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Monatsschrift
für
Psychiatrie und Neurologie.
— — — — — —
Herausgegeben von
Th. Ziehen.
Band XXI.
Mit zahlreichen Abbildungen im Text und 10 Tafeln.
BERLIN 1907.
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
Alle Rechte vorbehalten.
Inhalts -Verzeichnis.
Originalarbeiten.
Bechterew, W. von, Automatisches Schreiben und sonstige
automatische Zwangsbewegungen als Symptome von
Geistesstörung . . . 206
— — Ueber die klinischen and pathologisch-anatomischen
Besonderheiten der nervösen Form der Steifigkeit und
der Ankylose der Wirbelsäule und ihre Behandlung . 527
Birnbaum, Karl, Ueber degenerativ Verschrobene. . . 8308
Bruns, Oskar, Neuralgien bei Melancholie. . . . . . 481
Chotzen, F., Transitorische Alkoholpsychosen. . . 285
Fischer, Oskar, Ein weiterer Beitrag zur Klinik und
Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. . . 1
— — Ueber die sogenannten rhythmischen, mit dem Puls
synchronen Muskelzuckungen bei der progressiven
Paralyse . . 273
Friedmann, M,, Ueber die Abgrenzung und die Grund-
lagen der Zwangsvorstellungen. à’ . . 214, 348
Gregor, Adalbert, Beiträge zur Kenntnis der Gedächtnis-
störung bei der Korsakoffschen Psychose. . . . 19, 148
Hartmann, Fritz, Beiträge zur Apraxielohre. (Hierzu
Tafel I-ID . . . -à . . 97, 248
Jacobsohn, L., Ueber Cysticercus cellulosae cerebri et
musculorum, mit besonderer Berücksichtigung der
den Parasiten einschliessenden Kapselwand. (Hierzu
Tafel II—VII). .... ©.. > . 119
Kutner, R., Die transkortikale Tastlähmung 20... 191
Lachmund, H., Ueber einseitigen klonischen Krampf des
weichen Gaumens . . .-. 518
Mendel, Kurt, Der Unfall in der Astiologie der Nerven-
krankheiten . . . . . 468, 550
Pappenheim, M., Ueber paroxysmale Fieberzustände bei
rogressiver Paralyse mit Vermehrung der polynukleären
Leukozyten i im Blut und in der Cerebrospinalflüssigkeit,
nebst Bemerkungen über Blut und Liquor bei Exazer-
bationen des paralytischen Prozesses . . . . . . 586
5654
— IV _
Pelz, Artur, Ueber periodische transitorische Bewusstseins-
störungen nach Tr rauma. (Dipsomanie etc. nach Trauma)
Pilcz, Alexander, Zur prognostischen Bedeutung des Argyll-
Robertsonschen Phänomens .
Saiz,Giovanni, Einige plethyamographisch Unters uchun gen
bei affektiven Psychosen .
Schuckmann, Walter von, Ver leichende Untersuchung
einiger Peychosen mittelst der Bildehenbenennungs-
methode
Takasu, K., Beiträge : zur athologischen Anatomie der
Tdiotie. (Hierzu Tafel IX—X)
Veraguth, Otto, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen
Völsch, Max, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
osteomalacische Lähmung
Weber, L. W., Zur prognostischen Bedeutung des Argyll-
Robertsonschen Phänomens .
Weinberg, Richard, Ueber sogenannte „Doppelbildungen“
am Gehirn, mit besonderer Berücksichtigung der unteren
Stirnwindung . rn à’
Berichte.
78. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte in
Stuttgart, 16.-—22. September 1906. Von Dr. Lilien-
stein in Bad Nauheim (Schluss) .
Wanderversammlung des Vereins für Psychiatrie und Neuro-
logie in Wien, 5.—7. Oktober 1906. Von Priv.-Doz.
Dr. A. Pilcz in Wien
XXXVII. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte“ in
Tübingen, 8. und 4. November 1906. Von Dr. M.
Isserlin in Heidelberg .
XXIV. Kongress für innere Medizin in _ Wiesbaden, 15. bis
18. April 1907. Von Dr. Lilienstein in Bad Nauheim
Buchanzeigen . . . . . 2000. . 182, 280, 478,
Notizen, Personalien und Tagesnachrichten 96, 190, 284,
478, 479, 480,
53
46
492
820
425
887
488
271
136
76
167
177
672
677
678
Aus der psychiatrischen Universitätsklinik (Prof. A. Pick) in Prag.
Ein weiterer Beitrag zur Klinik und Pathogenese der
hysterischen Dysmegalopsie.
Von
Dr. OSKAR FISCHER,
I. Assistenten.
Auf Grund eines genauen klinischen Studiums eines sehr
günstigen Falles von hysterischer paroxysmaler Makropsie!), bei
der eine koordiniert auftretende Mikrographie ein sehr genauer
Gradmesser für die Stärke der Sehstörung war, konnte ich einige
Aufschlüsse über die bisher noch sehr unklaren Ursachen der
Makropsie und Mikropsie, kurz als Dysmegalopsie zusammengefasst,
gewinnen. Da die in der erwähnten Publikation mitgeteilten
Untersuchungsergebnisse eine Basis für die jetzt weiter zu be-
richtenden weiteren Untersuchungsresultate darstellen, ist es an-
gezeigt, in kurzen Worten dieselben zu wiederholen.
Bei einer 22jährigen Patientin, die seit einigen Jahren an
hysterischen Krämpfen leidet, traten Dämmerzustände auf, die
mit Makropsie vergesellschaftet waren; sie sah zu dieser Zeit
alles grösser, verkannte deswegen die Umgebung und geriet da-
durch immer in einen Zustand ängstlicher Desorientiertheit. Dabei
zeigte Patientin die von Herrn Prof. A. Pick beschriebene Mikro-
graphie, die desto ausgesprochener wurde, je stärker die Makropsie
war. Wenn man in diesen Zuständen der Patientin eine künst-
liche Dysmegalopsie verursachte, so addierte sich dieselbe zu der
schon vorhandenen Makropsie. Durch Vorsetzen von Konvex-
gläsern und Einwirkung von Eserin wurden die Makropsie und
Mikrographie verstärkt, durch Konkavgläser und Homatropin wurden
dieselben vermindert. Wenn man weiter durch Atropin die Akkom-
modation ausgeschaltet hatte, so verschwand bei entsprechender
Linsenkorrektion die Makropsie vollkommen, wogegen sie ım Beginn
und beim Abklingen der Atropinwirkung, die dann eine Parese des
Akkommodationsapparates bedingte, nur vermindert wurde. Da nun
durch totale Akkommodationslähmung keinerlei Dysmegalopsie ent-
steht und durch dieselbe die Makropsie verschwindet, da weiter
1) Ueber Makropsie und deren Beziehungen zur —— sowie
über eine eigentümliche Störung der Lichtempfindung: 'Monatssehr. f. Psych.
a. Neurol. Bd. XIX.. H.3, en DE En BE SEE a F
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft ı. 1
2 . Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik
derAkkommodationsapparatbeider Patientin während der Makropsie
sich vollkommen normal verhielt, so musste man daraus schliessen,
dass die Ursache der Makropsie in zentralen Vorgängen nach
Veraguth in einer gestörten Dynamästhesie des Akkommodations-
vorganges zu suchen ist; aus’ naheliegenden Gründen wurden die-
selben Bedingungen auch für die Mikropsie und dadurch für die
Dysmegalopsie im allgemeinen erschlossen.
Im Folgenden sollen nun weitere Beobachtungen mitgeteilt
werden, welche die vorhin gemachten Erläuterungen stützen und
noch wesentlich ergänzen werden.
In erster Linie sind es Untersuchungen, die bei späteren
Dämmerzuständen an derselben Patientin unternommen wurden,
Die zitierte Publikation bezieht sich auf Beobachtungen, die
mit April 1905 abschliessen. Seit der Zeit wiederholten sich die
Anfälle in gleicher Weise: immer zur Zeit der Menses Dämmer-
zustände mit makropischer Desorientiertheit, dazwischen einige
hysterische Krampfanfälle. Dabei verhielt sich die Makropsie
immer in gleicher Weise, wie schon damals beschrieben wurde.
Auch hier ging die Desorientiertheit immer mit der Makropsie
einher, welche auch immer mit der l. c. beschriebenen Störung
der Lichtempfindung vergesellschaftet war, indem Patientin dabei
alles dunkler sah. Später zeigte sich besonders im Abklingen
der genannten Dämmerzustände ein ganz eigen- und neuartiges
Phänomen, indem sie bald die Umgebung verkannte, bald richtig
erkannte, und wobei auch zugleich mit dem Schwanken der
deliranten Verkennung und der richtigen Erkennung der Umgebung
auch der Gesichtsausdruck sich änderte. In der Phase der deliranten
Desorientierung war der Gesichtsausdruck ängstlich dämmerhaft,
um sofort wieder mit dem richtigen Erkennen der Umgebung in
den, sonst in klaren Zeiten gewohnten, klaren Gesichtsausdruck
zu überspringen.
Ein deutliches Beispiel eines solchen Zustandes gibt eine
Probe aus dem Examen:
‚Sie wird in das Zimmer geführt, ihr Gesichtsausdruck ärgerlich und
leicht ängstlich; vom Chef der Klinık gefragt, wer er sei, antwortete sie
ärgerlich: „Was weiss ich, ich kenne nicht einen jeden Menschen!“
Auf die Frage: „Bin ich nicht der Prof. Pick?“ sagt sie lächelnd:
„Nicht im geringsten, der ist nicht so gross, nicht so grob und so zudringlich!“
Wird sofort darauf gefragt: Wodurch unterscheide ich mich vom Prof. Pick?
Dabei klärt sich ihr bis daher dämmerhaft ängstlicher Gesichtsausdruck auf,
sie wird freundlich und sagt prompt: „No gar nicht, Sie sind es ja selbst!“
Sofort aber wird der Gesichtsausdruck wieder dämmerhaft ängstlich,
und sie verkennt die Umgebung in der früheren Art. In ähnlicher Weise
schwankt das Bewusstsein in einem fort. und sie weiss in der einen Phase
nicht, was sie in der anderen erlebt hatte; die Dauer der einzel: en Phase
ist ganz kurz, zeitweise nicht mehr als 20 Sekunden betragend, wobei Patientin
auch halluziniert, aber nur zur Zeit der dämmerhaften Phase; sie hört z. B.
Stimmen von Bekannten oder sieht in einem solchen Moment jemanden vor
dem Fenster, oder einen Luftballon aufsieigen, um dann im nächsten klaren
Moment nichts mehr davon zu wissen und in der darauffolgenden dämmer-
haften Phase wieder darauf zu reagieren. Sie wird zu dieser Zeit zum
Schreiben aufgefordert, und, wie zu erwarten war, zeigte die Schrift dasselbe
Öszillieren, wie das Bewusstsein. Dies zeigt ein Beispiel: Sie soll an die
und Pathoganese der hysterischen Dysmegalopsie. 8
Mutter einen Brief schreiben. Sie fängt in einer normalen Phase an, schreibt
„Liebe“ in gewohnter normaler Grösse; jetzt wird wieder der Gesichtsausdruck
dämmerhaft und „Mutter“ wird ganz klein geschrieben (Fig. 1); sie soll an
den Examinator schreiben; schreibt im normalen Moment „Lieber“, dabei
wird die letzte Silbe immer kleiner, dann schreibt, sie „Herr“ ganz klein
(Fig. 2) und hört auf, weil sie siehtlich nicht weiss, wie den Examinator zu
titulieren, da sie ihn nicht zu kennen scheint; besonders instruktiv ist Fig. 8,
eine Schriftprobe, die sich bei einem anderen ähnlichen Examen abapielte:
Sie wird vom Examinierenden (Herrn Prof. Pick) gefragt, ob sie ihn kenne,
und soll die Antwort schreiben. Mit dämmerhafter Miene schreibt sie leicht
mikrographisch: „Ich weiss nicht“. Nach wiederholter Frage klärt sich der
Gesichtsausdruck, sie schreibt die Antwort in normaler Grösse, wundert sich
über die Schrift von vorher, will es nicht geschrieben haben, um im Nu
wieder dämmerbaft und desorientiert zu werden. Interessanter Weise war
sie in den einzelnen Phasen, wie schon oben erwähnt, für das in der anderen
Phase Geschehene mehr oder weniger vollständig amnestisch.
Sul, CA, Kal u
fiz.4 fg.
Schrift während des oszillierenden Bewusstseins.
Nun hatten wir auch früher Zustände von Makropsie beobachtet, in
denen die Patientin aber nicht dämmerhaft gewesen war, sondern nur die
Umgebung gross und verändert sah; solche Zustände von Makropsie ohne
Desorientiertheit zeigten auch später einigemal ein Oszillieren, das durch
einige Aeusserungen der Patientin besonders lehrreich war. So wird ihr io
einem solchen Zustande ein Geldstück (Krone) vorgezeigt: Sie ist sehr ver-
wundert darüber und sagt, das müsse aus Kautschuk sein, bald sei es eine
Krone, bald ein Gulden, das wechsle in einem fort, und zwar ganz schnell;
sie tastet auch das Geldstück ab und probiert daran herum, ob es nicht
wirklich aus Kautschuk sei. Auch die Umgebung sei bald gross, bald klein,
sie ist darüber bald erstaunt, bald ärgerlich ängstlich, glaubt, da müsse ein
Vexierspiegel dahinterstecken. Weiter gab sie an, dass nicht nur die Grösse
der Dinge wechsle, sondern dass sie jedesmal auch eine andere Farbe zeigten;
wenn sie gross werden — werden sie auch immer dunkler und dann wieder
heller, welche Aufhellung ganz plötzlich geschehe, so dass es aussehe, als
ob ein Blitz alles plötzlich beleuchte.
Dieses ÖOszillieren wiederholte sich später beinahe bei jedem der
makropischen Zustände, die während jeder Menstruation durch einige Tage
anhielten und sich durch einige Monate wiederholten, als eines Tages sich
ein Dämmerzustand, sozusagen aussertourlich in einer Menstruationszwischen-
pause einstellte, der nicht mit Makropsie, sondern mit Mikropsie vergesell-
schaftet war. Dies geschah so: Sechs Tage nach einer menstrualen Makropsie
ersucht sie um die Extraktion eines kariösen Zahnes, bittet aber um eine
schmerzlose Operation; sie lässt sich ruhig eine Kokaininjektion geben, wird
dabei plötzlich ängstlich, der Gesichtsausdruck dämmerhaft, sie blickt staunend
bald den Arzt an, bald wieder die Zange, wehrt energisch ab, bekommt darauf
einen hysterischen Krampfanfall der gewöhnlichen Art und verfällt nachher
in Schlaf. Nach einer Stunde wacht sie auf, ist auf den Arzt sehr schlecht
1°
4 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik
zu sprechen, ärgert sich, er hätte ihr versprochen, einen Zahn zu ziehen, und
inzwischen hätte er einen kleinen därren Kerl mit einer ganz winzig kleinen
Zange geschickt, der doch nicht einmal die Kraft haben könne, einen Zahn
zu ziehen; dabei ist sie wieder vollkommen klar und orientiert. Die Mikropsie
blieb in vollster Erinnerung, und Patientin liess sich von dem Glaanben an
die Realität dieser Wahrnehmung nur schwer und ungläubig abbringen.
Es war zu erwarten, dass dieser ausserhalb der Menstruation durch
den mit der Erwartung des Zahnziehens verbundenen Angstaffekt hervor-
gerufone mikropische Zustand sich in einem der nächsten menstruellen
ämmerzustände vielleicht wiederholen werde. Die nächste Menstruation
war wieder mit einer Makropsie wie sonst verbunden; aber seither erscheint
in jedem Dämmerzustand ganz regelmässig die Mikropsie. Das Verhalten
der Patientin ist mutatis mutandis ganz äbnlich dem Verhalten während der
makropischen Zustände. Auch da ist sie desorientiert, aber kaum mehr
ängstlich, sondern mehr ärgerlich; sie befindet sich in einer komisch ver-
wandelten Umgebang, „es müssen lauter Gnomen da sein“. So wie es in
den Zuständen von Makropsie Pausen gab, in denen sie vollkommen orientiert
und klar war trotz vorhandener Sehetörang, so war dies auch hier der Fall;
sie ist zeitweise vollkommen orientiert, sieht aber alles kleiner, wundert sich
darüber, dass alles so klein ist; auch sie selbst kommt sich im Spiegel be-
sehen äusserst klein vor, ihre Hände, alles was sie sieht, ist auffallend klein;
sie kann es sich nicht erklären auf welche Weise dies geschieht, aber es
müsse dabei ein Vixierspiegel eine Rolle spielen. Ein Fünfkronenstäück hält
sie für einen (kleineren) Gulden, diesen für eine (kleinere) Krone, diese ist
für sie eine unbekannte Münze; dabei erkennt sie durch das Tastgefühl bei
geschlossene Augen die Münzen ganz richtig und wundert sich darüber, wie
lein das alles wird, wenn sie die Augen aufmachı. Längenmasse werden
ebenfalls falsch geschätzt, und zwar sowohl in transversaler als auch in
sagittaler Richtung; 10 cm für 6 cm, 50 cm für 30, 1 m für 70 cm; dabei
wird nie jene Störung in der Helligkeitsempfindung wie bei den makropischen
Zuständen gefunden.
Aehnlich wie während der Makropsie war auch die Schrift in den
mikropischen Dämmerzuständen in ihrer Grösse verändert; je grösser die
Mikropsie war, desto grösser und gröber wurden die Schriftzeichen, eine
Störung, die als optische Makrographie zu bezeichnen wäre (Fig. 4a). Dagegen
hatte die Schrift bei geschlossenen Augen annähernd die normale Grösse
(Fig. 4b).
Faber Hu
Schrift während der Mikropsie; a) bei offenen Augen, b) bei Angenschluss.
Es lag nahe, diesen mikropischen Zustand einer ähnlichen Unter-
suchung zu unterwerfen, wie dies seiner Zeit bei der Makropsie geschehen,
um zu erfahren, ob die Mikropsie denselben oder ähnlichen Gesetzen folgt
wie die Makropsie. Zu diesem Zwecke wurde genau so vorgegangen, wie
seinerzeit bei der Makropsie; es wurde künstlich eine Dyamegalopsie erzeugt
und ihre Einwirkung aut die Grössenwahrnehmung studiert; anch hier hatte
man in der Grösse der Schrift einen sehr genauen Indikator für den Grad
der Mikropsie. Vorsetzen von Gläsern änderte den Grad der Mikropsie in
der Art, dass die durch dieselbe verursachte Dysmegalopsie sich zu der
und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsic. B
ersteren einfaeh hinzu addierte. Durch Konvexgläser, die eine Makropsie
verursachen, würde dieselbe vermindert, durch Konkarvgläser verstärkt.
fray din liy
y “r "7
C
Fig. 5.
Beeinflussung der Makrographie durch Konvexgläser.
a) ohne Brille; b) mit + 2 D; c) mit 4+- 5 D.
Auch die Schrift wurde entsprechend geändert, indem Vorsetzen von
Konvexgläsern je nach ihrer Stärke die Makrographie minderte (Fig. 5). Mit
einem Konkavglas konnte Patientin überhaupt nicht schreiben; sie machte
immer wieder Ansätze zu sehr groben Schriftzeichen, also zu einer noch
stärkeren Makrographie, wurde aber immer ärgerlich, dass es nicht richtig ge-
lingen wolle: „sie wisse nicht, was das sei, aber sie bringe die Schriftzeichen
nicht zustande, entweder sei die Feder zu fein, oder sie hätte auf einmal das
Schreiben verlernt, sie könne nicht richtig schreiben.“ Die Ursache dieser
Verwunderung liegt auf der Hand. Mit der Verstärkung der Mikropsie muss
Hay am aF dlix
feag am Ig Mias.
huy uks
Fig. 6.
Beeinflussung der Makrographie durch Eserin b und Homatropin c;
a) Makrographie des unbeeinflussten Auges.
6 Fischor, Ein weiterer Beitrag sur Klinik
Patientin, um die ihr richtig scheinende Grösse der Sehrift herrerzubringen,
wesentlich grösser schreiben, und zwar so gross, dass dasu nicht mehr die
bei der gewöhnlichen Schrift gewohnten Bewegungen der Finger, sondern
solche der ganzen Hand und eventuell auch des Vorderarmes nölig waren;
dieses Ungewohnte war es eben, welches sie stutzig und ärgerlich machte.
Weiter wurde Eserin, Homatropin und Atropin verwendet, und zwar
wieder derart, dass immer nur ein Auge behandelt wurde, bei welcher An-
ordnung man die Grössenwahraehmung der beiden Augen untereinander ver-
leichen konnte, besonders mit Hilfe der Schrift. Eserin, das als Miotikum
Makropsie verursacht, verkleinert die Schrift (Fig. 6b). Parese des Akkommo-
dationsmuskels, bewirkt durch Homatropin oder Atropin im Beginn und Aus-
klingen der Wirkung, verstärkten die Mikropsie, so dass Patientin wie bei
den Versuchen mit Konkavgläsern behauptete, nicht schreiben zu können;
erst auf mehrfaches Zureden schrieb sie Fig. 6c. Dagegen wurde bei voll-
kommener Lähmung des Akkommodationsapparates die Sehstörung voll-
kommen behoben. Patientin sah mit dem atropinisierten Auge bei ent-
sprechender Linsenkorrektur normal gross und schrieb auch die für sie normal
rosse Schrift (Fig. 7). Besonders instruktiv ist Fig. 8, welche einen Brief
fer Patientin darstellt, der abwechselnd mit dem linken und mit dem rechten
(atropinisierten) Auge bei gleichzeitigem Verdecken der vorherigen Worte
geschrieben wurde; die Makrographie entspricht da dem unbeeinflussten, die
normale Schrift dem atropinisierten Auge. Diese günstige Wirkung des
Atropins wurde bei der Patientin auch therapeutisch verwendet. Es gelang
bei ihr zwar während der dysmegalopischen und mit desorientierter Aengst-
lichkeit verbundenen Zustände ihre Desorientierung zumeist durch anregende
Fray den 94 Peay din 4L
Fig. 1.
Beeinflussung der Makrograpbie durch Atropin. a) Makrographie des
unbeeinflussten; b) Schrift des mit Atropin behandelten Auges nach
vollständiger Akkommodationsläbmung unter entsprechender Linsen-Korrektur.
LA. Wchır l
PÄAFRrF
Hır A Adam
Fig. 8.
und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. 7
Unterhaltung und Vorweisen von logischen Gründen zu beheben, sowie mau
sie aber sich selbst überliess, kehrte gewöhnlich die Desorientierung unter
dem Drucke der Dysmegalopsie wieder. Deswegen wurde ihr ein Auge
atropinisiert und mit eiser Konvexbrille versehen, das andere verbunden, und
dadurch blieb zumeist die Desorientierung aus.
Seitdem die Mikropsie aufgetreten war, wiederholte sie sich immer
zur Zeit der Anfälle, und zwar derart, dass entweder nur Mikropsie bestand
oder aber dass dieselbe in längeren, ganz unregelmässigen Perioden, die
meist durch eine Zeit des Schlafes abgetrennt wurden, mit der Makropsie
abwechselte. Weiter kam es, genan wie bei der Makropsie, auch zu einer
zeitweisen raschen ÖOszillation zwischen Mikropsie und normaler Grössen-
wahrnehmung; schliesslich konnte man den Andeutungen der Patientin ent-
nehmen, dass sie manchmal auch ein schnelles Oseillieren zwischen Makro-
and Mikropsie gehabt hätte, indem dieselben ganz schnell ohne Dazwischen-
treten eines Stadiums normaler Grössenwahrnehmung abwechselten; klinisch
konnte ein solcher Zustand nicht beobachtet werden, respek!ive man wusste
picht, wann sie in diesem Zustande sich befand; es ist am wahrscheinlichsten,
dass dies in jene Zeiten fällt, in denen die Kranke von hochgradiger Aengst-
lichkeit befallen, vollkommen unzugänglich war, welcher Zustand sich zeit-
weise zu einem kurzdauernden Stupor steigerte.!)
Es stimmt also das bei der Untersuchung der Mikropsie
gewonnene Resultat vollkommen mit den Untersuchungsergebnissen
bei der Makropsie überein und bestätigt den einheitlichen Sitz
und Pathogenese beider Arten von Dysmegalopsie. Wir haben
für die Makropsie nach Veraguth eine Störung der Dynam-
ästhesie angenommen. Versuchen wir, diese Annahme näher zu
begründen.
Es bestand bei der Patientin eine Dysmegalopsie bei sonst
ganz intaktem peripheren Akkommodationsapparat; jedes Mittel,
welches den letzteren im Sinne einer Mehr- oder Minderleistung
beeinflusste, also auch schon unter normalen Umständen eine
Dysmegalopsie hervorruft, hatte auch hier durch einfache Summation
den schon vorhandenen Grad geändert, entweder im Sinne eines
Plus oder eines Minus. Wenn man nun durch Atropin den
peripheren Akkommodationsapparat gelähmt hatte, so verschwand,
trotzdem es sonst durch Akkommodationslähmung nie zu Dysme-
galopsie kommt, die früher bestandene Dysmegalopsie vollkommen.
Da der periphere Akkommodationsapparat intakt war, konnte
in diesem die Störung nicht liegen, da weiter die Ausschaltung
der Tätigkeit des Akkommodationsapparates die Dysmegalopsie zum
Schwinden brachte, so muss die Dysmegnlopsie in irgend einer
Komponente des ganzen Akkommodationsvorganges liegen. Der-
selbe besteht darin, dass von einem zentralen Projektionszentrum
durch Vermittlung des Oculomotorius dem Akkommodationsmuskel
ein Reiz übermittelt wird. Eine Störung im Oculomotoriuskern
kann der Dysmegalopsie nicht zu Grunde liegen, aus denselben
Gründen, aus welchen auch eine Störung des Oculomotorius und
des Akkommodationsmuskels ausgeschlossen ist, weil die Akkommo-
1) Nachtrag bei der Korrektur: Inzwischen ist Patientin an einer akuten
käsigen Pneumonie verstorben, ohne dass sie klinisch etwas von dem ge-
schilderten Abweichendes dargeboten hätte. Das Gehirn zeigte normale
Verhältnisse.
8 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik
dation während der Dysmegalopsie keinerlei objektiv nachweisbare
Störungen aufwies. Wir haben weiter Gründe, auch ein Rinden-
zentrum für die auf den Oculomotorius entfallenden motorischen
Funktionen anzunehmen und zwar sowohl für die Augenbewegungen,
als auch, wie in neuerer Zeit bewiesen wurde, für die Pupillen-
bewegung und wahrscheinlich auch für die Akkommodation!). Es
fragt sich also, ob irgend eine Störung dieses Zentrums die Dysme-
galopsie in unserem Falle hervorgerufen haben konnte. Dies
kann aber ebenfalls nicht zutreffen, und zwar aus denselben
Gründen, welche eine Erkrankung des Oculomotorius ausschliessen.
Man muss die Störung also anderswo suchen. Veraguth?) ver-
legt dieselbe in eine sensible Komponente des Akkommodations-
apparates, die mit Zentrum, sensibler Bahn und Endapparaten
ausgestattet, dem Muskelgefühl, von Veraguth Dynamästhesie
enannt, dienten. Wenn ich die Erklärung Veraguths in ein
chema zu fassen versuche, so vollzieht sich nach ihm der
Akkommodationsvorgang derart, dass vom motorischen Anteil M
des Zentrums CA (Fig. 9) ein Impuls dem Akkomodationsmuskel
auf der Bahn m entsendet wird. Bei der Kontraktion desselben
wird ein sensibler Reiz auf der Bahn s dem sensiblen Anteil S
des Centrums CA mitgeteilt, nach dessen Grösse wir die Leistung
des Akkommodationsapparates bemessen. Bei der Hysterie haben
. wir allen Grund, den Sitz der Störung der sensiblen Bahn nur in
ein Zentrum, und zwar in CA.S zu verlegen. Dieses kann nur
im Sinne einer Hyperästhesie oder Hypästhesie erkranken. Wenn
eine Hypästhesie desselben besteht, bekommen wir bei sonst
gleicher Akkommodationstätigkeit die Empfindung, wie wenn sonst
wenig akkommodiert wird; ein Minus im Akkommodationsversuch
verursacht eine Makropsie; deswegen kommt es durch die Dynamo-
hypästhesie zu einer Makropsie und durch Dynamohyperästhesie
zu Mikropsie.
Fig. 9.
Sohema der bei der Grössenwahrnehmnng in Betracht kommenden
Zentren und Bahnen.
1) v. Bechterew, Arch. f. Anat. u. Physiol, 1900; Parsons, Brit.
med. Eri 1900. |
3) 1. co.
und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. 9
.Ohne weiter auf die vom physiologischen Standpunkte so
interessante Frage über die Muskelempfindungen einzugehen, will
ich mich hier nur auf die für unseren Fall notwendigen Ueber-
legungen beschränken. Wenn wir eine solche sensible Bahn an-
nehmen, müssen wir uns in erster Linie irgendwelche Vorstellungen
darüber machen, in welcher Weise die von derselben geleiteten
Reize entstehen könnten. Diese können nur beim Akkommodations-
akte, und zwar durch die Verschiebung des Akkommodationsmuskels,
zustande kommen. Darin ist aber schon ein Widerspruch ent-
halten; denn wenn wir ein Auge homatropinisieren, so muss in
diesem zum scharfen Sehen dieselbeExkursion des Akkommodations-
muskels hervorgebracht werden, wie im normalen Auge, und
dennoch sieht das erstere Auge mikropisch. Die Exkursion blieb
dieselbe, folglich konnte der angenommene sensible Reiz auch
nur derselbe geblieben sein. Dagegen ist es klar, dass zur gleichen
Exkursion im homatropinisierten Auge ein viel stärkerer zentraler
motorischer Impuls notwendig ist.
Diese Wahrnehmung der Stärke des zentralen Impulses
. genügt vollkommen zur Erklärung der Dysmegalopsie; sie stellt
ja ebenfalls eine „Dynamästhesie“ dar, nur ist deren Zustande-
kommen ohne jegliche, wie ich glaube, auch unnötige periphere
Bahn gedacht. Diese Erklärung nähert sich auch sehr der Er-
klärung von Binswanger!) und Koster?), die die Ursache der
Dysmegalopsie in einer motorischen Störung suchen. Wir brauchen
also im Schema Fig. 9 die sensible Bahn s ausfallen zu lassen
und die der Empfindung der Innervationsstärke des motorischen
Anteiles M des Zentrums CA dienenden Elemente mit S zu be-
zeichnen, so ist das Schema auch für unsere Erklärung geeignet.
Das Zentrum CA ist unpaarig; da müsste es scheinen, dass
nach Homatropinisieren eines Auges eine einseitige Dysmegalopsie
nicht möglich wäre. Das trifft aber nicht zu, und zwar aus
folgendem Grunde: Betrachten wir den Fall, als die Patientin
durch einseitiges Homatropinisieren nur einseitig dysmegalopisch
wird; wie immer wird auch jetzt den beiden Augen nur ein
beiderseits gleich starker Impuls zugesandt; da nun die ver-
schiedene Grössenwahrnehmung aus selbstverständlichen Gründen
dann nur bei jeweilig verdecktem einen Auge zustande kommt,
so richtet sich der akkommodative Innervationsimpuls und dadurch
auch die Grössenwahrnehmung nach den Verhältnissen des jeweilig
sehenden Auges. Aus diesem Grunde kann trotz unpaarigem
Zentrum dennoch eine einseitige Dysmegalopsie entstehen.
Bei der geschilderten Patientin kommt noch ein Umstand
zur Beachtung, der weitere Aufschlüsse über das Wesen der
Dysmegalopsie zu geben imstande ist. Es ist schon wiederholt
erwähnt worden, dass Patientin während der Dämmerzustände
auch Gesichtshalluzinationen hatte. Es musste sich deswegen die
') Epilepsie in Nothnagels Handbuch.
3) Graefes Arch. f. Ophthalm., 1896.
10 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik
Frage aufwerfen, ob diese Halluzinationen auch der Dysmegalopsie
unterworfen waren. In dieser Richtung angestellte Nach-
forschungen ergaben, dass Patientin zur Zeit der Dysmegalopsie
die halluzinierten Personen immer normal gross wahrnahm, gleich-
gültig, ob es sich um einen makropischen oder mikropischen
Zustand gehandelt hatte.
Dieses Phänomen bedarf einer Erklärung, besonders aus
dem Grunde, weil wir versuchen müssen, dasselbe in einen orga-
nischen Zusammenhang mit den vordem beschriebenen Störungen
zu bringen. Wie schon in der ersten Mitteilung bewiesen wurde!),
kommen für die hier beschriebene Dysmegalopsie von den sonst
zur Grössenwahrnehmung beitragenden Komponenten nur zwei
in Betracht: Ä
1. die Grösse des Netzhautbildchens,
2. der Akkommodationsvorgang.
Versuchen wir, uns das in unser anatomisch-physiologisches
Schema, Fig. 9, zu übersetzen. In CA haben wir das kortikale
Akkommodationszentrum, in CO das für die Registrierung der
optischen Eindrücke bestimmte kortikale Sehzentram. Das Zu-
sammenarbeiten dieser 2 Zentren führt zur Grössenschätzung;
diese Zentren sind nun die ersten nervösen Endstationen der in
Betracht kommenden Bahnen. Für die psychische Verwertung
der dorthin gelangten Eindrücke, also für ein richtiges Erkennen
derselben, müssen dieselben in die höheren Gehirngebiete geleitet
werden, in die supponierten Zentren psychischer Funktionen, nach
Flechsig in die Assoziationszentren oder nach Wernicke in
die transkortikalen Gebiete. Dieselben bezeichnet in unserem
Schema der Kreis TO. Versuchen wir, an der Hand dieses Schemas
die Halluzinationen zu erklären. Man nimmt jetzt wohl allgemein
als Ursachen der Halluzinationen abnorme, mehr oder weniger
endogene Reizzustände derjenigen Zentren an, in welchen sich
die physiologischen Korrelate der Vorstellungsprozesse abspielen,
also nach unserem Schema im transkortikalen Zentrum TO.
Dabei ist zu erwähnen, dass von einzelnen Autoren als zur Wahr-
nehmungsintensität unbedingt notwendig eine retrograde Erregung
der Projektionszentren angenommen wird. In unserem Falle ist
nur das Zentrum CA erkrankt; der periphere Sinnesreiz erreicht
erst nach Passage dieses gestörten Zentrums den Tuimmelplatz
der psychophysischen Korrelate der Vorstellungen TO. Es kommt
also zur Dysmegalopsie.e Wenn hingegen in TO selbst endogen
ein zur Halluzination führender Reiz entsteht, so kommt es zu
Halluzinationen von normaler Grösse nur dann, wenn das kranke
Zentrum CA nicht mit erregt wird; da es nun in unserem Falle
zu Halluzinationen von normaler Grösse trotz Erkrankung des
Zentrums CA kam, erscheint die Annahme einer zentrifugalen
Erregung der Projektionszentren beim Halluzinieren widerlegt.
In den makropischen Zuständen hatte die Patientin auch
1) 1. c., Seite 294.
und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. 11
noch, wie schon eingangs erwähnt wurde, eine Störung der Licht-
empfindung, indem sie alles gegenüber den normalen Zeiten auf-
fallend dunkler sah. Wenn sie zu dieser Zeit halluzinierte, so
waren die Halluzinationen nicht nur normal gross, sondern auch
von normaler Farbe. Dadurch ist erwiesen, dass diese Störung
der Lichtempfindung analog mit der Dysmegalopsie in kortikalen
Veränderungen ihre Ursache hat.
Diese Ueberlegung brachte aber weiter auch die Erklärung
für ein bis jetzt nar ein einzigesmal bei der Kranken beobachtetes
Phänomen. In einem (nicht dem letzten) mit Mikropsie ver-
. bundenen Dämmerzustande wurde bei der Patientin ein Ange mit
Atropin versetzt, nachdem die anderen, an und für sich eine
Dysmegalopsie verursachenden Mittel die schon vorhandene Dys-
megalopsie in der zuvor beschriebenen gesetzmässigen Weise be-
einflusst hatten. Nach eingetretener vollkommener Akkommodations-
lähmung blieb jedoch die Dysmegalopsie in ganz unbeeinflusster
Weise bestehen. Da die verschiedenen Zustände von Dysmegalopsie
schon so wiederholentlich in ganz gesetzmässiger und immer
gleichartiger Weise sich beeinflussen liessen, und da auch bei
dieser letzt geschilderten Beobachtung alle Fehlerquellen suszu-
schliessen waren, musste man nach einer plausiblen Erklärung
suchen — und die gibt sofort einen Blick auf das Schema. Wenn
trotz der Ausschaltung des Akkommodationsvorganges dieMakropsie
bestehen blieb, so muss dieselbe ihre Erklärung nicht in emer
Störung von CA haben, sondern von TO — sie muss das kortikale
Projektionszentrum verlassen und aufs transkortikale übergegangen
d. h. sie muss psychisch geworden sein. Dieser Schluss erheischt
eine Abschweifung in die Frage der Pathogenese der hysterischen
Symptome. Trotzdem man seit Charcot bemüht ist, die Hysterie
als eine psychische Erkrankung darzustellen und deren Symptome,
soweit es geht, als psychisch bedingt zu erklären, musste man
dennoch zugeben (Charcot, Janet, Binswanger u. A.), dass
es eine Reihe hysterischer Krankheitsphänomene gibt, für welche
sich eine rein psychische Entstehung nıcht erweisen lässt, dieselben
vielmehr als durch eine kortikale Störung (d.h. eines Projektions-
zentrums) verursacht sein müssen. Eine ganze Reihe klinischer
Erfahrungen spricht aber weiter dafür, dass es zu einem Wechsel
in diesen Symptomen kommt, in dem einmal nicht psychische
hysterische Symptome in ähnliche, psychisch bedingte übergehen
können.
Alles dies bestätigt nun unsere Beobachtung und die darauf
basierten Schlussfolgerungen.
Die Folgerung, dass Patientin in dem einen Dämmerzustand
eine durch Erkrankung des transkortikalen Zentrums bedingte
also transkortikale Dysmegalopsie hatte, lässt noch die weitere
Konklusion machen, dass die Patientin in einem solchen Zustande
ebeufalls dysmegalopische Halluzinationen haben musste. Bis
jetzt ist, wie gesagt, nur ein solcher Zustand beobachtet worden,
und in diesem halluzinierte Patientin, vielleicht nur zufälliger-
12 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik
weise nicht, es wartet also diese Annahme noch auf die klinische
Bestätigung.
Diese Verhältnisse wurden hier deswegen so genau erörtert,
weil sie uns erst das volle Verständnis für einen, in der aller-
letzten Zeit in die Klinik aufgenommenen Patienten brachten, der
eine eigenartige, bisher kaum bekannte, aber dennoch für eine
ganze Reihe von psychopathischen Zuständen vielleicht nicht
unwichtige Sehstörung zeigte.
Es handelt sich um einen 38jährigen Flösser, der am 17. VI. 1906 in
die Klinik aufgenommen wurde.
Der Patient soll früher immer gesund gewesen sein; nichts von Here-
dität. Am 7. VI. 1906 wurde er bei der Arbeit von einem Holzstück in die
linke Nackengegend und in die Magengrube getroffen, ohne dass äusserlich
eine Wunde entstanden wäre; er taumelte einige Sekunden, fiel bewusstlos
zu Boden und kam erst nach einigen Stunden zu sich. Klagte dann über
starke Schmerzen im Kopfe, versuchte zwar noch zu arbeiten, konnte aber
nicht mehr, weil er schwindlig war und sich schwach fühlte. Er war seither
sehr schläfrig, ärgerlich, sprach wenig und schlief nur auf Schlafmittel.
Ueber sein sonstiges Verhalten liegen nur spärliche Angaben vor, aus denen
aber hervorgeht, dass er zeitweise halluzinierte; er sah Engel an der Wand
tanzen, Menschen im Zimmer herumgehen und dort etwas suchen, nahm auch
eine Hacke gegen sie; einmal äusserte er, dass schon eingespannt sei, um
ihn zum Landesherrn zu fahren.
Der Mann wird vollkommen ruhig und orientiert eingebracht, gibt
ganz richtige und prompte Angaben über seinen Unfall. Seit dem Unfalle
atte er nicht mehr seine eigenen Gedanken, es stellten sich ihm eigentümliche
Gestalten vor, ein grosser Kerl wollte mit ihm raufen, er sah gesattelte
Reitpferde vorbeireiten, aus dem einen Menschen wurden zwei, dann sah er
Engel, Bilder, Hunde, Zwerge und ganz merkwürdige Tiere, die ihu beissen
wollten, dabei machte er die Aeusserung, dass er alles merkwürdig verzerrt
gesehen habe, so wie ihm auch jetzt noch meist alles schief vorkomme; er
klagt jetzt nur über den Schmerz im Nacken, der sich gegen den linken
Scheitel zieht und bis in das linke Auge dringt.
Status somaticus:
Leichte Anämie, schlechter Ernährungszustand; die Zunge zeigt leichten,
die ausgespreizten Finger stärkeren feinschlägigen Tremor; Konjunktival-,
Corneal- und Rachenreflex beinahe ganz fehlend, Gesichtsfeld nur wenig
eingeschränkt; sonst nichts Pathologisches, keine Sensibilitätsstörung. Schon
bei der ersten Untersuchung der Augenbewegung fällt die Angabe des Kranken
auf, dass er bei Linksblicken den vorgeführten Gegenstand sehr gross sehe.
19. VI. Patient verhält sich hier vollkommen ruhig, zeigt einen etwas
erstaunt-mürrischen Ausdruck, fühlt sich ganz wohl, nur wenn er einschlafe,
sehe er Eisenbahnen fahren und einen Nebel' auf- und absteigen. Eine jetzt
vorgenommene genauere Untersuchung des Sehvermögens ergibt folgenden
merkwürdigen Befund:
Werden ihm zwei gleich lange Stäbe vorgehalten, so sieht er den links
liegenden (vom Pat. aus gerechnet) durchwegs grösser, höher und dicker;
werden ihm drei gleich lange Stäbe nebeneinander ehalten, sieht er den
nach links liegenden am grössten, den nach rechts fie enden am kleinsten
und den in der Mitte liegenden mittelgross. Werden ihm einzelne Münzen
vorgelegt, erkennt er sie richtig, wenn ihm aber zwei nebeneinander gezeigt
werden, ist er unsicher, weil ihm die links liegende durchwegs wesentlic
grösser vorkommt als die rechts liegende; wird ihm z. B. ein Gulden vor-
gelegt und links etwa in einer Entfernung von 2 cm davon eine Krone, so
sieht er beide gleich gross, wie einen Gulden; wird ihm ein Fünfkronenstäck
vorgelegt und in einer Entfernung von etwa 10 um links davon eine Krone,
so sieht er beide gleich gross — und hält sie für 2 Fünfkronenstücke, Wenn
und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie, 13
ihm gleichgrosse Zahlen vorgeschrieben werden, so sieht er die Zahlenreihe
nach links hin immer grösser werdend. Einen horizontal liegenden Stab
sieht er nach links dicker; ein 8 Meter langer Stab von 2], cm Dicke er-
scheint ihm gegen das linke Ende hin oberarmdick. Dieselbe Angabe macht
Patient auch bei Schliessen des rechten Auges. Bei linksseitigem Augen-
schluss und offenem rechten Auge sieht er dagegen ganz normal. enn
man ihn einen Gegenstand abwechselnd mit dem finken und rechten Auge
betrachten lässt, so ist er verwundert, wie der Gegenstand seine Grösse
wechselt, mit dem linken Auge betrachtet ist er wesentlich grösser, beinahe
zweimal so gross, wie mit dem rechten gesehen. Er wird aufgefordert zu
schreiben; mit dem rechten zeigt er normal grosse Schrift, mit dem linken
Auge sehr starke Mikrographie (Fig. 10). Vorgesetzte Brillen ändern das
Sehen derart, dass zwar alles um eine Spur grösser oder kleiner gesehen
wird, aber die Differenz in der Grössenwabrnehmung der einzelnen Augen
bleibt im gleichen.
na [oill
Fig. 10.
a) Schrift mit dem linken Auge, b) mit dem rechten
im 2, Falle.
Die Tiefenlokalisation mit dem rechten Auge ist ganz richtig, mit
beiden Augen und dem linken Auge ist sie nicht immer gesetzmässig, meistens
aber lokalisiert er die links liegenden Gegenstände näher; man muss also
zwei Gegenstände, die ihm gleich weit erscheinen sollen, derart vor ihm auf-
stellen, dass der links liegende etwas entfernter vom Patienten steht als der
rechts liegende.
Eine genaue Untersuchung der Augen ergibt normale Sehschärfe bei
Emmetropie, ganz normale Akkommodationsbreite, bei gleichem Befund an
beiden Augen.
Untersuchung mittelst des Stereoskops,
Patient sieht ganz deutlich und richtig stereoskopisch, dabei aber auch
alles links Liegende grösser. Werden ihm zweiidentische Bilderoder Zeichnungen
a
d 4
À
b
J [=]
f
>
4
Fig. 11.
14 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik
in das Stereoskop eingelegt, so sieht er sie flächenhaft, und auch da ist
immer alles links Liegende grösser. Wenn man ihm nun, ohne dass er es
merkt, in das Stereoskop bald nur vors linke und bald nur vors rechte Auge
ein Bild bringt, so sieht er auch mit dem rechten Auge alles, was links sich
befindet, grösser. Ein ähnliches Resultat ergeben sich gegenseitig ergänzende
Teilbilder, wie Fig. Ila. Ein normaler Mensch sieht dieselben im Stereoskop,
wie b zeigt, während Patient dieselben so, wie c es zeigt, sah, indem ihm der
Strich IIl wesentlich grösser schien als Strich II, trotzdem er den ersteren
tatsächlich nur mit dem rechten Auge wahrnehmen konnte.
19. VL Am Nachmittag verschwindet ziemlich plötzlich die Seh-
störung, und erfreut meldet Pat., er sei im Garten spazieren gegangen und
hätte selbst seine Sehstörung geprüft; er betrachtete zwei Zündhölzchen, und
immer wieder erschien ihm das linke grösser; ärgerlich warf er es weg;
nach einer halben Stunde machte er dieselbe Probe, und die Sehstörung war
verschwunden; er freut sich, dass er gesund ist und bald nach Hause kommen
kann, um wieder seine Arbeit aufzunehmen.
Pat. hat volle Erinnerung, dass und wie er die Umgebung verändert
sah; er schildert, dass er seit dem Trauma alles ganz merkwärdig und' ver-
zerrt, dem früheren Aussehen gauz unähnlich sah; manchmal kam ihm vor,
dass alles schief sei, so dass er diese Empfindung durch Neigen des Kopfes
korrigieren wollte, was ihm aber nie gelungen ist, eher wurde er davon noch
mehr schwindlig.
Er wusste sich auch ganz gut zu erinnern, wie sein Sehvermögen
untersucht wurde; wenn man ihm die zwei Stäbe vorzeigte, sah er immer den
linken grösser als den rechten; dabei standen die unteren Pole gleich hoch
auf einer Horizontalen, nur die oberen Pole standen verschieden hoch; er sah
also die Stäbe nicht wie in Fig. Ild, sondern wie in Fig. lle Aehnlich
war es auch, wenn er ein Viereck sah; das sah aus wie ein Trapez Fig. 11f.;
in ähnlicher Weise sah er die Häuser; dadurch, dass der Boden horizontal
verlief und die linke Seite höher war, sah er das Haus wie Fig. lig; auch
alle sonstigen Details desselben waren in gleicher Weise verändert.
Ganz eigenartig sah er die Münzen. Pat., der ein ganz ungebildeter;
nur mässig intelligenter Holzarbeiter vom Lande ist, der nur buchstabierend
lesen und sich nur mit Mühe unterschreiben kann, konnte das nicht recht
schildern, und zeichnen konnte er es ebenfalls nicht; er schilderte es derart,
dass die Münze links grösser war als rechts und dass sie gar nicht rund,
sondern beinahe wie eckig aussah. Zeichnete man ihm einzelne Möglich-
keiten, wie er die Münze gesehen haben mochte, vor, so bezeichnete er die
Form der Fig. 11h als die richtige, von ihm gesehene, indem die linke Hälfte
höher war und die rechte niedriger, aber mit dem unteren Pol gleich hoch
wie die linke stand.
Besonders bizarr seien ihm aber die Gesichter und die menschlichen
Gestalten überhaupt vorgekommen. Er selbst konnte eine derartige Form
nicht aufzeichnen. Bei seinen Zeichenversuchen zeichnete er immer nur das
linke Auge höher und grösser, die rechte Seite der Stirn wie einen Buckel
auf; als ihm dann wieder einzelne Möglichkeiten der Verzerrung vor-
gezeichnet wurden, erkannte er nach mehrfachen Versuchen endlich, so-
zusagen mit einem Ausdruck von Freude, die Fig. lli als die richtige; und
ähnlıch war es mit der ganzen Gestalt, die rechte Schulter, der rechte Arm,
alles war rechts höher und grösser. Wie schon in der Krankengeschichte
erwähnt worden ist, hat Pat. Palluziniert, und darüber gab er nun die ganz
prompten Angaben, dass auch die Halluzinationen genau so wie die
wirklichen Dinge verzerrt waren and dadurch besonders schreck-
lich aussahen.
22. VI. Seit gestern totale retrograde und anterograde Amnesie; an
den Unfall selbst und an eine nicht genau bestimmbare Zeit von einigen
Tagen vor dem Unfall weiss Pat. sich jetzt nicht zu erinnern, ebenso auch
nicht auf die ganze Zeit seiner Erkrankung bis zum gestrigen Tage; er kann
sich auch gar nicht erinnern, auf welche Weise er hergekommen; gestern
früh sah er sich plötzlich auf der Klinik; er weiss auch nichts von dem von
und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. 15
ihm selbst erzählten tatsächlichen Ableben seines Bruders, der zwei Tage vor
seiner Einlieferung begraben worden.
Auch somatisch hatte insofern eine Aenderung stattgefunden, als
Corneal- und Rachenreflexe viel lebhafter sich darstellten.
Der Krankheitsfall bietet in vieler Hinsicht Interessantes:
In erster Linie ist es der Krankheitsverlauf als solcher; ein Mann
erhielt ein Trauma, wird bewusstlos, klagt über Kopfschmerzen,
zeigt eine eigenartige Verstimmung und Halluzinationen neben
einer ganz eigenartigen Sehstörung; die Halluzinationen ver-
schwinden und der Mann macht mit Ausnahme seiner Sehstörung
einen sonst nicht psychopathischen Eindruck; am nächsten Tage
ist auch die Sehstörung verschwunden, er weiss sich jedoch an
sie und an alles sonstige des Zustandes zu erinnern; dabei macht er
auch auf die ihn besuchenden Verwandten einen vollkommen nor-
malen Eindruck; am nächsten Tage ist er für das Trauma und die
ganze Zeit mit Einschluss des vorigen Tages, wo er schon ganz
normal zu sein schien, vollkommen amnestisch. Es kommt zwar
bei Delirium tremens — und ein wenig Alkoholiker war der Mann
eben auch — auch eine mehr oder weniger vollständige Amnesie
vor, aber ein derartiges Verhalten, dass jemand nach einem De-
llirium eine Zeitlang psychisch scheinbar vollkommen normal ist
und plötzlich mit Inbegriff dieses normal scheinenden Zustandes
für jene pathologischen Zustände vollkommen amnestisch würde,
ist vom Verlauf des Delirium tremens nicht bekannt; eine derartige
Erkrankung lässt sich nur unter die Dämmerzustände einreihen,
Der Umstand, dass Patient nie an Epilepsie gelitten, das trau-
matische Moment und dessen psychische Verwertung, sowie das
Verhalten der Reflexe sprechen vollkommen für Hysterie. Und
last not least kommt die eigenartige Sehstörung selbst in Be-
tracht, deren Eigenartigkeit wir noch weiter zu besprechen haben
werden und die in ihrer Art nur auf hysterischem Boden ent-
stehen kann. Wenn wir vom Patienten zuerst hören würden, dass
er mit dem linken Auge beinahe doppelt so gross sieht wie mit
dem rechten, und wenn wir sehen, dass er in entsprechender
Weise mit dem einen Auge beinahe um die Hälfte kleiner schreibt
als mit dem andern, so wäre es klar, dass es sich hier um einen
Fall von einseitiger Makropsie handle, die vielleicht ähnlichen
Gesetzen zu folgen hätte, wie im vorigen Falle. Wenn wir aber
hören, dass diese Makropsie sich nicht auf das ganze Gesichts-
feld bezieht, sondern nur auf alles, was im linken Gesichtsfeld
sich befindet, so ist man vor die Frage gestellt, ob es sich denn
nicht um eine Makropsie einer Gesichtshälfte handelt. Aber die
Untersuchung am Stereoskop beweist auch diese Annahme als
nicht zutreffend. Denn es zeigt sich, dass Patient nicht nur dann
die linke Hälfte immer grösser sieht, wenn das linke Auge bei
dem Sehakt mitbeteiligt ist, sondern auch dann, wenn dasselbe
ausgeschaltet ist, Patient aber von der Ausschaltung desselben
nichts weiss und mit demselben noch zu sehen glaubt. Dieser
Umstand schliesst eine jede physiologisch-anatomische Grundlage
16 Fischer, Ein weiterer Beitrag zur Klinik
aus. Es ist endlich noch die Frage der Simulation zu erwägen,
die ja bekanntlich auch in ähnlicher Weise, wie Patient unter-
sucht worden ist, mit dem Stereoskop, entlarvt wird. Dass
Simulation hier nicht vorliegt, braucht wohl keines langen Be-
weises. Die Sehstörung ist von einer so ganz sonderbaren und,
soviel mir bekannt, bis jetzt ganz unbekannten Art!), dass es
einer ganz sorgfältigen und planmässigen Untersuchung bedurfte,
bevor man dieselbe sicherstellen konnte, und wenn man bedenkt,
dass der Mann ein ganz gewöhnlicher, vielleicht noch unter dem
gewohnten Intelligenzniveau und sicher unter dem auch hierzu-
lande gewohnten Bildungsniveau stand, dass bei ihm keinerlei
Ursache für eine Simulation vorhanden war, dass er nie von einem
Rentenanspruch, sondern nur von der Krankenunterstützung sprach,
so wird schon dadurch die Simulation nichts weniger als wahr-
scheinlich, und wenn man in Betracht zieht, dass die Sehstörung
zu einer Zeit aufgetreten ist, als Patient nach der klinischen Be-
obachtung unbedingt in einem hysterischen Dämmerzustand sich
befand, erscheint das Pathologische derselben erwiesen. Wenn
wir das Schema Fig. 9 betrachten, müssen wir eine Erkrankung
des peripheren Sehapparates und der Projektionszentren aus-
schliessen. Es bleibt also nur das transkortikale Zentrum, in das
wir die Sehstörung verlegen können: sie muss also eine rein
psychische sein. An der Hand des Schemas mussten wir schliessen,
dass in einem derartigen Fall, wenn es zu Halluzinationen kommt,
dieselben ebenfalls in gleicher Art dysmegalopisch sein müssten;
dies stimmt nun in sehr schöner Weise mit den Angaben des
Patienten zusammen, der seine Halluzinationen in gleicher Weise
verändert sah, wie die wirklichen Objekte’).
Die Beobachtung gestattet aber auch noch weiter, auf die
Genese der dysmegalopischen Störungen einzugehen. Dafür gibt
uns die Aeusserung des Patienten einen Anhaltspunkt, indem er
immer hervorhob, dass er links in den Nacken einen Schlag er-
hielt, er von da einen ziehenden und zuckenden Schmerz in der
linken Kopthälfte aufsteigen fühlte und dass er dann bis in das
linke Auge kam, wo es sich als ein dumpfes Stechen lokalisierte;
und seitdem habe er so eigenartig alles links grösser gesehen.
1) S. den Nachtrag.
1) Irgend eine ähnliche Beobachtung konnte ich in der mir zugäng-
lichen Literatur nicht auffinden, Man findet zwar von vielen Geisteskranken
vermerkt, dass sie während halluzinatorischer Verwirrtheitszustände die Um-
ebung merkwürdig verändert sehen, aber von genaueren Untersuchungen
darüber wird nichts berichtet. Als interessant sei zu bemerken, dass Uth-
hoff in den „Beiträgen zu den Gesichtstäuschungen bei Erkrankurgen des
Sehorgans“ (Monatsschr. f. Psychol. u. Neurol, Bd. V) einen Fall von apo-
plektiform entstandener Hemianopsie (Fall 8) beschreibt, wo Patient anfalls-
weise eigenartige Sehstörungen hatte, die Gesichter waren „fratzenhaft, und
es sehe aus, als ob das Gesicht herumspringt und hopst“, so dass „es komisch
sei, dass Patientin während der Anfälle nicht weiss, wie die Umgebung aus-
sieht“, Aber auch diese Beobachtung entbehrt einer genaueren Analyse der.
so eigenartigen und der unseren nicht unähnlichen Sehstörung; auch in
anderen klinisch ähnlichen Fällen liegen ähnliche Angaben der Kranken vor,
und Pathogenese der hysterischen Dysmegalopsie. 17
Es ist nun gerade von einer ganzen Reihe hysterischer Störungen
bekannt, dass sie sehr gerne einseitig auftreten; nach irgend einer,
häufig ganz unbedeutenden Verletzung einer Körperseite entstehen
ausgesprochene Hemiplegien oder Hemianästlesien. Für diese
fällt eine Erklärung nicht schwer; nachdem man gelernt hat, dass
die Hysterie ihre somatischen Störungen durch ganze Reihen von
Schlussfolgerungen, die zum grösseren oder kleineren Teil dem
Unterbewustsein entstammen, hervorruft, war es leicht, Sensi-
bilitäts- und Motilitätsstörungen nach gleichseitigen Traumen auf
dieselbe Basis zu stellen; denn der Gedanke, dass eine Schäd-
lichkeit, die eine Körperseite trifft, diese auch in irgend einer
Weise schädigen werde, ist ziemlich naheliegend und leicht für
einen Hysterischen zu verarbeiten. Bei der vorliegenden eigen-
artigen Störung der Grössenwahrnehmung stimmt ja zwar die
Verbreitung derselben auf die geschilderte Seite mit dem oben
erwähnten überein, aber es ist schwer, sich vorzustellen, dass diese
ganz eigenartige, dem menschlichen Denken und Empfinden so
ungewohnte Veränderung der Objekte auf einem logischen Schluss
basieren könnte, um rein psychisch bedingt angesehen zu werden.
Wir köunen wohl nicht anders annehmen, als dass die Ursache
dieser sicher transkortikalen Störung nicht in einer rein psychisch
bedingten Veränderung des zur optischen Apperzeption fahrenden
materiellen Substrates liegen kann, sondern in einer mehr
mechanisch-reflektorischen Schädigung eines physiologisch zu-
sammengehörenden Mechanismus dieses „Zentrums“, die erst in
Verbindung mit psychischen Faktoren das beschriebene Resultat
herbeiführt.
Die hier niedergelegten Beobachtungen und Schlüsse führen
zu folgendem Resume:
Wir können unter den nervösen Dysmegnlopsien [im Gegen-
satz zu der muskulären Dysmegalopsie!)] zwei Arten unterscheiden.
Die erste, deren Ursache in einer Störung des entsprechenden
Projektionszentrums zu suchen ist, folgt vollkommen den ana-
tomisch-physiologischen Gesetzen und ist per analogiam mit dem
Wernickeschen Schema als kortikale Dysmegalopsie zu
bezeichnen; die zweite, deren Ursache in psychischen, trans-
kortikalen Störungen liegt, die dem anatomisch-physiologischen
Gesetz nicht entsprechen muss und für welche dıe Bezeichnung
transkortikale Dysmegalopsie vorzuschlagen wäre In
beiden Arten von Dysmegalopsie kann die Wahr-
nehmung der Sehdinge in gleicher Weise gestört sein,
sie unterscheiden sich nur dadurch, dass bei der korti-
kalen Dysmegalopsie vorkommende Halluzinationen
nicht dysmegalopisch, bei der transkortikalen aber in
gleicher Weise dysmegalopisch erscheinen und dass
weiter die kortikale Dysmegalopsie anatomisch-physio-
logischen Gesetzen vollkommen entsprechen muss, wo-
1) Fischer, L e, S. 305.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hott ı. 2
18 Fischer, Ein weiterer Beitrag sur Klinik etc.
gegen sich die transkortikale nur an psychische Ge-
setze hält.
Man könnte noch versucht sein, auf eine ganze Reihe von
Einzelheiten dieser so ausserordentlich lehrreichen zwei Fälle ein-
zugehen, so z. B. auf das interessante oszillierende Bewusstsein,
das für die Frage der Bewusstseinszustände manches Lehrreiche
bietet, sowie das Verhalten der Halluzinationen, das für die Lehre
der Halluzinationen überhaupt, einem auf noch auch so wenig
&esichertem Boden stehenden Kapitel der allgemeinen Psycho-
pathologie ebenfalls nicht ohne Bedeutung ist; aber dies würde
en Rahmen dieser Mitteilung überschreiten, um so mehr, als später
an anderer Stelle darauf eingegangen werden soll. Nur auf eines
möchte ich kurz hindeuten, was vielleicht für die klinische
Psychiatrie von Wert sein könnte. Der erste Fall ist zur Zeit
der Alienation symptomatisch genommen eine Verwirrtheit, die
2um grössten Teil ihre Ursache in der Dysmegalopsie hatte; auch
der zweite Fall war in gewisser Hinsicht eine Art von Verwirrt-
heit, basiert auf einer Kombination von halluzinatorischer und
digenartiger dysmegalopischer Desorientierung. Nun gibt es in
der Psychiatrie eine ganze Reihe von Verwirrtheits-
Zuständen, bei deren Klassifizierung wir nicht weiter
áls über die einfach äusserliche Symptomatologie hinaus-
ommen. Vielleicht wäre es möglich, unter diesen auch
analoge Unterschiede wie bei den geschilderten Fällen
aufzufinden und dadurch einer weiteren Zergliederung
und einem tieferen Verständnis derselben näher zu treten.
Nachtrag,
Nachdem das Vorstehende niedergeschrieben war, wurde ich
von Herrn Prof. Pick auf auch ihm bis dahin entgangene Be-
obachtungen P. Janets aufmerksam gemacht, die dem zweiten
hier besprochenen Falle ziemlich nahe kommen und auf die ich
deshalb noch nachträglich eingehen will.
Janet schildert in dem Werke „Nevroses et Idees fixes“
(1898) auf Seite 278 des ersten Bandes bei zwei Hysterischen
eine Störung, die er Hemimakropsie nennt. Die erste Patientin
sah zeitweise alles Rechtsliegende grösser oder kleiner, und zwar,
wie Janet schreibt: „Ce pest plus objet tout entier qui diminue
ou grandit, c’est un seul cöte, toujours le droit, qui devient tout
petit ou qui grandit d&ömesurement pendant que lautre paraît rester
normal. Le fait se produit spontanément, les deux yeux ouverts,
il persiste, quand on ferme l’ail droit et qu'elle regarde avec
Paıl gauche seul. C’est donc, si je puis ainsi dire, de l’hemi-
micropsie et de l’hdmi-macropsie monoculaires. Que se passe-t-il
si on ferme l'œil gauche et si on force la malade à regarder
avec l’ail droit seul.“ Die zweite Beobachtung ist von dieser
insofern different, als es sich um eine ungleichmässige Makropsie
handelte, indem alles rechts im Gesichtsfeld Liegende stärker ver-
Gregor, Beiträge zur Kenntnis ete.] 19
grössert gesehen wurde als links und dabei ausserdem immer
nach rechts zu fliehen schien. Ohne auf eine Besprechung des
von Janet gegebenen Erklärungsversuches einzugehen, glaube ich
der Ansicht Ausdruck geben zu sollen, dass die hier gemachten
Feststellungen auch für die Fälle Janets zutreffen.
Der erste hier zitierte Fall Janets ist mit unserem zweiten
Falle beinahe identisch. Diese Wiederholung eines so seltenen
und ungewöhnlichen Symptomenkomplexes gibt einen weiteren
Beweis für die schon oben geäusserte Meinung, dass diese Seh-
störung erstens nicht simuliert sein kann, und zweitens, dass maa
als deren Ursache nur eine Schädigung bestimmter, den psycho-
physiologischen Prozessen dienender materieller Substrate an-
sehen kann.
Aus der psychiatrisch-neurologischen Klinik des Geheimen Rates Flechsig
zu Leipzig.
Beiträge zur Kenntnis der Gedächtnisstörung bei der
Korsakoffschen Psychose.
Von
Dr. ADALBERT GREGOR,
I. Assistenzarzt.
Einleitung.
Bei Untersuchung!) der Auffassungsfähigkeit von Patienten
mit Korsakoffscher Psychose ergaben sich uns Hinweise auf
länger dauernde Nachwirkung früherer Eindrücke als nach bie-
heriger Erfahrung zu erwarten war. Ein eingehenderes Studium
dieser Nachwirkung lag umso näher, als unsere Kenntnisse in
. dieser Richtung noch ziemlich lückenhafte sind.
Dass die Merkfähigkeitsdefekte bei derartigen Patienten keine
vollständigen seien, lehrte auch die klinische Beobachtung. So
stellte schon Korsakoff?) fest, dass seinen Kranken gewisse Ein-
drücke durch die Sinne unbewusst haften blieben. Bonhoeffer?)
fand Reste von Merkfähigkeit auch bei scheinbar totalem Verluste
derselben für Gegenstände von besonderem Interesse und be-
1) Gregor und Roemer, Zur Kenntnis der Auffassung einfacher optischer
Sinneseindrücke bei alkoholischen Geistesstörungen, insbesondere bei der
Korsakoffschen Psychose. Neurolog. Zentralbl. 1906. No. 8.
3) Tb. Tiling, Ueber die bei der alkoholischen Neuritis multiplex
beobachteten Geistesatörungen. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatr. Bd. 46.
S. 238—257. 1890.
3) K. Bonhoefrer, Die akuten Geisteskrunkheiten der Gewohnheits-
trinker. Jena 1901.
9e
20 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
obachtete, dass scheinbar vergessene Bilder zufüllig bei Prüfung
mit andern Bildern wieder auftauchten. Die nähere Erforschung
dieser Reste der Merkfähigkeit ist von der experimentellen Methode
zu erhoffen, wenn auch die Bemerkung Finzis'), dass eine Unter-
suchung mit exakter Methode bei Korsak offschen Patienten
kaum durchführbar sei, nicht besonders verheissend klingt. Aehnlich
lautet das Urteil von Boldt?) und Goldstein?) bezüglich der
Verwendbarkeit exakter Methoden zum Studium des Gedächtnisses
von Geisteskranken überhaupt. Die Ausbeute mit der gewiss sehr
einfachen Untersuchungsmethode von Krauss*) war ziemlich gering
und vermehrte kaum das Wissen aus der klinischen Erfahrung.
Ueberdies haftet seiner Methode, bei der nach Exposition der
Reizworte die Versuchsperson sich selbst überlassen bleibt, mit
dem Auftrage, das Wahrgenommene nach Tunlichkeit zu wieder-
holen, ebenso wie dem Verfahren Finzis, nach welchem die
Versuchsperson zwischen Auftauchen des Reizes und Wiedergabe
desselben starr und unbeweglich dasitzt und die Augen dauernd
auf den Punkt, wo der Reiz gesehen wurde, richtet, der Fehler
an, dass sich auf diese Weise die tatsächlichen Bewusstseins-
prozesse zwischen Auffassung des Reizes und der Reproduktion
der Kontrolle des Versuchsleiters entziehen. Für die Ausfüllung
dieser Pause muss aber von ihm gesorgt werden, da auf die Mit-
wirkung psychopathischer Individuen beim Experimente nicht ge-
rechnet werden darf.
Tieferen Einblick in die Psychopathologie der Korsakoff-
schen Psychose gewährte die Untersuchung von Brodmann’).
Bei dem von ihm eingehender untersuchten Falle handelte
es sich um das Höhestadium der Korsakoffschen Psychose,
das während der Untersuchung allmählich in Genesung überging.
Eine Uebertragung der von ihm gewonnenen Ergebnisse auf das
(chronische) Endstadium der Korsakoffschen Psychose, dem
die von mir untersuchten Fälle angehören, ist schon deshalb un-
tunlich, weil letzteres sich auch schon klinisch vom Höhestadıum
unterscheidet. Zudem handelt es sich hier um wesentlich andere
Interessen und damit um eine andere Fragestellung. Wollen
wir z. B. das Gedächtnis irgend eines Individuums studieren, so
liegt wohl die Frage nach seiner Leistungsfähigkeit nahe, also
nach der Festigkeit einmal geschaftener Assoziationen, d. h. nach der
Stärke der Dispositionen ein einmal Erlerntes wiederzu reproduzieren.
1) J. Finzi, Zur Untersuchung der Auffussungsfähigkeit und Merk-
fähigkeit. Psycholog. Arbeiten. Bd. 3. S. 289—8384 1901.
3) K. Boldt, Studien über Merkdefekte. Monatsschr. f. Psychiatr.
Bd. 17. S. 97—115. 1905.
3) K. Goldstein, Merkfähigkeit, Gedächtnis und Assoziation. Zeitschr.
f. Psycholog. Bd. 41. S. 38-47, 117—144. 1906.
9 R. Krauss, Ueber Auffassungs- und Merkversuche bei einem Falle
von polyneuritischer Psychose. Psycholog. Arbeiten Bd. 4. S. 523—537. 1904.
5 K.Brodmann, Experimenteller und klinischer Beitrag zur Psycho-
pathologie der polyneuritischen Psychose. Journal f. Psychol. und Neurol.
Bd. 1. S. 225—246. 1902. Bd. 3. S. 1—48. 1904.
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 21
Ein exaktes Studium dieser Frage erscheint von vornherein nur
dann möglich, wenn die Reproduktionsfähigkeit des Individuums
für die ın Frage kommende Zeit als annähernd konstant an-
gesehen werden kann. Dies ist nun bei Brodmanns Kranken,
der während der Untersuchung genas, nur für eine verhältnis-
mässig sehr kurze Zeit möglich. Brodmann konnte bei seinen
Patienten Erinnerungsspuren experimentell nur für 1, 1!/, und
24 Stunden nachweisen, gewann aber nach der klinischen Unter-
suchung den Eindruck, dass sie über eine viel längere Zeit zu
verfolgen wären. Brodmann dürfte hierbei wohl die Be-
obachtung im Auge gehabt haben, dass sein Patient sich nach
Monaten an gewisse Ereignisse aus dem Höhestadium seiner
Krankheit erinnerte. Aehnliche Beobachtungen zwangen schon
früher, bei derartigen Kranken Erinnerungsinseln anzunehmen,
Inwieweit eine solche Annahme berechtigt ist, ob bloss einzelne,
affektbetonte Eindrücke stärker haften bleiben oder auch andere,
aufmerksam verfolgte Reize dauernde Dispositionen zur Re-
prod uktion hinterlassen, kann nur die experimentelle Untersuchung
ehren. Eine solche ist natürlich auch bei einem veränderlichen
Zustande des Gedächtnisses nicht ganz ausgeschlossen, wohl aber
sehr erschwert, da, wie es auch in meinen Versuchen zur Aus-
schaltung des Uebungsfaktors sich nötig erwies, der Massstab
für die Beurteilung immer wieder gewounen werden muss.
Was die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses Korsakoff-
scher Patienten anlangt, so sind wir aus klinischer und experi-
menteller Erfahrung gut über die negative Seite der Frage, das
rasche Vergessen von Eindrücken, orientiert. Für die positiven
Leistungen des Gedächtnisses bei neuerworbenen : Eindrücken
fehlen aber noch genauere Beobachtungen. Wenn uns M. am
gleichen Tage, an dem einwandsfrei Erinnerungsspuren von Ein-
drücken nachgewiesen werden konnten, die er vor 25 Tagen
erlebte, versichert, dass er den ganzen Vormittag im Bette ge-
legen, während er erst vor zwei Stunden aus dem Garten zurück-
kehrte, so ist aus diesem Beispiel ohne weiteres zu entnehmen,
dass man bei gewöhnlicher Beobachtung leicht zu einer Unter-
schätzung des Gedächtnisses Korsakoffscher Patienten gelangen
kann. Der Weg, die Gedächtnisleistungen auf Grund einmal
gegebener Reize zu prüfen, erscheint wegen der Flüchtigkeit der
einmaligen Eindrücke ungangbar. Wollen wir einen Massstab
für die Beurteilung der Veränderung des Bewusstseinsinhaltes ın
Abhängigkeit von der Zeit gewinnen, dann müssen wir den zu
prüfenden Eindrücken gleich von vornherein eine grössere Stärke
verleihen, damit eine sichere Reproduktion gelinge.
Den Ausgangspunkt meiner Untersuchung bildete die Frage
nach der Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses Korsakoffscher
Patienten, nämlich wie lange bei ihnen einmal erworbene Dis-
ositionen zur Reproduktion nachdauern und ob, sowie in welchem
Grade ihr Gedächtnis übungsfähig sei; hiebei ergab sich Gelegen-
heit, für die vorliegende Geistesstörung zu gewissen Fragen Stellung
22 Gregor, Reiträge zur Kenntnis
zu nehmen, die bisher fast ausschliesslich für den Normalen er-
örtert wurden: Bildung rückläufiger Assoziationen, Oekonomie
des Lernens, Wiedererkennen früherer Eindrücke.
Zur Untersuchung wurden zwei typische Fälle von Korsa-
koffscher Psychose mit alkoholischer Aetiologie herangezogen.
Dadurch sollte von vornherein der Schwierigkeit, welche bei Ver-
suchen an Geisteskranken stets zu gewärtigen ist, begegnet werden,
nämlich, dass mit Rücksicht auf die Ausdauer der Versuchs-
personen die Versuche nicht in wünschenswerter Weise gehäuft
werden können. Aus diesem Grunde erschien es auch empfehlens-
wert, die Versuchsanordnung derart zu treffen, dass selbst kürzere
Versuchsreihen eindeutige Resultate liefern konnten. Natürlich
ist hierin die Konsequenz enthalten, dass wir mitunter auf die
Feststellung feinerer Differenzen verzichten müssen. Zur Ver-
deutlichung des eben Gesagten diene ein Beispiel aus den fol-
genden Versuchen: Eine naheliegende Ueberlegung liess vermuten,
dass die durch wiederholte Lesungen geschaffenen Dispositionen
zur Reproduktion zusammenhängender Wortreihen dauerhafter
seien, als jene für unzusammenhängende. Der nächste, beim
Normalen jedeufalls einzuschlagende Weg wäre es gewesen, mehrere
Reihen beider Gruppen, welche zur Einprägung gleich vieler
Lesungen bedurften, lernen, nach einem gewissen Intervall
beide wiedererlernen zu lassen und die Ersparnisse zu ver-
gleichen. Diesem Verfahren erwuchs aber bei meinen Versuchs-
personen die Schwierigkeit, dass Gedichtsstrophen von ihnen
verhältnismässig sehr unregelmässig gelernt wurden und eine
grössere Häufung der Versuche hier aus dem Grunde zu ver-
meiden war, weil die Patienten gerade beim Erlernen zusammen-
hängender Worte den Eindruck schlecht zu lernen gewannen und
bald missmutig wurden. Ich zog es darum vor, die Zeit zu ver-
gleichen, innerhalb welcher für beide Arten von Erlernungsmaterial
noch eine Ersparnis zu erzielen war, verzichtete aber damit
darauf, einen genaueren, zahlenmässigen Ausdruck für die fest-
zustellende Differenz zu gewinnen. Ebenso konnte das Urteil,
ob nach einseitiger Uebung durch Lernen unzusammenhängender
Wortreihen eine Steigerung der Leistungsfähigkeit für das Lernen
von Gedichtsstrophen erzielt wurde, nicht durch den Vergleich
der zur Erlernung solcher erforderlicher Wiederholungen gefällt
werden, sondern nach der Zahl der Sitzungen, nach welchen ein
einmaliges freies Hersagen einer Strophe ın beiden Perioden
gelang.
Da ein Vergleich der Befunde im akuten und chronischen
Stadium der Korsakoffschen Psychose gewiss von grösstem
Interesse ist, so werde ich im folgenden, soweit sich die Frage-
stellung berührt, auf die Ergebnisse Brodmanns zurückkommen.
Allerdings wird ein Vergleich, wie schon Lippmann betont,!)
dadurch besonders erschwert, dass Brodmann die einzuprägenden
1) Lippmann, Zeitschr. f. Psycholog. Bd. XL. S. 116—118. 1906.
der Gedächtnisstörang bei der Korsakoffschen Psychose. 28
Reihen seinen Versuchspersonen nicht, wie bisher bei Gredächtnis-
versuchen stets geübt, visuell vorführte, sondern sie ihnen vorlas.
Für pathologische Fälle bürgt dies Verfahren den schwerwiegenden
Nachteil, dass, wie Müller und Schumann!) hervorheben, eine
Reihe bloss gehörter Silben mit Aufmerksamkeit aufzunehmen,
mehr Anstrengung erfordert, als solche Silbenreihen mit Auf-
merksamkeit abzulesen; ferner weil bei Brodmanns Verfahren,
wie unten näher ausgeführt werden soll, dem Versuchsleiter die
Kontrolle der Aufmerksamkeitsspannung seiner Versuchspersonen
sehr erschwert ist. Es erscheint darum besonders wünschens-
wert, weitere Fälle akuter Korsakoffscher Geistesstörung in der
einfacheren Weise, wie siedieneuen Gedächtnisapparate gestatten, zu
untersuchen. Hierbei wäre auf das Gelingen von Versuchen mit
dem Ersparnisverfahren besonderer Wert zu legen, welches wie
meine Erfahrung an der Versuchsperson O. zeigte, mit Reihen
sinnvoller Worte auch bei weniger geeigneten Versuchspersonen
durchführbar ist.
Versuchspersonen.
Als Versuchspersonen dienten die Patienten M. und O., deren
Auffassungsfähigkeit ich in Gemeinschaft mit Roemer-Illenau
untersuchte. Zur näheren Orientierung werde ich hier die beiden
Fälle ın Kürze charakterisieren.
R. M., 51 Jahre alt, aufgenommen am 13. V. 1904. Besuchte mit gutem
Erfolge die Schule, erlernte Büchsenmacherei und Graveurhandwerk. 24 Jahre
alt, ging er ins Ausland, Oesterreich, Rumänien, Russland. In Russland trat
er bei einem Jugendfreunde in Stellung und verwaltete dessen Weingut,
daselbst sehr starker Potus. Nach 16 Jahren kehrte er nach Leipzig zurück,
arbeitete erst in der Werkstätte seines Bruders und mietete später (7 Monate
vor Aufnahme in die Klinik) ein Restaurant. In diese Zeit fällt seine Ver-
heiratung. 5—6 Monate vor Aufnahme in die Klinik wurde von der Umgebung
Abnahme seines Gedächtnisses bemerkt. In den letzten Tagen erschien er
zeitlich und örtlich unorientiert, taumelte beim Gehen, sah im Zimmer Vögel
und andere Tiere, eine ganze Schützengesellschaft, sah Stühle auf der Nase
seiner Frau tanzen. Auch Geliörshalluzinationen traten auf. Bei der Auf-
nahme glaubt sich M, bei seinem Freunde in der Krim zu befinden; Aerzte
werden als Bekannte von dort begrüsst. Am 14. V. gewinnt er vorüber-
gehend örtliche Orientierung, gibt an, verheiratet zu sein, erzäblt aber, noch
ständig bei seinem Bruder ım Geschäfte zu arbeiten. Am 15. V. glaubt er
sich wieder in Odessa, konfabuliert lebhaft, macht in einem Atem ganz
widersprechende Angaben; vergisst neue Eindrücke sehr rasch, glaubt sich
schon zum zweiten Male an der Klinik zu befinden. Vom 5. VII. festere
örtliche Orientierung. Die Dauer des Aufenthaltes in der Klinik wird auf
2—8 Wochen geschätzt. Oktober 1904 macht er oft widersprechende Angaben
bezüglich seiner Verheiratung. Später setzt sich das Urteil, ledig zu sein, fest.
Seit einem Jahre ist der Zustand des Pat. unverändert. Er ist örtlich
vollkommen orientiert, die Angaben über die Dauer seines Aufenthaltes sind
schwankend. Meist weigert er sich, oine bestimmte Zeit anzugeben. Bio-
dringlicher befragt, sagt er überlegend: „An das Weihnachtsfest erinnere ich
mich noch, da war ich wohl schon da.“ Den laufenden Monat kennt er in
1) G. E. Müller and F. Schumann, Experimentelle Beiträge zur
Untersuchung des Gedächtnisses. Zeitschr. f. Psychol. Bd. VI. S.81—1%0'
— . 1 94. i -= '
24 Gregor, Baiträge zur Kenntnis
der Regel nicht. Er ist fest überzeugt, sich schon das drittemal in der
Klinik zu befinden (batte in früherer Zeit mehrmals Ausgänge). Verheiratet
zu sein oder eine Restauration g-halten zu haben, stellt er entschieden in
Abrede. Seine Frau bezeichnet er als seine Braut, die nur, um leichter vor-
gelussen zu werden, sich als seine Frau ausgebe. Die Dauer der Gedächtnis-
prüfung schätzt er auf 14 Tage (9 Monate). Intelligenz erweist sich nicht
stärker beeinträchtigt, er erscheint in seinem Fache gut bewandert, er kann
z.B. die Weinbereitung in allen Einzelheiten beschreiben; russische Aus-
drücke sind ibm ziemlich geläufig. Keine Stimmungsanomalien. Es besteht
eine gewisse Stampfheit des Wesens und auffälliger Mangel an Spontaneität.
Konfubulation ist nur dann zu beobachten, wenn man ihu nach bestimmten
Vorfällen fragt; er gerät dann in Verlegenheit und macht seine Angaben
im Sinne des gewöhnlichen Verlaufes der Tageserlebnisse. Nach Einzelheiten
betragt, entschuldigt er sich immer wieder damit, dass er nicht genügend
aufmerksam gewesen sei, da er nicht erwartete, dass man ibn danach fragen
würde.
R. O., Brauer, 49 Jahre alt, aufvenommen am 9. IX. 1905. 1888 Trauma
capitis, Sturz vom Eisenbahnzuge; 1891—92 in Lyon als Brauer in Stellung;
starker Potas, täglich 4—6 ! Bier. Anfänglich steht Konfabulation im Vorder-
grande des Krankheitsbildes. Pat. weiss täglich von Ausgängen zu berichten,
ei denen er einkehrte und trank. Personen der Umgebung ‚werden als alte
Bekannte bezeichnet Völlige örtliche Orientierung bat Pat. bisher nicht
ewonnen. Er glaubt sich bald in Magdeburg, bald in Leipzig zu befinden.
indringlicher befragt, kommt er bloss darauf zurück „aus Halle sind wir
fortgefuabren*. Nach der Dauer seines Aufenthaltes an der Klinik befragt,
gab er anfänglich ganz stereotyp zur Antwort „Montag waren es 8 Tage.“
Als man ihn einmal ein Datum schriftlich fixieren liess und nach einigen
Tagen wieder zeigte, bestritt er, dass es seine Schrift sei, weil er sich nicht
erinnern könne, etwas derartiges notiert zu haben. Er gab dann zu, sich
zu jener Zeit tatsächlich in der Klinik befunden zu baben; doch sei er in-
zwischen fort gewesen und habe in einer Brauerei gearbeitet. In der letzten
Zeit glaubt Pat. sich mehrere Monate in der Klinik zu befinden. Vorkomm-
nisse, an die er sich erinnert, lokalisiert er ganz falsch. Die Frage, wie oft
er bereits im psychologischen Laboratorium gewesen sei, wird stets prompt
mit „gestern zum ersten Male* beantwortet Er erzählt täglich in ganz
stereotyper Weise, dass er sich schon im Juhre 1880 eiumal an der Klinik
befunden habe, man habe ihm damals die Wiedererkrunkung vorhergesugt.
Verf sei schon damals an der Klinik gewesen, habe mit ihm dieselben Ver-
suche gemacht. Prof. Flechsig kenne er auch von daher; nur hätte er
damals noch keinen grauen Bart gehabt. An einzelne Aerzte glaubt er sich
erinnern zu können; bei andern meint er, sie seien doch zu jung. Seine
Reise nach Frankreich vermag Pat ziemlich genau zu schildern, Städte. in
denen er sich dabei autgehalten, gut zu beschreiben. Bei einzelnen Begeben-
heiten schwanken aber seine Angaben, indem er einen Tag erzählt, sie selbst
erlebt zu haben, den andern, nur von Hörensagen davon zu wissen. Seine
Stimmung ist stets euphorisch, er ist gexprächig und zu Scherzen aufgelegt;
neigt dazu, sich Ausserlich zu vernachlässigen.
Untersuchungsmethode,
Von den zur Untersuchung des Gedächtnisses verfügbaren
Methoden benutzte ich das Ersparnisverfahren, indem ich Wort-
reihen verschiedener Länge erlernen liess und nach einem be-
stimmten Zeitraume prüfte, ob eine Wiedererlernung mit einer
geringeren Zahl von Wiederholungen erfolgte, als zum ersten
rlernen erforderlich war. Die Reihen wurden mittels des von
Wirth modifizierten Ranschburgschen Gedächtnisapparates vor-
eführt, der es ermöglicht, die Glieder einzeln mit ubstufbarer
Geschwindigkeit in Ruhe zu exponieren und sich auch zu Ver-'
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose, 25
suchen mit zusammenhängendem Lesen eignet. Der Gang des
Apparates wurde durch ein Metronom derart eingestellt, dass bei
der Exposition von unzusammenhängenden Worten jedes Feld der
Reiztafel 1, beim zusammenhängenden Lesen ?/, Sekunde exponiert
blieb. Nach Ablauf der Reihe, welche die Versuchsperson laut
zu lesen hatte, wurde der Strom durch einen Drücker unter-
brochen, der Apparat stand und die Versuchsperson hatte nun
die Reibe herzusagen; gelang dieses nicht, so wurde der Apparat
wieder in Tätigkeit gesetzt und der nächste Abschnitt der Reiz-
tafel, welcher die gleiche Reihe trug, vorgeführt. Ich betrachtete
die Reihe als erlernt, sobald sie die Versuchsperson einmal
fehlerlos hersagte und, ohne sie nochmals za lesen, wiederholen
konnte. Es erschien mir nötig, mich auf diese Weise von der
festeren Einprägung der Reihe zu vergewissern, weil es der Ver-
suchsperson häufig — im Vergleiche mit den übrigen Resultaten
vorzeitig — gelang, Reihen ganz herzusagen, nach der nächsten
Lesung aber viele Fehler auftraten; meist fehlte hier auch, wie
in ähnlichen Fällen beim Normalen, das subjektive Gefühl des
Könnens.
Bei der Wahl der zu exponierenden Eindrücke entschied ich
mich für einsilbige sinnvolle und sinnlose Worte. Reihen einziffriger
Zahlen, welche sich mir bei noch tieferen Gedächtnisstörungen
als sehr vorteilhaft erwiesen, konnten bei meinen jetzigen Ver-
suchspersonen nicht verwendet werden, da sich nach den Vor-
versuchen verhältnismässig lange Zahlenreihen nötig erwiesen, die
bei der geringen Zahl von Grundelementen nur wenig variiert
werden können. Sinnlose Worte waren bei einer meiner Ver-
suchspersonen nicht zu verwenden, weil sie (O.), durch fort-
währendes Verlesen und Versprechen verwirrt, keine einzige der-
artige Reihe erlernen konnte. Die Reiben sinnloser Worte waren
da streng nach den von Müller und Schumann aufgestellten
Regeln gebaut, wo es besonders auf eine Gleichmässigkeit in der
Erlernoung ankam; so in den Versuchen über rückläufige Asso-
ziationen, Oekonomie des Lernens. Aber auch bei Zusammen:
stellung der übrigen Reihen wurde es vermieden, dass in derselben
Reihe der gleiche Anfangs- oder Endkonsonant zweimal vorkam,
Aus- und Anlaut aufeinanderfolgendar Worte übereinstimmten,
hingegen wurde in achtgliedrigen Reihen mitunter ein Vokal
wiederholt, allerdings in weiter auseinanderliegenden Silben. Ein
Unterschied in der Erlernung beider Arten von Reihen war nicht
zu bemerken. Offenbar fielen die inneren Schwierigkeiten der
Reihen wesentlicher ins Gewicht. Auffälligerweise machte sich
in jenen Versuchsgruppen, wo Silben gut eingeprägter Reihen
in veränderter Folge gelernt wurden, eine bedeutende Gleich-
mässigkeit in der Erlernung geltend. In diesem Falle bestand
aber auch ein Unterschied in der Erlernungsart, indem solche
Reihen von der ersten Exposition an fehlerlos gelesen wurden,
während bei den übrigen erst mehrere und zwar verschieden viele
Expositionen nötig waren, bis die zu erlernende Reihe geläufig
gelesen wurde.
26 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
Bei der Zusammenstellung von Reihen sinnvoller Worte
wurden möglichst schwer assoziierbare gewählt. Bei den in
Tabelle 1 und 2 verzeichneten Versuchen (1—23) fand mitunter
eine Wiederholung desselben Vokales in derselben Reihe statt.
Die übrigen Reihen waren nach den für normale Reihen sinnloser
Silben geltenden Regeln zusammengestellt. Als Reizworte be-
nutzte ich bei den Versuchen mit sinnvollen Worten die ein-
silbigen von Wirth zusammengestellten Worte.
Im Gegensatze zu Versuchen beim Normalen war ich bei
meinen Versuchspersonen in der Verwendung längerer Reihen
beschränkt. Während z. B. Ebbinghaus’) noch 26stellige Reihen
in 55 Wiederholungen erlernte und einzelne Reihen 64mal auf-
merksam lesen konnte, war bei meinen Versuchspersonen, wie
eine Durchsicht der Protokolle zeigte, nach der 15ten Wieder-
holung der Effekt weiterer Lesungen auffallend gering und
konnten Reihen, die nach 20- bis 22maligem Lesen nicht haften
blieben, überhaupt nicht mehr in der gleichen Sitzung erlernt
werden. Wurde nämlich das Lernen über diese Grenze hinaus
fortgesetzt, dann begann die Versuchsperson unruhig zu werden,
Unwillen über ihr schlechtes Gedächtnis zu äussern, sich häufiger
zu versprechen und zu verlesen etc. Stellten sich diese Zeichen,
die wohl als Ausdruck von Ermüdung aufzufassen sind, ein, dann
wurde mit dem Lernen ausgesetzt, und erst naclı einer längeren
Pause von 5 bis 10 Minuten (die normale betrug 3 Minuten)
eine neue Reihe exponiert. Traten auch bei der nächsten Reihe
Ermüdungserscheinungen „uf, dann wurde am gleichen Tage
das Lernen neuer Reihen beschränkt. Nach meinen Erfahrungen
erwies es sich als zweckmässig, an einem Tage nicht länger als
eine Stunde lernen zu lassen. In einer derartigen Sitzung wurden
höchstens 3 bis 4 Neuerlernungen vorgenommen. Aus diesem
Grunde waren die Beobachtungen über den Einfluss der Zeitlage
auf die Art des Erlernens ziemlich spärlich.
Aehnliches zeigte sich bei Versuchen?) mit dem Treffer-
verfahren bei beiden Versuchspersonen; stets erfolgte hier mit
zunehmender Zahl der Lesungen eine Zunahme der Treffer un-
gefähr bis zu einem Punkte, welcher der Zahl der noch wirksamen
Lesungen beim Erlernungsverfahren entsprach. Von da an in den
noch folgenden Lesungen eine Abnahme der Trefferzahl. Danuch
muss es uns befremden, wenn wir bei Brodmann von Versuchen
hören, in denen eine Reihe 50- und 100mal wiederholt wurde.
Dass hier eine auch nur annähernd gleichmässige Aufmerksamkeits-
) Ebbinghaus, H., Ueber das Gedächtnis. Leipzig 1885.
2) Da ich in diesen Versuchen neben sinnlosen Worten auch die von
Renschburg zusammengestellten, schwer assoziierbaren Wortpaare (wie
Frau Mühle, Duarm-Schimmer) verwendete, so möchte ich es nicht unter-
lassen, vor einer ausgedehnten Anstellung derartiger Versuche zu warnen.
Die Versuchspersonen empfinden sie als zwecklos, wodurch der von Ebert
und Meumann als wichtig betonte Fuktor des Willens zur Erlernung
beeinträchtigt wird; die Bedingungen für die Aufmerksamkeitsspannung
werden so verändert und die Versuche unvergleichbar.
der Gedächtnisstörung bei der Korsakofischen Psychose, 27
spannung bei Patienten mit Korsakoffscher Psychose im Ver-
laufe des Versuches bestand, ist äusserst unwahrscheinlich. Nach
meinen unten zu besprechenden Erfahrungen möchte ich bei der-
artigen Versuchspersonen eine 18 malige Exposition einer 12 silbigen
Reihe, wie es in den Versuchen Brodmanns geläufig ist, nicht
ohne genauere Kontrolle der Aufmerksamkeitsspannung wagen.
Eine solche ist im Erlernungsverfahren ohne weiteres gegeben,
indem bei genauer Verzeichnung der Reproduktionen im Versuchs-
rotokolle der Punkt leicht auffindbar ist, von dem ab eine weitere
xposition Verschlechterung der Resultate ergibt. Im Treffer-
verfahren sind Anhaltspunkte in der Art des Lesens zu gewinnen,
da ermüdete Versuchspersonen zu Verlesungen neigen. Anders
bei der Brodmannschen Modifikation, wo eine Leistung der
Versuchsperson erst nach dem Anhören sämtlicher Wieder-
holungen beginnt. Um auclı beim Trefferverfahren den erwähnten
Vorteil des Erlernungsverfahrens zu gewinnen, nahm ich derartige
Versuche ın der Weise vor, dass ich von 8 za 3 Expositionen
der Reihe die Trefferzahl bestimmte; dann ist natürlich die be-
ginnende Verschlechterung, d. h. der Eintritt der Ermüdung,
leicht konstatierbar.
Das Auftreten von Ermüdungserscheinungen wechselt nach
dem verwendeten Erlernungsmateriale.. So sehen wir beim Ver-
gleiche von Tabelle 8 (sinnvolle Worte) mit Tabelle 4 (sinnlose
Worte), dass Reiben sinnvoller Worte noch in 22 Wiederholungen
erlernt wurden, während nur einmal eine Reihe siınnloser Worte
nach 18maligem Lesen behalten wurde. Im ersten Falle finden
wir das Minuszeichen, welches in der Tabelle andeutet, dass
über die bezeichnete Wiederholung kein Erlernungsfortschritt
mehr stattfand, bloss einmal- bei der Zahl 17, sonst meist bei
19 bis 22. Im zweiten Falle auch schon bei 12 bis 14 und bloss
einmal bei 19. Im Verlaufe der wirksamen Wiederholungen
wurden von O. 7- bis 8stellige, von M. anfänglich 7-, später 8-,
zum Schlusse 9stellige Reihen sinnvoller Worte erlernt, ferner
von M. 7- bis 8stellige Reihen sınnloser Worte. In dem Bestreben
zur prägnanten Feststellung von Ersparnis möglichst lange Reihen
erlernen zu lassen, musste ich bei der übungsfähigeren Versuchs-
erson M. mit fortschreitender Uebung zur Erlernung längerer
eihen übergehen. Da aber die Neuerlernung als Basis für die
Beurteilung der Ersparnis diente, so mussten dann auch bei der
Wiederholung die bereits einmal erlernten Reihen entsprechend
ergänzt werden, worauf ich gleich bei Herstellung der Reiztafeln
durch Freilassen von Feldern Rücksicht nahm. Ich spreche
demnach von einer Ersparnis im folgenden nur dann, wenn die
Zahl der zu neuerlichem Erlernen erforderlichen Wiederholungen
noch unter dem jeweiligen Minimum von Wiederholungen lag,
welches zur Erlernung gleich langer Parallelreiben erforderlich war.
Die Versuche fanden bei beiden Versuchspersonen stets zur
gleichen Tageszeit statt und zwar bei O. von 10 bis 11 Uhr a. m.,
bei M. von 3 bis 4 Uhr p. m. Die Lebensweise beider Versuchs-
28 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
personen war während der ganzen Versuchszeit durchaus gleich-
örmig. Eine eingreifendere Medikation fand nicht statt, beide
Patienten erhielten nie ein Schlafmittel. Den Versuchen wurde
von den Patienten grosses Interesse entgegengebracht, da sich
bei O. daran die Hoffnung, entlassen zu werden, knüpfte, M. an
eine Stärkung des Gedächtnisses glaubte und Verfusser wieder-
holt für seine Mühe dankte. |
Uebersicht des Lernmaterials. — Wirkung einseitiger
Gedächtnisübung.
Bevor ich auf die Darstellung der einzelnen Versuchsreihen
eingehe, möchte ich eine kurze Uebersicht des im Ganzen ver-
arbeiteten Lernstoffes geben, wobei ich mich auf das Anführen
der Neuerlernungen beschränke, welche, dem Zwecke der Unter-
suchung gemäss, den kleineren Teil der Erlernungen ausmachıten.
M. lernte in Vorversuchen, welche in der ersten Hälfte des
Monats Januar vorgenommen wurden, mehrere 6—7gliedrige Reihen
sinnvoller Worte, 6—8stellige Zifferreihen und 5—tstellige Reihen
sinnloser Worte. Die Hauptversuche begannen für M. am 9. IV. In
der Zwischenzeit hatteer Gelegenheit,sich bei Auffassungsversuchen
in der Ablesung am Wirthschen Apparate zu üben. Bei den Haupt-
versuchen lernte M. zwischen 9. und 16. IV. 9 sechsstellige Ziffer-
reihen in durchschnittlich 2,4 Wiederholungen; je eine 7-, 8- und
Ostelligo Reihe in 5, 5 und 9 Wiederholungen. In der Zeit vom
10. IV. bis 6. VI. wurden ziemlich gleichmässig über den Zeit-
raum verteilt, Erlernungen von 7-, 8- und Ostelligen Reihen sinn-
voller Worte vorgenommen (im ganzen 30). Der hierbei beobachtete
Uebungsfortschritt soll weiter unten besprochen werden, hier sei
bloss erwähnt, dass zwischen 1. und 6. VI. fünf 8stellige Reihen
in durchschnittlich 12,2 Wiederholungen erlernt wurden. Vom
27. V. bis 7. VI. wurden, nachdem eine Anzahl von Vorversuchen
vorangegangen war, 11 8stellige Reihen sinnloser Worte gelernt,
von denen 5 in der ersten Sitzung nicht erlernt werden konnten,
6 nach durchschnittlich 14.5 Wiederholungen behalten wurden;
drei 7stellige Reihen wurden jetzt in durchschnittlich 11,7 Wieder-
holungen erlernt. Am 24. VII. wurden von drei 8gliedrigen Reihen
sinnvoller Worte eine in 15 Lesungen erlernt, zwei konnten nach
18 Lesungen noch nicht frei hergesagt werden. Vom 28. VII.
bis 8. VIII. lernte M. die ersten sieben Strophen aus A. Babes:
„Der Auswanderer am Orinoko.“ Von diesen wurde bloss eine
am zweiten Tage, zwei am dritten Tage, die übrigen später erlernt.
Vom 11. VIII. bis 14. 1X. wurden Reihen sinnloser Worte in
grösserem Umfange gelernt, u. zw. fanden im ganzen 64 Neu-
erlernungen statt; hiebei konnten zwischen 11. und 14. VIII. von
neun 8gliedrigen Reihen 5 am ersten Tage nicht erlernt werden;
drei 7stellige wurden in durchschnittlich 12 Lesungen erlernt.
Am 22. und 23. VIII. wurden sechs 7stellige Reihen sinnloser
Worte in durchschnittlich 6,6 Lesungen erlernt, und von sechs
der Gedächnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 29
zwischen 1. und 18. IX. gelernten 8gliedrigen Reihen konnte bloss
eine nicht erlernt werden.
Zwischen 15. und 18. IX. wurde durch das Gedächtnis der
Versuchsperson M. ein Querschnitt im Sinne von Ebert und
Meumann!) gelegt. M. lernte jetzt vier 8gliedrige Reihen sinn-
voller Worte in durchschnittlich 7 Wiederholungen. Von zwei
Gedichtstrophen eine (9.) am ersten und die zweite (8.) am zweiten
Tage. Ferner wurden je drei 7-, 8- und Bgliedrige Zifferreiben
exponiert, welche im Mittel nach 2, 2,6 und 7 Wiederholungen
erlernt wurden.
Wie aus dieser Uebersicht zu entnehmen, lernte M. in drei
Perioden: in der ersten (10. IV. bis 7. VI.) Reihen sinnvoller und
sinnloser Worte, in der zweiten (28. VII. bis 8. VIII.) Gedichts-
strophen, in der dritten (11. VIII. bis 14. IX.) Reihen sinnloser
Worte. In der Zeit vom 6. VI. bis 24. VII., in welcher keine
Neuerlernungen, sondern nur Wiederholungen älterer Reihen an
vereinzelten Tagen vorgenommen wurden, fand eine starke Ab-
nahme der Leistungsfähigkeit für das Erlernen von Reihen sinn-
voller Worte statt. Ebenso sind auch die Resultate bei Wieder-
aufnahme von Neuerlernungen sinnloser Worte ungünstiger. Dies
erscheint um so bemerkenswerter, als unmittelbar vorher Gedichts-
strophen gelernt wurden. Allerdings erstreckt sich hier die Ver-
schlechterung bloss auf die Erlernung 8stelliger Reihen sinnloser
Worte, während 7stellige wie zuvor erlernt wurden. Die einseitige
Uebung durch ausgedehnteres Lernen von Reihen sinnloser Worte
zwischen 11. VIII. und 14. 1X., die von einem deutlichen Uebungs-
fortschritte begleitet war, erzeugte eine Steigerung der Leistungs-
fähigkeit für die Einprägung von Reihen sinnvoller Worte und
Gedichtsstrophen, wie der vom 15.—18. IX. vorgenommene Quer-
schnitt beweist. Auch wurden jetzt Zahlenreihen schneller als in
den Versuchen zwischen 9. und 16 IV. gelernt, ohne dass in-
zwischen derartige Versuche vorgenommen wurden. Wir finden
also bei M. wie beim Normalen eine Steigerung des Ge-
dächtnisses durch einseitige Üebung desselben, aber einen
weit stärkeren Abfall nach Einschaltung von Pausen.
Auch O. wurde vor Beginn der Hauptversuche in ähnlicher
Weise wie M. geübt. Am Anfang der Periode der Hauptversuche
hatte er Zahlenreihen zu lernen und prägte sich acht 6stellige
nach durchschnittlich 5, zwei 8stellige nach je 16 Wiederholungen
ein. In der Zeit vom 14. IV. bis 26. VI. lernte er erst 7-, später
8stellige Reihen sinnvoller Worte, im ganzen 43. Zwischen 29. VII.
und 7. VIII. lernte O. 6 Strophen des gleichen Gedichtes wie M.
Hierbei konnte keine vor der dritten Sitzung frei hergesagt werden.
Vom 2.—8. IX. wurden neuerlich 8stellige Wortreiben, im ganzen
24 gelernt. Ein Abfall der Leistungsfähigkeit war gegenüber der
ı) E. Ebert und E. Meumann: Ueber einige Grundfragen der Psycho-
logie der Uebungsphänomene im Bereiche des Gedächtnisses. Arch. f. Psychol.
Bd. 4. S. 1—232. 1904..
30 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
letzten Erlernung ähnlicher Reihen (26. VI.) nicht bemerkbar.
Zwischen 9. IX. und 12. IX. wurden abermals Zifferreihen und
Strophen des gleichen Gedichtes gelernt. Von zwei Strophen
wurde eine in der zweiten, die andere in der ersten Sitzung er-
lernt. Vier 8stellige Zifferreihen erlernte O. jetzt durchschnitt-
lich in 10 Wiederholungen. Wir finden demnach auch bei
dieser Versuchsperson eine Steigerung des Gedächtnisses
durch einseitige Uebung.
Art der Reihenerlernung — Fehleranulyse.
In diesem Abschnitte werde ich die Art und Weise, in der
meine Versuchspersonen die vorgeführten Reihen erlernten, be-
sprechen, da sie mir im Vergleiche zu andern, bisher untersuchten
deistesstörungen in mancher Hinsicht als charakteristisch für den
vorliegenden Krankheitsprozess erscheint.
M. las 7stellige Reihen mit einem leichten Iktus auf dem
ersten und vierten, 3- und Bstellige mit Betonung des ersten und
fünften Wortes und setzte vor dem vierten resp. fünften Worte
mit der Stimme etwas ab. In gleicher Weise las er meist auch
Reihen sinnloser Worte, diese allerdings mitunter auch in jambischem
Rhythmus, ohne abzusetzen. So gelesene Reihen wurden aber
auffallend schlechter erlernt. Nach dem Lesen der letzten Silbe
folgte bis zum Beginn der Reproduktion eine ziemlich lange
Pause von durchschnittlich ö Sekunden (4—8).
Schon durch die ersten Lesungen gewann er eine richtige
Vorstellung von der Länge der Reihe, indem er nach der ersten
Reproduktion die Zahl der ausgelassenen Worte richtig angeben
konnte, ohne allerdings die Länge der Reihe numerisch ausdrücken
zu können.
Bei der Reproduktion wurden stets die ersten beiden Worte,
häufig auch schon das dritte, in der ersten bis zweiten Lesung
erlernt und an richtiger Stelle genannt. Was die Einprägung
der übrigen .anlangt, so lassen sich zwei Arten des Lernens unter-
scheiden; in der ersten wurden auch die zwei letzten Glieder der
Reihe verhältnismässig rasch an richtiger Stelle genannt. Die
mittleren traten nach und nach an ihre Stelle. Beim zweiten
Erlernungstypus wurden die Worte der dritten, vierten... ..
und letzten Stelle successive erlernt. Die Verschiedenheit der
beiden Typen wird aus den Kurven Fig. 1 und 2 klar; dieselben
wurden ın folgender Weise entworfen: auf der Abscisse wurde
die Stelle in der Reihe verzeichnet, auf die Ordinate die Ge-
samtzahl der Wiederholungen, in denen das entsprechende Wort
richtig genannt wurde. Fig. 1 ist nach den Protokollen für die
erste Erlernung der I.— VIII. Reihe sinnvoller Worte, Fig. 2,
für die erste Erlernung der 8stelligen Reihen entworfen. Nach
der ersten Art wurden ausser den in den Vorversuchen exponierten
Reihen die meisten der ersten Versuchsperiode (stellig) erlernt;
der zweite Modus macht sich schon bei einzelnen Wiedererlernungen
der Gedächtnisstörang bei der Korsakoffschen Psychose. 31
7stelliger Reihen geltend und äussert sich später in allen Ver-
suchen mit sinnvollen und sinnlosen Worten. M. lernte also nach
dem zweiten Modus weit rascher als nach dem ersten. Das
späte Erscheinen der letzten Reihenglieder bei der Reproduktion
im zweiten Falle erscheint zunächst befremdlich, da ja erfahrungs-
gemäss die letzten Worte einer Reihe sich besonders leicht ein-
prägen; es ist aber zu bemerken, dass es sich hier lediglich um
eststellung des Tatbestandes handelt, dass die letzten Reihen-
glieder in gewissen Fällen relativ spät genannt werden. Dass
trotzdem eine feste Einprägung der letzten Worte stattfand, soll
damit nicht geleugnet werden; im Gegenteil, ich konnte beobachten,
dass M. dieselben gleich nach den ersten Lesungen angeben
konnte, wenn man ihn danach fragte. Auf diese Weise bekam
man den Eindruck, dass er gewisse Worte bewusst verschwieg,
und die Reproduktion sich aufdrängender zu hemmen suchte.
Fix. 2
— —
mu GEN EEE EN
12845678
Nun rufen aber nach der Selbstbeobachtung gerade die sich
vordrängenden Worte subjektiv eine gewisse Verwirrung hervor,
indem sıe die Aufmerksamkeit von den noch fehlenden ablenken,
so dass wir also tatsächlich den zweiten Erlernungsmodus als den
zweckmässigeren ansehen müssen.
Die von M. neben der Auslassung von Worten bei der Re-
produktion begangenen Fehler lassen sich in folgender Weise
gruppieren:
1. Zwei aufeinanderfolgende Worte wurden in verkehrter
Reihenfolge wiedergegeben.
2. Ein an entfernterer Stelle zu nennendes oder genanntes
Wort vertritt das zu reproduzierende. Als derartige Ersatz-
oder Flickwörter dienten Reihenglieder, die durch Klang, Be-
deutung oder Stellung in der Reihe sich rascher einprägten. Wie
schon erwähnt, blieben zumal die letzten zwei Worte besonders
32 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
rasch haften, gleiches gilt für Worte, welche der Iktus traf, also
das vierte bei siebenstelliger, das fünfte bei mehrstelliger Reihe.
3. wurden falsche Worte genannt, d. h. solche, die in der
Reihe überhaupt nicht vorkamen. Derartige Worte entstammten
entweder einer Wortvermengung [assoziative Mischbildung im
Sinne von Müller und Pilzecker]!), zweier nebeneinander oder
ferner liegender, sich leichter einprägender Worte oder stellten
ganz neue Worte vor. Für einzelne letzterer konnte eine ent-
ferntere Beziehung zu Worten der Reihe gefunden werden, so
drängte sich in einer Reihe, in welcher das Wort „Hund“ vor-
kam, das Wort „Biss“; in einer anderen, wo „Reif“ stand, das
Wort „Ring“ vor. Oft war aber ein solcher Zusammenhang
nicht zu ermitteln und auch die bei O. beobachtete Beziehung
zu einer vorangegangenen Reihe nicht festzustellen. Als Bei-
spiele von Wortvermengung seien genannt: Kraft aus Krebs und
Schaft; Schuld aus Schirm und Huld; Tang aus Ton und Zwang;
Ring aus Reim und Wink.
Bei der Reproduktion von Reihen sinnloser Worte konnten
Wortmengungen und Wortneubildungen besondershäufig beobachtet
werden, so: raf aus ral und wef; jes aus jel und vos; bul aus
bum und jel; dak aus dap und jek; gan aus gal und jen; juf
aus jen und fuf. |
Bei Durchsicht der Protokolle für die auch in umgekehrter
Reihenfolge gelernten Reihen ergibt sich, dass gut eingeprägte
Worte der Normalreihe an jenen Stellen der Umstellungsreihe
auftreten, deren Worte schwerer erlernt werden und einmal
enannt, im Sinne der Normalreihe assoziativ weiter wirken.
So findet man in mehreren Reihen fast in allen Reproduktionen
die dritte Stelle durch Worte aus dem ersten Teile der Normal-
reihe ersetzt und anschliessend weitere Worte im Sinne der
Normalreihe. In einem weiteren Versuche findet man fast sämt-
liche Reihen mit dem letzten Wortpaare der Normalreihe ab-
geschlossen. Wir haben also im Vergleiche zu den Normalreihen
eine grosse Anzahl von Falschnennungen zu erwarten, was denn
auch die prozentuelle Berechnung ergab. Gleiches zeigt die
Durchsicht der Protokolle für das Lernen von Umstellungsreihen
sinnloser Worte. Hier findet man oft schon die zweite Stelle
durch das homologe Glied der Normalreihe . ersetzt. Ferner
assoziative Mischbildung zwischen homologen Gliedern der Normal-
und Umstellungsreihe.
| Ueberblicken wir noch das Verhältnis der ausgelassenen
zu den falsch genannten Worten für die einzelnen Versuchs-
gruppen. In den Versuchen, welche der Kurve | zugrunde gelegt
sind, beträgt die Zahl der ausgelassenen Worte 17,1 pCt., jene
der falsch genannten 18,8 pCt. der im ganzen gelesenen Worte.
In den Versuchen der Kurve 2 betragen die Auslassungen
33,42 pCt., die Falschnennungen 11,36 pCt. Wir sehen also
1) G. E. Müller und A. Pilzecker, Experimentelle Beiträge zur
Lehre vom Gedächtnis. Zft. f. Psycholog. Ergzbu. 1. 1900.
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 83
mit steigender Uebung die Zahl der falsch reproduzierten Worte
abnehmen, die der ausgelassenen zunehmen. Beim ersten Er-
lernen der Umstellungsreihen sinnvoller Worte betragen die falsch-
genannten 85,07 pCt., die ausgelassenen 24,74 pCt. gegenüber
13,98 und 86,73 pCt. der Normalreihe. Also eine starke Zu-
nahme der falsch reproduzierten Worte. Ein ähnliches Verhältnis
ergibt der Vergleich für Normal- und Umstellungsreihen sinnloser
Worte, nämlich für erstere 22,68 pCt. falschgenannter und
31,28 pCt. ausgelassener, für letztere 35,47 pCt. und 14,36 pCt.
. zeigte starke Tendenz, bei der Reproduktion gleich lange
Wortreihen zu nennen wie gelesen wurden; da er aber quali-
tativ schlechter lernte als M., so treten Falschnennungen viel
zahlreicher auf. Dieses Bestreben dürfte wohl ein Ausdruck
der bei O. stärker ausgesprochenen Konfabulation sein. Qualitative
Merkmale für das schlechtere Lernen erkennen wir in den Ver-
suchsprotokollen darin, dass mitunter auch an die erste Stelle
relativ spät das richtige Wort tritt, so beim VIII. Versuche erst
von der 10. Lesung an. Der steile Abfall der Kurve (Fig. 8 und 4)
Fig. 8. Fig. 4.
138324567
zwischen unmittelbar und allmählich erlernten Worten liegt hier
schon zwischen dem 1. und 2. Abszissenpunkte, währeud er bei
M. zwischen dem 2. und 8. zu finden ist. Auch sehen wir bei
©. überall jenen Erlernungstypus, den wir bei M. als den lang-
wierigeren erkannten. Ein Vergleich der ersten und der folgenden
zehn Reihen durch Konstruktion ähnlicher Kurven wie oben für M.
lässt keinerlei Unterschied in der Art des Erlernens feststellen.
Was die Nennung falscher, Worte anlangt, finden wir wie
bei M., dass jene Worte, die durch auffällige Bedeutung (Most,
Bier) oder leichtere Einprägbarkeit (zumal durch Klang oder
durch Stellung in der Reihe bedingt) rascher haften bleiben, an die
Stelle noch nicht eingeprägter treten. Wortvermengungen finden
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXL Helt ı. 8
84 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
wir verhältnismässig seltener nls bei M. Viel häufiger als bei
diesem tritt hier an Stelle eines Wortes ein inhaltlich assozi-
iertes oder ein klangverwandtes Wort. Als Beispiel für den
ersten Fall: Getreide statt Feld, Graben statt Damm, Mops statt
Hund, Ziel statt Pfeil. Als Beispiel für den zweiten Fall diene:
Brot statt Ort, Uhr statt Kur, Kleid statt Leid, Kraut statt Kauz,
Kost statt Trost. Diese Beispiele zeigen auch die Richtung (ins
Triviale) an, in welcher die Falschnennung aufzutreten pflegte.
Ein neues Moment tritt uns in der Neigung entgegen, Worte früher
erlernter Reihen zum Ersatze nicht eingeprägter zu verwenden.
Meist waren es Worte der letzterlernten Reihe, insbesondere dann,
wenn ein grosser Teil der neuen Reihe ersetzt wurde, also gleich
nach den ersten Lesungen einer neuen Reihe. Einzelne Worte
aber entstammten auch älteren Reihen, und zwar bildeten sich im
Laufe der Versuche aus Worten, die durch ihre Bedeutung sich
leicht einprägten, stereotype Flickworte. In einem Falle wurden
bei der ersten Reproduktion 6 Worte der zuletzt erlernten Reihe
genannt. In der Regel fand eine rasche Verdrängung der perse-
verierenden durch die Glieder der neuen Reihe statt. Doch findet
man mitunter einzelne nicht in die Reihe gehörige Worte auch
noch bei den letzten Reproduktionen der neuen Reihe. Den kon-
fabulatorisch genannten, also in der Reihe nicht vorkommenden
Worten fehlte das Sicherheitsgefühl. Wenigstens konnte man
regelmässig auf die Frage: „Haben Sie dies auch wirklich ge-
lesen?" unter Lächeln: „Nein!“ zur Antwort erhalten. Die Neigung,
zu konfabulieren, schien das Erlernen auch dadurch stark zu
schädigen, dass häufig bei der nächsten Lesung im Sinne der
letzten Reproduktion verlesen wurde.
Vergleichen wir Auslassungen und Falschnennungen für die
erste Erlernung der ersten und späteren Reihen. Die ersten zehn
Reihen wurden durchschnittlich nach 17,5maligem Lesen erlernt.
Die Zahl der ausgelassenen Worte betrug 17,47, die der Falsch-
genannten 41,99 pCt. der bis zur Erlernung gelesenen Worte. In den
folgenden zehn Reihen, welche nach durchschnittlich 10,3 Lesungen
erlernt wurden, betragen die bezüglichen Werte 12,59 pCt. und
55,18 pCt. Wir finden also mit der Steigerung der Leistungs-
fähigkeit eine Abnahme der Auslassungen und starke Zunahme
der falschen Fälle. Ä
Brodmann beobachtete, dass im Höhestadium der Korsa-
koffschen Psychose die Zahl der falschen Fälle auf Kosten der
richtigen vermehrt sei und nach beginnender Genesung die Fehl-
reproduktionen abnehmen, während die Null uud richtigen Fälle
relativ ansteigen. Da bei meiner Versuchsperson O. die Falsch-
nennungen die Auslassungen überwogen, bei M. ein umgekehrtes
Verhältnis bestand, so scheinen im chronischen Stadium der
Korsakoffschen Psychose beide Möglichkeiten verwirklicht, in-
dem sich die Befunde bei O. jenen Brodmanns für das
Höhestadium, die Befunde bei M. jenen für die beginnende
Genesung nähern. |
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 35
Die beim Normalen zu beobachtenden Lesestufen waren bei
meinen Versuchspersonen nur für Erlernung von Gedichtsstrophen
und Prosastücken ausgesprochen. Beim Lesen unzusammen-
hängender Wortreihen kam die Stufe des antizipierenden Lesens
nicht zur Geltung, weil die Versuchspersonen bei den ersten
Ansätzen, welche fast ın jeder Reihe zu beobachten waren, ent-
täuscht, zurückhaltend wurden und sich stärker auf das zu Lesende
konzentrierten. Kontrollierendes Lesen trat erst nach dem ersten
fehlerlosen Hersagen auf, bis zu dem meist das Gefühl der Sicher-
heit fehlte.
Bei der Erlernung zusammenhängender Wortreihen zeigte
O. nach den ersten Lesungen die Tendenz, das Behaltene einfach
zu nennen und ohne Rücksicht auf den Sinn des Gelesenen durch
andere Worte zu ergänzen. Als solche traten meist Worte der
letzterlernten Reihe, aber auch älterer, gut eingeprägter auf,
welche selbst nach Pausen von 3—5 Minuten an Stelle der neu-
gelesenen hergesagt wurden. Ferner wurden die Lücken auch
durch unmotivierbare falsche Worte ergänzt. Infolgedessen
bildete oft der Inhalt der ersten Reproduktionen ein ganz sinn-
loses, unzusammenhängendes Wortgefüge. Auch bei diesen Lern-
stoffen behielt O. gleioh nach den ersten Lesungen die ersten:
und letzten Worte, meist auch einzelne, die durch ihre Bedeutung
stärker hervortraten. Nach den folgenden Lesungen wurde aus
den haftengebliebenen und perseverierenden Worten ein gramma-
tikalisch mehr-weniger korrekter Satz gebildet, der aber mitunter
gar nicht den Inhalt des Gelesenen wiedergab. Statt: „Da be-
wegte sich ein langsamer Zug auf der Landstrasse geräuschlos zu
den ersten Häusern der Vorstadt. Das waren die zurückkehrenden
Franzosen,“ lautete die Reproduktion nach der ersten Lesung:
„Da lag die Strasse wie ein Leichenzug — die zurückkehrenden
Franzosen“ Aus dem früher gelernten Satze perseverierte
„Leichentuch“ und wurde nun mit „Zug“ vermengt. Nach der
dritten Lesung hiess es: „Da bewegte sieh langsam wie ein
Leichenzug in die Vorstadt, das waren die zurückkehrenden
Franzosen.“ Nach der fünften Lesung: „Da kam ein langsamer
Zug geräuschlos wie ein Leichenzug in die Vorstadt. Das
waren .. ..“ Die Korrektur erfolgte allmählich. Schneller bei
stärkerer Differenz von Konfabulation und Lesestoff. Bloss an
einzelnen perseverierenden oder erfundenen Worten wurde zäher
festgehalten, was wieder Anlass zu Verlesungen gab. Am spätesten
erschienen die Adjektiva an richtiger Stelle. Vertauschungen oder
Fälschungen durch perseverierende oder erfundene Worte traten
überaus haufig auf, zum Teil ohne Rücksicht auf den Sinn. So
nach der sechsten Lesung der zweiten Strophenhälfte: „Dort stand
der farbenreiche Mond in weiter Ferne und winkte matt in dunkler
Nacht dem Frieden.“ Statt: „Dort stand der Mond in dunkler
Ferne und winkte majestätisch Ruh dem Müden.* „Farbenreich*
stammte aus einer früheren Strophe und zeigte auch sonst Per-
severationstendenz; „dunkel“ wurde sinngemäss zu „dunkler Nacht“
86 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
ergänzt, das schwerer einzuprägende „majestätisch“ offenbar
unter dem Einflusse des späteren „Müden“ durch „matt“ ersetzt.
„Dem Frieden“; nach Korrekturen, die die Versuchsperson selbst
anbrachte, ist zu entnehmen, dass ıhr statt „Kuh dem Müden“
Ruh und Frieden vorschwebte, wie sie auch tatsächlich einige-
male verlas. Auffallend war der Einfluss perseverierender Worte
auf die Bildung falscher Ausdrücke. So wurde von O. einigemale
„savonisch“ statt „melodisch“ gesagt. In einer früheren Strophe,
die vor Erlernung der „melodisch“ enthaltenden mehreremale
wiedererlernt wurde, kam das Wort „Savanna“ vor, welches sich
O. relativ früh einprägte und auch bei anderer Gelegenheit per-
severatorisch gebrauchte.
Bei M. war zu beobachten, dass er bei anklingenden
Stellen in die Reproduktion früher gelernter Strophen, einmal
auch aus einem Gedichte, das in den Versuchen gar nicht
vorkum, geriet. M. lernte auch zusammenhängende Wortreihen
successive. Erst blieb der erste Teil, dann der folgende des Ge-
lesenen haften. Die Fehler bestanden wesentlich in Auslassung
von Satzteilen oder Sätzen attributiver Funktion. Sehr häufig
wurden Adjektiva vertauscht durch sinn- oder klangverwandte
oder aus früheren Erlernungen perseverierende, zum Teil auch
durch unmotiviert falsche ersetzt. Ä
Was den Einfluss der Zeitlage auf die Erlernungsart anlangt,
so konnte bei beiden Versuchspersonen beobachtet werden, dass
sie schon durch die erste Erlernung bei einer Sitzung „in Zug
kamen“; vorausgesetzt, dass die erste Erlernung überhaupt glückte.
War dies nicht der Fall, dann bedurfte es zur Erlernung der
nächsten Reihe verhältnismässig mehr Wiederholungen als ge-
wöhnlich bei gleicher Zeitlage. In der Art des Ausfalles der
ersten Erlernung in einer Sitzung tritt uns ein neues, bei normalen
Versuchspersonen in der Regel nicht zu beobachtendes Moment
entgegen, welches für den Einfluss der Zeitlage auf die Erlernungsart
zu berücksichtigen ist. Ä
Ergebnisse der Gedächtnisversuche,
Drei Monate vor Beginn der Untersuchung stellte ich mit
Dr. Roemer zur Einübung der Pat. in Ablesungen am Wirthschen
Apparate eine Reihe von Gedächtnisversuchen an. Eine weitere
Reihe von Vorversuchen, bei denen auch das Erlernen von Zahlen
und sinnlosen Worten geübt wurde; fand unmittelbar vor den
hier zu besprechenden Versuchen statt.
Die Ergebnisse der Gedächtnisversuche sind ın Tabellen
zusammengestellt, zu deren Erläuterung folgendes zu bemerken
ist. Je eine Horizontalreihe entspricht einer Gruppe von Ver-
suchen und-enthält die Resultate, welche bei den zu verschiedenen
Zeiten angestellten Erlernungen einer und derselben Reihe sinnloser
oder sinnvoller Worte gewonnen wurden. Die Zahlen bedeuten
die Lesungen, die zum Erlernen der Reihen notwendig waren.
Wurde eine Reihe in einer Sitzung nicht erlernt, so fügte ich in
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoflschen Psychose. 37
der Tabelle der Zahl, welche in dem früher besprochenen Sinne
die letzte wirksame Lesung bezeichnet, ein Minuszeichen hinzu,
Unmittelbar nebeneinander wurden die Zahlen bei einer Wieder-
erlernung nach 24 Stunden gesetzt. Zwischenzeiten von wenigen
Tagen sind durch wagrechte Striche markiert, wobei ein Strich
einen Zeitraum von 24 Stunden bedeutet. Grössere Zwischen-
räume wurden in Klammer vermerkt.
Zunächst suchte ich festzustellen, wie lange die Spuren einer
Einprägung nachweisbar sind; dabei stellte es sich bald heraus,
dass ebenso wie beim Normalen es für das Wiedererlernen einer
Reihe keineswegs gleichgültig ist, ob sie vorher ein- oder mehrmals
erlernt wurde. Es trat also in der Zahl der Erlernungen
ein neuer Faktor für die Beurteilung der Gedächtnisspuren hinzu.
Anfänglich wählte ich zwischen den einzelnen Erlernungen ganz
kurze Zwischenräume, da ich nach den bisherigen Erfahrungen
die Gedächtnisleistungen meiner Patienten unterschätzte. Später
warden die Abstände allmählich erweitert. Nach einiger Orientierung
ging ıch systematisch vor, indem ich die Zwischenzeit mit der
Zahl der Frlernungen wachsen liess und Versuchsreihen gleicher
Art häufte.
Wenden wir uns den Gedächtnisversuchen der Versuchs-
erson O. zu, deren Resultate Tabelle 1 und 2 enthält. Aus
Tabelle 1 ist zu entnehmen, dass die erste Wiederholung also
zweite Erlernung nach 24 Stunden oder nach 48 Stunden,
vorausgesetzt, dass die Reihe schon bei der ersten Sitzung erlernt
wurde, eine Ersparnis der zum freien Hersagen erforderlichen
Lesungen ergab. Bei erster Wiederholung nach 72 Stunden finden
wir in drei Versuchen eine deutliche Ersparnis, in einem (XVII)
schien eine solche nicht zu bestehen. Allerdings wurde hier vor
der zweiten Erlernung die Silbenzahl von 7 auf 8 vermehrt. Nach
einem parallelen Versuche wäre für die erste Erlernung 20
statt 12 zu setzen und danach doch eine Ersparnis bei der Wieder-
holung anzunehmen sein. Wie eine Betrachtung des oberen Teiles
der Tabelle lehrt, war bei einem Abstande von 72 Stunden
zwischen zweiter und dritter Erlernung regelmässig eine Ersparnis
festzustellen. Die erste Wiederholung naeh 4 mal 24 Stunden
ergab in sechs Versuchen bloss einmal Ersparnis (XIII). Fast
stets (XX, XXI, X—XV) war aber eine solche nach 4 mal
24 Stunden dann zu bemerken, wenn der Wiederholung bereits
zwei Eirlernungen vorausgegangen waren.
Bei der dritten Erlernung fand ich in Versuchsreihe XVI
nach 6 Tagen, Versuchsreihe x vll. XIX, nach 7 Tagen, Ver-
suchsreihe XVII nach 8 Tagen eine deutliche Ersparnis.
Die vierte Erlernung erfolgte nach 10 Tagen mit Er-
sparnis (Versuchsreihe XVII—XX).
Die fünfte Erlernung ergab eine Ersparnis nach 14 Tagen
(Versuchsreihe XII—XV), nach 20—21 Tagen (Versuchsreihe
XVIIl—XXT), nach 80 Tagen (Versuchsreihe XVI), nach 45 Tagen
(Versuchsreihe XVII). |
38 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
Bei der sechsten Erlernung lernte O. nach 60 Tagen in
Versuchsreihe XVIII mit nur geringer, in Versuchsreihe XVI,
XVII, XIX— XXI mit ausgiebiger Ersparnis.
Die siebente Erlernung ergab nach 90 Tagen deutliche
Ersparnis (Versuchsreihe XII—XVI, XVII, XIX, XXVI).
Die achte Erlernung ergab nach 60, 80, 90, 120 Tagen
(Versuchsreihe IX, XI, XXIV, X) eine grosse, in Versuchsreihe
VII und XXV nach 107 und 120 Tagen eine geringe Ersparnis.
Bei der neunten Erlernung lernte er in Versuchsreihe II,
V nach 90 Tagen, ın Versuchsreihe VI und IX nach 120 Tagen
mit Ersparnis.
Bei der zehnten Erlernung lernte er in Versuchsreihe III
nach 120, in Versuchsreihe I und XXII nach 150 Tagen mit
Ersparnis, in Versuchsreihe IV nach 150 Tagen ohne Ersparnis.
(Hier folgt Tabelle 1 und 2 auf Seite 89.)
Tab. 2 veranschaulicht die allmähliche Abnahme der zur
Einprägung erforderlichen Lesungen bei täglicher Wiederholung
der gleichen Reihe. Vergleichen wir den Effekt dieser Lern-
methode mit jener in den Versuchen der Tab. 1, wo eine Ver-
teilung der Lesungen auf einen längeren Zeitraum stattfand, so
ergibt sich als Mittel für die Zahl der Lesungen im ersten Falle
(tägliche Wiederholung) bei der sechsten Erlernung der Reihe 8,6.
um Vergleiche wurde das Mittel aus den sechs ersten Lesungen
jener Versuchsreihen gewählt, in denen die 6. Lesung mit der
6. der früher erwähnten Versuche zusammenfiel (X, XI, XII— XV).
Wir finden im zweiten Falle ein Mittel von 3,2. Der Effekt ist
somit bei Verteilung der Wiederholungen auf einen Zeitraum von
6 oder 39 Tagen nahezu derselbe. Die Berührung beider Reihen
findet allerdings erst ım Verlaufe der Erlernungen statt, da wegen
des verhältnismässig weiten Abstandes derselben im zweiten Falle
die Ersparnis in den ersten Lesungen nur sehr gering war.
| Eine weitere Versuchsgruppe sollte über das Verhalten
einmal eingeprägter Reihen bei einer Wiederholung nach kürzerer
Zeit orientieren. Zu diesem Zwecke liess ich O. achtstellige
Reihen erlernen und exponierte sie nach 1, 2, 2!/,, 3 und 24 Stunden
wieder bis zur Erlernung. Hierbei ersparte er in 10 Versuchen
bei einer Wiederholung nach 1 Stunde 55,36 pCt., bei einer
Wiedererlernung nach 24 Stnnden in 10 Versuchen 44,72 pCt. an
Lesungen. Ausserdem wurden je 3 weitere Reihen nach 2, 2!/,
und 3 Stunden wieder erlernt. Die Ersparnis betrug durch-
schnittlich 36,89 pCt. Berücksichtigt man, dass O. nach 2 mal
24 Stunden mit einer kleinen, nach 3 mal 24 Stunden mit un-
sicherer, nach 4 mal 24 Stunden ohne Ersparnis wiedererlernte,
so stellt sich der Abfall der Assoziationen als eine Kurve dar,
die nach einer Stunde ungefähr um die Hälfte der Ordinate, in
den nächsten 24 Stunden nicht ganz gleichmässig um einen ver-
hältnismässig kleinen Wert absinkt, nach 3 mal 24 Stunden sich
stark der Abszisse nähert und dieselbe nach 4 mal 24 Standen
39
der Gedächtaisstörung bei der Korsakoffschen Psychose.
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p (e3#]06) e (°3eL21) e (eduLs)F (edeL e) in — — 6 — or (—)at (—) s1
er (o3erogr)g (03ers) g (edsLE) or —— ar —- —ı — gt — 91 (—) 08 = 08 `
g (93e L081) g (3v1 97) F (eduLs)s (eLy)F (Le) — — er — 1- L1 (—) os
y (036I 06) t (03sI 98) 1 (03sL9) g (HL NE — — — — 4 —— 38 eT
g Cesvoqi)ſs (03v og) g (93s, 6) g (03s) —L — 9—91 —6 — — 81
T Oea
40 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
erreicht. Ein Vergleich mit der von Ebbinghaus für den
Normalen entworfenen -Gedächtniskurve zeigt für beide
in dem ersten Teile ihres Verlaufes eine annähernde
Uebereinstimmung in der frühzeitigen Berührung der
Abszisse für den Korsakoffpatienten eine auffällige
Differenz.
Bei M. ging ich vom Erlernen siebenstelliger Reihen sinn-
voller Worte aus. Nach 14 Tagen sank die Zahl der Lesungen
rasch ab, weshalb die Reihen auf 8 erhöht wurden. In der Folge
musste eine weitere Erhöhung um ein Wort vorgenommen werden.
Betrachten wir Tab, 3, welche die Ergebnisse der Gedächtnis-
versuche bei M. veranschaulicht, so fällt der verhältnismässig
niedrige Wert der ersten 4 Zahlen in der ersten Vertikalreihe auf.
Dies beruht darauf, dass durch ein Versehen die gleichen Tafeln
auch in den Vorversuchen verwendet wurden.
(Hier folgt Tabelle 3 auf Seite 41.)
Gehen wir auch hier von der Frage aus: Wie lange ist
nach einmaligem Erlernen noch eine Ersparnis nachweisbar},
so zeigt die Tabelle, dass eine solche nach 24 Stunden immer in
ausgiebiger Weise stattfand (Versuchsreihe I, II, V, VIII). Ber
einer Wiederholung nach 2 mal 24 Stunden war bloss einmal keine
Ersparnis festzustellen. Allerdings wurde hier die Reihe auch bei
der ersten Sitzung nicht erlernt. Nach 3 mal 24 Stunden (Ver-
suchsreihe XXI, XVII und XIX) wurde 4 mal mit Ersparnis
gelernt. Auch hier gab bloss die Wiederholung jener Reihe, die
bei der ersten Sitzung nicht erlernt wurde, keine Ersparnis. Nach
4 mal 24 Stunden wurde in allen Fällen eine deutliche Ersparnis
wahrgenommen (Versuchsreihe XIII, XIV, XVI, XVII, XX). Eine
solche fehlte überall nach 5 mal 24 Stunden (Versuchsreihe XXII
bis XXV).
Die 1. Wiederholung nach 6mal 24 Stunden (Versuchs-
reihe XV) und 7 mal 24 Stunden (Versuchsreihe XXI) ergab zwar
noch eine Erniedrigung in der Zahl der Lesungen, doch ist die
Differenz zu gering, um nach Abzug des Uebungsfaktors eine Er-
sparnis annehmen zu können.
In Versuchsreihe XIII und XIV wurde bei der 3. Erlernung
nach 5 mal 24 Stunden eine beträchtliche Ersparnis erzielt. Eine
Erhöhung der Zwischenzeit zwischen 2. und 3. Erlernen (Versuchs-
reihe I, XV— XXI) ergab noch nach 5, 6, 7, 8 und 11 Tagen
Ersparnis. Wie ein Blick auf den oberen Teil der Tabelle zeigt,
lernte M. auch in anderen Versuchen, wo zwischen 1. und 2. Wieder-
holung kürzere Abstände gewählt wurden, die gleiche Reihe das
dritte Mal stets mit Ersparnis an Lesungen.
In Versuchsreihe VIII fand die 2. Wiederholung nach 22 Tagen
statt. Eine kleine Ersparnis scheint auch hier zu bestehen, da
die Zahl der Lesungen (13) noch unter dem Durchschnittswerte
der für die 1. Erlernung neunstelliger Reihen erforderlichen
Lesungen liegt.
41
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose.
9 (odeL ozr) » (02s 09) g (0st o8)? +
g (eduL 081) FALSE +. 9
g (03=I 09) p (e3=L 02) 3 8
61
(—) 08
(—) 81
-)05-—- — — — (—) 03
8 (odeL 08) 8 (02L 8) 91 — —
y (9301 09) 6 (ed«L 08) 6 (e3*L FI) or (edeL 9) g
g (03I, 06) + (032I 09) c (vdeL 09) 9 (odeL 8) g (edeL 2)
g (93sI 09) g (02sL gp) 9 (03s 8) 9 (edrL 2)
g (°3vL 06` g (°3sI 09) L (93L gg) q (93L 6r) o (03eg) L
g (031 06) 8 (03L 09) 8 (°3sL og) g (03L pr) 2 (odeLg)g
aoM 6
+ (o3sL0g) g (ode, p1) 2 (odrL 11) zu — —
g (odeL 201) 9 (03I gp) 6 (93sL 61) L (03er 8) o — — — - 0
p (ode] 001) g1 (odeL 9p) 6 (odeL p1) p (03e g) oe — —— — 9
g (03s 06) 8 (03er cg) g (03s 9) || (—)og O31) e — — —
g (oJsI 06) g (93er cg) g (odeL 8) 11 (03319) g1 — —
& (03=L 06) g (°3sI gg) p (od«L 18) a (HL) — — —
oM 6
9 (03s 08) 91 (o3eL 09) g8 (033I 38)
g1 (odeL gg)
gt (edeL 18)
gT (03s 13) 6 —
(—) os (0ĝsI 81) e - -- 33 —
gr (edeL 08) 8 - —— 9 —
9 (93e 06) g (oBeL gg) (—) L1 (odeL 61) || 9 (03s, g1) » — — -8g - —
g (03s LogI)9 (02sI CE) 9 (edeL 61) || 9 (odeL FI) & — — -3 — —
y(odsLosı)6 (edeL c3) 81 (edeL 87) || g (ode g1) | ı - - 8 — — —
8410 A 6 9310M 8
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42 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
Bei der 4. Erlernung wurde in Versuchsreihe XVI—XX
nach 3—19 Tagen eine sichere Ersparnis gefunden, in Versuchs-
reihe XXI sogar nach 30 Tagen mit Ersparnis gelernt. Dagegen
wurde in der XII. Versuchsreihe bei der 3. Wiederholung die Reihe
nach 5 Tagen in 20 Lesungen noch nicht erlernt. In Versuchs-
reihe VI und VII fand nach 21 bezw. 22 Tagen keine sichere
Ersparnis statt.
Bei der 5. Erlernung wurde in der XIII. und XIV. Ver-
suchsreihe nach 14 bezw. 19 Tagen Ersparnis erzielt. Versuchs-
reihe I ergab nach 13 Tagen, Versuchsreihe IV nach 20 Tagen
keine deutliche Ersparnis. Dagegen wurde in Versuchsreihe XVII
nach 25, in Versuchsreihe IX, XV, XVI, XIX, XX nach 30 Tagen
mit Ersparnis erlernt.
Bei der 6. Erlernung lernte M. 60 Tage nach der 5. Er-
lernung die gleiche Reihe mit Ersparnis wieder (Versuchsreihe
XVI—XX).
Die 7. Erlernung ergab nach 90, 100 und 107 Tagen aus-
giebige Ersparnis (Versuchsreihe X—XII, XVI, XVII, XIX,
XIII, XIV).
Die 8. Erlernung ergab Ersparnis nach 90, 120 und 150 Tagen
(Versuchsreihe III, XXVII, XXVIII I).
Die 9. Erlernung nach 150 Tagen (Versuchsreihe II).
In den Versuchen XXVI—XXVII wurden Reihen sinn-
voller Worte in aufeinanderfolgenden Tagen wiederholt erlernt.
Man findet bei der fünften Erlernung eine niedrigere Zahl von
Lesungen als in den analogen Versuchen mit grösseren zeitlichen
Intervallen zwischen den einzelnen Wiederholungen, Auch erweisen
sich jene Reihen bei späterer Vorführung nach einem langen Zeit-
raume als die fester eingeprägten.
Vergleicht man bei M. und O. die Protokolle jener Versuche,
in welchen eine Reihe nach wiederholtem Erlernen mit grösster
. Ersparnis wiedergelernt wurde, mit jenen, wo eine Reihe in wenig
Lesungen zum erstenmale erlernt wurde, so findet man bei M.
im ersten Falle Falschnennungen nur in den ersten Wieder-
holungen, ferner ist hier jener Typus, der sich für das Erlernen
als vorteilhafter erwies, besonders deutlich ausgesprochen. Wir
finden somit die festere Einprägung einer Wortreihe auch schon
in der Art des Erlernens gekennzeichnet und gewinnen so An-
haltspunkte für die Beurteilung von Fällen, wo die Zahl der
Lesungen kein sicheres Urteil über eine Nachwirkung früherer Er-
lernungen zulässt. |
Tabelle 4 bringt die Ergebnisse einiger Versuche mit sinn-
losen Worten. In einer Gruppe wurden fünf achtstellige Reihen in
sechs aufeinanderfolgenden Tagen sechsmal erlernt, in den ersten
zwei Versuchen nach drei Tagen wiederholt, sodann für alle Reihen
grössere Unterbrechungen eingeschaltet. In der zweiten Gruppe
wurde gleich im Anfang in Zwischenräumen gelernt. Wie die erste
Vertikalreihe zeigt, ist die Zahl der Reihen, welche in der ersten
Sitzung nicht erlernt werden konnten, ziemlich beträchtlich. Eine
but pas
m OLONA L e pa go m
PESSEREISNS
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 43
Tabelle 4.
V. 14 6 2 8 28 — — — 3 68 Tage) 2 (120 Tage) 4
V. 16(—) 9 4 768 — — — 8 (50 Tage) 5 (120 Tage) 8
V. 18 4 4 B 4 8 (14 Tage) 4 (40 Tage) 7 (120 Tage) 4
V. 11 6 4 6 44 (20 Tage) 4 (60 Tage) 2
V. 16(—) 9 8 5 58 (81 Tage) 6 (90 Tage) 5
V. 18 — 16 — 8 2 (14 Tage) 4 (45 Tage) 3
v 17 (2) — 16 — 8
V. 15(—
v ee EO 5 (9 Tage) 9 (14 Tage) 6 (80T (60 Tage) 3
. — — — age age age) 4 e
V. 13) — 18 — — 9 8 Ta 11 (14 — 10 8 ER 6 (60 Tage) 4
Wiederholung nach 24 Stunden ergab bis auf Reihe 9, welche auch
in der ersten Sitzung nicht erlernt werden konnte, deutliche Er-
sparnis. Im Gegensatz zu den Versuchen mit sinnvollen Worten
ist schon bei einer Wiederholung nach 48 Stunden keine sichere
Ersparnis mehr nachzuweisen. Dagegen findet man bei der zweiten
Wiederholung auch nach 72 Stunden eine Erniedrigung des Wertes.
Die Versuche mit täglicher Wiederholung der Reihen zeigen ein
anfänglich rascheres, später allmähliches Absinken der Zahl er-
forderlicher Lesungen. Einschaltung sserer Zeiträume zeigte
bei einem Abstande von neun Tagen deutliche Ersparnis bei der
vierten Erlernung; ferner Ersparnis in der fünften Erlernung
nach 14 Tagen (Reihe 6, 10, 11) und Ersparnis bei einem Zwischen-
raume von 30 und 45 Tagen zwischen fünfter und sechster Er-
lernung (Reihe 10, 11, 6).
Bei der siebenten Erlernung wurde nach 60 Tagen (Ver-
suchsreihe 10 und 11), bei der achten Erlernung Versuchs-
reihe 4 nach 60 Tagen, Versuchsreihe 5 nach 90 Tagen eine Er-
sparnis erzielt.
Die neunte Erlernung ergab nach 120 Tagen deutliche Er-
sparnis (Versuchsreihe 1, 2, 3).
Nach den Versuchen Brodmanns mit dem Erlernungs-
verfahren sind Korsakoffsche Patienten im Höhestadium der
Erkrankung nicht im stande, zusammenhängende Vorstellungs-
reihen sich derart einzuprägen, dass sie frei reproduziert werden
können; allerdings gilt dieser Satz bloss für 8- und mehrstellige
Reihen sinnloser Worte, Wie bereits erwähnt, fand Brodmann
im Höhestadiam der Krankheit latente Erinnerungsspuren nach
1, 1!/ und 24 Stunden, indem bis auf imal, wo Ermädung der
Versuchsperson hindernd wirkte, die wiederholte Erlernung der
Reihe eine Zunahme der Trefferzahl ergab.
Bei der Erlernung von Strophen aus Bubes „Auswanderer“,
die durchschnittlich 30 Worte zählten, musste ich von dem gewöhn-
lichen Verfahren abweichen, bei welchem die Versuchspersonen
den zu erlernenden Stoff im ganzen lasen, da, wie ein Blick auf
Tab. 5 lehrt, dies Verfahren hier nur sehr langsam zum Ziele
führte. Ich liess daher die Versuchspersonen erst jede Strophen-
hälfte für sich erlernen und dann die Strophe im ganzen bis zur
44 . Gregor, Beiträge zur Kenntnis
Einprägung lesen. Die hierzu erforderlichen Wiederholungszahlen
sind in der Tabelle in der Weise wiedergegeben, dass die zur
Erlernung der Strophenhälften nötigen Lesungen in Bruchform
ausgedrückt sind!). Wie aus der Tabelle ersichtlich, lernte M,
Gedichtsstrophen bei der 2. Erlernung nach 10 Tagen, bei der
3. Erlernung noch nach 70 und 80 Tagen mit grosser Ersparnis.
Bei der 5. Erlernung wurde auch nach 120 Tagen mit Ersparnis
erlernt (No. VII). In auffälligem Gegensatze zur schwierigen
Neuerlernung unbekannter Strophen stand das Resultat, welches
bei Erlernung eines ihm bekannten Gedichtes (Bürgschaft) erzielt
wurde. M. lernte dieses schon in der Schule und hatte während
des Aufenthaltes in der Klinik vorher keine Gelegenheit, es zu
wiederholen. Die ersten Strophen dieses Gedichtes wurden, ohne
sie vorher zu lesen, frei hergesagt; die folgenden 7 nach
1—2 Wiederholungen. Bemerkenswert ist, dass M. gleich beim
ersten Lesen einzelne Abweichungen des Textes von dem in der
Schule verwendeten auffielen, so: „Und die Stimme, die rufende
schicket“, während er in der Schule „und die Kappe ins Antlitz
rücket“ gelernt zu haben angab. Obwohl sich Pat. bemühte,
nach dem jetzt gelesenen Texte zu rezitieren, erfolgte selbst nach
6—7maligem Lesen derartiger Strophenteile keine Korrektur der
1. Reproduktion.
' (Hier folgt Tabelle 5 auf Seite 45.)
Mit welcher Schwierigkeit die Erlernung der Strophen bei
O. erfolgte, ist aus der Tabelle leicht ersichtlich. Er erlernte in
der 1. Versuchsperiode (1.—6. Strophe) bloss zwei Strophen, in
der 3. Sitzung; war aber eine Strophe einmal eingeprägt, dann
konnte sie selbst nach Einschaltung längerer Zeiträume, nach
verhältnismässig wenigen Wiederholungen wiedererlernt werden.
So lernte er bei der 8. Erlernung noch nach 50—70 Tagen mit
grosser Ersparnis. E
Da wegen der abweichenden Erlernungsart die Nachdauer
einer einmaligen Erlernung in diesen Versuchen nur unscharf hervor-
trat und damit ein Vergleich mit den Versuchen über das Er-
lernen unzusammenhängender Wortreihen erschwert wurde, so
liess ich noch das aus kürzeren Strophen bestehende Gedicht
„Kreuzschau* von Chamisso No. X—XII und einige Zeilen aus
Freytags „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ lernen.
In beiden Versuchsreihen fand ich bei M. stets auch nach 9 Tagen
(weiter wurde nicht untersucht) eine ausgiebige Ersparnis für die
2. Erlernung in 2. Sitzung. Auch O. lernte Gedichtsstrophen
und Prosastücke, die in 1. Sitzung erlernt wurden, nach 10 Tagen
mit Ersparnis, Eine Strophe, die erst in der 2. Sitzung erlernt
wurde, erlernte er bei der 8. Sitzung nach 17 Tagen mit geringerem
Aufwande an Wiederholungen.
1) Die durch ein + Zeichen mit dem Bruche verbundene Zahl entspricht
der nach Erlernung der Strophenhälften noch zum Erlernen der ganzen
Strophe erforderlichen Lesungen.
der Gedächtnisstörung bei der Korsakofischen Psychose.
| Tabelle 5.
Zahl der Wiederholungen bis zum freien Hersagen.
45
M.
Gedichtstrophen
6(—) 12 (—) — — 4(—) 4 5 5 2 (10Tg.)8 (110Tage)2
1(—) 8 — — 38 6 4 8 NOTAT (Otago)
, 12(-) 148 (— — 15 4 8 2 1(120Tg.)2
299 —— +8) Io) 4 (10Tage) 8 (110Tage)3
ttis) 8 2 3 (20Tage) 1 (100Tage 1
e= Fra) itiha 8 (45Tage) 2 (I05Tage)B
SHT hatt? pa Itla 4 (120Tage) 8
+2 += HH +5 (80Tage) 4
stye 10 Tag) E41 CT 3
10 (4 Tage) 8 (50 Tage 2
6 (9 Tage) 2 (80Tage 2
9 (9 Tage) 7 (80 Tage 8
Prosa
4 ST 1 807 8
9 G 18 1 (80 — 8
10 (9 Tage) 8 (80 Tage) 2
O.
Gedichtstrophen
9(—) — — 9(—) 6(—) 4(—) 3) 23 3(120Tg)8
HI, 18 (—) SFA i)e 6 TE) 7 (110Tg)8
2
tt) BEE a) - — 5 8&5 8 44 (10Tago)8
5
Et) Hjem a (50 Tag) 3 (10Tage)2
. EHS peeti palts 5 (30 Tago) 8 (100Tage)4
5 |
SBa 38215 (60 Tage) 8
Ht — — — — ATTage) FE! +5
8 (8 Tage) 8 (50Tage) 8
8 (10 Tago) 4 —88 5
0 (10 Tage) (T0Tage) 10
Prosa
7 (8 Tage) 3 (40 Tage) 1
9 (10 Tage) 4 (70 Tage) 4
9 (10 Tage) 5 (70 Tage) 8
46 Pilos, Zur prognostischen Bedeutung
Wir sehen also einen bemerkenswerten Unterschied
in der Stärke der Dispositionen zur Wiedererlernung
eines einmal gelernten Stoffes je nach seinem Inhalte.
Während bei sinnlosem Materiale die 2. Erlernung nach 2x24
Stunden für M. keine sichere Ersparnis gibt, unzusammenhängende
‘Reihen sinnvoller Worte bei 2. Erlernung nach 4X24 Stunden
leichter erlernt werden, ist bei zusammenhängenden Wortreihen
bei ihm eine Ersparnis noch nach 10X24 Stunden zu beobachten.
Auch O., bei dem eine Nachwirkung einmal erlernter unzusammen-
hängender Reihen sinnvoller Worte nach 4X24 Stunden nicht
mehr festzustellen war, lernte zusammenhängende Wortreihen nach
10X24 Stunden noch mit Ersparnis wieder.. Diese Tatsache ist
dadurch zu erklären, dass zwischen unzusammenhängenden, sinn-
vollen Worten festere Assoziationen als zwischen sinnlosen Worten
gebildet werden, die festesten aber zwischen zusammenhängenden
Worten. | (Schluss im nächsten Heft.)
Aus der k. k. I. psychiatr. Univ.-Klinik in Wien.
Zur prognostischen Bedeutung
des Argyli-Robertsonschen Phänomens.
Von
Dozent Dr. ALEXANDER PILCZ,
suppl. Vorstand der Klinik.
Bei den grossen. Schwierigkeiten, welche mitunter der
Differentialdiagnose zwischen schwerer Neurasthenie und Paralys.
rogr. incipiens sich entgegenstellen können, soweit die psychischen
Symptome in Betracht kommen, wurde stets ein besonderes Ge-
wicht auf den Nachweis, bezw. das Fehlen gewisser motorischer
Störungen gelegt. Darunter verdient an erster Stelle das Ver-
halten der Bupillen genannt zu werden. Ä
Nun wissen wir freilich, dass die verschiedenen Pupillen-
störungen, speziell Anisokorie und träge Lichtreaktion bis zu
völligem Argyli-Robertson, keineswegs als pathognostisch für
Tabes und Paralys. progr. gelten dürfen. Ich verweise z. B. auf
die Beobachtung von Moëli, Raimann, Gudden u. A. bei Al-
koholikern, von mir, Stransky u.A. bei periodischen Psychosen etc.
Immerhin scheinen Pupillenphänomene der oben angedeuteten Art
bei reiner Üerebrasthenie relativ wenig Berücksichtigung in der
neurologischen Literatur gefunden zu haben.
as zunächst die Erscheinung der Anisokorie anbelangt, so
war Beard wohl der erste, welcher auf das Vorkommen zeit-
weiser Pupillendifferenzen bei Neurasthenikern aufmerksam ge-
des Argyli-Robertsonschen Phänomens. 47.
macht hat. Pelizaeus beobachtete unter 320 Fällen diese Er-
scheinung 11mal, darunter 6mal das Phänomen, dass bald die
eine, bald die andere Pupille die weitere war.
In einem seiner Fälle war das Auftreten der Anisokorie an
den Menstruationsprozess gebunden, in einem anderen liess die-
selbe sehr deutlich eine Abhängigkeit von dyspeptischen Störungen
erkennen. Besonders bemerkenswert ist, dass in einem der Fälle
von Pelizaeus die Pupillenungleichheit mehr als Jahresfrist be-
stand und sich dann erst allmählich spurlos verlor. Ja, nach einer
mündlichen Mitteilung Pelizaeus an König (zit. nach Schau-
mann) bestand bei einem Neurastheniker durch 17 Jahre hin-
durch das Phänomen der springenden Mydriase, ebenso in einem
von Riegel publizierten Falle durch 12 Jahre. Josef will sogar
langdauernde Anisokorie bei Neurasthenikern sehr häufig gesehen
haben, was wohl, wie auch Löwenfeld meint, jeder neurologischen
Erfahrung vollstäudig widerspricht. Löwenfeld erwähnt von
Papillenphänomen der Neurastheniker als häufig eine ungewöhn-
liche Weite der Pupillen und den Hippus. Betreffs der Anisokorie
berichtet dieser Autor u. a. über einen Fall, bei welchem nur
während dyspeptischer Störungen eine einseitige Mydriase sich
zeigte, über einen weiteren Kasus, bei dem er eine „seit Jahren“
bestehende Pupillendifferenz beobachtete, endlich über mehrere
Fälle, in welchen bei vorhergegangenerluetischer Infektion „Pupillen-
veränderungen neben rein neurasthenischen Symptomen Jahre
lang bestanden, ohne dass es zur Entwicklung schwererer Gehirn-
symptome kam“. Es ist ja auch zur Genüge bekannt, dass die
Syphilis allein auch bei Nicht-Tabetikern und Nicht-Paralytikern
die verschiedensten Pupillarstörungen setzen kann, so auch echten
Argyli-Robertson. (Vergl. u. a. Moeli, Babinski, Bumke,
Braillon, Redlich etc.)
Kehren wir wieder zu den Autoren zurück, welche sich mit
den Pupillenphänomenen bei Neurasthenikern befassen, so sagt
v. Krafft-E ing u.a. von den Pupillen bei der Neurasthenie, dass
sie „oft abnorm weit und träge auf alle Reize reagierend“ sind,
dann „häufig mittelweit und von ungewöhnlich prompter, selbst
bis zu Hippus“ gesteigerter Reaktion. — „Enge Pupillen kommen
der Neurasthenie nicht zu. Myosis, eventuell gar mit Lichtstarre,
spricht für eine organische Erkrankung“. Schliesslich erwähnt
v. Krafft-Ebing auch die Anisokorie, wobei er auch die oben
zitierten Angaben Pelizaeus anführt.
Oppenheim. bespricht das Vorkommen der „springenden
Pupillen“ bei der Neurasthenie; Hippus sei nicht selten, „. . . nament-
lich ist der Lichtrefex immer erhalten...“ Ueber Beobachtungen
der „springenden Mydriasis“ berichtet endlich in jüngster Zeit
Schaumann, der auch in vollständigster Weise die einschlägige
Literatur zusammengestellt hat!).
1) Aus den von Schaumann zitierten Arbeiten sei hier nur eine
Publikation von König (Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde, 1899, 15. Bd.)
speziell erwäbnt, der in einer Fussnote mitteilt, dass er einmal einseitige
upillenstarre bei einem „kerngesunden* 17j. Mädchen antraf.
48 Pilez, Zur prognostischen Bedeutung
Während, wie wir eben sahen, das Vorkommen vorüber-
gehender oder selbst länger dauernder Anisokorien bei der Neur-
asthenie mehrfach beschrieben wurde, konnte ich in der mir zu-
gänglichen Literatur nichts über Störungen in der Lichtreaktion
bei der einfachen Neurasthenie finden.
Die meisten Literaturangaben, wie sie besonders sorgfältig
von Fuchs zusammengetragen wurden, gehen dahin, dass im
allgemeinen die Lichtreaktion bei Neurasthenischen nichts be-
sonderes aufzuweisen hat, bis auf das häufige Vorkommen von
ungewöhnlich prompter Lebhaftigkeit. Bei seinen eigenen (11)
Fällen fand Fuchs die Lichtreaktion sehr schnell, prompt und
demzufolge als Durchschnittszahl der mittleren Geschwindigkeiten
eine verhältnismässig hohe Ziffer, 1,401.
Bumke, dem sich Cramer anschliesst, sagt ausdrücklich:
„Bei der Neurasthenie kommen Pupillenstörungen, die zur Ver-
wechslung mit organischen Krankheiten des Nervensystems Ver-
anlassung geben könnten, nicht vor. Wo solche Symptome, wie
die reflektorische Pupillensterre z. B., .. . beobachtet werden,
darf mit Sicherheit die Diagnose der ... ‚Nervenschwäche‘ ...
abgelehnt werden.“ Auch bei Marburg finden wir keinen Hin-
weis auf das Vorkommen bedeutsamerer Pupillenstörungen bei
der Neurasthenie.
Die Angaben von v. Krafft-Ebing und Oppenheim wurden
schon oben zitiert.
Es sei zunächst ganz kurz zusammengestellt, was über
das Vorkommen des Argyli-Robertsonschen Phänomens und
Störungen in der Lichtreaktion überhaupt bei Nichttsbischen und
Nichtparalytischen bekannt ist. Der Arbeiten von Moeli, Rai-
mann, mir, Babinski u. A. wurde schon gedacht, d. h. des
Vorkommens der fraglichen Symptome bei Alkoholismus, periodi-
schen Psychosen und bei Syphilis. In einer sehr fleissigen Arbeit
hat Hu et Fälle gesammelt, welche den Schluss zulassen: „Ce signe
(scil. Argyli-Robertson. Anm. d. V.) a été rencontré dans un
certain nombre d’affections à étiologie non syphilitique et dues .. .
à des infections ou à des intoxications diverses, exogènes ou
endogènes.“ Huet stellt Fälle zusammen von Dementig praecox,
Melancholie, Paranoia etc., von Névrite interstitielle hypertrophique,
multipler Sklerose, progressiver Muskelatrophie, Vergiftung mit
Schwefelkohlenstoff etc., die alle diese Erscheinung boten. Huet
berichtet auch über eine Reihe von Fällen (Tabes, Paralyse etc.),
in denen echter Argyll-Robertson als intermittierendes Symptom
auftrat. (Ein genaues Eingehen auf die einschlägige Kasuistik
erscheint mir mit Rücksicht auf die eben erwähnte Huetsche
Dissertation überflüssig.)
Ich erinnere ferner unter anderm an die interessanten, von
M oeli in seiner Gruppe VI publizierten beiden Fälle, bei welchen,
ohne irgend eine nachweisbare Aetiologie (Lues od. dergl.), neben
nicht näher zu diagnostizierenden psychischen Störungen Argyll-
Robertson als stationäres Symptom bestand (bei Obs. 1 allerdings
des Argyli-Robertsonschen Phänomens. 49
Anamnese mangelhaft, Argyll - Robertson durch 14 Jahre, bei
Obs. 2 Beobachtungsdauer 4 Jahre, Pupillensymptome stationär;
psychischer Zustand weist sonderbare Remissionen auf). Ä
Durch gewisse Beobachtungen bei wiederholter Untersuchung
derselben Fälle stutzig gemacht, war ich bemüht, katamnestisch
oder womöglich durch eigene Beobachtung eine Reihe von ambulanten
Kranken zu verfolgen, die in den letzten Jahren in unser Nerven-
ambulatorium gekommen und daselbst mit der Diagnose „pro-
ressive Paralyse“ oder „Paralyseverdacht“ geführt worden waren.
Soweit ich über das weitere Schicksal der Patienten Positives er-
fahren konnte, war nun die Sache so, dass die meisten tatsächlich
mit Dementia paralytica gestorben waren oder sich noch in den
verschiedenen Anstalten oder in Familienpflege befanden. Bei
einigen aber verhielt es sich anders,und deren Krankheitsgeschichten
seien nun im Folgenden in Kürze gebracht:
1. H. W., Kontorist, 39 Jahre. Für Lues kein Anhaltspunkt. Ge-
schäftliche Sorgen. Seit einem Jahre zunehmende typische, neurasthenische
Symptome. Objektiv (22. XI. 1902) Pupillen entrundet, enge, reagieren
auf Licht nur träge und spurweise, auf Akkommodation nnd
Schmerz prompt und ausgiebig. Keine Sprachstörung, P.S.R. gleich,
sehr lebhaft, mehrfache Druckpunkte. Psychischerseits Defekte nicht nach;
weisbar. Rat, sofort absolut auszuspannen, Urlaub, vollständige Alkohol-
abstinenz, allgemeine diätetische Vorschriften und — sol. causa —
Fellows Syrup.
6. VI. 1904 stellt sich Pat. neuerdings mit den alten Klagen vor. Die
ganze Zeit her sei es ihm ausgezeichnet gegangen. In den letzten Monaten
stärkere „Aufregungen“ im Geschäft; neuerdings Schlaflosigkeit, Kopfdruck,
Arbeitsunfähigkeit u. s w. Pupillen mittelweit, rund, reagieren
rompt in jeder Hinsicht. P.S.R. normal. Katamnese. Dauernd
berufs hig, bisauf zeitweise stärker hervortretende, allgemeincerebrasthenische
Beschwerden gesund’).
2. P. N., Pbarmazeut, 29 Jahre, stellt sich 14. V. 1902 wegen aller. er-
denklichen neurasthenischen Beschwerden vor. Lues energisch negiert.
Aetiologisch: Masturbation, frustrane Erregungen (als Bräutigam) und Prü-
fungsjahr. Rechnen, Schreiben etc. prompt. Sprache tadellos. Beide Pu-
illen enge und lichtstarr (!), auf Akkommodation und schmerz-
afta Reize träge, aber deutliche Reaktion?) Bei dem Fehlen
irgend welcher suspekter Symptome psychischerseits und der quoad Syphi-
lis absolut negativen Anamnese bestellte ich den Mann für acht Tage später,
während welcher Zeit ich ihm strengstens vollständige Rube und Landauf-
enthalt auftrag, sowie der Agrypnie wegen ein wenig Paraldehyd verordnete.
Am 22. V. subjektive Beschworden ein. wenig geringer, genügend Schlaf.
Pupillen mittelweit, reagieren prompt in jeder Beziehung.
P. g R. normal. Katamnese: Bis auf zeitweilig auftretende leichtere neur-
asthenische Klagen dauernd wohl, — übt seinen Beruf als Apotheker. aus,
ist verheiratet, Vater 2 gesunder Kinder.
8. W. J., Agent, 88 Jahre, 1895 Lues, mehrfache Inunktionskuren,
einmal Abortus der Frau. Seit tja Jahr Schlaflosigkeit, Kopfdruck, Klagen
überschlechtes Gedächtnis und enormeErmüdbarkeit; vor allem viele hypochon-
ı) Die Katamnesen datieren bis zum Zeitpunkte der Publikation dieser
Mitteilung. on '
1) Für eine Morphium- .oder andere toxische Wirkung, woran gerade
mit Rücksicht auf den Beruf des Patienten gedacht werden musste, ergab
die Anamnese keinen Anhaltspunkt. en
Monstsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XX. Helft ı. 4
60 Pilcz, Zur prognostischen Bedeutung
drische Ideen, Furcht, sicher an P. p. zu .erkranken. (Pat. ist über den Zu-
sammenhang von Lues und P. P unterrichtet.) Befund (80. V. 1904) im all-
emeinen bis auf mässigen Lidtremor durchaus negativ, doch erscheint
ie linke Pupille ontrundet und reagiert (in jeder Hinsicht) träger
als die rechte. P. S. R. mässig>,=. Katamnese: Dauernd berufsfähig
Alljährlich gegen Sommer zu stärkere neurasthenische Beschwerden, die
nach einem mehrwöchigen Erholungsurlaub schwinden.
4. D. Sz., Student, 22 Jahre, für Lues kein Anhaltspunkt. Schon als
Obergymnasiast mehrfach ähnliche Zustände wie der gegenwärtige: De-
pression, Schlafsucht und Schlaflosigkeit wechselnd, Abulie, Zwangsvor-
stellungen. — Masturbation (seit vielen Jahren), Ueberarbeitung (Rigorosum
und gleichzeitig Lektionen erteilen). Pupillen unter mittelweit, bei
gewöhnlich er Prüfung lichtstarr; bei Prüfung im Dunkelzimmer mittels
eflektors zunächst keine Reaktion; wenn aber das Auge längere Zeit un-
belichtet geblieben, erfolgt bei grellem Lichteinfall eine träge, wenig aus-
giebige, aber entschiedene Kontraktion, ohne dass sich im übrigen die Pu-
pille in der Dunkelheit sonderlich erweitert hätte. 27. IV. 1905 psychischer-
seits nicht der geringste Verdacht auf P. p. Keine Sprachstörung, Rechnen,
Gedächtnis etc. ungestört. P. S. R. gleich, ein wenig gesteigert.
Keine Katamnese.
5. A. St., Elektriker, 42 Jahre. Lues negiert, nach einem Schädel-
trauma verschiedene vage nervöse Beschwerden, Zittern, Schlaflosigkeit, Ge-
dächtnisschwäche. — 3. VII. 1904 kein bes. Befund. 8. XI. 1905: Die linke Pu-
pille auffallend träge Lichtreaktion, rechts prompt. Juni 1906: Pu-
illarreaktion beiderseits prompt. Patient, er sich 8. XI. 1905 wegen
besonderer Steigerung seiner Beschwerden vorgestellt hatte, kam Juni 1906
nur auf Aufforderung in die Ambulanz, berichtet über Wohlbefinden und
volle Berufsfähigkeit. Psychisch nicht der mindeste Defekt.
6. F. Th., Postamtsdiener, 38 Jahre, Lues 1887, kommt 9. V. 1904 mit
vagen hypochondrisch-neurasthenischen Beschwerden in die Ambulanz. Leider
liegen über den damaligen Status nervosus und psychicus nur höchst dürf-
tige Notizen vor; es steht die Diagnose P. p. und Anisokorie, träge
Lfehtreaktion. 22. VI. 1906 neuerlicher Befund: Pupillen r. < 1., I. mydria-
tisch, lichtstarr, auch sympathische Reaktion erloschen, nkkommodative
prompt. Keine Sprachstörung. P.S.R.>=. Der psychische Zustand des
dauernd trotz seiner neurasthenischen Beschwerden vollkommon dienstfähigen
Mannes liefert jetzt nicht den geringsten Anhaltspunkt für P. p. incipiens.
1. X. Y., 61 Jahre, Universitätsprofessor. Lues negiert. In der letzten
Zeit besonders intensive geistige Anstrengung, die dem Patienten namentlich
wegen der Zersplitterung für zahllose, nicht wissenschaftliche Agenden, die
sich zufällig gehäuft hatten, sehr schwer gefallen war. Ziemlich akut ein-
setzende Cerebrasthenie, und zwar stehen vorwiegend asthenopische Be-
schwerden im Mittelpunkt der Klagen. Bei der ersten Prüfung (Dezember
1905) Gedächtnis etc. durchaus zufriedenstellend; Pupillen unter mittel-
weit, anf Licht kaum, besser, aber auch nur mit geringer Exkur-
sionsweite und entschieden träge, auf Akkommodation und Schmerz
reagierend. Im übrigen belangloser Befund. Anraten sofortiger absoluter
Schonung und die üblichen Verhaltungsmassregeln, Bei einer zweiten (etwa
3 Wochen später vorgenommenen) Untersuchung subjektives Wohlbefinden,
Pupillenreaktion in jeder Hinsicht gleich, wenn auch ein wenig
träger und in geringerem Ausmasse.
Ueberblicken wir die angeführten Fälle, so will ich zunächst
von Obs. 3, 4, 6, 7 ganz absehen, die ich nur der Vollständigkeit
halber hier mit aufgenommen habe. In Obs. 3 und 6 lag sicher-
gestellte Syphilis vor; bei Obs. 4 ist keine weitere Katamnese
vorhanden, so dass eine eventuelle spätere anatomische Affektion
nicht ausgeschlossen werden kann, und Obs. 7 betrifft ein seniles
Individuum (wiewohl der Unterschied in der Schnelligkeit bezw.
des Argyli-Robertsonschen Phänomens. bi
Trägheit der Irisbewegungen bei zwei aufeinander folgenden Unter-
suchungen immerhin nicht zu verkennen war).
In den ersten beiden Fällen und bei Obs. 5 aber liegen die
Dinge anders. Da handelt es sich um durch den weiteren Verlauf
sichergestellte Neurasthenien, welche vorübergehend Pupillen-
störungen boten, wie sie sonst bei organischen Nervenerkrankungen,
beim Alkoholismus und bei periodischen Geistesstörungen beobachtet
werden. In einem Falle bestand ausgesprochenes Argyll-
Robertsonsches Phänomen, bei Obs. 1 und 5 war es angedeutet.
Zwei naheliegende Einwände drängen sich zunächst auf.
Erstens, dass die fraglichen Befunde doch, trotz gegenteiliger
Anamnese, auf eine überstandene luetische Affektion zurückzuführen
seien. Dagegen sprechen aber wohl Obs. 1 und 2, auch 5 und 7,
bei welchen die bewusste Erscheinung mit der Besserung der
neurasthenischen Beschwerden sich zurückgebildet hatte (in
Obs. 2 sogar schon innerhalb von 8 Tagen). Den zweiten Ein-
wand, dass die Pupillenphänomene doch nur Initialerscheinungen
eines anfangs nicht Niagnastizierten organischen Leidens bedeuteten,
glaube ich mit Rücksicht auf die lange Beobachtungsdauer, den
derzeitigen Befund und auf das eben erwähnte Zurückgehen des
Symptomes gleichfalls entkräften zu dürfen. (Auf einen anderen
Einwurf, dass vielleicht die Befunde durch Fehler der Unter-
suchungstechnik vorgetäuscht wurden, meine ich wohl nicht erst
näher eingehen zu müssen; es versteht sich von selbst, dass alle
irgendwie in ihrer Lichtreaktion suspekten Fälle im Dunkelzimmer
mittels Reflektor und unter allen Kautelen geprüft werden.)
Bezüglich Potus war zwar kein einziger dieser Fälle Tem-
perenzler strengster Observanz; allein ebensowenig konnte von
Alkoholmissbrauch die Rede sein; die Leute waren durchweg, im
sprachgebräuchlichen Sinne, mässig. Auch für Trauma Anamnese
negativ (bis auf Obs. 5). Ob für die suspekten Pupillenerschei-
nungen die Neurose als solche verantwortlich gemacht werden
kann, wage ich nicht zu sagen’). Auch eine Erklärung der frag-
lichen Erscheinung zu geben, bin ich ausserstande. Nachtragen
möchte ich nur noch, dass keiner der Fälle das Erbensche
Symptom aufwies. Möglicherweise handelt es sich um ein Reiz-
phänomen. Wir wissen ja auch nichts über die mehrfach beob-
achteten analogen Erscheinungen bei periodischen Psychosen (vergl.
die Literatur darüber in meiner Monographie).
Dergleichen Beobachtungen bei der Cerebrasthenie dürften
wohl sehr selten sein. Möglicherweise — es ist dies lediglich
2 Vielleicht darf ich mir an dieser Stelle folgende Erinnerung erlauben.
Auch die Lehre von der differentialdiagnostischen Bedeutung der Pupillen-
starre beim epileptischen gegenüber dem hysterischen Anfalle war ein Dogma,
an dem niemand zu rütteln wagte. Erst nach den Mitteilungen Karplus’
(Jahrb. f. Psychiatrie etc.; XVIII, p. 1, und Wiener klin. Wochenschr. 1896)
mehrten sich mit einem Male die Berichte über Pupillenstarre während
unzweifelhaft hysterischer Krampfanfälle (Oppenheim, Zeitschr. f. praktische
Aerzte. 1898; Westphal, Berl. klin. Wochenschr. 1897, etc. etc.).
4*
52 Pilcz, Zur prognostischen Bedentung eto.
eine persönliche Vermutung — werden sich solche Fälle doch
noch gelegentlich finden, wenn bei all den paralyseverdächtigeri
Kranken, bei welchen schliesslich nur die pupillären Erscheinungen
für die Diagnose Paralys. progr. incipiens ausschlaggebend waren,
durch genaue Katamnesen nach Jahr und Tag der weitere Ver-
lauf verfolgt werden könnte. Jedenfalls aber sollten dergleichen
Beobachtungen uns zu noch grösserer Vorsicht in der Diagnosen-
stellung bei paralyseverdächtigen Neurasthenikern mahnen und
anspornen, noch mehr auf das Ergebnis der rein psychischen
. Exploration bedacht zu sein. DerWertdesArgyll-Robertsonschen
Phänomens in der Symptomatologie der progressiven Paralyse
wird dadurch nicht gemindert; nur überschätzen dürfen wir
das Symptom nicht. In diagnostisch unklaren Fällen wäre das
Ergebnis der Lumbalpunktion von grosser Wichtigkeit.
Literatur.
Moeli, Ueber Pupillenstarre etc. Arch. f. Psych. etc. 1887. XVIII, p. 1.
Raimannn, Zur Lehre von den alkoholischen Augenmuskellähmungen.
Jahrb. f. Psych. etc. XX. Bd., p. 86, und: Polioencephalitis acuta und
Delir. alcohol. etc. Wiener klin. Wochenschr. 1900. p. 31.
Gudden, Neurolog. Centralbl. 1900. p. 1096.
Pilcz, Die periodischen Geistesstörungen. Jena 1901. p. 168.
Stransky, Monatsschr. f. Psych. u. Neurologie. 1902. Vol. 11, p. 422.
Zur Lehre von d. period. Manie.
Beard, Die Nervenschwäche (Neurasthenie). Deutsch von Neisser. 1881.
Pelizaous, Deutsche Medizinalztg. 1889. p. 330.
Schaumann, Anhang „Ueber die Häufigkeit und klinische Bedeutung der
Pupillendifforenz etc.“. (Reichliche Literatur, so dass statt weiterer An-
gaben auf diese Arbeit verwiesen sei.) Zeitschr. f. klin. Medizin. Bd. 49,
p. 61, und Nord. med. Arch. 1903. Bd. II.
Riegel, Ueber springende Mydriasis. Deutsche Zeitschr. f. Nervenbeilk.
1900. 17. Bd.
Josef, Deutsche Medizinalztg. 1891. p. 494.
Löwenfeld, Die objektiven Zeichen der Neurasthenie. Münch. med. Ab-
handlungen. VI. R. 8. H. 1892. p. 5f. ,
Babinski u. Charpentier, De l'abolition des réflexes lumineux dans ses
rapports avec la syphilis. Bull. et mémoires de la société médicale
des höpit. Paris 1901. p. 502. .
Bumke, Die Pupillenstörungen etc. Jena 1904. p. 178.
Braillon, Gazette des höpitanx. 1906. No. 70.
Redlich, Wiener psychiatr. neurolog. Verein. 13. Dezember 1905.
v. Krafft-Ebing, ervosität und neurasthenische Zustände. Wien, 1895.
Opp enheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Berlin, 1905. p. 93, p. 1117.
Fuchs, Die Messung der Pupillengrösse. Wien-Leipzig 1904. pag. 107 ff.
(Daselbst ausführliche Literatur.)
Bumke, l. c, pag. 218.
Cramer, Die Nervosität. Jena 1906.
Marburg, Wiener Klinik. August 1903. 8. Heft. Die diagnostische Be-
deutung der Pupillenreaktionen.
Huet, Contribution à l’etude de la valeur sömeiologique du signe d’Argyli-
Robertson. Thèse de Bordeaux 1906.
-_— — — — — —— —
Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen etc. 53
Aus der psychiatr. Universitätsklinik zu Königsberg i. Pr.,
Direktor: Prof. E. Meyer.
Ueber periodische transitorische Bewusstseins-
störungen nach Trauma
(Dipsomanie etc. nach Trauma).
Von
Dr. ARTUR PELZ,
ehem. I. Assistensarzt der Klinik, jetzt Nieder-Schönhausen.
Uebersieht man die recht reichhaltige Literatur, die über
die „Geistesstörungen nach Trauma“ vorhanden ist, so findet man
das fast allgemein angenommene Ergebnis, dass ebensowenig,
wie die unter dem Namen der „traumatischen Neurose“ noch oft
zusammengefassten Krankheitsbilder eine wirkliche klinische Einheit
darstellen, eine einheitliche, spezifische, „traumatische Psychose“
unterschieden werden kann, sondern dass die verschiedenartigsten
sychischen Krankheiten durch das Trauma hervorgerufen werden
Können, wobei über die wirkliche Rolle des Trauma, ob als ursäch-
lichen, ob als auslösenden Momentes, ebenfalls eine einheitliche
Auffassung nicht besteht. Oft sind es bekannte oder wohl abgrenz-
bare Psychosen; oft aber auch passen die entstandenen Krankheits-
bilder in den Rahmen der bekannten Typen nicht hinein, ohne
doch ihrerseits hinreichend Vergleichspunkte in dem Masse zu
besitzen, dass sie zu einem neuen, eigenartigen Typ zusammen-
gefasst werden könnten.
Transitorische Bewusstseinsstörungen sind als Erscheinung
einer posttraumatischen Erkrankung nicht unbekannt. Die ein-
fachsten Bewusstseinsstörungen sind Anfälle von Schwindel, der
sich bis zu kompletter Ohnmacht steigern kann; sie treten im
Verlauf einer „traumatischen Neurose*“ oder „Psychoneurose*
überaus häufig auf und sind allgemein bekannt; insbesondere ist
der Schwindel „ein fast konstantes Symptom der sich an Kopf-
verletzungen anschliessenden Neurosen“ [Oppenheim (1, 2)].
Transitorische Bewusstseinsstörungen mit ausgesprochenen psycho-
tischen Symptomen, zumeist in Form der sogenannten „Dämmer-
zustände“, werden fast immer einer posttraumatischen Epilepsie
oder Hysterie zugezählt; seltener handelt es sich um alkoholische
Bewusstseinsstörungen auf Grund posttraumatischer Alkohol-
intoleranz. Dagegen finden sich in der Literatur, soweit ich sie
darchsehen konnte, keine Beobachtungen von periodischen
posttraumatischen Bewusstseinsstörungen, von „Dämmer-
zuständen“ jeder Art, bei denen sich das Bestehen einer der oben
54 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewausstseinsstörungen
angeführten Grundkrankheiten, Epilepsie, Hysterie, chronischer
Alkoholismus, in deren Verlaufe solche Dämmerzustände als wohl-
bekannte Erscheinungen auch ohne vorausgegangene Verletzung
vorkommen können, nicht nachweisen lässt; bei denen man also
schliessen kann und muss, dass die ja allgemein angenommene,
durch das Trauma hervorgerufene psyclıo-nervöse Alteration, wie
Kaplan sie nennt: die „traumatische Degeneration“, als solche
in iesen Formen sich äussern kann; nur Cramer (3) erwähnt
Zustände von transitorischer Bewusstseinsstörung bei Traumatikern
und führt eine Beobachtung an, wo die traumatische Seelenstörung
(Verblödung) durch einen ausgesprochenen Dämmerzustand ein-
geleitet wurde.
Die folgenden Mitteilungen sollen ein Versuch sein, solche
reine traumatische Bewusstseinsstörungen darzustellen; die erste
der Beobachtungen ist gleichzeitig ein Beitrag zur Pathologie und
Pathogenese der sogenannten Dipsomanie.
Beobachtung I. Johann S., Eisenbahninvalide, 48 Jahre alt; in die
Klinik aufgenommen am 18. Dezember 1505.
Anamnese (Ehefrau, die einen intelligenten Eindrack macht): Here-
dität unbekannt. Patient ist als Kind von 10 Jahren vom Fenster gefallen;
er soll damals sehr krank gewesen sein. Seit 12 Jahren verheiratet; 2 Kinder,
keine Aborte oder Frühgeburten. Sonstige Erkrankungen nicht bekannt.
Nie getranken; nie Krämpfe, nie Schwindel, kein Einnässen etc.
Im Jahre 1892 Eisenbahnunfall in Berlin. Patient wurde von der
Bahn überfahren, so dass der rechte Fuss amputiert werden musste. (Laut
Ausweis der Personalakten der Königl. Eisenbahndirektion Berlin wurde $.
beim Wagenkuppeln überfahren. Intolge Zersplitterung des rechten Fusses
musste derselbe amputiert werden. S. blieb mehrere Wochen im Kranken-
haus. Aus einer in den Akten enthaltenen Schrift des S. an das Reichs-
versicherungsamt sind bemerkenswert seine Klagen „über immerwährende
Schmerzen im Rückgrat, fast unaufhörlich; er müsse oft tagelang das Bett
häten“.) S. erhält seitdem 75 pCt. Unfallrente. Seit dem Unfall konnte
Patient Alkohol nicht mehr so gut vertragen, wie früher. Er bekam oft
danach „böse Zustände“, worin er z. B. das Sofa zerschnitt, drohend gegen
die Frau wurde, sehr erregt und wütend aussah etc. Nach 2—8 Stunden war
meist alles wieder gut. Vor 6 Jahren wurde er in einer Klinik wegen Ge-
fühllosigkeit der rechten Wange elektrisiert; völlige Heilung. Seit £ Jahren
bemerkte die Frau eine Verschlimmerung und Veränderung. Er konnte jetzt
gar nichts mehr vertragen. Alle 6—8—12 Monate bekommt er eigenartige
„Zustände“. Mehrere Tage, „bevor es losgeht“, wird Patient ausserordentlich
verstimmt und reizbar; „die Fliege an der Wand ärgere ihn“. Die Kinder,
die er sonst abgöttisch liebt, schlägt er bei dem geringsten Lärm. Der
Schlaf wird unruhig und sehr gering; der Appetit lässt nach, nichts schmeckt
ihm. Die geschlechtliche Erregbarkeit ist gesteigert, Schmerzen oder
irgend welche Sensationen in der Narbe bestehen nicht. Dann
weiss die Frau genau, dass es wieder losgeht. Alles Bitten und Vorstellen
hilft dann nichts; „es komme wie eine böse Macht“. Es überfällt ihn ein
unwiderstehlicher Reiz zum Trinken. Er liegt fast den ganzen Tag in den
Kneipen, er borgt sich überall Geld zusammen, verkauft Sachen etc., trinkt
so lange, bis er besinnungslos betrunken in der Gosse liegt. Er bekommt
fast jedesmal in solchen Zuständen ein Strafmandat von der Polizei. Zu
Hause ist Patient in diesem Zustande ausserordentlich erregt, bis zur Ge-
walttätigkeit; er zerschlägt und zertrümmert alles, so dass der Familie ein
solcher Anfall jedesmal sehr teuer zu stehen kommt. Er droht Fraa und
Kinder zu erwürgen, äussert die heftigsten Eifersuchtsideen.
Während dieser Zeit isst und schläft er überhaupt nicht.
nach Trauma (Dipsomanie ete. nach Trauma). 55
Nach 21,—3 Tagen fängt Patient meist ziemlich plötzlich an, sich zu
beruhigen; er wird still, traurig, weint, wenn die Frau ibm erzählt, was er
wieder angerichtet hat; bittet auf den Knieen um Verzeihung; beteuert, es
nie wieder tun zu wollen, er könne doch nichts dafür. Nuch einigen Tagen
ist auch die Traurigkeit vorüber; dann erscheint Patient wieder ganz normal.
Die eigene Erinnerung fehlt vollkommen. In der Zwischenzeit kommt kein
Tropfen Alkohol über seine Lippen, er lebt völlig abstinent; ja, er empfindet
sogar Ekel vor Schnaps etc. Er ist ein sehr gutmätiger, ruhiger, stiller
Mensch, ein sehr zärtlicher Gatte und Vater; nie besteht auch nur Andeu-
tung von Eifersuchtewahn. Bei Witterungswechsel klagt Patient über Reissen
und Ziehen in der Narbe. Der letzte Anfall war Mai 1905.
Der gegenwärtige Anfall entwickelte sich nach einer Lungen- und
Brustfellentzändung, die Patient Oktober—November 1905 durchgemacht
hatte. Bis Anfang Dezember lag er zu Bett; er erholte sich nur langsam,
war schon damals nicht ganz gleichmässiger Stimmung. Mitte Dezember
steigerte sich die Reizbarkeit: er wurde wütend und drohend gegen die
Kinder und Frau; Eifersuchtsideen zeigten sich gleichfalls schon. Auch
verkehrte Handlungen kamen zuweilen vor; so ging er einmal statt zur
Mangelfrau zum Schlächter; war darüber sehr ärgerlich, Die geschlecht-
liche Erregbarkeit war gesteigert. Der Schlaf gestört und unruhig; ass
wenig. Am 18. Dezember fing er dann an zu trinken, erst Bier; im Hanse
wurde er sehr heftig. Dann ging er in die Kneipe und trank dort bis
10 Uhr abends. Kam in sinnloser, trankener Erregung nach Hause, stiess
die gefährlichsten Drohungen gegen die Frau aus: "Wo bist du? Jetzt er-
würge ich dich!“ Er riss die Kinder aus den Betten: „Ihr bleibt unter
meinen Händen“ etc. Die geängstigte Frau veranlasste daranfhin bei der
Polizei seine Uoberführung in die Klinik.
Status praesens: 18. Dezember. Patient kommt abends 1,12 Uhr
im Krankenwagen mit einem Schutzmann. Er ist örtlich und zeitlich hin-
reichend orientiert; gibt Name, Alter und weitere persönliche Daten richtig
an. Er macht einen wirren, unklaren Eindruck. Die Stimmung ist furcht-
sam, sebr traurig. Patient weint bitterlich, bittet wiederholt unter lebhaftem
Jammern und Händeringen um seine Entlassung. Er folgt willig auf die
Abteilung, lässt sich baden und legt sich, immer weinend und jammernd, zu
Bett. — Pup. =mittelweit, rand R/L+, Rje +, Ku/Ph +. Rechter Fuss am-
putiert. Prothese, Puls beschleunigt. Mässiges Schwitzen; Röte des Gesichts.
19. Dezember. Patient war nachts ruhig. Heute Morgen ist er noch
sehr traurig; weint jämmerlich; bittet immer wieder um seine Entlassung,
Man möge an seine Frau schreiben, sie werde ihn holen. Heredität, ins-
besondere Epilepsie, wird völlig in Abrede gestellt. Im 9. Lebensjahr Fall
einen Stock tief zwischen Holzkloben. Damals habe er 12 Wochen krank
gelegen, habe phantasiert, habe sich den Schädel durchgeschlagen; es seien
an der Stelle keine Haare gewachsen. Er habe bei der Infanterie 8 Jahre
gedient. 1890 sei ihm als Rangierer in Berlin das Bein überfahren worden;
es sei im Krankenhaus Bethanien amputiert worden, und er habe seitdem
Rente erhalten. Seit dem Unfall leide er an häufigen Kopfschmerzen.
Schwindelgefähl habe er sehr selten gehabt, anfänglich allerdings etwas
mehr. Seit dem Unfall könne er Alkohol schlecht vertragen. Viel getrunken
habe er nie, jetzt trinke er nie, nur „wenn es so kommt“. Er merke selber,
wenn der Anfall komme; er werde so reizbar, schon bei dem geringsten
Widerspruch; es sei ihm so wüst und schwer im Kopf; er werde wie um-
estimmt. Von dem, was er dann im Anfall tue, wisse er nachher nichts.
on dem letzten Anfall wisse er nur, dass er seine Frau hinansgejagt habe.
Wie er hierber gekommen? Er erinnere sich nur dunkel, dass ihn ein Schutz-
mann von Hause abgeholt habe. Als er heute früh hier aufgewacht sei,
habe er erkannt, dass er im Krankenhause sei. Wie und wann er hier auf-
genommen sei, welcher Arzt (Ref.!) bei der Aufnahme zugegen gewesen sei,
wisse er gar nicht! Er weiss nicht, dass er zuerst auf einer anderen Ab-
teilung (Deliranten-Station) gewesen ist. Für die heutigen Geschehnisse
volle Erinnerung. Oertlich ist Patient gut orientiert. Die Zeit weiss er
nicht ganz genau anzugeben: es sei der 17. oder 18. Dezember. Patient ist
56 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörangen
danernd traurig, gedrückt, etwas wehleidig.e Er macht auch heute noch
einen etwas unklaren, willensschwachen, eicht beeinflussbaren Eindruck.
Das Rechnen geht schlecht, er motiviert das damit, dass er wenig die Schule
besacht habe. Er macht keinen beschränkten oder schwachsinnigen Eindruck.
Die körperliche Untersuchung ergab, neben gutem Ernährungszustand und
freien inneren Organen und freiem Urin, grosse kahle Flecke auf der rechten
Schädelhälfte, geringe Differenz (r.>1.) der Papillen. R./L.: r. prompt, 1.
träge, wenig ergiebig. R./C.-+-A.B. frei, Hiranerven, Kopfperkussion frei;
Zunge gerade, zittert wenig, Gaumensegel hängt in der Mitte, wird gleich
stark innerviert. Der Gaumen- und Rachenreflex fehlt. Dermatographie ond
mechanische Muskelerregbarkeit sind etwas erhöht. Der rechte Fuss ist
unten am Ende des Unterschenkels abgesetzt. Der Stumpf ist weder spontan
noch auf Drack schmerzhaft, Motilität und Sensibilität frei. Keine Druck-
empfindlichkeit der Muskeln (Waden) oder grossen Nervenstämme.
Trie./Refl. + Kn./Ph. + + Hautrefleze +.
20. Dezember. Patient hat ruhig geschlafen. Ist vormittags noch
sehr traurig, wehleidig, jammert über sein Geschick, dass er wieder einen
Anfall gehabt habe. Bekisgt seine Frau und seine Kinder, dass er ihnen so
viel Sorge und Aufregung bereitet habe. Bittet jammernd um seine Ent-
assung.
Sa Nachmittags Besuch der Ehefrau; Patient weinte sehr, beruhigt sich
auf die Mitteilung, dass er morgen entlassen werden solle. Völlig geordnet.
Amnesie vollkommen unverändert.
21. Dezember. Ruhig geschlafen. Gleichmässige freie Stimmung.
Sehr höflich und entgegenkommend. Sehr ordentlicher Kindruck. Volle Ein-
sicht. Von der Frau abgeholt.
Wir haben den Patienten noch 3 mal in die Poliklinik kommen lassen,
Er machte jedesmal einen überaus ordentlichen, intelligenten Eindruck und
beteuerte, seitdem nie getrunken zu haben. Einsicht und Amnesie bestanden
unverändert.
Ende Mai 1905 erhielt ich von der Ehefrau die Mitteilung, dass der
Patient, wie immer in den Intervallen, völlig abstinent lebe, und dass kein
neuer Anfall eingetreten sei, doch klage Patient seit einigen Tagen wieder
über Kopfschmerzen.
Fassen wir diese ausführliche Darstellung noch einmal kurz
zusammen! Ein bis dahin völlig gesunder Mann, der nie viel
getrunken hatte, der nie epileptische oder epileptoide Erscheinungen
gehabt hat, erkrankt nach einem erheblichen Trauma mit unmittel-
bar darauf folgendem, längeren Krankenlager offenbar an einer
sogenannten „traumatischen Neurose“, die sich zunächst nur in
fast dauernden Schmerzen im Rückgrat und im Kopf, in Schwindel-
gefühl, in Intoleranz gegen Alkohol und starker Explosivität und
Labilität des Affektlebens äussert. Allmählich stellt sich eine
Verschlimmerung ein, die nun ganz neue, eigenartige Er-
scheinungen hervorruft. In langen Zwischenräumen, von 6—8
und mehr Monaten, tritt in fast regelmässiger Gleichartigkeit
eine einige Tage anhaltende, völlig psychische Veränderung
ein. Der sonst ruhige, gutmütige Mann wird unstät, auffällig
missgestimmt, reizbar, „die Fliegen an der Wand ärgern ihn“;
er wird gewalttätig gegen Frau und Kinder, die er sonst zärtlich
liebt. Schlaf und Appetit werden mangelhaft, die geschlechtliche
Erregbarkeit ist gesteigert. Nach einigen Tagen (im letzten Anfall
scheint dies Podromalstadium etwas länger gedauert zu haben}
„kommt es dann wie eine böse Macht über ihn“, es befällt ihn
ein unwiderstehlicher Drang zum Trinken; Bitten und
nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma). 57
Beschwörungen seiner Frau steigern nur seine Reizbarkeit. Auf
jede Weise versucht er sich Geld und Mittel zu verschaffen, um
dies Verlangen nach Schnaps zu stillen. Sinnlos betrunken findet
man den sonst völlig abstinenten, ordentlichen Mann im Kinnstein
liegen. Auf der Höhe dieses Zustandes kennt er keinen Schlaf
und keine Nabrungsaufnahme. So lange er vermag, trinkt er.
Zu Hause gebärdet er sich wie ein Tobsüchtiger; er zerschlägt
alles, vergreift sich an Frau und Kindern, stösst die schrecklichsten,
gefährlichsten Drohungen aus. Während des ganzen Anfalles
äussert er auch ausserordentlich heftige Eifersuchtsideen. Dieser
Zustand dauert 2—3 Tage; dann setzt ziemlich plötzlich die Auf-
hellung ein. Der Kranke wird still, traurig, weinerlich, fängt
allmählich an, sich einzufnden. Nach kurzer Zeit endet auch
diese depressive Phase, und der Kranke erscheint wieder völlig
wie sonst. Die Erinnerung für das Vorangegangene fehlt völlig.
Keine Wahnideen, keinerlei Störung der Intelligenz oder des
Affektes.
Aus dieser Zusammenfassung erhebt sich überraschend ein
bekanntes und wohl gekanntes Krankheitsbild; man denkt sogleich
an die Dipsomanie. Die einzelnen Symptome und der ganze
Verlauf des dargestellten Bildes stimmen mit denen der Dipsomanie,
wie sie in letzter Zeit erst noch von Kräpelin a und seiner
Schule, insbesondere von Gaupp (5) in seiner Monographie,
gezeichnet wurde, völlig überein. ir haben hier wie dort in
typischer Weise einmal den Beginn mit reizbarer, anlustiger Ver-
stimmung; dann die unwiderstehliche triebartige Begierde nach
berauschenden Getränken, ihre Befriedigung bis zur Sinnlosigkeit;
die verhältnismässig schnelle Lösung mit kurzer, depressiver Phase;
die völlige Amnesie und — last not least — den periodischen
Verlauf mit völlig freien, langdauernden Intervallen. Es ist
also wohl berechtigt, unseren Fall als Dipsomanie zu
bezeichnen.
Die wenigen, nicht ganz typischen Erscheinungen, die hier
gleich erörtert seien, sind so unbedeutend, dass sie an dieser
Auffassung nichts ändern können. Einmal ist es die starke
geschlechtliche Erregung am Beginn, die nicht zur Regel
gehört, die aber auch von Kräpelin, Gaupp u. A. erwähnt
wird. Dann ist abweichend die Reaktion unseres Kranken
auf die übergrosse Menge des genossenen Alkohols.
Gaupp sagt darüber (loc. cit. p. 124), „es erscheine zweifellos,
dass der Dipsomane im Anfall selbst nach abnormen Mengen
von Alkohol nicht eigentlich betrunken werde und namentlich
nach aussen hin nicht den Eindruck eines Trunkenen mache“, — „die
körperlichen Lähmungssymptome bleiben aus ete.“ Cramer (3)
betont dagegen, dass Dipsomanen häufig intolerant gegen Alkohol
seien. In unserem Falle glich die Reaktion des Patienten auf die
grossen Alkoholmengen durchaus der gewöhnlichen des chronischen
rinkers. Es stellte sich sinnlose Betrunkenheit mit Lähmungs-
erscheinungen — Patient lag in der Gosse — ein, die gleich oder
- — — — — — —— —
58 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen
nach kurzer Ruhe von hochgradiger psychomotorischer Erregung
abgelöst wurden. So eigenartig es auch ist, dass Dipsomanen
oft durch entsprechende Mengen des Giftes nicht in sinnloser
Betrunkenheit versetzt werden, so scheint uns das für unseren
Fall einen wesentlichen Unterschied nicht zu bedeuten. Vielleicht
kommt hier für die stärkere Wirkung in Betracht, dass unser
Patient in den Intervallen völlig abstinent lebt und schon lange
vor Auftreten der typischen dipsomanischen Anfälle auffallend
intolerant gegen Alkohol gewesen war. Als die Ursache aber
dieser schon vorher bestehenden Intoleranz, die sich also auch
in den Anfällen noch in ungewöhnlicher Weise äussert, ist wohl
mit Sicherheit das Trauma bezw. die dadurch gesetzte „trauma-
tische Degeneration“ anzusehen. Dieser Punkt, der uns später
noch ausführlich beschäftigen soll, sei hier besonders betont.
Bemerkenswert ist auch das völlige Fehlen jeglicher here-
ditärer Belastung.
Eine besondere symptomatische Eigentümlichkeit bietet unser
Fall noch bezüglich der Eifersuchtswahnideen. Finden sich,
was überhaupt selten, solche bei Kranken, die an Dipsomanie
leiden, so treten sie nach Abklingen des Anfalls hervor und
„müssen in der Regel als Folgen der Alkoholvergiftung betrachtet
werden. Sie verschwinden dann allmählich bei völliger Enthalt-
samkeit, kehren aber gern nach neuen Anfällen in gleicher Weise
wieder“ (Gaupp, loc. cit., p. 129). Demgegenüber zeigt unser
Patient den Fiforsuchtswahn nur in den Anfällen selber, und
zwar schon im Beginn derselben, bevor er noch grössere Mengen
Alkohol zu sich genommen hat; und zugleich mit dem Ende des
Anfalles hört auch dieser Wahn auf und wird unter grosser Be-
trübnis als krankhaft erkannt. Es besteht also im Gegensatz zur
Regel hier diese partielle wahnhafte Verfälschung des Bewusst-
seinsinhaltes nur so lange, wie überhaupt die allgemeine Ver-
änderung der Bewusstseinsvorgänge, der „Dämmerzustände“,
besteht, ist also exquisit akuter Natur. Der Eifersuchtswahn
der Trinker ist aber ein chronischer Zustand, der auf dem
Boden lange Zeit fortgesetzten Alkoholmissbrauches erwächst
und nur allmählich bei völliger Abstinenz schwindet, um hei
Rückkehr zur Trunksucht zumeist wieder hervorzutreten. Der
Wahn der ehelichen Untreue als Folge einer akuten Alkohol-
intoxikation, als akutesZustandsbild ohne Grundlage des chronischen
Alkoholismus, ıst meines Wissens nicht in der Literatur bekannt;
wenigstens ist in den gangbaren Lehrbüchern nichts derartiges
beschrieben. Beides aber, sowohl der akute Verlauf als auch
das Fehlen der chronisch-alkoholistischen Grundlage, ist in unserem
Falle vorhanden. Rasch und plötzlich endet der Unfall, hellt sich
die allgemeine Bewusstseinstrübung auf; und gleichzeitig und
ebenso plötzlich schwinden auch die Eifersuchtswahnideen. In
den Intervallen besteht völlige Abstinenz ohne nachweisbare Zeichen
chronischen Alkoholismusses, und auch früher hat nie Missbrauch
bestanden. Die Dauer der dipsomanischen Exzesse aber ist nicht
nach Trauma (Dipsomanie ete. nach Trauma). 59
lang genug, und die Intervalle sind nicht kurz genug, um daraus
chronischen Alkoholismus zu folgern. Es liegt daher der Gedanke
nahe, dass dieser Wahn nur ein Teil der allgemeinen Störung ist,
entstanden auf dem Boden der schweren Trübung des Bewusst-
seins und nur in seiner besonderen Art bedingt durch das
alkoholische Gift.
Kehren wir nach dieser Erörterung der symptomatologischen
Besonderheiten zur Betrachtung des Gesamtbildes zurück, so ist
die wesentliche Frage die, was wir als Grundlage und Ursache
dieser ausgeprägt dipsomanischen Zustände annehmen müssen.
Denn die Dipsomanie als Krankheit sui generis — im Sinne der
Monomanien Esquirols — lehnt die moderne Psychiatrie wohl
allgemein ab. Es ist bekannt, dass Kräpelin und seine Schule,
insbesondere Gaupp in seiner bereits mehrfach erwähnten aus-
gezeichneten Monographie, die Dipsomanie ausschliesslich als eine
Erscheinungsform echter Epilepsie auffassen; ja, dass sie sogar
allein aus dipsomanischen Zuständen auf Epilepsie zu folgern
sich berechtigt glauben, auch dann, wenn sonstige der gewöhn-
licheren epileptischen oder epileptoiden Symptome nicht nachzu-
weisen sind; wobei sie als Grundcharakter der dipsomanischen
Zustände die periodische Verstimmung annehmen und diese
wiederum als ein typisch und ausschliesslich epileptisches Symptom
und deshalb als beweisend für die Zugehörigkeit jener zur Epile sie
betonen. Von dieser Lehre muss Gaupp allerdings selbst gestehen,
dass sie trotz eines gewissen Entgegenkommens, das ihr gerade
in Deutschland bereitet wurde, „doch bis jetzt keine allgemeine
Anerkennung gefunden habe, weil in manchen Fällen angeblich
keinerlei epileptische Störungen vorhanden seien“.
Die Stellungnahme zur Auffassung der Kräpelinschen Schule
in der Dipsomanie-Frage setzt in gewisser Weise eine Stellung-
nähme zur Epilepsiefrage überhaupt, wie sie seit Samt (6) und
Falvet (7) unaufhörlich diskutiert wird, voraus. Je nachdem man
auch hierin den weitgehenden Samt-Kräpelinschen Standpunkt
teilt, dass man alleın aus der Form einer Geistesstörung ihre
epileptische Natur auch ohne Nachweis irgend welcher epileptischer
Antezedentien erkennen könne, oder zum Nachweis, dass bestimmte
Krankheitsbilder zu den Formen des epileptischen Irreseins ge-
hören, mit Binswanger (8), Siemerling (9) u. A., in erster
Linie die Feststellung der Tatsache verlangt, dass das erkrankte
Individuum wirklich an Epilepsie leidet; je nachdem wird man
geneigt sein, der rigorosen Auffassung Kräpelins in der Dipso-
maniefrage zuzustimmen oder nicht.
Würden wir uns auf den Kräpelinschen Standpunkt stellen,
so wäre die Antwort auf die oben gestellte Frage höchst einfach
und bequem: Bis auf nicht wesentliche Abweichungen gleichen,
wie ausgeführt, die periodischen Zustände unseres Kranken den
typischen dipsomanischen, insbesondere ist das gemeinsame Haupt-
symptom der periodischen initialen Verstimmung sehr deutlich;
also — gehört unser Fall zur Epilepsie, gleichgültig, ob sich
60 Pelz, Ueber periodische trunsitorische Bewusstseinsstörungen
sonst diese Diagnose durch den Nachweis sonstiger epileptischer
oder epileptoider Antezedentien sicherstellen lässt oder nicht.
hne in Breite meine Stellung zur Epilepsiefrage begründen
zu wollen, muss ich bemerken, dass ich darin auf dem Standpunkt
der Kräpelinschen Schule nicht stehe, und dass ich also auch
für unseren Fall a priori jene eben angeführte bequeme Lösung
nicht aufnehmen kann. Wenn auch zugegeben werden soll, dass
in einer grossen Zahl von Dipsomaniefällen Epilepsie vorliegt, so
muss doch immer in jedem einzelnen Falle, für den diese Grund-
lage beansprucht wird, deren Nachweis aus anderen Zeichen erst
erbracht werden, sei es, im Binswangerschen Sinne, nur durch
abortive oder rudimentäre Anfälle, sei es durch die sogenannten
epileptoiden Momente im Sinne Griesingers (10) und Siemer-
lings. Die Existenz periodischer Verstimmungen allein reicht
nach der Meinung der Mehrzahl der Autoren nicht aus, die
Epilepsie sicherzustellen. Raecke (11), in dessen trefllicher
Monographie über „Die transitorischen Bewusstseinsstörungen der
Epileptiker“ die Dipsomanie charakteristischerweise kaum erwähnt
wird, weist mit Siemerling darauf hin, dass lebhafte Stimmungs-
änderungen, denen sogar gelegentlich eine gewisse Periodizität
zukomme, sich bei den meisten Schwachsinnsformen, ferner bei
Neuropathen überhaupt, bei Hysterikern, Morphinisten etc., sich
fänden. Oft sind solche periodischen Verstimmungen nichts anderes
als rudimentäre Anfälle einer zirkulären (manisch-depressiven)
Psychose. Für unseren Fall ist sowohl in der ausführlichen Dar-
stellung, als auch in der Zusammenfassung bereits wiederholt
betont worden, dass irgendwelche epileptischen oder epileptoiden
Antezedentien nicht eruiert werden konnten, Weder von einer
allgemeinen psychopatischen, noch von einer besonderen Belastung
mit Trunk oder Epilepsie der Aszendenten ist etwas bekannt.
Schwindelanfälle (abgesehen von den nach dem Unfall aufgetretenen),
Bettnässen, Absenzen, nächtliches Aufschrecken, abortive Anfälle,
nichts hatte bei dem Kranken je bestanden. Von dieser Seite
bestehen also keine Tatsachen, die die Existenz einer reinen
genuinen Epilepsie sicherstellen.
mso bedeutungsvoller ist ein anderes Moment, das hier
schon eine eingehende Erörterung gerade bezüglich der Frage
der Epilepsie verlangt; das ist das Trauma, das Patient erlitten,
und im Anschluss daran sich die psychopatische Veränderung des
Kranken entwickelt hatte. Es liegt nämlich der Gedanke nahe,
dass wir es hier vielleicht mit einem Falle von sogenannter
„traumatischer Epilepsie“ zu tun haben. Die Lehre von der
traumatischen Epiepsie ist bekannt, und in den Lehrbüchern
[Binswanger, ppenheim, Gowers (12) etc.] eingehend be-
rücksichtigt. Ich brauche sie hier nicht zu erörtern. Sehen wir
aber diese Darstellungen durch, dann werden wir sofort ein Moment
finden, das unserem Falle nicht zukommt. Fast allgemein wird
nämlich von der Entstehung einer „traumatischen Epilepsie“ nur
nach Schädelverletzungen gesprochen. Ja, eine grosse Reihe
nach Trauma (Dipsomanie eto. nach Trauma). 61
von Autoren kennt auch traumatische Psychosen nur nach Schädel-
verletzungen. Abgesehen davon, dass sich sonst epileptische
Symptome nicht feststellen lassen, spricht also auch die peripherische
Art der Verletzung in unserem Falle mit grosser Wahrscheinlichkeit
gegen das Bestehen echter Epilepsie, dagegen führt sie uns zu
der Frage, ob vielleicht das vorliegt, was man Reflexepilepsie nennt.
Die Reflexepilepsie kennzeichnet sich nach Oppen-
heim (1,2) vornehmlich dadurch, dass eine Aura von der Narbe
ausgeht und die Zuckungen in der verletzten Extremität beginnen.
Dass die Narbe eine epileptogene Zone bildet, ist nicht notwendig.
Von dieser Definition kommt für uns nur der erste Teil in Betracht,
da die fraglichen Anfälle bei unserem Patienten nie ın Zuckungen
bestanden haben. Aber auch von einer Aura, die von der Stelle
der Verletzung ausgeht, liess sich für keinen Anfall etwas fest-
stellen. Nach sehr bestimmten Angaben des Kranken, und
insbesondere seiner Ehefrau, hatten wohl oft, besonders bei
Witterungswechsel, Schmerzen und Missempfindungen in der Narbe
und.in dem Stumpf bestanden, wie das ja bei Traumatikern ganz
gewöhnlich ist; dass aber etwa im Beginn eines Anfalles diese
Schmerzen besonders auffällig geworden seien oder gar nach
Art einer Aura sich von der Stelle der Verletzung zentralwärts
ausgedehnt hätten, wurde durchaus in Abrede gestellt. Druck
auf die Narbe selber war zuweilen schmerzhaft; sonstige Er-
scheinungen traten danach nicht auf.
Das Resultat der bisherigen Frörterungen ist also, dass
Epilepsie, die nach Kräpelin, Gaupp, Smith (13) etc. stets,
nach anderen Autoren oft die Grundlage der dipsomanischen
Zustände ist, ın unserem Falle sich nicht sicherstellen lässt.
Wenn wir aber weiter die monomanische Natur der Dipsomanie
als einer Krankheit sui generis ablehnen, was verbirgt sich dann
hinter dieser eigenartigen Aeusserungsform, zu welcher Grand-
krankheit sonst gehören diese Zustände als Symptom?
Die Urheber der Lehre von der Dipsomanie [v. Brühl-
Cranier (14), Erdmann (15) etc.] hatten die Ansicht, dass
nur chronische Säufer dipsomanisch werden könnten. Diese
Lehre ist ja von den späteren Forschern fast allgemein aufgegeben
worden, auch in unserem Falle würde sich der Nachweis des
chronischen Alkoholismus nicht erbringen lassen.
In Frankreich gelten über das Wesen der Dipsomanie haupt-
sächlich noch die Lehren Magnans (16), der sie als Symptom des
Irreseins der Hereditär-Entarteten betrachtet. Auch hierfür ergibt
unsere Beohachtung keinerlei Anhaltspunkte.
| Um also zu einer Lösung zu gelangen, glaube ich, werden
wir gedrängt werden, auf ein ursächliches Moment zurückzugreifen,
das wir bereits mehrfach erwähnt haben und dessen Bedeutung
für die Entstehung von psychisch-nervösen Störungen allgemein
anerkannt ist, ich meine das Trauma. Gaupp hat bei Be-
‘sprechung der Dipsomanie (d. h. Epilepsie) auslösenden Momente
auch des Traumas Erwähnung getan, „es sei nicht ohne Be-
62 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen
deutung“; und er weist auf Fällevon Foville, Vallon und vielleicht
auch den von Pilcz hin. Den Fall von Foville habe ich im
Original nicht einsehen können, Der Beobachtung Vallons, so
interessant und für die Lehre vom traumatischen Irresein wichtig
sie auch ist, fehlt sicher jede Aehnlichkeit mit der Dipsomanie. Es
handelt sich um einen sehr befähigten, sehr ordentlichen Offizier
der französischen Kolonialarmee, der nach einem überaus schweren
Trauma (Sturz vom Pferde, Schädelbasisfraktur und lange dauerndes
Krankenlager) eine völlige Charakterveränderung erfuhr. Er wurde
liederlich, nachlässig, gleichgültig, vor allem fing er an, in der
unmässigsten Weise zu trinken, ohne angeben zu können, warum,
ohne Scham und Rücksicht. Er sank immer mehr und mehr,
verlor alle möglichen Stellungen, weil er wieder trank. Er war
dann vier Monate im Villejuif und wurde als „geheilt“ entlassen.
Vallon hat nichts wieder von ihm gehört.
Es liegt auf der Hand, dass dieser Erkrankung, deren Be-
schreibung übrigens ausserordentlich flüchtig und feuilletonistisch
gehalten ist, die wesentlichsten Symptome der Dipsomanie, die
Periodizität und die einleitenden Verstimmungen völlig fehlen.
Ich glaube, dass wir es dabei mit einem traumatisch Degenerierten
zu tun haben, der zum chronischen Alkoholisten geworden ist;
kaum dass die Beobachtung unter jene Formen von Pseudo-
dipsomanie gehört, die Margulies (20) beschrieben hat, bei
denen es sich wohl zumeist auch um chronische Alkoholisten oder
haltlose Psychopathen handelt, die nach kurzer Besserung durch
periodische Gelegenheiten wieder rückfällig werden.
In dem Falle von Pilcz begann die Dipsomanie im
17. Lebensjahre, nachdem Patient im fünften Lebensjahre ein
schweres Schädeltrauma erlitten hatte. In den Kinderjahren litt
Patient auch an Pavor nocturnus. Es ist zweifelhaft, ob hier
noch eine Scheidung zwischen posttraumatischer Neurose und
posttraumatischer, wirklicher Epilepsie möglich ist.
Dagegen konnte ich in der Literatur noch einen, auch von
Gaupp sonst nicht erwähnten Fall finden, bei dem sich die
Krankheit fast unmittelbar nach einem schweren Trauma ent-
wickelte. Es ist eine Beobachtung von Wagner (21).
J. H., 42 Jahre alt, dem Trunke ziemlich ergeben, aber ohne Schädigung
seines Geisteszustandes. 1882 Fall auf einen Keller; bewusstlos, keine un-
mittelbaren Folgen. Nur empfindliche Narbe. Bald aber heftige, anfallweise
auftretende Kopfschmerzen, Schwindelanfälle.e Dazu von Zeit zu Zeit
Zustände tiefer Verstimmung mit Angstgefühlen, in welchen er sich
unwiderstehlich zu stärkstem Alkoholgenuss hingetrieben fühlt. Dann rasch
vorübergehende Zustände von Geistesstörung, die Pat. bis jetzt schon zum
9. Male in die Irrenanstalt geführt haben; keine Alkoholdelirien. Beschreibung
eines solchen Anfalles: Bei der Aufnahme Grössenideen; sei Ludwig Il. von
Bayern; sei hierher gekommen, sich sezieren zu lassen, damit man sehe, dass
er den Professor Gudden nicht getötet habe; der sei selber ins Wasser ge-
angen; er habe ihn nicht gerettet, damit Bayern nicht ohne König bleibe.
ei Prüfung von Rechenaufgaben beleidigt; man glaube überall, er sei ein
Schneider und verrückt. Beim Namen genannt, wird er entrüstet; man wisse
wohl nicht, wer er sei.
nach Trauma (Dipspmanie etc. nach Trauma). 63
. Am nächsten Tage klar, später fast völlige, auch retrograde Amnesie
festgestellt.
In der gleichen Weise verliefen die anderen Anfälle.
Bis auf die Eigenart der Wahnideen, die völlig ukut auf-
treten und schwinden, gleicht der Fall völlig der typischen Dip-
somanie. Es ist gewiss kein Anlass, ihn nicht dazu zu zählen.
Die Besonderheit des Falles erinnert stark an unsere eigene Be-
obachtung. Wenn es sich auch bei uns nicht um Grössenideen,
sondern um Eifersuchtswahn handelte, so ist doch wie dort für
Dipsomanie auffällig diese akute wahnhafte Verfälschung des Be-
wusstseinsinhalts, diese — wenn man so will — „akute Paranoia“.
Es bliebe nur die Frage, inwieweit dem chronischen Alkohol-
missbrauch, der, vor dem Trauma bestanden, eine ätiologische
Wichtigkeit beizumessen ist. Ich will hier nur darauf hinweisen,
dass Wagner selber betont, dass eine „Schädigung des Geistes-
zustandes“ vor dem Trauma nicht bestanden habe, und will die
nähere Erörterung des gegenseitigen Verhältnisses von Alkoholismus
und Trauma bezüglich der Entstehung solcher Dämmerzustände
für später zurückstellen.
Um zu unserem Falle zurückzukehren, so fanden wir weder
irgendwelche hereditäre Entartung noch sonstige Momente zur
Erklärung. Dagegen bestanden dauernd nach dem Unfall die Er-
scheinungen einer ausgesprochenen traumatischen Neurose: Rücken-
schmerzen, Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Intoleranz gegen
Alkohol. Auf dem Boden dieser „traumatischen Neurose“ er-
wuchsen allmählich die typischen dipsomanischen Zustände, nach-
dem bereits vorher einigemale das Gehirn die Schwere seiner
Schädigung vorerst noch unter dem Einfluss eines äusseren Giftes,
des Alkohols, gewissermassen demonstrierthatte. Diese traumatische
Veränderung der nervösen Funktion bleibt also in unserem Falle
allein übrig zur Erklärung der Dipsomanie.
Die nähere Erörterung dieser Auffassung wollen wir erst
an die Mitteilung und Besprechungen zweier weiterer Beobachtungen
anschliessen.
Beobaehtung IL Robert B., 29 Jahre alt, Mulergehilfe. In die
Klinik aufgenommen am 26. XII. 1905.
Anamnese (Ehefrau): Pat. ist illegitim geboren. Heredität ist nicht
bekannt. Seit 4 Jahren ist Pat. verheiratet; 2 Kinder; keine Aborte oder
Frühgeburten. Vor 4 Jahren Lungenentzündung; seit damals Unterschenkel-
eschwür; deswegen wiederholt, auch im Krankenhaus, behandelt, Nicht
Soldat gewesen, war aber angesetzt. Als Lehrling, vor ca. 10 Jahren, sei
or vom 4. Stockwerk herab mit dem Kopf auf einen Sandhaufen gefallen,
ohne schwerere Verletzungen davonzutragen. Vor 2 Jahren sei er von einer
hohen Leiter herabgefallen. Seitdem klage er oft über Schmerzen in der
linken Seite. Er sei immer sehr reizbar und erregt, schon bei der geringsten
Kleinigkeit. Eifersuchtsideen hätte er nie geäussert. Getrunken
habe er nie viel, höchstens für 5—10 Pf. Schnaps und etwas Bier
dazu. (Die Angaben der Ehefrau machen einen durchans glaubhaften
Eindruck.)
Aber er vertrage, besonders seit der Lungenentzündnug, fast nichts. Für
5 Pf. Schnaps mache ihn wie betrunken. Er werde gleich immer sehr erregt da-
nach und wisse nachher nicht, was er getan habe. Seit dem 25. IX. 1905
ausser Arbeit, wegen des Beingeschwüres in ärztlicher Behandlung.
64 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen
Seit einigen Jahren leide er öfters an Unwohlsein; alle 8—14 Tage
bekomme er Beklemmung, Schwindel, starke Schwäche. Der Zustand dauere
ij4+—'|s Stunde; nachher breche ihm der Schweiss aus, und er fühle eich
schwach danach. Die Erinnerung ist völlig erhalten. Einmal sei er vor
mehreren Jahren ohnmächtig hingefallen; er habe vorher noch über Unwohl-
sein geklagt, sei dann umgefallen; habe !/, Stunde bewusstlos gelegen. Er-
brechen und Zuckungen bestanden nicht. Nachher ohne Erinnerung. Oft
Anfälle von Herzklopfen bis zu einer Stunde lang. Nie Krämpfe, nıe Ein-
nässen. Oft Wadenkrämpfe,
Seit Anfang Dezember 1905 sah er nachts, aber auch am Tage, wenn
er die Augen schloss, zahlreiche Gestalten, die Stube voll Menschen etc.
Glaubte zuerst, dass es Wirklichkeit sei. Erst nach Mühe kam er zur Ein-
sicht. Er sprach nicht mit den Erscheinungen. Stimmen hörte er nicht.
Er sehlief auch unruhiger, träumte ängstlich; kam trotz guten Appetites
sehr herunter.
Am 18. XII. 1905 bekum er plötzlich einen Anfall schwerer Erregang.
Er hatte vorher bestimmt nicht getrunken, auch keinen Aerger ge-
habt. Er stürzte sich plötzlich auf die Frau, würgte sie am Halse, schlug
anf sie ein; zeigte den Ausdruck rasender Wut, knirschte mit den Zähnen,
rollte mit den Augen, zitterte stark; sah aus wie ein Wahnsinniger. Er
sprach kein Wort. Nur als die Frau sagte: „Du erwürgst mich ja," ant-
wortete er: „Das will ich auch.“ Plötzlich wurde er tür 8—4 Sekunden
ruhig; fragte die Frau, woher sie das blutige Auge habe; als sie es ihm
sagte, wusste er von nichts. Gleich darauf würgte und schlug er sie wieder,
in der gleichen Weise wie vorher. Nach ®/, Stunden gelang es der Fraa,
sich auf die Strasse zu flüchten. Pat. soll sich darauf gleich beruhigt haben;
schlief später. Nachher wusste er von nichts. Er glaubte den Erzählungen
der Frau nicht. Er war völlig ruhig. Am 25. XII. wieder so ein
Zustand. Ganz plötzlich, ohne jedes Anzeichen, ging er auf die Fran mit
einem Stuhl los, ohne zu sprechen. Er sah nicht so schrecklich. aus, wie
beim ersten Male. Als die Frau losschrie, beruhigte er sich und kam zu
sich; er fragte, was denn los sei, und wusste von nichts. Er ass ruhig
Mittag und war ganz ordentlich, als wenn nichts vorgefallen wäre. Am
späten Abend desselben Tages, gegen 11 Uhr, war er bei seiner Mutter.
Als er fortgehen wollte, kam aus der gegenüber liegenden Tür ein alter
Mann. Pat. stürzte sich sofort wütend auf ihn; einem anderen Manne, der
dem Alten zu Hilfe eilte, zerriss er die Kleider; sie konnten nichts gegen
seine Wut ausrichten. Pat. ging dann die Treppe hinunter und traf unten
eine fremde Frau, die er ebenfalls am Halse würgte. Dann versuchte er
nochmals ins Haus einzudringen, demolierte dabei die Haustär. Der herbei-
geeilte Schutzmann hielt ihn für geisteskrank und liess ihn nach Hause
gehen. Pat. legte sich zu Hause ruhig hin und schlief, als die Frau gegen
2 Uhr nach Hause kam. Gegen 4 Uhr richtete er sich mehreremals im
Schlafe auf, ohne zu erwachen; sah sehr wütend aas, sprach von dem alten
Manne, der ihn geschlagen habe und den er erwärgen wolle. Dann schlief
er bis 7 Uhr früh. Ging aus, kam um 9 Uhr wieder, hatte wohl etwas ge-
getrunken, versuchte, auf die Fran einzudringen. Dann fing er wieder an,
zu sagen, dass der alte Mann ihn geschlagen hätte, und lief nach dem
Hause der Mutter. Die Frau eilte ihm nach uud fand ihn ganz ruhig am
Tisch sitzend, das Kind auf dem Schoss; er erzählte der Schwester, dass er
Schlingen in der Tasche habe; wenn der alte Mann herauskommen werde,
würde er ihm eine um den Hals werfen und ihn erwärgen. Nun holte die
Frau den Krankenwagen, und nach anfänglichem Widerstreben ging er dann
ruhig mit. Ä
Statns praesens: Pat. macht bei der Aufnalıme einen unklaren,
energielosen, schlafen Eindruck. Er scheint der Aufnahma innerlich zu
widerstreben. Er ist örtlich, zeitlich und zur Person orientiert. Interesse
und Affekt etwas abgestumpft. Er wisse nicht, weswegen die Frau ihn
hierher gebracht habe; er macht dabei eine Geste, als wenn er sich wohl
etwas dabei denke. Er gibt aber auf Befragen keine nähere Auskunft
darüber, insbesondere negiert er entschieden Eifersuchtsideen. Er wisse
nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma). 65
nicht, was losgewesen sei. Er sei gestern abend bei der Mutter gewesen;
da sei nichts besonderes los gewesen. Als er heate früh bei der Mutter ge-
wesen, sei ein Schutzmann gekommen und habe ibn aufgefordert, mitzugehen;
er sei gefolgt, um sich nicht strafbar zu machen. Pap.: RIL. + K/Ph. ++,
Unterschenkelgeschwür links.
27. XIL. Pat. hat nachts völlig rohig geschlafen. Auch heute ruhig
und geordnet. Er sei gestern bei seiner Mutter gewesen, da sei der alte
Mann auf den Fiur gekommen, und da sei er auf ihn losgegangen. Warum
er das getan habe, wisse er nicht; er habe wohl einen getrunken.
(Wollte er Ihnen was tun?) I wo; wie das so kam, weiss ich nicht;
er muss doch was gesagt haben.
Ob er was gesagt habe, wisse er nicht. Auf weiteres Befragen gibt
dann Pat. an: Der alte Mann sei in die Wohnung zurückgegangen; er, Pat.,
habe ihm nichts getan. Dann sei der Alte wieder herausgekommen und habe,
ihn ins Gesicht geshlagen. Er, Pat., sei dann die Treppe hinunter gegangen,
dort habe er eine Frau getroffen, die er aber nicht gewürgt oder geschlagen
habe. Ein Schatzmann habe ihm gesagt, er solle nach Hause gehn, und das
habe er auch getan und habe sich schlafen gelegt. Das habe er am
nächsten Morgen alles gewusst. Bei der Aufnahme habe er nichts davon
gesagt, weil er nicht geglaubt habe, dass das der Grund für die Aufnahme
gewesen sei. Er wisse nicht, weshalb er auf den Alten losgegangen sei.
„Wenn ich einen getrunken habe — — —!!“ Am anderen Morgen habe es
ibm leid getan. Er habe um Entschuldigung bitten wollen; der Alte sei
aber nicht zu Hause gewesen. Vom Strick habe er nur scherzhaft gesprochen.
Früher habe er aach schon solche Zustände von sinnloser Erregung gehabt,
so dass er nachher nicht wisse, was er getan habe; es sei das seit dem
Unfall so, besonders wenn er getrunken habe. Früher habe er viel mehr
vertragen können. Von dem Anfall, in dem er seine Frau gewürgt haben
solle, wisse er absolut nichts. Er glaube, er müsse wohl etwas getrunken
haben, wenn er so einen Anfall habe bekommen können. Für 10 Pf. Schnaps
sei ihm jetzt schon zu viel. Er habe nie an Krämpfen gelitten. Jetzt füh
er sieh gauz gut. Er sei sehr vergesslich geworden. Anfälle von unmotivierter
Traurigkeit negiert er. Körperlich findet sich ausser leichtem Händerzittern,
etwas Drackempfindlichkeit der Waden und grossen Nervenstämme und
einem talergrossen Unterschenkelgeschwür links nichts Besonderes.
28. XII. Dauernd ruhig, etwas interesselos, gleichgültig. Meist sorg-
lose, stille Heiterkeit. Macht einen beschränkten Eindruck. Er gibt heute
auf Befragen an, dass er im Dezember nachts, wenn er die Augen ge-
schlossen, Gestalten, Männer und Frauen, gesehen habe. Einer habe sogar
Steine nach ihm geworfen; er sei sehr äugstlich gewesen, wenn er die Augen
offen hatte, sei alles weg gewesen. Er habe das nicht für wirklich gehalten.
Jetzt sei ‘alles gut. Jetzt könne er auch wieder gut schlafen.
Keine lückenlose, klare Erinnerung.
9. I. Dauernd unverändert. Heute für 15 Pf. = 250 g „Korn mit
Rum“ („seine Marke*) innerhalb 2 Stunden erhalten. Keine
wesentliche Aenderung. Pat. fühlt sich sehr wohl danach. Macht einen
leicht angeregten Eindruck. Papillen reagieren prompt. Händezittern nicht
vermehrt.
13. I. Nach Hause entlassen.
Es ist ein eigenartiges Krankheitsbild, das hier ausführlich
dargestellt wurde. Ein verhältnismässig junger Mann, bei dem
hereditäre Belastung, ernstliche Erkrankungen, chronischer Alkohol-
missbrauch nicht festzustellen sind, erleidet im Alter von 19 und
27 Jahren je eine schwere Schädelverletzung.
Im Anschluss daran stellen sich Erscheinungen psycho-
nervöser Veränderung ein, zunächst Spontanschmerzen, Labilität
und erhöhte Erregbarkeit der Affekte, erhebliche Intoleranz gegen
Alkohol, Vergesslichkeit; später eigenartige Anfälle von Schwindel-,
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helt 1. 5
66 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewausstseinsstörungen
Beklemmungs- und Schwächegefühl, bei völlig erhaltenem Sen-
sorium, die sich einmal zu einer völligen Ohnmacht gesteigert
hatten. Ebenso traten öfters Anfälle von Herzklopfen auf.
Anfang Dezember entwickelte sich dann ein schwerer psychotischer
Zustand, der am besten als visionell-sensorische Uebererregbarkeit
gekennzeichnet werden kann, indem schon bei Augenschluss
zahlreiche Gesichtshalluzinationen auftreten, die zuerst so ver-
wirrend wirken, dass Patient sie für wirkliche Wahrnehmungen
hält und sich geängstigt fühlt und dass es ihm erst mit Mübe
gelingt, zur Einsicht zu gelangen, die er dann aber dauernd
bewahrt. Mitten in diese Zeit fallen nun jene merkwürdigen,
eben ausführlich dargestellten Zustände von tiefer Bewusstseins-
störung. Patient zeigte, ohne vorheriges Anzeichen, ohne äussere
Einwirkung, etwa durch seelische Erregung oder Alkoholgenuss,
plötzlich eine schwere Trübung des Bewusstseins mit überaus
eftiger psychomotorischer und affektiver Entladung; er stürzt
sich auf seine Frau, würgt und schlägt sie, zeigt ganz den Aus-
druck höchster Wut und Besinnungslosigkeit. Ebenso plötzlich,
wie sie gekommen, schwindet die Störung wieder; Patient weiss
von nichts, ist überaus verwundert. Aber schon nach kurzer
Pause wiederholt sich genau derselbe Zustand, jetzt aber von
erheblich längerer Dauer; auch das zweite Mal tritt ziemlich
lötzlich auffällige Ruhe ein und völlige Erinnerungslosigkeit.
wei Wochen später stellen sich von neuem, nachdem Patient in
der Zwischenzeit keine Zeichen abnormer Seelentätigkeit geboten,
gleiche Zustände traumhaft veränderten Bewusstseins mit sjnn-
loser psychomotorischer Entladung und partieller Amnesie ein,
die seine Uebertührung in die Klınik nötig machten. Hier zeigt
er ausser einer leichten Abstumpfung der geistigen und gemüt-
lichen Regsamkeit nur bei der Aufnahme einen etwas unklaren,
alienierten Eindruck. Sonst verhielt er sich geordnet; es sind
keinerlei Wahnideen, auch keine Sinnestäuschungen mehr vor-
handen. Für die ersten Anfälle besteht völlige Amnesie, für die
letzten nur sehr lückenhafte, unklare Erinnerung und keinerlei
Einsicht.
Die Auffassung dieses Falles kann keine ganz eindeutige
sein. Die zuerst aufgetretenen Erscheinungen der Herabsetzung
der Reizschwelle sowohl für gemütliche Erregungen als auch für
das alkoholische Gift lassen sich wohl ohne Bedenken als all-
bekaunte Ausdrucksformen einer echten posttraumatischen Neurose
ansehen. Schwieriger schon ist die Beurteilung der nicht lange
darauf aufgetretenen Anfälle von Schwindel, Beklemmung, Angst,
Herzklopfen. Lenkt man den Blick gleichzeitig auf die späteren
schweren Zustände von Bewusstseinstrübung, die sicherlich die
grösste Aehnlichkeit mit epileptischen Dämmerzuständen zeigen,
so könnte man geneigt sein, diese leichteren Anfälle damit in
Parallele zu setzen und sie als petit mal, als „epileptoide* Sym-
ptome als abortive epileptische Anfälle anzusprechen, d. h. die
onsequenz (oder vielmehr die Voraussetzung!) wäre, das ge-
nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma). 67
samte Bild als wirkliche Epilepsie traumatischen Ur-
sprungs aufzufassen.
So bedeutungsvoll ich das ätiologische Moment des Traumas
auch in diesem Falle hinstellen und nachweisen möchte, so möchte
ich gerade deswegen die epileptische Natur jener kleinen „vaso-
motorischen“ Anfälle entschieden verneinen, umsomehr als sonstige
Anhaltspunkte für Epilepsie sich keineswegs feststellen lassen;
denn auch für die schweren Dämmerzustände werde ich nach-
zuweisen suchen, dass ihre epileptische Natur nicht notwendig ist.
Ich glaube, seine kleinen Schwindel. etc. Anfälle lassen sich un-
gezwungen in die Erscheinungsformen der psychoneurotischen
Veränderungen, die nach Trauma entstehen, einordnen. Sie ge-
hören sogur zu den bekannteren derselben, wie an besonders
reichem Material noch Kaplan (22) nachgewiesen hat. In
unserem Falle lassen sich die Anfälle von Herzklopfen und von
Beklemmung, von Schwindel (Blutandrang zum Kopf) etc. leicht
auf solche Störungen der vasomotorischen Funktionen zurück-
führen, und damit zu gar nicht ungewöhnlichen Symptomen einer
traumatischen Neurose, deren Bestehen ja aus anderen Zeichen
schon sehr nahe gelegt war, stempeln, ohne dass die Annahme
ihrer epileptischen Natur notwendig oder auch nur wahrscheinlich
ist. Dass auch der einmalige Anfall kompletter Ohnmacht nicht
dagegen spricht, sondern dass auch dieser bei traumatischer Neu-
rose vorkommen kann, darauf ist bereits in der Einleitung hin-
gewiesen worden.
Nun die Erscheinungen der letzten Zeit! Am schwierigsten
ist wohl die Erklärung der sensorischen Hyperfunktion im
Gebiete der optischen Sphäre. Am bekanntesten sind solche Zu-
stände als Ausdruck eines sehr vorgeschrittenen, sehr hoch-
gradigen chronischen Alkoholismus, wo oft vor einer akuten
Exazerbation, etwa einem Delirium oder einer akuten Paranoia, aber
auch sonst solche schreckhaften Gesichts- und Gehörstäuschungen
besonders des Nachts auftreten, und ebenso als Ausdruck der
schweren psychischen Schädigung aufzufassen sind, wie die meist
leichzeitig auftretenden, an sich häufigeren Störungen des
Schlafes und der Träume, die mit ihrer ängstlichen, schreckhaften
Färbung in diesem Stadium fast pathognomonisch sind. Auch
dieses anfängliche Schwanken zwischen wahnhafter Auffassung
und Einsicht und oft dann die Erwerbung der Einsicht bei Fort-
bestehen der Störungen ist sehr charakteristisch. Vereinzelte
Sinnestäuschungen sind ja auch bei Epilepsie bekannt. Allein
einmal treten sie dort noch mehr isoliert auf, nur zuweilen ein
Kopf oder eine Figur etc.; ausserdem erscheinen sie bei Epilepsie
unabhängiger von den peripherischen Zuständen der Sinnesorgane
(Augenschluss! Dunkelheit!). Die Existenz einer Epilepsie haben
wir aber oben schon verneint. Und chronischen Alkoholismus
können wir als Erklärung dafür nach den Angaben des Patienten
und seiner Ehefrau, deren Angaben ja ausserordentlich zuverlässig
erschienen, in unserem Falle kaum annehmen; jedenfalls rechneten
5%
68 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen
wir in der Klinik bei der ortsansässigen, arbeitenden Bevölkerung,
den Genuss von etwas Bier und für 5—10 Pfg. Schnaps noch
nicht ausreichend zur Sicherstellung des ätiologischen Charakters
des Alkohols. Und wenn wir nicht annehmen wollen, dass der
Kranke, der ja wegen des Fussgeschwürs seit längerem arbeitlos
war, wie das in solchen Zeiten bei Arbeitern gewöhnlich —
Müssiggang ist aller Laster Anfang — in letzter Zeit mehr
Alkohol genossen hat als früher, und mit seiner traumatischen
Intoleranz behaftet, schneller und leichter wie ein alter chronischer
Alkoholist reagiert, so müssen wir eine sichere Entscheidung
über die Ursachen dieses halluzinatorischen Zustandes dahin-
gestellt sein lassen.
Die interessantesten Erscheinungen sind die eigenartigen
Dämmerzustände, von denen Patient in der letzten Zeit befallen
war. Ihre Aehnlichkeit mit echt epileptischen ist auffallend und
zweifellos. Der plötzliche Eintritt schwerster Bewusstseinstrübung,
der kolossale Anstieg eines negativen Affektes und die sinnlose
Energie der psychomotorischen Entladung, das plötzliche Auf-
hören, als wenn nichts gewesen wäre, die Amnesie, im letzten
Anfall auch die illusionären Wahrnehmungsverfälschungen, dass
alles erinnert lebhaft an Epilepsie ohne Kenntnis der Vorgeschichte.
Allein es ist bekannt, dass solche Dämmerzustände wie bei
unserem Patienten auch bei chronischem Alkoholismus, besonders
wenn eine Schädelverletzung vorhergegangen, bei Hysterie, bei
Neurasthenie Krafft-Ebing (23) etc. vorkommen können. Wägen
wir diese verschiedenen Möglichkeiten für unseren Fall gegen-
einander, so ist bereits ausgeführt, dass der Nachweis einer
Epilepsie sich nicht erbringen lässt. Für Hysterie oder Neurasthenie
sind gar keine Anhaltspunkte vorhanden. Die Existenz eines
chronischen Alkoholismus kann nicht völlig von der Hand ge-
wiesen werden, wie oben bei Erörterung des halluzinatorischen
Zustandes bereits dargelegt worden ist. Bevor ich aber die Be-
ziehungen der möglichen alkoholischen Grundlage zu den Be-
wusstseinsstörungen dieses Falles untersuche, möchte ich die Be-
schreibung der dritten Beobachtung anschliessen, bei der das
gleiche Problem in Frage kommen wird’).
Beob. III. Ludwig D., Zimmergeselle (Unfallinvalide), 85 Jahre. In
die Klinik aufgenommen 18. VI. 1905.
Vorgeschichte (z.T. aus den Akten des Unfallprozess-Gerichtes):
Heredität fehlt völlig, weder Potus noch Epilepsie oder allgemeine
Geisteskrankbeiten in der Familie. Früher immer gesund. Soldat gewesen.
Verbeiratet; 2 Kinder, 2 Aborte. Mehrere Unfälle. Erster Unfall 1893 oder
1894, bewusstlos, völlige Erholung. Zweiter Unfall 1895 oder 1896; damals
ans dem Ohr geblutet; bewusstlos, schwerhörig, Beeinträchtigung der Arbeits-
fähigkeit; kein Rentenanspruch. Dritter und letzter Unfall am 18. XII. 1901.
D. fiel beim Herabsteigen von einer Leiter etwa 8 m hoch mit dem Rücken
auf den hartgefrorenen Erdboden. D. war !/s Stunde lang bewusstlos; aus
1) Anmerkung. Ich teile diese Krankheitsgeschichte nieht voll-
ständig mit, weil sie alizulang ist;, insbesondere gebe ich die aktenmässige
Vorgeschichte und das Gutachten nur im Auszuge.
nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma). 68
dem rechten Ohr floss Blut. D. klagte sofort über Schmerzen im Leib, im
Rücken und in der Brust. Der Arst stellte eine Quetschung und Staachung
der ganzeu rechten Körperseite, Schädelbasisfraktur und Gehirnerschätterung
fest. Die Klagen des D. bestanden in völliger Taubheit des rechten Ohres,
Schwindelgefühlen, fortwährendem Sausen im Kopf, Stichen in der Brustseite, `
Schwäche in der rechten Hand und dem Gefühl, als wenn diese vinschlafe,
und Schmerzen im rechten Bein u.s.w. Objektiv damals Narbe im Trommel-
fell. Hörvermögen rechts = 0, links normal. Romberg + a.s.w. D. erhielt
50 pCt. Rente. Auf Veranlassung der Berufsgenossenschaft wurde er in den
tolgenden Jahren noch mehrfach, meist mit dem gleichen Resultat, untersucht
und begutachtet.
Im September 1904 gab die Ehefrau des D. zu Protokoll, dass ihr
Mann infolge des Unfalles geistesgestört geworden sei; er sei mehrfach barfuss
plötzlich vom Hause weggelaufen, weit weg bis zur nächsten Stadt, ohne
nachher zu wissen, wie er dort hingekommen sei; im August 1904 sei er in -
fremde Wohnungen eingedrungen und habe den Leuten mit einem Hackmesser
die Köpfe abschlagen wollen, er sei dann durch das Fenster wieder fortgelaufen;
auch dafür habe nachher die Erinnerung gefehlt.
Infolge dieser Angabe wurde D. wieder mehrfach begutachtet, einmal
als völlig erwerbatähig, denn wieder als schwer geschädigt erklärt, und kam
schliesslich auf Veranlassung der Schiedsgerichts ia die Klinik. Die von der
Klinik aus über die obigen Angaben veranlsssten Erhebungen bei den
Heimatsbehörden und Arbeitsgenossen des D. ergaben einmal, dass D. eines
Nachts zu toben angefangen hatte; er bedrohte seine Frau, so dass sie aus
dem Zimmer flüchten und bei dem Nachbar Schutz suchen musste; nach
einiger Zeit trat Berahigung ein. D. sei früher sehr starker Trinker
gewesen; seit längerer Zeit enthalte er sich aller Getränke. Ein
anderer Arbeitskollege berichtete, dass D. im Frühjahr 1905 öfter an Schwindel-
anfällen gelitten habe, manchmal ganz unzurechnungsfähig gewesen sei und
‚Handlungen begangen habe wie ein Mensch, der seiner Sinne nicht ganz
mächtig sei, Einmal habe er, als man nach der Mittagspause an die Arbeit
ging, die Bretter, an denen gearbeitet wurde, nicht gesehen, sondern sei
trotz Rufens auf dem Platze umhergegangen, als wenn er etwas suche; ale
ihm ein Kollege zurief, er solle doch kommen und an die Arbeit gehen, habe
er geantwortet, dass er sich doch einen Haufen Bretter zum Bearbeiten aus-
gesucht habe, und nun finde er sie nicht; dann sei er geraden Weges aaf
eine Kulkgrube zugegangen und wäre wohl hineingefallen, wenn er nicht
zurückgehalten worden wäre. Im Vorjahre sei er einmal plötzlich und ohne
jeden Grund von der Arbeit weggegangen und weit entfernt in einem Walde
aufgefunden worden.
Klinische Beobachtung.
D. ist bei der Aufnahme ruhig und geordnet.. Ueber die Art u.s.w.
der Unfälle berichtet er, wie eben aus den Akten dargestellt. Infektion und
Alkoholmissbrauch negiert er; „er habe wie alle getrunken“. Die
subjektiven Beschwerden waren im wesentlichen dieselben wie früher; be-
sonders bestanden Schwindelgefühle, vorzüglich beim Blick naəh oben, und
Schmerzen in den verschiedensten Körpergegenden. Ausserdem klagte er
über häufige traurige Verstimmungen, Bintandrang nach dem Kopf, über
Vergesslichkeit, über leichte Erregbarkeit und Reizbarkeit und über ver-
minderte Widerstandsfähigkeit gegen Alkoholgenuss; er werde jetzt viel
schneller und oft ganz plötzlich danach benommen. Das sei alles erst nach
dem Unfall aufgetreten. Ausserdem macht D. noch Angaben über „innere
Krämpfe“, die er im Sommer 1904 im Schlaf an einem Tage viermal gehabt
haben solle; er selber wisse nichts davon; er habe wirr gesprochen, Blut
solle aus Nase und Ohren gekommen sein (!). Zuckungen, Zungenbiss, Ein-
nässen u.s. w. hätten nicht bestanden. (Aus den Angaben des etwas be-
schränkien und gedrüäckten Kranken liess sich kein Bild von diesen Zuständen
gewinnen, die angestellten Erhebungen ergaben überhaupt nichts Nachweis-
liches über diesen Punkt.) Einmal solle er nachts, bloss mit Hose und Hemd
bekleidet, vom Hause weggegangen sein, ganz ohne Bewusstsein; er sei erst
70 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen
in einem entfernten Ort zum Bewnsstsein gekommen und sei sehr erschreckt
gewesen, als er gesehen habe, wo er sei.
D. zeigte während der ganzen Beobachtung ein sehr ängstliches,
scheues, unsicheres Wesen; die Stimmung war wehleidig und gedrückt, Es
fehlte ihm fast jede Munterkeit und frische Lebendigkeit. Das Interesse wur
gering; mit den anderen Kranken verkehrte er nicht; seine Bewegungen
waren langsam und schwerlällig; oft machte er einen direkt stumpfen,
apathischen Eindruck.
Körperlich fand sich im wesentlichen lebhafte Dermatographie und
starke Steigerung der mechanischen Muskelerregbaurkeit, hochgradige Rötung
des Gesichts und Pulsverlangsamung beim Bücken; geringer Nystagmus beim
forcierten Blick nach links; eine nach Urteil des Herrn Professor Dr. Stenger
traumatisch entstandene Labyrintherkrankung mit Taubheit des rechten Ohres;
eringe Herabsetzung der groben Kraft auf der rechten Körperhälfte, Schwanken
beim Gehen und Wenden; sehr lebhaftes Rombergsches Phänomen, Er-
höhung der Sehnenreflexe.
im Gutachten wurde ausgeführt, dass, abgesehen von den organischen
Störungen am inneren Ohr nnd deren Folgeerscheinungen, Verlauf und Art
der Symptome auf eine allgemeine funktionelle Neurose, durch das Trauma
hervorgerufen, hinwiesen. Die eigenurtigen Dämmerzustände liessen an Epilepsie
oder Hysterie denken. Da erstere nicht sichergestellt werden könne, sei
letstere wahrscheinlich. Es wurden 60—70 pCt. Erwerbsbeschränkung an-
genommen.
Die Symptomatologie des Falles ist eine verhältnismässig
einfache. Wir haben neben der Erkrankung des inneren Gros
vorerst die gewöhnlichen Erscheinungen einer typischen post-
traumatischen Neurose: unbestimmt lokalisierte Hyperalgesien und
Parästhesien, Schwindelgefühle, Vergesslichkeit, Steigerung der
Reizbarkeit, ängstliche Verstimmung, Widerstandslosigkeit gegen
Alkohol etc.
Daneben bestehen jene eigenartigen Zustände von verändertem
Bewusstsein, die sich verschieden in schwerer Trübung der Auf-
fassung, in psychomotorischer Erregung, in nachfolgender völliger
Erinnerungslosigkeit etc. äussern und die als gewöhnliche Zeichen
einer traumatischen Neurose nicht bekannt sind. Ich habe diese
Neurose, wie angedeutet, im Gutachten unter Ablehnung der
Epilepsie als „Hysterie“ aufgefasst; ich gestehe aber, dass ich in
Verlegenheit war und Hysterie nur angenommen hatte, um diese
Dämmerzustände in ein hinreichend bekanntes Krankheitsbild ein-
fügen zu können, obwohl ich sonst keine Stigmata für die Sicher-
stellung einer Hysterie gefunden habe. Jetzt, nachdem ich die
beiden zuerst mitgeteilten, aber später beobachteten Fälle kenne,
würde ich diesen Verlegenheitsschritt nicht tun, sondern diese
Dämmerzustände als mögliche Erscheinungen der traumatischen
nervösen Degeneration auffassen.
Ein Einwand dagegen bliebe offen: dass es sich um alko-
holische Dämmerzustände handle. Patient selber gibt nur müssigen
Alkoholgenuss für früher zu. Nach der Auskunft der Ortsbehörde
müssen wir aber wohl annehmen, dass D. tatsächlich früher ein
sehr starker Trinker gewesen ist, wenn er auch seit längerer Zeit
fast abstinent gelebt hat. Auch unsere zweite Beobachtung hat
bereits an die Möglichkeit dieser Erklärung denken lassen,
Dass innige Beziehungen zwischen Trauma und Alkoholismus
nach Tranma (Dipsomenie etc. nach Trauma). 71
bestehen, ist bekannt. Im allgemeinen ist eine zwiefache Wechsel-
wirkung (ich beschränke mich naturgemäss in dieser Erörterung
auf die chronischen Folgezustände nach Trauma) möglich; einmal,
dass ein chronischer Alkoholist, der vorher keine Zeichen nervöser
oder psychotischer Störung gezeigt hat, von einem Trauma betroffen
wird und dann allmählich nervös oder psychisch erkrankt; oder
umgekehrt, dass ein bis dahin nüchterner und mässiger Mensch
eine Verletzung erleidet, danach eine auffällige Widerstandslosigkeit
egen Alkohol’) erwirbt und nun allmählich Erscheinungen gestörter
Hirnfunktion zeigt. Dabei bleibt natürlich nach beiden Richtungen
hin die Frage offen, welchem Faktor die hauptsächlichste ätio-
logische Wirksamkeit zukommt. Zum Teil werden wir in der
Lage sein, das aus der Art der Krankheitsbilder entscheiden zu
können. Erkrankt ein solches Individuum, das in eine der beiden
Kategorien gehört, z.B. an charakteristischem Delirium tremens oder
an akuter Alkoholparanoia, so werden wir aus unserer übrigen
Erfahrung zu dem Wahrscheinlichkeitsschluss berechtigt sein, die
eigentliche Ursache dieser Erkrankungen in dem chronischen
Alkoholismus zu suchen, und werden dem Trauma nur eine ver-
stärkende oder auslösende Wirkung zuschreiben. Die Rolle des
Traumas kann noch dunkler sein; denn auch bei erst nach einem
Trauma infolge Intoleranz zu chronischen Säufern Gewordenen
können natürlich solche spezifischen Alkoholpsychosen entstehen.
Bei mehr allgemeinen, funktionellen, neurotischen Erkrankungen
oder bei unbestimmteren, chronischen, psychotischen Prozessen,
besonders in Form fortschreitenden Schwachsinns, ist die Unter-
scheiduug im Einzelfall oft schwierig bis unmöglich, weil sowohl
bei Säufern als bei Traumatikern allein, ohne die Doppeltheit der
Aetiologie, solche Zustände vorkommen.
Die transitorischen Bewusstseinsstörungen der chronischen
Alkoholisten aber sind immer durch einen Faktor gekennzeichnet,
nämlich, dass sie stets erst ausgelöst werden müssen durch
einen unmittelbar vorangehenden, mehr weniger übermässigen
Alkoholgenuss, wobei allerdings daneben andere Umstände, wie
gemütliche Erregungen, Anstrengungen, Hitze, noch eine Rolle
spielen können. Das gilt sowohl für die sogenannten „Krach-
alkoholisten“ als für die pathologischen Rauschzustände (soweit
sie nicht epileptischen Ursprungs sind) etc. Natürlich ist der
ausschliessende Wert des Fehlens eines Faktors bedeutender als
sein Vorhandensein; denn es ist selbstverständlich, dass auch bei
einem epileptisch oder sogar traumatisch Degenerierten durch
einen Alkoholexzess eine transitorische Bewusstseinsstörung her-
vorgerufen werden kann. Fehlt aber diese akute Intoxikation,
ı) Anmerkung. Die Tatsache der durch das Trauma verminderten
Widerstandsfähigkeit gegen Alkohol ist bekannt und fast durchgängig fest-
zustellen. An einem grossen Material von Unfallkranken konnten wir in der
ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle sowohl von den Kranken, als von
ngehörigen die Angaben hören, dass Alkohol fast gar nicht mehr ver-
tragen werde. |
T2 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen
so handelt, soweit wenigstens die bisherige Literatur ergibt, es
sich nicht um alkoholische Dämmerzustände.
Noch in der letzten grösseren Arbeit über diesen Gegen-
stand, in dem hochinteressanten Aufsatz von Moeli (24) über
„vorübergehende Zustände abnormen Bewusstseins infolge von
Alkoholvergiftung“, finden sich nur Fälle von Säufern, teils mit
Schädelverletzung, teils ohne, die solche Zustände nach akuter
Alkoholvergiftung erfuhren, die sich gewissermassen auf der chro-
nischen superponierte. Unter den Moelischen Fällen findet sich
einer (Fall 4), der nach der Krankengeschichte, wie sie Moeli
gibt, sich durchaus als traumatischer, transitorischer Dämmer-
zustand rechtfertigen liesse. Es handelte sich um einen 40jährigen,
immer rüstigen Arbeiter, der nie stark — „höchstens ab und zu
für 10 Pf. Schnaps“, keine Flasche! — getrunken hatte. 1891
schwerer Unfall, drei Stunden bewusstlos, mehrfache Frakturen.
Arbeitskollege tot. 15 Wochen im Krankenhaus. Später anfalls-
weise sehr verdriesslich, hin und wieder sehr zerfahren; hoch-
gradige Behinderung der Merkfähigkeit. Nach dem Unfall mehr
als früher getrunken, aber nicht sehr grosse Quantitäten. In
den Träumen lebhafte Erinnerungen an den Unfall und den Tod
des Kameraden. Seit 1894 von Zeit zu Zeit Zustände schwerer
Bewusstseinstrübung. Patient wurde unstet, unruhig, heftig, und
zugleich drängte er mit aller Gewalt unaufhaltsam fort, um auf
den Kirchhof zu gehen und das Grab seines Freundes zu
schmücken. Beim Erwachen völlige Amnesie; Aerger, dass er
soweit gegangen sei.
In der Besprechung dieses Falles fügt Moeli noch hinzu,
dass mit Bestimmtheit sowohl von dem Kranken selber, als auch
von seiner Frau versichert werde, dass Alkoholgenuss die Störungen
verursache, die Frau könne sie wegen ihres regelmässigen Ein-
tritts nach stärkerem Trinken voraussehen. Dass trotzdem das
Trauma hier die ursprüngliche und gewichtigere Ursache bildet, ist
nach der Krankheitsbeschreibung offenbar. Immerhin kann die
Beobachtung zu den Fällen reiner traumatischer Bewusstseins-
störung in unserem Sinne mit Sicherheit nicht gezählt werden,
wenn auch die Möglichkeit, trotz der jedesmaligen Auslösung durch
einen Alkoholexzess, nahe liegt.
Moeli hat darauf hingewiesen, dass die alkoholischen Be-
wusstseinsstörungen gegenüber den epileptischen sowie auch den
neurasthenischen dadurch ausgezeichnet sind, dass in ihnen eine
bereits länger bestehende, auch im wachen Leben wirkende
Gedankenreihe die leitende Rolle übernimmt. Indem er aber
selber betont, dass die Lockerung des Zusammenhanges im
Denken zum Wesen der Bewusstseinstrübung gehört, lässt er den
Einwand offen, dass jene Erscheinung tatsächlich nur die Folge eines
graduellen, quantitativen Unterschiedes der Trübung ist.
Nach dieser Darlegung können wir für unsere beiden letzten
Fälle die alkoholische Grundlage, die für sie in Frage gestellt
war, ausschliessen, denn beidemal konnten wir mit Sicherheit
nach Trauma (Dipsomanie etc. nách Tranme). 73
feststellen, dass akute Alkoholvergiftungen den Dämmerzuständen
nicht vorausgegangen waren. Es muss also eine Störung zugrunde
liegen, die für sich allein, ohne das „Komplement“ des
„toxophoren*, Alkohols imstande ist, die Bewusstseinstätigkeit
vorübergehend in hochgradiger Weise zu stören und zu verändern;
und diese ursächliche Grundlage ist eben nach unserer
Auffassung die „traumatische Degeneration“.
Unsere mitgeteilten, ja allerdings nicht sehr durch die Wucht
der Zahl starken Beobachtungen müssen für sich den Beweis für
die Richtigkeit dieser Auffassung erbringen. Aus der Literatur
lassen sich, wie gesagt, bis auf den Hinweis von Cramer
Stützen und Zeugen nicht heranziehen. Und doch glaube ich
nicht, dass das Fehlen bisheriger derartiger Publikationen zurück-
zuführen ist auf die Seltenheit solcher Fälle. Ich suche die
Gründe dafür wesentlich in einem anderen Umstande, und zwar
darin, dass, wo solche Fälle zur Beobachtung gekommen sind,
wohl zumeist daraus auf das Vorliegen einer Epilepsie oder
Hysterie traumatischen Ursprungs geschlossen und diagnostiziert
worden ist, wie wir das ja selber im Fall IJI anfänglich getan
haben. Einmal ist das bequem, besonders wenn man auf sehr
radikalem Standpunkt in der Diagnostik steht und aus periodischen
Bewusstseinsstörungen, wenu Hysterie ausschliessbar, in jedem
Falle Epilepsie annimmt; und zum anderen ist es ja unzweifelhaft,
dass zwischen Trauma und Epilepsie innige Kausalbeziehungen
besteben, so dass es wohl Pflicht ıst, in jedem solchen Falle, wo
Traums und Dämmerzustände vorhanden sind, sich die Frage, ob
nicht vielleicht Epilepsie dahinter stecke, vorzulegen.
Allein meine Ueberzeugung, dass oft in diesen Fällen der
Nachweis der Epilepsie nicht zweifellos erbracht worden ist und
tatsächlich nur traumatische Bewusstseinsstörungen in unserem
Sinne vorliegen, stützt sich auf zwei Tatsachen. Werner (25)
weist darauf hin, dass im allgemeinen nach Kopftrauma die
isolierte transıtorische Bewusstseinsstörung (psychische Epilepsie)
relativ häufig — dreimal so häufig! — vorkomme. Er erwähnt,
dass von acht traumatischen Epilepsien, die Wildermut (26)
anführt, fünf nur verschiedene Formen von Bewusstseinsstörung
ohne motorischeErscheinungen darboten. Diese Feststellungscheint
mir für unsere Auffassung von grosser Bedeutung. Es liegt doch
ohne weiteres der Gedanke nahe, dass die verschiedenen Formen der
Bewusstseinsstörungen in diesen fünfreinpsychischen Epilepsien
nach Trauma nichts anderes als unsere traumatischen Dämmer-
zustände gewesen sind und fälschlich zur Annahme einer Epilepsie
geführt haben, weil dieMöglichkeit des rein traumatischen Ursprungs
jener Bewusstseinsstörungen ja garnicht erwogen wurde. Und wie
in diesen fünf Fällen Wildermuts mag es wohl auch sonst oft
‚geschehen sein; denn — und das ist die zweite Tatsache — die
Grenzlinien zwischen traumatischer und epileptischer Degeneration
überhaupt sind durchaus keine festen, offenbaren, jederzeit leicht
‚erkennbaren. Die Aehnlichkeit bezw. Gleichheit gewisser regel-
74 Pelz, Ueber periodische transitorische Bewusstseinsstörungen
mässiger Symptome bei beiden Zuständen ist ebenso evident wie
bekannt. In beiden Fällen finden wir eine progressive zunehmende
Charakteränderung, ferner eine allgemeine Anfälligkeit gegen
sychische Eindrücke und Intoleranz gegen Alkohol, eine starke
Lebilität und Explosivität des Affektlebens (erhöhte Reizbarkeit),
Periodizität der Erscheinungen u.s.w. u.s.w.
