THE LIBRARY
B6/6.8
Mlöö
v. [ 7 _
MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND
PSYCHIATRIE
HKIAUSGEGEBEN VON
M. LEWANDOWSKYf -BERLIN UND K. WILMANNS-HEIDELBERG
/ HEFT 17
DAS MANISCH-MELANCHOLISCHE
IRRESEIN
(MANISCH-DEPRESSIVES IRRESEIN KRAEPELIN)
EINE MONOGRAPHISCHE STUDIE
' VON
D R - OTTO REHM
OBERARZT DER BREMISCHEN ItAAT8IRRENANSTALT
MIT 14 TEXTABBILDUNGEN UND 18 TAFELN
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1919
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, Vorbehalten.
Copyright
by Julius Springer in Berlin
1919.
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Vorwort.
Eb ist ©in gewagtes Unternehmen, der glänzenden Schilderung Kraepelins
in der neuesten Auflage seines Lehrbuches eine Monographie des „manisch-
melancholischen Irreseins“ folgen zu lassen. Doch habe ich geglaubt, auf diese
Weise am besten eine Reihe meiner Arbeiten, die dieser Erkrankungsform
gegolten haben, und die bisher nicht ausführlich veröffentlicht worden sind,
im Zusammenhänge mit dem Gesamtbilde der Krankheit, wie es sich infolge
dieser Untersuchungen ergibt, der wissenschaftlichen und praktischen Psych¬
iatrie übergeben zu können.
Die Anregung zur Bearbeitung des manisch-melancholischen Irreseins
verdanke ich Kraepelin und den Grundstock des Materials der Münchener
Klinik.
Die Anführung der ganzen einschlägigen Literatur habe ich unterlassen,
und zwar in der Überzeugung, daß dies in bester Weise in der Monographie
von Stransky vor kurzem geschehen ist. Nachsicht erfordert auch die etwas
ungleichmäßig ausführliche Bearbeitung der einzelnen Kapitel. Es ist dies die
Folge davon, daß nicht alle Seiten der Krankheit im Laufe der Jahre, die der
Arbeit gewidmet wurden, gleichmäßig selbständig untersucht werden konnten;
so sind die Gesichtspunkte, denen eigene Untersuchungen zugrunde gelegt
wurden, besonders ausführlich erörtert worden. Möge den Lücken einige Nach¬
sicht zuteil werden und das Ganze der Psychiatrie nützen!
§ Im Felde, Herbst 1918.
^ Otto Rohm.
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Inhalt.
Seite
A. Grundzüge der geschichtlichen Entwicklung. 1
B. Vorbemerkungen . . 4
C. Ätiologie. 5
I. Physiologische körperliche Einflüsse. 7
a) Alter. 7
b) Geschlecht. 12
II. Pathologische körperliche Einflüsse. 16
in. Psychische Einflüsse. 17
D. Allgemeiner Teil. 24
L Rasse, Geschlecht. 24
IL Vererbung. 25
HI. Konstitution. 29
a) Körperlich. 29
b) Psychisch. 30
E. Symptome. . . 36
I. Körperliche Symptome. 36
a) Ernährungszustand. 36
b) Schlaf. 38
o) Haltung, Gesichtsausdruck (katatonische Symptome). 39
d) Atmungsorgane. 41
e) Blutkreislauf. 41
f) Verdauungsorgane. 44
g) Drüsen. 45
h) Urogenitale. 45
i) Nervensystem. 47
k) Sinnesorgane. 49
l) Sprache. 49
II. Psychische Symptome. 50
a) Affektstörung. 51
1. Manischer Affekt. öl
2. Depressiver Affekt. 52
3. Mischaffekt. 52
4. Affektsperrung. 54
5. Affektwechsel. 54
b) Willenstörung. 55
c) Denkstörung. 56
Ablenkbarkeit. 60
d) Psychomotorisohe Störung. 64
e) Störung der Vorstellung. 67
1. Wahnvorstellungen. 67
a) Versündigungsideen. 68
ß) Selbstvorwürfe. 69
y) Zukunftssorgen. 70
S) Hypochondrischer Wahn. 72
t) Verfolgungswahn (Beeinträchtigungswahn). 73
Inhalt.
J) Nihilistischer (Kleinheits-) Wahn.
fj) Wahn der Persönlichkeitsveränderung.
£) Allgemeiner Veränderungswahn.
*) Zwangsvorstellungen.
**) Größenwahn.
2. Sinnestäuschungen. .
a) Gesichtstäuschungen.
ß) Gehörstäuschungen.
y) Sonstige Sinnestäuschungen.
£) Störung des Bewußtseins.
Verwirrtheit.
Störung der Erinnerung.
g) Tagesschwankung.
h) Periodizität und kurzdauernde Schwankungen.
i) Schlafstörungen.
Traumleben.
k) Geistige Arbeit.
l) Soziales Verhalten.
1. Selbstvemichtungstrieb.
2. Unsoziale Triebe.
3. Alkoholismus.
4. Sexualität.
m) Krankheitsgefühl und -Verständnis.
F. Gruppierung.
I. Verlaufsformen.
a) Ersterkrankungen.
b) Einmalige Erkrankungen.
c) Periodische Erkrankungen..
d) Subchronische und chronische Erkrankungen.
II. Affektformen.
a) Manie.
b) Melancholie.
o) Zirkuläres Irresein.
d) Mischzustände.
III. Klinische Gruppierung. .
a) Konstitution.
1. Manische Konstitution.
2. Melancholische Konstitution.
3. Zyklothyme Konstitution.
b) Periodische Form.
c) Subchronische und chronische Form..
d) Verschiedene Krankheitsformen.
1. Katatonische Form.
2. Delirante Form.
3. HyBterieverwandte Form.
4. Form mit Zwangsvorstellungen.
6. Paranoische Form.
e) Kombination mit körperlicher Erkrankung.
1. Arteriosklerose und manisch-melancholisches Irrresein.
2. Senile Demenz und manisch-melacholnisches Irresein . . . .
3. Lues bzw. Metalues und manisch-melancholisches Irresein. . .
4. Diabetes mellitus und mani&h-melancholisches Irresein . . . .
5. Morbus Basedowi und manisch-melancholisches Irresein. . . .
f) Affektverwandte Psychosen .
1. Angstpsychose.
2. Depressiver Wahnsinn.
G. Todesursachen.
Pathologische Anatomie.
H. Diagnose.
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124
124
VI
Inhalt
Seite
I. Differentialdiagnose..127
I. Imbezillität.127
II. Dementia praecox..127
III. Epilepsie.128
IV. Lues bzw. Metalues.:.129
V. Senile Demenz.129
VI.- Himarteriosklerose.130
VII. Infektiöses und postinfektiöses Delirium.130
VD3. Chronische Vergiftungen.130
IX. Psychopathie, Hysterie, Zwangsvorstellungen.131
K. Prognose.132
L. Therapie. 133
A. Grundzüge der geschichtlichen Entwicklung.
Manie und Melancholie gehören zu den Krankheitebezeichnungen,
die von Hippokrates und Galen im Altertum für Zustände von Erregung
und Verstimmung gebraucht wurden. Die beiden Ausdrücke haben sich bis
in die neueste Zeit erhalten; die Begriffe haben sich allerdings mannigfaltigen
Änderungen unterwerfen müssen. Während als Melancholie das Bild der
Schwermut galt, verstand man unter Manie ganz im allgemeinen die Tob¬
sucht; so kam es, daß manche Bilder von Melancholie, nämlich solche, die mit
tobsüchtiger Erregung einhergingen, als Manie bezeichnet wurden. Es wurde
also die Schwermut in manchen Zuständen der Manie untergeordnet. Manie
und Melancholie wurden ab Bezeichnung eines Symptomenkomplexes
bis in die neueste Zeit von einzelnen Psychiatern gebraucht, die sich nicht
entschließen konnten, die beiden Begriffe bestimmten Krankheitsformen bei¬
zulegen. So sprechen heute noch Einzelne von manischen bzw. melancholischen
Zuständen bei Epilepsie, Dementia praecox, Paralyse usw., Bezeichnungen, die
man besser aufgeben würde im Interesse der Verständigung sowohl unter den
Psychiatern, als auch der Psychiatrie mit der übrigen Medizin. Es empfiehlt
sich, symptomatisch die Schwermut als „Depression“ zu bezeichnen;
also von depressiven Zuständen (Affektveränderungen) bei den verschiedenen
Erkrankungen, zu sprechen.
Nachdem die Melancholie als eigenes Krankheitsbild, wie es Kraepelin
aufgestellt hatte, durch die Arbeit von Dreyfus 1 ), welche die Unmöglichkeit
der Trennung derselben vom manisch-depressiven Irresein nachgewiesen hat,
aufgegeben ist, halte ich es für richtig, die klassische Bezeichnung Melancholie
für die depressiven Zustände des manisch-depressiven Irreseins wieder einzu¬
führen. Nach, Dreyfus* 1 ) Vorschlag habe ich deshalb das manisch-depressive
Irresein in manisch-melancholisches Irresein umgetauft, was der histori¬
schen Entwicklung der in Rede stehenden Krankheit entspricht.
FalretpÄre 2 ) war es, der als erster auf den „zirkulären“ Verlauf einer
psychischen Erkrankung hingewiesen hat, in der wir die Grundzüge des manisch¬
melancholischen Irreseins erkennen. Er stellte im Jahre 1851 die Krankheits¬
form der „folie circulaire“ auf, die sich zusammensetzt aus: manie, inter-
x ) Dreyfus, Die Melancholie, ein Zustandsbild des manisch-depressiven Irreseins.
Jena 1907.
*) J. P. Fair et, Marche de la folie, gaz. des h6p. 1851 u. bull, acsad. de
M6d. 1859.
Beh m, Das manisch-melancholische Irresein.
1
2
Grundzüge der geschichtlichen Entwicklung.
vaHe lucide, mölancolie, intervall© luoide. Mit einem weiteren Typus trat der¬
selbe Autor 1854 hervor, bei dem er drei Perioden unterschied: manie, mölancolie,
intermittence. Daß Manie und Melancholie getrennt periodisch, d. h. mit Ein¬
schieben von mehr oder weniger langen freien Intervallen, wodurch zwei weitere
Typen entstehen, verlaufen* können, war dem Autor bekannt.
Diese vier Typen waren es, die in unveränderter Form bis zur Aufstellung
des manisch-depressiven Irreseins durch Kraepelin im Jahre 1899 diese
Psychose in ihren Grundrissen repräsentierten. Es war dem eben genannten
Autor Vorbehalten, durch die Gemeinschaft von Symptomen der Manie und
Melancholie den inneren Zusammenhang dieser Zustandsbilder, als die wir sie
wohl bezeichnen können, zu ergründen.
Es dürfte nicht uninteressant sein, bei dieser Gelegenheit darauf hinzu¬
weisen, daß schon 40 Jahre vorher ein deutscher Psychiater sich bemühte,
über das Wesen der „Melancholie mit Aufregung“ Klarheit zu schaffen.
Richarz x ) verglich im Jahre 1858 die Manie mit der Melanoholia agitans
und kam zu dem Schlüsse, daß bei der Manie eine Überproduktion von Vor¬
stellungen vorhanden sei, während bei der agitierten Melancholie eine Armut
an Vorstellungen bestehe. Er war der Meinung, daß Ideenflucht in beiden
Zuständen vorhanden sei; doch sei bei der Melancholie die Reihenbildung ver¬
loren gegangen; es sei ein Umherspringen in engem Zirkel; Angst und Traurig¬
keit würden auch in der Exaltation beobachtet, zwar nicht in der einfachen,
wohl aber in der mit Zorn verbundenen.
Die Schwierigkeit, Krankheitsbilder zu erklären, die manische .und de¬
pressive Symptome enthalten, hat Kraepelin dazu geführt, neben der Ver¬
laufsform den Übergängen der Phasen ineinander eine besondere Aufmerk¬
samkeit zu widmen. Die Frucht dieser Betrachtungen war das manisch-
depressive Irresein als ein innerlich fest zusammenhängendes Krankheitsbild,
das in besonders auffallenden Formen, den sogenannten Mischzuständen,
die Weygandt 2 ) beschrieben hat, zutage treten kann.
Die von Falret pdre als folie circulaire beschriebenen Typen
(Abb. 1): 1. Manie, intervalle lucide, mölancolie, intervalle lucide,
ferner später 2. Manie, mölancolie, intermittence habe ich in folgendem
Schema dargestellt:
Abb. 1. (Schema-Erklärung s. S. &)
Kirn 8 ) teilte im Jahre 1878 die „periodischen“ Psychosen und zwar die
„echten, d. h. direkt zentral bedingten, periodischen Psychosen“ in periodische
Manie, periodische Melancholie und periodische zyklische Psychose ein. Diese
x ) Richarz, Über das Wesen und die Behandlung der Melancholie mit Aufregung
(Melancholia agitans). Allg. Zeitschr. f. Psych. 16, 1858.
*) Weygandt, Mischzustände, Habüit. Schrift, 1902. *
*) Kirn, Die periodischen Psychosen, 1878.
Grundziige der geschichtlichen Entwicklung.
3
Auffassung ist in vielen Lehrbüchern bis heute geblieben; so spricht Ziehen
von periodischer Manie und Melancholie, von periodischer menstrualer Manie,
ferner von zirkulärem Irresein. Sehr eingehend ist in der Arbeit von Ballet 1 )
1903 das manisch-depressive Irresein in einer etwas primitiven Auffassung
behandelt. In einem schulgerechten Schema werden dort die Verlaufsformen
in zwei Hauptgruppen untergebracht: psychoses intermittentes und psychoses
alternantes. In diesen Hauptgruppen sind 7 Untergruppen untergebracht,
wie es die folgende Darstellung zur Anschauung bringt.
I. Psychoses intermittentes.
1. Manie intermittente, type regulier.
2. Manie intermittente, type irrögulier.
3. Mölancolie intermittente, type regulier.
4. Mdlancolie intermittente,type irr^gulier.
II. Psychoses alternantes.
6. Folie alterae typique.
0. Folie k double forme.
7. Folie circulaire continue.
Die 7 Gruppen können durch folgende Schemata deutlich gemacht werden:
mumzx zmLim. »-i
W/A'WM—WM
■ ■■■■.. 171
m wm m tm m® i
■ m ■ ■ ■ m
mm mm. icmd
| | Krankheitsfrei
Manie
j&&gl Melancholie
Abb. 2.
l ) Ballet, Traite de pathologie mentale, Paris 1903.
1. Manie intermittente,
type regulier.
2. Manie intermittente,
type irr6gulier.
3. M61ancolie intermit¬
tente, type re¬
gulier.
4. Melanoolie intermit¬
tente, type irr6-
gulier.
5. Folie alteme ty¬
pique.
6. Folie k double
forme.
7. Folie ciroulaire con¬
tinue.
1
4
- Vorbemerkungen.
Kraepelin äußert sich zu dieser Einteilung frsCnzösisoher Autoren in seinem
Lehrbuch: „Ich glaube mich überzeugt zu haben, daß derartige Bestrebungen
zur Gruppierung an der Regellosigkeit der Krankheit notwendig scheitern
müssen. Die Art und Länge der Anfälle und Zwischenzeiten bleibt im einzelnen
Falle durchaus nicht die gleiche, sondern kann vielfach wechseln, so daß der¬
selben immer neue Formen zugerechnet werden müßten. Bis' jetzt sind auch
alle Bemühungen vergeblich gewesen, aus den Eigentümlichkeiten eines An¬
falls einigermaßen zuverlässige Schlüsse für die weitere Gestaltung des Krank¬
heitsbildes zu gewinnen; vielleicht aber gelingt es bei sehr ausgedehntem Be¬
obachtungsstoffe doch einmal, gewisse prognostische Regeln abzuleiten.“
B. Vorbemerkungen 1 ).
Um die Verlaufsformen des manisch-melancholisohen Irreseins zu
studieren, habe ich eine Anzahl von über 400 Fällen gesammelt, bei denen die
Diagnose „manisch-depressives Irresein Kraepelin“ nach dem Stande der
wissenschaftlichen Anschauung gesichert erscheint. Die Fälle sind bis auf
eine geringe Anzahl besonders gelagerter, hauptsächlich chronischer oder sonstwie
klinisch bedeutungsvoller Kranker, von mir persönlich untersucht.
Für die vorliegende Arbeit wurden folgende drei Voraussetzungen
als notwendig erkannt.
1. Eine genaue Vorgeschichte mit Berücksichtigung der familiären
Belastung, der psychischen, insbesondere der affektiven Konstitution
und der früheren manisch-melancholischen Phasen, auch leichter Art;
2. eine detaillierte Beschreibung und persönliche Kenntnis mindestens
eines typischen Krankheitsabschnitts;
3. eine möglichst exakte Angabe über die Periodizität und die Art
der krankhaften Perioden, sei es auf Grund einer vom Kranken
gegebenen Vorgeschichte, oder auf Grund sonstiger Nachfragen.
Es ist ohne weiteres einzusehen, daß im einzelnen Falle das Optimum
der angeführten Forderungen nicht hat erreicht werden können. Jeder weiß,
mit welchen Schwierigkeiten das Aufnehmen einer Anamnese sowohl bei
den Angehörigen, als auch bei dem Kranken, selbst dem besonnenen, verbunden
ist. Besonders schwierig wird die Aufgabe, die Affektkonstitution zu be¬
rücksichtigen. Ich will nicht darauf eingehen, in welchem Grade die Auf¬
schreibungen beeinflußt sind, einerseits durch die Subjektivität des aufnehmenden
Arztes, andererseits durch die Anschauungen des Laien, auch des gebildeten.
Der zweite Punkt ist als absolut notwendig nicht diskutabel.
Bei der dritten Forderung treten Schwierigkeiten aller Art zutage, die sich
großenteils mit den oben angeführten decken. Es ist oft im einzelnen Falle
nachträglich nicht zu entscheiden, ob der Kranke in den freien Intervallen
wirklich gesund gewesen ist oder nicht. Die Gesundheitsbreite ist durch feste
Grenzen nicht zu bestimmen.
x ) Ausführlicher Literaturausweis in der Monografie von E. Stransky: Das
manisch-depressive Irresein. Leipzig u. Wien 1911.
Ätiologie.
5
Ich habe die Pflicht, zu erwähnen, daß ich sämtliche Forderungen mit
Genauigkeit und Objektivität habe erfüllen wollen. Aber es ist notwendig,
immer darauf hinzuweisen, wie unendlich arm die Psychiatrie an objektiven
Hilfsmitteln klinischer Art ist. Wir müssen uns mit Anspannung aller Kräfte
bemühen, unser subjektives Urteil durch objektive Untersuchungsmethoden
zu ersetzen oder doch wenigstens zu ergänzen.
Es ist zuzugeben, daß die letzten Dezennien manches gebessert haben;
wir haben uns die Blutdruckmessung, Blutuntersuchung und Unter¬
suchung der Zerebrospinalflüssigkeit dienstbar gemacht; wir versuchen,
physiologisch-chemische und serologische Untersuchungen zu diffe-
rentialdiagnostischen Hilfsmitteln heranzuziehen; wir stehen im Begriffe uns
in der experimentellen Psychologie eine Hilfswissenschaft mit exakten
Methoden nützlich zu machen; und doch, wieviel steht bisher der Psychiatrie
als einwandfrei zu Diensten?
Das manisch-melancholische Irresein gibt für künftige Forschung ein
weites Feld der Betätigung in den verschiedenen Gebieten ab. Am besten
schnitt bisher die psychologisch-experimentelle Untersuchung ab, der wir
besonders durch Kraepelin und seine Schule wertvolle Aufschlüsse ver¬
danken, welche später des öfteren Erwähnung finden werden.
Das Material, »dem ich die in den folgenden Abschnitten ausgeführten
Ergebnisse verdanke, stammt großenteils aus der kgl. psychiatrischen
Klinik in München, teilweise aus der Heilanstalt Dösen (Leipzig)
und der Staatsirrenanstalt Bremen-Ellen. Es hat den Vorteil, daß
es genau beobachtet und im weiteren Verlaufe verfolgt werden konnte, ferner
daß es die Zusammensetzung bringt, wie sie sich wahllos nach der Zahl der
Aufnahmen in einem gewissen Zeitabschnitt ergeben hat. Eine Auslese wurde
nicht getroffen. Als Nachteil ist anzuftihren, daß eine große Anzahl von Fällen
ganz frischer Natur in der ersten Krankheitsphase war, und so das Studium
des Verlaufes im einzelnen Falle manchmal illusorisch machte.
Einen Teil des Materials «verdanke ich den Anstalten Neufrieden¬
heim und Eglfing beiMünchen, in denen ich tätig war; die Fälle konnte ich
dank der liebenswürdigen Unterstützung der Ärzte weiter verfolgen. Dieser Teil der
Fälle ist aus gewählt, und zwar vor allem im Hinblick auf den lange Zeit hin¬
durch zu übersehenden Verlauf. Die große Zahl der gut beobachteten Fälle setzt
mich instand, auf manche Fragen einzugehen, welche nur an der Hand eines großen
Materials geprüft werden können. Ich habe mich bemüht, zur Beurteilung
des Verlaufs alle Hilfsmittel heranzuziehen, die nur irgendwie erreichbar ge¬
wesen sind; vielfach sind es freilich leider nur anamnestische Notizen, die über
einzelne Punkte Aufschluß zu geben imstande gewesen sind.
C. Ätiologie.
l>ie Frage der Ätiologie des manisch-melancholischen Irreseins ist bis
heute nicht gelöst; wir haben noch nicht einmal Gesichtspunkte gewonnen, die
uns der Klärung dieser Frage näher bringen könnten. Es ist überhaupt fraglich,
ob es uns jemals gelingen wird, für diese Krankheitsformen eine andere ätio¬
logische Grundlage zu finden, als wir sie jetzt schon annehmen, nämlich die
6
Ätiologie.
Degeneration. Das degenerative Moment wird zur Zeit von allen Seiten
für die reinen Formen unserer Krankheit ohne weiteres anerkannt.
Nun ist diese Annahme eine keineswegs befriedigende; sie sagt nicht
viel mehr, als daß eine Disposition in der hereditär-degenerativen Basis zu
finden ist. Eine Disposition wird heute bei einer großen Anzahl von Erkran¬
kungsformen angenommen, mögen dieselben der internen, der neurologischen
oder psychiatrischen Seite der Medizin angehören. Die degenerative Dispo¬
sition bedeutet demnach für uns eigentlich nur soviel, daß wir die wirkliche
Grundlage der Krankheit nicht kennen.
Die klinische Betrachtungsweise hat uns bisher in dieser Frage nicht
weitergebracht. Es ist die Frage aufzuwerfen, ob vielleicht von anderen Unter¬
suchungsmethoden mehr geleistet worden ist oder die Aussicht besteht, daß
diese uns fördern werden? Dabei kommen hauptsächlich psychologische und
physiologisch-chemische Prinzipien in Betracht. Es unterhegt keinem
Zweifel, daß die psychologische und insbesondere die experimentell-psycho¬
logische Untersuchungsmethode das Verständnis der psychischen Bestand¬
teile der Krankheit ganz wesentlich gefördert hat. Auf die Einzelheiten werde
ich weiter unten zurückkommen. In der Erkenntnis des Ursprungs der Krank¬
heit haben aber auch diese Methoden versagt. Die chemisch-physiologische
Untersuchung der manisch-melancholischen Kranken ist bisher nur in ganz
geringem Maße und vor allem zu wenig systematisch betrieben worden. Es
ist sehr wohl möglich, daß eine sorgfältige und detaillierte Untersuchung des
Stoffwechsels brauchbare Resultate zeitigt. De Ätiologie hat bisher durch
die dürftigen, nur Bruchstücke enthaltenden Resultate keine Klärung erfahren.
Es möchte noch zu erwähnen sein, daß die moderne serologisch-bio¬
logische Betrachtungsweise, die augenblicklich das Interesse der Medizin
sehr in Anspruch nimmt, möglicherweise auch in der Richtung der degene-
rativen Psychosen pfadfindend vorangehen wird. In dieses Gebiet schlagen
die neueren Untersuchungen nach Abderhalden ein. Nach dieser Richtung
haben bisher umfangreiche Untersuchungen, auch meinerseits, für das manisch¬
melancholische Irresein nichts Neues gebracht; höchstens hat die Differen¬
tialdiagnose zwischen funktionell und organisch eine gewisse Festigung erhalten.
Das Resultat der vorgehenden Zeilen ist demnach folgendes: Wir
besitzen bisher keinerlei Kenntnisse über die Ätiologie des manisch-melan¬
cholischen Irreseins. De Annahme der degenerativen Basis ist nicht zufrieden¬
stellend.
Ich will im folgenden an der Hand meiner Fälle untersuchen, ob sich
aus einem nach dieser Richtung hin gleichmäßig untersuchten Material gewisse
Gesichtspunkte schöpfen lassen. Anatomische Hirnbefunde stehen mir
nicht zur Verfügung und sind auch bisher nicht von ausschlaggebender Be¬
deutung in dieser Frage gewesen. Wie schon angedeutet, habe ich mich mit der
fragwürdigen Annahme einer hereditär-degenerativen Grundlage nicht begnügt,
sondern habe versucht, nach .weiteren Ursachen zu forschen, wobei die bei
ähnlichen Untersuchungen Geisteskranker gewonnenen Gesichtspunkte in
Betracht gezogen worden sind.
Es ist vor allem zu unterscheiden zwischen somatischen und psy¬
chischen ätiologischen Momenten. Auf diesem Unterschied beruht die
von mir vorgenommene Einteilung. Im Ganzen wurden nur in 34 % der Fälle
Physiologische körperliche Einflüsse 7
Angaben gemacht, die zu ätiologischen Untersuchungen nach allen Richtungen
hin brauchbar waren.
I. Physiologische körperliche Einflüsse,
a) Alter.
Wenn ich hier von Alter spreche, so meine ich die Altersstufe, in der die
Erkrankung ihren Anfang genommen hat, soweit eine psychotische Phase in
Betracht kommt. Was die jüngste Altersstufe, die Zeit vom 1. bis 10. Lebens¬
jahr betrifft, so konnte ich in meinem ganzen Material nur 2 Fälle, das sind 0,5%,
finden, in denen (melancholische) Phasen in ein so frühes Alter fielen. Die
beiden Fälle blieben periodisch melancholisch bei einer konstitutionell depres¬
siven Grundlage. Ich bin übrigens überzeugt, daß solche kindliche Erkrankungen
viel öfters Vorkommen; sie sind wohl meist leichter Art; sie werden aber häufig
nicht als manisch-melancholisch erkannt; der Arzt, dem sie zugeführt zu werden
pflegen, wird diese Erkrankungen meist als hysterische, vielleicht auch als
epileptoide ansehen, oder er wird an angeborene geistige Schwäche denken.
Die von mir angeführten Fälle sind auch nur katamnestisch festgestellt. Vor
einiger Zeit habe ich im Kinderhause der Anstalt Dösen einen Fall zu be¬
obachten Gelegenheit gehabt; die Beschreibung seiner ersten Phase ist von
Liebere 1 ) gegeben worden.
Die Erkrankungen des kindlichen Alters geben oft ein sonderbares Bild,
welches, abgesehen von den Krankheitserscheinungen, durch die geringe Ent¬
wicklung der Persönlichkeit charakterisiert ist; es fehlt das sonst den manisch¬
melancholischen Psychosen eigene subjektive Gepräge; das psychomotorische
Verhalten erscheint etwas einförmig, wie ja überhaupt die Bewegungsformen
der Kindheit etwas einförmig sind; der Intellekt ist noch nicht voll ent¬
wickelt, so daß die Kranken auf den ersten Blick schwachsinnig erscheinen
können. Das ganze Bild ist etwas leer. Auffallend ist die Ablenkbarkeit, welche
jedoch bei Kindern eine gewöhnliche Erscheinung in mehr oder weniger
intensivem Maße ist. Selbstvorwürfe können recht ausgeprägt sein. Ganz
den Erwachsenen konform ist die Gewichtsstörung, welche auch bei dem oben
erwähnten Falle in exquisitem Maße vorhanden ist.
Ich habe bei den folgenden Erhebungen und den erläuternden zahlreichen
schematischen Darstellungen (Abb. 3—9) das Alter von 1 bis 20 Jahren als erste
Altersstufe zusammengefaßt. In 20 % aller Fälle trat die erste Erkrankung
vor dem 21. Jahre auf; ujid zwar gehörten davon 58 % den periodisch zirkulären
Verlaufsformen an. Gegenüber dieser treten die anderen Formen weit zurück,
so daß die periodisch melancholischen nur mit 13 % ebenso die chronisch
zirkulären Fälle nur mit 13 % teilnehmen. Von letzteren zeigen 5 % im wesent¬
lichen „reine“ Formen, das sind solche, in denen regelmäßig, „schulgemäß“,
manische und melancholische Zeiten abwechseln, aber chronisch, ohne freie
Zwischenräume verlaufen.
Weiterhin sind die periodisch manischen Fälle mit 11 % anzuführen.
Dann folgen in großem Abstande die chronisch manischen Formen mit 4 %
und die chronisch melancholischen Formen mit 1 %•
l ) Liebers, Über Manie im Kindesalter, Zentralbl. f. Nervenheilk. 20, 1909.
rein „zirkuläre“ Formen
Abb. 5. Verteilung des Beginnes der Erkrankung auf Altersstufen (Einteilung nach den Formen der man.-mel. Trias).
Physiologische körperliche Einflüsse.
9
Sehr instruktiv ißt die kurvenmäßige Darstellung (Abb. 6) der einzelnen
Formen, wie sie dem Alter entsprechend Anteil nehmen. Wir sehen da, daß die
periodisch zirkulären Formen nur im 3. Lebens Jahrzehnt höhere Zahlen er¬
reichen; die periodisch melancholischen Formen stehen in der ersten Alters¬
stufe am niedrigsten, sie nehmen im höheren Alter verhältnismäßig immer
größeren Anteil. Die chronisch manischen und die periodisch, manischen Fälle
zeigen in der Alterstufe von 1—20 Jahren ihre höchste Zahl.
Was die Verteilung auf die Geschlechter betrifft, so steht das weibliche
mit 70 % dem männlichen mit 33 % gegenüber. Derselbe sehr große Unter¬
schied wird noch in der Altersstufe von 41—50 Jahren erreicht. Man könnte
daraus schließen, daß die Zeit der geschlechtlichen Reife und der geschlecht¬
lichen Inaktivität die Höchstzahl der weiblichen Ersterkrankungen ver¬
ursacht; das Alter von 51—60 steht diesem nur um ein geringes nach.
1-20 21-30 31-W V-50 51-60 61-70 71-80
psychom.
Hemmung
psychom
Erregung
1-20 21-30 31-00 01-50 51-60 61-70
- period. man. - chron. man . Abb. 7. Beginn der Erkrankung und das
- „ mel. „ mel. psychoraotor. Verhalten.
- „ zirk „ zirk.
Abb. 6. Beginn der Erkrankung.
Es erübrigt, noch einiges über die klinischen Besonderheiten der Alters¬
stufe vom 1.—20. Jahre zu sagen. Psychomotorische Störungen (Abb. 7)
ließen sich nur bei 51 % der Fälle dieses Alters nachweisen, also ein geringerer
Prozentsatz wie in den folgenden Altersstufen; und zwar betrifft die psycho¬
motorische Hemmung 38 %, die psychomotorische Erregung 13 % der Fälle.
Ich bin mir wohl bewußt, daß man fragen wird, wie es kommt, daß die
psychomotorische Störung, ein hervorragendes Symptom des manisch-melan-'
cholischen Irreseins, bei so wenig Fällen zum Ausdrucke kommt. Es mag diese
Erfahrung einerseits darin begründet sein, daß es sich bei einer Anzahl der
Fälle um katamnestische Erhebungen handelt und daher lückenhafte Angaben
in Betracht kommen. Andererseits kommt das Resultat daher, daß die zirku¬
lären Fälle, welche die Hauptsache der Erkrankungen in diesem Lebensalter
ausmachen, mit Phasen gehemmter Art zu beginnen pflegen. Die psychomotori¬
sche Hemmung gibt also diesem Alter das Gepräge; die Erregung ist verhältnis¬
mäßig wenig vertreten. Umgekehrt verhält es sich mit der Denkstörung.
Die Erleichterung des Denkaktes finden wir in 36 %> die Erschwerung in
18 °/ 0 . Die Denkhemmung ist sonst in keiner Altersstufe mit einem so hohen
Prozentsätze beteiligt.
10
Ätiologie.
Die Willen88törung derart zu berechnen, ißt unmöglich; es scheitert
dies daran, daß diese Störung im allgemeinen mit der psychomotorischen
Störung parallel geht und ihr Bestehen daher den Krankheitsgeschichten nicht
entnommen werden kann.
Was krankhafte Vorstellungen, bzw. Wahnvorstellungen betrifft, so
fand ich solche in 69 % der Fälle; sie erscheinen weniger häufig wie in höheren
Altersstufen. Sinnestäuschungen waren in 31 % der Fälle, also recht häufig
vertreten. Der Alkoholismus spielte in 11 °/o der Fälle eine Rolle (Abb. 8).
Fassen wir die einzelnen Erkrankungsformen, mehr dem affektiven
Charakter entsprechend, in drei Gruppen zusammen, in die manischen, me¬
lancholischen und zirkulären Krankheitsformen, so finden wir für unsere Alters¬
stufe folgendes: Die manischen Erkrankungen kommen bei Männern und Frauen
in gleicher Zahl (7 %) vor; die melancholischen Erkrankungen sind beim weib¬
lichen Geschlecht wesentlich häufiger (12:2 %), die zirkulären ebenfalls beim
weiblichen Geschlechte ungleich häufiger (52: 19%).
Wir sehen also, daß die mani¬
schen Erkrankungen verhältnismäßig
am häufigsten in diesem Alter auf-
treten, ebenso die zirkulären weib¬
lichen; am seltensten sind die de¬
pressiven Phasen. Dieses Verhältnis
würde gut zu dem Verhältnisse der
Psychomotilität passen, insofeme wir
als typisch für Melancholien die
Hemmung, für Manien die Erregung
ansehen.
Betrachten wir uns schließlich
die absoluten Zahlen der Ersterkran¬
kungen nach Geschlechtern, so finden
wir folgendes: wir haben 84 Fälle im
1-20 21-30 31-W w-50 51-60 61-70 ganzen in dieser Altersstufe, wovon
Abb. 8.Wahnvorstellungen, Sinnestäuschungen, 60 auf das weibliche, 28 auf das männ-
ferner chron. AlkohoUsmu^bei beginnender Uche treffen Größer werden die Zahlen
nur noch im folgenden Jahrzehnt.
Zusammenfassung. Die Altersstufe von 1—20 Jahren enthält 84
Fälle = 20 %. Davon gehören den periodisch zirkulär verlaufenden 58 % an.
Die Altersstufe zeichnet sich aus durch starkes Hervortreten der psychomo¬
torischen Hemmung (38 %); Wahnvorstellungen treten zurück gegenüber den
Sinnestäuschungen (2: 1); die zirkulären weiblichen Erkrankungen sind außer¬
ordentlich häufig (52 %); das Verhältnis der Männer zu den Frauen beträgt
3:7; 71 % der Fälle gehören zirkulären Erkrankungen an.
Es würde zu weit führen, jede einzelne der dargestellten Altersstufen
im einzelnen zu besprechen.
Zusammengefaßt zeigt sich folgendes bezüglich der Zeit des Kran£-
heitsbeginnes. Die bei weitem größte Zahl der Fälle beginnt vor dem 41. Jahre;
die größte Erkrankungszahl zeigt das dritte Dezennium. Die Beteiligung der
Geschlechter bleibt bis zum Greisenalter ungefähr dieselbe, nämlich 60—70 %
t
Physiologische körperliche Einflüsse.
11
Frauen, 30—40 % Männer. Gegen das hohe Alter hin gleichen sich die Unter¬
schiede bezüglich der Zahl der Männer und Frauen^aus.
Die periodisch zirkulären und periodisch melancholischen Fälle zeigen
umgekehrtes Verhalten; die ersteren beginnen in mehr als der Hälfte der Fälle
in dem Alter bis zu 30 Jahren, nehmen dann sehr stark ab, um dann auf einer
12
Ätiologie.
immerhin bedeutenden Höhe stehen zu bleiben. Umgekehrt nehmen die peri¬
odisch melancholischen Fälle bezüglich des Alters ihrer Entstehung gegen das
Alter zu sehr stark zu. Die periodisch manischen Fälle zeigen verhältnismäßig
geringe Beteiligung; sie nehmen allmählich mit höherem Alter ab.
Die Zahl der Fälle mit psychomotorischer Erregung nimmt mit
dem Alter zu; immerhin überwiegen die
Fälle mit psychomotorischer Hemmung
stets erheblich.
Während die Beteiligung von
Wahnvorstellungen mit steigendem
Alter zunimmt, nimmt die Beteiligung
von Sinnestäuschungen ab. Der Al¬
koholismus zeigt seine Höchstbeteiligung
im Alter von 41—50 Jahren.
1-20 21-30 31-00 01-50 51-60 61-W 71-80
Abb. 11. Beginn der Erkrankung und
Beteiligung des Geschlechtes.
Abb. 12. Häufung des Krankheits¬
beginns bei Männer und Frauen.
Wir sehen also die Entstehung der Erkrankung mit Vorliebe in mehr
jugendlichem Alter; in dieser Altersstufe finden sich viele zirkuläre Erkran¬
kungen mit überwiegender Beteiligung einer psychomotorischen Hemmung,
sehr vielen Sinnestäuschungen und verhältnismäßig wenig Wahnvorstellungen.
Im höheren Alter sind die periodischen Melancholien vorherrschend. Die Fälle
mit psychomotorischer Erregung nehmen zu, weiterhin die Wahnvorstellungen.
Die Männer beteiligen sich im Alter verhältnismäßig stärker wie in früheren
Altersstufen.
b) Geschlecht.
Daß das Geschlecht auf das Zustandekommen des manisch-melancholi¬
schen Irreseins einen Einfluß ausübt, ergibt sich allein schon aus der Beteiligung
der Männer und Frauen der Zahl nach. Es treffen nach meinem Material auf das
weibliche Geschlecht 67 % der Erkrankungen, auf das männliche 33 % (Abb. 9).
Physiologische körperliche Einflüsse.
13
Worauf nun dieser Unterschied zurückzuführen ist, erscheint vollkommen
unklar. Selbstverständlich muß der Grund in primären Geschlechtsunter¬
schieden zu suchen sein, nicht etwa in der sekundären Charakterveranlagung
des Weibes, von dem wir ja behaupten, es sei affektiv erregbarer wie der Mann.
Es taucht die Frage auf, ob ätiologisch dieses Mehr an Erkrankungen des weib¬
lichen Geschlechtes dem Einflüsse des Fortpflanzungsgeschäftes zuzuschreiben
ist. In meinem Material ist nur in 7 % der Fälle von manisch-melancholischem
Irresein überhaupt (in 17 % der Fälle mit bekannter Ätiologie) das Fort¬
pflanzungsgeschäft als auslösendes Moment zu betrachten (Abb. 9). Das kann
also nicht, oder wenigstens nicht allein, ausschlaggebend sein. Auffallend
ist, daß körperliche Veränderungen pathologischer Art ebenfalls in 7 % ätio¬
logisch eruierbar sind, und daß hier das männliche und weibliche Geschlecht
(a Frauen
1-20 21-30 31-W M-50
Abb. 13. Beginn der Erkrankung nach Krankheitsform und Geschlecht.
in demselben Verhältnisse (36:64%) vertreten ist wie im manisch-melan¬
cholischen Irresein überhaupt. Man sieht, es müssen andere Gründe für die
Verteilung auf die Geschlechter maßgebend sein, die wir eben nicht kennen.
Tiefgehende Unterschiede in dem Symptomenbild sind nicht vorhanden.
Zu erwähnen ist nur, daß die psychogenen Momente beim weiblichen Geschlecht
erheblich überwiegen, sowohl was Konstitution (männlich 12 %, weiblich
88 %), als auch was Auslösung der Psychose (26: 74 %) und das klinische Bild
der Psychose selbst (18: 82 %) betrifft (Abb. 9 u. 10).
Gewisse Unterschiede ergeben sich, wenn wir die Verlaufsformen be¬
trachten. So erkennen wir, daß die Beteiligung des weiblichen Geschlechts
bezüglich der Zahl der Ersterkrankungen in den verschiedenen Altersstufen
vom 50. Lebensjahr an zugunsten des männlichen Geschlechtes abnimmt, so daß
in dem 7. Jahrzehnt männliche und weibliche Ersterkrankungen im Gleichgewicht
stehen (Abb. 11 u. 12). Es könnte dies einen Fingerzeig geben für eine etwaige
14
Ätiologie.
Beeinflussung der Ätiologie durch das sexuelle Verhalten. Von der Zeit der
Sterilität an nähern sich die beiden Geschlechter der Zahl der Erkrankung nach.
Die Zahl der manischen Ersterkrankungen nimmt beim weiblichen Ge¬
schlecht vom öl. Lebensjahr an einen auffallenden Aufschwung, während
dieser beim männlichen Geschlechte fehlt; auffallend auch ist das sehr starke
Überwiegen der Erkrankungen beim Weibe in den zirkulären und melancholi¬
schen Verlaufsformen unserer Erkrankung. Die absolute Zahl der manischen
Erkrankungen verteilt sich ziemlich gleichmäßig auf Männer und Frauen.
In gleicher Weise wie beim Manne nehmen bei der Frau die melancholischen
Erkrankungen der Häufigkeit nach mit dem höheren Alter prozentual zu, die
zirkulären ab. Die Zeit vor der Geschlechtsreife zeigt keine wesentlichen Unter¬
schiede (Abb. 13).
Die große Mehrzahl der Fälle, deren Beginn in die Lebenszeit von 40
und mehr Jahren fiel, entwickelte sich entweder im Anschluß an die Meno¬
pause oder an eine Unregelmäßigkeit der Menses. Letztere fiel in den betreffen¬
den Fällen zeitlich mit dem Klimakterium als dessen Beginn zusammen und es
dürfte erlaubt sein, letztere Fälle mit denen der klimakteriellen Ätiologie zu
vereinigen. Die große Mehrzahl der Fälle machte ihre erste Erkrankung im
Anschluß an das Klimakterium durch. Besondere klinische Merkmale wiesen
diese Fälle nicht auf. Zum Teil wurde die Krankheit periodisch; zum Teil handelte
es sich um Fälle, deren Erkrankung sioh auf viele Jahre hinzog und in bezug
auf Prognose einen ungünstigen Charakter annahm. Eine kleine Anzahl von
Fällen hatte schon in den 20er Jahren eine mehr oder weniger lange Krank-
heitsperiode durchgemacht und war dann von schweren Schwankungen des
Affektzustandes verschont geblieben. Von den klimakteriellen Fällen mag ein
Teil der alten Kraepelinschen Melancholie zuzuzählen sein. Melancholien
sind bevorzugt, so daß auf 20 Fälle mit zirkulärem Gesamtverlaufe immerhin
11 Fälle mit periodischen Melancholien kommen. Die Auslösung hatte in
2ö Fällen eine anschließende Melancholie, 2 mal einen manischen und 4 mal
einen zirkulären Zustand verursacht. Agitierte Melancholien sind besonders
häufig.
Eine Gruppe, deren Zahl 14 % der Fälle mit Ätiologie ausmacht, steht
mit der Gebärtätigkeit (Gravidität, Geburt, Laktation) der Frauen in Zu¬
sammenhang. Diese Erkrankungen fallen natürlicherweise zum größten Teil
in die Zeit vom 20.—30. Lebensjahr. Auffallen mag, daß sie durchweg günstigen
Charakter tragen insofern, als es zu weitgehenden Intermissionen kommt.
In einigen Fällen sind schon früher manisch-melancholische Krankheitsphasen
vorhergegangen. Die Erkrankungen haben im ganzen meist zirkulären Cha¬
rakter mit Vorherrschen der Melancholie; sehr häufig sind agitierte Melancholien.
Periodisch melancholische Fälle sind sehr selten. In vielen Fällen hat die Er¬
krankung überhaupt mit ihrer ersten Phase nach der Geburt eines Kindes den
Anfang genommen. Ist einmal die Konstitution zu einer solchen Erkrankung
deutlich zutage getreten, so bedürfen spätere Erkrankungen meist keiner be¬
sonderen Ursache mehr. Umgekehrt gibt die Geburt in manchen Fällen den
Anlaß zu einer weiteren Krankheitsphase, nachdem schon früher welche vor¬
ausgegangen sind. Die meisten Phasen dauerten kürzer wie ein Jahr, die längBte
war 6 Jahre lang.
Pathologische körperliche Einflüsse.
15
Wir haben es, wie ans diesem Abschnitt hervorgeht, wenn wir die Fälle
von Erkrankungen des Gesehlechtstraktus, die im folgenden erwähnt werden,
hinzuzählen, in ca. 31 0 0 der Fälle körperlicher Ätiologie mit manisch-melan¬
cholischen Erkrankungen beim Weibe zu tun, welche in Zusammenhang mit
physiologischen oder pathologischen Veränderungen der Genitalsphäre stehen.
Die Menstruation kommt ätiologisch kaum in Betracht. Wohl aber
gibt es einzelne Fälle, in denen sich an die Menses Erankheitsphasen anschließen,
der sog. menstruelle Typus. Er ist zweifellos recht selten. Charakteristisch
für die Beurteilung solcher Typen mag der auf Tafel I gezeigte Fall sein, bei
dem Menses und schwere Verstimmung auf dem Boden einer chronischen leichten
Melancholie eingezeichnet sind. Der Zusammenhang zwischen Menses und Ver¬
stimmung ist nur ein scheinbarer, durch das zufällige zeitliche Zusammen¬
treffen hervorgerufen.
Zum allgemeinen Verständnisse und zum Vergleich mit späteren zahlen¬
mäßigen Angaben soll noch bemerkt werden, daß nach dem hier zu¬
grunde liegenden Material sich Manie und Melancholie in der Häufigkeit wie
3:4 verhält; männliche und weibliche Erkrankungen verhalten sich wie 1:2;
ferner: Manie: Melancholie beim Manne = 2:1
„ „ „ Weibe =1:2,5.
II. Pathologische körperliche Einflüsse.
Pathologische körperliche Ursachen sind in 7 °/ 0 der Fälle des gesamten
Materials bekannt. Mit einer kleinen zur Ätiologie auf somatischer Grundlage
gehörenden Untergruppe, nämlioh den Fällen, als deren Ursache chronische
Vergiftung anzunehmen ist, will ich beginnen. Es handelt sich zunächst
um zwei Fälle chronischer Alkoholvergiftung. Beide Kranke waren durch
Fälle von Trunksucht hereditär stark belastet; konstitutionell waren beide
Kranke in bezug auf ihre Affekte leicht alteriert; dazu trat einige Jahre vor
der im Alter von 38 bzw. 56 Jahren eintretenden Erkrankung chronischer
starker Alkoholmißbrauch. In beiden Fällen bestand die Erkrankung in einer
manischen Erregung, die in dem einen Falle für kurze Zeit mit depressiven
Zügen gemischt war. Es ist in beiden Fällen nahehegend, neben der selbst¬
verständlich (s. unten!) vorhandenen leichten konstitutionellen Störung, den
Alkohol für die Auslösung der Krankheit verantwortlich zu machen. In beiden
angeführten Fällen ist von früheren Krankheitsphasen nichts bekannt.
Weiterhin ist ein Fall zu erwähnen, bei welchem im 37. Lebensjahr eine
melancholische Erkrankung typischer Art einsetzte, welche nach ca. 7 Monaten
Krankheitsdauer in Gesundung überging. Bei dem Kranken bestand keine
hereditäre Belastung; auch von konstitutionellen Störungen war nichts zu
erfahren. Als auslösende Ursache muß chronischer Morphinismus und
Kokainismus angesehen werden, der den Kranken im Verlauf von 4 Jahren
körperlich und psychisch stark schwächte. Die psychische Erkrankung schloß
sich unmittelbar an die Strapazen an, die dem Kranken der Versuch der selbst¬
ständigen Entziehung verursachte, ✓
10
Ätiologie.
Für die folgenden Fälle mit körperlicher Ätiologie habe ich nach¬
stehende Ein teilung getroffen:
A. Akute Infektionskrankheiten.
1. Verschiedene Infektionskrankheiten.
2. Typhus.
3. Influenza.
B. Chronische Erkrankungen.
C. Glykosurie.
D. Organische Himerkrankungen.
E. Erkrankungen des Genitaltraktus.
Die Fälle von akuten Infektionskrankheiten nehmen der Zahl
nach in dem ganzen Material ca. 0 %, in dem Material mit bekannter Ätiologie
etwa 14 %, unter den Fällen mit körperlicher Ätiologie 00 °/ 0 in Anspruch.
Die männlichen und weiblichen Kranken sind in der ganzen Anzahl der Fälle
mit körperlicher Ätiologie ungefähr in demselben Verhältnis vertreten, wie
im manisch-melancholischen Irresein überhaupt; es erscheinen demnach die
Frauen verhältnismäßig stärker beteiligt.
Die erste Erkrankung bzw. die erste zur Beobachtung gekommene
Krankheitsphase trifft bei weitaus der überwiegenden Mehrzahl in das mittlere
Alter von 20—45 Jahren. Auffallend ist, daß auf 0 der hierher gehörenden
Fälle schon ein Fall trifft, dessen erste Erkrankung in die jugendliche Zeit
zwischen 10. und 20. Lebensjahr trifft. Es hat demnach den Anschein, als
ob körperliche Erkrankungen in der Jugend besonders den Ausbruch des manisch¬
melancholischen Irreseins bzw. einer Phase desselben begünstigen. Was die
Form der Erkrankung anbetrifft, so ist zu erwähnen, daß die melancholi¬
schen Stadien nicht in dem Maße hervortreten, wie wir es sonst zu sehen ge¬
wohnt sind; ferner daß, obwohl die weiblichen Erkrankungen die Mehrzahl
bilden, nicht wie sonst die melancholischen Formen die manischen verhältnis¬
mäßig an Zahl überragen. Im übrigen sind klinische Besonderheiten nicht
hervorzuheben. Es finden sich alle Schattierungen der Erkrankungen.
Von Wichtigkeit ist es, zu erwähnen, daß bei den in diese Rubrik fallenden
Erkrankungen das psychogene Moment klinisch in den Hintergrund tritt und
nur in ganz wenigen Fällen zur Beobachtung kommt, während wir es sonst,
wie wir später noch sehen werden, in einer verhältnismäßig großen Zahl von
Fällen vorfinden. Einmalige und periodische Erkrankungen finden wir neben¬
einander. Durch die Periodizität wird die ätiologische Betrachtung sehr er¬
schwert. Auf diesen Punkt ist oben schon hingewiesen.
Unter den akuten Infektionskrankheiten, denen wir begegnen, finden
sich Mandelentzündung, Lungenentzündung, Rippenfellentzündung, Bauch¬
fellentzündung und Hirnhautentzündung. Etwas mehr als die Hälfte der Fälle
trifft auf Typhus und Influenza, die ungefähr in dem gleichen Verhältnis
vorhanden sind. Die Zahl der männlichen und weibliohen Erkrankungen
ist hier fast dieselbe. Nur um ein geringes überragen die weiblichen die männ¬
lichen, obwohl sonst, wie oben schon erwähnt, die weiblichen weitaus in der
Mehrzahl sind. Manie und Melancholie sind in gleichem Maße vertreten; sonstige
klinische Besonderheiten sind nicht zu erwähnen. Bei manchen Fällen traten
Psyohißohe Einflüsse.
17
während der infektiösen Erkrankung schwere Delirien mit Bewußtlosigkeit auf.
Diese Delirien zeigen häufig genau dasselbe Bild, Welches bei den betreffenden
Kranken spätere Phasen deliranter Färbung tragen, ohne daß dabei eine körper¬
liche Erkrankung irgendwie in Betracht käme. Die jedem Kranken spezifische
Konstitution kommt demnach in den einzelnen Phasen, welche sich genau
gleichen können, zum Ausdruck.
Den chronischen Erkrankungen (B.) kommt nach meiner Ansicht
nur insofern eine ätiologische Bedeutung zu, als sie, besonders bei Tuberkulose,
eine chronische Schwächung der Körperkräfte mit sich bringen. Für die Er¬
scheinungsform des manisch-melancholischen Irreseins haben sie keine Bedeutung.
Von prinzipieller Wichtigkeit erscheint mir dagegen das Auftreten der
Glykosurie für die psychische Erkrankung. Werden doch von manchen
Autoren besondersartige Depressionen bei Diabetes beschrieben. Auch mir
erscheint es unzweifelhaft, daß wir auf die genannte Störung des Stoffwechsels
unser besonderes Augenmerk richten müssen. Es kommen zweierlei Gründe
in Betracht. Erstens ist es denkbar, daß wir eine für Diabetes spezifische
Psychose herausschälen können, die wir möglicherweise in manchen Fällen
wegen ihrer wesentlichsten klinischen Merkmale dem manisch-melancholischen
Irresein zuzählen können; zweitens besteht die Möglichkeit, daß eine unzweifel¬
haft manisch-melancholische Psychose durch den Diabetes verursacht werden
kann. Zu erwähnen ist, daß Glykosurie zur Zeit der Psychose nicht selten
beobaohtet wird, ohne daß die sonstigen Symptome eines Diabetes bestehen.
Die Bedeutung der organischen Hirnerkrankungen (D.) für die
Ätiologie wird später im einzelnen besprochen werden; sie sei hier nur der Voll¬
ständigkeit halber angeführt.
Eine kleine Gruppe (E.) von Erkrankungen muß hier angereiht werden;
es handelt sich um Krankheiten der Genitalsphäre des weiblichen Ge¬
schlechts. Bei einigen Fällen kam Uterusexstirpation, Operation von Ovarial-
zysten, ferner Operation eines Myoms in Betracht. An diese Eingriffe schloß
sich die manisch-melancholische Erkrankung, manchmal periodischer Art, an.
Der Beginn der Erkrankung fiel in die Zeit von 40 und mehr Jahren.
III. Psychische Einflüsse.
Kraepelin sagt in seinem Lehrbuche, daß das manisch-melancholische
Irresein in seiner Entwicklung im allgemeinen von äußeren Ursachen unab¬
hängig ist, wenn auch gewöhnlich vom Kranken und seiner Umgebung irgend¬
welche Zufälle zur Erklärung herbeigezogen werden; ferner: daß allerlei Schädi¬
gungen, eine heftige Gemütserschütterung, ein körperliches Unwohlsein, eine
fieberhafte Krankheit auf vorbereitetem Boden den letzten Anstoß zum Aus¬
bruche der Störung geben können. In prognostischer Beziehung erwähnt der¬
selbe Autor, daß bei den sehr früh und ohne äußeren Anlaß einsetzenden Fällen
auf vielfache Wiederkehr der Anfälle mit kurzen Pausen zu rechnen sei. Weiter¬
hin sagt Kraepelin, daß in einer Reihe von Fällen namentlich während
der Anfälle, aber auch schon vorher, allerlei hysterische Züge hervortreten,
wie Schreianfälle, Magenkrämpfe, Ohnmächten und große Anfälle** daß sich
nicht selten an gemütliche Aufregungen anschließen; daß aber die klinische
Färbung des Anfalls von derjenigen des auslösenden Affektes ganz unabhängig
ist. Die große Häufigkeit des manisch-melancholischen Irreseins bei Frauen
Re hm. Das manisoh-meUmchoUscfae Irresein. 2
18
Ätiologie.
steht nach Kraepelin in Abhängigkeit von der sekundären Geschlechtseigen¬
schaft erhöhter gemütlicher Erregbarkeit.
Gemütlichen Erschütterungen gibt Westphal 1 ) die Rolle häufiger
Auslösung und Saiz 2 ), der die Fälle von Manie der Berliner Klinik auf Anregung
Ziehens bearbeitet hat, ist der Ansicht, daß akuten Affektstößen; z. B. Schreck,
eine ursächliche Bedeutung beizumessen ist. Saiz sowohl wie Li epschütz*),
welche sich eingehend mit der Ätiologie der Melancholie beschäftigt haben, legen
Trauer, Sorge und Gram als tiefen und nachhaltigen Affekten eine ursächliche
Bedeutung bei.
Daß zirkuläres Irresein mit hysterischen Zügen vermengt sein kann,
davon berichtet Pi 1 c z 4 ) in seinem Buche über „die periodischen Geistesstörungen“;
er referiert einen Fall von Kombination der Hysterie mit zirkulärem Irresein,
welcher den Charakter einer folie morale angenommen habe mit Vorkehrung
perverser, antisozialer und gemeingefährlicher Triebe. Binswanger 6 ) er¬
wähnt, daß die degenerativen Fälle der Hysterie Kombinationen und Misch¬
formen mit maniakalischen Exaltationen und Melancholien zeigen. Uber die
Eigenart solcher Fälle spricht er sich nicht aus. Nißl 6 ) erklärte sioh mit Ent¬
schiedenheit gegen kombinierte Psychosen und meinte, daß sog. hysterische
Erscheinungen im manisch-melancholisohen Irresein keine Symptome der
Hysterie, sondern Krankheitszeichen der erstgenannten Psychose seien. Rai-
mann 7 ) spricht von einer akuten hysterischen Geistesstörung manischer und
melancholischer Form; um die Hysterie von reinen manischen und melancholi¬
schen Formen zu unterscheiden, hält er für wichtig, daß bei letzteren die Sinnes¬
täuschungen vollkommen fehlen, und keine Amnesie vorhanden ist.
Eingehend mit der Frage der „Hysteromelancholie“ beschäftigte sich
G. Specht 8 ). Aus einer unzweifelhaft hysterischen Konstitution hervorgehend
stellt sich im Anschluß an eine der auch sonst bei Hysterie wirksamen Gelegen¬
heitsursachen eine geschlossene melancholische Psychose mit durchwegs hysteri¬
scher Prägung und mit einem Verlauf und Ausgang ein, wie solcher wiederum
nur in der Hysterie seine befriedigende Lösung findet. Specht hebt die dele¬
täre Wirkung chronischer Sorgen und Beängstigungen hervor; er bestreitet
das besonders häufige Vorkommen von Wahnideen, sexuell-religiösen Inhaltes,
wie es Förstner hervorgehoben hat, ferner von Gesichtshalluzinationen, sowie
das besonders häufige Vorkommen der Verwertung hysterischer Sensationen
zu Wahnideen. Von Empfindungsstörungen sind solche Kranke oft ganz frei,
auch die Anfälle treten häufig vollkommen zurück.
*) Westphal, Melancholie, im Lehrbuch der Psychiatrie von Binswanger und
Siemerling. Jena 1907.
*) G. Saiz, Untersuchungen über Ätiologie der Manie und des zirkulären Irre¬
seins, nebst Besprechungen einzelner Krankheitssymptome. Berlin 1907.
*) Liepschütz, Zur Ätiologie der Melancholie. Monatsschr. f. Psych. u. Neur.
18, 1905.
4 ) Pilcz, Die periodischen Geistesstörungen. Jena 1901.
6 ) Binswanger, Die Hysterie. Wien 1904.
•) Nißl, Hysterische Symptome bei einfachen Seelenstörungen. Zentral bl. f.
Nervenheilk. u. Psychiatr. 1902.
7 ) i Raimann, Die hysterischen Geistesstörungen. Leipzig u. Wien 1904.
8 ) G. Specht, Über Hysteromelancholie. Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Pfiych. 1906.
Psychische Einflüsse.
19
Reiß 1 ) hat konstitutionelle Verstinmmng und manisch-melancholischen
Irresein studiert. Von den hier interessierenden Gruppen hob er hervor: rein
reaktive Depressionen auf konstitutionellem Boden, Depressionen nach An¬
laß mit protrahiertem Verlaufe, Depressionen mit ausgesprochenen endogenen
Schwankungen, ferner Depressionszustände mit hysterischem Gepräge, schlie߬
lich hysteriforme Depressionen des Präseniums. Reiß trennt die konstitutionellen
Zustände und die zirkulären Erkrankungen, gibt aber zu, daß eine große Zahl
von Übergängen vorhanden ist, die die enge Verwandtschaft beider Formen
nachweisen. Zum Beweise verwendet er die Annahme, daß die leichten Schwan¬
kungen der Veranlagung sehr häufig Reaktionen auf ungünstige äußere Ver¬
hältnisse sind. Er behauptet, daß bei einzelnen manisch-melancholiBchen
Erkrankungen die anscheinend endogenen Schwankungen in ihrer Stärke
und ihrer äußeren Form in so hohem Maße von den zufälligen Ereignissen ab¬
hängig sind, daß man in solchen Fällen den äußeren Momenten, wenigstens
für das Symptomenbild, eine größere Bedeutung nicht abeprechen könne.
Zur Übersicht des Materials (s. Abb. 10) wurde eine Dreiteilung vorge¬
nommen, insofeme daß als erster Punkt psychogene Störungen, soweit sie uns
die Konstitution der Kranken erkennen läßt, besprochen werden. Weiter
folgt die Auslösung der periodischen Phasen des manisch-melancholischen
Irreseins durch psychogene Momente; die psychogenen Störungen während
der Psychose werden unter der „hysterieverwandten Form des manisch-melan¬
cholischen Irreseins“ in einem späteren Kapitel besprochen werden. Bei der
Auswahl der Fälle wurde so verfahren, daß aus einem großen Material manisch¬
melancholischer Kranker das Einschlägige herausgesucht wurde. Diese Art
der Bearbeitung hat den Vorteil, daß die Übersicht über alle klinischen Vor¬
kommnisse gewahrt bleibt, während bei der zu dem bestimmten Zwecke auf
einen einzelnen Punkt gerichteten Untersuchung die Gefahr der Überschätzung
einzelner Symptome und der Selbsttäuschung sehr nahe liegt.
Es ist nicht möglich auf den ersten Punkt der Betrachtungen, die Kon¬
stitution einzugehen, ohne sich eingehend mit der Theorie des Aufbaues
manisch-melancholischer Psychosen zu beschäftigen. Die Periodizität
des Verlaufes ist einer der Faktoren, auf deren Basis sich die Psychose auf baut.
