Sofrim, alle Verbesserungs-
vorschläge werden hinfällig. Die Fassung von rhi ist die
aus ir«on »aeoi bekannte, allerdings mit zwei Varianten, die
religionsgeschichtlich von höchster Wichtigkeit sind. Der
Gedanke des Gottesreiches tritt in den Handschriften
weit kraftvoller hervor; am Anfang fügen sie ipy btir\vr> bv "p^a
hinzu und am Schlüsse den universalistischen Satz i-iüK'i
rfotm baa l/na^ai -j^a [nty»*n^«] n -|wa, den wir bisher als
Eigentümlichkeit der Tefilla für das Neujahrsfest zu be-
trachten pflegten, der aber hier an allen Festtagen wieder-
kehrt. Der Zweck der Sammlung der Zerstreuten ist nach
diesen Texten nicht die Wiederherstellung der Opfer, son-
dern die Errichtung des Gottesreiches auf Erden.
5. Auch die Einleitung zu «a'i nbw stimmt in den
Handschriften genau mit den Angaben von M. Sofrim kjk
lrn^K "r. Das Stück selbst zeigt einige Varianten gegenüber
der bekannten Fassung, Kürzungen und Erweiterungen, die
darauf schließen lassen, daß der gemeinsame ursprüngliche
Wortlaut wesentlich einfacher war. Der Abschluß p:n bx »a
nxy: "pa^> PllW mrni ist nicht völlig unbekannt, wir finden
ihn, wenigstens als Variante, im Machsor Romania ebenfalls
für die Festtagstefilla. Den daran anschließenden Satz mit
der Bitte unjw^ tswii nbnn tt*/im bA ppi fjid . . ♦ dv »n*i hat
außerdem auch der seph. Ritus im Mußaf für den Neumonds-
tag. Es ist ganz seltsam, wie mitunter einzelne Sätze der
Gebete versprengt wurden1).
i) Das Mußaf für den Neumond hat in den Handschriften der
Qenisah ebenfalls die hier beschriebene Form; das soll ein aadermal
näher ausgeführt werden.
590 Die Tefilla für die Festtage.
6. usw.Ti stimmt im Wortlaut am besten zu der Fas-
sung des italienischen Ritus, nur daß es dort ud-ü^ jvmi
heißt. Zu beachten ist wiederum, daß "pmifoa uwip gänzlich
fehlt und nur ein kurzer Abschluß mns *pp ^Kie^ »3 ähnlich
wie beim Kiddusch folgt. Die Eulogie nmai jm bir\w EHpc
tJHp »tnpoi D'jorm nratr (S. 438), ennoi D^tr tk*ii 'ir tjnpa
nnat? nmai nynn pian D'at? (S. 434 f.) usw., dv r«i n»» unpo
ntn ppn nn^D er n« nrfi tmsiil oist (S. 443) usw. rechtfertigt
wiederum die Angabe in Mas. Sofrim für alle Feste; wenn
es einmal (S. 444) heißt D'^nm D'iöTni, so ist das entweder
Willkür des Abschreibers oder eine lokale Abweichung.
UK'iPni finden wir in unseren Texten zu allen Festen
ohne Ausnahme, auch für Jörn Kippur, wie es ja nach
M. Sofrim zu erwarten war und sich auch aus Amram belegen
läßt. Es soll hier auf die Geschichte der Neujahrsgebete
nicht näher eingegangen werden; bemerkt sei nur, daß die
hier verwerteten Fragmente sich in nichts von denen der
anderen Feste unterscheiden, die Einschaltung "iror, auch den
Brauch von -pne jn jMi, zum mindesten im Gebet des Ein-
zelnen, nicht kennen. Auch darauf muß hingewiesen werden,
daß in allen Fragmenten mit jnm nr\X die vom babyloni-
schen Talmud (Ber. 12b) verbotene Eulcgie trvipn bmn
sich findet, mehrmals in Verbindung damit das nur aus
jer. Rosch ha-Schana IV, 6 bekannte rcnbsn IHK1).
B) Betrachten wir die Mußaftefilla, so müssen wir
zunächst konstatieren, daß die Struktur genau die glei-
che ist wie die der anderen Tefilloth; die Elemente, aus
denen sie sich zusammensetzt, sind nicht verschieden. Der
hauptsächlichste Unterschied, der durch die Bestimmung
dieser Tefilla bedingt ist, findet sich am Anfang und am
Ende. In )ib jnm finden wir nach dem Namen des Festes
den Zweck angegeben pjdiö py 12 a^ipffy und nun folgen
als Begründung naturgemäß die Verse aus Num. 28 und
x) Vgl. Riv. Isr. IV, 1907, S. 189; vgl. auch den persischen Ritus,
QR. X, S. 656.
Die Tefilla für die Festtage. 591
29 mit den Opfervorschriften. Zu beachten ist, daß die Verse
wortgetreu folgen, nicht überarbeitet, wie z. B. o/iruo
13103 onODii, das in allen Riten üblich ist. Am Schluß wiederum
finden wir den Satz p*ipi Di' 'Ton irriiain dk yiüb n»jw
*|Diö. Er führt uns direkt an die Entstehung der Mußaftefilla
zurück. Die oben (S. 427) bereits berührte Differenz zwi-
schen Rab und Mar Samuel lehrt uns, daß am Anfang des
III. Jahrhunderts die Mußaftefilla im Wortlaut mit den an-
deren übereinstimmte. Selbst R. Jose, palästinischer Lehrer in
der ersten Hälfte des IV. Jahrhunderts, begnügt sich damit,
daß die Differenzierung in dem einen Satze besteht: n&'pn
s]0iö pipi oi» »Ton irniüin n« *peb» Das war nicht eine
theoretische Auskunft, die er seinem Jünger, dem Babylonier
Se'i'ra, gab; sie entsprach dem in den Gebeten herrschenden
Brauche. Jetzt, wo dieser Satz uns das erste Mal in aus-
geführten Gebettexten begegnet, sehen wir, daß er in der
Tat (neben den Opferversen) die einzige Abweichung im
Wortlaute der Tefilla bildet.
Denn die anderen Bestandteile der Tefilla sind alle
ebenfalls in das Mußaf übernommen, auch das bisher in
M. Sofrim so rätselhafte K3»i nbv\ Es ist in den Texten
von Sofrim nichts zu ändern; weder darf man ir«ton 'jcoi
einschieben, denn dieses war nicht bekannt, noch darf man
K3»i n^l»» streichen, denn es ist in einer stattlichen Anzahl
von Fragmenten als Bestandteil des Mußaf überliefert. Die
Anschauung des R. Paltuj Gaon (850), daß K3'i n^j»' ursprüng-
lich zu den Sichronot des Neujahrsfestes gehörte1), mag
richtig sein oder nicht — wir können sie vorläufig noch
nicht gut beweisen, aber der Wortlaut von «a»i n^j»» mit
der häufigen Erwähnung von p"OT, U"OT und ppB, tfTpD; die
ihnen gleichgeachtet werden (Tos. Rosch ha-Schana IV, 7,
p. 213/2 ff.; b. R. ha- Seh. 32b), spricht sehr dafür daran
*) Manhig ftiVT\ tt>tn n § 5; Resp. nt133 man Nr. 99, der Aus-
zug hieraus bei Müller ITJiKjn rroitfnb nnea S. 88 ist nicht ganz
korrekt.
592 Die Tefilla für die Festtage.
ist kein Zweifel mehr möglich, daß es nach der Übernahme
in die Festtagstefilla auch im Mußaf seinen Platz hatte.
Unsere Texte zeigen allerdings noch eine Erweiterung
der Mußaftefilla, die zu dem uns bekannten Wortlaut hin-
überführt, nämlich die Bitte um Wiederherstellung der
Wallfahrt, die vor umwn mit der Formel iwa T«n lrrm
u*n«ö und mit der Begründung aus Deut. 16, 16 D'ays vbv
nwn gegeben ist. Die Erklärer bringen "pjno nriD in ttM*vfn
mit dem Schlüsse dieses Verses zusammen. Ist etwa der
Ursprung des Satzes in dieser Nebeneinanderstellung in
der Mußaftefilla zu suchen ?
Fassen wir die Einzelergebnisse zu einer Gesamtan-
schauung zusammen, so müssen wir zunächst die starke
Übereinstimmung des Mußaf mit den anderen Tefilloth fest-
stellen. Sodann aber bilden unsere neuen Texte eine glänzende
Rechtfertigung für die Überlieferung des Traktats Sofrim ;
man wird in Zukunft die Angaben dieser allerdings im
Einzelnen schlecht erhaltenen Schrift nicht bei jeder Ab-
weichung verwerfen dürfen, sondern bis auf weitere Nach-
richten mit dem Urteil zurückhalten müssen. Woher stammen
die uns befremdlichen Mitteilungen in Sofrim? Darauf kann
es nur eine Antwort geben, aus dem alten palästinischen
Ritus. Wie die gesamte jüdische Tradition durch babylo-
nische Einflüsse in eine andere Richtung gelenkt worden
ist, so sind auch die uns überlieferten Gebete von Baby-
lonien aus umgestaltet worden, die alte palästinische Ge-
betordnung verschwand oder erhielt sich nur in spärlichen
unbeachteten Resten. Das ist der große Gewinn, den die
Genisah für die Liturgie gebracht hat, daß sie uns die
Stammgebete in einem neuen oder vielmehr ganz alt en
Stadium der Entwickelung vorführt, daß sie uns ermöglicht,
Einblicke in die Entstehung der Liturgie zu tun1).
«) Ich kann mich der von Isr. Levi (REJ. 1907, S. 234) vertretenen
Die Tefilla für die Festtage. 593
*Es hat Jahrhunderte gedauert, bevor diejenige Gebets-
ordnung, der wir im babylonischen Talmud begegnen, sich
befestigt hat«. Wenn Zunz (Ritus, S. 2) diesen Ausspruch
hauptsächlich mit Rücksicht auf die späteren Jahrhunderte
getan hat, so dürfen wir ihn heute auf die talmudische
Zeit selbst übertragen. Die Gebetordnung hat manche
Änderung erfahren, ehe sie die im babylonischen Talmud
überlieferte Gestalt annahm. Welche geistigen Kämpfe dazu
geführt haben, bleibt ein Problem für die weitere Forschung.
Anhang I.
In einem Fragmente der Bodleiana, das ein zusam-
menhängendes Stück eines Gebetbuches für Jörn Kippur
enthält, findet sich eine Schacharittefilla, die ihrer Seltsam-
keit wegen hier mitgeteilt werden soll. Zunächst finden wir
darin die palästinische Tefilla, die zwei ersten Benediktionen
ausgeführt, die mittleren nur durch die Stichworte kurz an-
gedeutet, wobei nmna nm auffälit. Dann heißt es : »Man
soll (hinter pmi? rrr) nicht drei Schritt zurückgehen, son-
dern in gebückter Stellung verharren und sprechen«. Es
folgt "pins \n (}:üi), im großen und ganzen in der bekannten
Form; nur der Schluß von "[bam weicht ab durch den Zu-
satz ifco "prpT TJiii2) mit den Versen Jes. 24, 23 (wo der
gleiche Schluß steht) und 29, 22. 23 als Beleg und mit der
Eulogie wnpn bunt dbl^fl tik. Es folgen die Malchujot,
d. h. wby, mp: p bv und die Verse; vor 'fiw 'i auch Ex. 15,
Anschauung, daß es sich bei den Genisahtexten um Privatgebete
handelt, nicht anschließen. Dafür sind die Formen zu mannigfach und
zu sorgfältig ausgebildet, als daß sie nur für Zwecke der Einzelnen
gedient haben könnten. Gewisse Formen haben nur für den öffent-
lichen Gottesdient einen Sinn. Wir müssen uns mit der Anschauung
vertraut machen, daß in alter Zeit durchaus nicht die Einförmigkeit
in Gebetvorlagen bestand, die später üblich wurde. Eine sehr wichtige
Gruppe von Varianten bezieht sich auf den palästinischen Ritus, und
innerhalb dieses war wiederum viel mehr freie Bewegung gestat'et,
als in den von den babylonischen Geonim beeinflußten Ländern.
s) Vgi auch den persischen Ritus in JQR. X, S. 615.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 3c
594 Die Tefilla für die Festtage.
17, aber keine anderen Verse aus dem Pentateuch, die
Hagiographen sind in anderer Reihe, ferner vermehrt um Ps.
97, 1 und 146, 10, bei den Propheten außer den üblichen
Versen noch Micha 2, 13. 'w yatP folgt erst hinter der Bitte
-[So, die übrigens völlig dem oben Auseinandergesetzten
entspricht und "Jflistea U8Hp nicht kennt, unmittelbar vor der
Eulogie, hat also die gleiche Stellung wie Lev. 26, 45 in
den Sichronoth Num. 10, 10 in den Schofroth. Die
Eulogie ist wörtlich die oben S. 443 f. mitgeteilte. Auf die
Malchujoth — wby ist ja im seph. Ritus und im deutschen
bei der Wiederholung des Mußaf noch heute üblich — folgt
das Sündenbekenntnis, d. h. einleitend pm vr und dann
»tan by mit der Singularform *nKBIUP und einem Alphabet
sowie den verschiedenen Opfern. Von da geht es direkt zu
den Selichot über.
Bodl. Hebr. e 41 (2721, 18).
Catal. col. 136.
fol. lila.
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^y -pne jn • ^ip> {« ^k »an» im
fiKiatp na ^3 ^y nnaw Ttrpa bi
Die Tefilla für die Festtage. 595
fol. 111b.
yiQb nn/ien o*wj?on ^3 "pKvi
nn« n*n» ühs wi nvnan ^»3
flD3 D^>tf 33^>3 "]iljn fll»J^
miaa fi*a ny -pc^ poSr» 5
n/ynatp na ^3 iw am: -[csn "p'ö'a
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o'bn'o^ no pnno -penin^ mpr>
■pnjtSi p»e> *\vyh nno» -p»
■u zianpi -ji3y "ir6 pp nn'as 10
D'pHJt J331 :"jn»»D '»' |3^
DToni ttojp d^ibh lnaen ikt
nptnn ^>m rre natop nnViin A»r rma
A^>»or rayn »a nb3fl {try3 rAia
'o 'a nrhvn nehm p«n p jnt 15
'« v' «in nn« "j^oni npyn mno
nvp o^ivai jvat -i[na] . . . [ir]n^K
fol. 112 a.
rtxftti (Vnom 31:133 *ri33 -|»3*pt 1331
ina jvK3Jt v' n^o »a nenn rwui
m33 rrpr tmi oteivsi p»s
jrm wn apr n*a ^« »" no« .13 (2p^
k5i apy» »13» nny «^ Oman n« 5
ntryo to» in«*i3 *a tnw na nny
uPHpni *m& ir*ip» ianpa t
iiiw »n^« n«i apr »np n«
nai^on in« '" nns "pi3 *«**>jr
nsr^ 1:^1? '»npn ^ani 10
/npjns -iirr^ f6ru nnS bsr\ pt6
*h\ rim«n naa 'is^y «^ w«
irpSn otr 1A1 D'un mnatpos uaru
cnir Wien ^33 lrbiu *6i ans
') Jes. 24, 23.
•t Jes. 29, 22-23.
33*
596 Die Tefilla für die Festtage.
b» D^Dfloi pm ^>3nf? o^n/wn 15
»3^e "[büb onmwö um yw a<b b$
fol. 112 b.
unfern «im • ♦ ♦ d*o» neu «in -jna o»3feon
p ^>y , • ♦ lnVit p«i usfea no« ny p«i
D^iy prfe . ♦ . V2vr\ »3 "]?j? rnnDJi . ♦ . mp:
. , , "|DTJ^ H33* W2 '33 ^31 »TW nttfeöS 11
^V D^12 lfesp'l UJT Tp* "]ütf 1133^
fol. 113 a.
'3 ♦ ♦ . •jfeöfll ■JflTsVö
"jfewi *ry »öfeiy tv uti "jfe» msfenn
iöj»m (^ömsn "[mins 3in33 tum 3
njn d^i i^ö» "' in» ujt3 . ♦ . "|nferu ins
■lfeo (2"' löKfe 3in3 "jirnp »Tanai 6
fejn -pa (3"' : Bion ^3 . . ♦ vfr nua
il3lfeöf1 *»fe (4,3 : D'31 . . . p«n
D3'^K1 D'W (51Ktf : D*U3 ^»Dl 10
ofeiyfe »•» (6l^ö' ;n^»D Tuon "jfeö 16
fol. 112 b.
nTifefen im infe jvst -[»nfe«
(7n3 -10*0 o'K'san "p3j? r bvi
HJ?fe3öl . . . fe«W 1^0 *'» 1ÖK
osfeö i3jn . , . ixid onuefe f tdü (8n^y Dvife« p« 5
• O'JPenö (91^V1 D1PK13 '"1 D.TJB^
■jfea^ >'» (10rrm x ro&m . . ♦ jrat ins
idipi inu . ♦ . pun ^3 ^i?
») Exod. 15, 17-18.
») Ps. 93, 1.
») Ps. 97, 1.
*) Ps. 22, 29.
») Ps. 24, 7—10.
«) Ps. 146, 10.
') Jes. 44, 6.
•) Micha 2, 13.
») Ob. 21.
!0) Sech. 14, 9.
Die Tefilla für die Festtage. 597
"|£o unia« »rftm wfa* in» 11
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fol. 114 a.
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fol. 114 b.
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fol. 115 a.
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«an ^>yi nnv* ♦ . . 3y/i3 . . . pnpas
. . . n«on . . , dk>« r*»y 3^n »»» 6
D'im« rupbn . . . onw »T3 n/va . . ♦ j3ip
ysi* v^y 3»n »3Hr «an ^>yi 12
rin nantp n^pa pn fva jiijvd
b"6j p«v *>yi \j5 8*iw ^»y pam
awi D'"i^ an t/jb^ (*i33 rc^» 15
nnnaan ymrn '33 "piaa kdj 'ich
») Deut. 6, 6.
») Dt. 29, 36.
598 Die Tefilla für die Festtage.
fol. 115 b.
-.dk -pay im rwrn mwn . . . unVn *"b
'rpj . . . O/ntn» yivb
^mai wd bis mVk »" *a»pj .">
D'o ^y pnn *ju*dö ^>ao »a?n
(2,np-in "jk'^j T bv airas omna
irn^K *• nnsnaai DDn« 10 -ina« , . ♦ nybv
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dv n« lyma« 'n^Ki unb« ♦" Mb
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n» (sie!) nrn aniDan diu dt m nrn
nb'Uü dv n« nrn pyn nn^D dv 15
bzb rnB3$> n^'no^ nrrW nrn pyn
? lrrwan ?
Anhang II.
Varianten zur »babylonischen« Tefilla aus Fragmenten
E. N. Adlers.
1. A) Zu uta*! nbv
pian rorot . aiprr ans' ips» • • * y>j» «a* Thr
cp*Drii i'K'a: pian) *pay ♦ ♦ '»o 'n 'vy 'banr 'n lr/va«
(na^o^) irma« v£ki '« n» t/jd1? inr n»a ^a -py nan
(m-6) luvh \r\b uwwh n^i«a^> nynr^ nana? naia^
n^aba^i no^oi? nnas^i \wvh ubvbi wh ü'om^
nn nrn tnp «ipo aia ora py ntonfa «an nrpfeofr
ua^B mps . , ♦ unar uwotiVi ir^y la arrA mn pnatn
pj'o 13 ine (npw) ms ^ao ia (3ub^>ö o'xa • • •>
nans/i n«iDi ia ijkdd na^t? rmow ia uno» nnwi
1»oma U'i?« ruBi) * • * oin D'an-n nw nana oa twa
♦ ♦ ♦ wrv fli^n'a i'^« *a upvnm «»am
2. Ein anderes Fragment für Sukkot (Wip K*ipa ara
nrn maon jn ovi nrn), punktiert, es fehlen in ihm die oben
in ( ) gesetzten Worte.
3. Ebenfalls punktiert. Der Text stimmt mit dem üb-
») Ps. 19, 14.
9) Ez.36, 25.
3) Wahrscheinlich von 12 bis 13 ausgefallen.
Die Teiilla für die Festtage. 599
liehen im ganzen überein, nur fehlen ipo' und ü'jnpB,
D^ttiT steht vor rvtyo, JT3 bl -]öj? wie oben. Hinter uinrin
n»r6 w folgt ebenfalls rvshv nno» 13 unotp ms ^>3ö ia uefa
wfcp omi tram oin trami njw« "iana nn:«i pro 13 ufr»*i
B) Zu u/nrn nn«
In einem Fragment zu Rosch ha-Schana (1 Blatt) mit
rhu * * 4 ctjmpi (Jtmp "1*12" »Hp "]ettn wnp nn«
[«npj] «nrtpn &wm bd&'03 /n«as [n naaj»i
tjrnpn i^en . . . -pia npnxa
ohne -pnB jn pai heißt es hinter uniria nn«:
/inyy^ min hhö^i ypiv »bb^o ujptijii
etc. iA pwi "p:iin Tn ni5{D
Es ist also der Anfang von ujmm (Ber. 33 b) ohne
die rrV"ün eingeschaltet.
C) Zu UKBfl »JBB1
Ein Fragment von einem Blatt zu Schabuoth hat
folgendes kurze Stück: irxan »JBDl wie üblich bis Tmh&ViV
-|&Hpo n»aa, dann
winaaa wwni umiij u*taflv '^« 'i "p:c^o psn »rr
'idi rorotr loa "pian ni^o3 namta yxh anpji nipyj d»v
"' inat [?irby] cm «"«in DiT3dji ♦ ♦ . omaan ovav
13*13 D^n^ 13 UWH H3"13^ 13 UHpDl H31B^ 13 'b&
uk'Emi Deut. 16, 16 d»D£B vbv ai/iaa wby omi Din o^emi nprar
D) Zu pm i^o ijti3« ti^xi 6«
Die Fragmente beginnen übereinstimmend mit f^o
jorn wie Saadja2) und lesen wbv 2W, eines auch bbm.
E) Zu vtnpm
In zwei Fragmenten endet es wie im Machsor Vitry, im
italienischen und romanischen Ritus mit ptptrsi nnott>3 U^'PUni
1»ip **tjjib, in zwei anderen folgt dahinter '3m« 'w "|3 inotf'i
"|0tr wie in der Formel des ital. Ritus für Freitag Abend
in alter Zeit3).
l) So auch im Siddur Saadjas.
8) Vgl. Bondi, Der Siddur des Saadja, S. 34.
s) Vgl. b-r\v z. St.
Die Namen der Frankfurter Jaden bis znm Jahre 1400.
Von I. Kracauer.
(Schluß.)
Dyne (Frauenname) lmal, 1399 Ger.
Elias, Elion, Elys
Elieser 1241
Elkin, aus Elkanah (lmal) 1333 Ger.
Ester (in der Schweiz Hester, Hestre)1)
Gerian, Jüdin 1348 Ger., wohl verschrieben für Meriam,
UVIirjam, in der Schweiz Merya2), s. unten
Gerson 1241, Girson, Kirsain, Kirsan, Kirson, Kirszan, auch
Kirsing 1384 Ger.
Halaphta 1241
Halde, für Hulda? Oder deutschen Ursprungs?
Hanna, Koseform dafür Hannel, Henlin, Henchin; auch Ennel
kommt vor.
Hassede lmal, 1389 Rech., mit Chassid zusammenhängend?
Hebe für Eva
Hebel, Hebil für Abel
Hesgel für Hesekiel 1375 Ger.
Hiskia 1241
Isaac, Isac, Ysaac, Ysak
I(Y)saechir 1375 Bürgerb.
Ismahel
Israhel, Israel, Izrael
Jakob, Koseform dafür ist Jeckelin, 1347 Ger.
!) Steinberg, S. 6.
*) a a. O S 5.
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400. 601
Jeckil, 1345 Ger., in der Schweiz Jecki, Jeckli1)
Jechiel 1241
Jekutiei 1241
Jahel, Joel, Joe 1341 Ger., vielleicht hängt Joliep*) damit
zusammen, wobei der zweite Teil deutsch wäre. 1377
Ger.
Johanan 1339 Ger.
Jochebed 1241
Jonaut = Jonas 1341 Ger.
Joseb, Josib, Josep, Josip, Joseph, Jusip
Joselin
Juda 1241
Katz, zusammengezogen aus den Anfangsbuchstaben von
Konen Zedek, lmal, 1382 Ger.
Koppelin, Koppelman, der erste Bestandteil Diminutiv von
Jakob (s. Salfeld S. 4013)
Lasar, Lazan, Lazar, Lazarus
Lewe, Leve, Levi, Lewin. Auch die weibliche Form Lewa
findet sich 1342 Ger., dagegen kommt der Name Levi
in den Frankfurter Urkunden bis zum Jahre 1400 nur
zweimal vor.
Lebechin, Koseform von Leve, 1398 Ger.
Lyste lmal 1371 Ger., aus Elisabeth entstanden? oder ab-
gekürzt aus Liebsta (and)?4)
Meier, Meyer, Meiger, 1241
Mergan, Mergard (1400 Rech.) Meria, Merian, Meriana,
Merion = Miriam
Michahel, Michael, Michel
Mordache Mordechan, Mordechey, Morrechey, Morcheie.
x) Steinberg, S. 6.
*) An das französ. jolie ist wohl nicht zu denken.
3) Ein Kobelinus ist 1289 magister universitatis judeorum
Herbipolensium, s. Breßlau, Hebräische Bibliographie 1869, S. 54—57
(Namen der Juden im Mittelalter).
*) S. Salfeld, S. 402, der Förstemann I, S. 850 zitiert.
602 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Morel lmal, 1341 Ger., Abkürzung für Samuel1)
Mese, Moesse, Moise, Moiste, Moyse, Moysse, Moisze,
Moische, Morse, Morsed, Morsel, Morset, Morsit, Morsze,
Mose, Moses, Moyse, Murset, Müsse
Moseman, Museman, auch Maseman
Namchir 1241
Nasser lmal, 1399, wohl aus Manasse
Natan 1241
Nehemia 1241
Pasze, Passener aus Bathseba
Pinesz, Pinnies, Pynnes = Pinchas
Pure (Frauenname) 1376 Rech. Diminutiv von Zippora.
Rahel 1241, Rechelin, Rechlin Koseformen, in der Schweiz
Rechel2)
Rebecka, Ribecka 1241
Rebelin, ,
Ribbelin, _, . , ... .„.
„ , ,. ' , ,. _ , ,. < zu Rebecka gehörend3)
Rübe n, Rüb n, Rufe in l
Ryvelin
Rehabja 1241
Ryle 1341 Ger., zu Rachel gehörig?
Robin = Rüben, in der Schweiz Ruffen4)
Salman, Saleman, Salmon (s. übrigens oben)
Samson 1333 Bürgerb., Simson 1241
Samoval, Samuel, Sannel, Sanuwel
Sanwal, Sanwel
Sara, Koseform ist Serechin 1399 Ger., in der Schweiz
Serli6)
Saulin, Sauwel, Sauwelin (Koseform), Sawel
Schebe (männlich) lmal, 1373 Ger., vergl. Bath-Scheba
') Salfeld, S. 406 unter Mulin.
2) Steinberg, S. 4.
») Salfeld, S. 411.
*) Steinberg, S. 9.
5) Steinberg, S. 6
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400. 6(3
Seckelin 2mal, 1342 und 1392, (Urk. und Ger.) Koseform
zu Isak
Salmolin, Selmolin, Semelin, Semmelin, Semolin, Simelin,
Symelin, Simmel, Simmelin, Symeler, alle zu Salomo
oder auch Simeon gehörend
Semon, Simeon, Simon, Symman (1370 Ger.)
Slomo, Sloman, Sluman = Salomo
Smarge = Schemarja, lmal 1371 Ger., in der Schweiz
Smario1)
Smohel, Smoel, Smoe = Samuel
Suse abgekürzt aus Susanna, 1241
Thirzah 1241
Thomas lmal, 1340 Ger.
Uri 1241
Zerujah 1241
Zippur = Zippora lmal, 1241 Ger.
Zorline, Zornline, Czorlin, Zurlin, Zerlin, Kosename von Sara.
Wir haben außerdem noch eine Anzahl Eigennamen,
deren Herkunft zweifelhaft ist. Da die hebräischen Laute
dem Schreiber der Gerichts- und Rechenbücher zu fremd
waren, konnte er keine Vorstellung damit verbinden und
schrieb die Namen ganz entstellt auf, so daß es oft schwer
hält, die richtigen Namen herauszufinden. Derartige Namen
sind :
Beda
Gemelin, verschrieben für Semelin? (Er findet sich auch
bei Steinberg)
Grasch, auch Crasch, 1380 Ger., Beiname
Haipart, Palpart, bisweilen auch Halpbart 1335 Ger., Beiname
Heisis 1347 Ger. (Heiso 1349 Ger.)
Huditz 1343 Ger. (Mit Jehuda zusammenhängend?)
») Steinberg, S. 7.
604 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Kadernetz, Beiname bis 1349
Ketchin 1400 Ger.
Kosser 1361 Ger., vielleicht nao, Beiname von Ascher, vgl.
jiiöwi 'D fol. 10 a, 46 b.
Loupach 1348 Ger.
Phiser 1388 Ger. (iryafc?)
Pletsch 1391 Ger., Beiname
Riebenzen 1391 Ger. )
Ribitz Bedeb. ) W- «n ****» im ™°rn 'D 101 b-
Smalgan == Smarjeh?
In unserem urkundlichen Material werden bis zum
Jahre 1400 ungefähr 940 Juden, beziehungsweise Jüdinnen
mit etwas über 2501) verschiedenen Namen aufgeführt8).
J) Selbstverständlich sind diese wie die folgenden Zahlenangaben
nur annähernd richtig. Die Beschaffenheit des urkundlichen Materials
schließt eine absolut zuverlässige Zählung von vornherein aus. Wir
können nicht wissen, ob Falk (1335— 1348 Qer.) ohne weiteren Zusatz
identisch ist mit Falk von Münzenberg (1343 Ger.), oder Fide (1348 Ger.)
mit Fide, Senderlins Sohn (in Urkunden 1343 und 1344 erwähnt). Wie
verhalten sich beide zu Fide von Austburg (1342—1349 Ger.)? Oder
ist Gelechin, filia Masemanni (1344 Ger.) identisch mit Gelechin oder
mit Gela Mynnemans snurche (1344 Ger.)? Ist Sara, die kleine under-
kaufer, identisch mitSara,Tochter Fifelins? (Beide finden sich 1342 Ger.).
Eine weitere Frage ist: Sollen die Diminutiv- und Koseformen als
besondere Namen gerechnet werden? (Also Ensgen, Ensechin, Enselin
oder Gnde, Gudla oder Ele, Elechin). Ich habe dies in der Regel nicht
getan. Trotzdem habe ich eine Namensstatistik versucht, da ich glaubte,
daß sie manchem nicht unwillkommen sei.
*) Kriegk, Frankfurter Bürgerzwiste und Zustände im Mittelalter,
S. 519, Anm. 239, schreibt: »Es dürfte seinen Nutzen haben, einmal
in betreff einer mittelalterlichen Stadt alle in ihren Urkunden vor-
kommenden jüdischen Namenzusammenzustellen. »Er versucht dies auch
auf S. 54S— 553. Leider ist seine Arbeit nicht brauchbar. Er hat dazu
nicht die Gerichtsbücher benutzt, daher fehlen sehr viele Namen, er
zählt nur etwa die Hälfte der von mir gebrachten Namen auf (etwa
116), er kennt nur 4 Abraham, ich 29; nur 4 Anselm, ich 9 usw
Sodann sind viele Namen bei ihm falsch angeführt, zum Teil bis zur
Unkenntlichkeit verstümmelt, so Byf für Vifs, Fyselman von Chrin für
Die Nansen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400. 605
Von diesen Namen sind etwa:
126 deutscher Herkunft
21 lateinisch-romanischer »
7 griechischer »
84 hebräischer »
15 zweifelhafter »
"253"
Demnach sind etwa die Hälfte der Namen von 1241 — 1400
deutscher und etwas mehr als ein Drittel hebräischer Her-
kunft. Ganz anders gestaltet sich das Verhältnis, wenn wir
nur die 91 Namen der im Jahre 1241 Erschlagenen auf ihre
Herkunft untersuchen. Unter diesen sind:
35 Namen (von 61 Personen) hebräisch
11 » (von 23 Personen) deutsch, darunter 8 Frauen-
namen
3 » (von 5 Personen) lateinisch
1 » (von 2 Personen) griechisch.
Je später wir ins Mittelalter eintreten, um so mehr
nehmen die deutschen Eigennamen zu.
Wir bemerken noch, daß eine Reihe von Namen in
Frankfurt Juden und Christen gemeinsam sind. Dabei ist
aber zu beachten, daß diese Namen nicht immer auf den-
selben Ursprung zurückgehen (s. die Namen Kaiman, Sal-
man, Seckelin). Solche sind:
Adelheid, Alheid
Bele
Ber
Berthold
Beszelin1)
Fyvelman von Jerusalem, Heyger von Wesel für Meyer von Wesel,
Finelin für Fiuelin, Wynelin für Vyuelin, Naseman für Maseman,
Numeman für Minneman, Pilman von Amort für Lipman von Er-
wiler usw.
•) S. Förstemann, Altdeutsches Namensbuch, S. 253—254.
606 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Bischof
Bone, Frauenname bei Juden, so ist Bone die Frau des
Seligman; ebenso bei Christen, Bone ist die snurche
Contzens zur Wiesen.
Burlin, bei Juden Frauenname, Buerlin ist die Frau Damars
(1346), bei Christen Männername; Burlin snider (Ge-
richtsbuch 1339)
Eberlin
Eichhorn
Fifelman, in der Regel Jude, aber auch Hartmud Fifelman
Christ1)
Frumelin, Christ2)
Frummler, Jude 1384 Ger.
Gadeliep
Goldine, auch in christlichen Kreisen gebräuchlich (Salfeld,
S. 395)
Gudele, auch bei Christen Frauenname
Gumprecht (Gumpert), in der Regel bei Juden, doch ver-
einzelt auch bei Christen, so Gumprecht deschenmechen
(Taschenmacher)3), Gumprecht von Carbin4). Ein Gum-
precht ist am Ende unseres Zeitraumes Stadtbote5)
Heilman, bei Christen und Juden in Frankfurt gleich beliebt
Henkin christl., doch auch Henkin, gener Salikeid, also jüd.6;
Hennelin, Jüdin
Hennechin, Christin7)
Jakob, Jekel
Jutte
*) Förstemann, S. 747.
■) Oerichtsb. XXVI, 11.
3) a. a. O. fol. 57.
<) Ger. XXIII, 8.
B) a. a. O. 19.
6) a. a. O. XXXVII, 79.
') Oer. IV, 146.
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400. 607
Kaiman, auch bei Christen, so Diplo Kaiman1), Ulin Kai-
man2) etc.
Kruse3)
Lewe. Claus Lewe ist Christ4)
Lewin. Luza Lewin ist Christin5)
Liebertrud. Der Name erscheint bei Juden in Frankfurt nicht
vor 1382, in Würzburg dagegen 12896), in Nürnberg
13497). Bei Christen Heintze Lieberdrut8) usw.
Liepman, auch bei Christen, so Liepman ysenmenger (Eisen-
händler)9)
Menchin auch bei Christen, so Contze Menchin10)
Mennelin
Michel
Minneman (Mynman), erscheint als Name bei Juden nur
bis 1349, von da ab nur bei Christen, so Hans Minne-
man11); Rulman, frater Mynemans. In den Gerichts-
büchern erscheint in der zweiten Hälfte des XIV. Jahr-
hunderts öfters die Minnemenen, sie ist Christin.
Mose auch bei Christen, so Contze Mose1*)
i) Gerichtsb. V, 19 vom Jahre 1350.
*) a. a. O. X, 33 vom Jahre 1369.
8) Findet sich in den Qerichtsbüchern in den Jahren 1334—1346
auch bei Juden.
*) Gerichtsb. IV, 49
s) a. a. O. VIII, 6 vom Jahre 1360.
6) Lyebertruet, s . Namen der Juden im Mittelalter von H.
Breßlau, in der Hebräischen Bibliographie 1869, S. 56.
?j S. Salfeld, Das Martyrologium des Nürnberger Memorbuches,
S. 224. Am Rhein scheint der Name bis 1273 nicht vorzukommen,
wenigstens findet er sich nicht bei Aronius, Regesten zur Geschichte
der Juden usw.
8) Gerichtsbuch XX, 8.
») a. a. O. XIX, 27 vom Jahre 1379.
10) a. a. O. XXIX, 11.
n) a. a. O. VIII, 51.
12) Gerichtsb. X, 33
608 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jabre 1400
Ocka1)
Oswald (1348 in dem Gerichtsbuch dieses Jahres)
Peter, Jude von Mainz (1341— 1344)2)
Salman, auch bei Christen in Frankfurt sehr häufig; ein
Salman ist 1317 Fährmann (Böhmer-Lau II, S. 69 Sal-
man vector), ein anderer Richter zu Mainz; so hieß auch
ein Haus zum Salman8) und ein Gäßchen in der Schnur-
gasse Salmansgäßchen. Salman ist bei Christen auch
als Vorname beliebt, so Salman Clobelauch
Selkeid, bei Juden auch als Frauennarne, bei Christen da-
gegen als Mannesname, so Henne Selekeid, Henkin,
gener Selekeid4)
Seckelin, in Frankfurt vereinzelt bei Juden, so Seckelin de
Dypburg, Ger. 1392, sonst bei Christen. Der jüdische
Name stammt von Isaac, der christliche von sack
Seligman, sehr häufig bei Juden, doch vereinzelt auch bei
Christen, so Johan Seligman de Sigen
Suzman, bei Christen als Vorname, so Suzeman Humpelo
Wolff
Wolffelin, Wolffechin.
Die einzelnen Namen erfreuten sich naturgemäß ver-
schiedener Beliebtheit. So sind vertreten:
Samuel mit seinen zahlreichen Namensabwandlungen an-
nähernd 46 mal; ihm nächst kommt Mose 45 mal (sein
Bruder Aaron dagegen nur 2mal>, Jakob 37, lsaak 37,
Abraham 32, Joseph 32, Salman 32, Gumprecht 20,
*) Förstemann, S. 1174.
2) In den Oerichtsbüchern dieser Jahre. Über das Vorkommen
dieses Namens bei den Judtn, s. Zunz a. a. O. S. 34.
•) Später verstümmelt zum Salmen, s. Battonn III, 6. So ist auch
der im Rechenbuch 1377, fol. 67 b erwähnte Salman Christ. Kriegk
hält ihn mit Unrecht für einen Juden und damit wird auch seine
Auslegung des Wortes »selig« (Frankf. Bürgerzw. S. 452) hinfällig.
*) Qerichtsb. XX, 30 und IV, 146.
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400. 609
David 19, Meier 18, Jutta 15, Sara 15, Lewe 14, Ber 13,
Fifelin 13, Anselm 12, Kaiman 12, Gude 11, Joselin U,
Liebman 11, Menchin 11, Bela 10, Simon 9, Man 8, Michael 8,
Natan 8, Seligman 8, Süßkind 8, Beßla usw. 7, Brunn 7,
Fifis 7, Gotschalk 7, Rechelin 7, Gerson (Kirson) 6, Johel 6,
Saul 6, Selmelin 6, Golda 5, Hanna 5, Henlin 5, Lieber-
man 5, Ritze 5, Alheid 4, Bone 4, Burlin 4, Heilman 4,
Hitzla 4, Israhel 4, Kele (Gele) 4, Minna 4, Suze 4
Wolff 4, Ailke 3, Baruch 3, Frumot 3, Juda 3, Lasar 3
Megitin (Meitin) 3, Meriam 3, Minneman 3, Rahel 3,
Rebecka 3, Rebelin 3, Rufelin 3, Senderlin 3, Smohe 3,
Zippora 3 mal usw. usw.
Sprachlich es :
Zahlreich sind die Koseformen auf el, lin und chin:
die auf lin scheinen zu überwiegen1).
Wir haben auf lin: Beszelin, Ennel, Enselin, Fischelin,
Heldelin, Henlin, Jecklin, Mennlin, Rebelin, Rißlin, Rubelin,
Ruffelin, Schonlin, Senderlin, Sentelin, Regelin, Wolffelin,
Zerlin, Zorlin, Zurlin.
Auf chin: Ellechin, Fantechin, Fraudechin, Gelechin,
Gänschen, Henchin, Ketchin, Lemchin, Menchin, Minnechin,
Särchin, Wollfechin.
Bei einem und demselben Worte finden wir sowohl
die Endung chen als auch len, so bei Lemchin, Lemmelin,
Menchin, Menlin, Wolffechin, Wolffelin.
Nicht selten sind die Bildungen auf man: Fifelman,
Haseman, Judeman, Kaiman, Kauffman, Koppelman, Koster-
man, Lieberman, Liebman, Maseman, Minneman, Mosman,
Rußerman, (Salman?), Schoeneman, Seligman.
*) Dietz, Stammbuch der Frankfurter Juden, irrt darnach, wenn
er meint : daß die Formen mit chen, gen in dieser Zeit nur äußerst
selten . . . vorgekommen seien. Er kennt nur ein einziges Beispiel
dafür: Mennichen (1364).
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 3"
610 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Niederdeutsche Form hat nur Voß, der Sohn der Zer-
line und etwa Dyfil (Teufel).
Als imperativische Form, die ja in den Gerichtsbüchern
des XIV. Jahrhunderts und auch sonst zahlreich vertreten
ist, habe ich nur Lebelang ansehen können (Gerichtsbuch
1374)1).
Auf folgende sprachliche Eigentümlichkeit sei noch
hingewiesen: Ist »Jude« Eigenname — Familienname bei
Christen — so wird der Artikel weggelassen, also Heilman
Jude, Hans Jude usw., doch findet er sich auch vereinzelt
wie Clawes Grebener (Grabenmacher) der Jude, Heilman
der Jude, kursener und doch sind beide, wie aus den Ge-
richtsbüchern hervorgeht, Christen. Andrerseits fehlt aus-
nahmsweise bei Juden der Artikel, so Lieber man Jude.
Wir haben oben gesehen, daß die Mehrzahl der Juden
nur Vornamen, keine Familiennamen führten. Da nun
manche Vornamen außerordentlich häufig vorkamen —
ich erinnere nur an Mose, Jakob, Abraham, Samuel usw.
— so mußte man sich verschiedener Auskunftsmittel be-
dienen, um eine Verwechslung zu vermeiden. Der Vorname
mußte demnach noch einen Zusatz erhalten. Dieser konnte
verschiedener Art sein.
1. Er konnte sich auf eine künstlerische Fertigkeit oder
auf besondere geistige Veranlagung des Betreffenden be-
ziehen. So erhalten Lazar und Salman den Zusatz Senger,
Gela den Zusatz Hirn. Dieser Zusatz kann schließlich den
eigentlichen Namen verdrängen, so daß wir für Salman in
den Gerichtsbüchern später nur Senger finden;
2. oder auf körperlicher Beschaffenheit: So heißt Salman
der Lange2), Isaak der Große; ein anderer Salman heißt
>) 1398 finden wir im Rechenbuch einen anderen Lebelang als
Sohn des Süßkind.
2) Salman longus im Qerichtsb. 1377.
Die Namen der Frankfurter Jaden bis zum Jahre 1400. 611
der Rote1), Gumpert weißhäuptig*); Abraham führt den
Beinamen Bart, wahrscheinlich von seinem langen Barte8),
ein anderer heißt bloß Nasin; auch hier ist der eigentliche
Name verdrängt worden. Jacob Halpbart, Haipart, hat wohl
den Beinamen ebenfalls seines Bartes wegen erhalten4).
3. Der Zusatz ist ein Spitz- oder Spottname, so Gold-
knopf (auch bei Christen um diese Zeit) wie Heilmann
Goldknopf5) (Gerichtsb. 1343), Raubir, Reibir, wie Abraham
Raubir (Gerichtsb. 1344), Tufel, wie Jakob Tufel (Gerichtsb.
1393), Abraham Dyfil (Gerichtsb. 1367), Lebekuchin, wie
Natan, filius Lebekuchin (Gerichtsb. 1344 und 1380). Hier
hat ebenfalls der Beiname den eigentlichen ersetzt. Es findet
sich auch der Beiname Hedorn, dessen Bedeutung nicht
klar ist6); ebeosowenig wie die von Pletsch bei Salman
Pletsch und die von Crasch, Craschin, bei Joseph Craschin.
4. Auch Beinamen, von Tieren genommen, finden sich hin
und wieder, so Fischelin,wie Salman Fischelin,Gans,Gänschen,
Geißchen, wie Seligman Gans (Gerichtsb. 1391), später tritt da-
für nur Gans auf; ferner J(y)sfugel, so Ansei Ysfugil (Gerichtsb.
1389) oder Jsfugel, der Diener Senderlins (Gerichtsb. 1346)
oder bloß Isfugel (Gerichtsb. 1395 und 1400) in gleicher
Weise Eichhorn und Voss. Beide sind Söhne der Zorline
(Gerichtsb. 1394 — 1396), der erste Name bezieht sich wohl
auf dessen körperliche Beweglichkeit, der zweite auf seine
chlauheit7).
5. Die Beinamen beziehen sich auf den Beruf und das
») Gerichtsb. 1375.
*) Wizhoubit a. a. O. 1348.
8) Abraham dictus Bart a. a. O. um 1330.
*) Gerichtsb. 1346.
6) S. Salfeld, S. 395.
6) Auch die Form Heydom, vielleicht aus Hagedorn.
7) Vielleicht gehören hierher die Frauennamen merlin und Sprinz.
Güdemann führt jenen, wie bereits erwähnt, auf mhd. merlin Amsel
zurück, Zunz (s. Salfeld, S. 415) und Berliner auf Sprinze Sperber.
39*
612 Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Gewerbe der Betreffenden, so Abraham kistener (Gerichtsb.
1343), Abraham Judenwirt (Gerichtsb. 1389), Abram knecht
(Gerichtsb. 1382), Gumprecht der Lehrmeister (Gerichtsb.
1343), Baroch Vorsänger (Gerichtsb. 1397) usw. Der Berufs-
name steht für den Eigennamen bei »die Kesemechern«
(1394 Rechenb.)
6. Oder es wird der Geburtsort des Juden hinzu-
gefügt. Entweder wird der Ortsname durch die Präposition
von (lateinisch de) mit dem Namen verbunden, so Bela
de Dypurg, Fifelin von Gießen, oder die Präposition fällt
weg, wie Gumpert Zurch = Gumpert aus Zürich. Der
Ortsname erhält auch die Endung er, wie Lewe Berner =
Lewe aus Bern, Joseph Gülcher = Joseph aus Jülich.
Schließlich kann der so veränderte Ortsname überhaupt
den Eigennamen vertreten, wie Oppenheimer (Gerichtsb.
1392), Nassawer (Gerichtsb. 1396). Damit vergl. Isaechir,
gen. Spire1).
Bekanntlich sind in späterer Zeit sehr viele jüdische
Eigennamen auf diese Weise entstanden, für unsere Zeit
konnte ich in Frankfurt nur diese beiden nachweisen.
7. Ebenso dienen Stadtteile oder Häuser zur Namens-
bezeichnung, so Gumpert an der Brücken, Müsse an der
Brücken, oder David an dem Moyne; ferner Gumprecht
zum Storch oder zum Swerte usw. Auch hier kann die
Präposition wegfallen, wie Gumpert Stork, Seligman in der
Nuwen stad. Die beliebteste, weil natürlichste Unterschei-
dungsart, deren sich auch die damaligen Christen bedienten,
war die Hinzufügung des Namens der nächsten Verwandten,
des Vaters, der Mutter, des Bruders, der Schwester oder
des Schwiegervaters, des Schwagers und der Schwägerin,
besonders bei solchen Juden, die nach Frankfurt geheiratet
hatten. Bei Frauen wird der Name des Ehegatten hinzu-
gefügt, wie Henlin, Wolffechins Frau, nur vereinzelt heißt
es die Iseckin, d. h. Frau des lsak. Nicht selten werden
!) Bürgerb. 1375.
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400. 613
beide Eigennamen mit Weglassung der Apposition Frau
neben einander gestellt, wie Merion Fiden, d. h. Merion,
die Frau des Fide; so heißt es auch einmal Salman Meyer,
d. h. Salman, Sohn des Meyer1).
Wie also die Träger eines häufig vorkommenden Na-
mens von einander unterschieden wurden, dafür diene fol-
gendes Beispiel:
Salman kistener (Schreiner)
» underkeufir
» longus (der Lange)
» Pletsch
» von Mainz
» Senger
> gener Fiden
» an der Bruckin
» Stork.
Bei einer Anzahl von Namen ist der erste Bestandteil
hebräisch, der zweite deutsch, so bei Dabe (Tobe) leben,
Judeman, Koppelman, Maseman, vielleicht auch bei Joliep.
*
Herr Dr. Grunwald aus Wien bittet mich, zu meiner Bemerkung
über Fivelman, S. 461, Anm. 3, nachzutragen, *daß die dort angeführte
Erklärung Prof. Heiligs . . . vom Herausgeber (Dr. Grunwald) zu-
rückgewiesen wird, und daß Dr. Grunwald im Juliheft der »Mittei-
lungen« bereits eine Deutung gegeben hat, die der meinen im letzten
Heft entspricht.«
») Gerichtsbücher 1393 und 1394.
*
Beiträge znr Geschichte und Literatur im gaonäischen
Zeitalter.
Neue Folge.
Von Simon Eppenstein.
V. Die Erzählung von den vier gefangenen Talmndisten.
(Fortsetzung.)
In diesem Zusammenhang sei auch noch einiges über
Schemarja's einzigen, bereits erwähnten Sohn Elchanan
mitgeteilt. Wir begegnen ihm als häufigen Korrespondenten
von Scherira und Hai1). Wir wissen ferner von ihm, daß
er ausgedehnte Reisen unternommen hat, wobei er in
Aleppo, Damaskus und Palaestina weilte, wie auch, daß er
nachher in Kairuän sich aufgehalten hat8). Späterhin den
Rang eines "non trxi bekleidend, «aßte er sich jedenfalls
eine Art Oberhoheit gegenüber der babylonischen Hoch-
schule, wahrscheinlich der suranischen, an, worüber der
Gaon, also wohl Samuel ben Chofni, in einem kürzlich ver-
öffentlichten Genisa-Fragment3) seiner Verwunderung Aus-
druck giebt, zumal er noch nicht einmal die Würde eines
!) Vgl. auch Harkavy a. a. O., S. 342.
*) Vgl. hierüber Poznariski in ZHB. X, S. 144 und in Harkavy-
Festschrift Nr. 11, S. 187—188.
a) Vgl. das von Kamenetzki in REJ. LV, S. 49—50 veröffent-
lichte Genisafragment und dazu Poznanski a. a. O., S. 244—48. Dessen
Annahme, daß das Datum 1322 = 1020 zum zweiten Brief gehört,
ist dadurch zu stützen, daß auch das folgende m D"6tP sichtlich zu
diesem zu beziehen ist. Ob wir aber doch ohne weiteres Samuel b.
Chofni als Verfasser des Protestes gegen Elchanan annehmen können,
erscheint mir deswegen zweifelhaft, weil wir von diesem auch Anfra-
gen an den genannten Gaon haben, wie aus Ginzberg, Geonica II,
S. 59 (=• JQR. XVIII, S. 430) hervorgeht. Vgl. jetzt auch D. KahaH in
Hakedem III, 1—6.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischtn Zeitalter. 615
p jva 2K bekleidet1). Deswegen dürfe er sich auch nicht
in wichtige Angelegenheiten, wie Neumonds- und Schalt-
jahrsbestimmungen, mischen8). Weiterhin bemerkt der
Schreiber, Elchanan erstrebe die Herrschaft, die ihm aber
nicht zu teil werde3). Er behaupte zwar, daß er den
»Perek« vorgetragen habe, aber weder hiervon noch von
dem Brauch der Jeschiboth überhaupt, wisse man etwas
in den von ihm berührten Städten Aleppo, Damaskus, in
Egypten und Palaestina. Es werde von Mitgliedern der
Jeschiba berichtet, Elchanan habe sich bei einem Besuch,
den ihm in Bagdad der TWI BWi Asaf gemacht, dessen
gerühmt, daß er in sehr kurzer Zeit den Talmud durch-
genommen habe, wenn auch mit manchen Weglassungen*).
*
Indem wir nun wieder auf Schemarja zurückkommen,
finden wir, daß er sich auch in Kairuän und auch in weiter
Ferne eines großen Rufes erfreute. Von ganz besonderer
Bedeutung ist nun hierfür, wie für die Verhältnisse Sche-
*) Vgl. Kamenetzki a. a. O. S. 50, Z. 6—7.