Kaplan (29) fand bei einem enormen Materiale einen Haupt-
komplex solcher Symptome, den er mit dem Namen „explosive
Diathese“ bezeichnet, in 46 pCt. aller Traumatiker. Dass bei
Epileptikern diese „explosive Diathese“ in mindestens dem gleichen,
wenn nicht noch höheren Prozentsatz vorhanden ist, brauclıt wohl
kaum gegenüber gestellt zu werden. Epileptiforme Krämpfe konnte
Kaplan in 34 pCt. der Fälle feststellen. in 43 pCt. Schwindel-
'anfälle und besonders häufig einfache Absenzen und Ohnmachten,
Anfälle von Angst mit und ohne Sinnestäuschungen etc. Kaplan
hat durchaus nicht daraus die Folgerung gezogen, dass alle die
Fälle, die irgendwelche dieser Erscheinungen besässen, zur Epi-
lepsia traumatica gezählt werden müssten, sondern er führt in be-
sonders geistreicher Weise aus, dass diese dauernden, nicht nur
quantitativen, sondern auch qualitativen Aenderungen der habi-
tuellen psychischen Empfindungs- und Reaktionsweise auf Reize
verschiedener Art, diese „psychische Ea R“, nicht allein bei
Traumatikern vorkämen, sondern sehr ähnlich bei gewissen Formen
der hereditären Degeneration und besonders eben als Ausdruck
der allgemeinen epileptischen und auch der alkoholischen Degene-
ration sich erkennen liessen. Das drückt sich ja auch deutlich
in der Promiskuität der ätiologischen Faktoren dieser Symptomen-
komplexe aus. Alkohol verstärkt die traumatische Degeneration;
Trauma, Heredität, Epilepsie begünstigen die alkoholische Degene-
ration. Alkohol, Trauma und Heredität sind wiederum die haupt-
sächlichsten Entstehungsbedingungen für das, was wir unter dem
Begriff „Epilepsie“ zusammenfassen. Wir haben es eben wahr-
scheinlich mit untereinander ähnlichen und beziehungsvollen Grund-
prozessen bei diesen Erscheinungen zu tun.
Die Aehnlichkeit aber dieser klinischen Ausdrucksformen, die
auf der einen Seite zu so erheblicher Schwierigkeit der Unter-
scheidung führen kann, wird es auf der anderen Seite gar nicht
überraschend erscheinen lassen, wenn sich neue Aehnlichkeits-
beziehungen zwischen den genannten psychischen Alterationen
herausstellen, sondern wird sogar eine dahingehende Erweiterung
unserer Kenntnis erwarten lassen. Und als eine solche neue Aehn-
lichkeitsbeziehung sehe ich die Feststellung an, dass auch bei
der traumatischen Degeneration transitorische Störun-
gen der allgemeinen Bewusstseinstätigkeit vorkommen
können. Denn für die anderen Prozesse, die epileptischen, alko-
holischen und hereditär - degenerativren — in Form der Hy-
sterie etc. —, sind diese Symptome ja gar nichts Ungewöhnliches.
Warum sollte sich also diese Aehnlichkeit mit der traumatischen
Degeneration nicht auch auf dieses Zeichen erstrecken? Ich glaube
nach Trauma (Dipsomanie etc. nach Trauma). 75
dabei, dass diesem Symptom der transitorischen Bewusstseins-
änderung nicht mehr differentieller Wert zukommt als den anderen,
oben angeführten ähnlichen Erscheinungen. Es bedeutet wahr-
scheinlich nichts anderes als den Ausdruck einer bis zu einem
gewissen Grad gesteigerten, allgemeinen, diffusen Konstitutions-
änderung des ergriffenen Orguns, des Grosshirns, wobei die Art
des Prozesses ganz verschieden sein kann. Es ist vielleicht eine
Eigentümlichkeit des Grosshirns, so wie es bei verschiedensten
Prozessen mit der lokalautonomen Reaktion der Halluzinationen,
der Krampfanfälle etc., antworten kann, ohne dass aus deren
Existenz allein irgend ein differential-diagnostisches Urteil ge-
folgert werden darf; so bei gewissen, durch die Allgemeinheit und
den Grad der Alteration ausgezeichneten Krankheitsvorgängen
durchgehends mit einer Veränderung der Bewusstseinslage (Locke-
rung des Gedankenzusammenhanges, Störung der Auffassung,
Steigerung der inneren Innervationen etc.) zu reagieren, der dann
für sich allein ebensowenig ein differential- diagnostischer Wert
zukäme. Es wäre also durchaus möglich, dass diese Störungen
auch bei so allgemeinen nervösen Erkrankungen, wie es die post-
traumatischen Neurosen sind, vorkommen können. Ebenso geht
daraus hervor, dass eine besondere, spezifische Färbung solcher
traumatischer oder irgend welcher Dämmerzustände sonst nicht
erforderlich ist, wie ja dann in der Tat nach dieser Richtung
unsere Beobachtungen keine Besonderheiten bieten.
Es wird also der Nachweis der traumatischen Grundlage der
transitorischen Bewusstseinsstörungen nicht aus ihrer Form er-
bracht werden müssen oder können, sondern allein die Betrach-
tung und das Abwägen des Gesamtbildes wird es ermöglichen;
insbesondere wird jedesmal der Ausschluss einer epileptischen,
alkoholischeu oder hereditären Degeneration besondere Aufmerk-
samkeit verlangen. Nach der positiven Seite wird der Nachweis
des Traumas und einer zeitlichen, damit zusammenhängenden all-
gemeinen Neurose notwendig sein. Dabei ist es aber möglich,
dass die posttraumatischen Bewusstseinsträbungen erst Jahre nach
Beginn der traumatischen Neurose erscheinen. Es wird dann
wahrscheinlich nicht immer gelingen, aber auch nicht notwendig
sein, das Vorhandensein neurotischer Symptome in den Intervallen
zwischen den einzelnen Anfällen feststellen zu können, wie ja ent-
sprechend der objektive Nachweis der Epilepsie oder der hyste-
rischen Stigmata zwischen solchen Anfällen durchaus unmöglich
sein kann. Es wird genügen, überhaupt einmal das frühere Be-
stehen einer traumatischen Neurose aus den Akten oder der
Anamnese sicherzustellen, woraus dann auf eine fortbestehende
traumatische Degeneration geschlossen werden darf.
Ueber die Art etwaiger die traumatischen Dämmerzustände
auslösender Momente lässt sich noch nichts Bestimmtes sagen.
Sollte dabei Alkohol eine Rolle spielen, so wäre im einzelnen Falle
natärlich die Unterscheidung gegen einen alkoholischen Dämmer-
vo „or...
76 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher
zustand erforderlich und, wie z. B. in den angeführten Fällen
von Moeli und Wagner, wahrscheinlich auch sehr schwierig.
Ueber die prognostische, d. h. zugleich auch unfalltechnische
Bedeutung der Unterscheidung zwischen traumatischer Epilepsie
und rein traumatischen Dämmerzuständen möchte ich auf Grund
meiner wenigen Beobachtungen noch nichts Bestimmtes sagen. Es
muss das weiteren Mitteilungen überlassen bleiben.
Zum Schluss erfülle ich gern die angenehme Pflicht, meinem
früheren Chef, Herrn Prof. Dr. Meyer, für die Ueberlassung des
Materials meinen herzlichsten Dank auszusprechen.
Literatur.
. Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 4. Aufl. 1908.
. Derselbe, Die traumatischen Neurosen. 2. Aufl. 1892.
Cramer, A., Gerichtliche Psychiatrie. 8. Aufl. 1908.
Kräpelin, Psychiatrie. 7. Aufl. 1904. II. Bd.
Gaupp, Die Dipsomsnie. 1901.
Samt, Arch. f. Psych. V. und VI.
. Falret, De l’état mental des &pileptiques. 1865. (Zit. nach Ganpp.)
. Binswanger, Epilepsie (Nothnagels Handbuch). 1899.
. Siemerling, Berl. klin. Wochenschr. 1895. 43.
10. Griesinger, Arch. f. Psych. I.
11. Rascke, Die transitorischen Bewusstseinsstörungen der Epileptiker. 1908.
12. Gowers, Epilepsie (Deutsche Ausgabe). 1902.
13. Smith, Münch. med. Wochenschr. 1898. 48.
14. v. Brühl-Cramer, Ueber die Trunksucht u. s.w. 1819.
15. Erd mann, zit. nach Gaupp. S. 155.
16. Magnan (-Briand), Leçons clin. sur la Dipsomanie. 1884.
17. Foville, Arch. génér. de méd. 1867.
18. Vallon, Annal. d'hygiène. 1896. S. 358.
19. Pilcz, Periodische Geistesstörangen. 1901.
20. Marguliez, Prager med. Wochenschr. 1899.
21. Wagner, Jahrb. f. Psych. VIII. 8.100.
22, Kaplan, Psychiatrische Wochenschrift. 1899.
28. Krafft-Ebing, Arb. aus d. Gesamtgebiet der Psychiatrie. Heft I.
24. Moeli, Allgem. Ztschr. f. Psych. Bd. 57. 1900.
25. Werner, Vierteljahrsschr. f. gerichtl. Medizin. 1902. Suppl.
26. Wildermuth, Württemberg. Correspondenzbl. 18%. 19.
78. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte
in Stuttgart 16.— 22. September 1906.
Bericht von Dr. Lilienstein-Bad Nauheim.
(Schluss.)
II. Sitzung: 18. September, vormittags.
(Kombinierte Sitzung der Abteilung 21 und 28 (gerichtliche Medizin).
Vorsitzender: Strassmann-Berlin.
Gaupp: Klinisehe Untersuehungen über die Ursaehen und Motive
des Seibstmords. Die Selbstmordatatistik gibt manchen wertvollen Auf-
schluss über die allgemeinen Ursachen des Selbstmords (Rasse, Lebensalter,
Familienstand, Jahreszeit etc.), lässt abor im Stich, wenn wir die im Individuum
und Aerzte in Stattgart. 77
gelegenen Ursachen und die Motive kennen lernen wollen. Hier helfen nur
Spezialuntersuchungen. Am toten Selbstmörder können sie nicht mehr an-
gestellt werden, da er seine wahren Motive mit ins Grab nimmt. Die Leichen-
Sffnaug gibt auch keinen genügenden Aufschluss. Bleibt als sicherster We
die Untersuehung und Ausfragung der Menschen, deron Selbstmordversac
misslang. Diesen Weg ging G. In München werden alle Personen, die bei
oder nach Ausführung eines Selbstmordversuches betroffen werden, ohue
Unterschied kurzer Hand in die psychiatrische Klinik gebracht, wenn nicht
schwere Verletzungen nach Schuss oder Stich die Verbringung in ein
chirurgisches Krankenhaus erforderlich machen. Gaupp untersuchte alle
diese Personen und berichtete über seine Ergebnisse (124 Personen). Er
unterschied streug zwischen Ursachen und Motiven. Die Motive sind die im
Bewusstsein des Täters auftretenden Gründe seines Handelns, Ursachen sind
die wirklich treibenden Kräfte, die sehr oft dem Täter nicht zum Bewusstsein
kommen, also keine Motive werden. Die Ursache des Selbstmords eines
Melancholischen ist der pathologische Hirnzustand, seine Motive sind etwa:
der Glaube, zu verarmen, der Hölle verfallen zu sein, die Familie ungläcklich
zu machen. Von den Resultaten der Untersuchungen G.s seien hier zur die
wichtigsten mitgeteilt. 60 Männer und 64 weibliche Personen wurden nach
Ausführung eines Selbstmordversuches in die Klinik gebracht. Von den
Männern waren 84 ledig, 22 verheiratet, 4 verwitwet, von den weiblichen
Personen 84 ledig, 16 verheiratet, 9 verwitwet, 5 geschieden. Weitaus die
meisten Versuche fielen in die Monate Mai bis September. Ursachen und
Motive fielen sehr auseinander. Selten war die Tat das Produkt langer
Deberiegung, meist wurde sie in starker gemütlicher Erregung ausgeführt.
Die Mehrzahl der Aufgenommenen erwies sich bei eingehender atersuchung
nicht als geisteskrank, wohl aber als krankbaft veranlagt oder nervenleidend,
sychopathisch. Nur eine einzige Person bot keine Symptome einer krank-
kaften Beschaffenheit, uad dies war ein 2ljähriges Dienstmädchen, das im
achten Monat der Schwangerschaft stand. Von ihrem Geliebten, der sich
am die Alimente drücken wollte, war sie ohne jede Berechtigung der Untreue
bezichtigt worden, während er selbst es mit anderen Mädchen hielt. Sie
hatte in Verzweiflung in der Isar den Tod gesucht. Hier waren die un-
gewöhnlich schweren Schicksalsschläge auf eine jange Person im labilen
Gemüätsznstand der. Schwangeren hereingebrochen; etwas Krankhaftes war an
ihr nicht wahrzunehmen. In allen anderen 123 Fällen aber ergab die psychia-
trische Untersuchung das Vorliegen eines abnormen Seelenzustandes zurzeit
der Tat. Eine Frau litt an Hirverweichung, 7 Männer und 4 Frauen an
Dementia praecox, 4 Männer und 18 Frauen waren in der melancholischen Phase
des zirkulären Irreseine, 4 Männer begingen die Tat im alkoholischeu Waha-
sinn (Halluzinose, Angstpsychose), 2 Männer in seniler Verblödung, eine
Frau in seniler Melancholie, 5 Männer in schwerem akutem Rausch. 6 männ-
liche und 7 weibliche Selbstmörder handelten in epileptischer Verstimmung,
wobei 5 mal ein Alkohoiexzess mitwirkte. 9 hysterische Mädchen bezw.
Frauen machten zum Teil nicht sehr ernste Selbsmordversuche. 25 Männer
und 19 Frauen waren psychopathisch, die Mehrzahl dieser pathologischen
Personen handelte in pathologischer Erregung, oft nach ganz geringem Anlass,
die Männer meist unter dem Einfluss des Alkohols; von .den weiblichen
Psychopathen waren mehrere gleichzeitig mehr oder weniger schwachsinnig.
Das Hanptergebnis war das: der Mensch ist bei Begehung eines Selbst-
mordes fast stets in einem abnormen Zustande. Wenn auch nur 88 von
1834 Personen ausgesprochen geisteskrauk waren, ala sie sich töten woliten,
so waren doch auch alle die anderen unter dem Einfluss eines krankhaften
Seslenzustandes.
Diskussion.
Bayerthal, Haberde.
Eulenburg bespricht seine Erfahrungen mit Schülerselbstmorden, die
er auf staatlichen Anlass hin bearbeitet hat. Ausgesprochene Psychosen waren
nur in 10 pCt. der Fälle vorhanden. Bei Hysterischen hat E. noch keinen
gelungenen Selbstmord gesehen. Pro
78 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher
. . Hans Gudden-München: Die Zureehnungsfähigkeit bei Waren-.
hausdiebstählen.
In München sind seit April 1904 zwei grosse Kaufhäuser. Das eine
erstattete prinzipiell bisher gegen die Ladendiebe mit Ausnahme der als
professionsmässig erkannten keine Anzeige, während das andere mit Anzeigen
vorging. In beiden Warenhäusern haben jedoch die Diebstähle ausserordent-
lich abgenommen, seitdem in ihnen ein Selbstschutz eingeführt wurde, der
darin besteht, dass die Auslugen von leicht zu greifenden und zu verstecken-
den Waren mit Glaswänden versehen wurden. Diese Glaswände sind nur an
der dem Publikam zugekehrten Seite angebracht, während die Verkäuferin
nach wie vor mit Leichtigkeit das gewünschte Stück aus den offen vor ihr
stehenden Kästen entnehmen kann. In dem einen Kaufhaus wurden diese
Glasschutzwände im April d. J. eingeführt, und seit dieser Zeit kam nicht
mehr ein einziger Fall von Warenhausdiebstahl zur Begutachtung. Da auch
in der Presse nar noch selten über die Aburteilung von Warenhausdieb-
stählen berichtet wurde, so ist anzunehmen, dass sie in München sehr selten
geworden sind.
Zur Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit bei Warenhausdiebstähblen
haben wir in erster Linie den Betrieb der grossen Kaufhäuser zu berück-
sichtigen, der von anderen Geschäften erheblich abweicht.
Die Warenhäuser zieben alle Bevölkerungsschichten an. Sie fesseln
und blenden darch die Reichhaltigkeit und den Glanz ihres Inhaltes, sowie
durch das in ihnen pulsierende Treiben, das zu manchen Zeiten zur beängstigen-
den Hochflut ansteigt, den Besucher in ausserordentlichem Grade. So kommt
es, dass bei nicht wenigen Besuchern bisher nicht vorhandene Begehrunge-
vorstellungen entfacht werden, gleichzeitig mit einem märchenartigen Gefühl,
als müsse man nur die Hand nach den Schätzen ausstrecken. Dass in der
Tat in vielen, wenn nicht in den meisten Fällen von Warenhausdiebstahl
solch halb unbewusste Vorstellungen auftauchen und durch die Sinnenreize,
sowie durch das herrschende Gewühl noch verstärkt werden, geht meines
Erachtens aus einer kritischen Betrachtung dessen hervor, was gestohlen
wird. Es sind in der Regel für den Dieb nnbrauchbure Gegenstände.
Da entwendet z.B. eine Maurersfrau eine Flasche feinsten Parfums für 8 Mk.,
mit der sie gar nichts anfangen kann, während sie mit einem gewöhnlichen
Parfum zu 40 Pf. Staat hätte machen können. Eine andere stiehlt kostbare
Seidenbänder, Blusenstoffe u. dergl., die ebenfalls für sie wertlos sind, weil
der Gegensstz dieser Stoffe zu ihren sonstigen Kleidern und Mitteln zu auf-
fallend wäre. Aus der Zwecklosigkeit und Unbrauchbarkeit des gestohlenen
Gutes ist also wohl ein Schluss auf die Planlosigkeit und Piötzlichkeit des
Vorgehens des Täters gerechtfertigt.
Bedeutsam scheint ferner:
1. dass an den Warenhausdiebstählen die ländliche Bevölkerung so
gut wie ger nicht beteiligt ist, obwohl diese ein nicht geringes Kontingent
zu den Kunden stellt;
3. dass betrunkene Individuen ebenfalls nicht unter den Warenhaus-
dieben gefunden werden;
8. dass bei mehr als ?/, der Diebe ein bestimmtes Motiv, eine vor
Betreten des Kauthauses schon bestehende Diebstahlsabsicht oder eine
materielle Notlage bestimmt nicht vorhanden ist;
4. dass ca. 99 pCt. der Warenhausdiebe dem weiblichen Geschlecht
angehören. Unter diesen finden wir alle Altersstufen und alle Gesellschafts-
klassen vertreten. Als ich mich erkundigte, welche Beobachtungen denn im
allgemeinen an den Disben gemacht würden, wurde mir erwidert, der Ge-
samteindruck sei der der „Minderwertigkeit“, der allerdings nicht näher
definiert werden konnte.
Ebenso wie bei den Rentämtern laufen auch bei den Kaufhäusern
häufig anonym aufgegebene Postanweisungen ein, mit dem Vermerk, der Be-
trag sei Ersatz für unrechtmässig erworbene Ware.
Die von G. beobachteten Fälle, die er alle für unzurechnungsfähig
erachten musste, betrafen mit einer einzigen Ausnahme weibliche Personen.
Weitaus überwiegend waren die Fälle von Hysterie und zwar waren die
und Aerzte in Stuttgart. 79
Diebstähle fast stets unter dem Einfluss des Menstrustions- oder besser
gesagt Ovulationsprozesses begangen. Bei einigen Fällen lag Schwanger-
schaft in den ersten Monaten, in einem Schwangerschaft im 8. Monat vor. Ein
Fall litt an progressiver Parulyse, endlich einer und zwar der einzige männ-
lichen Geschlechts an eigentümlichen Zwangsvorstellungen.
Das Hauptinteresse nahmen die unter den Einfluss der Menstruation,
entweder karz vor, während oder unmittelbar nach der menstruellen Blutung
begangenen Diebstähle in Anspruch. In nahezu allen Fällen lag mehr oder
weniger schwere erbliche Belastung vor, und es liess sich nachweisen, dass
schon lange vor Begehung des Diebstahls teils dauernde, teils periodische,
eben zur Zeit der Menstruation auftretende hysterische Symptome bestunden,
Die mit der Monstruation verbundenen Störungen Ausserten sich hanptsäch-
licb neben der bekannten Reizbarkeit bald in heftigen Angstzuständen und
innerer Unruhe, bald in Wandertrieb, Schwindel und vorübergehender Be-
nommenheit des Bewusstseins. Bei einigen Patienten war die Erinnerung
an das Reat von Anfang an getrübt. Sie waren bei der Attrappierung derart.
fassungslus, dass sie auf die ziemlich unsanft ihnen entgegengeschleuderte
Beschuldigung, sie hätten alles gestohlen, was man bei ibnen vorgefunden,
entweder überhaupt nicht zu antworten wussten oder einfach alles zugaben,
obwohl sie die Kaufzettel für einen Teil der Waren bei sich hatten. Aller-
dings kommt hier als erschwerendes Moment der Shok der Festnahme im
Kaufbans hinzu. Ein ganz ähnliches Verhalten beobachtete G. einmal an einem
Postoberschaffner, der an schwerer traumatischer Neurose liti und eines
Tages vor dem Posthof auf die Denunziation einiger Mädchen wegen eines
angeblich an einem bestimmten Tag vor 2 Wochen an ihnen verübten Sitt-
lichkeitsvergehens verhaftet wurde. Der Mann gab auf der Polizeidirektion
ohne weiteres das Delikt zu und erklärte dem Ref. später, er hätte auch
ebensogut sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Tatsächlich konnte er
nachweisen, dass er am fraglichen Tage dienstlich von München abwesend
war, also gar nicht der Täter gewesen sein konnte.
Wo G. Gelegenheit hatte, die Fälle während einer der folgenden
Menstruationsperioden zu beobachten und zu untersuchen, konnte er häufig
1—2 Tage vor Eintritt der Blutung vasomotorische Störungen in Form von
beschleunigtem, unregelmässigem, selbst aussetzendem Puls konstatieren.
Die von Ref. begutechteten Personen waren bis auf eine noch unbe-
straft. Diese eine, eine 26jährige verheiratete Schlossersfrau, war erblich
angeblich nicht belastet und erstmals als 13jähriges Mädchen wegen Laden-
diebstahis verurteilt worden, sodann noch mehreremale wegen des gleichen
Reates, ferner wegen Uniugs und Körperverletzung. Die letzteren beiden Reate
waren in einem Eifersuchtsefiekt während Schwangerschaft geschehen. Im
5. Lebensjahre hatte sie eine Gehirmnerschütterung erlitten, in der Schule
blieb sie im letzten Jahre zurück. Während ihrer Menstruation fiel sie
jedesmal durch ihre Reizbarkeit auf, vernachlässigte dabei ihren sonst gut
eführten Haushalt, trank während dieser Zeit ihrem Manne heimlich von
ier weg, obwohl ihr das gar nicht verwehrt war, leugnete dann, aus dem
Glase getrunken zu haben. Unumwunden erzählte sie dem Ref., dass sie seit
Jahren während der Menstruation und auch während der ersten Monate einer
Schwangerschatt den Drang habe, irgend etwas zu nehmen. Sie habe oft
im Laden eine Bagatelle zu sich genommen, z. B. eine Schachtel Vorhang-
rioge, sich dann gleich gedacht, was sie denn damit tun solle und warum
sie das genommen habe. Sie habe dann die Sachen entweder fortgeworfen,
oder heimlich wieder zurückgestellt. Wie oft und wo sie Waren sich ange-
eignet habe, wolle sie nicht sagen, weil sie damit ja sich selbst anzeige.
Nach seinen Erfahrungen kommt G. zu der Ueberzeugung, dass die
bei psychopathischen, sonstwie nervösen oder hysterischen Personen infolge
des Menstruationsprozesses häufig sich einstellende Alteration der Vor-
stellungs-, Willens- und Gemütssphäre sehr leicht durch die eingangs
eschilderten äusseren Reize, wie sie in einem Warenhaus einwirken, jähe
teigerongen erleiden kann, welche die Zurechnungsfähigkeit ausschliessen.
Da solche Exazerbationen tatsächlich durchaus nicht selten sind, wird man bei
den während der Menstruation begangenen Diebstählen, wenn die Vorgeschichte
80 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher
nur genügende pathologische Anhaltspunkte liefert, Unzurechnungsfähigkeit
anzunehmen haben. Selbstverständlich ergeben sich daraus unter Umstäuden
auch die Konsequenzen der Einweisung in die Irrenanstalt wegen Gemein-
gefährlichkait.
Während also die eben besprochene Kategorie der Begutachtung wenig
Schwierigkeiten bietet, erheben sich bei den ausserhalb der Menstruation
fallenden Delikten, die sich hysterische Personen zu Schulden kommen
lassen, schon mehr Bedenken. ir haben hier den einzelnen Fall auf das
genaneste zu würdigen. Das Vorhandensein von einigen hysterischen Stig-
maten oder früheren hysterischen Anfällen, selbst des hysterischen Charakters,
wenn dieser nur leicht ausgeprägt ist, genügt nicht für die Annahme des
$ 51 Str. G. B. Dagegen trifft derselbe zu, wenn es sich um Dämmer-
zustände oder um ausgesprochenen hysterischen Charakter handelt.
Nach den übereinstimmenden Erfahrungen, die überall gemacht werden,
steht es fest, dass das weibliche Geschlecht beim Warenhausdiebstahl ganz
anverhältnismässig gegenüber dem männlichen prävaliert, und dass die einzige
Erklärung hierfür in dem Hereinspielen krankhaiter Elemente zu suchen ist. Es
erscheint daher die Forderung gerechtfertigt, duss in jedem Fall von Waren-
hausdiebstahl eine psychiatrische Untersuchung angeordnet werden sollte.
Die der Gesamtheit nach als minderwertig erkannte Eigenart der
Täter wie dıe anreizenden Umstände des Tatortes verdienen in den Füllen,
wo nicht volle Unznrechnungsfähigkeit angenommen werden kann, eine be-
sondere Berücksichtigung, weiche zweckmässig gesetzlichen Ausdruck durch
die Zulässigkeit auch von Geldstrafen statt Gefängnis finden sollte.
Die überaus günstigen prophylaktischen Erfolge, welche die Selbst-
schutzmassregeln aufweisen, sollten eranlassung geben, diese allen grösseren
Warenhäusern zur polizeilichen Auflage zu machen.
Diskussion.
Ungar-Bonn warnt vor den praktischen Konsequenzen, die G. gezogen
hat, wenn jeder Fall von Warenhausdiebstahl psychiatrischer Beurteilung
unterbreitet werden soll. Das rege zu neuen Diebstählen an. Vom wissen-
schaftlichen Standpunkt aus liege die Gefahr der Aufstellung von Monomanien
vor, die glücklicherweise in der Psychiatrie überwunden seien. Ganz be-
denklich sei die grosse Bewertung der Menstruation in dieser Frage. Der
hysterische Charakter könne nicht als strafausschliessend betrachtet werden,
sondern nur das hysterische Irresein.
Gaupp-Tübingen: Die psychiatrische Beurteilung, von der der Vor-
tragende wünsche, dass sie bei den Angeklagten Anwendung findet, ist noch
keine Freisprechung. ‚Beim Warenhausdiebstahl liegen doch eine Reibe von
typischen Merkmalen vor. Z. B. sei die Vermögensbereicherung meist so
ering, dass von einem Diebstahl eigentlich nicht die Rede sein könne.
fenbar seien doch Menstruation und Schwangerschaft tatsächlich von
Bedeutung.
Hänel-Dresden findet die Eigenartigkeit nicht in der Persönlichkeit
der Angeklagten, sondern in der Art des Diebstahls und glaubt, dass es eine
wirksame Prophylaxe sei, wenn man die Leute nicht auf Glatteis führe,
sondern das Aufsichispersonal durch Uniformen kenntlich mache,
Cron-Berlin hält im Gegensatz zu H. die Persönlichkeiten für typisch
and nicht die Gelegenbeit.
Liepmann ist ebenfalls gegen die Aufstellung einer neuen Krank-
heitsgruppe auf der Grundlage eines bestimmten Deliktes.
Strassmann: Psychopathische Anlage und Gelegenheit wirken bei
dem Zustandekommen des Delikts zusammen. Menstruation und Schwanger-
schaft allein können ebensowenig wie der hysterische Charakter exkulpierend
wirken. S. ist der Ansicht, dass die meisten Warenhausdiebinnen tatsächlich
enzurschnungsfähig sind. Was die Strafe anlangt, so halte er die Gefängnis-
strafe ganz besonders in diesen Fällen für ungeeignet; es sollte hier ebenso
wie bei der Unterschlagung die Umwandlung in eine Geldstrafe ermöglicht
werden.
Gudden (Schlusswort): Dass die Leiter der Warenhäuser zum Teil
und Aerzte in Stuttgart. 81
selbst keine Anzeige erstatten, beweist schon, dass sie den Diebstahl nicht
als solchen ansehen. Die Umwandlung der Haftstrafe in eine Geldstrafe
erscheint auch G. sehr zweckmässig. Das Ueberwiegen der weiblichen An-
eklagten spricht doch für die Wichtigkeit bestimmter Zustände, der ersten
onate der Schwangerschaft und der Menstruation.
Kreuser: Die Zeugnisfänigkeit der Sehwaehsinnigen. Die all-
emeine Zeugnisfähigkeit wird durch die Ergebnisse der experimentellen
Studien auf dem Gebiete der Aussage nicht erschüttert. Ihrer Beeinträchtigung
bei Schwachsinnigen wird durch die im Gesetz vorgesehene unbeeidigte Ver-
mehmung nicht ausreichend Rechnung getragen. — Als krankhafte Störung
der Geistestätigkeit schädigt der Schwachsinn die Zeugnisfähigkeit mehr,
als dies von der unvollständigen geistigen Reife zu gelten hat. Verringerte
Merkfähigkeit und Aufmerksamkeit führen vorzugsweise zu unvollständigen
Aussagen; unrichtige Auffassungen bei egozentrischem Fühlen, Urteilsschwäche
and ungenägende ethische Begriffe zu bedenklichen Entstellungen des Tat-
bestandes; kritiklose Phantasie und die suggestive Beeinflussbarkeit zu
fingierten Erlebnissen.
mag daher das Zeugnis Schwachsinniger noch so oft Unrichtiges
aicht enthalten, innerhalb gewisser enger Grenzen mitunter sogar besonders
zuverlässig sein, die volle Wahrheit ist kaum je davon zu erwarten, recht
hänfig aber bedenkliche Fälschungen des Tatbestandes. Ohne eingehende
psychologische Prüfung der Persönlichkeit kann ihm daher ein Beweiswert
nicht zuerkannt werden; als Belastungszeugen sollen Schwachsinnige allein
keine Beachtung finden. (Autoreferat.)
Diskussion.
Wildermuth-Stuttgart stimmt dem Vortragenden zu, besonders was
die Produktivität der Phantasie Schwachsinniger anbelangt, und weist auf
einen gut illustrierenden Fall seiner Beobachtung hin. Man müsse gausz
besonders bei Schwachsinnigen individualisieren. Es gibt Schwachsinnige,
die sehr zuverlässig sind.
Bayerthal-Worms hat als Schularzt experimentell in den Klassen
festgestellt, dass die Aussagen aller Kinder gefälscht waren.
Buchholz-Hamburg hat vor Juristen (in einem Kursus) die Mangel-
haftigkeit der Zeugenaussagen demonstriert.
Cimbal-Altona: Über die besondere antisoziale Eigenart des
ehronisehen Alkoholismus.
. Der gewohnheitsmässige Schwerverbrecher ist selten chronischer
Alkoholist, häufiger sind die Folgen sozialer Entgleisung, Bettelstrafon und
Landstreicherei, sowie Nachlässigkeiten in verantwortlicher Stellung (Eisen-
bahnunglück). Die kriminelle. Tätigkeit ist nicht das Ausschlaggebende, die
wichtigsten Gefahren richten sich gegen dio Familie. C. hat versucht, die
Eigenart dieser Gefahren durch methodige Untersuchung auch der Frauen
und Kinder greifbar zu machen, Erwerbsverhältnisse, Lebensgang, die Ur-
sachen des häuslichen Unglücks wurden ausser den Angaben der Beteiligten
kontrolliert darch die amtlichen Unterstützungsakten der Armenverbände nnd
Vernehmung der Arbeitsgenossen. Bei 4/; der untersuchten Ehefrauen fanden
sich nervöse Störungen, Herzklopfen, Angstzustände, Schlaflosigkeit, ge-
steigerte Sehnenreflexe, basedowähnliche Symptome. Idiotie der Kinder
war verschwindend gering gegenüber neurasthenischen und hysterieformen
Störungen, häufig waren schwere körperliche Traumen durch den Vater im
Beginn des Delirs. Nur die seltensten Fälle waren forensisch verfolgt worden.
Die Gesellschaft kann sich der Schädlinge erwehren, z. B. durch Ent-
lassung Fahrlässiger, durch Internierung der Verbrecher. Die schwer-
gefährdete Familie ist nach dem heutigen Recht wehrlos. Die Heilungs-
aussichten durch Intern-Behandlung werden vom Volk überschätzt, sie be-
stehen nur dann, wenn der Kranke nach der Entlassung aus der Anstalts-
pflege in einem der grossen Antialkoholverbaände verbleibt. Die Ent-
mündigung wegen Trunksucht § 6/3 BGB. ist für die Heilbehandlung deshalb
meist wertlos, weil die Entmündigung stets zu spät kommt. Die Familie ist
in den Anfangsstadien zur Antragsstellung nicht zu bewegen. Das Erwerbs-
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helft t. 6
sb Lilienstein, 78: Versammlung deutscher Naturforscher
leben leidet anfangs zu wenig, um einen genügenden Grand abzugeben. Be-
merkenswert sind‘. die Vorschläge von Strassmann und Leppmann,
ehronische schwere Trunksucht als Ehescheidangsgrund gelten zu lassen. Die
jetzige Irröufürsorge eigne sich für die Alkoholisten nıcht. Das Bedürfnis
nach Ausschaltung der geschilderten Kranken sus der bürgerlichen Gesell:
schaft sei ein dringendes, erfordere jedoch einen neuen Typus von Anstalten
im Sinne der z. T. schon bestehenden Arbeitskolonien, dann werde auch die
Entmüändigung wegen Trunksucht Breuchbar sein. Im Kampf gegen den
Alkoholismns direkt leisten die erfahrenen Antialkoholverbände weitaus
besseres als Arzt und Polizei. Die nächste ärztliche Anfgabe ist die Er-
forschung der sozialen Grundlage des Alkoholismus. Die Verwahrung der
antisozial gewordenen Trinker in unseren heutigen Irrenanstalten ist durch-
aus unzwöeckmässig.
t
Diskussion.
Lilienstein stimmt dem Vortr. darin bei, dass die Behandlang und
Prophylaxe des chronischen Alkoholismus durch Laien sich leider isher
wirksamer gezeigt hat, als diejenige der Aerzte, in den Anstalten n. s. w.
ijs der Aufnahmen in der Frankfurter städtischen Irrenanstalt sind Trinker
inkl. wiederholter Aufnahme). Der Guttemplerorden hat sich in einigen
ällen prophylaktisch und therapeutisch bewährt. L. fragt nach der Wirkungs-
weise dieses Verbandes in Hamburg, wo mehrere Tausende in demselben
organisiert sind. |
Cimbal berichtet hierauf im speziellen über die Behandlung der
chronischen Trinker und Dipsomanen an der psychiatrischen Abteilung des
Altonaer Krankenhauses: Die Frauen bringen die Kranken so rasch wie
möglich bei jedem Exzess in das Krankenhaus. Vou hier aus werden die
interessierten Alkoholgegnerverbände benachrichtigt. Es zeigte sich eine
grosse Ueberlegenheit der Vereinskontrolle übor die Krankenhausbehandlung.
Döllken-Leipzig: Verschiedene Arten der Reifung des Zentral-
nervensystems.
D. hat vor einem Jahr begonnen. mittels der Ramönschen Technik
die Entwicklung der Nervenbahnen im Gehirn zu untersuchen. Als wichtigstes
Ergebnis seiner Studien hebt er hervor, dass die Leitsätze Flechsigs über
den Bauplan des Gehirns, welche er aus der Markreifung ableitete, auch für
die frühesten Reifungsvorgänge ihre Geltung haben. Zuerst entwickeln sich
die Projektionssysteme und dann die Assoziationsfaserungen.
ein Material war ausser anderen Wirbeltier- und Säugetiergehirnen
eine vollständige Reihe der Entwicklungsstadien des Gehirns (Flechsigsche
Methode) der Maus.
. Zur Lösung von hirnanatomischen Problemen sind vor allen Dingen
elektive Methoden nötig, und diese hat uns Ramón!) neuerdings geschenkt.
Um vergleichbare Werte zu erhalten, muss man pendantisch jedesmal die-
selben Bedingungen nach jederRichtung schaffen. Schon geringe Abweichungen
können neue Resultate bringen. D. überzeugte sich, dass salpetersaures Silber ein
ungemein feines Reagens auf zahlreiche funktionelle und pathologische Zu-
stände der Norvensubstanz ist; er wandte Fixation mit Alkoholfund Ammoniak-
alkohol an. Mit der sonst so vorzüglichen Methode Bielschowskys hat
D. keine breuchbare Serien erhalten.
‚ Nach Vorbehandlung mit Alkohol lässt die Silberreduktionsmethode
bei sehr jungen Tieren die Faser, welche später Mark erhält, bis dicht an
ihre Ursprungs-. oder Endzelle erscheinen. Ammoniakalkohol (24 Stunden)
bringt die marklosen Fasernetze um die Zellen und einen Bestandteil der
dünnen markhaltigen Fasern, alles sehr zarte, feine Gebilde. Die Methoden
sind sicher.
Die Fragestellung lautet: Besteht für die wesentlichen Bestandteile
des Gehirns ein klarer entwicklungsgeschichtlicher Bauplan, und welche Be-
"=! 1) Ramón y Cajal, Trois modifications. Comptes rend. do la socs’
de biol. 1904. | o
f r
und Aerzte in Stattgart. 83
ziehungen zur Phylogenie und zur physiologischen Funktion lassen sich
erkennen?
Dass die beiden letzten Punkte einen engen Zusammenhang haben,
zeigen uns die Forschungen Edingers!) über das Gehirn der niederen
Wirbeltiere.
Wenn nun wirklich Häckels Satz, dass die Ontogenie eine abgekürzte
Phylogenie ist, stimmt, so darf man erwarten, dass eine entwicklungsgeschicht-
liche Sonderung der einzelnen funktionellen Systeme nachzuweisen ist.
Für den spätesten grossen Abschnitt der Hirnentwicklung, für die
Markreifung, finden wir den Beweis dafür in den bekannten Arbeiten
Flechsigs. Nun aber erfolgt die Markreifung, diese Krönung eines fertigen
Werkes, so rasch, dass ein genialer Blick und ein bedeutender Formensinn
dazu gehörten, den Plan klar zu erkennen und darzustellen.
Auch Ramón?) bringt mit seinen Methoden so viele entsprechende
Daten, dass er sich im grossen und ganzen Flechsig anschliesst.
D.s eigene Untersuchungen ergeben, dass sich eine ganze Reihe von
Reifungsprozessen in der Nervensubstanz mit salpetersaurem Silber nach-
weisen lassen. Bestimmte Bestandteile der Fasern, der Zellen differenzieren
sich successive, und zwar die gleichen Bestandteile an verschiedenen
Orten nicht zu gleicher Zeit.
Die erste Stufe ist das Myelospongium His’, die nächste eine färbbare
Substanz exogener (von aussen stammender) Fasern. Dann folgen Fasern
innerhalb der Rinde, nach der Geburt Endnetze. Alle Fasern haben ein
verschiedenes Aussehen. Ramón gibt an, dass es um die Zeit der Geburt
eine Fibrillenreifung der Zellen gibt. Wichtiger ist für D. ein anderer Be-
fund an den Zellen. Es lässt sich sehr deutlich und klar mit allen Silber-
reduktionsmethoden eine successive Reifung der Zeillschichten darstellen,
und zwar ist der Typus nicht für alle Rindenfelder der gleiche.
Topographische Reifung: Bei sehr jungen Embryonen (10 Tage) sah D.
aus der inneren Kapsel ein System aussen um das Hinterhorn in den Lobus
pyriformis ziehen, ein zweites nach vorn aufwärts im Bogen durch die Pars
cinguli, nach hinten gleichfalls in den Lobus pyriformis, Das erste endet in
der plexiformen Schicht, das zweite später anch, wenigstens teilweise. Diese
beiden Bündel sind das Schmecksystem. Zu gleicher Zeit strahlt der
Stabkranz der Bewegungsrinde in die Schicht der polymorphen Zellen der
ihm gehörigen Konvexität ein. Ausserdem hat noch ein Teil der unteren
Riechrinde zu reifen begonnen. Das Ammonshorn ist noch völlig undifferen-
ziert. Weitere Systeme der Grosshirnrinde gibt es nicht um diese Zeit.
Bald nach der Geburt haben sich weitere Systeme in der Pars cinguli hinzu-
gesellt, die zum Teil vorn über dem Balken enden, zum Teil im Lobus
yriformis und Ammonshorn einstrahlen. Auch die Sehstrahlung in dem
ceipitalpol beginnt sich zu entwickeln, und zwar auch zuerst nur in die
Schicht der polymorphen Zellen hinein.
- Unterdessen aber beginnt die Taststrahlung Fasern auch noch in die
zweite Zellenschicht zu senden. Im Schmeckfeld des Lobus pyriformis sieht
D. nun in der inneren Körnerschicht Gabelungen der Fasern.
Erst am 8. Tage etwa beginnen in der Bewegungerindo auch die Fasern
der 3. und 4. Schicht, mittelgrossen und grossen Pyramiden, zu reifen, etwas
früher die weiteren Schichten des Lobus pyriformis. Aehnlich — nicht ganz
gleich — dem Bewegungssystem, nur später, reift das System des Sehens
und noch später das des Hörens. Die Unterschiede in der Zeit sind auf-
fallend gross, etwa 10 und 15 Tage. In späteren Zeiten ist die Faserung
der 4. Schicht in der Seh- und Hörrinde wesentlich dichter als in der Be-
wegungsrinde.
Assoziationsfasern erscheinen später als die zugehörigen Projektions-
fasern: Zuerst treten solche innerhalb der eben erreichten Zellenschicht der
Rinde auf, später erst die Kommissurenfasern, nachdem die zweite Schicht
erreicht ist. Ein Feld im hintersten Teil der Konvexität erhält nie mehr als
1) Edinger, Arbeiten über das Vordernhirn ete. Lehrbuch. 1905.
3) Ramón y Cajal, Studien über die Hirnrinde. Leipzig 1900—1906.
6*
84 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher
nz spärliche Projektionsfasern. Beliebig lassen sich hier aber marklose
chseuzylinder darstellen. Ramón spricht dieses Feld als Assoziations-
zentrum an. D. schliesst sich dem an. Vielleicht liegt im Stirnhirn noch
ein solches von geringen Dimensionen.
Die Rindenfelder sind vom ersten Tage ihres Entstehens an scharf
umgrenzt und haben relativ dieselbe Grösse wie beim erwachsenen Tier.
Die Abgrenzungen der Bewegungs- und Sehrinde von D. stimmen mit den
von Brodmann?) an Nissl-Bildern gefundenen überein.
D. hat seine Untersuchungen im Institut für gerichtliche Medizin der
Universität Leipzig angestellt (Direktor: Prof. Kockel). Autoreferat.)
Dräseke-Hamburg: Befunde am Rückenmark bei Knochen-
orkrankuneen.
Der Vortragende schilderte an der Hand von 6 Diapositiven Befunde,
die er an 15 Rückenmarken von Menschen, sowie drei vom Affen in völliger
UVebereinstimmung hat erheben können. Den Anlass zu dieser Untersuchung
gab das Rückenniark eines schwer rachitischen Neuweltaffen (Ateles arach-
noides), das der Vortragende mit Rücksicht auf die an ihm festgestellte
rachitische Erkrankung des Skelettsystems bei seinen vergleichend-anatomi-
schen Arbeiten heranzog. Es handelt sich in allen genannten Fällen nicht
um eine Systemerkrankung. Vielmehr zeigt das Rückenmark vorwiegend in
den Seiten- und Vordersträngen, viel seltener in den Hintersträngen, schon
makroskopisch Lichtungen, die mikroskopisch im Querschnitt folgendes Bild
bieten: Während die Markscheiden einer Reihe von Achsenzylindern bei der
angewandten Weigert-Methode mit ihren Modifikationen sich tiefschwarz,
färben, sieht man unmittelbar daneben Achsenzylinder, deren Markscheiden
erheblich weniger Hämatoxylin aufgenommen haben. Ja es verlieren die
Markscheiden stellenweise so sehr ihre Aufnahmefähigkeit für den betreffenden
Farbstoff, dass man nur mit Mühe die einzelne Nervenfaser im Querschnitt
erkennen kann. Hand in Hand hiermit geht auch eine mehr oder weniger
beträchtliche Zunahme des Gliagewebes, eine Erscheinung, die zumal an der
Peripherie des Rückenmarkes deutlich hervortritt. Sehr interessant sind die
Bilder, welche die erkrankten Neurone im Längsschnitt zeigen. Ebenso wie
im Querschnittsbilde hält es schwer, die einzelnen Fasern sicher zu erkennen
oder gar sie zählen zu wollen. Die deutlicher hervortretenden Fasern sind
in ihrem ganzen Verlauf streckenweise mit kleinen und grösseren Vakuolen
besetzt. Auch aus- und eintretende Nerven zeigen eine wechselnde Färbbar-
keit ihrer Markscheiden. Bei bester Chromierung färben sich die erkrankten
Fasern erstens sehr schlecht, zweitens sind sie beim Differenzieren äusserst
empfindlich, indem sie den Farbstoff nur allzu leicht wieder fahren lassen.
Auf Grund dieser pathologisch-anatomischen Befunde wird man es versuchen
können, eine klarere Vorstellung von dem Heilungsprozess bei der Rachitis
zu gewinnen. Denn umgeben sich alle Neurone des Rückenmarkes wieder
mit einer normal myelinhaltigen Markscheide, so wird der Achsenzylinder,
mag er nun der motorischen oder der sensiblen Sphäre angehören, voraus-
sichtlich seine Funktion in vollem Masse wieder aufzunehmen imstande sein.
So dürfte die Heilbarkeit der Rachitis als solcher, von den Folgeerkrankungen
natürlich abgeseben, auch von dieser Seite her sich betätigen. Auch die
Therapie, zumal die Phosphortherapie, wird jetzt in einem etwas anderen
Lichte erscheinen. Zu zwei Fragen geben diese Ergebnisse nunmehr Anlass:
1. Sind die am Skelettsystem, sowie die jetzt auch am Nervensystem er-
hobenen Befunde einander gleichzusetzen, und zwar durch eine bisher noch
unbekannte Noxe bedingt? Oder ist 2. die Erkrankung des Nervensystems
«ie primäre, die des Knochensystems die sekundäre? Die erste Frage wird
durch die neuen Ergebnisse vorläufig nicht irgendwie weiter gefördert, da-
gegen erscheint der Weg zur Beantwortung der zweiten Frage jetzt gang-
arer geworden zu sein. Bereits 1885 hat Pommer auf Grund seiner überaus
eingehenden „Untersuchungen über Osteomalacie und Rachitis* (S. 467) die
Vermutung ausgesprochen, dass die Rachitis wahrscheinlich „in abnormen
Vorgängen und Zuständen im zentralen Nervensystem ihren Ursprung hat“.
) Brodmann, Journ. f. Neurol. 1906.
und Aerzte in Stuttgart. 85
Der Vortr. selbst stiess auf die Vermutung Pommers erst, als er anlässlich
der von ihm gewonnenen pathologisch-anatomischen Ergebnisse sich mühte,
die weitschichtige Literatur über Rachitis mit ihren vielfachen Widersprüchen
durchzuarbeiten. Inwieweit die von ihm zuerst am Affenrückenmark ge-
machten, beim Menschen dann gleichfalls bestätigten Beobachtungen diese
Vermutung zu stützen vermögen, muss erst an einem erheblich grösseren
Material, auch mit Anwendung anderer Färbemethoden, am ganzen Nerven-
system, sowie unter Berücksichtigung des gesamten Neurons (Zellleib u. s. w.)
enauer untersucht werden. Bei der Schwierigkeit der Frage glaubte der
ortragende gleichwohl die bisher von ihm gewonnenen Ergebnisse schon
jetzt mitteilen zu dürfen.
Seiffer-Berlin: Ueber eine seltene Rüekenmarksgesehwulst (mit
Demonstration).
Vortr. berichtet über einen Fall von seltener Rückenmarksgeschwulst,
welche bei einem 56jährigen Müllergesellen nach einem Trauma im Laufe
von mehreren Jahren zu einer vollständigen motorischen und sensiblen
Lähmung beider Körperhälften bis zum Halse herauf (mit Ausschluss des
Kopfes, der Gehirnnerven) geführt hatte. Die Diagnose war auf eine intra-
medulläre Geschwulst, mit Wahrscheinlichkeit Gliom mit Syringomyelie ge-
stellt worden. Durch die Obduktion wurde die Diagnose im allgemeinen
bestätigt, indessen fand sich ausser dem intramedullären Gliom, welches sich
vom mittleren Cervikalmark bis zum 10. Dorsalsegment hinab erstreckte und den
Querschnitt des 3.—5. Cervikalsegments fast vollständig zerstört hatte, noch
eine extramedulläre Geschwulst, welche den oberen Cervikalsegmenten kappen-
förmig aufsass und dieselbe Struktur aufwies wie die intramedulläre Ge-
schwulst, d. h. also jedenfalls anch gliomatöser Natur war. Dieser Fall
schliesst sich an ähnlicho Fälle von Pels-Leusden, Grund und Klebs an.
Eine spezifische Neurogliafärbung konnte nicht mehr ausgeführt werden.
Diskussion.
Haenel-Dresden weist auf den von ihm beschriebenen Fall im Archiv
f. Psychiatrie, 1898, hin, in dem’ multiple kleine Tumoren an Basis und Kon-
vexität des Gehirns aufgetreten waren; dieselben durchbrachen Pia und Dura
und hatten stellenweise sogar den Knochen arrodiert; ihre mikroskopische
Untersuchung zeigte, dass sie aus gliomatösem Gewebe bestanden und stützte
somit die Ansicht, dass in seltenen Fällen ein Gliom die Grenze der Nerven-
substanz überschreiten kann.
Quensel-Leipzig fragt, ob sich Beziehungen zu den Wurzeln haben
feststellen lassen and weist hin auf die Veränderungen ausserhalb des Zentral-
nervensystems bei der multiplen Sklerose.
Seiffer (Schlusswort) verneint die Frage des Herrn Quensel.
v. Monakow: Ueber Aphasie und Diasehisis (Vortrag zu kurzem
Referat nicht geeignet, erscheint in extenso im Neurol. Centralbl.).
Diskussion.
Liepmann, Fauser.
Sitzung am 21. September.
J. Finckh-Tübingen: Ueber die psychischen Symptome bei Lues.
Die Aufgabe umfasst die Schilderung dieser Symptome und die Ent-
scheidung der Frage nach ihrer Spezifität. Bei Lues werden sämtliche
peychische Symptome beobachtet. Die häufigsten sind die neurasthenischen,
epressiven (mit meist hypochondrischem, melancholischem und selten
paranoischem Gedankeninhalt), manischen, zirkulären und hysterischen Kom-
plexe, die ihre Eigenart durch die gleichzeitigen nervösen Reiz- und Ausfalls-
symptome oder Demenz erhalten. Am wichtigsten ist die letztere, die über
ihren Grad durch Inkohärenz und Benommenbheit täuschen, aber bis zur Ver-
blödung gehen kann. Sie entwickelt sich primär oder im Anschluss an obigen
Symptomenkomplex schleichend oder akut und schubweise zunehmend. Sie
86 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforschor
kann den .herdförmigen Charakter der 'neurolagischen Symptome durch
partielle geistige Defekte bei vorläufiger Schonang der persönlichen Eigenart
tragen. ufig Krankheitseinsicht; Gedächtnis, Merkfähigkeit, geistige Reg-
samkeit, Orientierung über Ort, Zeit und Umgebung auch bei schwcrer Demenz
erhalten; momentane Anklänge an die Höhe des früheren geistigen Zustandes.
Zweilen Merkstörung wie bei amnestischer Psychose mit Amnesio, Euphorie
and Konfabulationen im Vordergrund und Ausgang in Heilung oder statio-
näres Verhalten. Sodann episodische Zustände (nach Anfällen oder selbständig)
als Bewusstseinstrübung aller Grade bis zum Koma (rauschartige Benommen-
heit, Schlafsucht, traumhaftes halluzinatorisches Delir mit rregung, ge-
legentlich als Beschäftigungsdelir, äbnlich dem Del. trem., sich darstellend)
Bemerkenswert ist der Wechsel zwischen Koma und geistiger Klarheit.
Die Diagnose ist geknüpft an den Ueberblick über Entwicklung und
Verlauf der psyschischen Symptome und den Nachweis ‚charakteristisch
grappierter, neurolgischer Erscheinungen, eventuell unter Verwertung der
für Lues positiven Anamnese, florider syphilitischer Prozesse im Körper und
des therapeutischen Erfolges. —
Eigenarten des Verlaufes, erklärt aus der Natur und Lokalisation des
Iustischen Prozesses, sind die proteusartige Wandelbarkeit, das Nebeneinander
von geistiger Gesundheit und Klarheit neben lebensbedrohlichen Zuständen
und schwerer Benommenheit, der rudimentäre Charakter der lokal nicht zur
sammengehörigen Symptome und das stationäre Verhalten im Endstadium.
Ein einheitliches Bild der luetischen Psychosen gibt es nicht. |
Die gonannten Symptomenbilder, sofern sie nicht zufällige Erscheinungen
bei Luetikern sind oder selbständige einfache Psychosen, so z. B. in akuten
Fällen von Lues cerebri, zu sein scheinen, sind Phasen eines weit aus-
gedehnten Krankheitsprozeases, oft mit Ausbildung luetischen Schwach-
sinns, der fast konstant und am schwersten bei hereditärer Lues und recht
häufig bei acquirierter Lues Erwachsener ist, wo er unter mannigfachen
Bildern verlaufen kann, so z. B. als einfacher luetischer Schwachsinn (all-
mähliche oder schnelle geistige Reduktion mit indolenter, gereizter oder
ehobener Stimmung, Selbstüberschätzung, spärlichen paranoischen oder
äufigen hypochondrischen Ideen und allerlei episodischen Zufällen, Herd-
symptome etc) oder in komplizierteren Bildern (zunächst in Form oben-
genannter einfacher Psychosen in wechselnder Reihenfolge, dann Uebergang
in stationäre geistige Schwäche). Dauer 20 und mehr Jahre; nach spezi-
fischer Behandlung öfter wesentliche Besserung, selten nahezu Heilung. .
Verwechslung mit Pl. pr., besonders in der Entwicklung, mäglich
(syphilitische Pseudoparalyse). Differentialdiagnostisch wichtig lange Dauer,
stationäres Verhalten im Endstadium, Herdsymptome, Fehlen der paralytischen
Sprach- und Schriftstörung, relativ gute Konservierung von erkfähigkeit
und Regsamkeit, plötzlicher Wechsel der Erscheinungen etc. Diagnose ist
indes nicht immer möglich. Charakteristisch für Syphilitiker ist nur der
luetische Schwachsinn. u (Eigenbericht.) .
Diskussion.
Wildermuth, Weil. ' . .
Stadelmann-Dresden: Cerebrale Kinderlähmung und genuine
Epilepsie.
Stadelmann postuliert für die Beurteilung der cerebralen Kinder-
lähmung und der genuinen Epilepsie den energetischen Standpunkt neben
dem cellularpathologischen. Diejenige Betrachtungsweise, die vom energetischen
Standpunkte aus geschieht, führt zu dem Gedanken, dass die beiden, in ihren
Symptomen vielfach gleichartigen Erkrankungen von einer gleichen Kon-
stitutionsanomalie ausgehen und dass nur durch das jeweilige Quantum und
die Lokalisierung der (chemischen und physikalischen) Schädlichkeit im Ge-
hirn, sowie durch dessen jeweilige bauliche Resistenzfähigkeit die Ver-
schiedenartigkeit der Symptome verursacht ist. Die Betrachtung vom
energetischen Gesichtspunkte aus erlaubt den Blick auf alle im menschlichen
Organismus gegenwärtig wirksamen chemischen und physikalischen Kräfte
und auf den Menschen als etwas Einheitliches.. Da durch die alleinige
Gültigmachung des oellularpathologischen Standpunktes nur eino Seite des
und Aerzte in Stuttgart - 87
Krankheitsbildes erleuchtet wird, schlägt Stadelmann eine andere Frage-
stellung bezüglich der Astiologie der cerebralen Kinderlähmung und der
genuinen Epilepsie vor: „Welche Kräfte aind es, die die Erscheinungen der
cerebralen Kinderlähmung und der genuinen Epilepsie hervorrufen?“ St. halt
diesbezügliche methodische Untersuchungen für nötig, da diese Gesichtspunkte
Perspektiven für eine Therapie eröffnen können. (Autoreferat.) ,
Diskussion.
Wildermuth, Haenel, Liepmann.
Gemeinschaftliche Sitzung mehrerer medizinischen Gruppen am 19. IX.:
Ueber Hirn- und Rüskenmarksehirurgie. |
Vorsitzender: Prof. Bruns- Hannover.
HerrSaenger-Hamburg: Veber Palliativtrepanation belinoperablen
Birntumoren. Trotz der grossen Fortschritte in der Chirurgie und Neun-
rologie ist doch noch immer bei weitem der grössere Teil aller diagnosti-
zierten Hirngeschwülste operativ unzugänglich. Andererseits gibt es auch
eine recht grosse Zahl von Hirntumoren, die nach unseren gegenwärtigen
Kenntnissen nicht lokalisiert werden können. Wie sollen wir uns nun
solchen Tumorkranken gegenüber verhalten? Schon 1902 hat Vortr. diese
Frage auf dem Chirurgenkongress zu Berlin behandelt. Da ersterer gegen-
wärtig über eine grössere Erfahrung verfügt und da die Ansichten über die
Behandlung der inoperablen Tumorkranken noch nicht übereinstimmen, ao
kommt er auf diesen wichtigen Gegenstand zurück. Vortr. teilte nun im
einzelnen seine klinischen Erfahrungen mit, die anderen Ortes veröffentlicht
werden sollen. Vortr. verfügt Pi im ‚ganzen über 19 Fälle, bei denen die
Pallistivtrepanation des Schädels ausgeführt worden ist. In 2 Fällen trat
erst ein Erfolg ein, als die Tropanstionsöffnung erweitert worden war und
mehr Liquor cerebrospinalis abfliessen konnte. In zwei anderen Fällen hatte
die Trepanation keinen Erfolg. In einem Falle von Basistumor trat un-
mittelbar nach der Trepanation Sopor ein, in dem der Exitus erfolgte. In
allen anderen Fällen war die wohltätige Wirkung der Trepanation evident:
Kopfschmerz, Erbrechen, Krämpfe und andere Symptome, die durch den
erhöhten Druck im Schädelinneren hervorgerufen waren, so die Stauungs-
papille, liessen nach und verschwanden völlig in einem Teil der Falls.
arvey Cushing empfiehlt, den Schädeldeiekt in der Temporal- und
Oecipitalgegend mittelst Muskulatur zu decken. Diese Methode wurde yon
Herrn Dr. Wiesinger bei der Trepanation über dem Kleinhirn schon seit
vielen Jahren mit Erfolg angewendet. Als Zeitpunkt des operativen Ein-
schreitens ist der Beginn der Herabsetzung des Sehvermögens zu empfehlen.
Trepaniert man später, so bleibt sehr leicht eine Opticusatrophie zurück.
Was den Ort der Trepanation betrifft, so ist in erster Linie diejenige Stelle
der Hirnschale ins Auge zu fassen, unter welcher man den Tumor vermutet.
Ist eine Lokaldiagnose gar nicht zu stellen, so dürfte sich empfehlen, über
dem rechten Parietallappen zu trepanieren, da von dieser Gegend am
‚wenigsten Ausfallssymptome zu befürchten sind. Die Trepanation über den
Kleinhirnhemisphären ist nach den Erfahrungen des Vortr. nicht so gefähr-
lich, wie man früher Angenommen hat. Man muss nur sehr vorsichtig zu
Werke gehen und nach Freilegung der Dura eine Zeitlang warten, bevor
man dieselbe eröffnet. Die Lumbalpunktion und die Punktion der Seiten-
ventrikel können sich in Bezug auf Wirksamkeit nicht mit der Trepanation
des Schädels messen. Vortr. resumiert auf Grund seiner erweiterten Er-
fahrungen seine Ansicht dahin: die Palliativtrepanation des Schädels ist bei
dem heutigen Stande der Chirurgie in den Händen eines geübten Operateurs
eine nahezu ungefährliche, ungemein segensreiche Operation, die bei jedem
inoperablen Hirntumor zu empfehlen ist, um die Qualen des Patienten zu
erleichtern und um denselben namentlich vor der drohenden Erblindung zu
bewahren. Autoreferat. |
Herr Feodor Krause-Berlin: Ueber die operative Behandlung
der Hirn- und Rückenmarkstumoren. Um das sehr umfangreiche Gebiek
‘88 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher
in möglichster Kürze vollständig zu behandeln, beschränkt sich Vort. in
seiner Darstellung nur auf eigene Erfahrungen und führt Beispiele aller in
Frage kommenden Operationen in Projektionsbildern vor. An der Hand
dieser bespricht er zunächst die Geschwülste der sensomotorischen Region,
des klassischen Ortes für die Chirurgie der Hirntumoren. Nach Aufzeichnun
der Rolandoschen und Sylvischen Furche auf dem rasierten Schäde
werden mit Hülfe der osteoplastischen Lappenbildung grosse Trepanations-
öffnungen mit der Dahlgreenschen Zange angelegt. Die Blutung aus den
Weichteilen wird durch die Heidenhainsche Umstechungsnaht wesentlich
gemindert oder aufgehoben. Kortikal sitzende Geschwäülste sind nach
appenförmiger Duraleröffnung meist leicht zu erkennen, bei subkortikalen
leistet die faradische einpolige Reizung mit sehr schwachem Srome aus-
ezeichnete Dienste, wie überhaupt diese Methode auch im Operationssaal
r den Chirurgen unentbehrlich ist. Ebenso wie Tumoren müssen Gummata,
Solitärtuberkel und Cystenbildungen behandelt werden. Von letzteren gibt
Vortr. ein Beispiel an einer grossen Cysticercusblase der vorderen Zentral-
windung. Zunächst gelan die operative Heilung, später ging der Kranke
an multiplen Cysticerken der Hirnbasis zugrunde. Doch die hirargie der
Zentralwindungen stellt heute nur ein recht kleines Gebiet der Gehirn-
chirurgie dar. Als Beispiel für einen Tumor der Parietralregion zeigt Vortr.
die Operationsbilder eines von H. Oppenheim diagnostizierten pflaumen-
grossen, an zwei Stellen eitrig geschmolzenen Solitärtuberkels, der in toto
exstirpiert wurde. Wegen der Eiterung musste die Wunde 12 Tage tamponiert
und offen gehalten werden; der eintretende grosse Hirnprolaps liess sich
durch Zurückklappen des Dural- und Hautknochenlappens, sowie durch
exakte Vernähung der weithin abgelösten umgebenden Haut beseitigen, so
dass Heilung eintrat. Der Kranke ging später an Lungenphthise zugrunde;
die Autopsie zeigte im Gehirn vollkommene Heilung und hier auch an
keiner anderen Stelle einen Tuberkelherd. Weiter wird eine gleichfalls
von Oppenheim diagnostizierte Geschwulst des Occipitallappens bei einem
Sbjährigen Manne als Beispiel vorgeführt. Die Exstirpation erfolgte in
zwei Zeiten und führte zu vollständiger Heilung, so dass selbst die Hemianopsie
verschwunden ist. Dann ging Vortr. auf die Operstionen am Stirnlappen
und in der vorderen Schädelgrube über, und im Anschluss daran besprach
er die Freilegung der Hypophyse von vorn her nach Bildung eines Stirn-
lappens. Dieser Operation wesentlichen Teil hat er mit vollständigem Er-
folge vor 6 Jahren ausgefü um eine schwere Symptome verursachende
Revolverkugel aus der Gegend des Chiasma zu entfernen. Der Operierte
ist vollkommen gesund geblieben. Die Geschwülste der mittleren Schädel-
grube werden in analoger Weise entfernt, wie Vortr. bei der Exstirpation
eg Ganglion Gasseri vorgeht. Die letzte Operation hat er 5i mal mit
7 Todesfällen ausgeführt und niemals innerhalb eines Zeitraumes von
14 Jahren ein Rezidiv der Trigeminusneuralgie beobachtet. Diese radikale
Methode wendet er aber nur in den schwersten Fällen an, wenn die unge-
fährlichen Resektionen der peripheren Trigeminusäste erfolglos geblieben
sind; dann aber ist die Exstirpation des Ganglion Gasseri zu empfehlen.
Bei den Eingriffen in der hinteren Schädelgrube und am Kleinhirn bildet
es einen Unterschied in der Technik, ob beide Seiten oder nur eine frei-
gelegt werden sollen. Letzteres Verfahren kommt vor allem bei den sogen.
custicustumoren, den Geschwäülsten des Kleinhirnbrückenwinkels, in Betracht.
Durch Freilegen und vorsichtiges Verschieben der betreffenden Kleinhirn-
hemisphäre medianwärts oder nach innen und oben kann man die hintere
Felsenbeinfläche und den hinteren Abschnitt der Schädelbasis, sowie die
hier liegenden Hirnnerren (Acusticus, Facialis, Glossopharyngeus, Vagus,
Accessorins) zu Gesicht bringen und die in solcher Tiefe liegenden Tumoren,
zumal sie meist abgekapselt und ausschälbar sind, entfernen. Eine derartig
operativ geheilte Kranke ist in der Neurologischen Gesellschaft zu Berlin
vorgestellt worden. Im ganzen hat Vortr. 10 solcher Operationen ausgeführt,
einen genauen Bericht über 9 Fälle hat er auf dem diesjährigen Chirurgen-
kongress geliefert. Im Anschluss an die Technik für die Freilegung beider
Kleinbirnhemisphären bespricht Vortr. die Punktion des 4. Ventrikels . als
und Aerzte in Stuttgart. 89
einen unter Umständen lebensrettenden Eingriff; weiterhin erörtert er die
Prognose aller erwähnten Hirnoperstionen. Die wirkliche Heilung einer
Hirngeschwulst durch den Chirurgen gehört immer noch zu den Seltenheiten.
Bedenkt man aber, dass jeder Kranke sonst verloren ist und zumeist unter
den grössten Qnalen, so findet die Operation doch ihre Berechtigung.
Gelingt die radikale Entfernung nicht, so bedeutet die Trepanation mit
Duraleröffnung als druckentlastende Operation eine grosse Erleichterung
für den Kranken und häufig eine Verlängerung seines Lebens. Einen solchen
pallistiven Eingriff darf man mit demselben Recht vornehmen wie z. B. die
Gastrotomie bei Speiseröhrenkrebs u. dergl. mehr. Die Hauptgefahren der
Operation sind Blutung und Shock, während die Infektion mit einem hohen
Grade von Wahrscheinlichkeit auszuschalten ist. Wenigstens hat Vortr. unter
allen Operationen wegen Hirngeschwulst und Epilepsie, sowie bei den
51 Exstirpationen des Ganglion Casseri keinen Kranken an Meningitis ver-
loren. Man muss immer auf die einzeitige Vollendung der Operation vor-
bereitet sein, da dio Verhältnisse dazu zwingen können. Wenn aber die
Wahl offen bleibt, so ist das zweizeitige Verfahren am Gehirn vorzuziehen.
Man verteilt damit die Gefahr und vermindert sie für jeden der Eingriffe.
Ganz anders bei der Entfernuug der Tumoren der Rückenmarkshäute;
hier ist das einzeitige Verfahren das richtige, ausserdem sollen die Wirbel-
bögen nicht erhalten, sondern geopfert werden. Die Wundverhältnisse werden
dadurch vereinfacht, zudem haben die Bögen für die Stätzfäbigkeit der
Wirbelsäule keine Bedeutung. Vortr. hat 19 derartige Operationen aus-
geführt mit 5 Todesfällen. Die älteste Patientin ist vor 6 Jahren operiert
und lebt — 72 Jahre alt — noch jetzt; es handelte sich um ein Psammom
in der Höhe des 7. Brustwirbels, das von Dr. Böttiger diagnostiziert
worden war. Am gefährlichsten sind die Eingriffe am oberen Halsmark;
von drei derartigen Operierten sind zwei im Collaps gestorben; bei einem
dritten musste der Bogen des Epistropheus des 3. und 4. Halswirbels ent-
fernt und nach Spaltung der Dura der untere Teil der Medulla oblongata
freigelegt werden; der Kranke ist geheilt und hat sich 2 Jahre nach der
Operation in guter Gesundheit vorgestellt. Von anderen Schwierigkeiten,
die sich bei Rückenmarksoperationen herausstellen, sind zu erwähnen:
inoperable Geschwülste; dann Verwachsungen im Arachnoidalraum, die
Tumorsymptome vortäuschen oder oberhalb der wirklich vorhandenen
Geschwulst weit hinaufreichend zu einer falschen Segmentdiagnose Veran-
lassung geben können; endlich die Meningitis Serosa ex Arachnitide chronica,
die, bereits von Oppenheim betont, vom Vortr. in mehreren Fällen ge-
funden wurde. Für alle diese Vorkommnisse werden operative Erfahrungen
an Diapositiven vorgeführt. Selbst bei Rückenmarksgeschwülsten können
also noch diagnostische Schwierigkeiten mancherlei Art erwachsen, und
doch ist hier die Disgnostik dank der Segmentierung des Organs soviel
leichter und soviel besser ausgebildet als bei Gehirngeschwülsten, dazu
kommt noch die geringere Gefahr des Eingriffes.. Wenn es aber dermal-
einst gelingen sollte, die von vornherein inoperablen Hirntumoren als solche
zu erkennen und dann höchstens der druckentlastenden Trepanation zu
unterziehen, so werden die operativen Ergebnisse auch auf diesem Gebiete
bessere werden. Die grossen Fortschritte der neurologischen Diagnostik
in den letzten Jahren, namentlich auf dem Gebiete der Tumoren der hinteren
Schädelgrube, berechtigen zu begründeten Hoffnungen auch für die Chirurgie
des Grosshirns. Die Fortschritte der Neurologen sind es, welche auch die
Chirurgen vorwärts bringen; denn diese sind ihre ausführende Hand.
Autoreferat.
Herr Steinthal-Stuttgart stellt einen Patienten vor, bei dem die
Pallistivtrepanation gemacht worden ist. 87jähr. Mann, bei dem ohne
vorausgegangene anderweitige Erkrankung am 1.Maid.J. eine Jacksonsche
Epilepsie der linken Körperseite auftrat. Nach mehreren Anfällen blieb
zunächst nur eine Lähmung der linken Oberextremität und nach weiteren
Anfällen eine Lähmung der linken unteren Extremität zurück. Keine
Allgemeinsymptome von Hirndruck, speziell keine Stauungspapille. 2 Tage
nach letztem Anfall zunehmende Somnolenz, Sinken der Pulszahl, auch jetzt
20 Lilienstein, 78. Versammlung deutscher Naturforscher
keine Stauungspapille..e Wegen steter Verschlechterung des Allgemein-
‚zustandes Trepanation über der rechten motorischen Region. Weder kortikal
moch subkortikal Tumor gefanden, deshalb Schluss der Lücke unter Weg-
nahme des Knochenstückes. Am Abend des ÖOperationstages kehrt das
Bewusstsein wieder. Im Laufe der nächsten ochen stete Besserung.
Jetziger Zustand: durchaus normales psychisches Verhalten, von. Hirnnerven
nur noch im linken Facialis leichte Parese in sämtlichen Zweigen. Liuks-
seitige cerebrale spastische Paralyse der oberen Extremitäten, an der unteren
Extremität keine motorische oder sensible Störung, nur leichte Erhöhung
der Sehnenreflexe, Babinski positiv. Operation war indiziert durch die zy-
nehmende Somnolenz und die vorausgegangene typische Jacksonsche
Epilepsie. Ob der Tumor nicht gefunden wurde oder, ähnlich wie in den
bekannten Fällen von Nonne, überhaupt nicht existiert, ist eine Frage der
Zukunft. Autoreferat,
~ „Herr Oppenheim-Berlin verliest zunächst für den durch Krankheit
am Erstatten seines Referates verhinderten Geh. Rat Schultze-Bonn
folgendes von demselben eingesandte Resume:
„it. Von. 97 Gehirntumoren wurden im ganzen 19 operiert;
a) nur einmal wurde eine Heilung konstatiert, die ein paar Jahr
nach der Operation noch festgestellt wurde, und zwar bei einem
Kleinhirntumor; |
b) Imal wurde durch Ventrikelpunktion nach dem Neisserschen
Verfahren eine sehr erhebliche Besserung erzielt, so dass
Stauungspapille und starke Amblyopie nebst Kopfschmerz
schwanden. Diese Besserung dauerte etwa ®/, Jahre, dann trat
rasch der Exitus letalis ein; ' .
c) nur in wenigen Fällen wurde durch Palliativtrepanation eine
monatelange Besserung erzielt. |
Das Ergebnis ist also leider trübe,
2. Dagegen wurden bei insgesamt 11 Geschwülsten der Rückenmarks-
haut vier völlige Heilungen und eine danernde wesentliche Besserung
konstatiert. I
n In den letzten vier noch nicht publizierten Fällen wurde jedesmal
‚der Tumor an der richtigen Stelle lokalisiert, war aber zweimal entgegen
-der Wahrscheinlichkeitsdiagnose maligner Natur und Ing ein drittes Mal
so hoch am oberen Halsteil, dass der Operateur ihn nicht zu operieren
wagte. Im vierten Falle folgte vollständige Heilung. In den beiden ersten
Fällen wurde die Operation selbst gat überstanden.“
oe Sodann erstattet Herr Oppenheim -Berlin sein eigenes Ergänzangs--
referat. Zunächst ergänzt Vortr. die Krausesche Kasuistik, soweit sie sich
mit der seinigen deckt, durch Schilderung der klinischen Verhältnisse und
Motivierung der Diagnose in einzelnen, besonders interessanten Fällen von
Tumor cerebri. Dahin gehört einer, in dem es gelungen ist, durch Entfernung
einer Geschwulst aus dem linken Lobus occipitalis vollkommene Heilung zu
erzielen, ein geradezu ideales Resultat, wie es nur ausnahmsweise erreicht
wird. Ein zweiter gibt Anlass, die Diagnose der Tumoren der hinteren
Zentralwindung und des Scheitellappens auf Grund von fünf eigenen
Operstionsfällen dieser Art mit jedesmal zutreffender Diagnose zu besprechen.
Von einem erfolgreich operierten (Borchardt) dieser Kategorie zeigt Vortr.
das stereoskopische Bild des Operationsbefundes und den herausgenommenen
Tumor. Dann bespricht er eingehender die Geschwälste der hinteren
Schädelgrube und des Kleinhirnbrückenwinkels, unter Demonstration der
Präparate von mehreren, teils mit Krause, teils mit Borchardt behandelten
Fällen. Er bat in den letzten Jahren acht dieser Patienten dem Chirurgen
überwiesen. Davon ist nur einer geheilt, ein zweiter vorübergehend gebessert
worden, während bei sechs die Operation mittelbar oder unmittelbar den
Exitus veranlasst hat (aber immer Gewächse von enormem Umfang). Vortr.
gibt dann eine. Bilanz seiner seit Anfang 1903 operierten Fälle von Tumor
cerebrj. Es sind 27, davon 3 (11 pCt.) geheilt, 6 vorübergehend gebessert
(22,2 pCt.), 15 gestorben (55,5 pCt.) — wobei allerdings zu berücksichtigen,
und Aerzte ja Stuttgart. . on 91
dass es sich 12mal um Gewächse der hinteren Schädelgrube handelte —
3 Palliativoperationen mit zum Teil unsicherem Ergebnis. In 28 von .den
27 Fällen war die allgemeine wie lokale Diagnose zutreffend. Einmal wurde
statt des erwarteten Kleinhirntumor Hydrocephalus gefunden, bei einem
andern, bei welchem Hydrocephalus für wahrscheinlicher gehalten war,
ausser diesem ein Tumor des Lobus temporalis. Einmal schwankte die
Diagnose zwischen Tumor lobi frontalis und Corporis striati, im Bereich
der ersteren wurde er bei der Operation nicht gefunden, der Kranke steht
noch in Beobachtung; im 4. Falle, in welchem Vortr. Neubildung im Bereich
der motorischen Region diagnostizierte, war der dort bei der Operation
„erhobene pathologische Befund als Tumor zu deuten. Diesen Patienten. hat
‚Vortr. aus den Augen verloren. Im ganzen hat nach seiner Erfahrung von
-10 oder 9 für die chirurgische Behandlung sorgfältig ausgesuchten und fast
durchgängig richtig diagnostizierten Fällen nur einer Aussicht auf volles
Heilresultat. Die chirurgische Behandlung der Hirntumoren bildet slao
trotz einzelner blendender Erfolge immer noch eine der schwierigsten und
undankbarsten Aufgaben ärztlicher Tätigkeit. Wenn es sich auch meist um
ein ohne. diese Therapie tödliches Leiden handelt, verlangen doch die
Erfahrungen mit der Meningitis serosa, der akuten Hirnschwellung und dem
sogenannten Pseudotumor cerebri volle Berücksichtigung. Die Lehre von
Bergmanns, dass die Hirnchirurgie eine Chirurgie der Zentralwindungen
sei, Pat nach den neuen Erfahrungen ihre Gültigkeit verloren. Von Vortr.
Geheilten gehört kein einziger diesem Gebiete (in Bergmanns Sinne)
an. Weit günstiger sind die Ergebnisse der chirurgischen Therapie der
Rückenmarkshautgeschwülste. Zunächst Statistik der eigenen Be-
‚obachtungen (Wirbelgeschwülste ausgeschaltet): In 8 von 11 seiner Fälle
war allgemeine wie lokale. Diagnose zutreffend, der Tumor wurde an der
erwarteten Stelle gefunden. In zweien lag lokalisierte Meningitis bezw.
Meningitis serosa spinalis vor, in der letzten Kombination eines intramedulären
Prozesses mit lokalisierter Meningitis am Orte des Eingriffes. Die Operation
ist in 5 von den 11 Fällen eine glückliche, erfolgreiche gewesen, in 6 hat
sie mittelbar oder unmittelbar den tödlichen Ansgang herbeigeführt. In h
weiteren Fällen war die Operation von vornherein als explorative ausgeführt,
und gerade diese Frage, die Berechtigung der explorativen Laminektomie,
bedarf der eingehendsten Erörterung. Nur in einem dieser Fälle ist der
Exitus der Operation zur Last zu legen, in einem zweiten hat sie Nutzen
ebracht, in den beiden andern ist sie für den Verlauf irrelevant gewesen.
ach Schilderung der klinischen und diagnostischen Verhältnisse in diesen
4 Beobachtungen fasst Vortr. seine Anschauungen über die chirurgische
Behandlung der Rückenmarkshautgewächse zu folgenden Thesen znsammen:
1. Es unterliegt keinem Zweifel mehr, dass bei den Krankheitszuständen,
die die typische Symptomatologie des Rückenmarkshauttumors bieten, die
chirurgische Behandlung dringend indiziert ist. Beschränt man sich auf
diese Fälle, so ist schon nach den jetzigen Erfahrungen in etwa 50 pCt. auf
einen Heilerfolg zu rechnen, der um so vollkommener ist, je früher der
Eingriff gemacht wird. 2. Auch bei typischer Symptomalogie sind diagnostische
Fehler möglich, indem das Bild des extramudallären Tumors einmal durch
Wirbelgeschwülste vorgespiegelt, als auch ausnahmsweise durch einen
lokalisierten meningitischen Prozess oder durch die intramedulläre Neu-
bildung vorgetäuscht werden kann. Dass die Differentialdisgnose zwischen
dem extramedullären Tumor einerseits, dem intramedullären und den
Wirbelgewächsen andererseits noch keine ganz sichere ist, wird besonders
durch die Kasuistik Nonnes (Sterk) bewiesen. 3. Unter den Formen der
lokalisierten Meningitis, die das Krankeitsbild des extramedullären Tumore
täuschend nschahmen können, verdient die von Oppenheim und Krause
beschriebene Meningitis serosa spinalis besonderes Interesse. Es muss aber
hervorgehoben werden, dass es noch an abgeschlossenen Beobachtungen
fehlt, die die Existenz und Pathogenese dieses Leidens dartun und seine
Beziehungen zar Symptomatologie in durchsichtiger Weise erläutern. 4. Die
Symptomatologie der extramedullären Rückenmarksgeschwülste ist sehr häufig
eine atypische. Kine grosse Anzahl der chirurgischen heilbaren Neu-
92 Lilienstein, 78. Versammlang deutscher Naturforscher
bildungen würde also dieser Behandlung entzogen werden. Es muss somit
die Berechtigung der explorativen Laminektomie unbedingt anerkannt
werden. Gewiss soll sie nur ausnahmsweise auf Grund sorgfältiger Er-
wägungen bei deutlicher Progredienz des Leidens in differentialdiagnostisch
schwierigen Fällen, und zwar dann vorgenommen werden, wenn unter den
verschiedenen Möglichkeiten die Annahme einer extramedullären Geschwulst
ein gewisses Mass von Wahrscheinlichkeit besitzt. Eins muss aber dann
verlangt werden, dass bei unsicherer Allgemeindiagnose die Lokaldiagnose
eine möglichst bestimmte ist, damit der probatorische Eingriff ein möglichst
beschränkter bleibt und kein wesentliches Periculum vitae mit sich bringt.
Die explorative Laminektomie soll nicht an der Dura mater Halt machen.
Die Annnahme eines sogenannten Pseudotumors des Rückenmarkes schwebt
noch in der Luft, desgleichen die der spontanen Rückbildung. Es ist sehr
wünschenswert, dass von dieser Versammlun Anregun zu einer Sammel-
forschung auf dem Gebiet der Hirn- und Rückenmarksc Irargie ausgeht.
utoreierat.
Herr Bruns-Hannover hat bisher noch keinen vollen Erfolg bei
Hirntumoren gehabt, ist trotzdem auf dem Standpunkt, dass wir welter
operieren müssen und auch dass wir das Gebiet, in dem wir operieren,
möglichst weit ausdehnen. Lokal zu diagnostizieren und operabel sind auch
Geschwülste im linken Schläfenlappen, wie ein von ihm schon 1898
beobachteter Fall bewies. Er hat in den letzten Jahren zwei Tumoren der
einen Kleinhirnhemisphäre und zwei des Kleinhirnrückenwinkels nach
richtiger Diagnose zur Operation gebracht. Sie sind aber alle bald nach
der Operstin gestorben. Im letzten Fall war Oppenheims Areflexie der
Cornea sehr deutlich, dazu noch Areflexie von Nasenloch und Gaumen auf
der Tumorseite. Den pallistiven Operationen steht er sehr günstig gegen-
über, hat sie auch schon früher wiederholt, ebenso wie jetzt Saenger
empfohlen (Versammlung niedersächsischer und westfälischer Irrenärzte 1
un Eulenburgs Realenzyklopädie 1905). In den letzten Tagen hat er
einen Fall zur Operation gebracht unter der Diagnose Tumor der Haut am
oberen Cervikalmark, bei dem zunächst nur eine lokale, mit Serum gefüllte
Ausdehnung der Meningen gefunden wurde. Differential - diagnostisch
kommt hier auch manchmal die multiple Sklerose in Betracht. Schliesslich
erwähnte B. 2 Fälle, deren Symptome alle für Tumoren im Rückenmark
sprachen, aber alle oder teilweise wieder zurückgingen: Pseudotumor
medullae spinalis.
Herr Defranceschi-Rudolfswert berichtet über einen Fall, bei
welchem von einem Neurologen die Diagnose auf Hirntumor mit grosser
Wahrscheinlichkeit gestellt, bei der Operation jedoch ein Abszess vor-
gefunden wurde. Der Erfolg der Operation war bis vor kurzem ein aus-
ezeichnoter, in letzter Zeit sind jedoch Symptome aufgetreten, die entweder
ür einen neuen Abzess oder Närbenbildang sprechen. Auf Einwendungen
von Bruns-Hannover weist D. auf die Schwierigkeit der Differential-
diegnose hin, da der Kranke nie ohren- oder nasenkrank gewesen und ein
Eiterherd nirgends nachzuweisen war.
Herr Schüller-Wien erwähnt im Anschluss an Saengers Vortrag
ein Symptom, welches er bei einseitigen grösseren Tumoren des Gehirns
beobachtet hat. Die Innenfläche des Schädels erscheint auf der Tumorseite
gleichmässig, auf der gegenüberliegenden Seite grubig usuriert. Die
öntgen-Unterenchung des Schädels ermöglicht, schon am Lebenden dieses
Symptom und damit den Sitz des Tumors zu konstatieren.
Herr Saenger-Hamburg teilt mit, dass im Hamburger ärztlichen
Verein ein Fall von Hirntumor demonstriert worden ist, bei welchem mit
Hülfe des Röntgen-Verfahrens der Sitz des Tumors durch die Usur des
darüberliegenden Schädelknochens festgestellt worden war. Was den vom
Vortr. diagnostizierten und von Krause operierten Tumor des Falles H.
betrifft, welcher unmittelbar nach der Operation starb, so hat S. diesen Fall
vorher gesehen und in derselben Weise lokalisiert. S. hatte aber nur zur
Palliativoperation geraten; wahrscheinlich hätte dann der Knabe länger
gelebt, und seine in der Ferne weilende Mutter hätte ihn wiedergesehen. Bei
und Aerzte in Stuttgart. 93
der Operation von Hirntumoren müssen alle Verhältnisse und Chancen ins
Auge gefasst werden. Was die Tumoren der hinteren Zeutralwindungen
betrifft, so stimmte S. den Ausführungen des Vortr. auf Grund seiner eigenen
Erfahrungen durchaus bei. S. möchte auch warm für die explorative
Laminektomie eintreten. In einem Falle traten die Symptome eines Rücken-
markstumors unter heftigen Reizerscheinungen auf. Es wurde die explorative
Laminektomie gemacht ohne Fröffnung der Dura; es fand sich bei der
Operation nichts Besonderes, nach derselben hörten die qualvollen Reiz-
erscheinungen auf. Bei der nach einigen Jahren erfolgton Autopsie ergab
sich eine Meningitis post syphilitica. Die früher eingeleitete energische `
antiluetische Behandlung hatten keinen Erfolg gehabt. In einem zweiten
Falle wurde bei der explorativen Laminektomie in der Höhe des ersten
und zweiten Lendenwirbels durch Sondierung nach unten ein Tumor der
Cauda equina gefunden und exstirpiert. Sebr interessant waren S. die
Angaben des Vortr. über eine Meningitis serosa circumscripta, da er einen
analogen Fall beobachtet hatte, den er bisher nicht anzudeuten vermochte.
Zum Schluss weist S. auf die gar nicht so seltenen Fälle von Hirntumoren
hin, die ohne Stauungspapille und ohne andere Hirndrucksymptome verlaufen
und regt an, über dies Faktum eine Sammelforschung zu veranstalten,
nachdem er noch daranf hingewiesen hatte, dass möglicherweise anatomische
Veränderungen am Foramen opticam die Ursache des Ausbleibens der
Stauungspapille darstellen könnten. Autoreferat.
Herr Monakow-Zürich bestätigt im allgemeinen die Erfahrungen
des Vortr.; er hat nur einen Fall von günstigem Ausgang bei einem
operierten Hirntumor gesehen (Tumor der motorischen Region). In
diagnostischer Beziehung weist er auf einige Eigentümlichkeiten der
subcortical sich entwickelnden, langsam wachsenden Tumoren in der Regio
centralis (sich attackenweise wiederholende lokalisierte tonische und klonische
Muskelkrämpfe im paretischen Glied, ohne successiven Uebergang auf
andere Glieder) hin. Vom Temporrallappen ausgehende, langsam wachsende
Tumoren können durch akustische Aura, die epileptischen Attacken voran-
geht, charakterisiert sein. Palliative Trepanation bei inoperablen Tumoren
halt S. für zulässig und hat von diesem Eingriff in 2 Fällen relativ
befrledigenden Erfolg gesehen.
err Nonne-Hamburg tritt auch für die Palliativtrepanation bei
inoperablen und nicht genau zu lokalisierenden Hirntumoren ein. Fünfmal
hat N. die Operation ausführen lassen, viermal mit erheblichem Rückgang
der quälenden subjektiven Symptome. N. berichtet über zwei neue Fälle
von „Pseudotumor cerebri“, von denen einer unter Cerebellum-, der andere
unter Halbseitensymptomen verlief; bei beiden nicht der geringste Anhalt
für Syphilis, keine sonstige Aetiologie; zunächst unter Quecksilberbehandlung
pro ressiver Verlauf, dann Rückbildung der Symptome bis zu rastloser
eilung. N. betont für sein Hirntumorenmaterial die grosse Seltenheit
der Pulsverlangsamung; er warnt an der Hand eines neuen vierten
Falles aus seinem Material aufs neue vor Lumbalpunktion bei Tumor cercbri.
Dass bei extraduralem komprimierenden Rückenmarkstumor jeder wesent-
liche Schmerz fehlen kann, erläntert N. an der Hand eines eigenen.
Falles, in dem wegen Fehlens der Schmerzsymptome die Gelegenheit zur
Entfernung eines gutartigen extraduralen stoibroms versäumt wurde.
Er tritt für die häufigere Ausführung der Probelaminektomie ein. Auch
bei multipler Skerose können heftige Schmerzparoxysmen auftreten, wie
N. dies exquisit in einem Fall sah, in dem die Obduktion multiple kleine
Gliawacherungen an den hinteren Wurzeln zeigte.
Herr Schwarz-Leipzig fragt, ob bei den Tumoren am Halsmark
gewöhnliche paralytische Miosis beobachtet wurde oder gelegentlich auch
reflektorische Pupillenstarre. Bekanntlich wurde neuerdings wieder ab und
zu die Ansicht vertreten, dass reflektorische Pupillenstarre durch Affuktion
des Halsmarkes bedingt werde. Ferner fragt S., ob jemand bei Tumoren
des Kleinbirnbrückenwinkels Erweiterung der Lidspalte mit Gräfes Symptom
esehen hat; er beobachtete kürzlich einen solchen Fall (ohne wesentlichen.
ophthalmus) mit den sonstigen typischen Symptomen.
——
94 Lilienstein, 78. Versammlung dentscher Naturforscher
- Herr Bayerthal-Worms bemerkt bezüglich des weiteren Verlaufes
der operativ erfolgreich behandelten Fälle von Hirntuberkel,
dass der von ihm auf der Naturforscherversammlung in München vorgestellte,
von Prof. Heidenhain Oktober 1898 operierte Patient im wesentlichen noch
den gleichen befriedigenden Befund darbietet. . Soweit er die Literatur
übdersieht, hat nur noch ein Patient Krönleins die Operation mehrere
Jahre überlebt.
Herr Frankl-Hochwart-Wien hält Schmerzen bei der Sclerosis
multiplex für nicht selten. In einem Falle stellte F.-H. die Diagnose darauf,
in dem ausserordentliche Schmerzen auftraten; hauptsächlich war das
Symptom des Zwangslachens ausschlaggebend. Die Nekropsie bestätigte die
Diagnose. F.-H. möchte direkt von einer eigenen Form, der Sclerosis
multiplex dolorosa, sprechen.
Herr Wildermuth-Stuttgart hält Schmerzen, sowohl gürtelfórmige
wie rheumatoide, bei Sclerosis multiplex für recht häufig und die Schmerzen
für diagnostisch nicht verwertbar.
Herr Tilmann berichtet über die erfolgreiche Entfernung eines
Glioms der rechten Hirnhälfte, die bis jetzt nach 9 Monaten geheilt
eblieben ist, obwohl zur Zeit der Operation schon völlige Erblindung
Destanden hatte. i .
Gemeinschaftliche Sitzung (mit Chirurgie, Gynäkologie u.s.w.) am 18. Sept.
Ueber den Einfluss der neueren deutsehen Unfallgesetzgebung
auf Heilbarkeit und Unheilbarkeit der Kranken.
- Herr Nonne - Hamburg: Posttraumatische organische Er-
krankungen im Rückenmark (mit Demonstrationen). Vortr. hatte
667 Obergutachten in Unfallsneurosen zu erstatten: Das Krankheitsbild ist
überaus monoton, ganz überwiegend ist das Bild der hypochondrischen
Neurasthenie, nur sehr selten ist die Ursache das organische Moment des
Traumas, meist Entwicklung des seelischen Zustandes in der von Strümpel
dargelegten Weise. Vortr. projiziert verstümmelte Glieder von nicht
„Unfallekranken“, die sämtlich Vollarbeit zu Vollohn verrichten. Er sieht
die Ursache der Kalamität in Tätigkeit unverantwortlicher Ratgeber, im
Gesetz an sich, in der Handhabung der Gutachten, Meinungsverschiedenheit
der Gutachter, Mitteilung des Gutachteninhaltes an die Verletzten, in der
absoluten Kostenlosigkeit des Berufsverfahrens für die Verletzten, in der
gesetzlichen Unmöglichkeit der Abfindung. Vortr. bringt sodann zum Kapitel
posttraumatischer Rückenmarkserkrankungen neue Fälle bei: 1. 4 Fälle
von Tabes dorsalis; keine Lues, zeitliches und örtliches Zusammentreffen
der subjektiven und objektiven Symptome mit dem Trauma. Zweimal sah
er bei bestehender Tabes Arthropathien im Fussgelonk nach Fusskontusion,
einmal im Kniegelenk nach Kniekontusion, einmal bulbärparalytischen
Symptomenkomplex nach Kopf- und Nackenverletzung. 2. Myelitis chron.
dors. sah Vortr. ohne sonstige Astiologie 4mal (3mal Obduktion, Nekrosen
im Dorsalmark ohne Residuen von Blutung). Im 4. Falle hatte sich eine
„traumatische Syringomyelie* aus Nekrosen im Halsmark entwickelt (Sektion).
8. Amyotrophische Lateralsklerose sah Vortr. zweimal sich posttraumatisch
entwickeln. 4. Multiple Sklerese sah Vortr. zweimal (einmal periphere
Hautverletzung, einmal Rückenverletzung). Sie war in einem Fall kombinfert
mit Hysterie (Hemiannesthesia sinistra, auf Seite des Traumas).
Nach Autoreferat.
Herr Gaupp-München behandelte den Einfluss der deutsehen Unfall-
gesetzgebung auf den Verlauf der Nerven- und Geisteskrankheiten.
ortr. legt zunächst dar, dass die Unfallgesetzgebung selbst nur auf eine
bestimmte Form von Krankheiten einen unmittelbaren Einfluss ausübe, auf
die sog. „traumatischen Neurosen* (Unfallneurosen). Sie sind keine be-
soüdere Krankheiten von klinischer Selbständigkeit; eigentümlich ist ihnen.
nur die besondere Entstehung (nach einem Unfall). Es gibt keine „trau-
matische Neurose“, sondern nur traumatische Hysterie, : Neurasthenic,
Hypochondrie u.s.w.: Diese Unfallneurosen: kommen nach Unfällen leichter
und Aerzte im Stuttgart. 95
und schwerer Art vor; die Stärke und Art der Verletzung ist ohne wesent-
lichen Einfluss auf die Schwere und Dauer der Neuropsychose. Nach nicht
entschädigungspflichtigen Verletzungen sind diese Erkrankungen selten; vor
allem dauern sie alsdann nicht so lange. Vortr. schildert, welchen Einfluss :
das Gesetz auf die Psyche des verletzten Arbeiters ausübt. Den Kern des
Leidens machen krankhafte Vorstellungen (Angst, seelische Unruhe, gespannte.
Erwartung auf den Ausgang des Rentenverfahrens, falsche Vorstellungen
über die Voraussetzungen des Rentenbezuges) aus; den „objektiven
Symptomen“, die bei der körperlichen Untersuchung festgestellt werden,
kommt nur geringer Wert zu. Aengstliche und missmutig-gereizte Stimmung
und der Glaube, nicht mehr arbeiten zu können, sind die wichtigsten
Krankheitszüge. Warum hatte die Unfallgesetzgebung diesen unerwünschten
Einfluss? Zur Zeit, als sie ins Leben trat, war das soziale Leben raschen
und bedeutenden Wandlungen unterworfen. Vortr. kennzeichnet den „nervösen
Seelenzustand der modernen Zeit“, den Einfiass der chronischen Trunksucht
auf die Energie der arbeitenden Klassen, die veränderten- politischen An-
schauungen und Stimmungen der Arbeiter, ihre anfänglich misstrauische
oder selbst feindliche Stellung gegen die ganze soziale Gesetzgebung, ihre
oft irrigen Vorstellungen über ein vermeintliches Recht auf Rente als eines
Schmerzensgeldes. Als Uebelstände im einzelnen werden genannt: Die Sorge
für den Verletzten liegt anfänglich bei den Krankenkassen, statt gleich bei
den Berufsgenossenschaften. Das Gesetz verlangt leider keine genaue
schriftliche Fixierung des ärztlichen Befundes sofort nach dem Unfall. Das
Rentenfestsetzungsverfahren dauert zu lange. Das Gesetz selbst ist für den
Arbeiter zu schwer verständlich. Nach erstmaliger Rentenfestsetzung gelangt
der Verletzte nicht zur Ruhe, die häufigen Nachuntersuchungen schaden;
einmalige Abfindung ist leider nur bei niedrigen Renten und nur auf Antrag
des Verletzten möglich. Die Uneinigkeit der Aerzte ist um so verhängnis-
voller, als nach dem Wunsche des Gesetzgebers der Verletzte den wesett-
lichen Inhalt der über ihn erstatteten Gutachten erfährt. Die Aerzte urteilen
im Gefühl der Unsicherheit und der grossen Verantwortung oft zu milde,
empfehlen Vollrente und schaden damit dem Arbeiter, machen ihn zum
unglücklichen und untätigen Hypochonder. Die Frage des Arbeitsnachweises
für teilweise erwerbsfähige Unfallkranke ist im Gesetz nicht erörtert. Eine
Kürzung der Rente ist nur bei Nachweis wesentlicher Besserung zulässig;
dieser Nachweis ist bei der subjektiven Natur der Symptome selten zu führen.
Die Prognose des Leidens ist weniger von dem speziellen Symptomenbild,
als von der Eigenart der Verletzten und von der Gestaltung des Renten-
kampfes abhän ig; auch wirken chronischer Alkoholismus, Milieueinflüsse
oft schädlich. Se r oft ist der Verlauf ein ungünstiger. Bisweilen beobachtet
man frühzeltiges Altern, frühe Arteriosklerose. Zur Beseitigung der
eschilderten Uebelstände empfiehlt Vortr. richtige Schulung der Aerzte,
ermeidung aller schädlichen Suggestionen von ihrer Seite, humanes, aber
bestimmtes Auftreten, sorgfältige neurologische Untersuchung; er warnt
davor, aus falschem „Hummnitätsgefühl“ den Verletzten auf Kosten anderer
Wohltaten zu erweisen. Krankenhausbehandlung ist oft zwecklos, oft
schädlich. Häufige Kontrolluntersuchungen sind zu verwerfen. Die Fürsorge
für den Verletzten soll von Anfang an nur bei den Berufsgenossenschaften
liegen. Namentlich empfiehlt Vortr. einmalige Kapitalabfindung. Er macht
hier folgenden Vorschlag: Nach Ablauf von $ Jahren nach dem Unfall steht
der . Berufsgenossenschaft das Recht zu, nach Anhören eines ärztlichen
Kollegiums von wenigstens drei Aerzten, von denen zwei den Verletzten
schon früher untersucht hatten, diesen mit einmaliger Auszahlung eines
bestimmten Kapitals abzufinden, wenn nach dem einstimmigen Ausspruch
der Aerzte die Verletzung selbst völlig geheilt ist und die übriggeblie enen
Störungen im Verlauf der letzten 12 Monate objektiv keine Verschlimmerung
erfahren hatten. Die einmalige Abfindung soll nur dann stattfinden, wenn
nach dem Ausspruch der Aerzte die endgültige Erledigung der Rentenfrage
im gesundheitlichen Interesse des Unfallkranken selbst liegt.
Von chirurgischer Seite referierte Herr Thiem-Kottbus, von gynäko-
logischer Herr Baisch-Tübingen.
96 Notiz.
Herr Rumpf-Bonn betont auf Grund eines Materials von stwa
1500 Fällen die Wichtigkeit einer sorgfältigen Aufnahme und Niederschrift
des ersten Befundes nach Unfällen. Er verlangt sorgfältigere klinische
Schulung der angehenden Aerzte. Bezüglich der angestrebten Verbesserungen
des Unfallgesetzes stimmt R. den Vorrednern darin bei, dass eine leichtere
Ablösung der Unfsllrenten ermöglicht werden soll, weiterhin, dass ein früh-
zeitigerer Uebergang der Unfallverletzten in die Fürsorge der Berufs-
genossenschaften statthabon soll. Hochgradig erwänscht ist auch Schaffung
von Arbeitsgelegenheit für die nur teilweise Arbeitsfähigen. Gegenüber
Nonne bemerkt er, dass er in Bonn traumatische Erkrankungen der Unter-
leibsorgane mit Nieren-, Magen-, Darmblutungen, Endokarditis durch septische
Wunden, Herzaffektionen durch Trauma u.s. w. nicht selten sieht. Er macht
weiterhin auf die Brüche der Wirbelsäule und auf die häufige Fraktur der
Schädelbasis aufmerksam.
Herr Haenoli-Dresden regt an, die von Gaupp auf Grund der
Jollyschen Gedanken gemachten orschläge — Erweiterang der einmaligen
Abfindung an Stelle der Rentenzahlung — in Form einer Resolution den
suständigen Stellen zugänglich zu machen.
Herr Bruns-Hannover stimmt Herrn Gaupp im allgemeinen zu, möchte
aber einige Einwendungen machen. Er fand, dass die „Begehrungsvor-
stellungen“ nicht nur in der „Arbeiterseele“ zustande kommen, er fand sie
sogar besonders deutlich und stark ausge rägt in den sogen. höheren Klassen
(Privatversicherung und Haftpflicht), vielleicht weil hier den Begehrungs-
vorstellungen gar keine Grenzen gesetzt sind. Man darf sie nicht als
alleinige Ursache der Unfalleneurose ansehen und mechanische Schädigungen,
den Schreck beim Unfall, die Sorge um die Existenz, ganz ausser Acht
lassen. Schwere traumatische Neurosen sind gar nicht so selten, auch nach
nicht entschädigungspflichtigen Unfällen, meist dann nur nicht so hartnäckig;
aber auch hier gibt es unheilbare Fälle. Man solle auch nicht die guten
Seiten der Unfallgesetzgebung vergessen. Heilen kann nur die Wieder-
gewöhnung an die Arbeit, und es muss Gelegenheit zu wirklich Werte
schaffender Arbeit für teilweise Arbeitsfähige geschaffen werden.
Abteilung für Kinderheilkunde.
C. v. Pirquet- Wien: Galvanisehe Untersuehungen an Säug-
lingen. An ca. 600 Untersuchungen an 20 Säuglingen wird der Schluss
gezogen, dass die von Mann für den normalen Säugling angegebenen Durch-
schnittswerte zu hoch’ sind, weil sie durch Zusammenziehung von Werten
normaler und leicht übererregbarer Kinder gewonnen sind. Für leichte Ueber-
erregbarkeit ist das Auftreten der Anodenöffnungszuckung charakteristisch,
welche normalerweise über der Grenze von 5 E-A. liegt. Für die Ent-
stehung galvanischer Ueberregbarkeit ist die Nahrung nicht der einzig in
Betracht kommende Faktor, und gewiss ist die Tetanie nicht als eine
Calciumvergiftung aufzufassen.
— | — — — —
Notiz.
In Halle hat sich Dr. B. Pfeiffer, Assistent au der psychiatrischen
and Nervenklinik, habilitiert.
Aus der neurologisch-psychiatrischen Klinik der Universität Graz.
Beiträge zur Apraxielehre.
Von
Prof. Dr. FRITZ HARTMANN.
Uebersicht:
. Einleitung.
. Krankenbeobachtung mit pathologisch - anatomischem Befunde. Serien-
schnitte darch das Gehirn (Tafel I, Il, Figg. 2, 8, 4).
. Das linke Stirnhirn und seine mutmassliche Bedeutung für den Bewegungs-
ablauf.
. Krankenbeobachtung mit pathologisch-anatomischem Befunde. Serien-
schnitte durch das Gehirn (Tafel I, III, Figg. 5, 6).
. Die Bedeutung des Balkens für die apraktischen Störungen.
. Krankenbeobachtung mit pathologisch-anatomischem Befunde Tafel I, III,
ig. 7).
. Die Bedeutung des rechten Stirnhirnes für den Bewegungsablauf.
. Zusammenfassung. Schlussfolgerung in Hinsicht der gefundenen Tatsachen
und deren Deutung.
Ny m
Oa men e Q
1. Einleitung.
Die Erkeuntnis von der Pathologie der Bewegung hat in
dem abgelaufenen Quinquennium ungeahnte Bereicherung und
Vertiefung erfahren. Die aus den jüngsten Erforschungen hervor-
gehenden neuen Erkenntnisse und die daran geknüpften hypothe-
tischen Erörterungen versprechen speziell auch für die Auffassung
psycho-pathologischer Phänomene am Krankenbette bedeutungs-
voll zu werden.
Unsere bisherigen Kenntnisse umfassten nicht viel mehr als
die Kenntnis der Hemiplegie, des zentripetalen Einflusses auf die
Bewegung, der zentralen motorischen Stationen und die weitere
Ausgestaltung der Lehre von der Kleinhirnfunktion in ihren Be-
ziehungen zum Bewegungsakte.
Die einzelnen motorischen Repräsentationsstätten kortikaler
und subkortikaler Natur genauer zu erforschen, war im Sinne der
Lokalisationslehre ebenso das Hauptziel wie die Erkenntnis der
Umgrenzung der Sinnesfelder.
Die so festgelegte Arbeitsrichtung umgrenzte ziemlich will-
kürliche anatomisch getrennte Bezirke, ohne dass dem Hauptziele
der Erkenntnis der Gesamtfunktion des Gehirnes in Hinsicht des
Bewegungsablaufes nähergetreten worden wäre.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft s. 7
98 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
Die Forschungen der letzten Jahre führen uns mitten hinein
in die Dynamik des Grosshirnes in ihren Beziehungen zu den
effektorischen Leistungen auch komplizierter Art.
Ich darf die Genesis der um den Namen Apraxie gescharten
Arbeiten als bekannt voraussetzen und will nur darauf hinweisen,
dass hier im Fortschritte die unverkennbaren Spuren jenes all-
mählich sich vollziehenden Umschwunges sich zeigen, den die
Zentrenlehre des Grosshirnes erfährt.
Aus dem Kampfe der Anschauungen, mit welchen die ex-
perimentelle Tierphysiologie u. a. unsere Erkenntnis in so hervor-
ragendem Masse gefördert hat, scheint mir, soweit die tatsächlichen
Errungenschaften in Frage kommen, im Zusammenhalte mit den
neuesten Erfahrungen über die pathologischen Grosshirnfunktionen
beim Menschen und die Auffassung von der Gesamtleistung des
Grosshirnes neuerlich in gewissem Sinne eine Näherung der ver-
schiedenen Divergenzen in den Anschauungen hervorzugehen.
Der einheitlichen Gesamtfunktion des Gehirnes werden wohl
nunmehr als Zentren jene Hirnregionen zur Seite gestellt, über
die die Gesamtfunktion jeweils zu einer bestimmten Spezifizierung
ihrer Leistung und ihres Effektes sich bedient.
Sind ja diese „Zentren“ physiologisch definiert durch die
Art und Vielfachheit ihrer Verknüpfungen untereinander und
mit den peripheren Endapparaten. Endlich haben auch die Er-
scheinungen am klinischen Krankenbette, die der Deutung der Er-
fahrungen des tierphysiologischen Experimentes Korrektur und Be-
schränkung gewiesen haben, ähnliche Auffassungen in der mensch-
lichen Pathologie gezeitig. Antons, Flechsigs, Monakows,
Dejerines, Wernickes Forschungen und Wundts psychologische
Anschauungen nähern sich nicht nur einander in erfreulicher Weise,
sondern weisen sowohl nach der morphologischen als funktionellen
Seite auf die Aggregierung elementarer Strukturen zu höheren
Einheiten und dieser wieder zu komplexen Verknüpfungen. Jüngst
haben der Histoloege Ramon y Cayal und der Physiologe
A. Tschermak in geistreicher Weise die einzelnen Lehren gegen-
übergestellt und zu einer schematischen Vereinigung gebracht.
Auch die Fragen insbesondere über das Zusammenwirken
der beiden Hemisphären und die Dignität der beiden Hälften ım
Getriebe der Gesamtmechanik haben neue Bereicherungen er-
fahren (Anton!), Liepmann?), Sinkichi Imamura’) u. A.).
So zeigen auch die jüngsten Ergebnisse über die Pathologie
der Bewegung beim Menschen, dass die Forschung über die
Kenntnis der rezeptorischen und effektorischen Bahnen hinaus
das höchste Ziel: die Morphologie der assoziativen Leistungen
komplexer Grosshirnfunktionen, in Angriff nimmt und daran geht,
1) Anton, Zeitschr. f. Heilk. XIV. 313. Archiv f. Psych. XXXII. 1.
Münch. med. Wochenschr. 1906.
23) Liepmann, Münch. med. Wochenschr. 1905. No. 48, 49.
3) Sinkichi Imamura, Pfügers Archiv. C.
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre, 99
dem, was wir Wille und Handlung nennen, auf ihren Wegen im
Zentralnervensysteme nachzugehen.
Hier darf daran erinnert werden, dass Anton schon seiner-
zeit die Anschauungen über die Beeinflussung der Bewegung im
zentralsten Mechanismus dadurch bereichert hat, dass er nicht,
wie biehin, nur dem sensiblen und Muskelsinn-Systeme, sondern
auch den zentralen optischen Sphären massgebenden Einfluss
zuschreibt.
Bruns,!) Exner,?) Paneth u.A. haben diese Anschauungen
erweitert und auch den übrigen Sinnessystemen je nach ihrer
Dignität massgebenden Einfluss eingeräumt.
Die Forschungen von Ewald?) und Bickel*) greifen hier er-
gänzend ein. Von Klinikern ist nicht zuletzt Wernicke zu
nennen, welcher auf der Grundlage einer solchen breiten Auf-
fassung der sensorischen Beeinflussung des Bewegungsapparates
die Gehirnfunktionen verstanden wissen will.
Ich darf zusammenfassend meinen Ausführungen über einige
Fälle von Störung des Bewegungsablaufes durch zentrale Er-
krankungen vorausschicken, das fussend auf den Anregungen
Meynerts über motorische Asymbolie und gefestigt von Wer-
nickes Schulung und Denkart, Liepmann die Ursachen ge-
störten Handelns bei Gehirnkrankheiten aufreiht in solche, welche
auftreten durch:
1. Ausfall von optischer, akustischer, taktiler Empfindung
(Rindenblindheit, Rindentaubheit, Rindenempfindungslosigkeit),
2. Ausfall von kinästhetischen Empfindungen und ent-
sprechender, nicht zum Bewusstsein kommender zentripetaler Er-
regungen (Ataxie),
8. Ausfall des Erkennens bei erhaltener Empfindung, Ver-
lust der sensorischen Erinnerungsbilder (Wernicke) oder der
Verknüpfung von Empfindung und Erinnerung, Seelenblindheit,
Seelentaubheit, Seelenlähmung (Agnosie),
3a. Verlust der Verknüpfung. der einzelnen Sinnesgebiete
untereinander (ideatorische Agnosie),
4. ideatorische Apraxie,
5. Unfähigkeit, den sensorisch wohlentstandenen Entwurf einer
Bewegung trotz Intaktheit des kortikomuskulären Apparates in
die zugehörige Bewegungsform umzusetzen (motorische Apraxie),
6. Verlust der kinästhetischen Vorstellungen, des Gedächtnisses
für komplexe Bewegungsreihen (Seelenlähmung),
7. Lähmung oder Parese.
Liepmann hatte das Glück, einen Erkrankungsfall zu
beobachten und zu beschreiben, in welchem dio Direktion von
1) Bruns, Festschrift Nietleben. 1897. Leipzig, Vogel.
2) Exner (u. Paneth), Pflüger Archiv XLIV.
3) Ewald, Wiener med. Wochenschr. 1896.
4) Bickel, Untersuchungen über den Mechanismus der nervösen
Bewegungsregulation. 1908.
` 7>.
» 2
„+
no 4
100 Hartmann, Beiträge sur Aprarielehre.
Bewegungen und Handlungen für die linksseitigen Extremitäten
ersichtlich weitgehend erhalten geblieben war, während rechter-
seits Bewegungsverwechselungen, amorphe Bewegungen,
zeitweilige Akinese beobachtet wurden, aber weder Lähmung
noch Ataxie vorhanden waren, die Eigenleistungen des Senso-
motoriums und, wie ich noch hinzufügen möchte, die Intention
von Bewegungen desgleichen erhalten blieben.
Es erschien der gesamte sensomotorische Apparat der
rechten oberen und unteren Extremität aus der seelischen Gesamt-
leitung herausgeschnitten.
Im folgenden kann ich nun einen nicht minder interessanten
Fall zur Diskussion stellen, welcher mir geeignet erscheint, für
den Mechanismus des Bewegungsablaufes eine Reihe neuer Tat-
sachen zu bringen und einen weiteren Fortschritt in der Deutung
der Erscheinungen, zugleich einen Ausblick für die Klärung
höchster psychischer Leistungen zu ermöglichen scheint.
2. Krankenbeobachtung mit pathologisch-anatomischem
Befunde.
Serienschnitte durch das Gehirn (Tafel I, II, Fig. 2, 3, 4).
Krankengeschichte?): S. A. ist ein 84 Jahre alter Grundbesitzers-
sohn, bereditär nicht belastet, militärtauglich und litt früher niemals an
schwereren Krankheiten. Aus seiner Ehe entstammen zwei gesunde Kinder,
ein drittes starb gleich nach der Geburt. In seinem 18. Lebensjahre erlitt
er durch eine Eisenstange eine Verletzung am Kopfe, welcher Bewusstlosigkeit
folgte. Vor 2 Jahren stürzte er von einem Baum auf Rücken und Hinter-
haupt, konnte sich anfangs nicht erheben und litt nachher an starken Kopf-
schmerzen. Alkoholismus, Lues und Krampferscheinangen werden glaub-
würdig in Abrede gestellt. 8 Tage vor seiner Aufnahme auf die Klinik
klagte er über Magenbeschwerden, erbrach öfters und zeigte sich psychisch
verändert. Er sass stundenlang ruhig, den Kopf in die Hand gestützt, ohne
durch die Vorgänge seiner Umgebung beeinflusst zu werden, verssh ohne
weitere Motive seine Wirtschaft nicht mehr, starrte oft lange wie abwesend
vor sich hin und zeigte in den letzten Tagen auch keine Initiative zur
Nahrungsaufnahme. l
Auf der Klinik wurde folgender körperlicher Befund aufgenommen:
Der innere Organbefund erwies mit Ausnahme oberflächlicher Atmung und
verlangsamter Herzaktion normale Verhältnisse. Der allgemeine Ernährungs-
zustand war sichtlich ungünstig beeinflusst. Aus dem nervösen Befunde
sollen ebenfalls nur die pathologischen Erscheinungen hervorgehoben werden.
Auf dem Gebiete der Hirnnerven fand sich beständig Unruhe der Kau-
muskulatur. Die Kniesehnenreflexe waren nicht auslösbar. Die rechtsseitigen
Extremitäten zeigten Verlangsamung aller Bewegungen ohne besondere Parese,
die Sensibilität zeigte keine erhebliche Schädigungen.
Es bestand beiderseits Stauungspapille von 9 D. ohne wesentliche Be-
einträchtigung des Schvermögene.
In psychischer Hinsicht zeigte sich Patient im groben orientiert, in
apathischer Stimmungaslage frei von Sinnestäuschungen und Wahnbildungen.
Gedankenablauf und sprachliche Aeusseruugen waren ersichtlich verzögert.
Auf dem Gebiete der Psychomotilität wurde eine Reihe
beträchtlicher Störungen beobachtet:
1) Hierüber habe ich auf dem Kongresse für innere Medizin, München 1906
und daselbst in der Jahresversammlang des Deutschen Vereins für Psychiatrie
abgehandelt.
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Hartmann, Beiträge zur Apraxislehre. 101
I. Eine enorme Verarmung an Spontanbewegungen.
lI. Eine Verlangsamung aller durch sensorische Anregung erzeugten
Bewegungsvorgänge.
HI. Kompliziertere Bewegungsaktionen mit den oberen Extremitäten
werden ausschliesslich links und auch hier nicht normal geleistet.
IV. Allgemeine Körperlokomotion erfolgt von allen Bewegun
am besten, nur tritt hierbei eine geringere Mitarbeit der rechte
tremitäten hervor.
Die sensorischen Leistungen erwiesen sich im Gegensatze
hierzu mit Ausnahme einer allgemeinen Verlangsamung, nur in
gewissen eigenartigen Beziehungen geschädigt.
1. Im optischen Gebiete wurden linkerseits vorgezeigte
Gegenstände und Bewegungsvorgänge sofort richtig erkannt, be-
zeichnet bezw. nachgeahmt und veranlassten entsprechende Be-
wegungsabläufe. Im rechten Gesichtsfelde erschien Pat. bei
allen Prüfungen ın seinen Reaktionen wie ein Hemianopiker.
2. Auf akustischem Gebiete fand sich links prompte
Reaktion auf Geräusche, Verständnis des gesprochenen Wortes,
Fähigkeit zum Nachsprechen und zur Bezeichnung von Geräuschen
und Erkennen bezüglich Gegenstände intakt. Vom rechten Ohre
aus zeigte sich Pat. wie ein zentral Tauber.
3. Die Tastempfindung der linken Körperhälfte, ins-
besondere auch die Fähigkeit zur Betastung mit der linken Hand,
das Erkennen und Bezeichnen von Gegenständen von hier aus
erschien intakt. Auf der rechten Körperoberfläche signalisierte
Pat. eintreffende Reize allenthalben, die zugehörigen Reaktionen
beschränkten sich hingegen auf unvollkommene Bewegungs-
äusserungen der Extremitäten, hingegen waren die mimischen
Begleiterscheinungen intakt. Der Tastap arat der Hand bei in
diese gelegten Gegenständen bietet einen höchst unvollkommenen
Ansatz zur Abtastbewegung. Zu einem Erkennen und Bezeichnen
von Gegenständen kam es hier niemals, auch fehlten gleichsinnige
Einstellbewegungen von Kopf und Augen.
Im Geruchsinne bestand beiderseitige Anosmie.
Die einfache Nachahmung von passiv erteilten Stellungen
der rechten Extremitäten gelang links sehr prompt, von links
gegebenen rechts verlangsamt. Bewegungen, welche in denselben
Extremitäten passiv vorgemacht wurden, konnten beiderseits leidlich
imitiert werden, rechts langsamer und ungeschickter.
Die weiteren Veränderungen im körperlichen Zustande zeigen sich als
fortschreitende Abmagerung, andauerod niedrige Pulszahlen, beginnende
rechtsseitige zentrale Facialisparese.
In psychischer Hinsicht fanden sich ohne wesentliche Veränderung
des psychischen Allgemeinzustandes weiterhin folgende Erscheinungen,
welche sich insgesamt als dem Gebiete der Psychomotilität zugehörig erweisen:
Der spontane Bewegungsablauf ist auf allen Gebieten
ausserordentlich verarmt, so dass der Kranke zumeist mit ge-
schlossenen Augen in ruhiger Rückenlage stundenlang regungslos
verbleibt.
Auch kann jetzt schon bemerkt werden, dass, wenn durch
äussere Anstösse ein Muskelgebiet (z. B. Augenmuskel oder Ex-
pevorgängen
seitigen Ex-
102 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre,
tremitäten etc.) in Bewegung gesetzt war, andere Muskelgebiete
fast niemals dadurch in Mitbewegung gerieten (z. B. Sprache etc.).
Beeinflussung des Bewegungsablaufes,
I. Durch optische, fixe und bewegte Reize.
Im linken Gesichtsfelde befindliche Gegenstände werden
sofort mit Kopf und Augen fixiert, der Blick folgt den Be-
wegungen auch über die Mittellinie hinüber in die Nähe und in
die Ferne,
Zu einem Ergreifen der Gegenstände kommt es selten auf
optischen Antrieb allein, auch nicht zum Abschweifen der optischen
Tätigkeit zu anderen optischen Ereignissen, nicht zu spontaner
Initiative, mit anderen psychischen Leistungen einzugreifen, zu
fragen, überhaupt die Sprache zu benutzen. Das weitere Handeln
mit einem solchen Gegenstande erfolgt äusserst selten spontan,
zumeist ist auch hierzu wieder neuerliche Anregung von anderen
Sinnessphären her notwendig. Ebenso erfolgt sprachliche Be-
zeichnung optischer Gegenstände zumeist nur durch Anregung
von mehreren Sinnessphären. Von vorgemachten Gebärden, welche
Aufforderungen enthalten, gilt ähnliches, nur wenn die Allgemein-
lokomotion des Körpers in Frage kommt, kommt es zu meist
entsprechenden Reaktionen. Vorgemachte, Aufforderungen ent-'
haltende Gebärden erzeugen auch im linken Gesichtsfelde nur
selten motorische Reaktionen; Nachahmung von vorgemachten Be-
wegungen, die früber links noch gut geleistet wurde, erfolgt nicht
mehr, trotzdem der Kranke die äusseren Vorgänge mit sichtlicher
Aufmerksamkeit verfolgt.
Erfolgen aber kompliziertere Bewegungen, so sindsierudimentär,
in ihren Teilen zweckgemäss. Eigentlich vertrackte Bewegungen
werden kaum beobachtet.
Auf rechtsseitige optische Reize erfolgen keine wie immer
gearteten Bewegungen weder im rechten noch im linken Motorium.
II. Durch akustische Reize inklusive Sprache.
Rechtsseitig angebrachte Gehörsreize irgend welcher Art
rufen konjugierte Blick- und Kopfbewegung nach links oben
hervor. Sprachliche Beeinflussung der Bewegungen der rechten
Körperseite ist vollkommen erloschen, hingegen werden Bewegungen
der linken Körperseite einfachster Art durch sprachliche Auf-
forderung zumeist gut geleistet, kompliziertere Anordnungen für
Handlungen der Hand werden mitunter richtig intendiert, ersterben
aber zumeist vor der Beendigung. Werden sprachliche Auf-
forderungen an den Kranken gerichtet, welche Reaktionen im
Gefolge habeu sollen, die aus der Erinnerung zu leistende
Bewegungsabläufe darstellen — wie Nasedreben, Herwinken,
mit der Hand grüssen, Anklopfen, Trinken, Sperren, — so kommen
zumeist gar keine Bewegungsablüufe oder doch nur oft zwecklose
zu Bewegungen zustande.
Hartmann, Beiträge aur Apraxielehre, 103
‚ UI. Durch (lediglich) taktile Reize
erfolgen rechts überhaupt keine Bewegungsreaktionen, so dass
der Kranke anästhetisch schien, wenn er nicht auf Befragen
richtige sprachliche Signale gegeben hätte. |
Links erfolgen einfache Abtastbewegungen bis zum Eintritte
des Erkennens. Weitere Bewegungsabläufe erfolgen (Nahrungszufuhr
zum Munde etc.) nicht oder sehr langsam, etappenweise.
Interessant ist auch, dass der Kranke, auf taktilem Wege
seine rechtsseitigen Extremitäten zu suchen veranlasst, hierzu ganz
ausser Stande ist. Es erfolgen zum Teil ganz unzweckgemässe ver-
trackte Bewegungen nach Richtung und Form.
Hat Patient aber einmal seine oder die Extremität des Arztes
erfasst,. so erfolgen zweckgemässe Bewegungsabläufe, ebenso wie
dies erfolgt, wenn endlich eine Nahrung zum Munde gebracht ist,
seine Hand die Hemdmasche erfasst hat oder sonstwie Eigen-
leistungen des Sensomotoriums der oberen oder unteren Er.
tremitäten provoziert werden.
Aufforderung zu allgemeinen Lokomotionen des Gesamt-
körpers (Gehen, Stehen, Umdrehen etc.) werden noch am besten
durchgeführt.
Gut erhalten bleibt die auf Aufforderung erfolgende Inner-
vation des Gesichtes. Sehr mangelhaft wird die durch sprach-
liche Aufforderung zu erzeugende Bewegung der Zunge.
Bei allen diesen Prüfungen wird immer wieder das Ver-
ständnis für die gestellte Frage kontrolliert.
Für alle diese Störungen kann konstatiert werden, dass dem Patienten
die Selbstwahrnehmung der Ausfallserscheinungen vollkommen fehlt.
Irgendwelche affektive Erregungen der Lust oder Unlust, der Aengst-
lichkeit oder Spannung kommen nicht zur Beobachtung.
Bei allen Prüfungen wurde ersichtlich, dass das Gedächtnis für von
verschiedenen Sinnessystemen aus wahrgenommene Bewegung auch bei den
linksseitigen Handlungen des Kranken insofern gestört war, als die Handlungen
zumeist in ihre einzelnen Komponenten zerfielen und die Spontanität der
Handlung immer dort aufhörte, wo das von einer anderen Sinnessphäre her
gelieferte Bewegungsgedächtnis einsetzen sollte.
Der anatomische Befund. (Vgl. Tafel I, II, Fig. 2, 8, 4.)
Inuerhalb des linken Stirnhirnes hat sich ein weicher, ziemlich stark
vaskularisierter Tumor entwickelt, welcher ersichtlich von der linken Hälfte
der vorderen Balkenanteile ausging, das Balkenknie zerstörte und mit einem
zapfenartigen Fortsatze in die medianen Anteile des Marklagera im rechten
Stirnhirne hineinreichte.
Das Marklager des linken Stirnhirnes war im Stirnpole und den un-
mittelbar dahinter liegenden Gebieten bis auf die Fibrae propriae vollkommen
durch den Tumor ersetzt. In der Höhe des hinteren Drittels der ersten
linken Stirnwindung war an der Konvexität das Marklager dieser und zum
Teile der zweiten Stirnwindung in der Tiefenausdehnung von ungefähr 1 cm
intakt erhalten, hingegen waren in den medianen Anteilen dieser Gegend
Nucleus lentiformis und Corpas caudatum, sowie die dazwischen liegenden
Anteile der inneren Kapsel zerstört. In jenen Schnittebenen, in welchen die
vordere Zentralwindung mit ihrem Fussanteile an der Konvexität erscheint,
beschränkt sich das stielartig nach hinten und medialwärts sich verjüngende
Areal des Tumors auf die Balkenausstrahlung oberhalb des Corpus caudatum
und auf dieses selbst, und hat hier der Tumor die Faserung der inneren
Kapsel nicht wesentlich geschädigt, sondern nur nach auswärts verdrängt.
104 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
Im rechtsseitigen Stirnhirne blieb die innere Kapsel und das ganze
konvexe Marklager von der Erkrankung verschont.
Die übrigen Anteile des in Serienschnitte zerlegten Gross- und Klein-
hirnes zeigten mit den üblichen Markscheidenmethoden keine primären
pathologisc en Veränderungen.
8 konnte somit der anatomische Nachweis erbracht werden, dass in
beiden Gehirnen die Rindengebiete der motorischen Sprachleistungen, die
vordere und hintere Zentralwindung mit ihren Projektionsstrahlungen ver-
schont geblieben waren.
eber den Verfolg von Fiaserdegenerstionen aus dem ergriffenen Stirn-
hirn und Balkenanteilen in die sonst intakt gebliebenen Hirngebiete werde
ich an anderem Orte berichten.
3. Das linke Stirnhirn und seine mutmassliche Bedeutung
für den Bewegungsablauf.
Was den hier nur kurz skizzierten Krankheitsfall vor allem
wertvoll und bemerkenswert gestaltet, ist der Umstand, dass hier
analog mit dem Liepmannschen Falle eine wesentliche Diffe-
renz in den Bewegungsleistungen beider Körperhälften
vorliegt.
Meine Ausführungen und der anatomische Tatbestand haben
erkennen lassen, dass der vorliegende Fall aber wesentlich von
dem von Liepmann gezeichneten Krankheitsbilde abweicht.
Gemeinsam ist beiden Bildern jedenfalls, dass Störung des
Bewegungsablaufes ohne gröbere anatomische Schädigung der
optisch-akustisch-taktilen Rindengebiete und bei Intaktheit der
motorischen Projektionsbahn vorliegt.
Kurz zusammengefasst lässt sich sagen:
Von den sensorischen Hirnstationen des linken Ge-
hirnes waren Direktionen des Bewegungsablaufes über-
‚haupt nicht auslösbar, was die Störung klinisch hat wie eine
agnostische aussehen lassen, d. h. mit anderen Worten: vom
linken sensorischen Hirnanteil war die Anregung zu den
sensomotorischen Regionen des linken sowohl als des
rechten Gehirnes geschädigt.
Von den sensorischen Stationen des rechten Ge-
hirnes waren durchweg motorische Leistungen auch
komplizierterer Art in der linken Körperhälfte zu er-
zielen, nicht in der rechten, d. h. mit anderen Worten: die
sensorischen Stationen des rechten Gehirnes ver-
mochten das Sensomotorium des rechten Gehirnes noch
in ziemlich ausgiebiger Weise zu beeinflussen, nicht
aber das linke Gehirn.
‚Vermögen aber die Sinnessysteme des linken Gehirnes es
nicht, Einfluss auf die rechte Körpermuskulatur zu gewinnen,
obwohl sie von den linken Zentralwindungen nicht direkt ab-
geschnitten sind, und findet sich wie hier ein mächtiger Stirnhirn-
herd und adäquate Balkendurchtrennung, dann ist wohl daran
zu denken, dass zur Überleitung der also sensorisch ent-
standenen Bewegungsanregung auf die Zentralwindungen
das Stirnhirn nötig ist.
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 105
Da aber von den Sinnessystemen des linken Gehirnes auch
nicht Bewegungsimpulse auf (das rechte Sensomotorium der Ex-
tremitäten) die linke Körpermuskulatur abgegeben werden können,
so scheint daraus zu folgen, dass die einfache Übertragung
durch den Balken hierfür nicht genägt und dass auch hier
das linke Stirnhirn und seine Balkenverbindung mit dem rechten
Gehirn von einschneidender Bedeutung sind.
Hiermit steht in Übereinstimmung, wenn die Sinnessyateme
des rechten Gehirnes auf die linksseitige Körpermuskulatur eben-
falls nicht einen normalen Einfluss auszuüben vermögen.
Innerhalb eines Sinnessystemes (insbesondere der Körper-
fühlsphäre) laufen hier Handlungen oft ausserordentlich prompt
ab, aber die Kooperation mehrerer Sinnessysteme und der Sprache
beim Handeln, dıe Verknüpfung aller zum Continuum der Hand-
langen, zusammengesetzte Bewegungsfolgen aus dem Gedächtnisse
sind geschädigt und wird also auch für die Tätigkeit des rechten
Sensomotoriums die Intaktheit des linken Stirnhirnes und Balkens
eine notwendige Vorbedingung sein.
Nur bei einer ähnlichen Voraussetzung scheinen mir die vor-
liegenden Tatsachen mit der Gehirndynamik in verständliche Be-
ziehung gebracht.
Liepmanns Fall waren die klinischen Erscheinungen,
wie ich schon angedeutet habe, doch wesentlich andere.
Bei gleichfalls erhaltener Beweglichkeit und erhaltener Sen-
sibilität vermochten akustisch- optisch - taktile Anregungen den
Bewegungsablauf der rechten oberen Extremität nicht als dem
Zwecke gemäss zu dirigieren, aber die Intention zu Bewegungen
war ausgeprägt erhalten, ebenso waren die Eigenleistungen des
linken Sensomotoriums vorhanden, was wohl sagen will, dass auch
ein Bewegungsgedächtnis vorhanden war, aber nicht zu zweck-
gemässer Ansprache bereit war.
Bewegungsverwechslungen, amorphe Bewegungen, zeitweise
Akiınese waren die prägnantesten Folgeerscheinungen.
Im vorliegenden Falle trat das Symptom der halb-
seitigen Bewegungsschädigung bis zur vollkommenen
Akinese in die Erscheinung, auch die Intention zur Be-
wegung überhaupt war sonach auf dasgröbste geschädigt.
Es erhebt sich nun die Frage, inwieweit die hier vorliegende
Symptomatik mit unserem bisherigen Wissen in Einklang gebracht
werden kann und inwieweit wir hieraus für die Funktion des
Stirnhirnes Neues hinzulernen können.
Schon Meynert) hat in wenigen Worten einmal zu hierher
gehörigen Fragen geistvoll vorausblickend gesprochen: „Aphasie
und Gebrauchsmangel sind nur Einzelfälle von herd-
artig bedingter, kortikaler, assoziativer Störung. Es
ist ganz derselbe Fall, ob bei motorischer Aphasie die Inner-
vationsgefühle des klangbildenden Apparates sich mit dem Anblick
?) Meynert, Klinische Vorlesungen über Psychiatrie. 1890. 270.
106 Hartmann, Beiträge sur Apraxielehre.
der Kugel nicht verbinden können oder die Innervationsgefähle
der.oberen Extremität “ |
Liepmann!) und Heilbronner’) folgen auf analogen Wegen.
Heilbronner hat die Frage näher studiert, in welche Beziehung
Liepmanns Form der motorischen Apraxie zu den verschiedenen
bekannten Formen aphatischer Störungen zu setzen sei.
Er hat dieselbe als eine den Leitungsaphasien nahestehende
transkortikale Störung bezeichnet.
Sie stellt hiernach eine Form der Apraxie dar, bei welcher
die Intaktheit des Exekutivorganes voransgesetzt wird und welche
jenseits der Zentralstätte des Erinnerungsfeldes für abgelaufene
Bewegungsvorgänge der Körpermuskulatur ihren Sitz hat; so wie
also etwa die transkortikale motorische Aphasie durch eine Er-
krankung entsteht, welche die Brocusche Windung, die Zentral-
stätte des Erinnerungsfeldes für abgelaufene Bewegungsvorgänge
der Sprachmuskulatur ebenso wie die motorische Sprachbahn in-
takt lässt, aber diese Regionen der meisten Verbindungen mit
dem übrigen Gehirn beraubt. Liepmann und Heilbronner
haben nun in Anlehnung an Meynert das Sensomotorium der
Extremitäten mit dieser Zentralstätte mehr minder homologisiert,
stellen also die Extremitätenzone der Zentralwindungen homolog,
dem Wortbilderzentrum der Sprache, der Brocaschen Windung.
Es hatte diese Homologisierung für die Zwecke beider
Autoren vor allem nur einen heuristischen Wert und äussert sich
auch Heilbronner dahingehend.
Meines Erachtens ist die Extremitätenzone der Zentral-
windungen homolog zu halten der Zentralwindungszone der mo-
torischen Hirnnerven, ein Feld analog dem Brocaschen etwa
für die Erinnerungsbilder komplizierter Bewegungsvorgänge der
Extremitätenmuskulatur steht eben noch aus.
Dem Zentrum für die Klangbilder der Worte von Wernicke
würde wohl das Rindengebiet für komplizierte Tasterinnerungs-
bilder (von Wernicke) entsprechen.
Dem Bewegungsbilderzentrum der Sprache würde als homo-.
loges Rindengebiet der Extremitäten ein Rindenfeld entsprechen,
in welchem optische Bewegungsbilder, akustische taktile Be-
wegungsbilder fremder Körper assoziiert mit komplizierten Be-
wegungebildern aus oberflächlicher und tiefer Sensibilität und
dem Schwersinne des eigenen Körpers gedächtnismässig fest-
gelegt sind. Ein kinästhetisches Gedächtnis komplizierter Be-,
wegungsabläufe, die Summe abstrakter Richtungsvorstellungen
(die eines Gliedes sind ja nur ein Spezialfall). o,
Der Verlust dieser Leistungen bedeutet bei Intaktheit der'
zu- und ableitenden Bahnen der Körpersensibilität und Motilität
1) Liepmann,' Monatsschrift für Psychiatrie, XVII., 289; XIX., 217.
Vgl. Lit. Anm. 2. u
3) Heilbronner, Zeitschrift für Physiol. und Psych. der Sinnesorg.,
XXXIX., 161. |
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre, 107
eine Seelenläbmung, analog. der Seelentaubheit, -Blindheit etc.,
und Liepmann hat auch in der vorhin besagten Reihe den
Verlust des kinästhetischen Vorstellungsschatzes als Seelenlähmung
skizziert.
Heilbronner konstruiert das Bild einer „kortikalen Apraxite“,
als Analogon zur kortikalen Aphasie, als totalen Ausfall aller
komplizierteren, erlernten Bewegungskomplexe. Anderer-
seits muss aber totale motorische Apraxie entstehen durch eine
Läsion jenes Rindenfeldes, welches die zur Anregung des Motoriums
nötigen zusammengesetzten Bewegungsbilder gedächtnismässig
festhält.
Liepmann deutet auch an, dass aus theoretischen Ueber-
legungen der Verlust der kinästhetischen Vorstellungen Bewegungs-
losigkeit zur Folge haben dürfte.
Im Lichte dieser Ausführungen ergibt sich für unseren vor-
liegenden Fall in klinischer Hinsicht ohne weiteres die Identität
der Störungen mit dem Begriffe der Seelenlähmung. Der objektive
Nachweis der Intaktheit der zu- und ableitenden Bahnen der
Projektion an den angefertigten Serienschnitten vervollständigt
die klinische Krankenuntersuchung.
Nahezu vollständige rechtsseitige Bewegungslosigkeit auf
die verschiedensten ein- und beiderseitigen sensorischen Reize
und der Verlust jeglichen spontanen Antriebes der Bewegungen
der gegenüberliegenden Seite steht entgegen der Möglichkeit der
Anregung von Bewegungsformen auf der linken Körperseite durch
von dieser Seite einlangende Reize.
Was im komplexen Mechanismus der Handlung vom in-
takten rechtsseitigen Gehirne noch geleistet werden kann, sind
einfache Bewegungsabläufe, die so lange sich regelrecht fort-
spinnen, als nicht ein anderes Sinnesgebiet zur Weiterführung
benötigt erscheint. Hierdurch war der kontinuierliche Bewegungs-
ablauf geschädigt, wenn auch auf neuerliche Antriebe hin noch
möglich; später allerdings waren auch das Nachahmen optisch
vorgemachter Bewegungen und das Handeln aus Bewegungs-
erinnerungen allein schwerer beeinträchtigt.
Dieser Symptomatik, welche auf den Verlust eines Rinden-
gebietes hindeutet, über welches das Gesamtgehirn seine Leistungen
zum Ablaufe einer Handlung zu senden hat und das im rechten
Gehirne allein nicht befähigt ist, den normalen Bewegungsablauf
der linken Extremitäten zu garantieren, dieser Symptomatik ent-
spricht eine herdförmige Erkrankung, wie sie oben des näheren
schon beschrieben wurde und im wesentlichen das linke frontale
Assoziationszentrum von Flechsig seiner Verbindungen mit dem
übrigen Gehirne beraubt und auch das ganze Balkenknie einnimmt.
Es erübrigt noch auszuführen, inwieweit bei aller Vorsicht
in der Deutung der Befunde aus diesem Falle Schlüsse über die
Art der Schädigung des Bewegungsablaufs durch Er-
krankungindenberegten Gehirnabschnitten und Schlüsse
108 Hartmann, Beiträge sur Apraxielehre,.
über die Bewertung derselben für die Dynamik des
Gehirnes gezogen werden können.
Wie wir gehört haben, entspricht Liepmanns motorische
Apraxie einer transkortikalen Schädigung des Bewegungsablaufes,.
Der bezügliche Fall zeigt Absperrung der Zentralwindungen und
ihrer Projektionsbahnen inklusive eines grossen Anteiles der I.,
II. und III. Stirnwindung und deren Marklager vom übrigen
Gehirne.
Innerhalb dieser erhaltenen Gebiete muss also neben den
Projektionsfeldern auch das Feld für die kinästhetischen Erinnerungs-
bilder komplizierter Bewegungsformen erhalten sein (so wie dies
auch Liepmanns Reihe fordert).
Bewegungsanregung aus gedächtnismässig festgelegten Eigen- .
leistungen waren demnach auch erhalten, so wie wir gewohnt
sind, dies bei entsprechenden aphatischen Störungen zu sehen, in
denen die Brocasche Windung und das Sensomotorium der
motorischen Hirnnerven intakt geblieben sind.
Fallen in diesem letzteren Komplex die Rindenterritorien
für die komplizierten Leistungen der bei der Sprache beteiligten
Muskulatur fort, so tritt Bewegungsausfall der Sprachleistung ein.
Dasselbe werden wir, wie schon Liepmann vermutet hat, in
grandioser Weise eintreten sehen, wenn die Gesamtleistung des
rosshirnes (Wernickes Begriffszentrum) trotz eigener Intaktheit
nicht mehr in der Lage ist, die komplizierten Bewegungsbilder,
die letzte Vorstufe der Bewegung, zu beschicken.
Wir hätten es demnach hier symptomatologisch mit
einer echten totalen Apraxie zu tun, der totalen motorischen
Aphasie direkt homolog. Diese totale Apraxie führt zur Akinese
der rechten Körperseite, schädigt aber auch den Akt des Er-
kennens-der rechten rezeptorischen Körperhälfte!) und zeigt, dass
die homologen rechtsseitigen Hirnpartien zwar die Entwicklung
der von einem Sinnessystem beeinflussten und unterhaltenen
Bewegungsvorgänge ermöglichen, jedoch zur Erhaltung des Kon-
tinuums der Bewegungsvorgänge einer komplizierten Handlung,
z. T. des Bewegungsgedächtnisses, der Nachahmung optisch vor-
emachter Bewegung (?), der Kooperation mit dem linksseitigen
tirnhirn bedürfen.
Mit einem Wort muss hier noch hervorgehoben werden, dass
trotz dieses schweren Ausfalles in der Bewegungstätigkeit der
rechten Extremitäten eine Leistung in auffallender Weise erhalten
war: die Nachahmung von passiv erteilten Bewegungen einer
Seite durch dieselbe Seite und ebenso auch im wesentlichen die
Nachahmung von passiv erteilten Bewegungen einer Seite durch
die andere Seite. Heilbronner hat diese Leistung im speziellen
— —
ı) Vgl. Heilbronner, Zeitschr. f. Psych. u. Phys. d. Sinne. XXXIX,
198. („Wie weit sie“ (die fühlbaren Vorstellungen der Bewegung) „etwa durch
die Anregung von Vorstellungen vom Gebrauche der Gegenstände schon
beim Erkennungsakt eine Rolle spielen, wieweit ihr Fehlen diesen beein-
trächtigen kann, bleibe dahingestellt“.)
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 108
gegenüber dem Nachahmen optisch vorgemachter Bewegungen als
dem Nachsprechen*) analog bezeichnet. Wir werden im weiteren
* Das Nachsprechen erscheint meines Erachtens als erste
Form des sprachlichen Ausdruckes, entstehend daraus, dass ge-
hörten Reizen selbst produzierte unter Vermittlung ständiger Kon-
trolle und Nachhilfe des Muskelsinnes der Sprachorgane allmählich
so ähnlich gemacht werden, dass die klanglichen Bilder sich decken.
Bei Tauben werden die gehörten Reize durch optische Reize er-
setzt, die solange nachgeahmt werden, bis selbst produzierte, unter
Vermittlung des Muskelsinnes beeinflusste identische Bewegungs-
vorgänge in den Sprachorganen erzeugt werden.
Das blinde .Kind erlernt die akustisch wahrgenommenen
Klänge der Schelle selbst erzeugen durch Kontrolle des Muskel-
sinnes seiner oberen Extremitäten und ahmt dann auf den Klang
hin auch die erzeugende Bewegung nach.
Setzen wir die Bewegungsapparate der Extremitäten und
Sprachmuskeln einander gleich, so entstebt Nachahmung der den
aufgenommenen Sinnesreizkomplex erzeugenden Bewegung von
allen Sinnesgebieten her, und erscheint nur da und dort eine elek-
tive Bevorzugung jenes Sinnessystems, das spezifische Beziehungen
zum Muskelapparate besitzt.
Dass in Hinsicht der Skelettmuskulatur das taktile und
optische Sinnessystem die bevorzugten und meistbeteiligten sind,
geht aus der Natur der Sache hervor, und eine ins Detail gehende
Homologisierung scheint mir vorderhand nicht gut denkbar. Das
Nachahmen einer passiv vorgemachten Bewegung wäre bei all-
gemeiner Betrachtung der Erscheinungen am ehesten gleichzusetzen
der Nachahmung von — sit venia verbo — passiv erzeugten
Bewegungsvorgängen in der Sprachmuskulatur. Das Nachahmen
von passiv gegebenen Bewegungen der anderen Seite durch die
Extremitäten der gegenüberliegenden Seite zeigt neue In-
konsequenzen, die der Homologisierung entgegenstehen.
enn wir die Beziehungen der Sinnessysteme zu den
Bewegungszentren auf eine einheitliche Basis stellen würden,
dürften wir zu klareren Formulierungen unserer Anschauungen
über die Homologisierung kommen, wobei als oberster Grundsatz
wird gelten müssen, dass der dabei waltende Mechanismus einer
Energietransformation gleichen dürfte, welche ähnlich beschaffen
ist wie die der Umsetzung äusserer Reizqualitäten in nervöse
Leitungsenergie. Auch im Zentrum selbst würden dann wieder
die von einzelnen Sinnessystemen dem Bewegungssysteme dar-
gebotene Energieimpulse auf eine einheitliche Energieform redu-
ziert werden, mit der die motorische Maschine bedient werden
kann.
Zur Frage, ob kortikal oder transkortikal, dürfte bei den
hier in Frage kommenden höheren Leistungen das Vorhandensein
der Möglichkeit, aus Muskelsinnesreizen allein Bewegungen von
einer Seite mit der anderen nachzuahmen, kaum verwertet
110 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre,
‘sehen, dass die Schädigung dieser Leistung in eminentem Masse
bei Balkendurchtrennung auftritt.
Auch hierin prägt sich demnach jenes auch für die trans-
kortikale Apraxie und ähnliche Herderkrankungen der linken
Hemisphäre gültige Gesetz, das Ramon y Cajal jüngst als ein-
seitige Anlage der höheren Erinnerungszentren bezeichnet hat.
In diesen mit allem nötigen Vorbehalt wiedergegebenen
Anschauungen erschiene das frontale Assoziationszentrum von
Flechsig als ein hochstehender Verknüpfungsapparat.
Einerseits bringen — wie Anton und Zingerle!) ausgeführt
haben — subkortikale, in die präzentralen Hirnregionen vom
Kleinhirn her einstrahlende Systeme eine Art Bewegungsgedächtnis
niederer Ordnung zu.
Dieses besteht seinen Elementen nach aus der Verknüpfung
sensomotorischer Leistungen fast aller Sinnessysteme, mit Aus-
nahme der chemischen Sinne. |
Andererseits wird dasselbe beschickt von den aus der
Leitung der optischen, akustischen, taktilen Hirnstationen ent-
stehenden kinästhetisch räumlichen Komponenten.
Es muss das vergleichbare und gegenseitig ersetzbare kinä-
sthetische räumliche Material, welches die einzelnen Sinnesgebiete
liefern, in eine neue, für die Rezeption durch die motorische
Extremitätenrinde brauchbare einheitliche Energieform (die Be-
wegungsformel Liepmanns, das Innervationsgefühl der psycho-
logischen Autoren, „Myopsyche“ Storch) übergeführt werden.
Sie erst vermag die durch zeitliches Nebeneinander und
Nacheinander, zweckgemässe Folge und beständige Kontrolle des
Gesamtgehirnes charakteristische Kontinuität des Erregungs-
ablaufes der motorischen Projektionsbahnen, die Einheit der
Handlung zu garantieren.
Ich bin mir wohl bewusst, dass für die eben gegebenen
Deutungen ein Fall dieser Art wie der vorliegende, nicht aus-
reicht, insbesondere habe ich die Bedenken, die durch die Beein-
flussung der Gesamthirnleistung durch eine tumoröse Neubildung
in mir aufstiegen, wohl berücksichtigt.
Zufällig hatte ich Gelegenheit, Fälle von Tumoren der Parieto-
oceipitalregion und der Schläfelappen in Vergleich zu ziehen, und
konnte dabei trotz besonderer Allgemeinerscheinungen doch die
wesentlichen Differenzen der klinischen Bilder feststellen, insonder-
heit ähnliche Störungen des Bewegungsablaufes niemals beobachten.
Mir erschien die Symptomatik des vorliegenden Falles an
und für sich als ein Beispiel eigenartig gestörter Grosshirndynamik
bemerkenswert.
werden dürfen. Ich möchte diese Leistung näher den Eigen-
leistungen stellen, welche schon durch die fokalen Gebiete der
Bewegungssphären im Zusammenhange mit ihren subkortikalen
Stationen geleistet werden dürften.
1) Bau, Leistung etc. des menschlichen Stirnlirns. Festschrift. Graz 1902.
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 111
Weitere darauthin anzustellende Untersuchungen finden in
den hier versuchten Deutungen Anhaltspunkte für eine Korrektur
und den Ausbau bisher noch dunkler Wissens ebiete.
Um möglichst vollständig zu sein, will ich hier noch hinzu-
fügen, dass in Liepmanns?) Arbeiten sich Andeutungen vorfinden,
welche nahe den hier vorgetragenen Anschauungen liegen.
Es lässt die Häufigkeit der motorischen Aphasie bei links
ohne Schädigung der motorischen Bahn leicht apraktischen, „ins-
besondere bei den Kranken, dessen Nachmachen gestört war, so-
wie die Häufigkeit der rechtsseitigen motorischen Lähmung daran
denken, dass die entscheidende Region oberhalb der
Brocaschen Windung und vor den Zentralwindungen
gelegen sei. Man könnte an die benachbarten oberen und mitt-
leren Stirnwindungen denken, als an einen Bezirk, der die Um-
setzung von Richtungsvorstellungen in Innervation ver-
mittelt und einer höheren Zusammenfassung der Einzel-
bewegungen zu Zweckkomplexen dient.“
Es entspräche das dem frontalen Assoziationszentrum
Flechsigs, nur dass es vorwiegend links angelegt wäre und eine
speziellere Funktion hätte, als Flechsig ihm zuteilte.
Flechsig selbst verweist mit Nachdruck darauf, dass die
frontalen Terminalgebiete durch mächtige Assoziationslager mit
der Zentralzone in Zusammenhang stehen?), „so dass der Ein-
druck entsteht, es liege hier eine Zusammenfassung sämt-
licher Körpersegmente vor, während von den speziellen Sinnen
nur der Geruch spärliche Verbindungen eingeht, Befunde, welche
Flechsig veranlasst haben, „im Stirnhirne eine Repräsentation der
körperlichen Person“ zu vermuten. |
In diesem Zentrum seien die wesentlichsten Komponenten
des Persönlichkeitsbewusstseins und die wichtigsten Regu-
latoren für das Handeln enthalten.
Anton, l. c., legt den Gedanken nahe, dass dem Stirnhirne eine
„Ordnung des Betriebes“ der subkortikalen Kleinhirnfunktion in
ihren Beziehungen zum psychischen Organe zukomme.
Alle diese Anschauungen stehen meiner Deutung über die
Beeinflussung des Bewegungsablaufes durch Erkrankung des Stirn-
hirnes nicht im Wege, sondern in Uebereinstimmung mit denselben.
Hier darf ich noch speziell darauf hinweisen, dass der vor-
liegende Fall der Stirnhirnerkrankung nicht der einzige mit aprak-
tischen Erscheinungen einhergehende ist.
Liepmann?) erwähnt leider in aller Kürze und ohne daraus
weitergehende Schlüsse zu ziehen, einen beobachteten Fall einer
sehr grossen, dicht an der Oberfläche liegenden Cyste im linken
Stirnhirne, welcher beiderseits Apraxie, sowohl beim Nachmachen
1) Die linke Hemisphäre und das Handeln. Münch. med. Wochenschrift.
1905. No. 49, 2375.
2) Mionakow (Gehirnpathologie. 2. Auflage S. 428) beschreibt einer pa
thologischen Fall mit ähnlichen Nachweisen.
3) Münch. med. Wochenschr. 1905. No. 48, 2325.
112 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
als beim Manipulieren mit Gegenständen zeigte. Der Fall wurde
zwar nur operiert und nicht obdaziert, jedoch steht Liepmann
nicht an, zu erklären, dass er für das Vorhandensein einer auch
linksseitigen mässigen Apraxie das Vorhandensein auch noch eines
rechtsseitigen Herdes nicht für notwendig halte.
Dieser Fall, sowie die früher angezogenen Andeutungen er-
schienen mit gewichtige Anhaltspunkte gegen den Einwand, dass
etwa für das Wesentliche in den bei meinem Falle von Stirn-
hirntumor beobachteten Bewegungsstörungen allein Fernwirkungen
und Allgemeinerscheinungen verantwortlich gemacht werden
könnten.
Im Folgenden füge ich zwei weitere Fälle interessanter Herd-
erkrankungen hinzu, welche von apraktischen Erscheinungen be-
gleitet waren.!) Der Zufall fügte es, dass sich die pathologisch
anatomischen Grundlagen und die funktionellen Ausfallserschei-
nungen dieser zwei Fälle und der Liepmannschen Beobachtungen
in eigenartiger Weise ergänzen und m. E. eine Reihe von Deu-
tungen zulassen, welche sich zu einer vorläufigen Uebersicht über
einen Teil der komplizierten motorischen Dynamik des Gross-
hirnes zusammenfügen.
4. Krankenbeobaehtung mit pathologisch-anatomischem
Befunde.
Serienschnitte durch das Gehirn (Tafel I, I, Fig. 5, 6).
Krankengeschichte: W. F., Postrat, 57 Jahre alt, verheiratet, war
bis in die letzte Zeit kräftig und gesund, kein Potator, auch kein starker
Raucher. Sein Vater starb in höherem Alter an Schlagfluss, keine weiteren
bereditären Verbältnisse. Seit zirka zwei Jahren wurde bemerkt, dasa Pat.
mit der Erledigung seiner Amtsgeschäfte grössere Mühe hatte, dass er er-
müdet, schwieriger sprach, häufig Fremdworte gebrauchte.
Am 7. IV., nachdem Pat. noch tagsüber wie gewöhnlich seinen Dienst
versehen hatte, ging er wie öfters in eine Gesellschaft Karten spielen. Nach-
dem er, wie er den Angehörigen mitteilte, nur mit grosser Anstrengung
seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkam, ging er von dort bis zu
seiner ohnung (ca. !/, Stunde weit) recht mähselig. Als er über die Stiege
ging, stiess er beim Steigen immer an die Stufen an, so dass er nicht weiter
konnte und nur wenige Stufen erreichte. Zufällig kam sein Sohn dazu, der
ihn unter den Arm nahm und zum Bett fährte.
Als er zu Bett gebracht war, begannen Krämpfe an Händen und Füssen,
er fing an, fortwährend die Stirne hinaufzuziehen, um sie dann wieder zu
glätten. Während dieser Krämpfe hat Pat. nichts gesprochen, ein herzu-
geholter Arzt verordnete Brom, wonach Pat. die Krämpie verlor und einschlief.
Einige Tage blieb Pat. im Bett, die Krämpfe kehrten nicht wieder,
dann konnte er auf Stunden ausser Bett bleiben und selbst in den Garten
gehen, las die Zeitung, konnte die Hände sehr gut gebrauchen, so dass er
sogar seinen Kindern das Essen vorlegte. Er sei auch immer völlig bei Be-
wusstsein und gut orientiert gewesen; erst vor ca. 14 Tagen phantasierte er
manchmal und glaubte sich an anderen Orten. Der Zustand verschlimmerte
sich allmählich, er sprach mit seinen Angehörigen italienisch, obwohl sie
die Sprache nicht verstehen, vermengte seine Sprache mit noch mehr Fremd-
wörtern als früher. Seit ca. 8—4 Wochen konnte er auch nicht mehr in
1) In beiden Fällen haben die an den ersten Fall geknüpften Ueber-
legungen zur richtigen Lokaldiagnose geführt.
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 118
den Garten gehen, seit swoi Wochen war er ausser Stande, im Zimmer am-
herzugehen, machte aber beständig Gehversuche. Seit 14 Tagen soli er auch
über rechtsseitigen Kopfschmerz und Ohrenweh geklagt haben.
Status psychicus. Orientiorungsfähigkeit: Ueber Ort und Zeit
wohl orientiert, erkennt Pat. auch elementare Raumformen von verschiedenen
Sinnesgebieten aas und vermag Distanzen in Höhe, Breite und Tiefe und
Unterschiede solcher wohl einzuschätzen.
Auch über seine Persönlichkeit, Stellung im Amt und Gesellschaft ete.
gibt er korrekte Auskunft.
Seine Stimmungslage ist eine gleichförmige, wenn aber die Sprache
auf sein Leiden kommt, erscheint er adäquat diesem Umstande gedrückt
und weint des öfteren.
hand Zeichen einer abnormen Erregbarkeit und Reizbarkeit sind nicht vor-
anden. '
Sinnestäuschungen und systematisierte Wahnbildungen sind nicht
nachweisbar.
Der Gedankenablauf ist entschieden verlangsamt, die Aufmerksam-
keitsleistungen sind gröber nicht geschädigt, hierzu wird nur bemerkt, dass
die motorische Entäusserung des Aufmerksamkeitsvorganges häufig eine sehr
mangelhafte ist, so dass nicht selten der Anschein apaıhischer Stumpfheit
entsteht, obwohl der Kranke alle Vorgänge wie im normalen aufgefasst und
verwertet hat.
Die Intelligenzprüfung (Rieger): Die perzeptiven Fähigkeiten
sind auf allen Sinnesgebieten erhalten, Die Apperzeption von Sinueseindräcken
unter Ausschluss der Sprache ist anf allen Sinnesgebieten erhalten.
Lediglich das Lesevermögen und Leseverständnis erscheinen schwer
beeinträchtigt. ,
Die Sprechfähigkeit zeigt Verlangsamung, mitunter ein Versprechen
sonst normale Verhältnisse.
Das Nachsprechen zeigt keine gröberen Störungen, auch bei schwierigeren
Leistungen.
Das Sprachverständnis ist insofern vollkommen erhalten, als nur bei
ewissen, durch das zugerufene Wort provozierten motorischen Leistungen
der Extremitäten ein Ansfall in der Reaktion ersichtlich wird.
Die Schreibefähigkeit und Diktatschreiben erscheinen vollkommen
anmöglich.
Das einfache Nachmalen, Nachzeichnen ist rechts möglich, links un-
möglich.
Ebenso ist, wie schon oben bemerkt, Lautlesen und Leseverständnis
erloschen.
Das Bezeichnen optischer Gegenstände ist ebenso wie das lediglich
taktil, akustisch, olfaktorisch vermittelte Bezeichnen von Gegenständen ge-
trennt und gemeinsam in beiderseitigen Sinnesflächen erhalten.
Das Erkennen von durch verschiedene Sinnesgebiete vermittelten Aussen-
weltdingen ist insofern erhalten, als alle dadurch vermittelten Begriffsbildungen
and Gedankenablänfe korrekt ablaufen. Nur insoweit das Erkennen in motori-
schen Bewegungsabläufen der Extremitäten nach aussen vermittelt werden
soll, ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten.
Der Bewegungsablauf.
Während, wie noch im körperlichen Befunde ausgeführt
wird, gröbere Schädigungen der Bewegungsfreiheit nicht vor-
handen sind, erscheint doch die Direktion von Bewegungsabläufen
einerseits different zwischen rechts und lınks, andererseits von
verschiedenen Sinnesgebieten aus nicht in gleicher Weise möglich.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Holt 1. 8
114 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
Allein in den oberen Extremitäten angeregter
Bewegungsablauf.
Optische Direktionen von Bewegungen:
Rechts: Vorgehaltene Gegenstände, welche zur Betastung
anregen, werden zumeist richtig ergriffen, und es kommt zu ent-
sprechenden Ahtastbewegungen.
Aufforderungen, welche durch Geberden ausgedrückt werden,
werden hier zumeist gut beantwortet.
Nachahmung vorgemachter Bewegungen gelingt langsam,
aber richtig.
Links: Vorgehaltene Gegenstände werden fast nie ergriffen,
auch dann nicht, wenn die rechte Hand an der Betastung ver-
hindert wird.
Aufforderungen, welche durch Geberden ausgedrückt werden,
werden durch die linke obere Extremität nie befolgt.
Nachahmung vorgemachter Bewegungen erfolgt links fast
niemals, mitunter kommt es zwar zu Bewegungsäusserungen, jedoch
erfolgen dieselben „vertrackt“.
Akustische Direktionen von Bewegungen:
Rechts: Aufforderungen zu einfachen Bewegungsfolgen
z. B. einzelne Körperteile zu betasten, Gegenstände zu ergreifen,
ie Extremität in bestimmte Richtungen zu bringen, einfache
Ausdrucksbewegungen zu erzeugen, wie Winken, Nasedreben etc.,
einfache Zweck-Bewegungen, wie Handreichen, Knöpfen, Salutieren,
Kämmen, Schneiden, Uhraufziehen) gelingen langsam, aber doch
in allen Teilen richtig.
— „mie verlangten Wahlreaktionen werden sehr prompt aus-
gelührt.
Links: Dieselben Aufforderungen vermag Pat. links nicht
in die Bewegungsreihen umzusetzen. Es kommt entweder über-
haupt zu keiner Bewegung oder nur zu einem rudimentären Be-
wegungsansatz, welcher zumeist nicht zweckgemäss ist, oder es
erfolgen endlich vertrackte Bewegungen.
Zu den rechtsseitigen Leistungen ist noch zu bemerken, dass
auch hier die Bewegungsfolgen ausfallen, ausserordentlich un-
genügend bleiben und mitunter vertrackt entstehen, wenn die Mit-
ilfe des Opticus ausgeschaltet wird.
Es muss besonders bemerkt werden, dass bei allen akusti-
schen Direktionen von Bewegungen alsbald Kopf und Augen
intensiv den Beginn und Ablauf der Bewegungen kontrollieren.
Taktile Direktion von Bewegungen:
Rechts: In die Hund gelegte Gegenstände werden sofort
betastet und schliesslich entsprechend gehalten. Daran gefügte
Aufforderungen, den Gebrauch der Gegenstände zu zeigen (Löffel,
Kamm, Glas, Gabel, Kreide, Zündholz, Zigarre, Uhr etc.), gelingen
sehr langsam, mitunter gar nicbt, mitunter nur rudimentär. Die
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 115
Erscheinung vertrackter Bewegungen tritt hier nicht auf. Sowie
bei diesen Versuchen jedoch der Opticus ausgeschaltet wird, ver-
mögen zweckgemässe Bewegungsfolgen von Objekthandlungen viel
schlechter ausgelöst zu werden, ja es tritt auch Bewegungsausfall
oder vertrackte Bewegung in die Erscheinung.
Eigenleistungen des Sensomotoriums, Weiterspinnen einer ein-
mal begonnenen Bewegungsreihe in der rechten, weniger in der
linken oberen Extremität, können auch bei Ausschluss anderer Sinne
gut vollfährt werden, so Knöpfen, Auflösen einer Schleife und
andere Manipulationen mit den Kleidern etc.
Links: Die Erscheinung der Unmöglichkeit, vom Tastsinne
aus angeregte kompliziertere Bewegungsfolgen zu leisten, tritt hier
auch auf, wenn die übrigen Sinnessysteme zur Unterstützung
herangezogen werden können. Bewegungsausfall, rudimentäre und
vertrackte Bewegungen sind der Erfolg.
Er ist ausser Stande, mit der linken oberen Extremität zu
zeigen, wie man mit dem Schlüssel, Löffel, Kamm manipuliert,
Zündhölzer anzündet, ein Messer öffnet, ein Fass rollt etc.
Werden die übrigen Sinnessysteme ausgeschaltet, so vermag
der Kranke oft den Gegenstand nicht einmal zu ergreifen oder
festzuhalten.
Das Nachahmen von passiv einer Körperseite erteilten
Stellungen ist trotz des Umstandes, dass der Kranke von der Art,
dem Ausmasse und dem Orte der Veränderungen Kenntnis hat,
weder von rechts nach links, noch von links nach rechts möglich,
kann hingegen auf der gleichen Seite ziemlich gut vollzogen
werden, was bei Lähmungen des Muskelsinnes einer Seite nicht
möglich ist.
Bei allen diesen Versuchen kann der Ausfall von Bewegungs-
leistangen auch dadurch nicht korrigiert werden, dass der Kranke,
was oft spontan geschieht, die sprachliche Bezeichnung für den
Gegenstand oder den Gebrauch sich reproduziert. Es kann auch
festgestellt werden, dass der Kranke sich die verlangte Bewegung
wohl vorzustellen vermag.
Direktion vonBewegungen in beidenoberenExtremi-
täten gleichzeitig: Anzünden eines Zündholzes, Anzünden
einer Kerze, Einschenken von Wasser, Ausspritzen eines Syphons
in ein Glas gelingen nicht, auch nicht mit Buhilfenahme sprach-
licher Aufforderung. Der Kranke vollzieht hierbei eine Menge
von untereinander unzausammenhängenden und nicht zweckgemässen
Bewegungen.
Bewegungsablauf in den oberen Extremitäten bei all-
gemeinen Körperbewegungen.
Die unterstützenden Bewegungsentäusserungen bei den Ver-
suchen, sich aufzusetzen, sind in beiden oberen Extremitäten sehr
mangelhaft.
Hierbei scheint besonders die linke obere Extremität nicht
zweckgemäss innerviert. Dasselbe gilt bei den Versuchen, sich
8*
116 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
niederzusetzen, vom Sessel aufzustehen, gilt für die Mitbewegungen
beim Gehen, bei den Versuchen, sich umzudrehen, sich beim
Stehen zu unterstützen etc.
Bewegungsablauf bei allgemeiner Körperlokomotion.
Aufgefordert, sich aufzusetzen, schiebt der Kranke mit der
rechten Hand die Decke von sich und vollführt den entsprechenden
Ansatz der Rumpfbewegung. Es kommt jedoch hierbei zu gar
keiner entsprechenden zweckgemässen Innervation der Beine.
Dasselbe gilt auch für die zur Erhaltung des Gleichgewichtes
notwendigen Muskelinnervationen beim Sitzen. Hierbei sinkt der
Kranke immer nach links und hinten und bleiben alle Aufforde-
rungen zur Korrektur der Körperlage ohne Muskelerfolg.
Einmal zum Gehen gebracht, vollführt er automatische Geh-
bewegungen mit den Beinen, obne dass die Rumpfmuskulatur die
entsprechende zugehörige Innervation empfängt.
Obwohl Pat. die Aufforderungen zur Vollführung der nötigen
Korrekturbewegungen sehr wohl versteht, auch sprachlich sie des
öfteren wiederholt, äussert er dann doch vollkommen ratlos, „ich
weiss nicht, wie ich es machen soll“.
Es tragen demnach auch die Rumpfbewegungen und die die
Statik des Körpers besorgenden Muskelfunktionen keineswegs
einen ataktischen Charakter, sondern können vielmehr überhaupt
nicht zweckgemäss ablaufen. Dies kommt auch darin zur Geltung,
dass der Kranke oft gar keinen Versuch macht, die geforderten
Bewegungsreihen auszulösen, andererseits oft statt dieser ganz
vertrackte Bewegungen leistet.
Ein interessantes Phänomen zeigt sich dann, wenn der Kranke
aufgefordert wird, aus dem Gedächtnisse wohlbekannte ein-
fache Bewegungsformen mit den Händen zu leisten und umgekehrt
ihm vorgemachte einfache Bewegungsformen richtig zu bezeichnen
und in die Begriffswelt einzureihen.
So vermag er nicht einen gezeigten einfachen Buchstaben,
Kreis, Quadrat, Linie oder Winkel in die Luft zu zeichnen, auch
nicht, wenn ihm die betreffenden geometrischen Formen genannt
werden.
Dies gilt in vollem Umfange von der linken Hand, hingegen
vermag er mit der rechten einzelne derartige Leistungen anstandslos
zu vollziehen.
Sensorische Leistung Erkennen geometrischer Figuren, intakt.
Status somaticus: Mittelgross, mässig kräftig und mässig ernährt.
Die allgemeinen Hautdecken und sichtbaren Schleimhäute sind blass.
Am Drüsensystem inklusive der Darmdrüsen findet sich nichts Patho-
logisches.
Der Zirkulstionsapparat zeigt normale Verhältnisse in Hinsicht auf
Herzgrösse, Blutdruck und Pulsbeschaffenheit. Der zweite Herzton ist ganz
wenig accentuiert. Die beiden Carotiden etwas rigide.
Am Respirations- und Darmtrakte finden sich keine Veränderungen.
Der Schädel ist symmetrisch, seine Perkussion nicht wesentlich schmerz-
haft, über dem rechten Parietale ist der Klang deutlich sonorer.
Hartmann, Beiträge zur Aprazielehre. 117
Am Opticus findet sich beiderseits Neuritis optica ohne Stanung !).
Alle Hirunerven sind in sämtlichen Funktionen intakt.
Die Kopfhaltung zeigt ein Ueberhängen nach vorn, desgleichen hängt
der Körper im Stehen nach links vorne über.
Der Toons der quergestreiften Muskulatur ist allenthalben verringert,
die grobe Kraft der vier Extremitäten erhalten, und es fällt nur auf, dass
bei den sogenannten willkürlichen Leistungen die linksseitigen Extremitäten
weniger ausdauernd funktionieren.
Das Volumen der Muskulatur ist allenthalben normal.
Die Trisepsreflexe sind beiderseits auslösbar.
Die P. S. R. links besser als rechta, aher beiderseits abgeschwächt.
Die Bauchhaut- und Fusssohlen-, sowie die Cremasterreflexe fehlen. Haut-
und Muskelsensibilität sind allenthalben normal vorhanden.
Bei den ausgelösten Bewegungen der Extremitäten finden sich keine
Zeichen von Tremor oder Ataxie. i
Der weitere Verlauf?).
Die wichtigsten Veränderungen in der Folgezeit schliessen sich an
mehrere Anfälle an, von denen der erste am 9. Tage der Aufnahme auf die
Klinik stattfand.
Ein solcher Anfall entsteht apoplektiform. In kurzer Zeit tritt Be-
wausstlosigkeit, Cheynes Stokes-Atmen, Druckpuls und Veränderungen in der
Innervation der Extremitäten ein.
Die rechtsseitigen Extremitäten sind schlaff und zeigen keinen Tonus
bei passiven Bewegungen. Die linksseitigen Extremitäten zeigen eine tonische
Kontraktur und dementsprechende Erhöhung der Reflexe. Ausserdem finden
anf dieser Seite monotone Wischbewegungen statt. Ein solcher Anfall dauert
einige Tage, worauf rasche Besserung eintritt.
i Die daran sich schliessenden Störungen werden in folgendem zasammen-
eiasst:
8 Oertliche und zeitliche Desorientiertheit: Hierbei können
auch elementare Störungen der Schätzung von Raumgrössen der Lokalisation
im optischen und akustischen Raunıe, der Schätzung von Richtungen, der
gegenseitigen Lage der Gegenstände und des perepe tivischen Sehens fest-
gestellt werden, Leistungen, welche früher wohl erhalten waren.
Die Stimmungslage ist vollkommen apathisch.
Schwere Störungen zeigen auch die Merkfähigkeit und das Gedächtnis.
Schliesslich entwickeln sich auch asymbolische Erscheinungen auf
verschiedenen Sinnesgebieten, insbesondere aber auch sensorisch-aphatische
Symptome. Dementsprechend verschlechterten sich zusehends die motorischen
Leistungen.
Das Sensorium des Kranken wurde zusehends benommen,
es traten Störungen im Schlingakte, hypostatische Pneumonie,
Herzschwäche hinzu, und nach ca. zweimonatlichem Krankenlager
trat uuter diesen Erscheinungen der Tod ein.
Pathologisch-anatomischer Befund. (Vgl. Tafel I, II, Fig. 5, 6.)
Das Schädeldach ist rundlich, oval, mässig dick, kompakt. Die Dura
ist gespannt, gerötet. In den Sinus flüssiges Blut. Die Pia der Konvexität
gespannt, längs der Gofässe etwas verdickt, zart, trocken, blutreich, die Gyri
etwas abgeplattet. Die basalen Hirnanteile sind ebenfalls etwas abgeplattet
und blässer.
1) Dieser Umstand gab in diesem Stadium Veranlassung, die Diagnose
einer Eocephalitis (des rechten Stirnhirns bezw auch des Balkens) zu stellen.
3) Ich füge diesen un, um zu zeigen, wie sehr späterhin die Allgemein-
erscheinunzen des Tumors das Krankheitsbild veränderten, anderseits zu
dokumentieren, dass die früher deutlich allein bestehenden Motilitäts-
erscheinungen unabhängig hiervon aufgetreten waren.
118 Hartmann, Beiträge zur Apraxiolehre.
In den Ebenen des Mittelstückes der vorderen Kommissur
zeigen sich dem Balken aufgelagerte Geschwulstmassen, welche
etwa 0,5 cm hoch und breit den Gyrus cinguli nach aufwärts
verdrängen, gleichzeitig findet sich das Septum pellucidum ein-
genommen von einem in den linken Ventrikel einragenden, knapp
1,5 cm breiten, 2 cm hohen und 2 cm im sagittalen Durchmesser
messenden flachscheibenförmigen Tumor.
Unmittelbar nach hinten hat der supracallöse Tumor den
Balken fast vollkommen durchsetzt und finden sich nur an der
dem Ventrikel zugewendeten Begrenzung Bündel schlecht färb-
barer Fasern. Der Tumor überschreitet in seiner Breite nicht
die seitlich ausladenden Ecken des Ventrikels, hält sich vielmehr
noch fast 1 cm nach innen vom Fasciculus subcallosus. Der
Balken erscheint noch einmal so hoch am Frontalschnitte als de
norma. Der Tumor greift in den hinteren Ebenen des Linsen-
kernes auf die dem Balken zugekehrten Teile des linken Gyrus
cinguli über. In den hintersten Balkenebenen verbreitet sich der
Tumor (es sind dies die weichsten, blutreichsten, offenbar jüngsten
Gebilde desselben) noch auf die mediale Hemisphärenwand des
linken Gehirnes bis nahe an die Fissura calcarina (diesem Weiter-
wachsen des Tumors entsprechen ersichtlich die im späteren Ver-
laufe der Erkrankung zugewachsenen sensorischen Symptome.
Eine ins Detail gehende Schilderung der sekundär-degenerativen Ver-
änderungen soll nicht im Rahmen dieser Arbeit abgehandelt werden,
und behalte ich mir dieselbe für einen späteren Zeitpunkt vor.
Es soll nur, was auch an den dieser Abhandlung beigegebenen
Schnitten ersichtlich ist, festgestellt werden, dass die Zentral-
windungen und ihre Projektionsbahnen nicht nur nicht primär
tangiert erscheinen, sondern auch nur insofern sekundäre Ver-
änderungen aufweisen, als Balkendegenerationen in dieselben ver-
folgbar sind.
Besonders ausgesprochen sind solche noch in dem vor dem
Tumor gelegenen Balkenareale ersichtlich (Fig. 5), woselbst auch
das Markblatt des linken Cingulums, weniger das des rechten,
gelichtet erscheint.
In der Höhe des Arm- und Beinzentrums finden sich aus-
gesprochene sekundäre Degenerationen besonders im Marklager
der rechten, weniger, aber doch deutlich nachweisbar der linken
Zentralwindungszone, deren Zusammenhang mit den vom Balken
ausgehenden Degenerationsfeldern nachzuweisen ist. (Fig. 6.)
Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass auch in diesem
Falle der anatomische Nachweis erbracht werden konnte, dass die
hervorstechenden Symptome nicht durch eine primäre Schä-
digung der Zentralwindungen und ihrer langen Pro-
jektionsbahnen erzeugt wurden.
(Schluss im nächsten Heft.)
Jacobsohn, Ueber Cysticercus cellulosse cerebri oto. 119
Ueber Cysticercus cellulosae cerebri et musculorum,
mit besonderer Berücksichtigung der den Parasiten
einschliessenden Kapselwand.
Von |
L. JACOBSOHN,
Berlin.
(Hiersu Tafel III—VIII.)
Vor mehreren Jahren hatte ich durch die Freundlichkeit
eines meiner Schüler, Herrn Dr. Tanıguchi aus Japan, Ge-
legenheit, Präparate von Distomum cerebri zu sehen, die er in
meinem Laboratorium angefertigt hatte. Die Eigenschaften der
Kapselwand dieses in Japan häufig beim Menschen vorkommenden
Parasiten erweckten den Anschein, als ob es sich bei diesen
Wandbestandteilen nicht ausschliesslich, der üblichen Annahme
gemäss, um reines Bindegewebe handelt, sondern als ob diese Kapsel-
wand eine durch Entzündung stark veränderte Gefässwand sei.
Herr Dr. Taniguchi hat alsdann auch in der über diesen Gegen-
stand handelnden Arbeit!) den Bau dieser Kapselwand näher
beschrieben und die Umstände erläutert, welche zu der erwähnten
Vermutung geführt haben. Indessen weiter als bis zu dieser
Vermutung konnten die Präparate nicht führen, ein vollgältiger
Beweis für diese Anschauung war nicht zu erbringen.
Es war mir deshalb von grossem Interesse, als ich durch
die grosse Liebenswürdigkeit meines Freundes Prof. L. Minor aus
Moskau Gehirn- und Muskelstücke einer an Cysticerkose ver-
storbenen Patientin erhielt. Die grosse Zahl der in diesen Stücken
vorhandenen Cysten und die relative Kleinheit der meisten der-
selben liessen von vornherein vermuten, dass man bei mikro-
skopischer Bearbeitung des Materials der Entscheidung der auf-
geworfenen Frage vielleicht näher kommen dürfte.
Der Krankheitsfall selbst ist klinisch von Herrn Dr. Preo-
braschensky aus Moskau beobachtet und im Korsakoffschen
Journal für Psychistrie und Neurologie 1904 publiziert worden.
In dieser Arbeit finden sich auch Angaben über den makro-
skopischen Sektionsbefund nebst zwei Abbildungen, welche die
ausserordentliche Cysticerkeninvasion im Gehirn und im Herz-
muskel veranschaulichen?). Ferner sind in der Arbeit auch An-
1) Taniguchi, Ein Fall von Distomum-Erkrankung des Gehirns etc.
Arch. f. Payoh. Bd 38. H.1.
23) Fig. 1, Taf. III, ist die Reproduktion einer dieser genannten Ab-
bildungen.
120 . Jacobsohn, Ueber Cysticercus cellulosae cerebri
gaben über den mikroskopischen Befund gemacht worden, welche
aber diejenigen Punkte, die hier näher erörtert werden sollen,
nicht betreffen. Beiden Herren sage ich für die Ueberbringung
des Materials und für die Ueberlassung desselben zu wissen-
schaftlicher Bearbeitung meinen besten Dank.
Nach einem, von Herrn Dr. Kron-Moskau erstatteten
Referat über diesen Fall handelt es sich um eine 28jährige
Bäuerin, die am 21. V. 1908 ins Hospital aufgenommen wurde.
Anfang Januar 1903 lag sie 1!/, Wochen wegen „Febris typhoidea“
in einem Krankenhaus. Eine Woche nach der Entlassung aus
letzterem traten die Erscheinungen wieder auf und veranlassten
Pat., abermals das Krankenhaus aufzusuchen. Letzteres verliess
sie nach einem Monat mit deutlichen Zeichen von Gedächtnis-
schwäche. Seit dieser Zeit leidet sie an schnell vorübergehenden
Ohnmachtsanwandlungen, an allgemeiner Schwäche und psychi-
schen Störungen. Diese Erscheinungen nahmen zu, weshalb sie
ins Hospital eintrat. Während des Krankenaufenthaltes wechselten
die Symptome bloss in ihrer Intensität. Es zeigten sich dort
folgende Erscheinungen: Gedächtnisschwäche, Verwirrtheit, Illa-
sionen, Halluzinationen und flüchtige Wahnvorstellungen. Hin und
wieder traten Ohnmachtsanfälle oder Konvulsionen auf. Patientin
geht oder sitzt bloss mit Unterstützung. Abgesehen von einer
2—83 Tage dauernden Lähmung des linken N. Abducens, bestanden
keine Paresen. Es bestand Stauungspapille ohne Sehschwäche.
Die Patellarreflexe waren bald normal, bald schwer auslösbar. Im
Dezember trat Verschlechterung des Allgemeinbefindens und Zu-
nahme der psychischen Störungen ein. Gegen Ende der Krank-
heit entwickelte sich eine akute Tuberkulose. Exitus am 16. I. 1904.
Autopsie: Cysticercus cellulosae disseminatus im Cerebrum
und in allen Muskeln (auch in Herz und Lunge), Tuberculosis
scuta pulmonum. Auf der Oberfläche der rechten Grosshirn-
hemisphäre waren etwa 250 Blasen zu sehen, auf der linken
ea. 270; in der Hirnsubstanz ungeheuer viele. Auf jedem Frontal-
schnitt über 100 Blasen (Fig. 1, Taf. III). Die Gesamtzahl der Blasen
in beiden Hemisphären beträgt einige Tausend, es fanden sich auch
Blasen im Plexus vasculosus, im Pedunculus cerebri, im Pons,
in den Corpora quadrigemina und im Cerebellum. Dagegen waren
in der Medalla oblongata und spinalis keine Blasen zu finden.
Auf der Herzoberfläche sassen etwa 120 Blasen, in der Herz-
muskulatur mehrere hundert Blasen. In allen Muskeln, in den Kau-,
Gesichts-, Zungen-, Hals-, Brust-, Rücken-, Bauch-, Diaphragma-
und Extremitätenmuskeln waren massenhaft Cysticerkenblasen.
Eine Blase wurde unter der Magen- und eine andere unter der
Dünndarmschleimhaut gefunden. Im Unterhautzellgewebe waren
keine Blasen. Preobraschensky hebt die auffallende Tatsache
hervor, dass trotz der kolossalen Invasıon im Gehirn keine Lokal-
symptome vorhanden waren.
Soweit das Referat über die Arbeit von Preobraschensky.
et muscalorum, mit besonderer Berücksichtigung etc. 121
Von den mir übergebenen Stücken aus Hirnrinde und. von
Muskeln fertigte ich Serienschnitte an, um den Bau der Cysticercus-
blase etwas näher kennen zu lernen. Die meisten Schnitte wurden
nach van Gieson gefärbt, einzelne auch mit Eosin-Alaun-Häma-
toxylin, nach Weigerts Färbung der elastischen Fasern und nach
der Weigert-Palschen Markscheidenfärbung.
Betrachtet man einen dieser Schnitte mit dem blossen Auge
oder mit der Lupe (Fig.2, Taf. III), so hat er eine gewisse Aehnlichkeit
mit dem als Schweizer Käse (fromage de gruyère) bezeichneten Zu-
stand. Es finden sıch nämlich auf dem Schnitt zahlreiche, meistens
rundliche, aber auch etwas anders gestaltete, grössere und kleinere,
bald eng aneinander, bald etwas entfernt voneinander liegende
Löcher. Der Unterschied zwischen dem eigentlichen Schweizer-
käsezustand (oder der von Hartmann benannten cystischen
Degeneration) und dem vorliegenden besteht darin, dass hier die
Löcher nicht leer sind, sondern als Inhalt den Durchschnitt des
Cysticercus enthalten, und dass die Wand der Löcher nicht ein-
fach Gehirnmasse ist, sondern dass sich eine wirkliche, bald dicke,
„bald dünne, bald glatte, bald gewundene Kapselwand findet.
Wenn viele Löcher, wie auf der Abbildung (Fig. 2, Taf. III)
ersichtlich ist, entweder ganz leer sind oder ausser der Kapselwand
nur eine dünne, hüllenartige Membran enthalten, so liegt das daran,
dass einzelne Oysticerken schon in der Härtungsflüssigkeit aus
den Löchern herausgefallen waren, und dass auch bei den. vielen
Manipulationen, denen später die Schnitte unterworfen wurden,
einzelne Cysten ihren Inhalt einbüssten. In einem grossen Teil
der Cysten war der Cysticercus nicht mehr erhalten, sondern
nur ein grösserer oder kleinerer Haufen von Trümmerresten lag in
der Kapsel drin (Fig. 8, Taf. III). Einzelne Cysten liegen so nahe,
dass sie nur noch durch eine Membran voneinander getrennt sind,
mehrfach ist auch diese schon durchbrochen, so dass zwei oder
mehrere Cysten ineinander übergehen und eine einzige, viel-
gestaltige Uyste aus ihnen entsteht (Fig. 2, Taf. IN).
Die Kapselwand hat sich an vielen Cysten nicht überall
gleichmässig ausgebildet. Neben geringeren Unterschieden an fast
jeder Cyste findet man an einzelnen, dass die Kapselwand sich
z. B. an einer Stelle ungemein verdickt hat, während an anderen
das Gegenteil, eine Art Atrophie, eingetreten ist. Diese Atrophie
kann so stark sein, dass dann überhaupt jede Spur von Kapsel-
wand fehlt. Wahrscheinlich durch postmortale Veränderungen
(auch durch die Einwirkung verschiedener, zum Härten etc. be-
nutzter Rengentien) zeigt dann die benachbarte Hirnsubstanz
unregelmässige Einrisse, die der Cyste den sonst in sich abge-
schlossenen Charakter nehmen (Fig. 2, Taf. III).
Sehen wir einstweilen von der Beschaffenheit der Kapsel-
wand ab und betrachten zunächst den Bau der in der Kapsel
gelegenen Cysticercusblase. Da diese Blasen in vielen wohler-
haltenen Exemplaren in den uns zur Verfügung gestellten Stücken
122 Jacobsohn, Ueber. Oysticereus cellulnsae cerebri
vorhanden waren, so konnte der Bau dieser Blase gut studiert
werden. |
Es wurden zum Zwecke einer genautn Einsichtnahme Serien-
schnitte durch das Hirnstück, welches ich erhalten hatte (und
welches nach seiner inneren Konfiguration dem Corpus striatum
nebst angrenzender äusserer Kapsel und Insel entsprach), gelegt.
Betrachtet man einen Schnitt, welcher die Cysticercusblase
etwa durch die Mitte ihrer Längsachse getroffen hat (Fig. 4, Taf. III),
so hat man folgendes Bild: Der Kapselwand liegt eine lockere,
schmale Hülle (a) ziemlich dicht an. Diese äussere Hülle geht
an einem Pole (d) in eine innere Hülle (b) über. In dieser
letzteren liegt der Hauptteil des Cysticercus (c) mit Kopf und
Saugnüpfen. Die innere Hülle (b) liegt als eine kleine, eiförmige
Blase in der grösseren äusseren Hülle, und da sie an einer Stelle (d)
unter spitzem Winkel in letztere übergeht, so muss ihre Lage
zur äusseren Hülle exzentrisch sein. Da die innere Hülle wiederum’
den Cysticercuskopf etc. umschliesst, so ist dessen Lage natürlich
gleichfalls eine zur ganzen Blase exzentrische. Ein derartiges
Bild bekommt man allerdings nur, wenn der Schnitt, wie vorher
angegeben, durch die Längsachse des Oysticercus gegangen ist und
dabei seine Einstülpungsstelle (d) oder deren Nachbarschaft ge-
troffen hat. Ist das nicht der Fall, würde z. B. der Schnitt den
Cysticercus in der Verbindungslinie von b f, Fig. 4, Taf. IlI, ge-
troffen haben, so würde einmal die innere Hülle nicht exzentrisch ın
der äusseren, sondern ungefähr in der Mitte der letzteren liegen,
und ferner würden beide Hüllen vollkommen getrennt von einander
erscheinen. Ein solches Bıld bietet die in Fig. 2 in der Mitte
gelegene Cyste.
Während der Raum zwischen der inneren (b) und äusseren
Hülle (a), wenn der Schnitt die Cysticercusblase, sei es längs
oder quer, jedoch durch die Mitte trifft, stets erheblich gross ist,
ist derselbe nur klein, wenn der Schnitt der Einstülpungsstelle
des Cysticercus (d) nahe liegt. Ein solches Bild stellt ungefähr
Fig. 5, Taf. IV, dar. Dieses Bild zeigt, dass die beiden Hüllen a
und b in der einen unteren Hälfte a’ b’ eine einzige Hülle
ausmachen, während sie im oberen Teil durch einen schmalen
Spalt getrennt sind. Liegt der Schnitt noch näher dem Pole zu,
so ist der Cysticercus ringsherum nur von einer einzigen, aber
breiteren Hülle umgeben. Diese Hülle hat einen der Kapselwand
zugerichteten scharfen, dunkler gefärbten Rand (Fig. 5 a') und einen
dem Cysticercus zugewendeten, ebenso scharfen und ebenso dunklen
Rand (Fig. 5b’) und besteht ın ihrem inneren, zwischen den beiden
Randstreifen gelegenen Abschnitt aus ganz lockerem Gewebe.
Dieses lockere Gewebe, welches also am Einstälpungspol (Fig. 4d,
Taf. III) resp. dessen Nachbarschaft die beiden Randstreifen zu einer
gemeinsamen Hülle vereinigt, wird nun, walırscheinlich durch
Flüssigkeit, welche in ihre Maschenräume tritt, bei weiterem
. Wachstum des Cysticercus immer mehr gelockert. Schliesslich
werden die Maschenräume durch immer grössere Ansammlung
ot musculorum, mit besonderer Berücksichtigung etc. 123
von seröser Flüssigkeit so gross, dass sich weite Cysternen bilden,
die von einander nur durch feine, spinnwebeartige Septen getrennt
sind (Fig. 4, Taf. III bei a). Auf einem Durchschnitt durch die
Cysticercusblase erhält man dann den Eindruck, als wenn zwei
Hüllen den Cysticercus umgeben, während es, wie aus dem Gesagten
hervorgeht, in Wirklichkeit nur eine ist!), in deren inneres Maschen-
werk Flüssigkeit getreten ist und dadurch ihre Wände auseinander
getrieben hat. Dass dem so ist, erkennt man daraus, dass jede
dieser beiden Hüllen an den sich zugekehrten Flächen einen.
schmalen Saum von gleichartigem lockeren Gewebe enthält, dass
hier und da eine schmale Brücke von lockerem Gewebe von der
einen zur anderen Hülle hinüberführt, und dass in der Nähe des
Einstülpungspoles beide Säume zu einem gemeinsamen zusammen-
fliessen (Fig. 4d, Taf. lII, und Fig. 5a’ b', Taf. IV).
In diesen beiden, oder wenn man nach dem Auseinander-
gesetzten will, in dieser einen schlauchartigen und ringförmig ge-
bogenen Hülle liegt nun der Hauptbestandteil des Cysticercus ein-
gestülpt drin. Sehr einfach wird dies fürs erste durch Fig.5 und Fig.6,
Taf. IV, veranschaulicht. Der Hauptbestandteil des Cysticercus
ist hier der Kopf mit dem Hakenkranz und den vier Saugnäpfen.
Diese Gebilde, im Zentrum gelegen, sind von einer Scheide von
dichten, starken Fasern umgeben (Fig. 5f und 6f, Taf. IV), welche
nach aussen hin allmählich in lockeres Gewebe übergehen. Dieses
lockere Gewebe geht bei d (Fig. 5) in das gleichartige lockere Ge-
webe der den Üysticercus umfassendeh gemeinsamen Hülle über,
während der Uebergang auf der gegenüberliegenden Seite bei e,
da hier die gemeinsame Hülle in eine äussere und innere gespalten
ist, natürlich nur in die innere verfolgt werden kann. Dieses
lockere Gewebe umzieht aber auch ringsum den Bandwurmkopf
(Fig. 6d) und schliesst wiederum, wie es bei den vorher beschriebenen
Hüllen gewesen ist, mit einem schmalen, dunklen Rande (c) ab, und
«ieser Rand geht kontinuierlich in den homologen von b über.
Vergegenwärtigen wir uns, dass dieser Rand b an einer anderen
Stelle (Fig. 4d, Taf. III) in den Rand a übergeht, und dass a und b
die äusseren Flächen eines schlauchartigen Gebildes sind, dessen
Innenraum durch lockeres Gewebe erfüllt ist, so ergibt sich
daraus, dass an einer bestimmten Stelle dieses schlauchartigen
Gebildes, wo der Kopf des späteren Bandwurmes sich entwickelt,
eine Einstülpung eingetreten sein muss (Fig. 4d, Taf. III) und
dass in der dadurch entstandenen grubenartigen Aushöhlung der
Kopf sich empor entwickelt haben muss.
Hat nun der Schnitt die Oysticercusblase ungefähr in der
Mitte, sei es in der Längs- oder Querrichtung, getroffen (Schnitte,
wie sie durch die Fig. 4 veranschaulicht werden), so sieht man, dass
der Hauptbestandteil des Oysticercus ausser dem Kopf (derselbe
kann natürlich auch fehlen, wenn er auf dem Schnitt nicht gerade
mitgetroffen ist) noch eigenartige, wie vielfach gewundene Drüsen-
1) Auch diese ist, wie wir später schen werden, nur eine scheinbare Hälle.
124 Jacobsohn, Ueber Cysticercus cellalosae cerebri
gänge anssehende Gebilde enthält. Betrachtet man nun die einzelnen
otten dieser vermeintlichen Drüsengänge näher, so bestehen sie
aus einem dem Lumen des Ganges zugewandten scharfen, schmalen,
dunkler gefärbten Rande und einem sich anschliessenden lockeren
Gewebe. Der äussere, schmale Randsaum der zottenartigen Ge-
bilde gleicht vollkommen in seiner Breite, seiner Farbe, seiner
vollkommen homogenen Beschaffenheit demjenigen Rande, welcher
an den beiden, den Öysticercus einschliessenden Hüllen zu be-
obachten ist, und ebenso ist auch das lockere Gewebe in seiner
Art identisch demjenigen, welches an den beiden oder an der
einen gemeinsamen Hülle zu sehen ist. Der Hauptunterschied
in dem Bau dieser im Inneren des Cysticercus vorhandenen zotten-
artigen Gebilde und demjenigen der Hüllen besteht darin, dass
die Hüllen bis auf ihre Umschlagstellen (Fig. 4d) eine ziemlich
glatte, gestreckte Oberfläche haben, wälırend die Zotten im Inneren
vielfältig gewunden sind, und ferner darin, dass das lockere Gewebe
in den Zotten nicht so stark gelockert ist wie in den Hüllen,
weil es noch von etwas derberen Faserzägen, die von der derben
Scheide (siehe vorher) ausgehen und in die einzelnen Zotten
hineineinstrahlen, fester zusammengehalten wird. Während nun
in sehr vielen Schnitten diese, im Inneren des Cysticercus gelegenen
drüsenartigen Gänge von dem Raume getrennt erscheinen, der
zwischen innerer Hülle Fig. 4b und dem Hauptbestandteil des
Cysticercus (Fig. 4c) liegt, sieht man an anderen Schnitten, besonders
an solchen, die in der Nähe der beiden Pole geführt sind, dass diese
Gänge in diesen erwähnten Raum einmünden (Fig. 7d, Taf. IV).
Diese Schnitte im Verein mit solchen, welche durch die Ein-
stülpungsstelle gelegt sind, geben zusammen mit dem Umstande,
dass die gewundenen, zottenartigen Gebilde im Inneren des Oysti-
cercus in ihrem Bau vollkommen demjenigen der Hüllen gleichen,
den Schlüssel, wie die auf den einzelnen Schnitten etwas kompli-
ziert aussehenden Bilder zu deuten sind, d. h. welche Wandlungen
die Cysticercusblase in ihrem weiteren Wachstum in ihrer äusseren
Gestalt durchmacht, um sich in einem abgeschlossenen Raume
möglichst ausbreiten zu können.
Die aus dem Ei der Taenia sich entwickelnde Onkosphäre,
welche auf dem Wege der Blutbahn ins Gehirn verschleppt wird,
stellt ein längliches, schlauchartiges Gebilde dar. Dieses Gebilde
besteht nur aus einer äusseren glatten Haut und entbält im
Inneren ein mit Flüssigkeit erfülltes lockeres Gewebe. Dieses
schlauchartige Gebilde hat ausserdem an einem Ende die Anlage
für den späteren Kopf. Kopf- und Schwanzende des Schlauches
krümmen sich so gegen einander, dass sie einen nicht vollkommen
geschlossenen Ring bilden. Bei weiterem Wachstum wandert der
Kopf in den Innenraum des Ringes hinein, den schlauchartigen Leib
immer nach sich ziehend und diesen Innenraum in hundertfältig ver-
schiedenen Windungen durchmessend. Der King bildet schliesslich
eine gleichmässige mantelartige Umhällung der in seinem Innern
gelegenen vielfachen Windungen. Indem der Ring, der also das
et musculoram, mit besonderer Berücksichtigung éte. 125
eaudale Ende des schlauchförmigen Parasiten darstellt, viel
Flüssigkeit in seinem lockeren Gewebe aufnimmt, trennt sich seine
äussere Lamelle mehr und mehr von seiner inneren. Zwischen
beiden bildet sich ein weiter, blasenförmiger Raum, der den grössten
Teil der Oysticercusblase ausmacht. Dieser Raum verengert sich
nur an derjenigen Stelle, an welcher der Kopf in den Innenraum
des Ringes eingewandert ist (Einmündungsstelle Fig. 4d, Taf. III).
Durch diese Aufblähung des Ringes zu einer grossen Blase kommt
es zuwege, dass nur seine innere Lamelle dem gewundenen Parasiten
anliegt, während die äussere Lamelle durch einen weiten Raum
von ihm getrennt ist. Diese Lamellen des Ringes scheinen später
einem regressiven Prozess anheimzufallen, insofern die beiden
Schichten schmäler und lockerer werden, als diejenigen der im
Inneren gelegenen gewundenen Einfaltungsgänge des Cysticercus.
Nur das muss man festhalten, dass diese Hüllen weiter nichts
sind, als das Ende des Cysticerkenschlauches.
Ausser den genannten beiden Bestandteilen des Cysticercus-
schlauches (natürlich abgesehen vom Kopf), nämlich des äusseren,
schmalen, glatten, sich dunkel färbenden Randstreifens und der
inneren Zone von lockerem Gewebe, erwähnte ıch schon, dass in dies
lockere Gewebe sich noch Büschel von starken Fasern ergiessen,
welche besonders die Kopfregion mit einer starken Scheide um-
schliessen (Fig.5f und 6f, Taf.IV). Man findet ferner in dem lockeren
Gewebe eigentümliche, sich mit Alaunhämatoxylin stark violett
färbende, kleine, ovale Körperchen liegen, die insgesamt das Bild
von kleinen, im Streu liegenden Eiern gewähren. Diese kleinen,
eierartigen Gebilde trifft man auch vielfach an der Stelle, wo der
freie Rand der inneren Hülle in den freien Rand des eingestülpten
Cysticercus umschlägt (Fig. 6g, Taf. IV). Ja, bisweilen liegen sıe in
der blindsackartigen Einstülpung der Umschlagstelle selbst drin, so
dass es den Anschein hat, als ob sie vom Cysticercus ausgestossen
worden sind. Man trifft dann weiter grössere, rundliche, mit
Alaunhämatoxylin sich gleichfalls stark färbende Gebilde sowohl
in den Einfaltungskanälen des Cysticercus, als auch in dem Raum
zwischen innerer Hülle und eingestülptem Cysticercus, als schliess-
lich zwischen äusserer Hülle und Kapselwand an. Die Gebilde
haben einen konzentrischen Bau, und wenn sie zwischen äusserer
Hälle und Kapselwand liegen, kerben sie erstere an der Stelle
buchtartig ein (Fig. 8, Taf. IV). Wenn mehrere derartige Gebilde in
gewissen Abständen zwischen äusserer Hülle und Kapselwand liegen,
so macht es den Eindruck, als ob erstere sich gleichsam an ihnen
fest verankert hat. Es handelt sich bei diesen Gebilden wahr-
scheinlich um Ausscheidungsprodukte des Cysticercus. Welcher
Natur aber dieselben sind, konnte nicht ermittelt werden. Hat
die Kapselwand einen etwas zerklüftet lamellösen Bau, so kann
man sie auch einzeln zwischen diesen Lamellen liegend finden.
Ueber den Bandwurmkopf und die Saugnäpfchen habe ich
nichts Besonderes zu sagen. Die Figg. 6, Taf. 1V, und 9, Taf. V,
geben das bekannte Bild dieses Kopfes wieder. Auch vetzichte
126 Jacobsohn, Ueber Cysticercus cellulosae cerebri
ich hier auf eine noch genauere Beschreibung der einzelnen
Schichten, die in den Hüllen und im Inneren des Cysticercus
einzelne Besonderheiten haben.
Der anatomische Bau des Cysticercus in der Muskulatur ist
genau derselbe, wie im Gehirn (Fig. 10, Taf. V). Hervorzuheben
wäre nur, dass der Zwischenraum zwischen der sog. äusseren
und inneren Hülle des Cysticercus in der Muskulatur ein bei
weitem grösserer ist, als im Gehirn. Die Ursache liegt wohl
daran, dass das lockere Muskelgewebe der Ausdehnungsfähigkeit
dieses Raumes viel geringeren Widerstand entgegensetzt, als die
kompakte Hirnsubstanz.
Bevor ich die Beschreibung des anatomischen Baues des
Cysticercus abschliesse, möchte ich noch einen Punkt etwas näher
erörtern, der mir des Interesses wert erscheint. Der Umstand,
dass viele Cysticerken frisch erhalten waren, im Verein mit dem-
jenigen, dass Serienschnitte angelegt waren, brachte Aufschluss
darüber, in welcher Art die Ernährung des Parasiten in dem Wirte,
in dem er sich angesessen, vor sich geht.
Sieht man die Serie durch, so begegnet man einzelnen
Präparaten, ın welchen die äussere Hülle entweder an der Ein-
buchtungsstelle oder in deren Nachbarschaft (zuweilen kann es
such in einiger Entfernung von dieser Stelle sein) einen regel-
mässig und vielfach eingekerbten Rand zeigt. Kleine hügelartige
Erhabenheiten wechseln gleichmässig mit ebenso leichten Ein-
buchtungen ab. Diesen leichten Einbuchtungen der äusseren
Hülle des Cysticercus entsprechen kleine kegelförmige Hügel,
welche sich von der gegenüberliegenden Wand der Kapsel er-
heben und sich in die Einbuchtungen der äusseren Hülle hinein-
legen (Fig. 11, Taf. V). Mündet gerade die Einfaltungsöffnung des
Cysticercus in diese Ansaugungsstelle des Cysticercus, so legt
sich ein grösserer Hügel der Kapsel zungenartig in diese Ein-
faltungsöffnung hinein (Figg. 11 u. 12, Taf. V). Die Kapselwand an
dieser Ansaugungsstelle des Cysticercus zeigt gewöhnlich einen
locker lamellösen Bau. Zwischen den einzelnen Lamellen liegen
entweder ganz feine Blutgefässe, welche strotzend mit Blut gefüllt
sind, oder aber die Blutkörperchen liegen gedrängt in den Maschen
zwischen den Lamellen. Ausserdem liegen zwischen diesen
Lamellen auch grosse rundliche Elemente, welche einen ganz
kleinen Kern enthalten, sonst aber von fast homogener Beschaffen-
heit sind. Diese Elemente, d. h. massenhaft Blutkörperchen,
zwischen welchen die grossen Elemente eingestreut liegen, erfüllen
nun auch die buchtenartigen grösseren und kleineren Räume
zwischen der äusseren Hülle des Cysticercus und der Kapselwand,
so dass man den Eindruck gewinnt, als ob an dieser Ansaugungs-
stelle einmal das Nährmaterial in den Üysticercus übergeführt,
gleichzeitig aber auch die Absonderungsstoffe aus ihm heraus-
geschafft werden. Der ganze Bau dieser Ansaugungsstelle erinnert
etwas’an das Chorion der Säugetiere.
et musculorum, mit besonderer Berücksichtigung etc. 127
Ich habe den Bau des eingefalteten Cysticercus hier etwas
näher beschrieben, obwohl ich annehme, dass dies von seiten der
Zoologen schon genugsam geschehen ist, weil der Mediziner wohl
selten Gelegenheit hat, frische, wohlerhaltene Exemplare dieses
Parasiten zu untersuchen.
Indessen, das Hauptinteresse dieser Arbeit ist nicht dem Bau
des Cysticercus zugewandt gewesen, sondern der Kapsel, welche
ihn umschliesst. Dieser Gegenstand hat insofern ein allgemeineres
Interesse, als die Kapselwand wie hier, so auch bei manchen anderen
nicht infektiösen embolischen Prozessen sich wahrscheinlich aus
den gleichen Elementen zusammensetzen wird. Diese Kapselwand
scheint mir, um es gleich vorweg zu sagen, bei vielen Cysticerken
nichts anderes als die veränderte Gefässwand zu sein, in welche
hinein der Fremdkörper verschlagen wurde, und die sich seh» ver-
schieden verändert, je nachdem der Cysticercus nur leicht reizend,
oder reizend und die Kapselwand erweiternd, oder schliesslich stark
entzündungserregend wirkt,
Sehen wir uns nun einmal die Kapselwand in diesem Falle
von Cysticerkenembolie des Gehirns an.
Die Kapselwand hebt sich durch ihre dunkle Färbung stets
ganz scharf von der äusseren Hülle des Cysticercus ab, so dass
sie mit letzterer gar nicht zu verwechseln ist. Es tritt dies besonders
hervor, wenn die äussere Hülle mehr oder weniger sich gefaltet
und von der Knpselwand abgehoben hat (Fig. 5, Taf. IV); ebenso
deutlich in Cysten, deren Inhalt in Trümmer zerfallen ist und in
denen die Trümmer bald in grösserer Menge (mit Haken dabei)
angehäuft sind (Fig. 8, Taf. III) oder sich nur noch in Spuren der
Kapselwand anhaftend vorfinden (Fig. 18). Aber auch in solchen
Cysten, wo die äussere Hülle des wohlerhaltenen Cysticercus der
Kapselwand anliegt (Fig. 4, Taf. III, und noch mehr Fig. 14, Taf. VI),
hebt sich letztere durch ihren viel dunkleren Farbenton vor der
ersteren scharf heraus, und ist auch zwischen beiden gewöhnlich an
dieser oder jener Stelle ein feiner Spalt erkennbar, der diese beiden
Elemente von einander trennt.
Die Kapselwand wird also nicht, wie von vielen Autoren
angenommen wurde, von Bestandteilen des Oysticercus gebildet!).
Wenn aber nicht aus Elementen des Parasiten, woraus bildet
sich die Kapselwand dann? Auf diese Frage geben die Präparate
dieses Falles, wie ich glaube, eine ziemlich deutliche Antwort.
Die Kapselwand ist entweder von ziemlich gleichmässiger,
glatter Beschaffenheit und von mittlerer Dicke, wenn die Cysti-
cercusblase frisch erhalten ist und ihr dicht anliegt (Fig. 4, Taf. IIl;
Fig. 8, Taf. IV; Fig. 14, Taf. VI) oder aber sie zeigt ein ge-
fultetes Aussehen und ist dann von wechselnder Dicke, wenn die
äussere Hülle des Cysticercus sich zusammengefaltet hat (Fig. 5,
1) Was bier vom Cysticercus gesagt wird, gilt wahrscheinlich auch für
die anderen Parasiten.
128 Jacobsohn, Ueber Cysticercas cellulosae cerebri
Taf. IV) oder wenn der Oysticercus abgestorben und in Trümmer
zerfallen ist. In den letzteren Fällen hat sie bald ein kompaktes,
schichtenartiges Gefüge (Fig. 13, Taf. VI) oder sie zeigt einen etwas
locker lamellösen Bau (Fig. 8, Taf. III). Schliesslich findet man
einzelne Cysticerken, die nur zum kleinsten Teil in einer Kapsel
zu liegen scheinen, während der grösste Teil in einem nur in der
Gehirnsubstanz befindlichen Loche zu stecken scheint. Sieht man
sich den Rand dieses Loches aber etwas näher an (Fig. 15 und
Fig. 16, Taf. VI), so findet man auf grössere oder kleinere Strecken
Reste einer vorhanden gewesenen Wand, die als feine geschlängelte
Lamelle sich erhalten hat.
Zur Färbung wurde, einzelne Präparate ausgenommen, durch+
gehend das van Giesonsche Farbgemisch benutzt. Dieses Ge-
misch hat bei einfachster technischer Anwendung den unvergleich-
lichen Vorteil, die verschiedenen Gewebsarten durch einen anderen
F arbenton herauszuheben und dadurch als solche kenntlich zu
machen.
Von Elementen, welche als Bausteine der Kapsel gedient
haben konnten, kamen im Gehirn in Betracht: erstens die Neuroglia,
zweitens die Gefässe, drittens das adventitielle Bindegewebe. Da die
Kapselwand der Muskelcysticerken ungefähr den gleichen Bau auf-
wies, wie diejenige der Gehirncysticerken, so war eine Be-
: teiligung der Neuroglia schon von vornherein ausgeschlossen,
ausserdem fand sich nach dieser Richtung auch kein Anhaltspunkt.
Es konnten also als Bausteine der Kapsel nur die Gefässe
resp. das adventitielle Bindegewebe in Betracht kommen. Hier-
bei war also zu entscheiden, ob das Material, aus welchem die
Kapsel besteht, von der ganzen Gefässwand oder nur von einem
bestimmten Gewebsteil derselben, speziell von dem adventitiellen
Bindegewebe, gebildet wird.
Betrachtet man den Durchschnitt, Längs- oder Querschnitt
nach von Gieson gefärbten Gefässen, so kann man an ilınen
gewöhnlich 3 Schichten wahrnehmen, die sich durch einen anderen
Farbenton von einander abheben. Die lockere Adventitia zeigt
einen scharlachroten Farbenton mit einem starken Stich ins
Violette, die feste, je nach der Grösse des Gefässes verschieden
starke Media zeigt einen gelblich oder gelblich-bräunlichen Ton
und die bei kleineren Gefässen aus einer scharfrandigen Lamelle
mit Endothelzellen besetzte Intima einen blassgelblich-rosa-
farbenen Ton.
Vergleicht man mit diesem Aussehen der Gefässwände das-
jenige der Kapselwand, so findet man in einzelnen auch einen
dreischichtigen Bau, wobei alle Schichten gewöhnlich durch starke
Wucherung verbreitert sind (Fig. 17, Taf. V11). Zu innerst gegen das
Lumen, zuweilen mit einem scharfen Rande abschneidend, eine.
verdickte und leicht gewundene Lamelle; auf diese folgt eine
breite, bei schwächerer Vergrösserung wie porös aussehende,
gelblich-bräunliche Zone und auf diese eine noch breitere, bald
et musculoram, mit besonderer Berücksichtigung etc. 139
einschichtige, bald mehrschichtige Zone von scharlachroter Fär-
bung. Diese letztere Zone ist entweder von ganz kompaktem
Gefüge oder aber von lockerem Bau, oder schliesslich teils von
lockerem, teils von festem Gefüge, wobei die lockere gewöhnlich
die am meisten peripher gelegene Zone einnimmt und in das
lockere Gewebe der Nachbarse aft übergeht. Am besten aus-
geprägt fand ich diesen dreischichtigen Bau an einzelnen Kapseln
r Muskelcysticerken (z. B. Fig. 17). Dieser dreischichtige Bau
findet sich nber niemals im ganzen Umkreis der Kapsel, sondern
immer nur an einem mehr oder weniger grossen Abschnitt der-
selben. Häufig sieht man, wenn man den Umkreis der Kapsel
verfolgt, dass sich die Kapselwand nach der entgegengesetzten
Richtung zu (also auf dem Querschnitt nach dem anderen Pole zu)
verschmälert (Fig. 10, Taf. V). Die innerste Lamelle verschwindet
anz, ist wenigstens nicht deutlich zu erkennen; die mittlere
chicht reduziert sich langsam zu einer schmalen, gelblich-bräun-
lichen Schicht, und auch die äussere Zone hat sich zu einer
schmalen, festen Schicht gleichsam zusammengedrückt und geht
in das intermuskuläre lockere Bindegewebe über. Diese beiden
letzten Schichten können sich bis auf ganz schmale, aneinander-
gepresst liegende glattwandige Lamellen reduzieren, wobei häufig
noch die äussere über die innere herübergelagert ist, so dass die
mittlere gelbe schwer oder an einzelnen Stellen überhaupt nicht
zu erkennen ist.
Im Vergleich mit dem Querschnitt von daneben im lockeren
intermuskulären Bindegewebe liegenden Gefässen geht man wohl
nicht fehl, wenn man die innere, leicht gewundene Lamelle der
gewucherten Kapselwand mit der Intima, die porös aussehende
gelblich-bräunliche Schicht mit der Media und die äussere
scharlachrote, bald kompakte, bald lockere Schicht mit der Ad-
ventitia identifiziert. Diese Schichten erfahren auf der einen
Seite durch Wucherung eine sehr starke Verbreitung, wührend
an anderen Stellen eine leichte Verschmälerung durch einfache
Ausdehnung erfolgt. Diese verschmälerten Stellen sind es vor-
nehmlich, die zumal im Muskelgewebe zuerst beim Betrachten
Zweifel erwecken, ob man es mit einem Gefässlumen zu tun hat
oder ob es sich einfach um Muskelfasern handelt mit angrenzen-
dem Bindegewebe, zwischen welchen der Cysticercus sich einfach
hineingelegt und weiter entwickelt hat.
Die Kapselwand der Gehirncysticerken ist in einzelnen
Exemplaren ähnlich gebaut wie bei den Muskelcysticerken (Fig. 13,
Taf. VI) aber nicht in ihrem ganzen Umfange, sondern nur an
einzelnen Stellen. In Fig. 18 zeigt die Stelle abc z.B, einen
mehrschichtigen Bau, während die Stelle e einen lockerlamellösen
darbietet, wogegen schliesslich die Stelle f erkennen lässt, wie
sich aus dem lamellösen Bau durch dichteres Zusammentreten
der Lamellen ein mehrschichtiger Bau ausbildet. Die innere
gelbliche poröse Schicht bei c dürfte der Media (im reinen Zu-
stand) entsprechen,. während die dicke, dunklere Schicht b einem
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 2. 9
130: Jacobsohn, Ueber Cysticercus cellulosae cerebri
Gemisch von Bestandteilen der Media und Adventitia entspricht,
weshalb der Farbenton dieser Schicht auch ein Gemisch von
Scharlachrot und Gelbbraun darbietet. Diese feste Schicht geht
dann nach aussen zu in das lockere perivaskuläre Bindegewebe a
über. Der inneren Schicht liegen an einzelnen Stellen Blutreste
und Trümmer des zerfallenen Öysticercas an (d).
" Während nun einzelne Kapselwände, wie eben geschildert,
keinen gleichmässigen Bau in ihrem. ganzen Umkreis darbieten,
ist dieser Bau bei anderen ein vollkommen gleichartiger, entweder
schmal glattwandiger (Fig. 4, 8, 10a, 14, 17) oder durchgehends
lamellöser. Letzterer Bau findet sich am häufigsten bei geschrumpften
oder in Trümmer zerfallenen Cysticerken (Fig. 3 und 20). Der glatt-
wandige. findet sich dagegen bei wohlerhaltenen Cysticerken, bet
denen sich derRaum zwischen den beschriebenen beiden Hüllen stark
erweitert hat. Die Kapselwand dieses glattwandigen Typus schliesst
nach innen, nach dem Lumen zu, mit einem scharfen Rande ab
(Fig. 8 und 14), an welchen sich der glatte Rand der äusseren
Hülle des Cysticercus anlegt. Mitunter liegt die Hülle der Wand
so dicht an, dass sie beide wie verklebt erscheinen, meistens aber
ist zwischen beiden doch ein feiner Spalt sichtbar. Die Wand solcher
Kapsel bildet ein schmales, kompaktes, festes Gefüge, nur nach
aussen zu lockert sie sich ein wenig auf. Betrachtet man sie bet
stärkerer Vergrösserung, so zeigt sıe in ihrer äusseren, nach der
Hirnsubstanz zugerichteten Zone einen lamellösen Bau, während sie
nach innen durch eine feste, schnurartige Membran abgeschlossen
ist. Diese schnurartige innere Membran erkennt man besonders
deutlich an einzelnen Stellen, wo sie sich zufällig etwas von der
übrigen Kapselwand abgehoben hat (Fig. 8), und sie bleibt wahr-
scheinlich auch als letzter Rest zurück, wenn die Kapselwand
atrophiert (Fig. 15 und 16). Die in der Nähe solcher glatt-
wandiger Kapseln gelegenen Gefässe (Fig. 14c) zeigen in ihrem
Bau und Farbenton eine solche Aehnlichkeit mit der Kapselwand,
(Fig. 14b) dass man schon durch diese Aehnlichkeit dahin geführt
wird, sie für gleichartige Elemente aufzufassen. An einzelnen Stellen
scheinen solche Gefässe sogar direkt in die Kapselwand hinein zu
münden (Fig. 18, Taf. VII). Diese plattwandigen Ka seln zeigen, wie
erwähnt, nur in ihrer äusseren Zone einen schichtenartigen Bau
aus einzelnen Lamellen. Letztere sind dünn und glattwandig.
Zwischen den Lamellen sind viele Blutkörperchen reihenartig ein-
gelagert. An diese Lamellen schliessen sich noch weiter nach
aussen dünne, mit Blut vollgepfropfte Kapillaren an.
Neben diesen Kapseln findet man andere, deren Wand einen
ganzgewundenen Verlauf zeigt. Auch hier zeigen einzelne eine ausser-
ordentlich grosse Aehnlichkeit mit stark erweiterten Gefässen. Man’
vergleiche z. B. Fig. 13 mit Fig. 19, Taf. VII. Die Wand solcher
Kapseln setzt sich aus einzelnen Lamellen zusammen, die ent-
weder dicht aneinander liegen (Fig. 5) oder ganz locker in kon-
zentrischer Art nebeneinander herlaufen (Figg. 3, 13, 20). Ob
diese locker lamellös gefügten Kapselwände dadurch entstehen,
et musculöram, mit besonderer Berücksichtigung etc. 181
dass die einzelnen Schichten des ursprünglich fest gefügten Ge-
fässes bei der weiteren Verwandlung etwas auseinandergetrieben
werden, wobei das adventitielle Gewebe stärker sich vermehrt,
oder ob diese lamellös gebaute Kapsel dadurch entsteht, ‘dass
immer neue Gefässsprossen in der Peripherie des anfänglich durch
den Embolus erweiterten kleinen Gefässes sich anreihen, ist nicht
sicher in allen Fällen zu entscheiden. Für den ersteren Ent-
stehungsmodus könnten z. B. Bilder, wie Fig. 19, sprechen, wo
man sieht, dass ein einfaches, nur erweitertes Gefäss, abgesehen
von den verschiedenen Dickendurchmessern, fast genau der Kon-
figuration einer Kapselwand entspricht (vergl. hierzu Fig. 13); für
den zweiten Entstehungsmodus sprechen Bilder, wie Fig. 8 oder
Fig. 20 sie darbieten.
Von den Kapselwänden mit diesem lamellösen Bau ist noch
zu erwäbnen, dass man besonders da, wo die Lamellen dicht
aneinander liegen, zwischen ihnen quer getroffene Gefässlumina
antrifit (Fig. 5), die bald leer, bald mit Blut gefüllt sind und die
wahrscheinlich vasa vasorum repräsentieren.
Hervorgehoben muss noch weiter werden, dass man auf
Querschnitten, die unmittelbar peripher vom Pol einer Kapsel-
wand liegen, eine Art Strahlenkrone von vielen, mit Blut voll-
gestopften Gefässen findet (Fig. 21, Taf. VIII).
Häufig liegt ein etwas stärkeres Gefäss im Zentrum, und
von diesem breiten sich kleinere radienartig nach aussen hin aus.
Extravaskuläre Blutungen waren nicht zu beobachten.
Elastische Fasern waren sehr spärlich und nur an ver-
einzelten Stellen der Kapselwand nachweisbar. Eine Elastica
interna war nicht zu beobachten. Bezüglich dieser Fasern ver-
hielten sich auch einzelne stark erweiterte Gefässe dieses Falles
sehr verschieden. An demjenigen, das z. B. in Fig. 15, Taf. VI,
abgebildet ist, waren elastische Fasern nur fragmentweise sichtbar,
während an demjenigen, welches in Fig. 19 abgebildet ist, eine
sehr starke Elastica besteht.
Immerhin war es bemerkenswert, dass ausser gelegentlich
hier und da doch zu beobachtenden spärlichen Resten solcher
Fasern in der Kapselwand letztere bei dieser Weigertschen
Färbung genau den diffus-violetten Farbenton zeigte, wie ihn die
Media und Adventitin der Gefässe darbieten, während die äussere
Hülle des Cysticercus bei dieser Färbung ganz blass gefärbt blieb.
Nach alledem was die Präparate dieses Falles zeigen,
unterliegt es für mich keinem Zweifel, dass die Kapselwand,
welche den Öysticercus einschliesst, nicht ausschliesslich binde-
gewebiger Natur ist, sondern dass sie in vielen Fällen eine ver-
änderte Wand des Gefässes ist, in welches der Parasit durch den
Blutstrom vertrieben wurde und in welchem er stecken geblieben
ist. Dieses Gefäss ist in der Mehrzahl der Fälle von kleinem
Umfange, es scheint in einzelnen Fällen dem Arteriensystem, in
anderen dem Venensystem anzugehören. Der Parasit im embryo-
133 Jacobsohn, Ueber Cysticercas cellulosas cerebri
nalen Zustande wird in manchen Fällen die Kapillaren des Gehirns
passieren (ebenso wie er die Lungenkapillaren passiert), und wird,
vermöge der Verlangsamung des Blutstromes, in einer kleinen
Vene stecken bleiben, und in dieser, falls er Subsistenzmittel
findet, sich weiter entwickeln, falls nicht in diesem oder jenem
Entwickelungsstadium zerfallen.
Dass die Kapselwand vielfach eine veränderte Gefässwand
ist, dafür sprechen 1. die äussere Aehnlichkeit zwischen beiden,
die in vielen Fällen geradezu verblüffend ist; 2. das Einmünden
von verstopften Gefässen in die Kapselwand, resp. der Um-
stand, dass sich am Pol der Kapsel regelmässig ein gröberes
und viele feinere verstopfte Gefüsse finden; 8. der Bau der
Kapselwand, der in einzelnen Fällen wie ein Gefäss, einen drei-
schichtigen Bau zeigt, der in vielen Fällen einen zweischichtigen
Bau zeigt, wobei diese Schichten bei der Färbung nach van Gieson
den gleichen Farbenton zeigen wie die beiden äusseren Schichten
(Media und Adventitia) der Gefässe; 4. das Vorhandensein, wenn
auch spärlicher elastischer Fasern und auch bei dieser Färbung
der gleiche Farbenton, wie ihn Gefässe hierbei aufweisen;
5. das Zuräckbleiben einer feinen, leicht gewundenen, schnur-
artigen Lamelle bei Atrophie der Gefässwand und das Bestehen
einer inneren, etwas stärkeren, einfachen Lamelle bei den glatt-
wandigen Kapseln.
Die äussere Hülle des Cysticercus, welche nach der voran-
gegangenen Analyse im Verein mit der innzren Hülle nichts
anderes ist, als das kaudale Ende der Cysticercusblase, nimmt an
der Kapselbildung nicht teil. Die äussere Hülle kann zuweilen
der Kapsel so dicht anliegen, dass sie wie verklebt mit ihr er-
scheint, aber meistens ist ein feiner Spalt zwischen beiden vor-
handen. Es kann allerdings nicht in Abrede gestellt werden, dass
hier und da die Verklebung dieser beiden Wandteile eine stärkere
sein kann, so dass einzelne Stücke auch bei späterer Verwandlung
des Cysticercus an der Kapselwand haften bleiben und dass, wenn
bei Zerfall des Cysticercus einzelne Bröckel an der Kapselwand
haften geblieben sind, sie bei der Weiterbildung der Kapselwand
gleichsam histologisch mit verarbeitet werden (Fig. 13). Das sind
aber nicht regelmässige Bestandteile der Kapselwand, sondern der
Grundbau derselben besteht aus den Elementen des Gefässes.
Es ist schliesslich noch zu erwähnen, dass, wenn die Kapsel-
wand sich nicht weiter entwickelt, wenn sie im Gegenteil atrophiert
und dann zerreisst, der Cysticercus auch in einzelnen Fällen aus
dem ursprünglichen Gefässlumen herausgehen und etwas in die be-
nachbarte Gehirnsubstanz eindringen kann (Fig. 22, Taf. VIII).
Dann bildet sich gewöhnlich nur an einer Hälfte eine neueKapsel und
zwar aus neu entstandenen kleinen Gefässen, deren Lamellen sich an-
einanderlegen. Dieser Austritt aus einem Gefässe geschieht wahr-
scheinlich oft, wenn der Parasit in ein Gefüss an der Peripherie
des Gehirns oder in eines in der Nachbarschaft der Ventrikel
verschlagen worden ist. Aber auch hier, wo der Cysticercus aus
et musculorum, mit besonderer Berücksichtigung ete. 133
der ursprünglichen Gefässkapsel heraustritt, bildet er sich eine
neue wiederum aus kleinen Gefüssen.
Es ist ferner nicht ausgeschlossen, dass die Wand des Gefässes,
in welches der junge Cysticercus verschlagen wurde, nicht nur
partiell, sondern in einzelnen Fällen auch total zur Atrophie kommt,
und dass dann die Kapselwand in ihrem ganzen Umfange aus neuge-
bildeten Gefässsprossen zusammengesetzt ist. Aber um es besonders
zu betonen, auch in diesen Fällen setzt sich die Kapselwand nicht
aus einfachem Bindegewebe, sondern aus Grefüsssprossen zusammen,
die sich lamellenartig aneinander reihen und bald locker geordnet,
bald dichter gefügt sind.
Wenn in einem Falle, in welchem der Cysticercus aus einem
Gefäss herausgetreten ist, keine Blutung erfolgt ist, so liegt das
daran, dass Biutungen doch nur da entstehen können, wo Blut-
flüssigkeit in Bewegung sich befindet; wenn nun ein Parasit ein
kleines Gefäss verstopft und verödet hat und dann dies Gefäss in
seiner Wand zerfällt und der Parasit heraustritt, so ist es ja natürlich,
dass kein Blut mit heraustritt, weil diese Stelle aus dem Blut-
kreislauf schon längst ausgeschaltet ist. Dass auch in den anderen
Fällen bei Verstopfung von Gefässen keine nennenswerten Infarkte
entstanden sind, liegt daran, dass im Gehirn, speziell in der
Hirnrinde, ein so ausgiebiger Collateralkreislauf vorhanden ist,
dass bei Verstopfung so kleiner Gefässe ein Abschneiden gewisser,
selbst kleiner, Hirnpurtien vom Blutlauf nicht eintreten kann.
Darin und in dem Mangel an stärkeren Entzündungserscheinungen
liegt auch der Grund, weshalb die Markfaserung der von mir
untersuchten Hirngegend keine nennenswerte Atrophie zeigte.
Zum Schluss möchte ich noch ein paar Worte über die
weiteren Veränderungen sagen, denen die Kapselwand des Cysti-
cercus (und wahrscheinlich auch anderer Gehirnparasiten) unter-
liegt. Frische und verhältnismässig junge Fälle‘), wie der vor-
liegende, kommen ja seltener zur Beobachtung. Am häufigsten
trifft man solche Fälle, wo sich der Cysticercus in eine mit
Flüssigkeit oder mit Trümmern mehr oder weniger erfüllte Oyste
verwandelt hat, deren Natur festzustellen nur aus der Anwesenheit
von Haken gelingt. In solchen alten Cysteņ sieht die Kapsel-
wand ganz anders aus.
Der Liebenswürdigkeit des Herrn Kollegen Henneberg
verdanke ich ein Präparat einer solchen alten Cysticercusblase. Eine
Stelle aus dieser Cyste ist in Fig. 23, Taf. VIII, wiedergegeben. Aus
dem Vergleich dieser Cyste mit denjenigen des hier beschriebenen
Falles erkennt man sofort, dass die Lamelle a Fig. 23 identisch
der üusseren Hülle des Cysticercus ist. Auch sie besteht hier
aus einem scharfen, äusseren, dunkler gefärbten Rande und einer
dem Lumen zugekehrten inneren Zone, die aus lockerem Gewebe
besteht. Diese Hülle hat sich auf der rechten Seite des Präparates
1) Nach der Krankengeschichte zu urteilen, dürfte das Alter der
untersuchten Cysticerken nicht ganz ein Jahr betragen.
131 Jacobsohn, Ueber Cysticercas collulosae cerebri.
mit scharfem Rande abgehoben, ebenso sieht man auf der linken
Seite ıhren scharfen Rand, dagegen liegt sie an der dritten, quer-
gestellten Seite der nach aussen befindlichen Substanz dicht an,
nur hin und wieder ist zwischen Hülle und Substanz auch .hier
ein kleiner Spalt bemerkbar. Der zwischen den eben genannten
Abteilungen der Hülle liegende Raum, Fig. 23d, entspricht dem
Raum zwischen äusserer und innerer Hülle des frischen Cysticercus.
Dieser Raum hat hier durch vielfache Faltungen und Verschiebungen
der Cyste eine vielgestultige Form angenommen und ist an einzelnen
Stellen, an denen zwei Blätter der Hülle bei dieser Einfaltung
aneinander gekommen sind (Fig. 23a’), vollkommen obliterirt. Es
ist nicht unmöglich, dass an solchen Stellen die beiden aneinander
tretenden Blätter der äusseren Hälle mit ihrem lockeren Gewebe
fest verkleben. Es ergibt sich demnach auch hier, dass nicht die
äussere Hülle des Cysticercus, obwohl sie mit der anliegenden
Substanz mehr oder weniger verkleben kann, die Kapsel, in
welcher der ganze Cysticercus ruht, bildet, sondern dass die nach
aussen von dieser Hälle gelegene Wand diese Kapselwand ausmacht.
In dem Präparat Fig. 23, ist also nicht a resp. a und b c die
Kapsel des Oysticercus, sondern sie wird nur von b und c ge-
bildet. Diese Kapselwand wird im grossen und ganzen von zwei
breiten Schichten gebildet, einer inneren, helleren (b) und einer
äusseren dunkleren (c). Letztere geht nach aussen langsam in
die normale Hirnsubstanz über. Die innere helle Substanz besteht
aus spindelförmigen Elementen mit ovalen langgestreckten Kernen,
nach dem Lumen zu schliesst sie mit einer schmalen, etwas
dunkler gefärbten Randzone ab, in welcher sich etwas heterogene
Elemente (evtl. Abfallstoffe der äusseren Hülle) finden. Die breite
äussere Zone besteht aus einer ausserordentlich dichten An-
sammlung von rundlichen Elementen, die einer perivaskulären
Entzündungszone entspricht, nur dass sich hier die rundlichen
Elemente zonenweise ungemein zusammengeballt haben, um sich
allmählich nach aussen hin zu lockern und in das normale Gewebe
überzugehen.
Da in dieser alten COysticercusblase, Fig. 23, die Lamelle a
der äusseren Hülle des Cysticercus entspricht, so müssen die
beiden Zonen b und c die veränderte Kapselwand darstellen.
Durch diese Veränderung wird eine vorher lamellöse Wand in
eine Art dicken Schutzwall umgewandelt. Das ist die üblich als Demar-
kationszone bezeichnete Wand. Wie im einzelnen nach und nach
diese Veränderungen sich vollziehen, darüber geben die Präparate
keinen vollkommenen Aufschluss. Nur aus einem Vergleich der
Figg. 16, 19, 13, 20, 3, 23 kann man sich ungefähr eine Vor-
stellung von den sich vollziehenden Veränderungen machen. '
Das Präparat, welches in Fig.24, Taf. VIII, abgebildet ist, stellt
einen kleinen Ausschnitt einer durch Distomum hepaticum bedingten
Gehirncyste dar. a in Fig. 24 ist der in Trümmer zerfallene und
in der Oyste liegende Parasit, und b c sind die Schichten der
ihn umgebenden Kapsel. Dass dies die Kapselwand ist, geht
... et masculoram, mit besonderer Berücksiehtigung etc.: -.; :4AD
‚wohl unzweifelhaft aus einem Vergleich mit derjenigen in Fig. 28
hervor. Hier wie dort sind die Schichten die gleichen und setzen
sich aus den gleichen Grundelementen zusammen. o
Da nun die Kapselwand der alten Cysticerkenblase (Fig. 23)
aus einer Gefässwand sich entwickelt hat, und da die Kapselwand
des Distomum derjenigen des Cysticercug vollkommen gleicht, 80
ist die Schlussfolgerung berechtigt, dass auch die Kapselwand
des Distomum weiter nichts ais eine veränderte Gefässwand dar-
stellt: Mit der Wand einer Blutcyste hat die Kapselwand "des
Cysticercus gar keine Aehnlichkeit, mit der Wand eines Abszesses
nur eine entfernte. Die letztere stellt, wenigstens in frischem
Zustande, eine einfache, einheitliche, gleichmässige, sehr breite
Entzündungszone dar, die wellenartig nach der Peripherie zu
fortschreitet, während in den zentralen Partien sie sich in Blut
und Eitermasse auflöst. Ob die Wand älterer Gehirnabszesse
eine grössere Aehnlichkeit mit der Kapselwand des Cysticercus
besitzt, darüber kann ich nichts Bestimmtes aussagen, da ich
derartige Präparate nicht besitze,
Erklärung der Abbildungen nach Photogrammen auf den
Tafeln II—VII.
Fig. 1. Frontalschnitt durch beide Hinterhauptslappen, die enorme Cysti-
cerken-Invasion illustrierend. Aus der Arbeit des Herrn Dr. Prevbra-
schensky (Korsakoffsches Journ. f. Psych. u. Neurol., 1904).
fig. 2. Cysticerken des Gehirns. Lupenvergrösserung eines Schnittes
durch das Corpus striatum.
Fig. 3. Trümmer einer zerfallenen Cysticercusblase mit gewundener Kapsel-
wand. Im Trämmerhanfen liegen einige Haken (a) als letzte erkenn-
bare Reste des Cysticercus.
Fig. 4. Cysticercusblase durch die Mitte ihrer Längsachse getroffen.
: a) Aeussere, b) innere Hälle, c) eingestülpter Cysticercus, d) Ein-
‚stülpungsstelle. Ä
Fig. 5. Cysticercusblase in der Nähe eines Poles durchschnitten. a) Acussere,
b) innere Hülle, c) eingestülpter Cysticercus; a’ und b’ die dunkeln,
scharfen, freien Ränder der gemeinsamen Hülle, d) und e) lockeres Ge-
webe, f) dichtes Fasergewebe.
Fig. 6. Kopfteil der Cysticercusblase von Fig. 5, vergrössert. Bezeichnungen
wie in Fig. 5. g) Rundlich-eiförmige, im lockeren Gewebe liegende
Elemente. : 9—
Fig. 7. Schnitt durch eine Cysticercusblase unweit eines Poles. d) Aus-
mündungsstelle des vielfach eingefalteten Cysticercuskörpers in den
von den Hüllen ab umschlossenen Raum,
Fig. 8. Rundliches, amorphes Gebilde zwischen Kapselwand und äAusserer
Hülle des Cysticercus, letztere buchtartig einstälpend.
Fig. 9. Durchschnitt durch den Kopf des Cysticercus .mit Hakenkranz (in
der Mitte) and vier umliegenden Saugnäpten.
Fig. 10. Cysticerken in der Muskulatur; bei b) Kapselwand von mehr-
achichtigem Bau, der sich nach dem anderen Pole der. Kapsel zu ver-
l — s6hmälert. , . 7 _ l en
Fig. 11. Ansaugungsstelle des Cysticercus an die Kapselwand (b). Bildung
der letzteren aus einzelnen Gefässlamellen. .
Fig. 12. Zungenartiger Hügel, der sich zwischen Kapselwand (b) und einer
l Einstülpungssstelle des Cysticercus (a) 'hineinlegt, und der von
Blutkörperchen und einzelnen grösseren Elementen erfüllt iste -
,
186 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppelbildungen* am Gehirn,
Fig. 13. Kapselwand einer zerfallenen Cystioercusblase.. a) Lockeres, lamel-
löses Gewebe, b) dichtes Gefüge aus Elementen der Media und
Adventitia, c) lockeres Gewebe, im Farbenton der Media ähnlich sehend,
d) Zerfallsträmmer, e) lamellöser Bau der Cystenwand, f) Zone, an welcher
die Lamellen sich zu einer fosteren Wand zusammenschliessen.
Fig. 14. Glatte Kapselwand einer Cysticereusblase (b) mit daneben gelegenen
Blatgefässen (c). a) Aeussere Hülle der Cysticercusblase.
Fig. 15. Cysticorcnsblase mit atrophischer Kapselwand (rechts). Ein er-
weitertes Gefäss (links).
Fig. 16. Kapselwand einer zerfallenen Cysticercusblase, bestehend aus der
dünnen, leicht geschlängelten, an einer Stelle zerrisseonen Gefässwand.
Fig. 17. Segmente aus zwei nebeneinander liegenden Muskelcysticerken nebst
ihren Kapselwänden. a) Aeussere Hüllen der Cysticerken, b) Kapsel-
wand, c) Muskalatur.
Fig. 18. Einmündungsstelle eines Gefässes in die Kapselwand einer Cysti-
eercusblase.
Fig. 19. Ein erweitertes Gefäss der Hirnrinde.
Fig. 20. Wellenartig gewundene Kapselwand eines zerfallenen Cysticercus;
nach innen zu eine dunklere Zone, in welcher die Lamellen dicht ge-
fügt sind, nach aussen zu locker gelagerte Lamellen, die sich gleich-
mässig anlagern; im Inneren, der welligen Kapselwand anliegend,
Trümmerhaufen des zerfallenen Cysticercus.
Fig. 21. Verstopfte Gefässe am Pol einer Cysticercusblase.
Fig. 22. Ein kleines, gewundenes, zerrissenes Gefäss (rechts). Im Inneren
desselben und in der Nachbarschaft der zerrissenen Stelle Erweichungs-
trämmer. Links davon die Cysticercusblase.
Fig. 23. Querschnitt durch einen Teil einer älteren Cysticercusblase (nach
einem Präparat des Herrn Prof. Henneberg). a) Aeussere Hülle des
Cysticercus, b) und c) innere und änssere Zone der Kapselwand der
Cysticercusblase, d) Innenraum der Blase. a’ Ausbuchtungsstellen der
yste, wo zwei Faltenblätter der äusseren Hülle dicht aneinander ge-
lagert und sowohl miteinander als auch mit der Kapselwand ver-
klebt sind.
Fig. 24. Kleiner Segmentabschnitt einer Gehirneyste von Distomum hepaticam
(nach einem Präparat des Herrn Dr. Tanıguchi). a) Zerfallene Masse
es Distomum, im Hohlraum der Cyste gelegen, b) inuere, c) Aussere
Zone der Kapselwand, d) Distomumei.
Ueber sogenannte „Doppelbildungen“ am Gehirn,
mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirn-
windung.
Von
Dr. RICHARD WEINBERG,
Dorpat.
Nachdem Lussana!) und Rolando?) (wie es scheint, zuerst)
auf die Neigung des menschlichen Stirnhirns zum Zerfall in vier
2) Ph. Lussana, Circumvolutionum cerebralium anatome humana et
comparata, quam ex vero 80 tabulis exaravit. Ph. L. Patavii 1888. Ed. II.
2) Rolando, Della struttura degli emisferi cerebrali. Məm. R. Accad.
Torino. 1829. XXXV.
mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stimwindung. 187
sagittale Windungszüge aufmerksam gemacht hatten, wurde diese
Angelegenheit in den siebziger Jahren wieder von Benedikt auf-
genommen!), der sie in einer Reihe von Publikationen im Zusammen-
hange mit der bekannten Frage der Verbrechergehirne und mit
Beziehung auf einige Homologien des Carnivorentypus zu be-
handeln versuchte,
Im ganzen geht aus seinen Ermittelungen hervor?), dass ein
Vierwindungstypus des Stirnlappens, wo er beim Menschen vor-
handen ist, weıtaus am Öftesten durch mehr oder weniger voll-
ständige Spaltung des Gyrus frontalis medius in zwei sekundäre
Züge bedingt werde. Unter 87 untersuchten Gehirnhemispliären
mit 40 Fällen von komplettem oder angedeutetem Vierwindungs-
typus war dies Verhalten 24mal ausgesprochen in einer Weise,
wie dies Hanot?®) schon an anderem Material ausdräcklich
festgestellt hatte.
Dass es sich auch ın der Norm so verhält, dafür scheint
zuerst Sernow*) und demnächst Giacomini’) und Chiarugi®)
ein umfassendes Beweismaterial erbracht zu haben.
Nun ist aber — und daran knüpfen meine nachstehenden
Ausführungen an — folgendes wohl zu beachten.
Während Benedikt für die Vermehrung der „normalen“
Anzahl von Stirowindungen — die Dreizahl galt damals noch für
normal — neben dem Gyrus frontalis medius in einer gewissen
Anzahl von Fällen nur noch den Gyrus frontalis superior ver-
antwortlich macht, eine Auffassung, der sich Chiarugi vollkommen
anschliesst, taucht bei Giacomini die Vorstellung auf, dass
normaliter auch der Gyrus frontalis inferior sich der Länge
nach spalten könne, und zwar angeblich gar nicht so selten,
nämlich in reichlich einem Viertel der Fälle von Vierwindungs-
typus und in etwa 4 pCt. aller überhaupt von ihm untersuchten
ehirne.
Diese Angabe eines anerkannt sorgfältigen Beobachters ist
recht bemerkenswert. Eberstaller, dem wir eine Mono-
1) Benedikt, Der Raubtiertypus am menschlichen Gehirn. Centralbl.
f. d. med. Wissensch. 1876. XIV. 930.
Benedikt, Anatomische Studien an Verbrechergehirnen. Wien 1879.
9 Benedikt, Zur Frage des Vierwindungstypns. Centralbl. f. d. med.
Wissensch. 1880. XVIIL 849.
3) Hanot, Quatre observations de dédoublement de la deuxiöme
eireonvolution irontale chez les malfaiteurs. Progrès medic. 1880. No. 1.
Gazette mödic. de Paris 1880. No. 4. p. 47. — Derselbe, Corveaux des
condamnés. Compt. Rend. soc. de Biologie. Paris 1879. Decembre 27.
4) D. N. Sernow, Individualnyä tipy mosgowych iswilin u delow£ka.
12 Figg. Moskau 1877.
$ C. Giacomini, Varietà delle circonvoluzioni cerebrali dell’ uomo,
Mem. comman. alla R. Accad. di Medic. d. Torino in 1881. Torino 1882.
. 183 #. — Ch. Giacomini, Variétés des circonvolutions cérébrales chez
homme. Arch. ital. de Biologie. 1882. I. 835 f. — Vergl. auch: Guida
allo stadio delle circonvoluzioni cerebrali dell’ uomo. Sec. ediz. Torino 1884.
G. Chiarugi, Osservazioni sulla divisione delle circonvoluzioni
frontali. Boll. soc. tra i cult. delle scienze di Siena 1885. Chiarugi hat,
soviel ich sehe, die Bedeutung des Sulcus frontalis medius zuerst richtig erkannt.
138 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppelbildungen“ am Gehirn.
graphie über den Stirnlappen verdanken!), kennt keine Fälle von
Längsgliederung der unteren Stirnwindung. Weder Sernow?),
noch Cunningham?), noch Retzius*) erwähnen etwas davon, dass
ähnliche Zustände vorkommen. Und so ist es auch mit den Er-
fahrungen aller übrigen älteren und neueren Spezialforscher, die
sich mit den Variationen der menschlichen Gehirnoberfläche be-
schäftigt haben.
Ich dachte anfänglich geradezu an etwaige Rassenunterschiede.
Aber als ich die Meinung Giacominis näher kennen lernte, ver-
warf ich dies. Denn wie aus nebenstehender Abbildung‘ wohl
unzweifelhaft hervorgeht, ist das, was er als „raddoppiamento della
circonvoluzione frontale inferiore“ aufführt, ein sehr klarer Fall
von Zweiteilung des Gyrus frontalis medius bei gewöhnlichem
Verhalten des eigentlichen Gyrus frontalis inferior. |
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Fig. 1.
„S. F. J.“ ist (Fig. 1) nach der jetzt angenommenen Be-
trachtungsweise nicht die „Scissura frontale inferiore“, sondern der
Sulcus frontalis medius, wie dies zuerst Chiarugi richtig erkannte
und späterhin Eberstaller näher begründete; statt „Gyr. fr. inferior
internus“ der Abbildung würde man jetzt sagen: laterale Wurzel
und Pars lateralis der mittleren Stirnwindung, deren mediale allein
Giacomini als Gyrus frontalis medius ansieht; und „Gyr. Fr.
inferior externus“ ist die untere (dritte) Stirnwindung, deren obere
1) O. Eberstaller, Das Stirnhirn. Ein Beitrag zur Anatomie "der
Oberfläche des Grosshirns. Wien und Leipzig 1890.
2) D. N. Sernow, Individualnyä tipy mosgowych iswilin u delowöka:
12 N Moskau 1877. —
3) D, I. Cunningham, Contribution to the surface anatomy of the
cerebral hemispheres. R. Jrish Academy, Cunningham Memoirs. No. VIL 1892.
4) G. Retzius, Das Menschenhirn. Studien in der makroskopischen
Morphologie. 2 Bände. Stockholm 1896. u
mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung. 139
Grenzfurche — „S. F. In.“ — nicht einer „Scissura terziaria frontale
inferiore, che divide la circonvoluzione omonima“ entspricht, sondern
alle charakteristischen Merkmale der unteren Stirnfurche aufweist,
die hier in typischer Weise durch jene laterale Wurzel des Gyrus
frontalis medius von dem System E Präzentralfurche Abgedränet
erscheint.
Man sieht also, Giacomini hat durchaus genau beobachtet,
nur weicht, worauf auch schon Sernow hinwies 1), seine Deutung
der Furchen wesentlich von derjenigen ab, die gegenwärtig, nach
dem Vorgange von Chiarugi und Eberstaller, wohl von der
Mehrzahl der Anatomen befolgt wird und auf der die meisten
neueren Windungsstatistiken basiert erscheinen.
Die von Giacomini gemeinte Varietät — Zusammenhang
des Ramus anterior sulci praecentralis mit dem Sulcus frontalis
medius bei starker Entwicklung einer lateralen Wurzel der mittleren
Stirnwindung — kommt auch nach meinen Beobachtungen in einer
ähnlichen Häufigkeit vor, wie er sie dafür angibt.
I.
Dagegen ist in dem Sektionsmaterial, dass mir seit einer
Reihe von Jahren reichlich zur Verfügung stand, bisher nur ein
einziges Gehirn aufgetaucht, bei dem von einem wirklichen
„raddoppiamento“, einer sagittalen Spaltung der unteren Stirn-
windung die Rede sein kann.
X
4
u So
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Spet
P
)
Fig. 2
Die photographische Nachbildung dieses Falles, der von einem
geistesgesunden erwachsenen Manne herrührt, gibt Fig. 2 wieder;
und zwar bei stärkerer seitlicher Neigung des Gehirns, um möglichst
alle Einzelheiten des Stirnlappens übersehen zu können.
. D D.Sernow, O predölach individualnych i plemennych widoismenenį
tipičeskich borosd i 'iswilin mosga. Moskau 1883. p. 17. F
140 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppelbildungen“ am Gehirn,
Wie die beigefügte erläuternde Skizze (Fig. 3) der Furchen-
verhältnisse andeutet, ist an diesem merkwürdigen Gehirn zunächst
die Präzentralfurche anscheinend doppelt angelegt, da vor
der normalen (Sulcus praecentralis inf. + sup.), die oben den Sulcus
frontalis superior abgibt, entsprechend ihren unteren zwei Dritteln
eine zweite, dem S. Rolandi parallele Spalte (Sulcus praecentralis
access.) vorhanden ist, aus der die mittlere und die untere sagittale
Stirnfurche sich nach vorne hin entwickelt.
Gyr. front. sup.
s" Hami anti
Fig. 3.
Von dieser Komplikation abgesehen, erscheinen die Windungs-
anordnungen im Stirnlappen durchweg typisch ausgebildet und
eindeutig.
Insbesondere entsteht die mittlere Stirnfurche in charakte-
ristischer Weise aus der (überzähligen) Praecentralis inferior als
sogenannter Ramus anterior derselben und ziehtsodann kontinuierlich
bis an die Querwindungen der vorderen Stirnlappenfläche.
Nicht minder charakteristisch ist die Anlage der unteren
Stirnfurche, die sich nicht nur durch ihren ganzen Habitus, sondern
auch durch ihre Neigung zur transversalen Fragmentierung, sowie
durch ihr typisches Verhalten zu dem Sulcus radiatus, der sie
vorn quer abschliesst, als solche dokumentiert.
Sehr klar ausgeprägt erscheint auch der Aufbau der mittleren
Stirnwindung aus einem lateralen (F?l) und einem medialen Längs-
zuge (F?m), wie dies ja in allen typischen Fällen die Regel ist.
Kurz, wir haben es — bis auf jene sonderbare Anlage der
Präzentralfurche — mit einem geradezu schematisch ausgebildeten
Typus der beiden oberen sagittalen Stirnwindungen zu tun.
mis besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung. 141
Hinsichtlich der Deutung der oberen Stirnfurche und oberen
Stirawindungen sind hier wohl keine Zweifel denkbar.
Die unterste oder dritte aber — und hierin scheint mir
das Besondere dieses Falles zu liegen — ist in ihrem mittleren
Abschnitt der Länge nach gespalten, und zwar darch die
Furche fil, deren sagittales Element eine bedeutende Tiefe auf-
weist und sich hierdurch, sowie durch ihre Beziehungen zu den
sie flankierenden, für diese Rindengegend charakteristischen trans-
versalen Bestandteilen als eine Art Wiederholung der unteren
Stirnfurche, als Sulcus frontalis inferior accessorius ausweist!).
Dass sie distalwärts die Präzentralfarche nicht erreicht, ist von
keiner grossen Bedeutung, da letztere, wie erwähnt, in diesem
Fall eine ungewöhnliche transversale Gliederung mit scheinbarer
Verdoppelung erfahren hat.
Da das Präparat, wie erwähnt, in stark seitlich übergeneigter
Lage photographiert wurde, erscheinen die beiden schon an und
für sich etwas schwachen Rami anteriores der Fossa Sylvii in
der perspektivischen Ansicht sehr verkürzt, aber sie sind sonst
ziemlich regelrecht gestaltet, und man erkennt, dass zwei Sulci
radiati in das von jenen umfasste Operculum intermedium hin-
einschneiden, die hier in den bekannten charakteristischen Be-
ziehungen zu der gewöhnlichen und zu der „überzähligen“ unteren
Stirnfurche stehen.
Läge von dem ganzen Gehirn nur das Rindenstück mit diesen
beiden Radiärfurchen, dem Operculum intermedium und der ano-
malen Furche fil vor, so würde ich nicht zögern, diese als eine
untere sagittale Stirnfurche zu betrachten.
1) Diese Furche einfach als sekundäre Vertiefung oder dergleichen
abzutun, wie dies wohl bei oberflächlicher Betrachtung naheliegen könnte,
ist hier, wie jeder Kenner der Gehirnoberflüche zugeben wird, ganz saus-
geschlossen. Ich habe grössere Reihen von Gehirnen verglichen und nie im
Bereiche der dritten Stirnwindung etwas gefunden, worauf unsere fil-Furche
auch nur im entferntesten zurückgeführt werden könnte. Das Rindengebiet
abwärts vom Sulcus frontalis inferior hat in der hier ia Betracht kommenden
Gegend überhaupt keine Nebenfurchen und entwickelt im übrigen nur trans-
versale Falten. Ueber die Plastik der dritten Stirnwindung ist man gegen-
wärtig vollkommen genau unterrichtet, und die vorkommenden Variationen
knüpfen immer wieder an bekannte Dinge an. — Grösseres Gewicht würde
der Hinweis haben, dass die Entstehung der fil-Furche in dieser oder jener
Weise mit der Ausbildung der Rami anteriores der Fissura Sylvii zusammen-
hängen möchte. Diese befindon sich hier in der Tat in einem otwas rudimentären
Zustand, und es wäre daher ganz gut möglich, dass durch Auftreten einer
strahligen Sagittalfalte eine Art Kompensation in der Nachbarschaft des in
der Entwicklung gehemmten Teiles herbeigeführt wurde. Es könnte sich
also evtl. um ein „Produkt des Kompensationsgesetzes“ im Sinne von G. Retzius
handeln (Das Menschenbirn, p. 95). So sehr ich sonst geneigt bin, mir den
vorliegenden Fall so zu erklären, muss ich dennoch bemerken, dass unter
einer ganzen Anzahl von Präparaten mit äusserst zurückgebliebenem Sylvi-
schem Vorderast kein Fall vorhanden ist, wo eine derartige Kompensation
im Sinne einer sagittalen Faltenbildung zu beobachten wäre. Rudimentäre
Bildung des Ramus anterior der Fossa Sylvii tritt ausserdem in der Regel
im Gefolge von mehr oder weniger ausgesprochenen Defekten des frontalen
Klappdeckels auf, hinsichtlich deren es unsicher, wie und ob sie eine Aus-
gleichung erfahren können.
142 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppeldildangen“ am Gehirn,
Im übrigen zeigt die untere Stirnwindung keine nennens-
werten Abweichungen vom gewöhnlichen Verhalten. Sie ist sogar
sehr regelmässig gebaut, wird in ihrem Fussteil von einem typischen
Sulcus diagonalis geschrägt und weist nicht, wie man vielleicht
erwarten sollte, in dorso-lateraler Richtung eine über das normale
Mass hinausgehende Breitenentwicklung auf.
7 Zu bemerken ist auch, dass die hinzugehörige linke Hemisphäre
sich im Stirnlappengebiet ganz wie gewöhnlich verhält, also keine
denrechtsseitigen entsprechende abweichende Anordnungen aufweist,
| Wie sich die Inseln verhalten und ob ın der Anordnung des
Linsenkerns und der übrigen Ganglien und Teile Abweichungen
bestehen, weiss ich noch nicht, da das Objekt einstweilen geschont
werden musste.
Der Fall steht in meinem Material, wie gesagt, einstweilen
noch als Unikum da, doch möchte ich nicht unterlassen, ein anderes
Objekt (Fig. 4) hier vorzuführen, das in mancher Hinsicht eine
Art Pendant zu jenem bildet. Auch hier sehen wir (bei schematisch
Salc. front. med. £ulc. front. inf.
! Sule. front. sup.
-~
> (4
h 5 ⁊
`
Gyr. front. med. pars lat. ~.. _
-, E *Sule. praecentr. sup.
Sule. praecentr. int.
Sulc. radiatus - -|
”"Sule. Rolandi
À i = Sulec. diagonalis operculi
Sulc. Irontomarg. lateral. - -F — Sulo. suboentr. post.
—— der Gyr. centr.
pos
— Sulc. subcentr. ant.
z , N
Ram. fiss. Sylvii Sulc. front. Ram. fiss. Sylvii
ant. horiz. inf. access. ant. vertie.
Fig. 4.
ausgebildeter vorderer Zentralwindung und kräftiger Entfaltung
der Sylvischen Vorderäste) unterhalb bezw. lateral von der
ee unteren Stirnfurche eine dieser parallele accessorische
agittalspalte auftreten, aber sie lagert bier im distalen Teil
des Gyrus frontalis inferior, während Fig. 2 uns eine überzählige
Furche im mittleren bezw. proximalen Teil der Windung aufweist.
Die Stelle, die der accessorischen unteren Stirnfurche fil
der Fig. 2 und 3 entspricht, finden wir an diesem Gehirn, wie
gewöhnlich, exquisit quer bezw. coronal angeordnet in Gestalt der
üblichen Gyri radiati, die gegen das Operculum triangulare ge-
richtet sind. Ä
mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung. 143
_ Eine Missdeutung der Bestandteile des Stirnlappens erscheint
bei diesem Gehirn kaum denkbar; immerhin wird man bemerken,
dass der. Sulcus frontalis medius nicht aus dem Sulcus praecentralis,
wie m Fig. 2, sondern, wie so oft, anscheinend aus der oberen
Stirnfarche sich entwickelt hat und mit dieser jedenfalls ober-
flächlich ein Kontinuum bildet: das distale Feld des Gyrus
frontalis medius ist daher ungespalten geblieben.
Die dritte Stirnwindung enthält also in ihrem hinteren Ab-
schnitt deutlich zwei Etagen. Die trennende Furche erinnert
in mancher Hinsicht an einen veritablen Sulcus frontalis inferior
(Umkrümmung des vorderen Endes radıär zum ÖOperculum inter-
tedium u. s. w.). Dennoch wage ich es noch nicht, zu entscheiden,
ob sie genetisch die gleiche Bedeutung hat wie die entsprechende
Bildung in Fig. 2, da ihre Lagerungsverhältnisse etwas abweichen
und die beiden Gehirne auch sonst recht verschiedene Entwicklungs-
zustände aufweisen.
Was die Häufigkeit der hier beschriebenen Vorkommnisse
betrifft, so kann sie keine sehr grosse sein, da, wie gesagt, Spezial-
forscher, die mit umfangreichem Material arbeiteten, den Zustand
nicht bemerkt haben. Nach meinen eigenen Berechnungen dürfte
#/,—1 pCt. nicht überschritten werden.
II.
Ist die bisherige Darlegung richtig, dann erscheint die Möglich-
keit, dass hier im Bereiche des Gyrus frontalis inferior wenigstens
die Andeutung einer wirklichen Doppelbildung besteht, nicht
ohne weiteres ausgeschlossen. |
Denn es handelt sich hier in der unteren Frontalregion nicht
am eine Steigerung typischer, normal auftretender Furchenanlagen,
wie sie beispielsweise im Bereiche der oberen Stirnwindung (als
sogenannte 9-Furche) oder in der mittleren Stirnwindung (als schon
embryonal präformierter Sulcus frontalis medius) u. s. w. den
longitudinalen Gliederungen zur Grundlage dienen, sondern wir
haben in fil ein Gebilde vor uns, das 1. seiner Lage und seinem
ganzen übrigen Verhalten nach genetisch auf keine der typischen
gewöhnlichen Faltungsdifferenziate zurückgeführt werden kann und
das 2. die morphologischen Eigenschaften einer typischen Furche,
nämlich des normalen unteren Frontalsulcus, in unverkennbarer
Weise darbietet.
Wir würden also, um es kurz zu sagen, statt einer unteren
Stirnfurche im vorliegenden Fall deren zwei haben.
Vorausgesetzt, dass die obige Deutung von fil richtig ist.