Vergleichen wir die Periodizität mit dem Gange einer Welle. Die Wellen, be¬
stehend aus Wellenberg und Wellental, haben verschiedene Höhe und Länge.
Als eine Wellenbewegung, meist von geringem Umfange, stellen wir uns die
Erscheinungsform der Zyklothymie vor; der Wellenberg mag die manische,
das Wellental die depressive Komponente darstellen; es handelt sich demnach
um ein fortwährendes Hin- und Herpendeln in mehr oder weniger langen Aus¬
schlägen. Bei sehr langen Wellen finden sich neben diesen primären kleinen
sekundäre Ausschläge, welche die ersteren zur Basis haben. In gewissen Zwi¬
schenräumen gibt das Zusammentreffen eines primären und sekundären Wellen¬
berges einen größeren Ausschlag. Stellt man sich nun die Wellenbewegungen
als Phasen des manisch-melancholischen Irreseins vor, nimmt man ferner an,
daß in dem Moment des Zusammentreffens zweier Wellenberge irgend ein psychi-
*) Reiß, Konstitutionelle Verstimmung und manisch-depressives Irresein. Zeitschr.
f. ges. Neurol. u. Psych. 1910.
2 *
scher Schock eintritt, so wird sich der Ausschlag noch weiter erhöhen, es wird
die Affektanhäufung eine Psychose auslösen.
Die manisch-melancholische Konstitution stellt die allgemeine ätio¬
logische Grundlage des manisch-melancholischen Irreseins dar. Ich fasse
darunter die konstitutionelle Erregung und Verstimmung, natürlich nur in¬
soweit dieselben manisch-melancholische Komponente besitzen, und die Zyklo¬
thymie, das abgeschwächte zirkuläre Irresein, zusammen. Bei ausgedehnten
Untersuchungen in dieser Richtung zeigt es sich, daß mit wenigen Ausnahmen,
und dann wohl bei mangelhafter Vorgeschichte, bei den manisch-melancholi¬
schen Kranken eine derartige spezifische Konstitution sich vorfindet. Selbst¬
verständlich ist diese Konstitution, welche dem Irresein zur Grundlage dient,
in zahllosen Fällen vorhanden, ohne daß es zur Psychose kommt. Es handelt
sich ja dabei durchaus nicht immer um pathologische Zustände, sondern um
eine Art von Charakter, dem die Eigenschaften des Manisch-Melancholischen
in abgeschwächtem Maße innewohnen. Für die konstitutionell Depressiven
hat dies Reiß in seiner Arbeit ausführlich nachgewiesen; für die Zyklothynen
hat Wilmanns 1 ) die enge Verwandtschaft mit den Manisch-Melancholischen
betont. Nach meinen Erfahrungen findet sich in diesen psychopathischen und
noch in die Breite der Gesundheit fallenden Zuständen dieselbe mannigfaltige
Form von Symptomenkomplexen vor, wie in der Psychose selbst; auch Misch¬
zustände mit dem Affekt der Gereiztheit und Zustände mit paranoischer
Färbung sind zu beobachten.
So erkläre ich mir die chronische Manie und Melancholie als eine krank¬
hafte Steigerung einer bestehenden konstitutionellen Eigenschaft.
Bei sehr langgezogenen Wellen ist es theoretisch erklärlich, daß ein Wellen¬
berg einen großen Teil des Lebens ausfüllen kann, so daß das Wellental, der
entgegengesetzte Affektzustand, möglicherweise gar nicht zur Beobachtung
kommt, bzw. daß das Leben vor Eintreten desselben abschließt. Diese Er¬
klärung macht auch das Vorkommen eines dem Schock konträren Affekt¬
zustandes verständlich. Wenn nämlich z. B. bei Beginn des manischen
Wellenberges ein depressiver Schock eintritt, so wird derselbe den manischen
Wellenberg erhöhen und natürlich keine Depression, sondern nur eine Manie
auslösen können.
Was nun die „hysterieähnlichen“ bzw. psychogenen Erscheinungen
betrifft, so ist im folgenden das Hauptgewicht auf solche gelegt, welche man
unter somatischen und Empfindungsstörungen zusammenfaßt. Der
hysterische Charakter ist dabei vernachlässigt und zwar, wie ich glaube, mit
Recht, weil dieser bei manisch-melancholischen Kranken unter dem Gewicht
dauernder, primärer affektiver Störungen nur in seltenen Fällen durchsichtig
in Erscheinung tritt; ist es doch bekannt, wie oft sich unter der Bezeichnung
Hysterie, auch von seiten der Ärzte, Psychosen anderer Art finden. Man braucht
nur die Beeinflußbarkeit durch äußere Momente anzuführen, welche wir
bei den verschiedensten Psychosen zu beobachten täglich in der Lage sind.
Psychogene Erscheinungen vor dem Eintritt einer Phase des manisch¬
melancholischen Irreseins bzw. in der Pause zwischen den einzelnen Phasen
finden sich in 4 % des ganzen Materials. Bei 12 von den 18 Fällen, also in
*) Wilmanns, Zyklothymie. Samml. klm. Vortr. v. Volkmann, 1906.
Psychische Einflüsse.
21
V* der Fälle, waren hysterische Anfälle typischen Charakters leichterer oder
schwererer Art vorhanden; mit Vorliebe setzten diese Anfälle in der Zeit der
Pubertät ein; in anderen Fällen fand sich psychogener Singultus, Chorea major,
Nachtwandeln usw.
Zwei Fälle zeigten in der anfallsfreien Zeit öfters nach Erregung Er¬
scheinungen von Gefühlstäuschungen. Sehr bemerkenswert ist die Tatsache,
daß nur bei einem der 18 Fälle hysterische Erscheinungen auch im Verlaufe der
Psychose zu beobachten waren, während sich bei den anderen Fällen die Art der
Psychose in symptomatischer Beziehung nicht von der gewöhnlichen Verlaufsart
unterschied; eine auslösende Ursache psychischer Art trat bei keinem der Fälle
in Erscheinung, wohl aber in 2 Fällen Auslösung durch körperliche Veränderungen.
Der Beginn der Krankheitsphasen fiel in 3 Fällen vor das 30. Lebensjahr, in 4
Fällen nach demselben, nur in einem Falle in der Zeit nach dem Eintritt der
Menopause. Es •handelte sich demnach im wesentlichen um* jugendliche Per¬
sonen. Die manischen und nicht gehemmten Verlaufsarten überwogen, doch
waren bei 3 Fällen im Verlaufe Stuporzustände zu konstatieren.
Die Prognose des einzelnen Anfalles war günstig; nur 2 Fälle zeigten
langdauemden Verlaufstypus, bei dem die Prognose zweifelhaft sein kann.
Fast durchweg fanden sich manische und melancholische Zeiten in dem Ver¬
laufe. Auffallend erschien in einigen Fällen ein, was die Art des Affektes be¬
trifft, ganz besonders wechselvoller Verlauf.
Vergleichen wir, wie sich diese Fälle der Zahl der Geschlechter nach zum
manisch-melancholischen Irresein überhaupt verhalten, so finden wir, daß im
manisch-melancholischen Irresein 07 % Frauen, 33 % Männer vorhanden sind,
während hier die Frauen 88 % und die Männer 12 % ausmachen, also ein
unverhältnismäßig starkes Überwiegen des weiblichen Geschlechtes,
wie es der Psychogenie und der Hysterie an und für sich entspricht.
Bei der Betrachtung des zweiten Punktes der Untersuchungen, der Aus¬
lösung der Psychose durch psychogene Momente, ist es notwendig, sich
klar zu machen, inwieweit die Auslösung einzelner Phasen des manisch-melan¬
cholischen Irreseins überhaupt eine Rolle spielt. Zu diesem Zwecke wurde
das Fortpflanzungsgeschäft und das auslösende Moment somatischer Erkran¬
kungen herangezogen. Im ganzen konnte in 31 % der Fälle ein auslösende«
Moment festgestellt werden. Es ist das eine sehr hohe Zahl und es erscheint
auffallend, welch geringe Würdigung dieser Punkt bisher gefunden hat. Von
diesen 31 % faßen auf psychogene Auslösung 17, auf Auslösung im Ver¬
laufe der Generation 7 und ebensoviele auf die Fälle, welche durch somati¬
sche Erkrankungen ausgelöst wurden. -Ziehen wir zuerst die Auslösung
durch das Generationsgeschäft heran, so sehen wir, daß die Hauptmasse der
Fälle im Anschluß an eine Geburt und an die Menopause entsteht. Nur in
2 Fällen trat die Psychose direkt bei Eintritt der Menstruation, bei 3 m der
Gravidität, ferner bei 2 in der Laktation ein. Von diesen Formen ist oben
schon ausführlicher die Rede gewesen.
Wie schon erwähnt, gehören der Auslösung durch psychische Fak¬
toren 17 % der Fälle an; eine sehr erhebliche Zahl, wenn man bedenkt, daß die
Auslösung durch Generations- und Krankheitsprozesse nur in zusammenge¬
nommen 12 % erfolgt; Als Ursache der Auslösung steht voran Todesfall unter
den nächsten Angehörigen in mehr als der Hälfte der Fälle, nämlich in 37. In
22
Ätiologie.
weitem Zwischenraum folgen die bekannten anderen Faktoren Streit, Ärger,
Liebesaffären, Überanstrengung, Umzug usw. Verhältnismäßig häufig
bleibt es bei einer Krankheitsphase (in 26 Fällen); 4 Fälle zeigen chroni¬
schen, 8 Fälle subchronischen Verlauf. In einigen Fällen kommen in späteren
Phasen andere ätiologische Momente in Betracht. Die Mehrzahl der Fälle
zeigt zirkulären Verlauf; dann folgen die mit depressivem und nur wenige mit
rein manischem Verlaufe als der ersten und einzigen ausgelösten Phase. Die
Auslösung erfolgt meist nach depressiven, oft recht lange wirkenden
Eindrücken, wie Sorge und Überanstrengung. In % der Fälle besteht eine
auslösende Ursache psychogener Art nur bei der ersten Phase. Die Kranken
standen meist in jugendlichem bis mittlerem Alter; doch finden sich solche
auslösenden Momente auch noch in höherem Alter, sp bei 4 Fällen zwischen
60—70 und 2 Fällen zwischen 70—80 Jahren.
Nicht uninteressant ist es, eine Reihe von Fällen zu * überblicken, die
in ihrem Verlaufe periodisch sind, und deren Perioden verschiedene Ursachen
aufweisen. Es wirft eine solche Übersicht ein merkwürdiges Licht auf den
wirklichen Wert, den Studien über ätiologische Verhältnisse nach den be¬
stehenden systematischen Anschauungen haben. Der Wert ist ein sehr frag¬
würdiger. Ich habe eine Reihe von Fällen vor mir, die zweifache Ätiologie be¬
sitzen. So z. B. finden sich ,,Hochzeitssorgen und Entbindung“ als Ursachen
für je eine Melancholie angeführt, „Sorgen und Zwist mit Mitschülern“, „Über¬
anstrengung und Liebesaffäre“, „Tod der Mutter und Hausverkauf“ — Haus¬
verkauf uüd -Kauf finden wir öfters angegeben —, „Typhus und Todesfälle
in der Familie“, „Entbindung und Lungenentzündung“. Daran mögen sich
einige Fälle anreihen mit dreifacher Ätiologie in den verschiedenen Phasen.
Es wurde als Ursache angegeben: Schwere Entbindung, Krankenpflege und
menstruelle Blutungen; seelische Aufregungen, dann zweimaliges Wochenbett,
geistige Überanstrengung, unglückliche Liebe und Influenza. Zum Schlüsse
sei ein Fall angeführt, bei dem in rein depressiven Erkrankungen wir folgende
vier Ursachen angegeben finden: Umzug, Hochzeit der Tochter, Krankheit
der Tochter, Lungenentzündung. So verschieden die Gründe, so gleichmäßig
kann doch in solchen Fällen der Verlauf der Depressionen sein (Tafel 16 h, n).
Einen den auslösenden Einwirkungen nicht entsprechenden (konträren)
Affektzustand sehen wir sehr häufig; so findet sich des öfteren Manie nach
Todesfällen und ebenso nach anderen deprimierenden Momenten. Über die Art
der Psychosen, die durch solche Momente ausgelöst sind, ist wenig zu sagen.
In bezug auf Wahnvorstellungen, Sinnestäuschungen, Bewußtsein usw. sind
keine Störungen vorhanden, die irgendwie auf eine Besonderheit der Phasen
schließen lassen; zu betonen ist, daß hysterische und psychogene Momente in
der betreffenden Psychose keine Rolle spielen. In 10 Fällen findet sich in den
verschiedenen Anfällen verschiedenartige Auslösung, bald psychischer, bald
somatischer Art; in einigen sind verschiedene Generationsursachen vorhanden.
Der Krieg hat unter seinen Teilnehmern nur eine sehr geringe Zahl von
manisch-melancholischen Erkrankungen ausgelöst. Es sind im ganzen 6 %
der Fälle, die bei einem großen Material zur Beobachtung gekommen sind.
Es handelte sich meist um melancholische Erkrankungen, die vielfach speziell
durch feindliches Feuer zum Ausbruch gekommen sind. Manische Erkrankungen
Psyohische Einflüsse.
23
waren es wenige, meist Hypomanien, während mehrmals delirante Formen
zur Behandlung kamen. Irgendwelche Besonderheiten wiesen die Fälle nicht
auf. Sehr ungestüm war bei einem Teil der Fälle der Selbstmordtrieb. Vielfach
wurden zyklothymische Anfälle, oft mit reichlich psychogenen Zutaten beobachtet.
Warum bei diesem männlichen Material die Melancholien so auffallend über¬
wiegen, ist schwer zu beantworten. Wir wissen von Stammesunterschieden
nach dieser Richtung; ob diese dafür bei dem untersuchten Material allein ver¬
antwortlich sind, oder ob nicht doch die schweren Schreck- und Angstein¬
wirkungen das depressive Moment in den Vordergrund schieben, kann ich
nicht mit Sicherheit entscheiden; wahrscheinlicher ist das Letztere.
Überblicken wir die Resultate obiger Ausführungen, so ist vorerst zu
betonen, daß eine spezifische Konstitution, auf der das manisch-melancholische
Irresein erwächst, anzunehmen ist. Dieser Konstitution können hysterische
Faktoren beigegeben sein, wie es sich in einem Teil der Fälle ergeben hat.
Reiß kann ich in der Abtrennung der konstitutionellen Verstimmung beistimmen,
insofern dieselbe nicht die Symptome der manisch-melancholischen Kon -
stitution trägt. Praktisch kann natürlich nicht jeder konstitutionell Ver¬
stimmte als manisch-melancholisch bezeichnet werden; biologisch sind es wohl
die meisten. Ich kann aber Reiß darin nicht folgen, daß er den psychogenen
Einflüssen auf die Gestaltung der Psychosen einzelner seiner kleinen Gruppen
einen so großen Wert zumißt. Die Gestaltung von Psychosen, welche dem
manisch-melancholischen Irresein zugehören, ist nicht durch psychogene
Momente der Konstitution und der Auslösung wesentlich bedingt (s. später
unter „hysterieverwandte Form“). Selbst die Beimengung hysterischer Er¬
scheinungen gibt der Psychose keinen besonderen Charakter, höchstens eine
andere Färbung. Deshalb ist die Aufstellung von Hysteromelancholie oder
hysterischen Psychosen, welche die Symptomatik des manisch-melancholi¬
schen Irreseins neben hysterischen Beimengungen auf weisen, abzulehnen.
Die manisch-melancholische Konstitution möchte ich mit der konstitutionellen
hereditären Lues vergleichen; auf letzterer Konstitution baut sich unter ge¬
wissen Umständen eine Paralyse auf. Bei der Katatonie wird niemand an der
Diagnose zweifeln, wenn neben einwandfreien katatonischen bzw. Dementia
praecox-Symptomen hysterische vorhanden sind, wie wir es bekanntlich oft
antreffen. In dieser Beweisführung kann ich mich den entschiedenen Aus¬
führungen Nißls nur anschließen.
Die Ergebnisse fasse ich folgendermaßen zusammen: Eine geringe An¬
zahl von Fällen des manisch-melancholischen Irreseins weist in der Konstitution
und in der Erscheinungsform der Psychose psychogene bzw. hysterische Er¬
scheinungen auf. Die Konstitution mit psychogenen Beimengungen zeitigt keine
dementsprechende Färbung der folgenden Psychose; das weibliche Geschlecht ist
begünstigt; manische Zustände stehen im Vordergründe der Psychose. Eine
große Anzahl von Fällen wird in einer oder mehreren Phasen durch schwere
psychische gemütliche Erschütterungen gelöst. Die ersten Phasen der aus¬
gelösten Krankheit fallen in das frühe und mittlere Alter. Die Prognose ist in
diesen Fällen günstiger wie im Durchschnitt beim manisch-melancholischen
Irresein, was das Chronischwerden und überhaupt die Länge des ausgelösten
Anfalles betrifft, öfters kommt es zur Auslösung kontrastierender Affektzu¬
stände. Melancholien, insbesondere agitierte, sind bevorzugt, entsprechend
24
Allgemeiner Teil.
den die Depression auslösenden Einwirkungen. Die Auslösung erfolgt meist
bei dem ersten Anfall; ob durch die Auslösung des ersten Anfalles die weitere
Ausbildung der Psychose, bzw. das Auftreten weiterer Perioden begünstigt
wird, ist fraglich, immerhin nicht ganz von der Hand zu weisen. Die Psychose
zeigt keine besondere mit der Auslösung in Zusammenhang stehende Färbung.
In gleicher Weise wie durch psychische Einwirkungen wird die Psychose durch
Generationsvorgänge, besonders Geburten, und durch körperliche Erkrankungen
ausgelöst.
D. Allgemeiner Teil.
I. Rasse, Geschlecht.
Zunächst mögen die Grundlagen besprochen werden, die Rasse, Geschlecht
und familiäre Disposition geschaffen haben. Von der Melancholie schreibt
Schott 1 ), sie sei bei der ländlichen Bevölkerung häufiger wie bei der städtischen.
Gaupp 2 ) fand, daß in der Großstadtbevölkerung die Manischen und
vielleicht überhaupt die Manisch-Depressiven in der ausgebildeten Form beim
männlichen Geschlecht seltener sind; weiter gibt Gaupp an, daß die Juden
atypische Bilder bieten. Gaupp glaubt ebenfalls, daß die Melancholie bei
der ländlichen Bevölkerung häufiger ist als bei der städtischen. Piloz fand
die Juden bei den periodischen Geistesstörungen besonders stark beteiligt.
Ich führte im Jahresberichte der psychiatrischen Klinik in München für 1904
und 1905 aus, daß die schwäbische Bevölkerung sich mit einem auffallend
hohen Prozentsatz an der Gesamtzahl der manisch-depressiven Kranken der
Stadt München beteiligte. Ein unverhältnismäßig starkes Überwiegen von
Depressionen bei Schwaben gegenüber Angehörigen anderer Stämme konnte
nicht konstatiert werden, obwohl erstere zur Melancholie neigen sollen. Das
jüdische Element spielte in dem Material der Klinik keine besondere Rolle.
Auffallend erschien, daß mindestens 24% der manisch-melancholischen Kranken
den mittleren und wohlhabenden Ständen der Bevölkerung angehörten.
Das Material konnte ich in den Jahren 1906 und 1907 noch weiter ergänzen,
und darauf will ich im folgenden eingehen. Es fanden sich in dem Material der
manisch-melancholischen Kranken 29 % Männer und 71 % Frauen. Es ist mit
Bestimmtheit ein bedeutendes Übergewicht der Erkrankungen bei Personen
weiblichen Geschlechts über die des männlichen Geschlechtes vor¬
handen. Was die soziale Stellung der Erkrankten betrifft, so gehören 40 %
der Kranken den sozial besser Gestellten an, eine Tatsache, die nicht ohne
weiteres erklärlich ist. Immerhin ist es naheliegend, auzunehmen, daß bei den
sozial höher Stehenden infolge der Zuchtwahl die Degeneration eine bedeu¬
tendere ist wie bei den sozial auf einem niedrigeren Niveau Stehenden. Auf
einige Punkte werde ich unten noch zurückkommen!
Was die Zugehörigkeit zu einem der deutschen Stämme betrifft, so ge¬
hörten 55% des Münchener Materials dem bayerischen an. Eine unverhältnis-
x ) Schott, Beitrag zur Lehre der Melancholie. Arch. f. Psych. 86, 1903.
a ) Gaupp, Die.klinischen Besonderheiten der Seelenstörungen unserer Großstadt¬
bevölkerung. Münch, med. Wochensohr. 1906.
Vererbung.
25
mäßig große Zahl (16 %) stellt der schwäbische Stamm, der in der Münchener
Bevölkerung nicht in einem dieser Zahl entsprechenden Maße vertreten ist.
Es ist anzunehmen, und es wird ja auch sonst behauptet, daß die Schwaben
den Melancholien besonders zuneigen; wie aus der Zusammenstellung hervor¬
geht, sind überhaupt die Schwaben für das manisch-melancholische Irresein
im Ganzen besonders disponiert.
Von Bedeutung ist die Frage, ob das Geschlecht einen Einfluß auf die
Entstehung der Erkrankung hat. Wir finden bei dem zur Verfügung stehenden
Material, daß die Erkrankungen depressiver Art überhaupt um 26 % häufiger
sind als die manischen; ferner, daß beim männlichen Geschlecht um 23 °/ 0 mehr
manische, beim weiblichen um 41 °/ 0 mehr depressive Erkrankungen Vorkommen.
Es verhält sich die Häufigkeit der manischen zu den depressiven Kranken
beim männlichen Geschlecht wie 2: 1, beim weiblichen wie 1: 2,6. Nach brief¬
licher Mitteilung von Wil manns war in der Heidelberger Klinik im Jahre 1905
das Verhältnis anders; es fanden sich dort um fast ein Drittel mehr manische
Erkrankungen als depressive. Das Verhältnis der Geschlechter war dort fol¬
gendes: manisch : depressiv beim männlichen Geschlecht wie 3: 2, beim weib¬
lichen wie 4: 3.
Es ist dem zu entnehmen, daß bei dem Material, das die Heidelberger
Klinik enthält, wie beim Münchener, im männlichen Geschlecht die Manie
überwiegt; daß aber in München beim Weibe die Depression, in Heidelberg
die Manie das Übergewicht hat. Es sind interessante Fragen, die erst gelöst
werden können, wenn nach einheitlichen klinischen Gesichtspunkten große
geographische Gebiete durchforscht sind. Ich möchte hinzufügen, daß nach
dem sächsischen Material, das die Anstalt Leipzig-Dösen beherbergt, die
Depressionen bei weitem überwiegen; dasselbe Resultat gibt das Material
der Bremer Staatsirrenanstalt.
II. Vererbung. (Tafelt u. 3.)
Im Folgenden will ich auf die Verhältnisse der Aszendenz und Des¬
zendenz eingehen, soweit sie mir für das manisch-melancholische Irresein
von Belang zu sein scheinen. Es ist zu unterscheiden zwischen psychisch¬
krankhaften Zuständen im allgemeinen und Zuständen, die als manisch-melan¬
cholisch im speziellen anzusehen sind. Die letzteren können sich in einer ent¬
sprechenden ;,manisch-melancholischen“ Konstitution mit psychopathischen
Symptomen oder auch in ausgesprochen manisch-melancholischen Phasen
zeigen.]
Was Eltern und Geschwister der Kranken betrifft, so haben sich
in 61 % der Fälle krankhafte Zustände schwerer oder leichter Art ergeben.
Von diesen fielen 26 °/o au f gleichartige Erkrankungsformen, 35 °/o au ^ anders¬
artige Formen. Abgesehen davon fanden sich in 10 °/o ^ der Familie ein oder das
andere Glied mit hochgradigem Potatorium. Da bekannt ist, daß psychisch
minderwertige Individuen in besonderer Zahl dem chronischen Alkoholismus
verfallen, so könnte man mit Recht diese 10 °/o zur psychischen Belastung
hinzuzählen. In ungefähr jedem sechsten belasteten Fall fand sich eine
mehrfache Belastung. Die Deszendenz konnte in einer Anzahl von Fällen
26
Allgemeiner Teil.
der Münchener Klinik von mir untersucht werden; es ist interessant, daß in
kinderreichen Ehen manisch-melancholischer Kranker eine Anzahl von Kindern
manisch-melancholische Züge in geringem Maße trägt ; ob es später bei
diesen zu ausgeprägten Psychosen kommt, steht dahin; die Möglichkeit besteht
bei der Art der Disposition jedenfalls; ja ich glaube, man kann von einer ge¬
wissen Wahrscheinlichkeit sprechen. Im Folgenden möchte ich die Untersuchung
der Kinder manisch-melancholischer Kranker näher besprechen.
1. Familie. Der Vater war ein reizbarer Potator; ein Bruder ist ver¬
kommen; Patientin ist manisch-melancholisch mit vielfachen leichten manisch¬
melancholischen Perioden; sie war als Kind schon stundenweise „melancholisch“
und weinte vor sich hin. Von ihren 4 Kindern ist eines ganz gesund, ein Sohn
ist schwer erziehbar, ein Kind ist erregbar und hitzig, doch geistig sehr voran;
ein Kind ist. eigensinnig, erregbar, hat schwere Träume und walzt sich nachts
viel herum. Der Vater der Kinder ist gesund.
2. Familie. Keine hereditäre Belastung. Ehemann gesund. Psycho¬
pathische Anlage der manisch-melancholischen Patientin; war immer „für sich“,
leicht erregbar und nervös. Konstitutionelle Stimmungslage: leicht deprimiert.
Während der melancholischen Erkrankung hysterischer Anfall. 5 Kinder;
davon 3 klein gestorben. I Kind machte englische Krankheit durch und hatte
mit 1 Jahr Zustände von Bewußtlosigkeit; es ist ängstlich, nervös, erregbar
und kann keinen Widerspruch vertragen; 1 Kind hatte Zahnfraisen mit 1 Jahr,
ist in der Stimmung häufig „grandig“, unzufrieden.
3. Familie (Stammbaum Tafel 2, Fig. 4). Vater zeitweise schwermütig,
Vatersbruder geisteskrank, Mutter aufgeregt, Patientin manisch-melancholisch;
als Kind furchtsam, leicht erregt, ängstlich, später immer ernste Gemütsart;
keine heiteren Verstimmungen. Ehemann gesund; 5 Kinder, davon 2 gesund.
Von den übrigen Kindern ein Sohn zeitweise Kopfschmerzen, schreckhaft,
erregbar, weinerlich, wie die Mutter in Kindesjahren war, sehr still; ein Mädchen
schüchtern, schreckhaft, still, für sich; ein Mädchen sehr zum Weinen geneigt,
durch Kleinigkeiten betrübt, ftoch aufgeweckt.
A. Familie. Großvater Potator, Vater geisteskrank, Patient manisch¬
melancholisch. In der Jugend hatte Patient nach Rheumatismus Chorea
(minor?). Bei jeder Erkrankung choreatische Unruhe. Konstitutionell erreg¬
bar. Ehefrau, sowie deren Familie, gesund. 6 Kinder, davon 4 ohne besondere
krankhafte Eigenschaften, obwohl sie nach Aussage der Mutter auch nicht
vollkommen gesund sind. 1 Tochter hat als Kind gestottert, ist leicht beleidigt,
fühlt sich zurückgesetzt. 1 Tochter hat nervöses Augenleiden, ist launisch,
erregbar, boshaft, „grandig“, streitlustig; diese Eigenschaften kehren von
Zeit zu Zeit wieder. I Sohn sehr zerstreut, jähzornig, flatterhaft; intellektuell
hochstehend.
Ö. Familie, Patient manisch-melancholisch. Keine Belastung, Ehe¬
frau gesund. 4 Kinder; 1 Mädchen hat öfters Kopfweh, ist kurzsichtig, bleich¬
süchtig, zeigt läppisches Wesen, ist jedoch intellekteil gut; 1 Sohn hier und da
verstimmt, kommt mit Anderen schlecht aus, „er ist manchmal für den ganzen
Tag verloren“. 1 Sohn mit „unangenehmem Humor“, sehr zornig; 1 Sohn
gesund.
6. Familie. Vater Trinker. Patientin manisch-melancholisch. Ehe¬
mann tuberkulös, psychisch gesund. 1 Kind mit 1 / A Jahr gestorben; 3 lebende
Vererbung.
27
Kinder. 1 Tochter gesund; 1 Sohn furchtsam, weinerlich, träumt sehr schwer;
zornig. 1 Sohn gesund.
Die Kinder, die in körperlicher und psychischer Beziehung genau unter¬
sucht wurden, wurden von den Angehörigen dem Arzte bei Aufnahme der Ana¬
mnese fast regelmäßig als gesund bezeichnet. Die pathologischen Eigenschaften
sind auch meist keine so hervorstechenden, daß die Kinder, deren Intellekt
ein recht guter zu sein pflegt, als krank im engeren Sinne zu bezeichnen sind.
Das starke familiäre Auftreten psychischer Abnormitäten neben manisch-
melancholischen Erkrankungen steht meiner Meinung nach im Ganzen im
Gegensatz zu den hereditären Verhältnissen bei der Dementia praecox.
Bei letzterer Erkrankung sehen wir nicht selten, daß ein Fall in eine gesunde
Familie „hineinplatzt“, was beim manisch-melancholischen Irresein kaum
vorkommt.
Was die hereditäre Belastung betrifft, so gibt es Fälle, in denen man über
Erkrankungen in der Familie nichts erfahren kann, sei es aus Unkenntnis, sei
es aus Zurückhaltung; es ist nicht selten die Meinung verbreitet, daß die Be¬
lastung den Fall als einen besonders schweren in den Augen des Arztes darstellen
könnte; und da die Angehörigen es oft vermeiden möchten, daß der Arzt ein
solches ungünstiges Urteil gewinnt, werden nähere Angaben unterlassen.
Bei Durchsicht meines Materials stellt sich heraus, daß in der bei weitem
größten Zahl der Fälle Angaben über erbliche Belastung gemacht sind. Eine
recht erhebliche Zahl (ca. 25 %) zeigt eine Belastung mit Geisteskrankheiten
oder psychischen Abnormitäten, die von zwei Seiten der Aszendenz herrühren.
Diese sehr häufige doppelseitige Belastung rührt entweder von den
Eltern oder auch nicht selten schon von den höheren Generationen her. Die
nähere Betrachtung derart belasteter Fälle läßt ersehen, daß in der Mehrzahl
die Erkrankung selbst stetige, starke Schwankungen, die als ein Anzeichen
einer schweren Form gelten können, zeigt. Die Kette der Erkrankten ist meist
eine ununterbrochene; in seltenen Fällen kommt es vor, daß eine Generation
übersprungen ist. Die von mütterlicher und väterlicher Seite stammende
Degeneration hält sich im allgemeinen das Gleichgewicht.
Ich habe weiterhin versucht, zu ersehen, ob eine verschiedenartige Be¬
lastung bei Zusammentreffen aus zwei Linien eine Besonderheit der Degene¬
ration hervorzurufen imstande ist. Zu bemerken ist, daß bei diesen Unter¬
suchungen leider eine Vollkommenheit nur in sehr wenigen Fällen zu erreichen
ist. Es stellte sich heraus, daß bei den doppelseitig belasteten Fällen ungefähr
in gleichviel Fällen neben manisch-melancholischer Degeneration Epilepsie,
Hysterie, Alkoholismus chronicus und Arteriosclerosis cerebri sich findet. Bei
den Fällen, in denen die Belastung in einer Linie der Aszendenz liegt, finden
sich in vielleicht 70% rein manisch-melancholische Erkrankungen; in ca.
15 % ungefähr findet sich neben den genannten noch Alkoholismus, in ca. je
5 % Hysterie, Epilepsie und Himarteriosklerose. Die der Zahl nach verhäng¬
nisvollste Belastung scheint die aus manisch-melancholischem
Irresein und Epilepsie bestehende zu sein. Die*mit Hysterie verbundene
manisch-melancholische Heredität findet sich hauptsächlich bei Fällen, die
viele verhältnismäßig kurze Anfälle mit guten Intermissionen zeigen.
28
Allgemeiner Teil.
Was die Gesundung, wenn auch nur die zeitweilige, betrifft, so geben die
Fälle, bei denen sich neben manisch-melancholischen Erkrankungen solche
von Epilepsie und Arteriosklerosis cerebri finden, die weitaus trübsten Aus¬
sichten. Die sehr lange dauernden, chronischen Fälle gehören fast sämtlich
zu den hereditär sehr schwer belasteten. Der Alkoholismus in der Aszendenz
scheint keine Besonderheiten in der Degeneration der Deszendenz zu zeitigen;
es wird das wohl mit der Mannigfaltigkeit der Momente, die den Alkoholismus
zeitigen, Zusammenhängen.
Aus der Zahl der Fälle, die ich für obige Untersuchungen benutzt habe,
habe ich eine Anzahl ausgewählt, um zu zeigen, inwieweit die Familie in bezug
auf Zahl der Individuen und in bezug auf die Art der Erkrankung und deren
klinischen Verlauf degeneriert erscheint.
1. Familiäre Erkrankungen in manisch-melancholischem Sinne.
a) Familie S. (Tafel 2, Fig. 1). Eine enorme Zahl von Erkrankungs¬
fällen in einer sehr kinderreichen Familie. Von 31 hereditär in Betracht kommen¬
den sind 6 ausgesprochen geisteskrank; unter diesen findet sich Patientin,
eine manisch-melancholische Verbrecherin. Weiterhin findet sich 3 mal Suicid,
4 mal psychopathische Konstitution mit Reizbarkeit und Nervosität. 1 Familien¬
mitglied starb an Apoplexie. Die als geisteskrank bezeichneten Glieder werden
als melancholisch geschildert; man wird in Anbetracht der vielen Suicide nicht
mit Unrecht annehmen, daß es sich um manisch-melancholische Erkrankungen
handelt. Das meiste Interesse erfordert die Familie der zweiten Tochter, in der
unter 10 Gliedern in 6 Fällen Suicid oder Geisteskrankheit vermerkt ist.
b) Familie B. (Tafel 2, Fig. 2, ferner Tafel 15, a u. b). Vaterschwester
hysterisch, Mutter und zwei Kinder manisch-melancholisch. Israelitisch. Die
Tafeln geben den Lebenslauf der Mutter und Tochter wieder.
c) Familie G. (Tafel 2, Fig. 3, Tafel 16, c u. d). Ähnliche Verhältnisse
wie bei b). Die Psychose der Tochter beginnt in der Jugend, während der Vater
in höherem Lebensalter zum erstenmale erkrankt. Ungünstiger Verlauf bei
Vater und Tochter wie bei b).
d) Familie L. (Tafel 2, Fig. 4). Vielfache Degeneration in der Familie
von zwei Seiten. Unter den 5 Kindern sind 3 psychopathisch (siehe 3. Familie
bei Kinderuntersuchung).
e) Familie W. (Tafel 2, Fig. 5, Tafel 15, e, f, g). Vater und zwei Kinder
manisch-melancholisch. Der Typus der Erkrankung ist sehr ähnlich; wie oben
Erkrankung der Kinder in jüngeren Jahren wie beim Vater; ungünstiger Ver¬
lauf.
f) Familie St. (Tafel 2, Fig. 6, Tafel 15, h, i). 4 Mitglieder einer Familie,
von gesunden Eltern abstammend, geistig nicht normal; davon 3 schwere
Psychosen manisch-melancholischer Art. Die Tafeln zeigen den Lebenslauf
von zwei Geschwistern. Der Typus ist nicht absolut ungünstig, subchronisch.
2. Erkrankungen manisch-melancholischer Art in Familien,
in denen eine — meist manisch-melancholische — Belastung von zwei Seiten
besteht. Ungünstiger Verlauf der Psychose.
a) Frida L. (Tafel 3, Fig. 7). Familie von 7 Köpfen psychisch krank;
darunter 2mal Suicid.
Körperliche Konstitution.
29
b) Klemens S. (Tafel 3, Fig. 8). Schwere, sehr wahrscheinlich manisch-
melancholische, doppelseitige Degeneration.
c) Julius K. (Tafel 3, Fig. 9).
3. Erkrankungen manisch-melancholischer Art mit Belastung in einer
Linie. Verlauf verschiedenartig.
a) Ludwig K. und Julius E. (Tafel 3, Fig* 10) (Vettern). Blutsver¬
wandtschaft der Eltern; Degeneration spezifischer Art nur in der mütterlichen
Linie nachweisbar. Es ist wieder die Häufung von Degeneration in einer Familie
zu sehen (2 Suicide). *
b) Georg W. (Tafel 3, Fig. 11); eine ununterbrochene Kette in der
Belastung väterlicherseits. Psychose günstig.
c) Theodor L.* (Tafel 3, Fig. 12). Ähnlich wie bei b) Psychose un¬
günstigen Charakters.
d) Pauline L. (Tafel 3, Fig. 13). Schwere Belastung von einer Seite
her. Ungünstige Prognose der Psychose, verhältnismäßig gute Intermissionen.
4. Erkrankungen manisch-melancholischer Art; Belastung manisch¬
melancholisch und epileptisch. Sehr ungünstige Prognose. Schwere
Degeneration.
a) Fritz W. (Tafel 3, Fig. 14). Bruder epileptisch, Onkel Idiot.
b) Johann H. (Tafel 2, Fig. 15). Großvater epileptisch.
III. Konstitution,
a) Körperliche Konstitution.
Was die somatischen Verhältnisse beim manisch-melancholischen
Irresein betrifft, so ist darüber zu bemerken, daß spezifische körperliche
Konstitutionsanomalien nicht vorliegen. Im allgemeinen erfreuen sich die
manisch-melancholischen Kranken einer erheblichen körperlichen Wider¬
standskraft, die sie die schweren Störungen, die in bezug auf Nahrungs¬
aufnahme, Verdauung usw. — von diesen Symptomen wird unten noch ein¬
gehender die Rede sein — stattfinden, ohne dauernde Schädigung ertragen
'lassen. Selten finden sich schwere körperliche Degenerationen. Rachitis,
Zwergwuchs, Tuberkulose sieht man sehr selten; ebenso sind Erkrankungen
der Kropfdrüse nicht häufig, insbesondere erscheint ein Zusammenhang eines
Morbus Basedowi mit der Erkrankung selten; doch sind Fälle von Schröder-
Riga beschrieben, in denen bei manisch-melancholischen Krankheitsphasen
eine Vergrößerung der Schilddrüse zustande kommt, die nach Ablauf der Er¬
krankung wieder zurückgeht. Auch »Untersuchungen nach Abderhalden
haben weder in Hinsicht auf die Schilddrüse noch in Hinsicht auf andere für die
innere Sekretion wesentliche Drüsen irgend einen Zusammenhang mit dem
manisch-melancholischen Irresein bisher ergeben. Anders verhält es sich mit
leichten degenerativen Störungen wie Ohranomalien, erblicher Haarausfall
und ähnlichen weniger wichtigen Erscheinungen. Im allgemeinen ist demnach
zu sagen, daß im Gegensatz zu anderen psychischen Erkrankungsformen wie
Epilepsie und Dementia praecox die körperliche Degeneration eine recht
geringe Rolle spielt.
30
Allgemeiner Teil.
Doch möchte Einiges angeführt werden, was ätiologisch später noch be¬
sonders besprochen werden wird. Hier kommt in Betracht die Chlorose, die
wir in einer auffallend großen Zahl von weiblichen Kranken in der Jugend
finden; vielfach fällt in diese Zeit im Zusammenhang mit der Pubertät die erste
Phase der Erkrankung in Form einer leichten Depression. Das Zessieren
der Menses mag auch in diesem Zusammenhänge von besonderem Interesse
sein. Manische Erkrankungen scheinen sich seltener mit Chlorose zu verbinden.
Weiterhin ist als körperliche Disposition zu erwähnen die Arteriosklerose,
ferner der Diabetes mellitus und die Glykssurie. Anschließend an akute
Infektionskrankheiten in der Jugend finden wir recht häufig, ohne daß
wir das Weiterbestehen einer Infektion konstatieren können, eine manisch¬
melancholische Phase. Hier ist vor allem der Typhus mit besonderer Be¬
teiligung des Sensoriums, und die Meningitis infectiosa zu erwähnen.
Letztere ist in diesem Zusammenhänge nur als Sammelbegriff für eine Reihe
von Infektionskrankheiten zu verstehen, die zuweilen mit Affektion der Hirn¬
häute einhergehen (Influenza, Pneumonie, Typhus, Erysipel).
b) Psychische Konstitution.
Die intellektuellen Eigenschaften stehen bei den manisch-melan¬
cholischen Kranken fast durchweg auf einer auffallend hohen Stufe. Nach meiner
Statistik an dem Materiale der Münchener Klinik kann man bei 52 °/ 0 der Fälle
von einer Verstandesanlage sprechen, die den Durchschnitt überragt. Im¬
bezillität findet sich nur in einer verschwindend kleinen Anzahl von Fällen.
Es ist die Frage aufzuwerfen, ob nicht die spezifisch manisch-melancho¬
lische Konstitution die Entwicklung der Verstandesanlage besonders be¬
günstigt. Zweifellos erscheint mir, daß Fälle mit geringer Denkstörung, ins¬
besondere solche mit leichter Expansion, mit einer leichten psychomotorischen
Erregung und einer leichten manischen Affektlage in bezug auf intelektuelle
Ausbildung des Verstandes begünstigt sind. Solche Kranke, insbesondere
die chronischen Fälle konstitutioneller Art, pflegen eine leichte Auffassungs¬
fähigkeit, große Schlagfertigkeit und große Anpassung zu zeigen. Allerdings
besteht dabei nicht selten erhebliche Kritiklosigkeit in bezug auf die Grenzen,
die ihre Leistungsfähigkeit hat, und in bezug auf das Verhalten zu ihrer Um¬
gebung.
Zu erwähnen ist, daß in ca. 11 °/ 0 chronischer Alkoholismus beträcht¬
licher Art besteht. Wie oben erwähnt, ist derselbe der Ausfluß psychopathischer
Eigenschaften, insbesondere einer eigentümlichen Willensschwäche.
Wenn wir hier von Psychopathie sprechen, so bezieht sich dieselbe
besonders auf Affektstörungen, die den Lebenslauf eines großen Teiles der Kran¬
ken verfolgen. Ich fand in 58 % der Fälle psychopathische Konstitution in
erheblichem Maße; die Trinker sind in dieser Zahl nicht inbegriffen.
Welcher Art sind diese psychopathischen Störungen? Finden wir
in den verschiedenen Formen des manisch-melancholischen Irreseins ver¬
schiedene Arten der psychopathischen Konstitution ? Es sind dieselben psychi¬
schen Störungen, welchen wir in den ausgesprochen krankhaften Zuständen
des manisch-melancholischen Irreseins begegnen, Störungen von Seiten des
Affektes, verbunden mit Störungen psychomotorischer Art. Selbstver-
Psychische Konstitution.
31
stündlich kann man nur bei sehr sorgfältiger und vorurteilsloser Erhebung der
Anamnese den zu besprechenden konstitutionellen Störungen auf die Spur
kommen. Es ist nicht nur nötig, nach Verstimmung und Erregung zu fragen;
wir müssen uns die geistigen Eigenschaften der betreffenden Persönlichkeit
genau schildern lassen; Temperament, Charakter, Schlaf, Tagesschwankungen,
Kopfschmerzen usw. kommen in besonderem Maße in Betracht. Nach dem
mir vorliegenden Material sind 5 Gruppen zu unterscheiden.
1. Fälle mit ausgesprochenen, wenn auch nicht erheblichen Schwan¬
kungen nach der melancholischen und nach der manischen Seite zu. Es ist
das eine sehr ausgedehnte Gruppe, die vielleicht noch reichlicher ausfallen
würde, wenn wir bei den anderen Gruppen in jedem Falle eine ganz genaue
Anamnese hätten. Wir hören, daß die Patienten wechselnd in ihrer Laune sind,
daß das Gefühlsleben sich in Extremen bewegt, daß sie kurze Zeiten still und
zurückgezogen sich verhalten, dann wieder expansiv in ihrer Lebensart werden.
Schilderungen wie: „Nahm alles schwer, kam aber stets schnell darüber hinweg“,
„Tränen, Zorn und Lachen wohnen nahe beisammen“ sind typisch. Zweifellos
ist meist eine Stimmungslage die vorherrschende, sie kann mehr depressiv
oder mehr manisch, zornig, gereizt usw. sein, und kann alle Nuancen der Affekt- 0
mischung umfassen.
2. Fälle, in denen eine psychomotorische Erregung konstitutionell
vorgebildet ist. Es handelt sich um eine recht erhebliche Zahl; dazu gehören
chronisch Manische, bei denen der Beginn der Erkrankung als Steigerung der
konstitutionellen Anomalie zeitlich fixierbar ist; ferner sind bei dieser Gruppe
eine Anzahl von Zirkulären mit vorherrschend manischen Zeiten, schließlich
einige Depressive, bei denen die Depression mit psychomotorischer Erregung
verbunden ist. Es finden sich also hier psychomotorisch erregte Fälle mit meist
manischem Affektzustand.
Wir hören von solchen Kranken, sie seien auch in gesunden Tagen leicht
erregt, lebhaft, extravagant. Sie seien hitzig, fidel, immer bei gutem Humor.
Bei männlichen Kranken finden wir öfters Alkoholexzesse, bei weiblichen
sexuelle Ausschweifungen erwähnt. Es wird gesprochen von unbändigemCharakter,
zwischendurch auch, doch wenig bei den Kranken dieser Form, von Reizbarkeit.
Stets haben sie hochfliegende Pläne: sie schließen sich gerne an und sind ausge¬
sprochen gesellschaftig. Von einer Kranken wird erzählt, sie sei „wie der Teufel
aus der Hölle“ in den guten Zeiten. Daß solche Charaktere zu Verbrechen und
Vergehen aller Art neigen, ist erklärlich; sie zeigen auch den Hang zum Auf¬
schneiden und Prahlen, sie sind zerstreut.
3. Fälle, die konstitutionell depressiv in Gestalt von leichter ängstlicher
Erregung sind: eine psychomotorische Erregung gehört zu dem psychologischen
Bilde der Angst ohne weiteres. Bei den in diesen Fällen zutage tretenden
Psychosen spielen Depressionen die Hauptrolle; dieselben sind fast immer mit*
psychomotorischer Erregung in Gestalt von Angstzuständen verbunden; neben
den rein depressiven Fällen finden sich auch einige zirkuläre. Die Kranken
gelten als aufgeregt und empfindlich von Jugend auf; sie haben immer krank¬
hafte „Einbildungen“ gehabt, waren immer ängstlichen Charakters. Sie
können sich über jede Kleinigkeit alterieren, sind immer furchtsam; wir hören,
daß sie erregbar sind und zu trauriger Gemütsstimmung von jeher neigen ; auch
eine leichte Andeutung von Verfolgungsideen finden wir manchmal.
32
Allgemeiner Teil.
4. Fälle, die in krankhaftem Zustande manische und melancholische Er¬
krankungen hervorbringen oder auch beides für sich, meist aber eine besondere
Neigung zu manischen Erkrankungen zeigen, vielfach im Sinne des Unzu¬
friedenseins, Nörgelns oder des ausgeprägten Zornes. Die Konstitution
dieser Kranken ist meist manisch-zornig und querulierend, in wenigen Fällen
depressiv gereizt; immer sind die Hemmungen in Wegfall gekommen. Bei den
Kranken, bei denen die manische Komponente in den „gesunden“ Zeiten über¬
wogen hat, hören wir, sie seien von jeher sehr jähzornig, gewalttätig, empfind¬
lich, reizbar, heftig; bei Frauen wird die Neigung zu Boshaftigkeit und Zänkerei
hervorgehoben; es sind die Frauen, die als „bös“ gelten und immerfort mit ihrer
Nachbarschaft in Konflikt leben. Von der Neigung zu Tierquälereien und der,
die Leute zu ärgern, hört man nicht selten in der Anamnese; dabei haben diese
Kranken eine hohe Meinung von sich. Es zeigt ein solcher Kranker häufig
Neigung zu Trotz. Daß solche Charaktere vielfach mit dem Strafgesetz in Kon¬
flikt kommen, insbesondere wenn der Alkohol noch in Betracht kommt, liegt
auf der Hand. In den Fällen, in denen die depressive Komponente im Vorder¬
gründe des Bildes steht, heißt es, die Kranken seien von jeher verstimmt, reizbar;
.Pessimismus verbindet sich hier mit Zommütigkeit.
6. Fälle, die eine depressive (melancholische) Qrundstimmung
aufweisen, der eine psychomotorische Hemmung anhaftet. Die Psychosen
sind meist typische Melancholien, öfters auch zirkulär; rein manische Perioden
finden sich hier nicht; doch kommt in sehr wenigen Fällen in der Psychose eine
psychomotorische Erregung zum Ausdruck. Das Gemüt dieser Kranken wird
oft als „furchtbar weich“ geschildert; im späteren Leben erscheinen sie ab
grüblerisch, pessimistisch, still, zurückgezogen und auch verschlossen. Auf¬
fallend ruhig, scheu und gedrückt sind diese Kranken, sie halten sich gerne
für sich, schätzen die Einsamkeit, schließen sich schwer an und halten sich
von Geselligkeit zurück. Sie machen sich leicht übertriebene Sorgen, sind
häufig unentschlossen, schüchtern, schreckhaft und verlegen; sie haben die
Neigung, alles recht schwer zu nehmen. Vielfach kommen bei solchen Kranken
Selbstmordideen vor. Von einzelnen Kranken hört man, sie seien sehr empfind¬
lich gegen Musik; dieselbe rührt sie zu Tränen, und sie haben das Gefühl, daß sie
dieselbe nicht vertragen können. Auch die ängstliche Gewissenhaftigkeit
(Pedanterie) als leisester Ausdruck des typischen Symptoms der Selbstvorwürfe
findet sich nicht selten.
Aus dem Angeführten ist zu ersehen, daß wir es bei den Manisch-Melan¬
cholischen mit degenerierten, psychopathischen Persönlichkeiten zu tun haben,
deren Degeneration sich vollkommen in der Richtung des Symptomenkomplexes
des manisch-melancholischen Irreseins bewegt; wir sind so imstande, einen
Ausschnitt aus der großen Gruppe der Psychopathie auszulösen und ab manisch¬
melancholische psychopathische Konstitution zu bezeichnen. Wir
können demnach bei Personen, die bisher keine manisch-melancholische Psychose
durchgemacht haben oder die eine solche Erkrankung, wie es häufig vorkommt,
erst in der Involution bekommen, aus dem psychopathischen Status die spezifische
Veranlagung diagnostizieren. Man muß bei solchen Persönlichkeiten offen
lassen, ob später eine Erkrankung wirklich eintreten wird oder nicht.
Die Übergänge zu chronischen psychopathischen Zuständen manisch-
melancholischer Art sind häufig; nach meiner Ansicht stellt die konstitutionelle
Psychische Konstitution.
33
Verstimmung und die konstitutionelle Erregung, systematisch betrachtet, den
Übergang von Psychopathie zur Psychose dar, zu deren Charakter das Chronische
gehört. Vielfach finden wir bei diesen Psychopathen tage- oder stundenweise
leichte Steigerungen ihrer konstitutionellen psychopathischen Eigenschaften,
bei denen man dann im Zweifel sein kann, ob diese Exazerbationen als psychotisch
zu betrachten sind oder nicht. Psychiatrisch theoretisch ist diese Unterscheidung
nicht sehr ins Gewicht fallend; sehr wichtig aber ist der Unterschied in praktischen,
insbesondere in forensischen Fragen. Ehe die Experimentalpsychologie im¬
stande ist, uns Maße für die verschiedenen Reaktionsweisen anzugeben und da¬
durch eine Grenze zu bestimmen, bleibt nichts übrig, als nach subjektivem
Urteil von Fall zu Fall die Entscheidung zu treffen.
Ich möchte schließlich noch auf die Frage der Schwankungen bei den
in Betracht gezogenen Psychopathen hinweisen. Wie bei den Kranken, so finden
wir hier Schwankungen, Wellenbewegungen in dem Zustand nach den ver¬
schiedenen Richtungen hin, die sich auf Stunden, Tage, Wochen, Monate, ja
Jahre hinziehen können. Es ist klar, daß sich diese Bewegungen in der gesunden
und krankhaften Zeit in der gleichen Weise zeigen werden. Auffällig ist, wie
verschieden die Länge der Wellenberge bei den verschiedenen Individuen sich
darstellt. Wir können theoretisch annehmen, daß auf eine Zeit der Krankheit
eine ebenso lange Zeit der Ruhe eintreten wird. Vielleicht kommen wir durch
eine solche Betrachtungsweise dem Verständnis der Psychosen näher, die wir
nur einmal im Leben finden. Es ist möglich^ das die Psychose so lange währt,
daß das Wellental theoretisch den Tod überdauert, oder bei kurzen, daß äußere
Momente zu einer Erhöhung des Wellenberges beitragen. Sicher ist, und darauf
sind wir beim Abschnitt über psychogene Auslösung des näheren eingegangen,
daß äußere Verhältnisse Psychosen auslösen können, wahrscheinlich eben dann,
wenn eben der Anstieg zu einer Welle sich vorbereitet; der Wellenberg wird dann
höher weiden, als wenn äußere Umstände nicht mitgewirkt hätten. Vielleicht
ist bei zirkulären oder periodisch manischen Fällen so zu erklären, daß unter
Umständen, die eigentlich den Affekt depressiv beeinflussen müßten, wie Todes¬
fälle usw., eine verkehrte „paradoxe“ Reaktion, nämlich manische, gehobene
Stimmung eintritt.
Anzuführen ist, daß man von Traumen, die etwa für den Ausbruch späterer
Psychosen verantwortlich gemacht werden könnten, wie das gerne von Laien
und Ärzten geschieht, selten hört. Onanie spielt, wie überhaupt bei Psycho¬
pathen, eine gewisse Rolle in der Jugendzeit. Die Onanio während der Psy¬
chose soll später besprochen werden.
Ein Patient — den Fall entnehme ich meinem Material — hat in der Jugend
im Anschluß an Rheumatismus Veitstanz durchgemacht. Es mag nicht un¬
interessant sein, daß in den manisch-melancholischen Psychogen dieses Kranken,
die in Mischzuständen depressiver Art mit schwerer psychomotorischer Er r
regung bestanden, jedesmal choreatische Zuckungen auftraten, die sich besonders
auf den Facialis lokalisierten und als Tic imponierten. Veitstanz in Gestalt der
Chorea maior (hysterica) findet sich nur sehr selten in der Vorgeschichte, e
Auffallend ist, daß wir bei einigen der schwersten chronischen Fälle ana¬
mnestische Angaben über Fraisen („Zahnkrämpfe“) in der frühesten Kindheit
finden. Diese Bemerkung gewinnt im Anschluß an folgende Beobachtung
besonderen Wert. In einer recht erheblichen Zahl von Fällen erfahren wir,
Reh ra, Das manisch -melancholische Irresein. 3
34
Allgemeiner TeiL
daß die Patienten in der Kindheit schwere infektiöse Erkrankungen durchge¬
macht haben, so Erysipel, Scharlach und besonders Typhus. Diese Erkran¬
kungen sind meist mit besonders stark hervortretenden deliriösen Erscheinungen
verlaufen. Es ist möglich, daß durch solche Erkrankungen der Grund einer
Disposition für spätere Psychosen gelegt wird. Wir wissen ja, daß wir in den
Hirnhäuten bei solchen Infektionskrankheiten die Erreger, vielfach in Menge,
angehäuft finden. Es wird vielen Beobachtern auf gefallen sein, daß die rheu¬
matische Chorea bei den jugendlichen Erkrankungen eine gewisse Bolle
spielt. Sehr häufig finden wir ferner, daß zu gleicher Zeit mit einer jugend¬
lichen Erkrankung in der Zeit der Pubertät eine mehr oder weniger erhebliche
Bleichsucht besteht. Bei einer Reihe von Fällen findet sich Chorea ana¬
mnestisch vermerkt; es handelt sich durchweg um leichte oder günstig verlaufende
periodische Fälle. Ob hier der Zufall bei dem immerhin ansehnlichen Material
eine Rolle spielt, vermag ich nicht zu entscheiden. Ich glaube, es ist wichtig,
auf solche Merkmale hinzuweisen; nur ein ausgedehntes Material ist imstande,
uns solche Gesichtspunkte überhaupt an die Hand zu geben.
Was die Menstruationsverhältnisse betrifft, so haben vorübergehende
Störungen derselben außerhalb der Zeit der Psychose keine besondere Be¬
deutung; zu erwähnen ist das oft sehr späte Eintreten der ersten Menstruation
bei unseren Kranken. Daß während der Menses Steigerungen der konstitutio¬
nellen Erregbarkeit nach den verschiedenen Richtungen hin eintreten. ist eine
bekannte Tatsache. Von der Bedeutung des Klimakteriums wird später die
Rede sein.
Die ebenfalls später noch zu besprechende Tagesschwankung finden
wir nicht selten in den freien Zeiten ebenso wie in den kranken, wenn auch nicht
in so auffälligem Grade. Doch sind diese Fälle bei weitem nicht so häufig
wie die, bei denen die normale Ermüdung gegen Abend eintritt, während die
Kranken morgens frisch erwachen. Die Frage der Schlaftiefe zu den verschiedenen
Tageszeiten verhält sich dementsprechend, soweit die allerdings immer als
oberflächlich zu bezeichnenden Erhebungen nach dieser Hinsicht ein Urteil
fällen lassen.
Eine sehr schwierige Frage ist die nach der Art und Intensität
der Psychogenie der Kranken in den anfallsfreien Zeiten. Bei einer kleinen
Zahl von weiblichen Kranken werden bei der Erhebung der Anamnese An¬
gaben gemacht und durch den Status psycliicus bestätigt, welche psycho¬
gene Paroxysmen bzw. hysterische Anfälle betreffen. Solche treten
bei einigen in der gesunden Zeit zur Zeit der Menses gleichzeitig mit Chlorose
oder verbunden mit Kopfschmerz und schweren Träumen auf. Manch¬
mal finden sich hysterische Sensationen und körperliche Stigmata. Bei einer
Kranken traten neben hysterischen Anfällen anfallsweise singultusartige Er¬
scheinungen auf. Die betreffenden Psychosen erscheinen als rein manisch¬
melancholisch, zum Teil allerdings psychogen durch bestimmte Erlebnisse
ausgelöst. Wie wir schon oben bei der hysterischen Belastung erfahren haben,
so tritt auch hier wieder deutlich die günstige Prognose der einzelnen Anfälle
bezüglich Heilung vor Augen; unter den hier in Betracht kommenden Fällen
findet sich kein einziger ungünstiger.
Was die Schlafstörungen bei unseren Kranken in den anfallsfreien
Zeiten betrifft, so erfahren wir bei einigen, daß sie von jeher an schlechtem,
Psychische Konstitution.
36
unruhigem Schlafe leiden; von anderen wird gesagt, sie haben nächtliche
Angstzustände, glauben, es stehe jemand drohend am Bett, oder sie werden
sehr erregt, schreien und weinen und suchen sich zu wehren, wobei sie sogar
gewalttätig werden. Viele haben in der Kindheit an Nachtwandeln
gelitten. Bei einer größeren Zahl von Fällen finden sich Angaben über schwere,
meist ängstliche Träume, die besonders in der Kindheit hervortraten, dazu
Unruhe im Schlaf und Aufschreien. Besondere klinische Eigenschaften kommen
diesen Fällen nicht zu; höchstens finden wir den im übrigen typischen Psychosen
viel Psychogenes beigemischt. Auch die Erkrankungen solcher Fälle pflegen
eine für den Anfall günstige Prognose zu haben. Merkwürdigerweise findet sich
auch hier wieder in der Belastung Hysterie des öfteren.
Nicht selten erfahren wir von den Kranken oder deren Angehörigen,
daß die Kranken in der Kindheit bis zum 9., 10., auch 12. Jahr an Bett¬
nässen gelitten haben. Es ist behauptet worden, daß Bettnässen auf eine
epileptische Erkrankung zurückzuführen sei. Die Kranken, von denen hier die
Rede ist, sind rein manisch-melancholische. Es ist zweifellos, daß eine Menge
von Psychopathen an verlängertem Bettnässen leidet; daß die manisch-melan¬
cholische Konstitution hier besonders in Betracht kommt, ist klar, finden wir
doch bei ihr besonders lebhaftes Traumleben und die mannigfaltigsten Schlaf¬
störungen. Da die Hemmungen, die die Erziehung mit sich bringt, bei den
Kindern noch nicht fest gewurzelt sind, um solche spezifisch kindliche Störungen
zu überwinden, so müssen wir annehmen, daß das krankhafte Traumleben
der Erziehung entgegenarbeitet; wir sehen ja selbst bei Erwachsenen und
in höherem Lebensalter stehenden manisch-melancholischen Kranken Ein¬
nässen in den Zuständen von „traumhafter“ Verwirrtheit, welches periodisch
in den betreffenden Krankheitsphasen auftreten kann. Auch hier handelt es
sich, wie bei den sonstigen psychogenen Manisch-Depressiven, um überwiegend
günstige Fälle.
Zum Schlüsse möchte ich noch den Kopfschmerzen einige Worte
widmen. Bei unseren Kranken hören wir aus den gesunden Tagen nicht selten
von Anfällen von Kopfschmerzen; die Dauer dieser Kopfschmerzperioden
ist eine sehr ungleiche; vielfach sind diese Zeiten mit allgemeiner Nervosität,
mit „Nervenschwäche“, mit Schwindelanfällen und allgemeinem Unbehagen
verbunden; sie werden von den Kranken immer als „nervöse“ Kopfschmerzen
aufgefaßt, d. h. sie begleiten nicht irgend eine körperliche Unpäßlichkeit. Es
liegt nahe, daran zu denken, daß diese Perioden als leichteste manisch¬
melancholische Phasen aufzufassen sind. Bei näherem Befragen ist es
möglich, in diesen Fällen verschiedene Anhaltspunkte für diese Annahme auf
dem Gebiete der Affekte und Hemmungen zu gewinnen. In einem meiner
Fälle wurden die Kopfschmerzen als einseitig geschildert; sonst wurden sie als
allgemeiner, nicht lokalisierbarer Druck empfunden. Der klinische Charakter
der Fälle weist, wie ja von vorne herein anzunehmen ist, keine Differen¬
zierung auf.