') Ich halte Kamenetzki's Ergänzung a. a. O., Z. 8: IlS^a
IPITpal für wohl annehmbar, gegen Poznanski's Zweifel, a. a. O.,
S. 246. Denn, wenn es sich auch seit Ben Meir nicht mehr um
Änderungen in der Festsetzung von kalendarischen Bestimmungen
handelte, so haben doch die Ansprüche Palästina's inbezug auf die
Prärogative der Bestimmung des Neumondes nicht aufgehört, wie
sie ja auch später, in der Mitte des 11. Jahrhuuderts, sich geltend
machten, was wir auch aus der Ebjathar-Megilla ersehen; vgl. hier-
über Bornstein in der Sokolow-Festschrift, S. 48—49. Wie aber be-
reits oben bemerkt, stand schon Elchanan's Vater, Schemarja, mit der
palästinensischen Akademie in Verbindung. Aus diesem Grunde liegt
es auch näher, den Schauplatz von Elchanan's Ambitionen nach dem
mit Egypten in räumlicher und idealer Beziehung näher verbundenen
Palästina zu verlegen, — man beachte auch die mehr verächtliche
Bezeichnung fj?JD für letzteres, a. a. O., Z. 11 — als nach Kairuan,
mit Poznanski, a. a. O., S. 247, das sich doch Babylonien fast unbe-
dingt unterordnete.
») Vgl. a. a. O., S. 50, Z. 12—13.
4) Vgl. ebend. Z. 20-26 u. Poznanski a. a. O., S. 247.
616 Beiträge zur Oeschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
marja's und Chuschiel's der von Schechter im Jahre 1899
in JQR. XI, S. 643—650 veröffentlichte Brief, den Chuschiel
in Gemeinschaft mit seinem älteren Sohn Elchanan an
Schemarja und seinen Sohn Elchanan gerichtet hat. Der-
selbe ist in einem dem Pijjut durchaus verwandten Stil
geschrieben. In überschwänglicher Sprache wird hier
Schemarja als Gesetzeslehrer1), wie als gewandter Sti-
list2), ferner als allzeit mit Rat und Tat hilfsbereiter
Gönner geschildert3). Wir lernen ihn aber auch als an-
gesehenen und begüterten Mann kennen, »den Gott aus
Liebe zum Überrest seines Volkes zum Führer erhoben«*).
Der Schreiber scheut sich fast, von der Größe des Meisters zu
sprechen, da ein Rühmen desselben beinahe einer Verdun-
kelung seiner Bedeutung gleichkäme6). Auch seines Sohnes
Elchanan wird in den ehrenvollsten Ausdrücken gedacht6)
und die ganze Familie besonders gerühmt, so daß R'Sche-
marja eigentlich »in der Thora als der Väter Erbteil fest
wurzelt und mit ihrer Krone sich schmückt7) und die
Würde, die er bekleidet, schon als fester Besitz für ihn
gilt«8). Nach einer herzlichen Grußformel in seinem und
») Vgl. Schechter a. a. O., S. 647, Z. 9-12. Zu beachten sind
hier besonders die Worte, Z. 11: tPIIB ty J>Bj3 1D3,JP\ wobei wir
lebhaft an die oben erwähnte Bezeichnung in Scherira's Sendschreiben,
Saadyana S. 120, Z. 8 v. unt. und S. 124, Z. 84 für die dortige Hoch-
schule erinnert werden.
8) Vgl. a. a. O., Z. 13, wo das erste Wort wohl sicher THD
gewesen sein wird, und ferner S. 649, Z. 46 fgg.: ruW? nstnit"'! . . .
b^idb i^ai "O incsn jjibp a^n l^m . . .
8) Vgl. S. 647, Z. 15: BBltPD pB 1*113 nWtt f*JW a»iM nw
*) Vgl. a. a. o., s. 648, z. 21: i^an tpjna lay ikp n^ara w
Ibis '»tb •» -pnanS lom pypu
«) Vgl. S. 648, Z. 25 fgg.
«) Vgl. S. 649, Z. 43—44.
7) Vgl. a. a. O., Z. 45: na ibkjpi itubk n'jnJB piruwi,
«) Vgl. s. 648, z. 22: m»3 vty mwan miyn. Die Worte npm
KICKS flVrya "6 sind nicht recht verständlich. Schechters Erklärungs-
versuch nach Baba Bathra 29 b ist nicht ganz einleuchtend.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 617
seines Sohnes Namen1) bezieht sich auf Chuschiel die wieder-
holt gemachte Mitteilung, daß sein Verlassen der Heimat, um
in einem arabisch-islamitischen Lande sich aufzuhalten,
lediglich zu dem Zweck erfolgt sei, um den Meister zu
sehen2). Aber die jahrelange Sehnsucht konnte bis jetzt
noch nicht gestillt werden, da Chuschiel in Kairuän auf-
gehalten sei8). Außerdem wollte er das Eintreffen seines
Sohnes Elchanan abwarten, das im Vorjahre erfolgt sei.
Aber auch jetzt sei die schon fest beschlossene Abreise
durch die dringenden Vorstellungen der Kairuäner ver-
hindert worden, die ihn mit Beweisen innigster Zuneigung
und Verehrung überhäuft haben, so daß er nur dem Höch-
sten danken könne für die Gunst, die er bei ihnen, wie
auch bei der Regierung, gefunden habe. Alle Versuche der
Kairuäner konnten jedoch ihn und seinen Sohn nicht von
dem Antritt der Reise zurückhalten4). Während nun noch
die Verhandlungen gepflogen wurden6), ereignete es sich
plötzlich, daß der Resch-Kalla R'Jehuda (ben Joseph) und
R'Joseph ben Berechja6) nach Mehadia7) reisen mußten.
Aus dem weiteren, leider vielfach lückenhaften Inhalt des
Briefes ist wohl zu ersehen, daß Vater und Sohn sich
auch bereits dorthin begeben hatten8), daß der von dort
stammende R'Abraham ben Nathan ihn nun flehentlich be-
schworen, nicht nach so kurzer Zeit ihn zu verlassen9)
und, daß diesem sich die Söhne des R'Joseph und auch
») Vgl. S. 649, Z. 21—22.
*) A. a. O., Z. 58—60.
») A. a. O., S. 649, Z. 60. — S. 650, Z. 1.
<) A. a. O., S. 650, Z. 61-68.
») A. a. O., Z. 69—70.
«) Vgl. über diese Poznanski in der Harkavy-Festschrift, S.
202—204.
t) Vgl. Schechter a. a. O., S. 650, Z. 70. So ist wohl sicher
statt mc-Hö zu lesen.
8) Vgl. Schechter a. a. O., Z. 71 u. 75.
») A. a. O., Z. 71—72.
618 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
R'Nissim1) angeschlossen haben. Infolge dessen, haben sie
sich dem Willen der Kairuäner doch schließlich gefügt8).
Das Ausbleiben der sonst von Schemarja empfangenen
Freundschaftsbriefe betrübe ihn sehr; er hoffe jedoch, daß
solche ihm wieder zuteil würden8). Am Rande dieses
Briefes findet sich ein den Namen ^K'tnn '3*13 ergebendes
Akrostichon, dessen Verse immer mit .T enden, und worin
dieser als grundlegender Gesetzeslehrer gerühmt wird; zum
Schluß wird er als pm« 131 pma« T3 bezeichnet4).
Dieser Brief bildet ein außerordentlich wichtiges Do-
kument für die Widerlegung der bisher über das ganze
von uns behandelte Problem verbreiteten Ansichten, wie
auch zur Festellung der persönlichen Verhältnisse von
Schemarja, seinem Sohne Elchanan und auch von Chuschiel.
Wir ersehen auch aus ihm zunächst, daß Schemarja sicher
einer seit einiger Zeit in Egypten ansässigen Familie an-
gehört. Demnach kann es sich bei ihm unmöglich um einen
durch die Mildtätigkeit der Glaubensgenossen losgekauften
Gefangenen handeln. Denn man kann es als gewichtiges
argumentum ex silentio annehmen, daß in einem
solchen Falle sicher Chuschiel auf die durch das Leid ge-
meinsamer Gefangenschaft noch inniger gestalteten Be-
ziehungen zwischen ihnen beiden hingewiesen hätte. Auch
die in dem Schreiben zum Ausdruck kommende große
Bedeutung Schemarja's als Gesetzeslehrer, entspricht ganz
dem ihm von den Geonim gespendeten Lob als solcher.
Nach der Schilderung Chuschiel's müssen wir uns die
Stellung Schemarja's in Kairo ungefähr als die eines Nagid
denken, und da liegt es vielleicht nicht fern, ihn mit dem
!) Dies ist wohl sicher kein anderer, als der nachmals so be-
rühmt gewordene R'Nißim b. Jakob und nicht, wie Schechter a. a. O.,
S. 642, meint, der gleichnamige Großvater.
») Vgl. a. a. O , Z. 73. Vor "OJtDn wird wohl i:"?©3 zu ergänzen
sein.
») Vgl. a. a. O., Z. 76 tgg.
«) Vgl. ebemdort S. 647—648.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter 619
ägyptischen Nagid zu identifizieren, von dem wir nach einer
Veröffentlichung Elkan Adler's1), einen Selbstbericht über
«eine Installierung und seine Wirksamkeit besitzen. Es
wird uns da in diesem von einem eine außerordentliche
Tätigkeit kfür das Torastudium entwickelnden Vorgänger
berichtet2), wie auch, daß ersterer seinen mit großem Beifall
aufgenommenen Lehrvorträgen die Ernennung zum Nagid
zu verdanken habe8). Ferner erfahren wir, daß er von
einem Exilarchen Chisdai oder Ibn Chisdai, der als iJ3»w
$>«")#> ba nvbi tPfcO K'twn 'KiDn bezeichnet wird, die Auto-
risation erhalten hat*) und daß, falls ihn nicht der Kalif
bestätigt hätte, ihm der Gaon der palästinensischen Aka-
demie zu seiner Würde verholfen hätte5). Ohne die mannich-
fachen Dunkelheiten dieses Berichtes, besonders betreffs der
Identifizierung des Exilarchen, zu verkennen, was auch bereits
Poznanski behandelt hat6), glaube ich. daß für einen Hin-
weis auf Schemarja Folgendes spicht: 1. Auch ihm wird,
wie bereits oben erwähnt, eine große Darstellungs- und
Rednergabe bei den Lehrvorträgen nachgerühmt7), 2. Be-
') Vgl. JQR. IX, S. 717 fgg. Vgl. hierzu besonders Poznanski
In REJ. XLVIII, S. 162—165.
*) Vgl. a. a. O., S. 718, Z. 11: l"H W bl T\b* 1T3 'fl fN! *3
n*MrÄi min b^inb "ijjö wbj nx -ptem.
s) Vgl. s. 717, z. l fgg: dv wi bv ti wih* *Tm wni
«mrai w»ö mim ibw no» 'ivu '•a ^kib^ ^a wen? npxai 'iai np
\wb ^b |xu an^x 'n sa iKi '3 "Jbo IXT1 niöjn cino njjm 'raa *m -\vt>
w p|jp fix my1? jijhS omaS*
4) Vgl. a. a. O., S. 717, Z. 10 u. Z. 14 fgg.
6) A. a. O., S. 718, Z. 16 fgg.
•) Vgl. REJ. a. a. O., S. 163—164. Trotz der zeitweiligen guten
Beziehungen zwischen Rabbaniten und Karäern läßt Sich doch kaum
mit Poznanski a. a. O. annehmen, daß der Exilarch ein Karäer ge-
wesen sein soll; einen solchen würde der Nagid doch keineswegs
mit bltlV^ *?a ptfbi BMP1 bezeichnet haben.
T) Vgl. die oben erwähnte Stelle aus dem Brief Chuschiel's
an Schemarja, JQR. XV, S. 649, Z. 46 fgg. mit dem Schluß: man >a
trxßnn dm wwSi d^bix tibijö o^ina.
620 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
treffs des so sehr gepriesenen Vorgängers könnte haupt-
sächlich Samuel ben Paltiel, der berühmte Sproß der Achi-
maazfamilie in Betracht kommen, der, wie wir aus der
Achimaazchronik wissen, sich als sehr opferfähig für die
Förderung des Gesetzesstudiums erwiesen hat1), was auch
sehr gut zur Zeit Schemarja's paßt, 3. Auch von Schemarja
wissen wir, daß er zur palästinensischen Akademie in
innigen Beziehungen stand2). Alle diese Momente lassen
uns die Annahme von der Identität dieses Nagid mit Sche-
marja als nicht ganz unwahrscheinlich ansehen.
3. R'C hu schiel. Die geistige Tätigkeit in Süd-
italien und in Kairuän*
Von großer Wichtigkeit ist das von Schechter ver-
öffentlichte Genisa-Dokument für uns aber auch betreffs des
zweiten angeblichen Gefangenen, R'C hu schiel. Es ergibt
sich zunächst aus ihm, daß dieser jedenfalls in innigen
Beziehungen zu R'Schemarja stand, die wohl wahrschein-
lich persönlicher Art gewesen sind, und, daß er sehr viel
Genaues über ihn wußte. Man wäre sogar versucht, aus
dem Umstände, daß beider Väter und Söhne den Namen
Elchanan führten, der einem bestimmten Lande besonders
eigentümlich ist, und den wir also auch als in einer und
derselben Familie üblichen betrachten müssen, auf eine,
wenn auch nicht nahe Verwandtschaft der beiden Gelehrten
zu schließen. Es ist dies allerdings nur eine durch äußer-
liche Momente sich aufdrängende Vermutung, die jedoch
nicht ganz grundlos ist, wenn auch in dem Briefe selbst
von Familienbeziehungen nicht gesprochen wird.
Einen sicheren Anhalt bietet uns nun das Schreiben
zunächst in bezug auf Chuschiels Herkunft durch die Worte8)
J) Vgl. Neubauer, Mediaeval Jewish Chronicles II, S. 130 und
dazu besonders Kaufmann in ZDMG. LXI, S. 436 fgg. und De Ooeje
ebendort LXII, S. 75 fgg.
*) Vgl. hierüber oben.
a) Vgl. JQR. XI, S. 649, Z. 59-^60.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 621
«"« n'n »h hutmm p«a wasfffo ißt/fa um^in pw u/wr '5
STB *ä n"«i noJa »Tita [?*6k]. Diese Gegenüberstellung
seiner bisherigen Heimat und eines unter arabisch-islami-
tischer Herrschaft stehenden Landes zu fernerem Aufenthalt
zeigt deutlich, daß er bisher in einem christlichen
Lande gewohnt hatte, keineswegs aber seine Heimat,
das doch gleichfalls islamitische Babylon gewesen sein
kann. Als solches kann daher auch nicht das von Mena-
chem Mein angegebene Spanien in Betracht kommen1),
da dieses ebenfalls zu den arabischen Ländern in jener
Zeit zählte. Wir hätten also nur die Wahl zwischen Grie-
chenland2) und Süditalien. Ersteres kann jedoch schwerlich
als die Heimat Chuschiels in Betracht kommen, denn dort
war die Gesetzeskenntnis in zu geringem Maße heimisch,
als daß es als Pflanzstätte eines Gelehrten, wie Chuschiel,
angesehen werden könnte.
Wenn wir nun zur Bestimmung von dessen Heimats-
land vorerst äußerliche Momente in Erwägung ziehen, so
weisen die Namen Elchanan, Chuschiel und Chananael, wie
unser Gelehrter seinen schon in Kairuän selbst geborenen,
nachmals so berühmt gewordenen Sohn genannt hat8), auf
Süditalien hin. Wir begegnen wiederholt diesen Namen und
zwar: 1. Elchanan. Fast nämlich zu derselben Zeit, in der die
*) Vgl. Neubauer, Mediaeval Jewish Chronicles II, S. 225. Auf
diese Mitteilung hat erst jüngst Marx in ZHB. XIII, S. 74 aufmerksam
gemacht. Vielleicht ist aber diese Angabe von *nDD ebenso zu be-
urteilen, wie die a. a. O., S. 224 betreffs Saadja's Herkunft. Übrigens
ist in dem genannten Text statt Mson sicher ram\ zu lesen, wie es
auch bei Meiri's Nachschreiber, Isaac Lattes, a. a. O., S 234 heißt.
*) Von dort will Groß, Magazin a. a. O. die vier Gelehrten
herstammen lassen.
») Schechter's Annahme, JQR. XI, S. 645, daß der Name von
Chuschiel's Sohn später aus Elchanan in Chananael geändert wurde,
um Verwechslungen mit dem gleichnamigen Sohne Schemarja's zu
verhüten, hat Poznanski in Harkavy- Festschrift, S. 187, widerlegt, in-
dem er zugleich die Existenz des Elchanan als eines Sohnes von
Chuschiel auch anderweitig nachgewiesen hat.
622 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
beiden obengenannten Söhne von Schemarja und Chuschiel
wirkten, finden wir in Siponte1) einen Schüler Hafs, Leon
ben Elchanan*). 2. Chuschiel. in dem von Elieser ben Nathan
q*3Ki) uns erhaltenen alten Gutachten von den früheren
Gelehrten der süditalienischen Stadt Bari3) figuriert unter
den Unterzeichnern ein Chuschiel. Ebenso bedient sich der
Verfasser der auf das geistige und soziale Leben der Juden
Unteritaliens ein zum großen Teil ganz neues Licht wer-
fenden Chronik, Achimaaz ben Paltiel4), am Schluß der-
selben für den Messias der uns sonst nirgends entgegen-
tretenden Bezeichnung ^«nsnn5). 3. Chananael. Diesen Namen
finden wir a) wiederholt in der genannten Chronik des
Achimaaz6), b) unter den Unterzeichnern des erwähnten
Gutachtens aus Bari7), c) in der Einleitung zum Chakmoni
des Süditalieners Sabbatai Donnolo, wo dieser einen Cha-
nanael unter seinen Verwandten aufzählt8). Es handelt sich
also hier um Namen, die diesem Land eigentümlich sind,
wie überhaupt dort die die Endung bx tragenden Namen
üblich gewesen zu sein scheinen.
Es ist nun nicht zu verkennen, daß zwischen dem
in der Achimaazchronik wiederholt, in der Verwandtschaft
Sabbatai Donnolo's und den Unterzeichnern des genannten
Gutachtens je einmal vorkommenden Chananael, wie in
dem an letzterer Stelle auftretenden Chuschiel irgendwelche
») Mit dieser Stadt will auch Brüll in Jahrb. IX, S. 105 das in
Ibn Daud's Bericht vorkommende priDDD identifizieren.
») Vgl. Groß' Studie über Isak b. Malki Zedek und seine süd-
italienischen Zeitgenossen im Magazin etc. II, S. 33.
3) Vgl. j'SKI 'D ed. Albek, Warschau 1904, Nr. 38, S. 30, Anm. 8.
— Über diese Gutachten siehe weiter unten.
*) Vgl. Neubauer a. a. O. II, S. |1 11 — 132 und Kaufmann in
Monatsschrift 1896, S. 462—473, 496-509, 529—554.
6) Vgl. Neubauer a. a. O., S. 132, Z. 8 von unten.
«) Vgl. zur Orientierung die genealogische Übersicht bei Bachtr
in REJ. XXXII, S. 146 und Kaufmann a. a. O., S. 552.
') Vgl. ed. Albek a. a. O.
«) Vgl. Chakmoni, ed. Castelli, S. 3.
Beiträge zur Qeschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 623
nähere Beziehungen mit unserem Chuschiel und dessen
Sohn Chananael sich ergeben, zumal auch noch andere
Namen wiederholt in diesen drei Urkunden uns begegnen,
wie besonders der Name Sabbatai. Aber auch der seltene
Name Pappoleon tritt uns sowohl in dem Stammbaum der
Achimaaz-Familie, wie in den Mitgliedern des Gerichts-
kollegiums von Bari entgegen. Wir wissen nun aber be-
stimmt, daß der im Jahre 925 bei der Erstürmung von
Oria durch die Sarazenen um's Leben gekommene Chassadja
ben Chananael zugleich der Achimaaz-Familie angehörte1),
wie auch, daß er zwei Brüder, Pappoleon und Sabbatai
hatte, so daß der in dem Gutachten von Bari als Sohn
eines Schabtai genannte Pappoleon ein Neffe des Chasdaja
und Enkel des Chananael gewesen ist. Das Vorkommen
des letzteren Namens, wie das eines Chuschiel's, läßt
uns die Herkunft des letzteren aus der berühmten Achi-
maaz-Familie und in weiterer Verzweigung aus der des
Donnolo, als ziemlich gesichert annehmen.
Von den Schicksalen der Achimaaz-Familie ist uns
bekannt, daß eines ihrer Mitglieder, Paltiel, in hoher Gunst
bei dem fatimidischen Kalifen A 1 m u i z z stand, dem er
sowohl in Mahdieh, in Nordafrika, als auch in Egypten,
und zwar in Kairo, wertvolle Dienste leistete, so daß er
auch unter seinem Nachfolger eine Vertrauensstellung be-
kleidete2). Er war auch der erste, der in Egypten die Nagid-
würde bekleidete. Er starb im Jahre 976 und wurde von
seinem Sohn Samuel, der, gleich ihm, durch fürstliche Wohl-
tätigkeit sich auszeichnete, in Jerusalem begraben. Unter
den Angehörigen der Familie, die sich auch in der Gnade
des islamischen Fürsten sonnen konnten, kennen wir auch
einen Chananael II, Oheim des Paltiel, der, nach Bari für
einige Zeit zurückgekehrt, mit einem Sohne, Namens Chassadja,
nach Mahdieh sich wieder begab, während ein älterer
») Vgl. Kaufmann, Monatsschrift 1896, S. 532, Anm. 1.
») Vgl. a. a. O., S. 552.
624 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
Sohn, Samuel, in Capua zu hohen Ehren gelangte und noch
mit den Verwandten gleichen Namens in Egypten gute
Beziehungen unterhielt. Chananael selbst wurde auch
von seinem Großneffen Samuel in Jerusalem bestattet1).
Aus einem Zweige des in Süditalien zurückgebliebenen
Teiles stammte nun wohl unser Chuschiel. Von den
in Egypten zu hohen Ehren gekommenen Gliedern der
Familie vermeldet die Chronik nichts weiter, obwohl
anzunehmen ist, daß sie sich noch fernerhin unter den Fa-
timiden deren Gunst erfreut haben wird. Wenn nun in
dem oben dargestellten Brief Chuschiel's an Schemarja
dieser als yfjl ir bezeichnet wird, so gehen wir nicht
fehl in der Annahme, daß er zu den unmittelbaren Nach-
folgern des zweiten Nagid, Samuel ben Paltiel, gehört und
somit eine durch Gelehrsamkeit wie äußere Macht ausge-
zeichnete Stellung bekleidet hat. Die Kunde von dem hohen
Rang des allerdings wohl schon sehr weitläufigen Ver-
wandten, die zu den in Italien Gebliebenen gedrungen
sein mag, veranlaßte vielleicht Chuschiel, zumal die Wirren
in der süditalienischen Heimat nicht die nötige Sicherheit
boten, den hochangesehenen Schemarja aufzusuchen, und
so sich dauernd im Lande der Ismaeliten niederzulassen,
wobei er jedoch in Kairuän aufgehalten und dort der
Gründer einer neuen Richtung des Talmudstudiums wurde.
Wie aus Chuschiel's eigenen Angaben hervorgeht, ist auch
ihm dort, wie eine der Familie gleichsam als Erbteil be-
schiedene Gabe, die Gunst des Fürsten und seiner Großen
zuteil geworden. Darum preist ihn auch Samuel ha-Nagid
in einem erst jüngst veröffentlichten Gedicht als tu »edlen
Wohltäter«2). Dasselbe meldet uns aber auch, daß Chu-
schiel aus eigenem Antriebe seine Heimat verlassen hat und
l) Vgl. hierzu und zum Folgenden die Darstellung von Kauf-
mann in Monatsschrift a. a. O., S. 552 fgg.
') Vgl. Brody in der Festschrift für Berliner, hebr. Abtig., S.
11, Z. 2.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 625
nach Afrika gekommen ist1), in einer Weise, die den Be-
richt von einer gewaltsamen Hinführung nach dort aus-
schließt2). Die Verbindung mit dem italienischen Heimat-
land hat Chuschiel dadurch noch bekundet, daß er dem im
neuen Wohnort geborenen Sohn den Namen des großen
Ahnen, Chananael, beilegte.
Wir haben nun mit einem hohen Grad der Wahr-
scheinlichkeit die unmittelbare Abstammung ChuschieFs aus
Süditalien zu erweisen, zugleich auch sein Verhältnis zu
Schemarja darzulegen versucht. Für unsere Annahme brauchen
wir aber nicht Zweifel zu hegen infolge des Schweigens des
Chronisten Achimaaz über Chuschiel, da dieser nicht einmal
seines berühmten Verwandten Sabbatai Donnolo und des
in dessen Jugendzeit fallenden Märtyrertodes des Chas-
sadja Erwähnung tut9).
Zu diesen allerdings mehr formellen Gründen treten
aber auch innere, auf literarischen Momenten beruhende.
Süditalien bildete, wie Italien überhaupt, sicher seit län-
gerer Zeit ein Centrum jüdischer Geistestätigkeit*), wo die
intensivere Pflege der Gesetzeskunde eine Stätte gefunden
hat. Wenn auch die dortigen Gelehrten nicht mit denen
Babyloniens an Bedeutung wetteifern konnten, so haben
sie dennoch für die nationalen Studien in der ihnen eigenen
Art und Geistesrichtung, die durch die traditionellen Be-
ziehungen zu Palästina gegeben war, manches Wertvolle
geschaffen. Seit dem neunten Jahrhundert unter dem zwie-
fachen Einfluß der einheimischen, christlichen Bevölkerung
und der zeitweilig eine Herrschaft aufrichtenden Araber
stehend, und mehr Anteil an dem gerade dort recht man-
») Brody, das., S. 12, Z. 11-12.
*) Vgl. auch Poznanski a. a. O., S. 193.
s) Vgl. auch Kaufmann a. a. O., S. 540—541.
*) Über die hier in Betracht kommende Literatur im Allgemei-
nen, vgl. Zunz QV.» S. 375 fgg. (= 362 fgg.), Rapaport, Biographie
des Eleasar Kalir Note 17, Weiß TVH IV, S. 268 ff., Groß, a. a. O.,
S. 21 ff.
Monatsschrift, 56. Jahrgang. 40
626 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
nichfaltig sich gestaltenden Leben der andersgläubigen Um»
gebung nehmend, als die Juden in Babylonien, die in der
Einförmigkeit der Verhältnisse höchstens von den Wellen
der theologischen Bewegung innerhalb des Islam berührt
wurden, haben die Juden Süditaliens zunächst eigenartige
agadische Schöpfungen hervorgebracht, die dem Grundstock
dieser Midraschim deutlich das Gepräge ihres Landes und
ihrer Zeit aufdrücken. Wir denken hierbei zunächst an den
uns in verschiedenen Rezensionen vorliegenden Tanchuma-
Jelamdenu, für dessen spätere Zeit das reine Hebräisch
hinlänglich Zeugnis ablegt1), und als dessen Entstehungs-
ort bereits Zunz mit gewichtigen Gründen das südliche
Italien erkannt hat.
Besonders aber kommt hierbei in Betracht die gegen-
wärtige Gestalt der Pesikta Rabbati. Bereits der Altmeister
Zunz hat ausführlich über diesesWerk gehandelt und als seinen
Heimatsort Griechenland angenommen2). Indessen kann es
durch die Ausführungen von J. L6vi3), Bacher4) und Weiß5) als
gesichert angenommen werden, daß dieses Midraschwerk
in der uns vorliegenden Fassung, aus dem wir übrigens
ein eigenes Zeugnis seiner Abfassung nach 845 haben, nach
Südtalien gehört. Man beachte zunächst die wiederholt vor-
kommende Jelamdenuformel, die auf die Abhängigkeit von
den in Palästina üblichen derartigen Werken hinweist, und
») Vgl. Neubauer in REJ. VIII, S, 226 ff., ferner Weiß in rP3
niD^n I, S. 37 ff., 71 ff., 71 ff., 101 ff.; Epstein ebendort S. 7 u. S. 23.
•) Vgl. GV.8, S. 248—262. Das dort (S. 256, Anm. 2) von Zunz
noch angeführte D^I^S, S. 116 a, Kalifen, als Hinweis auf Griechen-
land, kann, abgesehen davon, daß dies eher auf die zeitweilige Araber-
herrschaft für Italien paßt, deswegen nicht in Betracht kommen, weil
die LA. entweder D^Dl'vS oder Dltt^B lautet, vgl. Friedmanns An-
merkung zum Text a. a. O. Nr. 16 und Güderaann im Lexidion, S.
204 b s. v.
») Vgl. REJ. XXIV, S. 281—285 u. XXXII. S. 279-282.
*) A. a. O. XXXIII, S. 45 ff.; vgl. auch Monatsschr. XLI, S.
604 ff.
6) Vgl. -im III, S. 283 ff.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im geonäischen Zeitalter. 627
auch dies führt uns auf das von jeher mit jenem Lande in
inniger Beziehung stehende Italien Aber auch andere An-
zeichen sprechen für die süditalienische Heimat. Wir finden
in ihm nämlich merkwürdigerweise offenbare Benutzungen
von Erzählungen aus den apokryphischen Büchern, wie
z. B. dem vierten Esrabuch, was sich unter anderem in
der Erzählung Nr. 26 Ende (S. 131 b— 132 a) zeigt1). Auch
eine Benutzung des in Süditalien entstandenen Josippon
läßt sich nachweisen2). Bemerkenswert sind ferner die Er-
zählungen mit Anklängen an christlich-messianische Stellen,
wie sich aus der Behandlung des besonders in christli-
chen Kreisen eingehend in messianischem Sinne gedeuteten
Ps. 22 am Ende von Nr. 36 und in Nr. 37 (S. 162 b— 163 a)
ergibt3). Auch das ganze Kolorit von Nr. 36 mit den aus-
führlichen Erörterungen über die messianische Zeit läßt uns
an Einflüsse denken, wie sie auf die Juden gerade in dieser
Gegend zu der genannten Zeit einwirken mußten4). Wenn
sonst auch in der alten agadischen Literatur diesem Problem
eine große Beachtung zuteil wird, so findet sich indessen
nirgends eine Ausspannung des Gedankens von den Leiden
des Messias selbst, wie sie an den genannten Stellen
und beispielsweise uns auch in dem Ausspruch von dem
IW&öfl ~]hn in Nr. 31 (S. 146b) entgegentritt5), wo wir lesen:
nuw »d^ im in ^33 iD"na omo« no non epo p* 1J,™3"> 11a** b*
THn6). Diesen Erwägungen gegenüber, die schon von Asarja
!) Vgl. REJ. XXiV, S. 281—285 u. XXXII, S. 279-282.
») a. a. O. XXXIII, S, 41 fgg.; vgl. auch Monatsschrift XLI,
S. 604 fgg.
s) Vgl. T1T1 III, S. 233 fgg.
*) Vgl. Levi in REJ. XXIV, S. 280—282. Die Bemerkung von
Zunz a. a. O., S. 256, Anm. c, daß dieses Stück der Kinnah Kalirs
DBD rm^DS TK zugrunde liege, was auch Friedmann a. a. O., Anm.
82 annimmt, beruht wohl auf einem Irrtum, da, abgesehen vom dem
Eingang, der Inhalt ein vollständig verschiedener ist.
6) Vgl. auch Levi a. a. O., S. 284, Anm. 3.
8) Vgl. REJ. XXXII, S. 281.
40*
628 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
de Rossi und Nachman Krochmal geltend gemacht wurden,
können die von Friedmann1) und Weiß2) geäußerten gegen-
teiligen Ansichten, daß die in den nichtjüdischen Schriften
zum Ausdruck kommenden Gedanken von dem leidenden
Messias jüdischen Quellen entlehnt sind, nicht als stichhaltig
angesehen werden. Gerade die zuletzt erwähnte Stelle, für
die Weiß eine Parallele, resp. Quelle, im Midrasch Schocher
Tob zu Ps. 2, 9 nachweisen will*), zeigt eine ganz andere
und für den Redactor der Pesikta Rabbati typische Umge-
staltung des dort behandelten Gedankens, wo die Leiden
in der dem Auftreten des Messias vorangehenden Zeit ge-
schildert werden, während hier von denen des Messias
selbst gesprochen wird. Alle diese auf eine Rezeption
fremder Einflüsse hinweisenden Momente verstärken noch
die Annahme, daß die viel besprochene Erwähnung der »ja
n»3, sowie der Einwohner der benachbarten Städte, in Nr.
28 (S. 135 b) sich tatsächlich auf die Orte Bari, Tarent und
Otranto bezieht, in denen sich eben schon seit der Zer-
störung des zweiten Tempels eine bedeutende Niederlassung
von Juden befunden hat, und die auch in der Achimaaz-
chronik eine große Rolle spielen4). Hierzu kommen noch
die guten Beziehungen, die noch bis in die Mitte des 10.
Jahrhunderts hinein zwischen Juden und Christen in diesem
Lande bestanden, und wovon der Verkehr Sabbatai Don-
nolo's mit dem Abt von Grotta Ferrata, dem heiligen Nilos,
ein Beispiel ist.
*) Pesikta rabb., S. 164—165, Anm. 18.
8) Vgl. TTT1 HI, S. 287.
3) Vgl. a. a. O., S. 278 und dazu Midrasch Tehilim, ed. Buber,
S. 28,
*) Vgl. hierzu Levi in REJ. XXXII, S. 278 fgg., Bacher REJ.
XXXIII, S. 39 fgg. u. Monatsschrift 1897, S. 601 fgg., gegen Krauß
ebendort S. 554 fgg.
(Fortsetzung folgt.)
Besprechungen.
nijna» tisddi man rona Vxt pn*o ja nsna wann ruwon bntb
»nana pna^ man mnpn sjpiDi ■»anjwi ibu ^bb rwin rr-oy nprpn pnjno
.avStotoxi 'j't itjt^k »ana nruo »Ta pnairo pnjnn cjsbbi oiiaS «»an
Kose ben Maimuns Kommentar zur Mischnah, Traktat Makkoth
nnd Traktat Schebuoth, in neuer hebräischer Übersetzung aus dem
arabischen Urtext mit prüfenden und erläuternden Anmerkungen von
Manuel (Manni) Qottlieb, Stiftsgelehrter, Hannover 1909. 74 S., 8.
Von demselben Verfasser erschien im Jahre 1906 eine hebräische
Übersetzung von Maimonides' Kommentar zum Traktate Sanhedrin,
die ich in dieser Monatsschrift (Jahrg. 1910, S. 333—336) rezensiert
habe. Ich habe dort auch mitgeteilt, daß Herr Qottlieb in seiner Ein-
leitung zu Sanhedrin versprochen hat, den Mischnahkommentar des
Maimonides zur ganzen Ordnung Nesikin neu zu übersetzen. Daß er
Wort hält, zeigt uns die vorliegende Arbeit. In dem kurzen Vorworte
zu derselben weist Gottlieb auf seine Einleitung zu Sanhedrin hin,
die eigentlich als Einleitung für das ganze Werk gedacht wurde, und
aus welcher ich in der genannten Besprechung das Wichtigste ange-
führt habe. Auch diese Arbeit liegt ausschließlich in hebräischer
Sprache vor. Als arabischer Text diente dem Verfasser Maimonides'
Kommentar zum Traktate Makkoth, ed. Barth (Berlin 1880), und eine
Handschrift der königl. Bibliothek zu Berlin (Ms. or. S. 569). Nach-
träglich (auf der letzten Seite der Übersetzung) bemerkt der Ver-
fasser, daß er während des Druckes der vorliegenden Schrift Gele-
genheit hatte, die Berliner Handschrift (Ms. or. S. 567), welche die
alte hebr. Übersetzung des Kommentars zu Moed, Naschim und
Nesikin enthält, zu vergleichen. Die Handschriften bezeichnet er mtt
J, a, N. In einer Anmerkung zum Vorworte zeigt uns Gottlieb an,
daß ein weiterer Teil der versprochenen Übersetzung (Edujoth und
Aboda sara) bereits druckfertig vorliegt.
Im allgemeinen kann iber die vorliegende Arbeit dasselbe bei-
fällige Urteil abgegeben werden, wie über die vorangegangene. Hier
wie dort hat uns Gottlieb ei»e sorgfältig ausgearbeitete, dem talmu-
mudischen Idiom entsprechende Übersetzung geboten, für die ihm
sicherlich alle dankbar sein werden, die sich für den Talmud und
dessen Kommentare wahrhaft interessieren. Hier wie dort beobachten
30 Besprechungen.
wir dieselbe Vertiefung in die Halacha, dieselbe Gründlichkeit und
rabbinische Belesenheit des Verfassers. Kurz, wenn man die Anmer-
kungen Gottliebs liest, empfängt man den Eindruck, die Schrift eines
unserer »Großen« vor sich zu haben. Nun hat, wie oben kurz erwähnt
wurde, Professor Jakob Barth in Berlin bereits im Jahre 1880 den
arabischen Text des Maimonides-Kommentars zu Mßkkofh ediert und
die alte hebräische Übersetzung nach dem arab. Manuskript verbessert«
Es läßt sich demnach fragen, ob denn Gottliebs Übersetzung des
Kommentars zu Makkoth noch irgend einen Nutzen habe. Tatsächlich
ist Barths Edition, die — nebenbei bemerkt — die erste des Maimu-
nischen Mischnahkommentars im Urtexte war, so exakt, daß sie wirklich
allen, die auf diesem Gebiete arbeiten, als Muster dienen kann. Allein
Barth berichtigte bloß die offenkundigen Fehler der Übersetzung nach
dem arab. Original und ließ die alte Übersetzung mit ihren sonstigen
Unebenheiten weiter bestehen. Dagegen bietet uns Gottlieb eine
gänzlich neue Übersetzung, die allen Anforderungen gerecht werden
will. Ferner hat Barth seine Edition mit bloß kurzen — allerdings
bündigen — Fußnoten versehen, während Gottliebs Anmerkungen
nicht minder gründlich, aber bei weitem zahlreicher und ausführlicher
sind.
Den Vorzug der Gottlieb'schen Übersetzung vor der Ibn Jakubs
habe ich bereits in meiner oben genannten Besprechung durch mehrere
Beispiele darzutun versucht. Ich erachte es daher für richtig, auch
hier einige Stellen anzuführen, die meine Annahme durchaus bestäti-
gen. Allerdings kann ich diese hauptsächlich dem Kommentar zn
Makkoth entnehmen, dessen arab. Text (ed. Barth) mir vorliegt, wäh-
rend ich den arab. Text des Kommentars zu Schebuoth nicht besitze.
Herr Gottlieb hat nämlich auch hier den arab. Text nicht abgedruckt,
sondern bloß hin und wieder arabische Ausdrücke oder Sätze in
Fußnoten angegeben. — Makkoth, Abschn. 2, Hai. 1, arab.: btyO
m-iji'?« am po^T «njy jcnair "iin \11 noSßD'rxs d^ nbiym
jjo^m p-on (x i^k (od. rnacS«) ; Ibn Jakub : px k\i nbjyc- b:yan
Pp\"!3BB> -IJ> DTIÖB>n 12 ptfDtPDÖl pp^HD US*K pKJ3!W ftpVti; Goitlieb:
\'x:in n pvoiwov px n\ni p^nnb "»wy +m p^ncn ft^ajma tojtoft
p-nnXDi \"p^2ü cnv -ty o^ron ^b m sjinS irmoipcn; das. 3, l (Barth
S. 18, Gottlieb S. 13) arab.; DJP inxi 1«S wir |K Kl^K CDpbtt Kftft |D1
niD1« »r\bi\ ""in; I. J.: nvbv nw ^by nnn vtb *yv p ü: pbnn ntoi
pnout; G. : nif« ttnbn nn wia nnx ikS muis Katw my mn pbnn pi;
das. 3, 11, arab. : K-ixieriDK rnnKiSx rn'rj'?« nin "proi pymx nni: k'td
dikS aiSft* V6pn *»b fteinSi» nixS« f« py kds ; I. J. : D^jmit naa kS
sun mon bijtm nYDtfjw "isop 102 m w "jm n rupft mai ; G. : xb
cyft) vrt ptyRsprs pinu th nnxn njnsn nnix -ixt?: «bx c^aixn waj
Besprechungen.
mionn mjfon yna -nm vüü nn:b ww; Schebuofh 4, 5, arab.
ftmnv DStiy "h; I. J. : nnj> oa^XK ^ w*i G. : ny da«; das. 5, 4,
arab. : oityo IHrtD ^ ; I. J. : JNT1 Siatp im ; Q. : jjitI p^pn ''TD. —
Hier läßt Gottlieb bloß das talmudische Zitat folgen, welches Mai-
monides arabisch zitierte — das. 6, 2, arab. : njy ttpO"1 iro pa1 8*7 Tin
ms du1?, I. J.: avn aw wob jnu 130 rm* xto ,d'?, Q.: *nn xto »tj
Dl^a 13l"«n ^TB lniOJflB WB. — Dagegen halte ich Ibn Jakubs o^JJ D1P3
für das arab. HJ13 (Makkoth 3, 17) und "IPBK ''K für -J3 kS (das.) für
richtiger als Gottliebs *|TT DlSaa, resp. wn kS, weil jene gewöhn-
licher und durchaus verständlicher sind.
Die zu Makkoth 1, 6 (Anm. 14) von G. vorgeschlagene Emen-
dation des arab. Textes nach der hebr. Übersetzung: piw XDDnSx
(= B*tyD mann) statt pinan n«3n^« (= b^ti Ta na «r», nach
Barth), die scheinbar einen besseren Sinn gibt, ist mit E. unrichtig,
weil es nicht anzunehmen ist, daß beide arabische Handschriften, die
Barth benutzte, gerade an dieser Stelle fehlerhaft seien usd beide
noch obendrein dieselben Fehler haben, während die sonst fehler-
hafte hebr. Übersetzung hier die richtige Lesart bewahrt habe. Ich
glaube, daß Maimonides mit diesen Worten den Satz der Mischna
p"n "lüyv IV erklären will und meint, obgleich der Verurteilte nicht
hingerichtet worden ist, war er doch ein Mann des Todes, da die
Richter durch die Aussage der — später überführten — Zeugen, die
gesetzliche Kraft erhalten hatten, das Todesurteil zu fällen und auch
auszuführen. Darnach hätte Barth (a. a. O. S. 8, Anm. 1) Recht, der
die Lesart der hebr. Übersetzung verwirft und den arab. Text wie
folgt wiedergibt: l'ty nräBW HD3 HT ^33 DW1 T3 D3 V ^3K» Es
wäre doch richtig gewesen, wenn Herr Gottlieb auch diese Stelle in
der nachträglich von ihm benutzten hebräischen Handschrift (•) ^'3)
verglichen und uns das Resultat angegeben hätte.
Ein besonders großes Verdienst hat sich Gottlieb durch die
Übersetzung des Kommentars zu Schebuoth erworben, dessen arabi-
scher Text bis jetzt noch nicht ediert worden ist. Hier zeigt uns
Gottlieb in den Anmerkungen die zahlreichen Fehler der alten Über-
setzung und bietet uns an ihrer Stelle eine richtige und klare Über-
tragung des arabischen Textes. Herr Gottlieb hat auch — was ich in
der vorhergehenden Besprechung hervorzuheben vergessen habe —
den Mischnatext sorgfältig geprüft, indem er auf die Varianten in der
Handschrift hinwies und verschiedene Lesarten in den beiden Tal-
müden zur Vergleichung heranzog. Eine wichtige Variante, die Gottieb
übersehen hat, möge hier ergänzt werden, nämlich in Mischna 4, 13,
wo die Handschrift 133"» . ♦ . 1H3"> (für "JS'" . . . "p"« der Ausgaben) hat.
Zum Schluß kann ich nicht umhin, einige Worte zur Rechtferti-
632 Besprechungen.
gung Ibn Jakubs hinzuzufügen. Ich habe schon vorher und vorwiegend
bei der Lektüre der vorliegenden Arbeit die Beobachtung gemacht,
daß die meisten Fehler der alten hebr. Übersetzung des Maimonides-
Kommentars auf das Konto der Abschreiber zu setzen sind. Ferner
ist in Erwägung zu ziehen, daß die alten Übersetzungen doch die
ersten waren, und die ersten Übersetzer es doch am schwierigsten
haben. So hatte es Gottlieb viel leichter, den arab. Text zu übersetzen,
indem ihm die Übersetzung Ibn Jakubs vorgelegen hat.
Stockholm. M. Fried.
Besprechungen. 633
(Schluß.)
Zu Qinzbergs Qeonica II habe ich im Einzelnen noch Fol-
gendes zu bemerken:
S. 306, 307. Die ganze Diskussion über die Wendungen '^no
KVt iKDtP XtO "OD und KV! HKTrv 'JDD ist überflüssig und zum Teil
unbegreiflich, da diese Wendungen in der Tat im Talmud vorkommen.
XVI ilKTrP piranfi kenne ich aus vier Stellen: Sabbath 140a, Sukkah
19b, Bezah 31a und Baba Bathra 79b. KVT -»«DBr nvj *Ä pXMflD ist
mir zwar aus dem Babli nicht bekannt, aber Jeruschalmi Erubin
III, 1 (20 d 44) inbezug auf diese Mischnah heißt es: iKDB> nvjT "JDD1).
Wenn der Gaon diese Stelle meint, so hätten wir hier einen unwider-
leglichen Beweis dafür, daß Amram den Jer. gekannt, und zwar
gründlich gekannt hat. [Vgl. Beza 12b oben: XVI tP'S n:Vü S'JIKI.]
S. 306, Anm. Vgl. zu DnWJ Jer. Schekalim 46 b 18—28 und
Challah 60 b unt.
S. 307, Anm. 2. Auch Hai. gedoloth, ed. Berlin, S. 633. Hai.
ged. verstehen unter ^"ibd auch Gen. r. — Sifre für Mechiltha vgl.
Resp. der Gaonim ed. Harkavy S. 107 und Hoffmann, Mechilta, Ein-
leitung S. V*).
S. 308. »the Seder ha-Mischnab, which is the designation
commonly (?) used for the first part of the Seder-Tannaim we-
Amoraim«. Mir ist diese Bezeichnung nicht bekannt.
S. 309, N. 4 und N. 7. D"n DD 15 b, 15 c.
S. 310, N. 12. D"H DD 14 d.
S. 311 unt. D^JH EPOII N. 224 und Ascheri, Halachoth ketannoth,
mm N. 17: R. Hai. Dagegen jrnaan N. 88: Natronai.
S. 313, N. 22. Dieses Responsum etwas ausführlicher in Ma'-
asse ha-Geonim S. 9.
S. 313, N. 29. Die Ausführung gehört zu Responsum 30.
i) Weitere Belege aus Jeruschalmi sind mir jetzt nicht bekannt;
diese Wendung scheint aber im Jer. öfter vorzukommen, da der Kom-
pilator des »JeruschalmU Chullin sie kennt. Vgl. 43a.
*) Es findet sich auch umgekehrt Mechiltha für Sifre, vgl. Saadyana,
S. 79: onmn n^Xl "OTT nbDD, ist wohl nichts anderes als unser
Sifre. Vgl. dagegen Poznanski, Schechters Saadyana, S. 28, N. 26. —
Dieselbe Bezeichnung wie bei R. Amram, auch bei R. Gerschom und
R. Samuel ben Meir zu Baba bathra 124 b.
634 Besprechungen.
S. 315 unt. Daß Maimonides min "IBB X, 6 B11J7 in Megillah
32 a auf miKH oder ^in bezieht, und nicht vielmehr, wie Raschi,
auf die Thorarolle selbst, ist sehr fraglich. In dem Satze n« mif K^l
B11JJ KintPB mm IBB kann K1HB>3 mindestens ebensogut auf das un-
mittelbar vorhergehende min IBB bezogen werden wie auf an« XVTV3.
B11V »st der Oe gensatz zu ... nirtBEöS "JH3 KW 'B bj? P]K in der
vorhergehenden Halacha. Bezöge sich anj; auf B1K, so hätten beide
Halachas vereinigt werden müssen, besonders da any ülH und jpa
fTTlBH zu einander gehören: B11JJ KVttP3 min 1BD I1K BtX tTOT »^
prnan iroS n w kSi.
S. 323, Z. 19 und Anm. 11. Auch Sa'adia liest: pmp IT mi2f:3
[H .13. Vgl. Sa'adias Kommentar zu Berachoth, ed. Wertheimer, 3 a
und Note.
S. 329, Anm. 5. Auch Makkoth 13 a, Temurah 13a.
S. 337, Anm. 4. Ein ähnlicher Text in Hai. ged., ed. Berlin,
120: mVh... ita)bV3V
S. 350 unt. DW in dem Sche'elthotfragment S. 373, Z. 7 ge-
hört nicht zur Einführung, sondern zum Zitat: . . . a^EBB WüV. Daß
mit iTiBl ein in Sedarim eingeteilter Midrasch Tehillim gemeint
ist, ist sehr unwahrscheinlich, da R. Acha sonst nie seine Quellen
namentlich anführt, -mal ist nicht Namen, sondern TJW, sie ord.
neten, trugen in der Ordnung vor. Vgl. Erubin 21b NfPBM "HBB-
Gemeint kann auch sein die Stelle Lev. r. V Ende. — R. Nissim
ist nicht der erste, welcher Midr. Ps. benützt hat, dies tat schon
R. Amram1).
S. 377, Anm. 3 und 388, Anm. 7. Über 1 für Kamez vgl. Apto-
witzer, Das Schriftwort in der rabbinischen Literatur I (Prolegomena)
S. 35. — IIB =■ 1B in Hai. pesukoth, ed. Schlossberg, S. 83, 121,
ff»JlE>Kl bv [min II, S. 7 unt., Buch der Frommen, ed. Berlin, und
Ma'asse ha-Geonima). Vgl. auch Anm. 73 zu Ma'asse ha-Oeonim Seite 11.
S. 424 zu S. 167 N. 1. Vgl. auch Epstein in ha-Choker I, S. 187 f.
Nachtrag:
S. 4, Anm. 12. Or Sarua I 47b, N. 137 liest auch in der Stelle
n Berachoth wie der Gaon.
S. 21, Anm. 1. Nach G.s Emendation gibt die Stelle keinen
rechten Sinn. Die richtige Erklärung dieser Stelle bei Poznanski,
') Vgl. A. Marx, Untersuchungen zum Siddur des Gaon R.
Amram, I, S. 8, Anm. 31.
■) Vgl. das Verzeichnis S. XIX. Hinzuzufügen ist: S. 13, 68.
Besprechungen. 635
Studien zur gaonäischen Epoche, S. 61 f. und bei Q. selbst in Qeonica
I, S. 8 im Text.
S. 39, Z. 16. Die Quelle: Sabim V, 11.
S. 52, Z. 25. Eppenstein, Monatsschrift 1908, S. 618, Anm. 1,
meint, daß mit lS^n Dnmi das Fragment eines andern Responsums
beginnt. Notwendig ist diese Annahme nicht.
S. 53, Z. 2. WüVb IDStJJ J1K TDKD MVA erklärt G. TDKD als die
aramäische Form für 1D1D, Mir scheint eine aramäische Form in einem
hebr. Satz in einer hebr. Stelle unwahrscheinlich. YDXO ist vielmehr
als Hifil von hebr. "IDX zu fassen. Für die Wendung 1D51JJ rix VDKD
vgl Seder Eliah, Kap. 27, ed. Friedmann, S. 138 oben: D^-nDK px
fOVth JOpD^ (D5ty p"iDlöB> D^DSn ""TD^n xb* (Ps. 68, 7), wo die
Deutung von B*VBH die LA. pYDKDtf oder pcxatf fordert1).
S. 56, Z. 1 ppffD. Diese Bezeichnung des Traktats Moed Katon
noch Geonica II S. 58, 62, 68, 69. So auch Aruch, Salomo ben ha-Jathom
und jfnson N. 28, ed. Livorno 1779, 17 a*). So auch Mischnab, ed.
Lowe, Yerushalmi Fragments, ed. Ginzberg, S. 85, Z. II3). — Das.
und S. 69 Holt? für ntSlD» So auch ms. Halberstamm 336*).
S. 57. xj?¥D für kjpjjd KM auch SS 60, 61, 64, 68, 69 (XJjro).
So auch Salomo ben ha-Jathom oft6).
S. 68, Anm. 2. Lies: Moed Katon 18b.
S. 72. Das Responsum ist sehr wahrscheinlich nach Palästina
gerichtet gewesen. Dies vermutet auch Eppenstein, Monatsschrift
1908, S. 619 auf Grund »verschiedener Anzeichen«, die ich jedoch
nicht kenne. Aber der vom Gaon in so heftiger Weise getadelte
Brauch, die Mitgift der Braut in einem die wirkliche Leistung über-
steigenden Betrag einzuschreiben, ist aus den alten palästinischen
Quellen: Mischnah, Toseftha und Jeruschalmi bekannt9). Desto auf-
fallender ist es, daß der Gaon keine Kenntnis davon hat und die
Überschätzung der Mitgift als Sn und njn m,J3 bezeichnet. Dagegen
wird pns i"ij?tr 56b unten im Sinne des Talmuds entschieden. Da der
l) Jalkut Ps. § 795: ♦ . . xnpca {D3tJ> plD^ötf deutet D^YDH von r. 1D\
') Die aus »Maschkin« angeführte Stelle kommt in Moed Katon
nicht vor, sondern Sabbath 136 a.
s) Vgl. jetzt auch Chajes, Salomo ben ha-Jathom's Kommentar
zu MaSkin (ed. Mekize Nirdamim, Berlin 1909) S. VII, Anm. 4 und S.
VIII, Anm. 2. [Vgl. weiter unt. S. 382.]
4) Vgl. JQR. XIV, S. 175.
ß) Vgl. Chajes, a. a. O. S. XXXI.
•) Kethubboth VI, 3, Toseftha das. VI 5-6, Jer. das. 30c— 30 d.
Vgl. auch Mischneh Torah IW» VIII, 11 und n:Vü ort1? z. St.