Der Bildungsmechanismus der Rindenfaltungen entzieht sich
ja noch vollkommen einer tieferen Erkenntnis, und das einzige,
was leidlich feststeht, ist, dass die Elemente der Furchen und
Windungen ihre gesetzlichen Beziehungen haben, dass also zwar
kompensatorische Bildungen auftreten, nicht aber typische Bestand-
teile. zur Entstehung von ihrer Anlage inadäquaten Strukturen
Anlass geben können. '
144 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppelbilduugeu* am Gehirn,
Wer mit weitreichenden Hypothesen leichtfertig iat, über-
sieht die Schwierigkeiten der Frage, ob in dem Windungsrelief
gelegentlich wirkliche Doppelbildungen auftreten können.
Aber der Gedanke daran wird durch die hier beigebrachte
Beobachtung einigermassen nahegelegt, so lange eine andere Er-
klärung sich dafür nicht findet. Eine Entscheidung ist freilich
daraufhin allein nicht möglich.
° III.
Was man sonst wohl als „Verdoppelung“ von Furchen
und Windungen betrachtet, ist meiner Ansicht nach keine solche,
hat mit der hier aufgeworfenen Frage meist gar nichts zu tun
and gehört nicht hierher.
Jene Bildung beispielsweise, die am Gehirn Gambettas ala
„Verdoppelung der Brocaschen Windung“ beschrieben.) und von
den Pu \izisten gleich als etwas Besonderes aufgegriffen wurde,
möchte einer ernsten Kritik kaum Stand halten. An den skizzen-
haften Zeichnungen wenigstens, die das Gehirn darstellen sollen,
erkenne ich an der linken sowohl wie an der rechten unteren
Stirnwindung alle jene Strukturen, wie sie für ein typisch ent-
wickeltes menschliches Gehirn charakteristisch sind. Eine eigent-
liche Atypie liegt bei Gambetta nicht vor. Es ist indessen immer-
hin möglich, dass in der feineren Ausmodellierung, in den Wölbungs-
und Faltungsverhältnissen der betreffenden Rindengegend Be-
sonderheiten zu Tage treten,
was nur am Präparate selbst
und zumal unter Vergleichung
beider Seiten sicher beurteilt
werden kann. Gemeint ist in
diesem Fall übrigens eine ge-
steigerte Querdifferenzierung
des Gyrus frontalis inferior,
nicht, wie in meiner Beob-
achtung, Spaltung in der Längs-
richtung.
Ich erwähne sodann das
Vorkommen angedeuteter Spal-
tung der vorderen Zentral-
windung. Sie wird im Be-
reiche des unteren Drittels der
Windung hin und wieder —
Fig. 5 zeigt einen der mir vor-
liegenden Fälle — in grösserer
oder geringerer Ausdehnung angetroffen, nie im oberen, wo manch-
mal nur ganz seichte Dellen und Rindendepressionen?) vorkommen.
1) Chudzinski und Duval, Description morphologique du cerveau de
Gambetta. Bull. soc. anthropol. Paris. Sér. III. T. 1X. 129—152.
3) G. Retzius, Das Menschenhirn. Studien in der makroskopischen
Morphologie, S. 110, bemerkt hierzu: „Auf ihrer (der vordera Zentralwindung)
Oberfläche sind zuweilen kurze Nebenfarchen vorhanden.“
mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung. 145
Besonders bei stärkerer Breitenentwicklung der Basis des Gyrus
centralis anterior erhält ihre Oberfläche accessorische Furchen,
die dem unteren Teile des S. Rolandi mehr oder weniger parallel
verlaufen.
Dass solche und ähnliche „Nebenfurchen“ auch ihre Bedeutung
haben, sieht man gewöhnlich erst dann ein, wenn sie gelegentlich
zu stärkerer Entwicklung gelangen und man alsdann nicht weiss,
wie sie zu deuten sind.
In einzelnen Fällen ist ferner Zweiteilung des Gyrus
temporalis superior zu beobachten, doch kommt es hier
gelegentlich zur Ausbildung einer längeren Furche von nicht
unbedeutender Tiefe, die die vordere Halfte der Windungen in
zwei zierliche Längswülste zerlegen kann. Der sekundäre Charakter
dieser Bildungen ist meist unverkennbar, aber es handelt sich um
eine vollkommene typische Einrichtung, die offenbar mit einer
bestimmten, relativ nicht allzu geringen Konstanz hervortritt.
Einer recht gewöhnlichen Anordnung entspricht das bekannte
Bild der „doppelten“ Intraparietalis und Callosomarginalis,
das in manchen Fällen durch exzessive Entwicklung normaler
Brücken im Verlaufe dieser Furchen hervorgerufen wird. Von
einer doppelten Anlage der Furchen selbst kann auch hier natürlich
nicht die Rede sein.
Uebrigens kann der distale aufsteigende Ast des Sulcus calloso-
marginalis bezw. seiner Pars posterior im Sinne Eberstallers!)
Fissura centralis Lob. paracentr.
Ram. asc. access...
Ta „— Ram. post. asc. sulci call.-marg.
``- Sulo. praecentr. medialis
Praecuneus -”
ida ~: Sulec. paracentralis
Sulec. splenii Sule. subparietalis
Fig. 6.
verdoppelt erscheinen (Fig. 6). Es entsteht dann ein recht eigentüm-
liches Bild, indem in der Ansicht von oben hinter dem Mantel-
kantenende der Zentralfurche der charakteristische Einschnitt der
Callosomarginalis zweimal auftaucht. Man könnte auch die vor-
liegende Anordnung sehr wohl auf exzessive Entwicklung der
Brocaschen parieto-limbischen Windungsbrücke in dieser Gegend
zurückführen, aber die charakteristischen Beziehungen des distalen
Astes zu dem Sulcus subparietalis zwingen zu einer anderen Auf-
1) Das Stirnhirn. Wien u. Leipzig 1890. p. 49.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 2. 10
146 Weinberger, Ueber sogenannte „Doppelbildungen“ am Gehirn,
fassung des Sachverhaltes. — Inwiefern die fragliche Bildung einer
Tierähnlichkeit entspricht (Sulcus cruciatus des Öarnivorentypus),
wie dies Eberstaller vermutet!), wage ich nicht zu entscheiden.
Dass der Sulcus frontomarginalis an einer Reihe von
Gehirnen mit stark ausgebildeter Quergliederung der vorderen
Stirnlappenfläche in der Zweizahl erscheint, ist ebenfalls ein ganz
typischer Zustand, da auch in Fällen, wo nur eine einzige Fronto-
marginalis vorhanden ist, jedesmal wenigstens die Elemente der
zweiten aufgezeigt werden können.
Auch das Zustandekommen eines zweifachen Sulcus orbi-
talis transversus lässt sich ın den seltenen Fällen, wo diese
Einrichtung bemerkt wird, ungezwungen auf eine sekundäre Ver-
schiebung seiner typischen Elemente durch gesteigertes Wachstum
von Windungsbrücken zurückführen.
Weniger klar liegt die Sache bei der Fissura parieto-
occipitalis, falls sie — wie in einer schon früher abgebildeten
Beobachtung?) — hinter sich eine Art Doppelgängerin zu haben
scheint, die aus der Oalcarina hervortritt. Die inneren Furchungs-
verhältnisse des Cuneus bieten aber reichliche Gelegenheit zur Ent-
stehung derartiger Strukturen?). Durchschnitte von dem betreffenden
Gehirn zu machen, konnte ich mich bisher nicht entschliessen.
Die Annahme endlich, dass die Zentralfurche des Gehirns
einer zweifachen Ausbildung fähig ist, beruht wohl auf einer
missverständlichen Deutung, wie dies schon Sernow*) vor mehr
als 20 Jahren in einer im allgemeinen zutreffenden Weise erkannt
hat. Gegen die Auffassung Sperinos, der eine solche Anordnung
an dem Gehirn des Anatomen C. Giacomini nachwies®), hat
neuerdings E. A. Spitzka®) entschieden Front gemacht.
1) Ibidem. p. 51 ff. u. Abbildung daselbst.
2) Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. Bd. XVIII. H.1. p 44. Fig. 13.
3) J. W. Mickle erwähnt als eine der Unregelmässigkeiten des Ver-
laufs dieser Furche „doubling of the internal limb of the fissure parieto-
occipital“. The Joarnal of mental science. Jan. 1898. Sep.-Abdr. p. 4.
— Sernow, a. a. O., p. 71, spricht nicht von dieser Varietät. Uebrigens
sind für die Auffassung derselben die Tiefenverhältnisse der Parietooccipitalis,
auf die wir hier nicht eingehen können, massgebend; vergl. hierzu G., Retzius,
Das Menschenhirn. p. 138, u. Taf. 82 u. 98. Ferner D. J. Cunningham,
Contrib. to surface morphology a. a. O., und G. Elliot Smith, The fossa
arietooccipitalis. Journal of anat. and physiol. 1904. XXXVIII. N. S.
VIII. 164—169.
4) D. N. Sernow, Zur Frage über die Grenzen der individuellen und
Rassenvariationeu der typischen Furchen und Winduagen des Gehirns. Moskau
1883. p 11. Sernow betont, dass ihm zahlreiche Fälle der Giacomini-
schen Varietät vorgekommen sind, aber von ihm anders gedeutet wurden.
5 G. Speriuo, L’encefalo dell’ anatomico Carlo Giacomini. Estr.
dal Giorn. della R. Accadem. di Medicina di Torino, Agosto 1900. No. 8.
4 tav. An der rechten Hemisphäre dieses Elitegehirns findet sich die zweite
— distale — Querfurche mit S.r?. bezeichnet == Sulcus Rolandi secundus.
Sep.-Abdr. p. 67, vergl. auch p. 17.
©) E. A. Spitzka, Js the central fissure duplicated in the brain of Carlo
Giacomini, anatomist? A note on a fissural anomaly. The Philad. med.
Journal. August 24. 1901. Sep.-Abdr. p. 8. („Sperinos alleged ‚second
central‘ is nothing more than an unusually long and confluent postcentral
and subcentral.“)
mit besonderer Berücksichtigung der unteren Stirnwindung. 147
Ich möchte meinerseits zu dieser Angelegenheit bemerken,
erstens, dass hier auch Fragen der Nomenklatur mit eine Rolle
spielen, über die noch keine volle Einigkeit erzielt ist, und zweitens,
dass der Ausdruck „duplicit& della scissura di Rolando“ der italieni-
schen Autoren jenen Fällen entspricht, wo neben einer vollkommen
ausgebildeten [„durchlaufenden“ im Sinne von Waldeyer!)] Post-
zentralfurche?) der Anfangsteil des Sulcus intraparietalis sich quer
lagert und evtl. in Verbindung mit Brissauds Sillon parietal
supérieur) eine zweite Postcentralis vortäuscht. Es sind dann
— die Varietät finde ich in etwa 3 pCt. aller Gehirne — be-
kanntlich anscheinend drei „Zentralwindungen“ vorhanden.
Die Furchen sind übrigens sehr leicht auseinanderzuhalten:
abgesehen von der allgemeinen Form, die immer entscheidend ist,
hat der Sulcus postcentralis am oberen Ende typische Gabelform
und nimmt solchergestalt das Ende der Callosomarginalis auf;
sein unterer Verlauf ist charakteristisch nach hinten gerichtet,
von dem Sulcus Rolandi divergierend‘).
Wirkliche Wiederholungen, Verdoppelungen der Zentralfurche
habe ich — bei Befolgung der angegebenen Kriterien — bisher
nie bemerkt’).
Zu dem gleichen Ergebnis gelangte im Anschlusse an Mickle®;
vor einiger Zeit auch Leggiardi-Laura, der eine Verdoppelung
des Rolando mit Recht für bisher unerwiesen hält und die als
solche aufgeführten Fälle in dem oben angedeuteten Sinne auf Kom-
plikationen im Scheitellappen und evtl. auf Einfluss der brachyen-
cephalen Windungsentfaltung zurückzuführen geneigt ist’).
In dem von Giacomini in Fig. 18a und 19a, p. 96/97, seiner
Varieta delle circonvoluzioni abgebildeten Falle von „bilateraler
Verdoppelung“ des Roland findet E. A. Spitzka ein unzweifel-
1) Sitz.-Ber. Preuss. Akad. d. Wissensch. 1894. p. 1218 ff.
2) Dass diese Furche häufig zu Verwechselungen Anlass gibt, betont
schon Wernicke. Lehrb. der Gehirnkrankheiten. Cassel 1881. Bd. I.
Anstomische Einleitung.
3) Brissaud, Anatomie du cerveau de l’homme. 48 pl. Paris 1893.
4) Vergleiche meine Schrift: „Das Gehirn der Letten.“ Cassel 1896.
p. 76/77. „Das vordere Ende der Gabel schiebt sich zwischen Callosomarginalis
und Zentralspalte hinein.“ `
+) Die Angabe von Ch. Mills(Dercum, Text-book on nervous diseases.
p: 890), wonach B. G. Wilder (1894) an dem Gehirn eines Selbstmörders
ie Zentralfarche beiderseits verdoppelt gefunden hätte, ist zwar richtig, aber
später (Revised interpretation of the central fissures of the educated suicides
brain exhibited to the American Neurological Association in 1894. Journal
of nerv. and ment. disease 1900. Sep.-Abdr.) erläuterte Wilder den Fall
in dem Sion, dass die hintere der beiden Querfurchen dem Sulcus postcentralis
entspreche.
©) W.J.Mickle, Atypical and unusual brain-forms, especially in relation
to mental status. A study on brain-surface morphology. The Journal of
mental science. April 1897. Sep.-Abdr. p. 11. Mickle bezeichnet die
Sache geradezu als „false appearance as of two or three central fissures“.
1) Leggiardi-Laura, Sopra il significate della cosidetta duplieitä
della scissura di Rolando e sopra un rapporto costanto della scissura post-
rolandica. Giorn. R. Accad. di Medic. di Torino 1900. LXIII. 880.
10*
148 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
haftes Spezimen von Duplizität der Zentralwindung!) („an un-
questionable duplication, with a supernumerary Rolandie gyrus“),
was ich meinerseits jedoch nicht anerkennen möchte, da die distale
der beiden mit R bezeichneten Furchen ohne jede Frage Sulcus
postcentralis ist (das geht aus ihrer allgemeinen Gestaltung, der
scharfen Abknickung des Lateralendes, der beiderseitigen Gabelung
des Dorsalendes unzweifelhaft hervor, ausserdem ist Po rechts
nicht Sulcus postcentralis, sondern die Brissaudsche Querfurche).
Ganz aus dem Bereiche der Möglichkeit ausgeschlossen sind
wahre Doppelbildungen einzelner Gehirnwindungen freilich nicht.
Aber wo sie etwa auftreten sollten — sie als solche zu unter-
scheiden, ist die Gehirnanatomie jetzt jedenfalls vollkommen im-
stande —, läge eine eklatante Abnormität vor, die im teratologischen
Sinne den echten Duplizitäten einzuordnen wäre.
Ob die in unserer Fig. 2 und 4 dargestellte Anordnung der
dritten Stirnwindung als hierher gehörig betrachtet werden darf,
muss, wie gesagt, bis auf weiteres noch dahinstehen. Diese Fälle
deuten, wie mir scheint, zunächst nur an, dass einzelne, scheinbar
ganz harmlose Windungsvariationen möglicherweise zu Zuständen
in Beziehung stehen, die dem Typus einer normalen Entwicklung
weit entrückt sind.
(Aus der psychiatrisch-neurologischen Klinik des Geheimen Rates Flechsig
zu Leipzig.)
Beiträge zur Kenntnis der Gedächtnisstörung bei der
Korsakoffschen Psychose.
Von
Dr. ADALBERT GREGOR,
I. Assistenzarzt.
(Schluss.)
Ueber Oekonomie des Lernens.
a) Lernen im ganzen und Lernen in Teilen.
Wie erwähnt, waren meine Versuchspersonen bei der Er-
lernung von Gedichtstrophen auf das Lernen in Teilen (T-Ver-
fahren) angewiesen. Dies legte es nahe, das Verhältnis dieser
Erlernungsart zum Lernen im ganzen (G-Verfahren) auch da zu
untersuchen, wo auch das G-Verfahren zum Ziele führte. Wir
stehen also vor der Frage, ist das T-Verfahren bei meinen
Versuchspersonen das absolut günstigere oder fand die Strophen-
1) E. A. Spitzka, Philad. med. Journ., op. cit. Sep.-Abdr. p. 4.
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 149
erlernung unter einem verhältnismässig zu grossem Aufwande an
Lesungen statt. Zu diesem Zwecke stellte ich bei beiden Versuchs-
personen je eine Versuchsreihe an, bei M. mit sinnlosen, bei O,
mit sinnvollem Materiale. In beiden Fällen wurden achtgliedrige
Reihen verwendet, und zwar zunächst die erste Hälfte, hierauf
die zweite solange vorgeführt, bis sie frei hergesagt werden konnte,
sodann die ganze Reihe bis zur Einprägung gelesen. Die so
elernten Reihen wurden nach 24 Stunden in der gewöhnlichen
eise (G-Verfahren) wieder erlernt. Die Versuchsergebnisse
sind für M. in Tabelle 6, für O. in Tabelle 7 zusammengestellt.
Aus Tabelle 6 ist zu entnehmen, dass das Lernen in Teilen sich
für M. weitaus als das günstigere erweist. Selbst die höchste
Lesungszahl 10 im ersten Versuche ist niedriger als die niederste,
die zur Erlernung einer achtstelligen Reihe nach dem G-Ver-
fahren in den Kontrollversuchen erforderlich war. Auch beim
Wiedererlernen nach 24 Stunden waren die jetzt nach dem
G-Verfahren erlernten T-Reihen im Vorteile. Da von den Ver-
gleichsreihen bloss drei nach 24 Stunden wiedererlernt wurden,
so berechnete ich das Mittel für die G-Versuche aus diesen und
Tabelle 6.
T-Reihen
Reihen- Erste
nummer | lernung | holung || nummer | Erlernung
lo
49 |14 67 8 6
G-Reihen
54 16 — | eo #847] 6
6e 18 — | 6 2+2 ia 8
e7 |wc] a | ee [#46 6
77 |15 7 a 2+2 ie 5
78 |14 s | 7 2t? ya 4
— — — | 7% er 3
den Versuchen mit verteilten Wiederholungen, die einer verhältnis-
mässig geringen Zahl von Lesungen für die zweite Erlernung nach
24 Stunden bedurften. Das Mittel betrug für die ursprünglich
nach dem T-Verfahren erlernten Reihen 4,7, für die G-Reihen 5.
Weniger einfach liegen die Verhältnisse bei O. Hier zeigte
sich in den ersten drei Versuchen das T-Verfahren entschieden
ne — —— — — — — — —
150 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
unvorteilhafter, indem zwei Reihen überhaupt nicht erlernt werden
konnten. Dieser Umstand weist auf besondere Störungen hin,
die sich dadurch ergaben, dass O. in dieser Versuchsperiode
Tabelle 7.
G-Reihen
Reihen- |Erste Er-
nummer | lernung
T-Reihen
Reihen-
nummer
Wieder-
holung Erste Erlernung
"EL um)
80 12 6 64 ate 11 —
61 13 7 65 2ta +13() (=| —
62 10 7 66 zte +9 4
— — — | 67 +3 +5 4
— — — 68 1+2 e 7
G-Reihen mit stärkerer Betonung des ersten, vierten und siebenten
Wortes las, durch das T-Verfahren aber dazu veranlasst wurde,
das erste und fünfte Wort zu betonen. Wurde nun nach Er-
lernung der beiden Reihenhälften die Reihe im ganzen gelesen,
so schwankte die Versuchsperson zwischen den beiden Rhythmen
und wurde dadurch sichtlich verwirrt. In den drei letzten Ver-
suchen wurde dagegen von ihr selbst der Rhythmus, mit dem sie
die beiden Hälften erlernt hatte, auch beim Lesen im ganzen
festgehalten, und damit führte auch bei ihr das T-Verfahren weit-
aus rascher zum Ziele.
Wir finden einen bemerkenswerten Gegensatz zwischen
unseren Versuchspersonen und dem Normalen, bei welchem das
Verhältnis zwischen G- und T-Verfahren am eingehendsten von
Steffens!) untersucht wurde. Die Genannte kommt zu dem
Ergebnisse, dass sowohl für Reihen sinnloser Worte als auch für
Gedichtstrophen das Lernen im ganzen vorteilhafter sei, als das
Lernen in Teilen. Dagegen nähert sich das Gedächtnis unserer
Versuchspersonen insofern dem kindlichen, als auch Kinder nach
den Untersuchungen von Pentschew Reihen sinnloser Silben
im ganzen schwerer lernen als in Teilen. Doch lernen Kinder
wie Erwachsene Strophen mit grösserem Vorteil beim Lernen im
1) L. Steffens, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom ökonomischen
Lernen. Zeitschr. f. Psychol. Bd. 22, S. 321—382
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 151
ganzen, während, wie bereits oben ausgeführt, von unseren Versuchs-
personen auch Gedichtstrophen in Teilen leichter erlernt
wurden. Die Erklärung des abweichenden Verhältnisses unserer
Versuchspersonen vom Normalen ergaben Versuche über das Be-
halten von Assoziationen. Diese zeigten, dass durch einmaliges
Lesen gestiftete Assoziationen überaus rasch abfielen, Danach ist
es begreiflich, dass Reihenglieder, die nicht wegen ihrer Stellung
von der Aufmerksamkeit besonders bevorzugt wurden, relativ
schwach haften blieben. Das T-Verfahren hob dagegen jene Asso-
ziationen auf eine Höhe, von der ein Abfall verhältnismässig
viel langsamer erfolgen konnte. Den Beweis für die Richtigkeit
dieser Deutung ergab ein Vergleich von Versuchen, in welchen die
Assoziationsstärke bei ein- oder zweimaligem Lesen von Wort-
aren nach gleichem zeitlichen Abstande mittels des Trefferver-
fohrens geprüft wurde. Vier Pare von leicht assoziierbaren ein-
silbigen Worten ergaben nach 3 Minuten bei einmaliger Lesung der
Reihe 24 pCt. Treffer. Wurde aber die Reihe 2 mal unmittelbar
hintereinander gelesen, dann betrug unter sonst gleichen Umständen
die Zahl der Treffer 62,5 pCt. Noch ein weiteres Moment kam
den T-Reihen deutlich zugute; nämlich das Geläufigerwerden der
'Reihenlesung durch kurz aufeinanderfolgende Wiederholungen.
Bekanntlich wies Ephrussi!) darauf hin, dass bei der Erlernung
eines ungeläufgen Stoffes eine Anzahl von Wiederholungen
darauf verwendet werde, denselben auf ein gewisses Niveau der
Geläufigkeit zu bringen. Für meine Versuchspersonen, die, wie in
‘einer früheren Arbeit?) gezeigt, schlechter auffassen als der
Normale, stellen auch schon sinnvolle Worte einen nicht ganz
geläufigen Stoff vor, wie auch die zahlreichen Verlesungen hewiesen.
Konnten solche Störungen beim G-Verfahren mitunter bis gegen
Ende der zum Erlernen erforderlichen Lesungen beobachtet werden,
so waren sie beim T-Verfahren, als zum Lesen der Reihe ım
ganzen übergangen wurde, nicht mehr zu beobachten. Es kommt
also im T-Verfahren bei unsern Patienten auch der Vorteil zum
Ausdruck, welchen Ephrussi beim H-Verfahren (gehäufte Wieder-
holungen) mit ungeläufigen Stoffen am Normalen beobachtete.
b) Lernen mit gehäuften und verteilten Wiederholungen.
Die Art der Strophenerlernung gab Anlass, eine zweite, für
die Oekonomie des Lernens wichtige Frage bei unseren Versuchs-
personen zu prüfen, nämlich nach dem Werte, welcher der Ver-
teilung von Wiederholungen für das Erlernen zukommt. Für den
Normalen gilt nach den Untersuchungen von Jost?), dass die aus-
gedehnteste Verteilung die günstigsten Resultate gäbe. Zum
1) P. Ephrussi, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis.
Zeitschr. f. Psych. Bd. 87, S.56—108, 161—234. 1904.
3) loc. cit.
3) A. Jost, Die Assozistionsfestigkeit in ihrer Abhängigkeit von der
Verteilung der Wiederholungen. Zeitschr. f. Psych. Bd. 14, 5. 436—472. 1897.
152 Gregor, Beiträge sur Kenntnis
Studium dieser Frage stellte ich bei M..8 Versuchsreihen mit
8 gliedrigen Reihen sinnloser Worte an. In der ersten hatte
die Versuchsperson 6 derartige Reihen in 8 Tagen (V-Reihen)
und 2 mal zu 8 Reihen (C-Reihen) in 3 Tagen zu erlernen.
Es wurde also die eine Gruppe von Reihen an 3 Tagen je 2 mal
und in den nächsten 4 Tagen je 3 mal exponiert und am
8. Tage zu erlernen gesucht (V-Reihen). Von den Ö-Reihen
wurden je 3 in 2 aufeinanderfolgenden Tagen je 9 mal gelesen
und am 3. Tage erlernt. In der 2. Versuchsreihe wurden in der
1. Gruppe 6 Reihen täglich je 8 mal gelesen und am 7. Tage
erlernt, mit den Reihen der 2. Gruppe ın gleicher Weise wie bei
der 1. Versuchsreihe verfahren. Selbstverständlich fand hier wie
in der folgenden Versuchsreihe möglichster Wechsel der Zeitlage
statt. Die Versuche führten zu dem Ergebnisse, dass sich
die weniger ausgedehnte Verteilung als die günstigere
erwies. In der 1. Versuchsreihe konnten von den V-Reihen
‘drei überhaupt nicht erlernt werden; zwei wurden nach einer (im
Vergleiche zur Erlernung ähnlicher Reihen in einer Sitzung) mittleren
Anzahl von Wiederholungen, eine nach einer verhältnismässig
geringen Wiederholungszahl erlernt. Von den C-Reihen wurde
bloss eine nicht erlernt, drei nach einer mittleren, zwei nach einer
verhältnismässig geringen Zahl von Wiederholungen. In der
2. Versuchsreihe wurden alle V-Reihen mit einer mittleren Zahl
von Lesungen erlernt (zusammen 83), von den C-Reihen bloss
eine mit einer mittleren Zahl, die übrigen nach verhältnismässig
wenig Lesungen (zusammen 47). In einer 3. Versuchsreihe wurde
eine noch stärkere Häufung von Lesungen angestrebt, indem jede
C-Reihe 18 mal exponiert und nach 24 Stunden erlernt wurde.
Diese Lesungszahl entspricht dem Maximum, welches ich den
Versuchspersonen, ohne sıe zu ermüden, zumuten darfte, da Reihen,
welche nach 18 Wiederholungen nicht erlernt werden konnten, in
der Regel für diese Sitzung unerlernbar blieben. Die Versuchs-
anordnung war derart, dass unter entsprechendem Wechsel der
Zeitlage an einem Tage zwei C-Reihen je 18 mal gelesen und
am folgenden Tage erlernt wurden, und daneben zwei V-Reihen
an zwei aufeinanderfolgenden Tagen je 9 mal gelesen und am
dritten erlernt wurden. Ein Vergleich mit Parallelreihen, welche
in der gleichen Versuchsperiode in erster Sitzung erlernt wurden,
ergab, dass sowohl die Ö-Reihen als auch die V-Reihen mit
Ersparnis gelernt wurden; doch erfolgte das Erlernen der V-Reihen
mit einem viel grösseren Aufwande an Wiederholungen, indem
8 derartige Reihen in zusammen 71 Lesungen und ebensoviel
C-Reihen in zusammen 54 Lesungen erlernt wurden. Wir finden
also auch bei der stärksten Häufung von Wiederholungen,
die bei unseren Versuchspersonen vorgenommen werden
konnte, die weniger ausgedehnte Verteilung als die
günstigere.
Diese Abweichung vom Normalen erklärt sich aus dem relativ
raschen Abfall der Assoziationen bei der Korsakoffschen
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 163
Psychose. Während z. B. von Ebbinghaus eine Nachwirkung
einer einmaligen Erlernung noch nach 31X24 Stunden konstatiert
wird, ist eine solche bei M. für sinnlose Worte kaum mehr nach
2X24 Stunden zu bemerken. Der Wert einer weiter zurück-
liegenden Lesung für die Erlernung einer Reihe ist also bei
unseren Patienten verhältnismässig viel geringer als beim Normalen.
Man könnte danach vermuten, dass der Aufwand an Lesungen
in jenen Fällen (Strophen), wo wir auf eine Verteilung der Wieder-
holungen über einen grösseren Zeitraum angewiesen waren, ver-
hältnismässig sehr gross war. Doch dürften sich in dieser Hinsicht
zusammenhängende Wortreihen von unzusammenhängenden unter-
scheiden, da, wie oben bereits angeführt, der Abfall der Assoziationen
bei jenen viel weniger steil ist.
Bildung und Abfall rückläufiger Assoziationen.
Eine Anzahl von Versuchsreihen diente dem Studium rück-
läufiger Assoziationen bet unseren Versuchspersonen. In einer
Versuchsgruppe hatte M. 9 7stellige Reihen sinnloser Worte bis
zur Einprägung zu lernen und jede Reihe nach der sonst zwischen
2 Versuchen üblichen Pause in umgekehrter Folge sich einzuprägen.
Hierbei war zur Erlernung der Umstellungsreihen eine geringere
Anzahl von Lesungen erforderlich, und zwar wurden die Normal-
reihen nach insgesamt 96, die Umstellungsreihen nach 63 Wieder-
holungen erlernt. Da es bei derartigen Versuchspersonen besonders
nahe liegt, die erzielte Ersparnis darauf zurückzuführen, dass die
Worte der Umstellungsreihen bekannt waren und geläufiger ge-
lesen werden konnten, so wurden in 6 Kontrollversuchen Vergleichs-
‘reihen in der Weise hergestellt, dass die einzelnen Vergleiehs-
reihen die Worte der entsprechenden Normalreihen in unbestimmter
Folge enthielten. In diesem Falle wurde nur eine Vergleichsreihe
mit einer geringeren Anzahl von Lesungen erlernt. In einer weiteren
Versuchsgruppe wurden $gliedrige Reihen sinnloser Worte durch
wiederholte Erlernung in aufeinanderfolgenden Tagen gut ein-
geprägt und nach der letzten Erlernung in umgekehrter Folge
gelernt. Unter 5 Versuchen ergab nur einer eine Ersparnis beim
Erlernen der Umstellungsreihe, 4 derselben konnten überhaupt
nicht erlernt werden, während von den Normalreihen bloss 2 in
der 1. Sitzung nicht erlernbar waren. 3 ähnliche Versuche mit
8gliedrigen Reihen sinnvoller Worte ergaben 2mal Ersparnis,
einmal nicht. Da diese Versuchsresultate auf ein besonderes
Verhalten der gut eingeprägten Reihen hinzuweisen schienen, so
wurden 6 von den in der 1. Versuchsgruppe verwendeten Reihen
durch wiederholtes Erlernen an aufeinanderfolgenden Tagen gut
eingeprägt und nach der letzten Erlernung in umgekehrter Reihen-
folge erlernt. In allen Fällen lag die Zahl der erforderlichen
Lesungen unter dem Mittel der zur Erlernung von Vergleichs-
reihen nötigen. Ein Kontrollversuch wurde jetzt in der Weise
vorgenommen, dass aus sämtlichen Silben der NormalreihenKontroll-
154 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
reihen gebildet wurden, in denen die Silben in bunter Folge ver-
teilt waren. Diese Reihen wurden von M.in ungefähr ebensoviel
Lesungen erlernt wie neue Reihen.
Zunächst ist es als erwiesen zu betrachten, dass auch bei
meinen Versuchspersonen die Ersparnis bei Erlernung der umge-
kehrten Reihen auf die Wirksamkeit rückläufiger Assoziationen
zurückzuführen ist. Wir haben uns nunmehr mit der Frage zu
beschäftigen, wodurch das schwerere Erlernen der umgekehrten
Sgliedrigen, gut eingeprägten Reihen bedingt war. Örientieren
wir uns zunächst über die von unseren Versuchspersonen beim
Erlernen umgekehrter Reihen überhaupt gemachten Febler.
Nach den Versuchsprotokollen wirkten in erster Linie Stellen-
assoziationen hindernd auf das Erlernen der Vergleichsreihen. Glieder
der Normalreihe traten hier an homologen Stellen der Vergleichs-
reihe auf. Ein weitere Störung bestand darin, dass von einem
Punkte der Vergleichsreibe, wo die Versuchsperson unsicher zu
werden begann, die Reihe verkehrt, also im Sinne der Normal-
reihe aufgesagt wurde. (Normalreihe: abcdefg, Vergleichs-
reihe genannt gfedefg). Endlich drängten sich Worte, die
durch ihre Stellung in der Normalreihe fester eingeprägt wurden,
an die bezeichneten Punkte der Vergleichsreihe und wirkten
assoziativ im Sinne der Normalreihe (Normalreihe: abcedefg,
Vergleichsreihe genannt: g f e a b c d). Das Zustandekommen
derartiger Störungen scheint bei unseren Versuchspersonen durch
2 Momente besonders gefördert zu werden: 1. die geringe Wirk-
samkeit der einzelnen Lesung, die am klarsten dadurch hervor-
tritt, dass O. nach der ersten Lesung einer neuen Reihe die letzt-
erlernte ganz oder teilweise hersagte, 2. die Kritiklosigkeit, mit
der unsere Patienten ihren eigenen Aussagen gegenüberstehen;
bei der Raschheit des Vergessens kommt ihnen wohl der Wider-
spruch, die eben genannten Anfangsglieder der Reihe in ver-
kehrter Reihenfolge aufzusagen, gar nicht zum Bewusstsein.
Während die an zweiter Stelle genannten Fehler bloss in
einzelnen Versuchsreihen auftraten, konnte die Störung durch
Stellenassoziationen fast in allen Versuchen beobachtet werden,
und zwar am stärksten in jenen, wo die Erlernung der umgekehrten
Reihen mit grösserem Aufwande an Wiederholungen als zur Er-
lernung der Normalreihen erforderlich war, geschah. Fast aus-
schliesslich waren es hier die letzten 2 Worte der Normalreihe,
welche bei Reproduktion der umgekehrten Reihen an ihre alte
Stelle traten. Bekanntlich werden aber die 2 letzten Worte einer
Reihe relativ rasch erlernt, während die folgenden Lesungen der
assoziativen Verknüpfung der Mittelglieder mit den Anfangsgliedern
dienen. Da diese Lesungen aber auch den letzten Reihengliedern
zugute kommen, so muss sich deren Assoziation mit ihrer Stellung
in der Reihe in dem Masse festigen, als die Reihe mit grösserem
Arbeitsaufwande gelernt wird. Wir finden es also begreiflich,
dass die Stellenassoziation gerade bei Erlernung jener Umstellungs-
reihen, in besonderem Masse hemmend wirkte, deren Normal-
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 155
reihen mit relativ grossem Aufwande von Wiederholungen erlernt
werden mussten (8stellige Reihen sinnloser Worte).
Eine weitere Versuchsreihe sollte über den Abfall rück-
läufiger Assoziationen in der Zeit orientieren. Zu diesem Zwecke
wurden sechs- sieben- und achtgliedrige Reihen sinnloser Silben
in einer Sitzung erlernt und nach 24 Stunden in umgekehrter Folge
wiedererlernt. Hierbei bestand kein Unterschied in der Erlernung
von Normal- und Umstellungsreihen hinsichtlich der Lesungszahl.
Da die Wiedererlernung der gleichen Rcihe in allen früheren Ver-
suchen eine ausgiebige Ersparnis ergab, so müssen wir danach
annehmen, dass die Assoziation von einem Gliede zum vor-
hergehenden in der Zeit rascher abfalle, als die Asso-
ziation zum folgenden Gliede,
Zu dieser Annahme ist man um so mehr berechtigt, als bei
dieser Versuchsanordnung sich die früher besprochenen die Er-
lernung umgekehrter Reihen hemmenden Momente nicht mehr
geltend machten. Eine nähere Bestimmung des Abfalles der
rückläufgen Assoziationen war bei meinen Versuchspersonen
wegen der in der Einleitung erwähnten Schwierigkeiten untunlich.
Die zweite Versuchsperson O. lernte 6 Vergleichsreihen, welche
durch Umkehr von Normalreihen gewonnen wurden, bei einem
zeitlichen Abstande, welcher der gewöhnlichen Pause entsprach,
mit Ersparnis, und zwar wurden die Normalreihen in zusammen
79, die Vergleichsreihen in 47 Wiederholungen erlernt. In einer
weiteren Versuchsgruppe handelte es sich um Erlernung von Ver-
gleichsreihen, welche durch Umkehr von wiederholt eingeprägten
Normalreihen gebildet wurden. In 9 Versuchen, in denen die letzte
Erlernung der Normalreihe und die Erlernung der Umstellungs-
reihe durch die zwischen den Versuchen übliche Pause getrennt
war, zeigte sich die Umstellungsreihe 6mal schwerer erlernbar. Die
Art der Hemmungen stimmt mit der oben für M. besprochenen
überein. In einer weiteren Versuchsreihe wurde der Abstand
zwischen Erlernung der gut eingeprägten Normalreihe und der
Umstellungsreihe grösser gewählt und je 3 umgekehrte Reihen
nach 24, 2X 24 und 20 X 24 Stunden erlernt. Die letzte Gruppe
von Umstellungsreihen wurde in gleicher Weise und nach gleich
viel Wiederholungen wie gleich lange Parallelreihen erlernt. Stellen-
assoziationen der Normalreihen machten sich auch hier, wiewohl
in wenig störender Weise, geltend. Dagegen nähern sich die
Versuche mit 24- und 48stündigem Intervall zwischen letzter
Wiederholung der Normalreihe und Erlernung der Umstellungs-
reihe in der Art der Erlernung bedeutend jenen Versuchen, wo
beide Erlernungen in der üblichen Pause von 3 bis 5 Minuten von
einander abstanden.
Festigkeit der Einprägung einmaliger Eindrücke.
Die oben besprochenen Gedächtnisversuche vermochten uns
über die Festigkeit der Einprägung einmaliger Eindrücke in Ab-
— — —— — — —
156 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
hängigkeit von der Zeit nur wenig Aufschluss zu geben. Die
genauere Kenntnis dieses Verhältnisses ist aber mit Räcksicht
auf die Wichtigkeit des Behaltens einmaliger Eindrücke für
das gewöhnliche Leben von grossem Interesse. Eine An-
lehnung an die früheren Versuche erschien hier untunlich, denn,
wie bereits erwähnt, musste nach dem Durchlesen der Reihe eine
Ablenkung unserer Versuchspersonen erfolgen. War dies aber
einmal geschehen, dann gelang es nur schwer, sie wieder zu der
gewünschten Reproduktion zu veranlassen. Sollte dieselbe zudem
auch noch in einem bestimmten Zeitpunkte einsetzen, so musste
ein Glied der zu reproduzierenden Reihe exponiert werden. Damit
sind wir also auf das Treffer-Verfahren geführt. Der Verwendung
desselben für unseren Zweck stana aber wieder die Erfahrung
entgegen, dass durch einmaliges Lesen von Reihen, deren Glieder
inhaltlich nicht verknüpft waren, bei unseren Versuchspersonen
nur sehr unbeständige Assoziationen gebildet wurden.
Ich suchte daher ihre Bildung durch Wahl möglichst leicht
assoziierbarer Worte zu erleichtern. Die Versuche bestanden
darin, dass Reihen leicht assoziierbarer Wortpare vorgeführt
wurden und die Versuchsperson den Auftrag bekam, bei späterer
Exposition des ersten Qliedes das zweite zu ergänzen. Eine
wesentliche Schwierigkeit lag natürlich darin, für alle Versuchs-
perioden das Material gleichwertig zu gestalten. Assoziationen
zwischen verschiedenen Wortparen bleiben ungleich fest haften,
und gerade bei unseren Versuchspersonen war nach der klinischen
Erfahrung auf individuelle Schwankungen besonders zu rechnen.
Das Wesen der Korsakoffschen Geistesstörung legte einen
einfachen Ausweg nahe, in allen Versuchsperioden nach ent-
sprechendem zeitlichen Abstande das gleiche Material zu ver-
wenden. Es wurde darum zwischen der Exposition der gleichen
Wortpare stets ein Zeitraum von mehreren Wochen eingeschaltet,
zudem die einzelnen Versuche derart verteilt, dass auf jedes
Intervall ungefähr gleichviele 1, 2. . . Lesungen kamen. So ein-
leuchtend es erscheint, nach einem solchen Zeitraume einmal
gestiftete Assoziationen bei Korsakoffschen Patienten als er-
loschen zu betrachten, so blieb hier doch noch eine Fehlerquelle
zu berücksichtigen, die weiter unten erörtert wird.
Zu diesen Versuchen benutzte ich die von Ranschburg
auf käuflichen Bogen!) zusammengestellten Wortpare, die ich
durch ähnliche Zusammensetzungen aus den Wirthschen Bogen
ergänzte. Stets wurden je 4 Wortpare hintereinander gelesen.
Diese Anzahl stellte bei meinen Versuchspersonen das Optimum
vor, da bei der Vorführung einer grösseren Zahl von Reizparen
relativ weniger behalten wurde; jedes Wortpar blieb 2 Sekunden
exponiert, welche Zeit sich bei den Versuchspersonen zum bequemen
Lesen als notwendig erwies. Nachdem die Reihe abgelaufen, wurde
in einer Versuchsgruppe nach 5 Sekunden das erste Wort neuer-
1) Bei E. Zimmermann, Leipzig.
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 157
lich exponiert. Bei diesem Intervalle, das der oben erwähnten
Latenzzeit bei M. entspricht, wurden in den Vorversuchen, welche
das günstigste Intervall bestimmten, die meisten Treffer erzielt.
In weiteren Versuchsgruppen erfolgte die Exposition des Reiz-
wortes 1—3—5—10 Minuten nach Lesen des letzten Wortpares.
Da die Verauchspersonen das Bestreben zeigten, nach Ablauf der
Reihe die haften gebliebenen Glieder im Stillen zu wiederholen
und dadurch unkontrollierbare Versuchsbedingungen entstanden
wären, so lenkte ich jedesmal nach ungefähr 5 Sekunden ihre
Aufmerksamkeit durch eine ganz gleichgültige, ziemliche stereotype
Frage ab. Damit ist man natürlich bei Korsakoffschen Geistes-
kranken gesichert, dass keine weitere bewusste Verarbeitung des
Stoffes erfolgt und kann sie hierauf für den Rest der Pause sich
selbst überlassen.
Eine naheliegende Fehlerquelle unserer Versuche bildet das
Erraten des zweiten Wortes. Zur Beschränkung derselben wurde
einmal bloss das Reizwort exponiert und wenn die Versuchs-
person das zweite erriet, dieses in der Reihe durch ein neues
ersetzt. Die nähere Feststellung der Fehlergrösse ergab, dass bei
erstmaligem Lesen M. 8 pCt., O. 14 pCt. der Worte erriet. Wurde
nun die Reiztafel in der erwähnten Weise verändert, dann betrug
die Zahl der erratenen Worte bei M. O pCt. bei O. 4 pCt.
Während der Untersuchung wurde ich auf eine weitere
Fehlerquelle aufmerksam. Gewisse Assoziationen erwiesen sich
im Gegensatz zu andern als ganz besonders fest. Zum Zwecke
der Vergleichbarkeit des Materiales suchte ich derartige Versuche
auszuschalten, indem ich die Resultate derjenigen nicht weiter
verwendete, in denen die Versuchsperson eine Woche nach Ab-
schluss der Untersuchung bei blosser Vorführung des Reizwortes
mit dem zweiten Worte der Tafel reagierte. Im ganzen verfügte
ich bei diesen Versuchen nach Vornahme der erwähnten Aus-
schaltungen für beide Versuchspersonen ungefähr über 100 Wort-
pare.
Im Gegensatz zu den Vergleichsversuchen am Normalen
zeigten die falschen Angaben meiner Versuchspersonen eine ge-
wisse Konstanz, Von 36 Fällen, in denen O. nach 8, 5, 10
Minuten ein anderes Wort als er gelesen, assoziierte, lautete dieses
22 mal in allen drei Perioden gleich, obzwar zwischen den ein-
zelnen Versuchen ein Zeitraum von mehreren Wochen lag. Bei
M. betragen die gleichen Werte 32 und 23; dabei fiel auf, dass
eine grosse Zahl dieser falsch assoziierten Worte in früheren Ver-
suchen tatsächlich exponiert, später aber durch ein anderes Wort
ersetzt wurde. Dies führte zu der Vermutung, dass zwischen den
zwei Worten schon in den ersten Lesungen eine festere Assoziation
gebildet worden sei. Die nähere Bestimmung konnte nur nach
Elimination der erratenen Assoziationen erfolgen. Unter Berück-
sichtigung derselben fand ich, dass bei M. in 10 pCt., bei O.
in 8 pCt. der Fälle durch einmaliges Lesen festere
158 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
Assoziationen gestiftet wurden. Bisher konnte eine
Dauer von 3 Monaten festgestellt werden, was insofern
besonders bemerkenswert erscheint, als weitaus die Mehrzahl der
übrigen Assoziationen schon etwa nach 10 Minuten in Vergessen-
heit gerät. Es dürfte sich hierbei wohl um dieselbe Tatsache
handeln, die klinisch als Merkfähigkeitsrest bezeichnet zu
werden pflegt.
Die Ergebnisse der Versuche, soweit sie die Abhängigkeit
des Behaltens von der Zeit betreffen, sind in Kurven (Fig. 5 u. 6)
dargestellt.
pCt. Fig. 5. pCt. Fig. 6.
d
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O
Die Abszisse derselben entspricht der nach dem Lesen ver-
flossenen Zeit, die Ordinate der Zahl der Treffer in Prozenten.
Da im Momente des Lesens sich beide Worte im Bewusstsein
der Versuchsperson befinden, so wurde über den Punkt O der
Abscisse die Ordinate 100 aufgetragen. Der nächste Abszissen-
punkt entspricht der Zeit, welche vom Lesen eines Wortpares
bis zur Exposition des ersten Wortes verfioss, und wobei nach
Ablauf der Reihe eine Pause von 5 Sekunden eingeschaltet wurde.
Beim Auftragen der übrigen Abszissenpunkte wurde die für das
Lesen der Reihe erforderliche Zeit (8 Sekunden) vernachlässigt.
Kurve 5 wurde nach den Versuchen bei M., Kurve 6 nach denen
bei O. entworfen. Wir finden in beiden Fällen nach den ersten
13 Sekunden eine überaus rasche Abnahme der behaltenen Worte.
Auch ın den folgenden Minuten wurde rasch vergessen, so dass
M. 3 Minuten nach der Exposition nur noch 80 pCt., O. 24 pCt.
Treffer aufzuweisen hat. Schon in den folgenden 2 Minuten ist
die Abnahme weit weniger stark, und im Laufe der nächsten
5 Minuten wird fast gar nichts mehr vergessen. Durch den raschen
Abfall im ersten Teile und dem allmählichen im zweiten ent-
sprechen die Kurven jener, die nach den früher besprochenen Ge-
dächtnisversuchen für O. zu konstruieren wäre, Sie stimmen ferner
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 159
hierin mit der von Ebbinghaus für den Normalen entworfenen
Gedächtniskurve überein. Allerdings sind die quantitativen Unter-
schiede gegenüber dem Normalen, wie mir vergleichende Versuche
zeigten, sehr bedeutend. Ä
Bei Brodmanns Patienten machte sich ein noch stärkerer
Abfall der Assoziationen in der Zeit geltend. Sein Pat. H. ver-
gass während der Höhe der Erkrankung nach 60 Sek. bereits
50 pCt., sein Pat. M. vergass 30 pCt. der unmittelbar nach einer
vorausgegangenen Einprägung behaltenen und richtig reproduzierten
Silben. Bei meiner ersuchsperson M. sank die Trefferzahl in
3 Minuten von 66 auf 80 pCt.; bei O. von 57 auf 24 pCt.;
allerdings handelte es sich bei den Versuchen Brodmanns um
sinnlose Worte, die durch mehrfache Wiederholung eingeprägt
wurden, in meinen Versuchen um imal gelesene Reihen sinnvoller,
leicht assoziierbarer Worte. Dabei scheint es ir Brodmanns
Versuchen zu keinen festeren Assoziationen gekommen zu sein,
da seine Versuchsperson M. selbst nach 2maliger Einprägung
einer Reihe keine Treffer mehr lieferte, wenn die Merkzeit !/, Stunde
betrug.
Versuche über Wıedererkennen.
Eine genauere Untersuchung der Sicherheit des Wieder-
erkennens in Abhängigkeit von der Zeit ist bei unseren Versuchs-
personen durch die klinische Beobachtung nahe gelegt, welche
ehrt, dass bei Korsako ffscher Geistesstörung grobe Täuschungen
nach beiden Richtungen hin erfolgen. Da das Studium reproduk-
tiver Funktionen bei beiden Versuchspersonen ungleich tiefe
Störungen ergab, so können wir uns nunmehr die Frage vorlegen:
besteht nach unserem Versuchsmateriale ein Parallelismus zwischen
der Störung des Wiedererkennens und der Reproduktion von
Vorstellungen ?
Die Versuche wurden zum Teil den Gedächtnisversuchen
direkt angeschlossen, indem ich nach Erlernung einer 8gliedrigen
Reihe in einem bestimmten zeitlichen Intervall eine neue
Reihe vorführte, in der 4 Worte der früheren enthalten waren;
für jedes Intervall wurden 10 Versuche angestellt; ergänzend
traten dazu Versuche, in denen eine Reihe wiederholt exponiert
wurde und die Versuchspersonen den Auftrag hatten, sie auf-
merksam zu lesen, worauf wieder eine Reihe zum Vergleiche vor-
geführt wurde. Dass auch hier mit genügender Aufmerksamkeit
gelesen werde, suchte ich dadurch zu erzielen, dass die Versuchs-
erson während des Lesens im unklaren gelassen wurde, ob am
Schlusse der Lesungen eine Reproduktion der Reihe erfolgen
sollte oder nicht. Auch bei diesen Versuchen wurde die Versuchs-
person nach Beendigung der Lesungen respektive der Reproduk-
tion in der oben erwähnten Weise abgelenkt. Die Reaktion hatte
mit „dagewesen“ oder „noch nicht“ zu erfolgen; bemerkenswert
erscheint, dass M. nach der Affirmation mitunter „aber nicht
heute“ hinzufügte. Es entspricht dies der Neigung dieses In-
160 Gregor, Beiträge zur Kenntnis
dividuums, vor kurzer Zeit erlebte Eindrücke oder Begebenheiten
ın weitere Ferne zu verlegen. Das Bedenken gegen die Ver-
wendung eines ungleichwertigen Materiales fiel bei den Erkennungs-
versuchen besonders schwer in die Wage. Von vornherein erschien
es zweckmässiger, zu diesen Versuchen statt sinnvoller Worte
Zahlen oder sinnlose Worte zu wählen, doch musste ich davon
nach den Vorversuchen Abstand nehmen, weil selbst nach einer
möglichst häufigen Wiederholung der Reihe (nach dem oben
Gesagten war ja die Zahl wirksamer Expositionen beschränkt)
das Gefühl der Unsicherheit noch so so stark war, dass die
Versuchspersonen sich auf Raten verliessen. Da sich O. zu Ver-
suchen mit sinnlosen Worten nicht eignete, so blieb ich auf sinnvolle
Worte angewiesen. Die genannte Fehlerquelle liess sich jedoch
dadurch beschränken, dass in den Vergleichsreihen stärker gefühls-
betonte Worte nicht verwendet wurden. Anhaltspunkte hierfür
ergaben sich, wie erwähnt, aus der Art der Reihenerlernung. Die
Verwendung der von Reuther!) zu Wiedererkennungsversuchen
empfohlenen Methode der identischen Reihen schien für meine
Zwecke ungeeignet, da sie kein Urteil darüber gestattet, ob
die Versuchsperson ‚sich auf Raten verlässt und ob bei ihr
die Neigung besteht, Unbekanntes als bekannt zu bezeichnen.
Zur Technik erübrigt noch, zu bemerken, dass Worte, die in der
Normalreihe an erster oder letzter Stelle standen, nicht in die
Vergleichsreihe aufgenommen wurden. Dass auf diese Weise tat-
sächlich eine gewisse Gleichmässigkeit erzielt wurde, folgt schon
daraus, dass bei M. nach einer bestimmten Zeit kein Wort mehr
wiedererkannt wurde, zudem rechtfertigte auch eine niedrige mittlere
Variation das Verfahren. Das Urteil „dagewesen“ oder „noch
nicht“ wurde meist auf Grund des unmittelbaren Eindruckes
abgegeben. Bloss zweimal kam der Fall vor, dass die Versuchs-
person nach einigem Nachdenken das benachbarte Wort der Reihe
nannte und dann das exponierte Wort als bekannt bezeichnete.
Die bei der Versuchsperson O. erhaltenen Resultate sind in
den Tab. 8—10 enthalten. Ihre Werte geben die relative Zahl
der erkannten Glieder an. Jenen Werten, welche die falschen
Fälle ausdrücken, wo also ein neues Wort bekannt erschien, wurde
ein f hinzugesetzt. Tab. 8 zeigt, dass die Sicherheit des Wieder-
erkennens mit der Zahl der Erlernungen zunehme. In ihr sind
Tabelle 8.
Ordnungszahl der I 1.1
Erlernung 1 2 3 | 4 5 6 7
Nach 3 Minuten durch-
schnittlich erkannt 1,6 | 2,6 12,2:
2,6 | 2,4 | 3,5
1) F. Reuther, Beiträge zur Gedächtnisforschung. Psycholog. Stud.,
Bd. 1, S. 4—101, 1905.
der Gedächtnisstöräng bei der Korsaköffschen Psychose. 161
Tabellé 9. . nm el
` Minuten nach | J
Erlernung 1 g` T | e
8 b Einmal . oe. 7
Er erlernt | 2,4 ost 1,6. sa
Mi Mehrmals " ea
ea erlernt 3,0 oat 2,4 0,31 2,1 | Je
Tabelle 10.
Minuten nach o
Erlernung 1 5 10
Nach 10mal
i .
Lesen erkannt || 4,0 os: | 3,0 ost | 0,8 ost
die Werte für jene Reihen zusammengestellt, die in mehreren
aufeinanderfolgenden Tagen wiederholt erlernt wurden. Die
Zahl 2,4 (Tab. 9) entspricht dem relativen Wert der erkannten
Reihenglieder eine Minute nach der 1. Erlernung. der Reiben, die
‘durchschnittlich nach 18 Lesungen erfolgte. Der gleiche Wert
für ältere Reihen, welche nach durchschnittlich 3,8 Lesungen
erlernt wurden, beträgt 3. Ferner ist aus der Tabelle zu ent-
nehmen, dass mit der Vergrösserung des Intervalles die Zahl der
erkannten Worte rasch abnimmt. Sie beträgt für alte Reihen nach 1,
nach 3 und 5 Minuten 8, 2,4, 2,1. Ueberblicken wir noch die
in Tab. 10 enthaltenen Versuchsresultate, welche die Versuche
mit wiederholter Exposition ohne Erlernung der heihe ergaben.
Da es sich hier um neue Wortreihen handelt, so sind die Resultate
mit den bei erster Erlernung von Wortreihen zu vergleichen. Wir
finden hier beträchtlich höhere Werte, obzwar die Zahl der
Wiederholungen geringer war, als die durchschnittlich zum ersten
freien Hersagen erforderlichen. Es genügt somit eine kleinere
Zahl von Lesungen, um eine gleiche Zahl von Worten wieder-
zuerkennen, wenn die Reihe einfach gelesen, .als wenn sie zugleich
auch reproduziert wird. Die Erklärung für. diese Erscheinung
dürfte darin zu suchen sein, dass bei Erlernung einer Wortreihe
auch viele in der Reihe nicht vorkommenden Worte genannt
wurden, was zerstreuend, also auf das Wiedererkennen der Reihen-
glieder schädigend wirken muss.
Die Versuchsresultate, welche bei M. gewonnen wurden,
sind in Tab. 11 und 12 enthalten, Ein Vergleich der für M. ge-
fundenen Werte zeigt eine Zunahme der erkannten Glieder mit
der Zahl der Lesungen (Tab. 12), indem bei 6 Lesungen nach
‚einer Minute durchschnittlich 1, nach 10 Lesungen durchschnitt-
lich 1,6 Glieder erkannt wurden. Ferner nimmt die Zahl der
erkannten Glieder mit zunehmender zeitlicher Entfernung von der
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 9. Li
‚162 | Gregor, Beiträge zur Kenntnis.
Exposition ab. Das Absinken ist bei den Versuchen, in denen
die Reihe bloss gelesen wurde (Tab. 12), weit steiler als in den
Versuchen, in denen die Reihen zugleich reproduziert wurden. Be-
merkenswert erscheint, dass im Gegensatz zu O. die Versuche
mit blossem Lesen der Reihe weniger Treffer ergaben, als die
Versuche mit Erlernung der Reihen; tatsächlich spielte bei M.
auch jenes Moment eine geringere Rolle, welches wir bei der
Einprägung der Reihen als das Wiedererkennen schädigend an-
sehen müssen, nämlich die Nennung von Worten, die ın der Reihe
nicht vorkamen.
Tabelle 11.
Minuten nach Erlernung 1 3 5
Erkannte Glieder. . . 21 1,403. 1,4
Tabelle 12.
Minuten nach Exposition . . . . 1 3 5
12: 6 mal gelesen . 1
Erkannte Glieder | 10 mal gelesen . 1,6 1,4 O0, 2041.
Die Zahl der falschen Fälle, wo also ein noch nicht ge-
lesenes Wort als bekannt angesprochen wurde, ist bei beiden
Versuchspersonen geringer, als nach der klinischen Erfahrung zu
erwarten stand. Eine Erklärung dürfte in, bei den Versuchen
dem gewöhnlichen Verhalten gegenüber, wesentlich verschiedenen
Aufmerksamkeitsbedingungen zu suchen sein.
Vergleicht man endlich noch die Leistungen beider Versuchs-
ersonen, so zeigt sich erstens, dass O. in den entsprechenden
ersuchen mehr Treffer aufzuweisen hat als M., zweitens, dass
bei O. die Zahl der erkannten Glieder mit der Zeit viel langsamer
als bei M. absinkt. So erkennt O. bei 10 Lesungen nach
5 Minuten 3 Glieder, nach 10 Minuten noch 0,8; M. nach 5 Minuten
durchschnittlich nur noch 0,2. Dieser Gegensatz ist um so auf-
fälliger, als M. in den Gedächtnisversuchen entschieden bessere
Leistungen aufzuweisen hatte, ferner bei ihm die Abnahme der
durch einmalige Erlernung geschaffenen Dispositionen zum Wieder-
erlernen weniger steil war, endlich bei ihm auch die Kurve für
die Abnahme der Trefferzahl mit der Zeit langsamer absank als
bei O. Dies Ergebnis kann nach den Untersuchungen von
Gamble und Calkins!), welche den Beweis erbrachten, dass
das Wiedererkennen nicht lediglich auf reproduzierten Vorstellungen
beruhe, nicht weiter befremden.
Beim Patienten M. von Brodmann machten im Höhe-
stadium der Erkrankung die falschen Fälle der fremden Silben
in 2 Versuchsreihen 25 und 26 pCt. aller Reaktionen aus, d. h.
von den vorgeführten, noch nicht vorgelesenen Silben wurden 25
resp. 26 pCt. als bekannt bezeichnet. In der Grenesungsperiode
yi E. A. Mc. Gamble und Mary Whiton Calkins, Die reprodazierte
Vorstellung beim Wiedererkennen und beim Vergleichen. Zeitschr. f. Peycholog.
Band 32. S. 177—199. 1908.
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoffschen Psychose. 168
machte gerade dieser Fehler, wie bei meinen Patienten, eine nur
sehr geringe Prozentzahl aus.
Zusammenfassende Vebersicht der Versuchsresultate.
Bei beiden Versuchspersonen konnte eine Nachwirkung ein-
mal geschaffener Dispssitionen zur Reproduktion nachgewiesen
werden. Letztere erwies sich am stärksten bei zusammen-
hängenden Wortreihen (Gedichtstrophen und Prosa) schwächer
bei Reihen sinnvoller Worte, am schwächsten, bei Reihen von
sinnlosen Worten, indem z. B. für die Versuchsperson M. bei
einmaliger Erlernung einer Reihe sinnloser Worte eine Nach-
wirkung nur über 2 X 24 Stunden, für Reihen unzusammen-
hängender sinnvoller Worte über 4 X 24 Stunden, für Gedicht-
strophen bis zu 10 X 24 Stunden nachgewiesen werden konnte.
Die Stärke der Reproduktionsdispositionen nahm mit der Zahl
der Wiedererlernungen eines Stoffes zu.
Bisher konnte bei O. nach der 9. Erlernung einer Reihe
noch eine Dauer der Nachwirkung über 150 Tage, bei M. nach
der 7. über 150 Tage festgestellt werden. Der Abfall von Asso-
ziationen in der Zeit stellte sich bei O. als eine Kurve dar,
welche der Kurve des Normalen in ihrem anfänglichen Verlaufe
entspricht, sich aber von ihr wesentlich durch die frühe Be-
rührung der Abszisse unterscheidet. Ein auffallender Gegensatz
ergab sich bei M. zwischen der Erlernung unbekannten und
bereits in der Schule erlernten Stoffes, indem Strophen, welche
die für M. in einer Sitzung nicht erlernbaren um das Doppelte
an Länge übertrafen, von ihm in diesem Falle nach 1—2 Lesungen
frei hergesagt werden konnten.
Einseitige Uebung des Gedächtnisses beider Versuchs-
personen bewirkte eine gesteigerte Leistungsfähigkeit nicht ge-
übter „Spezialgedächtnisse“,
Im Gegensatz zum Normalen erwies sich bei der Erlernung
von Reihen sinnloser Silben eine ausgedehntere Verteilung von
Wiederholungen als weniger günstig, als deren Häufung. Der
Grund ist in dem verhältnismässig raschen Abfalle der Asso-
ziationen bei unseren Versuchspersonen zu suchen.
Bei dem von mir verwendeten Materiale (sinnlose Worte,
unzusammenhängende sinnvolle Worte, Gedichtstrophen) erwies
sich das Lernen in Teilen vorteilhafter als das Lernen im ganzen.
Der Grund hierfür liegt 1. in dem verhältnismässig viel lang-
sameren Abfalle von Assoziationen, die durch 2maliges Lesen,
gegenüber solchen, welche durch einmaliges Lesen gestiftet werden;
2. ın dem rascheren Geläufigwerden des Stoffes beim Lesen des-
selben in Teilen.
Bei der Erlernung der Reihen sinnvoller und sinnloser
Worte wurden auch rückläufige Assoziationen gebildet. Ihre
Wirksamkeit war unter besonderen Umständen (festere Ein-
11*
164 ` Gregor, Beiträge zur Kenntnis
prägung der Normalreihen) durch Stellei-Assoziationen etc; ger
stört. Die Assoziationen von einem Reihengliede zum folgendan
zeigten einen langsameren Abfall in der Zeit als die zum voran-
gehenden Gliede.
Die bei der Reproduktion begangenen Fehler bestanden i
Auslassungen und ın der Nennung falscher Worte. Bei M. über-
wogen entschieden die Auslassungen, bei O. die falschen Fälle,
wodurch sich M. dem Normalen, O. dem Korsakoffpatienten
ım Höhestadium der Krankheit nähert. Bemerkenswert war bei
O. die starke Perseverationstendenz: an Stelle der neu zu er-
lernenden, zusammenhängenden oder unzusammenhängenden Wort-
reihen wurde nach den ersten Lesungen ein mehr oder weniger
grosser Teil der letzterlernten Reihe genannt.
Versuche über das Behalten von Assoziationen, die durch
einmaliges Lesen gestiftet wurden, ergaben für deren Abfall in
der Zeit eine Kurve, welche in ihrem anfänglichen Verlauf steil,
im weiteren langsam abfällt. Bemerkenswert erscheint die Bildung
festerer Assoziationen, ferner die starke Perseveration von Fehlern.
Das Wiedererkennen gelesener Reihenglieder steht ın Ab-
hängigkeit von der seit der Exposition verflossenen Zeit und der
Häufigkeit der Erlernung der Reihe. Es besteht kein Parallelismus
zwischen der Störung des Wiedererkennens und der Störung der
Reproduktionsfähigkeit, indem die Versuchsperson mit relativ
schlechterer Merkfähigkeit in den Versuchen über Wiedererkennen
entschieden bessere Leistungen aufwies.
Zur Psychopathologie der Korsakoffschen Psychose.
Zum Schlusse meiner Ausführungen möchte ich die Stellung
dieser Untersuchung zur Pathologie der Korsakoffschen Psychose
andeuten, wobei ich mich vorwiegend auf meine beiden Fälle beziehe.
In erster Linie zeigte die Untersuchung, dass bei derartigen
Patienten eine Neuerwerbung von Assoziationen möglich sei und
unter welchen Bedingungen eine solche erfolge. (Aufmerksames
Verfolgen von Eindrücken, öftere Wiederholung derselben.) Da
diese Bedingungen für gewöhnlich nicht erfüllt werden, so kann
die Leistungsfüähigkeit ihres Gedächtnisses für unsere Patienten
nur von beschränktem Wert sein.
Aus der mangelhaften Einsicht in den Defekt erklärt es
sich, dass den Patienten der Wille, sich etwas anzueignen, für
gewöhnlich fehlt und die Mittel hierzu unbenutzt bleiben. Der
Neuerwerb an Assoziationen bleibt demnach auf jene Eindrücke
beschränkt, in denen selbst die Bedingungen für das Haftenbleiben
gegeben sind. Also auf jene wenigen Eindrücke (8—10 pCt.),
die, wie das Experiment zeigte, nach einmaligem Erleben fester
assoziiert bleiben, sowie auf jene Vorkommnisse, die sich im
täglichen Leben ständig wiederholen. Dadurch wird es den
Patienten ermöglicht, sich in einfachere Lebensverhältnisse ein-
der Gedächtnisstörung bei der Korsakoflischen Psychose. 165
zufinden und mechanische Leistungen zu verrichten, die, falls sie
an den'alten Besitz anknüpfen, ganz besonders ausgiebig ausfallen
müssten.
i Es ergibt sich uns somit das Postulat der Möglichkeit einer
erfolgreichen Uebungstherapie bei Korsakoffschen Patienten.
Eine bezügliche Aeusserung seitens einer Anstalt, die Beschäftigung
von Geisteskranken pflegt, wäre gewiss von allgemeinem Interesse.
Man könnte geneigt sein, anzunehmen, dass die Ergebnisse
des Experimentes zu einer Unterschätzung des Gedächtnisses unserer
Versuchspersonen führen könnten, da ja dem dabei verwendeten
Materiale die affektive Betonung fehlte. Nun scheint aber diese für
den Normalen nach den Untersuchungen von Gordon!), bei denen
sich in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen angenehmen,
unangenehmen und indifferenten Eindrücken geltend machte, für
die Genauigkeit der Erinnerung keineswegs besonders massgebend.
Dass diese Verhältnisse bei unsern Patienten nicht wesentlich
anders liegen, davon konnte ich mich dadurch überzeugen, dass
ich der Versuchsperson M. eine ihren Ideenkreis betreffende Mit-
teilung machte, die sie mit grösstem Interesse aufnahm. Nach
24 Stunden prüfte ich vorsichtig, ob der Eindruck behalten sei;
war dies nicht der Fall, so wurde die Mitteilung wiederholt.
Dabei konnte ich mich überzeugen, dass auch hier, wie in den
Erlernungsversuchen die Eindrücke erst dann haften blieben,
nachdem sie wiederholt apperzepiert wurden, sonderbarerweise
mit ganz falscher zeitlicher Lokalisation für den Erwerb: die
Nebenumstände, unter denen M. die Eindrücke aufgenommen,
waren vollständig vergessen. In Wirklichkeit dürften die Ver-
suche eher zu einer Ueberschätzung der Gedächtnistätigkeit
führen, da sie von einer Spannung der Aufmerksamkeit unterstützt
werden, die unsere Patienten in der Regel nicht aufwenden. Der
Grund ist wohl klar: Bei ihrer beschränkten Fähigkeit Ver-
änderungen wahrzunehmen, muss bei ihnen die Erwartung und
das Interesse für das Neueintretende und Besondere fehlen.
Aus dem Gegensatze zwischen der Festigkeit der in den
gesunden Tagen und unter entsprechenden Bedingungen neu er-
worbenen Assoziationen und neuen, einmaligen Eindrücken erklärt
sich die Unkorrigierbarkeit gewisser Urteile, welche sich auf
Reste des alten Besitzes oder unter günstigen Bedingungen er-
worbenen neuen Besitz stützen. Neue Eindrücke und neu sich
ergebende Gegeninstanzen können begreiflicherweise jenem fest-
efügten Besitze gegenüber nur untergeordneten Wert haben.
Hierzu kommt noch, dass der negative Effekt des Sichbesinnens
das Zustandekommen einer geordneten Ueberlegung bei unseren
Patienten von vornherein ausschliesst; ferner, dass sie dazu neigen,
ihr Gedächtnis sehr zu überschätzen und daher vielfach ebenso wie
Normale urteilen, indem sie es für die Existenz oder Nichtexistenz.
1) K. Gordon, Ueber das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke.
Arech.'f. ges. Psycholog.: Bd: ‘4. S. 487--458. 1905.
166 Gregor, Beiträge zur Kenntnis atc.
von Vorkommnissen als Kriterium verwenden, welchen gefühls-
betonte Eindrücke entsprechen: „So etwas kann man nicht
vergessen, es war also auch nicht.“ Die Ueberschätzung ergibt
sich auch aus der Tatsache, dass unsere Patienten, so oft
ihnen ein Ausfall bewusst wird, wie Normale auf mangelhafte
Apperzeptionsbedingungen rekurrieren.
Der früher erwähnte Versuch gewährt zugleich Einblick in
den Mechanismus der zeitlichen Täuschung. Die Hauptsache
wurde gemerkt, die Nebenumstände vergessen. Einmal, weil keine
Einstellung der Aufmerksamkeit auf sie erfolgte, zweitens, weil
sie verschieden waren und mangels Stärkung ihrer Dispositionen
nicht haften bleiben konnten. Nun sind es aber gerade die ein
Vorkommnis begleitenden Umstände, welche dem Normalen die
zeitliche Lokalisation ermöglichen; das Behalten derselben bildet
aber auch die Bedingung für die Schätzung längerer Zeitstrecken.
Beides ist bei der Korsakoffschen Psychose in bekannter Weise
gestört. Allerdings ist es noch eine offene Frage, ob bei Korsa-
koff-Patienten die primitive zeitliche Anschauung als normal
anzusehen ist. Bezügliche Versuche meinerseits sind bereits zum
grossen Teile abgeschlossen und werden nächstens veröffentlicht.
Das Experiment zeigte, dass die Bedingungen für die normale
Identifikation von Eindrücken gestört sind. Dass bei der geringen
Stärke der Dispositionen zur Reproduktion von Erlebnissen das
bewusste Vergleichen zu groben Irrtümern führen muss, ist ohne
weiteres verständlich; aber die Versuche über das Wiedererkennen
machten es auch wahrscheinlich, dass bei unseren Patienten eine
Störung der Bekanntheitsqualität anzunehmen sei, 'auf welche das
unmittelbare Wiedererkennen zurückzuführen ist.
In den Versuchen ergab sich Gelegenheit, Beobachtungen
über das Zustandekommen von Konfabulation zu machen. Auf
äusseren Antrieb oder subjektive Neigung eine Lücke auszufüllen
oder überhaupt etwas zu produzieren, wurden bereitliegende
Assoziationen frei. Doch konnte ich mich auch davon überzeugen,
dass als fördernde Momente auch Ablenkung oder Erschlaffung
der Aufmerksamkeit und Mangel an Kritik den eigenen Leistungen
gegenüber mitwirkten. So konfabulierte O. nicht, wenn man ihn
ermunterte, auf das, was er sagen wollte, zu achten. M. kon-
fabulierte meist erst dann, wenn sich Ermüdung einstellte oder
er, verzagt, sich nicht mehr bemühte, richtig zu reproduzieren.
In naher Beziehung zur Konfabulation steht die Perseveration;
die gleiche Reaktion, die in Bezug auf eine verlangte Reproduktion
als konfabulatorisch zu bezeichnen ist, kann sich bei entsprechender
Ableitung als perseveratorisch herausstellen. Mit Rücksicht auf
die vielfach (Lissauer, Pick, Heilbronner, v. Sölder) erörterte
Theorie der Perseveration möchte ich die Bedingungen hervorheben,
unter denen eine solche bei meinen Versuchen zu beobachten war:
Relativ . grosse Festigkeit früher gestifteter Assoziationen Neu-
erwerbungen gegenüber, verbunden mit der der Konfabulation
Wanderrersammlung des Vereins etc. 167
charakteristischen Kritiklosigkeit. Dagegen sprach nichts dafür,
eine abnorm starke Nachwirkung der perseverierenden Asso-
ziationen anzunehmen,
Endlich ist auf die Analogien der konstanten falschen
Reaktionen beim Trefferverfahren und der zumal bei O. lebhaft
in Erscheinung tretenden Stereotypien hinzuweisen. Wie dort
ungefähr 30 pCt. von Assoziationen dem Versuche anderweitiger.
Verknüpfung standhielten, so sind hier grössere Vorstellungsgruppen
zu ähnlichen festen Komplexen vereint. Zur Erklärung ıhrer
Bildung ist die relative Gedankenarmut unserer Patienten
heranzuziehen, ferner der Drang, bestimmte Gedanken zu äussern.
Bei dem relativ starken Uebergewicht, das eine mehrmals wieder-
holte Assoziation vor neuen besitzt, ist die Entwicklung von
stereotypen Wendungen verständlich.
8 sei mir gestattet, meinem hochgeehrten Chef, Herrn Geh.
Rat Flechsig, für die Förderung meiner Untersuchungen auch
hier meinen ergebensten Dank nbzustatten.
Wanderversammlung des Vereins für Psychiatrie und
Neurologie in Wien.
Wien, 5.—7. Oktober 1906.
I. Sitzung, 5. Oktober, 9—12 Uhr.
Referent: Priv.-Doz. Dr. A. Piloz in Wien.
Dr. jur. Türkel: Der geistig Minderwertige und seine Zureeh-
nungsfähligkeit.
Vornehmlich historisch gehaltenes, auf reichlichem Litersturstadium
(speziell juristischer Werke) basiertes Referat. Der $ 2 a. Oesterr. St.-G,, der
von gänzlichem Beraubtsein der Vernunft spricht, trägt den Minderwertigen
keine Rechnung; dieselben könnten höchstens unter § 46a subsummiert werden
(Milderungsgründe).
Die Frage, ob eine verminderte Zurechnungsfähigkeit zuzulassen sei,
ist ausserordentlich kontrovers (diametral entgegengesetzte Anschauung von
Liszt einer-, Högel, Lammarsch andererseits). Vor allem blieb die Frage
offon, was denn mit den „vermindert Zurechnungsfähigen* zu geschehen habe.
Die Psychiater sollen darüber sich näher äussern, davou wären die legis-
Iatorischen Massnahmen abhängig zu machen.
(Erscheint in „Jahrbücher für Psychiatrie“.)
Privat-Dozent Dr. Raimann: Die Unterbringung und Behandlung
der geistig Minderwertigen. |
Ref. bespricht zunächst die Schwierigkeit der Definition und Ab-
grenzung der Minderwertigkeit. Dieser Begriff, von einem Mediziner ge-
schaffen, ist zunächst ein medizinischer und gehört in den Wirkungsbereich
des Arztes, speziell des Psychiaters. Prophylaktisch und therapeutisch sind
wichtige und erspriessliche Aufgaben zu erfüllen, die freilich nach der sozialen
Stellung des Minderwertigen dıfferieren. Glatt löst sich die Minderwertigen-
frage freilich nur bei günstigen Vermögensverhältnissen.
Die ganze Oeffentlichkeit ist interessiert und hat für die Kosten auf-
zukommen, insofern es sich um den Kampf gegen die kriminellen Elemente
unter den Minderwertigen handelt. Zunächst muss die Fürsorge für die ver- `
168. . Wanderversammlung des Vereins .
2
wahrloste Jugend, die jugendlichen Kandidaten des Gewohnheitsvorbregber- .
ton! Verbissert werden. Vielfach vorbildlich ist die englische und ameri-
kanische Kriminalpolitik. Die jugendlichen Minderwertigen sollen nicht göstraft,
sondern our in den zu reformierenden Besserungsanstalten nach psyschia-
trischen Prinzipien behandelt, nach pädagogischen herangebildet werden.
T: (l Bezüglich der. Unterbringupg der erwachsenen. kriminellen Minder-
wertigen ist von zahlreichen Autoren eine Reihe von Vorschlägen diskutiert
worden, its Vordergründe steht jener, auch auf dem vorjährigen Jaristentag
aagenoinmene Kompromissantrag: qualitativ andere Strafe mit nachfolgender‘
prang. ...
Die „orachläge kritisch abwägend und von dem aussichtslosen Be-
ginnen einer gründlichen Strafrechtsreform vorläufig absehend, möchte Kef.
vorschlagen: Für, die Zwecke der forensischen Praxis muss der Begriff der
Mimterwertigkeit zunächst: soweit eingeengt werden, dass er sich fast mit
dem des: „geisteskranken Verbrechers deckt; diese Individuen, die bis jetzt
ala „kontroverse“ oder „Grenz“-Fälle den Strafprozess behinderten, dem Straf-
vollzuge die grössten Schwierigkeiten in den Weg legten, die andererseits
aber, nach übereinstimmender Ansicht der Psychiater, für die Irrenanstalt
unpeeighiet sind und keinesfalls ihrer Gemeingefährlichkeit entsprechend ver-
währt werden::können (im Sprengel des Wiener Landesgerichtes höchstens
50 pro Jahr), wären als unzurechnungsfähig, im strengen Wortsinne,
nicht zu bestrafen, was nur eine zweck- und wirkungslose Komplikation
bildet, wohl aber durch richterlichen Spruch einer zu schaffenden Zwischen-
anstalt (Kriminalasyl) auf unbestimmte Zeit zuzuweisen und dort ihrer Eigen-
art entsprechend zu behandeln.
(Erscheint ausführlich in den Jahrb. f. Psych. u. Neurol.)
bite netten - Diskussion. | z
v. Wagner führt aus, dass, während die Juristen sich vergebens be-
mühen, eine Definition der Zurechnungsfähigkeit zu geben, auf welcher das
Strafrecht basieren sollte, das Rechtsbewusstsein des Volkes diese Frage und
ihre Beziehungen zur geistigen Gesundheit längst entschieden hat. Was nun
die verminderte Zurechnungsfähigkeit anbelangt, so ist die Anschauung, dass
es Abstufangen der geistigen Gesundheit gibt, gleichfalls der Allgemeinheit
eläuNg.
er Genn die Strafrechtswissenschaft den Begriff der „verminderten Zu-
rechnurgsfähigkeit* aufnimmt, müssen auch Veränderungen im Strafvollzuge
Platz greifen. Dabei darf nicht schablonisiert werden, etwa in der Art, dass
alle Minderwertigen strenger oder alle milder bestraft werden als die völlig
Zurechnungsfähigen (Beispiele: ein Exhibitionist einer-, cin Gewalttätigkeits-
verbrecher andererseits).
Wenn zugegeben wird, dass die Notwendigkeit, in der kontinuierlichen
Reihe vom Pathologischen zum Gesunden eine haarscharfe Grenze zu ziehen,
za den grössten Unzukömmlichkeiten bisher geführt hat, aber nun eingewendet
wird, dass mit der Schaffung der „verminderten Zurechnungsfähigkeit“ künftig-
hin. zwei solcher willkürlicher Grenzen werden gesetzt werden müssen, so
lässt. sich sagen, dass dies in praxi ganz anders fe t. Gerade im Bereiche
der verminderten Zurechnungsfähigkeit nämlich häufen sich die Verbrechen,
während sie jenseits jener Grenzen numerisch sehr selten sind. Vor allem
wird aber mit dem wirksameren Gesellschaftsschutze durch Aufnahme der
verminderten Zurechnungsfähigkeit und dadurch bedingtem anderen Straf-
vollzuge(Kriminalasyle mit unbeschränkter Datentiousmöglichkeit) die Tendenz,
zu simulieren oder wenigstens das Pathologische möglichst herauszustreichen,
seitens der Verteidiger und Inkulpaten künftigbin aufhören.
‚Die Errichtung von Kriminalasylen würde schon im Rahmen der be-
stehenden Gesetze, d h. auch ohne Aufnahme der verminderten Zurechnungs-
fähigkeit, die Frage der Behandlung der geistig Minderwertigen wenigstens
zum Teil lösen. Ä
. Benedikt erörtert gleichfalls, dass die Behandlung der Minderwertigen
unmöglich durch eine einzige Formel gelöst werden könne. Willens- und
geistesschwache Minderwertige (Vagabunden, Imbezille eto. etc.) sind ent-
für Beyshiatrie und Neurologie in -Wien. .- 109
schieden andere zu beurteilen als impulsive Gewalttätigkeitsvorbrecher, ge-
fährliohe Komplottverbrecher ete. Das Wichtigste ist überhaupt Schutz der
Gesellschaft. Der formale Ausspruch über „Minderwertigkeit“ gehört nicht ir
das Gebiet der:ärstlichen Expertise. - -- - - >- - O
Sommer-Giessen betont die Wiehtigkeit der reehtzeitigen Er-
kenntnis und Behandlung der Minderwertigen, die schon in der Normal-
und ip den Hälfsschulen einzusetzen hätte. Mit fortschreitender psychiatrischer
Bildung der Aerzte wird man bald auch schon in der Normalschule jene
Kinder herausfinden, die prädestiniert erscheinen für die künftige Kriminalität,
Willensschwache, Impulsive, Süchtige. Es sollte in den Hülfsschulen eine
Art Krankheitsgeschichte angelegt werden, und diese Leute sollten dauernd
klassifiziert bleiben. Als Vormund sollte auch nicht der Erstbeste für diese
Kandidaten der Hülfsschulen aufgestellt werden, sondern der Richter hätte
Leute auszusuchen, welche eine spezielle peychiatrisch-pAdagogische Bildung
besitzen. Die Behandlung hat schon in diesen Schulen gleichzeitig mit der
Bevormundung zu beginnen, wobei Aerzte, Lehrer und Juristen zusammen
wirken sollten.
Anton-Halle fordert genaueres Differenzieren der Fälle, die unter
dem Sammelnamen „Minderwertigkeit‘ geführt werden, und bespricht.
besonders den „psychischen Infantilismus“.
Raimann: Schlusswort.
2. Sitzung 5. Oktober, 3—6 Uhr nachmittags.
Vorsitzender: Lähr- Berlin.
l. Dr. Oskar Fischer: Ueber hysterische Dysmegalopsie.
Eine Hysterica zeigte zeitweise makropische und mikropische Zustände,
in deren Verlaufe auch die Schrift eine Aenderung aufwies, und zwar im makro--
ischen Zustande im Sinne der Mikrographie, im mikropischen Zustande der
Makrogra hie; je stärker der Grad der Dysmegalopsie war, war auch der Grad
der Schriftstörung stärker, so dass man in der Schriftstörung einen objektiven
Gradmesser der Sehstörung hatte. Dabei erwies sich der Akkommodations-
apparat immer vollkommen normal. Wenn man bei der Patientin e:ne künstliche
ysmegalopsie durch Homatropin, Eserin oder durch Brillengläser hervor-
gerufen hatte, so addierte sich die erhaltene D emogalo sie zur schon hbe-
standenen, und darnach änderte sich auch die Schrift. Erst wenn man in
ein Auge Atropin einträufelte, das bei vollkommener Lähmung keinerlei
Dysmegalopsie hervorruft, so verschwand in einem Auge die Dysmegalopsie
vollkommen. Darin ist der Beweis zu erblicken, dass die Störung der Grössen-
wsahrnehmong nur im Akkommodationsvorgange seine Ursache haben kann.
Und zwar hält F. dafür, dass dieselbe nur in der sensiblen Komponente der-
selben ihren Sitz haben kann, und zwar kortikal in einem sensiblen „Zentrum“,
das dem motorischen Akkommodationszentrum angegliedert sein muss; im
Zustande der Dysmegalopsie halluzinierte die Patientin in normaler Grösse;
das ist ein Beweis dafür, dass die Halluzinationen rein psychischen Ursprungs,
also im Sinne Wernickes transkortikaler Genese sind, denn wenn noch da-
zu eine Miterregung der kortikalen Projektionszentren notwendig wäre, so
müsste Pat. ebenfalls dysmegalopisch halluzinieren.
Der zweite Fall betrifft einen Mann mit traumatisch - hysterischen
Deliried, mit einer eigenen Störung der Grössenwahrnehmung; er sah nämlich
alles derartig verzerrt, dass er alles, was links war, wesentlich grösser sah,
als das rechts Liegende; es zeigte sich, dass: dies durch keinerlei Störung
des Akkommodationsapparates Bedingt war, sondern die Proben mit dem
Stereoskop erwiesen, dass er immer dann alles grösser sah, wenn er-es rechts
zu sehen glaubte; dadurch konnte diese ganze komplizierte Sehstörung nicht
im -Kortikalgebiete seine Ursache haben, sondern ia den „psychischen, trans-
kortikalen Regionen“. In diesem zweiten Falle war zu erwarten, dass
Halluzinationen in gleicher Weise verzerrt sein: werden, wie die reeller
Objekte verzerrt wahrgenommen wurden; und so war es auch; diese Dysme-
galopsie nenntıF. transkortikel. Darnach' unterscheidet F. eine kortikale und
170 Wanderversammiung des Vereins
transkortikale Dysmegalopsie bei der Hysterie. Die erste entspricht voll-
kommen physiologischen Gesetzen, und eventuelle Halluzinationen werden
normal gross wahrgenommen; die zweite entspricht nar psychologischen
Gesetzen, und eventuelle Halluzinationen werden ebenfalls dysmegalopisch
gesehen. .
p ale Jan Piltz-Krakaa: Sensibilitätsstörungen bei progressiver
aralyse.
Bei 14 genauer untersuchten Fällen von progressiver Paralyse zeigte
sich, dass die allgemeine Hypästhesie keine gleichmässige war. Am häufigsten
ist unbetroffen, d. h. von normaler Sensibilität, die Hals- und Gürtelgegend,
manchmal auch das Gesicht (Demonstration zahlreicher Zeiohnungen).
Diskussion.
Lähr, Pilts, Anton. Letzterer weist darauf hin, dass z. B. hooch-
gradige Plexusdruckempfindlichkeit bestehen könnte (einseitig oder segwental
auftretend) bei gleichzeitiger Hypästhesie der kutanen, der Muskel-
sensibilität u. 8. w.
B.Schlöss-Kierling: Zur Kenntnis der Astiologie der angeborenen
und frühzeitig erworbenen geistigen Defektzustände,
Das genaue Stadium von 800 Anamnesen bot dem Vortragenden
Gelegenheit, sich eine Uebersicht über die Aetiologie der angeborenen und
trähzeitig erworbenen geistigen Defektzustände zu verschaffen, und lieferte
ausserdem eine Fülle interessanter und teilweise unbekannter Details, deren
Mitteilung hauptsächlioh den Inhalt des Vortrages bildete. Derartige Defekt-
zustände finden sich selten angeborenerweise auf Grund hereditärer Belastung,
meistens spielt noch eine Schädigung des Keimes im intrauterinen Leben
oder eine Schädigung des Kindes bei der Geburt eine Rolle. Häufiger aber
bereitet die erbliche Belastung den Boden zur Eklampsie oder Epilepsie vor,
die dann ihrerseits die geistige Entwicklung hemmt, oder der geistige Defekt
schliesst sich bei dem arch Heredität orädie onierten Kind an eine Schädel-
verletzung oder körperliche Erkrankung an. Die Tuberkulose als belastendes
Moment im obigen Sinne ist fraglich, Blutverwandtschaft scheint kein be-
lastender Faktor zu sein. Merkwürdig sind jene Fälle, in welchen ohne be-
lastendes Moment in der direkten Aszendenz bei allen Kindern einer Ehe
oder doch bei einem Teile derselben sich eine Neigung zu konvulsiven Zu-
ständen findet, Intrauterine Schädigungen der Frucht urch physische oder
psychische Sohadigung der schwangeren Mutter fübren einesteils zu an-
eborener physischer Schwäche des Kindes, andernteils veranlassen sie die
eigung zur Eklampsie. Intranterin geschädigte Kinder werden häufig
hydrocephal geboren. Frühgeborene Kinder sind nicht selten geistig defekt,
ebenso bei protrahiertem Geburtsakt, oder asphyktisch geborene Kinder, bei
denen einesteils die Neigang zur Eklampsie and Epilepsie eine häufige ist, andern-
teils selbst bei Ausbleiben solcher konvulsiver Zustände eine Gelegenheits-
ursache leicht zu bleibender geistiger Defektuosität führt. Erstgeburten sind
häufig protrahiert und führen oft zar Asphyxie des Kindes, daher ist Erst-
eburt nicht selten indirekt die Ursache angeborenen geistigen Defektes des
indes. Ebenso sind ausserehelich geborene Kinder dann gefährdet, wenn
der ledige Stand der schwangeren Mutter Gemütsierstimmungen, Ent-
behruugen, Elend und Not der letzteren veranlasst. Hereditäre Lues fand sich
nur einmal, und zwar nicht als einzige Ursache angeborener geistiger Defek-
tuosität. Angeborener Hydrocephalus — er findet sich häufig mit Rachitis
kombiniert — kann an und für sich, dann aber auch, weil er nicht selten ein
Geburtshindernis setzt, endlich, weil er die Kinder zur Eklampsie geneigt
macht, die Intelligenz des Kindes gefährden, und ebenso verursacht der er-
worbene Hydrocephalus mitunter direkt eine Hemmung der geistigen Ent-
wicklung oder er gefährdet letztere, indem er zu konvulsiven Zuständen
(Eklampsie, Epilepsie) führt. Die Fälle angeborenen Schilddrüsenmangels
(4 unter 800) fanden sich sämtlich in Kombination mit Erscheinungen von
Rachitis. Thyreoidio fährt rasch zu körperlicher und geistiger Besserung.
Die Mikrocephalie scheint eine durch erbliche Belastung oder durch intrauterine
Schädigung der Frucht bedingte Degenerstionserscheinung za sein. Durch
für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 171
meningeale Prozesse im Kindesalter ist die geistige Integrität immerhin, am
meisten aber dann gefährdet, wenn eine Prädisposition vorliegt. Infektions-
krankheiten können der Anlass schwerer Intelligensstörungen sein, und zwar
direkt sowohl wie indirekt durch Vermittlung von eklamptischen, respektive
«pileptischen Aufällen. Am meisten scheint das 3. und 8. Lebensjahr ge-
Ahrdet za sein, und die in dieser Beziehung am meisten zu fürchtende
Infektionskrankheit ist der Keuchhusten. Konsumiereude somatische Er-
krankungen, zumal wenn sie schwächliche Kinder treffen, können gleichfalls
direkt oder durch Vermittlung von eklamptischen Anfällen die Intelligenz
eines Kindes dauernd schädigen. Bei Kindern, die an Rachitis erkranken,
wird zuweilen gleichzeitig Verfall der Intelligenz bemerkt. In anderen Fällen
vermitteln eklamptische Anfälle die Intelligenzstörung. Bei prädisponierten
Kindern kann die Impfung eklamptische Anfälle auslösen, die ihrerseits
wieder zu geistigem Verfalle führen. Das gleiche gilt von operativen Ein-
riffen. Doch kann auch direkt eine dauernde Iutelligenzstörung durch eine
Öperation ausgelöst werden, oder es kann sich als unmittelbare Folge der
Operation Epilepsie an diese anschliessen. In einem Falie folgte auf einen
durch eine Schulstrafe (Einsperren in eine dunkle Kammer) ausgelösten
schweren psychischen Affekt bleibender geistiger Zerfall. Angeborener Sinnes-
mangel ist nie ausschliessliche Ursache geistiger Defektiosität, wohl aber
beeinflusst er ungünstig das Vorstellungsleben und die Ersiehungsfähigkeit-
Schädeltraumen können die Intelligenz eines Kindes direkt gefährden oder
aber auch zur Epilepsie führen. Fehlt Epilepsie bei Fällen traumatischen
Sehwachsinnes, so stellt sich oft nach Jahren plötzlich merkliche Besserung
ein. Regelmässige Alkoholdosen, Kindern verabreicht, können direkt oder
durch Vermittlung von Eklampsie oder Epilepsie zu bleibender Geistes-
schwäche führen. Die häufigste Ursache frühzeitig erworbener geistiger
Defektzustände ist die Eklampsie. Es handelt sich hier immer um Kinder,
die prädisponiert sind, sei es durch erbliche Belastung oder intrauterine
Schädigung, Frühgeburt, Zangengeburt, Asphyzis, Rachitis, Hydrocephalus,
künstliche Ernährung. Eine Gelegenheitsursache löst gewöhnlich die Krämpfe
aus. Am häufigsten befallen letztere Kinder zwischen dem 6. und 8, Lebens-
monat. Eklamptische Anfälle hinterlassen oft eine auffalleade peychische
Veränderung des Kindes, und es entwickelt sich von da an ein psychischer
Verfall. In anderen Fällen hinterlassen sie eine Disposition zur Epilepsie,
and erst diese führt dann zu bleibendem geistigen Defekt. Die meisten in-
folge Epilepsie geistig geschwächten Kinder litten an eklamptischen Anfällen.
In den übrigen Fällen von Epilepsie im Kindesalter handelt es sich um Kinder
mit erblicher Belastung oder um intrauterin geschädigte Kinder. Auch
Zangengeburt, Asphyxie, Trauma capitis, Operation, Infektionskrankheiten
spielen in der Aetiologie der infantilen E ilepsie eine Rolle. Nach den in
Betracht gezogenen Fällen lassen sich im allgemeinen als Ursache angeborener
aud frühzeitig erworbener geistiger Defektzustände anführen: Erbliche Be-
lastung, intrauterine Schädigungen, Geburtsanomalien, angeborene körperliche
Erkrankung oder angeborene körperliche Defektzustände, erworbene körper-
liche Erkrankungen, schliesslich Operationen, Schädelverletzungen, Ver-
giftungen, psychische Aftekte.
Diskussion:
v. Wagner erinnert daran, dass nach der grossen Statistik von Mayet
die Konsanguineität als solche (d. h. auch ohne hereditäre Belastung) in der
Aetiologie gerade der Idiotie eine grosse Rolle spielt. Ferner erwähnt R,
die interessante Tatsache, dass auf der Quarnerischen Insel Sansego trotz
Inzucht und Alkoholismus (die Kinder trinken schon Wein, sobald sie auf-
hören, Milch zu trinken) von einer Degeneration nichts zu sehen sei (kein
Geisteskranker, kein Epileptiker oder dergl.).
An der Diskussion beteiligen sich noch die Herren Schüller, Pilez,
Schüller. |
4. Dr. Karl Liebscher berichtet über einen eigenartigen Fall von
„Ganser‘‘, bei dem er durch gewisse Massnahmen (Eintränlelung von Atropin,
Eserin oder destilliertem Wasser in ein Auge) eine Art Halbseitigkeit gewisser,
172 Wanderversammlang des Vereins
dom Ganser zuyehöriger Erscheinungen zeitweise hervorzubringen vermochte.
Diese Erscheinungen bestanden darin, duss Patient angab, an Stelle von
Buchstaben oder von farbigen Abbildungen andere zu sehen, welche gewöhn-
lich zu dem vorgezeigten in einer gewissen gegensätzlichen Beziehung standen.
Patient war sich dieser Störung dabei wohl bewusst und gab an: „Wenn er
auf ein Bild sehe, so mache sich ihm ein solcher Nebel vor die Augen, und,
er sehe dann an seiner Stelle ein anderes.“ Ausser diesen Ganserschen
Zügen bestand bei Patienten noch ausgebreitete Analgesie und eine dadurch
eigenartige Störung der „Stereognose*, dass die Fehlreaktionen dieselben’
Ganserschen Charakteristika zeigten, wie die, welche zum Beispiel bei der
Betrachtung farbiger Abbildungen erhalten wurden.
Durch den „psychischen“ Einfluss der Einträufelung wurden nun diese
Störungen korrigiert, und zwar in der Weise, dass dieselben dann nur mehr
halbseitig vorhanden waren, nämlich nur auf jener Seite, welche vom Prozesse
der Einträufelung unbeeinflusst geblieben war. Ausserdem bestand bei dem
Patienten monokuläre Diplopie und eine hysterische Dysmegalopsie, nämlich
Makropsie nnd Mikro- resp Makrographie. Der Umstand, dass in seinem
Falle auch gelegentlich Makrograp ie mit Makropsie zusammen zur Be-.
obachtung gelangte, erscheint dem Vortragenden als ein Beweis des rein
psychischen Charakters dieser Sehstörung, in seinem Fall etwa im Sinne der
sogenannten nervösen transkortiksalen Dysmegalopsie, wie sie O. Fischer
in dieser Sitzung zum Unterschied von der zentralen angenommen hat.
5. Hartmann-Graz: Zur Pathologie der motorisehen Grosshirn-
fanktionen. '
Vortragender geht nach kurzer Uebersicht über die neuesten Er-
kenntnisse in der Lebre von den komplizierten motorischen Grosshirn-
leistangen zu einer gedrängten Schilderung selbst klinisch beobachteter
und zum Teil auch an Serienschnitten durch das Grosshirn kontrollierter
Fälle über. Erkrankungen von Stirnhirn und Balken (Tumoren, Blutung)
liessen Störungen der komplizierten, im individuellen Leben erlernten
Bewegungsabläufe (Handeln) nachweisen, ohne dass klinisch nennenswerte
Parese oder Lähmung, anatomisch greitbare Schädigung der motorischen
Zentralwindangen und der Pyramidenbahn statthatte.
In allen Fällen bestand eine wesentliche Differenz in den Bewegungs-
leistungen der rechten und linken Extremitäten. Bei aller Vorsicht in der
Deutung der gefundenen Tatsachen glaubt der Vortragende unter Heran-
ziehung der bisherigen Erkenntnisse doch eine vorläufige Zusammenfassung
dahin geben zu können, dass das Stirnhirn und der Balken beim Ab-
laufe komplizierter Bewegungsakte der Extremitäten wesentlich
beteiligte Hirngebiete sind.
Dem linken Gehirne kommt hierbei — wie schon Liepmann nach-
zu weinen sich bemüht hat — eine präponderierende Stellung über das rechte
ehirn zu.
Ausfall des linken Stirnhirnes erzeugt der Seelenlähmung nahestehende
Bowegungsstörungen mit Verlust der Eigenleistangen des Sensomotoriums
bezöglich der gegenüberliegenden Körperhälfte, lässt aber auch das Be-
wegangsgedächtnis und die Bewegungsintention der gleichseitigen Körper-
hälfte geschädigt erscheinen.
Durchtrennung des Balkens von den Ebenen der vorderen Kommissur
nach hinten lässt in ihrer Symptomatik scharf den Ausfall der für die rechts-
hirnigen Leistungen nötigen Tätigkeit des linken Gehirnes erkennen. Die
Bewegungsintention und die Eigenleistungen der linken Extremitäten bleiben
erhalten, das Nachahmen optisch vorgemachter Bewegungen, die Objekt-
handlungen, das Bewegungsgedächtnis derselben erscheinen schwer beein-
trächtigt.
Die rechten Extremitäten zeigen ganz leichte und kaum ins Gewicht
fallende Schädigungen.
Trotzdem erschien das zweihändige Manipulieren mit Objekten fast
ganz unmöglich. É — on Eu '
für Psychiatrie and Neurologie in Wien. 173
Hier kam such noch eine Schädigung. im statisch-lokomotorischen
Muskelgeschäfte zur Beobachtung, welche nicht als ataktische bezeichnet
werden kann, sondern als statisch-lokomotorische Apraxie angesprochen
werden muss.
Läsion im rechten Stirnhirne zeigte trotz relativ geringen Umfanges
Störungen der Objektbandlungen nnd des Bewegungsgedäs tnisses der linken
Extremitäten bei völlig unversehrter Leistungsfähigkeit der rechten Bx-
tremitäten.
Vortragender fasst die sich ergebenden Deutungen der Befunde dahin
zusammen, dass es nach diesen Beobachtungen den Anscheiu gewinnt, als
würden die Zentralwindangen (Sensomotorium Liepmann’s) nicht wie im
Sinne der bisherigen Autoren auch die Sıätten für die gedächtnismässige
Festlegung der Beweguugsbilder komplizierter Bewegungsabläufe der Rx-
‚tremitäten enthalten oder durch die Tätigkeit der optischen, akustischen etc.
‚Sionessphären uud hinteren Assoziationsfelder direkte Anregnngen zum
Erfolge komplizierter Bewegungsabläufe erhalten, sondern es scheinen sich
(noch näher zu bestimmende) Regionen des Stirnhirnes (des vorderen
Assoziationszentrums)zurExtremitätenzonederZentralwindungen
etwa so zu verhalten, wie sich die Brocasche Windung im motori-
schen Sprachmechanismus zu den motorischen Feldern der Hirun-,
nerven am Fusse der Zentralwindungen verhält.
6. Borgberini-Padus: „Ueber Myasthenia gravis.“
Vortr. untersuchte in 8 Fällen von Myasthenia gravis in vivo ez-
zidierte Muskelstäckchen, wobei er sich der Angeluccischen Technik
bediente (die exzidierten Muskeln werden sofort auf 24—86 Stunden in die
Muskelmasse eines frisch getöteten Tieres eingelegt).
Viele Muskeln zeigten „plasmoidale Regression“ (Vermehrung der
Kerne, um diese reichlich Sarkoplasmabildung, während das Myoplasma die
eigene Differenzierung verliert und zu plasmoidalem Zustande zurückkehrt.
Enge anschliessend Ka illaren mit Leukozyten gefüllt). Aehnliche Bilder
fand B. auch in einem Falle von Dystrophia muscalaris (zeigt Photogramm
eines Falles von diffuser Muskelatrophie und Myasthenia gravis).
i B. konnte konstatieren, dass, wenn auf K. S. schon Erschöpfungsreaktion
aufgetreten war, derselbe Muskel auf An. S. wieder prompt reagierte.
meint, dass die My. R. durch chemische Veränderungen in den Nervenfasern
selbst bedingt sei.
B. zeigt schliesslich Präparate eines Falles von Polioenceopbalo-
malsacie und wendet sich gegen die Auffassung, dass die Myasthenie ihr
‚Substrat in einer Polioencephalomalacie habe.
Diskussion: Marburg hat in 2 Fällen von Myasthenie mittels der
Murchimethode die Muskeln untersucht und einen diskontinuierlichen fottigen
Zerfall einzelner Fibrillen gefunden. Der Prozess ist als Myositis parenchy-
matosa anzusprechen. Dieselben Veränderungen bot die Muskulatur in einem
Falle amyotrophischer Lateralsklerose (Fall Pilcz).
Fuchs hat wiederholt das gleichzeitige Vorkommen von Myasthenie
und atrophischen Muskelprozessen gefunden. Die echte My.R. hat er bisher
nur bei Myasthenia gravis gesehen. Er selbst hat nie einen Fall beobachtet,
bei dem darch An. noch Zuckung ausgelöst werden konnte, wenn die K.-
Wirkang schon Erschöpfung ergab.
Dr. Stransky bemerkt, ass er in einem Falle von progressiver Amyo-
trophie bei einem Paralytiker ganz ähnliche histologische Befunde in der
Muskalatur erhoben habe wie jene, von denen Marburg berichtete.
Schüller sah faradische Zuckungsträgheit auch in einem Falle von
Myositis universalis.
1. Dr. Grossmann: „Behandlung des Ischias mit perineuraler
Koehsalzinfiltration.“
R. berichtet über 15 Fälle von Ischias, von denen 11 geheilt und 3
gebessert worden waren, nach folgender Behandlung: Einstich in der Mitte
einer Geraden zwischen Trochanter major und Taber ischii (bei Bauchlage des
Pat.). Injektion von 50--100 g 0,6 proz. Kochsalzlösung.
174 Wanderversammlung des Vereins
Auffallend in jedem Fall die unmittelbare schmerzstillende Wirkung
der Infektion. Keine üblen Nebenerscheiuungen (absolute Asepsis).
Dauerheilung (in Verbindung mit Thermotherapie) in 11 Fällen.
(Erschienen in der „Wien. klin. Wochenschr.“, 1906, No. 4.2)
8. Sitzung, 6. Oktober 1906, 9—12 Uhr vormittags.
Vorsitzender: Sommer-Giessen.
Pick beantragt vor der Tagesordnung folgende Resolution: Die hier
zu wissenschaftlicher Arbeit in der Wanderversammlung des Vereins für
Psychiatrie und Neurologie vereinigten österreichischen Irrenärzte legen Ver-
wahrung dagegen ein, dass der Psychiatrie und deren Vertretern die Schäden
zur Last gelegt werden, welche der Allgemeinheit und dem einzelnen aus
der Anwendung der mangelhaften und vielfach fehlenden Gesetzgebung in
betreff der Frage des Irrenwesens erwachsen. Das Wenige, was bisher ge-
schehen, ist auf die Tätigkeit des Vereins zurückzuführen, der vor fast
40 Jahren schon bei den Ministerien um die Erlassung eines Irrengesetzes
vorstellig geworden ist. Mit Rücksicht darauf, dass mehr als fünf Jahre ver-
flossen, seit von einer aus Mitgliedern des Vereins zusammengesetsten
Enguöte ausführliche Referate über die Grundlagen einer modernen Aus-
gestaltung des Irrenwesens und besonders seiner Gesetzgebung ausgearbeitet
wurden, stellen die hier versammelten österreichischen Irrenärıte an die
Ministerien des Innern und der Justiz die Aufforderung, diese Frage endlich
der Durchführnng zuzuführen; sie verlangen besonders, dass alsbald behufs
Einleitung entsprechender Reformen eine speziell mit diesen Fragen befasste
autoritative Persönlichkeit an die Spitze dieses bisher so vernachlässigten
und so wichtigen Ressorts gestellt werde.
Nach Befürwortung durch v. Wagner wird die Resolution einstimmig
angenommen.
1. Starlinger- Mauer-Oebling: Besehäftigungstherapie bei Geistes-
kranken.
Nach einer breit angelegten theoretischen und historischen Einleitung
berichtet Vortr. in ungemein detaillierter Weise über die wahrhaft staunens-
werten Erfolge, welche systematische, nnter strengster Individuslisierung und
steter ärztlicher Kontrolle ausgeübte Heranziehung der Geisteskranken zu
Arbeit und Beschäftigung im weitesten Sinne des Wortes an dem Material
der niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt zu Mauer-Ohling
gebracht hat. Besonders bemerkenswert war in dem Vortrage dio Tatsache,
wie viele anscheinend als capita mortua der lIsolierabteilungen geltende,
absolut dissoziale und stationäre Elemente nicht nur als arbeite- und be-
schäftigungsfähig sich herausstellten, sondern unter diesem Regime sogar
noch ungeahnte Besserungen boten. Gerade dieser Vortrag zeigte so recht,
wie viel es auf die hingebungsvolle, tür die Sache begeisterte Tätigkeit der
Anstaltsleitung ankommt. Die schönen Erfolge sind zweifellos den besonders
eifrigen Bestrebungen des Vortr. zu danken, die aufrichtige Bewunderang
erheischen.
2. Max Lähr-Berlin: Besehäftigungstherapie bei Nervenkranken.
Ref. erörtert die prinzipiellen Unterschiede zwischen der Beschäftigungs-
therapie bei Geisteskranken und der „Arbeitstherapie“ bei Nervenkranken
und entwickelt nan, gestützt auf reichlichste persönliche Erfahrung, die
Prinzipien, wie sie in „Haus Schönow“ gehandhabt werden. Strengstes
Individualisieren ist auch hier oberstes Gebot. Ein gewisser milder Zwang,
insofern der Verbleib in der Anstalt an die Erfüllung der gestellten „Aut-
gaben“ geknüpft ist, erweist sich als notwendig. Ref. bespricht auch die
törichten Anwürfe, als würden durch die erzwungene Arbeit die Nerven-
kranken seitens der Anstaltsleitung „ausgenutzt“. In detaillierter Weise
werden die einzelnen Zweige der Beschäftigung, die Indikationen und Kontra-
indikationen der Arbeitstherapie und die Erfolge der Behandlung auseinander- °
gesetzt. (Ersch. Wien. klin. Wochenschr., 1906.)
Diskussion: Redlich, Starlinger.
für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 175
4 Sitzung, 6. Oktober 1906, 8—6 Uhr nachmittags.
Vorsitzender: Pick-Prag.
1. Schäller: Über die Beziehungen zwisehen Keimdrüsen und
den nervösen Zentralorganen bei Sehwaechsinnigen.
Der Vortragende skizziert die bisherigen Anschauungen über die Ein-
wirkung der Keimdrüsen auf die allgemeine Entwicklnng des Organismus.
Im speziellen werden die Tatsachen angefährt, welche den Einfluss des
Mangels der Keimdrüsen auf.das nervöse Zentrslorgan dartun. Die gegen-
sätzliche Beziehung, den Einfluss des Gehirns auf die Beschaffenheit der
Keimdräsen, erörtert sodann der Vortragende an der Hand seiner Erfahrungen
über 120 männliche Idioten. Es ergibt sich, dass ein trophischer Konnex
zwischen Gehirn und Keimdrüsen nicht zu bestehen scheint.
Zum Sehlusse werden jene Formen von Infantilismus, bei welchen
eine primäre Genital-Aplasie den wichtigsten ätiologischen Faktor dar-
stellen dürfte (Riesenwuchs, gewisse Formen von Fallsucht, Mongolismus?),
ausführlich besprochen. Dabei werden insbesondere auch die Beziehungen
erörtert, welche zwischen den Keimdrüsen und den übrigen Drüsen mit
innerer Sekretion (zu diesen rechnet Vortr. auch das Knochenmarkgewebe).
bestehen.
Diskussion.
Anton weist darauf hin, dass das Zusammenwirken der Drüsen unter-
einander und auf das Nervensystem sich beim Fiötus anders verhalte als beim
Erwachsenen. So wirke z. B. Kastration anders beim Neugeborenen als beim
Kinde. — Ref. zieht Erfahrungen der Tierzächter heran. Bei Idioten fand
Ref. häufig kongenitale Missbildungen und Abweichungen in den geschlecht-
lichen Funktionen.
2. Dr. Ernst Sträussler: Zur Frage der nervösen Regeneration
im Rüekenmarke. (Demonstration von Rückenmarkspräparaten zweier Fälle
mit sogenannten zentralen Nenromen.
1. Fall. 68jähr. Invalide, welcher im Jahre 1866 durch einen Streif-
schuss am Rücken eine Verletzung des Rückenmarks im Bereiche des 7. Dorsal-
segmentes erlitt und im Januar 1906 einem apoplektischen Insult erlag. Die
mikroskopische Untersuchung des Rückenmarks ergab: 1. das Vorbandensein
eines echten, in seinem Bau den Neuromen peripherischer Nerven gleich-
zustellendes Neurom der 7. hinteren Wurzel der einen Seite, an der dorsalen
Räckenmarksperipherie zwischen Eintrittsstelle der Wurzel und dem Sulcus
longit. post. gelegen; 2. knäuelförmig zusammengeballte Nervenfasern peri-
herischen Baues innerhalb des Rückenmarks, sogenannte zentrale Neurome,
eren Zusammenhang mit dem früher erwähnten Neurom der hinteren Wurzel
an Serienschnitten nachzuweisen ist. Dieselben schliessen sich stets an Ge-
füsse an; 3. einzelne am Querschnitte im Längsverlaufe zu verfolgende
Markfasern ohne Schwannsche Scheiden im Hinterstrange in einem Gewebe,
welches sonst fast gar keine anderen nervösen Elemente enthält; 4. im
Sulcus longitudinalis anterior, im perivaskulären Lymphraume der Zentral-
gefässe and um Gefässe der granen Substanz der Vorderhörner, Knänel von
peripherisch gebauten Nervenfasern.
An Längsschnitten, an welchen Fasern in ihrem Verlaufe aus der
Räückenmarkssubstanz in die perivaskalären Räume verfolgt wurden, ist er-
sichtlich, dass diaselben hier sofort peripherischen Bau annehmen.
2. Fall. 65jahrige Frau, klinisch Tabes mit Demenz, bistologisch
Paralyse. Die Untersuchung des frischen Rüäckenmarkspräparater ergab eine
nicht weit vorgeschrittene Tabes; nur der Querschnitt des unteren Hals-
markes bot das Bild einer grauen Verfärbung des grössten Teiles des
Hinterstrangs. Daneben fielen Defekte im Gewebe des Hinterstranges auf,
welche jedoch den Eindruck von durch Quetschung des Präparates ent-
standenen Kunstprodukten machten.
Die mikroskopische Untersuchung zeigte aber, dass es sich hier um
einen keilförmigen Erweichungsherd handelt, welcher den ganzen Hinter-
176 Wanderversammiung des Vereins’ 'ete.
strang mit Ausnahme der äusseren Partien des Bnrdachschen Stranges
einnimmt.
Im Bereiche dieser Erweichang sind nun teils in der meningeslen
Bekleidung des Hinterstrangs, teils innerhalb des Hiuterstrangs selbst massen-
haft zu’ zopfartigen Gebilden und zu Knäueln angeordnete markhaltige
Nervenfasern von peripherischem Bau vorbanden; die Faserzüge stehen mit
den hinteren Wurzeln in Zusammenhang.
Die Befunde sind vor allem dadurch interessant, dass sie eine ganz
erstaunliche Regenerationsfähigkeit der hinteren Wurzeln beweisen. Die
neugebildeten Fasern finden auch den Weg in die Bückenmarkssubstanz.
Der erste Fall bietet ausserdem einen Beitrag zur Kenntnis der Regeneration
endogener Rückenmarksfasern von den Vorderhornzellen aus. drängt
sich darnach der Gedanke auf, dass es berechtigt ist, bei Wiederherstellung
der Funktion nach zentralen Läsionen neben den bisher zur Erklärung
herangezogenen Momenten regenerativen Vorgängen eine Rolle einzuräumen.
Das von Fiokler schon hervorgehobene interessante Verhalten be-
züglich des Baues der neugebildeten Nervenfasern, das Erscheinen der
Schwannschen Scheidenzellen an den Fasern mit dem Momente, wo sie mit
mesodermalem Gewebe innerhalb des Rückenmarks in Berührung treten,
könnte als Stütze für die ältere Anschauung, dass die Schwannschen
Scheidenzellen mesodermale Gebilde darstellen, angesehen werden; freilich
lässt sich der Austritt der Fasern aus der Rückenmarkssabstanz in die
erivaskulären Räume in Parallele stellen mit dem Austritt der vorderen
Wurzeln aus dem Rückenmark, so dass dann die Fasern in den perivaskulären
Räumen als peripherische zu gelten hätten.
Wenn der Satz, dass der Vorgang der Regeneration der Nervenfasern
auf denselben Grundsätzen beruht wie der der Entwicklung, richtig ist, so
würde der Mangel von Schwannschen Scheidenzellen an den nengebildeten
Fasern innerhalb der Rückenmarkssubstanz dafür sprechen, dass auch die
Entwicklung der zentralen Fasern keine multizelluläre ist; es sei denn, dass
die Zellen nach erfolgter Neubildung der Fasern wieder verschwunden sind.
8. Dr. O. Fischer: Ein weiterer Bericht über den fleekweisen
Markfasernausfall bei der progressiven Paralyse.
. demonstriert weitere Präparate, die diese Frage betreffen, und zeigt,
dass man diese marklosen Flecken auch bei gewöhnlicher Hämatoxylin-Eosin-
‚färbung als eine leichte Lockerung des Gewebes sehen kann; auch ist es ihm
elungen, mit der Weigertschen Gliamethode eine namhafte Vermehrung
der Gliafasern an den Stellen mit der Markatrophie anfzufinden. Er hat bis
jetzt 87 Paralysen daraufhin untersucht und fund die Flecken in etwa 55 pCt.
derselben; weiter untersuchte er 12 Gehirne von seniler Domenz und arterio-
sklerotischer Hiroatrophie und 6 normale Gehirne, und in keinem derselben
konnte er derartige zirkumskripte Markatrophien nachweisen.
Iu der Diskussion erwähnt Marburg u. a., dass er ganz dieselben
Befunde auch bei senilen Gehirnveränderungen beobachtet hat. Um zu be-
weisen, dass die fraglichen Flecke wirklich organischen Ursprangs sind,
müsste der Nachweis von Achsenzylindern erbracht werden (dann wäre etwas
analoges, wie etwa der diskontinuierliche Zerfallsprozess bei der multiplen
Sklerose, anzunehmen). An der Diskussion beteiligten sich noch v. Wagner,
Redlich, Anton und Fischer (Schlusswort).
4. Leonowa: Ueber das Verhalten der Rinde der Calearina in
einem Falle von Mikrophthalmia und Amelia (Amputation spontanée).
(Pobliziert im Arch. f. Psychiatrie.) .
5. Mayr: Experimentelle Beiträge zum histoshemisehen Ver-
halten der nervösen Systeme des Rückenmarkes.
(Ersch. in extenso in dieser Zeitschrift.)
6. v. Wagner: Ueber marinen Kretinismus.
(Erschien in der Wiener klin. Wochenschr., 1906, No. 48.)
Entgegen der bekannten und allgemein bestätigten Erfahrungstatuache,
dass die Meeresküsten so gut wie kropf- und kretinismausfrei sind, fand R. auf
XXXVII. Versammlung südwestdeutscher Lrrenärzte. 177
den Quarnerischen Inseln zwar auch Kropffreiheit der Bevülkerung, jedoch eine
grössere Anzahl von zwerghaften Individuen an einem Punkte der Insel
eglia, welehe den Aspekt von zweifellosen Kretinen boten. Genauere Uater-
suchung von 15 Fällen (R. demonstriert zahlreiche Photogramme) lieferten
aber doch bemerkenswerte Unterschiede gegenüber dem echten endemischen
Kretinismas. So waren alle die 15 Fälle kropffrei, sie wiesen ausnahmslos
Zwergwuchs auf, an den Genitalien bestanden Entwicklangshemmungen, wie
sie beim endemischen Kretinismus nicht in dieser Häufigkeit sich finden.
Gehör und Sprache waren intakt (!). Intellekt nicht oder kaum geschädigt.
Weitere Nachforschungen ergaben nun als ätiologisches Moment
Inzucht (wofür u. a auch das von R beobachtete endemische Vorkommen
von Albinismus auf diesen Inseln spricht), und R. deduziert, dass es sich in
diesen Fällen nicht um echten endemischen Kretinismus, sondern um eine auf
Heredität and Inzucht beruhende Erkrankung handelt.
Diskussion: Anton, v. Wagner.
1. Schüller demonstriert Photogramme zur Röntgenologie des
Sehädels.
XXXVII. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte.
(Tübingen, den 3. und 4. November 1906.)
Referent: Dr. M. Isserlin- Heidelberg.
Die Verhandlungen werden durch einen Nachruf für Karl Fürstner
(von Prof. Wollenberg) eingeleitet. Dann hält Prof. Dr. Bürker-Tübingen
einen Vortrag: Zur Thermod namik des Muskels. Bei der Aktion des
Muskels sind ausser den ja sehr reichlich studierten dynamischen und elek-
trischen Effekten auch die thermischen Erscheinungen zu berücksichtigen,
welche bisher weniger untersucht worden sind. B. hat Versuche über die
Wärmeerzeugung bei der Muskelaktion mit Thermosäulen angestellt in einer
ex erimentellen Anordnung, welche es ermöglichte, bis zu Millionteln eines
Celsiusgrades sicher zu unterscheiden. Das Material bildeten Froschmuskeln,
welche, wie festgestellt wurde, keine wesentlichen Unterschiede gegenüber
Warmblütermuskeln zeigten. Der mit einem bestimmten Gewicht belastete
Muskel wurde von den Thermosäulen umfasst. Indem bei jeder einzelnen
Hebung und Senkung die zugleich entwickelte Wärme festgestellt wurde,
konnte ein Ueberblick über das Verhältnis von Energieaufwand und Arbeits-
leistung gewonnen werden. Es ergaben sich Resultate, welche den Muskel
als eine „Wundermaschine“ kennzeichnen, insofern er sich den mannigfachsten
Verhältnissen und Anforderungen anpasst. Es wurden frappante Unterschidde
der Arbeitsweise der Muskeln in verschiedenen Jahreszeiten, bei verschiedenen
besonderen Umständen (Laichzeit), sowie der Muskeln verschiedener Körper-
regionen je nach den ihnen zufallenden Funktionen konstatiert. So entfacht
ein und derselbe Reiz im Wintermuskel eine hohe Intensität des Feuers, aber
ein schnelles Abbrennen, im Frühjahrsmuskel eine nicht so hohe, aber an-
dauerndere. Die Herbstmuskeln müssten nach diesen Ergebnissen am meisten
Brennmaterial haben, ein Resultat, welches auch — wenn dieses Material
als Glycogen nngesehen werden darf — mit den Forschungen Pflügers
übereinstimmt. Ebenso zeichnen sich die Muskeln des Froschweibchens zur
Laichzeit durch besondere thermodynamische Leistungsfähigkeit aus. Kröten-
muskeln dagegen sind stets weniger arbeitsfähig als Froschmuskeln. Auch
über die verschiedenen Arbeitsweisen verschiedener Muskeln brachten die
Untersuchungen Aufklärungen. Die Adduktoren arbeiten mit halb so viel
Brennmaterial als der Gastroknemius; kann man die ersteren einem Renn-
pferd, so muss man die letzteren einem Lastpferd vergleichen. — Ferner
wurde die Frage erörtert, ob Spannkräfte ohne mechanischen Effekt Wärme
Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hek 2. 12
178 XXXVII. Versammlung südwestdentscher Irrenärzte.
‚produzieren können. Es wurde konstatiert, dass nur der sich kontrahierende
:Muskel Wärme erzeugt, dass es eine „Selbstheizung“ ohne mechanische
Leistung nicht gibt.
Privatdozent Dr. Alzheimer-München berichtete über eine eigenartige
psychische Erkrankung mit ganz ungewöhnlichem anatomischem Befund.
Es handelt sich um eine Kranke, welche nach 4!/ jähriger psychischer
‚Krankheit gestorben ist. Die 5ljährige, früher stets gesunde, luetisch nicht
infizierte Person ohne alkoholistische Neigungen, welche keine körperlichen
Krankheitszeichen zeigte, bot ein sehr eigentümliches psychisches Bild. Sie
erkrankte mit Eifersuchtsideen, Vergesslichkeit, konnte der Wirtschaft nicht
mehr vorstehen, nichts kochen, war unruhig, ratlos in der Wohnung. fn
‘der Anstalt war sie völlig ratlos, unorientiert, kannte niemand, litt an Be-
'äAngstigungen, Delirien, halluzinierte scheinbar, schrie sinnlos. So weit eine
genauere Untersuchung möglich war, wurde festgestellt, dass die rechte
örperhälfte nicht ordentlich gebraucht wurde. Beim Lesen kam sie von
einer Zeile in die nndere, zeigte ausserdem paraphasische Erscheinungen
(z. B. Milchgiesser statt Tasse etc.), auch asymbolische Phänomene. ie
Pupillen reagierten, Patellarreflexe waren vorhanden, Arteriosklerose war
körperlich nicht nachzuweisen. — Diagnostisch wurde ein ausgebreiteter
organischer Prozess angenommen; Lues cerebri, Paralyse, Arteriosklerose
des Hirns wurde als ausgeschlossen angesehen. — Die Sektion ergab eine
allgemeine Atrophie des Hirnmantels. Mikroskopisch wurden (nach
Bielschowsky) Fibrillenbündel als Reste von Ganglienzellen nachgewiesen,
auch die einzelnen Phasen dieses Zerstörungsprozesses der Zellen treten zu
Tage. Selbst im Nisslpräparst waren die Fibrillen sichtbar. Ebenso war
der Zerfall der Achsenzylinder in Fibrillen nachzuweisen. Ausserdem be-
standen eigentümliche Gliaveränderungen. `
In den nächsten Vorträgen behandeln Dr. Frank-Zürichund Dr.Bezzola-
Schloss Hard: Die Analyse psyehotraumatiseher Symptome.
Es handelt sich um Ausführungen im Sinne der Lehren Freuds über
die ätiologische Bedeutung des Traumas für hysterische Zustände. Wenn
‚die Vortragenden die Lehren Freuds auch nicht ganz unbedingt vertreten,
so halten sie doch an der traumatischen Aetiologie der Hysterie fest, ohne
dass dieses Trauma immer sexueller Natur zu sein braucht. Frank erläutert
an einer Anzahl von Fällen die Art und Weise, wie er durch Psycho-Analyse
das ätiologische Trauma festzustellen und durch Enthüllung aller mit diesem
Trauma verknüpften Erlebnisse („Abreagieren“) die Krankheitserscheinungen
dauernd zum Verschwinden zu bringen vermochte. Im Gegensatz zu den
neueren Lehren Freuds benutzte F. fast stets die Hypnose sowohl zur
"Analyse wie zum Abreagieren. Bezzola gibt mehr theoretische Ausführungen
über die Natur und die Wirkungen des psychischen Traumas. Bei der Be-
deutung, die allmählich die Diskussion um Freud angenommen hat, mögen
die Schlusssätze des Vortrages B.s hier folgen:
l. Die Analyse psychotraumatischer Symptome ergibt, dass sie ins
Bewusstsein ragende, durch die Ich-Kritik mehr oder weniger veränderte
Bestandteile unvollständiger, psychischer Erlebnisse sind.
2. Der Grund des mangelhaften Bewusstwerdens solcher Erlebnisse
liegt in der Plötzlichkeit ihrer Einwirkung und in der Dissoziation -der
Hirntätigkeit infolge von Erschütterung, Schlaf, Affekt und anderen Zuständen.
die die sofortige Assoziation mit dem Ich-Bewusstsein, d. h. mit der früheren
Erfahrung, unmöglich machen.
3. Die Wirkung solcher Erlebnisse ist eine erhöhte Affektspannun;
der Persönlichkeit und das zeitweise Auftreten hypnoider Zustände (Tages-
träume), die dem Ich-Bewusstsein als Gedankenleere, Gedächtnisschwäche,
Ahnungen, Impulse u. dergl. imponieren und mit denen alle ähnlichen Er-
fahrungen im Sinne der Verstärkung assoziieren. Die bewusstseinsfähigeh
Bestandteile werden dagegen durch Rückläufigkeit zu Verstimmungen,
Parästhesien, Illusionen Und Halluzinationen, durch falsche Verkettung zu
Zwangs- und Wahnideen, je nach dem Verhalten der Ich-Kritik. Andere
XXXVII. Versammlung sädwastdeutscher Irrenärzte. 179
Reize gehen unbewusst auf die motorische Sphäre über uud bedingen epi-
und kataleptoide Erscheinungen.
4. Eine Verdrängung aus dem Bewusstsein besteht in dem Sinne, dass
das Erlebnis als Ganzes nie klar bewusst war, sondern von vornherein als
bypnoide Persönlichkeit ein Eigenleben führt, das als Schlaf- und Wach-
traum zum Bewusstsein drängt, durch Assimilierung ähnlicher Eindrücke
zur Neurose sich verdichtet, als manifeste Doppelpersönlichkeit (condition
seconde) selbständig werden und durch Schwächen oder Unterdrückung der
normalen Erfahrung zur Psychose auswachsen kann.
5. Die Lösung der psychoneurotischen Zustände geschieht am besten
durch Rekonstruktion des oder der ursächlichen Ereignisse aus dem mani-
festen oder durch künstliche Einengung des Bewusstseins manifest werden-
den Symptome. Dieses Verfahren könnte man mit dem Namen Psychosynthese
oder Traumatosynthese belegen, um anzudeuten, dass durch eine Zusammen-
setzung aus zerschellten Bruchstücken unter ärztlicher Kontrolle ein bloss
primär identifiziertes Erlebnis noch nachträglich sekundär identifiziert
werden kann.
In der sehr lebhaften Diskussion nimmt zunächst Hoche-Freiburg
sehr entschieden Stellung gegen die Lehren Freuds und seiner Anhänger,
welche er für völlig verkehrt und einseitig hält. Jung-Burghölzli sucht die
Lehren Freuds durch die Ergebnisse seiner Assoziationsversuche zu stützen,
indem er darauf hinweist, dass die von ihm festgestellten Komplexphänomene
in den Assozistionen Hysterischer auf ein einheitliches psychisches Erlebnis
(ätiologisches Trauma) zurückgehen.
Demgegenüber berichtet Isserlin-Heidelberg über von ihm an-
gestellte Assoziationsversuche an Hysterischen. Auch er hat den reaktions-
zeitverlängernden Einfluss gefühlsbetonter Vorstellungen (Komplexe) nach-
weisen können. Im Gegensatz zu Jung hat er aber gefunden, dass diese
Phänomene sich durchaus nicht immer im Sinne eines einheitlichen ätio-
logischen Erlebnisses zusammenschlossen, dass vielmehr mannigfache
gefühlsbetonte Vorstellungen mit ihren charakteristischen Wirkungen im
Assoziationsvorsuch zutage treten. I. deutet diese Tatsachen im Sinne der
bekannten Emotivität der Hysterischen. Auch die von Jung gefundene
- Erscheinung, dass mit gefühlsbetonten Komplexen verknüpfte Assoziationen
am leichtesten vergessen werden (eine Tatsache, welche Jung im Sinne der
Freudschen Verdrängungstheorie deutete), hat Isserlin nicht bestätigt
gefunden.
Gaupp-Tübingen sucht zwischen den’fextremen Anschauungen zu
vermitteln.
, Hoppe-Pfullingen: Die strafrechtliche Verantwortliehkeit von
Anstaltsinsassen.
Vortragender knüpft an die Tatsache an, dass vor 10 Jahren einmal
ein Pflegling strafrechtlich verurteilt wurde, ohne aus der Irrenanstalt ent-
lassen zu sein. Er erörtert an Beispielen, dass auch heute noch eventuell
in bestimmten Fällen (bei erworbenem und angeborenem Schwachsinn, Perio-
dikern) aie Frage der strafrechtlichen Verantwortung trotz des Anstalts-
aufonthalts in Frage kommen könnte. Vortragender zeigt, in welcher Weise
dann jedes Mal dic Verantwortlichkeit abzulehnen sei. Er streift zum Schluss
die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit und der Notwendigkeit
von Anstalten, welche zwischen Irrenhaus und Korrektionshaus stehen.
Direktor Krimmel-Zwiefalten: Erfahrungen bei Naehtwaehen.
Das Referat beginnt mit einem historischen Ueberblick über die Ent-
wicklung der Ueberwachungssysteme in Irrenanstalten. Während früher ein-
mal bei vorwiegender Zellenbehandlung „Laufwachen“ die einzig gebräuch-
lichen waren, kommen bei der modernen Bett- und Bäderbehandlung die
„Wechselwachen“ und das „schottische System“ fast ausschliesslich in Betracht.
Vortragender gibt dann auf Grund einer Rundfrage eine Uebersicht über
die Art und Weise, wie an den einzelnen Anstalten halb- oder ganznächtiges
Wechselwachsystem oder Dauerwachen nach schottischer Art gebräuchlich
sind und sich bewährt haben. Die Zahl der Kranken, welche überhaupt
12*
150 XXXVII. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte.
unter Wache stehen, schwankte in den einzelnen Anstalten zwischen 5 und
und 75 pCt., für gewöhnlich werden 30—40 pCt. der Kranken dauernd be-
wacht, während manche Kliniken und Stadtasyle fast sämtliche Kranken
bewachen lassen. Im allgemeinen gibt es eine ruhige, halbruhige und
unruhige Wachabteilung, bisweilen noch eine besondere für Bäder, Unreine,
Sieche und irre Verbrecher. Die Wache beginnt gewöhnlich um 9 Uhr
abends und dauert bis 6 Uhr morgens, der Schichtwechsel halbnächtiger
Wechselwachen findet im allgemeinen um 12 oder ! Uhr statt. Dauerwachen
werden teils abwechselnd herangezogen, teils besonders ausgewählt, bisweilen
freiwillig gestellt. Die Zeit der Dauerwachen beträgt ein bis mehrere Monate,
weniger oft eine bis mehrere Wochen, in einiger. Anstalten sogar ein halbes Jahr.
Die Zwischenzeit zwischen den Nachtwachen pflegt dienstfrei zu sein, jedenfalls
ist sie so bemessen, dass das Personal acht Stunden schlafen kann. Oefters erhält
das Wachpersonal Zulagen und Vergütigungen. Die allgemeinen Resultate der
Umfrage waren die, dass das schottische Wachsystem da, wo es eingeführt war,
sich weitaus vor dem Wechselwachsysten bewährt hat. Man hat dann immer
ein frisches nicht durch Tagesdienst ermüdetes Personal, welches unruhige,
sieche und gefährliche Kranke genau kennt. Die Unzuträglichkeiten, welche
der Schichtenwechsel mit sich Bringt, werden vermieden. Es empfichlt sich,
nicht zu kurze Dauerwachperioden einzuführen, damit das Personal die
Möglichkeit hat, mit dem Kranken vertraut zu werden und allzu häufige
Verschiebungen vermieden werden. Auch bedarf es stets einer längeren Zeit,
bis das Personal "sich in die veränderten Lebensverhältnisse eingewöhnen
kann. Auch zu lange Wachperioden sind nicht anzuwenden; es ist bei
solchen öfters das Ueberhandnehmen einer gewissen Zügellosigkeit unter
dem Pflegepersonal bemerkt worden. Wachperioden von 2—3 Monaten
scheinen die zweckmässigsteu. Irgend eine Beschäftigung während des
Wachdienstes ist anzuraten, eine Kontrolle notwendig. Eine ungesunde Be-
einflussung des Personals wurde nicht beobachtet, eher das Gegenteil. Zu-
lagen sind empfehlenswert, danu meldet sich das Personal freiwillig. Der
Gesandheitszustand des Wachpersonals ist dauernd zu beobachten. Im
anzen ist das schottische System kostspielig, aber dus empfollenswerteste
ür Kranke wie Personal; die Wechselwache ist nur als Hilfe anzuwenden.
Dr. Landerer - Freiburg: Zur gesundheitliehen Prognose des
weibliehen Wartepersonals. Vortragender berichtet über Beobachtungen
an dem weiblichen Personal der Freiburger Klinik, wie sie in den letzten
zehn Jahren gesammelt worden sind. Von 169 Pflegerinnen sind 146 aus-
getreten, davon 20 aus gesundheitlichen Gründen. Von diesen letzteren sind
nur 8 von Krankheitszuständen befallen, welche nicht auf äussere, mit dem
Dienst in keinem Zusammenhange stehende Ursachen zurückgeführt werden
konnten; diese acht waren durchweg Psychopathen. Bei den gesunden
Wärterinnen war das Optimum der Leistungsfähigkeit nach einem Jahr er-
reicht, dann wurde sie durch Eigenwilligkeit, Klatschsucht u.s w. beein-
trächtigt. Vortragender schliesst, dass man in Anstalten, wo ein Heiraten
des Personals nicht zu ermöglichen sei, besonders auf psychisch intaktes
Personal zu sehen habe, am besten sei solches aus ländlichen Kreisen. In
der Diskussion betont Kreuser-Winnenthal die Notwendigkeit der Zuver-
lässigkeit des Personals beim schottischen Wachsystem, welches ausserdem
eine besondere Ueberwachung durch Oberwartepersonal und Aerzte not-
wendig mache.
Dr. Sauberschwarz-Elisabethenberg: Besueh und Tätigkeit in
einigen Irrenanstalten der Vereinigten Staaten Nordamerikas im
Winter 1897/98. Bericht über einige Erfahrungen an nordamerikanischen
Irrenanstalten. In einer kleineren Anstalt war das ärztliche Personal nicht
gerade auf der Höhe wissenschaftlicher Bildung, die Einrichtungen aber
splendid, die Behandlung human, das Wartepersonal gut. An den grossen
Anstalten sind alle Einrichtungen äusserst komfortabel und ingeniös, auch
die Aerzte durchaus gut geschult und mit denselben Problemen ringend wie
wir. Gau Tübingen bestätigt diese Angaben aus eigener Erfahrung.
Dr. Weiler-München: Ueber Messung der Muskelkraft. Nach
einer Uebersicht über die Entwicklung der verschiedenen Methoden zur
XXXVII. Versammlung südwestdeutscher Irrenärzte. 181
Messung der Muskelkraft und der hierbei angewandten Instrumente (Ergo-
graphen, Dynamometer) demonstriert W. einen von ihm erfundenen, sehr
sinnreichen Apparat zur Messung der Muskelkraft. Es ist ein Dynamometer,
welches jeweils ein Mass der sufgewandten Kraftanspannung gibt, zugleich
aber auch auf einer rotierenden Scheibe die Kraftleistungen graphisch regi-
striert und so nicht nur die einzelne Leistung, sondern auch die Verhältniese
bei längerer Arbeitsdauer zu überblicken gestattet. In der Diskussion zeigt
v. Grützner-Tübingen ein von ihm konstruiertes, gleichfalls registrierendes
Dynamometer mit Mareyübertrnagung. Er weist auf «die theoretisch nicht
unwichtige Frage hin, dass beim Ergographen die Arbeit ohne weiteres in
Meterkilogramm feststellbar sei, während beim Dynamometer die Spannung
nicht einmal des Muskels, sondern nur des Apparats angegeben werde. v. G.
demonstriert weiter einen Apparat, welcher es ermöglichen soll, das Ver-
hältnis isotonischer und isometrischer Muskelkurven exakt zu registrieren.
Privatdozent Dr. Baisch-Tübingen: Funktionelle Neurosen in der
Gynäkologie und ihre Begutachtung. Bei der Kombination von gynä-
kologischen Leiden und nervösen Beschwerden ist es wichtig, das Wechsel-
verhältnis beider festzustellen, insbesondere zu konstatieren, von welchem
Einfluss eine Beseitigung des körperlichen Befundes für die nervösen Er-
scheinungen wird. Besonders für die Begutachtung der Arbeitsfähigkeita-
frage gegenüber den Versicherungsanstalten sind diese Verhältnisse wichtig.
B. teilt seine Erfahrungen auf diesem Gebiete in drei Gruppen:
I. Fälle mit gynäkologischem Befund und hierauf hezüglichen nervösen
Beschwerden,
2. Fälle mit organischem Befund ohne nervöse Beschwerden,
3. Fälle mit nervösen Beschwerden ohne Befund.
Es ist wichtig, dass in den Fällen der ersten Art eive Beseitigung
des gynäkologischen Befundes im allgemeinen keine Besserung brachte, be-
sonders dann nicht, wenn die Suggestion der Rente ungünstig beeinflussend
mitwirkte. B. weist darauf hin, des es notwendig ist, bei jedem gynäko-
logischen Eingriff an etwaige nervöse Folgen zu denken und ihnen von
vornherein entgegen zu wirken.
Dr. Pfersdorff-Strassburg: Ueber Denkhemmung.
Pf. berichtet über Untersuchungen, welche darauf abzielen, die ver-
schiedene Verteilung von Erregung und Hemmung verschiedener Assoziations-
rappen in demselben Zustandsbilde nachzuweisen. Er erläutert an einigen
ällen die Resultate bei dem Hersagen eingeübter Assoziationen (Buchstabieren,
Wochen-, Monatsnamen etc.) und beim Rechnen.
Privatdozent Dr.Rosenfeld-Strassburg: Ueber den Beziehungswahn.
R. referiert über eine kleine Gruppo von akuten, heilenden Erkrankungen.
Sie sind ausgezeichnet durch sehr reichliche Beziehuugsideen, zeigen sonst
wenig Erscheinungen, insbesondere keinerlei katatonische Symptome. Es
handelt sich vorwiegend um eine Verfälschung der sekundären Identifikation,
die Empfindungen sind richtig; in der Wahrnehmung wird in Beziehungen
zum Ich Stehendes bevorzugt. R. schildert einige Fälle eigener Beobachtung
und solche aus der Literatur, die hierher gehören. Für die Diagnose hat
man die Rubriken akute oder chronische Paranoia zur Anwendung gezogen.
R. zeigt eingehend, dass diese Diagnosen nicht zutreffen. Untersucht man
die Fälle genauer, so findet man ausser den im Vordergrund stehenden Be-
ziehungsideen abwechselnd Zeichen der Erregung oder Hemmung sowohl
auf dem Gebiete des Fühlens wie des Denkens, als auch des Handelns. Es
handelt sich sicher um Fälle des manisch-depressiveu Irreseins.
Privatdozent Dr. Specht -Tübingen: Zur Analyse einiger Schwaeh-
sinnsformen.
Die klinischen Fortschritte im Differenzieren von Schwachsinnsformen
sind bekannt. Auch die psychologische Forschung hat sich um eine feinere
Analyse der Arten des Schwachsinns bemüht, ohne bisher über die Anfänge
solcher Untersuchungen hinausgekommen zu sein Wesentlich für das
psychologische Verständnis der unter der Bezeichnung des Schwachsinns
zusammengefassten psychischen Formen iert der Gesichtspunkt, dass für den
182 Buchanzeigen.
Schwachsinn nicht nur intellektuelle, sondern auch subjektive Vorgänge des
Fühlens und Wollens zu berücksichtigen sind. S. hat bei einer Anzahl von
Schwachsinnsformen Addierversuche nach der fortlaufenden Methode
Kraepelins angestellt, welche für die einzelnen Gruppen charakteristische
Ergebnisse zu Tage förderten. Bei der Dementia praecox waren die einzelnen
Gruppen nicht zu differenzieren. Alle insgesamt zeichneten sich durch eine
absolut geringere Leistungsfähigkeit gegenüber den Normalen aus. Eine
grössere Ermüdbarkeit dage en war nicbt festzustellen. Uebungsfähigkeit
und Uebungstestigkeit ver telten sich ähnlich wie bei Normalen; ebenso die
Rechenfehler, eine Tatsache, welche wichtig für die Nachbehandlung ist.
Bei Paralyse wurde eine grosse Ermüdbarkeit konstatiert; ausserdem eigen-
artige Rechenfehler (z. B. 8+ 4=4 7 +5=4 u. s. w; also eine Art von
Haften an derselben Zahl). Ein leichter Uebungsfortschritt war bei der
Paralyse festzustellen. — Bei der Presbyophrenie war keine Spur von
Uebungsfähigkeit und Festigkeit zu finden, eine Tatsache, welche der be-
kannten Merkfähigkeitsstörung entspricht. Bei der Alkoholdemenx konnte
wohl ein gewisser Uebungsfortschritt, aber keine Uebungsfestigkeit konstatiert
werden. Auch hier wurden eigenartige Rechenfehler bemerkt, welche auf
Verwechslung der Aufgaben beruhten, z. B. plötzliches Multiplizieren oder
Subtrahieren statt des fortlaufenden Addierens. Dieses Phänomen sucht Sp.
auf Aufmerksamkeitsschwankungen zurückzuführen. Sp. schliesst damit, dass
allo diese Untersuchungen erst dann einem definitiven Abschluss entgegen-
gehen werden, wenn es gelungen sein wird, die Aufmerksamkeitsvorgänge
genauer zu analysieren.
Die nächste Versammlung soll im Herbst des kommenden Jahres in
Heidelberg stattfinden. Als Referatthema ist das der Gefängnispsychosen, als
Referent Privatdozent Dr. Wilmanns-Heidelberg bestimmt.
Buchanzeigen.
Bumke, Was sind Zwungsvorgänge? Halle. Carl Marhold,
Grundbedingung für sämtliche Zwangsvorgänge ist die Entstehung aus
Zwangsvorstellungen im Sinne Westphals mit den 3 Kardinalaymptomen:
l. dem Dominieren der Vorstellung unabhängig vom Affekt,
2. dem subjektiveu Gefühl des Zwanges,
8. der vollen Krankheitseinsicht.
Damit sind die Grenzen gezogen gegenüber den Wahnideen, den
dominierenden Vorstellungen und den autochthonen Ideen Wernickes.
Kempner-Berlin.
Bruns, L., Die Hysterie im Kindesalter. 2. Auflage. Halle. Carl
Marhold.
Die 85 Seiten starke Broschüre behandelt in kurzer, aber ziemlich
anıfussender Darstellung Aetiologie, Symptomatologie und Therapie der
Kinderhysterie.
Die Absicht des Verfassers ging dahin, gerade den praktischen Arzt
mit den meist monosymptomatischen Formen der infantilen Hysterie bekannt
zu machen, weil nach seiner Erfahrung diese funktionellen Erkrankungen
wegen des Fehlens weiterer hysterischer Stigmata oft fälschlich für ein
schweres organisches Leiden gehalten werden, wodurch einerseits das Ansehen
des Arztes leidet, andrerseits die Heilung erschwert, wenn nicht unmöglich
emacht wird. An praktischen Winken lässt es Verfasser nicht fehlen, deren
efolgung geeignet ist, vor Fehldiagnosen zu schützen.
K e mpnor- Berlin.
Bachanzeigen. 183
Camerer und Landauer, Geistesschwäche als Entmündigungsgruund.
Jurist.-psych. Grenziragen. Bd. II. H. 7/8. Halle a. S. 1905. C. Mar-.
hold. 46 S.
Die beiden Verff., ein Jarist und ein Psychiater, besprechen das Thema
in erschöpfender Weise, ohne wesentlich Neues zu bringen. Man wird
sich aber ihren Ausführungen in allen Stücken anschliesscn müssen, vament-
lich auch den Angaben Landauers, dass Geistesschwäche nicht einfach ein
leichter Grad der Geisteskrankheit ist, sondern ein nach Lebenserfahrung
und ärztlicher Wissenschaft zu bestimmeuder Zustand geistiger Gebrechen.
Die Besorgnis Camerers wegen der Uebergabe des Entmündigungsbeschlusses
halten wir, trotz der gegenteiligen Aeusserung Pfisters, für unnötig. Auch
seitdem Cramer betont hat, dass er nie nachteilige Folgen von Jder Ueber-
abe des Beschlusses an den Entmündigten gesehen hat, haben uns die Er-
ahrungen der folgenden Jahre nicht vom Gegenteil überzeugen können.
Wenn man einem Kranken noch so viel Einsicht und Selbstbestimmungsrecht
zubilligt, wie es der Begriff der Geistesschwäche erfordert, dann muss er
auch imstande sein, die psychischen Reize, welche die Bekanntgabe der
Entmändigungsgrände mit sich bringt, ertragen zu können. Die überaus
seltenen Fälle in denen wirklich einmal ein namhafter Schaden für den
Kranken zu befürchten wäre, würden auch voch nicht eine Abänderang der
Zivilprozessordnung rechtfertigen, sondern lassen sich viel leichter da-
durch paralysieren, dass vorher mit dem entmündigenden Amtsgerichte über
den Tenor des Beschlusses verhandelt wird. Ebenso wird es rechtlich zu-
lässig sein, wenn der behandelnde Arzt, also in diesem Falle der Anstalts-
leiter, den Entmündigungsbeschluss vor der Aushändigung an den Kranken
verschliesst und, wenn er glaubt, aus seiner Fassung Gefahren für die Ge
sundheit des Kranken befürchten zu müssen, ihn mit der Bitte um eine
Aenderung oder um Aufschub der Uebergabe an das Amtsgericht zurück-
gibt. Das wäre freilich ein Weg, den man in der Praxis nur betreten würde,
wenn die in jedem Fall zweckmässigere persönliche Verständigung mit dem
Richter aus äusseren Gründen nicht möglich ist. Man wird aber dem An-
staltsleiter das Recht nicht abstreiten können, alles von seinem Kranken feru-
»uhalten, was dessen Gesundheit beeinträchtigen könnte.
Die Besprechuug der einzelnen Geistesstörungen von dem Gesichts-
punkt ihrer Zugehörigkeit zur Geistesschwäche hat immer ihr Missliches, und
erf. betont dies ja auch selbst. Von den Degenerierten meint Verf., dass
man sie unter Umständen doch wegen Geistesschwäche entmändigen könne,
auch wenn der Hauptsache nach nur der ethische Defekt vorhanden ist,
vorausgesetzt, dass dieser sie an der richtigen Besorgung ilırer Angelegen-
heiten verhindert. Ich möchte da doch die Auffassung Cramers vertreten:
das erste ist der Nachweis der Geistesstörung; dieser ist mit der Feststellung
der Degeneration nicht erbracht und auch nicht mit dem Vorhandensein
eines ethischen Defektes allein. Kommen aber intellektuelle Störungen,
namentlich Defekte, dabei in Betracht von einer Intensität, dass sie eine ge-
ordnete Lebensführung verhindern, dann besteht keine Degeneration allein
mehr, sondern eine Imbecillität. Würde man Degenerierte allein wegen ihres
ethischen Defektes entmündigen, so würde man mehr oder weniger ihnen
einen Freibrief für kriminelle Vergehen ausstellen; denn es zieht immer,
wenn ein Angeklagter vor Gericht nachweist, dass or wegen Geistesachwäche
entmündigt ist; jeder geschickte Rechtsanwalt würde ihn daraufhin auch
wegen einer Straftat frei bekommen. Ehe die geistige Minderwertigkeit in
die Rechtsprechung eingeführt ist, sollte man doch recht strenge darauf.
halten, dass einfache Degeneration und einfacher ethischer Defekt nicht zu
den krankhaften Geisteszuständen in irgendwelchem gesetzlichen Sinne gehören.
Weber-Göttingen.
Cohn, T., Die palpablen Gebilde des normalen menschlichen
Körpers und deren methodische Palpation. 1. Teil: Obere
Extremität. Berlin 1905. S. Karger.
Die auf sorgfältigen Beobachtungen beim lebenden Menschen, an der.
Leiche, an Bildwerken etc. berahende methodische Palpation C.s wird.
F..
184 Buchanszeigen.
durch die grosse Sorgfalt und Klarheit der Abbildungen, wie dureh die
Grändlichkeit des Textes bald Freunde gewinnen. Dem Neurologen wird
sie bei Beurteilung von Muskelatrophien, von Neurosen nach Trauma und in
manchen anderen Fällen von grossem Nutzen sein.
Meyer-Königsberg.
Cramer, A., Ueber Gemeingefährlichkeit vom ärztlichen Stand-
unkte aus. Juristisch - psychiatrische Grenzfragen. Bd. III. H. 4.
Halle 1905. Marhold.
Der Vortrag ist sehr lesenswert und gipfelt in der vielfach von Irren-
ärzten ausgesprochenen Forderung, die Aufnahme in eine geschlossene
Anstalt zu erleichtern, was auch Referent nus langjähriger eigner Erfahrung
nur unterstützen kann, da er gerade ausschliesslich an Anstalten tätig war,
an denen bedeutende Erleichterungen bestanden, aus diesem Grunde aber
auch manche frühzeitige Stadien studieren konnte, die unter erschwerten
Aufnahmebedingungen nicht zur Beobachtung gekommen wären.
Cramers zweite Forderung ist die auch voll berechtigte, geistig
Minderwertige nicht zum Straffvollzug in die Irrenanstalten aufnehmen zu
müssen. Diese bilden eine immer grösser werdende Misère für die Anstalten.
Wenn die allgemeine Meinung auf den Kongressen der letzten Jahre dahin
geht, diesen eine strafrechtliche Behandlung angedeihen zu lassen, so soll
man für sie eigene Anstalten schaffen. Die Gemeingefährlichkeit der Geistes-
kranken werde in vielen Fällen überschätzt und übertrieben; sie könne
durch früähzeitigere Aufnahme eingeschränkt und vermieden werden.
Passow-Meiningen.
Ebstein, W., und E. Sehreiber, Jahresbericht über die Fortschritte
der inneren Medizin im In- und Auslande. Bericht 1901. H. 2—5.
Stottgart 1904 u. 1905. Ferdinand Enke.
Heft I habe ich November 1905 besprochen, jetzt liegen die vier
nächsten Hefte vur. Die Autoren haben gehalten, was sie versprachen, nur
ist es natürlich eine missliche Sache aller derartiger Sammeljahresberichte,
dass viele Monate, sogar Jahre dahingehen, bis z. B. Jahrgang 1901 gänzlich
fertig vorliegt.
Aber vielleicht wäre es möglich, die Arbeiten etwas za beschleunigen,
dadurch würden sich die zahlreichen namhaften Mitarbeiter ein nicht hoch
genug anzuschlagendes Verdienst erwerben.
Die vorliegenden Hefte behandeln die Respirationsorgane, Zirkulations-
organe, das Mediastinum, die Verdauangsorgane und Harn und Geschlechts-
organe. Näher einzugehen erscheint an dieser Stelle nicht geboten.
Passo w-Meiningen.
Freese, Oberjustizrat, Luise von Sachsen-Coburg und Gotha. Eine
forensisch-psychiatrische Studie. Halle a. S. 1905. C. Marhold.
Neben einer objektiven Darstellung der leidigen Affaire interessiert
uns an dem Buch vor allem der Umstand, dass es die sämtlichen Gutachten
and auch das von den französischen Psychiatern erstattete in deutscher Ueber-
setzung bringt. Dass das französische Gutachten auch deutsche psychiatrische
Kreise erstaunt und frappiert hat, ist bekannt, und auch der Uebersetzer und
Herausgeber, Freese, kann einzelne, zutrefiende kritische Bemerkungen nicht
unterdrücken. So bemängelt Fr. zunächst gleich die in der Einleitung kund
gegebene Absicht der Sachverständigen, von der Vergangenheit ganz ab-
zusehen. Die Sachverständigen meinen damit offenbar die während der
fräheren Beobachtungen und Begutachtungen gefundenen Resultate und den
früheren Geisteszustand der Prinzessin. Man kann die Berechtigung, sich
ausschliesslich mit dem jetzt vorliegenden Zustand zu beschäftigen, nicht
abstreiten, denn es ist ja bekannt, dass auch angeborene Schwacheinns-
zustände im Laufe von Jahren ihre äusseren Formen so ändern können,
dass man von einer Besserung sprechen kann. Aber bei ihrem Status,
dem sie die Einteilung in „geistige Fähigkeiten im eigentlichen Sinne“
und „moralische und gemätliche Fähigkeiten“ zugrunde legen, bringen
Buchanzeigen. 185
die Sachverständigen hauptsächlich Erzählungen der Prinzessin von den
Ereignissen ihrer Vergangenheit, teils um die Gedüchtnisleistung daraus
zu beweisen, teils in der ausgesprochenen Absicht, das frühere Verhalten mit
Beweggräünden nicht pathologischer Natur za entschuldigen. Im Vergleich
dazu ıst das über den jetzigen Zustand vorgebrachte tatsächliche Material
dürftig; es wird nun immer versichert, dass alle psychischen Einzelleistungen
nicht wesentlich vom Durchschnitt abweichen, uber Beweise werden hierfür
wenige erbracht. Demgemäss kommt das Gutachten zu dem bekannten
Resultat, dass die Prinzessin weder einer Anstaltspflege bedarf, noch entmündigt
werden muss; bei der letzteren Frage möchten sich die Sachverständigen
allerdings durch eine vorsichtige Klausel gegen etwaige Ueberraschungen der
Zukonft sichern.
Dem Einwand Freeses, dass die Beobachtung besser in einer Anstalt
stattgefunden hätte, wo die Prinzessin nicht unter dem Einfluss ihrer Be-
freier und Begleiter stand, können wir nicht völlig beipflichten. Gerade für
die Frage, ob die Angelegenheiten besorgt werden können, wird der Anstalts
aufenthalt bei solchen Schwachsinnigen nicht ausreichen, es muss eine Beob-
achtung unter völlig freien Verhältnissen eintreten. Weber-Göttingen.
Hirsehfeld, Magnus, Geschlechtsübergänge. Leipzig 1905. W. Malende.
Verf. bringt eine ausführliche Beschreibung zweier neuer interessanter
Fälle von Hermaphroditismus und gibt an der Hand einer grossen Zuhl von
guten Abbildungen eine Uebersicht der sexuellen Zwischenstufen. Voran-
estellt ist eine kurze und klare Würdigung ihrer Entstebungsgesetze und ihrer
Bedeutung, die auch derjenige mit Interesse lesen wird, der nicht in allen
Punkten auf dem Boden der Anschauungen des Verf. steht, sondern sich
durch eigene Erfahrungen gedrängt sieht, den Homiosexualismus zum mindesten
in vielen Fällen als Teilerscheinung einer allgemeinen degenerativen Ver-
änderung der gesamten somatischen und psychischen Persönlichkeit — nicht
nur der Sexualpsyche — zu betrachten. R. Lipschitz-Berlin.
Kluge, 0., Potsdam, Ueber das Wesen und die Behandlung der
geistig abnormen Fürsorgezöglinge. Aus: Sammlung von Ab-
_ handlungen a. d. Gebiete d. pädagogischen Psychologie und Physiologie.
Berlin. Reuther & Reichard.
Nach Kluge geht durch alle die verschiedenen Krankheitsbilder, die
die geistig Minderwertigen bieten, ein gemeinschaftlicher Grundzug, der
„abnorme Kgoismus“; auf ihn ist, allgemein gesagt, ihre Uufähigkeit zurück-
zuführen, sich den Gesetzen und Ordnungen der Gesellschaft anzupassen. Auf-
zufassen sind diese Störungen als der Ausfluss einer allgemeinen, individuell
verschieden weitgehenden Schädigung in den niederen und höheren Sinnes-
gebieten, wie sie bei der Untersuchung zum Ausdruck kommen in den Ano-
malien der Haut- and Tastempfindung, des Muskelsinnes, der Schmerzempfin-
dung und der Funktion des Gefässsystems. Sie stellen eine Schädigung im
Bewusstsein der Körperlichkeit Jar, die ihrerseits wieder eine Störung im Be-
wusstsein der Persönlichkeit zur Folge hat. Es leidet die Ausbildung der
normalen, unsere Vorstellungstätigkeit begleitenden Gefühlstöne. Hieraus
erklärt sich das Haltlose und das Unberechenbare der Patienten.
Entsprechend dieser Genose, kunn die Behandlung nnr von ärztlicher
Seite in Anstalten geschehen. Besondere Aufmerksamkeit erfordern die ge-
wohnheitsmässigen und die zwangs- oder triebartigen Eigentümlichkeiten.
Die kirchliche Beeinflussung ist nicht zu entbehren, muss sich aber
dem Fassungsvermögen anpassen und sich freihalten von unverständlichen
Ideen, da diese schwere Schädigungen hervorrufen können. Für die Patienten,
bei denen jede Behandlung fohl schlägt, werden besondere Zwischenanstalten
gefordert. Grimme-Göttingen.
Knapp, A. Halle a. S, Die polyneuritischen Psychosen. Wiesbaden
1905. J. F. Bergmann.
Das anfangs so scharf umschriebene Krankheitsbild der polyneuritischer
Psyehose hat sich einigermassen verflüchtigt, nachdem zunächst die poly-
186 Buchaüuzeigen.
aeuritischen, später auch die amnestischen Symptome nicht mehr als unor-
lässlich dafür bezeichnet wurden. Die Monographie von Knapp will das
Krankheitsbild der polynenritischen Psychose einerseits wieder mehr zusammen-
fassen und die ihm eigeuartigen Symptome scharf hervorheben, andererseits
zeigen, dass es häufiger vorkommt, als man gewöhnlich annimmt, aber durch
allerlei Nebensymptome, Auftreten von besonderen psychischen Störungen,
verdeckt wird. Er kommt zu dem Resultat, dass die polyneuritischen Psychosen
als eine ätiologische Krankheitsgruppe aufzufassen sind, welche den para-
Iytischen nnd hebephrenen Psychosen als dritte organisch bedingte an die
eite zu stellen sind.
Als Kern des Krankheitsbildes betrachtet er den amnestischen Symptomen-
komplex, als dessen Grundlage in jedem Falle wiederkehrende Veränderungen
im Gehirn anzunehmen sind; die daneben auftretenden verschiedenen psychischen
Störungen kommen zustande durch sekundäre anatomische Veränderungen.
Die Ausführungen des Verfassers werden erläutert durch acht aus-
führliche, sehr anschauliche Krankengeschichten, in denen es sich durchwe
um atypische Fälle handelt. Besonders hervorzuheben ist die ausserordentlic
sorgfältige und genaue Analyse der psychischen Symptome. Der Hauptzweck
der Analyse ist es, den amnestischen Symptomenkomplex, der immer die
Grundlage der polyneuritischen Psychose bildet, scharf herauszuheben und
zu zeigen, dass die das Krankheitsbild verwirrenden übrigen psychischen Er-
scheinungen zum grossen Teil auf ihn zurückzuführen sind oder eine Kom-
likstion darstellen. Mit Wernicke und anderen bezeichnet Verf. als die
auptmomente des amnestischen Symptomenkomplexes die Desorientierung,
die Störung der Merkfähigkeit, die retrograde Amnesie und die Konfabulation.
In einem seiner Fälle war dieser Symptomenkomplex nur ganz kurze Zeit vor-
handen; die Polynearitis liess aber den Fall als Korsakow erscheinen, ein
Beweis, wie schwierig sich unter Umständen die Diagnose gestalten kann.
Den Krankheitsgeschichten folgt eine ausführliche Detailbeschreibung
Jer bei der polyneuritischen Psychose auftretenden Symptome; darauf kann
aber hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Es sei nur nochmals auf
die genaue Analyse der Sprach-, Lese- und Schreibstörungen hingewiesen.
Ob es sich empfiehlt, für einzelne in ihrer Genese ganz interessante Störangen
auf diesem Gebiet, die aber doch an und für sich keine elementare Bedeutung
beanspruchen, pleich besondere Namen zu schaffen, wie Verf. dies tut, möchten
wir dahingestellt sein lassen.
In der Frage der Aetiologie steht Verf. auf dem Standpunkt, dass
nicht nur Alkohol und andere äussere Gifte, sondern namentlich Autotoxine
und Infektionen dabei eine Rolle spielen. Eine besondere Gruppe nehmen
vielleicht die durch Trauma, Strangulation, Senium und durch Hirntumoren
hervorgerufenen polyneuritischen Psychosen ein. Besonders bei den Tumoren
des Schläfenlappens, denen Verf. in einer anderen Monographie eine aus-
führliche Bearbaitun gewidmet hat, sah er den Korsakow relativ häufig;
die Schwierigkeiten für die Differentialdiagnose werden dort eingehend er-
örtert. Ausserdem kommen in der Differentialdiagnose namentlich einzelne
Stadien und Verlaufsformen der progressiven Paralyse in Betracht. Die
Monographie enthält für die gesamte Frage der polyneuritischen Psychose
eine Fülle von gut beobachtetem Material und fruchtbringenden Anregungen.
Weber-Göttingen.
Lohsing, E., Das Geständnis in Strafsachen. Jurist.-psychiatr. Grenzfr.
Bd. III. H. 1/3. Halle a. S. 1905. C. Marhold. 142 S.
Als Geständnis in Strafsachen wird „jede Aussage bezeichnet, die, an
sich genommen, geeignet ist, einen strafrechtlich relevanten Nachteil des
Aunssagenden herbeizuführen“. Es braucht also durchaus nicht nur ein
„wahres“ Geständnis zu sein. Es folgt ein historischer Exkurs, der Stellung
und Bedeutung des Geständnisses, die zu seinem Zustandekommen erlaubten
und angewandten Mittel in den Strafrechten aller Zeiten schildert. Für die
Beweiskraft des Geständnisses ist am wichtigsten seine psychologische
Analyse, wobei natürlich die Motive de» Geständnisses eine besonders wichtige
Bachanzeıgen. 187
Rolle spielen. Darunter werden besondere Faktoren, wie Gewissen, Reue,
Liebe, Ehrgefühl, Renommiersucht, Rache etc. angeführt und ihre psycho-
logische Würdigung versucht und durch praktische Beispiele belegt. nter
den psychopathischen Gründen des Geständnisses erwähnt Verf, das Heimweh,
Lebensüberdruss, Fieberdelirien und bespricht auch Geständnisse Geistes-
kranker an einzelnen Beispielen, ohne aber näher auf die psychologischen
Einzelheiten dieser Fälle einzugehen. In einer Schlussbemerkung wird noch-
mals ansdrücklich vor einer Ueberschätzung der Beweiskrait des Geständ-
nisses gewarnt, das durchaus nicht den anderweitigen Tatbeweis entbehrlich
macht und unter Umständen lediglich als Milderuugsgrund gelten dürfte.
eber-Göttingen.
Paton, Stowart, E sychiatry. Philadelphia and London 1905. J. B. Lippincott
omp. .
Das Lehrbuch Patons kann im guten Sion als ein eklektisches be-
zeichnet werden. Der Verf. hat mit grossem Geschick die wichtigsten
psychiatrischen Tatsachen, wie sie in den verbreitetesten Lehrbüchern nieder-
gelegt sind, zusammengestellt und auch hier und da um eigene Beobachtungen
vermehrt, ohne dass die Einheitlichkeit des Ganzen zu sehr gelitten hätte.
Irrtümer finden sich nur ganz vereinzelt. Die Darstellung ist klar. Die Aus-
stattung übertrifft diejenige unsrer deutschen Lehrbücher erheblich. Einzelne
mikrophotugraphische Abbildungen gehören zu dem Besten, was wir auf
diesem Gebiet besitzen. Z.
Reissner, Arthur, Die Zwangsunterbringung in Irrenunstalten und
der Schutz der persönlichen Freiheit. Mit einem Vorwort von
Prof. Dr. Eulenburg. Berlin 1905. Urban u. Schwarzenberg.
Vorliegende Monographie bildet eine Bereicherung der in den letzten
Jahren stark anwachsenden Literatur über diesen speziellen Punkt. Da die
Schrift rein juristisch ist, ist der Referent nicht in der Lage, hier
näher auf die Thesen einzugehen, die recht gut durchgearbeitet sind.
Jedenfalls hat der Autor die einschlägigen gesetzlichen und administrativen
Bestimmungen sorgsam durchgearbeitet und gesichtet mit spezieller Be-
rücksichtigung derEntmündigung wegen Geistesschwäche und Geisteskrankheit.
Wir können ihm nur daukbar für seine Arbeit sein und hoffen, dass
wir in diesem für uns allmählich brennend werdenden Punkte — zumal wegen
des grossen Publikums und der Oeffentlichkeit — bald zu einer Lösung
kommen, die beide Teile, Juristen und Irrenärzte, befriedigt, aber die be-
rechtigten Forderungen letzterer auch mehr berücksichtigt, als es bisher der
Fall ist. Passo w-Meiningen.
Sehüle, Ueber die Frage des Heirutens von früher Geistes-
kranken. (Erweiterter Vortrag für die Versammlung der deutschen
Irrenärzte in Dresden am 28. April 1905.) Berlin. Georg Reimer.
Schüle gibt ein Schema zur Anlegung der Statistiken, die notwendig
sind, um das Material zar Beurteilung der von ihm aufgeworfenen Frage des
Heirstens von früher geisteskrank gewesenen Personen zu gewinnen. Da
aber bis zur Erreichung des Zeitpunktes, in dem man mit der Verwendung
des gewonnenen Materials beginnen kann, noch eine Reihe von Jahren ver-
geben wird, macht Schüle gleichzeitig praktische Vorschläge, mit denen
jetzt schon versucht werden kann, dem „anerkannten Uebel eines wahl- and
reflexionslosen Drauflosheirstens“ entgegenzuwirken.
Der Kernpunkt der ganzen Statistik liegt in der Bezeichnung und
Charakterisierang der Krankheitsformen, die natürlich, um ein gemeinsames
Arbeiten zu ermöglichen, überall eine gleichmässige sein muss. Die Be-
zeichnungen Schüles sind nach symptomatologischem Prinzip gegeben und
umfassen grössere Krankheitsverbände, die durch bestimmte charakteristische
und regelmässig wiederkehrende Symptome als Einheitsgruppen gekenn-
zeichnet werden, wie Melancholie, Manie, primäre chronische Paranoia,
primäre Demenz, sekundäre Demenz, juvenile Psychosen, senile Psychosen,
188 Buchanzeigen.
periodische und zirkuläre Psychosen, akute delirante Seelenstörungen u. s. w.
Der mütmassliche Verlauf wird vorläufig nicht von ihm berücksichtigt.
‚ — Die zur Verarbeitung des gewonnenen Materials gestellten Fragen siod
bis in das einzelne differenziert, und das Ganze soll so erledigt werden, dass
die einzelnen Anstalten immer nur eine Psychosenform in Ängriff nehmen.
Die Vorschläge Schäles für die jetzt schon vorzunehmende Prophylaxe,
deren Schwierigkeiten in der Durchführung er sich nicht verhehlt, gipfeln
darin, dass erstens allgemein durch Verbreitung der medizinischeo An-
schauungen aufklärend auf das Publikum gewirkt, und zweitens dem Staat
ein grösserer Einfluss auf die Eheschliessungen eingeräumt werden soll. Im
einzelnen: Heraufsetzung der Altersgrenze, Verlangen einer ausreichenden
finanziellen Existenzbedingung, Recht jedes Ehepartners, von dem anderen
Teil ein Gesundheitszeugnis zu verlangen: Erstatten dieses Zeugnisses darch
einen Gesundheitsrat, der mahnend, warnend oder verbietend sein Gutachten
abgeben soll, und bei Nichtbeachtung dieses Gutachtens Bestimmungen, die
eine finanzielle Trennung bei Erkrankung eines Partners für den anderen un-
möglich machen. Endlich verlangt er Entmündigung der Personen, die an
rezidivierender Geisteskrankheit leiden, um eine Verheiratung in den Inter-
missionen zu verhindern. Grimme- Göttingen.
Weininger, Otto, Ueber die letzten Dinge. Mit einem biographischen
Vorwort von Moritz Rappaport. Wien und Leipzig 1904. Wilhelm
Braumüller.
Der literarische Nachlass des Verfassers von „Geschlecht und Charakter“,
der bekanntlich in seinem 24. Lebensjahre durch Selbstmord endigte. Der
empirischen Wissenschaft stand er verständnislos und schroff ablehnend
gegenüber und arbeitete doch in seinen abstrakten Spekulationen fast nur
mit empirischen Formen. Dieser fatale Widerspruch ist für die Beurteilung
seines Werkes wohl wichtiger als seine Psychose, die Aschaffenburg schon
nach der Lektüre von „Geschlecht und Charakter“ diagnostizierte und für
welche die „letzten Dinge“ weiteres, teilweise typisches Material bieten.
Neuerdings wurde nachgewiesen, dass W. die Idee der bisexuellen Anlage,
seine Grundlehre, voa Wilhelm Fliess, einem Arzt und Empiriker, über-
nommen hat — eine seltsame Ironie der Geschichte. E. Hess-Görlitz.
„Geistig Minderwertige“ oder „Geisteskranke"? Von Dr. Werner,
Oberarzt an der städtischen Irrenanstalt in Dalidorf-Berlin. Fischers
Medizin. Buchhandlung, H. Kornfeld, Berlin W. 85. 1906.
Werner will mit dieser Veröffentlichung einen Beitrag zu der Ab-
renzung dieser beiden Krankheitsformen mit Rücksicht auf die geplante
Strafrechtsreform geben. Bei der Beurteilung der etwaigen klinischen Form
„geistiger Minderwertigkeit“ und der Abgreuzung „geistiger Minderwertigkeit“
gegenüber den Zuständen geistiger Gesundheit glaubt W. wenig Meinungs-
verschiedenheiten zu erwarten, wohl aber hinsichtlich der Abgrenzung gegen
die unzurechnungsfähigen Geisteskranken. W. bespricht dann in dieser Hin-
sicht besonders zwei Kategorien der von Cramer aufgestellten Zustände
etwaiger „dauernder geistiger Minderwertigkeit“, und zwar erstens „Patienten
mit langsam sich entwickelnden senilen und präsenilen Formen, mit organi-
schen Hirnkrankheiten überhaupt“ und zweitens „die Degenerierten“. Zur
Erläuterung und Beleuchtung seiner Ausführungen gibt dann W. in einem
Anhang für jede Kategorie der oben genannten Formen zwei Paare von Gut-
achten in ausführlichster Weise. Das erste Gutachten betrifft einen Beamten
mit deutlichen Zeichen beginnender, krankhafter seniler Geistesschwäche, der
bei früherer, sonst tadelloser Lebensführung in einem Warenbause sich ge-
ringfügige Sachen angeeignet hatte. Er war in erster Instanz verurteilt
worden, nachdem der erste Sachverständige ihn für „geistig minderwertig*
erklärt hatte. W. gibt sein Gutachten dahin ab, dass es sich um einen Fall
von „Dementia senilis praecox“ handele und die Straftat in einem, die freie
Willensbestimmung ausschliessenden Zustand krankhafter Störung der Geistes-
tätigkeit geschehen sei. Bei dem zweiten Gutachten handelt es sich um die
Anfechtung eines korrekt ubgefassten Testamentes einer Paralytikers, zwei
Buchanzeigen. — ` 189
Monate vor der Aufnahme in eine Irrenanstalt, wo er deutliche Krankheits-
erscheinungen bot. Das Gutachten hält es für in hohamı Masse wahrscheinlich,
dass schon damals bei der Abfassung die freie Willensbestimmung aus-
eschlossen gewesen sei. Das dritte Gutachten betrifft „einen pathologischen
Schwindler“, der wegen Betrages angeklagt war. Er wird als originär ent-
arteter Schwacheinniger begutachtet und als unzurechnungslähig im Sinne
von § 51 St. G. B. angesehen. Bei dem letzten Gutachten handelt es sich um
einen originär entarteten Gewohnheitsverbrecher mit Zeichen epileptischer
Konstitution, bei dew in der Haft epileptoide Verwirrungszustände auftraten.
Es fanden sich neben abnormem Hervortreten der Affekte Schwäche auf
intellektuellem und ethischem Gebiete, er wurde als unzurechnungsfähig im
Sinne von § 51 begutachtet. Der letzte Fall bietet gleichzeitig ein Beispiel,
dass es wenig zweckmässig erscheint, einen solchen Entarteten nach Ab-
klingen der in der Haft episodisch anfgetretenen geistigen Störungen wieder
dem Strafvollzug zurückzuführen, da er trotz längerer irrenärztlicher Be-
handlung sofort wieder im Strafvollzug erkrunkte, als er seine Rückführung
selbst veranlasst hatte. Reinelt- Göttiogen.
Ueber Idiotie. Referat, erstattet aaf der Jahresversammlung des Deutschen
Vereins für Psychiatrie. Dresden, 28. April 1905. Von Professor
Dr. phil. et med. W. Weygandt, Würzburg. Verlag von Carl Marhold.
Halle a. S. 1906.
In dem ersten Teil des Referates werden die Grundlagen der ldiotie
besprochen und dabei die amaurotische familiäre Idiotie, der thyreogene
Schwachsinn bei Myxödem und Kretinismus unterschieden, sodann wird auf
zwei grössere Gruppen ausführlicher eingegangen. Bei der ersten dieser
beiden Gruppen beruht die Idiotie auf Anlagemängeln ohne entzündliche
Prozesse, z. B. Missbildangen, Mikrocephalie u. a.; bei der zweiten auf
entzündlichen Hirnerkrankungen, z. B. Encephalitis, atrophischen, sklerotischen
Prozessen u. a. Zum Schluss werden neben einzelnen kleinen Gruppen, die
noch teilweise der Deutung harren, die mongoloide Idiotie, eine Form, die
sonst noch etwas vernachlässigt ist, besprochen. Der zweite Teil des Referates
ist der „Idiotenfürsorge* gewidmet und beginnt mit einer geschichtlichen
Einleitung, bei der besonders die stellenweise menschenunwürdige Behandlung
der Idioten in früherer nnd teilweise noch in neuerer Zeit, z. B. in
Spanien, beleuchtet wird. Die jüngste Periode des Idiotenanstaltswesens
beginnt mit dem Erlass gesetzlicher Bestimmungen, in Preussen mit dem
Gesetz vom 11. VII. 1891, das in mancher Hinsicht segensreich gewirkt hat.
Wäbrend 1892 in Deutschland nur 44 Idiotenanstaltcn bestanden, ist jetzt
deren Zabl auf mehr als 100 angewachsen, aber noch nicht !/, entspricht der
ärztlichen Forderung der „geeigneten Fürsorge“. Ist die Zusammensetzung
der Insassen schon eine sehr mannigfache, so ist die Art der Organisation
und der Einrichtung noch bunter. Von 108 Anstalten stehen 54 unter geist-
lichem Einfluss, 21 sind staatlich oder städtisch, reine Idiotenanstalten unter
ärztlicher Leitung gibt es sogar nur sechs. Die Verköstigung ist jedenfalls
zufriedenstellend, die körperliche Hygiene lässt noch zu wünschen übrig.
Bedenklicher sieht es vielfach vom speziell psychiatrischen Standpunkt aus.
Zwangsmittel und Isolierungen sind noch nicht geschwunden, hier und da
bestehen sogar noch Straflisten. Behördliche Revisionen sind selten. Die
Leistungen im Unterricht sind recht verschieden. In allen Punkten ist uns
Frankreich, das frühzeitig vorbildlich gewirkt hat, überlegen, auch in England
haben die Aerzte durchaus die führende Stellung. Das erste Ziel, was hin-
sichtlich der Idiotenfürsorge der Referent angestrebt wissen will, ist die
Verstaatlichung, und zwar ist nach seiner Ansicht zurzeit am zweckmässigsten
die Angliederung der Idiotenfürsorge an das System der staatlichen Irren-
anstalten. Bildungsunfähige nnd erwachsene, nicht entlassungsfähige Schwach-
sinnige gehören in ärztliche Pflege und Behandlung, die bildungsfähiges
sind von den tieferstebenden zu trennen, sie gehören unter pädagogische
Aufsicht, jedoch nicht ohne ständige Mitwirkung des Arztes.
Reinelt-Göttingen.
190 Tagesgeschichtliches. — Notizen.
Tagesgeschichtliches.
-` Die nächste Jahresversammiung des Deutschen Vereins für
Psychiatrie wird am 26. und 27. IV. 1907 in Frankfurt a. M. und Giessen
stattfinden.
Es sind folgende Referate vorgesehen:
I. DieGruppierung der Epilepsie. Referenten: Alzheimer-München
uud Vogt-Langenbagen. .
II. Der ärztliche Nachwuchs für psychiatrische Anstalten.
Referent: Siemens-Lauenburg.
II. Die Mitwirkung des Psychiaters bei der Fürsorgeerziehung.
Reterent: Kluge-Potadam (im Auftrag der Kommission für Idioten-
forschung und Idiotenfürsorge).
An Vorträgen sind bisher angemeldet
. Hübner-Bonn: Ueber Geistesstörangen im Greisenalter.
. Sioli-Frankfurt a. M.: Die Beobachtungsabteilung für Jugendliche bei
der städtischen Irrenaustalt zu Frankfurt a. M.
. Geelvink-Frankfurt a. M.: Die Grundlagen der Tranksucht.
. Knapp-Halle: Körperliche Erscheinungen bei funktionellen Psychosen.
. E. Meyer-Königsberg: Untersuchungen des Nervensystems Syphilitischer.
.H. Liepmann-Berlin: Beiträge zur Aphasie- und Apraxie-Lehre.
Weitere Anmeldungen werden erbeten an Sanitätsrat Dr. Hans Laehr
in Zehlendorf (Wannseebahn), Schweizerhof.
Da N=
Ein internationaler Kurs der gerichtlichen Psychologie und
Psychiatrie findet an der Universität Giessen von Montag, den 15., bis
Samstag, den 20. 1V. 1907 in der Klinik für psychische und nervöse Krankheiten
(Frankfurterstrasse 99) statt. Derselbe ist in erster Linie für Juristen und
Aerzte bestimmt, die mit psychiatrischen Gutachten zu tun haben, sodann
auch für Beamte an Straf-, Besserungs- und Erziehungsanstalten, besonders
im Hinblick auf angeborene geistige Abnormität, ferner für Polizeibeamte,
die öfter mit geistig Abnormen za tun haben.
Als Vortragende sind ausser Prof. Sommer beteiligt: Prof.
Dr. Aschaffenburg, Köln a. Rh., Privatdozent Dr. Dannemann, Giessen,
und Prof. Dr. Mittermaier, Giessen. Begrüssung Sonntag, den 14. IV.,
abende al Uhr, im Hotel Grossherzog von Hessen. Preis dor Teilnehmer-
arte .
Notizen.
Priv.-Doz. Dr. Raecke in Kiel ist zum Professor ernannt worden.
In Moskau hat Prof. Minor einen Lehrauftrag für Neurologie, Prof.
Bajenoff einen solchen für Psychiatrie an der nen gegründeten medizinischen
Fakultät für Frauen erhalten.
In Freiburg hat sich Dr. W. Spielmeyer als Privatdozent für
Psychiatrie habilitiert.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie
Fig. 3
Fig. 6
Tafel I—II
Monatsschrift für Psychiatrie Bd. XXI
Jacobsohn, Über Cysticercus cellulosae cerebri et musculorum.
Tafel IH—-IV
Verlag S. Karger in Berlin NW. 6
Monatsschrift für Psychiatrie Bd. XXI
Fig. 10
Jacobsohn, Über Cysticercus cellulosae cerebri et musculorum.
Tafel V—VI
Fig. 14
Fig. 13
Fig. 16
Verlag S. Karger in Berlin NW. 6
| Monatsschrift für Psychiatrie Bd. XXI
Fig. 17
Jacobsohn, Über Cysticercus cellulosae cerebri et musculorum.
Tafel VII—VIII
Fig. 21 Fig. 22
Fig. 24
Verlag S. Karger in Berlin NW. 6
(Aus dem städtischen Irrenhause zu Breslau
[Primärarzt Dr. Hahn)).
Die transkortikale Tastlähmung.
Von
Dr. R. KUTNER
in Breslau.
Die Fähigkeit, bekannte und allgemein gebräuchliche Gegen-
stände allein durch Abtasten mit der Hand zu erkennen, wird
schon im frühen Kindesalter erworben. Kramer!) z. B. hat sie
schon im zweiten Lebensjahre beobachtet. Voraussetzung für
diese Fähigkeit ist natürlich in erster Linie, dass die verschiedenen
Veränderungen, die beim Tasten an der Haut, den Gelenken etc.
statthaben, ihren Weg zum Gehirn finden und perzipiert werden,
Gelangen also durch eine Störung an irgend einer Stelle keine
Nachrichten von der Hand zum Gehirn, oder kommen sie nicht
zum Bewusstsein, so ist natürlich ein Erkennen dureh Tasten un-
möglich, desgleichen, wenn durch totale Lähmung der Hand und
Finger jede Tastbewegung ausfällt. Die Lokalität der Störung
ist in diesen Fällen belanglos. Nun haben aber Untersuchungen
gelehrt, dass nicht nur völliger Verlust, sondern schon ‘eme
Herabsetzung der Empfindung die genannte. Fähigkeit aufheben
kann. Dabei kommt den einzelnen Empfindungsqualitäten ver-
schiedene Bedeutung zu. Im einzelnen sind die Verhältnisse
noch nicht genügend klar gelegt; nur soviel steht fest, dass die
Schmerz- und Temperaturempfindungen im allgemeinen an Be-
deutung gegen die übrigen Qualitäten sehr zurücktreten. Die
wesentlichste Rolle scheinen die Empfindungen für passive Be-
wegungen und Lage, der Drucksinn?), der Raumsinn und das Ver-
mögen der Lokalisation zu spielen, also alles keine einfachen Emp-
findungen, sondern schon mehr oder weniger komplizierte Assozia-
tionsvorgänge (Urteile). Es entspricht dies auch theoretischen Er-
wägungen, nach denen das Erkennen eines Gegenstandes im all-
gemeinen dem Erkennen seiner Form gleichbedeutend ist. Ob
eine dieser Störungen allein das Tasten unmöglich machen kann,
1) Kramer, Die kortikale Tastlähmung. Monatsschr. f. Paych. and
Neurolog. Bd. XIX.
3) Strümpell, Ueber die Bedeutung der Sensibilitätsprüfungen mit
besonderer Berücksichtigang des Drucksinns. Deutsche med. Wochenschr.
1904. No. 89/40. nf
Monatsschrift tür Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Holt 3. 13
192 Kutner, Die transkortikale Tastlähmung.
oder welchen Grad sie im Verein mit der einen oder anderen
genannten erreichen muss, darüber gehen die Ansichten noch aus-
einander. Ebenso wäre es nicht ausgeschlossen, dass auch der
Ort der Störung nicht gleichgültig ist, dass sich also auch bei
gleicher Intensität der Empfindungsstörung ein Unterschied im
Tastvermögen zeigt, je nachdem die sensiblen Bahnen im peri-
pheren Nerven, im Rückenmark oder im Gehirn lädiert sind. Da
nun ferner das Erkennen der Formen, wie wir gesehen haben,
keine einfache Empfindung, sondern einen schon komplizierten
Assoziationsvorgang darstellt, wird natürlich auch die psychische
Beschaffenheit des Individuums eine Rolle spielen und im gegebenen.
Falle in Rechnung zu setzen sein, so dass sich also exakten Be-
stimmungen nach der obengenannten Richtung hin eine Reihe-
grosser Schwierigkeiten entgegenstellt. Wir sind oft einer ge-
wissen Willkür überlassen bei der Beurteilung, ob im gegebenen-
Falle die bestehende Sensibilitätsstörung allein ausreicht, um eine-
Tastlähmung zu erklären.
Diese Schwierigkeit macht sich vor allem bei Affektionen-
der als senso-motorischen Zone der Oberextremitäten bezw. der-
Hände bekannten Hirnrindenstelle bemerkbar. Bekanntlich hat
Wernicke!) zuerst bei einseitiger Läsion dieser Stelle als Re-
sidualerscheinung Tastlähmung der kontralateralen Hand beobachtet,
die ihm durch die bestehende geringfügige Störung der Sen-
sibilität nicht erklärbar schien und die ihm zu der Aufstellung‘
des Bildes der sog. reinen Tastlähmung Anlass gab, die bedingt.
sei durch einen Verlust der Tastvorstellungen. Dieser Befund.
Wernickes ist seitdem durch zahlreiche Beobachtungen bestätigt;-
aber noch immer herrscht über die prinzipielle Auffassung dieser
Störung keine Einigkeit; noch immer gibt es namhafte Autoren,.
die entweder die Möglichkeit einer reinen Tastlähmung überhaupt
leugnen oder zwar theoretisch zugeben, aber das wirkliche Vor--
kommen in Abrede stellen. Und in der Tat ist auch bisher kein
Fall bekannt geworden, in dem tatsächlich jede Sensibilitäts-
störung fehlte. Auch die anatomischen Verhältnisse sind von
vornherein für die Bestätigung von Wernickes Auffassung:
nicht günstig. Der Sitz der Störung ist das mittlere Drittel
der Zentralwindungen, besonders in seinen hinteren Partien, und
der angrenzende Teil des unteren Scheitelläppchens, also eine
Stelle, die zugleich als Zentrum der Sensibilität für die obere
Extremität angesprochen wird, und es lässt sich kaum eine Ver-
letzung dieser Stelle denken, die allein die Tasterinnerungsbilder-
als Assoziationen vernichten sollte, ohne die perzipierenden Elemente
selbst zu affizieren. Auch die unleugbare Tatsache, dass in den
hierher gehörenden Fällen die Störung der Empfindung so gering-
fügig ist, dass sie bei peripherer oder spinaler Genese nicht die
geringste Affektion des Tastvermögens bedingen würde, dass im
1) Wernicke, Zwei Fälle von Rindenläsionen. Arbeiten aus der
psychiatr. Klinik zu Breslau. Heft II. 1895.
Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 193
Gegensatz bei kortikaler Lokalisation ganz hochgradige Störungen
dazu gehören, beweist nicht unbedingt, dass die Tastlähmung ledig-
lich auf einem Verlust von Tasterinnerungsbildern beruht, also eine
reine Assoziationsstörung ist, bei der die Empfindungsstörungen
nur ein zufälliges, durch die Lage des Herdes bedingtes und kein
notwendiges, kausnales Attribut der Affektion darstellen. Dazu
fehlt, wie schon erwähnt, der Nachweis, dass der Ausfall von
Empfindungen in seinem Einfluss auf höhere psychische Leistungen,
wie ihn das Erkennen eines Gegenstandes durch Tasten darstellt,
völlig unabhāngig von dem anatomischen Sitz des den Empfin-
dungsausfall bedingenden Herdes ist. Es wäre sehr wohl mög-
lich, dass nach dieser Richtung hin den Störungen aus verschie-
dener Lokalisation eine verschiedene Valenz zukommt, und dass
gerade bei kortikalem Sitz schon die geringsten Störungen schwere
assoziative Folgeerscheinungen nach sich ziehen. In diesem Falle
müsste man also die relativ sehr geringen Sensibilitätsstörungen,
wenn auch nicht als einzige Ursache, so doch jedenfalls als
conditio sine qua non der sog. kortikalen Tastlähmung ansehen.
Wie dem aber auch sein mag, ob die kortikale Tastlähmung,
wie sie bisher beobachtet ist, eine rein assoziative Störung darstellt,
oder ob der begleitenden Sensibilitätsstörung mit eine kausale
Bedeutung zukommt, ihr praktischer, lokalisatorischer Wert bleibt
derselbe, sie zeigt eine Hirnrindenaffektion im Bereich des mitt-
leren Drittels der Zentralwindungen und der angrenzenden Partie
des unteren Scheitellappens an. -
Es wurde oben ausgeführt, dass das Erkennen eines Gegen-
standes zunächst im wesentlichen und hauptsächlich ein Erkennen
seiner Form bedeutet. Nun ist aber damit der Prozess des Er-
kennens noch nicht abgeschlossen; es gehört weiter dazu, dass
mit der Form auch die übrigen Eigenschaften des Gegenstandes
assoziiert werden, wenigstens gilt dies von den gewöhnlichen Ge-
brauchsgegenständen, während z. B. stereometrische Figuren schon
durch dıe Form allein eindeutig bestimmt sind. Es ist also not-
wendig, dass vom taktilen Felde die andern sensorischen Rinden-
felder erregt werden und durch Verbindung seiner verschiedenen
Erinnerungsbilder der Begriff des getasteten Gegenstandes ent-
steht (sekundäre Identifikation). In erster Linie kommt hier
wohl die Erregung der optischen Erinnerungsbilder in Betracht;
aber auch die akustischen, olfaktorischen und gustatorischen
könnten unter Umständen bei einem Gegenstande von Bedeutung
sein. Ist nun von dem taktilen Rindenfelde eine Erregung der
übrigen sensorischen Felder nicht möglich, so wird der Begriff
des Gegenstandes Schaden leiden, derart, dass wohl seine Form
und seine übrigen physikalischen Eigenschaften richtig erkannt
werden, aber nicht der Zweck, dem er dient. Der Patient müsste
also imstande sein, die Form des getasteten Gegenstandes zu be-
schreiben eventl. zu zeichnen, ohne seinen Namen oder durch
Worte oder Manipulationen etwas über seine Verwendung an-
geben zu können. Stillschweigende Voraussetzung ist natürlich
18*
194 Kutner, Die transkortikale Tastlähmung.
das Fehlen allgemein agnostischer oder störender aphasischer Er-
scheinungen ; Voraussetzung ebenso das Fehlen aller Sensibilitäts-
störungen an der in Betracht kommenden Hand.
Wir haben dann eine Tastlähmung, die Verger’) als Stéréo-
agnosie d’association ou de conductibilit6 im Gegensatz zu der Stéréo-
agnosie de réception bezeichnet.
Rein theoretische Konstruktion, hat diese Form bisher kaum
Beachtung gefunden. Ihre klinische Bestätigung, die ich in folgen-
der Beobachtung zu bringen versuche, mag zeigen, inwieweit
wir berechtigt sind, sie von der gewöhnlichen kortikalen Tast-
lähmung zu unterscheiden, eventuell als besondere klinische Form
anzuerkennen.
Der Fall ist bereits zweimal nach anderen Richtungen hin
Gegenstand von Publikationen gewesen?); die gütige Erlaubnis
zu einer Untersuchung und zur Veröffentlichung verdanke ich
meinem früheren Chef, Herrn Primärarzt Dr. Hahn. dem ich
dafür auch an dieser Stelle bestens danke.
Eugen R., 80 Jahre alt.
Im Alter von 5 Jahren zog er sich durch Sturz eine Knochenverletzung
an der rechten Stirn zu. Seit dem 12. Lebensjahre leidet er an epileptischen
Krämpfen, die zunächst so selten auftraten, dass er das Gymnasium bis Sekunda
besuchen konnte. Später häuften sich die Anfälle, er wurde reizbar. Im
Mai 1900 wurde auf seinen Wunsch zunächst eine Exzision der Stiranarbe
vorgenommen, wobei sich die vorliegende Dura als gesund erwies. Die As-
fälle dauerten unverändert fort. Im November desselben Jahres fand eine
osteoplastische Schädelresektion im Bereiche des rechten Scheitelbeins statt.
Ein Teil der vorderen Zentralwindung, die Zentralfurche, hintere Zentral-
windung und oberes Scheitelläppchen wurden freigelegt. Krankhafte Ver-
änderungen waren nicht wahrnehmbar. Die Pia wurde an zirkumskripter
Stelle, etwas hinter der Zentralwindung, abgehoben; dabei wurden einige
Venen verletzt. Nach reaktionsloser Heilung der Wunde blieben als dauernde
'Ausfallssymptome von Seiten der linken Hand eine leichte Ungeschicklichkeit
der feineren Fingerbewegungen, eine fast komplette Tastlähmung und eine
eringfügige Störung der Lokalisation und der Bewegun sempfindungen an
den Fingern bei im übrigen intakter Sensibilität zurück. Die Anfälle blieben
ziemlich unverändert.
1901 wurde noch einmal am Schädel eine osteoplastische Resektion,
und zwar am linken Scheitelbein, vorgenommen. Die Oeffnung zog sich etwas
‘weiter naeh vorn als das letzte Mal. Auch hier wurde die Pia an einer
Stelle entsprechend der hinteren Partie der 2. Stirnwindung etwas abgehoben
and lädiert; einige Gefässe wurden unterbunden.
Nach der Operation bestanden eine wesentlich motorische .Aphasi
‚eine Parese des rechten unteren Facialis und eine Bewegungserschwerung
der Zunge (auch nach der linken Seite). Die Aphasie bildete sich im Laufe
des nächsten Monats zurück, es blieb nur eine Verlangsamung und Monotonie
‚des Sprachens übrig). oo
. 1) Verger, Sur la valeur semdiologique de la stereo-agnosie,. Revue
neurologique. 1902. No, 24.
2) Bonhoeffer, Zur Kenntnis der Rückbildung motorischer Aphasien.
Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie. . X. —
‚Derselbe, Ueber das Verhalten der Sensibilitat bei Hirnrindenläsionen. Deutsch
Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. XXVI. . '
3) Bis hierher ist die Krankengeschichte den zitierten Arbeiten Bon-
'hoeffers entnommen. a
Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 185
Dieser Zustand blieb nach den Angaben der Angehörigen in den folgen-
den Jahren ziemlich unverändert. Er bekam ungefähr jede Woche einen
epileptischen Anfall, der mit langem Schlaf abschloss. In den Zwischenzeitea
machte sich bei dem Kranken eine zunehmenda Reizbarkeit geltend. Die
Sprache war langsam, laut, die einzelnen Silben etwas abgohackt. Die Un-
geschicklichkeit der linken Hand blieb unverändert.
Seit Anfang 1905 war er nach den Anfällen wiederholt verwirrt, drängte
fort, wollte schlagen. In der Nacht vom 8. zum 9. VII. 1905 bekam er eine
Reihe schwerer Anfälle. Benommen wurde er ins Krankenhaus zu Aller-
heiligen und von da am 10. VII. nach dem städtischen Irrenhause überführt,
Hier liegt er zunächst akinatisch in aktiver Rückenlage, völlig muta-
cistisch zu Bett. Die Pupillen sind weit, reagieren auf Licht. Der linke
Mundwinkel hängt, aus ihm fliesst Speichel. In der Nacht ist er schlaflos,
geht langsam, mutacistisch im Zimmer umher. An den folgenden Tagen ist
er etwas freier. Die Aufmerksamkeit und Auffassungsfähigkeit ist deutlich
herabgesetzt. Er ist zeitlich nicht orientiert, hat Amnesie für die Zeit seit
dem 9, verkennt die Umgebung. Er spricht umständlich, leicht ideenflüchtig.
Die Stimmung ist leicht euphorisch. Am 12. desselben Monats bekommt er
nach einem kurzen epileptischen Krampfanfall einen ängstlich-deliranten
Dämmerzustand, der mit langem Schlaf abschliesst.e Auch am folgenden
Tage bekommt er nach einer Serie von epileptischen Anfällen einen Dämmer-
zustand, der mit ängstlicher Verkennung der Umgebung, zahlreichen ängst-
lichen Halluzinationen und dadurch bedingten Aggressionen gegen die Um-
gebung einhergeht. Dieser Zustand dauert vier Tage, schliesst mit Schlaf
ab und hinterlässt nur oberflächliche Erinnerung.
Seitdem treten unter Brom und vorwiegender Milchdiät nur selten An-
fälle ohne nachfolgende akut psychotische Zustände auf. Der Hubitualzastand
zeigt das Bild einer typischen, epileptischen Degeneration mittleren Grades:
Leichter Schwachsinn bei relativ noch gut erhaltenen Schulkenntnissen; gutes
Gedächtnis und gute Merkfähigkeit; umständliche, weitschweifige Ausdrucks-
weise; übermässige Betonung der Höflichkeitsformen; grosse Reizbarkeit;
hoffnungsfreudige Stimmung bezüglich seiner Zukunft ohne kritische Würdi-
gung seines Leidens. Daneben besteht seit dem Tage der Aufnahme während
der ganzen Zeit der Beobachtung, also bis Anfang April 1906, ein, abgesehen
von den gleich za erwähnenden Intensitätsschwankungen, konstanter nervöser
Symptomenkomplex, der nach der Anamnese vor dem Status epilepticus und
seinen Folgeerscheinungen vom Juli 1905 nicht bestanden hatte und der also
mit ihm in ursächlichen Zusammenhang gebracht werden muss. Die untere
Gesichtspartie ist beiderseits faltenlos, starr, maskenartig; es fehlen hier alle
feineren mimischen Bewegungen in auffallendem Gegensatz zu der über-
mässigen Mimik und den starken Mitbewegungen im Gebiet des Stirn-
Augenfacialis. Pfeifen, Zähnezeigen, rüsselförmiges Vorstrecken der Lippen,
Rämpfen der Nase ist unmöglich. Beim Sprechen bewegt sich der rechte
Mundwinkel weniger als der linke. Dauernd fliesst der augenscheinlich ver-
mehrte Speichel aus dem Munde, bald rechts, bald links, meist indes in der
Mitte, wie Pat. angibt, von der Zungenspitze herunter. Es besteht also eine
doppelseitige Parese des unteren Facialis, rechts etwas stärker als links.
Die Zungenspitze kann nur wenig vor die Zähne gebracht werden,
weicht dabei vach links ab. Die Bewegung der Zunge nach rechts ist ganz
unmöglich, auch nach links ist sie gering und geschieht nur mit grosser An-
strengung. Die Zunge kann auch nicht gerollt, die Zungenspitze nicht an
die oberen Schneidezähne oder den harten Gaumen gebracht werden. In
der Ruhe liegt sie zurückgesunken am Boden der Mundhöhle. Sie zeigt
leichtes fibrilläres Zittern, ist aber nicht atrophisch. Die elektrische Erreg-
barkeit (faradisch und galvanisch) zeigt völlig normales Verhalten; dasselbe
gilt auch von der gesamten Gesichtsmuskulatur. Es besteht also eine starke
Parese der Zunge.
Gaumen und Stimmbänder zeigen keine gröberen Lähmungserscheiuungen.
Die Sprache ist hochgradig gestört, meist völlig unverständlich. Der
Kranke hat stets Bleistift und Bapier bei der Hand, da er sich meist nur
schriftlich verständigen kann. Spontan spricht er verwaschen, nasal, die
196 Kutner, Die transkortikale Tastlähmung.
einzelnen Silben abgehackt, mit sichtlicher Anstrengung und ausgebreiteten
Mitbewegungen, nicht nur im oberen Gesicht, auch im ganzen Körper. Das
Nachsprechen ist deutlicher; dabei beobachtet er wie ein Taubstummer sorg-
fältig das Gesicht des Sprechenden und versucht mit grosser Mühe und zahl-
reichen Wiederholungen, die Mundstellung nachzuahmen. Die Vokale werden
bis auf i noch relativ gut, nur mit Jumpfem Beiklang und einem dumpfen
Vokal oder Konsonanten als Vorschlag herausgebracht; i kann nicht ge-
sprochen werden. Von Konsonanten sind d, t, g, k, r, s, z ausgefallen, also
wesentlich die, bei denen vorwiegend die Zunge in Aktion tritt. Aber sach
die übrigen, besonders die Lippenlaute, werden leidlich gut nur in Ver-
bindung mit Vokalen nicht als reine Konsonanten ausgesprochen, z. B. pä
leidlich gut, pd allein unmöglich. Besonders gut ausgesprochen und als Br-
satz viel verwendet wird É und ch. Die Zunge bleibt beim Sprechen fast
regungslos am Mundboden; es fehlen die feinen abgestuften Mund- und Ge-
sichtsbewegungen. Aphasische Störungen sind nicht vorhanden.
Bei der Ausführung aufgetragener Bewegungen fällt die ungezüägelte
Kraft- und Exkursionsentfaltung auf, mit der sie von statten gehen. Die
Bewegungen geschehen hastig, ruckweise; z. B. aufgefordert, sich zu bücken,
wirft er heftig den Rumpf nach vorn, dass er zu fällen droht, oder statt die
Arme in die Höhe zu heben, reisst er sie mit einem Ruck in die Höhe, oder
er reisst den Mund ad maximum auf, wenu er die Zähne zeigen soll, u. s. f.
Auch bei reinen spontanen Bewegungen tritt, allerdings geringer, diese über-
mässige Kraftentfaltung zu Tage. Irgend welche ataktischen Erscheinungen fehlen.
Die Tastlähmung der finken Hand besteht noch ziemlich unverändert
so, wie Bonhoeffer sie s. Zt. beschrieben hat!). Aber auch an der rechten
Hand besteht jetzt eine Störung des Tastvermögens. Wegen des Unter-
schiedes dieser beiden Störungen sei auch die erste hier noch einmal in
ihren Einzelheiten kurz vorgeführt. Auch jetzt sind an der linken Hand
und den Fingern die Berährungsempfindung (selbst für feinste Pinsel-
berührungen) Schmerz- und Temperatarempfindung völlig ungestört. Leichte
passive Bewegungen werden an den Fingern, besonders in den Gelenken
zwischen End- und Mittelphalanx, nicht gefühlt oder in ihrer Richtung falsch
angegeben; etwas ausgiebigere Bewegungen werden prompt auch in der
Richtung erkannt. Leichter Druck mit der Fingerkuppe wird oft an den
Fingern nicht als solcher gespürt. Die Lokalisation von Berührungen ist an
der Vola der Finger deutlich, an der Vola der Hand geringer gestört, z. B.
ergab sich bei einer Fräfung am 2. II. 1306 bei der Vola der Finger unter
25 Versuchen 12mal Verwechselungen der Phalangen, dabei auch dazu noch
einige Male der Finger, 4mal dies allein bei richtiger Phalangenangaba; an
der Vola der Hand betrug an diesem Tage der durchschnittliche Fehler
ca. 19 mm (bei 25 Versuchen), Auch die zahlreichen späteren Untersuchungen
hatten ein ziemlich gleiches Ergebnis.
An der rechten Hand und den Fingern waren alle Empfindungsqualitäten
völlig normal. Im Gegensatz zu links wurde auch der leichteste, vom Unter-
sucher selbst gerade noch fühlbare Druck mit der Fingerkuppe, ebenso auch
noch die geringsten passiven Bewegungen der Phalangen gespürt und nach
Richtung richtig angegeben. Gegenstände, die nach ıhrer Länge links fast
immer zu niedrig geschätzt wurden, wurden rechts ziemlich gut abgeschätszt,
z.B. ein Taschemesser von 9 cm Länge, links 5, rechts 10 cm u. a. m. Ebenso
ist die Lokalisation der Berährungen an Hand und Fingern normal, z. B. er-
geben die Untersuchungen vom 2. 1I. 1906 und den folgenden Tagen, dass
an den Fingern niemals Phalangen oder Fingern verwechselt werden; der Fehler
beträgt im Durchschnitt 2—4 mm, proximal zunehmend (je 10 Versuche pro
Phalanx); in der Vola manus ist der durchschnittliche Lokalisationsfehler
(bei 25 Versuchen) ca. 5 mm. Auch die späteren Untersuchungen ergeben
ähnliche Resultate, einigemale erfolgte bei guter Höhenlokalisation Ver-
wechsiung von Ring-Mittel- und Ring-Zeigefinger, ein Verhalten, das aber
durchaus in den Bereich der Norm fällt?).
1) I. e.
23) Henri, Ueber Raumwahrnehmungen des Tastsinns. Berlin 1898.
nd
Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 19%
Es sei hier bemerkt, dass alle diese Prüfungen und die folgenden des
Tastrermögens unter besonderen Kautelen vorgenommen wurden, um die
Ablenkung und die Ermüdung möglichst auszuschalten, in besonderem, ruhigem
Zimmer und mit kurzer Pause nach jedem Versuche, mit längerer nach je
5 Versuchen.
Bei verbundenen Augen wurden dem Kranken, der diese Versuche
noch von früher her gut kannte und vollkommen begriff, worauf es ankam,
‚Gegenstände zuerst in die rechte, dann in die linke Hand gegeben, mit der
Au orderang, die Gegenstände za bezeichnen event. ihre Verwendung. Gelang
ihm das nicht, so musste er angeben, was er überhaupt von ihnen aussagen
konnte. Aus der grossen Reihe der Untersuchungsprotokolle seien einige
‚die rechte Hand betreffende hier wörtlich aufgeführt.
7. II. 1906. Apfel: „hart, kalt, rand.“
Wollknänel: „rund, weich, lau.“
Zehnpfennigstück: „Blech und sehr dünn, rund.“
Pinsel: „Pinsel.“
Bleistift: „längeres Stückchen Holz, rund, auf der einen Seite spitzig.*
Schlüssel: „Schlüssel.“
Fingerhut: „Fingerhat.*
Haaruadel: „spitzig, gebogen, Draht.“
24. 11. 1906. Apfel: „eine Kagel.“
Uhr: „ein flaches, rundes Stück.“
Löffel: „Löffel.“
Pfropfen: Wohl Stückchen Holz von der Form“ (zeichnet sie richtig
in die Luft).
Spielkarte: „Pappe.“
essor: „Messer.“
6. IV. 1906. Wallnuss: „das ist wohl Holz und die Form einer
Pflaume.“
Wollknäuel: „ein rundes weiches Fabrikat.“
Löffel: „das ist aus Blech und von der Form“ (zeichnet die Form
richtig hin).
Schlüssel: „Schlüssel.“
Fingerhut: „Fingerhut.“
Bleistift: „es ist Holz und hat die Form eines Nagels.“
Pinsel: „es hat die Form eines Bleistiftes und oben vielleicht Wolle.“
Haarnadel: „ein Draht“ (zeichnet richtig die Form hin).
Spielkarte: „ein Stückchen Pappe.“
Korken: „weicher wie Holz und sieht so aus“ (zeichnet es richtig hin).
In der linken Hand wird nur Schlüssel sehr häufig, nicht immer,
einigemale auch eine leere Streichholzschachtel erkannt; von den übrigen
Gegenständen werden die Temperatur immer, die übrigen Qualitäten selten,
die Form nie richtig angegeben.
Stereometrische, aus Pappdeckel gefertigte Figuren: eine Kugel, eine
Pyramide, ein Würfel, ein Kegel, werden rechts erkannt, links nicht.
Wiederholt gibt der Patient spontan richtig an, wenn er einen nicht
erkannten Gegenstand in derselben Sitzung schon einmal zum Tasten be-
kommen hatte, und zwar nur bei der rechten Hand, in der linken erkennt er
nie einen wieder.
Wiederholt wird ein Versuch derart angestellt, dass ein getasteter,
aber nicht erkannter Gegenstand mit 2—8 andern in eins Schachtel getan
wird, aus der er dann ebenfalls mit geschlossenen Augen den getasteten
heraussuchen soll; rechts gelingt es ihm immer, links nie; ebenso vermag er
einen genannten Gegenstand aus der Schachtel oder aus einer Tasche mit
‚der rechten Hand hervorzuholen, mit der linken nicht.
Die Tastbewegungen erfolgen rechts sehr ausgiebig und geschickt,
links ungeschickt, meist nur als Massenbewegung der Finger; kleine Gegen-
stände lässt er links oft fallen, rechts nie. Das Tasten geht auch rechts mit
erheblicher Verlangsamung und unter grosser geistiger Anstrengung von-
statten. Auch bei den Gegenständen, die er richtig erkennt, braucht er oft
3—5 Minuten (NB. sie wurden ihm stets so lange gelassen, bis er sie selbst
198 Kutner, Die trasskortikale Tastlähmung.
weglegte); er sass gewöhnlich da, die linke Hand an der Stirn, das Gesieht
in angestrengtem Nachdenken verzogen. Nur wenige Gegenstände warden
schneller erkannt, z. B. ziemlich konstant Schlüssel und Fingerhut; es sei
hier noch bemerkt, dass links Fingerhut auch dann nicht erkannt wurde,
wenn er auf einen Finger gesteckt wurde, andererseits Schlüssel sehr oft
und rasch erkannt wurde.
Bezüglich des Erkennens der einzelnen Eigenschaften eines Gegen-
standes machte sichtlich das der Form am meisten Schwierigkeit, die Reak-
tionszeit war erheblich verlängert. Indes liess sich leicht nachweisen, dass
die meiste Zeit und Mühe darauf verwandt wurde, anf den Namen bezw. den
Zweck des Gegenstandes zu kommen.
Resultate derart, dass wohl der Zweck erkannt wurde, nur der Name
nicht gefunden werden konnte, ergaben sich nie. Stets konnte von einem
nicht benannten Gegenstande auch der Gebrauch nicht gezeigt werden
und umgekehrt.
Zum Vergleiche wurden auch eine Anzahl durchweg dementerer, zum
Teil erheblich. schwachsinniger Epileptiker mit denselben Gegenständen
geprüft; alle Dinge wurden prompt erkannt.
Während die Tastresultate an der linken Hand bei den verschiedenen
Untersuchungen ziemlich konstant blieben, also fast nar Schlüssel, einige Male
such eine Schachtel erkannt wurden, zeigten die Ergebnisse an der rechten
Hand erhebliche Schwankungen. Die Verlangsamung und Schwierigkeit im
Erkennen blieb zwar immer nachweisbar, war aber doch bei denselben
Gegenständen bald grösser, bald geringer; manchmal wurde an einem Tage
und nicht einmal unter grösserer Schwierigkeit als bei anderen Gegenständen
solche erkannt, die an einem früheren oder späteren Tage trotz grösster An-
strengung nicht erkannt werden konnten. Manchmal traten die Ver-
schlimmerungen nach Anfällen zugleich mit der gleich zu erwähnenden
Verschlimmerung des übrigen somatischen Befundes und mit einer Steigerung
der Reizbarkeit auf; indes war meist eine Ursache nicht auffindbar. Die
Sensibilität, auch die Lokalisation blieb anch in den Zeiten der verschlechterten
Tastfähigkeit rechts ungestört.
Ganz auffallend wurde die Störung durch Ermüdung verschlimmert
und diese trat sehr rasch ein. Wurden die Tastversuche nicht unter den
oben erwähnten Kautelen vorgenommen, sondern hintereinander ohne Pause,
so wurde auch rechts fast kein Gegenstand erkannt; oft wurde auch die Form
falsch angegeben, z. B. Schlüssel statt Messer, Glasgefäss statt Stück Seife.
(NB. Kurz vorher hatte er ein Tintenfars getastet) Von den stereometri-
schen Figuren wurden der Würfel und der Kegel erkannt, die Pyramide
nicht völlig wie sonst („eckiges Ding“). Das Phänomen des Haftenbleibens
trat deutlich hervor.
Aber auch einzelne der Empfindungsqualitäten zeigten an der rechten
Hand bei Ermüdung leichte Störungen. Zwar Berührungs-Schmerz-Temperatur-
empfindung blieben ungestört, dagegen wurden leichte passive Bewegungen
der Finger in den verschiedenen Gelenken oft gar nicht gespürt, oft ihre
Richtung falsch angegeben, Ebenso zeigte die Lokalisation von Berährungen
eine leichte, aber deutliche Störung: bei 20 rasch hintereinander ausgeführten
Versuchen wurden einigemal Phalangen verwechselt; an der Hohlhand betrug
der durchschnittliche Fehler ca. 13 mm.
Auch an der linken Hand wurden die Fehler bei Ermüdung grösser,
während die intakten Hautempfindungen ungestört blieben.
In seinem übrigen psychischen Verhalten zeigte der Patient durchaus
nicht diese grosse Ermüdbarkeit, z. B. schrieb er gut und mit nur geringen
Flüchtigkeitsfehlern ein längeres Diktat, addierte im Kopfes und schriftlich
eine Reihe Zahlen ganz gut; gezeigte Bilder erkannte er prompt, ohne dass
sich bei dieser groben Prüfung die Krmädung recht merkbar machte,
Wie schon angedeutet, war auch der früher geschilderte Symptomen-
komplex in seiner Intensität nicht konstant. Zuweilen, besonders nach einem
Anfall, aber auch ohne dass ein solcher beobachtet war, war der Speichelfluss
bedeutend verstärkt und die Sprachstörung so hochgradig, dass überhaupt
kein Wort verstanden wurde. Im Begiun der Beobachtung soll auch nach
Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 189
Anfällen kurze Zeit eine Ersehwerung des Schluckens fester Speisen bestanden
haben; indes waren dies nur Angaben des Pfiegepersonals; von Aerzten
konnte diese Erscheinung nie beobachtet werden.
Es handelt sich also um einen jetzt 80 Jahre alten Mann, der seit
seiner Kindheit an typischen epileptischen Anfällen leidet und jetzt auch
deutlich die psychischen Zeichen epıileptischer Degeneration zeigt. Operativ
sind bei ihm s. Zt. zwei leichte umschriebene Hirnläsionen an’genau bekannter
Stelle gesetzt worden, die bestimmte Ausfallserscheinungen zur Folge hatten.
Die erste Verletzung im Bereich des mittleren Drittels der rechten vorderen
Zentralwindung hinterliess eine dauernde Tastlähmung der linken Hand mit
geringen Störungen der Sensibilität und einer leichten Ungeschicklichkeit
er feineren Fingerbewegungen. Die zweite Läsion, ®/, Jahre nach der ersten,
betritt wesentlich die hintere Partie der zweiten linken Stirnwindung. Sie
hinterlässt als unmittelbare Folge eine wesentlich motorische Aphasie, eine
Parese des rechten unteren Facialis und der ganzen Zungenbewegungen. Die
Aphasie bildet sich nach einigen Wochen zurück, die Sprache bleibt nur
„verlangsamt und silbenmässig abgesetzt“, aber gut verständlich.
Im ganzen sind also Ende 1901 vorhanden: die oben erwähnte Störung
der linken Hand, eine geringfügige Störung der Sprache, eine Parese der
Zunge und des rechten unteren Facialis. Dieser Zustand bleibt im wesent-
lichen unverändert bis Anfang Juli 1905. Nach einer Serie schwerer An-
fälle, die vollkommen das Gepräge genuin-epileptischer tragen und von
Verwirrtheitszuständen begleitet sind, entsteht teils durch Intensitätszunahme
der schon bestehenden Erscheinungen, teils durch das Auftreten neuer ein
Symptomenkomplex, der das Bild einer Pseudobulbärparaliyse darstellt:
doppelseitige Parese des unteren Facialis, starke Parese der Zunge, starke
Dysarthrie, vielleicht anfangs auch Schluckstörung und eine mangelhatte
Hemmung aller intendierten Bewe ungen. Das Fehlen von Degeneration und
das normale elektrische Verhalten er betroffenen Muskeln spricht gegen eine
Beteiligung des peripheren Neurons, die Art der Entstehung allein für einen
kortikalen Sitz des zugrunde liegenden pathologischen Prozesses. Da wir
nun auch in der Tat eine doppelseitige Rindenläsion vor uns haben, ist es
natürlich, diese mit dem bestehenden klinischen Bilde in Zusammenhang zu
bringen. Unser Fall wäre demnach auch nach der Seite interessant, dass er
.ein Beispiel der immerhin noch seltenen Fälle von Pseudobulbärparalyse rein
kortikaler Genese darstellt (meist liegen sonst noch bekanntlich subkortikale
resp. pontine Herde vor) Wir müssen also annehmen, dass der patho-
logische Prozess von der affizierten hinteren Hälfte der zweiten linken
Stirnwindung und dem mittleren Drittel der rechten vorderen Zentralwindung
ausgegangen ist. Und in der Tat liegen ja auch abwärts von diesen Regionen
in dem unteren Drittel der vorderen Zentralwindung und den hintersten
Partien der dritten Stirnwindung hinter der Brocaschen Stelle die Zentren
für die Zunge und den Facialis (s. Monakow: Gehirnpsthologie, Fig. 108).
Der Prozess hat sich also wesentlich nach unten ausgedehnt, vielleicht auch
etwas nach hinten.
Ueber die Art des jetzt vorliegenden Prozesses lassen sich
nstürlich nur Vermutungen äussern. Entweder handelt es sich
ähnlich wie bei den beiden operativen Läsionen um kleine Rinden-
blutungen. Üerebrale Blutungen bei epileptischen Anfällen sind
ja schon beobachtet, und hier läge ein durch Residuen früher
gesetzter Schädigungen prädisponiertes Gebiet vor. Oder wenn
wir im epileptischen Anfall ähnlich wie bei der Paralyse den
Ausdruck einer akuten Steigerung des chronischen epileptischen
Prozesses sehen, könnte diese an den ohnehin schon geschädigten
und vulnerableren Rindenpartien besonders verheerend wirken
und eine irreparable Schädigung und damit dauernde Ausfalls-
symptome setzen; die Verhältnisse lägen also ähnlich wie bei der
200 Kutner, Die transkortikale Tastlähmung.
Lissauerschen Paralyse. Dass überhaupt cerebrale, im wesent-
lichen also wohl kortikale Ausfallserscheinangen einige Zeit oder
dauernd nach den Anfällen gewöhnlicher genuiner Epile sie gar
nicht so selten zurückbleiben, dafür konnte ich!) vor einiger Zeit
Belege bringen, und erst jüngst hat es Redlich?) in umfangreichen.
Untersuchungen nachgewiesen.
Bei unserem Kranken ist nun zu der seit der zweiten Operation
bestehenden Tastlähmung der linken Hand, die ein typisches
Beispiel einer sogen. kortikalen Tastlähmung darstellt, nach einer
Serie schwerer epileptischer, also kortikuler Krampfanfälle auch
eine Störung des Tastvermögens in der rechten Hand hinzugetreten,
die in ihren Einzelheiten erhebliche Unterschiede von der ersten
aufweist und vielleicht den Typus einer besonderen Form dar-
stellt. Der seltene Zufall, dass wir beide Formen bei demselben
Individuum auftreten sehen, bietet uns noch den Vorteil, dass wir
von individuellen Besonderheiten, die vielleicht bei manchen
feineren klinischen Differenzen eine Rolle spielen könnten, hier
absehen können. Der erste und wichtigste Faktor, die Sensibilität,
verhält sich links so, wie wir es von den echten Fällen kortikaler
Tastläbmung allgemein wissen, es besteht eine geringfügige Störung
der tiefen Empfindungen und der Lokalisation; rechts hingegen
ist die Sensibilität in der Tat vollkommen intakt. Wir haben
hier also endlich das lang gesuchte Beispiel einer wirklich reinen,
d. h. von allen Sensibilitätsstörungen freien Tastlähmung.
Während ferner bei der kortikalen Tastlähmung, also auch
der linksseitigen Störung unseres Kranken die Gegenstände als
solche nicht erkannt werden, der Kranke also nicht sagen kann,
ob er einen ihm bekannten Gegenstand oder einen, den er noch
nie gesehen, getastet event. geschmeckt oder gerochen, in der Hand
hat, während also der Kranke auch durch Tasten allein einen
Gegenstand nicht wiedererkennt, den er kurz vorher getastet hat,
auch einen genannten Gegenstand mit geschlossenen Augen aus
einer Reihe nicht herausfinden kann, sind alle diese Fähigkeiten
bei unserem Kranken an der rechten Hand vorhanden. Die Vor-
stellung des Gegenstandes als solchen, also wie oben erwähnt,
die Vorstellung der Form wird geweckt; demnach vermag der
Kranke auch die Form einzelner einfacher Gegenstände zu
zeichnen und auch solche Gegenstände völlig zu erkennen, die durch
die Form allein eindeutig bestimmt sind, also stereometrische
Figuren. Die Störung des Erkennens muss also in einer Störung
höherer psychischer Funktionen gelegen sein. Wie eingangs er-
wähnt ist, gehört zum Erkennen der meisten Gegenstände, d. h.
zum Erkennen ihres Zweckes, ihrer Verwendung, eine Verbindung
des Begriffs ihrer Form mit andern Erinnerungsbildern, die der
Gegenstand dem Individuum geliefert hat. Die Zahl der Er-
—
1) Kutner, Schwierigkeiten in der Differentialdiagnose akuter und
chronischer Gehirnerkrankungen. Med. Klinik. 1906. No. 4.
3) Redlich, Ueber Halbseitenerscheinungen in der genvinen Epilepsie.
Arch. f. Psych. Bd.41.
Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 201
innerungsbilder wird naturgemäss bei den verschiedenen Gegen-
ständen verschieden sein, und die einzelnen werden für das
Erkennen verschiedenwertig sein; auch individuell, je nach Ver-
anlagung, Beschäftigung etc., wird die Zahl der Kennzeichen eines
Gegenstandes und ihre Wertigkeit variieren. Im allgemeinen
dürfte wohl bei den meisten Gegenständen und den meisten
Menschen neben der taktilen die optische Komponente die grösste
Bedeutung haben und das Erkennen, die sekundäre Identifikation
eines getasteten Gegenstandes dann am meisten gestört sein, wenn
es nicht gelingt, von der getasteten Form aus die optische
Komponente zu wecken. Werden also in unserem Falle einzelne
Gegenstände wiederholt und überraschend gut erkannt, wie
Schlüssel und Fingerhut, so beruht dies vielleicht auf einer
besonderen, sei es allgemeinen sei es individuellen Ueberwertigkeit
der getasteten Form für die Begriffsbestimmung dieser Gegen-
stände; vielleicht führt diese Üeberwertigkeit der Tastbilder
zunächst zur Erweckung des Wortbildes und auf diesem Umweg
zur Erweckung der übrigen Begriffskomponenten.
Unsere Affektion stellt sich also als eine rein assoziative
Störung hin, und wir werden demnach auch die für solche
charakteristischen Allgemeinerscheinungen zu erwarten haben.
Bonhoeffer!) hat schon bei der kortikalen Tastlähmung als
Beweis ihres wesentlich assoziativen Charakters auf die Intensitäts-
schwankungen der Störung und das Phänomen des Haftenbleibens
hingewiesen. Die linksseitige Affektion unseres Kranken ist einer
der Fälle, auf die Bonhoeffer dabei Bezug nimmt; er zeigt auch
jetzt noch deutlich diese Störung. An der rechten Hand ıst nun
zunächst die Schwankung der Intensität bedeutend auffallender.
Während links und auch sonst bei der kortikalen Tastlähmung
die Schwankung im allgemeinen nur so weit geht, dass von einer
geringen Zahl von Gegenständen bald der eine, bald der andere
erkannt wird, die meisten aber stets unerkannt bleiben, liegen
hier die Verhältnisse so, dass zwar auch, wie schon oben erwähnt,
einzelne Gegenstände fast konstant erkannt werden, von den
anderen aber auch fast jeder Gegenstand bei irgend einer Unter-
suchung, wenn auch mit grosser Anstrengung, erkannt wird, der
bei andern Untersuchungen durchaus unerkannt bleibt. Die Ge-
samtzahl der nicht erkannten Gegenstände überwiegt aber auch
im besten Falle die der erkannten. Manchmal geht die Ver-
schlechterung des Erkennens Hand in Hand mit nachweisbarer
anderer psychischer Störung, besonders mit der spontan oder nach
Anfällen auftretenden erhöhten Reızbarkeit, meist ist aber ein solch
allgemeiner psychologischer Faktor nicht erkennbar.
Besonders hochgradig ist ferner die leichte, nur auf die
Funktion des Tastens beschränkte Ermüdbarkeit. Auch links ist
sie, wie schon Bonhoeffer vor allem an dem Phänomen des
Perseverierens zeigte, vorhanden. Rechts ist sie bedeutend stärker
n L. ce.
202 Kutner, Die transkortikale Tastlähmaung.
und muss bei den Untersuchungen als sehr bemerkbare Fehler-
quelle ausgeschaltet werden. Dabei ist aber beachtenswert, dass
sie sich hier viel mehr im einfachen Versagen als im Auftreten
von perseverierenden Reaktionen äussert. Es beruht dies wohl
auf emer gleich zu erwähnenden Differenz in der Art der Reaktion
beim Tasten mit der linken und mit der rechten Hand. Legt
man dem Kranken einen Gegenstand in die linke Hand, so macht
er wohl einige ungeschickte Tastbewegungen, wobei das feine
Fingerspiel fehlt, die Finger nur zusammen Massenbewegungen
ausführen. Das Interesse erlahmt sichtlich bald; er hält den
Gegenstand einfach in der geschlossenen Hand fest, bis er erst
wieder zu neuen Tastbewegungen ermuntert wird; rel. rasch
nennt er dann irgend einen Namen, ich hatte oft das Gefühl, nur,
um die ihm lästige Probe möglichst abzukürzen. Manchmal gibt
ihm irgend eine vom Gegenstand ausgelöste Empfindung, besonders
Temperaturempfindung, den Grund zum Nennen eines Gegenstandes,
der eine ähnliche Temperaturempfindung auslöst, meistens lässt
sich gar kein Zusammenhang zwischen getastetem und von ihm
genanntem Gegenstand herausfinden, und auch er selbst kann
keine Erklärung für die Benennung geben. Jedenfalls taucht
irgend eine Gegenstandsvorstellung in ihm auf, und diese wird
perseveriert. Im Gegensatz zu diesem Verhalten erwecken die
[astversuche an der rechten Hand sein grösstes Interesse. Die
Tastbewegungen sind geschickt und umfassend; er nennt meist
spontan die Eigenschaften, besonders die Form des Gegenstandes,
und gibt sich grosse Mühe, seinen Namen und seinen Zweck zu
finden. Nennt er, oft erst auf Drängen, einen bestimmten Namen
so widerruft er ihn oft, wenn er falsch ist, bei weiterem Tasten,
übt so über seine eigenen Angaben Kontrolle aus. Diese durch
die gute Identifikation der Form bedingte Möglichkeit der Kon-
trolle verhindert wohl das Haftenbleiben einmal eingeschlichener
Begriffe.
Bis hierher lässt sich das Wesen der rechtsseitigen Tast-
lähmung kurz so ausdrücken, dass die sekundäre Identifikation
gestört ist bei intakter primärer Identifikation. Es wäre dann
auch ihr Name transkortikale Tastlähmung (im Sinne Wernickes)
berechtigt, zumal die Störung der primären Identifikation allgemein
als kortikale Tastlähmung bezeichnet wird. Nun zeigen aber schon
einfache psychologische Erwägungen, dass ein durchgehender
prinzipieller Unterschied zwischen diesen beiden Formen nicht
möglich ist. Wir haben oben gesehen, dass einzelne Gegenstände
allgemein, andere vielleicht individuell durch die Form, den Haupt-
teil der primären Identifikation, vollkommen oder wenigstens
genügend charakterisiert und ziemlich eindeutig bestimmt sind;
ferner setzt auch der Prozess der primären Identifikation die Tätig-
keit schon ganz komplizierter Assoziationen, wie es die Lokalisation,
geringer auch die sog. Bewegungs- und Druckempfindung dar-
stellen, voraus. Wır sehen demnach auch die allgemeinen Er-
scheinungen assoziativer Störungen bei beiden Arten nur in gra-
Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 203
duellen Unterschieden; gelegentlich wird auch mal bei der korti-
kalen Tastlähmung ein Gegenstand wenigstens im groben in seiner
Form erkannt, ohne weiter identifiziert werden zu können, und
umgekehrt müssen wir die zunächst aufgestellte Intaktheit des
Erkennens der Form bei unserm Falle dahin richtig stellen, dass
sich doch auch bei ihm in der zu Tage tretenden Verlangsamung
und Erschwerung eine gewisse Störung kund gibt. Auch in der
oben als grundlegend betrachteten Differenz ın dem Verhalten
der Sensibilität deckt unser Fall deutlich die Uebergänge auf.
Ich habe ausgeführt, dass die Sensibilität wenigstens nach
den uns jetzt zu Gebote stehenden Prüfungsmethoden intakt ist.
Müssen aber unter dem Einfluss einer Schädlichkeit, vor allem
also der Ermüdung, Reize perzipiert werden, dann ergeben sich
Fehler, die an Intensität deutlich die übersteigen, die dann auch
bei normalen Menschen wenigstens bezüglich der Lokalisation
nachweisbar sind. Diese Störungen betreffen nicht die einfachen
Empfindungen, sondern die, denen bereits assoziative Vorgänge zu-
grunde liegen, vor allem die Lokalisation, aber auch die Be-
wegungs- und Druckempfindung. Zugleich damit treten im Er-
kennen durch Tasten Fehlreaktionen auf, die auf eine Störung in
der primären Identifikation, im Erkennen der Form, hinweisen.
Dies beweist, dass auch die oben angenommene Intaktheit dieser
Qualitäten eine bedingte ist; sie zeigen sozusagen eine verminderte
Widerstandskraft gegen Schädigungen. o,
Auch der Vergleich der den beiderseitigen Störungen unseres
Falles zugrunde liegenden pathologisch-anatomischen Verhăltnisse
führt za änlichen Erwägungen. Die Art des ursprünglichen Pro-
zesses ist für beide Läsionen dieselbe, kleine kortikale Er-
weichungen oder Blutungen. Die erste Läsion, deren Mittel-
unkt ungefähr im mittleren Drittel der vorderen Zentralwindung
liegt, hat zu einer dauernden rechtsseitigen kortikalen Tastlähmung
geführt. . Diese Lokalisation entspricht durchaus den bisher be-
kannten Befunden bei dieser Affektion. Die zweite Läsion liegt
etwas weiter nach vorn, in der hinteren Partie der zweiten Stirn-
windung. Nach Art des Eingriffs, Aufheben der Pia an dieser
Stelle und Unterbinden einiger Gefässe, kann wohl angenommen
werden, dass auch das mittlere Drittel der vorderen linken Zentral-
‘windung. wenn auch geringfügig in den Bereich der Schädigung
zogen. wurde. Wir haben also ungefähr den gleichen Sitz. der
Störungen, "unterschieden von den ersten durch die Intensität.
Diese mag zunächst so geringfügig gewesen sein, dass sie keine
erkennbaren Symptome machte, wenngleich mir eine Bemerkung
Bonhoeffers darauf hinzuweisen scheint, dass wenigstens ıbei
einer Untersuchung 2'/, Jahre nach der ersten Operation An-
'klänge an die jetzt beobachtete Störung schon vorhanden gewesen
sind; im Protokoll vom 21. II. 1908 heisst es: „An diesem Tage
zeigt R. auch bei dem Betasten mit der rechten Hand Schwierig-
keiten“; . leider ist über. Einzelheiten. dieser Schwierigkeit nichts
‘gesagt, ‘auch nicht, ob der beobachtete Einfluss der Ermüdung
204 Kutner, Die transkortikale Tastlähmung.
auf die Lokalisation rechts ein abnormer war, also auf Störungen
der oben beschriebenen Art deutete, oder noch ın den Bereich
der Norm fiel. Durch den mit dem Status epilepticus einher-
gehenden, pathologischen Prozess findet in den schon affızierten
Rindenstellen eine Intensitätszunahme der Läsion und wohl auch
eine geringe Ausbreitung in die Umgebung statt. Der Ver-
stärkung der anatomischen Läsion entspricht eine Zunahme bezw.
der Eintritt der Funktionsstörung der betroffenen Territorien, hier
also wesentlich des mittleren Drittels der vorderen Zentralwindung
beiderseits. Als ihr Ausdruck tritt an der linken Hand eine Zu-
nahme der bestehenden Störung ein, an der rechten eine ähnliche
Störung leichteren Grades neu auf. Dass diese Störung in der
Tat nur einen leichteren Grad der ersten darstellt, beweist am
besten der Umstand, dass sie dieser näher kommt, wenn eine
hinzutretende neue Schädigung wie die Ermüdung die Funktion
der lädierten Rindenpartie noch weiter herabsetzt. Wir stellen
uns vor, dass die verschiedenen Störungen im Erkennen getasteter
Gegenstände verschiedenen Graden der Funktionsherabsetzung
des mittleren Drittels der Zentralwindungen entsprechen. Bei
leichter Herabsetzung würde die Erregbarkeit noch hinreichend
sein, dass die assoziierten Vorgänge in dieser Rindenregion wach-
gerufen werden können, wenn auch mit grösserer Mühe, als unter
normalen Verhältnissen, der Erregungsstrom wäre aber nicht stark
genug, um auch auf die interkortikalen Assoziationen in genügender
Intensität abzufliessen; wir hätten eine Störung der sekundären
Identifikation bei relativ intakter primärer Identifikation, also
das hier beschriebene Krankheitsbild. Bei stärkerer Herabsetzung
der Erregbarkeit könnten auch intrakortikale Assoziationen nicht
mehr oder nicht mehr hinreichend flott werden, wir hätten dann
eine Störung der primären Identifikation, die kortikale Tastlähmung.
Dass im einzelnen Falle eine scharfe Grenze zwischen den beiden
Formen kaum statthaben wird, geht aus dieser Betrachtungsweise
ohne weiteres hervor. .
Wir haben hier also ganz ähnliche Verhältnisse wie bei anderen
sogenannten transkortikalen Störungen, besonders denjenigen
der Aphasie.e Auch hier geht jetzt die allgemeine Anschauung
dahin, in ihnen nur leichtere Grade der Funktionsstörungen der -
Sprachfelder zu sehen; daher ihr Auftreten besonders als Phase
in der Rückbildung kortikaler Aphasien. Auch in unserem Falle
ist die Möglichkeit, dass die Störung nur eine Restitutionsphase
einer kortikalen Tastlähmung darstellt, nicht ganz von der Hand
za weisen. Der Status epilepticus, seit dem wir unsere Störung
datieren, war Anfang Juni 1905; die ersten Untersuchungen fanden
aber erst Anfang Februar 1906 statt. Andererseits wäre eine
gröbere Störung wohl auch bald nach der Aufnahme entdeckt
worden; auch spricht dagegen, dass sie in der Beobachtungszeit
von 2 Monaten ziemlich unverändert geblieben ist. Monakow
weist darauf hin, dass bei den sogenannten transkortikalen Aphasien,
besonders der sensorischen Form, neben einer Läsion der Sprach-
Be ee
Kutner, Die transkortikale Tastlähmung. 20>
region wohl noch immer eine allgemeine, auf Erschöpfung des
Grosshirns beruhende Herabsetzung der Auffassungsfähigkeit von
Bedeutung ist. Da in unserm Falle eine diffuse Rindenerkrankung,
eine genuine Epilepsie vorliegt, könnten auch hier ähnliche Er-
wägungen Platz greifen. und schliesslich ist vielleicht auch die
Affektion der rechtsseitigen Tastregion nicht ganz belanglos.
Eine andere pathologisch-anatomische Genese für unsere
Form der Tastlähmung stellt Verger!) auf. Er will sie zurück-
führen auf eine Zerstörung von langen Assoziationsfasern, die die
Tastregion mit den übrigen sensorischen Rindenfeldern, besonders
mit der Sehsphäre, verbinden, also auf Markläsion des Parietal-
lappens. Oppenheim?) spricht auch von Tastlähmungen bei in
die Tiefe reichenden Tumoren des Parietallappens, meint aber
augenscheinlich die klinische Form der kortikalen Störung. Theo-
retisch wäre nun in der Tat durch eine Zerstörung im obigen
Sinne eine Störung unserer Art möglich. Der Herd müsste so-
wohl die Assoziationsbahnen zum gleichseitigen, wie die Kommis-
surenbahnen zum gegenseitigen Occipitalhirn durchbrechen. Dies
wäre praktisch am ehesten ın unmittelbarer Nähe ihres Algangs
von der Tastregion denkbar; dann wäre aber der unmittelbare
Einfluss des Herdes auf die Rinde nicht anzuschliessen. Oder
der Herd liegt weiter ab von der Rinde, dann müsste er eine
solche Ausdehnung haben, dass durch Läsion sensibler Projektions-
bahnen, die doch auch im Mark des Parietallappens verlaufen,
infolge der Sensibilitätsstörungen das Bild der reinen Tastlähmung
verwischt wäre. Tumoren sind zudem überhaupt nicht geeignet,
diese Frage zu entscheiden; wegen ihrer bekannten Wirkungen
auf die Umgebung ist eine funktionelle Störung benachbarter
Rindenbezirke niemals auszuschliessen.
Ich vermag also eine besondere anatomische Lokalisation
unserer Störung nicht zuzuerkennen. Sie scheint mir nur der
Ausdruck leichterer Rindenveränderungen in der Tastzone der
Hand. Nur klinisch ist vielleicht ihre Abtrennung von der so-
genannten kortikalen Tastlähmung berechtigt, wobei aber zu er-
wägen ist, dass Uebergänge zwischen beiden Formen vorkommen
und die klinischen Differenzen zum Teil nur quantitativer Art sind.
1) L. e.
3) Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 4. Auflage.
206 v. Bechterew, Automatisches Schreiben und sonstige
Automatisches Schreiben und sonstige automatische
Zwangsbewegungen als Symptome vonGeistesstörung.
Von `
Prof. Dr. W. v. BECHTEREW.
Die Beobachtung lehrt, dass die Wahnvorstellungen Geistes-
kranker in einzelnen Fällen ganz oder zum Teil auf besonderen
Erscheinungen beruhen, die zur Gruppe der automatischen
Bewegungen gerechnet werden können.
Diese letzteren äusseren sich als Manipulationen, Gesten,
Schreiben u.s.w., die ohne und selbst gegen den Willen der
Kranken selbst ausgeführt werden. Der Kranke nimmt also
keinerlei Anteil an der Vollziehung dieser Bewegungen, und doch
gehen diese vor sich, wobei der Kranke nur das Endergebnis der
sychomotorischen Erregung wahrnimmt in Gestalt der vollführten
Bewegung, die er sich in bestimmter Weise erklärt. Aus der
Zahl meiner Beobachtungen könnte ich sehr viele Fälle anführen,
wo die erwähnten Erscheinungen mehr oder weniger eklatant
hervortraten; ich möchte mich hier aber auf einige ganz besonders
charakteristische Fälle beschränken.
Pat., Offizier, 86 a. n, Sohn eines verabschiedeten Militärs, stammt
angeblich aus ganz gesunder Familie. Geistes- und Nervenkrankheiten sind
in der nächsten und entfernteren Verwandtschaft nicht vorgekommen. Vater
und Mutter des Pat. leben und erfreuen sich einer guten Gesundheit;
ersterer 82, letztere 62 a. n. Der Vater des Pat. trinkt recht viel und tat
dies schon in jungen Jahren, er hat einen rauhen und finstern, despotischen
Charakter, verlangt von seinen Kindern unbedingten Gehorsam und hat
daher mit diesen und besonders mit Pat. häufige Differenzen.
Geboren wurde Pat. unter ganz günstigen Verhältnissen. Seine Mutter
ibt an, dass ihr während dieser Schwangerschaft nichts gefehlt hat. Die
eburt verlief normal.
Als Kind war Pat zwar nicht besonders kräftig, aber auch niemals
ernstlich krank; er war ein lebhafter, fröhlicher Knabe und, wie er sagt,
ein grosser Schelm.
In früher Jugend hatte Pat. eine besondere Vorliebe für Phantasien
und Luftschlösser. Er verschlang Indianergeschichten, beschäftigte sich
tagelang damit und gefiel sich in der eingebildeten Rolle einzelner Helden.
Auch die einheimischen Dichter las er eifrig und schrieb selbst Verse.
Veberhaupt trat bei ihm die Phantasie stark hervor, wie der Pat. selbst
betont. Er zeigte gute Fähigkeiten, er konnte sich aber zu nichts zwingen
lassen, sondern tat nur das, was ihm passte, war auch sehr oft träge.
Pat. besuchte anfangs ein Gymnasium, dann eine Militärschule, wo er
zum Offizier avancierte. Im Dienst ging es ihm gut, er war bei den Vor-
gesetzten wohlgelitten und galt als guter Kamerad.
An seinen Verwandten und Kindern hing er stets mit grosser Liebe
und zeigte Verständnis für alles, was sie anging. Mit seinem Vater gab es
zuweilen Kollisionen, aber ausschliesslich infolge des despotischen Verhaltens
desselben gegen seine Kinder. Friedlich und zurückhaltend, wie er war
Zwangsbewegungen als Symptome von Geistesstörung. 207
vertrug er indessen keinen Druck und stand deshalb in häufigen Gegen-
: sätzen zu seinem Vater.
Krankhafte Erscheinungen von Seiten des Seelenlebens waren, soweit
vorhanden, keinesfalls hochgradig. Die Stimmung wechselte nicht ohne
Anlass, niemals bestanden Sinnestäuschungen, nur falsche Erinnerungen
waren vorhanden. Wenn Pat. in Gesellschaft war und sich unterhielt, hatte
er oft das Gefühl, dieselbe Umgebung, die gleichen Personen, die nämliche
Unterbaltung schon früher erlebt zu haben, obwohl es tatsächlich zum ersten
Mal der Fall war. Ebenso glaubte er, zum ersten Mal besuchte Ortschaften u.s.w
schon bei früheren Gelegenheiten gesehen zu haben.
Er trank Branntwein schon in jungen Jahren und in grossen Mengen,
ohne sich jedoch zu betrinken. Das Geschlechtsleben begann früh und wurde
übertrieben. Auch begann Pat. früh und ziemlich stark zu rauchen.
Syphilis wurde geleugnet, wird aber nach einigen Anzeichen vorhanden
gewesen sein.
Im Jahre 1888 kam Pat. nach St. Petersburg, um in die Generalstabs-
akademie einzutreten. Erhattehier aberdas Unglück, im Examen durchzufallen,
und musste nun zum Dienst in sein früheres Regiment zurückkehren. Damals
traten sehr starke Kopfschmerzen auf, wobei Pat. Veränderungen ap den
Nasenknochen bemerkte. Er liess sich längere Zeit ohne Erfolg behandeln;
schliesslich bekam er Jodkalium und Quecksilbereinreibungen. Die Kopf-
schmerzen vergingen bald; der Prozess in den Nasenknochen kam zum
Stillstand, aber ihre Form war bereits verändert, ausserdem traten an den
Unterschenkeln hochgradige periostitische Erscheinungen auf. Von daan bis
zum Jahre 1896 fühlte Pat. sich vollkommen wohl, aber in dem Charakter
des Pat. waren von seiner Frau gewisse Veränderungen bemerkt worden:
Unruhe und Geschäftigkeit, Neigung zum Trinken, Cynismus in geschlecht-
licher Hinsicht. Dennoch bekleidete er sein Amt nach wie vor und kam
seinen Pflichten nach. So ging es etwa bis Mitte Oktober 1896. Im Herbst
begab sich Pat. mit Frau und zwei Kindern nach Wladiwostok auf oinen
Dampfer der Freiwilligen Flotte.
Unterwegs trank Pat. stark, obwohl der Schiffskapitän ihn auf die
Gefahr des Alkohols in den Tropen aufmerksam machte. Um diese Zeit
bemerkte die Frau des Pat. bei ihm lebhaftes Zittern, schwankenden Gang
und Verlangsamung der Sprache. In der Nähe von Singapore erkrankte
eine Tochter des Pat. am Scharlach, zwei Tagereisen vor Nagasaki erkrankte
dann auch der Sohn. Auf dem Dampfer lebte die ganze Familie im Schiffs-
lazarett, wo sie bis zur Ankunft in Wladiwostok verblieb. Am 20.X.
1896 wurde die Offiziersfamilie in dem Wladiwostoker ÖOrtslazarett zur
Quarantäne untergebracht.
Tags darauf starb der Sohn des Pat., und seine Leiche wurde in die
Anstaltskapelle gebracht. Von diesem Tage an war Pat. auffallend verändert.
Er betete inbrünstig um das Seelenheil des Verstorbenen. Er suchte sich
dabei zu erklären, was Seele ist und wo das Paradies sich befindet, in
welches die Seelen der Frommen und Mübseligen eingehen. Er nahm einen
Bleistift, überliess sich ganz jener Gewalt, die seine Hand führen konnte,
und versank in eine gewisse unvollständige Vergessenheit. Er befand sich
angeblich in einem Zustand vollkommenen Bewusstseins, er wollte aber kein
Bewusstsein haben, während er den Stift in seiner Hand kaum berührte.
Auf die in Gedanken geflüsterte Frage, wo die Seele des Sohnes sich befinde,
zeichnete die Hand des Pat. ohne seinen Willen bestimmte
Buchstaben hin, die anfangs keinerlei Sinn hatten; aber nach einigen
Seancen, ungefähr bei dem dritten Versuche, schrieb die Hand bereits etwas
Bestimmtes hin. So z. B. sollte ein Kreuz am Grabe des Sohnes gemacht
werden, wobei auch die Form des Kreuzes aufgezeichnet wurde. Am dritten
Tage nach dem Tode des Sohnes, während seiner Beerdigung, hatte Pat., als
er nach angestrengtem Gebet ans der Kapelle trat, die Empfindung eines
Hauches: „Blase das Licht aus!“
Pat. tat dies und trug das Licht fort. Nach seines Sohnes Beerdigung
orgab er sich ganz Gebeten und automatischen Schreibsdancen, aber ohne
Zuhilfenahme eines Bleistiftes; er schrieb unwillkürlich mit dem
Monatsschrift für Psychiatrie and Neurologie. Bd. XXI. Helt 3. 14
208 v. Bechterew; Automatisches Schreiben und sonstige
Zeigefinger auf seinem Kopfkissen. Bei voller Stille traten vernünftige
Antworten. So z. B. erhielt er wegen seiner Sorge um die Einrichtung
und Schmückung der Gruft die Schrift: „Nicht das ist schmackhaft, was den
Körper ausmacht, sondern das, was hier ist.“
Bald stellten sich auch ausserhalb der Séancen Stimmen ein. Zuerst
erschien eine Stimme, die die Kleider des Sohnes an Arme verteilen hiess,
„damit sie mit ihrem Atem seine Seele zu Christo erheben möchten“. Die
Stimme war leise, scheinbar in der Gegend des Zimmerfensters. Ich hatte
dabei, erzäblt der Kranke, meinerseits eine Anstrengung des Gehörs und
Atemverhaltung. Darauf erschien eine Stimme im Kopfe am Scheitel mit
der Ankündigung: „gute Gedanken“; daran schloss sich eine längere Predigt
über christliches Leben. Den Inhalt der Predigt hat sich der Kranke notiert.
Solche Stimmen traten nun immer häufiger auf. Unter dem Einfluss der-
selben begann der Kranke inbrünstig zu beten und blieb morgens und’
abends längere Zeit in ekstatischem Gebet. Die Stimmen verkündeten dem
Kranken, wie ein Christ leben soll und waser nach den evangelischen Wahr-
heiten zu tun hat. Unter dem Einfluss der guten Gedanken, die dem Pat.
eingegeben wurden, fühlte er, dass er reiner werde, dass er sich zu den
Mensch en jetzt anders verhielt als früher. Eines Tages schrieb Pat. die
„guten Gedanken“ auf und versuchte nun schriftlich darzustellen, wie Gott
zu verstehen ist, wobei er hoffte, das Diktat der Stimmen werde ihn darüber
belehren. Der Versuch wurde plötzlich unterbrochen. Als er seine Hypo-
these von Gott niedergeschrieben hatte, durchstrich seine Hand ganz
ohne seinen Willen das Geschriebene und schriebin vollkommen
festen Zügen: „nicht mit dem Verstand, sondern mit der Seele!“
Nun stellt Pat. verschiedene Fragen. Er schreibt sie auf ein Blatt
Papier und seine Hand schreibt ohne seinen Willen die Ant-
wort hin.
Auf die Frage z.B.: „Zu wem soll ich beten“, erfolgt die schriftliche
Antwort: „Nicht zu dem, der da straft, sondern zu dem, der liebt.“
Pat. schreibt: ich stelle ein Licht hin. Ohne dass er es will, zeichnet
seine Hand auf: „Wer es braucht. Gott ist die Tugend, nicht die Strafe.“
Ausser diesen „spiritistischen“ Séancen, wie Pat. es nennt, hat er
fortwährend Unterhaltungen mit den Stimmen und Visionen.
Eines Tages erblickte er im Fenster einen feinen weissen Faden, der
in der Luft hing; der Faden wurde bald breiter und kürzer und nahm all-
mählich menschliche Gestalt an. In dieser Gestalt erkannte Pat. Christum.
Er empfand in diesem Augenblick, während ein sündiger Gedanke in ihm
aufblitzte, ein starkes Brennen im Rücken. Christus hatte ihm den Rücken
verbrannt. Darauf hörte er Christus ihm „gute Gedanken sagen“. Plötzlich
erscheint neben Christus die kleine Gestalt seines Bruders, der ihm zuruft:
Glaube nicht diesen Betrügern, sie sind Spiritisten, Du siehst ja, dass sie
Dich zerreissen wollen.“ Pat. empfindet dabei tatsächlich, dass etwas sich
von ihm entfernt und dass sein ganzer Körper „zerrissen“ wird. Kaum hatte
die Gestalt seines Bruders diese Worte hervorgebracht, als Christus ihn zu
Asche machte und darauf wiederherstellte. Jetzt sprach der Bruder: „Nun
laube ich.“ „Jetzt sollst Du ihm ins Herz kriechen“ sagte Christus, und
ger Kranke fühlte den Bruder in seinem Herzen und hörte von dort seine
timme.
Manchmal sah Pat. auf der Zimmerwand rote Punkte; auf seinen Wunsch
verwandelten sich die Punkte in kleine lebende Figuren, die stets unter
dem Fussboden verschwanden, wo Pat. noch lange ihre Stimmen und
Bewegungen hörte.
Die Stimmen und Visionen steigerten sich während der religiösen
Betrachtungen und beim Gebet. Pat. war stundenlang in religiöser Ekstase,
unterhielt sich lebhaft mit den Stimmen, hörte von ihnen „gute Gedanken“,
die seine Fragen beantworteten. Als Pat. schliesslich sich das Wesen
Gottes erklären wollte and zu „spiritistischen Séancen“ und zur „Abstimmung“
schritt, erhielt er den Befehl: „Lege Dich hin und stirb.“ Auf die Frage,
von wem dieser Befehl ausgeht, bekam Pat, die Antwort: „Von Christus.“
- + Pet. schickte nun nach einem Geistlichen, machte sein Testament,
Zwangsbewegungen als Symptome von Geistesstörung. 209
erklärte seiner Frau, dass er sterben werde, nahm das Abendmahl, zog reine
Wäsche an und bereitete sich zum Sterben. Darauf hörte er eine Stimme:
„schliesse die Augen, atme ein.“ Als er die Augen schloss, sah er rechts
von sich die kleine Gestalt Christi, den Mantel von der rechten Schulter zur
linken Hüfte. Er sprach: „gehe“, und die Gestalt Christi entfernte sich
in den Korridor, wo in der Ecke ein Kreuz stand, über welchem ein Licht
strahlte. Pat. fühlte dabei, dass sich von ihm, von seinem ganzen Körper,
aus der Haut hervor etwas ablöste, was sein Wesen bildete, und dass dieses
Etwas sich zu Christo hinzog. „Erschrocken über diesen Verlust,“ erzählt
Pat., „öffnete ich die Augen, sank vor dem Heiligenbilde auf die Kniee und
betete um weiteres Leben.“ Ich hörte dann die Stimme ‚lebe‘, stand auf,
beruhigte mich und schlief ein.“
Vach einigen Tagen erhielt Pat. einen neuen Befehl: „Wenn Du das
Geheimnis wissen willst, versinke in einen lethargischen Schlaf, aber man
soll Dich 6 Tage nicht beerdigen, und wenn Du dann nicht zum Leben
zurückkehren willst, dann ist das Deine Sache.“ Pat. schrieb einen Brief,
in dem er bat, ihn 6 Tage unbeerdigt zu lassen, schloss die Augen, und
sogleich hörte er die Stimmen Christi, Gottvaters, der Engel und Gottsohnes.
Endlich gab Gott ihm eine Offenbarung, die er ihm diktierte und auf-
schreiben liess, damit er sie dem Priester und allen Leuten zeige. Pat.
fühlte, wie die Gottheit mit ihm zusammenfloss und wie er selbst Gott wurde.
Als er die Augen öffnete, hörte er eine Stimme: „Gehe hin und segne.“ Er
steht auf und segnet und will dann gehen und dem Geistlichen die Offen-
barung zeigen. Dabei wird er aber von den Wärtern (es war im Lazarett
zu Wladiwostok) gehalten und sucht sich von ihnen zu befreien. Pat. ist
auf sie nicht böse und verzeiht ihnen mit den Worten: „Vater, sie wissen
nicht, was sie tan.“ Während des Segnens fühlt Pat., wie von seinem
Wesen, von seinem Gehirn und seinem Herzen feine Fäden abgehen, Nerven,
die ihn mit den Menschen auf dem ganzen Weltall verbinden. Zugleich
sieht und hört er den Papst, Kaiser Wilhelm, den Zaren und alle Menschen.
Ihre Stimmen sagen ihm, er sei Gott, er beherrsche die Welt u.s.w. Er
glaubt an seine Bestimmung, segnet, predigt, gibt Offenbarungen kund.
Dies einige Beispiele der Sinnestäuschungen und Weahnideen, die
unser Pat. hatte.
Auf der Höhe der Krankheitsentwicklung waren bei unserem Pat.
ausser den erwähnten Halluzinationen noch optische Pseudohalluzinationen
vorhanden.
Pat. sab auch bei geschlossenen Augen, wie an seinem Kopfe lebende
Figuren erschienen, die mit Schaufeln bewaffnet waren, und wie sich die
Partikel seines Gebirns verschoben.
Er hörte dabei, wie sie davon sprachen, dass der eine oder andere
Teil seines Gehirns unbrauchbar sei, wie sieihn mit ihren Schaufelchen aus-
schabten und durch andere Partikel ersetzten. Er beobachtete dabei, wie
an der Gehirnwunde das Blut strömte, wie die kleinen Figuren dabei die
Arbeit unterbrachen und nicht eher weiterarbeiteten, als bis das Blut still-
stand. Er hörte auch ihre Unterhaltung: „Jetzt fort mit dem philosophischen
Teil!“ „Nun, genug damit, jetzt weiter“ u. dergl. Hatten die Kleinen
ein bestimmtes Gehirnstück angebracht, dann probierten sie zunächst seine
Wirkung.
As sie z. B. eines der Gehirnstücke hineingestellt hatten, befahlen
sie dem Pat., zu reden, und er sprach anfangs langsam, dann beschleunigte
er auf das Kommando „schneller“ seine Rede immer mehr, wobei er die
Empfindung hatte, dass er einhalten konnte, ehe er den Befehl bekam, auf-
zuhören.
Die ganze Arheit der kleinen Wesen bezweckte eine Umgestaltung
seines Gehirns im Geiste der neuen religiösen Richtungen. Die Teile des
Gehirns, in denen Gedanken entstanden, die mit dem Geiste der Religion
nicht übereinstimmten, wurden ansgegraben und an ihre Stelle neue Stücke
eingestellt.
In dieser Weise gestaltete sich der Krankheitsverlauf vom 25. X. 1896
bis zum 15. III. 1897. Von da an veränderte sich das Verhalten des
14*
2 10 v. Bechterew, Automatisches Schreiben und sonstige
Pat. zu seinen Halluzinationen; sie verloren für ihn die frühere Realität
und er betrachtete sie objektiver, erkannte sie als etwas Krankhaftes. Zu
bemerken ist, dass das Bewusstsein des Pat. während der ganzen Krankheits-
dauer anscheinend ziemlich klar war, soweit man darüber nach seinen Auf-
zeichnungen und Briefen, die während der Krankheit von ihm geschrieben
wurden, urteilen kann. Auch die Angaben der Frau des Pat. wiesen
darauf hin.
Aus dem Wladiwostoker Lazarett wurde der Kranke am
17. VII. 1897 in die Petersburger Klinik für Nerven- und Geistes-
krankheiten übergeführt.
Die objektive Untersuchung ergab folgendes: Pat. von mittlerer Grösse,
t gebaut und ernährt, Unterhautfettgewebe stark entwickelt. Entwicklung
der Muskulatur befriedigend. Gesicht etwas unsymmetrisch, aber nicht sehr
stark. Pupillen gleich weit, reagieren gut auf Licht; Bewegungen der
Bulbi vollkommen frei. Zunge zittert ein wenig beim Hervorstrecken in
toto. Gesichtsausdruck aufmerksam, Mimik ziemlich beweglich. Blick auf-
merksam. Die Prüfung des Knochensystems ergab Periostitis der Knochen
der Nase, des Jochbeins und der Unterschenkel. Schmerzhaftigkeit ist beim
Beklopfen des Schädels und der Wirbelsäule nicht vorhanden. Gang fest
und sicher, das gleiche gilt von den sonstigen aktiven Bewegungen.
dentl Leichtes ittern der Hände. Biceps-, Triceps-, Knie- und Hautreflexe
eutlich.
Von Seiten der Sensibilität keine besonderen Veränderungen, abgesehen
von einer geringen allgemeinen Steigerung der Schmerzempfindlichkeit.
Respiration 16 in 1 Minute. Puls 72. Innere Organe normal. Appetit und
Schlaf gut. Die Prüfung der Sinnesorgane ergab nichts Abnormes.
Stimmung durchweg gleichmässig, meist fröhlich.
Von Seiten des Intellektes sind keine besonderen Veränderungen zu
bemerken; die Gedankenassoziationen ziemlich regelrecht, ebenso die Logik.
Schnelligkeit des Gedankenablaufs in den Grenzen der Norm. Wahnideen
fehlen. Wohl aber sind vorhanden Sinnestäuschungen in Gestalt von
akustischen Halluzinationen und Pseudohalluzinationen, letztere überwiegend.
Die Pseudoballzuinationen bestehen hauptsächlich im Hören der eigenen
Gedanken. Pat. hört Stimmen, die ans seinem eigenen Kopf, meist aus der
Schläfen- und Hinterhauptgegend, herkommen. Er glaubt, dass diese Stimmen
ein Ausdruck seiner eigenen Gedanken sind, die gewissermassen von einer
dritten Person ausgesprochen und vom Bewusstsein als Gehörsbilder perzipiert
werden.