E. Symptome.
Da wir über das eigentliche Wesen der Krankheit so wenig wissen, sind wir
genötigt, uns an die Äußerungen°der Krankheit zu halten. Die Regelmäßigkeit
3 *
36
Symptome.
der Symptome ist keine durchgreifende. Auf die Schwierigkeiten einer exakten
Symptomatik möchte ich später bei Besprechung der psychischen Sym¬
ptome eingehen. Eine Einteilung in körperliche und psychische Symptome er¬
scheint praktisch. Neben den „regelmäßigen“ Symptomen werden wir eine
Reihe von solchen zu besprechen haben, die uns nur als häufige Begleiterschei¬
nung auffallen, immerhin jedoch bei der Erscheinungsweise unserer Erkrankung
beachtenswert sind. Die psychogenen bzw. hysterischen Erscheinungen in der
engen Fassung Kraepelins, die wir uns angeeignet haben, werden zweckmäßiger¬
weise bei den körperlichen Symptomen besprochen; es sind eben körperliche
Erscheinungen, die durch Vorstellungen bzw. psychische Reize und Einflüsse,
d. h. „psychogen“, ausgelöst sind.
I. Körperliche Symptome,
a) Ernährungszustand.
Der Ernährungszustand, gemessen am Körpergewicht, nimmt bei den
manisch-melancholischen Kranken bei Beginn der Erkrankung stets ab. Je
nach einem rascheren oder langsameren Einsetzen sinkt das Körpergewicht
mehr oder weniger schnell. Das Körpergewicht ist der einzig zuverlässige und
objektive Maßstab für den Ernährungszustand. Die Abmagerung ist häufig
eine sehr deutliche, auch das Verschwinden des Turgors in vielen Fällen sehr
auffallend, trotzdem aber können diese Beobachtungen, die subjektiv sind,
die objektive Feststellung des Gewichtes, der Gewichtskurve, nicht ersetzen.
Sehr wesentlich ist zur kritischen Betrachtung der Gewichtskurve die Fest¬
stellung des „Sollgewichtes“, das der Größe des Kranken durchschnittlich
entspricht. Es ist bemerkenswert, wie außerordentlich uns die Abmagerung
bei Melancholischen in die Augen fällt, bei denen auch der Turgor und die
Blutversorgung der Hautdecken abgenommen hat, im Gegensatz zu Manischen,
bei denen die Gewichtsabnahme rein äußerlich durch das Fortbestehen des
Turgors oder gar durch eine Erhöhung der Blutversorgung der Haut nicht
so in die Augen fällt. Trotzdem ist die Gewichtsabnahme bei beiden Er¬
krankungen in gleichem Maße vorhanden.
Diese Gewichtsabnahme ist ein charakteristisches Symptom der Er¬
krankung. Freilich kann es nicht als pathognomisch gelten; denn wir finden
eine Abnahme des Körpergewichts bei allen akut einsetzenden Psychosen.
Das Chronischwerden einer Psychose zeigt sich sehr deutlich darin, daß das
Körpergewicht „stehen“ bleibt {Tafel 4, Fall von chronisch-zirkulärem Irre¬
sein) ; es treten, abgesehen natürlich von kleinen Schwankungen, keine großen
Wellenbewegungen mehr auf. Gewiß kommt es in manchen Fällen, z. B. bei
Dementia praecox, ebenfalls zu raschem Gewichtsabfall, wenn Nahrungs¬
enthaltung eintritt, ebenso bei Paralyse. Bei unseren Kranken wird meist
angegeben, daß sie schlecht essen, sie haben keinen Appetit; in einzelnen Fällen
jedoch kommt es vor, daß trotz ausgezeichneter, ja vermehrter Nahrungs¬
aufnahme, vielfach bei Bettruhe, Abmagerung und Gewichtsverlust zustande
kommt. Da muß man an primäre Störungen des Verdauungsapparates denken,
von denen weiter unten noch die Rede sein wird. Die Nahrungsabstinierung
bei den Kranken erreicht nicht selten eineif so hohen Grad, daß Sonden-
Ernährungszustand. 37
ernährung eintreten muß, um die Kranken vor dem Verhungern zu
schützen.
Vielfach essen die Kranken nach einigen solchen Emährungsversuchen wieder
selbst; es ist aber keine Seltenheit, daß die Sondenemährung monatelang
fortgesetzt werden muß. Ich erinnere mich einer Kranken, die von zu Hause
in schwer melancholischem Zustande gebracht wurde. Die Krankheit hatte
schon einige Monate gedauert, und der schlechte Ernährungszustand hat schlie߬
lich die Angehörigen auf Rat des Arztes veranlaßt, die Kranke der Klinik zu¬
zuführen. Sie starb nach 2 Tagen, Sondenemährung hatte keinen Erfolg mehr;
die Sektion ergab keinen Befund als Unterernährung, d. h. Hungertod. Im
allgemeinen erreichen wir durch die Sondenemährung keine Zunahme des
Körpergewichts; wohl aber können wir doch öfters verhüten, daß der Ernährungs¬
zustand weiter zurückgeht, wie sich aus den Kurven deutlich ersehen läßt, indem
durch das Eintreten der Sondenemährung ein weiteres Absinken der Kurve
verhindert wird.
Die Fälle von manisch-melancholischem Irresein, die mit starker Ab¬
magerung und Gewichtsabnahme einhergehen, gehören meist den melancholi¬
schen Formen an. Die Gewichtszunahme erfolgt in manchen Fällen, haupt¬
sächlich in prognostisch guten, sehr rasch. Umgekehrt läßt sich also bei
Fällen, in denen das Körpergewicht rasch zunimmt, schließen, daß sie pro¬
gnostisch günstig verlaufen. Selbstverständlich gibt es hier auch wieder Aus¬
nahmen in Menge; es kommt vor, daß nach raschem Ansteigen des Körperge¬
wichtes ein neuer Abfall eintritt usw. Auffallend erscheint es, daß gerade die
mehr chronisch verlaufenden Melancholien, wie sie besonders dem höheren
Lebensalter eigen sind, bei sehr guter Nahrungsaufnahme eine oft enorme
Reduzierung des Körpergewichts zeigen. Chronische Fälle von Dementia
praecox zeigen dagegen immer ein Parallelgehen der Nahrungsaufnahme und
des Körpergewichtes, schlechte Nahrungsaufnahme — geringes Körpergewicht,
gute Nahrungsaufnahme — gutes Körpergewicht.
Wie rapid die Abnahme des Körpergewichts sein kann,, zeigt ein Fall, in dein
die Kranke innerhalb von 14 Tagen 7 kg abgenommen hat. Auffallend ist es,
daß mit der Aufnahme in die Klinik in einer sehr großen Anzahl der Fälle eine
Zunahme des Körpergewichtes, und zwar oft recht anhaltender Art, eingetreten
ist. Diese Erfahrung mag ein Trost sein für die Ärzte und für die Anstalts¬
behandlung, welche eben doch in vielen Fällen von wesentlichem Einfluß auf
die Krankheit ist. »Es kann durch die Behandlung die Krankheit rascher einer
günstigen Wendung zugeführt und eventuell in ihrer zeitlichen Dauer abgekürzt
weiden.
1. Akute Fälle Tafel 5, Fig. 1. Fall von periodischer Melancholie mit
psychomotorischer Erregung (Angstaffekt) bei 46 jährigem Manne mit sehr
schwerer familiärer gemischter Belastung. Typische Kurve; schleichender
Beginn der Erkrankung; rasche Erholung.
Fig. 2. Periodische Manie; kolossale Gewichtsabnahme im Verlaufe
von 3 Wochen während der Manie. .
Fig. 3. Periodische Manie. Bei der Aufnahme schon 3 Monate krank.
Im Verlaufe der Manie plötzliches starkes Absinken der Körpergewichtskurve
parallel gehend mit einem intensiveren Krankheitsverlaufe.
38
Symptome.
Fig. 4. Manie; vorher depressives Stadium. Mit Rekonvaleszenz rasches
Emporschnellen der Kurve; also Zunehmen des Gewichts in der Manie als
Zeichen der Genesung.
Fig. 5. Melancholie. Allmähliche Besserung, langsames, stetiges Ansteigen
des Körpergewichtes.
2. Fälle mit Neigung zu schleppendem Verlaufe.
Fig. 6. Melancholie bei 58jähriger Frau. Schleichender Beginn der
Psychose im Verlaufe von einer Reihe von Jahren. — Ganz langsames gleich¬
mäßiges Absinken der Gewichtskurve. Kurz nach der Entlassung Tod durch
Suicid. Die Kurve läßt auf eine lange Dauer der Erkrankung schließen.
Fig. 7. Zirkulärer Fall; Beginn der Erkrankung mit 18 Jahren. Verlauf
ohne Intervalle. Mischzustand (manischer Stupor). Eigentümlicher wellen¬
förmiger Verlauf der Gewichtskurve. Ungünstige Prognose.
Fig. 8. Periodische Depression; Phasen immer länger werdend. Dies¬
malige Erkrankung mit ungünstiger Prognose.
3. Fälle mit chronischem Verlaufe Tafel 6.
Fig. 1. Zirkulärer Fall, ohne Intervalle seit 9 Jahren. Geringe Abnahme
in der Depression, starke Abnahme in der Manie, Zunahme im manischen Stupor.
Fig. 2. Zirkulärer Fall ohne Intervalle seit 10 Jahren. Wellenbewegungen
ohne klinische Erklärung. In der Depression vorübergehend leichte Zunahme.
Fig. 3. Zirkulärer Fall ohne Intervalle seit 13 Jahren; meist psycho¬
motorisch gehemmt, traumhaft verworren. Eine klinische Erklärung der
Wellenbewegungen ist nicht möglich. Die Kranke ist ungeheilt verstorben.
Diese Fälle sollen demonstrieren, wie bei chronisch zirkulären Fällen
ein langsames Auf- und Abschwanken der Gewichtskurve vorkommt, während
die Erkrankung in ihrem ganzen Verlaufe eine durchaus ungünstige Prognose
wahrscheinlich macht.
Zum Vergleiche Tafel 7, Fig. 1. Fall von Dementia praecox, der
abwechselnd manisches und depressives Stadium bzw. Erregungs- und Stupor¬
phase zeigt. In der Erregung ziemlich regelmäßig Abnahme, im Stupor Zu¬
nahme des Körpergewichtes.
Als weiteres Zeichen der Ernährungsstörungen möge die Abnahme des
Nägel wachstu mö in der Psychose erwähnt sein, ferner das nicht ganz seltene
Haarausfallen und Ergrauen.
b) Schlaf.
Der Schlaf ist ein ungemein feines Reagens bei psychischen Erkrankungen
jeglicher Art. Beim gesunden Menschen verursachen Aufregungen ein schweres
Einschlafen, einen unruhigen Schlaf, der vielfach in seiner Güte durch Träume
beeinträchtigt ist.
Die Schlaf kurve, wie sie Kraepelin bei Gesunden festzustellen ver¬
mochte, zeigt, daß ca. 3 Stunden nach dem* Einschlafen die größte Schlaftiefe
erreicht wird, daß dann gegen Ende des Schlafes eine allmähliche Abnahme
der Schlaftiefe erfolgt. Wie sich bei Kranken die Schlaftiefenkurve gestaltet,
darüber fehlen die Erfahrungen. Demnach sind wir auch über die Schlaftiefen¬
kurve bei Manisch-Melancholischen vollkommen im unklaren. Einen Anhalts¬
punkt jedoch gewähren uns die psychologischen Versuche Kraepelins. Es
Haltung, Gesicht sausdruck (katatonische Symptome).
39
gibt eine Gruppe von Gesunden, bei denen die Schlaftiefe einige Stunden später
als gewöhnlich das Höchstmaß erreicht, um dann gegen Morgen ziemlich hoch
zu bleiben. Nach klinischen Erfahrungen bin ich geneigt, unsere Kranken in
ihrem Schlafe mit den Personen dieser zweiten Gruppe zu vergleichen. Wir wissen,
daß die manisch-melancholischen Kranken — besonders für die Melancholischen
gelten diese Ausführungen —■ schwer einschlafen; dem entsprechen die subjektiven
Klagen der Kranken; am Morgen finden sie sich schwer aus dem „duseligen
Zustande“ heraus, sie fühlen sich noch müde und matt. Auch tagsüber können
sie nur sehr schwer einschlafen, Erscheinungen, die auch bei der besprochenen
Gruppe bekannt seind.
Die manischen Kranken leiden häufig unter einer so schweren Störung
des Schlafes, daß sie tagelang nicht zur Ruhe kommen; nach kurzen Stunden
des Schlafes geht die psychomotorische Unruhe wieder von neuem los. Sie
bedürfen anscheinend wenig Schlaf, obwohl doch die „Ermüdungsstoffe“ bei
diesen unruhigen Kranken in besonderem Maße sich anhäufen müssen; die
psychomotorische und vor allem die psychische Erregung ist es, die die Ermüdung
nicht auf kommen läßt; das Müdigkeitsgefühl fehlt bei solchen Kranken häufig
überhaupt. Im Gegensätze hierzu ist es auffallend, daß mehr chronisch ver¬
laufende Fälle, besonders Depressionen, öfters keine wesentliche Schlafstörungen
aufweisen. Es mag erlaubt sein, bei diesen Fällen an arteriosklerotische
Zutaten zu denken; die Arteriosklerose ist bekanntlich ausgezeichnet durch ein
sehr starkes Schlafbedürfnis, entsprechend der erhöhten Ermüdbarkeit.
Ich habe oben kurz auf die Wichtigkeit des Traumlebens für die Güte
des Schlafes hingewiesen. Auf diesen Punkt, der sehr wichtig und im allgemeinen
zu wenig berücksichtigt erscheint, werde ich bei den psychischen Störungen,
mit denen sie ja in direktem Zusammenhänge stehen, ausführlich zu sprechen
kommen.
Zu erwähnen sind nochZustände von „Schlafsucht“; eine überwältigende
Müdigkeit beherrscht dabei die Kranken, sie können kaum die Augen offen
halten, trotzdem kommt es durch die psychische Unruhe zu keinem Einschlafen;
es sind Zustände, welche sich dem später zu besprechenden Stupor sehr nähern.
Bei sehr vielen Fällen geht Schlaflosigkeit mit Nahrungsverweigerung einher,
die erklärlich ist dadurch, daß die Bettruhe den Stoffwechselvorgang zu ver¬
langsamt und daher weniger Nahrungsbedürfnis aüfkommen läßt.
c) Haltung, Gesichtsausdruck (katatonische Symptome).
Im Gesichtsausdruck spiegeln sich beim gesunden Menschen je nach
dem Temperament und je nach Eindrücken die Affekte wieder. Wir wissen,
daß Erregungen den Gesichtsausdruck verändern und daß länger dauernde
Gemütsbewegungen dem Gesichte einen bestimmten Ausdruck verleihen können.
Bei den Erregungen krankhafter Art, welche besonders intensiv oder lange
einwirken, wird der Gesichtsaüsdruck natürlich in besonderem Maße den
Affekt zeigen. Während bei Verblödungsprozessen der Affekt nicht dauernd
nach bestimmter Richtung verändert zu sein pflegt, sehen wir bei der Dementia
praecox die Gemütsverblödung als etwas Charakteristisches an. Beim manisch¬
melancholischen Irresein handelt es sich um eine Affektsteigerung, und diese
zeigt sich in besonderem Maße in den Gesichtszügen. Die manischen Zustände
40
Symptome.
zeigen uns die heitere, lebensfreudige Miene, der zornige Affekt entsprechend
zornigen Blick; melancholische Kranke haben vergrämten, unlustigen Ge¬
sicht sausdruck. Bei Stuporzuständen kann der Gesichtsausdruck oft geradezu
den Eindruck der Stumpfheit, ähnlich wie bei der Dementia praecox, machen.
Tritt die psychomotorische Erregung besonders hervor, wie bei stärkeren
manischen Erregungen und bei Melancholien mit Angstaffekt, so findet sich eine
Verstärkung der mimischen Äußerung nach der einen oder der anderen Riohtung.
Diese mimischen Zeichen verstärken sich bis zu Grimassen, zu eigenartigen
Bewegungen, die in einzelnen Fällen dem katatonischen Grimassieren ähnlich
sein können. Als Unterscheidungsmerkmal möchte ich anführen, daß die
katatonischen Grimassen in der Erregung häufig nicht zunehmen, während
sie bei unseren Kranken während der größeren Erregung stärker hervortreten.
Soweit ich meinem Materiale entnehmen kann, treten die Grimassen bei manisch¬
melancholischen Kranken vor allem bei jugendlichen Erkrankungen auf und
zwar in den Stufen, in denen die Besonnenheit aufgehoben und Verwirrtheit
eingetreten ist. Meist handelt es sich um manische Erkrankungen.
In manchen Fällen nehmen die grimassierenden Bewegungen die Form
von Zwangsbewegungen an. Die Patienten können nicht anders, sie müssen
fort und fort die betreffenden Verzerrungen des Gesichtes vornehmen. Solche
Kranke können bei vollem Bewußtsein und klar sein. So fand sich bei einer
Patientin während jeder Erkrankung ein Tic des Facialis; bei einem männlichen
Kranken stellten sich klonusartige Zustände in der Gesichtsmuskulatur bei
jeder neuen Krankheitsphase ein. Ähnliche Bewegungen sah ich bei einer
Kranken, die an periodischen Depressionen litt; das psychische Bild stand
unter dem Zeichen einer starken motorischen Erregung verbunden mit Zwangs¬
vorstellungen; eine schwere Depression stand im Vordergründe.
Weitere Krankheitserscheinungen, wie wir sie sonst bei katatonischen
Kranken zu beobachten gewohnt sind, finden sich zuweilen bei manisch-me¬
lancholischen Kranken, das sind Echopraxie, Befehlsautomatie, Stereotypie.
Die genannten Erscheinungen zusammen waren in sehr vereinzelten Fällen
deliranter, teils depressiver, teils manischer Art vorhanden; immer waren sie
mit Verwirrtheit und meist mit Bewegungsdrang verbunden. Die Zustände
gingen in Gesundung über; es handelte sich jedesmal um jugendliche Kranke
(20.—30. Lebensjahr), und zwar um Ersterkrankungen.
Daß wir in manchen Fällen eine eigentümlich „starre“ Haltung finden,
erklärt sich durch aktive Muskelspannungen bei Fällen, in denen delirante
Erscheinungen im Vordergründe stehen. Solche Symptome sind wohl zu unter¬
scheiden von der Flexibilitas cerea, der echten Katalepsie, der wir in wenigen
Fällen (ca. 4 %) begegnen. In den ersteren Fällen hören wir davon, daß die
Kranken iü eigentümlicher steifer Haltung liegen oder sitzen. So lag ein Kranker
mit Vorliebe in Kreuzesstellung am Boden, wahrscheinlich auf Grund von ent¬
sprechenden Wahnvorstellungen. Dies sind seltene Vorkommnisse, deren
Erscheinen* wir früher als mit größter Wahrscheinlichkeit der Katatonie, der
Dementia praecox, zugehörig gedeutet haben. Bei den Fällen von Katalepsie
handelt es sich durchweg um Kranke im Alter von 20—46 Jahren; meist be¬
fanden sich die Kranken im Alter von 20—30 Jahren. Auch hier haben wir
es wieder mit Fällen deliranter Natur zu tun; das Delirium war zum Teil ein '
erregtes, zum Teil war es zeitweise mit Stupor verbunden. Es handelte sich
Respiration. Kreislauf.
41
ebenso häufig um melancholische wie manische Phasen; es ist im übrigen in
einer ganzen Anzahl von Fällen nicht leicht, den Affekt in diesen deliranten
Zuständen zu kennzeichnen; recht oft sind es Zustände, in denen das psycho¬
motorische Verhalten nicht typisch ist. Trotzdem sind diese FäUe, auf welche
ich später noch eingehend zurückkommen werde, zweifellos den manisch -
melancholischen zuzurechnen, was insbesondere deutliche, klinisch klare Vor¬
oder Nachstudien dartun. Die Fälle haben, — es sind fast durchweg erstmalige
Erkrankungen —, eine günstige Prognose; zwei Fälle befinden sich in dieser
Gruppe, die periodisch verlaufen; in dem einen Falle sehen sich die Krank¬
heitsphasen klinisch photographisch ähnlich.
d) Respiration.
Die Störungen von seiten der Respiration, die wir im Zusammenhänge
mit dem manisch-melancholischen Irresein antreffen, sind sehr gering an Zahl.
Im Angstaffekt besonders, bei psychomotorischer Erregung überhaupt, findet
sich eine Erhöhung der Atmungsfrequenz, die in seltenen Fällen das Doppelte
des Normalen betragen kann. Weiterhin kommt es in einzelnen Fällen zum
Auftreten von Asthmaanfällen, vorwiegend in derZeit schwerster Erregung.
Wertvoll mag die Beobachtung eines Falles sein, in dem während einer Melan¬
cholie andauerndes Gähnen vorhanden war, eine Störung, die wir in ausge¬
prägtem Maße öfters bei einfach Nervösen und Erschöpften vorfinden.
e) Kreislauf.
Als Störungen des Blutkreislaufsystems kommen in Betracht Störungen
der Herzaktion, der Blutverteilung, der Blutzusammensetzung und des Ge¬
fäßsystems.
Was die Störungen der Herzaktion betrifft, so finden wir in einer Anzahl
von Fällen eine Beschleunigung der Herztätigkeit in Gestalt von erhöhten
Pulszahlen. Stellt man über diesen Punkt an einer Anzahl von Fällen syste¬
matisch Untersuchungen an, so ergibt sich, daß eine Erhöhung der Pulsfrequenz
recht häufig ist; auf der Höhe der Affektstörung schnellt, wie auch beim gesunden
Menschen in der Erregung vorübergehend, die Pulszahl sehr erheblich in die
Höhe; aber auch bei motorisch wenig oder nicht erregten Patienten, ja selbst
im Stupor, findet man oft höhere Pulszahlen. Man könnte daran denken, dieses
Moment differentialdiagnostisch gegenüber dor Dementia praecox auszubeuten.
Die Beschleunigung der Herzaktion geht in einer Anzahl von Fällen
mit einer Verstärkung der Herztätigkeit in qualitativer Beziehung einher;
es kommt zur Palpitatio cordis; die Kranken klagen oft lebhaft darüber,
und man ist durchaus nicht berechtigt, solche Beschwerden ohne weiteres
als hypochondrisch zu betrachten. Daß sie ihren Ursprung in nervösen Störungen
haben, ist wohl zweifellos; ob es sich um Reizstände von seiten der Herzganglien
oder von seiten des Sympathicus im weiteren Sinne handelt, oder ob diese
Erregung des Herzens auf Anordnung höherer Zentren im Zentralorgan erfolgt,
wissen wir nicht. Jedenfalls möchte ich betonen, daß die genannten Störungen
sich nicht etwa auf Fälle beziehen, bei denen das psychogene Moment in be¬
sonderem Maße in den Vordergrund des Krankheitsbildes gerückt ist.
42
Symptome.
In manchen Fällen führt die Herzpalpitation, vielleicht vereint mit einer
Sklerose der Gefäße, zu schwereren Störungen, zu Herzbeklemmungen,
die sekundär zu Angst Vorstellungen Anlaß geben können. Über das Neben¬
einandergehen der Zirkulationsstörungen und Angst sind wir noch sehr im
unklaren; immerhin ist es bei den Fällen manisch-melancholischen Irreseins
wohl richtig, die Affektstörung bzw. Depression als primär, die Herzbeschwerden
als sekundär anzusehpn; doch kann man auch den Standpunkt einnehmen,
daß eine unbekannte primäre Störung die sekundären Störungen psychischer
und körperlicher Art verursacht. Beide Erklärungen sind unbefriedigend,
solange wir über die wahre Ätiologie ganz im unklaren sind. Jedenfalls ist
sicher, daß Kreislaufstörungen bei der Erkrankung eine ganz hervorragende
Bolle spielen.
Ich habe oben schon erwähnt, daß der Turgor der Haut mit der Art des
Affektes zusammenzuhängen scheint. Ähnlich verhält es sich mit der peripheren
Blutverteilung überhaupt. Die depressiven Kranken zeigen ein blasses
Aussehen, weil die Hautgefäße sich in einem Zustande der Kontraktion be¬
finden. Daher kommt es, daß wir in vielen Fällen kalte Extremitäten vor¬
finden, meist ohne die eigentümliche Cyanose, welche bei katatonischen und
hysterischen Kranken so oft zu bemerken ist. Bei den manischen Kranken be¬
findet sich offenbar das Hautgefäßsystem im Zustande der Erweiterung; das
Gesicht ist gerötet, die Augen sind glänzend, die Extremitäten warm; die Haut
fühlt sich oft sehr heiß an, so daß man versucht ist, an Temperaturerhöhung
zu denken; eine solche findet sich aber nicht. Die geschilderten Erscheinungen
haben ihre Ursache in der Innervation der vom Sympathicus versorgten Ge¬
fäßnerven.
Chlorotische Erscheinungen treten des öfteren, besonders bei jugend¬
lichen weiblichen Kranken, vielfach verbunden mit Mqnstruationsstörungen,
auf; die Chlorose wird im übrigen durch die unregelmäßige, oft sehr geringe
Nahrungsaufnahme, die Zimmerluft, die geringe Bewegung bei depressiven
Kranken begünstigt; ob dabei anämische Zustände Vorkommen, ist nicht be¬
kannt. Eine spezifische Bedeutung haben diese Erscheinungen für die manisch¬
melancholische Psychose nicht.
Von wesentlicher Bedeutung für die Untersuchung ist die Feststellung
des Blutdrucks. Am gebräuchlichsten ist der Apparat nach Riva-Rocei
mit der Recklinghausenschen Manschette. Früher hat man den Druck mit
einem Manometer an der Temporalarterie untersucht; man ist von dieser
Methode (mit dem Basch sehen Apparat) abgekommen, weil die Fehlerquellen
bei der Untersuchung zu groß waren. Für die Untersuchung einer Himarterio-
sklerose wäre eine Messung möglichst nahe dem erkrankten Organe wohl von
Vorteil; die Messung des Blutdrucks an den oberen Extremitäten (A. radialis)
ist sicherlich mit einer Reihe von Fehlerquellen verknüpft, besonders mit dem
Fehler, daß die Arme bei schwerer Arbeitenden eine Abbrauchssklerose der
Gefäße auf weisen können.
Von der Bedeutung der Arteriosklerose wird unten die Rede sein. Hier
interessiert der Blutdruck im manisch-melancholischen Irresein überhaupt.
Unveröffentlichte Untersuchungen von Ltittge und Arbeiten von Weber u. a.
haben dargetan, daß Manische und Melancholische erhöhten systolischen
Blutdruck aufweisen, und zwar letztere in besonderem Maße. Diese Resultate
Kreislauf.
43
passen zu den Untersuchungsergebnissen, nach denen der Blutdruck im Affekt
überhaupt gesteigert wird. In besonders charakteristischem Maße sehen wir
dies bei Hysterischen und Nervenschockkranken nach psychischem oder körper¬
lichem Trauma.
Als wesentlichste Erkrankung des arteriellen Gefäßrohres kommt die
Arteriosklerose in Betracht.
In der letzten Zeit wird, von anatomischen Untersuchungen ausgehend,
die uns mannigfaltige und sehr wertvolle Aufklärungen über die Himarterio-
sklerose und rückschließend mancherlei Klarheit über den psychischen Zu¬
stand der Arteriosklerotischen gebracht haben, der Arteriosklerose in der
Klinik der Psychosen mit Recht besonderes Augenmerk zugewendet. Gerade
die präsenilen und senilen Erkrankungen sind außerordentlich häufig mit
Arteriosklerose kompliziert. Das manisch-melancholische Irresein, das häufig
in seinen Phasen, nicht selten in seiner einzigen Erkrankungsphase, im Prä¬
senium auftritt, ist, was nach dem Gesagten klar sein wird, recht häufig mit
Arteriosklerose kompliziert. Es ist deshalb die Frage aufzuwerfen, ob zwischen
den manisch-melancholischen Späterkrankungen und der Arteriosklerose ein
ursächlicher Zusammenhang besteht.
Unter den Fällen meines Materials finden sich 6 %, welche mit einer
Arteriosklerose verbunden sind. Männliches und weibliches Geschlecht ver¬
teilen sich auf gleiche Hälften. Das ist auffallend; denn wir wissen, daß die
weiblichen Fälle im manisch-melancholischen Irresein weitaus tiberwiegen.
Die Erklärung wird darin zu suchen sein, daß die Arteriosklerose bei Männern
überhaupt häufiger wie bei Frauen ist. Dieser Punkt wirft schon ein Licht
auf die Frage des Zusammenhanges zwischen unserer Psychose und der Sklerose.
Würde das manisch-melancholische Irresein die Arteriosklerose begünstigen,
so müßte das Verhältnis der Geschlechter dasselbe sein, wie in der Erkrankung
überhaupt; allerdings kommt hiezu, daß im höheren Alter die Zahl der Er¬
krankungen bei beiden Geschlechtern sich nähert.
Das Lebensalter, in dem die Arteriosklerose klinisch zu konstatieren war,
ist nur in einem Sechstel der Fälle unter 50, sonst immer darüber. Ungefähr
die Hälfte der Fälle zeigt rein periodischen Verlauf der Psychose; dabei finden
sich manische und depressive Erkrankungen ohne Unterschied. Bei diesen
Fällen scheint die Arteriosklerose ohne allen Einfluß auf den Verlauf der Er¬
krankung gewesen zu sein; auch die klinischen Symptome der Erkrankung
decken sich mit den gewohnten. Nur in 2 Fällen, welche periodischen Charakter
trugen, nahm die Erkrankung einen nach der Dauer ungünstigen Verlauf an;
bei diesen gibt der langjährige Verlauf im Präsenium keine Aussicht auf Ge¬
nesung; hier könnte man daran denken, daß die Arteriosklerose den Verlauf
ungünstig beeinflußt.
Eine kleine Anzahl von Fällen, der vierte Teil von den arteriosklerotischen,
muß besonders betrachtet werden. Es handelt sich um Ersterkrankungen
mit einem auf Jahre, sich erstreckepden chronischen Verlaufe. Bei Einigen
hatte die Arteriosklerose klinisch deutliche Symptome während des Verlaufes —
anfangs waren solche nicht zu konstatieren — gezeitigt: schwere Ermüdbarkeit,
Einengung des Vorstellungskreises, egozentrisches W esen, Gedächtnisschwäche
und Merkfähigkeitsstörungen, unzweifelhaft psychische arteriosklerotische
Symptome. Einigemale traten Herderscheinungen encephalitischer bzw. apo-
44
Symptome.
plektischer Art in leichterem oder schwererem Maße auf; Schwindelerscheinungen
waren mehrfach zu konstatieren. Unter diesen Erkrankungen, von denen einige
apoplektisch endigten, befanden sich 1 manische und 6 melancholische Er¬
krankungen. Letztere waren nach Art der alten Melancholie Kraepelins;
es bestand keine psychomotorische Hemmung, sondern meist eine leichte Er¬
regung psychomotorischer Art.
Im Verlaufe der einzigen Krankheitsphase, die diese Fälle auszeichnet,
traten bei 2 Fällen kürzere manische Zeiten auf, so daß schließlich nur 3 Fälle
übrig bleiben, die dem Bilde der alten Melancholie ohne Zwang eingereiht
werden konnten. 'Der Habitus war bei vielen der Fälle schon im präsenilen
Alter ausgesprochen senil, es waren Fälle, die meistens als „vorzeitig“ gealtert
bezeichnet zu werden pflegen, präsenil im wahren Sinne des Wortes.
Nach den Ausführungen ist klar ersichtlich, daß von einem bestimmten,
unzweifelhaften Einfluß der Arteriosklerose auf das manisch-melancholische
Irresein nicht gesprochen werden kann. Fälle von „Melancholie“ mit ähnlich
ungünstigem Verlaufe gibt es unter den Fällen ohne Arteriosklerose eine sehr
große Anzahl. Selbstverständlich lassen diese auch die psychischen Symptome
der Arteriosklerose missen.
Wir kommen also zu dem Schlüsse, daß keine Anhaltspunkte vorhanden
sind, 1. daß die Arteriosklerose rein manisch-melancholische Krankheitsphasen
erzeugen oder auslösen kann, 2. daß die Arteriosklerose an und für sich ungünstig
auf die Psychose einwirkt. Dabei ist jedoch zu bemerken, daß eine schwere
Arteriosklerose eine manisch-melancholische Erkrankung zweifellos in die
länge ziehen kann dadurch, daß schwere psychische Störungen spezifisch
arteriosklerotischer Art hinzutreten. Aber an und f jir sich kann bei bestehender
Arteriosklerose die Prognose für eine manisch-melancholische Erkrankung
durchaus nicht ungünstig gestellt .werden; die Psychose kann, wie eine Anzahl
von Fällen zeigt, trotz der Arteriosklerose ausheilen. Es handelt sich also bei
diesen Späterkrankungen mit Arteriosklerose um eine Kombination beider
Krankheiten, nicht aber um eine Psychose, die primär in ihrer Ätiologie der
Sklerose zur Last fällt.
f) Verdauungsorgane.
Eine größere Bolle als bei den meisten psychischen Erkrankungen spielen
Störungen von seiten der Verdauungsorgane bei dem manisch-melancholischen
Irresein. Von Appetitlosigkeit, Abmagerung usw. will ich hier nicht sprechen. In
manchen Fällen wird über Magendrücken geklagt; man kann im Zweifel sein, ob
es sich hier wirklich um eine organische Störung des Magens handelt, oder ob
nur hypochondrische Vorstellungen solche Beschwerden verursachen. Immerhin
finden sich manchmal objektive Symptome einer Dyspepsie, wie sie W il manne
bei Zyklothymischen feststellen konnte.
Die Magen-Darmbeschwerden erwecken den Gedanken, es möchte sich
auch bei diesen Störungen vor allem um Veränderungen der Gefäße, meist
vorübergehender Art, handeln; hauptsächlich würden Kontraktionszustände in
Betracht kommen. Solche könnten auch mit der chronischen Obstipation
in Zusammenhang stehen, die so häufig eine sehr wesentliche körperliche
Störung bei unseren Kranken ist. Dieselbe kommt vor allem bei depressiven
Drüsen, Urogenitalsystem.
45
fallen zur Beobachtung. Es ist nicht etwa allein die mangelnde Bewegung,
die die körperliche Hemmung den Kranken gebracht hat, sondern es ist eine
tiefer liegende Störung. Sie findet sich bei den meisten Depressionen und ist
als geradezu charakteristisch anzusehen.
Manchmal findet sich Unreinlichkeit mit Stuhl und Urin als Folge
der psychischen Alteration. Es wurde öfters behauptet, daß diese Erscheinung
gegen manisch-depressives Irresein spräche gegenüber der Dementia praecox,
bei der bekanntlich oft zuerst die anerzogenen Gefühle für Reinlichkeit und
Anstand in Mitleidenschaft gezogen sind. Es findet sich die genannte Unrein¬
lichkeit nicht selten bei geordneten, aber gehemmten Melancholischen. Daß
verwirrte Kranke öfters unrein werden, ist selbstverständlich.
g) Drüsen.
Auch der Drüsenapparat zeigt bei manisch-melancholischem Irresein
zuweilen Störungen. Auffallend ist in manchen, nicht häufigen Fällen, be¬
sonders bei psychomotorischer Erregung, eine starke Schweißabsonderung.
Diese kann zuweilen einen Grad erreichen, daß die Kranken in Schweiß gebadet
sind. In einem Falle war bei einem unzweifelhaft manisch-melancholischen
Kranken in einem depressiven Stuporzustand Speichelfluß vorhanden, ähnlich
wie wir ihn bei katatonischen und idiotischen Kranken öfters sehen.
Veränderungen der Thyreoidea sind- in meinem Materiale sehr selten
gewesen. Das hängt damit zusammen, daß in München und Südbayem Störungen
von seiten der Thyreoidea nicht häufig Vorkommen. Werden sie einmal in einem
Falle beobachtet, so handelt es sich meist um Zugewanderte. In einem Falle
konnte ich eine sehr große Struma fibröser Art bei einer manischen Kranken
beobachten, ohne daß irgendwelcher Zusammenhang sowohl anamnestisch
als auch im Verläufe der Psychose mit derselben zu konstatieren gewesen wäre.
In einem Falle bestanden leichte Basedowsche Erscheinungen: Struma,
Exophthalmus, Tremor und Pulsbeschleunigung. Ein zeitlicher Zusammen¬
hang mit der Depression war nicht zu konstatieren. Mit der Genesung blieben
die Erscheinungen, die ja an und für sich leichter Art waren, unverändert be¬
stehen.
Andere Beobachter machten auf weitere interessante Erscheinungen
bei der Kombination der beiden Erkrankungen aufmerksam, worauf oben
schon hingewiesen worden ist.
h) Urogenitalsystem.
In nicht ganz seltenen Fällen findet sich bei den manisch-melancholischen
Kranken das Symptom der Glykosurie; es handelt sich dabei um vorüber¬
gehende Erscheinungen. Meist waren es Kranke in höherem Lebensalter;
nur einmal fand sich Glykosurie bei der Depression einer weiblichen Kranken
im 25. Lebensjahr. Der klinische Charakter der Erkrankungen wies keine
Besonderheit auf. Da sich Zucker im Urin vorübergehend bei vielen Nervösen
findet, so hat diese Erfahrung keine besondere Bedeutung.
Zuweilen begegnen wir depressiven Psychosen, die einen mehr oder minder
schweren Angstaffekt aufweisen, und bei denen jedesmal mit Beginn der Psychose
46
Symptome.
Glykosurie in Erscheinung tritt. Es handelt sich immer um periodische Angst¬
zustände; manische Zustände kommen nicht vor. Ich werde später nochmals
darauf zurückkommen.
Geschlechtliche Erregung und in ihrer Folge Onanie ist eine recht
häufige Erscheinung, vor allem in der Melancholie mit psychomotorischer Er-
regung. Dabei finden wir oft, daß die Kranken sich nicht im geringsten
genieren, vor den Augen der anderen Kranken und des Pflegepersonals zu
masturbieren. •
Ein weiterer Punkt betrifft das Zessieren der Menses, das sehr häufig
bei Beginn der Erkrankung, auch bei anderen Psychosen, z. B. der Dementia
praecox eintritt. Ich habe im Hinblick auf diese Frage 290 Fälle von chronischen
90
BO
70 -
60 -
50 -
W-
30 -
20 -
10 -
0
iP
MÜ
vorhanden
zeitweise
fehlend
dauernd
fehlend
Imbe- Psycho-Paranoia Dementia praecox Epilepsie Hysterie Man.-me/. Progr Paralyse
zi/Htdl pathie Irresein
Abb. 14. Menstruation und Psychose.
Psychosen untersucht; demnach tritt Amennorrhöe bei manischen Erkrankungen
nicht so häufig wie bei depressiven auf. Bei Genesung erscheinen die Menses
wieder in normaler Weise, meist schon eine geraume Zeit vor der Gesundung
als Botschaft der Genesung. Im ganzen setzen die Menses im manisch-melan¬
cholischen Irresein weniger häufiger aus wie bei Dementia praecox (Abb. 14).
Beiden Psychosen ist die Amennorrhöe auf der Höhe der Krankheit im
Wellental der Gewichtskurve gemeinsam (s. Tafel 7, Fig. 2 und 3).
Von Schwangerschaft, Puerperium und künstlichem Abort ist an anderen
Stellen ausführlicher die Rede; ebenso werden die Fälle, die eine eigenartige Kom¬
bination von manisch-melancholischen Symptomen mit solchen einer oft rudi¬
mentären Himlues bieten, später besprochen werden; auch werden bei der
Differentialdiagnose Fälle zu erwähnen sein, die erst manisch-melancholisch
waren und später paralytisch wurden.
Nervensystem.
47
i) Nervensystem.
In einzelnen Fällen waren leichte polyneuritische Erscheinungen
vorhanden, entsprechend dem chronischen Alkoholismus, mit dem
die Fälle kompliziert waren.
Tre mor der Hände findet sich bei den manisch-melancholischen Kranken
öfters; es handelt sich um einen unregelmäßigen, meist sehr grobschlägigen
Tremor, dessen Ausschläge sich nach allen Dimensionen erstrecken, wie er bei
psychogenen Erregungen und bei der Hysterie uns bekannt ist. Eine besondere
Bedeutung kommt dem Zittern für unsere Fälle nicht zu.
Ähnlich sind die Verhältnisse mit den Sehnen-, Haut- und Knochen¬
hautreflexen. Meist sind dieselben sehr lebhaft; die Sehnenreflexe können
in manchen Fällen, wie bei der Hysterie, bis zu klonusartigen Zuckungen ge¬
steigert sein; ein echter Klonus ist nicht vorhanden. In einem Falle von Manie
fehlten die Patellarreflexe; eine organische Ursache war bei der Kranken nicht
zu finden; es ist nicht undenkbar, daß es sich um einen der seltenen Fälle mit
physiologisch fehlenden Patellareehnenreflexen handelte; oder es fehlten die
Reflexe aus psychogenen Gründen, wie uns von den Hysterischen nicht un¬
bekannt ist.
Gelegentlich sehen wir bei Beginn der manisch-melancholischen Krank¬
heitsperiode das Auftreten von Urticaria, was wohl als psychogenes Symptom
körperlicher Art zu deuten ist.
Die Dermographle, die in vielen Fällen eine sehr ausgeprägte ist,
findet sich ähnlich wie bei der Hysterie und ähnlich wie bei der Dementia prae¬
cox. In selteneren Fällen sind Parästhesien vorhanden. Der „Kloß im Hals“
ist eine der gewöhnlichsten Erscheinungen der Hysterie; auch bei unseren Kranken
fehlen solche auf krankhaften Vorstellungen beruhende Erscheinungen nicht;
selten findet man die Erscheinung des Kribbelns, des Ameisenlaufens; bei einem
Melancholiker in höherem Lebensalter konnte ich dieses psychogene Symptom
beobachten, ohne daß etwa organische Grundlagen dafür zu finden waren.
Zu diesen rein psychogenen, auf körperliche Funktionen übertragenen
Störungen gehören auch Gehstörungen mannigfaltiger Art, denen wir in seltenen
Fällen begegnen. So hatte eine Patientin einen Sturz durch Hängenbleiben
erlitten; diese Erinnerung dokumentierte sich im Verlaufe der rein melan¬
cholischen Psychose in einer eigenartigen Gangstörung, aus der die Angst
vor neuem Sturz augenfällig hervorging.
Die konzentrische Einschränkung des Gesichtsfeldes fand ich in einem
Falle von Melancholie, bei dem hypochondrische Beschwerden im Vorder¬
gründe standen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß man bei stetigem Unter¬
suchen solche Erscheinungen öftere finden wird, und es ist durchaus nicht
ausgeschlossen, daß diese psychogenen Erscheinungen prognostisch nicht un¬
wichtig sind, worauf ich später zurückkommen werde.
In einer nicht geringen Zahl von Fällen findet man bei den körperlichen
Untersuchungen Hypalgesie bzw. Hypästhesie der Haut. Es handelt
sich manchmal um totale, manchmal um halbseitige Störungen. Die Erschei¬
nungen wechseln und vergehen mit dem Zurückgehen der akuten psychischen
Störungen. In einzelnen Fällen verbindet sich die Gefühlsstörung mit einem
Stuporzustand und verschwindet nach Lösung desselben. Es handelte sich bei
48
Symptome.
meinen Fällen durchweg um weibliche Kranke; der Charakter der Psychose
war dem Affekt nach verschieden, die Prognose der Fälle günstig. Meist werden
die melancholischen Erkrankungen, manchmal auch die manischen, von Kopf¬
schmerzen begleitet. Häufig werden sie als Druck, oft auch als Zerren im
Kopfe bezeichnet. Eine Klopfempfindlichkeit des Schädels wie bei vielen,
besonders traumatisch Hysterischen besteht nicht.
In einem Falle von chronischer manischer Erregung von lOjähriger Dauer,
die nur durch eine ca. 1 Jahr dauernde Melancholie unterbrochen war, traten
bei der Kranken, welche bei Beginn der Psychose 60 Jahre alt war, sehr ver¬
einzelte, unzweifelhaft epileptische Anfälle auf. Solche Anfälle lassen zu¬
nächst vermuten, daß es sich überhaupt um eine psychische Erkrankung bei
Epilepsie handelt. Diese Annahme war jedoch bei dem typischen manisch¬
melancholischen Typus dieses Falles nicht berechtigt. Wahrscheinlich beruhten
die epileptischen Anfälle auf einer Arterienveränderung, möglicherweise auch
auf einem älteren Herd im Gehirn, der erst im Alter die genannten Erschei¬
nungen provozierte. Bei einem Kranken, der an einer motorisch erregten
Melancholie günstigen Charakters litt, traten einzelne Schwindelanfälle auf,
die wahrscheinlich-psychogenen Charakters waren. Letztere Beobachtung ist
keineswegs selten.
Anfälle von Singultus sind als „hysterische" Erscheinungen bekannt.
Sie kommen ausnahmsweise, wie ich an einem Fall beobachten konnte, bei
manisch-melancholischen Kranken vor. Es handelte sich um eine manische
Patientin, die in anfallsfreien Zeiten Zustände dieser Art, welche minutenlang
dauerten, schon mehrmals, besonders nach Aufregungen, gehabt hatte. Sie
sind demnach als eine psychogene Komponente anzusehen.
Von „Ohnmächten" hören wir in manchen Fällen. Es handelt sich
gleichfalls um psychogene Zufälle, die besonders bei Melancholien auf treten;
in einem Falle waren diese Ohnmächten vereint mit Zuständen, in denen die
Kranke wegen „plötzlicher Lähmungen" auf der Straße nicht weitergehen
konnte. Auch hier handelte es sich um prognostisch günstige Fälle.
Auffallend ungünstig in prognostischer Hinsicht schneiden die nun zu
erwähnenden Fälle ab. Es handelt sich durchweg um zirkuläre Kranke, bei
denen die freien Intervalle kurz und manchmal recht wenig ausgeprägt sind.
Meist sind die Kranken, wie überhaupt die meisten mit den erwähnten stark
hervortretenden körperlichen psychogenen Störungen, in jugendlichem Alter.
Während bei den vorher genannten Gruppen weibliche Fälle vorherrschen,
sind hier die männlichen in der Überzahl. Es handelt sich um echt hysterische
Anfälle, meist kleine hysterische Paroxysmen oder auch große Krampfanfälle.
Die Anfälle finden sich meist nur während der Psychose selbst; nur in einem
Falle kamen solche mit kurz dauernden Erregungszuständen vereint, auch außer
der Zeit einer Krankheitsphase vor.
Im allgemeinen ist von den Krankheitsbildem, wie ich sie jetzt unter den
körperlichen psychogenen Zuständen aufgeführt habe, die Prognose in bezug auf
den einzelnen Anfall günstig. Sie gehören größtenteils dem jüngeren Lebensalter
an und befallen vorzugsweise weibliche Individuen. Die Ätiologie betont meist
das psychogene Moment nicht besonders. Der klinische Charakter an und für
sich entspricht dem typisch manisch-melancholischen Krankheitsbild.
Sinnewrgane, Sprache.
4»
k) Sinnesorgane.
Außer Nebenbefunden, wie Schwerhörigkeit, Sehstörungen usw., ist zu
erwähnen, daß in einzelnen Fällen die Kranken über „perversen“ Geschmack
klagen. Was objektiv diesen Klagen zugrunde liegt, ist schwer festzustellen;
es könnte sein, daß Verdauungsstörungen die Ursache sind. Ähnliche Ge¬
schmacksstörungen psychogener Art sind Jedoch auch bei Hysterischen be¬
kannt.
Von größerem Interesse sind die Pupillenbefunde bei manisch¬
melancholischen Kranken. Zunächst ist auffällig, daß die Pupillen bei den
akuten Erkrankungen fast durchweg sehr weit sind. Bei einer Anzahl
von Pupillenuntersuchungen, die ich mit dem Pupillometer von Weiler vor¬
nahm, ergaben sich folgende Resultate. Die Pupillenweite bei schwacher Be¬
lichtung zeigte Differenzen in der Weite von 6,9 bis zu 3,3 mm. Die größte
Weite fand sich bei einem Falle von Melancholie mit sehr ausgeprägter psycho¬
motorischer Hemmung. Die Durchschnittsweite betrug 5,3 mm. Klinische
Unterschiede von Bedeutung ergaben sich bei der Messung der Pupillengröße
nicht.
Belichtete man ein Auge stark, so ergaben sich bei manischen und me¬
lancholischen Fällen mit psychomotorischer Erregung auf dem belichteten Auge
Ausschläge von über 0,5 mm gegenüber der Belichtung beider Augen mit
schwachem Licht; öfters betrug die Differenz über 1 mm; die leicht ge¬
hemmten zeigten einen geringeren Ausschlag (unter 0,5 mm). Wurden nun
beide Augen stark belichtet, so zeigte sich, daß die psychomotorisch ge¬
hemmten Kranken wieder einen geringeren Ausschlag zeigten wie die erregten,
nämlich unter 1 mm.
Es geht daraus hervor, daß die manisch-melancholischen Kranken über
verhältnismäßig weite Pupillen verfügen; ferner, daß die stärkere Belichtung
bei den gehemmten Kranken eine geringere Wirkung ausübt wie bei den psycho¬
motorisch erregten. Es müssen also gewisse, wohl psychische, Hemmungen
vorhanden sein, welche diese Störungen bewirken. Zu bemerken ist, daß das
untersuchte Material durchweg aus akuten, meist sehr frischen Fällen be¬
stand. Es wäre interessant, ein mehr chronisches Material nach dieser Richtung
zu untersuchen.
Die Untersuchung der sogenannten psychischen Pupillenreflexe
ließ bei der Mehrzahl der manisch-melancholischen Kranken eine nur geringe
Reaktion erkennen, meist waren es Schwankungen in nicht großer Breite. Nur
bei einigen Fällen, welche, wie auch manche von den anderen, psychomo¬
torische Erregung aufwiesen, zeigten sehr starke Schwankungen. Im allge¬
meinen war bei den gehemmten Fällen eine geringere psychische Reaktion wie
bei den psychomotorisch Erregten zu erkennen. Es liegt nahe, dafür dieselbe
Erklärung wie oben, nämlich eine Hemmung, anzunehmen.
1) Sprache.
Störungen der Sprache finden sich in manchen Fällen. Dieselben können
darin bestehen, daß die Sprache tonlos wird, daß eine „hysterische“ Stimm¬
bandlähmung in Erscheinung tritt, wie in einem Falle bei einer Kranken,
Be hm. Das manisch-melancholische Irresein. 4
öö
Symptome.
die sich in einer subchronischen räsonierenden Manie befand, öfters finden
wir eine klanglose, mehr flüsternde Sprache, meist aus psychischen Gründen
der Angst und der Besorgnis; wir beobachten auch bei Gesunden, daß im depres¬
siven Affekt die Sprache leiser und zurückhaltender wird; es handelt sich bei
solchen Fällen also um eine krankhafte Steigerung des Affektes. Bei einem
Kranken mit hochgradigen Angstzuständen nahm die Sprache einen mehr
skandierenden Charakter an, ohne daß etwa organische Störungen vor¬
handen gewesen wären.
In einem Falle, dessen delirante Phasen mit Stupor und katatonischen
Erscheinungen einhergingen, wurde die Sprechweise auffallend monoton,
wie wir es bei Fällen von Dementia praecox als Manier häufig wahmehmen.
Die Erscheinung ging mit Besserung des Krankheitszustandes sehr bald wieder
zurück. Bei deüranten Phasen in manchen Fällen kann man beobachten, daß
die Kranken, beeinflußt von wahnhaften Vorstellungen, längere oder kürzere
Zeit überhaupt nicht sprechen oder nur unverständlich lispeln.
Ein vollständiges Fehlen sprachlicher Äußerungen (Mutazismus)
wird am häufigsten natürlicherweise in den Fällen von Stupor,‘sei derselbe
melancholischer oder manischer Art, ganz ähnlich wie beim Stupor der Kata¬
tonischen wahrgenommen. Die Erscheinungsform des Stupor ist oft fast voll¬
kommen katatonisch, nur fehlt der Negativismus; ein Merkmal, das mir von
besonderer Bedeutung zu sein scheint.
II. Psychische Symptome.
Nach dem Kraepelinschen Schema haben wir es beim manisch-melan¬
cholischen Irresein mit drei Hauptsymptomen zu tun. Es handelt sich um
Störungen auf dem Gebiete des Affektes, des Willens und des Denkens.
Diese Trias kann auch heute noch als maßgebend anerkannt werden; sie ist durch
die Gemeinschaft der früher getrennten Affektzustände erwiesen worden. Freilich
ist zuzugeben, daß es manchmal den Anschein hat, als genügen diese Symptome
nicht, als müßten wir Hilfssymptome zur Diagnose heranziehen. Zur Unter¬
stützung der Diagnose hat Kraepelin schon eine Beihe von psychischen
Momenten aufgeführt, die wir zur Untersuchung benützen dürfen und in
manchen Fällen müssen. Doch hängen auch diese Hilfssymptome mit den
Grundsymptomen mehr oder weniger innig zusammen; ich möchte nur die
Wahnideen, insbesondere die hypochondrischen, die Besorgnisse vor dem
Kommenden, die Selbstbeschuldigungen, ferner die Ablenkbarkeit und das
psychomotorische Verhalten anführen.
Man darf daraus, daß es praktisch in manchen Fällen sehr schwierig er¬
scheint, die Diagnose zu stellen, — ich denke besonders an Fälle, bei denen die
Differentialdiagnose manisch-melancholisches Irresein und Dementia praecox
in Frage kommt, — noch nicht schließen, daß die diagnostischen Grundlagen
falsch oder ungenügend sind. Wichtig sind solche Fälle, die bei katamnesti-
schen Studien ergeben, daß es sich um eine Fehldiagnose gehandelt hat. Man
kann dann durch den Rückblick über den Krankheitsverlauf und dessen dia¬
gnostische Eigentümlichkeiten viel für die Diagnose überhaupt Wichtiges
lernen. Natürlich darf die Prognose nicht allein für katamnestische Rück¬
schlüsse maßgebend sein. Im ganzen genügt die von Kraepelin zugrunde
Affektstönmg.
51
gelegte Symptomatik, und wir tun gut, solange daran festzuhalten, bis Besseres
etwa an die Stelle getreten sein sollte, wobei an neue ätiologische Gesichts¬
punkte gedacht wird.
Es soll nicht geleugnet werden, daß die manisch-melancholischen Misch-
zustande diagnostisch manche Schwierigkeiten bieten, und daß man in die¬
selben gar viel hineindiagnostizieren kann; es soll auch ohne weiteres zuge¬
geben werden, daß die deliranten Phasen des manisch-melancholischen
Irreseins manche Rätsel zu lösen aufgeben; wir kommen auch hier wieder sehr
leicht in Versuchung, aus dem schwer begreiflichen Zustandsbild neue diagnosti¬
sche Momente herauszugreifen. Diese Methode ist sehr gefährlich, und man
lasse von ihr, so lange nicht eine wissenschaftliche Grundlage dazu gegeben
ist. Ich werde im folgenden versuchen, einige Möglichkeiten der Lösung zu
zeigen.
Zum Schlüsse möchte ich nochmals darauf hinweisen, daß es gelingt,
den manisch-melancholischen Symptomenkomplex in — wie der weitere Ver¬
lauf lehrt — andersartige Krankheitsbilder hineinzupressen, insbesondere in
die Dementia praecox. Bei der Differentialdiagnose ist es oft notwendig,
die Hilfssymptome heranzuziehen; wir werden später versuchen zu zeigen,
daß eine Lösung der Schwierigkeit nicht unmöglich ist.
•
a) Affektstörung.
Die Art der Schattierungen der Affekte ist außerordentlich reichhaltig.
Es gibt keinen Affektzustand, der nicht bei den manisch-melancholischen
Kranken zur Beobachtung kommt. Wir haben es ja scheinbar mit der „Affekt-
psychose“ xav zu tun; wenigstens hat man den Eindruck, als ob die
Affekte das Krankheitsbild vollkommen beherrschen, und doch ist es nicht so,
wie ich später zeigen werde. Wie der Name der Psychose angibt, können wir in
erster Linie manische und melancholische Affektzustände unterscheiden. Zu
diesen gesellt sich eine Reihe von Affektzuständen, welche aus einer Mischung
der oben bezeichneten „einfachen“ Affekte zusammengesetzt sind; ich
will sie der Kürze halber als „Mischaffekte“ bezeichnen. Schließlich ist
ein Affektzustand zu erwähnen, in welchem der Affekt der Denkstörung unter¬
legen ist und nicht nach außen projiziert wird; ich möchte den Zustand „Affekt -
lähmung“ nennen. Von Zuständen rasch wechselnder Affekte wird später
noch die Rede sein.
1. Manischer Affekt.
Der manische Affekt ist der Zustand der gehobenen Stimmung, der
Heiterkeit, der Ausgelassenheit und des Übermuts. Er bringt in höheren Graden
in seiner typischen Form durch die psychomotorische Erregung expansives
Wesen mit sich, welches den manischen Kranken überall sich einmischen läßt
und dadurch mancherlei Konflikten zuführt. Der Affekt erscheint in geringen
Graden uns oft als Humor, auch als Hoffnungsfreudigkeit; häufig zeigt er die
Eigenschaft der Selbstüberschätzung, der erhöhten Ansprüche, auch der Neu¬
gierde. Bei jungen Mädchen werden hypomanische Zustände geschildert, in
denen der Affekt in der Form einer auffallenden Schnippigkeit, „Nasenweisheit“
zutage tritt. Zuweilen finden sich Zustände von Schalkhaftigkeit und Sar¬
kasmus. Letzterer birgt allerdings schon eine Beimischung depressiver Momente,
4 *
52
Symptome.
das Moment der Bitterkeit. Von der mit dem manischen Affekt der Regel
nach einhergehenden psychomotorischen Erregung wird später die Rede sein.
Schwierig ist die Affektlage in diagnostischer Beziehung häufig bei schwach¬
sinnigen Kranken zu beurteilen. Hier erscheint der Affekt nicht selten ver¬
waschen, * weniger frisch und leuchtend, wie er sonst bei Manischen zu sein
pflegt; auch bei Melancholischen erhält bei solchen Zuständen der Affekt ana¬
logerweise ein eigentümlich farbloses, wenig charakteristisches Gepräge.
2. Depressiver Affekt.
Der depressive Affekt, der charakteristische Affekt der Melancholie,
ist die Traurigkeit, der Kummer, die gedrückte Stimmung. In den geringsten
Graden stellt sich der depressive Affekt uns vor als Scheu, Verzagtheit, Schüch¬
ternheit, welch letztere eine gewisse psychomotorische Hemmung voraussetzen,
während der Angstaffekt, auch schon die Furcht, einen Grad von psyoho-
motorischer Erregung zur Basis haben. In besonderem Maße bringt die Furcht
eine verzweifelte Stimmung zum Ausdruck. In seltenen Fällen kommt im
Heimweh ein verhaltener depressiver Affekt besonders bei jugendlichen In¬
dividuen zum Vorschein. Ähnlich wie durch Suggestion ein momentaner Wechsel
in den entgegengesetzten Affekt stattfinden kann, so sehen wir auch die Er¬
scheinung, daß durch Suggestion der Affekt verstärkt werden kann. Auch
Sinneseindrücke besonderer affektbetonter Art, wie Musik, rühren oft die
Kranken zu Tränen. Diese Erscheinung finden wir auch bei den rührseligen
Psychopathen.
Bemerkenswert ist, daß die einfache Verstimmung den größten Teil der
jugendlichen Melancholien ausmacht; Angstaffekte, Verzweiflung usw.
wird in der Jugend verhältnismäßig recht wenig beobachtet. Der Angstaffekt
kombiniert sich häufig entweder in der einzelnen Krankheitsphase oder in dem
ganzen Krankheitsverlauf mit manischen Affektsymptomen. Wie schon erwähnt,
geht derselbe meist mit psychomotorischer Erregung einher, und diese kann
im Gegensatz zur Hemmung auch wieder als manisches Symptom angesehen
werden.
3. Mischaffekt.
Unter Mischaffekt ist die Gemütslage zu verstehen, in der sich manischer
und depressiver Affekt innig vermengt und in einer eigenartigen Form zum
Vorschein kommt. Es ist kein „reiner“ Affekt, sondern einer, der manische und
depressive Komponente enthält. Man wird zu untersuchen haben, ob wir in der
zu besprechenden Affektlage einen besonderen Affektzustand sehen können
und deshalb etwa von der Annahme einer Mischung, die natürlich theoretisch
ist, absehen können. Ich glaube aber, daß das praktische Verständnis durch
die Annahme einer Mischung gefördert wird; die so häufige Wahrnehmung
dieses Affektes gerade bei Übergang von dem einen Affektzustand zu dem
anderen, glaubeich, spricht dafür, daß es sich um keinen „reinen“ Affekt handelt.
Die charakteristische Färbung dieses Mischaffektes ist die der Unzu¬
friedenheit und des Zornes. Die Unzufriedenheit stellt den geringen Grad",
der Zorn den Höhegrad des Affektes vor; in die Mitte könnte die Gereiztheit
gesetzt werden. Wir sehen in den Krankheitsbildem häufig mit diesem
Affekt eine psychomotorische Störung verbunden; einerseits eine Hemmung
Affektstörung.