636 Besprechungen.
Gaon in uns. Fragment bezeugt, daß der fragliche Brauch von dem
in allen bxw fllDipö abweicht, so muß man annehmen, daß das Re-
sponsum in p*t¥ •nytP ebenfalls nach Palästina -gerichtet war, oder daß
der Brauch selbst später auch in Babylonien oder in einem andern,
unter palästinischem Einfluß stehenden Lande heimisch wurde.
S. 75, Anm. 2. Vgl. Poznanski, Schechters Saadyana, S. 17, N. 2.
S. 80, N. 2 Ende. Bei R. Chananel in Respfder Gaonim, ed.
Lyck (N. 113, S. 34) kommt diese Erklärung nicht vor, sondern bloß
die zweite des Aruch s. v. tptt.)Dagegen heißt es in Saadjas Komm,
zu Berachoth pjTlö WT1 MTJD. Vgl. auch Wertheimer z. St.
S. 90, N. 4. Soferim X 8 ; der richtige Text in Or Sarua I N. 95.
S. 91, Z. 21 \lb VI. Gewiß "p1? CT oder "p^CT, vgl. oben S.
368 zu S. 26, Note 3.
S. 96, N. 19. tr»!M für Resch Gelutha Geonica II, S. 83, Z. 7 ;
Resp. der Gaonim, ed. Harkavy, S. 389.
S. 106, Anm. 2. pon DH in der Bedeutung HM: Fragment in
ha-Kedem II, S. 87, regelmäßig in jmaon1).
S. 110 com )ÜV B>"![5D. Über diese Benediktion vgl. Ratner,
Ahawath Zion, Berachoth S. 200 und Aptowitzer in Monatsschrift
1908, S. 313. Im Jeruschalmi bei Rabiah 44b lautet der Schluß:
O'OIS T,öB> DK BHpD "»'KS. Der Ursprung dieses Gebetes ist also
nicht so jung, wenn auch die Form, in der wir es besitzen, auf
Seder Eliah zurückgeht*). — Die Frage, warum die Benediktion
über den Tallith fehlt, in Rabiah 44a, wo auch dieselbe Antwort,
die G. gibt.
S. 113, N. 17. »Until now the custom (of using Mazzoth for
DllXn ■01*1,J?) could not be traced beyond the thirteenth Century«.
Thirteenth ist wohl Verschreibung für »twelfth«, da G. selbst in der
Note auf die Polemik gegen diesen Brauch in Jehuda Hadassis
Eschkol ha-Kofer, verfaßt 1149, verweist. Wir wissen aber aus andern
Quellen, daß dieser Brauch schon zur Zeit R. Jehudais verbreitet
war. Vgl. ffWiri bv {min I, S. 14, Sefer ha-Ittim S. 105. Vgl. noch
Pardes N 108, Machsor Vitry S. 249, N. 283.
S. 120, Z. 13 Hran VBVf \T. Über die hebr. Form vgl. Fried-
mann, Einleitung zu Seder Eliah, S. 79. Vgl. Or Sarua I, N. 582.
S. 151, N. 503. Das Responsum auch in Ma'asse ba-Geonim
S. 75, N. 85.
*) Vgl. NN. 28, 34 (26 a, 26 c), 35, 37, 41, 43, 46, 54, 59, 60, 61,
70 74, 82.
») Vgl. oben 1910, S. 274 zu Machkim, S. 7, Anm. 4. Vgl. Schib-
bole ha-Leket S. 6.
Besprechungen. 637
S. 190, N. 9—10. pm für mm. In dem erwähnten Fragment
in ha-Kedem II wird Toseftha Kelim 2 II, 7 mit pm angeführt1). —
Das. flfiSiJJ für nB3"K auch Geonica II, S. 266, Z. 24 und ha-Kedem
II, S. 84, 85.
S. 195 unt. pKP TIDJ TTJrl llömi 1W3 »H1? iS 1W0 ^Kltf'1
HtPnnn bj> kSk .TlStö. Diese Entscheidung des Qaons ist, wie Ginz-
berg S. 187f. hervorhebt, sehr auffallend, da nach der Halacha auch
andere Arbeiten mit ungleichartigen Tieren verboten sind. Jedoch ist
der Standpunkt des Gaons nicht ganz neu. Ich finde denselben auch
bei Pseudo-Jonathan, der Deut. 22, 10 Tiemi TiB>3 ttnnn *b fol-
gendermaßen übersetzt: Krpns ^>3 3i monai joim pm pinn *b
p3M pnni* Während also zu TiDmi TW3. die halachische Ausdeh-
nung des Verbotes auf alle ungleichartige Tiere hinzugefügt wird,
fehlt die traditionelle Erweiterung des Bnnn »b, etwa: pinn xSl
ÄnTS'JJ p*!3JJ. Dies ist umso auffallender, als beide Halachas in den
alten Quellen neben einander stehen. Es ist daher sehr wahrschein-
lich, daß Jon. die Ausdehnung des Verbotes auf andere Arbeiten
nicht anerkannt hat. [Vgl. weiter unt. S. 385.]
S. 211, Anm. 2. In einem Responsum R. Zemachs in jm3D."l
N. 43 kommt das Wort KpWlK mehrmals vor.
S. 278. In ha-Kedem III, S. 6 teilt D. Kahana einige Zeilen aus
diesem Briefe mit, in denen einige abweichende Lesarten vorkommen:
Zeile 6 rmpl — K.: [JTWipl, Z. 7 bsf\ ty — K.: SlJl ^J7, was
besser paßt, ibid. mittel — K.: mittpl, Z. 11 rmnpsi — K. besser
rmnpi. Vgl. noch Poznanski, (KTTp HMX S. 47.
S. 314, N. 34. Berachoth 42a liest Or Sarua I, 177b: ^DK TK'
WX, der Vater eines Amoräers namens rtST od. «31, Baba mezia 14 a,
Schebuoth 34b und 37a, Keritoth 24 a. R. Hai, ffOWIh ^V jmin II,
S. 39, zählt unter den 38 Rabbah: ftt>31 pipen tfl^Otn Ti"1* 13 ,131
(I. H31 IUI«) IfllK H3"l niaipD.
S. 338, Z. 7. jnio für jniKD. So Toseftha ms, Erfurt, Berachoth
HI, 10, 11, so auch Juda ben Barsillai im Jezirahkommentar»).
S. 341, N. XXXIII. Vgl. Pesachim 48b ^33 bv ni"i33 und Rj»n
*>33"l. Jer. Challah II 5 (58 c unt.).
S. 352, Anm. 3. KJPpVD in Hai. ged., ed. Berlin, S.643 scheint
in der Tat die Bedeutung »Fluß« zu haben, wie in den Sche'eltoth.
Vgl. Tossafoth Berachoth 35 a, R, Isak Sir Leon z. St., Tossafoth R.
Ascher z. St. und Or Sarua I N. 326 Ende.
*) Erubin 27 a richtig mm.
■) Vgl. Kaufmann zu S. 1, Z. 6.
638 Besprechungen.
S. 385, Anm. 3 p« für D1K. Vgl. Kilajim VIII 5 und Kom-
mentare z. St.
S. 21, N. 10-11. Vgl. Or Sarua I, N. 341 Ende und N. 678
Anf. (und II 25b unt.) Vgl. auch Jad Maleachi N. 193.
S. 55 (meine Bemerkung). Die Lesart oVitn: "ia ntPD n wird
auch von Or Sarua II 162 a bestätigt.
S. 56, Z. 1. pptfa auch Ittur I 32b, o«n DD 12c, Orch. Chajjim
II 509, Kolbo 157 b, 157 c. Ein Werk pptPD Win in maWJl faip
D'DÖ-in ed. Lichtenberg 53a und 58b. — Das. HtDl» Hai. ged., Berlin,
S. 63, OS. I 160 a, Sefer ba-Eschkol (vgl. Albecks ,TUT '•ppinD "iDKD
S. 11).
S. 72. Vgl. das Responsum in Or Sarua I 640.
S. 106, Anm. 2. ^n DH Hai. Oed. Berlin S. 59 (ed. Warschau
16a: pDH), Ibn Gajath II S. 6.
S. 113, N. 18. Das Responsum R. Hais ist am Ende von -Win
pin zu Sabbat, Warschau 1862, abgedruckt, aber ohne Autorname. Die
Entscheidung R. Hais bei Alfasi Sabbath XXII, N. 543. Vgl. noch
Hai. ged., ed. Warschau, 73 b, ed. Berlin, S. 185. In pin '»nn a. a.
O. noch andere Responsen Hais.
S. 114 f. Das Responsum Natronais ist nun in drei verschiede-
nen Hauptrezensionen bekannt: I. Genisah und Schibbole ha-Leket N. 1 ;
II. Seder Amram in Marx' Zusätzen S. 1 und 2; III. Rabiah S. 43 f.
Die wichtigsten Differenzen sind folgende: 1. I zählt die Benediktionen
über pS'DD, die in II und III fehlen; 2. In I fehlt die Berediktion
über Wein, die II und III haben; 3. 1 zählt drei Benediktionen nach JJDIP
abends, während II und III TTOSa ^ban nicht mitrechnen, da diese
Benediktion nicht taimudisch ist. — Pardes N. 5, Machsor Vitry S. 1,
Siddur Raschi N. 1, Manhig ed. Berlin 7a, Abudraham und andere
folgen der Rezension II. Rezension III unterscheidet sich von I und II
dadurch, daß sie auch die agadischen Begründungen der HND
niDia enthält, die in II R. Amram zu gehören scheinen und in der
Genisahrezension fehlen. Da Rabiah das Responsum Natronais nicht
dem Seder Amram entnommen, wie noch besonders aus der Bemer-
kung S. 44a, Z. 8 hervorgeht, so ist die Ausführung Albecks in seinem
SiaVKn 1D1D S. 7 f. unrichtig.
S. 115, Anm. 1. Die Lesart dieses Responsums ist sehr wichtig.
Nicht nur deshalb, weil sie in keinem andern Text vorkommt, sondern
besonders wegen ihrer Übereinstimmung mit dem Jeruschalmi,
Berachoth IX, 1. Dies ist ein wichtiges Moment im Thema Gaonim
und Jeruschalmi.
S. 195 unt. Daß der Qaon in bewußter Opposition zur Halacha
entscheidet, ist ausgeschlossen; ebenso ist es undenkbar, daß ihm
Besprechungen. 639
sämtliche halachische Stellen, die Tiöni "WD ntm verbieten, entgangen
sind. Es bleibt daher nichts anderes übrig, als die Entscheidung des
Gaon auf einen Fall zu beziehen, in dem das Arbeiten mit ungleich-
artigen Tieren tatsächlich gestattet ist: wenn die Tiere nicht zu-
sammengekcppelt sind. Vgl. Ascheri Hil. n1»^ N. 5 und N. 7r
Tur II N. 297 und Keßef Mischneh d^Sd IX, 7. In den alten Quellen
ist auch nur von HTlPp die Rede. Vgl. außer den talmudischen Quellen
Hai. ged., ed. Warschau, 30 b oben, ed. Berlin, 642. Diese Einschrän-
kung ist nach der gaonäischen Erklärung des Verbotes, Hai. pes-
sukoth, ed. Müller, N. 10, auch sehr logisch. Wenn nun der Gaon
hinzufügt: das Verbot betrifft nur W*n, so will er damit nur eine
Arbeit hervorheben, die ohne Zusammenkoppelung der Tiere nicht
möglich ist. Vielleicht ist auch [nniDTi] Htmn zu lesen. — Ich will
nur noch bemerken, daß auch Herr A. Epstein, dem ich diese Ent-
scheidung des Gaon mitteilte, sofort an dreschen mit unzusammen-
gebundenen Tieren dachte und auf Schenkels Bibellexikon verwies,
wo das Dreschen mit frei nebeneinander trabenden Tieren erwähnt wird.
S. 219, N. 10. Die Erklärung von SsJ1? in Hai. ged., ed. Berlin,
S. 36.
S. 264, N. 1. Ben Barsillai kennt zwei Responsen R. Hais über
dieses Thema und macht, DTljn 'D S. 39, auf den Widerspruch zwi-
schen beiden aufmerksam. Auffa.lend ist die Auffassung R. Hais in
K'DB>"1 zu Berachoth 27 b oben.
S. 265, N. 2, 3. Vgl. R. Chananel in RABN. N. 169. Seine Aus-
führung stimmt mit uns. Resp. überein.
S. 306. K\1 MKTrP ttJPtflfi auch ms. München Moed Katon 12b.
K\1 iKDtf mn XrVJflö Berachoth 23 b oben. Zum Inhalt des Resp. vgl.
Or Sarua I 218b. Vgl. noch Jebamoth 104a: n*7 ^np fWl.
S. 329, Z. 9—16. Diese Stelle findet sich in Machsor Vitry S.
636 und 637 mit dem Wortlaut unseres Responsums. Es war also
auch dem Verfasser des MV. bekannt. Der Satz in MV. 636 letzte
Zeile lautet: «WB «JIS^H (0 ^plDK5? »»,"1 »'3 ">:r\0 'ODKpn
rPSfSt fWTJtfH, er erklärt sich daraus, daß er aus der vorhergehenden
Ausführung uns. Responsums mitzitiert wurde. Zu beachten ist die
Anführung: 'nöKpi.
S. 332, Z. 2—3. Vgl. 334, Z. 13—14. Die Stelle in D"n DD 14 d
unt. aus dem Responsum R. Amrams, dort der richtige Text DtP^lCol.
— Das. N. VII. D"n DD 15 b.
S. 420. Die Stelle Zeror ha-Mor 97c ist nicht in »a geonic
writing« zu suchen, sie ist nichts anderes als die Misch nah Negaim
XIII 12 mit dem Komm, des R. Simson.
640 Besprechungen.
S. 423. Der Ausdruck wt fli^m ist auch sonst bekannt. Vgl.
D,T JUS^n des RABD. in Schönblums C1BD TVffbV 48 b, 49a; m:B>n
zu Mischneh Torah VI 2; Tur I N. 181 ; Orchoth Chajjim I 2c Anf.;
Agur N. 235; Schitta mek. Berachoth 53 b v. 01P3. — Wenn Q. aus
dem Vorkommen des Ausdruckes D^T nXTH im Seder Eliah auf die
Entstehung dieses Midraschwerkes in gaonäi scher Zeit schließt,
so hat er übersehen, daß dieser Terminus in der Mischnah vor-
kommt, und aus ihr im Talmud: Challah I, 9, Bikkurim II, 1 nnd
Erubin I, 9. Chagigah 18 a, Jebamoth 73a und B. Mezia 52a. Vgl.
Erubin 17 b.
[S. 101, Z. 1—3 (meine Bemerkung oben S. 370 f.). Die aus
bx)T\) p"ip mitgeteilte Ansicht gehört dem Verfasser des wni, zu
Tur III, Nr. 235, und wird von i'p bekämpft. Die mno des Qaons
kennen : R. Chananel und Alfassi. Vgl. Ibn Gajath I, 34, Ittur II, 42 b,
Maor zu Rosch ha-Schana 27 a, Schibbole ha-Leket Nr. 293, Alfassi
Oittin VIII, Nr. 549.]
Wien. V. Aptowitzer.
#
Unberechtigter Nachdruck ans dem Inhalt dieser Zeitschrift ist untersagt.
Für die Redaktion verantwortlich : Dr. M. BRANN in Breslau.
Druck von Adolf Alkalay 8t Sohn in Preßbnrg.
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine.
Von S. Jampel.
1. Einleitende Bemerkungen.
Die jüdischen Inschriftenfunde, welche in den letzten
Jahren in Oberägypten gemacht wurden, repräsentieren
zweifellos eine archäologische Entdeckung ersten Ranges»
Sämtliche bisherigen Inschriftenfunde, so groß ihr Gewinn
für die israelitische Religionsgeschichte auch sein mag, werden
von dieser Entdeckung aufgewogen. Hauptsächlich deswegen,
weil dies die ersten Urkunden sind, welche von Juden
biblischer Zeit stammen, während alle bisherigen
Funde andern Völkern gehören und nur indirekt für die
Bibelwissenschaft von Interesse sind. Ferner hat man es
hier nicht mit für die Zukunft berechneten subjektiven
Zeichnungen eines Historienschreibers zu tun, sondern mit
privaten Notizen, Aufzeichnungen, Korrespondenzen u. dgl.,
die lediglich für ihre Gegenwart bestimmt waren und uns
daher einen umso klareren Einblick in die wirtschaftlichen
und religiösen Verhältnisse des biblischen Israel gewähren.
Das vor wenigen Jahren veröffentlichte Familienarchiv
aus Assuan, sowie die von der preußischen Akad. d. Wis-
sensch. veröffentlichten Urkunden der Judengemeinde zu
Elephantine haben wir damals in der Monatsschrift1) be-
handelt. Hier soll nun die neueste Publikation der General-
verwaltung der königl. Museen in Berlin, welche von Ed.
Sachau entziffert, transkribiert, übersetzt und mit fein-
sinnigen Erläuterungen versehen worden ist, besprochen
und durch einige Bemerkungen ergänzt werden.
*) Jahrg. 51, S. 617 ff.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 41
642 Die neuen Papyrusfunde in Elephantine.
Was vorerst die uns schon seit mehr als 2 Jahren
bekannte Judengemeinde der oberägyptischen Nilinsel
Elephantine betrifft, so ist ihr früher bezweifelter militäri-
scher Charakter dank der neuesten Veröffentlichung ge-
sichert; da sie in allen amtlichen Schriftstücken als K^rn
K'lliT »die judäische Militärkoionie« bezeichnet wird. Es
waren jedoch, wie aus den Urkunden unzweideutig her-
vorgeht, keine in einer Garnison internierte Soldaten,
sondern ganz einfache Bauern und Städter, die von der
persischen Regierung, welche von der Mitte des 6. bis
zum Anfang des 4. vorchr. Jahrhunderts über Ägypten
herrschte, mit Boden und Besitz beschenkt worden waren,
wofür sie im Kriegsfalle zur Leistung von Söldnerdiensten
verpflichtet waren. Ja, der ihnen von der Regierung zuge-
wiesene Landbesitz hatte nicht einmal den Charakter eines
Pachtgutes, sondern ist in ihr freies unbeschränktes Eigen-
tum übergangen. Es war dies im Grunde nichts anderes,
als eine Besiedelung der Städte, besonders der der Grenz-
gebiete mit einem fremden, regierungsfreundlichen Element,
das die Herrschaft der Perser dem äußern wie dem innern
Feinde gegenüber verteidigen sollte. Dadurch erklärt es
sich, daß auch Frauen solchen Landbesitz von der Regie-
rung zugewiesen erhielten. Folgende Inschrift möge das
Gesagte illustrieren.
ma nmbo matt to^a tbmiTV& 27 nar ddx nv^ 2 ora.
n t*naa ibo »a^ prj.» pna« db£» /na iittm^ rinnt« navn map
JiarwM üv *3nöD »» K/iaa a^a ff?n t6vi an mm xsho ja \b ian*
".'iDi '3t «n:a3 *ai« ^sa k^ pn« nr im
»Am 2. Tage des Monats Epifi im Jahre 27 des
Königs Darius hat Seluah, Tochter des Kenajah und Jethoma
ihre Schwester gesprochen zu Jahoor, der Tochter des
Schelomim. Wir haben dir gegeben die Hälfte des Loses,
welches uns die Richter des Königs und Rwk, der Heeres-
oberst, gegeben haben, als Tausch gegen die Hälfte des
Loses, das dir und der Nehebeth zugekommen ist. An keinem
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine. 643
künftigen Tage sollen wir berechtigt sein, dein Anrecht auf
dies dein Los vor Gericht anzufechten.«
Diese Tauschurkunde, die hier als ein Beispiel von
vielen, ihrer Kürze wegen mitgeteilt ist, erregt aber auch
noch anderweitig großes Interesse, da sie uns in ganz
auffälliger Weise die unabhängige Stellung der Frau klar
vor Augen führt.
Auch in unzähligen andern jüdischen Urkunden aus
Elephantine und Assuan erscheint die Frau vollkommen
gleichberechtigt mit dem Manne. »Sie verfügt über ihr
Eigentum, sei es liegendes, sei es bewegliches, sie ist eine
selbständige Person, schließt Verträge ab, erscheint selbst
vor Gericht und hat auch im Eherecht und ehelichen Güter-
recht die vollkommene Stellung einer geschäftsfähigen
Person.« In der Kultussteuer-Liste der elephantinischen
Judengemeinde ist fast ein drittel Frauennamen, ja sogar
an der Spitze steht eine weibliche Person. Besonders be-
zeichnend für die hohe Stellung der Frau ist folgende
Schenkungsurkunde der Eheleute Hosejah und Jehochan
an ihre Kinder, in welcher die Frau, trotz Anwesenheit
ihres Mannes, das Wort führt. (Vergl. Pap. 34) «£d^i . . ►•
/ras pya mb nan* jarna nit sisoa \yro n kbdsi rppaa na nma
\m na rrnyo ana rh vnr\w xb »a na*n n«ra nasn p an $»3H,tk
na jnjain n,ne> ua «nn»i jmn»i nwin aoa n» mco n*J«? na
na n\i?x na en«* nnt? n*^UD na »an nnt? «na na fiutaha
fjnjT* na jm^Kna ». . . und der Saluah, ihrer Tochter : da
ich die Schätze und das Geld, was in dieser Urkunde ge-
zeichnet ist, Euch aus Liebe gegeben habe, so habe ich
jetzt den Willen, sie zurückzufordern : Wenn sie also spricht
ist sie schuldig, nicht soll ihr Gehör gegeben werden. Ge-
schrieben hat Ma-usjah bar Natan bar Ananjah diese
Urkunde nach dem Diktat von Hosajah und Jehochan.
Zeugen des Inhaltes sind fruann Sohn des f/u^Kra« usw.
Wenn die Behandlung der Frau in der ganzen Kultur-
geschichte mit Recht als der zuverlässigste Maßstab für
41*
644 Die neuen Papyrustnnde in Eiephantine.
die Zivilisation eines Volkes gilt, so muß diese Hoch-
schätzung dei Frau in den oberägyptischen Judenkolonien,
die sich von der degradierenden Stellung des Weibes bei
den alten Griechen, Römern und Germanen so glänzend
abhebt, ein rühmliches Zeugnis für die Stellung der Frau
im ganzen biblischen Israel abgeben. Denn eine solche in
der psychischen Anlage eines Volkes begründete und das
ganze ethische Leben umfassende Anschauung ändert sich
nicht mit der Mode des Tages. Die Monogamie wird in
all den jüdischen Urkunden Oberägyptens als selbstver-
ständlich vorausgesetzt.
Folgende Darlehensurkunde, die ebenfalls von einer
Frau stammt, und die auch noch den Vorzug hat, nicht
nur vollständig erhalten zu sein, sondern die auch in
ursprünglicher Weise gefaltet, durch Bindfaden und Siegel
verschlossen und mit äußerer Aufschrift, wie mit Emblemen
auf dem Siegel aufgefunden wurde, (vergl. das im b. Baba-
bathra 160a über "Wipö IM, Mitgeteilte) verdient allgemein
bekannt zu werden.
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,vn« p y:« n^c 13 rn« n*V«i na nwi yuyi na jwi« in«* ua
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine. 645
1^»o ma ;mrv nana »r nrr ana icd Äußere Aufschrift:
»Am 7. Kislew, d. i. am 5. Tage des Monat Thot, im
Jahre 9 des Königs Artaxerxes, hat Jehochan, Tochter des
Meschullach, ja>j in der Festung Elephantine, zu Meschullam,
dem Sohne des Sakkur, einem Judäer der Festung Ele-
phantine, gesprochen wie folgt: Du hast als Darlehen 4
Pfund Silber, d. i. 4 gemäß den Gewichtsteinen des Königs
gegeben. Ich werde es dir verzinsen mit 2 Chalur für ein
Monat für ein Pfund, d. i. mit 8 Chalur für einen Monat.
Wenn Zins zum Kapital kommt, werde ich dir diesen Zins-
zuwachs ebenso verzinsen wie das Kapital. Wenn der
Jahreswechsel kommt und ich dir dein Kapital und seinen
Zins gemäß dieser Urkunde nicht gegeben habe, dann seid
ihr, du, Meschullam, und deine Kinder, berechtigt, als Pfand
zu deiner Sicherstellung jede Sache zu ergreifen, die du in
meinem Besitze findest, ein Haus aus Ziegelsteinen, Silber
und Gold, Bronze und Eisen, Knecht und Magd, Gerste und
Spelt und jedes Nahrungsmittel, das du in meinem Besitze
findest, bis ich dir das Kapital samt Zinsen bezahlt habe.
Und ich werde nicht berechtigt sein zu dir zu sprechen:
»Ich habe deinen Anspruch auf dein Geld und seinen Zins
befriedigt,« solange noch diese Urkunde in deiner Hand ist.
Auch werde ich nicht berechtigt sein, dich zu verklagen,
vor dem Magistrat und dem Richter, indem ich spreche:
»Du hast mir ein Pfand abgenommen,« solange noch diese
Urkunde in deiner Hand ist. Und wenn ich sterbe, ohne
daß du Geld und Zinsen erhalten hast, dann sollen meine
Kinder dir Geld und Zinsen voll bezahlen. Wenn sie dies
aber nicht tun, dann bist du, o Meschullam, berechtigt,
jedes Pfand, das du in ihrem Besitze findest, an dich zu
nehmen, bis sie dir alles bezahlen, indem sie nicht berechtigt
sein werden, dich vor dem Magistrat und dem Richter zu
verklagen, solange diese Urkunde in deiner Hand ist. Wenn
sie doch ins Gericht gehen, sollen sie nicht Recht bekorr. -
646 Die neuen Papyrusfunde in Elephantine.
men, solange diese Urkunde in deiner Hand ist. Geschrieben
hat dies der Schreiber Nathan bar Anani, nach dem Diktat
von Jehochan. Zeugen der Abschrift Hosea usw.
Äußere Aufschrift: Das ist die Geldurkunde,
welche Jehochan usw. dem Meschullam bar Sakkur aus-
gestellt hat.
Diese aus dem Jahre 456 v. Chr. stammende Schuld-
urkunde beleuchtet wie ein heller Scheinwerfer die wich-
tigsten Kulturmomente jener jüdischen Kolonien. Sie ist
erstens juridisch außerordentlich interessant, da sie an
Exaktheit und advokatorischer Finesse von einer modernen
Urkunde kaum übertroffen wird und daher für die Rechts-
geschichte besonders wertvoll ist. Sie zeigt uns ferner die
Höhe des dortigen Zinsfußes *2 Chalur — eine babylonische
Münzenbezeichnung — pro Schekel für ein Monat«, d. i.
nach der wahrscheinlichsten Berechnung 24°/0 jährlich. Sie
beweist ferner, daß Kinder ohne besondere kontraktliche
Abmachung für die Schulden ihrer Eltern nicht herangezogen
werden konnten. Der Kreditor dieser Urkunde mal 13 D^tPö
begegnet uns 10 Jahre früher in den assuanischen Inschriften
als Bürger jener Stadt. Ebenso finden wir den Schreiber
»JJJ? na \r\i in den Jahren 440, 446, 459 wieder. Auch dem
Vater des Zeugen rns!?E 12 vns begegnen wir in Assuan.
Im allgemeinen lassen diese Dokumente auch bei
dieser Inselgemeinde großen Wohlstand erkennen, was wir
schon aus der Beschreibung ihres so sehr luxuriös ausge-
statteten Tempels deutlich ersehen konnten. Wie die assu-
anischen Juden, so treiben auch sie verschiedene Handels-
geschäfte, sie kaufen und verkaufen Häuser und Grundstücke.
Depositen, Tausch- und Rechtsgeschäfte sind an der Tages-
ordnung. Die Kenntnis des Schreibens und Lesens bei jenen
Juden geht aus dieser neuen Publikation viel deutlicher
als aus den assuanischen Urkunden hervor, da hier auch
sämtliche »öffentlichen Schreiber« Juden sind; ebenso sind
die Zeugenunterschriften meist eigenhändig.
Die neuen Papyrusfnnde in Elephantine. 647
Die hier gefundene aramäische Übersetzung des im
Altertum berühmten Achikar-Romanes beweist, daß in den
Häusern dieser jüdischen Kolonisten auch das Bedürfnis
nach belehrender und erzieherischer Unterhaltungslektüre
bestanden habe. Übrigens hat man es hier mit keiner bloßen
Übersetzung zu tun. Denn die eingeschalteten Spruchdich-
tungen, die den integrierenden Bestandteil dieser Erzählung
ausmachen, dürfen, da sie in den sonstigen Achikarüber-
setzungen nicht wiederkehren, besonders durch ihre An-
lehnung an Sprüche Salomonis, — wovon weiter unten —
als freie Schöpfung unseres Übersetzers angesehen werden.
Wenn die Gelehrten, die den jüdischen Ursprung dieses im
apekryphischen Tobithbuche als allbekannt vorausgesetzten
Romanes bekaupten, Recht behielten (Achikar = np» n«),
dann dürften wir vielleicht in dieser aramäischen Ausgabe,
welche die Namen der assyrischen Könige am korrektesten
wiedergibt, das Original erblicken.
Das berühmte dreisprachige (assyrisch, persisch, susa-
nisch) große Keilschriftdenkmal auf der Felswand bei Ba-
histun in Persien, die größte persische Inschrift überhaupt,
liegt hier ebenfalls in aramäischer Übersetzung vor, und zeugt
besonders für die allgemeine Lesefähigkeit jener jüdischen
Kolonisten. Die Entzifferung jener enorm großen Keilinschrift,
welche seinerzeit den Weg zur assyriologischen Forschung
gebahnt hat, forderte damals eine langjährige mühsame
Arbeit. Wäre unser aramäischer Text damals vorhanden ge-
wesen, er hätte die Assyriologie rascher vorwärts gebracht.
2. Politische Verhältnisse.
Durch die neuen Funde wissen wir jetzt, daß auch
in Elephantine eine große persische Garnison stationiert
war, an deren Spitze ein Oberst ab'n an und mehrere
Hauptleute "pmö standen. Das Heer war in Regimenter
fVin eingeteilt, deren jedes den Namen eines Regiments-
inhabers trug. Unter den erwähnten Regimentsinhabern,
648 Die neuen Papyrusfunde in Elephantine.
welche sämtlich keine jüdischen Titel hatten, interessiert
uns der Name maiaa — vgl. bei Jeremias lamaiM, der sich
zum ebräischen "iscnaiaa wie na zu ja verhält, — am meisten.
Neben der Regimentseinteilung finden wir auch die nriRa
= Hundert-Mann-Kompanien. Unter den Bewohnern Ele-
phantines unterscheiden die Inschriften zwischen bil *b$2
Söldnern und rpy ^ya Zivilisten, unter letzteren wiederum
zwischen jonriö städtischen Bürgern und pPJ Bewohnern
ohne Bürgerrecht. Wir finden ferner dortselbst ein königl.
persisches Verwaltungsgebäude «abü n*3, in welchem eine
Regierungskasse RiaiR existiert, deren Beamten n Rnanen
RTU genannt werden.
Der persische Statthalter von ganz Ägypten pata AHB
ist jetzt DtmR, den wir aus persischen Quellen als einen
Prinzen und ägyptischen Statthalter unter Darius II kennen.
Der Gouverneur von Elephantine ist jetzt jrm, den wir
9 Jahre vorher als Festungskommandanten von Assuan
kennen lernten. Sein Sohn pea, der früher als Gerichts-
präsident von Assuan erscheint, ist jetzt Heerführer dort-
selbst. Er, wie sein Vater haben, wie später noch zu er-
wähnen ist, das Schicksal der elephantinischen Juden-
gemeinde in andere Bahnen gelenkt.
Auch ein öffentliches Gericht, dessen Beamte als R'aas
und dessen Polizisten als «'Dpi bezeichnet werden, finden
wir in dieser Inselstadt. Der Terminus für das Zitieren
vor Gericht pb» bv R'ipoi b*w map »ich habe Bitte und
Anrufung gemacht zu unserm Gotie« (Tafel 26) erinnert
an das biblische d.tj*» "in Ria» ü*nb» IV (Exod. 23). Die
Eidesleistung geschieht rh^r irra »beim Gotte Jaho«, den
sie, außer R'BtP rh^r, wie in Esra und Nehemia, auch
nwas !T (Revue biblique XVI, 261) nannten, wodurch uns
Jesajahs besondere Hervorhebug niRas: "ib D^arai (19, 18)
umso verständlicher wird. Wenn die Jüdin rrnöao in den
assuanischen Inschriften (5) bei der ägyptischen Göttin
Sati schwört, so geschieht dies nicht aus heidnischen Mo-
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine. 649
tiven, da diese Juden, wie wir später sehen werden, außer
dem Gott ihrer Väter nur noch semitische Götter, die sie aus
ihrer palästinensischen Heimat mitgebracht haben (Jeremia
44( 16 — 21) verehrt haben; sondern weil sie einen Rechts-
streit mit einem Ägypter vor einem ägyptischen Gericht
führten, in welchem Falle im Altertum sonderbarerweise
der Eid beim Verehrungsobjekte des Klägers geleistet
zu werden pflegt. Vgl. Babli Sanhedrin 63 b ni»b TDK
'131 nain ov nierm* ntpynp. (Vgl. ferner: Jesaj. 19, 18. und
Jeremia 44, 26. 'i \i im«).
Die amtliche Verwaltungssprache in den oberägyp-
tischen Kolonien war die aramäische, und zwar nicht nur
unter der jüdischen Bevölkerung, sondern allgemein. War
ja das Aramäische in jenen Jahrhunderten die offizielle
Reichssprache der Perserherrschaft, wie es damals über-
haupt eine aramäische Weltkultur gegeben hat. Der bib-
lische Bericht (Esra 4, 7), wonach nichtjüdische Behörden
mit der persischen Reichsregierung in aramäischer Schrift
und Sprache korrespondiert haben jvoik DjnuiDi n*tn8 uro,
dürfte jetzt von der Kritik weniger belächelt werden.
Das Haupt der elephantinischen Judengemeinde bildet
der in diesen Inschriften oft genannte rmDJ 13 mr, der
Vater des vornehmsten assuanischen Juden CHT "u JVDriö,
— dem wir das dort gefundene Familienarchiv verdanken,
— und Großvater der rrnö3D, der interessantesten Person
der assuanischen Urkunden1). Wie alle amtlichen Schrift-
stücke, die an die elephantinische Gemeinde gerichtet sind,
an seine Adresse gehen, (*?k oder khvt *6ti rWTMi «tjt ^k
3'3 "? K\in3i rMT 'Kia »An Jedonjah und seine Genossen, das
judäische Heer« oder »An meinen Herrn Jedonjah und die
Priester in Jeb«), so trägt auch jedes offizielle Schreiben
') Das Fragment auf Tafe! 35 .TOriD1? fflJK M\:»b nnpbüb -m2
»deine Tochter, sie zu nehmen zur Ehe gestatte ich dem Mehasjahc,
wird wohi der Rest eines Briefes Jedonjahs betreffs dar Verlobung
seines genannten Sohnes sein.
650 Die neuen Papyrusfunde in Elephantine.
dieser Gemeinde seine Unterschrift MmD) ,tjt Tiaj) »dein
Diener Jedonjah und seine Genossen«. Die große Kultus-
steuer-Liste dieser Gemeinde schließt bei der Summierung
mit den Worten rmaj 12 mr T2 in kdi» C5 *r «bds »das
i
Geld, welches an jenem Tage gestanden hat in der Hand
des Jedonjah, Sohn des Gemarjah«. An der Spitze der
genannten Steuerliste steht rrDMD ~\2 nnw jna na^trc, wohl
die Schwester Jedonjahs.
Entsprechend dem biblischen Berichte (Jerem. 44, 1)
künden uns diese neuen Funde von Judenkolonien in
Ägypten auch außerhalb dieser südlichen Grenzgebiete, so
in Theben Ki, Memphis 'DOD und Abydos &.2H» In der letzt-
genannten Stadt scheint der hohe jüdische Staatsbeamte
m:n, der Schreiber des später noch zu erwähnenden Passah-
Erlasses, gewohnt zu haben. Die hohe Stellung dieses rTOÄl
geht außer aus diesem Passah-Edikte. welches er im Auftrage
des Statthalters und im Namen des Königs proklamiert, auch
noch aus Tafel 12, Z. 7—8 hervor, woselbst gesagt wird,
daß einige ägyptische Behörden den Juden in Abydos umso
aufsässiger sind, »seitdem Hananjah nach Ägypten ge-
kommen ist«, deutlich hervor. Außerdem ist dort von
»Knappen des Hananjah« rpjjn ">ü\bv in einer Weise die
Rede, die ihnen den Charakter von Polizisten oder Gerichts-
dienern verleiht. Beachtet man noch folgende Momente, daß
erstens dieser man an mehreren Stellen T;ü genannt wird
und daß Nehemia (1, 2) ebenfalls berichtet <n«o Tri« »aan Ki:n
Dxrn, ^y1 jnatrn nts^n tpim bv d^k*w n-ivro d*imki,
was im Hinblick auf Esra Ö, 21—23, Nehem. 2—7 den
Eindruck macht, daß auch er, wie sein Bruder Nehemia,
im persischen Staatsdienste, in den syrischen Ländern oder
in Ägypten gewirkt hat, und zieht man noch hinzu, daß
diese Passah-Ansage nicht sehr lange nach Nehemias Ver-
eidigung der jerusalmitischen Gemeinde auf das biblische
Gesetz (Nehem. 10) erfolgt ist, dann wird die schon von
Sichau ausgesprochene Vermutung, wonach wir es in diesem
Die neuen Papyrusfnnde in Elephantine. 651
jüdisch-persischen Beamten Ägyptens mit einem Bruder
Nehemias zu tun hätten, immer wahrscheinlicher.
Noch einen anderen im höheren persischen Staats-
dienste stehenden Juden, namens »jjy, lernen wir in Ele-
phantine kennen. In Tafel 8 — 9 wird er oyia b$y\ tncn 'Jjy
»Anani der Sekretär und der Befehlshaber« genannt, vgl.
auch Tafel 33, 34. In der großen Petitionsschrift (Pap. 1)
teilen die elephantinischen Juden dem Statthalter von Je-
rusalem mit, daß sie sich in dieser Angelegenheit an die
Nötabeln der jerusalemitischen Gemeinde, an den Hohen-
priester Johanan und an »Ostanes, den Bruder des Anani«
gewandt haben. Dieser Verwandtschaftshinweis ist für seine
hohe Stellung bezeichnend genug.
Nun wird aber Tafel 12 einer der genannten »oi^j?
m:n schon wenige Zeilen weiter als ':3j; oby bezeichnet,
woraus zu schließen wäre, daß »MJJ und 'jjn identisch seien;
zumal die Aussprache dieser beiden Kehlbuchstaben auch
im heutigen Orient eine ähnliche ist. Sachaus Meinung, daß
»333? übv Tin und »jjn zby nn, trotz des Zusammenhanges
der Erzählung, nicht identisch seien, ist mehr als unwahr-
scheinlich. Nach unserer Annahme würde der in Jerusalem
zu den Führern der Gemeinde gehörende Ostanes, ein
Bruder Nehemias sein, welcher wie jener, — «in rpona
ruwwifl — neben seinen jüdischen Namen, auch den per-
sischen Titel Ostan führte. Im anderen Falle wäre unser
♦333? mit dem zeitgenössischen Nachkommen Serubabels
(1 Chr. 3, 24), wie schon vermutet wurde, zu identifizieren.
3. Zeitgeschichtliches.
»Im 14. Jahre des Darius II. (410 v. Chr.), als Arsam
fortgezogen und zum König gegangen war, machten die
Priester des Gottes Chnub in der Festung Jeb mit Waidrang,
der hier Gouverneur war, eine geheime Vereinbarung fol-
gender Art: Den Temnel des Gottes Jaho in der Festun«?
652 Die neuen Papyrusfunde in Eiephantine.
Jeb soll man von dort entfernen. Darauf schickte jener
Waidrang Briefe an seinen Sohn Naphajan, welcher Heeres-
oberst in der Festung Assuan war, folgenden Inhaltes: Den
Tempel in der Festung Jeb soll man zerstören. Darauf
führte Naphajan Ägypter herbei samt andern Kriegsvolke;
sie kamen nach der Festung Jeb, drangen ein in den Tempel,
zerstörten ihn bis auf den Grund« (Pap. 1, Z. 4—9).
Die kurze und nicht ganz einleuchtende Angabe, daß
der persische Gouverneur von Eiephantine sich mit den
perserfeindlichen Ägyptern gegen die im persischen Söldner-
dienste stehenden Juden verbunden habe, findet ihre Er-
gänzung in Pap. Euting A 3. 4. »r «noia »? nmatem fHT
cp3 mn mn *nme *? ami av mion «ma a»a nay nb» aian
^ iafp poaai. »Das ist die Verräterei, welche diese Priester
des Chnub in der Festung Jeb begangen haben, gemein-
schaftlich mit Waidrang, der hier Befehlshaber war. Geld
und Gut haben sie ihm gegeben.
Weiter erzählt dieselbe Gemeinde, daß sie, nachdem
ihr Tempel zerstört wurde, getrauert, gefastet und gebetet
haben zum Gotte des Himmels, »der sie hat sehen lassen,
daß Waidrang die Fußspangen entfernt wurden, daß die
Schätze, die er erworben hatte, zugrunde gegangen sind,
und, daß alle Menschen, die jenem Tempel Böses gewünscht
hatten, getötet wurden« (Pap. 1, Z. 15—17: nay n»3 *rm
tro» «na .w^ j^jtai po*a«i i^n \wib ppw paai ym dj? rxun
nap »» poaa bai »mkn p K^ar ip*oan rra^a -|t aarwa prtn n
i^öp ^3 *]? «iuk^ tP'K3 lya »T paa ^3i na«). Mit dieser Pa-
renthese weiß Sachau sich keinen Rat, er hat alles Mögliche
und Unmögliche versucht, auch an Interpolationen und an
eine Verschmelzung zwei verschiedener Urkunden hat er
schon gedacht. Endlich sieht er sich genötigt, Z. 15—17
als einen Orakelspruch, der den Untergang Waidrangs und
seines Anhanges prophezeit, anzusehen und den Inhalt
dieser Zeilen trotz der durchgehend regelrechten Perfekt-
form ihrer Verben, mit Futurum-exactum wiederzugeben.
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine. 653
Saehau glaubt Z. 15 — 17 nicht als historischen Bericht
fassen zu dürfen. Denn, so fragt er, wie sollen die Juden-
feinde schon gleich nach der Tempelschändung getötet
worden sein, wenn sie jetzt, 3 Jahre später, immer noch
weinen und trauern, weil die Genehmigung zum Wieder-
aufbau des Tempels ihnen immer noch verweigert wird?
(Vgl. Z. 19—21). Wer hat ihnen ferner diese Genugtuung
verschafft? Ist vielleicht Arsam inzwischen zurückgekehrt
und hat er ihre Feinde bestraft? Nun, warum wenden sie
sich betreffs Erlaubnis zur Wiederherstellung des Tempels
an den Statthalter von Jerusalem?
Meiner Meinung nach schwinden alle diese Schwie-
rigkeiten, wenn man zur Erläuterung unseres Textes, den
Papyrus Euting, der trotz seines fragmentarischen Charak-
ters, in den erhaltenen Partien sehr pragmatisch ist, richtig
heranzieht. In demselben berichten nämlich diese Juden
unzweideutig, daß es sich bei diesem Aufrühre nicht le-
diglich um eine Judenverfolgung, sondern vielmehr um
eine politische Erhebung der elephantinischen Ägypter
gegen die persische Herrschaft gehandelt hat. Vgl. A. 1 — 3
üb bano DjnJöi }pntt> »b pKö }d mm« ma «nso »t ♦ • «
»fto bv bin om« {«-» na «d^o tpimm 14 wva )b nrrw«
nzi nsp rfc* aun »t «nea »t imvüim tt*. »Daß die Ägypter
sich empört haben, wir aber haben von unserm Herrn
nicht gelassen, und etwas Verderbliches konnte uns nicht
nachgewiesen werden, im Jahre 14 des Königs Darius, als
unser Herr Arsam sich zum König begab, das ist die Ver-
räterei, welche die Priester des Chnub in der Festung Jeb
begangen haben usw. Ferner B. 1 — 5 . . . Ein Brunnen, der
errichtet war mitten in der Festung, lieferte genügend
Wasser für das Heer, und wenn große Heeresmassen
waren, holten sie Wasser aus diesem Brunnen. Jene
Priester des Chnub haben diesen Brunnen verstopft. Wenn
eine Untersuchung stattfindet vonseiten der Richter, Be-
amten und Geheimpolizisten, welche über Südägypten ge-
654 Die neuen Papyrusfunde in Elephantine.
setzt sind, wird unserm Herrn das bekannt werden, was
wir gesagt haben«1).
Hier ist ganz deutlich mitgeteilt, daß es sich bei dieser
Empörung um einen politischen Aufstand seitens der
Ägypter handelte, bei welchem Waidrang, der königl. per-
sische Gouverneur von Elephantine und sein Sohn Naphajan,
der Festungskommandant von Assuan, in gewissenloser,
verräterischer Weise, gegen eine Bestechung (vgl. oben
"b Ö.T porm PJD3) den Feinden Persiens große Dienste ge-
leistet haben. Daß nun dieser Aufstand gegen die persische
Oberherrschaft, trotz Abwesenheit der Arsames, bald kräftig
unterdrückt wurde, daß Waidrang samt seinem verräteri-
schen Anhange hart bestraft wurden, ist mehr als selbst-
verständlich. Dadurch aber wird die Parenthese in Pap. 1,
Z. 15 — 17 sehr plausibel und alle Schwierigkeiten schwin-
den. Daß übrigens schon Waidrangs Beteiligung an einer
Verfolgung der im persischen Kriegsdienste stehenden Juden
allein ein politisches Verbrechen gegen die persische Re-
gierung bedeuten mußte, ist oben schon erwähnt worden.
Daß Pap. 1 jenes rein politische Moment nicht be-
sonders hervorhebt, erklärt sich, abgesehen davon, daß dies
mit dem Zwecke dieses Petitionsschreibens nichts direkt
zu tun hat, auch noch daraus, daß sie dieses Ereignis drei
Jahre später (Z. 30) beim Statthalter Jerusalems wohl als
bekannt voraussetzen, wie dies eben in der genannten
Parenthese deutlich der Fall ist.
Auf die Frage, warum die persischen Behörden, die
den elephantinischen Aufstand sofort unterdrückt haben,
nicht auch den Wiederaufbau des Tempels genehmigen
wollten (vgl Z. 28 mao^» p jpatf Hb »tt), bietet uns schon
Pap. C, der die endlich erlangte Erlaubnis zur Wiederher-
') ift s^n irpiwi*? mon »S poi »rha fta rpja n nr nxa 'fr«
*;tk },n liao y ma -^n ai:n i sr-«a pne x'o ii «*i32 m,T FT9.1 ;n
bzph is-in? jjtjv BieB>ji rwnea paoo •: bwu ntibt vesn (e "isjun
Die neuen Papyrusfunde in Eiephantine. 655
Stellung dieses Gotteshauses enthält, eine befriedigende
Antwort. Diese Urkunde, welche die Rückkehr Arsams nach
Ägypten schon voraussetzt und, die daher keinen strikten Be-
fehl, sondern eine Empfehlung an den ägyptischen Statthalter
darstellt (vgl. Z. 2—3 jva «nana bv ovn& mp id'd^ puaa
'131 K»ötf hb» n). »Du sollst in Ägypten sprechen vor Arsam
über das Altarhaus des Gottes des Himmels usw.« besagt
ausdrücklich, daß sie nur »Speiseopfer und Weihrauch* in
dem neu zu erbauenden Tempel darbringen sollen1).
Daraus ersehen wir, daß seitens der persischen Be-
hörden die Tieropfer in Oberägypten nicht gerne gesehen
waren, was zweifellos aus Rücksicht auf die Ägypter, denen
die Tiere heilig waren, geschehen ist, zumal der elephanti-
nische Gott Chnum eine Widdergestalt hatte.
Auf diese Urkunde wird in einer Inschrift der neuesten
Publikation wohl Bezug genommen, wenn dortselbst (Pap.
4, Z. 8 f.) gesagt wird na wna n*a ♦ ♦ . »t k."6k k.t n mitei
rirus ns\A \nb nun iay;v »h lbpa uy iw jpi mn ♦ . . afp »und
der Tempel des Gottes Jaho, welcher ... in der Festung
Eiephantine, wie er früher war, wieder aufgebaut sein wird,
und Taube, Turteltaube, Ziege . . . daselbst nicht gemacht
wird, sondern Weihrauch und Speiseopfer« . . . Diese letztere
Urkunde stammt ebenfalls von Jedonjah, dem Gemeinde-
ältesten Elephantines und vier anderen Repräsentanten der
dortigen Juden. Der Adressat ist unbekannt ; da die Inschrift
fragmentarisch erhalten ist. Aus der Unterschrift rvxi* "pay
»dein Knecht Jedonjah« ist jedoch deutlich zu ersehen, daß
sie an eine nichtjüdische Behörde gerichtet war ; da sonst
der Schreiber oairm »euer Bruder« sich zeichnet.
Der fragmentarisch erhaltene Pap. 15 berichtet von
einem fernem Aufstande gegen die Juden, bei welchem auch
i) Vgl. z. 8-11 KnjiaSi xnnjüi \am,pb nw na mrota .Tjatf*
"|T Krme by pmp\ während sie in ihrem Bittschreiben zweimal nach-
drücklich von ftXtttyfl xroinSi xnno »Speiseopfer, Weihrauch und
Ganzopfer« sprechen.
656 Die neuen Papyrusfunde in Elephaniine.
der berühmte Jedonjah und noch zwei der in der vorher-
genannten Inschrift erwähnte, ums Leben gekommen zu
sein scheinen. Nachdem zuerst von gefesselten Frauen die
Rede ist, heißt es dann Z. 4 f. : »Siehe, die Namen der
Männer, welche gefunden wurden an jeder einzelnen Türe
und getötet (?) wurden... Jedonjah bar Gemarjah, Hosea
Jathom, Hosea bar Natium usw, Die ferneren Zeilen scheinen
von einem Schadenersatz zu reden. Da wir nun wissen,
daß Ägypten schon wenige Jahre nach der obenerwähnten
Tempelschändung das persische Joch endgültig abgeworfen
hat, so zweifeln wir gar nicht daran, daß die oberägypti-
schen Juden nachher vielen solchen Pogromen ausgesetzt
waren.
4. Alter dieser ägyptischen Jaden.
Betreffs der Herkunft und des Alters dieser Kolo-
nisten beschränkt sich Sachau fast ganz auf die Notiz bei
Aristeas (13), die von verschleppten jüdischen Kriegern
nach Oberägypten unter Psammetich II 594 — 89 spricht. Wenn
aber nicht bloß der amtliche Bericht der elephantinischen
Gemeinde an den Statthalter, sondern auch der offizielle
Bescheid des jerusalemitischen und samaritanischen Paschas
(Pap. 3) es besonders hervorhebt, daß die Perser bei ihrer
ersten Ankunft in Ägypten — zirka 540 — diesen großen,
fünftorigen Säulentempel schon vorgefunden haben1), so
spürt Sachau selbst die Unwahrscheinlichkeit, daß jene
verschleppten jüdischen Söldner in verhältnismäßig kurzer
Zeit zu so wohlhabenden Gemeinden, wie dieser Tempel
und die genannten Steuerlisten sie voraussetzen, sich ent-
wickelt hätten. Die biblischen Notizen, welche das Vor-
handensein von Israeliten in Ägypten schon im 7. bis 8.
vorchr. Jahrh. voraussetzen (vgl. besond. Hosea 9, 6. Je-
saja 19, 8. 27, 13) müssen jetzt die ihnen gebührende
i) Vgl. Pap. l, Z. 13 nnstpn n» "]i x-iux pnatob bv wwa vi\
ferner Pap. 3, Z. 5 *n3» üip fönp fö JWI n».
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine. 657
Würdigung erfahren. Jeremias hat 586 mit seiner Emi-
grantenschar jüdische Kolonien in Ober- und Unterägypten
bereits vorgefunden (Jerem. 44, 1. 24, 8). Wie Herodot II,
30 von den Grenzwachen in Elephantine und Daphne, an
der südlichsten und nördlichsten Grenze, spricht, so er-
wähnt auch Jeremias Judenkolonien in Patros = Ober-
ägypten und wenn = Daphne an der asiatischen Grenze.