Wenn er an irgend etwas denkt, hört Pat. seine eigenen Gedanken,
wobei die Stimme den Gedanken hervorbringt, noch ehe derselbe als solcher
im Bewusstsein auftritt. Manchmal entsprechen die Stimmen der allgemeinen
Gedankenrichtung des Pat., in anderen Fällen widersprechen sie derselben,
verhalten sich kritisch dazu; dann besteht ein Kampf zwischen Gedanken
und Stimmen, die Pat. deutlich erkennt. Ein solcher Kampf ist am öftesten
auf religiüsem Gebiet vorhanden. Teberhaupt ist die religiöse Stimmung
des Pat. und nächtliche Stille ganz besonders günstig für die Entstehung
der Stimmen. Nach verschiedenen somatischen Äffektionen steigern sich die
Stimmen.
Die gegenwärtigen Halluzinationen, die vollkommen den Charakter
der äusseren Perzeption haben, treten bei dem Pat. ziemlich selten auf.
Während des Aufenthalts in der Klinik kamen sie &—4 mal vor.
Folgender Umstand war Anlass zu einem dieser Fälle. Pat. begab
sich eines Tages mit seiner Frau in die Stadt, und bei dieser Gelegenheit
wollte er das sogenannte Peterhäuschen besichtigen. Der Name Peter des
Grossen rief in ihm die Erinnerung an Peter von Amiens hervor, der schon
früher öfters in seinem Wahn auftrat und ihm religiöse Gedanken brachte.
Gleichzeitig erblickte er ein an der Wand hängendes Heiligenbild, und
sogleich hörte er eine deutliche Stimme, die aus der Tiefe des Zimmers
kam und anscheinend vom Heiligenbilde ausging: „Für andere bin ich ein
Segen, mich selbst aber zerstöre ich.“
Zwangsbewegungen als Symptome von Geistesstörung. 211
Pat. konnte dem Arzt nicht erklären, was dieser Ausspruch bedeutet,
aber offenbar war er eine Antwort auf seine Gedanken.
Ausser Halluzinationen und Pseudohalluzinationen konnten bei dem
Pat. keine anderen pathologischen Erscheinungen bemerkt werden mit Aus-
nahme von falschen Erinnerungen, die schon vor der gegenwärtigen Erkrankung
vorhanden waren. Beispielsweise ist zu erwähnen, dass Pat., wenn er die
Wärter der Klinik sah und hörte, wie man sie beim Namen rief, sofort sich
zu erinnern glaubte, dass er dieselben Personen und Namen schon früher
irgendwo gesehen und gehört habe.
In dem Betragen des Pat. war während der ganzen Dauer seinos
Aufenthalts in der Klinik nichts Abnormes zu bemerken. Er verhält sich
vertrauensvoll zu den Aerzten, erzählt gern aus seiner Vergangenheit, ist
vollkommen korrekt gegenüber seiner Umgebung, anständig, ein aufmerk-
samer und geistreicher Gesellschafter. Er liest Bacher und Zeitungen, hat
Interesse für seine Hausgenossen und bittet nm baldige Heilung. Er verhält
sich vollkommen objektiv zu seinen Halluzinationen, hält sie für etwas Krank-
haftes und befolgt gern die ärztlichen Anordnungen.
Während der Dauer der klinischen Behandlung trat eine wesentliche
Besserung in dem Zustand des Pat. ein. Jetzt hat Pat. nur sehr selten
Pseudoballuzinationen, und er ist durch Veränderung der Gedankenrichtung
im Stande, sie zu unterdrücken. Ueberlässt er sich aber dem Gedanken-
strom und hört er auf die Stimmen hin, dann treten sie wieder auf, wenn
auch nicht in dem Grade wie früher. Schliesslich war Pat. von seiner
halluzinatorischen Psychose ganz geheilt.
In meinem Artikel über „hypnotischen Zauberwahn!)“beschrieb
ich eine Kranke, bei der während der ganzen Dauer der Psychose
automatisches Schreiben vorhanden war. IhreKrankheitsgeschichte
sei hier kurz resumiert:
Pat., 45 a. n., stammt aus neuropathischer Familie, verheirstet, hat
6 Kinder, in letzterer Zeit stark getrunken, hatte in der Jugend episodische
Sinnestäuschungen, begleitet von hysterischen Anfällen. Die somatische
Untersuchung ergab Steigerung der Sehnenreflexe und Zittern der aus-
gestreckten Finger. Pat. beschäftigte sich vor 15 Jahren auf Anregung
eines Bekannten einige Zeit mit automatischem Schreiben, gab dies aber
nach kurzer Zeit ganz auf. Im Dezember 1903 wird Pat. psychisch krank,
sie schreibt viel, spricht mit sich selbst, erzählt ihre Unterredungen mit
Toten und anderen Personen. Am 9. IV. wird Pat. in die Klinik auf-
enommen. Durch Befragen wurde festgestellt, dass Pat. sich für hypnotisiert
ält, dass bekannte Philosophen, Schriftsteller und andere bekannte und
unbekannte Personen durch sie sprechen. Dies geschieht in der Weise, dass
ihr in Gedanken Fragen gestellt werden, die sie gegen ihren Willen beant-
worten muss, als ob jemand anders ihre Zunge und ihren Kehlkopf in
seiner Gewalt hat. Ein anderes Mal kommt es auf ganz ähnliche Weise
zu einem Gedankenaustausch unter Einfluss psychischer Halluzinationen,
Wirkliche Halluzinationen sind bei der Kranken nicht vorhanden. Ausserdem
ist Pat. lebhaft mit automatischem Schreiben beschäftigt. In letzterem
Fall legt Pat. passiv ihre Hand auf das Papier, und nun bewegt sich
ihre Hand unwillkärlich und schreibt Wörter und Sätze hin,
für die sie sich zwar interessiert, an deren Hervorbringung sie aber gänzlich
unbeteiligt ist. Wenn das Schreiben der Worte beginnt, erzählt
die Pat., kann sie nicht einmal voraussehen, was dabei heraus-
kommen und welcher Satz entstehen wird; sie glaubt anfangs, es
werde das eine herauskommen, tatsächlich erweist es sich aber
schliesslich als etwas ganz anderes. Hier einige Muster ihrer auto-
matischen Schrift, die die ihr mitgeteilten Nachrichten wiedergeben:
1. Im Namen des Vaters, des Sohnes und und des heiligen Geistes und
der Jungfrau. Amen. Nastja und Wanja Al-ski sind zusammen an einem
— — on
1) Obosrenije psichiatrii 1905, No. 4.
212 v. Bechterew, Automatisches Schreiben nnd sonstige
Herzfehler gestorben. Die Tötung der Kinder ist noch nicht beendigt.
Wolodja K-ski’ starb heute nacht, und in ihm ist unser lieber, armer Sascha
auferstanden.
Iwan und Anastasia Kw-ski.
Iwan Alexandrowitsch Kw-ski ist nur deshalb nicht gestorben, weil
Sascha gebeten hat, auf ihn zu warten.
Iw. Kw-ski und Anastasia Sacharowa Kw-ski.
Gustav Alexandrowitsch West-ius ist heute 6 Uhr morgens gestorben.
West-ius der Schweiger.
Chionia, West-ius und Du schreiben uns immer von Dir und von Gl-skis.
2. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes
und der Heiligen Jungfrau. Amen. Wir alle haben alles geschrieben, aber
wegen des Todes von West-ius kommen keine Briefe mehr aus Nowgorod.
Sascha Jem-ina und Julie Kw-ski und Olga Zech-owitsch.
Man bittet Jem-ius zu schreiben, aber kurz.
Kwjat-ski, Glusch-owski, Chionis J-na-R-owa.,
Vater ist heute nacht um 3 Uhr gestorben.
Wanja und Sasche Jem-in. Kwajat-ski. Camill Flamarion Spero 2.
8. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes
und der Jungfrau. Amen. Wolodja ist gestorben als schlechter Sohn und
wird heute auferstehen als guter Sohn deiner Mutter.
A. K-ski,
Alexander Fedorowitsch W-kow kommt am 3. September nach
Helsingfors.
W-ow. Glusch-owski.
4. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des h. Geistes und der
b. Jungfrau. Amen. Jem-jin’s schreiben nicht. Sie sind müde und in Sorgen,
aber alle froh, dass ihr Vater nicht gestorben ist, sondern es lebt nur eine
von ihnen einstweilen wirklich und trauernd und frob, und in heissem
Leben und gedrückt vor Mühe und dem schwerlichen Druck allgemeiner
Hypnose.
yp Peter Ost-Kow Kwjat-ski-X. Rosowa und Chionia Jem-jin-Glusch-ski.
5. (An den Arzt) Peter Alexandrowitsch: Wollen Sie die Güte haben,
alle Aufzeichnungen der Besessenen an sich zu nehmen, die Sie von Dr. Ros-ow
aus Helsingfors, dem Mann Ihrer Patientin Chionia Alexandrowna Rosow,
erhalten werden u. s. w.
Es ist noch eine Prophezeiung Jesaias: tut den Willen des Herrn, und
Gott wird ihm helfen und, Du, Weib, wirst nicht sein, sondern seines Gottes
Weib sein.
Mönch fr.
Die Namen der Erleuchterinnen der Menschheit nach Wahl der vom
Lichte der Wahrheit Erleuchteten.
Unsere liebe und dumme und kluge, und kranke und gesunde Chionia
Jem-jina. — Du bist nicht Du, und ich nicht der, der da war und ist, ich
worde nur der sein, der Dich heute nehmen wird. Sein Name ist A. A. Kwjat-ski.
Dies ist ein Pseudonym, sein wahrer Name ist A. Kwja-ski nimmt
heute in den himmlischen Bezirk.
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des h. Geistes und der
h. Jungfrau. Amen.
Thre liebe Tochter Anitschka ist uns ein teures Kind. Wir wollen ihr
Glück und bitten Sie, am 30. August auf ihrer Hochzeit zu sein, Sie will
meinen Sohn Michael Kwja-ski heiraten.
A. A. Kwja-ski.
Ich könnte hier noch einen ambulatorischen Fall anführen,
den Dr. Pewnicki in unserer Klinik beobachtete und den ich
dann während der klinischen Vorlesung demonstrierte.
Es handelt sich dabei um ein Mädchen jenseits der Zwanziger, das
nach und nach anfangs Misstrauen, dann systematischen Verfolgungswahn
zeigte, in dem ihr Kirchspielsgeistlicher eine besondere Rolle spielte. Die
Zwangsbewegungen als Symptome von Geistesstörung. 213
Besonderheit dieser Kranken, die an Paranoia litt, bestand darin, dass ihr
Körper in zwei Hälften geteilt war, von denen die linke ihrer Schwester
ehörte, während die einzelnen Finger der rechten Seite als Mittel zum
erkehr mit dem Gemeindegeistlichen, ihrem eingebildeten Bräutigam, und
mit den nächsten Verwandten desselben dienten. Mit allen diesen Personen
unterhält sich die Pat. durch Vermittlung dieser Finger, die sich ihrer Angabe
nach ohne ihren Willen und rein automatisch bewegen. Die Unter-
redungen bestehen darin, dass die Pat. in Gedanken oder laut Fragen stellt,
welche durch automatische Bewegungen der Finger der rechten
Hand beantwortet werden. Je nachdem, welcher Finger eine Bewegu
ausführt, schreibt Patientin diese einer bestimmten Person zu, die mit ihr durc
Jie Finger der rechten Hand in Verkehr tritt. Bewegung der Finger bedeutet
Bejahung, Fehlen von Bewegung — Verneinung. Die Kranke demonstriert bereit-
willigst den Hergang bei solchen Unterredungen. Sie stellt laut irgend eine
Frage und wartet einige Zeit, ob nicht eine Bewegung des einen oder anderen
Fingers eintritt. In der Tat hebt sich nach einigen Sekunden ohne ihr Zutun
einer der Finger ihrer auf dem Knie ruhenden Hand, wobei die Kranke
bemerkt: „Nun sehen Sie, der Finger bewegt sich von selbst.“ Das soll
bedeuten, dass ihr Bräutigam sie liebt; die Bewegung des Fingers gilt ihr
als Antwort auf ihre an den Bräutigam gerichtete Frage. l
Ganz ähnliche Fingerbewegungen erfolgten auch auf andere Fragen,
und an den Bewegungen erkannte die Pat. die Antwort und den Antwort-
geber. Automatische Bewegungen des Kehlkopfes und der Zunge waren
nicht zu bemerken. Auch waren objektiv hinsichtlich der Funktionen des
Nervensystems und der inneren Körperorgane keine besonderen Erscheinungen
zu verzeichnen, abgesehen von gewissen Veränderungen der Sensibilität,
einer Herabsetzung des Rachenreflexes und einer gewissen Steigerung der
Patellarreflexe.
Andere Fälle mit den hierhergehörigen Erscheinungen werde
ich hier nicht ausführlich darlegen, möchte aber zwei weitere
Beobachtungen nicht unerwähnt lassen, wo ganz ähnliche auto-
matische Bewegungen ausserordentlich hervortraten.
Einer der Pat., der sich ebenfalls für h pnotisiert hält, sagt in seinen
Aufzeichnungen: „Ich habe durch eigene Erha rung gewisse Erscheinungen
der Hypnose kennen gelernt, wobei es möglich ist, Ferngespräche zu unter-
halten, von dem Hypnotiseur suggerierte Empfindungen und Gefühle in sich
anfzunehmen und manchmal sogar von ihnen beherrscht zu werden,
d. h. zu handeln gegen den eigenen Willen.“
Eine andere Pat., die an Gehörshalluzinationen leidet, erklärt, dass
siemanchmalaufihre Stimmen durch Gesten gegen ihren eigenen
Willen antwortet, als wenn irgend welche fremde Einflüsse ihre
Bewegungen beherrschten. |
Die hier erörterten Erscheinungen, gleichwie die ihnen ent-
sprechenden im Gebiete der Sprache, kommen in Wirklichkeit
nicht so selten zur Beobachtung, als es auf den ersten Blick
scheinen möchte. Sie können bei verschiedenartigen Psychosen
auftreten, die mit reichlichen Sinnestäuschungen einhergehen; bei
einigen Formen, insbesondere bei dem von mir beschriebenen
„hypnotischen Zauberwahn“, sowie bei den verschiedenen Formen
der hysterischen Besessenheit spielen sie eine hervorragende Rolle
in dem allgemeinen Symptomenkomplex. |
Was die psychologische Grundlage dieser Erscheinungen be-
trifft, so ist wohl nicht zu bezweifeln, dass es sich hier um Einflüsse
der sogenannten ausserbewussten Sphäre bezw. des Gemeinbewusst-
seins auf die Motilität handelt, was besonders bei der automatischen
214 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
Schrift deutlich ist). Ich bin der Meinung, dass das Stadium
der fraglichen Erscheinungen die Kenntnis jener eigentümlichen
sychischen Störungen, die auf dem Boden der Hysterie und Hystero-
Neurasthenie hervortreten, befördern wird. Zum mindesten ist
Grund zu der Annahme vorhanden, dass automatische Bewegungen
und automatische Schrift sowie die entsprechenden Erscheinungen
im Gebiete der Sprache, die als psychomotorische Halluzinationen?)
beschrieben sind, in der Entstehüngsgeschichte der verschiedenen
Formen der Besessenheit und des hypnotischen Zauberwahns einen
ganz besonders hervorragenden Platz einnehmen.
Da es für das Bewusstsein der Kranken klar ist, dass die
erwähnten Bewegungen ihnen nicht angehören, von ihnen nicht
direkt abhängen, sondern einer bestimmten fremden Gewalt unter-
worfen sind, so erscheint der Wahn der Besessenheit und Hypnose
Bowissormassen als notwendige Folgerung. Ebenso finden die
otteslästerungen der Besessenen im Namen des Teufels sowie eine
Reihe kirchenschänderischer Handlungen und dergl. m. eine unge-
zwungene Erklärung vom Gesichtspunkte automatischer Zwangs-
bewegungen, die sich im Zusammenhang mit dem Besessenheits-
wahn entwickeln.
Ueber die Abgrenzung und die Grundlagen der
Zwangsvorstellungen.
Von
Dr. M. FRIEDMANN,
Nervenarzt in Mannheim.
Ueber der wissenschaftlichen Erforschung der Zwangsvor-
stellungen hat ein sehr günstiger Stern bisher nicht gewaltet. Bis
vor wenig Jahren hatte man fast allerseits den Begriff unbesehen
ıns Weite wachsen lassen, ohne dass man sich bemühte, an Stelle
der scharfen Westphalschen Bestimmungen?) eine neue klare
Definition zu setzen. Was man nun Zwangsidee oder „Zwangs-
vorgang“ nannte, das schwankte in den weitesten Grenzen: die
einen, so namentlich Mendel und Hoche, hielten noch an der
ursprünglichen Fassung fest, so dass sie damit einzig einen for-
1) Vergl. W. Bechterew, Ueber das persönliche und Gemein-
bewusstsein. Westn. psichol. 1904.
3) J. F. Seglas, L’hallucination dans ses rapports avec la fonction
du language. Progrès méd. 1888. 83 und 34. Vergleiche auch F. Söglas
und P. Londe, Sur les hallucinations. Arch. de Neurol. 1892. 68 und 69.
3) Westphal, Ueber Zwangsvorstellungen. Berl. klin. Wochenschr.
1877. No. 46/47.
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 215
malen Denkzwang bezeichneten, dessen Inhalt oder Gegenstand
als widersinnig vom Patienten erkannt werden musste. Eine
zweite Gruppe, zu der ich mich selbst rechne, fügten die sogen.
Phobien und auch die weiteren Arten der Zwangsvorstellung
hinzu, bei welchen trotz des subjektiven Denkzwanges der Inhalt
der Idee dennoch dem Kranken belangreich erschien und wobei
primäre Affekte wesentlich mitwirkten. Die dritte Gruppe, dar-
unter namentlich viele französiche Autoren, fassten bekanntlich
den Zwangsvorgang stets als eine Aeusserung der Degeneration
und wiesen ihm jede Form von unorganischem Zwang zu, speziell
auch die impulsiven Triebe, die Tics, Angstanfälle, isolierte
Empfindungen und Halluzinationen.
Damit verschwammen zugleich die Grenzen gegen die echten
Intelligenzstörungen, die Wahnideen, und noch mehr gegen die
neue Schöpfung Wernickes, die überwertige Idee. Von
Merklin und mir selbst ab bis zu Tuczek und Heilbronner ist
namentlich die Scheidung von den mobilen oder oszillierenden
Wahnideen unsicher geworden, und das war auch im praktischen
Sinne vom Uebel, weil damit der Ruf von der prognostischen
Harmlosigkeit des Symptoms bedenklich ıns Wanken geriet. Der
„Uebergang“ in Psychosen ist nicht selten als keineswegs un-
gewöhnlich angesehen worden, und seit Wille galt die Zwangs-
idee ausserdem als ein gewöhnliches Symptom innerhalb der
regelrechten Psychosen, während noch Westphal geradezu die
Unversehrtheit der intellektuellen Verrichtungen als ihre Voraus-
setzung beansprucht hatte. Die Zahl der stets von einander
abweichenden psychologischen Deutungen des Zwangsvorganges
endlich wuchs allmählich ins Unübersehbare, wie dies ein Blick
in die umfassende historische Arbeit Wardas!) ohne weiteres
bezeugt.
o war wenigsten damals, vor 4—ö Jahren, die Sachlage.
Eine ganze Reihe von Debatten in deutschen und französischen
psychiatrischen Vereinen lehrte im wesentlichen nur das Obwalten
jener starken Differenzen in der Auffassung der Fachgelehrten,
aber ohne dass damit zugleich eine Klärung erreicht wurde. Dann
erschienen in rascher Folge die grossen Monographien von Janet?)
und Löwenfeld?), die genannte historische Abhandlung Wardas,
eine neue theoretische Untersuchung Fausers*) und endlich das
Referat Bumkes°) auf der letztjährigen Karlsruher Psychiater-
versammlung. Damit war fast mit einem Schlage wenigstens
nach einer Seite Klarheit in der Lehre geschaffen worden, welche
gerade hier noch allzusehr gemangelt hatte. Man besass wenigstens
eine Uebersicht über das inzwischen herbeigeschaffte äusserst
P} W. Warda, Zur Geschichte und Kritik der sogen. Zwangszustăndo.
Arch. f. Psych. Bd. 89. 1905. S. 284.
9 P. Janet, Les obsessions et la psychasthenie. 2. Bd. Paris 1903.
3) L.Löwenfeld, DiepsychischenZwangserscheinungen. Wiesbaden1904.
4) Fauser, Zur allgemeinen Psychopathologie der Zwangsvorstellungen.
Centralbl. f. Nervenheilk. No. 208. 1908.
s) Bumke, Was sind Zwangsvorgänge? Halle a.S. 19086.
216 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
reiche Tatsachenmaterial und über die weitverzweigte Fachliteratur,
während bis dahin fast jeder Autor seinen eigenen Weg wandelte
und zudem meist nur einen begrenzten Ausschnitt aus dem
Gesamtgebiete vor Augen hatte.
Ist aber damit eine grössere Einheit in der Behandlung des
Symptombegriffes erreicht worden oder kann sie nunmehr erreicht
werden? Der erste Eindruck, welchen man von der derzeitigen
Sachlage gewinnt, ist in der Beziehung nicht gerade ermutigend.
Die Monographien Janets und Löwenfelds gehen äusserlich
betrachtet in ihren Endergebnissen weit auseinander: dieser be-
schreibt ein Symptom von mehrfach verschiedener klinischer
Herkunft und ungemein wechselnder Gestaltung im einzelnen;
Janet dagegen schildert eine streng einheitliche Krankheit, die
Psychasthenie, von der zwar mehrere Entwicklungsphasen, nicht
aber verschiedene Formen existieren, und die als eine spezifische
Gattung der psychischen Degeneration anzusehen ist. Keiner von
beiden Autoren hat nach der Seite, wo das Fortschreiten am
meisten not tat, nämlich bezüglich der Um- und Abgrenzung der
Krankheitserscheinung, einen Wandel herbeigeführt. Beide über-
nelımen ohne allzuviel Bedenken die weiteste Fassung des Begriffes:
Löwenfeld nennt Zwangsvorgänge „alle psychischen Elemente,
welche der normalen Verdrängbarkeit durch Willenseinflüsse er-
mangeln“, und Janet erklärt noch unbestimmter die Zwangs-
krankheit, die Psychasthenie, für eine selbständige Neurose, bei
welcher die Herabsetzung der psychischen Spannung das
auszeichnende Merkmal darstellt. Warda endlich bringt als die
ziemlich karge Frucht seiner gewissenhaften historischen Kritik
nur das Ergebnis, dass in der Freudschen Angst- oder Zwangs-
neurose, in welcher eine geschlechtliche peinliche Vorstellung in
Angstgefühle ausmündet, die wahre Zwangskrankheit allein zu
finden sei.
Hatten nun seither die meisten von uns zu wenig darauf
geachtet, dass wir beim ferneren Aus- und Umbau des ursprüng-
lichen eng begrenzten Begriffes, wie ihn Westphal in seiner
berühmten Definition festgelegt hatte, die Grundlagen und die
Berechtigung zu der Erweiterung erst genauer zu untersuchen
hatten, so ist Bumke in dieser Kritik nach meiner Ueberzeugung
wiederum zu einseitig negierend vorgegangen. Dass er aber dies
getan, dass er auf den früheren Aeusserungen Hoches fussend
alle die vielfachen Gestaltungen desZwangsideenbegriffes beleuchtet,
die teils offenen, teils versteckten Abweichungen von einander
und von der Westphalschen Definition möglichst scharf hervor-
gehoben und die Unklarheiten darin aufgesucht hat, das ist ent-
schieden als ein Verdienst seiner Arbeit anzuerkennen, Aber sein
Schlussergebnis halte ich für bedenklich; allein die strenge Auf-
rechterhaltung sämtlicher Westphalscher Bestimmungen soll
einen klar abgrenzbaren Begriff des Zwangsvorganges ergeben,
jeder Versuch, eines jener Kriterien fallen zu lassen und damit
den Begriff selbst zu erweitern, müsse als gescheitert betrachtet
und die Grundlagen der Zwangsvorstellaungen. 217
werden; allenfalls noch könne man die verschiedenen sonstigen
Formen, welche unzweckmässigerweise als Zwangsvorgänge in
der Literatur figurieren, unter einem älteren, von Stricker ein-
mal gebrauchten Kennworte der dominierenden Vorstellungen
vereinigen.
Ist das nun wirklich der logisch gebotene Schluss? Hat
die heutige Lehre von den Zwangsvorgängen abgewirtschaftet,
hat sie glatt sich in Liquidation zu erklären, und muss sie wieder
von vorne anfangen, da, wo Westphal begonnen hatte? Ist es
denn wahr, dass nur die Ideen mit psychischem Zwang „for-
maler“ Art sich klar abheben von andersartigen psychischen
Störungen, und ist es denn überhaupt wahr, dass auch bei der
streng definierten Westphalschen Form nur ein formaler
Denkzwang herrscht? Diese letzteren Fragen werden uns später
beschäftigen; jetzt wollen wir nur sehen, wie Bumke zu seiner
negativen Entscheidung gelangt ist. Er hat sogleich — wie
wir übrigens alle in der Wissenschaft es machen — mit einer
bestimmten Voraussetzung oder Ueberzeugung sich an die Unter-
suchung begeben, er hat daher überall nur das Unzulängliche und
Missverständliche in den Begriffsbildungen herausgestellt; dagegen
hat er weder das Gemeinsame darin weiter verfolgt, noch hat er
gefragt, welche logische oder psychologische Bedeutung sowohl
die trennenden als die gemeinsamen Momente besässen. Und er
konnte gerade diese wirklich entscheidende Arbeit auch nicht
verrichten, weil sein Massstab stets und allein die Westphalsche
Definition war, die nun doch einmal nur eine empirische oder
Habitua-Beschreibung ist. Eine solche sagt uns aber nicht,
welche psychische Funktion gestört ist; und wie soll man darnach
sich z. b. klar machen, ob ein primärer Affekt verträglich oder
unverträglich ist mit dem echten psychischen Zwange? Warum
muss die Zwangsidee gerade als widersinniger und warum nicht
auch bloss als lästiger Eindringling dem Patienten erscheinen?
Gewiss ist es wahr, dass jeder Symptombegriff in letzter
Instanz auf Uebereinkommen beruht; aber um so mehr bedarf es
einer rationalen Unterlage dafür. Die psychologische Formu-
lierung indessen, ohne welche auch die Kritik der Lehre eine
unzulängliche bleibt, bedarf dabei gar nicht des Hypothetischen,
sondern nur einer hinreichend weit geführten Analyse der ge-
gebenen Erscheinungen. Und ist denn der Begriff des „psychischen
Zwaonges“ nnd noch mehr der des „formalen Denkzwanges“ nicht
schon eine solche psychologische Formel? Eben dieser Tatsache
verdankt er doch seın merkwürdiges Glück in der Wissenschaft.
Nur ist die Analyse hier noch gar nicht zu Ende geführt; nicht
diesem Umstande jedoch, sondern dem weiteren, dass ein derartiger
Zwang bei zu vielen psychischen Abnormitäten sich ereignet, ent-
springt es, dass in der Lehre von den Zwangsvorgängen die heutige
Krisis eingetreten ist. Schon lange hat man, bald klar. ausge-
sprochen, bald etwas verschleiert, noch eine zweite psycho-
logische Bestimmung hinzugefügt, und zwar diejenige, dass der
> m u pe e a e T r erg p Te S E E A EE TE O T A a, G
—e — — — — R _ AR Me TE a a e — — — — =
218 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
Zwangsvorgang gleichzeitig als ein Pfahl, ein „Fremdkörper“
im geistigen Getriebe sich darstellen muss. Diese zweite Formel
ist gewiss nicht streng wissenschaftlich gefasst; wendet man nun
aber beide Bestimmungen sinngemäss an, so wird man überrascht
sein, wie relativ glatt sich das Gebiet der Zwangsvorgänge auf
einen bestimmten Umkreis einengt.
Auf der einen Seite nämlich fallen damit aus dem Begriffe
alle jene Zwangshalluzinationen, Angstanfälle u. s. w. heraus,
denn es sind das alles zwar „Fremdkörper“ im geistigen Leben,
aber es mangelt ihnen der psychische Zwang. Auf der anderen
Seite zeigt sich uns die viel begehrte Grenzlinie gegen die mobilen
Wahnideen und die überwertige Idee; denn mögen diese auch
umgekehrt oft genug dem Träger sich mit peinlich gefühltem
Zwange aufdrängen (wir erinnern z. B. an eine hypochondrische
Syphiliphobie), so gelten sie doch jenem als „seine“ eigene Idee,
er selbst steht auf ihrer Seite, es sınd mit einem Worte keine
„lästigen Fremdlinge‘‘, keine Fremdkörper im geistigen Organismus.
In der Tat, wir können, wie ich glaube, nichts Besseres tun, als
eben jene psychologische Formel wissenschaftlicher zu gestalten
und zu begründen, und das soll sogleich von mir versucht werden.
Und in dieser Aufgabe finde ich zugleich meine Legitimation
dafür, dass ich heute schon wieder das Wort in der Frage der
Zwangsvorstellungen ergreife; denn wenn die ohnehin schon
genugsam im Fortschreiten gehemmte Lehre heute schon wieder
zum Stillstande verurteilt bliebe, so würde das für sie mehr be-
deuten als auf so manchem anderen Forschungsgebiete.
Wesentlich weniger verschlüge es, wenn unsere theoretische
Einsicht in die genetischen Grundlagen des Symptomes heute
noch so unsichere geblieben wären, wie die neuesten Kritiker es
annehmen. Aber ich kann auch das nicht zugeben: wenn einmal
erst feststeht, was ein Zwangsvorgang ist, so können wir hin-
reichend gut erkennen, wie er entsteht, bezw. wie er entstehen
kann. Denn es gibt kaum einen zweiten psychopathologischen
Prozess, der so sehr mit seinen Wurzeln in unser normales
Seelenleben hineinragt wie jener. Und wer die neuesten Unter-
suchungen aufmerksam vergleicht, dem kann es nicht entgehen,
dass sowohl Janet als Löwenfeld, ich selbst und Fauser sich
in ihren wesentlichsten Anschauungen immer mehr einander ge-
nähert haben. Gelernt aber haben wir alle durch die positive
Arbeit sowohl wie durch die Kritik, und so wird eine heute vor-
getragene Theorie sich immerhin in manchem Punkte von der
eigenen früheren Anschauung unterscheiden. Und auch eine
Klärung in diesen theoretischen Fragen kann ich nicht für neben-
sächlich halten. In allen anderen Wissenschaften hat man das
Streben nach theoretischen leitenden Gesichtspunkten wieder in
sein altes Recht gesetzt; es wäre wunderbar, wenn die Psychiatrie
darin zurückstehen würde. Und gerade die Zwangsvorstellung
nähert sich fast am meisten einem natürlichen Experimente, in
welchem die wichtige Frage entschieden wird, wie und wodurch
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 219
der logische Abschluss der Urteilsfunktion vollzogen, bezw. ver-
eitelt wird.
1. Ueber die Abgrenzung des Begriffes der Zwangsvorstellung.
Es ist wohl theoretisch klar, welche Bedingungen für eine
Einigung zu stellen sind, welche die Grenzen des Geltungsbereiches
bezüglich des Begriffes „Zwangsvorstellung“ oder „Zwangsvorgang“
abstecken soll: man muss 1. wissen, welche Störungen man über-
haupt unter dem Begriff des psychischen Zwanges umfassen
will, und 2. müssen durch fernere Kriterien unter den ver-
schiedenen Störungen, welchen ein psychischer Zwang beiwohnt,
diejenigen ausgeschieden werden, bei welchen die anderweitigen
Eigenschaften wichtiger sind als jenes zwangsmässige Auftreten.
Erfahrungsgemäss aber geraten wir in solchen terminologischen
Konflikt hauptsächlich bei den ausgeprägten Urteilstäuschungen,
der überwertigen und der Wahnidee, ferner etwa noch bei der
Erwartungsangst der Melancholischen. Gerade die merkwürdige
Tatsache, dass es einen krankhaften Zwang gibt, abnorme Vor-
stellungen fort und fort zu denken, ohne dass darum das Urteil
darüber beeinträchtigt war, sollte mit dem Namen der Zwangs-
idee festgestellt werden.
Man erkennt aber damit sofort, dass die an sich so wichtige
und schöne Unterscheidung keine absolut scharfe sein kann; denn
die Gewissheit jedes Urteils schwankt in weiten Grenzen, sie
kann unbedingt, zweifelhaft oder ganz unsicher sein; und wo
findet sich dann im letzteren Falle die Trennung vom einfachen
„lebhaften Darandenken“? Wir werden das gleich noch besser
begründen können; jetzt sollte nur gesagt sein, dass vorhandene
„Uebergänge“ zwischen Zwangsidee und überwertiger Idee nicht
etwa in einer Schwäche der Definition an sich, sondern in der
Natur der Sache gelegen sein können und werden. In der Haupt-
sache indessen wollen wir mit dem Namen Zwangsidee eine
solche belegen, deren wesentliche Abnormität gerade in
dem ihr eigentümlichen Denkzwange sich ausspricht.
Mit den obigen zwei Bedingungen ist der Gang der Unter-
suchung gegeben. Indessen kann sich deren erster Abschnitt
sehr einfach und kurz erledigen, und hier kann sich die Einigun
fast ohne Schwierigkeit erzielen lassen. Hoche!) und Bumket)
haben, darin bin ich durchaus gleicher Meinung, mit Recht ge-
sagt, dass der Begriff des psychischen Zwanges entweder irr-
tümlich verkannt oder bis zur Unkenntlichkeit erweitert wird,
wenn die französischen Autoren, Löwenfeld und Andere, auch
jene Störungen darin einbezogen hatten, welchen nichts als ihr
Erscheinen gleich „Fremdkörpern“ im geistigen Getriebe eine
1) Hoche, Ueber Zwangsvorstellungen. Neurol. Centralbl., 1899, S. 1185,
und derselbe, Handb. d. gerichtl. Psychiatrie. Berlin 1901. S. 506.
2) Bumke, Was sind Zwangsvorgäuge? Halle a. S. 1906.
220 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
besondere Eigenart verlieh. Was ist psychischer Zwang?
Westphal hatte ıhn so beschrieben, dass Vorstellungen „wider
den Willen der Person in den Vordergrund des Bewusstseins
treten, sich nicht verscheuchen lassen und den normalen Ablauf
der Vorstellungen hindern“. Ueberträgt man diese Definition
noch auf andere psychische Elemente, so müsste noch hinzugefügt
werden, dass es solche sind, deren Auftreten und Andauer der
normale Mensch zu beherrschen und zu regulieren imstande ist.
Denn nur dann kann von einem Zwange gesprochen werden.
Niemand bezeichnet es als einen Zwang, wenn sein Bein von einem
Krampf erfasst wird, wohl aber dann, wenn jemand es angebunden
hat. Reine „Zwangshalluzinationen“, „Zwangsempfindungen“,
„zwangsmässige“ Angstanfälle und Muskelzuckungen (Tic’s) gibt
es daher nicht. Darüber ist schon von Hoche und in anderem
Sinne von Löwenfeld und Janet reichlich gehandelt worden,
so dass sich näheres Eingehen hier erübrigt.
Ebenso klar ist es aber auch, dass die monomanischer
Triebe, die Impulse zum Diebstahl, Brandstiftung, sexuellen
Perversitäten, zum Davonlaufen u. s. f., keine Zwangstriebe sind.
Weder der „Drang“, ihnen nachzugeben, die „Erleichterung“ nach
ihrer Ausführung, noch auch ihr gewöhnliches Vorkommen bei
sychisch Entarteten sind in jenem Sinne geltend zu machen.
Denn ein „Zwang“ existiert auch hier nicht; der einzige vor-
handene Zwang liegt gänzlich ausserhalb des Subjektes, und
zwar gewöhnlich im Strafgesetzbuch. Dem Träger des Triebes
liegt dieser gerade so „im Blute“, wie z. B. der normale Ge-
schlechtstrieb, sein Sinnen und Trachten identifiziert sich mit
ihm, ja er ist ihm direkt „überwertig“ geworden. Nur insofern
können auch diese krankhaften Triebe in der Art eines „Fremd-
körpers“ in der Willenssphäre uns erscheinen, als Anknüpfungs-
pun te und Motive für ihre Entstehung häufig nicht zu er-
ennon sind.
Wir sprechen somit von „psychischem Zwange“ nur da,
wo der in der Norm vorhandene, bezw. sich geltend
machende Einfluss des Subjektes auf das Auftauchen
und Beharren psychischer Vorgänge gehemmt und über-
wältigt wird. Ob dies infolge einer besonderen Geltung oder
Kraft der Vorstellung, resp. des betreffenden Vorganges oder aber
infolge einer Schwäche der regulierenden Kraft des Subjektes oder
endlich durch beides zusammen geschieht, dies zu entscheiden,
ist Sache späterer theoretischer Untersuchung.
Wesentlich komplizierter gestaltet sich die Untersuchung
der zweiten Bedingung, resp. des zweiten Problemes: Wie
lassen sich diejenigen Vorstellungen (und Impulse), bei welchen
der psychische Zwang das wesentliche und ausschlaggebende
krankhafte Moment darstellt, trennen von anderen, bei welchen
zugleich eine ausgeprägte abnorme Urteilstäuschung stattfindet?
Eine befriedigende Lösung dieses Problems scheint mir nicht
wohl möglich, wenn man nicht dabei den Wernickeschen Be-
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 221
griff der überwertigen Ideen einführt und somit anerkennt.
Er ist nicht identisch mit dem — ohnehin überflüssigen — neuen
Kennworte der dominierenden Ideen; denn Wernicke wollte
damit die Tatsache bezeichnen, dass einzelne Vorstellungen mit
einer gewissen Unvermitteltiheit übermächtig im Denken und
Fühlen der Personen werden, und zwar infolge pathologischer
Ursachen. Sowohl der Erfinderwahn und viele Gestaltungen des
Eifersuchtswahns und des Querulantenwahns, als die weit über-
triebene Furcht vor der Syphilis und Hundswut, die lähmende
Angst vor einer eingetretenen neuen Schwangerschaft, die un-
motivierte Öperationswut mancher Hypochondrischen sind Bei-
spiele der überwertigen Idee. Ein gewalttätiger Denkzwang
kommt vielleicht der Mehrzahl unter allen zu, sie sind nicht ohne
weiteres von den Zwangsideen zu trennen und sind in der Tat
sehr oft dazu gerechnet worden. Selbstverständlich ist ein starker
Affekt stets mit ihnen verbunden.
Die Wahnidee hingegen unterscheidet sich ziemlich glatt von
der Zwangsvorstellung dadurch, dass erstlich hier eine fertig
vollendete Urteilsassoziation gebildet ist, und dass zweitens
ausser der betonten Wahrnehmung oder Vorstellung noch ein
zweites falsches Element hinzutritt, welches der Kranke aus
eigenem hinzufügt. Der Idee, eine Suppe könne vergiftet sein,
verbündet sich die generelle Wahnidee des Patienten, das sei die
Folge einer planmässigen Verfolgung durch die oder jene Person.
Der psychologische Vorgang ıst dabei der der „Eingebung“,
d. h. die gedachte Idee ist sofort wahr und real für den
Patienten, er weiss oder fühlt z. B., dass die oder jene Person
ihn durch Anspielungen verfolgt. Bei der überwertigen Idee
dagegen besteht nur ein starker und leidenschaftlicher
Glaube.
Die Sachlage scheint also damit in einfachster Weise ge-
klärt zu sein, denn es ist doch offenkundig, dass jeglicher Zwangs-
vorgang, wie weit man auch seine Grenzen stecken mag, kein
abgeschlossenes Urteil darstellt, und noch dazu ein solches, welches
in ein allgemeines Wahnurteil eingefügt wird. Und gleichwohl
treffen wir hier auf den eigentlichsten Zankapfel in der ganzen
Lehre. Hat man doch uns, die wir früher eine innere Verwandt-
schaft zwischen Zwangsidee und Wahnidee behauptet hatten,
manchen Ortes beinahe Unwissenschaftlichkeit vorgeworfen (so
z. B. Warda), und hatte doch andrerseits noch Löwenfeld an-
genommen, dass auch heute scharfe Grenzlinien hier nicht leicht
zu finden seien.
An welcher Stelle aber liegt die Schwierigkeit? Hebt man
wiederum auf die beiden Elemente in der Definition ab, den
Denkzwang und das Auftreten der Idee als Fremdkörper,
so hat man sich zunächst oft bemüht, den ersteren innerhalb der
Zwangsvorstellung als andersartig zu schildern wie in der Wahn-
idee. Das will aber nicht recht stimmen; es gibt z. B. sensitive
Paranoiker, welche die Angst vor den „Verfolgungen“ auf der
222 Friedmann, Ueber die Abgrenzung `
Strasse kaum auf Momente aus ıbrem Bann entlässt; und sicher
nicht minder bedrängen viele melancholische Wahnideen ihren
Träger, etwa die, ein altes Verbrechen begangen zu haben, für
welches der Staatsanwalt nun Sühne heischen wird. Das ist eben
die „Erwartungsangst“, welche mit Recht in der neueren
Lehre eine Rolle zu spielen begonnen hat. Nun kann aber zweitens,
zu Beginn vieler Psychosen insbesondere, das Wahnurteil ein un-
sicheres und schwankendes sein, der Wahn ist dann noch mobil
oder oszillierend. Und vor allen Dingen verhalten sich so die
überwertigen Ideen, ein Eifersuchtswahn, eine Schwangerschafts-
furcht! Oder ganz vorübergehende abnorme Vorstellungen, wie
die folgende: Eine zweifellos kluge Dame bekommt es plötzlich
mit der Angst zu tun, ob sie ihre Tochter versorgen, verheiraten
könne. Sofort folgt die ganz unbegründete Idee, sie brauche zu
viel im Haushalte und ibr Mann verdiene nicht genug. Sie wagt
mit einem Male auch kleine Rechnungen nicht mehr zu bezahlen,
obwohl sie das Geld ın Händen hat, weil „es nicht mehr reicht“.
Sie weint und jammert halbe Tage darüber, aber nachdem eine
Unmenge von Oxyuren durch Clysma entleert ist, schwindet nach
wenigen Tagen das ganze Ideengebäude plötzlich, wie es ge-
kommen war. Was lag hier nun vor? War es eine zwangsmässige,
überwertige oder Wahnidee? Man erkennt sofort, es ist der be-
sondere Inhalt des Gedankens, welcher diesmal die Entscheidung
erschwert.
Und offenbar darum haben Mendel»), Hoche und Bumke
das strenge Zurückgehen auf den ursprünglichen Westphalschen
Begriff gefordert. Hier war ausdrücklich gesagt, dass „der Be-
fallene die Vorstellung stets als abnorm, ihm fremdartig anerkennt
und dass er ihr mit seinem gesunden Bewusstsein gegenübersteht“,
So liessen sich anscheinend die Intelligenzstörungen in die zwei
grossen Gruppen der „inhaltlichen“ und der „nur formalen“
törungen reinlich scheiden. . Und dass ein starkes praktisches
Bedürfnis, ja auch ein theoretisches in diesem Sinne spricht, ist
zweifellos.
Indessen diese Aufstellung ist nicht richtig, das hoffe ich
alsbald zu zeigen, und dann ist auch die strenge Ausschliesslich-
keit des ganzen Zwangsideenbegriffes nicht mehr vonnöten. Die
Westphalsche Beschreibung nämlich ist ganz korrekt, sie ist
äusserst präzis sogar gefasst — aber sie ist unvollständig,
auch für die Fälle, weiche er im Auge hatte. Der Denkzwang
in der sogenannten „echten“ Zwangsidee ist kein bloss formaler,
vielmehr liegt da ein ganz eigenartiger und psychologisch sehr
interessanter Zustand des Denkens vor, welcher von Janet bereits
leidlich gut beschrieben wurde, auf welchen auch Bumke anspielt,
wenn er von den Handlungen spricht, welche sich oft den Zwangs-
vorstellungen anschliessen, ein Zustand, der aber doch im ganzen
etwas wenig beachtet und untersucht worden ist.
1) Mendel, Ueber Zwangsvorstellungen. Neurol. Centralbl. 1898. No. 1.
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 223
Führen wir zunächst zwei Tatsachen hier an: Es muss jedem
Beobachter erstlich auffallen, dass der geistige Zustand, welcher
die „echte“ Zwangsvorstellung erzeugt, doch übermässig häufig
auch zugleich die Zwangsvorstellungen der Furcht und Sorge
ins Dasein ruft, welche der Patient keineswegs als ihm „fremd“
oder gar als blos erzwungen (d. i. also = formal) ansieht. Ein
Herr, den der „sinnlose“ Gedanke verfolgt, es könne Feuer aus
seinem Arme \herausschlagen oder er habe Maikäfer verschluckt,
quält sich ausserdem noch viel mehr durch die Idee, er werde
plötzlich verrückt werden. Eine Dame, welche sich in von ihr
verabscheuten Verwünschungen gegen ihre liebsten Angehörigen
ergehen muss, fürchtet ebenso zwangsmässig jede Krankheit, von
welcher sie gerade hört, sie entsetzt sich beim Anblicke jedes
Leichenzuges und muss sich vorstellen, dass es ihr bald ebenso
ergehen wird, Dieser Tatbestand ist alltäglich, weitere Beispiele
erübrigen sich daher.
Dass ferner der Inhalt der Vorstellung nicht gleichgültig
ist, wurde von mir schon früher dadurch belegt, dass keineswegs
jede Idee zum Zwangskurse gelangt. Vor allem fehlt in dem
nventar die gewöhnlichste Gattung, die einfache Erinnerung,
und mag sie auch so grässlich sein wie der unvermutete Anblick
eines — fremden — Selbstmörders. Nach relativ kurzer Zeit
kommt er nur wieder ins Bewusstsein, wenn er assoziativ
herbeigerufen wird, also im legalen Wege. Nur wenn sich Sorgen
oder Befürchtungen hinzugesellen, z. B. schon die Idee, jenes
Ereignis habe auf die Gesundheit des unfreiwilligen Zeugen schäd-
lich eingewirkt, dann kann auch der erinnerte Vorgang sich
dauernd und wider Willen der Person eindrängen. Merkwürdig
bleibt es des weiteren auch, dass die bekannten „normalen“
Zwangsvorgänge, nämlich die lästigen Erinnerungen an gewisse
Melodien (Gassenhauer) oder an Verse sich so relativ selten
pathologisch verstärken und speziell dass sie kaum je als „Neben-
produkt“ neben den charakteristischen Zwangsvorstellungen ge-
klagt werden. Aus diesen Tatsachen geht zunächst soviel hervor,
dass bei den letzteren wohl mehr vorliegen muss, als ein einfacher
Erinnerungszwang, und das liegt ja eigentlich schon in dem
Begriffe „Denken“ = Reflektieren, in dem Worte „Denkzwang“.
Unsere Patienten indessen sind vollsinnige, oft sogar entschieden
kritisch veranlagte Menschen; sie können uns daher selbst sagen,
wie sie sich ihren Ideen gegenüber stellen.
Nehmen wir also eine Anzahl von Beispielen vor, und zwar
solche, welche den Westphalschen Forderungen entsprechen: ein
junger Patient Thomsens!), vom 13. Jahre ab erkrankt, hat
neben vielen anderen Zwangsideen und Schrullen den Trieb, dass
alles nach den Zahlen 8 und 7 sich richten, z. B. eine Person
3 mal anklopfen, 3 mal grüssen musste. Erreichte er das nicht,
1) Thomsen, Klinische Beiträge zur Lehre von den Z
stellungen. Arch. f. Psychiatrie. Bd. 27. 1895. S. 819.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helft 3. 15
wangsvor-
224 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
so war er ganz ausser sich, denn jetzt „müsse etwas Böses-
passieren“. — Ein geistig sehr begabter, im Leben auch sehr
erfolgreicher Herr bekommt in einem Stadium von (periodischer)
Depression eine grosse Zahl von Zwangsideen, besonders der
Irrtumsfurcht; darunter drangsaliert ihn die folgende besonders
lange und intensiv: er hatte auf den Scherz seines Privatgehülfen
beim Abschneiden seiner Coupons geantwortet: „Ich wünsche Ihnen,
dass Sie auch einmal so viele für sich abzuschneiden haben, wie
jetzt.“ Bald hinterher kommt ihm der Gedanke, er könne damit
dem Gehülfen sein Vermögen angeboten und so, wenn dieser das
ausnutze, sich und seine Familie an den Bettelstab gebracht
haben. Obwohl er gleichzeitig sagt, der Gedanke sei unsinnig,
wiederholt er doch immer wieder, es „könne“ doch etwas daran
sein, und er geht deshalb mehrmals zum Rechtsanwalt, von dem
er (mit einigen Verschleierungen vorsichtshalber) sich den Fall
rechtlich erläutern lässt, und er sichert sich für alle Fälle noch
ein ärztliches Zeugnis, um damit beweisen zu können, dass er
bei einer unvorsichtigen Aeusserung nicht festgehalten werden
könne. Er ist übrigens ziemlich geizig. — Eine dritte Kranke,
eine ältere, um ihre Familie sich sehr sorgende Dame, gehört zu
den durch Kontrastideen gequälten Patienten; wenn ihre Schwester
weggeht, kommt ihr der Gedanke: „Wenn du doch die Treppe
hinabfielst und dir das Genick brächest*, oder wenn ihr Mann
eine Reise antritt: „Wenn doch der Zug zusammenstiesse und
du dabei zugrunde gingest“. Von dem Momente ab, bis sie wieder
die betreffende Person gesehen hat, wartet sie förmlich mit Ent-
setzen auf das Telegramm oder die Hiobspost, welche ihr das
angewünschte Unglück als geschehen verkünden wird. Dabei ver-
zehrt sie sich vor Angst und Selbstvorwürfen, weiss aber ganz
gut, dass ihre Ideen krankhaft und das strikte Gegenteil ihrer
wahren Gedanken sind. — Ganz ähnlich geschieht es einer be-
gabten, aber übermässig gewissenhaften Bureaugebülfin; nachdem
sich ihre Irrtumsfurcht allmählich so gesteigert hat, dass sie jede
Rechnung mehrmals nachsehen muss (obwohl sie noch nie ernst-
hafte Fehler gemacht hat) und dass sie sich dabei förmlich auf-
reibt, überfällt sie schliesslich der Gedanke: „Es hat ja alles
keinen Zweck, du machst lieber gleich absichtlich Fehler.“ Und das
erst schlägt dem Fass den Boden aus, ihre Kraft erlahmt unter
dieser Idee, und sie nimmt einen mehrmonatlichen Urlaub.
Der fünfte Fall betrifft eine von Zwangsideen aller Art
heimgesuchte, sonst aber verständige und tätige Dame, deren
Mann an einer sehr schmerzhaften Gehirngeschwulst erkrankt und
gestorben war. Dieses Schicksal hätte sie mit Fassung getragen,
wenn sie Ruhe vor der sie andauernd bedrängenden Vorstellung
gefunden hätte, dass sie selbst Schuld an der Erkrankung habe,
dadurch, dass sie „einmal“ im Scherz einen Schlag nach dem
Ohre ihres Gatten geführt hatte. Keine noch so nachdrückliche
Versicherung meinerseits, dass ihr Gedanke unsinnig sei, wirkt
länger als einen Tag, und sie muss Monate hindurch stets von
nnd die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 225
mir die gleiche Tröstung sich holen. — Wegen des lehrreichen
Gegensatzes sei eine nicht ganz „echte“, nämlich hypochondrische
ldee hier noch angefügt: ein 45jähriger Herr ist zugleich von
nicht unerheblicher chronischer Nephritis und von einem viel-
jährigen harmlosen Kältegefühl am Knie affıziert. Während er
sich mit der ernsten Nierenkrankheit längst abgefunden hat, bringt
ihn das ewige Denken an jene Parästhesie dermassen in Ver-
zweiflung, dass er nur mit Mühe sich davon zurückhält, Selbst-
mord zu begehen.
Dass noch weit unsinnigere Dinge bei geistig völlig normalen
Personen vorkommen, ist bekannt, und ich erwähne nur noch
erstlich eine Dame, welche keine Ruhe fand durch den Gedanken,
sie hätte die Untaten des vor dem Aufsehen erregenden Prozess
ihr ebenso unbekannten Diebold, wie er es uns allen war (er hat
bekanntlich seinen Zögling infolge sadistischer Neigungen zu Tode
gequält), verhüten können und müssen, und zweitens ein Fräulein,
das sich einbilden musste, es werde ein Nachbarkind aus dem
Fenster fallen, wenn sie das Haus verlasse. Anlass war, dass sie
in einem solchen Momente Zeugin eines derartigen Unglücks hatte
sein müssen.
Nun wird ja wohl niemand bestreiten, dass alle diese Ideen
keineswegs bloss formal, sondern von allem Anfange an stark
inhaltlich wirken. Man hat aber bisher sich regelmässig ge-
sagt, der Patient ist sich ja hier bei ihrer Fremdartigkeit und
Unsinnigkeit vollkommen klar darüber, dass dies bloss Phantome,
Gespenster sind, Dinge, welchen nicht mehr Realität zukommt,
als den Trauerspielen im Theater. Und ich gehe wohl nicht
fehl in der Annahme, eben dieses wichtige Experiment, wo alle
Tage die Zuschauer in jede Art von Ergriffenheit versetzt werden,
habe auch die Anschauung der Wissenschaft geleitet. Stimmt
aber die an sich naheliegende und schöne Analogie wirklich?
Besitzt auch der Träger der Zwangsidee gleichzeitig die ruhige und
zweifellose Ueberzeugung resp. Kontrastvorstellung, dass seine Idee
ebenfalls nur ein „Spielen“ oder allenfalls ein „Selbstbetrug“ sei?
Das ist gerade zu beweisen, fest steht es keineswegs. Und des-
halb auch musste ich die Belegfälle vorführen, um zu zeigen, dass
der Patient die Sache viel erusthafter nimmt als einen blossen
Selbstbetrug; jener Herr, ein hervorragender Kaufmann, befragt
den Rechtsanwalt und Arzt und ist nicht nur in Unruhe, sondern
in wahrer Sorge; jene Dame „glaubt“ förmlich an die Wirkung
ihrer Verwünschungen, die bedauernswerte Gattin sieht sich halb
und halb als unfreiwillige Mörderin ihres Mannes und der Patient
mit der hypochondrischen Idee, der eine Rückenmarkskrankheit
ins Auge gefasst hatte, stand nahe vor dem freiwilligen Tode.
Und dennoch liegt natürlich kein bejahtes Urteil vor, alle Patienten
wissen gleichzeitig, dass alles „Einbildung“ ist, oder sie neigen
wenigstens zu dieser Meinung.
Was liegt also vor? Wir besitzen im normalen Geistes-
leben nun in der Tat, wie ich meine, treffende ‚Analogien, und
15%
226 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
ohne solche würde uns das Verständnis kaum möglich sein. Das
Bild eines teueren Angehörigen falle unversehens von der Wand
herab, und zwar eines solchen, der in der Ferne weilt und um
den wir uns bangen. Wird es viele Personen geben, die
dann nicht unwillkürlich von der ganz ernsthaft aufgefassten
Idee beunruhigt werden, dass das Ereignis „etwas bedeute“,
dass jenem Angehörigen etwas zugestossen sei? Und wird nicht
dennoch heutzutage die Mehrzahl aller Gehildeten sich „gleich-
zeitig“ sagen, das sei Unsinn, Ahnungen gebe es nicht? Es
gehe jemand, der es nicht gewohnt ist, um Mitternacht über einen
Friedhot; jedes eigentümliche Geräusch wird ihm eine wahre Ge-
spensterfurcht einflössen, mag er auch sonst ganz frei von Aber-
glauben sein. Eine unerwartete Reise eines hochstehenden Staats-
mannes oder Fürsten erfolge in etwas unruhigen Zeitläuften; die
meisten werden die etwaige tatsächliche und einfache Erklärung,
z. B. eines Höflichkeitsbesuches, nicht glauben, wenn auch die
Tatsachen dafür sprechen. Die Reise muss „etwas Besonderes
bedeuten“. Ein ferneres schönes Beispiel ist der Aberglaube
vom „bösen Blick“ beim niederen Volke; der scharfe Blick des
anderen erweckt den Eindruck der Lästigkeit und muss daher
Unglück für den Angeschauten bedeuten, auch wenn er nicht ver-
steht, wie das zusammenhängt. Und der ganze religiöse Glaube
bei gebildeten Personen zeigt häufig dasselbe „Zugleichsein“
von Bejahung und von logischem Widerspruch. Credo quia
absurdum, sagte bekanntlich Tertullian, den Sachverhalt stolz
noch übertreibend.
Der Tatbestand ist also der: Vorstellungen, welche
lebhaft betont sind,abernicht logisch verstanden werden,
erhalten die logische Position einer erhöhten Bedeutung.
Im Anfange vieler Psychosen, wo sich das Unbegriffene häuft,
sind auch die Wahrnehmungen, welche „etwas Besonderes be-
deuten“, in grosser Zahl vorhanden. Jener Knabe, welcher die
Zahl 3 oder 7 verlangte, musste sich ja denken, es bedeute
etwas Schlimmes, wenn sie nicht eintraten. Die gewöhnlichste
Form der „erhöhten Bedeutung“ ist aber die, dass an die Tat-
sächlichkeit „geglaubt“ wird. Dieses Glauben ist aber in solchen
-Fällen, welche nicht durch ein Dogma oder die allgemeine
Denkart im Volke gestützt werden, immer begleitet von der Idee
des logischen Widerspruches. Besonders schöne Beispiele dafür
gewähren uns die merkwürdigen und nicht gerade seltenen Ge-
staltungen der Zwangsidee, welche die Form der plastischen Er-
innerungstäuschung gewinnen: Jene Dame, welche den Tod
des Mannes verschuldet haben wollte, sah als Kind von 14 Jahren
zu, wie ein Schulmädchen einem andern einen Pumpstock so
heftig gegen die Stirne stiess, dass dieses bewusstlos liegen blieb.
Sofort rennt sie bestürzt nach Hause und ruft ihren Eltern zu:
„Verbergt mich, ich habe das Kind N. N, totgeschlagen.“ Sie
glaubte das wirklich. Ein tüchtiger Schullehrer, der mit vielen
anderen Zwangsideen behaftet war, glaubte immer, die Untat
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 227
selbst begangen zu haben, welche in der Nähe passierte. Oder
gar, als ein Epileptischer vor seinen Augen ins Wasser fiel und
von ihm gerettet wurde, glaubte er, er selbst habe ihn hinein-
gestossen. Jeder Gendarm, den er zu solchen Zeiten sah, flösste
ihm dann Schrecken ein. Häufig suchte er vorsichtig heraus-
zubekommen durch Fragen bei Bekannten, ob irgend ein Miss-
trauen oder Verdacht gegen ihn vorliege.
Wir sind durchaus nicht berechtigt, die absolut sichere An-
gabe dieser geistesklaren und verständigen Personen in Zweifel
zu ziehen, dass ihnen die Wirklichkeit ihrer Selbstanklage „inner-
lich feststehe“ zu ihrer eigenen Pein, obwohl sie zugleich aus lo-
gischen Gründen dem widersprechen müssten !). Und vollends nach
den berühmt gewordenen Versuchen Sterns über die „Psychologie
der Aussage“ wissen wir ja auch, wie leicht Erinnerungstäuschungen
bei normalen Personen zustandekommen, wenn sie sich den Vor-
gang lebhaft vorstellen. Bedingung in jenen Fällen ist stets, dass _
die ganze Situation den Patienten vertraut ist, insofern die Er-
eignisse an Orten passiert sein müssen, welche jene genau kennen,
oder als die Dinge gar in ihrer Gegenwart geschehen.
Wollen wir den gesamten psychologischen Zustand bei
diesen Zwangsvorgängen genauer bezeichnen, so müssen wir sagen,
dass es ein Wettstreit ist zwischen der innerlich geglaubten
oder lebhaft vorgestellten Wirklichkeit des Sachverhaltes
oder der Richtigkeit einer Annahme und zwischen der daneben
ım Bewusstsein stehenden Verneinung aus logischen
Gründen.
Das begleitende starke Gefühlsmoment und die starke
Betonung der Vorstellung sind es, welche dem Glauben und der
Bejahung zu grunde liegen, während das wohlerhaltene kritische
Vermögen sich dennoch nicht unterdrücken lässt. Das Beispiel
der Ahnung bei dem herabgefallenen Bilde veranschaulicht uns
den seelischen Zustand; es zeigt uns auch, dass ein solcher
Wettstreit keineswegs identisch ist mit dem Zustande, den wir
als Zweifel bezeichnen. Janet hatte nicht vollkommen richtig
hier von einem nicht fertig vollzogenen, einem unvoll-
ständigen Urteile gesprochen, aber richtiger gesagt, dass es ein
„état intermédiaire“ sei in der Mitte zwischen Bejahung und Ver-
neinung. Auch das trifft aher nicht ganz zu, es ist eben ein
Wettstreit, ein Zwiespalt. Was Janet ausdrückte, ist eher ein
Zweifeln, eine Unentschlossenheit.
Jener Kaufmann glaubte gleichzeitig an die reale Gefahr
durch seinen unvorsichtigen wohlwollenden Wunsch und wusste
logisch, dass der Glaube nicht haltbar sei. Auf sein Gemüt aber
wirkte der Glaube ein. Deshalb aber bedürfen diese Personen
der stark negierenden Versicherungen durch andere. Sie wollen
den anderen glauben, und der eine Glaube soll den anderen
1) Ueber den Unterschied von der Pseudologia phantastica vergl.:
Köppen, Ueber die pathologische Lüge. Charit6-Ann. II. 1898. p. 1154
228 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
aufheben. An und für sich aber ist natürlich die allgemeine
Wirkung dieser Zwangsideen mit ihrem unaufbörlichen Konflikte
zwischen Glauben und logischem Widerspruche in keiner Weise
zu vergleichen mit einer tatsächlichen gleichartigen Sorge oder
gar mit dem fertig vollzogenen Wahnurteile ähnlichen Inhaltes.
Insbesondere beschränken sich die Abwehrmassregeln gewöhnlich
auf das, was sich ohne die Gefahr der Lächerlichkeit oder eines
Schadens ausführen lässt, also z. B. auf „vorsichtige“ Erkundigung,
Fragen bei Vertrauenspersonen oder auf einige sonderbare Pe-
danterien, wie sie Janet unter dem Namen der „Manie de? au
delà“, d.h. der Uebertreibungsmanie, zusammengefasst hat.
Dass aber diese Konsequenzen auch fast bis zur Zerstörung des
Lebensinhaltes gehen Fonnen, das lehrt der bekannte Fall von
Jahrmārker’) und auch ein solcher von Tuczek 3).
Dass ferner auch der permanente Denkzwang an sich die
Patienten heftig bedrängt und erschüttert, wird natürlich durch
alle unsere Ausführungen nicht in Zweifel gestellt. Aber weil
dies schon feststeht, brauchte nicht weiter darauf eingegangen zu
werden. Zu begründen war die fernere Tatsache, dass auch der
Inhalt keineswegs gleichgültig ist und dass er fast ebensosehr
in die Wagschale fällt, und zwar auch bei den „widersinnigen“ Ideen.
Die ganze Erörterung besitzt aber nebenher ein nicht ge-
ringes Interesse für die theoretische normale Psycho-
logie. Die Wissenschaft kann kaum ein reineres Experiment
erfinden, welches den logischen Wert erkennen lassen soll, den
stärker betonte Vorstellungen unabhängig von den zage-
hörigen Motiven (oder associativen Verknüpfungen) und sogar ım
Widerspruche mit diesen subjektiv, d. h. im Subjekte, erlangen.
Das Experiment ist reiner als das der Suggestionsversuche
und drastischer als die Fälle von Ahnungen und des Aber-
glaubens. Wir sahen also, dass ein direkter instinktiver Trieb
besteht, die betonte Vorstellung auch logisch höher zu bewerten.
Was folgt nun aus dieser Untersuchung für die Ab-
grenzung des Begriffs der Zwangsidee? Soviel ich sehe, lässt
sich der ganze Rest auf dem Gebiete des zwangsmässigen Vor-
stellens in den Begriff der „unabgeschlossenen oder ab-
schlussunfähigen Vorstellungen“) einreihen, d. h. in die Kate-
gorien des Zweifels, der Befürchtung und der Erwartung. Die
Fälle sind im ganzen von einem ziemlich gleichmässigen Inhalte
und Typus und sind der Zahl nach merklich häufiger als die
Fälle mit absonderlichem Inhalte. Sehr oft kommt die zwangs-
mässige Furcht, in die „gleiche Krankheit“ zu verfallen, wie
ein Bekannter, von dem die Person hörte, oder speziell die Furcht,
1) Jahrmärker,jEin Fall von Zwangsvorstellangen. Berl.klin. Wochen-
schrift 1901. p. 1081.
No. € ji Tuczek, Ueber Zwangsvorstellungen. Berl. klin. Wochenschr. 1899.
0. .
3) M. Friedmann, Ueber die Grundlagen der Zwangsvorstellungen.
Psychistr. Wochenschrift 1901, No. 40.
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 229
geisteskrank zu werden, einen Herzschlag zu bekommen, Andere
Male handelt es sich um eine Erwartungsfurcht, so bei der
häufigen Zwangsfrage klimakterischer Frauen, ob Gravidität da
sei, bei der quälenden Unruhe, wie ein Ehescheidungsprozess
ausgehen wird, oder anders wieder, wenn ein junger Kaufmann
nach dem liichtenbergschen Ladenmorde in Frankfurt von pein-
licher Furcht verfolgt wird, dass es ihm oder seinem Vater ebenso
ergehen könnte, und wenn er diese Furcht in keiner Weise los
werden kann. Hierher gehört ferner die Irrtumsangst, die
Neigung zu Zwangsskrupeln, z. B. jemand beleidigt, ein falsches
Urteil gefällt, Rechnungen falsch ausgeführt, ein bedenkliches Ver-
sehen begangen, beim Abendmahl nicht genug für die innere Vor-
bereitung gesorgt zu haben. Weiter gehört dazu der zwangs-
mässige Zweifel, die Fragesucht z. B. in religiösen und metaphy-
sischen Dingen, dann die hypochondrische Furcht vor Infektion,
die Berührungsfurcht u, s. f.
Diese ganze grosse Gruppe von Zwangsdenken soll nun heute
aus dem echten Begriffe wieder ausgeschieden werden. Daher haben
wir zu fragen: was ist in ihr verschieden und was überein-
stimmend mit dem Westphalschen Symptom? Verschieden
ist, dass die Ideen durchschnittlich nicht im Verhältnisse des
logischen Widerspruches bezw. der Widersinnigkeit zu dem Träger
stehen; vielmehr erscheinen diesem die Sorgen, Erwartungen und
Zweifel als belangreich. Verschieden ist ferner die logische
Form; wir finden hier einen dauernden und gleichmässig fest-
stehenden Zweifel, die Anerkennung der Unabgeschlossenheit
durch das Subjekt, während dort in der sogen. echten Form
bald die Idee, bald der logische Widerspruch Oberwasser bekam
und Geltung besass oder aber ein permanenter Widerstreit
bestand, vergleichbar etwa dem Widerstreite der Gesichtsfelder
im Stereoskop, wenn hier die Verschmelzung nicht gelingen kann.
Gemeinsam aber ist erstlich das Obwalten des gleichen
Denkzwanges, ferner das gleiche Gefühl der Belästigung durch
die Idee und sodann drittens das gleiche Verhalten des Patienten
gegen die Idee; er betrachtet sie im Grunde genommen ebenso-
wenig als sein eigenes geistiges Produkt!) wie die widersinnigen
Gedanken, sie drängen sich ihm auf, sind auch für ihn schlecht
motiviert und „krankhaft“, und er will sie um jeden Preis los
sein. Deshalb geht er ja damit zum Arzte. Ja, schliesslich be-
sitzen die widersinnigen Ideen eine ganz ähnliche Unabge-
schlossenheit wie die Zweifel und die Erwartungsfurcht, nur ist
sie dort sozusagen künstlich erzeugt und hier natürlich: dort der
Wechsel zwischen Bejahung und Verneinung und hier der Zweifel,
das Schwanken zwischen beiden; dort wird die Vernunft zeit-
weise durch die Unruhe, den Affekt übertönt. Hier wird sie
bestochen, sodass die Furchtmotive an Wert zu viel gewinnen.
ı) Jedenfalls steht der logische Wert all dieser Ideen weit zurück
hinter dem „Phantasie-Werte*, der als aufgedrungen imponiert.
280 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
Die wichtigste Uebereinstimmung aber findet sich in dem
identischen Verhältnisse zu den überwertigen und Wahn-
ideen, worauf wir nun eingehen.
Die Unterscheidung zwischen den Zwangsideen und
den überwertigen Ideen ist als die wichtigste Aufgabe bei
der Umgrenzung des Begriffes zu betrachten. Bumke hat ganz
richtig dargelegt, dass schon zu allem Anfange bei Krafft-
Ebing ein Missverständnis vorgelegen, dass er etwas wesentlich
anderes unter dem gleichen Namen wie Westphal als Zwangs-
vorstellung gemeint und bezeichnet hatte, und dies war im wesent-
lichen das, was später Wernicke mit einem sehr treffend ge-
wählten Worte als überwertige Idee!) ausgeschieden hat. Das
gleiche ist, wie vorhin gesagt, seither häufig geschehen, so wie
es von Krafft-Ebing berichtet wurde, nur hat dieser Mit-
entdecker der Zwangsvorstellung sich in der Tat bald nachher dem
Westphalschen Begriffe wieder sehr genähert. Jedenfalls wäre die
Lehre von den Zwangsvorgängen in ein sehr viel besseres und
zuverlässigeres Fahrwasser gelangt, wenn man die Wernickesche
Aufstellung weniger unsympathisch aufgenommen und gerade ihr
Verhältnis zur Zwangsidee ernsthaft zergliedert hätte. Nur fragt
es sich freilich, nachdem wir das bisher beliebteste Kriterium,
die Scheidung zwischen inhaltlichen und formalen Denkstörungen,
wenigstens in dieser Schärfe, abgelehnt haben, was dann ührig bleibt.
Die Fachliteratur ist keineswegs arm an Hinweisen auf eine
zweite Antwort, welche unsere Frage in stichhaltiger Weise, wie
mir scheint, beantwortet. Wernicke selbst hatte freilich seine
überwertige Idee von Anfang an vielfach diskreditiert, indem er
damit an die alte Monomanienlehre anknüpfte; man bestritt, dass
es derartig isolierte psychische Störungen gebe. Und nun ist
es überaus merkwürdig, dass hier beide Thesen wahr sind, ja
dass man geradezu die überwertige Idee von der Zwangsidee ab-
sondern konnte und kann dadurch, dass man letztere eben als
Fremdkörper im geistigen Leben, die überwertige (und Wahn-)
Idee hingegen als voll und ganz im geistigen Konnex stehende
Urteilsstörung charakterisiert. Andererseits aber muss man hier
den Terminus a quo und den Terminus ad quem unterscheiden.
Der Herkunft nach ist die überwertige Idee allerdings gleich
dem Zwangsvorgang etwas, was unvermittelt im geistigen Ge-
triebe hervorbrechen kann. Ein starker Affekt kann sich sozusagen
auf eine einzige Idee stürzen und ohne jede vorausgehende in-
tellektuelle Störung sie und nur sie allein krankhaft übermächtig
werden lassen. So gestalten sich die Erinnerungen an die bei
der Geburt erduldeten Leiden bei manchen Frauen zu einer hoch-
1) Wernicke, Ueber fixe Ideen. Deutsche med. Wochenschr-
1892. S. 581.
und die Grundlagen der Zwangsvorstellangen. 231
gradigen Angst!) vor der zweiten Gravidität, und tritt dann eine
solche wirklich ein, so wird diese Angst übermächtig, die Frauen
sind fassungslos, sie denken nichts anderes mehr, malen sich in
den schwärzesten Farben aus, wie sie die zweite Geburt nicht
mehr aushielten. Eine dumpfe oder erregte Verzweiflung be-
mächtigt sich ihrer, sie arbeiten nicht mehr, verlieren die Liebe
zum Gatten, und der einzige Gedanke, auf den sie noch hin-
wirken, ist der, die künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft
zu erreichen.
Man erkennt schon in dieser kurzen Schilderung den Unter-
schied von der Zwangsidee: die Idee kann fast unter ähnlichen
Umständen, allein durch den begleitenden Affekt und sonst durch
nichts geboren werden. Aber die überwertige Idee entwickelt
sich anders. Das ganze geistige Leben gerät ın Mitleidenschaft,
die Idee wird ausgemalt in allen ihren Konsequenzen, in allen
Details, alles Denken der Schwangeren beschäftigt sich gerade
mit diesen Einzelheiten der früheren Geburt, über die sie weit-
läufig zu sprechen pflegen. Sie denken ebenso reichlich motiviert.
über die Gefahren der neuen Geburt, und dann vor allem, diese
Personen wollen nicht von der Idee, sondern von dem, was sie
hervorruft, befreit werden. Ihnen ist die Idee todternst, und der
logische Widerspruch gegen ihre Uebertreibungen wird fast mit
Erbitterung zurückgewiesen. Das Analogon auf der anderen Seite
ist die schon erwähnte häufige Zwangsidee klimakterischer
Frauen, das Aufhören der Menses könne eine nochmalige
Schwangerschaft bedeuten. Was geschieht hier? Nur die Mög-
lichkeit der Idee wird hier unaufhörlich ventiliert, die Frauen
denken kaum an ein Ausmalen der Schwangerschaftsgefahren, es
ist ihnen sogar unaugenehm, sich solche Details vorzustellen.
Immer nur der eine Zirkel wird eintönig wiederholt: „Bin ich
schwanger? Ist es nur der Wechsel?“ Nur das Erlangen der
Gewissheit plagt die Patienten, die meist im Herzen gar nicht
wrklich an die Gravidität glauben. Den Vorschlag des künst-
lichen Abortes habe ich in solchen Fällen noch gar nicht er-
wägen hören.
Man kann den Gegensatz nun allerdings so ausdrücken: Die
eine Idee wirkt mehr durch ihren Inhalt, die andere mehr durch
den Denkzwang, welchen sie ausübt. Das ist richtig; besser und
zugleich psychologisch schärfer ist die Fassung, welche gleich-
falls schon von nicht wenigen Autoren gefunden ist, und welche
ich beispielsweise bei Seglas®), Keraval®) und auch Freud
klar ausgesprochen sehe. Mir selbst darf ich das Verdienst bei-
legen, sofern die Auffassung sich als richtig bewährt, dass ich
den Sachverhalt genauer zu zergliedern suchte und dass ıch
dessen massgebende Bedeutung für die ganze Frage der Zwangs-
1) Vergl. Gauss, Geburten im künstlichen Dämmerschlaf. Arch. f.
Gynäk. 1906. Bd. 78. Speziell S. 593 ff.
2) Söglas, Leçons cliniques sur les maladies mentales etc. Paris 1895.
3) Kéraval, L’Idee fixe. Archives de Neurologie. 1899. Vol. VIII. No. 48.
232 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
ideen zu beleuchten unternahm. Kurz gesagt, wäre das Kriterium
so zu kennzeichnen: Die Zwangsidee bleibt im wesentlichen
ein isolierter geistiger Vorgang, sie tritt nicht ein in
weitere assoziative Verknüpfungen, sie zieht keine
weiteren Kreise im Gedanken- und Gefühlsleben, d. h. der
Betroffene hat nur das Interesse, sich von ihr zu befreien oder
die unabgeschlossene Idee zum Abschlusse zu bringen. Im übrigen
fürchtet er mehr, sich näher mit ihr einzulassen und abzugeben,
als dass er sie zu überlegen wünscht.
Gerade das Gegenstück ist die überwertige Idee; ist sie
erst einmal stark geworden, so strömen von allen Seiten die
zugehörigen Assoziationen herbei, sie tritt in engsten
Konnex mit dem gesamten Denken und Fühlen der
Person, sie wird geradezu zum Zentrum desselben. Die
Person „denkt“ nicht nur daran, sondern sie besieht die Idee
von allen Seiten. Wie unerschöpflich ist ein Eifersüchtiger an
Gründen, an Fallstricken, die er legt, an den Versuchen, seinen
Verdacht überall in die entlegensten Verknüpfungen zu bringen!
Man nehme noch zwei häufige Parallelfälle: Die häufigste Form
der Ueberwertigkeit ist die gewöhnliche Hypochondrie.
Hat ein solcher Patient z. B. einen leichten Brustschmerz, so
wird er alle Details teils bei verschiedenen Aerzten, teils in
Büchern studieren, die stärkste Vielgeschäftigkeit in der Be-
handlung ist ihm das Liebste, in Beschreibung seiner Klagen und
ım Anhören fremder, anscheinend ähnlicher Beschwerden erlahmt
er nie, er gewinnt fast sein Leiden lieb, während er es fürchtet,
sein ganzes körperliches Verhalten lenkt er darnach. Hingegen
ein Patient mit einer Zwangsfurcht, z. B. vor Herzschlag, fürchtet
sich förmlich vor seiner Furcht, er möchte gar nicht daran
denken, der Arzt ist da, nicht sein Herz, sondern seine Ideen
zu kurieren, Details von Herzkrankheiten scheut er sich noch zu
hören, nachdem vielleicht eine zufällige medizinische Lektüre in
ihm die Zwangsfurcht erregt hattet).
Setzen wir zweitens den Fall einer widersinnigen Irrtums-
furcht: Einem Kaufmann komme ohne weiteren Anhaltspunkt
der Gedanke: „Du hast vielleicht jenem Kunden ein Kupfer-
geldstück statt eines Goldstückes herausgegeben beim Geld-
wechseln“. Wird er die Idee nicht los, obwohl er sich selbst
sagt, dass sie ganz aus der Luft gegriffen ist, drängt es ihn
immer wieder zu denken, dass der Irrtum doch vorgekommen sei,
so ist dies eine Zwangsvorstellung. Begegnet es dagegen
einem Kassierer, dass er in der Tat bei einer Auszahlung einen
übrigens sehr verzeihlichen Irrtum begangen hat, und ist dies
gerade ein übertrieben gewissenhafter und ängstlicher Mann, so
kann die Folge die sein, dass er Tag und Nacht keine Ruhe
1) Sehr schön wird auch dieser Gegensatz illustriert, wenn wir die
Zwangsfurcht vor einer Topalgie vergleichen mit den suggestiven Schmerzen
bei einer traumatischen Neurose, welche letztere der Patient förmlich hegt
und pflegt.
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 233
findet deshalb; er fürchtet, man glaube nicht an den Irrtum,
sondern verliere das Vertrauen zu ihm, oder man sage bei seinen
Vorgesetzten, er sei seinem Posten nicht mehr gewachsen; er
findet es selbst unverzeihlich, dass ıhm bei seiner Geübtheit
etwas der Art passieren konnte — kurz macht er aus dem
leichten Versehen in sich eine Lebens- und Existenzfrage, so hat
er offenbar eine überwertige Idee gebildet. Und, um die
weitere Parallele noch anzufügen, kommt einem Melancholischen
die Erinnerung, dass er vor so und so viel Jahren einen gleichen
Fehler begangen hat, sagt er sich jetzt: Du hast das schon da-
mals aus Schlechtigkeit verübt, die Sache kann jetzt ruchbar
werden und dich ins Gefängnis bringen. Dann liegt offenbar eine
depressive Wahnidee vor.
Man erkennt nun folgendes: „Abgeschlossen“, klar bestimmt
ist weder ım ersten, noch im zweiten Falle die Idee, ja vielleicht
nicht einmal im dritten, bei der Wahnidee; dort bei der Zwangs-
form besteht sie aber isoliert für sich, es entstand nur die Frage,
ob die Vermutung wahr oder falsch ist. Bei der überwertigen
Form dagegen drängt sich ein förmlicher Kranz peinlicher Ver-
mutungen und Konsequenzen an die arsprüngliche Vorstellung,
diese wird zum Zentrum einer reichen assoziativen Verknüpfung
und Ausarbeitung. Dasselbe aber geschieht bei der Wahnidee,
nar wird hier die Idee nicht bloss übertrieben, sondern auch zu-
ungunsten des Patienten gefälscht, es gesellt sich die all-
gemeine wahnhafte Täuschung über seine eigene Gesinnung hin-
zu. — In den bisherigen Beispielen lagen jeweils dem gesamten
Vorgange starke ängstliche Affekte zu grunde, und aus ihnen
konnte sich zum Teil die Abneigung des Trägers der Zwangs-
vorstellung erklären, die Berührung mit seiner Idee weiter zu
verfolgen. Aber nicht alle Zwangsvorgänge sind durch diese
Gefühlsbetonung lästig. Wie steht es namentlich mit der krank-
haften Grübel- und Fragesucht?
Ganz gewiss kommt gerade diese sehr häufig in der Ge-
staltung einer Ueberwertigkeit zur Beobachtung. Zahllos
sind die Personen, und zwar zu allen Zeitaltern, vor allem in-
dessen für das einzelne Individuum in der Epoche der Pubertät
gewesen, wo die grosse religiöse Frage sowohl das Gewissen
als das philosophische Aufklärungsbedürfnis intensiv bedrängt
hat. Auch das geschlechtliche Problem kann dann eben so sehr
das Gefühls- als das Gedankenleben des Heranwachsenden über
die Massen beherrschen. Laudenheimer hat z. B. einen inter-
essanten Fall der letzteren Art uns mitgeteilt. Nun, wir
wissen, was dann bei dem normalen oder gar bei dem allzusehr
sensitiven Menschen geschieht. Der unruhige Aufklärungsdrang
veranlasst ihn, das Gebiet gründlich zu durchdenken, mit er-
fahrenen Männern darüber zu reden, die Bücher, welche ihm er-
reichbar sind, zu studieren, was er sieht und erfährt, wird unter
dem Gesichtspunkte des Problemes betrachtet, als Beweis oder
als Gegengrund verwertet, Natur und Menschenleben geraten für
284 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
ihn in den Bannkreis des Religiösen, so wie das in früheren
Zeitläuften allgemeine Denkgewohnheit gewesen war. Wie anders .
dagegen stellt sich uns die Fragesucht als Zwangsvorgang
“dar! Hier ist nicht die Rede von einem metaphysischen oder
Gefühlsbedürfnisse; nur nichtige und von vorherein undis-
kutierbare Fragen werden gestellt: warum ist der Himmel
oben und die Erde unten? Warum bin ich so und nicht anders
beschaffen? Warum existiert das Böse in der Welt? Warum
sind die Männer und Frauen verschieden? Warum sind die zwei
Geschlechter auf der Welt? |
Ebensowenig wie diese Fragen tatsächlich überlegt worden,
ebensowenig wie sie in Wahrheit auf eine Antwort abzielen, nicht
mehr geschieht dies bei der Zweifel- und Skrupelsucht ım all-
täglichen Leben, Sie kommt bekanntlich nicht selten auch
periodisch vor bei sonst energischen Personen, z. B. bei Frauen
mit den Menses auftretend, und ist dann besonders auffällig.
Solche Personen können dann nichts entscheiden, wissen nicht,
ob sie ihr Kind leicht oder warm anziehen, einen Kauf machen
oder unterlassen sollen. Haben sie aber etwas der Art etwa auf
Rat getan, so quälen sie Skrupel, ob das recht gehandelt war.
Eben ihre Art und Weise ist dann bezeichnend; sie drehen sich `
immerfort im gleichen Kreise, oder vielmehr sie pendeln immer-
fort hin und her zwischen Bejahung und Verneinung: „Ich
hätte das tun — oder ich hätte das nicht tun sollen — warum
war ich auch so töricht?“ Sagt man, die Patientin solle den
Plan ausführen, so folgt die Frage: „Können Sie mir sicher ver-
sprechen, dass es nichts schadet?“ u. s. f. Also auch hier findet
keine eigentliche Ueberlegung mit Abwägen von Grund und
Gegengrund statt, auch hier gibt es keine richtige assoziative
Verarbeitung des Zweifels oder Skrupels, sondern der Patient
quält sich krampfhaft und vergeblich ab, um direkt eine Ent-
scheidung zu erlangen. Noch häufiger aber sind die Zweifel an
sich wertlos, denn der Patient würde in gesunden Tagen mit
Leichtigkeit fast ohne Reflexion zum Ziele kommen. Andere Male
sind viele Skrupel der Art lächerlich und können garnicht
mit den allgemeinen Lebensanschauungen des Patienten verknüpft
werden; so hat der eine Skrupel, dass er mit seinem Schirme
seinem Hintermanne im Gedränge die Augen ausgestossen habe,
ein Patient Tuczeks fürchtet, er könne mit Sperma, das ihm
von einer Pollution hängen geblieben ist, einen Abort präpariert
haben, so dass eine Frau, die ebenfalls dahingeht, davon
schwanger werden kann und dergleichen mehr.
Wer auch da wieder die Zweifel vergleicht in einer wahren.
sychischen Depression, dem bleibt der Unterschied nicht ver-
borgen. So knüpfte sich ein melancholischer Zustand an den
übrigens vorteilhaften Verkauf ihres Hauses an bei einer älteren
Dame. Sie will nun nicht herausgehen aus ihrer gewohnten
Häuslichkeit, sie fürchtet die Schattenseiten der Mietswohnung,
sie legt sich die Lichtseiten ihres hisherigen Hauses zurecht, kurz,
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 235
sie findet es schliesslich vorteilhafter, ibr Haus mit Reugeld
zurückzukaufen und führt dies auch aus. Auch hier finden wir
sowohl die logisch geordnete Reflexion, deren Gründe auf die
Patientin wirken, als auch eine klare und ernsthafte Zielvorstellung,
welcher die entsprechende Handlung folgt. Auch die sogenannte
Pedanterie unterscheidet sich von der Zweifelsucht, denn gerade
diese untersucht die Fragen mit allen Details „auf den tausendsten
Fall“. Indessen ist zugegeben, dass hier ein Grenzgebiet be-
steht, wo die Uebergänge ineinander fliessen, aber dies ist nur
deshalb der Fall, weil mit der Pedanterie sich gerne die Un-
schlüssigkeit verbindet. —
Eine besondere Eigentümlichkeit der Zwangsvorgänge sei
endlich noch hervorgehoben, sie knüpfen sich wohl stets an einen
bestimmten individuellen Fall an, an eine Begebenheit oder
einen Einfall. Wenn ein Postbeamter sagt, er könne den Schalter-
dienst nicht ertragen, er gehe ihm zu stark auf die Nerven, die
Scheu vor dem Verkehr mit dem Publikum übermanne ihn, so
ist das entweder ein an sich richtiges, normales Urteil oder aber
eine überwertige Idee. Berichtet ein anderer, gerade die weiblichen
Schalterbesucher brächten ihn in Verlegenheit, er habe eine förm-
liche Furcht, daran zu denken, dass diese nachmittags gegen
3 Uhr hauptsächlich kämen, so wird man meist einen ganz be-
stimmten Ursprung dieser Furcht in Erfahrung bringen. So war
ein solcher Herr um diese Zeit „einmal“ geneckt worden, er sei
rot geworden, wie einige junge Mädchen an sein Schalter kamen.
„Von da ab“ befiel ihn diese Errötungsfurcht hauptsächlich zur
genannten Zeit. Personen mit Kontrast-Assoziationen, z. B. der
Schmähung oder Verwünschung, empfinden nie, sofern es sich um
Zwangsvorgänge handelt, den allgemeinen Trieb zur Ver-
wünschung, sondern er entsteht jedesmal von neuem im Anschlusse
an bestimmte Vorkommnisse; Personen mit Zwangsfurcht vor
Krankheiten fürchten immer nur etwas Bestimmtes, den Herz-
schlag, die Geisteskrankheit z. B., und auch diese Sorge ist auf
einmal bei einem einzelnen Anlasse entstanden, etwa als die Personen
gerade von einem solchenFalle gehört hatten. Ja, auch die Irrtums-
furcht ist hier nur eine ganz spezifische und nie eine allgemeine:
es sind keine Ideen im eigentlichen Sinne, sondern ein-
zelne und konkrete sich wiederholende Vorgänge. Wir
kommen bei der theoretischen Besprechung darauf zurück. —
Die Charakterisierung der Zwangsvorstellung gegenüber den
krankhaften Urteilsfälschungen geht dahin, dass jener die assoziativen
Verknüpfungen (in irgend nennenswertem Grade) versagt bleiben,
dass sie nicht in Konnex mit dem allgemeinen Denken und Fühlen
ihres Trägers tritt, und ferner, dass sie stets einen individuellen,
nicht begrifflichen Inhalt besitzt; diese Charakterisierung hat den
Vorzug, dass wir damit eine klare psychologische For-
mulierung gewinnen. Dass sie sich für die Diagnose in Zukunft
sicher verwerten lässt, scheint mir nicht zweifelhaft. Indessen ist
nicht zu verkennen, dass wir damit nur einen sekundären Folge-
236 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
zustand bezeichnen. Seine Ursache liegt offenbar tiefer. Wenn
eine starke, von peinlichem Affekt begleitete oder eine drängende
Vorstellung auftaucht, so sehen wir sowohl bei der Zwangsvor-
stellung wie bei der überwertigen Idee die Personen dieser er-
liegen. Aber sie verhalten sich dabei sehr verschieden; bei dem
Zwangsvorgange erweist sich der kritische Apparat des Subjektes
als unversehrt, jener wird logisch richtig beurteilt!). Es fehlt
nur die Kraft, sich der Gefühlsbetonung, welche der Vorstellung
beiwohnt, zu entziehen und sie aus dem Denken hinauszudrängen.
Ganz anders bei der überwertigen Idee. Sie wird ohne logischen
Widerstand aufgenommen, das ganze Gedankenleben der Person
kommt ihr entgegen und klammert sich förmlich an sie, selbst
wenn es sich um die peinlichsten Befürchtungen handelt, wie
etwa die Sorge, syphilitisch infiziert, von Hundswut ergriffen zu
sein. Natürlich bedeutet dies einen wesentlich schwereren, krank-
haften Zustand wie bei dem Zwangsvorgange. Hier versagt der
kritische Apparat, und der Affekt, welcher der Vorstellung an
sich beiwohnt, wird gewaltig verstärkt dadurch, dass auf assoziativem
Wege zahllose gleichsinnige und unterstützende Vorstellungen hin-
zutreten. So wird zugleich aus der individuellen Ausgangsvor-
stellung ein Komplex von solchen, eine Idee. Es handelt sich
dann nicht mehr um den einzelnen Vorgang, wobei jener Kassierer
sich geirrt hatte, sondern um das Misstrauen und die Gefahren
für seine Existenz, welche er sich dadurch zugezogen hat. Nicht
der bestimmte Schmerz auf der Brust ist es, von dem der Träger
fragt, ob er etwas bedeutet oder nicht, ob er wiederkomme oder
verschwinden werde, sondern um die schwere Krankheit, welche
sich äussert durch jenen Schmerz, handelt es sich. So nämlich
fasst es der Hypochondrische auf.
Es liegt also in der Tat nicht eine isolierte monomanische
Affektion vor bei der überwertigen Idee, sondern eine allgemeine
Störung im Gebiete der Affekte und des Urteilens.
Nur kommt es nicht zu einem fertigen Urteile wie beim Wahne,
sondern nur zu einem starken Glauben. Auch bei der Zwangs-
vorstellung liegt etwas Allgemeineres vor als der einzelne Vor-
gang; beiden Zuständen aber ist eine wichtige und praktisch
recht bedenkliche Eigenschaft gemeinsam, bedenklich insbesondere
bei der Diagnose der überwertigen Idee, das ist der Umstand,
dass sie beide ohne Grenze ın die Breiten und Schwan-
kungen des normalen geistigen Lebens übergehen. Darum
aber lässt sich doch der Tatbestand selbst und seine Krank-
haftigkeit nicht aus der Welt schaffen; und es ist doch auch nicht
wissenschaftlich, eben weil es sich um graduelle und nicht um
generelle Abnormitäten handelt, gerade bei den Zwangsvorstellungen
nur die Gruppe herauszuheben, wo der Grad der Abnormität ein
besonders starker ist oder, da mir dies sogar zweifelhaft erscheint,
wo die Abnormität uns besonders grell von der Norm abzustechen
1) Die französischen Autoren haben dieses Verhalten bekanntlich als
„Locidit6“ (Magnan) oder als „Délire avec conscience“ bezeichnet (Ball).
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 237
scheint. Diese besondere Gruppe aber ist keine andere als die
ursprüngliche Westphalsche Form, für welche im wesentlichen
nur die Widersinnigkeit des Inhaltes kennzeichnend ist. Dass
sie dennoch inhaltlich wirkt, dass das Denken auch hier ein
unabgeschlossenes ist, glaube ich nun dargetan zu haben. Als
Fremdkörper im geistigen Getriebe erscheinen alle Formen im
Gegensatze zur überwertigen Idee, der Zwangskurs kommt ihnen
nicht minder gleichmässig zu. Wie es mit der Genese steht, wollen
wir später nachsehen.
Ueber einen wichtigen Punkt müssen wir uns noch einigen,
ehe ich all das Vorstehende durch eine kurze Definition zusammen-
fasse. Wesentlich für den ganzen Charakter des Symptomes ist
es, dass es im Rahmen einer inhaltlich normalen und normal
arbeitenden Geistestätigkeit sich einstellt; darin liegt gerade
das Krankhafte und Merkwürdige der Erscheinung, dass ein
gesunder Intellekt trotz seines Widerstrebens hier überwunden
wird. Wenn also auch verknüpft mit anderen psychopathischen
Symptomen sich Vorstellungen bilden können, welche gleich der
Erwartungsangst dem Zwangsvorgange ähnlich sehen, so
empfiehlt es sich dennoch nicht, hier von einer Zwangsvorstellung
zu sprechen, selbst wenn die Idee isoliert bleibt und nicht assoziativ
verkettet wird. So hatte ein Melancholiker sich auf den Gedanken
verbissen, entweder er oder seine Kinder oder seine Kindeskinder
würden „sicher“ eines Tages vom Pöbel ergriffen und ermordet
werden, und es fiel ihm kaum ein, sich nach einer Begründung
für die offenbar törichte Idee umzusehen. Seine Intelligenz war
eine an sich gute und ist es nach seiner Genesung zweifellos
eblieben. Hier fehlt nun aber das Gefühl für den logischen
Widerspruch, und ähnliche Abweichungen von unserem Begriffe
des Zwangsvorganges werden sich fast alle Mal nachweisen lassen,
sowie die Idee ihre Wurzeln in einer allgemeinen psychischen
Störung besitzt. Es sind meist wahre „fixe Ideen“, die mit
Erwartungsangst verbunden sind.
Dies vorausgesetzt, wird nun unsere Begriffsbestimmung
der Zwangsvorstellung folgendermassen lauten: „Wir finden
eine Vorstellung bestimmten individuellen Inhaltes, welche im
logischen Sinne von ihrem Träger als unvernünftig oder doch als
schlecht begründet erkannt wird, über welche er nicht weiter
reflektiert, die aber dennoch gleichzeitig, sei es durch den mit
ihr verbundenen peinlichen Gefühlston, sei es durch ihre Un-
abgeschlossenheit, das ist durch die ihr anhaftenden Zweifel und
Bedenken, den Träger belästigt und beherrscht (1. Stadium)
und welche sich weiterhin trotz seines Widerstrebens fort und
fort in sein Denken eindrängt (2. Stadium).“')
Bezüglich des Begriffes des psychischen Zwanges hatten
wir ung den Autoren angeschlossen, welche einen solchen nur auf
dem Gebiete des klaren Denkens anerkennen, also z. B. nicht bei
~
1) Man kann vielleicht am deutlichsten diese doppelte Art des Denk-
zwanges kennzeichnen, wenn man einen „Geltungszwang“ und einen „Er-
innerungszwang“ unterscheidet.
238 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
einer sich aufdrängenden Erinnerung an eine Melodie oder bei
einer peinlichen isolierten Empfindung, z. B. als ob der Kopf
oben offen sei. Diese letzteren können sich in sehr lästiger Weise
stets wieder aufdrängen und dennoch hat die Person dabei nicht
das Gefühl, als ob sie, d. h. ihr Ich, in Konflikt gerät und über-
wältigt wird. Wohl aber liegt ein solcher komplexer psycho-
logischer Vorgang, wie wir sahen, der echten Zwangsvorstellung
zugrunde. Wird jemand von einer ihm unbegründet scheinenden
Krankheitsfurcht oder von einer ihm selbst abscheulich vor-
kommenden Verwünschungsidee verfolgt, so liegt hier eben mehr
vor als das einfache stete Wiederauftauchen der Idee wider Willen
der Person, Ein eigenartiger psychischer Konflikt spielt sich
dabei ab, in welchem das intelligente Ich unterliegt, eigenartig
dadurch, dass das logische Denken untätig bleibt und dass ein
Trieb, die abgelehnte Vorstellung trotz ihrer Ungereimtheit oder
logischen Minderwertigkeit als geltend zu denken, in den Vorder-
grund tritt. Eben dieser Trieb aber ist es, der als psychischer.
Zwang empfunden wird, d. h. die Tatsache, dass er trotz und
neben dem logischen Widerspruche wirksam bleibt; und erst aus
dieser Grundlage heraus entwickelt sich das zweite Stadium
der Zwangsidee, indem der gleiche Konflikt und die gleiche Vor-
stellung sich fort und fort wieder aufdrängt. Der Trieb selbst
aber gewinnt seine Wirksamkeit — um das hier noch voraus-
zunehmen — dadurch, dass sich in ihm z.B. der peinliche Affekt
einer Krankheitsfurcht oder aber die ärgerlich gereizte Stimmung
äussert, welche aus der masslos übertriebenen Sorge um das Wohl
der Angehörigen entstand. Und sekundär hinzu trat zu dem
Triebe die Idee, dass der dergestalt stark betonten Zwangs-
vorstellung auch eine tatsächliche Bedeutsamkeit oder ein Mass
von Realität zukommt. j
Es liegt hiernach ein komplizierter und gerade für die
Zwangsvorstellung spezifischer psychologischer Vorgang vor,
welcher durch die vorgeschlagene Kennzeichnung als ‚formaler
Denkzwang“ sicherlich nicht genügend in seinem Wesen getroffen
wird. Charakteristisch ist nicht allein der Denkzwang, sondern
auch die Leichtigkeit, mit der hier zwar nicht das logische
Gewissen, wohl aber die logische Lenkung des Denkens beiseite
gesetzt, mit der also keine Dissoziation, wie man es oft annahm,
vielmehr aber ein Dualismus der Denkfunktion geschaffen wird.
Bei der Zwaugsvorstellung fanden wir also einen klar aus-
gesprochenen, aber merkwürdig unvollkommenen, bezw. schwäch-
lichen Widerstand des Subjektes gegen die Idee; bei.der über-
wertigen Idee fehlt dieser Widerstand überhaupt, das Denken
und Fühlen kommt ihr entgegen weit über den wahren logischen
Wert der Idee hinaus, wie dieser von jeder normalen Intelligenz
erkannt werden müsste. Die Ursache liegt hauptsächlich in dem
hier wesentlich stärkeren Affekte; die Intelligenz kann sonst im
allgemeinen eine ganz gute sein. Kritisch veranlagte Naturen
treffen wir aber hier nicht, gleichwie sie die Träger der Zwangs-
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 239
gebilde uns darbieten können. Ist aber die Intelligenz direkt
abnorm, so kommt es meist zur Wahnidee.
Wir haben nun bisher alle Vorstellungen unter dem Begriffe
des Zwangsvorganges vereinigt, welche der Träger im logischen
Sinne ablehnt und welche ihn dennoch gegen seinen Willen be-
drängen und teilweise überwältigen. Wie steht esnun bezüglich
der Vorgänge in der Sphäre des Wollens und Handelns,
welche von einem grossen Teile der Fachgenossen gleichfalls
jenem Begriffe einverleibt, von anderen dagegen ausdrücklich
ausgeschieden werden?!) Erfahrungsgemäss handelt es sich dabei
sowohl um aktive Impulse als um Hemmungen einer Aktion,
und immer besitzen diese das Merkmal der Unzweckmässigkeit
oder doch der Ueberflüssigkeit. Nun ist ja an sich kein Zweifel,
dass die Intelligenz sich mindestens ebensosehr auf dem Gebiete’
des Handelns wie des Vorstellens &ussert und dass ein auf Motive’
sich aufbauender Willensentschluss im grossen und ganzen die-
selbe logische Gestaltung und Form besitzt wie die Urteilsfunktion.
Es besteht daher von vornherein kein Anlass, zu bezweifeln, dass
ganz analoge Zwangsvorgänge auch auf dem Gebiete des Willens
sich ausbilden können. Wir brauchen also, um zu entscheiden,
ob dies zutrifft, nur das bereits gewonnene Schema sinngemäss
anzuwenden. `
Hier stossen wir zunächst auf einige Gruppen unter- den
heute sogen. Zwangsimpulsen?) samt den Phobien, wo der
ganze psychische Vorgung wesentlich einfacher sich abspielt,
als wir dies bei dem seltsam komplizierten Prozesse der Zwangs-
vorstellung gesehen hatten. Ich denke dabei nicht an die sogen.
monomanischen Triebe, bei welchen der Inhaber ganz auf Seite
derselben steht und welche wir bereits erledigt haben, wohl aber
an Formen wie die vielberufene Errötungsfurcht und die
zwangsmässige Hemmung des Schreibens, des Urinierens in Gegen-
wart fremder und besonders von Respektspersöonen. Es kommt
in derartigen Fällen nicht zu einem Fonflikte zwischen der Ver-
nunft und dem Impulse, sondern es liegt einfach eine direkte‘
suggestive Einwirkung infölge der Befangenheit, bezw. infolge
einer. ängstlichen Vorstellung vor. Der Patient sagt sich ja
freilich in der Regel, dass er keinen Grund zur Befangenheit hat
und er ärgert sich auch meist darüber; aber am Ende des Vor-
ganges steht nicht ein Kampf der Motive und ein Willensentschluss,
sondern ein aus dem Unbewussten heraufsteigender vaso-
motorischer Einfluss oder ein Müuskelzittern und dergl.?). In
1) Ausführlich besprochen von Bumke, Was sind Zwangsvorgänge?
Auch von Warda. Arch. f. Psych. XXXIX. ,
- 3) Ausführlicher finden sie sich behandelt insbesondere bet Thomsen;,-
Klin. Beitr. z. Lehre von d. Zwangsvorst. u. verwandt. psych. Zuständen.
Arch. f. Psychiatr. Bd. 27. 1895. - a F
s) Am Zutreffendsten erscheint mir die Deutung, welche allerneuestens
für diese Vorgänge A. Pick gegeben hat in seiner Mitteilung: „Ueber Störungen
motorischer Funktionen durch die auf sie gerichtete Aufmerksamkeit, Wien.,
klin. Rundschau 1907. No. 1.“
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 3. 16
240 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
ihrer Art ähnlich damit sind die sogen. Tics, eigenartige Muskel-
zuckungen und mechanische Bewegungen, z. B. nicht gewolltes
Kopfnicken, Ausstossen von Schimpfworten‘), welche gleichfalls
direkt aus einer sofort suggestiv wirkenden Vorstellung heraus
entstehen, und über deren Bildungsweise Janet ungemein fesselnde
und offenbar zutreffende Ausführungen gemacht hat. Verwandt
mit den Zwangsimpulsen sind diese abortiven Formen zweifellos,
aber sie setzen doch zugleich auch ein stärker hysterisches
Element voraus, welches der Mehrzahl unserer sonstigen Patienten.
mangelt.
In einer anderen Richtung wieder liegt die Abweichung ber
einer zweiten Gruppe unechter Zwangsimpulse, welche Janet
gleichfalls in seinem wertvollen Buche genau studiert und unter
dem Namen der „Manies de l’au delà“, der Uebertreibungs-
suchten zusammengestellt hat. Hier finden wir meistens die an
sich logische Konsequenz einer zugehörigen Zwangsvorstellung,
z. B. die übertreibenden Vorkehrungen gegen Beschmutzung oder
Infektion, das Notieren sämtlicher Vorkommnisse des Tages, um
sich zu sichern, dass man nichts Strafbares gesagt oder getan
hat, die bekannte Sucht des Hypochondrischen, immerfort eine
Anzahl von Aerzten zu konsultieren und eine Vielgeschäftigkeit.
in den Kurmitteln zu betreiben. Hier also ist der Trieb an sich
nicht krankhaft, vielmehr steckt der Denkzwang schon in den
zugrunde liegenden Vorstellungen, — Eigentümlich ist ausserdem
eine Kategorie zwekloser Impulse von der Art, dass Schilder
vor- und rückwärts gelesen werden, die Schritte nach bestimmten
Abständen abgemessen, ein beabsichtigter Weg vor- und rückwärts
genau plastisch vorgestellt, endlich bestimmte Zahlen, wie 7 und 13,
überall aufgesucht werden müssen. Sie kommen den echten Zwangs-
impulsen am nächsten; immerhin fehlt auch hier das Vorstellungs-
element, es sind unbeherrschte, blind sich hervordrängende und
mechanische Triebe, vergleichbar dem unbewussten Murmeln und
Melodiensummen vieler geistig anderweit absorbierter Personen.
Echte Zwangsimpulse sind die bekannten Antriebe, sich
ohne jeden Grund zu erhängen oder ins Wasser zu stürzen, seinen
geliebten Kindern mit dem Messer den Hals zu durchschneiden,,
jeden Tag und bei jedem Wetter genau bis zu einem bestimmten
Baume zu gehen, Papierfetzen in den Kleidern zu suchen und von
der Strasse weg aufzulesen, den Möbeln im Zimmer unbedingt.
eine bestimmte Ordnung und nur diese allein anzuweisen und
dergleichen. Wir brauchen die Einreihung dieser Formen nicht.
näher zu rechtfertigen, denn selbst die Anhänger einer möglichst
puristischen Behandlung unseres Begriffe sind hier meist nicht.
als Gegner zu treffen. Es handelt sich da um deutlich vorgestellte
Handlungen mit bestimmtem Ziele, die Impulse gelten ihrem
Träger, der sich selbst vor ihnen fürchtet, als widersinnig oder
zwecklos, und die Wirksamkeit des Impulses geht auch nicht
. 1) Auch der „Latah“ genannte Imitationsdrang malaischer Eingeborener
gehört hierher.
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 241
weiter als der „Glaube“ bei den „Zwangsvorstellungen“;,
d. h., es werden nur die Impulse innerhalb dieser ganzen Kategorie
wirklich ausgeführt, bei welchen das ohne besonderen praktischen
Schaden geschehen kann. Wo etwa einmal ein unbegründeter
Selbstmordtrieb zu ernsthafter Betätigung gelangt, muss unserer
Lehre zufolge bei ungestörter Intelligenz eine Ueberwertigkeit
und kein reines Zwangsdenken vorausgesetzt werden; die genauere
Prüfung wird dann auch die anzunehmenden assoziativen Ver-
knüpfungen aufzeigen lassen. Sonst fehlen die letzteren gerade
bei den echten Zwangsimpulsen in besonders deutlicher Weise,
und die Unzulänglichkeit der Kraft zu Willensentschlüssen spricht
auch direkt dagegen, dass ein solcher „Zwangspatient“ sich von
seinem Drange fortreissen lässt.
Das eigentliche Streitobjekt bilden nun nicht diese aktiven
Impulse, sondern die passiven Aktionshemmungen, deren
hauptsächlicher Repräsentant die sogenannte Phobie!) ist.
Westphal hatte bekanntlich die von ihm gleichfalls zuerst be-
schriebene Agoraphobie, die Platzangst, als ein Schwindelgefühl
aufgefasst, welches durch den Anblick der weiten Leere erzeugt wird
. und das ebenso wie beim Höhenschwindel direkt das Weiter-
schreiten des davon Befallenen verhindert. Hat man zahlreiche Fälle
der Art beobachtet und genauer in ihrer Geschichte ermittelt, so
wird man jener Deutung nicht mehr zustimmen, und das ist seither
schon von vielen anderen Autoren ganz ebenso behauptet worden.
Die Zahl und die Variabilität der Hemmungsphobien ist bekanntlich
sehr gross; einförmig und gleichartig ist dagegen die Art ihrer
Entwicklung. Nehmen wir ein paar Beispiele, zunächst eine
Defäkationsphobie: Eine junge Frau bekommt in der Sommer-
frische, wo sie der Ehemann begleitet, eine etwas langwierige
Diarrhoe, und einmal fühlt sie sich während der Stuhlentleerung
stärker matt und halbohnmächtig. Nach der Rückkehr denkt sie
mit Schrecken daran, dass schon frühmorgens ihr Ehemann fort
ins Geschäft geht, dass sie also beim Stuhlgeschäft allein bleiben
müsste. Was ist die Folge davon? Schon den ganzen Tag ver-
lässt sie die Furcht vor dieser eventuellen Hülflosigkeit am Morgen
nicht, und obwohl der Stuhl seither stets normal vor sich geht,
besorgt sie dieses Geschäft nur auf dem Nachtstuhl, und der Ehe-
mann muss so lange zu Hause im Nebenzimmer zur Stelle sein.
Sie hält das selbst für unsinnig, fürchtet sogar, es sei ein Symptom
von Geisteskrankheit, aber sie kommt ausser sich, wenn man ihr
von Selbstbeherrschung spricht, denn das vermöge sie einfach
nicht; und seit Monaten also wiederholt sich Tag um Tag die
gleiche Szenerie, die gleiche Angst vor der Defäkation, allmählich
auch die vor der Geisteskrankheit.
Der zweite Fall ist noch kürzer berichtet: Ein tüchtiger und
gesunder Fabrikingenieur hat sehr oft des Tages den Fabrikhof
1) Wir verstehen unter „Phobie“ nur diese Aktioashemmungen (Phobie-
Scheu), nicht aber z. B. einfache, von Angst begleitete Empfindungen, die
sogenannten topischen Algien.
16*
242 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
zwischen dem Arbeitsraum und den Bureaus zu durchschreiten;
allmählich fällt ihm auf, dass man ihn dabei von allen Seiten
beim Herübergehen sehen kann, und nun bringt er es nicht mehr
fertig, sich so den Blicken des ganzen Personals auszusetzen, und
er muss nun den lästigen Umweg von aussen um die Fabrik
herum jeweils ausführen. Noch mehr als der Zeitverlust ärgert
und ängstigt ihn aber hierbei das Törichte seines Gebahrens, das
er dennoch nicht überwinden kann, und er sucht deshalb ärztliche
Hülfe. — Ein drittes Beispiel ist eine ganz gewöhnliche Berufs-
phobie: Ein belasteter, sonst gesunder und in seinen Händen
geschickter Barbier hat einen empfindlichen Kunden beim Rasieren
zum zweitenmal geschnitten und bekommt darüber Vorwärfe zu
hören. Von nun ab hat er eine steigende Angst vor dem Rasieren
und bald nach jenem Misserfolge verlässt er seine Stelle und
seinen Beruf, übrigens ohne dem Chef oder irgend jemandem den
Grund zu sagen. Noch 4 Jahre darnach traf ich ıhn als Diener
oder Taglöhner; obwohl er verheiratet war, gewann er es nicht
über sich, in seinen ursprünglichen leichteren und besser bezahlten
Beruf zurückzukehren. — Uebrigens gibt es hier auch ganz
törichte oder selbst alberne Hemmungsvorstellungen: Eine Frau
im Klimakterium regt sich über einen Beleidigungsprozess auf
und besucht in diesem Zustande das Grab ihres Mannes. Hierbei
erfasst sie wider Willen eine allgemeine Furcht vor dem Anblicke
des Friedhofes und ın weiterer Folge vor demjenigen von Bäumen
überhaupt, welche sie an den Friedhof erinnern. Geht sie nun
an Bäumen vorbei, so muss sie sich vorstellen, dass die Bäume
förmlich „ausschlagen“ (es gibt einen bekannten Scherz: „Hüte
dich vor den Bäumen, sie schlagen im Frühjahr aus“), und sie
kann sich nicht mehr überwinden, dahin zu gehen, wo Bäume
stehen.
Diese vier Beispiele folgen alle dem gleichen Schema: In
irgend einer regelmässigen und bisher mit selbstverständlicher
Leichtigkeit vollbrachten Handlung kommt eines Tages eine
Unannehmlichkeit, ein Unbehagen oder ein Fehlschlag vor; von
da ab entsteht eine steigende Furcht vor der Leistung, welche
Idee der Patient selbst für sinnlos oder arg übertrieben hält;
dennoch kann er die Furcht nicht überwinden, auch wenn das
Unbehagen (wie im ersten Falle) sich gar nicht mehr wiederholt;
und das Endergebnis des Ganzen ist, dass die Leistung überhaupt
nicht mehr durchführbar ist oder, wenn sie geschehen muss, wie
die Defäkation, dass sie mit törichten Garantien vor sich gehen
muss. Natürlich kann man einwenden, ein solcher Vorgang sei
nicht direkt vergleichbar mit einer Zwangsvorstellung; denn
erstlich sei nicht das ganze Vorkommnis abnorm, wie es dort
der Fall ist, sondern abnorm sei nur eine in eine normale Aktion
eingeschobene Hemmung; und zweitens erfolge nicht eine stete
spontane Wiedererneuerung, die Zwangserinnerung des Vorganges,
sondern nur, wenn aus natürlichen, praktischen Gründen die
Leistung wieder nötig falle, dann erst komme auch die Hemmung
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 243
von neuem zum Vorschein. Diese Einwände nun scheinen mir
äusserlicher Art zu sein, sie treffen nicht das Wesentliche. Dass
die abnorme Empfindung bei der Handlung nicht das wirkliche
Hemmnis darstellt, ersieht man daraus, dass jene Empfindung
teils sich gar nicht wiederholt, teils, dass der Patient öfter selbst
die Furcht davor für törıcht hält.
Das Entscheidende vielmehr ist eine Furchtvorstellung,
die stete und spontan zu allen Zeiten sich eindrängende Er-
innerung an die früheren Misserfolge und die daran sich an-
schliessende Idee, die Leistung absolut nicht vollbringen zu
können. Gewiss handelt es sich hier um etwas Reales, um eine
wirkliche Leistung, während die Zwangsidee stets im Bereich des
bloss Gedachten verharrt, ein Schemen ist, das sich der Patient
in seiner Phantasie erschafft. Aber das ganze Verhalten des
Individuums vor der mit Aufregung verknüpften und lästigen
Schwierigkeit ist von Hause aus identisch in beiden Fällen: die
Unzulänglichkeit seiner geistigen Energie bei dem Wider-
streite seiner Logik mit seiner Phantasie tritt wieder grell hervor
und ebenso das stete unglückliche Fortarbeiten seiner Phantasie,
wodurch die Sachlage sich nur stetig verschlimmert. So wie die
Idee, einen gefährlichen Irrtum oder ein solches Versehen be-
gangen zu haben, trotz aller widerstrebenden Logik sich fort und
fort verstärkt, so tut dies auch die Vorstellung, ein unübersteig-
bares Hemmnis bei der gefürchteten Leistung des Rasierens, des
‚Ausgehens etc. immer wieder vorzufinden. Dass aber hier regulär
die Furchtvorstellung nach der Aktionsseite überfliesst,
dass die Handlung also stets in Wirklichkeit vereitelt wird, das
ist an sich nichts anderes, als wenn eine Person mit Berührungs-
furcht die entsprechenden überflüssigen Schutzmassregeln trifft
oder wenn jener Kaufmann durch ein Zeugnis des Arztes sich
davor schützen wollte, dass sein Gehilfe etwa sein Vermögen
beanspruchen könne auf Grund seines versehentlichen Ausspruches.
Die Hemmungen aber „liegen“ überhaupt diesen unenergischen
Naturen, denn es gehört wenig Tatkraft dazu, etwas nicht
zu tun.
Der Tatbestand der Phobien ergänzt überhaupt in nicht
unerheblicher Weise das Gesamtbild, das man sich von der
persönlichen Eigenart unserer Patienten zu machen hat. Wenn
man wahrnimmt, dass kein Zusammentreffen in der Praxis häufiger
sich ereignet als die Gleichzeitigkeit einer Agoraphobie, einer
. Berufsphobie u, dergl. mit irgend einer typischen Zwangsvor-
stellung, so wird man urteilen müssen, dass die Willenskraft und
die Energie im reinen Denkprozess nahe verwandte psychische
Leistungen sind — eine Annahme, welche auch ausserhalb der
Wundtschen Schule ohnehin gang und gäbe ist.
In recht glücklicher Art bestätigen ferner die Hemmungs-
probien unsere Aufstellung bezüglich der Isoliertheit des
wangsvorganges inmitten des geistigen Geschehens und Betätigens.
Wenn es allgemeines Gesetz ist, dass jedes irgend wichtigere oder
244 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
sich öfter wiederholende geistige Erlebnis nach allen Seiten bin
seine Fühler gleichsam ausstreckt, erfasst und eingegliedert wird,
so gilt dies in allererster Linie für unsere Handlungen. Nur im
schweren Delirium oder im tiefsten Blödsinne ist es denkbar, dass
eine weittragende Leistung oder Unterlassung ohne Ueberlegung
und ohne einen weiteren Wellenschlag im ganzen Gedanken- und
Gefühlsleben vor sich geht. Was tut aber unsere erste Patientin,
eine sonst normale junge Frau? Sie denkt gar nicht daran, dass
ihr Darm, der doch Schuld an dem ganzen Jammer tragen soll,
von einem Arzt untersucht und behandelt werden kann; es fällt
ihr gar nicht ein, systematische Versuche zu machen, um ihre
Angst allmählich zu mildern und um so wieder in normalere
Bahnen zurückzukehren; sie versucht noch weniger, sich direkt
zu überwinden; ja es interessiert sie nicht einmal, die eigentümliche
geistige Abnormität in ihr verstehen zu lernen. Sie versteht
also weder ihre Angst vor der Defäkation, noch sucht sie diese
von sich aus zu bekämpfen. Und jener Barbier gibt fast Knall
und Fall seinen Lebensberuf auf; er offenbart sich niemandem;
er denkt nicht daran, sich in einem geringeren Geschäfte von
neuem einzuüben, er versucht es auch nicht mehr auf meinen
Rat hin, er tut nicht einmal das Allernächstliegende, dass er zu-
nächst nur das Rasieren bei jenem empfindlichen Kunden meidet,
er fragt nicht, ob seine Hand etwa unsicherer geworden sei, kurz,
beide ergeben sich mit fatalistischer Selbstverständlichkeit und
sogar fast ohne Verwunderung in ihr Schicksal.
Bei den aktiven Zwangsimpulsen, z. B. einem motivlosen
Selbstmordtrieb, war es gewiss wunderbar, dass ein solcher Trieb
wie eine von aussen hereingebrachte „Besessenheit“ den Kranken
ergreifen konnte, im Widerspruche mit allem sonstigen Denken
and Fühlen der Person. Indessen das Wunder ist noch grösser,
wenn eine vollsinnige Person sich geradezu widerstandslos
ihren „Einbildungen“ überlässt, ihren Beruf deshalb aufgibt,
sich wochen- und monatelang ins Haus bannt, lächerliche und die
Person dem Gespötte aussetzende Dinge übt und dergleichen.
Dass es sich auch bei den gewöhnlicheren Agoraphobien im
wesentlichen nicht um starke Schwindelgefühle, sondern wieder
nur um Vorstellungen, „Einbildungen“, handelt, schliesse ich unter
anderem aus der Tatsache, dass der „Schwindel“ ausbleibt, wenn
die Personen in Begleitung sind, ja wenn nur ein kleines Kind
dabei ist. Jeder von uns aber weiss, dass der tatsächliche Höhen-
schwindel auf der Plattform eines Turmes, auf einer jäh ab-
fallenden Bergspitze der gleiche bleibt, ob wir allein oder ob wir
in Gesellschaft sind. Die Einbildung indessen ist ein despotischer
und von der Logik unabhängiger Herrscher, und ihre Opfer wissen
ganz wohl selbst, dass sie aus eigener Kraft sich nicht darüber
hinwegsetzen können. So hatte ein an sich gutartiger junger
Mann seiner Familie erklärt, er könne nicht sich dazu bringen,
wieder ins Geschäft zu gehen, wo ibn der Prokurist zweimal ge-
scholten hatte, und dies geschah in dem Moment, wo alle Hülfs-
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 245
quellen im Hause versiegt hatten, und wo die Familie unmittelbar
vor der Pfändung stand. Statt dadurch angespornt zu werden,
dass er der einzige Helfer ın der Not war, brach er, erblich be-
lastet, wie er war, ganz zusammen unter dem Gedanken, seine
Willenskraft besonders energisch betätigen zu müssen.
Die in der Tat merkwürdige Eigenart all dieser Vorgänge
ermessen wir indessen auch jetzt wiederum erst dann in ihrer
Schärfe und wahren Tragweite, wenn wir unseren Blick ver-
gleichend lenken auf die Willenshemmungen, welche durch
ähnliche Furchtvorstellungen und peinliche Affekte ins Dasein
gerufen werden, die aber zugleich die Merkmale der Ueber-
wertigkeit an sich tragen. Sie sind an sich viel häufiger und
praktisch viel wichtiger als jene Zwangsphobien, doch. fallen sie
uns weniger als abnorm auf und gelangen auch seltener zur
Kenntnis des Arztes eben dadurch, dass sie als weit natürlicher
erscheinen. Ausserdem aber sind sie seither zum grossen Teile
mit jenen Phobien unterschiedlos zusammengebracht und vermengt
worden — ein Verfahren, das vielleicht am meisten der An-
erkennung der Phobien als Zwangsvorgänge schaden musste.
Die Beispiele sind zahlreich: Hierher gehört schon der ab-
norme Geiz, ferner die Verarmungsfurcht der melancholisch
Gestimmten, welche sie hindert nötige Ausgaben zu machen; die
übertriebene Unschlüssigkeit und Zweifelsucht nervös ab-
gespannter Juristen, welche sie veranlasst, von Prozessen ab-
zuraten, auf Vergleiche hinzuarbeiten, wo dies nicht am Platze
ist; weittragende Bedeutung für die Betroffenen gewinnt es, wenn
sich bei ihnen durch eine Reihe von Unpannehmlichkeiten eine
Unbefriedigtheit und Angst vor ihrem Berufe entwickelt. Vor
Jahr und Tag hat mich als jungen Menschen ein Schwarzwaldwirt
selbst über einen Bergsee hinüber gerudert, und ich erfuhr, dass
der Mann früher praktischer Arzt war, aber allein aus Verstimmung
über einige Todesfälle seinen Beruf gänzlich an den Nagel gehängt
habe und nun Gastwirt geworden sei. Gegenwärtig bekandle ich
einen begüterten Herrn in den besten ‚Jahren, welcher sein
langjähriges und völlig geordnetes Geschäft nicht mehr weiter zu
führen entschlossen ist, weil der Verdienst ihm nicht genügt und
weil er sich zuviel ärgern muss. Eine der praktisch allerwichtigsten
Ueberwertigkeitsphobien ist zur Zeit die überhand nehmende Furcht
der rentengeniessenden Unfallkranken vor der Wiederaufnahme
ihres Berufes. Von einem Postbeamten ist in anderem Zusammen-
hange schon geredet worden, so zwar, dass jener eine allgemeine
Furcht vor dem Schalterdienste nicht zu besiegen vermochte, eine
Furcht, welche er indessen für berechtigt erklärte. Derartige
Dinge kommen sehr häufig bei Post- und Staatsbeamten überhaupt
vor; oft ist es der Vorgesetzte oder sind es die örtlichen Ver-
hältnisse, welche die Person nur mit Pein und Qual an die Fort-
setzung ihres Dienstes denken lassen. Und eine der charak-
teristischsten und wirksamsten Hemmungsphobien der Art treffen
wir in dem bekannten Heimweh, d. h. der Angst vor dem Leben
246 . Friedmann, Ueber die Abgrenzung
in den neuen Verhältnissen; dass eben diese ihr Opfer sogar
in den selbstgewählten Tod treiben kann, ist nichts ungewöhnliches.
„Viel berufen ist auch die Examensfurcht, welche nicht allzuselten
ein ganzes Leben ruiniert hat; und die übertreibende hypo-
chondrische Aengstlichkeit und Scheu vor Erkältung, An-
steckung, vor demLebendig-begraben-werden, derHundswutetc.etc.
ist ja allgemein bekannt und zum Teil durch schöne griechische
Benennungen ausgezeichnet worden.
Wir halten ein; das Verzeichnis könnte, wie der Leser er-
kannt haben wird, sich auf das ganze Gebiet menschlicher Be-
fürchtungen erstrecken, und das ist kein kleines. An welcher
Stelle aber auch wir es berührt haben, überall werden die gleichen
Merkmale bei geringer Ueberlegung zutage treten. Stets erkennt
der Träger der Befürchtung diese als berechtigt an, stets drängt
und treibt es ihn, die Sache gründlichst zu durchdenken, sich
Aufklärungen darüber zu verschaffen, sich, wo es nottut, zu ver-
teidigen gegen Vorwürfe darüber. Ziemlich oft wird die Person
selbst einsehen lernen, dass sie auf falschem Wege ist, dass nur
eigene Charakterschwäche oder ungezügelter Gefühlskultus sie in
die peinliche Lage versetzt hat, so bei der Examensangst, bei der
hypochondrischen Scheu. Um so mehr wird die Person dann die
für sie sprechenden Gründe hervorheben, oder aber sie wird sich
ernsthaft-bemühen, die Furcht systematisch zu überwinden. Jeden-
falls also baut sıch der gesamte Ideenkreis in legaler Form aufMotive
auf, und er steht in legaler Verknüpfung mit der gesamten geistigen
Persönlichkeit. Nicht ein Fremdkörper im psychischen Or-
ganismus, sondern ein Sorgenkind ist ihm, dem Subjekte, er-
standen.
Der Grund freilich, weshalb die Personen sich so verhalten,
kann ein doppelter sein: entweder ist die Befürchtung hier eine
logisch stärker motivierte als bei den Phobien, wo sie oft eine
geradezu törichte sein kann; oder aber die Willenskraft ist um-
gekehrt nicht allein geschwächt, auch der kritische Apparat zeigt
sich ausserstande, den Widerstand zu leisten, welcher bei der
Zwangsphobie wenigstens noch erhalten ist und sich von der
Niederlage fernhält. |
Wir sind jetzt soweit gelangt, dass wir eine abschliessende
Definition der Hemmungsphobie aufstellen können. Es war
bisher fast allgemein üblich, dass man die Art des Allgemein-
gefühles, das in der Pobie enthalten ist, nämlich die Angst
als das sie wesentlich Auszeichnende aufgefasst hat. Man unter-
schied so, dem Inhalte nach, drei Hauptformen der Zwangs-
vorgänge: solche welche eine Vorstellung oder sinnliche Emp-
findung, welche einen Willensimpuls und welche drittens ein
Allgemeingefühl der Angst zum (Gegenstande haben. Diese
Unterscheidung ist wiederum nicht logisch, denn ein psychischer
Zwang kann sich, worauf wir uns bereits geeinigt haben, nur auf
solche seelische Elemente oder Inhalte erstrecken, die in der
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 247
Norm dem Willen unterworfen sind, und dazu gehört die Angst
offenbar nicht. Muss man also logischer Weise demgemäss die
Phobien aus dem Inventar der Zwangsvorgänge streichen? Ich
kann diese sehr oft angenommene Folgerung nicht für angemessen
halten, aus zwei Gründen: erstlich ist ein Angstgefühl keines-
wegs der Phobie allein eigentümlich, geradezu in. der Mehrzahl
der „echten“ Westphalschen Zwangsvorstellungen begegnet es
uns milder, aber ähnlich, so bei der Irrtumsfurcht, bei den
Kontrastvorstellungen peinlichen Inhaltes, bei allen Zwangs-
befürchtungen, und wie wichtig es ist für die Genese des Denk-
zwanges, wollen wir nun in Bälde dartun. Die seit der West-
phalschen Definition so oft erörterte Frage, ob es primär oder
sekundär auftritt, scheint mir wahrlich nicht erheblich zu sein !),
es ist eben eng verbunden mit der Vorstellung und verleiht
ihr ihre besondere Bedeutsamkeit. Wer will übrigens entscheiden,
ob bei dem Misserfolge jenes Barbiers zuerst die „Vorstellung“
der Unsicherheit seiner Hand oder die „Angst“ vor dem Schimpfen
des verletzten Klienten da und das Entscheidende war? Wer weiss,
ob bei der Platzfurcht „die Idee“ der Hülflosigkeit oder die Angst-
vor Schwindel massgebend ist? Da ein djähriges Kind den
Patienten schon mit Sicherheit erfüllt, wenn es zugegen ist, scheint
eher die erstere Alternative zuzutreffen.
Zweitens aber ist es, wie wir gezeigt haben, gar nicht die
Angst selbst, sondern die Erinnerung an die Angst oder viel-
mehr an den gesamten Vorgang mit seinen Schwierigkeiten, was
den Patienten dauernd behelligt, und das ist wiederum eine
„Furchtvorstellung“. Das Besondere ist nur, dass der Denk-
zwang sich nicht an eine Vorstellung pure anknüpft, sondern an
eine solche, welche sich in eine gewohnheitsmässige Handlung
einschiebt. Die Art der psychischen Abnormität aber ist durch
und durch die gleiche in beiden Fällen, und darauf kommt es
doch letztlich an.
So ist in der „Phobie“, wie es auch ihr Name treffend
ausdrückt, die Furchtvorstellung, die Vorstellung von etwas, das
zu fürchten ist, das Wesentliche, und dieses wollen wir mit der
Definition kennzeichnen:
„Mit Phobie bezeichnen wir eine Furchtvorstellung be-
stimmten konkreten Inhaltes, welche sich in eine gewohnheits-
mässige Handlung einschiebt, welche mit Angstgefühl verbunden
ist und welche der Träger als widersinnig oder als schwach be-
gründet erkennt und welche er nicht weiter geistig verarbeitet bezw.
assoziiert; dennoch empfindet er gleichzeitig den Trieb, sie für
wohlbegründet zu halten, und es gelingt ihm weder, das. stetige
spontane Wiederauftauchen der Furchtidee abzuwehren, noch die
1) Selbstverständlich ist bei der gewöhnlichen Zwangsvorstellung
diese und nieht das peinliche Gefühlsmoment das Primäre, wie Westphal
richtig hervorhob.
248 Hartmann, Beiträge zdr Apraxielehre.
Handlung, auf welche sich die Furcht bezieht, durchzuführen
oder zu vollenden.“ |
Damit haben wir die bedeutendsten Kontroversen, welche
die Umgrenzung des Begriffes der Zwangsvorgänge betreffen,
durchgesprochen. Wir haben uns im allgemeinen auf die Dis-
kussion des vorhandenen Tatbestandes beschränkt. Indessen
hat es sich zur Genüge gezeigt, dass diese Erörterung immer
wieder auf das zurückweist, was hinter dem Tatbestande steht,
nämlich auf den psychologischen Vorgang, aus welchem jener
hervorgeht. Das wissenschaftliche Gewissen verlangt, dass wir
nun diesen selbst prüfen.
(Schluss im nächsten Heft.)
(Aus der neurologisch-psychiatrischen Klinik der Universität Graz.)
Beiträge zur Apraxielehre.
Von
Prof. Dr. FRITZ HARTMANN.
(Schluss.)
5. Die Bedeutung des Balkens für die apraktischen Störungen.
Der vorliegende Fall ist insofern ausserordentlich lehrreich,
als er dartut, dass eine ausgiebige Unterbrechung des Balkens
in den beregten Abschnitten genügt, um die rechtsseitige Extremi-
tätenzone in ihren höheren, durch vielfache zentripetale Impulse
angeregten und unterhaltenen Tätigkeiten empfindlich zu schädigen.
Eine Unterbrechung des Balkens in den Höhen von der
vorderen Kommissur bis zum Splenium hat im vorliegenden Falle
fast die ganze Masse der durchtretenden Faseranteile vernichtet;
zugleich wurde auch das Cingulum beider Seiten bis in die
vorderen Stirnhirnebenen links mehr als recht zur teilweisen
Degeneration gebracht. Die Markfaserung der inneren Kapsel
erschien nur insoweit pathologisch, als die durchtretenden Balken-
bahnen degeneriert sind.
Im klinischen Symptomenkomplexa findet sich trotz wohl-
erhaltener sensorischer Leistungen eine eigenartige und bedeutungs-
volle Störung im Bewegungsablaufe insofern, ala auch in diesem
Falle die beiden oberen Extremitäten sich bezüglich
ihrer Leistungsfähigkeit sehr bedeutend unterschieden,
ohne dass Parese oder Lähmung vorhanden gewesen wäre.
Der Ablaut von Bewegungsfolgen in der rechten oberen
Extremität zeigte insolange keine wesentlichen Störungen, als die
Mithilfe der von den betreffenden Objekten auf verschiedenen
Sinnesgebieten zufliessenden Eindrücke garantiert war, hingegen
war die Reproduktion von Bewegungsfolgen allein aus der Er-
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 249
innerung sichtlich erschwert, manchmal unmöglich. Wurde die
Mithülfe anderer Sinnessysteme bei Objektshandlungen verhindert,
so traten ebenfalls bedeutende Erschwerung, sehr häufig Ausfälle
der Bewegung und amorphe Bewegung, mitunter Bewegungs-
verwechslung auf. Hingegen war das Nachahmen von Bewegungen
nach optisch vorgemachten rechts gut erhalten.
Der Ablauf von Bewegungsfolgen in der linken oberen
Extremität zeigte schwere Störungen, insofern hier auch die Mit-
hülfe der übrigen Sinnessysteme nicht genügte, die Bewegungs-
folgen auszulösen, statt dessen ebenso auch bei Leistungen aus
dem Bewegungsgedächtnisse allein Bewegungsausfall und amorphe
vertrackte Bewegungen, sehr selten Bewegungsverwechslung erfolgte.
Bewegungsleistungen, welche mit beiden oberen Extremitäten
gleichzeitig vollzogen werden sollen, erscheinen am schwersten
geschädigt, da sie fast ausschliesslich nur in Form nicht zweck-
gemässer vertrackter Bewegungen sich auslösten.
Wir dürfen in Hinsicht der oberen Extremitäten zusammen-
fassend schliessen:
Die Direktion von Bewegungen der linken Körperhälfte war
ausnahmslos schwer geschädigt, indem von den verschiedenen
Sinnessystemen her Bewegungsanregungen zweckgemäss nicht
erfolgen konnten. Vom linken und vom rechten sensorischen
Hirngebiet war die Anregung zu den sensomotorischen Regionen
des rechteg Gehirnes geschädigt.
Die Direktion von Bewegungen der rechten Körperhälfte
war nur insofern beeinflusst, als ernste Schädigungen erst bei
Ausfall der beständigen kontrollierenden Mitwirkung wichtiger
Sınnesspbären auftraten.
Das Zusammenarbeiten beider Gehirnhälften zu gemeinsamer
motorischer Tätigkeit der oberen und unteren Extremitäten, sowie
insbesondere auch dieser und der Rumpfmuskeln erscheint am
schwersten geschädigt.
Vergleichen wir dieses klinische Tatsachenmaterial mit dem
anatomischen Befunde, so muss noch besonders betont werden,
dass zu diesem Zeitpunkte Störungen im Bezeichnen und Erkennen .
in den verschiedenen Sinnessystemen nicht bestanden, die allge-
meine Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit und Gedächtnisleistungen
sowie die Urteilsbildung keine nennenswerte Einbusse erlitten
haben, und wir wohlberechtigt sind, die vorhandenen Symptome
auf eine Herderkrankung zu beziehen.
Der Unterbrechung der beregten Balkenanteile dürfen dem-
nach als konsekutive klinische Störungen zugeschrieben werden:
Apraxie der linken oberen Extremität bei erhaltener Inten-
tion zu Bewegungen, vielfach noch erhaltenen Eigenleistungen;
Verlust der Befähigung zur Zusammenarbeit beider oberen
Extremitäten zu zweihändigen motorischen Leistungen; à
. Schädigung der Bewegungsabläufe der rechten oberen. Ex-
tremität bei Ausschluss besonders des optischen Systemes.
250 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
. Die geschilderte Störung des kombinierten Bewegungs-
ablaufes von Armen, Rumpf und Beinen zum statischen und loko-
motorischen Muskelgeschäfte wird mangels anderer Herderkrankung
wohl auch auf die Balkendurchtrennung bezogen werden müssen.
Diese Störung wurde bisher seit den Arbeiten von Bruns?)
u. A. als Stirnhirn- oder Balkenataxie bezeichnet. Zu
Wenn man aber im strengen Sinne des Wortes unter Ataxie
ein Ungeschick ansonst zweckgemäss ablaufender Bewegungs-
vorgänge versteht, dann unterscheidet sich die vorliegende Störung
hiervon sehr wesentlich. Es findet sich keine wesentliche moto-
rische Schädigung der Motilität der Beine bei Bewegungen der-
selben in Rückenlage des Körpers, wohl aber die vollständige
Unfähigkeit zu zweckgemässer Zusammenarbeit der die Statik
und Lokomotion besorgenden Muskelsysteme. Statt dessen treten
Akinesen, rudimentäre und vertrackte Bewegungseffekte auf.
Man hat demnach in diesen Erscheinungen ein Analogon
zur Apraxie der oberen Extremitäten zu suchen und wird davon
abgehen müssen, von einer Stirnhirn- oder Balkenataxie zu
sprechen, sondern diese Störungen als Apraxie der unteren
xtremitäten und des Rumpfes in Hinsicht der statischen
und lokomotorischen Funktion aufzufassen haben. |
Welche Deutung lassen die klinischen und pathologisch-
anatomischen Tatsachen demnach zu?
Es ist durch den geschilderten Herd eine nahezu voll-
kommene Trennung der beiden Hemisphären in dem beschriebenen
Anteile erfolgt, und scheinen demnach die destruierten Hirn-
gebiete Hirnbahnen zu beherbergen, welche
1. das rechtsseitige Gehirn befähigen, den Ablauf von Be-
wegungen auf Impulse verschiedener Sinnessphären an-
zuregen;
2. welche der Zusammenarbeit der oberen Extremitäten zu
gemeinsamen Objekthandlungen dienen;
3. die Zusammenarbeit der für das statische und lokomoto-
rische Geschäft der Extremitäten und des Rumpfes not-
wendigen Bewegungsfolgen ermöglichen;
4. wahrscheinlich vom rechten Gehirne her unterstützende
Impulse für den gedächtnismässig geleiteten Ablauf der
motorischen Tätigkeit des linken Gehirns liefern; denn
dieser wird bei Unterbrechung dieser Bahnen schon durch
Ausschaltung der sinnlichen (speziell optischen) Kontrolle
in Frage gestellt.
Hieraus dürfen wir mit Vorbehalt schliessen, dass zu diesen
eben angeführten Leistungen die Integrität der bezüglichen Balken-
verbindungen eine notwendige Voruussetzung ist.
Im Zusammenhalte von Liepmanns Beobachtung und dem
ersten in dieser Abhandlung geschilderten Falle konnte die
1) Bruns, Deutsche med. Wochenschr. 1892.
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 251
Deutung abgeleitet werden, dass präzentralen Gebieten die
assoziative Funktion optischer, akustischer, taktiler Bewegungs-
bilder mit Bewegungsbildern des eigenen Körpers (ein kinästhe-
tisches Gedächtnis komplizierter Bewegungsabläufe) zukomme,
In der Deutung, dass innerhalb dieser Funktion die linke Hemi-
sphäre über die Befähigung der rechten präponderiert, befinde
ich mich in vollem Einklange mit Liepmann.
In Liepmanns Fall bedingte der Abschluss der Zentral-
windungen und des Stirnhirns von der übrigen linken Hemisphäre
and durch Unterbrechung des Balkens auch von der rechten
Hemisphäre folgende Symptome:
1. Verlust der von einzelnen und verschiedenen Sinnes-
systemen angeregten Bewegungsabläufe in der rechten oberen
xtremität, Bewegungsverwechslung oder amorphe Bewegungen;
2. hochgradige Herabsetzung der komplizierten Bewegungs-
abläufe auch der linken oberen Extremität trotz Intaktheit der
beiderseitigen sensorischen Hirnstationen; |
8. Erhaltenbleiben der Eigenleistungen (Knöpfen u. s. w.
Liepmann) der oberen Extremitäten und des statischen Ver-
mögens?
. 4. Erhaltenbleiben der Bewegungsintention überhaupt. Dem-
gegenüber zeigte der Fall I meiner Beobachtung bei Zerstörung
des linken Stirnhirnes und des Balkens bis in die Ebenen vor dem
linken Thalamus opticus:
1. vollkommenen Verlust von Intention und Anregbarkeit von
Bewegungen der rechten Körperseite von Seite beider Gehirnhälften;
2. hochgradige Störung der Bewegungsabläufe der linken
Extremitäten in dem Sinne, dass die Zusammenordnung solcher
zum Continuum einer Handlung unmöglich, rein gedächtnismässig
ausgelöste Bewegung besonders geschädigt wurde, aber auch echt
partielle apraktische Erscheinungen, Akinese u. s. w.;
3. Erhaltenbleiben von Eigenleistungen der linken Extremi-
täten, also des rechten Gehirnes, Erhaltenbleiben der statischen
Funktionen; |
Der Fall II bei Zerstörung des Balkens von den Ebenen
der vorderen Kommissur bis nach dem hinteren Ende zeigte:
.1. Amorphe Bewegungseffekte, akinetische Erscheinungen an
der linken oberen Extremität, also Störung der vom rechten Gehirne
her zu leistenden Bewegungsabläufe bei Erhaltenbleiben von
Eigenleistungen;
- 2. Störung der Bewegungsabläufe der rechten oberen Ex-
tremität in dem Sinne, dass zur Erhaltung des Continuums einer
Handlung zum mindesten die Mitarbeit der optischen Sinnes-
kontrolle erforderlich wurde, vorwiegend also eine Schädigung in
der Zusammenfassung einzelner Bewegungsreihen aus rein gedächtnis-
mässigen Leistungen.
3. Erhaltensein der Eigenleistungen des Sensomotoriums
beiderseits, besonders links, Verlust der statischen Funktionen;
4. Erhaltenbleiben der Bewegungsintention.
252 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
Aus dieser vergleichenden Betrachtung ergibt sich eine
interessante Gegenüberstellung des in den 3 Fällen gefundenen
Symptomenkomplexes in Hinsicht ihrer Beziehung zu den patho-
logisch-anatomischen Tatsachen.
Schälen wir aus den Symptomenkomplexen des Falles
Liepmann und meines Falles I die Symptome, welche die Balken-
durchtrennung meines Falles II darbietet, los, so finden wir:
Linksseitige und doppelhändige Motilitätsstörungen des Falles
Liepmann sind allein schon durch Balkenschädigung erklärt
(damit in Uebereinstimmung die Schädigungen der linksseitigen
Motilität bei rechts Gelähmten, wie sie Liepmann („linkes Gehirn
und das Handeln“) als Balkenschädigung gedeutet hat.
Die Störung im Nachahmen von passiven Bewegungen einer
Seite durch die andere Seite ist durch die Balkenschädigung
erklärt.
Schädigung des Continuums der Handlung der rechten Ex-
tremitäten (Liepmanns Fall) ist schon zum Teile durch die
Balkenaffektion erklärt. Hinzu tritt als durch Absperrung der
Sinnessysteme erzeugt die weitere Summe der apraktischen Er-
scheinungen.
Das Erhaltenbleiben der beiderseitigen Bewegungsintention ist
vom Balkenverluste unabhängig.
Der Verlust der statischen Funktionen in meinem Falle von
Balkendurchtrennung findet sich nicht in Liepmanns Fall;
wenigstens macht Liepmann über analoge Störungen im späteren
Verlaufe der Erkrankung keine bezüglichen Angaben.
Als Folgen der übrigen Veränderungen in Liepmanns Fall
erscheint demnach der Komplex der amorphen Bewegungseffekte
und Akinesen bei Öbjekthandlungen aus der Erinnerung, und
wenn die Objekte gegeben sind, bei Ausdrucksleistungeu, bei
Nachahmung optisch vorgemachter Bewegungen in der rechten
oberen Extremität.
Vergleichen wir meinen Fall I und Fall II, so ergibt sich,
dass in Fall II bei weitgehender Durchtrennung des Balkens und
dem damit einhergehenden. Erscheinungskomplexe (Bewegungs-
verwechslung, amorphe Bewegungen, Akinesen der linken oberen
Extremität) eher schwerere Schäden der rechtsseitigen Hirn-
(linksseitigen Körper-)Funktionen vorhanden waren als in Falll,
in welchem zwar die Intention zu Bewegungen in der linken
Extremität sehr vermindert schien, wenn aber Bewegungen ab-
liefen, dieselben oft zweckgemäss waren und nur deutlich zeigten,
dass die Mithilfe aller Sinnessysteme zum Continuum der Hand-
lung mangelhaft war, so dass es immer neuer und kräftigerer Reize
bedurfte, um einen Bewegungsablauf zu Ende zu führen. Nachahmen
vorgemachter Bewegungen war wohl möglich, schwerer geschädigt
waren eigentlich nur die rein gedächtnismässig zu reproduzierenden
Bewegungsfolgen.
Diesem symptomatologischen Unterschiede entspricht patho-
logisch-anatomisch, dass in Fall II der Balken vom Splenium bis.
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 253
in die Ebenen der vorderen Kommissur zerstört war, im Falle I
das Splenium zwar frei, aber die Partie des Balkens von den
Ebenen der vorderen Kommissur bis nach hinten zerstört ge-
funden wurde.
Daraus darf mit Vorsicht geschlossen werden, dass von
den Sinnessystemen im Falle I noch isolierte Leistungen auf die
rechten motorischen Hirnregionen übertragen werden konnten,
dass die bezüglichen Bahnen durch das im Falle II zerstörte
Balkenfeld laufen, dass hierfür das rechte Gehirn allein nicht
genügt, sondern auch das linke unter Vermittlung der bezüglichen
Balkenbahnen Anteil haben muss, geht unzweifelhaft aus dem
Falle II hervor.
Im Falle I und II waren die gedächtnismässig auszulösenden
Bewegungsfolgen in den linken Extremitäten einmal bei Zer-
störung des linken Stirnhirnes, das andere Mal bei Durchtrennung
des Balkens erloschen, eine Erscheinung, deren Deutung ich
später versuchen will.
Im Falle II war aber ausserdem der Bewegungsablauf unter
Mithilfe der von den Sinnessystemen zufliessenden Reize im
rechten Gehirne unmöglich, z. B. insbesondere das Nachahmen,
während in Fall I, abgesehen von der verminderten Bewegungs-
intention und Koordination des Continuums der Handlung, die
Bewegungsfolgen noch abliefen, so z. B. das Nachahmen optisch
vorgemachter Bewegungen erhalten blieb.
Sonach erscheint mir die Balkenläsion auch elementarere
Funktionen des rechten Gehirnes zum Ausfall gebracht zu haben,
die Zerstörung des linken Stirnhirnes zeigt hingegen vorwiegend
Gedächtnis und höhere Zusammenfassung von Bewegungsfolgen
geschädigt. |
Trotz dieser relativ leichteren, aber der Dignität nach
höheren Schädigung der Funktion des rechten Gehirnes findet
sich nun in Fall I eine sehr schwere totale Apraxie der rechten
oberen Extremität ohne Läsion der Pyramidenbahn, und es durfte
.wohl schon damals hieraus der Schluss gezogen werden, dass
hierfür die Zerstörung des linken Stirnhirnes als massgebende
Grundlage wird angesprochen werden müssen.
Sind nur die beiderseitigen hinteren (sensorischen) Hirnab-
schnitte, der Teil des Balkens bis vorne intakt, so vermag das
intakte rechte Gehirn noch motorische Leistungen durch An-
regung eines Sinnessystemes zu leisten. Es bedarf aber zur
kontinuierlichen Leistung noch der Mitarbeit des linken Stirn-
hirnes durch die vordere Hälfte (?) des Balkens.
Sind die beiderseitigen hinteren Hirnabschnitte und die
beiden Stirnhirne intakt, der Balkenabschnitt (wie im Fall II)
durchtrennt, so vermag das linke Stirnhirn und das rechte Stirn-
hirn das intakte, rechte Gehirn nicht zu zweckgemässer Bewegung
anzuregen.
Es fällt also hier schon die elementare Funktion aus,
während Verlust des linken Stirnhirnes die komplizierte Funktion
254 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
der Zusammenordnung elementarer Handlungen, die noch erhalten
sind, verloren gehen lässt.
Demnach würde sich folgendes Schema für die Mechanik
komplizierter Bewegungsabläufe ergeben:
Impulse aus den linksseitigen Sinnessystemen ermöglichen,
im linksseitigen Stirnhirne den Ablauf zugeordneter Bewegungs-
folgen zur Anregung zu bringen, wobei die Mitarbeit des rechten
Gehirnes notwendig wird, wenn nur ein Sinnessystem den Ab-
lauf der Bewegungen kontrolliert und während des Ablaufes be-
einflusst.
Impulse aus den verschiedenen Sinnessystemen beider Seiten
ermöglichen im rechten Stirnhirne allein den Ablauf einer spon-
tanen zweckgemässen Bewegungsfolge.e Die gedächtnismässige
Fortentwicklung der Handlung bedarf der Mitarbeit des linken
Stirnhirnes.
Unterbrechung der Balkenbahnen schädigt neben der ge-
dächtnismässigen Beeinflussung schon die Möglichkeit zweck-
gemässer Bewegungsanregung im rechten Gehirn. |
Die Ordnung von Bewegungsfolgen der anderen Seite aus
Muskelsinnreizen einer Seite bedarf, wie dies schon Anton nach-
gewiesen hat, der Uebertragung durch den Balken. Das Zusammen-
arbeiten beider oberer Extremitäten zu einer Handlung, also die
gegenseitige Zusammenordnung asymmetrischer Bewegungsfolgen
zu einen Endzwecke ist ebenfalls an die Intaktheit der Balken-
bahnen gebunden.
Das Zusammenarbeiten der für statische und lokomotorische
Handlungen des Gesamtorganismus nötigen Bewegungsabläufe ist
ebenfalls an die Intaktheit von Balkenbahnen gebunden.')
Ich brauche wohl nicht hervorzuheben, dass ich auch noch
durch eine eingehende Untersuchung einer grossen Reihe von
Tumoren und Erkrankungen mit anderer cerebraler Lokalisation
diese Ergebnisse in dem Sinne zu stützen vermochte, als nicht.
in einem einzigen Falle die Erscheinungen der Apraxie in der
hier geschilderten Art zu beobachten waren, hingegen konnte ich
Liepmanns Beobachtungen an motorisch-aphasischen und rechts-
seitig Gelähmten vollauf bestätigen, worüber ich an anderer
Stelle berichten werde.
Nach dem Gesagten möchte ich ganz kurz hier noch eines
interessanten Falles Erwähnung tun, welcher eine Blutung in das
rechte Stirnhirn betraf. Derselbe ist jüngsten Datums und
konnte weiterer histologischer Verarbeitung noch nicht zugeführt
werden.
Hier war es (wie im vorhergehenden Falle) auf Grund der
eben uuseinandergesetzten Anschauungen gelungen, die Lokal-
diagnose in vivo zu stellen, was mir eine willkommene Stütze
1) Die vorhandene Agraphie und Alexie, auf die ich vorläufig nur
hinweisen möchte, verdienen ein gesondertes, hervorragendes Interesse.
Vgl. Heilbronner, l. c. l
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 255
der von mir gegebenen Deutungen des bisherigen Tatsachen-
materiales ist. |
6. Krankenbeobachtung mit pathologisceh-anatomischem
Befunde.
Hierzu Tafel I, II, Figur 7.
Krankengeschichte: K. G. ist 55 Jahre alt, verheiratet, kinderlos,
war ÖOberoffizial. Seine Eltern sind beide in hohem Alter gestorben. Es
bestehen keine hereditären Verhältnisse, seine drei Brüder und seine Schwester
sind vollkommen gesund.
Als Kind soll Pat. sehr aufgeweckt gewesen sein und immer gute
Schulerfolge gehabt haben. An Krankheiten hatte er „Gehirnentzündung“,
Lungen- und Rippeonfellentzündung durchzumachen. Mit 17 Jahren ging er
freiwillig zam Militär. |
Von den Angehörigen des Pat. wird erzählt, dass dieser schon jahre-
lang an Nasen-Rachenkatarrhen dureh Prof. Habermann behandelt worden
sei. Auch sollen vor Jahren Erbrechen von Schleim, Uebelkeitsgefähl,
Schwindelgefühl aufgetreten sein.
In der lezten Zeit besteht ein längs der Sagittalnaht ziehender Streifen
von Handbreite, in dessen Bereich eigentümliche Gefühle, Druck auftraten.
Pat. war seit sieben Monaten beurlaubt und sollte in den Dienst zurück-
kehren. Es erfolgte eine Einberufung zur Untersuchung nach Cilli, worüber
er sich sehr aufregte.
Am 29. VI. kam er in Graz an, war in sehr guter Stimmung und
machte einfältige Spässe.
l Vier Wochen vorher fiel gelegentlich einer Anwesenheit in Graz schon
auf, dass er dem Gange eines längeren Gesprächs nicht folgen konnte und in
Gesellschaft in aunffallender Weise den Anstand verletzte.
An dem oben genannten Tage trat zum erstenmal ein Anfall auf,
während welchen Kopf, Nacken und Gesicht nach der linken Seite zu ver-
zogen wurden, die Augenlider waren weit aufgerissen, der Blick zeitweise
starr nach links gewendet.
Im weiteren Verlaufe nahm auch die linke obere Extremität an krampf-
artigen Zuckungen teil. Nach dem Anfalle verblieb eine linksseitige Parese
des Facislis. Ks fand jedoch kein Abgang von Stahl oder Urin statt, auch
wurden keine Zungenbisse beobachtet.
Status psychieus bei der Aufnahme: Pat. ist zeitlich und örtlich
orientiert, frei von Sinnestäuschungen und Wahnbildungen, in seiner Stimmunge-
lage läppisch, euphorisch und ermangelt sichtlich voller Krankheitseinsicht.
Die perzeptiven Fähigkeiten erscheinen auf allen Sinnesgebieten erhalten.
Die Apperzeption: das Bezeichnen und Erkennen optischer, akustischer,
taktiler, olfaktorischer und gustatorischer äusserer Eindrücke, die Identifikation
von Sinneseindrücken mit Sprachbegriffen, das Aufzählen eingelernter Reihen,
die Prüfung der Wahlreaktionen erscheinen bis auf ganz geringe Lücken wohl
erhalten [siehe einzelne Beispiele unten].!)
1) 1. Optisch: Erkennen.
Schlüssel richtig °
Glocke »
Kipfel »
Federstiel „
Glas »
Uhr Ich hätt’ schon an Vermittlungsweg
Tuch richtig
2. Akustisch: Erkennen.
Schnalzen mit der Hand richtig
Läuten „
Klingen mit dem Glase Glocke!
Monataschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd XXI. Heft 3. 17
256 Hartmann, Beiträge sur Apraxielehre.
Die Prüfung des Sprachvermögens: Die 'Sprechfäbigkeit!) (Spoutan-
sprechen) erhalten. Das Nachsprechen einfacher Worte gelingt gat, bei
schwierigeren und zusammengesetzten langen Worten treten einzelne Para-
phasien auf. -
Das Sprachverständnis ist intakt.
Die Schreibfähigkeit ist wohl erhalten, das Nach- und Diktatschreiben
weist bei schwierigeren Worten Auslassen einzelner Silben auf.
Die Prüfang auf das Lesen wird durch das Vorhandensein einer Seh-
störung sehr erschwert.
Die Aufmerksamkeitsleistungen des Kranken sind bei grober Prüfung
nicht schwer geschädigt.
Die Merkfähigkeit ist für alle Sinnesgebiete entschieden verringert.
Das Gedächtnis für frühere Ereignisse gut erhalten.
Die Prüfung der Psychomotilität ergibt folgende Befunde:
Im spontanen motorischen Gebaren zeigen. sich keine Aus-
fallserscheinungen, hingegen treten solche bei der experimen-
tellen Beeinflussung des Bewegungsablaufes auf.
Die Motilität im Gebiete der Hirnnerven: Die sprach-
liche Aufforderung. zu verschiedenen Bewegungen im Bereiche
der Facialisinnervation vermag nicht die entsprechenden Bewegungs-
effekte zu erzeugen. Im Bereiche der Zungeninnervation kommt
es erst nach längerer Zeit und verschiedenen, nicht zweckgemässen
Bewegungen zu einer mangelhaften Ausführung der Bewegung.
Das Nachahmen optisch vorgemachter Bewegungen
auf diesen Nervengebieten zeigt vollkommen Bewegungsausfall
im Gesichtsbereich, hingegen gute Nachahmung von Zungen-
bewegungen. to
- Die Motilität im Gebiete der oberen Extremitäten:
Auf sprachliche Aufforderung zu Bewegungen (unter Kontrolle
aller Sınne) erfolgen in der rechten oberen Extremität dieselben
fast ausschliesslich prompt und richtig, hingegen zeigen sich in der
linken oberen Extremität statt dessen amorphe (vertrackte) Be-
Husten - weiss nicht!
Niesen richtig
. Ticken der Uhr ` —
Bürstengeräusch —W
Klopfen Poltern
Pfeifen Rufer .
8. Erkennen vom Tastsinne aus.
Finger: rechts und links richtig
Schlüssel: rechts und links »
Zündholzschachtel 3
Kamm: rechts Eisenblättchen
Bürste: links und rechts richtig
Glas: rechts | »
Kipfel: beiderseits »
1) Siehe Heilbronner, „Ueber Agrammatismus und die Störung der
inneren Sprache“. Arch f. Psychiatrie. XLL, 658. -<
` Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 257
wegungen und akinetische Erscheinungen, niemals Bewegungs-
verwechslungen. (Beispiele siehe unten.)!)
Aufforderungen zu Ausdrucksbewegungen (Winken,
Drohen etc.) werden beiderseits von richtigen Bewegungs-
abläufen gefolgt.
Die einfachen Objekthandlungen mit Ausschluss der
Sprache werden sowohl unter Kontrolle aller Sinnessysteme wie
auch unter Ausschluss anderer Sinne rechts prompt geleistet,
links treten amorphe und akinetische Erscheinungen auf
Optisch vorgemachte Bewegungen gelingen beider-
seits gut.
Die Nachahmung rechts passiv vorgenommener Bewegungen
durch die linke obere Extremität, sowie der umgekehrte Vorgang
zeigen keine Störungen.
Dasselbe gilt vom Nachahmen passiver Bewegungen auf
derselben Seite. |
1) SprachlicheAufforderung links rechts
zu Bewegungen:.
Vorstrecken der Hände + +
Spreitzen der Finger amorph + (kataton)
` Türe zusperren +
(es erfolgt nur die grobe Loko-
motion des Gesamtkörpers)
Bürsten amorph +
(Streichbewegungen m. 2 Fingern)
Briefe „bstempeln amorph +
Nase drehen +
Objekthandlungen mit Aus-
schluss der Sprache, aber
unter Benutzung verschie-
dener Sinne:
Was machen Sie mit dem
Gegenstande? l
Löffel amorph +
Kreide (nimmt dieselbe richtig, um
erst nach langer Zeit einzelne (es werden so-
regellose Strichbewegungen zu fort Schreib-
machen) bewegungen
gemacht)
Zwicker amorph +
(macht mit dem Gesamtkörper
eine solche Bewegung, dass er
die Nase in die Nähe des Zwickers.
bringt, ohne die Hand zu bewegen.
Den Zwicker in der Hand, führt
er dieselbe flach vor das Gesicht)
Nadel links erfolgt keine Bewegung +
Schlüssel, Kamm, Pfeif-
chen, Bürste amorph +
17°
258 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
Zweihändige Objekthandlungen gelingen trotz des
linksseitigen Ausfalles überraschend gut.
Die einfache Urteils- und Schlussbildung, sowie das kom-
binatorische Vermögen erscheinen nur soweit geschädigt, als vor-
stehend geschilderte Krankheitserscheinungen dasselbe beeinflussen.
Der körperliche Befund: Sensorium frei, Temperatur normal, Körper-
gewicht 78 kg, dem Alter entsprechend kräftig gebaut.
Cranium symmetrisch.
Der Kopfumfang ist 56 cm.
Perkussion des Kopfes ist nirgends schmerzhaft, zw. rechts und links
deutliche Differenz zu Ungunsten der linken Seite.
Lidspalten sind gleich.
Pupillen ebenfalls gleich, rund, ziemlich deutlich auf Licht und Akkom-
modation reagierend. '
Keine Hemianopie. Fundus normal (Befund der Augenklinik, Prof.
Dimmer). Augenmuskulatur frei, kein Nystagmus, nur manchmal leichte
Zuckangen beim Bliok nach links, beim Aufwärtsblicken horizontale Ein-
stellungsbewegungen.
Öeruchsvermögen ist beiderseitig gleich.
Der rechte Mundfacialis in leichter Kontraktar, sonst keine Facialis-
Parese. Zunge weicht mit der Spitze etwas nach links ab. Das Zäpfchen
ist nach rechts abgewendet. Masseteren-Reflexe sind kräftig, Reflex erhalten.
Rachenreflex ist auslösbar.
Kopfhaltung und Kopfbewegungen sind frei.
Das Sprachvermögen, Schluckvermögen, Rumpfbewegungen sind frei,
Ueberhängen der linken Körperhälfte sichtbar.
Herz- und Gefäss-System: Temporslarterien sind stark geschlängelt,
deutlich vorspringend, rechte Carotis fühlt sich verdickt an, stark klopfend,
rigid. Die linke pulsiert schlechter, ist ebenfalls rigide. Herzdämpfung beginnt
einen Querfinger nach links von der Mittellinie nach auswärts bis über die
M. L. Herzaktion rhythmisch, Töne sind rein, der zweite Ton über den
Gefässen stärker accentuiert.
Leberdämpfung reicht in die Mittellinie bis zam Rippenbogen. Bauch-
hautreflexe sind auslösbar.
Obere Extremitäten: Normaler Tonus, keine Paresen, keine Koordinations-
störangen; grobe Mnskelkratt ist gut.
ynamometer; Rechts 65 aussen, links 55 aussen bei keiner Anstrengung.
Stereognose intakt.
Lagegefühl und Muskelsinn nicht gestört.
Triceps-Sehnen: Rechts eben auslösbar, links etwas lebhafter.
Untere Extremitäten: Normale Lage, keine Tonuserhöhung, Knie-
sehnenreflexe rechts und links einfach auslösbar. Achilles-Sehnenreflexe
beiderseits gut auslösbar, nicht gesteigert.
Kein Dorsalklonus.
Plantarreflexe beiderseits deutlich, kein Babinsky.
Gang ist stark taumelnd, unsicher, Tendenz, nach links und hinten zu
fallen; sehr geringe Standfestigkeit.
Im Harne Spuren von Eiweiss.
Im weiteren Verlaufe des Erkrankungszustandes zeigen sich aut körper-
lichem Gebiete da und dort Erbrechen, eine zeitweilige Verschlechterung des
Ganges mit Neigung, nach links zu fallen.
Auf dem Gebiete der Reflexe zeigt sich eine linksseitige Abschwächung
der Sehnenreflexe bei einer leichten Hypotonie links.
Auf psychischem Gebiete zeigen sich sichtliche Erschwerang in der
örtlichen und zeitlichen Orientierung. Es besteht eine leichte Euphorie und
Neigung zu witzeln.
In Hinsicht der Leistungen des Erkennens auf den verschiedenen
Sinnesgebieten zeigen sich keine wesentliche Veränderungen.
Hartmann, Beiträge zor Apraxielehre. 259
Die krankhaften Erseheinungen auf dem Gebiete des Bewegungs-
ablaufes zeigen nach vorübergebender Besserung eine siehtliche Ver-
schlechterung.
Es besteht zeitweilig eine fast vollständige Akinese der linken oberen
Extremität sowohl für Bewegungsablaufe, welche durch die Sprache angeregt
werden, als auch bei Objekthandlungen und Ausdrueksbawegungen (eo z. B.
erfolgt das Erheben der linken Hand über Aufforderung nicht, sondern nur
einzelne Muskelzuckungen, und es treten rechtaseitig gleichzeitig katatone
Erscheinungen auf. Die Äusdrucksgeberde des Geldaufzählens wird rechts
gut, links nicht geleistet. Das Winken ist links im Gegensatz von rechte
unmöglich etc.).
Diese Verschlechterung geht mit auffallend hervortretender Neigung
zum Haftenbleiben einher, welche jedoch anfänglich im sensorischen Gebiete
‘nieht die Richtigkeit der Leistungen hindert. Pat. stirbt an einer inter-
kurrenten Pneumonie nach einmonatlichem Krankenhausaufenthalt.
Auszug aus dem pathologisch-anatomischen Befunde.
Das Gehirn bietet ebenso wie die Häute im groben keine
Veränderungen dar, insbesondere zeigt sich keine schwerere diffuse
oder regionäre Atrophie. Die Gefässe an der Basis sind zart,
Beim Durchschneiden des Gehirnes findet sich noch etwa
2 cm vor der Spitze des linken Vorderhornes eine herdförmige
Erweichung der Marksubstanz des rechten Stirnhirnes (Fig. 7).
Dieselbe hat sich zum Teil in eine Cyste verwandelt, zum
Teil findet sich in ihrer Mitte ein in Resorption befindliches Blut-
coagulum. Der Erkrankungsherd füllt das Marklager der rechten
zweiten Stirnwindung fast vollkommen aus, lāsst die Rinde aber
noch frei und erstreckt sich in die Tiefe des Marklagers bis an
die sagittalen Markblätter heran. Während er nach vorne zu
auch das Marklager der dritten Stirnwindung tangiert, beschränkt
er sich in den hinteren Partien auf das der zweiten Stirnwindung.
Mit dem Ventrikel scheint er nicht zu kommunizieren, da die
Ventrikelflüssigkeit vollkommen klar und frei insbesondere auch
von Blutbeimengungen sich fand, welche bei dem Vorhandensein
einer ausgesprochenen Blutung im Falle einer Kommunikation
wohl nicht gefehlt hätten.
7. Die Bedeutung des rechten Stirnhirnes für den Bewegungs-
ablauf.
Aus den Beobachtungen an diesem Falle geht mit einwand-
freier Sicherheit hervor, dass ein Herd im Marklager der zweiten
rechten Stirnwindung linksseitige partielle Apraxie erzeugt hat,
welche sich zuerst etwas besserte, was bei der Kleinheit des Herdes
unter der Annahme eines Ersatzes der Funktion sehr wohl ver-
ständlich erscheint.
Als besonders bemerkenswert muss hervorgehoben werden,
dass die einfachen Objekthandlungen an der Hand des Objektes
und aus dem Gedächtnisse am schwersten geschädigt waren, das
Nachahmen optischer Bewegungen erhalten blieb, dass insbesondere
auch sprachliche Aufforderungen zu Ausdrucksbewegungen, welche
260 - Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
den Namen der Bewegung enthielten, prompte Bewegungsabläufe
ermöglichten. Ä
Die Eigenleistungnn dieser Extremität waren gut erhalten
geblieben.
Das Nachahmen von Stellungen der rechten Extremität
durch Muskelsinnanregung geschah ohne wesentliche Schädigung.
Das Zusammenarbeiten beider oberer Extremitäten zu gemein-
samen Zweckhandlungen erfolgte über alles Erwarten gut.
Die statisch-lokomotorischen Funktionen zeigten nur sehr
leichte (ataktische?) Störungen.
Reihen wir auch diesen Fall in unser bisheriges Tatsachen-
material ein, so ergibt sich kein wie immer gearteter Widerspruch.
Schädigung des rechten Stirnhirnes allein müsste nach
unseren früheren Deutungen die Unmöglichkeit erzeugen, dass
Impulse aus verschiedenen Sinnessystemen je ihre zugehörigen
Bewegungsabläufe auslösen. Diese Störung ist trotz der relativen
Kleinheit des Herdes in mehrfacher Hinsicht sehr deutlich auf-.
getreten.
Während die Erinnerung für gewisse erlernte Bewegungs-
folgen erloschen war, sobald dieselben lediglich aus der Materie
der (perzeptiven und Erinnerungs-)Sinnessysteme anzuregen war und
zu erfolgen hatte, traten bei Nennung der sprachlichen Bezeichnung
die Ausdrucksbewegungen zumeist prompt in Erscheinung.
Interessant bleibt noch eine neue Erscheinung: die auffallend
gute Koordination und Auslösung zweihändiger Bewegungsfolgen,-
eine Erscheinung, welche dartun würde, dass hierbei das linke
Gehirn eine gewichtige Rolle für den Ablauf der rechtshirnigen
Vorgänge spielt, vielleicht in dieser Funktion nicht erst der Mit.
wirkung des rechten Stirnhirnes, jedenfalls nicht der im vor-
liegenden Falle zerstörten Teile bedarf.
Interessant ist auch, dass die einfache Nachahmung passiver
Stellungen der rechten Seite auf Grund von Muskelsinnsbildern‘
der beregten Stirnhirngebiete des rechten Gehirnes nicht bedarf
und vielleicht hierfür nur die direkte Balkenübertragung genügt.
8. Zusammenfassung.
In Hinsicht der dynamischen Tektonik der Grosshirn-
oberfläche sind zwei gewichtige Forscher, Ramon y Cajal!) und
A. Tschermak?), in Zusammenfassung der bisherigen An-
schauungen von Flechsig, Monakow, Dejerine u. A. zu ein-
ander sehr nahestehenden Anschauungen und theoretischen Postu-
laten gelangt, deren Anwendung auf die hier erörterten Fragen
interessante Ausblicke gewährt.
1) Ramon y Cajal, Studien über die Hirnrinde des Menschen. 5. H;
3) A. Tschermak, in Nagels Handbuch der Physiologie des Menschen.
1V. 1. Hälfte. 108#.
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre, 261:
Tschermak unterscheidet schematisch sowohl im sensorischen
als im motorischen Gebiete primäre, sekundäre und tertiäre
Zentralstätten; für die motorischen Gebiete ein primäres motorisches
Zentrum (Bewegungssphäre), ein sekundäres oder Aktionszentrum
(Bewegungsbildzentrum) und ein tertiäres oder mnestisches mo-
torisches Zentrum (Gedächtnisbildzentrum), nicht ohne bei dieser
Statuierung höherer Zentren die grosse Bedeutung der Binnen-
leitungen anzuerkennen.
Ramon leitet in wohlbegründeter Weise aus den bisher be-
kannten Tatsachen ab, dass neben den doppelseitig angelegten:
Projektionszentren einseitig angelegte primäre und sekundäre Merk-
zentren (Erinnerungszentren) postuliert werden müssen. Er ver-
weist hierbei insbesondere auf die Tatsache, dass die bis jetzt
ut gekannten Merkzentren (motorisches, sensorischesg Sprach-,
Schreib-, Lesezentrum) exquisit einseitig angelegte Zentren dar-
stellen.
Da. sich in diesen Fällen sehr verschiedene sensorische
Sphären in diesem Sinne verhalten, hält er es berechtigterweise
für sehr wahrscheinlich, dass bei den übrigen dasselbe Verhältnis
statt hat.
Er neigt zur Annahme, dass die Merkzentren einer Seite,
„wenn auch denen der anderen in Bezug auf die allgemeine Funk-
tion homolog, nicht dieselben Vorstellungen beherbergen“. „Die
optische Projektion z. B. als Perzeption auf beide Hemisphären
(die beiden Fissurae calcarinae) verteilt, polarisiert sich oder wird
einseitig beider Umwandlung in eine Erinnerung unter Verminderung:
ihres projektiven räumlichen Charakters“. Ä
Wenden wir diese befruchtende und hochinteressante An-
schauung, welche Cajal in aller Bescheidenheit und Vorsicht!)
vorbringt, auf die tatsächlichen Ergebnisse unserer Untersuchungen
an, dann würden wir sagen dürfen:
Der Ausfall des Zusammenhanges des linken Gehirnes mit
dem rechten (mein Fall II) bewirkt Verlust zweckgeiässer Be-
wegungsabläufe an Objekten seitens der linken Extremitäten,
insbesondere auch Verlust der optisch perzeptiven Nachahmung,
insonderheit eine Schädigung des Bewegungsablaufes in den links-
seitigen Extremitäten, von der, in das Psychologische übertragen,
gesagt werden darf, dass die in Hinsicht der Bewegungsabläufe
erhaltene Gedächtnistätigkeit für die rechtsseitigen Extremitäten
hier nicht zur Wirkung kommen kann. |
Man darf hieraus wohl direkt schliessen, dass linksseitige
1) „In Wirklichkeit ist es bei dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens
nicht möglich, eine definitive Theorie von der architektonischen und dyna-
mischen Anlage des Gehirnes aufzustellen.“
„Ich brauche nicht erst zu sagen, dass ich nicht im geringsten bean-
spruche, meinen Vermutungen die Bedeutung eines Dogmas beizulegen; in
der Wissenschaft ändern sich die Meinungen mit der wachsenden Häufung
der Tatsachen, und diese können wir nicht voraussehen,
Unsere Wissenschaft würde sehr gläcklich sein, wenn sie, mit den
kommenden Errungenschaften in Widerspruch geratend, einige der Lehren,
auf welche sie sich stützt, retten könnte.“ |
262 Hartmann, Beiträge zar Apraxielehre.
Rindenregionen und Assoziationsverbände funktionell ein dort
angelegtes höher spezifiziertes Bewegungsgedächtnis repräsentieren.
Der Ausfall des linken Stirnhirnes (Fall I) lässt tatsächlich
jegliches Bewegungsgedächtnis (mit Ausnahme der unmittelbaren
Nachahmung eben passiv abgelaufener Bewegungen) für die ge-
kreuzte Körperhälfte verloren erscheinen.
Die Tätigkeit der rechten Hemisphäre zeigt diesem Aus-
falle entsprechend eine Schädigung in ihrer Wirksamkeit auf die
linken Extremitäten, insofern sich diese immer nur auf Binzel-
leistungen der Motilität erstreckt, reine Gredächtnisleistungen
komplizierterer Bewegungsfolgen ausfallen und beständige perzep-
tive Kontrolle der Bewegungen nötig ist.
Schädigungen des rechten Stirnhirnes (wie in Fall III) be-
wirken trotz erhaltenen Bewegungsgedächtnisses ein Unwirksam-
werden desselben für bestimmte erlernte Bewegungsformen der
linken oberen Extremität bei Erhaltenbleiben einzelner auf gewisse
sprachliche Signale, bei Erhaltenbleiben der Nachahmung von
optisch perzipierten Bewegungsabläufen seitens der linken oberen
xtremität. Man darf hier vermuten, dass ein solcher Herd wie
in Fall IJI Verbindungen zwischen Merkzentren des linken Ge-
hirnes und dem rechten Gehirne unterbrochen hat. ..
Da erstere (Merkzentren des linken Gehirnes) aber auch
durch das linke Stirnhirn auf den Bewegungsablauf der linken
Extremitäten im Sinne höherer Koordination wirken, ergäbe sich,
dass das linke Stirnhirn eın Merkzentrum für die höhere Koor-
dination der aus verschiedenen Sinnesgebieten und deren Merk-
zentren gelieferten Bewegungsbilder darstellt (mnestisches mo- .
torisches Zentrum).
Es geht aus dem Gesagten hervor, dass jede Hemisphäre
für sich verschiedenes zu leisten vermag; dies deckt sich mit
Ramon y Oajals „verschiedenen Vorstellungen“.
Linke Hemis
häre allein. Rechte Hemisphäre allein.
Rechts: Links:
ErhalteneBewegungsintention. ErhalteneBewegungsintention,
Eupraxie (jedoch nur unter Mit- Unfähigkeit, das Gedächtnis
hilfe einer Anzahl der von den
betreffenden gegenwärtigen Ob-
jekten [und den bewegten Glie-
dern] stammenden optischen,
taktilen, kinästhetischen Ein-
drücken).
Eigenleistungen erhalten.
Nachahmen von optisch vor-
gemachten Bewegungen erhalten.
‘Nachahmen passiver Bewe-
gungen derselben Seite erhalten,
der anderen Seite unmöglich.
Zweihändige Tätigkeit un-
möglich.
Stat. lokom. Apraxie.
für gewisse erlernte Bewegungs-
folgen für die linken Extremi-
täten zu verwerten.
Eigenleistungen erhalten.
Optisches Nachahmen unmög-
lich.
Nachahmen passiver Bewe-
gungen derselben Seite erhalten,
er anderen Seite unmöglich.
Zweihändige Tätigkeit
möglich.
Stat. lokom. Apraxie.
un-
Hartmana, Beiträge zur Apraxielehre.
Linke Hemisphäre allein,
Zentralwindungen und
Stirnhirn abgeschnitten
(Liepmann).
Rechtes:
Bewegungsintention erhalten.
Transkortikale motorische
Apraxzie.
Eigenleistungen erhalten.
Optisches Nachahmen unmög-
lich.
Nachahmen passiver Bewe-
gungen der anderen Seite un-
‚möglich.
Zweihändige Tätigkeit un-
möglich.
Linke Hemisphäre ohne
Stirnhirn.
Rechts:
Bewegungsintention verloren.
Seelenlähmung motorisch und
sensorisch.
Eigenleistungen verloren.
Nachahmen von optisch vorge-
machten Bewegungen unmöglich.
Nachahmen passiver Bewe-
gongen derselben und der anderen
eite möglich.
263
Links:
Bewegungsintention erhalten.
Verlust des Gedächtnisses für
komplizierte Objekthandlungen.
Eigenleistungen erhalten.
Optisches Nachahmen ge-
schädigt.
Nachshmen passiver Bewe-
gungen der anderen Seite un-
möglich.
Zweihändige Tätigkeit un-
möglich.
Rechts intakt.
Links:
Bewegungsintention vermindert.
Verlust des Gedächtnisses für
Koordination von Bewegungs-
folgen bei Objekthandlungen und
Ausdrucksbewegungen.
Eigenleistungen erhalten.
Optisches Nachahmen möglich.
Nachahmen passiver Bewe-
ungen derselben und deranderen
Seite möglich.
Zweihändige Tätigkeit unmöglich.
Stat. lokomot. Handeln un-
sicher.
Ins Positive übertragen, darf ausgesagt werden:
Stat. lokomot. Handeln un-
sicher.
Das Er-
haltenbleiben der Bewegungsintention (Anregung zu Bewegungs-
leistungen überhaupt) für die sensorisch intakten Körperhälften
besorgt in letzter Linie das linke Stirnhirn.
Dasselbe scheint
hierin auch die rechte Hemisphäre vielfach zu beeinflussen.
Bei erhaltener Bewegungsintention erscheint zum vollen
Vollzuge von Bewegungsabläufen das Zusammenwirken beider
Hemisphären für jede Körperseite nötig. Für die rechte Körper-
seite leistet die rechte Hemisphäre die Tätigkeit, dass Bewegungs-
abläufe durch ein Minimum von perzeptiver Anregung und Kon-
trolle in ihrem Ablaufe gesichert sind. Für die linke Körperseite
ist die Mitwirkung der linken Hemisphäre insoweit nötig, als deren
Gedächtnisbesitz zum Ablaufe im individuellen Leben erlernter.
Bewegungsfolgen mit Ausnahme der Eigenleistungen des Senso-
motoriums der Extremjtäten unbedingt nötig ist, auch das Nach-
2361. Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre,.
ahmen optisch gegenwärtiger Bewegungsfolgen sowie insbesondere
die zweihändige Tätigkeit bedürfen für die linke Körperhälfte der
Mitarbeit des linken Gehirnes. |
Auch vermag nur das Zusammenwirken beider Hemisphären
die erlernten Bewegungsfolgen des statisch lokomotorischen Ge-
schäftes zu garantieren.
Das Nachahmen von optisch gegenwärtigen Bewegungsfolgen
kann für die rechte Körperhälfte durch das linke Gehirn ge-
leistet, für die linke Körperhälfte durch das rechte Gehirn nur
mit Hilfe des linken geleistet werden und bedarf im ersteren Fall
bestimmt des Stirnhirnes.
Eigenleistungen vermag jede Hemisphäre- für sich zu leisten.
(Ob nur bei intaktem, Stirnhirn?) - ZZ
Mir erscheinen nach allem die berechtigten Einwürfe gegen:
die Dignität der gefundenen Symptome, welche ich mir auch
selbst machte, insbesondere die tumoröse Natur meines haupt-
sächlichen Materiales durch den letzten geschilderten Fall einiger-
massen widerlegt, will man nicht besonders in dem hervor-
gehobenen Umstande der differenten Erscheinungen in den beiden
Körperbälften und den Befunden an den sensorischen Leistungen
in allen Fällen sowie der genauen Berücksichtigung des psychischen
Allgemeinzustandes des Kranken genügende Sicherungen erkennen,
und dann darf ich da und dort auftauchendem Zweifel wohlnoch
mit dem Hinweise begegnen, dass die Beschreibung derartig subtiler
Beobachtungen schwer die überzeugende Kraft der persönlichen
Anschauung zu ersetzen vermag.
Den letzten Einwand gegen die vorgetragenen Anschauungen,
welcher in gewissem Sinne Berechtigung gewänne, könnten unsere
Kenntnisse über experimentelle Verletzungen des Stirnhirnes an
Tieren liefern.
Wenn ich in aller Kürze die hierher gehörigen Daten über-
blicke, so kann gesagt werden:
Aus den Erscheinungen, welche nach Abtragung der Stirn-
lappen(im Flechsigschen Sinne des vorderen Assoziationszentrums)
bei Tieren beobachtet wurden, konnten eindeutige Ableitungen
von deren Funktion nicht gemacht werden. Positiven Beob-
achtungen von „intellektueller“ Schädigung stehen ebensoviele
negative Befunde gegenüber.
Wenn wir hingegen die Literatur der Abtragung der motori-
schen Zonen der Körperfühlsphäre bei Tieren überblicken (und
hier hat Monakow!) das Wesentliche kritisch zusammengetragen),
so sind folgende wichtige Tatsachen zu beachten. Nach dem.
Abklingen der ersten postoperativen Erscheinungen (transitorische
Symptomengruppe) zeigt sich bei den höheren Wirbeltieren eine
dauernde Reihe von Ausfallserscheinungen, die nicht wie beim
Menschen einem Verluste der Bewegungsfähigkeit gleich ist,
Parese oder Lähmung darstellt, sondern das Tier vermag die
. 1) Monakow, Gebirnpathologie. I. Teil.
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 265
groben Bewegungsaktionen (die Prinzipalbewegungen von Munk)
noch wohl zu leisten. Hieraus müssen wir wohl schliessen, dass
niedere Hirnteile hier relativ unabhängig von der Grosshirnrinde
diese Leistungen zu besorgen imstande sind. |
Das Tier verliert jedoch ersichtlich die Fähigkeit, ‚seine
Extremitäten (schon bei nur linksseitiger Operation) zu Ziel-
bewegungen zu nützen, die „Bewegungstechnik* (Monakow
1. c. 277) geht verloren.
Beiderseitige Läsionen der motorischen Zone er--
zeugen eine hochgradige Intelligenzstörung (Munk). Die
Tiere verlieren dauernd die Fähigkeit zum isolierten Gebrauche
der Extremitäten „im Dienste ihrer Triebe und Neigungen“. Das
Tier vermag noch alle Prinzipalbewegungen (Laufen, Springen,
Klettern, Kratzen) prompt und sicher zu vollziehen, wenn auch
mit herabgesetzter Geschicklichkeit (Munk), nicht aber an-
gelernte Zielbewegungen (Hervorholen eines Gegenstandes etc.)
oder nur Bewegungsfiguren als Bestandteile in der Kette
von angelernten Fertigkeiten (willkürliche Handgriffe)
(Monakow, l. c. 281).
Monakow spricht vom Ausfall der „Zweckkomponente“
aus präformierten komplizierten Reflexen.
Wenn Monakow (l. c. 291) ausfährt, dass nach allen unseren.
Erfahrungen in solchem Zustande der psychische Entwurf zur
Bewegung wohl als vorhanden zu betrachten ist, aber das Tier.
über die Ausführungsweise der entsprechenden „Bewegung nicht
näher ins Klare kommen kann“, so ergänzt sich diese Ausführung
sehr schön durch die Versuche von S. Exner, wonach die Um-
schneidung der Regio sigmoidea, trotz Erhaltenbleiben also der
kortikospinalen Bahn, dieselben Ausfallserscheinungen am Tiere
hervorruft, also das Abschneiden der die transkortikalen Leistungen.
zur Regio sigmoidea vermittelnden Bahnen zur Hervorrufung der
bezüglichen Symptome genügt.
Immer mehr ringt sich in der Grosshirnpathologie die Er-
kenntnis durch, dass die Analogisierung funktioneller Defekte und,
die Homologisierung morphologischer Substrate zwischen Tier und
Mensch mit allergrösster Vorsicht gehandhabt werden muss.
Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich nach dem Vorgesagten
die Symptomatik der Stirnhirnschädigung und der experimentellen
Abtragung der Fühlsphäre dahingehend mit unseren bisherigen
Erfahrungen einerseits und mit den von mir verfolgten Gedanken-
gängen in Einklang zu bringen versuche, dass mir auch hierin
wieder das von Steiner!) geistvoll geschaffene Gesetz von der
Wanderung der Funktion nach dem Vorderende die Un-
klarheiten richtig zu deuten scheint. |
In diesem Sinne würden m. E. die motorischen Anteile
der Körperfühlsphäre bei Tieren (im groben natürlich, die
weitere genaue Ueberprüfung solcher Verhältnisse müsste erst
1) Steiner, Die Funktionen dcs Centralnervensystems und ihre Phylo-
genese. Il. 1888. RE
266 Hartmann, Beiträge gar Apraxielehre,
weitere Forschung erbringen), noch einen Grossteil jener
Funktionen zu leisten haben, welche beim Menschen von
nach vorne davon gelegenen Hirnabschnitten, dem Stirn-
hirne, zu leisten sind.
Zweckgemässe Führung der Sprachmuskulatur zur Hervor-
rufung der im individuellen Leben erlernten motorischen Sprach-
mechanismen, zweckgemässe Führung der Extremitätenmuskulatur
zur Hervorrufung der im individuellen Leben unter Heranziehung
verschiedener Hirnregionen erlernten motorischer Bilder der
Schreibebewegung'!) sind hier ebenso nach vorne hin verlegte
Rindenleistungen, wie die von mir supponierte praktische Leistung
in Hinsicht der Innervation komplizierter Bewegungsabläufe der
Extremitäten überhaupt.
Die schweren Intelligenzstörungen bei Abtragung der motori-
schen Zonen beim Tiere stehen im Missverhältnisse zu analogen
Störungen beim Menschen, jedoch in voller Uebereinstimmung mit
unseren Erfahrungen über beiderseitig ausgedehnte Erkrankung
im Stirnbirne,
Schon lange war es mir aufgefallen, dass bei manchen
Hirnerkrankungen die Kranken in ıhrem Gesamtgebaren einen
viel dementeren Eindruck hervorrufen, als etwa einer genauen
Prüfung ihres Besitzstandes und momentanen Leistungsvermögens
entsprochen hätte; ich?) habe mich gelegentlich des Studiums der
motorischen Defekterscheinungen bei Pseudobulbärparalytischen
dahin zusammengefasst, dass solche Kranke ein Bild von Demenz
zeigen, das als „motorischer Blödsinn“ ähnlichen vielen
Littleschen Kranken sich bezeichnen lässt.
Unsere seelischen Leistungen werden ja vorwiegend durch
motorische Aktionen der gesamten Körperperipherie nach aussen
weitergegeben und verwertet.
erade die die jeweiligen auf uns einwirkenden Sinnesreize
begleitenden motorischen Impulse und Bewegungserinnerungen,
die — was wir Aufmerksamkeit nennen — erregenden, begleitenden
und unterhaltenden motorischen Vorgänge sind es, welche durch
die Schädigung der zentralen sensomotorischen Sphäre im weiteren
Sinn, vielmehr ihrer assozistiven Verknüpfungen mit den übrigen
Hirnteilen teils geschädigt werden, teils in Wegfall geraten.
= Aehnlich hat sich neuerdings Liepmann (cit. S. 2) dahin-
gehend ausgesprochen, dass nach seinen Erfahrungen an Gehirn-
kranken, namentlich solchen mit verbreiteten atrophischen, resp. arte-
riosklerotischen Prozessen, die Verfügung über die motorischen
Vorstellungen einen grossen Raum einnimmt „in dem, was
wir Intelligenz nennen, oder vielleicht besser, ihr Verlust in dem,
was wir Demenz nennen.“ |
'\ Vergleiche Heilbronner, Ueber isolierte apraktische Agraphie-
M. M. W. 1906. No. 89.
3) Hartmann, Die Pathologie der Bewegungsstörungen bei der Pseudo-
bulbärparalyse. Zeitschr. f. Heilk. 1902.
Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre. 267
Sehlussfolgerungen
in Hinsicht der gefundenen Tatsachen und deren Deutung.
Ich komme auf Grund meiner Untersuchungen zu folgenden
Sehlussfolgerungen, welche ich in zwei Teile trenne, in tatsäch-
liche Ergebnisse und Deutung der Ergebnisse, weil ich in dieser
scharfen Trennung eine Gewähr dafür erblicke, dass die auf
diesem Gebiete so notwendige Weiterarbeit stets sich des Tat-
sächlichen und Hypothetischen bewusst bleibe.
Fall
Apraxie (Dyspraxie) an den oberen Liepmann
Extremitäten
Bewegungsintention . . © . 2...
Objekthandlungen (bei präsentem Objekte)
Objekthandlungen (aus dem Gedächtnisse)
Ausdrucksbewegungen (aus dem Gedächt-
Wwegungen . » . e 2 200
Nachahmen passiver Bewegungen durch
dieselbe. . . 2. 2 2 0 020.
Nachahmen passiver Bewegungen durch
die gekreuzte Seite . . . » . . ER O O
Eigenleistungen . . .. 2 220.
Zweihändiges Manipnlieren . . . . . _ O |
nun
Im statisch-lokomotor. Handeln .||
l. Tatsächliche Ergebnisse (siehe Tabelle).!)
1. Ein Tumor im Bereiche des linken Stirnhirnes,
welcher die Rinde der Brocaschen Windung und die an-
grenzenden Markpartien schon verschont gelassen hat
und mit zapfenförmigem Fortsatze medial bis vor die
vorderen Thalamusebenen in die linke Balkenhälfte, mit
einem anderen zapfenförmigen Fortsatze vor dem Balken-
knie in die medialen Partien des rechten Stirnhirnes
sich erstreckt, liess dieübrigenHirnpartien, insbesondere
die Zentralwindungen, frei.
Als motorische Krankheitserscheinungen bestanden:
Links: Rechts:
Teilweiser Ausfall wie rechts. Ausfall von Bewegungsab-
Teilweise zweckgemässe Be- läufen auf die Anregungen der
wegungsabläufeinnerhalbderAn- links- und rechtsseitigen Sinnes-
regungen und Kontrolle seitens sphären und Erinnerungsfelder
eines Sinnessystems. Rein ge- (Akinese).
dächtnismässige Objekthandlun-
gen und Ausdrucksbewegungen
apraktiech. Erhalten sind die
igenleistungen und das optische
Nachahmen.
1) EM hochgradige, — geringgradige apraktische, O schwere akine-
tische Bewegungsdefekte,.
268 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
Erhalten blieb das Nachahmen passiver Bewegungen
in derselben und in der gekreuzten Seite. ,
Ä 2. Ein Tumor, welcher den kompakten Teil des
Balkens von den Ebenen der vorderen Kommissur bis
an sein hinteres Ende nahezu vollkommen zerstört hatte,
das Areal desselben nırgends überschreitet, nachweislich
die übrigen Hirnpartien nicht einbezogen hat, ist begleitet
von motorischen Krankheitserscheinungen:
Links:
Bewegungsabläufe, von ver-
schiedenen Sinnessystemen an-
geregt, fallen zum Teil über-
haupt aus, zum Teil finden sich
statt ihrer vertrackte Bewegun-
en; die Eigenleistungen des
ensomotoriums des Armes sind
erhalten, ebenso das Nachahmen
- passiver Bewegungen auf der-
selben Seite.
Rechts:
Bewegungsabläufe sind zu-
meist prompt von verschiedenen
Sinnesgebieten auslösbar.
Ausschaltung der kontrol-
lierenden Tätigkeit des optischen
Systemes hat mitunter akineti-
sche Erscheinungen oder Be-
wegungsverwechslung zur Folge.
Erhalten sind ebenso die Eigen- °
leistungen und die Nachahmung
passiver Bewegungen auf der-
selben Seite.
Die Nachahmung passiver Bewegungen einer Körperseite
durch Aktion der anderen ist unmöglich.
Zweihändige Bewegungsfolgen sind unmöglich.
Es bestehen auf dem Gebiete statisch-lokomotorischer Tätig-
keit statt jeglicher zweckgemässer Bewegung vertrackte, rudi-
mentäre oder akinetische Erfolge, mit Ausnahme der elementaren
Schrittbewegung der Beine (Eigenleistung ?).
3. Eine Blutung in das Marklager der Il. Frontal-
windung rechts, von ca. Walnussgrösse, hat an motorischen
Krankheitserscheinungen zur Folge:
Links:
Bewegungsabläufe (speziell Ob-
jekthandlungen bei präsentem
Objekte oder rein gedächtnis-
mässig), von verschiedenen Sin-
nessystemen angeregt, fallen zum
Teil überhaupt aus (Akinesen),
zumTeiltretenamorphe,vertrakte
Bewegungen auf,
Rechts:
Intakte motorische Tätigkeit.
2. Deutung der Ergebnisse.
Näher noch nicht umgrenzbare Anteile des Stirn-
hirnes(im Bereiche von Flechsigs vorderem Assoziations-
zentrum) erscheinen in die Mechanik der motorischen
Grosshirntätigkeit eingeschaltet und verhalten sich in
ihrer Funktion zu den Extremitätenzonen der Zentral-
Hartmann; Beiträge zur Apraxielehre. 268
windungen allem Anscheine nach analog, wie sich die
Brocasche Hirnregion zu den Hirnnervenzonen der Zen-
tralwindungen (in Hinsicht der Dynamik der motorischen
Sprachfunktion) verhält.
Die Anregungen zu Bewegungsabläufen von den ver-
schiedenen Sinnesgebieten des Grosshirnes bedürfen zur
Uebertragung ihrer Impulse auf die fokalen Felder der
Zentralwindungen der Mitwirkung des Stirnhirnes,
Fig. 1. Schematische Eintragung von Liepmanns Fall und den
drei Fällen eigener Beobachtung auf einen schematischen Hori-
zontalschnitt.
\N Fall Liepwann.
li Fall T.
= Fall II.
III) Fall IM.
Ca = Gyrus centralis anterior, Cp = Gyrus centralis posterior.
Der Ausfall dieser Stirnhirnfunktion links erzeugt
motorische Seelenlähmung(totale Apraxie)dergekreuzten
Extremitäten. |
Das rechte Stirnhirn bedarf der Mitwirkung des
linken Gehirnes und der Verbindung mit den anders-
seitigen Sinnessphären (und Erinnerungszentren Ramons)
zurLeitungdes Ablaufes vonzweckgemässen Bewegungen.
Bei Wegfall nur des linken Stirnhirnes leidet vor-
2370 Hartmann, Beiträge zur Apraxielehre.
wiegend das gedächtnismässig garantierte Kontinuum
der linksseitigen Bewegungsabläufe. Ä
Bei Wegfall eines grösseren Teiles der Balken-Ver-
bindung mit den andersseitigen Gehirn entsteht Leitungs-
apraxie der linken Extremitäten bei erhaltenem Be-
wegungsgedächtnis.
Die höheren motorischen Leistungen der in ihren
Verbindungen voneinander getrennten Hemisphären sind
verschiedenwertig. Während die abgetrennte linke Hemi-
sphäre nur einer verstärkten perzeptiven Kontrolle der
ablaufendenBewegungsvorgänge durch die Sinnessysteme
bedarf, erscheint die rechte für sich allein (bei erhaltenen
Eigenleistungen und erhaltener Nachahmungsfähigkeit
passiv der zugehörigen Körperseite erteilter Bewegungs-
olgen) nur zu apraktischen Leistungen befähigt; kom-
pliziertere Bewegungsfolgen, welche gleichzeitig die
uskelgebiete beider Seiten in Anspruch nehmen (zwei-
händige und statisch-lokomotorische Bewegungsabläufe),
sind an die Intaktheit der interhemisphärischen Asso-
ziationssysteme gebunden.
Defekte des rechten Stirnhirnes (Marklager der
rechten U. Stirnwindung) erzeugen Symptome partieller
Leitungsapraxie der linken Körperseite bei erhaltenem
Bewegungsgedächtnis.
Nach den hier vorgetragenen Anschauungen über
eine derartige Funktion gewisser Teile des Stirnhirnes
würde im Sınne des Gesetzes von der Wanderung der
Funktion nach dem Vorderende das menschliche Stirn-
hirn einem Grossteile der bei den niederen Wirbeltieren
schon durch die motorischen Zentralzonen besorgten
Leistungen und solchen hieraus weiter entwickelten
von höherer Dignität und Kompliziertheit vorzustehen
haben.
Erklärung der Figuren auf den Tafeln I—JI.
Tafel I, II. Ca= G. centralis anterior, Cp == G. centralis posterior.
Figg. 1, 2, 8, 4: Fall I. Linker Stirnhirntumor.
Fig. 5, 6: Fall II. Balkentumor.
Fig. 7: Fall III. Rechtsseitige Herderkrankung im Stirnhirn.
Weber, Zur prognostischen Bedeutung etc. 271
Zur prognostischen Bedeutung des Argyli-Robert-
sonschen Phänomens.
Von
L. W. WEBER,
Göttingen.
Unter obigem Titel hat Pilcz in Heft 1, Jahrgang 1907
dieser Zeitschrift einige interessante Fälle mitgeteilt, hei denen
vorübergehend die Pupillen lichtstarr oder träge waren und die
durch Jahre fortgeführte Katamnese kein Zeichen für progressive
Paralyse ergab. Da in der Mehrzahl der Fälle das Symptom
auch nicht auf eine überstandene Lues zurückzuführen war, so
rechnet es P. der Neurasthenie zu, die bei diesen Fällen nach-
zuweisen war; die Pupillenstarre verschwand auch mit dem Zurück-
gehen der neurasthenischen Beschwerden.
Die Mitteilung von Pilcz möchte ich noch durch folgende
Beiträge ergänzen.
1. Cramer hat schon seit vielen Jahren darauf hingewiesen,
dass nicht nur bei Alkoholikern, im pathologischen Rausch und
im gewöhnlichen starken Rausch, sondern auch bei Imbecillen,
Degenerierten und Erschöpften unter der Einwirkung ganz mässiger
Alkoholgaben, welche noch keine psychischen Veränderungen
setzen, Pupillendifferenz, Pupillenträgheit und Lichtstarre der
Pupillen auftreten können. Die ersten von Cramer methodisch
angestellten Versuche sind in seiner gerichtlichen Psychiatrie
(S. 333) erwähnt und ausserdem von H. Vogt!) ausführlicher
geschildert. Es ist dies Verhalten der Pupillen zu diagnostischen
Zwecken verwendet worden bei der Begutachtung zweifelhafter
Geisteszustände Ich erwähne hier nur einen Fall aus unserer
Klinik, einen 19jährigen, stark degenerativ veranlagten Menschen,
der im Wirtshaus eine Majestätsbeleidigung beging; beim Alkohol-
versuch ergab sich Pupillenstarre und Differenz der Kniephänomene,
ehe psychische Veränderungen „auftraten. Kürzlich hat auch
Tomaschny?) eine Anzahl ähnlicher Fälle aus der Anstalt
Treptow zusammengestellt.
2. Weiter haben wir reflektorische Pupillenstarre in den
letzten Jahren wiederholt bei Fällen folgender Art gesehen. Es
handelt sich um Menschen des fünften Lebensjahrzehnts oder
etwas älter, aber ohne jedes Zeichen präseniler Rückbildung.
1) Berl. klin. Wochenschr, 1905.
3) Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 28. H. 5.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 3. 18
272 Weber, Zur prognostischen Bedeutung etc.
Beginn der Psychose gewöhnlich allmählich mit jahrelangen Pro-
dromen (Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit, Reizbarkeit,
Egoismus, ethische Defekte), dann gewöhnlich ziemlich akute
Attacke, oft unter dem psychischen Bild der progressiven Paralyse
in expansiver Form. ewöhnlich- kommen diese Fälle auch mit
der Diagnose progressive Paralyse zur Aufnahme. Die Unter-
suchung ergibt — scheinbar zur Bestätigung — Lichtstarre der
Pupillen, oft auch Differenz. Aber nach einiger Zeit verschwindet
mit der psychischen Erregung das Symptom, um bei einer neuen
Attacke wiederzukehren. Einen dieser Fälle haben wir nach
dreijähriger, in steten Schwankungen verlaufender Krankheits-
dauer im 47. Lebensjahr zur Sektion bekommen. Es war keine
Paralyse, auch keine Hirnsyphilis, sondern eine ‚diffuse Arterio-
gklerose der feineren Gefässäste, die zu zahlreichen kleinen Er-
nährungsstörungen und Erweichungen geführt hat; der Fall rechnet
anatomisch zu dem Bild, das Binswanger als Encephalitis sub-
corticalis beschrieben hat. Wir haben deshalb auch bei den
beiden anderen, noch in unserer Beobachtung stehenden Fällen,
die interkurrent diese Pupillenstörungen zeigen, die Diagnose auf
eine diffuse beginnende arteriosklerotische Hirnatrophie ohne
gröbere herdförmige Erkrankung gestellt. Gerade bei der diffusen
Form der Hirnarteriosklerose, bei der es nicht zu gröberen Herd-
erkrankungen kommt, lässt sich denken, dass für gewöhnlich der
geringere Blutzufluss für die Funktion der subkortikalen Zentren
noch genügt, dass aber unter besonderen Umständen, z. B. bei
stärkerer Erregung, bei sonstigen Zirkulationsstörungen u.s.w. hier
Ausfallserscheinungen auftreten. Weiter möchte ich darauf hin-
weisen, dass es sich in unseren Fällen durchweg um ausgesprochen
degenerativ Veranlagte handelt; in einem Falle besteht eine starke
hereditäre Belastung, die sich in hochgradiger affektiver Labilität
mehrerer Familienglieder kundgibt; die beiden anderen Fälle fielen
schon Jahrzehnte früher ihren näheren Bekannten durch ihr eigen-
artiges exzentrisches Wesen auf. Wiederholte pathologisch-ana-
tomische Befunde legen mir die Annahme nahe, dass ein ana-
tomischer Ausdruck der sogenannten degenerativen Veranlagung
eine mangelhafte Ausbildung und geringere Widerstandsfähigkeit
des Gefässsystems, insbesondere der Gefässwände, ist. Daraus
würde sich erklären, weshalb in solchen Fällen auch ohne Mit-
wirkung von Lues oder anderen bestimmten, exogenen Schädlich-
keiten die Arteriosklerose so frühzeitig gewissermassen als Ver-
brauchskrankheit des Gefässsystems auftritt.
Unter den von Pilcz mitgeteilten 7 Fällen ist einer 29 Jahre,
einer 388, drei stehen in dem für die Arteriosklerose kritischen
Alter um das 40. Jahr, und einer ist 61 Jahre. Auch wenn die
Katamnesen jahrelang günstig lauten, ist dabei doch nicht aus-
geschlossen, dass es sich um ähnliche, langsam und etappenweise
fortschreitende Arteriosklerosen des Gehirns handelt, die unter
entsprechender Schonung und Behandlung sich jahrelang gut halten
können, bis ein neuer Schub oder eine exogene Schädlichkeit die
Fischer, Ueber die sogenannten rhythmischen etc. 278
Arteriosklerose fortschreiten und die Pupillensymptome wieder
auftreten lässt.
Jedenfalls möchte ich unter die Erkrankungen, die mit
transitorischen Pupillensymptomen verlaufen, auch die Arterio-
sklerose, insbesondere in der frühzeitig beginnenden und langsam
verlaufenden Form, auf degenerativer Basis zählen und auf ihre
differentialdiagnostische Bedeutung gegen die progressive Paralyse
aufmerksam machen.
(Aus der deutschen psychiatrischen Klinik. [Prof. A. Pick in Prag.))
Ueber die sogenannten rhythmischen, mit dem Puls
syncehronen Muskelzuckungen bei der progressiven
Paralyse.
Von
Dr. OSKAR FISCHER,
I. Assistenten.
Im Jahre 1895 fügte Kemmler!) zu den damals bekannten
epileptiformen und apoplektiformen paralytischen Anfällen noch
eine dritte Krampfart hinzu, die sich durch eine regelmässig
rhythmische Wiederkehr kurzer Zuckkrämpfe auszeichnen sollte,
die den klonischen Krämpfen gegenüber sich dadurch charakte-
risieren, dass sie in ihrem Rhythmus synchron mit dem Pulse
verlaufen. Kemmler untersuchte derart, dass er mit dem Finger
den Puls abtastete und dabei mit dem Auge die Zuckungen be-
obachtete oder aber von einem anderen beobachten liess und den
Rhythmus kontrollierte. Er behauptet, dass er auch nachweisen
konnte, dass eine jede Aenderung der Pulsfrequenz auch eine
Aenderung der Frequenz der Muskelzuckungen bedingte, eine
Unregelmässigkeit des Pulses zu Unregelmässigkeiten der Muskel-
zuckungen führt, ja dass in einem seiner Fälle auch ein dikroter
Puls die Ursache einer ebenfalls dikroten Zuckungsform abge-
geben hatte.
Dieser auffällige Befund verlangt eine Erklärung, und die
von Kemmler ist auch die nächstliegende, dass nämlich durch
den paralytischen Krankheitsprozess im Gehirn die Reizbarkeit
der Hirnrinde derart umgestaltet oder erhöht wird, dass sogar
die einfache Pulswelle als motorischer Reiz fungiert.
Seit längerer Zeit verfolge ich diese besonders vom allgemein
pathologischen Standpunkte interessante Krampfform. Was das
ı) P. Kemmler, Ueber Krampfanfälle mit rhythmischen, dem Puls
synchronen Zuckungen bei progressiver Paralyse. In den Arbeiten aus der
psychiatrischen Klinik in Breslau. 1895. Herausg. von C. Wernicke,
18*
274 Fischer, Ueber die sogenannten rhythmischen,
Vorkommen derselben bei der progressiven Paralyse, deren Ver-
halten zu den anderen motorischen Anfallsarten und deren Dauer
anbelangt, kann ich die Angaben Kemmlers vollinhaltlich be-
stätigen; auch konnte ich einen mehr oder weniger konstanten
Rhythmus derselben verfolgen und beim Befühlen des Palses das
rhythmische Zusammenfallen mit demselben wahrnehmen; kon-
trollierte man aber längere Zeit, dann konnte man häufig, und
auffälliger Weise in ganz bestimmten Zeiträumen sich wieder-
holende, leichte Unregelmässigkeiten nachweisen, deren Ursache
bei dieser einfachen Prüfungsart nicht recht verständlich war.
Dazu musste man ein genaueres Registrierverfahren anwenden,
indem man sowohl die Pulswelle als auch die Muskelzuckungen
gleichzeitig auf ein mit bestimmter Geschwindigkeit rotierendes
berusstes Papier sich aufzeichnen liess, Ich verwendete dazu
modifizierte Mareysche Trommeln. Zur Aufnahme des Paulses
konstruierte ich einen Schienenspparat, in dem der Vorderarm
fixiert werden kann und auf dem die Aufnahmstrommel frei nach
allen Richtungen beweglich und von dem Arm abhebbar ist; dadurch
wurde eine präzisere Einstellung der Pelotte ermöglicht, die Auf-
nahmetrommel konnte durch einfaches Umklappen von der Arterie
entfernt werden, was bei Unruhe des Kranken oder während eines
Anfalles von Vorteil war, um nachher sofort wieder in die alte
Stellung gebracht werden zu können; die Muskelzuckungen wurden
ebenfalls mit einer nur etwas gröberen Mareyschen Trommel
aufgenommen und zwar derart, dass eine freie Trommel einfach
mit der Hand an den gerade zuckenden Muskel womöglich unter
‘gleichem Druck gehalten wurde. Beide Aufnahmetrommeln waren
mittelst Schläuchen mit den Marey schen Zeichentrommeln in Ver-
bindung; zugleich wurden mit Hülfe eines Metronoms die Sekunden
gezeichnet. Für die Anwendung dieser Anordnung musste eine
besondere Bedingung gegeben sein. Da die Muskelzuckungen
ziemlich grob sind, meist viel stärker als das Pulsieren der Radial-
arterie, konnten nur diejenigen Fälle verwendet werden, bei denen
die Krämpfe derart angeordnet waren, dass wenigstens ein Arm
frei blieb; dann konnte man an dem ruhenden Arm die Puls-
kurve und an einem der zuckenden Muskel die Muskelkurve
aufnehmen.
Ich habe ın dieser Weise jetzt 4 Fälle untersucht, deren
Beschreibung ich sofort folgen lasse.
Fall 1. L. E., 50jähriger Sträfling, eingebracht am 20. XI. 1902 zur
Klinik. Schon im Juni des Jahres wurden an ihm von fremden Personen
eine auffällige Vergesslichkeit, Apathie und Demenz bemerkt; am 5. IX. 1902
wegen Verbrechen des Betruges verurteilt; in der Untersuchungshaft klagte
er schon über Kopfschmerzen und bekam einige Tage vor seiner Einbringung
einen nicht näher beschriebenen „Tobsuchtsanfall®, wollte immer wieder
weglaufen; eingebracht in der Zwangsjacke, mit stark blutigen Suffusionen
der rechten Gesichtshälfte, zeigte er auf der Klinik: psychisch sehr stumpf,
war rechtsseitig bemianopisch, hatte eine leichte Parese der rechten Körper-
seite, starke Paraphasie mit Paralexie und Paragraphie, neben einer bebenden
und häsitierenden Aussprache; Sehnenreflexe und Pupillen normal; die sen-
mit dem Puls synehronen Muskelzuckungen etc. 275
sorische Sprachetörung zeigte einen häufigen Wechsel in der Intensität, die
Hemianopsie und die kulationsstörung bleiben im gleichen; es entwickelt
sich eine zunehmende Demenz. Pat. ist seit Mitte 1 ganz unrein, dabei
wird auch die Sprachstörung wesentlich stärker; Pat. zunehmend stumpfer.
4. X. 1904. Nachts etwa !/, Minute dauernde Zuckungen in der rechten
Gesiehtshälfte und im rechten Arm, nachher Schlaf.
5. X. Früh stumpf, bei Bewusstsein; der rechte Mundwinkel etwas
gehoben, die Nasolabialfalte rechts stark seitwärts verzogen, der rechte Arm
setzt passiven Bewegungen steifen Widerstand entgegen. Kein Babinski.
Auftreten vonrhythmischen jähen Zuckungen in den Muskeln der
rechten Gesichtshälfte und des rechten Armes; dieselben sind
so schwach, dass sie die Extremitäten selbst gar nicht bewegen,
aber doch so stark, dass sie die Kontraktion des Muskels iu
deutlicher Weise sichtbar werden lassen; dabei Pat. bei Bewusstsein
von gewohnter Stumpfhbeit; die Zuckangen dauern durch 1—2 Stunden und
kehren im Laufe des Tages einigemal in gleicher Weise wieder auf; beim
Befühlen scheinen sie mit dem Puls synchron zu sein, es kommt
jedoch nach kurzen Intervallen von gleichartigem Rhythmus
immer wieder zu eigenartigen Unregelmässigkeiten zwischen
Puls und Muskelzuckungen.
6. X. Nachts wiederholten sich die Muskelzuckungen in ähnlicher
Weise; ebenso auch heute; nur ist Pat. benommen und die Zuckungen dauern
ohne Unterbrechung; zeitweise kommt es zu einer paroxysmenartigen Ver-
stärkung derselben; 6 Uhr nachmittags Exitus.
Die Sektion ergab eine deutliche Atrophie des ganzen Gehirns, be-
sonders aber der linken Hemisphäre, unter stärkster Beteiligung des Schläfen-
und Occipitallappens. Die mikroskopische Untersuchung ergab das typische
Bild einer progressiven Paralyse.
Am 6. X. vormittags wurde die Pulskurve der linken Arteria
radialis und die Krampfkurve der rechten Gesichtsmukulatur in
der oben geschilderten Weise gleichzeitig aufgenommen; dieselben
zeigt Fig. 1; b. ist die Kurve des zwar nicht sehr starken, aber
ganz regelmässigen Pulses; dagegen ist die Krampfkurve nicht
ganz rhythmisch und, was das Auffallende ist, sie zeigt einen ganz
anderen Rhythmus als die Pulskurve; es entfallen auf die hier
verzeichnete Zeit von 12 Sekunden nicht ganz 14 Muskel-
zuckungen auf 20 Pulsschläge. Um die zeitliche Verschiedenheit
der zwei Kurven besser vergleichen zu können, wurden die
Kurvengipfel als Punkte auf Abszissen aufgetragen, wobei die
Linie d der Krampfkurve, e der Pulskurve entsprechen. Da sieht
man besonders deutlich die Unabhängigkeit der beiden Kurven
voneinander; auch wenn man die zwei etwas unregelmässig ge-
streckten Muskelzuckungen a und ß nicht berücksichtigt, bleibt
trotzdem an den anderen Stellen der Rhythmus der beiden Kurven
unabhängig, was besonders deutlich die Kurventeile rechts von ß
zeigen; da gehen 6 ziemlich rhythmische Muskelzuckungen hinter-
einander, und auf dieselbe Zeit entfallen 7 ebenfalls ganz rhyth-
mische Pulse; die Zahlen 6 und 7 lassen sich nun in kein einfaches
Verhältnis bringen. Die Betrachtung der Linien d und e zeigt,
warum die einzelnen Kurvengipfel miteinander zusammenfallen,
um dann wieder zu differieren, indem sich eine durch die ver-
schiedenen Wellenlängen bedingte Interferenz einstellt.
Fall 2 U. O., 28jähriger Kellner, eingebracht in die Klinik am
3. XII. 1904 wegen Trunkenheitsexzess. Deutliches Bild der progressiven
— — ——
276 Fischer, Ueber die sogenannten rhythmischen,
Paralyse, manische Stimmung, voll von unsinnigen Grössenideen; er ist
ein grosser Musikant, General, Kaiser, wird grosse Schlachtschiffe bauen und
den Japanern zu Hilfe kommen; wird später zunehmend dement, stumpf und
unrein. Somatisch: bebende verlangsamte Sprache, Puapillen ungleich weit,
bei guter Reaktion, Tremor der Hände und Zunge,
6.—20. XI. 1905. Anfall von motorischer Aphasie, dabei deutliche Un-
geschicklichkeit der rechten oberen Extremität; allmählicher Rückgang der
ymptome,
25. XII. Allgemeine epileptiforme Anfälle.
12. I. 1906. Früh bei der Visite somnolent; der rechte Mundwinkel
zuckt rhythmisch. Bald darauf ein allgemeiner Krampfanfall von 5 Minuten
Dauer, nachher Sopor; eine Zeitlang nach dem Anfalle zucken beide Mund-
winkel rhythmisch. Tagsüber ist Pat. weniger frei, wieder von den Zuckungen
befallen, deren Sitz aber wechselt; zeitweise ist nur die rechte Gesichts-
hälfte befallen, dann wieder die ganze rechte Körperhälfte, dann wieder die
beiden Gesichtshälften und die linke obere Extremität, zeitweise zucken auch
die Bauchmuskeln mit. Die Muskelzuckungen ziemlich rhythmisch,
scheinen bei oberflächlicher Prüfung mit dem Puls synchron zu
sein, bei genauerer Prüfung merkt man aber mehr oder weniger
häufig sich wiederholende Unregelmässigkeiten, worauf dann
wieder mehrere Schläge zusammenfallen.
13. I. Komatös. Kein Anfall, Exitus.
Die Sektion und mikroskopische Untersuchung des Gehirns ergaben das
typische Bild der progressiven Paralyse.
Fig. 3.
mit dem Puls synchronen Muskelzuckungen etc, . 277
BLASEN
b
Fig. 4.
Fig. 5.
Zeichenerklärung: a) Krampfkurve, b) Pulskurve, c) Sekundenzeichen,
d) Projektion der Kurvengipfel von a, e) Projektion der Kurvengipfel von b.
Am 12. I. wurde eine Kurve aufgenommen zu einer Zeit,
wo die beiden Gesichtshälften und der linke Arm zuckten; die
Kurven sind dem Puls der rechten Radialarterie und den Zuckungen
des linken Musculus biceps entnommen. Fig. 2 ist-am Vormittag
und Fig. 3 am Nachmittag desselben Tages aufgenommen; in
Fig. 3 ist die Pulskurve ziemlich gleichartig, regelmässig, entspricht
einem weichen, ziemlich kräftigen Puls von 100 Schlägen in der
Minute. Nicht so ganz regelmässig ist die Krampfkurve; die
Höhe der einzelnen Kurven ist zwar bis auf einzelne, nicht zu
berücksichtigende Differenzen im allgemeinen dieselbe, aber wie
dies besonders gut die Projektion der Kurvengipfel d zeigt, kommen
immer Perioden von kürzeren und Perioden von längeren Ele-
vationen vor. Die Puls- und die Krampfkurve präsentieren sich
als vollkommen voneinander unabhängig. In den 12 Sekunden
sind einerseits 20 Pulswellen gegenüber 23 Muskelzuckungen ver-
zeichnet, und andererseits sind hier zwei Perioden kürzerer und
eine dazwischen liegende Periode längerer Muskelzuckungen ver-
zeichnet, während deren der Puls unbeeinflusst in gleichmässiger
Weise weiter verläuft. Beim Vergleiche der Linien d und e sieht
man wieder, dass zeitweise einzelne Elevationen der zwei Kurven
immer nacheinander zusammenfallen, dann wieder miteinander
interferieren um dann wieder auf einige Schläge zusammenzufallen.
So können dem den Puls nur mit dem Tastsinn kontrollierenden
Beobachter die vier zwischen a und ß liegenden und die fünf
278 Fischer, Ueber die sogenannten rhythmischen,
zwischen y und ô liegenden Elevationen als ziemlich gleichzeitig
erscheinen, da die zeitliche Differenz zwischen denselben zu
klein ist, als dass sie bei dieser Untersuchung mit Sicherheit
wahrgenommen werden könnte. In ähnlicher Weise verhalten
sich auch die Kurven in Fig. 3, nur dass hier die Krampfkurve
durch Di- und Polykrotie noch etwas unregelmässig wird. Auch
bier entfallen auf 19 Pulse 24 Muskelzuckungen.
Fall 3.) H.H., 13jähriger Pflegling der Idioten-Anstalt, aufgenommen
am 8. I. 1905.
Pat. ist seit seinem 6. Lebensjahre progredient schwachsinnig, seit
einem Jahr in der Idioten-Anstalt; vollkommen verblödet; Sprache bebend,
sich zunehmend verschlechternd; seine Mutter befindet sich zur Zeit seiner
Aufnahme mit progressiver Paralyse in der Pflege der Irrenanstalt.
Eingebracht ganz verblödet, bringt nur unartikulierte Laute bebend
hervor, Pupillen weit, starr, sehr gesteigertes Kniephänomen.
24. I. Auftreten von kurzen rhythmischen Zuckungen in beiden Ge-
sichtshälften und den rechtsseitigen Extremitäten, die Zuckungen bestehen
ohne Störung des Sensoriums in verschieden starker Intensität und sind
ziemlich regelmässig, etwa 75 in der Minute, der Puls dagegen etwas un-
regelmässig; zwischen beiden lässt sich kein deutliches Zusammenfallen wahr-
nehmen. |
Die Zuckungen dauern in wechselnder Stärke bis zum Tode des Pat.,
der am 81. I. 1906 eintritt. Sektion und mikroskopische Untersuchung des
Gehirns bestätigen die Diagnose der progressiven Paralyse.
Die am 25. I. aufgenommenen Kurven des L. Radialpulses
und der Zuckungen des rechten Unterarmes zeigt die Fig. 4;
beide Kurven sind ziemlich unregelmässig, sowohl was die Dauer
als auch die Form der einzelnen Elevationen anlangt, und lassen
sich in ihrem Rhythmus in keiner Weise auf eine einheitliche
Basis bringen: in den 12 markierten Sekunden sind 18 Muskel-
zuckungen und 28 Pulswellen verzeichnet.
Fall 4. Z. F., 35 jährige Höcklersgattin, aufgenommen am 1. X. 1905.
Pat. ist seit zwei Jahren epileptisch, hat gewöhnlich einmal im Monate einen
Krampfanfall; ist nachher meist durch mehrere Stunden verwirrt; der letzte
Anfall vor 5 Tagen, seither ein Dämmerzustand. Eingeliefert, drängt sie
dämmerhaft weg, lässt sich füttern; zeigt sensorische Aphasie mit Paraphasie,
Perseveration und apraktischen Zuständen. Nachts sehr unruhig delirant,
nachher gewöhnlich konfabulierend. Pat. wird zunehmend dement, die
Sprache leicht bebend und stockend.
20. XII. Status epilepticus von etwa 41 Anfällen; an einen der letzten
Anfälle anschliessend streng rhythmische, die gesamte Muskulatur der linken
oberen Extremität und die rechte Gesichtshälfte einnehmende Zuckungen.
Dieselben dauern etwa 1/,Stunde(Kurvenaufnahme), werdenallmählichschwächer,
und zum Schlass zuckt nur noch der linke Musculus extensor digiti minimi
und der rechte Musculus frontalis. Die Zuckungen immer im gleichen
Rhythmus, dem Gefühle nach ganz mit dem Pulse synehron, etwa
110 in der Minute,
Am nächsten Tage Nachts Fieber, Lumbalpunktion ergibt ziemlich
reichliche Pleocytose.
1) Publiziert von Dr. Oskar Woltär: Beiträge zur Kenntnis der
Farslysis progressiva im Kindesalter. Prager mediz. Wochenschrift. 1905.
o. 89. | =
mit dem Puls syuchronen Muskelsuckangen etc. 279
Im weiteren Verlaufe gleicher Zustand wie vor den Anfällen, zeitweise
einzelne epileptische Anfälle, aber keine rhythmischen Muskelzuckungen mehr;
Pat. wird zunehmend dementer, stumpf und stirbt in einem Status epilepticus
am 27. IV. 1906.
Die Sektion ergab keine deutliche Atrophie des Gehirns und nur
sine sehr geringe Meningealtrübung; die mikroskopische Untersuchung steht
noch aus.
Die Kurvenaufnahme zeigt Fig. 5. Es wurden verzeichnet
die Zuckungen des linken Unterarmes und der rechte Radialpuls.
Sowohl der Puls als auch die Krampfkurve zeigen einen
sehr schön gleichmässigen Rhythmus, es kommen aber auf 12 der
markierten Sekunden 21 Muskelzuckungen und 24 Pulswellen;
auch diese lassen sich in keiner Weise zeitlich aneinanderpassen.
Sehr lehrreich ist in diesem Falle die Betrachtung der linearen
Gipfelprojektionen d und e, die das zeitweise Zusammenfallen der
Gipfel der 2 Kurven in schöner Weise demonstrieren.
Die beschriebene Untersuchung bezieht sich auf drei sichere
Paralysen und den Fall einer Epileptica, die ziemlich rasch in
einer ganz eigenartigen Weise verblödet ist. In allen diesen
Fällen kam es zu den ganz typischen rhythmischen
Muskelzuckungen, die in jeder Hinsicht der Schilderung
Kemmlers entsprechen, nur dass sie, mit feineren
Methoden untersucht, sich nicht als mit dem Pulse
synchrom erweisen. Die vorliegende kleine Tabelle
zeigt übersichtlich die Differenzen.
Fall No.
Figur J
Zuckungsfrequenz in der Minute . | 65 | 115 |120 || 90 || 105
Pulsfrequenz in der Minute. . . || 100 || 100 | 80 || 115 || 120
Die Pulsfrequenz ist nur im 2. Falle niedriger als die
Zuekungsfrequenz, in den anderen ist sie durchwegs höher.
Man könnte diesen Untersuchungen vorwerfen, dass die
Zahl von 4 Fällen zu gering sei; dazu ist zu bemerken, dass die
mit den graphischen Methoden gemachten Erfahrungen auch von
einer Reihe anderer Fälle bestätigt wurden, die ich graphisch
nicht aufnehmen konnte. Es waren dies zwei Fälle, die ich noch
vor der graphischen Untersuchungsmethode untersucht habe und
die dureh eigenartige periodenweise wiederkehrende Unregelmässig-
keit zwischen Puls und Muskelzuckungen mich auf den Weg ge-
nauerer Untersuchung wiesen; dazu kommen noch 4 andere Fälle,
bei denen entweder der Puls so schwach war, dass er mit dem
Apparste nicht aufzunehmen war, oder aber waren die Zuckungen
über den ganzen Körper verbreitet, so dass eine Aufnahme des
Pulses ohne Störung durch das Muskelwogen nicht möglich war,
und auch in diesen Fällen konnte der Vergleich des nur ge-
tasteten Pulses mit den Krampfzuckungen immer wiederkehrende
Unregelmässigkeiten nachweisen.
280 Buchanzeigen.
Wir kommen also zu dem Schlusse, dass der Puls und die
von Kemmler beschriebenen Muskelzuckungen nicht synchron
zusammenfallen, sondern dass beide einen ganz eigenen,
von einander unabhängigen Rhythmus aufweisen. Inter-
essanterweise ist die Frequenz der Pulswellen in allen Fällen
nicht sehr different von der der Muskelzuckungen, so dass es
möglich wäre, dass beim wechselnden Verhalten derselben in den
verschiedenen Fällen, es ein oder das andere Mal tatsächlich zu
einer Synchronizität kommen könnte. Trotzdem wird man, wenn
auch dies nachgewiesen werden könnte, auf Grund der obigen
Erörterungen sowohl dem motorischen Zentrum als auch
dem Herzen selbst je einen ganz selbständigen, von ein-
ander unabhängigen Rhythmus zuerkennen müssen. Damit
entfallen aber auch die weitgehenden, von Kemmler an die
gegenteilige Ansicht geknüpften Folgerungen.
Nachtrag bei der Korrektur: Die inzwischen an dem
Gehirn des 4. Falles vorgenommene histologische Untersuchung
ergab das typische mikroskopische Bild der progressiven Paralyse.
Buchanzeigen.
v. Franki-Hoehwart, Der Meniöresche Symptomenkomplex. Zweite
umgearbeitete Auflage. Wien 1906. A. Hölder.
Die rühmlichst bekannte Monographie hat Verf. in dieser zweiten Auf-
lage auf Grund seiner vielfachen neuen Erfahrungen einer bedeutenden Er-
weiterung untersogen. Die Einteilung ist im wesentlichen dieselbe geblieben.
Den Meniöre-Anfällen bei bisher intaktem Gehörorgan (apoplektische und
traumatische Formen) werden die accessorischen, zu Ohrerkrankungen hinzu-
tretenden Formen, sowie der transitorische, durch äussere Einflüsse hervor-
gerufene Ohrenschwindel gegenübergestellt. Anhangsweise werden Meniöre
ähnliche Attacken (Pseudo-Meniere) bei funktionellen Neurosen, vorzugsweise
Epilepsie und Hysterie, besprochen. Neu hinzugekommen sind die Meniere-
Symptome bei der vom Verf. so genannten Polyneuritis cerebralis Meniöri-
formis (Vereinigung von Faxialislähmung, Herpes, kochlearen und vertibularen
Störungen) der Symptomatologie, pathologischen Anatomie, deren Ergebnisse,
soweit die accessorisehen Formen in Betracht kommen, noch recht dūrfti
sind sowie der Differentialdiagnose sind ausführliche und erschöpfende Kapite
ewidmet. Wichtig und neu ist die Aufstellung von Formes frustes des
eniere-Anfalls. Die Prognose ist Verf. geneigt, jetzt günstiger als in der
ersten Auflage zu stellen, wenigstens bezüglich des Schwindels, da ein recht
beträchilicher Teil der Kranken während einer langen Beobachtungsseit von
Anfällen freigeblieben ist. Ein Abschnitt über Prophylaxis und Therapie,
sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis beschliessen die wertvolle „arbeit,
ipschitz.
Sante de Sanetis, Die Mimik des Denkens. Uebers. von Joh, Bresler-
Halle a. S. C. Martold 1906. 181 S., 44 Abbild. im Text.
Der Verf. gibt eine ausführliche Beschreibung und Analyse des
Gesichtsausdruckes, welcher das Aufmerken, Beobachten und Denken be-
gleitet. Auch die Mimik der Tiere und des Kindes sowie ihre Modifikationen
nach Rasse, Geschlecht etc. werden berücksichtigt, ganz besonders sei aber
an dieser Stelle auf die Darstellung der Veränderungen der Denkmimik bei
Facialislähmung, Neurasthenie, Blindheit und Geisteskrankheit (inkl. Schwach-
sinn) hingewiesen. Die Uebersetzung ist recht gat. Z.
Buchanzeigen, 281
Technik, Wirkungen und Indikationen der Hydro-Elektrotherapie
bei Anomalien des Kreislaufes. Von Dr. Paul C. Franze. Preis
1,60 Mk. Erschienen in der „Aerztlichen Rundschau“. München. 1905.
Verfasser gibt eine kurze, leicht verständliche Anleitung zur Aus-
führung der Hydro-Elektrotherapie und macht uns mit seinen Erfahrungen
bekannt über die Wirkungen hydro-elektrischer Bäder, z. T. in Verbindung
mit der Manheimer Kur. A. Kempner.
Förster, 0., Die Kontrakturen beiden Erkrankungen der Pyramiden-
bahn. Berlin 1906. S. Karger. M. 1,60.
Verf. legt in dieser bedeutsamen, sehr klar und anregend geschriebenen
Arbeit seine Anschauungen über das Wesen nnd die Entstehung der Kon-
trakturen bei Pyramidenbahnerkrankungen dar. Nach einer knəppen, aber
vollständigen Uebersicht über die Kontrakturen überhaupt scheidet er unter
den spastischen Kontrakturen die Früh- oder Reizkontrakturen scharf von
den Kontrakturen der Pyramidenbahnerkrankung, die er als Ausfallskontrakturen
bezeichnet, ab. Das Wesen dieser Ausfallskontrakturen sieht er in der Tendenz
des Muskels, sich der Annäherung seiner Insertionspunkte durch Spannungs-
entwicklung anzupassen. Auf die grosse Mannigfaltigkeit der Formen der
Kontrakturen hinweisend, sucht er an der Hand seiner Erfahrung in scharf-
sinniger Weise zu beweisen, dass die Entwicklung einer bestimmten Kontraktur-
stellung fast ausschliesslich davon abhängt, dass das Glied in dieser Stellung
eine Zeit lang verharrt, wobei als stellungsbestimmende Momente zunächst
die mehr oder minder zufällige Lagerung des Gliedes, nach Rückkehr der
Beweglichkeit die möglich gewordenen Willkürbewegungen, Mitbewegungen,
sowie Reflexbewegangen wirken. Die Ursache der Kontraktur sieht er in
dem Fortfall spannungshemmender Einflüsse der Hirnrinde auf den — aus
zentripetalen und zentrifugalen Bahnen zusammengesetzten — subkortikalen
Innervationsmechanismus. Durch Wegfall dieses kortikalen Einflusses wird
der normale reflektorische Widerstand — der normale Fixationsreflex, wie
ihn Verf. nennt — zur Kontraktur, zum rein subkortikalen Fixationsreflex.
Die Ansicht des Verf, dass die Rigidität der Paralysis agitans analog
den Kontrakturen bei Pyramidenbahnerkraukungen als veränderter Fixations-
reflex betrachtet werden müsse (wie er andeutet: infolge Erkrankung der
kortiko-zerebellaren Bahnen), hat manches für sich; wenig gelungen schoint
dagegen der Versuch, die Kontrakturen bei akinetischen Zuständen der Geistes-
krauken (Negativismus, Flexibilitas cerea) ebenfalls in Parallele mit den
Kontrakturen der Pyramidenbahnläsionen zu stellen und als verändertes Reflex-
phänomen aufzufassen. Lipschitz.
Klinik für psyehisehe und nervöse Krankheiten. Herausgegeben von
Prof. Dr. Soemmer-Giessen. Verlag von C. Marhold-Halle,
Der Zweck dieser neu herausgegebenen Schritt, welche auf 2 Jahre
berechnet ist und in Vierteljahresheften à 3.00 Mk. erscheint, ist nach einem
Vorwort des Herausgebers „in erster Linie der, zu lehren, wie man durch
bewährte Methoden in den einzelnen Fällen der psychiatrisch-
neurologischen Praxis zu einer möglichst genauen Feststellung der
Symptome und zur richtigen Auffassung der Krankheitsart gelangt“.
In Form einzelner Aufsätze wird der Leser mit den Untersuchungs-
methoden der Giessener Klinik, sowie mit der daraus resultierenden Diagnostik,
Prognostik und Therapeutik bekannt gemacht.
Sommer selbst liefert bereits im 1. Vierteljabresbeft 3 Beiträge:
a) „Psychiatrische Untersuchung eines Falles von Mord und Selbst-
mord mit Studien über Familiengeschichte und Erblichkeit“;
b) „Ueber Geistesschwäche bei psychogener Neurose“;
€) „Die elektrischen Vorgänge an der menschlichen Haut“.
Von weiteren Beiträgen seien des kurzen ‚Raumes wegen nur noch
erwähnt:
i v. Leupoldt: 5
a) „Nachweis der Simulation von Taubstummheit durch Schreckwirkung
auf akustische Reize“;
b) „Zur Symptomatologie der Katatonie“. .
282 Buchanzeigen.
Dannemann: „Ueber Bewusstseinsveränderungen und Bewegungs-
störungen durch Alkohol, besonders bei Nervösen.*
Laquer: „Die ärztliche und erziehliche Behandlung von Schwach-
sinnigen in Schulen und Anstalten und ihre weitere Versorgung.“
Weitere Beiträge sind zu erwarten von Aschaffenburg, Bins-
wanger, Gerhard, Edinger, Liepmann, Westphal u. a. m.
A. Kempner-Berlin-Charlottenbarg.
Die religiöse Wahnbildung. Eine Untersuchung von Th. Braun, Stadt-
pfarrer in Leutkirch-Täbingen. J.C. B. Mohr (Paul Siebeck). 1906. 74 S.
Braun hat die religiösen Wahnvorstellungen, wie sie von den Geistes-
kranken in den verschiedensten Krankheitsiormen bald vereinzelt und unklar,
bald in systematisierter Form geäussert werden, hinsichtlich ihrer Genese
und ihrer Einwirkung auf die religiös-sittlichen Anschauungen der Patienten
untersucht. Die Sehrift bietet für den Psychiater nichts Neues. Die klein-
liche und gekünstelte Erklärung und Systematisierung der verschiedensten
wahnhaften Aeusserungen ist für ihn ohne Interesse. Beachtenswert sind
dagegen die Schlussfolgerungen, dass „der für den Laien naheliegende Gedanke,
als ob die religiöse Wahnbildung für den Kranken religiös-sittlich förderlich
und das dankbarste, anregendste Feld der Seelsorge sei, in keiner Weise zutrifft“,
und dass ein Eingehen auf die im Anfangsstadiam einer Psychose auftretenden
religiösen Wünsche und Vorstellungen in der Regel von ungünstigem Ein-
fluss auf die Vorstellungstätigkeit sei. Dieser Schluss lässt es wünschenswert
erscheinen, dass die Schrift speziell in den theologischen Kreisen Verbreitun
finden möge, die sich berufen fühlen, ihre seelsorgerische Tätigkeit auch au
das psychiatrische Gebiet aussudehnen. Grimme-Göttingen.
C. Moell, Die in Preussen gültigen Bestimmungen Aber die Ent-
lassung aus den Anstalten für Geisteskranke. Alt-Hochesche
Sammlung. C. Marhold. 1906. 44 S.
Diese Zusammenstellung der Bestimmungen über Entlassungen von
Geisteskranken und die klare Erörterung ihrer praktischen Bedeutang ist
sebr dankbar zu begrüssen. Dabei ergibt sich zugleich, wie wenig diese
Bestimmungen den tatsächlichen Verhältnissen gerecht werden. 2.
M. Benedikt, Aus meinem Leben. Erinnerungen und Erörterungen.
Wien 1906. K. Konegen. 420 S.
Unter den vielen Memoiren und Autobiographien Gelehrter, mit denen
uns die letzten Jahrzehnte beschenkt haben, interessiert das vorliegende
Werk nivht nur, weil der Verfasser der Psychiatrie nahe steht, sondern auch
weil es uns zeigt, wie ein hervorragender Mensch selbst sein Verhältnis zur
Mitwelt auffasst und was aus seinem Leben ihm selbst mitteilenswert erschien.
Eiu mindestens originell, wenn nicht genial veranlagter Mann, der mit offenen
Sinnen und warmem Herzen die Welt betrachtet, dem neben einer immensen
und vielseitigen wissenschaftlichen Betätigung auch die glückliche Gabe eines
rossen Selbstbewusstseins zur Verfügung steht. Und das letztere gibt dem
Buch noch eine besonders subjektiv gefärbte Note: überall bei wissenschaft-
lichen Erörterungen, auf Versammlungen und Kongressen, in politischen
Debatten, wie bei den dem Sport und Kanstgenuss gewidmeten Reisen: überall
steht der Verf. nach seinem Bericht im Mittelpunkt und hat das Gläck, eine
epochemachende Anregung zu geben, Sätze von „blühendem klassischem Wert“
aufzustellen.
Dieser egozentrische Charakter der Darstellung nimmt dem Buch nichts
von seinem eigenartigen fesselnden Reiz, weil es eben von einem wirklich
begabten Mann, der wirklich viel erlebt, gearbeitet und erfahren hat, ge-
schrieben ist. Die speziellen Anschauungen des Verf, namentlich auf
kriminalpsychologischem und anthropologischem Gebiet, die er in diesem
Buch auch der Laienwelt klarzumachen sucht, sind bekannt und brauchen
bei dieser Gelegenheit nicht besprochen zu werden. Weber- Göttingen.
Buchanzeigen. 283
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der Nerven-
und Geisteskrankheiten. Herausgegeben von Prof. Dr. Hoche-
Freiburg. Verlag C. Marhold-Halle.
Im 8. Heft des VII. Bandes spricht Prof. Dr. Nolda „Ueber die
Indikationen der Hochgebirgskuren für Nervenkranke".
Verf. stätzt seine Erfahrungen auf ein Material von über 8000 Nerven-
kranken, die er in St. Moritz zu behandeln Gelegenheit hatte. Nach seiner
Ansicht ist „der Aufenthalt im Hochgebirge — worunter eine Höhe von über
13800 m verstanden wird — für viele Nervenkranke ein vorzügliches Heil-
mittel, auch im Winter“. Besonders geeignet zu Hochgebirgskuren seien
Neurasthenie, Hypochondrie, Grübelsucht, Hemicranie, traumntische Neurosen,
Asthma bronchiale seu nervosum, Epilepsie, Melancholie, Hysterie und
Morbus Basedowii. |
Das 4. Heft des gleichen Bandes bringt eine Abhandlung von Salgó-
Budapest über „Die forensische Bedeutung der sexuellen Perversität“.
Wieder ein Beitrag zur Abänderung des 8 175 R.St.G.B., der nach
dem Urteil des Verfabrens „irrationell, höchst lüäckenhaft, unaufrichtig und
praktisch völlig zwecklos“ ist, ja sogar „schädlich und korrumpierend“
wirkt, weil durch ihn der „Angeberei und gewerbsmässigen Ausnutzung
schmählicber Situationen“ Tor und Tür geöffnet sei.
Weiter warnt Salgó den Psychiater davor, jeden Fall von Homosexualität
in das Gebiet der Psychose einreihen zu wollen, da zahlreiche Fälle existieren,
bei welchen „die eingehendste Untersuchung weder eine Krankheit, noch
eine Disposition zu einer solchen, noch auch irgend welche Zeichen einer
abnormen Funktion des Zentralnervensystems nachzuweisen“ imstande war.
Für ihn ist „die Frage der sexuellen Perversität als solche nicht
Gegenstand der Psychiatrie“. Er betrachtet sie vielmehr in vielen Fällen
als besondere „Geschmacksrichtung oder Geschmacksverirrung®.
Mag man sich zu den Ausführungen des Verfahrens stellen, wie man
will; jedenfalls sollten Juristen und Aerzte diese Abhandlung in die Hand
nehmen, die wieder einen Stein abreisst aus dem morschen Gebäude dieses
Kapitels unseres Strafgesetzbaches.
A. Koempner-Berlin-Charlottenburg.
Leyden und Goldseheider, Die Erkrankungen des Rückenmarks und
der Medulla oblongata. II., spezieller Teil- und III. Teil, die Medalla
oblongata. Zweite, umgearbeitete Auflage. Wien 1904 und 1905.
Alfred Hölder.
Das bekannte Werk aus dem Nothnagelischen Handbuch liegt nun
vollendet in der zweiten Auflage vor, die eine Erweiterung der ersten dar-
stellt unter Berücksichtigung der inzwischen erschienenen Literatur. Der
zweite Teil umfasst 534 Seiten und 82 Abbildungen und 5 Tafeln. Er schildert
zunächst die Erkrankungen der Wirbel mit Rücksicht auf die dadurch be-
dingten Rückenmarkserkrankungen, dano die Erkrankungen der Rückenmarks-
häute — Hyperämie und Blutungen — nebst den Entzündungen der Rücken-
markshäute; eigentümlicher Weise werden zwischen beide Erkrankungen die
Rückenmarkstumoreneingeschoben. Sodann folgen in amfangreicher Darstellung
die Erkrankungen des Rüäckonmarks selbst: abnorme Blutfüllung, traumatische
Affektionen, Myelitis, die sekundären und primären Strangerkrankungen, die
Tabes, die Friedreichsche Krankheit, die progressive spinale Muskelatrophie,
die amyotrophische Lateralsklerose und die Syringemyelie mit der Morvan-
schen Krankheit. Es braucht wohl nicht betont zu werden, dass die Dar-
stellung überall auf der Höhe steht, die durch die Namen der Autoren ver-
bürgt wird. Doch sind die einzelnen Kapitel etwas ungleichmässig ausgefallen.
Die Rückenmarkstumoren kommen entschieden etwas zu kurz fort, ebenso
wird die Syringomyelie nicht sehr eingehend behandelt. Ganz vorzüglich
ist die Darstellung der Myelitis in ihren verschiedenen Formen, an der man
‚die Meisterhand Leydens merkt! Sehr interessaut und allen Möglichkeiten,
also jedenfalls nicht einseitig, gerecht werdend ist die Astiologie der Tabes
behandelt. Störend wirkt, dass die Zifferbenennung der Kapitel im Text von
der Zifferbenennung im Inhaltsverzeichnis abweicht: während im Inhalts-
284 Notiz.
verzeichnis bei Teil Il die von Teil I übernommene Numerierung fort-
geführt wird, beginnt sie im Text von neuem.
Teil III behandelt in 82 Seiton die Erkrankungen der Medulla oblongata:
es wird zuerst eine allgemeine Symptomatologie gegeben, dann folgt die Dar-
stellung der progressiven amyotrophischen Bulbärparalyse, der akuten Bulbär-
paralyse, der Bulbärparalyse ohne anatomischen Befund, der Pseadobulbär-
paralyse, der Erkrankungen der Augenmuskelkernregion — nukleäre Ophthalmo-
plegie — und der reridivierenden Oculomotoriuslähmung. Auch hier findet
überall eine erschöpfende Schilderung der Aetiologie, Symptomatologie,
pathologischen Anatomie und der Therapie statt, auc hier werden überall
neue und neueste Forschungen gebührend berücksichtigt. Am besten ge-
lungen ist die Darstellung der nukleären Ophthalmoplegie.
Das Buch trägt dem Forscher sowohl wie dem praktischan Arzte
Rechnung, für letzteren ist es besonders wertvoll wegen der genau besprochenen
Therapie. So wird es beiden gleich willkommen sein. Windscheid.
Strasser, H., Anleitung zur Gehirn-Präparation. Halle, Marhold.
. Verf. gibt eine kurze Darstellung davon, wie sich der Studierende Ein-
sicht inden äusseren Bau des Gehirnes verschafft,indem er einzelne Präparations-
methoden angibt, durch die man Einblick in die Verhältnisse des Gehirns
gewinnen kann. Die Uebungen betreffen:
1. Herausnahme des Gehirns, Schädelkapsel, grobe Gliederung des
Gehirns, Dura.
2. Weiche Hirnhöhlen, Hirngefässe, Hirnnerven, Rautenhirn und
Mittelhirn.
3. u. 4. Aeussere Formenverhältnisse des Grosshirns, Stamm, Anschluss
der Hemisphären.
5. Innerer Aufbau der Seitenmasse des Zwischenhirns und des Basal-
teils der Hemisphäre, Stabkranz und Balkenstrahlung.
6. Grosshirnrinde, Gliederung der Hemisphären, Furchen und Windungen.
7. Serienschnitte durch das Gehirn. Koeppen-Berlin.
M. Kassowitz, Nerven und Seele. (4. Bd. d. Allgem. Biolog.) M. Perles-
Wien. 1906. 584 S. Ä
Der Verf. versucht durch im einzelnen sehr zweifelhafte histologische
und chemische Hypothesen bezüglich des Aufbaues des Nervensystems ein
Verständnis für die psychophysiologischen Vorgänge zu gewinnen. U. a. stellt
er sich vor, dass die adäquaten Keize nicht direkt auf die Sinnesnerven-
endigungen wirken, sondern erst eine Gestaltsveränderung protoplasmatischer
Gebilde hervorrufen. „Das Bewusstsein ist weder ein Teil des Gehirns, in
den eine Nervenerregung eindringen kann, noch eine physiologische Funktion
des Gehirns oder eines Gehirnteiles oder gewisser Zellen, sondern es ist ein
Zustand, in den ein mit komplizierten Reflexmechanismen ausgestatteter
Organismus gerät, wenn ein sehr grosser Teil dieser Mechanismen darch
einen Reiz zu gleicher Zeit oder unmittelbar nacheinander in Aktion versetzt
wird.“ (Dann müsste der epileptische Krampfanfall mit seiner Bewusst-
losigkeit das beste Beispiel eines Bewusstseinszustandes sein. Ref.) Daher
beruht für Verf. auch die Reproduktion früherer Bewusstseinsakte auf einer
mehr oder weniger vollständigen Wiederholung derselben Reflexvorgänge,
welche die physische Grundlage des primären Bewusstseinszustandes gebildet.
hatten u.s.f. Jedenfalls ist das Buch durchweg sehr anregend gesc riepen.
Notiz.
Die Gesellschaft Deutscher Nervenärzte hält ihre erste Jahresversamm-
lung im September d. Js. in Dresden. Die Eröffnungssitzung fällt voraus-
sichtlich auf den 14. September. Die Referate (Krause-Berlin, Bruns-
Hannover, Nonne-Hamburg, Neisser-Stettin) beziehen sich auf die
chirurgische Behandlung der Nervenkrankheiten. Vorträge haben bislang
übernommen: A. Pick-Prag, L. R. Müller- Augsburg, Schüller- Wien u. A.
Weitere Vorträge sind rechtzeitig anzumelden bei H. Oppenheim-Berlin,
Lennestrasse 8.
N
(Aus der städtischen Irrenanstalt Breslan, Primärarzt Dr. Hahn.)
Transitorische Alkoholpsychosen,
Von
Dr. F. CHOTZEN,
Die pathologische Alkoholreaktion ist die abnorme Reaktions-
weise eines psychopathischen Gehirns, dessen Konstitution mass-
gebend für Eintritt und Form der geistigen Veränderung ist,
nicht Art oder Menge des genossenen Alkohols. Sie ist nicht in
dem Masse spezifisch, dass immer ein ganz bestimmter, gleicher
Symptomenkomplex als pathologischer Rausch resultieren muss,
sondern es können, je nach der Grundlage, gewisse Symptome,
z. B. bald hysterische, bald epileptische überwiegen, so dass
manchmal die pathologischen Rauschzustände wie durch den
Alkohol ausgelöste, hysterische oder epileptische Komplexe, kom-
pliziert mit den Zeichen der akuten Alkoholintoxıkation, er-
scheinen. Es bestehen fliessende Uebergänge zu den transitori-
schen Bewusstseinsstörungen, die bei Degenerierten auch ohne
Alkohol auftreten.
Die Mannigfaltigkeit der Formen ist daher auch eine sehr
grosse. Aus dem bunten Gemisch halluzinatorischer, affektiver und
motorischer Symptome, das gewöhnlich den epileptiformen Rausch,
wie Heilbronner (1) und Bonhöffer (8) ihn schildern, darstellt,
können die einzelnen Komponenten so in den Vordergrund treten,
dass sie, also bald die halluzinatorischen, bald die affektiven oder
motorischen dem ganzen Bild die charakteristische Färbung geben.
Der Affekt ist am häufigsten eine Mischung aus Angst, zorniger
Gereiztheit und bald Depression, bald Expansion, oder ver-
schiedene Stimmungslagen folgen einander in demselben An-
fall, so Angst und Expansion oder zornige Gereiztheit und
Depression. Zuweilen aber beherrscht eine Stimmungslage den ganzen
Zustand, wie in den gereizt-brutalen und den depressiven Formen,
die Bonhöffer (3) hervorhebt. Ausserdem gibt es auch über-
wiegend expansive mit Grössenideen und gehoben-gereizter
Stimmung, wofür Verfasser (5) a. O. Beispiele mitgeteilt hat.
In anderen Fällen wieder stehen die motorischen Er-
scheinungen im Vordergrund, bald mehr hysterischer, bald mehr
epile tischer Art, sowohl als einförmige Hyperkinese, wie auch
als Hemmungszustände, Auch rein motorische Zustände können
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Holt 4. 19
286 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.
als pathologische Alkoholreaktion auftreten. So sahen wir bei
einem Traumatiker einen Stuporzustand von mehreren Stunden
mit Mutazismus und angedeutetem Negativismus, der mit Schlaf
endete und nach einer ungewohnten Alkoholdosis plötzlich ein-
getreten war, ohne dass vorher ähnliche Erscheinungen, Krämpfe
oder dergleichen je aufgetreten waren.
Dass hier eine pathologische Alkoholreaktion vorliegt, ist
wohl nicht zu bezweifeln, nur können solche Zustände, die mit
einem Rausch keine Aehnlichkeit mehr haben, wie Bonhöffer (3)
bemerkt, nicht mit dem Namen eines pathologischen Rausches
belegt werden; ebenso wie man einerseits die rein epilepti-
schen und hysterischen Phänomene, auch wenn sie als Alkohol-
reaktion auftreten, davon ausschliesst, auf der anderen Seite
aber auch jene protrahierten Dümmerzustände, denen die charak-
teristische Agitation fehlt. Prinzipiell besteht aber kein Unter-
schied in der Pathogenese aller dieser Zustände, denn auch im
pathologischen Rausch werden ja verwandte Erscheinungen durch
en Alkohol ausgelöst, epileptoide, also den epileptischen ähn-
liche, nur von weniger spezifischer, allgemeinerer Gestalt, wie
sie bei anderen Degenerierten, Hysterikern etc. auch vorkommen.
Darum stehen Fälle, wie der erwähnte, in der spezifischen Wirk-
samkeit des Alkohols den pathologischen Rauschzuständen sehr
nahe, die nämlich darin besteht, dass er bei disponierten Individuen,
die aber bisher keine ausgesprochen neuropathischen Störungen
aufwiesen, degenerative, „epileptiforme“ Symptome hervorruft; dass
er speziell aber Geistesstörungen verursacht bei Leuten, die sonst
höchstens neurotische, aber nie psychische Störungen hatten, die
geisteskrank erst unter Alkoholwirkung werden und zumeist nur
unter Alkoholwirkung.
Pathologische Rauschzustände sind bei einer grossen Anzahl
Psychopathen die einzigen psychischen Störungen, die sie durch-
machen. Die Form dieser ist aber auch bei jenen „Degenerierten“,
die keine oder nur so unbestimmte neuropathische Symptome
bieten, dass man sie keiner bestimmten Kategorie zurechnen kann
(wie häufig die Traumatiker), die gleiche wie bei Epileptikern
und Hysterikern, die ja die grosse Masse der pathologischen
Rauschzustände stellen. Sie zeigen Symptomenreihen, die auch
sonst bei Degenerierten vorkommen, ein Beweis, dass der Alkohol
eben nur die Aeusserungen einer vorhandenen degenerativen An-
lage wachruft.
Bei chronischen Alkoholisten kommen auch die gleichen
epileptiformen Rauschzustände vor. Charakteristisch für die
chronischen Alkoholisten ist allerdings die delirante Form des
athologischen Rausches, die, wie auch Heilbronner (2) und
Bonhof fer (3) übereinstimmend berichten, zumeist dem Aus-
bruch des Deliriums vorangeht. Für sie ist also der chronische
Alkoholismus die unumgängliche Voraussetzung. Sie stellen aber
auch mehr abortive Delirien dar, sind also in Form, wie auch in
Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 287
Entstehung und Ablauf von den epileptiformen verschieden; nur
für diese gilt die Uebereinstimmung mit denen der Degenerierten
und Psychopathen. Wowir aber solche bei chronischen Alkoholisten
finden, da können wir fast regelmässig auch andersartige,
degenerstive Symptome, Schwindelanfälle etc. antreffen. Häufig
zeichnen sich gerade diese Alkoholisten auch ausserhalb solcher
Rauschzustände durch eine grosse Reizbarkeit und Brutalität aus.
Die Zahl der chronischen Trinker mit epileptiformen Räuschen,
in denen alle sonstigen Anzeichen der Degeneration vermisst
werden, ist nach unserer Erfahrung ganz verschwindend gering.
Wie man sich nun das Verhältnis zwischen der alkoholistischen
Degeneration und der angeborenen denken möge — der chronische
Alkoholismus ist doch zumeist ein Symptom der Degeneration —,
jedenfalls stimmen sie in ihren Symptomen überein und also auch
in dem Symptomenbilde der epileptiformen Rauschzustände. Auch
hier also ist es die zugrunde liegende Degeneration, die der aus-
gelösten Geistesstörung ihre Gestalt gibt.
Bei den deliranten Räuschen spielen die affektiven Momente
für die Entstehung nicht diese Rolle wie bei den epileptiformen,
bei denen fast immer ein affektives Moment zur Erzeugung des
pathologischen Rausches mit dem Alkohol zusammenwirkt, sei es,
dass der Berauschte durch Schreck, Angst oder Bedrohung plötzlich
in den krankhaften Bewusstseinszustand gerät oder dass ein
Aerger, eine Gemütserschütterung den Genuss von Alkohol erst
veranlassen und ihn zu der abnormen Wirkung steigern.
Manchmal kann das affektive Moment aus einer schon be-
stehenden, auch durch den Alkohol hervorgerufenen Psychose
stammen, so in den kurzen Angstpsychosen der Epileptiker und
Hysteriker, die häufig mit einem pathologischen Rauschzustand
enden. Dass körperliche Erschöpfungen ein begünstigendes
Moment abgeben, hat Heilbronner (1) hervorgehoben. Eine
chronische körperliche Schädigung aber setzt eine besondere Dis-
position, das ist die Lungentuberkulose; Phthise findet man relativ
äufig neben pathologischen Rauschzuständen. Es bestätigt sich
auch hier die sonstige Erfahrung, dass Alkohol und Tuberkulose
sich in ihren Wirkungen begegnen und unterstützen.
Die auslösende Rolle des Alkohols zeigt sich wohl am besten
an der langen Dauer der pathologischen Wirkungen. Heil-
bronner (1) stellt als charakteristisch für den pathologischen
Rausch hin, dass die Erregung und Unruhe viel länger als beim
gewöhnlichen Rausch anhält.
Es gibt nun auch protrahierte transitorische Bewusstseins-
störungen, die sich nach ıhrer Entstehungsweise den pathologischen
Rauschzuständen anschliessen, aber unter diesen Begriff nicht mehr
fallen können, da sie, wie schon erwähnt, in ihrem Verlauf Rausch-
zuständen nich* mehr entsprechen. Das sind die einfachen Dämmer-
zustände, sei es ohne charakteristische Färbung mit automaten-
haftem Handeln, wie sie am meisten den epileptischen gleichen,
19*
288 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.
oder mit einer ausgeprägten wahnhaften Färbung, wie sie z. B.
mit Grössenideen Verfasser an a. O. (5) mitgeteilt hat und die
den hysterischen Dämmerzuständen näher stehen.
Daran schliessen sich nun andere Formen, auch protrahierte
Bewusstseinsstörungen, aber in ihrem äusseren Bilde wieder mehr.
den pathologischen Rauschzuständen gleich, die also in Ent-
stehungsweise und in der Vereinigung der Symptome sich eigentlich
wie über mehrere Tage protrahierte pathologische Rauschzustände
in ihren verschiedenen Formen darstellen.
Bestehen daneben ausgesprochen epileptische oder hysterische
Symptome, so wird hier die Abtrennung von den den Psycho-
neurosen eigenen Erkrankungen noch unsicherer sein; man muss
auch hier auf die Abhängigkeit von Alkohol Wert legen, wenn
bei den Individuen sonst keine oder nur unter Alkohol psychische
Störungen auftreten, ferner auf die charakteristische Entstehungs-
weise gleich der der pathologischen Rauschzustände, auf die gleiche
Symptomengruppierung und eventuell darauf, dass sich diese
Störungen von anderen, nicht alkoholisch bedingten bei demselben
Individuum unterscheiden.
Einen Fall mit expansiven Ideen haben wir an anderer Stelle (5)
schon kurz referiert.
Es handelt sich um einen dementen Kranken, der einige Male Schwindel-
anfälle mit Dunkelheit vor den Augen hatte. Mehrere Jahre früher hatte er
schon 2 mal ganz ähnliche Anfälle wie die hier beobachteten, immer nach
Aerger und Alkoholgenuss. War dreimal hier im Laufe eines Jahres. Der
erste und dritte Anfall waren typische pathologische Rauschzustände, der
zweite katte folgendes Aussehen:
Am 8. VI. 1904 bekam er im Krankenhaus, wo er wegen eines Lungen-
spitzenkatarrhs seit Wochen war, aus geringfügigem Anlass Streit mit einer
Pflegerin und wurde, weil er sie beschimpfte und bedrohte, entlassen. Im
Aerger ging er hin und betrank sich. Er weiss dann noch, dass er ausging,
um Wohnung zu suchen, von da ab nichts mehr.
Am selben Abend betrunken und sehr erregt in dıe Anstalt eingeliefert.
Schimpfte, liess sich nicht untersuchen, schlug um sich. Schrie, er sei der
Inspektor der Feuerwehr. Beruhigte sich und schlief auf I Spr. Hyosein-
Morphium. Am andern Morgen aber noch unorientiert, lässt sich nicht
untersuchen, schimpft und drängt fort, er werde das ganze Gesindel hier
wegen Freiheitsberaubung verklagen, er sei ein Graf und Branddirektor. Erst
am Abend etwas ruhiger, aber noch am nächsten Tage ausweichende, un-
angemessene Antworten und unverschämtes Benehmen. Am vierten Tage
dann ganz geordnet und klar; gibt obenstehende anamnestische Daien.
Die beiden anderen Anfälle zeigten dasselbe Symptomenbild,
nur mit etwas mehr halluzinatorischen und deliranten Beimengungen.