03
in den nörgelnden, gereizten Zuständen, andererseits eine Erregung in den
Zuständen von Zorn, vonWut, ferner in Phasen, die laienhaft als „Tobsucht“
bezeichnet werden. Die Zustände von Unzufriedenheit gehen sehr häufig in
Querulieren, Nörgeln und Bäsonniersucht über. Der Rechthaberische neigt zu
Trotz und ist unverträglich. Der Zorn leitet zu Streitsucht, Grobheit und
Gereiztheit über. Ähnlich wie beim depressivqfl Affekt verbinden sich auch
hier Wahnvorstellungen mit dem Affektzustande, Zustände, auf die ich später
bei Besprechung derW ahn Vorstellungen noch ausführlicher zurückkommen werde.
Während mit dem depressiven Affekt Besorgnis für die Zukunft, Selbst¬
vorwürfe und hypochondrischer Wahn oft vergemeinschaftet sind, steht hier
der Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn im Vordergründe. Einen Affekt¬
zustand möchte ich hier noch erwähnen, das ist die Rührseligkeit, bei der
besonders deutlich eiqp eigenartige Mischung manischer und depressiver
Komplexe vorhanden ist.
Schließlich möchte ich auf eine Kombination, der wir oft begegnen,
näher eingehen, weiche die Vereinigung von expansiven manischen Sym¬
ptomen mit Symptomen des Mischaffektes unter dem Ausdruck der Un¬
zufriedenheit, des Querulierens ist. Ich meine das Vorkommen dieser beiden
Symptome in einer Krankheitsphase des manisch-melancholischen Irreseins.
In meinem Material trifft das für ca. 11 % der Fälle zu, und zwar in der größeren
Zahl (70 %) bei Fällen, die im jugendlichen Alter (bis zum 30. Lebensjahr)
beginnen. Von den übrigen 30 % fallen nur 5 % auf das höhere Alter (nach
dem 60. Lebensjahr). Es ist das eine sehr auffallende Erscheinung, insbesondere
wenn man sie vergleicht mit der noch häufigeren Kombination von Expansion
mit Zomaffekten. Bei der letzteren handelt es sich um ca. 26 % der Fälle des
Gesamtmaterials; hierbei fallen 56 °/ 0 auf die Jugend, 40% auf die mittlere
Lebenszeit (30.-r-50. Jahr) und 5 % auf das höhere Lebensalter. Es ergibt
sich demnach bei der milderen Kombination von Expansion mit Unzufriedenheit
ein Verhältnis der verschiedenen Lebensalter wie 18: 6: 1, bei der Kombination
von Expansion mit Zorn 18: 14: 1. Daraus geht hervor, daß im mittleren
Lebensalter der Zomaffekt auffallend häufig auftritt, während im jugend¬
lichen und späteren Alter die genannten Affektzustände sich das Gleichgewicht
halten. Die große Mehrzahl der Mischaffekte überhaupt gehört aber dem
jugendlichen Alter an.
Man möchte daran denken, daß eben die Lebensfrische der Patienten
bzw. das Bewußtsein der in den kommenden Lebensabschnitten verlangten
Leistungen in den betreffenden Altersstufen sie zu diesen Zomsausbrüchen
und zu den Zuständen des Querulierens prädisponiert. In den höheren Lebens¬
altern herrscht der Angstaffekt mit hypochondrischen Zutaten vor. Daraus
können wir auch sofort den weiteren Sohluß ziehen, daß der psycho motorische
Zustand die Mischaffekte nicht besonders begünstigt, denn das höhere Lebens¬
alter zeigt vor allem die psychomotorische Erregung, wie wir später noch sehen
werden, und mit dem Zorn ist doch in derselben Weise häufig eine psycho¬
motorische Erregung verbunden, weniger natürlich mit dem Affekte der Un¬
zufriedenheit und des Querulierens.
Weitere klinische, vor allem praktische Schlüsse aus diesen Ergebnissen
zu ziehen, ist nicht möglich. Weder der Verlaufstypus noch die Prognose scheinen
durch die genannten Umstände wesentlich beeinflußt zu sein.
54
Symptome.
4. Affektsperrung.
Als Affektsperrung kommt zunächst und vor allem der Zustand der
Gleichgiltigkeit in Betracht. Die betreffenden Kranken sehen ihrer Zukunft
vollkommen „apathisch“ entgegen, sie sind ihrer Situation gegenüber scheinbar
völlig gleichgültig, — scheinbar, denn es empfängt der Beobachter doch den
Eindruck, als ob sich „hinter.den Kulissen“ ein reiches Innenleben abspiele;
die Patienten sind aufmerksam, sie verfolgen mit Augen und Miene alle Ge¬
schehnisse in der Umgebung und sind ablenkbar. Auf dies letzte Symptom
der Ablenkbarkeit wird in der Kraepelinschen Schule in differential¬
diagnostischer Beziehung gegenüber der Dementia praecox mit Recht be¬
sonderes Gewicht gelegt.
Es gibt Stuporzustände manisch-melancholischer Art, bei denen zeit¬
weise die Affektlage derartig verschleiert, oder eben der Affekt gestört,
„gesperrt“ ist, daß man sie weder der manischen noch der depressiven Schat¬
tierung zuweisen kann. Neben den Stuporzuständen sind hier Zustände traum¬
hafter, deliranter Art zu erwähnen, bei denen es häufig nicht zur Ausbildung
eines charakterisierten Affektes kommt. Diese Zustände entfernen sich von
denen echter Sperrung schon wieder insofeme, als doch Andeutungen von
Affekten vorhanden sind, nur sind sie oberflächlich, rasch wechselnd, inkonstant
und daher kaum zu definieren.
Schließlich ist noch der Affekt der Ratlosigkeit zu erwähnen, der eben¬
falls keine bestimmte Definition zuläßt, sondern wohl ebenso wie die vorher
erwähnten Zustände Krankheitsphasen charakterisiert, welche eine primäre
Denkhemmung und infolge deren in besonderer Intensität eine sekundäre
Affektsperrung herbeiftihren.
Klinische Besonderheiten bieten all die angeführten Symptome für unsere
Krankheit nicht. Man kann nur im allgemeinen anführen, daß es sich dabei
meist um Palle günstiger Prognose, soweit der einzelne Anfall in Betracht
kommt, handelt. Sie bilden einen sehr geringen Bruchteil (ca. 4 %) der Fälle
des Gesamtmaterials.
5. Affektwechsel.
Es ist jedermann bekannt, daß es seltene Fälle gibt, in denen der Krank¬
heitszustand ohne wesentliche Änderung und vor allem mit demselben Affekt¬
zustand j ahrelang unverändert bestehen bleibt. Das ist besonders der Fall
bei gewissen Fällen in höherem Lebensalter. Von den konstitutionellen Fällen,
bei denen ja während des ganzen Lebens ein und derselbe oft leicht pathologische
Affektzustand besteht, soll hier nicht die Rede sein.
Ich möchte weiterhin auf Fälle zurückkommen, bei denen der Affekt¬
zustand 8ehrhäufigwech8elt,so häufig, daß von einem konstanten Verhalten
nicht gesprochen werden kann. Wie wir später noch sehen werden, finden
wir bei manchen Fällen einen zeitlich genau abgegrenzten Verlauf, eine Peri¬
odizität, die beinahe kalendermäßig verläuft. Wir finden Schwankungen von
Tag zu Tag, von Woche zu Woche usw., wir finden Fälle, in denen zu einer
bestimmten Zeit fast nach der Uhr ein depressiver Zustand einem normalen
Platz macht.
Suchen wir nach sonstigen klinischen Eigentümlichkeiten dieser Fälle,
die unter meinem Material nicht allzu häufig sind, die aber im Leben der Psycho-
W illensstörung.
55
pathen, die für gewöhnlich die Anstalten nicht bevölkern, weit öfters angetroffen
werden, so sehen wir, daß sie keinerlei Verlaufsformen besitzen, die abgesehen
von dem Affektwechsel, charakteristisch wären, sie haben dieselbe Prognose
wie andere Fälle; kurz sie zeigen keinerlei Besonderheiten.
Es kommt vor, daß sich in längere Perioden gleichartigen Affektes Wochen
rasch wechselnder Affekte einschieben; vor allem findet sich diese Erscheinung
beim Übergang des lange konstanten Affektes der einen Richtung in den der
anderen. Jedenfalls kommt diesem rasch wechselnden Affekt keine besondere
Bedeutung dann zu, wenn die Krankheitsphase der gesunden Zeit zu weichen
beginnt.
Als ungünstiges Merkmal könnte man ansehen, daß solche Fälle, die dauernd
raschen, kurzen Wechsel während der Krankheit zeigen, schon konstitutionell
kurze Schwankungen leichtester Art in psychotischem Grade zu zeigen pflegen,
so daß man sagen kann, daß solche Personen überhaupt nicht zur Ruhe kommen.
Man muß vom praktischen Gesichtspunkt aus betonen, daß nur die Persön¬
lichkeiten im Leben wertvoll sind, die längere Phasen haben, die von Krank¬
heitssymptomen relativ frei sind.
b) Willensstörung.
Als ein weiteres Glied der Trias der von Kraepelin aufgestellten
Symptome ist die Willensstörung anzuführen. Dieselbe ist eine besonders
durch ihre Verflechtung mit anderen Symptomen für das manisch-depressive
Irresein wichtige Erscheinung. In den verschiedensten Psychosen finden sich
Störungen des Willens, am ausgeprägtesten vielleicht bei gewissen Formen
der Dementia praecox. Während aber bei der Dementia praecox gerade in den
Fällen mit ausgeprägter Willensstörung die Störung des Affekts, die gemütliche
Abstumpfung vorhanden ist, geht bei unseren Kranken die Willenstörung
mit einer Gefühlsbetonung, die einen «krankhaften Grad erreicht, einher.
Zweifellos ist die Willensstörung hier und dort eine grundsätzlich verschiedene.
Bei der Dementia praecox steht sie im Einklang mit der gesamten geistigen
Verödung, mit dem Prozeß, der anatomisch-histologisch seiner Aufklärung
entgegengeht; beim manisch-melancholischen Irresein erscheint sie abhängig
von der Denkstörung; hier ist es, wie wenn die rasche Aneinanderreihung der
Einfälle, der Gedanken dem Reiz gar keine Zeit ließe, auf die motorische Bahn
überzuspringen und Willensimpulsen äußerlich wahrnehmbaren Antrieb zu
geben oder bei geringerer Intensität einen ungeordneten, sprunghaften Ab¬
lauf des Antriebs verursacht.
Die Willensstörung im manisch-melancholischen Irresein äußert sich in
vermehrtem oder vermindertem Antrieb zu Handlungen, die dem jeweiligen
Einfall, dem jeweiligen Gedankengang angepaßt sind. So finden wir, ganz
verallgemeinert, bei manischen Kranken, bzw. bei Kranken mit psychomotori¬
scher Erregung, eine Vermehrung der Impulse, der Handlungen, bei melan¬
cholischen bzw. psychomotorisch gehemmten Kranken eine Verminderung
derselben. Während bei ersteren die normalen Hemmungen als Überlegung
in Wegfall gekommen sind, haben sie sich bei letzteren krankhaft angehäuft,
so daß wir von einer „Willenshemmung“ sprechen können, welche den Be¬
troffenen als Mangel an Entschlußfähigkeit zum Bewußtsein kommt oder als
56
Symptome.
solcher beobachtet wird. Wir finden häufig, daß allein diese eigenartige Willens¬
störung die Kranken quält; sie haben das Gefühl, ihren Pflichten nicht nach-
kommen zu können.
Man könnte hierin für eine ganze Reihe von Wahnideen, die von den
Kranken geäußert werden, den Ursprung finden. Bei den Krankheitsprozessen,
welche mit psychomotorischer Erregung einhergehen, kommt subjektiv das Ge¬
fühl der Willensstörung weniger prägnant zum Ausdruck als bei den gehemmten
Kranken. Wir hören wohl zuweilen, daß die Kranken äußern, sie könnten
alles unternehmen, sie fühlten sich allen Unternehmungen gewachsen; wir
sehen auch, daß Kranke in psychomotorischer Erregung allen Antrieben nach¬
geben; doch pflegt ihnen dies nicht so ganz zum Bewußtsein zu kommen.
Prüft man das ganze Krankheitsmaterial auf Störungen auf dem Gebiete
des Willens, so finden sich Angaben über solche nur bei einer verhältnismäßig
geringen Zahl von Fällen. Es ist selbstverständlich, daß bei psychomotorisch
erregten Fällen vielfach die Willensstörung nicht in dem Maße in die Augen
fällt wie bei den gehemmten Fällen; darum wird sie in den genannten Fällen
auch weniger häufig auf gezeichnet. Ich fand eine Willensstörung in ca. 15 °/ 0
aller Fälle; und zwar bestand dieselbe — den Grund habe ich eben schon be¬
rührt — fast immer in einer psychomotorischen Hemmung. Was das Lebens¬
alter der Kranken betrifft, so fand sich die Störung am häufigsten, nämlich
in 70 °/ 0 , bei Erkrankungen, die vor dem 60. Lebensjahre einsetzten. Es spielen
also WUlenshemmungen bei den Erkrankungen der Involution eine verhältnis¬
mäßig sehr geringe Rolle. Das größte Kontingent geben die rein zirkulären
Formen ab (60 %); geringer an Zahl sind die periodischen Depressionen (30 %)
vertreten.
Ähnlich gestalten sich die Verhältnisse, wenn wir die übrigen Krankheits-
erscheinungen berücksichtigen. Unter dem angeführten Material zeigen 65 °/ 0
der Fälle gemischt manische bzw. depressive Symptome. Bei 20 °/ 0 finden
sich reine Hemmungssymptome, während wir es bei 15 °/ 0 mit Ratlosigkeit
und einer mehr oder weniger erheblichen deliranten Verwirrtheit zu tun haben.
Was die Verteilung auf Geschlechter betrifft, so ist zu bemerken, daß
auf das weibliche Geschlecht eine geringe Mehrheit der einschlägigen Fälle
kommt, was wohl im wesentlichen mit der geringen Zahl der Involutionsde¬
pressionen zusammenhängt, welcher wir hier begegnen, während diese sonst
ein sehr großes Kontingent bei den Erkrankungen des manisch-melancholischen
Irreseins stellen.
Suchen wir die Resultate zusammenzufassen, so ergibt sich, daß die
Willenshemmung weitaus überwiegend Fälle zu betreffen pflegt, welche
zirkulären Verlauf und eine Mischung zwischen Hemmungs- und Erregungs¬
symptomen zeigen. Auffallend häufig findet sie sich ferner in den Fällen von
Ratlosigkeit und deliranter Verwirrtheit, bei denen wir häufig katatonische
Erscheinungen ausgebildet finden. Der Willenserregung scheint eine dia¬
gnostische oder symptomatische Wichtigkeit nicht in dem Maße wie der Willens¬
hemmung zuzukommen.
e) Denkstörung.
Die Denkstörung ist der dritte Teil der Trias, der besprochen werden
muß. Sie ist, wie ich glaube, als das wichtigste Symptom des manisch-
Denkstörung.
57
melancholischen Irreseins zu bezeichnen. Die Affekt- und besonders die Wil¬
lensstörung sind differentialdiagnostisch nur mit Vorsicht zu verwenden. Die
Denkstörung erscheint eindeutiger, vorausgesetzt daß die Kranken über ihren
Zustand einige Auskunft zu geben imstande sind.
Wir hören von den manisch-melancholischen Kranken, ihr Kopf sei so
voll, v sie hätten einen furchtbaren Gedankenandrang, die Gedanken fliegen
ihnen nur so durch das Gehirn, sie könnten sich gar nicht helfen, ein Gedanke
jage den anderen. Die Art der Einfälle ist je nach dem Affektzustande eine
sehr verschiedene; manchmal ist es nur Depressives, was in den Kopf kommt,
alles durcheinander, aus der Blindheit, aus der Zukunft, ohne Ordnung; ähnlich
werden manische Kranke mit heiteren usw. Einfällen versorgt. Es ist möglich,
sich aus den Gedanken allein ein Bild von dem Affektzustand zu machen. Der
Umstand, daß diese Gedanken im Höhestadium der Krankheit sich nicht zu
Vorstellungen verdichten, daß es den Kranken nicht möglich ist, eine Aus¬
lese zu treffen und den Andrang in geregelte Bahnen zu leiten und zu ordnen,
bringt die Kranken in eine Unruhe, aus der sie sich nicht heraushelfen können.
Eine derartige Unruhe der Gedanken, ein derartiges Andrängen von Ideen
aller Art finden wir bei allen manisch-melancholischen Kranken, sei es, daß
sie uns während der Psychose Auskunft geben, sei es, daß wir katamnestisch
nach Ablauf des betreffenden Stadiums darüber Auskunft erhalten.
Die psychomotorisch gehemmten Kranken, also im wesentlichen die
typisch Melancholischen, zeigen die Eigentümlichkeit, daß die Einfä'le sich
in einem Zirkel bewegen. Dieser Zirkel bringt es mit sich, daß dieselben Ideen
immer wiederkehren, was den Angstaffekt zu verstärken scheint und auch
den Kranken zum Bewußtsein kommt. Bei Erregten, also im wesentlichen
bei Manischen, ist der Zirkel entweder ein sehr großer, oder es geht, wie es meist
der Fallist, die Reihenbildung vollkommen verloren, es tritt also unbegrenzte
Ideenflucht ein. Das Symptom, wie es bei Gehemmten und Nichtgehemmten,
bei Melancholischen und Manischen zu beobachten ist, wird am besten als
innere Ideenflucht bezeichnet, im Gegensatz zu der Ideenflucht, bei welcher
infolge der sprachlich motorischen Erregung die Einfälle sprachlich zum Aus¬
druck kommen. Leichtere Fälle von innerer Ideenflucht zeigen noch eine ge¬
wisse Ordnung in der Reihenbildung. Gewisse Obervorstellungen über¬
wiegen und drücken den andrängenden Einfällen ihren Stempel nach Affektart,
nach der Art der Erinnerung, der sie entnommen sind, bzw. nach der Art früherer
Erlebnisse auf.
^Aschaffenburgs *) experimentelle Studien über die Assoziationen
bzw. Ideenflucht haben ergeben, daß manische Kranke nicht wie es bei ober¬
flächlicher Betrachtung scheinen könnte, eine Erhöhung der Aufmerksamkeit
zeigen, Bondern daß dieselbe gestört ist, insofeme als eine erhöhte Ablenk¬
barkeit nachzuweisen ist. Nach seinen Ergebnissen verändert die manische
Erregung die Verbindung der Vorstellungen. Die engen begrifflichen Beziehungen
zwischen Reizwert und Reaktion sind gelockert und durch solche Assoziationen
ersetzt, die der langgewohnten Übung ihre Entstehung verdanken, bzw. durch
sprachliche Reminiszenzen. Mit steigender Erregung treten an die Stelle der
*) Asoh affen bürg. Experimentelle Studien über Assoziationen. Kraepelin,
Psychol. Arb. 4.
Symptome.
58
inhaltlichen Assoziationen solche nach dem Klange. Es besteht die Neigung
zu rhythmischer Gliederung, ferner zur Bildung längerer Assoziationsreihen
aus dem gleichen Gebiete, besonders in Aufzählung von Gegenständen. Während
der depressiven Phase finden sich keine Abweichungen des Assoziationsinhaltes
von der Norm. Die Dauer der Assoziationen ist während der Depression ver¬
längert, während der manischen Erregung in keinem Falle verkürzt. Die Ideen-
flucht ist eine Teilerscheinung der allgemeinen Erleichterung der psychomotori¬
schen Vorgänge. Die Leistungsfähigkeit manischer Kranker ist nur
eine quantitative.
Liepmann 1 ) kommt auf Grund von Überlegungen zu dem Schlüsse,
daß die Ideenflucht der Ausdruck großer Unbeständigkeit bei erheblicher
Energie der Aufmerksamkeit ist. Im Aufmerksamkeitsfeld des Manischen
findet ein besonders schneller Wechsel statt, jede Vorstellung wird schneller
verdrängt. Die Ideenflucht ist dadurch charakterisiert, daß die Wirksamkeit
der Obervorstellungen fortfällt oder stark abgeschwächt ist: daß immer ein dem
letzten oder einem der letzten Glieder assoziativ innig verknüpftes oder durch
einen Sinneseindruck erwecktes Glied folgt, so daß auf Schritt und Tritt jenes
Abspringen erfolgt. Der Ideenflüchtige zeigt den höchsten Grad von Unbe¬
ständigkeit: Jedes Auftauchende bemächtigt sich der Aufmerksamkeit. Die
Ideenflucht ist keine psychomotorische, sondern eine intrapsychische
Störung. Die Selektion, die im geordneten Denken stattfindet, fällt weg.
Eine Scheidung der Denkstörung nach Hemmung und Erregung ist
meines Erachtens nicht durchführbar und wäre unrichtig. Die Denklähmung
ist ein Kardinalsymptom des manisch-melancholischen Irreseins. Ich glaube,
daß sie das wesentlichste Symptom der Krankheit ist, welche man danach
als „Inkohärenzpsychose“ bezeichnen könnte.
In nicht seltenen Fällen wird von den Kranken, besonders in Fällen mit
psychomotorischer Hemmung, über „Leere“, „Verödung“ ihres Denkens ge¬
sprochen. Sucht man diesen Gefühlen näher nachzugehen, so erfährt man,
daß das Gefühl der Leere dadurch zustande kommt, daß der Kranke es zu keiner¬
lei Vorstellung mehr bringt, die Einfälle gehen unüberdacht weiter, die Ein¬
wirkung auf den andrängenden Stoff und die Zergliederung oder Zusammen¬
fassung desselben ist verloren gegangen. Hauptsächlich begegnen wir diesem
Symptom der Verödung, abgesehen von Fällen manischen Stupors, bei schwer
gehemmten depressiven Kranken.
Die Aufmerksamkeit, welche das zielbewußte Hinlenken . der
Sinnesorgane auf äußere Eindrücke bedeutet, ist bei den manisch-melan¬
cholischen Kranken, wie Aschaffenburg im Gegensatz zu Liepmann
sagt, zweifellos herabgesetzt. Es handelt sich bei unseren Kranken gerade
darum, daß die Eindrücke wahllos aufgenommen und ganz oberflächlich ver¬
arbeitet werden, ohne daß das Bewußtsein wesentlichen Anteil hat.
Was die Assoziationen der Manisch-Melancholischen betrifft, so hat
sich damit insbesonders Asch aff enburg und Isserlin beschäftigt. Ersterer
fand bei manischen Erregungen Klangassoziationen und Neigung zu rhyth¬
mischer Gliederung bei erhöhter Ablenkbarkeit. Die Depressiven zeigten in-
') Liepmann, Über Ideenflucht. Begriffsbestimmung und psychologische Analyse.
Zwangslose Abhandlungen von Ho che, 1904.
Denkstörung.
59
haltlich keine Abweichungen der Assoziationen von der Norm. In der De¬
pression erschien die Assoziationszeit verlängert, in der Manie nicht verkürzt.
Is Berlin 1 ) stellte bei Depressiven fest, daß der Vorstellungswechsel bei aus¬
geprägter Denkhemmung sehr eingeschränkt sein kann. Bei der Manie fanden
sich viele Klangassoziationen und fast regelmäßig auffallendes Auftreten von
Weiterschweifen. Oft hatten Manische sehr kurze Reaktionszeiten; sie produ¬
zierten in der Zeiteinheit mehr Einzel Vorstellungen als Gesunde. Leicht agi¬
tierte Depressionen zeigten starke Anhäufung egozentrischer Beziehungen.
Eserscheint überaus wahrscheinlich, daß die Stuporformen, welchemit
Verwirrtheit kombiniert sind, den höchsten Grad der Krankheit dar¬
stellen, einen wesentlich höheren Grad als die manischen Föhnen, in denen Ver¬
wirrtheit zutage tritt, bei denen es aber zu sprachlichen Äußerungen, meist ideen¬
flüchtiger Art, kommt. Hier sind die Kranken noch imstande, aus dem an¬
drängenden Gedankenmaterial unbewußt auszuwählen und das Aufgefaßte
sprachlich motorisch in Äußerungen umzusetzen. Die geschilderten psychi¬
schen Äußerungen finden wir so ausgeprägt bei keinem anderen Krankheitsbild,
auch nicht bei manischen und depressiven Zuständen, die in der Erscheinung
von psychomotorischenStörungen an Manisch-Melancholische am meisten erinnern,
wie bei Dementia praecox und Epilepsie. Am besten zu verwerten scheint
mir dieses differentialdiagnostisch außerordentlich wichtige Symptom der
inneren Ideenflucht gegenüber Fällen von arteriosklerotischer Depression, von
Melancholie alten Stils und anderen präsenilen und senilen Psychosen. Bei
Hysterischen und Psychopathen findet sich die genannte Erscheinung nicht
selten andeutungsweise.
In dem von mir verwerteten Material konnte ich in 52 % der Fälle für
eine ausgesprochene Störung der Denktätigkeit Anhaltspunkte finden. Sie
verteilen sich in entsprechender Weise auf weibliche und männliche Erkran¬
kungsfälle. Dem Alter nach fanden sich die meisten Fälle von Denkstörung
zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr; sie werden in den nächsten Dezennien
etwas weniger, um dann mit dem 60. Lebensjahr auf 10% herabzusinken.
Weitaus die größte Zahl (61 %) betrifft Fälle mit zirkulärem Erkrankungs¬
typus; 18 % kommen auf periodisch melancholische, 8 % auf periodisch mani¬
sche Formen. Die Involution mit zirkulären und depressiven Formen ist
nur mit 10 % beteiligt.
Die Auffassungs- und Merkstörungen manischer Kranker hat Wolfskehl 2 )
experimentell geprüft. Nach seiner Ansicht zeigen manische Kranke eine deutliche
Herabsetzung der Auffassungs- und Mejkleistung, wenn auch
große persönliche Unterschiede bestehen. Ausgeprägte solche Störungen können
bei manischen Kranken noch nachweisbar sein, wenn die klinischen Zeichen
der Krankheit schon fast völlig geschwunden sind; umgekehrt können sie schon
• in der Depression der Entwicklung manischer Erregung längere Zeit voran¬
gehen.
*) Isserlin, Untersuchungen an Manisch-Depressiven. Monatssohr. f. Psych. u.
Neurol. 22.
*) Wolfskehl, Auffassungs- und Merkstörungen bei manischen Kranken. Kraepe-
lin, Psyohol. Arb. 5.
60
Symptome.
Ablenkbarkeit (Tafel 10 und 11).
In organischem Zusammenhang© mit der Denkstörung steht die Erschei¬
nung der erhöhten Ablenkbarkeit, welcher wir bei manischen, aber auch
bei depressiven Formen begegnen. Mir scheint sie eine unmittelbare Folge
der bestehenden Denkstörung zu sein. Der Gedankenandrang ist nicht geordnet,
er ist an keine Bahn gebunden. Wird nun von außen her plötzlich der Wirr¬
warr des Andranges durch einen bewußten oder unbewußten sinnlichen Ein -
druck, er mag auf dem Gebiete des Gehörs, des Gesichts, des Geruchs usw.
liegen, gestört, so wird die andrängende Masse plötzlich unterbrochen, die Auf¬
merksamkeit abgelenkt, es erfolgt dann", schon unbewußt, eine Reaktion,
welche als Ablenkung zu bezeichnen ist.
In den Fällen schwersten Stupors ist die Erscheinung der erhöhten
Ablenkbarkeit nicht nachzuweisen; es ist aber wahrscheinlich, daß sie
nur durch die schwere psychomotorische Hemmung nach außen hin nicht
projiziert wird, so daß der Beobachter sie nicht wahmehmen kann. Sie fehlt
bei Fällen von Dementia praecox, denen gegenüber dieses Symptom differential-
diagnostisch zu verwerten ist. Die erhöhte Ablenkbarkeit ist bei meinem
Material in ca. 20 % der Fälle von Denkstörung nachzuweisen, also in ca. 10 %
des gesamten Materials. Sie ist fast durchweg an Fälle zirkulären Charakters
gebunden, findet sich nur in wenig Fällen depressiver Färbung, in etwas mehr
Fällen rein manischer Färbung. In der Involution scheint die erhöhte Ablenk¬
barkeit außerordentlich selten zu werden; meist fand sie sich bei Erkrankungen
im Alter von 20—30 Jahren. Dabei ist zu erwähnen, daß früher auf diese
Störung nicht oder nur sehr wenig geachtet ist, so daß es sicher ist, daß eine
neuere Aufstellung ihr Vorhandensein in erheblich mehr Fällen zeigen würde.
Der oben schon behandelte Affektzustand der Ratlosigkeit ist an
die Störung der Denktätigkeit ziemlich häufig, nachweislich in 12 °/ 0 der Fälle,
gebunden. Es ist das nicht zu verwundern, scheinen doch die Fälle von Rat¬
losigkeit mit tiefgehender Denkstörung, vielfach mit nicht unerheblicher Ver¬
wirrtheit verbunden zu sein.
Der Nachweis der Ablenkbarkeit im psychologischen Experiment
wurde schon vor geraumer Zeit versucht. Kraepelin sagt in seiner grund¬
legenden Arbeit über den psychologischen Versuch in der Psychiatrie x ): „Wenn
wir die Fähigkeit, fremde Eindringlinge aus dem Ablaufe der inneren Tätigkeit
femzuhalten, als unsere geistige Widerstandsfähigkeit bezeichnen, so wird
diese wichtige Eigenschaft beim einzelnen Menschen offenbar in umgekehrtem
Verhältnisse zu seiner Ablenkbarkeit stehen. Für die letztere können wir ein
Maß finden in der Herabsetzung der Arbeitsfähigkeit, welche durch bestimmte
äußere störende Einwirkung herbeigeftihrt wird. Die geistige Ge¬
wöhnungsfähigkeit muß man ebenfalls als eine Grundeigenschaft der Per¬
sönlichkeit betrachten, welche* wahrscheinlich in sehr nahen Beziehungen zu
der früher besprochenen Widerstandsfähigkeit steht. Als Maß dieser Gewöhnungs¬
fähigkeit würde die Steigerung der Arbeitsleistung nach längerer Einwirkung
eines bestimmten störenden Reizes zu gelten haben, während die Widerstands¬
fähigkeit durch den umgekehrten Wert der Arbeitsverminderung gemessen
würde, welche der störende Einfluß im Beginn seiner Wirksamkeit herbeiführt.
A ) Psychologische Arbeiten von E. Kraepelin, 1.
Denkatörung.
61
Im Anschluß an diese Ausführungen hat R&gnar Vogt 1 ) mit ver¬
schiedenen Versuchsanordnungen gearbeitet. Am brauchbarsten stellten sich
Additionsversuche heraus, in denen ohne Niederschreiben der Summenzahl
reihenweise bis zu 100 addiert wurde. Dabei wurde ein geläufiges Gedicht
hergesagt. Vogt fand eine Herabsetzung der Arbeitsleistung um 68 °/ 0 . Außer¬
dem ließ er unter Einschiebung von Pausen fortlaufend addieren und durch
Metronomschläge stören; schließlich stellte er die Aufgabe, beim Hören des
Metronomschlages einen Punkt machen. Das bloße Anhören von Metronom-
Schlägen war ohne nennenswerte Wirkung, während bei gleichzeitigem
Niederschreiben eines Punktes eine Herabsetzung von ca. 16 % erfolgte.
In der Überlegung, daß bei Kranken manisch-melancholischer Art Ver¬
suche möglichst einfach zu gestalten sind, weil sowohl gehemmten als auch
erregten Kranken nur das Allereinfachste an Überlegung und Aufmerksamkeit
zuzumuten ist, ferner weil ich Vergleiche mit früher durchgeführten und später
zu besprechenden Versuchen zur Verfügung hatte, habe ich zur Untersuchung
der Ablenkbarkeit das Additionsverfahren nach Kraepelin angewendet.
Es wurden einstellige Zahlen fortlaufend addiert und die Summe je zweier
Zahlen notiert. Während die Versuche an manisch-melancholischen Kranken
10 Tage währten, begnügte ich mich hier mit 8, weil nur so eine gleichmäßige
Versuchsanordnung gesichert war. Es wurde an jedem 2. Tage eine Pause
von ö Minuten in die Arbeitszeit von 10 Minuten eingeschoben. Am 3. und 4.,
ferner am 7. und 8. Tag wurden die Ablenkungsversuche gemacht, indem in
der 3. und 4., ferner in der 8. und 9. Minute das Metronom in einem Tempo
in Bewegung gesetzt wurde, das rascher war, als erfahrungsgemäß das Rechen¬
tempo verlief, so daß die Glockenzeichen, wie angenommen wurde, störend
auf die Arbeit wirken mußten. Die Versuchsanordnyng war also folgende:
P. P.
Tag: 1. 2. 3. 4.
A. A.
P. P.
6. 7. 8.
A. A.
Ablenkung = A
Pause — P
Das untersuchte Material bestand mit einer Ausnahme aus Frauen
verschiedener Bildungsstufe; es waren 6 psychomotorisch erregte Manische,
5 z. T. leicht gehemmte Melancholische und zum Vergleiche 6 Gesunde (Kran¬
kenschwestern). Es wurde gemessen: 1. Antrieb vor der Pause, 2. Antrieb nach
der Pause, 3. Unmittelbare Pausenwirkung, 4. Allgemeine Pausenwirkung,
5. täglicher Übungsfortschritt, 6. Durchschnittsleistung in 5 Min. Die Tabellen
zeigen a) die Resultate des ganzen Versuches, b) die Resultate für die Tage
mit und ohne Ablenkung in je 2 nebeneinanderstehenden Säulen getrennt.
Zum Vergleiche dienen die Tabellen der später zu erwähnenden Versuche.
1. Antrieb vor der Pause. Der Antrieb bei Gesunden war etwas
größer wie bei den Kranken, der Wille zur Arbeit war demnach ein besserer.
Bei den Kranken war die Stärke des Antriebes ähnlich wie bei den erregten
Manien und gehemmten Melancholien der folgenden Untersuchungen ohne
Ablenkung. Der geringere Antrieb bei Manischen und Melancholischen, der
%
l ) R. Vogt in Kraepelins psychol. Arb. 3.
62
Symptome.
insbesondere bei den letzteren nicht unbedeutend ist, beruht darauf, daß die
Kranken, welche alle besonnen waren, sich sehr rasch auf die Reihenfolge der
Versuchstage einstellten; so kann es nicht wundemehmen, daß besonders die
Melancholischen angesichts der bevorstehenden, ihnen schwierig erscheinenden
Aufgabe mit einem Antrieb antworteten, der sogar zu einem vollständigen
Fehlen bis zu einem geringen Minus führte. Die Manischen und Melancholischen,
besonders letztere, gingen also mit einer gewissen nicht unbedeutenden Willens¬
hemmung an die Aufgabe heran.
2. Antrieb nach der Pause. Es sinkt der Antrieb sowohl bei
Gesunden wie bei Manischen. Der steigende Widerwille an dem Versuch
im ganzen zeigt sich bei Gesunden daran, daß der Nichtablenkungsversuch
die Minusresultate ergibt, während der Ablenkungsversuch wohl mit Hilfe
einer dem Einfluß des Willens entzogenen Anregung immerhin noch geringen
Antrieb zeitigt. In höherem Grade wie bei Gesunden ist bei den Manischen
eine Gleichgiltigkeit dem ganzen Versuch gegenüber zu konstatieren; die An¬
regung kommt nicht zum Ausdruck; während die Melancholischen als die Be¬
ständigeren im ganzen dieselben Verhältnisse zeigen wie beim Antrieb vor der
Pause.
3. Direkte Pausenwirkung. Sie besteht aus zwei Komponenten,
nämlich der Erholungswirkung durch die Pause und dem erwähnten An¬
trieb nach der Pause. Dem entsprechen die Resultate. Die Gesunden und
Melancholischen zeigen entsprechend höhere Werte; bei den Iranischen
kommt sichtlich die starke allgemeine Pausenwirkung mit zum Ausdruck.
4. Allgemeine Pausenwirkung. Die Pausenwirkung beruht auf
der Erholung während der Pause, welche durch die Ermüdung infolge der
Arbeit vor der Pause bewirkt wird. Je größer das Resultat der Erholung
ist, desto größer war die Ermüdung, bzw. die geleistete Arbeit. Die Ge¬
sunden unserer Versuchsreihe zeigen eine geringere Pausenwirkung als sonst.
Vergleichen wir die Versuche mit und ohne Ablenkung, so ergibt sich daraus,
daß die geringere Pausenwirkung bei Gesunden auf das Minus in den Versuchen
ohne Ablenkung zurückzuführen ist. Es scheint an der Art des Materials von
Gesunden zu liegen, daß diese bei den hier zu besprechenden Versuchen nicht
mit der Hingabe sich bemühten, wie bei den sonstigen. Dafür spricht auch die
geringere Leistung. Außerdem liegt es nahe, anzunehmen, daß die Gesunden
rasch die Versuchsanordnung übersehen; sie reagieren auf die Tage mit Ablenkung,
als denen der größeren Anstrengung, mit größerer Ermüdung, d. h. die größere
Arbeit strengt mehr an, und darauf haben sie sich von vornherein eingestellt.
Die Manischen verhalten sich im ganzen wie' die erregten Manien auch
sonst. Infolge des Versagens der Gesunden tritt bei ihnen die Pausenwirkung
vergleichsweise besonders kräftig hervor. Die Melancholien haben eine
geringe Pausenwirkung, die aus den sonstigen Versuchen bei gehemmten Me¬
lancholien schon bekannt ist. Die Hemmungen überdauern die Pause. Trotz
aller Willensanstrengungen in den Antrieben werden sie nicht überwunden.
Die Manischen sowohl wie die Melancholischen zeigen im Ablenkungsversuch
bei Ablenkung geringere Pausenwirkung wie ohne dieselbe. Bei den
Manischen ist die Differenz kleiner wie bei den Melancholischen; das Verhalten
steht im scharfen Gegensatz zu den Gesunden. Wir sehen also hier im
Denkstörung.
63
kleinen dasselbe Verhalten bei beiden Gruppen, das uns von Melancholischen
bekannt ist, nämlich, daß Hemmungen eingetreten sind. Deutlich wird dies
Verhalten durch die Betrachtung der Leistungen, die durchweg an den ab¬
gelenkten Tagen größer sind wie an den anderen, also kann nicht etwa eine
verminderte Leistung verantwortlich gemacht werden. Die Ablenkung hat so
wohl bei Manischen wie bei Melancholischen, bei letzteren allerdings in erheblich
größerem Maße, Hemmungen mit sich gebracht, welche sich graphisch darstellen
und ziffernmäßig berechnei* lassen. Das Verhalten ist genau umgekehrt wie bei
Gesunden; letztere haben die geringe Pausenwirkung an den Tagen ohne Ab¬
lenkung, die Melancholischen fast durchweg an den Tagen mit Ablenkung.
Bei ersteren ist es eine mehr oder weniger große aktive Unlust, welche durch
die Anregung an den Ablenkungstagen überwogen wird, bei letzteren ist es
eine Hemmung, welche die Anregung unterdrückt und besteht bei unge
minderter Leistung.
6. Täglicher Ubungszuwachs. Die Verhältnisse bei den gesunden
Versuchspersonen entsprechen denen bei den sonst untersuchten Gesunden.
Ebenso entsprechen die Manischen und Melancholischen den früher unter¬
suchten gleichzusetzenden Gruppen. Im ganzen ist der Fortschritt der
Übung bei Manischen kleiner wie bei Gesunden und bei den Melancholischen
kleiner wie bei den Manischen. Die Unterschiede sind nicht groß. Diese Tat¬
sache ist differentialdiagnostisch von großer Bedeutung, 'findet sich doch bei
einer Gruppe von Nervenschookkranken ein negativer Übungszuwachs,
d. h. derselbe fehlt vollständig und zeitigt eine absteigende Kurve der
Leistungen.
6. Die Durchschnittsleistung in .5 Minuten ist bei den Gesunden
ein geringes unter dem Durchschnitt der früher untersuchten Gesunden,
was ohne Bedeutung ist. Die Leistung der Manischen steht etwas höher wie
die der Gesunden und um ein nicht geringes höher wie die der Melancholi¬
schen. Das erstere ist durch die außergewöhnlich hohe Leistung einer gebil¬
deten und intelligenten Kranken (letzte Säule der Manischen auf der Tafel 10 e)
bedingt. Abgesehen von dieser Kranken würde die Leistung der Manischen
wie bei früheren Versuchen etwas geringer sein als die der Gesunden. Daß sie
größer ist wie die der Melancholischen entspricht ebenfalls früheren Ver¬
suchen. Zwischen dem Ablenkungsversuch und dem Versuch ohne Ablenkung
bestehen keine allzugroßen Unterschiede. Daß die Leistungen bei letzterem
größer sind beruht auf dem Übungszuwachs. Immerhin zeigen die Manischen
einen größeren Unterschied wie die anderen, was aus den Einzeldarstellungen
sehr deutlich hervorgeht. Diese Erscheinung spricht, da mit der größeren
Leistung im Ablenkungsversuch keine größere Pausenwirkung verbunden ist,
wieder für die Annahme einer Störung, welche die Leistung nicht beeinträchtigt,
sondern nur in einer geringeren Pausenwirkung durch die Ablenkung zutage tritt.
Zusammenfassung. Sowohl Gesunde wie Kranke gingen an den
Versuch mit einem gewissen Widerwillen heran; besonders bestand bei den
Melancholischen starke Abneigung gegen den Ablenkungsversuch an den
entsprechenden Tagen. Während des Versuchs zeigen die Gesunden an den
Ablenkungstagen einen, wenn auch geringen, Antrieb, der wohl anregenden
Einflüssen zuzuschreiben ist. Die Ermüdbarkeit ist bei den Gesunden sehr
64 Symptome.
gering, besonders an den Tagen ohne Ablenkung; an den Tagen mit Ablenkung
erscheint sie größer.
Die Manischen sind ermüdbarer wie die Gesunden, die Melancholischen
haben Hemmungen, welche die erholende Pausenwirkung aufheben. Die Ab¬
lenkung hat die Hemmungen bei den Melancholischen gesteigert, in geringem
Maße bei Manischen herbeigeführt. Die Übungsfähigkeit ist bei allen Kranken
erhalten. Die Leistungen der Manischen sind im Ablenkungsversuch verhält¬
nismäßig größer wie bei den anderen Gruppen; dabei besteht verringerte Er¬
müdbarkeit, welche also nur durch andersartige Störungen, der Ablenkung,
verursacht sein kann.
Demnach zeigt sich die Wirkung der Ablenkung bei Ge¬
sunden in erhöhter Ermüdbarkeit, bei Manischen und Melan¬
cholischen bei verhältnismäßig entsprechenden Leistungen
in einer hemmenden Störung, welche als Ablenkbarkeit an¬
zusprechen ist und in ganz besonders starkem Maße die Me¬
lancholischen betrifft.
Die Tafel 14b—d zeigt die kurvenförmige Darstellung der Leistungen.
Besonders ins Auge fallend ist das Zurückbleiben der 3. Kurve bei den
Gesunden und Manischen schon im Beginn.
Im ganzen zeigen die Resultate, wenn man die Einwirkung der Ablenkung
in Betracht zieht, ganz ähnliche Verhältnisse, wie sie die Versuche an Manisch-
Melancholischen im ganzen ergeben, von denen später ausführlich die Rede
sein wird.
d) Störung der Psyehomotilität.
Das psychisohe und motorische Verhalten der Kranken ist unter dem
Begriffe der Psyehomotilität zusammengefaßt worden; es bezieht sich auf
Äußerungen der Erregung und Hemmung. Kraepelin hat die Störung des
psychomotorischen Verhaltens als ein wichtiges Symptom des manisch-melan¬
cholischen Irreseins auf gestellt. Selbstverständlich finden sich psychomotorische
Störungen bei den meisten psychischen Erkrankungen; im allgemeinen ist
jedoch bei diesen die psychomotorische Störung keine für längere Zeit ein¬
heitliche. Gerade dies aber scheint ein Haupterfordemis zu sein, um von
der Störung im Sinne Kraepelins zu sprechen. Die Einheitlichkeit besteht
in einem zeitlichen Parallelgehen psychischer und motorischer Störungen,
welche sich auch in ihrer Stärke zu gleichen pflegen. Es ist also nicht anzunehmen,
daß eine psychische Hemmung einem normalen motorischen Verhalten und
umgekehrt entspricht. Dasselbe gilt für den Begriff der Erregung. Wohl aber
finden wir das Bestehen einer psychischen Hemmung bei motorischer Erregung
und entsprechende andere Variationen in selteneren Fällen.
Wir unterscheiden demnach:
1. Psychische Hemmung — motorische Hemmung;
2. Psychische' Hemmung — motorische Erregung;
3. Psychische Erregung — motorische Hemmung;
4. Psychische Erregung — motorische Erregung.
Zu dem Typus einer Depression im manisch-melancholischen Sinne gehört
die psychomotorische Hemmung, zu dem einer Manie die psychomotorische
Störung der Psychomotilität.
06
Erregung. Man kann sich nun aus dem Verhalten der Psychomotilität ohne
weiteres eine große Zahl von „Mischformen“ konstruieren, deren Vorkommen
tatsächlich zu beobachten ist.
Die psychische Hemmung ist im wesentlichen eine Denkhemmung.
Diese trägt, wie ich oben schon ausgeführt habe, fast immer nachweisbar im
Grunde den Charakter einer außerordentlich gesteigerten inneren Ablenkbarkeit,
so daß man besser von einer Denkstörung im allgemeinen sprechen wird. Kommt
diese Denkstörung sprachlich motorisch oder sonst durch Ausdrucksbewegungen
(Schrift) nicht zum Ausdruck, so erscheint sie uns als Hemmung.
Eine zweite Art psychischer Hemmung, abhängig von der Denkstörung,
besteht in der Willensstörung mit dem Charakter der Entschlußunfähigkeit.
Man kann sich vorstellen, daß trotz des Bestehens der Entschlußunfähigkeit
eine motorische Erregbarkeit vorhanden ist, welche sich eben in einfachsten
zwecklosen und ungeordneten motorischen Äußerungen zu erkennen gibt. Solche
Mischzustände spielen aber doch nicht die symptomatologische Rolle, die man
ihnen theoretisch beimessen möchte. Ich glaube demnach, wir tun gut daran,
die psychomotorische Erregung und Hemmung als je einen Gesamtzustand
zu behandeln; es ist eben kaum möglich* von einer psychischen Hemmung zu
sprechen, wenn motorische, besonders sprachlich motorische Hemmungs¬
erscheinungen vorhanden sind.
Doch ist zu konstatieren, daß es Fälle gibt, in denen bei sonstiger motori¬
scher Hemmung eine sprachlich motorische Erregung besteht, durch welche
ideenflüchtige Äußerungen produziert werden. Soll man nun solche Zustände
als psychomotorische Hemmungs- oder Erregungszustände auffassen? Ich
glaube, man kann sie keiner der beiden Rubriken einreihen; man wird sie
eben als Zustände bezeichnen, in denen neben Erscheinungen psychomotorischer
Hemmung sprachlich motorische Erregung besteht.
Als Beweis der Richtigkeit der Aufstellung eines Kardinalsymptoms in
der psychomotorischen Störung mag angeführt sein, daß von einem Ge¬
samtmaterial von 425 Fällen 368 Fälle, also 87 °/o der Fälle, ausgeprägte psycho¬
motorische Störungen auf weisen. In den übrig gebliebenen Fällen handelt es
sich um chronisch leichte, depressive und mänische Zustände oder um Fälle,
bei denen Beobachtungen bezüglich der Psychomotilität nicht aufgezeichnet
worden sind, obwohl sie vielleicht in nicht sehr ausgeprägtem Maße vorhanden
gewesen sind.
Die folgenden Erörterungen ergeben sich aus dem beigegebenen Schema,
das Prozentzahlen enthält. Die Symptome und Erscheinungsformen beziehen
sich auf den ganzen Krankheitsverlauf mit all seinen Phasen, soweit sie bekannt
sind, nicht etwa auf eine Krankheitsphase. Als Alter wurde das Jahr ange¬
nommen, in dem die letzte Krankheitsphase nach Ablauf eines krankheits¬
freien Stadiums begonnen hat.
Es zeigt sich, daß die häufigste psychomotorische Störung die Er¬
regung ist, was um so deutlicher hervortritt, wenn wir von den Fällen, die
Erregung und Hemmung zeigen, noch die Erregung als bei der Hälfte der
Fälle bestehend herausheben. Diese Erfahrung steht in starkem Gegensätze
dazu, daß bei Beginn der Krankheit, besonders im jugendlichen Alter die psycho¬
motorische Hemmung im Vordergründe steht (Abb. 7, S. 9). Auffallend ist das
Übergewicht der weiblichen Fälle bei der psychomotorischen Hemmung;
&ehm, Dm manisch-melancholische Irreselo. ^ 6
66
Symptome.
sie übertreffen die männlichen um das Fünffache. Im Alter sind die Differenzen
nicht sehr erheblich; es ist klar, daß im höheren Alter das Bestehen beider
Arten psychomotorischer Störung nach Durchlaufen vielfacher Phasen eine
größere Rolle spielt. Im Greisenalter besteht nach dieser Aufzeiclmung eine
größere Neigung zu Erregung als zu Hemmung; eine Beobachtung, die mit
der täglichen Erfahrung durchaus übereinstimmt.
Ps ych omotilität
(in % ausgedrückt).
•
t
o
O
4
•
c3
02
Alter
Affekt-Sympt.
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Erregung und Hem¬
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29
20
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»
34
1
43
8
11
43
4
42
9
*) In Prozent der Gesamtzahl der Fälle des manisch-melancholischen Irreseins.
**) Neben anderen manisch-melancholischen Symptomen.
Von Wichtigkeit ist der Nachweis, daß mit der Hemmung ebenso oft
ein manischer und depressiver, wie ein nur depressiver Symptomenkomplex
verbunden ist.
Um den experimentellen Nachweis der psychomotorischen Störung
bei manisch-melancholischen Kranken zu erbringen und die Art derselben
zu ergründen, wurden von der Kraepelinsehen Schule eine Reihe von Arbeiten
gemacht.
So fand Lefmann 1 ) bei Ergographenversuchen, daß bei zirkulären
Depressionszuständen sich im allgemeinen eine deutliche Verlangsamung der
Hubbewegung, eine Verringerung ihrer Höhe und eine Zunahme der Ermüdungs¬
erscheinungen einstellt. Die Wahlreaktionen sind mehr oder weniger stark
verlängert; in einzelnen Fällen, anscheinend in Verbindung mit manischen
Zügen, finden sich dagegen verkürzte Wahlreaktionen mit Zunahme der Fehl¬
reaktionen. Derselbe Autor fand die Schriftzüge und Schreibgeschwindigkeit
bei Depressionszuständen durchschnittlich vergrößert, die Pausendauer dagegen
verlängert. Der Schreibdruck gab sehr verschiedene Resultate. Bei fortge¬
setztem Schreiben schienen Größe und Schnelligkeit der Schrift stärker zu
wachsen als bei Gesunden.
A. Groß 2 ) fand bei Kranken mit steigender Erregung psychomotorischer
Art mangelhafte Korrektheit bei der Ausführung der Schriftzeichen. Der
Ablauf der Schreibbewegung ist ein sehr unsteter. Die Schreibbewegungen
beginnen brüsk und unvermittelt.
x ) Lefmann, Über psychomotorische Störungen in Depressionszuständen. Kraepe-
lin, Psychol. Arb. 4.
2 ) A. Gro ß, Untersuchungen über die Schrift Gesunder und Geisteskranker. Kr aepe¬
lin, Psychol. Arb. 2.
Störungen der Vorstellung.
67
e) Störungen der Vorstellung.
Neben den krankhaften Störungen des Denkens, Willens, Affektes und
der Psychomotilität sind Störungen des Vorstellungslebens im manisch-melan¬
cholischen Irresein wie bei fast allen Psychosen hervorragend an der Zusammen¬
setzung des gesamten Krankheitsbildes beteiligt. An erster Stelle sind die
W ahnvorstellungen zu erwähnen. Dieselben stehen bei unserer Erkrankung
in direktem Zusammenhänge mit der Affektstörung, sie pflegen dieser parallel
zu gehen und ihr sekundär zu folgen, — ein wesentlicher Unterschied der De¬
mentia praecox gegenüber, in der die Wahnideen nicht in Zusammenhang
mit dem Affekte zu bringen sind, bzw. bei der eine Differenz des Inhalts
der Wahnideen und der Art des Affektes besteht.
1. Wahnvorstellungen.
Sie treten bei allen Fällen des manisch-melancholischen Irreseins mehr
oder weniger deutlich hervor; vielfach werden sie von den Kranken nicht präzise
bezeichnet und schlummern dann unter dem Gefühle der Insuffizienz, bzw.
der gehobenen Stimmung; in ca. 78% der Fälle konnte ich sie nachweisen.
Verhältnismäßig stark ist die Beteiligung des weiblichen Geschlechtes,
so daß hier ein Verhältnis von männlich : weiblich wie 1: 3 besteht. Die Be¬
teiligung der einzelnen Arten von Wahnvorstellungen in bezug auf Zahl und
Geschlecht gibt folgende Tabelle.
7«
Versündigungs¬
wahn
Selbstvorwürfe
Zukunftssorgen
Hypochondrie
s>
r
NihiL-Wahn-
vorstellungen
Persönlichk.-
Veränderungs-
w&hn
Größenwahn
Gesamtzahl der Fälle . . .
15
24
1
22
*
22
5
4
17
Fälle mit Wahnvorstellungen.
20
31
28 !
12
28
6
6
22
Verhältnis von männlich :
weiblich.
1 : 2
1 : 2
1 : 2
1 : 2
11:2
1:2
1:9
8:2
Auffallend ist die Verteilung auf das Lebensalter; während wir die
meisten Fälle des manisch-melancholischen Irreseins überhaupt in dem Alter
von 20—40 Jahren finden, sind die hier zu besprechenden Fälle in ungefähr gleichen
Teilen auf das Alter vor und nach 45 Jahren verteilt: 17 % vom 21.—30. Jahre,
22 % vom 31.-40., 21 % vom 41.-50., 21 % vom 51.-60., 14 % vom 60.-70.
Im Beginn der Erkrankung sind die Wahnvorstellungen, verglichen mit der
Häufigkeit der Sinnestäuschungen, immer im Übergewicht; dieses Überwiegen
wird mit dem Alter stärker, so daß die Erkrankungen vom 50. Jahre ab bei¬
nahe vollständig unter dem Bilde von Wahnvorstellungen stehen, wobei die
Sinnestäuschungen nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Im ganzen
bieten die zirkulären Fälle die reichste Ausbeute auf dem Gebiete der W ahn¬
vorstellungen.
p*
08
Symptome.
Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, den Sammelbegriff
der Wahnvorstellungen zu gliedern, und ich werde in erster Lini e solche
erwähnen, welche depressiven Charakter tragen, in zweiter Linie, als weniger
ausbeutereich, solche, welche manischen Charakter tragen.
a) Versündigungsideen. Die Versündigungsideen stellen die de¬
pressiven Wahnvorstellungen des manisch-melancholischen Irreseins xaz'
igoxev dar. Ich habe sie von der Gruppe der Selbstvorwürfe getrennt. Während
die ersteren Vergangenes betreffen, die früheren Lebenszeiten aufrühren und
an Erinnerungen und Erlebnisse anknüpfen oder auch wahnhaftes Erfundenes
frei in die Vergangenheit zurückverlegen, gleichsam als reprospektive Be¬
gründung der den Kranken unbegreiflichen depressiven Verstimmung, suchen
die letzteren mehr ihren Anhalt in der Gegenwart, in den gegenwärtigen Ver¬
hältnissen und in der augenblicklichen „unglücklichen“ Situation.
Es ist zweifellos, daß die Versündigungsideen in manchen Fällen an wirk¬
liche Begebenheiten anknüpfen, welche in der vergangenen Zeit eine mehr
oder weniger bedeutsame Rolle gespielt haben. Nicht selten sind es Vorkomm¬
nisse, bei denen die Kranken selbst in Erstaunen geraten, daß ihnen diese un¬
bedeutenden Tatsachen plötzlich mit erhöhter Affektbetonung wieder in Er¬
innerung kommen; sie gewinnen an affektiver Färbung und werden oft außer¬
ordentlich plastisch, daß die Kranken schwer darunter leiden.
Unter dem ganzen Material an manisch-melancholischen Fällen finden
sich Versündigungsideen bei 15 % der Kranken; unter dem Material von Fällen,
bei denen die Wahnideen sich scharf ausprägten, in 20 %, also einem Fünftel
der Fälle. Es möchte dies wenig erscheinen; man hat den Eindruck, daß die
Versündigungsideen sehr viel häufiger sind; es mag sein, daß die Abtrennung
der Selbstanklage diese Gruppe etwas verkleinert hat; eine scharfe Grenze
läßt sich natürlich nicht ziehen.
Betrachten wir in dieser Gruppe das Verhältnis des Geschlechtes,
so zeigt es sich, daß dem männlichen 2Sf %, dem weiblichen 71 % angehören;
war schon bei den Wahnideen insgesamt zu sehen, daß das weibliche Ge¬
schlecht im Vordergründe steht, so wird dies hier noch deutlicher.
Unter den Verlaufsformen stehen in der vordersten Reihe an Zahl
die reinen depressiven Formen, denen mit geringeren Zahlen zirkuläre und
melancholische in der Involution folgen. 23 °/o der Fälle mit Versündigungs¬
ideen zeigen religiöse Wahnideen, und zwar sind es bis auf einen Fall
nur Frauen. Zweifellos neigt das weibliche Geschlecht, wie überhaupt zur
Religiosität im strengen Sinne, so auch zu krankhaften Übertreibungen
derselben in besonderer Weise. Ein nicht uninteressantes Moment in bezug
auf Rassenpsychologie ist der Umstand, daß diese Kranken ihrer Abstammung
nach ausschließlich Bayern im engsten Sinne (Altbayem) angehören. Es ist
ja bekannt, wie gerade dieser Landesteil in Psychosen jeglicher Art zu religiösen
Vorstellungen oft abenteuerlichster Art, wobei der Teufel eine besondere Rolle
spielt, neigt. Von „Gedanken über Sünden“ ausgehend finden wir alle Arten
von religiösen Vorstellungen, natürlich oft neben anderen Versündigungsideen.
Es wird geäußert, sie (die Kranke) habe unwürdig kommuniziert, gebeichtet,
habe ihre Seele verkauft, habe durch Gedankensünden die Gnade Gottes ver¬
loren, habe die österliche Beichtpflicht nicht genügend erfüllt; sie habe in Ge¬
danken den Himmelvater ermordet, habe falsch gebeichtet, habe Gott verstoßen,
Störungen der Vorstellung.
«9
habe sich seit der Kindheit gegen das 6. Gebot vergangen, sei die ärgste Sünderin,
werde für ihre Sünden bestraft, weil sie öfters ihre Genitalien mit den Händen
berührt habe. Es scheinen oft geradezu Reminiszenzen an die Ohrenbeichte
der Kirche zu sein.
Von den sonstigen Versündigungsideen mögen eine Anzahl Erwähnung
finden, die nach der Kranken Meinung geeignet sind, sie als Verbrecher zu
stempeln. Sie (die Kranke) habe ihre Schwester ermordet, habe Geld
gestohlen, habe Unrechtes gesagt und einen Versuch der Abtreibung gemacht,
habe sich gegen die Pflegetochter sittlich verfehlt, habe einmal den Anstalts¬
direktor beleidigt, habe einen Kindsmord begangen, habe falschen Eid geschworen,
habe die Ihrigen umgebracht; er habe anonyme Briefe geschrieben, eine Zugs¬
entgleisung verursacht (Bahnarbeiter); sie habe den Haushalt schlecht ge¬
führt und den Ehemann beschwindelt, sei eine Mörderin, habe einige Semmeln
nicht bezahlt; er habe ein Verbrechen im Amte begangen (Justizrat).
Meist sehen wir das wahnhafte Reat in direktem Zusammenhänge mit
der Beschäftigung und dem Amte. Anders erscheinen folgende Beschuldigungen:
Er habe Kollegen beleidigt, habe sich verrechnet, habe seinen Sohn geschlechts¬
krank gemacht, das Geld der Kinder verputzt; sie habe die Wohnung nicht ordent¬
lich gehalten, habe zu heißen Tee getrunken, zu viel gekauft, habe eine geistige
Erkrankung simuliert (ein zirkulärer Kranker), habe alle Sünden der Welt
verschuldet, Geld „verpatzt“, Unglück über die Familie gebracht, die Kinder
nicht richtig erzogen und ihren Mann nicht genug verpflegt. — Alle Situationen,
alle Lebenslagen und unscheinbaren Erlebnisse werden benützt, um als Ver-
süridigungsideen ausgebeutet zu werden.
ß) Selbstvorwürfe. Ich habe schon betont, daß eine scharfe Trennung
der Selbstanklagen von den Verstindigungsvorstellungen nicht möglich ist.
So ist es bei einer Anzahl von Fällen zweifelhaft, ob man sie hierher oder dort¬
hin rechnen soll; jedenfalls bezieht sich die vermeintliche Basis für die Selbst¬
anklage auf die Gegenwart. Ich fand diese Fälle nur in 24 °/ 0 des gesamten
und in 31 % des Materials, in dem Wahnideen Vorkommen. Die männlichen
Fälle sind hier im ganzen etwas zahlreicher vertreten; wir finden 34 % männlich,
06 % weiblich. Die größere Zahl gehört dem Alter nach dem 45. Lebensjahre
an. Was die Verlaufsform betrifft, so gehören 50 °/o zu den zirkulären, 30 °/o
zu'den rein depressiven Formen, während die große Zahl von 13 % den De¬
pressionen der Involution zugehört. Bei einer größeren Anzahl von Fällen
beziehen sich die Selbstanklagen auf das religiöse Gebiet; meist handelt
es sich um religiöse Skrupel im allgemeinen, vielfach werden die Wahnideen
auch spezifiziert z. B.: sie (die Kranke) habe ungültig gebeichtet, böse Geister
kommen, machen „Purzelbäume“; offenbar eine Kombination mit Gefühls¬
täuschungen. Fast durchweg handelt es sich bei den Trägem dieser Wahnvor¬
stellungen um weibliche Patienten. Eine andere Kranke äußerte: sie sei besessen;
aller Glaube sei verloren gegangen; sie fürchte das Gericht Gottes, sei von
Gott verlassen, sei verdammt, das höllische Feuer brenne unter ihrem Bett.