Daß diese oberägyptischen Grenzgarnisonen meist mit se-
mitischen, besonders palästinensischen Söldnern gefüllt
waren, geht mit aller Deutlichkeit hervor nicht nur aus
der für diesen Zweck schon verwerteten griechischen
Söldnerinschrift von Abu-Simbel, sondern viel sicherer
noch aus einer weniger bekannten ägyptischen Inschrift
eines Chnumtempels in Elephantine selbst. In dieser In-
schrift berichtet Nez-Chor, der oberägyptische Statthalter
des Pharao-Hofra (vgl. Jerem. 44, 30), von den s y r i c h-
palästinensischen Söldnern, »die in ihr Herz ge-
geben hatten (= den Vorsatz gefaßt haben, vgl. b& 'flrui
">2b), nach Meröe (in Äthiopien) zu ziehen. Seine Majestät
(== Hofra) fürchtete sich wegen der Schlechtigkeit, die
sie beginnen. Ich aber befestigte ihre Vernunft durch Rat-
schläge und ließ sie nicht nach Nubien ziehen, sondern
führte sie zu dem Ort, wo seine Majestät war.« Daß eine
solche Söldnerschar Elephantines unter Psammetich wirklich
nach Äthiopien gezogen und sich dort niedergelassen hat,
berichtet Herodot a. a. 0. An solche Überläufer denkt
wohl auch Jesajah 11, 11, wenn er von den versprengten
Juden in »Pathros-Südägypten und Kusch« spricht1) undSe-
charjah 10, welche Prophezeiung auch von jüdisch-ortho-
doxer Seite Secharjah 1, dem Zeitgenossen Jesajahs, zuge-
schrieben wird (vgl. Jawitz, Gesch. Israels II 198). Die von
*) Daß auch unsere Kolonisten in Elephantine, Assuan usw.
nach Ägyptens Befreiung von der Perserherrschaft sich in Ägypten
nicht halten konnten und wahrscheinlich wie die Israeliten, von denen
Jesajah spricht, und die Palästinenser, von welchen in der ägyptiseheD
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 42
658 Die neuen Papyrusfunde in Elephantine
diesen oberägyptischen Juden verehrten Gottheiten, wie
^K/va DiV ,^K/va d»k ,V«n*a Bin (vgl. unten S. 662) weisen
auf nordpalästinensischen Ursprung hin und lassen so die
Schlußfolgerung zu, daß wenigstens der Kern dieser Juden
dem nordisraelitischen Reiche entstammte. Jedoch sind
solche Folgerungen nur mit großem Vorbehalt zu ver-
werten.
5. Religiöse Zustände.
Die elephantinischen Funde lassen uns bei den ober-
ägyptischen Judenkolonien eine Vertrautheit mit den bi-
blischen Schriften deutlich erkennen. Das interessanteste
Beispiel hierfür ist der Papyr. 6 der neuesten Publikation,
welcher ein Passah-Edikt enthält. Diese unschätzbare außer-
biblische nDD-Urkunde aus biblischer Zeit lautet wörtlich
folgendermaßen:
unlesbar 1.
trn^K tik ubv man aain« jpwp «Vn ntms\ n»jv 2.
bis wbv «a^B ja «3^o ttnmm 5 nw k? xnw nyDi 3.
.Dann
. . . 3iK üb ja d/uk nya ... 4.
. . . b 21 dv iv 15 dt jbi m . . . 5.
. . . « nTay nrnmi wi pn ... 6.
. ... K im .... t dihjb $»ai vwn b . . . 7.
JD*^> 21 DV 1J? KtPBtP 3-IP0 ... 8.
. . . 'or pa lonm oa^i/ia A» . . . 9.
. . . « ... 10.
man nain« «mir «^n nniaai rwrp »n* . . . 11.
1)
2) Jedonjah und seine Genossen, die judäische Mi-
litärkolonie. Euer Bruder Hananjah. Das Heil meiner Brüder
mögen die Götter
Inschrift und bei Herodot die Rede ist, nach Äthiopien geflohen
sind, ist mehr als wahrscheinlich. Vielleicht sind sie gar die
Vorfahren der heutigen Falaschas?
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine. 659
3) und nun in diesem Jahre, dem Jahr 5 des Königs
Darius, ist vom König an Arsam geschickt worden
4) jetzt sollt ihr nun also zählen vier? vierzehn?
5) und vom 15. bis zum 21. des
6) seit rein und vorsichtig Arbeit
7) (nicht) trinkt und jede Sache, in der Sauerteig
ist
8) vom Sonnenuntergang bis zum 21. Nissan
9) geht zu eueren Häusern und macht Schluß zwischen
den Tagen
10)
11) Meine Brüder, Jedonjah und seine Genossen, die
judäische Militärkolonie. Euer Bruder Hananjah.
Dieses Dokument, welches aus dem 5. Jahre des
Darius (Z. 3) stammt und somit noch älter ist als das früher
publizierte große Petitionsschreiben der elephantinischen
Judengemeinde an den Statthalter von Jerusalem, das vom
POTWi H riW stammt, läßt bei seinem Verfasser die Be-
kanntschaft mit dem bibl. Text mit Sicherheit erkennen.
Die Worte v&w anpa und tjyjuia l^ltt (Z. 8, 9) sind Paral-
lelen zu der diesbezüglichen biblischen Stelle war aiya
WDtffi und yhmb rafell (V. B. M. 16, 6. 7) Z. 5. 8. av jm
15 dv iv 21 gibt II. B. M. 12, 18 m» IV 'Mi er wy nj?3"»a
B'wm *rn«n mit einer kleinen, aber beabsichtigten Änderung
wieder. In dem erwähnten Gesuch an den jerusalmitischen
Pascha, Bagoes, sind die Worte (Z. 21) o*rp "j^ mrr Plpun
IK13& nh& ebenfalls ein Zitat aus Deuter. 24, 13. Die der
genannten Achikar-Erzählung eingeflochtenen didaktischen
Sprüche lassen ihren biblischen Ursprung deutlich erkennen.
Vgl. z. B. Pap. 53, Z. 3 -ion [a *na ■pmnii bx Z. 4 -pana« p
man *b na Pap. 54, 4 -pa im «noaa ^a (a zu Spr. Sal. 13,
24. 4, 23 .... . Ebenso kann die genaue Übereinstimmung
der Opferarten nSiyi rutii Piruo und rmi^pi «naia^i «nna in
Pap. 1, Z. 21, 25 mit Esra 6, 9. 7, 17 keine zufällige sein.
Meiner Meinung nach bedeutet das rätselhafte nrnPM fl*TOV
42.
660 Die neuen Papyrusfunde in Elephantine.
welches Z. 11, Pap. 1 unter den elephantinischen Tempel-
räumen und Tempelgeräten aufgezählt wird, nichts anderes
als »Kasten des Heiligtums«, da »mw aramäisch »Kasten«
und nr.tt'K assyrisch und kanaanäisch »heiliges Gemach«
oder »Glückseligkeitsort«, hebr. w«, n»K bedeutet. Dieser
»Kasten der Heiligkeit« würde dem in allen Synagogen seit
den ältesten Zeiten postierten empn p«, der die biblische
Gesetzesrollen birgt, entsprechen1). Das alles, besonders
aber die Bezugnahme auf pentateuchische Vorschriften, ist
im Hinblick auf Nehemia 8, 14, welches Ereignis sich nur
sehr wenige Jahre vor der Abfassung unserer Passah-Ur-
kunde und der Petition in Pap. 1 zugetragen hat, und
welches für die bibelkritische Deuteronomium- und Priester-
kodexhypothese von Wichtigkeit ist (vgl. zu Nehem. das.
11. B. M. 23 und V. B. M. 16) außerordentlich beachtens-
wert. Die offizielle Passah-Ansage beweist keineswegs, daß
dieses Fest den oberägyptischen Juden bis dahin ganz
unbekannt war, wenn auch die nähere Angabe betreffs des
Nichtgenießens alles Gesäuerten mehr, als die alljährlich
üblichen kalendarischen Proklamationen in Jerusalem und
die Verkündigung derselben im Auslande, zu sein scheint.
(Vgl. Rosch ha-Schanah 21 b und bezüglich Ägypten, jer.
Erubin c. 111. (Schluß) fol. 21a. Das Passahfest, bei dem
die besondere Berücksichtigung des Monats der Ährenreife
verlangt wird (V. B. M. 16, 1) hat bekanntlich eine solche
Mahnung durchaus erfordert.
Was ferner das religiöse Bewußtsein der oberägypti-
schen Juden betrifft, so ist die tiefe Frömmigkeit, welche
aus der erwähnten Petition an den Statthalter von Jerusalem
spricht, schon oft bewundert worden. Ihr zweimaliges Be-
tonen, daß sie seit drei Jahren, seit der Zerstörung ihres
*) Wenn merkwürdiger Weise gerade die große Hieroglyphen-
inschrift des Chnuntempels bei Elephantine, die nicht über das 4.-5.
vorchr. Jahrhundert hinausreicht, den biblischen Bericht von den 7
Hungersjahren kennt, so dürfte dies auch kein Zufall sein.
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine. 661
Tempels »Trauerkleider tragen, fasten und beten, keinen
Wein trinken, sich nicht mit Öl salben, und daß ihre Frauen
den Witwen ähnlich seien« (Pap. 1, Z. 15, 19), wie ihr
flehentliches Bitten um die Genehmigung zum Wiederaufbau
dieses Tempels (ibid. Z. 22—30), wird niemand als eine
Heuchelei bezeichnen.
Aber gerade diese wohltuende, warme Religiosität,
diese Anhänglichkeit und Liebe zum Tempel ihres Gottes
Jaho (im ist es, die uns diese Papyrusfunde zu der für
die israelitische Religionsgeschichte bedeutsamsten Entdek-
kung, die je gemacht worden ist, stempelt. Denn das
schwierigste Problem der ganzen biblischen Geschichte findet
durch sie eine ungeahnte Lösung. Der auffällige Widerspruch
zwischen Gesetz und Propheten, dem gegenüber die tra-
ditionstreue Bibelforschung seit Jahrtausenden in der größten
Verlegenheit ist, findet durch diese Urkunden der biblischen
Zeit seine ganz natürliche Erklärung. Die radikal-kritische
Bibelforschung dagegen, die auf Grund jenes Widerspruches
die ganze biblische Religionsgeschichte auf den Kopf stellt,
die aus dem ungeschwächten Fortbestehen des Götzen-
dienstes während der ganzen biblischen Periode auf das
Nichtvorhandensein des biblischen Gesetzes schließen zu
müssen glaubt, verliert durch diese Inschriftenfunde ihren
letzten Halt.
Den Vorfahren dieser oberägyptischen Juden wirft
Jeremias (44) ihren Götzendienst vor, den sie, trotz inniger
Verehrung des Gottes ihrer Väter (42), dem greisen Pro-
pheten gegenüber offen verteidigen, und von welchem sie
keinesfalls abzulassen gedenken (44, 15—19). Es wäre da-
nach verwunderlich, wenn diese oberägyptischen Juden
jetzt, kaum 2—3 Generationen nach Jeremias, uns schon
als reine Monotheisten entgegentreten würden. Tatsächlich
ist dies nicht der Fall. Wie Hananjah, der Schreibendes
Passahediktes, seine Grußformel mitten Worten] TiK?otar
X7ii?K »nach dem Heile meiner Brüder mögen die Götter... i
662 Die neuen Papyrusfunde in Elephantine.
einleitet, so schreibt auch der Jude pia na nbo' (Pap. 43),
ebenso der Jude Hcsea an die Jüdin m^p (Pap. 13) RS1&H
p]? ^>33 TtJ^tr i^KE" ^3 »die Götter alle mögen dich be-
grüßen^ In Pap. 27 sagt der jüdische Kläger rva?^ na rra^D
zu seinem Gegner ^«naö-in hv 1^ *y* rra^o kjk» >Ich
Malkija verklage dich beim Gotte ^«/laoin, und Pap. 32
berichtet niBK^ vrai&ai run» \n: na D^trc& str oite na enjo.
»Menachem usw. hat geschworen den Meschullam usw. bei
dem Heiligtum und bei Anatjeho« (wiUP ist eine gedachte
Verbindung des tf* mit der Kriegsgöttin roy# vgl- »n diesen
Inschriften die Eigennamen fian* na |W £>8/o und ia {njsin
pubttfia, ferner die Namen ntffatffa, apy^a). Vgl. auch Tafel
15 uwp Wfbut "iy TJfli ?]f»»a ah? nifl »Hier das Heil deines
Hauses und deiner Kinder bis die Götter verkünden. <
Die schon genannte Kultussteuerliste, welche einge-
leitet wird mit den Worten P]ca AT n n*w K^n nnctP ruf«
*»nb» Ivb »das sind die Namen der judäischen Militär-
kclonie, welche gegeben hat Silber für den Gott Jaho«
schließt mit der Summierung b*fczmb ,6 bpv 12 Jena vtb «3
12 {Ena ^«na MJ^> ,7 jtma »darin sind für Jaho 12 Keresch
und 6 Schekel, für Vxna Dtrs 7 Keresch, für b»r\n nv 12
Keresch. 6«na r\:? ist wie VPJUP gebildet, ebenso ist DtPK
^«na eine Verbindung des Gottes jett»« oder as'*»* (II Kön.
17) mit dem Gotte btt/D. Der Eigenname »YB ctr« entspricht
dem maiaa und ci DtfK dem bibl. a*nrr).
Diese zahlreichen Beispiele lassen betreffs des Poly-
theismus dieser oberägyptischen Juden auch nicht den
leisesten Zweifel mehr bestehen.
Worin besteht nun aber die so außerordentlich wich-
tige Lehre, welche die biblische Religionswissenschaft aus
diesem Momente ziehen soll? Wir wußten von jeher aus
den Berichten der Königsbücher und den Reden der Pro-
pheten, daß die biblischen Israeliten neben dem Gotte
ihrer Väter auch andere Götter verehrt haben. Es war uns
aus der Bibel auch stets klar, daß dieselben Israeliten, trotz
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine. 663
ihres polytheistischen Gebarens, den biblischen Gott als
den höchsten anerkannt haben, wie diese oberägyptischen
Kolonisten, die, trotz der vielen von ihnen verehrten an-
deren Gottheiten, den Gott Israels k»b» nnhx nennen. Wir
wußten aber auch, daß sie jene außerisraelitischen Gott-
heiten, trotz ihrer genauen Bekanntschaft mit
dem biblischen Gesetze verehrt haben, und doch
konnten wir dies der unfehlbaren, extremradikalen Kritik
gegenüber nicht beweisen. Diese unschätzbaren Urkunden
aus biblischer Zeit haben diesen eklatanten Beweis zum
erstenmal, zur Evidenz geliefert. Die hyperradikale Kritik
wird jetzt anerkennen müssen, daß sie den Einfluß des
biblischen Gesetzes auf das religiöse Leben des alten
Israel ganz falsch eingeschätzt hat. Sie wird vielmehr zu-
geben müssen, daß aus der Nichtbeobachtung eines bibli-
schen Gesetzes keineswegs auf das Nichtvorhandensein
dieses Gesetzes geschlossen werden darf. Diese unwider-
legbaren Zeugen aus der biblischen Periode haben jene fast
naiv zu nennende Grundanschauung der ganzen evolutio-
nistischen Methode zu schänden gemacht und endgiltig
gezeigt, daß keineswegs eine u n ü berbr ü ckbare Kluft
zwischen den pentateuchischen Gesetzen einer-
seits und den Berichten der Königsbücher und
den Worten der Propheten andererseits besteht.
Wenn die elephantinischen Juden, nach den Berichten
in Pap. 1—2, fasteten, weinten und den Gott des Himmels
anflehten, daß ihnen bald vergönnt sein möchte, Speise-,
Weihrauch- und Brandopfer in ihrem Tempel darzubringen,
was soviel heißt, als: Gott möge ihnen dazu verhelfen, das
im 3. und 5. Buche Mosis dutzende von Malen wieder-
holte Verbot des Opferns außerhalb des Zentralheilig-
tums möglichst häufig zu übertreten: so hat dieses Moment
in der theologisch-wissenschaftlichen Welt einen wahren
Sturm erregt. Die Radikalen sind überzeugt, daß das 3.
B. M. damals kaum entstanden und das 5. wenigstens bei
664 Die neuen Papyrusfunde in Elephantine.
diesen ägyptischen Juden noch nicht zur Geltung ge-
kommen sein könne. Kein geringerer als Nöldeke hat sich
nach fast vierzigjähriger Weigerung, auf Grund dieser Ur-
kunde veranlaßt gesehen, Wellhausens Priesterkodex-
Theorie höflichst zu akzeptieren, während die Konserva-
tiven zu den verzweifeltesten Ausflüchten gegriffen haben.
Wie würde doch unser Freund Hananjah, der in seiner
Passah-Ankündigung das 2. und 5. B. M. wörtlich zitiert,
während er wenige Zeilen vorher die Adressaten im Namen
der Götter grüßt, sich höchlichst amüsieren über diese
Freudensausbrüche und Schreckensszenen im Kreise un-
serer protestantischen Bibelforscher anläßlich der Worte
und Wendungen, die in seinen Tagen so landläufig und
selbstverständlich waren.
Freilich die Lösung des religionspsychologischen Rät-
sels von der Harmonie der denkbar schroffsten Gegensätze
im Geiste der biblischen Israeliten haben wir von diesen
Urkunden nicht zu erwarten. Wir können diese rätselhafte
Erscheinung in allen Perioden der Religionsgeschichte, wie
auch im religiösen Leben der Gegenwart wahrnehmen. Wie
es psychologisch begreiflich ist, daß man moralische For-
derungen aus Gründen moralischer Schwäche unbeachtet
läßt, ebenso denkbar ist es, daß man aus abergläubischen
Motiven, oder sonstigen subjektiven Meinungen, religiösen
Glaubenssätzen gleichgültig gegenübersteht. Wenn der
Talmud und die religiöse Literatur des Mittelalters der
von allen Propheten dem Götzendienste gleichgestellten
Astrologie huldigten, weil sie den herrschenden Anschau-
ungen ihrer Zeit nicht widerstehen konnten, warum soll
David nicht aus ebensolchen Motiven die segenspendenden
Teraphim in seinem Hause geduldet haben, warum sollen
nicht unsere Kolonisten, unbeschadet ihres Glaubens an
die unfaßbare, überweltliche Erhabenheit des tro» nnbx,
auch den Untergöttern manchen Einfluß auf bestimmte
Naturkräfte zugetraut haben? Sicherlich haben sie diesen
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine. 665
sekundären Gottheiten, denen sie vielleicht nur den Cha-
rakter von höheren intelligiblen Substanzen verliehen
haben, keine uneingeschränktere Gewalt, als die Kabbala
dem Metatron, zuerkannt. Und wer wollte wagen, die Kab-
balisten nicht für Monotheisten zu halten! Wenn der orien-
talische und osteuropäische Jude, im Notfalle die Zauberin
aufsucht, ohne sich um die diesbezüglichen biblischen Ver-
bote zu kümmern, warum sollte nicht Saul, der, der bibli-
schen Vorschrift gemäß, die Totenbeschwörerinnen und
Zauberinnen ausrotten ließ, in der Not die Hexe von En-dor
aufgesucht haben, und warum sollen ferner die »in Elend
und Hunger vergehenden« jüdischen Frauen in Ober-
ägypten nicht der »Königin des Himmels« geräuchert haben?
Wenn wir einerseits berücksichtigen, daß Jeremias
den Polytheismus der Eltern und Großeltern unserer Ko-
lonisten, sowohl seinem Charakter wie seinen Motiven
nach, dem ihrer palästinensischen Vorfahren gleichstellt
(Jerem. 44, 3. 8. f 15 — 21), und andererseits bedenken, daß
diese Juden, welche Jeremias schon am Beginne des H. vor-
chr. Jahrh. vorgefunden hat, und die die exilische Läuterung
nicht erfahren haben, für uns das vorexilische Israel re-
präsentieren und uns eine klare Illustration biblischer Po-
lytheisten bieten, so müssen wir, ohne uns zu schämen,
eingestehen, daß das religiöse Niveau jener Polytheisten von
uns ungerechterweise viel zu tief eingeschätzt worden ist.
Wahrlich, eine so grelle Beleuchtung biblischer Ver-
hältnisse durch zeitgenössische Urkunden übertrifft alle
unsere Erwartungen. Mögen daher unserer Religionswissen-
schaft noch viele solcher Funde vergönnt sein. Und mögen
auch unsere tonangebenden Religionshistoriker endlich an-
fangen umzulernen und ehrlich zuzugestehen, daß
die trad itio n e 1 1 e Auf f ass u n g der altisraeliti-
schen Religionsgeschichte voll und ganz ge-
rechtfertigt ist.
Eine unbekannte jüdische Sekte.
Von Louis Ginzberg".
I.
> Israel wanderte nicht eher ins Exil, als es in vier-
undzwanzig Sekten zerfiel«. Abgesehen von der Zahl vier-
undzwanzig, die man wohl als eine haggadische Lizenz1)
betrachten darf, enthält dieser Ausspruch R. Jochanans*)
eine tiefe Wahrheit. Der Untergang des jüdischen Staates ist
nicht allein der Eroberungspolitik der Römer3) zuzuschreiben,
sondern auch dem Parteihader und Sektenhaß der Juden, die
ihren Staat aus den Fugen hoben, lange bevor ein römischer
Soldat den Boden Palästinas betrat. Die Kämpfe zwischen den
Pharisäern und Sadduzäern sind die einzigen sicheren Daten
in der inneren jüdischen Geschichte während des Jahrhun-
derts, welches der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 voraus-
ging. Die Gegensätze aber, weiche diese Kämpfe heraufbe-
schworen, sind uns äußerst mangelhaft bekannt.Dierabbinische
Tradition sieht im Sadduzäismus nichts anderes als einen
Abfall von der wahren Religion, deren Träger die Pharisäer
waren. Für den modernen Historiker dagegen ist der Gegen-
satz zwischen Pharisäern und Sadduzäern der zwischen einer
kirchlichen Partei und der weltlichen Macht. Da nun der
Talmud und Josephus, bisher die einzigen Quellen für unsere
Kenntnis des Parteiwesens, pharisäische Tendenzen ver-
*) Vgl. R. Hai Oaon in 'Aruk s. v. 1DJ?, der schon die Bemer-
kung macht: KDnjl "»KSH pB^S TS nöHp-p, vgl. jedoch Responsen, ed.
Harkavy, 281.
») Jer. Sanhedr. IX, 29c.
z) R. Jochanan spricht zwar von dem ersten Exil, aber für
Kenner der Haggada bedarf es keiner Beweise, daß die Haggada in
ihrer Darstellung des zweiten Exils biblisches Material verwendet.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 667
folgen, so würden ihre Angaben auch dann nicht für eine
wahre Beurteilung der Parteiverhältnisse ausreichen, wenn
sie bestimmter und reichhaltiger wären als sie es sind. »Au-
diatur et altera pars« ist die erste Bedingung für das
richtige Urteil des Richters wie des Historikers, und so
lange man diese Bedingung nicht erfüllen kann, muß man
mit seinem Urteil zurückhalten.
Sind unsere Kenntnisse der drei großen Sekten, der
Pharisäer, Sadduzäer und Essäer als mangelhaft zu bezeichnen,
so sind uns die vielen Unter- und Nebenströmungen der-
selben nicht einmal dem Namen nach bekannt. Die Anhänger
dieser Richtungen erscheinen in der talmudischen Literatur
unter den kollektiven Bezeichnungen cra oder n'Jian, so
daß uns jede Möglichkeit genommen ist, die Individualität
dieser verschiedenen Richtungen kennen zu lernen1). Nichts
wäre geeigneter unsere Unkenntnis des Sektenwesens zu
veranschaulichen, als wenn wenigstens einige zusammen-
hängende Blätter aus der Hand eines alten Sektierers zu
uns gelangten.
Diese Überraschung ist uns nun in der Tat zuteil
geworden. Die Genisah zu Kairo, diese große Fundgrube
literarischer Schätze, hat uns eine Schrift2) aufbewahrt, in
der wir zum ersten Male die Stimme eines Sektierers ver-
nehmen, und die von nun an zuerst gehört werden muß,
bevor man über das jüdische Sektiererwesen sprechen will.
Professor Schechter, der glückliche Entdecker dieses
Schatzes, nennt diese Schrift: »a Zadokite Work« und gibt
in der Einleitung zu derselben seine Gründe für diese Be-
]) Daß pa manchmal Juden-Christ ist, steht fest, aber ebenso
sicher ist es, daß häufig dasselbe Wort ganz etwas anderes bedeutet
*) Der volle Titel ist: Documents of Jewish Sectaries vol. I.
Fragments of a Zadokite work, edited from Hebrew manuscripts in the
Cairo Genizab Collection . . . and provided with an English Transla-
tion, hitroduction and Notes by S. Schechter Cambrigde University
Press 1910.
668 Eine unbekannte jüdische Sekte.
nennung. Ich werde in einem besonderen Abschnitt über
die Sekte sprechen, deren Credo in diesem Fragment nieder-
gelegt ist. Bei dem argen Zustande aber, in welchem diese
Schrift sich befindet, halte ich es für richtig, zuerst den
Text genauer zu untersuchen und dann zur Diskussion
desselben überzugehen.
II.
Manche in den folgenden Abschnitten vorgeschlagene
Emendationen zu unserem Texte1) setzen die demselben
eigentümliche Orthographie voraus, weswegen es sich em-
pfiehlt in Kürze auf diese Eigentümlichkeiten hinzuweisen.
A) Für o wird in folgenden Fällen 1 gesetzt;
1. der Infinitiv constructus des Kai wird beinahe
immer2) plene geschrieben: 8, 5 tib-ji oipji; 6, 18 moe^i; 6, 21
wrrhx; 6, 16 b)nbv, 2, 15 dik^i ,-nm^i; 1, 7 b>it^; l, 14 mopa;,
5, 5 -nnj?; 8. 6 nu#i; 12, 6 -pott^»; 11,1 pmS; 10, 8 DlBtt6.
2. die Nomina segolata haben einige Male l wo die
Massora nur die defekte Schreibart kennt: 4, 12 pin; 12, 1
«nip; 4, 6 enipn; 2, 5 mo; 2, 4 am; 1, 7 «nw;
3. das Imperfect Kai wird beinahe immer plene geschrie-
ben8): 8, 3 -potpn; 9, 2 -man oipn; 3, 3 iidb»i; 16, 13 ivr;
13, 12 $>wd<; 12, 13 tfiain; 12, 10 iioö»4).
B) Füre findet sich » in folgenden Fällen: 3, 16 ntty; 2, 7
fiö^D; 2, 6 jvvkip; 1, 13 mniD; 13, 1 m*K*oi; 5, 14 DiTS'3;
5, 14 »jpa: 9, 23 DTP; 1, 9 D'trtPK; 6, 20 tmm*03; 4, 6 bmtbi.
C) Für o steht l in Fällen wie: 11, 1 rtoip; 8, 2 DlpieV;
12, 9 wn»; 1, 3 o^jnaa6); 14, 6 ontfi^6).
*) In Betracht kommt nur Fragm. A, während B in den meisten
Fällen der massoretischen Schreibart folgt.
*) Nur 6, 10 noj? und 7, 9 ipes bilden eine Ausnahme.
4) Neben 13D\ das aber vielleicht "i?D^ zu lesen ist; vgl. weiter
unten die Erklärung dieser Stelle.
*) Vgl. jedoch 14, 6 "tpBv
6) Gegen die Massora haben Sifri und Sifri Z. in Nutn. V, fr
b^üh für työS.
6) Daneben aber auch 14, 4 crwbvl
Eine unbekannte jüdische Sekte. 669
D) Für u steht l in: 2, 11 trina»; 11, 23 rfrü; 5, 12
yn; 2, 9 noin, wobei zu bemerken ist, daß in allen diesen
Fällen Dagesch forte folgt1).
Ebenso steht für i ' bei folgendem Dagesch forte in:
4, 8 fcnn; 1, 6 wrh; 16 6 (?^jn) bw, 3, 9 Drmtt'Ji.
In einem Falle2) — 4. 20 D'tPem — sogar ohne daß
darauf ein Dagesch forte folgt. Auffallend aber nicht beispiel-
los sind 1, 9 D**nM'ö5l und 8, 5 -ntrj wo » für Schewa ge-
braucht wird.
Trotz der Vorliebe für die volle Schreibart finden wir
auch defektive Schreibarten, wo die Massora immer oder
vorwiegend plene hat wie: 9, 10 D'tactyn; 10, 18 P~!; 11, 21
epl* und ebenso 10, 9 v? sowie 11, 2 i?£sr\ Zu den weiteren
orthographischen Eigentümlichkeiten unseres Fragments ge-
hören die Auslassungen der Plural- und Feminin-Endungen
der Nomina sowie der Suffixe: 5, 7 bnao — 0'^H3ü; 5, 13
p*?3) = mpn; 4, 18 kbö = riKBB; 2, 6 Vjn = rtan; 12, 8
•W2n = JVinn; 2, 9 Tay» = oiaya» Nach aramäischer Ortho-
graphie findet sich 6, 7 »M für am» während 2, 3 n"»in
die im Neuhebräischen gebräuchliche Schreibart für ,T*nn ist.
III.
1, 2: rat«3D ^>33 ntrr ödtpöi. Der Hinweis S. auf
Gen. 18, 25 taotfo rwjP ist nicht ganz genau, denn an
dieser biblischen Stelle bedeutet '»ö 'V »Gerechtigkeit üben«,
während es an unserer Stelle mit »Gericht vollziehen« zu über-
setzen ist, wie auch S. richtig »execute judgement« hat.
Die biblische Parallele zu diesem Gebrauch von '»ö y ist
Ps. 149, 9 bb#b DH3 rrwyh und daher auch an unserer Stelle
mit 3 konstruiert.
») Auch im Ben Sira wird in zahlreichen Fällen 1 geschrieben.
Vgl. Smend. Einleitung.
2) Vgl. auch 13, 11 lSawi, wofür auch fov* zu lesen ist.
3) Im Text Wt, wahrscheinlich aber stand ursprünglich 'p"1
und haben die Abschreiber den Strich über dem p, der die Abkür-
zung andeuten sollte, für ein 1 angesehen.
670 Eine unbekannte jüdische Sekte.
1, 5: 'Ol m«ö wbw D'W. Trotz on»y ö\w — lj 10 —
und o*yai« o*:»3 — 20, 15 — ist der Gebrauch von o*jb>
in diesem Verse höchst befremdend, da die Zeit durch den
folgenden Satz djyik i/vr6 näher bestimmt wird und man
daher r\w erwarten würde.
1, 7 : nirao eni» . . . noan. S. möchte mit Rücksicht
auf Jes. 60, 21 *) lyoo «hm lesen, aber unser Verfasser hat
wohl an Jer. 12, 2 ibm» DJ onyüj gedacht, und man über-
setze daher, »und er ließ hervorsprießen aus Israel und
Aaron die Wurzel, die er gepflanzt hat«. In den Jahren des
Leidens konnte Israel sich nicht entwickeln, es existierte
nur als eine Wurzel ohne Zweige und Früchte; erst nach
dem Ablauf der Jahre des Leidens konnte es sich entfalten.
Unser Verfasser spricht hier nicht wie S. — Einleitung 12 —
annimmt, von einer bestimmten Person, etwa dem Stifter der
Sekte, sondern vom ganzen Volke, das er näher als Israel
und Aaron bezeichnet. Daher auch pfiKöi ^itfo man,
während der Messias ^K"it»>oi priKS rrtra ist. Sprachlich ist
zu ju*BD enw noch zu bemerken, daß im Talmudischen
nyoo = biblisch yüö ist, und daß ferner in diesem Fragment
die Suffixe häufig unbezeichnet bleiben, so daß fiyos so
viel wie myco ist.
1, 12: pirm TVT3 rTtt>y itt» /1K. S. ist vollständig im
Rechte die Worte jnriK insfür einen Schreibfehler zu erklären,
da doch kaum anzunehmen sei, unser Verfasser hätte ge-
schrieben »und er verkündete den spätem Geschlechtern
was er dem spätem Geschlechte tat«, wo doch das spä-
tere Geschlecht sicher für eine frühere Zeit steht als die
späteren Geschlechter. Jedoch ist S. Emendation pcxi "iH3
kaum haltbar, denn abgesehen davon, daß sich nicht gut
erklären läßt wie aus \vtnn, \nnx entstand, kann ptrtfi im
kaum »former generation« bedeuten wie S. übersetzt, dies
würde heißen oma^D rrn -f« nna. Man lese daher ina
pin »das Geschlecht des Zornes«, die Zeit des Leidens
*) So das Ketib, das Kere "VüO.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 671
ist für unsern Verfasser die Zeit des Zornes. — 1,5 — und
das Geschlecht, über welches Gott das Leiden sandte, ist
das Geschlecht des Zornes, denn nur als Folge des göttli-
chen Zornes ist für unsern Verfasser ihr Leiden erklär-
lich. Der Ausdruck pin in entspricht genau dem biblischen
vnap in Jer. 7, 29, während « das in pin« für pin dem
vorhergehenden D'jnn« sein Dasein verdankt1). Möglich wäre
es auch, daß \nm Tria ein Doublette zu iwrwt* wnnfr ist,
indem neben der Leseart 'n« "ib X?"n*i eine zweite '12 FtV"\
•n* bestand, die dann beide in den Text gerieten. Jedoch
ist die Verschreibung von pin in zu pin» '1 sehr leicht
erklärlich, und wir dürfen daher pin in als den korrekten
Text betrachten.
1, 15: ata »0*0. Ähnliche Ausdrücke für falsche Lehren
sind D'jnn O'a »schlechtes Wasser« im Spruche Abtalions
— Abot. 1, 12 — und amay o*a2j »getrübtes Wasser«, Sifre
Deut. 48 = Midrasch Tannaim 42. Wie in den rabbinischen
Quellen so ist auch in unserem Texte unter »trügerisches
Wasser« falsche Lehre seitens jüdischer Lehrer zu verstehen
und nicht etwa heidnische Lehren; der pi6n #»« ist demnach
sicher ein jüdischer Gegner der Sekte und nicht etwa Anti-
ochus Epiphanes, der die Juden zum Abfall von ihrer Reli-
gion zwang. Auch der Ausdruck Ppsn deutet darauf hin, daß
der b*bb — vgl. 4, 19 — ein falscher Lehrer sei, denn auch
in der Schrift wird ipan nur von den Propheten, falschen wie
wahren, gebraucht.
1, 15: d^ij? mnaji nvnfrt Dieser Ausdruck ist nicht wie
S. annimmt Jes. 2, 11; 17 entnommen, denn an diesen Stellen
bedeutet dik nvai der Stolz des Menschen, was hier gar
keinen Sinn gibt, sondern ist Hab. 2, 6 oby /vyaj m# nach-
gebildet. Jedoch ist es nicht nötig /maa in myaa zu ändern,
da unser Verfasser ziemlich häufig kleine Änderungen in
i) Vgl. auch Ps. 95, 10—11.
») Meiri Abot 1, 12 zitiert aus Sifre die vom Midr. Tannaim ge-
botene Leseart.
572 Eine unbekannte jüdische Sekte.
den biblischen Zitaten sich erlaubt. Man wird übrigens nicht
fehl gehen, wenn man n1n?? von ^^a »Höhe« liest und nicht
rnnaj, obwohl biblisch wie mischnisch ^ dafür gesagt wird.
1, 16: b)2) V"D% Mit Rücksicht darauf, daß es in der
Schrift nie anders als •} Tut] heißt - Deut. 19, 14; 27, 17;
Hos. 5, 10 und Spr. 22, 28 — sowie daß unser Verfasser
— 5, 20 — selbst von den 'jn »roa spricht, wäre man ge-
neigt jtd^i in yob) zu emendieren. Es ist jedoch nicht aus-
geschlossen, daß hier absichtlich jron für ron gebraucht ist,
denn dies drückt den Gedanken des Verfassers, der den
Gegnern vorwirft, »sie rissen die festgesetzten Lehren nieder«
besser aus, als das biblische 'J yDfl, das die Grenzen, ver-
rücken, bedeutet. Eine interessante Parallele zu unserem
Verse ist der Derasch R. Simons1) zu Spr. 22, 28, der die
Worte der Schrift »verrücke nicht die uralte Grenze, welche
deine Väter festsetzten« dahin erklärt: b* yrm* itrytf anao
im« nJtP/i »einen Brauch, den deine Väter einführten, ver-
ändere nicht«. Diese Midraschstelle ist wohl die Quelle
für die Bemerkung des DH'Dn ICD S. 207, ed. Wistinetzki:
. . . owa^ irnn bv pw noK* *bv &yw*i . . . bin yon »b
jpi/iD Kirw las jwa bl *bx »verrücke nicht die Grenze . . .
die die Vorfahren festsetzten, d. h. man gebrauche nicht die
für die Rezitation des Pentateuchs festgesetzte Kantilation
beim Vortrage der Propheten, sondern für die verschiedenen
Teile der Schrift die verschiedenen von Alters her festge-
setzte Melodien.« Diese Midraschstelle ist ferner die Quelle
für Midrasch Aggada, Deut. 199, was Buber entgangen ist.
1, 19: iKisn 3123 rran« Der Ausdruck ikwi 3iö ist
») Midr. Mischle z. St., ed. Buber 93. Vgl. auch Sifre Deut. 188,
wo die Stelle in Deut. . . ron Hb auf die richtige Überlieferung der
Lehren der einzelnen Gelehrten bezogen wird; der Text ist wohl
nach Midr. Tanneim z. St. zu emendieren. Vgl. auch das slavische
Buch Henoch 52, 9, »gesegnet sei derjenige, welcher die Grundfesten
behält, welche die Väter in uralter Zeit gründeten,« wo gleichfalls
ein Derasch zu Spr. 22, 28 vorliegt. Im äthiop. Henoch 91, 2, 14 ist
dieser Derasch verwischt.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 673
biblisch — Hosea1) 10, 11 — und unsere Stelle muß dem-
nach übersetzt werden: »und sie wünschten sich einen
feisten Nacken«; den Gegnern wird vorgeworfen, daß sie
nur darauf bedacht sind, sich gehörig auszufüttern. Die Spötter
in Israel, bemerkt der Midrasch — Tanchuma, ed. Buber, II,
129 — sprachen: •mt i«n, seht den Fleischnacken Moses',
was er ißt, gehört den Juden, und was er trinkt, gehört
den Juden. Auch in dieser Midraschstelle steht "ikiu für den
ganzen Körper und ebenso in einem Spruch der Weisen
D\ncn nnao 1, 29: n««j nvr» p/v xb rrrapai rhwa poyno» »a
\cü icoi ap »wer dem Studium der Thora und den frommen
Handlungen obliegt, der kann keinen feisten Hals oder fetten
Körper haben.« Der Vorwurf, den unser Verfasser gegen
seine Gegner erhebt, ist der, daß sie den irdischen Ge-
nüssen fröhnen, und diese Charakteristik hat eine Parallele
in der Himmelfahrt Moses VII, 4: »da sie betrügerische
Leute sein werden, nur sich seibst zu Gefallen lebend . . .
und zu jeder Stunde des Tages gern schmausend und mit
der Kehle schlingend«.
2, 2: D'Pfcn »3*na d::?« nbjsi Es liegt absolut kein Grund
vor, ddjtk in orry zu emendieren, wie S. vorschlägt, denn
der Verfasser wollte seine Leser nicht auf etwas aufmerk-
sam machen, das vor den Augen der Menschen sich ab-
spielt oder abgespielt hat, wie in 2, 14, sondern er will
die Strafe der Gottlosen verkünden, und zwar nicht auf
Erden, sondern im Jenseits; es ist eine Lehre, die er vor-
trägt und D3JTK n^JK der einzige zulässige Ausdruck. Frei-
lich muß man bei dieser Auffassung nicht in den Irrturr.
verfallen owi '5TI mit »den Wegen, welche die Bösewichter
wandeln« übersetzen, die Wege sind vielmehr die »K '3nb
— 2, 5 — , das Gehenna, wohin die Bösewichter kommen,
um ihre Strafe zu erhalten. Der biblische Vers Ps. I, 6
"DKfi DWi "pm D'pnx "]V7 "> jnv ?3, an den wohl unser
») Vgl. Ehrlich z, St., der TnsjJ mit »erfassen« übersetzte, rieh
tiger wohl »betrachten«.
Monatsschrift. 65. Jahrgang. ^o
674 Eine unbekannte jüdische Sekte.
Verfasser bei dieser Stelle dachte, wird im Midrasch The-
hillim z. St., ed. Buber, 24, dahin erklärt, O'pnsn n« p mm
orrÄ p"nai DWWl n« pi pv pf? p^iai, »er — Gott — sitzt
zu Gericht über die Frommen, die er alsdann nach dem
Paradiese führt, und er richtet die Gottlosen, die er schuldig
befindet,umim Gehinnom bestraftzuwerden«. Dieser Midrasch
versteht demnach unter o'pnx "pn und o'yttn -pn die Wege,
auf welchen die Frommen und die Gottlosen sich zu ihren
Bestimmungsorten begeben. Auch Rabban Jochanan b.
Sakkai sprach1) auf seinem Todtenbette »von zwei Wegen,
dem einen, der nach dem Paradiese führt, und dem anderen
nach der Hölle«.
2, 4: np-n na*iy Wie schon S. bemerkte, bedeutet hier
noiy nicht Schlauheit, sondern, wie Sprüche2) 8, 12. Ein-
sicht, Verstand, und ich möchte noch hinzufügen, daß im
Talmud auch jtbib"iP Verstand ist, nicht Schlauheit, wie aus
Niddah 45b zu ersehen ist.
2, 4: ibj; D'bk "px S. verweist auf Exod. 34, 6; aber
dort ist TW Adjektiv, während es hier ein Nomen ist, wie
iül> zeigt, und wonach vielleicht "H* zu lesen ist, obwohl
auch Jerem. 15, 15 die Massorah T™ und nicht Tfc liest.
Möglich ist auch, daß8) rnwho an W o^os "pK zu lesen ist;
»er ist langmütig und bei ihm ist Fülle der Verzeihungen«,
und für diese Annahme spricht die Tatsache, daß im
Rabbinischen d^ok man« und nicht '« "p« gesagt wird,
wobei allerdings nicht zu vergessen ist, daß gemäß der in
unserem Fragmente auch sonst angewandten Orthographie
"p* auch für man« stehen kann. Vgl. auch Ben Sira XVI, 11
iay c]Ki iram *a,
») Vgl. Berachot 28 b; Abot R.Nathan XXV, 79, ed. Schechter.
*) Eine bessere Parallele zu unserem Texte ist Spr. I, 4, wo
n)H und no*^ wie in unserem Fragment zusammengestellt sind.
») Ist Jesaia 55, 7 mScS r^ "3 nachgebildet; in der liturgischen
Formel n^omn tyai mn^D an ist ai wohl mit »Meisten zu über-
setzen, wie der Parallelismus tya verlangt.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 675
2, 6: bin '3«ta Bei der Häufigkeit des Ausdruckes
7\bm '0 in der talmudisch-midraschischen Literatur ist es
höchst unwahrscheinlich, daß unser Verfasser von bim '3t6o
oder ^? sprach. Das fehlende n am Ende ist nicht ein
Schreibfehler, sondern die in unserem Fragmente auch sonst
gebrauchte Orthographie, die das Feminum n nicht immer
ausdrückt.
2, 8: otö rinn jw awn. Daß dieser Satz korrumpiert
ist, bedarf keiner weiteren Beweise. Doch läßt sich der
richtige Text leicht herstellen; denn er ist Ps. 5, 7 nach-
gebildet, wonach D'cn min zu lesen ist, »Geschlechter
beladen mit, Blutschuld« entsprechend dem biblischen tt»*tt
3WP ovtf. Die Blutschuld ist es nämlich, die das Verderben
der Sünder verursacht. Möglich wäre auch, daß dtk nnn
»die Geschlechter der Menschen« oder cnp n »Geschlechter
der Urzeit« zu lesen ist, als Parallele zu der zweiten Hälfte
des Verses y^n f°- ADer die zitierte Psalmstelle spricht
für onjn.
2, 9: ooin IV '8. Es liegt kein Grund vor, mit S. hier
eine Lücke anzunehmen; man lese oain nyio und übersetze:
und er — Gott — verbarg sein Antlitz vor der Erde zur Zeit,
die bestimmt war für ihre — der Bösewichter — Vernichtung.
2, 9, 10: obw »w bsh . . . VT\ »Und er wußte die
Jahre des Bestehens, die Zahl und das genaue Ende alles
dessen, was existiert und existiert hat, sowie das, was
kommen wird am Ende der Jahre (= Zeiten) der Welt«.
Gottes Allwissenheit erstreckt sich über alles, über das
Seiende \1n' das Gewesene W?nj und das Zukünftige Kit na
und zwar über all das Einzelne der Ereignisse. Die Ortho-
graphie wo für oföyo und neoa für onoon sowie »vi für
nm — Exod. 9, 3! — bietet nach dem im Abschnitt II Be-
merkten nichts Auffälliges, da in diesem Fragment die Suf-
fixe häufig ausgelassen werden.
2, 12: ittnp nn irrem TO Qpim* S. übersetzt: »And
through his anvinted, H. made them know his Holy Spirit.«
43*
676 Eine unbekannte jüdische Sekte.
Wollte man aber sogar S. Ansicht akzeptieren1), wonach
der Messias dieser Sekte auf Erden geweilt hat und nur
für eine Zeit verschwunden ist, um wieder zu erscheinen,
so könnte an dieser Stelle irrwö unmöglich mit »seinem
Messias« übersetzt werden, denn ojnvi bezieht sich auf die
vergangenen Geschlechter im Laufe der Geschichte, während
das Erscheinen dieses Messias erst beim Entstehen dieser
Sekte stattfand. Bedenkt man nun, daß dieser Satz dem
von Nehemia — 9, 30 — TK'aj T3 "inna oa lyni entspricht,
so ergiebt sich, daß inT? »seine Gesalbten« für roraa steht
und zwar hat unser Verfasser gemäß seiner Anschauung2)
von der großen Bedeutung der Patriarchen für die wahre
Lehre absichtlich in»»B anstatt VK'33 gebraucht, wobei
er das Beispiel von Ps. 105, 15 »rptföa ijnn bx, befolgte, wo
»meine Gesalbten« so viel wie die Patriarchen3) sind und
wo ferner nve>8 als Parallele zu waaa — unn btt waa^i steht
Will man aber die Leseart innPB beibehalten, so muß man
pfäyvb lesen und übersetzen: »Und während all dieser
Jahre ließ er erstehen . . . damit er ihnen — am Ende der
Zeiten — durch seinen Messias seinen heiligen Geist ver-
künde«. Gegen die Auffassung von lnnPö als »sein Messias«
spricht aber die Tatsache, daß unser Verfasser immer
nur von dem Messias als ^ki»»bi pviNB n»»o spricht, und nicht
von **» rrtpo.
Sehr bezeichnend sind die Worte na« Kim wip nn
das nicht allein uns als hebräisches Äquivalent für
7tveu|x.a T7}<; äX^eia? gilt, sondern auch für die Entwicklung
*) Vgl. weiter unten Abschnitt V.
*) Vgl. Schechter Einleitung 29. Diese Ansicht tritt auch im
Buche der Jubiläen sehr stark hervor. Übrigens hält auch die rabbi-
nische Tradition — Seder Olam XXI — »die Väter« für Propheten,
und dies ist auch die Ansicht Philos, Quis div. haer. sit XII, der sogar
darin der rabbinischen Tradition folgt, daß er Noah zu den Pro-
pheten zählt.
•) Vgl. Midr. Tehill. z. St. wann ib* WVD3 »meine Oesalbten,
darunter sind die Väter zu verstehen.«
Eine jüdische unbekannte Sekte. 677
dieses Begriffes von Bedeutung ist1). Im Buche der Jubiläen
XXV, 15 ist der Geist der Wahrheit na« rrn identisch mit
dem untrüglichen prophetischen Geiste, weßwegen wir
auch in einigen Handschriften »heiligen Geist« für »Geist
der Wahrheit« lesen, dagegen ist für unseren Verfasser
der Geist der Wahrheit der Geist, der den Menschen zur
Sittlichkeit und Frömmigkeit leitet, der sich zwar am deut-
lichsten in den guten und frommen Handlungen der »Ge-
salbten Gottes« offenbart, aber nichtsdestoweniger einem
jeden Menschen innewohnt, so daß die Sünder durch ihre
sündhaften Taten diesen heiligen Geist verunreinigen —
5, 11 — indem sie sich dessen Leitung widersetzen. Genau
dieselbe Anschauung findet sich im Test. XII. Patr., wofür
besonders folgende Stelle — Judah XX, 1 — sehr lehrreich
is. »Erkennet nun, heißt es daselbst, daß sich zwei Geister
mit dem Menschen abgeben, der der Wahrheit und der
des Irrtums, und der mittlere ist der der Einsicht, des Ver-
standes, wohin er neigen will.« Ähnlich heißt es auch,
Weisheit Salomos VII, 27: »und von Geschlecht zu Ge-
schlecht in heilige Seelen übergehend, begabt sie Freunde
Gottes und Propheten mit Geist«.
2, 13: DrrövttV idb> emoai. S. hält »» für einen Schreib-
fehler veranlaßt, durch das folgende vrinov« gibt aber zu,
daß, wenn man auch io# streiche, der Satz keinen Sinn
gibt. In Wirklichkeit aber liegt kein Grund für irgend
welche Emendationen vor, der Satz rtpnn . . . wnoai bezieht
sich auf die otr '«np Zeile 11 und man übersetze: Und sie
— die von Gott erwählten — hinterließen unverwüstlichen
*) Vgl. Ausführliches darüber Bousset, Religion desjudenthums,
S. 343 und 375 ff., dessen Ausführungen jedoch der Berichtigung be-
dürfen; seine Angabe, daß nach der Ansicht der Testamente der Patri-
archen der Messias diesen Geist über die Frommen ausgießen werde,
beruht auf einem Irrtum, denn Judah XXIV, 3 ist vom »Geiste der
Gnade« und nicht von dem der Wahrheit die Rede. Wohl aber liegt
diese Vorstellung vor in Joh. XV, 26, wo aber wahrscheinlich 7Cvei5[X(X
vifc dcV/jO-eiai; einen Grad der Prophetie bezeichnet.
678 Eine unbekannte jüdische Sekte.
Namen1), die er — Gott — aber haßte, führte er irre. Die
Bedeutung von aV °fr »sich einen Namen machen« ist zwar
nicht biblisch, wohl aber talmudisch, wie aus Ber. 7 b her-
vorgeht, wo Ps. 46, 10 mos av soviel als wo* bw erklärt
wird.
2, 18: i?mo m. Es liegt kein Grund vor nn in 03 zu
emendieren, wie S. tut, denn, obwohl der Verfasser in
der vorhergehenden Zeile D3 gebraucht, so handelt es sich
hier hauptsächlich um >eine« Sünde, die den Fall der Engel
herbeiführte, nämlich r\m, weswegen der Singular na ganz
in Ordnung ist, und auch Seite 3, 1 wird auf diese Sünde
mit na hingewiesen.
2, 19: pnwti D»nn3l. Die Legende2) erzählt, daß die
Nachkommen der gefallenen Engel 3000 Ellen hoch waren
— Henoch 7, 2 — , manche gehen noch weiter und be-
haupten, daß Og, der unbedeutendste unter diesen Riesen8),
von so hoher Statur war, daß sein Schenkel mehr als
drei Parasangen maß, Niddah 24 b. Auf solche Anschauungen
gehen wohl die Worte unseres Textes »und wie Berge
waren ihre Körper« zurück; Test. XII Patr., Reuben V, 7
heißt es sogar: die gefallenen Engel reichten bis zum Himmel.
2, 19—20: pu *a . . . i«?B3 '3. S. liest beide Mal p üi
für »3, aber ohne triftigen Grund, die Konstruktion in diesem
Satze hängt von Z. 16 D'3i '3 ab: »Nicht hänge man den
sündhaften Gedanken und den Augen der Unzucht nach,
denn viele4) wurden durch dieselben irregeführt . . . denn es
fielen ihre — der gefallenen Engel — Söhne, und all das
Fleisch, das auf dem Trockenen war, ging zugrunde.«
') Wörtlich: mit Deutlichkeit setzen sie ihre Namen; unser
Verfasser gebraucht OV DV in dem Sinne, in welchem in der Schrift
DW nvy gesagt wird.
») Vgl. die Legenden über die Nachkommen der gefallenen Eagel
in meinem »Legends ofthe Jews«, I, 125, 150, 160; III, 268,343—346.
3) Vgl. meine Legends of the Jews III, 346.
*) cai ist vielleicht an dieser Stelle mit »mächtige»« zu über-
setzen.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 679
2, 21: Dirrp jva» im "HDtf vfo). Dieser Satz ist eine
Anlehnung an Jesaia 22, 1 1 und findet sich beinahe wört-
lich im slav. Henochbuche VII, 3, wo die gefallenen Engel
als diejenigen beschrieben sind, »welche von dem Herrn
abfielen, den Geboten Gottes nicht gehorchten und nach
ihrem eigenen Willen handelten«. Eine andere Anlehnung
an diese Worte Jesaias findet sich Seite 3, Zeile 6—7.
3. 1: D>mr: an na an nno^m. S. liest Dfivnnwöi, was aber
kaum annehmbar ist, da doch nicht anzunehmen ist, unser
Verfasser hätte gesagt »die Familien der Söhne Noahs sind
ausgerottet worden«,während doch die Gesamtmenschheit nur
die Nachkommenschaft der Söhne Noahs ist. Man lese ninoiPD
an »die Familie Harns« sind die Kanaaniten, die ausgerottet
worden sind, und zwar wegen ihrer unzüchtigen Handlungen
— Lev. 18, 29 trroji najnnn — , weswegen unser Verfasser
in Übereinstimmung mit dieser biblischen Stelle behauptet:
D*moa an fD . . . iyn na, wobei na auf nur in 2, 16 zurück-
greift, wie oben bemerkt worden ist. Wie unser Ver-
fasser, so spricht auch das Buch der Jubiläen 20, 4; 22, 21
von der Ausrottung Kanaans; »der Same Kanaans wird
ausgerottet werden aus dem Lande, denn in der Sünde
Harns hat Kanaan sich vergangen1), und all sein Same wird
ausgerottet werden von der Erde, und alle seine Nachkom-
men, und kein Abkömmling von diesen wird gerettet werden
am Tage des Gerichtes«.