Hier ist also der gleiche Zustand gewissermassen auf mehrere
Tage verteilt. Es scheint, als ob in solchen Fällen der künstlich
erzeugte Schlaf seine Wirkung verfehlt; auch bei anderen Kranken
werden wir noch finden, dass erst mit dem spontan eingetretenen
natürlichen Schlaf eine Aenderung eintritt. Am dritten Tage zeigt
der Kranke das patzige, ungezogene Benehmen, das man fast
regelmässig auch nm Ende eines gewöhnlichen pathologischen
Rausches noch findet, wenn die stürmischen Erscheinungen schon
Chotzen, Trausitorische Alkoholpsychosen. 289
vorüber sind, das in einzelnen Fällen aber auch ganz isoliert
auftritt [Bonhöffer (8)]. |
l Ausgeprägte motorische Symptome, die in dieser Form auch’
den pathologischen Rauschzuständen eigen sind [Heilbronner (1)].
zeigt nachstehende Beobachtung, die ebenfalls, wenn der Zustand
nach wenigen Stunden mit Schlaf geendet hätte, unter die Diagnose
„pathologischer Rausch“ fallen würde.
2. Otto B., Arbeiter, geb. 24. 1I. 1880.
Vater hat Anfälle gehabt, in denen er bewusstlos hinfiel. 5 gesunde
Geschwister. Fiel als kleines Kind vom Tisch und blieb eine Zeitlang
bewasstlos. War von Kindheit an leicht aufgeregt, auf der Schule ungeberdig.
Soll niemals Krämpfe gehabt haben, klagte aber viel über Kopfschmerzen.
Mehrfach wegen Diebstahls bestraft; versuchte einmal im Gefängnis
sich zu erhängen, wurde rechtzeitig abgeschnitten.
Patiest wurde am 2. VII. 1899 nackt auf einem Eisenbahndamm auf-
gefunden, von wo aus er die herbeikommenden Leute mit Steinen warf.
inem der ihn einfangenden Leute schlug er die Nase ein.
Bei der Aufnahme in die Anstalt benommen; stark kongestioniertes
Gesicht, kleiner, weicher, beschleunigter Puls. Die Haut am linken Auge
und Schläfe geschwollen, blutunterlaufen, mit kleiner, blutender Wunde.
Verbigeriert fortwährend in eintöniger Weise: Dreyfus, Dreyfus,
Dreyfus ... . ete., Feuer, Feuer, Feuer ... ., tot, tot, tot... . Dreyfus
tot, Feuer... . etc.
Losgelassen, drängt er blind fort, ist nicht zu halten. Wehrt sich
energisch gegen die Untersuchung. In der Isolierung hält die Verbigeration
und eine lebhafte Juktation an, erst nach ?!/, Spr. osein,-Morphium be-
ruhigt er sich. Nach Schlaf wieder wie vorher. Verbigeriert nan mit einem
ängstlichen Inhalt, der auch auf Halluzinationen schliessen lässt: Auf dem
Kirchhof, aaf dem Kirchhof — da liegen sie herum — lauter Totenschädel —
fliegen herum — daheim liegt alles voll Gerippen — da kommen sie wieder
— macht mich nicht tot — ich will allein sterben — etc. (jeden Satz
wiederholt er viele Male).
Nicht fixierbar. Bei Stichen ziehen sich die Muskeln der ganzen
Beine tonisch zusammen, er entzieht sich ihnen aber nicht. Pupillen reagieren.
Patellurreflexe lebhaft. R. Facislisparese. Tremor der Hände.
4. VII. Warde gestern abend immer matter, schlief spontan ein; auch
heute morgen noch sehr schlafsüchtig. Bei Anruf wird er ängstlich, springt
wild aus dem Bett, verkriecht sich unter ihm und bleibt da liegen, um
weiter zu schlafen. Erscheint dann etwas freier, isst von selbst, aber mit
beiden Händen das Essen gierig in den Mund schiebend. Versteckt sich
zumeist unter den Kissen.
Der bisher andauernd ängstliche Affekt schlägt nachmittags plötzlich
am. Patient ist heiter, lacht und schwätzt fortwährend. Spricht davon,
dass man ihn abholen werde, er wolle mit der Bertha um 4 Uhr weggehen etc.
Sein Gebahren ist wie das eines übermütigen Kindes. Reagiert jetzt auf
Fragen, aber gibt läppische Antworten, die mitunter wie absichtliches
Danebensprechen erscheinen:
Wie alt? 50 Jahre. Wie alt? 50. Antworten Sie richtig! Nu, ich
sage ja. Was sind Sie? Ein Mensch. Wo arbeiten Sie? Auf dem Kirch-
hof. Berichtet dabei wieder, die Totenschädel hätten herumgelegen, er habe
sie beiseite geworfen, da wären sie in der Luft herumgeflogen. Er sei hier
in einer Leichenhalle, die Patienten seien Tote, die in Särgen liegen. Sei
seit einer Stunde hier.
Zwischen diesen Antworten Lachen und Flappern wie ein Weinseliger.
Blieb so noch den ganzen 5. VII. Am 6. ganz ruhig, klar und orientiert.
Hat vollkommene Amnesie für den ganzen Zustand, seine Erinnerung reicht
aar bis zum 2., morgens 11 Uhr. Hat an diesem Tage, nachdem er in der
290 Chotsen, Transitorische Alkohelpsychosen.
letzten Zeit viel Geld verdient hatte, mit Kameraden einen Ausflug früh
emacht und dabei viel getrunken. Erinnert sich noch, was sie getan bis
fi Uhr frūh. Von da ab bis heute eine völlige Lücke. Wo sein Anzug hin-
gekommen, wie er die Wunde acquiriert hat, ist ihm nicht erinnerlich. Gibt
an, solche Zustände schon mehrfach, wenn er getranken hatte, für kurze Zeit
gehabt zu haben; so soll er einmal ein Mädchen mit Erschiessen bedroht,
einmal einen Leichenzug angehalten, andermal Soldaten zum Ungehborsam
aufgefordert haben. Er selbst weiss von diesen Dingen nichts. Leugnet, je
Krämpfe oder Schwindel gehabt zu haben, dagegen viel Kopfschmerzen,
weil besonders wenn er sich erhitzt hatte.
20. VII. 1899. Hielt sich dauernd ruhig und geordnet. Geheilt entlassen.
22. VII. 1905. Polizeilieh wieder eingeliefert. War verhaftet worden,
er Passanten auf der Strasse mit dem Revolver bedroht hatte.
Bei der Aufnahme gereist, unwillig, lässt sich nioht explorieren; ver-
langt, entlassen zu werden. Hat die nächsten Tage mehrere hysterische An-
fälle, darunter auch einen mit völliger Bewusstlosigkeit, heftigen Zuckungen
der Gliedmassan und nachfolgender Benommenheit (leider ärztlich nicht
beobachtet). Läppisches Benehmen.
Nach einigen Tagen ganz frei, geordnet, gab an, suf der Strasse fest-
genommen und ins Gefängnis geführt worden zu sein, habe sich darüber
sehr geärgert, weil er nichts verbrochen hatte.
Weiss von jener Tat nichts, uur, dass er am bestimmten Vormittag
einen Bekannten traf, der ihn verleitete, zu trinken, was er sonst nur mässig
tat. Erinnert sich noch, dass er mit ihm anf die Strasse ging, was dann
mit ibm geschehen sei, weiss er nicht mehr. Den Revolver trug er bei sich,
weil er für das Geschäft, in dem er Haushälter war, oft grosse Summen
Geldes einwechselte und fürchtete, überfallen zu werden. Gibt jetzt an, in
den letzten Jahren wiederholt Schwindel und Krämpfe gehabt zu buben, sei
mehrmals umgefallen, einmal habe er sich dabei den Fuss gebrochen. Patient
ist etwas dement, überlegt schwerfällig, hat ganz geringe Kenntnisse. Klagt
selbst über sein schlechtes Gedächtnis, habe in der Schule schlecht lernen
können; habe oft andern Tages vergessen, was ihm tags vorher sein Chef
aufgetragen. Merkfähigkeit auch für Zahlen etwas herabgesetzt. In prak-
tischen Dingen, z. B. Rentenangelegenheiten, weiss er aber ganz gut Bescheid,
macht auch ganz gute begriffliche Unterscheidungen.
Bleibt geordnet. 5. X. entlassen.
Heilbronner (2) schreibt: „Wenn der Zustand länger als
einige Stunden anhält, insbesondere einen längeren Schlaf über-
dauert, so wird man eine Komplikation mit einer anderen Psy-
chose, resp. eine andere Form alkoholischer Geistesstörung an-
zunehmen haben.“
Von den sonstigen Formen alkoholischer Geistesstörungen
kann hier keine in Betracht kommen, dagegen weisen die späteren
Anfälle, wie oben auseinandergesetzt, auf die psychoneurotischen
Geistesstörungen hin. Aber weder der Epilepsie, noch der Hysterie
kann man den Zustand glatt zurechnen. Die Benommenheit, die
Verbigeration, das blinde Fortdrängen am Anfang und die totale
Amnesie lassen ja an einen epileptischen Dämmerzustand denken,
doch schon am nächsten Tage war das Bild ein für Epilepsie
ganz ungewöhnliches und ähnelte wieder den hysterischen mit
den einförmigen optischen Halluzinationen, den ungeordneten
Jaktationen, die gar nichts Krampfhaftes hatten, mit den er-
haltenen, aber eigentümlichen Reaktionen auf jede Berührung.
Insbesondere das Zustandsbild nach dem spontanen Schlaf, das
läppisch-vergnügliche Gebahren mit dem Danebensprechen, das
Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 291
sehr dem in Ganserschen Dämmerzustand ähnelte, sah wie
hysterisch aus. Für Hysterie aber wieder ungewöhnlich war
neben den schon erwähnten Momenten die eintönige, durch 2 Tage
anhaltende Verbigeration, die einen ganz motorischen Charakter
hatte; vielleicht auch die ängstliche Reaktion auf Annäherungen,
Eine Kombination beider Erscheinungsreihen liegt nun ohne
weiteres nahe, zumal zu der erblichen Belastung noch ein mit
Bewusstlosigkeit verbundenes Trauma in der Kindheit hinzukommt.
Auch unter seinen späteren hysterischen Anfällen soll einer mit
Bewusstlosigkeit und Zuckungen aller Glieder gewesen sein, und
Patient selbst berichtet von Schwindelfällen, in deren einem er
sich den Fuss gebrochen habe.
Das Aufeinanderfolgen dieser verschiedenen Zustandsbilder
erinnert an eine Beobachtung Heilbronners (2), in der an einen
athologischen Rausch ein dem Goanserschen ganz ähnlicher
ustand sich anschloss.
Anologien mit dem pathologischen Rausch finden sich aber
in vorliegendem Zustand viele: so die Entstehung, der plötzliche
Ausbruch nach Alkoholgenuss, die heftige Erregung, besonders
die motorische mit dem eintönigen Verbigerieren und den Jak-
tstionen, die Heilbronner (2) gerade als gewissen Formen der
pathologischen Räusche eigentümlich schildert. Dann die Angst,
insbesondere die ängstliche Verkennung der Annäherung, die
einförmigen optischen Halluzinationen, die schliessliche spontan
eintretende Schlafsucht (danach erst trat wie ın dem Heil-
bronnerschen Fall der dem Ganserschen ähnliche Zustand
ein. Bedenken wir nun noch, dass dieser Zustand und ähnliche
frühere nur unter Alkoholwirkung eintraten, dass Pat. vorher nie
ausgesprochene epileptische oder hysterische Symptome gezeigt
hat, ferner, wie gänzlich anders der spätere Zustand aussah, der
ohne Alkohol nur infolge des Aergers wegen seiner Verhaftung
eintrat, ein einfacher hysterischer Erregungszustand mit nach-
folgenden Anfällen, aber kein solch schwerer Dämmerzustand
wie die früheren. Demnach dürften diese ihre Entstehung jeden-
falls dem Alkohol verdanken, und wir werden berechtigt sein,
in dieser transitorischen Psychose ein Gegenstück zu den patho-
logischen Rauschzuständen zu sehen, zu denen sie zu zählen
wäre, wenn das Ganze auf ein paar Stunden zusammengedrängt
wäre,
Zustände, wie den vorliegenden, als alkohol-epileptisches
oder alkohol-hysterisches Aequivalent (hier richtiger: alkohol-
epileptisch-hysterisches Aequivalent) zu bezeichnen, erscheint uns
erade wegen der Vielgestaltigkeit und Unbestimmtheit der
Symptome unzweckmässig, worauf wir weiter unten noch zu sprechen
kommen.
Auch im nachstehenden Falle handelt es sich jedenfalls um
ein hysterisches Individuum, hier hat der Dämmerzustand einen
mehr deliranten Anstrich.
292 Chotzen, Transitorische Alkobolpsychosen.
8. Karl K., geb. 1874, Haushälter. Immer still für sich, viel gegrübelt,
aber früher nicht krank. Kein regelmässiger Trinker, aber öfters starke
Exzesse. Keine Krämpfe. Kam am 15. I. 1901 morgens erst aus einem
Vergnügungslokal lärmend nach Hause, legte sich schlafen. Zum Mittag-
esson geweckt, wollte er nicht aufstehen; kurz darauf erhob er sich, rannte
wütend im Zimmer umher, wurde aggressiv, wollte alles entzweischlagen, be-
schuldigte seinen Kameraden, er habe ihm einen Korb Aepfel gestohlen.
Gleich danach in die Anstalt gebracht. l
Sehr erregt, sprach beständig von den gestohleuen Aepfeln, schimpfte
auf die Wagenföhrer, die ihn herbrachten, dass sie ihn beraubt, ihn tot-
zuschlagen versucht und schliesslich hier ins Gefängnis gebracht hätten. .
Missdeutet, was um ihn vorgeht, setzt sich zur Wehr, als er ausgekleidet
werden soll: Die Hunde wollen ihn jetzt kalt machen. Halluziniert, sieht
beständig einen Mann mit Aepfeln, er zeige sie ihm noch, um ihn noch mehr
aufzuregen. Ist so erregt, dass er !/, Spr. H-M. bekommen muss. Schläft
danach einige Zeit, ist aber nach dem Erwachen noch nicht klar, örtlich
und zeitlich unorientiert, noch zeitweise erregt, halluziniert weiter, sieht be-
ständig den Mann, der die Aepfel nach seinem Kopf wirft. „Da geht ja der
Bruder mit einem Ochsen vorüber.“ Hört ticken, wie vom Telegraphieren.
Verkriecht sich ängstlich unter der Dacke. Bei explorstorischen Fragen ab-
gelenkt und gereizt. Starker Tremor der Zunge und Hände. Am 15. klonus-
artige Zuckungen am ganzen Körper ohne Benommenheit, wundert sich, „dass
die Glieder so zappeln“. Klagen über Kopfschmerzen. Am 17. orientiert,
noch leicht benommen, gibt aher gut Auskunft. Am 18. noch einmal die
Zuckungen wie oben, auch Aufbäumen, wie im hysterischen Anfall, sieht
einen Mann mit einem Messer auf sich zukommen. Vom 19. ab vollständig
frei und einsichtig. Gibt an, er habe ein Verhältnis mit einem Mädchen
gehabt, das ihn betrogen habe; er könne das nicht verwinden; am kritischen
age habe er sie wiedergesehen, und das habe ihn sehr erregt. Am 29. I. 1901
geheilt entlassen.
Am 7.Tl. wieder aufgenommen. Wird von vier Männern eingebracht,
die ihn mit Mühe festhalten. Schreit und schimpft, droht, aggressiv zu
werden. Glaubt, wieder im Gefängnis zu sein. Redet den Oberpfleger als
Gefangenenaufseher an, er habe nichts verbrochen; sieht Leute an der Wand,
die mit Messern auf ihn zukommen.
Starker Foetor alcoholic. Nicht fixierbar.
In der Isolierung delirante Sinnestäuschungen, sieht viele Leute, die
sich hereindrängen, weicht furchtsam aus; starke Schweisssekretion. An der
Wand läuft ein grosser, schwarzer Schwabe; die Matratze sei ein Oder-
kahn u.s. w. Der Arzt komme ihm bekannt vor, er müsse ihn vor langer Zeit
gesehen habe. Noch am 9. II. unorientiert, glaubt, noch im Gefängnis zu
sein. Schimpft auf seine Freunde, dass sie ihn so weit gebracht haben.
Schlief mit Schlafmitteln unterbrochen. Am 10. ruhiger, orientiert sich,
gibt nun an, er habe mit zwei Freunden in der Restuurstion des Vaters
gesessen, habe ein paar Glas Bier und mehrere Schnäpse getrunken. Plötz-
lich sei ihm aufgefallen, dass der Ofen schief stehe. Er sei hingesprungen,
ihn gerade zu richten, da überredeten ihn seine Freunde, mit ihnen zu gehen,
eine Partie Billard spielen, anstatt dessen haben sie ihn aber hierher ge-
schleppt. Späterhin larmoyant, reizbar, unterhält sich gelegentlich noch in
sehr t entralischer Weise mit „Stimmen“.
Kam später noch mehrmals wegen kurzer Erregungen hysterischen
Charakters. In der Anstalt schlechter Schlaf, Kopfschmerz und ab und zu
noch Gemütsbewegungen, kurze Erregungszustände.
Hier beginnt also der erste Anfall ganz wie er für viele
patliologische Rauschzustände typisch ist: Nach einer voraus-
gehenden Erregung und darauf durchschwärmter Nacht kommt
Pat. angetrunken nach Hause; nun erst Schlaf, und nachdem er
daraus geweckt worden, plötzlicher Ausbruch einer heftigen Er-
regung, Verkennung der Umgebung, ängstliche Missdeutungen, Be-
Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 293
einträchtigungsideen, einförmige Halluzinationen, motorische Un-
ruhe, ganz das Bild des pathologischen Rausches, nur dass es
nach dem allerdings künstlich hervorgerufenen Schlaf nicht aufhört,
sondern Desorientierung, Halluzinationen und Beeinträchtigungs-
ideen anhalten. Nach 4 Tagen wieder klar. Tags darauf nur
noch ein hysteriformer Anfall mit einer vereinzelten Gesichts-
täuschung. Von da ab vollkommen frei. Unvollständige Erinnerung.
Auch der zweite Anfall ist in Beginn und Symptomen den
pathologischen Rauschzuständen gleich, auch hier die eintönigen
Gesichtshalluzinationen, die Heilbronner (2) für den patho-
logischen Rausch Hysterischer als charakteristisch bezeichnet;
nur auch hier protrahierter Verlauf in dreitägigem, hysterisch ge-
färbtem Delirium. Später nur noch leichtere psychopathische
Symptome, die aber auf hysterische Konstitution schliessen lassen.
Man sieht auch hier die Verwandtschaft der pathologischen Rausch-
zustände mit den anderen degenerativen Psychosen, resp. wie sie
allmählich ineinander übergehen, und wie sehr die pathologische
Alkoholreaktion abhängig ist von der Konstitution des betroffenen
ehirns.
Die bisher betrachteten Kranken zeigten deutliche, wenn
auch im ersten Fall nur geringe neuropathische Symptome. Genügte
hier schon der einzelne Alkoholexzess, eine Psychose von mehreren
Tagen auszulösen, so wird in anderen Fällen, vielleicht bei weniger
schwerer Degeneration, dazu ein längerer Abusus erforderlich sein.
Bonhöffer (3) setzt auseinander, dass der depressive patho-
logische Rausch in seiner Entstehung darin von den anderen ab-
weicht, dass die Verstimmung schon einige Tage besteht, dann
erst nach mehrtägiger Alkoholeinwirkung die gewaltsame Reaktion
in einem pathologischen Rauschzustand eintritt. Aehnlich entstehen
bei Dipsomanien solche und nicht selten auch protrahierte Dämmer-
zustände, desgleichen ım Verlauf der kurzen alkoholischen Angst-
psychosen der Degenerierten, die wir wiederholt erwähnt haben.
ieselbe Entwicklung zeigt nun das folgende Krankheitsbild bei
einem Manne, der bis dahin ohne neuropathische Symptome war.
Es folgt in der Symptomatologie den depressiven Formen des
pathologischen Rausches, zeigt aber wieder einen protrahierten
erlauf.
4. Georg L., Kaufmann, geb. 7. 11. 1877. Aufnahme 4. VI. 1901. Die
Kinder der Schwester seiner Grossmutter von Vaters Seite sind geisteskrank,
sonst keine Heredität. Patient war stets verschlossen, zurückhaltend. Früher
nicht krank. Vom 28. V. 1901 ab kam er Nacht für Nacht nicht nach Hause,
versah aber sein Geschäft noch. Hatte damit viel Arbeit und Aerger wegen
schlechten Geschäftsgangs. Hatte Angst vor dem Resultat der Inventur,
fürchtete, die Bücher nicht richtig geführt zu haben. Am 81. V. schloss er
plötzlich nachmittags um 2 Uhr das Geschäft, kaufte einen Kranz und fuhr
nach Gr. bei Gl., ging dort auf den Kirchhof und verblieb 2 Stunden am
Grabe eines jungen Mädchens, dass er vor 5 Jahren, bei Gelegenheit einer
Hochzeit, kennen gelernt hatte und das vor einem Jahre gestorben war. Am
Abend des 1. VI. war er wieder nach Breslau zurückgekehrt, sprach kein
Wort, alles musste aus ihm herausgezogen werden. Referent traf ihn gauz
verstört sussehend, in derangiertem Aufzuge, ohne Kragen, beschmutzt an
294 Chotzen, Traositorische Alkoholspychosen.
Blieb bei Referent in Pflege; sprach auch am folgenden Tage nicht, weinte
viel. Beim Ausgehen blickte er beständig zu Boden, gab ganz einsilbige
Antworten, sprach von selbst nichts. Am 7. VI. Klugen über heftige Kopf-
schmerzen, Erbrechen, wurde unruhig, sah beständig seinen Schwager und
einen Gastwirt mit Riemen uuf sich zukommen. Bat seinen Schwager: „Ach,
Hermann, hau mich doch nicht so!* — Seit !/, Jahre B—4Amal die Woche
ausgegangen, bis 2—3 Uhr nachts gekueipt. Oft angeheitert. Bier 6—8 Schoppen,
bisweilen Schnaps. -
4. VI. Mittelgrosser, grazil gebauter junger Mann in leidlieb gutem
Ernährungszustande. Gesichtsfarbe blass, sichtbare Schleimhäute, anämisch.
Pupillen ziemlich weit, reagieren. Tremor der Hände. Patellarreflexe gesteigert.
Romberg angedeutet. — Kechto Lungenspitze verlängertes Exspirium, rauhes
Atmen; Hoerzaktion etwas beschleunigt, sonst o. B. Vollständig desorientiert,
benommen, starr vor sich hinblickend.. Gibt auf Fragen keine Antwort,
reagiert auf Hautreize mit einer leichten Abwehrbewegung. Hulluziniert
offenbar sehr viel. — Sieht sich ängstlich um, weicht zurück, starrt nach
einem bestimmten Punkt. Personen griffen nach ibm, marmelten Unverständ-
liches. Angst.
5. VI. Nachts auf Schlafmittel unruhig geschlafen. Tagsüber ruhig
zu Bett. Fortgesetzt abgelenkt; ohne Auskunft. Abends lebhaft delirant
und sehr ängstlich. Läuft viel im Saal herum; erzählt, sein Schwager stehe
dort in der Ecke und ziele mit dem geladenen Revolver nach ihm; manch-
mal sehe er ein langes blitzendes Messer in seiner Hand. Er höre ihn
immerfort reden; er mache ihm Vorwürfe, schimpfe ‘ihn einen Lampen, einen
emeinen Kerl, der das Geschäft vernachlässigt und alles Geld vergendet
abe. Sucht unter den Betten, im Wäscheschrank nach seinem Schwager.
Lässt sich nicht beruhigen; geht immer wieder ausser Bett. Genügende
Nahrungsaufnahme.
1. VI. Gestern ruhiger, aber immer noch leicht benommen. Gab
sehlecht Auskunft, konnte sich auf nichts besinnen. Schlaf in den letzten
beiden Nächten auf Schlafmittel besser. Heut örtlich genau, zeitlich unge-
fähr orientiert. — Er habe einen Anfall von Kopfschwäche gehabt, viele
Illosionen. Teilweise Erinnerung für die deliranten Erlebnisse. Ermüdet
sehr schnell bei der Exploration.
15. VI. Vollständig klar, orientiert und einsichtiig. Er müsse seinen
Verstand nicht gehabt haben, habo allerlei gesehen und gehört. Auf den
Inhalt des Gehörten kann er sich nicht mehr besinnen. Dagegen erinnert er
sich, dass er beständig seinen Schwager mit einem Dolch oder Revolver auf
sich habe zukommen sehen. Er sei schon einige Tage vor seiner Einlieferung
ohne jede Ursache gedrückt und traurig gewesen, alles Unangenehme aus
seinem Leben trat ihm vor sein geistiges Auge; er habe sich elend und un-
glücklich gefühlt; diesen Zustand habe er durch Alkohol zu verscheuchen
gesucht, er sei zu dem Zweck einige Nächte hintereinander in Gesellschaften
gewesen und habe vielleicht etwas zu viel getrunken. Wie er dazu gekommen
sei, plötzlich nachmittags das Geschäft zu schliessen, mit der Bahn davon-
zufahren und das Grab des Mädchens, mit dem er früher korrespondiert
habe, aufzusuchen, weiss er nicht; es sei halt plötzlich so über ihn gekommen.
Glaubt selbst, dass sein Trinken schuld sei. — Guter Appetit und Schlaf. —
25. VI. Fortgesetzt geordnet. Geht fleissig zur Arbeit. — 29. VI. Geheilt
entlassen.
Heilbronner (2) reiht den schwer ängstlichen Formen des
athologischen Rausches die Angstpsychosen an, die sich durch
ıhren protrahierten Verlauf von ıhnen unterscheiden; im Vorder-
grund steht die Angst und der Beziehungswahn, in schweren
Fällen kommt es dann zu depressiven Ideen, Selbstbeschuldigungen,
Kleinheitswahn und phantastischen Befürchtungen. Bonhöffer (3)
schildert die depressive Form des pathologischen Rausches als
eine Verbindung von Angst und melancholischen Ideen und
Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 295
identifiziert sie mit der Angstpsychose Wernickes. Beide betonen
die relative Unabhängigkeit der Verstimmungen vom Alkohol-
genuss; im Verlauf der Psychose kann es dann, gewöhnlich nach
mehrtägigen Alkoholexzessen, zu einer plötzlichen Entladung im
psthologischen Rausch kommen. Nach unserer Erfahrung kann
man rein ängstliche und depressive Formen unterscheiden. Die
ersten haben wir schon an anderer Stelle (6) kurz erwähnt. Sie
kommen ebenfalls überwiegend bei Epileptikern und Hysterikern
vor. Unter chronischem Alkoholmissbrauch entstehen sie plötzlich
mit Angst, bedrohenden und beschimpfenden Phonemen, ängst-
lichem Beziehungswahn und Beeinträchtigungsideen; nach mehr-
tägigen, infolge der Angst noch gesteigerten Alkoholexzessen
kommt es dann meist zu einem heftigen pathologischen Rausch-
zustand, der häufig den ganzen Anfall beendet, oder er klingt in
der Anstalt in wenigen Tagen ab. Hier fehlen depressive Ideen
ganz, die Angst ist der vorherrschende Affekt. Bei den depressiven
Formen Bonhöff ers stehen die Depression und die melancholischen
Ideen voran. Diesen entspricht nun der vorliegende Fall völlig.
Seit !/, Jahr häufig Alkoholexzesse, dabei Anstrengung und Aerger
ım Geschäft, eine tiefe Verstimmung, um sie zu vertreiben, mehr-
tägige stärkere Exzesse; aber nun tritt nicht eine Entladung in
einem kurzen pathologischen Rauschzustand ein, sondern an seiner
Stelle wieder ein protrahierter Dämmerzustand, nach dessen Ab-
klingen der Kranke wieder genesen ist; also nicht nur eine inter-
kurrente kurze Bewusstseinsstörung, sondern — und dadurch
unterscheidet sich der Fall von den eigentlichen Angstpsychosen —
der Dämmerzustand stellt hier einen integrierenden Bestandteil
und die höchste Entwicklung der Krankheit vor. In dem Zustand
selbst aber haben wir die Symptome des depressiven pathologischen
Rausches, die Desorientierung, Depression und Angst, Verfolgungs-
ideen, die ängstlichen, besonders lie monotonen Gesichtshalluzina-
tionen (Mann mit Messer).
Sonstige neuropathische Erscheinungen sind uns bei den
Kranken hier nicht bekannt geworden, nur eine geringe erbliche
Belastung und die Tatsache, dass er von jeher verschlossen
und zurückhaltend war.
Indessen der ganze Symptomenkomplex weist doch auch
hier deutlich auf die degenerative Natur des Zustandes hin.
Leider haben wir das weitere Schicksal des Kranken nicht ver-
folgen können, daraufhin, ob später neuropathische Symptome
sich enthüllten, wie bei den beiden vorigen Kranken, bei denen
ja auch die ersten alkoholisch ausgelösten Dämmerzustände solche
Vorläufer noch nicht hatten. Die bisher mitgeteilten Fälle haben
etwas Gemeinsames in ihrem Verlauf, der dem des Alkoholdeliriums
entfernt ähnlich ist. Es sind kurze Psychosen von etwa 8 bis
5 Tagen, plötzlich ausgebrochen mit gänzlicher Desorientierung,
die ın einigen Tagen allmählich abklingen, und meist nach einem
tiefen spontanen Schlaf ebenso plötzlich in die Genesung über-
gehen. Allerdings besteht bis dahin nicht völlige Schlaflosigkeit,
296 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.
nur ist der anfangs durch künstliche Mitt&l hervorgerufene
Schlaf unruhig und unterbrochen. Die Psychosen entstanden
bei den befallenen Kranken nur unter Alkoholgenuss; sonst
traten bei ihnen ausgesprochene psychische Störungen nicht auf,
bei 2 und 3 später noch, allerdings anders geartete, neurotische
Symptome, bei 1 werden leichte solche anamnestisch berichtet,
bei 4 fehlen sie ganz. Das Symptomenbild in den Dämmer-
zuständen war, wie wir gesehen haben, in keinem Falle so charak-
teristisch eindeutig, dass es bestimmt einer der Neuropsychosen
zugerechnet werden könnte, dagegen schlossen sich die. Zustände
in der Symptomatologie, wie in der Entstehungsweise den patho-
logischen Rauschzuständen ganz eng an. All das berechtigt
uns, sie wie diese durch eine besondere Bezeichnung heraus-
zuheben.
Der Name „Dämmerzustände“ bezeichnet mehr die einfachen
protrahierten Bewusstseinsstörungen, von denen die vorliegenden
durch ihre vielgestaltigen psychotischen Symptome sich unter-
scheiden. Der Name „alkohol-epileptische Aequivalente“, den
Heilbronner (2) für gewisse Fälle protrahierter Dämmerzustände
vorschlägt, scheint uns für die beschriebenen Formen zu all-
gemein und zu eng zugleich zu sein. Alkohol-epileptische Aequi-
valente können die verschiedenste Gestalt haben, so würde z. B.
der eingangs erwähnte Stupor als solcher zu bezeichnen sein
wegen seiner Aehnlichkeit mit den bei Epileptikern häufigen
Stuporzuständen. Auch andere epileptiforme Erscheinungen
kommen als pathologische Alkoholrenktion vor. Ferner aber sind
der grösste Teil der pathologischen Rauschzustände und der
Dämmerzustände nichts anderes als alkohol-epileptische, wie an-
dere alkohol-hysterische Aequivalente, ohne dass es doch möglich
wäre, sie mit Sicherheit auseinanderzuhalten oder sie ohne ander-
weitige Anzeichen in diese Einteilung zu bringen. Die einzelnen
Symptome, die das Bild des pathologischen Rausches zusammen-
setzen, sind zumeist auch nicht ausschliesslich epileptische und
hysterische, sondern sie kommen ebenso auch bei anderen Degene-
rationen vor. Anders, wenn das Symptomenbild selbst eine solche
Anreihung gestattet, wie bei dem oben bezeichneten Stuporzustand.
Wenn man bei Alkoholisten Zustandsbilder auftreten sieht, die den
epileptischen gleichen, so ist man u. E. auch ohne vorangegangene
Anfälle berechtigt, sie den epileptischen anzureihen, wie den
alkohol-epileptischen Krampfanfall selbst. Dieser ist jaschon darum
nicht sicher von den sonstigen epileptischen zu scheiden, weil
man mitunter sieht, wie erst nur unter Alkoholwirkung auftretende
Anfälle später habituell werden mit dem klinischen Verlauf einer
genuinen Epilepsie. Nicht anders beurteilen kann man psychische
Symptome, die ja ebenso durch den Alkohol erst ausgelöst
werden können. Ja, wie man psychische Attacken gerade in
Fällen von Epilepsie mit seltenen und nur ganz leichten Anfällen
sieht, so scheinen häufig auch der provozierenden Wirkung des
Alkohols nur oder wenigstens leichter psychische Störungen zu
Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 297
folgen. Eben die Fälle von pathologischem Rausch beweisen es,
in denen epileptiforme psychische Symptome auftreten, bei In-
dividuen, die sonst keine oder nur geringe Erscheinungen der
Neurose bieten. Gerade weil der Alkohol so häufig latente
Epilepsie zum Vorschein bringt, sind wir berechtigt, den epilepti-
schen gleiche Erscheinungen, die wir bei chronischen Alkoholisten
finden, zur Epilepsie in Beziehung zu setzen. Darum stellen auch
Bonhöffer (3) sowohl wie Heilbronner (2), und letzterer gerade
unter dem Gesichtspunkt der auslösenden Wirkung, die alkoholisti-
schen Dämmerzustände den epileptischen ganz nahe. Eine Ueber-
einstimmung im klinischen Bilde rechtfertigt auch eine gemein-
same Bezeichnung, ob man nun annimmt, dass die alkoholistische
Gehirnveränderung mit der epileptischen in gewissen Punkten
sich deckt, oder dass verschiedene Hirnveränderungen gleiche
Symptome zur Folge haben können. Für die klinische Gruppierrung
kommt es darauf an, ob die beobachteten Störungen typisch
alkoholistische sind, oder ob sie Symptomengruppen gleichen, die
bei Epileptikern typisch oder am häufigsten sind. In diesem
Sinne durften wir an anderer Stelle (6) eine kurze akute Psychose
bei einem chronischen Alkoholisten nach einem vor Jahren voran-
gegangenen abortiven Delirium auch ohne epileptische Antezedentien
als alkohol-epileptischen Mischzustand bezeichnen, weil neben den
alkoholistischen Symptomen ein ängstlich-halluzinatorischer Stupor
bestand, der ın seinem klinischen Bilde und Verlauf ganz den
epileptischen glich. Bei Alkoholisten ist ein solches Symptomen-
bild ganz undgar ungewöhnlich, bei Epileptikern sieht man es
aber häufig. Wenn man jedoch auf dem Standpunkte steht, dass
ohne epileptische Anfälle solche Psychosen der Epilepsie nicht
zugeschrieben werden dürfen, so könnte man auch für solche einen
weniger bestimmten Namen wählen, wie wir ilın für die hier be-
sprochenen Formen vorziehen. Dieses letztere geschieht eben
darum, weil, wie auseinandergesetzt, die in dem pathologischen
Rausch und den oben erwähnten Formen zusammenkommenden
Symptome sich in der Mehrzahl nicht als typische oder aus-
schliesslich epileptische oder hysterische charakterisieren, sondern
unbestimmtere und allgemein degenerative Symptome sind. Wie
die epileptischen, so kann der Alkohol eben auch andere
degenerative Anlagen manifest machen und psychische Phänomene
dieser Degeneration auslösen. Wenn die pathologischen Rausch-
formen fast ausschliesslich bei Epileptikern und Hysterikern, den
mit beiden verwandten Traumatikern, bei sonstigen Degenerierten
und Alkoholisten, die auch Degenerierte sind, vorkommen, so wird
man ihr Auftreten eben als degeneratives Zeichen ansehen dürfen.
Um der Allgemeinheit des Symptomenkomplexes Rechnung
zu tragen, scheint uns am bezeichnendsten für die vorliegenden
Zustände der Name „transitorische Alkoholpsychose“ zu sein; in
ihrem Verlauf und zum Teil auch im klinischen Bilde entsprechen
diese Fälle ja wohl jenen akuten Psychosen, die von Krafft-
Ebing unter diesem Namen beschrieben hat, Psychosen, die auch
298 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.
den degenerativen Zuständen, Epilepsie, Hysterie etc. gemeinsam
sind, und auch nach Alkoholmissbrauch entstehen können. Dieser
Name würde also am besten die doppelten Beziehungen dieser Fälle
kennzeichnen, erstens die alkoholische Entstehung, zweitens die
klinische Verwandtschaft oder wenigstens doch symptomatologische
Aehnlichkeit mit Symptomenkomplexen, welche bei den ver-
schiedenen Formen der psychischen Degeneration vorzukommen
pflegen. Wollte man sie nach den hervorstechendsten Symptomen
noch einteilen, so könnte man auch von ihnen überwiegend delirante,
motorische, expansive und depressive unterscheiden.
Es würden also die Formen der pathologischen Alkohol-
reaktion, abgesehen von den eigentlichen alkohol-epileptischen
und-hysterischen Aequivalenten, sich scheiden in die pathologischen
Rauschzustände, die eintachen Dämmerzustände und die transito-
rischen Alkoholpsychosen, die sich in Entstehung und Symptomen
wieder eng an die Rauschzustände anschliessen und protrahierte
Formen solcher darstellen.
An sie reihen sich nun noch weitere protrahierte Formen
an, Psychosen von mehreren Wochen, die nicht mehr mit dem
Dämmerzustand ganz zusammenfallen, sondern wo dieser die
Psychose nur einleitet oder auch interkurrent eintritt. Sie könnten
mit dem Namen der Angstpsychosen (Wernicke) oder der
depressiven Alkoholpsychosen ım Sinne Heilbronners (2) belegt
werden, dessen Schilderung sie im grossen und ganzen entsprechen.
Doch halten wir auch diese ihrer ganzen Natur nach für degenerative,
5. Paul G., Haushälter, 25 Jahre. Aufnahme 14. V. 1899. Keine Heridität.
Patient war nie krank. Keine Krämpfe. — In den letzten Monaten viel
Aergernis wegen eines Mädchens, mit dem er ein Verhältnis hatte. War
Ref. oft aufgefallen, weil er verstimmt war, aufgeregt umherging. Heut
Morgen sehr erregt, warf alle Gegenstände, die er in die Hand bekam, weg,
erkannte Ref. (seinen Bruder) vielleicht, gab aber keine Achtung auf ihn.
Er sprach nichts, sang, pfiff und zählte nur. — War ein solider Mann, offener
Charakter und gesellig. 15. V. Bei der Aufnahme leicht benommen. Stark
kongestioniertes Gesicht. Reagiert auf Anreden nicht, pfeift und sammt vor
sich hin; reisst an seinem Hut herum, zerreisst ihn, bindet sich das Hutband
als Krawatte um und dergleichen, alles mit trägen, unsicheren Bewegungen.
Zu Bett liegt er rubig, orientiert sich nach einiger Zeit, erkennt den Ärzt
and gibt Auskunft. Habe viel Aerger mit einem Mädchen gehabt, mit dem
er sich eingelassen; sie setze ihm sehr zu, dass er sie heirate, und machte
ihm häufig Vorwürfe. Deswegen habe er sich den Aerger vertrunken. Vor-
estern Nacht sei er mehrtach aufgewacht, habe sich von dem Mädchen rufen
ören, wäre sehr erschrocken; dann habe sie ihm immer vorgeschwebt. In-
folgedessen und seiner Selbstvorwärfe wegen gestern Morgeu sehr erregt,
warf einen Spiegel nach einem Hausbewohner, weil er wieder glaubte, das
Mädchen vor sich zu sehen. Dann habe er sich ins Bett gelegt und meinte
sterben zu müssen. Sonst weiss er von dem gestrigen Tage nichts zu berichten.
— Patient gibt über seine Personalien und Vorleben richtig Auskunft, doch
dauert es lange, ehe die Antwort kommt, und manchmal spricht er sie erst
mehrmals leise vor sich hin, bis er laut antwortet. Er erscheint aber ab-
gelenkt, gibt auch zu, das Mädchen noch immer zu sehen und zu hören, sie
rufe ihn an und mache ihm Vorwärfe. — Nachts ruhig. Heut klar. Erzählt,
auch die vergangene Nacht habe das Mädchen neben seinem Bett gestanden,
aber nicht gesprochen.
Pupillen reagieren. Zunge zittert. Leichter Tremor der Hände, —
Weder Kopfschmerz noch andere Erkrankungen früher.
Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 299
17. V. Bisher ruhig nnd geordnet. Gibt an, gut und ungestört zu
schlafen, sei von allen Krankheitserscheinungen freigeblieben. Doch noch
sebr zögernd in seinen Antworten; unsicheren Blickes und stets für sich
allein geht er, in Godanken versunken, umher. (Pat. soll früher ein heiterer,
aufgeweckter Mensch gewesen sein.)
19. V. Pat. erklärt seine Gedrücktheit damit, dass er sich noch immer
über das Verhältnis mit dem Mädchen ärgere und darüber, dass er ihr auf
ihre Veranlassung häufig Getränke verabreicht habe, die er im Geschäft ent-
wendet habe; er fürchte nun, dass es der Herr erfahren worde, während er
hier sei. Will entlassen werden. Immer noch unfrei und für sich.
22. V. Arbeitet im Garten fleissig mit, sonst unverändert. Leugnet
Sinnestäuschungen. Dafür nur halbe Einsicht, weiss nicht mehr, ob es Wirk-
lichkeit oder Täuschung war.
18. VI. Am 4. VI. wieder Erregungszustand. Sah abends Gott als
alten Mann über seinem Bette schweben, der ihm verkündete, er würde am
andern Morgen sterben, weil das Mädchen sich erschossen habe. Das Mädclıen
habe auch einen Brief hierher geschrieben, in dem sie ihn schlecht machte.
Hörte im Zimmer: „Ruhig, ich bin hier,“ meinte, es sei das Mädchen. Aeussert
andern Tags, er sei schon halb gestorben, werde um 10 Uhr tot sein. Kopf-
schmerz und Angst verloren sich bald. — Noch einmal, den 7. abends,
Halluzinationen, sah Männer an der Lampe. Dabei äusserlich rahig. Immer
noch unfrei und gedrücktes Wesen. Am 9.—10. wieder ängstlich erregt; hat
gesehen, dass man die Kleider der Angekommenen untersucht, und hatte nun
rosse Angst, weil in seinem Rocke ein sozialdemokratisches Blatt gesteckt
abe. Glaubt, er werde kriegsgerichtlich bestraft werden. Das Mädchen
würde es veranlassen, ist sehr aufgebracht gegen sie. Sie sei die Anstifterin
zu dem Diebstahl gewesen etc.; er werde sich nicht unterkriegen lassen,
„dem Mutigen hilft Gott“, „dass ich so ein Sünder gewesen bin, da wird
mir vergolten werden“. Esfiel ihm dann cin, dass das Mädchen, als sie das
Blatt sah, gesagt habe: „Aha, Du bist wohl Sozieldemokrat.“ Will das
Mädchen jetzt als Leiche gesehen haben und glaubte, sie hätte sich getötet.
Seit dem 10. VI. wieder ruhig und ordentlich. Seither keine Angst
mehr. Schlaf. Appetit gut.
37. VI. Dauerud gut orientiert; geht mit zur Arbeit; fleissig. In
seinem Wesen etwas freier. Wünscht entlassen zu werden, aber kein Drängen,
Aeussert sich einsichtig, es wären die Erscheinungen Träume, Täuschungen
gewesen; er habe die bewusste Zeitung kaum gelesen und wenn auch, so
könne er doch dafür nicht bestraft werden.
12. VII. Pat. ist einsichtig für seine Krankheit, gibt an, dass die
früher gehabten Visionen und Stimmen nur auf Sinnestäauschungen, durch
seine Krankheit begründet, beruhen könnten. — Leichter Tremor der Zunge
und Hände. Sonst nichts Pathologisches. Merkfähigkeit und Intelligenz-
leistungen gut.
18. VII. Geheilt entlassen.
Die Entstehungsweise ist auch hier analog der der patho-
logischen Rauschzustände. Infolge des Aergers und der Auf-
regungen mit dem Mädchen, wohl auch unter den Selbstvorwürfen
wegen der Entwendungen hat der Kranke in letzter Zeit stark
getrunken. Er erwacht eines Nachts und erschrickt heftig, als
er sich rufen hört und das Mädchen sich fortwährend vorschweben
sieht. Am Morgen dann unter den gleichen Ursachen heftig erregt,
wird gewalttätig gegen einen Hausbewohner, den er verkennt, und
gerät nun in einen Dämmerzustand, der hier das Aussehen der
„einfachen“ Dämmerzustände hat; er achtete nicht auf seine Um-
gebung, sprach nichts, sang und pfiff, fasste nicht auf, band sich
as Hutband als Krawatte um, riss an dem Hut herum und zerriss
ihn etc. An die vorausgehenden Halluzinationen hatte er nachher
300 Chotzen, Transitorische Alkobolpsychosen.
Erinnerung. Die psychotischen Erscheinungen, die in den vorigen
Fällen die Bewusstseinsstörung komplizieren, kommen hier ge-
wissermassen nach. Der Kranke ist nicht sofort frei, sondern
noch leicht gehemmt, abgelenkt, halluziniert noch in monotoner
Weise, sieht und hört das Mädchen. Die Halluzinationen schwinden,
er bleibt noch einige Tage still versunken, unfrei und gedrückt.
Später treten dann, bei schon ganz geordnetem Verhalten, wieder-
holt noch kurze Angstzustände auf mit Halluzinationen, Beziehungs-
wahn, ängstlicher Missdeutung und Beeinträchtigungsideen, die
rasch vorübergehen. Von der 4. Woche ab ganz frei, geordnet,
guter Stimmung, einsichtig.
Hier geht also wieder ein länger dauernder Alkoholmissbrauch
voraus, Tremor der Zunge und Hände sind anfangs stark, noch
bei der Entlassung vorhanden. Die Psychose beginnt plötzlich,
es setzt bald der Dämmerzustand ein, der nur einen Tag dauert,
während die Psychose in eigenartig. intermittierendem Verlauf
noch einige Zeit anhält. Die leichte Hemmung, Angst, ängstlicher
Beziehungswahn, Missdeutung, Beeinträchtigungsideen und Hallu-
zinationen sind die Kennzeichen, die Heilbronner?) von der
Angstpsychose gibt.
Der Verlauf der Psychose ist insofern eigentümlich, als
immer nach einigen freien Tagen neue Angstzustände mit Hallu-
zinationen und auch an Vorgänge der Umgebung angeknüpfte
ängstliche Missdeutungen und Beeinträchtigungsideen wieder-
kehren.
Diese intermittierende Verlaufswese und die Art der
Symptome scheinen uns auf die degenerative Grundlage der
Psychose hinzuweisen. Solchen Verlauf sieht man bei Psychosen
Degenerierter öfters [s. Schröder!) Bonhöffer*) und Verf. ®)],
und Gegenstücke finden sich in dem anfallsweisen Auftreten iso-
lierter Halluzinationen mit Angst bei Epileptikern, die von ver-
schiedenen Beobachtern berichtet wurden [s. Lachmund?°)]. Eine
Andeutung dazu haben wir auch oben in dem Fall 3, wo nach
der Aufhellung des Dämmerzustandes sich auch noch vereinzelte
Halluzinationen dort mit leichten hysteriformen Symptomen wieder-
holten. Es bestanden bei dem Kranken hier allerdings keinerlei
neurotische Symptome sonst, auch von Heredität ist nichts berichtet,
indessen haben wir auch bei ihm nicht verfolgen können, ob sein
weiteres Schicksal nicht unsere Annahme bestätigte. Es sind ja
doch immer abnorm veranlagte oder minderwertige Gehirne, die
mit protrahierten Dämmerzuständen auf Alkoholmissbrauch rea-
gieren. Hier bestand aber noch kein jahrelanger Alkoholismus,
sondern nur Exzesse seit einigen Monaten, die indes wohl hin-
reichen können, auch eine weniger schwere pathologische Ver-
anlagung zu erwecken.
Demnach reiht sich diese Psychose den mitgeteilten Fällen
darin an, dass sie ebenfalls aus dem Zusammenwirken affektiver
Momente mit Alkoholmissbrauch entsteht, mit einem protrahierten
Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 801
Dämmerzustand in die Erscheinung tritt und wahrscheinlich degene-
rativer Natur ist.
Deutliche degenerative Stigmata finden wir dagegen in
folgendem Fall, der ebenfalls wieder in seiner Entstehungsweise
mit den depressiven Formen des pathologischen Rausches sich
deckt und in seinen weiteren Symptomen der Schilderung
Heilbronners (2) von den protrahierten depressiven Formen ent-
spricht. Der Fall ıst aber vielleicht für die ganze Auffassung der
tellung dieser Psychosen und der depressiven pathologischen
Räusche von Bedeutung.
6. August J., Arbeiter, 42 Jahre. Erste Aufnahme 30. X. 1896. Vor
ca, 10 Jahren Blutsturz. Seit 4 Jahren keine Arbeit bekommen. Viel Husten.
Potatorium (20 Pfg. pro Tag). Wenig Appetit. Schlechter Schlaf seit Wochen.
Seit 20. X. Angstlich, Todesfurcht. Er spüre, dass er sterben müsse; klagt
über Brustschmerzen. Seit 28. X. Selbstanklagen, er sei nicht wert, dass er
auf der Welt sei, habe nichts gearbeitet, sei grosser Sünder, ein schlechter
Mensch. Man solle ihn nicht ansehen. Seine Fran sei ein Engel etc. Nahm
das Abendmahl, letzte Oelung. Schweres Unglücksgefühl. Nicht von
Snicidium gesprochen.
80. X Patient verhielt sich ruhig; bleibt im Bett. Zeitweise machte
er den Mund auf und hielt denselben eine ganze Zeit lang offen. Er sei ein
schlechter Mensch, er lasse sich von seiner Frau ernähren. Erzählt, dass er
viel Schnaps getrunken habe. Nachts auf 4 g Paraldehyd geschlafen.
8l. X. Differente Pupillen, die linke etwas weiter als die rechte, auf
Lichteinfali sehlecht reagierend. Tremor und fibrilläre Zuckungen der Zunge.
Grosse Ungeschicklichkeit in den Zungenbewegungen. Der Mund voll von
Speiseresten, namentlich auf der linken Seite. Kieferschluss gut. Schluckt
gut Flüssigkeiten. Linker Facialis etwas verstrichen. Patellarreflexe beider-
seitig vorhanden, nicht verstärkt. Passive Beweglichkeit beiderseits etwas
vermindert. Dorsalflexion beiderseits gut. Keine Ataxie, kein Romberg.
Tremor in den Beinen. Ungeschickt in Fingerbewegungen. Leichter Grad
von Benommenbeit. Patient ist unruhig, geht ausser Bett. Spricht un-
verständlich, Er ist sehr ängstlich und schreckhaft, wenn man ibn anfassen
will, macht sich dann dabei ganz steif. Nachts nicht geschlafen, Klagen über
Kopfschmerz.
1. XI. Sehr unruhig, bleibt absolut nicht im Bett, von Zeit zu Zeit
hebt er die Arme in die Höhe, macht sie ganz steif und zittert, schreit dabei
halblant, deliriert, sieht seine Frau und Tochter, spricht zu ihnen. Am Tage
unsauber mit Urin. Nachts kein Schlaf, delirierte, wollte aus dem Bett,
schrie, wenn er daran verhindert warde. Hypochondrische Schluckstörung.
Reisst den Mund auf, kaut, schluckt aber nicht, tut, als ob er erwürgen wollte.
Schwierigkeit beim Schlingen. Speisereste bleiben im Munde. — Spricht
schlecht. — Im übrigen deliranter Bewegungsdrang. Situations- und Personen-
verkennungen, unterhielt sich mit Fran und Kind. Autopsychische Angst-
vorstellungen. Kleinheitswahn.
4. X]. Seit gestern nicht mehr delirant, bleibt ruhig im Bett. Schlucken
wieder ganz gut. Fühlt sich nur sehr matt. Ernährung genügend. Schlaf gut.
9. XI. Schlaf noch mangelhaft. Muskelschmerzen. Neuritische Er-
scheinungen. Alte Dämpfung und Geräusche auf beiden Lungen. Schwer-
krankes Aussehen.
11. XI. Ruhig und klar, nur körperlich schwach.
16. XI. 1896. Heute entlassen. — Modifiziertes Delir. alcoholic.
II. Aufnahme am 26. VII. 1900. Ref. Tochter.
Seit 5—6 Wochen krank. Jammert, er sei ein grosser Sünder, er
hätte was Schlechtes begangen, was er nicht mitteilen könnte. — „Ach Gott,
was hab’ ich gemacht!* — Gegessen fast gar nicht, auch nicht geschlafen.
Keine Personenverkennung. eine Halluzinationen. — Gestern früh fort-
gegangen, seitdem noch nicht zu Hause gewesen.
Monatasschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft «. 20
302 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.
26. VII. Pat. wurde auf freiem Felde angetroffen, wie er halb nackend
im Schlamme lag und sich darin vergrub, resp. den Schlamm in den Mand
hineintat. Er wurde aufgegriffen, konnte angeblich nicht bewältigt werden
und wurde gefesselt an den Händen. Er versuchte, sich in die Finger zu
beissen und sprach immer davou, sich das Leben zu nelımen. — Pat. geberdet
sich anfangs sehr unruhig, strampelt mit den Beinen, zieht an den Bettsäcken
herum, reısst den Mund auf, steckt die Finger hinein, ohne sich ernstlich
zu beissen, reibt und drückt die Augen. — Anfangs gibt er zum Teil un-
Besogene Antworten, auf Vorhalten geordnetere, aber eigenartiges, etwas
äppisches Danebensprechen. — Welcher Tag heut? Keine Idee. — Monat?
Im August. — Krank? Ja. — Was fehlt Ihnen? Greift in den Mund hinein,
sagt: Was ist das für ein Theater. Ich werde hinausfliegen wie der Deibel
(beisst in die Decke). — Wo sind Sie hier? Ach, wo denn. Gehen Sie herunter.
— Wie viel Kinder? Vier. — Wie ult sind diese? 20 Mädel, 28 Mädel,
16 Jahre. Junge 97. — Seit wann krank? Schon lange. Heut schmeissen Sie
mich raus Herr Doktor. — Seit wann krank? Seit 84. Habe mir das Leben
enommen. — Seit wann jetzt krank? Seit die Welt steht. — Wann sind
ie von Haus fortgelaufen? Vorige Woche. — Was hat Ihnen gefehlt? Alles
krank. — Wo wohnen Sie? No. 12. — Strasse? Laurentiusstrasse. — Welches
Haus hier? Allerheiligen-Hospital. — Sie waren doch schon mal hier? Dann
ist es die Einbaumstrasse. — Nachdem Patient Milch zu sich genommen hat
und noch etwa !/;—2/, Stunden unruhig war, aufstand, an den Betten zerrte etc.,
schlief er ein. — Pat. war bei seiner Ankunft beschmutzt, das Gesicht mit
Schlamm bedeckt, der Mund voller Schlamm. Die Augen sind aufgeqnollen,
die Konjunktiven gerötet. Eine Menge von Kratzwunden am ganzen Körper,
Bisswunden an den Fingern und Druckmarken mit Hautabschärfungen an den
Handgelenkon. Temperatur 88,8°. Dämpfung über der rechten Spitze.
Rassel, eräusche auf beiden Lungen. Patellarreflexe sind nicht auszulösen.
Kein Foetor alcoholicus.
27. VIL. Hat nachts gut geschlafen. Ist zeitlich nicht orientiert,
datiert einen Tag zurück, Glaubt, er sei gestern von Haus fortgeblieben
resp. fortgelaufen, er sei umhergelaufen, habe nichts gegessen, nur etwas
Schnaps getrunken. Die vorgestrige Nacht glaubt er zu Haus zugebracht zu
haben. Gibt an, seit 4 Wochen sei er vergesslich, er verlege alle Tage die
Sachen. Er habe sich über seine Kinder geärgert, weil sie nicht arbeiten
wollen. Deswegen wolite er sich das Leben nehmen. Er sei aber schuld an
der Trägheit der Kinder, weil er sie schlecht erzogen habe. Warum er
gestern so unruhig war? Er habe keine Ruhe gehabt; er wusste nicht, wo
er sei. — Warum er die Finger in den Mund gesteckt habe? Weil er ver-
hungern wollte.
Er habe so gejammert, weil er daran dachte, was denn die Leute von
ihm sprechen würden, nachdem er versucht habe, sich das Leben zu nehmen.
Isst spontan genügend. Urin eiweisshaltig. Unterscheidung von spitz und
stumpf überall ungenau. Pupille r. œ> l, träge Reaktion. Keine Ataxie.
Romberg geringgradig. Keine neuritischen Schmerzen. Keine Gedächtnis-
oder Intelligenzdetekte. Merkfähigkeit herabgesetzt: 8217 nach 8 Minuten
vergessen.
28. III. Apsthisches Wesen. Sitzt schlaff, energielose da. Meint,
er sei seit 3 Tagen da, Tag und Datum gibt er falsch an. Vermehrte Selbst-
sorwürfe: Er sei ein schlechter Mensch, will den Geistlichen haben. Er habe
tür seine Familie nicht gesorgt. Glaubt, die Frau lebe nicht mehr. Er-
kundigte sich, ob die Kinder nicht im Gefängnis seien. Die anderen, die
hier sind, sind millionenmal besser wie er. Will fort, denn er könne doch
die Toten hier nicht stören. Herr Doktor, helfen Sie mir doch auf die
Strasse. Bittet, man möge seiner Frau sagen, sie solle ihm nicht verzeihen.
Hypochondrische Sensationen und Ideen. Der Magen ist wie zugeschnürt, er
kann nichts verdauen. Er kann kein Wasser lassen, „weil er nıchts trinkt“.
Isst genügend.
80. VII. Macht sich Gedanken, was wohl die Leate draussen über ihn
reden. Es habe wohl in der Zeitung gestanden von den beiden Strohhüten. Er
habe einen Strohhut von seiner Schwester geschenkt bekommen und den seinigen
Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 303
habe er verbrannt. Was er an dem Tage gemacht habe, als er von Hause
fortging, weiss er nicht genau anzugeben. Zeitlich immer nicht orientiert.
81. VII. Gleichmässig apathisches, : verstimmtes Wesen. Gibt heute
an, er müsse dem Arzt etwas zuleide tun, damit er herauskäme. Einerseits
verlangt er heraus, andererseits sagt er, man werde ihn hier nicht behalten,
man wolle ihn nur los werden. Er müsse hier sterben, wie alle anderen.
Hier komme niemand heraus. Er sei ein schlechter Mensch. Er kann
nicht schlafen.
8. VIII. Meint, er müsste hier verhungern, so schlecht sei hier die
Kost, man wolle nur, dass er schneller ins Grab komme. Glaubt nicht, dass
seine Frau ihn einmal besuchen werde. Sie lebe nicht mehr.
4. VIII. Nimmt den Arst bei jeder Visite mehrmals in Anspruch.
Fragt, was man mit ihm tun wolle. Er werde hier ja nur hingemordet. Er
bekomme stets Abführmittel, damit er um so schneller sterbe. Der Stuhlgang
enthalte lauter unverdaute Speisen. Das Essen sei schlecht, wo anders be-
komme man etwas zur Stärkung, aber nicht zum Abführen. Die Selbstvorwärfe
werden selten mehr geäussert. Kein äusserlich erkennbarer Affekt. Isst
genügend. Schlaf wenig.
10. VIII. Im ganzen ruhig und zufrieden, nörgelt nicht mehr. Am
Rücken zwei Furunkel, die heute gespalten werden.
14. VIII. Spaltung eines handtellergrossen Abszesses am Rücken. Fieber.
17. VIII. Nochmalige Spaltung des unterminierten Gebietes. Tampo-
nade mit Jodoformgaze.
20. VIII. Hin und wieder wird noch der Gedanke geäussert, dass er
nächstens sterben müsse; die Krankheit, die er jetzt habe (der Furunkel),
sei eine Strafe, weil er gesagt habe, die hi. Maria habe einen Bubo. Stereotypes
Klagen über schlechten Stublgang und Schlaflosigkeit. Verlangt beständi
Mittel dagegen, obgleich festgestellt ist, dass die Klagen nnbegründet sind.
Kein Fieber mehr. Es bildet sich eine gut ausgebildete Granulationsfläche
aus (Handtellergrösse).
29. VIII. Psychisch wesentlich besser. Keine Selbstvorwürfe, Be-
fürehtangen mehr. Nur Klagen über schlechten Stuhlgang.
20. IX. Epithelisiernng der Wundfläche schreitet fort. Paychisch
wechselnd: Nicht mehr märrisch, will aber nicbt glauben, dass die Wunde
beilen werde. Selbstvorwürfe werden nicht geäussert. Ruhig und geordnet.
8. X. Einsichtig für seine Krankheit, gibt Alkoholmissbrauch zu.
Stimmang im ganzen gut; äussert nur manchmal, ob die Wunde heilen würde.
24. X. Jetzt ziemlich gleichmässiger Stimmung; er fühlt sich wohl.
Krankheitseinsicht nar summaurisch; er muss wohl krauk gewesen sein. Fast
gar keiue Erinnerung für die Einzelheiten seiner Psychose, selbst wenn man
sie mit ihm an der Hana der Krankengeschichte bespricht. Das könne er
nicht glauben, dass er so etwas gesagt haben könne. Manchmal gibt er die
Möglichkeit zu, diese oder jene Aeusserung getan zu haben, macht dafür
„seinen Tee“ verantwortlich, womit er einen durch Schnapsgenuss bedingten
Zustand von Bewusstlosigkeit meint. Weiss nichts von der Situstion, in
welcher er aufgegriffen wurde, auch davon nichts, dass er beständig ge-
äussert habe, sich das Leben nehmen zu wollen. Dagegen sei ihm in voll-
ständig bewusstem Zustande manchmal der Gedanke gekommen, sich das
Leben zu nehmen, er habe sich öfters sehr unglücklich gefühlt. Gibt zu,
dass daran die äusseren Verhältnisse viel schuld gewesen seien. Er habe
eine mangelhafte Pfiege, könne nicht mehr so viel verdienen, sei oft auf die
Unterstätzung seiner Angehörigen angewiesen. Dass ihm dann zeitweise das
20*
304 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.
Leben überdrüssig war und er dann auch wieder Schnaps getrunken habe,
könne ihm niemand verdenken. Er habe täglich für 80 bis 40 Pfg. Schnaps
getrunken. — 10. XI. Gleichmässiger Stimmung. Sucht sich im Hause etwas
zu beschäftigen. Amnesie für seine Psychose nach wie vor. Schlat ohne
Schlafmittel. Am 20. XI. entlassen.
15. II. 1906 zum drittenmal aufgenommen.
Trank nach seiner nachträglichen Angabe für 20 bis 30 Pfg. täglich.
Machte häusliche Arbeiten und half der Frau in einem kleinen Handel. Er-
krankte wieder mit depressiven Ideen, er müsse sterben, die Kinder würden
betteln müssen, wollte nichts zu sich nehmen, hielt die Angehörigen um
sein Bett versammelt. — Bei der Aufnahme ablehnend, antwortet nicht,
sträubt sich gegen die Unterscuhung. Am selben Abend schon zugänglicher,
larmoyant, beklagt sich, dass man ihm keine Ruhe lasse, er müsse doch
sterben. Hypochondrische Ideen, bekomme keinen Atem mehr, müsse er-
sticken. Habe lfa Jahr keinen Stuhlgang mehr gehabt. Ist dabei örtlich
orientiert, zeitlich nicht, keine Verkennungen, keine Phoneme. — Pupillen
reagieren ganz träge,die Patellar-und Achillessehnenreflexe fehlen. Ueber beiden
Spitzen verkärzter Klopfschall, diffuse, bronchitische Geräusche. Bleibt so
einige Tage mürrisch liegen, für sich ganz still, vor dem Arzt klagt er ein-
tönig stets die gleichen hypochondrischen Beschwerden. Isst anfangs wenig,
dann ganz gut. Dann treten die Ideen ganz in den Hintergrund, nur auf
Befragen bringt er noch monoton die Klage über schlechten Stuhlgang vor,
sonst geht er rasch über seine Ideen hinweg, lenkt ab. Bleibt aber immer
teilnahmslos und stumpf zu Bett und klagt, bis man ihn aus dem Bett schickt.
Dann sind schon am nächsten Tage alle Beschwerden verschwunden, er fühlt
sich von da ab wohl. Gibt prompt Auskunft, doch sind seine Zeitbestimmungen
nur ganz approximative. Er hat Krankheitseinsicht, beschuldigt selbst wieder
den Schnaps. Es stellt sich heraus, dass er von den zwei Tagen, die seiner
Einlieferung vorangingen, wieder keine Erinnerung hat. Die Pupillen reagieren
prompt, die Sehnenreflexe sind lebhaft, dagegen fehlt der Rachenreflex, und
es besteht eine diffuse Herabsetzung der Schmerzempfindung. Pat. ist im
ganzen schlecht genährt und abgemagert, hat sich aber in den wenigen Wochen
ier recht gut erholt. Hustet fast gar nicht, wirft jetzt nicht aus.
6. V. 1906. Seitber dauernd frei. Kein Husten und Auswurf. Wohl-
befinden. Von manischen Zuständen weiss er nichts zu berichten (auch
die Angehörigen nicht).
Bei einem chronischen Trinker, nebenbei Phthisiker, stellt sich also das
erstemal eine Psychose ein, die mit depressiven und hypochondrischen Ideen
sich einleitet; am zweiten Tage beginnt eine lebhafte Unruhe, die drei Tage
anhält, dann bleibt der Kranke psychisch frei. Es treten dabei die alkoholi-
stischen Züge, Tremor und delirante Beschäftigungsunruhe, so hervor, dass
die Psychose als modifiziertes Alkoholdelirium bezeichnet wird. Die zweite
Erkrankung beginnt, nachdem er wieder seine Missstimmung und Lebens-
überdruss wegen seiner Krankheit und ungünstigen Lage durch fortgesetzten
starken Schnapsgenuss zu betäuben gesucht hatte, mit Selbstvorwärfen, Klein-
heitswahn und Angst; dann kommt eine plötzliche Exaltation mit einem
eigenartigen Selbstbeschädigungsversuch, man fand den Kranken halb nackt
auf dem Felde, sich in den Schlamm eines Grabens einwühlend. Danach
erst einige Stunden laug noch sehr unruhig, gewalttätig, dann Schlaf. Für
diesen ganzen Zustand besteht nur ganz lückenhafte Erinnerung. Am anderen
Tage auch hier erst ungezogene Antworten, wie sie so häufig nach patho-
logischen Räuschen sind, dann aber auch wieder eine Art der Antworten, die
ganz an hysterisches Danebensprechen erinnern.
Nach Abklingen dieser Erregung bleibt er apathisch, schlaff mit
melancholischen, aber auch Beeinträchtigungsideen, schimpft auf das schlechte
Essen,or werdeabsichtlich geschwächt, hingemordetetc. Diese Beeiuträchtigungs-
ideen treten bald mehr in den Vordergrund. Schliesslich bleiben nur einzelne
bhypochondrische Ideen zurück, nach 4—5 Wochen ist alles vorbei, die
Stimmung gut, der Kranke einsichtig, es zeigt sich nun, dass er auch für
diese ganze Phase nur wenig Erinnerung hat.
Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 805
Auch das drittemal wieder der gleiche Beginn; ist auch hier zuerst
wieder ablebnend, daun müärrisch, mit depressiven Ideen und hypochondrisch.
Die eintönigen, hypochondrischen Klagen bleiben noch eine Zeitlang bestehen,
sonst ist er stumpf, teilnahmslos zu Bett. Ass die ersten Tage schlecht,
dann gut. Auch hier blieb eine Amnesie für zwei Tage vor der Aufnahme.
Die Entwicklung ist also bei den beiden letzten Psychosen
wieder die vom pathologischen Rausch her bekannte. Erst die
Depression mit melancholischen Ideen, dann die Bewusstseins-
störung im protrahierten alkoholistischen Dämmerzustand und im
Anschluss daran noch längere Zeit melancholische und hypo-
chondrische Vorstellungen, Angst und Beeinträchtigungsideen,
die besonders im zweiten Anfall ganz der Schilderung Heil-
bronners von den depressiven Psychosen entsprechen.
Bei der periodischen Wiederkehr der gleichen Zustände
muss man an periodische Depressionen endogener Entstehung
denken. Insbesondere der dritte Anfall war einem solchen sehr
ähnlich, wenn auch keiner der gewöhnlichen Form der periodischen
Depressionen ganz entspricht. Die Hemmung ist keine aus-
gesprochene, andererseits stimmt das Bild aber auch nicht ganz
zueiner „depressiven Erregung“. Dagegen spielen Beeinträchtigungs-
ideen von vornherein eine grosse Rolle. Solche kommen indes
in den nörgelnden Formen, die Kräpelin (10) schildert, auch
vor, und Ziehen (11) erwähnt als eine besondere Verlaufsform
Melancholien, bei denen die melancholischen Ideen zurücktreten
und einem paranoischen Bilde Platz machen. Schliesslich können
die periodischen Depressionen ja ganz atypische Formen annehmen;
bemerkenswert ist jedenfalls das gänzliche Fehlen von Hallu-
zinstionen in den beiden letzten Anfällen, auch ist der Kranke
in dem Alter, in welchem solche Depressionen auftreten. Die
dauernde Unklarheit des Bewusstseins, für welche die fehlende
Rückerinnerung in der zweiten Psychose spricht, bei anscheinend
völliger Luzidität, ist doch wohl etwas anderes als die Dämmer-
zustände, die nach Kräpelin (10) auch bei der periodischen
Depression vorkommen können. Degenerative Stigmata sind bei
dem Kranken aber mehrere vorhanden; neben den Bewusstseins-
trübungen die eigenartige assoziative Störung in dem Daneben-
sprechen. Dann bleibt auch in der psychisch normalen Zeit die
Schmerzempfindung diffus herabgesetzt, und der Rachenreflex
fehlt. Bei der Aufnahme fehlten übrigens auch die Patellarreflexe,
die Pupillenreaktion war träge. Bei der späteren Untersuchung
wenige Wochen danach sind aber beide prompt und lebhaft.
Auch bei den beiden vorigen Aufnahmen ist dieselbe
Störung der Pupillen erwähnt, bei der zweiten auch das Fehlen
der Reflexe, doch ist von einer späteren Nachuntersuchung nichts
notiert. Nun ist es wohl gänzlich ausgeschlossen, dass die Re-
flexe dauernd gefehlt hätten, sie könnten doch nach jahrelangem
Fehlen nicht in so kurzer Zeit wieder völlig zurückgekehrt sein.
Auch von einer neuritischen Affektion ist das nicht anzunehmen,
nachdem vor Jahren die Reflexe schon fehlten und durch den
306 Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen.
fortgesetzten Alkoholmissbrauch die Schädigung seither nur
intensiver geworden sein könnte. Von neuritischen Symptomen
sind ausserdem nur das erste Mal Muskelschmerzen erwähnt, beim
zweiten Mal ist ihr Fehlen ausdrücklich erwähnt, und auch jetzt
fehlen sie ganz. Wir werden also annehmen können, dass auch
das vorige Mal die Reflexe wiederkehrten, dass wir es nur mit
der vorübergehenden Reflexstörung zu tun haben, welche die
toxischen Dämmerzustände begleitet. Von der Pupillenreaktion
hat diese Störung Gudden (14) bekannt gemacht, das Fehlen der
Patellarreflexe in pathologischen Rauschzuständen, das wir auch
früher gelegentlich beobachtet haben, wurde von Kutner (18) als
häufig und pathognomonisch nachgewiesen. '
Wir haben einen weiteren Hinweis dafür, dass alkoholische
Dämmerzustände vorliegen. Zeigen nun die erwähnten Stigmata
auf eine vorhandene degenerative Anlage hin, so widersprechen
sie doch nicht der Annahme endogener periodischer Depressionen.
Kräpelin bebt ja die Zugehörigkeit des manisch-depressiven
Irreseins zu den degenerativen Zuständen besonders hervor und
erwähnt das Vorkommen ausgesprochener hysterischer Symptome
dabei. Degenerative Zustände im weiteren Sinne wären sie also
such. Nun schildert Ziehen (12) neuerdings als verwandt mit
den periodischen Melancholien periodische Depressionen, die
endogen bei den verschiedenen Psychopathen, Epileptischen,
[raumatikern etc. auftreten. Zu solchen würden Stigmata wie
im vorliegenden Fall, gut passen; auch ist von manischen Zu-
ständen bei unseren Kranken nichts zu erfahren. Aber ob sie
nun zu den Degenerationen im engeren oder weiteren Sinne ge-
hören, in beiden Fällen könnte der Alkohol auch für sie, wie für
andere degenerative Symptome, ein wirklicher Erwecker sein,
ganz besonders natärlich, wenn sie auf die Ziehenschen Formen
passen. Indessen hat auch die umgekehrte Annahme gerade bei
einer so protrahierten Psychose, die in so gleicher Weise
rezidiviert, viel Wahrscheinlichkeit für sich, also, dass wir es im
vorliegenden Fall mit einer endogenen Depression und nicht mit
einer depressiven Alkoholpsychose in dem Sinne zu tun haben,
dass der Alkohol faktisch das auslösende Moment ist. Für die
ganz gleichen Verhältnisse der einfachen depressiven pathologischen
lRäusche erhebt sich nun gerade mit Bezug auf diese rezidivierende
protrahierte Psychose die Frage, ob wir nicht in beiden Fällen
nur die kurze Phase der interkurrenten Bewusstseinsstörung, des
eigentlichen pathologischen Rausches resp. Dämmerzustandes, dem
Alkohol zuschreiben dürfen, während wir es sonst mit endogenen
periodischen Depressionen zu tun haben, die unabhängig vom
Alkohol auftreten und ihrerseits erst den Boden für die patho-
logische Alkoholreaktion abgeben, also ein ähnliches Verhältnis,
wie bei manchen Anfällen der echten Dipsomanen, Die Perio-
dizität kommt ja beiden Formen zu, auch die pathologischen
Rauschzustände rezidivieren in immer gleichen Formen. Für die
endogene Natur kann auch die relative Unabhängigkeit der depres-
Chotzen, Transitorische Alkoholpsychosen. 307
sivep Formen von Alkoholexzess sprechen, die sowohl Heilbronner
wie Bonhöffer betonen; die Depression geht immer voran, und
durch sie kommt es zu noch gesteigerteren Alkoholexzessen und
zur Bewusstseinsstörung. Dafür spricht ferner, dass diese Formen
Uebergänge zeigen zu protrahierten Psychosen und dass auch
diese protrahierten Psychosen, wie der vorliegende Fall zeigt,
rezidivieren.
Eine solche nur ausgestaltende Rolle scheint der Alkohol
übrigens auch bei anderen Formen von rezidivierenden Psychosen
bei schweren Alkoholisten zu haben. Es sind insbesondere
stuporöse Formen mit massenhaften deliranten und halluzinanten
Sinnestäuschungen und häufig sehr mangelhafter Rückerinnerung,
bei welchen diagnostisch die deliriösen und gewisse Mischformen
mit in Frage kommen, welche Kräpelin beim manisch-depressiven
Irresein schildert. Auch hier ist es fraglich, ob dem Alkoholismus
eine auslösende Wirkung bei dem Ausbruch der Psychose zukommt
oder nur eine komplizierende, und beide ebenbürtige Symptome der
psychopathischen Konstitution sind.
Wir müssen also im zuletzt mitgeteilten Fall offen lassen,
ob er wirklich im ganzen Umfange eine „Alkoholpsychose“ auch
nur im Sinne einer durch Alkohol ausgelösten Psychose ist. Da-
für könnte man vielleicht geltend machen, dass zum ersten Mal
die Depression in Verbindung mit einem, wenn auch atypischen,
Delirium aufgetreten ist. Jedenfalls waren wir aber berechtigt,
sie den früher beschriebenen anzureihen wegen ihrer Verbindung
mit protrahierten alkoholistischen Bewusstseinsstörungen, zu
denen solche Formen überhaupt enge Beziehungen haben, und
wegen der verwandten degenerativen Erscheinungen.
Auch Heilbronner (2) stellt die depressiven Psychosen
mit den pathologischen Rauschzuständen zusammen. und erwähnt
ebenfalls, dass sie nicht reine Alkoholpsychosen sind.
Nachzutragen wäre noch, dass der zuletzt erwähnte Kranke
auch an Tuberkulose litt, indes ist es hier bei der Art der Psychose
schwer abzuschätzen, inwieweit diese ausser einer allgemeinen
Steigerung der Disposition vielleicht mitgewirkt hat. Am ehesten
käme sie wohl noch für das Delirium im ersten Anfall in Frage.
Aber im allgemeinen ist der Prozess wenig floride. Der Kranke
ist allerdings sehr schlecht genährt und abgemagert, aber obwohl
die Krankheit schon mehr als 20 Jahre alt ist, bestehen nur ganz
geringe lokale Erscheinungen, kein Husten, Auswurf und kein
ieber.
Zum Schluss gestatte ich mir, meinem hochverehrten Chef,
Herrn Primärarzt Dr. Hahn, für die Ueberlassung der Kranken-
geschichten auch an dieser Stelle meinen Dank zu sagen.
1. Heilbronner, Ueber pathologische Rauschzustände Münch. med.
Wochenschr. 1901.
8
Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.
. Heilbronner, Die strafrechtliche Begutachtung der Trinker. Halle
1905. Marhold.:
. Bonhöffer, Die akuten Geisteskrankheiten der Gewohnheitstriuker.
Jena 1901.
. Derselbe, Die alkoholischen Geistesstörungen. Dentsche Klinik am Ein-
gang des 20. Jahrhunderts. 1905. l
. Chotzen, Ueber atypische Alkoholpsychosen. Arch. f. Psych. Bd. 41, IL
. Derselbe, Mischzustände bei Alkoholismus und Epilepsie. Zentralbl. f.
Nervenheilk. u. Psych. 1906.
. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie. 7. Aufl.
. Schröder, Ueber chronische Alkoholpsyobosen. Habilitationsschrift.
Halle 1905.
9. Lachmund, Ueber vereinzelt auftretende Halluzinationen bei Epileptikern.
Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. XV.
10. Kräpelin, Lehrbuch der Psychiatrie. 7. Aufl.
11. Ziehen, Lehrbuch der Psychiatrie. 1902. 32. Aufl.
12. Derseibe, Zur Lehre von den psychopathischen Konstitutionen. Charite-
Annalen. XXIX.
18. Kutner, Zur Diagnostik des pathologischen Rausches. Deutsche med.
Wochenschr. 1904.
14. Gudden, Ueber die Pupillenresktion bei Rauschzuständen und ihre
forensische Bedeutung. Neurol. Centralbi. 1900. No. 28.
nf in b O Y
Ueber degenerativ Verschrobene').
Von
Dr. KARL BIRNBAUM,
Assistongarzt an der Anstalt Horzberge der Stadt Berlin.
Unter der Bezeichnung „degenerativ Verschrobene‘“ soll ver-
sucht werden, aus der Mannigfaltigkeit psychopathischer Persön-
lichkeiten eine Anzahl Individuen herauszuheben, die ohne weiteres
durch das paranoide Gepräge ihres Wesens auffallen. Ganz all-
gemein gefasst, ist ihre Eigenart hauptsächlich dadurch bedingt,
dass bei ihnen infolge pathologischer Veranlagung die natürlichen
Beziehungen der Gefühlselemente zu anderen seelischen Bestand-
teilen gestört sind und diese daher nicht wie beim Normalen sich
passend und einheitlich zusammenfügen. In einer in Qualität
wie Intensität abnormen Weise verbinden sich die Gefühlstöne mit
den Elementen des Vorstellungslebens, und auch die den Gedanken-
ablauf begleitenden Gefühle üben einen unrichtigen Einfluss auf
den Vorstellungsinhalt selbst aus. Dadurch bekommen im einzelnen
die ausgeprägteren geistigen Aeusserungen den Stempel des Schiefen,
Einseitigen, Uebertriebenen, das Gesamtbild jene ungleichmässige
und unharmonische Zusammensetzung, wie sie eben am treffend-
sten als „Verschrobenheit‘‘?) gekennzeichnet wird.
!) Vortrag, gehalten im Berliner psychiatrischen Verein am 14. VII. 1906.
%) Die Bezeichnung „originär Verschrobene* findet sich öfter ohne
bestimmtere Uharakterisierung. Dieckhoff (Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 55)
Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene. 309
Klinisch ist die Krankheitsform jenen psyohopathischen
Konstitutionen zuzurechnen, welche auf dem Boden der Degeneration
erwachsen. Ihre Zugehörigkeit zu diesen wird durch die fast stets
nachweisbare, teilweise sogar sehr schwere erbliche Belastung
bewiesen, sowie das Bestehen körperlicher und geistiger Stigmata
der Entartung.
Die Individuen, um die es sich handelt — der überwiegenden
Zahl nach sind es Männer — sind gewöhnlich schon als Kinder
durch abnorme Charakterzüge aufgefallen; doch kommt das eigent-
liche Krankheitsbild naturgemäss erst mit der Ausbildung aller
seelischen Eigentümlichkeiten und Beziehungen in der Pubertätszeit
zur vollen Entwicklung. Es hält sich dann mit interkurrenten
Steigerungen dauernd auf der Höhe, um vielleicht im Alter etwas
abzublassen.
Was nun die Eigenart des Durchschnittsbildes selbst
angeht, so sind auf dem Gebiete des Vorstellungslebens die
einfacheren Vorgänge nicht wesentlich in Mitleidenschaft gezogen.
In charakteristischer Weise leidet vielmehr erst die Urteils-
bildung im weitesten Sinne und zwar eben infolge unrichtig
verteilter Gefühlseinflüsse. Durch sie wird die natürliche Auf-
fassung und Abschätzung beeinträchtigt, einzelne Anschauungs-
weisen und Gedankenrichtungen überwiegen in unberechtigtem
Grade, andere werden dafür zurückgedrängt. So sind es bald
Vorstellungskreise philosophischen und ähnlichen Inhalts, die sich
durch übertriebenen Gefühlswert herausheben, während durch
dessen Mangel auf der anderen Seite Verständnis und Interesse
für die nächstliegenden praktischen Verhältnisse verkümmert. Es
kommt dann zu mancherlei Welt- und Lebensanschauungen, deren
inhaltliche Besonderheit von irgend welchen Zufälligkeiten ab-
hängt, indem ihre Empfänglichkeit für allerhand Auffallendes sie
ungewöhnliche Ideen, hochtönende Phrasen und dergleichen auf-
greifen lässt: der eine hat eine ‚individualistisch-idealistische Welt-
anschauung“‘, der andere eine „theosophische von der Veredlung
der Menschen“, ihre Moralbegriffe sind „ethisch-ästhetischer“ Art,
auf religiösem Gebiete sind sie Atheisten oder halten sich mehr
an die Naturvergötterung. — Auch in einzelnen Prinzipien kommt
ihre Lust an solchen dem Durchschnitt fernliegenden Dingen zum
spricht von Paranoösie als „verkehrter und verschrobener Denkweise“ und.
kennzeichnet seine Paranostiker dahin, dass sie, „von jeher phantastisch und
träumerisch oder skeptisch, springend in den Gedankengängen, originell,
affektuös, misstrauisch, dünkelhaft, zaghaft und ängstlich, verschlossen und
zur Einsamkeit neigend, überhaupt sonderbar und schwer verständlich
sind überall in der Weise, dass eine gewisse falsche Auffassung und Ver-
arbeitung der äusseren Eindrücke als Grund für diese Eigentümlichkeiten
anzusehen ist.“ — Koch erwähnt die habituellen Verschrobenheiten der psy oho-
pathisch Minderwertigen in seiner gleichnamigen Darstellung (Ravensburg 1898),
„die ihnen einen besonderen Stempel aufdrücken und sie jedermann sofort
anders als den gewöhnlichen Menschen als verdreht, geziert, geschraubt,
steif, sässlich, schwärmerisch, zimperlich, scheu u. dergl. erscheinen lassen,
zumeist mit einer gewissen Selbstverständlichkeit zu lage treten und von
ihren Trägern für das Bessere nnd Schönere gehalten werden.“
810 Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.
Ausdruck: Das Handeln ist sich Selbstzweck, sich veredeln Menschen-
flicht, seiner Natur nach müsse man sich ausleben. In der
Erziehungsfrage sind sie für Darlegungen der Weltanschauungen,
vom Stantsleben fordern sie sittliche Basis, sind für Kunst dem
Volke. — Ein andermal wieder ist es der Reiz extremer
Ansichten, der ihre Stellungnahme bestimmt: Sie sind gegen
Autorität, Dogmen und Gesetz, gegen Knechtungs- und Ver-
dummungssysteme, antimilitaristisch und anarchistisch u. s. f. —
Solche vom Gewöbnlichen abweichende Anschauungen werden
aber selbst zur Beurteilung und Bewertung konkreter Verhältnisse,
auch der persönlichen, herangezogen: Den einen rührte der Aus-
bruch des russisch-japanischen Krieges zu Tränen, weil nun
die Arbeit des Christentums umsonst sei, der zweite verwarf an
der Behandlung Geisteskranker, dass sie auf Brechung des freien
individuellen Subjekts ginge.
All diese Gedanken eigenartigen Gepräges sind nun nicht
etwa der Ausdruck eines entsprechend hoch entwickelten Gefühls-
und Vorstellungslebens, denn ein wirkliches Verständnis dafür
geht ihnen völlig ab, entspringen auch nicht dem natürlichen
Bedürfnisse nach einem gefestigten höheren Standpunkte den
wechselnden Lebenserscheinungen gegenüber; sie sind vielmehr
von dem Reiz getragen, den es ihnen gewährt, solche aparte
Ideen zu vertreten und ihrem Persönlichkeitsbilde einzuverleiben.
Das gleiche Gemüätsbedürfnis, vielleicht auch noch das Lustgefühl,
das für sie mit dem Ablauf des Vorstellungsganges an sich ver-
knüpft ist, bringt sie dann weiter dahin, sich auch an alle mög-
lichen anderen Gebiete heranzumachen und allerhand Anschauungen
von besonderer Art und Bedeutung zurechtzulegen. „Meine Devise
ist: nicht andere für uns denken lassen“, erklärte der eine. Sie
haben ihre eigene „Feuer- und Selbstmordtheorie“, eigene psycho-
logische und psychiatrische Einteilungen, besondere Ansichten über
Reizsch welle d es Bewusstseins und die Zusammenhänge im Kosmos. —
Die unscheinbarsten Dinge heben sich für sie bedeutungsvoll heraus;
„Der Kloakenreiniger, der verachtet wird und doch der Menschheit
durch Vernichtung derKrankheitskeime den grössten Dienst erweist.‘
Diese Vorstellungskreise, von denen ihr Gefühl angezogen wird,
bestimmen auch die Richtung und Tätigkeit ihrer Gedanken.
Seltsame Probleme und Erfindungen nehmen ihren Geist in An-
spruch: die Messung der geistigen Fähigkeiten aus dem Gesichts-
winkel, die Verwertung natürlicher Kräfte im Menschen zur Heilung
der Gemütskrankheiten, sozialtechnische Einrichtungen zur künstle-
rischen Erziehung des Volkes. — Auch hier wieder nicht sowohl
das natürliche Bestreben nach Klarheit und Ueberblick auf wissen-
schaftlichen Gebieten, die ja doch weit über ihrem geistigen
Horizonte liegen, als die Befriedigung vor sich selbst, wie vor
andern, als eine solche Persönlichkeit mit so bedeutsamen Ideen
dazustehen. Sie sind denn auch von ihren Geistesprodukten als
dem Ausdruck ihrer persönlichen Eigenart bis zur Verbohrt-
heit durchdrungen: „Mein Dogma und festes Glaubensbekenntnis
Birnbaum, Ueber degenerstiv Verschrobene. 3911
erkläre ich hiermit für richtig und werde es auf dem Totenbette
noch eidlich erhärten.“
Diese masslos übertriebene Wertschätzung der eigenen Person
und allem, was zu ihr gehört, bildet überhaupt den Kern ihres
Wesens. Sie fühlen sich als besondere Menschen, die keinen
Parteien, nur idealen Zwecken dienen, moderne Kulturmenschen
und Theosophen, Kämpfer gegen die Vergewaltigung persönlicher
Menschenrechte, bestimmt, die Lehre vom Kosmos auszubauen.
„Ich bin ein Philosoph, das erklärt alles,“ sagte ein Schornstein-
fegergeselle. Einzelne dieser Aeusserungen erreichen durchaus
die Höhe der Grössenideen wirklicher Paranoiker: Sei keine Natur
wie andere; sei in der Tat verrückt, weil er aus der Ebene des
Gewöhnlichen nach theosophischer Anschauung in die des Gött-
lichen gerückt sei. — Entsprechend tief schätzen sie ihre Mitwelt
ein, die sie selbst nicht zu würdigen versteht: Stumpfsinnige
Bierbauchphilister, die die Arbeit für den Sinn des Lebens halten;
durch überlanges Studium verbildete lidoten — die Irrenärzte.
Nach aussen hin geben sie sich in prahlerischer Auf-
geblasenheit, bringen ihre Vielbelesenheit, ihr Wissen und Können
überall an. Selbst durch gröbste Aeusserlichkeiten suchen sie
eindrucksvoll zu wirken: der eine gewöhnte sich Bismarcks Hand-
schrift an, ein anderer trug langwallendes Haar, um im Auffallen
seine Stärke zu zeigen. Entsprechend greifen auch in der sprach-
lichen Darstellung ihre Uebertreibungen Platz, indem ihre Sprache
überladen ist mit überschwenglichen Bildern, eigenartigen Ver-
gleichen, schwungvollen Phrasen und bedeutsamen Kunstausdrücken,
Dinge, die bei aller Schiefheit in der Anwendung zugleich mit dem
ungewöhnlich klingenden Inhalt geistige Originalität und Produk-
tivıtät vortäuschen können.
Ihre Stimmungslage ist keine einheitliche. Aus ihrem
Empfindungsleben hebt sich die den Entarteten eigene Un-
beständigkeit derGefühle und Ungleichmässigkeit in ihrer Verteilung
heraus, so dass das eine Mal Lust- und Unlusttöne mit ungemeiner
Leichtigkeit und Lebhaftigkeit ansprechen und sich zur Geltung
bringen, um ein ander Mal und von anderen Dingen völlig unbe-
rührt zu bleiben. So lassen sie sich denn in schnellem Wechsel
von ullen möglichen Zeitströmungen, neu aufkommenden Ideen
und seltsamen Bestrebungen, von fremdartigen Gedankenkreisen
fesseln und mitreissen. Da nun aber ihre Anschauungen von zwar
überschwenglichen, aber beweglichen Gefühlen getragen und nicht
durch geistige Verarbeitung vertieft und gefestigt sind, so kommt
es auch nicht zur Bildung dauernder richtunggebender Motive
für das Handeln, ein eigentlicher Charakter entwickelt sich nicht.
Ihre Willenskraft ist entschieden gering, sie sind mehr
Helden des Wortes als der Tat. Da es ihnen besonders in Bezug
auf praktische Verhältnisse an Einsicht und Interesse mangelt, so
fehlt es ihnen an Anpassungsfähigkeit an die gemeine Wirklichkeit,
und ihre Lebensführung wird eine unzulängliche: Ein im Leben
völlig hilfloser Mensch verliess die Pflegestelle, weil er nicht durch
312 Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.
die rabiate Infamie eines Weibes an Leib und Seele Schiffbruch
leiden wollte, einen Gerichtsbeschluss erklärte er für null und
nichtig, weil er keinem Menschen einen Eingriff in die von Gott
verliehenen natürlichen Rechte gestatte. — Statt geordneter, ziel-
bewusster Tätigkeit geben sie sich mit allerhand fernliegenden
Problemen bald technischer, bald philosophischer oder sozialerNatur
ab und allen möglichen reformatorischen Bestrebungen hin. Auch
unzweckmässige Handlungen kommen vor, sie klären Majestät über
seine Stellung auf, werfen der Polizei ihre verrückte Moral vor.
Ja selbst schwere Schädigungen durch ernsthafte Konflikte bleiben
nicht immer aus, so sind mehrfach langdauernde Strafen wegen
Majestätsbeleidigung und militärischer Vergehen verzeichnet.
Dieses Durchschnittsbild, das neben den erwähnten
Grössenideen auch ausgeprägte Beeinträchtigungsvorstellungen um-
fasst, wie sie das im Widerspruch zu ihrer Selbstüberse ätzung
stehende Verhalten einer urteilsfähigeren Umgebung in ihnen wach-
ruft: sie fühlen sich von den Eltern nicht verstanden, Opfer des
Hasses und Neides, man will sie unterdrücken, um Ruhe vor ıhnen zu
haben, — dieses Durchschnittsbild steigert sich zeitweise, besonders
unter dem Einflusse ungünstiger äusserer Verhältnisse, wie der
Haft, zur voll ausgebildeten Psychose. Es kommt dann vorzugs-
weise zu ziemlich plötzlich einsetzenden und schnell sich ent-
wickelnden Wahnbildungen, die mehr oder weniger systematisch
aufgebaut, auf der Höhe der Erkrankung der Paranoia ähneln
können. Sie pflegen aber nach einiger Zeit wieder abzuklingen.
Das reine Bild der Verschrobenheit findet sich allerdings
nur in einzelnen Fällen. Meist gesellen sich ihm weitere Er-
scheinungen der Entartung hinzu. Durch stärkeres Hervortraten
einzelner Züge, sowie durch gewisse Modifikationen ergeben sich
dann auch andere Typen degenerativ-exzentrischer Persönlichkeiten,
bei denen gleichfalls die Art der Stellungnahme den Lebens-
erscheinungen gegenüber nicht von nüchtern sachlicher Verarbeitung
der Erfahrungen, sondern von überwiegenden Gefühlseinflüssen
abhängig ist. Es sind dies die Phantasten, denen es Reiz und
Befriedigung gewährt, die gegebene Wirklichkeit mit den Produkten
ihrer lebhaften Einbildungskraft zu bereichern, und die Träumer,
die das gleiche Gemütsbedürfnis dazu drängt, aus sich heraus in
schön erdachte Verhätnisse sich zu versetzen. Schliesslich rücken
noch durch schroffe Ungleichmässigkeiten in der Gefühlsverteilung
— Uebermass auf der einen, Mangel auf der anderen Seite — die
pathologischen Schwärmer in die Nähe der Verschrobenen. —
Auch die bei psychopathischer Minderwertigkeit ja nicht so seltene
Verbindung mit Imbezillität kommt vor, ohne dass es anginge,
aus dem Schwachsinn allein heraus die Verschrobenheit zu er-
klären, mag er auch durch Urteilsschwäche nach dieser Richtung
hin begünstigend wirken. Diejenigen Imbezillen, die von geistig
überlegenen Personen sich derartige Anschauungen aufdrängen
lassen, gehören natürlich überhaupt nicht hierher.
Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene. 813
Differentialdiagnostisch kommen von abnormen Ver-
anlagungen die konstitutionell Manischen in Betracht. Mit
ihnen haben die Verschrobenen eine in mancher Beziehung leichte
Ansprechbarkeit des Interesses, eine gewisse Oberflächlichkeit, den
Phrasenschwulst und das erhöhte Selbstbewusstsein mit paranoiden
Zügen gemein; es trennt sie die hypomanische Stimmungslage, die
Flatterhaftigkeit und der Betätigungsdrang der ersteren.
Von ausgeprägten Psychosen soll die Dementia paranoides
wenigstens Erwähnung finden, mit der insofern eine allerdings grob
äusserliche Aehnlichkeit besteht, als die Verschrobenheit auch erst
im Pubertätsalter in Erscheinung tritt und einzelne Vorstellungen
der Verschrobenen paranoische Färbung tragen; doch geben die
initiale Verstimmung, stärkeres Hervortreten von Sinnestäuschungen
und Wahnideen sowie der meist progressive Verlauf ohne weiteres
den Ausschlag für die Psychose.
In jeder Hinsicht am wichtigsten und nicht immer von selbst
gegeben ist die Abgrenzung von der Paranoia. Die Aehnlichkeit
mit ıhr wird am besten dadurch charakterisiert, dass die aus-
geprägten Fälle fast alle dauernd oder wenigstens vorübergehend
unter der Diagnose Paranoia oder originäre Paranoia gelaufen
sind. Und es besteht ja auch eine grosse Aehnlichkeit mit dem,
was Krafft-Ebing als Paranoia reformatoria und inventoria be-
zeichnet, denn dies sind eben keine Paranoiker, sondern Degene-
rierte.e Hinzu kommt, dass die akuten, paranoischen Steigerungen
mit phantastischen Grössenideen an die originäre Paranoia an-
klingen. Von dieser lassen sie sich aber beım weiteren Verlauf
trennen, da sie nur eine vorübergehende kurze Periode im Gesamt-
bilde darstellen. Die Scheidung von der typischen Paranoia
Kraepelins ist jedenfalls schon dadurch gegeben, dass es sich hier
im wesentlichen um einen von vornherein gegebenen Dauerzustand
handelt, während dort zu gewisser Zeit ein Krankheitsprozess
von bestimmter Verlaufsweise einsetzt. Von einer „langsamen
Herausbildung eines dauernden, unerschütterlichen Wahnsystems“
(Kraepelin) kann zudem überhaupt keine Rede sein.
Sieht man schliesslich die Verschrobenen noch einmal auf
ihre Beziehung zur Entartung an, so zeigen sie sich auch,
abgesehen von dem durch Heredität, körperliche und geistige
Stigmata gegebenen Nachweis, ganz allgemein durch ihre Charakter-
eigenart als typische Degenerierte. Denn gerade die, jene kenn-
zeichnende Disharmonie in den Massverhältnissen der einzelnen
seelischen Elemente, der Mangel an psychischem Gleichgewicht
sind Grundzüge ihres Wesens. Sind dabei in dem oder jenem
Falle manche Fähigkeiten, wie es ja bei Entarteten vorkommt,
hervorragend ausgebildet, dann dürfte man ihnen allerdings nicht
gerecht werden, ohne über den Rabmen klinischer Betrachtungs-
weise hinauszugehen.
Als Beispiele für das psychologische Bild der Verschrobenen
sollen die nachfolgend wiedergegebenen Selbstbiographien dienen.
314 Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.
Dabei ist von den rein klinischen Einzelheiten, die ja viel Ge-
meinschaftliches mit denen anderer Degenerierter haben, völlig
abgesehen.
I. H. R., Arbeiter, 26 Jahre alt.
Aller Anfang ist schwer. Ob dies auch mit mir der Fall war, weiss
ich nicht, es ist aber kaum wahrscheinlich. Jedenfalls, wer mich kennt,
wird nicht bezweifeln, dass ich geboren bin. Ueber den Ort und die näheren
Umstände dieser Tatsache a priori kann ich aus eigenem Wissen nichts be-
richten. Im Standesamtsregister zu Berlin ist als Datum meiner Geburt der
14. Mai 1880 angegeben. Als meine Eltern sind ebendaselbst der Arbeiter
G. R. und dessen — staatlich konzessionierte — Ehefrau bezeichnet. Eine
um drei Jahre ältere Schwester lasse ich am besten unerwähnt, wie ich über-
haupt dies so gerne zitierte Wort: „Blut ist dicker wie Wasser“ ignoriere.
Der Mensch ist die Hauptsache, nicht seine Abstammung. Die sogenannte
Elternliebe ist lediglich ein Gefühl, durch die Gewohnheit des Beisammen-
seins hervorgerufen. Das meist herzliche Verhältnis zwischen Eltern und
Kindern ist auf die gleichartigen, ererbten Charaktereigenschaften und die-
selben Lebensbedingungen zurückzuführen. Dass dieses Gefühl bei mir so
wenig stark ausgebildet ist, ja beinahe das Gegenteil darstellt, ist die not-
wendige Konsequenz — und das ist mir jetzt zur vollsten und wahrsten
Ueberzeugung geworden — einer gänzlich andersartigen Veranlagung, bei der
die Darwinsche Vererbungstheorie ausnahmsweise nicht anwendbar erscheint.
Ich bin eben ein eigenes Gewächs und tue meinen Eltern unrecht, wenn ich
sie dafür verantwortlich mache. Merkwürdigerweise ist es mir nicht gegeben,
mein Benehmen, trotz dieser Erkenntnis und allen vorhandenen gute Willens,
zu ändern. Der wahre Grund meines Wesens ist ja auch mir ein Geheimnis.
Aller Wahrscheinlichkeit nach war es ein direkter Eingriff nicht mensch-
licher, ausserhalb unseres Erkenntnisvermögens liegender Mächte. Im ersten
Moment klingt dies absurd, aber nur scheinbar. Wer mein Leben und meinen
Entwicklungsgang kennt, wird logischerweise zu demselben Schluss kommen.
Schon das Gefühl des Unbehagens, des Abscheus in einer Gesellschaft und
unter Umständen, welche, wie ich sehe, jedem Freude und Genuss bereiten,
ist eine deutliche Wirkung der in mir schlummernden aussergewöhnlichen
Kräfte, der Kräfte, die ich bis jetzt mit allen Mitteln unterdrückt habe und
als deren grossartigste und alle anderen Deutungen ausschliessende Aeusserung
meine Fähigkeit, mehr wahrzunehmen als andere, ist. Wenn auch dies bis-
her nur in geringem Masse — im Krankheitsprotokoll als farbenspielähn-
liche Punkterscheinungen gekennzeichnet — und bei äusserster Anstrengung
meines Geistes der Fall ist, so ist doch sicher meine Annahme, die Ent-
stehung eines neuen Sinnes bereite sich hier vor, genügend motiviert. Aller-
dings hielt ich noch vor gar nicht langer Zeit diese Erscheinungen für
geisteskrank. Nachdem auch ärztlicherseits diesem Umstand als Krankheit
so wenig Gewicht beigelegt wird, vielmehr man an meinen ethisch-ästhetischen
Moralbegriffen,meinerindividualistisch-idealistischen Weltanschauung laboriert,
ist auch der Wahnsinn für mich abgetan.
„Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss“, sagt Nietzsche.
Und weiter: „Littet ihr schon am Menschen?“ Jawohl, ich habe gelitten
und leide noch daran, das Unmögliche möglich zu machen. Oder ist es
etwas anderes, wenn man sich in unendlich qualvoller Sysiphusarbeit zum
Gipfel der Gedankenpyramide hinaufgerungen hat und dann durch die not-
wendige Befriedigung der profansten materiellen Dinge, wie Essen, Schlafen,
der ganze Geistesbau zusammenstürzt und von neuem aufgeführt werden
muss, man bei jedem Schritt an das armselige Menschsein erinnert wird?
Was ist’s, das mır die unerträglichen Schmerzen, das Leben zur Hölle
macht? Es ist der Kampf des Neuen, Unbekannten, Unwiderstehlichen mit
der morschen, sterbenden Welt, es ist das Ungeborene in mir, das zum Licht
drängt, es ist der Uebermensch. Uebermensch — ein schönes Wort, doch
leider allzu oft missbraucht. Ich weiss es, auch ich werde verlacht. Doch
kann ein wirklich ernst zuNehmender mein Uebermenschentum nicht bezweifeln.
— Einerlei, was schert mich die Meinung des Pöbels. Ich werde nicht mehr
Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene. 815
die Entfaltung meiner Kräfte zu hindern suchen, vielmehr auf jede nur
mögliche Art zu fördern mich bemühen. Allerdings werden die von der
Aussenwelt veranlassten physischen wie psychischen Leiden in demselben
Masse wachsen wie der innere Zwiespalt, die Selbstqual verschwindet. Viel-
leicht sind die mir entgegenstrebenden Hindernisse mächtiger als ich. Nun
gut: besser sterben wie ein Mensch, als leben wie ein Tier. Aut Caesar,
aut nihil! Nichts ist mir widerwärtiger als der stumpfsinnige Bierbauch-
ilister.
P Um das Thema, meinen Lebenslauf innezuhalten, berichte ich zunächst
über meine früheste Jugendzeit, und zwar nehme ich besondere Rücksicht
auf die Seelenvorgänge. Der Wert einer Sache macht ja auch erst aus, was
man sich dabei denkt. Aus Berichten von meinen Eltern und aus eigener
Rückerinnerung weiss ich, dass ein eigentümliches, träumerisches Wesen
schon in meiner ersten Kindheit an mir bemerkbar war.
Meiner Ungeduld, in die Schule zu gehen, kamen meine Eltern dadurch
nach, dass ich 6 Monate früher wie üblich eingeschult wurde. Die Ent-
täuschang war gross. Was ich lernen sollte, interessierte mich absolut nicht.
Immer hing ich meinen eigenen Gedanken nach. Zur Absolvierung der beiden
unteren Klassen brauchte ich denn auch vier volle Jahre. Im Stillen zer-
marterte ich schon damals mein Hirn mit dem Rätsel meines Seins, gab aber
mir selbst und meiner „sündigen Seele“ die Schuld, jedoch nur vernunfts-
mässig, ohne die instinktive Abneigung gegen meine Umgebung unterdrücken
zu können.
Nach meiner Schulzeit besuchte ich auf Bestimmung meiner Eltern die
Präparandenanstalt und stümperte mich ‘daselbst 2 Jahre durch. Kurz ent-
schlossen griff ich darauf zum Mechanikerberuf.
Zu dieser Zeit war es auch, als ich zum letztenmal mich zu meinen
Eltern über mein Innenleben aussprach. — Mein ganzes Streben ging damals
dahin, viel Geld zu verdienen, bis ich plötzlich die Wertlosigkeit des mate-
riellen Schätzesammelns einsah und nun in tollem Taumel das Versäumte
nachholte. Ich lebte und genoss; vielmehr ich bildete es mir ein. In Wirk-
lichkeit lebte ich wie ein Schwein.
Ueber mein Sexualleben — das viel mehr Bedeutung hat, als man
gemeinhin zugibt — möchte ich überhaupt nichts sagen, da ich nicht mich
und andere Leute unnötig kompromittieren will, die herrschenden Moral-
anschauungen auch gar zu gern nach dem Pöbelmassenmasstab alles Anders-
artige verketzern. In der genannten Periode hatte sich ein aus den denkbar
schlechtesten Motiven eingegangenes Liebesverhältnis aus den niedrigsten
Sinnengenüssen zu idealer Höhe entwickelt.
Als zu dieser Zeit ein Studienfreund von mir an der Schwindsucht
starb, glaubte ich fest, ich wäre ebenfalls tuberkulös, hatte mich im Stillen
sogar aufgegeben.
Dass der Abbruch des ca. 2 Jahre andauernden Verhältnisses und durch
so einschneidende Bedingungen herbeigeführt, zu einer Katastrophe führen
musste, ist für den Psychologen selbstverständlich. Der durch überlanges
Studium verbildete Idiot vermag dies jedoch, ausserhalb seines engen geistigen
Horizonts liegend, in seiner Erhabenheit nicht zu fassen. Von dieser Zeitan
bekam mein Denken eine ganz andere, neue Richtung. Ich sah nur zu bald
das Verwerfliche der Sinnengenüsse ein und warf mich nun mit wahrem
Feuereifer auf schöngeistige Literatur, Kunst, Philosophie, Politik, kurz alles,
was ein modern Gebildeter wissen muss, um sich ein objektives Urteil über
seine Zeit zu bilden. Bald sah ich, was für ein ungeheurer Frevel an mir
verübt worden war. Die Verantwortlichen meiner pfäffischen, sentimentalen,
efühlsduseligen, christlich religiösen Erziehung hätte ich erwürgen mögen.
Was für Kampf hatte mir nicht die verfluchte Gottespest in meinen Putertäts-
jahren gekostet. An alles legte ich den kritischen Masstab und verzweifelte
fast ob des Resultates. Nichts erkenne ich an, nichts lasse ich gelten, kein
Dogma, keine Autorität noch sonstige Verdummungsparasiten. Ein Skeptiker
und Egoist vom reinsten Wasser. Nur nicht andere für uns denken lassen,
lautet meine Deviso.
316 Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.
Das Theater und die Oper besuchte ich so oft, als es mein Portemonnaie
estattete, besonders die naturalistischen sozialistischen Stücke. Immer mehr
Kam es mir zum Bewusstsein, was Mensch sein heisst, wie viel edlere und
höhere Genüsse das Geistesleben gewährt. Aber leider, leider, wie sind
Genüsse der Art für einen Menschen in meiner sozialen Lage möglich? Der
Arbeiter hat als Genuss nur die Schnapsflasche, alles andere ist Mumpitz
und durch die wenige verfügbare Zeit unerreichbar. Ich gebe offen zu, mit
dem Alkohol als Mittel zum Zweck zu sympathisieren. So betrank ich mich
` einstmals mit meinem Freunde zusammen in reinem Kognak dermassen, dass
ich mich nicht selbst entkleiden konnte. Und nicht etwa bei gesellschaft-
lichem Anlass, rein aus moralischem Katzenjammer.
Ich sprach vom ästhetischen Genuss, als soviel höher stehend, und von
der verwerflichen Befriedigung der grobsinnlichen Gefühle. Der schwerste
Kampf für mich, den Menschen zu überwinden, ist der sexuelle Trieb. Die
durch denselben veranlassten niederdrückenden, jedes Aufwärtsbewegen hem-
menden Leiden werde ich auf meinem Weg zum Uebermenschen durch die
Homosexualität verdrängen. Ich neige mehr und mehr dazu, namentlich
seitdem ich mich in letzter Zeit mit den Bestrebungen Dr. M. Hirschfelds
eingehend beschäftigt habe. Unsere ganze sogenannte Kultur ist verweibert,
nirgends Charakter und gerades Wesen. Es ist wahr, die Menschen geben
hentzutage eher ihren Charakter auf, als eine kleine Bequemlichkeit zu ent-
behren. Hundeseelen. Ein Aufgeilen der Menge durch bewusstes Schmeicheln
der Masseninstinkte ist das Hauptgeschäft der Tagesliteratur.
„Ihr sollt euch nicht fortpflanzen, sondern hinaufpflanzen!'* Welcher
Kontrast zur realen Wirklichkeit der heutigen Brunst- und Schacherliebe.
Mit einer jungen Schriftstellerin hatte ich ein rein platonisches Ver-
hältnis ca. 2 Jahre. Dutzende von gedruckten und ungedruckten Gedichten
sowie Korrespondenzbriefe stehen eventuell zur Verfügung. Trotzdem eine
eheliche Verbindung mir mehr als nahegelegt wurde, konnte ich mich nicht
dazu entschliessen, obgleich diese Dame meine Anschauungen im wesent-
lichen teilte und die Aussichten für mich durchaus günstig lagen. Instinktiv
fühlte ich wohl schon damals meine Bestimmung zum höheren Menschen.
Eingehend die Gedanken und Erlebnisse zu schildern, ist nicht möglich, da
sonst der Lebenslauf den Umfang eines mehrbändigen Romans erreichte.
Einen grossen Teil meiner Zeit und Kraft legte ich später in Er-
findungen an. Mit unendlicher Mühe und Geldopfern arbeitete ich mit
meinem Freunde Nächte hindurch. Mein Plan war damals, in Gemeinschaft
meines Freundes per Tandem durch Südrussland nach Sibirien zu fahren.
Nach Sibirien, dem neuen Amerika, um dort einen Lebenszweck zu finden.
— Von technischen Neuerungen, die mich eifrig beschäftigten, nenne ich
noch eine Antriebsmaschine für Fahrzeuge. Auch aufthermoelektrischem Gebiet
in Verbindung mit Explosionsmotoren habe ich eine umwälzende Idee. Von
allen Dingen am meisten fesselte mich und betrachte ich als einen bedeut-
samen Schritt zu meiner Selbsterlösung die Ausführung des Problems einer
sozial-technischen Einrichtung zwecks künstlerischer Erziehung des Volkes,
speziell der untersten Proletarierschichten, als dem einzig möglichen Mittel,
den Menschen, das denkende Individuum, aus dem Massenarbeitstier zu bilden,
um die geistige und ökonomische Freiheit, einen höheren, ästhetischen Lebens-
genuse zu ermöglichen... Dass die Notwendigkeit besteht — sofern man den
lauben an eine fortschreitende Entwicklung gelten lässt —, die Menschen
auf bessere Genüsse, wie Fressen und Saufen, hinzulenken, steht ausser
Zweifel. Ich bole den Himmel herunter, das Fest der Erde, das neue Paradies
des Lebens werde ich schaffen. Was nützt es, ewig zwecklos um Gnade
winseln zu einem Phantom, von dem wir nur Vermutungen und Legenden
wissen, während die besten Kräfte in uns vermodern.
Bei dieser Gelegenheit kann ich es unmöglich und trotz der persön-
lichen Gefahr für mich unterdrücken. die Reflexion meines hiesigen Aufent-
haltes wiederzugeben.
Pfui Teufel, wie erbärmlich kleinlich denkt doch hier der nar auf die
Beibehaltung seiner Brotstellung, auf die Verteidigung gegenüber der
eventuellen Rüge seiner Handlungsweise bedachte Pöbel. Elende Materialisten.
Birnbaum, Usber degenerativ Verschrobene. 817
Der Kranke interessiert allenfalls — wie das Kaninchen dem Vivisektor —
der Mensch, nein, ordinäres Pack, Iguoranten! Was ist ein armseliger Patient?
Nieht soviel, als man Sorge um den Schmutz seiner Stiefel trä Vielleicht
lächelt man über das ohnmächtige Krümmen des zertretenen Wurmes, ohne
sich jedoch auch nureinen Moment aus der behäbigen Philisterruhe aufscheuchen
zu lassen. Ist man übel gelaunt, bekommt er sicher die angenehmen Seiten
desfreiwilligen Galeerenlebens zufühlen. „Bin ich für nichts an dieser Stelle?“ Sic
volo, sic jubeo, nach berühmtem Muster. Die ganze Behandlung zielt ja hier
auch auf die Brechung des freien individuellen Subjekts hin. Dass die
Lebensenergie dadurch untergraben wird, kommt weiter nicht in Betracht,
wenn nur der Patient nicht revoltiert. Ich will auch gar nichts mehr, nur
träumen will ich, träumen meinen „einsamen Weg“!
Ich bin am Schluss und habe nur noch über die Vorgänge, die mein
Hiersein direkt veranlassen, zu berichten. Um den vielfachen Bemerkungen
meiner Bekannten von „verrückt sein“ etc. und dem auffälligen Benehmen
meiner Eltern mit einem Schlage abzuhelfen, wollte ich ein amtliches Attest
von der Direktion der Anstalt über meinen (Geisteszustand haben, um
dadurch meine Zurechnungsfähigkeit dokumentieren zu können. Von einer
wirklichen Geisteskrankheit kann jedoch nach meinem heutigen Dafürhalten
— im Gegensatz zu früheren Bekundungen — absolut nicht die Rede sein.
Meine Krankheit besteht lediglich in Nervosität, damals besonders stark auf-
tretend. Einesteils kann ich dem Geschick nicht grollen, das mich hierher
führte. Andernteils, wenn ich an die Folgen einer Internierung in der Irren-
anstalt denke, graut’s mir. Doch ich will es zertreten, das ‚graun Ges enst,
Pessimismus. Auf zum Licht, zur Sonne der Wahrheit, zum Debermenschen!
li. H. B., Arbeiter, 42 Jahre.
Mein Lebenslauf.
Mein Lebenslauf ist zur Aufklärung meiner persönlichen Verhältnisse
hiesiger Anstaltsdirektion zu überweisen. x
otto:
Hast du schon einen Sumpf gesehen,
Voll Moder und Todasgraun?
Kannst du seinen Schatten, sein Spiegelbild sehen,
Dich fröstelnd im Reiche des Todes ergehen,
Seine Wüsten im Leben erschaun:
Im Leben, das dir hier vor Augen gemalt,
Mein eigenes Konterfei.
Kindheit.
O, du meiner Kindheit Freude,
Meines Daseins Sonnentraum,
Bist in Nebeln du zerronnen —
Wie des Meeres Flockenschaum ?
Wirst du nimmermehr verweilen
Bei mir einen Augenblick —
Bringe doch des Lebens Hoffnung,
Himmelsfrieden mir zurück!
l Ja, wenn ich obigen Vers doch mit aufrichtigem Herzen nachbetsa
könnte. — Doch, was die dichterische Inspiration in überschwänglicher
Idealität erschaut — ist wohl meistenteils mit der nackten Prosa einer realen
Wirklichkeit in keiner Beziehung zu vereinbaren.
Als aussereheliches Kind von einer M. B. in einem winzigen Dörfchen
Holsteins ins Leben gerufen, verbrachte ich die ersten 5 Jahre meiner
irdischen Wallfahrt, ohne wesentliche Eindrücke zu hinterlassen, auf dem Lande.
Nachdem meine Mutter sich mit einem in Hamburg angesessenen
Subalternen verehelicht, wurde ich von meinem früheren Aufenthaltsort,
woselbst ich mich bei meiner alten Grossmutter, einer recht biderben, gut-
mütigen Frau, sehr wohl befunden, nach Hamburg überführt, um unter der
Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Rd. XXI. Heft «. 21
318 Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene.
Zuchtrüte meines: gestreugen Herrn Stiefvaters zu einem nützlichen Mitglied
der menschlichen Gesellschaft gedrillt za werden.
Es wäre ja gegen einen solch löblichen Vorsatz keineswegs was ein-
zuwenden gewesen, wenn selbiger Entschluss humanitären Rücksichten ent-
sprun en; ass dies aber nicht der Fall, bekam ich täglich zu hören und
zu fühlen.
Wo Schimpfreden und sonstige Roheit an der Tagesordnung, ist nicht
zu verwundern, wenn die zarten Blütenkeime kindlicher Harmlosigkeit zerstört
— und an Stelle eines milden Gottesfriedens Verwilderung der Sitten eintritt.
Die Folge hiervon war meine endgültige Ueberweisung einer städtischen
Erziehungsanstalt,
Die ersten Jahre meines Dortseins lebte ich ziemlich in Frieden, bis
ein gewisser B. ans Ruder gelangte. Da konnte ich auch mit Don Carlos
verzweifeind ausrufen:
„Die schönen Tage von Aranjung,
Sie sind vorbei!“
Im Interesse der Menschlichkeit wäre es wohl angezeigt, wenn die
Institutionen gedachter Anstalt durch eine unparteiische Kommission auf
deren Wert geprüft, um Missbräuche abzustellen, das Panier menschenfreund-
licher Gesittung aufzapflanzen, zu fördern.
Was ich während dieser Zeit empfunden und gelitten habe, lässt sich
kaum mit Worten beschreiben; oder ich müsste die ersten Abschnitte in dem
Voz Dickensschen Roman, David Koperfield“ rezitieren, denn was der be-
gebte Autor seinen jungen Helden in der Krikelschen Anstalt Salem-Huse
at leiden lassen, dieselben Drangsale habe ich auch erdulden müssen —
und das alles um Gottes Willen!
Nach erfolgter Einsegnung wurde ich einem Schuhmachermeister in
die Lehre gegeben, der mich schon nach 7 Wochen als unbrauchbar entliess.
Wurde, dann einem im Hannöverischen wohnhaften Landmann in
Obhut gegeben, dem ich aber schon nach 3 Monaten ohne jeglichen Grund
entlauien.
II.
Jünglings- und Mannesalter.
.... „Ins Leben führt ihr ihn hinein,
Und lasst den Armen schuldig werden,
Dann überlasst ihr ihn der Pein,
Denn jede Schuld rächt sich auf Erden.“
(Aus Goethes Harfenspieler.)
Es scheint, das unser Altmeister nicht so ganz Unrecht hat, wenn er
behauptet, dass jede Schuld ihren Rächer auf Erden finden werde!
Dass ich auch nicht ganz schuldlos gewesen, dass ich mich konkreten
Verhältnissen — und wären sie noch so drückend gewesen — hätte anbequemen
müssen, ist gar nicht zu bezweifeln; dass ich mich aber gegebenen Um-
ständen nicht unterworfen, vielmehr beflissen war, mit dem Kopf durch die
Wand zu rennen, das ist eben mein Verderb!
Für meine damaligen 16 Jahre von der Natur fürs praktische Leben
eistig und körperlich stiefmütterlich behandelt, von meinem Stiefvater im
eisein meiner mit dem Tode ringenden Mutter kaltherzig abgewiesen, nicht
wissend, wohin mich wenden, geriet ich als „Hausbettler“ mit der Polizei in
Konflikt, in welchem ich natürlich den kürzeren zog.
Würde man schon damals für die aus den Korrektionsanstalten zur
Entlasssung gelangten Detinierten in fürsorgender Weise etwas Erspriessliches
getan haben, würde vieles anders und besser geworden sein.
Die bestehenden Arbeiterkolonien gereichen dem christlichen Kultus
durch ibr Wuchsr- und Aussaugesystem gerade nicht zur Ehre.
Die beiden hiesigen Kolonien können hierfür als schlagende Be-
weise gelten.
- Wenn man die Behandlungsweise der französischen Hugenotten unter
Ludwig XIV. kennt, sich ihren Jammer, ihr Elend veranschaulicht, so hat man
Birnbaum, Ueber degenerativ Verschrobene. 319
das getreue Ebenbild preussischer respektive deutscher Arbeitshäuser —
wahre Mördergruben und Folterkammern des 19. Jahrhunderts; und das zu
einer Zeit, in welcher Deutschlands Herrscher den Gesetzen ein treuer
Wächter und der bedrängten Armut ein fürsorgender Helfer sein wollte!!
Es soll hier nicht in Abrede gestellt werden, dass eine gewisse Strenge
zum Besten des Allgemeinwohls zwecks Aufrechterhaltung einer wohltätigen
Ordnung unumgänglich notwendig sei; jedoch darf diese Befugnis nicht die
Schranken christlicher Humanität durchbrechen, um in bodenlose Tyrannei
auszuarten, wie dies leider an der Tagesordnung.
Mein ganzer mir innewohnender Mannesstolz lehnte sich gegen eine
derartige Vergewaltigung persönlicher Menschenrechte auf, um sie mir
kämpfend zu erhalten.
Ein Exzess folgte dem andern, eine Misshandlung der andern, bis man
mich einkerkerte, auspeitschte, zweimal den Versuch machte, mich mittels
Dampf dem Erstickungstode nahe zu bringen.
Dass auch stärkere Geister als ich schliesslich solchen Stürmen auf
die Länge nicht gewachsen, war vorauszusehen.
Was aber eigentlich geschehen, was sich mit mir ereignet, ist mir
ein Rätsel.
Nur soviel ist mir bewusst, dass man mich angeblich wegen Majestäts-
beleidigung belangen und dementsprechend zu 4 Jahren Gefängnis verurteilen
liess! Ob mit Recht? Ich bezweifle es.
Habe auch Berufung dagegen eingelegt, doch leider vergeblich.
Im Gefängnis, wohin man mich geführt, muss sich mit mir was Ausser-
gewöhnliches ereignet haben; wurde der Irrenanstalt S. zur Begutachtung
überwiesen.
Wurde gut behandelt, brauchte nicht zu hungern und durfte ungestört
meinen Passionen leben; wollte Gott, dass ich auch dasselbe von hiesiger
Anstalt behaupten dürfte.
Nach Verbüssung der vierjährigen Gefängnisstrafe musste ich den
Restbestand der zweijährigen Korrektionsnachhaft von 15 Monaten abdienen
und wurde dann am 2. II. 1895 endgültig auf freien Fuss gesetzt.
Um mich vor Wiederholungen gedachter Eventualitäten zu schützen,
mich durch eigene Kraft zu einem Mitgliede der menschlichen Gesellschaft
za prädestinieren, versuchte ich es mit den Arbeiterkolonien: Rückling,
Hamburg, Magdeburg, Berlin und Tegel; doch hier kam ich erst vom Regen
in die Traufe. War ich als anständig gekleideter Gentleman hingekommen,
ging ich als abgerissener Lump wieder von dannen.
b es mir gelingen wird, mir einen Freund zu erwerben, der sich
meiner in uneigennütziger Weise annimmt, muss ich der Zukunft anheim-
stellen; jedenfalls wäre der Tod einem solchen Leben, wie ich es habe durch-
kosten müssen, vorzuziehen. 0.
Ueber meine poetischen Arbeiten nur soviel, dass ich derartige Be-
strebungen schon als zwölfjähriger Knabe, also anno 1877 oder 1878, in meiner
„Frühlingswonne“ Rechnung getragen; dafür gehöhnt, deshalb das Dichten
netto 10 Jahre eingestellt, bis ich den Bestrebungen poetischer Form-
schmiederei auf die Dauer nicht mehr zu widerstehen vermochte und selbige
Gefühle in nachtolgenden Gedichten: „Wüstensturm, Freundschaft, Nemesis,
Verlorenes Paradies, Heimkehr, Hühnengrab, Leitstern, Morgen- und Abend-
stern, Sehnsucht, Mutterliebe, Meerfahrt, Jungfrau von Patrik“ etc. zum Aus-
druck gebracht.
gez. H. B.,
Verfasser von Mementemori, Phantasmagorie.
(Folgi das Gedicht.)
Abgefasst vom 18. VII. bis 1. VIII. 1905
von
Anmerkung des Verfassers: Die erschreckende Zunahme der
Völlerei mit deren Begleiterscheinungen hat dem Verfasser den Stoff zu
seiner erschütternden Ballade „Mementemori“ in ausgiebiger Weise geliefert,
21°
320 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger
Ob es dem Verfasser, der sich Schiller zum Vorbild genommen, bei
seiner minderwertigen Volksschulbildang gelungen, sich diesem schwierigen
Problem gewachsen zu zeigen, muss er dem Ermessen sachvorständiger
Autoritäten anheimstellen.
Ich werde wohl im Kampf ums Dasein gegen die Engherzigkeit eines
materialistisch angehauchten Zeitgeistes unterliegen müssen, ohne noch
lebend die Früchte meines dichterischen Strebens einheimsen und geniessen
zu können.
Aus den vermögenden und gebildeten Kreisen waren es zwei Männer,
die mein Talent unumwunden anerkannten, nämlich Herr Pastor .... und
Herr Dr... ..!
Dass es mir mit Hülfe wohlmeinender Gönner gelingen möge, mein
nichtsweniger als beneidenswertes Dasein in erträglicher Weise beschliessen
zu dürfen, das walte Gott in Gnaden.
gez. H. B., der Verfasser.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Geheimrat Moeli, spreche
ich für sein liebenswürdiges Interesse an der Arbeit und mancherlei
Hinweise sowie die Ueberlassung des Materials meinen ergebenen
ank aus.
(Aus der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt zu Rybnik OJS.)
Vergleichende Untersuchung einiger Psychosen
mittelst der Biidehenbenennungsmethode.
Von
Dr. WALTER von SCHUCKMANN,
Abtellungsarzt.
Es ist schon öfter und von verschiedenen Seiten darauf hin-
gewiesen worden, dass bei der gebräuchlichen Methode der
Exploration und Untersuchung Geisteskranker den akustischen,
speziell den Wortreizen in Gestalt der explorativen Fragen und der
Assoziationsversuche eine ungebührlich dominierende Stellung ein-
geräumt wird und demgegenüber die übrigen — sit venia verbo —
Eintrittspforten, die uns von seiten der anderen Sinnesgebiete zu
der Psyche des Kranken offen stehen, dementsprechend ver-
nachlässigt werden. Die zweifellose Berechtigung dieses Ein-
wandes veranlasste mich bereits vor etwa drei Jahren, gelegentlich
der Uebernahme der Aufnahmestation der hiesigen Frauen-
abteilung, mir zum Zwecke der klinischen Krankenuntersuchung
ein „Bilderbuch“ zusammenzustellen (ich komme auf dasselbe
weiter unten ausführlicher zu sprechen), um systematisch alle neu-
aufgenommenen Kranken nach einheitlicher, vergleichbare Werte
liefernder Methode in ihrer Reaktionsform auf optische Eindrücke
zu untersuchen. Anderweitige Interessen liessen leider das
„Bilderbuch“ zu früh einer unverdienten Vergessenheit anheim-
Psychosen mittelst der Bildohenbanennungsmethode. 821
fallen. Erst die interessanten Ergebnisse, die Heilbronner!)
mittelst seiner Bildchenbenennungsmethode erzielte, veranlassten
mich, die Frage der Methode und Anwendung optischer Reize
zur klinischen Untersuchung Geisteskranker wieder in Angriff zu
nehmen. Ich will in den folgenden Zeilen zunächst kurz die von
mir angewandte Untersuchungsmethode schildern und dann auf
die damit gewonnenen Resultate eingehen.
A. Untersuchungsmethode.
Die leitenden Gesichtspunkte für die in Rede stehenden
Untersuchungen waren für mich folgende:
1. Lässt die Form der Reaktion der einzelnen Kranken
auf optische Eindrücke die gleichen pathologischen Abweichungen
oder psychotischen Momente erkennen wie die Reaktionsform auf
die üblichen Wortreize?
2. Geht die Reduktion des von der optischen Sinnessphäre
aus erweckbaren Bewusstseinsinhaltes, soweit letzterer aus der
Summe der Inhalte der einzelnen Reaktionen erschlossen werden
kann, bei den einzelnen Kranken ungefähr parallel der Reduktion
des gesamten Bewusstseinsinhaltes, das heisst: ist der Grad der
— sit venia verbo — optischen Verblödung proportional dem
Grade der Allgemeinverblödung?
Was zunächst den zweiten Punkt anlangt, so besitzen wir
ja genau genommen eigentlich kein Verfahren, den Bewusstseins-
inhalt als solchen festzustellen. Was wir ermitteln können, ist
ja lediglich die Entscheidung der Frage: Ist die Anspruchs-
fähigkeit oder Erregbarkeit der einzelnen Vorstellung so gross,
dass sie durch den adäquaten, von der Sinnesperipherie wirkenden
Reiz über die Schwelle des Bewusstseins gehoben wird oder
nicht? Demnach ist also der Umfang des von der optischen
Sphäre aus erregbaren, kürzer gesagt, des optischen Bewusstseins-
inhaltes eine Funktion der Anspruchsfähigkeit seiner einzelnen
Partialvorstellungen, und da letztere, die Anspruchsfähigkeit wieder-
um eine Funktion der Zeit darstellt, insofern uls sie von der
Dauer sowohl, wie der jeweiligen Phase der einzelnen Psychose
abhängig ist, erscheint demnach auch der Umfang des optischen
Bewusstseinsinhaltes als abhängig von der Zeit. Da es mir bei
vorliegender Untersuchung vor allem darauf ankam, möglichst
vergleichbare Werte für verschiedene Krankheitsformen zu ge-
winnen, habe ıch, um diese zeitliche Abhängigkeit und die da-
durch bedingten Schwankungen nuch Möglichkeit auszuschalten,
solche Krankheitsfälle ausgewählt, bei denen die akute Periode
der Psychose bereits abgelaufen war und einem annähernd stabilen
Zustande mit nur geringen Schwankungen in der Intensität der
Krankheitserscheinungen Platz gemacht hatte. Für diese aus-
1) Heilbronner, Zur klinisch-psyebologischen Untersuchungstechnik.
Monatsschr. f. Psych. a. Neur. XVII. p. 115.
322 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger
ewählten Fälle kann man demnach ohne erheblichen Fehler den
mfang des Bewusstseinsinhaltes als eine wenigstens für die
Zeitdauer der Untersuchung konstante Grösse ansehen und
definieren als Summe aller derjenigen optischen Vorstellungen,
deren Anspruchsfähigkeit gross genug ist, um durch den adäquaten
Sinnesreiz über die Bewusstseinsschwelle gehoben zu werden.
Eine lückenlose Inventur des gesamten optischen Bewusstseins-
inhaltes, die theoretisch zur Entscheidung der oben präzisierten
Frage 2 eigentlich erforderlich wäre, ist ja praktisch nun leider
undurchführbar aus Gründen, die nicht nur den Untersucher,
sondern auch den Untersuchten betreffen. Es kann demnach nur
eine Inventur durch Stichproben stattfinden, die möglichst ver-
schiedenen optischen Gebieten entnommen werden müssen. In
diesem Sinne wurden die Gegenstände der benutzten Bilder aus-
gewählt; die bei dieser Art der Untersuchung ermittelten Defekte
des Bewusstseinsinhaltes dürften als sehr annähernd proportional
dem (Gesamtdefekte des optischen Bewusstseinsinhaltes an-
zusehen sein.
Was nun die oben präzisierte Frage 1 anlangt, so ist ohne
weiteres ersichtlich, dass es gerade die akuten Phasen der
Psychosen sein werden, die das reichhaltigere Material an patho-
logischen Abweichungen oder psychotischen Momenten in der
Reaktionsform der einzelnen Kranken auf optische Eindrücke
liefern werden. Da es mir in vorliegender Arbeit aber vor allem
auf eine Entscheidung der Frage 2 ankam, so musste der Wunsch,
optimale Versuchsbedingungen zur Entscheidung der Frage 1 zu
schaffen, zurücktreten. Das die erste Frage betreffende Material,
was ich in dieser Arbeit beibringe, ist demnach nur quasi als
Nebenprodukt zu betrachten, und dürfte die eingehendere Be-
handlung der ersten Frage Gegenstand besonderer Untersuchung
sein. Zur Lösung der Aufgabe, die Anspruchsfähigkeit einer
grösseren Anzahl optischer Vorstellungen durch adäquate optische
Reize festzustellen, kamen a priori drei Möglichkeiten in Frage:
der zur Anwendung zu bringende Reiz konnte sein: entweder
das betreffende Vorstellungsobjekt in natura oder seine flächen-
hafte Abbildung, und zwar in letzterem Falle entweder eine
farbige oder eine einfache, einfarbige Zeichnung. |
Meine ursprüngliche Absicht, durchweg Parallelversuche mit
allen drei Untersuchungsarten anzustellen, um den Einfluss fest-
zustellen, den ein dreidimensionales Objekt auf die Erweckbarkeit
der betreffenden Vorstellung ausübt, gegenüber einer nur zwei-
dimensionalen Zeichnung, scheiterte an der Unmöglichkeit, die
nötige Anzahl von Objekten verschiedenster Art und gleichgrosse,
genau entsprechende Zeichnungen zusammenzubringen. Ich
musste mich also darauf beschränken, unter Verzicht auf die
Feststellung des Einflusses der Dreidimensionalität in mein
Programm lediglich die Frage aufzunehmen: Besteht ein Unter-
schied hinsichtlich der Erweckbarkeit optischer Vorstellungen
zwischen farbigen und nichtfarbigen Abbildungen als Erweckungs-
Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode. . 828
reizen? Zur Entscheidung dieser Frage diente die. unten be;
schriebene „Bilderserie“ sowie das „Album A* und „Album BS,
- Zur Entscheidung der Frage, wie die zunehmend genauere
Detailausführung der Zeichnung auf die Erweckbarkeit der be-
treffenden optischen Vorstellung einwirkt, diente lediglich die
Bilderserie.
Um möglichst eindeutige Reaktionen zu erzielen und den
komplizierenden Einfluss etwaiger erhöhter Ablenkbarkeit der
Kranken auszuschalten, wurde während der sämtlichen Unter-
suchungen streng das Prinzip gewahrt, immer nur ein Objekt auf
einmal dem Blick der Patienten zu exponieren. Aus diesem
Grunde waren die üblichen Bilderbücher für mich unbenutzbar.
Bei den von.mir zusammengestellten Bilderbüchern war durch-
weg stets nur auf der jeweils rechten Seite ein Bild angebracht,
während die linke Seite freiblieb, ebenso war bei den auf Karton-
blättchen gezeichneten Serienbildchen nur die eine Seite des
Kartons benutzt, so dass das Prinzip, stets nur ein Objekt auf
einmal in den Gesichtskreis des Patienten einzuführen, durchweg
gewahrt wurde.
Unter Berücksichtigung der bisher erörterten Gesichtspunkte
setzte sich demnach mein Untersuchungsapparat an Bilder-
zusammenstellungen in folgender Weise zusammen:
L Die Bildchenserie: Aus einem Meggendorfer Bilderbuch
„Für die ganz Kleinen“ wurden nachfolgende neun einfachen
kolorierten Bilder ausgeschnitten: 1. Kirche, 2. Tonne, 3. Eich-
hörnchen, 4. Eule, 5. Taschenubr, 6. Brunnen, 7. Kanone, 8. Fisch,
9. Schildkröte. Jedes Bildchen wurde auf ein weisses Karton-
blatt aufgeklebt und mit je 3 andern Kartonblättern, auf denen
mit Tinte das betreffende Objekt in gleichen Dimensionen, mit
zunehmender Deutlichkeit der Detailausführung nachgezeichnet
war, zu einer Unterserie vereinigt.
Die Unterserie No. 1: Kirche demnach z. B. setzte sich aus
folgenden 4 Blättchen zusammen: I zeigt lediglich die Umrisse
der Kirche, ganz ım groben; innerhalb der Konturen keinerlei
Details; II zeigt ausser den Umrisskonturen noch die perspek-
tivischen Konturen von Vorder- und Seitenwand, Dach und Turm;
III ist ebenso wie I und II nur mit Tinte und ohne Anwendung
von Farben gezeichnet, zeigt aber ausserdem noch Türen, Fenster,
Glocke und Kreuz, und entspricht in seiner Zeichnung nach Grösse
und Form vollkommen dem Blatt IV, welches das aufgeklebte
kolorierte Meggendorfer Bild enthält. In genau derselben Weise
bestanden auch die weiteren 8 Unterserien aus je 4 Kartonblättchen,
von denen enthielt: I die groben Konturen, II Konturen und
Hauptlinien, IJI völlig ausgeführte Detailzeichnung, IV auf-
geklebtes Meggendorfer koloriertes Bild.
II. Album, „schwarz“ und „bunt“. Aus dem gleichen Bilder-
buch wurden nachfolgende 20 Bilder ausgeschnitten: 1. Gänse;
2. Geflügelkäfig; 3. Wollwickelgestell; 4. Hirsch; 5. Elephant;
824 Schuckmann, Vergleichende Untersuchang einiger
6. Esel; 7. Ziegenbock; 8. Koffer und Reisetasche, 9. Tiegel;
10. Schäferwagen; 11. Zigarren; 12. Landarbeitergeräte; 13. Schorn-
steinfegergeräte; 14. Wäschetrockenplatz; 15. Papagei; 16. Schreib-
und Lesezeug; 17. Hund; 18. Pferde am Brunnen; 19. Fluss-
landschaft; 20. Dachszenerie.
In das Album „bunt“ wurden diese 20 kolorierten Bilder
in der angegebenen Reihenfolge eingeklebt, immer je ein Bild auf
eine Seite. In das gleichgrosse Album „schwarz“ wurden diese
20 Bilder mit Tinte nachgezeichnet, in genau gleicher Ausführung,
gleicher Grösse, gleicher Reihenfolge und auch immer nur je ein
Bild auf eine Seite. Beide Albums enthielten also genau die
gleichen Bilder, nur mit dem Unterschiede, dass die Bilder des
Albums „bunt“ koloriert waren, die des Albums „schwarz“ da-
gegen nicht.
IIT. Das (bereits oben erwähnte) Bilderbuch, ein 42 Blatt
starkes Diarium, in das nachstehend aufgeführte, aus verschiedenen
illustrierten Blättern ausgeschnittene unkolorierte Bilder ın der
angefürten Reihenfolge eingeklebt waren, ebenfalls immer nur ein
Bild auf ein Blatt, und von einfacheren und leichteren zu zusammen-
gesetzten und schwierigeren Gegenständen übergehend: 1. Hya-
zinthe; 2. Erdbeeren; 3. Farrenkraut; 4. Kakteen; 5. Staude mit
Fiederblättern; 6. Ranke; 7. Eberesche; 8. Vogel; Y. Igel;
10. Schmetterlinge; 11. Langohr-Kaninchen; 12. Krokodil; 13.
Langflossiger Fisch; 14. Schildkröte, 15. Herrenbrustbild; 16. Ge-
lehrter im Studierzimmer; 17. Knabe mit Violine; 18. Zwerg, auf
einer Stuhllehne sitzend; 19. Schauspielerin; 20. Indische Fürstin;
21. Nacktes Mädchen am Brunnen; 22. Nacktes Weib von hinten;
23. Marmorgruppe (Mann und Weib); 24. Nackte Jünglinge im
Walde; 25. Pistolenszene (2 Herren im Walde); 26. Betrunkener
auf der Strasse; 27. Betrunkener zu Hause; 28. Dame und Herr
ım Zimmer; 29. Volksszene; 30. Kronprinz mit zwei erlegten
Hirschen; 31. Bläserchor im Walde; 32. Ein Herr am Niagara-
fall; 33. Dame und Schafherde; 34. Südliche Landschaft; 35. Villa
im Park; 36. Zahnradbahn; 37. Lenkbares Luftschiff; 38. Motor-
fahrer, von schräg oben gesehen; 89. Artist mit Zirkushund;
40. Sprechzimmer in der Kinderklinik; 41. Vielarmiger Leuchter;
42. Landkarte.
Es enthielten demnach an einzelnen Bildern:
I. die Bildchenserie: 9 Unterserien à 4 Bilder == 36 Bilder,
Il. die Albums: 2 Albums & 20 Bilder == 40 Bilder,
III. das Bilderbuch 43 Bilder.
Der Untersuchungsgang gestaltete sich nun im Einzelfalle
folgendermassen: Jede dieser drei Bilderkombinationen wurde
jedem Patienten dreimal vorgelegt, und zwarwurde dem betreffenden
Patienten das eine Mal das rechte, das andere Mal das linke Auge,
ein drittes Mal keines der beiden Augen verbunden. (Auf die
Gesichtspunkte, die mich zur getrennten Prüfung der einzelnen
Augen veranlassten, und auf die damit gewonnenen Ergebnisse
-Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode,. 325
komme ich erst zum Schluss der Arbeit zurück. Vorläufig be-
trachte ich alle drei, mit dem rechten, dem linken und beiden
Augen gewonnenen Ergebnisse als gleichwertig und berücksichtige
sie gleichmässig bei der Analyse behufs Beantwortung der beiden
eingangs aufgeworfenen Fragen i und 2.)
Um hinsichtlich eines etwaigen Einflusses der Ermüdung
sowohl wie der Uebung möglichst gleichartige Verbältnisse zu
schaffen, wurde dem einzelnen Patienten an rinem Tage immer
»ur eine Kombination vorgelegt; da jede Kombination je dreimal
vorgelegt wurde, entfielen auf jeden Patienten 9 Untersuchungs-
tage; die Zahl der am einzelnen Tage vorgelegten Bilder schwankte,
wie ersichtlich, zwischen 36 und 42 Bildern. Die Gesamtzahl
der von jedem einzelnen Patienten erforderten Einzelreaktionen
betrug 3 (36 +40 -+ 42) — 854 Reaktionen. Die Bilder wurden
vorgezeigt mit der Frage: „Was ist das?* Die Stellung der Frage
war meist nur im Anfang der Untersuchung nötig. Im Verlaufe
der Untersuchung löste die einfache Tatsache der Vorlage eines
neuen Bildes resp. der Umwendung einer Seite bereits die erforderte
Reaktion auch ohne jedesmalige erneute Fragestellung aus.
Suggestivfragen irgendwelcher Art wurden vollkommen ver-
mieden. Sonstige Zwischenfragen wurden nur selten gestellt und
stets mit protokolliert, ebenso natürlich möglichst wortgetreu die
betreffenden sprachlichen Reaktionen der Patienten. Zwischen
den einzelnen Untersuchungen wurden den Patienten weder die
betreffenden Bilder gezeigt, noch mit ihnen darüber gesprochen.
Auf die gleichzeitige Feststellung der Reaktionszeiten musste
ich mangels geeigneter Apparate verzichten.
Es wurden nur solche Patienten zu den Versuchen ausgewählt.
deren Refraktionsanomalien sich in mässigen Grenzen (bis zu
8 Dioptrien) hielten und die nach Korrektion der Refraktion auf
jedem einzelnen Auge volle oder fast volle (j) Sehschärfe be-
sassen. Die vorhandenen Refraktionsanomalien wurden während
der Untersuchungen durch die entsprechenden Brillen korrigiert.
Da ich hiermit die von mir angewandte Untersuchungsmethode
ausführlich genug besprochen zu haben glaube, wende ich mich
nunmehr zur Erörterung der damit gewonnenen
B. Untersuchungsergebnisse.
Da einerseits der angewandte Untersuchunrsgang ziemlich
umständlich und zeitraubend war, andererseits nur eine sehr geringe
Anzahl von Patienten sämtlichen oben näher präzisierten Be-
dingungen völlig entsprachen, verfüge ich bisher nur über 5 Fälle,
die vollkommen einheitlich nach der oben geschilderten Methode
untersucht worden sind. Im gebe im folgenden zunächst zur all-
gemeinen Orientierung einen möglichst kurzen Abriss aus den
betreftenden
Krankengeschichten:
Fall I. Auguste L., geboren 1829, erkrankte im Jahre 1902, in hiesige
Anstalt aufgenommen am 24. II. 1906. Hatte zu Hause ibre Wirtschaft ver-
326 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger
uachlässigt, hielt sich sehr ansaaber, lief herum, fand nicht nach Hanse
zurück, brachte häufig fremde, ihr nicht gehörige Sachen mit nach Hause,
die sie fortnahm, wo sie sie gerade fand, suchte angeblich verlorene Gegen-
stände im ganzen Hause mit brennendem Holzspan und zündete dabei beinahe
das Bett an. Während ihres gesamten Anstaltsaufenthaltes, vom 24. II. bis
zu ihrem infolge interkurrenten fieberhaften Darmkatarrhs am 6. V. erfolgten
Tode, völlig stabiler Zustand: Presbyophrenie in Form des chronischen
Stadinms der polyneuritischen Korsakoffschen Psychose, allopsychische
Desorientiertheit bei fehlender Ratlosigkeit, Konfabulation; sowohl Des-
orientiertheit wie Konfabulation im Sinne ihrer früheren Lebensgewohnheiten:
glaubt, ihrem Sohne die Wirtschaft zu führen, habe ihm heute früh den
Kaffee gekocht, dann habe er sich sein Frühstück eingesteckt und sei in die
Arbeit gegangen u.s.w. Kompletter Verlust der Merkfähigkeit bei erhaltener
Aufmerksamkeit und retroaktive Amnesie für einige Jahre (mangels geeigneter
Daten aus dem Vorleben nicht genauer festzustel en). Leichte polyneuritische
Symptome: Gang und Haltung wacklig und unsicher, reissende Schmerzen
in den Gliedern, passagere Incontinentia alvi et urinae |
Refraktion: Mit +3D. wird Snellen 0,5 beiderseits in ca. !5 m Ent-
fernung gelesen.
Fall II. Marie K., geboren 1885, in hiesige Anstalt aufgenommen
6. II. 1906, erkrankte im Dezember 1905, klagte über Länten und Singen in
den Ohren und Stimmenbören, bald Ruhelosigkeit und Verfolgungsideen.
Hörte zu Hause fortwährend Stimmen von armen Seelen, überall, im Zimmer.
im Bett, auf dem Hausboden sässen arme Seelen; wandert nachts mit dem
Licht im ganzen Hause umher, um die armen Seelen zu suchen und sie im
Korbe auf den Kirchhof za tragen. Sah zeitweise Männer, die sie erschiessen
wollen. Sie soll erschlagen, zerhackt werden. Während ihres hiesigen Auf-
entbaltes ganz stabiler Zustand: leicht ängstlich-depressiver Affekt, örtlich
und zeitlich nicht völlig orientiert, erhebliche Schlaflosigkeit, anscheinend
zahlreiche Phoneme, zum Teil auch desorientierende, bedrohenden, be-
schimpfenden und ängstlichen Inhaltes. Hört auch ihre Töchter draussen
sprechen, verlangt zu ihnen geführt zu werden, die Tochter wäre krank.
otorisches Verhalten geordnet, hochgradige Schwerhörigkeit.
‚ Refraktion: Mit +8D. wird Snellen 0,5 beiderseits in ca. !/ m Ent-
fernang gelesen.
Die Klassifikation des Falles dürfte einige Schwierigkeiten
machen; im Kräpelinschen Sinne ist er wohl noch als Alters-
melancholie anzusprechen, wenn auch bereits mit deutlichem Stich
ins Paranoische. Im Wernickeschen Sinne zweifellos keine
Melancholie, am ehesten wohl noch als akute Halluzinose zu be-
zeichnen.
Fall III. Agnes K., geboren 1856, aufgenommen 25. IV. 1906, ca.
4 Wochen vorher erkrankt, heiter erregt; obwohl ledige Mutter, glaubt sie
sich glücklich verheiratet; ihr Mann, ein Obersteiger, habe sich bei den
Rettungsarbeiten beim Grubenunglück von Courriöres ausgezeichnet, Kaiser,
Kronprinz und Prinzessin holen ihren Mann per Dampfer aus Frankreich ab.
Sie sei gnädige Frau geworden, habe eine Villa mit allem Komfort, Dieneriunen,
Weinkeller u.s.w. in Gleiwitz bekommen, läuft zu Hause fort, fährt nach
Gleiwitz in ihre Villa. Seit ihrer Aufnahme stabiler Zustand: kritiklose
Grössenideen, will bald entlassen werden, eine Badereise nach Wiesbaden
machen, mit 1000 Mark würde sie wohl dabei auskommen Stimmung meist
ruhig-heiter, selten weinerlich. Fortgeschrittene Tabes, Pupillenstarre, leicht
paralytische Sprachstörung, Fehlen sämtlicher Sehnenreflexe, totale Analgesie -
des ganzen Körpers. Romberg positiv, beträchtliche Koordinationsstörung.
Gang stapfend, unsicher. Tabo-Puralyse.
Refruktion: Mit +2 D. wird Snellen 0,6 beiderseits in ca. !/s; m Ent-
fernung gelesen (S. = 0,5/0,6).
Fall IV. Ulrike H., geboren 1854, seit 1889 in Anstaltshehandlung,
seit 1895 in hiesiger Anstalt. Stabiler Zustand: Macht einen hochgradig
Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode. 827
blödsinnigen Eindruck; stets heiter, grinsend, motorisch ungeordnet, stets
leicht motorisch erregt, vielfach unsauber, zu keiner Beschäftigung fähig.
Spricht vielfach vor sich hin, Halluzinationen sind nicht sicher zu ermitteln.
Fixe Wahnidee, sie wäre die Braut des Fürsten Friedrich von Pless. Dementia
paranoides mit hebephrenen Zügen.
Refraktion: Rechts mit +3 D.: S. = 0,5/0,5; linksjmit +4 D.: S. = 0,5/0,6.
Fall V. Johanna M., geboren 1833, erkrankte ca. 1896 an klonischen,
beiderseits stets gleichzeitig und symmetrisch stossweise auftretenden
Zuckungen, durch welche beide Schulterblätter gehoben, etwas nach vorn
geschoben und beide Arme mit rechtwinklig-dektiertem Ellenbogengelenk
und gestrecktem Handgelenk bis zur Horizontalen emporgeworfen wurden.
Diese Zuckungen bestehen in wechselnder Intensität und Häufigkeit bis jetzt
fort. Am 12. IV. 1904 in eine Pflege-Anstalt infolge ihrer Hülfsbedürftiykeit
überführt, am 23. I. 1906 in hiesige Anstalt überführt, weil sie unter den
Mitkranken der ruhigen Abteilung dort beständig Unzufriedenheit und Miss-
stimmung gegen Aerzte und Personal hervorrief und duroh ihr Betragen
lästig und für die innere Ordnung störend war. Bietet keine akuten,
pre otischen Momente dar, ist orientiert, aber sehr empfindlich, leicht zu
einen und Jammern geneigt, auch nörglich und reizbar. Schleichend ver-
laufender seniler Schwachsinn.
Refraktion: Mit -+ 3 D. beiderseits S. = 0,5/0,6.
Was zunächst die sprachliche Form resp. den grammatischen
Satzbau anlangt, in welchem die Patienten auf die Vorlage der
Bilder reagierten, so war derselbe für jeden einzelnen ein sehr
charakteristischer, von dem der übrigen durchaus verschiedener
und für die ganze Untersuchungsperiode konstanter. Am nächsten
der Reaktionsform, die wir unter derartigen Umständen vom
'Geistesgesunden erwarten, kam die Paralytika: auf die einfacheren
Bilder reagierte sie lediglich mit der Nennung der betreffenden
Bezeichnung unter Anwendung des unbestimmten Artikels (eine
Kirche, eine Tonne u. s. w.), bei komplizierteren zählte sie präzise
die einzelnen dargestellten Gegenstände kurz auf (z.B. bei Album
No. 16: Tintenfass, Sandnapf, Messer, A-b-c-Buch), bei Bildern,
die einfache Situationen darstellten, bediente sie sich auch eines
einfachen Aussagesatzes (z. B. Bilderbuch 17: „Ein Junge spielt
Violine“; Bilderbuch 21: „Ein Fräulein steigt ins Wasser“). Nur
selten fügte sie ihrer Aussage ein kurzes, fragendes „Nicht wahr?“
bei; auf Bilder, die sie nicht erkannte (z. B. Konturenbild des
Brunnens) reagierte sie mit einem: „Ich weiss nicht, was das
bedeutet“.
In formaler Hinsicht ähnlich günstige Resultate produzierte
die Melancholika; sie antwortete fast stets in ganzen Sätzen. Bei
den einfacheren Bildern in Form: des einfachen Aussagesatzes
(z.B.: „Das ist eine Ziege“, „Das ist eine Tasche“), seltener
unter Beifügung eines näher beschreibenden Relativsatzes (z. B.:
„Das ist eine Frau, die nicht angezogen ist“, „Das sind 2 Herren,
die schiessen“). Oefters fügte sie auch noch bei: „Das habe ich
schon gesehen“ oder „Das habe ich noch nicht gesehen“ oder
„Das haben Sie mir schon gezeigt“. Kleinere grammatikalische
Unstimmigkeiten, die hier und da in ihren Aussagen vorkamen,
‚dürften auf das Konto ihrer polnischen Muttersprache zu setzen
sein. Einige Male bezeichnete sie auch Bilder, deren deutsche
Namen ihr nicht sofort einfielen, mit polnischen Ausdrücken.
328 Sohuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger
Im Gegensatz zu diesen beiden Patientinnen, die durchaus
präzise, kurz, sachlich und objektiv in ihrer Reaktionsform waren,
trat bei den Antworten der Johanna M. (seniler Schwachsinn)
einerseits eine gewisse Umständlichkeit und Weitschweifigkeit,
andererseits eine gewisse Subjektivität, resp. Tendenz hervor, die
Gegenstände in Bexiehung zur eigenen Persönlichkeit zu setzen,
oder lust- oder unlustbetonte Urteile über dieselben zu fällen.
Als Beispiele für Weitschweifigkeit führe ich Aeusserungen an,
wie: „Ach du lieber Gott! Das soll ich raten“, „Ja, wenn ich
das wüsste; das hab’ ich in meinem Leben noch nicht gesehn“,
„Das getrau’ ich mich nicht zu sagen! Das treff’ ich nicht“. Der
egozentrische Standpunkt, den sie vielfach den dargestellten Ob-
jekten gegenüber einnimmt, erhellt u.a. aus folgenden Aeusserungen:
(Schildkröte 4): „Ach, mein Gott, vor so was wär mir ordentlich
Angst“; (Geflügelkäfig): „Die hab’ ich selber gezogen“; (Hund):
„Ach, wenn der lebendig ist, der nımmt mich und verzehrt mich“;
(Gänse): „Ach, jetzt freu’ ich mich“; (F isch 4): „Ich war auf einem
Dominium, da haben wir einen Karpfen zum heiligen Abend ge-
kriegt“; (Gänse): „Das sind Enten, Schwäne, die waren in
Sibyllenort“. Als Beispiele affektbetonter Urteile führe ich an:
Fisch 4): „Der ist famos schön“; (Vogel): „Ein allerliebster
ogel, sitzt so schön auf einem Mohnhäuptel“; (Indische Fürstin):
„Eine schöne, eine feine Dame, hat einen schönen Hut nach der
neuesten Mode“; (Hund): „Ein abscheuliches Tier“.
In ähnlicher Weise, d.h. als in Beziehungsetzen der Objekte
zur eigenen Persönlichkeit, ist es wohl auch zu betrachten, wenn
sie mehrfach den Objekten den bestimmten Artikel vorsetzt,
z. B. (Kirche 4): „Ach, das ist ja die Kirche“ scilicet: die mir
bekannte Kirche, ferner: der Wolf, der Igel, der Ziegenbock, die
erzen.
Selbst eine gewisse epische Breite und Anschaulichkeit, sogar
mit einem Stich ins Humoristische, trat in einigen Reaktionen zu
Tage, wie: „Ach je, hier kommt der Ziegenbock-mecek-meck!“
„Ach, das ist wohl der Igel, der hat sich aufgemacht“. „Ja, die
sitzen auf dem Kahn, da zieht der Dampf, der Rauck“.
Eine ähnliche Umständlichkeit und Weitschweifigkeit, wie
oben beschrieben, zeigten die Reaktionen der Auguste L. (Korsa-
koff), besonders sobald die richtige Reaktion ausblieb (z.B. „Nun,
was soll ich hier sagen, — Das kann ich ja nicht wissen, was
das sein kann, — Ja, Gott weiss, mein Lieber, wie kann ich das
sehen, das ist ja keine Möglichkeit, — Mit solchen Sachen hab’
ich mich doch noch nicht abgegeben, — Das habe ich ja noch
nie gesehen“). Sehr häufig, sowohl bei richtigen, wie bei falschen
Angaben wurde das Urteil nicht als einfache Aussage, sondern in
bedingender oder möglicher Form gegeben; z. B.: „Das sieht so
aus, als wenn es Wasser wäre“, „Das wird wohl ein Fässel sein“,
„Das ist wie eine Mühle“, „Das scheint mir ein Geistlicher zu
sein“ u.a. Hier und da wurde auch eine Aussage beschlossen
Psychosen mittelst der Bildohenbenennungsmethode. 329
mit der Floskel: „Weiter ist es nichts“. Im Gegensatz zu dem
Wort- und Satzreichtum dieser Aussagen, die die Protokolle auf
erheblichen Umfang anschwellen liessen, steht der auffallende
Mangel an Substantiven, resp. konkreten Bezeichnungen. So
wurden alle möglichen, auch sehr charakteristisch aussehenden
Tiere, besonders Säugetiere, lediglich mit der farblosen Allgemein-
bezeichnung „Tier“ abgefertigt, oder aber durch perseveratorischen
Fortgebrauch kurz vorher angewandter Spezialnamen falsch be-
zeichnet, oder es wurden Verlegenheitsbezeichnungen gewählt, wie:
„Das ist doch ganz anders“, „Das ist alles sowas“, Nein, mein
Gott, lauter solche —* „Lauter solche Geschichten“, „So ein
randes Ding“, „Verschiedenes Zeug“. Vereinzelt traten sogar
direkt paraphasische Bildungen zu Tage, so z. B. wenn Farren-
krautblätter als: „Lauter solche Fackeln“ und ein Gelehrter mit
dickem, langem Kopfhaar als „bewachsen“ bezeichnet wurden.
Diese sich im Fehlen der Substantiva dokumentierenden
aphasischen Initialerscheinungen sind ja schon mehrfach bei seniler
Demenz sowohl wie bei Korsakoff beschrieben worden. Im
Laufe der gewöhnlichen Unterhaltung und Exploration waren bei
dieser Patientin aphasische Symptome niemals zu Tage getreten.
Erst die gesteigerten Ansprüche, die die Bildchenbenennung an
den Substantivvorrat der Patientin stellte, förderten diesen Defekt
zu Tage. Die bei der vorigen Patientin vorhanden gewesene
Tendenz, die Gegenstände in Beziehung zur eignen Persönlichkeit
zu setzen oder affektbetonte Urteile abzugeben, fehlte in diesem
Falle von Korsakoff vollständig.
Sehr viel komplizierter als bei den bisher besprochenen
Fällen gestalteten sich die sprachlichen Reaktionen bei der
hebephrenen Ulrike H., und zwar aus folgenden Ursachen: Auf-
merksamkeit, Fixierbarkeit und Willigkeit war bei den bisherigen
vier Fällen während der ganzen Untersuchungsdauer stets in
weitestem Umfang vorhanden; z. T. waren die Patienten sogar
mit Lust und Liebe bei der Sache und entwickelten grossen Eifer
dabei, besondere Anspornung der Aufmerksamkeit war nie nötig;
vielfach erübrigte sich sogar, wie schon oben erwähnt, die ein-
leitende Frage von seiten des Untersuchers: „Was ist das?“, da
die Patienten bereits auf die Vorlage eines neuen Bildes ohne
weiteres sprachlich reagierten. Wesentlich anders gestalteten sich
diese Verhältnisse bei dem letzten Fall: die Aufmerksamkeit war
hier eine sehr wechselnde. Zeitweise reagierte Patientin ebenso
rompt wie die vorigen Fälle, zeitweise aber bedurfte es mehr-
facher, selbst mit erhobener Stimme gestellter Aufforderungen,
ehe eine Reaktion erfolgte. Mitunter erwies sich Patientin über-
haupt auf Minuten als völlig unfixierbar, wobei sie entweder
stumpf vor sich hinblickte oder aber einen Redefluss entwickelte,
der zu den vorgelegten Bildern nicht in der geringsten Beziehung
stand. Während nämlich bei den bisherigen Patienten alle sprach-
lichen Aeusserungen, die während der gesamten Untersuchungs-
zeit zu Tage traten, direkte Reaktionen auf die Vorlage der
330 Schuckmaun, Vergleichende Untersuchung einiger
Bilder darstellten und durch diese, in teils naher, teils weniger
naher psychologischer Verknüpfung ursächlich bedingt waren,
schoben sich in die sprachlichen Expektorationen der letzten
Patientin Elemente ein, bei denen irgend welche Abhängigkeit
von dem Reiz der Bildervorlage als auslösendem Moment durch-
aus nicht nachweisbar war. Der gedankliche Inhalt dieser — wie
ich sie vorläufig nennen will — spontanen Aeusserungen stand
entweder in Beziehung zu ihren Familienverhältnissen oder zu
ihrer stabilen Wahnidee, Braut des Fürsten von Pless zu sein.
Als Beispiele derartiger spontaner Aeusserungen, die völlig un-
vermittelt auftraten, teils überhaupt die Stelle einer Reaktion
vertraten, teils sich direkt und oft mitten ın die Worte einer
Reaktion hineinschoben, führe ich folgende Protokolistellen an:
(Farrenkraut): „Ich heirat’ nicht — Piesser Fürst — ein Baum
ist das“; (Gelehrter im Studierzimmer): „Ich heirat’ nicht — Ge-
liebter — unser Prinz — es ist Fürst Pless“; (Revolverszene):
„Friedrich Plesser Fürst — ich kenn’ die nicht — der Vater hat
Recht — ich weiss nicht“; (Kinderklinik): „Das ist der Papa —
ich bin die Tochter von Markus H.“; (Zirkushund): „Erziehung
hab’ ich zu Huus gehabt mit Strenge“; (Schildkröte 4): „Es ist
ein Fisch — er hat mich überfallen“; (Wäschetrockenplatz):
„Das ist — wie geh’ ich richtig — Papa — das ist ein Garten-
geräte‘“.
Ob diese spontanen Aeusserungen Reaktionen auf irgend-
welche Halluzinationen resp. Phoneme darstellten oder primär
motorischer Reizung ihren Vorsprung verdankten, beziehungsweise
nur sozusagen einen Abfluss hochwertiger, die Patientin auch
sonst dauernd beherrschender Vorstellungskomplexe in die in
ihrer Anspruchsfähigkeit durch die Vornahme der Untersuchung
ohnehin gesteigerten motorischen Sprachfelder darstellten, darüber
war es mir bei dem reduzierten Intelligenzzustande der Patientin
nicht möglich, ins Klare zu kommen.
Die Häufigkeit, mit der diese spontanen Aeusserungen sich
ın die Expektorationen der Patientin einschoben, war an den
einzelnen Untersuchungstagen eine sehr verschiedene. Bei ge-
steigerter Häufigkeit wurde die Aufmerksamkeit und Fixierbarkeit
der Pat., wie schon oben bemerkt, sehr ungünstig beeinflusst. In
vereinzelten Fällen gelang es trotz der energischten Aufforderungen
nicht, von der Pat. eine zum vorgelegten Bilde in Beziehung
stehende sprachliche Reaktion zu erzielen. Wenn wir von diesen
spontanen Aeusserungen absehen, so erfolgten die Reaktionen der
Pat. im übrigen in ziemlich geordneter grammatischer Form,
entweder in Form der einfachen Benennung mit unbestimmtem
Artikel oder in Form des einfachen Satzes: „Das ist ein u. s. w.“.
Bei nicht erkannten Bildern reagierte sie mit einem: „Das weiss
ich nicht“ oder „Ich kenn’s nicht“ oder mit der stereotypen,
häufiger wiederkehrenden Wendung: „Ich hab keine Idee“.
Neben den oben erwähnten spontanen Aeusserungen der
Pat., die in keinerlei Beziehung zum angewandten optischen Reize
Psychosen mittelst der Bildcheubenennungsmethode. 331
standen, finden sich in den Protokollen noch Aeusserungen, die
formal zweifellos als Reaktionen auf den Reiz des vorgelegten
Bildes zu bewerten sind, die aber inhaltlich zum dargestellten
Gegenstande in keinerlei Beziehung zu stehen scheinen. Unter
Beiseitelassung derartiger Fehlreaktionen, soweit sie auf perseve-
ratorischer Basis beruhen, führe ich folgende Beispiele derartiger
Fehlreaktionen an: (Kirche 1:) Das ist ein Globus, das ist eine
Kirche; (Eichkatze:) Das ist ein Reh, (Nein, das ist kein Reh!),
Das ist ein Reh; (Elephant:) Das ist ein Tiger; (Ziegenbock:)
Ein Uhu; (Elephant:) Eine Antilope, ein Antilop; (Erdbeeren:)
Das kenn’ ich auch nicht, Kokusnuss, Kokusnuss; (Igel:) Mops —
Mops; (Eichkatze:) Das ist ein Pferd; (Ziegenbock:) Ein Löwe;
(Katze auf dem Dach:) Das ist ein Pferdel.
Zunächst ıst es auffallend, dass es sich bei diesen zehn
charakteristischen Feblreaktionen, die ich aus den Protokollen
herausgesucht habe, 8mal um Bilder von Tieren, und zwar von
Säugetieren, handelt. Einen pluusiblen Grund fär diese Prädilektion
vermag ich nicht anzufübren. Was diese Fehlreaktionen als
solche anlangt, so liegt es ja ausserordentlich nahe, dieselben als
negativistisch aufzufassen resp. unter den Begriff des Vorbei-
redens zu subsumieren, ohne dass damit natürlich für die Deutung
des Symptoms etwas Wesentliches gewonnen wäre. Dass eine Ver-
kennung der betreffenden Bilder vorläge, ist völlig ausgeschlossen,
um so mehr, als dieselben einerseits ein anderesmal richtig benannt
wurden, andrerseits es sich gerade um die leichtesten und
charakteristischten Bilder handelt. Wenn eine Kirche als Globus,
ein Ziegenbock als Uhu und ein Elephant als Antilope bezeichnet
wird, so kann ja an der negativistischen Tendenz, eine der normalen
und erforderten Bezeichnung möglichst gegensätzliche zu pro-
duzieren, kaum gezweifelt werden, besonders wenn Pat., auch
nachdem sie auf die Unrichtigkeit ihrer Angabe aufmerksam
gemacht wurde, eine Eichkatze zum zweiten Male als Reh be-
zeichnet. Auffallend und interessant für die Auffassung der
negativistischen Tendenz im allgemeinen scheint es mir zu sein,
dass diese Tendenz doch nicht imstande ist, den durch die Bilder-
vorlage angeregten Vorstellungsablauf von vornherein in falsche
Bahnen zu lenken, etwa so, dass der Elephant meinethalben als
Leuchter oder dergleichen bezeichnet würde, sondern dass der
Vorstellungsablauf zunächst die richtige Direktion — mit der 2iel-
vorstellung: Säugetier — einschlägt und erst sozusagen im letzten
Moment in die falsche Gasse gerät.
In einer weiteren, oben nicht aufgeführten Reaktion (Pat.
sagte zum Bilde eines Schmetterlings: „Das ist ein Schmett
— ein Tier“) war der Vorstellungsablauf sogar schon bis zum
Aussprechen der richtigen Spezialbezeichnung gelangt, ehe er so-
zusagen von der negativistischen Tendenz eingeholt wurde. Letztere
unterdrückte dann nur noch die zweite Hälfte des bereits richtig
intonierten Wortes und schraubte den Vorstellungsverlauf um
eine Etappe zurück bis zu der nächst höheren Allgemeinbezeichnung
382 Schuckmaan, Vergleichende Untersuchung einiger
„Tier“, ohne noch Kraft genug zu besitzen, ihn von dort aus wieder
vorwärts in eine falsche Gasse zu dirigieren, so dass in diesem
Falle aus der negativistischen Tendenz die Produktion nicht einer
direkt falschen, sondern nur einer farblosen allgemeinen Be-
zeichnung resultierte.. Auffallenderweise erfolgte nach Vorlage
des nächsten Bildes (Langohrkaninchen) folgende Reaktion: „Das
ist ein Tier — das war ein Schmetterling — das ist ein
grosses Tier“. Hier kam also die anfangs richtig eingeleitete,
dann durch die negativistische Tendenz wieder unterdrückte richtige
Reaktion schliesslich, und zwar erst bei Vorlage des nächsten
Bildes, doch noch zum Durchbruch. Man gewinnt dabei den
Eindruck, als ob durch den wirkenden Reiz als solchem dem
Vorstellungsablauf der richtige Weg direkt gesperrt worden wäre
und erst mit Entfernung des Reizes, d. h. in diesem Falle des Bildes,
die Passage wieder frei gemacht worden wäre — ein sehr instruktives
Beispiel für den Funktionsmechanismus des Negativismus,
Auch dieses Symptom, negativistische Tendenzen, war mir
früher an dieser Pat. nie aufgefallen und wurde erst durch die
Bildchenbenennungen zutage gefördert.
Der Vollständigkeit halber seien zum Schluss noch einige
grammatische Maniriertheiten und monströse Wortbildungen aus
den Reaktionen dieser Patientin registriert: So bezeichnete sie
den Wollwickelständer wiederholt und an verschiedenen Tagen
als „Hydraulität“, Kirche 1 ale „Turmform’”, Eichkatze 2 als „ein
Tierchen mit Schellchen“, eine Schiebkarre als „Kleemaschine“, die
Katze auf einem Dach wiederholt als „Läufer“. Mehrfach wurde
der Artikel ausgelassen: „Das ist Schlange“, „Das ist Muschel“,
„Das ist Pferdel“, „Das sind Gans“ (sic!),
Schliesslich möchte ich noch eines pathologischen Momentes
Erwähnung tun, auf das auch Heilbronner (l. c.) bereits hin-
gewissen hat und das unter den von mir untersuchten fünf
ranken ausschliesslich bei der zuletzt besprochenen Hebephrenen
Ulrike H. konstatiert werden konnte: der Tendenz, vorgelegten
Bildern eine ganz besondere, durch das Objekt als solches nicht
begründete Spezielbedeutung beizulegen, oder die Bilder, wie
Heilbronner es nennt, zu individualisieren. Ich führe dafür
aus den Protokollen nachstehende Beispiele an: (Bilderbuch 15,
Herrenporträt:) „Ein Cohn ist das“; (Bilderbuch 16, Gelehrter:)
„Ich kenn das Bild nicht — das ist Humbold“; (Bilderbuch 17,
Knabe mit Violine:) „Das ist Blumenreich aus Berlin — das
ist ein Sohn des Fürsten“; (Bilderbuch 31, Bläserchor im Walde:)
„Das sind drei, vier — Scholz ist das“; (Bilderbuch 15, Herren-
orträt:) „Cohn — kenn’ ich nicht“; (Bilderbuch 28, Dame und
Herr:) „Kaiser und ein Dienstmädel“; (Bilderbuch 40, Kinder-
klinik:) „Das ist der Papa, ich bin die Tochter von Markus H.. .“;
(Album 19, Flusslandschaft:) „Das ist ein Schiff, preussisches
Dampfschiff“; (Bilderbuch 15, Herrenporträt:) „Herr Cohn aus
Berlin“; (Bilderbuch 16, Gelehrter:) „Herr Pracht aus — nicht,
nicht — ein Herr Pracht, ich heirat keinen Pracht das ist Herr
Psychosen mittelat der Bildohenbegennungsmethode. 833
‚Doktor von Schuckmann“; (Bilderbuch 20, Indische Fürstin:) ‚Das
ist Friedrich Pless — Pracht — eine Negerin“; (Bilderbuch 25,
Pistolenszene:) „Das sind — Verwandte nicht verunglimpfen —
Cohns sind das“; (Bilderbuch 28, Dame und Herr:) „Ein Cohn
st es“; (Bilderbuch 25, Villa im Park:) Konditor — eine
Konditorei“.
Bei diesen Individualisierungen handelt es sich, mit Aus-
nahme des „preussischen Dampfschiffes“‘, das sehr an das von
‚Heilbronner angeführte „russische Geschütz“ eines Hebephrenen
-erinnert,und mit Ausnahme der Konditorei, durchweg um Individuali-
sierung von Personenabbildungen, im Gegensatz zu den oben be-
sprochenen negativistischen Fehlreaktionen derselben Patientin,
die sich gerade mit Vorliebe an Tierbilder anknüpften.
Die Deutung dieser Individualisierungen als wirkliche Ver-
&ennungen im Sinne vorhandener Aehnlichkeiten erscheint mir
aus dem Grunde nicht acceptabel, weil derartige Aehnlichkeiten
tatsächlich nicht vorhanden waren. Weder hatte das mit Konstanz
in allen drei Fällen als „Herr Cohn“ bezeichnete Herrenporträt,
No. 15, irgend welche Züge aufzuweisen, die für diesen Namen
charakteristisch sind, noch die indische Fürstin irgend welche
-Aehnlichkeit mit dem Fürsten von Pless, noch das Bild des
Gelehrten, No. 16, irgend welche Anklänge an das Aeussere
meiner Wenigkeit.
Der Umstand, dass diese Individualisierungen von Personen-
‘bildern in der Hauptsache — ebenso wie oben die „spontanen
Aeusserungen“ — inhaltlich in Beziehung standen entweder zu
den Familienverhältnissen oder früherem Bekanntenkreise der
Patientin oder in ıhren Wahnideen, scheint mir eine ähnliche
Deutung, wie die dort gegebene, nahezulegen: diese beiden
‚Vorstellungskomplexe (Familie und Wahnsystem), resp. deren
einzelne Komponenten sind bei der Pat. so hochwertig bezw. so
leicht ansprechbar, dass der normaliter durch. Vorlage derartiger
.Personenbilder angeregte Vorstellungsablauf, der beim Gesunden
etwa bis zu dem Allgemeinbegrift „Herr“ oder dergleichen ge-
langen würde, bei der Pat. nicht bei diesem Allgemeinbegriff
stehen bleibt, sondern in die bei ihr eine grössere Ansprechbarkeit
aufweisenden Partialvorstellungen des Herrn Cohn, Pracht, Blumen-
reich oder Pless überfliesst.
Auf eine Besprechung des Symptoms der Perseveration,
das bei drei Patienten völlig fehlte, aber in den Fällen von
Korsakoff und Hebephrenie in grosser Häufigkeit und zum
Teil in sehr interessanter Form auftrat, glaube ich an dieser
Stelle aus Raumrücksichten verzichten zu müssen.
Ich glaube, im vorstehenden die formale Seite der Reaktionen
und die hierin bei den einzelnen Patienten zutage getretenen
psychotischen Momente ausführlich genug besprochen zu haben
und wende mich jetzt zur Betrachtung des eigentlichen Inhalts
der. Reaktionen.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd XXI. Heft 4. 2.)
334 Schuckmann, Verglciehende Untersuchung einiger
Wie aus den einleitenden Worten erinnerlich sein dürfte,
kommen für mich dabei zwei Hauptgesichtspunkte in Frage,
nämlich:
Inwieweit ist der gedankliche resp. Vorstellungsinhalt einer
durch Vorlegung von Bildern bei einer Geisteskranken pruvozierten
sprachlichen Reaktion abhängig:
1. von der Art des Reizes?
2. von der Art der Geisteskrankheit?
Die Entscheidung der ersten Frage wird nach bekanntem
Muster in der Weise herbeigeführt, dass man bei Konstanz der
benutzten Psychose die Art des Reizes variiert, die der zweiten
Frage, indem man bei Konstanz des benutzten Reizes die Art
der Psychose variiert.
Da die erste Frage eine rein methodologische ist, dürfte sie
zweckmässigerweise auch an erster: Stelle vor der zweiten er-
örtert werden.
Wie bereits in den einleitenden Worten erwähnt wurde,
konnte ich meine Absicht, die Variation des Reizes auch auf die
Alternative; Zweidimensional — Dreidimensional — auszudehnen,
aus äusseren Gründen nicht verwirklichen. Es standen mir
lediglich zweidimensionale Reize zur Verfügung, für die sich, wie
ersichtlich, folgende Variationsalternativen ergaben:
1. Zeichnung nur konturiert — Zeichnung detailisiert,
2. Zeichnung ohne — Zeichnung mit Anwendung von Farben,
8. Zeichnung einfacher — Zeichnung zusammengesetzter
Objekte.
Für die Entscheidung dieser sowie aller folgenden Fragen
konnte, meines Erachtens, ausschliesslich eine zahlenmässige resp.
statistische Verwertung des in den Untersuchungsprotokollen
niedergelegten Reaktionsmateriales in Frage kommen. Die Er-
mittelung einer Methode, die einzelne Aussage jeder einzelnen
Patientin in einer einerseits ihrem gedanklichen Inhalte ange-
messenen, andererseits wiederum durchaus einheitlichen und ver-
gleichbare Werte liefernden Art und Weise ziffernmässig zu ver-
werten, machte mir zuerst erhebliche Schwierigkeiten. Nach
mannigfachen Vorversuchen mit Methoden, die sich dann immer
wieder bei der speziellen Durcharbeitung der einzelnen Protokolle
ale undurchführbar und der Fülle und Mannigfaltigkeit der zu
verwertenden Reaktionen gegenüber als nicht elastisch genug er-
wiesen, bin ich schliesslich zu folgendem, ganz einfachen Aus-
wertungsverfahren gekommen:
Für jedes Bild wurde eine die Hauptgegenstände desselben
umfassende Bezeichnung als Normalreaktion angenommen und
jede einzelne, vom Patienten produzierte sprachliche Reaktion, in
der diese Normalbezeichnung vorkam, mit der Zahl 2 bewertet.
Diejenigen Reaktionen, die zwar diese Normalreaktion nicht ent-
hielten, wohl aber die Bezeichnungen einer Reihe von Details,
und zwar mindestens der Hälfte aller vorhandenen Details, wurden
Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode, ‚335
mit 1 bewertet. Alle anderen Reaktionen, gleichgältig ob sie
entweder überhaupt ausblieben oder direkt Falsches enthielten
oder auch Richtiges, aber weniger als die Hälfte, wurden mit O
‚bewertet. In diesem Sinne wurden die ursprünglichen Versuchs-
protokolle umgewertet in Tabellen, in denen jede einzelne der
gesamten 1470 Reaktionen (5 Patienten à 354 Reaktionen) je mit
0,1 oder 2 Punkten bewertet, figurierten. Diese Tabellen, auf
deren Wiedergabe ich aus Raumrücksichten glaube verzichten zu
müssen, liegen allen folgenden Betrachtungen zugrunde.
Die Zahlen, die ich im folgenden anführe, stellen also die
aus diesen Tabellen berechneten Summen der einzelnen Be-
wertungspunkte bestimmter Gruppen von Einzelreaktionen dar
und sind demnach, wie ich ausdrücklich hervorhebe, direkt pro-
ortional der Richtigkeit und Vollständigkeit, die der gedankliche
keaktionsinhalt unter bestimmten Versuchsbedingungen erreichte.
Ich wende mich nunmehr zur Beantwortung der Frage:
„Inwieweit ist der (zahlenmässig dargestellte) Reaktionsinhalt ab-
hängig von der Art des Reizes?“ und bespreche zunächst unter
Hinweis auf die oben aufgestellte erste Variationsalternative den
Einfluss, den die zunehmende Detailisierung der Zeichnung in
ihren drei Hauptetappen — blosse Konturen, Konturen und Haupt-
linien, fertig ausgeführte Detailzeichnung — auf den Reaktions-
inhalt ausäbt.
Zur Entscheidung dieser Frage dienen die Reaktionsresultate
der eingangs beschriebenen Bildchenserien mit ihren neun Unter-
serien: 1. Kirche, 2. Tonne, 3. Eichhörnchen, 4. Eule, 5. Taschen-
uhr, 6. Brunnen, 7. Kanone, 8. Fisch, 9. Schildkröte.
Eine vollständige Uebersicht über die hierbei ermittelten
Verhältnisse gibt beistehende Tabelle I, zu deren Erläuterung ich
folgendes bemerke:
Tabelle I.
Normalzahl: 54.
Korsakoff 7 | 19 | 26
Seniler Schwachsinn | 14 | 23 | 27
Hebephrenie 14 | 26 | 34
Melancholie 11 | 33 | 34
Paralyse 27 | 37 | 42
Die neun Unterserien der Bildchenserie bestanden, wie an-
fangs beschrieben, jede wieder aus vier Kartonblättchen, deren
erstes (I) nur die einfachen Konturen, deren zweites (II) die
Konturen und Hauptlinien, deren drittes (III) die vollständig
ausgeführte Detailzeichnung, deren viertes die Detailzeichnung
farbig darstellte. Die Resultate des vierten Blättchens kommen erst
22°
336 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger
bei Erörterung der zweiten Variationsalternative (farbig — nicht-
farbig) zur Sprache und finden in Tabelle I keine Berücksichtigung.
Die Zahlen der Tabelle wurden in der Weise gewonnen, dass
— für jede der fünf untersuchten Psychosen gesondert — die
ziffernmässig ermittelten Reaktionsinhalte zusammengezählt wurden,
lediglich nach dem Gesichtspunkte, ob dieselben erhalten wurden mit
einem Kartonblättchen I, II oder III, wobei die Art des dargestellten
Gegenstandes völlig ausser acht gelassen wurde.Die Ziffer 7 zum
Beispiel (Vertikalkolumne I, Horizalkolumne Korsakoff) besagt, dass
die Patientin mit Korsakoff in sämtlichen Reaktionen zusammen,
die sie auf Vorlage der Kartonblättchen I produzierte, nur sieben
Bewertungspunkte erzielte. Da neun verschiedene Kartonblättchen I
zur Verwendung kamen und jedes, wie unter „Methode“ be-
schrieben, dreimal vorgelegt wurde, stellt z. B. die Zahl 7 (und
natürlich jede andere Zahl der Tabelle ebenso) die Summe der
Bewertungspunkte von 27 Reaktionen dar. Die optimale, von
Gesunden zu erwartende „Normalzahl“ der Tabelle würde, da
die richtige Normalreaktion mit 2 Punkten bewertet wurde, dem-
nach 2 X 27 = 54 sein.
Die Resultate der Tabelle I sind absolut eindeutig: In jedem
einzelnen der fünf untersuchten Krankheitsfälle wird die zahlen-
mässig ausgedrückte Qualität der Reaktionen von Kolumne zu
Kolumne besser, die Kartonblättchen II ergeben durchweg bessere
Resultate als die Kartonblättchen I, und III besser als II. Die
a priori nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit, dass die
zunehmende Detailisierung der Zeichnungen infolge der erhöhten
Ansprüche, die sie an die Auffassungs- und Kombinationsfähig-
keit der Patienten stellt, die Reaktionsresultate verschlechtern
könne, wird — für die untersuchten fünf Krankheitsfälle — durch
diese Tabelle eindeutig widerlegt und im Gegenteil bewiesen,
dass mit zunehmender Detailausführung der Zeichnungen die
Reaktionsresultate. zunehmend verbessert werden.
Die Entscheidung der zweiten, oben aufgestellten Alter-
native: Welchen Einfluss übt die Anwendung farbiger Reize auf
den Reaktionsinhalt aus im Gegensatz zu farblosen Reizen? wird
durch Tabelle II, ebenfalls in durchaus eindeutiger Weise, geliefert.
Tabelle II.
Normalzall: 174.
| Farblos | Farbig
Korsakoff 57 72
Seniler Schwachsinn 84 122
Hebephrenie 76 82
Melancholie 110 130
Paralyse 143 152
Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode. 837
Die Zahlen dieser Tabelle wurden in ganz analoger Weise
gewonnen wie die der Tabelle I. Als Reaktionsmaterial kam
bierfär in Betracht: 1. die Reaktion mit dem eingangs be-
schriebenen „Album schwarz“ und „Album bunt“, enthaltend je
20 Tintenzeichnungen resp. bunte Bilder, 2. die Reaktionen mit
den Kartonblättchen III und IV, umfassend je 9 mit Tinte ge-
zeichnete resp. bunte Bilder; also insgesamt 29 mit Tinte ge-
zeichnete, sowie die ihnen in Grösse und Form kongruenten
29 farbigen Abbildungen.
Jede Abbildung jeder Patientin 3 mal vorgelegt, ergibt je
87 Einzelreaktionen; die optimale resp. Normalzahl der ziffern-
mässig ausgedrückten Summe der Reaktionsinhalte ergibt (die
Reaktion à 2 Punkte) 174 Punkte. Das Ergebnis dieser Tabelle
ist, wie gesagt, ebenfalls ein vollkommen eindeutiges und lässt
sich in die Worte zusammenfassen: In sämtlichen fünf unter-
suchten Krankheitsfälleen ist die Summe der gedanklichenReaktions-
inhalte bei Anwendung farbiger Bilder erheblich grösser als bei
Anwendung von — ceteris paribus — unkolorierten Bildern,oder mit
anderen Worten: als Reize zur Erweckung von Vorstellungen von
der optischen Sinnessphäre aus bieten kolorierte Bilder erheblich
grössere Chancen auf Erfolg (ca. 20 pCt grösser) als nichtkolorierte.
Dieses Resultat war a priori ebensowenig vorauszusehen
wie das vorige und ist um so beachtenswerter, als es sich eben-
falls bei allen fünf untersuchten Krankheitsfällen konstatieren liess.
Was schliesslich die dritte der oben formulierten Alter-
nativen: welchen Einfluss die Kompliziertheit des dargestellten
Objektes auf den Reaktionsinhalt ausübt, anlangt, so lässt sich
über diesen Punkt schwer ein zahlenmässiger Entscheid bringen.
Im allgemeinen geben natürlich einfache Darstellungen bessere
Resultate als komplizierte. Aber auch dabei zeigten sich im
einzelnen sehr wesentliche Differenzen. So führe ich als Beispiel
die Resultate der neun kolorierten Kartonblättchen IV an, bei
denen es sich durchweg um ganz einfache, unkomplizierte und
cbarakteristische Darstellungen handelt:
Tabelle III.
Fisch 30
„schen uhr 30
Kirche 29
Brunnen 29
Fass 27
Kanone 21
Eule 16
Eichkatze 13
Schildkröte 2
Nur die beiden Kartonblättchen „Fisch“ und „Taschenuhr“
erreichten die für diese Tabelle gültige Normalzahl 30, d. h. wurden
von jeder Patientin and in jedem einzelnen Falle richtig erkannt,
338 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger
während es z. B. so charakteristische und allgemein bekannte
Tiere wie Eule und Eichkatze nur auf 16 resp. 18 Bewertungs-
punkte brachten. Das äusserst ungünstige Resultat des Blättchens
„Schildkröte“ dürfte wohl lediglich auf die geringe Bekanntschaft
zurückzuführen sein, deren sich dieses Tier hierzulande erfreut.
Durchschnittlich schlechter waren die Resultate, die mit den
grösseren und komplizierteren kolorierten Bildern des „Albums
bunt“ erreicht wurden, wie nachstehende Zusammenstellung zeigt:
Tabelle IV.
Tiegel 30
Gänse 27
Pferde am Brunnen 25
Schornsteinfegergeräte 23
Cigarren 21
Landarbeitszeug 21
Hirsch 20
Geflügelkäfig 20
Papagei 20
Flusslandschaft 18
Ziegenbock 18
Hund 17
Koffer und Tasche 17
Wäscheplatz 16
Schreib- und Lesezeug 18
Esel 13
Schäferwagen 13
Dachszenerie 13
Wollwickelständer 11
Elephant 7
Lediglich das Bild „Tiegel auf dem Feuer“ wurde durchweg
richtig erkannt. Auffallend schlecht waren wiederum die Resultate
unter den Tierbildern., und zwar gerade mit so allgemein be-
kannten Tieren wie Ziegenbock, Hund und Esel. Für „Elephant“
dürfte das gleiche zutreffen wie oben für Schildkröte. Der Woll-
wickelständer wurde häufig als Wasserleitung angesprochen. Von
der „Dachszenerie“ wurden stets nur die auf dem Dache befind-
liche Katze und 2 Vögel erkannt. In keinem einzigen Falle wurde
das durch Wetterfahne, Schornstein, Blitzableiter, Giebelfenster
und Dachrinne wohlcharakterisierte Dach als solches erkannt.
Ebenso ergabne das Bild: „Schreib- und Lesezeug“, das auf engen
Raum zusammengedrängt die Gegenstände: „Federmesser, Feder-
halter, Bleistift, Brille, Tintenfass, Streusandbüchse, A-b-c-Buch“
darstellte, sowie das Bild: Schäferwagen (Schäferwagen, Hürde,
Hund, Schaf) sehr schlechte Resultate. Schon die Sonderung
und Erfassung der einzelnen Komponenten dieser zusammen-
gesetzten Bilder machte den Patienten grosse Schwierigkeiten;
geschweige, dass sie imstande gewesen wären, die einzelnen
Psychosen mittelst der Bildehenbenennungsmethode. 839
Komponenten zu einem höheren und umfassenderen Begriff, wie
etwa: Dachszenerie oder Schreibmaterialoder dergleichen, zusammen-
zufassen.
Bei der bisherigen Betrachtung des Reaktionsinhaltes haben
wir sozusagen die reagierende Psychose als die konstante und
gegebene Grösse betrachtet und das Zahlenmaterial der Tabellen
azu benutzt, den Einfluss der Art des Reizes als unbekannte
zu erschliessen, wobei wir im wesentlichen zu dem Ergebnis ge-
langt sind:
Bei gegebener und konstanter reagierender Psychose wächst
der Reaktionsinhalt
1. ungefähr proportional der zunehmenden Detailisierung des
Reizbildes;
2. um ca. 20 pCt. durch Kolorierung des Reizbildes;
3. nimmt der Reaktionsinhalt um so mehr ab, je zusammen-
gesetzter und reicher an gesonderten Einzeldarstellungen
das Reizbild wird. Ä
Wir drehen nunmehr den Spiess um, betrachten die an-
gewandten Reize als die konstante und gegebene Grösse und den
Einfluss der Art der Psychose als unbekannte, und treten der
Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage 2 näher:
Inwieweit ist der Reaktionsinhalt abhängig von der Art der
reagierenden Psychose?
Zugleich wenden wir unsere Aufmerksamkeit der im Anfang
vorliegender Arbeit aufgeworfenen Frage zu: Geht die Reduktion
des von der optischen Sphäre aus erweckbaren Bewusstseins-
inhaltes ungefähr parallel der Reduktion des gesamten Bewusstseins-
inhaltes, d. h. ist die optische Verblödung proportional der All-
gemeinverblödung? Es erscheint mir hier angezeigt, zunächst
einige naheliegende Einwände gegen die von mir benutzte Methodik
zu besprechen. Wie bereits eingangs erwähnt, erschien mir eine
vollkommene Inventur des gesamten optischen Bewusstseinsinhaltes
aus äusseren Gründen als technisch undurchführbar. Was die von
mir vorgenommenen Untersuchungen bezwecken, ist, wie gesagt,
lediglich eine Inventur durch Stichproben.
Um trotzdem zu einer Beantwortung der soeben aufgeworfenen
Fragen zu gelangen, bin ich zu der Annahme genötigt, dass der
durch diese Stichproben ermittelte Defekt des optischen Be-
wusstseinsinhaltes proportional ist dem bestehenden Totaldefekt
des optischen Bewusstseinsinhaltes.
Der Einwand, dass diese Annahme hypothetisch ist, muss
ohne weiteres als berechtigt zugegeben werden. Immerhin glaube
ich durch die erhebliche Anzahl der verwandten Einzelbilder und
durch die Auswahl derselben, wobei möglichst verschiedene und
manigfaltige Gebiete des optischen Bewusstseinsinhaltes berück-
sichtigt werden, dafür Sorge getragen zu haben, dass man tat-
sächlich mit einer für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung
ausreichenden Annäherung diese Proportionalität des ermittelten
340 Schuokmann, Vergleichende Untersuchung einiger
Defektes zu dem wirklichen Gesamtdefekt als gegeben wird an-
nehmen dürfen. oo
Weiterhin wäre noch folgender Einwurf zu berücksichtigen:
Sind die Defekte des optischen Bewusstseinsinhaltes, wie sie durch
die von mir angewandte Methode festgestellt werden, auch wirklich
Ergebnisse des destruierenden Einflusses der betreffenden Psychose?
An und für sich liegt ja natürlich die Möglichkeit vor, dass der-
artige Defekte auch schon vor Ausbruch der Psychose bestanden
haben. Diese Möglichkeit war ich bestrebt auf ein Minimum zu
reduzieren. S
1. Durch geeignete Auswahl der benutzten Psychosen. Sämt-
liche Patientinnen waren entweder erst im mittleren oder erst im
hohen Lebensalter erkrankt, zu einer Zeit, als der Erwerb des
von jedem Menschen als Minimum zu verlangenden Bewusstseins-
inhaltes längst abgeschlossen war.
2. Durch geeignete Auswahl der optischen Stichproben. Mit
einigen wenigen Ausnahmen (Schildkröte, Elephant, Krokodil,
Zahnradbahn, Luftballon) waren sämtliche Reizbilder von der Art,
dass auch bei ungünstigsten Kulturbedingungen die Bekanntschaft
mit den zur Darstellung gebrachten Objekten bei den einzelnen
Patienten vorausgesetzt werden konnte. Ich halte es demnach
für gerechtfertigt, die durch die angewandte Untersuchungsmethode
aufgedeckten Defekte in ihrer Hauptsache als tatsächliche Folge
des destruierenden Einflusses der betreffenden Psychose auf-
zufassen,
Um zunächst einen Ueberblick über den Reaktionsinhalt der
einzelnen Patientin zu gewinnen, gebe ich die Summe aller
Bewertungspunkte, die jede einzelne Patientin in sämtlichen
354 Einzelreaktionen zusammen erzielte, in Tabelle V wieder.
(Normalzahl 708).
Tabelle V.
Korsakoff 252 (456)
Hebephrenie 291 4 17)
Sen. Demenz 401 (807)
Melancholie 455 (253)
Paralyse 535 (173)
Um einen unmittelbareren Eindruck des im Einzelfalle er-
mittelten Defektes zu gewähren, geben die in Klammern beigefügten
Zahlen die Anzahl der Punkte an, die jeder Patientin zu der
normaliter zu erfordernden Punktzahl 708 fehlen. Eine Zerlegung
der einzelnen Zahl nach dem Gesichtspunkte, wieviel des Defektes
in jedem Falle auf die Kartonblättchen, wieviel auf die kolorierten
Bilder und wieviel auf die unkolorierten entfällt, ändert an den
gegenseitigen Verhältnissen der einzelnen Psychose nichts, und
glaube ich deshalb auf die Wiedergabe einer ın diesem Sinne zu-
sammengestellten Tabelle verzichten zu können.
Was mich zunächst an dieser Tabelle in Erstaunen setzte
und was ich vor Beginn der Untersuchungen nicht erwartet hatte,
Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode. 341
ist die absolute Grösse des ermittelten Defektes, und in zweiter:
Linie, nicht minder überraschend, die Unterschiede, die die einzelnen
Psychosen in der Grösse ihres Defektes aufweisen.
Als „blödsinnig“ im vollen Sinne des Wortes konnte man
von den untersuchten Kranken nur die Hebephrenie bezeichnen;
der bei ibr ermittelte Defekt des von der optischen Sphäre aus
erweckbaren Bewusstseinsinhaltes dürfte (natürlich cum grano salis)
als etwa proportional dem Gresamtdefekt anzusehen sein.
Bei der Altersmelancholie war ein eigentlicher Intelligenz-
defekt, wie dies ja auch nach der kurzen Dauer der Krankheit
nicht anders zu erwarten war, nicht zu konstatieren, und fiel
hierbei die Reduktion des optischen Bewusstseinsinhaltes um fast
ein Drittel des Normalinhaltes grösser aus als a priori zu erwarten
war. Ob man hierin ein Charakteristikum gerade derartiger
Psychosen zu sehen hat, können natürlich erst weitere vergleichende
Untersuchungen lehren.
Unerwartet gross (etwas weniger als die Hälfte des Normal-
besitzes) war auch der Defekt des senilen Schwachsinns, um so
mehr als diese Patientin elementare psychotische Momente nie
geboten hatte und nur infolge ihres unzufriedenen, reizbaren und
nörglichen Charakters, für dessen Deutung der bei der Bildchen-
prüfung hervorgetretene egozentrische Standpunkt der Patientin
ja einige Anhaltspunkte enthüllte, in Anstaltsbehandlung ge-
kommen war.
Am umfassendsten war der enthüllte optische Defekt ın dem
Falle von Korsakoff. Wenn auch ein Teil dieses Defektes auf
das Konto der oben besprochenen aphasischen Erscheinungen
gesetzt werden muss, so verdankt doch der Hauptteil zweifellos
einem primären Verlust der betreffenden optischen Vorstellungen
seine Entstehung. Sonstige asymbolischen oder agnostischen
Erscheinungen waren ım Verlauf des gewöhnlichen Anstaltslebens
bei dieser Patientin nicht an den Tag getreten. Ueber die sonstigen
intellektuellen Fähigkeiten dieser Patientin ein Urteil zu gewinnen,
war bei ihrer Desorientiertheit und Konfabulation erschwert;
immerhin erweckte sie im allgemeinen nicht im entferntesten einen
derart blödsinnigen Eindruck wie die Hebephrenie, so dass im
Vergleich za dieser ihre optische Sphäre entschieden schwerer
geschädigt war. Das überraschendste Resultat der Untersuchungen
waren jedenfalls die im Vergleich zu den übrigen Patienten
glänzenden Ergebnisse, die die Paralytika produzierte. Der all-
gemeine, spezifisch-paralytische Schwachsinn der betr. Patientin
war bereits sehr erheblieh, ihre Wahnideen verrieten völlige Kritik-
losigkeit. Die der allgemeinen Intelligenz proportionale Tendenz,
die Wahnvorstellungen systematisch auszubauen, sie mit dem
übrigen Bewusstseinsinhalt zu einem harmonischen und möglichen
Ganzen zu verschmelzen, fehlte völlig. Im Gegenteil liess sich
Patientin durch Suggestivfragen zu immer weitergehenden und
unmöglichen wahnhaften Behauptungen drängen. Diese Diskordanz
342 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger
zwischen den hochgradigen Allgemeindefekten und den sehr gering-
fügigen optischen Defekten ist sehr auffallend und steht in direktem
Gegensatz zu den beim Korsakoff ermittelten, gerade umgekehrten
Verhältnissen.
Inwieweit die bei den fünf untersuchten Psychosen ermittelten
Verhältnisse als typisch für die Form der Psychose zu betrachten
sind, wird sich natürlich erst nach Fortsetzung dieser Unter-
suchungen an einem grösseren Krankenmaterial entscheiden lassen.
Nach den kurzen Notizen Heilbronners (l. c.) wurden von ihm
bei seniler Demenz schlechte, bei Paralyse gute Resultate mit
seinen Bildchenserien erzielt, was mit den von mir ermittelten
Ergebnissen ja gut übereinstimmen würde. Immerhin geht aus
den bisherigen Versuchen so viel mit Sicherheit hervor, dass auch
bei völligem Fehlen asymbolischer Erscheinungen sensu strictiori
die Reduktion des optischen Bewusstseinsinhaltes durchaus nicht
immer parallel der des allgemeinen Bewusstseinsinhaltes zu gehen
braucht, sondern dass der Grad des erreichten Defektes auf beiden
Gebieten ein ganz verschiedener sein kann.
Es wird Aufgabe weiterer Untersuchungen sein müssen, diese
Feststellungen auch auf alle anderen Gebiete des Bewusstseins-
inhaltes auszudehnen, um schliesslich zu einer Entscheidung der
Frage gelangen zu können, ob sich für die einzelnen verblödenden
Prozesse konstante differenzierende Kriterien auffinden lassen, je
nach der Prädilektion, mit der sie die einzelnen Bewusstseins-
gebiete veröden, und der zeitlichen Reihenfolge, in der sie dieselben
ergreifen.
Es erübrigt sich nunmehr noch die kurze Erwähnung eines
letzten Gesichtspunktes. Wie ich eingangs unter „Methodik“ be-
schrieben habe, wurde jeder Patientin jedes Bild dreimal vorgelegt,
wobei das eine Mal das rechte, das andere Mal das linke Auge
verbunden wurde, während ein drittes Mal beide Augen offen
blieben. Während ich bei den bisherigen Betrachtungen die Er-
gebnisse aller dieser drei Verfahren als gleichwertig angenommen
and gleichmässig' berücksichtigt habe, will ich zum Schluss noch
untersuchen, inwieweit sich eine Differenz in den erzielten Re-
aktionsinhalten nachweisen lässt, je nachdem die Reaktionsreize dem
Bewusstsein auf dem Wege des rechten, des linken und beider
Augen zugeführt wurden. i
Tabelle VI gibt eine Zusammenstellung der bei den einzelnen
Patienten erzielten Reaktionswerte, je nachdem die verwandten
118 Reizbilder dem Bewusstsein auf dem Wege des rechten, des
linken oder beider Augen zugeführt wurden (Normalzahl dieser
Tabelle 118x2 = 2386).
(Hier folgt nebenstehende Tabelle.)
Die V. Vertikalkolumne dieser Tabelle VI (Summa) ist
identisch mit der oben mitgeteilten Tabelle V; beide Tabellen
unterscheiden sich nur darin, dass in Tabelle V (wie eingangs der
Psychosen mittelst der Bildchenbenennungsmethode. 843
Tabelle VI.
m | ie | iia | Somm
Korsakof . . . 64 | (252)
Hebephrenie . . 101 (291)
Sen. Demenz . . 129 (401)
Melancholie . . | 138 (455)
Paralyse. . . . | 174 (535)
(Summa) . . . | 606) | (65) | (677)
Arbeit unter „Methodik“ erwähnt) die auf den drei verschiedenen
Wegen — rechtes Auge — linkes Auge — beide Augen — ge-
wonnenen Reaktionsinhalte als völlig gleichwertig betrachtet und
von vornherein zusammen addiert figurieren, während es gerade
der Zweck der Tabelle VI ist, diese drei Gruppen von Reaktions-
inhalten gesondert vorzuführen, um ihre Differenzen klarzulegen.
Die unterste Horizontalkolumne (Summa) zeigt, dass sich
die gesamten, bei allen fünf Patienten in sämtlichen Reaktionen
zusammen erzielten Bewertungspunkte im Betrage von 1934 nicht
gleichmässig auf die Reaktionsgruppen — rechtes Auge — linkes
Auge — beide Augen — verteilen.
Die Resultate des rechten Auges sind um reichlich 7 pCt.
schlechter als die des linken, am besten sind die Resultate der-
jenigen Versuche, an denen die Patienten die Reizbilder mit beiden
Augen betrachteten. Mit Ausnahme des Korsakoff, der mit dem
linken Auge allein ein um einen geringen Bruchteil besseres
Resultat erzielte, als mit beiden Augen zusammen, zeigte sich in
den vier anderen Fällen das binokulare Sehen in bezug auf seine
Ergebnisse dem monokularen überlegen. An und für sich ist
dieses Ergebnis ja etwas merkwürdig, da eine Ueberlegenheit des
binokularen Sehens bei Betrachtung rein zweidimensionaler Objekte
keine recht plausible Erklärung zulässt. Immerhin möchte ich
diesem Ergebnis keinerlei prinzipielle Bedeutung beilegen, da die
beobachteten Differenzen meines Erachtens viel zu klein sind,
meistens wohl noch innerhalb der Fehlergrenze der Methodik
liegen, als dass sie zu weitergehenden Schlussfolgerungen be-
rechtigten.
he wir noch einen Blick auf die Differenzen der mit dem
rechten und linken Auge allein erzielten Ergebnisse werfen, er-
scheint es mir zweckmässig, zunächst für diese Betrachtungen
‚die Horizontalkolumne „Hebephrenie“ auszuschalten. Diese Pat.
war, wie oben ausführlich auseinandergesetzt, die einzige, deren-
Aufmerksamkeit während der Untersuchungen nicht konstant
war. Damit steht die aus den hier nicht in extenso mitgeteilten
‚Spezialtabellen ersichtliche Tatsache in Einklang, dass dieselbe
-an den einzelnen Untersuchungstagen bald mit dem rechten, bald
mit dem linken Auge bessere Resultate produzierte. Die in der
844 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger
Gesamtsumme der Reaktionen erzielte Ueberlegenheit des rechten
Auges stellt also sozusagen nur eine Zufallsmajorität dar, die
ihre Entstehung unkontrollierbaren, nicht in der Natur der beiden
Reizleitungswege begründeten Einflüssen verdankt.
Was die übrigen vier Fälle anlangt, so zeigt sowohl bei der
senilen Demenz, wie bei der Paralyse das linke Auge gegenüber
dem rechten ein Plus von vier Bewertungspunkten, d. h. etwa
2—3 pCt. des Gesamtresultates. Da dieser Unterschied bei weitem
noch innerhalb der Fehlergrenze der Methode liegt, muss er
gleichfalls unberücksichtigt bleiben.
Bei der Melancholika übertrifft das Reaktionsresultat des
linken Auges das des rechten Auges um 19 Punkte, das sind
ca. 13 pCt. des Resultates. Diese Zahl dürfte wohl schon jenseits
der Fehlergrenze der Methode liegen, doch halte ich auch in
diesem Falle immerhin die Mitwirkung „zufälliger“ Faktoren noch
nicht für ganz ausgeschlossen.
Dagegen scheint mir letzteres allerdings der Fall zu sein
bei der Differenz, die in den Resultaten des rechten gegenüber
dem linken Auge in dem Falle von Korsakoff zu Tage tritt.
Hier erzielte das linke Auge ein Plus von 31 Punkten, d. h. fast
40 pCt. des Gesamtresultates,.
Dieses Ueberwiegen der Reaktionsresultate des linken gegen-
über denen des rechten Auges kommt nicht nur in der hier mit-
geteilten Gesammtsumme, sondern auch in den einzelnen, hier
nicht gesondert angeführten Gruppen resp. Versnchstagen zur
Geltung. In keiner Versuchsgruppe wurde das. gegenteilige Ver-
halten konstatiert. Es kann demnach meines Erachtens kein
Zweifel daran bestehen, dass diese Patientin, wenn ihr eine Serie
von Reizbildern auf dem Wege über ihre linke Retina zugeführt
wurde, von diesen Bildern ca. 40 pCt. mehr erkannte, als wenn
ihr genau die gleiche Serie mittels der rechten Netzhaut über-
mittelt wurde.
Da mir von vornherein die Entscheidung der Frage, ob sich
in einzelnen Fällen derartige . Differenzen würden nachweisen
lassen, als eines der Hauptziele der vorliegenden Untersuchungen
vorschwebte, legte ich, wie bereits eingangs erwähnt, bei der
Auswahl der Patienten das Hauptgewicht auf völlig normale Seh-
schärfe beider Augen. Auch diese hier in Frage stehende Kranke
besass auf beiden Augen volle Sehschärfe; sie las mit +3
Dioptrien die kleine Druckschrift Snellen 0,5 auf !/, m Entfernung
zwar langsam, aber fast fehlerfrei. Es ist demnach vollkommen
ausgeschlossen, zur Erklärung der oben konstatierten Differenz
zwischen den Resultaten der beiden Augen etwa eine funktionelle
Schädigung des peripheren rechten Sehapparates heranzuziehen.
(Eine exakte Gesichtsfeldaufnahme vermochte ich bei dieser
Patientin nicht zu erzielen; bei grober Prüfung waren Defekte
nicht nachweisbar.)
Psychosen mittelst der Bildehenbenennungsmethode. 345
So wurde z. B. mit dem linken Auge auf die Karton-
bildchen „Fass 1I, III und IV“ sämtlich richtig mit dem Wort
„Fass“ reagiert, ebenso auf das Kartonblättchen „Plumpe III“
richtig mit „Plumpe“, auf die Albumbilder „Hirsch“ und „Hund“
ebenfalls mit den richtigen Bezeichnungen, während bei Be-
sichtigung dieser Bilder mit dem rechten Auge jede richtige
Reaktion völlig ausblieb. In andern Fällen wurden zwar auch
mit Hilfe des linken Auges nicht die adäquaten Bezeichnungen
gefunden, aber fast stets mit diesem Auge eine grössere Anzalıl
an Details erfasst, resp. sprachlich zum Ausdruck gebracht, als
mit dem rechten.
Diese unzweifelhafte Tatsache, dass bei dieser Patientin die
sprachlichen Reaktionen bei Besichtigung von Bildern mit dem
linken Auge erheblich besser austielen als mit dem rechten Auge,
lässt, zunächst ganz allgemein gesprochen, doch nur die Deutung
zu, dass der psychische Reflexbogen rechte Retina— Sprachzentrum,
erheblich stärker geschädigt sein muss als der Bogen linke Retina—
Sprachzentrum. (Geschädigt ist ja natürlich der letztere auch,
wie aus den bisherigen Ausführungen hinreichend hervorgeht.)
Dass diese Schädigung im Sprachzentrum selbst lokalisiert sein’
sollte, ist kaum möglich; denn dass von zwei, wenn auch auf
verschiedenen Bahnen, so doch in gleicher Stärke eintreffenden
Reizen der eine (von der linken Retina kommend) die Sprach-
bewegungsvorstellung zum Anklingen bringen sollte, während der
von der rechten Retina in gleicher Stärke kommende Reiz dazu
nicht ım Stande sein sollte, wäre ohne Analogie und nicht ver-
ständlich. Ebenso ausgeschlossen ist es aber, dass die Schädigung
am anderen Ende des Reflexbogens in der Retina oder in der
peripheren Opticusbahn lokalisiert sein sollte. Denn diese An-
nahme wird durch den Ausfall der Sehschärfeprüfung mit Sicher-
beit widerlegt.
Dieses Plus an Schädigung des rechten gegenüber dem linken
Reflexbogen kann demnach nur lokalisiert sein entweder im Seh-
zentrum selbst oder in der Verbindungsleitung Seh-Sprachzentrum.
Fassen wir zunächst die erste Möglichkeit ins Auge, so würden
bei deren Acceptierung die Verhältnisse folgendermassen liegen:
Von zwei gleichen, in gleicher Stärke von der Peripherie ins Seh-
zentrum einströmenden Reizen ist der von der linken Retina
kommende im Stande, das ihm adäquate Erinnerungsbild zum
Anklingen zu bringen, der von der rechten Retina kommende
dagegen nicht. Diese Annahme erscheint unvereinbar mit der
herrschenden Anschauung über die Vertretung der Netzhaut in
der Hirnrinde, resp. die Lokalisation der optischen Erinnerungs-
bilder. Für die vorliegende Frage kommt ja lediglich das zentrale
Projektionsfeld der Macula in Betracht, da sowohl bei dem Er-
werb der optischen Erinnerungsbilder nls auch bei dem jemaligen
späteren Wiedererwecken derselben die peripheren Netzhaut-
gebiete anscheinend nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen.
— — — — —— — — — —
346 Schuckmann, Vergleichende Untersuchung einiger
Wenn, wie angenommen wird, jede Macula symmetrisch und
in gleicher funktioneller Stärke in beiden Sehzentren (des rechten
wie des linken Occipitallappens) vertreten ist, dann müssen auch
die im Laufe des individuellen Lebens erworbenen optischen Er-
innerungsbilder in gleicher Art und gleicher funktioneller Stärke
in beiden Sehzentren lokalisiert sein, wobei es (notabene nur für
die uns hier beschäftigende Frage) indifferent ist, ob man sich
vorstellt, dass jede der beiden Sehsphären von jedem Objekte ein
eignes, isoliert von der andern Seite ansprechbares Erinnerungs-
bild besitzt oder dass beide, das rechts und das links lokalisierte
Erinnerungsbild, nicht isoliert jedes für sich, sondern nur als zu-
sammengehörige funktionelle Einheit ansprechbar sind. Unter
dieser Annahme — völlige Symmetrie der zentralen Projektion
jeder einzelnen Macula in beiden optischen Sphären — ist eine
funktionelle Schädigung eines oder beider Sehsphären beziehungs-
weise der in diesen lokalisierten optischen Erinnerungsbilder mit
dem Effekt, dass Erinnerungsbilder von der linken Retina aus
ansprechbar wären, von der rechten aus aber nicht, undenkbar.
Bei Annahme einer völligen Symmetrie der zentralen Vertretung
der Macula müssen funktionelle Schädigungen der Sehsphäre,
mögen sie im übrigen beliebiger Art und beliebig lokalisiert sein,
stets auch einen bezüglich der beiden Retinae symmetrischen
Effekt haben, d. h. ein derart geschädigtes Erinnerungsbild, das
von der einen Macula aus nicht mehr ansprechbar ist, muss
dann notwendigerweise auch von der andern aus nicht mehr an-
sprechbar sein.
Ebensowenig lässt sich die zweite der oben aufgestellten
Deutungsmöglichkeiten — das Plus an Schädigung des rechten
gegenüber dem linken Auge kann lokalisiert sein in der Ver-
bindungsleitung: Seh-Sprachzentrum — mit einer Symmetrie in
der zentralen Projektion der Maculae vereinigen. Möge jedes
Sehzentrum seine eigenen Erinnerungsbilder besitzen, so dass
die Leitung Seh-Sprachzentrum in doppelter Zahl zu postulieren
wäre, oder mögen die zusammengehörigen Erinnerungsbilder beider
Sehsphären nur als funktionelles Ganze ansprechbar sein, wobei
die Annahme einer einfachen Seh-Sprachzentrumsbahn genügen
würde, immer wird eine Schädigung, die eine oder beide dieser
Bahnen trifft, einen Funktionsausfall bedingen müssen, der sich
in gleicher Stärke auf beide Augen verteilt.
Ein Untersuchungsergebnis, wie das im vorliegenden Falle
erhobene, dass bei einer Patientin mit beiderseits normaler Seh-
schärfe die Benutzung des psychischen Reflexbogens Retina-
Sprachzentrum auf dem Wege von der linken Retina aus er-
heblich bessere funktionelle Resultate ergibt, als auf dem Wege
von der rechten Retina aus, lässt sich meines Erachtens mit der
Annahme einer bilateral-symmetrischen Vertretung der einzelnen
Macula in beiden Sehsphären überhaupt nicht in Einklang bringen.
Alle Schwierigkeiten sind sofort behoben, wenn wir für jede
Macula eines der beiden Sehzentren (gleichgültig, ob das homonyme
Psychosen mittelst der Bildebenbenennungsmethode. 347
oder das gekreuzte) als gesonderte kortikale Vertretung und Sitz
der betreffenden Erinnerungsbilder in Anspruch nehmen. Dann
findet die Frage ihre Lösung dahin, dass der zu allmählichem
Verlust der erworbenen Erinnerungsbilder führende Prozess, der
bei dieser Patientin nachweislich beide Sehsphären ergriffen hat,
in der die rechte Macula vertretenden Sehsphäre bereits zu
weiterem Umfange gediehen und zum Verlust einer grösseren
Anzahl von Erinnerungsbildern geführt hat als in der die linke
Macula vertretenden Sehsphäre, eine Annahme, die nichts Un-
wahrscheinliches, sondern mancherlei Analogien für sich hat. Die
Annahme einer völligen kortikalen Isolierung beider Maculae an-
einander wäre gar nicht erforderlich; die rechte Macula z. B.
könnte mit einem gewissen Bruchteil ihrer Elemente in dem in-
takteren Rindengebiet der linken vertreten sein (und natärlich
vice versa), aber eben mit einem so geringen Bruchteil, dass die
dadurch von der Sinnesperipherie aus übermittelten Daten ohne
Ergänzung von seiten der linken Macula aus nicht imstande
wären, die Erinnerungsbilder anzusprechen resp. den Akt der
primären Identifikation auszulösen. Nur eben mit einer kortikalen
ertretung der einzelnen Macula derart, dass jede funktionelle
Einheit derselben in jeder der beiden kortikalen Sehsphären die
gleiche Vertretung besässe, lässt sich meines Erachtens der bei
dieser Patientin erhobene Befund nicht in Einklang bringen.
Ich verhehle mir keineswegs, dass es etwas gewagt ist,
auf Grund der vorliegenden Untersuchungsergebnisse rinden-
lokalisatorischen Bestrebungen zu fröhnen. Nur bitte ich, dabei
als mildernden Umstand zu berücksichtigen, dass einerseits die
Frage der Rindenprojektion der Retina trotz der sehr zahlreichen
darüber veröffentlichten anatomischen Untersuchungen immer noch
so viel dunkle Punkte aufweist, so dass es gestattet erscheint,
dieser Frage auch einmal vom rein klinischen Standpunkt aus
näherzutreten, und andererseits, dass die Frage der quantitativen
Beteiligung des einzelnen Auges an dem Zustandekommen optischer
Asymbolien bisher in der Literatur ausserordentlich stiefmütterlich
behandelt worden ist, obwohl sie zweifellos von erheblicher
theoretischer Bedeutung ist. Leider standen mir in letzter
Zeit Fälle von optisch-asymbolischen Erscheinungen nicht zur
Verfügung; Fortsetzung derartiger Untersuchungen an geeignetem
Krankenmaterial würde vielleicht manche der aufgeworfenen Fragen
zur Lösung bringen können.
348 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
Ueber die Abgrenzung und die Grundlagen der
Zwangsvorstellungen.
Von
Dr. M. FRIEDMANN,
Nervenarzt in Mannheim.
(Schluss.)
2. Ueber die psyehologischen Grundlagen der Zwangsvorgänge.
Es liegt auch jetzt nicht im Plane dieser Arbeit, mit einer
historischen Uebersicht der bisherigen Versuche zu beginnen,
welche von den Autoren bezüglich einer Theorie der Zwangs-
vorgänge unternommen worden sind. Warda, Löwenfeld, Janet,
Thomsen und auch Bumke haben bereits derartige, zum Teile
sehr gründliche Zusammenstellungen gegeben, welche an dieser
Stelle auszüglich zu wiederholen wenig Nutzen brächte. Unsere
Aufgabe ist wie im vorangehenden Abschnitte eine andere; an-
gesichts der Tatsache, dass in der Wissenschaft bisher anscheinend
keine jener Deutungen als befriedigend anerkannt worden ist,
gilt es, eine neue Fassung zu gewinnen, welche den merkwürdigen
und wichtigen Tatbestand ohne wesentliche Lücke erklärt. Unsere
Aufgabe ist aber noch genauer zu präzisieren; die Lehre von den
Zwangsvorgängen, wie sie sich allmählich entwickelt hatte, schien
‚einen Tummelplatz der gröbsten, kaum in sich zu vereinigenden
Widersprüche, ja von logischen Fehlern und Missverständnissen
‚darzubieten. Wir hatten dem gegenüber viel weniger neue Gesichts-
punkte zu finden, als zu zeigen, dass die Widersprüche bei näherer
etrachtung merklich geringere sind, als es zunächst erschien,
und dass eine Einigung auf dem Boden des umfassenden, heute
gewonnenen Materials an Tatsachen und an scharfsinnigen begriff-
lichen Untersuchungen nicht allzu schwierig ist. |
Diepsychologische Zergliederung nun bietet natürlich besondere
Schwierigkeiten und kann nicht wie bei der Feststellung des
Symptombegriffes sich auf Tatsächliches beschränken, sondern
muss sich an Möglichkeiten und an brauchbare Analogien
halten. Ausserdem muss sie, soweit uns Experimente fehlen, im
wesentlichen deduktiv, nicht induktiv vorgehen. Dennoch schrumpft
auch hier die verwirrende Vielgestaltigkeit der Theorien, wenn man
sie vergleichend betrachtet, sehr zusammen; durchschnittlich rühren
die Verschiedenheiten her entweder von der klinischen oder rein
symptomatischen Betrachtungsweise, von der Art der normalen
Analogie, welche der Autor yor Augen hatte, und von dem
psychologischen System, welches er zugrunde gelegt hatte. Je
‚mehr wir uns aber dem jüngsten Abschnitte der Forschung, etwa
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 349
innerhalb der letzten 5—8 Jahre, nähern, um so grösser wird die
Uebereinstimmung in der Theorie; dass jeder von uns sich darin
gewandelt hat, durfte ich schon vorhin ohne Scheu auch hin-
sichtlich meiner Person bekennen; denn die begriffliche Analyse
der Zwangsvorgänge hat eben infolge der gemeinsamen Arbeit
vieler Geister sich inzwischen beträchtlich verfeinert.
Die hauptsächlichen Postulate der Theorie sind eigent-
lich von jeher mehr oder minder klar gemeinsam erfasst worden;
wir haben einen Vorgang vor uns, wo entgegen dem Willen und
der logischen Ueberzeugung des Subjektes eine Vorstellung oder
ein Impuls sich Geltung verschafft und hervordrängt. Folglich
musste das theoretische Problem diese beiden Faktoren ins
Auge fassen: erstlich liegt eine Schwächung des Willens oder
des das Kommen und Gehen der Vorstellungen regulierenden
Apparates primär vor? oder zweitens besitzen die Zwangs-
vorstellungen und -impulse selbst besondere Eigenschaften, z. B.
eine besondere Spannung, besondere Affektbetonung, welche ihr
Hervordrängen begünstigen? Man hat nun bald das eine, bald
das andere Moment in den Vordergrund gerückt oder aber beide
miteinander kombiniert und hat dabei die Art der Abnormität
mit recht verschiedenartigen Namen belegt. So sprach Buccola
von einer Uebererregbarkeit, Tamburini umgekehrt von einer
Schwächung der Aufmerksamkeit, Meynert nahm an, dass durch
eine „kortikale Schwäche“ die mechanischen assoziativen Ver-
bindungen die Oberhand bekämen, R. Raymond und wiele,
besonders französische, Autoren betonten das Element der „Emo-
tivität*, und zwar im Zusammenhange mit der gleichzeitigen
„psychomotorischen Hesitation“; Seglas hat in einer sehr an-
sprechenden und meiner eigenen Anschauung genäherten Art und
Weise die Unzulänglichkeit der "psychischen Synthese ins Licht
gestellt, wodurch eine Desaggregation der psychischen Verbindungen
und die Isolation des Zwangsvorganges inmitten des geistigen
Geschehens sich ergebe. Auch Gadelius hat die dissoziativen
Reizerscheinungen ausführlich geschildert, Sollier die Wichtig-
keit der Gedächtnisschwäche in der Folie du doute betont. Viele
Autoren haben die Bedeutsamkeit der Angst und der Spannungs-
empfindungen erkannt, darunter Störring und Freud, in dessen
an sich origineller Analyse freilich stets der Gedanke bekanntlich
wiederkehrt, dass eigentümliche Umgestaltungen und Auflösungen
sexueller Erlebnisse immer dem Zwange zugrunde lägen. Ich
selbst hatte früher!) das Hauptgewicht zu einseitig auf die Steigerung
in der Intensität der Zwangsvorstellungen gelegt, und später habe
ich dargetan, dass der Inhalt der Zwangsideen logisch keinen
Abschluss finden könne und deshalb nicht aus dem Bewusstsein
mit Erfolg zu verdrängen sei?). Manche wieder, wie Ribot,
hatten eine primäre Steigerung der Erinnerung, eine Art von
Gedächtniskrampf psychologisch zu begründen gesucht etc.
1) M. Friedmann, Ueber den Wahn. Wiesbaden 1894.
3) M. Friedmann, Psychiatr. Wochenschr. 1901. No. 40.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hoeft 4. 23
A — —— — — O Mi md $ —
350 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
Löwenfelds Analyse, welche das Hauptmoment ebenfalls in
der Intensitätssteigerung der Vorstellung selbst erblickt, verkennt
nicht, dass damit Hemmungen der assoziativen Tätigkeit einher-
gehen müssen; die Affekte der Unruhe und Angst bewirken neben
zahlreichen anderen Einflüssen eben jene erhöhte psychische
Geltung der Zwangevorstellung, Bei ihm beginnt!) überhaupt
die modernere Auffassung des Problems, welche den vielfältigen
Gelegenheitsanlässen und den in der Person selbst gegebenen
spezifischen Dispositionen nachgeht, wodurch die wechselnde Be-
schaffenheit des Symptomes erzeugt wird. Janet aber hat endlich
mit eindringlicher Schärfe und mit einer überhaupt nicht zu über-
treffenden Gründlichkeit die eigenartige Geistesanlage des Trägers
der Zwangssymptome, die Psychasthenie, zergliedert; er hat die
besondere Art der Unzulänglichkeit („Incompletude“) ın den in-
tellektuellen Leistungen und in den Handlungen dieser Personen
nachgewiesen, sie auf die in ihnen herabgesetzte geistige Span-
nung zurückgeführt, und er hat es versucht, durch geistreiche,
aber etwas gezwungene Hypothesen von dieser einzigen Abnor-
mität aus die Genese des Symptomes begreiflich zu machen. Die
zu extreme Fassung seiner Lehre wird schwerlich haltbar sein,
und ein grundlegender Mangel im ganzen Aufbaue derselben
wird es wohl bleiben, dass sie nur der schwersten klinischen Form
der Zwangskrankheit, den hochgradigen „Degeneres“ sozusagen
auf den Leib geschrieben ist. Indessen wäre es zu bedauern,
wenn das viele Wertvolle und Aufklärende, was in dem grossen
Werke enthalten ist, nicht die genügende Beachtung fände?).
Endlich hat Fauser in kürzerer dogmatischer Darstellung
wieder eine Theorie der Zwangsvorstellung entwickelt, welche
teilweise dem nahe kommt, was ich selbst nunmehr besprechen
will. In der Hauptsache handelt es sich bei ihm um eine In-
suffizienz der aktiven Apperzeption (im Sinne Wundts) und um
ein dadurch begünstigtes Hervortreten mechanischer und häufig
absurder assoziativer Verbindungen; aus dem mühsamen Ringen
der geschwächten aktiven Apperzeption heraus entstehen „oszil-
lierende“ Vorgünge des Zweifels, der Skrupel, der Bedenken
and damit endlich peinliche Gefühle des Erleidens, des Fremd-
seins und der Spannung. So resultiert das „Totalgefühl* der
„Zwangsvorstellungsangst“, und dieser Affekt ist zum Schlusse
die Ursache für das Haften, die Fixierung der Idee, wobei noch
die Wiederholung und Uebung verstärkend eingreift. Vorher
schon hatte ich selbst im Anschlusse an die Besprechung der
Monographien von Löwenfeld und Janet meine neueren Ansichten
entwickelt, und schon damals, vor 2—83 Jahren, habe ich in
1) Löwenfeld, am ausführlichsten in dem Buche: Die psychischen
Zwangserscheinungen. Wiesbaden 1904. Vgl. auch meine ausführliche Be-
sprechung: M. Friedmann, Löwenfelds Buch über die psych. Zwangsersch.
Centralbl. f. Nervenheilk. 1904, No. 175
2) Janet, Les Obsessions et la Psychasthenie, 2 vol. Paris 1908. Dazu
meine ausführl. kritische Besprechung: Centralbl, f. Nervenheilk. 1905, No. 190.
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 851
wesentlichen Gesichtspunkten mich nicht sehr verschieden aus-
gedrückt von dem, was Fauser!) nun mit den Schulausdrücken
der Wundtschen Psychologie dargelegt hat.
Ich erwähne das nur, um zu zeigen, wie wenig sich die
neuesten psychologischen Zergliederungen der Zwangsvorgänge
von einander entfernen, und wenn man die älteren Lehrmeinungen
in modernere Ausdrücke übersetzt, so ergibt sich, dass zwar bald
das eine, bald das andere Moment die führende Stelle von dem
Forscher angewiesen erhielt. Das Zustandekommen des psychischen
Zwanges aber hat man im grossen und ganzen seit langer Zeit
sich ähnlich gedacht, und dies rührt daher, weil jedem von uns
die Selbstbeobachtung zur Seite stand, welche in milderer Form
den Denkzwang innerhalb der Norm uns veranschaulicht.
Wir’ gehen deshalb auch hier bei unserer eigenen Unter-
suchnng von den normal-psychologischen Verhältnissen aus.
Wie geschieht in der Norm das Ueberwinden und Besei-
tigen von Vorstellungen? Und wodurch entsteht in der
Norm ein Denkzwang? Das sind unsere beiden Fragen.
Vorstellungen werden im allgemeinen im Wege des assoziativen
Wettkampfes gerufen und auch beseitigt, bezw. in ihrer Geltung
bestätigt oder verworfen. Darüber hinaus besitzen wir die Fähig-
keit der Lenkung der Aufmerksamkeit; das Bleiben einer
Vorstellung und ihre Geltung wird dadurch verstärkt. Abweisen
und verdrängen können wir in aktiver Form eine Vorstellung nur
dadurch, dass wir einmal die Aufmerksamkeit davon abwenden
und zweitens, dass wir eine andere und besonders eine wider-
streitende Vorstellung hervorzurufen und zu beachten streben.
Wichtig ist diese aktive Leistung insbesondere beim Fällen und
Entscheiden von Urteilen, vor allem von solchen, welche sich
auf eine ausgesprochene Reflexion stützen. Man muss sich ver-
gegenwärtigen, dass selten eine Entscheidung durchaus schlüssig
ist, selten wird jedes widerstreitende Moment logisch glatt wider-
legt und aus der Welt geschafft sein. Alsdann hilft uns entweder
der Affekt dazu, den logischen Prozess zu beenden, so z. B. bei
politischen Erwägungen, bei persönlichen Fragen, kurz da, wo ein
sogen. Werturteil in die Wagschale gelegt wird. Eine Mutter
wird z. B. leicht dazu neigen, ihrem Sohne in einer Kollision mit
einem anderen Recht zu geben. Fehlt das helfende Gefühl, so
muss die Abschliessung des Reflektierens willkürlich da geschehen,
wo ein ferneres Nachdenken wahrscheinlich nichts Neues mehr
bringt. Beispiele dafür bieten alle Rechtsstreite und wissen-
schaftlichen Probleme. Das Denken muss dann auf eine der oben
genannten Arten sich gleichfalls von der ganzen Ideenkette will-
kürlich befreien resp. zu befreien streben. Einen wahren logi-
schen Abschluss gibt nur die volle Identität. — Ganz das gleiche
gilt mutatis mutandis für die Willenshandlung.
1) Fauser, Zur allgem. Psychopathologie der Zwangserscheinungen.
Centralbl. f. Nervenheilk. 1905. No. 208.
23*
852 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
Wie entsteht nun der Denkzwang? Vorausgesetzt, dass
jene Fähigkeit, die Aufmerksamkeit zu lenken, normal funktioniert,
ann, soviel ich sehe, eine Ueberwindung derselben auf zweierlei
Art geschehen: erstlich habe ich schon früher gezeigt?), dass
jede Reflexion der eben beschriebenen Art schwer willkürlich zu
beenden ist, wenn der Widerstreit der sich bekämpfenden
Gründe sich nicht schlichten lässt, oder wenn jene an sich nicht
beendet werden kann, weil die Lösung erst in der Zukunft er-
folgt. Wir bemerken dann das Gefühl der Unruhe, des Zweifels,
der Erwartung und Furcht, wir müssen eine Zeitlang weiter-
denken, und dies allerdings namentlich dann, wenn ein besonderes
Interesse oder eine Gefühlsbetonung an sich der Reflexion
beiwohnt, z. B. wenn es sich um eine Sorge wegen Krankheit,
um einen schwebenden Hauskauf u. dergl. handelt.
Der zweite Anlass zum Denkzwang ist ein stärkerer und
insbesondere ein peinlicher Affekt an und für sich, welcher der
Vorstellung beiwohnt. Wer z. B. das Unglück gehabt hat, einen
nahen Angehörigen durch den Tod zu verlieren, kennt den eigen-
tümlichen psychologischen Zustand, der dann eintritt: die Vor-
stellung taucht dann eigentlich überhaupt nicht völlig
unter, wir bemerken das ihr anhaftende Gefühl, wie es mit uns
stetig herumgeht, wie es selbst bei fernliegenden Gedanken und
Beschäftigungen mitschwingt, eine Tendenz aufzusteigen bekundet,
wie es noch mehr auf die leiseste assoziative Berührung hin sofort
deutlich emporsteigt, wie es mit uns aufsteht und zu Bette geht,
wie es mit einem Worte eine stete Bereitschaft zum Bewusst-
werden in sich trägt. Verbindet sich gar der Affekt mit einer
unabgeschlossenen Vorstellung, einem Skrupel etwa, so ist diese
Tendenz doppelt stark, z. B. wenn Eltern ein Kind verloren haben
und sich vorwerfen, das durch ein Versehen verschuldet zu haben.
In sehr schöner Weise hat dies merkwürdige Verhalten C. G.
Jung?) sogar experimentell nachweisen können; er zeigte, dass
in Assoziationsversuchen, wo rasch auf ein zugerufenes Wort
irgend ein anderes geantwortet wird, das der Person einfällt,
dass da bei jedem irgend verfänglichen „Reizworte“ entweder
eine unmotivierte Pause entsteht oder ein Wort geantwortet wird,
welches die Beziehung mit der abnorm bereiten Idee verrät.
Bei einem jungen Manne, welcher des Diebstahls verdächtig war,
erhielt er so den Beweis für dessen Schuld. — Wir wissen
endlich, dass auch die intensive und häufige Beschäftigung mit
einem Gegenstande an sich eine verstärkte Bereitschaft zum
Wiederauftauchen hervorruft.
In der Leistung der geistigen Konzentration und der
Lenkung: der Aufmerksamkeit gibt es bekanntlich in der Norm
1) Die ausführliche Begründung kann nachgesehen werden in der schon
zitierten Arbeit von mir: „Ueber d. Grundlag. d. Zwangsvorst., Psych.
Wochenschr. 1901, No. 40.
3) C. G. Jung, Die psycholog. Diagnose des Tatbestandes. Jurist.-
psychiatr. Grenzfragen. IV. Bd. 2. Heft. Halle 1906.
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 853
viele Schwankungen: wo die Aufmerksamkeit zu lange gefesselt
wird, so dass Entscheidungen schwierig werden, nennen wir die
Personen pedantisch oder schwerfällig, wo jene zu schnell
abspringt, treffen wir zerfahrene oder „gedankenlose“ Personen.
Die ersteren sind „skrupulös“, die anderen leichtsinnig und
zerstreut. Dann haben wir in neuerer Zeit eine Methodik
kennen gelernt, wie man künstlich Willensentscheidungen und
gültige Vorstellungen ohne Begründung bei anderen hervorrufen
kann, das ist die Suggestion. Die Methode beruht im wesent-
lichen auf der künstlichen Steigerung der Aufmerksamkeit, der
geistigen Spannung unter Abschluss des assoziativen
enkens, dasselbe, was man auch, weun es ohne klare Absicht
ausgeführt wurde, als „Faszination“ schon kannte. Die „Ein-
bildung“ ist ein normaler Vorgang, welcher dem nahe kommt;
wer sich z. B. intensiv und mit Angst vorstellt, einbildet,
ernsthaft krank zu sein, der ist imstande, gegen das Gewicht
der Gegengründe sich eigensinnig zu verschliessen, ihnen gar kein
Gehör zu leihen.
Was folgt nun aus all diesen Ausführungen für den Ursprung
des pathologischen Denkzwanges? Die einfache Vergleichung
belehrt uns darüber, dass die wesentlichen psychologischen Fak-
toren bei den krankhaften Gestaltungen die gleichen sind wie in
den normalen Vorbildern. Abnorm ist nur die sachlich unmotivierte
Steigerung dieser Faktoren, und zwar durchschnittlich der pein-
lichen Affekte oder der Unschlüssigkeit bei den Kranken. Wir
müssen indessen bei diesem ziemlich ’alltäglichen Tatbestand über-
haupt ein Mehrfaches auseinanderhalten. Wir haben untersucht,
welche Kräfte in besonderer Weise, d. h. unabhängig von dem
normalen assoziativen Erinnerungsprozesse, das Aufsteigen und
Beharren psychischer Elemente hervorbringen.
Nun wirken schon die gleichen Faktoren, zum Teile wenigstens,
bei den psychischen Geschehnissen, welche gar nicht in die
assoziativen Verkettungen eingeschaltet sind. So wird bekanntlich
das Hervortreten eines Schmerzes, eines Muskelkrampfes, des Er-
rötens befördert, wenn die Person mit ängstlicher Spannung förmlich
darauf wartet. Solche „autosuggestive“ Einflüsse indessen haben
wir als unechte Form des Denkzwanges früher bereits aus-
geschieden. Handelt es sich hingegen um Vorstellungen und
Willensimpulse, so wissen wir, dass diese erst recht durch einen
gesteigerten Affekt oder durch peinliche Zweifel unverdrängbar
werden, wenn sich diese letzteren z. B. mit der Idee der Eifer-
sucht oder einer Rechtskränkung verknüpfen. Das sind alsdann
die früber ausführlich besprochenen überwertigen Ideen. Und
in der Hauptsache, das Gleiche geschieht, wenn ein affektvoller
Impuls triebartig stark wird, z. B. das Streben, sich etwas an-
zueignen, einem sexuellen Gelüste zu gehorchen, einen Brand anzu-
legen. So erklärt sich der gebieterische Drang bei den sogen.
impulsiven Monomanien. Man könnte da auch von einer gesteigerten
„Zuelstrebigkeit“ reden.
304 = Friedmann, Ueber die Abgrenzung
Wie verhält sich nun aber der Denkzwang bei den echten
Zwangsvorstellungen? Ich meine, man wird jetzt zugeben, dass
die psychologischen Grundlagen für ihr gesteigertes Streben und
Drängen, um ins Bewusstsein zu treten, an und für sich die
gleichen sind wie bei den anderen Formen. Wieder treffen wir
die gleichen peinlichen Gefühlstöne, dieselben ängstlichen Bedenken,
die gleiche Unabgeschlossenheit. Hier also stossen wir nicht auf
ein eigentliches Problem. Ein ganz anderes Moment ist das
Spezifische und Seltsame, und erst dieses erklärt das besondere
Gefühl des Ueberwältigtwerdens bei dem Träger der Idee. Er
hat das Gefühl, dass die Idee nicht sein geistiges Eigentum ist,
dass er von Rechts wegen ihrer Herr werden müsste. Er steht
ihr mit normaler Intelligenz und mit an sich gesunder Kritik
gegenüber, er erkennt ihren Unwert oder sogar ihren Widersinn.
Das. Krankhafte also ist, nicht dass der Zweifel und der Affekt
ihn bedrängt, sondern dass er überhaupt existiert und auf
ihn wirkt,
Diese für das Verständnis des Vorganges entscheidende Tat-
sache möge, obwohl sie früher ausführlich begründet wurde, hier
nochmals durch einen klassischen Fall belegt werden: ein 22jähriger
kluger, lebensfroher und sonst normaler Kaufmann (Tabakhändler)
wirft eines Tages einige Gramm Kleesalz in den Abort. Alsbald
wird er von der Idee verfolgt, das sei falsch gewesen, denn die
Substanz sei giftig; nun denkt er sich, das Salz könne durch die
Schwemmkanalisation in den Rhein, von da in einen Fisch und
von diesem in einen Mensch gelangt sein, der den Fisch verspeist.
Er hält selbst die Idee für so törıcht, dass er noch keinem
Menschen und keiner Seele davon zu sprechen wagte. Dennoch
muss er, um sich zu überzeugen, Experimente anstellen.
Einmal trinkt er eine Kleesalzlösung ohne jeden Schaden und
schüttet den Rest weg; gleich darauf fürchtet er, er könne
„vielleicht“ schon einmal einen solchen Versuch gemacht und
dabei vergessen haben, den Rest zu beseitigen. Statt eines
Skrupels hat er nun zwei, und ganz ebenso ergeht es ihm bei
Experimenten, wo er das Kleesalz in eine Zigarre brachte, die er
ohne Beschwerde raucht, wobei er aber nun fürchtet, von der
Substanz möchte etwas auf den Fussboden und an die Tabak-
vorräte gelangt sein. Er kennt die Torheit all dieser Ideen, aber
seit Jahren lassen sie ihm keine Ruhe. Und man sieht, wie deutlich
ihr Sinn und Inhalt auf ihn wirkt.
In dem so gefassten Probleme finden wir aber wiederum
zweierlei Fragen. Zunächst die: warum verhält sich schon
die logische Funktion des Patienten so eigenartig, warum
widerstrebt sie zwar, tritt aber dann in den Hintergrund und lässt
die Idee gleichsam gewähren?
Wir führen das gleich näher aus. Der eine Kernpunkt bei
der Entstehung der Zwangsvorgänge ist also das normale
Verhalten der Kritik. Indessen, das ist es doch nicht allein,
was den subjektiven Standpunkt gegenüber dem Inhalte der Idee
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 355
bedingt. Wir sahen früher, dass es gar nicht zu einem vernünftigen
Ueberdenken und Verarbeiten der Idee kommt, dass sie meist von
Anfang an als lästiger Fremdkörper betrachtet und isoliert
wird. Zum Teile freilich kann man gar nicht darüber reflektieren,
so z. B. bei einer zwangsweisen, obszönen oder abscheulichen
Kontrastidee. Zum anderen Teile aber erstaunt man doch, dass
eine Fragesucht gerade die unfruchtbursten Ideen herauskramt,
eine dürre Weide für das Nachdenken, wo so viele ergiebige
Probleme ringsberum vorhanden wären. Drittens aber will auch
der Träger der Idee gar nicht nachdenken darüber, und das ist
zweifellos hier vom Uebel. Ueber die Einbildung, Stecknadeln
verschluckt zu haben, oder den Gedanken, dass einer heute nicht
das gleiche Ich wie gestern sei, darüber lässt sich in der Tat
nicht verständig verhandeln; aber wenn jene Frau sich denken
musste, sie habe durch ihren kleinen „Klaps“ die tödliche Gehirn-
geschwulst ihres Gatten hervorgerufen, oder wenn jener Barbier
wegen zweier harmloser Ungeschicklichkeiten beim Rasieren gleich
Werkzeug und Beruf ohne Umstände an den Nagel hängt, da
wäre es doch sicherlich Art eines vernünftigen Menschen gewesen,
erst ganz systematisch die Sachlage zu klären, ja sogar in alle
Winkel der Frage hineinzuleuchten. Aber nein! Unsere Zwangs-
patienten wollen stets den Stier ohne weiteres bei den Hörnern
packen; sie sind innerlich überzeugt, dass es sich nur um Ein-
bildungen handelt. „Das Ueberlegen ist nutzlos,“ sagte jene Dame
mit der Defäkationsphobie, „es reitet mich nur tiefer hinein !).“
Nar die Phantasie arbeitet also wirklich, und diese muss natürlich
dem herrschenden Affekt der Furcht gehorchen.
Dass also Schwäche der Willenskraft und ungenügende
Schulung oder Erziehung der Denkgewohnheiten oft einen
wesentlichen Teil der Mitschuld trägt an der ganz unzulänglichen
logischen Bekämpfung der Missgeburt der Einbildungskraft, das
ist nicht wohl abzuleugnen.
Man wird das Gesagte nicht missverstehen. Wir sprachen
soeben von der Intelligenz und der logischen Funktion. Im
allgemeinen geht diese stets Hand ın Hand mit derjenigen Ver-
richtung, welche die Lenkung unserer Gedanken und den Ab-
schluss von Urteilen und Willenshandlungen regelt, d.h. wir denken
und tun nur das, was wir für logisch begründet halten; und wirken
starke und unvermittelt hervorbrechende Affekte ein, so wird für
gewöhnlich die Vernunft sie entweder besiegen, oder sie werden
umgekehrt die Vernunft umstimmen und so auch zur logischen
Ueberwertigkeit gelangen. Bei den Zwangsvorgängen nun, sagten
wir soeben, sei auch die logische Funktion nicht voll und ganz
1) Dass ein Patient so wie der soeben geschilderte junge Tabakhändler
mit seiner Idee „oxperimentiert“, das ist eina entschiedene Ausnahme. Im
übrigen sahen wir doch, wie er gerade bei seinen Experimenten wieder die
Logik ausschalte. Obwohl in ihnen klare Gegenbeweise stecken, beweisen
sie ihm doch gar nichts; umgekehrt werden sie nur Anlass zu neuen törichten
Skrupeln.
SUB s m — — —— A, m
[ ER Ze — 5 Ze DIE — —
356 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
auf ihrem Platze; sie ziehe sich nicht nur gezwungen, sondern
auch freiwillig mehr als nötig zurück, grossenteils infolge un-
enügender Disziplin im Denken. Indessen ist schon oft und mit
Recht von den Anhängern des Westphalschen Standpunktes ein-
geworfen worden, dass diese Ueberwindung der Intelligenz nur
eine scheinbare, eine formale sei, im Gegensatze zur alten „Be-
sessenheit“., Man darf in der Tat sagen, dass die logische
Funktion bei den Zwangsvorgängen immerhin noch die Rolle
eines Regisseurs hinter der Szene übernimmt. Aber das ist
sicherlich nur cum grano salis zu verstehen; aktive Impulse und
praktische aktive Folgerungen aus den obsiegenden Zwangsge-
danken werden zweifellos nur soweit ausgeführt, als dies ohne
wahren erheblichen Schaden geschehen kann, in der Regel
wenigstens. lch meine indessen, darin erkennen wir auch die all-
emeine Signatur der Energieschwäche bei der Mehrzahl unserer
Patienten, welche Janet sich so unermüdlich zu schildern bestrebt
hatte. Den Unterlassungen geben sich diese Kranken fast
ohne jeden Halt hin, Janet hat eine Fülle von Beispielen beige-
bracht, welche von dem scheinbar unglaublichen derartigen Falle
Jahrmärkers nicht allzusebr in den Schatten gestellt werden;
freiwillige Einsperrungen, Aushungern bis zur Lebensgefahr,
äusserste Vernachlässigung der mütterlichen Pflichten und der
Reinlichkeit sind ın der mehr exzentrischen französischen Be-
völkerung hier offenbar nichts Unerhörtes. Und wie früher gesagt,
wir sind nicht befugt, die bestimmten Versicherungen derintelligenten
und geistesklaren Patienten einfach abzustreiten, dass ihr Glaube
an ihre Ideen ein wirksamer sei, trotz des logischen Widersinnes.
Man darf in der Tat zweifeln, ob in der Weltgeschichte nicht
ein analoger, wenn auch ethisch wertvollerer Glaube die Schick-
sale unseres Geschlechtes mehr gelenkt habe als die damit oft
streitende Vernunft.
Soviel von der einen Seite des Problems.
Wir verstehen damit die eigenartige psychologische Gestaltung
des ganzen Gebildes, seine Isolierung als Fremdkörper in dem
geistigen Getriebe und Sein, den Tatbestand, dass die Idee nicht
anerkannt wird und dennoch wirkt. Das aber geschieht, um es
nochmals ın Kürze zu wiederholen, entweder dadurch, dass hier
Ideen konzipiert und stark werden, welche überhaupt keine Be-
rührung mit der Logik besitzen, weil sie eben zu widersinnig sind;
oder aber, wo das nicht zutrifft, dadurch, dass der Intellekt, d. h.
die vorhandenen logischen Fähigkeiten des Subjektes, gleichsam
einen Verzicht, eine Art von mutloser Neutralität üben.
Das betraf indessen nur die negative und zweifellos minder
erhebliche Seite des Problems. Wir verstehen damit noch nicht
die positive Wirkung der Ideen, noch nicht, woher die Kraft
und Macht entsteht, vor welcher der Intellekt die Segel streicht.
Nun ist man, wie bereits oben gesagt, schon längst sich klar
darüber, welche Faktoren hier im Wesentlichen in Betracht kommen.
Da eine wirkliche Täuschung und Schwächung der logischen Funk-
und die Grundlagen der Zwangsvorstelluugen. 867
tion nicht vorliegt, so musste man fragen: 1. ob und wodurch
eine abnorme Verstärkung der Gefühlsbetonung bewirkt wird,
welche direkt die Geltung der Ideen im Subjekte steigert. Und
es war zu prüfen, ob nicht 2. der Widerstand, welchen der
Patient gegen ihre Geltung übt, schon von Hause aus verringert
ist, und dies an einer spezifischen Etappe des logischen Prozesses.
Es konnte nämlich die Kraft geschwächt sein, vermöge welcher
das Subjekt seine logische Entscheidung durchsetzt und aus-
führt, seine Exekutive sozusagen, d.h. die Fähigkeit, die Auf-
merksamkeit zu lenken und anzuspannen, das Mass der geistigen
Energie mit einem Worte. Und dieses gerade hatte Janet von
jeher in den Vordergrund gestellt.
Wir fragen also zunächst: wodurch wird die Geltung
und die Gefühlsbetonung der Ideen in direkter Weise
verstärkt? Von den Vorstellungen und Impulsen selbst wird
dies, soweit ich sehen kann, auf dreifache Weise mehr oder
minder direkt begünstigt:
1. Die Tatsache, das die Zwangsvorgänge regulär einen ganz
konkreten und plastisch anschaulichen Inhalt besitzen, führt
schon darauf hin, dass bestimmte, von peinlichem Affekt be-
gleitete Erlebnisse oder Wahrnehmungen häufig den Ur-
sprung der Idee herbeiführen. Wohl die meisten Sorgen und
Befürchtungen folgen diesem Entstehungsschema: in einem Hause
hatte sich eine zu Besuch weilende Tochter erhängt, nachdem sie
vorher eine Melancholie mit stürmischer Irrtumsangst dargeboten
hatte. Schon wenige Tage darnach kam die vorher gesunde
Mutter mit Zwangsfurcht vor Herzschlag und die andere Tochter
mit dem Zwangsimpuls, sich gleichfalls das Leben zu nehmen
zu mir, obwohl sie jung in glücklichster Ehe verheiratet war.
Personen, welche zuerst einen epileptischen Anfall mit angeschaut
haben, können sich oft lange nicht schützen vor der Furcht, das
gleiche zu erleiden. Ein Brand im Nachharhause bewirkt die un-
aufhörliche Angst, es möge bei Nacht oder wenn die Person aus-
wärts weilt, in ihrer Wohnung Feuer ausbrechen. Lektüre medi-
zinischer Schriften oder nervöse Symptome führen ungemein
häufig zu der plötzlich ausbrechenden Zwangsfurcht vor Geistes-
krankheit; bei einer jangen Frau war diese Furcht verknüpft mit
der Halluzination einer dicken verrückten Frau. Für diese
Sinnestäuschung ergab sich nachträglich eine interessante Her-
kunft: Die Patientin hatte früher gegenüber ihrer Wohnung die
Tobzelle des Krankenhauses, deren Getöse sie oft hörte. Ausser-
dem besass sie in ihrem Verkaufsladen das Reklamebild einer
dicken, Kaffee trinkenden Frau. Deren Abbild war ihre Hallu-
zination. Nachdem die Patientin diesen Ursprung erkannt hatte, .
verschwand der Schrecken vor der Illusion und bald diese selbst.
Zartfühlende und ängstliche Patienten glauben leicht in dem
Mienenspiele des anderen eine gewisse Unzufriedenheit oder Ge-
kränktheit zu erkennen; daraus erwächst leicht der zwangs-
358 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
mässige Skrupel, ein Versehen im Benehmen begangen zu haben.
Eine zur übertreibenden Aengstlichkeit neigende Frau liest eines
Tages einen längeren Artikel über die Pest; seither lässt ihr der
Gedanke keine Ruhe, dass sie selbst von der Pest ergriffen werde,
und dabei weiss sie sehr wohl, dass das unsinnig sei; denn die
Pest hause ja nur in Indien. Wie der traurige Anblick des Fried-
hofes eine aufgeregte Frau zu der Furcht vor Bäumen in einer
unsinnigen Fassung gebracht hat, wurde schon oben einmal er-
zählt. — Wohl fast von allen Phobien kann man behaupten,
dass sie bei einem bestimmten aufregenden Vorkommnisse ent-
standen sind: Eine Dame bekommt den „Platzschwindel“, aber
auf eine sonderbare und fernab liegende Art; ihr Gatte macht
sich eines — allerdings nicht öffentlich ruchbar gewordenen —
bedenklichen Uebervorteilungsversuches schuldig. Die Frau schämt
sich und ihr wird unwohl auf der Strasse, sie fürchtet von da
ab das Ausgehen. Oefter kommt es vor, dass, infolge von Magen-
störung z. B., an irgend einer Stelle auf der Strasse ein Schwindel
sich einstellt. Von da ab wird das Ausgehen, namentlich aber
gerade dieser Ort, lebhaft gemieden. Ein Kind sieht Nachts ein
weisses Hemd, entsetzt sich und schreit fürchterlich; nun kehrt
es um keinen Preis in das Zimmer zurück, ja es will sogar, wenn
es unterwegs ist, nicht mehr nach Hause zurückkehren. Ein
Herr bekommt zweimal Urindrang, während er in hoher Gesellschaft
beim Essen sich befindet; er kann sich nur mühsam entschliessen,
solche Festlichkeiten wieder mitzumachen, zu welchen ihn sein
Ehrgeiz aufs intensivste drängt.
Genug der Beispiele! Sie sind ja jedem Fachgenossen aus
eigener Erfahrung zur Hand. Der psychologische Hergang in
diesen Fällen bietet uns immerhin ein grösseres Interesse; denn
fürs erste finden wir das einfachste Schema, wie Zwangs-
vorgänge zustandekommen. Es wird nichts anderes aus eigenem
hinzugetan, als dass der Patient, oft ganz ohne Grund, fürchtet,
es werde ihm „das gleiche passieren“, was er gesehen, ge-
lesen oder sonstwie erfahren hat, oder aber es werde ein zu-
fälliges einmaliges Erlebnis regelmässig wiederkehren. Ferner
sehen wir, wie stark ein einmaliger starker oder chokartiger
Eindruck nachwirken kann. Das Zusammentreffen von Schreck
mit der Vorstellung bindet diese beiden Elemente fester zu-
sammen und gibt der Vorstellung eine besondere logische Be-
deutung, und zwar je nach deren Inhalt bald die „Eigen-
beziehung“ auf das Subjekt, welches das gleiche erleiden wird,
bald die Verstärkung einer Vermutung (jemanden beleidigt zu
haben), bald die unbestimmte Idee einer ständigen Gefahr, selbst
in der törichten Form, dass die Bäume wie Pferde „ausschlagen‘“
(Gleichklang des Wortes „ausschlagen‘“). |
Woher nun kommt es, dass am Ausgangspunkte eines so
grossen Bruchteiles, ja der Mehrzahl wohl aller Zwangsvorgänge
ein solches shockartig wirkendes Erlebnis oder eine plötzlich
hereinbrechende Aufregung steht? Die Tatsache hat gar nichts
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 359
Verwunderliches, sie ist einfach die Kehrseite der ganzen
logischen Gestaltung des Zwangsgebildes, und sie rührt. davon
her, dass im ausgesprochenen Gegensatze zur überwertigen Idee
dort nicht der logische Wert der Vorstellung, sondern ibr
plastischer Wert, wenn ich so sagen darf, zur Geltung gelangt,
die Art, wie die Phantasie durch jene erregt und erschüttert
wird. Es ist aber doch klar, dass das Gemüt und die Pban-
tasie am stärksten ergriffen werden durch etwas, was
lötzlich und unerwartet auf das Subjekt einstürmt. Der
Schreck über das Versagen einer längst geübten Technik des
Rasierens, desHornblasens, des Rezeptschreibens lähmt die Energie
der Person, selbst wenn sie sich sagt, dass sie die Technik ganz
wohl beherrscht. So entsteht dann eine Berufsphobie. Ganz
ähnlich steht es bei den körperlichen Funktionen. Wie’ anders
war es bei einem Verwalter, der nach einjähriger Zurruhesetzung
sich überreden liess, die Regie eines enorm komplizierten Ziegel-
werkbetriebes wieder zu übernehmen: er merkt, dass er sich
damit zu grunde richtet, er sieht nun alle die vielen Ansprüche
und Schwierigkeiten, welche an ihn herantreten, er fühlt den
Nachlass seiner Kräfte und seiner geistigen Energie. So entsteht
eine viel. grössere Angst vor seiner Tätigkeit als bei einem
Phobiepatienten, alle Tage übermannt ihn wieder der Gedanke,
lieber den Tod suchen, als so weiter zu arbeiten. Aber das ist
keine Zwangsfurcht, wie wir sie verstehen, sie stützt sich voll
und ganz auf die realen Gründe und die Furchtidee ist der
Komplex all dieser Gründe; nicht trotz seiner Einsicht, sondern
durch seine Einsicht erliegt er der Furcht. — Mit am klarsten
aber drängt sich uns die Wirkung des unmittelbaren Affektes da
auf, wo er entgegen der offenbaren Evidenz die Entstehung einer
Erinnerungstäuschung erzwingt, wenn sich jener Schullehrer,
oder jenes junge Mädchen die Situation einer Untat so deutlich
vorstellen, dass sie sich sagten: „Das hast du selbst getan“; und
nicht weit davon liegt es ab, wenn jene Dame, indem sie die
allgemeine Entrüstung über die scheusslichen Misshandlungen
Diebolds in dem berüchtigten Prozesse teilte, zu dem Selbst-
vorwurf gelangte: „Du hättest das verhindern können und müssen“,
während ıhr wahrer Gedanke zweifellos lautete: „Man hätte das
verhindern müssen“.
2. Es gibt eine Anzahl von Fällen, wo der durch ein Er-
lebnis der besprochenen Art hervorgerufene Affekt bei besonders
erregbaren Naturen genügt, um an sich eine Zwangsvorstellung
ins Dasein zu rufen; wir sahen vorhin, wie der Selbstmord einer
gemütskranken Tochter, sowohl bei deren Mutter als bei der
zweiten Tochter, welche vorher beide gesund waren, Vorstellungen
vom Charakter der Zwangsfurcht im unmittelbaren Anschlusse
erzeugt hat. Der Lichtensteinsche Ladenmord in Frankfurt a. M.
erregte einen ängstlichen Ladeninhaber so stark, dass er für sich
und seinen Vater lebhaft das gleiche Schicksal 2 Jalıre lang er-
wartete; die Lektüre medizinischer Werke kann ebenso vorher
860 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
gesunde Personen mit Zwangsbefürchtungen sogleich erfüllen.