Von anderen hören wir von Selbstquälereien, weil sie onaniert haben; er werde
zur Verantwörtung gezogen, weil er seine Bücher nicht richtig geführt habe,
habe die Tochter ins Unglück gestürzt (Äußerung nach der Hochzeit der Tochter);
ein evangelischer Geistlicher macht sich Vorwürfe wegen eines verspäteten
Koitusversuches (im 60. Lebensjahre). Manchmal werden die Selbstvorwürfe
70
Symptome.
in die negative Form umgesetzt; so äußerte eine Kranke, sie habe nie schlecht
sein wollen. Eine andere warf sich vor, sie sei durch Onanie schwanger geworden;
ein Lehrer wünschte sich den Tod, weil er das Züchtigungsrecht überschritten
habe; jeder Vogel, der singe, jeder Lichtstrahl sei für ihn ein Richter. Alles
spreche: ,,Du bist verfallen!“, doch seien das nur Gedanken. Eine Kranke
glaubte, schuld am Unglück der ganzen Welt zu sein, sie habe ihre Kinder
nicht mehr gern, die Patienten seien durch ihre Schuld krank gemacht worden,
sie sei ganz „tappig“; sie sei der Auswurf der Menschheit (Dienstmädchen);
ein höherer juristischer Beamter hielt sich für einen nichts würdigen Elenden
und Verbrecher. In einzelnen Fällen werden Selbstanklagen in Beobachtungen
hineingelegt, welche an und für sich ganz harmlos und unbeabsichtigt sind, für
den Kranken aber eine unermeßliche Bedeutung erhalten; so glauben manche,
man sehe sie für schlecht an, halte sie nicht für ehrlich; ein alter Herr von 77
Jahren machte sich Vorwürfe, daß er Jugendsünden begangen habe; eine Frau
bemerkte, daß durch die Blume gesprochen werde, sie sei faul. Ein Beamter
äußerte, er sei der verworfenste, niederträchtigste, gemeinste Mensch, den
je die Erde getragen; ein anderer, er sei mit sich selbst zerfallen; eine Frau,
sie sei keine tüchtige Hausfrau, die Liebe zu ihren Kindern sei geschwunden.
Eine Bauersfrau äußerte in ihrer Depression, sie befinde sich zwischen Teufel
und Engel. Eine Damenschneiderin hält sich für eine Staatsverbrecherin.
Ein Lehrer schreibt in der Depression: „Mit mir wurde auch meine Frau und
meine Kinder zu dem grausamen Tod des Totgeschlagenwerdens verurteilt.
Die letzteren haben auch den Tod auf diese Weise erlitten. Ich bitte Sie, Herr
Dr., zerschmettern Sie mich, ich bin nicht mehr wert. Ich habe einen Beruf
erwählt, zu dem ich nicht tauge; doch hätte man mich rechtzeitig darauf auf¬
merksam machen müssen und nicht durch Erteilen guter Noten in mir den
Glauben erwecken sollen, als sei ich ein guter Lehrer.“ Ein Hauptmann und
Kriegsveteran beschuldigte sich, er sei schuld am Kriege 1870/71; ein anderer
Kranker hielt sich für den Teufel und erklärte, ein Teufel dürfe nicht essen.
.y) Zukunftssorgen. Besorgnisse für die kommende Zeit, sei es eine
kürzere Zeitperiode, sei es das ganze künftige Leben, sind eine bekannte Er¬
scheinung bei Deprimierten überhaupt, ganz besonders aber bei den manisch¬
melancholischen Kranken. Wir finden sie bei diesen Kranken in ca. 22 % der
Fälle, bei 28 % der Fälle, in welchen ausgesprochene Wahnideen nachweisbar
sind. Dem Geschlechte nach gehören 32 % dem männlichen, 68 % dem weib¬
lichen Geschlecht© an; wir sehen demnach eine gleichmäßige Beteiligung der
Geschlechter, da das weibliche Geschlecht an und für sich überwiegt. Ungefähr
die Hälfte der Kranken steht im höheren Lebensalter, 15% sogar in einem
Alter von 51—70 Jahren. Das hohe Alter bringt also keine Abnahme der Soxgen
für künftige Zeiten, die doch bei 60 Jährigen nicht mehr allzu reichlich bemessen
zu sein pflegen. Daß eine große Zahl der Fälle in ihrer Verlaufsart den Melan¬
cholien angehört, ist selbstverständlich; die Hälfte ungefähr ist von zirkulärem
Typus. Aüffallend ist die hohe Zahl (12 %) von Melancholien in der Involutions¬
zeit, also nach dem 50. Lebensjahr.
Sehen wir uns mm die hierher gehörenden Wahnvorstellungen näher an,
so finden wir, daß die Besorgnisse sich nicht selten zu Angst und Furoht
vor dem Kommenden auswachsen; es wird alles, was in der Zukunft liegt,
hineinbezogen, und nach Ansicht der Melancholischen kann ja nur Unglück
Störungen der Vorstellung.
71
und Schreckliches erfolgen. So sehen wir bei einem Teile der Kranken diese
Sorgen für die Zukunft ganz verallgemeinert, sie werden vielfach erst auf dahin¬
gehendes Befragen überhaupt genauer bezeichnet. Es handelt sich nicht allein
um die eigene Person, sondern es wird oft die Familie, der Wohnort usw., ja die
ganze Welt einbezogen in dem Sinne, daß die Welt zugrunde gehen werde.
In einzelnen Fällen mischen sich Andeutungen von Verfolgungsideen dazu;
so äußerte ein Kranker, es werde eine Bombe geworfen werden, das Haus werde
in die Luft gesprengt.
Manchmal sind es in Aussicht stehende Veränderungen im Wohnplatz
und in der Wohnung, welche zu den krankhaft gesteigerten Besorgnissen
führen, oft auch eine ganz allgemeine „Angst vor Veränderung“, es möchte
sich irgend etwas Unvorhergesehenes zutragen, was eine schreckliche Änderung her¬
beiführen könnte. Weiterhin beziehen sich die Sorgen und Befürchtungen auf die
Gesundheit und auf das Leben. Die Furcht vor dem Tod ist eine sehr häufige
Erscheinung, ebenso wie die Furcht vor körperlicher oder geistiger Erkrankung
und entsprechendem Siechtum. Einige derartige Äußerungen mögen im folgenden
angeführt sein: Der Kranke glaubt, er bekomme Gehirnerweichung; bittet um
Verzeihung, sein letzter Tag sei gekommen; er richtet sich sein Grab her aus der
bestimmten Überzeugung, er werde jetzt bald sterben; die Isar sei der beste
Platz (für ihn); sie solle auf den Friedhof kommen, fürchtet sich vor neuer Er¬
krankung, werde in der Nacht umgebracht werden; die Geschlechtsteile werden
verfaulen; müsse verhungern; das Leben sei verspielt, sie müsse ersticken;
sie komme nicht mehr oder nur als Trottel aus der Anstedt.
Diese auf Gesundheit und Leben bezüglichen, wie auch die im folgenden
zu beschreibenden Befürchtungen bezüglich der Ehre usw. sind diejenigen Wahn¬
ideen, welche am meisten geeignet sind, den Kranken zum Suicid zu führen, und
wir finden auch tatsächlich bei solchen Kranken die meisten Suicidversuche
und Selbstmorde. Es ist also in praktischer Hinsicht darauf ein besonderes
Gewicht zu legen. Hier ist auch die Syphilidophobie zu nennen, welche wir
bei männlichen Kranken nicht selten treffen; sie pflegen in dieser Beziehung
selbst nach genauester Untersuchung gänzlich unbekehrbar zu sein.
Eine Wahnidee möchte ich hier einflechten — um eine solohe handelt
es sich — wie sie oft in erheblichem Maße bei Deprimierten sich vorfindet,
das ist das Heimweh; es ist eine Vorstellung, der wir besonders bei weiblichen
Personen, ferner bei Jugendlichen oder Schwachsinnigen und bei Epilep¬
tikern begegnen. Auch im Heimweh zeigt sich eine gewisse Angst, die Be¬
sorgnis, der gegenwärtigen oder kommenden Lage nicht vollkommen gewachsen
zu sein.
Sehr häufig sind Wahnideen zu beobachten, welche sich auf das Ehrgefühl
beziehen; die Kranken wähnen eingesperrt, geköpft, gemartert zu weiden
deswegen, weil sie entweder schlecht gehandelt haben und deshalb die gerechte
Strafe erleiden müssen (Schuldbewußtsein) oder deswegen, weil man sie wegen
ihrer Schuld über das Maß verfolge (Verfolgungswahn). So kommen folgende
Äußerungen bei meinen Kranken charakteristisch zum Ausdruck: der Kopf
komme herunter; er (der Kranke) werde verhaftet; das Zuchthaus stehe ihm und
den Seinigen bevor; er werde wegen Hochverrats verurteilt und umgebracht
werden; solle hingerichtet weiden; werde von Ratten bei lebendigem Leibe
aufgefressen werden; werde wegen Majestätsbeleidigung und Kindsmord ver-
72
Symptome.
urteilt; werde hingerichtet, die Henkersknechte und -Werkzeuge seien schon da;
werde 3mal enthauptet; eine Kranke hatte die deutliche Vorstellung, wie sie
zum Richtplatz geführt würde.
Weiterhin kommen auch religiöse Befürchtungen, wie früher schon erwähnt,
meist bei Frauen, zum Ausdrucke, so z. B.: Werde ewig verdammt, der Teufel hole
sie, komme in die Hölle; sie werde verdammt, ein Weltkrieg werde durch sie;
alles sei in Aufruhr und Verwirrung; sie werde langsam absterben und mit dem
ewigen Tode bestraft werden.
Außerordentlich häufig ist die Vorstellung, zu verarmen, selbst zu ver¬
hungern, oder daß die Familie aus pekuniären Gründen umkommen müsse. Äuße¬
rungen, wie folgt, sind charakteristisch: Sorgen, ob sie (die Kranke) ihrer Tochter
Mitgift geben könne, sie verarme, alle Kinder verfaulen bei lebendigem Leibe und
werden blind; die Enkelkinder werden Kretins, sie selbst verfaule jetzt, das
einzige Mittel sei ein schneller Tod durch Gift; die ganze Welt mache Pleite;
sie werde als Bettelweib hinausgeworfen werden.
<J) Hypochondrische Wahnvorstellungen. Die Hypochondrie als
Symptom einer Wahnbildung ist im manisch-melancholischen Irresein nicht
allzu häufig. Wir finden sie in 9 % des gesamten Materials und unter den Fällen,
welche Wahnvorstellungen zeigen, in 12 °/ 0 . Davon treffen 30 % auf das männ¬
liche, 70 °/ 0 auf das weibliche Geschlecht, ungefähr entsprechend der Ver¬
teilung der Fälle auf die Geschlechter überhaupt. Den Altersstufen nach ist
auch hier das Hervortreten der Altersklasse vom 51.—60. Lebensjahr hervor¬
zuheben, der die höchste Zahl, nämlich 30 % zukommt. Dieselbe Erscheinung
spricht sich in der Verlaufsform aus, indem 15 °/ 0 der Fälle der depressiven
Verlaufsform der Involution angehören.
Es ist zu erwähnen, daß der hypochondrische Wahn in der Gestalt der
nihilistischen Form abgesondert ist und besonders betrachtet werden soll.
Es handelt sich also hier um hypochondrische Ideen im engeren Sinne, um
Vorstellungen, die sich auf bestimmte Körperteile beziehen, für deren richtiges
Funktionieren der Kranke besorgt ist.
Eine Kranke sprach die hypochondrische Befürchtung aus, daß das Herz
stillstehe, die Blutzirkulation fehle, sie trockne überhaupt aus; eine andere
äußerte: der Kopf sei mit einem eisernen Reifen umgeben, ein Knödel sei im
Hals, sie schrumpfe ganz zusammen; der Kopf sei dick; im Leibe bestehe eine
abnorme Spannung, sie verspüre ein Krabbeln im Leib; im Ohr seien Würmer,
sie habe eine Schlange im Schlunde; der Körper sei aus Gummi; sie sei schwanger;
habe Fliegen im Leib; habe ein Hämmern und Säuseln im Kopf wie ein
Wirbelwind; die Brust sei ganz leer; das Herz sei erweitert; das Blut sei wässerig
und schlecht, sie habe Bulbärparalyse; habe kein Blut mehr, die Verdauung
sei abgestorben; der Körper sei ihr zugeschnürt, der Kot gehe nicht aus dem
Darm; der Kopf werde dicker; das Gesicht schwelle an; die Nahrung falle in
den Leib Imd steige als Hitze in den Kopf; sie sei ein anatomisches Rätsel;
das Essen gehe nur bis zur Brust, der Körper schwelle an, die Kleider wachsen
an der Haut an; habe ein lahmes Gefühl in der Brust; habe ein eigentümliches
Klopfen im Leib, müsse ein Wanderherz haben. Eine Kranke äußerte, die
Gedärme seien ganz und gar ausgetrocknet; sie habe keinen natürlichen Stuhl¬
gang mehr; Schmutz sei in den Gedärmen; es bestehe Gedärmlähmung; die
Störungen der Vorstellung.
73
Hautaußtrocknung komme von der Darmaustrocknung; der Schmutz dringe
nach unten und könne nicht hinaus.
Es ist noch zu erwähnen, daß in manchen Fällen die Wahnideen wohl
auf Qefühlstäuschungen, wenn auch recht geringen Grades, zurückzuführen
sein dürften.
s) Verfolgungswahn (Beeinträchtigungsvorstellungen). Der Ver¬
folgungswahn stellt einen Sammelbegriff dar, in dem sich Verfolgungsideen
in engstem Sinne, Vergiftungswahn und religiöser Verfolgungswahn vereinigen.
Dazu kommen dann Beeinträchtigungsvorstellungen bzw. das krankhafte
Gefühl des Zurückgesetztseins und der Eifersuchtswahn. Selbstverständlich
sind allerhand Übergänge zu den besprochenen und folgenden Gruppen von
Wahnvorstellungen vorhanden, in manchen Fällen ist auch die Grenze zu
Illusionen und Halluzinationen nicht scharf zu ziehen. Es gibt Fälle, in denen
man nicht bestimmt sagen kann, ob nicht die Verfolgungsideen die direkte
Abstraktion von Sinnestäuschungen oder umgekehrt sind. Noch viel mehr
drängt sich diese Ansicht auf bei den körperlichen Beeinflussungsideen, welche
von Gefühlstäuschungen ebensowenig wie die hypochondrischen Wahnideen,
zu trennen sind. •
Verfolgungswahnvorstellungen im allgemeinen treffen wir bei dem ganzen
manisch-melancholischen Eirankenmaterial in 22 °/ 0 der Fälle, bei den Fällen
mit Wahnvorstellungen überhaupt in 29 %; davon treffen 36 °/ 0 auf das männ¬
liche, 64 °/ 0 auf das weibliche Geschlecht, fast ebenso wie bei den Fällen mit
Wahnideen überhaupt. Eine geringe Begünstigung der höheren Altersklassen
sehen wir auch hier, wie bei allen Wahnvorstellungen, die sich auf im wesent¬
lichen depressiven Affekt stützen. Allerdings ist der depressive Affekt gerade
bei den Fällen mit Verfolgungswahnideen außerordentlich häufig in inniger
Mischung mit einem manischen expansiven Affekt, so daß wir oft das Bild
der gereizten Manie mit psychomotorischer Erregung vor uns sehen. So kommt
es, daß in 67 °/o der Fälle ein zirkulärer Verlauf stattfindet, wovon 10 % auf
Fälle der Involution treffen.
Bei der Betrachtung unserer Fälle in Hinsicht auf das psychomotorische
Verhalten stellt sich heraus, daß bei 8 % eine solche Störung nicht nachzuweisen
war, daß bei 15 °/ 0 eine psychomotorische Hemmung, bei 77 % der Fälle aber
eine psychomotorische Erregung vorhanden war. Demnach scheinen bei Ge¬
hemmten Versündigungsideen und Selbstvorwürfe im Vordergrund zu stehen,
bei Erregten Verfolgungsideen und, wie wir später sehen werden, Größen¬
wahnvorstellungen.
Bei der Mehrzahl der Fälle mit Verfolgungsideen ist das Objekt der Ver¬
folgung die Person des Kranken selbst; oft handelt es sich um unsichtbare,
geheimnisvolle Verfolger, manchmal um konkrete Persönlichkeiten oder auch
um Komplotte. Ein Kranker äußerte, er werde von einem Medium verfolgt;
andere Äußerungen besagen: Sie (die Kranke) sei genotzüchtigt worden; die
Bauern des Wohnortes seien vom Ortspfarrer aufgeboten, ihn totzuschlagen
(Lehrer); ihr Mann habe ihr ein „Ripperl“ (Fleischstück) durchs Gehirn geworfen
(Anklang an hypochondrische Vorstellungen und Gefühlstäuschungen); der
Knopf des Hemdes sei elektrisch geladen, er werde damit totgesohossen werden;
sei ein preußischer Schuft, werde enthauptet; der Metzger habe ihre Kinder
umbringen wollen; das Essen sei Menschenfleisch und das Fleisch ihrer eigenen
74
Symptome.
Kinder; Bleche werden heiß gemacht, am ihre Kinder zu rosten; der Ehemann
werde lebendig eingemauert und zum Tode verdammt; sie sei mit einer silbernen
Kugel durchs Herz geschossen; werde suggeriert, werde mit Böntgenstrahlen
gekocht, mathematisch gebraten; sei magnetisiert, elektrisch beeinflußt; mit
Fingern werde auf ihn gedeutet; Hundshaare und Nadeln seien im Essen; man
wolle ihn durch schlechte hygienische Verhältnisse ums Leben bringen; die
Anstalt sei ein Asyl für den aufgodrungenen Selbstmord; durch einen Apparat
werden sukzessive alle Glieder festgelegt, so daß er sie nieht rühren könne.
Dem Charakter der Bevölkerung oder der Denkweise der Persönlichkeit
entsprechend sind die Verfolgungsideen häufig religiösen Gebieten entnommen.
So äußerte sich eine Kranke: Ihr seien alle Sünden der Welt aufgeladen, der
Professor sei der Oberbonze, sie sei der unfreiwillige Erlöser der Welt. Andere
Kranke glauben, daß feindliche Mächte gegen sie wirken, sie werden vom bösen
Feind verfolgt; eine Kranke äußerte, man halte sie für eine Prostituierte; sie
müsse als Rosenkönigin zur Hölle fahren; Teufel treten nachts ans Bett; der
Teufel sitze in ihr.
Sehr häufig finden sich Vergiftungsvorstellungen; eine Kranke,
welche als Schwester in einem Krankenhause angestellt war, glaubte, die Blinder
würden nachts mit Gas betäubt. Meist richten sich die Besorgnisse gegen die
eigene Person; eine Kranke äußerte, sie sei an Diphtherie angesteckt; andere
Äußerungen: sie (die Kranke) bekomme Sublimat im Essen; werde zu Tod
gequält; es sei ihr Fuchsleber in den Wein hineingetan worden; edles sei voll
Chloroform, der Hauch des Ehemannes sei giftig.
Eine besondere Nuance der Furcht vor Verfolgung stellen Vorstellungen
dar, deren Inhalt ein vermeintliches, besonderes Beobachtetwerden von
seiten der Personen in der Umgebung ist. So glaubte eine Kranke, man habe
Schutzleute aufgestellt, um sie zu beobachten; andere äußerten; die Leute
sprechen über sie, sehen sie eigentümlich an, lachen über sie; die Zeitungen
werden ihretwegen gedruckt.
Wie oben schon erwähnt, stellen eine Schattierung des Verfolgungswahns
die Beeinträchtigungsideen dar. So fühlte sich eine Köchin von den anderen
Mädchen krankhaft beeinträchtigt und zurückgesetzt; eine Kranke sprach
von einem Haberfeldtreiben (früher in Südbayem übliches Volksgericht), das
man gegen sie vorhabe, die Leute mögen sie nicht, ihre Kinder habe man ver¬
wechselt.
In innigem Zusammenhänge damit, als Beeinträchtigungsideen gefühlt,
aber gegen den Ehemann gerichtet, treten Eifersuchtsideen auf. So hielt
eine Kranke eine andere für die Geliebte ihres Mannes und schlug dieselbe;
eine Kranke äußerte (ohne Grund), ihr Mann habe es hinter ihrem Rücken mit
anderen Frauenspersonen.
f) Nihilistische (Kleinheits-)Wahnvorstellungen. Eine verhält¬
nismäßig recht geringe Rolle im Rahmen der Wahnideen des manisch-melan¬
cholischen Irreseins spielen die Vorstellungen nihilistischer Art. Sie sind nahe
verwandt den hypochondrischen Wahnvorstellungen, von denen sie sich nicht
scharf trennen lassen. Wir finden sie in 5 % der Fälle des gesamten Materials
und in 6 % der Fälle mit Wahnvorstellungen überhaupt. Das Verhältnis des
Geschlechtes entspricht dem in den Wahnvorstellungen überhaupt gegebenen,
d. h. der Verteilung, die das manisch-melancholische Irresein überhaupt zeigt.
Störungen der Vorstellung.
76
Auffallend ist die Alters Verteilung. Während wir sonst die Fälle ungefähr
zu gleichen Teilen auf die Altersstufen unter und über 45 Jahren verteilt sehen,
überwiegen hier die Altersstufen von über 45 Jähren. Wir finden nur 9% der Fälle
in einem Alter von 21—30 Jahren, während 23 °/o zwischen das 41. und 50.
Lebensjahr fallen, und demnach 68 % der Fälle ein Alter von über 50 Jahren
zeigen. Bemerkenswert ist, daß 38 % der Fälle dem hohen Alter von 61—70 Jähren
angehören. Es ist das kein Zufall; wenn wir die sonstige klinische Erfahrung
zuziehen, so wird es uns noch klarer, daß der Nihilismus und der Kleinheitswahn
Erscheinungen des höheren Alters sind. Zum großen Teile gehören die Fälle
(28 °/ 0 ) Melancholien an, die erstmalig in der Involution aufgetreten sind, zum
größten Teile (in 33 °/o) gehören sie aber zu den zirkulären Formen, welche
in früherem Alter ihren Anfang genommen haben.
Es ist nun von Interesse, zu erfahren, in welchem Verhältnis die Psycho-
motilität zu den Fällen mit Kleinheitswahn steht. Hier tritt uns die auffallende
Tatsache entgegen, daß 71 °/ 0 der Fälle eine psychomotorische Erregung
aufweisen. Wir können demnach behaupten, daß die Kleinheitswahnideen
bei ungefähr dem manisch-melancholischen Irresein entsprechender Verteilung
auf die Geschlechter den Involutionsjahren angehören, und meist mit einer
psychomotorischen Erregung verbunden sind
Im folgenden soll eine Blütenlese einschlägiger Wahnvorstellungen wieder¬
gegeben sein. Ein Kirchenrat behauptete, er sei kein Kirchenrat mehr; eine
Frau erklärte, sie habe Sand im Mund, der Leib sei leer; im Hirn sei Wasser, das
durch die Nase abfließen könne. Andere Äußerungen: Kopf und Nase seien nicht
zu klein; er habe keinen Magen, keinen After mehr; seine Brust sei nur ein „Nein“,
die Lungen seien so groß wie eine Birne; er sei eine lebende Mumie; das Gehirn
sei ganz geschwunden, das Herz klopfe am Rücken; er habe ganz kleine Extremi¬
täten; er könne nicht essen, habe keinen Kopf mehr; er gehöre zu den Nattern
und Kröten; der Puls gehe nicht mehr; er sei gar nicht geboren; der Arzt sei
um die Hälfte kleiner geworden; er (der Kranke) sei lebendig tot; der Kopf sei
bald so groß wie ein Wasserschaff, bald so groß wie eine Nuß; der Kopf sei so
groß wie ein Fingerglied; sie habe einen Katzen-, einen Pferdekopf auf; sie habe
keine Seele mehr, sei zu Wasser geworden.
Auffallend war in einzelnen Fällen das Verlangen der Kranken, man solle
ihnen einzelne Körperteile zerstören; so bat eine Kranke*, die früher versucht
hatte, sich die, Augen auszubohren und die Finger abzubeißen, den Arzt, er
solle ihr eine Fingerkuppe wegschneiden. Die Fälle befanden sich in einer schweren
Verwirrtheit und waren offenbar von Wahnideen beeinflußt, welche ihnen den
Wert ihrer Glieder gleich Null machten. Es ist im einzelnen Falle erklärlicher¬
weise sehr schwer, die wirklichen Motive für einen solchen Selbstverstümmelungs¬
trieb zu finden, insbesondere, da bei solch schweren Verwirrtheitszuständen
die Erinnerung an diese Zeiten auch in der Genesung eine summarische und
unvollständige zu sein pflegt. Bei vielen der Fälle dieser Gruppe werden wohl
Gefühlstäuschungen und körperliche Sensationen eine Rolle spielen.
17 ) Wahn der Persönlichkeitsveränderung. Es handelt sich hier
um Wahnvorstellungen, bei denen die Beurteilung der eigenen Persönlichkeit
wahnhaft verändert ist; die Veränderung ist geschehen, mit dieser Tatsache wird
von den Kranken gerechnet. Im wesentlichen sind es Vorstellungen, die einem
depressiven Affektzustand entsprechen. Sie zeigen eine nahe Verwandtschaft
76
Symptome.
einerseits zum Verfolgungs- bzw. Beeinträchtigungs wahn, andererseits zu dem
Wahne der Situationsveränderung. Von der Hypochondrie unterscheiden sie sich
durch die Präzision, mit der eine bestimmte Veränderung beschrieben wird.
Es sind ausgesprochen somatopsychische Vorstellungen.
Bemerkenswert ist, daß von der verhältnismäßig geringen Anzahl von
solchen Fällen (4 °/ 0 der Gesamtzahl, 6 % der Fälle mit Wahnvorstellungen)
der weitaus überwiegende Teil (90 °/o) dem weiblichen Geschlechte angehört;
Ferner ist zu beachten, daß das jugendliche Alter (20—30 Jahre) sehr stark
vertreten ist (32 %), im Gegensätze zu dem sonstigen Verhältnisse der Be¬
teiligung dieser Altersstufe an Wahnvorstellungen mit 17 °/ 0 . Die Verteilung
der hierher gehörigen Fälle auf Verlaufsformen und Symptome weist keine
Besonderheit auf.
Sehen wir uns die Wahnvorstellungen im einzelnen an, so erfahren wir
von einer Kranken, daß sie das Gefühl habe, als sei der Kopf angebohrt worden,
eine Kranke gab an, sie werde in der Hölle ein Gockel (d.i. Hahn), sie spüre schon,
daß der eine Fuß zu einer Kralle werde. Eine Kranke äußerte, der Kopf sei
auseinanderge&ägt und Blei hineingegossen; weiter: das Blut sei vergiftet;
im Stuhle seien ihr 10 Kinder und 12 Apostel abgegangen.
Eine auffallend große Rolle spielt die Veränderung der genossenen Speisen;
die Vorstellung, daß das Fleisch der Nahrung Menschenfleisch sei, hört man
sehr häufig; so ist auch bei manchen Kranken der große Abscheu vor Fleisch¬
nahrung psychisch zu erklären. Eine zirkuläre Kranke bat händeringend den
Arzt, er solle ihr die Fingerkuppe abschneiden, was wahrscheinlich so zu erklären
ist, daß sie glaubte, es sei ihr der Finger abgestorben. Dieselbe Kranke äußerte
die Vorstellung, sie sei lebendig begraben. Sie versuchte, den Finger am Licht
zu verbrennen, sich den Finger abzubeißen und die Augen auszubohren.
Manche Kranke halten sich für in andere Personen verwandelt; so
behauptete ein Kranker, er sei König Ludwig II.; eine Kranke glaubte, sie sei
mit dem Totenhemde bekleidet. Infolge von Veränderungsvorstellungen aß
eine Kranke die Erde aus den Blumentöpfen und verschluckte Spielsteine.
Weitere Äußerungen einer Kranken mögen folgen: Teufelchen seien um sie herum;
Totenkäfer kriechen auf der Brust; sie sei hypnotisiert, magnetisiert, verhext,
der Teufel sei in ihr; sie stehe unter magischem Einflüsse; sie wisse nicht, ob
sie ein Teufel, eine Hexe oder ein Drache sei; der Teufel sei in ihr, sie spüre ihn
ganz deutlich, man solle ihr nur in den Mund hineinsehen. Eine andere Kranke
fühlte, daß man ihren Körper in den Abtritt hinunterziehe.
In sehr vielen dieser Fälle handelt es sich um Wahnideen, welche in einem
Zustande von Verwirrtheit hauptsächlich im deliranten Stadium der Er¬
krankung aufgetreten sind.
Allgemeiner (Situations-)Veränderungswahn. Das wesentliche
Unterscheidungsmerkmal des allgemeinen (Situations-) Veränderung s-
wahnes vom vorigen ist der, daß hier die ganze Situation eine Veränderung
zeigt, und die Persönlichkeit selbst nur eine der agierenden Personen ist; sehr
häufig ist die märchenhafte, sonderbare Verwandlung der Umgebung be¬
merkenswert. Das weibliche Geschlecht herrscht bei den Fällen dieser Gruppe
nicht in dem Maße vor wie bei den vorhergehenden: die Verteilung der Fälle
auf das Lebensalter gleicht derjenigen der Fälle von Wahnvorstellungen über¬
haupt. Auffallend ist die geringe Beteiligung von depressiven Verlaufsformen;
Störungen der Vorstellung.
77
die zirkulären herrschen bei weitem vor. Meist sind die Wahnvorstellungen
bei diesen Fällen in einem Zustande von Verwirrtheit geäußert, zum Teil auch
nachträglich zur Erklärung des Zustandes angegeben; im wesentlichen handelt
es sich wie bei der letzten Gruppe um ein delirantes Stadium der Krankheit.
Merkwürdig sind bei einem zirkulären Kranken die Seelenwanderungs¬
vorstellungen; er will die Seele seines Hundes Luchs besitzen; in jedem Menschen
stecken zwei Teile, ein männlicher und ein weiblicher; seine Frau sei sein weib¬
licher Teil, also seine Schwester, und mit dieser dürfe er nicht verheiratet sein.
Eine Kranke gab an, eine Mitkranke habe ihr die Brust weggenommen und trinke
daraus; eine andere Kranke hielt die Guttapercha-Unterlage in ihrem Bett für
eine Tigerhaut.
Ein sehr häufiges Vorkommnis sind Personenverkennungen, so daß den
Kranken manchmal ihre ganze Umgebung fremd und verzaubert vorkommt;
z. B. die Kinder des Arztes seien die eigenen; die Kinder seien anders geworden;
ein Kranker hält die Nachtwache für den Bürgermeister seines Heimatsortes;
die Kinder seien verwechselt.
Sehr häufig sind die Veränderungsideen delirant, sie sind verflochten
mit illusionären Sinnestäuschungen und von solchen gar nicht ganz zu trennen,
öfters hört man die Vorstellung, die ganze Stadt brenne oder es sei ein großer
Krieg. Ein Kranker glaubte in einem Röntgenkabinett zu sein; überall brenne
eJ*; Tote seien auf erstanden, eine große Schlacht müsse in der Nähe gewesen
sein; alles dränge sich herum; die Verwandten seien da und schreien. Eine
künstlerisch angelegte Kranke gab nachträglich an, es sei ihr gewesen wie die
phantastische Symphonie von Berlioz; sie habe die Zeichnungen zu Dante
einzeln durchgeträumt; andere glauben, Eisenbahnzüge seien Leichenzüge;
ein Zug Freimaurer sei vorübergegangen.
f Im engen Anschluß daran steht der Situationsveränderungswahn. Die
Kranken glauben im Gefängnis zu sein; ein Galgen sei im Nebenzimmer an
der Decke angebracht; Äußerung einer Kranken: sie schmachte in einem Tonnen¬
ge wölbe; alles sei eingemauert; einer Manischen: sie sei in einer Äußerung eines
manischen Kranken: falschen Wohnung; das Zimmer sei aus Marzipan.
i) Zwangsvorstellungen. Unter Zwangsvorstellungen ist eine Art
von Wahnideen zu verstehen, welche gegen den Willen des Kranken und bei
nicht erheblich gestörtem •Bewußtsein in gleichartiger Weise und in längerem
Zeitraum sich in den Vorstellungskreis drängt. Es kann sich um Vorstellungen
handeln, die das Handeln und Denken für eine gewisse Zeit zwangsmäßig lenken
und den Willen zurückdrängen; der Kranke hat Einsicht in das Verkehrte
dieser Vorstellungen, steht aber unter ihrem Zwange; er empfindet sie als etwas
Fremdartiges und Unbegreifliches, weil er sie mit seinen Gefühlen und seiner
Erfahrung nicht in Einklang zu bringen vermag.
Es mag zunächst auffallend erscheinen, daß wir Zwangsvorstellungen
im manisch-melancholischen Irresein begegnen; vergegenwärtigen wir uns aber,
daß wir es in der genannten Krankheit mit einer Psychose ausgeprägt degenera-
tiven Charakters zu tun haben, und daß wir gerade dem Zwangsirresein bei
schwer degenerierten Leuten begegnen, so verliert diese Tatsache ihre Be¬
sonderheit.
Immerhin handelt es sioh um eine Erscheinung, welche im manisch¬
melancholischen Irresein ungewöhnlich ist und in meinem Material nur 1,5 %
78
Symptome.
der Fälle umfaßt. — Differentialdiagnostisch ist, abgesehen von der Periodi¬
zität, das Auftreten spezifisch manisch-melancholischer Symptome von Wichtig¬
keit. Die Periodizität ist natürlich durchaus nicht maßgebend; ist doch be¬
kannt, daß eine große Zahl der Erkrankungen an Zwangsvorstellungen peri¬
odisch verläuft, ohne deshalb in das Gebiet des manisch-melancholischen Irre¬
seins zu gehören. Von den mir zur Verfügung stehenden 6 Fällen gehören
zwei den zirkulären Formen, drei den periodisch melancholischen und einer
der melancholischen Form in der Involution an. Zirkuläre und depressive
Krankheitsbilder teilen sich in die Fälle in gleicher Weise. Fälle rein manischen
Charakters finden sich nicht. Dem Lebensalter nach fällt die Mehrzahl in das
vierte Jahrzehnt. Zweifellos gehören überhaupt sehr viele Erkrankungen mit
Zwangsvorstellungen zu den manisch-melancholischen; es zeigen sich bei genauer
Aufnahme der Anamnese und bei Verfolgen des Falles die Periodizität, die typi¬
sche Denkhemmung und andere Symptome.
Bei zwei Kranken betrafen die Zwangsvorstellungen Platzangst und
eigenartige motorische Störungen; die eine Kranke mußte mit dem Kopfe und
mit den Armen sonderbare verschrobene Bewegungen ausführen und dazu
bestimmte Worte sagen: „Laissez-moi, laissez-moi travailler.“ Bei einer weiteren
Eiranken, deren interessante Krankheitsgeschichte von Groß veröffentlicht
ist, und welche trotz einer starken Denkhemmung eingehend Auskunft geben
konnte, da sie über eine geradezu vorzügliche Selbstbeobachtungsgabe verfügte,
obwohl sie den ungebildeten Ständen angehörte, ging der Mechanismus der
Zwangsvorstellungen folgendermaßen vor sich: „wenn sie etwas sagen wolle,
sei der Gedanke schon wieder fort; beim Essen denke sie, das könnte Gras sein;
sie denke, das ist ein Bock, zu gleicher Zeit komme der Gedanke, der Bock sei
ein Strumpf.“ Hier führen die Beobachtungen ohne weiteres zu der Ansicht,
es müsse die Denkhemmung zu einer inneren Ideenflucht geführt haben, welch
letztere zweifellos den Charakter des Zwangsmäßigen hat. Auffallend ist auch,
daß diese Vorstellungen der Kranken sich vorzüglich ins Gedächtnis einprägten,
so daß sie die Reihe ganz gut zu reproduzieren imstande war.
Die Art der Zwangsvorstellungen pflegt die gewöhnliche zu sein, Platz¬
angst, Schmutzangst, Syßhilidophobie usw.
Die Krankheitsgeschichte einer Eiranken sei ausführlich angeführt
(Tafel 16i); Marie B., geb. 1854. Heredität: Eine Cousine väterlicherseits leidet
an Epilepsie, eine andere hat sich erschossen. Intellektuell sehr gut veranlagt.
Stets verliebt; bei Ereignissen irgendwelcher Art erregt, ja sogar exaltiert;
war ein „düsteres“ Kind, immer anders als die Geschwister. Verheiratet, keine
Eiinder. Kein Potus. 1874 wegen Verstimmung mit Nervenzucken einige
Wochen in einer Heilanstalt; 1883 2—3 Monate schwermütig, unbestimmte
Angstgefühle; 1887 2—3 Monate deprimiert; während einer Predigt war bei
Beginn der Erkrankung plötzlich folgende Zwangsvorstellung aufgetaucht
und blieb während der Depression bestehen: „Das war recht ungeschickt von
Christus, daß er sich hat alles von den Juden gefallen lassen.“ Im Gebet kam
ihr immer anstatt „gesegnet“ die Vorstellung „verhext“. 1890 ein Jahr lang
deprimiert. Die Periode sistierte; die Eiranke masturbierte sehr stark, geriet
dabei in Schweiß; dazu eigenartige zwangsmäßige Grimassen, zuckungsartiges
Verziehen der Mundwinkel. Sie befand sich 3 Monate in der Irrenanstalt. Sie
glaubte verhext zu sein; es kam der Gedanke: sie müsse das deutsche Reich
Störungen der Vorstellung.
79
aufrichten, sie werde die Frau des deutschen Kaisers. Bei einer Reise nach Mün¬
chen meinte sie, es gehe jetzt zu ihrer Krönung als Königin von Bayern. Sie
jammerte viel und war teilweise unruhig. Die Vorstellungen erkannte sie als
wahnhaft und konnte mitten drin über sie laut auflachen. Der Wechsel zwischen
den ruhigen Zeiten und dem erregten Verbigerieren war ein sprunghafter. Ihre
Qualen wußte sie gewandt zu schildern. Sie hatte die Vorstellung: „Der
Hofzug wartet, steig* ein nach Berlin, du bist die deutsche Kaiserin, dein Hof¬
staat besteht aus Hunden und Katzen.“ „Du mußt nach Spanien und re¬
gieren.“ Selbstmordversuche. Hört sich einflüstem: „Verstanden, Kaiserin.“
Schlechter Schlaf, Selbstvorwürfe. 1904, 5. Depression. Grimassen, Zwangs¬
bewegungen, Masturbation, Schweißausbrüche, verbigerieren bei den Grimassen,
immer dasselbe wiederholend. Spricht alles in singendem Tone und Rhythmus.
Zwangsvorstellung: das Wort „Kaiserin“. 1906 Genesung.
Es handelt sich demnach um eine fünfmal wiederholte Depression mit
den charakteristischen Erscheinungen des manisch-melancholischen Irreseins.
Die Depression war meist mit einer psychomotorischen Erregung, oft recht
erheblichen Grades, verbunden. Schon in der zweiten Depression traten Zwangs¬
vorstellungen ein, welche sich dann in ähnlicher Weise immer wiederholten.
Auffallenderweise handelt es sich dabei um Größenvorstellungen mitten in der
schwersten ängstlichen Erregung. Einsicht für den krankhaften Charakter
der Vorstellungen war mindestens in den letzten zwei Depressionen vorhanden.
Zu den Zwangsvorstellungen gesellten sich eigenartige Formen von Zwangs¬
bewegungen, Grimassieren und Masturbieren.
x) Größenwahnvorstellungen. Größenwahnvorstellungen sind eine
recht häufige Erscheinung im manisch-melancholischen Irresein. Wir finden
sie in 17 °/ 0 der Fälle des gesamten Krankenmaterials, in 22 °/o der Fälle mit
Wahnvorstellungen.. Ganz auffallend ist das Verhältnis zwischen der Zahl
männlicher und weiblicher Erkrankungen. Während bei dem ganzen Material
mit Wahnvorstellungen das Verhältnis wie 1: 2 ist, besteht bei den Größenwahn¬
vorstellungen ein solches von 3: 2, also beinahe umgekehrt. Die Formen, welche
Größenwahnvorstellungen zeigen, gehören in 84 °/ 0 den zirkulären, in 18 °/o
den manischen Erscheinungsformen an, es ist demnach der Größenwahn durch¬
weg als ein manisches Symptom anzusehen. Da manische Formen verhältnis¬
mäßig häufiger bei Männern wie bei Frauen beobachtet werden, so ist demnach
wohl erklärlich, daß die Männer sehr stark beteiligt sind. Aber die überragende
Mehrheit männlicher Beteiligung an den Größenideen ist dadurch noch nicht
erklärt; und es fällt auch schwer sie zu begründen. Man wird wohl annehmen
müssen, daß die männlichen manischen Erkrankungen ausdrucksvoller ver¬
laufen; der Mann hat eben mehr Ideen, mehr Vorstellungen und bringt die¬
selben mehr zum Ausdruck. Es ist ja doch überhaupt eine allgemeine Erfahrung,
daß die weiblichen Psychosen weniger produzieren; die Frauen sind motorisch
beweglicher, die Männer intellektuell produktiver.
Betrachten wir uns nun die Größenwahnvorstellungen genauer, so müssen
wir zunächst unterscheiden solche, welche die gegenwärtige Situation als ver¬
ändert hinstellen und solche, bei denen sich die Größenideen mehr als Wünsche,
als „Zukunftsmusik“, als das Gegenstück zu den Befürchtungen für die Zu¬
kunft darstellen. Die erateren herrschen bei den Formen vor, welche Verwirrt¬
heit und deürante Erscheinungsweise zeigen, die letzteren bei den mehr be-
80
Symptome.
sonnenen Kranken. Ein weiteres Unterschiedsmerkmal ist, daß die eine Gruppe
glaubt, die Persönlichkeit habe sich im Sinne der Größenidee umgewandelt,
während die zweite Gruppe die Umgebung in diesem Sinne für umgewandelt hält.
Die populärste Größenwahnvorstellung ist zweifellos diejenige, welche
sich auf die materielle Lage bezieht, und welche die Kranken mit Millionen
um sich werfen und Schecks auf Milliarden besitzen läßt. Im allgemeinen kann
man konstatieren, daß die „Millionenidee“ bei den manisch-melancholischen
Kranken bei weitem nicht die Rolle spielt, wie wir sie bei Paralytikern wahr¬
nehmen. Viel häufiger ist die Umwandlung der Person und der Situation in
Hinsicht auf die soziale Stellung und in Hinsicht auf Geistesgaben und deren
Ausnützung.
Recht oft erscheint die Vorstellung, daß die Kranken selbst Gott seien. So
äußerte ein Kranker, er sei der Herrgott, sei der größte Prophet des Jahrhunderts,
er sei berufen, die Welt fertig zu erlösen; eine Orange gab er als Weltkugel
aus; er meinte, er sei der Christus, der vor und nach Christus vor 2 und 3000
Jahren gekreuzigt worden sei; er komme gleich nach Christus, habe Moses
und verschiedene Personen gefangen, welche er in einem Netz habe.
Weitere Vorstellungen: sei Märtyrerin, sei der Mutter Gottes Kind, habe
übernatürliche Gottesgaben; sei Luzifer, der eine von 3 Teufeln, sehe aus wie
eine Riesendame; sei eine Art von Messias; sei rex Judaeorum in bona parte
Neapolis. Ein Kranker unterschrieb sich als der „Tröster J. Christ. H.“
und hielt sich für Christus, den Direktor der Anstalt für den Antichrist. Er¬
löserideen und religiöse Aufgaben werden öfters genannt, so hielt sich ein Kranker
für einen Prediger, der Blitz und Donner mit sich führt, der noch den hl. Paulus
heruntersteche. Eine Kranke, im Berufe Damenschneiderin, wollte Missionarin
in Afrika werden, eine Kunstmalerin eine neue Religion stiften.
Die häufigsten Wahnideen im Sinne der Größenwahnvorstellung sind die¬
jenigen, welche sich auf die soziale Stellung beziehen. Die Kranken fühlen sich
als Kaiser, König, Prinz; sie glauben, sie seien gräflicher Abstammung usw. Eine
Kranke, eine 60jährige Dame, wollte die Maitresse des Königs werden; ein
Kranker erklärte, er hätte eine Prinzessin heiraten sollen; ein junges Mädchen
sagte, es sei Königin und hätte Prinzen im Leib, die Anstalt sei die Residenz;
ein Dienstmädchen erklärte, ein Prinz komme zu ihm, es sei das Dornröschen,
es sei ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Überhaupt spielt das erwartete
Kommen hoher Persönlichkeiten eine große Rolle. Ein Kranker meinte, er habe
schon vor 6656 Jahren in einem goldenen Zeitalter gelebt; er könne mittels
seines Gesanges Tote erwecken; sei ein Prinz. Eine kranke Dame verlangte
goldenes Geschirr, wie es der Königin von Samos gebührt. Ein Kranker be¬
hauptete, er sei ein Prinz und bei seiner Geburt vertauscht worden.
Ihre Geistesgaben erscheinen den Kranken oft in eine große Höhe gerückt.
So glaubte ein Schneider, er werde als Bassist im Hoftheater auftreten; weitere
Äußerungen: werde einen Menschen mit fünf Köpfen erschaffen, der fliegen
und schwimmen könne; die Kleider böten eine willkommene Handhabe zur
Lösung mathematischer Probleme; habe mit Bismarck „gesoffen“, wolle den
Weltkrieg erklären; müsse das deutsche Reich mitverwalten (Schneider); wolle
eine Reise um die Welt machen (Taglöhnerin); werde der erste Geheimdetektiv
Deutschlands (Uhrmacher); werde das soziale Elend beseitigen; habe in der
deutschen Sprachforschung einen goldenen Schlüssel gefunden; verstehe geheim-
Störungen der Vorstellung.
81
nisvolle Künste; sei Kapellmeister (Dorfmusiker); habe das Perpetuum mobile
erfunden; sei die Vertreterin süddeutschen Humors (Arztwitwe); habe eine
elektrische Quelle entdeckt; sei die Jungfrau von Orleans (Dienstmädchen);
wisse mehr als alle Professoren, verlangt eine goldene Leier, ein Szepter, ein
weißes Pferd (Geistlicher).
Die Beispiele mögen zeigen, wie verfehlt es ist, „schwachsinnige“ Größen¬
ideen als ein Spezifikum der Paralyse anzusehen; gewiß sind solche beim manisch¬
melancholischen Irresein weniger häufig, aber es ist nicht möglich, daraus
„Schwachsinn“ ableiten zu wollen.
2 . Sinnestäuschungen.
Während sich Wahnvorstellungen in mindestens 78°/ 0 der Fälle von manisch¬
melancholischem Irresein vorfinden, begegnen wir Sinnestäuschungen in einer
erheblich geringeren Zahl, bei 31 % der Fälle. Die Verteilung auf die Geschlechter
ist genau dieselbe wie bei den Wahnideen (34 °/ 0 männliche, 66 % weibliche
Fälle). Auch die Verteilung auf die verschiedenen Altersstufen entspricht
so ziemlich dem bei den Wahnideen Gesagten. Was die Erscheinungsform
der betreffenden Fälle betrifft, so sind die zirkulären Fälle etwas mehr be¬
teiligt wie bei den Wahnvorstellungen.
Im folgenden sollen die Illusionen und Halluzinationen, welche nach den
Sinnesarten eingeteilt sind, gemeinsam besprochen werden. Im allgemeinen läßt
sich sagen, daß die Halluzinationen gegenüber den Illusionen in bezug auf die
Häufigkeit ihres Vorkommens bedeutend zurücktreten. Die Sinnestäuschungen
haben bei manisch-melancholischen Kranken im Ganzen den Charakter des
Traumhaften; sie machen sehr häufig einen recht verschwommenen, wenig
plastischen Eindruck.
a) Gesichtstäuschungen. Gesichtstäuschungen sind bei 11 % des
Gesamtmaterials, bei 34 °/ 0 des Materials, bei dem Sinnestäuschungen über¬
haupt zu beobachten waren, beteiligt; die Zahlenverhältnisse der Geschlechter
entsprechen im wesentlichen denen bei den Fällen mit Sinnestäuschungen
überhaupt. Was die Beteiligung der einzelnen Altersstufen betrifft, so ist auf¬
fallend, daß die Neigung der Begünstigung höherer Altersstufen nicht zu ver¬
kennen ist. Die zirkulären Verlaufsformen sind mit verhältnismäßig sehr großen
Zahlen beteiligt. Mit Vorliebe treten die Sinnestäuschungen in deliranten
Phasen der Erkrankung auf, und das gilt vor allem auch für die Gesichtstäu¬
schungen. Die Verwirrtheit kann recht gering und vorübergehend sein, es handelt
sich oft nur um kurze traumhafte Zustände. Dem Charakter nach sind die
Gesichtstäuschungen mehr illusionärer Art; sehr deutliche und plastische
Täuschungen treten nur vereinzelt auf.
Bei Bewertung späterer Angaben der Kranken über Gesichtstäuschungen
ist große Vorsicht am Platze; die Kranken haben nicht selten die Neigung,
die Gedächtnislücken, welche nur verschwommene Erinnerungsbilder ent¬
halten, auszugestalten und die Erlebnisse plastischer herausarbeiten, als sie
wirklich gewesen sind.
In manchen Fällen erfahren wir, daß die Kranken „blitzen“ sahen, sie
sahen Blitze einschlagen, „aufflammen“. Solche Wahrnehmungen sind nicht
selten kombiniert mit Wahnvorstellungen einer Schlacht, die in der Nähe ist,
mit der Idee des Weltuntergangs usw.; so äußern, wie oben schon angeführt,
Behm, Dm maDifloh-melaaoboUsche Irresein. 6
82
Symptome.
Kranke die Wahnvorstellung, daß die Stadt in Flammen stehe; dazu treten
dann die dazu gehörigen Sinnestäuschungen, welche das delirante Bild ver¬
vollständigen. In den meisten Fällen beziehen sich die Gesichtstäuschungen
auf das Sehen bekannter Personen oder Gestalten, welche dem religiösen Ge¬
biete entnommen sind. Vielfach mögen einfache Personenverkennungen ab
Sinnestäuschung imponieren. So sah eine Kranke alle möglichen Bekannten;
eine Kranke nahm Geistererscheinungen wahr; eine Patientin sah einen schwarzen
Mann, dann eine weiße Dame, welche wie ein Engel durchs Zimmer flog; eine
Kranke sah einen Mann mit einem Revolver im Zimmer, eine andere die Ge¬
sichter des Arztes und ihres Mannes, ferner Mäuse im Zimmer und im Essen;
„die Luft ist voll von ungarischen Reitern und von Lämmergeiern; Teufel,
Gestalten aus dem Jenseits“. Nicht selten sind die Gestalten auch in Bewegung;
so sah ein Kranker, wie in den Figuren in der Kirche die Augen sich bewegten;
auf den Häusern bewegen sich vier schwarze Männer, die aussehen wie Schorn¬
steinfeger; Gespenster, Engel; die Kinder kommen zur Türe herein; wenn sie
beten wolle, sehe sie lauter kleine Teufel um sich, die sie davon abhalten; nackte
Personen an der Wand, Teufel in Gestalt eines Eichkätzchens.
In einem Falle von chronischem Verlaufe der Psychose waren die Gesichts¬
täuschungen so plastisch, daß die Kranke mit den halluzinierten Personen
sprach, mit ihnen spielte und nach ihnen mit Nennung der Rufnummer tele¬
phonierter Doch scheinen solche Fälle Seltenheiten zu sein. Die geringe Plastik
kann geradezu diagnostisch zu verwerten sein gegenüber der außerordentlichen
Deutlichkeit des Auftretens der Sinnestäuschungen bei Dementia praecox-
Kranken. Am meisten Ähnlichkeit haben die Sinnestäuschungen deliranter
Att mit denen, welche in den leichten Verwirrtheitszuständen im postapo-
plektischen Irresein Vorkommen, und mit denen, welchen wir bei hysterischen
Dämmerzuständen bzw. Delirien begegnen.
Die im folgenden angeführten Täuschungen weisen durch ihre verblüffende
Ähnlichkeit mit den hysterischen auf diese Verwandtschaft ganz besonders
hin; sie sind nicht allzu häufig. Die Kranken sehen Totenköpfe an sich vorbei¬
schweben, auf dem Bette Köpfe, Augen, Schlangen, furchtbar blickende Augen,
gläserne Augen, Tiergestalten; eine Kranke sah in einem verworrenen Zustand
die gequollenen, abgeschnittenen Köpfe ihrer Töchter.
Es möchte noch darauf hingewiesen sein, daß dieselben Sinnestäuschungen
immer wieder in der gleichen Weise auftreten können und so eine schwere Angst
hervorzurufen imstande sind. Auffallend ist, daß die Gesichtstäuschungen
in der überwiegenden Zahl nachts auftreten, nicht im Schlafe, sondern offenbar
in dem Zustande von Überreiztheit, den der Affekt, verbunden mit der Schlaf¬
losigkeit bei den Kranken hervorgerufen hat; auch hier ist eine Parallele mit den
Sinnestäuschungen der Apoplektiker und der Hysterischen zu ziehen.
ß) Gehörstäuschungen. Die Gehörstäuschungen kommen in 19 °/ 0
der Fälle des Gesamtmaterials an manisch-melancholischen Fällen und in 60 °/ 0
des Materials an Fällen, in denen Sinnestäuschungen nachzuweisen sind, vor.
In bezug auf die Verteilung der Geschlechter ist bemerkenswert, daß die Ge¬
hörstäuschungen bei Frauen verhältnismäßig sehr häufig sind, häufiger als die
Gesichtstäuschungen. Die Altersstufen zeigen auch einen Unterschied gegen¬
über denen bei den Gesichtstäuschungen; wir sehen eine wesentlich stärkere
Beteiligung des jugendlichen Alters. Am auffallendsten ist das erheblich häufigere
Störungen der Vorstellung.
83
Vorkommen von Gehörstäuschungen bei rein depressiv verlaufenden Fällen,
im Gegensatz zu den Fällen mit Gesichtstäuschungen. Man könnte demnach
daran denken, daß Frauen in ähnlicher Weise die Gehörstäuschungen bevor¬
zugen, wie sie zu Depressionen in besonderem Maße neigen. Am häufigsten
finden wir die Gehörstäuschungen in der Form von Illusionen; in deliranten
Formen sehen wir sie recht häufig; sehr oft erscheint es uns, als ob der depressive
Affekt zu Erinnerungsfälschungen nach dieser Richtung geneigt mache, es ist
wohl eine erhöhte Empfänglichkeit in bezug auf Gehörseindrücke vorhanden.
In vielen Fällen handelt es sich um Gehörstäuschungen nicht präziser,
illusionärer Art. Die Kranken hören Schießen, ein Zirpen wie auf der Wiese,
Glockenläuten, das Ticken der Totenuhr, eigenartige, wunderschöne, melodische
Stimmen und Akkorde, das Läuten des Armensünderglöckleins, die Posaunen
des Himmels, Kanonenschläge, Trommeln, Wagenrasseln, Knallen und Schreien,
Musik; ein Kranker hörte nachts Nachtigallen, Spatzen und Finken durchein¬
ander singen. Es kommt nicht selten vor, daß Kranke aus dem Vogelgeschrei
„Stimmen“ heraushören, welche sie ihrem Affektzustande gemäß deuten,
oder in denen sie einen diesem Zustand entsprechenden Inhalt zu vernehmen
glauben.
Bei einer zweiten Gruppe werden die Gehörstäuschungen präziser, sie
nehmen mehr die Gestalt von Halluzinationen an; sie sind zwar in bezug
auf den Wortlaut undeutlich, werden aber häufig schon auf ganz bestimmte
Personen zurückgeführt. Die Kranken hören Hilfegeschrei von seiten ihrer
Kinder und Angehörigen, warnende Zurufe, ein Raunen, wie wenn gebetet
würde, Stimmen aus der Feme, sie seien in Mörderhänden; telephonische Rufe;
sie hören den Teufel schreien, den Namen rufen, beängstigende Stimmen über
Mord und Hinrichtung; ins Herz werde etwas gesagt, hören sich Vorwürfe
machen, Stimmen von abgeschiedenen Geistern; ein Kranker behauptete,
er habe eine helle Männerstimme aus dem Bettpolster gehört; was gesagt worden
sei, habe er nicht verstanden; eine Kranke hörte aus dem Summen und Surren
Worte heraus; dieselben seien aber nicht so wie mit den Ohren gehört, sondern
in ihren Gedanken. Auch Befehlshalluzinationen kommen vor; so behauptete
eine stuporöse Kranke nach Auflösen des Stupors, sie habe deswegen auf keine
äußerlichen Reize reagiert, weil es ihr von der Stimme Gottes so befohlen
worden sei.
In der dritten Gruppe treten die Gehörshalluzinationen noch präziser
henvor; doch sind sie von den Eiranken nachträglich referiert, so daß immerhin
Umdeutungen und Konfabulation, immer im Sinne des Affektes, in Betracht
kommen können. So hörte eine Kranke, es sei Geistesironie; eine andere Kranke
hörte aus dem Eisen, das sie vom Trinken des Eisenwassers in sich zu haben
glaubte, sie sei eine Schneppe, sie werde umgebracht; (ein Kranker:) die Frau
sei ihm untreu, sei hingerichtet worden; (eine suicidale Kranke:) sie solle hinunter¬
kommen ins Wasser hinein; der Bruder sei gestorben, sei ein Lump; sie solle
ins Wasser springen, werde eingesperrt. Eine Kranke gab an, sie höre beständig
durch ihr Herz telephonieren, sie bekomme auf diesem Wege Depeschen. Eine
andere Kranke äußerte sich dahin, daß sie böse und gute Stimmen in ihrer
Brust habe * die bösen geben zu, daß sie krank sei, die guten stellen das rechte
Gewissen dar. Recht häufig stellen sich nach den Angaben der Kranken die
Gehörstäuschungen ursprünglich nur als Illusionen dar; sie werden allmählich
/ 0 *
84
Symptome.
aus dem Sprechen der Umgebung, aus Geräuschen usw. herausmodelliert und
dann von den sehr aufmerksamen Kranken in verfolgendem, depressivem,
manischem usw. Sinne weiter verarbeitet.
Die vierte Gruppe wird von Fällen gebildet, in denen an der Präzision
des Gehörten nicht zu zweifeln ist. Meist stellen diese Gehörshalluzinationen
einzelne zugerufene Worte dar; es sind verhältnismäßig recht wenige Fälle.
„Der ist es“, „jetzt kommt der W. (Patient selbst) dran“, „Wildschwein“, „ver¬
standen“, „Kaiserin“, „warte, ich lasse dich doch hinrichten, wenn du nicht
ruhig bist“, „Jesus“, „Herrgott“, „du mußt es tun“ (nämlich sich umbringen).
Solche Kranke geben Antwort auf das Gehörte und führen laute Gespräche
mit den „Stimmen“. Es handelt sich dabei durchaus nicht immer um schwer
verwirrte Kranke, sondern meist befinden sie sich nur in einem verträumten
Zustande. In einzelnen Fällen kommt es auch zum Hören der eigenen Ge¬
danken; die Kranken geben an, die Gedanken würden vorgesprochen.
y) Sonstige Sinnestäuschungen. In manchen Fällen (2 % des
Gesamtmaterials, 6 % des Materials an Fällen, in denen Sinnestäuschungen
nachzuweisen sind) kommen Geruchstäuschungen vor. Die Eiranken riechen
etwas Sonderbares, z. B. Chloroform, das Essen riecht nach Menschenfleisch,
stinkende Gase, Pulver sind in der Luft. Sehr wenige Fälle bieten Geschmacks¬
täuschungen. Es handelt sich dabei um 1 % des gesamten und um 3 °/o des
Sinnestäuschungsmaterials. Die Kranken meinen, sie schmecken Chloroform
im Essen, die Suppe sei eine Sodalösung, Alkohol und Schwefel sei im Essen.
Von den Gefühlstäuschungen war oben schon bei Besprechung, der
hypochondrischen Wahnvorstellungen die Rede.
t) Störungen des Bewußtseins.
Verwirrtheit.
Wir treffen im manisch-melancholischen Irresein alle Übergänge von
leichtester Bewußtseinstrübung bis zu vollkommener Verwirrtheit. Es kann
bei den Kranken Unklarheit vornehmlich in bezug auf die zeitlichen bzw.
örtlichen Verhältnisse bestehen, es kann sich um Erlebnisse, die der Wirklichkeit
nicht entsprechen, handeln, also um eine Situationstäuschung in delirantem
Sinne; weiterhin kann eine Situation in Betracht kommen, die früher wirklich
durchlebt, nun krankhaft von neuem in die Erinnerung tritt, oder es sind mehr
oder minder phantastische, wahnhafte Erlebnisse, die in die Zukunft vedegt
werden.
Wir treffen also eine Verwirrtheit häufig nur in zeitlicher Beziehung,
in Beziehung auf die Umgebung usw. an. Was ich im folgenden Kapitel unter
Verwirrtheitszuständen zusammenfasse, sind Fälle, welche „vollkommen“
verwirrt sind, d. h. bei welchen sich die Situation vollkommen verändert und
wahnhaft umgestaltet hat.
Solche Zustände finden sich in mindestens 26 % der Fälle des gesamten
Materials, und zwar fallen auf das männliche 32%» auf das weibliche 68 %
der Fälle, wie es dem zahlenmäßigen Verhältnisse des männlichen und weiblichen
Geschlechts im manisch-melancholischen Irresein ungefähr entspricht. Was
das Alter betrifft, so scheint die Zeit vor dem 45. Jahre bevorzugt, d. h. es tritt
die Zeit der Involution an Bedeutung zurück. In bezug auf die Erscheinungen
Störungen de« Bewußtsein«.