3, 2: nWM an ♦ ♦ , r\ S. liest am« rwm, was aber
meines Erachtens aus sprachlichen Gründen kaum zulässig
ist, höchstens könnte man sagen am« "b vwm »und Gott
erwarb sich ihn zum Freunde«, wie auch die Mischnah —
Abot 1, 6 — an "$ jwy sagt. Wenn die Buchstaben pn
beibehalten werden sollten, dann kann man nur am« invjm
') Der Orund für die Ausrottung Kanaans ist im Buch der Ju-
biläen verschieden von dem in unserem Texte, der sich enger an
Lev. 18, 29 anschließt. Über die Zügellosigkeit der Kanaaniter vgl.
aneh Pes. 113 b.
6S0 Eine unbekannte jüdische Sekte.
»und er pries ihn1) als seinen Freund«, wahrscheinlich aber
ist einfach in«"ip>i zu lesen, »und er nannte ihn seinen
Freund«, womit auf Jes. 41, 8 »»rot oma« hingewiesen wird,
wie auch im Buche der Jubiläen 19, 9; 31,19 und Apoka-
lypse Abrahams IX von Abraham, dem Freunde Gottes,
gesprochen wird. Auf die zitierte Bibelstelle geht wohl auch die
Bezeichnung Abrahams als TT in Mechilta, Ber. 18 zurück1').
3, 4: o^!j^> nna *^yai. S. übersetzt: »and men of the
covenant for ever«, aber »Bundesgenossen« ohne nähere
Bezeichnung gibt keinen Sinn, und, wenn man den Text
hier auch sonst nicht emendieren will, so muß man doch
nna als Abkürzung von wna erklären ; die Patriarchen sind
seine — Gottes — Bundesgenossen. Ich glaube jedoch nicht,
daß o^ij^> hier am Platze ist, da eine Parallele zu büb er-
wartet wird und daher dürfte sich wohl empfehlen 'bvD
\vbyb flrtt; die Benennung Gottes als \vby b* war bekannt-
lich zur Zeit der Hasmonäer, die sich offiziell als die Priester3)
\vby ^»«^ bezeichneten, sehr beliebt. Vielleicht ist hier Ben
Sira 44, 20 benutzt, wo von Abraham gesagt wird: ntf«
lay maa «ai \vbv maa ia*\
3, 5: bx rvtta by TV$? . . . anstaa. Die Anschauung, wo-
nach Israel in Ägypten von Gott abgefallen war, wird in der
Bibel nur von Ezechiel — 20, 7. 8. 36 — vertreten und in der
apokryphischen Literatur wird von dieser Tatsache ganz still
geschwiegen. Die Haggadah4) dagegen macht kein Geheimnis
aus der Sündhaftigkeit Israels in Ägypten, und es ist lehrreich,
») Vgl. Job 29, 11.
2) Diese Stelle ist sowohl Beer, Leben Abr. 431, wie Malter,
Monatsschrift 1907, 713 entgangen.
3) Vgl. Rosch ha-Schanah 18 b fvty M [na Assumpt. Mos.
6, 1 sacerdotes summi Dei und Buch der Jubiläen 32, 1 : und Levi
träumte, daß sie ihn eingesetzt und zum Priester des höchsten Oottes
gemacht hätten; aber auch Ben Sira gebraucht es häufig, vgl. 46, 5a,
5c und 47, 5 a.
*) Mechilta Bo 5 »Israel war dem Götzendienste ergeben«, u.
a. a. O. Vgl. meine Legends II, 362.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 681
daß unser Text darin mit den rabbinischen Quellen überein-
stimmt. Der besondere Vorwurf des Blutgenusses, den unser
Verfasser gegen Israel in Ägypten erhebt, stimmt gleichfalls
mit der Behauptung des Sifre Deut 76 überein peiaw Witt»
jV» Dip o*n »sie fröhnten dem Blutgenusse vor der Offen-
barung der Torah«. Allerdings ist nach der Ansicht des Sifre
der Genuß des Blutes vor der Offenbarung der Torah gar
nicht verboten gewesen, während nach der Ansicht unseres
Verfassers der Blutgenuß von früher — wohl seit Noah1)
— verboten war.
3, 6 — 7: dtot niy\ Der Ausdruck o*o enthält mehr
als die biblische Stelle Num. 14, 29, worauf hier Bezug
genommen wird und es ist daher nicht unwahrscheinlich,
daß hier in Übereinstimmung mit der Haggadah — Midr.
Tehil. 1, ed. Buber 13 — angedeutet wird, daß nur die
Männer o*nd? aber nicht die Frauen in der Wildnis gestor-
ben sind»
3, 7: omn ns wn lty ttHpa anh ir»3. Dieser zweifels-
ohne verderbte Text ist wohl in folgenderweise zu emen-
dieren: n« WJi i«m bv ttHpa anb -\2i nanaa mwr nis»
131 ljmty K^n Dfin. »Er sprach zu ihnen in Kadesch, auf und
nehmet Besitz vom Lande, sie aber jagten dem Eitlen1)
nach und hörten nicht usw.« Die Worte ist und ljni sind
infolge von Homoioteteuton ausgefallen, da nicht allein irr
sondern auch ljni gleiche Buchstaben vorangehen, denn v und
s? sind zum Verwechseln ähnlich. Möglich wäre auch, daß
der ursprüngliche Text oeiy n« mR) "\by — vgl. Nehem.
9, 16 und 17 — lautete; graphisch jedoch läßt sich der vor-
*) Vgl. Gen. 9, 4 und Buch der Jubiläen 7, 28. Nach der An-
sicht der Halachah ist der Genuß des Blutes den Noachiden nicht
verboten.
\) mi njm ist biblisch — Hos. 12, 2 — und es liegt kein Grund
vor, mit manchen Nenern den überlieferten Text zu beanstanden;
eine andere Frage ist, ob es zu njn »weiden« oder njH »Wohl-
gefallen haben« gehört.
682 Eine unbekannte jüdische Seide.
Hegende Text nicht gut auf eine solche Vorlage zurück-
führen.
3, 14: Hias Hjnei N2Hp m/o». Der Ausdruck ipip nzv
ist biblisch — Nehem. 9, 14 — und rabbinisch, so z. B.
in der Liturgie für den Freitagabend — ttmp, wo die Formeln
*]»*Tp rüttn wohl zu den ältesten Bestandteilen dieses Gebet-
stückes gehört, da es sich in allen Versionen des vmp
findet. Die Bemerkung S. »It is however not clear, what is
meant by the Holy Sabbaths« ist mir daher ganz unver-
ständlich.
3, 16: "izn DiTJD^» nnc. In diesem Verse ist zunächst
zu bemerken, daß schon in der Schrift — Jes. 41, 18
jmro DvctP bv nncK . . . nno »eine Wasserstätte entstehen
lassen« bedeutet. Ferner ist zu bemerken, daß für d»31
sicher D"n zu lesen ist, worauf der Nachsatz DiTDK'ei
rrn' *b ganz deutlich hinweist und das Ganze lautet
demnach: »Er ließ für sie eine Quelle entstehen, die sie
— die Frommen in Israel — zu einer Quelle lebendigen
Wassers gruben«. Was der Verfasser mit diesem Satze sagen
will, wird weiter unten 6, 4 »a» cn msim mwi x-n ihxi
bsnt» näher ausgeführt; Gott gab Israel die Torah, — er
ließ für sie eine Wasserstätte entstehen — und die Be-
rufenen unter ihnen machten aus dieser Wasserstätte eine
Quelle lebendigen Wassers, indem sie die Torah richtig
deuteten und lehrten.
3, 17: l^mnn om. Das Verbum bbum an dieser Stelle
wie 8, 5 ist wohl von bbl »Mist« denominiert und hat
nichts mit ^ji »wälzen« zu thun; man übersetze daher »und
sie befleckten sich«; ebenso Ben Sira XII, 14: vmjijo ^unai
»und sich besudelt an dessen Sünden.« Sprachlich ist auch
ynim als eine Nebenform für bwm von *?»j verunreinigen
möglich.
3, 17: BMJ« y»oa. S. übersetzt »transgression of man«
und verweist auf Sprüche 29, 6, das aber gar keine Pa-
rallele zu unserer Stelle ist, da es dort m »*K y&ü2 »infolge
Eine unbekannte jüdische Sekte. 68&
der Sünde des Bösewichts« heißt, was wohl einen guten Sinn
gibt, während »Sünde des Menschen« einfach unmöglich ist.
Es unterliegt für'mich aber keinem Zweifel, daß nicht »OK son-
dern tnj« gelesen werden muß; »u« jnpd »unheilbare Sünde«.
Die göttliche Verzeihung ist nach biblischen Sprachgebrauch
die Heilung — Jes. 6, 10 ib Roll a#i u. a. v. a. O. — und
eine Sünde, die unverzeihlich ist, wird als unheilbar be-
zeichnet. Gott jedoch, fährt unser Verfasser fort, war so
gnädig, daß er ihnen sogar die unverzeihbaren Sünden vergab.
3, 18: i*6b »n^. Die Verschreibung von ana zu 'na ist
graphisch wohl leicht zu erklären, besonders da in unserem
Fragmente an mit i geschrieben wird, — 2, 4 — , aber
sachlich paßt hier der Ausdruck »Fülle der Wunder« sehr
schlecht, man würde non ana »Fülle seiner Gnade«, inan« ana
»Fülle seiner Liebe« oder einen ähnlichen Ausdruck er-
warten, aber nicht Wunder, denn die göttliche Verzeihung
Ditv TJ?a ica ist der Ausfluß seiner Gnade und Barmherzig-
keit, aber nicht seiner Wundertätigkeit. Ich vermute, daß
in ik^d 'na ein Ausdruck wie q'D^k maaia oder ähnliches
steckt; der Verfasser wollte sagen, daß Gott ihnen nicht
einmal, sondern zehntausendmal ihre Sünden verziehen hat.
4, 2: on'byo. S. übersetzt »from them«, es kann aber
kein Zweifel darüber herrschen, daß man on 'bvn lesen muß,
entsprechend den Worten Ezekiels non 'i?l?o; zweifelhaft ist
nur, ob on nur eine andere Schreibweise für non ist, was
bei der eigentümlichen Orthographie des Fragments wohl
möglich ist, oder ob unser Verfasser wirklich on schrieb,
da er auch sonst nicht ganz wörtlich zitiert.
4, 2: b*w 'atf on. S. entscheidet sich für die Lesung
"?» »Gefangenschaft« aber es scheint mir, daß "3& »die
Büßenden«, »die zu Gott Zurückgekehrten« die allein rich-
tige Lesung ist. Besonders spricht für diese Annahme 8,
16 »und dies ist das Gesetz für die 'ae> Israels, die sich
abwendeten vom Wege des — sündhaften — Volkes«, wo
'a# näher durch »die sich abwendeten usw.« erklärt wird,
684 Eine unbekannte jüdische Sekte.
was nur dann einen befriedigenden Sinn gibt, wenn "?? und
nicht 'ty gelesen wird. S. beruft sich auf 6, 5 zur Be-
stätigung seiner Auffassung; aber in diesem Verse ;gibt
"?t? mindestens einen ebenso befriedigenden Sinn wie *■?!?«
»Die zu Gott Zurückgekehrten« ist nur ein anderer Ausdruck
für man *K3, wie die Anhänger dieser Sekte bezeichnet
werden, sie waren zuerst wie der Rest des Volkes auf
Irrwegen begriffen, sind aber durch »den Lehrer der Ge-
rechtigkeit« zu Gott zurückgeführt worden — 1, 9, 20, 11 —
weswegen sie mit Recht die b^W »3W genannt werden1).
4, 3: ^KW*nvi3 Dn pnarm Dieser Satz will nicht, wie S. be-
hauptet, sagen, daß die Söhne Zadoks,die Auserwählten Israels
sind, sondern daß die Auserwählten Israels vom Propheten
Ezechiel in 44, 15 als pm »33 — Söhne der Gerechtigkeit! --
bezeichnet sind. In echt midraschischer Weise erklärt unser
Verfasser, daß der Prophet einen Hinweis enthält auf die
Geschichte der Sekte; unter »Priester« versteht dieser die
Väter der Sekte, die zu Gott Zurückgekehrten, unter »Leviten«,
diejenigen, welche den Vätern der Sekte sich anschlössen2)
und unter den Söhnen Zadoks8) die Auserwählten Israels, die
am Ende der Zeiten erstehen werden. Nachdem er diesen
Midrasch zu Ezechiels Worten gegeben hat, fügt er hinzu:
dies ist die Erklärung ihrer — der von Ezechiel erwähnten
pnx »32i Q^b D'ana — Namen gemäß ihrer Geschichte, der
Periode4) ihres Bestehens, der Zahl ihres Leidens, der Jahre
ihres Verweilens in der Fremde. Dieser Satz enthält dem-
nach nicht die einleitenden Worte zu einer Geschichte der
Sekte, wie S. annimmt, sondern greift auf das Vorhergehende
») Vgl. auch 20, 7 JNPe "aw.
*) Ein Wortspiel ü^b und ü^bi', nach Esther 9, 27 würde man
ün^bv Cl'wn und nicht DTTDJJ erwarten, jedoch wird auch Ps. 83, 9
,1^3 mit ay konstruiert.
8) Der Midrasch Lev. r. I versteht unter pHJt in diesem Verse
den Hohepriester Aaron, indem er p}Tt im Sinne von p^.at »der Ge-
rechte« nimmt, und ein solcher Derasch liegt auch in unserer Stelle vor.
*) Über diese Bedeutung von f*p vgl. weiter unten zu 6, 10.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 685
zurück, indem darauf hingewiesen wird, daß der Prophet
eine Andeutung auf die Geschichte der Sekte enthält. Nach
dieser Auffassung beginnt mit orptrj?» tpnei ein neuer Satz
und dies ist eine Beschreibung — wörtlich: Deutung —
ihrer Taten, worauf dann eine kurze Charakteristik der
Frommen folgt.
4, 6 : pen . . . dt» ttHipn. Dieser Satz enthält den Gegen-
satz zu 1,19, undda,wie schon zu dieser Stelle bemerkt worden
ist, in den Worten TK15CT 3103 linai der Hang zu sinnlichen
Genüssen den Gegnern dieser Sekte vorgeworfen wird, so
muß in dt» »*ppn ein Lob für die Anhänger derselben
stecken, die im Gegensatz zu den Gegnern dem Geistigen
und Heiligen obliegen. Ich streiche daher das » in dt»
als Dittographie des vorhergehenden » und lese cani»1) ;
»sie lieben das Heilige« ist ein passender Gegensatz zu den
Worten »sie finden Wohlgefallen am feisten Nacken.« Das
folgende Dli?3 hu 1D3 WM übersetze man demnach: »das Gott
zur Sühne2) für sie einsetzte« und gemeint ist, daß das
heilige Leben3) — das Leben nach dem Gesetze — ihnen
als Sühne für die früheren Sünden gilt.
4, 9: tpy&n ppn oiStf, Für ypn muß man yp lesen, da
wwn ypn nicht Hebräisch ist, der Schreibfehler ist wohl
durch ypn D"6»2i in der folgenden Zeile veranlaßt worden.
Möglich ist auch, daß 0T2^ für o*:»n zu lesen sei, ent-
sprechend DT2M "iodd^ in der folgenden Zeile, in welchem
Falle ypr\ beizuhalten ist.
4, 10 — 12: pinn pm . . . ppn d^>»:si. Zum Verständnisse
dieses sehr dunklen Satzes sei bemerkt, daß für unsern
') Graphisch näher zu DT wäre a^fc, aber der Ka! r\y$ kommt
sonst nirgends vor.
') Man lese entweder ")Bb oder iBS im Sinne : als Sühne ein-
setzen.
*) Möglich auch, daß BHlpfl hier wie gewöhnlich das Heiligtum
ist, und daß von den Begründern der Sekte gesagt wird, daß sie das
Heiligtum lieben, während ihre Gegner gleichgiltig sind und nur um
ihr eigenes Wohlergehen bekümmert sind.
686 Eine unbekannte jüdische Sekte.
Verfasser Jerusalem die heilige Stedt ist und bleibt. Die
Zeit des göttlichen Zornes begann mit der Zerstörung Je-
rusalems durch Nebukadnezar — 1, 5 — , und den Gegnern
wird vorgeworfen, daß sie das Heiligtum — zu Jerusalem
— verunreinigen, 5, 6. Die Verunreinigung des Tempels
freilich zwang die Anhänger dieser Sekte, vom jerusalemi-
schen Tempel sich zurückzuziehen, so lange die Machthaber
desselben Männer sind, die das Gesetz nicht beobachten1), und
wie die Lage der Dinge war, versprachen sie sich keine
baldige Besserung. Ihre einzige Hoffnung war, daß der Mes-
sias bei seinem Erscheinen wieder in Jerusalem einziehen
und dessen Tempel in seiner ursprünglichen Heiligkeit her-
stellen werde. Unser Verfasser spricht daher: >Und während
des Verlaufes dieser Periode von Jahren2) soll niemand dem
Hause Juda sich anschließen, sondern ein jeder stehe auf
seinen Festungswall; errichtet ist die — trennende — Wand,
gar fern liegt die — messianische — Zeit.« In diesen Worten
wird gegen jeden Versuch gewarnt eine Aussöhnung mit
Jerusalem herbeizuführen, die Trennung der Sekte von dem
Gros des Volkes muß fortdauern bis zur Ankunft des Mes-
sias, die aber noch in weiter Ferne liegt. Der Ausdruck mapS
(*TpatD hy wk ist Hab. 2, 1 -nita by nasrnKi "nayx 'rnara by
nachgebildet, während pinn prn TOM nnXM eine Umschreibung
der Worte Michahs — 7, 1 1 pn pnr . . , "pn rvü^b or ist.
4, 16: ^KW3 Dfia tfon Rin wk. S. bemerkt richtig,
daß unser Verfasser hier Ezechiel 14, 4 bam^ rva nx'tfcn \yvh
benützt; aber verleitet durch die übliche Auffassung dieser
Ezechielstelle, glaubt er dann übersetzen zu müssen: by
which Levi took Israel in their hearts. Aber über die Be-
deutung von e>cn in unserem Fragmente kann doch un-
') Natürlich nur vom Standpunkte unseres Verfassers.
») Über diese Bedeutung von f»p vgl. weiter unten zu 6, 10.
») Ich lese mstö und nicht H1XD wie S. hat, 1 und i sind in
Ms. dieses Fragments kaum zu unterscheiden ; möglich ist auch, daß
mia durch JTHlütD in Zeile 15 veranlaßt ist.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 687
möglich Zweifel herrschen, wie aus Zeile 18 nra 8?d/t und
Zeile 20 o*tttolW Dil deutlich hervorgeht, wo tron nur die
Gefangennahme der Sünder durch den Satan bedeuten kann.
Demnach ist Subjekt zu win gleichfalls Belia'al, der das
Haus Israel — für femvä lese1) bxw r\y2 — fängt ver-
mittelst seiner drei Netze. Auch in Ezechiel ist nach An-
sicht des Talmud — Kidduschin 40a und Parallelstellen
— zu erklären: »damit ich das Haus Israel erfasse, d. i. zur
Verantwortung ziehe — für das, was sie in ihrem Gedanken
— Herzen — haben«. Ob nun diese Erklärung des Talmud
die richtige ist, oder nicht, tut hier nichts zur Sache2), es
genügt für uns zu wissen, daß die Alten diesen Vers Eze-
chiels so auffaßten, und hierin lag auch der Grund für
unseren Verfasser diesen Vers zu zitieren.
4, 16: omo o:m. S. übersetzt: »and directed their
faces to the three kinds of righteousness«, aber wenn man
auch |m für wm lesen wollte, so hat diese Erklärung doch
noch andere Schwierigkeiten. Erstens müßte es heißen
•bv bto 'S JJVi wie Gen. 30, 40 und nicht rwbwb und ferner
ist der Subjektwechsel sehr auffällig, denn wie schon be-
merkt worden ist, kann «in iv» sich nur auf bv^2 beziehen,
während Subjekt zu djjvi nur %)b sein kann. Ich lese daher
OiTDij? um und übersetze: »die drei Netze vermittels welcher
er — Belia'al — das Haus Israel fing, so daß sie sich von den
drei Haupttugenden abwendeten«. Welche die drei Tugenden
sind, wird nicht weiter angegeben; vielleicht dachte unser
Verfasser an den Spruch Simon des Gerechten Abot 1, 2:
Auf drei Dingen beruht die Welt, auf der Torah, dem Gottes-
dienste und der Wohltätigkeit. Es ist aber nicht unmöglich,
daß die Lehre von den drei Tugenden eine jüdische Um-
l) Wahrscheinlich stand ursprünglich h*W '3 = httlW XFX
das dann von den Schreibern zu einem Worte *?KlB^r zusammen-
gelogen worden ist.
•) Ehrlich 1B1CD3 mpö z. St. erklärt diesen Vers wie der Talmudv
ohne aber den Talmud zu zitieren '
688 Eine unbekannte jüdische Sekte.
Wandlung der von Plato für seinen Idealstaat aufgestellten vier
Tugenden ist, Sophia, Andreia, Sophrosyne und Dikaiosyne.
Die Tapferkeit, Dikaiosyne, bei Plato von dem Kriegerstand
vertreten, hat nach jüdischer Auffassung keine Berechtigung
weshalb nur drei Tugenden anstatt der ursprünglichen vier
genannt werden.
4, 17: ttHpBn . . . rnxtn trn roHMnn. Auch in der rab-
binischen Literatur wird von den drei Kardinalsünden ge-
sprochen, so z. B. Mechilta, Jihro 1 'Jü jftpn TTiüMA nvn
('vmbti onn »und sie — Rahab — sprach, drei Sünden
beging ich«. Die drei Sünden werden nicht näher bezeich-
net8), aber wir werden wohl nicht fehl gehen, wenn wir
behaupten, daß sie für Götzendienst, Unzucht und Mord
stehen, Sünden, die man nach jüdischer Lehre unter keinen
Umständen begehen darf, sei es auch um den Preis,
das eigene Leben zu erhalten — Sanh. 74a u. a. m. O. —
und daher als Kardinalsünden bezeichnet werden dürfen.
Für diese Auffassung spricht die Boraita, Arachin 15 b, wo
die nrvaj; 'j ausdrücklich als diese erwähnten drei Sünden
bezeichnet sind und ähnlich die Tosefta Peah. 1, 2. Lehr-
reich für diese Frage ist auch die Behauptung des Sifra
16, 16 wo diese drei Sünden als die drei Unreinheiten be-
zeichnet sind3). Die Vermutung liegt nun nahe, daß
*) Vgl. die Parallelstelle Mech. R. Sim. 85, wo die in den Aus-
gaben — aber nicht in der Oxforder Handschrift der Mechilta! — sich
findende Glosse 1»l np'm nbn ?TM3 mit Recht fehlt.
*) Die götzendienerische Rahab, die dazu noch bis zur Zeit
ihrer Bekehrung eine njit war, bekannte, daß sie Götzendienst und
Unzucht begangen hat. Was Mord anbetrifft, so ist vielleicht darunter Ab-
treibung zu verstehen, was nach talmudischer Ansicht den Heiden als
Mord angerechnet wird. Vgl. Sanhedrin 57b und Geiger, Urschrift 437 f.
3) Vgl. auch Tosefta, Ned. II, 15 D"D1 "ODlttn y n^JOi VJf ; Me-
chilta Jitbro, Ba-Hodesch cen ro'Btf Syi jn byt vy by pa^n en ;
Gen. R. 70 D^öl ma^Pö nviy M^JD ,rjm . . . ^IBPI und Gittin 6, 6
unten: >V Mm Dnn r\WtW JJ'J DlToy •:, wo aber wohl mit R.
Chananel — siehe Tosaphot z. St — für na» Wll ,DB>,"1 ^n zu lesen ist
und dies ist eine Abart von mt rmay.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 689
unser Verfasser für seine Zwecke die Kardinalsünden nicht
in der üblichen Weise geben konnte, es ging nicht gut an,
den Gegnern Götzendienst und Mord vorzuwerfen, und er
setzte daher unredlich erworbenen Besitz1) und die Verun-
reinigung des Tempels an die Stelle von Götzendienst und
Mord.
4, 19: pD»a» Sjön ... «in ran. Unser Verfasser erklärt
das dunkele i^ in Hosea 5, 11 mit ppbö »dem Redner« den
er näher beschreibt als den Redner, dem die Leute zurufen:
»sprich«, im Gegensatz zu dem wahren Lehrer und Pro-
pheten, den das Volk nicht anhören will, von dem es in
Michah — 2, 7 — heißt: p&w «J*BJ1 bi*> Dieser P|*»D, der
Führer der Gegner unserer Sekte, ist wohl identisch mit dem
1, 14 erwähnten ttAft tP'K, und derselbe wird hier nicht ohne
Ironie als ein Liebling des Volkes beschrieben, weil er
eben ihnen nur das vorträgt, was sie wünschen und be-
gehren. Wörtlich lautet dieser Satz: »der Befehlende, das
ist der Redner, von dem man sagt, sie sprechen: sprich!«
4, 20, 21: OiV'na BW *n» nnp^>. Diese Worte ent-
halten die Umschreibung des biblischen Verbots — Lev.
18, 18 — iv na n*by nnny rvbzb vwh npn vb nsm» h» new,
indem nach unserem Verfasser die ersten drei Worte zu
übersetzen sind mit »eine Frau neben einer anderen«, was
sprachlich wohl möglich ist und sogar in der Schrift in
dieser Bedeutung einige Mal vorkommt, wie z. B. Exod.
26, 5. 6. 17. Wir können auch den Grund angeben, warum
die Anhänger dieser Sekte die traditionelle Auffassung dieses
biblischen Verbotes wie sie in der Mischnah — Jebamot
1,1 — in der Septuaginta und bei Philo — ed. Magney, II,
303 Ende — verwarfen. Wie unser Verfasser ausdrücklich
sagt — 5, 9 — gelten die verbotenen Grade der Verwandt-
schaftsehen, obwohl in der Schrift nur der Mann angeredet
wird, auch für die Frauen, und wie z. B. es dem Manne
*) Nach \irin ist im Ms. ein leerer Raum und ist etwa nach
6, 15 n$V\n oder JWCT zu ergänzen.
Monatsschrift, 55. Jahrgang. 44
690 Eine unbekannte jüdische Sekte.
verboten ist, seine Tante zu ehelichen, so ist es der Frau
verboten, ihren Onkel zum Ehegatten zu haben. Da nun in
der Schrift — Lev. 18, 16 — dem Manne verboten ist, die
Frau seines Bruders zu ehelichen auch nach dessen
Tode1), so folgt nach dem Prinzip dieser Sekte, daß
auch die Frau ihren Schwager nicht ehelichen darf auch
nach dem Tode ihrer Schwester. Demnach können die Worte
'131 nmns hu n<i, nicht wörtlich genommen werden2), denn
die Schrift bemerkt zu diesem Eheverbot ausdrücklich
rpTin »während die erste noch am Leben ist", da doch
die Schwagerehe für immer verboten ist, und der einfachste
Weg, diese Schwierigkeit zu lösen, war nnin« b& WK im Sinne
von >einer Frau neben der andern« aufzufassen. Die Karäer,
die dasselbe Prinzip wie unser Verfasser mit Bezug auf
die Verwandtschaftsehen vertreten, behaupten gleichfalls,
daß in Lev. 18, 18 nmn« b* na>K nicht wörtlich zu nehmen
sei3), und unter den verschiedenen Erklärungen dieses Verses
bei den Karäern findet sich auch die, daß er gegen Poly-
gamie gerichtet ist. Freilich behaupten die Karäer, daß das
biblische Verbot nicht ein absolutes ist, sondern wie die
Hinzufügung des Wortes i-iib zeigt nur dann Geltung hat,
') Darüber herrscht unter den jüdischen Sekten keine Mei-
nungsverschiedenheit, daß die in Leviticus 18, 11 — 17 verbotenen
Verwandschaftsehen auch nach dem Tode des Gatten gelten, was
sicher auch der wahren Ansicht der Schrift entspricht.
s) Abgesehen davon, wäre auch Vers IS ganz überflüssig, da
er in 16 enthalten ist. Vgl. die weiter unteu angeführte Stelle aus
Anans Gesetzbuch.
3) Der erste Karäer von dem bekannt ist, daß er dieses bib-
lische Verbot anders als die Rabbaniten auffaßt, ist Anan. Vgl. den
Passus in seinem GesetzkoJex bei Harkavy, Studien und Mitteilungen
VIII, 105, 109; auf Anans Gesetzkodex gehen auch die Worte Ha-
dassis hsv* 118b— 118 d zurück, was Harkavy entgangen ist, und
ferner wird Anans Ansicht von Kirkiss-.ni — Harkavy a. a. O 129 —
und Daniel Alkumsi — a. a. O. 191 — akzeptiert. Andere Karäer jedoch
verwarfen sowohl Anans wie die rabbanitische Auffassung von ntP Kl
nntnx hu wie aus Aharon von Nicomedia a. a. O. zu ersehen ist.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 691
wenn die zweite Ehe eine Beeinträchtigung der ersten ist,
d. h. wenn es die Absicht des Mannes ist, seinen ehelichen
Pflichten gegenüber seiner ersten Frau nicht nachzukom-
men, sonst aber wäre Polygamie gestattet. Am deut-
lichsten äußert sich über diese Frage Aharon b. Elijah aus
Nicomedia in seinem (^np p. Naschim IX, 146 b, dessen Worte
ich hierhersetzen will: o'nt? ws nxwb iid«^ nsn airontp
fijwton rrsn wnn ab dke> n:vr\ p«i -n-nc ov rrivr nya dtw
vb» . . . twa vnp nmeu awan ve>an i33tj> wwn nst^S mo« w
, , ♦ npn naao yao* »b dk ^a« rwyi mos i«e> inj» *6# naa ^y
ja ^>y maai DMna o^wjnn oniDsn ww iiayai . . . ins n? p«
«^ nana pm njrjo p« iwru rrnn n« ^a« ♦ . . a^na run renn
nD« Ott» UM*. Aus dieser Ausführung ergibt sich nun ganz
deutlich, daß in unserem Texte gar keine Rede ist von
einem Verbot der Ehescheidung, wie S. behauptet, sondern
davon, daß unser Verfasser einen Schritt weiter als die Karäer
geht und Polygamie verbietet, so lange die erste Frau am
Leben ist, auch wenn keine Beeinträchtigung ihrer Rechte
stattfindet. Natürlich aber ist es ihm gestattet, eine zweite
Frau zu ehelichen, nachdem er von der ersten geschieden
ist, da er dann nur eine Frau besitzt. Die Hinzufügung von
arPTta = p-rta in unserem Texte ist der Schrift entlehnt, und
damit soll nur gesagt sein, daß dieses Eheverbot von all den
anderen sich darin unterscheidet, daß es nur so lange, als er
in ehelicher Gemeinschaft mit der ersten lebt, gilt. So be-
merkt Anan2) — a. a. O. 10 — ausdrücklich : nMna wbv «ax «pi
aaja^> nh »w nb »njo »» ^a« nao:a^> n^> ktdot «in snna
'im «nn« na.
5, 3—4: nnntyyn n« nay ipk . . . "Wb* ma ovo. S.
übersetzt: »Eleazar and Joshua and the Eiders who wor-
l) Auch in seinem min "WS z. St. kurz erwähnt.
*) Vgl. auch Hadassi blVtt ll^c : . . , .TTia !T^J> D"ns"t "0» 10«1
'Ol lnoa intyx rUWMin .TnntP, daß auch für Hadassi in .T'm die Er-
laubnis gegeben ist, nach der Scheidung von der ersten Schwester
die zweite zu ehelichen.
44«
692 Eine unbekannte jüdische Sekte.
shipped Ashtarot« und verweist auf Richter 2, 13, aber
daselbst — 7 bis 13 — wird ja gerade das Gegenteil be-
hauptet, daß die Anbetung der Aschtarot erst begann, nach-
dem Joschua, Eleasar und die Ältesten heimgegangen waren.
Wäre es nun schon an und für sich höchst unwahrscheinlich,
daß unser Verfasser den Abfall Israels von der Torah mit
Joschua und Eleasar beginnen ließe, so wird diese Annahme
zur Unmöglichkeit, wenn der Verfasser auf eine Bibelstelle
sich beruft, die gerade das Gegenteil von dieser Behauptung
enthält. Ferner wären Joschua und sein Geschlecht Götzen-
diener gewesen, warum denn mo ovo »seit dem Tode« und
nicht früher? ! Nach alledem unterliegt es keinem Zweifel,
daß das Subjekt zu WK nicht jwi'l irj^K1) ist, sondern das
vorhergehende ^«wa und die Stelle lautet: »denn nicht
wurde — die heilige Lade — aufgemacht in Israel, seit
dem Tode Joschuas, Eleasars und der Ältesten, weil sie —
die Israeliten — die Aschtarot anbeteten«. Und dies ist in
Übereinstimmung mit der zitierten Richterstelle. Allerdings
ist an dieser Stelle nicht vom Vergessensein der Thorah
die Rede, sondern nur von der Anbetung der Götzen nach
dem Tode Joschuas und der Ältesten, aber unser Verfasser
scheint diese Stelle mit Neh. 8, 17 und II Könige 23, 22
kombiniert zu haben, wo von den Peßach- und Sukkotfesten
gesagt wird, daß sie während der Richter- und Königs-
periode nicht beobachtet wurden mit Ausnahme zur Zeit
Joschuas. Unser Verfasser behauptet auf Grund dieser bib-
lischen Stelle, daß nach dem Tode Joschuas nicht allein die
Anbetung der Götzen begonnen hat, sondern daß auch die
Thorah in Vergessenheit geraten war.
5, 4: pm moy iv f&u ponn. S's Emendation nbiü für
n^JJ zu lesen ist kaum annehmbar, da >die Schrift« nie ni?ja
x) Nach der samaritanischen Legende starb Eleasar nach Jo-
schua. Vgl. das. Sam. Buch Josua XL — , jedoch ist die Erwähnung
Eleasars vor Joschua in unserem Texte kein absoluter Beweis dafür,
daß unser Verfasser den Tod Eleasars vor den Joschuas ansetzt.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 693
»Rolle« genannt wird und unser Verfasser selbst kurz vor-
her von minn ibd sprach. Auch sein zweiter Vorschlag, üb
vor nbtt hinzuzufügen ist etwas mißlich, denn in unserem
Fragmente finden sich viele Schreibfehler, aber, soweit ich
feststellen konnte, sind in demselben keine Worte ausge-
fallen, es sei denn infolge von Homoioteleta, was aber hier
nicht der Fall ist. Man lese daher: pnir mar r\v nbii poam
»und das Verborgene — die Thorah — kam wieder zum Vor-
schein zur Zeit, als Zadok erstand.« Daß mit diesen Worten
auf das Auffinden der Thorah zur Zeit Josias — II Könige
c. 22 — Bezug genommen wird, darüber kann kein Zweifel
herrschen, besonders wenn man das, was in der vorigen
Bemerkung über die Anschauung unseres Verfassers bezüg-
lich des Vergessenseins, in welches die Thorah geriet während
der Zeit der Könige, gesagt ist, berücksichtigt. Freilich ist
es höchst befremdend, daß hier das Auffinden der Thorah
Zadok zugeschrieben wird, während in der Schrift — II
Könige 22 und II Chr. 34 — es Hilkijah ist, der das Buch
der Torah fand. Es ist jedoch zu bemerken, daß dieser
Hilkijah nach I Chr. 5, 38 — 39 ein Enkel Zadoks war, und
die Annahme ist wohl berechtigt, daß unser Verfasser von
diesem Hohepriester als pnx p sprach1), und daß später p
ausgefallen ist oder absichtlich von den Abschreibern aus-
gelassen worden ist, weil ihnen wohl pnit, aber nicht piv* p
bekannt war.
5, 5: nm« dt *nf?o TU Wo "6m» S. liest lo^m und
übersetzt: »But they concealed the deeds of David save
J) Daß er aber nicht nach seinem Vater o*\hv p genannt wird,
ist nicht auffallend, da auch sonst in der Schrift einige Male der Name
des Großvaters anstatt des Vaters gesetzt wird. Vgl. z. B. I Sam. 9, 1,
wo Kisch als der Sohn Abieis erscheint, obwohl er eigentlich dessen
Enkel war, und ebenso Neh. 12, 23, wo der Hohepriester pnv als
ZV'bx p erscheint, obwohl er dessen Enkel war, vgl. Oraetz, Ge-
schichte II, zweite Hälfte 393. Vgl. auch Nachmanides zu Exod. 2,
16 und Ibn Esra zu Num. 10, 29, die viele Belege aus der Schrift
für diese Eigentümlichkeit anführen. Für ähnliche Bezeichnungen im
694 Eine unbekannte jüdische Sekte.
only the blood of Uriah«. Ich glaube jedoch; daß aus mehr
als einem Grunde diese Auffassung, wonach unser Ver-
fasser David aus der Gemeinde der Frommen ausstößt,
ganz unhaltbar ist. Zunächst ist absolut nicht abzusehen,
wem der Vorwurf gilt, daß sie Handlungen Davids ver-
heimlichten, etwa den Verfassern der Bücher Samuels, der
Könige und Chronik? Gelten etwa diese Bücher unserem
Verfasser nicht für heilig, daß er ihren Verfassern Geschichts-
fälschung vorwirft? Es bedarf wohl keiner weiteren Be-
weise, daß unserem Verfasser diese Bücher für kanonisch
galten, wie seine Benützung derselben zeigt. Aber auch
zugegeben, er hätte die biblischen Berichte über David
nicht wörtlich genommen, oder ihnen keinen Glauben
geschenkt, wie kam er dazu, für seine Behauptung
von dem sündhaften Lebenswandel Davids Worte der
Schrift zu zitieren, die gerade das Gegenteil behaupten,
denn daß der Satz miK . . . l^in an I Könige 15, 5 sich
anlehnt, wird auch von S. zugegeben. Ferner wäre es mehr
als deplaciert, wenn unser Verfasser die Vielweiberei Da-
vids für sündhaft erklärte und dann hinzufügte, daß diese
Sünde von den biblischen Schriftstellern verschwiegen wird,
während die einzige Quelle für die Vielweiberei Davids gerade
diese von ihm getadelten Bücher sind. Nach alldem ergibt
sich, daß an dieser Stelle nicht ein Tadel gegen David aus-
gesprochen werde, sondern im Gegenteil die Behauptung,
daß David »die Thorah nicht gelesen hat«, dahin ergänzt
werde, daß sonst seine Handlungen gut und fromm waren, ab-
gesehen vom Blute Uriahs; und dies entspricht den Worten
der Schrift I Könige 15, 5. Man übersetze daher &£2 »und
vorzüglich1) waren die Handlungen Davids«. Möglich auch,
Mittelalter ist an die berühmten Massoreten Ben Ascher und Ben
Naphtali zu erinnern; der erste hieß Aaron ben Moses ben Ascher,
der zweite Moses b David b. Naphtali, vgl. Baer-Stark 'jflD.1 Wi£rt
X-XI.
i) Biblisch rrtj» -erhoben sein« Ps. 47, 10. 97, 9 mischnisch r^p,
besonders häufig nSijJD »vorzüglich«.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 695
daß mit S. tts^jn zu lesen ist; aber als Subjekt ist dann
»Bfjfla zu fassen, und der Sinn wäre: und diese — sünd-
haften — Taten Davids geschahen aus Unwissenheit1), weil»
wie oben von unserem Verfasser hervorgehoben worden
ist, David mit dem Inhalt der Thorah nicht bekannt war.
5, 6: bx )b D3?jn. S.: »and God abandoned them to
him«, was aber absolut keinen Sinn gibt; man übersetze
daher »und Gott verzieh ihm dieselben«; itj? »eine Schuld
erlassen« schon biblisch, Neh. 5, 10 *a\ M m?yj. Es be-
zieht sich entweder auf nm« Dl — wo Ol wohl für 'Ol
steht und daher der Piural DarJPl — oder auf rn ''tryö, die
Sünde, die David nicht wissentlich beging; vgl. die vor-
hergehende Bemerkung.
5, 7: mir Dl Jis nKnn. Auf welche halachische Diffe-
renz hier angespielt wird, läßt sich mit Bestimmtheit nicht
mehr sagen, aber sicher nicht auf die Differenz zwischen
den »Pharisäern und Samaritanern«2; bezüglich nmo Dl, denn
dann würde es hier entweder nmb Ol r\» nunn — so schon
die Schuien Schammais und Hilleis, Niddah 4, 3 — oder
firm Dl — Lev. 12, 2, heißen3). Die hier in Betracht kom-
mende Hai. chah hat mit einer n;r zu tun, und nicht mit einer
Tö oder r\lbvf und eine Differenz zwischen den Pharisäern und
Sadduzäern in na? r\)zbn erwähnt die Mischnah Horajjot I, 3,
deren Einzelheiten zwar nicht ganz klar sind4) — vgl. die
talmudische Auseinandersetzung daselbst — , so viel ist
aber sicher, daß die Pharisäer die erschwerende Ansicht
vertraten; demnach entspricht der Standpunkt unseres
Verfassers dem der Pharisäer, da auch er den Gegnern
vorwirft, daß sie .12? Dl für rein erklären.
l) uby:, der biblische wie mischnische Ausdruck für eine aus
Unwissenheit begangene Sünde.
*) Über diese Differenz vgl. weiter unten Abschnitt IV.
*) Vgl. Aharon b. Eliah aus Nicodemien in seinem min 1D3
Lev. a. a. O.: nveo rrnrin K^i .IST mpn xbtf iojc [3 b$.
*) Die Erklärung des Talmud läßt sich kaum m.t dem ein-
fachen Wortsinn der Mischnah vereinigen.
696 Eine unbekannte jüdische Sekte.
5, 7: orrns na n« wm D'npi^i. Wie S. schon bemerkt
stimmt unser Verfasser mit den Samaritanern und Karäern
überein, die eine Ehe zwischen Onkel und Nichte für Blut-
schande erklären. Die Ansicht Estori Parchis1), daß diese
beiden Sekten darin arabischem Gebrauch folgten, wird von
unserem Text widerlegt und wir sehen daraus, daß wir es
mit einer von den Pharisäern abweichenden alten Halachah
zutun haben. Ein fernerer Beweis für das Alter dieser Halachah
ist die Tatsache, daß auch die Falascha solche Ehen ver-
bieten. So heißt es in dem von Halevy veröffentlichten
Pseudepigraph Baruch*), fol. 120 r., daß in einer Abteilung
der Hölle, diejenigen sich befinden, die mit ihren Nichten
Umgang haben. Sogar aus talmudischen Quellen läßt sich
nachweisen, daß eine Opposition gegen diese Ehen existiert
hat, denn nur so läßt sich erklären warum der Talmud
— Jebamot 62 b, Ende — gerade solche Ehen als eine be-
sonders Gott gefällige Handlung empfiehlt3). Die Pharisäer
hätten wohl nie ihre erleichternde Entscheidung durch-
gesetzt, wenn sie einfach solche Ehen nur für erlaubt er-
klärt hätten, wenige hätten sich bereit gefunden, Ehen zu
schließen, die von manchen als Blutschande angesehen
werden. Erst als die Pharisäer solche Ehen zu einer
gottgefälligen Handlung stempelten, verlor sich die Oppo-
sition gegen sie; auf der einen Seite eine von den
Pharisäern als gottgefällig empfohlende Handlung, auf der
anderen Seite eine häretische Ansicht, die diese Hand-
lung für Sünde erklärt — da konnte für die Mehrheit
1) mW liriDS V Ende; Zunz. Ges. Schrift. II, 303; Steinschnei-
der. Polemische Lit. 398, Anm. 1, und Wreschner, Samar. Tradit. XIV.
2) Erschienen als Anhang zu Te'ezaza Sanbat, Paris 1902.
*) Schorr piVrtfl VII, 34 glaubt hierin persischen Einfluß zu
finden, aber in den von ihm aus persischen Quellen angezogenen
Stellen werden Verwandtschaftsehen empfohlen, die den Juden als
verboten gelten ! Über die Frage, ob der Talmud nur ijnnx '3 oder
auch vriK 'S meint, vgl. Tosafot z. St. und Maimonides Issure Biah
III, 14.
Eine unbekannte jüdische Sekte. 697
der Juden die Wahl nicht schwer fallen1). Die Oppo-
sition gegen diese Verwandtschaftsehe scheint sogar in
pharisäischen Kreisen existiert zu haben, jedenfalls erklärt
sich bei dieser Annahme die folgende Geschichte aus dem
Leben R. Eliesers b. Hyrkanos am Einfachsten. R. Elieser's
Mutter heißt es — Jer. Jebamot XIII, 13c — drängte in
ihn gar sehr, seine Nichte — Schwesterntochter — zu
ehelichen, worauf R. Elieser dieselbe mehrmals aufforderte,
sich zu verehelichen. Erst als sie zu ihm sprach: »Sieh,
ich bin deine Sklavin, die Füße der Knechte meines
Herrn zu waschen. < — I. Sam. 25, 41 — konnte R. Elieser
sich entschließen, sich mit seiner Nichte zu verehelichen,
die er freilich erst dann »erkannte«, als sie Zeichen der
Pubertät zeigte. Der Talmud scheint R. Eliesers Weigerung
auf die Minderjährigkeit seiner Nichte zurückzuführen2),
jedoch wäre dann nicht zu begreifen, wie R. Elieser der-
selben raten konnte, sich zu verehelichen, falls er gegen
die Ehen Minderjähriger war. Am einfachsten erklärt sich
R. Eliesers Verhalten dadurch, daß er, häufig der Vertreter
der alten Halachah, auch in diesem Falle Rücksicht nahm
auf die Ansicht, welche eine Ehe zwischen Onkel und
Nichte für verboten hielt und daher zuerst dem Drängen
seiner Mutter nicht nachgeben wollte und seiner Nichte
daher den Rat gab, einen anderen Mann zu suchen. Als er
aber sah, daß auch seine Nichte den Wunsch seiner Mutter
teilte, hielt er es für ratsam, sein Bedenken gegen eine solche
Ehe aufzugeben und heiratete darauf seine Nichte, obwohl
sie noch nicht geschlechtsreif war, enthielt sich aber jedes
ehelichen Verkehrs, bis sie herangewachsen war3). Höchst
*) Solche rabbinische Institutionen, die der Opposition gegen die
Sadduzäer das Dasein verdanken, gibt es ziemlich viele. Vgl. z. B.
Cbagigah II, 4 und Menachot X, 3.
*) Im Talmud wird dies zwar nicht direkt behauptet, aber der
Zusammenhang, in dem diese Anekdote im Talmud erwähnt wird,
spricht deutlich für die von den Komentatoren gegebene Erklärung.
3) Obwohl die Halachah das Recht des Vaters anerkennt, seine
698 Eine unbekannte jüdische Sekte.
lehrreich für das Verhalten des offiziellen Judentums in
dieser Frage ist es, daß auch im Mittelalter Stimmen sich
erhoben gegen solche Ehen. R. Jehudah, der Fromme aus
Regensburg — starb 1217 — verbietet sie in seinem 'D
O'TDn, ed. Wistinetzki 282, sowie in seinem Testament1),
was wohl auf karäischen Einfluß zurückzuführen wäre, da R.
Judah und sein Kreis auch sonst karäischen Einfluß verraten8).
minderjährige Tochter zu verehelichen, so finden sich im Talmud
scharfe Worte gegen minderjährige Ehen. Vgl. z. B. Niddah 13 b
Kid. 41 a.
l) Die TDR"! v1 n«i5t 'st mehrmals separat erschienen und
auch als Beilage zu dessen D'TDn ICD.
8) Karäischen Einfluß verrat die Behauptung D'H'Dn 'D 283,
daß die Ehe einer Schwägerin Unglück bringe, die Karäer verbieten
sie ohne weiteres, wie oben zu 4, 20 bemerkt worden ist ! Interessant
ist auch die Bemerkung 'Dn 'D 334, daß man die Bethäuser der Karäer
respektvoll behandeln solle; vgl. ferr-er Epstein in der hebräischen
Zeitschrift "ipim II, 1 — 11; 33 — 48; natürlich war es nur eine unbe-
wußte Opposition, da ein Mann wie R. Jehudah ganz im rabbin'schen
Judentume steckte.
(Fortsetzung folgt.)
Die Kompetenz der Gerichtshöfe.
Von S. Funk.
Der Wirkungskreis der zwei zuerst behandelten Gerichts-
höfe ist genau präzisiert. Das kleinste drei-, beziehungsweise
siebengliedrige Richterkollegium kann als Zivilgericht be-
zeichnet werden, das dreiundzwanzig- oder fünfundv/ierzig-
gliedrige Kollegium war das eigentliche Kriminalgericht;
ersteres hatte Geldprozesse zu entscheiden, letzteres über
Leben und Tod zu urteilen. Nicht so leicht ist es, die Be-
fugnisse des großen einundsiebziggliedrigen Synhedrions oder
— in früheren Zeiten — der Gerusia festzustellen. Es ist
dies umso schwieriger, als die politischen Rechte und
Machtbefugnisse, die dieses zeitweilig in sehr ausgedehntem
Maße besessen hat, von einzelnen, gewalttätigen Herrschern
eingeschränkt und von anderen wieder erweitert wurden.
Während diese z. B. in der griechischen Zeit als ziemlich
weitgehende zu denken sind — die hellenistischen Könige
begnügten sich in der Regel mit der Zahlung der Abgaben
und der Anerkennung ihrer Oberhoheit (Schürer, Gesch. II,
S. 191) — während die Königin Salome Alexandra bloß den
Titel Königin führte, die Regierungsgewalt aber vollständig
in den Händen der Pharisäer, d. h. der Gerusia, welche
aus Pharisäern bestand, lag (Joseph. Antt. XIII, 24)1), hat
') »Salome überließ,« sagt Wellhausen (Qesch. S. 237) mit
Recht, das Gericht und die inneren Angelegenheiten, namentlich die
geistlichen, gänzlich dem Synhedrion«. Daß die Pharisäer (nach Joseph.
Antt. XIII, 16, 2) die Königin erst um die Bewilligung bitten mußten,
die Ratgeber Jannajs hinzurichten, spricht nicht dagegen, wie Büchler
(das Synhedrion in Jerusalem 202 Nr. 180) meint. Abgesehen davon, daß
das große Synhedrion kein Kriminalgerichtshof war, also damit nichts
zu tun hatte, fehlten ja auch in diesem Falle die nach jüdischem
700 Die Kompetenz der Gerichtshöfe.
ein Tyrann wie Herodes, der seine Regierung mit der
Hinrichtung der Synhedrialhäupter begann (ebendas. XIV, 9,
4 u. XV, 1, 2) die Rechte seines aus gefügigen Elementen
wieder zusammengesetzten Synhedriums, wenn er es nicht
ganz beseitigte, was das Wahrscheinlichere ist (s. w. u.),
jedenfalls auf ein Minimum reduziert1). Auch nach der
Mischna waren diese erheblich. Nach Sanhedr. 1, 5 darf ein
(von Gott) nicht gebotener Krieg nur durch Beschluß des
einundsiebziggliedrigen Synhedrions erklärt werden, hat
dieses die Gerichtshöfe für die einzelnen Stämme einzusetzen,
ist es allein berechtigt über ganze Stämme Urteile zu fällen,
eine Stadt (wegen Götzendienstes) als abtrünnig zu erklären
und sie vernichten zu lassen. Nach der Tosifta (Sanhedr.
III, 4) bedarf ein neugewählter König oder Hohepriester der
Zustimmung des Synhedrions zur Wahl. Nach einer späteren
Quelle scheinen selbst Propheten einer Art von Autorisation
oder Beglaubigung von dieser Behörde zu ihrem heiligen
Rechte erforderlichen Beweise und die vorgeschriebene Warnung, die
jedem Verbrechen vorangehen mußte (."isorm D"HJJ>, wenn dieses mit
dem Tode bestraft werden sollte. Es war ein politischer Akt, ein
Akt politischer Notwehr (itJJtP riKTin), eine Tat, für welche das Syn-
hedrion schon aus Vorsicht nicht allein die Verantwortung tragen
wollte. Ist bei dem greisen Johann Hyrkan eine Osinnungsänderung
eingetreten, so hätte dies bei einem schwachen Weibe umso leichter
der Fall sein können, und die Pharisäer mußten auf ihre Hut sein.
Wellhausen ist auch im Rechte, wenn er in den TCpsußuxspot, die
zur Königin Alexandra gehen, um Klage zu führen ge^en Anstobul,
der sich mit Hilfe des unzufriedenen Adels der festen Plätze be-
mächtigte (Antt. XIII, 16, 5), die D'jpt, d. h. das Synhedrion, erblickt.
Eine oberste Behörde wird es jedenfalls auch zur Zeit der Makkabäer
gegeben haben. Die Makkabäer, denen der Eifer für das Gesetz das
Schwert in die Hand gedrückt, werden die Gerusia, die ja schon zur
Zeit Antiochus des Großen von Josephus (Antt. 3, 3) erwähnt wird,
sicherlich nicht abgeschafft haben.