Diesen Ideen ist aber gewöhnlich keine allzulange Dauer be-
schieden und öfter genügen einige Bromdosen, um alsbald Ruhe
zu schaffen. Im allgemeinen muss also ein zweites abnormes
Element hinzutreten, das für die Verstärkung und Verlängerung,
bezw. Fixierung des Zwangsgebildes sorgt, und wir werden auch
dieses zweite Element, wenn es in der bezeichneten Art wirkt,
als ein aktives benennen, im Gegensatze zu den später zu be-
sprechenden passiven Momenten. Die gewöhnliche Ursache da-
für finden wir in einer allgemein gesteigerten abnormen Erregt-
heit, wie sie der Nervosität bezw. der Neurasthenie eigen-
tämlich ist. Dagegen bedingt für gewöhnlich ein melancholischer
Zustand keine reinen Zwangsideen, sondern entweder universale
Hemmüngen des Denkens oder infolge der trübenden Einflüsse
auf die Urteilskraft überwertige und Wahnideen.
Wichtig ist indessen hier ein anderes, Bei den periodischen
Verstimmungen, denCyklothymien, bleibt gewöhnlich ein eigent-
licher ängstlicher Affekt aus und die Intelligenzverrichtungen
sind nicht gestört. Wohl aber wird das Symptomenbild dieser
Formen ziemlich häufig beherrscht von Zwangsvorstellungen, sie
sind eine wahre Brutstätte für solche, und namentlich für die-
jenigen von seltsam gesuchtem und widersinnigem Inhalt.
Dafür werden teilweise die im nächsten Abschnitte zu besprechen-
den Hemmungen verantwortlich zu machen sein, noch mehr aber
wohl die eigentümlich selbstquälerische Stimmung dieser
Kranken. Da sie zu klug geblieben sind, um logisch unschwer
zu widerlegende Ideen zur Zwangsform oder zur Ueberwertigkeit
auszubilden, so grübeln sie, bis sie hängen bleiben an Be-
fürchtungen, die jenseits der praktischen Erfahrung stehen und
darum auch unbehelligt bleiben von logischen Widersprächen ihres
kritischen Gewissens. Daher der Wıdersinn. Indessen gibt es
auch mehr abstrakte Werte, die ebenfalls nicht wohl logisch
entschieden werden können. So hatte ein gemütvoller, aber pein-
lich gewissenhaft veranlagter Rechtsanwalt zu solchen Zeiten die
übliche Furcht vor den Entscheidungen in Prozessen, ausserdem
aber noch die ihn aufregende Zwangsidee, dass er im Leben und
Berufe es „nicht weit genug gebracht“, nicht genug Erfolge er-
rungen habe; gleichwohl wusste er, dass er beruflich und sozial
hochgeachtet war, und dass seine Praxis (deren er nicht einmal
zur bequemen Existenz bedurfte) zweifellos eine das mittlere
Mass überragende war. Häufiger kommen die unverständigen
Skrupel und Befürchtungen vor: jener geistig bedeutende Kauf-
mann, welchen die Idee verfolgt, er habe durch ein höfliches
Wort seinem Gehilfen sein Vermögen angeboten, gehört hierher;
andere haben die Idee ohne jeden Grund, sie hätten sich im
Laden Geld wechseln lassen, ohne das Geldstück selbst her-
zugeben. Bei einer Dame bildete sich aus der Tatsache, dass
ein leichtsinniger Bruder zum Auswandern nach Amerika ge-
zwungen worden war, die Zwangsidee heraus, jener werde eines
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 361
Tages unerwartet zurückkehren und im Zorne ihren Gatten und
Vater erschiessen. Ueber 1!j, Jahr lang schrak sie fast bei jedem
Klingelzeichen zusammen, in dem Gedanken, dass nun der Ge-
fürchtete vor ihr stehen werde. Einige Jahre vorher hatte sie
in der Periode der Erregung unter der Zwangsfurcht vor einer
Feuersbrunst im Hause andauernd gelitten, weil eben damals ein
Brand im Hause gegenüber sie erschüttert hatte.
In einem Falle meiner Beobachtung konzentrierte sich alles
Denken auf die öfter und noch soeben erwähnte Erinnerungs-
täuschung begangener Untaten. Sofort nach der Genesung, welche
nach 8 Monaten erfolgte, waren diese den Charakter des Zwangs-
denkens unverkennbar tragenden und überaus hartnäckig ge-
äusserten Ideen wie weggewischt. Ein junger Kaufmann war
jedesmal fast ausser sich vor Skrupeln, wenn er einen freundschaft-
lichen Rat in Börsensachen auf Verlangen erteilt hatte.
3. Ein drittes, sehr wirksames Unterstützungsmoment für
die Zwangsvorstellungen liegt in der Hyperästhesie, in der
nervösen Ueberempfindlichkeit des Qb fühles. Darauf be-
ruhen die Zwangsvorstellungen des Ekels und die öfter darauf
basierende Furcht vor Infektion. Mit dieser Furcht können sich
z. B. autosuggestiv erzeugte Berührungsempfindungen verbinden;
spie jemand aus, so fühlte z. B. ein Patient, wie Teile des Sputums
bis an seine Stirn flogen. Die gesteigerte Empfindung lässt ferner
diese Personen einen Druck auf der Brust, eine Parästhesie am
Herzen und dergleichen schwer ertragen; daraus entwickeln sich
das eine Mal jene bekannten „Algien“ und „Topalgien“, wie sie
Janet bezeichnet, das andere Mal die Phobien, die Furcht vor
körperlichen Verrichtungen, z. B. dem Urinieren, dem Gehen
(Abasie), dem Treppensteigen. Ein ohnehin ausserordentlich
starker Erwartungsaffekt!) gestaltet sich hier in beiden Fällen
um so stürmischer, als die Empfindungen und Funktionen täglich
viele Male wiederkehren. Diese praktisch wichtigen Symptome,
speziell die Furcht vor lokalen Parästhesien, kommt gar nicht
selten isoliert zur Beobachtung; richtig ist aber, dass es sich
noch öfter um neuropathische Naturen mit psychischen
Hemmungen handelt, und die Berührungsfurcht vereinigt sich
daher ziemlich oft mit einer Zweifel- und Skrupelsucht (folie du
doute avec crainte de toucher).
Sonderbar ist es, zu sehen, wie häufig der Sammeltrieb
für herumliegende Papierfetzen gegen den erklärten Willen des
Patienten gleichzeitig ausgebildet ist. Man wird wohl annehmen
dürfen, dass das empfindliche Gefühl für Ordnung hier verletzt
wird und dass also auch hier eine Hyperästhesie dem Triebe zu-
grunde liegt.
Neues habe ich im übrigen dem allgemein Bekannten bei
diesen Kategorien der Zwangszustände nicht hinzuzufügen. Dass
1) Als Beispiel ähnlicher überwertiger Angst mag an die oft
stärmische Verzweiflung über den Pruritus vulvae bei Frauen erinnert werden.
362 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
allerlei Vorstellungen sich den Ideen der Verunreinigung bei-
gesellen auf assoziativem Wege, ist leicht erklärlich; so entstehen
nicht selten sexuelle Abneigungen durch die Vorstellung des
Abscheues vor der Befleckung durch die Kohabitation, sonderbare
hypochondrisch gefärbte Skrupel sind noch häufiger dabei, z. B.
der Gedanke, dass das Gift der Hundswut überall da drohe, wo
ein Hund vorbeigelaufen ist. Auch die rituellen Reinheitsgebote
der mosaischen Religion verknüpfen sich ähnlich.
Damit verlassen wir die Erörterung der Elemente, welche
eine Affekt- und Gefühlsbetonung oder eine direkte Intensitäts-
steigerung des Inhaltes der Zwangsgebilde bedingen und welche
wir als die aktiv wirkenden Momente zusammengefasst hatten.
Im ganzen konnten wir uns dabei auf dem Boden des Tat-
sächlichen bewegen; denn die Feststellung des ängstlichen oder
peinlichen Gefühles, ferner seiner ersten Entstehung in Gestalt
einer chokartigen Erregung und seiner Steigerung durch eine
allgemeine Nervosität oder durch eine unruhige Verstimmung,
welche periodisch wiederkehrt, endlich einer Ueberempfindlich-
keit gegen Ekelvorstellungen und dergleichen ist Sache direkter
klinischer Beobachtung. Inwieweit etwas Aehnliches für die pas-
siven Momente zutrifft, soll jetzt untersucht werden.
Indessen schon aus allgemeinen, also deduktiven Gründen
ist anzunehmen, dass eine spezifische Eignung des Sub-
jektes erforderlich sein wird, um aus der gefühlsbetonten Vor-
stellung eine Zwangsvorstellung zu machen. Wäre das nämlich
nicht so, so müssten erstlich die Zwangsvorgänge noch sehr viel
häufiger sein, als sie tatsächlich vorkommen. Zweitens hat ja
gerade die Wissenschaft, und zwar hauptsächlich einem syste-
matischen und diagnostischen Bedürfnisse folgend, aus der grossen
Gruppe der zwangsmässig sich aufdrängenden psychischen Vor-
gänge nur eine bestimmte darunter herausgegriffen und als
Zwangsvorgüänge Kat’exochen bezeichnet im Gegensatze zu
überwertigen Ideen und Impulsen und zu zahlreichen unleidlich
empfundenen Trieben und Gefühlen einfacherer Art, und diese
Besonderheit liegt eben nicht in der Natur der gefühlsbetonten
Vorstellung an sich, sondern in der Art, wie das Subjekt darauf
reagiert. Und drittens kennen wir bereits aus den Parallelen
im normalen Seelenleben die Naturelle, welche sich so ungefähr
verhalten, wie unsere Patienten, nämlich die Pedanten und die
Phantasten und noch mehr jenes sonderbar widerspruchsvolle
Zwitterding, das aus der Vereinigung beider geboren wird, die
pedantische Phantastik, die Grillenfänger etc.
Da es stets sich in all diesen Fällen darum handelt, dass
die Personen etwas denken oder tun müssen, was sie nicht
wollen, so kommt alle Male eine Hemmung oder Schwächung
der Fähigkeit in Betracht, das Kommen und Gehen der Vor-
stellungen zu regulieren und gefasste Willensentschlüsse zur Aus-
führung zu bringen. Die Wirkung dieser Hemmung aber würde
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 363
sich in dreifacher Weise gliedern, bezw. es müssten sich dadurch
folgende drei Fragen beantworten lassen; 1. Ist es nachweisbar,
dass ganz allgemein die logisch minderwertigen Zweifel, Be-
denken und Befürchtungen auch dadurch mächtig und wirksam
werden und bleiben, dass dem Träger derselben die Fähigkeit,
sich willkürlich davon abzuwenden, primär mangelt? Und noch
eine Etappe im Denken vorher haben wir zu untersuchen:
schiessen, von den von aussen her shockartig induzierten Zwangs-
ideen abgesehen, aus dem Innern heraus neue und abnorme
Vorstellungen dadurch hervor, dass 2. Denkprozessen der Abschluss
versagt bleibt oder dass sie als abschlussunfäbig dadurch impo-
nieren, dass sich Zweifel an hinreichend klare Vorstellungen
anknüpfen, und erkennen wir, dass 3. zufällige Einfälle und
mechanischeldeenassoziationen sich besonders leicht geltend
machen?
Diese Fragen sind bekanntlich nichts weniger als neu, sie
finden sich schon in Arbeiten, deren Abfassung ın ziemlich weit
zurückliegende Perioden der Zwangsideenforschung fällt. Es wird
sich daher auch hier am wenigsten ein wesentlich neuer Gesichts-
punkt durchführen lassen. Aber andrerseits ist dieses Problem
mit das bedeutungsvollste unter allen hier in Betracht kommenden
psychologischen Fragen, und deshalb müssen wir darnach trachten,
uns klar zu werden, auf welche Begründung sich die Lehre von
der Hemmung der regulativen Fähigkeiten im Denken
stützen kann. Dass sie von vornherein sehr plausibel und sogar
wahrscheinlich klingt, wird wohl von keiner Seite heute bestritten
werden. Wir können nicht in die Seele der Patienten hinein-
sehen, und so liesse an und für sıch die Annahme ganz wohl sich
vertreten: die Gefühlsbetonung sei eine so starke, namentlich der
Zuwachs durch die nervöse Erregtheit sei so gross, dass beide
allein genügen, um sich andauernde Beachtung bei ihrem Träger
zu erzwingen. Dies könnte in der Tat am ersten geltend gemacht
werden für die widersinnigen, aber stark aufregenden Ideen, z. B.
die Kontrastverwünschung mit der Furcht, dass die betroffene
geliebte Person dadurch wirksam erreicht wird, die wiederholt
erwähnte Diebold-Idee und dergleichen. Aber schon bei der
zweoklosen metaphysischen Grübelsucht versagt diese Erklärung;
und bei solchen Ideen, welche gleich der Pestfurcht oder einer
zwangsmässigen Furcht vor dem Heiraten sehr wohl einer gründ-
lichen Ueberlegung zugänglich gewesen wären, unterbleibt eine
solche, und dies aus einem sehr’ charakteristischen Grunde. Den
Patienten fehlt nämlich die Kraft, die Idee wirksam zu be-
kämpfen, sie fühlen ihre eigene Schwäche und suchen
lieber fremde Hilfe auf. Die Gegensuggestion des anderen
würde aber nicht fruchten, wie sie es tut, wenn die Idee selbst
so übermächtig wäre. Allerdings muss die Gegeneinwirkung stets
von neuem wiederholt werden, weil sie nicht lange vorhält.
Ferner kann jeder nur halbwegs verständige Patient, wenn
anders er aufrichtig gegen sich selbst sein will, uns berichten,
364 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
dass bei den Hemmungsphobien das Gewicht der Entscheidung
nicht bei seinen Befürchtungen, sondern bei seinem Zaudern und
Zurückscheuen vor der Ausführung der Handlung liegt. Darum
sucht er sich vor sich selbst zu entschuldigen dadurch, dass er
halb absichtlich seine körperlichen Beschwerden, den Schwindel etc.
übertreibt; und darum wirkt hier so oft schon ein kleiner Alkohol-
genuss Wunder, nicht weil er die Parästhesien oder die Furcht
wegräumt, wohl aber, wie jeder weiss, weil er die Hemmungen
beseitigt. Endlich sind in ausgeprägten Fällen bei geborenen
Neuropathen die psychischen primären Hemmungen oft mit
Händen zu greifen; hier treffen wir das öfter schon mit Recht so
genannte klebende Denken und Handeln; das Ankleiden dauert
eine bis zwei Stunden, jedem Entschlusse stellen sich die Hinder-
nisse bündelweise entgegen; die Patienten können kein Buch mehr
lesen, weil sie an jedem Satze, ja an jedem Worte hängen bleiben
und so fort. Personen mit überwertigen Ideen sind oft tatkräftige
Naturen, und ein Herr, der von Reue über einen Grundstückkauf
gepeinigt war bis zum Lebensüberdrusse, empfand daher nicht
den erwarteten Verlust so stark, sondern die Scham vor sich
selbst, dass ihn seine sonstige klare Klugheit hier im Stiche
gelassen hatte. Personen mit Zwangsideen dagegen sind meist
weichlich und suggestibel.
Wir kommen zu unserer zweiten Frage. Hier sind die
Schlüsse nicht wesentlich indirekter Art wie leider zum Teile
bei der vorangehenden Frage und bei der folgenden. Es handelt
sich um die Fragesucht und namentlich um die Irrtumsfurcht.
Die erstere ist klar, es wird nur gefragt, um zu fragen, nicht um
Antworten zu gewinnen, und das ewige Drehen im gleichen Kreise
ist kennzeichnend genug für das gesamte Denken. Ueber die Irrtums-
furcht habe ich schon früher einmal gesprochen. Man hat nicht
ohne Grund aufmerksam gemacht, dass die Zerstreutheit und die
Gedächtnisschwäche leicht Anlass gebe, dass ein skrupulös ängst-
licher Patient sich hinterher Sorgen mache, dass er unbewusst
einen Fehler begangen, fremdes Eigentum eingesteckt habe und
dergleichen. Die wichtigste Quelle dieser Furcht aber beruht
auf der Tatsache, dass sowohl den Erinnerungen als den
Urteilen das normale Geltungsgefühl mangelt; und zwar
fehlt es deshalb, weil die Entscheidung schon mit der normalen
Energie nicht vollbracht wurde und weil jene früher erwähnte
Willensleistung nicht zustande kommt, welche eine Reflexion
abzuschneiden sich getraut an der Stelle, wo ein hinreichendes
Uebergewicht der Gründe erlangt worden ist. Man versteht
es daher, dass in besonders typischer Weise solche Skrupel bei
abgearbeiteten Juristen ausbrechen, einerseits weil jene Ent-
schlossenheit des Denkens ihnen infolge der Ermüdung und Er-
schlaffung abhanden gekommen ist, andererseits weil das ihnen
anerzogene logische Zergliedern ihnen nunmehr aus dem gleichen
Grunde Mühe macht.
Bei einfacher Erinnerung kann eine Täuschung auf
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 365
autosuggestivem Wege zu stande kommen, und je mehr. die
Patienten durch den Denkzwang sich die trügerische Situation
wiederholen, um so stärker wird die Täuschung. Seit den be-
rühmt gewordenen Experimenten Sterns über die Psychologie
der Aussage (als erichtlicher Zeuge) ist diese Möglichkeit selbst
bei normalen Menschen allgemein anerkannt, um so mehr kann sie
bei den erregten und des Selbstvertrauen ermangelnden Patienten
unserer Kategorie erfolgen.
| Das Fehlen dea Geltungsgefühles wird nun von den
Kranken direkt empfunden, - Es ist die Ursache, dass sie
‚ihre Berechnungen immer mehrfach revidieren müssen; nicht
so sehr Aengstlichkeit als das Gefühl der Unsicherheit ist
‚das Entscheidende. Die Personen können ganz zuverlässig
wissen, dass sie keine Fehler machen, es kann ihnen in Monaten
‚nichts. der Art passiert sein, sie mögen sich noch so sehr über
‚sich. selbst. ärgern, sie können das doppelte und dreifache Mass
-an Arbeit dadurch auf sich häufen: es hilft alles nichts, sie trauen
‚sich nicht mehr, sowie die Irrtumsvorstellung über sie gekommen
ist. Aus diesem Grunde treibt es eben all diese Patienten, sich
Gegensuggestionen zu holen bei anderen, und ein erfahrener
und als Autorität geltender Jurist kann durch die Zusicherun
eines jugendlichen Praktikanten Ruhe finden. a
Etwas komplizierter wieder ist die Beantwortung der dritten
Frage: Wieso häufen sich bei Patienten mit Hemmung
der regulativen Denkkräfte die Einfälle absonderlicher
‚Art? Oder: Wie lässt sich beweisen, dass diese Einfälle auf solchem
Wege zustande kommen? |
Für viele der Fachgenossen wird gerade die jetzt zu er-
-örternde psychogenetische Frage das grösste Interesse beanspruchen;
-denn sie haben, wenigstens bisher, nur die widersinnigen und
ganz „fremdartigen“ Ideen als echte Zwangsvorstellungen an-
‘erkannt. Eine Erklärung für einen Teil solcher Zwangsgebilde
allerdings haben wir schon vorhin gegeben. Der Ursprung war
'hier ein wesentlich anderer als der, welcher jetzt begründet werden
‘soll; ein selbstquälerischer Trieb in der Cyklothymie liest mit
‚einem gewissen Raffinement solche Ideen aus, welche 'zwar ab-
sonderlich, aber auch schwer zu widerlegen sind. Ausser den dort
angeführten Beispielen mag noch hingewiesen werden auf eine
"Skrupelsucht, welche überall fürchtet, den Nebenmenschen ge-
' krānkt und beleidigt zu haben. Bald hatte ein solches allzu zart-
fühlendes Fräulein zu wenig gesprochen mit dem anderen, bald
"hatte sie versäumt; ihre Dienste anzubieten, bald war die Antwort
des anderen zu kurz geraten, enthielt versteckte und zweideutige
Vorwürfe u. s. f. —
Wer nun die oft geradezu tollen und lächerlichen Einfälle
und Grillen unserer Patienten betrachtet, wer sieht, wie die Tage
-damit hingebracht werden, solchen ungereimten Kram auszuhscken,
wer aber weiss, dass die Personen gleichwohl intelligent und
Monataschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 4. 7 M
— — — —
366 ' Friedmann, Ueber die Abgrenzung
geistig sonst normal geblieben sind, der wird kaum zögern, sich
‘daraufhin die Erklärung zu eigen zu machen, dass da eine förm-
"liche Anarchie der Gedanken herrscht, dass die Vorstellungen
gleichsam auf eigene Faust und unbekümmert um das von Denk-
und Lebensanschauungen geleitete Subjekt auftauchen und zur
Herrschaft gelangen. Natürlich ist das nicht in so grober Weise
‘zu verstehen, denn so kann ein Deliriam alcoholicum sich aus-
nehmen, aber nie ein Zwangsdenken. Aber fürs erst2 muss man
sich klar sein, dass die strenge Zentralisation unseres geistigen
Lebens keine unbedingte ist; um sie zur Geltung zu bringen,
besitzen wir, wie wir wissen, schliesslich nur unsere Fähigkeit,
die Aufmerksamkeit zu lenken, die gewollten Vorstellungen dadurch
länger im Bewusstsein zu erhalten. Die verschiedenen Störungen
dieser Leistung haben uns im bisher Erörterten schon beschäftigt.
Dazu kommen aber noch gelegentliche, an sich ganz unmotivierte
Entgleisungen, wie sie jedem normalen Menschen da und dort
assieren: lächerliche Kontrastassoziationen drängen sich gerade
in die gefühlvoll pathetischen Situationen hinein, ein sinnloser
Impuls, z. B. ein wertvolles Objekt in den vorbeifliessenden Strom
zu werfen, hat, wie L. Meyer‘) vor Jahren schon einmal betonte,
wohl die meisten unter uns schon gelegentlich gepackt, uner-
wünschte Phantasiespiele mögen uns erschrecken oder beschämen.
_ Unsere Zwangspatienten legen indessen in dieser Hinsicht
eine wesentlich gröbere Zügellosigkeit an den Tag.. Insbe-
sondere sind die mehr mechanischen und sinnlosen Triebe bei
ihnen besonders zu finden: sie müssen bestimmte Schrittrhythımen
beim Gehen einhalten, bestimmte Zahlen als glücklich suchen und als
. unglücklich meiden, sie stecken voll von Symbolen und Aberglauben,
denen sie folgen müssen, wenn sie Ruhe haben wollen; ein Herr
musste neben seiner Skrupelsucht jeden Berufsgang vor- und
. rückwärts mit den Strassenfluchten sich vorstellen, jede Berechnung
von oben und von unten her addieren (ohne vorgestellten Zweck),
der Impuls fasste ihn, über seinen Gesellschafter auf der Strasse
hinwegzuspringen; die Patienten müssen Tagebücher mit dem
unnätzesten Detail ihrer Tageserlebnisse anlegen und anfüllen, sich
.hundert und tausend Male des Tages waschen, jedesKleidungsstück in
allen Fältchen darauf prüfen, ob Stecknadeln oder wertvolle Papiere
dahin geschlüpft seien, tagelang einen entflohenen Personennamen
suchen. Kurz, sie sind scheinbar willenlose Sklaven ihrer U eber-
treibungsmanien und ihrer schrullenhaften Triebe. — Ebenso
hilflos erweist sich ihr Wille, wenn sie peinliche Phantasiespiele,
die „rêverie forcée“ Janets, verjagen wollen; umgekehrt, diese
verfolgt sie nur um so öfter und schlimmer, je mehr sie sich
dagegen auflehnen wollen.
Ziemlich häufig ferner beobachten wir an ihnen nicht nur
die schon vorhin erwähnte ängstliche Weichlichkeit des Charakters,
1) Ludw. Meyar, Ueber Intentionspsychosen. Arch. f. Psych. 1889.
Bd. XX. S. 1.
g
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 867
sondern auch eine Suggestibilität stärkeren Grades und auch
. diese von einer besonderen schwächlichen Art. Oft istes die Zahl
der fremden Helfer, was ihnen imponieren soll: „mehrere erfahrene
Aerzte, mehrere Freunde und mehrere sehr tüchtige Spezialärzte
befragen“ etc., so ungefähr lautet der ständige Refrain im Tage-
buche eines solchen Patienten Tuczeks. So unzugänglich und
widerhaarig uns die stark gehemmten, überall zweifeladen Patienten
gewöhnlich erscheinen, so leicht folgt umgekehrt die andere
Kategorie allen Gedankenrichtungen, auf die man sie hinweist,
gibtsichirgend welchen pseudowissenschaftlichen „Magnetisierungs“-
Methoden eines Routiniers hin, und namentlich wird sie alle Skrupel
und alle Krankheiten am eigenen Leibe fürchten, von denen sie
irgendwo hört. Aber eben diese Suggestionen sind keine echten
` Einbildungen, so etwa wie die Krankheitefurcht eines wahren
Hypochonders, vielmehr ist es die vielberufene „Furcht vor
ihrer Furcht“, der Affekt der Besorgnis ohne die begleitende
deutliche Vorstellung des Ergriffenseins.. Also speziell diese so
leicht sich einstellenden Einfälle sind ursprünglich schwächlich,
in der Tat folgt das Zwangsdenken da einem mehr „formalen“
Drang, oder besser gesagt, es erfolgt durch ein kraftloses Zurück-
weichen vor den Gedanken. Erst durch die vielfältigen frucht-
losen Kämpfe dagegen schwillt auch allmählich der subjektive
Eindruck, welchen die Idee macht, an. Das lässt sich wenigstens
da nicht selten direkt feststellen, wo unter unseren Augen neue
Zwangsvorstellungen sich entwickeln; viele andere bleiben über-
haupt stets nebensächlich und nur episodisch.
Und noch ein Drittes ist im gleichen Sinne geltend zu
machen. Die triviale Tatsache hatte mir früher eine Zeit lang
Kopfzerbrechen verursacht, dass dieselben Neurastheniker, ja
dieselben normalen Personen, zu gleicher Zeit vor jeder Ent-
schliessung zaudernd zurückscheuen, welche umgekehrt in gereizter
Stimmung ihren raschen Impulsen ohne jedes Besinnen nach-
geben. So hatte ın der Tat auch jene Patientin, welche aus Furcht
wor den „ausschlagenden“ Bäumen sich das Ausgehen versagte,
unmittelbar vorher durch unbedachte zornige Aeusserungen sich
einen Beleidigungsprozess auf den Hals geladen. Die Erklärung
dafür ist schliesslich einfach und naheliegend: nicht wohlüberlegte
Bedenken sind es, welche sich als Bleigewicht dem Wollen an-
legen, diese Personen sind es nicht, welche von des Gedankens
Blässe angekränkelt sind; sondern ihnen mangelt die lenkende
und regierende Kraft eben so sehr, wenn sie den Abschluss der
Ueberlegung beschleunigen, wie wenn sie das Andrängen lebhafter
Affekte hemmen sollte. Es sind unbeständige, schwankende,
„problamatischef Naturen, denen es versagt ist, bleibende geistige
erte für sich zu erwerben.
| Und endlich noch eine direkte Erfahrungstatsache: die
Unzulänglichkeit, welche sich in der fehlenden Bestimmtheit
bei ihrem Denken und Tun ausspricht, entstammt, wie schon
vorhin in anderem Zusammenliange erwähnt ist, zum Teile auch
24*
368 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
einem Mangel an Uebung darin. Hier ist die Stelle, wo neben-
bei hingewiesen werden darf, auf die verantwortungsvolle Auf-
gabe der Erziehung. Gewiss sind die schwereren Fälle durch-
schnittlich Produkt einer erblichen Degeneration, indessen, gleichwie
bei der Hysterie, äussert sich auch hier die Anlage gewöhnlich schon
ım kindlichen Alter, und gleich jener dürfte sie fast zur Hälfte
Produkt der Lebensführung sein. Ungenügende Ausfüllung durch
raktisch nützliche Tätigkeit begünstigt sehr stark den angeborenen
Hang zum Ersinnen von Schrullen und zu kleinlichen Abwegen
der Phantasie. Die Selbstzucht im Denken und Handeln muss
geübt werden.
Die angeführten vier Momente sollen also das Zustande-
kommen der geistigen Entgleisungen,' welche uns jetzt zuletzt
beschäftigen werden, begreiflicher machen. Ferner ist es nötig, sich
zugleich zu vergegenwärtigen, dass die Entstehung der abgeirrten
Gedanken ausserordentlich begünstigt wird durch die allge-
meine Unfähigkeit, sich von gefühlsbetonten Ideen abzuwenden.
In der Tat werden zahlreiche Ideen solcher Art einfach dadurch
erzeugt, dass primär eine andere Vorstellung irgendwie im
Denken festgehalten war, und diese zieht durch mechanische
&usserliche Assoziation dann die eigentliche Zwangsidee
heran. Hierfür ein paar Beispiele: wir erzählten wiederholt von
schreckenden Kontrastideen. Der eine Fall darunter lag sehr
charakteristisch; eine junge Bureaugehilfin, welche protestierte
Wechsel einzutragen hatte, war von einer sehr starken, aber an
sich bei der absolut zuverlässigen Dame unbegründeten Irrtums-
angst gepeinigt. Nachdem sie viele Monate lang sich durch ewiges
mehrmalıges Nachrechnen abgearbeitet hatte, packt sie der Zorn,
und sie sagt sich: „Ach was, wenn du keine Fehler findest, so
machst du sie (i. e. lieber einmal) absichtlich“, soll heissen, damit
sie für ihr heisees Bemühen im Suchen nach Fehlern die Genug-
tuung hat, einen solchen entdecken zu können. Sofort erschrak
sie aber so über diesen drängenden hässlichen Gedanken, dass sie
nun gar nicht mehr arbeiten konnte. — Jene ältere Dame mit
den ldeen, wie: „wenn doch meine Schwester die Treppe herab-
fiele und sich den Hals bräche“, war in Wirklichkeit gequält von
der Angst vor einem Unglücksfall, und einer Uebersättigung mit
dieser Furcht entsprang der Zwangsgedanke!), Hier wirkt der
Kontrast befreiend, denn die ewige Wiederholung einer lästigen
Vorstellung wirkt aufreibend — nach bekannten psychologischen
Gesetzen — und damit zugleich erbitternd. Die Kontrastidee
ist dann eine. erleichternde Entladung, ebenso wie das bekannte
Lachen dann, wenn ein Unfall bei einer nahestehenden Person,
der erschreckt hatte, glücklich verlaufen ist.
Andere Verknüpfungen erblicken wir in folgenden Bei-
spielen: ein junges Mädchen hatte plötzlich ihre innig geliebte
1) Es erinnert dies an den bekannten ernsthaft gemeinten Wahlspruch:
„Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!“
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 369
einzige Schwester durch den Tod verloren. In dieser Zeit tritt
ibr beim Oeffnen der Türe ein Schutzmann mit einem Papiere
(den Mietsherrn betreffend) entgegen, und dieser Anblick entsetzte
sie heftig. Bald darnach stellt sich eine allgemeine Hemmung
in allem Tun ein, vorzüglich indessen beim Ankleiden. Diese
Hemmung verbindet sich nun mit der ihr Denken noch verfolgen-
den Erinnerung an das Papier, und sie muss jetzt nach versteckten
Papierstückchen in ihren Kleidern suchen, ehe sie die letzteren
anzieht. Dass auf den Papieren etwas für sie Kompromittierendes
stehen könne, wie sie sagt, das ist nur eine nachträgliche Er-
klärungsidee. Dieser Hergang bei solchen Vorstellungen (wie
dem Papier) mit „freien“ Affinitäten ist sowohl von Wernicke
als von Freud in anderem Zusammenhange schon geschildert
worden. Man sieht aber hier, wie wenig die künstliche und ge-
zwungene Beziehung auf Sexualia, welche Freud postuliert, nötig
ist. Uebrigens hat auch nachträglich unsere erste Patientin den
Anschluss an die Vorstellung von Papierstücken gefunden,
welche von ihrer jahrelangen täglichen Beschäftigung mit Wechseln
als wichtig ihr im Kopfe stecken geblieben war; auch sie motiviert
die verlangsamende Hemmung im Ankleiden, die sich jetzt ein-
zustellen beginnt, dumit, dass vielleicht von ihrer Arbeit her sich
Wechsel in ihre Aermel oder Taschen verirrt hätten.
Noch einfacher als Wirkung des „Hängenbleibens“ erweist
sich der frühere Fall des bleichsüchtigen jungen Mädchens, welches
im Momente, als sie das Haus verliess, das Herabstürzen eines Nachbar-
kindes teilweise mit ansehen musste; ihre ohnehin aus Scheu vor
den Menschen bestehende Unlust am Ausgehen assoziiert sich mit
der Erinnerung an das schreckliche Erlebnis. Sie muss sich denken,
das Unglück kehre wieder, wenn sie wieder das Haus verlässt,
d. h. die lebhafte Erinnerung au die Situation und die Furcht,
dass wieder zu ihrem Missgeschick etwas derartiges vorkommen
könne, erhöht die Bedeutsamkeit des Gedankens, und sie
sagt sich: es wird geschehen. — Ein Hängenbleiben an einem
Furchtgedanken ist ferner die häufige Angst vor dem Verschlucken
von Stecknadeln; Kinder werden vor den letzteren eindringlich
gewarnt und ebenso vor dem Verschlucken von Steinchen u. dergl.
Die Vereinigung der beiden Befürchtungen ergibt die Zwangs-
idee. — Ein 8jähriger Patient Kalischers fürchtet, Glasscherben
zu verschlucken, sowie er Glas sieht, und Chemikalien, sowie er
solche erblickt, weiss aber, dass dies „Quatsch“ sei. — Bei einem
französischen sittsamen jungen Mädchen, erzählt Janet, kam
mitten ın der tiefen religiösen Andacht die widerwärtige Vor-
stellung des männlichen Gliedes, z. B. beim Gedanken an das
Abendmalıl; man kann sich leicht kombinieren, dass erstlich hier
wieder eine Kontrastidee nach der religiösen Ergriffenheit und
dann etwa der Vorsatz, geschlechtliche Erregung zu unterdrücken,
die unnatürliche Assoziation zweier im Denken sich zeitlich
nahestehender Vorstellungen ins Werk gesetzt hat.
Unsere Patientin mit den Skrupeln bezüglich der Krankheit
370 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
ihres Mannes beschäftigt ausser sehr zahlreichen episodischen
Zwangsideen seit bald 30 Jahren immer wieder die Zwangs-
vorstellung, dass sie „nicht sie selbst“ oder dass sie „doppelt“
sei; das rührt daher, dass sie merkt, vor irgend einer Bewegung
wisse oder fühle sie „schon einmal“, was sie tun wird. Sie nimmt
also ganz korrekt die Innervations vorstellung wahr, welche dem
Innervationsimpulse vorausgeht, und seitdem sie das konstatiert
hat, lässt ihr das Fuktum keine Ruhe, sie fürchtet namentlich,
das sei der Anfang einer Geisteskrankheit: wieder einmal die
erhöhte Bedeutung einer betonten Vorstellung. Uebrigens ist
es wohl möglich, dass hier tatsächlich infolge der Hemmungen
in der Lenkung des Willens die Aufeinanderfolge von Bewegungs-
vorstellung und Bewegungsinnervation verlangsamt wird und daher
leichter vom Subjekt wahrzunehmen ist. Dadurch indessen, dass
es den Tatbestand nicht versteht, erweckt er die psychische
Unruhe, welche allem Unbegriffenen anhaftet.
Wir dürfen nicht zu weitläufig werden, sonst wäre noch auf
die schöne Mitteilung von Laudenhoimer!) bei dieser Gelegen-
heit aufmerksam zu machen, der in einem Falle sexueller
Zwangsvorstellungen bei einem Kinde zeigte, wie die Aufklärung
über die sexuellen Beziehungen heilend gewirkt hatte. Auch an
unser früheres Beispiel sei erinnert, wo die schreckende Halluzination
einer „verrückten Frau“ im Anschlasse an die Furcht vor Psychose
entstand und wieder verschwand, sowie die Patientin sich über
die Herkunft der Halluzination hatte orientieren können.
Allgemein ist zu sagen, dass alle diese völlig isolierten
und zugleich betonten Zwangsideen eben dadurch so stark wirken,
weil sie, so wie sie dastehen, ganz des logischen Zusammen-
hanges entbehren; dem Patienten entgeht dadurch die Möglich-
keit, sie logisch zu verarbeiten, was bei den anderen Zwangs-
ideen wenigstens obenhin geschieht.
Nun zwei Beispiele von Zwangsimpulsen. Ein Arbeiter
sehr solider Art, der völlig zufrieden lebt, liegt einmal fieberhaft
krank allein in seinem Bett, und halb im Traum wird er auf die
Telegraphenstange aufmerksam, die vor seinem Fenster steht.
Nun kommt ihn die Furcht an, er könne sich vielleicht im Fieber-
wahn an jener drohend seinen Blicken zugewandten Telegraphen-
stange aufhängen, und natürlich bleibt ihm diese Erinnerung haften,
da er ja die Stange immerfort erblickt, solange er tagüber als
Patient zu Bette liegt. Aber auch nach seiner Genesung hat er
als Arbeiter im Hafengebiete tagtäglich vor zahllosen Telegraphen-
stangen vorbeizugehen, und seit jetzt 3 Jahren bedrängt ihn
der Impuls, die Tat auszuführen, und ebensosehr die Furcht
vor dem Impulse, welcher absolut sinnlos und unbegründet ist.
— Der Fall ist besonders lehrreich; man erkennt deutlich die
äusserlichen Momente, welche den Gedanken festhalten und
1) Laudenheimer, Ueber Kinderpsychosen nebst Mitteilung eines
Falles von sexuellen Zwangsvorstellunsen. Der Kinderarzt. 1902. No. 11.
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 371
immer wieder beleben, sowie er überhaupt einmal klar aufgetaucht
war. Charakteristisch ist der Hergang in einem zweiten Beispiele:
Eine jüngere Arbeiterfrau schält während der Menses Kartoffeln mit
einem Messer und gleichzeitig hört sie, wie ihr Mann mit Hals-
abschneiden von einem rohen aufgeregten Hausgenossen draussen
auf dem Flur bedroht wird. Nun hat die Vorstellung des Messers
eine schreckenerregende Bedeutung für sie bekommen, aber es
tritt die bekannte Tendenz zur abnormen Eigenbeziehung hinzu,
unterstützt noch durch die Tatsache, dass sie selbst bei jenem
Auftritte ein Messer in der Hand hielt: sie fürchtet sich vor dem
Messer, sie selbst könnte damit Unheil anrichten. Da aber darin
zugleich eine Innervationsvorstellung enthalten ist, nämlich die,
dass die Frau mit dem Messer ihren Mann angreifen könne, so
führte die verstärkte Betonung der Idee zugleich zu einer
ungewollten Steigerung des betreffenden Impulses selbst. Das
Messer gewinnt eine magische verderbliche Gewalt, gleichwie wir
uns oft des Triebes erwehren müssen, einen Gegenstand, den
wir vor dem Fallen beschützen, wegzuwerfen. Aus der Furcht,
sie könne ihrem Manne etwas zuleide tun, erwuchs bei der Frau
der Trieb dazu.
Uebrigens kommt diese Furcht vor dem Messer auch in
einfacherer passiver Form vor: Ein sehr tätiger, aber neuro-
pathischer Herr wird von einer überwertigen Furcht vor einer
bestimmten Funktion, nämlich der Bilanzaufnahme in einer Fabrik,
verfolgt. In dieser Zeit überfällt ihn die plötzliche Furchtidee
zwangsmässigen Charakters, dass seine Frau ihm mit dem auf
dem Tische liegenden Messer den Hals abschneiden könne. Un-
gemein häufig kommen episodische Zwangsimpulse bei unseren
Patienten als „Nebenprodukt“ vor, bald ein Impuls, sich aus dem
Fenster, bald in einen vorbeifliessenden Strom oder wieder aus
dem Eisenbahnwagen herauszustürzen, und zwar stets nur, wenn
eine solche Situation gegeben ıst; nicht gerade selten ist auch
die Neigung zu unbegründeten Wutgedanken (die selten ausgeführt
werden), z. B. der Impuls, ein Ladenmädchen, welches die Patientin
durch zu vieles Reden beim Einkauf reizt, einfach niederzuschlagen,
oder einen Säugling, der anhaltend brüällt, aus dem Fenster zu
werfen. — Endlich aber sei der in der Praxis relativ seltenen Patienten
gedacht, welche ein ganzes Arsenal der törichtesten Skrupel an-
dauernd und ohne vorausgehende „agents provocateurs“ zum Vor-
schein bringen!): Ein jugendlicher, willensschlaffer Kaufmann soll
von seiner Frau auf deren Antrag geschieden werden. Solange
der Prozess schwebt, „kann er absolut nichts tun“, die unrubige
Erwartung führt ihn dazu, sich oft eine Stunde lang brüllend und
heulend auf dem Boden zu wälzen (sogenannte „Krise“); er will
nicht ausgehen, denn alles schreckt ihn: sieht er eine zerbrochene
1) Das überzengendste Beispiel der Art und ein wahres Kabinettstück
ist das „Selbsthekenntnis“ jenes Referendurs bei Tuczek. Berl. klin.
Wochenschr. 1894. No. 6 fl.
372 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
Fensterscheibe, so muss er denken, er selbst habe das verübt;
war er auf der Post, so fällt ihm ein, er habe seinem Hintermann
mit dem Schirme ein Auge ausgestossen; geht er unter einem
Balkon, so fürchtet er, dass ein Blumentopf ihm auf den Kopf
fallen werde; geht er ins Wirtshaus, so verfolgt ihn die Idee, er
habe im Gespräch eine Majestätsbeleidigung verübt; sieht er einen
Zank, so bildet er sich hinterher ein, er sei die Ursache davon
gewesen. Vor jedem Schutzmann läuft er so schnell davon, als
es unauffällig geschehen kann; glaubt er aber, irgend etwas der
angedenteien Art angestellt zu haben, so muss er die nächste Zeit
sich alle Tage an den Ort begeben und sich z. B. eine: halbe
Stunde lang vor die zerbrochene Scheibe hinstellen, um heraus-
zubekommen, ob jemand darüber spricht oder ob gar ein Verdacht
gegen ihn geäussert werde. Von irgend einer Kur wollte dieser
’atient nichts wissen; sein Fehler sei seine Feigheit und über-
grosse Zaghaftigkeit, in deren Schilderung er selbst sich nicht
genug tun konnte. —
Mas lehren nun im allgemeinen die Belegfälle und ihre
psychologische Zergliederung bezw. Deutung? Offenbar doch
zweierlei: entweder finden wir, wie im soeben erwähnten letzten
Falle, ein halt- und steaerloses Denken mit dem Grundtone der
Aengstlichkeit, wo ohne jede Stütze durch die Logik des Patienten
jeder einen Skrupel betreffende Einfall selbst bei schwächlicher
Affektbetonung sich Geltung erringt; oder aber umgekehrt die
starke Gefühlsbetonung hält eine Furchtidee fest und dann erst
bekundet sich der anarchische Grundzug im Gedankenleben der
Person darin, dass logisch wertlose mechanische Assoziationen
sich an jene Idee ungehindert herandrängen können. Natürlich
wird noch öfter der Hergang zwischen beiden Extremen in der
Mitte liegen.
Das letzte psychologische Problem betrifft den Ur-
sprung des dauernden Denkzwanges.
Die seitherigen Betrachtungen haben nicht diesem an und
für sich gegolten, sondern sie hatten zu zeigen, wieso eine logisch
für minderwertig oder unsinnig erachtete Idee dennoch innerhalb
des Denkens eine stärkere Geltung oder Betonung erlangt. Nun
soll gefragt werden, wodurch ein solches psychisches Gebilde
ausserdem seinen abnorm langen Bestand gewinnt, wieso sich
also der Prozess stets wieder erneuert. Genauer also würde
statt „Denkzwang“ der Ausdruck Erinnerungszwang zu ge-
brauchen sein, da das erstere Wort auch auf alles das anzuwenden
ist, was bis jetzt erörtert wurde, also auf die erhöhte Geltung der
Ideen wider Willen ihrer Träger. Die wirkliche Bedeutung des.
Begriffes hat indessen seither immer wohl in dem Tatbestande
gelegen, dass die Patienten durch ihre Idee anhaltend verfolgt
und gepeinigt werden. Die erhöhte Geltung würde man mehr als
„Einbildung“ und auch wohl mit dem französischen Worte der
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 373
„Obsession“, des Besessenseins, bezeichnet haben, wenn man in
den Untersuchungen überhaupt die Begriffe so geschieden hätte!),
wie dies von uns im Interesse der Klarheit jetzt durchgeführt
worden ist.
Bezüglich dieses dauernden Denkzwanges nun liegt, wie
schon öfter hervorgehoben wurde, an und für sich eine grund-
sätzliehe und durchgreifende Verschiedenheit weder gegenüber der
Norm, noch gegenüber der überwertigen Idee vor. Jedenfalls ıst
er, objektiv betrachtet, sicher nicht stärker als gewöhnlich bei
einer überwertigen Skrupelsucht oder solchen Selbstanklagen (etwa
eine geliebte Person gekränkt zu haben, ihrer Treue nicht ver-
trauen zu dürfen, von der Umgebung missachtet zu werden). —
Selbst der Wunsch, nicht daran denken zu wollen, und das Ge-
fühl, dass die Idee sich wider Willen des Trägers ihm aufdrängt,
ihn bezwingt, kann auch bei überwertigen Skrupeln, allerdings nur
in beschränktem Masse, vorhanden sein. Anders ist eben nur das
Verhulten der logischen Einsicht. Es kann jemand sehr be-
klagen, dass ihm die Eifersucht keine Ruhe lässt und dass er
daran glauben muss, ein Hypochonder kann den Arzt bitten, ıhn
von seinen Gedanken zu befreien. Bei solchen fixen Ideen bleibt
interessanterweise noch ein Rest von Gegenkritik erhalten, weil
die Personen eben sich der ursprünglichen Isoliertheit noch be-
wusst bleiben, nachdem sie allerdings längst beseitigt ist. Das
Widerstreben entspringt bei der überwertigen und bei der Zwangs-
idee schliesslich dem gleichen Grunde, nämlich der Peinlich-
keit des Inhaltes; bei alledem lässt sich nicht abstreiten, dass
bei dem Zwangsgebilde mehr das „Denken“ und „Erinnern“ ge-
mieden werden soll, und dass bei der fixen Idee mehr die zu
grunde liegende Tatsache bekämpft, bezw. fortgeschafft werden
soll, was überdies schon einmal oben zugestanden worden ist.
Der erstere Patient geht der Reflexion aus dem Wege und
sucht fremde logische Gegnerschaft gegenüber seiner Idee direkt
zu gewinnen, der andere verbeisst sich förmlich in das Suchen
nach logischen Beweisen und will den fremden Opponenten seiner-
seits überzeugen?). Dass sich dieser Unterschied in starkem Masse
geltend macht bei dem Erinnerungszwange ist selbstverständlich,
aber immerhin im wesentlichen zuungunsten des Zwangs-
gebildes, welchem dadurch die zahllosen assoiativen Berührungen
und Anknüpfungspunkte im geistigen Geschehen und Erleben ver-
sagt bleiben, so dass es nicht so leicht auf diesem Wege erweckt
wird wie die überwertige Idee.
Gemeinsam haben beide psychischen Gebilde die drän-
genden Kräfte der peinlichen Gefühlsbetonung nicht allein,
1) Der Umstand, dass dies nicht geschah, hat z. B. Bumke zn dem
folgenschweren Irrtume verleitet, dass das Gefühlsmoment nebensächlich sei
bei der „echten“ Zwangsidee, wie das allerdings ursprünglich durch Westphal
als ein wesentlicher Teil seiner ganzen Lehre postuliert worden war.
2) Der Gegensatz ist übrigens schon oft (z. B. von Hecker) ähnlich
gekennzeichnet werden,
374 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
sondern auch diejenigen der Erwartung und des Zweifels,
welche vereinigt den Affekt der Befürchtung, des Bedenkens und
des Skrupels ergeben. Zu der Lästigkeit einer Vorstellung wird.
sogar künstlich ein Bedenken hinzugefügt, also eine Un-
abgeschlossenheit erzeugt, da wo sie von Hause aus fehlte;
die Erregtheit über den abscheulichen Dieboldprozess führte bei
einer schon skrupelsüchtigen Dame zu dem sinnlosen Selbst-
vorwurf, sie habe jene Untaten verhüten können und sollen; die
Aufregung über die unaufhörliche Irrtumsangst bei Berechnungen
mündet aus in den Skrupel, die Patientin wolle absichtlich
Fehler machen; die einfache Beobachtung des Innervationsgefühles
veranlasste eine dritte Patientin, dies als Symptom der Geistes-
störung zu fürchten; die obszöne Ideenussoziation eines männ-
lichen Gliedes bei einer Kranken Janets während einer religiösen
Handlung schliesst natürlich Selbstanklagen und Bedenken wegen:
der eigenen Moralität in sich. Diese künstliche Erzeugung von
Bedenken, welche an anderer Stelle dieser Abhandlung aus-
führlicher schon besprochen worden ist, gehört nun allerdings zu
den spezifischen Eigenschaften der Zwangsvorgänge. Der Drang,
zur Klarheit und zum Abschlusse bezüglich eines Bedenkens oder
einer Befürchtung zu gelangen, tritt alsdann in Konnex mit der uns
schon von der Norm her bekannten Kraft einer stark peinlichen
Vorstellung, sich nahe unter der Oberfläche des Bewusstseins zu
halten und leicht die Bewusstseinsschwelle zu überschreiten, mit
einem Worte, ihren „Schwellenwert‘ zu steigern. So kommt
die gespannte Erwartung, die „expectant attention“, die Er-
höhung der geistigen Gespanntheit zustande.
Nicht so hoch indessen, wie ich selbst mit zahlreichen anderen
Autoren das früher getan habe, schätze ich heute die Wirk-
samkeit des häufigeren fruchtlosen Kampfes, der Uebung im
gleichen Sinne ein. Gewiss wird schon durch die einfache
Wiederholung, die immer unter Affekt geschieht, die suggestive
Gewalt der Idee, ıhr Einfluss auf die Phantasie stetig vermehrt,
und dieser Tatbestand scheint mir noch heute wichtig zu sein.
Erwäge ich indessen, wie schwächlich überhaupt der Wider-
stand für gewöhnlich ist, welcher von seite des kritischen Apparates
gegen die Ideen geleistet wird, wie die Patienten sich geradezu
„vor ihrer Furcht fürchten“ und einer logischen ernsten Reflexion
direkt aus dem Wege gehen, so glaube ich auch nicht recht an
den Ernst eines derartigen „Kämpfens“. Eher noch wird eine
Art von Probieren sich vollziehen, wobei es die Patienten treibt,
sich gleichsam zu überzeugen, ob die Idee noch in alter Kraft
da ist. Die Wiederholung wird indessen weit mehr auf einem
anderen Wege erzielt.
Ueberhaupt aber meine ich, dass in der Anschauung, als
ob die Zwangsideen die Macht besässen, durch eine Art von
Erinnerungskrampf sich selbst emporzuheben, dass darin ein
Stück von einer „fable convenue“ steckt. Ist es denn wahr, dass
die Zwangsideen wirklich ungerufen an die Oberfläche kommen?
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 375
Ob dem so ist, das wird oft gar nicht direkt zu entscheiden sein;
recht häufig aber können wir den Schlüssel nachweisen, der ihnen
das Tor des Bewusstseins öffnet. In der Regel handelt es sich
schon von vornherein um Vorstellungen, welche sich an die all-
täglichsten Erlebnisse oder Wahrnehmungen anschliessen. Der
Postbeamte, der täglich um 3 Uhr die Errötungsfurcht bekam,
sass eben immer am gleichen Schalter wie damals; ein Patient,
der das Verrücktwerden fürchtet, nachdem das einem Bekannten
passiert war, beobachtet sich unbewusst und merkt dann gewisse
auffällige Symptome an sich, er hört auch vun anderen Fällen;
die Damen mit den Kontrastverwünschungen gerieten an solche
nur, wenn z. B. gerade jemand die Stiege herabging, fortreiste
oder wenn eine religiöse Handlung stattfand; die Patientin, welche
mit Angst auf den bösen Bruder wartete, der ihren Gatten und
Vater erschiessen werde, hatte diese Angst an einen noch häufigeren
Umstand angeknüpft, nämlich an das Ertönen der Flurklingel.
Der Mann mit dem Impuls, sich aufzuhängen, wurde daran ge-
mahnt dadurch, dass er den wirklichen Anstifter, eine Telegraphen-
stange, fort und fort erblickte. Bei den Phobien erst recht
kommt die Angst dann, wenn aus praktischen Lebensbedürfnissen
heraus die gefürchtete Handlung herantritt. Wir sahen endlich,
wie seltsam der Hang, Papierstücke zu sammeln, sich verbindet
einerseits mit der täglichen Verrichtung des Ankleidens und
andrerseits mit den primären Hemmungen und Verlangsamungen
im Agieren überhaupt, d. h. die Papierstückchen sollen in Falten
der anzuziehenden Kleider gesucht werden, und das Ankleiden
geschieht langsam und schwerfällig, weil es überhaupt von Zweifeln
aller möglichen Sorten gehemmt wird.
Wir sehen in der Tat, diese Zwangsvorstellungen haben das
Bestreben, da wo sie einmal ursprünglich isoliert standen, sich
an irgend einen alltäglichen Vorgang anzuhängen, der sie in
Erinnerung leicht bringen kann. Ist aber eine abnorme Ver-
stimmung vorhanden, wie in den depressiven Perioden der
Cyklothymie, dann ist eben der peinlich unruhige Affekt von
selbst ständig da, und dieses Gefühl wird die zugehörige selbst-
quälerische Zwangsidee wieder wecken oder eine verwandte je
nach den äusseren Umständen ins Leben rufen.
So fehlt es nicht anden unterstützenden Anlässen und Ursachen,
welche das lange Dasein von Monaten und einigen Jahren, das einer
idee oder Phobie meist. beschieden ist, erklären. Doch sei hier
nochmals erinnert, dass es auch flüchtige Zwangsideen ganz
häufig gibt, teils wenn die Personen keine eigentlichen starken
Neuropathen sind, teils wenn die Idee auf einem einmaligen
Schreck beruhte, z. B. dem Anblicke eines Epileptikers, oder
aber wenn die Idee von Anfang wenig betont blieb.
Schlussbemerkungen. Wir stehen am Schlusse eines
langen Weges, und es ziemt sich wohl, prüfend zurückzuschauen
auf das, was wir als Ziel ins Auge gefasst und was wir erreicht
376 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
haben. Zunächst darf wohl mit aller Deutlichkeit eines hervor-
gehoben werden: Der Begriff der Zwangsvorgänge hat uns aus-
schliesslich und allein insoweit beschäftigt, als es sich um das
Symptom gehandelt hat. Jedes klinische oder ätiologische
Problem hat uns ferne gelegen. Soweit sich heute darüber Fest-
stellungen schon machen lassen, verdanken wir sie in genügendem
Masse den Monographien Janets und vor allem Löwenfelds.
Ueber vieles freilich kann erst dann Zuverlässiges ermittelt werden,
wenn einmal die Vorfrage beantwortet ist: Was sind Zwangs-
vorgänge?
Unsere Antwort hatte gelautet: Zwangsvorstellungen sind
stark betonte unverdrängbare Vorstellungen, welche sich durch
ihr Isoliertbleiben im Denken und durch das Gefühl der er-
zwungenen, logisch nicht motivierten Geltung auszeichnen.
Wir wollen jetzt versuchen, diesen Begriff nochmals zusammen-
fassend zu erläutern.
Die gegenwärtige Krisis in der Lehre von den Zwangs-
vorstellungen ist dadurch entstanden, dass zwei extrem sich gegen-
überstehende Begriffsbildungen in der Wissenschaft gleichzeitig
durch namhafte Vertreter zur Geltung gelangt sind: die eine
Richtung grif eine Eigenschaft der Zwangsideen, nämlich die
abnorme Unverdrängbarkeit, heraus und erklärte sie als das mass-
gebende Merkmal. Während dadurch der Umfang des Symptomes
ausserordentlich in die Weite wuchs, verlangten andere Forscher
wieder die Einengung und Rückkehr zu der ursprünglichen West-
phalschen Formulierung, welche lediglich den subjektiven
wang’ ins Auge fasste und die speziell nur auf solche unver-
drängbare Vorstellungen anwendbar sein sollte, welche als wider-
sinnige, lästige und zugleich inhaltlich bedeutungslose, dazu nicht
von Affekt begleitete Eindringlinge auftreten. Demgegenüber
glaubte ich, zweierlei zu erkennen: erstlich, ein so allgemeiner
psychischer Vorgang, wie der der einfachen Unverdrängbarkeit
eines psychischen Gebildes, eignet sich wenig, um daraufhin
eine charakteristische Symptomgruppierung zu errichten; aber:
ebenso hat zweitens die bisherige widerspruchsvolle Entwicklung
der ganzen Lehre dargetan, dass lediglich klinische Gesichtspunkte:
hier nicht zu durchgreifenden Kriterien uns verhelfen. Hingegen
schien es mir auf Grund der heute gewonnenen eingehenden
Kenntnis des ganzen Materials keineswegs besonders schwierig zu
sein, den psychologischen Ursprung und Kern des subjektiven
psychischen Zwanges herauszustellen und darauf eine klar ver-
ständliche Begrenzung des Symptombegriffes zu begründen.
Zunächst ergab sich eine erste Unterscheidung unter den.
unverdrängbaren psychischen Gebilden dadurch, dass die einen
ım Bereiche und Gebiete des reflektierenden selbstbewussten
Denkens sich einstellen, die anderen unter den unbewusst und
unterbewusst auftauchenden psychischen Prozessen. Die letzteren
benennen wir als unechte Zwangsvorgänge, weil hier, z. B. bei
einer Halluzination oder einem Muskelkrampfe, von einem empfun-
denen Zwange überhaupt nicht die Rede sein kann. Wenn aber
zweitens das intelligente Ich „bezwungen“ wird, da ist es doch
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 377
weiterhin ein grundlegender Unterschied, ob dieses selbst die
Geltung herbeiführt oder aber ob diese letztere gegen seinen
direkten Widerspruch sich durchsetzt. Im zweiten Falle haben
wir den „Geltungszwang“ der echten Zwangsvorstellung, im
ersteren Falle das „zwingende Denken“ in der überwertigen Idee.
Die letztere nun ist eine affektbetonte Vorstellung, welche
gerade dadurch überwertig wird, dass sie auch einen unbegründeten
logischen Wertzuwachs gewinnt; die Zwangsvorstellung hingegen
ist und bleibt logisch minderwertig. Für dieses entgegengesetzte
Verhalten aber bietet sich ein auch pathognostisch sehr brauch-
bares Merkmal dar: das logische Denken des Subjektes isoliert
sich von der Zwangsvorstellung, die eine Art von „vita propria“
dergestalt führt!); die überwertige Idee hingegen drängt sich förm-
lich in alle irgend erreichbaren assoziativen Verbindungen ein, ja
sie entwickelt sich zu einem Hauptzentrum des geistigen Lebens.
Und fragen wir jetzt: Worauf beruht schliesslich, psychologisch
gesprochen, die Besonderheit der Wirkung bei beiden Vorgängen?
Dann ergibt sich die Antwort fast von selbst aus den Tatsachen.
Das Zwangsgebilde entsteht in einem völlig normalen, kritisch
veranlagten Intellekte, welchem es nur an der Energie
gebricht, sich gegen eine abnorm betonte Vorstellung
durchzusetzen und sie auszuschalten. Bei der überwertigen
Form aber, welche inhaltlich mit der anderen übereinstimmen kann,
liegt eine abnorme Gefügigkeit und Widerstandsunfähigkeit des
Intellektes selbst gegen die gefühlsbetonte Vorstellung, z. B. eine
Eifersuchtsidee, vor. Hier ist die gesamte logische Funktion
unzulänglich, dort nur eine einzelne bestimmte Leistung derselben.
Auch diese letztere vermögen wir genauer zu bezeichnen.
Alles reflektierende Denken steht unter einem doppelten Gesetze:
erstlich besteht das Gesetz des stetigen assoziativen Zusammen-
hanges der Vorstellungen unter sich und zweitens dasjenige der
Einheitlichkeit der logischen Werte. Nur so kann die Einheit
des geistigen Ichs gewahrt bleiben (in einem bestimmten Zeit-
abschnitte nämlich). Ob freilich diese Gesetze auf angeborenen
Eigenschaften des Geistes beruhen oder ob sie erst während des
Verlaufs der psychischen Entwicklung sich ausbilden, das unter-
liegt der Diskussion je nach der massgebenden psychologischen
‘Theorie. Jedenfalls aber vollzieht sich jene Leistung so, dass den
logisch widersprochenen Vorstellungen die Aufmerksamkeit und
das Geltungsurteil (bezw. Geltungsgefühl) von dem Subjekte
entzogen wird. Indessen, es gibt zwei Fälle, wo die Erfüllung
der genannten Aufgabe Schwierigkeiten begegnet. Ein Gefühls-
ton kann im Widerspruche mit unserer Einsicht stehen, und ein
Zweifel oder ein Bedenken kann einen logischen Zwiespalt er-
regen. Nun, wir wissen, was dann geschieht: erfahrungsgemäss
entfalten beide eine innere Unruhe, welche uns in gegebener Zeit
zu einer Entscheidung drängt. Wir haben es alle gelernt, ein
logisch verkehrtes Streben auszulöschen, z. B. das Begehren nach
einem Objekte, das wir nur durch Diebstahl erreichen könnten.
1) Sie wird also in dieser Hinsicht ganz ähnlich behandelt wie die ab-
sichtlichen Phantasiespiele der Norm,
- — — — — — — — — — —
378 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
Wem das aber nicht gelingt, der fügt dann einen logischen
Wert dem Streben hinzu, er macht es zu einer Zielvorstellung,
welche in diesem Falle einen abnormen Ueberwert besitzen würde
(so z. B. bei den impulsiven Monomanien, Kleptomanie etc.).
Ebenso verhalten wir uns gegen Zweifel und Bedenken, z. B.
eine Krankheitsfurcht. Entweder können wir den Zweifel in der
Hauptsache lösen oder wir lenken unser Denken davon ab, oder
endlich wir füblen uns genötigt, unsere Reflexion darüber mit
Grund und Gegengrund fortzuspinnen. Jedenfalls also bleibt die
Idee mitten im assoziativen Verbande verkettet.
Das ist das normale Verhalten. Etwas wesentlich anderes
aber ist das Bestehenbleiben einer Vorstellung, welcher zugleich
eine Unverdrängbarkeit, ein Geltungszwang und die logische Iso-
lierung anhaftet. Die logische Funktion kann die Ausschaltung
nicht vollbringen, aber sie zieht sich zuräck und wäscht gleichsam
ihre Hände in Unschuld. Auch das kommt freilich, wie wir wissen,
schon in der Norm ab und zu vor, namentlich wenn es sich um
logisch scharf abgelehnte, aber gefühlsstarke Vorstellungen handelt;
wir haben das Beispiel der Ahnung und eines Aberglaubens an-
geführt, auch ein intensiver, z. B. sexueller Trieb kann dieses
ild des Widerstreites erzeugen. Für gewöhnlich ind2ssen kann
ein solches Zwangsgebilde nur aus der krankhaften Steigerung
eines der beiden in Betracht kommenden Faktoren oder beider
zugleich hervorgehen, nämlich aus der Verstärkung des Gefühls-
tones der Vorstellung oder aus einer abnorm geringen Energie
der logischen Funktion. Nur so kann zugleich das Gesetz der
Einheit und des inneren Zusammenhanges im reflektierenden
Denken durchbrochen werden.
Und wiederum begegnen uns hierbei mehrere Eigentämlich-
keiten. Fürs erste — und das hat entscheidende Bedeutung für
die ganze seitherige wissenschaftliche Diskussion — macht es
keinen wesentlichen Unterschied in der Gestaltung der Zwangsidee
(von abnormer Abkunft), ob die logische Ablehnung auf Grund
eines völligen Widersinnes oder aber nur infolge der wohlerkannten
logischen Minderwertigkeit erfolgt. Erst vor wenigen Tagen salı
ich einen Patienten, der zuerst von dem verabscheuten Zwangs-
impulse erfasst worden war, seine Frau ebenso zu ermorden, wie
er das gerade von einem scheusslichen und alarmierenden Falle in
hiesiger Stadt gehört hatte; kaum war er nach 6 Wochen befreit
von dieser Zentnerlast, als ihm die Nachricht zugetragen wurde,
ein guter Bekannter, der „ebenso wie er selbst gestört gewesen
sei“, habe sich soeben selbst entleibt. Und sogleich verfolgt ıhn
nun die neue Zwangsidee, auch er könne oder müsse sich das
‚Leben nehmen. Das eine war ein sinnloser Impuls, das andere
eine halbwegs denkbare Befürchtung nach dem Vorangegangenen.
Aber ihm selbst galten beide Ideen gleich, ja, erst wegen der
späteren kam er dazu, ärztliche Hülfe anzusprechen.
Merkwärdig ist ferner ein zweites: Stark gefühlsbetonte
Vorstellungen oder Impulse werden zumeist eher die Logik be-
zwingen und überwertig werden, als dass sie zwar das Denken
beherrschen, aber doch als unsinnige Fremdkörper isoliert im
and die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 879
Denken verhbarren und praktisch ohne Konsequenzen bleiben. So
sind z. B. offenbar gerade solche Mord- und Selbstmordimpulse
wie die eben erwähnten an und für sich von geringer Intensität.
Anders aber steht es da, wo zwangsmässige Hemmungen von
Impalsen erfolgen, bei den Phobien also. Hier kann ersichtlich
der Furchtaffekt wesentlich stärker sich gestalten, und gleichwohl
können jene unschwer aus dem assoziativen Konnexe ausgeschaltet
werden. Das rührt gewiss daher, dass bei solchen energieschwachen
Naturen Unterlassungen und Hemmungen relativ leicht und ohne
Mitwirkung logischer Motive zustande kommen. Umgekehrt müssten
hei den aktiven Impulsen erst die natärlichen Hemmungen der
Vernunft besiegt werden, und dazu bedürfte es erst der Selbst-
überredung.
: Endlich noch ein drittes: Der Geltungszwang ist nicht
ımmer vorhanden, so nicht bei der einfachen theoretischen Grübel-
sucht, und ferner tritt er in manchen Formen erst sekundär
hinzu, so gerade wieder bei den absurden Impulsen, bei vielen
Kontrastvorstellungen der Verwünschung u. dergl. Hier findet
sich jedenfalls urspränglich nur die abnorme Unverdrängbarkeit,
an diese schliesst sich dann irgend eine Befürchtung an, ein
Selbstvorwurf ete. Mag es sich aber um ein lästiges Phantasie-
produkt, um eine primäre oder sekundäre Gefühlsbetonung oder
auch nur um einen zweeklosen Zweifel handeln, immer. liegt das
Wesen des Zwanges hier nicht in der Unverdrängbarkeit der
Idee an sich, sondern in dem ÜUnvermögen, die Einheit des
Denkens durchzusetzen, in dem unüberbrückten Widerstreite des
logischen Ideenkreises und der sich aufdrängenden Vorstellung.
Nicht um eine zweifelnde Diskussion, ein Für und Wider, sondern
um einen Dualismus, ein Zugleichsetzen von Verneinung und
Bejahung handelt os sich.
Deshalb sind denn auch die unechten Zwangsvorgänge
von den eehten grundsätzlich zu trennen, obwohl sie in den
kausalen Momenten vieles Gemeinsame haben; denn es ist eine
wesentlich andere psychische Funktion, welche dort gestört ist.
Kommt es zu unbegründetem Erröten, zu einer Hemmung des
Schreibens, einem tioartigen Muskelkrampf, ja sogar einem halb-
bewussten mechanischen Impuls, wie dem Schilderbuchstabieren,
ferner einer sogenannten Zwangsempfindung, so treten diese alle
hervor, ohne dass das reflektierende Ich zu einem direkten Ein-
greifen dagegen befähigt wäre. Denn das gehört gar nicht zu
‘seinen Funktionen. Wohl aber beruht die ganze Störung einer-
‚seits wieder auf einer allgemeinen Herabsetzung der geistigen
Energie (ähnlich etwa wie das starke Zusammenfahren bei poe-
lichen Geräuschen) und ferner auf der ungewollten ängstlichen
Spannung der Personen, welche gleichfalls unbewusst und auto-
suggestiv das Auftauchen jener lästigen Erscheinungen befördert.
Ausserdem hemmt geradezu, wie Pick dargelegt hat, die absicht-
liche Lenkung der Aufmerksamkeit auf Mechanismen. wie die des
Schreibens, Schluckens und Urinierens, deren richtigen Ablauf.
In allen solchen Fällen finden wir somit zwar wieder die Eigen-
‚schaft der abnormen Uuverdrängbarkeit, aber man erkennt, wie
0.0 - --
— — ev — ——
380 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
wenig jene Symptome mit dem physischen Zwange auf. dem Ge-
biete der Intelligenzvorgänge zu tun haben.
Soweit die Zusammenfassung unserer Ausführungen über
die empirische Definition der Zwangsgebilde. Was ist damit
erreicht worden? Definitionen verfolgen einen praktischen und
dabei doppelten Zweck: sie sollen eine Reihe von Tatsachen in
Zusammenhang bringen und eine einfache diagnostisch brauch-
bare Formel oder Inhaltsangabe für jene liefern. Beide Aufgaben
entspringen systematischen und einigermassen willkürlich zu be-
stimmenden Bedürfnissen; doch stellt sich in der Entwicklung jeder
Lehre eine allgemein angenommene Uebung her, von welcher man
nicht ohne Notabweichen wird. Eine solche Notwendigkeit aber sollte
im gegenwärtigen Falle bestehen und zwar deshalb, weil erstens die
Aerztezu Verschiedenartigesmitdem gleichen Kenn worte des Zwangs-
vorganges zu bezeichnen pflegten, und dann, weil man im Laufe
-der Zeit einen immer laxeren und undeutlicheren Generalbegriff
sich halb unbewusst zurechtgelegt hatte, in welchem nur der
Tatbestand irgend eines Zwanges oder Dranges bei psychischen
Vorgängen das Massgebende zu sein schien. So war das Streben
nach Klarheit über Inhalt und Umfang des Begriffes zum eigent-
lichen Erfordernisse in der ganzen Lehre’ geworden; aber keine
der beiden bisher versuchten extremen Lösungen konnte be-
friedigen, weder diejenige, welche mit Löwenfeld die laxe
Uebung anerkannte und zu systematisieren trachtete, noch das
Vorgehen von Hoche und Bumke, welche sämtliche Er-
weiterungen des Begriffes, den Westphal vor Jahr und Tag am
Anfange unserer Erkenntnis gebildet hatte, zu streichen vor-
schlugen.
Ich selbst nahm nun an, vorgeschwebt habe allen derjenige
Begriff des Zwangsvorganges, wo der Zwang ein vom Subjekte
klar empfundener ist. und wo er zugleich das Wesentliche!) des
anzen abnormen Vorganges darstellt. Damit werden sowohl die
Gebilde ausgeschlossen, welche wesentlich mehr enthalten, nämlich
zugleich eine logische Ueberwertigkeit, und diejenigen, welche
wesentlich darunter bleiben, indem sie nur einen halbbewussten
oder unbewussten Drang oder Trieb oder gar nur eine isoliert
stehende psychische Abnormität überhaupt darstellen.
Wird nun das Gebilde so bestimmt, wie eben besprochen,
dann erkennt man, dass darin ein im Prinzip gleichartiger und
etwas komplizierter geistiger Prozess steckt. Eine wirkliche
Klarheit wird aber auch dann nicht erreicht, wenn man nicht die
psychologische Bedeutung, die Pathogenese, kurz die psycho-
ogischen Grundlagen des Vorganges ermitteln kann. Und nun
war zu fragen, ob eine solche Untersuchung in der Tat auf so
grosse Schwierigkeiten und Dunkelheiten stösst, wie man das
heute noch herkömmlich darzustellen pflegt. Zwei allgemeinere
ı) Westphal selbst hielt das primäre Ergriffensein des Vor-
stellungselementes für das Wesentliche (gegenüber den primären Er-
krankungen des Affektes). So lautet heute das Problem nicht mehr, wenigstens
für uns. Wir fragen, wie das Subjekt reagiert auf betonte Vorstellungen, ob
aktiv in Form der Ueberwertigkeit oder passiv in Form des Zwangsdenkens.
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 381
Grundsätze waren hier leitend für mich: selbstverständlich war
nach dem Grundsatze der wissenschaftlichen Oekonomie zu
verfahren, d. h. es war nicht mehr bei den Erklärungen voraus-
zusetzen bezüglich einer psychischen Abnormität, als gerade für
diesen Zweck erforderlich war. Lag beispielsweise eine Störung
der Aufmerksamkeit vor, so war es unnötig, dann gleich von
einer Schwäche des Willens zu sprechen; werden geringwertige
mechanische Assoziationen nach Kontrast, nach Gleichzeitigkeit
ın kausale Beziehungen gebracht, so braucht man nicht eine all-
gemeine assoziative Störung anzunehmen, denn es zeigt sich,
dass meistens nur die überlange im Bewusstsein festgehaltenen Vor-
stellungen so umgestaltet werden von den Patienten. Zweitens
hat es sich ergeben, dass es nicht irgendwie einen wesentlichen
Vorteil bietet, wenn man eine bestimmte psychologische Theorie,
ein bestimmtes System, und insbesondere Ins Wundtsche, den
Erklärungen zugrunde legt. Man kann der Kürze wegen, wie
ich es früher getan habe, von den „apperzeptiven Funktionen“
sprechen; aber auch das ist entbehrlich. Die Tatsache, dass
eıne Lenkung der Aufmerksamkeit stattfindet, steht als solche
fest, unabhängig von der Deutung dieser Leistung, und weiter
ist es Sache der Beobachtung, dass wir die Fähigkeit besitzen,
eine Vorstellung oder einen Impuls zu betonen oder abzulehnen.
Dass indessen diesen Leistungen keine absolute Macht gegeben
ist, das lehrt gerade am unzweideutigsten die Existenz der Zwangs-
vorgänge.
Es beruht nämlich das ganze Gebilde auf normalen
Eigenschaften der Psyche, und es sind diese wiederum von
zweifacher Art: einmal übt die stärkere Gefühlsbetonung einen
gewissen bestechenden Einfluss auf die Urteilsbildung aus, und
zweitens hält ein peinlicher Affekt sowie der Tatbestand der logi-
schen Unabgeschlossenheit die Vorstellungen im Bewusstsein fest;
am stärksten aber geschieht dies, wenn diese beiden Momente in
der Gestalt einer Befürchtung, eines Bedenkens oder einer pein-
lichen Erwartung zusammen vereinigt auftreten. So resultiert die
normale Zwangsvorstellung.
Die klinische Erfahrung nun gibt uns keinen Anlass, die
krankbaften Zwangsvorgänge anders aufzufassen denn als eine
pathologische Steigerung jener normalen Verhältnisse. Es gibt
eine nicht unerhebliche Anzahl derartiger Vorkommnisse, wo wir
in der Hauptsache nur eine Erhöhung der peinlichen Gefühls-
betonung wahrnehmen, so z. B. wenn Personen, die im Vollbesitze
ihrer geistigen Fähigkeiten sich befinden, lediglich infolge einer
‚nervösen Erregtheit oder einer ängstlich unruhigen Verstimmung
‚sich zwangsmässig übertriebene Skrupel machen müssen, etwa
jemanden gekränkt zu haben, einem Entschlusse vorschnell gefolgt
. zu sein; oder wenn solche Personen, die auf der Höhe ihrer Be-
rufsleistungen stehen, einer plötzlichen Krankheitsfurcht erliegen,
eine Scheu, in’s Theater zu gehen, zu ihrem eigenen Aerger nicht
überwinden können; oder endlich, wenn die gleichen Personen
einer übermässig empfundenen Ekelvorstellung sich in keiner Weise
zu entziehen vermögen.
Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hett 4. 25
382 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
Zahlreich aber sind auch die Gründe, welche uns lehren,
dass diese einfachste Deutung in vielen anderen Fällen nicht ge-
nügen kann. Es wäre schon irrtümlich, zu glauben, dass in jenen
erstgenannten Fällen nur das aktive Moment der gesteigerten
Gefühlsbetonung in Wirksamkeit getreten sei. Die passiven
Momente waren selbstverständlich da, nur hat sich deren Intensität
nicht über die Breite dessen erhoben, was noch in der Norm vor-
kommt. Da hier überall der ausgesprochene Wille sich geltend
macht, sich von den zwangsmässigen Vorstellungen zu befreien,
und da wir voraussetzten, dass jedesmal die Einsicht bei dem
Patienten existierte, dass seine Bedenken weit übertriebene seien,
so war ein Defekt an Kraft vorhanden, jene überstark pein-
lichen Vorstellungen aus dem Bewusstsein zu entfernen und ihre
übertriebene Schätzung wirksam zu überwinden.
Den wahrsten und den wirklich eigenartigen Typus des
Zwangsgebildes treffen wir indessen bei der soeben geschilderten
einfachsten Kategorie nicht. Diese letztere entfernt sich nicht
sehr von dem noch halb normalen Erzeugnisse der Phantasie, das
wir als Einbildung charakteristisch benennen. Erst die künstlich
aus dem Nichts hervorgeholten Schreckgespenster und das Zurück-
weichen der Energie vor sinnlosen Impulsen und Phobien birgt
jene Rätsel der psychischen Kräfte in sıch, welche den Scharfsinn
der Forscher so oft herausgefordert haben. Es klingt freilich
sonderbar, wenn eine sonst verständige Dame, welche vorher nie
von dem Sadisten Diebold nur gehört hatte, bald nach dem
allgemein aufregenden Prozesse keine Ruhe mehr findet in und
vor dem Gedanken, sie selbst hätte die Untaten verhindern
müssen. Und doch bedarf es zur Erklärung nur zweier Momente,
welche beide als Tatsachen, wenn nicht in diesem einen, so
doch in zahlreichen ähnlichen Fällen zu erweisen sind: erstlich
des Bestehens einer primär geminderten Energie in der Lenkung
der Aufmerksamkeit und zweitens des Bestehens eines eigen-
artigen logischen Verhaltens; es existiert nämlich bei solchen,
sozusagen für die Logik und die Phantasie inkommensurablen
Werten kein wirkliches gegenseitiges Bekämpfen, sondern ein
abwechselndes Auftauchen bald des einen, bald des anderen
Wertes, also kein Widerstreit oder Zweifel, sondern ein Wett-
streit. Das ist aber keineswegs etwas Ungewöhnliches an sich,
vielmehr besitzen wir die normalen Vorbilder in der Wirksamkeit
sogen. Ahnungen und in dem dogmatischen Glauben überhaupt
bei logisch sonst kritischen Personen (sogen. „doppelte Buch-
führung“ des Geistes).
Wie das abnorme Festgehaltenwerden peinlicher Vor-
stellungen wirkt, haben wir an vielen Beispielen Früher erläutert;
ich muss noch einmal darauf abheben: Ein junges Mädchen muss
sich infolge solcher Hemmungen mit Irrtumsangst quälen; unter
den vielen so entstehenden Phantasiebildern findet sich eines, das
sie besonders erschreckt und das deshalb wieder besonders fixiert
wird, das ist die Idee: „Am Ende machst du lieber absichtlich
einen Fehler“. Eine Dame muss über die Massen und für ihr
eigenes Urteil lächerlich sich um ihre Angehörigen sorgen; so
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 383
kommt unter manchen Phantasieschrecken derjenige: „Dann soll
lieber einmal etwas Richtiges passieren.“ Dieser wird gerade
wegen seiner Peinlichkeit festgehalten, und daran schliesst sich
nochmals die Ahnung an: „Durch deinen schändlichen Wunsch
hast du das Unglück herausgefordert“. Jener oft zitierte
Kaufmann erschrak über die Möglichkeit, dass sein höflicher
Wunsch als Anerbieten einer Schenkung gedeutet werden
könne. Von dieser Idee kommt er nicht mehr los, sie bleibt
fixiert im Wettstreite mit der gleichzeitigen logischen Einsicht,
dass die Idee töricht sei.
Was ist nun Konstruktion, und was ist Tatsache in dieser
Theorie? Konstruktion ist nur, dass wir die wenigen Bausteine,
um die es sich handelt, bald da, bald dort nur einzeln nach-
weisen können, sie aber dann zu einem verständlichen Vorgange
zusamınenfügen, indem wir die Lücken aus den einzelnen Fällen
gegenseitig sich ergänzen lassen. Die primäre Hemmung der
Aufmerksamkeit ist nicht jedesmal erweisbar, so z. B. nicht in
dem zuletzt erwähnten Beispiele; wie wir hörten, brauchen wir
sie auch nur in den mehr absonderlichen Ideen anzunehmen. Die
Voraussetzung, dass infolge der Fixation einer peinlichen Vor-
stellung allerlei schlimme Bilder auftauchen, von welchen gerade
die festgehalten werden, welche einen Selbstvorwurf oder eine
Befärchtung enthalten, lässt sich gleichfalls nur als sehr plausibel
hinstellen. Als Beweisgrund aber liess sich geltend machen, dass
eine ganze Anzahl verschiedener solcher Schrullen immer wieder
so entstand, dass eine Grundvorstellung nachweisbar aus
äusseren oder inneren Anlässen fixiert war.
Der weitaus wichtigste Lehrsatz aber betrifft die Annahme,
dass die Energie der Aufmerksamkeitslenkung primär
gehemmt ist in zahlreichen Fällen, und dafür sind brauchbare
Beweise aus der klinischen Beobachtung zu entnehmen: erstlich
bedürfen die Zwangsgebilde nicht der Widerlegung, wohl aber
der Gegensuggestion aus fremdem Munde, und das ist nur
erklärlich durch das eigene Defizit an Energie des Denkens;
üäberwertige Ideen sind höchstens zu widerlegen, aber nicht
wegzusuggerieren. Als Experiment im gleichen Sinne war der
befreiende Einfluss des Alkohols zu nennen, denn er schwächt in
kleiner Dosis (die schon wirkt) nicht die Phantasie, wohl aber
die Hemmungen. Eine dritte Tatsache ist die Minderung des
Geltungsgefühles, welche den Skrupeln und der Irrtumsfurcht
zugrunde liegt, und auch sie entspringt direkt der geschwächten
Energie in der Führung und Abschliessung von geistigen Operationen
(z. B. Rechnungen); aber wir beobachten ja auch unmittelbar
gleichsam in statu nascendi dieses mangelnde Geltungsgefühl, wenn
die Kranken sich unaufhörlich in dem gleichen Zirkel zwischen
Bejahung und Verneinung drehen bei Dingen, welche sie in
ruhigen Zeiten sofort erledigen können. Auch der Umstand, dass
namentlich die nervöse Abspannung, z. B. bei Juristen, Anlass
zu solcher Irrtumsfurcht gibt, ist als fernerer Beweisgrund zu
unterstellen. Von der entgegengesetzten Seite her erblicken wir
den Nachlass der geistigen Spannkraft, wenn wir die Schlaffheit
25%
384 Friedmann, Ueber die Abgrenzung
der Zügel "gegen törichte Triebe und gegen zornige Ausbrüche,
bei den gleichen Patienten wahrnehmen; denn es ist ja die
Steuerung des geistigen Geschehens, welche Not gelitten hat.
Am meisten aber sind von jeher die Beobachtungen ins Auge
gefallen, wo wir eine völlige Anarchie erblicken bei gewissen
degenerierten Naturen, und zwar nicht etwa ein wildes „disso-
zuertes“ Auseinanderreissen der Gedanken, sondern einfach nicht
mehr und nicht weniger als Ersetzung der willkürlichen Kon-
zentration der Aufmerksamkeit durch die unwillkürliche, und
zwar hauptsächlich wieder bei allen möglichen peinlichen
Skrupeln und Einfällen, also infolge von Gefühlsbetonungen und
Zweifeln. Und wieder ist es bezeichnend bei diesen reinsten
Gestaltungen des klebenden Denkens, dass nicht das Gefühl,
nicht die Suggestibilität besonders gesteigert ist; vielmehr stossen
wir auf ein förmlich pedantisches Wühlen und Grübeln. Die
Personen suchen direkt die absonderlichsten Kombinationen, weil
ihr eigener Intellekt ihnen bei solchen am wenigsten im Wege
ıst. Bekanntlich ıst der absolute Unsinn schwerer zu widerlegen
als ein Fehlschluss, weil die Anknüpfungspunkte für den Gegen-
beweis fehlen; wie soll z. B. die letzte Spur von Möglichkeit
widerlegt werden, dass auf dem Aborte noch lebensfähiges Sperma
zu weiblichen Genitalien gelange? Oder dass einer mit dem
Schirme dem Hintermanne die Augen verletzt habe, während die
Tragweite dieser Verletzung erst nachträglich zum Vorschein kommt,
so dass der Betroffene zunächst stille schwieg?
Das Verzeichnis der tatsächlichen Beweisgründe ist damit
noch keineswegs erschöpft, aber sie werden genügen, zu zeigen,
dass das rein deduktive Element in der ganzen genetischen Theorie
nicht etwa überwiegend ist, sondern eher zurücktritt. Seit Menschen
denken, hat man gesehen, dass Spuren einer göttlichen Regierung
der Logik kaum zugänglich sind, und dennoch hat man daran aus
Gefühlsgründen, wegen ethischer Werte fort und fort „geglaubt“.
Unsere erste hauptsächliche Deduktion ist, dass wir diese Analogie
auf die Zwangsgebilde übertragen haben, und die zweite Deduk-
tion, dass wir die nachweisbar vorhandene Hemmung bei der
Lenkung der Gedanken und die tatsächliche Steigerung der Affekte
bei der nervösen Erregtheit weiter als Erklärungsmomente ver-
wertet hatten. Wir begreifen dadurch den Zwangskurs logisch
unterwertiger Vorstellungen. Nur aus der Scheu vor psycho-
logischer Analyse und aus der mehr formalen, aber stark in die
Augen fallenden Verschiedenheit der zahlreichen bisher verlaut-
barten Theorien, endlich aus der seitherigen Unsicherheit der
ganzen Lehre überhaupt kann ich es verstehen, wenn der wissen-
schaftliche Ruf die Zwangsgebilde bisher als besonders schwer
erklärlich bezeichnet hat. Denn schliesslich ist die ganze Theorie
weiter nichts als die Annahme, dass die beiden Faktoren, welche
schon das normale Zwangsdenken bedingen, bei den krankhaften
Formen ebenfalls wirksam sind und nur in ihrer Intensität ge-
steigert sind.
Wenn also aus der Steigerung einer normalmässigen Un-
vollkommenheit der regulierenden Kräfte im Denken sich die
und die Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 385
pathologischen Zwangsvorgänge erklären, so sind doch die Be-
dingungen, aus welchen diese Steigerung hervorgeht, verschieden-
artige, und es erscheint zweckmässig, jetzt am Schlusse nochmals
die differenten genetischen Formen der Zwangsvorgänge in
diesem Sinne zusammenzustellen: 1. Die einfachste Form war die,
wo nur der Gefühlston der Zwangsvorstellung erhöht war, und
zwar infolge einer eingetretenen nervösen Aufgeregtheit. Die
vorhandenen nervösen Beschwerden oder ein besonderes shockartig
wirkendes Vorkommnis wirken mit Hülfe von Angstgefühlen
auf die Phantasie und erregen zwangsmässige Befürchtungen und
Hemmungsphobien, welche zu stark sind, als dass sie noch ohne
weiteres überwunden werden könnten. Eigenartig wirkt 2. ein
besonderer selbstquälerischer Zug innerhalb der periodischen
Anfälle der Cyklothymie; die krankhafte Verstimmung sucht
sich Skrupel förmlich heraus, welche durch die Vernunft nicht
ohne weiteres völlig zu widerlegen sind, und klammert sich an
sie. Der Zug der Unschlüssigkeit im Denken, welcher gleich-
zeitig dem Zustande anhaftet, hilft dabei erheblich mit. Am
häufigsten aber 3. ist das Verhalten so, das eine nervöse Auf-
regung bei einem spezifisch prädisponierten Naturelle aus-
bricht, welchem von Hause aus die energische Bestimmtheit im
Denken und Tun fehlt und das zu einer ängstlichen Pedanterie
an und für sich neigt. Daraus, dass eben diese Kombination
am leichtesten Zwangsvorgänge erzeugt, erklärt es sich einerseits,
dass die letzteren hauptsächlich in der Neurasthenie der erblich
Belasteten auftreten und dass andererseits auch bei den meisten
Neuropathen die Zwangszustände doch nur in bestimmten Perioden .
sich einzustellen pflegen. Uebrigens kann auch die akute nervöse
Erschöpfung in ganz ähnlicher Weise die Energie der Denk-
und Willenstätigkeit lähmen und so eine passagere Skrupelsucht
erzeugen. An die letzte Stelle sind 4. die schwer degenerativen,
erblich übertragenen Naturelle zu setzen, welche ihr ganzes
Leben lang oder doch den grössten Teil desselben unter der Herr-
schaft starker Zwangsvorgänge stehen, und wo die Störung in der
Regulation des geistigen Betätigens eine so elementare und tief-
greifende ist, dass auch die ganz schwach oder überhaupt nicht
gefühlsbetonten Vorstellungen und Triebe sich ungehindert
hervordrängen können, und wo daher ein fortdauerndes Kleben
an kleinlichen Grübeleien und an phantastischen Grillen stattfindet.
Aus solchen Personen hauptsächlich rekrutiert sich die „Zwangs-
ıdeenkrankheit“ und der „primordiale Grübelzwang“.
Bezüglich einer symptomatischen Einteilung der Zwangs-
vorgänge scheint mir — um das noch kurz anzufügen — heute
am zweckmässigsten zu sein diejenige in: 1. Zwangsvorstellungen
[a) einfache Zwangsvorstellungen, b) Zwangsskrupel und Irrtums-
furcht, c) Fragezwang], 2. Zwangsimpulse und 3. zwangsmässige
Impulshemmungen oder Phobien. Als unechte Zwangsvorgänge
wären anhangsweise die vielfachen anderweitigen Aeusserungen
der unzulänglichen Regulation des Handelns und Denkens an-
zuschliessen, so die Errötungsimpulse, die Hemmungen des
386 Friedmann, Ueber die Abgrenzung etc.
Schreibens, Schluckens, Urinierens etc., die Uebertreibungssuchten,
das zwangsmässige Phantasiedenken (rêverie forcée), die mecha-
nischen Triebe zum Schilderbuchstabieren, Schrittezählen etc.,
Zwangserinnerungen an Verse und Melodien etc.
Ich möchte nicht schliessen, ohne eine Anwendung des
gewonnenen Resultates mit einem Worte anzudeuten bezüglich
einer wichtigen Spezialfrage in der Lehre. Wie steht es mit den
Uebergängen in schwerere psychische Zustände? Zu unter-
scheiden sind die Uebergänge, welche bestehen und welche
kommen. Die ersteren, das wissen wir schon, sind selbst-
verständlich da. Die Abgrenzung gegen die überwertige Idee
ist keine strenge, sondern ist nur für die Ueberzahl der Fälle
glatt durchfährbar. So munches Gebilde liegt aber in der Mitte
mit Rücksicht auf das zweifelhafte Verhalten des logischen Denkens.
- Bei vielen Skrupeln, bei vielen Beachtungsideen schwankt der
Patient, er ist sich auch logisch nicht klar, reflektiert eingehender
über die Sache, hält die Idee bald für gut begründet, bald für
schwach begründet! Das sind dann entweder überhaupt normale
psychische Prozesse oder aber die sogenannten mobilen Wahn-
ıdeen. Jenes Abwechseln von Glauben und Nichtglauben ist
aber offenbar an sich etwas wesentlich anderes als der dauernde
Wettstreit zwischen Glauben und Logik; es fehlt aber auch die
eigentümliche Schwächlichkeit in dem ganzen Verhalten, das
für die Zwangsgebilde so bezeichnend ist. Der Wahnglaube ist,
wenn er da ist, entweder kräftig, oder er ist überwunden.
Verwandeln sich Zwangsideen in Wahnideen? Das ist nur
möglich, wenn sich der ganze psychische Zustand bei dem Patienten
ändert, denn aus ihm, nicht aus dem Inhalte des Gebildes resultiert
die Zwangsvorstellung. Nun sind aber unsere Patienten aus ganz
anderem Holze geschnitzt als die Paranoiker und die Personen
mit überwertigen Ideen. Jene sind unenergisch, die Affekte sind
oberflächlich, ihre Logik zwar oft scharf kritisch, aber un-
entschlossen. Gerade das Gegenstück sind die Paranoiker, sie
sind leidenschaftlich, vorschnell und eigensinnig verbohrt. So
sind Uebergänge zur Paranoia und zu analogen Krankheiten kaum
anzunehmen, eher kann eine nervöse Erregtheit in Melancholie
übergehen und dann auch die Zwangsidee zur melancholischen
Wahnidee werden. Auch kommen leichte Zwangsideen neben
leichten überwertigen Ideen vor. Wo aber die charakteristische
Unzulänglichkeit und Schwächung in der Energie des Ent-
schliessens ausgeprägt vorhanden und gar angeboren ist, da sind
auch die fraglichen Uebergänge nicht wohl denkbar, und in den
in der Literatur vorhandenen Fällen wird es sich in der Regel
um Verwechselungen mit den überwertigen Ideen gehandelt haben,
und zwar schon beim ersten Stadium der Erkrankung.
Ist einmal der Begriff der Zwangsgebilde geklärt, so werden
hoffentlich auch die zahlreichen anderen Fragen in der Lehre,
welche in dieser Arbeit nicht einmal genannt wurden, der Lösung
näher kommen.
Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
Von
Dr. OTTO VERAGUTH,
Privatdozent für Neurologie an der Universität Zürich.
I. Bericht.
Wenn man eine galvanische Batterie von niederer, innerhalb
bestimmter Grenzen gehaltener, konstanter Spannung leitend ver-
bindet einerseits mit einem Drehspulengalvanometer und anderer-
seits mit dem menschlichen Körper in bestimmter Kontaktanordnung,
so zeigt nach der Schliessung dieser Stromkette der Spiegel des
Galvanometers kurzdauernde grössere und kleinere Schwankungen
verschiedener Art und Herkunft. Es sind als Grundtypen von
solchen Galvanometerbewegungen leicht zu unterscheiden:
1. Einstellungs- Schwankungen des Spiegels beim Ketten-
schluss;
2. Schwankungen, die hervorgerufen werden, wenn der
Kontakt zwischen den Elektroden und dem Körper der Versuchs-
person willkärlich geändert wird;
3. Schwankungen, die nach Ablauf der Einstellungs-
Schwankungen und bei Vermeidung jeglicher willkürlichen Ver-
änderung des Kontaktes zwischen Elektroden und Körper durch
endosomatische Vorgänge in der eingeschalteten Ver-
suchsperson verursacht werden.
Die unter 1 und 2 genannten Schwankungen treten gleich-
zeitig mit der Ursache auf. Sie erklären dadurch diese zu
einer physikalischen. Die unter 3 angeführten Schwankungen
dagegen haben, bei aller Verschiedenheit der sie hervorrufenden
endosomatischen Vorgänge, als gemeinschaftliches Merkmal die
Eigentümlichkeit, erst nach einer Latenzperiode bis zu mehreren
Sekunden nach dem Moment des verursachenden Vorganges auf-
zutreten. Schon hierdurch deklarieren sie sich zum Ausdruck
physiologischer Vorgänge.
Die folgenden Zeilen enthalten Berichte, welche diesem
Phänomen gegolten haben.
Es sei gestattet, für dasselbe den Namen „psychophysisches
galvanisches Reflex-Phänomen“ abgekürzt: „psycho-galvani-
scher Reflex (p. g. R.)“ vorzuschlagen.
Reflex-Phänomen deswegen, weil, was durch die Spiegel-
bewegung manifest wird, eine den bisher bekannten Reflexen
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXL Helt 6. 26
388 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
analoge Erscheinung ist. Denn die notwendigen Bedingungen zu
seinem Zustandekommen bestehen in einem Reiz, einem Aus-
lösungsvorgang und einer zentrifugalen Aeusserung. Zwischen dem
Zeitpunkt des Reizes und dem der Aeusserung liegt die Latenz-
eriode.
P Psychophysisches Reflex-Phänomen deswegen, weil, wie
unten zu zeigen sein wird, eine Mitbeteiligung psychischer
Instanzen zum Zustandekommen des Phänomens vorausgesetzt
werden muss.
Galvanisches Reflexz-Phänomen deswegen, weil zur Sicht-
barmachung des zentrifugalen Vorganges der galvanische Strom
in messbarer Anordnung notwendig ist.
Zur Geschichte der psycho-physischen Messungen mittels
des Galvanometers mögen die folgenden Notizen von Interesse sein.
Im Jahre 1890 publizierte Tarchanoff in Pflügeers Archiv!)
einen Aufsatz „Ueber die galvanıschen Erscheinungen in der Haut
des Menschen bei Reizungen der Sinnesorgane und bei verschiedenen
Formen der psychischen Tätigkeit“. Dieser „vorläufigen Mitteilung“
hat der gleiche Autor eine weitere Ausführung des Themas nicht
folgen lassen. Sie scheint denn auch in der Folgezeit völlig
unbeachtet geblieben zu sein: wir begegnen ihrer Erwähnung
nirgends in der einschlägigen Literatur der nächstfolgenden Jahre.
Das gleiche Schicksal erfuhr offenbar eine Arbeit Stickers?)
über eine Wiederaufnahme, Nachprüfung, teilweise Bestätigung
und teilweisen weiteren Ausbau der Tarchanoffschen Versuche,
aus dem Jahre 1897. Auch die Würdigung dieser Forschungs-
resultate sucht man vergebens in der Literatur bis zum Jahre 1902,
wo Sommer?) ım Anschluss an die Tarchanoff-Stickerschen
Versuche die Entstehung und Messung von galvanischen Strömen
bei Berührung metallisch verbundener Elektroden untersuchte.
Unabhängig von diesen Arbeiten — weil ohne Kenntnis
derselben (sie sind mir erst nach Abschluss meiner grundlegenden
Experimentenreihe, zum Teil im Winter 1905/06, zum Teil im
Sommer 1906, zu Gesicht gekommen) — habe ich im Jahre 1904
Untersuchungen über das psycho-galvanische Reflex-Phänomen
begonnen und seither weitergeführt, deren Ergebnisse mit den
Tarchanoff-Stickerschen Resultaten nach der phänomenologi-
schen Seite im ganzen parallel, nach der genetischen Seite aber
divergent laufen.
Ich bin veranlasst, Wert darauf legen zu müssen, dem Leser die
Umstände zu schildern, unter denen ich das psycho-galvanische Reflex-
phänomen kennen gelernt habe.
Im Frühling 1904 stellte Herr Ingenieur E.K. Müller in Zürich Ver-
suche an „über die Aenderung des Körperleitungswiderstandes gegen den
galvanischen Strom“, um zu prüfen, ob sich Wirkungen des von ihm er-
ı) Pflügers Archiv. Bd. 49. '
23) Wiener klinische Rundschau. 25. VI. 97.
3) Beiträge zur psychiatrischen Klinik. Wien 1902. Zitiert nach
Sommer. Münchner medizinische Wochenschrift. 1905. No. 51.
Veraguth, Das psycho-galvunische Reflex-Phänomen. 389
fundenen elektromagnetischen Radiators auf den L. W. objektiv nachweisen
liessen. Dabei bediente er sich zu seinenVorversuchen einer im Prinzip gleichen
Methode, wie sie unten beschrieben ist, soweit die Stromkreisteile in Betracht
kommen’). Nachdem er schon eine grosse Menge präliminarer Experimente
über die allgemeinen Variabilitäten des Galvanometerausschlages bei Ein-
schaltung des menschlichen Körpers — nach Individuen, Elektroden, Wahl
der Applikationsstellen — ohne gleichzeitige Einwirkung des magnetischen
Wechselfeldes mit dieser Methode gemacht hatte, lud er mich im Frühjahr
1904 ein, von diesen seinen damaligen Resultaten mich selbst zu überzeugen
und mich über dieselben zu äussern. Hierbei teilte er mir auch mit, es sei
ihm, besonders wenn er Experimentator und Versuchsperson zugleich gewesen
sei, aufgefallen, dass öfters Vorgänge in der Umgebung, sowie solche im
Körper der Versuchsperson (wie z. B. Herzklopfen) kurzdauernde Aenderungen
der Spiegelstellung hervorrufen, nnd sprach die Vermutung aus, es könnte
hier eine psychische Einwirkung auf den L. W. vorliegen. Meinen aprioristi-
schen Einwand, dass wohl bei den Spiegelschwankungen eines so empfind-
lichen Galvanometers (wie des von ihm gebrauchten Kontaktänderungen
zwischen Elektrode und Hand die Hauptrolle spielen dürften, musste ich
sofort fallen lassen, sobald ich mich selber für einen kurzen Versuch mit
und ohne willkürliche Kontaktänderung als Versuchsperson eingespannt
hatte und nun sah, dass willkürliche Verkleinerung der Kontaktfläche klar
koinzidierende Minusschwankungen des Spiegels hervorrief, die mit den mir
damals noch unverständlichen anderweitigen Öszillationen kaum etwas zu tun
haben konnten. Ich fragte mich also, ob nicht bei dieser Versuchsanordnung
— auch abgesehen von den in der Elektrodiagnostik längst beschriebenen
Anfangsschwankungen des L. W. — möglicherweise ein mir wenigstens
nicht bekannter physiologischer Vorgang, eventuell mit einer psychischen
Komponente, zum Ausdruck gelange — der Gedanke an die Vasomotoren
und an Analogien zu Plethysmo- und Sphygmographen-Versuchen lag nahe —
und ob gegebenfalls hierfür ein unabweisliches Kriterium in den mannig-
fachen Bewegungen des Spiegels selbst zu finden sei. Von dieser Frage-
stellung ausgehend, nahm ich deshalb noch am gleichen Abend an Herrn
Müllers Apparaten Versuche mit einer anderen geeigneten Versuchsperson
vor, indem ich ihr, während sie in den Stromkreis eingeschaltet war, sen-
surische Reize una nachher einen psychischen Reiz durch verbale Erweckun
eines stark betonten Unlustgefühls applizierte. Was.ich nun sah, war freilic
scharfer Beweis für ein psychophysisches Phänomen: Es zeigte sich ein
von allen anderen Schwankungen des Galvanometers durch eine
vorgängige Latenzperiode ausgezeichneter Spiegelausschlag
nach A ikation des Reizes. Da mir auf Grund dieser Tatsache von
diesem Momente an die psychophysische Natur des eben beobachteten
Phänomens sicher erwiesen war, stellte ich mir die Aufgabe, selbst diesen
Erscheinungen durch eigene Untersuchungen nachzugehen. Ich habe solche
dann 1904 bei mir zu Hause begonnen und seither weitergeführt ?).
Herrn Müller machte ich von meiner Ueberzeugung, dass und warum
unter den Schwankungen, die ich bei diesem entscheidenden Versuch be-
obachtet hatte, auch solche seien, die das Korrelat psychophysischer Vor-
gänge sein müssten, sofort Mitteilung. Soweit ich unterrichtet bin, ist über
die diesem Gespräch vorangegangenen und an dieses sich anschliessenden
eigenen Beobachtungen des Herrn Müller in naturwissenschaftlichen und
') Es wird deshalb in diesen Berichten von einer Müllerschen An-
ordnung („Anordnung M“)im Gegensatz zu den Versuchsmethoden Tarchanoff-
Sticker („Anordnung TS“) und Sommer-Fürstenau („Anordnung SF“)
geredet werden.
s) Das Instrumentarium, das icb 1904 und 1905 benutzte, habe ich vom
eidgenössischen Geniebureau leihweise erhalten. Es ist mir eine angenehme
Pflicht, hier dieser Behörde meinen Dank für die Ueberlassung der Apparate
auszudrücken. Seit Anfang 1906 arbeite ich mit eigenem Instrumentarium
von Carpentier in Paris und Zulauf & Co. in Zürich.
26°
— ——— — — — - — — — --—-
390 Veraguth, Das psycho-galvanische Refex-Phänomen.
Tagesblättern referiert worden!). An den weiteren Interpretationen
und Schlüssen in den Referaten des Herrn Müller habe ich
keinerlei Anteil und bin deshalb im Fall,jegliche Verantwortung
für die daselbst niedergelegten Ideen medizinischer und elektro-
logischer Natur abzulehnen.
Ich verweise ausdrücklich auf das untenstehende Literaturverzeichnis,
um hierdurch eine reinliche Scheidung jener Arbeiten und meiner eigenen
Untersuchungen dem Leser, der sich dafür interessieren sollte, zu ermöglichen.
Diese geschichtliche Notiz schliesse ich mit dem Résumé, dass Herr
Müller das klare Verdienst hat, eine Form der technischen Vorbedingungen
für das Sichtbarwerden des psycho-galvanischen Reflex-Phänomens gefunden
und durch seine ersten Versuche der Erkenntnis vorgearbeitet zu haben,
dass hier, abseits von den alten Untersuchungen über den L. W. des Körpers,
ein interessantes psychophysisches Phänomen wissenschaftlich studiert wer-
den könne.
Die Gelegenheit, das psycho-galvanische Reflex-Phänomen als solches
zu erkennen, verdanke ich Gechalb, soweit die materiellen Bedingungen in
Betracht fallen, Herrn Müllers Einladung, mich über seine ersten Versuche
vom Frühjahr 1904 zu äussern.
Meine erste Mitteilung über die bisherigen Versuchsergeb-
nisse vor einem wissenschaftlichen Kreise geschah im März 1906
in der psychiatrisch-neurologischen Gesellschaft Zürich.
Veröffentlichungen anderer als der oben zitierten Autoren
über das gleiche Gebiet sind mir bislang nicht bekannt geworden.?)
Ueber die mit dem p. g. R. in Kontakt stehenden neuerlichen
Arbeiten von Sommer’) und Fürstenau?) sowie über die
Tarchanoff-Stickerschen Untersuchungen wird in anderem
Zusammenhang ausführlich referiert werden.
Versuehsanordnung.
Die in diesem ersten Berichte beschriebenen Versuche sind
mit Apparaten und nach einer Methode ausgeführt worden, wie
sie im folgenden skizziert werden sollen. Abweichungen von dieser
Versuchsanordnung („Anordnung M“), wie sie bei Experimenten
1) Compte rendu de la société helvétique des sciences naturelles.
Sept. 1904. Physikal.-mediz. Monatsh. Sept. 1904. Schweiz. Bl. f. Elektro-
technik, Nov. i904: „Ueber den Einfluss psychischer und physiologischer
Vorgänge auf das elektrische Leitvermögen des Körpers“, nachher als Separat-
abzug erschienen unter dem Titel: „Das elektrische Leitvermögen des
menschlichen Körpers als Massstab für seine Nervosität“. Revue generale
des Sciences. Paris 1905. Naturwissenschaftliche Rundschau. Jena 1905.
American Review of Reviews. 1905. Neue Züricher Zeitung. Okt. 1905.
23) Herr Dozent Dr. C. Jung, Burghölzli-Zürich teilt mir mit, dass er
gegenwärtig (Oktober 1906) Notizen über die von mir beschriebene experi-
mentelle Verwertung des p. g. R. beim Assoziationsversuch zum Nachweis
der Gefühlsreaktion, mit technischen Modifikationen, die er eingeführt hat,
im Journal of abnormal psychology unter der Presse habe. lapardde,
Archives de Psychologie, 1906, T. VI, und Della Valle, La face attuale
della psicologia sperimentale ed il Congresso di Würzburg, Pavia 1906, ent-
halten Referate (ersteres ein Autoreferat, letzteres einen kritischen Bericht)
über meine Demonstration im April 1906 am II. Kongr. für experimentelle
Psychologie in Würzburg,
3) Íoc. cit. Ferner: Neurol. Zentralblatt, 1905, No. 7; Zentralblatt f.
Physiologie, 1906, No. 6; Klinik f. psych. u. nervöse Krankheiten.
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 891
vorgenommen werden, die später beschrieben werden, sollen dort
in Kürze angeführt werden.
Als elektrische Batterie dienen 2 Leclanch&-Elemente, die,
mit reiner Salmiaklösung hergestellt, ihre anfängliche Spannung
von zirka 1,4 Volt nach anderweitigem Gebrauch verloren haben und
für die Experimente erst benutzt werden, wenn sie die konstaute
und von Zeit zu Zeit nachkontrollierte Dauerspannung von 1,2 Volt
aufweisen. Die Gesamtspannung der Eiementenstromquelle beträgt
somit 2,4 Volt. Aus später zu erörternden Gründen eignen sich
wesentlich höhere Spannungen nicht zu den Versuchen. Experi-
mente mit geringerer Spannung, z.B. mit 1 Element (1,2 Volt),
geben weniger klare Resultate. Die beiden Elemente werden .
hintereinander geschaltet, Kathode und Anode abgeleitet mittelst
biegsamer, isolierter Kupferdrähte von !/; mm Durchmesser und
einer Gesamtlänge von etwa 10 m.
Mit dem einen — gleichgültig mit welchem — Pol ist ver-
bunden das Galvanometer. Als solches dient ein Spiegel-
spulengalvanometer nach Deprez-d’Arsonval von Carpentier
ın Paris. |
Das Prinzip dieses Instrumentes beruht darauf, dass die vom zu
messenden Strome durchflossene Drahtspule beweglich, der Magnet aber
fest ist. Zwischen den beiden Armen des Magneten ist ein Stahlzylinder
angebracht, der den Zweck hat, die magnetischen Kraftlinien auf das Feld
zwischen den Armen zu konzentrieren. Auf einem viereckigen, an einer
Stelle durchbrochenen Rahmen ist die Drahtspule aufgewickelt; sie besteht
aus Kupferdraht von bestimmter Dicke und Länge resp. Windungszahl.
Dieser Rahmen ist in seiner Längsachse vertikal suspendiert durch Silberfäden
von bestimmter Dicke, die den Strom zu- resp. ableiten, und zwar ist er so
orientiert, dass er frei beweglich ist zwischen den Magnetarmen und dem
Stahlzylinder. Die Drehungen der Drahtspule werden zu Messungszwecken
sichtbar gemacht durch einen kleinen Spiegel, der am oberen Silberfaden
lotrecht angebracht ist.
Dieses Galvanometer hat, wie jedes Spulengalvanometer, vor denjenigen
anderer Konstruktion den Vorteil, dass die Spiegelschwankungen zufolge
der starken magnetischen Dämpfung nur durch Ströme hervorgerufen werden,
welche durch den zu messenden Stromkreis gehen und nicht auch durch
Ströme in näherer und weiterer Umgebung (z. B. Tramleitungen auf der
Grasse), den Erdmagnetismus oder durch mechanische Erschütterungen der
nterliage.
Diese Dämpfung ist abhängig vom Widerstand im Stromkreis. Sie
nimmt mit demselhen zu.
Die Empfindlichkeit des Apparates hängt ab won der Dicke, Form
und dem Material des Sus ensionafadens, der Länge der Drahtspule und dem
Material und der Dicke des verwendeten Drahtes und dem eingeschalteten
Widerstand.
Der Eigenwiderstand des Apparates ist abhängig von der Länge und
Dicke der Spule und des Suspensionsfadens ; die Dauer des Spiegelausschlages
bei Stromschluss hängt ab von den mechanischen Momenten der Suspension
und dem Eigenwiderstand des Apparates.
Die Schnelligkeit, mit der bei geschlossener Kette die Spiegelbewegungen
des Kettenschlusses aufhören, hängt ab von der Dauer des primären Spiegel-
ausschlages und dem im Stromkreis eingeschalteten Widerstand (Dämpfung).
Als Nebenapparat zum Galvanometer kann eingeschaltet
werden ein sogenannter Shunt, d.h. ein auf den Eigenwiderstand
des Galvanometers geaichter Nebenschlusswiderstand.
392 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
Ist dieser Apparat eingeschaltet, so geht nur ein Teil des Stromkreises
durch das Galvanometer, der andere aber durch den Shunt. Wie gross
dieser abgezweigte Stromanteil sei, hängt ab von der Stöpselung des’ Shunt.
Ist der Stöpselkontakt bei einer ersten Verbindung hergestellt, so geht der
Strom kurzgeschlossen durch den Shunt, d. h. seine Wirkung auf das Galvano-
meter ist annähernd Null. Ist der Kontakt dagegen bei der zweiten Ver-
bindungsstelle eingeschaltet (siehe Fig.1), so läuft der dadurch abgezweigte
Strom durch eine Spule im Shunt, deren Widerstand gleich ist dem Eigen-
widerstand des Galvanometers; infolgedessen ist bei konstanter elektro-
motorischer Kraft die Intensität des Spiegelausschlages um die Hälfte reduziert.
Bei der Stöpselung an der dritten Verbindun sstelle aber findet der Strom.
im Shunt !/, des Widerstandes, den er im Galvanometer zu überwinden hat.
Es geht deshalb 9mal mehr Strom durch den Shunt als durch den Gaivano-
meter, durch welchen nur !},o der Strommenge fliesst (?};o + tho = 1). Darum
ist bei dieser Schaltung der Galvanometerausschlag lOmal kleiner als bei der
ersten Schaltung. Abgesehen von der Verkleinerung der Ausschlagsamplitude
erreicht man mit der Einschaltung des Shunt eine stärkere Dämpfung, wie
oben angedeutet. Dies ist von Vorteil, wenn man die Einstellungschwankungen
des Spiegels möglichst zeitlich reduzieren will. Bei einer Anzahl von Ex-
perimenten wurde auf diesen Vorteil verzichtet zu gunsten der grösseren
Amplitude der experimentell erzeugten Schwingungen.
Galvanometer und zweiter Elementenpol sind durch Leitungs-
drähte verbunden mit den Elektroden. Als solche dienen entweder
Hohlzylinder von Nickel mit glatter Oberfläche von 3 cm Durch-
messer und 10cm Länge (im folgenden mit dem Namen Griff-
elektrode bezeichnet) oder Nickelplatten von 5 cm Durchmesser,
glatter Oberfläche und einer Bandvorrichtung zum Befestigen an den.
geeigneten Körperteilen der Versuchsperson (Plattenelektroden)!).
Aus Gründen, deren Erklärung später folgen wird, sind, was die
Form betrifft, die Griffelektroden am empfehlenswertesten.
Diese Elektroden werden nun mit bestimmten Körperteilen.
in Kontakt gebracht, fast immer mit den Händen; auch über die
Gründe hierfür wird später referiert werden. Meistens hat also-
die Versuchsperson die Griffelektroden mit mässigem, beguemem
Druck in den Händen zu halten, natürlich unter Vermeidung
von Kurzschluss durch direkten Kontakt der beiden Elektroden
unter sich.
Als Versuchsperson (V.-P.) wurden zunächst Gesunde-
beiderlei Geschlechts im Alter von 3 bis etwa 40 Jahren in
den Stromkreis eingeschaltet. Ueber Versuche mit Kranken
handeln spätere Berichte. |
Die Beobachtung der Spiegeldrehungen geschieht im ver-
dunkelten Zimmer auf zwei Arten.
1. Subjektive Ablesung. (Siehe Figur 1.) In einem Meter
Distanz vor der Galvanometerspiegelebene befindet sich eine trans-
arente Zelluloidskala, die in 500 mm eingeteilt ist. Mittels Spiegel-,.
lenden- und Linsenvorrichtung wird ein Lichtauf den Galvanometer-
spiegel und von dort auf die Skala geworfen. Zur scharfen Ablesung
der Lichtfleckmitte auf der Skala dient der Schatten eines senk-
1) Die Versuche mit anderen Elektroden werden übersichtshalber in
diesem Bericht nicht erwähnt.
— —
Veraguth, Das psycho-galvanische Refex-Phänomen. 393
rechten Drahtes, durch den auf ihrem Weg durch eine Blende
die Lichtstrahlen unterbrochen worden sind. Bei geeigneter Ein-
stellung werden nun die Spiegelbewegungen auf der Skala für
mehrere Beobachter zugleich sichtbar. Diese Methode eignet sich
— —
Fig. 1.
daher insbesondere auch für Demonstrationszwecke. Zur ungefähren
Fixierung der Zeitverhältnisse der Spiegelschwankungen dient ein
Metronom, das auf Sekundenpendelung eingestellt ist, oder eine
ı/,-Sekundenuhr mit Stecher.
Bei der Verwertung der so erhaltenen Skalengrössen müssen zwei
physikalische Tatsachen im Auge behalten werden:
Es ist zunächst klar, dass die Skalenwerte sich mit der Distanz vom
Galvanometerspiegel ändern. Je grösser diese letztere, desto geringere
Spiegeldrehungen rufen gleiche Exkursionen auf der Skala hervor. Solange
es sich aber nur um relative Werte handelt, fällt dieser Umstand nicht ins
Gewicht.
Weiter aber muss berücksichtigt werden, dass Drehungen des Spiegels
in einer Kreisebene auf eine Gerade projiziert werden. äre die Skala
wie ein Perimeter gebogen, so würden zwei gleichen Hälften einer grösseren
Spiegeldrehung zwei gleiche Skalenwerte entsprechen. So aber bestreicht,
angenommen, dass der ruhende Spiegel auf dem Nullpunkt der Skala ein-
gestellt sei, eine Spiegeldrehung um den Winkel a einen bestimmten Skalen-
teil, z. B. 100 mm; eine zweite Drehung von diesem Punkte an wieder um
den Winkel a dagegen wird den Lichtfleck nicht auf Strich 200 einstellen,
sondern bedeutend weiter — um wie viel weiter, dies hängt wieder von der
394 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
Spiegelskaladistanz ab. Mit anderen Worten, die Skala steht in der Tangente
zu den Drehungswinkeln; für kleine Drehungswinkel ist die Tangente bei
l m Distanz proportional dem Winkelwert, bei grösseren aber wächst sie
mit zunehmender Geschwindigkeit. Auch diese Ueberlegung kommt erst
zur Geltung, wenn die Skalenwerte in andere umgerechnet werden sollen.
In den folgenden Zeilen sind nur die Skalenmillimeter der Ausschläge
angegeben.
Die Nachteile der subjektiven Methode sind die einer jeden
solchen Ablesungsmethode; sie sind bedingt durch die subjek-
tiven Beobachtungsfehler und dadurch, dass die Protokollierung
immer nur einzelne Momente der Spiegelbewegung festhalten kann.
2. Objektive Methode (siehe Figur 2). Als Lichtquelle dient
eine Projektionslampe mit Spiritusauerbrenner. Vor ihr Objektiv
wird eine Blende mit einer linearen senkrechten Spalte gesetzt (im
Bild nicht sichtbar). Das durch dieselbe fallende Licht wird auf den
Galvanometerspiegel gerichtet und von dort auf den Eimpfänger-
apparat geworfen. Als solcher dient ein Filmkasten, in welchem
Fig. 2.
ein photographischer Film von der gebräuchlichen Empfindlichkeit
mittelst Rollenbewegung hinter einer Aluminiumwand vorbeigeführt
wird. In dieser letzteren ist eine lineare wagerechte, ca. 12 cm
lange Spalte angebracht. Der Filmkasten wird nun so in Stellung
zum Galvanomsterepiegel fixiert, dass das reflektierte strichförmige
Bild der Projektionslampenblende bei Spiegeldrehungen auf der
horizontalen Spalte der Aluminiumwand sich bewegt. Der Schnitt-
„punkt“ des Lichtstreifens und der Spalte vor dem Film ist
somit die einzige kleine Fläche, auf der der Film beleuchtet
werden kann. Wird nun dieser in einer zur Aluminiumspalte
senkrechten Richtung an derselben vorbeigezogen, so wird bei
ruhiger Spiegelstellung eine gerade Linie, bei Spiegeldrehungen
aber eine Kurve anf der lichtempfindlichen Fläche beleuchtet, die
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 395
beim entwickelten Film sich als eine mehr oder weniger scharfe
schwarze Linie zeigt. Die Vorbeiführung des Films an der
lichtempfangenden Spalte geschieht mangels komplizierter Prä-
zisionsinstrumente mit Kurbelhandbetrieb, mit beliebig variabler
Schnelligkeit. Um nun aber doch eine genaue Zeiteinteilung auf
dem Film vornehmen zu können, sind noch zwei weitere kleine
Spältchen zu Seiten des lichtempfangenden Spaltes und auf gleicher
öhe mit ihm in der Aluminiumwand des Fimkastens angebracht.
Vor das eine dieser Spältchen wird nach aussen lichtdicht ein
Glüblämpchen fixiert, das nur am Beginn jeder Sekunde zum
Glühen gebracht wird, ındem es mit einem Akkumulator und
einem Metronom verbunden ist, das jede Sekunde in ein Queck-
silbernäpfchen eintauchend, den Strom schliesst. Kleine schwarze
Striche am Rand des entwickelten Films sagen dann bei gelungenem
Versuch die Sekunden an und erlauben durch einfache senkrechte
Projektion auf die Spiegelkurve, diese in Sekunden und deren
Bruchteile zu zerlegen. Vor dem zweiten seitlichen Spältchen
der Aluminiumwand ist in gleicher Weise ein Glühlämpchen an-
ebracht, das durch Kontaktvorrichtungen nur so lange zum
lühen gebracht wird, als ein Reiz bei der V.P. appliziert wird.
Auf dem entwickelten Film zeichnen sich diese Reizdauern als
schwarzen Bäder von grösserer oder kleinerer Längenausdehnnng
auf dem den Sekundenzeichen entgegengesetzten Rand des Streifens
ab und können wie diese auf die —— projiziert werden.
Bei Vergleichung von Kurven, die bei verschiedenen Ver-
suchen erhalten werden, darf man nicht vergessen, dass die
Grösse der Kurvenbiegung abhängt von der Entfernung des Films
vom Spiegel. Wenn — wie bei den unten referierten Versuchen —
die immer genau gleiche Distanz nicht eingehalten wird, ist eine
gegenseitige Vergleichung der Kurvenordinaten zweier verschiedener
Versuche deshalb nicht angängig.
Der Hauptnachteil dieser Methode beruht darauf, dass nur
relativ sehr kurze — höchstens etwa 2 Minuten lang dauernde
Versuche pbotographiert werden können — es müssten denn schon
ungewöhnlich lange Films in Anwendung kommen.
Andere Nachteile zeigen sich, wenn zu primitive Mittel zur
Verfügung sind, und bestehen darin, dass dieSignallampen gelegentlich
versagen. Bei einiger Uebung gelingen aber die meisten Films so,
dass sie zum mindesten anschauliche, wenn auch nicht immer
mathematisch genaue Bilder bieten‘).
Im folgenden sollen einige typische Versuche aus der Gesamt-
zahl der Experimente, die ich ınnerhalb der letzten 2!/, Jahre
gemacht habe, herausgehoben werden, um das Wesen des psycho-
1) Zum Zweck der Reproduktion im Druck mussten die Kurven um-
gezeichnet und leider z. T. verkleinert wiedergegeben werden. Im folgenden
wird vielfach von Kurven gesprochen, wo es sich um die Skalenablesung
handelte. DerLeser wird diese Lizenz im Interesse der Kürze gerne akzeptieren.
Monatsschriit für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 5. 97
396 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
galvanischen Reflex-Phänomens mitTatsachenmaterial zu beleuchten.
Auf eine eingehende Kritik meiner bisherigen Resultate, auf einen
genetischen Erklärungsversuch und auf die an diese Ergebnisse
sich anknüpfenden weiteren Fragestellungen wird später eingegangen
werden. Massgebend bei der Auswahl der hier angeführten Bei-
spiele war erstens der Wunsch einer möglichst übersichtlichen
emonstration der bisherigen experimentellen Ausbeute und der
zweite, über die Resultate an verschiedenen Versuchspersonen
zu referieren.
A. Ruhekurven.
Wird eine normale Versuchsperson mittelst Griff-
elektrodenkontakt in den Stromkreis eingespannt und
werden nun so vollständig wie irgend nur möglich sen-
sorische Reize ferngehalten und intrapsychische affekt-
betonte Vorgänge vermieden, so beobachtet man, dass
der Spiegelgalvanometer im Verlauf von ungefähr
15 Minuten von einem anfänglichen Maxımum der
Drehung zu einem schliesslichen tiefen Werte derselben
sinkt, d. h, dass also die Kurve der Stromintensität
allmählich abnimmt. Dabei ist es gleichgültig, ob die V.P.
die Kathode oder die Anode in der rechten resp. linken Hand hält.
Versuch IN), V.-P. 25j. ges. Mann. Die V.-P. ist allein
in einem gänzlich dunkeln Zimmer, sitzt bequem in einem Lehn-
stuhl und hat sich so ruhig wie möglich zu verhalten, bis durch
ein Zeichen Schluss des Versuchs angezeigt werden wird. Die
Drähte, an denen dıe Griffelektroden, welche die V.-P. ohne An-
strengung in den Händen hält, fixiert sind, laufen unter der ge-
schlossenen Tür in das Apparatenzimmer, wo die Ausschläge
beobachtet und von 15 zu 15 Sekunden notiert werden.
9 Uhr abends Beginn des Versuches. Shunt ausgeschaltet. Ein-
stellungsschwankung des Spiegels während zirka 4 Sekunden.
(Hier folgt die Tabelle von S. 11.)
Das hier angeführte Beispiel ist ein solches einer exquisiten
Ruhekurve. Es zeigt das Charakteristikum eines schnellen Ab-
stieges am Anfang, in den ersten 3 Minuten, eines Flacherwerdens
in der 4. und den nächsten Minuten und eines ganz flachen Ver-
laufes in der folgenden Zeit. Ob mit 80 mm Skala das Minimum
erreicht ist, bleibt fraglich, eine zu lange Ausdehnung des Ver-
suches hatte vorläufig kein Interesse.
Versuch II. 24jährige gesunde Frau. Abends 8 Uhr
20 Min. Gleiche äussere Versuchsbedingungen wie in Versuch I.
1) Die Numerierung der Versuche gibt nicht die chronologische Reihen-
folge derselben an, sondern dient nur zur schnelleren Orientierung.
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 897
Zeit Skala Zeit Skala
9 Uhr 1 Min. — Sek. 270 9 Uhr 8 Min. 30 Sek. 90
9,1, 15, 20] 9, 8., 4&, 90
9 , 1,90, 20 |9 , 9 , — , 8
9 1,8, 230 |9, 9, 15, 88
9, 2 , — , 224 |9, 9 , 30 — 88
9,2., 15, 14Í9,;, 9, 4&, 8
9,2, 30, 174 |9 , 10 , — , 87
9, 2., 45, 165 | 9 , 10, 15, 87
9,3, —, 1152 |9 10 30, 87
9> 3, 15, 1&6 |9 , 10 , 45 > 86
9,3, 30, 135 |9 , 1l „ — , 86
9,3, 4&&, 8 | 9,11 , 15 , 86
9 4, —, 119, 1,30%, 86
9,4, BB, 15 | 9,1, 4&5 , 8
9,4, 30, 12 |9 ,12 , — , 8
9, 4, 88, 109 |9 ,13, 15 > 8
9,5, —,— 16 |9 ,12 30 8
9.5, 15, 10% 9,2, ,8, 85
9? 6, 30, 102 |9 , 13 , — , 84
9.5, 4&, 09,13 „15, 84
976, —., 8|9, 13, 30 83
9.6, 156, 86 9,13, 4&5, 83
9 76e, 3 , |9, l4 , — , 82
9,6, 4&6, 5] 9, l4, 15” 82
9> 12 — n, %| 9,1l, 30 > 8
9, 7.» ,» 9%2|/9,1l4, 4& , 8l
977 , 30, 9%2]|9, 15 , — , 80
977, 88,8 92 )|9,1l5, 15 > 80
9? 8, —, 119,15, 30 ,„ 80
3 , 8, 15, 919,15, 4& , 80
Ruhekurve, gewonnen durch Rintragang, der Skalenwerte der Tabelle zum
Versuch I auf Millimeterpapier. Die Abacissen bedeuten Zeit, die Ordinaten
Skalenteile. Verkleinerung um ?/;
27°
898 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
Shunt ausgeschaltet. Einstellungsschwankung etwa 30 Sekunden
lang. Dann Beginn des Versuches.
Zeit Skala Zeit Skala
8 Uhr 21 Min. — Sek. 68 8 Uhr 28 Min. 30 Sek. 49
8 , 2 , 15, 60 |8 , 238 , 4&5 „ 4
8 , 21 , 30 , 56 |8, 39 , — „, 49
8 , 2 , 4& , 52 |8,2 , 15 | 49
8 , 2, — , 50 |8 2 ; 30 , 8
8 , 2 , 15, 4 ]8, 9,65, 49
8 , 2322 , 30 , 488 |8 , 30 , — ; 4&8
8 , 2,65, 48 |8 , 30 , 15 , 49
8 , 23 , — , 48 |8 , 30 > 30 48
8 , 235, 15, 4 |8, 30, 4& , 4T
8 , 233 > 30 , 471| 8 , 31l , — ; 4
8 , 23 , 4&5, 41 |8, 31l, 156 , 49
8 „am. -,„ 4 |8 31 30 , 4
8 , 24 , 15, 4 |8., 31 , 4& „ 50
8 , 4 , 30, 471 |8 , 322 , — ,„ 50
8 , 24 , 45, 48 |8, 32 , 15 , 50
8 , 23 , — , 48 |8, 32 „ 30 „ 50
8 , 2 , 15, 488 |8 , 32 , 45 , 49
8 , 25 > 30 > 488 |8 ? 3, — , 48
8 , 2 , 45 , 488 | 8 , 33 , 15 „, 49
8 , 3 , — „, 41 |8, 33 7? 30 , 48
8 , 236 , 156, 471 |8 , 3,6, 4&8
8 , 26 , 30 , 471 | 8 , 3 , — , %9
ee, 23 > 85, 471 |8 , 4,15,
8 ,. 2, — , 4 |8, 3 „, 30 „, 49
8 27, u, 4 |8 , 3 , 45 , 49
ee, 27 , 30, 47 |8 , 3 , — , 49
8 7 27 7 4%, 48 |8? 35 , 15 , 9
8 , 383 , — , 48 |8, 35 , 30 , 49
8 , 238 , 15, 488 |8, 35 , 45 „ 49
Diese Zahlen zeigen auch in der ersten Minute einen
schnelleren, später aber einen langsameren Abfall. Von der
3. Minute an kommen sogar kleine Plusschwankungen vor. Aus
der Gesamtheit der experimentellen Erfahrungen bin ich geneigt,
den Schluss zu ziehen, dass es sich bei diesen kleinen Anstiegen
um Störungen der „Ruhe“ der V.-P. handelt, sei es durch Ein-
wirkung äusserer Reize kontrollierbarer oder unkontrollierbarer
Natur (z. B. sensible, die sonst im Unterbewusstsein abreagieren),
sei es durch intrapsychische Vorgänge höherer Art. Es ist auch
hervorzuheben, dass die Umstände, unter welchen die Experimente
vorgenommen werden mussten, es ungemein schwierig machten,
störende äussere Reize, besonders akustische, völlig zu vermeiden.
Intrapsychische Vorgänge zeigten: sich bei verschiedenen „Ruhe-
kurven“-Versuchen deutlich durch mehr oder weniger starke Plus-
Veraguth, Das psycho-galvanische Refiex-Phänomen. 399
schwankungen. Dass es sich jeweilen um solche Ursachen handelte,
konnte nachher bei den meisten V.-P. mit genügender Sicherheit
festgestellt werden durch Angaben der V.-P. über das, was sie
während des Versuches gedacht hatten, und dadurch, dass sie ver-
sichern konnten, dass sie von aussen her nicht gestört worden seien.
Die kleinen Plusschwankungen im Versuche II hindern nicht,
dass die Gesamtwerte der Ruhekurve doch allmählich abflachen,
ähnlich wie im Versuch I.
Wenn die zwei eben angeführten Versuche — die als Para-
digmen für eine grosse Anzahl von anderen gelten mögen, deren
einzelne Beschreibung nichts wesentlich Neues lehren würde —
noch kurz unter sich verglichen werden, so finden wir beträcht-
liche Unterschiede bezüglich der absoluten Höhe der Zahlen
(270 gegen 68 am Anfang, 80 gegen 48 am Ende der Versuche).
Diese Zahlen sind deswegen miteinander vergleichbar, weil beide
Versuche bei gleichem Abstand der Skala vom Galvanometer-
spiegel und bei gleicher zeitlicher Anfangseinstellung vor dem
xperiment angestellt worden sind. Die Differenz der beiden
Zahlenhöhen bringt eine individuelle Verschiedenheit zum
Ausdruck, eine Erscheinung, die in unendlicher Variabilität zu
beobachten ist. Aber nicht nur die Versuchspersonen unter sich
zeigen verschiedene absolute Skalenwerte, sondern auch bei dem
gleichen Individuum können diese innerhalb einer gewissen Breite
wechseln, je nach einer Menge von Umständen, die einstweilen
nur zum Teil kontrolliert werden können,
Es kommt indes hier nur darauf an, festzustellen, dass die
Ruhekurve normaler Personen bei zulänglichen Versuchsverhält-
nissen eine anfangs schneller, später langsam sinkende
Linie ist. Auf die absoluten Werte bei verschiedenen V.-P. und
bei der gleichen V.-P. unter verschiedenen Umständen dagegen
sei an dieser Stelle kein Gewicht gelegt. Vielmehr hat die Vor-
führung der Ruhekurven nur den Zweck, das Verständnis der zu-
nächst zu beschreibenden Reizversuche zu ebnen.
B. Reizkurven.
Bei den zu beschreibenden Experimenten wurde die V.-P.
meist mittels Griffelektroden in den Stromkreis eingeschaltet.
Aeussere sensorische Reize wurden zunächst tunlichst vermieden;
die V. P. sass bequem in einem verdunkelten Zimmer, in mög-
lichster Stille. Nun wurde abgewartet, bis die Einstellungs-
schwankungen des Spiegels vorüber und die Ruhekurve in das
Stadium des flachen Verlaufes gelangt war. Eventuelle Plus-
schwankungen (aus endopsychischen oder nicht ohne weiteres
kontrollierbaren Gründen entstanden) liess man vorerst sich aus-
gleichen, um dann erst mit Reizen auf die V.-P. einzuwirken,
Diese Reize waren
1. sensorischer Natur, und zwar. akustischer, optischer und
taktıler (Schmerzreize),. Von Geschmacks- und Geruchsreizungen
400 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen,
wurde abgesehen, wegen der Schwierigkeit, den Moment des Reiz-
anfanges objektiv zu erkennen;
2. komplizierter psychischer Natur: indem die V.P. in den
Zustand einer Erwartung versetzt wurde, oder indem sie während
des Versuches still für sich bestimmte Lektüre zu lesen hatte,
oder indem mit ihr ein Assoziationsversuch vorgenommen wurde;
3. schliesslich wurde der V.P. die Aufgabe gestellt, bestimmte
Denkprozesse von sich aus innerhalb der Zeit des Versuches
anzuregen und still für sich durchzumachen („autochthone“
psychische Reize),
1. Akustische Reizversuche.
Als Reiz genügte bei totaler Stille in der nächsten Umgebung
etwa irgend ein leises Geräusch, z. B. Aufklopfen mit dem
Fingernagel auf Holz. Um aber gegen die allfälligen Geräusche
der Umgebung in unabhängiger Weise konkurrieren zu können
und um eine Reizgrösse zur Verfügung zu haben, die bei wieder-
holtem Experiment annähernd ähnlich gross sei, wurde in der
Mehrzahl der Fälle eine Kinderpistole hinter der V.-P. abgeschossen.
Der nicht übermässig laute, mit sehr geringer Lichterscheinung
einhergehende Knall hatte den Vorteil einer kurzen Reizdauer.
Auch war es möglich, die Reizstärke — allerdings nieht in mess-
barem Grade — abzustufen durch Wahl der Entfernung der Kinder-
pistole vom Ohr der V.-P.
Bei Skala-Ablesung wurden die Zahlen vor, während uud
nach dem Reizmoment mit ungefährer Schätzung der Zeit-
verhältnisse notiert. Die graphische Methode erlaubte eine genaue
Messung des Zeitablaufes und scharfe Vergleichung von Kurven-
teilen untereinander.
Versuch III. 18jähriges gesundes Mädchen. Griffelektroden.
Shuntausgeschaltet. Nach den Einstellungsschwankungen Sinken von
den Anfangswerten der Ruhekurve auf 240; dort längeres Ver-
weilen. Von nun an wurde die Zeit kontrolliert auf einer
geräuschlos gehenden '/,-Sek.-Uhr.
Zeit Skala
5 Uhr 30 Min. — Sek. 240
5 „30, 1, 240
5 „ 30 „ 16 „ 240 Schuss
5 „ 300 „ 17 ,„ 240
5 , 30 , 18 , 240
p í 50 ” a0 i 240 Latenzperiode
5 „30, 2l, 240
5 „ 30, 22, 240
5 a 30 , 23 , 290
5 „, 30 , 24, 290
5 „, 30, 25 „ 280
Allmähliches Sinken bis auf 210.
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 401
In Worte umgesetzt, sagen diese Zahlen folgendes:
Der abfallende Verlauf der Skalenwerte von der anfänglichen
Höhe (die von jetzt bei jedem Versuch als „Ruhestellung* be-
zeichnet werde) — hier 240 — auf den tiefen Wert am Ende
des Versuches — 210 — ist nicht ein stetiger, wie bei einem
Ruheversuch, sondern er zeigt ein plötzliches Ansteigen der
Skalenwerte auf 290 und von da an ein (ruckweises) Zurück-
fallen auf 210. Der Zeitpunkt des Anstieges auf 290 ist durch
eine Pause von 6 Sekunden getrennt von einem vorherigen Er-
eignis, das die Ruhe der V.-P. gestört hat — von dem Zeitpunkt
des akustischen Reizes. Diese Pause, die wir schon anfangs als
charakteristische Konstante aller Reizversuche genannt haben, sei
von jetzt an als Latenzperiode bezeichnet, in selbstverständ-
licher Analogie zu den Latenzperioden bei anderen physiologischen
Experimenten.
Versuch IV. Sjähriges gesundes Mädchen. Plattenelektroden
durch Bänder an die gestreckte Hohlhand befestigt. Shunt aus-
geschaltet.
Zeit Skala
9 Uhr 20 Min. — Sek. 170 = Ruhestellung
9 „ 30 „ l „ 170 Schuss
9, 30, 2, 170
9 „ 30, 3, 170} Latenzperiode
I, 30, 4, 170
9 „ 30 5 210
In den nächsten Sekunden Abfluten auf 165.
Der Vergleich zwischen Versuch III und Versuch IV ergibt
Aehnlichkeit der relativen Zahlenschwankungen und Ungleichheit
der absoluten Zahlen und der Dauer der Latenzperioden.
Versuch V. 32jähriger gesunder Mann. Griffelektroden. Shunt
ausgeschaltet. Im Verlaufe der Zeit, in welcher das Abrollen eines
Films im Empfängerapparat vorgenommen werden kann, wird
unter anderen Reizen ein akustischer in Form eines Schussknalles
eingeschaltet, sobald beobachtet worden ist, dass sich die Spiegel-
bewegung vom vorherigen Reiz wieder erholt hat. (Siehe È ig. 4.)
Die Interpretation dieser Kurve ergibt sich nach dem Vor-
hergesagten ohne weiteres. Die Ruhekurve war auf dem flachen
Ablauf begriffen, als der Knall ertönte. 1!/, Sekunden lang blieb
sie auf gleicher Höhe, um dann im Verlauf 1 Sekunde steil, im
Verlauf der nächsten halben Sekunde weniger steil anzusteigen. Die
nächsten 2 Sekunden bringen dann ein völliges Abschwellen der
Drehungswinkel des Spiegels, und schliesslich mündet die Kurve
wieder in eine langsam, aber stetig fallende Linie aus, deren Wert
nach Verlauf von 12 Sekunden (nicht mehr auf dem Bilde) nach
dem Knall wieder gleich ist, wie zur Zeit, da der Schuss fiel.
Die akustischen Reizversuche eignen sich besonders zur
Untersuchung der Frage, welchen Einfluss bei gleicher Qualität
des Reizes variierte Intensität desselben auf die Drehungswerte
- anO Te — — — — © u.
402 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
Fig. 4.
Reizkurve. AkustischerReiz. Die Marken oberhalb der Kurvebedeuten Sekunden,
die Marke unterhalb der Kurve den Moment des Reizes. Die panktierte Ordinate
ist hier, wie in allen folgenden Figuren nachträglich eingezeichnet. Die Linie
A—B bedeutet hier wie in allen folgenden Figuren den unteren Filmrand.
Richtung der Filmbewegung von A nach B.
des Spiegels ausübt. Zu diesem Zwecke wurden, während die V.P.
in den Stromkreis eingeschaltet war und keine andern Geräusche
konkurrierten, in gemessenen Zeitabschnitten 3 annähernd gleich
laute Schüsse abgefeuert, der erste in einem entfernten Zimmer,
eben noch gut hörbar, der zweite im Zimmer neben dem Versuchs-
raum, der dritte im Versuchsraum.
Versuch VI. 35jähriger gesunder Mann. Griffelektroden.
Shunt ausgeschaltet. Nach Erreichung der Ruhestellung: Schuss
in weiter Entfernung: kein nennbarer Ausschlag.
Nach Ablauf einiger Sekunden Schuss im Nachbarzimmer:
nach einer Latenzperiode von 2 Sekunden Ausschlag von 3 mm.
Nach Aufhören der Spiegelschwankungen Schuss im Versuchs-
zimmer: nach einer Latenzperiode von 2 Sekunden Schwankung
von 20 mm.
Versuch VI spricht also für die Annahme, dass die Intensität
der galvanischen Reaktion (ceteris paribus) abbängig sein kann von
derIntensität des akustischen Reizes, d. h. dass sie mit dieser wächst;
ob in Parallele oder nicht, ist freilich durch dieses Experiment
nicht erwiesen. Wohl zu beachten ist, dass der schwächste Reiz
zuerst und der stärkste zuletzt gesetzt worden ist. Bei umge-
kehrter Reihenfolge hätte eine weitere, gesetzmässig bei ver-
schiedenen Experimenten aufgetretene Eigentümlichkeit bei der
Interpretation in Konkurrenz treten müssen. Wird nämlich ein
nach Qualität und Intensität gleicher akustischer Reiz in kurzen
zeitlichen Zwischenräumen mehreremale hinter einander angewendet,
so nimmt die Amplitude des Spiegeldrehungswinkels von einem
zum anderen Male ab.
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 403
Versuch VII. 24jährige gesunde Frau. Griffelektrode. Shunt
ausgeschaltet. In gleicher Entfernung von der V.-P. und in gleichem
Winkel zu ihrer Interauralachse werden in Abständen von 15 Se-
kunden zwei annähernd gleich laute Schüsse abgefeuert.
Ruhestellung 60 mm.
1. Schuss: nach 1!/,—2 Sekunden Latenzperiode Steigen
auf 120 mm.
Im Verlauf von weiteren 13 Sekunden allmähliches Zurück-
fallen auf 56 mm, dann
2. Schuss: nach 3—4 Sekunden Latenzperiode Steigen auf
65 mm.
` Im Verlauf der nächsten 11 Sekunden Fallen auf 35 mm.
Der erste Reiz verursachte eine Plusschwankung von 60 mm,
der zweite, gleiche, wenige Zeit später applizierte eine solche
von 9 mm; die Latenzperiode dauerte beim ersten Reiz 1'/, bis
2 Sekunden, beim zweiten 3 bis 4 Sekunden. Diese Zunahme
der Latenzperiode bei gleichen Reizen in gleichen Zeitabschnitten
ist aber keine konstante Erscheinung. Um ihre Unbeständigkeit
zu illustrieren und in scharfen Gegensatz zu bringen zur offen-
baren Beständigkeit der eben betonten Abnahme der Schwankungs-
zone bei konstanter Reizgrösse, sei noch das folgende Gegenbeispiel
aus den Protokollen ausgewählt.
Versuch VIII. Gleiche V.-P. wie bei Vers. VII; gleiche
Versuchsbedingungen. Nach Erreichung der
Ruhestellung 1. Schuss. Latenzperiode 5 Sek. Ausschlag Te mm
On
nach 15 Sek. 2. „ s 4 „ »
” » ” 8. ” » 3 „ „ 8 *
» » » 4. m n 3 „ » 2 „
” ked ” 5. n „ 4 „ „ +1 n
” »» 8. »
„nn L | keine Ausschläge mehr
nn» & m
Bei Aufeinanderfolge von gleichen Reizen in 15 Sekunden Zeit-
abstand sinken also hier die Latenzperioden von 5 auf 8 Sekunden,
um nachher wieder auf 4 Sekunden zu steigen; die Ausschläge
nehmen aber vom 2. Schuss an stetig ab, um vom fünften an
gleich O zu bleiben.
Um festzustellen, nach Verlauf von wie viel Zeit die Re-
aktion auf den gleichen akustischen Reiz wieder eine gleich
grosse sei, d. h. die Spiegeldrehungsamplitude wieder das vor-
herige Mass annehme, wurden Versuche gemacht, für welche der
folgende ein Paradigma ist.
Versuch IX. Gleiche V.-P. wie bei Vers. VIII. und VII.
Gleiche Versuchsbedingungen. Nach Erreichung der Ruhestellung
1. Schuss: Latenzperiode 5 Sekunden Ausschlag +10 mm,
dann eine Versuchspause von 40 Sekunden; sodann
404 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
2. Schuss: Latenzperiode 4 Sekunden, Ausschlag +10 mm,
dann eine Versuchspause von 30 Sekunden; sodann
3. Schuss: Latenzperiode 5 Sekunden, Ausschlag 4 10 mm.
Aus diesem Versuch ist nur das negative Resultat zu ent-
nehmen, dass bei dieser V.-P. Pausen von 80 Sekunden nicht
genügten, um eine Erschöpfung des galvanischen Phänomens auf
wiederholten gleich intensiven Reiz eintreten zu lassen. Wenn
es also erlaubt ist, unter Vernachlässigung der temporären Re-
aktionsverschiedenheiten bei. einem Individuum einen Schluss
aus der Zusammenstellung von Versuch IX und Versuch VIII
zu ziehen, so liesse sich für diese V.-P. der Satz aufstellen, dass
zwischen den Zeitintervallen von 15 und 80 Sekunden ein solcher
liegen muss, innerhalb dessen die galvanische Reaktionsfähigkeit
für gleiche akustische Reize sich erholt.
2. Optische Reizversuche.
Im verdunkelten Zimmer, in welchem die V.-P. sass, brannte
bei den meisten Versuchen die Kerze in der Blendiaterne des
Beleuchtungsapparates. Reflexe fielen von den glänzenden
Apparatenteilen, and so konnte von einer absoluten Dunkelheit
in der Umgebung der V.-P. in den unten zu schildernden Ex-
erimenten nicht die Rede sein. Auch wurde aus Zweckmässig-
keitsgründen mit dem Experiment nicht gewartet bis zur voll-
ständigen Adaptation der Retina der V.-P. an die relative Dunkel-
heit des Versuchsraumes.
Unter Berücksichtigung dieser Umstände schien es angezeigt,
einen intensiven optischen Reiz zur Anwendung zu bringen. Ein
solcher fand sich in Gestalt der Lichterscheinung beim Ver-
uffen einer Magnesiumblitzlichtpatrone, wie sie für photographische
Momentaufnahmen im Dunkeln gebraucht werden. Die an-
gewendete Form wurde durch geräuschlosen Zug an einer Schnur
entzündet. Das bei der Verpuffung auftretende Geräusch war
kein lautes, so dass der ungefähr gleichzeitige akustische Reiz
kaum in Betracht kam; die Lichtentwicklung aber war intensv.
und kurzdauernd. Die Patrone wurde ohne Wissen der V.-P.
in einiger Entfernung vor derselben und bei den photographischen
Kurvenaufnahmen zugleich vor dem Empfangsapparat fixiert;
infolgedessen konnte das Licht gleich auch voll in die Spalte
fallen, auf welcher die Spiegelkurve sich bewegte. Deshalb ist
auf den nebenstehenden Figuren der Moment des Reizes durch
ein queres Band über die ganze Filmbreite hin angegeben.
Schwächere Lichtreize, in Form etwa einer elektrischen Taschen-
lampe, eines Streichholzes etc., hatten ausser der geringen Licht-
intensität andere Unzukömmlichkeiten; so wird denn auch ın
diesem Bericht nur über die Wirkung des Magnesiumblitzlichtes
referiert.
Bei der Anwendung dieses starken Lichteszeigte sich dann frei-
lich auch der Nachteil, dass der Untersuchende, der an der Skala
405
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
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406 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
ablesen sollte, auch geblendet wurde, so dass die subjektive Ab-
lesung der Skalenwerte unzuverlässig wurde, namentlich mit Be-
zug auf die Zeitverhältnisse. Deshalb beschränke ich mich darauf,
hier nur automatisch protokollierte Versuche anzuführen.
Versuch X. Sjähriges gesundes Kind. Gleiche V.-P. und
Applikation der Elektroden wie bei Versuch IV. Nach gewonnener
Rahestellung des Spiegels Magnesiumblitz. (Figur 5.)
Die Kurve zeigt, dass etwas vor Ende der 8. Filmsekunde
die Patrone gelöst wurde, und dass der Lichtreiz höchstens
%/, Sekunden dauerte. Die Kurve der Spiegeldrehung, die zwar
schon vor dem Reizmoment kleine Wellenbewegungen aufwies —
worauf vorderhand nicht eingegangen werden soll — verlief in
ihrer Gesamtrichtung ruhig auf ungefähr gleicher Höhe weiter,
bis reichlich 1?/, Sekunden nach Beginn des Reizes der plötzliche
Anstieg der Spiegeldrehung eintrat, der sich in den ersten zwei
Sekunden steil aufzeichnete, am erst nach 7 Sekunden allmählich
zu fallen und dann wieder den welligen Charakter anzunehmen.
Versuch XI. 31jähriger gesunder Mann. Griffelektroden.
Nach Erreichung der Ruheeinstellung Magnesiumblitz. (Figur 6.)
In dieser Kurve beobachten wir 1*/, Sekunden nach dem
Reizanfang plötzliches Steigen zu einer beträchtlichen Höhe, wo
ähnlich wie ım vorigen Fall eine kleinhügelige Wellenfolge während
2 Sekunden auftritt; nach dieser 1 Sekunde lang ebenes Abfallen
dann nochmaliger, zweiter höherer Hügel und von dort an
stetiges Abfallen der Kurve. Die hier abgebildete Zweiteilung
des Kurvenanstieges wird öfters beobachtet.
Abstufung der optischen Reizwirkung nach Intensität und
Zeitintervallineiner einigermassen einwandfreien Versuchsanordnung
vorzunehmen, gestatteten die äusseren Umstände nicht.
3. Versuche mit Schmerzreizen.
Bei den Experimenten dieser Gruppe wurde als Reiz ein
energischer Nadelstich in eine beliebige geeignete Körperstelle
appliziert; der Untersuchende bediente sich hierzu meistens einer
in einem Horngriff eingelassenen Nadel. Bei andern Versuchen
wurde ein Öhrläppchen der V.-P. plötzlich gekniffen. Ver-
suche mit weniger energischen taktilen und thermischen Haut-
reizen ergaben nur unter besondern Bedingungen Resultate, und
diese waren nicht immer eindeutig. Hier, wo es sich zunächst
nur um einen allgemein orientierenden Bericht über das bisher
Beobachtete handelt, sei von ihnen abgesehen. Hautreize mittelst
des faradischen Pinsels dagegen gaben so unzweideutige Resul-
tate, dass sie auch für Präliminarexperimente geeignet erscheinen.
Hautreizungen mit dem galvanischen Strom geben zwar sehr klare
Spiegelausschläge, allein diese bringen ein Moment in die Ver-
suchsanordnung, welches solche Experimente in eine andere Gruppe
weist, weshalb an anderer Stelle hierüber berichtet werden soll.
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 407
Versuch XII. 25jähriger, gesunder Mann. Griffelektroden.
Shunt !/, (neuer Apparat). Im Verlauf der Zeit, da ein Film
abgerollt wird, erhält die V.-P. ohne ihr Vorwissen einen Nadel-
stich in die Kopfhaut.
<p q up CR ER a U
Fig. 7.
Reizkurve. Stich in die Kopf hant. O Unten Sekundenmarken. Die oben-
stehende Reizmarke entspricht der Zeit des Stiches.
Die Kurve, in schwachem Absteigen (wāhrend 11 Sekunden)
begriffen, erfährt einen erst weniger steilen, dann einen steilen
Anstieg während 2 Sekunden. Der Beginn dieses Anstieges tritt
in Erscheinung etwa 2!/, Sekunden nach Beginn des Stiches in
die Kopfhaut,
Es ist klar, dass Nadelstiche oder Kneifen des Ohres nicht
messbare sensible Reize sind; der Reizeffekt hängt ab von der
nicht leicht zu kontrollierenden Kraft und Schnelligkeit des
Stosses und vor allem von der Topographie der Stichstelle.
Es ist indes interessant, der Frage nachzugehen, ob bei
Wiederholung von Nadelstichen in eine Körperregion (z. B. Kopf-
haut) der V.-P. trotz der wahrscheinlichen quantitativen Ver-
schiedenheit des primären Reizeffektes sich eine ähnliche Abnahme
der galvanischen Reaktion zeigt, wie bei den wiederholten quali-
tativ gleichen akustischen Reizen. Dieser Frage galten die
folgenden zwei Versuche.
Versuch XIII. (Siehe Figur 8.) 26jähriger, gesunder Mann.
P
® "R
N '
Fig. 8.
Reizkurve. Zwei Stiche in die Kopfhaut. Unten Sekundenmarken, oben
Reizmarken. Verkleinerung ji. Die der 2., 8. und 4. Sekunde entsprechende
Linienbewegung ist Erwartungskurve. (Vergl. Fig. 11.)
408 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
Griffelektroden. Shunt !/,. In einem Abstand von 10 Sekunden
werden der V.-P. zwei Nadelstiche in die Kopfhaut appliziert. Man
sieht nach dem ersten Stich eine Latenzperiode von annähernd
21, Sekunden verstreichen, ehe eine, wegen der Shuntdämpfung
flache, Erhebung auftritt. In den abflachenden Schenkeln derselben
fängt der Moment des zweiten Stiches an; nach einer etwas kürzeren
Latenzzeit erfolgt eine deutliche flache Erhebung der zweiten
Reizkurve. (Ueber den Kurvenanstieg vor dem ersten Reiz siehe
unten sub „Erwartungskurven“.)
Versuch XIV. 22jähriger gesunder Mann. Griffelektroden.
Shunt 1/1. In annähernd gleichen Zeitabständen werden der
V.-P. 5 Nadelstiche in die Kopfhaut appliziert. Fig. 9 zeigt
ebenfalls bei im allgemeinen steigender Linie eine jeweils schwächer
werdende Reaktion auf jeden neuen gleichen Reiz; der Effekt des
fünften Stiches ist nicht mehr auf dem Film sichtbar.
| ! p p u
!
A mhıae ya 1 009 291 ' I il G ı e 1 ' 1t: 0 UE t | ? t t b 9 U 'B
Fig. 9.
Reizkurve. Fünf successive Stiche in die Kopfhaut. Oben Reizmarken,
unten Sekundenmarken. Verkleinerung !j;.
Versuch XV. 34jähriger gesunder Mann, an faradische
Ströme gewöhnt, so dass das psychische Moment der Erwartung
(s. unten) bestmöglichst ausgeschaltet ist. Griffelektroden. Shunt
ausgeschaltet. Vor Beginn der Ablesungen wird V.-P. gleich-
zeitig in einen zweiten Stromkreis eingeschaltet, grosse indifferente
Elektrode auf dem Sternum, kleine differente mit Unterbrecher
auf dem Deltoides, und durch diese Kette wird in gemessener
Zeit- und Intensitätsabstufung der sekundäre Strom eines Schlitten-
induktionsapparates geschickt.
Ruheeinstellung 65 mm.
Spulendistanz 8 cm. Schluss des Unterbrechers. V.-P. fühlt
den faradischen Strom noch nicht; das Galvanometer bleibt auf
65 mm. Unterbrechung des sekundären Stromes. Spulendistanz
6 cm. Schluss des Unterbrechers. V.-P. fühlt den Strom eben,
das Galvanometer bleibt auf 65 mm.
Unterbrechung des sekundären Stromes.
Spulendistanuz 4 cm. Schluss des Unterbrechers. V.-P. fühlt
den Strom intensiv. Nach 4 Sekunden Latenzperiode Plus-
schwankung von 5 mm. Nach Ablauf derselben Unterbrechung
des sekundären Stromes.
Spulendistanz 2 cm. Schluss des Unterbrechers. V.-P. fühlt
den Strom schmerzhaft. Nach 4 Sekunden Latenzperiode Plus-
schwankung von 10 mm. Nach Ablauf derselben Unterbrechung
des sekundären Stromes.
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
409
Der Versuch ist geeignet, zu zeigen, dass es für den faradischen
Strom wenigstens bei dieser V.-P. einer bestimmten Reizstärke bedarf,
deren Schwelle (bei dieser V.-P.) höher liegt als die Empfindungs-
schwelle, um das galvanische Phänomen auszulösen.
4. Höhere Endopsychische Vorgänge.
a) Erwartungskurven.
Bei der Durchführung der Reizexperimente,
für die soeben Paradigmata gegeben worden sind,
fiel oft eine für diese Versuche störende Spiegel-
bewegung auf, die im Sinne einer Verstärkung der
Stromintensität den Reizschwankungen vorausgeht.
Sie tritt mit Regelmässigkeit dann ein, wenn
die V.-P. weiss, dass jetzt alsbald etwas Be-
stimmtes mit ihr versucht werden soll. Diese Spiegel-
bewegung mag darum kurz Erwartungsschwan-
kung, die sie markierende Linie Erwartungskurve
genannt werden. Um ihr Auftreten zu vermeiden,
wurden, wie oben betont, die Reize meist ohne vor-
heriges Wissen der V.-P. vorbereitet und appliziert.
Wenn man dagegen z. B. den Schmerzreiz-
versuch durch Kneifen des Ohrläppchens in der
Weise vornimmt, dass man seine Hand unter Mit-
wissen der V.-P. dem Ohr derselben nähert, so be-
wegt sich der Spiegel in raschem Tempo an der
Skala zahlaufwärts, ehe das Ohr wirklich gekniffen
wird. Die Zeitverhältnisse sind hier natürlich schwer
zu bestimmen, d. h. es ist für den Beobachter un-
möglich, zu untersuchen, wann bei der V.-P. die
Erwartung beginnt, ob also auch diesem Vorgang
eine Spiegelschwankung mit vorhergehender Latenz-
periode, und wenn ja, mit einer wie grossen, ent-
spricht. Auch durch Selbstbeobachtung ist das schwer
zu eruieren. Wenn die V.-P. zugleich selbst die
Skala beobachtet, so ist es klar, dass die Erwartung,
auf der Skala eine Bewegung zu sehen, schon als
psychisches Moment selbst eben eine Erwartungs-
schwankung hervorruft.
Es ist daraus der Schluss zu ziehen, dass
Experimente, bei denen V.-P, und Beobachter in
einer Person vereinigt sind, nie einwandsfrei sein
können.
Versuch XVI. 80jähriger gesunder Mann.
Griff-Elektroden. Shunt ausgeschaltet.
Die V.-P. weiss, dass sie für sensorische Reiz-
versuche in den Stromkreis eingespannt ist. Der
Film wird ein Stück weit (leider versagte die
Sekundenlampe) in gewöhnlichem Tempo abgerollt,
Fig. 10
Reizkurve. Erwartungsschwaukungen. Die Sekundenlampe versagte beim Experiment. Weitere Erklärung im Text.
A
410 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
ehe der erste Reiz appliziert wurde. Während dieser etwa
40 Sekunden war die V.-P. keinem energischen Sinnesreiz
ausgesetzt; sie konnte wchl das spärliche, aber kontinuierliche
Licht aus der Projektionslampe sehen und das leise,aber kontinuier-
liche Geräusch des Filmdrehers vernehmen; diese sensorischen Reize
waren aber bedeutend schwächer als die experimentellen Reize,
die, später appliziert, starke Schwankungen hervorriefen. Während
der Zeit vor dem ersten Reiz befand sich nun die V.-P. im Zu-
stand der Erwartung, und der Spiegel schrieb die Erwartungs-
kurven, die hier reproduziert sind. (Figur 10.)
Aus diesen Linien ist folgendes zu entnehmen (und es mag
beigefügt werden, dass dieses Verhalten ein typisches zu sein
scheint): Anfangs sieht man das normale langsame Sinken der
Ruhekurve noch deutlich vorhanden. Nach schätzungsweise
10 Sekunden (wenn man die Filmlängen vergleicht mit anderen,
etwa gleich schnell abgerollten Films, auf denen die Sekunden-
lampe geleuchtet hatte) stellt sich eine flache Erhöhung der Kurve
em, die langsam abklingt, um nach etwa 10 weiteren Sekunden
in einen zweiten, ähnlich formierten, aber höheren Kurvenhügel
überzugehen. Ein dritter solcher stellte sich noch ein, ehe die
Magnesiumpatrone entzündet wurde, und dann trat die typische
Reizkurve auf (hier nicht reproduziert).
Mit besonderer Schärfe tritt die Erwartungsschwankung in
Erscheinung in Figg. 11 und 8, welche den Versuchen XII resp.
XIII entstammen. Die Klarheit der anfänglichen Erwartungs-
_ 7
III II I II I ,
Fig. 11.
Erwartungskurve. Unten Sekundenmarken.
A
schwankung ist zwei Umständen zu verdanken: erstens war es
das erste Mal, dass die V.-P. als solche fungierten, und zweitens
wussten sie zum voraus, dass sie sensorisch gereizt werden sollten.
Diese Erwartungskurven arbeiten wie multiple Reiz-
schwankungen der abfallenden Tendenz der Ruhekurve entgegen,
so dass als Resultante ein langsames Aufsteigen der ganzen Linie
entsteht. Vergleicht man die Erwartungsschwankungen mit
den Reizschwankungen, so ist, falls die Dämpfung im Neben-
schluss wegfällt, ohne weiteres ein Unterschied zwischen den
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 411
beiden Kurven ersichtlich. Reizkurven steigen plötzlich an, um
mehr oder weniger langsam abzufallen, Erwartungskurven aber
steigen und fallen langsam, ihr Kurvenhügel ist flach.
b) Lesekurven bei indifferenter Lektüre.
Der Versuch bei ruhigem, stillem Lesen indifferenter Lektüre
wurde in folgender Weise durchgeführt. Die V.-P. hielt die
Griff-Elektroden ruhig in den Händen, die bequem auf der Unter-
lage gestützt waren. Während dieser Zeit las sie bei gleich-
mässigem Lampenlicht eine indifferente Lektüre, z. B. einen nicht
aufregenden Zeitungsartikel oder eine wissenschaftliche Abhandlung
ohne persönliche Anknüpfungspunkte. Das Umdrehen der Blätter
geschah durch den Untersuchenden auf leises Kopfnicken der
V.-P. hin. Der Experimentator zeichnete die Skalenwerte von
15 zu 15 Sekunden auf.
Versuch XVII. 34jähriger gesunder Mann. Griff-Elektrode,
Shunt ausgeschaltet. Lektüre.
Von 15 zu 15 Sekunden wurden folgende Skalenwerte notiert:
70 — 69 — 68 — 67 — 66 — 65 — 64 — 63 — 62 —
— 61 — 61 — 60 — 59 — 58 — 60 — 59 — 59 — 59
— 59 — 59 — 59 — 58 — 59 — 59 — 59 — 59 — 59 —
59 — 60 — 59 — 59 — 60 — 60 — 60 — 65 — 55 — 60
— 58 — 57 — 58 — 59 — 60 — 59 — 57 — 58 — 59 —
58 — 58 — 58 — 60 — 60 — 59 — 59 — 59 — 60 — 60.
Die Aehnlichkeit mit der einfachen Ruhekurve mit geringen
Plusschwankungen (Versuch II) ist auffallend. Unverkennbar
ist die Tendenz zum allmählichen, anfangs schnelleren, später
langsameren Sinken der Drehungswerte.
c) Lesekurven bei differenter Lektüre.
Bei einer Reihe anderer Versuche wurde ceteris paribus
Lektüre gewählt, von der mit Bestimmtheit vorausgesetzt werden
konnte, dass sie Stellen enthalte, die bei der V.-P. Affekte aus-
lösen. Als Beispiel sei zitiert:
Versuch XVIII. 34jähriger gesunder Mann. Griff-Elek-
trode, Shunt ausgeschaltet. Lektüre eines Abschnittes eines vor
Jahren unter lebhafter Gefühlsreaktion mitangesehenen, seither aber
selten mehr gelesenen patriotischen Festspieles, von dem sich V.-P.
erinnerte, ganz besonders „gepackt“ worden zu sein. Beginn der
Lektüre nicht weit von den betreffenden Stellen.
(Hier folgt die Tabelle von S. 412.)
Man beachte gleich zu Anfang die Steigung, die in der
dritten Minute etwas unterbrochen, aber gleich wieder auf-
genommen wird, in der vierten und fünften Minute leichtes Sinken
und wieder Steigen der Zahlen, in der sechsten und siebenten
aber enormes Anschwellen (von 131 bis 185) und nachher Ab-
Monatssehriit für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helt 6. 28
412 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
Zeit Skala | Zeit Skala
8 Uhr 40 Min. — Sek. 95 8 Uhr 44 Min. 30 Sek. 132
8 , 40 „, 15, 9% |8, 4&4 „ 4 „ 18
8 > 40 ,„ 30 „, 105 | 8 „6 „ — „ 18
8 3 40 , 6, l0 |8, 4& „ 15 „ 132
8 , 4 , — , 130 |8 „, 4& „ 30 „183
8 , 4, 15 , 125 | 8 „46 „ 4 „ 132
8 , 4 „, 30 „, 127 | & , 46 , — ,„ 43i
8 , 4, 45 „ 130 |8 „4 „ 15 „ 150
8 42 , — ,„, 18 | 8 , 46 „ 30 „ 152
8 > 42 , 15 , 135 |8 , 46 „ 45 „ 166
8 > 423 , 30 , 127 |8 , 47 , — „1%
8 ° 42 , 45 , 135 | 8 , 47 > 15 , 185
8 , 43 , —, 43| 8,47 , 30 „, 175
8 > 43 , 15 , 149 |8 , 47 , 4&5 „ 168
8 , 43 „, 30 „, 140 | 8 , 48 , — . 16l
8 >° 43 , 45 „ 140 |8 , 48 „ 15 „ 162
8 7 4 , — , 135 |8 „4 „30 „ 162
8 > 4 , 156 , 1322 | 8 , 4&8 > 45 ,„ 162
sinken auf 162. Die Lektüre wurde beendet etwa zwei Minuten,
nachdem die Stelle gelesen worden war, welche in besonderem
Masse ausgeprägte Gefühlsbetonung ausgelöst hatte. Die Erhöhung
der Zahlen entspricht also offenbar dem Moment des von der
Lektüre „Gepacktseins“. Zu gleicher Zeit hatte V.-P. beobachtet,
dass es ihr „kalt über den Rücken lief“.
c) Assoziationsversuche,
Um den in den vorherigen Experimenten manifest gewordenen
Beziehungen zwischen den durch die rezeptive Sphäre der Sprache
wachgerufenen Affekt und den Spiegelschwankungen nachzugehen,
wurde eine Anzahl von Versuchen vorgenommen, wobei die V.-P.,
während sie in den Stromkreis eingeschaltet war, gleichzeitig einem
„Assoziationsexperiment“ ausgesetzt wurde.
Dieses letztere wurde in zwei Modifikationen vorgenommen.
Der V.-P. wurden mit monotoner Stimme vom Untersucher oder
einem Gehülfen in gemessenen Zeit-Abständen Worte zugerufen,
die vorher in geeigneter Reihenfolge ohne Mitwissen der V.-P. auf
einen Zettel geschrieben worden waren. Für die Wahl und Folge
dieser Reizworte war massgebend die Vermutung, dass unter den
niedergeschriebenen Worten eine Anzahl der V.-P. gleichgültig
seien, während einige andere einen differenten Eindruck auf sie
ausüben sollten, weil vermutlich durch ihr Lautwerden in der
V.-P. bestimmte gefühlsbetonte Vorstellungen wachgerufen werden
sollten.
Die beiden Gruppen der Assoziationsversuche unterscheiden
sich nun darin, dass bei der ersteren die V.-P. die Aufgabe
hatte, auf jedes Reizwort mit einem Reaktionswort zu antworten,
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 418
bei der zweiten aber schweigend die Reihe der Reizwörter an-
zuhören. Im ersteren Fall wurden meistens die Reaktionszeiten
zwischen Reizwort und Reaktionswort notiert.
I. Assoziationsversuche mit sprachlicher Reaktion.
Versuch XIX. 30jähriger gesunder Mann. Griff-Elektroden,
Shunt ausgeschaltet. Nachdem der Film in Bewegung gesetzt ist,
werden der V.-P. die folgenden Reizworte zugerufen, auf die sie
nach der unten angegebenen Reaktionszeit mit den danebenstehenden
Reaktionen antwortet.
Reizwort Reaktionzeit Reaktionswort
Sonne 1,6 Sek. Licht
Spazieren 12 „ draussen
Lugano 1,0 „ schön
Poliklinik 22 „ Nerven
Meerschweinchen 1,4 „ Corpus geniculat. ext.
Japan 0,8 , Asien
Arbeit 12 , gut
Essen 12 , langsam
Kinder 20 , zwei
Petroleum 08 , Licht
Musizieren 08 „ schön
Blume 12 „ duftig [verstanden
Freude 20 „ ich habe Sie nicht
Freude 40 „ gut
Stark 08 „ Mann
Epilepsie 2,0 „ Morbus sacer
Schliessen 20 „ öffnen.
Auf dem Film ist nur der Moment der Reizworte, derjenige
der Reaktionsworte nicht automatisch markiert; der Zeitpunkt
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Fig. 12.
Assoziationskurve. Assoziationen mit Reaktionsantwort. Oben Sekunden-
marken. Die von dort aus nachträglich eingezeichneten Hilfsordinaten deuten
den Zeitpunkt der sprachlichen Reaktion auf das Reizwort an. Unten
Reizmarken. Vergl. Text. Verkleinerung !js.
der Wortreaktion ist an der Hand der obigen Tabelle ausgerechnet
auf dem Film durch die nachträglich von den Sekundenzeichen
‚aus gefällten Ordinaten angegeben.
Bei der Interpretation dieser Kurve muss zunächst im Auge
behalten werden, dass der Film nicht ganz regelmässig abgerollt
28°
414 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
wurde, die Sekundensbstände sind deshalb ungleich. (Ferner
passierte zwischen der sechsten und siebenten Reaktion das Miss-
geschick, dass der Empfängerapparat einen kleinen Ruck erhielt,
der sich auf der Kurve als scharfabfallende Niveaudifferenz dar-
stellt.) Wenn dieses Experiment dennoch hier produziert wird,
so geschieht dies, weil es doch geeignet ist, das Wesentliche dieser
Assoziationsversuche mit Reaktionsantwort gut zu beleuchten.
Zunächst sieht man bei der Betrachtung der Kurve ın toto, dass
sie einen von Anfang bis Ende hügeligen Verlauf aufweist und
dass in diesen Biegungen eine gewisse Ordnung besteht. Zieht
man nämlich von den Reizmarken aus Senkrechte durch den Film,
so kann man konstatieren, dass sie beständig in einen absteigenden
Schenkel der Kurven fallen und dass nach Ablauf einer gewissen
Zeit dem Reiz ein erneutes Ansteigen folgt. Die Hügelkette ist also
eine Reihenfolge von Reizkurvenhügeln, wobei der nächstfolgende
Reiz immer in die absteigende Linie der vorherigen galvanischen
Reaktion fällt. Der Moment der sprachlichen Reaktion der V.-P.
fällt meistens, wenn auch nicht immer, in die Gegend des tiefsten
Kurventales, oft vor, oft nach Beginn des Wiederanstieges, letzteres
im allgemeinen bei den Reaktionen mit „langer Reaktionszeit“. Ver-
gleicht man die einzelnen Kurvenhügel unter einander, so sieht
man zunächst ein Ansteigen, später ein ungefähres Horizontal-
bleiben der Tangente der Kurvenbiegungen; dies entspricht der
auch sonst bei den Experimenten beobachteten Tatsache, dass
anfangs eine kumulative Wirkung von Erwartung und den ersten
Reizen stattfindet, während im Verlauf des Experimentes all-
mählich das Moment der Erwartung ausgeschaltet ist. Sodann
ist zu konstatieren, dass, sobald die Kurve in toto nicht mehr
wesentlich steigt, doch noch beträchtliche Unterschiede zwischen
den einzelnen Kurvenhügeln bestehen, und zwar sind gegen Ende
des Experimentes beträchtlichere Erhebungen immer noch nach-
weisbar. Es hat also hier nicht ein allmähliches Abklingen statt-
gefunden, wie bei einfachen wiederholten akustischen Reizungen
(vergleiche Versuch VIII). Die Reizworte haben demnach ungleich
stark gewirkt.
Den Versuch, der auf der folgenden Figur 13 abgebildet
ist, lasse ich hier folgen, weil er geeignet ist, diese ungleiche
Wirkung verschiedener Reizworte bei Assoziationsworten mit
sprachlicher Reaktion besonders scharf zu illustrieren. Man ver-
misst auf der Filmrolle die Reizmarken: die Signallampe versagt
bei diesem im übrigen so klaren Versuch. Allein an Hand des
schriftlichen Protokolls ist festgelegt, dass die stärkste Schwankung
der Spiegelmarke auf dem Empfängerapparat dem Worte „Oerlikon“
gefolgt ist- Damit ist. wenn leider auch die genauen Zeitverhältnisse
aus der Kurve nicht hervorgehen, doch so viel klargelegt, aut
welchen Reiz hin die Linie die auffallendste Bewegung machte.
Versuch XX. 19jähriger Student. Griffelektroden, Shunt
ausgeschaltet.
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 415
Reizwort Reaktionswort | Reizwort Reaktionswort
Objektiv Brennweite Kronenhalle fidel
Spiritus brennbar Veloziped Maschine
Bierjunge sitzt Oerlikon Industrieort
Wissenschaft interessant Wohnung geräumig
breiten Luft Mensur verboten
artyrium schmerzhaft Grossvater gestorben
Xia Corps Film Celluloid
Email glänzend |
DEE TI u IE Bu Be Be 1 1116111981 11 09 tiL GS 1 099 ır ı9 tI CLI’ t3 111 1i 11 1111141 111 11 ı.
— — ——
— — — — — — — — — — — — — — — — 6
Fig. 18.
Assoziationskurve. Assoziationskurve mit Reaktionsantwort. Oben Sekunden-
marken. Die Lampe für die Reizmarken funktioniert nicht. Die Stelle, wo
unter der Kurve nachträglich ein X eingezeichnet ist, entspricht laut Protokoll
dem Reizwort „Örlikon*. Verkleinerung !/..
Man bemerkt an dieser Kurve anfängliches Ansteigen (Mit-
wirken der Erwartung), dann ein ungefähres Gleichhochbleiben
der Kurvenhöhen und Kurventäler bis zu dem Punkte, wo unter
der Kurve ein X markiert ist, das den ungefähren Moment des
Reizwortes Oerlikon andeutet; von da an hettiges Aufsteigen und
starkes ÖOszillieren der Spiegellinie, das sich wieder beruhigt
(vermutlich sobald das nächstfolgende Reizwort zur Wirkung ge-
langte). Schon vor dem Aufstieg „Oerlikon“ macht sich eine
zitternde Bewegung in der Kurve bemerkbar; indes hebt sich
dieser Kurvenwert nicht so schroff und nicht so hoch hinauf. Das
Experiment war überraschend; denn bei der vorherigen Auswahl
der Reizworte hatte ich „Oerlikon“ (Name einer Zürich benach-
barten Ortschaft) in die Reihe der zu rufenden Worte nieder-
geschrieben in der Meinung, zwischen den differenten Reizen
„Kronenhalle“ (Name der Stammkneipe der V.-P.) und „Mensur“
unter zwei andern ein drittes möglichst harmloses Wort einzufügen.
Die Reaktionsantwort „Industrieort“ gibt als solches keine Er-
klärung für die sonderbare Unruhe der galvanıschen Kurve, wohl
aber die nachherige Schilderung der V.-P. dessen, was ihr bei
Anhören des Reizwortes in den Sinn gekommen sei, was er aber
bei der sprachlichen Reaktion unterdrückt habe. Er gab an, er
habe gemeint, der Untersuchende hätte gewusst, dass er vor
einigen Tagen in Oerlikon wegen einer Mensur von der Polizei
abgefasst worden sei.
II. Assoziationsversuche ohne sprachliche Reaktion.
Versuch XXI. 2öjährige gesunde Frau. Griffelektroden,
Shunt ausgeschaltet. Es werden der V.-P. in gemessenen Zeit-
416 Versguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
räumen folgende Reizworte zugerufen: Millimeter — schwarz —
trinken — Kuno Amiet — Buch — Babywagen — Haushaltung
— München — Glarus — X. X. (Name einer verwandten Frau) —
springen. Die Versuchsperson hatte sprachlich nicht zu reagieren.
Fig. 14.
Assozistionskurve. Assoziationsexperiment ohne Reaktionsantwort. Oben
Sekundenmarken; in der zweiten Hälfte des Versuches versagte die Lampe.
Unten Reizmarken. Die entsprechenden Reizworte heissen, von links nach
rechts gelesen: Millimeter — schwarz — trinken — Cuno Amiet — Buch —
Babywagen — Hausbaltung — München — glarus — xx (Name einer
Verwandten) — springen. Verkleinerung 1]s.
Vergleicht man diese Kurve mit den vorigen zwei, so fällt
der ungemein viel ruhigere Verlauf ohne weiteres auf, besonders
wenn wir bedenken, dass der dämpfende Shunt ausgeschaltet ist.
Bezüglich der einzelnen Kurvenbewegungen sind auch hier wesent-
liche Unterschiede der galvanischen Reaktion auf die verschiedenen
Worte nachweisbar — man vergleiche „Buch“ und „Babywagen“
„München“ und „Glarus“ einerseits und „X. X.“, den Namen der
verwandten Frau, andererseits.
Die Höhenunterschiede der galvanıschen Reaktion zeigen sich
anschaulich in dem folgenden
Versuch XXII. 80jähriger gesunder Mann, Griffelektroden,
Shunt ausgeschaltet. Die im Bereich der reproduzierten Film-
länge gerufenen Reizworte sind: Mutig — Y.Y. (Name eines
französischen Gelehrten, über den V.-P. kurz vor dem Experiment
mit starker persönlicher Teilnahme gesprochen hatte) — Apfel —
Brot — Vater (Der Vater der V.-P. war um diese Zeit ernstlich
krank) — Stall — Zentralblatt — April.
vrdsansı EHE ————— 00m eesel esan 1er Re bwo
C TN T TOT
A - - . B
Fig. 15.
Assozistionskurve. Assoziationsexperiment ohne Reaktionsantwort. Oben
Sekundenmarken (in der Mitte des Films zu wenig scharf für die Reproduktion,
daher weggelassen). Unten Reizmarken, die denselben entsprechenden Worte
sind von links nach rechts gelesen: mutig — 7 (Name eines französischen Ge-
lehrten) — Apfel — rot — Vater — Stall — Zentralblatt — April. Ver-
kleinerang !/s.
Bei der im ganzen (im Vergleich zu Versuch XIX und XX)
ruhigen Kurve fallen als stärkste Reaktion die Kurvenbewegungen
nach „Y. Y.“ und nach „Vater“ auf; auch „Zentralblatt“ ist von
einer stärkeren Wallung gefolgt, als „mutig“, „rot“ und „Stall“.
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 417
Bei der Reaktion unter dem Worte „Apfel“ fällt auf, dass die
Steigung. mit dem Reizwort koinzidiert; es ist naheliegend, diese
gänzlich aus dem Rahmen aller andern Erfahrungen tretende
Tatsache damit zu erklären, dass diese Schwankung eine Nach-
wirkung des Reizes „Y. Y.“ ist, wie man sie gelegentlich in Form
eines Doppelberges sieht (vgl. Reizreaktion in Versuch XI).
Die bis hierher geschilderten Assoziationsversuche liessen
es als wünschenswert erscheinen, Unterschiede in der galvanischen
Reaktion auf verschiedene Reizworte noch klarer herauszuheben,
als dies bisher geschehen. Dieses Ziel wurde erreicht durch Ein-
schaltung des dämpfenden Shunts, durch den die kleineren
Schwankungen fast vollständig unterdrückt wurden.
Versuch XXV. 2öjährige gesunde Frau (gleiche V.-P. wie
in Versuch XXIII. Griffelektroden, Shunt !/, Apparat 1906).
Reizworte: Militär — Rettig — Altane — Nelly (Name eines
Kindes der V.-P.) — Stärke — Nerven — Winkel — X.I. Z.
(Name einer Verwandten) — Strom — Marie (Name einer Be-
kannten) — Eisen.
vers V
A
Fig. 16.
Assozistionskurve. Assoziationsexperiment ohne Reaktionsantwort. Unten
Sekundenmarken. Oben Reizmarken. Die diesen entsprechenden Reizworte
heissen, von links nach rechts gelesen: Militär — Rettig — Altane — Nelly
— Stärke — Nerven — Winkel — xyz (Name einer Verwandten) —
Strom — Marie — Eisen. Verkleinerung ?/,.
Die zwei wesentlichsten Erhebungen der Kurve fielen auf
die Worte „Militär“ und „X. I. Z.“, den Namen einer Verwandten,
die zwei noch eben nachweisbaren auf „Nelly* und „Nerven“, die
übrigen Reaktionen sind, falls sie überhaupt auftraten, durch den
Shunt unterdrückt worden. Nun ist hervorzuheben, dass die
V.-P. mit dem Begriff „Militär“ eine Menge von lebhaften Affekten,
meist unlustiger Art, verbindet und dass die Verwandte X. 1.2.
(wie auch die Verwandte X. X. im Versuche XXIII) in ihrem
psychischen Leben zeitweise eine präponderante, ebenfalls mit
stark ausgeprägten Unlustgefühlen ausgezeichnete Rolle spielt.
Den schärfsten Ausdruck des Unterschiedes in der Reaktion
auf unbeantwortete Reizworte weist der
Versuch XXVI auf. 20jähriger gesunder Mann. Griff-
elektroden, Shunt !/,, Apparat 1906. Reizworte: Eisen — spazieren
— grün — Berg — Thusis (Heimat der V.-P.) — Weiss — Busch
— Mauer.
Die Kurve verläuft ohne die leiseste Erhebung bis zwei-
einhalb Sekunden nach Lautwerden des Wortes Busch. Auch
das Reizwort Thusis, von dem angenommen wurde, dass es ver-
418 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
mutlich bei der V.-P. Gefühlsreaktionen hervorrufen werde, ist
von keiner Kurvenerhebung gefolgt. Nach dem Worte Busch
aber plötzliches und steiles Ansteigen der Kurve mit nachherigem
allmählichem Abfluten. Die Erklärung, die die V.-P. für dieses
Phänomen gibt, ist folgende: er habe mit einem Freunde, Busch
geheissen, in der letzten Zeit besonders häufig eine Wirtschaft
equentiertt und habe gedacht, dass der Untersuchende als
Abstinent hierauf habe eine Anspielung machen wollen. Der
= a m p p p i p
A —— — — — — ——383
Fig. 17.
Assozistionskurve. Assoziationsexperiment ohne Reaktionsantwort. Unten
Sekundenmarken, oben Reizmarken. Die diesen entsprechenden Reizwörter
heissen, von links nach rechts gelesan: Eisen — spazieren — grün — Berg
— Thusis — weiss — Busch — Mauer. Verkleinerung !/s.
Name dieser Wirtschaft ist „Apfelkammer“; im selben Versuch
kommt später das Reizwort „Apfel“ vor, auf welches wieder eine
wesentliche Erhebung der Kurve sich einstellte (hier in der Figur
nicht reproduziert).
d. „Autochthone“ psychische Reize.
Unter dieser Bezeichnung mögen die Vorgänge angeführt
werden, deren Wirkung auf das Galvanometer im folgenden Ver-
suchsbeispiel dargestellt ist. Es wurde der V.-P. aufgetragen,
innerhalb eines markierten Zeitraumes von 2 Minuten an beliebigen
Momenten etwas schwierigere Kopfrechnungen zu lösen (z. B. eine
4—bstellige freigewählte Zahl durch 7 oder 9 zu dividieren).
Während dieser Zeit wurde die Skala beobachtet und allfällige
Schwankungen nach Anzahl und Grösse notiert. Sodann wurde
der V.-P. aufgegeben, innerhalb der nächsten Versuchszeit von
2 Minuten, deren Anfang und Ende wieder markiert wurde, an
etwas Gefühlsbetontes aus der jüngsten Vergangenheit zu denken,
an ein Ereignis, persönliches Erlebnis mit starker innerer Teil-
nahme, und es wurde beigefügt, dass es nicht nötig sei, nachher
dem Untersuchenden darüber zu referieren. Auch während dieser
Zeit wurden die Zahlen der Skala beobachtet und notiert. Schliess-
lich erhielt die V.-P. die Aufgabe, wieder innerhalb 2 Minuten
sich in eine ebenso gefühlsbetonte Erinnerung aus älterer Zeit
zu versenken und sich diese so scharf wie immer möglich auszumalen.
Gleichzeitig wurde die Wirkung auf dem Gralvanometer notiert,
Versuch XXVII. 26jähriges gesundes Mädchen. Griff-
elektrode, Shunt !|..
Kopfrechnungsversuch. Keine Plusschwankung, stetiges
Abfallen im Sinne der Ruhe-
Kurve.
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phäuomen. 419
Erholun gepause.
Erinnerungan.neuerlichespsychi- EinmaligeSchwankungvon8mm,
sches Erlebnis. langsames Abfluten.
Erholungspause.
Erinnerung an früheres psychi- EinmaligeSchwankung von 8mm,
sches Erlebnis. langsames Abfluten.
Die V.-P,gibt an, innerhalb der ersten zwei Minuten zweimal
vierstellige Zahlen durch 7 dividiert zu haben; über die Er-
innerung an psychische Erlebnisse wurde der Verabredung gemäss
keine Auskunft verlangt, jedoch gab die V.-P. spontan an, dass
beide Erinnerungskomplexe ungemein intensiv gefühlsbetonte Er-
lebnisse betreffen.
Die vorstehend angeführten Versuche dürfen deswegen als
typisch gelten, weil keiner der ungezählten Kontrollversuche und
keines der seither unternommenen anderweitigen Experimente
ihren Resultaten grundsätzlich widerspricht. Es ist also zulässig,
schon an dieser Stelle eine zusammenfassende Uebersicht des
bisher Dargestellten zu versuchen.
1.Das psycho-galvanischeReflexphänomen bestehtin
einerIntensitätsvariation eines elektrischen Stromes, der
bei der „VersuchsanordnungM“ mindestens teilweise aus
einer körperfremden, in den Stromkreis eingeschalteten
Stromquelle entstammt. Es spielt deshalb bei dieser An-
ordnung die Variation des Leitungswiderstandes des
Körpers gegen diesen exogenen Strom eine Rolle bei der
Varıation der Stromintensität. Durch die wesentliche Kom-
ponente der Abstufung eines in körperfremder Stromquelle ent-
stehenden und den Körper der V.-P. passierenden Stromes unter-
scheidet sich das psycho- galvanische Reflexphänomen in dieser
Form, wie unten auszuführen sein wird, grundsätzlich von den
Tarchanoff-Stickerschen Versuchen.
2. Die Variation geschieht im Sinne der Abnahme
der Stromintensität, wenn die V.-P. im Zustand der Ruhe
längere Zeit in der Stromkette eingeschaltet bleibt.
Durch diese Tatsache stellt sich die „Ruhekurve“ in Gegensatz
zu den gewöhnlichen bisherigen Erfahrungen über anfängliche
Variationen des Körperleitungswiderstandes gegen einen durch-
fliessenden elektrischen Strom.
8. Die Variation verläuft im Sinne der Intensitäts-
zunahme, wenn die V.-P. Reizen ausgesetzt wird. Diese
Reize können von aussen her die V.-P. treffen, auf dem
Wege der peripheren Sinnesorgane oder durch Erregung
der höheren, perzeptiv-sprachlichen Sphäre; anderer-
seits können sie auch „autochthonen“ Ursprungs sein
(Versuch III bis XXVII).
4. Auch beiden sensvriellen Reizen ist eine psychische
Komponente als notwendig zur Hervorbringung des gal-
420 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
vanischen Reflexphänomens anzunehmen. Dieser letzte Satz
bedarf einer genaueren Besprechung, da in den Erklärungen der
einzelnen Versuche auf diesen Punkt noch nicht eingegangen worden
ist. Es darf zunächst darauf hingewiesen werden, dass in den
akustischen Reizversuchen bei im übrigen absoluter Stille ein ganz
leises Geräusch genügte, um eine Reaktion hervorzurufen, und
dass man genötigt war, als einheitlichen Reiz bei allen Versuchen
einen ziemlich intensiven Knall zu wählen, um gegen die Geräusche
der Umgebung konkurrieren zu können. Die galvanische
Reaktion auf akustischen Reiz ıst also eine elektive;
sie zeichnet diejenigen akustischen Reize aus, welche
die Aufmerksamkeit der V.-P. erregen. Ferner sei in Er-
innerung gebracht, dass bei Wiederholung des scharfen Knalles
eine Erschöpfung des Phänomens eintrat, doch wohl nicht deshalb,
weil die folgenden akustischen Reize weniger scharf perzipiert
worden wären, sondern weil die innere Teilnahme an diesen
Reizen abnimmt. Nach einer genügend langen Pause erholt sich
das galvanische Phänomen. Ein später wiederholter gleicher Reiz
ruft aufs neue Spiegelschwankung hervor: die Aufmerksamkeit
der V.-P. hat sich durch völliges Ausruhen oder durch ander-
weitige Betätiguug soweit erholt, dass ein neuer gleicher Reiz
wieder mit einer neuen Aufmerksamkeit empfangen werden kann;
der Reiz wird nach einer Pause wieder aktuell. Dieser
Auffassung widerspricht m. E. auch die Tatsache nicht, dass ein
qualitativ gleicher, nach der Intensität aber ungleicher Reiz un-
gleiche galvanische Reaktion hervorruft. Der kaum hörbare Schuss
im dritten Zimmer „interessiert“ die V.-P. entschieden weniger als
ein lauterer Knall im nächsten oder gar ein solcher im gleichen
Zimmer, die naturgemäss einen erheblich höheren Reizunterschied
gegen die übrige absolute oder relative Stille bedeuten. Man
denke nur an die Unterschiede in den anderen Ausdrucksreaktionen
für psychische Vorgänge, die unser Körper durchmacht, wenn wir
einen energischeren akustischen Reiz, z. B. den eines Kanonen-
schusses 1 km weit, 100 m weit oder 2 m weit vom Geschütz
entfernt empfangen.
Es dürfte überflüssig sein, auf die Analogien bei den opti-
schen und taktilen Reizversuchen ausführlicher hinzuweisen.
5.Auchbei denhöheren psychischenReizenistdiegal-
vanische Reaktion eine elektive, indem ein quantitativer
Unterschied besteht zwischen den Reaktionen auf Reize,
welche von Gefühlsbetonung begleitet sind, und solchen,
dieesnicht sind. Man vergleiche die Reaktionen auf Kopfrechnen
und auf autochthone Erweckung einer gefühlsbetonten Erinnerung
in Versuch XXVI, man vergleiche die Kurvenhügel bei den
Assoziationen auf die verschiedenen zugerufenen Worte, ferner
die Verschiedenheit der Reaktion auf indifferente und differente
Lektüre.
6. Das Moment der Gefühlsbetonung allein ist es
nicht, das die Stärke der galvanischen Reaktion bedingt:
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 421
es kommt auch bei den höheren psychischen Reizen als
weitere Komponente deren Aktualität in Betracht. Das
alvanısche Reflexphänomen ist also ein Indikator für
efühlsbetonung und Aktualität des psychischen Reizes.
Belege hierfür liefern die Versuche mit autochthonen Reizen
(vgl. Versuch XXVII, wo die alte Erinnerung 3 mm, die rezente
8 mm Ausschlag hervorrief). Reiner tritt diese Erscheinung vor
Augen in den Assoziationsversuchen, namentlich in denjenigen ohne
Reaktionsantwort. Es sei z. B. erinnert an den Versuch XXI, wo
ein wesentlicher Ausschlag der Nennung des Namens eines fran-
zösischen Gelehrten folgte, über den man eben vor dem Experiment
debattiert hatte, oder an die Reaktion auf „Oerlikon“ im Versuch XX,
wo die V.-P. an etwas wenige Tage vorher Erlebtes erinnert
worden war.
7. Die Aktualität des psychischen Reizes kann auch
darin bestehen, dass für die V.-P. deshalb die Reize
gefühlsbetont werden, weil sie von der Person des Ex-
perimentators ausgehen. Zur Illustration dieses Satzes möge
der Hinweis genügen auf den Versuch, dessen Reaktion „Busch“
nach Aussage der V.-P. deswegen aufgetreten ist, weil der Unter-
suchende Abstinent, die V.-P. aber nıcht Abstinent ist und die
letztere eine Anspielung des Experimentators auf die Tatsache
und daran sich anschliessende Gedankenreihe vermutete.
Auf den gleichen Grund dürfte auch die Tatsache zurück-
zuführen sein, dass im grossen und ganzen die autochthonen
psychischen Reize geringere Ausschläge provozieren als die von
aussen her erregten, ferner auch die zweite, dass Assoziations-
versuche mit Reaktionsantwort der V.-P., bei denen also die
V.-P. gezwungen ist, nach aussen Stellung zu nehmen zu dem
Reize, viel heftigere Kurven zutage fördern, als die Versuche
ohne Reaktionsantwort, bei denen dieses Moment einer Offen-
barung gegenüber dem Experimentator wegfällt.
s . k
Beim Versuche, das bisher Gefundene vorläufig im
grossen und ganzen einzureihen in frühere Untersuchungs-
befunde der Elektrophysiologie, müssen wir von der Tat-
sache ausgehen, dass das, was die Spiegeldrehungen uns zeigen,
vorderhand nichts anderes ist als der Ausdruck einer
Variation der Stromintensität. Nach dem Ohmschen Gesetz
ist diese direkt proportional der elektromotorischen Kraft und
umgekehrt proportional dem Widerstand.
Es erhebt sich deswegen zunächst die Frage: Ist die Strom-
stärke beim galvanischen Reflex-Phänomen variabel, weil eine
dieser zwei Grösen variabel und die andere konstant ist, oder weil
beide variabel sind?
Unkontrollierbare Variabilitäten des Widerstandes in dem
Stromkreisteile ausserhalb der V.-P. sind ausgeschlossen; die Tat-
422 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
sache der Variabilität des Leitungswiderstandes des menschlichen
Körpers gegen durchfliessenden Strom ist bekannt. Mit ihr haben
wir also bei unseren Experimenten mit körperfremdem, durch-
fliessendem Strom sicher zu rechnen. Nun zeigt sich aber bezüglich
dieses Leitungswiderstandes ein auffallender Unterschied zwischen
den obigen Resultaten und den gewohnten Erfahrungen aus der
Elektrodiagnostik: bei unseren Experimenten nimmt, wenn keine
Reize eintreten, die Stromstärke stetig ab, nicht, wie wir gewohnt
sind zu beobachten, der Widerstand. Hier ist also ein erstes
Problem, welches das galvanische Reflex-Phänomen in Gegensatz
stellt zu bisherigen Annahmen. An dieses schliesst sich das
zweite, welches sich ergibt aus der Tatsache, dass in den obigen
Experimenten die Hohlhand die beste Applikationsstelle bietet,
während die Applikation der Elektroden mit gleich grossen Flächen
an anderen Stellen der Haut viel geringeren Spiegelausschlag ergibt,
eine Tatsache, auf die hier vorderhand nur hingewiesen werden soll
und die den banalen Erfahrungen über Lokalisation des Leitungs-
widerstandes der Körperoberfläche, wie wir sie von den elektro-
diagnostischen Massnahmen her gewohnt sind, direkt entgegensteht.
Es kann sich also beim galvanıschen Reflex-Phänomen nicht um
eine einfache Variation des Leitungswiderstandes handeln, wenigstens
nicht im Einklang mit den bisherigen elektrodiagnostischen An-
schauungen über diesen.
Vielmehr muss wohl bei diesen Experimenten in der Ohm-
schen Formel auch E, die elektromotorische Kraft, eine variable
sein. Dies ist nur dann möglich, wenn ausser der konstanten Strom-
quelle der Batterie noch andere, variable Quellen im Stromkreis
vorhanden sind. Dass dem so ist, wird evident durch Zusammen-
stellung der obigen Versuche mit denjenigen Tarchanoffs und
Stickers.
Tarchanoff fand Ablenkungen des Galvanometers, wenn
die angeschlossene V.-P. Reizen der Sinnesorgane ausgesetzt wurde,
wenn sie im Zustand der Erwartung war, wenn willkürlich hervor-
gerufene Empfindungen, Gefühle und Vorstellungen in ihr ab-
liefen, abstrakte geistige Tätigkeit oder willkürliche motorische
Innervationen von ihr vorgenommen wurden. Die Schwankungen
bei den Tarchanoffschen Versuchen unterscheiden sich von den
oben beschriebenen phänomenologisch im wesentlichen nur dadurch,
dass sie, wohl wegen mangelnder Dämpfung, quantitativ grössten-
teils unkontrollierbar waren. Bei diesen Versuchen nun war
eine körperfremde Stromquelle, die den Leclanche-
Elementeninder „Anordnung M“ entsprochen hätte, nicht
in den Stromkreis eingeschaltet. Als Galvanometer wurde
ein Meissner und Meyersteinsches Modell gebraucht. Die
Ströme verschiedener Partien der Haut wurden in das Galvano-
meter geleitet durch unpolarisierbare Tonelektroden, die mit den
zu untersuchenden Stellen der Hautstrecke mittels 10—15 cm
langer, in physiologischer Kochsalzlösung getränkter hygro-
skopischer Wuttebäusche verbunden waren.
Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen. 423
Die Stickerschen Versuche haben nach der technischen
Seite hin diejenigen Tarchanoffs bestätigt, nach der phänomeno-
logischen Seite erweitert. Sticker bediente sich eines Galvano-
meters nach Dubois und Rubens und unpolarisierbarer Elek-
troden. Er konstatierte u. a. das Auftreten einer gelegentlichen
negativen Vorschwankung vor den starken Hauptschwankungen
auf Sinnesreize, er beobachtete Analoga unserer oben beschriebenen
Ruhekurve (mit sinkenden Skalenwerten bis auf Null) und solche
der oszillierenden Bewegungen, wie sie z. B. auf Fig. 13 oben
abgebildet sind.
Aus diesen Zitaten geht hervor, dass in einer Stromkette
ohne körperfremdeElemente(„AnordnungT.S.“) ein Strom entsteht,
dessen Schwankungen zum mindesten ähnliche sein müssen mit
den Spiegelschwankungen des galvanischen Reflex-Phänomens bei
der „Anordnung M“. Das dritte Problem formuliert sich also
in der Frage: Wo entsteht dieser Strom?
Es sind drei Möglichkeiten vorhanden. Er kann entstehen
an den Kontaktstellen, er kann jenseits derselben in der V.-P.
entstehen und die Haut passieren, oder drittens kann beides der
Fall sein. Falls nur erstere Stromquelle im Menschen in Betracht
kommt, so muss bei den Reizversuchen ein somatischer Vorgang
bestehen, der diese Stromquelle an der Kontaktstelle beeinflusst
nach psycho-physischen Gesetzen. Die neuerlichen Untersuchungen
von Sommer!) und Fürstenau!) machen es wahrscheinlich, dass
die Elektrizität, die an der Kontaktstelle entsteht, eine Rolle
spielen muss.
Diese Autoren fanden, dass der menschlichen Haut mit aller
Wahrscheinlichkeit eine ganz bestimmte Stellung in der elek-
trischen Spannungsreihe zukomme, d. h. dass sie mit einer Gruppe
von Metallen in Berührung gebracht, ein positives, mit einer
anderen Gruppe ein negatives Potential annimmt, und zwar soll
diese Stellung zwischen Zink und Aluminium sein.
Wir können also die Ohmsche Formel für das galvanische
Refiexphānomen bei der oben skizzierten Anordnung M folgender-
massen erweitern:
E app konst. + E Körper var
I= W app + W Körper var.
Aus diesen Ueberlegungen geht hervor: Die Frage nach
dem Wesen des galvanischen Reflexphänomens spaltet sich vorder-
hand in drei Probleme:
1. Neue Fragen bezüglich des Leitungswiderstandes des
menschlichen Körpers.
2. Nachweis der elektromotorischen Quellen im oder am
Körper, die unter Reizen im psycho-galvanischen Reflexphänomen
variabel sind.
1) loc. eit.
424 Veraguth, Das psycho-galvanische Reflex-Phänomen.
8. Nachweis der anatomischen Substrate des zentrifugalen
Reflexschenkels bis hinaus zur Elektrode.
Spätere Berichte werden über Versuche handeln, die sich
mit diesen Fragen beschäftigen.
Bis jetzt kann nur das eine als feststehend betrachtet werden:
dass das galvanische psychophysische Reflexphänomen ein kom-
‚plizierter Vorgang ist mit einer grossen Anzahl von variabeln und
noch nicht bis auf den letzten Kern herausgeschälten Komponenten.
Doch darf schon beim jetzigen Stand der Dinge behauptet werden,
dass zunächst auf zwei Wissensgebieten das Phänomen Per-
spektiven eröffnet: auf dem experimentell-psychologischen (und
damit indirekt auf dem psychiatrischen) und em neurologischen.
Auf dem ersteren deshalb, weil wir in dem gulvanischen
Reflexphänomen eine „Ausdrucksmethode* par excellence besitzen.
Namentlich wenn die Technik des Versuchesnoch weiter ausgearbeitet
sein wird, wenn z. B. durch genaue Dosierung des sensoriellen Reiz-
versuches die Studien über die psychischen Komponente vervoll-
ständigt sein werden — Arbeiten, wie sie in jedem psychologischen
Institut, aber auch nur in einem solchen, möglich sind, — dann wird
man hier einen Indikator in erster Linie für die Gefühlsreaktion
im allgemeinen, dann besonders wohl auch für die Aufmerksamkeit
und die psychische Ermüdung — um nur das zunächst Liegende
zu nennen — vor sich haben, der vermutlich die vieldeutigen
anderen Ausdrucksmethoden der Sphygmo-, Plethysmo- und Ergo-
graphie an Klarheit und elektiver Differenzierung übertrifft. Welche
Konsequenzen für die experimentelle Psychologie sich darausergeben
werden, ist freilich des genaueren im voraus nicht festzulegen.
Dagegen wird es am Platze sein, im jetzigen Stadium der
Erkenntnis vor zu weit gehender Einschätzung der praktischen
Bedeutung des Phänomens in einer bestimmten Richtung zu
warnen. Seit der Veröffentlichung der Resultate in Würzburg
ist mir der Vorschlag mündlich und schriftlich zu verschiedenen
Malen gemacht worden, es sollte diese Methode gerichtlich beim
Verhör von Verbrechern zur Erhebung eines Tatbestandes ver-
wertet werden. Ich lese in Stickers Arbeit, dass dieser Autor
für seine Methode eine ähnliche Verwertung voraussieht. Allein
die Praxis wird hier erhebliche Schwierigkeiten bereiten: Nehmen
wir z. B. an, dass zwei Menschen eines Verbrechens bezichtigt
werden; der eine sei schuldig, der andere unschuldig. Wenn nun
im Verlauf des Verhöres der Unschuldige galvanische Reaktionen
der Gefühlsbetonung äussert bei Anspielungen auf die inkriminierte
Tat, so beweist das doch nicht mehr, als dass diese psychischen
Reize, denen er während des Versuches ausgesetzt wurde, bei ihm
momentan innere Teilnahme hervorrufen — ob aber deshalb, weil
er schuldig ist oder weil diese Reizbegriffe im Verlauf des
Verhöres für ihn an Gefühlsbetonung und Aktualität gewonnen
haben, ist damit bei weitem noch nicht entschieden. Immerhin
sind Fälle denkbar, in denen das psycho-galvanısche Reflex-
Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotiee 425
phänomen, nachdem es nach allen Richtungen geprüft und end-
ältig in seinem Wesen scharf umschrieben ist, auch für ein
solches Verfahren wertvoll werden mag.
Die Perspektiven nach der neurologischen Seite hin sind
nicht abgegrenzt in den Fragen nach dem anatomischen Substrat
des zentrifugalen Schenkels des Reflexbogens — der doch zum
mindesten grösstenteils aus Nervenbahnen bestehen muss —, sondern
es wird sich auch darum handeln, hier neueren Problemen nach-
zugehen bezüglich der Reizung sensibler Bahnen der Körper-
oberfläche. Haben wir im galvanischen Reflexphänomen eine
Methode des objektiven Nachweises der sensiblen Reizung oder
nicht? Sticker verneint die Annahme für seine Versuche. Wie
sich das galvanische Reflexphänomen zu dieser und andern aktuellen
Fragen über die Sensibilität der Körperoberfläche verhält, darüber
werden spätere Berichte über meine bezüglichen Untersuchungen
Aufschluss zu geben versuchen.
Bei der Redaktion eingegangen am 28. XI. 1906.
(Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Kgl. Charité in Berlin.)
Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.
Von
Dr. K. TAKASU.
(Hierzu Taf. IX—X.)
Im folgenden will ich über zwei Fälle von Idiotie berichten,
nämlich:
1. Fall: Idiotie mit Littlescher Krankheit.
Befunde: Sklerotische Atrophie der Stirnrinde und Kleinheit
der Pyramidenbahnen.
2. Fall: Idiotie mit epileptiformen Krämpfen.
Befunde: Entwicklangshemmung der Stirnrinde, mehrere
Gliome auf den beiderseitigen Corpora striata und multiple Gliose
in den Markbündelstrahlungen.
1. Fall.
O. R., geboren am 18. XI. 1885, gestorben am 11. V. 1904
an Lungentuberkulose. Aufgenommen in der lIdiotenanstalt
zu Potsdam am 11. VIII. 1902.
Krankengeschichte.
In Bezug auf Heredität ist nichts Näheres bekannt, doch sind andere
Mitglieder der Familie nicht geisteskrank.
426 Tukasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.
Ueber die Gravidität der Mutter und die Geburt des Patienten ist
nichts augegeben. Beim Säugling fiel es schon auf, dass er nicht sitzen,
stehen und sprechen lernte; ausserdem hatte er schon früh eine steife
Gliederhaltung. Er konnte sehen, hören und riechen. Gegen die Aussenwelt
scheint er teilnehmend und meldet seine natürlichen Bedürfnisse an. Ge-
wöhnlich zeigt er sich freundlich und ruhig. Uebrigens hat er keine auf-
fallenden Angewöhnungen, Unarten und Liebhabereien und hat niemals an
Krämpfen gelitten.
Status praesens: Mittelkräftig gebauter junger Mann in gutem Er-
nährungszustand. Er hat keine abnorme Koptbildung nur etwas niedrige
Stirn. Die Ohren sind gross und stehen weit vom Kopf ab. Die Zähne
stehen unregelmässig und sind teilweise kariös. Die Zunge wird ohne Zittern
erade hervorgestreckt. Die Uvula steht gerade. Die Bulbi sind nach allen
Richtungen frei beweglich. Die Pupillen sind mittelweit und gleichweit und
reagieren prompt auf Lichteinfall und Akkommodation.
Die Brust ist am unteren Ende des Sternums trichterförmig vertieft.
Die Lungengrenzen sind leicht und aurgiebig verschieblich und finden sich
an der normalen Stelle; Dämpfungen sind im Bereich der Lunge nicht vor-
handen; das Atemgeräusch ist überall rein vesikulär. Die Herztöne sind rein;
die Dämpfungsfigur des Herzens ist nicht vergrössert; der Spitzenstoss be-
findet sich an der normalen Stelle.
Die Bauchorgane sind ohne krankhaften Befund. Hoden, Penis und
Skrotum sind ziemlich gross. Der Urin ist frei von Zucker und Albumen.
Die Arme sind im Ellenbogengelenk nur wenig beweglich; die Finger
sind nur zum Teil zu strecken. Die unteren Extremitäten sind kreuzförmig
übereinandergeschlagen; die Füsse stehen in Spitzfussstellung. Die Muskulatur
der Extremitäten, besonders der unteren, ist stark strophisch. Der Kranke
kann nicht allein gehen, sitzen oder stehen. Er ist von Zeit zu Zeit erregt
und versucht, um sich zu schlagen. Die Patellarreflexe sind sehr gesteigert;
Abdominal- und Cremasterreflexe sind vorhanden.
Die Sensibilität weist keine gröberen Störungen auf.
Er kaun nur einzelne Worte sprechen; er scheint aber fast alles zu
verstehen, was man ihm sagt.
Verlauf: Nach der Aufnahme in der Anstalt blieb der Zustand im
ganzen unverändert.
Seit 19. IV. 1904 litt er an fieberhafter Lungentuberkulose und starb
am 11. V. desselben Jahres un allgemeiner Schwäche.
Makroskopische Untersuchung des in Formalin gehärteten Ge-
hirna und Rückenmarks:
Das Gehirn ist 16,0 cm lang, 15,2 cm breit und 7,7 cm hoch, ist also
als Ganzes verhältnissmässig klein. Die weiche Hirnhaat ist stark injiziert
and mässig verdickt. In dem vorderen Teil der ersten linken Stirnwindung
liegt ein fingerspitzengrosser, dünner, mit Pia und Rinde fest verwachsener
Verkalkungsherd. Die Hirnrinde des Stirn- und Occipitallappens ist sehr
resistent, und die Windungen sind an diesen Stellen etwas schmal. Die
Seitenveutrikel sind beiderseits etwa normal weit. Das Corpus callosum ist
2,0—2,8 mm dick.
Auf den Frontalschnitten des Thalamus opticus und Nucleus caudatus
sieht man beiderseits einige erbsengrosse, resistente grauweisse Herde.
Der Pons und das Kleinhirn bieten nichts Bemerkenswertes.
In der Medulla oblongata ist die Pyramide etwas schmal.
Die Grösse des Rückenmarks beträgt im unteren Cervikalteil 5,5 X 9,0 mm
und im oberen Lumbalteil 7,0X 7,0 mm, ist also als Ganzes sehr klein, und
‘zwar scheinen namentlich die Seitenstränge überall schmal zu sein; übrigens
ist der Centralkanal erweitert,
Mikroskopische Untersuchung: Bei der Untersuchung der Gross-
und Kleinhirnrinde habe ich einige Stücke von jedem Lappen herausgeschnitten
und einerseits nach Nissl, andrerseits nach Pal gefärbt.
Bei der Untersuchung der zentralen Ganglien, der Brücke, des ver-
längerten Markes und des Rückenmarks habe ich Serienschnitte einer Strecke
von jedem dieser Teile gemacht und nach Pal und van Gieson gefärbt.
Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. 427
Lobus frontalis: In der Rinde der unteren Stirnwindungen kann man
kaum irgendwelche typische Pyramidenzellen sehen. Die kleineren sowie grösseren
Pyramidenzellen haben eine eckige Form und meist spärliche kurze Fortsätze;
auch ihre Lagerung ist sehr unregelmässig. Dagegen hat die Rinde der
oberen Stirnwindungen fast normalen Bau, nur ist die Zahl der grösseren
Pyramidenzellen etwas gering. Die tigroide Substanz der Ganglienzellen ist
im allgemeinen wohl erbalten. Die Blutgefässe und Gliskerne sind überall
beträchtlich vermehrt. Was die feineren Fasern der Rinde betrifft, so sind
nur die Tangentislfasern etwas spärlich.
Gyri centrales: In der Rinde der Zentralwindungen, besonders im
oberen Teil der vorderen Zentralwindung, sieht man wieder viele umgestaltete
Pyramidenzellen, die sehr unregelmässig gelagert sind. Die grössten Pyramiden-
zellen messen 15 x in der Breite. Die Vermehrung der Blutgefässe und der Glia-
kerne sowie die Erweiteruug der perivaskulären und pericellularen Räume
sind hier besonders deutlich (vgl. Fig. 1). Die feineren Fasern in der Rinde
dieser Windangen sind im allgemeinen weniger dicht.
Lobas occipitalis: Die oberen Oceipitalwindungen baben fast nor-
malen Bau, jedoch scheint die Schicht der grossen Pyramidenzellen etwas
schmal und die Zahl dieser Zellen auch kleiner als normal zu sein. Die Ver-
mebrung der Blutgefässe und der Kerne ist hier nicht so beträchtlich. Der
Vicq d’Azyrschen Streifen ist etwas dänn.
Die der Fissura calcarina näher liegenden Windungen zeigen keine
besondere Abweichung von der Norm, ebenso auch die der Parietal- und
Temporallappen.
Kleinhirn: Die Ganglienzellen sowie die Markfasern sind ganz normal.
Die Blutgefässe und Gliakerne sind etwas zahlreich.
Die zentralen Ganglien: In dem medialen Teile des Nucleus
caudatus und des Thalamus opticus sieht man beiderseits einige gefässreiche
Stellen, die den makroskopisch als resistente grauweisse Herde beschriebenen
Stellen entsprechen.
Peduneuli cerebri und Pons zeigen nichts Abnormes.
Medulla oblongata: Beide Pyramiden sind verhältnismässig schmal
(vgl. Fig. 2). Die Ganglienzellen der Hirnnervenkerne sind wohlerhalten.
Rückenmark: An den Bahnen und Ganglienzellen sind gar keine
Veränderungen nachweisbar, uur sind die Seitenstränge überall schmal. Der
Zentralkanal ist besonders lin der unteren Hälfte des Halsmarks auf das
Doppelte erweitert, und in der Substantia gelatinosa centralis sind viele ge-
schlängelte Blutgefässe sichtbar.
Wenn wir die klinischen und pathologisch-anatomischen Be-
funde resumieren, so sind sie kurz folgende:
Ein 19jähriger, apathischer, leicht schwachsinniger Mann,
der schon seit der Säuglingszeit spastische Starre aller Ex-
tremitäten zeigte und niemals allein sitzen, stehen und gehen,
nur bei psychischer Erregung die Extremitäten bewegen konnte
(also keine totale Lähmung). Exitus an Lungentuberkulose.
Pathologisch-anatomischer Befund: Verdickung der Pia mit
einer Verkalkungsstelle über dem linken Stirnlappen, Verhärtung
und Schmalheit der Frontal-, Zentral- und Occipitalwindungen, un-
regelmässige Formen und Lagerungen der Ganglienzellen in den
Stirn- und Zentralwindungen, vermehrte Blutgefässe und Gliakerne
in der Gehirnsubstanz (kurz: diffuse atrophische, sklerotische Ver-
änderungen); ausserdem mehrere resistentere, gefässreiche Herde in
den Zentralganglien, Kleinheit der Pyramidenbahnen und Er-
weiterung des Üentralkanals.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 5. 29
428 Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.
Die oben erwähnten klinischen Symptome stimmen mit dem
Bild der Littleschen Krankheit überein, welche nach Freud!)
zwei klinische Merkmale hat, nämlich: 1. das Ueberwiegen der
Starre über die Symptome der Lähmung; 2. die stärkere Beteiligung
der Beine an den Krankheitssymptomen. Leider fehlt eine genaue
Angabe über die Geburt des Patienten,
Die pathologisch-anatomischen Befunde bestehen in der
atrophischen Sklerose vieler Windungsbezirke mit gleichzeitiger
Verdickung der darüberliegenden Pia mater, wie es Mac Natt,
Railton u. A.2) in Fällen gefunden haben, welche durch die
Littleschen aetiologischen Momente, d. h. Geburtsanomalien,
verursacht sein sollen. |
Stellen wir nun die klinischen Symptome mit den gefundenen
pathologisch-anatomischen Veränderungen zusammen, so erklären
sich die Störungen der Sprache und der psychischen Funktion
durch die atrophische Sklerose des Stirnlappens. |
Wodurch kann man jedoch die allgemeine Starre erklären?
Diesbezüglich wollen wir einen kurzen Blick auf die bisherige
Literatur werfen.
Nach Freud?) sind verschiedene pathologische Prozesse als
Ursache der allgemeinen Starre angegeben, nämlich: Mac Nutt
fand eine sklerotische Schrumpfung der motorischen Region selbst
bilateraler Degeneration der Rückenmarksstränge, dagegenRailton
eine Verdickung der Pia mater, Verminderung der Zahl der
grossen Pyramidenzellen und Vermehrung der Neuroglia ohne
Veränderung der Pyramidenbahnen. Henoch beobachtete skle-
rotische Atrophie des: Frontallappens nebst Verdickung der
Pia mater, Erweiterung des Seitenventrikels und Atrophie des
Corpus callosum und des Fornix. Ross, de Forest Willard und
J H. Lloyd fanden Porencephalie um die Rolandische Furche,
und Otto fand .beiderseitige ausgiebige Defekte verschiedener
Stirnwindungen und Verwachsung der Pia mater. Dagegen fasste
Ganghofner diepathologisch-anatomischen Befunde einestypischen
Falls von allgemeiner Starre zusammen als Hydrocephalus und
Hydromyelus chronicus leichten Grades, und bei einem anderen Falle
konnte er makroskopisch keine Veränderung des Zentralnerven-
systems konstatieren.. _
Nachdem die Monographie Freuds erschienen ist, wurden
noch folgende Fälle von Littlescher Krankheit berichtet:
Philipp und Cestan*) fanden bei vier Fällen Intaktheit der.
Pyramidenstränge und glaubten, dass der eigentliche Sitz in einer
Erkrankung der Ganglienzellen der grauen Vorderhörner zu suchen
1) Freud, Die infantile Cerebralläihmung (Nothnagel, Spez. Pathol.
u. Therapie, IX. Bd., 1897). S. 111. `>
3) Ibid. S. 180 u. 181. F
3) Freud, l. o. S. 180—187.
4) Cestan, siehe Rolly, Angeborene doppelseitige Starre (Littlesche
Krankheit) bei Zwillingen mit Sektionsbefund. Deutsche Zeitschr. f. Nerven-
heilkunde. Bd. 20. =
Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. 429
sei. Massalongo!) beobachtete bei einem Fall eine Verfärbung
und Konsistenzvermehrung der Stirn- und prärolandischen Win-
dungen, und fand deutliche Degeneration der Pyramidenbahnen
nur im Cervikalteile.
Collier?) fand in einem Fall von „generalised rigidity“
eine Verdickung der Pia, Atrophie und Derbheit der Frontal- und
Zentralwindungen, Zurückbleiben in der Zahl und Grösse der
Pyramidenzellen in der Rinde sowie Degeneration der Pyramiden-
bahnen, und in einem anderen Fall keine Veränderung der Pia,
sondern nur leichtere Schrumpfung der Frontal- und Zentral-
windungen, Atrophie und Verminderung der Pyramidenzellen ın
der Rinde nebst einer deutlichen Degeneration der Pyramiden-
bahnen.
Kotschetkowa?) hob als eine interessante Tatsache hervor,
dass sie bei einem Fall von totaler Gliederstarre nur eine leichte
Verminderung der Riesenpyramidenzellen in den Zentralwindungen
and leichte Verschmälerung der Pyramiden gefunden habe.
Rolly*) konstatierte bei vier Fällen, die angeborene Muskel-
starre ohne Lähmung im klinischen Verhalten boten, makroskopisch
negativen Befund bei der Sektion und mikroskopisch Wucherung
des Gliagewebes und Vermehrung der Blutgefässe im Gehirn und
Rückenmark.
Huet und Sicard°) behaupteten, dass die Littleschen
Symptome sich durch die bilateralen symmetrischen meningo-
encephalitischen Läsionen in der Gegend der motorischen Zentren
erklären lassen.
Wie oben erwähnt,sind die pathologisch-anatomischen Befunde
der Littleschen Krankheit sehr verschieden, und zwar gibt es
keinen einzigen bestimmten Befund, welcher bei allen Fällen ge-
meinsam nachgewiesen worden ist. Nur eine sklerotische Veränderung
des motorischen Rindengebietes ist bei den meisten Fällen nachweis-
bar, durch welche daher viele obengenannte Autoren die allgemeine
Starre erklären wollen. Dagegen sind Veränderungen der Pyramiden-
bahnen, Erweiterung der Gehirnventrikel und des Zentralkanals
sowie andere Abnormitäten ganz vereinzelt konstatiert worden.
Freud®) hat auch die Hypothese aufgestellt. dass die
Starre entsteht, wenn die Funktion des cortico - motorischen
Neurons nur abgeschwächt ist. Neuerdings hat Knapp’) sogar
über zwei Fälle von funktionellen Psychosen berichtet, bei denen
1) Massalongo, Ueber cerebrale Diplegien im Kindesalter. Wiener
med. Blätter 1898. No. 7—12.
23) Collier, Cerebral diplegia. Brain. Vol. 22. 1899.
3) Kotschetkowa, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Mikro-
gyrie und der Mikrocephalie. Arch. f. Psych. Bd. 34. S. 39.
t) Rolly, Angeborene doppelseitige Starre bei Zwillingen mit Sektions-
befand. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 20. 1901.
5) Huet und Sicard, Cerebral diplegia. Neurol. Centralbi. 1903. S. 143.
©) Freud, l.c. S. 247.
1) Knapp, Spastische Symptome bei funktionellen Geistesstörungen.
Monatsschr. f. Psych. und Neurol. Bd. 16. H. 8.
29%
480 Takasn, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.
ausgesprochene Steifigkeit an den Extremitäten ohne irgend eine
anatomische Veränderung im Zentralnervensystem vorkam.
Bei meinem Fall sind als wichtige Befunde die sklerotische
Veränderung der Zentralwindungen, Gefässproliferation in den
Zentralganglien, Erweiterung desCervikalkanals und Verküämmerung
derPyramidenbahnen zu betrachten, aber nach kritischer Würdigung
der bisherigen Literatur komme ich zu dem Schlusse, dass nur
die sklerotische Veränderung der motorischen Rindenregion
die Ursache des Littleschen Krankheitsbildes sein kann. Die
übrigen Befunde sind teils als zufällige Komplikation, teils als
Folgen der Atrophie der motorischen Rindenregion zu betrachten.
II. Fall. A. B., geboren am 30. VI. 1898, gestorben am
10. 1V. 1902 an Lungentuberkulose. Aufgenommen in der Idioten-
anstalt zu Potsdam am 12. X. 1901.
Krankengeschichte.
Die Eltern sind nicht mit einander verwandt. Andere Glieder der
Familie sollen nicht an Krämpfen oder anderen Krankheiten des Nerven-
systems leiden.
Es fehlen genaue Angaben, wie es dem Knaben als Säugling gegangen
ist. Von seinem zweiten Lebensjahre litt er oftmals an epileptilormen
Krämpfen, welche zugleich doppelseitig in Armen und Beinen auftraten.
Auch machte er zeitweise standenlang anhaltende automatische Bewegungen:
Wiegen des Körpers und Schlagen mit der Faust gegen den Kopf. Er kann
nicht allein gehen und nicht seinem Alter gemäss sprechen. Gegen die
Aussenwelt scheint er ganz gleichgültig, seine Stimmungslageist gewöhnlich
freundlich. Er ist absolut unreinlich.
Status praesens: Mittelkräftig gebauter Knabe. Er hat keine
abnorme Kopfbildung. Der Mund ist geöfinet, so dass der Speichel heraus-
fliesst. Die Augäpfel sind intakt, dagegen ist sein Sehvermögen entweder
leich Null, höchstens ist vielleicht eine Unterschiedwahrnehmung zwischen
ell und Dunkel vorhanden. Sprechen und hören kann er ebenfalls nicht.
Es ist zweifelhaft, ob er riechen kann.
Von Seiten der Brustorgane ist kein krankhafter Befund anzugeben,
ebenso wie von denen der Bauchorgane.
Die Extremitäten sind frei von Läbmungen, jedoch kann der Knabe
nur dann gehen, wenn er an beiden Händen geführt wird, und dabei pflegt
er sich ängstlich an seinen Führer anzuklammern. Patellar-, Bauch- und
Cremasterreflexe sind normal erhalten.
Urin ist frei von Eiweiss und Zucker.
Verlauf: Nach der Aufnahme fand keine Veränderung der eigentlichen
Krankheitssymptome statt.
Seit dem Anfang Januar 1902 bekam er fieberbafte Lungentuberkulose,
dann Decubitus, Otorrhoe und hartnäckige Diarrhoen. Endlich ist er am
10. IV. desselben Jahres infolge fortschreitender Schwäche gestorben.
Makroskopische Untersuchung des in Formalin gehärteten Gehirns und
Rückenmarks.
Das Gehirn ist 14,2 cm lang, 18,4 cm breit und 6,9 cm hoch, also
in der Grösse seinem Alter gemäss. Die rechte Hemisphäre ist kleiner als
die linke. Die weiche Hirnhaut zeigt keine pathologische Veränderung. Die
Windungen des Stirn- und Occipitallappens sind stellenweise sebr schmal,
doch ist ihre Konsistenz ganz normal. Das Corpus callosum ist 1,5—2,0 mm dick.
Die beiderseitigen Seitenventrikel sind mässig erweitert. Ihr Boden
hat besonders an den vorderen und hinteren Teilen ein höckriges und wulstiges
Aussehen, welches durch mehrere Tumoren hervorgerufen wird. er
grösste Tumor ist fingerspitzengross und länglich; er liegt schräg auf dem
Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. 481
hinteren medialen Teil des Kopfes des linken Nucleus caudatus und drängt
letzteren bis zum oberen vorderen Teil des Putamen, während der hintere
lateral bis zum oberen vorderen Teil des Thalamus opticus reicht. Ein anderer,
mehr abgeplatteter, bohnengrosser Tamor deckt die mediale Seite des Schwanzes
des linken Nucleus caudatus. Im rechten Seitenventrikel sitzt ein erbsengrosser
Tumor auf dem hinteren medialen Teil des Nucleus caudatus und ein anderer
bobnengrosser, abgeplatteter auf dem Schwanz desselben. Die Konsistenz der
Tumoren ist etwas härter als die der umgebenden grauen Substanz; ihre
Schnittfläche ist grauweiss und von dem umgebenden Gewebe scharf abgegrenzt.
In der Mitte des grössten Tumors sieht man einen kleinen cystischen Er-
weichungsherd (vergl. Fig. 8 u. 4).
Hirnstamm, Kleinhirn und Rückenmark bieten makroskopisch nichts
Abnormes.
Mikroskopische Untersuchung: Die Untersuchungsmethoden sind
dieselben wie im ersten Fall. Leider gestattete der Härtungszustand auch
in diesem Fall die Anwenduug der spezifischen Glisfärbungsmethode nicht.
Hirnrinde: Die Rinde der verschiedenen Lappen ist überall schmal
und ca. 1,0 mm dick. Besonders in der Rindo des Frontal- und Occipital-
lappens kann man kaum mehr als zwei Schichten unterscheiden, nämlich eine
zellfreie Schicht und eine Ganglienzellenschicht. Die Ganglienzellen in allen
Sebichten sind sehr klein und messen 10—14 a in der Breite. Sie sind -
nicht pyramidenförmig, sondern spindelförmig oder birnförmig und haben
entweder einen oder zwei kurze, vertikal verlaufende Fortsätze. Alle Zellen
haben einen verhältnismässig grossen Kern mit deutlichem Kernkörperchen
und ein schmales, fein granuliertes Protoplasma. Nur in der Rinde der
Zentralwindungen sieht man auch viele grössere pyramidenförmige Ganglien-
zellen mit mehreren Fortsätzen. Ausserdem finden sich eigenartige ovale,
auffallend grosse, fein granulierte Zellen (80 X 60 a) mit einem Kern (10X 25 x),
und zwar sehr selten und vereinzelt, in der tieferen Schicht der Hirnrinde.
. Ausser den Ganglienzellen finden sich viele kleine, rundliche Zellen
mit einem deutlich konturierten Kern in der Rinde, sowie im Marklager. Die
Blutgefässe sind ganz normal.
Die markhaltigen Nervenfasern der Rinde sind überall wenig dicht,
und in der Rinde des Frontal- und Öceipitallappens konnte ich sogar fast
gar keine Tungentialfasern konstatieren, während sie in den Zentralwindungen
ziemlich zahlreich gefunden worden sind.
Geschwalst: Von Färbemethoden kamen van Giesonsche Färbung
und die von Stroebe empfohlene Färbung mit Neutralkarmin in Anwendung.
Die Geschwülste bilden auf den Ventrikelinnenflächen prominente Knoten,
welche zum Teil in die graue Substanz des Nucleus caudatus eindringen.
Ibre freie Fläche wird von regelmässig angeordnetem Ependymepithel über-
zogen, und dicht unterhalb desselben, ebenso wie an der Grenze zwischen
Geschwulst und Hirnsubstanz, findet sich eine Schicht von streifiger Struktur,
die aus feinen, zarten, dicht geflochtenen Fasern und dazwischen dicht
uppierten kleinen Spindelzellen besteht. Im Innern der Geschwülste bilden
ie feineren oder gröberen, verschieden gerichteten Fibrillen ein unregel-
mässiges alveoläres Geflecht, in welchem, bald mehr, bald weniger deutlich in
Gruppen zusammengeordnaet, spindelförmige bis randliche grosse Zellen liegen.
Diese Zellen haben meist einen, selten zwei exzentrisch gelagerte Kerne (10—15 x)
miteinem Kernkörperchen im blasigen, strukturlosen, hyalinen Zeilleib (30— 50 u),
welcher wenig scharf konturiert ist und immer eine Anzahl von Ausläufern
hat; sie sehen daher bald sternförmig, bald spinnenförmig oder ganglien-
zellenähnlich aus. Die Blutgefässe im Geschwulstgewebe sind nicht zahlreich,
und die Gefässwand zeigt keine Zellinfiltration. Kleinere oder grössere
Amyloidkörper sind in allen Bezirken der Geschwälste gruppenweise zerstreut,
doch konnte ich darin keine Reste von Markfasern finden (vergl. Fig. 5).
Io Pal-Präparaten der beiden Hemisphären fanden sich zunächst
makroskopisch sehr viele feinste bis linsengrosse, bald streifige, bald fleckige,
blasse Herde in den dunkel gefärbten Markbündelstrahlungen überall ganz
452 Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.
zerstreut (vergl. Fig. 6). In diesen Herden sieht man mikroskopisch
lockere zarte, blasse Fasern, welche teils als Gliafasern, teils als atrophische
Nervenfasern zu betrachten sind,und dazwischen, stellenweise mehr oder weniger
dentlichzuGrappen zusammengeordnet,grosse blasige Zellen mit einem deutlichen
perivellulären Lymphraum,die an dieim Geschwulstgewebe gefundenen Elemente
sehr erinnern und im allgemeinen noch grösser sind, während ihre Fortsätze
viel undeutlicher sind oder oft ganz fehlen. Diese Zellen färben sich nach
van Giesonscher Methode ziemlich intensiv rot, infolgedessen treten dabei
auch einzelne Herde in den gelblich gefärbten Markbündelstrahlungen als rote
Streifen oder Flecken deutlich hervor, welche ohne scharfe Grenze in das
umgebende Gewebe übergehen. In Nissl-Präparaten zeigen die Zellen keine
Granulation im Protoplasma, welches sich ganz matt, diffus bläulich färbt
und selten mehrere feine Vakuolen hat (vergl. Fig. 7).
Von sonstigen Veränderungen markhaltiger Nervenfasern fand ich in
der linken Hemisphäre folgende:
Auf den F'rontalschnitten, die den Kopf des Striatum treffen, hat der
rösste Teil des retikulierten Stabkranzes (Sachs) sowie ein Teil der zerstreuten
Önerfaserbündel im vorderen Schenkel der inneren Kapsel seine Färbbarkeit
fast total verloren (vergl. Fig. 6). Auf den Frontalschnitten durch die Cella
media sieht man nicht mehr die oben beschriebenen Veränderungen, sondern
einige sehr blass gefärbte schmale Faserzüge, welehe von dem medialen Teile
des Kopfes des Nucleus caudatus nach unten lateral bis zum oberen lateralen
Teile des Putamen zu verlaufen scheinen und als ein Teil der inneren Kapsel
zu betrachten sind. Sie sind als inselförmige schmale Felder in den Lücken
der dunkel gefärbten dichten Fasern der inneren Kapsel sichtbar. Diese
leicht - degenerierten Faserzüge sind nach hinten auf den Frontalschnitten
durch. den Schwanz des Corpus striatum noch deutlich nachweisbar, doch
verschmälern sie sich allmählich bis zam Verschwinden.
In der rechten Hemisphäre fand ich als veränderte Stelle nur auf den
Frontalschnitten durch das Hinterhorn ein blassgefärbtes länglich-schmales
Faserfeld, welches an der lateralen Seite des von dem Tumor überdeckten
Nucleus caudatus liegt und vielleicht dem oberen Teile der Radiatio optica
entspricht.
Kleinhbirnrinude: In der Molekularschicht sind die kapillaren Bint-
gefässe etwas zahlreicher als normal und stark erweitert. DieZahl der Purkinje-
schen Zellen ist nicht vermindert. Sie haben einen grossen, blasigen Kern mit
einem deutlichen Kerukörperchen und sehr feine Nisslkörper in ihrem ovalen
Zellleib. Die Ganglienzellen im Nucleus dentatus sind meist läuglich schmal
und zeigen einen ähnlichen Bau. Die markhaltigen Nervenfasern, besonders
die feineren, sind sehr spärlich.
Pons und Medulla oblongata zeigen keine Veränderung.
Im Rückenmark färben sich nach Pal die Hinterstränge überall blass,
besonders erscheinen die beiderseitigen Gollschen Stränge in den unteren
Cervikalsegmenten sehr blass.
Es sei mir gestattet, über. einzelne der beschriebenen patho-
logisch-anatomischen Befunde einige Bemerkungen zu machen.
Was zunächst die Hirnrinde betrifft, so fanden wir makro-
skopisch in dem Frontal- und Occipitallappen stellenweise sehr
schmale Windungen,so dass man von Mikrogyrie sprechen kann, und
mikroskopisch in der Rinde der oben genannten Lappen spärliche
Markfasern, kleine spindelförmige Ganglienzellen mit einem ver-
hältnismässig grossen Kern, die keine Anordnung in Schichten
erkennen lassen, und endlich ganz vereinzelt vorkommende Riesen-
zellen. Solch ähnliche Befunde hat Hammarberg!) bei vielen
Idioten erhoben und daraus geschlossen, dass die Hirnrinde in der
ı) Hammarberg, Studium über Klinik und Pathologie der Idiotie. 1895.
Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. 433
letzten Hälfte des Fötallebens in ihrer normalen Entwicklung ge-
hemmt werde. Aber es gibt viele verschiedene, mit einander
nicht übereinstimmende Angaben über die Entwicklung der Hirn-
rinde, wie es in der Monographie von Probst!) näher geschrieben
ist. Bei meinem Fall hatten ausserdem die Geschwäülste eine ge-
wisse Rolle in der Entwicklungsbemmung gespielt, daher ist es
schwer, zu bestimmen, in welchem Fötalmonate die Entwicklung
gehemmt wurde.
In den Geschwülsten sind typische Gliazellen und Gliafasern
und zahlreiche Amyloidkörperchen gefunden, also kann man sie
wohl ohne weiteres als Gliome betrachten aber andrerseits sind
sie, wie es nur bei Sarkomen gesehen wird, sehr zellreich und
ziemlich scharf abgegrenzt.
Bruns?) schreibt, dass man Gowers Recht geben muss,
der sich bei Zweifeln in der Differentialdiagnose schon makro-
skopisch bei diffusem Uebergang der Geschwulst in das Hirn-
gewebe für Gliom, bei scharfer Grenze zwischen beiden für Sarkom
entscheiden will. Allerdings gibt es auch seltene Ausnahmen:
Stroebe!) fand ein von der umgebenden Hirnsubstanz scharf
abgegrenztes Gliom, und Bruns selbst beobachtete ein Gliom
ım 4. Ventrikel, welches von den Wänden desselben überall leicht
abzulösen war.
Uebrigens haben die Geschwülste in meinem Fall sehr
reichliche Zellen von verschiedenen Grössen, die jedoch nicht
nur alle Eigenschaften der Gliazellen zeigten, sondern auch keinen
Zusammenhang mit den Blutgefässen hatten, während Sarkome
von den letzteren auszugehen pflegen. Daher möchte ich die Ge-
schwälste doch als richtige Gliome, und zwar als zellreiche oder
sarkomatöse Gliome, bezeichnen, welche gewöhnlich, wie bei
meinem Fall, ım früheren Alter, meist bei Kindern, auftreten,
was auf eine kongenitale Anlage schliessen lässt.
Hartdegen*) berichtet über einen Fall, bei welchem sich
mehrere erbsengrose, isolierte oder zu Kleeblattform konfluierende
höckerige, harte, scharf begrenzte Tumoren beiderseits an fast
symmetrischen Stellen, etwa der Gegend zwischen Seh- und
Streifenhügel entsprechend, fanden. Diese Tumoren scheinen
nach seiner Schilderung einen mit meinem Fall ganz überein-
stimmenden mikroskopischen Befund gezeigt zu haben. Er be-
zeichnet die Tumoren als Glioma gangliocellulare, weil er glaubte,
dass die grossen Zellen im Geschwulstgewebe einen mit Ganglien-
zellen vollkommen übereinstimmenden Bau haben, und bisher
1) Probst, Gehirn und Seele des Kindes. 1904.
2) Bruns, Hirngeschwülste und Hirnparasiten. Handbuch der patho-
logischen Anatomie des Nervensystems. 1904.
3) Stroebe, Ueber Entstehung und Bau der Gliome. Zieglers Bei-
träge. Bd. 18.
4) Hartdegen, Ein Fall von multipler Verbärtung des Grosshirns
nebst histologisch eigenartigen harten Geschwülsten der Seitenventrikel
(„Glioma ganglio-cellulare“) bei einem Neugeborenen. Arch. f. Psych. 1881.
434 Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.
nirgends gliöse Riesenzellen beschrieben worden sind. Indes
später hat Stroebe solche Fälle als Riesenzellengliome bezeichnet
und behauptet, dass manche Formen der Gliomzellen sich zu
ganglienzellenähnlichen Gebilden entwickeln und andere gliazellen-
ähnlich bleiben. Daher will ich meinen Fall lieber als sarkomatöses
Riesenzellengliom bezeichnen, weil die grossen Zellen keine Granu-
lation, wie die typischen Ganglienzellen, zeigen.
Die multiplen fleckigen und streifigen Herde in den Mark-
bändelstrahlungen enthalten zarte lockere Nerven- und Gliafasern
sowie grosse blasige Zellen mit wenig deutlichen oder gar keinen
Ausläufern. Ganz ähnliche Herde fand Neurath!) im Gross-
hirn eines Kindes mit postinfektiöser Hemiplegie. Nach seiner
Beschreibung waren die multiplen Herde schon im frischen Prä-
parate als hellergrosse, harte Knoten sowohl in der Rinde als
auch in dem Marklager sichtbar, während bei meinem Fall viel
kleinere Herde erst im gefärbten Präparate, und zwar nur im
Marklager, gefunden worden sind. Auch ergab eine Messung
Zellgrössen von durchschnittlich 30—40 p, oft von 64 p, 72 p
und darüber. Er bezeichnete seinen Fall als diffuse ganglio-
cellulare Neurogliose und schrieb: „Der gleichzeitige Befund von
Veränderung des gliösen Gewebes, die sich in wechselnder Dichte,
stellenweise filziger Beschaffenheit der Glia zu erkennen gab,
und den geschilderten merkwürdigen Zellgebilden muss uns ver-
anlassen, die ursprüngliche primärste Anlage der Veränderungen
in jene Epoche der fötalen Entwicklung der nervösen Zentren
zurückzuverlegen, in der die Differenzierung der vom Ektoderm
abstammenden Zellen in eigentliche Nervenzellen und in gliöses
Stützgewebe statthat; denn eine Entstehung dieser Gebilde etwa
durch Teilung präexistierender, normaler Ganglienzellen muss
schon mit Rücksicht auf die in ganglienzellenfreien Schichten der
Nervenfaserstrahlungen vorhandenen Nester für ausgeschlossen
gelten.“ Diese Ansicht halte ich für richtig und glaube weiter-
hin, dass die verschiedensten Uebergangsformen zwischen
Ganglienzellen und Gliazellen sich finden können. In meinem
Fall haben die Zellen keine Granulation im Protoplasma, und ihre
Fortsätze sind meist undeutlich oder oft gar nicht nachweisbar;
also zeigen sie eine Abweichung von Ganglienzellen. Auch sind
die Nervenfasern in den Herden nicht als neugebildete, sondern
als präexistierende atrophische Fasern zu betrachten. Daher
will ich die multiplen Herde bei meinem Fall einfach als diffuse
Riesenzellengliose bezeichnen.
Wie es bei den meisten Gliomen der Fall ist, sind die von
den Tumoren hervorgerufenen Ausfallsymptome auch hier ver-
hältnismässig gering. Hier will ich nur über den retikulierten
Stabkranz noch einige Bemerkungen machen. |
1) Neurath, Beitrag zur postinfektiösen Hemiplegie im Kindesalter
und zur pathologischen Anatomie des kindlichen Zentrainervensystems (Neuro-
gliosis gangliocellularir diffasa). Jahrb. f. Psych. Bd. 18. 1899.
Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der idiotie. 430
Nach Anton-Zingerle!) wurde dieses Faserbündel teilweise
als ein Assoziationsbündel betrachtet und von Meynert als
Fasciculi fronto-sabependymales, von Dejerine und von Edinger
als Fasciculus fronto-occipitalis bezeichnet, während Sachs
(später Schroeder) schon früher die Anschauung vertreten hat,
dass es dem Stabskranze zugehört und aus weiter hinten ge-
legenen Teilen der Capsula interna stammt. Auch wird es von
Obersteiner-Redlich?) wegen seiner Lagebeziehungen und des
innigen Kontaktes mit dem Nucleus caudatus als retikuliertes
cortico-caudales Bündel bezeichnet. Neuerdings haben Anton-
Zingerle sich der Anschauung von Sachs angeschlossen und
das Faserbündel als Stratum sagittale internum bezeichnet.
Auch ia meinem Fall gibt letztere Ansicht die natür-
lichste Erklärung, weil die inselförmigen atrophischen Faserfelder
im hinteren Schenkel der inneren Kapsel, welche von den Tumoren
weit entfernt sind, offenbar als eine sekundäre Degeneration, die -
von der Atrophie des retikulierten Stabkranzes hervorgerufen
ist, aufzufassen sind.
Eine Atrophie der hinteren Stränge im Rückenmark kommt
häufig bei Hirntumor vor; so haben sie, z. B. Batten und Collier®),
in 65 pCt. aller Fälle nachgewiesen. Es ist jedoch noch immer zweifel-
haft, ob diese Atrophie, wie die letzteren Autoren behaupten, durch
Zerrung an den hinteren Wurzeln (durch die infolge des ver-
mehrten intrakraniellen Druckes ausgedehnte Arachnoidea) hervor-
gerufen wird, oder ob sie, wie Becker und Dinkler*) glauben,
durch chemische Einwirkungen zu erklären ist.
Halten wir nun bei unserem Fall die klinischen Symptome
mit den gefundenen pathologisch-anatomischen Veränderungen zu-
sammen, so werden dıe Störungen der Sprache und der psychischen
Funktionen vielleicht durch die Entwicklungshemmung der Stirn-
lappen erklärt.
Sehr schwer ist ın meinem Fall die Beziehung zwischen
den Krampfanfällen und den Hirntumoren festzustellen. Nach
Ziehen®) soll das Auftreten irgendwelcher epileptischer Anfälle
mindestens in 50 pCt. aller Fälle von Imbecillität beobachtet werden.
Mit Rücksicht auf die Grösse und Verbreitung der Tumoren,
die Erweiterung der Ventrikelhöhlen und den späteren Beginn der
Krämpfe (erst im 2. Lebensjahre) kann man in meinem Fall
kaum ausschliessen, dass die letzteren in einem gewissen Zusammen-
ı) Anton-Zingerle, Ban, Leistung und Erkrankung des menschlichen
Stirnhirns. 1902.
2) Obersteiner-Redlich, Arbeiten aus dem neurologischen Institut
an der Wiener Universität. VITT. 1902.
3) Batten und Collier, Spinal cord changes in cases of cerebral
tamor. Brain 1899.
4) Becker, Ein Gliom des 4. Ventrikels nebst Untersuchungen über
Degeneration in den hinteren und vorderen Wurzeln bei Hirndruck u. s. w.
Arch. f. Psych. 1902.
s, Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. 1902. S. 48.
436 Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.
hang mit der Steigerung des Hirndrucks stehen. Oppenheim!)
hat richtig betont, dass die Krämpfe sich in der Regel erst im
weiteren Verlauf der Hirntumoren, im Stadium der Hıirndruck-
steigerung einstellen, entsprechend den experimentellen Be-
obachtungen Leydens, der sie bei Hunden durch artefizielle
Hirndrucksteigerung, und zwar bei einem Druck von 130 mm Hg,
hervorrufen konnte. Andererseits können die Krämpfe nebst
anderen Arten der motorischen Reizerscheinungen vielleicht auch als
Herdsymptome bei Neubildungen im Bereich des Nucleus caudatus
vorkommen; doch stellen sie sich bei solchen Fällen mindestens
in einem bereits gelähmten oder paretischen Gliede ein, wie es
Oppenheim behauptet, während mein Fall frei von Lähmungen war.
Auch ist es sehr schwer, zu entscheiden, ob die automatischen
Bewegungen meines Kranken als eine lokale Reizerscheinung
oder als eine von Kopfschmerzen hervorgerufene zwangsmässige
Keaktionsbewegung zu betrachten sind. Bernhard?) hat in
5 unter 26 Fällen von Tumoren der Corpora striata und Thalamı
optici merkwürdige Erscheinungen gesehen, die teils als krampf-
artige Zustände, teils als Zittern oder als rhythmische, mehr dem
Veitstanz ähnliche Bewegungen beschrieben worden sind. Auch
Oppenheim?) bat ähnliche Fälle beobachtet, Andererseits ist
bekannt, dass Kranken mit Hirntumoren wegen des anfallsweise
zunehmenden Kopfschmerzes sich oft wie Rasende geberden, den
Kopf gegen die Wand pressen etc. Auch in meinem Fall bin ich
geneigt, eine von den Kopfschmerzen hervorgerufene Reaktions-
bewegung anzunehmen, hierauf deutet namentlich das Schlagen
mit der Faust gegen den Kopf.
Die Blindheit meines Kranken kann ich nicht bestimmt
auf die Stauungspapille zurückführen, weil er einerseits ophthalmo-
skopisch nicht untersucht wurde, und andererseits eine sehr mangel-
haft entwickelte Rinde des Occipitallappens hatte, die sehon allein
die Blindheit verursachen kann, wie es Hammarbergt) bei vielen
Idioten beobachtet hat.
Zum Schluss sei ein kurzer Ueberblick über die Kasuistik
der doppelseitigen Tumoren der Corpora striata gestattet. Als
solche wurden die folgenden dreiFälle von Bernhardt°)gesammelt,
der darüber hinzuschrieb: „Aus der Gesamtsumme (26 Fälle von
Tumoren der Corpora striata und Thalami optici) der Beobachtungen
heben sich zunächst drei heraus, welche von den Autoren aus-
drücklich als Geschwülste der Linsenkerngegend bezeichnet wurden.
Merkwürdigerweise sind in allen drei Fällen stets die Linsenkerne
beiderseits von der Neubildung eingenommen gewesen.“
) Oppenheim, Die Geschwülste des Gehirns (Nothnagel, Spec. Path.
u. Therap. IX. Bd. 1896). S. 56.
3) Bernhardt, Beiträge zur Symptomatologio und Diagnostik der
Hirngeschwülste. 1881. S. 158.
3) Oppenheim, l. c. S. 46
4) Hammarberg, l. c.
5) Bernhardt, l. c. S. 157.
Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie.
437
Autor Klinische Symptome Anatomische Befunde
Fürstner 30 jährige Frau. Hart- Teleangiektatisches
näckige Schlaflosigkeit. Gliom in dem Globus
„Mania puerperalis“. Feh- pallidus des Linsenkerns
len aller Linsenkernsym- beiderseits.
ptome.
Rondot 30jähriger Mann. Kopf- Beide Linsenkerne von
und Nackenschmerz. Ver- nussgrossen Tumoren
kehrtheit. Plötzlicher Tod. eingenommen. Innere
Kapsel komprimiert.
Beurmann 30jähıiger Mann. Links- Beiderseits die Linsen-
seitige Hemip!egie,Z ittern
der paretischen Extremi-
täten bei gewollten Be-
wegungen. Vermindertes
Sehvermögen. Sprachbe-
hinderung.
Die folgenden zwei Fälle werden
Keine Lähmung. Torpor.
kerne von Gliomen ein-
genommen.
von Schuster!) zitiert.
Autor Klinische Symptome Anatomische Befunde
Clouston 41 jährige Frau. Kopf- Murmelgrosse, mit Kalk
schmerzen. Wiederkeh- durchsetzte Geschwulst
rende maniakalische Zu- beiderseits in und ober-
stände. halb desCorpusstriatum.
- Hutchinson Paralyse der Sphinkteren. Sarkom, welches beider-
seits dıe freien inneren
Partien desCorpusstria-
tum eingenommen hatte,
Nach Schuster gehört die Gegend der Basalganglien zu
denjenigen Hirnregionen, in welchen relativ oft symmetrisch
sitzende Krankheitsherde der verschiedenen Arten gefunden werden,
ich konnte aber keinen weiteren Fall von symmetrischen Tumoren
der Corpora striata finden.
. Am Schlusse meiner Arbeit ist es mir eine angenehme Pflicht,
meinen hochgeehrten Lehrern, Herrn Prof. Ziehen, sowie Herrn
Prof. Köppen, für die gütige Ueberlassung der Fälle und die
freundliche Unterstützung während der Arbeit bestens zu danken.
Die untersuchten Gehirne entstammen der Potsdamer Anstalt für
Idioten und Epileptiker, deren Leiter, Herrn Dr. Kluge, ich
hiermit auch bestens danke.
Erklärung der Abbildungen auf Tafel IX-X.
Fig. 1. Schicht der grossen Pyramidenzellen aus der vorderen Zentral-
windung mit den unregelmässig gelagerten, vielfach umgestalteten Ganglien-
1) Schuster, Psychische Störungen bei Hirntumoren. 1902.
438 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
zellen, vielen Blutgefässen und Gliskernen. Färbung nach Nissl. Photo-
graph. mit Zeiss. Apochrom. 7,5 mm. Ocul. 4.
Fig. 2. Frontalschnitt des Gehirns durch das Vorderhorn des Seiten-
ventrikels mit zwei Tumoren (X) und Markfaseratrophie an der punk-
tierten Stelle.
Fig. 3.” Frontalschnitt darch das Hinterhorn des Seitenventrikels
mit den höckerigen Tumoren (X) am hinteren unteren Teil des Nucleus
caudatus,
Fig. & Schnitt des Geschwulstgewebes mit einer peripherischen,
faserreichen und einer zentralen, grosszelligen Schicht, in welcher zwei
dunkolgefărbte Amyloidkörperchen sichtbar sind. Färbung nach van Gieson.
Photograph. mit Zeiss. Object. aa. Ocul. 4.
Fig. 5 Ein feinster Herd von Riesenzellengliose mit ciner zwei-
kernigen und drei einkernigen Riesenzellen, von denen eine multiple feinere
Vakuolen im Zellleib hat. Färbung nach Nissl. Photograph. mit Zeiss.
Apochrom. 8 mm.
Ueber Osteomalacie und die sogenannte osteo-
malacische Lähmung.
Von
Dr. MAX VÖLSCH
Nervenarzt in Magdeburg.
Die Lehre von der Östeomalacie und speziell von der sog. >
osteomalacischen Lähmung darf heute keineswegs als abgeschlossen
gelten. Nicht nur, dass Aetiologie und Pathogenese der Krank-
heit und ihrer Erscheinungen fern davon sind geklärt zu sein,
auch über die Symptomatologie und die Umgrenzung der Krank-
heit bestehen Meinungsverschiedenheiten. So mag es mir, zumal
im Hinblick auf die — wirkliche oder angenommene — extreme
Seltenheit derselben im Nordosten Deutschlands gestattet sein, in
den folgenden Beobachtungen einen kleinen kasuistischen Beitrag
zu diesem Thema zu liefern, obwohl dieselben nur wenig positiv
Neues bieten. An der Hand derselben werden sich einige Schwierig-
keiten und Probleme erörtern lassen, die sich dem entgegenstellen,
der sich eingehender mit der Krankheit und der gewaltig ange-
wachsenen Literatur über dieselbe beschäftigt. Zwei Fragen sınd
es vornehmlich, die mein Interesse gefesselt haben, und die ich
etwas eingehender zu behandeln gedenke. Einmal ist es die Frage,
ob und inwieweit die Osteomalacie in der Tat, wie viele Autoren
wollen, eine einheitliche und scharf umschriebene Krankheit dar-
stellt, wie weit sie sich ähnlichen Krankheitszuständen, anders-
artigen Erweichungen gegenüber klinisch abgrenzen lässt. Dann
aber hat mich vor allem das Problem der sog. „osteomalacischen
Lähmung“ beschäftigt. Neuere Autoren (vergl. Stieda) verstehen
darunter eine charakteristische, initiale Gruppe von eigenartigen
Symptomen, unter denen eine mehr oder weniger vollkommen
osteomalacische Lähmung. 439
isolierte und als solche oft Jahre lang bestehende Schwäche oder,
wie viele Autoren sich ausdrücken, „Parese“ des Musculus ileo-
psoas hervorragt. Das Auftreten einer solchen isolierten Mono-
parese ist vom neurologischen Standpunkte aus meines Erachtens
eine so auffällige Erscheinung, dass es sich wohl verlohnt, den
Bedingungen nachzuforschen, unter welchen dieselbe zustande
kommt. — Es wird mir nach Lage der Dinge nicht möglich sein,
auf diese Fragen eine zweifelsfreie und bündige Auskunft zu er-
teilen, aber vielleicht wird es nicht ganz unfruchtbar sein, erneut
darauf hinzuweisen, dass hier noch viele Rätsel zu lösen sind,
und dass manches, was hier und da als gesichert vorausgesetzt
zu werden scheint, doch noch weiterer Forschung dringend be-
därftig ist. Und noch ein anderes Moment rechtfertigt vielleicht
diese Mitteilung. Einer der besten Kenner der Osteomalacie, der
sich zumal um die Verbreitung der Kenntnis der Anfangserschei-
nungen der Krankheit grosse Verdienste erworben hat, Latzko,
weist ın Uebereinstimmung mit andern Autoren immer wieder
darauf hin, wie oft und wie lange die Östeomalncie verkannt
werde. Die von mir behandelte Frau ist seit zehn Jahren krank
und behandelt, und ich glaube mich nicht zu irren, dass bei ihr die
richtige Diagnose noch nicht gestellt ist. Seit ich nun aber darauf
achte, habe ich einiges gesehen, was mir die Möglichkeit nahe legt,
dass die Östeomalacıe, wie bereits mehrfach betont ist, auch bei uns!)
nicht so selten ist, als gewöhnlich angenommen wird. Ich denke
dabei nicht sowohl an die ganz schwesen progressiven Osteo-
malacien, als an leichtere oder ganz leichte Formen, die lange
oder dauernd den Charakter der initialen Krankheit behalten.
Endlich sei es mir gestattet, an dieser Stelle meiner Dank-
barkeit gegen Herrn Geheimrat Orth Ausdruck zu geben, der
mir freundlicherweise gestattete, das sehr instruktive Knochen-
material des Museums des pathologischen Institutes eingehend
zu besichtigen.
I. Der erste der beiden im folgenden beschriebenen Fälle
befindet sich seit neun Monaten in meiner Beobachtung und Be-
handlung.
Frau K., 48 Jahre alt, ist in Szittkehmen in Ostpreussen geboren. Sie
hat bis zu ihrer Grossjährigkeit an ihrem Geburtsorte gelebt, dann ein halbes
Jahr in Schlesien und seitdem in Berlin, wo sie sich vor 28 Jahren ver-
heiratet hat. Sie erinnert sich nicht, vor Beginn ihres jetzigen Leidens
jemals krank gewesen zu sein. Sie hat 5 normale Geburten durchgemacht;
vier ihrer Kinder leben, sind stets gesund gewesen und jetzt 21—17 Jahre
alt. Das jüngste, vor 16 Jahren geborene, ist im Alter von !/, Jahren an
Masern gestorben. Weiter gibt sie an, 6 Fehlgeburten gehabt zu haben, die
erste vor 14, die letzte vor 4 Jahren, sie seien stets in der 6. bis 8. Woche
der Gravidität eingetreten, bei genauerem Befragen gibt sie zu, dass es sich
bei einigen dieser angeblichen Fehlgeburten vielleicht um eine Verspätung
der Menstruation gehandelt haben könnte, 3 mal habe sie ganz bestimmt
abortiert, das sei auch ärztlich festgestellt. Lues oder irgend welche auf
!) Der Aufsatz wurde noch während meines Aufenthaltes in Berlin
verfasst; auch die Fälle stammen aus Berlin.
440 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
Lues verdächtige Erscheinungen werden sowohl von der Patientin, als von
dem anscheinend durchaus zuverlässigen Ehemann geleugnet. Die Menses
sollen stets regelmässig gewesen sein; sie bestehen noch.
Vor 10 Jahren empfand Patientin zeitweise stechende Schmerzen in
den Fusssohlen, besonders in der linken, die während der nächsten Jahre
zunahmen und sich über die Beine bis zur Hüfte ausbreiteten. Vor 7 Jahren
ist sie einmal von einer Zimmerleiter gestürzt und auf die linke Hüfte ge-
fallen; sie hat damals in der Hüfte starke Schmerzen gehabt, doch sind die-
selben in einigen Tagen vorübergegangen. Seit 6 Jahren hat sie dauernd
lebhafte Schmerzen im Knie und Oberschenkel beiderseits bis zur Hüfte her-
auf, links erheblich stärker als rechts, gelegentlich auch Kreuz- und Räcken-
schmerzen. Dieselben treten sowohl bei Bewegungen, z. B. beim Gehen, als
in der Ruhe auf, rauben ihr oft nachts den Schlaf. Dazu hat sich allmählich
eine Steifheit und Schwere der Beine, besonders des linken, gesellt, die ihre
Beweglichkeit sehr beschränkt. Ihre häuslichen Arbeiten kann sie nur mit
grosser Mühe verrichten, beim Gehen ermüdet sie schnell, Treppensteigen,
und noch mehr das Hinabsteigen der Treppen macht ihr grosse Beschwerden.
Seit dem letzten Winter verspürt sie bisweilen ein lästiges Kriebeln in den
Händen. Sie gibt aaf Beiragen an, dass sie glaube in den letzten Jahren
kleiner geworden zu sein; sie habe das schon mehrfach ihren Angehörigen
gegenüber geäussert; die Röcke würden ihr immer länger. Mit aller Be-
stimmtheit leugnet Patientin, dass ihre Beschwerden in der Zeit ihrer
Schwangerschaften oder im Anschluss an dieselben entstanden wären. Irgend
welche Verschlimmerungen während derselben oder sonstige Beziehungen
zu ihnen habe sie ebensowenig wie zu der Menstruation beobachtet. — Sonst
tühlt sich Patientin völlig gesund. Blasenstörungen haben nie bestanden.