Sß
form ist zu bemerken, daß die zirkulären Fälle 73 °/o ausmachen, periodisch
manische bilden 5, periodisch melancholische 13 %-der Fälle; die übrigen Pro¬
zentzahlen stammen von Fällen, die erstmals in der Zeit der Involution er¬
krankt sind.
Es sind die Fälle besonders zu erwähnen, bei denen im Verlaufe des
ganzen Lebens, soweit es klinischen Beobachtungen zugänglich war, mehrmals
Zustände von Verwirrtheit beobachtet werden konnten; diese Fälle machen
21 % des Materials, das ich unter der Verwirrtheit zusammengefaßt habe,
aus. Die Unterschiede im Alter werden hier, wie es die ausgedehntere zeitliche
Verteilung begreiflicherweise mit sich bringt, ganz verschwommen. Es handelt
sich lediglich um zirkulär verlaufende Fälle und zwar fast ausschließlich um
chronische, d. h. solche, deren Verlauf keine längeren gesunden Perioden zeigt,
und die anscheinend nicht wieder in gesunde Breiten zurückgeführt wurden,
also fast nur um sogenannte schwere Fälle. Die Involutionsmelanoholien kommen
hier nicht in Betracht. Auffallend ist, daß die schweren Bewußtseinsstörungen
vorzugsweise nach einem Affektwechsel in Erscheinung treten, überhaupt
gerne bei solchen Fällen, welche regen Wechsel des affektiven Bildes zeigen.
Wir finden also, daß Fälle mit schwerer Verwirrtheit zu den prognostisch un¬
günstigeren gehören, insbesondere dann, wenn mehrfach, in getrennten Perioden,
solche Zustände aufgetreten sind.
Störung der Erinnerungsfähigkeit.
Die Erinnerungsfähigkeit nach ihrer negativen und positiven Richtung
ist klinisch bzw. differentialdiagnostisch sehr wichtig. Finden wir doch bei
organischen Erkrankungen nach Verwirrtheitszuständen meist vollkommene
Erinnerungslosigkeit. Die epileptischen, paralytischen Verwirrtheitszustände
treten auch später in der Erinnerung nicht oder mindestens nicht deutlich hervor.
Es ist nur die Erinnerung an eine zeitliche Lücke vorhanden, welche nachher
zuweilen durch Konfabulationen ausgeftillt wird. Anders ist es bei den funk¬
tioneilen Geisteskrankheiten. Bei der Diagnose Hysterie wird mit Recht großes
Gewicht auf die im wesentlichen erhaltene bzw. wiederhergestellte Erinnerung
gelegt, und ganz ähnlich sind die“ Verhältnisse beim manisoh-melancholischen
Irresein gelagert. #
Wir erfahren in den Fällen, in denen schwere Verwirrtheitszustände vor¬
gekommen und abgelaufen sind, daß die Erinnerung erhalten ist, bzw. wieder¬
gekehrt ist; meist ist sie später in allen Details vorhanden, in manchen Fällen
allerdings auch nur summarisch. Praktisch pflegt die Gesundung sehr oft
schon eingetreten zu sein, ohne daß volle Erinnerung wiedergekehrt ist, doch
stellt sie sich meist mit der Zeit noch ein.
Wir bekommen so katamnestisch die anschaulichen Beschreibungen
der an Erlebnissen reichen deliranten Phasen; wir hören auch, daß die Erlebnisse
während des Ablaufs der Erkrankung bis ins Detail ausgemalt und mit einer
Spannung erlebt waren, welche die kleinsten Züge ins Gedächtnis eingraviert hat.
Die erhaltene bzw. wiedergewonnene Erinnerung gehört zu den wich¬
tigen differentialdiagnostischen Gesichtspunkten. Es ist von großer Bedeutung,
darauf zu achten, besonders dann, wenn es sich um die Entscheidung handelt,
ob die abgelaufene Psychose bzw. Krankheitsphase der Ausdruck einer funktio-
86
Symptome.
nellen Erkrankung des Gehirns gewesen ist oder nicht. Jedenfalls ist die Wieder¬
herstellung der Erinnerung ein Zeichen der Genesung.
g) Tagesschwankungen.
Schon der gesunde Mensch weist gewisse Schwankungen der Leistungs¬
fähigkeit während des Verlaufes eines Tages auf. Er erwacht morgens frisch
und am leistungsfähigsten; gegen Abend läßt die Arbeitsfähigkeit nach;
es macht sich infolge der Tagesarbeit die Ermüdung geltend, welche Schlaf¬
bedürfnis und Schlaf herbeiführt. Nun gibt es, noch in gesunden Breiten
liegend, Persönlichkeiten, welche morgens nach dem Schlafe müde sind und
erst im Laufe des Tages — die Erfahrung bezieht sich im wesentlichen auf die
geistige Arbeit — vor allem gegen Abend, leistungsfähiger werden. Es wird
angenommen, daß diese Personen auch eine veränderte Schlafkurve haben;
die größte Tiefe des Schlafes soll bei solchen gegen den Morgen zu liegen, während
normalerweise die Schlaftiefe nicht lange Zeit nach dem Einschlafen das Maxi¬
mum erreicht (siehe oben). Weit mehr als unter Gesunden finden wir diese
abweichende Kurve der Tagesleistung unter Psychopathen und angeboren
geistig abormen Persönlichkeiten. Da nun, wie früher schon ausgeführt, unter
den: manisch-melancholischen Kranken, wenn nicht alle, so doch eine außer¬
ordentlich große Zahl von Haus aus als psychopathisch zu bezeichnen sind,
so ist es verständlich, daß wir bei diesen schon in den krankheitsfreien Zeiten,
ausgesprochen aber in den Krankheitsphasen, eine Tagesschwankung sehen,
welche wir als „typisch“ bezeichnen. Zweifellos tritt durchaus nicht bei allen
Manisch-Melancholischen auch in den freien Zeiten diese Tagesschwankung
deutlich hervor; wir hören einerseits recht häufig, daß den Kranken diese Er¬
scheinung etwas Neues ist, während wir andererseits aber auch oft erfahren,
daß sie solche Schwankungen schon in gesunden Tagen, wenn auch weniger
ausgeprägt, gehabt haben.
Diese typische Tagesschwankung besteht also darin, daß die Eiranken
schwer aus dem Zustande des Schlafes kommen, bzw. daß sie sich an einem
Zeitpunkt, in welchem der Mensch normalerweise am frischesten ist, noch müde
und abgespannt fühlen und nicht leistungsfähig erscheinen. Im Laufe des Tages
tritt dann, entweder allmählich oder auch ganz plötzlich wie eine Erleichterung
die Besserung meist im späten Nachmittag ein. In den frühen Abendstunden
verschlimmert sich in manchen Fällen schon wieder der Zustand. So sehen
wir am deutlichsten bei den Melancholischen, daß sie in den Nachmittags¬
stunden lebhafter, gesprächiger und weniger verstimmt sind, und daß bestehende
Hemmungen in ihrer Spannung nachlassen; man könnte an eine Besserung
der Psychose glauben.
Was die klinischen Formen betrifft, so handelt es sich, wie gesagt,
fast durchweg um depressive Zustände, mit oder ohne psychomotorische Er¬
regung bzw. Hemmung. Psychomotorische Erregung und Hemmung ist in
den Fällen meines Materials ungefähr in gleichem Maße beteiligt. In einzelnen
Fällen sehen wir abendliches Schlechterwerden und morgendliche Erleichterung.
Über Tagesschwankungen in den freien Zeiten ist bei diesen Kranken nichts
bekannt geworden. Es handelt sich um jugendliche Kranke ohne sonstige
klinische Besonderheiten.
Periodizität und kurzdauernde Schwankungen.
87
Man könnte daran denken, daß bei den meisten Fällen die typische Tages¬
schwankung vereint mit der manisch-depressiven Disposition angelegt ist
und bei Eintreten der Psychose entsprechend zum Ausdruck kommt; bei einer
kleinen Minderheit würde es sich um entgegengesetzt angelegte, in bezug auf
die Tagesleistung normal disponierte Persönlichkeiten handeln.
In dem ganzen Material waren bei ca. 10 % der Fälle ausgeprägte Tages¬
schwankungen zu konstatieren, und zwar verteilten sich diese Fälle mit 41 %
auf das männliche, mit 59 % auf das weibliche Geschlecht. Die Männer er¬
scheinen demnach verhältnismäßig bevorzugt.
Was die Altersstufen betrifft, so ist das höhere Alter (nach 45 Jahren)
im Vorzug, was aus der Beteiligung von 19 °/o Erkrankungen in der Involution
noch besonders deutlich hervorgeht. Rein manische Fälle mit Tagesschwan¬
kungen sind nicht beobachtet. Es ist das auffallend; man kann nicht annehmen,
daß bei manischen Erkrankungen die Tagesschwankung in Fortfall kommt,
vielmehr ist wahrscheinlich, daß sie durch die manische Erregung verdeckt
wird; immerhin erscheint dieser Erklärungsversuch für diese sonderbare Be¬
obachtung nicht hinreichend, es ist wünschenswert, daß nach dieser Richtung
hin Untersuchungen angestellt werden.
h) Periodizität und kurzdauernde Schwankungen.
Die Periodizität gilt als ein charakteristisches Merkmal der Erkrankung.
Wir finden periodische Erscheinungen allenthalben in dem physiologischen
Ablauf der Vorgänge in der Natur, auch bei einer Anzahl von psychischen
Erkrankungen, insbesondere bei der Epilepsie. Beim manisch-melancholischen
Irresein ist die Periodizität eigentlich nur in wenigen Fällen eine einigermaßen
deutliche, aber fast allen Fällen sind periodische Schwankungen nach Intensität,
Affekt usw. eigen. Immerhin wird das ganze periodische Verhalten mit dem
längeren Andauem der Krankheit verwaschener, wie es bei einem Krankheits¬
prozeß nicht zu verwundern ist.
Die kurzdauernden Schwankungen des Affektzustandes sind von
besonderer Wichtigkeit. Unter kurz dauernd verstehe ich dabei Schwankungen,
bei denen ein Affektzustand einen Zeitraum von einigen Tagen oder weniger
einnimmt. Solches Hin- und Herpendeln des Gemütszustandes sehen wir, abge¬
sehen vom manisch-melancholischen Irresein, besondere häufig bei Psycho¬
pathen und bei Hysterischen; sie passen bei den degenerativen Zuständen
sich der Persönlichkeit ohne weiteres an und erscheinen nicht als etwas Fremd¬
artiges, wie ähnliche Vorkommnisse bei Epileptikern. Im manisch-melancholi¬
schen Irresein ist charakteristisch, daß bei sehr vielen Kranken, welche sich
nicht in einem Verwirrtheitszustände befinden und also über ihre Besonnenheit
verfügen, durch Suggestion und Zureden ein entgegengesetzter Affekt für
Augenblicke hervorgebracht werden kann. Diese Erfahrung erleichtert das
Verständnis für die zu besprechenden Vorgänge.
Über eine ganze Reihe von Personen, welche im* Verlaufe ihres Lebens
an manisch-melancholischen Psychosen erkrankt sind, haben wir Kenntnis,
daß sie von jeher launisch sind und unmotivierten Stimmungswechsel zeigen,
und daß von Zeit zu Zeit tagelange depressive oder manische Verstimmungen
eintreten. Ähnliche Schwankungen treten recht häufig in den krankheits¬
freien Intervallen auf. So erklärte eine Kranke, daß sie in der freien Zeit manch-
88
Symptome.
mal Tage mit gedrückter Stimmung habe ; an denen sie nichts arbeiten könnte.
Die Zeit der Menses ist bei den Frauen überhaupt besonders zu Stimmungs¬
schwankungen disponiert, die sich dann bei manisch-melancholischen Per¬
sönlichkeiten oft besonders scharf ausprägen.
Unter meinem Material finden sich in 15 % kurzdauernde Schwankungen
des Krankheitszustandes, und zwar sind es 23 % Männer und 77 % Frauen.
Im ganzen haben wir im manisch-melancholischen Irresein ein Verhältnis der
Männer zu Frauen wie 1: 2, hier von ungefähr 1: 3. Vielleicht ist dieses Mi߬
verhältnis dadurch zu erklären, daß, wie auch auf anderen Gebieten, die
Periodizität, die steten Wellenbewegungen bei der Frau größeren Einfluß haben
wie beim Manne: Der Einfluß der Menses allein kann nach früheren Erfahrungen
die Ursache kaum sein.
In bezug auf die Altersstufen sehen wir das jüngere Geschlecht in ganz
besonderem Maße bevorzugt; so steht die Altersstufe vom 31.—40. Jahre mit
26% der Fälle voran. Was die klinische Erscheinungsform betrifft,
sind verständlicherweise die zirkulären Formen mit 80 % der Fälle weitaus
im Vordergründe.
In bezug auf die Art des Wechsels ist zu betonen, daß hier alle mög¬
lichen Nuancen Vorkommen; wir finden einen Wechsel zwischen anscheinend
normalen und depressiven bzw. manischen Zeiten, am häufigsten einen Wechsel
zwischen manischer und depressiver Stimmung, doch auch zwischen zorniger
und deprimierter, ratlos-verlegener und deprimierter Stimmungslage, zwischen
Angst und Heiterkeit, zwischen Verworrenheit und Besonnenheit. Es kommt
auch vor, daß auf eine leicht depressive Grundstimmung stärker deprimierte
Stunden und Tage aufgepfropft werden, ebenso wie bei hypomanischer Grund¬
stimmung Tage stärkerer manischer Erregung beobachtet werden. Auf Tafel 1
und 16 t ist die melancholische Phase einer Kranken schematisch dargestellt, bei
der bei depressiver Grundstimmung ohne sichtliche Beeinflussung durch
die Menses Tage schwerer Verstimmung periodisch auf treten. Tafel 16 a zeigt
einen chronisch zirkulären, fast dauernd verwirrten Kranken; von Zeit zu Zeit
schieben sich in die tobsüchtige Manie Tage von Melancholie mit klarem Be¬
wußtsein ein.
Wir sehen die Kranken aus heiterster Stimmung in wütende Erregung
umschlagen; wir hören, daß ein Kranker in kurzen Perioden lacht, singt,
und weint. Besonders stark erscheint dieser groteske Wechsel oft bei Ver¬
wirrtheitszuständen, am meisten bei deliranten Phasen. Die Kranken werden
geschildert als bald vertraulich, verliebt, bald finster, verschlossen; teilweise
glückselig, teilweise traumverloren; mitten im Schimpfen bricht lautes Ge¬
lächter hervor. Von einer Kranken wird berichtet, daß sie oft ganz vergnügt sei,
dann aber hinterher jammere, sie hätte nicht lustig sein sollen; sie lacht oft mitten
in den hypochondrischen Jeremiaden. Folgende Schilderung ist besonders
anschaulich: Schwanken zwischen Zeiten, in denen sie (die Kranke) unter
einem Zwange handelt,' und klareren Zeiten mit Krankheitseinsicht; die Ge¬
mütsverfassung schwankt in allen Nuancen von leichter ängstlicher Erregtheit
bis zu starken ängstlichen Affekten, von stumpfem, apathischen Vorsichhin-
brüten bis zu lebhaften Zornesausbrüchen.
Die kurzdauernden Schwankungen treten zum Teil bei Beginn der Krank¬
heitsphase nach krankheitsfreiem Intervall auf; sie machen den Eindruck, als
Schlafstörung.
89
ob der Kranke erst Zeit brauche, sieb auf einen bestimmten Zustand einzu¬
stellen; dasselbe gilt bei Abklingen der Krankheitsphase und allmählichem
Übergang in Gesundheit; auch hier sehen wir in einer großen Anzahl von
Fällen das eigenartige Hin- und Herpendeln des Stimmungszustandes. Ferner
finden wir gelegentlich Stimmungsschwankungen mitten in einer länger dauern¬
den Phase, ohne daß eine besondere Änderung des Zustandes ersichtlich würde.
Aber in dem größten Teil der Fälle treten die kurzdauernden Schwan¬
kungen dann auf, wenn während einer Krankheitsphase ein Wechsel des Zu¬
standsbildes sich vorbereitet und sich mit Hilfe dieser Schwankungen langsam
vollzieht. Sie scheinen da oft die Rolle der Mischzustände zu vertreten oder
mit denselben gemeinsam aufzutreten. Man kann sie vergleichen mit dem
Flackern des Lichtes, wenn es allmählich durch Mangel an Nahrung erlischt.
Prognostisch scheinen die kurzdauernden Schwankungen günstig zu
liegen. Unter den einschlägigen Fällen finden sich keine chronischen, wohl aber
subchronische und solche, welche nach mehr oder weniger langen Remissionen
wieder neue Schübe zeitigen. Erstmalige Erkrankungen sind selten. Mir
scheinen die kurzdauernden Schwankungen charakteristisch für prognostisch
günstige Anfälle zirkulären Charakters mit der Neigung zu weiterer Periodizität
zu sein. Das männliche Geschlecht und das jüngere Alter sind besonders
bevorzugt.
t i) Schlafstörung.
Die Schlafstörungen bei manisch-melancholischen Kranken bestehen
in zwei Arten. Bei der weniger häufigen Gruppe, den Fällen von „Schlaf¬
sucht“, haben die Kranken — wohl immer depressive — das Bedürfnis, die
Schlafzeit auszudehnen; da aber der feste gesunde Schlaf fehlt, so „duseln“
sie im Halbschlaf lange Zeit dahin. Eine Abart dieses erhöhten Schlafbedürf¬
nisses ist die Bettsucht, eine Form psychomotorischer Hemmung.
Die gewöhnliche Schlafstörung ist die primäre Schlaflosigkeit, d. h. die
Unmöglichkeit, einen tiefen, zur Erholung führenden Schlaf zu gewinnen.
Es handelt sich im wesentlichen um die Schwierigkeit, einzuschlafen. Man
macht die Erfahrung, daß Kranke, sobald sie eingeschlafen sind, gegen Morgen
noch lange „hinduseln“ und sich in einem Halbschlaf befinden, der freilich
durchaus nicht voll erquickend und außerdem noch sehr häufig durch Träume
gestört ist. Ausgedehnte Schlaftiefenversuche fehlen bei manisch-melancholi¬
schen Kranken; es scheint mir aber wahrscheinlich, daß die Kurve erst sehr
spät gegen Morgen (ähnlich wie bei den Morgenschläfem) ihr Optimum erreicht.
Aus diesen Überlegungen heraus ergibt sich in therapeutischer Beziehung,
daß zur Besserung des Schlafes rasch wirkende kleine Dosen, soweit es sich
um Medikamente handelt, das Entsprechende sein dürften; doch davon später. „
Zu bemerken ist* daß in einzelnen Fällen von Depressionen auf guten Schlaf
bei starker Müdigkeit hingewiesen wird; zweifellos sind diese Fälle Ausnahmen.
Bei 32 °/o der Fälle meines gesamten Materials bestanden erhebliche
Schlafstörungen, und zwar in einem Verhältnisse von 38 °/o Männern und 62 %
Frauen. Bei der Gruppierung nach Altersklassen ergibt sich, daß das mittlere
und höhere Alter bei den Schlafstörungen bevorzugt ist. Dem entspricht die
Erfahrung des täglichen Lebens, daß nämlich mit dem höheren Lebensalter
die Güte des Schlafes abnimmt.
Symptomer.
90
Was die klinischen Formen betrifft, so sind über die Hälfte zirkuläre
Fälle; 20 °/ 0 der Fälle gehören der Involution als erstmalige Erkrankungen an.
Im allgemeinen handelt es sich ebenso häufig um manische, wie um melancholi¬
sche Phasen; doch ist zu bemerken, daß die Fälle, welche eine psychomotorische
Erregung zeigen, in der Mehrzahl sich befinden, und zwar sind sie fast doppelt
so zahlreich vertreten, wie die mit Hemmung.
Die erste Ursache der Schlaflosigkeit mag die erwähnte psychomotorische
Störung sein; außerordentlich häufig geben uns die Kranken an, sie könnten wegen
der Angst nicht einschlafen, Angst vor dem Kommenden stört sie. „Konge¬
stionen zum Kopfe“ stören andere Kranke; trotz Müdigkeitsgefühls kein oder
schlechter Schlaf, das ist das Charakteristikum der manisch-melancholischen
Schlafstörung. Im allgemeinen legt man bezüglich der Zeiten gesunder Breite
mehr Gewicht auf Stimmungsschwankungen als auf Schlafstörungen. Um so
interessanter ist es, in manchen Fällen zu hören, daß auch in derZeit der gesunden
Breite hier und da Perioden von längeren Zeiten mit Schlaflosigkeit auftreten.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß der sachverständige Beobachter in solchen Zeiten
auch noch andere manisch-melancholische Symptome hätte finden können.
<Wie oben schon erwähnt, ist fehlender bzw. schlechter Schlaf bei Kranken
in manischer Erregung besonders häufig; man ist geradezu verwundert, wie
lange Zeit solche Kranke fast ohne Schlaf in steter Erregung ohne Zeichen
körperlicher und geistiger Erschöpfung aushalten können, offenbar dank der
Unterstützung durch eine überwiegende ausgeprägte psychomotorische Er¬
regung, aber auf Kosten des Ernährungszustandes.
Bei psychomotorisch erregten manisch-melancholischen Kranken pflegt,
wie oben erwähnt, die Unruhe Tag und Nacht anzuhalten, im Gegensatz zu den
meisten Fällen von Dementia praecox, die über guten Nachtschlaf verfügen, und
im Gegensatz zu den erregten Hysterischen, bei denen gerade die Schlafstörung
mit reichlichen Delirien und Unruhe recht oft charakteristisch ist. Auch die
senile Demenz zeichnet sich durch Schlaflosigkeit und nächtliche, oft delirante
Unruhe aus. Im Zusammenhänge mit diesen Erfahrungen mögen zwei Fälle
meiner Beobachtung, Ersterkrankungen im 53. bzw. 70. Lebensjahr, angeführt
sein, bei denen die Unrhhe fast nur nachts bestand, während sie sich tagsüber
verhältnismäßig ruhig verhielten. In den beiden Fällen fanden sich keine Sym¬
ptome von seniler Demenz, auch nicht von hochgradiger Arteriosklerose; immerhin
wird man sich diese Erscheinungen nur mit dem Beginn eines Seniums, das
freilich in dem einem Falle sehr früh eingesetzt hätte, erklären können.
Träume.
Man kann das Traumleben als pathologische Schlafstörung auffassen.
Je lebhafter und je eindringlicher ein Traumvorgang ist, je weniger tief der
Schlaf ist und je mehr er sich der normalen Bewußtseinshöhe nähert, desto mehr
ist def Vorgang geeignet, den Schlaf zu stören und das Erwachen hervorzurufen.
Da allerdings die Träume nur im leichten Schlafe auftreten, ist dem Gesunden
mit seinem tiefen Schlafe ein gewisser Schutz gegen die Träume gewährleistet.
Bei Gesunden spielen die Träume eine geringe Bolle; sie prägen sich
wegen ihrer Oberflächlichkeit nicht ein, beim Erwachen sind sie meist vollkommen
vergessen; es besteht höchstens noch eine allgemeine Erinnerung, daß ein Traum
bestanden hat; sie treten beim Gesunden auf, wenn das Erwachen vorbereitet
Geistige Arbeit.
91
wird, oder wenn durch irgend eine Schlafstörung äußerer Art der Schlaf an
Tiefe vorübergehend einbüßt.
Anders sind die Verhältnisse bei Psychopathen und Hysterischen,
bei welchen die Träume konkrete Gestalt annehmen, häufig zu jähem Aufwachen
führen und sich dem Gedächtnisse einprägen. Es besteht daher bei solchen
Personen die Fähigkeit, den Inhalt der Träume festzuhalten und nach Er¬
wachen zu reproduzieren. Bei Hysterischen finden wir dementsprechend recht
häufig Sinnestäuschungen, die durchaus den Eindruck des Verschwommenen
und Traumhaften machen; es besteht oft keine scharfe Grenze zwischen Il¬
lusion und Traum, wobei noch eine gewisse Kritikschwäche dem eigenen Zu¬
stande gegenüber bzw. ein erhöhtes Krankheitsgefühl von Einfluß ist.
Im allgemeinen pflegt der Inhalt des Traumes der zur Zeit vorherrschenden
Stimmung, d. h. allem dem zu entsprechen, was eben das Gemüt in besonderem
Maße in Anspruch nimmt. So ist es erklärlich, daß manisch-melancholische
Kranke im Sinne ihres Affektzustandes träumen. Wir wissen im ganzen wenig
von dem Inhalt ihrer Träume, immerhin prägen sie sich, besonders bei ängst¬
lich Melancholischen sehr stark aus; man trifft solche Kranke beim Erwachen
aus dem Schlaf in Schweiß gebadet, man hört sie gelegentlich aufschreien
und im Schlafe reden.
Es wäre sehr wünschenswert, über die Art der Träume manisch-melan¬
cholischer Kranker durch eingehendere Studien Näheres zu erfahren. Frauen
und Männer scheinen nach meinen Erfahrungen in gleichem Maße zu träumen;
wesentliche Unterschiede nach klinischen Forfhen bestehen wohl nicht.
k) Geistige Arbeit.
Kraepelins Verdienst ist es, mit einer anerkannt brauchbaren Methode
die geistige Arbeit experimentell geprüft und in ihre Bestandteile zerlegt zu
haben. Dadurch haben wir von verschiedenen Erkrankungen Kenntnis über
die geistige Arbeit und ihre Komponenten erhalten. Ich führe die Unter¬
suchungen von W. Specht 1 ) bei traumatischer Neurose, von Plaut 2 ) bei
Unfallskranken, von Hutt*) bei manisch-depressivem Irresein an.
Die Methodik obiger und folgender Versuche war ähnlich wie die, Welche
ich bei der Untersuchung der Ablenkbarkeit angewendet habe. Weil bei letzterer
eine-gewisse Änderung der Versuchsanordnung vorgenommen werden mußte,
so soll hier der Plan, wie er von mir bei den folgenden Versuchen verwendet
wurde, ausführlich angeführt werden.
Es werden Reihen untereinanderstehender einstelliger Zahlen fortlaufend
zu je zweien addiert, und das Resultat wird mit Bleistift daneben ge¬
schrieben. Nach jeder Minute erfolgt ein Zeichen, das in der Zahlenreihe
vom Kranken vermerkt wird. Im ganzen wird 10 Tage hintereinander,
möglichst zur selben Tageszeit und unter denselben Bedingungen, ge¬
rechnet. 10 Minuten beträgt die ganze Arbeitszeit. An jedem 2. Tag wird
nach 5 Minuten Arbeit eine Pause von 5 Minuten eingeschoben. Die täglichen
- i-
*) W. Specht, Einige Bemerkungen zur Lehre von den traumatischen Neurosen.
Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psychiatr. 1906.
*) Plaüt, Psychologische Untersuchungen an Unfallskranken. Ref.: Zentralbl. f.
Nervenheilk. u. Psychiatr. 1906.
a ) Hutt, Rechenversuche bei Manisch-depressiven. Kra epelins psyohol. Arbeiten
6, Heft 3.
92
Symptome.
Leistungen können graphisch in Gestalt einer Kurve dargestellt werden. Von
den Kranken befanden sich 11 in der manischen, 20 in der depressiven Phase der
Erkrankung. Bei zwei Kranken schlug während des Versuches der Zustand um.
Zum Vergleiche dienen 24 gesunde Pflegepersonen. Die Melancholien
schied ich in gehemmte und psychomotorisch erregte. Die gehemmten Depres¬
sionen teilte ich in 2 Formen, solche mit schwerer und solche mit leichter psycho¬
motorischer Hemmung. Bei den Manischen unterschied ich typische manische
Erregung und Manie mit psychomotorischer Hemmung.
Die schematischen Darstellungen (Tafel 8, 9, 12, 13) mögen mit denen ver¬
glichen werden, welche sich bei den Resultaten des Ablenkungsversuches er¬
gaben. Am Schlüsse dieses Abschnittes finden sich die Zahlen in einem Schema.
Zu bemerken ist, daß die Darstellung des Antriebes absoluten Zahlen entnommen
ist, dabei also das Verhältnis zur Leistung nicht in Betracht gezogen ist; da¬
durch erklären sich die sehr differierenden Zahlen in dem Prozentverhältnisse
der schematischen Darstellung dieser und der Ablenkungsversuche.
1. Antrieb vor der Pause. Derselbe ist berechnet aus der Differenz
der 1. und 3. Minute. Der Antrieb ist der Willensfaktor im Versuche. Derselbe
ist bei den Gesunden kleiner wie bei den gehemmten Melancholischen. Auf¬
fallend gering ist der Antrieb bei den gehemmten Manischen; diese sind die¬
jenigen Versuchspersonen, welche dem Versuch mit verhältnismäßig wenig
Interesse entgegengetreten sind; sie haben auch eine geringe allgemeine Pausen¬
wirkung und eine recht geringe Leistung.
2. Antrieb nach der Panse. Bei den Gesunden und bei einem Teil der
Kranken (den erregten Melancholischen) verliert der Versuch während seines
Verlaufes an Interesse. Bei den Gesunden zeigt sich dies sehr deutlich als
Minus an den Tagen mit Ablenkung. Die gehemmten Melancholischen ver¬
fügen auch hier über die größte Leistung.
3. Unmittelbare Pausenwirkung. Sie ist aufzufassen als Resultat
der Einwirkung des Antriebs nach der Pause und einer Anregung durch den
Versuch selbst. Diese letztere hat bei Gesunden, ferner bei den psychomotorisch
gehemmten Manien und Melancholien erheblichen Grad erreicht, während die
psychomotorisch erregten Manien und Melancholien keine Anregung durch
den Versuch erfahren haben.
4. Allgemeine Pausen Wirkung. Die Einwirkungen sind bei den
verschiedenen Krankheitskategorien ähnlich wie beim Ablenkungsversuch.
Die Gesunden haben etwas größere Pausenwirkung, welche sehr wahrscheinlich
dadurch hervorgerufen ist, daß die Spannung bezüglich der täglich sich ändernden
Versuchsanordnung im Ablenkungsversuch ein vorsichtiges Arbeiten ohne große
Kraftanstrengung und deshalb die Minus-Pausenwirkung hervorgerufen hat.
Bei den hier zu besprechenden Versuchen fiel diese Anspannung weg. Die
gehemmten Manischen sind sehr ermüdbar, daher die starke Pausenwirkung;
bei den erregten Manien fehlt ebenso wie bei den erregten Depressionen eine
stärkere Anstrengung (wie auch stärkerer Antrieb), daher ist eine geringere
Ermüdbarkeit vorhanden. Die gehemmten Depressionen überwinden ihre Hem¬
mung nicht, deshalb kommt die Pausenwirkung als erholendes Moment nicht
in Betracht. Wie der Antrieb bei dieser Gruppe zeigt, haben sie eine starke
Willensanspannung; diese genügt aber nicht, die Hemmungen zu überwinden.
Demnach müssen die Hemmungen bei den gehemmten Manischen und Me-
Geistige Arbeit.
93
lancholischen verschiedener Art sein. Sehr wahrscheinlich kommt hier der
Affektzustand zum Ausdruck; die Hemmung der Melancholischen macht sie
ängstlich, unzuversichtlich und zögernd, während die Manischen über eine Hem¬
mung verfügen, bei der die Expansion des Affektes nicht zurückgedrängt ist.
5. Täglicher Übungszuwachs inöMinuten. Die erregten Manien und
Melancholien zeigen einen sehr deutlich stärkeren Ubungszuwachs als die gehemm¬
ten Fälle. Ihre Übungsfähigkeit übertriff* sogar die der Gesunden nicht unerheblich.
6. Durchschnittsleistung in 5 Minuten. Hier stehen die psychomoto¬
risch erregten Fälle im Vordergründe und haben neben den Gesunden die besten
Leistungen; in deutlichem Abstand folgen die gehemmten Fälle. Männliche
Gesunde haben im allgemeinen größere Leistungen wie weibliche, während
bei den Kranken, die sich aus Personen der verschiedensten Bildungsstufen
zusammensetzten, die Männer keine größeren Leistungen zeigten.
Zusammenfassung. Die Gesunden verlieren während des Ver¬
suches einen Teil ihres Interesses am Versuch, der Willensantrieb läßt nach.
Die Manischen und Depressiven ergeben durchaus widersprechende Re¬
sultate, soweit sie nach ihrem Affektzustand betrachtet werden. Trennt man
sie nach ihrem psychomotorischen Verhalten in je 2 Gruppen, so er¬
scheinen gewisse Regelmäßigkeiten. Die Gehemmten haben gemeinsam
starke Anregung, geringen täglichen Ubungszuwachs und geringe Leistung.
Die gehemmten Manischen verfügen über geringeren Willensantrieb als die
gehemmten Melancholischen. Die gehemmte Manie zeigt sehr starke Pausen¬
wirkung, die gehemmte Melancholie sehr geringe.
Die Fälle mit psychomotorischer Erregung zeigen bei Berücksichtigung
ihres Affektzustandes nur geringe (Jegensätze. Ihr Willensantrieb ist gering, ihre
Anregbarkeit sehr gering; die Ermüdbarkeit erscheint gemäß des geringen
eingesetzten Willens gering. Der Übungszuwachs und die Leistung überragt
die anderen Gruppen.
Aus den Ausführungen geht mit großer Deutlichkeit hervor, daß
das psychomotorische Verhalten erheblich charakteristischer ist als
das affektive. Wesentliche Unterschiede ergeben sich nur in der Stärke der
Willensanspannung und in der Pausenwirkung bei Gehemmten. Die Willens¬
anspannung ist in der gehemmten Manie gering bei sehr starker Pausenwirkung,
in der gehemmten Melancholie groß bei sehr geringer Pausenwirkung. Es handelt
sich hier um Widersprüche, die schwer lösbar erscheinen; es handelt sich offenbar
um fundamentale Gegensätze. Gehemmte Manische sind trotz geringer Leistungs¬
fähigkeit sehr ermüdbar; ihr Interesse und ihr Willenseinsatz ist bei dem traum¬
haften Vorbeidenken an dem Zwecke der Arbeit sehr gering. Umgekehrt ver¬
halten sich die gehemmten Melancholischen, ihre Hemmung ist so schwer ver¬
ankert, daß sie trotz guten Willenseinsatzes und starker Anregbarkeit während
der Arbeit, welche nur geringe Leistungen zuwege bringt, versagt. Wir sehen,
daß die Probleme bei weiterem Eindringen in die Grundlagen, wie es der natur¬
wissenschaftlichen Erfahrung entspricht, verwickelter statt einfacher werden.
Anknüpfend an die Wichtigkeit des psychomotorischen Verhaltens soll
die geistige Arbeit der Manisch-Melancholischen geprüft werden in einer Ein¬
teilung nach der Art und Stärke dieser Störung.
Psychomotilität und geistige Arbeit. Es sind hier 4 große Gruppen
zu unterscheiden: 1. Gesunde, 2. Gehemmte, 3. Personen, bei denen weder Hem-
94
Symptome.
mung noch Erregung nachweisbar ist, 4. Erregte. Die Gruppen der Gehemmten
und Erregten zerfallen je in 2 Untergruppen leichterer und schwererer Fälle.
Der Antrieb vor der Pause steigt mit der Stärke der psychomotorischen
Störung; der Antrieb nach der Pause zeigt sehr verschiedenartige Verhältnisse;
bei den Gesunden ist er am geringsten. Die unmittelbare Pausenwirkung ist
bei den schwer Gehemmten, offenbar der Anregbarkeit entsprechend, am
stärksten. Die allgemeine Pausenwirkuag ist bei den Gehemmten etwas größer
wie bei den Erregten; das Resultat ist zu erwarten, nachdem wir gesehen haben,
daß hier der Affekt wesentlichen Einfluß ausübt; bei der Vermengung der
Gruppen affektiver Störung wird dies rechnerisch ausgeglichen. Der täg¬
liche Übungszuwachs ist bei den leicht Erregten am größten, überhaupt bei
Erregten größer wie bei den Gehemmten. Die Leistung der Erregten ist er¬
heblich größer wie die der Gehemmten; die geringste Leistung zeigen die
schwer Gehemmten. Die Nichtgehemmten und Nichterregten nähern sich
in ihrer geistigen Arbeit den Gesunden, nur in bezug auf die Pausenwirkung
lassen sie einen sehr deutlich in die Augen fallenden Unterschied erkennen;
ihre Pausenwirkung ist sehr gering, geringer wie die anderer Kranker.
Fassen wir die Resultate zusammen, so ergibt sich: die psychomotori¬
schen Störungen sind einheitlicher und erscheinen demnach, was die geistige
Arbeit betrifft, wichtiger wie die Affektstörungen. Die gehemmten Kranken
sind die anregbarsten im Verlaufe der Arbeit; ihre Leistungen sind entsprechend
der Schwere der Hemmung die geringsten. Der Willensantrieb ist am geringsten
bei den leicht Gehemmten. Der Antrieb nach der Pause ist bei den Kranken
stärker wie bei Gesunden. Besteht keine erkennbare psychomotorische Störung,
so ist die Pausenwirkung am geringsten. Gehemmte Manische haben bei ge¬
ringen Leistungen und geringem Antrieb die stärkste Pausenwirkung; die
gehemmten Melancholischen haben die geringste Pausenwirkung bei geringen
Leistungen und starkem Antrieb. Sowohl allgemeine Pausenwirkung wie
Leistung sind bei Gesunden stärker wie bei Kranken; der Antrieb Gesunder
nach der Pause ist geringer wie bei Kranken.
Wenn wir versuchen, die gewonnenen Resultate mit den klinischen
Erfahrungen in Einklang zu bringen, so ist es uns einleuchtend, daß im
ganzen die Leistungen der Kranken geringer sind als bei Gesunden, selbst die
Leistungen der Manischen kommen nicht an die der Gesunden heran. Ebenso¬
wenig Widerspruch findet die Tatsache, daß die gehemmten Kranken am
wenigsten leisten. Daß gehemmte Kranke, insbesondere Melancholische, anregbar
sind und während der Arbeit gewisse Hemmungen überwinden können, ist eine
gewöhnliche klinische Erfahrung. Ebenso ist bekannt, daß gehemmte Melan¬
cholische im ganzen einer gesetzten Aufgabe gegenüber mit starker Einsetzung
des Willens gegenübertreten, soweit die Hemmung nicht sehr tiefgehender
Art ist. Daß die Hemmungen dieser Kranken sehr schwer zu durchbrechen
sind, ist unzweifelhaft. Anders ist es mit unserer experimentellen Erfahrung,
daß der Willensantrieb bei den leicht Gehemmten am geringsten ist; man sollte
eher denken, daß gerade die schwer Gehemmten den geringsten Willensantrieb
zeigen. Es zeigt sich also, daß der Willensantrieb um so stärker ist, je höheren
Grad die Hemmung erreicht.
Die schwierigste Frage ist die Deutung der Pausenwirkung. Es geht
aus den Versuchen unzweifelhaft hervor, daß man die Pausenwirkung nur bei
Geistige Arbeit.
95
Gesunden und bei einem Teil der Kranken, im wesentlichen den gehemmten
Manischen, als Ermüdbarkeit auffassen kann. Bei den psychomotorisch Erregten
sprechen die großen Leistungen gegen und der verhältnismäßig geringe Willens¬
antrieb für eine geringe Ermüdbarkeit. Man könnte sich vorstellen, daß diese
Kranken bei stärkerem Willensantrieb mehr geleistet und ermüdbarer geworden
wären. Es würde demnach bei diesen Kranken der geringe Willensantrieb ur¬
sächlich das wichtigere Moment sein. Bei den gehemmten Melancholischen
handelt es sich offenbar um eine Hemmung, welche den gehemmten Manischen
fehlt, und welche den ganzen Versuch über dauert. Die Versuchspersonen,
bei denen weder Hemmung noch Erregung klinisch in Erscheinung tritt, nähern
sich in ihrer geistigen Arbeit sichtlich den Gesunden und den leicht Erregten;
letzteren stehen sie in ihrer Pausenwirkung besonders nahe. Es wäre also das
Problem zu lösen, ob im manisch-melancholischen Irresein bei Übergang von einer
Phase zur anderen oder zur Gesundung die geringe Pausenwirkung und ver¬
änderte Antriebsstärke charakteristisch sind. Bezüglich der Resultate bei ge¬
hemmten Manischen und Melancholischen steht uns ein Vergleich mit dem
klinischen Verhalten nioht zur Verfügung.
Von besonderer Bedeutung bei Beurteilung der Bewertung unserer Re¬
sultate sind Versuche, welche bei 3 Kranken unternommen worden sind (Tafel 12 d).
Die Kranke J. hatte eine erregte Melancholie (erste Säule jeder Gruppe) durch¬
gemacht und zeigte zur Zeit der 2. Untersuchung (zweite Säule jeder Gruppe)
einen Zustand, der als Übergang zur Gesundung betrachtet wurde; es waren
weder psychomotorische Erregung noch psychomotorische Hemmung vor¬
handen. Die Kranke zeigt Abnahme des Antriebs, Zunahme der Pausenwirkung,
welche minus gewesen war, Abnahme des Ubungszuwachses und Erhöhung
der Leistung. Im ganzen nähern sich also ihre Leistungen dem Normalen und
insbesondere der Gruppe ohne psychomotorische Störungen, nur die Abnahme
des Übungszuwachses entspricht nicht. Ähnlich sind die Resultate bei den
2 folgenden Kranken Br. und Ba.; die erster© war von einer schweren gehemmten
Melancholie, die letztere von einer melancholischen Erregung genesen. Der
Antrieb nahm bei beiden ab, die Leistung schnellte in die Höhe. Die Pausen¬
wirkung zeigte verschiedenes Verhalten, der Übungszuwachs war ein beträcht¬
licher.
Wenn wir einzelne Fälle betrachten, können wir nicht erwarten,
daß sie uns das Typische bieten, das wir bei einem Durchschnitt der Fälle er¬
kennen. Gemeinsam ist sämtlichen Fällen bei der Besserung bzw. Genesung
einer Verminderung des Antriebs, eine sehr geringe Pausenwirkung, ferner
eine Zunahme der Leistungen. Es ist demnach nicht unwahrscheinlich, daß
die Besserung zunächst mit einer größeren Leistungsfähigkeit beginnt, der
das Normalwerden des Antriebs und der Pausenwirkung folgt. Sehr wahr¬
scheinlich werden die manisch-melancholisch Kranken auch in der Zeit relativer
Gesundheit gewisse Störungen bieten, die wir ausgesprochen in den Krankheits¬
phasen vorfinden.
Die Tafel 12 e gibt die Verschiebung der Faktoren geistiger Arbeit bei den
drei angeführten Kranken.
Tafel 13 zeigt die Verschiebung, wenn wir einen aus der Depression
in Manie übergehenden Fall uns aus dem Durchschnitte der Resultate konstruieren;
Tafel 12a, b, c bezeichnen dasselbe nach dem psychomotorischen Verhalten.
96
Symptome.
Ergebnis der Versuche
a) geschieden nach Affektzustand
— *
gehemmte
erregte jgehemmte
erregte
Gesunde
Melanch.
Melanch.
Manie
Manie
Täglicher Übungszuwachs in 5' . . .
5,8
11,2
3,8
14
i
8,3
Allgemeine Pausenwirkung . . in %
2,2
1.9
8,6
1,6
7,2
Unmittelbare Pausenwirkung . „
13
2,7
11.3 !
5,2
9
Antrieb vor der Pause. ... „
8,8 |
6,3
1
4,7
6,5
Antrieb nach der Pause ... „
9,6
2
5.8
5.1
1,3
Durchschnittsleistung in 5'.
98,3
141.8
113,9
171
181,1
b) geschieden nach psychomotorischem Verfallen.
schwere
Hemmung
keine
leichte Hemmung
Hemmung keine
| Errr gung
leichte
1 Erregung
schwere
Erregung
Gesunde
Tgl. Übungszuwachs in 5' .
3,9
9 10,6
14,1
7,3
8,3
Allgem. Pausenwirkung in %
4,5
4,8 3,0
3,3
4,1
7,2
Unmittelb. Pausenwirkg. ,,
13,8
5,6 8,9
9,1
7
9
Antrieb vor der Pause . „
9,1
1,5 5,3
5,0
7,9
6,5
Antrieb nach der Pause „
10,7
3,9 5,7
11,4
2,6
1,3
Durchschnittsleistung in 5'
87,6
148 151,7
! 167,6
1
139,5 j
181,1
Die angefügten Kurven (Tafel 14e—f), deren Vergleich mit denen beim
Ablenkungsversuch (Tafel 14a—d) nicht ohne Interesse ist, zeigen den Verlauf
der täglichen Arbeitsleistung in jeder Minute; die Pausenlosen- und Pausen¬
tage sind getrennt dargestellt.
1) Soziales Verhalten.
1. Selbstvernichtungstrieb.
Die depressive Stimmung zeitigt bei allen Arten von Psychosen in mehr
oder minder bedeutendem Maße den Wunsch, sich einer als unerträglich emp¬
fundenen Situation zu entziehen. Mißlich ist die Situation entweder durch
die Gemütsverstiramung selbst oder durch die daran anknüpfenden Wahnvorstel¬
lungen und Sinnestäuschungen. Es tauchen bei den Kranken Gedanken auf, nicht
mehr leben zu können und zu wollen, weil die Situation ihrer Meinung nach
das Leben nicht mehr schätzenswert macht, weil sie die Zukunft als eine un¬
glückliche ansehen, oder weil sie in der vergangenen Zeit Fehler begangen zu
haben glauben, welche nicht mehr gut zu machen sind. An solche Vorstellungen
schließen sich bei den willenskräftigeren Persönlichkeiten Versuche an, sich
ernstlich zu beschädigen, bzw. sich das Leben zu nehmen. Ob der Versuch
gelingt, das hängt oft von Zufälligkeiten, von der Aufsicht usw. ab.
Den Typus dieser Verstimmung stellt die Melancholie im manisch-melan¬
cholischen Irresein dar; in diesen Depressionen und in den Verstimmungen
Soziale« Verhalten.
07
der Epileptiker ist der Selbstvemichtungstrieb am meisten vorhanden. In
meinem Materiale finden sich in 45 % der Fälle Willensantriebe zur Selbst-
vemiehtung, und zwar bei 31 % Männern und 69 % Frauen. Die Geschlechter
stehen in den dem manisch-melancholischen Irresein entsprechenden Zahlen¬
verhältnissen zueinander. Die Frau ist nicht in größerem Maße beteiligt, obwohl
ja behauptet wird, daß das Gemüt der Frau eindrucksfähiger sei, und daß sie
infolge mangelnder Willenserziehung geneigt sei, Gemütseindrücken rasch durch
Willensimpulse die Handlung folgen zu lassen.
Was die Altersstufen betrifft, so sind die Jahre bis zur Involution sehr
bevorzugt; die größte Zahl trifft auf die Zeit vom 31.—40. Lebensjahr. Ver¬
gleichen wir die klinischen Formen, so finden wir mit 53 °/ 0 die zirkulären und
mit 38 °/ 0 die rein depressiven Erscheinungsformen vertreten. In bei weitem
den meisten Fällen ist eine Willenserregung vorhanden, nur ca. 1 / 6 der Fälle
weist eine Hemmung der Willenstätigkeit auf. Wenig ausgeprägt verhält sich
die Pöychomotilität, immerhin überwiegt auch hier die Erregung über die
Hemmung.
In nicht ganz der Hälfte der Fälle kam es zu Selbstmordversuchen.
Dabei ist das höhere Alter auffallend bevorzugt. Während auf die Altersstufe
von 21—40 Jahren 38 Fälle mit Selbstmordversuchen fallen, kommen auf das
40.—60. Jahr 48 Fälle, und selbst das siebente Jahrzehnt weist noch 12 Fälle
auf. Die Willenstätigkeit erscheint durch das Alter nach dieser Richtung hin
begünstigt zu werden. Das psychomotorische Verhalten weist keine besonderen
Differenzen auf; die rein depressiven Formen treten stark hervor.
In einer Reihe von Fällen ist es zu verschiedenen Zeiten zu wieder¬
holten Suicidversuchen gekommen. In meinem Materiale finden sich
15 solche Fälle, darunter 14 Frauen und 1 Mann. Die starke Differenz in der
Beteiligung der Geschlechter ist nicht ohne weiteres erklärbar, und es ist möglich,
daß es sich dabei um Zufälligkeiten im Material handelt. Meist sind es zirkuläre
Fälle, welche bei Wiedereintreten der Depression Suicidversuche machen.
Die Internierung in der Anstalt verhinderte dann meist weitere solche Versuche,
so daß wir die Selbstmordversuche meist bei Eintritt der Depression vor der
Anstaltsbehandlung finden. Ein typischer Fall mit zirkulärem Verlaufe soll
in seinem Lebenslauf angeführt sein (Tafel 16y). •
Es erscheint nicht uninteressant, nachzuforschen, ob in den Fällen mit
vollführtem und versuchtem Selbstmord in der Familie Selbstmordversuche
häufiger vorgekommen sind. Dabei zeigt sich, daß dies in ca. jedem 8. Falle,
also bei recht wenigen Kranken der Fall ist. In 4 Fällen vom ganzen Material
wurde Selbstmord verübt (ca. 1 °/ 0 ); diese Zahl beweist an sich sehr wenig,
weil die meisten Selbstmordfälle bei nicht erkannten oder nicht behandelten
Fällen Vorkommen. Bekannt istj daß manche Stämme besonders leicht zu
Selbstmordversuchen neigen und diese auch ausführen. Die Angehörigen des
sächsischen Volksstammes schreiten besonders häufig zu Suicid, allerdings ohne
daß diese Lebensüberdrüssigen alle oder auch nur zum größeren Teil manisch¬
melancholisch wären.
Weiterhin sei noch darauf hingewiesen, daß das Bestehen einer psychomo¬
torischen Hemmung, sogar schwerer Art, nicht davor sichert, daß der Kranke
plötzlich im Affekte die Hemmung durchbricht (Raptus melancholicus) und an
den Selbstmord herangeht. Die tägliche Erfahrung zeigt, daß selbst bei geordneten
fiehm, Das manisch-ruelanchollBche Irresein. 7
98
Symptome.
gehemmten Kranken diese Hemmung für kürzere oder längere Zeit durchbroohei
werden kann. Wir haben ja oben schon von Fällen gesprochen, die außer
ordentlich kurze Schwankungen in der Affektlage aufweisen. loh glaube, daJ
bei verwirrten gehemmten Kranken, also bei schweren allgemeinen Zu
ständen, die Gefahr eines Suicids am geringsten ist. So ist es auch ver
ständlich, daß von den meisten Kranken die kürzeste und einfachst
Methode vorgezogen wird. Am häufigsten versuchen die Kranken, siel
aus dem Fenster zu stürzen, sie springen in einen Fluß oder See, si
versuchen, sich zu erhängen und überfahren zu lassen. Erschießen un<
Vergiften, als Handlungen, welche einer gewissen Vorbereitung bedürfen
kommen verhältnismäßig selten vor. Bei ungeordneten und verwirrten Krank e i
treffen wir kompliziertere Methoden. So versuchte eine Kranke, sich zu er
drosseln, eine andere sich auszuhungem. Eine delirante Kranke versuchte siel
die Augen auszubohren und die Finger abzubeißen.
Nicht unerwähnt möge bleiben, daß manche Kranke ein unbestimmte
Gefühl für die Gefahr, welche ihnen aus sich selbst heraus droht, haben; si<
suchen, ihren Selbstmordtrieb mit aller Willenskraft zu unterdrücken; es is
ein Kampf zwischen gesundem Willen und pathologischem Selbstvemichtungs
trieb. So erzählte eine Kranke, sie habe fortwährend den Drang, sich wa
anzutun; sie habe sich mit aller Mühe davon zurückgehalten und habe jeglich
Gelegenheit, z. B. Bootfahren, vermieden; sie habe schließlich selbst gebeten
sie unter Aufsicht zu stellen.
2. Unsoziale Triebe.
Etwa 3 % der Kranken des Gesamtmaterials zeigen verbrecherisch«
Neigungen und haben im Laufe des Lebens Strafen für gesetzwidrige Hand
lungen erhalten. Natürlicherweise handelt es sich größtenteils um Männei
und zwar sind es durchweg chronisch verlaufende Fälle, d. h. Fälle, in denei
es sehr selten zu freien Zwischenräumen in dem jahrelang andauernden Ver
laufe kommt. Meist ist es ein zirkulärer Verlauf, in einzelnen handelt es sic]
um chronisch hypomanische Zustände. Als Straftaten kommen vor allen
Widerstand gegen die Staatsgewalt, Angriff gegen Vorgesetzte, Beleidigung
Diebstahl, Unterschlagung und Landstreicherei in Betracht. Trunksucht is
in solchen Fällen öfters mit der Psychose vereinigt.
Während die genannten Reate bei Männern vorherrschen, stehen be
Frauen Landstreicherei, Unzucht und Betrug im Vordergründe. Roheits
delikte scheinen bei den manisch-melancholischen Kranken seltener zu sein
Diesen Kranken, welche am besten als Verbrecher mit manisch-melancholi
sehen Zuständen bezeichnet werden, möchte ich einige zufügen, in denen di«
Absicht zu einer Straftat unmittelbar krankhaften Vorstellungen entsprungei
ist. Es handelt sich um akute, schwere Affektzustände, welche die Willens
beherrschung beeinträchtigt haben, — auch hier wieder der Kampf zwischei
Wille, der durch den Affekt regiert wird und der Psyehomotilität. So versucht
ein kranker Lehrer, welcher sich in einer Melancholie mit psychomotorische
Erregung befand, seinem Sohne den Hals abzuschneiden und seine Tochte
zu erdrosseln. Das Motiv war, er werde verachtet, seine Frau vergifte ihn un<
seine Kinder seien falsch gegen ihn. Eine 36jährige Kranke, welche an de:
chronischen zirkulären Form der manisch-melancholischen Psychose litt, äußert
Soziales Verhalten.
99
in einer Phase von ängstlicher Depression mit psychomotorischer Erregung,
sie könne ihren Brüder nicht mehr leiden, sie müsse ihn umbringen. Eine andere
Kranke in einer erregten Depression verlangte, man solle ihrem Kinde den
Kopf abschneiden; eine weitere Kranke äußerte, sie wolle den Sohn aus dem
Fenster werfen, und sprach davön, sich selbst zu töten.
Auf diese Weise sind die nicht ganz seltenen Fälle zu erklären, in denen -
depressive Kranke mit ihren Kindern zusammen freiwillig in den Tod gehen.
Meist sind es Zukunftssorgen krankhafter Art, die diese Handlungen verur¬
sachen; so war eine Kranke, welche schon verschiedene Male Selbstmordversuche
gemacht hatte, mit ihrem Kinde in den Fluß gesprungen, um sich zu ertränken;
auch hier bestand eine ängstliche depressive Phase des manisch-melancholischen
Irreseins.
Die gerichtliche Begutachtung der Fälle kann recht schwierig werden.
Selbstverständlich ist die Annahme einer geistigen Störung im Sinne des § ßl
Str.G.B. bei Handlungen, die krankhaften Trieben entspringen. Erschwert
wird die Beurteilung bei chronischen Fällen leichter Art, insbesondere chroni¬
schen Manischen oder konstitutionellen Fällen. Im allgemeinen fallen diese
Persönlichkeiten unter die künftige Klasse der „vermindert“ Zurechnungs¬
fähigen, soweit sie leichter Art sind, bzw. insofeme sie den Psychopathen
näher stehen als manisch-melancholischen Geisteskranken, deren klinische
Form sie nur in abgeschwächtem Maße tragen.
3. Alkoholismus.
Bei allen Psychosen findet sich als Komplikation von geringerem und
größerem Einfluß auf das Bild der Erkrankung der akute und chronische
Alkoholismus. Im allgemeinen kann man die Tatsache als feststehend erachten,
daß im manisch-melancholischen Irresein der Alkoholismus eine geringe Rolle
spielt. Freilich darf man nicht übersehen, daß unter den chronischen Alkoho-
listen eine Anzahl von Persönlichkeiten sich befindet, welche unter dem Ein¬
flüsse leichter zyklothymischer Erscheinungen sich dem Alkohol ergeben haben
und die eine dementsprechende Charakterveränderung im Laufe der Zeit er¬
fahren. Weiterhin ist sehr stark zu betonen, daß sich unter den Fällen, welche
wir als typische Alkoholhalluzinosen bzw. als Alkoholwahnsinn zu bezeichnen
pflegen, eine Anzahl befindet, welche sich im Verlaufe der Psychose als manisch¬
melancholische Fälle, meist Mischzustände, entpuppen. Es ist oft sehr schwierig,
solche Fälle bei Beginn der Beobachtung richtig zu deuten, und wir müssen
uns bemühen, die Vorgeschichte solcher Kranker nach zyklothymischen und
leichten manisch-melancholischen Symptomen zu durchforschen. In dem
bearbeiteten Material finden sich 13 °/o Fälle, in denen Alkoholismus von Be- .
deutung ist. Darunter sind 42 Männer und 15 Frauen. Dieser starke Anteil des
weiblichen Geschlechtes ist auffallend und nur durch die überwiegende Be¬
teiligung des Weibes am manisch-melancholischen Irresein überhaupt erklärlich.
Im folgenden wird zwischen Kranken unterschieden, welche chronische
Alkoholisten sind, ohne aber erhebliche Schwächezustände davongetragen
zu haben, und solchen, welche infolge der Erkrankung an manisch-melancholi¬
schem Irresein zeitweise trinken. Diese Trunksuchtsperioden können aller¬
dings sehr lange sein, je nach der Länge des Krankheitsanfalles. Im allgemeinen
betrifft es manische Perioden, ausnahmsweise auch psychomotorisch erregte
7*
100
Symptome.
Melancholien. Hierher gehört auch ein Teil der „Quartalssäufer“, welche ir
übrigen meist epileptisch sind.
Für beide Gattungen gilt, daß die Fälle klinisch im allgemeinen nicb
ungünstig zu verlaufen pflegen, doch sind auch einzelne chronische Fälle, un«
zwar chronisch zirkuläre, chronisch manische und chronisch depressive, daruntei
Dem Umfange nach halten sich beide Gruppen ungefähr das Gleichge
wicht, auch in bezug auf die Beteiligung der beiden Geschlechter. Auffallen«
ist, daß weitaus die meisten der in Betracht kommenden Fälle eine Erregun,
der Psychomotilität auf weisen; psychomotorisch gehemmte Fälle finden sic'
nur ganz vereinzelt darunter. Sehr häufig bestanden Wahnideen und ebenfall
recht oft Sinnestäuschungen. Dieselben zeigen meist den hysteriforme:
Charakter verwaschener Gesichtstäuschungen in Gestalt von Gespensterr
Totenköpfen usw. Gehörstäuschungen, welche den alkoholischen Psychosei
vor allem eigen sind, finden sich nicht darunter. In einem Falle war das de
pressive Stadium mit alkoholdeliranten Zügen vermengt ; es handelte sich ur
einen Fall, in dem schon im früheren Leben leichte Schwankungen im manisch
melancholischen Sinne nachzuweisen waren. In einer ängstlichen Depressio:
mit psychomotorischer Erregung, bei welcher Selbstvorwürfe und Verarmungs
wahn bestanden, trank der Kranke 10—12 Liter Bier täglich, die Angst steigert
sich und der Kranke machte einen unbeholfenen Selbstmordversuch. Bei de
Aufnahme zeigten sich grober Tremor, Unruhe, Suggestibilität und Tiervisione:
neben typisch depressiven Symptomen. Nach einigen Tagen klangen die deli
ranten Symptome ab und eine schwere Depression mit mehr und mehr deutlic]
werdenden Hemmungssymptomen lag klar zutage.
4. Sexualität.
Das sexuelle Verhalten der manisch-melancholischen Kranken ist naci
verschiedenen Richtungen hin von Wichtigkeit. In der Mehrzahl der Fäll
handelt es sioh um eine allgemeine sexuelle Erregbarkeit, meist im manische]
Stadium, seltener in der depressiven Zeit. Dann* kommen Fälle vor, bei dene]
nach Art einer Zyklothymie, zu deren Gebiet man solche Zustände meine
Meinung nach rechnen kann, von Jugend, ja sogar von Kindheit an, zuweile]
Aufregungszustände auftreten, die besonders mit geschlechtlicher Erregun,«
verbunden sind. Daß die geschlechtliche Erregung bei manischen Kranke]
in Verbindung mit sexuellen Exzessen in der Erregung zu Infektionen, be
sonders auch zu Syphilis führen kann, ist bekannt. Mir scheint es aber vo]
Wichtigkeit zu sein, noch besonders darauf hinzuweisen, weil es nicht gan
selten vorkommt, daß periodische Fälle manisch-melancholischer Art in de
Anamnese Syphilis vermerkt haben. Es ist dadurch nun durchaus nicht ge
sagt, daß die Syphilis ätiologisch für derartige spätere Erkrankungen haftba
gemacht werden muß, sondern es kann sich im Gegenteil so verhalten, daß de
Kranke in einer manischen bzw. hypomanischen, vielleicht auch nur zyklo
thymisohen Erregung sioh die Geschlechtskrankheit zugezogen hat. Dies«
Auffassung hat auch für Fälle von Himlues und Metalues Geltung, bei denei
derartige Psychosen zur Beobachtung kommen. Das ätiologische Momen
der Syphilis als Ursache von Erkrankungen, welche dem manisch-melancholi
sehen Formenkreise angehören, ist nicht sichergestellt. Ich glaube, man tu
gut, nicht von manisch-melancholischen Erkrankungen bei Hirnlues zu sprechen
Soziales Verhalten.
101
sondern von einem manisch-melancholischen Irresein, das — zufällig — mit
Himlues kombiniert ist. Ähnlich sind die Verhältnisse Beim Alkoholismus
und Morphinismus usw. gelagert.