») Joseph. Antt. XV, 6, 2; vgl. Schürer, II, 195 und Wieseler,
Beiträge zur richtigen Würdigung der Evangelien, S. 215. Vgl. hin-
gegen Büchler, Das Synhedrion in Jerusalem, und unsere Ausführungen
w. u.
Die Kompetenz der Gerichtshöfe. 701
Amte benötigt zu haben. Die Propheten Obadja und Jeremias
sollen nämlich erst, nachdem ihnen die Bewilligung zur
Prophetie vom einundsiebziggliedrigen Synhedrion erteilt
worden war, zu wirken begonnen haben, und hätte diese von
der erwähnten Behörde zurückgenommen werden können1).
Vor allem aber war das Synhedrion der oberste Ge-
richtshof, an den sich die Gerichtshöfe niederen Ranges
in zweifelhaften Fällen zu wenden hatten (Mischna Sanhedr.
XI, 2; Joseph. Antt. IV, 8, 14). In der späteren Graezität
wird die Bezeichnung Synhedrion eigentlich nur in diesem
Sinne gebraucht (vgl. Schürer II, 194). Als solches hatte es
wohl auch deponierte Waisengelder zu verwalten, die schon
zur Zeit der Griechen im Tempel aufgehäuft lagen (II.
Makk. 3, 10), wie denn der Gerichtshof stets als Vormund
der Waisen (d'bvp bw |n*3K) galt.
Das jüdische Synhedrion war aber auch in religions-
gesetzlichen Fragen das höchste Forum. Auch die Richter
der niedrigen Kollegien wußten in religionsgesetzlichen
Fragen Bescheid. Zur Lösung von neuen, noch nicht ver-
handelten Fragen war — wenigstens in den früheren, vor-
christlichen Jahrhunderten — nur das große Synhedrion
berechtigt. Charakteristisch hiefür ist die Überlieferung R.
Joses, eines in historischen Dingen verläßlichen Gewährs-
mannes2), in der bekannten, oft zitierten Tosifta (Sanhedrin
VII, 2): »In früherer Zeit,« berichtet dieser, »gab es keine
Kontroversen in Israel, denn der einundsiebziggliedrige
Gerichtshof saß in der Quaderhalle, in den Städten auf dem
Lande gab es dreiundzwanziggliedrige und in Jerusalem
zwei dreigliedrige Gerichtshöfe, der eine von den letzteren
auf dem Tempelberge, der andere im Tempelvorhofe. Hatte
jemand eine Halacha zu erfragen, so ging er zum Gerichts-
') Aggadath Bereschith Cap. XIV Ende, vgl. Büchler, Das Syn-
hedrion in Jerusalem. S. 69, Anm. 63.
*) Vgl. Herzfeld, Gesch. d. V. Isr. II, S. 458 und Graetz, Gesch.
III, Note 22 und 30.
702 Die Kompetenz der Gerichtshöfe.
hofe seines Wohnortes, gab es daselbst einen solchen nicht,
so ging er zum Gerichtshofe der nächstliegenden Stadt.
Hatte dieser die Halacha gehört (überliefert bekommen), so
teilte er sie jenem mit, wenn nicht, gingen jener und der
Hervorragende des betreffenden Gerichtshofes zum Gerichts-
kollegium auf dem Tempelberge. Hatte dieses die Halacha
gehört, so teilte es sie mit, wenn nicht, so gingen jene
mit dem Hervorragendsten dieses Kollegiums zum Kollegium
im Vorhofe. Hatte dieses sie gehört, so teilte es sie mit, wenn
nicht, so gingen sie alle zum Gerichtshofe in der Quader-
kammer. Hier wurde nun die Frage aufgeworfen. Hatte das
Beth-din die Halacha gehört, so teilte es dieselbe mit, wenn
nicht so erhob man sich zur (Stimmen-)Zählung. Waren
diejenigen in der Majorität, die (den Gegenstand) für unrein
erklärten, sogalt derselbe für unrein, waren hingegen die-
jenigen in der Mehrzahl, die ihn für rein erklärten, so war
er rein. Von dort ging so die Halacha aus und
verbreitete sich in ganz Israel. Als aber die
Schüler Schammais und Hilleis, die nicht genügend gedient
hatten (d. h. nicht genügend vorgebildet waren), sich ver-
mehrten, nahmen die Kontroversen in Israel zu, und es
entstanden zwei Lehren« (Tosifta Sanhedr. VII, 2, pag. 425,
vgl. Sabbath 86 b). R. Jose führte, wie wir sehen, als Bei-
spiel eine Frage über rein und unrein an. In jedem Ge-
richtshofe saßen also gelehrte Richter, an welche man sich
auch mit religionsgesetzlichen Fragen wenden konnte, aber
nur der »Gerichtshof in der Quaderkammer« war befugt,
Entscheidungen in neuen, noch nicht gelösten Fragen zu
treffen, neue Gesetze zu schaffen. Dieses war die höchste
gesetzgebende Behörde, vor deren Forum alle richterliche
Entscheidungen, die wichtigsten Verwaltungsmaßregeln wie
auch alle religionsgesetzlichen Fragen, gehörten. Man wandte
sich an diese nach einer Baraitha (Sanhedr. 86b, 87 a) um
Aufschluß: in Fragen, die den Blutfluß bei Frauen betreffen;
in Rechtsfragen, in zivil- wie in strafrechtlichen; in Fragen,
Die Kompetenz der Gerichtshöfe. 703
die sich auf Aussatzschäden verschiedener Arten beziehen;
in solchen, die auf Banngüter, auf Schätzungen von geheiligten
Gütern, auf Abgäben des Bodenertrages Bezug haben, be-
züglich der Anordnungen, die zu treffen sind: bei einer des
Ehebruches verdächtigten Frau, bei der Darbringung eines
Sühnopfers für einen verübten Mord, dessen Täter nicht
eruiert werden konnte, bei der Reinigung der Aussätzigen
usw.
Nicht zu allen Funktionen war die Anwesenheit von
einundsiebzig Mitgliedern erforderlich. So genügte zur Vor-
nahme des (Deut. 21, 1) vorgeschriebenen Sühnopfers für
einen ungesühnt gebliebenen Mord eine Abordnung von
drei Richtern des Kollegiums1), ebenso waren zur Zeremonie
des Handauflegens auf das Sündopfer für die Gemeinde nur
drei Mitglieder nötig, welche Funktion ebenfalls zu dem
Pflichtenkreise des Sanhedrins in der Quaderkammer ge-
hörte2). Auch die Einschaltung eines Monates im Schaltjahre
erfolgte durch eine Abordnung von sieben Mitgliedern, eine
Funktion, die zu den wichtigsten und vornehmsten Aufgaben
des großen Sanhedrins gezählt wurde3).
Ebenso scheint es für gewisse Zweige der Verwaltung
und anderer Landesangelegenheiten Ausschüsse oder Sekti-
onen gegeben zu haben. Es waren das jene Männer, die
sich mit den »Angelegenheiten der Gesamtheit« ü'3t »3"ns
zu befassen hatten. Diese hatten z. B. für die Instandhaltung
der Plätze, Straßen und der Zisternen durch Sendboten zu
sorgen (Schekalim I, 1). Halevy hat auf einige Stellen hin-
gewiesen, in welchen von solchen Verwaltungsfunktionären
die Rede ist. Nach Sabbath 114 a mußte jeder, der zum
»Parneß« für die Gesamtheit gewählt wurde, in allen Trak-
') Mischna Sota IX, 2: D^-BnT^tf bnn pT Jvro Xvbw.
2) Vgl. Tosifta Sanhedr. III, 4.
3) Mechilta Kap. II Ende, ed. Weiß, S. 4. K. Joschija sucht nur
einen Schriftvers zur Begründung, aber die Tatsache selbst wird als
bestehend vorausgesetzt.
704 Die Kompetenz der Gerichtshöfe.
taten der Überlieferung Bescheid wissen1) (Doroth ha-Ri-
schonim II b, S. 263 — 64). Halevy hat daselbst auch die
Vermutung ausgesprochen, daß einzelne Ehrenstellen und
Würden innerhalb der nachtalmudischen Methibhta, wie sie
R. Nathan, der Babylonier, im Juchasin schildert, von den
alten Hochschulen der Tannaim und Amoraim herrühren, die
an die Stelle des früheren Synhedrion getreten sind. Halevy
denkt zunächst an die Anordnung der Sitzreihen und an
die Geschäftsordnung bei den halachischen Debatten. Nach
diesen saßen in der ersten vor dem Methibhtahaupte zehn
Männer, welche die erste Reihe genannt wurde, mit
dem Gesichte dem Methibhtahaupte zugewendet. Und von
den zehn Männern, die vor ihm saßen, waren sieben Häupter
der Lehrversammlung und drei Genossen (onsn). Jeder der
sieben Häupter der Lehrversammlung (Resch Kalla) war
über zehn Mitglieder des Synhedrions gesetzt, die den Titel
D'Di^K führten2); diese siebzig saßen in sieben Reihen usw.
Diese Einrichtung läßt sich in der Tat weit hinauf in die
talmudische Zeit verfolgen. Von den Häuptern der Lehr-
versammlung (Resche Kalla) ist im Talmud öfter die Rede
') R. Josua b. Chananja sagt zu R. Qamaliel II nach dessen
Absetzung: "1DJ1D ftXUW ThS ib "»lK (Berach. 28a). Vgl. die Baraita in b.
Horajoth 13 b: TDICH by D'DJID DJT3K C'ncötP D^DSn iTöSn ■»». Die
Bedeutung ist *= Vorsteher, Führer einer Gemeinde oder eines Volkes.
Vgl. Joma76b: Till !WB ^KW^ Bf\b HDJJ EP31B D'DJIB "0B>; Taanith
9a werden Moses, Ahron und Mirjam als solche genannt. Chagiga
5b: TOXfl b$ ntonefi W1B. Aus Berach. 28a und 55a ist ersichtlich,
daß er sich auch um das leibliche Wohl der ihm Untergebenen zu
kümmern hatte. Dieser Ausschuß von D^DJID wird das Mittelglied
zwischen der priesterlichen Körperschaft ap/ispsT; und den Resche
Kalla sein, wobei natürlich die Funktionen nicht zu allen Zeiten als
genau dieselben zu denken sein werden. Sie waren Vorsteher der
Gerusia, in späterer Zeit der Gelehrtenversammlung.
') Man wäre versucht, diese Einrichtung schon in dem Senate
von Sukkoth zu finden, der Richter 8, 14 erwähnt wird. "pSn nirD,%.
VPX nyaten D^a» mpt nxi fiiDC "nff n«. Es waren wohl 7 D-nt? und
70 n^pr.
Die Kompetenz der Gerichtshöfe. 705
(vgl z. B. Baba b. 22 a). Ebenso werden die sieben Sitz-
reihen im Lehrhause des R. Jochanan erwähnt, in welchen
nur die hervorragendsten Hörer Platz nehmen durften
(Baba k. 117 a). Ohne Zweifel ist aber auch »die erste
Reihe« (hob «"in), die sich in nachtalmudischer Zeit aus
sieben Vorstehern und drei Genossen zusammensetzte, einer
alten Einrichtung nachgeahmt und zwar den »S£x<x rcpöToi«,
die in alter Zeit eine Art von Ausschuß mit gewissen
amtlichen Funktionen gebildet haben1). Wir haben schon in
unserer »Entstehung des Talmuds« auf die Gesandtschaft
der »zehn Ersten« an Nero hingewiesen, die im Vereine
mit dem Hohenpriester und dem Schatzmeister vor diesem
erschienen sind, um einen Streit beizulegen, der wegen einer
Bauveränderung im Tempel zwischen den jüdischen Be-
hörden und dem Prokurator Festus entstanden war (Joseph.
Antt. XX, 8, 11). Wir verweisen hier noch auf die Tatsache,
daß Josephus bei seiner Verwaltung Galiläas den decem
primi zu Tiberias Wertsachen des Königs Agrippa zur Auf-
bewahrung übergibt und sie dafür verantwortlich macht
(Vita 13, 57)2). Wir werden demnach auch in den »ersten
Zehn« der alten Zeit zunächst einen solchen Ausschuß für
o»ai '3iis zu erblicken haben.
Qualifikation der Mitglieder.
Wie auf die innere Einrichtung des Sanhedrin, so
wirft der erwähnte Bericht über die Methibhta auch auf
die Qualifikation der Synhedrialmitglieder manches Streif-
licht. Es ist nämlich sehr bemerkenswert, daß nach diesem
Berichte, die Stellen der Resche Kalla, wie die der Chaberim
i) Vgl. Schürer II, 172 und Kuhn, Die städt. und bürgerl. Ver-
fassung I, 155. Ihr Hauptamt war die Eintreibung der Steuern, für
deren richtigen Eingang sie mit dem Vermögen hafteten (vgl. Digest.
L, 4, 1, 1 und ebendas. L, 4, 18, 26).
*) Vgl. Schürer (II, 172 und 201), der hellen. Einfluß annimmt,
der ältere jüd. Ausschuß war der siebengliedrige Vorstand.
Monatsschrift, 55. Jahrgang 45
706 Die Kompetenz der Gerichtshöfe.
und Allufim erblich waren, d. h., daß sie vom Vater auf den
Sohn übergiengen, wenn dieser das nötige Wissen hatte
und würdig war, an Stelle des Vaters zu treten. >Das
Verdienst des Vaters« war also, wenn die nötigen Vorbe-
dingungen vorhanden waren, ausschlaggebend. Und nicht
nur das Verdienst des Vaters, sondern auch der Ahnen fiel
stets — auch in talmudischer Zeit — sehr in die Wagschale,
wo es sich um die Wahl von Würdenträgern handelte. So hatte
auch R. Huna, der gelehrte Schüler Rabs, seine Wahl zum
Oberhaupte seiner Abstammung zu verdanken1). Charakte-
ristisch hiefür ist die bittere Klage R. Akibas, als R. Eleasar
b. Asarja bei der Patriarchenwahl (an Stelle des abgesetzten
R. Gamliel) den Sieg über ihn davontrug: »Nicht weil er
ein größerer Gelehrter ist als ich (wurde er gewählt), son-
dern weil er von größeren Leuten abstammt; Heil dem
Manne, dessen Ahnen sich Verdienste erworben, Heil jedem,
dem es gegönnt ist, sich an einen Nagel hängen zu können.«
Und was für einen Nagel — fragt der Talmud — hatte
denn R. Eleasar b. Asarja? Er war der zehnte (Abkömmling)
von Esra2). Wir sehen also, daß vornehme Abstammung,
Dirr, bei den Wahlen der Würdenträger eine überaus große
Rolle gespielt hat.
Es ist darum mehr als wahrscheinlich, daß auch bei
den Männern »der großen Versammlung« und in späterer
Zeit bei den Mitgliedern des Synhedrions der Sohn die
Stelle des Vaters übernahm8), wenn er das nötige Wissen
l) Vgl. Scheriras Sendschreiben: "OD mm K31B MJin "l 123*1
*) Jerus. Taanith IV, t. Vgl. Berach. 27 b: MD^H M^pjf '"6 ,TDpD
oan Minn m-itp p ""J^x '"^ mapo tb* üum nw mb rnri mS way
jotj?1? "»t»? mm vB>y «im.
3) Sanhedr. IV, 4 spricht wohl von Vakanzen, wenn der Ver-
storbene keinen würdigen oder gelehrten Sohn hinterlassen hat. Von
den Mitgliedern des oben erwähnten Verwaltungsausschusses wird
.lies ausdrücklich gesagt. Sifre Deut. 16, 2: Smw "'DnD hsh pOD
-K-!B>, anj» Minw *?a Sk-w aipa wai Min b'n arrnrn Dnnij» B.Tiav
Die Kompetenz der Gerichtshöfe. 707
hatte, und daß auch bei dieser obersten Behörde die vor-
nehme Abstammung (Din") keine geringe Rolle spielte. Der
zweite Vertreter des Volkes in der Liste jener »großen
Versammlung«, die den Bund mit Gott unterzeichnete(Nechem.
Kap. 10), führt den Namen 3Kiü nno »Statthalter von Moab«.
Ein sicherer Beweis, daß die Nachkommen auf die Erinne-
rung an das Ansehen und die hohen Stellungen im Staate,
die ihre Ahnen inne hatten, Wert legten. Denn solche Ämter
wurden in der vorexiüschen Zeit wohl nur den Sprößlingen
der angesehensten Familien zugewiesen. Unter den zwölf
Statthaltern oder Hauptleuten, die zur Zeit Salomos das
Land verwalteten, waren zwei Schwiegersöhne des Königs
(1 Kön. IV, 11 u. 15). Es wird darum die Bezeichnung des
Josephus für die erwähnte Behörde als yzpouaiai., als adeligen
Senat, jedenfalls insofern eine Berechtigung haben, als die
Mitglieder oder eine große Zahl davon angesehenen Familien
entstammten. Denn auch bei den priesterlichen undlevitischen
Mitgliedern dieses Senates, den eigentlichen Trägern der
Wissenschaft — diese konnten ja ihre ganze Zeit dem
Studium widmen, da sie von den Zehnten und von den
Abgaben lebten — kam die vornehmere Abstammung sehr
in Betracht. Schon zur Zeit Sauls hören wir von 85 Priestern,
die in der Priesterstadt Nob »das leinene Ephod trugen«,
also die andern überragten. Nach Targum Jonathan und
den Kommentatoren sind darunter solche gemeint, die fähig
waren, das Hohepriesteramt zu bekleiden oder vielleicht auch
solche die es bekleidet hatten, — also die äp^tspeT? der
römischen Zeit, die vornehmen Priesterfamilien. Als oberste,
regierende oder mitregierende Behörde hat sie gewiß die
einflußreichsten Persönlichkeitun zu ihren Mitgliedern ge-
zählt. Aber damit ist freilich nicht gesagt, daß diese nicht
iWtn "1Ö1JJ 133. Dasselbe wird vom T3 3R im Sifre sutta (Jalkut Deut.
416) gesagt: Vß,} pari "'DJJ D^O WÜ M3TI 0*33 "6 VJW T3 3kS StfD
Wien -pi \H -idr . . . bmn 1330 pn ipSn -rn* SsS aha min p frwi
•'D'.pD TR.
45*
708 Die Kompetenz der Qericbtshöfe.
die nötigen Kenntnisse hatten. Im Gegenteil. Wir haben
schon in unserer 2 Entstehung des Talmuds« auf die Tatsache
hingewiesen, daß auch in den modernen Staaten, wo der
Adel und der Klerus das Heft in Händen haben, die Söhne
der Vornehmen die juridische oder geistliche Laufbahn
wählen, um hohe Ämter bekleiden zu können. So war
es auch in Judäa: >Die Söhne der Hohenpriester« werden
ja noch in der Mischna als Autoritäten in eherechtlichen
Fragen angeführt (Kethubb. XIII, 1—2, vgl. auch ebendas. I,
5) und die große Menge von Briefen, die aus den »Provin-
zen am Meere« an diese gerichtet wurden, enthielten ohne
Zweifel religiöse Anfragen (Oholoth XVII Ende). Wie sich
aber die Lehre in den Häusern der vornehmsten Familien
erhalten hat, dafür genügt der Hinweis auf die Familie der
Patriarchen in Judäa, die von königlichem Geblüte war,
und der Jahrhunderte hindurch die bedeutendsten Gesetzes-
lehrer, Männer wie Hillel, R. Gamaliel I und II, R. Simon
ben Gamaliel, R. Jehuda ha-Nassi I und II entstammten. So
wird es auch in manchen anderen vornehmen Familien ge-
wesen sein.
Wie jede Institution, hat auch diese im Wechsel der
Zeiten wichtige Änderungen erfahren. Durch den griechischen
Geist, der mit Alexander dem Großen seinen Einzug in
Judäa gehalten, sind manche Stützen des Glaubens wan-
kend geworden. Und wie in allen Ländern und zu allen
Zeiten, waren es auch in Judäa zunächst die reichsten und
vornehmsten Kreise, die sich der Genußsucht ergaben und
griechische Sitten annahmen — sie wurden Sadduzäer.
Zuerst natürlich im Leben, dann in der Lehre. Das Volk
hielt es aber mit den gesetzestreuen Pharisäern, die dadurch
den größten Einfluß hatten. Nicht erst seit der Regierung
Salome Alexandras (76 v. Chr.), wie Schürer meint, sondern
bereits früher. Sie standen schon zur Zeit Johann Hyrkans
»in so hohem Ansehen bei dem jüdischen Volke, daß man
auf ihre Worte hörte, selbst wenn diese gegen den König
Die Kompetenz der Gerichtshöfe. 709
oder gegen den Hohenpriester gerichtet waren« (Joseph.
Antt. XIII, 18). Eine Unterbrechung trat wohl in den
letzten Regierungsjahren dieses machtvollen Fürsten (st.
103 v. Chr.) ein, da er, von den Pharisäern schwer gekränkt,
sich den Sadduzäern anschloß und diesen alle Ämter aus-
lieferte (vgl. Joseph. Antt. XIII, 10 und Kiddusch. 66a). Aber
selbst die blutigen Verfolgungen, die die Pharisäer unter
ihm und noch mehr von seinem späteren Nachfolger
Alexander Jannaj (ebendas. XIII, 13) zu erdulden hatten,
konnten ihren Einfluß auf das Volk nicht brechen, und als
der letztere seinen Tod herran nahen fühlte (st. 79), konnte
er seiner Frau keinen weiseren Rat erteilen, als es mit den
Pharisäern zu halten, »weil diese beim Volke viel vermöchten«
(ebendas. XIII, 23). Die Reichen und Vornehmen werden es
darum nur selten gewagt haben, ihren Neigungen in ihrer
öffentlichen Tätigkeit zu folgen. Auch die Sadduzäer, sagt
Josephus (ebendas. XVIII, 1, 4), halten sich in ihrem amt-
lichen Wirken an die Forderungen der Pharisäer, »weil sie
das Volk sonst nicht ertragen würde«. Dies wird ganz be-
sonders in rituellen und kultuellen Dingen der Fall gewesen
sein. »Alle gottesdienstiichen und kultuellen Angelegen-
heiten,« sagt der erwähnte Autor, »Gebete und Opfer
geschehen nach ihren (der Pharisäer) Anordnungen«
(ebendas. XVIII, 13, 15). In diesen Dingen verstand das
Volk keinen Spaß. Als der mächtige Alexander Jannaj
die am Laubhüttenfeste übliche Wasserlibation, den Saddu-
zäern zu liebe, nicht auf den Altar, sondern auf die Erde
goß, wurde selbst dieser Machthaber mit den Paradiesäpfeln
der Tempelbesucher beworfen (vgl. Joseph. Antt. XIII, 13, 5;
Bell. Jud. 1, 4, 3 und Sukka 48 b). Nur von Johann Hyrkan
wird berichtet, daß er einige Änderungen im Kultus vor-
genommen und bei Strafe die Beobachtung der von den
Pharisäern aufgestellten Gesetze verboten habe (vgl. Maasser
scheni V, 15, Sota IX, 10 und Joseph. Antt. XIII, 10, 5-6).
Zu dieser Zeit haben jedenfalls auch die Mitglieder der
710 Die Kompetenz der Gerichtshöfe.
obersten Landesbehörde gleich dem König der Partei der
Sadduzäer angehört. Aber dies hat nur kurze Zeit gedauert.
Simon ben Schetach hatdasSynhedrion schon unter Alexander
Jannaj vollständig regeneriert; er hat es durchgesetzt, daß
nur solche als Mitglieder ins Synhedrium gewählt werden
durften, die die notwendigen Gesetze nach der Lehrweise
der Pharisäer von der Bibel deduzieren konnten (Megillath
Taanith X), und als seine Schwester Salome* Alexandra im
Jahre 79 v. Chr. die Regierung übernahm, wurden nicht
nur die von Johann Hyrkan verbotenen Satzungen wieder
eingeführt und die nicht gesetzestreuen Würdenträger ihres
Amtes entsetzt (Bell. Jud. I, 5, 2), sondern auch die Re-
gierungsmacht ganz in die Hände der Pharisäer gelegt. »Sie
waren mit einem Worte in Nichts von unbeschränkten
Herrschern verschieden« (Antt. XIII, 16, 2). Solche Macht-
fülle konnten sie nur ausüben, wie Schürer mit Recht be-
merkt, »wenn sie in der obersten Behörde, der Gerusia, ein
ausschlaggebender Faktor waren« (Gesch. 1, 288). Ob die
Mitglieder dieser Gerusia, die durch Simon ben Schetach
zusammengesetzt wurde, auch Söhne vornehmer Familien
waren, wird kaum zu beweisen sein. Wahrscheinlich ist es
nicht. Die Vornehmen waren dazumal sadduzäisch gesinnt
und werden ihre Söhne in den letzten Jahrzehnten der
blutigen Verfolgungen gegen die Pharisäer kaum zu diesen
in die Schule geschickt haben.
Diese Gerusia scheint sich keines langen Daseins er-
freut zu haben. Gabinius teilte das jüdische Gebiet in fünf
cruvsSpta (Antt. XIV, 5, 4; vgl. auch Sota IX, 11) was eine
vollständige Umgestaltung der politischen Verhältnisse zur
Folge hatte. Die Gerusia scheint aufgelöst worden zu sein.
Ob sie von Cäsar (47 v. Chr.) wieder in ihre Rechte ein-
gesetzt worden ist, wie Schürer (II, 193) annimmt, kann
nicht mit voller Sicherheit behauptet werden. Das <ruv£o*piov,
vor welchem der junge Herodes sich zur Zeit Hyrkans II
wegen seiner Taten in Galiläa verteidigen muß, ist keine
Die Kompetenz der Gerichtshöfe. 7il
Gerusia, sondern wie bereits oben bemerkt wurde, ein
Krirrsinalgerichtshof, ein fünfundvierziggliedriger, ein kleines
Synhedrion — diese Bezeichnung wird hierauch zum erstenmal
gebraucht — und ebensowenig kann von der Versammlung
(eruvsSpiov), vor welcher Herodes den alten Hyrkan seiner
Schuld überführte (Antt XV, 6, 2), mit Sicherheit behauptet
werden, daß diese eine mit den Rechten der alten Gerusia
oder des späteren Synhedrion ausgestattete Behörde war1).
Diese Behörde scheint erst zur Zeit der Prokuratoren
wieder in ihre Rechte eingesetzt worden zu sein. Jose-
phus sagt dies mit den Worten, daß seit dem Tode des
Herodes und Archelaus die Verfassung des Staates
eine aristokratische war, unter der Oberleitung der Hohen-
priester (Antt. XX, 10, 4). Die Aristokraten und die
Priester kamen also wieder zu Macht und Würden, die
Leitung des Volkes wurde den äp^ispst«; anvertraut (Antt. XX,
10, 5). Judäa hatte wieder seine Gerusia oder richtiger ein
Synhedrion mit den Rechten der Gerusia2). Dieses stand in
gewissen Dingen fast über dem König. Die levitischen
*) Büchler, S, 222 verweist mit Recht darauf, daß in einer ganzen
Anzahl von Fällen, die dem Synhedrion zur Beurteilung hätte vorgelegt
werden müssen, Herodes selbst oder ein aus Verwandten des Königs
zusammengesetztes Tribunal Urteile fällte und bezweifelt darum den
Bestand eines Synhedrlons zur Zeit des Herodes. Keineswegs hat es,
wenn er auch ein Schattensynhedrion eingesetzt haben sollte, politische
Rechte besessen; es war höchstens ein höheres Qerichtstribunal.
') Von nun an war in der Regel das 71gliedrige Synhedrion das
höchste Forum der Juden; nur bei besonders wichtigen Maßregeln
wurde die Zahl der »gepanzerten Männer« auf 85, wie in der alten
-Großen Versammlung« erhöht. So noch in der bewegten Zeit des
Rabban Gamaliel II in Jamnia (Tosefta Kelim, Eaba b. II, 14) und zur
Zeit des Patriarchen Judall. (Jebam. 121b). Hiedurch findet auch die
Formel: »tö cruv£Spiov xat tcxjocv T/iv Yspoucrtav tuv ulöv 'I-rpr/jX«
(Act. 5, 21) die sich Schürer nicht gut erklären kann (vgl. Gesch. II,
196, 16), ihre lichtige Erklärung. Der Verfasser hat keinen »irrtüm-
lichen« — wie Seh. sagt — sondern einen sehr richtigen Begriff von
dem Synhedrion und der Gerusia gehabt.
712 Die Kompetenz der Gerichtshöfe.
Psalmensänger, die gleich den Priestern leinene Kleider
tragen wollten, mußten Agrippa 11 bitten, beim Synhedrion
die Erlaubnis hierzu zu erwirken. Mit den Vornehmen kamen
wieder die Anhänger der sadduzäischen Richtung zu einfluß-
reichen Stellungen. Der erwähnte König hat die höchsten
Ämter, ja selbst die Würde des Hohenpriestertums an Sad-
duzäer verliehen (Antt. XX, 9, 1). Aber von dieser Epoche
kann mit voller Gewißheit behauptet werden, daß die sad-
duzäisch gesinnten Würdenträger in ihrem öffentlichen
Wirken, besonders aber in kultuellen Dingen sich nach
den Lehren der Pharisäer richteten. Charakteristisch hierfür
ist der Ausspruch des Vaters eines Boethusischen Hohen-
priesters: Wenn wir auch die Vorschrift (von der pharisäi-
schen Lehre abweichend) deuten, in der Praxis handeln
wir nicht danach, sondern richten uns nach den Worten
der Weisen (Tosifta Joma I, 8). Der Hohepriester R. Jisch-
mael ben Fabi, derselbe, den nach Josephus (Antt. XX, 8, 8)
Agrippa II zu dieser hohen Würde erhob, und der bei
der Verbrennnng der roten Kuh anfangs nach der von den
Sadduzäern gelehrten Weise verfuhr, ließ sich von den
Pharisäern eines besseren belehren und verbrannte eine
zweite rote Kuh nach der Anordnung der Pharisäer (Tosifta
Para III, 6 und Midrasch ha-gadol zu Deut. 19, 9). Hatten
darum auch die Reichen und Vornehmen in politischen
Dingen die Führung, die religiösen und geistigen Leiter
des Volkes waren seit Salome Alexandra die Pharisäer oder
richtiger gesagt der pharisäische Geist und die pharisäi-
sche Lehre.
Die Ethik R. Saadjas.
Von David Rau s. A,
(Fortsetzung.)
Wir untersuchen jetzt daher
2. das Gute und das Böse und das Prinzip
der Ethik.
Die Beurteilung dessen, was gut und böse, was löb-
lich und schimpflich ist, hält Saadja für eine so allgemeine
Tatsache des menschlichen Bewußtseins, daß nach seiner
Meinung selbst diejenigen, welche jede sichere Erkenntnis
des Wahren und Falschen leugnen, sich ihr nicht ent-
ziehen können1). Allein bei näherer Untersuchung finden
wir, daß »gut« und »böse« für Saadja selbst durchaus
nicht so feststehende Begriffe sind, wie »wahr« und» falsch«.
Während er zwei präzise Definitionen von »wahr und
falsch«*) gibt, suchen wir eine so bestimmte und allgemein
gültige Definition von »gut und böse« bei ihm vergeblich.
Das Gute ist ihm indessen so gut wie das Wahre eine Er-
kenntnis der Vernunft, und es läßt sich nachweisen, daß
»gut« und »wahr« bei ihm nicht nur verwandte Begriffe
sind, sondern auch daß beide sich oft geradezu decken.
Ein feststehender, oft wiederkehrender Satz ist bei ihm die
Behauptung, daß »das Wahre gut sei«, oder daß wir durch
eine intuitive Erkenntnis wissen, daß »das Wahre gut und
*) Emunot I, 36: lmmc mm» EPWpao nnrtK iS vw *on bzz
D"pD . . . DTion d'xbi consan dtdpd onv na *3 . . . njn :6i naio
*) das. Einleitung S. 6: »Wahr ist der Glaube (die Ansicht
von einem Dinge), wenn man ein Ding so erkennt, wie es ist, falsch
714 Die Ethik R. Saacijas.
das Falsche schimpflich sei*1). Er nennt das Gute und
das Böse geradezu »Wahrheiten«8), und er prüft deshalb das
Gute genau ebenso wie das Wahre an dem Satz des logischen
Widerspruchs3). Wahr und falsch hält er für zwei sich
ausschließende Gegensätze, zwischen denen ein Drittes
unmöglich ist, weil Unwissenheit nichts Positives, sondern
bloß eine Negation des Wissens sei4). Denselben Gegen-
satz bilden aber nach Saadja auch das Gute und das Böse.
Das Böse ist nichts Reales, »denn wir stimmen alle darin
überein, daß Gott das Böse nicht geschaffen habe«5), wohl
aber das Gute, »denn Gottes Wirkungen sind notwendig
gut«6). Die Verwandtschaft zwischen wahr und gut geht
wenn man es als Gegenteil von dem erkennt, was es wirklich ist<.
das. III, S. 60 oben: »Wahrheit ist die Aussage von einer Sache, wie
sie wirklich ist und sich verhält, Lüge (falsch) hingegen ist die Ans-
sage von einer Sache nicht wie sie wirklich ist und sich verhält«.
') Emunot I, S. 26: Site KW piXH ; das. S. 7: mn f»pn jhd Sa*
njijD atam mto pixnv n» .bzwz. nbv* "»px; vgl. II, S. 55; III, s. 68.
»i das. IV, S. 80: jnrr. 2«DT1 MICK.
s) das. III, S. 60: Die Lust enthält nB3M und mbx zugleich
und deshalb kann sie das Gute nicht sein. Denn jede Erkenntnis die
zwei sich gegenseitig ausschließende Gegensätze enthält, ist falsch,
vgl, S. 10. Bemerkenswert ist hierbei, daß der Gegensatz von erkennt-
nistheoretischen Begriffen gebildet wird, während wir eigentlich ethi-
sche erwarten.
«) Emunot II, S. 40: «r.tP T\lbxb pKl . • . »IIB' ib V JHD bl . . .
na*» jhdm ■hjjm tfibsan bztt . . .
5) das. I, S. 29: JH N"D xb »IISH '»D uf» DiD'ODD WUK1.
e) das. VI, S. 98: EP3W1 OH»1» D*75 V?j>b "'S« vgl. IV, S. 78
II, s. 57: hbnjj imwbm fem 161 Siyo wkpi . . . »*.wn rwiy tittiiv
Dltt.1 DK '»a 1HSJH. Saadja häit noch nicht wie später Mainionides die
Materie oder den Körper des Menschen für das Böse (vgl. Rosin, Die
Ethik des Maimonides, S. 52). Auch Joseph Ibn Zadik, der auch sonst
mit Saadja viele Berührungspunkte hat, hält (Mikrokosmos, S. 38) die
Torheit mbSD und das Böse JH.1 ebenfails nicht für einfache Gegen-
sätze des Guten, sondern wie Saadja für Negationen des Guten. In
einem handschriftlichen J?zirahkommentar des Dunasch ben Tamira
(1, § 2) heißt es ebenfalls: K1?« V* jnn ">3 1JH"1 nbl , • • D'V:x 1JN5
. . . -ose eva rmyrA pm »ipi^Di awi m-tjH vgl. die Stelle bei
Die Ethik R. Saadjas. 715
bei Saadja so weit, daß er sie oder ihre Gegenbegriffe
falsch und schimpflich fast identifiziert und oft promiscue
gebraucht. So sagt er zum Beispiel an einer Stelle: »Man
dürfe die Wunder des Mose gar nicht mit den Wundern
der ägyptischen Zauberer vergleichen, denn sie bilden
Gegensätze, wie eine gute und eine böse Tat, und der
dabei gebrauchte Ausdruck der Bibel will die ägyptischen
Zauberwerke als »schimpflich« bezeichnen, nicht als »wahr«1).
Hier hat »schimpflich« offenbar die Bedeutung von »falsch«.
In ähnlicher Weise nennt Saadja auch sonst das Irrige,
Falsche in einer Ansicht das Böse2). Es kann uns deshalb
auch nicht wundern daß Saadja diejenigen, welche die
Wahrheit erforschen. Fromme, und diejenigen, die es nicht
tun, Frevler nennt3). Wir würden nach unserer heutigen
Anschauung und nach unserem Sprachgebrauch statt Fromme
und Frevler in diesem Falle weit eher Weise und Toren
sagen. Weise und Toren hinwiederum gelten bei Saadja als
ethische Benennungen, wofür wir die Bezeichnung Fromme
und Frevler passender halten4). Der Tor oder der Unwis-
sende kann nach Saadja mit Recht als Frevler bezeichnet
werden, »weil das Böse (Unrecht) unter anderem aus man-
gelhafter Erkenntnis der Wahrheit geschieht«5).
Dadurch aber, daß er gut und wahr für verwandte
Begriffe hält, haben wir über den Inhalt des Guten selbst
noch gar nichts erfahren. Wir können höchstens daraus
Guttmann a. a. O. S. 100, Anm. 7. Das Böse spielte in der Kirchen-
lehre vollständig die Rolle der Materie in Piatos System. Saadja hält
«ich davon fern, Mamonides ist schon davon beeinflußt.
») Emunot in, S. 64: nna*1? *b obyt nwaS nt -o . . . B,TBr6a
vgl. III, S. 62 unten.
2) das. II, S. 47: njn ib"dvi . . ■ ysxnb wiix n^no rm.
J) das., Einleitung S. 2. Fromme = B'pHX, Frevler = o^jNtn,
weil sie die Wahrheit vergewaltigen: PONH CDOin üüV ^BB.
*) das. X, S. 145; vgl. jedoch IV, S. 77 oben. das. IV, S. 80,
oben*
6) das. IV, S. 98: ... mas wbv bx "o i^ pK bvyn »a wm
716 Die Ethik R. Saadjas.
schließen, daß wie die Vernunft für das Erkennen sie auch
ebenso für das sittliche Handeln das erste Prinzip werde
bilden müssen. Allein in der Erforschung der Wahrheit legt
die Vernunft »die Realität der Dinge ihrer Erkenntnis zu
Grunde« und richtet sich nach ihnen1), wonach soll sich
aber die Vernunft in der Erkenntnis des Guten richten
oder woran erkennt sie das Gute? Diese Frage gerade
hat von Sokrates bis zur Gegenwart die verschiedensten
Beantwortungen gefunden, und diese hauptsächlich bilden
die Differenzpunkte der verschiedenen ethischen Systeme.
Die Vernunft kann, da es sich in der Ethik hauptsächlich
um den Menschen handelt, das Gute als etwas auffassen, das
in Beziehung zum menschlichen Streben steht. Der Mensch
erstrebt naturgemäß sein Wohlbefinden; also wird die Ver-
nunft das Wohlbefinden,, sei dieses nun das Wohlbefinden
des Einzelnen oder der Gesamtheit oder das Wohlbefinden
des Einzelnen und zugleich der Gesamtheit als »Gut« be-
zeichnen. Folgerichtig wird sie aber auch nicht umhin
können, alles, was dieses Gut erreichen hilft, »gut« zu
nennen. Die Ethik wird dadurch zur Güterlehre, die alles
nur nach dem Maßstabe des Nutzens und Schadens be-
urteilt. Die Vernunft kann aber auch das Gute mit einem
gewissen Zustande oder einer Beschaffenheit des Menschen
oder seines Handelns in Beziehung setzen und dann diesen
Zustand oder diese Beschaffenheit als »gut« bezeichnen.
Die Ethik wird dann bei diesem Charakter des Guten zur
Tugendlehre. Es kann sich endlich die Vernunft das Gute
auch als etwas Selbständiges, an und für sich Seiendes,
wie zum Beispiel den Begriff des Wahren, denken und es,
weil es ein absolut Wertvolles und Würdiges ist, zugleich
für ein Notwendiges halten, das der Mensch in seinen Ge-
sinnungen und Handlungen zum Ausdruck bringen muß.
») Emunot Einleitung S. 6: onann mnDK BVV na rttWDil tiSTW
*a anm w\vh injn ovv »a Tetaun ^osm . . . injn dh^jj avuei vtv
. . . injn in« maVin tmrsn mno», vgl. i, S. 34 unten.
Die Ethik R. Saadjas. 717
Die Ethik entwickelt sich bei diesem Begriff des Guten zu
einer Pflichtenlehre. Alle diese Begriffe des Guten, und
mithin auch alle drei Formen der Ethik, finden sich bei
Saadja, jedoch gehen sie nicht getrennt neben einander her,
sondern stehen in einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis
zu einander und sind mit einander verbunden. Wir werden
trotzdem versuchen, sie von einander zu sondern und jeden
Begriff des Guten für sich untersuchen.
Saadja geht wie Aristoteles in seiner Ethik haupt-
sächlich von dem Gedanken aus, daß alle menschliche
Tätigkeit nach einem Zwecke strebe, und daß dieser Zweck
zunächst das dem Menschen Nützliche sei. »Denn der
Mensch würde vergeblich tätig sein, wenn er zwecklos
handelte, weil er seinen Nutzen außer acht ließe«1). Daß,
der Mensch das Nützliche daher als etwas Gutes schätzt
ist ganz natürlich und folgt auch daraus, daß er von Natur
»alles verwirft, was ihm schädlich ist«2). Das Nützliche ist
für Saadja deshalb allemal das Gute und das Schädliche
immer das Böse)3. Nützlich und schädlich sind aber nur
relative Begriffe, die den Dingen selbst nicht anhaften.
»Denn Gott hat nur solche Dinge geschaffen, die sich dazu
eignen, daß der Mensch, je nach seiner Wahl, Gutes oder
Böses in ihnen finde. Wenn er zum Beispiel ißt oder trinkt,
um seinem Bedürfnisse zu genügen, so findet er darin das
Gute, nimmt er aber mehr davon, als er verträgt, so ge-
reicht es ihm zum Unheil«4). Der Wert kommt den Dingen
also nicht von vornherein zu, sondern wird ihnen erst bei-
gelegt infolge des Zweckes, dem sie dienen, oder nach
») Emunot I, S. 38: kS1? tyie kihpd rhvnb tyiD .t,t DTKn >D
inSmr rrjö «in» ^jdd ,,-ity.
*) das. IV, S. 79: \npw 1»K inn DN1D D"7Kn "O.
3) das. I, S. 26 wird das Gute und das Böse mit dem Nützli-
chen und Schädlichen identisch behandelt und ebenso III, S. 58—64.
*) das. I, S. 29: nittb ,T.T» D^DID DH W« D^SlS «"O "JK
DK1 ,Dlto HT .T.T . . . 1315t *D3 SdxDI SdJC DK» ,WHTiaa jm Dito DTO
jn m ,"i\t Sdid i:"k» no oio ns*.
718 Die Ethik R. Saadjas.
den Wirkungen, die sie für den Menschen haben. Schmerzen
und Krankheiten sind unleugbar Übel, und Saadja gibt
ihnen mehr als einmal1) das Prädikat »böse«, nichtsdesto-
weniger bezeichnet er sie immer als »gut?, wenn er in
ihnen einen Zweck entdeckt zu haben glaubt2). Umgekehrt
erscheint dem Menschen alles als »gut«, was er begehrt
oder wonach er strebt8), und Saadja leugnet das nicht
etwa, sondern hält die menschlichen Triebe von Natur für
durchaus berechtigt4). Einen sittlichen Wert oder Unwert
jedoch legt er dem Begehren und dessen Objekten erst
bei, indem er sie auf einen Zweck bezieht und sie nach
ihren Wirkungen prüft6). Was dem Zwecke entspricht, das
ist das Nützliche und Gute, was dem Zwecke widerstrebt,
das ist das Schädliche und mithin verwerflich6). Welches
dieser Zweck ist, worauf die Vernunft bei der Prädizierung
der Dinge Rücksicht zu nehmen hat, bleibe vorläufig da-
hingestellt. Wir werden später sehen, daß er nicht auf die
Sphäre des handelnden Subjekts beschränkt bleibt. Gleich-
viel, der Wert des Guten besteht doch immer darin, daß
sich das menschliche Streben darauf richtet und die Ver-
') Emunot X, S. 148—156, sie bilden dort die ständige Gruppe
der Übel und die Kehrseite der von Saadja zurückgewiesenen soge-
nannten höchsten Güter.
2) das. IV, S. 76: -naya ,i^ caitt btikscbi ■ . . d«WD -iij; T^crn
. . . jtt3<i VKttna 31»'», das. V, S. 87: *n ,0'p'TOrl b3B3 n*7j?in,n Sbk
. . . ljHip
3) das. X, S. 145: a^man wjte i3rtD,n^ . . . n»K kim mann nai
a-a-in e^mSam aion rr-im moh
*) das, X, S. 145: iljfl Bipo K31BM 3MW KnP HDD "IHK ^33^ V
13 WBT\W, vgl. das. IV, S. 77 oben.
5) das. x, S. 145: ans piann*? mann naa payrr m . . .
imnK .tww tra ,ia j>j?" m j>3db b^iju idibi irr-in« ran* bki ,B3naSi
UB'Qft fjT« MAI |D J>3B PTltt 13*3 nXT BKI ,nn31B>B.
•) das. iv, s. 77 : ^ lotim rA jnS a.na nahn iw miKnm . . .
. . . Satfa nBipaa nam nn« ba wvb bk *3 ,13 aa^ain ttb Bann »3
,nawB nvr *\r\nn njta ia psyna «in om • . . riTOn tdjhS fiwn rmtn
n3i3B n\T ,mB"Kn jb ia pejnwn.
Die Ethik R. Saadjas. 719
nunft das Objekt des Strebens als zu irgend etwas brauch-
bar erkennt. Da nun aber unendlich vieles nützlich und
brauchbar sein kann, so muß auch das Prädikat »gut«
ebensovielen Objekten zugeschrieben werden, und das
Gute kann durchaus nicht einzig auf ein Objekt allein be-
schränkt werden. Saadja erkennt dies im zehnten Abschnitt
an und unterläßt es absichtlich den Begriff des Guten zu
fixieren, ja durch seine Kritik der dreizehn verschiedenen
Lebensrichtungen bestreitet er sogar, was er in seiner Re~
ligionsethik behauptet1), daß es bei der Mannichfaltigkeit
der menschlichen Natur einen einheitlichen Begriff des
höchsten Gutes geben könne. Ein solcher Begriff erscheint
ihm dort vielmehr ganz unberechtigt, einmal weil wir nicht
bloß eine Neigung, sondern viele Neigungen haben, die
alle berechtigt sind2), und dann, weil jedes Gute, welches
als ein vermeintlich Höchstes einseitig erstrebt wird, bei
näherer Untersuchung eine ganze Reihe von Übeln in
seinem Gefolge zeigt3). Es läßt sich das Gute nicht ein-
heitlich bestimmen, und Saadja beweist uns, daß selbst
König Salomo, der sich mit dieser Frage eingehend be-
schäftigte, es nicht vermocht hat. Er fand nur immer ein-
zelne Objekte, in denen das Gute enthalten war, und konnte
uns nur andeuten, daß das Gute nur durch Beobachtung
auf empirischem Wege zu erforschen sei4).
Neben dieser relativen Wertschätzung des Guten, in
der als gut nur gilt was nützlich, und als böse was schäd-
lich ist, erkennt Saadja auch einen absoluten Wert des
Sittlichen an, der vom Begehren und Streben ganz unab-
») Emunot III, S. 58: nubvn rmnm nmoan nnSxnn.
8) das. X, S. 144 unten; 145 ff.
*) das. X. S. 147 — 158 in der Untersuchung der dreizehn ver-
schiedenen Lebensrichtungen
*) das. X, S. 146 oben: ritt pDJttHtP TVl (3 r\übv Dann TKXDtP
'iai . . . man «in no vgpmh, das.: 161 ... nbttn D*ijwn T,ina tot *jk
^-#3 nx {"a ~\wüh ofci ':« 'rnn ,idkb> ms ,aion mrw nea \"yb n^i,
vgl. übrigens Strümpell a. a. O. S. 247 über Piatos Begriff des Outen.
720 Die Ethik R. Saadjas.
hängig ist. Während in der relativen Wertschätzung das
Objekt erst dadurch gut wird, daß wir unser Streben darauf
richten und unsere Vernunft es als ein Mittel zu irgend
einem Zwecke schätzt, trägt das Gute in der absoluten
Wertschätzung seinen Wert in sich selbst und erregt da-
durch allein das Wohlgefallen der Vernunft. Schon durch
die nahe Verwandtschaft, in der bei Saadja der Begriff des
Guten zum Begriff des Wahren stand, ließe sich erkennen,
daß dem Guten ein objektiver Wert zukommen müsse.
Diesen objektiven Wert behauptet Saadja aber auch aus-
drücklich und unterscheidet darin sogar zwei Formen, die
wir heute zwar sehr wohl unterschiedlich beurteilen, die er
noch, wie Plato schon1) vollkommen konfundiert, nämlich
den ästhetischen und den rein ethischen Begriff des Guten.
Die ästhetische Auffassung des Guten hat Saadja unleug-
bar der antiken Ethik entlehnt. Denn es war ein Nati-
onalzug des alten Griechenland das Schöne mit dem
Guten in der engsten Verbindung zu denken und dieses
als eine Art von jenem anzusehen. Saadja findet aber mit
der Meisterschaft, mit der er die biblische Literatur beherrscht,
die ästhetische Auffassung des Guten schon im Buche Ko-
helet vertreten und deutet das Gute dort als das Zeitgemäße
oder den Umständen nach Passende und Angemessene2).
Das Gute wird hier nicht von dem Zwecke, dem es etwa
dient, abhängig gemacht und deshalb auch nicht nach dem
Maße des Nutzens oder Schadens geschätzt; es wird gar
nicht in Objekten, sondern vorwiegend in Verhältnissen ge-
sucht. Die urteilende Vernunft läßt den Inhalt des Guten
fast gänzlich außer acht, sie kümmert sich nicht im min-
') Im Phileb. 53 c behauptet Plato den objektiven Wert des
Outen: aurö xat^ auröv Sv, oücta. Über das Verhältnis des Schönen
zum Quien, vgl. Strümpell, Praktische Philos. d. Qriech., S. 226 ff.
s) Emunot X, S. 161: ,TWW ,.173 TDfll HD" 1»H D,T^JJ SpDlfll
San rm -idxp ioa .rmSna xb nb mmn rya man» nneno nnn bz
inj>n nc ntpy. Koh. 3, n das.: avt» i3i *?d niB>j> mm n& unp nnsrr
"inya dnd».
Die Ethik R. Saadjas. 721
desten darum, in welchen Beziehungen es für uns oder für
andere brauchbar und nützlich ist, sondern sieht es in
Verhältnissen liegen, die ihr rein formal wie das Schöne,
je nachdem sie passend sind oder nicht, gefallen oder miß-
fallen. Diese Art der Wertschätzung, in der das ethische
Urteil nicht von einer vorliegenden Tat, sondern fast aus-
schließlich von den darin liegenden Verhältnissen ausgeht
und von ihnen bestimmt wird, kommt bei Saadja in einer
großen, zusammenhängenden Reihe von Beispielen zum
Ausdruck.
Wir führen sie mit Weglassung der biblischen Zitate
im Folgenden an: »Die Gottesverehrung der Frommen
hat einen höheren Wert als die anderer Menschen; umge-
kehrt aber gebührt auch der Sünde des Frommen eine
schärfere Verurteilung als der anderer Menschen. Die Gottes-
verehrung an einem besonders bevorzugten Ort gewinnt
durch denselben an Wert; umgekehrt wieder ist oft die an
einem solchen Ort begangene Sünde um so mehr zu ver-
dammen. Dem Jüngling ist die von ihm geübte Enthalt-
samkeit als ein um so größeres Verdienst, dem Greise die
begangene Ausschweifung als ein um so schimpflicheres
Laster anzurechnen. Die Redlichkeit der Armen verdient um
so höhere Anerkennung, der Betrug des Reichen um so
entschiedenere Verurteilung. Die dem Feinde geleistete Hilfe
ist als ein um so größeres Verdienst, der dem Freunde zu-
gefügte Schaden als eine um so schwerere Schuld zu be-
trachten. Die Demut des Vornehmen verdient um so größere
Anerkennung, der Hochmut des Niedrigstehenden um so
strengere Verurteilung. Die Vergewaltigung des Armen, die
Beschädigung des Weisen oder eines dem Wohle Anderer
sich widmenden Menschen, die Bedrückung einer größeren
Gemeinschaft, die Ausübung einer Sünde an einem gott-
geweihten Tage müssen um so schwerere Vergehen, hin-
gegen die Mildtätigkeit des Armen, das Fasten eines durch
die Genüsse des Lebens verwöhnten Menschen als um so
Mon Jahrgang. 46
722 Die Ethik R. Saadjas.
größeres Verdienst angesehen werden«1). Man wird in all
diesen Beispielen nicht verkennen, daß das, was hier gelobt
oder getadelt wird, von allem Begehren und Streben des
urteilenden Subjekts vollkommen unabhängig ist. Der Grund
für die ganz besondere Wertschätzung der dem Feinde ge-
leisteten Hilfe oder der vom Armen geübten Redlichkeit oder
Mildtätigkeit ist weder ein zu dämonistischer, noch ist er in
Nützlichkeitsrücksichten zu suchen. Er liegt vielmehr darin,
daß die Vernunft die Hilfeleistung, die Redlichkeit und die
Mildtätigkeit als ein an und für sich Würdiges und Wert-
volles erkennt und sie deshalb schätzt. Die Schätzung
wird aber größer, wenn sie sich, wie in den meisten der
oben angeführten Fälle, Verhältnisse denkt, in denen das
Gute gerade gegen alle Rücksicht auf das Wohl und den
Vorteil des handelnden Subjekts geübt wird; darum ist die
Enthaltsamkeit des Jünglings, die Redlichkeit des Armen,
die Hilfeleistung des Feindes, die Mildtätigkeit des Armen
und das Fasten des Zärtlings besonders lobenswert. Be-
trachten wir einmal die übrigen der oben zitierten Fälle
näher: »Die Gottesverehrung der Frommen hat einen hö-
heren Wert als die anderer Menschen«. »Die Gottesverehrung
an einem besonders bevorzugten Ort gewinnt durch den-
selben an Wert«. Alle Sätze, diese sowohl als die anderen,
enthalten eigentlich eine doppelte Beurteilung: erstens, daß
die Gottesverehrung einen Wert habe, zweitens, daß sie
unter Umständen einen höheren Wert habe. Diese doppelte
Beurteilung liegt natürlich ebenso auch den Gegensätzen
zu Grunde. Erstens: die Sünde, die Ausschweifung, der
Betrug, der Hochmut usw. sind verwerflich; zweitens: sie
sind unter gewissen Umständen in gesteigertem Maße ver-
werflich. Wir lassen die erste Beurteilung hier vorläufig
außer acht und fragen, worin hat die zweite, die eine
Steigerung des Lobes oder des Tadels herbeiführt, ihren
Grund? Offenbar darin, daß in dem jedesmaligen Falle ein
») Emunot V, S. 92-93.