Eine hereditäre oder familiäre Veranlagung besteht nicht; nur eine Cousine
hat ein schweres Nervenleiden anderer Art, (wie mir zufällig bekannt ist, eine
amyotrophische Lateralsklerose).
Die Untersuchung ergibt folgendes: Kräftige, etwas untersetzte Frau
mit starker Entwicklung der Muskulatur und sehr reichlichem Fettpolster,
Grösse 156,5 cm, Gewicht 91 kg. Von seiten der Brust- und Bauchorgane
keinerlei Befund, speziell Herz durchaus normal. Urin obne Eiweiss und
Zucker. Die Kopfnerven (bis auf ein geringes Abweichen der herausge-
streckten Zunge nach rechts) völlig normal, speziell normale Papillcnreaktion.
Anden Armen kein Befund. Aufrichten aus der Rückenlage ist der Patientin
ohne Zuhülfenahme der Hände absolut unmöglich, auch mit Hülfe der Hände
geht es nur sehr schwerfällig und ungeschickt. Das linke Bein wird in
Rückenlage nur etwa 20 cm gehoben, wobei eine starke krampfhafte An-
spannung der ganzen sichtbaren Becken- und Oberschenkelmuskulatur ein-
tritt; ein geringer Widerstand unterdrückt die Bewegung gauz. Das rechte
Bein hebt Patientin etwa 50 cm, hält es aber ebenso wie das linke nur kurze
Zeit hoch. Uebereinanderschlagen der Beine in sitzender Stellung ist un-
möglich. Die übrigen Bewegungen der Beine gegen das Becken (Streckung,
Rotation, Ab- und Adduktion) werden aktiv gut, wenn auch vielleicht mit
etwas verminderter Kraft ausgeführt. Die Bewegungen im Kniegelenk er-
folgen normal, die Unterschenkelmuskulatur agiert ausserordentlich kräftig.
Die Gelenke sind frei, passive Bewegungen lassen sich nach allen Richtungen
leicht ausführen, nur extensive Abduktion und Aussenrotation in der Hüfte
werden schmerzhaft empfunden, und der Bewegung wird ein krampfhafter
Widerstand entgegengesetzt. Beiderseits, links etwas stärker, leichte Genu-
valgam-Stellung; beide Unterschenkel lassen sich passiv hyperextendieren.
Der linke Oberschenkelknochen ist auf Druck schmerzhaft. Die Muskeln
and Nerven sind nieht druckempfindlich, nur der linke Cruralis schmerzt ein
wenig. Die Messung der Ober- und Unterschenkel ergibt keine Umfangs-
differenzen der beiden Seiten. Die elektrische Untersuchung der Ober-
schenkelmuskulatur zeigt nichts Auffallendes, es besteht nirgends Mya R.
Bezüglich des Tonus und der Reflexe keine Besonderheiten. Andeutung von
Romberg. Sensibilität überall völlig normal. Es besteht ein ganz leichtes
Oedem beider Unterschenkel. Durchaus auffallend ist der Gang der Kranken,
der als typischer Watscholgang bezeichnet werden muss; bei der Abwicke-
osteomalacische Lähmung. 441
lang des linken Fusses vom Erdboden beugt sie den Rumpf nach rechts, um
dann heim Wiederaufsetzen des linken Fasses mit dem Oberkörper gewisser-
massen nach der linken Seite hinüber zu fallen, und umgekehrt; dabei ist
dieses „Fallen“ nach links viel ausgeprägter, als nach rechts, sie knickt dabei
förmlich in der linken Hüfte zusammen. An den Knochen liess sich ausser
den bereits erwähnten Erscheinungen am Oberschenkel folgendes feststellen:
Schädel nirgends druckempfindlich. Umfang: 561), cm. Form leicht
brachycephal (18,5 : 15,0 cm, Längenbreitenindex == 81). Sternum und einige
Rippen werden auf Druck als schmerzhaft bezeichnet. Es besteht eine deut-
liche Lordose der Lendenwirbel. Die letzteren sowie das Kreuzbein sind
nicht ausgesprochen druckempfindlich, dagegen ist Druck auf das Schambein
der liegenden Patientin exquisit schmerzhaft. Die von mir aufgenommenen
Beckenmasse betragen: D. sp. 28, D. er. 81, C. ext. 21, Tr. 34. Die Trochan-
terenspitzen stehen beiderseits etwa 1 om oberhalb der Roser-Nölatonschen
Linie. Herr Professor Dührssen, der die Freundlichkeit hatte, die Patientin
zu untersuchen, teilte mir ohne Angabe der Masse mit, dass dieselbe „ein
uerverengtes Becken mit schnabelförmiger Symphyse“ habe, wie es für
steomalacie, aber auch für pseadoosteomalacische (rachitische) Becken
charakteristisch soi. Ueber das Resultat einer Röntgenaufnahme berichtet
das Königl. Universitätsinstitut für Untersuchungen mit Röntgeustrahlen, dass
es sich um ein von oben nach unten zusammengedrücktes Becken mit nach
vorn gerichteten Beckenschaufeln und tiefstehendem Promontorium handele,
und betont die auffällig leichte Durchstrahlbarkeit der Knochen, die für eine
gewisse Armut an Kalksalzen spreche. Aus leizterem Grunde ist das Bild
so wenig kontrastreich, dass ioh leider auf seine Wiedergabe verzichten muss.
Am linken Knie wurde ausser einer leichten Verdickung (Auftreibung) des
- ganzen Überschenkels radiographisch nichts Besonderes gefunden. Sonstige
Anomalien des Knochensystems, Verbiegungen, Exostosen vermochte ich nicht
festzustellen; eine Coxa vara scheint nicht zu bestehen. Ich erwähne noch
mit Rücksicht auf die später anzuführenden Anschauungen einiger Autoren,
dass die Schilddrüse fühlbar, aber nicht vergrössert ist. Halsumfang 89 cm.
Es bestanden keinerlei Anzeichen von Basedow (kein Exophthalmus, kein
Gräfe, keine Störungen des Zirkulationssystems, kein Tremor, keine Durch-
fälle u. s. w.).
Die Behandlung der Patientin bestand zunächst neben indifferenten
Bädern uud Faradisation der Oberschenkelmuskulatur, denen ich eine wesent-
liche Einwirkung auf den Krankheitszostand nicht einräumen möchte, in
der Darreichung von Phosphorlebertran. Sie erhielt während der ersten
T Wochen der Behandlung ea. 1 dog Phosphor. Während dieser Zeit trat,
sehr bald einsetzend und ganz allmählich fortschreitend, eine deutliche
Besserung zunächst in den subjektiven Beschwerden der Patientin ein; die
Schmerzen wurden geringer, liessen dann fast ganz nach; die Beweglichkeit
wurde grösser; sie konnte nach Verlauf jener Zeit das linke Bein, das sie
früher Kaum 20 cm hob, bis über 50 cm heben. Aufrichten des Oberkörpers,
Uebereinanderschlagen der Beine war noch immer unmöglich, der Gang durch-
aus unverändert. Trotzdem glaubte ich, wegen gewisser intestinaler Störungen
und wegen der erheblichen Gewichtszunahme der an sich schon sehr adiposen
Frau (3!/ kg in 7 Wochen) eine Pause in der Phosphorlebertran-Medikation
eintreten lassen zu sollen. Ich benutzte diese Pause zur Einleitung einer
Inunktionskur. Während der ersten Wochen der Kur trat eine weitere ekla-
tante Besserung ein. Die Patientin machte Gänge und verrichtete Arbeiten,
wie es ihr seit Jahren unmöglich gewesen war. Druck auf das Os pubis wurde
kaum noch schmerzhaft empfunden. Aber schon nach etwa 8 Wochen stellten
sich ein Müdigkeitsgefühl in den Oberschenkeln, bald auch wieder Schmerzen
ein, die allmählich heftiger wurden und die Patientin auch wieder, wie früher,
nachts störten; die Beweglichkeit verschlechterte sich. Unter diesen Um-
ständen brach ich die Kur nach Verbrauch von 140 g Ung. hydrarg. cin. ab
und kehrte zum Phosphor zurück. Nach mehrmonsatlichem Gebrauch des-
selben, zuerst in Form von Protylintabletten, dann wieder von Phosphor-
lebertran (in der Latzkoschen Dosierung), ist wieder eine gewisse Besse-
rung der Beschwerden eingetreten. Die Patientin fühlt sich zeitweise fast
442 'ölsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
frei von Beschwerden, ist beweglicher, der Gang ist nicht so stark wackelnd
wie früber; immerhin kommen noch immer wieder zeitweilige Verschlimme-
rungen mit recht lebhaiten Schmerzen vor. Ob die Phosphormedikation
schliesslich zu einer relativen Heilung führen, oder ob man die Kastration
in Erwägung zu ziehen baben wird, lässt sich noch nicht sicher übersehen.
Was die Art des hier vorliegenden Krankheitsprozesses be-
trıfft, so kann nach dem Befunde am Becken kein Zweifel sein,
dass es sich um einen osteomalacischen Prozess (zunächst im
weitesten und gröbsten Sinne des Wortes) handelt. Mit Sicher-
heit lässt sich wohl die Möglichkeit ausschliessen, auf welche
Herr Professor Dührssen die Güte hatte mich aufmerksam zu
machen, die Möglichkeit einer Rachitis, welche zur Bildung eines
beeu oostoomalacischen, raehitischen Beckens geführt hätte. Denn
ie Patientin gibt nach Erkundigung bei ihrer Mutter an, dass
sie niemals auf Rachitis deutende Erscheinungen ehabt, zeitig
gehen gelernt habe etc., ferner, dass ihre sämtlichen Geburten
glatt und leicht verlaufen seien, während die Kinder gut ent-
wickelt gewesen seien und wenigstens eines von ihnen ganz auf-
fällig kräftig gewesen sei. Man wird also, zumal bei dem Fehlen
sonstiger Zeichen von Rachitis, die Entstehung der Deformität
auf eine spätere Zeit, auf die Mitte der 30er Jahre der Patientin
verlegen und den Prozess als einen osteomalacischen (in jenem
Sinne) ansprechen müssen.
Aber bei dem Versuch, diesen Prozess genauer zu analysieren,
erwachsen einige Schwierigkeiten.
Bevor ich jedoch auf dieselben eingehe, möchte ich über
einen zweiten Fall von osteomalacischer Erkrankung berichten.
II. Derselb2 ist kürzlich in der Königl. Nervenklinik der
Charite beobachtet, wohin die Patientin von der geburtshälflichen
Station verlegt war. Ihr Aufenthalt auf der Nervenklinik währte
nur einen Tag, und so konnte die Untersuchung nicht eine völlig
erschöpfende sein. Da jedoch der Fall manches bietet, was von
Interesse ist, und da er in einiger Beziehung ein Gegenstück zu
dem Falle I darstellt, mache ich von dem gütigen Anerbieten des
Herrn Geheimrat Ziehen gerne Gebrauch und referiere kurz
über den Fall. Ich selbst habe keine Gelegenheit gehabt, ihn zu
untersuchen.
Frau W., 20 Jahre alt, stammt aus Berlin und hat die Stadt nie ver-
lassen. Eltern und 4 Geschwister sind gesund. In der Familie sind keine
Geistes- und Nervenkrankheiten, keine Knochenerkrankungen und kein Kropf
vorgekommen. Patientin selbst war stets gesund, hat keine Anzeichen eng-
lischer Krankheit gehabt. Lues wird geleugnet. Vor ihrer Ehe war sie
Fabrikarbeiterin, mit 16!/ Jahren heiratete sie. Menses seit dem 14. Jahre
regelmässig, zuletzt vor 7 Monaten. Sie hat in den letzten 4 Jahren dreimal
ausgetragene Kinder geboren, die alle im ersten Lebensjahre an Brechdurch-
fall stc. gestorben sind. In den früheren Schwangerschaften keinerlei Be-
schwerden,
Sie ist seit Fobrdar dieses Jahres wieder gravid. In der Österzeit
bekam sie Schmerzen in der rechten Häfte, die sie für rheamatisch hielt;
daon breiteten sich die Schmerzen in die rechte Schulter, später in die linke
Schulter and Hüfte und das Kreuz aus. Im Juni oder Juli bemerkte sie,
dass sie kleiner wurde; die Röcke wurden ihr zu lang, der Kragen zu hoch;
osteomalacische Lähmung. 443
gleichzeitig hat sie Veränderungen an dem Brustbein wahrgenommen. Vor
4 Wochen fiel sie beim Aufstehen von einem Stuhl aaf die rechte Seite, viel-
leicht, weil sie sich anf den Rock trat; sie konnte vor Schmerz nicht auf-
stehen. Im Anschluss daran ist der Gang schlechter geworden, sie hat
lebhafte Schmerzen beim Gehen, besonders in den Rippen rechts. Sie musste
sich beim Gehen mit den Händen an den Kleidern in der Hüfigegend fest-
balten, um sich zu stützen. Wenn sie das nicht tat, war sie in Gefahr, nach
vorn zu fallen. Nach dem Fall zeigte sich auch eine Erschwerung, den Kopf
hoch zu halten; derselbe sank nach vorne zwischen die Schultern. Die
Patientin kann wegen heftiger Schmerzen, „als ob die Brust zerreissen wollte“,
nicht auf der Seite liegen. Sie ist bisher nicht völlig bettlägerig.
Statas (Septbr. 1906): Leidender Gesichtsausdruck; auffallend starke
Backenknochen, Kopf nicht klopf- und druckempfindlich; Kopfumfang 55'/, cm.
Kopfbewegnngen von Schmerzen im Nacken begleitet.
An den Kopfnerven fällt nur anf, dass der rechte Mundfacialis eine
Spur mehr innerviert ist als der linke; der rechte Mundwinkel staht eine Spur
höber, dagegen ist die rechte Augenspalte etwas weiter, als die linke. Beide
Bulbi leicht prominent, die Augenspalten weit. Sonst alles normal, speziell
Lichtreflex der Pupillen prompt.
Der Hals ist auffallend kurz, die Nackenhant in starke Querfalten ge-
legt. Beim Palpieren der Dursfortsätze fühlt man, dass die unteren Hals-
wirbel stark nach vorn gesunken sind, während die oberen zu ihnen in
einem nach hinten offenen Winkel stehen. Der Kopf scheint in die Schultern
hinsingesunken, die Schultern lassen sich sehr leicht bis an die Ohren schieben.
Der Schildknorpel stösst in Rückenlage fast an das Sternum. Die Fossa
jugularis ist verstrichen.
Clavicula ohne Befand. Die Brust ist auffallend flach, im dorso-ven-
tralen Durchmesser verkürzt, im Frontaldurchmesser verbreitert. Der untere
Teil des Sternum springt stark vor, der obere Teil ist muldenförmig einge-
zogen. Rippenbögen rechts sehr druckempfindlich. In der Mammillarlinie
rechts an der Knorpelknochengrenze fühlt man dentlich einen Absatz (die
Stelle ist seit dem Fall schmerzhaft). — Die Patientin kann sich nicht allein
aufrichten; passiv aufgerichtet, kann sie sich nicht, ohne sich mit den Armen
festzuhalten, aufrecht erhalten; dabei Schmerzen in der Rippenbogengegend.
Der Kopf sinkt stark zwischen die Schultern, wenn sie sich anf die Arme
stützt. Es entsteht dabei eine dentliche Kyphose der Lendenwirbelsäule,
letztere auf Druck ziemlich stark empfindlich. Becken (Geb. Klinik):
Cristae breit und wulstig, 27, Spinae 22—23, Trochanteren 32, Conj. ext. 18,5,
Augulus pubis verengt. Promontorium nicht zu erreichen, nicht in das Becken
eingesunken. Pfannengegend nicht eingedrückt. Dist. tub. isch. 8—9, Sym-
physenhöhe 6.
Die Beine werden in Rückenlage gleichmässig erhoben, alle Bewegungen
erfolgen ohne Störung. Links Lasegue.
Der Patellarreflex ist links normal, rechts nur mit Jendrassik gelegent-
lich schwach zu erzielen. Achillesreflex beiderseits lebhaft. Beklopfen der
` Tibiae schmerzhaft.
Der Gang ist behindert; ohne doppelseitige Unterstützung ist Stehen
und Gehen nicht möglich. Unterstützt geht sie breitbeinig mit kleinen
Schritten, äussert Angst vor dem Fallen.
An den oberen Extremitäten besteht ein Schwächegefühl, doch werden
die Arme gut und gleichmässig bewegt. Auch sonst hier nichts Abnormes.
Sensibilität überall normal. Keine Blasenstörung. Herz normale Grenzen,
Aktion kräftig, Puls 92, regelmässig. I. Ton an der Spitze unrein; Geräusch
an der Pulmonalis und Aorta. Zweiter Pulmonalton verstärkt.
Fundus uteri fingerbreit über dem Nabel.
Auch in diesem Falle wird die übrigens zuerst von autoritativer
gynäkologischer Seite gestellte Diagnose einer osteomalacische
Erkrankung berechtigten Zweifeln nicht begegnen. Die in einer
Gravidität entstandenen Schmerzen, die Druekschmerzhaftigkeit
Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hett 6. 80
444 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
und die Verbiegungen und Stellungsveränderungen der Knochen
sind charakteristisch. Auf die Eigentümlichkeiten des Falles
werde ich später Gelegenheit haben, einzugehen.
Ich glaube nicht berufen zu sein, eine ausführliche Dar-
stellung der Lehre von der Osteomalacie‘) zu geben, auf das patho-
logisch-anatomische Geschehen beider Krankheiteinzugehen und über
Kontroversen zu berichten, die hinsichtlich der feineren Modalitäten
der Knochendestruktion entstanden sind. Nur ein Moment möchte
ich aus der Fülle des Stoffes kurz herausheben, das mir in seinen
Konsequenzen auch für die klinische Stellung der Osteomalacie
von grosser Wichtigkeit dünkt: ihre nahe anatomische Verwandt-
schaft mit anderweitigen Knochenprozessen. v. Recklinghausen,
welcher die anatomische Grundlage der Osteomalacie in neuerer
Zeit eingehend geprüft hat, unterscheidet drei Gruppen innerhalb
der chronischen Einschmelzungsprozesse des Knochens, die alle
mit einer geringeren oder grösseren Neubildung von Knochen-
substanz verbunden sind; gerade in dem quantitativen Verhältnis
von Resorption und Apposition sieht er ein wesentliches Unter-
scheidungsmerkmal dieser Gruppen. Ausdrücklich aber betont er
trotz dieser und gewisser anderer Verschiedenheiten, speziell, trotz
der grossen Verschiedenheit der Endresultate, die nahe Verwandt-
schaft aller dieser Gruppen der Knochenerweichung, die er übrigens
durchweg auch auf gleiche oder ähnliche zirkulatorische Grundvor-
gänge zurückführt. Von grösster Bedeutung erscheint es mir
nun, dass v. Recklinghausen zu dieser grossen Klasse der
osteomalacischen Knochenerkrankungen auch eine Gruppe rechnet,
die ganz gewiss ätiologisch eine Sonderstellung einnimmt,
die der osteoplastischen Krebse; die in das Knochenmark ver-
schwemmten Krebsmetastasen sollen Zirkulationsstörungen her-
vorrufen, die ihrerseits die destruierenden und die — hier ganz
im Vordergrunde stehenden — osteoplastischen Veränderungen
bedingen. Für die beiden anderen Gruppen, die Ostitis deformans
(Pagetsche Krankheit) oder fibrosa und die „eigentliche“ oder
„reine“ Osteomalacie steht der Nachweis des ätiologischen Faktors
noch aus, welcher ähnliche Störungen der Blutversorgung und daran
anschliessend analoge, wenn auch unter sich und von der ersten `
Gruppe quantitativ differente Vorgänge des Knochenumbaues her-
vorrufen könnte. Es steht durchaus dahin, ob sie ätiologisch
gleichartige und sich nur bis zu einem gewissen Grade pathologisch-
anatomisch und klinisch unterscheidende, oder ob sie auch ätiologisch
differente Gruppen sind.
Zu ganz ähnlichen Anschauungen bezügl. des Verwandtschafts-
verhältnisses der Östeomalacie und der deformierenden Ostitis
resp. der verschiedenen Formen der Osteomalacie unter sich (puer-
perale, nicht-puerperale, senile Form) gelangt Ribbert. Auch R auf-
1) Vergl. d. Sammelreferat von Laufer im Zentralblatt für die Grenz -
gebiete der Med. u. Chir. III, 1900, hier auch Literatur-Verzeichnis.
osteomalacische Lähmung. 445
mann!) schliesst sich der Auffassung v. Recklinghausens an und
hält die Ostitis deformans für nahe verwandt mit der Osteomalacie,.
Endlich scheint auch Tashiro’), der neuerdings unter Zieglers
Leitung histologische Untersuchungen an osteomalacischen Knochen
vorgenommen hat, nur graduelle Verschiedenheiten zwischen den
beiden Krankheiten zuzulassen.
Ferner scheint auch die Syphilis, abgesehen von den gummöson
Formen, im stande zu sein, eine diffuse Knochenerkrankung zu
erzeugen. Wie weit dieselbe pathologisch-anatomisch mit den
vorhin erwälınten Prozessen verwandt oder identisch ist, ist mir
nicht bekannt. Doch schreibt Schuchardt’ der Lues die Fähig-
keit zu, in ihren späteren Stadien (ähnlich wie andere Infektions-
krankheiten) eine toxische Malacie mit Weichheit und Brüchig-
keit der Knochen zu entwickeln. An anderer Stelle freilich spricht
er von Osteoporose mit Neubildung, und auch Ziegler konstatiert
als Folge der Lues Osteoporose, Hyperostose, Sklerose der Knochen.
Nur kurz erwähnen will ich, dass französische Autoren (Lan ne-
longue, Fournier) einen Zusammenhang der Pagetschen Krank-
heit mit Lues, speziell mit hereditärer Lues anzunehmen geneigt
sind. Auch in einem der von Wollenberg“) neuerdings aus der
Hoffaschen Klinik beschriebenen Fälle von Pagetscher Krankheit
lag — erworbene — Lues vor.
Bei dieser Sachlage, wonach also z. T. ätiologisch exquisit
differente Faktoren Knochenprozesse erzeugen, welche zwar in
einigen Richtungen und zumal quantitativ verschieden, aber doch
zum mindesten einander sehr ähnlich sind, ist es meines Erachtens
a priori zu erwarten, dass auch die klinischen Folgezustände dieser
Vorgänge sich ähneln werden. In der Tat führen sie alle prin-
zipiell zu denselben Resultaten, zu. Verbiegungen und Verdickungen
gewisser Knochen, wenn auch in verschiedener Intensität und
Verteilung. Da jedoch diese letzteren Verschiedenheiten keines-
wegs regelmässig hervortreten, da vielmehr auch in der Lokali-
sation des Prozesses, die nach v. Recklinghausen überall von
denselben statischen Momenten, der Druck- und Zugbelastung
einzelner Knochen- und Knochenteile abhängig ist, durchaus kon-
stante und durchgreifende Unterscheidungsmerkmale sich nicht
zu finden scheinen, so dürfte die klinische Differentialdiagnose
vielfach schwierig sein. Gewiss werden sich viele Erkrankungen
sicher rubrizieren lassen, gewiss wird nicht nur der wohl ausge-
bildete Symptomenkomplex der Pagetschen Krankheit, sondern
es werden auch viele Initialfälle derselben bei typischer Lokali-
sation und typischem Verlauf gut erkennbar sein [vergleiche z.B.
Schmieden’), Wollenberg (l. c.) u. A.], gewiss wird man oft,
1) Lehrbuch der spez. pathol. Anatomie 1904.
2) Histologische Untersuchungen am osteomalacischen Knochen. Zieg-
ders Beiträge Band 84. Heft 2.
8) Deutsche Chirurgie. Bd. 28. 1899.
+) Beitrag zur Pagetschen Knochenkrankheit, Zeitschrift für ortho-
pädische Chirurgie. Bd. 13.
%) Deutsche Zeitschrift für Chirurgie. Bd. 70.
30”
446 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
wenn nicht aus dem klinischen Skelettbefund, doch aus den be-
gleitenden Umständen eine karzinomatöse oder luetische Genese
der jeweils vorliegenden Krankheit erschliessen können, aber es
werden auch Fälle übrig bleiben, ın denen es zunächst oder für
die Dauer in dubio bleiben wird, welcher Prozess der vorliegenden
Knochenerweichung zu Grunde liegt. Speziell drängt sich dem,
der sich in die Literatur dieser Affektionen hineinarbeitet, die
Ueberzeugung auf, dass die Ostitis deformans und die Osteomalacie,
anatomisch so nahe verwandt, auch klinisch doch unter Umstäuden
sehr nahe Berührungspunkte haben müssen. Als der Haupt-
unterschied wird meist die verschiedene Lokalisation angeführt:
Die Osteomalacie beginnt „gewöhnlich“ am Becken und beteiligt
dasselbe „hauptsächlich“, die Ostitis deformans ergreift „beson-
ders“ die Extremitätenknochen. Aber der erste Teil dieses Satzes
trifft nach den Zusammenstellungen z. B. von Litzmann und
Hennig nicht einmal für die gewöhnliche puerperale Form kon-
stant zu, und bei der nicht-puerperalen Form gehören nach Litz-
mann in der Mehrzahl der Falls zu den frühest ergriffeuen Teilen
die Knochen der unteren Extremitäten, das Becken dagegen war
in einem nicht ganz unerheblichen Prozentsatz der Fälle nicht
beteiligt. Ich erwähne als Beispiele für den Beginn der Krank-
heit an den Extremitäten von vielen nur den Fall von Kobler
(virginelle Form), ferner den Fall Bergers (Osteomalacie mascu-
line); derselbe begann mit Genu valgum (ein anscheinend häufigeres
Vorkommnis bei ÖOsteomalacie!) und führte in der Folge zu
ganz schweren Erweichungszuständen des Skeletts, die der Ver-
fasser mit dem Fall Supiot von Morand (abgebildet z. B. hei
Schuchardt und bei Volkmann) in Parallele stellt. Ich weise
ferner hier schon auf den oben berichteten zweiten Fall, der
Frau W., hin, bei welchem bei einer typisch puerperalen Form
das Becken in verhältnismässig geringfügiger Weise ergriffen ist,
während die Erscheinungen am oberen Teil der Wirbelsäule, am
Sternum und an den Rippen ım Vordergrunde stehen. Anderer-
seits findet sich z. B. bei einigen der von v. Recklinghausen
pathologisch-anatomisch als Ostitis deformans angesprochene Fälle
eine deutliche schwere Beteiligung des Beckens, nicht nur ın dem
ganz schweren Falle 6 (vergleiche die Abbildung Fig. 6, Tafel V),
sondern auch in dem offenbar weniger vorgeschrittenen Falle 2.
Die ferner als differentialdiagnostisches Moment angeführte
Neigung der Östitis zuVerbiegungen ist doch nur ein sehr relatives
Kriterium, da bei vorgeschrittener Osteomalacie die hochgradigsten
Verbiegungen auch der Extremitäten vorkommen, so auch bei
zwei Skeletten der Sammlung im hiesigen pathologischen Museum.
Frakturen und Infraktionen sind etwas Gewöhnliches wohl bei
beiden Zuständen. Das mir noch am meisten einleuchtende
Unterscheidungsmerkmal ist die grössere Neigung der Östitis zur
Verdickung, der Ausdruck der von v. Recklinghausen ja
1) Vergl. Rose, Berl. klin. Wochenschrift 1895.
osteomalacische Lähmung. 447
anatomisch nachgewiesenen stärkeren Tendenz derselben zu Proli-
ferationsvorgängen; aber auch dieses Merkmal scheint nicht durch-
aus zuverlässig zu sein (vergl. z. B. den Fall von Tschistowitsch,
Berl. klin. Wochenschrift 1893, Osteomalacie mit Verdickung
an den Unterschenkelknochen). In der Sammlung des hiesigen
pathologischen Museums findet sich ferner ein als Osteomalacie
bezeichnetes Skelett mit schwerer Beteiligung des Brustkorbes,
relativ geringerer des Beckens und mit kolossaler diffuser Ver-
dickung beider rechter Unterschenkelknochen; daneben bestanden
augenscheinlich schwere Gelenkaffektionen, so dass der ganze Fall
etwas dunkel erscheint.
Die Unsicherheit und Unklarheit, die auf diesem Gebiete
noch herrscht, wird meines Erachtens trefflich illustriert durch
die Verschiedenartigkeit der Gesichtspunkte, nach welchen man
bei der Einteilung der Knochenerweichungsprozesse zu verfahren
gezwungen ist. So unterscheidet Schuchardt bei der Osteomalacie
der Erwachsenen eine puerperale und eine nicht-puerperale Form
und rechnet zu der letzteren die Untergruppen: 1. der juvenilen,
2. der neurotischen oder senilen Osteomalacie, ferner 3. die
Osteomalacia chronica deformans mit fibrösen Herden, Cysten und
Geschwulstbildung (v. Recklinghausensche Krankheit), nota bene
dasselbe, wasRecklinghausen als „Ostitis fibrosa“ mit der „Ostitis
deformans“, der folgenden Untergruppe, identifiziert, und 4. die
Osteomalacia chronica deformans hypertrophica (Pagetsche Krank-
heit), ausgezeichnet durch die Neigung zu Verkrümmungen. Wie
man sieht, teils ätiologische, teils pathologisch-anatomische, teils
klinische, teils endlich mehr äusserliche Gesichtspunkte.
Diese Schwierigkeit der Abgrenzung der Östeomalacie sens.
strict. einmal von ätiologisch sicher differenten Erweichungs-
zuständen (osteoplastische Krebsen, Lues), das andere Mal von der
so nahe verwandten Östitis deformans, dürfte die Beurteilung der
einzelnen Fälle praktisch doch im höheren Grade erschweren, als
einzelne Autoren zuzugeben geneigt scheinen.
Es mag an dieser Stelle einer Erkrankung Erwähnung getan
werden, welche in ganz besonderem Masse differential-diagnostische
Schwierigkeiten zu machen scheint, der Myelo-Sarkome, die insofern
eine eigenartige Mittelstellung einnehmen, als sie sich gelegentlich
sekundär in den primär-osteomalacischen Knochen entwickeln
(Hirschberg, v. Recklinghausen, Schmorl, Schönen-
berger)!). |
Aber selbst wenn man alle diese Zustände stets mit Sicher-
heit abzuscheiden in der Lage wäre, so bleibt doch noch immer
die Frage, ob alles das, was übrig bleibt, die „echte“ oder „aus-
gesprochene“ oder „eigentliche“ oder „reine“ Osteomalacie in der
1) Bezüglich sonstiger differential-diagnostisch in Frage kommender
Zustände, welche zu einer Erweichung nicht führen (z. B. Arthritis deformans),
verweise ich auf die ausführlichen Darstellungen Latzkos (Monatsschr. f.
Geb. u. Gyn., Bd. 6), Sternbergs und Laufers; sie kommen in unseren
Fällen kaum in Betracht.
448 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
Tat eine einheitliche Erkrankung darstellt, wie es manche Autoren
wollen. Ob in der Tat die puerperale Form und die von ihr
abgeschieden katameniale Form (Hennig), die mit dem Puer-
perium nichts zu tun hat, aber wenigstens Beziehungen zur Men-
struation erkennen lässt, ätiologisch identisch und wesensgleich
mit den nicht-puerperalen Formen, der juvenilen und senilen, der
virginellen und virilen ist? Und ob die letzteren Formen, unter
sich verglichen, stets der Ausdruck der gleichen „konstitutionellen*
Ursache sind? Die meisten neueren Autoren neigen mehr oder
weniger ausgesprochen dieser Ansicht zu. Ohne mir ein Urteil
hierüber zumessen zu können, möchte ich doch betonen, dass die
entgegenstebende Ansicht, z. B. Gelpkes, als widerlegt nicht an-
gesehen werden kann. G. will nur die Gruppe der puerperalen
Östeomalacie als ein einheitliches Ganzes gelten lassen, von dem
er die nicht-puerperalen Formen abscheidet. Die Annahme, dass
die Osteomalacie, auch im engeren Sinne, eine einheitliche Krank-
heit nicht ist, würde jedenfalls — zusammen mit den betonten
Schwierigkeiten der Differentialdiagnose — manche Widersprüche
verständlicher machen. Sie könnte erklären, dass noch keine der
Theorien, die bisher über das Wesen der Krankheit aufgestellt
sind, es zur Allgemeingültigkeit gebracht hat. Mit Uebergehung
zahlreicher älterer Hypothesen!) erwähne ich nur die Fehlingsche
Theorie, die die Osteomalacie auf eine durch krankhafte Tätig-
keit der Ovarien bedingte Alteration der Zirkulationsverhältnisse
in den Knochen zurückführt. Trotz der glänzenden Erfolge der
Kastration ist sie aus guten Gründen nicht allgemein acceptiert.
Ob die neuerdings vonHoennicke?) lebhaft vertretene Anschauung,
welche in der Östeomalacie den Ausdruck einer Schilddrüsen-
erkrankung sieht, sich eine allgemeine Anerkennung erringen wird,
muss abgewartet werden. H. hält ım Gegensatz zu anderen
namhaften Autoren die ausgesprochene endemische Verbreitung
der Krankheit für erwiesen, ihr geographischer Verbreitungsbezirk
soll genau mit dem des Kropfes zusammenfallen. Er führt eine
grosse Zahl von Fällen aus der Literatur und aus eigener Beob-
achtung an, in denen Östeomalacie mit Morb. Basedowii, mit
grösserer oder kleinerer Struma oder wenigstens mit „thyreogenen
Symptomen“ vergesellschaftet war. Er sieht in diesen Fakten
einen Beweis für die erwähnte Theorie und nimmt hypothetisch
an, dass die Schilddrüsenerkrankung zu einer Störung des Phos-
phorstoffwechsels und damit zur Osteomalacie führe, während die
physiologische Tätigkeit der Ovarien verschlimmernd, ihre Aus-
schaltung daher oft bessernd wirke.
In Uebereinstimmung mit jener Annahme von der Ungleich-
artigkeit der Osteomalacie würde auch die Ungleichartigkeit der
1) S. die Zusammenstellung bei Laufer l. c.
2) Ueber das Wesen der Osteomalacie, Sammlung zwangloser Abhand-
lungen aus dem Gebiet der Nerven- und Geisteskrankheiten, Halle 1905. —
Bei H. findet sich auch ein ausgiebiges Verzeichnis der Literatur über die
Osteomalacie, auf welches ich bezüglich der Autoren, bei welchen in dieser
Arbeit keine Angaben gemacht sind, verweise.
osteomalacische Lähmung. 449
therspeutischen Erfolge stehen. Dieselbe Therapie, die in einem
Falle Wunder wirkt, versagt bei dem andern. So berichten die
Autoren über zahlreiche Erfolge der Kastration — darunter beiläufig
auch beinichtpuerperaler Östeomalacie (Fehling, Hofmeier, Hol-
länder u. A.) —, aber auch über zahlreiche Misserfolge. So
wirkt Phosphor hier in wahrhaft überraschender Weise (Stern-
berg, Latzko u. A.), dort lässt es mehr oder weniger im Stich
(Heitzmann, Berger, Jolly u. A.).
Der vorstehende theoretische Exkurs in ein mir im Grunde
fernliegendes Gebiet schien mir berechtigt, weil diese Erwägungen
auch in den vorstehend geschilderten Fällen, besonders in dem
ersten, Beachtung erforderten.
Mit Sicherheit kann bei Frau K. mit Rücksicht auf die
Dauer der Erkrankung und den Ernährungszustand der Patientin
eine Karzinomatose und wohl auch das Myelom ausgeschlossen
werden, zumal sich auch die von Kahler für das letztere postu-
lierte Albumosurie nicht fand. (Salkowskische Probe).
Schwieriger schon ist die Entscheidung darüber, ob der dem
Leiden zugrunde liegende Prozess den Charakter der „reinen“
Osteomalacie oder der Ostitis deformans hat. Neben dem Becken
fand ich beteiligt den linken Oberschenkel, wahrscheinlich die
untere Wirbelsäule, weniger sicher die Rippen und das Brustbein,
vielleicht den Schädel. Zudem weist einiges in der Anamnese
darauf hin, dass der Prozess den linken Oberschenkelknochen
sehr frühzeitig ergriffen, vielleicht hier begonnen hat. Immerhin
glaube ich mich auf Grund des vorwiegenden Befallenseins des
eckens, des Fehlens deutlicher Verkrämmungen an andern
Knochen und des Mangels an Knochenverdickungen für echte
Östeomalacie und gegen Ostitis deformans entscheiden zu sollen,
mit der Reserve, die die oben angeführten Erwägungen erfordern,
zumal, wie wir sogleich sehen werden, gewisse die Diagnose
Östeomalacie unterstützende Momente fehlen. Der anfängliche
Erfolg der Phosphortherapie lässt sich nach dem Stande des heutigen
Wissens wohl kaum gegen Östitis verwenden.
Auch eine luetische Genese kann meines Erachtens nur vor-
sichtig ausgeschlossen werden. Die zahlreichen Aborte, für die
sich auch gynäkologisch ein Anhaltspunkt nicht ergeben hat, von
einem bestimmten, übrigens vor dem manifesten Beginn der Er-
krankung liegenden Zeitpunkt an bleiben etwas verdächtig; ich
finde in der Literatur wohl zahlreiche Hinweise auf angeblich
erhöhte Fertilität der Osteomalacischen — eine nach Latzko
und anderen wahrscheinlich ırrtümliche Annahme —, jedoch keine
Angabe über gehäufte Aborte. Wenn ich trotzdem eine luetische
Entstehung des Leidens für unwahrscheinlich halte, so bestimmt
mich dazu (neben der anscheinenden Glaubwürdigkeit des Ehe-
manns) mehr der Umstand, dass sonst alles fehlt, was für Lues
sprechen könnte, als der Misserfolg der Inunktionskur. Bei so
alten Fällen wird nur ein positiver Ausfall als beweisend ange-
450 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
sehen werden können, wie in einem kürzlich von Schlesinger!)
veröffentlichten Fall. Ob der bei Frau K. während der HgKur
zunächst eintretende Fortschritt lediglich als eine Nachwirkung
des Phosphors oder als Wirkung des Quecksilbers aufzufassen
ist, will ıch nicht entscheiden; das letztere äussert seine resor-
bierenden und entzündungswidrigen Eigenschaften ja oft genug,
wo keine Lues vorliegt. Keinesfalls kann dieser Fortschritt im
Hinblick auf den späteren Verlauf für die Annahme einer Lues ver-
wertet werden.
Halte ich somit die Krankheit in der Tat für echte Osteo-
malacie, so lässt sie sich doch schwer in eine der gewöhnlich
unterschiedenen Gruppen derselben rubrizieren. Die Angabe der
Patientin, dass keinerlei Beziehungen der Beschwerden zu den
Puerperien, den Aborten, der Menstruation dagewesen seien, lauten
ganz unzweideutig. Wenn die Autoren solche Erkrankungen meist
doch als puerperale ansehen, so wird man sich der Gezwungen-
heit einer solchen Zurechnung bewusst bleiben müssen. Mit der
Einflusslosigkeit der Vorgänge des Geschlechtslebens fehlt uuch
das den puerperalen Formen sonst meist eigentümliche Kriterium
des remittierenden Verlaufs; wir haben hier anscheinend einen
gleichmässig langsam progredienten Gang der Krankheit. Auch
in die juvenile und senile Gruppe lässt sich der Fall nicht gut ein-
fügen. Man muss sich begnügen, ihn den nicht ganz seltenen
Fällen in der Literatur an die Seite zu stellen, in welchen die
OÖsteomalacie bei Frauen, die geboren haben, ohne erkennbare
Abhängigkeit vom Geschlechtsleben auftritt. |
Bei Frau W. traten alle diese diagnostischen Bedenken
zurück hinter der einfachen Tatsache, dass der Beginn der Krank-
heit. ausgesprochen und einwandsfrei in die Gravidität hineinfällt.
In dieser Tatsache kann man wohl zusammen mit den Knochen-
erscheinungen einen vollgültigen Beweis für das Bestehen einer
echten puerperalen Osteomalacie sehen. Freilich bietet sie dann
viel Eigenartiges und Ungewöhnliches. Wir finden, wie bereits
oben erwähnt, die Beteiligung des Beckens keineswegs so hervor-
tretend in dem Symptomenkomplex, wie es gewöhnlich bei der
puerperalen Osteomalacie zu sein pflegt. Zwar ist der Schambein-
bogen verengt, aber das Promontorium ist nicht ins Becken ge-
sunken, die typische Lendenlordose fehlt; statt ıhrer hat sich eine
(kompensatorische [?]) Kyphose herausgebildet. Die Schmerzen
haben zwar in der Hüfte begonnen, treten aber anscheinend später
gegen die Schmerzen an den Rippen zurück, deren eine freilich
bei dem Fall frakturiert zu sein scheint. Rippen und Sternum zeigen
Gestaltsveränderungen, am schwersten aber ist wohl die Hals-
wirbelsäule betroffen, die in sich zusammengesunken ist, so dass
der Kopf zwischen die Schultern sinkt, die Nackenhaut ein quer-
gefaltetes Aussehen bekommt und der Schildknorpel sich dem
1) Syphilitische und hysterische Pseudoosteomalacie. Deutsche Med.
Wochenschrift 1906. No. I.
osteomalacische Lähmung. 451
Sternum nähert. Der Fall ıst ein kontrastreiches Gegenstück zum
Falle K. Dort (Frau W.) typischer Beginn in der Gravidität,
aber eine ziemlich diffuse Lokalisation mit geringer Becken-
beteiligung, hier (Frau K.) Fehlen jedes nachweisbaren Zusammen-
hanges mit dem Geschlechtsleben, Lokalisation in typischer Weise
vorwiegend im Becken. Der Vergleich der Fälle zeigt mithin
von neuem, dass die Gesetze betreffs Verlauf und Lokalisation
der Osteomalacie nicht stets Gültigkeit haben. — Eine Verwertung
unserer Beobachtungen im Sinne der Hönnickeschen Annahme
ist schwer möglich. Selbst die Möglichkeit einer geringfügigen,
nichtnachweisbarenresp.nicht auffälligen Schilddrüsenvergrösserung
zugegeben, so finden sich doch weder sonst irgend welche Störungen,
die als „thyreogen“ gedeutet werden könnten, noch stammen die
Patientinnen aus einer osteomalacischen oder Kropfgegend. Frau W.
hat stets in Berlin gelebt. Bezüglich Frau K. habe ich nach
dieser Richtung der Sicherheit wegen noch Erkundigungen ein-
gezogen und bin sowohl von.dem an dem Geburtsort der
Patientin ansässigen Herrn Dr. Brenke als von dem Kreisarzt
Herrn Dr. Ozygan in freundlichster Weise dahin informiert, dass
ihnen dort kein Fall von Osteomalacie begegnet sei. Der erstere
berichtet ferner, dass er in fünf Jahren in dortiger Gegend
ca. 5 Kröpfe gesehen habe, darunter 3—4 genuine Kröpfe. Man
wird ihm zustimmen müssen, wenn er meint, dass in ähnlicher
Zahl auch sonst Kröpfe sich vorfinden dürften. Die Patientin hat
dann auch weiterhin, abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in
Schlesien, stets in osteomalacie- und kropffreier Gegend gelebt.
Auch in den Familien beider Kranken sind weder Knochen-
erkrankungen noch Kröpfe vorgekommen.
Alles, was sonst von ätiologischen Faktoren angegeben wird
(feuchte Wohnung, Ernährung, Mangel an Luft und Bewegung),
kommt nicht in Frage. Neuerdings weist Thiem!) auf das Trauma
als angebliche Ursache der Osteomalacie hin. Bei Frau K. hat
der im Laufe der Krankheit vorgekommene Sturz anscheinend
keinen Einfluss auf ihren Gang gehabt. Frau W. schreibt ihrem
Falle eine erhebliche Verschlimmerung zu, es muss offen bleiben,
wie weit der Rippenbruch, den sie wahrscheinlich dabei akquirierte,
daran schuld ist.
Der Vollständigkeit wegen will ich erwähnen, dass in den
vorliegenden Fällen die Vortäuschung einer Osteomalacie durch
Hysterie mit Rücksicht auf den Knochenbefund ausgeschlossen
werden kann. Viele Autoren, zuletzt Schlesinger?), weisen auf
solche Möglichkeit hin. Ich möchte mir erlauben, an der Hand
eines kürzlich von mir beobachteten, noch nicht abgeschlossenen
Falles hier parenthetisch auf die bereits anderweitig betonte Gefahr
einer umgekehrten Verwechslung hinzuweisen. Jedenfalls der
ı) Auf der Naturforscher-Versammlung zu Düsseldorf. Der mir vor-
Hegon zo Bericht über dieselbe gibt nur das Thema wieder.
s) l. e.
452 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
Neurologe wird gelegentlich der Möglichkeit ausgesatzt sein, eine
beginnende Osteomalacie für Hysterie zu halten. Im erwähnten
Falle fand sich bei einer Frau, die jahrelang an heftigen Kreuz-
schmerzen litt, eine ausserordentliche Druckschmerzhaftigkeit der
Körper der unteren Lenden- und oberen Sakralwirbel bei Pal-
pation durch die Bauchdecken hindurch, und bei genauer Unter-
suchung liess sich eine immerhin auffällige Abbiegung des unteren
Teils des Kreuzbeins nach vorne nachweisen. Der radiographische
Befund war negativ. Der Fall kann und soll nichts beweisen,
legt aber doch den Gedanken nahe, dass vielleicht manche
„Rachialgie“ sich bei genauerem Zusehen als Beginn einer Knochen-
erkrankung entpuppen könnte.
Endlich möchte ich an dieser Stelle einschalten, dass ziemlich
häufig in der Literatur Erscheinungen berichtet werden, die auf
eine die Osteomalacie begleitende funktionelle Störung des Nerven-
systems hinweisen, oder wenigstens Erscheinungen, die einen
hysteriformen Charakter haben. Vielleicht gehört hierher auch
wenigstens ein Teil der „susceptibilite nerveuse“ von Trousseau
und Lasègue, über welche Senator berichtet. Ob gewisse
Störungen hei Frau W. teilweise auf solche Momente zu beziehen
sind, mag dahingestellt sein. Bei Frau K., die sonst in keiner
Weise das Bild der Hysterie bietet, fiel mir sofort die krampf-
hafte, mit Zittern verbundene Anspannung der ganzen Ober-
schenkelmuskulatur beim Versuch der Oberschenkelbeugung auf.
Sie erinnerte lebhaft an die falsche Innervation mancher Trauma-
tiker. Auch die Neigung zum Schwanken beim Stehen mit ge-
schlossenen Augen lässt sich wohl am besten alsfunktionell auffassen.
Was nun die auf das Nerven- und Muskelsystem zu be-
ziehenden Symptome anbetrifft, welche die Osteomalacie begleiten,
so kann ich mich betreffs der sensiblen Erscheinungen sehr kurz
fassen. Es ist schon lange bekannt, dass die Krankheit mit
heftigen, eigenartigen Schmerzen im Rücken, Kreuz, den Rippen,
den Extremitäten u.s. w. einhergeht, Schmerzen, die spontan auf-
treten, die aber ganz besonders heftig bei Druck auf die er-
krankten Knochen sich äussern. Man führt dieselben wohl allgemein
zum grossen Teil direktaufdieKnochenaffektion zurück („Ostalgien“).
Nur wenige Autoren (Pommer) verhalten sich skeptisch gegen
diese Annahme. Ein anderer Teil dieser Schmerzen sowie
namentlich die vielfach erwähnten Parästhesien werden wohl auf
mechanischen Momenten, auf der Reizung der Wurzeln und Nerven
durch die verdickten und verkrümmten Knochen beruhen. Auch
in unseren Fällen steht einer Deutung der sensiblen Reiz-
erscheinungen in dem einen oder andern Sinne nichts im Wege.
Ein bisher meines Wissens noch kaum erwähntes Symptom, das
wohl durch solche neuritische Reizung durch Druck erklärt werden
muss, ist das Las&guesche Zeichen bei Frau W.
Schwieriger ist meines Erachtens die Deutung der moto-
rischen Symptome. Dass die Osteomalacie, zumal in ihren vor-
osteomalacische Lähmung. 453
geschrittenen Stadien, von schweren Motilitätsstörungen begleitet
sein kann, ist gleichfalls von jeher betont und geschildert. Sehr
häufig figuriert unter diesen Schilderungen das unzweifelhaft auf-
fallendste Symptom, der sogenannte Enten- oder Watschelgang.
Im übrigen aber sind die älteren Angaben über die beobachteten
Bewegungsstörungen ziemlich unbestimmt und allgemein, die
letzteren erscheinen recht vielgestaltig. Stieda hat im Jahre
1898 alle nervösen Störungen, welche bei der Osteomalacie be-
obachtet sind, zusammengestellt; ich verweise hier auf seine
Arbeit ın der Monatsschrift für Geb. und Gyn. Bd. 8. Es ist
das Verdienst von v. Renz!), aus der Mannigfaltigkeit und Un-
bestimmtheit_der beschriebenen Erscheinungen ein Symptom als
das häufigste und hervorstechendste herausgeschält zu haben, die
Schwäche des leopsoas. Indem Köppen dann dies Symptom
mit dem eigentümlichen Gang und den eigenartigen Schmerzen
zusammenstelite, schuf er eine Symptomentrias, die in hohem
Grade für die am Becken beginnenden Fälle von ÖOsteomalacie
charakteristisch zu sein scheint. Die Frage nach der Natur
dieser eigenartigen Bewegungsstörungen werden wir später zu
prüfen haben. Köppen äussert sich darüber recht vorsichtig,
spricht stets von Muskelschwäche und vermeidet das Wort Parese,
welches nach der gebräuchlichen Ausdrucksweise einen neuro-
pathisch oder myopatlisch bedingten wirklichen Lähmungszustand
präjudiziert. Spätere Autoren reden dann freilich stets von
soasparese.
ehrere derselben haben die Angaben Köppens über jene
Symptomentrias im wesentlichen bestätigt, und man darf heute
wohl unter der Bezeichnung der (typischen und frühzeitigen)
„osteomalacischen Lähmung“ die Vereinigung jener beiden mo-
torischen Kardinalsymptome, des Entenganges und der Funktions-
störung des Heopsons mit den eigenartigen Schmerzen, verstehen;
‘die Psoasschwäche kann sich dann freilich gelegentlich auch mit
weniger hervorstechenden Schwäche- oder Reizzuständen an den
Becken- oder ÖOberschenkelmuskeln verbinden. Latzko hat
unter diesen die Häufigkeit einer Kontraktur der Adduktoren-
muskulatur hervorgehoben und jenen Kardinalsymptomen als
gleichwertiges Frühsymptom an die Seite gestellt). Auch diese
Adduktionskontraktur ist mehrfach bestätigt worden.
Nach Köppens Ansicht gestatten die oben erwähnten
Merkmale die Diagnose der Osteomalacie schon zu einer Zeit,
wo aus den Knochenveränderungen noch keine Schlüsse gezogen
werden können. Latzko, Rissmann°) und Stieda sprechen sich
1) Ich habe mir die Arbeit von Renz leider nicht mehr verschaffen
können und muss mich darauf beschränken, nach den Angaben Köppens,
Latzkos u. A, zu zitieren.
3) Latzko nennt als Initialsym tome: Druckempfindlichkeit einzelner
Knochen, isolierte Psoasparese, A duktorenkontraktur. in zweiter Linie Er-
höhung der Patellarreflexe, nicht den Watschelgang.
s) Rissmann nennt unter den Initialsymptomen ebenfalls nicht den
Watschelgang, hat aber auch die Adduktorenkontraktur nicht gefunden und
454 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
bezüglich der Wertigkeit der „Initialsymptome“ für die Diagnose
bei Abwesenheit irgend welcher Skelettveränderungen noch viel
bestimmter aus.
Dem gegenüber betont z. B. Oppenheim, der in seinem
Lehrbuch die „osteomalacische Lähmung“ freilich nur ganz kurz
behandelt, dass es zu einer sicheren Diagnose doch immer der
Skelettveränderungen bedarf. Auch Vierordt äussert sich
zurückhaltender. Ich möchte meinerseits auch glauben, dass die
Diagnose, so lange sich an den Knochen durchaus nichts Objektives
findet, doch immer auf unsicheren Füssen stehen wird, zumal,
wenn man, wie Latzko und Rissmann, auch den Watschelgang
für entbehrlich zur Diagnosenstellung hält.
Aber wie dem auch sei, durchaus notwendig erscheint es
mir, dass man diese initialen, isolierten Bewegungsstörungen ver-
einzelter Muskeln strenge absondert von den schweren, diffus
verbreiteten Muskelschwächezuständen, wie sie die schweren ter-
minalen Stadien der ÖOsteomalacie begleiten, in welcher die
Kranken in völliger Prostration kaum noch ein Glied zu rühren
vermögen. —
Von weiteren Erscheinungen seitens des Nerven-Muskel-
systems will ich nur noch die Erhöhung der Patellarreflexe und
das Muskelzittern erwähnen, die beide häufig angegeben werden;
letzteres wird oft als fibrilläres bezeichnet.
Frau W. bietet von all’ diesen motorischen Symptomen
nichts; es besteht zwar eine Gangstörung, doch geht die Pat.
überhaupt nur gestützt, die Beine entlastend, vorsichtig, mit
kleinen Schritten; vom typischen Watschelgang ist nichts zu be-
merken. Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass
diese Gangstörung durch die Schmerzen bedingt ist, wie auch
die Pat. selbst nur hierin den Grund der Gangstörung sieht. Die
Muskeln des Beckens und der Beine, speziell der Psoas, erweisen
sich bei Einzelprüfung als völlig funktionstüchtig.
Bei Frau K. dagegen fand sich jene Köppensche Trias
vollkommen ausgesprochen, die Schmerzen, spontan und zumal
bei Druck auf das Becken, der Watschelgang und die Psoas-
schwäche; dazu kommt eine nicht gerade sehr ausgesprochene,
aber deutliche Behinderung der passiven Abduktion der Ober-
schenkel. Im übrigen ist die Behinderung der Beugung der
Oberschenkel (links stärker als rechts) die einzige eklatant nach-
weisbare motorische Ausfallserscheinung, aus der sich fast alle
erwähnten Funktionsstörungen erklären lassen: die Behinderung
beim Treppensteigen, die Unmöglichkeit des Sichaufrichtens, des
Uebereinanderschlagens der Beine etc.
Das Rombergsche Phänomen, das auch Köppen und
spricht als Initialeymptome an: 1. Druckempfindlichkeit der Stammesknochen,
2. Paresen der Oberschenkel- (Psoas, Abduktoren) und Beckenmuskeln;
8. eigentümliche subjektive Beschwerden (Schwere des Beines, Schmerzen in
der Nacht, Muskelzittern).
osteomalacische Lähmung. 455
Latzko schon sahen, war nur schwach angedeutet und, wie ge-
sagt, wahrscheinlich funktioneller Natur.
Die Genese der erwähnten motorischen Erscheinungen ist
keine ohne weiteres zweifelsfreie.
Wie kommt zunāchst der Entengang zustande? Man hat
gemeint (Köppen, Jolly, Latzko), dass er lediglich die Folge
der Psoasschwăche (resp. der „Psoasparese“) sei; bei der Vorwärts-
bewegung der Beine müsste infolge dieser Schwäche der Rumpf
stärker als normal nach der anderen Seite geneigt werden. Die
Möglichkeit eines solchen Entstehungsmechanismus des Ganges
kann meines Erachtens ohne weiteres zugegeben werden, gleich-
gültig, wie man sich die Entstehung der Peoasschwäche denkt;
aber wenn hierin die einzige Ursache für die Eigenart des Ganges
läge, so müsste bei Frau K., bei welcher unzweifelhaft die linke
Seite die stärker beteiligte und der linke Psoas der schwächere
ist, die stärkere Neigung nach der rechten Seite erfolgen, wie es
in der Tat Köppen bei einem seiner Fälle mit ungleicher Be-
teiligung der Beine beobachtet hat. Gerade das Gegenteil aber
ist bei Frau K. der Fall, die Neigung erfolgt in viel ausgiebigerer
Weise nach der linken Seite.
Eine zweite Erklärungsmöglichkeit für das eigenartige
Schwanken liesse sich in der Verlegung des Körperschwerpunktes
nach vorn, durch das Hineinsinken der Wirbelsäule in das Becken
und in der sekundären Ausbildung der Lendenlordose sehen. Die
Fortbewegung des rückwärts gebeugten Oberkörpers erfordert
eine weitergehende Verlegung des Schwerpunktes nach der jeweils
ruhenden Seite. Eine solche auf statischen Momenten beruhende
Erklärung würde auch die Entstehung derselben Modifikation des
Ganges bei der Dystrophie und bei der kongenitalen Hüftgelenks-
luxation verständlich machen, wobei es gleichgültig sein dürfte,
dass die Ursachen für die Verlegung des Körperschwerpunktes
nach vorn bei diesen Krankheiten in andersartigen Momenten
zu suchen wären.
Aber, abgesehen davon, dass Latzko den Watschelgang
auch da beobachtet hat, wo eine nachweisbare Beckendeformität
noch nicht bestand, scheint mir auch diese Annahme zur Er-
klärung des stärkeren Schwankens der Frau K. nach links nicht
ausreichend, man müsste denn eine bei der Osteomalacie ganz
gewöhnliche, aber hier sich klinisch und radiographisch nicht
markierende schräge Verschiebung des Beckens annehmen.
Vielleicht lässt sich das Moment, das jenes Phänomen ver-
ständlich macht, im Anschluss an die Anschauungen älterer und
meines Erachtens trotz allem nicht widerlegter Autoren in der
relativ grösseren Weichheit und Elastizität der linken Pfannen-
gegend finden, in einer Herabsetzung des Widerstandes dieses
Beckenteiles gegen den Femurkopf, der während der Phase des
Aufsetzens des linken Fusses von unten her andrängt. Das
„Federn“ der Beckenknochen ist ja eine häufig betonte Er-
456 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
scheinung bei der Osteomalacie. In der Tat macht es den Ein-
drack, als ob die Patientin beim Vorsetzen des linken Fusses
gewissermassen mit dem Oberkörper auf die linke Seite fiele.
Wir hätten dann hier einen Vorgang, der wiederum dem sich
bei dem Schwanken der Patienten mit kongenitaler Hüftluxation
abspielenden sehr ähnlich zu denken wäre.
So sind es wohl verschiedene Momente in verschiedenen
Kombinationen, welche den Gang der Osteomalacischen bedingen.
Auch die Frage nach der Genese der Schwäche des Psoas
und der andern etwa betroffenen Beckenmuskeln (Rissmann) ist
nicht ohne weiteres zu beantworten. Zwei Ansichten stehen sich
hier, wie oben bereite angedeutet, diametral gegenüber. Nach
der einen soll diese Schwäche lediglich in mechanischen Ver-
hältnissen, auf die wir weiter unten ausführlicher zurückkommen,
ihren Grund haben; die Vertreter der anderen Ansicht aber
nehmen eine wirkliche Parese an, die dann entweder neuropathisch,
und zwar durch Erkrankung des Zentralnervensystems oder der
peripheren Nerven resp. Wurzeln, oder myopathisch durch eine
primäre Erkrankung des Muskels bedingt sein könnte.
Gehen wir diese letzteren Möglichkeiten zunächst der Reihe
nach durch.
Es ist vornehmlich Pommer (1885), der den Gedanken, die
Osteomalacie als solche könnte auf abnormen Vorgängen im
Zentralnervensystem beruhen, lebhaft verficht. Er weist unter
anderem darauf hin, dass Litzmann durch eine Anzahl von
Fällen, in welchen sich Osteomalacie „im Gefolge tieferer Läsionen
der Zentralorgane des Nervensystems“ entwickelte, sich zur Auf-
stellung einer neurotischen Form der Osteomalacie genötigt sah,
und erinnert daran, dass Knochenveränderungen und Frakturen
bei schweren Geisteskrankheiten nicht so selten seien. Im Gegen-
satz zu anderen Autoren, welche umgekehrt die psychischen Er-
scheinungen von den osteomalacischen Schädelknochenveränderungen
herleiten (Finkelnburg) oder, wie jüngst Hönnicke, als koor-
diniert, als ebenfalls „thyreogen“ entstanden ansehen möchten,
neigt er zu der Annahme der Abhängigkeit der Knochen-
erscheinungen von dem Nervensystem. In Konsequenz dieser
Ansch&uung liegt es ihm nahe, auch die motorischen und sen-
siblen Erscheinungen der Osteomalacie auf das Zentralnerven-
system zu beziehen. Indem er dieselben (unter denen auch er
schon frühzeitige und spätere, wenn auch nicht scharf, scheidet),
ungefähr aus denselben Gründen, welche wir sogleich bei Fried-
berg kennen lernen werden, nicht mechanisch entstehen lassen
will, indem er ferner eine primär myopathische Entstehung nicht
für erwiesen hält, drängt sıch ihm der Gedanke eines Ursprungs
und Sitzes derselben im zentralen Teil des Nervensystems „geradezu
von selbst auf“.
Ich glaube nicht, dass man die Hypothese — und nur als
solche stellt sie P. auf —, dass der Osteomalacie in letzter Linie
feinere Veränderungen des Zentralnervensystems zugrunde liegen,
osteomalacische Lähmang. 457
kurzweg von der Hand weisen kann; selbst, wenn beispielsweise
etwa die Meinung Hönnickes vom thyreogenen Ursprung der
Östeomalacie zu Recht bestehen sollte, wird sich die Möglichkeit
nicht bestreiten lassen, dass die Knochen- und vielleicht auch
ein Teil der Muskelschädigungen schliesslich doch durch Ver-
mittelung des Nervensystems zustande kommen. Aber diese Hypo-
these ist in den 20 Jahren, seit Pommer sie vertrat, kaum ge-
fördert worden, die tatsächlichen anatomischen Befunde am
Zentralnervensystem sind äusserst spärliche [Moses: Osteomalacie
mit Hydromyelus, Pommer: Anscheinend Seitenstrangdegene-
ration bei Osteomalacie!)], und können keinen Anspruch auf
Verallgemeinerung erheben?). Aber selbst, wenn sie richtig wäre,
selbst, wenn es erlaubt wäre, einiges von den späten Motilitäts-
störungen der schwersten ÖOsteomalacien auf Defekte in den
Pyramidenbahnen zu beziehen, die geschilderte frühzeitige typische
and isolierte Psoasschwäche könnte durch solche Befunde nicht
erklärt werden, wie ich mir überhaupt einen konstant zu einer
solchen Lähmung führenden Rückenmarksprozess nach Art und
Lokalisation nicht vorstellen könnte, ohne zu ganz paradoxen
Annahmen zu gelangen.
Die Konstanz der isolierten Psoasschwäche lässt es meines
Erachtens ebenso unzulässig erscheinen, den Locus morbi in den
Wurzeln oder den peripherischen Nerven zu suchen, womit natür-
lich nicht die Möglichkeit bestritten werden soll, dass beide
gelegentlich durch die verdickten und verbogenen Knochen ge-
schädigt werden können. Im Gegenteil, ähnlich, wie es vorhin
bei. den sensiblen Nerven angenommen wurde, werden daraus ge-
wiss häufig in den vorgeschritteneren Stadien der Osteomalacie
motorische Reiz- und Ausfallserscheinungen resultieren. Viele der
bei Stieda zusammengestellten, gelegentlich beobachteten Symp-
tome könnten so ihre Erklärung finden (manche Lähmungen,
motorische Reizerscheinungen, Atrophien, Alterationen der Re-
flexe u. s. w.). Natürlich müssten sich dann an den entsprechenden
Muskeln die Kriterien der peripherischen Nervenläsion nachweisen
lassen. Auch die Abschwächung eines Patellarreflexes bei Frau
W., ein, wie ich glaube, noch nicht beobachtetes Symptom, wäre
so leicht zu verstehen. Rissmann hat bereits nachdrücklich auf
einen derartigen Entstehungsmodus mancher Störungen hinge-
wiesen. Für ihn, der ja gar nicht die isolierte Psoasparese,
sondern diffusere Muskelparesen als charakteristisches Früh-
1) Untersuchungen über Osteomalacie und Rachitis. Leipzig. 1885. p. 480.
2) Einer jüngst veröffentlichten Arbeit von Eugenio Medea und
Corrado da Fano: Contributo all’ anatomia patologica della Malattia
ossea de Paget, Il Morgagni, 1906, No. 6 (estratto), entnehme ich, dass die
entsprechenden Beobachtungen bei der Pagetschen Erkrankung etwas zahl-
reicher sind. Es handelte sich meist um einen mässigen Faserausfall in den
Seiten- und Hintersträngen und mässige Verdichtung der Stützsubatanz.
Man wird den Autoren lebhaft zustimmen müssen, wenn sie sich betreffs der
Verwertung dieser Befunde für die Pathogenese der Krankheit mit vor-
sichtigster Zurückhaltung äussern.
458 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
symptom der Östeomalacie ansieht, liegt es nahe, diesen Ent-
stehungsmodus auch für die Initialsymptome zu supponieren
(obwohl er beweisende Zeichen für den peripheren Sitz der
- Läsion in seinen Fällen nicht beibringt). Wenn man aber, wie
doch wohl die meisten neueren Autoren, gerade in der konstanten,
isolierten Psoasschädigung das Typische der „osteomalacischen
Lähmung“ sieht, eine Ansicht, die durch den Fall K. bestätigt
wird, so wird man die neuritische Genese derselben kaum ac-
ceptieren können. Ich werde später noch auf die Möglichkeit
der Ausbildung einer verbreiteten Polynearitis auf der Basis der
osteomalacischen Dyskrasie hinzuweisen haben; für die frühzeitige
Psoasschwäche kommt auch das nicht in Frage.
So hat man denn den Ort der Störung im Muskel selbst
gesucht; es soll sich um eine primäre Erkrankung des Muskels,
eine „Dystrophia osteomalacica“ (Köppen) oder, wie Friedreich
sagt: „um eine der Knochenerkrankung koordinierte Muskel-
affektion, den Effekt einer gemeinsamen, auf beide Gewebssysteme
wirkenden Ursache, begründet in konstitutionellen Anomalien“,
handeln. Danach also läge auch der initialen Psoasschwäche
eine echte myopathische Parese zugrunde. Bei dieser Annahme
wärden die Bedenken. die sich gegenüber einer neuropathischen
Entstehung des Phänomens aus seiner Konstanz und Isoliertheit
ergeben, wenigstens einigermassen zurücktreten gegen die Er-
wägung, dass die Schädlichkeit, die ja unter den Knochen zuerst
gewönlich Becken und Lendenwirbelsäule ergreift, begreiflicher
Weise auch unter den Muskeln zuerst und mit einer gewissen Regel-
mässigkeit die jenen Knochen benachbarten und an ihnen in-
serierenden Muskeln befallen würde.
Die Vertreter dieser Anschauung stützen sich einmal darauf,
dass seit langer Zeit einzelne Muskelbefunde vorhanden sind, die
das Vorkommen von Veränderungen in den Muskeln Osteo-
malacischer erweisen und z. T. auch für das Bestehen einer
primären Myopathie sprechen, das andere Mal darauf, dass bis-
weilen die Muskelstörungen den manifesten Knochenveränderungen
vorausgehen. Dies letztere Argument findet sich schon bei
‚ Friedberg. Nach ihm erschliessen „schon die ziehenden,
reissenden Schmerzen (lange Zeit vor der Deklaration der Osteo-
malacie), die Kraftlosigkeit, Ermüdbarkeit, das schlaffe Aussehen
der behafteten Körperteile, die unregelmässig verteilte Lähmung
die Ernährungsstörung der Muskeln. Während die Erscheinungen
(sc. seitens der Muskeln) sich ausbilden, wird durch die Ernährungs-
störung der Knochen die Weichheit derselben eingeleitet, und
erst wenn der Krankheitsprozess im Knochen weit genug ent-
wickelt ist, so wird die Bewegung allerdings auch durch ihn ver-
hindert. Die Lähmung der Immobilität zuzuschreiben, wäre
ein Anachronismus, da jene sich vor dieser und schon in einem
Stadium entwickelt, in welchem die Kortikalsubstanz des Knochens
fest genug ist, um für die Muskeln eine genügende Angriffsfläche
darzubieten“. So bestechend diese von vielen Autoren acceptierte
osteomalacische Lähmang. 409
Argumentation ist, für beweisend und für zwingend wird man sie
nicht halten können.
Und damit komme ich zu der letzten Erklärungsmöglichkeit
der osteomalacischen, frühzeitigen Psoasschädigung, welche mir,
wie ich vorweg bemerken will, als die bei weitem wahrscheinlichste
und glaublichste erscheint. Danach ist die fragliche Funktions-
störung teils durch mechanische Verhältnisse infolge der mehr
oder minder ausgesprochenen Formveränderungen des Beckens
bedingt, teils die Folge der mit der Kontraktion des Muskels ver-
bundenen Schmerzen. Das Hineinsinken der Wirbelsäule in das
Becken einerseits, das Höhertreten der Femora andererseits be-
wirkt bei der ausgesprochenen osteomalacischen Beckenveränderung
eine Annäherung der Insertionspunkte des lleopsoas, die, wie
mir scheint, fast notwendig zu einer Aktionsstörung führen muss.
Wenn die Muskeln hierbei Veränderungen eingehen, so meinen
die Autoren, ist die Veränderung eine sekundäre, eine Folge der
Inaktivität. Aber auch in den Fällen, in denen Psoasschwäche
besteht ohne erkennbare Beckendeformität, lässt sie sich meines
Erachtens wohl verstehen, ohne die Zufluchtnahme zur Supposition
einer Myopathie. „Jede Aktion des Ileopsoas,“ sagt z. B.
Vierordt, „leistet der sich einleitenden Deformität der hinteren
Beckenwand Vorschub und ruft Unbehagen und Schmerzen hervor,
was von selbst zu einer tunlichst geringen Inanspruchnahme des
Muskels führen wird.“ Wenn es auch richtig ist, möchte ich dem
hinzufügen, dass die Erkrankung vom Knochenmarke ihren Aus-
gang nimmt, so deutet die häufige Entstehung von Exostosen —
v. Recklinghausen hält „die Vergrösserung der Spinae und
Tubera, der Ansätze der stärkeren Muskeln, Sehnen und Ligamente*
geradezu für charakteristisch für die reine Osteomalacie, — doch
auf eine lebhafte Beteiligung der Corticalis an den feineren,
regressiven und proliferierenden Vorgängen am malacischen
Knochen; es ist durch nichts erwiesen, dass solch feine Struktur-
veränderungen der oberflächlichen Knochenschichten nicht schon
zu einer Zeit statthaben, in der es zu groben Verbiegungen noch
nicht gekommen ist. Auch daran wird zu erinnern sein, dass das
Periost bei der Osteomalacie doch vielfach alteriert gefunden ist,
und wenn Pommer sich auf Grund seiner Befunde dagegen ver-
wahrt, dass der Osteomalacie eine allgemeine Periostitis zu Grunde
liegt, so konstatiert doch auch er lokale Vorgänge am Periost
nicht nur atrophischer, sondern auch proliferierender Natur. Er
gibt die Möglichkeit zu, dass die Merkmale einer Periostitis.....
eventuell auch da zu finden seien, wo — nach den Angaben
Roloffs — mechanische Reizungen in den infolge von Bewegungen
eintretenden „Zerrungen der Muskeln, Sehnen oder Bänder“
gegeben seien. Es wird nicht zu bestreiten sein, dass unter allen
diesen Umständen Funktionsstörungen möglich sind.
Aber neben diesen Momenten, welche die letzteren also auf
eine durch Schmerz und Zerrung bedingte Inaktivität zurückführen,
kann meines Erachtens die Einwirkung rein mechanischer Faktoren
Monatsschrift für Psychiatrie and Neurologie. Bd. XXI. Helt 5. 81
460 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
auf die Muskeltätigkeit auch da nicht ausgeschlossen werden, wo
nachweisbare Stellungsveränderungen der Beckenknochen zu ein-
ander noch nicht vorhanden sind. Denn selbst geringe Aenderungen
des normalen Spannungszustandes der Muskeln (speziell des Psoas),
der allein eine richtige und prompte Funktion gewährleistet, werden
genügen, um die letztere zu schädigen. Solche Aenderungen des
normalen „Spannungsgleichgewichtes“, wenn ich so sagen darf,
ım Sinne der Erschlaffung könnten aber schon durch Deformationen
der Knochen erzeugt werden, die sich der Feststellung an Lebenden
noch entziehen,
Auch das Vorkommen des charakteristischen Ganges ohne
manifeste Beckenveränderungen (Latzko) beweist aus diesen
Gründen das Bestehen einer echten Psoasparese selbst dann
nicht, wenn man ihn ausschliesslich auf die Störung der Tätigkeit
dieses Muskels zurückführt; auch die einfache Funktionsstörung
infolge jener Momente wird zu demselben Resultat führen. End-
lich, auch die gleichfalls von Latzko zu Gunsten einer „Parese“
des Psoas ins Feld geführte Tatsache, dass der Gang geheilter
Östeomalacischer wieder normal zu werden pflege, oder dass er,
wenn er abnorm bleibe, doch nicht mehr den eigentümlichen
Charakter des Entenganges behalte, verliert im Lichte der
Vierordtschen Gesichtspunkte seine Stichhaltigkeit und wird ganz
hinfällig, wenn man die oben angeführte, meines Erachtens sehr
naheliegende Annahme einer abnormen Elastizität der Pfannen-
gegend mit zur Erklärung des Ganges heranzieht.
Eine wertvolle Bestätigung der Richtigkeit der Anschauungs-
weise Vierordts sehe ich in einem kürzlich von Schlesinger
(l. c.) veröffentlichten Fall von „sypbilitischer Pseudoosteomalacie“.
Bei einem Manne fanden sich neben Schmerzen, die denen bei
Osteomalacie täuschend ähnlich waren, alle die früher genannten
charakteristischen motorischen Erscheinungen: mühsames Beugen
der Beine im Häft- und Kniegelenk, Unmöglichkeit, das gestreckte
Bein bei Rückenlage zu erheben, Zittern der geschwächten Muskeln
bei intendierten Bewegungen, passive und aktive Abduktions-
behinderung und, sobald der Kranke imstande war das Bett zu
verlassen, Watschelgang. Eine Inunktionskar brachte schnelle
Heilung. Schl. führt die Erkrankung auf eine luetische Periostitis
multiplex mit Arthritis zurück; man wird meines Erachtens die
Möglichkeit eines luetischen Knochenerweichungszustandes (s. oben)
wenigstens in Erwägung zu ziehen haben. Aber, wie dem auch
sei: das Vorkommen genau der gleichen Funktionsstörungen bei
einer ätiologisch ganz anders gearteten diffusen entzündlichen
Knochenerkrankung spricht meines Erachtens auf das lebhafteste
für die Abhängigkeit dieser Störungen eben von den im Knochen
selbst sich abspielenden Reizzuständen.
Aber all dieses theoretische Für und Wider kann am Ende
volle Sicherheit hierüber nicht bringen. Es sind vielmehr ledig-
lich die tatsächlichen anatomischen Befunde an den Muskeln,
welche die Frage sicher entscheiden können. Ich sehe ab von
osteomalacische Lähmung. 461
der Auffährung der Autoren, welche Schlaffheit, Schwäche der
Muskulatur etc. nur am Lebenden festgestellt haben, sowie derer,
welohe ohne Angabe von tatsächlichen Befunden nur im allge-
meinen mehr oder weniger bestimmt das Vorkommen entzünd-
licher oder degenerativer Veränderungen behaupten. Das alles
findet sich z. B. in der Stiedaschen Arbeit zusammengestellt.
Nur die Fälle, in denen der Nachweis solcher Veränderungen
ositiv erbracht wird, möchte ich unter Hinweis auf einzelne
Figentümlichkeiten derselben nochmals in Kürze referieren.
Da ist zunächst der vielzitierte Fall von Chambers!) aus
dem Jahre 1854. (Die faserige Struktur der makroskopisch
homogenen Muskeln war verschwunden, es fanden sich Fett-
körnchenzellen, in den Zwischenräumen granulierte Körper.) Der
Fall (nicht puerperal, 26jähriges Mädchen) ist klinisch auffällig
dadurch, dass die Muskelsymptome ausgeprägt 7 Jahre vor dem
nachweislichen Beginn der Knochenerkrankung bestanden; sie be-
schränkten sich nicht auf die Ileopsoas.
O. Weber (1867) beschreibt 2 Fälle, deren einer erst
6 Tage nach dem Tode in seine Hände kam. Derselbe (71jährige
Frau mit „echter seniler Osteomalacie*) zeigt neben „osteomala-
tischen Gelenkentzündungen“ ausgedehnte lipomatöse Veränderung
undfettigeEntartungderMuskulatur,besondersderBeckenmusk ulatur.
„Die Glutaeen und sämtliche Rollmuskeln bildeten Fettbündel, die
nur hie und da noch Streifen fettig degenerierter oder trübkörniger
Muskelfasern enthielten. Ebenso erschienen sämtliche tiefe Rücken-
muskeln un der vorderen Seite der Wirbelsäule, die Ileopsoas
und selbst die Intercostalmuskeln in höherem oder geringerem
Grade verändert“. Auch bei dem 2. Fall (87jährige Frau) „fehlte
nicht die fettige Degeneration und Fettdurchwachsung der Mus-
keln, nur hatte sie einen geringeren Grad erreicht“.
Friedreich (1873) sah bei einem erwachsenen Manne mit
Osteomalacie „die Muskeln atrophisch, schlaff und welk, teils von
hellgelblicher Farbe, teils durchzogen von weisslich sehnigen
Streifen und Flecken, Das Mikroskop enthüllte eine ausgeprägte,
sehr kernreiche Hyperplasie des Perimysium internum, sowie an
den Muskelelementen selbst die unzweideutigsten Zeichen ent-
zündlicher Reizung (körnig albuminöse Trübung, Wucherung der
Muskelkerne) neben all jenen Formen des Zerfalls der kontrak-
tilen Substanz, wie ich sie für die progressive Muskelatrophie
ausführlich geschildet habe“. (d. h. Zerklüftung, Zerfall, wachs-
artige und fettige Degeneration u. s. w.)
Dann ist noch zu erwähnen der Fall, den Jolly und Kaiser-
ling im Jahre 1899 in der Gesellschaft der Chariteärzte be-
sprachen. Es handelte sich scheinbar um eine typische puerperale,
kolossal weit vorgeschrittene Form, bei welcher sich in den er-
weichten Knochen vielfach Cysten fanden. Die Muskeln waren
1) Ich zitiere nach Friedberg, Pathologie und Therapie der Muskel- .
dähmung. Leipzig 1862, p. 276.
31*
462 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
gelb, mit feinen, weisslich-gelben Strängen (Fettdurchwachsungen)
durchzogen. Mikroskopisch fanden sich neben kolossaler Fett-
entwicklung viel abgerundete Querschnitte, an Stelle der polygo-
nalen grossen und kleinen ganz kleine Querschnitte, sehr starke
Atrophie an einzelnen Stellen neben gut erhaltenen Muskelbündeln
an anderen. Sehr reichliche intermuskuläre Kernentwicklung:
ein Bild, das, wie Jolly sagt, ausserordentlich an das bei der
Dystrophie erinnert. Herr Professor Kaiserling hatte die Güte,
mir mündlich mitzuteilen, dass sich bei späterer, genauerer Unter-
suchung herausgestellt hat, dass in diesem Falle der Knochen-
erweichungsprozess am Becken mit einer schweren Sarkomatose
verbunden war, während sich an den übrigen betroffenen Knochen
weder makroskopisch noch mikroskopisch Sarkome gefunden
haben. Er demonstrierte mir ein Präparat (vom Becken), in dem
sich deutlich ein ganz allmählicher Uebergang des normalen oder
annähernd normalen Knochengewebes in typisches Riesenzellen-
sarkomgewebe verfolgen liess. Wenn nun auch mit Rücksicht
auf die bereits erwähnte Anschauung hervorragender Autoren,
wonach sich eine Sarkomatose einer echten Osteomalacie gewisser-
massen supraponieren kann, der Fall seine Bedeutung für unsere
Betrachtung hinsichtlich der Muskelbefunde behält, so wird man
ihn doch als vollkommen rein und eindeutig nicht ansehen können.
Ich will noch hinzufügen, dass Wetzel (1899) bei einem
schweren, einige Eigentümlichkeiten zeigenden Falle die Muskeln
des Oberschenkels in eine gelbliche, wachsartige Masse verwandelt
fand. In der Inzisionshöhle sammelte sich eine Menge- flüssigen
Fettes. Angaben über den mikroskopischen Befund fehlen.
Dem stehen einige Befunde gegenüber, die man mehr oder
weniger als negativ bezeichnen muss. In einem Falle typischer
Osteomalacie F. Winckels (1884) fand v. Recklinghausen
den lleopsoas, die Gemelli, den Quadratus femoris sehr schlaff,
dënn und blass. Die einzelnen Fasern in all jenen Muskeln
hatten ein ziemlich normales Aussehen; sie waren sehr stark
glänzend, zeigten grosse Reihen von Kernen, keine fettige Dege-
neration.
Köppen (1890) untersuchte einige Muskelstückchen aus der
Wadenmuskulatur zweier lebenden Östeomalacischen ohne sicheres
Resultat; er fand ferner in den spärlichen Resten von Muskel-
fasern, die an einem in Spiritus aufbewahrten Becken sitzen ge-
blieben waren, deutlich atrophische Fasern; mehr konnte nicht
nachgewiesen werden.
Somit finde ich in der mir zugänglichen Literatur fünf oder,
bei Hinzurechnung des Falles von Winckel, sechs mikroskopisch
untersuchte positive Fälle. Mehrere derselben stammen aus einer
Zeit mit relativ gering entwickelter mikroskopischer Technik,
in der die Anschauungen über atrophische und degenerative Ver-
änderungen am Muskel immerhin noch nicht so weit geklärt waren,
wie sie es heute sind. In allen Fällen handelt es sich um ganz
osteomalacische Lähmung. 463
schwere Osteomalacien, um Kranke, die an der Krankheit oder ihren
direkten Folgezuständen zugrunde gegangen sind. Selbst in solchen
Fällen, so scheint es, sind die Befunde nicht eindeutig, stimmen
nicht miteinander überein. Während einige auf degenerative
Prozesse hindeuten (Chambers, Friedreich, z. T. auch Weber),
sprechen andere für atrophische infiltrative Vorgänge (Jolly, ev.
Winckel); in einigen scheint eine Mischung von beidem vor-
zuliegen. Die ersteren liessen sich vielleicht als Druckneuritis auf-
fassen, wahrscheinlicher durch kachektisch polyneuritische Prozesse
erklären. Diegeringen Veränderungenim Falle Winckels lassen sich
gewiss durch Inaktivität erklären (Vierordt). Für die Annahme
einer primären Myopathie bleibt eigentlich der Jollysche Fall,
der, wie gesagt, an sich zweifelhaft ist; zudem sagt J. selbst,
dass zur Zeit der Berichterstattung ausgedehnte Untersuchungen
nóch nicht hätten stattfinden können!).
Noch auf einen merkwürdigen, vielleicht zufälligen Umstand
bei diesen Muskelbefunden möchte ich aufmerksam machen. Die
sämtlichen älteren Fälle (bis auf den so geringe Veränderungen
der Muskeln zeigenden Fall von Winckel) gehören nicht zu der
gewöhnlichen und nach der Ansicht aller Autoren weit über-
wiegenden puerperalen Osteomalacie.e Zweimal (Weber) handelt
es sich um Greisinnen, einmal (Friedreich) um einen Mann,
einmal [Chambers?)] um ein junges Mädchen.
Wenn ich aus dem allen das Facit ziehe, so scheint es mir
erwiesen, dass die schweren, terminalen Osteomalacien von hoch-
gradigen Muskelveränderungen begleitet sein können, Verände-
rungen, die sich intra vitam durch schwere Funktionsstörungen,
Jähmungen kundgeben müssen. Woher diese und jene kommen,
darüber geben die bisherigen Befunde keine Auskunft.
Möglich wäre es, dass sie ihre Entstehung sehr verschiedenen
Ursachen verdanken, vielleicht z. T. den supponierten Seitenstrang-
veränderungen im Rückenmark, bisweilen gewiss polyneuritischen
1) Wenn ich trotzdem die Möglichkeit, dass wenigstens gelegentlich
doch derartige Kombinationen von pathogenetisch gleichwertigen Knochen-
und Muskelerkrankungen vorkommen, ausdrücklich betonen möchte, so ver-
. anlassen mich dazu einige Bemerkungen Jollys. Nicht nur, dass er i
diesem Falle die Aehnlichkeit der mikroskopischen Bilder mit denen bei
Muskeldystrophie betont, er erwähnt gleichzeitig auch einen anderen Fall,
in welchem sich zu einer typischen Dystrophie bei einem jungen Mann eine
ausgesprochene Östeomalacie gesellt habe. Vielleicht lassen sich auch einige
andere Beobachtungen in der Literatur als Kombinationen beider Erkrankungen
auffassen; ein Fall von Winckel (in den „Klinischen Beobachtungen zur
Dystokie von Beckenenge“, 1882) erinnert in vielen Beziehungen an Dystrophie,
zeigt freilich auch einiges Auffällige (Beteiligung der Handmaskeln und
anderes). Schlippe und Dreyer (Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. 80
respektive 31) haben neuerdings auf das Vorkommdn von allerdings anders-
artigen Knochenstörungen bei Dystrophie hingewiesen.
) Für den Fall von Chambers, dessen Original mir nicht zur Ver-
fügung steht, ist die nicht puerperale Entstehung nicht ganz sicher. Doch
findet sich bei Friedberg und in sonstigen Zitaten nichts von einem
Puerperinm vermerkt; auch handelt es sich um ein Mädchen, dus bei Beginn
der Muskelerkrankung 19 Jahre alt war.
464 Völsch, Ueber Osteomalasie und die sogenannte
oder lokalneuritischen Prozessen, vielleicht auch zuweilen echten,
der Knochenerkrankung koordinierten Myopathien. Vielleicht
kombinieren sich gelegentlich bei demselben Kranken mehrere
dieser Ursachen, Ueberall wird die, die schweren Osteomalacien
komplizierende, Kachexie, überall auch das Moment der Inaktivität,
welche durch mechanische Verhältnisse und Schmerz erzeugt wird,
in Rechnung zu ziehen sein: Ein Konvolut von Fragen, die nur
durch vielfältige und eingehende Untersuchung des Muskel- und
Nervensystems Osteomalacischer allmählich gelöst werden können.
Ganz unzweideutig aber, meine ich, ergibt sich aus dieser
Betrachtung die Folgerung, dass die Befunde für die Lösung der Frage,
um welche es sich hier zunächst handelt, nicht verwertet werden
können, der Frage, ob die charakteristische, frühzeitige oder initiale
Bewegungsstörung des Ileopsoas durch eine neuro- oder myo-
pathisch bedingte Muskelerkrankung hervorgerufen wird, oder
ob sie auf mechanischen Ursachen beruht, mit anderen Worten,
ob es sich dabei um eine Parese oder um eine mechanische
Funktionsstörung handelt. Nach dem, was ich oben ausführte,
ruht die erstere Annahme meines Erachtens einstweilen auf einer
recht unsicheren Grundlage, und man wird so lange berechtigt
sein, diese initiale Funktionsstörung des Psoas (und wohl auch
der etwa sonst noch bei der initialen „osteomalacischen Lähmung“
beteiligten Beckenmuskeln [Rissmann]) als eine einfache, auf
mechanische und „Zerrungs“-Momente zu beziehende Schwäche
aufzufassen, als nicht sichere Muskelbefunde aus Frühstadien der
Krankheit dazu zwingen, diese Auffassung aufzugeben.
Ich verkenne nicht, dass die genetische Trennung der frühen
und der späten „Lähmungen“, zu der man auf diese Weise mög-
lichenfalls kommt, und die Pommer perhorresziert, zunächst etwas
Bedenkliches hat. Aber ich meine, dies Bedenken verliert an
Gewicht bei der Annahme, dass die frühen und ein Teil der späten
Funktionsstörungen eben keine Lähmungen, sondern mechanisch etc.
bedingt sind, und dass in den späten Stadien mancher Fälle noch
ein zweiter „lähmender“ Faktor hinzukommen mag. Und anderer-
seits, die Supposition einer isolierten Psoaslähmung hat etwas
mindestens ebenso Gezwungenes, Ä
Die Vergleichung der beiden besprochenen Fälle ist geeignet,
die Anschauung von der mechanischen Entstehung der frühen
Psoasschwäche zu stützen. Bei Frau K. ist sie deutlich aus-
gebildet; bei ihr steht das Promontorium tief, es besteht Lenden-
lordose. Bei Frau W. ist das Promontorium „nicht zu erreichen“,
die Lendenwirbel zeigen eine leichte Kyphose; demgemäss hat sie
volle Beweglichkeit in ihren Oberschenkelbeugern.
Noch ein Wort über die Adduktorenkontraktur Latzkos.
Schon vor ihm haben, wie er selbst angibt, viele Autoren (z. B.
Winckel, Senator, v. Recklinghausen, Volkmann u. A.)
eine „Abduktionsbeschränkung“ bei Osteomalacie gefunden. Erst
Latzko aber hat die Regelmässigkeit dieses Phänomens scharf
osteomalacische Lähmung. 465
hervorgehoben und hat als seine wesentlichste Ursache eine
Kontraktur der Adduktoren angegeben. Er lässt dabei frühere
Deutungsversuche wenigstens für einen Anteil der Störung zu,
für den Anteil nämlich, der sich auch in der Narkose nicht aus-
gleicht. Dieser „Rest der Abduktionsbehinderung“ mag, wie L.
meint, durch Knochenverbiegungen, z. B. auch des Schenkelhalses
und Aenderung der Pfannenstellung bedingt sein (Kehrer,
v. Bruun, Holländer und andere), indem etwa der Trochanter
sich gegen den lateralen Pfannenrand stemmt; auch Schrumpfung
der Kapsel mag gelegentlich in Frage kommen. Aber das Wesent-
liche, worauf der nach Latzko weit erheblichere Anteil der Ab-
duktionsbeschränkung, welcher sich in der Narkose vollkommen
ausgleicht, zu beziehen ist, ist ihm eine „Aktive Kontraktur“ der
Adduktoren. „Genau so,“ sagt er, „wie bei Frakturen, Luxationen,
Gelenkentzündungen der betreffende Körperteil durch aktive Kon-
traktur der umgebenden Muskeln fixiert wird, so kontrahiert sich
die an den zumeist erkrankten Partien des Beckens inserierende
Adduktorengruppe dauernd, um eine Zerrung durch übermässige
Abduktion zu verhindern.“ Er beruft sich dann weiter auf
Breisky und führt das folgende Zitat an: „Vorzüglich auffallend
ist die Schwierigkeit, die Beine zu abduzieren, vielleicht wegen
der mit der Abduktionsbewegung gesetzten passiven Ausdehnung
und Spannung an der Insertion der von deu erkrankten und zur
Schnabelbildung verwandten Beckenteilen entspringenden Adduk-
toren zur Zeit der Exacerbationen der Krankheit. Nach einer
solchen Exacerbation ..... lässt nämlich die Schmerzhaftigkeit
wieder nach, und die Kranken können die Beine wieder besser
abduzieren, obschon die Beckendeformität einen weiteren Schritt
gemacht hat.“ Beide Autoren stellen also die Schmerzhaftigkeit
des erkrankten Schambeins ganz in den Vordergrund; zur Ver-
meidung der Zerrung bei der Abduktion kontrahieren die Kranken
die Adduktoren. Ich glaube, man wird ihnen darin rückhaltlos
zustimmen können, und zumal zur Erklärung der aktiven und
passiven Abduktionsbehinderung reicht die Betonung dieser
chmerzhaftigkeit gewiss aus. Ich möchte aber zugleich zur Er-
wägung stellen, ob zur Erklärung der „Kontraktur“, die gerade
Latzko so sehr betont, d. h. eines dauernden Kontraktions-
zustandes der Adduktoren, nicht noch ein weiteres Moment ver-
dient, schärfer und ausdrücklicher hervorgehoben zu werden, als
es beide Autoren tun. Ich meine die Dehnung der Adduktoren
durch die Beckendeformation, schon im relativen Ruhezustande,
nicht erst bei dem Versuch der Abduktion.. Wie die typische
Beckenveränderung {bei Osteomalacie zu einer Annäherung der
Insertionspunkte des Psoas führt, so entfernt sie andererseits die
Ansatzpunkte der Adduktoren von einander, was ja auch Breisky
in dem wiedergegebenen Zitat andeutet. Ich verweise hierzu noc
auf die hierfür äusserst instruktive Abbildung bei Litzmann!),
1) Die Formen des Beckens, 1861, Taf. VI.
466 Völsch, Ueber Osteomalacie und die sogenannte
aus der hervorgeht, wie viel weiter, als bei anderen Becken-
deformitäten, die Symphyse des osteomalacischen Beckens nach
vorn liegt. Auch schon eine ganz geringfügige. Zunahme der
normalen Adduktorendehnung, wie sie durch eine am Lebenden
noch keineswegs nachweisbare Verschiebung der Knochen hervor-
gerufen werden kann, muss meines Erachtens zu einer dauernden
leichten Zerrung an dem kranken Knochen führen; es wird an
dem erkrankten Bein im Vergleich zu dem normalen Zustande,
wenn ich so sagen darf, dauernd ein relativer Abduktionszustand
bestehen, den der Kranke, wie Latzko sehr richtig sagt, dauernd
durch Verminderung der Dehnung, d.h. durch verstärkte Adduktion,
auszugleichen die Tendenz haben wird.
Wir haben meines Erachtens hier das vollständige Gegen-
stück zu den Vorgängen, die sich bei der Genese der Psoas-
schwäche abspielen mögen. Bei letzterer: Annäherung der
Insertionspunkte, vielleicht nur in ganz geringem Masse, klinisch
nicht erkennbar,.aber genügend zu einer Aenderung des „Spannungs-
gleichgewichtes“ nach der negativen Seite und Erschlaffung des
Muskels; als Folge davon Hypofunktion. Hier, bei der Adduktoren-
kontraktur, Entfernung der Insertionspunkte, Verstärkung der
Dehnung, aus der an sich schon eine Art Hyperfunktion resultieren
mag, eine erhöhte Kontraktibilität, wenn der Ausdruck erlaubt
ist, wie im physiologischen Experiment der stärker belastete
Muskel — bis zu einer gewissen Grenze — auf denselben Reiz
mit einer grösseren Arbeitsleistung, einer stärkeren Kontraktion
antwortet. Dazu kommt in beiden Fällen als hochwichtiges Moment
die Schmerzhaftigkeit des Knochens. Aber während dort die
Zweckmässigkeit Kontraktionen tunlichst vermeiden lässt, wird
hier in der oben ausgeführten Weise eine dauernde Kontraktion
der Adduktoren zum Ausgleich ihrer Dehnung zustande kommen.
Dass sich an die aktive Kontraktur, wie Latzko will, in-
folge nutritiver Verkürzung schliesslich auch ein passiver Kon-
trakturzustand anschliessen kann, wird wohl unbestreitbar sein.
Das kommt ja aber für die frühzeitige Kontraktur, um die es
sich hier handelt, nicht in Frage.
Bei Frau K. bestand eine nicht sehr erhebliche, aber deut-
liche Abduktionsbehinderung, wohl sicher durch Anspannung der
Adduktoren ;die Entstehungsweise durch Anstemmen desTrochanters
glaube ich ausschliessen zu können.
Ich resumiere mich folgendermassen:
Die „osteomalacische Lähmung“ in dem prägnanten Sinne
eines frühzeitigen Symptomenkomplexes (Schmerzen, Watschel-
gang, mehr oder minder isolierte Psoasschwäche, Abduktions-
behinderung bezw. Adduktorenkontraktur) ist in der Tat
charakteristisch für viele Fälle beginnender Osteomalacie; man
wird aus ihnen die Diagnose mit Wahrscheinlichkeit auch in
solchen Fällen stellen können, in denen Knochendeformitäten sich
noch nicht finden.
osteomalacische Lähmung. 467
Die genannten motorischen Symptome bedürfen zu ihrer
Erklärung nicht der Annahme einer neuropathischen oder primär
myopathischen Muskelerkrankung.
Vielmehr können sie durchweg durch mechanische Ver-
hältnisse and durch die Wirkung der Zerrung am erkrankten
Knochen erklärt werden. Die Bezeichnung der Funktionsstörung
als Lähmung oder Parese (Psoasparese) ist daher inkorrekt; sie
präjudiziert etwas, was zum mindesten noch nicht erwiesen ist.
Die schweren, vorgeschrittenen Osteomalacien scheinen, bis-
weilen wenigstens, von schweren Veränderungen der Muskulatur
begleitet zu sein; über die Genese und die Natur dieser Ver-
änderungen wissen wir durchaus nichts Sicheres.
Alle diese Fragen können nur durch exakte anatomische
Untersuchungen sicher entschieden werden; die Mahnung, die
Winckel vor 42 Jahren aussprach, bei der Obduktion Osteo-
malacischer auf die Muskeln zu achten, besteht heute noch ebenso
sehr zu Recht, wie der vor 27 Jahren ausgesprochene Wunsch
Senators, es möchte das Nervensystem Osteomalacischer unter-
sucht werden; ich möchte hinzufügen, dass zum Verständnis der
Initialsymptome der Osteomalacie und damit zur Befestigung ihres
diagnostischen Wertes die Untersuchung der entsprechenden Or-
gane frühzeitig verstorbener Osteomalacischer dringend wünschens-
wert ist,
Zum Schluss sei mir noch eine Bemerkung gestattet. Wenn
die Auffassung von der mechanischen Entstehung der oben er-
wähnten motorischen Störungen sich als zutreffend erweisen sollte,
wenn ferner die weiter oben verteidigte Annahme richtig ist, dass
auch andere, von der Osteomalacie zu trennende Erweichungs-
und Reizungszustände der Knochen ähnliche Deformationen und
ähnliche mechanische Verhältnisse .hervorrufen können, so wird
die Möglichkeit im Auge zu behalten sein, dass jener eigenartige
Symptomenkomplex sich gelegentlich auch bei solchen anders-
artigen Erkrankungen (Karzinom, Sarkom, Lues, vielleicht auclı
einmal bei Ostitis deformans) findet. Wenn ich ausser dem er-
wähnten, meines Erachtens äusserst beachtenswerten Fall Schle-
singers keinen sicheren derartigen Fall in der Literatur habe finden
können, so werden vielleicht spätere Untersuchungen darüber
Klarheit bringen, ob das an der Irrtümlichkeit meiner Voraus-
setzungen oder an einer zu weit gehenden Ausdehnung des Begriffs
„Osteomalacie“ s. str. seitens der Autoren liegt.
468 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
Von
Dr. KURT MENDEL,
Nervenarzt in Berlin.
Vorbemerkungen.
An der Hand von mehr als 1500 Gutachten, die zum Teil
von meinem Vater, der sie mir freundlichst überliess, zum an-
deren Teile von mir selbst erstattet worden sind, sowie unter
Berücksichtigung der bisherigen Literatur!) und der Entscheidungen
der höchsten Instanz des Versicherungswesens, des Reichs- Ver-
sicherungsamtes, ' will ich in den folgenden Aufsätzen die Rolle
des Trauma in der Aetiologie der Nervenkrankheiten zu beleuchten
suchen. Zur Besprechung sollen gelungen in fortlaufender Reihen-
folge die progressive Paralyse, der Hirntumor, Hirnabszess, die
Apoplexie und die Meningitis; die Tabes, multiple Sklerose,
Syringomyelie, Myelitis, amyotrophische Lateralsklerose und
progressive Muskelatrophie; die Dystrophia musculorum pro-
gressiva und Neuritis; die Paralysis agitans, Basedowsche Krank-
heit, Akromegalie und Epilepsie in ihren Beziehungen zum Unfall,
d.h. als „posttraumatische“ Krankheiten?). Ein Schlusskapitel möge
dann die sich aus dem Studium der Literatur und meines Materials
ergebenden Folgerungen kurz noch einmal zusammenfassen und
einigen allgemeineren Bemerkungen Raum bieten.
Die traumatische Neurasthenie und Hysterie, welche schon
allzu oft Gegenstand monographischer Abhandlungen waren, stelle
ich vorerst noch zurück, die Verwertung meines gerade nach
dieser Richtung hin überaus reichhaltigen Materials mir für eine
spätere Arbeit vorbehaltend.
Der Wortlaut der Gutachten ist von mir nur auszugsweise,
die Krankengeschichte selbst zuweilen ausführlicher wiedergegeben ;
letzteres erschien mir erforderlich, um dem Leser Gelegenheit zu
bieten, dasjenige Material, auf welches ich meine Folgerungen
stütze, eventuell einer Nachprüfung unterziehen zu können. Zudem
bieten meines Erachtens einzelne Krankengeschichten an sich
ein solches Interesse, dass mir ihre ausführlichere Publikation
gerechtfertigt erscheint (z. B. Fall 16 und 21 unter „Paralyse“,
1) Am Ende eines jeden Kapitels zusammengestellt.
3) „Posttraumatisch‘‘ bezeichnet den Gegensatz zu den sofort durch
das Trauma erzeugten Zufällen. Eine Apoplexie in Hirn oder Rückenmark,
welche durch direkte Zerreissung eines Blutgefässes anlässlich des Unfalls
entstand, soll z. B. eben so wenig Gegenstand der Erörterung sein wie etwa
eine sich an eine infizierte Kopfwunde direkt und per continuitstem an-
schliessende Meningitis».
Mendel, Der Unfall in der Astiolegie der Nervenkrankheiten. 469
der Fall von amyotrophischer Lateralsklerose post trauma, Fall 11
unter „Tabes“, der anhangsweise unter „Hirntumor“ mitgeteilte
Fall von Sinus pericranii u. 8. w.).
I. Progressive Paralyse und Unfall.
A. Experimentelles.
1. Im Jahre 1884 konnte E. Mendel bei Hunden ein
Krankheitsbild experimentell erzeugen, welches demjenigen der
rogressiven Paralyse beim Menschen überaus ähnlich ist. Seine
Versuche wurden folgendermassen angestellt: Hunde wurden auf
einer Tischplatte so befestigt, dass ıhr Kopf an der Peripherie
des Tisches sich befand. Die Tischplatte wurde alsdann 100—110 mal
in der Minute 4—6 Minuten lang in Rotation versetzt. Bei
Aufhören des Drehens traten Schwindelerscheinungen auf. Wieder-
holte man diese Drehungen täglich, und zwar 3—4mal mit kurzen
Pansen, so sah man gegen den 12. bis 14. Tag zuerst Verlust
des Muskelgefühls in den hinteren Extremitäten. Hörte man
dann mit den Drehungen auf und überliess man die Tiere bei
guter Fütterung sich selbst, so stellten sich im Verlaufe der
nächsten Wochen ein: Zunahme der Erscheinungen an den hinteren
Extremitäten (Labmsein, Hahnentritt), Facialisparesen, Paresen
der Rumpfmuskulatur, der Nackenmuskulatur, Veränderungen des
Bellens, erschwertes Urinlassen. Gleichzeitig nahm die meist
schon in der 2. Woche deutliche Apathie stetig zu und wurde
allmählich zum teilnahmlosen Blödsinn. Das Körpergewicht
sank, der Appetit blieb ungestört. Der Tod erfolgte unter den
Erscheinungen allgemeiner Lähmung. Die Sektion ergab: Ver-
wachsung des Schädels mit der Dura, dieser mit der Pia und
der Hirnrinde im Bereiche des Sulcus cruciatus, Trübung der
Pia, Eingesunkensein der Gyri, Hydrocephalus internus, mikro-
skopisch Kernvermehrung, Wucherung der Gliazellen mit Neu-
bildung von Gefässen, stellenweise Veränderungen der Ganglien-
zellen. Die hochgradigsten Veränderungen fanden sich in der
Umgebung des Sulcus cruciatus und der Fissura Sylvii.
Für die Erzeugung der Krankheit war die aktive Hyperämie
der Hirnrinde die wesentliche Bedingung; wurde der Kopf des
Hundes in der Mitte der Tischplatte fixiert und dann in gleicher
Weise experimentiert, wodurch Hirnanämie hervorgerufen wurde,
so war das Resultat ein völlig negatives.
Mendel erzeugte somit bei Hunden durch Hyperämi-
sierung des Hirns nach. wiederholt ausgeführten Dreh-
versuchen (nicht durch einmaliges Trauma) den paralytischen
Symptomenkomplex.
2. de Luzenberger führte mit dem Wintrichschen Hammer
bei 7 Meerschweinchen Schläge auf den Schädel aus oder fügte
ihnen andere Insulte, wie Stoss mit dem Kopf gegen eine Mauer,
zu und fand, dass sich zunächst eine Vermehrung der regressiv
470 Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten-
veränderten Ganglienzellen zeigte, dass die dem Trauma fol-
genden zirkumskripten Läsionen jhren Ursprung zum Teil
Quetschungen infolge des Contrecoup, zum anderen Teil der vom
Liquor cerebrospinalis fortgepflanzten Erschütterung verdanken.
Mikroskopisch fand de Luzenberger häufig an den dem Contrecoup
ausgesetzten Stellen Zellalterationen und Zerreissungen der Mark-
scheiden auch in weiter Entfernung vom Angriffspunkt des Trauma.
Die Veränderungen der Ganglienzellen bestanden in einer
eigentümlichen Anhäufung des Chromatins an dem einen Pol der
Zelle, während am anderen Pol das Protoplasma rarefiziert er-
schien (nach Nisslpräparaten). Das Gefässsystem reagiert, wie
de Luzenberger ausführt, auf Traumen durch Erweiterung der
Kapillaren und Venen. Hat das Trauma Cachexie im Ge-
folge, so ähneln die Zellveränderungen oft den bei
der progressiven Paralyse beobachteten.
8. Scagliosi rief bei Kaninchen durch wiederholte Schläge
mit einem Holzhammer auf den Kopf Hirnerschütterung hervor
und fand in fast allen Ganglien- and Neurogliazellen der ver-
schiedenen nervõsen cerebralen Regionen als auch im ganzen
Rückenmark regressive Veränderungen (Chromatolyse, Vakuolen-
bildung im Zellleib, Schwund der Gestalt der Ganglienzellen u. s. w.)
wie bei der Paralyse. Besonders frühzeitig und stark be-
teiligt waren die Gliazellen, woraus Scagliosı schliesst, dass
die Veränderungen zuerst das Stützgewebe betreffen, dessen
Zellen ihre Nahrung unmittelbar aus den Blutgefässen ziehen,
Mit Rücksicht auf diesen Umstand sowie in Anbetracht der
diffusen Verbreitung der Veränderungen nimmt er als Primäres
eine Störung der Gefässtätigkeit an und schreibt demnach
dem Gefässsystem die Hauptrolle zu. Demgegenüber war
Schmaus bei seinen in dem Kapitel „Myelitis und Trauma“ des
näheren wiederzugebenden Versuchen sowie Bikeles zu dem
Schlusse gelangt, dass nach künstlich verursachten Erschütterungen
des Körpers die spezifischen Elemente des Nervensystems [ins-
besondere Achsenzylinder (Schmaus) und Markscheiden(Bikeles)]
primär, und ohne dass die Blutgefässe wesentlich an dem Prozess
beteiligt sind, erkranken können.
Bei all diesen Experimenten ist zu berücksichtigen, dass es
sich nicht — wie bei dem gewöhnlichen Trauma — um eine
einmalige Verletzung, sondern um mehrfach ausgeführte Er-
schütterungen bei empfindlichen Tieren handelt. Im allgemeinen
wird man — wenigstens für die meisten Fälle — zu der An-
nahme berechtigt sein, dass der Angriffspunkt der Traumawirkung
das Gefässsystem ist (wie dies auch mit den Experimenten von
Mendel und Scagliosi übereinstimmt), ohne jedoch eine direkte
Wirkung des Traumas auf die spezifischen Nervenelemente aus-
schliessen zu können (Schmaus — Bikeles). Auf dem Wege
der Blutbahn sind auch am besten die Fälle von Geisteskrankheit,
insbesondere von progressiver Paralyse, die angeblich nach heftiger
seelischer Erschütterung (Schreck u. s. w.) einsetzten, zu erklären,
Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 471
das psychische Trauma erzeugt eben ähnliche vasomotorische
Störungen wie eine körperliche Erschütterung des Gehirns, und
durch Vermittelung des Gefässsystems wird alsdann die Psychose
ausgelöst. Fälle von progressiver Paralyse nach psychischem
Trauma, deren Entstehung auf diese Weise ihre beste Deutung
erfährt, sind z. B. von Witkowski, Sprengeler und Kriege
veröffentlicht. Experimentell ist diese Frage von Conty und
Charpentier (nach Binswanger zitiert) behandelt worden,
welche bei Hunden nach Schreckwirkung Blutdrucksteigerung
und erhöhten Gefässtonus beobachteten, ebenso konnten Bezold
und Danilewsky durch einen Schrei in das Ohr bei Tieren Blat-
drucksteigerungen erzeugen.
B. Klinisches.
Die Hauptfrage, welche uns hier zu beschäftigen hat, ist:
Gibt es eine reine traumatische Paralyse? d.h. kann bei
einem bis dahin gesunden und zur Erkrankung nicht besonders
disponierten Individuum ein Trauma an sich eine progressive
Paralyse verursachen?
Die Ansichten der Autoren, welche sich mit dieser Frage
beschäftigt haben, sind geteilt.
a) Autoren, welche die Möglichkeit einer rein trau-
matischen progressiven Paralyse zugeben.
E. Mendel: Ein Trauma kann eine Paralyse erzeugen,
doch ist dies ungemein selten. Unter tausenden Fällen von
Paralyse ist vielleicht ein einziger rein traumatischer Fall vor-
handen. Häufiger spielt das Trauma eine auxiliäre Rolle, es
trifft ein bereits prädisponiertes oder schon krankes Gehirn und
wird der Agent provocateur. Kapilläre Blutungen, Zerstörung
von Nervenelementen können das anatomische Bindeglied bilden.
In völlig gleichem Sinne sprechen sich Regis, Ball,
Barbo, Meschede, Seiffer, Thiele und Troeger aus: sie
geben alle zu, dass eine Verletzung allein eine progressive Para-
lyse hervorrufen kann, betonen aber gleichzeitig die grosse
Seltenheit des Vorkommens einer rein traumatischen Paralyse.
Auch knüpfen sie zumeist an das Trauma selbst bezüglich seiner
Art und Lokalisation bestimmte Bedingungen an, von denen
später die Rede sein wird. E. Meyer kennt nur einen Fall,
in welchem „nicht zu bestreiten ist, dass die Paralyse durch die
Verletzung ausgelöst sei“; er hält es aber doch „zum mindesten
für sehr unwahrscheinlich, dass ein Trauma allein die Ursache
des Leidens bilden könne“. Kraepelin führt das Trauma als
eine der Ursachen der Paralyse an; Mabille, Luys, Baillarger,
Lunier geben die Existenz einer traumatischen Paralyse zu,
obne sich des Näheren über diese Frage auszulassen. Bailey
konnte das Trauma als alleinige Ursache der Paralyse mit
Sicherheit in keinem einzigen seiner Fälle feststellen, die
Möglichkeit einer rein traumatischen Paralyse gibt er jedoch
472 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten
zu, hält aber solche Fälle, falls sie überhaupt vorkommen, für
äusserst selten und den Beweis des ursächlichen Zusammenhanges
als sehr schwer zu erbringen. |
Zwischen diesen Autoren und den sub b zu nennenden
stehen Vallon und Sımon, welche der Ansicht sind, dass ein
Schädeltrauma an sich bei Fehlen jeglicher Prädisposition
eine progressive Paralyse erzeugen könne; es sei aber für die
Manifestation der Paralyse vorauszusetzen eine gewisse Alters-
grenze, diesseits oder jenseits welcher man sie kaum sich ent-
wickeln sieht, und eine mit diesem Alter verbundene, also nicht
von früher übernommene „condition anatomique“, welche in ge-
wissem Masse das Terrain präpariert.
Wir sehen also, dass diese Autoren schon bestimmte Be-
dingungen (insbesondere eine gewisse Alterslage) an das Indi-
viduum selbst stellen, während die sub a angeführten lediglich
einige Anforderungen an das Trauma (bezüglich Art und Lokali-
sation) richten. Ä
b) Autoren, welche eine traumatische Paralyse bei
fehlender (ererbter oder erworbener) Disposition zur
Krankheit nicht anerkennen.
Die Zahl dieser Forscher ist ungleich grösser als diejenige
der sub a genannten. Die wichtigsten der niedergelegten An-
sichten seien hier kurz angeführt.
Mit Bestimmtheit sprechen sich gegen das Trauma als
alleinige Ursache einer Paralyse aus:
i. Werner: Ein Trauma allein kann bei rüstigem Gehirn
rogressive Paralyse nicht veranlassen. Bei entsprechender in-
Sividueller Disposition kann aber ein Kopftrauma den letzten
Anstoss zur Entwicklung der Paralyse geben, dieselbe einleiten,
den Ausbruch beschleunigen, eine bestehende Paralyse wesentlich
verschlimmern. Die Hirnerschütterung begünstigt dank der All-
gemeinschädigung der Hirngefässe chronisch - encephalitische
rozesse.
2. Gieseler: Ein Trauma allein kann nicht progressive
Paralyse hervorrufen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass ein
selbst sehr erhebliches Trauma die alleinige Ursache der Paralyse
sein kann. Doch kann das Trauma die Entstehung der Krank-
heit fördern.
3. Hirschl: Wir können das Trauma als ursächliches
Moment der progressiven Paralyse nicht anerkennen, müssen
aber hervorheben, dass es als veranlassendes Moment bei syphi-
litisch infiziert Gewesenen die Paralyse einleiten könne. Bei be-
reits paralytisch Erkrankten hat es den Einfluss eines para-
Iytischen Insultes und bewirkt rasches Eintreten der Demenz,
4. Sachs und Freund: Ein Unfall an sich macht nie
progressive Paralyse. Gelegentlich kann bei vorbereitetem Boden
eine schwere Kopfverletzung den schnelleren Ausbruch der Para-
lyse herbeiführen, die Krankheit beschleunigen.
Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 473
5. Kundt: Ohne Prädisposition kann ein Trauma Paralyse
nicht erzeugen.
6. Kölpin: Es gibt keine echte traumatische Paralyse. Die
Art des pathologischen Prozesses bei der Paralyse sowie seine
Ausbreitung sprechen gegen die Möglichkeit einer traumatischen
Entstehung.
7. Brissaud, welchem sich Raymond und Briand an-
schliessen, sagt, dass das Trauma als solches progressive Paralyse
nicht verursachen kann.
Aehnlich, wenn auch nicht ganz so bestimmt, äussern sich
viele andere Autoren; so schreibt Kaplan dem Kopftrauma eine
mehr „nebensächliche, auxiliäre Bedeutung“ für die Paralyse zu,
Ziehen hat nie einen zweifelsfreien Fall von traumatischer Para-
lyse beobachtet, das Trauma mag aber zuweilen eine wesentliche
olle für die Entwicklung der Paralyse spielen, Gudden meint,
dass man neben dem Trauma wohl eine besondere Disposition zu
der Krankheit, wie sie in erster Linie durch Heredität und
Syphilis geliefert wird, annehmen müsse, Edel führt aus, dass
das Trauma im ganzen eine geringe Rolle in der Aetiologie der
Paralyse spiele, dass aber durch schwere Erschütterungen,
nicht bloss des Kopfes, sondern auch des Rückens und selbst
durch starken psychischen Schreck die Entwicklung der Paralyse
auf hereditär belastetem Boden begünstigt werde; und schliesslich
schreibt Windscheid: „Gibt es eine traumatische Paralyse?
Diese Frage ist mit Sicherheit nicht zu beantworten. Man wird
wohl zunächst dem Unfalle bei der Paralyse unter Umständen
die Rolle eines sehr beschleunigenden Momentes nicht absprechen
können, ohne dabei die Syphilis als Hauptätiologie zu verkennen.
Das Trauma spielt in diesen Fällen wahrscheinlich dieselbe Rolle,
wie sie gelegentlich grosse körperliehe oder besonders geistige
Ueberanstrengung, Exzesse jeder Art spielen können, Dinge, an
die wir öfters den raschen Ausbruch der Paralyse sich anschliessen
sehen, ohne sie lediglich als die einzige Ursache der Krankheit
zu betrachten. Falsch wäre es jedenfalls, wollte man einem
Trauma jeden Einfluss absprechen.“
Houghberg, König, Kriege, Oppenheim u. v. A. sehen
gleichfalls ın dem Trauma ein nicht direkt verursachendes, sondern
mehr ein den Anstoss zur Entwicklung der Paralyse gebendes
Moment.
All diese sub b genannten Autoren stellen demnach gewisse
Bedingungen (vornehmlich Heredität oder durchgemachte Syphilis)
an das Individuum selbst, damit es nach dem Unfall an Pa-
ralyse erkranken könne; es sind nun aber, wie übereinstimmend
(und zwar auch von den sub a genannten Forschern) angenommen
wird, gleichfalls gewisse
Anforderungen an das Trauma
zu stellen. Ä
a) Die Verletzung muss eine gewisse Erheblichkeit
474 Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten
besitzen (in somatischer oder psychischer Beziehung).
Nicht jegliches geringfügige Trauma vermag eine Paralyse zu er-
zeugen bezw. auszulösen. l
Insbesondere ist eine Mitbeteiligung des Gehirns zu fordern,
sei es nun, dass der Schädel mitverletzt ist oder nicht, sei es,
dass lediglich eine Erschütterung des Gehirns oder eine direkte
materielle Schädigung desselben stattgefunden hat.
Ist aber eine solche Beteiligung des Cerebrum sozusagen in
somatischer Beziehung nicht nachweisbar, so ist zum mindesten
ein stärkerer, mit dem Trauma verbundener psychischer Shock
zu verlangen. Oder aber dem Unfall muss ein längeres Kranksein
mit Bettzwang, Nahrungssorgen, Aufregungen, Entbehrungen u.s.w.
folgen, wie dies z. B. bei Verletzungen (auch geringfügigster Art)
vorkommen kann, welche einen langwierigen septischen Prozess
nach sich ziehen. .
Bei Fällen, wie denjenigen von Goldscheider (siehe die
spätere ausführliche Erörterung desselben), Schmiedicke,
@rashe und Edel, in denen nach verhältnismässig gering-
fügigen Önfällen ohne Kopfverletzung, stärkeren psychischen Shock
oder längeres Krankenlager Paralyse auftrat, darf meines Er-
achtens ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Paralyse
und dem Trauma nicht angenommen werden.
Hingegen erfüllen die Beobachtungen von Kriege, Wit-
kowski undSprengeler vollständig die Bedingung des erheblichen
psychischen Shocks (bei Kriege schwerer Ueberfall durch
mehrere Räuber ohne körperliche Verletzung, bei Witkowski
Vorbeistreifen einer Granate während eines Bombardements, bei
Sprengeler Kesselexplosion in der Nähe [Patient war stunden-
lang der Sprache beraubt]. Die Einwirkung des psychischen
Traumas auf das Gehirn ist -- wie oben bereits ausgeführt
wurde — durch vasomotorische Störungen zu erklären, nicht,
wie Witkowski in seinem Falle annimmt, durch direkte Schädi-
gung der Gehirnsubstanz.
Wie viel in den Fällen von Paris (Paralyse nach Hitzschlag),
Eulenburg (siehe über diesen Fall später) und Jellinek (Pa-
ralyse nach elektrischem Unfall) bei der Erzeugung des Leidens
dem psychischen Shock, wie viel einer direkten, materiellen
Schädigung der Hirnsubstanz zuzuschreiben ist, lässt sich nicht
mit Sicherheit entscheiden. Adam führt in seiner Beobachtung
von Paralyse im Anschluss an einen Unfall durch elektrischen
Starkstrom das Leiden auf die elektrische, mechanische und
thermische Wirkung des Stromes an der Hirnrinde zurück.
6B) Es muss ein gewisser zeitlicher Zusammenhang
zwischenBeginn der Paralyse und Trauma vorhanden sein.
Und zwar darf einerseits dieser Zeitraum nicht zu lang sein;
liegen zwischen den ersten Zeichen der Paralyse und dem Unfall
mehr als etwa 1!/, Jahre, so ist ein ursächlicher Zusammenhang
sehr zweifelhaft, bei mehr als 3 Jahren wohl auszuschliessen.
Mendol, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 475
Andererseits aber‘ darf auch die Zeit zwischen dem Unfall
und den ersten deutlichen Symptomeh - der Krankheit ‘nicht zá
kurz sein. Wenn z. B. bei einem Patienten wenige Tage nach
erlittener Verletzung "bereits Pupilleustarre oder Opticusatrophie
(s. Fall 12) nachzuweisen ist, so ist mit Sicherheit anzunehmen,
dass derselbe schon vor dem Unfall Paralytiker war. Im allge-
meinen ist ein Zeitraum von einigen Wochen für den zeitlichen
Zusammenhang zu fordern. Dieser Zeitraum ist: übrigens fast
stets mit subjektiven Beschwerden des Verletzten: ausgefüllt.
Zahlreiche veröffentlichte Fälle von Paralyse ‚post trauma
halten. einer strengeren Kritik nicht stand, eben weil der Unfall
an sich nicht erheblich genug war oder weil ein zeitlicher Zu-
sammenhang zwischen Verletzung und Paralyse-Beginn nicht zu
konstruieren ist. Es gibt jedoch noch eine Reihe anderer Fehler-
quellen — auf dieselben macht besonders Kaplan aufmerksam —;
welche bei der Frage der traumatischen Paralyse Berücksichtigung
verdienen: | V
a) Nach Unfällen kommt nicht selten ein besonders von
Köppen studiertes . Krankheitsbild . vor, welches der Paralyse
symptomatologisch täuschend ähnlich sehen kann, von ihr aber in
athologisch-anatomischer Beziehung und besonders in der Ver-
laufsart durchaus zu trennen ist. Es ist dies die sogenannte post-
traumatische Demenz, die in psychischer Beziehung oft kaum von
der Paralyse zu unterscheiden ist, in somatischer Hinsicht aller-
dings die starken Sprach- und Pupillenstörungen des Paralytikers
vermissen lässt. ine nicht geringe Zahl der veröffentlichten
Fälle von traumatischer Paralyse ist zweifellos dieser Dementig
posttraumatica zuzuzählen. | |
b) Die Frage, ob nicht die Paralyse bereits vor dem Trauma
bestand, ist von mir bereits gestreift worden. ‚Sie ist zu bejahen,
wenn sofort oder einige Tage nach der Verletzung schon typische
objektive Zeichen der Gehirnerweichung nachweisbar sind. Es
ist stets zu bedenken, dass der Unfall selbst bereits eine Folge
der bestehenden Paralyse darstellen. und sozusagen das erste
alarmierende Symptom der Kranklıeit sein kann. (S. Fall 7 und 8.)
Paralytiker sind 'ataktisch, ungeschickt, unvorsichtig, leiden an
Schwindel und können daher leicht em Trauma. erleiden, sie neigen
auch zu Streitigkeiten, zuweilen zum Alkoholismus und kommen
somit leicht in die Gefahr, aus Anlass von Schlägereien verletzt
zu werden, - Es beweist: alsdann garnichts, wenn seitens der Ver-
wandten versichert wird, dass bei dem Verletzten vor dem Un-
fall durchaus nichts Krankhaftes bemerkt wurde, da erfahrungs-
gemäss der Beginn einer Paralyse nicht nur Laien, sondern selbst
Aerzten häufig entgeht oder von ihnen verkannt wird,
Dass aber eine Verletzung, auch wenn dieselbe
geringfügig - war, selbst ohne Mitbeschädigung des
Schädels oder Gehirns, eine bereits bestehende Paralyse
verschlimmern, ihren Verlauf beschleunigen und einen
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Hoeft 5. 32
416 Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten.
bis dahin noch arbeitsfähigen Paralytiker plötzlich
völlig erwerbsunfähig, einen noch geschäftsfähigen ge-
schäftsunfähig machen kann, wird von sämtlichen
Autoren anerkannt und wird auch von mir späterhin an
mehreren Beispielen (Fall 7—19) gezeigt werden. Natürlich muss
die Verschlimmerung aber alsbald nach dem Trauma einsetzen,
Es gilt dies ebenso wie für alle anderen Krankheiten des Nerven-
systems (Tabes, Myelitis, multiple Sklerose u. s. w.) In dem Kapitel
„Tabes und Trauma“ werde ich einen Fall (s. Fall 8 daselbst) des
näheren beschreiben, in welchem ein Tabiker nach einem Unfall
Taboparalytiker wurde.
c) Eine ganz besondere Sorgfalt ist bei Verdacht auf trau-
matische Paralyse der Anamnese zu widmen, weil es sonst leicht
vorkommen kann, dass ein neben dem Trauma vorhandener
ätiologischer Faktor übersehen wird. Ganz speziell kommt hier
die Syphilis in Frage. Aus naheliegenden Gründen wird von:
den im Rentenkampf stebenden Unfallverletzten jegliche Erkrankung
bis zum Tage des Unfalls geleugnet, der Verletzte war — wie
man oft zu hören bekommt — bis zum Unfall stets „gesund wie-
ein Fisch im Wasser“. So wird auch überstandene Syphilis sehr
häufig nicht angegeben bezw. in Abrede gestellt, zumal unter
Laien die Kenntnis der Nachkrankheiten der Lues ziemlich ver-
breitet ist. Erwähnt sei hier einer meiner Patienten, von welchem,
bekannt war, dass er Syphilis durchgemacht hatte; derselbe-
wusste aus früherer Begutachtun ‚ dass, wenn bei ihm eine Tabes.
festgestellt werden würde, dieselbe unmöglich auf seinen sehr un-
erheblichen Unfall zurückgeführt werden könnte; er hatte deshalb-
bei späteren Untersuchungen das Vorhandensein von Patellar-
reflexen geschickt vorgetäuscht und so in der Tat zu falscher-
ärztlicher Begutachtung Anlass gegeben. Als „traumatische Neu-
rasthenie* (das wusste er) hatte er Aussicht auf Unfallrente.
Auch muss es auffallen, wie selten Unfallkranke von Nerven-
leiden in der Familie zu berichten wissen, während doch bei Nicht-
verletzten — auch in poliklinischen Fällen — psycho- oder neuro-
pathische Belastung gar nicht so selten eruiert werden kann.
Bezüglich der Frage nach überstandener Syphilis kann es
— wie mein Fall 16 zeigt — von Wichtigkeit sein, eine Untere
suchung der Frau des Verletzten vorzunehmen. Wird bei ihr eine
Tabes oder Paralyse festgestellt, so spricht dies sehr für eine bei
beiden Ehegatten gemeinsam vorhanden gewesene Ursache des.
Leidens, für durchgemachte Lues, In gleichem Sinne kann eine
eventuell nachweisbare hereditäre Lues bei den Kindern des
Traumatikers verwertet werden. Auf diese Weise fällt es manch-
mal leicht, eine überstandene Syphilis bei dem Verletzten zu
eruieren, während es andererseits recht schwer ist, sie auszu-
schliessen. Allerdings geht meines Erachtens Kaplan zu weit,
wenn er argumentiert, dass zum Nachweis einer echten traumatischen
Paralyse der Nachweis, dass Lues ausgeschlossen ist, notwendig,
Mondel, Der Unfall in’der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 477
letzterer aber niemals möglich ist. Allzu streng darf man in
dieser Beziehung auch nicht sein.
Wie einerseits ein Trauma als verschlimmerndes und be-
schleunigendes Moment bei bestehender Paralyse wirken kann,
so erscheint andererseits die Annahme berechtigt, dass eine das
Gehirn direkt oder indirekt treffende Verletzung etwa in ähn-
licher Weise wie die Syphilis den Organismus zam Empfang der
Paralyse vorbereiten, also prädisponierend wirken kann. Das
Trauma setzt — bei dieser Annahme — die Widerstandskraft des
Cerebrum herab, es macht das Gehirn zum Locus minoris rösi-
stentiae, an welchem dann eine andere Schädlichkeit, insbesondere
die Syphilis, ihren Angriff einsetzt, sei es dass dieselbe schon
vorher den Körper getroffen hatte oder erst späterhin als neues
Moment hinzukommt. (Mendel, Mickle, E. Meyer, Thiele,
Terrien, Ziehen [„das Trauma wirkt begünstigend für die Ein-
wirkung des zu supponierenden Virus“], Gieseler.)
Ob nun das Trauma prädisponierend, direkt verursachend,
auslösend, verschlimmernd oder beschleunigend in einem be-
stimmten Fall gewirkt hat, ist in praxi gleichgültig, da das
Untallversicherungsgesetz für jeden dieser Fälle dem Verletzten
die Rente gewährt.
Die nach einem Unfall einsetzende Paralyse!) unterscheidet
sich nicht von derjenigen bei Nicht-Verletzten, wie auch die
Durchsicht meiner Falle ergibt; sie kann die demente sowie die
expansive Form zeigen (Thiele veröffentlicht 8 Fälle von expan-
siver Paralyse post trauma mit zeitweiligem depressivem Stadium),
weit überwiegend ist — wie auch sonst — die demente Form.
Die Symptomatologie ist die gleiche für die Paralyse auf trauma-
tischer Grundlage wie für die nichttraumatische; wenn Bruns
angibt, dass bei der „traumatischen“ die Pupillenstarre fehlt, so
ist dies meines Erachtens unrichtig; die von Bruns bei dieser
Aeusserung hauptsächlich in Erwägung gezogenen Fälle gehören
wohl der Dementia posttraumatica (Köppen), nicht der Paralyse
an. Gudden fand bei seiner grossen Statistik, dass die Prodromi,
die Symptomatologie und der weitere Krankheitsverlauf der
traumatischen Paralysen im allgemeinen von dem bekannten Bilde
der Paralyse in nichts abweichen, nur dass die weitaus grössere
Hälfte der traumatischen Fälle gleichzeitig mit deutlichen Affek-
tionen des Rückenmarks verbunden sind (Kniephänomen viel
häufiger gesteigert als bei nichttraumatischen Fällen!), auch schien
ihm die Sprachstörung der traumatischen Paralytiker einige Male
besonders stark und typisch zu sein, „Lähmungssymptome von
seiten der Pupillen fehlten nirgends.“ Auf Grund meines Materials
kann ich diesen Feststellungen Guddens in allen Punkten durch-
aus beistimmen. In psychischer Beziehung fand Gudden die
1) Gemeint sind in folgendem alle nach einem Unfall offenkundig
werdenden Paralysen, nicht nur die „rein traumatischen‘.
33°
478 | "0017.00 Buohanzeigen, ©. oae ea’
depressive Form mit zeitweiligen Angst-. oder Erregungszuständen
gegenüber den maniakalischen Stadien: mit Grössenideen vor-
herrschend. |
~ "Nach Gudden und Thiele ist das Durchschnittsalter der
traumatischen Paralytiker niedriger als das Mittel, welches für
die Paralyse im allgemeinen gefunden wird. (89,8 Jahre bei trauma-
tischer Paralyse gegen 41,8 bei nichttraumatischer.) Das. sicher
beschleunigend wirkende Trauma hat wohl die Altersgrenze in die
etwas frühere Lebensperiode gerückt. In’ meinen Fällen sub H
und III ist hingegen — sofern man Fall 21: mit der juvenilen
Paralyse ausser Acht lässt — das Durchschnittsalter 44 Jahre, also
höher als das. sonst gefundene Mittel,. in einigen Fällen (2. B.
Fall 15 und 17) erscheint das Alter des Verletzten sogar auffallend
hoch für Paralyse. |
.' Gehen wir nunmehr zum eigenen Material über und prüfen
wir an der Hand desselben die im Vorangehenden aufgeworfenen
Fragen! Nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass eine grössere
Reihe von Gutachten als zu unsicher unberücksichtigt bleiben
musste, weil die Anamnese teils wegen Unbesinnlichkeit der Er-
krankten, teils wegen ungenauer Angaben in den Unfallakten zu
grosse Lücken aufwies; auch werden nur solche Fälle berück-
sichtigt, bei welchen die Diagnose keinem Zweifel unterliegen
konnte, insbesondere wurden diejenigen, wo eine Dementia post-
traumatica in Frage kommen konnte, ausgeschaltet. Wo es sich
um völlig typische Paralyse-Bilder handelt, unterlasse ich es, den
Status anzuführen. (Schluss im nächsten Heft.)
Buchanzeigen.
— — —
E. A. Homön, Arbeiten aus dem pathologischen Institut der Uni-
versität Helsingfors. Bd. I. H.3. Berlin. 1906. S. Karger. 576 S.
u. 9 Tafeln.
Unter den Abhandlungen dieses Bandes befinden sich zwei von Homön
und A. de la Chapelle, die die angeborene Spätsyphilis des Nervensystems
behandeln. Schon früher hat H. eine meist familiär im jugendlichen Alter
auftretende, mit progressiver Demenz verlaufende Erkrankung beschrieben,
die er tür luetischen Ursprungs erklärte. Jetzt werden dazu weitere
klinische und anatomische Belege gebracht. Klinisch lassen sich die Fälle
von der juvenilen Paralyse abtrennen wegen des Mangels charakteristischer
paralytischer Symptome. Der günstl e Einfluss 'antiluetischer Behandlung
spricht ebenfalls für den syphilitischen Charakter des Krankheitsbildes,
während gegen eine erworbene Syphilis das Fehlen gröberer tertiärer
Störungen anzuführen ist. Meist handelt es sich aratomisch um diffuse Ver-
änderungeh der Pia, der kortikalen Hirnsubstanz und insbesondere der Ge-
fässe, entweder in Form frühzeitiger, für dies kindliche Alter ganz ungewöhn-
licher Arteriosklerose oder um Infiltrate der Lymphscheiden.
Die Durchsicht der einzelnen Fälle zeigt weitgehende Verschieden-
beiten im klinischen Krankheitsbild; auch kann die ätiologische Grundlage
der Hereditärlues nur durch Ausschliessung der anderen Momente angenommen
werden; aber diese Annahme hat die grösste Wahrscheinlichkeit für sich.
Geitlin gibt eine ausführliche Beschreibung eines Falles von tuberöser
Sklerose des Gehirns bei einem Kinde: Knötchenbildung in allen Teilen
Nekrolog. -- 479
des Gehirns mit Verminderung der Zahl der Ganglieuzellen, Auftreten
starker Büschel von Gliafasern und zahlreichen gtypischen Zellen. Die
letzteren hält er für Neuroblasten, die, in ihrer Entwicklung gehemmt, in
den verschiedenen Gehirnteilen verschiedene Schicksale erlitten haben. Da
sie neben den atypischen Gliaproduktionen einen wesentlichen Teil der
Knötchen bilden, können diose mit Recht als Neurogliome bezeichnet werden.
en Weber- Göttingen.
P. J. Möblus, Die Höffnungslosigkeit aller Psychologie. Halle a. S.
C. Marhold. 1907. 69 S.
Auch der modernen empirischen Psychologie steht als Forschungs-
material nur das Ergebnis der Selbstbeobachtung zur Verfügung; denn was
das Experiment und die Beobachtung anderer ergibt, wird immer im Lichte
der eigenen seelischen Erfahrung gesehen. Die -Beobachtung lässt aber nur
einen Teil der Soelenvorgänge klar erkennen; ein wesentlicher Teil ist der
Beobachtung unzugänglich, weil -er überhaupt nicht im Bewusstsein verläuft;
daher wird ‘auch in der empirischen Pathologie zu Hypothesen gegriffen,
die über die Erfahrung hinausgehen, also metaphysisch sind. Die materia-
listische und die idealistische eltanschauung werden besprochen, und M.
lässt durchblicken, dass seiner Auffassung die idealistische Anerkennung
näher liegt, allerdings mit bestimmten, schon aus seinen früheren Publika-
tionen bekannten Modifikationen. i
Unser Bewusstsein und unser Seelenleben ist nur der Ausschnitt aus
einem einheitlichen „Seelenreich“, das überall, auch in allen Wesen und in
der Umwelt lebt; auch in dem uns Unbewussten herrscht Logik, deren
Gesetze wir nur nicht erfassen können. Wenn M. damit seinen im wesent-
lichen verneinenden Ausführungen einen positiven Schluss gibt, so begibt er
sich doch selbst auf metaphysische Wege und verlässt den Boden der Tat-
sachen. Aber die Abhandlung enthält soviel interessaute Details und ist
so anregend geschrieben, dass wir dem Verf. gerne folgen, auch wo wir ihm
nicht zustimmen können. Und die Abhandlung mutet fast an wie ein letztes
Bekenntnis, das der zu früh verstorbene geistreiche Forscher über seine
Auffassung von Seele und Welt uns binterlassen hat. Weber-Göttingen.
— — — = — —
Nekrolog.
Am 8. Januar ist P. J. Moebius in Leipzig im Alter von
54 Jahren gestorben. Seine Hauptverdienste um die Neuropathologie
liegen auf dem Gebiet der funktionellen Neurosen. Seine Theorie von
der psychogenen Natur der hysterischen Symptome griff einen
wesentlichen Punkt des Krankheitsbildes richtig heraus und hat
ausserordentlich anregend gewirkt. Seine Studien zur Migräne,
zur Basedowschen Krankheit und zur Elektrotherapie haben
ebenfalls in vielen Beziehungen aufklärend gewirkt. Auf organi-
sches Gebiet greifen die Arbeiten über angeborene und periodische
Augenmuskellähmungen und über infantilen Kernschwund über. Be-
sonders segensreich war sein Eintreten für Volksnervenheilstätten.
Sehr anfechtbar sind die psychiatrischen Leistungen des Ver-
storbenen. Seine Pathographien sind vielfach mit Recht be-
anstandet worden. Immerhin finden sich auch unter ihnen einzelne
wie die Rousseausche, die nicht nur geistreich geschrieben,
sondern auch sachlich richtig sind. In der Neurologie wird sein
Name stets unter den Besten genannt werden.
480 Tagesgeschichtliches.
Tagesgeschichtliches.
Der 17. Kongress der Irren- und Nervenärzte Frankreichs
und der Länder französischer Zunge findet vom 1. bis 7. VIII. d. Je. in
Genf und Lausanne statt.
Vorläufiges Programm: 1. Bericht und Diskussion über die auf dem
Kongress in Lille ausgewählten Fragen. a) Psychiatrie: Die periodischen
Psychosen. Ref.: Dr. Antheaume-Paris. b) Neurologie: Ueber die Hysterie.
Ref.: Dr. Claude-Paris und Dr. Schnyder-Bern. c) Gerichtliche Medizin:
'Gerichtlich-medizinische Untersuchung und die Frage der Verantwortlichkeit.
Ref.: Dr. Gilbert-Ballet-Paris.
2. Ori nalmitteilungen über Gegenstände aus dem Gebiete der Psy-
chiatrie und Neurologie. Krankenvorstellung, Demonstration anatomischer und
histologischer Präparate. Eine Sitzung ist vorgesehen für Demonstrationen
mit Lichtbildern.
Anmeldungen von Vorträgen sind bis 1. VII. an Prof. Dr. Prevost
in Genf zu richten.
8. Besuch der Irrenanstalt von Bel-Air, Cery, Marseus.
nn — — — —
Zwecks Besprechung aktueller und wichtiger Fragen der gerichtlichen
Medizin, besonders der gerichtlichen Psychiatrie, ist am 16. d. Mts. in der
Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt zu Lublinitz (O.-S.) eine Vereinigung
von Juristen und Aerzten begründet worden nach dem Vorbilde ähnlicher
Vereinigungen in Sachsen, Hessen, Hannover, Württemberg u. s. w. Direktor
Dr. Klinke, der die Versammlung einberufen hatte, legte die Ziele solcher
Zusammenkünfte dar, nämlich die Anbahnung einer Verständigung über strittige
Punkte des Straf- und Zivilrechts, soweit sie die Rechtspflege bei abnormen
Geisteszuständen und die Kriminalpsychologie betreffen, ferner die Pflege der
sogenannten Pathographie, wie sie hauptsächlich von Möbius geschaffen.
Kreisarzt Dr. Frey betonte die Wichtigkeit solcher gemeinsamen Aussprachen
auch hinsichtlich der Begutachtung bei Rentenanträgen und berichtete unter
Vorlage von Photographien über einen durch Unfall beider Hände beraubten
Invaliden, der durch Uebung der an den Armstumpfen erhalten gebliebenen
Muskeln, und zwar aus eigenem Antriebe, ohne Behandlung in einem medico-
mechanischen Institut, eine so ausserordentliche Gewandtheit erreicht hat,
dass er sich noch jetzt, trotz hohen Alters, einen Tagelohn von 1,60 Mk. als
Chausseearbeiter verdient, ein'Fall, der manchen willensschwachen Renten-
schindern als nachahmenswertes Beispiel vorgehalten werden sollte. Oberarzt
Dr. Bresler sprach über die verschiedenen Formen auf pathologische Weise
zustande gekommener Anschuldigungen und suchte dabei eine Reform des
164 St. G. B. zu begründen. — Es wurde beschlossen, die Sitzungen alle
ierteljahr zu wiederholen.
Die diesjährige Wanderrersammlung der südwestdeutschen Neurologen
und Irrenärzte findet am 1. und 2. Juni in Baden-Baden statt. Vorträge sind
bei Prof. Wollenberg-Strassburg oder Dr. Laquer-Frankfurt a. M. an-
zuinelden.
Die Gründung einer Moebius-Stiftung wird von Bresler, Edinger,
Moeli u. A. vorgeschlagen. Die Stiftung soll zu Preisen für psychiatrische
und neurologische Arbeiten verwendet werden. Anmeldüngen von Beiträgen
sind an Herrn Curt Reinhardt, Leipzig, Lessingstrasse, zu richten.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie Bd. XXI
—— —
“F ig. 3 l
Takasu, Beiträge zur pathologischen Anatomie der Idiotie. Liohtdruck: Herrmd
Tafel IX—X
Verlag von S. Karger in Berlin NW. 6
Berlin 8W. 18
Co..
‚Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in Berlin.
Neuralgien bei Melancholie.
Von
Dr. OSKAR BRUNS.
Oberarzt der medizinischen Klinik in Düsseldorf.
Lange schon ist es bekannt, dass gelegentlich Sensibilitäts-
‚störungen, speziell Neuralgien, sich mit Psychosen vergesellschaften,
und man hat sich eingehend damit beschäftigt, die Beziehung
zwischen Neuralgie und Psychose zu ergründen.
Griesinger!) war wohl einer der ersten, die darauf bin-
wiesen, dass Neuralgien, wie sie an anderen Stellen des Körpers
Mitempfindungen, so auch Mitvorstellungen krankhafter Art er-
regen können, die nuf ganz entferntem Vorstellungsfeld sich be-
wegen können.
Auch Anton), Laquer?), Krafft-Ebing*), Wagner’),
Ziehen®) u. A. haben hervorgehoben, dass echte Neuralgien, z. B.
Trigeminus-Neuralgien, imstande sind, durch Irradiation der hoch-
gradigen Schmerzerscheinungen Erregbarkeitsveränderungen der
Hirnrinde hervorzurufen, die sich klinisch in Anfällen von
halluzinatorischer und wahnhafter Erregung. und Verwirrtheit,
oft vom Charakter. des Dämmerzustands, äussern. Wagner be-
merkt dabei ausdrücklich, dass es allerdings nicht: sicher sei,
ob nicht Neuralgie und Psychose als koordiniert zu be-
trachten sind. 0
Schüles”) Verdienst ist es, in seiner Abhandlung über die
Dysphrenia neuralgica die pathogenetische Funktion der Neuralgien,
speziell die psychische Verwertung der Sensationen in allegori-
sıerenden Wahnvorstellungen und ihre Affektwirkung betont und
erschöpfend geschildert zu haben.
Schon Tigges®) zeigte in seiner Abhandlung über „Die
Störungen im Bereich der peripheren Nerven bei Geisteskranken“,
ı) Arch. f. Heilkunde. Bd. 7.
23) Wiener med. Wochenschr. 1889. No. 12—14.
2) Arch. f. Psychiatrie. Bd. 26.
4) Ueber transitorische Störungen des Selbstbewusstseins. Erlangen. 1868.
3) Jahrb. für Psychiatrie. Bd. 8.
e) Psychiatrie. 1. Aufl.
1) Die Dysphrenia neuralgica. Karlsruhe. 1867.
8) Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie. Bd. 89.
Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helft 6. 38
‚482 Bruns, Neuralgien bei Melancholie.
dass trotz häufigen Hand-in-Hand-Gehens der psychischen und
körperlichen Krankheitserscheinungen beide Symptomenreihen
sich selbständig entwickeln.
~ In einer grossen Reihe der hierhergehörenden Fälle stellen
sich die ausgesprochenen sensiblen Störungen des Spinalsystems
als erster Angriffspunkt des krankhaften Prozesses dar, der sich
von da auf das Gehirn, die anatomische Grundlage der psychischen
Funktion, verbreitet. Eine Reflexwirkung kommt nar in symptonma-
tischer Hinsicht in Betracht.
Es wird im Folgenden meine Aufgabe sein, an der Hand
mehrerer Fälle, von denen ich 3 im letzten Vierteljahr selbst in
der Charite zu beobachten Gelegenheit hatte — 2 weitere verdanke
ich der Güte von Herrn Geh. Rat Ziehen, aus dessen Privat-
klientel sie stammen — zu untersuchen:
1. Welcher Art sind die beobachteten Sensibilitätsstörungen;
handelt es sich um echte Neuralgien oder um Pseudoneuralgien,
Psychalgien, Topalgien?
2. Wie werden jene Sensibilitätsanomalien psychisch ver-
wertet? |
"8. Was für Beziehungen haben sie zur Entstehung der
Krankheit, zum Krankheitsverlauf, und in welchem kausalen Ver-
hältnis stehen sie zu den psychischen Störungen?
Zuerst eine kurze Definition des Begriffs der echten Neu-
ralgien: von einer echten Neuralgie sprechen wir nur, wenn eine
Erkrankung der peripheren sensiblen Nervenbahnen besteht, die
sich subjektiv durch Schmerzen äussert, deren Ausbreitung
genau der Ausbreitung der betreffenden Nervenstämme entspricht.
In der Regel ist als Grundlage ein neuritischer oder perineuri-
tischer Prozess anzunehmen. Seltener handelt es sich um einen
reflektorisch, z.B. durch Retroflexio uteri, entstandenen pathologischen
Erregungszustand. des. peripherischen sensiblen Neurons. Die soge-
nannten zentralen Schmerzen bei cerebralen Herderkrankungen
scheide ich also aus dem Begriff der Neuralgie aus. Unter Pseudo-
neuralgien oder Topalgien verstehe ich im Arschluss an Ziehen
Schmerzen, deren. Ausbreitung zwar ebenfalls auf ein. bestimmtes
Körpergebiet beschränkt ist, aber nicht mit den anatomischen
Abgrenzungen der peripherischen Nervengebiete zusammenfällt,
sondern von den naiven Vorstellungen der Körperteile bestimmt
wird. Das charakteristischste Beispiel bieten die hysterischen
Pseudoneuralgien. re |
Fall 1. P.K., J.-No. 6 (1906), 52 Jahre alt.
Eltern gesund. Vater Gewohnheitstrinker. Drei Brüder an Tuberku-
lose gestorben. |
Pat. als Kind und Mädchen ganz normal. Später Handschuhnäherin.
1890 nahm sie ein 17jähriges Mädchen zu sich und lobte mit ihr zusammen,
bis dieselbe 1895 an Phthise starb.
Die anstrengende Pflege griff die Frau K.sehr an, sie war zum Schluss
erschöpft und hochgradig „nervös“ geworden. Das Mädchen war eine sehr
anspruchsvolle Pat., und so geschah es, dass, als sie (4 Tage vor ihrem Tod)
wieder einmal etwas verlangte, Fran K. in ihrem Unmut rief: „Hol dich der
Bruns, Neuralgien bei Melancholie, 483
Teufel“. Kaum war ihr aber dieser Ausruf entfahren, da bekam sie einen heftigen
Schreck und fühlte einen intensiven inneren Schmerz, der iu der Herzgegend
beginnend nach dem Rücken za durch den Körper durch verlief. Manchmal
strablte er auch nach der linken Schulter hin aus. Die Schmerzen waren
einmal stärker, einmal schwächer, je nachdem die Pat. abgelenkt wurde oder
sich allein überlassen blieb. Von dem Augenblick an war eine Angst und
Unruhe über sie gekommen, sie hatte fortgesetzt Herzklopfen und konnte
nachts nicht einschlafen. Wenn sie dann die Hand auf die Herzgegend
presste, wurde das Herzklopfen schwächer.
Vergeblich suchte die Kranke Schmerzen und Angst durch Schnaps-
genuss (dem sie bisher nie gehuldigt hatte) zu betäuben. Sie wusste gar nicht,
woher die Schmerzen kamen, und dachte, „wer weiss, vielleicht hast du dir
einmal Schaden getan“. Manchmal verliefen die Schmerzen auch bandartig
von der Herzgegend nach dem Rücken hin.
4 Tage später starb das Mädchen, und die Pat. zog zu ihrem Bruder.
Diesem fiel sofort die Traurigkeit, Konzentrations- und Arbeitsunfähigkeit,
das unruhige Umherlaufen auf. Ihm klagte Pat. auch ihre Schmerzen und
erklärte sie als Folgen der Aufregung. Beide hofiten, die Schmerzen würden
wieder vergehen, wenn Pat. wieder mehr Ruhe und Pflege habe.
Nach der Beerdigung des Mädchens rannte Pat. „wie von Furien ge-
peitscht“, vom Kirchhof nach Hause, „es kam ihr eine eigentümliche Ahnung,
als sei etwas Besonderes mit ihr im Spiele.“ In der Nacht hatte sie dann
keinen Augenblick Ruhe, hatte heftige Schmerzen und Angst. Am folgenden
Tage, während sie damit beschäftigt war, einen Brief zu schreiben, kam
ganz plötzlich ein fürchterlicher Schmerz und Schreck über sie, sie fuhr
vom Stuhl auf und schrie: „Jetzt ist mir alles klar, ich bin vom Teufel be-
sessen.“ — Es war ihr eingefallen, dass sie zu dem Mädchen gesagt hatte:
„Hol dich der Teufel.“ ie Pat. schildert ihren Zustand wörtlich: „Die
Schmerzen kommen vom Teufel. Es sind körperliche und seelische Schmerzen
zugleich. Es ist so ein wunder Schmerz, so wie wenn Zähne und Krallen
io einer Wunde heramwühlen. Der Teutel ist ein Geist, er ist unsichtbar in
mich hereingefahren, ich habe nur die Gefühle, wie wenn er mit Krallen
mich bearbeitete“.
Pat. wurda danu nach der Provinzial-Irrenanstalt Landsberg gebracht,
wo sie 1!/, Jahr verblieb. Dort kam es ebenfalls ganz plötzlich in der Nacht
„wie eine Offenbarung“ über sie, dass sie erkannte, dass sie keinen Glauben,
keine Religion hätte. Sie rief laut aus: „Was habe ich getan, dass ich das
Mädchen zu mir genommen und ihrer Mutter entfremdet habe. Ich bin ver-
loren, verloren.“
Gesichts- (Christus) und Geruchshalluzinationen (Geruch nach Leichen)
traten nur ganz selten und rasch vorübergehend auf.
Nach ihrer Entlassung aus der Anstalt war sie 10 Jahre lang wieder
gesund und arbeitsfähig.
Ein leichter Schmerz im Rücken tauchte von Zeit zu Zeit wieder besonders
beim Bäcken auf, dann fuhr ihr blitzschnell der Gedanke an den Teufel und
ihre überstandene Krankheit durch den Kopf, und sie dachte voll Angst daran,
dass die Krankheit wiederkommen könnte. Sie war der Ueberzeugung, der
Teufel sei noch in ihr und habe sich nur versteckt. Sie beschäftigte sich
aber nicht weiter mit diesen Gedanken und sprach auch mit niemand davon.
Eines Tages aber, Dezember 1905, ohne dass ein Ausserer Grund vorlag
(Ueberarbeitung etc.) kamen die Schmerzen und Angst wieder. Nur mit
Mühe konnte sie noch arbeiten, es litt sie nirgends mehr lange. Manchmal
rannte sie auch, weil sie nicht arbeiten konnte, in Berlin umher, fortgesetzt
von Schmerzen und Angst gepeinigt. Die Schmerzen und entsprechend die
Angst wechselten in ihrer Intensität: wenn Pat. sich unterhielt, nahmen sie
ab; wenn sie sich selbst überlassen war, steigerten sie sich.
14 Tage später wurde Pat. nach der Charité gebracht.
Im psychischen Krankheitsbild hat sich bis jetzt (Ende Dezember 1906)
nichts geändert. Pat. hält fest an der Vorstellung, der Teufel sitze in ihr
und bereite ihr die Schmerzen. Sie klagt, dass sie keinen Glauben gehabt
habe, dass sie durch ihren Ausruf den Tod des Mädchens beschleunigt
83*
484 Bruns, Neuralgien bei Melancholie.
habe, dass sie verloren sei, denn für derartig furchtbare Sünden gebe es-
keine Vergebung. Zar Zeit leidet sie fortgesetzt unter der Angst, der Teufel:
könnte sich in ihr jedes Augenblick erheben und mit ihr davonfliegen (trotz-
dem sie immer wieder betont, dass es ein Geist sei). Wenn Schmerzen
und Angst heftig sind, tritt auch eiu Zucken im tinken Facialisgebiet auf.
Ebenso besteht der Parallelismus zwischen Schmerzen und Angst noch.
heute fort. Niemals Schmerzen ohne Angst, zuweilen Angst ohne Schmerzen.
Einzelne charakteristische Äusserungen führe ich wörtlich an: „Ich
muss zu viel leiden, dass ich es kaum aushalte. So ein Krallen und Kratzen,.
als ob mich Jemand abschlachtet. Die Angst, was mit mir geschehen soll,.
Tag und Nacht immerzu. Ich finde keine Rahe auf dieser Welt“ (11. IV.).
„Im ganzen Rücken ist ein Brennen, als ob Feuer darin ist, im Herz krampft
sich alles zusammen“ (17. IV). Gelegentlich auch Ausserungen im Sinne eines-
Délire d'immortalité: „ich kann nicht sterben, es lebt etwas in mir; ich
bin unsterblich; wenn ich das stärkste Gift nehme, ich sterbe doch nicht.“
Am 11. VII. versichert sie wieder, dass der Teufel in ihr sitzt und die
Schmerzen mit seinen Krallen verursacht. Immerbin äusserte sie weiterhin-
auch Zweifel- an der wirklichen Anwesenheit des Teufels. Gelegentlich
erstreckt sich der Schmerz über den ganzen Rücken und die ganze Brust bis-
zum Nabel. Zuweilen strahlen die Schmerzen in den linken Arm aus. Sie
bestehen, wie sie angibt, fast ununterbrochen. Kokaininjektion mildert den
Schmerz nur lokal und vorübergeheud. Die Angst wird bald in die Gegend:
des Schmerzes, bald in den ganzen Körper lokalisiert. Kein Intelligenzdeiekt.
Status corporis: An den isueren Organen keine Veränderang. Ab undi
zu ein leichtes aystol., wohl anämisches, Geräusch über dem Herzen. Keine
Accentustion der 2. Töne. Keine Vergrösserang des Herzens. Hemmungs-
bildung und infantile Entwicklung der Genitalien (homosexuale Neigungen, die
seit dem 1. Anfall von Melancholie geschwunden sein sollen); fast vollkommener-
Defekt des rechten, teilweiser Defekt des linken Labium minus, Portio-
virginell, Uterus etwa so gross wie derjenige eines lWjährigen Mädchens
(Gynäk. Poliklinik). Leichte nicht konstante Hyperästhesie auf der Vorder-
seite des Thorax von der 4. Rippe bis zam Rıppenbogen. Ebenso ist die ganze-
vordere Thoraxpartie mit Ausnahme des Sternums stark drackempfindlich.
Auch der Rücken ausser den Schulterblättern ist bis zur Kreuzbeingegend:
druekempfindlich. Die spontanen Schmerzen werden meist in die linke Hälfte
des Thoraxinnern verlegt, strahlen aber gelegentlich auch nach rechts hin-
über und nach der linken Schulter hin aus. Beide Mammaulpunkte extrem.
drackempfindlich.
Im Urio kein Zucker und keiu Eiweiss.
Am 8 XIT. 1906 wurde Patientin gebessert entlassen.
Dieser Fall ist der Typus der zentroperipheren Neurosen und
gibt uns auf alle 8 Fragen befriedigende Auskunft.
Wir sehen bei einer hereditär psychopathisehen.Person auf dem
Boden einer hochgradigen nervösen Erschöpfung heftige neural-
ıforme Schmerzen in der linken Seite auftreten, die teils ins
horaxinnere verlegt werden, teils äusserlich von der Herzgegend
aus bandartig nach dem Rücken hin verlaufen, teils, was ja auch
bei echten Interkostalneuralgien gelegentlich vorkommt, nach rechts
über das Sternum hinüber und nach der linken Schulter hin aus-
strahlen. Dagegen vermissen wir fast vollkommen den anfallsweisen.
Charakter der Schmerzsensationen und die für die echte Neuralgie
typischen Druckpunkte (Sternal-, Lateral- und Verebralpunkt).,
Statt dessen finden wir eine Druckempfindlichkeit der ganzen
vorderen Thoraxwand mit Ausnahme des Sternums und des Rückens-
bis hinunter zum Kreuzbein, ferner eine leiehte symmetrische-
Bruns, Neurslgien bei Melancholie. 485
Hyperästhesie von der 4. Rippe abwärts, die dann unter den
Brüsten endet. Wir hören ferner, dass die Schmerzen unter Selbst-
beobachtung zunehmen und wenn Patient abgelenkt wird, prompt
abnehmen. Da ausserdem irgend ein objektives ätiologisches
Moment für Neuralgie, wie Trauma, Infektion, Intoxikation etc.,
nicht nachzuweisen ist, sò spricht das alles für die Auffassung der
Schmerzen als pseudoneuralgischer.
Charakteristisch für den inneren Zusammenhang der peri-
pheren und zentralen (psychischen) Störungen sehen wir durch
eine Gemütserschütterung, einen Affektausbruch mit einem Schlage
das Bild der körperlichen und geistigen Erkrankung vor uns
enthüllt.
In der Tat gehen von jetzt an Angst und Depression
Hand in Hand mit den Schmerzen, sie steigen, wenn (aber
durchaus nicht, weil) der Schmerz zunimmt, sie treten zurück,
wenn er nachlässt. Wie schon angedeutet, liegt kein Kau-
salitätsverhältnis vor, sondern das Zu- und Abnehmen beider
Erscheinungen ist zentral bedingt, eine Folge der Konzentration
oder Ablenkung der Aufmerksamkeit der Pat. auf oder von
ihrem Leiden.
Das Hauptinteresse dieses Falles liegt aber in der psychischen
Verwertung der körperlichen Erscheinungen. Sechs volle Tage
lang sehen wir die Kritische Kraft des „Bewusstseins“ kämpfen
gegen eine wahnhafte Deutung jener unaufhörlichen Schmerzen
und Angst. Während dieser Zeit sehen wir die Patienten an der
plausiblen Erklärung der Schmerzen durch ein vermutliches „Sich
verhoben haben“ festhalten. Endlich aber versagt das korrigie-
rende Urteil, und die stark gefühlsbetonte Erinnerung an den
Teufel, der die andre holen sollte, taucht plötzlich als wahnhaft
modifizierte, überwertige Vorstellung im Bewusstsein auf. Die
logische Weiterentwicklung des Wahns ruft dann die typischen
Versündigungsvorstellungen hervor, und das Endresultat der
systematischen Verarbeitung bildet das Gefühl des rettungslosen
Verlorenseins;
Auch die bis dahin unerklärliche Angst und Unruhe bekommt
jetzt ihre Deutung: der Teufel kann jeden Augenblick sich in
der Pat. erheben und mit ihr durch die Lüfte davonfliegen.
Zu einer Allegorisierung der Schmerzen kommt es anfangs
nicht. Pat. bleibt zunächst wie ein normaler Mensch bei dem Ver-
gleich der Schmerzen stehen: „Wie wenn Krallen in einer offenen
Wunde wühlen“. Erst mit dem weiteren Steigen der Angst kommt
es zu dem unkorrigierten Wahn der Teufelbesessenheit.
In Bezug auf die Wahnvorstellung sind also die neural-
gitormen Schmerzen das Primäre. Auch während des ganzen
Krankheitsverlaufes sahen wir die beiden Erscheinungen in inte-
grierender Verbindung, indem die fortdauernden Schmerzen das
Wahnsystem im Bewusstsein fixieren. |
486 Bruns, Neuralgien bei Melancholie.
Den Fall der Hysterie zuzurechnen, liegt meines Erachtens
ein ausreichender Grund nicht vor. DieKrankae bietet,abgesehen von
ihrer Pseudoneuralgie, keine ausgesprochenen typischen Symptome.
Ich komme jedoch später auf diese Frage noch zurück.
Fall 2. Frau B., Bauinspektorsgattin, 47 J. alt.
Schwester der Patientin, Schwester des Vaters nervös. Vater des
Vaters schwerer Hypochonder.
Patientin früher stets gesund. Normale Entwicklung. Menses unregel-
wässig und schwach.
1901 einmal ein Angstanfall mit Schwindel. Beginn der jetzigen Er-
krankung Herbst 1904 mit neurasthenischen Beschwerden, Herzklopfen,
brennenden Sensationen im rechten und linken Arm. Appetitmangel, Schlaf-
losigkeit, Schwindel und Angst. Die Beschwerden verschlimmerten sich be-
deutend, als an Weihnachten der Vater der Patientin starb. Es trat ein
Depressionszustand ein mit anfallsweiser Angst und Suicidgedanken, Gefühl
von Wogen links in der Brust. Im Lauf der Beobachtung (durch Herrn Geh.
Rat Ziehen) verwandelte sich das Wogen zeitweise in „schmerzhafte Angst
mit Uebelkeit“. Zu Beginn des Anfalls trat zuerst die Angst auf und dann
die Schmerzen. Manchmal traten nur die Schmerzen auf ohue Angst und
umgekehrt, meist aber gingen beide Erscheiuungen im Anfall neben ein-
ander her.
Oft klagt die Kranke, „ich habe keinen Lebensmut und Energie; alles
ist öd und tranrig, ich habe kein Herz, bin seelenlos“.
Status corporis: Innere Organe, Nervensystem o. B. Menstruation tritt
nur noch selten ein.
Sensibilität normal, nur ein sehr ausgeprägter linksseitiger Mam-
millarpunkt.
Also ein Hand-in-Hand-Gehen psychischer und körperlicher
Krankheitserscheinungen ohne gegenseitige Kausalität. Keine echte
Neuralgie, keine psychische Verwertung der körperlichen Symptome.
Fall 8. A. F., 82 Jahre alt.
Eltern tot. Hereditäre Belastung nicht nachweisbar. Patientin früher
stets gesund.
Seit 1!/a Jahren etwa alle !/, Jahre wiederkehrende, von den Menses un-
abhängige Anfälle: Herzklopfen, Hitze in der Herzgegend, Angst, manchmal
auch Beklemmung. Dauer einige Minuten. Patientin musste während der Anfälle
die Arbeit abbrechen und sich hinsetzen. Von Frühjahr 1905 bis August 1905
hatte Patientin einen sehr intensiven Geschlechtsverkehr mit 2 Männern, der
sio erschöpfte, weil sie noch nebenher den ganzen Tag über stramm arbeiten
musste. Als nuu im August der Mann sich zurückzog, den sie hatte heiraten
wollen und ausserdem ihr (8 Jahre altes uneheliches) Kind starb, das sie sehr
ern gehabt hatte, häuften sich die Anfälle so, dass sie meist 2—3 im
age hatte. Ausserdem wurden sie sehr viel intensiver. Sie hatte dabei
drückende Schmerzen in der Herzgegend, heftiges Herzklopfen und Atemnot.
Die zuerst in der Herzgegend einsetzende Hitze zog nach dem Kopf hinauf (ohne
Schweissausbruch). Dazu gesellten sich regelmässig eine Reihe psychischer
Symptome: Angst, die sich zur Todesfurcht steigerte, innere Unruhe, so dass
Patientin auch nachts aus ihrer Wohnung rannte (wenn sie durch den Anfall
aus dem Schlaf geweckt wurde) und sich zu den Nachbarsleuten flüchtete.
Dort wich die Hitze beim Abklingen der Anfälle dann einem intensiven
Kältegofühl, so dass die Kranke in einen Schüttelfrost verfiel und von den
Leuten mit Decken zugedeckt werden musste.
Auf Rat des Arztes sollte sich die Patientin viel im Freien unter
Menschen aufhalten. Dort trat auch nie ein Anfall ein, wenn auch öfters die
Angst da war, es könnte ein Anfall sie überraschen, und Patientin sich ge-
legentlich einmal aus Furcht davor nicht getraute, die Strasse zu über-
schreiten.
Bruns, Neuralgien bei Melancholie. 487
Wenn Patientin allein iu ihrer Wohnung war und immer daran denken
mosste, „es wird doch kein Anfall kommen“, so kam er dann wirklich öfters
gerade dadurch.
Infolge der Aufregung über eine neuerliche (zussereheliche) Konzeption
steigerten sich nach Weihnachten 1905 die Anfälle so, dass, was bis dahin
nie der Fall gewesen war, die Anfälle nun auch eintraten, wenn sie bei Be-
kannten zu Besuch war.
Nach einem fieberhaften (kriminellen?) Abort im Januar 1906 wurde
Patientin in das Krankenhaus am Urban und von da am 17. I. in die Charite
eingeliefert.
Hier liessen die Anfälle sehr bald an Zabl und Intensität nach, so dass
Patientin am 83. IV. 1906 entlassen werden konnte.
Jetzt kommen sie nur mehr selten, bestehend io Herzklopfen, Hitze
und Druckgefühl auf der Brust. Angst tritt dabei nicht mehr ein.. Die
körperliche Untersuchung ergab von objektiven Veränderungen an den
inneren Organen nur ein systolisches Geräusch über der Basis des linken Ven-
trikels ohne Accentuation des 3. Palm. tons. und ohne Herzvergrösserung. Es
besteht ferner eine leichte Hyperästhesie der linken Brustseite von der
2. Rippe abwärts bis nabe an den Rippenbogen. Auf dieser Seite be-
steht auch ein Subelavicularpunkt. Ebenso entspricht die Stelle des Herz-
spitzenstosses einer hysterogenen Zone. Wenn Patientin an dieser, auf
Druck schmerzhaften Stelle während des Anfalls reibt, so kann sie den
Anfall zam Verschwinden bringen. Auch die Ovarialpunkte sind deutlich
drackempfindlich.
Auch hier schen wir infolge schwerer allgemeiner Erschöpfung
Anfälle auftreten, die sich aus gleichzeitigen körperlichen und
geistigen Krankheitserscheinungen zusammensetzen. Beiderlei Er-
scheinungen sind zentral bedingt. Ein Wahnsystem sehen wir
nicht sich ausbilden,
Frau H., 81 Jahre alt.
Vater an Phthise gestorben, ebenso die Stiefmutter. Keine Geistes-
und Nervenkrankheiten in der Familie. Als Schulmädchen hat Pat. schlecht
gelernt. Sonst Entwicklung normal.
Als: junge Frau machte die Pat. eine Operation eines Gewächses an
der Gebärmutter durch.
Am 2. Ill. 1905 starb ihr Mann an Lungenleiden. Während der
Sjährigen Pflege des Mannes hatte die Patientin vielen Kummer, Eotbehrungen
und erschöpfende Arbeit. Durch den Verdienst ihrer Näharbeit bestritt sie
5 Jahre lang den Unterhalt der Familie (4 Kinder). Der Tod des Mannes
alterierte sio sehr. Sie dachte daran, sich und ihren Kindern das Leben zu
nehmen. Sie war sehr erschöpft durch die Pflege, und als nun Juli 1905
Kochen in der Brust und Bluthusten auftrat, brach sie vollends zusammen.
Im November 1905 traten Anfälle auf, bestehend in Herzklopfen und
Angstgefühl. Zugleich tauchte bei jedem Anfall wieder der Gedanke auf,
sich und den Kindern das Leben zu nehmen. Die Anfälle häuften sich all-
mählich, so dass im Januar 1906 5—6 Anfälle täglich auftraten. Sie bekam
jetzt auch ım Anfall Schmerzen in der Herzgegend, die manchmal nach der
Schulter oder bis hinten in die Gegend der * ulterblätter ausstrahlten. Die
ganze Brust war druckempfindlich. Zur Angst trat heftige Unruhe, Pat.
rannte aus dem Zimmer auf die Strasse, angeblich um sich vor der Aus-
führung der Mord- und Selbstmordgedanken zu bewahren. Das Herzklopfen
stieg ihr bis in die Brust hinanf, ste hatte innerliches „Frieren und Fliegen“,
Stuhldrang ohne Entleerung, Atemnot, Uebelkeit, Gluthitze im Gesicht.
Mit der Angst nehmen auch die Schmerzen zu und umgekehrt. In den An-
illen hat sie auch „abgestorbene Hände“. Im Anfalle „hemmt innerlich
alles so“.
- Im Anschluss an die Anfälle überkomme sie eine absolute Mutlosig-
keit, das Gefühl, dass nun (seit dem Tode des Mannes) alles vorbei sei.
488 -Bruns, Nouralgien bei Melancholie.
Nach ihrer Einlieferung in die Charité liessen die Anfälle sehr bald
an Intensität und Zahl nach. Im März bestanden die Anfälle bloss noch in
Herzklopfen und Druck auf der Brust. Oft blieb jetzt auch schon die be-
gleitende Angst weg.
Die körperliche Untersuchung ergibt: an den inneren Organen ist nur
au der rechten Lungenspitze eine — wohl tuberkulöse — Affektion fest-
zustellen. Herz und Bauchorgane sind intakt. Die Sensibilität ist intakt.
Druckpunkte bestehen nicht. Auch sonst weist das Nervensystem keine
palpablen Veränderungen auf.
| Die körperlichen Störungen gehen auch hier nur in losem
Zusammenhang mit den psychischen einher. Sie liegen hier be-
sonders auf vasomoterischem Gebiet. Von einer echten Neuralgie
ist nicht die Rede.
Die psychischen Störungen bestehen in Depression und
‚hauptsächlich in überwertigen Suicidgedanken. |
Frau Si., 81 Jahre alt.
Ein Bruder wahrscheinlich an Suicid gestorben. Sonstige Belastung
fraglich. Als Kind ganz normal. Aur der Schule gut gelernt. Glückliche
Ehe; zwei normale Graviditäten.
Zuerst mit 24 Jahren einige Wochen nach der ersten Entbindung ein
Depressionszustand, der mehrere Monate dauerte, aber in vollständige Heilung
überging. Bis zum 18. V. 1905, dem Tag der ersten Konsultation von
Geh.-Rat Ziehen, hat die Kranke mehrere Depressionszustände in unregel-
mässigen Zwischenräumen durchgemacht (teils leichtere, teils stärkere). Der
letztestärkere Depressionszustand dauerte vom Frühjahr 1904 bis September 1904.
Die letzten 8 Monate des Jahres 1904 war Pat. angeblich völlig gesund, „eber
etwas zu lustig“. Im Januar 1905.war sie ebenfalls noch gesund, aber im
Februar setzte langsam eine neue Depressionsphase ein, die sich bis zam
Tage der Konsultation allmählich immer mehr steigerte. Die psychischen
Krankheitssymptome bestanden damals in Depression, Angst, Gefühl der In-
suffizienz, wie es die Put. selbst bezeichnete, und Abulie, „Ich empfinde jetzt
alles schlimm und schwer und schlecht. Jede Kleinigkeit ist riesengrosses
Unglück.“ Es stellte sich noch weiter heraus, dass Pat. 2 Aborte, 2mal
Sehnervenentzändung rechts mit Knochenauftreibung am rechten Os frontale
durchgemacht hatte. Der Arzt hielt letztere damals für tuberkülös, da für die
Annahme einer Lues nichts vorlag und der Ehemann eine Infektion aufs
entschiedenste leugnete. — Ein Kind soll allerdings nach Angabe des Arztes
„etwas wie Leukoderma“ haben.
Die körperliche Untersuchung ergab am 13. V. 1905 keinerlei Anzeichen
für Lues. Alle inneren Organe, das periphere und das Zentralnervensystem
waren intakt.
Die Depression hielt bis Juli 1905 an, ging dann rasch in Heilung über,
d. h. wohl ia ein Stadium leichter Hyperthymie.
Oktober 1905 erfolgte normale Geburt, durch welche die Psyche nicbt
verändert wurde. Pat, stillte nicht,
Neue Konsultation 11. I. 1906. Seit 14 Tagen neue Depression mit
wenig Angst. Erscheinungen der Insuffizienz und Abulie: „Alles steht berge-
boch vor mir.“ „Ich bin jetzt ein ganz anderes Ich.“
Status cerporis unverändert. |
Pat, gibt an, mit der Depression habe sie Schmerzen bekommen. Sie
bezeichnet sie selbst als neuralgisch. Sitz: im ganzen Körper, besonders in
den Gelenken. Die Schmerzen nehmen mit dem Steigen der Depression zu
und mit dem Fallen der Depression ab. Dabei war der Gelenkbefund sowie
die Sensibilität im Bereich der Gelenke normal. Druckempfindlichkeit der
Nervenstämme bestand nicht.
Pat. wurde wegen Suicidgedanken in ein Sanatorium geschickt. Dort
vom 22. II. bis 2. III. (Eintritt der Menses) Exaltationsphase mit Schmerzen
„in den Knochen". Seit 2, Ill. wieder Depression,
Bruns, Neuralgien bei Melancholie. 489
Der Güte des Dr. Warda in Blankenburg (Thüringen) verdanke ich
die neuesten Angaben über die Pat. Die Kranke äussert gelegentlich
Schmerzen in den Gliedern, nur zum Teil ausdrücklich in den Ge-
leuken. Keine Hyperalgesie über den Gelenken. Ueber Ellenbogen und Fuss-
gelenken geringe Hyperästhesie. Brüske Bewegung in den Kniegelenken
nicht schmerzhaft. Nu. tibisles stark empfindlich.
Interkostalpunkte, Mammalpunkte beiderseits druckempfindlich.
Supra- und Infraklavikularpunkte, Supra- und Infraorbitslpunkte, Iliakal-
und Inguinalpaunkt rechts ausgeprägter. Auch bestehen einige Druckpunkte
auf der rechten Koptfhälfte.
Im weiteren Verlauf auch wiederholt in unregelmässigen Zwischen-
räumen hypomanische Phasen.
Bei einer periodischen Melancholie bezw. unregelmässig
zirkulären Psychose sehen wir hier Schmerzen zur Zeit der
Depressionszustände auftreten und mit dem Verschwinden der-
selben abnehmen. Die Schmerzen sind zweifellos auch hier
pseudoneuralgischer Natur.
Echte Neuralgien sind, abgesehen von den seltenen Reflex-
neuralgien, die Folgen nachweisbarer Veränderungen, die durch
Infektion, Intoxikation, benachbarte Entzündung, Trauma an den
Nerven hervorgerufen werden. Zur Begriffsdefinition der Neuralgien
müssen wir — abgesehen von den reflektorischen Fällen —
den Nachweis objektiver Veränderungen der sensiblen Bahnen
theoretisch unbedingt postulieren, auch da, wo wir infolge un-
genügender Technik der Untersuchungsmethoden nicht imstande
sind, solche nachzuweisen. Ferner verlangen wir von den Neu-
ralgien die drei typischen Kardinalsymptome: 1. ausgesprochen an-
fallsweises Auftreten der Schmerzen, 2. Ausbreitung der Schmerzen
im Verlauf eines oder mehrerer benachbarter Interkostalnerven,
3. Druckpunkte an den bestimmten Austrittsstellen.
Das Untersuchungsresultat unserer Fälle ergibt, dass nirgends
eine echte Neuralgie vorliegt. Veränderungen im Sinne der obigen
Definition finden sich nicht. Nirgends finden wir die Kardinal-
symptome (besonders die Druckpunkte an den anatomisch ge-
gebenen Stellen) typisch ausgeprägt. Wir sehen dagegen Haut-
hyperästhesien, deren Abgrenzung nicht den Innervationsbezirken
peripherischer Nerven, sondern unseren naiven Vorstellungen der
Körperteile entspricht, und druckempfindliche Punkte, die nicht
dem Verlauf eines peripherischen Nerven entsprechen und sich auch
finden in Thoraxgebieten, die von den antallsweisen spontanen
Schmerzen gänzlich frei sind. In mehreren Fällen entsprechen die
Schmerzpunkte direkt hysterogenen Zonen, indem von dort aus die ver-
schiedenen (auch vasomotorischen) Reizerscheinungen autosuggestiv
beeinflusst werden können. Wir finden, dass die Schmerzen durch
Selbstbeobachtung wachsen, bei Ablenkung der Aufmerksamkeit
schwinden. Es handelt sich also um Pseudoneuralgien, deren
periphere Projektion in ihrer Ausbreitung bestimmt wird durch
die naiven Vorstellungen der Grenzen der Körperteile gegenein-
ander und der Lage der lebenswichtigen Organe in unserem
Körperinnern. | a Bu
Monatsschrift ftir Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI, Hoeft 6. 34
490 Bruns, Neuralgien bei Melancholie.
Für die Entstehung solcher Pseudoneuralgien bei einer
Psychose und speziell bei einer Melancholie bieten sich meines
Erachtens drei Wege:
Erstens könnte es sich um echte Schmerzhalluzinationen,
also um Erregungen spezifischer Schmerzempfindungen durch ent-
sprechende Schmerzerinnerungsbilder handeln. Gegen diese An-
nahme spricht sehr entschieden die Tatsache, dass es sich in der
Regel um nichthalluzinierende Kranke handelt, und dass die
Schmerzen in engster Beziehung zu den pathologischen Affekten
stehen. Immerhin soll zugegeben werden, dass halluzinatorische
Pseudoneuralgien bei anderen Psychosen, z. B. bei der Paranoia,
gelegentlich vorkommen.
Zweitens könnte man zentrale Irradiationen der durch die
Psychose gegebenen Erregungszustände in die sensible Sphäre
annehmen. Diese Annahme entbehrt, wofern sie etwas von der
ersten Verschiedenes bedeuten soll, aller Grundlagen in unseren
klinischen und physiologischen Beobachtungen. Höchstens wären.
vielleicht die von Snell’) beschriebenen Begleitsensationen hier-
her zu rechnen.
Drittens könnte man denken, dass die von den Affekten
hervorgerufenen vasomotorischen Innervationsstörungen die Grund-
lage der pseudoneuralgischen Schmerzen bilden. Seitdem wir
durch Nothnagel und andere wissen, dass es echte Gefäss-
schmerzen gibt, erscheint eine solche Erklärung für einzelne Fälle
sehr wohl annehmbar, Für die von mir berichteten reicht sie-
nicht aus, da hierbei das Auftreten hysteroider Druckpunkte und.
kutaner Hyperästbesien unaufgeklärt bleibt.
Viertens könnte man für jeden dieser Fälle eine latente
hysterische Disposition?) annehmen, welche durch die Psychose-
zu manifesten Symptomen geweckt würde. Diese Erklärung ist.
ewiss in vielen Fällen zutreffend; ich möchte sie jedoch nicht
ür diejenigen gelten lassen, in welchen hysterische Druckpunkte-
und überhaupt anderweitige hysterische Symptome vollständig
ehlen.
Schliesslich ist fünftens daran zu denken, dass die Schmerzen.
und die pathologischen psychischen Symptome, speziell also die-
Depression und Angst, koordiniert sind. Diese Erklärung möchte
ich in der Tat für alle diejenigen Fälle acceptieren, wo eine der
vorausgegangenen Erklärungen nicht zutrifft. Wir wissen aus.
anderen Beobachtungen, dass bei prädisponierten Individuen
durch einen Affektshock Pseudoneuralgien ausgelöst werden können,
ohne dass zugleich durch den Affektshock eine Psychose hervor-.
gerufen wird. Nicht nur bei Hysterischen, sondern auch bei
Neurasthenischen kommen solche Schmerzzustände vor. Meines
1) Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 28 u. 34. Vgl. auch Erlenmeyer,
ibid., Bd. 10, S. 217.
1) Von Fällen, wo schon vor Ausbruch der Psychose eine ausgesprochene-
Hysterie oder Neurasthenie mit Pseudoneuralgien bestand, sehe ich natürlich.
ier ab.
Bruns, Neuralgien bei Melancholie 481
Erachtens steht nichts der Annahme im Wege, dass ein analoger
Affektshock gelegentlich sowohl eine Melancholie wie eine Pseudo-
neuralgie als koordinierte Erscheinung hervorruft. Zum Vergleich
könnte man etwa die neurasthenische Melancholie von Fried-
mann, Ziehen u. A, heranziehen.
Jedenfalls ergibt sich, dass die begleitenden Schmerzen vieler
Psychosen, namentlich auch der Melancholie, sehr mannigfachen Ur-
sprungssein können undnocheinereingehenden Erforschung bedürfen.
Betrachten wir das zeitliche Verhältnis dieser verschiedenen
Erscheinungen zu einander, so bekommen wir ganz verschiedene
Resultate. Wir sehen in dem einen Fall zuerst die Angst
auftreten und erst später den Schmerz, dann wieder treffen
wir das umgekehrte Verhältnis. Bald sehen wir den Anfall nur
aus Schmerzen und vasomotorischen Erscheinungen bestehen, bald
nur aus Angstzuständen, und endlich sehen wir, wie gleichzeitig
sämtliche Erregungserscheinungen entweder nacheinander oder
leichzeitig auftreten. In einem sehr interessanten Fall von
ordon!) war jeder Anfall einer periodischen Melancholie anfangs
von einer Gesichtsneuralgie begleitet.
Ebenso regellos ist die Dauer und Intensität der in diesen
Erregungserscheinungen bestehenden Anfälle. Wir sehen die
Kombination dieser Erregungsvorgänge schon in den physiologischen
Affektzuständen: Ich sehe mich unvermutet einer Gefahr gegen-
über, plötzliche Angst überfällt mich, ich werde blass und habe
das Gefühl, wie wenn mir die Brust zusammengeschnürt würde.
Die Vorstellung als Reiz ruft psychische, sensible und vasomotorische
Erscheinungen hervor.
Dass das Wesen der funktionellen Nervenkrankheiten, der
Neurasthenie und Hysterie darin besteht, dass das Gesamtnerven-
system auf (relativ geringe) Reize psychischer und „peripherer“
atur mit abnorm starken Erregungszuständen der oben an-
gegebenen Natur reagiert, ist bekannt.
Krankheitsfälle wie die unsrigen als neuralgische Psychosen
oder als Dysphrenia neuralgica zu bezeichnen, scheint uns un-
zweckmässig, denn wenn auch die neuralgiformen Schmerzen im
Vordergrund der Erscheinungen stehen mögen, so sind sie doch
nur, wie eine genaue Untersuchung und Beurteilung des Falles
lehren muss, ein Glied aus der Reihe der Symptome.
Anton, Laquer, Wagner, Ziehen, Gordon und andere
haben, wie oben erwähnt, Fälle beschrieben, ın denen teils neu-
ralgiforme Schmerzen die Prodromal- und Initialerscheinungen
akuter Psychosen bildeten, teils beobachteten sie primäre, echte
Neuralgien mit nachfolgenden Psychosen.
Im Gegensatz dazu zeigen sich in den oben von uns be-
schriebenen F ällen die neuralgiformen bezw. pseudoneuralgischen
Schmerzen als konkomitierende (bezw. sekundäre) Symptome der
Psychosen und zwar speziell der Melancholie.
1) Journ. of nerv. and ment. disease. 1908.
84*
492 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
Aus der psychiatrischen und Nervenklinik der kgl. Charite
(Direktor Geheimrat Prof. Dr. Th. Ziehen.)
Einige plethysmegraphische Untersuchungen
bei affektiven Psychosen.
Von
Dr. GIOVANNI SAIZ,
Volontärarzt der Klinik.
Während die denallgemeinen Gefühlsrichtungen zukommenden
Veränderungen der plethysmographischen Kurve auf Grund ein-
gehender Untersuchungen einigermassen klargelegt sind, herrscht
bezüglich der den speziellen Affekten entsprechenden Veränderungen
der Kurve noch grosse Ungewissheit. Nach Wundt stehen die
hysischen Begleiterscheinungen der Affekte in durchaus keiner
konstanten Beziehung zur psychologischen Qualität derselben.
Dies gilt namentlich von den Puls- und Atemwirkungen. Affekte,
die einen sehr verschiedenen, ja entgegengesetzten Gefühlsinhalt
haben, können unter Umständen in Bezug auf die physischen Be-
gleiterscheinungen zur nämlichen Klasse gehören. Entscheidend ist
nach Wundt nur der Umstand, ob es sich um einen sthenischen oder
um einen asthenischen Affekt handelt; massgebend für die Einteilung
der Affekte in sthenische und asthenische ist nun das Verhalten
der äusseren Körpermuskeln, je nachdem es sich nämlich um eine
gesteigerte oder um eine verminderte oder plötzlich gehemmte
Muskelspannung handelt. Schwache und mässig starke Lustaffekte
sind durchwegs sthenische, dagegen die Erbitterung, die Depression
asthenische Affekte; überhaupt werden alle Unlustaffekte bei
längerer Dauer, auch wenn sie von geringer Stärke sind, asthenisch.
Die stärksten Affekte, übermässige Freude, hochgradige Angst,
sind stets asthenisch.. Für die sthenischen Affekte, also z. B. für
einen mässig starken Lustaffekt, ist nach Wundt vor allem die
Erscheinung charakteristisch, dass die ganze Volumkurve lang-
same, oft ziemlich regelmässige Wellen zeigt, die ganz unabhängig
von den Atemschwankungen sind und in deren auf- und ab-
steigenden Teilen die einzelnen Pulse ihre Frequenz nicht merk-
lich ändern. Diese „vasomotorischen Undulationen“ sollen der
Ausdruck der auf- und absteigenden Intensität des Affektes sein.
Bei starken sthenischen Affekten sollen diese vasomotorischen
Undulationen an Höhe und Dauer wachsen. Die Atmung ist ohne
Einfluss auf den Puls und auf seine Oszillationen. Umgekehrt
fehlen bei den asthenischen Affekten die vasomotorischen Un-
dulationen vollständig, während der Rhythmus der Atmung auf
die Volumpulskurve von deutlichem Einfluss ist, es treten die
bei affektiven Psychosen. 493
respiratorischen Pulsschwankungen deutlich hervor. Es ist, um
es noch einmal zu betonen, nicht ohne weiteres jeder Lustuffekt
ein sthenischer, jeder Unlustaffekt ein astlienischer; es gibtsthenische
Unlustaffekte sowie es asthenische Lustaffekte gibt. Die Affekte
sind keine psychischen Elemente, sondern Verlaufsformen von
Gefühlen. Dies kommt auch in der plethysmographischen Kurve
zum Ausdruck, indem die verschiedenen Gefühle (Wundt unter-
scheidet bekanntlich drei Hauptrichtungen der Gefühle) den Ver-
lauf der Kurve in verschiedenem Sinne beeinflussen können; die
Kurve hat trotzdem die charakteristischen Merkmale im Sinne der
sthenischen und asthenischen Affekte. In der Kurve spiegeln sich
aber nach Wundt nicht so sehr die Gefühlsinhalte der Affekte
als vielmehr die formalen Eigenschaften der Stärke und der Ge-
schwindigkeit des Verlaufes der Gefühle. Zu einer ähnlichen
Schlussfolgerung war Zielien gelegentlich der sphygmographischen
Untersuchungen bei Geisteskranken bereits vor fast 20 J ahren ge-
kommen: es ist gleichgültig, ob der Affekt positiver oder negativer
Natur ist; nur die Erregungsaffekte, d. h. diejenigen Affekte,
welche auch auf dem Gebiete der willkürlichen Körpermuskulatur
einen erregenden Einfluss ausüben, wirken verändernd auf die
Pulskurve, und zwar ausnalımslos in demselben Sinne, es mag sich
um positive oder negative Affekte handeln; leichte Stimmungs-
anomalien beeinflussen das Pulsbild nicht. Ziehen betont dies
ausdrücklich gegenüber der Annalıme eines Antagonismus der
Pulsformen von Manie und Melancholie.
Verschieden verhält sich Lehmann dieser Frage gegenüber.
Er verlegt den Schwerpunkt nicht auf die erregende Wirkung der
Affekte, sondern auf ihre Qualität, ohne Rücksicht auf den
sthenischen und asthenischen Charakter derselben. In Bezug auf
die Depressionszustände gibt Lehmann an, dass Respirations-
oszillationen dabei konstant vorhanden zu sein scheinen. Normaler-
weise finden sich die Respirationsschwankungen in der Kurve eines
Menschen, der im normalen Gleichgewicht des Gemüts siclı be-
findet, nicht. Nur wenn die Atmung besonders tief und langsam
ist, oder wenn infolge irgendwelcher Umstände das Volumen der
Kurve mit grossen Pulshöhen ansteigt, können die Respirations-
wellen in einer normalen Kurve erscheinen; ausserdem treten sie
in der Schläfrigkeit auf. Wenn man von diesen Möglichkeiten
absieht, die Respirationsoszillationen also in der Kurve eines nicht
schläfrigen Menschen auftreten bei ruhiger Atmung und normaler
oder sogar kleiner Pulshöhe, so ist das Individuum deprimiert.
In der plethysmographischen Kurve eines im Gleichgewichte des
Gemütes sich befindlichen Menschen kommen nach Lehmann,
abgesehen von den pulsatorischen Volumschwankungen, zwei Arten
von Undulationen vor: erstens jühe Schwankungen und zweitens
sanfte Schwankungen. Die jähen Schwankungen sind ganz unregel-
mässig über die Kurve verteilt und erstrecken sich bald über 2,
3, bald über 5 Respirationen. Gewöhnlich erfolgt bloss das
Sinken jähe mit langen Pulsen; auf die Senkung folgt ein sanftes
494 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
Steigen mit kürzeren Pulsen; die Höhe der Pulse bleibt unver-
ändert; wir finden hier also beim Sinken der Kurve eine Verlang-
samung, beim Steigen derselben eine Beschleunigung der Puls-
frequenz, da ja diePulslänge kürzer wird. Die sanftenSchwankungen
sind ziemlich regelmässig über die Kurve verteilt und erstrecken
sich über mehrere Respirationen; hier sind aber die Senkungen
sobald dieSteigungen ausserordentlich sanft; die Länge der einzelnen
Pulse ändert sich dabei nur ganz wenig, und zwar entspricht der
Senkung der Volumkurve eine geringe Pulsverlängerung, der
Steigung eine geringe Pulsverkürzung. Diese sanften Undulationen
kann man am besten dadurch nachweisen, dass man die Basis der
einzelnen Pulse mit einem Lineal verbindet. Lehmann führt nun
sowohl die jähen als die sanften Schwankungen auf psychische
Prozesse zurück. Die jähen Schwankungen sind denjenigen
Volumveränderungen auffallend ähnlich, welche während der Ge-
dankentätigkeit irgend einer Art eintreten, z. B. beim Rechnen
eines Exempels.. Wenn nun die jähen Undulationen sichtbar sind,
so war nach Lehmann die Versuchsperson nicht gedankenleer;
in der Hypnose fallen die Undulstionen bei entsprechender
Suggestion weg. Das jähe Sinken ist nach Lehmann durch
Gedanken, durch psychische Tätigkeit ohne hervortretende Ge-
fühlsbetonung verursacht. Es gibt Menschen, die nicht imstande
sind, sich auch nur eine kurze Zeit gedankenleer zu erhalten; bei
solchen Menschen zeigt die Kurve jähe Schwankungen. Gelingt
es einem Menschen, sich gedankenleer zu erhalten, so verschwinden
die jähen Schwankungen, es treten aber jetzt die sanften Un-
dulationen deutlich hervor; diese treten nach Lehmann überall
auf, wo ein normaler, wacher Mensch sich gedankenleer zu er-
halten sucht; es ist wahrscheinlich unmöglich, sich von jeglichem
Bewusstseinsinhalt los zu machen, und in den sanften Undulationen
des Volumens spiegeln sich die vagen Bewusstseinszustände wieder;
sobald aber die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gedanken
konzentriert wird, erhält man die jähen Senkungen in der Kurve;
so argumentiert Lehmann. Respiratorische Oszillationen fehlen
in der normalen Kurve vollständig, wofern sie nicht durch ganz
bestimmte Umstände (tiefe Atmung, hohe Pulse, Schläfrigkeit)
hervorgerufen werden. In jeder Kurve finden wir dagegen ent-
weder die jähen Schwankungen oder die sanften Undulationen.
Zwischen diesen beiden Extremen finden sich alle möglichen
Uebergänge. R. Müller behauptet im Gegensatz zu Lehmann,
dass die Respirationsschwankungen auch im Plethysmogramm eines
normalen Menschen vorkommen. Es steht da Behauptung gegen
Behauptung. Ich habe Untersuchungen an normalen Menschen,
die sich im vollständigen Gleichgewicht des Gemüts befanden,
nicht vorgenommen, kann daher persönlich keinen Beitrag zu der
Frage liefern. Doch muss man erwägen, dass die diesbezüglichen
Untersuchungen Lehmanns mit grosser Gründlichkeit gemacht
sind und, was besonders ins Gewicht fällt, bei Personen gemacht
sind, die in der Selbstbeobachtung geübt waren; es ist bei der
bei affektiven Psychosen. 495
grossen Zahl der von Lehmann aufgenommenen normalen Kurven
kaum anzunehmen, dass ihm ein solcher Irrtum widerfahren wäre;
die Kurven, die er publiziert, sind in dieser Richtung auch sehr
beweisend. Wir wollen daher für unsere weitere Darlegung den
Standpunkt Lehmanns akzeptieren, dass respiratorische Schwan-
kungen bei Personen, die im normalen Gleichgewicht des Gemüts
sich befinden, fehlen, wenn nicht jene oben angeführten Bedingungen
erfüllt sind. R. Müller hat auch Lehmann den Vorwurf ge-
macht, dass er die physiologischen Verhältnisse viel zu wenig be-
rücksichtigt hat. Wir kommen damit auf die Traube-Hering-
schen und auf die Mayerschen Wellen zu sprechen. Leider
werden sie noch immer mit einander verwechselt, obwohl sie von
einander ganz verschieden sind. Die Traube-Heringschen
Wellen würden Schwankungen der Volumpulskurve darstellen,
welche den Typus der Respirationsoszillationen haben; sie wurden
bei Tieren nachgewiesen, und es wurde durch das Experiment
gezeigt, dass diese Schwankungen, obwohl sie den Respirationen
entsprechen, doch nicht von der Atmung direkt abhängen, indem
sie auch am kurarisierten Tiere auftraten, wenn die Atmung voll-
ständig aussetzte. Man nimmt an, dass sich die kleineren Gefässe
dem Atmungsrhythmus entsprechend erweitern und verengern
und dadurch diese Volumschwankungen erzeugen. Charakteristisch
für die Traube-Heringschen Wellen ist nun der Umstand, dass
die Frequenz der Pulse im auf- und absteigenden Schenkel die-
selbe ist. Wollte man also überhaupt die Traube-Heringschen
Wellen mitirgendwelchen Volumschwankungen desPlethysmogramms
identifizieren,so könnte man es nur mit den Respirationsschwankungen
tun. Bei meinen Kurven findet gewöhnlich bei den Respirations-
schwankungen eine Verlängerung der Pulse im aufsteigenden
Schenkel der respiratorischen Oszillationen statt, wir können daher
in meinen Kurven die Respirationsschwankungen nicht als Traube-
Heringsche Wellen bezeichnen. Es bleiben nur noch die Mayer-
schen Wellen. Es sind dies langsam ansteigende und langsam
abschwellende periodische Schwankungen des Volumens, welche
von den periodischen regulatorischen Bewegungen der Gefässe,
namentlich der kleineren Arterien herrühren; sie erfolgen ganz un-
abhängig von der Atmung und sind wahrscheinlich auf direkte
Erregungen der vasomotorischen Zentren zurückzuführen. Nach
der Beschreibung wären die Mayerschen Wellen mit den sanften
Undulationen Lehmanns identisch. Wenn nun diese Wellen infra-
kortikalen Ursprunges sind, im vasomotorischen Zentrum ent-
stehen, gleichsam automatisch erfolgen, so hat Müller recht,
wenn er behauptet, dass die sanften Undulationen Lehmanns
überhaupt nicht an ein psychisches Geschehen gebunden sind. Wir
wollen hier nicht weiter auf diese Frage eingehen, denn für unsere
Untersuchungen ist die Genese der Wellen, ob psychisch oder
rein physiologisch, zunächst gleichgültig. Für uns von Bedeutung
ist, dass die sanften Undulationen in der normalen Kurve sich
vorfinden, vornehmlich, wenn die Kurve keine jähen Senkungen
496 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
zeigt. In folgendem werden wir stets von sanften Undulationen
sprechen; damit wären also die Mayerschen Wellen der Physiologen
gemeint. |
Ich hielt es für notwendig, dies alles gleichsam in Parenthese
hier einzuschieben, weil diese Vorbemerkungen für das Verständnis
des Folgenden notwendig sind. Wir hatten oben erwähnt, dass
nach Lehmann respiratorische Schwankungen in der plethysmo-
graphischen Kurve eine konstante Begleiterscheinung der De-
pressionszustände darstellen. Ausserdem findet man bei Depressions-
zuständen subnormale Pulshöhen und niedriges Volumen. In Be-
zug auf die Lustzustände fasst sich Lehmann ganz kurz und be-
schreibt nur jene Veränderung, welche Lustgefühle in der Kurve
hervorrufen; er führt nebenbei an, dass andere, wenig zusammen-
gesetzte Lustzustände sich in derselben Weise äussern, nämlich
durch Pulserhöhung und Pulsverlängerung, während das Volumen
im Anfang ein geringes Sinken zeigt, aber bald darauf rasch bis
über das ursprüngliche Niveau steigt. Lehmann stellt also in
Bezug auf dns lethysmographische Bild die Lustzustände den
Unlustzuständen, Wun dt die sthenischen den asthenischen Affekten,
Ziehen die leichten Stimmungsanomalien den erregenden Affekten
gegenüber.
Es war nun von einem gewissen Interesse, zu erforschen, wie
sich pathologische Lust- und Unlustzustände in der pletbysmo-
graphischen Kurve äussern, ob eine (resetzmässigkeit, wie sie
Lehmann oder Wundt für die Affekte des normalen Menschen
beschreibt, sich nachweisen lässt oder nicht. Dies zu untersuchen,
war der Zweck dieser Arbeit. Plethysmographische Untersuchungen
an Geisteskranken liegen, wenn auch nur vereinzelt, schon vor.
Doch haben die Untersucher dabei weniger Gewicht gelegt auf
die durch die pathologische Stimmung bedingte Abweichung der
plethysmographischen Kurve von einer normalen Kurve, sondern
sie haben die Versuche Lehmanns an Geisteskranken wiederholt
und im grossen Ganzen seine Resultate bestätigt. Wir finden
nur ganz spärliche Angaben über das Verhalten der Volumkurve
bei Geisteskranken vor dem Beginn der Versuche, Vogt gibt an,
dass bei Zuständen starker Erregung, besonders bei manischer
Erregung, die respiratorischen Schwankungen oft ganz kolossale
sind; gewöhnlich sind die Pulsschläge während des Einatmens
nicht unbedeutend schwächer und schneller als während des Aus-
atmens. Hirschberg gibt an, er habe zunächst mehrere Kurven
aufgenommen, bis die Versuchsperson sich an die Situation ge-
wöhnt hatte und die Gleichmässigkeit der Atmung und der Volum-
kurve die eingetretene Gemütsruhe der Versuchsperson erkennen
liess. Was Hirschberg unter Gleichmässigkeit der Volumkurve
versteht, sagt er nicht. Hat er solange Kurven aufgenommen,
bis er Kurven erhielt, die im Lehmannschen Sinne als normal
zu bezeichnen wären, also ohne Respirationsschwankungen ver-
liefen? Dies lässt sich aus der kurzen Mitteilung nicht ersehen.
Hirschberg gibt weiter an, dass bei gemütlicher Erregung Be-
bei affektiven Psychosen. 497
schleunigung und Vertiefung der Atemzüge eintritt; in der Volum-
kurve treten gleichzeitig die Respirationsschwankungen besonders
deutlich hervor, während Höhe und Länge der Pulse besonders
bei unlustbetonten Erregungen abnehmen, Es scheint also, dass
Hirschberg auch bei heiterer Erregung deutliches Hervortreten
der Respirationsschwankungen beobachtet hat, wobei freilich zu
berücksichtigen ist, dass gleichzeitig die Atmung tiefer, wenn
auch beschleunigter wurde und schon darin eigentlich ein Moment
gegeben ist, das nach Lehmann imstande ist, auch bei normalen
Menschen Respirationsschwankungen hervorzurufen.
Ich habe mich bei der Untersuchung auf die affektiven
Psychosen beschräukt und ging dabei von dem Standpunkt aus,
nicht auf das Geratewohl bei vielen Patienten Kurven auf-
zunehmen, sondern wenige Fälle, diese aber dafür um so gründ-
licher zu untersuchen. Ich verfüge über 133 plethysmographische
Aufnahmen bei 6 Patientinnen; es sind ausschliesslich Frauen. Bei
zweien handelte es sich um die manische Phase eines zirkulären
Irreseins, bei einer Patientin um eine ganz leichte Hypomanie in
der Pubertät, die wahrscheinlich die Initialphase einer periodischen
Manie oder eines zirkulären Irreseins bildet; einmal handelt es
sich um eine Melancholie im Klimakterium, einmal um eine
melancholische Phase eines zirkulären Irreseins. Besonders lehr-
reich wäre es gewesen, wenn man ein zirkuläres Irresein in seinen
verschiedenen Phasen hätte untersuchen können. Es stellte sich
tatsächlich ein solcher Full ein; es handelte sich um eine
periodische Menstrualmanie, an die sich eine mehrere Tage
dauernde Depression anschloss. Leider lag gerade bei diesem Fall
eine Fehlerquelle vor. Patientin hatte zweimal Gelenkrheumatismus
überstanden, und über der Herzspitze war ein systolisches Geräusch
hörbar. Pat. selbst hatte keine Beschwerden, auch nicht Herzklopfen
‚beim Laufen und Springen. Der Puls war rhythmisch und zeigte
auch sonst keine Abnormität. Zweifellos lag eine leichte Mitral-
insuffizienz, die völlig kompensiert war, vor. Ich habe diesen Fall
trotz dieser Komplikation in die Untersuchung mit einbezogen,
denn es war der einzige Fall, bei dem man in kurzer Zeit erheb-
liche Aenderungen der Stimmungslage erwarten konnte. Es handelt
sich ja schliesslich um relative Unterschiede, nämlich um den Ver-
gleich der Kurven derselben Patientin in verschiedenen Stimmungs-
lagen, und ich glaube, dass wir von diesem Standpunkt aus auch
die Kurven dieser Patientin verwerten können. Die anderen
Patientinnen waren körperlich vollkommen gesund, insbesondere
bestand keine Herz-, keine Nieren-, keine Arterienerkrankung.
Die älteste Patientin war 39 Jahre alt; die jüngste, das ist die
soeben besprochene, 15 Jahre alt.
Nur wenige Worte über die Technik der Untersuchung.
Selbstverständlich wurde die Untersuchung in einem abgelegenen
Zimmer bei vollkommener Ruhe ausgeführt. Alle besonderen Er-
eignisse, unvermutetes Eintreten einer Person ins Zimmer, Ge-
räusche aus dem Garten, welche die Aufmerksamkeit der Patientin
498 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
erregen konnten, wurden aufgezeichnet und auf die entsprechenden
Schwankungen bei der Durchsicht der Kurven Rücksicht genommen.
Die Einstellung des Armes im Apparate wor immer dieselbe. Vor
jedem Versuch erhielt Pat. die Weisung, sich genz ruhig zu ver-
halten und an nichts zu denken. Gesprochen wurde während der
Versuche nicht. Nach dem Versuch wurden die Patientinnen
jedesmal gefragt, woran sie während des Versuches gedacht
hätten. Die Angaben waren gewöhnlich spärlich; ich hatte mit
einem Krankenmaterial zu tun, das sich aus den niederen Be-
völkerungsschichten rekrutierte und in der Selbstbeobachtung gar
nicht geübt war. Immerhin habe ich einige Male (speziell bei
der schon besprochenen Patientin mit periodischer Menstrualmanie)
einigen Aufschluss bekommen und so manche Eigentümlichkeiten
im Verlauf der Kurven erklären können. Die Untersuchungen
wurden meist in der Frühe zwischen 8 und 9 Uhr ausgeführt. An-
fänglich nahm ich absichtlich einige Kurven zu verschiedenen
Zeiten, vor dem Essen, nach dem Essen, auf, um den Einfluss
physiologischer Faktoren auf die Kurven kennen zu lernen. Aber
die diesbezüglichen Kurven zeigten keine auffällige Abweichung
gegenüber den Kurven, die ich in den frühen Morgenstunden auf-
genommen hatte. Ich beschloss daher, die Kurven in der Frühe,
unter möglichst gleichen physiologischen Bedingungen, aufzunehmen,
um die verschiedenen Kurven mit einander vergleichen zu können.
Die Patienten standen vor 6 Uhr auf, um 8 Uhr wurden die
meisten Kurven aufgenommen. Die Trommel des Kymographion
brauchte zu einer Drehung 1 Minute 45 Sekunden. Nach jeder
plethysmographischen Kurve wurde eine sphygmographische Kurve
mittels des Jaquetschen Sphygmographen aufgenommen, da die
einzelnen Pulse ım Pletbysmogramm, auch wenn man den Pletbysmo-
graphen durch ÖOffenlassen des Wasserhahnes der Wasserstand-
flasche als Hydrosphygmograph verwenden wollte, viel zu undeutlch.
sind. Man bekommt keine exakten Pulsbilder wie mit dem Hydro-
sphygmographen Mossos, weil der Gummisack die feineren
sekundären Erhöhungen der Pulse verwischt. Jedesmal wurde die
Puls- und die Atemfrequenz aufgezeichnet und eine Notiz über
die Beschaffenheit der Arteria radialis für das Gefühl gemacht
(Weite und Füllung der Arterie, Beschaffenheit der Pulswelle,
Spannung). Jedesmal wurde auch die Intensität des Nachrötens der
Haut anf Ritzen mit der Nadelspitze und Streichen mit dem Nadel-
kopf geprüft. Ganz speziell wurde natürlich der psychische Zustand
der Patientin vermerkt. Die Temperatur sämtlicher Kranken war
während der Untersuchung stets normal. Eine Kranke machte
eine leichte Angina durch, sie wurde in jenen Tagen nicht plethysmo-
graphiert. Wenn möglich, wurde eine Kurve sofort bei der
Aufnahme der Kranken gemacht, bevor irgend ein Medikament
verabreicht worden war. Patientin Sch. bekam zur Zeit, als die
Kurven aufgenommen wurden, Opium (6 Pillen zu 0,05 täglich).
Die anderen Patientinnen bekamen leichte Bromdosen oder Eisen-
Arsenpillen und manchmal abends ein Schlafmittel, gewöhnlich
bei affektiren Psychosen. 499
0,5—1,0 Veronal. Dies wurde stets ausdrücklich vermerkt. Die
plethysmographischen Kurven sind von rechts nach links, die
sphygmograplischen von links nach rechts zu lesen.
Wir wenden uns nun den Kurven!) zu und untersuchen zu-
nächst diejenigen Kurven, welche in einer hypomanischen Phase
aufgenommen warden.
Emma B., 26 Jahre alt; hypomanische Phase eines zirkulären Irreseins.
Es bleibt bei einer mässigen Ausgelassenheit mit gelegentlichen Zorn-
ausbrüächen. Ich habe bei dieser Patientin 15 Kurven nufgenommen, möchte
aber hier nur sechs besprecheu. Die anderen bringen nichts wesentlich
Neues, sondern entsprechen den Befunden, die wir bei diesem sechs Kurven
erheben werden. lch bezeichne die einzelnen Kurven nach dem Datum ihrer
Aufoahme.
10. II. Heiter. P. 72, R. 18. 1 Uhr, vor dem Essen.
Aus der pneumographischen Kurve (der unteren) ersehen wir, dass die
Atmung etwas ungleichmässig, aber im grossen Ganzen regelmässig ist, nicht
auffallend tief; in der zweiten Hälfte der Kurve sind die Atemzüge etwas
tieter als in der ersten. Es wurde immer die thorakale Atmung registriert;
das Steigen der Kurve deutet dio Inspiration, das Sinken die Exspiration an.
— In der Volumkurve (der oberen) sind die Respirationsschwankungen deutlich
sichtbar, in der zweiten Hälfte noch deutlicher als in der ersten, entsprechend
dem Tiefenwerden der Atemzüge und dem mehr gleichmässigen Verlauf der
anzen Kurve. Aufjede Atmung entfallen 4 Pulse; die Pulse im aufsteigenden
Schenkel der respiratorischen Undulationen sind länger als die im absteigenden,
die Frequenz der Pulse also im absteigenden Schenkel grösser. Das Sinken der
Volumkurve entspricht der Inspiration. In der ersten Hälfte der Volamkurve
sehen wir 2 jähe Senkungen und eine jähe Senkung gegen das Ende der Kurve.
An diesen Stellen sind die Respirationsschwankungen weniger deutlich.
Entsprechend den jähen Senkungen sind die Pulse etwas länger, aber nur
wenig. In der zweiten Hälfte der Kurve finden wir sanfte Undulationen,
welche die Respirationsschwankangen tragen. Von den allerersten Pulsen
im Begino der Kurve ist abzusehen, weil der Schreibhebel zu fest an die
Trommel drückte; vielleicht bestand daselbst Spannung; es wäre dies aus
dem niedrigen Volum mit niedrigen Pulsen zu erschliessen. — Fassen wir
die jähen Senkungen als Ausdruck der Denktätigkeit auf, so hätte Patientin
im Verlauf der Kurve 2—3 mal ihre Aufmerksamkeit auf einen bestimmten,
nicht gefühlsbetonten Gedanken konzentriert. Diese jähen Senkungen sowie
die sanften Undulationen finden sich auch in der Kurve eines normalen
Menschen, und insofern wäre die Kurve als normal zu betrachten. Was hier
aber besonders in die Augen fällt, ist das Ilervortreten der Respirstions-
schwankungen.
Diese müssten nach Lehmann in einem normalen Plethyamogramm
fehlen; denn die Atmung ist nicht besonders tief und langsam, die Pulse
nicht abnorm hoch; ich habe bei Patientin stets Pulse erzielt, die dieser
Pulshöhe entsprachen. Ich habe ferner bei dieser Patientin Kurven auf-
genommen, wo bei noch grösserer Pulshöhe die Respirationsschwankungen
eher undeutlicher waren. Wir haben also abnorm starke Respirations-
schwankungen, die entweder anf rein physiologische Prozesse oder auf die
Verstimmang der Kranken zurückzuführen sind. Patientin war während des
Versuches weder schläfrig noch deprimiert. Wir müssten also, wenn es uns
gelingt, die physiologischen Momente, welche in Betracht kommen könnten,
auszuschliessen, die Respirationsschwankungen auf die heitere Verstimmung
zurückführen. Damit würde es auch übereinstimmen, dass die Respirations-
schwankungen während der jähen Senkungen verschwinden. Lehmann hat
ein ähnliches Verhalten bei depressiven Stimmungen gefunden; die Kurve
zeigte deutliche Respirationsschwankungen; es wurden nun Versuche angestellt,
welche einige Zeithindurch die Aufmerksamkeit des Individuums beanspruchten;
1) Stets warde der Lehmannsche Apparat verwendet. Die Kurven
sind verkleinert wiedergegeben.
mn
500 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
während dieser Versuche verschwanden die Respirstionsschwankungen, weil
durch die Arbeit die Depression z. T. bescitigt war; sobald die Aufmerksam-
keit durch die Arbeit nicht mehr gefesselt war, kehrten die Respirations-
schwankungen sofort wieder; es hatte die Konzentration der Aufmerksamkeit
die Depression gleichsam einen Augenblick lang vergessen gemacht.
ch habe bei Patientin mehrere Kurven unter verschiedenen äusseren
Bedingungen aufgenommen, nach dem Essen, am späten Nachmittag, um die
paysio ogischen Verhältnisse zu variieren. Immer traten bei Patientin die
espirationsschwankungen auf. Daraus ohne weiteres die physiologischen
Momente als Ursache der Respirationsschwankungen auszuscheiden, geht sicher-
lich nicht an. Ueberhaupt kann man die physiologischen Verhältnisse als Ursache
der Veränderungen in der plethysmographischen Kurve mit absoluter Sicher-
heit nie ausschliessen. Es ist dies eine Fehlerguelle, die jeder plethysmo-
raphischen Untersuchung anbaftet. Da Müller nachgewiesen hat, dass die
espirationsschwankungen auch ohne psychische Parallelprozesse bei Tieren
zustande kommen, bestreitet er die Berechtigung, die Respirationsschwankungen
als Ausdruckserscheinungen psychischer Prozesse in Anspruch zu nehmen.
Darin geht aber Müller sicherlich zu weit. Solange nicht bewiesen ist,
dass ganz bestimmte physiologische Momente allein imstande sind, jene
Schwankungen zu erzeugen, ist man gerade so gut berechtigt, jene Schwan-
kungen für psychische Prozesse in Anspruch zu nehmen, um so mehr, wenn
man nachweisen kann, dass diese Schwankungen unter ganz bestimmten
psychischen Verhältnissen zustande kommen. Freilich muss man immer mit
der Möglichkeit rechnen, dass gleichzeitig rein physiologische Momente mit-
wirken und Veränderungen der Kurve hervorrufen, welche sich den durch
die psychische Tätigkeit hervorgerufenen Aenderungen supraponieren, sie
aufheben oder sie verstärken. Wenn man aber die psychischen Momente
ganz ausser acht lassen wollte, würde man in denselben Fehler verfallen,
wie wenn man die physiologischen Verhältnisse ganz vernachlässigt.
15. II. Heiter (wie am 10.11). P.80, R.22, 1:/, Uhr, nach dem Essen.
Die Atmung ist oberflächlich, leicht inäqual. In der Volumkurve
treten die Respirationsschwankungen stark hervor und zwar entsprechen
jeder Respiration 8—4 Pulsschläge. Sinken des Volums während der Inspi-
ration. Wir sehen im letzten Drittel der Kurve entsprechend den 2 schwächeren
Atemzügen auch die Respirationsschwankungen in der Volumkurve undeut-
licher werden. Die Kurve verläuft grössentoils mit sanften Undulationen,
welche man dadurch am besten sieht, dass man die tiefsten Punkte der Kurve
miteinander verbindet. Gegen Ende eine jähe Senkung. Es sinkt das
Volumen mit langen Pulsen. Die Pulse siod auch etwas niedriger. Hier
spricht vielleicht eine leichte Spannung mit. Wir haben hier also eine Kurve
der heiteren Phase, in der die Respirstionsschwankungen sehr deutlich.
bervortreten; ausserdem fmden wir jähe Senkungen, welche der Anspannung
der Aufmerksamkeit entsprechen. Im übrigen verweise ich auf die Aus-
tübrungen bei der Kurve 10. II.
4. III. Heiter. P. 76, R. 22. 11 Uhr.
Die Atmung ist leicht inägnal, ohne Besonderheiten. Die Respirations-
schwankungen sind sehr deutlich; ausserdem sehen wir die sanften Undu-
lationen. Gegen Ende sinkt die Volumkurve erheblich, die Pulse werden
niedriger, die Undulationen sind sehr gering, also höchstwahrscheinlich
Spannung. Die Pulslänge bleibt ungefähr gleich. Im ganzen sind die Pulse
etwas höher als gewöhnlich, Dies würde das stärkere Hervortreten der
bei affektiven Psychosen. O1
Respirationsschwankungen an diesem Tage ge enüber den vorausgegangenen
erklären. Anf jede Atmung kommen 3—4 Pulse.
8. III. Heiter. P. 78, R. 18. 9 Uhr.
Die Atmung ist nicht oberflächlicher als in den anderen Kurven, in
denen die Respirstionsschwankungen stärker hervortreten. Die Respirations-
schwankungen sind undeutlich; immerhin kann man sie sehen, am ausgepräg-
testen gegen Ende der Kurve, aber auch in der ersten Hälfte. Auf jede
Atmung entfallen 3 Pulse, mitunter 4. Die Pulshöhe ist nicht niedriger als
z. B. in der Kurve vom 10. II., wohl aber niedriger als am 4. III. Was am
meisten in dieser Kurve hervortritt, sind die sanften Undulationen und 2 steile
Senkungen, eine in der Mitte, eine gegen Ende.
37. III. Heiter. P. 68, R. 16. 12 Uhr.
Die Respiration ist etwas ungleichmässig, nicht abnorm tief. Die
Respirsationsschwankungen sind sehr dentlich, namentlich in der ersten Hälfte.
Die Pulse sind aber sehr hoch, wie am 4. III; höher als am 10. II. und
15. II. Es kommen auf jede Atmung 3 Pulse. Während der Inspiration
Sinken der Kurven. Im aufsteigenden Schenkel sind die Pulse gewöhnlich
länger. Im Beginn der Kurven finden wir eine steile Senkung, dem ent-
sprechend sind die Pulswellen länger; sonst sind die sanften Uudulationen
sehr deutlich sichtbar.
27. III. Ich habe dann unmittelbar darauf den Wassarhahn offen
gelassen und ein Hydrosphygmogramm aufgenommen mit einem 80 cm langen
Schlauch, um zu sehen, ob die Respirationsschwankungen noch deutlicher
würden. Und tatsächlich traten sie in einer sehr demonstrablen Weise auf.
Ich lege dem natürlich keine weitere Bedeutung bei, da es ja bekannt ist,
dass die Respirationsschwankungen besonders deutlich im Hydrosphygmogramm
auftreten, wenn der Schlauch länger ist. Dabei verschwinden alle anderen
Undulationen, die Fusspunkte liegen in einer geraden Linie.
‚Schluss: Wir haben bier ausschliesslich Kurven aus der heiteren
Phase. Ich habe von der Patientin nie Aufschluss bekommen können, woran
sie während der Versuche gedacht hatte. In allen Kurven finden wir
mehr oder minder deatliche Respirationsschwankungen, welche sich nicht auf
abnorm tiefe and langsame Atmung, nicht auf Schläfrigkeit und auch nicht
ohne weiteres auf abnorm hohe Pulse zurückführen lassen. Denn wir sehen
sie in der Kurve vom 8. III. schwächer werden, obwohl hier die Pulse nicht
niedriger sind als am 10. II. und 15. II., wo wir ganz deutliche Respirations-
schwankungen gefunden haben. Wohl treten die Respirationssch wankungen
am schönsten hervor, wenn die Pulse hoch sind; das ist aber auch nicht
anders zu erwarten (Kurven 4. III. und 27. IIl). Wollten wir das Auftreten
der Respirationsschwaukungen unmittelbar auf die abnorm heitere Stimmungs-
lage zurückführen, so müsste man erwarten, dass die Respirationsschwankungen
um so deutlicher werden, je grösser die heitere Erregung ist. Nun besteht
ein Parallelismus zwischen Stärke des Affektes und Deutlichkeit der Respi-
rationsschwankungen nicht. Die heitere Erregung war in allen hier be-
sprochenen Kurven ungefähr dieselbe, und doch sehen wir einmal die Respi-
rationsschwankungen sehr deutlich hervortreten, ein anderes Mal sind sie viel
schwächer. Dass diese Schwankungen um so deutlicher hervortreten, je höher
die Pulse sind, ist zweifellos. Ich habe aber auch Kurven besprochen, wo
50% Saiz, Einige plethysmograpkische Untersuchungen
bei glaicher Pulshöhe die Respirationsschwankungen einmal deutlicher waren
als das andere Mal. Wir köunen daher das verschiedene Verhalten der
einzelnen Kurven hinsichtlich der Respirationsschwankungen nicht auf die
verschiedene Pulshöhe zurückführen. Es lässt sich dieses verschiedene Ver-
halten auch nicht aus dem Verhältnis zwischen der Puls- und der Respirations-
frequenz erklären in dem Sinne, dass die Itespirationsschwankungen um so
deutlicher wären, je mehr Pulse auf eine Atmung fallen. Es lässt sich auch
in dieser Beziehung keine Gesetzmässigkeit nachweisen. Ausserdam finden wir in
allen Kurven sanfte Undulationen und vereinzelte jähe Senkungen. Es hat
dies nichts Auffälliges an sich, da wir aus den Versuchen Lehmanns wissen,
dass dies dem Verhalten jedes normalen Menschen entspricht. Ich will bier
nur das bedeutende Ueberwiegen der sanften Undulationen über die jähen
Senkungen betonen.
—BEX
Das sphygmographische Pulsbild zeigt uns einen katatrikroten Puls,
welcher als normal angesprochen werden kann. Ich will erwähnen, dass ich
bei allen sphygmographischen Untersuchungen den Federdruck des Sphygmo-
raphen so gewählt habe, dass die maximale Höhe der Kurve erzielt wurde.
eränderungen des Kontraktionszustandes der Gefässe fanden sich bei Pat.
während der ganzen Beobachtungszeit nicht.
Alice Le. 34 Jahre alt, hypomanisehe Phase eines zirkulären Irreseins.
Pat. ausgesprochen hypomanisch, spricht viel, singt, reimt, sehr erotisch.
Häufig Zornausbrüche. Ich habe bei der Pat. 21 Kurven aufgenommen und
möchte hier 5 besprechen. Die anderen Kurven schliessau sich an das hier
angeführte an.
24. III. Ausgesprochen hypomanisch. P. 108, R. 28. 4 Uhr. Im Be-
ginn hielt Pat. den Atem an, dann atmet sie im grossen ganzen regelmässig
und ziemlich tief. In der Volumpulskurve finden wir im Beginn keine Re-
spirationsschwankungen; das darf uns nicht wunder nehmen, da Pat. nicht
atmet. Im weiteren Verlauf treten sie immer deutlicher hervor, und in der
zweiten Hälfte der Kurve sind sie unzweideutig nachweisbar; es entsprechen
4 Pulse einer Atmung; der Inspiration entspricht das Sinken der Kurve. Im
aufsteigenden Schenkel sind die Pulse kaum merklich länger. Die plötzliche
Volumensteigerung im ersten Drittel der Kurve ist wohl von einer leichten
Verschiebung des Armes abzuleiten. Was besonders auffällt, ist das Fehlen
der jähen Schwankungen, und auch die sanften Undulationen sind kaum nach-
weisbar; in der ersten Hälfte haben wir noch eine grosse sanfte Undulation,
in der zweiten gar keine; wir sehen einen fast horizontalen Verlauf der Kurve,
wenn wir von den Respirstionsschwankungen absehen. Dass die Pat. nicht
edankenleer war, ging aus ihrem Gebahren hervor. Sie war bloss mit Mühe
azu zu bewegen, während der Versuche überhaupt zu schweigen; und kaum
war der Versuch beendigt, als sie sofort den Arzt mit einem Redeschwall
überflutete. Dass es sich hier nicht um Spannung handelt, geht daraus her-
vor, dasa die Pulshöhe, die wir auch sonst bei Pat. finden, nie höher ist, als
wir sie in diesen Kurven finden, und ferner aus dem Hervortreten der Re-
spirationsschwankungen,
10. V. Ausgesprochen bypomanisch. P, 88, R. 16. 8!/, Uhr früh. |Die
NAAR AA,
————————— ——— —— — 6— — — —
bei affektiven Psychosen. 508
Atmung ist ragelmkusig, nicht so tief wie am 24. III. Trotzdem sehen wir
sehr deutliche Respirationsschwankungen. Jeder Atmung entspreolien 4—5 Puls-
schläge. Die Pulse sind im Durchschnitt nicht höher, als sie es am 24. III.
owesen sind. Die Pulswellen im aufsteigenden Schenkel sind länger. Jähe
akungen finden wir nicht, wohl aber ganz vereinzelte sanfte Undulatıionen.
23. V. Leichtere heitere Erregng. P. 84, R. 22. 11 Uhr. Die Atmung
ist regelmässig, etwas angleichmässig. Die Pulse sind ausserordentlich niedrig,
und trotzdem treten die Respirationsschwankungen deutlich hervor; ea spricht
dies gegen Spannung. £e entfallen 4 Pulse auf jede Atmung. Die Puls-
wellen im aufsteigenden Schenkel sind länger, als die im absteigenden Schenkel.
In dieser Kurve fehlen ebenfslls die jähen Senkungen, auch die sanften Undu-
lationen sind kaum sichtbar.
17. V. Pat. sornig erregt; hatte bis zum Moment, in dem die Trommel
in Rotation versetzt wurde, geschimpft, weil ihre sexuellen Erlebnisse beim
Krankheitsbeginn in der klinischen Vorlesung besproohen worden waren.
P. 76, R. 20. 8 Uhr.
u N
Die Atmung ist sehr ungleichmässig. In der Volumpulskurve finden
wir ausserordentlich starke Respirationsschwankungen, und zwar kommen
5 Pulse auf eine Atmung, 2 auf den aufsteigenden und B auf den absteigenden
Schenkel. Die Pulswellen im aufsteigenden Schenkel sind länger. Gegen
Ende treten die Atemschwankungen etwas zurück, weil die Atmung oberflächlich
wird. Jähe Senkungen fehlen fast ganz, mit Ausnahme (des Sinkens der
Kurve infolge der tiefen Atemzüge. Auch die sanften Undalationen sind sehr
gering. Die einzelnen Pulse sind in dieser Kurve etwas höher, als sie es
gewöhnlich bei dieser Pat. sind; doch reicht dies zur Erklärung der
ausserordentlich starken Respirationsschwankungen nicht aus. Andererseits
kavn man diese starken Schwankungen auch nicht ohne weiteres auf Rechnung
des Zornaffektes setzen, weil ich ın einer anderen Rurre bei mässig starker
hypömanischer Erregung ebenfalls ein so starkes Hervortreten der Respirations-
schwankungen bei dieser Pat. beobachtet habe.
16. V. Pat. hatte kurz vorher geweint, sagte, ihr wäre so zu Mute
wie während der Melancholie. Es wurde rasch eine Kurve aufgenommen,
aber schon auf dem Wege zum Untersuchungazimmer fing Pat. zu lachen und
zu scherzen an, klingelte beim Vorbeigehen an allen Türen und witzelte bis
zum Beginn des Versuches. P. 100, R. 21. 10 Uhr früh.
Leider sind infolge fehlerhafter Einstellung des Pneumographen die
Atemsüge nur angedeutet. Die Volumkurve bietet kaum einen Unterschied
gegenüber der Kurve vom 10. V.; deutliche Respirationsschwankungen, auf
jede Atmung entfallen 4—5 Pulse. Keine jähen Senkungen, sanfte Undu-
stionen sind leicht angedeutet. Die einzelnen Pulswellen sind in dieser
Kurve nieht so gleichmässig wie am 10. V. Doch kann man beim Plethysmo-
gramm auf die Formen der einzelnen Pulse nicht viel geben.
Schluss: Was in allen Kurven dieser Pat. auffällt, ob sie bei mittel-
starker oder stärkerer hypomanischer Erregung aufgenommen warden, ist das
starke Hervortreten der Respirationsschwankangen. Dabei finden wir auch
hier keine konstanten Beziehungen zwischen der Stärke des Affektes und der
504 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
Deutlichkeit der Respirntionsschwankungen. Wir sehen bei derselben Stärke
der bypomanischen Erregung einmal die stärksten Respirationsschwankungen,
in anderen Kurven viel geringere Respirationsschwankungen. Ferner fehlen
bei dieser Pat. die jähen Senkungen vollständig, und auch die sanften
Undulationen sind nur angedeutet. A priori müsste man erwarten, dass beim
Gedankenreichtum eines Maniacus jähe Senkungen über jähe Senkungen er-
folgen sollten. Bei diesen beiden Patientinnen findet sich aber im Gegenteil
im grossen ganzen ein sehr gleichmässiger Verlauf der Kurven; namentlich
bei der zweiten Patientin, die die stärkere hypomanische Erregung darbot,
treten jähe Senkungen überhaupt nicht auf. Lehmann erwähnt, dass nicht
jeder Gedanke eine jähe Senkung hervorzubringen braucht; manchmal tritt
nur eine Verkürzung der Pulse ein. Wir könnten nun daran denken, dass
bei der Manie die Beschleunigung der Ideenassosziation es mit sich bringt,
dass, da bei der Flucht der Gedanken die Konzentration der Aufmerksamkeit
auf einen Gegenstand im höchsten Masse erschwert wird, die Ausdrucks-
erscheinungen der Konzentration der Aufmerksamkeit nicht zustande kommen
können, gleichsam infolge der Nivellierung der Vorstellungen, wie es
Wernicke genannt hat. Wir müssten aber dann erwarten, dass die jähen
Senkungen beinı Nachlassen der Erregung, in dem Masse, als die Gedanken
stabiler werden, deutlicher hervortreten, oder dass wenigstens Veränderungen
der Pulslänge sich einstellen. Dies ist aber nicht der Fall. Es liegen bier
wohl persönliche, individuelle Verschiedenheiten vor. Ich hatte schon oben
erwähnt, dass Lehmann darauf hingewiesen hat, dass bei manchen Menschen
die jähen Senkungen nicht zum Verschwinden zu bringen sind (von der
Hypnose sehen wir hier ab), dass sie dagegen bei anderen Menschen häufig
nicht auftreten; es kann auch dasselbe Individuum zu verschiedenen Zeiten
ein verschiedenes Verhalten darbieten. Wir müssen annehmen, dass diese
individuellen Verschiedenheiten auch während der pathologischen Ver-
stimmungen andauern. Der Vollständigkeit halber will ich erwähnen, dass
Vogt bei paranoischen Kranken oft eine ewige Unruhe an den Kurven auf-
gefallen ist; die Kurven zeigten eine grosse Mannigfaltigkeit von steilen
Hebungen und Senkungen. Vogt führt dies darauf zurück, dass die Kranken
alle möglichen Einwirkungen des Apparates an sich zu merken glaubten,
IT PEFFE TTT PTT TITTIE
INNNNNNNNNNYNY
Interessant ist das sphygmographische Pulsbild der Pat. Le. Im grosson
ganzen war das Palsbild immer dasselbe, ob die Erregung grösser oder ge-
ringer war. Die Arteria radialis war mittelweit, weich, glatt, gerade, gut
efüllt, die Pulswelle untermittelhoch, die Spannung kräftig. Obwohl die
öchste Einstellung mit der Schraube gewählt ist, sehen wir, dass die Puls-
welle eher niedrig ist. Die Rückstosselevation ist sehr undenutlich ausgeprägt,
sie geht unter den Elastizitätselevationen auf. Diese sind an Zahl vermehrt;
in manchen Wellen sieht man 5 katakrote Erhebungen. Die erste Rlastizitäts-
elevation ist besonders stark ausgeprägt und hinaufgerückt. Wir finden also
alle Anzeichen des gespannten Pulses. Dieses Verhalten war bei Pat. konstant,
obwohl körperliche Ursachen für die erhöhte Spannung (Nephritis, Herz-
hypertrophie u. s. f.) sich nicht nachweisen liessen. Wir haben es mit einer
ypomanie mit mittelstarker Erregung zu tun, die mit vermehrtem Druck
einhergeht. Daraos geht hervor, wie misslich es ist, wenn man der Manie
einerseits und der Melancholie andererseits verschiedene Pulsformen zau-
schreiben will bloss auf Grund der durch die Spannung der Gefässe bedingten
Veränderungen der sphygmographischen Kurve. Es ist lange bekannt (im
letzten Jahre hat Alter wieder darauf hingewiesen), dass ausgesprochene
Aenderungen der Affektlage oft gar keinen Einfluss auf die Blutdruckkurve
haben. Nach Ziehen ist der Blutdruck bei der Melancholie insofern und in
dem Masse gesteigert, als Angstaffekte bestehen. Bei der Manie ist der Puls
durchaus nicht immer entspannt. Man darf Pulsbilder, welche durch Ver-
änderung des Kontraktionszustandes der Gefässwände bedingt sind, nicht ehne
bei affektiven Psyehosen. . ZZ. 505
weiteres für eine bestimmte Verstimmung in Anspruch nehmen, bloss weil
diese Verstimmung oft mit jenen Veränderungen des Kontraktionszustandes
der Gefässwände einhergeht.
Gertrude K., 17 Jahre alt. Sehr leichte Hypomanie, wahrscheinlich
Initislphase eines zirkualären Irreseins oder einer periodischen Manie. Es ist
dies die leichteste Hypomanie unter den von mir untersuchten Fällen. Ich
babe 7 Kurven bei der Pat. aufgenommen; davon will ich hier 3 besprechen.
22. V. Ganz leichte Heiterkeit, deren pathologischer Charakter nur
darch Vergleich mit dem Verhalten der Pat. vor der Erkrankung erkennbar
ist. P. 96, R. 22. 8 Uhr früh. l |
Die Atmung ist oberflächlich, regelmässig. Die kleinen Zacken in der
pneamographischen Kurve rühren von Erschütterungen des Pneumographen
durch die Herzaktion her. Respirationsschwankungen sind in der Volum-
kurve nicht sichtbar. Sehr schön sieht man die sanften Undulstionen. Dabei
fallen fast stets die Volumsteigerungen mit Pulsverkürzung zusammen. Jähe
Senkungen findet man nicht.
25. V. Psychischer Zustand wie am 22. V. P.84, R. 18, 8 Uhr früh.
Die Atmung ist etwas tiefer als in der Kurve vom 22. V. Trotzdem fehlen
Respirationsschwankungen. Die plötzliche Steigerung des Volums in der
Mitte der Kurve ist auf eine leichte Verschiebung des Armes zurückzuführen.
Die sanften Undulationen treten gegenüber den jähen Senkungen zurück.
Wir sehen ein Sinken der Kurve mit langen Pulsen, auf das ein sanftes An-
steigen mit kürzeren Pulsen folgt, also typische Auftmerksamkeitsreaktion.
Es fällt aber dabei auf, dass die Pulse im ansteigenden Schenkel niedriger
werden. Pat. wusste nicht anzugeben, an was sie gedacht hatte.
Schluss: Pat. war stets leicht heiter gestimmt; ihre Heiterkeit war aber
der Intensität nach, absolut genommen, kaam als abnorm zu bezeichnen. Die
Respirationsschwankungen treten hier überhaupt nicht auf, sondern nur die
sanften Undulationen und die jähen Senkungen. Es sind dies Kurven, welche
nach Lehmann auch beim normalen Menschen vorkommen köunten, und
zwar müssten wir (immer nach Lehmann) annehmen, dass Pat. während der
Kurve am 22. V. sich gedankenleer gehalten hat, am 25. V. aber nicht. Wir
finden hier also eine leicht beitere Verstimmung mit normalem plethysmo-.
graphischen Kurvenbild.
Das sphygmographische Pulsbild zeigt deutliche Dikrotie, während die,
erste Elastizitätselevation bloss angedeutet ist. Es ist dies das Bild eines ent-
spannten Pulses; tatsächlich war die Spannung in der Arteria radialis herab-
gesetzt. Doch ist es nicht ausgeschlossen, dass dieses Pulsbild ein Kunst-
produkt sei; ich möchte es daher als zweifelhaft bezeichnen. Trotz mehrerer
ersuche war es mir nicht geglückt, bei dieser Pat. ein einwandsfreies Puls-
bild zu erzielen.
Anna Lu., 85 Jahre alt. Melancholische Phase eines zirkulären Irre-
seins. Pat. bot zunächst das Bild einer einfachen Depression ohne Angst.
Später kam Angst hinzu. Ich habe bei dieser Pat. 8 Kurven aufgenommen,
werde hier aber nur 3 besprechen.
15. V. Leichte Depression. P. 96, R. 22, 8 Uhr früh. Die Atmung ist
regelmässig, tief; zwischen jedem Atemzug besteht eine ganz kurze Atem-
pause. Keine Respirationsschwankungen; wohl aber sanfte Undulationen und
zwei jähe Senkungen; es sinkt die Kurve mit langen Pulsen. .
26. V. Leichte Depression wie am 15. V. P. 88, R. 22. 8 Uhr fräb.
Die Atmung ist regelmässig, tief. Keine Respirationsschwankungen; dagegen
sieht man sanfte Undulationen und zwei jähe Senkungen; Sinken der Kurve
mit langen Pulsen und Steigen mit kürzeren.
11. VI. Stärkere Depression mit leichten Angstaffekten. P. 88, R. 24.
8 Uhr früh. |
Die Atmung ist nicht so tief wie in den anderen swei Kurven; die
preumographische Kurve ist in der Inspiration abgesetzt. Die Volumpuls-
urve zeigt deutliche Respirationsschwankungen. Es entsprechen jeder
Atmung 3—4 Pulse. Die Kurve sinkt während der Inspiration; die längeren
Palse sind im autsteigenden Schenkel. Ausserdem sieht man sanfte Undu-
Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 6. 85
506 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
lationen, welche über die ganze Kurve ziehen, entsprechend dem normalen
Verhalten der Kurve, wenn keine Respirationsschwankungen und keine jähen
Senkungen vorhanden sind. Die Respirationsschwankungen sind auf den sanften
Undulationen aufgetragen. In dieser Kurve treten die Respirationsschwankungen
hervor, obwohl die Atmung oberflächlicher ist als in den anderen zwei Kurven,
die während einer leichten Depression aufgenommen worden waren, und obwohl
die Pulse nicht höher sind als in den zwei ersten Kurven.
Schluss: Die zwei ersten Kurven während der leichten Depression
unterscheiden sich von Kurven, die Lebmann bei normalen Individuen auf-
enommen hat, gar nicht. Aehnlich wie bei der leichten Hypomanie der
Bat. K. finden wir das eine Mal mehr die sanften Undulationen, ein anderes
Mal mehr die jähen Schwankungen hervortreten. Während diese zwei Kurven
keine Respirationsschwankungen aufweisen,treten die Respirationssch wankungen
in der Kurve am 11. VI., wo eine leichte Beängstigung besteht, deutlich auf.
Sanfte Undulationen findet man auch in dieser Kurve, entsprechend dem
normalen Verhalten der Kurve, wenn die Respirationsschwankungen fehlen.
Das sphygmogrsphische Pulsbild vom 26. V. zeigt ein annähernd nor-
males Verhalten; vielleicht ist die erste Elastizitätselevation etwas nach
oben gerückt und etwas deutlicher als gewöhnlich. Die sphygmographische
Kurve vom 11. VI, d. h. vom Tage, an dem ein leichter Angstaffekt bestaud,
TIUTTTTTTTTTTTTTTTTTTTrTTTTeveTTTTrTrrrTrrrrTTrTr
IINNNISN JS
unteracheider sich kaum wesentlich von der Kurve am 26. V. Die Pulse er-
scheinen zwar länger, davon müssen wir aber abseheu, weil das Uhrwerk in
der Kurve am 11. VI. schneller gelaufen ist, was man aus den von der Vor-
richtung zur Kontrolle der Zeit gezeichneten Zacken ersieht. Am 11. VI.
erscheint der Puls etwas niedriger, sonst sind die Pulse fast gleich, obwohl
das Plethysmogramm doch irgendwelche Unterschiede erwarten liesse. — Am
15. V. erhielt ich bei der Pat. während der leichten Depression eine Kurve,
ie.
in der die erste Elastizitätselevation sehr deutlich war uud höher hinauf-
rückte, während die Rückstosselevation schwächer, aber immerhin sehr deut-
lich zu sehen war. Dieses Pulsbild hat eine grosse Aehnlichkeit mit der
von Ziehen bei den erregenden Affekten beschriebenen Pulsveränderung.
Das Plethysmogramm zeigte am 15. V. keine Respirationsschwankungen; es
kann als normal angesprochen werden.
Marie Sch.,ö9 Jahre alt, klimakterische Melancholie mit schwerer Angst.
‘Zwei Kurven habe ich bei dieser Pat. aufnehmen können, davon will
ich nur eine hier besprechen, da beide gleich sind. Ich hatte mehrere Karven
bei der Pat. versucht, aber die meisten misslangen wegen des Verhaltens
der Pat. Sie versuchte den Arm aus dem Plethysmographen herauszuziehen,
bewegte den Kopf, sah sich um u. s. w.
Depression mit schwerer Angst. Kurz bevor die Trommel in
Rotation versetzt wurde, äAusserte Pat: „Warum soll ich das? Ich weiss.
bei affektiven Psychosen. 607
nicht, ob ioh das darf! Ich möchte nicht einen ins Unglück stürzen. Was
soll geschehen? Ich habe solche Angst.“ P. 83, R. 18. 81, Uhr früh.
Die Atmung ist im grossen ganzen tief und regelmässig; nur im letzten
Drittel finden wir eine kurze Atempause. Ia der ersten Hälfte der Volam-
karve sind die Respirationsschwankungen sehr deutlich, 4 Palse entfallen auf
jede Atmung; die Pulse sind im aufsteigenden Schenkel länger als im ab-
steigenden. Ausserdem bestehen hier sanfte Undulationen. In der Mitte
sehen wir ein plötzliches Sinken der Kurve mit laugen Pulsen. Ich hatte
zufällig ganz unwillkürlich eine Handbewegung gemacht, Pat. war darüber
erschrocken. Es entspricht tatsächlich das Sinken der Kurve mit langem
Pulse der von Lehmann für normale Individuen beschriebenen Veränderung
der plethysmographischen Kurve beim Erschrecken. In unserer Kurve bleibt
dann das Volumen niedrig mit niedrigen und kurzen Pulsen. Ausserdem
treten, wenn auch andeutlich, die Respirstionsschwankuugen und unregel-
mässige Undulstionen in diesem Abschnitt der Kurve auf; die einzelnen Pulse
sind sehr ungleichmässig. Als Spannung kaon man diesen Zustand nicht
bezeichnen, weil die Pulse kürzer werden, und weil Schwankungen der Kurve
bestehen. Die Puisfrequenz ist im zweiten Abschnitt der Kurve eine ge-
steigerte; es hängt dies wohl mit der ängstlichen Erregang zusammen.
Schlass: In dieser Kurve ist das Wesentliche das Hervortreten der
Respirationsschwankungen, wodurch sie sich von der Kurve eines normalen
Menschen unterscheidet. Es fehlen jähe Senkungen, wenn man von dem
Sinken der Kurve infolge des Erachreckons absieht. Dagegen treten die
sanften Undulationen deutlicher hervor. Da aber die sanfıen Undulationen
bei einem normalen Menschen vorkommen, müssen wir uns vorstellen, duss
diese sanften Schwankungen, welche bei der Pat. anuch im normalen Zustand
aufgetreten wären, in der pathologischen Verstimmung ebenfalls zutage
treten und die respiratorischen Schwankungen trugen.
Im sphygmographischen Pulsbild ist die erste Elastizitätselevation
höber binaufgerückt und besonders deutlich, die Rückstosselevation eben-
falls deutlich erkennbar. Wir haben also jene Veränderungen, die Ziehen
als für die erregenden Affekte charakteristisch beschrieben hat. Doch ist
diese Kurve wegen der runden Gipfel nieht ganz einwandsfrei; ich konnte
aber bei dem Verhalten der Pat. keine bessere erhalten. Der Puls war gut
gespannt.
Anna H., 15 Jahre alt. Periodische Menstrualmanie, zirkulärer Typus.
Es sei mir gestattet, die Krankengeschichte dieses Falles, auf den sich
die meisten plethysmographischea Untersuchungen beziehen und der auch
sonst ein gewisses Interesse bietet, ausführlicher wiederzugeben.
Pat. ist nicht belastet. Die Geburt verlief normal. Entwicklung ohne
Besonderheiten. Pat. machte in den ersten Lebensjahren Schurlach, Masern
und Dipbtherie durch, wurde später wegen vereiterter Drüsen am Halse
operiert; es wird sich wohl um skrophalöse Drüsen gehandelt haben. Keine
rämpfe, keine Rachitis. War ein mittelmässig begabtes, fleissiges, ruhiges
Mädchen; kam in der Schule gut mit, sie bot keine periodischen Schwankungen
der Leistungsfähigkeit. Kein Trauma, kein Alkoholgenuss, keine venerische
Infektion. Mit 12 Jahren (Dezember 1908) erkrankte Pat. an Gelenk-
rheumatismus, der nach 5 Monaten rezidivierte (April 1904); es waren die
Hand- und Kniegelenke befallen; im Anschluss an den zweiten Anfall trat
eine Endocarditis auf, die zu einer Mitralinsuffizieoz führte. Mit 14 Jahren
ging Pat. zu einer Schneideria in die Lehre. Die Menses traten mit 18?/, Jahren
(Januar 1905) zum ersten Male auf; waren dann regelmässig alle 8 Wochen,
dauerten 10 bis 12 Tage; dabei anhaltend starker Blutverlust; keine Unter-
leibschmerzen.
Die Krankheit begann 6—8 Wochen vor Eintritt der ersten Menses
ohus jede Veranlassung; Pat. war etwas über 181, Jahre alt. Sie wurde
heiterer, als sie es in früheren Tagen gewesen war, sprach und lachte viel,
sang oft, konnte abends nicht einschlafen. Doch hob sich die heitere Ver-
stimmung nicht so sehr von ihrer normalen Stimmungelage ab, dass der
Zustand ihren Eltern krankhaft erschienen wäre. Pat. besorgte regelmässig
alle ihre Arbeiten, war fleissig und ordentlich. Sie gibt an, es wären ihr
35°
508 = Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
viele Gedanken durch den Kopf gegangen, sie hätte gerne alles haben wollen.
In diesem Zustand machte sie viele unnütze Einkäufe, kaufte Blumenbuketts,
Spielsachen, und verschenkte dieselben, ohne selbst vorher damit gespielt zu
haben; sie bekam die Sachen auf Borg, da sie bei den Kaufleuten bekannt
war. Zu Haus erzählte sie, sie hätte dies alles geschenkt bekommer, und
erat nachdem sie öfters ermahnt und schliesslich geprügelt worden war, ge-
stand sie den Sachverhalt ein. Sie weinte, solange sie die Prügel bekam,
war aber hinterher sofort wieder lustig; zar Mutter, die sie geprügelt hatte,
war sie unmittelbar nachher zärtlich und zutanlich, als ob nichts gewesen
wäre. Im Augenblick der Strafe nahm sie sich dieselbe sehr zu Herzen,
allein sie vergass die Züchtigung sehr schnell; sowie sie auf die Strasse kam,
machte sie wieder Einkäufe, bald kleinere, bald grössere, bis zu einem Be-
trage von 25 Mark. Als man ihr mit Prügeln drohte, wurde Pat. heftig und
drohte ihrerseits sich das Leben zu nehmen, wenn sie wieder geschlagen
wärde. Ob sich dieser Zustand plötzlich oder nach einem Prodromalstadium
entwickelt hatte, konnte anamnestisch nicht mit absoluter Sicherheit fest-
estellt werden, ebensowenig, ob dieser Zustand bis zam Eintritt der ersten
enses anhielt, oder ob er schon vorber unterbrochen wurde.
Bis zur Aufnahme, die am 29. I. 1906 erfolgte, bot das psychische
Verhalten der Pat. während der Menses eine grosse Regelmässigkeit. 8 Tage
vor Beginn jeder Menstruation stellte sich die abnorme Heiterkeit ein; der
Beginn war ganz brüsk, ein Vorstadiam fehlte. Als erstes Symptom stellten
sich Stiche ın den Schläfen ein; Pat. wurde dabei erregt und bemerkte
selbst, dass ein neuer Anfall begann. Das klinische Bild entsprach einer
sehr leichten Hypomanie. Pat. war nie ausgelassen heiter. Das Krankhafte
der Stimmungslage war erst ersichtlich, wenn man das Verhalten der Pat. in
den ruhigen Tagen ihrer Stimmangslage zur prämenstrualen Zeit und zur
Zeit der Menses gegenüberstellte. Sie sprach viel, lachte gerne, konnte in
der Nacht nicht schlafen; zuweilen traten leichte Fluxionen auf. Sie be-
sorgte aber auch zu der Zeit der Menses ihre gewöhnlichen Arbeiten. Trieb
sich nicht herum; keine Exzesse, keine erotischen Züge; der Geschlechtstrieb
war bei Pat. noch nicht erwacht. Keine räsonnierenden Züge. Halluzinationen
und Wahnvorstellungen traten nie auf. Dooh war Pat. während des Anfalls
jrosstuerisch, prahblte, dass: sie billig einkaufen könne; aber nach 8—14 Tagen
amen dann immer die Rechnungen über den Mehrbetrag. Ausserdem kaufte
Pat. immer wieder unnütze Sachen ein (Blumen, Spielereien, kein Naschwerk),
so dass man. sie nicht mehr ohne Aufsicht auf die Strasse gehen lassen
konnte. Dieser 'Zustand hörte jedesmal haarscharf mit dem Aussetzen der
Menses auf. Eine depressive Phase achloss sich zunächst daran nicht an,
doch fiel es der Mutter auf, dass Pat. nach den Menses „ein paar Tage noch
so scheu von der Seite guckte“. Sie blieb dann bis 8 Tage vor der nächsten
Menstruation in ihrer normalen Stimmungslage; dass Pat. reizbarer oder
launenhaft geworden wäre, hatte die Mutter nicht bemerkt. Während der
heiteren Erregung hatte Pat. keine Krankheitseinsicht, in der Zwischenzeit
war ibr das Krankhafte des Zustandes bewusst. Diese Anfälle heiterer Ver-
stimmung wiederholten sich vor der Aufnahme ca. 12mal, durch ein ganzes
Jahı. Alle Anfälle waren einander gleich, „von photographischer Treue“.
Die heitere Phase setzte immer im Intermenstruum ein und hörte mit. dem
Aussetzen der Menses auf. Ohne pathologische Erscheinungen verlief keine
Periode
Die letzte Menstruation vor der Aufnahme hatte vom 5.—16. 1. 1906
gedauert. Die heitere Verstimmung hatte schon am 80. XII. 1905 eingesetzt
und hatte genau mit dem Ausbleiben der Menses am 16. I. ausgesetzt. Pat.
bot dann durch einige Tage ein normales Verhalten; aber allmählich setzte
nun eine Depression mit leichter Beängstigung ein, die bis zum Eintreten
der vächsten Menses anhielt. Pat. war gedrückt, sprach wenig, besorgte
aber noch ihre Arbeiten; wollte nicht allein zu Haus bleiben, hatte Angst,
es könnte jemand kommen, Sie lokalisierte die Angst nicht. In diesem Zu-
stand wurde Pat. am 29. I. eingeliefert.
Die nächsten Menses dauerten vom 81. I. bis 11. II. an. Mit dem
Eintreten der Menses wich die Depression allmählich der heiteren Ver-
bei affektiren Psychosen. 509
stimmung. Die Stimmnng schwankte den ganzen Tag zwischen der Depression
nnd der Hyperthymie hin und her; abends war Pat. entschieden heiter; der
Stimmungsumschlag dauerte also einen Tag. Während bisher der Beginn
der heiteren Verstimmung prämenstraal erfolgte, setzte diesmal die heitere
Erregung mit dam Eintritt der Menses ein. Pat. blieb während der ganzen
Menstruation bis sum 11. Il. heiter erregt; sie bot, wie nach der Anamnese
nicht anders zu erwarten war, das Bild einer ganz leichten heiteren Erregung.
Sie lachte viel, sprach viel mit den anderen Patienten; zeigte ein etwas
schnippisches Wesen; den Ärzten gab sie oft kurze, zum Teil abweisende
Antworten. Sie beschäftigte sich fleissig mit Handarbeiten; war willig und
egenüber den anderen Kranken zavorkommend. Zornaffekte traten nie auf;
dagegen trat gar nicht so selten ganz motivlos eine vorübergehonde Depression
ohna Angst auf, durch einige Stunden. In dieser heiteren Phase wurden die
ersten Kurven bei Pat. aufgenommen. Am 12. Il, dem ersten Tage nach
dem Ausbleiben der Menses, war Pat. deprimiert, wortkarg; sie äusserte
selbst, sie wäre so schwermütig geworden, ım Kopf sei es so sonderbar, sie
vergesse alles. Angstaffekte bestanden nicht; sie traten überhaupt in der
Folge nie auf. Die Depression dauerte noch den nächsten Tag an, und nun
finden wir bis zur nächsten Menstruation kein gesetzmässiges Verhalten
mehr. Es wechseln einige Tage abnorm heiterer Verstimmung mit Tagen,
in denen die Stimmung gleichmässig oder deprimiert war, ab.
Die nächsten Menses traten am 2. Ill. ein und dauerten bis zum 13, IHI.
Zwei Tage vor dem Eintritt der Menses, also am 28. II. und 1. IIE, bestand
eine leichte Depression; am 2. Ill. mit dem Eintritt der Menses schwankte
die Stimmung zwischen Depression und Exaltation hin und her; vom 3. lII.
bis 18. IIL, also während der Menstruation, hielt die heitere Verstimmung
an. Mit dem Aufhören der Menses verschwand die Hyperthymie; eine
Depression, ein Nachstadiam trut aber nicht auf, sondern zunächst bestand
durch 5 Tage eine gleichmässige Stimmungslage. In dem Zeitraum bis zur
nächsten Menstruation bot Pat. dasselbe wechselnde Bild wie in dem vor-
hergegangenen: Intermenstraalabschnitt. Es wechselten Serien von Tagen mit
- depressiver Verstimmung mit mehr gleichmässigen Tagen und mit Tagen,
in denen Pat. abnorm heiter war, ganz regellos ab.
Die folgenden Menses setzten am 1. IV. ein und hielten bis zum 4. an.
Während Pat. bisher exspektativ (mit Eisenarsenpillen) behandelt worden
war, wurde jetzt, um die Menses abzukürzen, Bettruhe verordnet, und Pat.
bekam während der Dauer der Menstruation mal täglich 15 Tropfen von
Tet. secalis cornuti
Aq. Cinnamomi as.
Tatsächlich dauerten die Menses diesmal auch bloss 4 Tage. Am Tage vor
dem Eintritt der Menses war Pat. gleichmässig gestimmt, mit dem Eintritt
der Menses trat die heitere Verstimmung ein. Diese überdauerte aber diesmal
die Menstruation, indem sie bis zum 7. IV. anhielt. Darauf folgte durch
4 Tage eine mehr gleichmässige Stimmungslage, worauf sich das regellose
Spiel der heiteren, gleichmässigen und depressiven Tage wie im vorigen In-
termenstrualabschnitte wiederholte.
Auch während der uächsten Menses vom 27. IV.—80. IV. wurde die-
selbe Behandlung eingeleitet. Die Gesetzmässigkeit schwindet immer mehr
und mehr. Pat. war schon 2 Tage vor dem Eintritt der Menses in gleich-
mässiger Stimmung; diese Stimmungslage blieb auch während der 2 ersten
Tage der Menstruation bestehen, am 3. lage war Pat. deprimiert, am letzten
Tage wieder gleichmässig gestimmt und blieb es auch die nächsten 9 Tage.
Es tritt also währond dieser Menstruation eine heitere Verstimmung über-
haupt nicht auf. Das Bild wurde dadurch noch verwaschener, dass die
Intensität der Verstimmung im weiteren Verlaufe allmäblich geringer wurde,
Während des ganzen Monats April konnten aus äusseren Gründen keine
Kurven aufgenommen werden. Kurven aus der Zeit, in der Pat. Ergotin bekam,
habe ich daher nicht. Am 11. V. wurde Pat. entlassen.
Auch nach der Entlassung wurden bei der Pat. Kurven aufgenommen.
Der unregelmässige Wechsel von Tagen heiterer Verstimmung mit Tagen
depressiver Verstimmung dauerte an. Ich konnte noch die Menstruation
510 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
vom 24. V.—1. VI. verfolgen. Pat. war sohon 4 Tage vor Beginn der Menses
deprimiert gewesen, die Depression hielt während der 2 ersten Tage der
Periode noch an; Put. war dann 8 Tage hindurch in gleichhmüssiger Stimmung,
erst in den 2 letzten Tagen der Menstruation trat die heitere Verstimmun
ein, die dann die Menses um 4 Tage überdauerte. Darauf war Pat. darc
8 Tage in mehr gleichmässiger Stimmung. Ich habe die Pat. bis zum 18. VI.
verfolgen können, dann blieb sie aus. Schüle hat vor Jahren einen Fall
von zirkulärem Irresein veröffentlicht, in welchem die ersten 14 Tage des
Intermepstruums der manischen Phase angehörten, die zweiten der melan-
cholischen; im Beginn war dieser Typus rein, in der Folge dauerte aber jede
Phase bloss einige Tage. Schüle konstatierte nun, dass die Perioden
mathematisch addiert stets die Hälfte eines nahezu 4wöchigen Typus aus-
machten. Ich habe sine solche Berechnung auch für unsere Pat. versucht,
aber dabei ziemlich ungleichmässige Zahlen bekommen. Ich rechne dabei
jeden Abschnitt vom Beginn der einen bis zum Beginn der nächsten Men-
struation. Es würde dann die Berechnung bei den einzeluon Menstrual-
abschnitten folgende Zahlen ergeben: Erster Abschnitt vom 31. I.—2. III, in
10 Tagen Depression, in 18 Tagen Exaltation, in 7 Tagen gleichmässige
Stimmung, zusammen 80 Tage. Zweiter Abschnitt vom 2. III.—1. IV., in
2 Tagen Depression, in 18 Tagen Exaltation, in 9 Tagen gleichmässige
Stimmung, zusammen 29 Tage. Dritter Abschnitt vom 1. 1V.—27. IV.
in 8 Tagen Depression, in 14 Exaltion, in 9 gleichmässige Stimmung,
zusammen 26 Tage. Vierter Abschnitt vom 27 IV. — 4. V., 4mal
Nepression, 2 mal Exaltation, 22 mal gleichmässige Stimmung, zusammen
28 Fage. Der nächste Abscbnitt ist unvollständig, er reieht vom 1.—18. V1.,
wir hätten in 5 Tagen Exaltation, in 8 gleichmässige Stimmung, keine De-
pression. Jene Tage, in denen die Stimmung schwankend war, habe ich, je
nach dem Verhalten, das Pat. beim Aufnehmen der Kurve darbot, zu den
exaltierten oder depressiven gerechnet. Ferner muss noch das Verhalten der
Pat. in den gleichmässigen Tagen besprochen werden. Pat. war in diesen
Tagen äusserst empfindlich und launenhaft, von ausserordentlicher Affekt-
labilität. Ein Wort, eine auftauchende Erinnerung genügte, um eine ganz -
erhebliche Stimmungsschwankung hervorzurufen, welche aber bald vorüber-
ging. Da Pat. vor der Erkrankung dieses Verhalten nicht geboten hatte,
möchten wir annehmen, dass es sich um eine Folge der Erkrankung handelt,
die Iutervalle sind also nicht rein. Eine Abnahme der Intelligenz konnte
bei der Pat. nicht nachgewiesen werden.