Daß es bei solchen sexuell erregten Kranken gelegentlich zu Verbrechen
deren Ursache der geschlechtlichen Sphäre entstammt, kommen kann, ist
verständlich. So verübte ein manischer, 19 Jahre alter, manisch-melancho¬
lisch belasteter Kranker, der sexuell außerordentlich erregt war, an einem
Kinde ein Sittlichkeitsverbrechen, welches schließlich die Ursache seiner Auf¬
nahme in einer Anstalt wurde. In einem anderen Falle artete der Geschlechts¬
trieb bei einem degenerierten, chronisch manischen, verbrecherischen Kranken
in Masochismus und Sadismus aus.
Das Eintreten der Pubertät und der Menstruation, ferner der Einfluß
der Menopause auf das manisch-melancholische Irresein ist sin anderen Stellen
besprochen.
Zu erwähnen ist noch der Einfluß von Entbindung während der Psychose
auf den Verlauf derselben. In den meisten Fällen geht die Entbindung, ohne
den geringsten Einfluß auf die Psychose auszuüben, von statten. Die Kranken
pflegen sich nach Ablauf der Geburt zunächst oft um ihre Kinder kaum zu
kümmern. Zweifellos ist das Verhalten der Kranken von der Intensität der
Erkrankung abhängig. Bei einer 25jährigen Kranken, welche früher einen
Abort durchgemacht hatte, vollzog sich die Geburt mitten in einem schweren
manischen Stupor, der dadurch keinerlei Änderung erlitt. Ähnlich war das
Verhalten bei einer periodisch manischen Kranken, welche in den anfallsfreien
Zeiten gebar, ohne daß sich daran Anfälle geschlossen hätten. Bei einer weiteren
Kranken schloß sich eine Melancholie an einen spontanen Abort an, während
ein früherer Abort während einer Depression keinerlei Einfluß auf das psychische
Befinden ausgeübt hatte. Wir sehen, daß eine Entbindung meist ohne irgend¬
welchen Einfluß auf die Erkrankung vonstatten geht. Man hat deshalb auch
keine Ursache, bei manisch-melancholischen Kranken einen künstlichen Abort
wegen bestehender oder drohender Erkrankung zu unternehmen. Ähnlich
scheinen die Verhältnisse für die Gravidität und Laktation zu liegen. Mir ist
kein Fall bekannt, wo diese Zustände von Einfluß auf die Psychose gewesen sind.
Daß bei geschlechtlich erregten Kranken Onanie vorkommt, und zwar
sowohl bei Melancholischen wie bei Manischen, ist allgemein bekannt. In un¬
gewöhnlich starkem und ungeniertem Maße onanierte eine 51 jährige melancholi¬
sche Kranke, die gleichzeitig an Zwangsvorstellungen, welche mit den ge¬
schlechtlichen Vorgängen keinerlei Zusammenhang hatten, litt. Ein Kranker
onanierte in der gereizt manischen Stimmung ungeniert vor der Kranken¬
schwester. Bei ca. 3 °/ 0 der manisch-melancholischen Kranken handelte es
sich mit geringen Ausnahmen um geschlechtliche Erregung in der manischen
Phase. Meist waren es Kranke weiblichen Geschlechts. Eine 58jährige
Dame sprach in der manischen Erregung davon, Mätresse des Königs werden
zu wollen.
m) Krankheitsgefühl und -Verständnis«
Das Krankheitsgefühl ist als ein geringer Grad von Krankheitsver-
Mtändnis angesehen. Es tritt bei Ablauf der Erkrankung früher als das letztere
102
Symptome.
ein und pflegt das letztere vorzubereiten. Dabei handelt es sich um der
bestimmten Eindruck der Krankheit auf die erkrankten Personen. Das
Krankheitsgefühl ist bei den meisten Kranken, die an manisch-melan¬
cholischem Irresein leiden, vorhanden. Nur bei den schwersten Verwirrt¬
heitszuständen gelingt es uns nicht, von den Kranken das Zugeständnis
des Krankseins zu erhalten. Bei den depressiven Kranken wird es durch
das vorhandene Insuffizienzgefühl häufig sehr verstärkt, ohno daß es
deshalb zur Krankheitseinsicht käme. Nicht selten dissimulieren die
depressiven Kranken aus wahnhaften Vorstellungen, insbesondere Unwürdig¬
keitsgefühlen, heraus. Die Krankheitseinsicht gehört zu den Kriterien,
die wir bei der Annahme der Gesundung verlangen. Sie pflegt in Fällen, in
denen schwere Verwirrtheitszustände vorhergegangen waren, vor der Erinnerung
an diese Zustände einzutreten. Im allgemeinen tritt sie mit Gesundung ein,
recht oft aber auch schon vorher, wenn die schweren Symptome langsam ab-
klingen und leichter werden. Doch kommt es vor, daß ganz ruhige und geordnete
Kranke keine Einsicht für ihren gegenwärtigen oder zurückliegenden Zustand
haben. Die Einsicht pflegt sich im allgemeinen an die Affektveränderung als
den eindrucksfähigsten Teil der Erkrankung und an deren zeitlichen Ablauf
zu halten. Klingt z. B. eine manische Erregung allmählich ab, und schickt
sie sich an, in einen Depressionszustand überzugehen, so pflegt schon während
des Abklingens der Manie Einsicht für die Manie zu dämmern und umgekehrt.
Nun kommt es aber vor, daß Manie und Depression brüsk, ohne langsamen
Übergang mit dazwischenliegender Remission nach dem Typus Manie — Hypo¬
manie — Mischzustand — leichte Melancholie — Melancholie abwechseln; dann
besteht für das vergangene Stadium keine Einsicht, sondern es tritt das Krank¬
heitsverständnis erst nach Abklingen des Doppelstadiums ein. Bei den chronisch
verlaufenden Fällen kommt es vereinzelt vor, daß die Einsicht für den zurück¬
liegenden Zustand nur eine teilweise ist. Ich habe dabei im wesentlichen para¬
noisch geartete Fälle von manisch-melancholischem Irresein im Auge. So
kenne ich einen Fall, bei dem systematisierte Verfolgungs- und Größenideen
in dem schweren manischen Stadium bestanden, dann in hypomanische und
leicht depressive Zeiten, ohne korrigiert zu werden, mit hinübergenommen
wurden. Für den krankhaften Affektzustand bestand Einsicht, nicht aber
für die Wahnvorstellungen. Bei einem zweiten Fall besteht die Krankheit
seit 12 Jahren; sie begann mit einer 7jährigen Manie mit Gereiztheit, Zom-
mütigkeit und Größenideen; der Kranke behauptete, er sei Antichrist, ein
gottähnliches Wesen usw. Die Melancholie trat nach einem dazwischenliegenden
Mischstadium mit vorwiegend hypochondrischen Vorstellungen ein. Die Wahn¬
stellungen traten nun wohl in den Hintergrund, wurden aber nicht korrigiert
und selbst in der Depression mit leichtem Sarkasmus abgetan. Nach einer nun
11 Jahre anhaltenden Melancholie bereitet sich bei dem jetzt 69 jährigen Kranken
der Umschwung zu einer neuen Manie vor; die paranoischen Vorstellungen
treten wieder in den Vordergrund. Bei diesen Fällen scheint es sich nun um
einen paranoischen Symptomenkomplex zu handeln, dessen Verankerung
eine besonders feste ist, und der mit der Affektstörung primär nur lose zusammen¬
hängt, aber meiner Ansicht nach wohl in dem Krankheitsprozeß als solchem
begründet ist.
Krankheitsgefühl und -Verständnis.
103
Die Einsicht bzw. das Verständnis für die Krankheit tritt in manchen
Fällen ebenso plötzlich ein, wie die gesamte psychische Störung zurückgeht.
So äußerte ein Kranker, es sei so eigentümlich, daß man zur Zeit der Erregung
sich absolut nicht überzeugen könne, daß man krank sei; plötzlich, wenn die
Erregung vorüber sei, komme die Einsicht über einen.
Eine Kranke, die seit 15 Jahren fast ununterbrochen krank war, äußerte
sich, nachdem Einsicht und Erinnerung eingetreten war, folgendermaßen über
den kurz vorher durchgemachten schweren deliranten Zustand: sie habe einen
bösen Traum, ein schweres Unglück überstanden. Sie habe sich für tot ge¬
halten; sie habe geglaubt, sie sei in der Unterwelt, in der sie von bösen und guten
Seelen (nämlich den Kranken) umgeben sei; sie habe sich in einer entsetzlichen
Hemmung befunden, habe keine Auskunft geben, keinen Gruß erwidern dürfen
und habe manchmal stundenlang nicht die geringste Bewegung machen können.
Die Gesichter und Gestalten ihrer Angehörigen habe sie in den Ecken und durch
die Fenster mit leidendem Gesichtsausdruck und vorwurfsvollen Gebärden
gesehen. Ihr Mann sei beständig als Geist durch das Gebäude geschwebt. Für
ihn und für ihre Tochter habe sie Leiden ertragen, sich selbst quälen und die
Nahrungsaufnahme verweigern müssen. Die ihr gereichten Speisen habe sie
öfters für ihren Mann an das offene Fenster gestellt. (Dazu kamen Gesichts-,
Gehörs- und Geschmackstäuschungen.)
F. Gruppierung.
I. Verlaufsformell,
a) Ersterkrankungen.
Die Verhältnisse der Ersterkrankungen sind, soweit sie die Altersstufe
und das Geschlecht betreffen, oben schon besprochen worden. Wir müssen
bei Betrachtung dieses Kapitels die einmaligen Erkrankungen, welche nach
gewisser Richtung hin zu den Ersterkrankungen zu zählen sind, von den peri¬
odischen Erkrankungsfällen trennen.
Unter den Erst- bzw. einmaligen Erkrankungen finden sich
73 °/ 0 Fälle, welche entweder dauernd oder einige Zeit während des Verlaufes
der Krankheitsperiode Mischzustände aufweisen. Diese Zahl ist ganz auf¬
fallend hoch; dabei ist in Betracht zu ziehen, daß es sich hier nur um selbst
beobachtete Fälle handelt, während bei den periodischen Fällen natürlicher¬
weise eine große Anzahl katamnestisch ergänzt werden mußte; immerhin ist
der Unterschied so bedeutend, daß er auf dieses Moment allein nicht zurück¬
zuführen sein dürfte. Ich kann keine ausreichende Erklärung geben.
Bei den Fällen periodischer Art beträgt der Prozentsatz der Mischzu¬
stände in Bezug auf Ersterkrankungen nur 22. Und zwar unterscheiden sich
hier die einzelnen Arten peripdischer Erkrankungen, wie folgt: Die periodisch
zirkulären Fälle, welche bei weitem in der Überzahl sind, haben 23 %, die
periodisch manischen 12 °/ 0 , die periodisch depressiven 19 % Mischzustände
in den Ersterkrankungen.
Die meisten der periodisch zirkulären Fälle beginnen mit zirkulären
Phasen (39 %), dann folgen der Zahl nach die mit depressiven Phasen be¬
ginnenden (33 °/o) un d die mit manischen Phasen beginnenden (28 °/ 0 ).
104
Gruppierung.
Was die Prognose der Ersterkrankungen betrifft, so ist dieselbe außei
ordentlich günstig; nur 5% der Fälle nehmen in der ersten Phase chronischer
d. h. ungünstigen Charakter an; doch ist die Dauer häufig keine kurze; sie kan:
sich schon auf Jahre hinaus erstrecken. Diese günstige Prognose erschein
mir von großer Wichtigkeit.
b) Einmalige Erkrankungen.
Ein großer Teil der Erkrankungen manisch-melancholischer Art kommt
wie bekannt ist, nur einmal während des Lebens zur Erscheinung. Es handel
sich dabei um kurzfristige und lange dauernde Anfälle, welche alle Formel
des Irreseins umfassen.
Es ist von jeher der Einwand gemacht worden, daß dieses häufige ein
malige Auftreten dagegen spreche, daß die Periodizität der Erscheinungsforn
diagnostisch wichtig sei und daß deswegen Grund bestehe, grundsätzlich di<
„einfachen“ Erkrankungen von den „periodischen“ zu trennen. Zweifellos ha*
dieser Einwand eine gewisse Berechtigung. Aber, wie oben erwähnt, sehen wi:
bei diesen einmaligen Erkrankungen genau dieselben klinischen- Erscheinungs
formen, die wir in den einzelnen Phasen bei periodischem Verlaufe wahmehmen
ferner besteht ein, allerdings kleiner Teil, aus Fällen, in denen die Verlaufsfom
eine chronische ist; d. h. es kommt bei viele Jahre dauernden, ja das ganz*
Leben hindurch währenden Erkrankungen zu keinen freien Intervallen
Schließlich ist noch zu erwähnen, daß bei einem Teil der hier in Betrachl
kommenden Fälle das Leben auf einer noch nicht weit vorgeschrittener
Altersstufe steht. Es ist deshalb zweifellos, daß es bei einer Anzahl vor
Fällen noch zu weiteren Erkrankungsphasen kommen wird, vielleicht erst
in der Involution, vielleicht auch erst im hohen Alter. Endlich kommt
noch der Umstand in Betracht, daß bei vielen Fällen, wie ich in einem früherer
Kapitel schon ausgeführt habe, nach der „Heilung“ mehr oder minder schwere
Zustände Vorkommen, bei deren Beurteilung Zweifel obliegen können, ob sie
noch als physiologisch oder schon als pathologisch anzusehen sind. Dafür
daß den bisher einmaligen Erkrankungen noch Anfälle folgen können, spricht
daß ein großer Teil (36%) der Fälle bei der Erkrankung in dem Alter stand
in welchem die meisten Ersterkrankungen Vorkommen.
Es handelt sich bei den Fällen von einmaliger Erkrankung um 39 % des Ge
samtmaterials. 27 % gehören dem männlichen,.73 % dem weiblichen Geschlechts
an. Das weibliche Geschlecht erscheint demnach begünstigt. Von der ganzen Zah
gehören 22 % der Involution und einem höheren Alter an. Außer 50 % melancho
lischer Fälle sind die zirkulären mit 39 %, die rein manischen mit 11 % vertreten
Demnach neigen die depressiven vor allen anderen zu einmaliger Erkrankung,
wobei zu berücksichtigen ist, daß die zirkulären Fälle überhaupt bei weitem
die Mehrzahl der Fälle darstellen. Die chronischen und konstitutionellen Fälle
welche in diesem Materiale eine kleine und für jede Affektart gleichbleibende
Zahl ausmachen, und hier nicht eingerechnet sind, würden das Resultat nicht
wesentlich verändern.
c) Periodische Erkrankungen.
Wie es nach der Definition des manisch-melancholischen Irreseins ah
einer periodisch verlaufenden Psychose selbstverständlich ist, gehört die Mehr
Periodische Erkrankungen.
105
zahl der Fälle (60 %) zu den rein periodischen, während die übrigen den (bisher)
einmaligen Erkrankungen angehören, von welchen manche später noch Perioden
zeigen mögen. Von dem Gesamtmaterial sind 37 % männlich und 63 % weiblich.
Die Vermengung von zeitlich begrenzten manischen und melancholischen
Abschnitten ist eine außerordentlich starke. So finden wir in dem hier in Be¬
tracht kommenden Material 75 % Fälle, welche periodisch zirkulär sind, 19 °/ 0
mit periodisch melancholisch und nur 6 °/ 0 mit periodisch manischem Verlaufe.
Die Periodizität habe ich im folgenden unter verschiedenen klinischen
Gesichtspunkten gesichtet; sie soll an der Hand einer tabellarischen Zusammen¬
stellung Punkt für Punkt besprochen werden.
1. Beginn der periodischen Erkrankungen.
Beginn
Periodisch
manisch
%
Periodisch
melancholisch i
%
Periodisch j
zirkulär
%
Gesamt¬
zahl
°/o
vor dem 30. Lebensjahr
80
50
1 !
64
63
»> tj 50. m
13
48
28
31
nach „ 50. „
7
2
i 7
1 !
6
Es ergibt sich, daß die manischen Fälle viel häufiger in jungen Jahren
beginnen wie die depressiven und auch die zirkulären. Die Melancholien treten
in ungefähr gleich großer Zahl vor wie nach dem 30. Lebensjahre zum ersten
Male auf; ein Beweis, daß die Melancholien überhaupt das mittlere Alter ver¬
hältnismäßig bevorzugen. Im allgemeinen beginnen die periodischen Erkran¬
kungen schon vor dem 30. Lebensjahre; sehr wenige Fälle nehmen nach dem
50. Jahre ihren Anfang, es sind vor ajlem periodisch manische und zirkuläre
Formen.
2. Dauer.
Dauer von
Periodisch
manisch
%
Periodisch
melancholisch
%
Periodisch
zirkulär 1
% ;
Gesamt¬
zahl
%
1 Jahrzehnt und weniger
53
35
30 !
33
2
13
33
31 ;
30
3
13
21
24
22
4
7
6
9
8
5 M
13
2
5
5
6
—
3
2 1
2
Die Dauer der Psychose hängt zunächst vom Alter der erkrankten Person,
ferner von der Zeit des Beginnes der Erkrankung ab. Die Zusammenstellung
ergibt, daß die periodisch manischen Fälle die kürzeste Gesamtdauer zu
haben pflegen, obwohl sie in der Mehrzahl schon vor dem 30. Lebensjahr er¬
kranken. Es liegt nahe, daraus den Schluß zu ziehen, daß die Prognose dieser
Fälle verhältnismäßig günstig ist. Die periodisch depressiven und zirkulären
Fälle zeigen, was die Dauer betrifft, ein allmähliches Absinken, wie es nach
der Häufigkeit der entsprechenden Altersstufen zu erwarten ist.
106 Gruppierung.
3. Zahl der Perioden.
Zahl
Periodisch
manisch
%
! Periodisch
| melancholisch
; %
Periodisch
zirkulär
%
Gesamt¬
zahl
%
2
60
50
|
33
38
3
7
15
1 17
1 16
4
20
15
- 10
! 12
5
7
6
: s
7
6-10
—
6
19
16
mehr als 10
7
8
i 11
11
Diese Zusammenstellung zeigt das merkwürdige Resultat, daß die pe]
odisch manischen Fälle die geringste Neigung zu mehrfachen Phasen aufweise:
die periodisch zirkulären Fälle dagegen haben das Bestreben zur Periodizit
in ganz erheblichem Maße, indem 30 % der Fälle in 6 und mehr Phasen ar
treten. Diese Einzelresultate beeinflussen die Gesamtzahl so sehr, daß d
Zahl der Fälle mit vielfachen gegenüber der mit wenigen Perioden erhe
lieh ansteigt.
4. Länge der Perioden. .
Länge.
Periodisch
manisch
0/
/o
Periodisch 1
melancholisch
! %
Periodisch
zirkulär 1
%
Gesamt¬
zahl
%
Längerwerden.
47
68
!
50
1 53
Gleichbleiben.
40
25
41
38
Kürzerwerden.
13
8
9
9
Wir sehen, daß die periodisch melancholischen Fälle am meisten d
Neigung haben, ihre Perioden zu verlängern. Ein Kürzerwerden ist am häufigste
bei den periodisch manischen Fällen zu beobachten. Im ganzen ist ein Länge
werden zu konstatieren, eine Tatsache, welche uns ja längst geläufig ist.
5. Chronischwerden.
Chronischwerden
Periodisch
manisch
0/
/o
| Periodisch
j melancholisch
i %
Periodisch
zirkulär
%
Gesamt¬
zahl
%
bei dem 2. Anfall ....
7
; _
2
2
i» »> 3. ,, ....
-
-
2
2
9t tt 4. ,, ....
—
—
i
99 99 5. ,, ....
—
| —
1
1
99 »»6. ,, ....
—
] —
20
—
„ „ 7. „ usw. . .
—
; 4
3
Periodische Erkrankungen.
107
Während wir bisher gesehen haben, daß die periodisch manischen Fälle
im allgemeinen prognostisch günstig abschneiden, so fällt es sehr auf, daß
immerhin ca. 7 °/o der Fälle schon im 2. Anfalle chronisch werden; bei den
Melancholischen fehlen solche Fälle ganz, bei den Zirkulären sind es im
ganzen 9 %, wovon eine große Zahl erst nach dem 7. Anfalle chronisch wird.
6. Verteilung der Mischzustände auf Krankheitsperioden.
Mischzustände in
Periodisch
manisch
Periodisch
melancholisch
Periodisch
zirkulär
Gesamt¬
zahl
der 1. Periode.
13
17
24
22
»> 2. ,, .
40
42
41
41
»* 3. M .
20
20
29
27
*.4. „ .
20
15
19
18
„ 5. „ .
7
6
16
14
ft 6. „ .
2
14
11
„ 7. u. weiteren Perioden .
7
2
20
16
sämtlichen Perioden. ...
—
12
2
4
Da die einmaligen Erkrankungen nicht berücksichtigt sind, so ist das
gegenüber der ersten Periode fast in doppelt großer Zahl erfolgende Auftreten
von Mischzuständen in der 2. Krankheitsperiode auffallend. Wir können daraus
schließen, daß die ersten Anfälle in der weitaus überwiegenden Zahl das Krank¬
heitsbild rein vor Augen bringen. Daß in den weiteren Perioden die Zahl der
Mischzuständc abnimmt, ist bei der geringeren Zahl an Erkrankungsfällen mit
vielfachen Perioden erklärlich. Die meisten Perioden mit Mischzuständen
weisen die periodisch melancholischen Erkrankungen auf, bei denen sie in
12 der Fälle in sämtlichen Phasen zur Beobachtung kommen: Wir sehen
also, daß bei einem Teil der periodisch Melancholischen die Mischzustände
nicht mehr aufhören, während bei den anderen Kategorien sich immer wieder
reine Phasen einzumischen pflegen.
7. Krankheitsfreie Intervalle.
Krankheitsfreie
Periodisch
Periodisch
Periodisch
Gesamt¬
Intervalle,
manisch
melancholisch
zirkulär
zahl
durchschnittlich
%
%
%
%
1 Jahr dauernd.
53
29
26
28
2 9 f yt .
13
8
10
10
3 „ ,, .
7
4
14
4 „ „ .
7
8
9
9
5 ,, ft .
—
8
11
10
mehr als 5 Jahre dauernd
7
8
9
9
»» ft 19 »» rt
17
11
12
2 Jahrzehnte dauernd. . .
—
15
7
8
3 ,, ,, . . .
13
2
l
2
108
Gruppierung.
Aus der vorstehenden Tabelle ist zu ersehen, daß die periodisch manischen
Fälle die meisten kürzesten freien Intervalle haben, aber auch in einer verhältnis¬
mäßig sehr großen Zahl die meisten längsten. Die periodisch melancholischen
Fälle zeigen die freisten sehr lange dauernden Intervalle, während bei den
periodisch zirkulären Fällen die Intervalle ziemlich gleichmäßig verteilt sind.
Im allgemeinen sind die Intervalle länger wie die Krankheitsphasen;
wenn auch das Verhalten verschieden ist, und sie bei den einen Fällen länger
wie die Krankheitsperioden, in den anderen kürzer sind, so überwiegen doch
zweifellos die Intervalle, welche von längerer Dauer als die Phasen der Er¬
krankung sind. Bei vielen zirkulären Fällen geht die kranke in die gesunde Zeit
fließend über, so daß keine scharfe zeitliche Grenze zu ziehen ist. Bei einzelnen
Fällen war in früherer Lebenszeit eine Krankheitsperiode vorhanden, dann kommt
eine sehr lange freie Zeit, welche schließlich durch einen Schwarm neuer Anfälle
mit kurzen freien Zeiten begrenzt wird. Wie schon erwähnt, sind bei den meisten
Fällen die Krankheitsperioden und die Intervalle in späteren Zeiten länger;
es besteht nach dieser Richtung eine gewisse Proportion. Es kommt aber auch
vor, daß die Intervalle fortschreitend kürzer werden, und zwar habe ich das
bei 4 % der gesamten Fälle gefunden (7 % der periodisch manischen, 17 °/ 0
der periodisch melancholischen und 10°/o der periodisch zirkulären Fälle).
Übersehen wir die Resultate dieses Kapitels, so ergibt sich daraus fol¬
gendes. Die periodisch manischen Fälle beginnen in jüngeren Jahren, sie
zeigen, den ganzen Krankheits verlauf betreffend, die kürzeste Krankheits¬
dauer; sie haben eine sehr geringe Neigung zu mehrfachen Phasen; die Perioden
werden später sehr oft kürzer. Eine verhältnismäßig große Zahl der Fälle wird
schon im Anschluß an die 2. Krankheitsphase chronisch. Die Fälle haben ver¬
hältnismäßig sehr häufig sehr kurze freie Intervalle.
Die periodisch melancholischen Fälle gehören in ihrem Beginne ebenso
oft den jungen wie mittleren Jahren an. Sie zeigen vor allem die Neigung,
ihre Perioden zu verlängern und in Mischzuständen aufzutreten. Es finden sich
sehr lange dauernde freie Intervalle.
Die zirkulären Fälle verlaufen oft bei spätem Beginne noch periodisch;
sie neigen in ganz besonderem Maße zur Periodizität. Das Chronischwerden
tritt verhältnismäßig nicht sehr häufig ein.
d) Subchronische und chronische Erkrankungen.
Zwischen die periodischen und chronischen Fälle schiebt sich gleichsam
als Übergang eine Anzahl von Pallen ein, welche ich in der Kategorie der sub-
chronischen Verlaufsform zusammenfassen will. Die Fälle betragen einen
kleinen Bruchteil des Gesamtmaterials, etwa 7 %• Sie verteilen sich auf das
männliche und weibliche Geschlecht in ungefähr gleichen Teilen. Die Ver-
laufsformen sind mannigfaltigster Art; bald handelt es sich um rein depressive
Fälle, bald um rein manische, bald um zirkuläre. Gelegentlich schieben sich
krankheitsfreie Intervalle ein, welche aber eine verhältnismäßig kurze Dauer
zu haben pflegen. Diese sog. freien Intervalle weisen mehr oder minder starke
affektive Veränderungen auf, welche aber in so geringem Grade auftreten, daß sie
praktisch nicht als krankhaft bezeichnet werden können. Die Dauer dieser sub-
chronischen Phasen ist nicht exakt abzumessen; es handelt sich um Fälle,
Subchronische und chronische Erkrankungen.
109
welche die Neigung zu sehr langwierigem, sich auf eine größere Anzahl von Jahren
erstreckenden Verlauf haben. Es ist mit dieser Bezeichnung eine Prognose
nicht gegeben; es gibt subchronische Fälle, welche (Tafel 16 w) in Genesung über¬
gegangen sind, solche, bei denen die Genesung nur eine Anzahl von Jahren
standgehalten hat, dann trat eine Fortsetzung der Erkrankung auf, und bei
welchen schließlich ein chronischer Verlauf in Frage kommt (Tafel 16 x), endlich
kommen Fälle vor, die an und für sich eine ungünstige Prognose bieten, in denen
die Krankheit in der Jugend eingesetzt hat und unter Einschiebung verhält¬
nismäßig kurzer Intervalle weiterläuft (Tafel 16 y). Da sich die Länge der Anfälle
gerade im höheren Alter zu vergrößern pflegt, so ist es klar, daß die meisten
subchronischen Fälle dem höheren Lebensalter angehören und dement¬
sprechend vielfach unter dem Bilde von Melancholien auftreten.
Die chronischen Fälle des manisch-melancholischen Irreseins sind
solche, bei denen die Erkrankung eine sehr große Anzahl von Jahren ohne
nennenswerte Unterbrechung durch freie Intervalle dauert. Die Intensität
des Krankheitsprozesses bleibt von Anfang bis zu Ende dieselbe. Äußerlich
wird dies durch die Gewichts kurve bewiesen, welche im allgemeinen keine
Schwankungen zeigt; bei einzelnen Fällen kann man ein Ansteigen und Ab¬
sinken des Körpergewichtes in periodischen Schwankungen, welche auch sonst
im Verlauf der Erkrankung auftreten, wahmehmen.
Von den hier in Betracht kommenden Fällen gehören 8 °/ 0 in das Gebiet
der chronischen Erkrankungen; diese verteilen sich ähnlich wie die subchroni¬
schen Fälle zu ungefähr gleichen Teilen auf das männliche und weibliche Ge¬
schlecht (43 bzw. 57 %). Es ist bemerkenswert, daß wir hier die uns sonst immer
wieder begegnende Bevorzugung des weiblichen Geschlechtes nicht finden;
der Grund ist wohl in der höheren Altersstufe zu suchen, in denen die Kranken
zur Zeit der Beobachtung stehen. Im höheren Alter gleicht sich bekanntlich
der Unterschied in der Beteiligung der Geschlechter aus.
Welche Ursache hat das Chronischwerden in diesen Fällen? Man könnte
daran denken, daß eine besonders schwere auslösende Ursache vorhanden ist.
Das trifft nicht zu; wir finden nur in 2 Fällen unmittelbar wirkende Ursachen,
Tod des Ehemannes und Operation eines Ovarialtumors. In 2 Fällen schließt
sich die Erkrankung an die Menopause an, was wir ja in einer großen Anzahl
anderer Fälle auch finden.
Weiterhin taucht die Frage auf, ob diese Fälle besonders stark gleichartig
hereditär belastet «ind. Bei der Untersuchung dieser Frage läßt sich erkennen,
daß die Zahl der Belasteten tatsächlich größer ist wie sonst, sie beträgt 66 %;
immerhin mag es sehr zweifelhaft erscheinen, ob diese Grundlage allein genügt,
um die Erscheinung des Chronischwerdens zu erklären. Am einfachsten gestaltet
sich die Ergründung, wenn wir theoretische Erwägungen spielen lassen. Man
könnte annehmen, daß es sich bei den chronischen Fällen um solche mit sehr
langgedehnten Schwankungen handelt; es wäre damit gesagt, daß die Prognose,
auf welche wrir später noch zu sprechen kommen werden, theoretisch im ganzen
der Periodizität entsprechend günstig ist, wenn nicht der Abschluß des Lebens
störend in den gesetzmäßigen Ablauf eingreift. Bei dieser Überlegung Stört
nur das Vorangehen kurzer Krankheitsperioden bei fast der Hälfte der Fälle,
und zwar nicht nur bei den zirkulär verlaufenden, sondern auch bei den einfach
melancholischen und manischen Formen. Nim ist bekannt, daß in einer länger-
110
Gruppierung.
dauernden Schwankung eine gewisse Zeitstrecke stärker hervorgehoben i
kann, sei es durch affektbetonende äußere Einflüsse, sei es durch endog
sekundäre Schwankungen.
Anders verhält sich die Sache natürlich bei den Fällen, bei welchen sek
däre Erkrankungen anderer Art, wie Arteriosklerose und Dementia senilis
Anfälle verlängern helfen und das klinische Bild schließlich verwaschen. 1
finden wir in einigen Fällen; in einem Falle chronischer Manie wurden äußere
einzelne epileptische Anfälle beobachtet, in einem chronisch zirkulären F
Diabetes mellitus, der zum Siechtum beitrug.
Sehen wir uns die zur Verfügung stehenden Fälle weiter an, so ergibt s
daß die Fälle mit vorhergehenden Phasen fast ausschließlich zirkulär si
was für die oben gegebene Theorie sprechen würde. Die Zeit des Ghronn
Werdens beginnt bei einzelnen Fällen schon im 2. Jahrzehnt; die größte
teiligung zeigen die Altersstufen zwischen 30 und 60 Jahren. Einige manis
Fälle werden noch sehr spät, z. B. im 6. Jahrzehnt, chronisch.
Was die Dauer betrifft, so währt die Erkrankung in 60 % 10—20 Jal
in 23 % ca. 20 und in 11 % über 20 Jahre.
Die meisten Fälle waren bei Abschluß der Beobachtung noch mitten
der Psychose. Einzelne waren in Tod übergegangen. 2 Fälle waren gehe
nämlich ein Fall nach 13jähriger schwerer Manie im 48. Lebensjahr und
Fall nach 14jähriger Depression im 55. Lebensjahr. Man kann natürlich ni
sagen, ob die Zukunft diesen Kranken nicht noch eine neue Phase besehe
wird; es erscheint dies nicht unwahrscheinlich, wenn ihr Leben von entspreche
langer Dauer ist. Es handelt sich bei diesen „Geheilten“ um Fälle, bei de]
die Erkrankung im 37. bzw. 40. Lebensjahr, also verhältnismäßig früh begom
hat. Spätheilungen solcher chronischer Fälle habe ich nicht erlebt. Me
gehen die Fälle an senilen oder arteriosklerotischen Erscheinungen zugrun
Nachdem der Ausgang dieser Fälle vorweggenommen ist, erübrigt
sich noch einiges über das klinische Symptomenbild zu sagen.
Bei der Mehrzahl der Fälle ist eine deutliche Erleichterung der De:
fähigkeit zu konstatieren. In einer noch größeren Anzahl von Fällen best
eine Erregung der Psychomotilität. Nur meinem Falle fand sich dauernde p
chomotorische Hemmung. So sind auch die melancholischen Fälle, in denen
sonst typischerweise Hemmung zu finden pflegen, psychomotorisch erregt. Wal
Vorstellungen sind fast in jedem Falle im Verlaufe der chronischen Erkrankung
konstatieren, ferner, was erheblicher erscheint, Sinnestäuschungen des i
sichts und des Gehörs. Die zirkulären Fälle verlaufen in ca. 1 / i der Fälle t
weise in Verwirrtheitszuständen, im wesentlichen deliranter Art.
Eine auffallend große Rolle spielt Alkoholabusus in der Vorgeschic!
der in Betracht kommenden Fälle, nämlich bei ca. 30 % der Kranken.
IL Affektformeln
a) Manie.
Wir haben gesehen, daß uns die Manie als Erscheinungsform des manis
melancholischen Irreseins bald als einfache Manie, bald in ihrer periodiscl
Form vor Augen tritt. Die einfache Manie ist ein Ausdruck, der in den Le
btichem der Psychiatrie noch viel gebräuchlich ist; er bezeichnet einen maniscl
Melancholie.
111
Zustand, der einmal während des Lebens auftritt. Treten später noch psychoti¬
sche Erscheinungen anderer affektiver Färbung auf, so werden dieselben nicht
mit der verflossenen Manie in Zusammenhang gebracht. Nach unserer Auf¬
fassung ist die Manie eine Teilerscheinung des manisch-melancholischen Irre¬
seins, ohne Rücksicht darauf, ob sie einmal im Leben in Erscheinung tritt
oder öfters.
Von der einfachen Manie ist die periodische zu unterscheiden; bei ihr
tritt in mehr oder minder großen zeitlichen Zwischenräumen mehrmals ein
manischer Zustand auf. Die einzelnen Phasen dieser Erscheinungsform ähneln
sich nicht selten „photographisch“, was bei dem endogenen Charakter der
Krankheit nicht auffallen kann. Haben es wir doch, wie oben ausgeführt ist,
mit Erscheinungen zu tun, welche in den Krankheitsphasen pathologisch ge¬
steigert sind, während sie für gewöhnlich, d. h. in den freien Intervallen, schlum¬
mern und in dem Charakter der betreffenden Persönlichkeit in abgeschwächtem
Maße zum Ausdruck kommen.
Neben den genannten Gruppen kommen subchronische und chronische
Fälle vor. Die beiden unterscheiden sich im wesentlichen durch ihre zeitliche
Ausdehnung. Es ist darauf hinzuweisen, daß hier die rein manischen Formen
nicht häufig sind, und daß es außerordentlich häufig zu Mischzuständen und zur
Einschiebung depressiver Phasen, zu der sogenannten zirkulären Verlaufsform
kommt.
Das männliche Geschlecht ist etwas bevorzugt, ebenso das jugendliche
Alter. Die Prognose entspricht dd* im allgemeinen günstigen des manisch¬
melancholischen Irreseins überhaupt.
Die Symptome der Manie bestehen aus der Trias: Erleichterung der
Denktätigkeit, Willenstätigkeit und der gehobenen Stimmung; dazu tritt die
psychomotorische Erregung. Die Denkstörung kann zur Ideenflucht und Ver¬
worrenheit werden, die Willenserleichterung zur Tobsucht, die gehobene Stim¬
mung zur Exaltation. Tobsuchtszustände mit deliranten Erscheinungen be¬
deuten den Höhepunkt der Krankheit. Von der Mischung mit depressiven
Symptomen wird später die Rede sein. Die Form der Manie, welche unter
leichten Krankheitserscheinungen verläuft, die Hypomanie, unterschiedet
sich symptomatisch in keiner Weise von der Manie ; schwerere manische Er¬
krankungen werden häufig mit einem hypomänischen Stadium, das den Über¬
gang zur Gesundheitsbreite vermittelt.
Die manischen Bilder des manisch-melancholischen Irreseins sind wohl
zu unterscheiden von den Exaltationen bei Epilepsie, Hysterie und anderen
Psychosen, insbesondere solchen mit organischer Grundlage.
b) Melancholie.
Die Verlaufsformen der Melancholie sind denen der Manie durchaus ähnlich.
Die einfache Melancholie ist nicht allzu häufig; eine Periodizität besteht in
den meisten Fällen, sei es, daß periodische Melancholien auftreten, oder daß
später Zustände von Manie oder zirkuläre Phasen kommen. Bekannt ist, daß
Melancholien mit Vorliebe im höheren Alter auftreten, ferner, daß das weibliche
Geschlecht besonders zu solchen Erkrankungen neigt. Ähnlich wie bei der Manie
die Hypomanie, bereitet öfters eine leichte Melancholie die Gesundung vor.
112 Gruppierung.
Subchronische Depressionen sind recht häufig, chronische Fälle erheb
seltener.
Uber die Prognose gilt das über manische Zustände Gesagte.
Die Symptomatologie setzt sich aus der Trias zusammen; es besi
in typischen Fällen Denkhemmung, Willenshemmung und depressive Stimmt
Dazu kommen psychomotorische Hemmung, innere Ideenflucht, Insuffizi<
gefühl mit Selbstvorwtirfen, Schlaflosigkeit, typische Tagesschwankungen t
c) Zirkuläres Irresein.
Die Erkrankungen an zirkulären Phasen sind beim manisch-melancl
sehen Irresein die häufigsten. Wir haben einfache zirkuläre Erkrankung
periodische, subchronische und chronische Verlaufsformen zu unterschek
Der Wechsel zwischen Manie und Depression, die Grundlage des zirkuls
Typus, kann sehr verschiedenartige Gestalt annchmcn. Der reguläre
kuläre Typus ist der gleichmäßige in gleichen Zeiten erfolgende Wecl
zwischen Manie und Depression mit oder ohne Pause nach dem zirkulä
Krankheitsanfall.
Gewöhnlich ist aber der Krankheitsverlauf durchaus unregelmä£
die regelmäßigen Formen sind sehr selten. Es mischt sich in den Anfä
häufig Depression und Manie unregelmäßig und in allen ihren Mischfon
ineinander. Besonders gilt das für die subchronische und chronische Verla
form. Unter den chronischen Verlaufsformen haben die zirkulären den Hat
anteil; nur wenige andere finden sich darunter. Verhältnismäßig häufig se
wir eine längere manische bzw. melancholische Phase mit einem kurzem Äff
entgegengesetzten Stadiums beginnen (Tafel 15 h, 16d, r). Andererseits endig
die Phasen nicht selten mit einem affektentgegengesetzten Stadium. Bei j
lancholien wurde die oft sich anschließende Manie als ein Zeichen der
holung, als reaktive Manie bezeichnet. Diese Auffassung ist zweifellos -
tümlich (Tafel 16 x).
Die Symptomatik ist durch die der manischen und zirkulären Zustäi
gegeben.
Prognostisch sind die zirkulösen Fälle ungünstiger wie die manisc]
und melancholischen; die Periodizität ist stärker ausgeprägt.
d) Mischzustände *)•
Unter Mischzustand versteht man ein psychisches Zustandsbild, welc
aus Symptomen zusammengesetzt ist, die einerseits dem typischen Bilde
Manie, andererseits dem der Melancholie entnommen sind. Es können 8
also nach Kraepelin, theoretisch gedacht, Denk-, Willens- und Affektstön
mischen, so daß sich nach vorstehendem Schema.eine 6fache Mischung ergel
- würde.
a b ö
ABC
Wenn a b c und ABC die' typische Manie und Melancholie in ih
Trias darstellen, so ergeben sich folgende Zusammenstellungen:
1 ) Weygandt, Über die Misohzustände des manisch-depressiven Irreseins. Hat
tationsschrift. 1899.
Mischzustände.
113
aBC abC aBc
Abc ABo AbC
Nach unserer oben auseinandergesetzten Auffassung ist bei den manisch-
melancholischen Kranken die Denkstörung regelmäßig eine Denkhemmung.
Die Ideenflucht beruht auf einer Denkhemmung, nicht Erleichterung, wie es
bei flüchtiger Beobachtung scheinen könnte. Demnach kann bei der Mischung
der Symptome die einheitliche, symptomatisch sehr wichtige Denkstörung
nicht in Betracht kommen. Das zweite Symptom der Trias ist die Affe kt -
störung, welche mit grundlegend in den Mischzuständen des manisch-melan¬
cholischen Irreseins ist. Die Willensstörung, das dritte Glied der Trias,
steht der Psychomotilität sehr nahe, die Störung beruht darauf, daß es ent¬
weder nicht zum Entschluß kommt, den Willen in Handlungen umzusetzen,
oder daß die Umsetzung erleichtert wird. Die Psychomotilität stellt nun nach
meiner Erfahrung zwar in der Regel, jedoch nicht immer eine Einheit vor. Wir
müssen unterscheiden zwischen sprachlicher Motilität und der sonstigen all¬
gemeinen Motilität. Beide Teile erscheinen der Psychomotilität im ganzen
untergeordnet.
Folgen wir diesen Grundsätzen, so gelingt es uns, restlos und ohne Zwang
sämtliche Mischzustände einem Schema einzuordnen und unserem Verständnisse,
vielleicht auch weiteren Studien, nähe? zu bringen. Nur auf eine Mischform
ist noch zurückzukommen; sie ist eine Vermengung der gehobenen und ge¬
drückten Stimmung in Gestalt des Zornes und der Unzufriedenheit. Es kann
sich demnach ein Mischzustand, bestehend aus Affekthemmung mit Willens-
bzw.psychomotorischerErregung zu einer Mischung, bestehend aus Mischaffekt
und psychomotorischer Erregung, also zu einer zweifachen Vermengung um¬
gestalten. Ähnliche eigenartige Mischaffekt-Erscheinungen finden wir auch
bei zirkulären Formen im Übergang des einen Affektzustandes in den anderen,
z. B. die läppische, die ratlose Stimmung. Zum Verständnis des Gesagten
möchte ich folgendes Schema anführen. Dabei ist zur Vereinfachung Willens¬
störung gleich psychomotorischer Störung gesetzt.
Manie Melancholie
1. Denkstörung a = a = A Denkstörung
2. Gehobene Stimmung b B deprimierte Stimmung
b B
3. Psychomotorische Erregung Psychomotorische Hemmung
Sprache c C Sprache
Übrige Motilität d D übrige Motilität
Mischformen:
(a wird vernachlässigt als gleiche Grundbedingung bei jeder Mischform.)
1. b c D la. B c D
2. b C D 2a. B c d
3. b C d 3a. B C d
4. b B = ß
Die Übersetzung der Formeln in die klinische Erfahrung ergibt folgende
Mischformen:
Behtn, Dm muitecb-meUuichoUaohe Irresein.
8
114
Gruppierung.
1. Eine Art des manischen Stupors, bei der der sprachliche Ausdruck
erheblich vermehrt, die übrige Psychomotilität gehemmt ist, eine Form, welche
ziemlich selten in Erscheinung tritt. Pfersdorff 1 ) hat ähnliche Fälle ver¬
öffentlicht.
2. Der typische manische Stupor. Gehobene Stimmung und psychomotori¬
sche Hemmung.
3. Eine Schattierung von manischem Stupor, welche zweifellos selten ist;
der Kranke ist gehobener Stimmung, zeigt motorische Erregung, spricht aber
nicht oder nur mit großen Hemmungen.
la. Wohl die seltenste Form. Der Kranke ist verstimmt, spricht viel,
ist im übrigen psychomotorisch gehemmt.
2a. Deprimierte Stimmung verbunden mit psychomotorischer Erregung;
sie findet sich sehr häufig in den agitierten Melancholien, besonders in denen,
welche mit Angst einhergehen.
3a. Der Kranke ist traurig verstimmt; er spricht wenig, ist aber im übrigen
in psychomotorischer Erregung. Eine nicht ganz seltene Mischform, besonders
für manche Zustände der Ratlosigkeit charakteristisch.
4. Wie erwähnt, die Mischform des Zornes, der Unzufriedenheit.
Die häufigsten Mischformen sind 2a, die agitierte Depression; 2, der mani¬
sche Stupor; 3, auch manischer Stupor. Die übrigen kommen selten oder sehr
selten vor, meist in Fällen, welche wechselnde delirante Bilder zeigen.
Die Mischzustände können nicht als ungünstiges Prognostikum aufgefaßt
werden; wir finden sie recht häufig in akut auf tretenden deliranten Phasen,
ferner beim Übergang der Affektzustände im zirkulären Irresein. Alle an Häufig¬
keit überragt die agitierte Depression, welche mehr dem reiferen und höheren
Alter angehört.
III. Klinische Gruppierung.
Die Gruppierung hat einesteils die Verlaufsform, andererseits die Affekt¬
form und schließlich eigenartige Erscheinungsformen charakteristischer Art
zu berücksichtigen. Es ist sehr wohl möglich, daß weitere Untersuchungen
eine Gruppierung nach der Art der psychomotorischen Störung, vielleicht
auch der Denkstörung, künftig günstiger und richtiger gestalten werden.
a) Konstitution.
Die Konstitution ist die Grundlage für die affektverwandten Psychosen,
die sich auf ihr aufbauen. Wenn auch im allgemeinen der psychotische Zustand
der Konstitution qualitativ gleicht und nur quantitativ abweicht, so ergibt sich
doch schon aus der Häufigkeit des Umschlags des Affektzustandes während
der Psychose, daß als große gemeinschaftliche Basis die manisch-melancholische
Konstitution zu gelten hat.
l ) Pfersdorff, Über Rededrang bei Denkhemmung. Vortrag. Ref.: Zentralbl. f.
Psych. u. Neurol. 29. Jahrgang 1906. Ferner: Die motorische Erregung im manisch-de¬
pressiven Mischzustand. Zentralbl. f. Psych. u. Neurol. 1905. Über Rededrang bei Denk¬
hemmung. Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. 1906.
Konstitution.
110
1. Manische Konstitution.
Eine Gruppe der Fälle von manisch-melancholischem Irresein zeigt die
sogenannte manische Konstitution. Dieselbe kann in der Form der chro¬
nischen Manie psychotisch als Steigerung der konstitutionellen krankhaften
Faktoren in Erscheinung treten. Die leichteren Formen werden zweckmäßiger¬
weise zu den affektiven Formen der Psychopathie gerechnet.
Bei einer großen Zahl der später periodisch manisch verlaufenden Fälle
besteht eine manische Konstitution, die früher schon besprochen ist.
Die chronische Manie besteht entweder von Jugend an und hat sich manch¬
mal schon in der Kindheit als Psychose entpuppt, oder die Psychose entsteht
zü irgend einem Zeitpunkt während des späteren Lebens auf der Grundlage
der zugehörigen Konstitution. Der Beginn kann allmählich oder akut eintreten.
Die Konstitution ist die Grundlage. Die Prognose erscheint ungünstig; der
Verlauf der Psychose ist ein gleichmäßiger; erhebliche Remissionen pflegen
nicht einzutreten; depressive Zeiten fehlen, wohl aber kann es zu ausgeprägten
Mischzuständen, besonders zu Zuständen von Reizbarkeit kommen.
2. Melancholische Konstitution.
Für diese Gruppe gilt im ganzen das oben für die manische Konstitution
Gesagte. Auf der Konstitution können sich periodische oder chronisch melancho¬
lische Psychosen aufbauen. Die Konstitution weist dieselben Mischzustände auf,
die wir bei den ausgesprochen psychotischen Zuständen zu beobachten Ge¬
legenheit haben.
3. Zyklothyme Konstitution.
Diese Art der Konstitution zeigt in mehr oder weniger großen Zwischen¬
zeiten einen Wechsel zwischen manischem und depressivem Affektzustand.
Freie Zeiten sind nicht ausgeschlossen. Es bauen sich auf der Konstitution
die periodisch zirkulären, ferner die subchronisch und die chronisch zirkulären
Psychosen auf. Wilmanns 1 ) hat diese Form ausführlich beschrieben.
b) Periodische Form.
Ebenso wie die Konstitution teilen wir die periodischen Formen in manische,
melancholische und zirkuläre. Wie oben auseinandergesetzt, gehören diesen
Gruppen die Mehrzahl der Fälle des manisch-melancholischen Irreseins an, so
daß die Ansicht berechtigt erscheint, daß die Periodizität eines der wichtigsten
Symptome der Krankheit ist. Eine Form der periodischen Melancholie zeitigt
verhältnismäßig regelmäßig in jedem Frühjahr eine depressive Phase (Tafel 16e).
Sehr vielfach gehen unter dieser Krankheitsform sogenannte Heufieber¬
erkrankungen, welche bei näherer klinischer Betrachtung und im weiteren
Verlauf sich als regelrechte Melancholien entpuppen (Tafel 16 a—o).
e) Subchronische und chronische Form»
Auch hier hat die überall durchgeführte Dreiteilung nach Affektzuständen
einzutreten. Wie wir oben gesehen haben, ist eine Konstitution spezifischer
1 ) Wilmanns, Zyklothymie. Samml. klin. Vortr. v. Volk mann. 1906.
116
Gruppierung.
Art auch bei diesen Pallen gegeben. Wir wissen, daß bei diesen Formen die
zirkuläre Gruppe im Vordergründe steht (Tafel 16 c, f, g, r—t, w, x sub¬
chronisch; Tafel 16 e, h, q, u, v, y, z, a—y chronisch).
d) Besondere Krankheitsformen.
Im folgenden sind eine Anzahl von Krankheitsformen zusammengefaßt,
welche mit der Erscheinungs- und mit der Affektform in weniger innigem Zu¬
sammenhänge stehen, welche abej* klinisch wohl charakterisierte Krankheits¬
bilder von mehr oder .weniger langer Dauer bieten. Sie besitzen offenbar
konstitutionell eine gewisse Affinität zu den charakteristischen Sym¬
ptomen, welche in den verschiedenen Perioden gleichartig wiederzukehren
pflegen. Daran, daß diese Formen zum manisch-melancholischen Irresein ge¬
hören, ist bei der Konstantheit der übrigen Symptome nicht zu zweifeln.
1. Katatonische Form.
Wir wissen, daß in einer nicht kleinen Anzahl von Fällen Erscheinungen
auftreten, welche wir als katatonische zu bezeichnen pflegen. Eine kleine Gruppe
des manisch-melancholischen Irreseins zeigt solche katatonische Symptome
während der Höhe der Psychose in besonders ausgeprägtem Maße. Es handelt
sich um ca. 3 % der Fälle. In bezug auf die Heredität zeigen diese Fälle keine
anderen Verhältnisse wie die übrigen manisch-melancholischen Kranken. Ver¬
hältnismäßig häufig ist eine psychogeneAuslösung der Psychose. Männli che
und weibliche Fälle stellen der Zahl nach dasselbe Verhältnis wie sonst im manisch¬
melancholischen Irresein dar. Im allgemeinen gehören die Erkrankungen dem
jugendlichen Alter an; nur einzelne fallen in das mittlere Lebensalter. Es
handelt sich um ausgeprägt zirkuläre Krankheitsbilder; die einzelnen Affekt¬
zustände pflegen rasch zu wechseln; insbesondere finden sich fast regelmäßig
in dem Verlaufe der betreffenden Phase stuporöse Zustände. Mischzustände
sind sehr häufig, besonders gereizte manische Zeiten; die depressiven Zeiten
sind sehr oft von psychomotorischer Erregung begleitet. In jedem Falle besteht
tiefgehende Verworrenheit zur Zeit des katatonischen Zustandes. Der
Affekt pflegt nicht deutlich zum Ausdruck zu kommen; er ist unter der schweren
Denkhemmung vollkommen verborgen. Meist geben die Kranken später an,
daß sie die schwersten Phantasien in diesen Zeiten durchgemacht haben; so
erzählte eine Kranke, es sei ihr gewesen, wie die phantastische Symphonie
von Berlioz. Die Kranken nehmen sonderbare, oft phantastische Stellungen
ein, man hat den Eindruck „lebender Bilder“. Ein Kranker pflegte in Fechter¬
stellung dazustehen, eine Kranke lächelte stereotyp vor sich hin, andere
Elranke nehmen ihre Arme in gekreuzte Stellung, wieder andere stehen un¬
beweglich da und strecken die Zunge heraus. Die sprachlichen Äußerungen sind
gering; einzelne Worte, welche auf delirante Erlebnisse schließen lassen, werden
geäußert. Die Muskulatur ist kontrahiert; sehr bemerkenswert ist das Fehlen
des Negativismus; Katalepsie besteht meist. Bei einer Kranken bestanden
Sensibilitätsstörungen der Haut. Wahnhafte Sinnestäuschungen, besonders
des Gehörs und des Gesichtes bestehen regelmäßig. Gelegentlich werden die
Kranken unrein mit Stuhl und Urin.
Besondere Krankheiteformen.
117
Nach Abklingen des Verworrenheitszustandes pflegt baldige Genesung
nach kurzem hypomanischem Stadium zu erfolgen; es tritt dann fast vollkommene
Erinnerung an die Erlebnisse ein. Der zeitliche Verlauf der Phasen pflegt ein
verhältnismäßig kurzer zu sein, 1—2 Jahre im Durchschnitt. Bei einem Falle
kam es zu mehreren Phasen mit solchen katatonischen Stadien, welche sich
photographisch ähnlich waren.
Diese Fälle, welche akut zu entstehen pflegen, sind der Typus der Kata¬
tonie. Von der Dementia praecox unterscheidet sie, abgesehen von dem Ver¬
laufe, die vollkommene Verworrenheit während dieses Stadiums. Allerdings
ist dieselbe oft wegen der mangelhaften oder fehlenden sprachlichen Äußerungen
infolge des Stupors schwer zu konstatieren. Von der Amentia unterscheiden
sie sich vor allem durch die in den Vordergrund tretenden katatonischen Er¬
scheinungen und durch die fehlende ätiologische Basis. Man könnte noch an
hysterische Dämmerzustände, und hysterischen Stupor denken. Abgesehen von
der oft fehlenden affektiven Entstehungsursache sind die Kranken nicht lenk¬
bar, nicht suggestibel; dies könnte dazu verführen, sie als widerstrebend zu
bezeichnen, was sie aber im Sinne der Dementia praecox nicht sind.
2. Delirante Form.
(Amentia.)
Diese Gruppe ist keine geschlossene. Wir finden delirante Zustände
leichter und kurz andauernder Art sehr häufig im manisch-melancholischen
Irresein. Es handelt sich um wenige Fälle (ca. 2 °/ 0 ), bei denen die delirante
Form längere Zeit das Krankheitsbild beherrscht. Die hereditäre Belastung
ist in diesen Fällen eine sehr starke. Die Krankheitsphasen treten häufig auf,
es sind fast durchweg periodisch zirkuläre Fälle mit Vorwiegen des manischen
Momentes. Das Lebensalter, in dem diese deliranten Zustände auftreten, ist
das mittlere und höhere. Eine Anzahl von den Fällen gehört zu der Gruppe
der subchronischen und chronischen. Psychogene Auslösung ist nicht selten.
Das delirante Stadium tritt im Verlaufe der Erkrankung ein; es bildet nur sehr
selten den Beginn der Krankheitsperiode; die Besserung tritt allmählich ein.
Es besteht vollkommene Verwirrtheit mit Vorherrschen von Sinnestäuschungen
auf dem Gebiete des Gehörs, ferner motorische Erregung und Verkennung der
Umgebung. Bald nimmt der delirante Zustand mehr pathetische Formen,
bald mehr traumhafte Verworrenheit an. Nicht selten finden sich auch taktile
Halluzinationen, Tiervisionen usw., so daß das Bild des Delirium alcoholicum
ohne Tremor vorgetäuscht werden kann.
Die Formen, bei denen solche delirante Stadien auftreten, gehören den
prognostisch ungünstigeren Erkrankungen an. Ich habe oben schon hervor¬
gehoben, daß chronische delirante Verworrenheit ein Siechtum einleiten kann,
welches mit einer gewissen dauernden affektiven Schwäche einhergeht. Nicht
selten tritt nämlich als ungünstiges Moment eine Arteriosklerose im höheren
Alter hinz u. Manche Ähnlichkeit haben die genannten Formen mit dem klini¬
schen Bilde der Amentia, besonders wenn erschöpfende Momente die Auslösung
der Psychose begünstigt haben. Der allmähliche Beginn, die manischen und
melancholischen Phasen reiner Art, die uns die Betrachtung des Verlaufes vor
Augen führt, werden die Diagnose klar stellen lassen. Zu erwähnen ist, daß der
118
Gruppierung.
Affekt während der delirante Phasen deutlich zu erkennen zu sein pflegt;
erst das Chronischwerden des Zustandes verwischt das affektive Bild.
3. Hysterieverwandte Form.
Es handelt sich hier um Krankheitsphasen des manisch-melancholischen
Irreseins, bei denen psychogene bzw. hysteriforme Erscheinungen dem Krank¬
heitsbilde eine besondere Färbung verleihen. Nachdem in der Konstitution
unserer Kranken sich nur in 4 °/ 0 der Fälle solche Erscheinungen vorfinden,
ist es naheliegend anzunehmen, daß auch die Psychose selbst nicht viel mehr
Fälle mit derartigen Symptomen umfassen wird; und das hat sich als richtig
herausgestellt; nur 5 °/ 0 der Fälle lassen psychogene Erscheinungen erkennen;
dabei tritt wieder eine sehr starke Bevorzugung des weiblichen Geschlechtes,
ähnlich wie bei der Konstitution, hervor (82°/ 0 : 18 %). Von den 22 Fällen zeigen
bemerkenswerfcerweise nur 2 eine Auslösung der Krankheitsphase durch psycho¬
gene Momente, und nur 1 Fall zeigt hysterische Erscheinungen in der Kon¬
stitution. Es zeigt sich also eine fast vollkommene Unabhängigkeit der drei
Etappen, der Konstitution, der Auslösung und der Psychose untereinander
in bezug auf psychogene Erscheinungen.
Meist kommen hysterische Anfälle in Betracht, welche regellos und in ge¬
ringer Zahl in die Psychose eingestreut sind. Man findet außerdem Sensibili¬
tätsstörungen, Tics, Abasie und Astasie, Aphonie, Gesichtsfeldeinschränkung,
vasomotorische Störungen (Quaddelbildung in der Haut), Druckpunkte usw.
Sämtliche Fälle stehen in jugendlichem und mittlerem Alter; klimak¬
terische Zustände kommen nicht, in Betracht. Zirkuläre Verlaufsformen
stehen im Vordergründe; die Prognose ist durchaus günstig, wenn sich auch
der Verlauf in einzelnen Fällen auf lange Jahre und in manchmal etwas ver¬
waschenen Erscheinungsformen hinzieht. In einer nicht unbeträchtlichen
Zahl von Fällen fällt die Häufigkeit von Mischzuständen auf. Die psychogenen
Erscheinungen gehören den ersten Phasen der Krankheit an, die späteren
Phasen verlaufen ohne solche Beigaben. Psychomotorische Erregung zeigen
die Fälle sehr häufig.
Die Symptomatik der Krankheitsbilder ist eigenartig durch sehr häufige
raptusartige Erregungszustände ängstlicher Art, welche kurz andauem
und mit sehr starkem Selbstbeschädigungstrieb einhergehen. Recht oft bestehen
phantastische Sensationen, wie Totenköpfe auf dem Bett, das Hören der Toten¬
uhr usw. Solchen Sensationen begegnen wir aber auch sonst im manisch¬
melancholischen Irresein, besonders bei weiblichen Kranken, recht häufig.
Eine besondere Beeinflußbarkeit besteht nicht. Der Schlaf, das Körpergewicht,
die Tagesschwankungen zeigen dieselben Störungen wie im manisch-melancholi¬
schen Irresein überhaupt. Es kommt nicht zu einer dauernden Amnesie, sondern
es stellt sich allmählich die Erinnerung an die Zustände mehr oder weniger
starker Verwirrtheit wieder ein; eine Neigung zu besonders starker Prägung
deliranter Zustände besteht nicht. In manchen Fällen kommt es, wie auch
sonst im manisch-melancholischen Irresein, zur Ausbildung katatonischer
Symptome, denen der Negativismus regelmäßig fehlt.
Die Phasen mit hysterischen Zutaten zeichnen sich nach den gemachten
Ausführungen im allgemeinen durch einen günstigen Verlauf aus. Kurze Er-
Besondere Krankheitsformen.
119
regungen schieben sich mit Vorliebe ein und geben dem Eirankheitsbild einen
wechselvollen Charakter.
4. Form mit Zwangsvorstellungen.
Es sind sehr wenige Fälle von manisch-melancholischem Irresein, bei
welchen man von echten Zwangsvorstellungen sprechen kann. Bei den (6)
Fällen meines Materials handelt es sich mit einer Ausnahme um weibliche
Kranke mittleren Alters. Der Verlaufsform nach sind es 2 Fälle von zirkulärem
Typus und 4 von melancholischem mit teilweise periodischem Verlaufe. Gerne
ist mit dem Symptom der Zwangsvorstellung eine mehr oder minder erhebliche
psychomotorische Erregung verbunden. Zur Zeit des Auftretens des in Frage
stehenden Symptomes bestand regelmäßig depressive Verstimmung.