Die Ethik R. Saadjas. 723
7rps7rov in den gedachten Umständen und Verhältnissen ent-
halten ist, das nun entweder gewahrt oder verletzt wird.
Dieses 7cp£rcov oder Passende und Angemessene hat seinen
eigenen selbständigen Wert, der zu dem ersten schon vor-
handenen noch hinzukommt und dadurch die Steigerung
bewirkt. Die Gottesverehrung der Frommen hat also darum
einen höheren Wert als die anderer Menschen, weil sie den
Frommen ganz besonders ziemt, und ebenso verdient um-
gekehrt, um von den Gegensätzen nur ein Beispiel anzu-
führen, der Hochmut des Niedrigstehenden deshalb eine
strengere Verurteilung als der des Hochstehenden, weil er
ihm nicht ziemt und deshalb ganz unpassend ist. Daß
Saadja alle diese Urteile nach ästhetischer Wertschätzung
gefällt habe, haben wir umsomehr Grund anzunehmen, als
er selbst das Schöne als das den Umständen nach An-
gemessene definiert hat und dann, weil auch bei Plato, von
dem Saadja und wahrscheinlich schon sein Gewährsmann Sa-
lomo, der vermeintliche Verfasser des Buches Kohelet, be-
einflußt ist, das -rcpsTCov dasjenige ist, welches bewirkt, daß
alles, womit es sich verbindet, als y.<x1qv erscheint1). Der
ästhetische Wert des Sittlichen bleibt aber nicht auf das
wpexov beschränkt, sondern nähert sich bei Saadja ähnlich
wie bei Plato dem des ethisch Guten, mit dem es dann
zusammenfällt. Das Schöne ist nicht bloß, wie wir es nach
Saadja oben definiert haben, das der Zeit oder den Ver-
hältnissen nach Passende und Angemessene, sondern es
hat seinen eigenen Inhalt, der vorwiegend den Tugend-
begriff in sich enthält, aber teilweise auch schon in den
Pflichtbegriff hinüberspielt und dadurch mit dem Inhalt des
ethisch Guten übereinstimmt. »Die Vernunft« heißt es an
einer Stelle3), »hält die Gerechtigkeit und die Rechtlich-
keit für etwas Schönes, und ebenso betrachtet sie als etwasi
!) Plato, Hippias maj. p. 294.
») Emunot IX, S. 130: flll^l »WITtl pn3£H \bsvh HB"» p
. . . jnn |o vwrfa ai»a.
46*
724 Die Ethik R. Saadjas.
Schönes, die Menschen zum Guten anzuleiten und sie vor
Bösem zu warnen.« »Die Ausübung dessen, was seine Ver-
nunft als etwas Schönes erkennt, verursacht dem Menschen
Gefahren und Unannehmlichkeiten aller Art1). Zunächst
sei hier darauf hingewiesen, daß das, was hier als schön
bezeichnet wird, wieder durchaus nichts ist, das der Mensch
oder die Vernunft um eines Zweckes willen oder eines
Vorteils und Genusses wegen schätzt. Sein objektiver Wert
ergibt sich auch daraus, daß, während hier die Gerechtig-
keit als etwas Schönes bezeichnet ist, sie an anderen
Stellen als »gut« prädiziert wird2). Wie wir aber oben
schon gesehen haben und auch weiterhin zeigen werden,
ist das Gute des trnt, welches Wort bei Saadja sowohl
Gerechtigkeit wie Wahrheit bedeutet 3), ein absolutes und
objektives. Mithin wird hier auch dem Schönen ein ob-
jektiver Wert zuzuschreiben sein4). Als »schön« wird
aber ein Zwiefaches bezeichnet, einmal eine Tugend und
dann eine Pflicht. Denn die Unterweisung Anderer im Guten
und Bösen bezeichnet Saadja ausdrücklich als eine Pflicht5).
Das Schöne identifiziert sich nach dieser Richtung also
schon mit dem ethisch Guten, aus dem er den Pflicht-
begriff eben ableitet. Wir können deshalb diese Seite des
Schönen außer acht lassen und wollen jetzt hauptsächlich
das Schöne als in der Tugend liegend beachten. Gerechtig-
») Emunot: fTCl K^l . . . D1K ">A flXJtf VUMPrH ,nbx bl J1K D"p1
. . l'rSB''? nt"V HD3 T\b& bl bx im« IP3&, daß der Mensch es wirk-
lich übt, geschieht im Vertrauen auf die göttl. Vergeltung.
») das. I, S. 26: sie NY1 piSKll n. a. m.
s) das V, S. 86 wird der p"H5t dem jjen entgegengesetzt.
IV, S. 76 wird jnif mit derselben Bedeutung wie riDK gebraucht DDK
"IK13D plitl iTMa; Einleit. S. 7 bildet p-|3C den Gegensatz zu DT3,
während II, S. 55 fiDX in derselben Verbindung den Gegensatz zu
ST5 bildet. Zu der letzteren Steile vgl. ZDMO. Bd. 33, S. 707.
*) Auch Plato behandelt das Sixoaov, xaxöv und aya^öv als
absolute Begriffe und Werte Rep. V, 47oa; vgl. Zeller II, 1 S. 545 ff.
5) das. S. 3: }d i^k BT»vn *by nain m tfryn *s wm
^bv pn.
Die Ethik R. Saadjas. 725
keit und Rechtlichkeit sind Begriffe, die nicht Gegenstände
bezeichnen, sondern ein auf bestimmtes Verhalten des Men-
schen angewendet werden. Saadja selbst rechnet sie zu
den Qualitäten der Seele und spricht sie, weil sie nur
Akzidenzien seien, in seinen metaphysischen Untersuchungen
sogar der Gottheit ab3). Es sind also gewisse Eigen-
schaften der Seele, die der ethischen Beurteilung unter-
worfen sind oder richtiger wohl, da Saadja alle Eigen-
schaften und Neigungen an und für sich für ethisch ganz
indifferent, ja sogar für berechtigt hält2), es ist eine be-
stimmte Art und Weise des menschlichen Verhaltens oder
Handelns, an die die Vernunft den Maßstab der sittlichen
Wertschätzung legt. Wir zitieren als Beispiel eine Stelle,
die Saadja zur Widerlegung der dualistischen Schöpfungs-
theorie benutzt. »Der Mensch zürnt und grollt, dann ver-
söhnt er sich und verzeiht und spricht, ich habe verziehen.
Wenn es nun der Gute ist, der verzeiht, so war es doch
auch dieselbe Person, welche vorher zürnte, und wenn es
der Böse war, welcher verzeiht, so ist er doch dadurch,
daß er verzeiht, wieder gut geworden. Ferner sehen wir,
daß ein Mensch mordet und stiehlt und wenn man ihn
zum Geständnis veranlaßt, so gesteht er, was er ge-
sündigt und was er verübt hat. Ist es nun der Böse, welcher
bekennt, so ist er durch das Bekenntnis doch längst ge-
recht geworden und das Gerechtsein ist gut3). »Wie hier
der Begriff p"rit unverkennbar einen Zustand oder ein Ver-
») Emunot II, S. 52. »Wenn es in der Schrift heißt, daß Qott
etwas liebe oder hasse, so ist das so aufzufassen, daß alles, was er
uns zu lieben und zu tun befohlen hat, als von ihm geliebt anzu-
sehen ist, wie es heißt: Der Ewige liebt das Recht (Ps. 37, 28) oder:
Gerecht ist der Ewige, er liebt Gerechtigkeit (Ps. 11, 7).
») das. X, S. 144, 145.
8) das. I, S. 26: Der Verzeihende also wird als der Gute
und der Zürnende als der Böse prädiziert. Ganz besonders beach-
tenswert ist der Schluß: an kh piÄtf piat iaa min» kh jnn am.
wo wir p"i5t verbal nehmen.
726 Die Ethik R. Saadjas.
halten des Menschen bezeichnet, den die Vernunft eben
als gut erkennt, so liegt auch in dem synonymen Begriff
"HPV, den wir oben mit Rechtlichkeit übersetzt haben, ein
Verhalten, und zwar das rechte Verhalten ausgedrückt. Sa-
adja benützt ohne Ausnahme das Verbum dieses Begriffes
in der Bedeutung »ein richtiges Verhalten lehren«?:1). Wenn
nun ein richtiges Verhalten der Vernunft als »schön«, also
als ein für sich Wertvolles gilt, so wird sie auch darnach
streben, dem Menschen eine solche sittliche Konstitution zu
geben, die unter allen Umständen den Vorzug verdient
und den Menschen in jeder seiner Natur entsprechenden
Beziehung glücklich sein läßt. Denn das Glück, d. h.
das Wohlbefinden, bleibt auch für Saadja der Angelpunkt
alles menschlichen Strebens. Nach diesem Gesichtspunkte
ist die philosophische Ethik Saadjas im zehnten Abschnitt,
die das gesuchte Gut nicht in einem einfachen Objekt
findet, angelegt und so allein ist sie erst richtig zu ver-
stehen. Das Gute wird dort überhaupt nicht in Objekten
gesucht, sondern in der harmonischen Vereinigung aller das
innere Leben des Menschen konstituierenden Elemente2),
») Wir verweisen auf Em. S. 3 (siehe S. 724 Anm. 5); das. III S.
60 unten: ■snjwtfi ,T\ihyo bx ijrrtp ^3 i»\n th.-i Dix •oaS nnnSi.. .
. . . Dl» ^a Wfl^i das. V, S. 87: Ol« "»»ö D'31 13 ViB»rP "IISJD^.
Bemerkenswert in III, S. 60 ist der Ausdruck JTWfl "]"H; bei Saadja
ist es der Weg, das Verhalten, auf dem man z<\ Vorzügen gelangt,
flbjm bedeutet wie flJTTD V, S. 85 ff. sittliche Stufe. mtP\1 *]"n als
ethisches Maß findet sich in der jüdischen Literatur häufig: Abot II,
1 u. rblttn *p"l II, 9; Gabirol, Tikkun Middot ha-Nefescb, ed. Lune-
ville, V, 3; Maimonides, Hüchot Deot I, 3 — 6. Bachja, Herzens-
pflichten, ed. Leipzig, 1846. VIII, 3 p. 385, IX, 3 p. 407, 408 hat statt
n*HT,n "pin immer JTBM "1T\, es bedeutet das aristotel. Mittelmaß
welches von fast allen jüd. Religionsphilosophen angenommen wurde.
Vgl. Juda Halewi, Kusari, ed. Leipzig, 1853, II, 50 Anfang; Abraham
Ibr Daud; vgl. Rosin, Ethik d. Maimonides, S. 24; ganz besonders
Maimonides Hilchot Deot I, 4 ff.
2) Emunot X, S. 144: [5... 'K moa VD"* bl rUTT *b D"Wfl**.
. . . w# ppn ib obv ,ttyoi m by iwurn runm dikh nno nixapnnn
Die Ethik R. Saadjas. 727
und Saadja hatte insofern Recht, den Zustand und das
Verhalten des Menschen oben nach ästhetischer Schätzung
zu beurteilen, als das Gute ja in dem richtigen Maß und
Verhältnis besteht, das zwischen seinen Bestandteilen ob-
walten muß. Diese Bestandteile sind aber eben die dem
Verhalten des Menschen zu Grunde liegenden oder es be-
einflussenden Triebe, Neigungen und Eigenschaften1). Das
Gute liegt also gewissermaßen in der glücklichen Harmonie
des ganzen Menschen. Wird diese Harmonie durch einsei-
tige Berücksichtigung einer Neigung gestört, so wird auch
das Gute unvollkommen und mangelhaft2). Eine solche
Bestimmung des Guten, die das letztere nur in dem rich-
tigen Verhältnisse sieht, das zwischen den einzelnen Nei-
gungen und Abneigungen der Seele herrschen müsse, führt
aber notwendig zu einer Ethik, die den Schwerpunkt des
sittlichen Ideals nur in dem schön und richtig geordneten
Verhältnis des Menschen zu sich selbst oder der einzelnen
Teile seines Wesens zu einander finden kann. Eine solche
Ethik ist denn auch die philosophische Ethik Saadjas im
zehnten Abschnitt tatsächlich. Sie fragt wohl nach der
besten Art des Handelns, sie versteht aber darunter nicht
die Frage, wie das handelnde Subjekt das Gute nach außen
hin tun, oder wie es ein Gutes außerhalb seiner eigenen
Interessensphäre bewirken solle, sondern wie und durch
welche Art und Weise der Tätigkeit der Gesamtzustand
DV«> rj'Jj? hl WP }3 TNT WK31 . . . lSptPM übpV I1?*« . . • .T.T1
copiriDi
') ."GH« Liebe und HK9V Haß sind für Saadja Kollektivbegriffe,
sie umfassen die vielen Trieoe und Neigungen, die von dem unteren
und oberen Begehrungsvermögen ausgehen. Jede Neigung wird ,*Hö
genannt Als ethische Hauptregel stellt Saadja deshalb auf: n\T#
vnovi einrv nun wbm »lwnsa bvn on»n x, s. 145.
2) Emunot X, S. '.46 bzx .ahvrm iltpo .JpJinD ni'JHJ in« ^31...
niD-em moto dk 'a [nan n\T kS annannna. Als »vollkommen« gilt
bei Saadja a] es, was weder zu viel noch zu wenig enthält: *imn s3
pnon kS*. r.BDin xb in px n»K xin das. III, S. 73.
728 Die Ethik R. Saadjas.
des Individuums am harmonischsten und glücklichsten ge-
staltet werden könne. Es ist demnach, trotz der obigen
ästhetischen Beurteilung, eine rein objektive Schätzung im
Grunde nun doch nicht vorhanden, denn die maßvolle und
harmonische Verbindung derjenigen geistigen Elemente, die
in ihrer Ganzheit das gesuchte Gut konstituieren, verlangt
Saadja nun nicht um ihrer selbst willen, sondern, wie er
selbst ausdrücklich bemerkt1), »weil sie für den Menschen
von größerem Nutzen ist«. Die Ethik kommt hier bei der
ästhetischen Auffassung des sittlichen Lebens, gleichviel
ob sie objektiv oder relativ ist, über den harmonisch ge-
ordneten Gesamtzustand des Einzelnen und über die in
sich vollendete Ausbildung der eigenen Persönlichkeit nicht
hinaus; sie ist vorwiegend individualistisch.
») Emunot X, S. 160: nrjJiD W DHWllOfl ^33 rPHPntP (TOI
nnv )h n^jND n\-iw ,vjnartKi vtihd mrn vz ,0-1*6. Saadja ver-
gleicht dort die Harmonie der Farben und Töne mit der Harmonie
und Eigenschaften der Seele.
(Fortsetzung folgt.)
•k
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen
Zeitalter.
Neue Folge.
Von Simon Eppenstein.
V. Die Erzählung von den vier gefangenen Talnradisten.
(Fortsetzung.)
Die unter dem Namen der Pesikta Rabbathi gehende
Kompilation erweist sich auch dadurch als süditalienisches
Erzeugnis, daß sie in späterer Zeit lediglich von Gelehrten
Italiens, Frankreichs und Deutschlands, hingegen von denen
Spaniens gar nicht benutzt wurde1), was wir uns nur da-
durch erklären können, daß die erstgenannten Länder
hauptsächlich von dem ja größtenteils nach Palästina sich
richtenden Italien beeinflußt wurden, während Spanien mehr
nach Babylonien hinneigte.
Ein der Pesikta Rabbathi teilweise nahestehendes li-
terarisches Erzeugnis, als dessen Entstehungsort wir gleich-
falls das südliche Italien ansehen können, ist der Seder
Eliahu Rabba und Sutta*). Auch dieses, zweifelsohne viele
alte Bestandteile enthaltende, eigenartige agadische Werk
weist durch das reinere Hebräisch auf das Vaterland der
Pesikta Rabbathi hin. Diese außerordentlich anziehende
») Vgl. QV.» S. 231—262.
») Vgl. jetzt die kritische Ausgabe von Friedmann, Wien 1900,
und desselben hebräische Einleitung, Warschau— Wien 1902, und
hierzu Theodor in Monatsschrift 1900, S. 380-384, 550—561, ferner
ebendort 1903, S. 70 ff. Vgl. ferner Zunz OV.« S. 119—124, Deren-
bourg in REJ. III, S. 121-122, Weiß T1T1 III, S. 288, Qüdemann,
Geschichte des Erziehungswesens der Juden in Italien, S. 52 ff. u.
S. 300-303.
730 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
Kompilation setzt einen Verfasser voraus, der in einem
europäischen Lande lebte, wo ein schwunghafter Handel
blühte, der die Juden in vielfachen intimen Verkehr mit
Andersgläubigen brachte, sodaß eine Mahnung einerseits
zur strenger Redlichkeit und Toleranz, andererseits zur Heilig-
haltung des Lebenswandels und Pflege der Thora, verbunden
mit Warnungen vor Nachahmung fremder Gebräuche, durch-
aus geboten war. Daß der letztere Redactor in einem
christlichen Lande lebte, geht auch, meines Erachtens, deut-
lich aus der mit den Worten n^a onai DTO 1DW beginnenden
Stelle in Abschnitt 8 (S. 45) hervor, wo vor einem Handels-
geschäft mit einem Nichtjuden gewarnt und dieser mit na
bezeichnet wird. Dieses könnte aber unmöglich sich auf
einen Mohammedaner beziehen, da der genannte Ausdruck,
ursprünglich für Götzendiener berechnet, nicht auf die dem
Judentum in der Anerkennung der unbedingten Einheit
Gottes nahestehenden Bekenner des Islam angewendet
werden konnte. Es kann demnach, trotz der gelegentlichen
Anspielungen auf Babylonien und des etwaigen Hinweises auf
Dispute mit Karäern, nicht dieses Land in Betracht kommen,
wie Zunz1) und Oppenheim2), besonders unter Hervorhebung
des letzteren Momentes, annehmen, sondern, wenn wir noch
das leichte und reinere Hebräisch berücksichtigen, nur das
südliche Italien oder allenfalls die Gegend von Rom, wie
es zuletzt Güdemann dargetan hat3).
Betrachten wir nun die Art der Drascha, wie sie in
der Pesikta Rabbathi und dem Seder Eliahu, der im letzten
Drittel des 10. Jahrhunderts redigiert wurde, uns entgegen-
tritt, so nehmen wir allerdings eine durch einen Zeitraum
von mehr als einem und einem viertel Jahrhundert leicht
erklärliche, verschiedenartige Entwickelung wahr. Indessen
») Vgl. GV.8 S. 119.
8) Vgl. Beth-Talmud I, S. 265—270, 304-310 u. fgg.
3) Vgl. Geschichte des Erziehungswesens bei den Juden Italiens,
S. 303.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 731
zeigen uns beide Schriften, wie in diesem Lande die Be-
lehrung des Volkes, teils in strikterer Anlehnung an hala-
chische Themata, wie in der Pesikta Rabbathi, teils in
gelegentlicher Einflechtung gesetzlicher Partieen, in öffent-
lichem Vortrage stattfand. Als ein typisches Beispiel der
unter Weglassung einer einleitenden Halacha nur ein mo-
ralisches und historisches Thema behandelnden Drascha
haben wir in der Pesikta Rabbathi Nr. 26 mit dem Text-
wort 'yn rntaw nwiM nnb nj»» xbi jKitn nmo» nvi im
ono npmi B'aion iTMidi nnwa1). Es sind dies freie Reden,
die uns an die von der Vortragstätigkeit Süditaliens in der
Achimaazchronik gegebene Darstellung erinnern, aus der
wir den Eindruck gewinnen, daß dort diese Art der Unter-
weisung allsabbatlich über ein Thema im Anschluß an
irgend ein altes Midraschwerk stattfand2).
Neben dieser homiletischen Produktivität widmeten sich
die Süditaliener aber auch der Pflege des eigentlichen Ge-
setzesstudiums. Wenngleich uns hierüber, im Verhältnis zu
den von Babylonien bekannten, so gut wie gar nichts er-
halten ist, so lassen einzelne zersprengte Bemerkungen uns
doch ein Bild dieser Tätigkeit rekonstruieren. Aus den
durch Ascoli edierten Inschriften wissen wir von einem in
der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Venosa wirkenden
Nathan ben Ephraim, der als gelehrter Leiter einer Je-
schiba gerühmt wird3). Ferner wird berichtet, daß die Juden
in Rom mit dem Gaon Sar Schalom von Sura, also unge-
fähr um dieselbe Zeit, korrespondierten4). Von der Be-
schäftigung der Süditaliener mit der Geonimliteratur, also
!) Vgl. auch Weiß a. a. O., S. 283-284.
2) Vgl. Neubauer a. a O, S. 125 u. Kaufmann, Monatsschrift
a. a. O, S. 472.
8) Vgl. Kaufmann a. a. O., S. 471, Anm. 4 u. 5.
*) Vgl. Zunz QV.» S. 375, Anm. 66. nach K"iH njw Nr. 82,
Kaufmann a. a. O. u. Berliner in den Nachträgen zu Harwiiz' Einltg.
in das Machsor Vitry, S. 176, wollen den in der Achimaazchronik.
732 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
einer Verbindung mit dem Zentralpunkt der Gesetzeslehre,
haben wir ein vollgewichtiges Zeugnis für das Ende des
neunten Jahrhunderts, woselbst schon in Italien andere
Rezensionen der Halachoth des Jehudai Gaon im Umlauf
waren, die durch Gefangene erst von dort nach den Euphrat-
ländern gebracht worden1). Auch die mehrfach erwähnte
Achimäazchronik entwirft uns ein lebhaftes Bild von der
regen Beschäftigung mit der Halacha in Süditalien, so be-
sonders auch in Oria, wo es blühende Schulen gab, in denen
die geistigen Turniere der Thorabeflissenen stattfanden, und
ständige Orte zum Forschen in der Lehre2). Größere An-
regungen hat das Studium des Talmud wohl durch den aus
Bagdad, dem Sitz der Hochschulen in diese Gegend gekom-
menen Ahron erfahren, der, in Oria sich niederlassend, dort
auch eine Jeschiba gründete und den Quell seiner Weisheit
strömen ließ8). Daß wir aber in diesem von Achimaaz als
mit übernatürlicher Kraft ausgerüsteten Wundertäter, der
S. 125 genannten Kinderlehrer Mose mit dem vielfach zitierten Mose
aus Pavia identifizieren. Hiergegen spricht aber erstens die chrono-
logische Unmöglichkeit, da letzterer, nach Halberstam bei Kohut,
Aruch completum, S. XXXVIII, dem elften, ersterer aber dem zehnten
Jahrhundert angehört, und zweitens der Umstand, daß ein Kinderlehrer
unmöglich später solche Bedeutung erlangt haben kann.
*) Vgl. hierzu Epsteirj's Abhandlung über die Halachoth Ge
doloth in Hagoren III, S. 64: *miiT 31 10 bv lSx msbrUP pJHV 1H
pm"1"« [w nxo "iijrtfri mm xSk min'» m "nora Sana xrm rvS bn
*7SsS pXintP ; ferner ebendort: •p -in« .TDBO 2fl3 wnnx rrx TM '*
OHK1? b^^ü 1K3P in« &2V. Es handelt sich hier nicht um Raubzüge,
wie Epstein meint, sondern um die gegen Ende des 9. Jahrhunderts
beginnenden Einfälle in Süditalien, zumal unter DHK nur Italien —
Rom zu verstehen ist, während Griechenland bei Hai mit [V bezeichne'-
wird; vgl T'schuboth ha-Geonim, ed. Harkavy Nr. 125, S. 105: D^rn
wwtostp fo ij^bS piaöan cToSnn.
2) Vgl. Neubauer a. a. O-, S. 114, Z. 16 ff. Man beachte auch
hier den Ausdruck D'jJUp rwnoi, der an dieselben Wendungen in
Scherira's Sendschreiben und Chuschiel's Brief an Scbemarja erinnert.
») Vgl. a. a. O., S. 112, Z. 11 ff. und S. 114, Z. 22 ff. und
Kaufmann a. a. O., S. 465 ff.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 733
nach kurzem Verweilen in Italien, und zwar zuletzt in Bari,
wieder in die Heimat eilte, den nach Scherira's Bericht über-
gangenen Gaonatsprätendenten Ahron oder Abu Ahron wieder-
finden können, den die Traditionarier mit Mose ben Ka-
lonymos in Verbindung bringen, ist schon durch den be-
trächtlichen Zeitunterschied von ca.50 Jahren ausgeschlossen1),
wenn auch der Gast aus Babylonien als 3Ki JMtfi bezeichnet
wird2). Immerhin fand dieser in Süditalien, wo die Beschäfti-
gung mit der Mystik eine Stätte hatte und eine große
Empfänglichkeit für übernatürliche Vorgänge, wie für Astro-
logie, herrschte, einen geeigneten Boden. Auf diesem er-
wuchsen nun zunächst Geistesprodukte wie der Jezira-
kommentar des Sabbatai Donnolo, der beredtes Zeugnis
ablegt von den « in diesem Lande eifrig betriebenen Stu-
dien.
Insofern nun eine Beschäftigung mit den im Jezirabuch
niedergelegten Problemen Anlaß zu mancher mit der Ge-
!) Vgl. Neubauer in REJ. XXIII, S. 230 ff.
2) Es ist fraglich, ob Achimaaz, der nur eine ganz vage Kenntnis
von den Zuständen in Babylonien gehabt haben dürfte, — vgl. Kaufmann
a. a. O., S. 471 oben — hier überhaupt 3K im Sinne von pT ITO 2K
dem präsumtiven Nachfolger im Qaonat, und nicht vielmehr nur mu-
sivisch gebraucht hat, — Zur Sache selbst vergleiche noch Halevy
a. a. O., S. 238, der gegen die Verbindung des Abu Ahron mit Mose
ben Kalonymos den triftigen Grund anführt, daß, wenn man ersterem
den Joseph ben Abba gerade wegen seiner großen Meisterschaft in
den Künsten der Mystik vorgezogen hätte, man ihn doch wiederum nicht
zum Vater der Mysterien stempeln könne, uud seien es auch nur die
ntafin DHID. Vgl. übrigens auch Epstein in Hachoker II, S. 10 fgg.
und Groß in Monatsschrift 1906, S. 696, Anm. 1. — Noch möchte ich
darauf hinweisen, daß auch in der Familie der Kalonyraiden der Name
Chananael mehrfach vorkommt; vgl. auch Zunz GV.2 S. 378, Anm. a.
Ob nicht, da wir einen Zweig dieses Geschlechtes in Rom finden,
eine Verbindung zwischen ihm und der Achimaazfamilie stattgefunden
hat, zumal wir einen Kalonymos um das Jahr 988 in Begleitung
Otto's III in Süditalien finden? Andrerseits geht auch aus der Re-
sponsenliste JQR. XVIII, S. 428 hervor, daß noch im letzten Drittel
des 10. Jahrhunderts Angehörige dieser Familie in Lucca wohnten.
734 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonaiscen Zeitalter.
heimkunst in Verbindung stehenden Tätigkeit gegeben hat1),
ist zwischen dem Studium dieses Buches und der in den
Sabbatai- und Achimaazfamilien heimischen Geheimkunst ein
Zusammenhang angebahnt. Wir können nämlich feststellen
daß die Neigung zu den Geheimkünsten, wie sie uns in
den Berichten der Achimaazchronik entgegentritt, auch noch
am Ende des zehnten Jahrhunderts in Italien, besonders im
Süden, ebenso, wie in dem ihm geistig nahestehenden Pa-
lästina, geblüht hat. Wir sehen dies aus der uns in einer
dopptlten Rezension erhaltenen Anfrage des Kairuaners
Joseph b. Berechja an Hai in betreff wunderbarer Dinge2),
die zu seiner Zeit von Männern aus den genannten Ge-
genden berichtet wurden, wie Beschwörung des tosenden
Meeres, Tötung und Belebung von Menschen, Anwendung
des göttlichen Namens in besonderen Zusammensetzungen,
in Lob- und Bußgebeten und dergleichen. Hierbei werden
die Gewährsmänner, die er d^dkh Dian D'öDn D'tPJK nennt,
als btr\w p«i ohk pK 'DOn bezeichnet9). Unter diesem
christlichen Land ist aber zweifelsohne nur das im Grunde
christliche Unteritalien anzusehen, da die hier geschilderten
Praktiken ganz mit denen in der Achimaazchronik erzählten
übereinstimmen, deren Helden wiederholt als mit derartigen
übersinnlichen und mystischen Kräften ausgerüstet auftreten.
Noch genauer läßt sich das in der Anfrage genannte christ-
!) Vgl. Jezirakommentar des Jehuda ben Barsilai, ed. Halber-
stam, S. 102-103.
*) Vgl. a. a. O., S. 103 fgg. und S. 302, ferner Ta'am S'kenim,
Frf. a. M. 1854, S. 54 fgg.
*) Vgl. Ta'am S'kenim, S. 54 Ende u. Jezirakommentar a. a. O.,
S. 103, Z 9-10 v. unt.
*) Man vergleiche die verschiedenen Erzählungen bei Neubauer
a. a. O.
6) So in Ta'am S'kenim, S. 56a, Z. 6 v. unten. — Ich bemerke,
daß schon im Midrasch rabba, Kap. 67 zu Oen. 27, 39, wo Esau
pK i)üVO als Wohnsitz zugewiesen wird, als dieses \v bv K^ü'K
angegeben wird.
Beiträge zur Geschichte und Lite^tur im gaonäischen Zeitalter. 735
liehe Land aus der Wendung in Hai's Antwort ersehen,
wobei von »oiid bnWK gesprochen wird, indem Rom als
Gesamtbegriff für Italien zu verstehen ist.
Was nun speziell das intensive Studium der Halacha
betrifft, so blühte es besonders in Bari, Oria und Otranto1).
In der erstgenannten Stadt lebte gegen Ende des zehnten
Jahrhunderts ein Gelehrter Mose Kalfu, den der Verfasser
des Aruch zweimal zitiert2). Auch die gefeierte nordfranzö-
sische Autorität R. Jacob Tarn spricht von den früheren Ge-
lehrten Bari's und Otranto's mit der bekannten Variierung von
Jes. 2, 33). Von der praktischen, religiösen Tätigkeit des
Gelehrtenkollegiums in Bari können wir uns ein Bild ma-
chen nach dem bereits erwähnten, uns durch Elieser ben
Nathan erhaltenen Gutachten, das sich durch die Bemerkung
n«a *ö3n irrmo rrViwn rawna airo frn /iura als alt und durch
den griechisch lautenden Namen des einen Unterzeichners,
Papoleon, als noch der zweiten Hälfte des zehnten
Jahrhunderts angehörend kennzeichnet4). Bemerkenswert
ist auch die an die geonäische Schreibweise erinnernde
Wendung: n'Dtfn ja lamrw na6).
Was aber dem Talmudstudium in Süditalien seine
Eigentümlichkeit verleiht, ist die besondere Berücksichtigung
der palästinensischen Gemara überhaupt und der palästi-
J) Vgl. Rapoport, Biographie Kalir's, Note 17, Zunz GV.» S.
376, Anm. 1.
■) Vgl. Rapoport, Biographie R. Nathan's, Note 38 und Bio-
graphie Kalir's a. a. O., Weiß Tim IV, S. 272, Groß, Magazin a. a.
O., S. 26.
3) Aus den Worten R. Tams 0,-rty pilp VTlW »1K3 ^öart 031
UM"ittiKD Tl 1211 mifl KXfl ^»30 ''S geht deutlich hervor, daß es sich
um deren Bedeutung in früherer Zeit handelt. Rapoports Einfügung
1330 in der Biographie Kalir's findet sich nicht im Text (vgl. ed.
Rosenthal, Nr. 46 Ende, S. 90).
4) Vgl. auch Rapoport a. a. O.
6) Vgl. z. B. Hai's Gutachten vom Jahre 1011, bei Harkavy,
Studien IV, S. 76, Nr. 78: tCDtf |D *:b Win ^ und Amram bar
Scheschna im Eingang seines Siddur, S. la, Z. 13: SPO» |D ttirWW.
736 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter
nensischen Halacha insbesondere. Dies zeigt sich namentlich
in den Jelamdenustellen, die uns die Pesikta Rabbathi auf-
bewahrt hat, wo wir öfters Entscheidungen nach dem je-
rusalemischeu Talmud, zum Teil in direktem Gegensatz
zum babylonischen, begegnen. — Es seien hierfür folgende
Belege angeführt:
1. Nr. 1 (S. 1 a), das lediglich die Ansicht des Jeru-
schalmi Berachoth, S. 11c wiedergibt1).
2. Nr. 9 Anfang (S. 31 a u. 31 b), das zuerst ganz nach
Jeruschalmi Berachoth S. 11 b gefaßt ist und zuletzt le-
diglich die Meinung desselben gegen Babli darstellt2).
3. Nr. 13, wo die Fassung der Benediktion jmstö bv
inDK rtaü n«np ganz der im Jeruschalmi Sukka 53 d für
das Anzünden des Chanukalichtes vorgeschriebenen Form
roun "U npbin FVBtß bv entspricht. Auch die Schlußbenediktion
nach Vorlesung der Megilla ist bis auf ganz geringfügige
Abweichungen der Fassung des Jeruschalmi Megilla 74d,
Z. 14 — 15 von unten, nachgebildet3).
4. Nr. 38 erweist sowohl in der Lesart nan pai? watf mvay
als auch in der Wiedergabe des Ausspruches von Samuel eine
deutliche Benutzung des Jeruschalmi Joma 45 c, Z. 24 ff.*).
5. In Nr. 40 sehen wir in der Zitierung des na K3K "\
MflS, wie in der Deutung von nstJ^T= nwib, den Einfluß
des Jeruschalmi Rosch ha-Schana 57a, vorletzte Zeile6).
6. Die Mitteilung in Nr. 41 natra r\vnb bnvf m -p'D*?
n« onapoi D'aen» ra vrw mpea aarpa xb» mpo ^>aa pypin p«
D'ttHnn n«i a*wn ist nur nach der diesbezüglichen Bestimmung
') Vgl. Friedmann a. a. O., Anm. 4 u. 5.
*) Vgl. Friedmann z. St., Anm. 4 u. 5.
3) Vgl. ed. Friedmann, S. 53b, Anm. 2 u. 3.
*) Vgl. ebendort S. 165a, Anm. 3 u. 4. Betreffs der in der Pe-
skta angegebenen Zahl von 10 Mitgliedern, die sich im Talmud nicht
findet, möchte ich die Erklärung vorschlagen, daß die Pesikta das
Wort sich vielleicht so gedacht hat : "> = fW resp. milP, d. h. eine
Reihe von 10 Männern.
5) Vgl. ed. Friedmann, S. 166, Anm. 4 u. 6.
Beiträge zur Geschichte und Literatur; im gaonäischen Zeitalter. 737
des Jeruschalmi, die auch Tossafot zu Rosch ha-Schana
25 a, Schlagwort ^»n, zitiert, zu erklären1).
7. Von besonderem Wert für unsere Untersuchung ist
Nr. 43, wo die Festsetzung des Endtermins für die Bene-
diktion über den neuen Mond ganz nach Jeruschalmi Berachoth
13 d, Z. 44 fgg. gegen Babli Sanhedrin 41 b— 41a geschieht2).
8. Schließlich ergibt auch das halachische Stück der
Pesiktafür Schemini Azereth, beginnend mit fefi »anDBM pnT '1 '«
ICSI? 'J02, eine wesentliche Abhängigkeit von Jeruschalmi
Sukka 54 c3).
Diese Nachweisungen dürften zur Genüge das Stu-
dium des jerusalemischen Talmud in Süditalien als gesichert
erscheinen lassen. Es ist nun selbstverständlich, daß auch
Chuschiel aus diesem Lande die besondere Wertschätzung
des von den Geonim, vielleicht mit Ausnahme des Saadja
Gaon, nur wenig beachteten und für die Halacha gegen-
über dem Babli erst in zweiter Reihe in Betracht kommen-
den palästinensischen Talmuds4) nach Kairuän gebracht hat.
Von einer Verbindung dieser Stadt mit Süditalien er-
fahren wir durch die bereits erwähnte, von Jacob ben
Nissims Schülern an Hat gerichtete Anfrage über die von
dort berichteten Wundertaten, die ja gerade in der auch
Chuschiel nahestehenden Achimaazfamilie eine Pflegestätte
gefunden hatten. Vielleicht schon etwas früher hat in Kai-
ruän auch ein anderes Glied dieser Familie seinen Aufent-
halt genommen: es ist dies der in einem von dort aus
ergangenen Bittschreiben behufs Auslösung von Gefangenen6)
genannte Sendbote Sabbatai ben Jehuda ben Schefatja6),
l) Vgl. ed. Friedmann, S. 172 b, Anm. 4.
») Vgl. a. a. O., S. 179 a, Anm. 2.
3) Vgl. a. a. O., S. 202a und Friedmann's Bemerkungen z. St.
*) VfJ. hierzu jetzt Poznanski in Hakedem I, S. 133—155 u. II,
S. 24-51 und dazu Marx in ZHB. XIII, S. 70-71.
5) Veröffentlicht von Wertheimer in o^PiT "W II, S. 17b— 18a
«) Vgl. a. s. O., S. 18 a Ende und dazu Poznanski's Studie i*:k
(Kl"Vp in der Harkavy-Festschrift, S. 220, Nr. 45.
Monatsschrift, 55. Jahrgan 47
738 Beitrage zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
der dort als o*TDn tnty D^m 15U 8^1001 psji iw» aitfn cn8
msö3 d'^idoi rmna d'di^k bezeichnet wird. Nach den der
genannten Familie ausschließlich eigentümlichen Namen
Sabbatai und Amithai und der Kennzeichnung Juda's als
D'TDn untp D'^HJ "iiu dürfen wir wohl Poznanski beistimmen,
wenn er diesen der Achimaazfamilie zuweist1). Es war also
ein ihm äußerlich nicht ganz fremdes Milieu, in das Chu-
schiel nun eintrat.
In Kairuän, das schon seit der Mitte des neunten
Jahrhunderts eine bedeutende Rolle in der Literatur hatte,
war stets ein inniges Verhältnis zu den Geonim gepflegt
worden, wobei auch das allgemeine wissenschaftliche
Streben durch das eifrige Studium der Halacha nicht beein-
trächtigt worden wäre2).
Von der intensiven Beschäftigung mit den Werken der
Geonim daselbst legt auch Zeugnis ab die wahrscheinlich
schon am Ende des neunten Jahrhunderts in Kairuän er-
folgte Bearbeitung der Halachoth Gedoloth, die uns jetzt in
der Edition Hildesheimer vorliegt, und die dort mit mancherlei
Zusätzen bereichert worden sind8): eine Tatsache, die doch
wahrlich nicht auf einen Tiefstand des talmudischen Stu-
diums schließen läßt. Besonders war es nun in der zweiten
Hälfte des zehnten Jahrhunderts der wahrscheinlich aus
Babylon dorthin eingewanderte Jacob ben Nissim ben Jo-
schijahu Ibn Schahin4), der zu Scherira in intimen Bezie-
hungen stand und ihm durch eine Anfrage Gelegenheit zu
seinem für die Geschichte der Gesetzestradenten und der
Geonim so bedeutungsvollen Brief gegeben hat. Er bildete
l) Vgl. Harkavy-Festschrift a. a. O.
8) Vgl. hierzu und zu Kairuän's Bedeutung überhaupt Poznariski's
Studie jxiTp Wut, besonders S. 175—183, ferner auch Halevy a. a. O.
S. 293 Afg.
») Vgl. Epstein in Hagoren III, S. 70-71.
*) Vgl. über ihn jetzt Poznanski a. a. O., S. 204—207. Der
Name Ibn Schahin, dem wir auch bei dem von Nissi Naharwani
gegen Saadja in Aussicht genommenen Oaonatsprätendenten begegnen,
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter. 739
auch ein bedeutendes Lehrhaus, dem, unter anderen, auch
der mit Hat Gaon korrespondierende Joseph b. Berechja
angehörte, und das vom Gaon mit großer Ehrerbie-
tung genannt wird1). Eine besondere Bedeutung kommt
auch zu dem kairuanischen Gelehrten Juda ben Joseph,
den auch Chuschiel in seinem Brief an Schemarja erwähnt,
wenn wir nach dem jüngst aus der Genisa veröffentlichten
Eingang eines Bescheides von Hat an diesen2) urteilen
sollen, worin die außerordentliche Wohltätigkeit Juda's, eben-
so wie seine bis in die fernsten Gegenden sich eines großen
Rufes erfreuende Gelehrsamkeit mit fast überschwängli-
chen Worten gepriesen wird, und wobei der Gaon bemerkt, daß
er nicht müde werde, das Lob des Adressaten zu verkünden8).
In diesen Kreis der kairuanischen Gelehrten, die schon
längere Zeit sich gediegenen Wissens erfreuten, kam nun
Chuschiel, der der wohl etwas trockenen Art der dortigen
Lehrmethode einen mehr diskussiven*) und lebhafteren
Charakter verlieh, besonders aber neben der unbedingten
Hingabe an die geonäischen Überlieferungen auch denen
seines Heimatlandes Geltung zu verschaffen wußte**). Aller-
dings haben wir von ihm keine direkten schriftlichen Auf-
zeichnungen, da nur der aus seiner Jeschiba herrührenden
korrekten Talmudexemplare Erwähnung getan wird6). Von
weist sicher auf babylonischen Ursprung hin. Vgl. auch schon Rapoport,
der in Biographie des R. Nissim, Anm. 2, diese Vesmutung ausspricht
Indessen braucht der Aufschwung des Talmudstudiums in Kairuän nicht
gerade, wie R. meint, auf diese Einwanderung zurückgeführt zu werden.
') Vgl. das Responsum in Ta'am S'kenim, S. 54 fgg. und das
bei Harkavy, Studien IV, Nr. 178, S. 76. Über Joseph b. Berechja,
vgl. Poznariski a, a. O., S. 203—204.
»J Vgl. Ginzberg, Geonica II, S. 278-279.
3) Vgl. besonders a. a. O., S. 279, Z. 14 fgg.
*) Vgl. Achinaazchronik bei Neubauer a. a. O., S. 114, Z. 17 — 18:
cnyp non^oa o-naarioi n^om1?!.
6) Vgl. hierüber weiter unten.
«) Vgl. Nachmani Milchamoth zu Baba kamma 85 b, ferner
Brüll, Jahrbücher IV, S. 179 fgg., Weiß a. a. O., S. 235.
47*
740 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter.
Chuschiel's Bedeutung sprechen aber beredt genug das von
Samuel ben Nagdela ihm gewidmete Loblied, in dem, neben
seiner Größe als Lehrer, hauptsächlich seine Tätigkeit als
Richter und Friedensstifter1) wie als Anwalt der Bedrängten
gepriesen wird, und das von ebendemselben nach seinem
Hinscheiden an seinen Sohn Chananael gerichtete Trost-
schreiben*). Aus letzterem ersehen wir Chuschiel's Meister-
schaft als scharfsinniger Talmudforscher. Ganz beson-
ders können wir uns ein Bild seiner Lehrmethode ent-
werfen auf Grund der uns von seinem Sohn Chananael
erhaltenen Werke. Vergleichen wir diese mit den Talmud-
erklärungen des R. Nissim, der als Sohn des treuen Ge-
onimschülers Jacob b. Nissim sehr stark unter dem Einfluß
der babylonischen Hochschulen steht, so sehen wir, daß,
während Nissim's Mafteach in seiner Anlage eine Anleitung
und methodische Einführung in das Verständnis des Talmud
geben will8), Chananael's Kommentare die talmudische Dis-
kussion präzise angeben, mit einigen erklärenden Worten,
die zudem in einem schönen Stil geschrieben sind, so daß
sich das Verständnis des Themas von selbst ergibt und die
Halacha leicht festzustellen ist4). Was nun Chananael's Kom-
mentaren ihre Eigentümlichkeit verleiht, ist die vielfache
Betonung der ihm gewordenen Überlieferungen, an denen
er auch im Gegensatz zu den Entscheidungen der Gaonen
festhält6), und die auf keinen anderen als auf seinen Vater
zurückgehen können6), wenn er auch desselben nur wenig
*) Vgl. Brody in der Festschrift für Berliner, hebr. Abteilung.
S. 11-12.
2) Veröffentlicht zuletzt in korrektem aramäischem Text von
Reifmann im Magazin IX, hebr. Artig., S. 2 fgg., in hebr. Übertragung
ebendort, S. 11 — 12. Vgl. auch Berliner in Migdal Chananel, S. VII.
I) Vgl. Weiß a. a. O , S. 236—238.
<) Vgl. a.a.O., S. 238— 241 und Berliner a.a.O., S.VIIu. S. XIII
*) Vgl. Weiß a. a. O., S. 238-239, Halevy a. a. O., S. 292-293
utid Poznariski in Harkavy-Festschrift, S. 193 u. S. 198.
6) Vgl. z. B. Ch.'s Bemerkung zu Sabbat 8a, psiD nfoyp \2Wl
nsia^ W3HK "DT, worunter ja nur sein Vater zu verstehen ist.
Beiträge zur Geschichte und Literatur im geonäischen Zeitalter. 741
Erwähnung tut1). Dessen Einfluß sehen wir aber besonders
in den Kommentaren des Sohnes an den vielfachen Wort-
erklärungen aus dem Griechischen, die nur ein aus Süd-
italien, das als Großgriechenland auch in der jüdischen
Literatur mit p» bv k'^tk bezeichnet wurde, geben konnte8).
Besonders die Erklärung, die Chananael zu Sabbat 105 a von
dem Worte ranaij, als einer Art von Kurzschrift, gibt, weist
auf die Mitteilung eines mit den Gepflogenheiten griechi-
scher Herrscher und ihrer Beamten Vertrauten hin3), als
welcher eben nur sein Vater Chuschiel in Betracht kom-
men kann.
Ganz besonders aber zeigt sich der Einfluß Chuschiel's
auf seinen Sohn, wie auf seinen Schüler R. Nissim, darin, daß
er sie in das Studium des jerusalemischen Talmud ein-
führte, den diese beiden Gesetzeslehrer sehr häufig zitieren,
besonders aber R Chananael, der ihm nicht nur in Fällen,
wo der Babli keine endgiltige Entscheidung trifft, sondern
l) Vgl. Poznanski a. a O. S. 193 Ob nicht aber doch Sabbat
15t a, wo es heißt po p tP"iBD, unter diesem R Chuschiel zu ver-
stehen ist?
s) Vgl. schon Rapoport, Biographie des R. Chananael, Note 2
u. Note 23, dessen Zweifel daselbst wir nunmehr als gehoben an-
sehen können; vgl. ferner Berliner a. a. O., S. XIII. Betrfffs der be:
Hai vorkommenden griechischen Worte, die Berliner, ebenso wie die
bei Chananael, auf geonäiscrv Überlieferungen zurückführen will, vgl.
Harkavy, Studien IV, S. 374. wo er aus Hais eigenen Beme< künden dessen
Unkenntnis d*s G'iechischen nachweist, das der Gaon vielmehr nur
flüchtig durch Schüler aus Griechenland kannte, und feiner Poznanski
a. a O , S IQ?, Anm 2.
"ID"DT VD3 Vitb "PICO "^cm DB"B SWS "ICD1? "]hü~[ "IQ'Xl pp"*.tD'3 TI1K
VW r,h:o nno nnx r.»"iP3i [?o,:pjj;] nos rwcvcv 'Vo vdo sma
pp'^tS'J. Zu der Frage, oi> Chananael diesen Komme tar noch zu Leb-
zeiten Hai's verfaßt hat, den er zu 115 mit den Worten 'riOtSM ij
~yb mcM ,Trr und zu 12« b mit dem Zusatz wom ."WttJ zitn-rt,
während er ihn zu 79 a als verstorben erwähnt, vgl. Weiß a. a. O.,
.S 238, Anm. 9.
742 Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeitalter
auch gegen dessen Meinung, eine maßgebende Stimme für
die Festsetzung der Halacha einräumt1).
Noch sei betreffs des R. Chuschiel bemerkt, daß der-
selbe sicher erst 1028 gestorben ist, da Samuel Ibn Nagdela
eine Trauerfeier um ihn zuerst in Granada veranstaltet
hat, wohin er aber erst im Jahre 1027 gekommen ist2).
Nach dieser ausführlichen Darstellung erhellt nun zur
Genüge, daß der Bericht über ChuschieFs Herkunft aus
Babylonien, seine Gefangennahme um das Jahr Ü50 und
ein durch ihn nach Kairuän erst verpflanztes intensives
Talmudstudium jeder Grundlage entbehrt, und darum in
das Reich der Legende zu verweisen ist, trotz der Aus-
führungen von J. Lewy, der, auch nach der Auffindung des
von Schechter veröffentlichten Briefes Chuschiel's an Sche-
mata, meint, daß die Erzählung der Chronisten nicht ganz
aufgegeben zu werden braucht, und an der babylonischen
Abstammung der beiden Gelehrten festhält, wobei er den
ersteren zum Schüler des letzteren stempelt3). Ins Gewicht
fällt aber auch hier das schon oben bei Schemarja berührte
argumentum ex silentio in Chuschiel's Brief, da er bei
der ziemlich genauen Schilderung seiner Erlebnisse seit dem
Verlassen seiner Heimat sicher seiner etwaigen Gefangen-
nahme Erwähnung getan hätte.
') Vgl. hierüber Weiß a. a. O., S. 239—240. Wir heben noch
besonders hervor die Stelle in Chananael's Kommentar zu Sulcka 37 b,
wo er nach Anführung der Überlieferung von Hai Qaon bemerkt:
'^X^B,, pK TiD^fiD Ht 1"2*l *ip"j? lno*; Hl Ein prägnantes Beispiel für
die Bevorzugung des Jeruschalmi findet sich auch im Komm, zu
Sabbat 74b, wo er in bezug auf die Bemessung des Zeitmaßes für
den Ausdruck "inSxS gegen Babli Gittin27b nach dem Jeruschalmi ent-
scheidet: \y-\zy rmiD ^"x *nöt?m wtdd prrotpjn fva... p'Din ^djm.
*) Vgl. Ma-azin V, S. 65 und Brüll a. a. O., S. 180, Harkavy,
Biographie des Samuel ha-Nagid (Sichon Larischonim II, 1, S. 9)
s) Im Jahresbericht des Breslauer Jüd.-theol. Seminars 1905,
S. 30-31.
(Fortsetzung folgt.)
Besprechungen.
Salomonski, Martin, Gemüsebau und -Gewächse in Palästina
zur Zeit der Mischnah. Berlin, Poppelauer, 1911. 71 S. 8<>. M. 2.50.
Der Verfasser ist an sein Thema leider mit unzureichender
Sachkenntnis und unzulänglicher philologischer Schulung herangetreten.
Die Arbeit — nach einigen Bemerkungen Seybolds zu schließen,
Tübinger Dissertation — ist ein bedauerlicher Rückschritt gegen die
schönen Monographien Siegmund Fränkel'scher Schüler: Krengel,
Rieger und Vogelstein. Dr. Salomonski hält Jacob Levy, dessen un-
geheure Verdienste um die talmudische Lexikographie auf anderem Ge-
biete liegen, für eine kompetente Autorität in bezug auf naturhistoriscbe
Realien. Neben Levy beruft er sich für Realien gern auf Sammter und
auf lexikalische Arbeiten zweiter Hand. Obadja aus Bertinoro und
Israel Lipschütz rangieren ihm neben, manchmal vor Haj Gaon, Mai-
muni und Aruch.