Vom körperlichen Befund wäre zu erwähnen, dass es sich um ein
mittelkräftiges Mädchen handelt, bei dem die Veränderungen, welche die
Pubertät mit sich bringt, noch nicht vollkommen ausgebildet sind. Der
Herzspitzenstoss ist fast noch in der Mammillarlinie fühlbar im Bereich des
5. Intercostalraumes, verbreitert, leicht hebend. Die Herzdämpfung reicht
nach links etwas über die Mammillarlinie hinaus, nach oben bis zur 4. Rippe,
nach rechts bis zum linken Sternalrand. Ueber der Herzspitze hört man ein
blasendes systolisches Geräusch; der2. Pulmonalton ist nicht deutlich accentuiert.
Kräftige, reguläre Herzaktion. Eine Abnahme der Pulsfrequenz in den Tagen
depressiver Verstimmung gegenüber den Tagen heiterer Stimmung konnte
nicht sicher nachgewiesen werden.
Es bestand Ungleichheit der Pupillen, nnd zwar war die linke weiter
als die rechte. Ob diesa Differenz seit jeher bestand, wusste Patientin nicht
anzugeben. Eine Refraktionsanomalie, welche zur Erklärung der Pupillen-
differenz hätte herangezogen werden können, bestand nicht. Bei engen
Pupillen war die Differenz kaum sichtbar; bei schwacher Beleuchtung er-
weiterten sich zwar beide Pupillen, doch wurde die linke deutlich weiter,
etwa um 1!/, weiter als die rechte. Eine Abhängigkeit der Anisokorie von
der Stimmungslage bestand nicht. Die Pupillurresktionen waren intakt,
ebenso die Sehnenphänomene. Druckpunkte waren nicht nachzuweisen, die
Sensibilität bot normales Verhalten. Eine Komplikation mit Neurasthenie
oder Hysterie lag nicht vor. Das vasomotorische Nachröten der Haut bot
keine Konstanten Abweichungen je nach der Stimmungsiage. Das Körper-
gewicht betrug bei der Aufnahme 47 kg; in den ersten 14 Tagen sank es
bei affektiven Psyohosen. 511
auf 46. Patientin ass nämlich wenig, da ihr die Kost nicht schmeckte, Sie
gewöhnte sich aber bald daran; Mitte März betrug das Gewicht wieder 47kg,
blieb durch einige Wochen konstant. Mitte April war es auf 48 gestiegen,.
wohl entsprechend dem normalen Wachstum zur Zeit der Pubertät. Die
Wägangen wareu alle 2 Wochen vorgenommen worden. Bei der Entlassung
wog Pat. 48 kg. i
Auffällig bleibt in diesem Falle das Fehlen irgend eines ätiologischen
Momentes. Das frühe Auftreten der Erkrankung ohne Gelegenheitsveranlassuug,
die geringe Intensität der Krankheitssymptome müssten wohl anf ein here-
ditäres oder überhaupt endogenes Moment schliessen lassen. Doch konute
trotz der genauesten Exploration nichts Bestimmtes nachgewiesen werden.
Auch für eine fütale oder infantile Hirnerkrankung konnte kein Anhaltspunkt
gewonnen werden, denn aus der Ungleichheit der Pupillea wird man wohl
noch nicht berechtigt sein so weitgehende Schlüsse zu ziehen. Vielleicht ist
der Herzfehler nicht ohne Atiologische Bedeutung. Es sind schan mehrere
Fälle bekannt (Pilcz hat bekauntlich anz speziell darauf hingewiesen), dass
serebrale Herde, wie sie z. B. auch darch eine Embolie zustande kommen
können, die Ursache einer periodischen Manie abgeben können.
Wir würden diesen Fall als eine periodische Menstrualmanie aaf-
fassen, an die sich nach dem 13. oder 14. Anfall eine melancholische Phase
angeschlossen hatte. Seit dieser Zeit wechselten Tage heiterer Erregung mit
Tagen depressiver Verstimmung und gleichmässigen Tagen ganz regellos mit
einander ab, wobei zunächst während der Menstruation immer noch die
heitere Erregung dauernd bestand. Aber schliesslich verwischte sich das
Bild in doppelter Richtung: einerseits wurde die Ungesetzmässigkeit immer
rösser und grösser, indem auch während der Menses Tage depressiver
Stimmung und 1eichmässiger Stimmung auftraten, und andrerseits nahm die
Intensität der Stimmungsschwankungen ab.
Ich habe bei dieser Patientin im ganzen 80 Kurven aufgenommen und
werde hier 10 besprechen; die anderen würden nur eine Wiederholung des
hier Erörterten bringen. Zunächst will ich diejenigen Karven einer Kritik
unterziehen, die in den gleichmässigen Tagen aufgenommen wurden, dann die-
jenigen, die ia der manischen und zuletzt diejenigen, die in der depressiven
hase gezeichnet wurden.
16. 11. Gleichmässig. P. 78, R. 30. 91), Uhr früh.
Die Atmung ist im allgemeinen regelmässig; die letzten Atemzüge sind
sehr tief. In der Volamkurve sind Respirationsschwankungen kaum hier und
da angedeutet, am ehesten noch im Beginn. Wir sehen 2 jähe Senkungen
mit langen Pulsen, darauf sanftes Steigen mit kürzeren Pulsen, also Auf-
merksamkeitsreaktion. Ferner finden wir sanfte Undulstionen. Gegen Ende
der Kurve tritt Spannang ein, es sinkt nämlich das Volum mit niedrigen
Paulsen, während die Pulslänge gleich bleibt; zuletzt löst sich die Spannung,
es steigt das Volum mit hohen Pulsen.
8. V. Gleichmässig. Sollte um 11 Uhr auf die Nasenklinik. Sie gab
an, während des Versuches daran gedacht zu haben, dass ihr da vielleicht
Polypen ausgeschnitten würden; hatte Angst davor. P.66, R.20. 3:/, Uhr früh.
Die Atmung ist regelmässig. Zwischen Exspiration und darauf folgender
Inspiration ist eine leichte Atempause. [n der Volumkarve sind die Respirations-
schwankungen sehr erheblich. Es kommen 8—4 Pulse auf eine Atmung, die
Pulswellen sind verzerrt, kaum erkenntlieh wegen der grossen Volum-
schwankungen. [Im Beginn sieht man noch sine jähe Senkung der ganzen
Kurve mit folgendem sanften Anstieg. Die Pulse sind niedrig.
1. V. Gleichmässig. Hatte aber während dos Versuches daran gedacht,
dass sie heute zum zweiten Male behufs Untersuchung auf die Nasenklinik
gehen musste. P. 70, R. 20. 8 Uhr früh,
Die Atmung ist tief, namentlich in der zweiten Hälfte der Kurve. Die
Respirsationsschwankungen sind sehr deutlich, und zwar kommen 8—4 Pulse
auf eine Atmung. Die Pulswellen im aufsteigenden Schenkel sind länger als
die im absteigenden. Ausserdem bestehen sanfte Undnlationen. Jähe Senkungen
fehlen. Das leichte Sinken der Kurve im letzten Drittel ist wahrscheinlich
512 Saiz, Einige plethysmographiséhe Untersuchungen
auf die abnorm tiefe Atmung zurückzulühren. Das Auftreten der Respirations-
schwankungen ist nicht durch die Höhe der Pulswellen bedingt, denn wir
finden bei derselben Pulshöhe am 28. III. keine Respirationsschwankungen.
Dass auch nicht die tiefen Atemzüge unmittelbar die Respirationsschwankungen
bedingen, geht auch aus der Kurve 28. III. hervor, in der die genannten
Schwankungen trotz sthr tiefer Atemzüge fehlen. -
11. V. Gleichmässig. Pat. gab an, beim Beginn des Versuches an die
bevorstehende Entlassung gedacht zu haben. P. 88, R. 20. 8 Uhr früh.
Atmung etwas ungleichmässig. Die Volumkarve zeigt in der ersten
Hälfte starke Respirstionsschwankangen, auf jede Atmung kommen 4 Polse.
In der Mitte sind die Atemzüge oberflächlich, daher auch die Respirations-
schwankungen weniger deutlich. Gegen Ende der Kurve werden diese
Schwankungen ganz undeutlich. Ausserdem bestehen sanfte Undulationen
und im Beginne eine jähe Senkung. Wenn man die erste Hälfte der Kurve
mit der zweiten vergleicht, so fällt sofort das verschiedene Verhalten der
Respirationsschwankungen in die Augen; in der zweiten Hälfte sind sie ver-
waschen, dagegen treten die sanften Undulationen stärker hervor. Es besteht
in den gleichmässigen Tagen bei Pat. keine konstante Stimmungslage, es be-
steht nicht das stabile Gleichgewicht des Gemütes, sondern das schwankende
launische Wesen der Pat. spiegelt sich in der Kurve wieder. Mau müsste
nach jeder Kurve von der Pat. genauen Aufschluss erhalten über ihre psychische
Tätigkeit während des Versuches. Aber leider fehlt den Patienten die Selbst-
beobachtung; wenn man sie nachträglich fragt, können sie oft. beim besten
Willen keine Auskunft geben, an was sie gedacht haben.
Wenn ich alle Kurven überblicke, die ich bei dieser Pat. an den gleich-
mässigen Tagen erzielt babe, so muss ich dss Gesamtresultat dahin zusammen-
fassen, dass das Fehlen der Respirationsschwankungen als Regel zu betrachten
ist. Treten an den Tagen, an denen die Stimmung eine gleichmässige zu sein
schien, Respirationsschwankungen auf, so gab Pat. fast immer nachträglich
an, dass sie an irgend ein gefühlsbetontes Ereignis gedacht hatte; es gehen
von den Gefühlen, die den Empfindungen und Vorstellungen zugeteilt sind,
Affekte aus, und in der Kurve sind die körperlichen Aeusserungen derselben
su finden. Ich habe hier dafür 8 Beispiele angeführt. Sanfte Undulationen
oder jähe Senkungen sind in jeder in den gleichmässigen Tagen aufgenommenen
Kurve dieser Pat. zu finden, unabhängig davon, ob die Respirationsschwankungen
auftreten oder nicht. Hänfig erhielt ich Kurven, welche ein Zerrbild dar-
boten, ähnlich wie am 11. V. Pat. wusste dann sehr oft nicht anzugeben, ob
sie an irgend etwas gedacht hatte. Das beweist natürlich noch nichts gegen
das Vorhandensein eines. psychischen Prozesses, der jedenfalls nicht so stark
gefühlsbetont war, dass er sich der Pat. eingeprägt hätte. Ich muss beim
Durchseben der Kurven staunen, mit welcher Leichtigkeit vorübergehende
Affekte un diesen gleichmässigen Tagen sich in den Kurven dieser Pat. durch
das Auftreten der Respirationsschwankungen. ausprägen. Es spielt hier offen-
bar die gesteigerte Affektlabilität mit.
28. III. Leicht hypomanisch. P. 72, R. 25, 81/, früh.
Die Atmung ist abhorm tief und regelmässig. In der Volumkurve sind
die Respirstionsschwankungen kaum hie und da angedeutet. Wir finden
2 jähe Senkungen und in den Intervallen sanfte Undufationen.
10. V. Leicht hypomanisch. Ich habe zwei Kurven hintereinander
aufgenommen und möchte beide hier besprechen. P. 80, R. 84, 12 Uhr.
In der ersten Kurve ist die Atmung oberflächlich, ungleichmässig und stark
beschleanigt. Die Volumkurve zeigt sanfte Undulationen, keine jäben Senkungen.
Respirationsschwankungen können in einer solchen Kurve kaum zustande
kommen, weil auf jede Atmung ungefähr 2 Pulse kommen. Trotzdem sind
im Beginn der Kurve die Respirationsschwankungen angedeutet, wir sehen
abwechselnd einen hohen und einen niedrigen Puls.
Die zweite Kurve wurde gleich hinterher aufgenommen. P. 82, R. 22,
121/, Uhr. Leicht hypomanisch. Die Atmung ist tiefer und langsamer. In der
Volumkurve sieht man deutliche Respiratioosschwankungen, hauptsächlich in
der ersten Hälfte. Auf jede Atmung entfallen 4 Pulse; die Wellen im auf-
bei affektiven Psychosen. 513
steigenden Sch enkel sind länger als die im absteigenden. Ausserdem sieht man
sehr sanfte Undulationen, keine jähen Senkungen. Das verschiedene Verhalten
der beiden hintereinander aufgenommenen Kurven glaube ich auf die abnorme
Beschleunigung der Atmung in der ersten Kurve zurückführen zu können,
welche das Auftreten der Respirationsschwankungen erschwert. In der zweiten
Kurve kavon die Atmung als normal angesehen werden.
Fasse ich alle Kurven zusammen, die ich bei dieser Pat. in der
manischen Phase gewonnen habe (wobei zu berücksichtigen ist, dass die Er-
regung eine leichte war), so bieten die meisten ein Bild dar, das der Kurve
38/IIl. entspricht. Es treten nämlich gewöhnlich die Respirationsschwankungen
sehr undeutlich auf, selten fehlen sie ganz. Die sanften Undulationen und
die jähen Senkungen sind gewöhnlich deutlich ausgeprägt. Dies entspricht
dem Verhalten der Kurve jedes normalen Menschen, und wir können darin
nichts Charakteristisches für die abnorme Verstimmung der Pat. sehen.
Manchmal treten aber die Respirationsschwankungen deutlicher auf, wie am
10. V. Es ist mir aufgefallen, dass die Respirationsschwankungen haupt-
sächlich an jenen Tagen in der Kurve boi heiterer Verstimmung deutlicher
zutage traten, an denen die hypomanische Verstimmung einsetzte, während
sie in den nächsten Tagen, auch wenn die hypomanische Erregung auf der-
selben Höhe blieb, nicht mehr so deutlich waren. Dies würde auch den
Widerspruch erklären, dass in den gleichmässigen Tagen vorübergehende
Verstimmungen einen so grossen Einfluss auf die Kurve haben können und
ohne weiteres das Auftreten von Respirationsschwankungen bedingen, während
die leichtere hypomanischa Erregung sich sehr oft bei dieser Pat. in der
Kurve überhaupt nicht verrät. Es scheint eben für den Eintritt der Ver-
änderungen im Piethysmogramm der Moment des Einsetzens der Verstimmung
von grosser Bedeutung zu sein. Wenn die Verstimmung längere Zeitsbe-
steht, so gleichen sich die Veränderungen aus, namentlich wenn der Grad_ der
Verstimmung ein leichter ist.
12. II. Aussetzen der Menses. Depression ohne Angst. P. 72, R. 19, 8 Uhr.
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Die Atmung ist flach, ungleichmässig. In der Volumkurve sindfdie
Respirationsschwankungen sehr stark. Auf jede Atmung entfallen 4 Pulse.
Das Sinken entspricht der Inspiration; die längeren Pulse sind im aufsteigenden
Schenkel. Ausserden sanfte Undulationen, keine jähen Senkungen.
28. II. Depression ohne Angst. P. 92, R. 20, 8 früh. Die Atmungs-
a pah m E ap aa naa
514 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
schwankungeu sind sehr undeutlich; sehr deutlieh sind die steilen Senkungen
mit langen Pulsen.
21. II. Depression ohne Angst. P. 90, R. 82, 12 Uhr. Die Atmung ist
oberflächlich, ungleiehmässig und beschleunigt. — Respirstionsschwankungen
fehlen. Doch müssen wir bedenken, dass die Atmang sehr oberflächlich und
beschleunigt ist, so dass die Respirstionsschwankungen schon deswegen kaum
zum Ausdruck kommen können. Wir sehen sanfte Undulstionen und 2 etwas
steilere Senkungen; an diesen Stellen sind die Pulse etwas länger. —
Die Atmung ist in den verschiedenen Kurven dieser Patienten verschieden
tief, und doch sehen wir, dass bei der tiefsten Atmung die Kurve oft kaum Respi-
rationsschwankungen zeigt, während die stärksten Respirationsschwankungen
oft genug in Kurven auftreten, in denen die Atmang flach ist. Andererseits
werden natürlich die Respirationsschwaukungen um so deutlicher, je tiefer
die Atmung ist, wenn die Bedingungen zum Entstehen der Atmungsschwankungen
gegeben sind.
Die Kurven der depressiven Phase zeigen bei dieser Patientin in über-
wiegender Zahl deutliches Hervortreten der Respirationsschwankungen. Am
schönsten kommen sie mit dem Aussetzen der Menses in der Kurve 12/Il.
zum Ausdruck; es war dies der Tag, an dem der Stimmungsumachlag er-
folgte. Leider war dann in der Folge der Stimmungsumschlag nie wieder
ein so markanter, indem das Bild sich verwischte und in regelloser Folge
heitere mit gleichmässigen und traurigen Tagen abwechselten und auch
die Intensität des Stimmungsauschlages geringer wurde. Trotz der Reapi-
rationsschwankungen sah ich in den Kurven während der melancholischen
Phase die sanften Undulationen, ja auch die jähen Senkungen deutlich her-
vortreten. In einigen Kurven der depressiven Phase fehlten die Respirations-
schwankungen fast vollständig, ohne dass man immer dieses Verhalten durch
die im Verhältnis zur Pulszahl stark beschleunigte und flache Atmung hätte
erklären können. Ein Niedrigerwerden der Pulse in der depressiven Phase
konnte ich nicht finden.
Schluss. Überblicken wir alle bei dieser Patientin gewonnenen Kurven,
so würden wir sagen: Sowohl in den gleichmässigen Tagen wie in der
manischen und in der melancholischen Phase werden Kurven erzielt, die im
Sinne Lehmanns als normal zu bezeichnen sind, d.h. es fehlten die Respirations-
schwankungen, während die sanften Undulstionen oder jähe Schwankungen
mehr oder minder deutlich auftraten. Andererseits findet man sowohl in
den gleichmässigen Tagen wie in der manischen und melancholischen Phase
die Kespirationsschwan ungen oft. Am konstuntesten war dieses Verhalten
in der melancholischen Phase, und zwar waren die Respirationsschwankuugen
am denutlichsten an jenem Tage, an welchem haarschart der Stimmungs-
umachlag erfolgte. Weniger konstant war deren Verhalten in der manischen
Phase; dabei fiel es mir auf, dass das Auftreten der Atmungsschwankungen
nicht so sehr an die Stärke der heiteren Erregung bei dieser Patientin ge-
bunden war, dass vielmehr diese Schwankungen gewöhnlich an denjenigen
Tagen am deutlichsten waren, in denen sich die heitere Erregung von der
Depression oder dem gleichmässigen Zustand des vorhergebenden Tages ab-
hob; dauerte die heitere Erregung mehrere Tage, so waren in den nächsten
Tagen die Respirationssch wankungen undeutlich oder ganz verschwunden. Jedoch
konnte auch hier von einer absoluten Gesetzmässigkeit nicht die Rede sein.
Wenn in den gleichmässigen Tagen die Respirationsschwankungen auftraten,
so konnte man gewöhnlich eine stärkere gefühlsbetonte Vorstellung dafür
verantwortlich machen, welche während der Versuche die Aufmerksamkeit
der Patientin erregt hatte. Dabei war die Qualität der Gefühlsbetonung in-
sofern nicht ganz gleichgültig, als Unlustaffekte eher Respirationsschwankungen
hervorzurufen schienen als Lustaffekte. Damit würde es auch übereinstimmen,
dass in der depressiven Phase dieser Patientin die Respirationsschwankungen
viel häufiger auftraten als in der heiteren Phase. Ob dies Verhalten all-
gemein ist, oder ob speziell bloss bei unserer Patientin die Unlustaffekte eher
Respirationsschwankungen hervorrufen als die Lustaffekte, vermag ich nicht
zu entscheiden.
bei affektiven Psychosen. 615
Das sphygmographische Pulsbild kann als normal bezeichnet werden.
Den beschriebenen Veränderungen des Plethysmogramms gingen keine ent-
sprechenden Veränderungen des sphygmographischen Pulsbildes parallel. Der
KRRRRNEENRANMINNN
Sphygmograph ist ein viel unempfindlicherer Apparat als der Plethysmograph,
und ich habe fast durchgehends ohne Rücksicht auf die jeweilige Štimmange.
dage der Patientin ähnliche Pulsbiider bekommen.
| Kehren wir zu dem Ausgangspunkte unserer Betrachtungen
zurück und versuchen wir, nachdem wir das Material übersehen
haben, die gewonnenen Erfahrungen mit den Lehren von Lehmann
und von Wundt in Einklang zu bringen, so sehen wir, dass weder
die Angaben des einen noch die des anderen Autors den Tat-
sachen, sofern es sich um pathologische Stimmungslagen handelt,
gerecht werden. Nach Lehmann sollten wir bei allen Depressions-
zuständen und ausschliesslich bei Depressionszuständen die Respi-
rationswellen finden. Sofern es sich um pathologische Depressions-
zustände handelt, würden wir auf Grund unserer Untersuchungen
behaupten, dass die Respirationswellen nicht immer die Depressions-
zustände begleiten, und dass sie andererseits auch bei exaltierter
Stimmungslage vorkommen können. Als Beleg für die erste Be-
hauptung verweise ich u. a. auf die Kurven 15/V und 26/V der
Pat. Lu., sowie auf die Kurven 21/ll und 28/1I der Pat. H. Als
Beleg für die zweite Behauptung führe ich die Kurven der Pat.
B. und Le., sowie die Kurve 10/V der Pat. H. an. Wohl scheinen
die Untersuchungen bei Pat. H. darzutun, dasg die Respirations-
schwankungen bei den Unlustaffekten eher zustande kommen als
bei den Lustaffekten. Lehmann hat, nebenbei gesagt, eine Theorie
für das Zustandekommen der Respirationsschwankungen aufgestellt,
welche sich mit der Annahme, dass diese Schwankungen aus-
schliesslich und immer die Depressionszustände begleiten, nicht
vereinbaren lässt. Er nimmt an, dass die Atmungsschwankungen
dann entstehen, wenn der Blutdruck bedeutend über der Norm
oder wenn er erheblich unter der Norm ist; die Respirations-
schwankungen sollen davon herrühren, dass die Gefässe, wenn der
Blutdruck stark von der Norm abweicht, nicht ımstande sind,
die kleinen von der Atmung verursachten Aenderungen zu kom-
pensieren. Sind aber Aenderungen des Blutdruckes an und für
sich imstande, Respirationsschwankungen zu erzeugen, so ist nicht
einzusehen, weshalb sie nur bei Depressionszuständen vorkommen
sollen, und weshalb sie immer die Depressionszustände begleiten
sollen. Wir können also nicht behaupten, dass die Veränderungen
in der pletıysmographischen Kurve je nach der Qualität der patho-
logischen Stimmungslage verschieden wären, dass bestimmte Ver-
änderungen den Kurven der manischen Phase und bestimmte
Veränderungen den Kurven der depressiven Phase entsprechen
016 Saiz, Einige plethysmographische Untersuchungen
würden, so dass man etwa aus dem Kurvenbild die Stimmungs-
lage ablesen könnte. Ein solches Verhalten liegt sicher nicht vor,
Aber auch die Lehren Wundts erklären unsere Befunde
nicht. Wir hätten bei der hypomanischen Erregung der Pat. Le.,
die sicherlich einer sthenischen Affektlage entsprach, ein voll-
ständiges Verschwinden der Respirationsschwankungen erwarten
sollen; dasselbe gilt für die Pat. B. Umgekehrt hätten wir bei
der Depression ohne Angst der Pat. Lu. (15/V und 26/V), die
zweifellos einer asthenischen Affektlage entsprach, ein starkes
Hervortreten der Respirationsschwankungen erwartet. Bekanntlich
zeigen die Kurven Ins gerade entgegengesetzte Verhalten. Es
reichen also auch die Lehren Wundts zur Erklärung der Befunde
bei pathologischen Verstimmungen nicht aus.
So einfach nun der Nachweis ist, dass die Lehren dieser
Autoren auf pathologische Stimmungslagen nicht übertragbar sind,
so schwer ist es, eine Erklärung der so komplizierten und viel-
deutigeu Befunde zu geben. Mein Material ist zu klein und die
Verhältnisse zu verwickelt, um auf Grund meiner Untersuchungen
eine allgemein gültige Erklärung der Befunde geben zu können.
Es sei mir gestattet, eine Deutung der Befunde zu versuchen,
welche den durch meine Untersuchungen zutage geförderten Tat-
sachen wenigstens einigermassen gerecht wird.
In der normalen Kurve eines in affektivem Gleichgewichte
befindlichen Menschen ist charakteristisch, dass Respirations-
schwankungen fehlen oder wenigstens nur schwach ausgeprägt sind,
während sanfte Undulationen oder jähe Senkungen in jeder Kurve
vorhanden sind. Tritt nun ein Affekt von bestimmter Stärke auf,
so gibt er sich in der Kurve durch das Auftreten der Respirations-
schwankungen kund, und zwar sowohl Unlust- als Lustaffekte, nur
mit dem Unterschiede, dass die Respirationsoscillationen bei dem
Unlustaffekten eher zustande kommen. Mit dem Verschwinden
des Affektes, der stark gefühlsbetonten Vorstellung, verschwinden
auch die Respirationsschwankungen in der normalen Kurve. Ber
einer ganz leichten Hypomanie oder bei einer leichteren Depression
ohne Angst findet man die Respirationsschwankungen am häufigsten
in den ersten Tagen, wenn die pathologische Verstimmung einsetzt;
im weiteren Verlaufe verwischt sich das Bild immer mehr und
mehr, und die Respirationsschwankungen werden undeutlich oder
verschwinden ganz. Wir bekommen Kurven mit sanften Undulationen-
oder jähen Senkungen, also Kurven, welche als normal zu be-
zeichnen sind (Kurven der Pat. K. und der Pat. Lu., 15/V und 26/V).
Bei stärkerer hypomanischer Erregung sowie bei tiefer gehender
Depression mit Angst treten die Respirationsschwankungen fast
stets auf (Kurven der Pat. Le, B., Sch. und der Pat. Lu., 11/V]).
Ob dabei die Volumkurve im ganzen mehr gleichmässig verläuft:
oder ob stärkere Undulationen auftreten, hängt von den individuellen
Verhältnissen ab. Die Stärke des Affektes, welche notwendig ist,.
um die Respirationsschwankungen durch längere Zeit in der Kurve-
bei affektiven Psychosen. 517
zu erhalten, ist natürlich nicht als eine konstante Grösse zu denken,
sondern sie schwankt je nach der Individualität und auch bei
demselben Individuum zu verschiedenen Zeiten innerhalb gewisser
Grenzen.
Man könnte gegen diese Auseinandersetzungen einwenden,
dass eine absolute Gesetzmässigkeit nicht besteht, dass Ausnahmen
vorkommen, und andererseits, dass ein Parallelismus zwischen der
Stärke der Respirationsschwankungen und der Intensität der Ver-
stimmung nicht besteht. Man muss aber erwägen, dass die Ver-
hältnisse sehr komplizierte sind, und dass eine absolute Gesetz-
mässigkeit daher auch nicht zu erwarten ist. Es ist möglich, ja
vielleicht wahrscheinlich, dass (ubgesehen von den schon bekannten)
andere physiologische Momente, die bisher noch nicht ergründet sind,
neben den psychischen Momenten die Respirationsschwankungen
hervorrufen können. Es wäre möglich, dass, wie Lehmann an-
nimmt, Veränderungen des Blutdruckes imstande wären, Respi-
rationsschwankungen zu erzeugen, welche sich den durch die
Affektlage als solche hervorgerufenen Aenderungen supraponieren
und so die Ungesetzmässigkeit und den mangelnden Parallelismus
zwischen Stärke der Respirationsschwankungen und Intensität der
Affekte erklären. Ziehen hat ein ähnliches Verhalten bezüglich
des sphygmographischen Pulsbildes nachweisen können, indem
den erregenden Affekten, gleichgültig welcher Qualität sie waren,
ganz bestimmte, und zwar dieselben Veränderungen des Pulsbildes
entsprachen; ausserdem kann aber der betreffende Affekt von Ver-
änderungen des Blutdruckes begleitet sein, und die durch die
Veränderung der Gefässspannung hervorgerufene Aenderung des
Pulsbildes kann sich der durch die Affekte hervorgerufenen supra-
ponieren. Ferner erwähnt Ziehen, dass bei manchen Personen,
wohl infolge einer individuellen Stumpfheit des Anspreehens der
vasomotorischen und respiratorischen Zentren, auch bei sehr leb-
haften Affekten Veränderungen der Respiration und des Pulses
ausbleiben können. Auch dies würde manche Ungesetzmässigkeit
erklären. Ferner wäre, wie wir schon oben an einem Beispiel
gesehen haben (Kurve 10/II der Pat. B.), daran zu denken, dass
bei leichter Verstimmung die Konzentration der Aufmerksamkeit
vorübergehend die Grundstimmung nicht zum Ausdruck kommen
lässt; auch dies ist zur Erklärung der widersprechenden Befunde
heranzuziehen. Wir befinden uns jedenfalls auf einem schwanken-
den Boden und wollen hier mit den theoretischen Auseinander-
setzungen abbrechen.
Ich bin mir bewusst, durch meine Versuche die Frage nicht
gelöst zu haben; dazu bedarf es noch weiterer zahlreicher Unter-
suchungen. Wenn ich aber damit die Frage auch nur um einen
Schritt der Lösung näher gebracht habe, so ist mir das ein reicher
Lohn für alle Mühe.
Zum Schluss ist es mir ein Bedürfnis, meinem hochgeschätzten
Lehrer und Chef, Herrn Geheimrat Ziehen, für die Anregung
und Unterstützung während der ganzen Arbeit sowie für die
518 Lachmund, Ueber einseitigen klonischen Krampf
Ueberlassung des Materials meinen innig gefühlten Dank aus-
zusprechen.
Literatur.
Alter-Leubus, Verhalten des Blutdrucks bei gewissen psychopathischen
Zuständen. Jahrb. f. Psychiatrie. Bd. 25. 1908.
Brodmann, Plethysmographische Studien am Menschen. Journ. f. Psych.
. Neur. Bd. 1
Claus, Mitteilungen über den Puls bei Geisteskranken. Allg. Zeitschr. f.
Psych. Bd. 89. 1883.
Greenlees, Observations faites avec le sphygmographe sur quelques aliénés.
f. Arch. de Neur. Bd. 20. 1890.
Hirschberg, Ueber die Beziehungen psychischer Zustände zum Kreislauf
und zur- Atmung. St. Petersburger med. Wochenschr. 1903.
Lehmann, Dis örperlichen Aenderungen psychischer Zustände. Leipzig.
1899 —1
Mosso, Diagnostik des Palses. Leipzig 1879.
Müller,R. Zur Kritik der Verwendbarkeit der plethysmographischen Kurve
für psychologische Fragen. Zeitschr. f. Psychologie und Physiologie
der Sinnesorgane. Bd. 80. 1902.
Pilcz, Periodische Geistesstörungen. Jenu 1901.
Schäf er, Ein Fall von zirkulärer Geistesstörung. Neur. Centralbl.. 1882.
Schüle, Ueber den Einfluss der sogenannten Menstraalwelle anf den Verlauf
psychischer Hirnaffektionen. Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 47. 1891.
Tigerstedt, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Leipzig 1905.
Vogt, Plethysmographische Untersuchungen bei Geisteskrunkheiten. Centralbl.
f. Nervenheilk. a. Psych. Bd. 25. 1902.
Wundt, Grundriss der Psychologie. 7. Aufl. Leipzig 1905.
Derselbe, Grundzüge der hysiologischen Psychologie, Leipzig 1902.
Ziehen, Die physiologisc e Psychologie der Affekte. Neur. Centralbi. 1908.
Sitzungsber, S. 1086.
Derselbe, Physiologische Psycholo ie. der Gefühle und Affekte. Verhandl.
der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Aerzte. Kassel 1908.
Derselbe, Leitfaden der Ph siologischen Psychologie. 1905.
Derselbe, Psychiatrie. P Rafi 1902.
Derselbe, Sp —— "Untersuchungen an Geisteskranken. Jena 1887,
(Aus der Universitäts-Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenleiden zu Breslau,
Prof. Hinsberg.)
Ueber einseitigen klonischen Krampf des weichen
Gaumens.
Von
Dr. H. LACHMUND,
Nervenarzt in Breslau.
Kürzlich hatte ich einen in verschiedener Hinsicht interessanten
Fall zu beobachten Gelegenheit, der mir der Aufzeichnung wert
erscheint.
Es handelt sich um eine 61 jährige Frau W., die verheiratet, Mutter
von vier Kindern ist und immer gesund war. Keine erbliehe Belastung; keine
des weichen "&aumens, 519
Früh- oder Fehlgeburten. Vor ca. 18 Jahren habe sie 8 Tage lang Ohren-
laufen auf dem rechten Ohre gehabt. Vor ca. 10 Jahren habe sich einmul
8 Tage lang der Mund mehrmals täglich etwa !/, Stunde lang verzogen; da-
bei habe sie die Augen beide gut schliessen, nur nieht so gut sprechen
können. Bis März 1906 sei sie dann wieder ganz gesund gewesen; dann habe
sie auf beiden Ohren und dem ganzen Kopfe einen trockenen Ausschlag be-
kommen, wonach auf den rechten Ohre sich wieder Ohrenlaufen eingestellt
habe. Im April habe sie wegen allgemeiner Schwäche und Magenkrampf
14 Tage lang zu Bett gele en und leide seitdem an Schwächegefähl im Kopfe.
Seit Mai etwa habe der Mann der Pat. bei ihr öfter Zwinkern und Zucken
am rechten Auge and im Gesicht bemerkt; es sei das anfallsweise gekommen,
habe mit Zacken am Auge begonnen, dann habe Wange und Mund gezuckt,
und dunn sei der Anfall vorüber gewesen; mit der Zeit sei dies Zucken
häufiger eingetreten. Ende Juni sei ihrem Mann und Sohn aufgefallen, dass
ihr Mund schief würde; ibr selbst sei weder das Zucken im Gesicht noch
das Schiefstehen des Mundes recht zam Bewusstsein gekommen.
Am 24. VII. 1906 kam Pat. zur hiesigen Poliklinik. Bei der Unter-
` suchung fand sich im innersten Teile des äusseren rechten Gehörganges ein
sich nach dem Mittelohr und dem iuneren Ohre ausdehnendes Cholesteatom;
dabei Taubheit auf dem betreffenden Ohre, keine objektiven Schwindel-
erscheinungen, subjektiv nur Fehlen des Gefühls der Gegendrehung, wenn
man beim Versuch der passiven Zentrifugierung die Drehung der Drehscheibe
plötzlich anbielt. Nach Entfernung der Cholestestommasse zeigte sich eine
etwa kirsebkerngrosse Knochenhöhle, die sich nach und nach mit Granulationen
bedeckte. Bei Entfernung des Cholesteatoms warde im rechten Facialis-
gebiete heftiges Zacken bemerkt, das sieh auch bei der Behandlung später
stets einstellte (Dr. Engelhardt).
Pat. bietet am 3. VIII. folgenden körperlichen Befund:
Mittelgrosse, hagere, aber verhältnismässig kräftige alte Frau mit mässig
anämischeu Schleimhbäuten.
Herz, Lunge ohne Besonderheiten.
Urin: Kein Eiweiss, kein Zucker.
Keine auffallende Arteriosklerose, Blutdruck normal.
Trockenes, schuppiges, in Abheilung begriffenes Ekzem der behaarten
Kopfbaut und des Gesichtes.
Leichte Konjanktivitis des rechten Auges.
Hirnnerven:
Pupillen gleich, rand, von prompter Reaktion; Augenbewegungen,
Augenhintergrund, Sehschärfe normal.
Geruch beiderseits gleich gut. Leichte Verbiegang des Sept. nas. nach
links; beide Tuben frei.
Geschmack auch anf den vordern zwei Dritteln der Zunge rechts wie
lioks normal.
Trigeminus in seinen sensiblen und motorischen Aesten frei.
Gehörorgan: Otoskopisch sieht man rechts eine granulierende, ziemlich
grosse Höhle an Stelle des innersten äusseren und des mittleren Gehörganges,
ziemlich genan einer durch Radikaloperation entstandenen Höhle gleichend.
Links: Trommelfell normal. — Die Funktionspräfung ergibt: Rechts völlige
Taubbeit für Flüstersprache sowie für alle Töne. — Links Flüstersprache
4,5 m, dabei Rinne positiv; Schwabach ist verkürzt, Weber wird nach links
lateralisiert: die obere Grenze der Tonskals ist etwas eingeengt (Galton
8,0: 0,8), die untere Grenze ist normal.
Gleichgewichtsorgan: Keine subjektiven noch objektiven Störangen des
Gleichgewichtes. Nur fehlt subjektiv beim Versuch der passiven Zentri-
agierang bei der Drehung nach jeder Richtung das Gefühl der Gegendrehung
beim Anhalten der Drehung vollständig.
Fscialis: Rechtsseitige Parese aller Aeste; der Mundast ist mehr
aretisch als der Augenast. Der Augenschluss gelingt rechts, wenn auch
angsamer als links; dem öffnenden Finger bietet sich rechts bei festem
Augenschluss viel weniger Widerstand als links. Die Funktionen des Wangen-
620 Lachmund, Ueber einseitigen klonischen Krampf
und Mundfacialis erweisen sich alle im mittleren Grade gestört. — Bei Augen-
schluss tritt rechts jedesmal eine ticartige Mitbewegung im Gebiete der
übrigen rechten Facialisäste auf. i
In Ruhe sieht man sowohl an der Kinnmuskulatur, wie an der der
Wange rechterseits fibrilläres Zittern in wechselnder Stärke. Nach Reizung
des Facialis mit dem elektrischen Strome ist es besonders deutlich. — Die
elektrische Erregbarkeit des N. facialis ist rechts für faradischen, wie gal-
vanischen Strom erheblich herabgesetzt. Bei direkter galvanischer Reizung
der vom N. facialis versorgten Muskeln finden sich die Anzeichen der
partiellen Entartangsresktion.
Der Facislisreflex bei Beklopfen des Stammes bleibt rechts wie links aus,
Gaumensegel: Drückt man die Zunge vorsichtig herunter, so steht bei
ruhiger Atmung die untere Begrenzungslinie des rechten hinteren Gaumen-
bogens eine Spur tiefer und springt. etwas mehr nach der Mitte zu vor als
die linke; diese verläuft deutlich spitzer, der Winkel, den sie mit dem Zäpf-
chen bildet, ist spitzer wie der entsprechende rechte. Die vordere Gaumen-
bogenlinie steht rechts etwas höher als die linke, diese verläuft nicht so spitz,
wie die linke hintere Begrenzungslinie.
Das ganze rechte hintere Gaumenbogengewölbe erscheint rechts deut-
lich breiter, sozusagen mehr schlaf hängend, als das linke. Das Zäpfchen
ist etwas nach rechts geneigt. Beim Intonieren des „a“ wird der weiche
Gaumen gehoben und eine Spur nach links verschoben, um dann sofort nach
Aufhören des Intonierens von „a* in seinem rechten Teile eine krampfförmige
Hebung in der Richtung von links unten nach rechts oben zu erfahren. Diese
Hebung ist streng auf die rechte Seite beschränkt und hat ganz den Charakter
der gleich zu beschreibenden clonusartigen Krämpfe der rechten Seite des
weichen Gaumens. Man sieht nämlich, wenn man die Zunge herunterdrückt,
bei ruhiger Atmung etwa BOmal in der Minute eine ticarlige krampfförmige
Hebung der rechten Gaumenseite, nicht blitzartig schnell, auch nicht genau
rhythmisch, aber doch durch ihre Eigenart von unwillkürlichen Schluck- und
sonstigen Bewegungen, die man bei Inspektion des Gaumens oft in unregel-
mässiger Weise auftreten sieht, streng unterschieden.
Die Bewegung ist auch nur auf die rechte Seite beschränkt und ver-
läuft in der Richtung der Diagonale des Racheneinganges von links unten
nach rechts oben. Dabei wird der vordere und hintere Gaumenbogen rechts
erbeblich gehoben. Die Raphe erfährt eine Abknickung, indem sie im oberen
Teil des weichen Gaumens, wo sie zwischen den beiden Tensorsehnen ver-
läuft, genau in Mittelstellung bleibt, weiter unten aber, wo die Levatoren
auf sie wirken, nach rechts deutlich verschoben wird, an welcher Verschiebun
auch die Uvula teitnimmt. Bei jedem Clonus wird die horizontale Levator-
furche, die man beim „a*-Sagen etwa in der Mitte des weichen Gaumens
regelmässig auftreten sieht, auf der rechten Seite angedeutet. . Die mulden-
förmige Einbuchtung, die man beim „ae“-Sagen im obersten Teil des weichen
Gaumene beiderseits als Tensorwirkung auftreten sieht, tritt bei dem Krampf
nicht auf, |
Bei mechanischer Reizung der Cholesteatomhöhle an einer Stelle, die
noch nicht von Granulationen bedeckt ist, sieht man neben einer Vermehrung
der unwillkürlichen Schluckbewegungen eine Zunahme der Reizerscheinung
im rechtsseitigen weichen Gaumen. Der Gaumensegelreflex ist rechts wie
links deutlich auslösbar. Weitere Symptome von Seiten der Hirnnerven, die
etwa auf eine bulbäre Erkrankung hinweisen könnten, fehlen völlig. Dio
Zunge hat normales Aussehen, wird gerade vorgestreckt, Schluckbesch werden
sind nicht vorhanden. Die Sprache zeigt keinerlei Störungen, Kehlkopf und
Stimmbänder bieten ein ganz normales Verhalten.
Das sonstige Nervensystem, Motilität und Sensibilität des Rumpfes und
der Extremitäten, ist völlig intakt, die Sehnenreflexe an den unteren Extremi-
täten sind lebhaft, doch symmetrisch, im übrigen besteht nur noch leichter
Tremor der Hände.
Es handelt sich also in unserem Falle kurz zusammengefasst
um eine offenbar schon lange Jahre bestehende rechtsseitige Otitis
des weichen Gaumens. 521
media, deren Anfang wahrscheinlich mit der Ohreiterang vor
ca. 18—20 Jahren zusammenfällt und die im Laufe der Jahre zur
Cholestestombildung geführt hat. Das Cholestestom seinerseits
hat destruierend auf die Umgebung, äusseren Gehörgang, Mittel-
ohr und, wie wir anzunehmen gezwungen sind, auf das innere
Ohr, das Labyrinth gewirkt. Für Beteiligung des Labyrinthes, das
in seinen beiden Organen, dem Gehörgang und dem Gleichgewichts-
organ, offenbar schon lange verödet gewesen ist, spricht die völlige
Taubheit auf diesem Ohre und ein Ausfallssymptom bei der Gleich-
gewichtsprüfung, nämlich das Fehlen des Gefühls der Gegendrehung
bei dem Versuch der passiven Zentrifugierung mittels der Dreh-
scheibe. — Die leichte Schwerhörigkeit auf dem anderen Öhre,
welche, kurz gesagt, die Symptome der nervösen Schwerhörigkeit
aufweist, ist wohl als eine einfache Altersschwerhörigkeit auf-
zufassen. — Uns mehr interessierend ist das Verhalten der rechten
Gesichtshälfte and des Gaumensegels. Wir finden eine degenerative
Parese des rechten N. facialis, die im Mund- und Wangenast mehr
ausgeprägt ist, wie im Augenast; dann sehen wir eine ticartige
Zuckung der ganzen rechtsseitigen mimischen Muskulatur beim
jedesmaligen Augenschluss, ausserdem ticartige Zuckungen beim
Austupfen des rechten Ohres, schliesslich fast ununterbrochene
fibrılläre Muskelzuckungen in der Muskulatur der rechten Kinn-
seite, öfters nur in der Muskulatur der rechten Wange. Dann
bemerken wir weiter eine nicht ganz normale Stellung des weichen
Gaumens und einen klonischen Krampf des rechten Gaumen-
segels, sowie nach jeder aktiven Hebung des Gaumensegels noch
eine nachfolgende Kontraktion der rechten Seite des Gaumen-
segels.
Wie ist dieses Verhalten des Gaumensegels zu erklären? Die
Stellung des weichen Gaumens in Ruhe bei ruhiger Atmung
deutet darauf hin, dass das Gleichgewicht der Kräfte, die den
weichen Gaumen beı normalem Verhalten in Ruhe verharren lassen,
irgendwie gestört ist, d. h. einer oder mehrere von den Muskeln
des weichen Gaumens müssen paretisch oder ganz gelähmt sein.
Es kommen in Betracht: die beiden Tensores und Levatores veli
palatini, welche die Heber, und die beiden Pharyngo- und Glosso-
palatini, welche die Herabzieher des weichen Gaumens darstellen;
den M. azygos uvulae wollen wir als Binnenmuskel des weichen
Gaumens ausser Betracht lassen.
Um die Lähmung dieser einzelnen Muskeln zu erkennen,
muss man sich ihrer normalen Wirkung klar sein. Den M.glosso-
alatinus können wir bei unserer Betrachtung ganz aus dem
Spiele lassen; er dient lediglich dazu, Velum und Zunge bei Nasen-
atmung mit geschlossenem Munde fest aneinanderzupressen. —
Der Pharyngopalatinus setzt sich aus zwei Portionen zusammen,
der Pars thyreo-palatina und Pars pharyngo-palatina; beide sind
in gewisser Beziehung Antagonisten, insofern, als durch die Kon-
traktion der einen Portion (der Pars thyreo-palatina) die hinteren
Gaumenbögen stark zusammentreten, so dass sich die Bogenlinien
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 6. 86
522 Lachmund, Ueber einseitigen klonischen Krampf
zur Sehne abflachen und auf diese Weise ein gleichschenkliges
Dreieck bilden, während durch Kontraktion der anderen Portion
(der Pars pharingo-palatina) die hinteren Gaumenbögen lateralwärts
maximal auseinanderweichen, so dass beide zusammen einen grossen
Kreisbogen bilden. Ausserdem ist wichtig, dass jederseits Faser-
züge nach der anderen Seite hin aufsteigen und sich mit dem
gegenüberliegenden M. Levator veli palatini vereinigen. Diese
beiderseitigen Faserzüge verlaufen in Form einer unten und oben
oftenen 8, und jeder von ihnen wirkt als Antagonist des gekreuzten
Levator. — Der M. tensor veli palatini geht von der Schädel-
basıs herabsteigend mit seiner Endsehne um den am weichen
Gaumen ganz lateralwärts leicht durchzufühlenden Hamulus ptery-
oid. herum und bildet mit dem anderseitigen Tensor eine feste
Sehnenplatte, die den obersten Abschnitt des weichen Gaumens
darstellt und nach oben an den harten Gaumen, lateralwärts an
den beiderseitigen Hamulus grenzt. Die Wirkung tritt besonders
beim „ae“-Sagen hervor,indem sich am obersten Abschnitt des Velum
beiderseits eine flache muldenförmige Einziehung zeigt, die lateral-
wärts je bis zum Hamulas geht. — Der M. levator veli palatini
schliesslich entspringt an der Schädelbasis mehr nach der Mitte
zu, wie der Tensor, und tritt in der Richtung von rechts oben
nach links unten, resp. links oben nach rechts unten in den
weichen Gaumen ein. Hier endigt der eine Teil seiner Fasern
in einer medianen Raphe, die von der Spina nas. post. herab-
kommt, der andere, grössere Teil der Fasern fliesst bogig mit
denen der anderen Seite zusammen. Lässt man ein Individuum
„a“ sagen, so sieht man sich das Velum im ganzen heben, die
Uvula sich verkürzen; dabei bildet sich etwa 3—5 mm oberhalb
der Mitte der vorderen Gaumenbögen eine horizontale Rinne, die
ın der Mitte des weichen Gaumens am tiefsten ist, und senkrecht
zu dieser in der Mitte nach oben verlaufend eine zweite, die
unten am tiefsten ist. Die horizontale „Levatorfurche“ entsteht
durch Wirkung derjenigen Fasern des Levator, die mit denen
der andern Seite bogig sich vereinigen, die senkrechte durch die,
welche an der medianen fibrösen Raphe endigen. Ausserdem
strecken und nähern sich die hinteren Gaumenbögen, die vorderen
werden etwas flacher.
Bei der Lähmung eines dieser Muskeln zeigt sich nun, je
nach der normalen Wirkung des betr. Muskels, ein charakteristisches
Bild. Nach Mann-Dresden!), dessen Arbeit „Ueber Gaumen-
lähmung“ ich hier bei der Beschreibung der verschiedenen Läh-
mungsformen des weichen Gaumens im wesentlichen folge, ist
bei der Pharyngo-palatinus-Lähmung der einen Seite die Uvula
stark nach der gesunden Seite verschoben; die untere Begrenzungs-
linie des hinteren Gaumenbogens der gesunden Seite steht tiefer,
ıst spitzer, der Bogen schmäler, während auf der kranken Seite
die entsprechende Linie höher steht, mehr kreisrund, der Bogen
ı) Mann, „Ueber Gaumenlähmung“. Zeitschr. f. Ohrenheilk. Bd. 47.
des weichen Gaumen». 523
breiter ist. Ebenso steht die vordere Gaumenbogenlinie auf der
kranken Seite höher und ist stärker gewölbt, der gelähmte Bogen
ist breiter. Die Raphe verläuft in dem obersten von den Ten-
soren beleuchteten Felde des weichen Gaumens genau in der
Mitte, macht dann aber eine Abknickung nach der gesunden
Seite, um von da senkrecht nach abwärts zu laufen; sie ist also
in ihrem unteren Teile wie die Uvula nach der gesunden Seite
verschoben. Beim Schlucken und Würgen tritt der hintere
Gaumenbogen der gelähmten Seite nicht so weit nach der Mitte
der hinteren Rachenwand, wie auf der gesunden Seite.
Bei einseitiger Tensorlähmung ist auf der gelähmten Seite
die untere Begrenzungslinie des hinteren Gaumenbogens tiefer und
spitzer (infolge der das Uebergewicht bekommenden Antagonisten-
wirkung des gleichseitigen Pharyngopalatinus), die des vorderen
Gaumenbogens ebenfalls etwas tiefer und mehr rund; der hintere
Bogen ist im ganzen schmäler. Auf der gesunden Seite steht in-
folgedessen die untere und obere Bogenlinie etwas höher und ist
stärker gewölbt, der hintere Bogen ist etwas breiter. Die Raphe
ist in ihrer ganzen Länge etwas nach der gesunden Seite konvex
ausgebogen. Beim „ae“-Sagen tritt auf der gesunden Seite eine
deutliche Einziehung der Tensorfaszie auf, die auf der gelähmten
Seite fehlt.
Von unkomplizierten einseitigen Levatorlähmungen hat Mann
(siehe oben) keinen Fall beobachtet. Nach Oppenheim steht
as Gaumensegel auf der entsprechenden Seite tiefer, der Bogen,
den der freie Rand bildet, ist flacher als auf der gesunden Seite,
welche Differenz beim „a“-Sagen noch deutlicher hervortrete. Nach
den Ausführungen Manns würde dagegen auf der gesunden Seite
der freie Rand des hinteren Gaumenbogens tiefer stehen; es ist
das aus der Wirkung der Fasern des Pharyngopalatinus zu er-
klären, die von der gesunden Seite nach der anderen Seite oben
zum Levator der anderen Seite gehen und über diesen, da er
gelähmt ist, das Uebergewicht bekommen; infolgedessen kontra-
hieren sie sich mehr und bewirken so auch, entsprechend der
Ansicht Oppenheims, dass der freie Rand auf der gesunden
Seite spitzer verläuft, während er auf der gelähmten Seite mehr
kreisförmig ist; ähnlich ist es mit dem Verlauf der vorderen
Gaumenbogenlinie. Das ganze Gaumenbogengewölbe der gelähmten
Seite zwischen vorderer und hinterer Gaumenlinie macht so einen
erheblich breiteren Eindruck, wie auf der gesunden Seite. Raphe
und Uvula sind nicht verschoben, die Uvula höchstens etwas nach
der gelähmten Seite gebogen. Beim „a“-Sagen verschiebt sich
der ganze weiche Gaumen nach der gesunden Seite. Die hori-
zontale Levatorfurche ist nur auf dieser ausgeprägt, die Höhen-
differenz der Gaumenbögen gleicht sich mehr aus. Beim „ae“-
Sagen tritt in manchen Fällen folgendes ein: Der beim „a“-Sagen
nach der gesunden Seite verschobene Gaumen schiebt sich infolge
der beiderseits gleich starken Tensorenwirkung plötzlich ruckartig
wieder nach der Mitte.
86*
524 Lachmund, Ueber einseitigen klonischen Krampf
Wenn wir den Befund, den der weiche Gaumen unserer
Patientin bei ruhiger Atmung bildet, mit diesen Ausführungen
vergleichen, so erkennen wir, dass es sich nur um Parese eines
Levators handeln kann. Da nun nach Mann die untere Be-
grenzungslinie des hinteren Gaumenbogens auf der gesunden Seite
tiefer steht wie auf der kranken, so könnte man zunächst an eine
linksseitige Levatorlähmung denken; dennoch ist das nicht der
Fall, denn das rechte hintere Gaumengewölbe erscheint breiter,
mehr hängend, die untere Begrenzungslinie verläuft nicht so spitz
und gespannt wie auf der linken Seite; ausserdem rückt der weiche
Gaumen beim „a“-Sagen nach links, wenn auch nur wenig, so
dass wir nach allem gezwungen sind, eine, wenn auch nur leichte,
Parese des rechten M. levator veli pal. anzunehmen.
Interessanter ist bei unserer Patientin der nur auf die rechte
Seite des weichen Gaumens beschränkte klonische Krampf. Auch
von ihm lässt sich nachweisen, dass nur der rechte Levator be-
fallen ist. Zu diesem Zweck haben wir uns klar zu machen,
welche unter sich verschiedenen Bilder der einseitige klonische
Krampf des weichen Gaumens bietet bei Befallensein nur eines
der drei hier hauptsächlich in Betracht kommenden Muskeln.
Leicht zunächst ist im Gegensatz zur einseitigen Lähmung eines
Muskels die Seite der Affektion zu erkennen; die zuckende Seite
ist eben die kranke, während die gesunde nur mitgezogen wird,
sonst in Mittelstellung verharrt. Beim Tic des Pharyngopalatinus
der einen Seite wird bei jeder Zuckung die Uvula und der untere
Teil der Raphe nach der kranken Seite verzogen; dabei senkt
sich der freie Rand des hinteren Gaumenbogens dieser Seite und
wird im Verlauf steiler; dasselbe geschieht mit der vorderen.
Gaumenbogenlinie. — Beim Tic des Tensor der einen Seite biegt
sich bei jeder Zuckung die Raphe in ihrem ganzen Verlaufe nach
der kranken Seite aus, besonders deutlich in ıhrem obersten Teile,
während die Uvula in der Verlängerung des unteren Teiles der
Raphe nur etwas nach der kranken Seite mitgeht, aber senkrecht
nach unten hängen bleibt. Ausserdem tritt auf der kranken Seite
bei jedem Krampfe eine deutliche Einziehung der Tensorfaszie
auf, die auf der gesunden Seite fehlt. Die Gaumenbögen der
kranken Seite werden gehoben. Mann hat in seiner oben
zitierten Arbeit, um die Bilder bei den verschiedenen Arten von
Lähmungen des weichen Gaumens verständlich zu machen, die
Mechanik des weichen Gaumens in sehr anschaulicher Weise dar-
gestellt. Bezeichnen wir mit A resp. A, die Kraft der Tensoren,
die wir uns vom Hamulus aus wagerecht lateralwärts nach rechts
und links, und mit B resp. B, die Kraft der Depressoren des-
weichen Gaumens, die wir uns senkrecht nach unten wirkend
denken müssen, und mit C resp. C, die Kraft der Levatoren, so
ist der Gaumen in horizontaler Stellung im Gleichgewicht, wenn
A + A, + C+C, = B + B, ist, und in vertikaler, wenn A+B+C
= A, + B, +C, ist. Die Wirkung der Kraft C + C, erfolgt, wenn
C= C,, und A = A,, B = B, ist, in einer Richtung, die der
des weichen Gaumens. 525
Halbierungslinie des Bogens entspricht, unter dem die Hauptmasse
der Fasern der Levatoren ineinander überfliessen, das wäre in
der Richtung der Raphe senkrecht nach aufwärts. Wird nun
C SC, während ABA, B, sich nicht ändern, so kann die ver-
einte Wirkung von C+C, nur C+C
in einer Richtung erfolgen, die ` I col
mehr oder weniger sich der Diago- C> 1
nalen A, B resp. A B, nähert.
Dies würde nun auch die
Richtung sein, in der, wenn C=C,
ist, die Kraft C resp. C, allein
wirken würde, und das ist beim
einseitigen Levator der Fall;
der weiche Gaumen bewegt sich
dann bei jeder Zuckung in der
Richtung von links unten nach
rechts oben resp. rechts unten B B;
nach links oben; dabei verläuft
die Raphe in ihrem obersten Teil genau in der Mitte, wird dann
nach der kranken Seite abgeknickt und rückt so bei jeder Zuckung
in ihrem untersten Teile mit dem Zäpfchen nach der kranken
Seite, wobei vorderer und hinterer Gaumenbogen erheblich ge-
hoben werden. Die horizontale Levatorfurche, die beim „a*“-Sagen
auftritt, wird bei jeder Zuckung auf der kranken Seite sichtbar.
Vergleichen wir wieder den Befund in unserem Falle mit
obigen theoretischen Erwägungen, 30 kommen wir zu dem Schluss,
dass sich der Krampf nur auf den rechtsseitigen M. levator veli
pal. beschränkt, während die anderen Muskeln des weichen Gaumens
nicht beteiligt sind.
Klonischer Krampf des Velum pal. — Spasmus palatinus —
ist in der neurologischen und otologischen Literatur schon häufig
beschrieben, auch Fälle mit Krampf nur einer Seite. Hier ist
das Bemerkenswerte, dass sich der Krampf nur auf einen Muskel
beschränkt, dass weiter eine leichte Parese dieses Muskels vor-
liegt und dass beide Alterationen, Parese sowohl wie klonischer
Krampf, sich noch in einem zweiten von Hirnnerven versorgten
Gebiete, der rechten, also gleichen Gesichtshälfte, vorfinden.
Sofort drängt sich die Annahme einer einheitlichen Aetiologie
uns auf. Nach Oppenheim u. A. sind die Ursachen für Spasmus
palatinus meist organische, Tumoren des Kleinhirns, abgelaufene
eningitis. cerebrosp. epid., Aneurysmen der Hirnbasis. Valentin!)
hat in der Zeitschr. f. Ohrenheilk. eine Reihe Fälle von Ohr-
geräuschen zusammengestellt, die zum Teil mit zuckenden Ein-
ziehungen des Trommelfells, mit Blepharoclonus, Facialisclonus,
Zucken der äusseren Halsmuskeln, der Zungenbasis, mit Kehlkopf-
1) Valentin: Ueber den klonischen Krampf des M. tensor veli und
die dadarch erzeugten objektiv hörbaren Ohrgeräusche. Zeitschr. f. Ohren-
eilk. 46.
526 Lachmund, Ueber einseitigen klonischen Krampf etc.
hebung, Adduktion der Stimmbänder verbunden waren; die Ur-
sachen waren teils lokale, teils funktionelle Neurosen.
In unserem Falle finden wir weder irgend einen Anbalts-
punkt für ein cerebrales Leiden, noch für eine funktionelle Neurose.
Auch ein lokales Leiden im Nasen-Rachenraum konnte ausge-
schlossen werden. Dagegen finden wir ein schon jahrelang be-
stehendes, mit eitrigen und kariösen Prozessen im rechten
Schläfenbein einhergehendes Ohrenleiden. Es kann nun wohl
keinem Zweifel unterliegen, dass ätiologisch nur diese Mittelohr-
erkrankung zunächst für die Parese und die Reizerscheinungen
im rechtsseitigen Facialisgebiete verantwortlich zu machen ist.
Die Eiterung im Felsenbein hat zu einer Neuritis des rechten
N. facialis geführt, die sich als Perineuritis in den oben be-
schriebenen Reizsymptomen und als parenchymatöse degenerative
Neuritis in Ausfallserscheinungen geltend macht. Auf dieselbe
Aetiologie glaube ich nun bei unserer Pat. die Ausfallserscheinungen
und Reizsymptome am weichen Gaumen derselben Seite zurück-
führen zu müssen. Denn wir haben aus oben näher bezeichneten
Gründen anzunehmen, dass der karıöse Prozess im rechten Ohre
auch das innere Ohr stark beteiligt und zu einer Zerstörung des
Labyrinthes geführt hat. Diesem unmittelbar benachbart liegt
aber das Ganglion geniculi, von welchem aus eine bekannte Ver-
bindung als N. petrosus superficialis major zum Ganglion spheno-
palatinum geht. Von diesem steigen Nervenäste als Rami palatini
zur Innervation des weichen Gaumens zu diesem hinab, Die
naheliegende Erklärung für den Befund am Velum ist offenbar
doch die, dass der neuritische Prozess im N. facialis, hervorgerufen
durch die infektiöse Eiterung im rechten Mittelohr, sich durch
Beteiligung des Labyrinthes an der Eiterung auf das Ganglion
geniculi und von da auf den N. petrosus superf. maj. fortge-
pfanzt hat und so sowohl im Gesicht als am weichen Gaumen
eiz- und Ausfallserscheinungen bewirkt.
Die Frage nach der Innervation des Velum palat. ist in
letzter Zeit wieder lebhaft ventiliert worden. Die Stimmen,
welche den N. facialis von derselben gänzlich ausgeschlossen
wissen wollen, mehren sich. Oppenheim!) sagt, dass beim
reinen Facialiskrampfe das Gaumensegel fast nie beteiligt sei;
in den wenigen Fällen, in denen Zuckungen der Uvula beobachtet
worden wären, wie in einem von Leube und Schütz und in
einem von Schüssler beschriebenen, möge es sich um eine
Komplikation gehandelt haben. Da Komplikationen durch ge-
genaue Untersuchung in unserem Falle ausgeschlossen erscheinen,
spricht er m, E. für Beteiligung des N. facialis an der Inner-
vation des weichen Gaumens. Ob sich vielleicht der neuritische
Prozess noch weiter aufwärts nach Art der alten „Neuritis
migrans“ bis in das Kerngebiet des Facialis fortgepflanzt hat
und hier nun infolge feinster Veränderungen einen dauernden
1) Oppenheim, Lehrb. der Nervenkr. IV. Aufl. S. 1250.
v. Bechterew, Ueber die klinischen etc. 527
Reizzustand unterhält, ist schwer zu sagen; die tic-artigen
Zuckungen im Gebiete aller Aeste des rechten Facialis beim
unwillkürlichen Augenschluss, sowie das fibrilläre Flimmern in
der Kinn- und Wangenmuskulatur sprechen eher dafür wie
dagegen. Reizerscheinungen, die für einen ähnlichen Prozess im
Kerngebiete des N. acusticus sprechen könnten, wie subjektive
Ohrgeräusche, fehlen. Immerhin, mag das Kerngebiet des Facialis
befallen sein oder nicht, immer fällt der Fall für die Annahme
einer Beteiligung des Facialis an der Innervation des weichen
Gaumens, in unserem Falle speziell für die Annahme einer Inner-
vation des M. levator veli palatini durch den Facialis auf dem
Wege: Ganglion geniculi, N. petrosus superf. maj., Ganglion
sphenopalatinum, Rami palatini ins Gewicht.
Zum Schlusse gestatte ich mir, Herrn Prof. Hinsberg für
das Interesse, das er dieser Arbeit entgegengebracht hat, und
Herrn Dr. Engelhardt für freundliche Üeberlassung der
Krankengeschichte meinen besten Dank auszusprechen.
Ueber die klinischen und pathologisch-anatomischen
Besonderheiten der nervösen Form der Steifigkeit
und der Ankylose der Wirbelsäule und ihre Behandlung.
Von
Prof. Dr. W. v. BECHTEREW.
Zuerst im Jahre 1893 und in einer Reihe späterer Arbeiten?!)
wurde von mir eine besondere Krankheitsform als „Steifigkeit der
Wirbelsäule“ beschrieben, die folgende Grunderscheinungen auf-
weist: 1. mehr oder weniger ausgesprochene Unbeweglichkeit oder
wenigstens erschwerte Beweglichkeit der ganzen Wirbelsäule oder
eines Teiles derselben bei Fehlen stärkerer Empfindlichkeit gegen-
über Perkussion oder Beugung; 2. bogenförmige Verkrüämmung
der Wirbelsäule nach hinten, vorzugsweise im oberen Brustteil,
wobei der Kopf ein wenig vorgestreckt und gesenkt erscheint;
8. paretischer Zustand der Muskulatur des Rumpfes, des Halses
1) W. Bechterew, Steifigkeit der Wirbelsäule und ihre Verkrüämmung
als eine besondere Krankheitsform. Wratsch 1892. No. 86. Neurologisches
Centralbl. 1893. No. 18. — Ueber Verwachsung oder Steifigkeit der Wirbel-
säule u. s. w. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 11. 1897. — Neue
Beobachtungen über Steifigkeit der Wirbelsäule. Deutsche Zeitschr. f. Nerven-
heilk. Bd. 15. H.1 u. 2. — Ueber ankylosierende Eutzündung der Wirbel-
säule u. s. w. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 15. H. i—2. 1899. —
Demonstration auf der neurologisch-psychiatrischen Sektion des Pirogov-
schen Kongresses zu St. Petersburg 1904
028 v. Bechterew, Ueber die klinischen
‚und der Extremitäten, grösstenteils verbunden mit geringer Atrophie
der Rücken- und Schulterblattmuskeln ohne Anzeichen von De-
generation; 4. Abschwächung der Costalatmung und Ueberwiegen
der Abdominalatmung; 5. Abstumpfung der Sensibilität, vor allem
im Verbreitungsgebiet der Hautäste der Rücken-, unteren Hals-,
manchmal auch der Lendennerven; 6. mannigfaltige, nicht immer
gleich stark ausgesprochene Reizerscheinungen seitens dergenannten
Nerven in Gestalt von Hyperästhesien, Parästhesien und Schmerzen
im Rücken, am Halse, ım Bereiche der Extremitäten und der
Wirbelsäule, in letzterer besonders bei längerem Sitzen.
Die Reizzustände seitens der hinteren Nervenwurzeln ent-
sprechen aber nicht direkt der Verkrümmung der Wirbelsäule
(sie können dieser vorausgehen, können am stärksten an Stellen
ausgesprochen sein, wo die Wirbelsäule nicht verkrümmt ist u.s. w.).
In einzelnen Fällen erreichen diese Reizzustände eine ausser-
ordentliche Intensität und gehören dann zu den quälendsten
Krankheitserscheinungen. Ausserdem sind in gewissen Fällen
Reizerscheinungen von Seiten der motorischen Nerven zu bemerken.
In einer Reihe von Fällen bestehen ferner Veränderungen der
Reflexerregbarkeit. Besonders beachtenswert erscheint das häufige
Fehlen des von mir beschriebenen Scapulo-Humeralreflexes!), der
bekanntlich sonst eine grosse Konstanz aufweist. Was die Ab-
dominalreflexe betrifft, so erscheinen sie bei bestehender gürtel-
förmiger Hyperästhesie nicht selten gesteigert. Die Patellarreflexe
endlich waren teils hochgradig gesteigert, teils herabgesetzt oder
ganz fehlend. Später wurde von Dr. Osipow und mir noch ein
weiteres wesentliches Symptom aufgefunden in Gestalt von Pupillen-
verengung (Miosis spinalis), die bei der vorliegenden Krankbheits-
form ziemlich häufig angetroffen werden kann.
Diese Grundmerkmale bezeichnen in klinischer Hinsicht mit
vollkommener Schärfe die in Rede stehende Form der „Wirbel-
säulensteifigkeit“ gegenüber jener Krankheitsform, die, mit Anky-
lose einhergehend, schon den alten Chirurgen unter verschiedenen
Namen bekannt war und die späterhin von Strümpell, Marie,
mir selbst und vielen anderen beschrieben worden ist.
Diese letztere Form habe ich bei der Beschreibung meiner
Fälle als ‚ankylosierende Entzündung der Wirbelsäule und der
grossen Gelenke“ benannt, unter Hinweis auf die differential-
diagnostischen Momente, die eine Verwechslung derselben mit
„ Wirbelsäulensteifigkeit“ nicht zulassen.
Bei der ankylosierenden Entzündung handelt es sich um
wahre totale oder partielle Ankylose der Wirbelsäule und der
grossen Extremitätengelenke. Wir finden hier daher eine mehr
oder weniger vollständige Unbeweglichkeit der ganzen oder eines
bestimmten Teiles der Wirbelsäule und deutliche Schwerbeweg-
lichkeit oder selbst vollkommene Unbeweglichkeit der grossen
Extremitätengelenke.
1) W. Bechterew, Neurolog. Centralbl. 1900.
und pathologisch-anatomischen Besonderheiten etc. 529
Die Gestaltung der Wirbelsäule kann in diesen Fällen eine
wechselnde sein: Es kann Kyphose oder Skoliose bestehen oder
aber Streckung der Wirbelsäule vorhanden sein, wobei der Rücken
brettförmig abgeflacht erscheint.
Dabei können zugleich geringfügige Muskelatrophien da sein,
besonders in der Skapula- und Schultergegend, höchstwahrscheinlich
bedingt durch die Gelenkaffektion. Andere Erscheinungen von
Seiten des Nervensystems fehlen aber gewöhnlich oder sind kaum
‚angedeutet.
Auch in ätiologischer Hinsicht sind nicht unwesentliche
Unterschiede zwischen der „Wirbeisäulensteiigkeit* und der
Strümpell-Marieschen Krankheitsform zu bemerken.
Bei der erstgenannten Krankheit wurden von mir in ätiolo-
gischer Beziehung Erblichkeit, Trauma und Syphilis namhaft ge-
macht. Späterhin ist von den Beobachtern auch auf Erkältung
hingewiesen worden als ätiologisches Moment der „Wirbelsäulen-
steifigkeit“, während als ätiologische Faktoren bei Ankylose der
Wirbelsäule und der grossen Gelenke nach meinen Erfahrungen
Arthritiden und Gonorrhoe eine hervorragende Rolle spielen. Zu
bemerken ist übrigens, dass gonorrhoische Entzündungen an-
scheinend auch bei der von mir beschriebenen „Wirbelsäulen-
steifigkeit“ als ätiologisches Moment eine gewisse Bedeutung haben,
wie dies u. a. von Dr. Ossipow beobachtet worden ist.!)
Endlich sind auch in dem Verlauf beider Krankheitsformen
Unterschiede vorhanden. In den von mir beschriebenen Fällen
von „Wirbelsäulensteifigkeit“ handelt es sich zumeist um eine
langsam und allmählich fortschreitende Affektion mit einer mehr
‚oder weniger ausgesprochenen Periode der Reizung, während man
es in den Fällen von „ankylosierender Entzündung der Wirbel-
säule und der grossen Gelenke“ in der Regel mit einem mehr
-oder weniger abgeschlossenen Prozess ohne beständiges Fortschreiten
der Erkrankung oder wenigstens ohne deutlich ausgesprochene
Tendenz zum Fortschreiten zu tun hat.
Augenblicklich umfasst die Literatur der „Wirbelsäulen-
steifigkeit“ schon eine recht ansehnliche Kasuistik, allein die
Autoren halten leider die Fälle der von mir dargestellten Krank-
heitsform von denen der „ankylosierenden Wirbelsäulen-Gelenk-
entzändung“ vom Strümpell-Marieschen Typus nicht immer
sorgfältig genug auseinander und verwechseln hin und wieder
diese mit jener.
Zu den reineren Fällen von „Wirbelsäulensteifigkeit“ gehören
-ausser den früher von mir mitgeteilten diejenigen von Marie und
Astiè (1), 2 von den 8 Fällen Schatalows (2), einer von den
beiden Fällen Lubowiczs (8), die von Schaikewicz (4), 2 Fälle
von Zeuner (ö), der dritte ist nicht genügend fundiert, der Fall
von Schlesinger (6), von Cantani (7), Nowoselski (8),
1) Io einem Falle von „Steifigkeit“ wurde auch Arteriosklerose als
‚arsächliches Moment bemerkt,
530 v. Bechterew, Ueber die klinischen
Bender (9), einer von 8 Fällen Kedziors (10), der Fall von
Kudrjaschew (11), einer von den 8 Fällen Ostankows (12),
der Fall von Pussep (13), Ossipow (14), Reimer (15), einige
der von Troschin (16) und später von ihm und Pussep (17)
beschriebenen Fälle, sowie 2 Fälle von Sobolenski (18).
Wir haben also gegenwärtig bereits etwa 85 reine Fälle von
„Wirbelsäulensteifigkeit“, abgesehen von den 2 Initialfällen dieser
Krankheitsform, die Winokurow (19) mitteilte, und ungerechnet
jene gemischten Formen, die von Mikulicz, Bergmann (20),
Kuschew (21) uud einigen anderen beschrieben wurden (22).
In dem ganz unlängst durch Eminet (23) mitgeteilten Fall
handelte es sich wohl auch um eine sogenannte gemischte Form,
da hier nicht nur hochgradige Nervenerscheinungen, sondern auch
Gelenkaffektionen vorlagen.
Von pathologisch-anatomischen Veränderungen bei „Wirbel-
säulensteifigkeit“ war in einem unserer Fälle zu verzeichnen:
Auflockerung der Knochen der Wirbelsäule, Porosität ıhrer Knochen-
substanz, Verschmächtigung und Atrophie des Knorpelbelages der
Wirbel, besonders an ihren vorderen Teilen bei Fehlen von Exo-
stosen und Verwachsungen der Wirbel, chronische Entzündung
der weichen Rückenmarkshäute, bestehend in Verdünnung der-
selben, Degeneration derNervenwurzeln (insbesondere der hinteren),
Atrophie und Degeneration der Zellen der Spinalganglien und
zerstreute Faserdegeneration der weissen Substanz des Rücken-
marks von offenbar sekundärem Charakter (24).
In einem weitern Fall, den Troschin (25) in meinem Labo-
ratorium untersuchte, wurden ganz analoge Veränderungen wahr-
genommen. Er konstatierte u. a. Fehlen hyperplastischer Vorgänge
an den Knochen der Wirbelsäule, Weichheit und Rarifikation des
Knochengewebes, Schwund der intervertebralen Knorpel im vorderen
Teil der Wirbel. Am Knorpel selbst bestanden metaplastische-
Veränderungen direkt unter dem Wirbelkörper und Hyperplasien
weiter entfernt vom Knochen. Die Gelenke der Wirbelsäule (zwischen
den Fortsätzen und mit den Rippen) fanden sich unverändert,
desgleichen der Bandapparat; die Spinalganglien zeigten weder
Verwachsungen noch Kompression, wohl aber auffallende Pig-
mentierung der Zellen, Vergrösserung der Kerne innerhalb der
Kapseln, sowie Erscheinungen partieller Atrophie an den Hinter-
wurzeln. Die Dura mater war in der oberen Rückenmarkshälfte-
verdünnt, die Leptomeningen zeigten diffuse Verdiekung ohne Zu-
nahme der Kerne in der oberen Markhälfte, strichweise und flecken-
weise Verdickung in ganzer Ausdehnung (Leptomeningitis chronica
simplex). Die Wurzeln, insbesondere die hinteren, fanden sich in
einem Zustand allgemeiner Atrophie. Weisse Substanz ohne frische-
Degenerationen und ohne ausgesprochene Systematrophie. Die
graue Substanz zeigte Zellschwund in den Vorderhörnern, weniger
bemerkbar im Lendenmark, proximalwärts allmählich zunehmend.
Der Zentralkanal war obliteriert, die umliegenden Gefässe hyalin
entartet, es bestand Heterotopie eines weissen Faserzuges zwischen,
und pathologisch-anatomischen Besonderheiten etc. 634
beiden Hörnern — offenbar ein zufälliger Befund in dem vor--
liegenden Falle.
Die gleichen pathologisch-anatomischen Veränderungen, wie
in den vorigen beiden Fällen, fanden sich im ganzen auch in dem:
von Pussep und Troschin geschilderten Fall. Endlich wurden
in einem Fall von „Wirbelsäulensteifigkeit“, den Shukowski').
in meinem Laboratorium untersuchte, ebenfalls Erscheinungen
chronischer Leptomeningitis und — da die Dura etwas verdickt
war — teilweise auch von Pachymeningitis nachgewiesen. Mit
der Methode von Busch wurde ferner Degeneration der hinteren.
Wurzeln wahrgenommen, aufsteigende Degeneration vorzugsweise
des Gollschen Stranges und ringförmige Faserdegeneration an.
der Peripherie des Rückenmarkes in nächster Nachbarschaft der-
verdickten Pia angetroffen.
Was das Verhalten der Wirbelsäule in diesem Fall betrifft,
so hatte dieselbe, wie ich mich durch den Augenschein überzeugen:
konnte, überall ihre Beweglichkeit behalten; eine wirkliche Ankylose-
war nirgends vorhanden trotz der bei Lebzeiten beobachteten
Kyphose und Wirbelsteifigkeit.e. Auch fehlten Exostosen, doch
bestand deutliche Rarifikation des Knochengewebes.
Kurz, in allen Fällen, denen Sektionsbefunde zur Seite stehen,
fand sich chronische Leptomeningitis, Degeneration der hinteren:
Wurzeln und diese oder jenesekundären Veränderungen am Rücken-
mark; seitens der Wirbelsäule dagegen wurde Fehlen hyperplasti-
scher Vorgänge an den Knochen und Mangel wirklicher Ankylose:
konstatiert, wohl aber bestand Atrophie der Knorpeln, besonders
in ihren vorderen Abschnitten, Porosität und Rarifikation der
Wirbelknochen ohne wesentliche Veränderungen des Bandapparates.
Dagegen besteht in den Fällen von ankylosierender Entzündung
des Strümpell-Marieschen Typus eine ossifizierende Affektion
der Ligamenta flava der Wirbelsäule, wobei die Wirbel selbst
und die Zwischenwirbelknorpel verschont bleiben; zugleich beob--
achtet man bei dieser Krankheitsform Verknöcherung der costo-
vertebralen Gelenke, die bei der von mir beschriebenen Form fehlt.
Die von Marie?) bei jener Erkrankung bemerkten Exostosen des
Kreuzbeins endlich und die klinisch schon wahrnehmbaren ankyloti-
schen Vorgänge an den grossen Gelenken bedingen den endgültigen
Gegensatz des pathologisch-anatomischen Bildes beider Krankheits-
formen. |
Aus dem Gesagten wird hervorgehen, dass die von mir be-
schriebene Krankheitsform sowohl in klinischer wie in pathologisch-
anatomischer Beziehung einer tieferen Erkenntnis erschlossen ist,
und dass ihre Diagnose bei einiger Vertrautheit mit den Er-
scheinungen keine besonderen Schwierigkeiten bereiten dürfte?).
1) Shukowski, Bericht über die wissenschaftliche Versammlung der
St. Petersburger Klinik für Nerven- und Geisteskranke. 27. März 1908.
23) P. Marie, Revue de Med. 1898. No. 4.
3) Davon konnten sich alle überzeugen, denen ich die fraglichen Fälle
auf. meinen Vorlesungen und während des letzten Pirogowschen Kongresses.
zu St. Petersburg demonstriert habe.
532 v. Bechterew, Ueber die klinischen
Ungenügend beleuchtet sind aber in der Literatur die Behandlungs-
methoden der Krankheit.
Ich habe in dieser Hinsicht schon in meinen ersten Arbeiten
über „Wirbelsäulensteifigkeit“!) auf einige therapeutische Mass-
nahmen hingewiesen, die in Fällen dieses schweren Nervenleidens
von Nutzen sein können. Es gehören dazu: Bäder, Extension der
Wirbelsäule, Ableitung auf die Wirbelsäule, Massage, längere Jod-
behandlung u. s. w.
Unlängst ist dann dieser Gegenstand von Chmelewski auf-
genommen worden, der über die Behandlung der „Wirbelsäulen-
steifigkeit“ eine besondere Abhandlung veröffentlichte?).
Es wird hier hervorgehoben, dasssowohl dievonmir beschriebene
neuropatbischeForm der Wirbelsäulensteifigkeit, wie auch die arthri-
tische Form der Wirbelsäulenankylose nicht nur einer Besserung
fähig ist, sondern auch zum Stillstand gebracht werden kann.
Eine Besserung des Allgemeinbefindens wird erreicht durch kleinere
Dosen tonischer Mittel (Arsen, Eisen) und Salzbäder von 27 - 200 R.
Gegen die neuralgischen Schmerzen kommen Galvanisation,
Paquelin, Kompressen u. s. w. zur Anwendung. Der Verfasser be-
tont in seiner Arbeit vor allem den Einfluss von Schlammbädern,
die mit einer Temperatur von 32° R. ohne nachfolgende Schwitz-
kur neben Salzbädern bis zu 29° R. (von nicht über 5° Areometer
Beaume&) zur Anwendung gelangen sollen. Für die Nachbehandlung
empfiehlt er warme Seebäder von 28—29° R.; das direkte Seebad
hält er wegen seiner schwächenden Wirkung für schädlich und im
ganzen für wenig empfehlenswert.
In frischen Fällen sind Schlamm- und Seebäder nach seiner
Angabe im allgemeinen kontraindiziert; sie können nur verordnet
werden, falls der Prozess zum Stehen gekommen ist und die Reiz-
erscheinungen nachgelassen haben. Von Nutzen sollen ausserdem
manchmal Douchen von hohem Druck und hydropathische Be-
handlung von nicht weniger als 24° sein.
In therapeutischer Beziehung wird hier aber kein Unterschied
gemacht zwischen der von mir beschriebenen Krankheitsform und
der arthritischen Strümpell-Marieschen Krankheit, und doch
sind dies, wie wir sahen, zwei in anatomischer Hinsicht wesent-
lich verschiedene Prozesse, die auch in therapeutischer Hinsicht
nicht gleichgesetzt werden dürfen.
Wegen der grossen Bedeutung der Therapie der neuropathischen
„Wirbelsäulensteifigkeit“ will ich im Hinblick auf meine eigenen
Erfahrungen hier auf die Frage näher eingehen. Auf die See-
schlammbehandlung werde ich hier kein grosses Gewicht legen,
da diese Methode nur wenigen Kranken zugänglich sein dürfte
und meine eigenen Beobachtungen über diesen Punkt nicht hin-
reichend ausgedehnt sind.
1) W. Bechterew, Wratsch 1893.
2) Chmelewski, Obosren. psichiatr. 1904. No. 12.
und pathologisch-anatomischen Besonderheiten etc. 533
Seit der Veröffentlichung meiner ersten Beobachtungen über
nervöse Wirbelsäulensteifheit habe ich in Ambulanz und Klinik
eine ziemlich bedeutende Zahl von Fällen sowohl dieser Krank-
heit als auch der Ankylose der Wirbelsäule und der grossen
Gelenke in Behandlung gehabt, wobei in einer Reihe von Fällen
die Anwendung bestimmter therapeutischer Massregeln näher ver-
folgt werden konnte.
Das allgemeine Ergebnis dieser Beobachtungen geht nun da-
hin, dass die erstgenannte Form in stark ausgesprochenen Fällen
unter allen Umständen eine ungünstigere Prognose hinsichtlich
des weiteren Zustandes und Ausganges darbietet als die zweite.
Als besonders hartnäckig und quälend erweisen sich in einzelnen
Fällen vonneuropathischer Wirbelsäulensteifheit die schon erwähnten
Reizungserscheinungen (Schmerzen, Parästhesien) im Gebiete des
Rumpfes und der Extremitäten. In einigen derartigen Fällen, die
ich klinisch beobachtete, erschien jede schmerzstillende Behandlung
ohnmächtig oder fast ohnmächtig, und nur Morphium- oder Heroin-
einspritzungen vermochten die unerträglichen Qualen vorüber-
gehend zu erleichtern. Alle Ableitungen sowie Licht-, Wärme-,
Hydrotherapie u. s. w. konnten keine hinreichende Beruhigung
dieser Reizsymptome herbeiführen.
Dies waren jedenfalls die allerschwersten Fälle von Wirbel-
säulensteifheit, die infolge anhaltender und qualvoller Reizungs-
erscheinungen die Kranken vollkommen zur Erschöpfung brachten
und mehrfach den Gedanken an einen operativen Eingriff (Durch-
schneidung sensibler Aeste und selbst der Wurzeln) aufkommen
liessen. Im ganzen wird man bei der nervösen Krankheitsform
mit Reizsymptomen, abgesehen von der Behandlung des Grund-
leidens, kaum ohne Anwendung grösserer Gaben schmerzstillender
Mittel (Pyramidon, Antipyrin, Phenacetin, Lactophenin, Aspirin,
Antifebrin, Citrophen u. s. w.) zum Ziele kommen. Eine gute,
schmerzlindernde Wirkung zeigte in unseren Fällen auch syste-
matische Anwendung von Chloroform- und Alkoholkompressen
sowie Salben aus Menthol und Anästhesin.e Auch Paquelin-
behandlung hat einigen Nutzen, aber nur vorübergehend und nicht
immer in wünschenswertem Grade.
Handelt es sich um Fälle von „Wirbelsäulensteifigkeit‘“ ohne
hochgradige und hartnäckige Reizungserscheinungen, dann sind sie
(natürlich wenn nicht allzu verschleppt) in therapeutischer Be-
ziehung nicht so ganz aussichtslos. Im Gegenteil, in einer ge-
wissen Zahl solcher Fälle, die ich in Beobachtung hatte, konnte
eine nicht unwesentliche Besserung der Krankheitssymptome,
ja ein Stillstand des Prozesses erreicht werden. Ich will hier die
einzelnen Fälle nicht genauer mitteilen, möchte aber in allgemeinen
Zügen die Grundsätze andeuten, die nach meinen bisherigen Er-
fahrungen für die Behandlung derartiger Zustände massgebend sind.
Da es sich in den fraglichen Fällen um einen chronischen
Prozess handelt, der in den weichen Rückenmarkshüllen und zum
Teil in der eigentlichen Substanz des Rückenmarks sitzt, später
-5384 v. Bechterew, Ueber die klinischeu
.aber auch die Gelenke der Wirbelsäule in Mitleidenschaft zieht,
so wird die Grundbehandlung naturgemäss in der Anwendung
resorbierender und verteilender Mittel zu bestehen haben. Hydro-
-therapeutisch bewährten sich mir in dieser Beziehung am besten
Bäder von 28—29" R. mit oder ohne Zusatz von Salz und Dampf-
bäder, sowie in einigen Fällen systematische feuchtwarme Em-
packüngen. In manchen Fällen habe ich von der systematischen
Anwendung feuchter Priessnitzscher Umschläge auf die Wirbel-
säule in der Klinik Erfolg gesehen. Unter den hier nutzbringen-
-den physikalischen Mitteln verdienen ausserdem auch Licht-Wärme-
‚bäder Erwähnung.
Pharmakotherapeutisch erwies sich mir innerliche Verab-
reichung von Jodpräparaten, Salicyl und Antipyrin als am meisten
geeignet. In einzelnen Fällen hatte gleichzeitige Anwendung von
‚Jodkali und Antipyrin mit oder ohne Zusatz von salicylsaurem
Natron bei der nervösen Form der „Wirbelsteifigkeit‘‘ den besten
Erfolg. Bei der Therapie der Krankheit kommt natürlich auch
‚Jodipinbehandlung in Form von Injektionen in Betracht. Zur
-Geraderichtung der Wirbelsäule wurde mit einigem Erfolg syste-
matische Dehnung derselben an dem von mir beschriebenen
Apparat!) sowie Liegen auf einer geneigten Ebene angewendet.
‘Gegen Muskelatrophien erweisen sich hier, wie in anderen Fällen,
Massage und Elektrizität von Nutzen.
Was jene Tonica betrifft, die Ohmelewski für die Therapie
der „Wirbelsäulensteifigkeit‘‘ angibt, so ist zweifellos auch von
ihnen hier wie bei anderen mit Schmerzen verbundenen Zuständen
des Nervensystems ein Nutzen zu erwarten, aber eine direkte Be-
ziehung zu der Therapie dieser Krankheit kommt ihnen jedenfalls
‚nicht zu.
Bei der „ankylosierenden Entzündung der Wirbelsäule und
der grossen Extremitätengelenke“ wird die Grundbehandlung
manches Gemeinsame mit der Behandlung der nervösen „Wirbel-
säulensteifigkeit‘‘ haben, da es sich dort um chronische Vorgänge
handelt, die in den Gelenken der Wirbelsäule und der Extremitäten
wurzeln.
Auch hier erscheinen alle Mittel, die eine Resorption und
Verteilung anregen, indiziert, so mässig warme Bäder mit oder
-ohne Salzzusatz, Dampfbäder, Licht-Wärmebäder; von grossem
Nutzen erwies sich in meinen Fällen auch systematische Applikation
feuchter Kompressen auf die Wirbelsäule und die grossen Gelenke.
Nicht ohne Einfluss waren ferner pharmakologische Resorbentien,
wie Jodpräparate, salicylsaures Natron u. s. w.
Abgesehen von Resorbentien müssen und können in der
Therapie der Ankylose der Wirbelsäule und der grossen Gelenke
auch entsprechende mechanische Methoden zu ihrem Rechte
kommen: systematische Wirbelsäulendehnung an dem vorhin er-
wähnten Apparat, Liegen auf geneigter Ebene mit Kopfvorrichtung
1) W. Bechterew, Neurolog. westn. 1893.
und pathologisch-anatomischen Besonderheiten etc. 535
für Zug sowie passive Gymnastik. Letztere ist besonders erfolg-
reich im Anschluss an feuchte Kompressen und Bäderbehandlung.
Auch liefert Wirbelsäulendehnung gute Resultate, falls damiteine vor-
hergehende Behandlung mit lauwarmen Salz- oder einfachen Bädern
oder Priessnitz-Umschläge auf die Wirbelsäule verbunden werden.
Die Muskelatrophien endlich erfordern die gleichen Mass-
nahmen wie bei der nervösen Form der ‚„Wirbelsäulensteifigkeit“.
Literatur.
1. Marie und | Astié, Sur un cas de kyphose hérédo-traumatique. Presse
méd
2. Schatalo W, Drei Fälle sogenannter chronisch-ankylosierender Entzündung
. Pussep,
der Wirbelsäule. Med. obosren. Bd. 51. Mai 1899.
. Lubowicz, Zur Kasuistik der ankylosierenden Spondylitis. Med. oboar.
Bd. 52. 1899,
. Schaikewicz, Zur Lehre von der Wirbelsäulensteiigkeit. Wratsch.
1899. No. 51. — Ueber neuropathische Unbeweglichkeit der Wirbel-
säule. Med. obosr. 1904.
. P. Zenner, Rigidity of spinal column. Journ. of ment. and nerv. dis.
1899. No. 11.
. Schlesinger, Wiener klin. Wochenschr. XII. Jahrg. 1899. No. 49.
42.
.A. Cantani jun, Salle ankilosi delle colonna vertebrale. Il policlinico.
. Nowoselski, Steifigkeit der Wirbelsäule. Woenno-med.Journ. Januar 1901.
. O. Bender, Ueber chronische ankylosierende Entzündung der Wirbel-
säule. Mänch. med. Wochenschr. 1901.
. Kedzior, Wiener med. Wochenschr. 1902. No. 5—7.
. Kudrjaschew, Ueber Spondylitis deformans. Wratsch. 1901. No. 41.
. Ostankow, Ueber Wir
elsãulensteifigkeit (Bechterewsche Form) und
chronisch-ankylosierende Entzündungen derselben (Strämpell-Mariesche
Form). Poln. de Botk. Bd. XIII. 1902. No. 29. — Of. auch An-
merkang von stankow in Obosr. psich. 1905. No. 1. S. 59.
eber Steifigkeit der Wirbelsäule vom Bechterewschen Typus.
Mitteil. XIV. Aerzte-Kongr. Madrid. Wratsch. 1908. No. 82.
. Osipow, Die Bechterewsche Krankheit (Steifigkeit der Wirbelsäule).
Festschr. f. W. Bechterew. Bd. I. 1908. S. 8. Russ. med. Rund-
schau. 1905.
. Reimer, Zur Lehre von der Bechterewschen Krankheit (zwei Fälle von
g irbelsäulensteifigkeit) Festschr. f. W. Bechterew. Bd. II. 1908.
Troschin, Bericht über die Januarsitzung der Klinik f. Nerven- und
Geisteskr. zu St. Petersburg. 23. Januar 1908.
. Troschin und Pussep, Bericht über die Aprilsitzung der Klinik für
Nerven- u. Geisteskr. zu St. Petersburg. — Vgl. Pussep, XIV. intern.
Kongress Madrid: La rigidité de la colonne vertebrale (maladie du
rof. W. Bechterew).
Sobolewski, Zwei Fälle von Bechterewscher Krankheit. Pet. Wratsch.
wedom. 1905. No. 2.
. Winokurow, Zur Frage der Wirbelsäulensteifigkeit. R. Wratsch. 1901.
16.
No.
. Bergmann, Bruns, Miculicz, Handb. d. prakt. Chir.
. Kuschew, Ein Fall von Wirbelsäulensteifigkeit. Wratsch. gaz. 1902.
In der Arbeit von Pussep [wW irbelsäulensteifigkeit (Bechterewsche Krank-
heit). R. Wratsch. 1908. No. 82] ist das Krankheitsbild bereits auf
Grund von 28 Fällen neuropathischer Wirbelsteifigkeit dargestellt, in der
Arbeit von Ossipow (Bechterewsche Krankheit oder Wirbelsäulen-
steifigkeit. Festschr. f. Bechterew, 1903, S. 8) ist eine eingehende
kritische Würdigung einer noch grösseren Anzahl von Fällen dieser
536 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände
Krankheit aus der Literatur vorhanden, und diese Schrift kann zur
Orientierung über das in dieser Frage vorhandene literarische Material
dienen.
28. Eminet, Steifigkeit und Verkrämmung der Wirbelsäule vom Bechterew-
schen Typus. Wratsch. gaz. 1904. No. 40—41.
24. W. Bechterew, Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1899. No. 1—2. —
Bericht über die wiss. Verhandl. d. St. Petersb. Klinik f. Nerven- u.
Geisteskr. 16. Mai 1902.
25. Troschin, ibid. 28. Januar 1908. Pathologische Anatomie der neuro-
pathischen Spondylitis. R. Wratsch. 1908. No. 18, 19, 21.
(Aus der deutschen psychiatrischen Klinik [Prof. A. Pick] in Prag.)
Ueber paroxysmale Fieberzustände bei progessiver
Paralyse mit Vermehrung der polynukleären Leuko-
zyten im Blute und in der Zerebrospinalflüssigkeit,
nebst Bemerkungen über Blut und Liquor
bei Exazerbationen des paralytischen Prozesses.
Von
Dr. M. PAPPENHEIM,
Assistenten der Klinik.
Abnorme Temperaturen wurden bei der progressiven Paralyse
seit der Anwendung der Thermometrie bei deisteskranken immer
wieder beobachtet und bildeten namentlich um das Jahr 1880
herum den Ausgangspunkt vieler Arbeiten. Während für die
subnormalen Temperaturen — mit denen ich mich hier nicht zu
beschäftigen habe — seit jeher ein Zusammenhang mit der Para-
lyse angenommen wurde, wurden hie und da [Wachsmuth (1),
Simon (1), Westphal (1), Maccabruni (2)], Stimmen laut,
welche jedes Fieber auf eine somatische Komplikation zurück-
führen wollten. Die meisten Autoren jedoch, die sich mit der
Frage beschäftigt haben, schliessen eine komplizierende Organ-
erkrankung als Ursache vieler Temperatursteigerungen aus und
betrachten diese als zum Bilde der Paralyse selbst gehörig. Die
Zahl dieser, besonders bei epileptiformen Anfällen gemachten
Beobachtungen ist so gross, dass es wohl keinem Zweifel unter-
liegen kann, dass die Paralyse an sich tatsächlich imstande ist,
Fieber — im weitesten Sinne als Erhöhung der Temperatur über
die Norm — zu erzeugen.
Die Deutung dieser Tatsache ist bei den einzelnen Autoren
eine sehr verschiedene: Browne (1) und Meyer (1) ist sie ein
Beweis für die entzündliche Natur der Paralyse, die nach letzterem
eine chronische fieberhafte Erkrankung ist, auf einer chronischen
bei progressiver Paralyse eto. 587
Meningitis beruhend. Auch Voisin (8) bezeichnet eine „hintere
spinale Meningitis“, die manchmal mit „epile tiformen oder sogar
tetanıformen Attacken“ verbunden sei, als Ursache von Fieber-
zuständen. Nach Bechterew (4), Kroemer 6 sprechen sie
für die Abhängigkeit von der Affektion des Zentrainervensystems.
Zacher (6) macht den Ort, wo sich der Prozess abspielt, ver-
antwortlich. Schüle (1) vermutet eine Beteiligung des vaso- .
motorischen Zentrums, Turner (7) regulatorische Veränderungen
durch Zerstörung höherer Nervenzentren, Reinhard (1) eine zu
dem fortdauernden organischen Prozesse, der die gewöhnlichen
Temperaturschwankungen bedingt, hinzugetretene vasomotorische
Störung, v. Krafft-Ebing (1) eine temporäre neuropathische
Hyperämie des Gehirns und seiner Häute. Göntz (1) erklärt
die Temperatursteigerung bei den Anfällen durch Muskelkon-
traktionen, was wohl sicher nicht zutrifft.
Die Beobachtung von Fieberzuständen bei einer Patientin
unserer Klinik führte zu Befunden, die nicht ohne Interesse sein
dürften.
Ich lasse die Krankengeschichte im Auszuge folgen:
Die 44jährige Patientin wurde uns am 27. X. 1906 aus dem Kranken-
hause in Leitmeritz eingeliefert.
Die mitgesandte Krankengeschichte lautet: In der Familie keine
Geisteskrankheiten. Mutter starb an Hemiplegie, Vater an Lungenleiden;
war kein Potator. Patientin hat als Kind Blattern, später Typhus durch-
emacht.
s Seit dem Frühjahre bemerkt der Stiefvater der Patientin an ihr eine
gewisse Aufgeregtheit und Zerstreutheit. Sie machte Sachen verkehrt.
war leicht reızbar. Vor 8 Tagen glaubte Patientin, es sei Weihnachten, ging
ohne Geld einkaufen, vergass jedoch die Pakete in dem Laden. Vom Stief-
vater zur Rede gestellt, begann sie zu schimpfen und zu schreien, warf mit
Geschirr nach ihm.
In das Krankenhaus eingebracht, riss sich Patientin die Kleider vom
Leibe, gab auf Fragen keine Antwort, zerriss das Leintuch, verweigerte
die Nahrung. In der Zelle polterte sie gegen die Tür. Am nächsten Tage
gab sie nur widerwillig Antwort, sagte, sie hätte „Lumpereien* begangen
und „genascht*, liess sich nicht anziehen und riss an der Matratze,
Bei ihrer Einbringung auf unsere Klinik lustig, gesprächig, erzählt von
vielem Geld, von grossen Villen, die sie habe, und dass sie heiraten werde.
Auf das Krankenzimmer gebracht ganz stumpf, spricht nichts.
Somatisch: Dement-euphorischer Gesichtsausdruck. Rechte Pupille 2:/,,
linke 8'/3 mm im Durchmesser, die linke prompt, die rechte etwas träger
auf Licht reagierend. Akkommodationsreaktion sehr prompt. Die Zunge
wird nach links vorgestreckt, zeigt starkes Beben und Wackeln. Uvula nach
links abweichend. Rechtes Unterlid tiefer stehend, Augenlidschluss schwächer.
Rechter Mundfacialis in Ruhe und bei Innervation deutlich schwächer. Grob-
schlägiger Fingertremor. Gang langsam, steif, Schwanken bei raschem Um-
drehen. Beim Stehen und Geradeausgehen kein Schwanken. P. S.R. ge-
steigert; auch bei Beklopfen der Patella leichter Ausschlag. Fussphänomen
beiderseits angedentet. Kein Babinski. Sprache langsam, gedehnt, stockend,
bei schweren Worten hochgradiges Stolpern bis zur Unverständlichkeit.
Schrift zitternd; Auslassen von Buchstaben und ganzen Worten. Aufgefordert,
ihren Krankenmantel aufzuknöpfen, versucht sie ganz unzweckmässig mit
beiden Händen die beiden Hälften auseinanderzuziehen, ohne den Knopf selbst
anzufassen, schaut dabei immer auf den Mantel. Das Zuknöpfen gelingt
etwas besser, wenn auch äusserst langsam und unter ständiger Kontrolle der
Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helft 6. 37
588 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände
Augen; sie steckt den Knopf zur Hälfte durch das Knopfloch und zerrt dann,
statt den Knopf herauszudrehen, an dem durchgesteckten Teil desselben.
Als es nicht geht, lässt sie es sein.
An den beiden ersten Tagen ihres Aufenthaltes in dement-euphorischer
Stimmung; sie sei gesund, „übergesund“, habe viel Geld, vielleicht 5000 und
Hunde und Katzen und viele Artikel durcheinander.
Was für Artikel? „Was es so gibt in der Welt.“
„Häuser habe sie nur 2.“ Wo? „Eines in Wien, 2 bekommen wir.“
Von wem? .Wie man sich sie selber nimmt.“
Weiss nicht, wie lange sie hier ist, glaubt in Leitmeritz zu sein, in
einem Krankenhause.
Kennt die Jahreszahl, aber nicht den Monat.
Erzählt den ganzen Tag und den grössten Teil der Nacht von ihren
Reichtümern, von schönen Villen und einem schönen Bräutigam, deu sie
heiraten werde, ladet alle zur Hochzeit ein. Aendert den ganzen Tag etwas
an ihrem Bettzeug.
Seit 80 X. stumpfes Verhalten. Pat. liegt ruhig, dement vor sich hin-
dämmoernd, da, spricht mit niemandem; angesprochen, verzieht sich ihr Ge-
sicht euphorisch, und sie antwortet mit bebender, stockender Stimme.
2. XI. Seit gestern — ohne merkbaren Anfall oder sonstige Aenderung
im körperlichen Status — der Gang viel unsicherer, taumelnder, steif-paretisch.
Bald darauf war der Gang wieder besser und seither zeigt Pat., bis
auf bald näher zu schildernde Žustānde, stets das gleiche stumpf-demente
Verhalten, beantwortet ganz einfache Fragen nach ihrem Namen und Alter,
Jahreszahl, Hauptstadt von Böhmen richtig, erzählt einige Ereignisse aus
ihrem Leben, rechnet das kleine Einmaleins richtig, ist aber über die Dauer
ihres Aufenthaltes, über den gegenwärtigen Monat nur mangelhaft orientiert,
versagt bei allen Gedächtnis oder Intelligenz nur irgendwie stärker in An-
spruch nehmenden Fragen.
Am 9. XII. wurde eine Lumbalpunktion gemacht. Im Kubikmillimeter
des entnommenen Liquors fanden sich etwa 15 Zellen, von diesen waren
80 pCt. Lymphozyten, 8 pCt. polynukleäre Leukozyten und 12 pCt. grosse,
anscheinend einkernige Zellen mit reichlichem Protoplasma. An der Diagnose
dieses Falles kann wohl nicht gezweifelt werden.
Als ich am 10. XI. die Frauenabteilung der Klinik übernahm, fand ich
die Patientin fiebernd. Ich liess sie in der Folge 8—4mal täglich messen
und gebe hier die Temperaturtabelle wieder!).
(Hier folgt die Tabelle von Seite 539.)
Die Tabelle zeigt also in mehr oder minder regelmässigen Zeiträumen
wiederkehrende, ziemlich beträchtliche Temperatursteigerungen, neben hie
und da auftretenden, bei der langen Dauer der Messung vielleicht kaum über
die Norm hinausgehenden, abendlichen Temperaturerhöhungen auf 37,6%. Bei
den beiden ersten Fieberattacken begnügte ich mich, da ich nach genauer
somatischer Untersuchung (der Stuhl war stets in Ordnung, der Urin eiweiss-
frei und ohne Sediment, weder intern noch per genitale, noch im Blute konnte
etwas Abnormes gefunden werden) eine komplizierende Organerkrankung für
höchst unwahrscheinlich hielt (und die so häufige Wiederkehr des Fiebers
obne nachweisbare Aenderung in irgend einem Organe hat dieser Auffassung
wohl recht gegeben), mit der Annahme eines „paralytischen Fiebers“. Schon
beim zweiten Male war mir aufgefallen, dass das Verhalten der Patientin
egenüber dem in fieberfreien Zwischenzeiten in einer Weise verändert war,
die ich nicht gut bloss der Fieberwirkung zuschreiben konnte. Pat. jammerte
und stöhnte den ganzen Tag, schrie auch manchmal laut auf, gab aber auf
Befragen ausdräcklich an, dass ihr nichts weh tue, beantwortete ganz einfache
Fragen, z. B. nach ihrem Geburtsjahr, falsch und, was das Auffallendste war,
1) Gemessen wurde immer in der linken Achselhöhle Die ruhige
Patientin war dabei vollständig zugedeckt, Das Thermometer blieb 10 Minuten
liegen. Seine Lage wurde von einer am Bett sitzenden Wärterin kontrolliert.
November
10.
Fräh
38,6
37,0
36,9
87,2
36,8
36,8
37,9
36,9
36,8
36,6
36,9
36,6
36,5
bei progressiver Paralyse etc.
Nachm.
39,7
87,0
37,7
37,0
37,0
37,1
87,3
37,5
36,6
36,6
36,5
87,6
36,6
87,0
39,1
87,7
37,4
36,8
38,6
38,2
36,5
36,9
36,9
37,1
39,2
37,0
37,4
86,1
36,6
37,0
37,0
39,6
37,4
36,8
36,5
37,0
37,8
36,9
36,5
36,6
38,9
36,9
36,8
36,5
36,6
38,6
37,0
Abend
Desember Früh
27.
28.
640 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände
konnte sich, aus dem Bette gestellt, nicht auf den Beinen erhalten, konnte
nur mit Unterstützung taumelnd einige Schritte machen. Bei den späteren
Fieberzaständen waren diese Erscheinungen manchmal wieder ganz deutlich
ausgesprochen — auch die Beobachtung vom 2. XI. dürfte vielleicht mit einer
solchen, damals nicht beachteten Temperstursteigerung zusammenhängen —,
während sie manchmal — namentlich bei den letzt beobachteten war das der
Fall — so gut wie gar nicht vorhanden waren.
Am 24. XI. entnahm ich dem Ohrläppchen der Patientin Blut und fand
im Kubikmillimeter 17200 weisse Blutkörperchen.
Am 28. XI. früh fiel mir die oben beschriebene Veränderung im Zu-
stande der Patientin auf, weshalb ich sie 2ständlich messen liess; zugleich
wurde 8mal im Tage das Blut untersucht.
ln der folgenden Temperaturtabelle sind die Resultate der Zählungen
eingetragen.
28. XI. 29. XI. 30. XI.
Temp. W.Blutk. Temp. Blutk. Temp. Blutk,
7 Uhr vorm. 36,7 88,7 37,0
9 ,„ » 36,9 8200 38,4 12300 86,8 7500
11 „ » 87,5 88,8 37,1
l , » 38.2 38,5 86,7
S y » 88,6 15300 88,2 10500 36,5 6800
5 „ » 89,0 88,0 36,6
7 Uhr nachm. 39,1 19600) 877 10700 36,8
9, » 38,9 87,4 36,6
11 „ » 88,7 87,7
l , „ 39,0 37,6
3% » 38,8 37,8
Ban. 384 37,3
Wiederholte Untersachungen bei den verschiedenen Fieberzuständen
geben ganz ähnliche Resultate, natürlich nicht so, dass immer dem höheren
ieber auch die höhere Blutkörperchenzahl entsprochen hätte — so fand ich
am 4. XII. mittags bei einer Temperatur von 39,60 (in der Tabelle nicht
eingetragen) 15200, am 20. XII. bei 88,70 17600 weisse Blutkörperchen —,
immer war aber, sowohl in der Temperatur als in der Blutleukozytose, ein
mehr oder weniger parallel gehender, verhältnismässig rascher Anstieg und.
langsamer Abfall zu bemerken.
Im Nativpräparat schien die Fibrinbildung in Fieberzeiten eher ge-
ringer zu sein, als bei normaler Temperatur. Eine quantitative Bestimmung
wurde nicht vorgenommen.
Was die Teilnahme der einzelnen Zellarten an der Leukozytose be-
trifft, ist zu bemerken, dass die Zahl der Lymphozyten niemals wesentlich
vermehrt gefunden wurde. Es fanden sich meist gegen 2000 im Kubik-
millimeter, was ganz normalen Verhältnissen entspricht. Eosinophile Leuko-
zyten fanden sich sehr spärlich. Die Zahl der mononukleären Leukozyten.
war, absolut genommen, grösser als in fieberfreien Zeiten, während ihre Ver-
hältniszahl — 3—5 pCt. — normalen Werten entsprach. Absolut und relativ
vermehrt waren die neutrophilen Leukozyten.
Während mir nun aus der Literatur (8, 9) bekannt war, dass para-
lytische Anfälle häufig mit einer Hyperleukozytose im Blut einhergehen
— eine Beobachtung, die ich selbst wiederholt hatte bestätigen können —,
fand ich über paralytische Fieberzustände mit Blutleukozytose erst nach-
träglich eine kurze Notiz in einem jüngst erschienenen Buche von Bruce (10).
Es heisst dort (S. 176): „Im 2. Stadium kehrt die fieberhafte Temperatur alle
1) Puls dabei 182 (in Zwischenzeiten 76), eher etwas besser gespannt.
als sonst.
bei progressiver Paralyse. etc. 541
`
2, 8 oder 4 Wochen wieder“ und weiter (S. 181): „Die Leukozytose folgt der
Temperaturkurve; doch übersteigt der Prozentsatz der Polymorphkernigen
selten 70.“ Die letztere Bemerkung trifft in meinem Falle nicht zu.
Von Interesse war mir nun das Verhalten der Cerebrospinalflässigkeit
während der geschilderten Zustände. Das Resultat dieser Untersuchung war
ein ganz üborraschendes,
Der am 5. I. 1907 durch Lumbalpunktion entnommene Liquor, der an-
scheinend unter gesteigertem Drucke stand, zeigte makroskopisch eine gans
feine Trübung and enthielt im Kubikmillimeter (ia derZählkammer gezählt) etwa
540 Zellen, eine Zahl, wie ich sie bei Paralyse nie getunden. Die Unter-
suchung des Strichpräparates!) ergab, dass etwa 96 pCt. der Zellen poly-
nakleäre Elemente waren. Am 8. I. waren im Kubikmillimeter 22 Zellen mit
70 pCt. Lymphozyten, 10 pCt. Polynukleären und 20 pCt. plasmareichen
Zellen unbestimmten Charakters ?).
Ganz entsprechend war der Befund im nächsten Fiaberanfall am 11. I;
670 Zellen im Kubikmillimeter. Fast ausschliesslich Polynukleäre
Fig. 1. Fig. 2.
[s. Fig. 1°)], unter 200 Zellen etwa war ein Lymphozyt zu sehen; überall
war der Kern deutlich polymorph, nirgends waren Zellformen unbestimmten
Charakters. k
Am 12. I. (siehe Fig. 2) 150 Zellen im Kubikmillimeter: 10 pCt.
Lym hozyten, 15 pCt. nicht deutlich charakterisierte Zellen,: 75 pCt. Poly-
nukleäre,.
'
1) Die angewandten Methoden s, Wiener klin. Wochenschr. 1907, No. 10.
2) Auf die Bedeutung dieser Zellen gedenke ich in einer anderen Arbeit
einzugehen. Ich will hier nur soviel bemerken, dass wenigstens ein Teil der-
selben durch Einwirkung des Liquor umgewandelte polynukleäre Elemente zu
sein scheinen, da ihre Zahl auf Kosten der Polynukleären zunimmt, wenn
man den Liquor einige Tage stehen lässt. twas Analoges dürfte ver-
mutlich auch im menschlichen Körper vor sich gehen.) Es ist daher not-
wendig, bald nach der Entnahme zu färben und nur Zellen mit ausgesprochen.
polymorphem Kerne zu berücksichtigen,
3) Die Präparate wurden verschieden dünn verstrichen, so dass die
Figuren nur über das Zellverbältnis und nicht über die absolute Zahl der-
selben Aufschluss geben.
542 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände
Am 14. I. (siehe Fig. 8) unter 26 Zellen im Kubikmillimeter: 65 pCt.
Lymphozyten, 25 pCt. undeutliche Zellen, 10 pCt. Polynukleäre.
Am 25. I. Fieber: 470 Zellen mit 90 pCt. Polynukleären.
Am 8. II. 9 Zellen mit 4 pCt. Polynukleären.
Es trat also während der geschilderten Fieberzustände!) neben
einer Hyperleukozytose des Blutes regelmässig eine hoch-
gradigepolynukleäre Leukozytose im Liquor cerebrospinalis
auf, wie sie bis nun wohl nur bei akuten Meningitiden (durch
Eiterkokken, Pneumokokken, Meningokokken, Typhusbazillen) oder
in den akuten Anfangsstadien der tuberkulösen Meningitis be-
obachtet wurde.?) Dass ein solcher Prozess auszuschliessen war,
bewies das ständige Fehlen von Infektionsträgern — es wurde
wiederholt darauf untersucht —, beweist vor allem das Fehlen
Fig. 3.
jeglicher meningitischer Symptome auch in der folgenden Zeit,
beweist endlich der wiederholte Wechsel der Erscheinungen, indem
diese Liquorleukozytose nach Rückgang des Fiebers in
ziemlich kurzer Zeit einer mässigen Lymphozytose Platz
machte, um mit dem Auftreten des Fiebers immer von
neuem zu erscheinen, ein Verhalten des Liquors, das meines
Wissens bis jetzt überhaupt noch nicht beobachtet wurde.
Es fragt sich nun, in welchem Zusammenhang die ge-
schilderten Erscheinungen stehen, da wegen des wiederholten
1) Erwähnenswert ist, dass auch bei Tabes dorsalis paroxysmale
Temperatursteigerungen vorkommen (Oppler, Ein Fall von Temperaturkriseo
bei Tabes dorsalis, Berl. klin. Wochenschr. 1902, S. 884). Es wäre interessant,
bei diesen sowie bei tabischen Krisen überhaupt ähnliche Untersuchungen
anzustellen. [S. Nachtrag.]
2) S. Nachtrag.
bei progressiver Paralyse etc. 643
€
Auftretens wohl niemand an ein zufälliges Zusammentreffen denken
wird. Da ich eine Meningitis als Ursache aller anderen Symptome
zurückweisen musste, hatte ich die entgegengesetzte Möglichkeit
zu erwägen, nämlich die, dass die Liquorleukozytose einfach eine
Folge der Bilutleukozytose sei, eine allerdings etwas grobe,
mechanische Vorstellung. Und zwar könnte diese Gefäss-
durchgängigkeit bei Paralytikern überhaupt oder nur bei dieser
einen Patientin vorhanden sein. Dass dies im allgemeinen nicht
der Fall ist, beweist eine Bemerkung von Fischer (11), der fieber-
hafte Zustände — und unter diesen waren ja sicher auch solche
mit Blutleukozytose — „besonders wegen der Frage der Polynu-
kleären* mit negativem Resultate untersucht hat. Auch ich selbst
sah einen Fall, in dem sich als Folge einer Periproctitis be-
trächtliches Fieber mit 21000 weissen Zellen im mm?’ Blut ein-
stellte und bei dem im mm? Liquor 76 Zellen mit 72 pCt.
Lymphozyten und !j, pCt. Polynukleären vorhanden waren, während
ich 11 Tage vorher 54 Zellen mit 60 pCt. Lymphozyten und
5 pCt. Polynukleären gefunden hatte. Es war also keine Ver-
mehrung der polynukleären Elemente — und nur das ist, wie
ich erweisen werde, von Bedeutung — aufgetreten.
Die zweite Möglichkeit, die Gefässdurchgängigkeit gerade
bei dieser Patientin konnte ich ebenfalls widerlegen. Ich gab der
Patientin an 3 Tagen hintereinander je 1 g Nuklein in je 2 Dosen.
Die Leukozytenzahl ım Blute stieg allmählich bis auf 16300. Zu
dieser Zeit wurde panktiert. Es war die oben erwähnte Punktion
vom 8. Il., die vollständig negativ war.
Es blieb demnach nar übrig, anzunehmen, dass Blut- und
Liquorleukozytose nicht im Verhältnisse von Ursache und Wirkung
zu einander stehen, sondern beide gemeinsam auf die Einwirkung
eines giftigen Agens zurückzuführen sind, und zwar — da sonst
auch komplizierende Infektionen die Erscheinung hervorrufen
müssten — eines spezifischen Agens — eine Anschauung, die
ohne weiteres verständlich wırd, wenn man sich der auch aus
anderen Gründen immer mehr Boden gewinnenden Auffassung an-
schliesst, dass die Paralyse eine durch unbekannte Toxine hervor-
gerufene Erkrankung des ganzen Körpers ist. Die geschilderten
Fieberzustände, die Vermehrung der Leukozyten in Blut und Liquor
entstehen dann dadurch, dass plötzlich eine grössere Menge, ein
Schub dieser Toxine gebildet oder in die Blutbahn befördert wird.!)
Unter dieser Voraussetzung musste man vermuten, dass auch
bei anderen, durch einen grösseren Schub von Toxinen ver-
ursachten Exazerbationen des paralytischen Krankheitsprozesses,
1) Anmerkang während der Korrektur: Seit 28, I. traten bei der Kranken
keine Temperatursteigerungen mehr auf. Allmählich besserte sich ihr
psychisches Befinden. Die Stumpfheit verlor sich. Pat. verliess das Bett,
unterhielt sich mit ihrer Umgebung, beschäftigte sich, so dass sie auf Wunsch
ihres Stiefvaters am 11. III. gebessert entlassen wurde. Auch diese Besserung
ist ein Beweis für die Zugehörigkeit der geschilderten Attaken zur Paralyse
und pietet eine weitere Analogie zum Verhalten bei paralytischen Krampf-
anfällen.
544 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände
also vor allem bei paralytischen Anfällen, bei Erregungszuständen,
ebenso wie sie oft mit Temperatursteigerung!) einhergehen, eine
Blut- und Liquorleukozytose gefunden werde. Nun gibt es, wie
oben erwähnt, Befunde, die das für das Verhalten des Blutes bei
Anfällen erweisen. Was den Liquor betrifft, so berichtet Zila-
nakis (12): „Die Polynukleären finden sich bei der Paralyse in
geringer Menge; in den apoplektiformen und epileptiformen An-
fällen nimmt ihre Zahl beträchlich zu.“ Fischer (11) hat aus
seinen aus unserer Klinik publizierten Untersuchungen negative
Schlüsse gezogen, und auch Hartmann (9) konnte bestätigen,
dass die Leukozytenzahlen in der Öerebrospinalflüssigkeit bei
paralytischen Anfällen häufig keine wesentliche Vermehrung
zeigen.
Fischer fand nämlich neben positiven Fällen solche,
in denen bei Krampfattacken die Zahl der polynukleären Elemente
nicht vermehrt war, anderseits 2 solche, in denen ohne Krampf-
zustände sich eine erhebliche Vermehrung der polynukleären Zellen
fand. — In dem einen der beiden letzten Fälle wurde die Punktion
in einem Zustande von starker Erregung vorgenommen. — Wenn
es aber nun auch ohne Zweifel richtig ist, dass die absolute Zahl
der Zellen bei demselben Kranken zu verschiedenen Zeiten ohne
sichtbare klinische Symptome stärkere Schwankungen zeigt,
anderseits in ähnlichen Zustandsbildern verschiedener Patienten
sehr verschieden ist, so ist es doch auffallend, dass, während der
Prozentsatz der Polynukleären — das geht auch aus
Fischers und meinen sich auf über 100 Punktionen erstreckenden
Untersuchungen hervor — bei der Paralyse im allgemeinen
ein sehr geringer ist — ich fand meist 4—6 pCt., nie aber in
exazerbationsfreien Zeiten mehr als 15 pCt. — dieser manchmal
vorübergehend eine ganz beträchtliche Steigerung erfährt,
was man wohl nur durch eine ‚gesteigerte Giftwirkung erklären
kann. Da aber oft (Zilanakis, Fischer, Hartmann, meine
Befunde) diese Steigerung der Leukozytenzahlen mit
anderen Exazerbations-Erscheinungen des paralytischen
Prozesses, die ja, wie meine folgenden Beobachtungen zeigen,
nicht immer Krampfanfälle sein müssen, und mit der Leukozytose
im Blute mehr oder weniger parallel geht — mit dem Rück-
gange der klinischen Erscheinungen sinkt auch die Zellzahl —, so
1) Diese Tatsache hat schon Kroemer (5) im Jahre 1880 veranlasst,
alle diese Zustände zu einander in Beziehung zu setzen: „Die (Temperatur-)
Kurven zeigen zu verschiedenen Zeiten Erhöhungen. Das eine Mal sind diese
der Ausdruck der wirklichen ausgebildeten Krampfanfälle, das andere Mal von
Erregungszuständen, das andere Mal von solchen Zuständen, in denen die
Patienten weinerlicher werden, in denen die psychischen und motorischen
Störungen auffälliger und stärker hervortreten, in denen nur Schwindel- und
Ohnmachtsanfälle zu Tage kommen. Ich stehe daher nicht an, die eigentlichen
paralytischen Krampfanfälle mit den paralytischen Aufregungszuständen und
den Exazerbationen sämtlicher Krankheitserscheinungen bei den melancholischen
und stupiden Formen nach Analogie derselben Verhältnisse bei den Epileptikern
als Asquivaleut zu erklären.“ |
bei progressiver Paralyse etc. 545
muss man daraus schliessen, dass eben alle diese Symptome durch
einen grösseren Schub von Toxinen bewirkt werden, darf sich
aber nicht wundern, das manchmal dass eine oder das andere
Symptom — z. B. die Vermehrung der Leukozyten im Liquor —
ausbleibe.
Im Folgenden seien die einschlägigen Befunde in Kürze
wiedergegeben:
Beobachtung I.
40jähriger Kellner, am 19. IX. 1905 zur Klinik gebracht. Beim Militär
Schanker acquiriert. Seit 2/, Jahren wiederholt Anfälle von Sprachlosigkeit.
In den letzten 14 Tagen wiederholt Zuckungen, die kurze Zeit dauerten.
2 Tage vor der Einbringung verlor er die Sprache, war grösstenteils be-
wusstlos, hatte nur manchmal lichte Momente. Schon seit 2 Jahren wurde
bemerkt, dass er „nicht normal“ sei.
Bei der Einbringung aphasische Störungen, Zunge nach links vor-
gestreckt. Mundfazialis rechts schwächer, Gang unsicher schwankend, das
rechte Bein schleift noch mehr auf dem Boden als das linke.
Nach Rückgang der Erscheinungen: schlaffer Gesichtsausdruck, rechte
Pupille auf Licht wenig, ausgiebig reagierend, rechter Mundfscialis etwas
schwächer. Gesteigerte P. S.R., rechts Babinski; Sprache monoton, langsam,
etwas stockend. hie und da Andeutung von Singen und Tremolieren.
Am 24. X. bei getrübtem Bewusstsein Zuckungen in der rechten Ge-
sichtshälfte, danach kurze Zeit Sprache sehr verschlechtert; stumpf-abwehren-
des Verhalten; später ausser einer gewissen Stumpfheit korrektes Benehmen.
Am 17. XII. 1906 auf Wunsch der Frau entlassen.
Am 2. I. 1907 wieder zur Klinik gebracht, da er in der Sylvester-
nacht wärend der Ausübung seines Berufes einen Anfall bekommen hatte;
dabei kein Alkobolgenuss.
Kommt klar und geordnet zur Klinik. Pupillen lichtstarr. Sprache
schwerfälliger als bei der Entlassung.
Am 8. I. Lumbalpunktion: 44 Zellen mit 40 pCt. Polynukleären, 45pCt.
Lymphozyten, und 15 pCt. unbestimmter Zellen.
Am 10. I. 14 Zellen mit 6 pCt. Polynukleären, 84 pCt. Lymphozyten.
Beobachtung II.
4Tjähriger Kaufmann, am 29. X. 1904 zur Klinik gebracht. Frau hat
Smal abortiert.
Im Jahre 1899 wurde Argyll- Robertson, Westphal, Andeutung
von Romberg konstatiert. 1902 vorübergehend Parästhesien, lanzinierende
Schmerzen, die im April 1904 wieder für kurze Zeit auftraten. Damals zeigte
sich bereits Silbenstolpern, Reizbarkeit, später erregt; machte Schulden und
behauptete fälschlich, sie bezahlt zu haben.
An der Klinik euphorisch, er fühle sich „grossartig, sehr angenehm“;
mache grosse Geschäfte, verdiene 5000 Gulden monatlich, das ist 500C0 Gulden
jährlich.
3 Somatisch: Schlaffer Gesichtsausdruck. Zunge nach rechts abweichend,
rechter Mundfazialis schwächer. Grobschlägiger Fingertremor, Gang leicht
ausfahrend, Gehen auf einer Linie erschwert. Romberg. Keine Sensi-
bilitätsstörung. Fehlen der P. S. R. und Achilles-S. R.-Enge, leicht ent-
rundete, lichtstarre Pupillen.
end des weiteren Aufenthaltes sehr vergesslich, reizbar, zunehmend
dement, hochgradige Sprachstörung.
Am 19. I. 1907 Auftreten geringer Zuckungen im rechten Mund-
facialis, die fast unterbrochen anhalten, hie und da auch geringe Zuckungen
in den Extremitäten. Temperatur normal. Im Blut 8600 weisse Blutkörper-
chen. Im Liquor 110 Zellen mit 20 pCt. Polynukleären, 60 pCt.
Lymphozyten.
546 Pappenheim, Ueber paroxzysmale Fieberzustände
20. I. Fortdauer der beschriebenen Zuckungen. Höchste Tem-
perstur 87,8° (mässige Bronchitis).
Im Blute die Zahl der weissen Blutkörperchen, bloss auf Rechnung
der Polynukleären, auf 18000 gestiegen; im Liquor 2360 Zellen mit 50 pCt.
Polynukleären und 40 pCt. f mphozyten.
e 22. 1. Leichtes Fieber. Beginnende Pneumonie; Fortbestand der
Zuckungen; im Liquor 180 Zellen mit 80 pCt. Polynukleären und
60 pCt. Lymphozyten.
Unter Fortschreiten der Pneumonie und Herzschwäche am 27. I.
Exitus letalis.
Die Zuckungen hatten bis zum Ende angehalten. Die Sektion ergab
den typischen Befund der progressiven Paralyse.
Beobachtung III.
47jährige Lederfärberswittwe, am 28. IX. 1905 zur Klinik gebracht.
Der Mann starb vor 8 Jabren in dieser Anstalt an progressiver Paralyse.
Frühjahr 1905 fiel Patientin von einer Stiege. Seither soll die Sprache
verschwommen, in der letzten Zeit auch stockend gewesen sein. Am 10. IX.
plötzlich sprachlos, starrte vor sich, blieb starr und regungslos liegen.
achts mehrmals mit Bewnsstlosigkeit verbundene Krampfanfälle. Wurde
deshalb in das allgemeine Krankenhaus gebracht. Daselbst hänfig kurze
rechtsseitige Krämpfe, die nach einigen Tagen verschwanden.
Seit 22. IX. erregt, zerriss das Bettzeug, schrie die ganze Nacht,
schlug die Wärterin, weshalb sie anf unsere Klinik gebracht wurde.
Somatisch: Schlaffer, dementer Gesichtsausdrack, differente, leicht ent-
rundete, lichtstarre Pupillen; starkes Beben der Zunge und im Maundfacialis,
rechter Mundfacialis schwächer, grober Fingertremor; keine P. S. R., An-
deutung von Romberg.
Hochgradige Sprachstörung. Schwere Demenz. Grobe Rechenfehler.
Stumpf-dementes Verhalten. Bei Ansprache euphorisch.
Während des Aufenthaltes wiederholt Krampfanfälle, nach denen für
kurze Zeit Paresen und aphatische Störungen zurückblieben.
Am 6. XII. Wieder ein rechtsseitiger Krampfanfall. Temperatur 87.6°.
8. XII. Lumbalpunktion: 82 Zellen mit 11 pCt. Polynukleären und
64 pCt. Lymphozyten.
4. J 1907. Nachmittag wieder geringe Zuckungen im rechten Mund-
facialis, zeitweilig auch in der rechten Extremität. Temperatur 88,8% Im
Blut 8700 weisse Blutzellen. '
5. I. Lumbalpunktion: 84 Zellen mit 25pCt. Polynukleären und 55 pCt.
Lymphozyten. Seither kein Anfall.
l 8. Ji. Punktion: 11 Zellen mit 10 pCt. Polynukleären.
Betrachten wir diese drei Fälle, so sehen wir im ersten Fall
noch 2!/, Tage nach dem Anfall eine ziemlich starke Ver-
mehrung der mehrkernigen Zellen, die nach einer Woche fast
ganz verschwunden ist. Im zweiten Falle findet sich eine, in den
beiden ersten Tagen des Anfalles zunehmende Vermeh-
rung der Leukozyten in Blut und Liquor, ohne Steigerung der
Temperatur (die geringe Zunahme erklärt sich durch den Lungen-
befund), während in den folgenden Tagen die Zahl der Liquor-
leukozyten trotz des Fortbestehens der Krämpfe abnimmt. Ob
das mit dem körperlichen Verfall des Patienten in Verbindung
steht, lässt sich nıcht sagen.!) Jedenfalls ist in diesen beiden
2) Anmerkung während der Korrektur: Seither fand ich wieder bei
einer Patientin während eines Krampfanfalles die Zahl der polynukleären
Zellen auf über 50 pCt. erhöht, während in zwei Fällen (4. und 5. der mit-
geteilten Beobachtungen), welche ante mortem (die Obduktion bestätigte die
bei progressiver Paralyse ete. 547.
Fällen die Zunahme der Leukozyten eine so beträchtliche,
' dass man, wenn man bedenkt, dass solche Zahlen in gewöhn-
lichen Zeiten bei Paralytikern so gut wie nie gefunden werden,
an einem Zusammenhange dieser Erscheinungen nicht
zweifeln kann. Den dritten Fall möchte ich nicht für beweisend.
ansehen. Denn wenn ich auch in meinen sonstigen Fällen 25 pCt.
mehrkerniger Elemente nicht gefunden habe, so ist doch die Ver-
mehrung gegenüber den Leukozytenzahlen in aufallsfreien Zeiten:
zu gering, um daraus Schlüsse zu ziehen. Bemerkenswert ist
auch, dass im dritten Falle während eines Anfalles am 6. XII. die
Temperatur fast gar nicht erhöht war, während am B. I. trotz be-
trächtlicher Temperatursteigerung sich im Blute eine annähernd
normale Zahl weisser Blutkörperchen fand, ein Beweis dafür, dass
eben die Symptome nicht immer die gleichen sind.
Beobachtung IV.
53jähriger Kaufmann, zur Klinik gebracht am 15. Dezember 1905. Frau.
hat einmal abortiert. Seit einem Jahr Gedächtnisschwäche. Im Jali 1904
“ wurde Fehlen der P, S. R. konstatiert. Am 16. XI. 1904 verlor Pat. für !/, Stunde-
die Sprache. In der letzten Zeit sehr aufgeregt, machte grosse Ausgaben;
am Tage vor der Einbringung steckte er am Bahnhofe eine Serviette in die
Tasche, kaufte alles mögliche ein, abends zog er auf der Gasse die Hose aus.
und wurde deshalb arretiert.
Somatisch: Schlaffer Gesichtssusdruck, enge, differente, lichtstarre
Pupillen; der gange Facialis rechts schwächer. Bauchreflexe fehlen beider-
seits, Cremasterreflex rechts fehlend. Keine P. S.R. Kein Romberg. Bprach-
störung.
Auf der Klinik euphorisch, Grössenideen, schliesst Geschäfte ab, macht
grosse Bestellungen; manchmal unruhig, zerwirft das Bettzeug, will fortlaufen.
s am 81. XII. 1906 zwei kurzdauernde Krampfanfälle, danach schlechtere.
rache.
P 12.1.1907. Im Kubikmillimeter Liquor 12 Zellen mit 8 pCt. Polynukleären,
Am 25. I. plötzliches Auftreten von Sprachlosigkeit. Pat..
bemüht sich wiederholt, zu sprechen, weint, da er es nicht zustande bringt.
Keine Zuckungen. Temperatur 88%. Im Liquor 60 Zellen mit 40 pCt.
Polynukleären und 40 pCt. Lympbozyten.
28. I. Sprachstörung etwa wie vor dem Anfall. Lumbalpunktion ergibt
42 Zellen mit 12pCt. Polynukleären und 50 pCt. Lympbozyten.
Dieser Fall zeigt, dass auch eine plötzlich auftretende
Rindenausfallerscheinung ohne jegliche Reizsymptome mit
gesteigerter Temperatur und Vermehrung der Liquor-
leukozyten einhergehen kann.
Beobachtung V.
47jähriger Maschinenschlosser, am 6. VII. 1906 zur Klinik gebracht,
Frau hat zweimal abortiert; seit vier Jahren arbeitet Pat. schlecht, seit
zwei Jahren überhaupt nicht mehr; die Frau bemerkte an ihm eine auffallende
Interesselosigkeit; seit einem Monat Sprache schwerfällig und stockend; in-
den letzten Wochen sehr stumpf. Zwei Tage vor der Einbringung ganz ver-
Diagnose) Krampfanfälle hatten, die Zellvermehrung nicht auftrat, bez. in.
dem einen vor dem Tode zurückging. Es scheint also wirklich das Versagen
der Reaktion der Meningealgefässe durch den allgemeinen Kräftoverfall be-
günstigt zu werden.
548 Pappenheim, Ueber paroxysmale Fieberzustände
wirrt, wollte die Suppe mit dem Messer essen, drehte den Teller umher,
machte einen änystlichen Eindruck, sang die ganze Nacht. Am Abend vor
der Einbringung erregt, sprang aus dem Bette, raufte mit den Männern, die
ihn zu bewachen hatten, zerriss das Hemd, sprach immer unverständlich vor
sich hin.
Somatisch: Heiter-dementer Gesichtsausdruck. Pupillen sehr different,
lichtsterr. Mundfacialis liuks schwächer. Beben der Zunge und im Mund-
facialis. P. S. R. schwach, später feblend. Achilles-S.-R. fehlen. Sprache
stark bebend, verwaschen, deutliches Silbenstolpern.
Dement-euphorisches Verhalten. Grobe Rechenfehler.
Wiederholt Zustände eigenartiger psychischer Erregung mit an das
Katstonische erinnerndem Gebahren, Sprachstereotypien, eigentämlich
monotonem Singsang — so sang Pat. einmal 1j, Stunde lang immer mit der
leichen Betonung: „Die dort oben haben aufgewartet“ (dabei deutliches
Silbenstolpern), anscheinend Halluzinationen des linken Ohres. Dabei kommt
aber Pat. einfachen Aufforderungen, wie die Hand za reichen, nach. Während
eines solchen Zustandes am 8. XII., bei 86,8% Temperatur — allerdings ist
eine Abkühlung durch äussere Einflüsse nicht auszuschliessen, da sich Pat.
nackt entkleidet hatte — im Blut 38200 weisse Blutzellen. (In Zwischen-
zeiten waren normale Zahlen gefunden worden.) Dabei keine Vermehrung
der Lenkozyten im Liquor: 24 Zellen mit 8pCt. Palynukleären und 70 pCt.
Lymphozyten.
Am 19.1. (längere Zeit ohne Erregungszustände) 14 Zellen mit 80 pCt.
Lymphozyten öhne Polynukleären.
25.1. Erregungszustaud. Keine Temperstursteigerung. Im Liquor
88 Zellen mit 80 pCt. Polynukleären und 50 pCt. Lymphozyten. (Das Blut
wurde nicht untersucht.)
Drei Tage nachher: 86 Zellen mit spot. Polynukleären und 70pCt.
Lymphozyten. In diesem Falle also Vermehrung der Liquorleukozyten
in Verbindung mit einem psychischen Erregungszustande.
Zusammenfassend lässt sich daher sagen: |
Es gibt anfallsweise auftretende Temperatursteige-
rungen bei der progressiven Paralyse, die mit einer Ver-
mehrung der polynukleären Zellen im Blute und im
Liquor einhergehen.
Auch bei paralytischen Krampfanfällen und bei
Rindenausfallserscheinungen sowie bei psychischen Er-
regungszuständen findet sich häufig eine solche Vermehrung
der mehrkernigen Zellen.
Alle diese Erscheinungen sind durch einen grösseren Schub
des auf den ganzen Körper einwirkenden Paralysetoxins zurück-
zuführen und finden sich in allen möglichen Kombinationen.
Eine beträchtliche Steigerung der Prozentzahl der
polynukleären Leukozyten ım Liquor, welche in exazer-
bationsfreien Zeiten der Paralyse stets nur eine sehr geringe
Rolle spielen, ist ein Zeichen einer solchen massenhafteren
Toxinwirkung.
Nachtrag während der Korrektur: Kurz nach dem Einsenden
dieser Arbeit wurde ich durch Herrn Prof. Pick auf eine Arbeit
aufmerksam gemacht, die ganz ähnliche Beobachtungen enthält,
wie die oben geschilderten.
Villaret und Tixier (18) berichten unter Berufung auf
Befunde von transitorischer Liquorleukozytose im Verlaufe ver-
bei progressiver Paralyse etc. 649
schiedener syphilitischer Affektionen des Zentralnervensystems
[die bezüglichen Arbeiten waren mir leider nicht zugänglich] über
das Auftreten dieser Erscheinung im Zusammenhange mit akuten
Symptomen bei zwei Fällen von Tabes.
In dem einen, in dem die Diagnose durch die Obduktion
bestätigt wurde, fanden sich während eines deliranten Zustandes
mit heftigen Kopfschmerzen 60 pCt. polynukleäre Zellen im
Liquor. Auch hier schwand trotz Steigerung der Erscheinungen
die Leukozytose vor dem Tode.
In dem anderen Falle enthielt der Liquor zwei Tage nach
schwachen Krampfanfällen 98 pCt. polynukleäre Zellen, wahrend
er 14 Tage später keine zeigte.
Es beweise also diese Befunde in voller Uebereinstimmung
mit meinen den engen Zusammenhang der Liquorleukozytose mit
Exazerbationserscheinungen des zugrundeliegenden Krankbeits-
prozesses, sie sind eine neue Stütze für die Verwandtschaft
zwischen Tabes und Paralyse und sie verbieten eine Erklärung
der geschilderten Erscheinungen als direkte Folge der Gehirn-
affektion.
Literatur:
1. Reinhard, Die Eigenwärme in der allgemeinen progressiven Paralyse der
Irren. (Arch. f. Psych., Bd. 10, S. 866.)
2. Maccsbruni, Sopra un caso di paralisi generale progressiva degli alienati
a forma circolare, considerata in rapporto alla temperatura. A. ital. per
le mal. nervose, 1888, S. 461; ref. Neur. Zentr., 1884, S. 89.)
. Voisin, Leçons cliniques sur les maladies mentales. (Paris 1876).
. Bechterew, Die apoplektoiden nnd epileptoiden Anfälle in der pro-
gressiven Paralyse der Irren. (Meschdunarodnaja klinika, 1888, No, 8;
ref. Neur. Zentr., 1888, S. 447.)
5. Kroemer, Tempersturbeobachtungen bei paralytischen Geisteskranken.
(Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. 36, S. 187.)
6. Zacher, Beiträge zur Pathologie und patbologischen Anatomie der
Paralysis progressiva. (Arch. f. Psych., Bd. 10, S. 511.)
1. Turner, Bemerkungen über Harn und Temperatur bei allgemeiner Paralyse
der Irten, (Journal of mental science, 1889, S. 342; ref. Neur. Zentralbl.,
1890, S. 27.
8. Diefendorf, Blood Changes in Dem. par. (The Amer. Journ. of the Med.
Science, 126, S. 1047; ref. Jahresber. 1908, S. 1050.) ,
9. Hartmann, Diskussionsbemerkung zu Fischers Vortrag: „Ueber die
anatomischen Grundlagen des Zellbefundes der Cerebrospinalflüssigkeit
bei progressiver Paralyse“ in der Jahresversammlung des deutschen
Vereines für Psychistrie zu München 1906. (Allg. Zeitschr. f. Psych.,
1906, S. 600.)
10. Bruce, Studies in clinical psychiatry. (London 1906.)
11. Fischer, Klinische und anatomische Beiträge zur Frage nach den Ur-
sachen und der Bedeutung der eerebrospinslen Pleozytose. (Jahrbücher
f. Psych. u. Neur., Bd. 27, 1906.)
12. Zilanakis, Congrès panhellénique de méd. (Athènes, Avril 1906.)
18. Villaret et Tixier, Deux cas de tabes avec poussées de polynucleaires
dans le liquide c&phalo-rachidien. ete. (Compt. rend. Soc. de Biol.
28. juillet 1906.)
* 08
550 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
Von
Dr. KURT MENDEL,
Nervenarzt in Berlin.
(Fortsetzung.)
I. Fälle, in denen der Verletzte seine Beschwerden
auf den Unfall zurückführte, zwischen Paralyse und
Trauma in Wirklichkeit aber keinerlei Zusammenhang
als bestehend anzunehmen ist (das Trauma auch nicht ver-
schlimmernd wirkte).
a) Die Paralyse begann erst naeh dem Trauma, ohne aber mit
letzterem inirgend einem ursächlichen Zusammenhang zu stehen.
1. G. B., Arbeiter, 37 Jahre alt. Vater starb an Lungenleiden, sonst
Heredität 0. Bis zum Unfall angeblich stets gesund, insbesondere wird Lues
strikte negiert, ebenso Alkoholmissbrauch.
Unfall am 25. I. 1900: Ein herabfallender eiserner Träger traf B. und
verursachte eine leichte Hautwunde am linken Auge, er selbst fiel dabei
lij m tief mit dem Hinterkopf auf den Fussboden, ohne sich daselbst weiter
zu verletzen. Nicht bewusstlos. Kein Erbrechen. Keine Blutung aus Mund,
‚Nase, Ohr. B. blieb 5 Tage zu Haus, nahm dann die frühere Arbeit wieder
auf, arbeitete und verdiente wie vor dem Unfall bis Mitte Oktober 1901, zu
‚dieser Zeit traten dann Kopfschmerzen und Schwindel auf, am 9. XI. 1901
hörte er zu arbeiten auf.
8. XII. 1901: Rechte Pupille „eine Idee“ weiter, Kniereflexe gesteigert.
24. IV. 1902: Psychisches Verhalten des B. gegenüber demjenigen im
Dezember 1901 deutlich geändert.
31. V. 1902: Aufnahme des B. in meine Klinik: B. klagt über Schwindel,
Störungen beim Sprechen und Schreiben. Seine Frau sagt aus, dass er seit
etwa !/3 Jahr vergesslich und „kopfschwach“ sei, er finde öfter nicht nach
Haus, fahre auf der Stadtbahn eine Station zu weit, habe kein Schamgefühl
mehr, ziehe sich z. B. in Gegenwart seiner Kinder aus, sei zeitweise erregt,
meist stumpf und interesselos.
Objektiv: Schlaffe Gesichtszüge. Deutliche Intelligenz- und Gedächtnis-
schwäche. Typisches Silbenstolpern. Silbenauslassen beim Nachsprechen. Rechte
Pupille weiter als linke. Beide rengieren. Zittern der Gesichtsmuskulatur
beim Zähnezeigen. Rechte VII <. Sehr lebhafte Patellarreflexe, links
‚Patellarklonus. Kein Babinski. Hypalgesie an den unteren Gliedmassen.
Gutachten: 1. B. leidet an progressiver Paralyse.
2. Das Leiden ist nicht durch die Verletzung am 25. I. 1900 ver-
ursacht, weil a) letztere zu unerheblich war (Schädelknochen oder Gehirn
‚nicht mitverletzt, keinerlei Erscheinungen von Hirnerschütterang, keine
Gemütserregung, bereits nach 5 Tagen nahm B. seine frühere Arbeit wieder
auf) und b) ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Beginn der Paralyse und
Unfall nicht vorhanden ist (zwischen Trauma und Beginn des Leidens bezw.
Arbeitseinstellung des B. mehr als 12/, Jahr!).
3. Von einer verschlimmernden oder beschleunigenden Wirkung des
Traumas kann nicht die Rede sein, da B. noch 1?/, Jahre nach der Verletzung
völlig wie früher Arbeit leistete.
Also: Keinerlei Zusammenhang zwischen Paralyse und Trauma.
2. G. R., Arbeiter, 40 Jahre alt. Heredität 0. Im 12. Lebensjahre
infolge einer Explosion Verlust des rechten Auges. 1894 Darmgeschwür,
Lues und Alkoholismus negiert. Seit 16 Jahren in kinderloser Ehe verheiratet.
Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.. 551
Unfall Dezember 1894: R. stiess mit dem Kopf gesen einen Balken
und zog sich hierbei eine biutende Kopfwunde zu. Er arbeitete weiter.
Keinerlei Zeichen von Gehirnerschütterung. Abends liess er sich die Wunde
von einem Barbier verbinden; letzterer bezeichnet sie als „eine ziemlich
unbedeutende, 2/, Zoll lange, die nur in einer Verletzung der Haut bestand“.
Die Mitarbeiter des R. bemerkten erst im März 1898 ein verändertes Wesen
an ihm, bis dahin war ihnen durchaus nichts Krankhaftes aufgefallen.
April 1896 zeigte sich R. mehrfach gewalttätig, er glaubte, dass ihm die
Jagd auf den Rixdorfer Wiesen zustehe, im Mai desselben Jahres äusserte
er, dass er vom Kaiser zur Jagd abgeholt werde, er war verwirrt und schwer
zu konzentrieren,
Juni 1897 wird bei R. eine typische progressive Paralyse mit hoch-
gradiger Geistesschwäche, schwachsinnigen Grössenideen, Silbenstolpern und
typischen somatischen Erscheinungen festgestellt.
Gutachten: Ein im Dezember 1894 erlittener Unfall könnte mit
einer progreseiven Paralyse, deren deutliche und unzweifelhafte Symptome
erst im März 1896 bemerkt werden, in ursächlichen Zusammenhang gebracht
werden. Man muss aber, um einen solchen Zusammenhang annehmen zu
können, eine gewisse Erheblichkeit des Traumas voraussetzen. Hier aber
handelte es sich um eine ganz unbedeutende Hautwunde, die sehr bald heilte.
R. arbeitete weiter. Keinerlei Zeichen von Hirnerschütterung. Die Art des
Unfalls erscheint demnach nicht geeignet, eine Paralyse hervorzurufen.
Andrerseits hat das Trauma aber auch nicht dazu gedient, eine bereits in
der Entwicklung begriffene Krankheit zu verschlimmern. Wäre dies der
Fall, so müsste die Verschlimmerung alsbald nach dem Unfall, längstens
nach wenigen Monaten, eingesetzt haben. Dies ist nicht der Fall, da erst
1!/, Jahr nach der Verletzung etwas Auffälliges an R. bemerkt wurde, er bis
dahin wie früher Arbeit leistete.
Also: keinerlei Zusammenhang zwischen Paralyse und Trauma.
. F. N., Monteur, 40 Jahre alt. Bis Unfall völlig gesund. Unfall
am 19. II. 1896: N. fiel von einer auf schlüpfrigem Boden ausrutschenden
Leiter 1!/3 m tief herab und zwar so, dass seine linke Brustseite auf die
Kante eines Mauerpodestes aufschlug. Keine Verletzung des Kopfes. Keine
Bewusstlosigkeit. n den Akten wird der Unfall als „linksseitige Brust-
quetschung‘“ bezeichnet. N. setzte seine Arbeit keinen Tag aus und blieb
bis zum Dezember 1898 in Stellung. In der letzten Zeit wurde allerdings
von den Arbeitgebern bemerkt, dass N. sehr zerstreut war, so dass man
schon Anfang September 1898 ihn nur unter Leitung eines andern Monteurs
arbeiten liess. Die ersten Zeichen von Veränderung des Wesens wurden im
Frühjahr 1898 bemerkt.
Dezember 1898 ergibt die Untersuchung eine typische progressive
Paralyse. -
Gutachten: Unfall war zu unerheblich, um eine Paralyse hervor-
rufen zu können (keine Verletzung des Kopfes, keine Bewusstlosigkeit,
N. setzte keinen Tag die Arbeit aus). Auch fehlt der zeitliche Zusammen-
hang zwischen Beginn der Paralyse und Trauma: Unfall im Februar 1896 —
erste Zeichen von Geistesstörung im Frühjahr 1898, also mehr als 2 Jahre
nach erlittener Verletzung, deutliche Zeichen geistigen Verfalls werden erst
seit September 1898 wahrgenommen, 4!/, Jahr nach dem Trauma ist N. noch
am Leben (mittlere Dauer der Paralyse vom ersten Beginn der Krankheit
bis zum Tode wird allgemein mit 8—4 Jahren berechnet!).
Von einer Verschlimmerung durch das Trauma kann im vorliegenden
Fall wegen seines Verlaufs (N. arbeitete noch 22/, Jahre lang nach der Ver-
letzung) nicht die Rede sein.
Also: keinerlei Zusammenhang zwischen Paralyse und Trauma.
b) Die Paralyse bestand schon vor dem Trauma, wurde aber durch
dasselbe nicht wesentlich ungünstig beeinflusst.
4. F. A. 48 Jahre alt, Wagenputzer. 5 gesunde Kinder, 8 Kinder starben
in den ersten Lebensjahren. 1 Abort der Frau. 1890 Brustfellentzündung.
552 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
In den 70er Jahren Syphilis. Vor dem Unfall oft Kopfschmerzen und Schwindel-
anfälle, auch war sein Wesen schon vor demselber. auffällig, er war erregt
und unruhig.
Unfall am 24. VIII. 1896: beim Zusammenstossen von Eisenbahnwagen
wurde er mit dem Kopf an die Seitenwand des Wagens, in welchem er sich
befand, geschleudert. Es entstand eine ca. taubeneigrosse Beule an der linken
Kopfseite. A. klagte über Unwohlsein und wurde auf Anraten des Arztes
nach Haus geschickt. Er setzte bis zum 6. IX. 1896 die Arbeit aus, arbeitete
aber dann mit nur einmaliger Unterbrechung von 3 Tagen (25. bis 27. IV. 1897)
bis zum 6. III. 1898 weiter.
Im Juni 1898 ergab die Untersuchung das Bestehen einer progressiven
Paralyse: Grössenideen, Intelligenzschwäche, typische Sprachstörung, Pupillen-
diferenz, träge Lichtreaktion der Pupillen, Gesichtszittern, lebhafte Patellar-
reflexe.
Gutachten: A. leidet an progressiver Paralyse. Die Krankheit bestand
schon vor dem Unfall (Kopfschmerz, Schwindel, Unruhe). Der Unfall hat
das Leiden auch nicht in wesentlichem Grade verschlimmert oder seinen Ver-
lauf beschleunigt, denn der Verlauf der Paralyse ist auch nach dem Unfall
ein sehr milder und langsamer geblieben, A. war nach dem Trauma noch volle
18 Monate (August 1896—März 1898) arbeitsfähig, und nachdem er dann im
März 1898 wegen Krankheit seine Arbeit einstellen musste, hat er doch noch
vom 22. IV. bis 19. V.1898 wieder gearbeitet, auch später noch einmal und
erst am 9. X. seine Tätigkeit definitiv aufgegeben. Es ist anzunehmen, dass
in den 1!/, nach dem Trauma verflossenen Jahren bei dem gewöhnlichen Ver-
lauf der Paralyse auch ohne den stattgehabten Unfall der jetzige Grad der
Arbeitsunfähigkeit erreicht worden wäre.
Also: Paralyse durch den Unfall weder hervorgerufen (sie bestand schon
vor dem Trauma), noch wesentlich verschlimmert.
5. A. H., Arbeiter. Als Soldat Lues. 1892 durch Hineingeraten der
Arme in eine Maschine einfacher Bruch des linken und doppelter Bruch des
rechten Vorderarmes. Damals ?!/, Jahr arbeitsunfähig.
Unfall am 15. VII. 1895: beim Zusammennähen zweier Rollen Linoleum
und Abschneiden des Bindfadens stiess er sich mit dem dazu benutzten
Messer in leichtem Grade in sein rechtes Auge. Öberflächliche Verletzung
der Hornhaut. Am 3. VIII. nahm H. wieder die Arbeit ohne jegliche Be-
schwerde auf, im September 1895 (also 2 Monate nach dem Unfall) wurde er
plötzlich besinnungslos nach Haus gebracht, er redete wirr; seitdem wurde
er stiller, dann traten Beschwerden beim Urinlassen sowie Schlaflosigkeit und
Kopfschmerzen auf. Am 10. XI. 1895 wurde eine weisslich-graue Trübung
der Hornhaut, welche bis in die Gegend der Pupille reichte und dadurch die
Sehkraft des Auges herabsetzte, konstatiert. Gleichzeitig stellte die damalige
ärztliche Untersuchung das Bestehen einer progressiven Paralyse fest.
Februar 1896: typische Paralyse.
Gutachten: Unfall kann nichtdie progressive Paralyse hervorgerufen
haben, da er für das Nervensystem absolut unerheblich war: die Hornhaut-
verletzung hatte tiefere Teile des Auges, speziell den Sehnerv, nicht ge-
schädigt, auch trat keine erheblichere plötzliche Aufregung bei dem Unfall
ein, die man für die weitere Entwicklung der Hirnkrankheit verantwortlich
machen könnte.
Die Paralyse bestand vielmehr schon vor dem Unfall; der im September,
also ca. 2 Monate nach dem Trauma, stattgehabte apoplektiforme Anfall zeigt
an, dass das Leiden zu dieser Zeit bereits eine gewisse Höhe erreicht hatte.
Das ätiologische Moment der Paralyse bildet die durchgemachte Syphilis.
Die Augenverletzung hat aber auch nicht beschleunigend auf den Ver-
lauf des Leidens gewirkt, zumal da H. bereits am 8. VIII., also 2! Wochen
nach dem Unfall, seine Arbeit wieder in vollem Umfange aufnahm und ohne
Beschwerden mehrere Wochen fortsetzte.
Also: Paralyse weder durch den Unfall hervorgerufen, noch wesentlich
verschlimmert.
6. In diesem Fall kommen 2 Unfälle in Betracht. Für den ersten gilt
das sub a) Angeführte (die Paralyse begann erst nach dem ersten Unfall,
Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 553
ohne aber mit letzterem in irgend einem ursächlichen Zusammenhang zu
stehen), für den zweiten Unfall das sub b) Gesagte (die Paralyse bestand wahr-
scheinlich schon vor dem zweiten Unfall und wurde durch denselben nicht
wesentlich ungünstig beeinflusst). Der Fall ist folgender:
. M., Maurer, 41 Jahre alt. 16 Jahre verheiratet. 2 gesunde Kinder.
Nach eigener Angabe will er bis zum Jahre 1889, in welchem der erste
Unfall stattfand, stets gesund gewesen sein, insbesondere leugnet er mir
egenüber, Syphilis gehabt zu haben. Hingegen hatte M. während eines
früheren Aufenthaltes in der Kgl. Charité (wie sich aus den Akten ergibt) an-
gegeben, dass er syphilitisch infiziert gewesen sei.
Unfall I am 29. I. 1889: ein Stück Eisen fiel auf den Kopf des M.
Der Verletzte arbeitete weiter. Oefter Kopfschmerzen.
Unfall II im September 1896: ein eiserner Träger kippte um und traf
mit der oberen Kante den Kopf des M. Kleine Hautabschürfung am Kopf.
M. arbeitete sogleich weiter und zwar, ohne auszusetzen, bis zum 6. April 1897.
Die Untersuchung am 20. Dezember 1897 ergab das typische Bild der
progressiven Paralyse Diagnose in der Charité auf Grund einer sechs-
wöchigen Beobachtung bestätigt). _
Gutachten: 1. Es erscheint ausgeschlossen, dass die am 29. I. 1889
erlittene Verletzung, welche dem M. gestattete, über 8 Jahre seine Arbeit
unausgesetzt fortzusetzen, nach dieser Zeit die jetzt vorliegende Krankheit
hervorrufen konnte. Der Zwischenraum zwischen dem 1. Unfall und Beginn
der Krankheit (welcher kaum mehr als 2 Jahre zurückliegen kann) ist zu
gross, als dass man an einen ursächlichen Zusammenhang denken könnte.
2. Betreffs des 2. Unfalls ist die Möglichkeit zuzugeben, dass die
rogressive Paralyse bereits zur Zeit dieses Unfalls bestanden hat. Es ist
dies sogar wahrscheinlich'), da bereits im April 1897, also !/, Jahr nach
dem Unfall, das ausgesprochene Bild der Paralyse in der Kgl. Charite nach-
gewiesen wurde.
Ist dies nun der Fall, so kann mit Rücksicht darauf, dass M. mehr
als 5 Monate lang nach dem Unfall noch unausgesetzt gearbeitet hat, nicht
angenommen werden, dass die erlittene (zudem unerhebliche) Kopfverletzung
irgend einen nennenswerten verschlimmernden oder beschleunigenden Einfluss
auf den Verlauf der Krankheit gehabt hat.
8. Ist aber — und diese Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen — die
Paralyse erst nach dem 2. Unfall entstanden, so wäre die Frage zu erörtern,
ob dieser 2. Unfall geeignet war, eine progressive Paralyse hervorzubringen.
Dies ist in Anbetracht der Unerheblichkeit der Verletzung zu verneinen.
(Keine Zeichen von Hirnerschütterung. M. arbeitete sogleich weiter.)
Demnach: Erste Möglichkeit: Die Paralyse begann zwischen 1. und
2. Unfall. Dann ist nicht anzunehmen, dass der 1. Unfall sie hervorgerufen
hat, ebensowenig aber auch, dass der 2. Unfall ihren Verlauf beschleunigte.
(Vor dem ersten Unfall hatte die Paralyse sicher noch nicht begonnen.)
Zweite Möglichkeit (unwahrscheinlich): Die Paralyse begann erst nach
dem 2. Unfall. Dann ist trotzdem nicht anzunehmen, dass dieser 2. Unfall
die Paralyse hervorrief.
Also: auf keinen Fall irgend ein Zusammenhang zwischen der Paralyse
und den erlittenen Unfällen.
U. Fälle, in denen die progressive Paralyse nicht
durch den Unfall hervorgerufen wurde, der Unfall ein
bereits hirnkrankes Individuum traf, die Krankheit aber
ungünstig beeinflusste. (Vom Verletzten bezw. dessen An-
gehörigen wurde hingegen als Ursache des Leidens der Unfall
angeschuldigt.)
1) Später eingesandte strafrechtliche Akten ergaben in der Tat, dass
M. bereits vor dem zweiten Unfall über Kopfschmerzen, „rheumatische Be-
schwerden“ geklagt habe und in seinem Wesen verändert gewesen sei.
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Heft 6. 38
5ö4 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
7. H. St, Beamter, Lues negiert. Bereits vor dem Unfall war St.
„nervös“ und hypochondrisch verstimmt, so dass ihm zur Stärkung seines
Nervensystems Licht- und Luftbäder verordnet worden waren.
Unfall am 28. IV. 1899: St. besichtigte ein Haus behufs Entwurfs einer
Feuerversicherungs-Police und fiel im 3. Stock 3—4 Stufen hinunter; er ver-
spürte heftige Schmerzen im linken Arm, konnte jedoch noch bis zum 1. Stock
hinuntergeführt werden, wo er einen. Ohnmachtsanfall“ hatte. 11/3 Stunden nach
dem Unfall wurde ärztlicherseits ein „eigentümlicher Angstzustand“ bei St.
konstatiert, der Verletzte glaubte, dass er sterben müsse; am 26. V. 1899
ergab eine ärztliche Untersuchung das Bestehen eines „expansiven Delirium
mit Wahnvorstellungen mystischer Natur und eine durchaus ungeordnete
Handlungsweise“. Am 31. V. 1899 Ueberführung in Irrenanstalt: typische
progressive Paralyse.
Gutachten: Es erscheint ausgeschlossen, dass der unerhebliche Unfall
die Paralyse des St. hervorgerufen hat (keine Verletzung des Kopfes, keine
besondere Aufregung). Laut Aktenberichts war auch St. bereits vor dem
Unfall nervenkrank. Seine hypochondrische Verstimmung vor der Verletzung
ist wohl bereits als ein Symptom der schon bestehenden Paralyse zu deuten.
Letztere hat alsdann im Anschluss .an den erlittenen Unfall einen be
schleunigten Verlauf genommen, so dass der bis dahin arbeitsfähige Kranke
alsbald erwerbsunfähig wurde.
Mehr Wahrscheinlichkeit hat allerdings in diesem Falle die Annahme,
dass der angebliche Unfall durch einen paralytischen Anfall hervorgebracht
wurde, also bereits eine Folge der Paralyse darstellt.. Oft bezeichnet der
erste paralytische Anfall den nach aussen hin sichtbaren Beginn der geistigen
Erkrankung, oft wird die Krankheit von dem ersten paralytischen Anfall
datiert, während in Wirklichkeit dieser bereits das Zeichen des auf eine
gewisse Höhe gelangten Leidens bedeutet.
Im vorliegenden Falle spricht für die paralytische Natur des Anfalls,
der den Unfall hervorbrachte, der Umstand, dass St., noch nachdem er geführt
zwei Stock hinuntergegangen war, einen Ohnmachtsanfall hatte. Auch der
darauf folgende angstvolle Zustand würde ganz in Uebereinstimmung mit
anderweitigen Beobachtungen stehen.
Natürlich ist mit Sicherheit nicht auszuschliessen, dass St. doch aus-
geglitten und hingefallen ist und dass erst darauf (vielleicht durch den Fall
ausgelöst) der paralytische Anfall eintrat.
Also: Entweder war der Unfall bereits die Folge der schon bestehenden
Paralyse und durch einen paralytischen Anfall hervorgerufen, also überhaupt
kein Unfall im Sinne des Gesetzes; oder aber der Unfall hat das bereits
vorhandene Gehirnleiden zu beschleunigtem Verlauf gebracht, indem er den
paralytischen Anfall auslöste.
Ganz ähnlich liegt der folgende Fall:
8. E.H., Tischlermeister, 50 Jahre alt, 27 Jahre verheiratet. 2 Söhne.
Heredität 0. November 1898 war H. nach Aussage der Frau „abgespannt“
und sprach etwas langsam. Er suchte deshalb einen Nervenarzt auf, der
ihm am 11. XI. 1898 Pillen aus Quecksilberjodid verschrieb.
Unfall am 24. XI. 1898: H. glitt aus, als er einen Pferdebahnwagen
besteigen wollte, und fiel hin. Leichte Hautwunden am Kopf. Unmittelbar
darauf war er sehr benommen, dann geistig gestört, bereits am 28. XI. sagte
er u. a: „Meine Frau ist verrückt geworden“, und „es brennt alles“. Die
Untersuchung am 14. XII. 1898 ergibt eine ausgesprochene progressive Paralyse.
Gutachten: Paralyse bestand schon vor dem Unfall (war anfangs
November 1898 „abgespannt“, der Arzt verschrieb damals Hg-Pillen!). Wahr-
scheinlich bekam der an Paralyse leidende H. am 24. XI. 1898 einen apo-
plektiformen Anfall und fiel in demselben hin, so dass der Unfall die Folge
des Leidens ist. Möglich ist allerdings, dass H. infolge Ausgleitens, ohne
dass ein apoplektiformer Anfall vorhanden war, hinfiel und dass dieser Fall
dann in dem kranken Hirn jene Veränderung setzte, welche dem apoplekti-
formen Anfall zugrunde lag.
Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 555
9. P., 44 Jahre alt. Ueber das Vorleben ist nichts Sicheres bekannt,
doch war P. bis zum Unfall arbeitsfähig.
Unfall am 3. VI. 1890: P. fiel von einer Leiter und verletzte sich
hierbei den Hinterkopf. Seitdem Kopfschmerzen. Der Verletzte setzte einen
Tag die Arbeit aus, war dann bis zum 27. VI. 1890 tätig.
Herbst 1890 verkehrte Handlungen (er zerschnitt Gardinen u. s. w.).
Am 28. XI. 1890 mit der Diagnose „progressive Paralyse“ in der Charité
aufgenommen. Exitus am 7. XII. 1890 in Dalldorf. Die Autopsie ergab
sehr hochgradige typische Veränderungen au Hirn und Rückenmark.
Gutachten: Die durchschnittliche Dauer der Paralyse bis zum tötlichen
Ausgange beträgt 3—4 Jabre, wenn nicht interkurrente anderweitige Er-
krankungen dem Leben schon früher ein Ende setzen. Im vorliegenden Fall
ist es aber die Gehirnkrankheit selbst gewesen, die den Tod herbeigeführt
hat. Würde das Leiden demnach im Unfall ihre Ursache und ihren Beginn
gehabt haben, so hätte es nur 6 Monate im ganzen gedauert. Ist ein so
schneller Verlauf schon als etwas Seltenes und Ausnahmsweises zu betrachten,
so spricht auch gegen diese kurze Dauer der Krankheit, dass die bei der
Sektion gefundenen Hirnrückenmarksveränderungen so bedeutend waren,
dass sie unmöglich iu einem sechsmonatigen Krankheitsverlauf zustande
gekommen sein können. Vielmehr ist der Beginn der Erkrankung lange
(vielleicht 1—2 Jahre) vor den Zeitpunkt der Verletzung zu setzen. Ist
demnach der Unfall nicht die Ursache der Paralyse, so hat er doch ent-
schieden die vorhanden gewesene Krankheit zum schnellen Verlauf, zur
Arbeitsunfähigkeit und dann zum tötlichen Ausgang geführt: P. war — wie
festgestellt ist — bis zum Unfall völlig arbeits- und erwerbsfähig, nach
demselben klagte er seinem Arbeitgeber und anderen gegenüber andauernd
über Kopfschmerzen, und schon nach wenigen Monaten zeigte sich die
Geisteskrankheit in vollster Stärke. Ohne den Unfall hätte P. vielleicht
noch zwei Jahre und auch länger leben und einen Teil dieser Zeit arbeits-
fähig sein können.
Also: Die Paralyse bestand schon vor dem Trauma, letzteres übte
einen ungünstigen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit ans. |
10. A. W., 81 Jahre alt, Schiffer. 8 Kinder. Bis Herbst 1892 völlig
gesund. Im Frühjahr 1893 fiel es zuerst auf, dass W., obwohl er im übrigen
völlig gesund schien, beim Sprechen die Worte nicht recht herausbringen
konnte und „stotterte“ (Aussage zweier Zeugen).
Unfälle: Anfang Mai 1893 fiel W. längst der Bordwand des Schiffes,
auf welchem er arbeitete, auf Brust und Kopf, nach kurzer Pause konnte er
seine Arbeit wieder fortsetzen. Etwa 2—3 Wochen später zweiter Unfall:
ein Brett kippte in die Höhe und schlug mit solcher Heftigkeit vor den
Kopf des W., dass dieser zu Boden fiel. Blutende Wunde an den Schläfen.
Verband. Dann arbeitete W. weiter, konnte aber seine Arbeit nicht mehr
so gut verrichten wie früher und musste wiederholt daran erinnert werden,
was ihm zu besorgen oblag. Juli 1893 Kopfschmerzen, zerstreut, verändertes
Wesen, W. wurde entlassen. August 1893 starke Verschlimmerung, November 1893
Ueberführung in Irrenanstalt, woselbst typische progressive Paralyse fest-
gestellt wurde.
Gutachten: Die bei W. im Frühjahr 1893 bemerkte Sprachstörung
ist wohl als erstes auffallendes Symptom der Paralyse des Verletzten anzu-
sehen. Die Krankheit bestand demnach schon zur Zeit der Unfälle im Mai 1893,
letztere können nicht die Ursache des jetzigen Leidens sein. Hingegen ist
mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Krankheit nach den Unfällen
einen schnelleren Verlauf genommen hat: mit Sicherheit ist allerdings nicht
zu sagen, ob nicht auch ohne die Unfälle die Krankheit den oben geschilderten
Verlauf genommen hätte und ob nicht die erwähnte Verschlimmerung nach
den Unfällen nur ein zufälliges Zusammentreffen war (vielleicht war der erste
Unfall die Folge eines paralytischen Anfalls?).
Also: Die Paralyse bestand schon vor den Unfällen, letztere wirkten
wahrscheinlich beschleunigend auf den Verlauf des Leidens.
88"
556 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
ll. A. F., Arbeiter, 51 Jahre alt. Bis zum Unfall nie nennenswert
krank gewesen, insbesondere sollen nach Aussage der Frau des Verletzten
keinerlei geistige Veränderungen bei F. vor dem Unfall bestanden haben!
Unfall am 12. XI. 1898: F. glitt mit dem rechten Fuss aus und erlitt
einen Bruch des rechten Oberschenkelhalses. Februar 1899 war der Bruch
verheilt, die Bewegungsfähigkeit im Hüftgelenk ziemlich ausgiebig, die Ro-
tation nach innen noch etwas behindert, Ins Bein im ganzen ca. 6 cm ver-
kürzt und atrophisch. Mai 1899 erkannte das Schiedsgericht wegen der
Folgen des Oberschenkelhalsbruches auf 75 pCt. In der Folgezeit soll F.
nach der Aussage der Frau sehr erregt und „geistesgestört“ gewesen sein.
Am 17. VI. 1899 Ueberführung in Irrenanstalt, woselbst er bis zum 7. VIII.
blieb, (hier wurden Verfolgungsideen, Nahrungsverweigerung und Lähmungs-
erscheinungen festgestellt). Die Untersuchung am 11. XII. 1899 ergab eine
typische vorgeschrittene Paralyse sowie die Folgen eines rechtsseitigen
Schenkelhalsbruches. Ersteres Leiden ıst unmöglich als Folge des er-
littenen Unfalls anzusehen, da bei der Verletzung weder der Kopf mit
betroffen ist noch ein starkes psychisches Trauma dieselbe begleitet hat.
Vielmehr ist anzunehmen, dass die Paralyse bereits zurzeit des Unfalls be-
stand, zumal da schon etwa 6 Monate nach dem Unfall sehr schwere Er-
scheinungen geistiger Krankheit vorhanden waren. Es ist ferner sehr wahr-
scheinlich, dass der Knochenbruch, welcher auf eine ganz unerhebliche Ver-
anlassung hin bei dem erst 51 Jahre alten Manne erfolgte, schon ein Zeichen.
der Nervenerkrankung war, welche erfahrungsgemäss nicht selten mit einer
leichten Brüchigkeit der Knochen einhergeht. Andrerseits ist aber nicht
zu verkennen, dass der Unfall mit dem langen Krankenlager und den ver-
änderten Ernäbrungsverhältnissen wohl imstande war, einen beschleunigten
Ablauf des bis dahin latent vorhandenen Leidens herbeizuführen.
Also: Paralyse nicht durch den Unfall hervorgerufen, wohl aber durch
ihn ungünstig beeinflusst.
12. W. W., Kesselschmied, 39 Jahre alt, 1 gesundes Kind. Heredität 0.
Laes negiert. Alkohol mässig. Am 3. IV. 1895 konsultierte W. einen Arzt
wegen eines Augenleidens (dasselbe wird nicht näher bezeichnet). Sonst bis
zum Unfall angeblich gesund.
Unfall am 6. IV. 1895; W. wollte von der linken nach der rechten
Seite unter einem Kessel hindurchkriechen. In diesem Augenblicke wurde-
vom Kesselinnern aus ein Dorn durch ein Nietloch getrieben, dieser Dorn
traf den Kopf des W., der Dorn war etwa 5—6 Zoll lang, oben etwa ®/, Zoll
stark und wurde nach unten schwächer bis etwa jẹ Zoll. Als W. unter dem
Kessel wieder hervorgekrochen war, taumelte er zur Seite, ohne jedoch hin-
zufallen. Klaffende Wunde am Hinterkopf.
Am 11. 1V. 1895 wurde von augenärztlicher Seite eine ausgesprochene
Sehnervenatrophie festgestellt.
Die Untersuchung am 1. IV. 1896 ergibt das Bild einer vorgeschrittenen
Taboparalyse mit Atrophia optici und völliger Erblindung.
Gutachten: Die Krankheit bestand schon zur Zeit des Unfalls: die
Tatsache, dass W. am 3. IV. 1895 einen Arzt wegen Angenleidens, welch
letzteres nach Lage der Dinge mit der jetzigen Erblindung in Zusammen-
hang gebracht werden muss, konsultierte, spricht ebenso dafür, dass die An-
fänge der jetzigen Krankheit vor dem Unfall bestanden haben, wie die Tat-
sache, dass bereits am 11. 1V. 1895 ein ausgesprochener Sehnervenschwund
augenärztlicherseits konstatiert wurde, entschieden dagegen spricht, dass diese
Opticusatrophie sich in der Zeit von 5 Tagen entwickelt haben sollte.
Hingegen muss angenommen werden, dass der Unfall in erheblichem
Masse beschleunigend auf den Verlauf der Krankheit wirkte, speziell auch
auf das Fortschreiten der Sehnervenatrophie. Die Mitarbeiter des W. geben
übereinstimmend an, dass sie an ihm bis zum Unfalltage nichts Krankhaftes
bemerkt haben und es muss nach diesen Zeugenaussagen angenommen werden,
dass die Krankheit, dio unzweifelhaft schon vor dem Unfall bestand, erst
nach diesem so schwere Symptome hervorrief, dass dadurch die Arbeits-
fähigkeit des W. vernichtet wurde.
Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten.. 557
Also: Paralyse bestand schon vor dem Trauma, wurde aber durch
dasselbe in ihrem Verlauf beschleunigt.
13. M. D., 50 Jahre alt, Zimmerer. Seit 22 Jahren in kinderloser
Ehe verheiratet. Bis Unfall nie erheblich krank gewesen. Lues und Alkoho-
lismus negiert. Von jeher soll er sehr still und wenig mitteilsam gewesen
sein, seine Sprache war immer langsam und stotternd, sein Gang bedächtig.
Unfall im Februar 1900: ein umfallender Stempel schlug ihm gegen
die Stirn. Bald darauf Beule an Stirn, die nach einigen Tagen wieder ver-
schwand. Er arbeitete bald weiter, klagte aber später wiederholt über
Kopfschmerzen. Im April 1900 Depression. Im August 1900 soll er Mit-
arbeitern gegenüber Grössenideen geäussert, auch ein verändertes Wesen ge-
zeigt haben und sehr niedergedrückt gewesen sein. Ende Oktober deutliche
schwachsinnige Grössenideen (er will die Provinz Posen kaufen und König
von Polen werden). Darauf Tobsuchtsanfälle.
Die Untersuchung im Dezember 1900 ergab eine typische vorgeschrittene
progressive Paralyse.
Gutachten: Die Verletzung war zu unerheblich (keine Schädelver-
letzung, keinerlei Zeichen von Hirnerschütterung, kein Shock, kein Kranken-
lager, D. arbeitete ohne Unterbrechnung weiter), als dass die Paralyse durch
das Trauma hervorgerufen sein könnte.
Wohl aber war die erlittene Kopfverletzung imstande, die bereits
vorher in der Entwicklung begriffene, latent verlaufene, für Laien noch un-
kenntliche Gehirnkrankheit zum schnelleren Ausbruch und Ablauf zu bringen,
zumal ein gewisser zeitlicher Zusammenhang zwischen Unfall und dem Auf-
treten schwererer Symptome vorhanden ist. Das Hervortreten von Grössen-
ideen in exzessiver Weise und Tobsuchtsanfällen im Oktober 1900 bekundet
bereits die volle Entwicklung der Krankheit zu dieser Zeit; bei dem ge-
wöhnlichen nicht galoppierenden Verlauf der Paralyse kann man annehmen,
dass, wenn solche Grössenideen sich zeigen, der erste Beginn der Krankheit
schon 1 Jahr und länger zurückzuverlegen ist. Dies würae also vor dem
erlittenen Unfall sein.
- Also: Der Unfall traf ein scbon vorher krankes Gehirn, machte aber
die Erscheinungen der Krankheit nach aussen hin deutlich und brachte so-
mit eine erhebliche Verschlimmerung der Krankheit und eine Beschleunigung
ihres Verlaufs.
14. F. V., 50 Jahre alt, Maurer. Hered. 0. Bereits vor dem Unfall
öfter Doppelsehen. Sonst gesund gewesen.
Unfall am 6. VIII. 1895: V. fiel 4!, m tief herunter, erlitt eine Kopf-
verletzung und einen Bruch der linken 3. bis 5. Rippe. Bereits Oktober 1895
fiel eine ungemein zittrige Schrift bei V. auf, er war sehr „ungebärdig“. All-
mähliche Zunahme der Symptome. Am 1. VIII. 1896 werden bei der ärıt-
lichen Untersuchung somatische Paralyse-Zeichen festgestellt, in der Nacht
vom 31. XII. 1896 zum 1. I. 1897 Suicid durch Erhängen, nachdem V. mehrere
Tage vorher wirre Reden geführt hatte.
Die Autopsie ergab die typischen, bereits stark vorgeschrittenen Ver-
änderungen der progressiven Paralyse.
Gutachten: Für die Annahme, dass das Leiden bereits vor dem
6. VIII. 1895 begonnen hat, spricht 1. die Tatsache, dass die bei der Sektion
gefundenen Veränderungen sehr hochgradig waren (sie deuten also auf einen
schon längere Zeit zurückliegenden Anfang des Leidens), 2. das Vorhanden-
sein von Doppelbildern vor dem Unfall (dieses Doppelsehen ist in Beziehung
zu der späteren Krankheit zu bringen), 3. die bereits 2 Monate nach dem
Unfall sich zeigende auffallend zittrige Schrift (was auch darauf hindeutet,
dass die Krankheit schon vor längerer Zeit begonnen hatte).
Unzweifelhaft war aber der schwere Unfall, welcher zu langem
Krankenlager führte und mit einer nicht unbedeutenden Kopfverletzung ein-
herging, wohl geeignet, den Verlauf der Krankheit erheblich zu beschleunigen.
Also: Paralyse schon vor dem Trauma, ihr Verlauf aber durch die
Verletzung erheblich beschleunigt.
558 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
15. F. E., Maurer, 58 Jahre alt. Vor dem Unfall und zwar im Jahre 1888.
Kopfschmerzen, öfter Hitze im Kopf, Schmerzen im Rücken und in den
Oberschenkeln, sonst gesund gewesen.
Unfall am 15. xí. 1889: Durch einen in einem Brette steckenden Nagel
verletzte sich E. den rechten Daumen. Dann Phlegmone, welche ausheilte,
aber eine erhebliche Beschränkung der Bewegungsfähigkeit hinterliess. Juni
1890 Depression des Gemütszustandes, dieselbe verstärkt sich stetig.
Pfingsten 1891 deutliche progressive Paralyse, 15. VI. 1893 Exitus. Die Au-
topsie stellt fest: progressive Paralyse, Krebs des Magens, Dickdarms und
Netzes, Lungenentzündung.
Gutachten: Paralyse-Beginn schon vor dem Unfall (bereits im
Jahre 1888 Kopfschmerz etc.). Bis zum Unfall hatte aber das Leiden noch
nicht die Höhe erreicht, um E. in seiner Erwerbsfähigkeit zu hindern. Nach
dem Trauma und dem sich anschliessenden langen und schweren Kranken-
lager (mit Sorgen wegen des Zustandes der rechten Hand) sehen wir im
Juni 1890 Stadium der Depression, April 1891 Erregtheit, Juni 1891 geistige
Schwäche und Grössenideen.
Also: Unfall hat den vollen Ausbruch des Leidens beschleunigt in der
Weise, dass ohne ihn E. möglicherweise noch längere Zeit arbeitsfähig ge-
wesen wäre.
Es kann jedoch, da der Exitus erst mehr als 5 Jahre nach Beginn des
Leidens eintrat (die Durchschnittsdauer der Krankheit demnach überschritten
wurde), nicht behauptet werden, dass durch die Zwischenkunft des Unfalls
der Tod vorzeitig erfolgt ist. E. ist infolge des Unfalls früher arbeits-
unfähig geworden, nicht aber früher gestorben als es ohne den Unfall
geschehen wäre. Zudem sind die Haupttodesursachen bei E. die Lungen-
entzündung und das Karzinom gewesen.
16. J. H., 46 Jahre alt, Heizer. Heredität 0. 20 Jahre verheiratet.
1 Abort der Frau im 3. Monat. 1 gesundes Kind. Als Kind Diphtherie, beim
Militär Flecktypbus. Sonst gesund gewesen. Nie Gelenkrheumatismus.
Alkohol mässig. Lues wird negiert. Vor dem Unfall zeitweise Schwindel-
anfälle. Bei der Frau des H. sind festzustellen: Atrophia optici,
Pupillendifferenz, reflektorische Pupillenstarre, Sprach- und
Intelligenzstörung, lebhafte Kniereflexe, Analgesiean den Unter-
schenkeln (demnach Paralysis progressiva bezw. eine organische Erkrankung
des Zentralnervensystems, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine
Syphilisinfektion zurückzuführen ist).
Unfall am 31. VII. 1903: Beim Oeffnen eines Dampfhahns eines Kessels
wurde ihm durch Ausströmung von Nebendampf das Gesicht verbrüht. Da
er wegen des ausströmenden Dampfes nicht gleich gut sehen konnte, stiess
er mit dem Kopf gegen die Ummauerung des Kessels und zog sich hierbei
eine leichte Stirnverletzung zu. Bereits am folgenden Tage nahm er die
Arbeit wieder auf. Seitdem aber Augen schwach, Schwindelanfälle, häufig
Kopfschmerzen, Sprache und Schrift schlechter. Wegen „langsamen Fort-
schreitens des Verfalles seiner körperlichen Kräfte und seines geistigen
Zustandes“ konnte er immer weniger gut sein Arbeitspensum leisten, er
wurde seines verantwortlichen Postens als Heizer enthoben und bis zum
8. IV. 1904 nur noch als Kohlenkarrer beschäftigt. Von dann an keine
Arbeit mehr. `
Die Untersuchung vom 80. IV. 1904 ergibt eine typische vorgeschrittene
progressive Paralyse mit Aorteninsuffizienz und -stenose.
Gutachten: 1. Das Herzleiden steht nicht in ursächlichem Zusammen-
hang mit dem Unfall.
2. Unfall za unerheblich, als dass er Paralyse erzeugen könnte
(unbedeutende Verletzung ohne Beteiligung des Schädelknochens oder Gehirns
und ohne Shockwirkung, keine Bewusstlosigkeit, H. nahm bereits am folgenden
Tage die Arbeit wieder auf). Ferner ist in Anbetracht des gegenwärtigen
vorgeschrittenen Stadiums der Paralyse bei H. anzunehmen, dass das Leiden
zur Zeit des Unfalls bereits bestand und in Entwicklung begriffen war. Für
diese Annahme spricht auch das Vorhandensein von Schwindelanfällen vor
Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 559
dem Unfall (dieselben können allerdings auch als Folge des Herzfehlers
betrachtet werden). Einen Hinweis auf die eigentliche Ursache der
bei dem Verletzten konstatierten progressiven Paralyse gibt
uns aber der Umstand, dass seine Frau an einer organischen,
mit Wahrscheinlichkeit auf Syphilis zurückzuführenden Hirn-
krankheit leidet, und man wird unter diesen Umständen nicht
fehlgehen, wenn man annimmt, dass das Hirnleiden des H. gleich-
falls die Folge einer früher stattgehabten Syphilis ist, welche
derselbe auf seine Frau übertragen hat (oder umgekehrt!) und
dass demnach diese Syphilis die gemeinsame Ursache der Er-
krankung beider Ehegatten ist. (Konjugale Paralyse.)
8. Wohl aber vermochte der Unfall die bereits vorhanden gewesene,
bis dahin latent verlaufene Krankheit manifest zu machen, zum schnelleren
Verlauf, zur Erwerbsbeeinträchtigung und schliesslich zur Arbeitsunfähigkeit
zu führen. Ohne den Unfall hätte H. möglicherweise noch längere Zeit in
leicher Weise und für den gleichen Lohn wie vor der Verletzung arbeiten
önnen.
Also: Paralyse durch den Unfall nicht hervorgerufen, wohl aber durch
denselben in ihrem Verlauf beschleunigt.
17. A O., 53 Jahre alt, Arbeiter. Heredität 0. 28 Jahre verheiratet.
2 gesunde Kinder, 5 Kinder an Kinderkrankheit gestorben. Lues zugegeben.
Laut Zeugenaussagen war O. bereits vor dem Unfall konfuse und vergesslich,
er führte oft Aufträge überhaupt nicht, häufig auch verkehrt aus und „be-
nahm sich bezüglich seines geistigen Zustandes oft so, wie man es von einem
so alten Manne nicht voraussetzt“. (Angabe eines Mitarbeiters.)
Unfall am 27. XII. 1898. Eine polierte Holzspule von etwa 80 g Schwere
flog dem O. mit der runden polierten Fläche gegen das Gesicht. Quetsch-
wunde der Haut der linken Wange und Nase. Keichliche Blutung aus der
Nase, die die Einführung eines Tampons erforderte. Später noch öfter
Nasenblutungen. Als O. 3 Wochen nach dem Unfall wieder zu arbeiten ver-
suchte, zeigte sich, dass er die Farben verwechselte und sich ungeschickt
anstellte, weshalb er zu arbeiten aufhörte.
Die Untersuchung am 4. XI. 1899 ergibt eine vorgeschrittene progressive
Paralyse.
Gutachten: Die Paralyse bestand schon vor dem Unfall (Zeugen-
aussagen über das Wesen des O. vor dem Unfall!). Auch war das Trauma
zu unerheblich, um eine Paralyse hervorrufen zu können. Zudem Lues zu-
gegeben!
Nach dem Unfall verschlimmerte sich aber der Zustand erheblich, so
dass der bis zum Unfall völlig erwerbsfähige Mann wenige Wochen nach dem-
selben erwerbsunfähig war, auch zeigten sich schon einige Tage nach dem
Trauma schwere Symptome geistiger Störung. Die mit dem Unfall ver-
bundenen schweren Blutungen aus der Nase und die dadurch gesetzte
Schwächung des Organismus können sehr wohl eine Verschlimmerung des
Leidens herbeigeführt haben.
Also: Paralyse, schon vor dem Unfall vorhanden, wurde durch den
Unfall und seine mittelbaren Folgen erheblich verschlimmert.
18. St., 37 Jahre alt, Kaufmann. Im Jahre 1893 plötzlich Anfall von
Bewusstlosigkeit und Hinfallen. Solche Anfälle wiederholten sich später,
auch traten häufig Schwindelanfälle auf, daneben machte sich eine grosse
sychische Reizbarkeit geltend. 1895 Unsicherheit auf den Beinen, Ver-
tangsamung der Sprache, Depression des Gemüts, starke Erregbarkeit.
Sommer 1898 Besserung.
Unfall am 12. I. 1899. Auf einer wendelartig gebauten Treppe, auf
welcher man leicht einen Fehltritt tun und zu Fall kommen konnte, stolperte
St. und fiel hinab. Abschürfungen an der Stirn, Bluterguss unter die Haut
oberhalb des rechten Auges, Schwellung beider Handgelenke. März 1899
waren die Wunden an Kopf und Händen geheilt, doch zeigten sich die
nervösen Symptome, welche früher schon vorhanden waren, erheblich ver-
schlimmert: Geschwätzigkeit, fortwährende Heiterkeit, starke Gedächtnis-
schwäche, unleserliche Schrift, Intelligenzschwäche, stärkere Gehstörung.
560 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
Die Untersuchung im August 1899 ergibt eine vorgeschrittene Tabo-
aralyse.
P Gutachten: Die Krankheit bestand bereits vor dem Unfall. Durch
die Kopfverletzung trat dann eine deutliche Verschlimmerung ein. Es ist
möglich, dass auch ohne den Unfall die Symptome sich zu der jetzigen
Höhe gesteigert hätten, doch kann andererseits der ungünstige Eindnss des
erlittenen Unfalls nicht bestritten werden, zumal Unfall und Verschlimmerung
in zeitlichem Zusammenhang stehen.
Gleichfalls kann nicht bestritten werden, dass das Ausgleiten auf der
Wendeltreppe auch ohne Einfluss des schon bestehenden krankhuften Zu-
standes des St. zustande kommen konnte, also nicht schon Folge der Krank-
heit war, zumal die Oertlichkeit laut Zeugenaussage ein leichtes Fallen auch
für Gesunde ermöglichte.
Die lange Dauer der Krankheit hat in Anbetracht der Diagnose „Tabo-
paralyse“ nichts Auffälliges.
Also: Taboparalyse, schon vor Unfall vorhanden, wurde durch denselben
ungünstig beeinflusst.
19. Hierher gehört schliesslich der folgende Fall, in welchem das Trauma
den Ausbruch und Verlauf einer erst später einsetzenden Paralyse insofern
beschleunigte, als es eine körperliche Krankheit verursachte bezw. ver-
schlimmerte, welch letztere die Widerstandskraft des Verletzten herabsetzte.
Auf diese Weise heschleunigte der Unfall auf indirektem Wege, sozusagen
auf dem Umwege der körperlichen Erkrankung, den Ausbruch der Paralyse
und führte indirekt einen vorzeitigen Tod herbei.
H. E., Monteur, 33 Jahre alt. Ueber das Vorleben ist nichts Sicheres
bekannt. Syphilis negiert.
Unfall am 11. Il. 1902. Ein heruntergleitender Elevator legte sich mit
voller Wucht auf die linke Seite seiner Brust, so dass er in Sitzstellung ge-
drückt wurde und eine Brustquetschung erlitt. E. blieb acht Tage noch an
Ort und Stelle bei der Arbeit. Als Folge dieses Unfalls (oder wenigstens
durch den Unfall verschlimmert) wurde dann ärztlicherseits eine Aorten-
insuffizienz und Eiweissharnen festgestellt. Erst im Frühjahr 1903 zeigten
sich deutliche Zeichen einer Nervenkrankheit. Bis dahin ist in den ärzt-
lichen Gutachten nichts von einer geistigen Veränderung vermerkt. 18. IV. 1903
Zustand von Bewusstlosigkeit und tobsüchtiger Erregung. Ein solcher Anfall
wiederholte sich am 29. X. 1903 und später noch mehrmals. Verschlimmerung
des geistigen Zustandes. Ueberführung in Anstalt.
Die Untersuchung im Februar 1904 ergab das Endstadium der pro-
gressiven Paralyse. Exitus am 30. III. 1904 an paralytischem Marasmus.
Gutachten: Der Unfall war nicht geeignet, eine Paralyse hervor-
zurufen (keine Kopfverletzung, keine Bewusstlosigkeit, kein Erbrechen;
E. arbeitete 8 Tage wie früher weiter). Ein direkter ursächlicher Zusammen-
hang zwischen der Paralyse und dem Unfall besteht demnach nicht.
Hingegen ist anzunehmen, dass die anerkannten Folgen des Unfalls,
das Herz- und Nierenleiden, auf den Verlauf der Paralyse einen ungünstigen
Einfluss ausübten. Der schnelle Verfall des E. und der frühe Tod (11 Monate
nach den ersten deutlichen Symptomen) wurde wohl dadurch bedingt, dass
die Krankheit einen Menschen mit schwerer Herz- und Nierenkrankheit ge-
troffen hatte. E. hätte den Schädlichkeiten, welche seine Geisteskrankheit
hervorgerufen haben, eine grössere Widerstandskraft entgegensetzen können,
wenn er nicht infolge des Önfalls in schwerer Weise körperlich erkrankt ge-
wesen wäre.
Also: Der infolge Gehirnerweichung erfolgte Tod des E. ist vorzeitig
eingetreten,weil die Folgen desUnfallsseinenKörper erheblich geschwächt hatten.
III. Fälle, in denen vor dem Unfall keinerlei Zeichen
von Paralyse vorhanden waren, in denen das Trauma die
Krankheit hervorrief bezw. auslöste.
20. H. S., Zimmerer, 37 Jahre alt. Hered. 0. Seiner Ehe entstammt
ein Kind, welches seit Geburt blind ist (gonorrhoische Augenentzündung).
Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 561
Bis Unfall stets völlig gesund, insbesondere nie irgendwelche Kopfbeschwerden
oder geistige Abnormität. Lues, Gonorrhoe und Alkoholabusus negiert.
War Soldat.
Unfall am 22. III. 1899: S. brach mit einem nicht gut befestigten
Schifter herunter und fiel etwa 3 m tief auf die Abdeckung des obersten Ge-
schosses, und zwar so, dass er mit dem Hinterkopf auf einen Balken in der
Mansarde aufschlug. Er verlor die Besinnung und kam erst wieder zu sich,
als seine Kollegen ihm den Kopf mit Wasser kühlten. Am Abend desselben
Tages Erbrechen.
Am folgenden Tage arbeitete er weiter, wurde jedoch nach drei Tagen
aus seiner Stellung entlassen; ebenso musste er in der Folgezeit des öfteren
(etwa jede Woche) seine Stellung wechseln, da „sein Kopf infolge des Unfalls
leidend war“.
September 1899 starke Erregung, „stockende“ Beantwortung der Fragen,
leerer Gesichtsausdruck, Intelligenzschwäche und lebhafte Patollarrofloxe ärzt-
licherseits festgestellt, und „traumatische Neurose“ seitens des Nervenarztes
diagnostiziert. Gleiche Diagnose seitens desselben Arztes am 22. III. 1900.
Hingegen nehmen bereits damals zwei andere Gutachter das Bestehen einer
progressiven Paralyse an. 27. IlI. 1900 Aufnahme im Krankenhaus am Urban,
von wo aus der Verletzte schon nach 24 Stunden in die Irrenanstalt zu Herz-
berge überführt werden musste. Meine Untersuchung fand am 29. IX. 1900
statt und ergab das ausgesprochene Bild der Paralyse ( ochgradige Intelligenz-
schwäche, Sprachstörung, Pupillenstarre, Schwäche des rechten N. VII und XII,
ungleiche, lebhafte Kniereflexe, Hyperalgesie an den Unterschenkeln, S. machte
Dummheiten, ging statt auf den Abort auf den Boden und defäzierte dort,
fand oft nicht heim, so dass er durch die Polizei nach Haus gebracht
werden musste).
Gutachten: 1. Bei der Art der am 22. III. 1899 stattgehabten Ver-
letzung (Kopfverletzung mit Hirnerschütterung [Bewusstlosigkeit, Erbrechen)
ist die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen Ausbruc
des Hirnleidens und Unfall nicht von der Hand zu weisen.
2. Diese Möglichkeit wird zur Wahrscheinlichkeit, wenn die in den
Akten befindlichen Angaben des Verletzten und seiner Frau als der Wahr-
heit entsprechend angenommen werden, insbesondere die Aussage, dass S.
bis zum Tage des Unfalls immer völlig beschwerdefrei war, drei Tage nach
dem Unfall aber seine Stellung wegen „Schwäche im Kopfe“ wechseln
musste und auch später stets nach wenigen Arbeitstagen vom Arbeitgeber
entlassen wurde, weil „sein Kopf leidend war“, dass er nach der Verletzung
unruhig und aufgeregt wurde u. s. w. Es würde alsdann eben auch ein
zeitlicher Zusammenhang zwischen Beginn der Paralyse und Unfall vor-
handen sein.
Also: es ist die Annahme nicht von der Hand zu weisen, dass S. bis
zum Unfall gesund war und dass letzterer die Ursache bezw. das auslösende
Moment der progressiven Paralyse darstellt, zumal andere ätiologische
Momente fehlen. Näheres über diesen Fall siehe später.
21. H. St., 15 Jahre alt, Formerstochter. Vater starb infolge Magen-
blutung, hatte laut Aussage der Mutter wahrscheinlich Syphilis. Mutter
gesund (von mir untersucht), hat keinmal abortiert, sie hatte eine Früh-
eburt im 7. Monat, fünf Kinder starben in den ersten zwei Wochen nach
er Geburt an Lebensschwäche. Pat. ist das letzte, einzig am Leben ge-
bliebene Kind.
Kurz nach der Geburt Blennorrhoe. Als Kind Scharlach. Sonst völlig
gesund bis zum Unfall. Nie Ausschlag. Lernte zur Zeit laufen und sprechen,
war in der Schule ganz gut und entwickelte sich geistig und körperlich in
normaler Weise.
August 1908 (Pat. war damals 18 Jahre alt) Unfall: Pat. wollte über
den Fahrdamm gehen, als gerade ein elektrischer Strassenbahnwagen heran-
kam. Derselbe schleifte sie ca. 4 m lang mit, schliesslich wurde sie unter
dem Wagen hervorgezogen, sie war etwa eine Stunde bewusstlos und hatte
Erbrechen. Beule an Stirnmitte und am Hinterkopf, Hautabschürfungen an
Armen und Beinen. Der herbeigerufene Arzt stellte eine „schwere Hirn-
662 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
erschütterung“ fest. Pat. musste sieben Wochen lang im Bett bleiben.
Während sie vorher ganz normal und beschwerdefrei war, klagte sie seit
diesem Unfall über Kopfschmerzen, sie wurde ungeschickter, bekam Zittern
der Hände, konnte allmählich nicht mehr recht denken, wurde gedächtnis-
schwach. Etwa 1!/, Jahr nach dem Unfall wurde auch eine Verschlechterun
des Sprechens und Gehens bemerkt. Sie wurde kindlicher, beschäftigte sich
den ganzen Tag über mit Perlenaufziehen und Puppen, spielte nur mit ganz
kleinen Kindern, kam mit ihren früheren, gleichaltrigen Freundinnen aus-
einander, wurde etwa wie ein 7jähriges Kind. Die zuerst im 13. Lebens-
jahre aufgetretenen Menses sind seit neun Monaten ausgeblieben. Keine
entenansprüche.
Status (April 1905, nachkontrolliert Juli 1906): Kleine, anämische
Person. Aengstlich, weinerlich. Keine deutlichen Zeichen hereditärer Syphilis.
Starke Demenz. Rechnen sehr schlecht, früher ging es angeblich gut. Urteils-
unfähigkeit. Schnalzt dauernd mit der Zunge. Typisches Silbenstolpern.
Mydriasis. Pupillenstarre. Unsicherer, wackelnder Gang. Lebhafte Patellar-
reflexe. Sensibilität intakt. Innere Organe normal.
Diagnose: Juvenile Form der progressiven Paralyse.
Gutachten: Nach den völlig glaubwürdigen Angaben der Mutter war
Pat. bis zum Trauma völlig gesund, nach dem Unfall, welcher sehr erheblich
und wohl imstande war, eine Paralyse hervorzurufen (schwere Hirnerschüt-
terung), hat sich dann allmählich das typische Bild der progressiven Paralyse-
entwickelt. Aetiologisch kommt nun aber in diesem Fall die wahrscheinlich
vorhanden gewesene Syphilis des Vaters sehr in Frage (Angabe der Mutter!
Eine Frühgeburt der Mutter, fünf Geschwister starben in den ersten zwei
Wochen nach der Geburt! Pat. ist das einzige überlebende Kind!), wie ja
überhaupt gerade bei der juvenilen Paralyse die Syphilis (der Eltern) eine
ganz besondere Rolle spielt.
Es ist anzunehmen, dass im vorliegenden Fall der Unfall die progressive
Paralyse bei dem durch die elterliche Syphilis zur Krankheit disponierten
Individuum, bei dem von Geburt an invaliden Gehirn ausgelöst hat. Ohne-
den, stattgehabten Unfall wäre die Person vielleicht dauernd paralysefrei
geblieben.
Näheres über diesen Fall siehe später.
Von den vorstehenden 21 Beobachtungen kommen eigentlich:
nur 2 (Fall 20 und 21) für die Frage: „Gibt es eine rein trau-
matische progressive Paralyse?“ in Betracht.
Bei den übrigen 19 Fällen war entweder die Paralyse schon:
vor dem Trauma vorhanden, kann also durch dasselbe nicht
hervorgerufen worden sein (Fall 4, 5, 6 [bezüglich des zweiten
Unfalls], ferner 7 bis 19), oder aber die Paralyse begann allerdings-
erst nach der Verletzung, diese war aber ihrer Unerheblichkeit
wegen durchaus ungeeignet, eine Paralyse zu verursachen (Fall 1,.
2, 3, 6 [bezüglich des ersten Unfalls]), zudem fehlte bei 3 dieser
Fälle (Fall 1, 3, 6) der zeitliche Zusammenhang zwischen Beginn
der Paralyse und dem Zeitpunkt des Unfalls.
Bei 3 der erstgenannten Beobachtungen (Paralyse bestand:
schon vor dem Unfall) blieb auch das Trauma ohne nachteiligen
Einfluss auf den Verlauf der Paralyse (Fall 4, 5, 6), was sich:
dadurch zeigte, dass ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Ver--
schlimmerung des Leidens und dem Zeitpunkte des Unfalls fehlte,
auch nahm der Verletzte bald nach dem Unfall seine Arbeit in
früherer Weise wieder auf. Hingegen ist bei den Fällen 7—19:
dem Trauma eine den Verlauf beschleunigende Wirkung zuzu-
schreiben. i
Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 568
Dass die Paralyse ın all’ diesen Fällen schon vor dem Un-
fall bestand, ergibt sich daraus, dass subjective oder objective
Symptome (Schwindel, Kopfschmerz, Augensymptome, Sprach-
störung, verändertes Wesen) bereits aus der Zeit vor dem Trauma
berichtet werden oder dass die Untersuchung bezw. die Sektion
(Fall 9 und 14) eine schon so weit vorgeschrittene Paralyse dar-
tat, dass ihr Beginn in eine Zeit vor dem Trauma zurückdatiert
werden musste, Eine Sonderstellang nimmt Fall 19 insofern ein,
als hier die Paralyse zwar noch nicht vor dem Trauma bestund,
letzteres aber die später sich einstellende Paralyse dadurch un-
günstig beeinflusste, dass es die Widerstandskraft des Organismus
durch Erzeugung eines Herz- und Nierenleidens stark herabgesetzt
hatte (s. oben).
Das Hauptinteresse bieten — wie gesagt — die beiden
Fälle 20 und 21 für die Frage der rein traumatischen Paralyse.
In beiden Fällen war die Verletzung erheblich genug, um die
Annahme zu rechtfertigen, dass durch sie eventuell eine Paralyse
hervorgerufen werden konnte, in beiden Fällen soll das Individuum
bis zum Unfall völlig gesund und beschwerdefrei gewesen sein,
ın beiden Fällen ist auch ein zeitlicher Zusammenhang zwischen
Beginn der Paralyse und Trauma vorhanden.
Nun aber war im Falle 21 — wie man mit Sicherheit an-
nehmen kann — das Individuum zur Paralyse von Geburt an
rädisponiert; der Vater hatte wahrscheinlich Syphilis, die Mutter
hatte eine Frühgeburt im 7. Monat, 5 Geschwister starben bald
nach der Geburt an Lebensschwäche, so dass Patient das einzige
überlebende Kind ist. Die elterliche Syphilis hatte das Kind mit
einem invaliden, paralyse-empfänglichen Hirn ausgestattet. Das
Trauma kam nun hinzu, um den Stein ins Rollen zu bringen;
wahrscheinlich hätte, wenn der Unfall das Gehirn nicht betroffen
hätte, irgend eine andere Schädlichkeit auf dem dazu präparierten
Boden die Paralyse zur Erscheinung gebracht; vielleicht wäre
aber auch das Individuum ohne das Trauma dauernd gesund ge-
blieben. Kurz: das Trauma hat das Leiden nicht direkt
und allein verursacht, sondern nur „ausgelöst“; ohne die
vorhandene Disposition des betroffenen Individuums hätte der Un-
fall nicht in der Weise wirken können, wie er gewirkt hat; bei
völlig gesundem Gehirn hätte er wohl nicht zur Paralyse geführt.
Anders bei Fall: 20: bier ist weder hereditäre Belastung,
noch Lues, noch Alkoholismus, noch irgend ein anderes ätiolo-
gisches Moment in der Anamnese vorhanden, welches bei Er-
zeugung der Paralyse neben dem Trauma hätte wirksam sein
können; die Blindheit des Kindes ist auf eine Blennorrhoe zurück-
zuführen. Hier scheint also das Trauma die Paralyse wirklich
hervorgerufen zu haben. Allerdings sind wir bezüglich der Vor-
geschichte lediglich auf die Angaben des Verletzten und seiner
Frau angewiesen. Ob nicht der Verletzte, der sicher wohl
Gonorrhoe gehabt hat und sie leugnet, auch mal syphilitisch.
584 Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten.
infiziert war und so sein Gehirn zu jener Erkrankung vorbereitet
hat, welche dann die Kopfverletzung auslöste?
NachallemmöchteichmichaufGrundmeinesMaterials
undin Anbetracht der Tatsache, dass auch die ganz über-
aus seltenen Fälle von anscheinend rein traumatischer
Paralyse nicht über jeden Zweifel erhaben sind, auf
Seite derer stellen, welche eine lediglich durch Trauma
erzeugte Paralyse bei nicht prädisponiertem Gehirn
nicht anerkennen.
Ein Trauma kann bei vorhandener Prädisposition
[Hereditāt, ererbte oder akquirierte Syphilis!)] eine progressive
aralyse auslösen, es kann sicherlich eine bestehende
Paralyse verschlimmern, ihren Verlauf beschleunigen
und das bis zum Unfall vielleicht noch völlig arbeits-
und geschäftsfähige Individuum in kurzer Zeit erwerbs-
und geschäftsunfähbig machen, es kann ferner das Gehirn
zum Locus minoris resistentiae machen, an welchem
späterhin eine andere Schädlichkeit (insbesondere das
syphilitische Virus) leichter als sonst einsetzen wird, es
kann aber nicht bei völlig gesundem, intaktem, bis dahin
durch nichts geschädigtem Gehirn an sich eine Paralyse
hervorrufen. Wenn die Tierexperimente das Bild des para-
lytischen Blödsinns ergaben, so sind diese Bilder meines Er-
achtens doch nur als paralyseähnliche Erscheinungen, nicht
als wahre Paralysen, aufzufassen, ebenso wie beim Menschen
z. B. die Dementia posttraumatica (Köppen) der Paralyse sehr
äbnlich sehen kann, ohne jedoch mit ihr identisch zu sein.
Stellen wir somit einerseits an das verletztelndivi-
duum die Bedingung einer (ererbten oder erworbenen)
Disposition zur Erkrankung, so fordern wir auch anderer-
seits — wie oben ausgeführt — vom Trauma selbst eine ge-
wisse Erheblichkeit (Kopftrauma, Hirnerschütterung, starker
psychischer Shock oder langdauerndes, mit Sorgen verknüpftes
Krankenlager im Anschluss an die Verletzung) sowie einen ge-
wissen zeitlichen Zusammenhang zwischen Beginn der
Paralyse und Tag des Unfalls (mehrere Wochen bis zu etwa
1!/; Jahren), um von einer durch Trauma ausgelösten Paralyse
sprechen zu können. —
Im Anschlusse an diese Ausführungen sei es noch gestattet,
an der Hand der von der obersten Behörde des Versicherungs-
wesens, dem Reichs-Versicherungsamte, getroffenen Entscheidungen
zu prüfen, in welcher Weise in konkreten Fällen die Frage nach
dem Zusammenhange zwischen Paralyse und Unfall von juristischer
Seite aus entschieden wurde.
Es liegen nach dieser Richtung hin die Entscheidungen über
4 Fälle vor, in 3 derselben wurde der Zusammenhang anerkannt,
1) Wie Fall 16 (konjugale Paralyse) lehrt, kann hierin event. die Unter-
suchung der Frau des Verletzten gewissen Aufschluss und einen Hinweis auf
die eigentliche Ursache der beim Verletzten konstatierten Paralyse geben.
Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten. 565.
in einem geleugnet, und zwar schlossen sich in allen 4 Fällen
die Entscheidungen des Reichs-Versicherungsamtes den ärztlichen
Obergutachten an. In kurzem Auszuge mögen diese 4 Ent-
scheidungen hier folgen: '
l. Aus den „Amtlichen Nachrichten des Reichs-Versicherungsamts“,
Bd. XXII, 1906, No. 7. Prof. Dr. Flechsig: Obergutachten über die Frage,
ob ein peripheres Trauma (hier eine Schalterverletzung): etwa in Verbindung
mit psychischer Erregung (Shock, Schreck, Angst, Schmerz) imstande ist,
eine fortschreitende Hirnlähmung (Dementia paralytica) unmittelbar aus-
zulösen.
Es handelt sich am einen Brauer Sch., der znr Zeit des Unfalls
40 Jahre alt war. Ueber seine Vorgeschichte bis zum Trauma wird nichts
erwähnt, insbesondere nichts über Syphilis, Heredität oder Alkoholabusus:
(Patient war Brauer!), nur gibt die Frau an, dass er bis zum Unfall geistig
gesund war.
Unfall am 6. V. 1901: Sch. glitt aus und erlitt Auskugelung des linken
Armes. Nachmittags tat ihm angeblich alles weh, er war blass, nieder-
eschlagen, verstört, ohne Appetit, erbrach Schleim und konnte in der
Nacht nach dem Unfalltage wegen Schmerzen nicht schlafen. 8. V. 1901
leichte Schwellung der linken Schulter und geringes Reiben im Gelenk.
13. V. bis 22. VI. 1901 arbeitete Sch. wieder, klagte aber über Schmerzen
im Hinterkopf. 15. VI. machte er einen groben Fehler beim Köchen des
Biers. 23. VI. solche Verschlimmerung, dass er in die Anstalt überführt
werden musste, daselbst wird Paralyse festgestellt. Tod am 15. V. 1902 an
Eiterfieber nach eitriger Pleuritis. Die Sektion bestätigt die Diagnose:
Dementia paralytica.
Flechsig führt in seinem Gutachten aus: Das Trauma war keinesfalls
schwer. Ueber einen Schreck durch den Unfall selbst wird nichts berichtet.
Aber 2?!|, Stunden nach dem Unfall sah Sch. verstört und blass aus und
schlief auch die folgende Nacht nicht. In diesem Benehmen zeigt sich eine
erhebliche Haltlosigkeit und ein Mangel an Selbstbeherrschung, dieses Ver-
halten ist besonders auffallend im Hinblick auf die Angabe der Frau, dass
Sch. früher Schmerzen gut ertragen habe und nicht wehleidig war. (War
Sch. nicht Alkoholiker? Ref.) Flechsig betrachtet dieses Benehmen, die
psychische Widerstandslosigkeit, als Vorläufererscheinung der 5 Wochen später
manifesten Paralyse, wofür auch das schnelle Abklingen des Zustandes spreche.
Der Unfall kann demnach für das Entstehen der Paralyse kaum ver-
antwortlich gemacht werden. Auch hat der Unfall bezw. der sich an ihn
anschliessende paralytische Erregungszustand den Verlauf der Paralyse nicht
begünstigt, zumal dieser Zustand nach einem Tag bereits abgeklungen und
Sch. nach 6 Tagen so weit geheilt war, dass er wieder arbeiten konnte. Erst
am 15. VI. zeigten sich die ersten Zeichen schwerer Geistesstörung; man
kann also ein auffallend rasches Fortschreiten der Paralyse im Anschluss an
das Trauma nicht sicher behaupten. Nur der Iltägige Erregungszustand ist
durch den Unfall hervorgerufen. Weitere Beziehungen zwischen Trauma und
Paralyse sind nicht nachweisbar. Das Trauma hat also für den Ausbruch.
der Paralyse und den Tod des Sch. die Bedeutung einer wesentlichen mit-
wirkenden Ursache nicht gehabt.
Diesem Obergutachten hat sich das Reichs-Versicherungsamt ange-
schlossen und deshalb die Ansprüche der Erben und der Witwe des Sch. in
Uebereinstimmung mit den Vorinstanzen abgelehnt.
2. Aus den „Amtlichen Nachrichten des Reichs -Versicherungsamtes“,,
XVII, 1901, S. 616. Prof. Dr. Goldscheider: Öbergutachten, betreffend
den ursächlichen Zusammenhang zwischen Gehirnerweichung und einem.
Betriebsunfall, bei dem nur ein Bein verletzt wurde.
Maurerpolier K., 41 Jahre alt, 19 Jahre verheiratet. Aus der Ehe-
stammt eine l8jährige Tochter. 5 Kinder starben, 3 im Alter von mehreren
Monaten, 1 gleich nach der Entbindung, 1 im Alter von 1!/ Jahren. Kein
566 Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten.
Abort. Bis auf eine Lungenentzündung nie krank. (Ob er Syphilis hatte,
wird nicht angegeben, nur erwähnt, dass bei der Untersuchung Zeichen von
Syphilis nicht gefunden wurden!)
Unfall 18. IV. 1899: Beim Heruntertreten von einem Fensterbrett
knickte K. nach vorn um und fiel auf die rechte Kniescheibe (Betonboden).
Keine Kopfverletzung. Keine Zeiehen von Hirnerschütterung. Als K. am
2. X. 1899 wieder als Polier tätig war, zeigte sich Vergesslichkeit und Mangel
an Umsicht, so dass er am 25. XI. 1899 von der Firma entlassen wurde.
23. II. 1900 wurden Knie- und Pupillenreflexe erloschen gefunden.
28. IV. 1901 geringe Arteriosklerose, II. Aortenton verstärkt. Keine
Zeichen früherer Syphilis. Am rechten Schienbein Knochenverdickung, die
vom Unfall herrühren soll. Im übrigen Bild der Paralyse.
Goldscheider hält es fär wahrscheinlich, dass durch die Verletzung
des Beins zunächst eine Erkrankung der Hinterstränge des Rückenmarks
erzeugt worden ist, an welche sich in schnellem Verlaufe die Gehirnerkrankung
angeschlossen hat. Sollte Syphilis vorgelegen haben, was nicht erwiesen sei,
so wäre durch sie der Boden für die verhängnisvolle Wirkung des Unfalls
vorbereitet worden.
Die Paralyse ist als Folge des Unfalls anzusehen.
Auf Grund dieses Gutachtens hat das Rekursgericht die Annahme der
Vorinstanzen, dass die Gehirnerkrankung mit dem Unfall nicht in ursäch-
lichem Zusammenhange steht, für widerlegt erachtet und dem Verletzten
die Vollrente gewährt.
Die soeben angeführten Fälle Flechsigs und Gold-
scheiders haben mehrere gemeinsame Punkte: in beiden traf
ein verhältnismässig unerhebliches, peripheres Trauma ein bis
dahin anscheinend gesundes Individuum, in beiden entwickelte
sich dann im Anschluss an dieses Trauma in nicht langer Zeit
eine Paralyse. Für beide gilt, dass der Unfall ohne Kopfverletzung,
Zeichen von Gehirnerschütterung oder psychischen Shock einher-
ging, er erscheint also nach der übereinstimmenden Meinung
der Autoren durchaus nicht imstande, eine Paralyse direkt
hervorzurufen. Im Goldscheiderschen Falle kommt — wie
übrigens bereits Stolper ausführt — als ursächliches Moment die
Syphilis sehr wohl in Frage: 5 Kinder klein gestorben, Arterio-
sklerose mit klappendem II. Aortenton bei dem 41jährigen Mann,
Knochenverdickung am rechten Schienbein (die vom Verletzten
allerdings auf den Unfall zurückgeführt wird, trotzdem in der Un-
fallanzeige nur von einem Fall auf die Kniescheibe die Rede ist).
Dass die Untersuchung keine manifesten Zeichen früherer Syphilis
ergab, beweist nichts; wie selten findet man bei Paralytıkern
solche Zeichen! Vielleicht sind sogar — wie oben erwähnt — die
frühzeitige Arteriosklerose und die Schienbeinverdickung als solche
aufzufassen. In der Anamnese wird überhaupt nicht erwähnt, ob
der Verletzte früher Syphilis hatte.
Meiner Ansicht nach traf das Trauma ein zur Paralyse
disponiertes Gehirn; der Unfall war zu unerheblich, als dass er
eine Paralyse (oder auch — wie Goldscheider annimmt — zu-
erst eine Tabes) erzeugen konnte, er hat aber auf dem vorbereiteten
Boden!) die ersten deutlichen Zeichen des Hirnleidens herauf-
1) Von dieser Möglichkeit spricht übrigens auch Goldscheider in
seinem Gutachten.
Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 567
beschworen, die bereits, wenn auch latent, bestehende Paralyse
offenkundig gemacht; denn ein zeitlicher Zusammenhang zwischen
Auftreten von eindeutigen Paralyse-Zeichen und Trauma lässt sich
nicht ableugnen (bis Unfall anscheinend gesund — 18. IV. 1899 Un-
fall — 2. X. 1899 bereits vergesslich und wenig umsichtig — 23. II. 1900
Fehlen der Pupillen- und Kniereflexe). Der Goldscheidersche
Fall kann demnach durchaus keinen Anspruch darauf machen, als
Fallvon rein traumatischer Paralyse zu gelten, und zwar schon
wegen der Unerheblichkeit des Unfalls und wegen der Verdächtig-
keit auf früher stattgehabte Syphilis. Er wäre unter meine Fälle
sub II (Fall 7—19) einzureihen. Die Rentenzubilligung erscheint:
jedenfalls gerechtfertigt, da ohne den Unfall der Verletzte wahr-
scheinlich noch längere Zeit erwerbsfähig geblieben wäre, die An-
nahme einer Verschlimmerung durch das Trauma also nicht
von der Hand zu weisen ist. Auch im Flechsigschen Fall war
das Trauma entschieden zu unerheblich, als dass es eine Paralyse
direkt hätte hervorrufen können. Will man mit Flechsig den
Zustand der Verletzten am Unfallstage und in der folgenden
Nacht bereits als einen paralytischen betrachten, so müsste
die Paralyse schon zur Zeit des Unfalls bestanden haben, denn
ein peripheres Trauma kann unmöglich „eine Paralyse unmittel-
bar auslösen, dergestalt, dass sie sofort mit dem Trauma deut-
lich beginnt, was hier angenommen werden müsste“. Anderer-
seits scheint doch aber das Leiden im Anschluss an den Unfall
einen sehr schnellen Verlauf genommen zu haben und — im
Gegensatz zur Zeit vor dem Unfall, wo der Verletzte gesund und
arbeitsfähig schien — stetig und rasch vorgeschritten zu sein (bis
Unfall nichts Auffälliges—6. V. 1901 Unfall— vom 13. V. an Kopf-
schmerz — 15. VI. verkehrte Handlung — 23. VI. Ueberführung in
Irrenanstalt erforderlich — 15. 5. 1902 Exitus). Ob übrigens der
Verletzte früher syphilitisch krank war oder nicht, wird nirgends
erwähnt.
Eine Berücksichtigung verdient schliesslich die Ueberlegung,
ob nicht das Trauma (wie in meinem Fall 7) schon eine Folge
des Hirnleidens war, dass also der Patient am 6. V. 1902 einen
paralytischen Anfall hatte, in demselben ausglitt und dann noch
einen Tag lang die oben erwähnten psychischen Störungen seines
Anfalls zeigte, um darauf in raschem Tempo seinem Leiden zum
Opfer zu fallen. Ich erwähne hierbei ausdrücklich, dass niemand
Zeuge des Unfalls war!
Wie dem auch sei, im Flechsigschen Fall besteht — wie
im Goldscheiderschen — lediglich ein zeitlicher Zusammen-
hang zwischen ersten deutlichen Paralyse-Zeichen und Unfall; für
die Frage, ob es eine rein traumatische Paralyse gibt oder nicht,
haben beide Fälle keine Beweiskraft, denn ın beiden fehlt der
Nachweis, dass das Individuum bis zum Unfall ein völlig intaktes
Gehirn hatte, ın beiden ist auch der Unfall zu unerheblich, als
dass man auf sein Konto den Ausbruch einer Paralyse setzen
könnte.
668 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
3. Aerztliche Sachverständigen-Zeitung, 1897, No. 8: Entscheidung des
Reichs-Versicherungsamtes: Geisteskrankheit und Tod an Gehirnparalyse durch
Unfall auf Grund folgenden Gutachtens des Direktors der Irrenanstalt Dziekanka
bei Gnesen:
K., Landwirt, 88 Jahre alt. Hered. 0. 2 Kinder. „Wie der Gesund-
heitszustand bis zu dem Unfall war, geht aus den beigefügten Akten nicht
hervor.“ Syphilis konnte bei der Sektion nicht gefunden werden, auch
während der Anstaltsbeobachtung keine Erscheinung von Syphilis. Die Frau
gibt an, dass K. bis zum Trauma ein sehr gutes Gedächtnis hatte.
Unfall am 29. X. 1890: K. wurde von der Verkuppelung einer Leitungs-
welle an seinem Rock erfasst und etwa dreimal umgeschleudert, so dass er
mit dem Kopf auf die mit Steinen gepflasterte Tenne aufschlug. Lange Zeit
bewusstlos. Zeichen von Gehirnerschütterung. In der Folgezeit Kopfschmerzen.
Allmähliche Besserung, K. nahm seine gewohnten Arbeiten wieder auf, soll
aber nach Aussage der Frau eine gewisse Geistesschwäche gezeigt haben.
Am 10. X. 1894 musste er sein letztes Amt als Postagent niederlegen.
12. XI. 1894 in Irrenanstalt, daselbst progressive Paralyse festgestellt.
21. X. 1895 Exitus, Sektion bestätigt die Diagnose.
Gutachten: Der Tod steht mit dem Unfall in Zusammenhang und ist
auf die Folgen desselben zurückzuführen.
Das Reichs-Versicherungsamt schloss sich diesem Gutachten an.
In diesem Falle war allerdings das Trauma erheblich genug,,
um ein schweres Hirnleiden erzeugen zu können, auch ist ein
zeitlicher Zusammenhang zwischen Paralyse und Unfall als wahr-
scheinlich zu bezeichnen (Oktober 1890 Unfall — dann Kopf-
schmerzen und während der ganzen folgenden Zeit gewisse Geistes-
schwäche, Aengstlichkeit, Aufgeregtheit, Vergesslichkeit — Juli
1894 eigentümliche Sprachstörung [vom praktischen Arzt Er-
krankung des Zentralnervensystems diagnostiziert] — November
1894 in der Anstalt Paralyse festgestellt — Oktober 1895 Tod).
Hingegen erscheint es.nicht genügend erwiesen, ob das Trauma
wirklich ein zur Paralyse nicht disponiertes, ein ganz intaktes
Gehirn getroffen hat. Der Gutachter sagt selbst, dass aus den
Akten nicht hervorgeht, wie der Gesundheitszustand des Verletzten
bis zum Unfall war, anamnestisch wird betrefis Syphilis und
Alkoholismus nichts erwähnt; dass aber der Kranke während der
Anstaltsbehandlung keine Erscheinung von Syphilis zeigte und bei
der Sektion Syphilis nicht gefunden werden konnte, kann durchaus
nicht das Fehlen derselben in früherer Zeit beweisen, denn es kann
dem Satze des Gutachters nicht zugestimmt werden, dass die
Syphilis immer nachweisbare Spuren hinterlässt; wir sind eben
noch auf anamnestische Daten angewiesen, die hier in positivem
wie in negativem Sinne völlig fehlen.
Also auch dieser Fall hat keine Beweiskraft für die Frage der
rein traumatischen Paralyse, er gehört zwar zu unserer Gruppe III
(vor dem Unfall keine Zeichen von Paralyse, der schwere Unfall
löste das Leiden aus), lässt aber wegen der mangelhaften Anamnese
den sicheren Nachweis des Fehlens der Disposition zur Erkrankung
vermissen.
4. Aus den „Amtlichen Nachrichten des Reichs-Versicherungsamts“,
Bd. XX, 1904, No. 10. Prof. Dr. Eulenburg: Obergutachten, betreftend die
Entstehung einer progressiven Irrenparalyse durch einen sogenannten „elek-
trischen Unfall“.
Mendel, Der Unfall in der Astiologie der Nervenkrankheiten. 569
W. Elektrotechniker, 27 Jahre alt, bis Unfall kräftiger, blühender junger
Mensch (von Syphilis nichts erwähnt).
Unfall 5. 1. 1900: Es fand Kurzschluss in dem Augenblicke statt, als
W. an dem Telephon beschäftigt war; W. bekam dadurch einen starken
elektrischen Schlag, er wurde „dreimal vom Telephonkasten hinausgeworfen“.
Er sah erschrocken, verstört und blass aus. Er blieb aber bis 1. VIII. 1901
weiter bei dem Elektrizitätswerk in Stellung. Bereits im Juni 1900 fel
jedoch einem Bekannten sein merkwürdiges Benehmen auf, W. sprach damals
verworrenes Zeug.
JE 1901 wird ärztlicherseits ein Gehirnleiden („Dementia“) fest-
ostollt.
s Juni 1903 in Anstalt Dementia paralytica diagnostiziert.
Juni 1804 noch am Leben.
Gutachten: Die bei W. festgestellte Geisteskrankheit ist aller Wahr-
scheinlichkeit nach auf die Schädigung durch Uebergang von Elektrizität
auf den Körper zurückzuführen, die am 5. I. 1900 stattgefunden hat.
Das Reichs-Versicherungsamt hat das Gutachten seiner Entscheidung
zugrunde gelegt und den Rekurs der Berufsgenossenschaft gegen das sie zur
Entschädigungsleistung verurteilende Schiedsgerichtsurteil zurückgewiesen.
In diesem Falle, welcher von Eulenburg lediglich auf Grund
von Aktenstudien (ohne persönliche Untersuchung) begutachtet
wurde, möchte ich zunächst ein grosses Fragezeichen hinter die
Diagnose „progressive Paralyse“ setzen. Nach Jellinek werden
im Anschluss an „elektrische Unfälle“ zuweilen Zustände be-
obachtet, welche an Paralyse erinnern, „von paralyseähnlichem
Charakter“ sind, Jellinek selbst aber ist weit davon entfernt
(wie er sich mir gegenüber auch mündlich äusserte), diese Zu-
stände nun der echten Paralyse zuzurechnen. Meiner Ansicht
nach handelt es sich auch in Eulenburgs Falle nicht um eine
echte Paralyse; schon die lange Dauer der Krankheit (bereits vor
4 Jahren waren im Benehmen und Tun des zur Zeit der Begut-
achtung noch lebenden W. „offenbare Zeichen beginnenden Schwach-
sinns in einer selbst für Laien merkbaren Weise“ vorhanden!) spricht
in gewissem Sinne gegen diese Diagnose.
Zugegeben aber, es handele sich wirklich um eine progressive
Paralyse, so nimmt der Mangel an anamnestischen Daten und
ausführlicherem Untersuchungsberichte (von Syphilis, Alkohol,
Heredität wird in dem ganzen Gutachten kein Wort erwähnt) dem
vorliegenden Falle jede Beweiskraft; wie in Fall 3, ist auch hier
‚der Nachweis des Fehlens der Disposition zur Erkrankung nicht
erbracht.
Da ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Beginn der
psychischen Störungen und Trauma erwiesen ist, dieser Nachweis
aber praktisch genügt, so hat das Reichs-Versicherungsamt mit
Recht dem Verletzten die Unfallrente zuerkannt.
'Keinem der Fälle des Reichs-Versicherungsamts kommt dem-
nach bezüglich unserer Frage Beweiskraft zu, keiner derselben kann
die Frage, ob es eine lediglich durch Trauma erzeugte Para-
lyse gibt, im positiven Sinne entscheiden. In der ganzen Lite-
ratur fand ich einen Fall von rein traumatischer Paralyse, der
über jeden Zweifel erhaben wäre, nicht; entweder liess die Anam-
nese zu wünschen übrig, oder die Diagnose war nicht genügend
Monatsschrilt für Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXI. Helft 6. 39
570 Mendel, Der Unfall in der Aetiologie der Nervenkrankheiten.
esichert, oder es musste der Zusammenhang des Leidens mit dem
Unfall wegen der Unerheblichkeit des letzteren oder Fehlens des
zeitlichen Zusammenhangs verneint werden. Schliesslich lieferte
auch mein Material keinen vollgültig beweisenden Fall, keinen,
der mit Sicherheit pro paralysi progressiva traumatica spräche.
Ich schliesse demnach: Ein sicherer Fall von rein trau-
matischer progressiver Paralyse existiert bisher noch nicht.
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sych. .
Ziehen, Paralyse und Trauma. Neurol. Centralbl. 1904. S. 627. (Dis-
kussionsbemerkung.) (Fortsetzung folgt.)
XXIV. Kongress für innere Medizin in Wiesbaden,
15.—18. April 1907.
Bericht von Dr. Lilienstein-Bad Nauheim.
Von den Verhandlungen des Kongresses hatten insbesondere diejenigen
der I. Sitzung (15. IV. vorm.) neurologisches Interesse. Zur Diskussion
standen die Neuralgien und ihre Behandlung.
Schultze-Bonn arstattete das einleitende Referat, das sich zu einer
Zusammeniassung des z. Z. Bekannten auf diesem grossen Gebiete gestaltete:
Sch. definierte den Begriff der Neuralgie als Schmerzen im Verlauf
der sensiblen Bahn!), die sich durch anfallweises Auftreten oder doch anfall-
weises Stärkerwerden auszeichnen. ÖOrganschmerzen werden durch diese
Definition ausgeschlossen. Neuralgie ist nur ein Symptom, kein Krankheits-
begriff. Die Diagnose „funktionelle Neuralgie“ muss nach Möglichkeit ein-
eschränkt werden. Erkrankungen im Verlauf der peripheren Nerven, z. B.
eitungsunterbrechungen, müssen nicht unbedingt Schmerzen verursachen.
Andererseits spielen bei den sogenannten „funktionellen Neuralgien“
neuritische Vorgänge (Verwachsungen im Perineurium etc.) sicher eine grosse
olle.
Zu den neuritischen Neuralgien gehören die Neuralgien der Tabes, der
Ischias, bei Gicht, Diabetes, Malaria, die Neuralgien bei Erkältungen etc.
Wirklich funktionelle Neuralgien — wahrscheinlich ohne organischen Befand —
sind diejenigen bei Hysterie und Neurssthenie. Eine eigene Stellung nehmen
die Herzschmerzen ein. Psychische Einflüsse sind bei Neuralgien Baus zu
konstatieren. Auch die Obstipation hat gelegentlich Einfluss auf die Ent-
stehung der Neuralgien (iftwirkung?). Genauere anatomische Untersuchungen
des Ischiadicus in seinem Gesamtverlauf von den Endausbreitungen bis zum
Rückenmark seien für die Ischias noch erwünscht. Der Sitz der Erkrankung
bei Neuralgie kann an jeder Stelle der Nervenbahn sein: Ganglion, Nerven-
stamm, Endausbreitung oder zentrales Nervensystem (of. Fussnote!).
Zur Erklärung des anfallweisen Auftretens der Neuralgie muss man
annehmen, dass es sich um eine Summation von Reizen handelt, deren Ent-
ladung als Schmerz empfunden wird.
Symptomatologisch wichtig sind die Druckpunkte, die aber auch fehlen
können. Die häufigste Neuralgie, die Ischias, ist meist leicht zu diagnostizieren,
ebenso die Gesichtsneuralgien; zu diesen sind neuerdings noch Bernhardsche
1) Da Sch. dieser Definition entsprechend auch die im Zentralnerven-
system auftretenden Schmerzen (die lancinierenden Schmerzen der Tabiker,
die zentralen Schmerzen [Edinger] u. a.) zu den Neuralgien rechnet, so
weicht er hier offenbar von dem allgemeinen Sprachgebrauch ab, nach dem
doch wohl nur die im Verlauf peripherer Nerven auftretenden Schmerzen
als Neuralgie bezeichnet werden (vgl. auch: Goldscheider, Krankh, d.
Nervensyst., Roth, Klin. Terminol.,, Oppenheim). Ref.
in Wiesbaden, 15.—18. April 1907. 673
Parästhesie, Achylodynie, Mortonsche Krankheit etc. gekommen. Nach
einigen Bemerkungen über die Unterscheidung der Neuralgien von anderen
Krankheitserscheinungen (Coxitis, intermittierendes Hinken gegenüber der
Ischias, Stirnhöbleneiterang gegenüber der Trigeminusneuralgie etc.) wandte
sich der Redner zu der Therapie. Er besprach zunächst die chemischen
Medikamente, die als sogenannte „Antinearalgica* in grosser Anzahl in
dem medizinischen Heilschatze vorhanden sind. Neben der medikamentösen
Behandlung kommen die physikalischen Heilmethoden in Betracht, unter
denen die Massage wenig leistet, während bei der Anwendung des elektrischen
Stromes bisweilen Besserung erzielt werde. Vielfach wird die Wärme mit
Erfolg angewandt (Bier, Heissluft-Douche). Bei der Ischias sind warme
Sandbäder-v.:ı"besonders gutem Erfolg. Allerdings gibt es auch bei dieser
Behandlungsart Versager, vor allem die „Rentenischias“ „Ischias testimonialis“,
die allen Mitteln trotzt und die besonders seit Bestehen der Unfall- und
Invaliditätsversicherang in verstärktem Masse auftritt. Von weiteren Be-
handlungsmethoden kommt dann noch bei der Ischias die unblutige Debnung
der Nerven in Betracht, die auf verschiedene Weise ausgeführt werden kann.
In den letzten Jahren werden immer mehr in die schmerzhaften Nerven
oder ihre Umgebung schmerzstillende Mittel, Osmiumsäure, Luft, Wasser,
Alkohol, physiologische Kochsalzlösuug etc., eingespritzt.
Die Zahl der chirurgischen Operationen, besonders der tiefgreifenden,
bei Neuralgie hat sich vermindert. Krause hat „nur“ 10 pCt. der Kranken
verloren, andere mehr. Rezidive sind auch nach gründlicher Zerstörung der
sensiblen Nerven und selbst des Ganglion Gasseri nicht immer ausgeschlossen.
Auch das von Gehuchten empfohlene brüske Ausreissen der Nerven ist zu
den schweren Operationen zu rechnen.
Schlösser-München berichtet über seine Erfahrungen in der Neu-
ralgiebehandlung mit Alkoholeinspritzungen.
Vortr. ist seit 15 Jahren mit der Frage beschäftigt und hat experimentell
festgestellt, dass 80 pCt. Alkohol, an einen Nerven eingespritzt, den Nerven
zum Zerfall und zur Resorption bis auf das Neurilem bringt. Er bezweckt also
mit seinen Einspritsungen einen Ersatz für die Resektion zu geben und
macht dadurch seine „Resektion“ möglichst ausgedehnt, dass er an den Nerven
an verschiedenen Stellen möglichst zentral und poripher einspritzt. S.
verfügt über ein Material von 209 Fällen, zum Teil mit wiederholten Rezidiven
in Sjähriger Beobachtung. Davon sind 128 Trogeminusneuralgien, 88 Ischias,
16 Occipitalneuralgien u. s. w., und hat bei dem Tic douloureux im Durchschnitt
nach 10,2 Monaten Rezidive, bei Ischias nur in 2 Fällen und bei allen
anderen Neuralgien noch gar keine Rezidive beobachtet; dagegen kommt
nach Alkoholparesen des Facialis der Clonus nach 3 bis 7 Monaten wieder.
An einem Beispiel von Neuralgie des 2. und 8. Quintusastes erklärt
S., wie er mit einer besonders geformten Nadel an das Foramen ovale,
maddibulare, rotundam etc. geht, um dort 80 proz. Alkohol 0,1 bis 4,0 ein-
zuspritzen, bespricht dann die möglichen üblen Zufälle, betont aber, dass
sich solche bei entsprechender Kenntnis der Wege, Erfahrung und Vorsicht
auf ein Minimum reduzieren lassen. Zum Schluss wiederholt S., dass er nur
alte, anderer Therapie trotzende Fälle nach seiner Methode behandelt wissen
will und vergleicht seine Erfolge mit den Operationen. Dabei erklärt er
die Neurotomie fär überflüssig, hält seine Einspritzungen der Neurektomie
für überlegen und glaubt auch, dass ein Neuralgiekranker sich lieber jedes
Jahr einmal den ziemlich schmerzhaften Alkoholeinspritzungen unterwerfen
wird, als dass er die Operation der Ganzlionexstirpation riskiert. In dem
Schlussworte nach der Diskussion warnt S. sehr davor, die akute Neuralgie
mit der eigentlichen Neuralgie zu konfundieren, besonders im Hinblicke auf die
Therapie. (Eigenbericht.)
Lange-Leipzig: Neuralgiebehandlung dareh Injektion unter
hohem Druek.
L. hält weniger die Art der zu injizierenden Flüssigkeiten als deren
mechanische Wirkung von Bedeutung für die Therapie der Nearalgien; er
wendet daher grosse Mengen indifferenter Flüssigkeit (physiologische Koch-
salzlösung) an und hat nach seiner Angabe ausserordentlich gute Resultate.
574 Lilienstein, XXIV. Kongress für innere Medizin
Alexander- Berlin injizierte Kokain (Schleichsche Lösung in einer Menge
von 10 cem) und zwar nicht in den Nerven selbst, sondern in dessen Um-
gebung.
Diskussion.
Goldscheider, Treupel, Minkowsky treten für die Injektions-
methode ein und berichten über günstige Resultate. Finkelnburg-Bonn
laubt auf Grund von Tierversuchen annehmen zu müssen, dass die Autoren,
ie über günstige Resultate berichten, nicht in den Nerven selbst, sondern
in dessen Umgebang injiziert haben müssten, da eine Injektion in den Nerven
auf alle Fälle schwere Lähmungen erzeuge.
Krause-Berlin verteidigt die von ihm ausgebildete Operationsmethode.
Es handele sich bei den Operationen meist um ganz ausserordentlich schwere
Fälle, häufig um Patienten, die za Suicidideen gelangt waren und die darch
die Operation dauernd oder zam mindesten für Jahre geheilt wurden. Es
sei zuzugeben, dass es sich um eine eingreifende und gefährliche Operation
handle. In manchen Fällen gäbe es aber keinen anderen Weg.
Brieger-Berlin berichtet über seine Erfahrungen bei Neuralgie-
behandlung durch Hydrotherapie (schottische Douche) und durch feuchte
und trockene Wärme. 80 pCt. Heilungen. Chirurgischer Eingriff sei erst
dann anzuraten, nachdem alle anderen Behandlungsmethoden sich als
wirkungslos erwiesen hätten. Wichtig sei auch die Regelung der Diät, His-
Basel stimmt Br. in letzterem Punkte zu und empfiehlt besonders fleischlose
Kost. Engländer und Franzosen betrachten die Neuralgie viel mehr als wir
als den Ausdruck besonderer Diathese oder Disposition.
Stintzing tritt ebenfalls dafür ein, dass es sich mit Wahrscheinlich-
keit um eine chemische Noze handele, die die Neuralgien erzeuge.
Hanau-Frankfurt weist auf den Nutzen trockener Schröpfköpfe hin,
Schilling auf denjenigen der Bier-schen Spannung.
Lenhartz-Hamburg, v. Noorden u. A. besprechen noch eine Reihe
von bekannten Neuralgiemitteln (Canutharidenpflaster, Methylenblau etc, etc.)
und betonten die Wichtigkeit vollkommener Rahe bei schweren Neuralgien.
v.Jaksch-Prag: Ueber ehronisehe Manganintoxikation. Von dieser
Aftektion sind bisher 9 bis 10 Fälle bekannt. Im Jahre 1901 konnte Vortr.
8 Fälle beobachten, im Jahre 1902 einen weiteren. Die Hauptsymptome sind:
Zwangslachen, Zwangsweinen, Retropulsion, psychische Alteration und ge-
steigerte Reflexe. Nach Abklingen dieser schweren Erscheinungen stellt sich
ein eigentümlicher Gang ein, der weder spastisch noch paretisch genannt
werden kann. Die Kranzen treten mit dem Metatarsophalangealgelenk auf.
Es besteht keine Lähmung. Einmal beobachtete Vortr. auch einen Fall von
Autosuggestion obiger Symptome infolge Manganophobie. Von den Ver-
bindungen des Mangan ist das Manganoxydul als Krankheitserreger anzu-
sprechen. Sein Eintritt in den Körper erfolgt wahrscheinlich durch die Lunge.
Fedor Krause-Berlin: Zur Kenntnis der Rüekenmarkslähmungen.
Vortr. fand in 4 Fällen, bei denen auf Grund der charakteristischen Symptome
die Diagnose eines Rückenmarkstumors gestellt war, anstatt des Tamors nur
an der Stelle des Tumors eine zirkumskripte Anhäufung von Liquor
cerebrospinalis, die infolge einer chronischen Arachnoiditis sich gebildet und
die Lähmungserscheinungen hervorgerufen hatte. Die Ursache der Arach-
noiditis war im ersten Falle Gicht, im zweiten Lues, im dritten unbekannt,
im vierten Nekrose des Wirbels. Die Lumbalpunktion hatte normale Ver-
hältnisse ergeben.
Schultze-Bonn bemerkt hierzu, dass ihm eine Ansammlung von Liquor
bei Rückenmarkstumoren nicht so oft vorgekommen ist.
Gutzmann-Berlin: Zur Behandlung der Aphasie. Die Regel, dass
die Vebungsbehandlung der Aphasie bei älteren Leuten ke ünstige
Prognose habe, ist in dieser allgemeinen Fassung nicht richt Die In-
dikation für die Uebungstherapie muss sorgfältig geprüft werden.
Ausser manchen anderen hängt die Indikation ab: 1. von dem allgemeinen
Zustande des Patienten im Anschluss an die Attacke. Es müssen sämt-
liche akute Erscheinungen abgeklungen sein und ein chronischer Zustand
ine
ig.
in Wiesbaden, 15.—18. April 1907. 575
relativen Wohlbehagens bestehen. Dies lässt sich u. a. auch aas dem längere
Zeit anhaltenden, unveränderten Gleichbleiben des sprachlichen Zustandes
entnehmen. Vortr. empfiehlt, mit der systematischen Uebungstherapie
erst zu beginnen, wenn der sprachliche Zustand mindestens !/, bis !/, Jahr
unverändert geblieben ist. Zu früher Beginn der Uebung ist wegen der
schweren Ermüdungs- und Reizzustände gefährlich; 2. vom Zustande des
Intellektes. Bei grösseren intellektuellen Defekten ist es zwecklos, die
Uebungstherapie zu beginnen, die ja von seiten des Patienten einen hohen
Grad von Aufmerksamkeit und Verständnis erfordert. Vortr. macht daher den
Beginn der Uebungstherapie stets son einer möglichst genauen und öfters
wiederholten Prüfung des intellektuellen Zustandes des Patienten nbhängig;
8. von der Affektlabilität des Patienten. Wenn diese direkt abhängı
ist von unlustbetonten Vorstellungen, so handelt es sich gerade gewöhnlich
um recht intelligente Personen, bei denen der Gedanke an ihren hülflosen
sprachlichen Zustand beständig im Vordergrunde des Bewusstseinsinhaltes
steht. Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Erinnerung an den früheren
Zustand einen starken Kontrast bildet (bei Lehrern, Predigern). Stellen sich
bei der Uebung Schwierigkeiten ein, so hat man oft grosse Mühe, die Patienten
bei guter Stimmung zu erhalten. Es ist daher sehr wesentlich, das Fort-
schreiten in der Uebung dementsprechend einzurichten; 4. vom Alter. Es
ist natürlich, dass selbst schwere Ausfallserscheinungen bei Kindern und
jugendlichen Personen sich überaus häufig spontan ausgleichen und hier von
der Uebungstberapie verhältnismässig leichte Triumphe gefeiert werden. Man
soll sich aber auch bei älteren Personen, wenn nur die Indikationen uuter 1
und 2 erfüllt sind, von der systematischen Uebung nicht abhalten lassen,
Vortr. erwähnt eiue Anzahl von Patienten zwischen 40 und 50 Jahren, die mit
gutem Erfolge behandelt wurden; einen Frediger von 65 Jahren, der nach
lja Jahre bestehender Aphasie (es handelte sich vorwiegend um aphatisches
Stottern und Akataphasie) wieder dienstfähig geworden ist und seit mehreren
Jahren wieder seinen Amtshandlungen obliegt; einen 74jährigen Herrn, der
nach 4 Jahre lang unverändert bestehender totaler kortiko-motorischer
Aphasio wieder zum Sprechen einfacher Worte und kleiner Sätze gebracht
wurde, so dass er seinen Wünschen Ausdruck verleihen konnte u. a. m. 5. und
6. Die Dauer des Bestehens der Aphasie beschränkt die Indikation zur
Uebungsbehandlung ebensowenig wie der Grad der aphatischen Störung.
Es wurde z. B. eine 10 Jahre lang bestehende, vollständige kortiko-motorische
Aphasie bei einem 40jährigen Offizier, der zahlreiche Behandlungsarten
(Bäder, Schmierkur usw.) ohne Erfolg vorher durchgemacht hatte, noch gänz-
lich beseitigt.
Auf die Therapie selbst geht Vortr. nur insoweit ein, als er die
systematischen Schreibübungen mit der linken Hand noch besonders hervor-
hebt und darauf hinweist, wie sich die Fähigkeit der rechten Hirnrinde für
die Leitung der koordinierten Sprachbewegungen offenbar parallel der er-
reichten Geschicklichkeit der linken Hand bewege. Er legt dafür mehrere
Schreibproben, u. a. eine eines 40jährigen und die des oben erwähnten
14jährigen Patienten, vor. In einem Fall mussten die Uebungen, da rechts
komplette Lähmung bestand, links die Hand aus Holz war (Hand und ein
Teil des Unterarmes waren in früher Jugend durch einen Schrotschuss zer-
stört worden), mit dieser Hulzhand gemacht werden: mit demselben günstigen
Erfolg, wie die Vorlage der Schriftprobe erweist. Autoreferat.
Gara-Bad Pistyan- Wien: Ueber ein bisher unbekanntes pathogno-
monisehds Symptom der Isehias.
Veranlasst durch die häufige auamnestische Mitteilang der Patienten,
dass ihrer Ischias Tage, oft auch Wochen heftige, hexenschussartige Kreuz-
schmerzen vorangingen, an die sich erst die Schmerzen in einer unteren
Extremität anschlossen, unterzog Vortragender die Kreuzgegend einer genauen
Prüfung. Er fand konstant, dass der Dornfortsatz des letzten Lendenwirbels
ungemein druckempfindlich, der nächsthöhere schon weniger, alle weiteren
Dornfortsätze schmorzlos waren. Diesen Druckpunkt zeigten auch jene
Ischisdiker, welche über keine vorangehenden Kreuzschmerzen klagten. Auf
Grund von Krankengeschichten weist er auf den differential- diagnostischen
676 Lilienstein, XXIV. Kongress für innere Medizin etc.
Wert dieses Symptoms hin, z. B. bei Metastasen in den Lendenwirbeln (bei
Mammakarzinom), bei Schenkelhalsfraktur, bei Prostatatumor.
Sternberg-Wien demonstriert ein verbessertes Dynamometer und
bespricht die Ergebnisse von Untersuchungen, die damit ausgeführt worden
sind. Nimmt ein Gesunder in jede Hand je ein Dynamometer und drückt
darauf maximal, so ist die Kraftleistung die gleiche, ob er abwechselnd oder
gleichzeitig drückt. Die maximale Innervation der einen Extremität beein-
usst die der anderen normalerweise so gut wie gar nicht. Bei Hemi-
plegikern soll nach einer Angabe von Pitres eine Verstärkung der Leistung
auf der gelähmten Seite eintreten. Diese Angabe bestätigt sich bei genauerer
Untersuchung nicht; der Effekt der gleichzeitigen maximalen Innervation
beider oberen Extremitäten (Simultaneffekt) ist in verschiedenen Fällen von
Hemiplegie verschieden; er kann in einer Erhöhung der Leistung bestehen,
er kann aber auch eine, und zwar mitunter beträchtliche, Verminderung aus-
machen (positiver und negativer Simultaneffekt).,. Entweder werden durch
das „Schisma“ im Sinne v. Monakows Hemmungen und Bahnungen frei,
die sich sonst im Gleichgewichte befinden, oder es wird die Art der Be-
ansprachung der doppelseitigen Hemisphäreninnervation darch den Hirnherd
geändert. t der Angabe von Pitres fallen manche Theorien der hemi-
plegischen Kontraktur.
Honigmann-Wiesbaden: Kriegsneurosen.
Vortr. beschreibt nervöse Erscheinungen, die er bei einer grösseren
Anzahl von russischen Offizieren nach im japanischen Kriege erlittenen
Traumen beobachtet hat. Die Störungen verliefen, wiewohl die Traumen
unter zum Teil ganz anderen Bedingungen den Verletzten betrafen, als es
bei den gewerblichen Unfallneurosen zu geschehen pflegt, doch in vielfacher
Hinsicht ganz im Rahmen dieser Störung, teils in Gestalt von neurasthenisch-
hysterischen und hypochondrischen Allgemeinorscheinungen, teils als hysterische
onoplegien, Hyperästbesien, Hypästhesien und Hemianästhesien. Die Mehr-
zahl der Fälle, die sich an schwere Gehirncommotionen anschlossen, hatten
dagegen einen von dem bei traumatischen Neurosen üblichen Krankheitsbild
abweichenden Verlauf. Bei ihnen handelte es sich nicht allein um Zustände,
die als rein psychogenen Ursprungs aufgefasst werden dürfen und deren Ver-
anlassung nur ın der lebhaften Erschütterung des Vorstellungslebens gesucht
werden kann, soudern auch um nervöse Folgeerscheinungen, die auf physi-
kalische Veränderungen des Zentralorgans zurückgeführt werden müssen, wenn
es sich auch, wie hier ausdrücklich bemerkt werden soll, nicht um aus-
esprochene Herderscheinungen handelte. Zwar waren diese Fälle nicht völlig
rei von Zeichen materieller Hirnläsionen, aber ausser diesen und den rein
psychogenen Symptomen blieb noch eine Anzahl übrig, die nur als Folge-
erscheinungen einer dorch die Commotio hervorgerufenen, wenn auch viel-
leicht nur vorübergehenden, physikalischen Veränderung des Zentralorgans
edeutet werden müssen. Diese Mischformen mögen durch die Eigenart des
raumas und der Verhältnisse, unter denen es empfangen, erklärt werden.
Zu bemerken ist noch, dass die Behandlung der fraglichen nervösen Er-
scheinungen viel grössere Erfolge aufwies, als dies bei den gewerblichen
Unfallneurosen der Fall zu sein pflegt, wahrscheinlich, weil die meisten
sychischen Momente, die sich bei jenen einer Heilung in den Weg stellen,
Bier in Wegfall kommen. (Autoreferat.)
Ratner-Wiesbaden: Untersuehungen zur pathologisehen Ana-
tomie der Paralyse. (Der Vortrag erscheint in extenso in dieser Monats-
schrift.
À uis mans- Cöln: Demonstration dermakro-undmikroskopisehen
Präparate eines Falles von amaurotiseher Idiotie (Tay-Saehs).
1. Die Tay-Sachssche familiäre amaurotische Idiotie ist kein charak-
teristisches Krankheitsbild, weil sämtliche klinischen Symptome — der Macula-
fleck nieht ausgenommen — einzeln und zusammen auch bei anderen soge-
nannten familiären und hereditären sowie bei ganz heterogenen Erkrankungen
des Zentralnervensystems vorkommen,
Der von Sachs, Knapp, Schaffer u. A. erhobene pathologisch-
anatomische Hirnbefund macht klinisch keine charskteristischen Symptome.
Buchanzeigen. 577
Ebenso ist ein Rückschluss vom klinischen Bilde der Tay-Sachsschen
familiären amaurotischen Idiotie auf den pathologisch -anatomischen Prozess
nicht möglich.
8. Die familiäre amaurotische Idiotie gehört in das grosse Gebiet der
sog. familiären und hereditären Erkrankungen des Zentrainervensystems und
ist eine Abart der Littleschen Krankheit resp. der cerebralen Diplegie.
4. Es kann zweifelhaft erscheinen, ob es sich bei der Tay-Sachs-
schen familiären amaurotischen Idiotie um eine Agenesie oder um eine Ent-
wicklungshemmung oder um eine Aufbrauchskrankheit handelt. Auch der
Sachssche Befund lässt Reste entzündlicher Veränderung erkennen.
5. In meinem Falle spielten ätiologisch schlechte Ernährung und vor
allem schlechte Luft die Hauptrolle. Sie bewirkten gleichzeitig den Aus-
bruch einer Rachitis und einer chronischen Pachy- et Leptomeningitis
cerebrospinalis, Sinusthrombose, Hydrocephalus und so das ganze Bild der
amaurotischen Idiotie (Tay-Sachs).
Kohnstamm-Königstein lobt die Behandlung der Verstopfung mit
fieisehloser Ernährung.
Buchanzeigen.
Studies from the Department of Neurology. Vol. I. Publications of
Cornell University Medical College. Eine Sammlung neurologischer
Arbeiten aus den Jahren 1908/4, enthaltend 19 Aufsätze von Prof. Dr.
Dana, den DDr. Hunt und J. Fraenkel, New-York. 7 dieser Ar-
beiten sind hier zum ersten Male abgedruckt, die übrigen in verschiedenen
amerikanischen Zeitschriften bereits veröffentlicht worden.
In den zum ersten Male veröffentlichten Abhandlungen bespricht
Dana die Behandlung der Epilepsie und spezielle Uebungen für Tabiker,
Aphasische und Patienten mit Parkinsonscher Krankheit. Hunt schildert
einen Fall von jugendlicher Apoplexie mit tödlichem Ausgange, ferner einen
Fall von Tumor des r. Frontallappens mit den psychischen Symptomen der
Demenz und Apathie und endlich einen Fall von Malum Potti der mittleren
Dorsalwirbelsäule mit Kompressionsmyelitis und Heilung durch Gipskorsett.
Vor jeder Arbeit ist in lateinischer Sprache der Inhalt kurz wieder-
gegeben, so dass auch der des Englischen unkundige Arzt mit Leichtigkeit
in der Sammlung sich orientieren kann.
A. Kempner, Berlin-Charlottenburg.
Senäfer, Hamburg, Der moralische Schwachsinn. Erschienen bei
C. Marhold, Halle, im IV. Bande der juristisch-psychiatrischen Grenz-
fragen, Heft 4—6.
ür Juristen, Aerzte, Militärärzte und Lehrer ist diese all-
gemeinverständliche Abhandlung geschrieben. Der Titel könnte zu der An-
sicht verleiten, als wollte Verfasser die sogen. Moral insanity wieder zu
Ehren bringen, d. h. eine Psychose dort annehmen, wo nur ethische Defekte
sich finden. Beim Lesen des Buches erweist sich jedoch diese Annahme
als irrig. Voraussetzung für den Schwachsinn ist Schwäche des Urteils
und des Gedächtnisses. Diese rechtzeitig zu erkennen, sei nicht nur
Sache des Psychiaters, sondern vor allem auch der Lehrer, Offiziere und
Juristen. Die Hülfsmittel zu ihrer Erkenntnis gibt uns Verfasser an die
Hand; gleichzeitig weist er auf die Notwendigkeit hin, ihre Ursachen zu
bekämpfen; als Hauptursache nennt er den Alkoholismus der Eltern. Er
rät deshalb zur Errichtung von Trinkerasylen, zur möglichst hohen Be-
steuerung des Alkohols, um hierdurch den Schnapsgenuss mehr oder weniger zu
einer Geldfrage zu machen, und endlich zur Erziehung der Jugend zu „sitt-
licher Hygiene“.
678 Tagesgeschichtliches.
Bei dieser Gelegenheit kommt Verfasser auch auf Kunst und Literatur
der Gegenwart zu sprechen, wobei der arme Zola hart mitgenommen wird,
dessen Romane er schlankweg „Schmutzschriften“ — sic! — tituliert.
Nun, hierüber wollen wir mit Schäfer nicht rechten; jedenfalls wird
das Buch, dessen Lektüre aufs wärmste zu empfehlen ist, dazu beitragen, die
Kenntnis des Schwachsinnes in weitere Kreise zu tragen.
A. Kempner, Berlin-Charlottenburg.
R. Cruchet, Traité des torticolis spasmodiques, spasmes, tics,
rythmies du cou, torticolis mental etc. Paris, Masson et Cie.
1907. 836 S., 120 Frcs.
Dies von Pitres bevorwortete Werk verdient auch die Aufmerksam-
keit der deutschen Neurologen in höchstem Masse. Es bietet weitaus die
vollständigste Darstellung der Lehre vom Torticollis. Nach einer vortreff-
lichen historischen Einleitung werden eingehend folgende Formen besprochen:
1. Torticolis spasmodigque n&vralgique, '
2. Torticolis professionel,
3. Torticolis paralytique,
4. Torticolis spasmodique franc ou essentiel,
5. Torticolis spasmodique symptomatique,
6. Torticolis rythmique ou rythmie du cou symptomatique,
7. Rythmie du cou essentielle,
8. Tic du cou,
9. Torticolis d'habitude et torticolis mental.
Die einschlägige Literatur ist sehr vollständig und gewissenhaft ver-
wertet. Vielfach gibt Verf. neue Beobachtungen und Anregungen. Strittige
Fragen werden durchweg sachgemäss und gründlich erörtert. Die Abbil-
dungen sind z. T. ausgezeichnet. 2.
Möbius, P. J, Ueber Robert Schumanns Krankheit. Carl Marhold,
Halle a. S. 1906. 52 Seiten.
Möbius, dem wir schon ähnliche Bearbeitungen — pathographische
Untersuchungen — zu verdanken haben, hat sich jetzt mit dem Leiden von
Robert Schumann beschäftigt, um die Psychose zu bestimmen, an der Sch..
in seinem 23. Lebensjahr zum ersten Male erkrankte; er hatte dann alle paar
Jahre anders auftretende, aber in ein gemeinsames Krankheitsbild hinein-
assende Schübe, bis er mit 44 Jahren in der Anstalt Endenich bei Bonn
interniert werden musste, woselbst er nach 11/, Jahren starb. Seine Er-
krankung gehört zur Dementia praecox. Charakteristisch für die katatonische
Form sind Veränderungen im Auftreten, wie Maniriertheit, theatralische
Posen, vor allen Dingen die in diesem Fälle häufig beobachtete, viele Stunden
lange Schweigsamkeit, über die Wagner sich wunderte, die Halluzinationen
in ihrer wechselnden Heftigkeit und ähnliches. Alle diese krankhaften Er-
scheinungen, die wir erst in den letzten Jahren näher zu beurteilen lernten,
können wir im gewissen Sinne auch in der Art seiner Kompositionen be-
obachten. In ihnen finden wir eine gewisse sprunghafte Hast und gewaltsam
fortstürmende Leidenschaftlichkeit; andererseits verstand er doch auch eine
selbst Beethoven überbietende Breite der Melodieführung von erhabenster
Weihe zu entfalten.
Wir begrüssen dankbar die Möbiussche Schrift und würden als eine
eventuell sehr dankbare Aufgabe vorschlagen, dass der innere Zusammenhang
zwischen den einzelnen Phasen und Schüben seiner Erkrankung und der
Zeit der Kompositionen und Leistungen auf anderen Gebieten untersucht
würde. Schumann hat bekanntlich trotz der 21 Jahre dauernden Krankheit
in dieser Zeit ausser seinen musikalischen Leistungen auch bedeutendes als
Schriftsteller, Kritiker und Dichter geleistet.
Carl Adolf Passo w-Meiningen.
Tagesgeschichtliches.
Dr. Albert Knapp, Oberarzt an der Psychiatrischen Klinik in
Göttingen, hat sich habilitiert.
Gm-1,'42 (87798)
psychiatrie
56535
v.21 Monatsschrift für
19C7 und | neurologie.
56505
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