Wer sagen kann: »aus Lauch wurde auch Mehl gemacht«
(S. 28, N. 7), dem geht die Befugnis ab, über botanische Fragen mit-
zusprechen. Dabei zeigt die Verwechslung von WHD und nrBHS in
derselben Frage (S. 28 und S. 49!), daß die richtige philologische
Schulung fehlt. nitp wird S. 9 richtig mit Schwarzkümmel, auf
derselben Seite aber dreimal mit Dill wiedergegeben. Daß dem Ver-
fasser botanische Kenntnisse abgehen, zeigt Amalthaea für Althaea,
S. 45 und Portulaca odoracea für pleracea an zwei Stellen: S. 55, 56.
S. 26 sagt der Verfasser: »Daß ein in den kranken Schädel eines
Tieres eingesetzter Kürbisteil dieses gesund erhalten hätte, kann nicht
ernst genommen werden.« Es handelt sich nicht um ein Tier, sondern
um einen Menschen. Wie sehr der Verfasser diese Stelle, für die
übrigens Toßefta Ohol. II, 599, 7 auzuführen war, mißverstanden hat
und wie unbegründet sein abweisendes Urteil ist, zeigt die Gegen-
überstellung des folgenden Passus aus Preuß' schönem Buche (Bibl.-
talm. Medizin 237): »Die älteren talmudischen Quellen berichten von
ener Trepanation an einem Menschen in En bül, dem man später
den Schädeldefekt mit einer getrockneten Kürbisschale deckte, wie
heute die Insulaner mit Kokosnußscheiben. Kürbisschalen zur Dek-
kung von Trepanationsdefekten benutzen auch die serbischen Volks-
chirurgen.« Hiezu ist nur zu bemerken, daß nach dem Wortlaut der
744 Besprechungen.
Quelle der Schädeldefekt, wie es scheint, nicht durch Trepanation,
sondern durch einen Unglücksfall verursacht war.
Die sprachlichen Kenntnisse des Verfassers erscheinen in eigen-
tümlichem Licht, wenn er ijtD, das er aus der Misch na belegt, für
aramäisch hält, wenn er p,TD und pJD (S. 22, N. 12"» kombiniert
oder (S. 39, N. 1) zitiert: D'^JÖ bv '"rntf, oder 'M b]}2 Ditf und
X'p^ta (Krauß, Lehnw. II, S. 154!) zusammenwirft. Das systemlos
zusammengeraffte Pflanzenverzeichnis auf Seite 38 ff. ist unverarbei-
tetes Rohmaterial, das der Verfasser mit Hilfe der in seiner Vorbe-
meikung aufgezählten Hilfsmittel leicht hätte bearbeiten können. Den
Glossen Maimunis und anderer steht der Verfasser hilflos gegenüber.
Druckfehler liefern ihm Schiagworte für neue Pflanzen, z. B. niD,
S. 51, das Zuckermande! in den Errata zur Stelle als Druckfehler für
"niytP bezeichnet.
Das Werkchen ist nicht frei von Mißverständnissen, die aus der
Flüchtigkeit, mit welcher der Verfasser arbeitet, stammen. Er sagt z.
B. in meinem Namen: das griechische ammi stamme von K^J, wäh-
rend ich es auf kjvdx zurückgeführt habe.
Die Abbildungen sind ziemlich überflüssig. Irreleitend ist es,
wenn für Wassermelone und Zuckermelone eine Abbildung geboten
wird. An Druckfehlern fehlt es nicht. Statt Kp'rD schreibt der Ver-
fasser im Texte S. 51 und auf Tafel III xp^D.
Ich erlasse es mir, auf die sprachlichen und botanischen Einzel-
heiten einzugehen, da die ganze Arbeit von neuem gemacht werden
muß.
Szegedin, im Dezember 1911. Immanuel Low.
Berichtigung.
In meiner letzten Besprechung oben S. 629 ff. bitte ich folgende
Druckfehler zu berichtigen:
S. 630, Ze'le 32 von unten muß es heißen: pjoabK WTiSn''
«n:y; das. Z. 3 v. u. lies ibtt statt I^ä; das. Z. 3 v. u. I. DTK*? st.
D-ikS; S. 631, Z 7 I. D-iD für uvy; das. Z. 14 1. in. E. st. mit E. ;
das. Z. 20 I. icrtp st. IDJ'IP.
Stockholm M. Fried.
Notiz.
Jüdische Spitäler im Mittelalter. Zugleich eine Bitte von Prof«
Dr. med. K. Baas, Karlsruhe.
Bei Nachforschungen über das Medizinalwesen im mittelalter-
lichen Worms fiel mir in der »Geschichte der rheinischen Städte-
kultur« von H. Boos eine kurze Notiz über ein jüdisches Spital
daselbst auf.
Obwohl ich nun glaube, im mittelalterlichen Hospitalwesen
ziemlich bewandert zu sein, war mir doch über ein jüdisches Hospital
zu jener Zeit bis dahin gar nichts bekannt geworden. Auf eine An-
frage bei H. Boos antwortete mir dieser, daß seine Angabe sich auf
eine spätere Zeit beziehe, da es im Mittelalter solche Häuser nicht
gegeben habe. Eine mündliche Rücksprache mit K. Sudhoff, Leipzig
ergab, daß auch diesem von solchen Anstalten noch nichts entgegen-
getreten war; ich selbst konnte aber damals hinzufügen, da ich über
Frankfurt a. M. eine diesbezügliche Notiz gefunden hatte: Kriegk
gibt in seinem »Deutsches Bürgertum im Mittelalter« an, daß in
Frankfurt im Mittelalter ein Judenspital gewesen sei.
Inzwischen habe ich nach weiteren Nachrichten gesucht und
einiges entdeckt: Jäger erwähnt in seinem »Schwäbischen Städtewesen
im Mittelalter«, Bd. I., 1831 (Ulm), daß in dieser Stadt neben der
Judenbadstube, dem Friedhof auch ein Judenspital bestanden habe,
welches in einer Urkunde von 1499 aufgeführt wird.
In einem Aufsatz in der Westdeutschen Zeitschrift für Ge-
schichte, XII, erwähnt G. Liebe die Verleihung des (jüdischen) Spitals
zu Trier, die am 12. Oktober 1422 geschah.
Aronius, Regesten zur Geschichte der Juden, bringt unter Nr. 606
aus der Zeit »vor 1255« eine urkundliche Angabe über ein Haus neben
dem Judenspital in Köln; Brisch setzt in seiner »Geschichte der
Juden in Köln« (I. S. 19) die Erbauung dieses hospitales in das elfte
Jahrhundert, jedoch ohne ausreichende Begründung.
In einer Urkunde von 1210 schließt Abt Eberhard von
St. Emmerau in Regensburg mit dem Juden Abraham und Ge-
nossen einen Vertrag über ein Haus: »Est antem domus hospitalis
Judeorum in Panzauswinckel«.
746 Notiz.
Dies ist alles, was ich zur Zeit anführen kann; ob Kassel in
den mir bis jetzt nicht zugänglichen »Studien über das Hospitalwesen
bei den Israeliten, 1869« die ich als in ihren Ergebnissen zu weit-
gehend erwähnt gefunden habe, mehr bringt, vermag ich nicht zu sagen.
Jedenfalls liegt hier ein Thema vor, dem nachzugehen interessant
und wichtig ist, wenn man die Stellung der jüdischen Arzte in der
mittelalterlichen Geschichte der Medizin bedenkt, sowie die hygi-
enischen Gesetze des Judentums überhaupt. Daher richte ich
an alle, die über jüdische Spitäler im Mittelalter
etwas wissen, die Bitte, mir ihr Material möglichst
genau und weitgehend, mit guten Quellenangaben
und Belegen zukommen zu lassen; das Ergebnis werde ich
dann allen Helfern unterbreiten.
*
Bibliographische Übersicht
über die im Jahre 1910 erschienenen Schriften.
Von M ßrann.
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Bericht, 28., der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in
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Eisenstein, J. D., bxw "lilix. Jüdische Encyklopädie in hebr. Sprache.
New-York. Selbstverlag, Bd. IV. ffnn-Jxn) V u. 320 S. 1910. 4.
Hurwitz, S.. TflJH. Jahrbuch für Wissenschaft und Literatur. Bd. III,
Berlin 1910.
Jahrbuch für jüdische Geschichte u. Literatur. Herausgegeben vom
Verbände der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur in
Deutschland. 13. Bd Berlin, M. Poppelauer, 1910 (III, 2/2 u. 57 S.) 8.
Jahrbuo der jüdisch-literarischen Gesellschaft. (Sitz: Frankfurt a. M.)
VII, 1909-5670. (III, 381 u. 56 S.) 8. Frkf a. M. J. Kauffmann 10.
JewUh Quarterly Review, new Series. Edited for thc Dropsie College
for hebr. and cognate learning. ByCyrus Adler and S. Seh echter.
Philadelphia. Bd. I. 4 Nrn. 1910. 8.
Jewreskaja Starina (russ.) Herausgegeben v. S. M. Dubnow. Jahrg. II.
4 Nrn St. Petersburg 1910 (664 S) 8.
Klausner, J. u. Bialik, Ch. N., nL;B>n. Monatsschrift für Literatur, Wis-
schaft u. Leben. Bd. 20. 12 Nrn. Odessa 1910. 8.
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jüdischer gesetzestreuer Studenten »Tachkemoni« in Bern. I Jeru-
salem 1910 (72 S.) 8
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— dSbm*V. Jahrbuch zur Beförderung einer wissenschaftlich genauen
Kenntnis des jetzigen u. des alten Palästinas. VIII. Jerusalem 1910
(360 S.) 8.
Mitteilungen u. Nachrichten des deutschen Palästina-Vereins. Hrsg. im
Auftrage des Vorstandes v. Lic. Dr. G. Hölscher. 33. Jahrg. 1910
6 Nrn. 8. Leipzig, K. Baedeker.
748 Bibliographische Übersicht.
Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum. Jahrg.
IX. 12 Nrn. Berlin 1910.
Palästina. Monatsschrift für die wirtschaftliche Erschließung Palästinas.
Jahrg. VII. 12 Nrn. Berlin 1910.
Palästina-Jahrbuch des deutschen evangelischen Instituts für Altertums-
wissenschaft des hl. Landes zu Jerusalem. Jahrg. VI. Berlin 1910.
Reich, Im Deutschen. Zeitschrift des Zentralvereins deutscher Staats-
bürger jüdischen Glaubens. Jahrg. XVI. 12 Nrn. Berlin 1910.
Revue des Etudes Juives. Publication trimestrielle de la Societe des
etudes juives. Paris, Durlacher, 1910. Tomes LVI u. LVII. Nr. 115—118.
Rivista israeütica. Periodico bimestrale per la scienzia e la vita de
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Slagter, S. M., npbn. Maanblad voor Leer en Leven des Jodendoms.
Organ der joedsch literaire club te Roterdam. Roterdam, I. 12 Nrn.
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Weber, bearbeitet v. Franz Buhl. 15. Aufl. Leipzig, E. W. Vogel,
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Priok, Sah, yynn min. Hebr. Elementargrammatik zum Schulge-
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Margolis, Prof.fcDr. Marc L.. Lehrbuch der aramäischen Sprache des
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Gunkel, H., Genesis, übers, und erkl. 3. neubearb. Aufl. Mit ausführ-
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& Rupprecht, 1910 (CIV, 510 S.) 8.
Kirchner, Aloys, Die babylonische Kosmogonie u. der biblische
Schöpfungsbericht. Ein Beitrag zur Apologie des bibl. Gottes-
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Lotz, Wilh., Abraham, Isaak u. Jakob. Gr.-Lichterfelde, E, Runge.
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bereicherte Aufl. 4—6 Taus. (64 S.) 8. Frankfurt a. M., Neuer
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Knudtzon, J. A., Die El-Amarna-Tafeln. 12. Lfg. (S. 1057—1152.) 1910.
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Samson Raph. Hirschs übers. Frankf. a. M., J. Kauffmaun.
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Leimbach, Karl. 2. Heft. Das Buch des Propheten Jesaias. Kap. 40—66
übers, u. kurz erkl. 2. Aufl. (147 S.) 1910. 8.
Duhm, B., Die 12 Propheten. In den Versmaßen der Urschrift über-
setzt. Tübingen 1910 (XXXIX, 143 S.) 8.
Procksch, O., Die kleinen Prophetenschriften vor dem Exil (Hosea,
Arnos, Micha, Nahum, Habakuk, Sephanja). Calw. u. Stuttgart,
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Nobel, Jos., Libanon. Exegetisch-homiletischer Kommentar zu den
Psalmen. I. Tl.: Buch I. u. II (560 S.) 8. Halberstadt, Selbst-
verlag, 1910.
Stuhrmana, Dir. P. Heinr., Der Psalter, erklärt. 2 TIe. 168 u. 156 S.)
Konstanz, Christi. Buch- u, Kunstverlag C. Hirsch. 1910. 8.
Löwenthal, Rabb. Dr. A., Jona Gerundi u. sein ethischer Kommentar
zu den Proverbien. Gedr. m. Unterstützg. der >Zunzstiftg.« u. der
»Gesellsch. zur Förderg. der Wissenschaft des Judentums« zu Berlin.
(146 u. 36 S.) 8. Berlin, M. Poppelauer, 1910.
Lange, Realschul-Dir. Dr. Gerson, Das Buch Koheleth. Übers, u. erklärt.
(VI, 64 S.) 8. Frankf. a. M., A. J. Hofmann, 1910.
Lauenburg, M. S., Koheleth mit hebr. Komm, nobt? "nox. Warschau,
Selbstverlag, 1910 (36 S.) 8.
Breuer, Rabb. Dr. Raph., Die fünf Megillotb, übers, u. erläut. 5. Tl.
Esther (VIII, 102 S.) 8. Frankf. a. M., A. J. Hofmann, 1910.
Torrey, Ch. C, Ezra Studies Chicago, University of Chicago Press,
1910 (XV, 346 S.) 8.
Tneis, Jobs., Geschichtliche u. literar-kritische Fragen in Esra. 1.— 6.
(Schluß-)Heft (VIII, 87 u. III S.) 1910. 8.
(Fortsetzung folgt.)
Neunter Jahresbericht der Gesellschaft zur Förderung der
Wissenschaft des Judentums.
Zu unserem tiefen Schmerz müssen wir den nachstehenden
neunten Geschäftsbericht unserer Gesellschaft wieder mit einem
Nachruf eröffnen. Im 71. Lebensjahre ist am 4. August d. J. das
Mitglied unseres Ausschusses, Herr Rabb. Dr. Heynemann Vogel-
stein, Stettin, uns durch den Tod entrissen worden. Der Verstorbene
hat durch Erstattung zahlreicher Gutachten und rege Teilnahme an
unsern Beratungen sich um unsere Gesellschaft verdient gemacht; die
»Praktische Theologie des Judentums«, welche er als Teilwerk unseres
Grundrisses der Gesamtwissenschaft des Judentums zu schreiben
übernommen hatte, hat er leider nicht vollendet. Wir werden Heyne-
mann Vogelstein, seinen vornehmen Charakter und sein schlichtes,
freundliches Wesen nie vergessen.
Mit den Ergebnissen des abgelaufenen Geschäftsjahres können
wir im wesentlichen zufrieden sein. Die Generalversammlung der
Gesellschaft wählte am 27. Dezember 1910 den bisherigen Ausschuß
der Gesellschaft durch Zuruf wieder, und in der am gleichen Tage
stattfindenden konstituierenden Sitzung bestätigte der Ausschuß den
bisherigen geschäftsführenden Vorstand in seinen Ämtern. In den
Ausschuß eingetreten sind die Herren Prof. Dr. K a 1 i s c h e r-Berlin,
Prof. Dr. Mittwoch-Berlin, Prof. Dr. S o b e r n h ei m- Berlin und
Rabb. Dr. Poznanski -Warschau.
Unser Mitgliederbestand hat eine Zunahme von 121, eine Ab-
nahme von 39 Mitgliedern zu verzeichnen, sodaß wir mit einem tat-
sächlichen Gewinn von 82 Mitgliedern abschließen ; dazu kommt die
Gewinnung eines neuen immerwährenden Mitgliedes. Wir lassen wie
bisher eine Tabelle folgen, aus der die Verteilung der Mitglieder auf
die einzelnen Länder ersichtlich ist.
Protokolle.
Ortschaften
immenw 1 Zahl.
Mitglieder
Deutschland . . .
225
26
1020
Österreich-Ungarn
77
3
216
Vereinigte Staaten
von Nordamerika
19
—
35
Rußland ....
6
—
17
Niederlande
6
—
10
Schweiz .
4
—
14
Italien . .
4
—
4
Schweden .
3
—
3
England .
2
—
22
Dänemark
—
6
Frankreich
1
4
Belgien
3
1
Rumänien
1
—
Bulgarien .
—
1
Luxemburg .
—
1
Serbien . .
—
1
Türkei . . .
._
1
Transvaal . .
—
2
Argentinien .
—
1
Indien . . •
1
753
34
1360
Unsere Einnahmen betrugen 28.851,07 M. gegenüber buch-
mäßigen Ausgaben von 27.454,37 M., der Fehlbetrag ist seit dem
Vorjahre von 1.501,40 M. auf 104,70 M. gesunken. Dieses anscheinend
günstige finanzielle Ergebnis wird aber nur dem Umstände verdankt,
daß wir unsere Kasse durch den im Vorjahre begründeten Sonder-
fonds von den Ausgaben für das Corpus Tannaiticum entlasten konnten,
die im Berichtsjahre 3.343,90 M. betrugen, so daß in Wahrheit unsere
Ausgaben die Einnahmen bei weitem übersteigen. Dieses Mißverhältnis
hat auch die Steigerung der Mitgliederzahl nicht beseitigen können :
Der Qesundung und Kräftigung unserer Finanzen werden wir daher
vorerst unsere stete Beachtung auch weiter widmen müssen. — Mit
besonderem Danke vermerken wir die Bewilligung eines Zuschusses
von 1000 M. seitens der Baronin Cohn-Oppenheim-Stiftung in Dessau,
deren erste Rate mit 500 M. bereits im vorliegenden Bericht unter
den Einnahmen erscheint.
Monatsschrift, 56. Jahrgang.
48
754 Protokolle.
Unsere Mitglieder erhielten auch in diesem Jahre die Monats-
schritt für Qeschichte und Wissenschaft des Judentums und das
Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur, Jahrg. 1911, ferner
den Vortrag »Die Stellung des Aristoteles bei den Juden des Mittel-
alters« von Dr. S. H o r o v i t z, sowie auf Wunsch den 2. Band der
Gesammelten Schriften von D. Kaufmann, hrsg. von M. B r a n n,
das Werk Aus Lion Gomperz' Nachgelassene Schriften und die
Mitteilungen des Gesamtarchivs der deutschen Juden, hrsg. von E„
Tä übler. Ferner vermittelten wir wie früher unseren Mitgliedern
den Bezug einer Anzahl von Büchern, darunter die aus Anlaß des
70. Geburtstages des Herrn Prof. Dr. Lew y-Breslau erschienene
Festschrift, und Zeitschriften zu ermäßigten Preisen.
Die Gesellschaft gab außer der Monatsschrift heraus : 1. S.
Krauß, Talmudische Archäologie, Bd. 2. 2. M. P h i 1 i p p s o n,
Neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. 3 (Bd. 7 und 8 des
Grundrisses der Gesamtwissenschaft des Judentums). 3. S. Horovitz,
Die Stellung des Aristoteles bei den Juden des Mittelalters.
Im Druck befinden sich S. Krauß, Talmudische Archäologie,
Bd. 3 und N. Müller, Die jüdische Katakombe am Monteverde zu
Rom. Die von A. Yahuda veranstaltete Originalausgabe der Herzens-
pflichten von B a c h j a wird im Januar 1912 im Buchhandel erscheinen.
Von der russischen Übersetzung der Neuesten Geschichte des
jüdischen Volkes von M. P h i 1 i p p s o n ist der 2. Band erschienen ;
die Übersetzung der Krauß'schen Talmudischen Archäologie ins
Hebräische ist beabsichtigt.
Mit Subvention der Gesellschaft ist erschienen: 1. H e p p n e r-
Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der
jüdischen Gemeinden in den Posener Landen, Heft 17; 2. M-
Guttmann, Mafteach hatalmud. Heft 8 (Schlußheft des 1. Bandes);
3. Talmud Hierosolymitanum ed. A. M. Lu n c z; 4. I. M. Tolidano.
Geschichte der Juden in Marokko. Ferner subventionierte die Gesell-
schaft die Publikationen des Vereins Mekize Nirdamim und des Ver-
bandes für Statistik der Juden sowie die Studienreise des Herrn
Rabb. Dr. Klein-Tuzla nach dem heiligen Lande, die dieser für
die Bearbeitung seines Grundrißteilwerkes: »Historische Geographie
von Palästina« unternommen hat.
Die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Juden-
tums ist nach wie vor bemüht gewesen, die verschiedenen Gebiete
unserer Sonderwissenschaft, soweit die Neigung der Mitarbeiter es
zuließ, gleichmäßig zu pflegen. Das Angebot zum Druck geeigneter
Abhandlungen ist noch immer in erfreulichem Wachstum begriffen.
Es wäre darum im Interesse der Wissenschaft höchst erwünscht, wenn
Protokolle. 755
die materiellen Mittel vorhanden wären, den Umfang der Zeitschrift
zu erweitern. Freilich überwiegen noch immer Beiträge aus dem
Bereich der nachtalmudischen Geschichte und Literatur. Daneben sind
die wichtigen Veröffentlichungen des letzten Jahres, z. B. die Sachaus
über die Papyrusfunde in Elefantine und die Mitteilungen Schechters
zur Ketzergeschichte aus der Kairiner Genisa ausführlich behandel
worden. Die übrigen Aufsätze behandeln Gegenstände aus den Ge-
bieten der Bibelwissenschaft, der Traditionsliteratur, der Geschichte
der exegetischen und religionsphilosophischen Literatur. Die Ein-
richtung, möglichst in jedem Hefte einen Aufsatz zu veröffentlichen,
der geeignet ist, das Interesse weiterer Leserkreise zu erwecken,
ist beibehalten worden. Die wichtigsten Neuerscheinungen auf
den mannigfachen Gebieten sind wie bisher eingehend besprochen
worden. Im neuen Jahrgang sollen die kurzen Mitteilungen aus
Büchern und Zeitschriften, die sich der lebhaften Zustimmung
weiterer Kreise erfreuten, wieder aufgenommen werden. Die kurze
bibliographische Übersicht der Neuerscheinungen ist in der bisherigen
Weise fortgesetzt worden.
Im Anschluß an die im Dezember 1910 abgehaltene Ausschuß-
sitzung fand eine Sitzung der Kommission für das Corpus Tan-
naiticum statt. In dieser wurde nach eingehender Beratung be-
schlossen, daß von einem Anschluß der Baraithas an die Mischna-
ausgabe mit Rücksicht auf die dagegen erhobenen wichtigen Bedenken
abzusehen sei. Zur Vervollständigung des kritischen Apparates sollen
aus der älteren nachtalmudischen Literatur die in ihr sich findenden
Varianten des Mischnatextes gesammelt und für die Edition benutzt
werden. Herr Seminardozent Dr. H o r o v i t z-Breslau hat es über-
nommen, eine solche Variantensammlung zu veranstalten. Die Vor-
arbeiten für die Toseftaedition werden von Herrn Rabb. Dr. Krengel-
B.-Leipa erfolgreich weiter fortgeführt.
Die Mitarbeiter an Teil I der Germania Judaica haben
ihre Beiträge zum festgesetzten Zeitpunkt abgeliefert. Nur ein einziger
ist im Rückstand geblieben. Die von ihm nicht bearbeiteten Artikel
haben darum den andern Mitarbeitern überwiesen werden müssen
und werden hoffentlich noch vor Ablauf dieses Jahres fertig gestellt
sein. Es wird dann sofort mit der Schlußredaktion und Drucklegung
des 1. Bandes begonnen werden. Die zur Vorbereitung des 2. Bandes
eingesetzte Kommission hat am 9. Oktober d. J. in Breslau eine
Sitzung abgehalten und dabei wesentlich nach den Vorschlägen des
Herrn Dr. Täubler, des Leiters des Gesamtarchivs der deutschen
Juden, die Grundsätze festgestellt, nach denen die gemeinsame Arbeit
48*
756 Protokolle.
der Redaktion der Germania Judaica und des Oesamtarchivs der
deutschen Juden erfolgen soll.
Für den zweiten Band des Maimonideswerkes liegt eine
größere Anzahl von Abhandlungen druckbereit vor. Einige für diesen
Band in Aussicht genommene Abhandlungen stehen noch aus. Nach
deren Einlieferung soll mit dem Druck begonnen werden.
Der Ausschuß bewilligte in seinen Sitzungen vom 27. Dezember
1910 und 26. Juni 1911 Subventionen: 1. Herrn Rabb. Dr. Bam-
berg e r-Wandsbek für seine Orabsteinforschungen auf Fehmarn;
2. Herrn Rabb. Dr. H e p p n e r-Koschmin für seine Studien zur Ge-
schichte der Juden in der Provinz Posen ; 3. Herrn Rabb. Dr. K 1 e i n
Dolnja-Tuzla für seine Studienreise nach Palästina; 4. Herrn Rabb.
Dr. Th eo d or-Bojanowo für seine Ausgabe des Bereschit Rabba;
und 1. dem Verbände für Statistik der Juden; 2. dem Verein Mekize
Nirdamim für ihre Veröffentlichungen; 3. Herrn Doz. Dr. Eppen-
stein-Berlin für seine Ausgabe des Pentateuchkommentars von
Abraham Maimuni; 4. Herrn Prof, Dr. G ut t m an-Budapest für seine
talmudische Realenzyklopädie; 5. Herrn I d e 1 s o h n-Jerusalem für
seine Studien zur Geschichte der jüdischen Melodien; 6. Herrn
We 1 tsma n n-Kalisch für seine Sammlung von Grabinschriften in
der Provinz Posen und in Russisch-Polen; 7. für das Werk Die
Hygiene der Juden, hrsg. von Herrn Dr. Grunewald-Wien.
Die im letzten Jahresbericht angekündigte Ausgabe der Ge-
sammelten Abhandlungen von Ludwig Philippson wird Ende des
Monats Dezember zur kostenlosen Verteilung an unsere Mitglieder
kommen. Wir wiederholen an dieser Stelle die Mitteilung, daß unsere
Mitglieder statt des broschierten Exemplares ein gebundenes gegen
Zahlung von 2 Mark an Herrn Dr. N. M. Nathan erhalten können.
Ein Verzeichnis der gleichfalls von Herrn Dr. N. M. Nathan zu be-
ziehenden Schriften, sowie der Schriften der Gesellschaft überhaupt
findet sich auf S. 28 des besonders gedruckten Berichtes.
Betreffs der Entrichtung der Beiträge für das neue Geschäfts-
jahr bitten wir unsere Mitglieder dringend, diese baldmöglichst an
unseren Schatzmeister, Herrn Paul Veit Simon, Berlin W. 56
Hinter der Katholischen Kirche 1, Postschekkonto Berlin 7030, ab-
führen zu wollen. Wir bitten unsere verehrlichen Mitglieder dringend
und wiederholt, uns in der finanziellen Sicherstellung der Gesellschaft
und ihrer Arbeiten — und das bedeutet für uns der prompte Eingang der
Beiträge — unterstützen zu wollen. Abgesehen vo n der Bedeutung de
Gesellschaft für die jüdische Allgemeinheit leistet sie jedem einzelnen
Mitgliede soviel, daß wir dieses Entgegenkommen seitens unserer
Freunde erwarten dürfen.
Protokolle. 757
Wir werden das Abonnement auf die Zeitschrift für hebräische
Bibliographie für alle bisherigen Besteller erneuern. Der Betrag hier-
für ist baldigst mit 5,10 M. an Herrn Dr. N. M. N a t h a n, Berlin
Nr. 24, Große Hamburgerstr. 29, Postscheckkonto Berlin 11776, ein-
zuzahlen, andernfalls er im Januar 1912 durch Postnachnahme er-
hoben wird.
Beitrittserklärungen und Mitteilungen von Wohnungsverände-
rungen sind gleichfalls nur an Herrn Dr. N. M. Nathan zu richten.
Es ist kein leeres Wort, wenn wir am Schlüsse dieses Berichtes
den Dank an unsere Mitglieder und Vertrauensmänner, die unser
Werk durch persönliche Teilnahme und Anwerbung neuer Mitglieder
verständnisvoll unterstützen, wiederholen. Der unterzeichnete Vor-
stand erblickt in dieser Unterstützung eine Anerkennung der oft sehr
mühevollen und arbeitsreichen Verwaltung einer so weitverzweigten
Organisation, wie es unsere Gesellschaft ist. Aber wir machen auch
die für uns überaus erfreuliche Beobachtung, daß unsere Tätigkeit
nicht ohne Erfolg geblieben ist. Das offenbart sich nicht nur in dem
äußeren Erstarken der Gesellschaft und dem Anwachsen ihrer Mit-
giiederzahl, sondern auch in dem zunehmenden Verständnis für das
Judentum und seine Wissenschaft in jüdischen und nichtjüdiscben
Kreisen, und besonders die von unserer Gesellschaft herausgegebenen
Werke haben in Fachkreisen wie im gebildeten Publikum wegen
ihrer Gediegenheit und ihres wissenschaftlichen Charakters rückhalt-
lose Anerkennung gefunden und bilden, je weniger sie dies sein
wollen, um so mehr die trefflichste Apologetik des Judentums und
seiner Lehre. Aus dieser Erkenntnis erwächst aber für alle unsere
Mitglieder die Verpflichtung, sich weiter in den Dienst unserer Ge-
sellschaft zu stellen, ihr neue Mitglieder zuzuführen. Nach einem
alten Worte unserer Weisen ist die Förderung der Wissenschaft eine
der vornehmsten Pflichten, die das Judentum seinen Bekennern auf-
erlegt.
Berlin, im November 1911.
Philippson. Guttmann. Bloch.
II.
Protokoll über die Sitzung des Ausschusses der Gesellschaft zur För-
derung der Wissenschaft des Judentums
am Mittwoch, den 3. Januar 1912, vormittags 10 Uhr, im Büro des
D. J. G. B., Berlin W, Steglitzerstraße 35 I.
Anwesend die Herren: Baneth, Bloch, Brann, Cohen,
Elbogen, Guttmann, Kalischer, Maybaurr, Philippson, Porges, Poz-
nanski, Rosenthal, Sobernheim, Weisse, Werner, Nathan.
758 Protokolle.
Entschuldigt dieHerren: Adler, Bacher, Blau, Kroner,
Lucas, Mittwoch, Schwarz, Simon, Simonsen.
Vor dem Eintritt in die Tagesordnung ergreift Herr Rabb. Prof
Dr. G u 1 1 m a n n-Breslau das Wort zu folgender Ansprache :
Gestatten Sie mir, sehr geehrter Herr Vorsitzender, Sie und
Ihre ganze Familie im Namen unserer Gesellschaft zu dem Gedenk-
tage zu beglückwünschen, den Sie in der vergangenen Woche be-
gangen haben. Wir aile, die ganze deutsche Judenheit, ja, diejuden-
heit aller Länder begeht mit Ihnen in dankbarer Erinnerung den Tag,
an dem ihr vor hundert Jahren Ludwig Philippson als eine
wahrhaft providentielle Persönlichkeit ist gegeben worden. Sie wendet
auf ihn den Satz der Schrift an, den wir am nächsten Sabbat lesen
werden : »Juda, dir huldigen deine Brüder, deine Hand am Nacken
deiner Feinde, es bücken sich vor dir die Söhne deines Vaters. «
Lebt doch sein Geist noch heute in unverwelklicher Kraft und Frische
unter uns, hat er doch dem Judentum der Gegenwart in hervor-
ragendster Weise seinen Stempel aufgedrückt. So fruchtbar das ver-
gangene Jahrhundert auch an großen Männern in unserer Mitte ge-
wesen ist, die für das Leben oder für die Wissenschaft des Judentums
Hervorragendes und Bahnbrechendes geleistet haben, keiner, das darf
man sagen, hat in solchem Umfange, so anregend und befruchtend,
so aufklärend und erleuchtend wie er auf das Judentum gewirkt. Das
große Erlösungswerk, das ein anderer Sohn der Dessauer Gemeinde
begonnen, ist von Ludwig Philippson in glücklicher Weise fort-
geführt worden. Das Judentum aus dem geistigen Ghetto zu befreien,
in das es ein Martyrium ohnegleichen, eine Leidensgeschichte von
Jahrtausenden eingepfercht hatte, die deutsche Judenheit der Teil-
nahme an der Kulturarbeit und dem Geistesleben des deutschen
Volkes zuzuführen, das war die Aufgabe, die Moses Mendels-
sohn sich gestellt und zu deren Verwirklichung er besonders durch
seine Bibelübersetzung den Grund gelegt hat. Aber eines ist ihm
nicht gelungen und konnte ihm in Anbetracht der damaligen Zeit-
verhältnisse nicht gelingen, die Brücke zu schlagen zwischen dem
von ihm streng festgehaltenen traditionellen Judentum und den An-
schauungen und Bedingungen des modernen Lebens. Er hat in seinem
»Jerusalem« sich ein System erdacht, wie man ein deutscher Philosoph
und zugleich ein gesetzestreuer Jude sein könne. Aber dieses System
war gleichsam auf seine Person zugeschnitten und auf die Gesamt-
heit nicht übertragbar. So kam es, daß in der ihm folgenden Gene-
ration im Kreise der nach moderner Bildung strebenden Juden und
in erster Reihe in seiner Familie selbst ein C^st der Auflösung und
Zersetzung sich geltend machte, der das Judentum mit den schwersten
Protokolle. 759
Gefahren bedrohte. Diese Aufgabe der Versöhnung des Judentums
mit dem modernen Kulturleben hat, freilich unterstützt durch die
Qunst der Umstände, Ludwig P h i 1 i p p s o n mit bewundernswertem
Erfolge ihrer Erfüllung näher geführt. Er hat das Selbstbewußtsein
in den Juden geweckt, hat sie mit Stolz auf ihre Vergangenheit er-
füllt und hat ihnen Mut und Vertrauen zu ihrer Zukunft eingeflößt.
Ein halbes Jahrhundert stand er auf der Warte, hat er, mit weit aus-
schauendem Blicke die Strömungen des Völkerlebens beobachtend,
sich stets in Bereitschaft gehalten, für das Judentum einzutreten, mit
unerschrockenem Mute jedem entgegentretend, der die Ehre und das
Ansehen des Judentums anzutasten wagte. Wo immer ein Gegner
sich erhob tVWV V^K BWl da trat Jehuda P h i 1 i p p s o n an ihn
heran und wehrte seine Angriffe siegreich ab. Darum kann auch
keiae Partei ausschließlichen Anspruch auf ihn erheben, er gehörte
dem ganzen Judentum. Mein Vater, fährt der Redner fort, ein ge-
lehrter Talmudist alten Schlages, stand in keiner Weise auf dem
religiösen Boden P h i 1 i p p s o n, aber so sehr war auch er von
dessen Bedeutung durchdrungen, daß er eines Tages persönlich für
eine Ehrung dieses verdienten Mannes eintrat. Ludwig P h i 1 i p p s o n
hat seine ganze Persönlichkeit in den Dienst des Judentums gestellt,
ja, noch mehr, er hat der von ihm übernommenen Aufgabe seine
persönlichen Neigungen zum Opfer gebracht. Die Abhandlung Her-
mann Cohens, die in die von der Familie unserer Gesellschaft
gewidmeten gesammelten Schriften Ludwig Philip p so ns Aufnahme
gefunden hat und die diesem pietätsvollen Werke zu besonderem
Schmucke gereicht, hat neuerdings wieder gezeigt, wie Großes man
von Ludwig P h i 1 i p p s o n auf Grund seiner Jugendarbeit auf rein
wissenschaftlichem Gebiete erwarten durfte, er hat, wenn er sich
auch der Wissenschaft nie ganz entfremdet hat, seine persönlichen
Neigungen überwunden, um dem ganzen Judentum zu leben. Und
wie wir im Schriftabschnitt des nächsten Sabbats von unserem Erz-
vater Jakob lesen, daß er segnend aus dem Leben schied, im Hin-
blick auf seine Kinder, von denen er sicher war, daß sie seinem
Vermächtnis die Treue wahren würden, so durfte auch er segnend
aus dem Leben scheiden. Seine Kinder und Schwiegerkinder haben
sein Werk fortgeführt, insbesondere sein ältester Sohn, als Führer
der deutschen Judenheit, als Vorsitzender des Gemeindebundes und
als Mitarbeiter an allen großen Organisationen des Deutschen Juden-
tums. Nicht zuletzt auch als Vorsitzender unserer Gesellschaft, welche
ja eine der vornehmsten Schöpfungen Ludwig Philippsons, das
Institut zur Förderung jüdischer Literatur, wieder zu neuem Leben
erweckt hat.
760 Protokolle.
Wir bringen dem Namen Ludwig Philippson unsere Hul-
digung dar und verbinden damit den Wunsch, daß es seinem Sohne
noch lange vergönnt sein möge, im Geiste seines Vaters zu wirken,
unterstützt von der Hochherzigkeit seines von uns allen hochver-
ehrten Bruders, dem unsere Gesellschaft ja zu besonderem Danke
verpflichtet ist.
Darauf erwiderte Prof. Dr. M. Philippson: Keine Kund-
gebung berühre ihn so nahe, wie die von unserer Gesellschaft aus-
gehende. Er und die Seinigen seien der Gesellschaft schon vielfach
verpflichtet : durch die Veröffentlichung der Biographie seines Vaters
von Feiner, durch die für den Abend des heutigen Tages angesetzte
Feier, durch die Würdigung der Erstlingsschrift Ludwig Philipp-
sons durch das Ausschußmitglied, den allverehrten Herrn Geheim-
rat Cohen, und nun wieder durch die von tiefem Empfinden ge-
tragenen Worte des Herrn Prof. G u 1 1 m a n n. Es sei für ihn und
die Seinen eine Quelle der größten Befriedigung, die historische und
kulturelle Stellung des Vaters wieder anerkannt zu sehen. Eine
Zeitlang habe es geschienen, als ob das Andenken an ihn und die
Erinnerung an seine Bedeutung für die ganze Judenheit, insbesondere
aber für Deutschland und die östlichen Juden, zu erlöschen drohe.
Zumal in einer Zeit, in der das, was den Ewigkeitswert nicht in sich
trage, wie Spreu verfliege, begrüßten daher er und die Seinen mit
besonderer Genugtuung die Feier des Centenartages des unvergeß-
lichen Vaters allerorten. Sie sei ein Zeichen des Idealismus und der
dankbaren Gesinnung, von der das edle jüdische Volk beseelt sei, an
das Ludwig Philippson Zeit seines Lebens immer geglaubt
habe.
SodanH begrüßt der Vorsitzende die neu in den Ausschuß ein-
getretenen Herren Kalischer, Poznahski und Sobernheim
und rühmt in ehrenden Worten das Andenken des Ausschußmit-
gliedes Rabb. Dr. H. V o g e 1 s t e i n-Stettin ; die Versammlung ehrt
das Andenken des Toten durch Erheben von den Sitzen.
Der Geschäftsbericht wird erstattet. Zu dem gedruckt vorlie-
genden Jahresbericht wird nachgetragen : Es sind erschienen N. Müller,
Die jüdische Katakombe am Monteverde in Rom ; J. Feiner, Rabb.
Dr. L. Ph il i pps o n, ein Lebensbild. An der Philippson-Fejer in
Magdeburg haben als Vertreter der Gesellschaft die Herren Rabb.
Prof. Dr. Bloch und Dr. Nathan teilgenommen, wobei ihnen
die Ludwig-Philippson-Gedächtnis-Stiftung zur Verwaltung durch die
Gesellschaft übergeben wurde. Der Ausschuß genehmigt die durch den
Vorstand bereits erfolgte Annahme der Stiftung und überweist der
Synagogengemeinde Magdeburg eine Anzahl Exemplare der Feiner*
Protokolle. 761
sehen Schrift zur Verteilung an die Schulkinder der dortigen Oe-
meindemitglieder.
Innerhalb des Corpus Tannaiticum ist die Bearbeitung der
Tosefta erheblich fortgeschritten ; die Vorarbeiten für die Mischna-
ausgabe werden in absehbarer Zeit beendet sein. Herr Kah an-
München soll in Rom die Vergleichung der vatikanischen Manu-
skripte zu Ende führen. Die Mischnaedition soll in Lieferungen
erfolgen.
Die Schußvorbereitungen für den Druck des I. Bandes der
Germania Judaica sind getroffen ; mit dem Druck kann noch
1912 begonnen werden. Das vom Gesamtarchiv beantragte Teilgehalt
für die Anstellung eines wissenschaftlichen Hilfsarbeiters für die
Ausarbeitung des Urkundenkatalogs wird bewilligt. Für die Bear-
beitung der hebr. Quellen wird ebenfalls ein Betrag festgesetzt.
Für den zweiten Band des Maimonideswerkes liegen genügend
Abbandlungen vor ; der Druck soll gleichfalls 1912 beginnen.
Die Übertragung der Grundrißteilwerke ; Geschichte der jü-
dischen Literatur vom Abschluß des Kanons bis zum Erlöschen des
Gaonats (mit Ausschluß der hellenistischen Literatur) an M a r x-New-
York, Geschichte der Halacha an G u t tman n-Budapest, Judentum
und Islam an Friedlände r-New-York wird genehmigt.
Zur Beratung der übrigen Vorschläge wird eine Kommission
aus den Herren Brann, Elbogen, Nathan, Porges, Sobernheim, Poz-
nariski mit dem Recht der Kooptation und Elbogen als Vorsitzendem
gebildet.
Subventionen werden bewilligt : dem Gesamtarchiv der deut-
schen Juden für den Bezug einer Anzahl Exemplare seiner »Mittei-
lungen« durch die Mitglieder der Gesellschaft, Herrn Dr. E.Becker-
Naumburg a. Qu. für sein Werk über die jüdischen Katakomben auf
Malta, Herrn Last-Ramsgate für seine Ausgabe von Kaspi's Schriften,
Herrn Rabb. Reich-Batorkeszi für seinen Kommentar zu Erubin,
Herrn Rosanes-Rustschuk für den zweiten Band seiner Geschichte
der Juden in der Türkei, der Buchhandlung J. Kaufmann-Frankfurt a. M.
zur Herausgabe der Z. f. H. B., Herrn Prof. Strack-Groß-Lichterfelde,
der Betrag für em Exemplar seiner photographischen Ausgabe des
Münchener Talmudkodex, Herrn Rabb. Dr. Theodor-Bojanowo für
seine Ausgabe der Bereschit rabba, Herrn Ben Jehuda für den vierten
Band seines Thesaurus.
Weitere Anträge werden teils abgelehnt, teils vertagt. Schluß
2 Uhr. Philippson. Nathan.
762 Protokolle.
III.
Protokoll über die ordentliche Mitgliederversammlung der Gesellschaft
zur Förderung der Wissenschaft des Judentuns
am Mittwoch, den 3. Januar 1912, abends 8 Uhr, in der Aula der
Knabenschule der Jüdischen Gemeinde, Berlin N, Große Ham-
burgerstr. 27.
Die Generalversammlung ist dem Andenken Ludwig Philippsons
gelegentlich der 100. Wiederkehr seines Geburtstages gewidmet. Aus
diesem Anlaß ist vor dem Rednerpult inmitten eines Blumengewindes
das lorbeerumkränzte Bildnis Philippsons aufgestellt.
An der Versammlung nahmen außer vielen Mitgliedern und
Gästen eine Reihe von Angehörigen der Familie Philippson teil.
Der Vorsitzende eröffnet die Versammlung um halb 9 Uhr mit
einem Nachruf auf das Mitglied des Ausschusses Rabb. Dr. H. Vogel-
stein, zu dessen Ehren die Anwesenden sich von ihren Sitzen er-
heben. Den gedruckt vorliegenden Jahresbericht ergänzt der Vorsitzende
durch Mitteilungen über die Philippson-Feier in Magdeburg und die
dort der Gesellschaft übertragene Philippson-Stiftung. Der Bericht
wird genehmigt, dem Vorstande und dem Schatzmeister wird Entlastung
erteilt; Ausschuß und Revisoren werden durch Zuruf wiedergewählt.
Darauf hält das Mitglied des Ausschusses, Dozent Dr. J.
Elbogen-Berlin, seine Gedächtnisrede auf Ludwig Philippson, in der
er ein Lebensbild dieses Mannes und eine umfassende Schilderung
seiner vielseitigen Tätigkeit gibt. Mit Dankesworten an den Vortra-
genden schließt der Vorsitzende die Versammlung um 9l/t Uhr.
Philippson. Nathan.
IV.
Protokoll über die konstituierende Sitzung des Ausschusses der Gesell-
schaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums
am Mittwoch, den 3. Januar 1912, abends 91/» Uhr, in der Aula der
Knabenschule der jüdischen Gemeinde, Berlin, N , Große Hamburger-
straße 27.
Der wiedergewählte Ausschuß konstituiert sich und bestätigt den
bisherigen Vorstand und die Fachkommission in ihren Ämtern. Danach
setzt sich der Vorstand wie folgt zusammen:
1. Vorsitzender: Prof. Dr. M. Philippson -Berlin, 2. Vor-
sitzender: Rabb. Prof. Dr. J. Gut tman n-Breslau, Schriftführer:
Rabb. Prof. Dr. Ph. Bloch- Posen, Schatzmeister: Bankier P. V.
Simon-Berlin, stellvertr. Schriftführer Dr. N. M. Nathan- Berlin.
Schluß 93/4 Uhr.
Philippson. Nathan.
Inhalts - Verzeiehnis.
Seite
Kürzen und Längen in der Bibel. Von M. Qüdemann. 129 — 155
Der Auszug aus Ägypten im Lichte der Wissenschaft. Von
Emil Levy 276—286
Die Ecke mit der letzten Oarbe. Von Ludwig Levy. . . 156—159
Das Steinewerfen in Koheleth 3, 5, in der Deukalionsage und
im Hermeskult. Von Ludwig Levy 531 — 542
Die neuen Papyrusfunde in Elephantine. Von S. Jampel. 641—665
Das Laubhüttenfest Chanucka. Von R. Lesczynsky . 400 — 418
Das Wasseropfer und die damit verbundenen Zeremonien.
Von D. Feuchtwang 43—63
Die Männer der großen Versammlung und die Gerichtshöfe
im nachexilischen Judentum. Von S. F u n k . . . . , 33—42
Die Kompetenz der Gerichtshöfe. Von S. F u n k. . . . 699—712
Die Strafe des Ehebruches in der nachexilischen Zeit. Von
Adolf Büchlei 196-219
Eine unbekannte jüdische Sekte. Von Louis Ginzberg. 666—698
Ursprung, Begriff und Umfang der allegorischen Schrifter-
klärung. Von L. Treifel 543—554
Dte Christusmythe des Prof. A. Drews im Lichte der
Wissenschaft. Von J. Scheftelowitz 1—32
Wie verhielt sich das Judentum zu Jesus und dem eot-
stehenden Christentum ? (Schluß.) Von M. Frei-
mann 160—176 296-316
Die Wortführer des Judentums in den älteren Kontroversen
zwischen Juden und Christen. Von M. Freimann . 555—585
Die talmudische Literatur der letzten Jahre. Von V. A p t o-
witzer 177-195
Unechte Jeruschalmizitate. Von V. Apto witzer . . . 419—425
Der Selbstmord nach der Haiacha. Von A. P e r 1 s . . . 287—295
Die Tefilla für die Festtage. Von I. E 1 b o g e n. 426-446 586—599
Beiträge zur Geschichte und Literatur im gaonäischen Zeit-
alter. (Fortsetzung.) Von Simon Eppenstein 64—75, 220—232.
317-329, 464-477, 614—628, 729—742.
764
Seite
Die Ethik R. Saadjas. Von David Rau, s. A. 385—399, 513-53 >,
713-728.
Die Wortvertauschnngeü im Kitäb al-Luma des Abul-
walid. Von W. Bacher 233—240
Fragmente von Gabirols Diwan. Von H. Brody. . . . 76—97
Lebenszeit und Heimat von Isaalc Or Sarua. Von H. Ty-
kocinski 478-500
Die Namen der Frankfurter Juden bis zum Jahre 1400.
Von I.Krakauer 447—463, 600-613
Die Juden und das Wirtschaftsleben. Von M. O ü d e m a n n 257—275
Josef Kohn-Zedek, der letzte neuhebräische Publizist der
galizischen Haskala. von M. Weissberg 332—347
Der Streit um die jüdische Garküche in Bromberg am Be-
ginne des 19. Jahrhunderts. Von G. Walter . . . . 241-246
Ein Nachtrag zu »Wilhelm Raabe und die Jaden«. Von G.
Rülf 247-251
Notizen.
Saadjas Kitäb al-Tärich. Von W. Bacher 253—254
Zu den mjnntP "njw des Isaak b. Rüben. Von I. Fried-
länder 501—502
War Maimonides eine Mechilta zum Deuteronomium be-
kannt ? Von Samuel Klein 252—253
Die Wormser ThoraroHe. Von Louis L e w i n 348
Juden in England aus Deutschland eingewandert. Von F.
Liebermann 253
Jüdische Spitäler im Mittelalter. Von K. ßaas 745—746
Zur Geschichte der Juden in Hamburg. Von F. Lieber-
mann 348
Die Identität der Familien Theomim und Munk. Von
M. Brann 349-357
Erwiderungen : Von J. F r o m e r, V. A p t o w i t z e r, B.
Jacob und S. Ja mpel 112-120
Besprechungen.
Breslauer, Bernh. Die Abwanderung der Juden aus der
Provinz Posen. Von J. Rotholz 358
Drews, A. Die Cbristnsmythe. Von J. Scheftelowitz . . 1—32
Ginzberg, L. Geonica II. Von V. Aptowitzer. 371—382, 633- 640
765
Seite
ö • 1 1 1 i e b, M. Mose b. Maimunis Kommentar zumMischnah-
Traktat Makkoth u. Schebuoth. Von M. Fried .... 629-632
K o t e 1 m a n n. Die Ophthalmologie bei den alten Hebräern.
Von Art. Crzellitzer 364-365
Künstlinger, David. Altjüdische Bibeldeutung. Von J.
Theodor 503—509
Landau, Alfr. u. Wachstein Bernh. Jüdische Privat-
briefe aus dem Jahre 1619. Von M. Freudenthal . . . 366—370
D. N e u m a r k. Geschichte der jüdischen Philosophie des
Mittelalters. Von Julius Lewkovvitz ........ 100 — 111
Ruppin, A., Die Juden im Großherzogtum Hessen. Von
J. Rotholz 358
S a c h a u, Ed., Aramäische Papyrus und Ostraka. 2 Bde.
Von S. Jarapei 641-655
Salomonski, Martin. Gemüsebau- und Gewächse in
Palästina zur Zeit der Mischnah. Von Immanuel Low . 743 — 744
Schapiro, Israel. Maimunis Mischnah-Kommentar
zum Traktat Arachin. Von M. F r i e d 254—256
Schechter, S. Documents of jewish sectories. Vol. I.
Von L. Ginzberg 666—698
S e g a 1 1, Jac, Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung
ia München. Von J. Rotholz 357
Sombart, W. Die Juden und das Wirtschaftsleben. Von
M. G ü d e m a n n 257—275
St raus, R., Die Juden im Königreich Sizilien unter Nor-
mannen und Neuforn. Von Willy C o h n 510—512
Die Verhältnisse der israelitischen Kultusgemeinden in
Bayern nach dem Stande des Jahres 1907. Von R. Was-
sermann 98-99
Jahresbericht und Protokolle über Sitzungen der Gesell-
schaften zur Förderung der Wissenschaft des Juden-
tums 121—128, 383—384, 752—762
Bibliographische Übersicht über die im Jahre 1910 er-
schienenen Schriften. Vom Herausgeber . . . . 747—751
766
Alphabetisches Verzeichnis der Mitarbeiter.
Aptowitzer, V., S.
177, 371, 419,
Klein, S.,
S. 52
633
Kracauer, I.,
S.
447, 600
Baas, K>,
Bacher, W.,
S. 745
S. 233, 253
Lesczynsky
Lewy, E.,
S. 400
S. 276
Brann, M.,
S. 349, 747
Levy, L.,
S.
156, 531
Brody, H.,
S. 76
Lewin, L.,
S. 348
Büchler, Ad.,
S. 196
Lewkowitz, J.,
S. 100
Cohn, W.,
S. 510
Liebermann, F.,
S.
253 c48
Crzellitzer, A.,
S. 364
Low, Imm.,
S. 743
Elbogen, I.,
Eppenstein, S., S.
Feuchtwang, D.,
Freimann, M., S.
Freudenthal, M.,
S. 426, 5S6
220, 317, 464,
614, 729
S. 43
160, 296, 555
S. 366
Perls, A.,
Rau, D. s. A., S.
Rotholz, J.,
Rulf, G.,
Scheftelo .vitz, J.,
385,
S. 287
513, 713
S. 358
S. 247
S. 1
Fried, M.,
S. 254, 629
Theodor, I.,
S. 503
Friedländer, I.,
S. 501
Treitel, L.,
S. 543
Funk, S.,
S. 33, 699
Tykocinski, H.,
S. 478
Ginzberg, L.,
S. 666
Walter, G.,
S. 241
Güdemann, M.,
S. 129, 257
Weissberg, M.,
S. 332
Jampel, S.,
S. 641
Wassermann,
S. 98
#
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt dieser Zeitschrift ist untersagt.
Für die Redaktion verantwortlich : Dr. M. BRANN in Breslau.
Druck von Adolf Alkalay & Sohn in Preßburg.
«~. • e . iviar\ <ü o 13/ r
DS
Monatsschrift für Geschichte
101
und Wissenschaft des
M6
Judentums
Jg. 55
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