Was die Art der Zwangsvorstellungen betrifft, so finden sich die ver¬
schiedenen Arten. Eine Kranke, welche hypochondrisch war und sich selbst
aufs eingehendste beobachtete, litt an Platzangst: sie fürchtete, über Plätze und
Straßenkreuzungen zu gehen. Eine andere Kranke hatte Angst vor dem Allein¬
sein. Einige Kranke zeigten Zwangsvorstellungen, welche in ihrer sinnlichen
Deutlichkeit schon Annäherungen an Illusionen hatten, die aber den Kranken
als etwas durchaus Fremdartiges und Unbegreifliches sich auf drängten. Eine
periodisch depressive Kranke hatte folgende Vorstellung, welche plötzlich bei
einer Predigt aufgetaucht war: „Das war recht ungeschickt von Christus, daß
er sich das hat alles gefallen lassen von den Juden.“ In einer späteren De¬
pression mußte dieselbe Kranke jedesmal anstatt des „gesegnet“ im Gebet
„verhext“ für sich sagen. Dabei zeigte die Kranke wiegende Bewegungen,
welche sie als Zwangsbewegungen empfand, und lebhafte Grimassen; sie ona¬
nierte, daß sie in Schweiß gebadet war. Eine andere depressive Kranke gab
an, sie müsse mit den Armen und mit dem Kopfe eigentümliche zuckende
Bewegungen ausführen und dazu bestimmte Worte; „Laissez moi, laissez moi
travailler“ sagen. Bei einer anderen depressiven, wenig gehemmten Kranken
endlich verbanden sich die Zwangsvostellungen eigenartig mit einer inneren
Ideenflucht. Sie gab an, sie sei wie gehemmt. Wenn sie etwas sagen wolle, sei
der Gedanke schon wieder fort. Beim Essen denke sie, das könnte Gras sein;
„das ist ein Rock“, denke sie, zu gleicher Zeit komme der Gedanke, „der Rock
ist ein Strumpf“. Auch diese Kranke hatte für das Zwangsmäßige dieses Denkens
volles Verständnis.
6. Paranoische Form.
G. Specht 1 ) hat das Verdienst, darauf hingewiesen zu haben, daß es chro¬
nisch paranoische Formen gibt, welche der Dementia praecox nicht zugehören,
dem Querulantenwahnsinn nahestehen, aber infolge der Symptome dem manisch¬
melancholischen Irresein zuzuzählen sind. Zweifellos sind solche besonnene
paranoische Kranke selten. Sie sind wohl zu unterscheiden von solchen manisch
melancholischen Kranken, welohe an periodischen Zuständen leiden, in welchen
es zur Ausbildung paranoischer Komplexe kommen kann. Es handelt sich bei
der hier erwähnten Form um quantitativ leichte Zustände, welche sehr lange
dauern können oder auch konstitutionell sind. Vielfach sind die Zustände sehr
1 ) G. Speoht, Chronische Manie und Paranoia. Zentralbl. f. Nervenheilk. u. Psyoh.
16, 1905. »
120
Gruppierung.
leicht und keiner Abgrenzung zugänglich, so daß sie der Psychopathie zuge¬
rechnet werden müssen, besonders dann, wenn manisch-melancholische Sym¬
ptome nicht mit Sicherheit herauszuschälen sind.
e) Kombination mit körperlicher Erkrankung.
1. Arteriosklerose und manisch-melancholisches Irresein.
Daß das manisch-melancholische Irresein eine Hirnarteriosklerose zu
begünstigen scheint, habe ich früher ausgeführt. Wir sehen dies nicht nur bei
den periodisch verlaufenden Fällen, sondern auch, und zwar in ganz besonderem
Maße bei chronisch Manisch-Melancholischen. Es ist sehr wohl möglich, daß
die beschriebenen eigenartigen, traumhaften End- bzw. Defektzustände zum
wesentlichen Teil der Arteriosklerose ihr Dasein verdanken.
Man kann in einer nicht geringen Zahl von Fällen von einer Kombination
von manisch-melancholischem Irresein mit Arteriosklerose sprechen. Ein
Beweis für diese meine Ansicht ist die Erfahrung, daß sehr viele Manisch-
Melancholische an Himarteriosklerose bzw. und ihren Folgen, Apoplexie bzw.
Encephalomalazie zugrunde gehen. Schwierig ist es jedoch oft, im Leben die
Diagnose Himarteriosklerose in ihren ersten Anfängen exakt zu stellen.
Die allgemeinen körperlichen Symptome der- Arteriosklerose sind kein be¬
stimmtes Zeichen dafür, daß eine Hirnarteriosklerose in Entwicklung ist;
wissen wir doch, daß eine Gefäßsklerose ganz lokal bestehen kann, ohne
eine allgemeine Arterienerkrankung zur Voraussetzung zu haben. Die Him¬
arteriosklerose sehen wir bei manischen und melancholischen Kranken, wenn
auch bei dem allgemeinen Überwiegen depressiver Erkrankungen bei Melan¬
cholie häufiger.
Bekanntlich hat sich bei den Katamnesen, welche Dreyfus über die
Fälle Kraepelinscher Melancholie aufgenommen hat, ergeben, daß ein Rest,
welcher nicht als manisch-melancholisch diagnostiziert war, eine Kombination
von Arteriosklerose und manisch-melancholischem Irresein aufwies.
Es steht mir aber außer Zweifel und dürfte Grund zu weiterer Bearbeitung
des präsenilen Materials der Irrenanstalten sein, daß wir eö in der Involution
außerdem mit einem Krankheitsbilde depressiver Art zu tun haben, das einen Teil *
der alten Kraepe^inschen Melancholie umfaßt, und welches sich von der oben
beschriebenen Kombination unterscheidet. Es fehlt diesen Fällen die gleich¬
artige Belastung und die spezifische Konstitution. Der Psychose sind keine
Krankheitsphasen vorhergegangen. Die depressive Stimmung ist kombiniert mit
Versündigungsideen und mit Wahnvorstellungen, deren Ziel sich auf die Zukunft
projiziert; außerdem bestehen hypochondrische Wahnvorstellungen schwach¬
sinniger Art. Die Sinnestäuschungen, welche oft eine sehr erhebliche Rolle
spielen, erscheinen ganz verwaschen und illusionär. Der Beginn ist ein schleichen¬
der. Es besteht eine Arteriosklerose des Gehirns mit ihren typischen Ausfall¬
erscheinungen. Eine einheitliche psychomotorische Störung ist nicht yorhanden.
Von Wichtigkeit erscheint gegenüber den Manisch-Melancholischen die erhöhte
Ermüdbarkeit und das ausgesprochen egozentrische Verhalten.
Es ist zweifellos, daß die Differentialdiagnose bei diesen Fällen oft zu
großen, zur ZcjJ noch unlösbaren Schwierigkeiten führt.
. Kombination mit körperlicher Erkrankung.
121
Schematische Schwierigkeiten, welche den eben geschilderten nahekommen,
entstehen, wenn im Gefolge einer Gehimarteriosklerose fortgeschrittener Art
manische und melancholische Zustände zur Auslösung gelangen. Wir müssen an¬
nehmen, daß es sich hier, ähnlich wie im Senium, tatsächlich manchmal um eine
verborgene manisch-melancholische Anlage handelt; hierbei ist ein entscheidendes
Gewicht auf Heredität und Konstitution zu legen. Daß die Manien und Melan¬
cholien bei dieser Kombination ihren farbenprächtigen, symptomenreichen
und frischen Charakter verloren haben, ist naheliegend.
Diese Fragen harren, wie gesagt, der Lösung, zu welcher vor allem die
pathologische Anatomie wird mithelfen müssen. Im allgemeinen müssen wir
aber betonen, daß wir infolge der Subjektivität der Deutung psychischer Sym¬
ptome bei bestehenden somatischen Symptomen bis zu weiterer Klärung letzteren
den Vortritt in der Bewertung des Gesamtbildes lassen müssen.
2. Senium und manisch-melancholisches Irresein.
Manisch-melancholische Zustände im Senium sind, wie oben erwähnt,
nicht selten. Wir sehen gelegentlich, daß solche Erkrankungen im Senium
restlos ausheilen. Anders steht es mit der Beurteilung von Affektveränderungen
bei seniler Demenz. Wir sind wohl im Rechte, wenn wir hier ebenso wie bei
der Arteriosklerose der schweren somatischen Veränderung den Vortritt in der
Bewertung überlassen. Wir werden also von manischen und depressiven Zu¬
ständen bei seniler Demenz sprechen; die sog. „senile Manie“ bzw. „Depression“
würden wir als manisch-melancholische Zustände spezifischen Charakters im
Senium bezeichnen.
3. Lues bzw. Metalues und manisch-melancholis y ches Irresein.
Bei der Frage der Abgrenzung des manisch-melancholischen Irreseins
gegenüber anderen Erkrankungen kommt in manchen Fällen Lues cerebro¬
spinalis und progressive Paralyse bzw. Tabes dorsalis in Betracht. Ich habe
in einer früheren Arbeit eine Anzahl einschlägiger Fälle veröffentlicht; ein
besonderes Verdienst um das Studium dieser merkwürdigen Formen gebührt
Westphal.
Es handelt sich um periodische Melancholien, manische Erregungen
und zirkuläre Formen, welche mit Erscheinungen einer Lues bzw. Metalues
cerebrospinalis einhergehen. Die psychischen Zustände gleichen vollkommen
Phasen des manisch-melancholischen Irreseins und lassen sich in ihrem Sym-
ptomenbild nicht von 'solchen unterscheiden.
Es steht nun die Frage offen, ob wir es ätiologisch mit Fällen zu tun
haben, in denen die Syphilis infolge einer uns nicht näher bekannten Lokalisation
im Zentralnervensystem das manisch-melancholische Irresein verursacht, oder
ob es sich um eine mehr zufällige Kombination handelt, wobei wir der Syphilis
vielleicht eine auslösende Ursache zusprechen können, wie wir sohon früher eine
Anzahl von auslösenden Ursachen somatischer Art kennen gelernt haben, welche
aber nichts Spezifisches an sich haben. Im letzteren Falle müßten wir von
einer kombinierten Krankheit sprechen, bei welcher die beiden Prozesse in losem
Zusammenhänge nebeneinander einherlaufen. Da wir für eine anatomische
Lösung des manisch-melancholischen Irreseins bis jetzt keine Unterlage haben,
so bin ich geneigt, die erstgenannte Hypothese zugunsten der zweiten fallen
122
Gruppierung.
£
zu lassen. Wir werden also bis zu einer weiteren Lösung der zunächst noch
strittigen Frage annehmen, daß es sich um eine Kombination handelt. Sehen
wir uns die Lebensläufe solcher Kranken an, so finden wir zur Unterstützung
unserer Annahme recht häufig die konstitutionelle manisch-melancholische
Anlage. Vielfach gehen den späteren schweren Attacken leichtere frühere
voraus. Daß die Prognose der Erkrankung im ganzen von dem Fortschreiten
der organischen Störungen abhängig ist, bedarf nicht der Erwähnung.
4. Diabetes mellitus und das manisch-melancholische Irresein.
Es findet sich eine nicht geringe Anzahl von Fällen, in welchen sich Er¬
scheinungen von Zuckerhamruhr vorfinden. Diese Symptome körperlicher
Art stehen vielfach, ähnlich den früher erwähnten Basedow-Symptomen,
weder ätiologisch noch im Verlaufe, in einem ersichtlichen Zusammenhänge
mit der Psychose. Weiterhin gibt es Fälle, in denen im späteren Verlaufe bei
schwereren Erscheinungen der Arteriosklerose sich der Diabetes dem manisch¬
melancholischen Irresein zugesellt; auch dann ist ein innerer Zusammenhang
kaum anzunehmen.
Anders verhält es sich mit Kranken, bei denen während jeder Exazerbation
der Psychose gleichzeitig Diabetes in Erscheinung tritt. Gehen in der Heilung
der betreffenden Krankheitsphase die psychischen Erscheinungen zurück,
so verschwindet auch der Zucker im Urin. Hauptsächlich handelt es sich um
Fälle im mittleren und höheren Alter, und ganz besonders um solche, welche
eine mehr oder minder hochgradige psychomotorische Erregung zeigen. Es
ist nicht abzuleugnen, daß hier die Wahrscheinlichkeit sehr nahe tritt, es komme
dem Diabetes eine ätiologische Bedeutung zu. Das Umgekehrte, daß etwa das
manisch-melancholische Irresein den Diabetes auslösen könnte, ist nach dem
Stande unserer Kenntnisse unwahrscheinlich. Wie allerdings die Auslösung durch
den Diabetes zustande kommt, steht dahin. Vielleicht ist es gerade diese Gruppe
von Krankheitsfällen, welche geeignet ist uns am allerersten einen Blick in die
gestörte innere Sekretion beim manisch-melancholischen Irresein zu gestatten.
Für eine solche Störung der inneren Sekretion sprechen verschiedene Punkte,
die hervorragende Bedeutung der Arteriosklerose, manche körperliche Er¬
scheinungen, z. B. die Ermüdbarkeit, Blutdruckerhöhung, Gewichtsabnahme,
Aussetzen der Menses, Wachstumsstörung, plötzliches Ergrauen usw.
6. Morbus Basedowi und das manisch-melancholische Irresein.
Es wird von manchen Seiten, insbesondere von Schröder-Riga, ange¬
geben, daß zu gleicher Zeit mit einer Anschwellung des Halses durch Vergrößerung
der Schilddrüse manisch-melancholische Psychosen beginnen und mit der
Abschwellung der Drüse abheilen. Schröder hat mehrere derartige Fälle
beobachtet und beschrieben. Zweifellos sind solche Fälle selten. Sie könnten
beweisen, daß ein Zusammenhang zwischen innerer Sekretion, in diesen Fällen
der Schilddrüse, und dem manisch-melancholischen Irresein besteht, was ja
nach oben ausgeführten Gründen naheliegt. Ob sich dabei Basedow-Symptome,
wie in Schröders. Fällen, entwickeln oder nicht, ist nebensächlich.
Bei meinem Material sind Basedow-Symptome sehr selten, Schild¬
drüsenvergrößerungen nicht häufig.
Affektverwandte Psychosen.
123
f) Affektverwandte Psychosen.
1. Angstpsychose.
Unter Angstpsychose versteht man nach Wernicke agitierte Depressionen
mit Angstaffekt und vielfachen hypochondrischen Wahnvorstellungen. Es
ist im folgenden eine eigenartige Angstpsychose zu erwähnen, welche erstmals
von Nitsche beschrieben und demonstriert ist. Dieselbe zeichnet sich durch
eine ratlose Unruhe aus, welcher der Angstaffekt den Grundton verliehen hat.
Ihre Dauer ist verschieden; es kann zu Remissionen kommen; jedoch scheint
der endliche Ausgang perniziös. Alzheimer hat einen typischen anatomischen
Befund in einigen derartigen Fällen erhoben. In dem Falle Nitsches hatte
sich im Klimakterium nach mehrmonatiger Depression und Schlaflosigkeit
ziemlich plötzlich eine Psychose mit heftigster Angst, Selbstmordversuchen,
Versündigungsideen und der Wahnvorstellung, schwanger zu sein, entwickelt;
die Besonnenheit war erhalten. Nach einem Anfalle von Tetanie trat Verworren¬
heit mit Angst und sinnloser Erregung auf, welche bis zum Exitus andauerte.
Die Kranke war tief verworren, ratlos und zeigte schweren Affekt. Sie redete
unzusammenhängend und beziehungslos; dabei bestand zielloser Bewegungs¬
drang. Der Puls war sehr frequent und klein, das Körpergewicht sank rapid.
Möglicherweise handelt es sich bei derartigen Krankheitsbildem um einen Ver¬
giftungsprozeß infolge Störung der inneren Sekretion.
2. Depressiver Wahnsinn.
Ich habe vor einiger Zeit eine Gruppe von Krankheitsfällen abzugrenzen
gesucht, welche bei naher Verwandtschaft mit der Arteriosklerose des Gehirns
einen Zusammenhang mit dem manisch-melancholischen Irresein nicht er¬
kennen lassen.
Die Erkrankung setzt im Präsenium ein; hereditäre Belastung und frühere
Krankheitsphasen bestehen nicht. Der Beginn der Krankheit erfolgt akut.
Körperlich bestehen die Zeichen einer allgemeinen Arteriosklerose. Der Er¬
nährungszustand ist schlecht, die Pupillen erscheinen eng und verzogen. Eine
psychische Verstimmung steht im Vordergründe des Krankheitsbildes; gelegent¬
lich treten Schwankungen des Affektes bis zur Euphorie auf. Es bestehen
massenhaft Gehörstäuschungen ängstlicher verfolgender Art. Die depressiven
Wahnvorstellungen gehen den vorherrschenden Sinnestäuschungen parallel.
Den deliranten Vorstellungen entspricht das wechselvolle motorische Verhalten;
Agitation wechselt mit eigentümlich manirierten, katatonisch aussehenden
Haltungsstereotypien, denen der Negativismus fehlt. Eine einheitliche psycho¬
motorische Störung 'fehlt. Die Umgebung wird häufig wahnhaft verkannt,
so daß die Orientierung wechselnd mehr oder weniger gestört ist.
Wegen des Fehlens einer einheitlichen psychomotorischen Störung und
der geringen Prägnanz der Triassymptome ist die Diagnose des manisch-melan¬
cholischen Irreseins auszuschließen. Am meisten passen die Fälle zu denen,
welche Kraepelin früher als depressiven Wahnsinn beschrieben hat, von denen
sie aber die nahe Verwandtschaft zur Gehirnarteriosklerose und das Vorherrschen
der Sinnestäuschungen unterscheidet.
124
Todesursachen, pathol. Anatomie.
G. Todesursachen, pathol. Anatomie.
Es ist natürlich, daß bei den manisch-melancholischen Kranken die
Todesursachen vielfach in interkurrenten akuten Krankheiten liegen. Lungen-
Phtlnse ist im Gegensätze zum Vorkommen bei der Dementia praecox nicht
allzu häufig. Es kommen als Ausnahmen plötzliche Todesfälle bei schweren
Aufregungszuständen vor. • So starb eine 22 jährige manische Kranke in der
Erregung ohne körperliche Vorboten. Eine Todesursache wurde bei der Ob¬
duktion nicht gefunden.
Die chronischen Kranken mit manisch-melancholischem Irrsein leiden, wie
wir oben schon gesehen haben, außerordentlich oft an einer Arteriosklerose des
Gehirns. Diese ist auch bei unseren Kranken die häufigste Todesursache. Entweder
kommt es zu Erweichungsherden oder zu Apoplexien, öfters auch zu duralen
Hämatomen. Lange vorher werden diese Kranken immerhinfälliger; die krank¬
haften Vorstellungen treten wegen des körperlichen Marasmus, der Schwäche
und starken Ermüdbarkeit mehr zurück. Bei der Obduktion finden sich besonders
häufig arteriosklerotische Nieren und Herzklappenfehler neben einer Sklerose der
Arterien, besonders der Himarterien, ferner der Aorta und der Arteria coronaria.
Die pathologische Anatomie, insbesondere des Gehirnes, hat bisher
bei dem manisch-melancholischem Irresein keine greifbaren Resultate gezeitigt.
Es ist auch sehr fraglich, ob jemals nach dieser Richtung etwas erreicht werden
wird. Immerhin ist die Untersuchung der Involutions- und senilen Zustände
von größtem Werte auch für unsere Psychose, da hierdurch allmählich eine
genauere Abgrenzung gegen die genannten Erkrankungen möglich werden wird.
Von manchen Seiten (Pilcz) sind bei zirkulären Erkrankungen, welche
wohl dem manisch-melancholischen Irresein zuzuweisen sind, Gehirnnarben
festgestellt worden. Genauere Befunde darüber, wie auch über sonstige Ver¬
änderungen der Hirnrinde liegen nicht vor.
H. Diagnose.
Früher wurde bei der Diagnose der Manie und Melancholie fast nur auf
die Störung des Affekts Rücksicht genommen, und es wurden Verstimmungen
expansiven Charakters Manie, solche depressiven Charakters Melancholie ge¬
nannt. Die natürliche Folge dieser Diagnostik war die, daß wir Manie und
Melancholie im Verlaufe von psychischen Erkrankungen fanden, die wegen
ihrer Ätiologie, Symptome und ihres Verlaufes seit langer Zeit als selbständige
Krankheitsbilder richtig auf gef aßt wurden, so bei Epilepsie, progressiver Paralyse
usw. Wie am Anfänge ausgeftihrt, haben französische Autoren den zirkulären
und periodischen Typus der Manie bzw. Melancholie als eigene Krankheits¬
form auf gef aßt.
Auf diesem Standpunkte blieb die diagnostische Kunst stehen, bis Kraepe-
lin nachwies, daß Manie und Melancholie Symptome gemeinsam haben, die
darauf hinweisen, daß ohne Berücksichtigung des periodischen Verlaufes Manie
und Melancholie Zustandsbilder einer und derselben Krankheit sind. Diese
Krankheit nannte Kraepelin manisch-depressives Irresein. Er gründete
die bekannte Symptomen-Trias, der Störung des Affekts, des Willens und des
Denkens.
Diagnose.
126
Selbstverständlich ist mit dieser Trias und ihrer Mischung, welche die
Theorie der Mischzustände aufbaut, noch keine Erklärung des Symptomen-
komplexes des einzelnen Falles eines Mischzustandes gegeben. Die Theorie
ist der Praxis nicht gewachsen; es ist nicht möglich, sämtliche Fälle, deren
klinische Zugehörigkeit zum manisch-melancholischen Irresein wir annehmen,
durch die Trias restlos aufzukären. Vor allem ist es zweifellos, daß wir zu er¬
gründen suchen müssen, ob die Krankheit nicht auf eine Fundamentalstörung
zurückzuführen sein könnte.
Eine grundlegende somatische Störung, die zu finden unser ernstes Be¬
streben vor allem sein muß, ist bisher nicht aufzudeoken gewesen. Wir wissen,
daß schwere körperliche Störungen vorhanden sind, die die Ernährung und
den Kreislauf erheblich beeinflussen; doch haben wir noch nicht die Möglichkeit,
entweder ein bestimmtes Organ für die grundlegende Schädigung verantwortlich
zu machen oder sekundär Körpergifte irgendwelcher Art als Ursache heran¬
zuziehen. Die pathologische Anatomie hat bisher in der Ergründung versagt.
So sind wir auch fernerhin darauf angewiesen, uns an die psychologische
Symptomatik zu halten, die hier in der-bekannten Trias gegeben ist. Die
Meinung über die grundlegende Störung ist sehr verschieden. Ziehen nimmt als
das Wesentlichste die Störung des Affektes an; Kraepelin konnte sich nicht
zu einem Moment entschließen; andere Autoren halten neuerdings, wie es
Wernicke schon früher getan hat, die Denkstörung bzw. Denkhemmung
für das wesentlichste Moment. Ich habe schon in einem Vortrage 1907 in
Frankfurt meine Ansicht dahin ausgesprochen, daß die Denkstörung als die
Fundamentalstörung anzusehen ist. Diese Ansicht wurde dadurch gewonnen,
daß im Verlaufe einer manisch-melancholischen Psychose Zustände Vorkommen,
in denen von einer Störung des Affekts nichts zu beobachten ist, in denen aber
eine Störung des Denkens im Vordergründe steht; besonders ist das zu
sehen in den Bildern, die früher als der Amentia Meynert zugehörig betrachtet
worden sind. Ist ein solcher Zustand gewichen, und befragen wir den Eiranken,
wie er sich in diesem Zustand gefühlt habe, so erfahren wir regelmäßig, er habe
nicht denken können. Ähnlich sind die Äußerungen der Kranken aber auch
nach Ablauf manischer und melancholischer Zustände, sowie auch während
derselben. Wir erfahren von den Kranken, sie können nicht denken, sie haben
so viele oberflächliche Gedanken, daß das Verfolgen eines Gedankens in ge¬
ordneter Weise nicht möglich sei; dadurch komme Angst, dadurch auch je nach
der Art der Vorstellungen Glücksideen, oder auch, bei Vorherrschen von Sinnes¬
täuschungen oder gleichgültigen Vorstellungen, Gleichgültigkeit, anscheinend
affektloser Stupor, Amentia, Zustand von Ratlosigkeit zum Ausdruck.
So wird auch die Störung erklärt, die die Willenstätigkeit erleidet;
der Kranke ist nicht imstande, normale Assoziationsreihen zu bilden, die die
Anknüpfung der sehr komplizierten Vorgänge der Handlung ermöglichen lassen.
Wir verstehen die Ideenf luoht als einen sehr hohen Grad einer Denkhemmung;
jeder Eindruck der Sinnesorgane gleitet oberflächlich ab; es ist dem Kranken
nicht möglich, Hemmungen dem weiteren Herandrängen von Eindrücken
entgegenzusetzen; einer folgt dem andern, kunterbunt und um so ungeregelter,
je weniger logische Assoziationen die Kranken zu leisten vermögen. Die Ideen¬
flucht braucht nicht mit der Erleichterung der sprachlichen Motilität verbunden
zu sein. Wir finden im Gegenteil die stärksten Grade der Ideenflucht bei den
126
Diagnose.
Stuporzuständen, als welche wir solche bezeichnen, bei denen neben der psychi¬
schen eine schwere motorische Hemmung vorliegt. Selten haben wir Gelegenheit
zu erfahren, mit welcher Unsumme von Eindrücken der Eiranke zu arbeiten
hatte.
Nach meiner Ansicht ist die Denkhemmung das wichtigste Symptom
des manisch-melancholischen Irreseins, das man also besser Hemmungs- bzw.
Inkohärenzpsychose nennen würde, auch im Hinblick darauf, daß eine
Menge von Zuständen leichter Art in den Eireis hineingehören, denen wir das
Wort „Irresein“ beizulegen kein Recht haben, und die deshalb bisher aushilfs¬
weise anders bezeichnet wurden. Die Denkhemmung wird auch am besten die
Schwere der jeweiligen Erkrankung kennzeichnen. Finden wir keine Merkmale
für die Denkhemmung, so werden wir mit der Diagnose einer „Hemmungs¬
psychose“ vorsichtig sein. Es ist dann notwendig, die übrigen Symptome,
Affekt- und Willenstörung, zur Hilfe heranzuziehen, wenn dieselben auch weniger
beweisend erscheinen. Gestützt ist meine Annahme durch psychologische
Versuche, die oben ausführlich dargelegt worden sind, insbesondere durch
das Symptom der Ablenkbarkeit, das erhebliche klinische Bedeutuxig be¬
ansprucht.
In zweiter Linie kommt die Affektstörung; sie ist in den meisten Fällen
das am meisten in das Auge fallende Krankheitszeichen. Sie ist fast in allen
Fällen vorhanden, nicht selten aber durch die Denkstörung verdeckt, was
insbesondere von den Stuporformen gilt. Eine nicht geringe Schwierigkeit
machen in manchen Fällen die Mischaffekte, besonders in den leichteren Krank¬
heitsformen.
Als sehr wichtig ist weiterhin die psychomotorische Störung zu
erwähnen. Hier steht die Einheitlichkeit der Störung auf eine verhältnismäßig
lange Zeitperiode im Vordergründe; ferner ist zu achten auf die Einheitlichkeit
der Störung in ihrer psychologischen Zusammensetzung. Erheblich schwieriger
diagnostisch sind die psychomotorischen und affektiven Mischzustände,
wenn nicht andere Symptome die Diagnose zu stützen imstande sind, zu ver¬
werten.
Von den Wahnvorstellungen sind charakteristisch die Vereündigungs-,
und Selbstbezichtigungswahnvorstellungen, ferner die krankhaften Zukunfts¬
sorgen. Die Sinnestäuschungen bieten wenig, was an und für sich für das
manisch-melancholische Irresein charakteristisch wäre.
Als wichtig dagegen müssen die Schlafstörungen und Tagesschwankungen,
wie auch die kurzen Affektschwankungen, schon suggestiver Art, betont werden.
Große Bedeutung ist dem Nachweis einer spezifischen Konstitution, welche
die Symptome der Krankheit in leichtester Form zeigt, beizumessen. Damit ver¬
bunden ist die Beurteilung der Verlaufsform; am meisten wird die Diagnose
erleichtert durch den Nachweis der Periodizität, welcher aber, wie wir wissen,
nur in einem Teil der Fälle zu führen ist.
An körperlichen Symptomen stehen Veränderungen im Körpergewicht,
Amenorrhoe, Verdauungsträgheit und Appetitlosigkeit im Vordergründe des
diagnostischen Interesses.
Die hereditären Verhältnisse können die Diagnose stützen, soweit
sie gleichartige Erkrankungen betreffen. Im übrigen können sie, auch wenn
starke psychische Belastung nachzuweisen ist, , bis jetzt nicht verwendet werden.
Dementia praeoox.
127
I. Differentialdiagnose.
Die Differentialdiagnose wie die Diagnose muß sich beim Fehlen einer
bestimmten Ätiologie auf die Unterschiede in den Symptomen und auf die Art
des Ausgangs der Krankheit beschränken.
I. Imbezillität.
Von den angeborenen Schwächezuständen kommt differentialdiagnostisch
nicht ganz selten die Imbezillität in Betracht. Die leichten Formen des an¬
geborenen Schwachsinns sind deswegen hier nicht so wichtig, weil bei
ihnen die psychischen Hemmungen, die die schwereren Formen oft zeigen,
weniger deutlich sind. Diese Hemmungen verbunden mit Affekstörung können
in der Beurteilung recht schwierig werden; sie machen in ihrer Gesamtheit
nicht selten den Eindruck eines läppisch-manischen Zustandes, mitunter auch
den einer gehemmten Verstimmung. Abgesehen von der Anamnese, welche
meist über die Konstitution der Kranken Aufschluß geben wird, zeichnen
sich manische Zustände bei Imbezillen durch geringe Produktivität und kind¬
liche Beeinflußbarkeit aus. Sehr schwer ist es, eine gehemmte Depression
zu unterscheiden, besonders wenn die Kranken über ihre psychischen Vorgänge
keinen Bescheid geben. Der Verlauf stellt die Diagnose in der Regel bald klar;
Erregungen oder Hemmungszustände bei Imbezillität pflegen kurzen Verlauf zu
haben, ferner führt der Habitualzustand zu rascher Aufklärung. Natürlich gibt
es Fälle von echtem manisch-melancholischen Irresein bei Imbezillen, im all¬
gemeinen sind sie aber selten. Sehr wahrscheinlich ist, daß psychologische
Versuche während des krankhaften Zustandes viel Wichtiges in differential¬
diagnostischer Beziehung zutage fördern würden.
II. Dementia praecox.
Sehr bedeutend sind die Schwierigkeiten, welche bei der Differential¬
diagnose zwischen dem manisch-melancholischen Irresein und der Dementia
praecox entstehen. Das Hauptsymptom der Dementia praecox ist die gemüt¬
liche Verblödung, die Verödung und Verflachung der Affekte-. In vielen Fällen
ist sicher der Unterschied einleuchtend. In einer nicht geringen Anzahl von
Fällen aber, in denen Stupor oder ein „läppischer“ Affekt vorhanden ist, ist
mit dieser Hauptunterscheidung nicht auszukommen. Es kommen dann die
Hilfssymptome in Betracht: Autismus, Befehlsautomatie, Katalepsie, Stereo¬
typie usw., sie alle versagen gar häufig. Wir finden im manisch-melancholischen
Stupor auch Katalepsie und Stereotypie; selbst Anklänge von Befehlsautomatie
begegnen uns. Es bleibt also der Negativisjnus übrig und tatsächlich zeigt
sich dieses Symptom als ein zuverlässiges. Gerade bei Zuständen, die ausge¬
sprochen katatonisch sind, und die wir als der Dementia praecox zugehörig
zu betrachten gewohnt sind, erscheint der Negativismus manchmal zu fehlen,
und erfahrungsgemäß sind solche Zustände dem manisch-melancholischen Irre¬
sein zugehörig. Bei manchen Stupor-Zuständen leistet die Prüfung der Ablenk¬
barkeit wertvolle Dienste. Finden wir erhöhte Ablenkbarkeit, so können
wir mit größter Wahrscheinlichkeit eine manisch-melancholische Psychose dia¬
gnostizieren. Dieses diagnostische Hilfsmittel kommt insbesondere noch in
Betracht bei den Zuständen, die früher der Amentia zugerechnet wurden, und die
128
Differentialdiagnose.
jetzt als teilweise der Dementia preacox und teilweise dem manisch-melancholi
sehen Irresein zugehörig erkannt worden sind. Bezüglich der Erregungszustände
ist die Einheitlichkeit der psychomotorischen Störung, welche den Dementia
praecox-Rranken fehlt von Wichtigkeit. Die Affektzustände, wenn solche
ausnahmsweise in der Form erhöhter affektiver Ansprechbarkeit vorhanden
sind, pflegen an Intensität nicht gleichmäßig und von kürzerer Dauer zu
sein; die Denkstörung der Manisch-Melancholischen fehlt.
Einiges weitere, was differentialdiagnostisch wichtig ist, möchte ich hier
noch anführen. Das ist zunächst die Gewichtsabnahme, die wir bei dem
manisch-melancholischen Irresein im akuten Stadium finden, auch während
Stuporzuständen; bei dem Stupor der Dementia praecox finden wir sehr häufig
eine bedeutende Gewichtszunahme. Weiterhin kommt in Betracht die
Schlaflosigkeit der Manisch-Melancholischen im Gegensatz zu den Dementia
praecox- Kranken, die nach der Erregung des Tages meist eine auffallend gute
Nachtruhe genießen können. Endlich möchte ich noch erwähnen die Differenz
in der Affektlage, die wir als Tagesschwankung zu ‘bezeichnen pflegen. Solchen
Schwankungen begegnen wir bei den Dementia praecox-Kranken nicht. Zu¬
zufügen ist noch, daß man versucht hat, die Blutdruckmessung als exakte
Methode in den Dienst der Differentialdiagnose zu stellen. Es hat sich gezeigt,
daß im allgemeinen der Blutdruck bei manischen und depressiven Kranken
gesteigert ist, während bei der Dementia praecox der Blutdruck ein normaler
zu sein pflegt. Dieses Hilfsmittel versagt natürlich in Erregungszuständen von
vornherein wegen der technischen Schwierigkeiten. Es ist aber überhaupt
nur mit Vorsicht zu verwerten, da im einzelnen Falle beim manisch-melancho¬
lischen Irresein eine Erhöhung des Blutdrucks fehlen kann, während manche Fälle
von Dementia praecox erhöhten Blutdruck haben. Ähnlich verhält es sich mit
der Pulsfrequenz; dieselbe ist im allgemeinen im manisch-melancholischen
Irresein über die Norm gesteigert, während sie bei Dementia praecox normal
zu sein pflegt. Auf die Versuche, die im Gebiet des psychologischen Experi¬
mentes vorgenommen wurden, und deren Resultate will ich nicht näher ein-
gehen. Sie sind bisher nicht imstande gewesen, uns differentialdiagnostisch
einwandfreie Fortschritte zu bieten.
Zu erwähnen ist schließlich noch das Fehlen der spezifischen manisch¬
melancholischen Konstitution.
Der Ausgang beider Krankheiten ist ein prinzipiell verschiedener. Bei
der Dementia praecox bleibt eine geistige Schwäche, besonders auf dem Gebiete
des Affektes und des Willens, zurück. Die Manisch-Melancholischen sind bei
Abheilung eines Anfalles freilich auch nur relativ gesund; auch hier können
Affekt- und Willensstörungen bestehen bleiben, oft in einer Vermengung, welche
zur Abtrennung der beiden Erkrankungen kaum brauchbar ist; wesentlich
aber ist bei letzteren die eigenartige Denkhemmung, welche den Dementia
praecox-Kranken fehlt.
III. Epilepsie.
Epilepsie und manisch-melancholisches Irresein haben nicht viele Be¬
rührungspunkte. Die seltenen Fälle, in denen bei letzterem epileptische An¬
fälle zur Beobachtung kommen, können außer Betracht bleiben. Wichtiger ist es,
die Verstimmungen der Epileptiker von denen der Melancholischen zu trennen;
Lues bzw. Metalues. Senile Demenz.
129
die epileptischen Verstimmungen sind etwas Fremdartiges, plötzlich über den
Kranken Kommendes, während die melancholischen Verstimmungen aus der
psychischen Verfassung der Persönlichkeit heraus erwachsen. Erster© dauern
meist nur Stunden, höchstens Tage, letztere nur ganz ausnahmsweise so kurze
Zeit.
Schwierig kann die Differentialdiagnose bei einem epileptischen Dämmer¬
zustand mit der Form eines Stupors werden. Hier ist wohl ähnlich wie beim
katatonischen Stupor der Dementia praecox die Ablenkbarkeit ein wichtiges
Symptom neben dem Fehlen eines ausgeprägten Affektzustandes.
IV. Lues bzw. Metalues.
Psychosen bei Lues und Metalues sind bis zu einem gewissen Grade durch
die körperlichen Erscheinungen der Lues bzw. Metalues diagnostisch gesichert.
Die Symptome der Lues brauchen hier nicht im einzelnen angeführt zu werden.
Luische Psychosen kommen differentialdiagnostisch kaum in Betracht, weil
sie schon durch ihr halluzinatorisches Gepräge besonders charakterisiert sind.
Die Affektzustände der Paralyse waren früher, hauptsächlich bei be¬
ginnenden Fällen, diagnostisch oft sehr schwierig zu deuten. Die neuen
Untersuchungsmethoden des Blutes und Liquors haben die Differentialdiagnose
im ganzen gesichert.
Schwierig in der Beurteilung bleiben Psychosen bei Lues cerebros pinalis,
welche nicht eigentlich luetischen Charakter haben, gegenüber der Paralyse;
dasselbe gilt von Psychosen bei Tabes dorsalis. Hier versagen auch die körper¬
lichen Symptome aller Art fast vollständig, soweit nicht schwerere Lähmungs¬
symptome vorhanden sind, weil sie beiden Ghippen gemeinsam sind. Eine
erregte Manie und eine gehemmte Melancholie bei Lues bzw. Tabes kann klinisch,
wenn die Kranken über ihren Zustand nicht eingehender Auskunft geben können,
sehr sohwer von der progr. Paralyse zu trennen sein. Vielfach wird hier nur die
Anamnese und der Verlauf die Diagnose sichern. Die manisch-melancholischen
Kranken mit lichtstarren Pupillen und Blut- bzw. Liquorveränderungen sind
keine seltene Erscheinung; sie bedürfen zur Beurteilung genauester klinischer
Untersuchung und Beobachtung.
V. Senile Demenz.
Die senile Demenz zeitigt Zustände,die vor allem in Gestalt von Erregungs¬
zuständen, oft tobsüchtiger Art, manischen und melancholischen Krankheits¬
phasen sehr ähnlich sehen können. In solchen Zuständen versagen die sonst
typischen Symptome der Gedächtnis- und Merkfähigkeitsschwäche, sowie
der Einschränkung des geistigen Gesichtsfeldes. Die Zustände bei den Senilen
sind im allgemeinen sehr stereotyp, der Inhalt der sprachlichen Äußerungen
monoton und entbehrt bei manie-ähnlichen Psychosen der Ideenflucht, bei
melancholischen der Äußerungen, die Interesse an Familie und Umgebung
bezeugen; sie sind egozentrisch, ja vielfach gegen die Umgebung vollständig
gleichgültig, wie in sich abgeschlossen. Die Ablenkbarkeit fehlt.
Die Schwierigkeiten der Differentialdiagnose sind besonders deswegen
oft sehr große, weil es nicht gerade zu den Seltenheiten gehört, daß im Senium
das manisch-melancholische Irresein zum erstenmal in Erscheinung tritt, offen-
&ehm. Das manlach-melancholische Irresein. 9
130
Differentialdiagnose.
bar begünstigt durch die senile Involution, ähnlich wie die Involution überhaupt
ein begünstigender Faktor ist. Vielleicht ist gerade in diesen schwierigen Fällen
das Abderhaldensche Verfahren geeignet, differentialdiagnostisch Brauch*
bares zu liefern.
VI. Hirnarteriosklerose.
Die Diagnose Himarteriosklerose ist gesichert, wenn neben den bekannten
körperlichen allgemeinen Veränderungen lokalisierte Herdsymptome von seiten
des Gehirnes bestehen. Schwieriger wird die Diagnose, wenn die Himarterio¬
sklerose erst in Entwicklung begriffen ist. Hier ist von besonderer Wichtigkeit
das Vorkommen von organischen Schwindeieracheinungen, Gedächtnisstörungen,
Ermüdbarkeit und Egozentrizität. Es handelt sich im allgemeinen um De¬
pressionen, deren klinische Zugehörigkeit Schwierigkeiten in der Beurteilung
macht. Über die Frage ist oben schon ausführlich gesprochen, so daß sich
hier nochmalige Betrachtungen erübrigen.
Wie bei der senilen Demenz sind auch hier Kombinationen möglich, deren
klinische Deutung sehr häufig unüberbrückbaren Schwierigkeiten begegnet.
Die arteriosklerotische Depression leitet über zu der Gruppe der Involutions¬
psychosen, hauptsächlich der Depressionen, von denen oben zwei Arten, die
Angstpsychose und der depressive Wahnsinn besprochen sind. Die klinische
Differenzierung der verschiedenen Gruppen ist bisher noch nicht genügend.
Es ist zu hoffen, daß weitere anatomische und biologische Methoden uns nach
dieser Richtung weiter fördern werden.
VII. Infektiöses und postinfektiöses Dilir.
Das infektiöse Delir ist insoferae wichtig, als wir beobachten, daß
manisch-melancholische Kranke in demselben ähnliche Zustände, vor allem
mit demselben Inhalte der wahnhaften Erlebnisse, durchmachen wie zu einer
anderen Zeit ihres Lebens in einer einwandfreien manisch-melancholischen
Periode. Offenbar ist es die Anlage, die durch die Infektion zur Erscheinung
gebracht wird, und die bei der betreffenden Persönlichkeit eine Neigung zu
Delirien in sich birgt. Die Differentialdiagnose ist durch die fieberhafte Er¬
krankung, welcher eine Infektion zugrunde liegt, dann gesichert, wenn der
Zustand sich während der körperlichen Erkrankung entwickelt und mit ihrer
Heilung wieder verschwindet. Liegt eine manisch-melancholische Erkrankung
vor, wird diese die infektiöse Erkrankung in der Regel überdauern.
Schwieriger in der Beurteilung ist das postinfektiöse Delir. Hier
ist ätiologisch die Erschöpfung das wesentliche Moment. Bekannt ist die Amentia
Kraepelins. Sie könnte symptomatisch zur Verwechslung mit einem läppisch
manischen Erregungszustand führen. Hier ist von Wichtigkeit, daß die sprach¬
lichen Äußerungen nicht ideenflüchtiger Art zu sein pflegen, sondern eher
dem Wortsalat der Dementia praecox-Kranken sich nähern, ferner daß di©
psychomotorische Störung keine einheitliche ist. Der Verlauf und die Art der
Entstehung sichert die Diagnose.
VIII. Chronische Vergiftungen.
Chronischer Morphium mißbrauch beruht, abgesehen von den
nicht allzu häufigen Fällen, in denen ein schweres schmerzhaftes Leiden Mor-
Psychopathie, Hysterie, Zwangsvorstellungen.
131
phiumgebrauch dauernd mehr oder weniger bedingt, fast immer auf der Grund¬
lage einer psychopathischen Veranlagung. Diese hat gerade bei den Morphi¬
nisten in sehr vielen Fällen zyklothymischen Charakter. So erklärt es sich,
daß Morphinisten längere Zeit des Giftes entraten, sich selbst davon befreien
und sich in diesen, den manischen Zeiten, besten Wohlbefindens erfreuen, bis
die Depression mit der Arbeitserschwerung, Schlaflosigkeit und Entschlu߬
unfähigkeit kommt und eine neue Phase des Morphinismus hervorruft. Es
gibt nun Fälle, die während der Abstinenzbehandlung sehr schwierig und aus¬
fallend werden, wobei sogar Gewalttätigkeiten zum Ausdrucke kommen. Ein
Kranker fing während der Kur zu halluzinieren an, er hörte pfeifen vor dem
Hause und kam in eine manische Erregung längerer Dauer, welche die Symptome
des manisch-melancholischen Irreseins trug.
Es ist wichtig, an dieso häufige zyklothyme Basis der Morphinisten zu
denken und diese diagnostisch von den Äußerungen der erzwungenen Ab¬
stinenz zu unterscheiden.
Der chronische Alkoholismus zeigt in seinen Folgezuständen, dem
alkoholischen Delir und dem Alkoholwahnsinn Formen, die der diffe¬
rentialdiagnostischen Besprechung wert sind.
Es gibt Fälle von manisch-melancholischem Irresein, die bei starkem
Alkoholgenuß vor der Psychose eine Art von Delir bieten mit starkem Tremor,
Andeutung von Beschäftigungsdrang, großer Unruhe und einzelnen Visionen,
auch Druckvisionen. Dabei entbehrt die Stimmung der euphorischen Färbung;
sie ist depressiv, Naoh Ablauf des Deliriums tritt die Melancholie mit all ihren
charakteristischen Erscheinungen, vereinigt mit psychomotorischer Unruhe,
klar zutage. Es handelt sich hier um seltene Fälle.
Viel wichtiger ist die Differentialdiagnose von Alkoholwahnsinn und
manisch-melancholischem Irresein. Die Vorbedingung ist der chronische Al¬
koholismus, der hier offenbar seine Neigung zu Gehörstäuschungen mit den
Symptomen unserer Psychose vermengt. Nach einiger Zeit treten die Gehörs¬
täuschungen in den Hintergrund und es bleibt der Zustand der manisch-melan¬
cholischen Psychose zurück. Es handelt sich im wesentlichen um ängstliche
melancholische Phasen der Erkrankung. Während des ersten Stadiums ist die
Diagnose des manisch-melancholischen Irreseins zweifellos sehr schwierig,
insbesondere, als es sich um eine Vermengung von Angstaffekt mit psycho¬
motorischer. Erregung handelt. Das Symptom der inneren Ideenfluoht könnte
hier verwertet werden.
IX. Psychopathie, Hysterie, Zwangsvorstellungen.
Praktisch von nicht sehr einschneidender Bedeutung erscheint mir die Diffe¬
rentialdiagnose des manisch-melancholischen Irreseins gegenüber der psychopa¬
thischen Konstitution und der Hysterie. Wirfinden hier alle möglichen Übergänge.
Das Wesentlichste ist die innerlich begründete Periodizität im manisch-melan¬
cholischen Irresein gegenüber diesen Formen, die in ihrer Auslösung an äußere
Umstände anknüpfen. Wir finden schon in den leichtesten Fällen von manisch¬
melancholischem Irresein Andeutungen der typischen Symptome, ferner die
Konstitution mit ihren leichten Symptomen der Affekt-, Willens- und Denk¬
störung. Die Auslösung eines in Betracht kommenden Zustandes durch äußere
9*
132
Prognose.
Umstände spricht im allgemeinen für Psychogenie; doch finden wir bei der
manisch-melancholischen Konstitution, je mehr sie gepaart ist mit psychogenen
Momenten, desto häufiger eine „Auslösung“; und ebenso verhält es sich mit
der Hysterie; wir finden Anfälle hysterischen Charakters und Stigmata bei
Manisch-M' lancholischen um so mehr, je mehr hysterische Züge bc igemengt sind.
Die konstitutionelle Verstimmung und Erregung sind biologisch zum
manisch-melancholischen Irresein und seinem erweiterten Formenkreise zu
rechnen. Wir finden hier die Symptome wieder, die wir in prägnantester Weise
im manisch-melancholischen Irresein zu finden gewohnt sind. Ferner sehen
wir in diesen Fällen fast immer Anklänge der typischen Stimmungsschwan¬
kung nach der entgegengesetzten Seite hin.
Was das Gebiet der Zwangsvorstellungen betrifft, so ist hier die Dif¬
ferentialdiagnose nicht schwierig. Es ist wichtig, darauf zu achten, daß melan¬
cholische Zustände nicht selten mit Zwangsvorstellungen einhergehen, ohne
im übrigen irgendwie atypisch zu sein. Prognostisch sind solche Fälle natürlich
ganz anders zu beurteilen wie die prognostisch so ungünstigen eigentlichen
Zustände von Zwangsvorstellungen.
K. Prognose.
Im allgemeinen ist die Prognose des manisch-melancholischen Irreseins
als günstig zu bezeichnen. Die einmaligen und die periodischen Erkran¬
kungen schließen die günstige Prognose im allgemeinen in sich. Die sub- *
chronischen Fälle erscheinen zweifc lhaft; ein Teil derselben geht in Chronizität
über und wird dadurch ungünstig. Wenn auch einzelne der sehr lange dauernden
Fälle, besonders solche der früheren Altersstufen, heilen, so muß man diese
doch als Ausnahmen betrachten; im allgemeinen sind daher die chronischen
Fälle als ungünstig (Kreuser 1 ) anzusehen. Die Psychose hört nicht auf, sie
hat keinen anderen symptomatologischen Charakter angenommen, aber ihr
Verlauf ist ohne Ende. Interkurrente Krankheiten werden durch die schließ-
liche körperliche Erschöpfung begünstigt.
Wie wir bei der Betrachtung der chronischen Fälle gesehen haben, gehen
einige in zerebrale Arteriosklerose über, andere in senile Demenz. In diesen
Fällen kann man den endlichen ungünstigen Ausgang nicht mit dem manisch¬
melancholischen Irresein in unmittelbaren Zusammenhang bringen.
Die Frage des Zusammenhanges von Arteriosklerose mit dem manisch¬
melancholischen Irresein ist noch ganz ungeklärt; immerhin ist der Eindruck
vorhanden, als ob das manisch-melancholische Irresein die zerebrale Arterioskle¬
rose begünstigen könnte. Die umgekehrte Annahme, daß Gefäß Veränderungen
die Psychose verursachen, ist wohl unberechtigt, wenn auch der Gefäßinner¬
vation möglicherweise ein gewisser Einfluß einzuräumen ist; man könnte an
einem Verbrauch nach Edinger denken.
Es gibt nun eine ganze Anzahl von Fällen, welche lange dauern und in
steigendem Maße Arteriosklerose zeigen. Wir finden solche Symptome besonders
bei zirkulären Fällen. Die einzelnen Phasen werden verwaschen, es tritt eine
traumhafte, unklare Stimmung ein, eine gewisse Schwerbesinnlichkeit, welche
bei Wechsel der Phasen stabil bleibt. Die Körpergewichtsschwankungen bleiben
l ) Kreuser, Spätgenesungen bei Geisteskranken. Zeitschr. f. Psych. 67, 1900.
Therapie.
138
dabei bestehen. Die Kranken vernachlässigen sioh mehr, sie werden gegenüber
ihrem Äußeren gleichgültig und schon in leichteren Erregungen unreinlich
bis zur Verunreinigung mit Kot. Es scheint, als ob bei solchen Kranken eine
bleibende Schwäche des Willens und der Besonnenheit vorhanden ist. Solche
Fälle bieten nach meiner Ansicht einen Schwächezustand, welcher mög¬
licherweise dem manisch-melancholischen Irresein zuzuschreiben ist; nicht
ausgeschlossen ist, daß die Gefäßsklerose dabei eine Bolle spielt. Mit Be¬
stimmtheit läßt sich das nicht sagen; fehlen uns doch die Mittel, eine nicht
vorgeschrittene Sklerose der Gehimarterien im Leben objektiv nachzu¬
weisen. Ich brauche nicht zu betonen, daß der Nachweis einer peripheren
Sklerose oder auch einer Aortenstenose noch keinen Schluß auf eine krank¬
hafte Beschaffenheit der Himgefäße zuläßt; finden wir doch nicht selten
bei peripherer Arteriosklerose die Gehimgefäße bei der Obduktion zart, und
umgekehrt bei geringer oder fehlender peripherer Arteriosklerose die Him¬
gefäße sklerotisch.
Nach dem Gesagten haben wir es beim manisch-melancholischen Irresein
mit einem Krankheitsprozeß zu tun; dies wird nicht nur durch die Annahme
von Schwächezuständen wahrscheinlich gemacht, sondern gesichert durch
die im allgemeinen mit dem Alter steigende Periodizität, die Verlängerung der
Krankheitsperioden bis zu subchronischem und chronischem Verlaufe.
Im folgenden werden über die Prognose noch einige Einzelheiten zusammen¬
gefaßt angeführt.
Die Ersterkrankungen verlaufen, was die Phase betrifft, günstig.
An den einmaligen Erkrankungen ist die Melancholie verhältnismäßig
sehr stark beteiligt (50 %). Die periodisch manischen Erkrankungen
beginnen frühzeitig im Leben, sind aber, was die ganze Dauer betrifft, günstiger
wie die anderen Gruppen; sie zeigen die geringste Periodizität und verkürzen
die späteren Phasen am häufigsten; doch werden sie verhältnismäßig rasch
chronisch und haben verhältnismäßig die meisten kurze Intervalle.
Die periodisch melancholischen Fälle verlängern ihre Phasen gegen¬
über den manischen und zirkulären Erkrankungen am meisten, andererseits
zeigen sie die meisten Mischzustände und die meisten langen Intervalle; sie ver¬
kürzen aber dieselben im Verlaufe der Psychose am stärksten. Die periodisch
zirkulären Erkrankungen bilden die große Mehrzahl der periodischen Fälle
überhaupt (75 %); sie zeigen die stärkste Periodizität, werden aber verhältnis¬
mäßig spät chronisch.
Im ganzen kann man damit rechnen, daß das freie Intervall von längerer
Dauer ist, wie die Krankheitsperiode.
Mit zunehmendem Lebensalter werden sowohl Krankheitsphasen
wie Intervalle länger.
L. Therapie.
Da eine ätiologische Behandlung nicht möglich ist, nachdem die Ursachen
des manisch-melancholischen Irreseins nicht bekannt sind, so muß man sich
darauf beschränken, die einzelnen Erscheinungen je nach ihrer schädigenden
Bedeutung zu behandeln.
Die Rassenhygiene könnte theoretisch bezüglich der Entstehung der
Erkrankung durch Femhaltung insbesondere stark manisch-melancholisch
i
134
Therapie.
belasteter Stämme auf eine weitere Ausbreitung günstig wirken. Sehr wahr¬
scheinlich würde aber durch eine solche Maßnahme die Züchtung hochbegabter
und talentierter Nachkommen Schaden leiden; ist es doch zweifellos, daß die
Manisch-Melancholischen intellektuell hoch zu stehen pflegen. Praktisch sind
wir noch nicht soweit in der Einsicht in diese verwickelten Probleme einge¬
drungen, daß in absehbarer Zeit nach dieser Richtung Schritte unternommen
werden könnten.
Im ganzen ist der Verlauf des Irreseins ärztlicher Beeinflussung nicht zu¬
gänglich. Immerhin erscheint es wesentlich, schwere äußere Einflüsse, be¬
sonders affektiver Art, von den Eiranken femzuhalten. Kann es doch kein
Zufall sein, daß die Auslösung insbesondere durch psychogene Momente einen
nicht zu unterschätzenden Faktor bildet.
Der suggestive Einfluß des verständigen Arztes wird in leicht ver¬
laufenden Fällen sehr wesentlichen Nutzen bezüglich der Milderung nach
außen projizierter Krankheitsäußerungen bringen können. Bei schwerer ver¬
laufenden Fällen ist die Behandlung in einer Krankenanstalt für Geisteskranke
notwendig. Einerseits wird hierdurch die Umgebung des Kranken nicht nur
bei gewalttätigen Kranken geschützt, sondern auch bei ruhigen geschont.
Andererseits wird der Kranke davor gesohützt, unüberlegte, ihn schädigende
Handlungen in der Öffentlichkeit zu begehen, und er wird vor allem entsprechen¬
der Behandlung zugeführt.
Daß man bei der eigenartigen Erscheinungsweise mit im allgemeinen
günstiger Prognose mit Entmündigung vorsichtig verfahren*muß, ist selbst¬
verständlich; solche Prozesse haben oft, wenigstens vorübergehend, schädigende
Folgen für den Kranken. In sehr vielen Fällen wird die schonendere Schutz¬
maßregel, die Pflegschaft, genügen. Ähnlich verhält es sich mit der Ehescheidung
nach längerem Verlaufe der Krankheit. Die Prognose ist nur in ganz seltenen
Fällen mit Sicherheit ungünstig zu stellen; daraus ergibt sich, daß man mit
allergrößter Vorsicht verfahren muß, soll nicht der Kranke geschädigt werden.
In der Krankenanstalt tritt die notwendige individuelle Behandlung
ein. Im allgemeinen ist der manische Kranke nach Möglichkeit frei zu behandeln,
der melancholische nach der Art seiner* depressiven Äußerungen. Isolierung
tobsüchtiger und sehr unruhiger Kranker ist seit langem als schädlich aufge¬
geben. Dagegen wirkt eine Separierung bei vielen Kranken sehr günstig. Ist
es doch Erfahrungstatsache, daß unruhige Umgebung die Unruhe des Kranken
vermehrt. Die psychomotorische Unruhe wird am besten bekämpft durch
Dauerbäder, eventuell im Wechsel mit feuchten möglichst zwanglosen Ganz¬
einpackungen. Die hydrotherapeutischen Maßnahmen haben den Nach¬
teil, daß sie erstens die Atmungsorgane ungünstig beeinflussen und zweitens
die Haut Infektionen zugänglich machen. So sehen wir nicht selten bei schweren
erregten Verwirrtheitszuständen schon bald Furunkel, Phlegmonen, Abszesse
auftreten, welche in nicht ganz wenigen schwersten Fällen zu Sepsis und Tod
führen. Es ist in solchen Fällen wichtig, mit den therapeutischen Maßnahmen
abzuwechseln und alle paar Tage stundenweise Bettbehandlung durchzuführen.
Dies wird sehr oft nur durch Hilfe medikamentöser Beeinflussung mög¬
lich sein.
Als Narkotika stehen uns vor allem Morphium und Skopolamin zur
Verfügung. Ersteres kommt wegen der Gewöhnung für längere Zeit nicht
Therapie.
135
in Betracht; wichtig ist das Skopolamin als schnell und stark wirkendes Mittel.
JEs hat jedoch die unangenehme Nebenwirkung, Sensationen im Schlund her¬
vorzurufen und die Nahrungsaufnahme für einige Zeit zu erschweren. Bei be¬
sonnenen Kranken muß man damit vorsichtig sein, weil es von diesen als Zwangs¬
mittel betrachtet wird. Gelegentlich wirken öftere kleine Dosen Skopolamin
günstig. Neben beiden genannten Mitteln leistet das Opium, am besten als
Tinct. op. spl, sehr gute Dienste bei schwer erregten Melancholischen. Man
wendet es am besten planmäßig in einer Kur an, etwa so, daß man von 3 X 10
Tropfen anfangend, täglich 3 Tropfen mehr gibt; bei 90Tropfen, also täglich 3 x
30 hört man auf und geht im selben Tempo wieder zurück. Selbstverständlich
ist auf Verdauung peinlich zu achten. Eine Kombination von Opium und
Brom hat sich weniger gut bewährt. Überhaupt ist vor kombinierten Arznei¬
mitteln als zu unübersichtlich zu warnen, ebenso vor stetem Wechsel derselben.
Als teilweisen Ersatz der Narkotika sind die Hypnotika zu verwenden;
vor allem das harmloseste Schlafmittel, das Paraldehyd, das man in sehr großen
Mengen geben kann, dann Chloralhydrat, dessen schädigende Wirkung auf das
Herz sehr übertrieben wird, und Veronal. Letzteres muß mit Vorsicht dosiert
werden, da Kumulierung eintritt, welche bei kleinen Dosen jedoch erwünscht
sein kann.
Das beste Schlafmittel ist das verlängerte Bad, bis zu 2 Stunden Dauer;
dies wirkt bei längerer Anwendung, wenn sich die Kranken angepaßt haben,
sehr günstig. Da das Einschlafen am meisten gestört ist, so braucht man
keinesfalls große Dosen von Schlafmitteln; 2 g Paraldehyd oder 0,5 g Veronal,
letzteres 3 Stunden vor dem erwünschten Schlaf, sind im ganzen bei mittel¬
schwerer Schlafstörung ausreichend.
Die Regelung der Ernährung ist sehr wichtig; vielfach ist fleischlose
Kost wegen des krankhaften Widerwillens gegen Fleisch angezeigt. Diese
vegetarische Kost ist auch gleichzeitig ein Mittel gegen die Obstipation, unter der
die Kranken vielfach zu leiden haben. Das Körpergewicht ist regelmäßig zu
kontrollieren, und an der Hand desselben ist die Kost zu regulieren. Gerade
die Gewichtskurve zeigt oft, daß mit dem Zeitpunkt der Aufnahme in eine
Anstalt das Gewicht wieder zunimmt, ein Beweis, daß ärztliche Einwirkung
nicht vergebens ist, vielleicht sogar den Anfall verkürzen kann. Allerdings
machen wir sehr oft auch die entgegengesetzte Erfahrung, daß die Gewichts¬
kurve durch die selbst sehr reichliche Nahrungsaufnahme nicht gebessert wird,
offenbar weil die Assimilierung der Nahrungsstoffe nicht in genügendem Maße
von statten geht.
Die künstliche Ernährung mit der Schlundsonde soll nur im äußersten
Falle angewendet werden, und dann darf die jeweils gegebene Menge von Nahrung
keine sehr große sein. Bei der Emährungsfrage hängt der Erfolg von der Sorg¬
falt des Arztes und des pflegenden Personals ab; allgemeine Anordnungen
genügen bei diesen oft sehr schwierigen Verhältnissen nicht.
Daß die Suioidneigung, besonders bei den nicht gehemmten Melancho¬
lischen, auch noch in der Zeit der Rekonvaleszenz^ größte Vorsicht erheischt,
bedarf kaum besonderer Betonung.
Sehr wichtig ist die Beschäftigung; für Manische zur Mechanisierung
ihres Betätigungsdranges, für leichter Melancholische zur Befriedigung und
Stärkung des Selbstvertrauens; Ablenkung ist bei allen Manisch-Melancholischen
136
Therapie.
verkehrt; man hört ja vielfach von Ärzten die Notwendigkeit, von Eiranken
selbst den Wunsch nach Zerstreuung und Ablenkung geäußert. Langeweile
und Ruhe ist im ganzen besser wie Ablenkung; Zerstreuung ist schädlich.
Bei der Frage des Zeitpunktes der Heilung ist der psychische Zustand,
daneben aber als objektiv der Gewichtszustand, ferner bei Frauen die Menstrua¬
tion in Betracht zu ziehen. Das Gewicht muß das der Größe entsprechende
Maß im allgemeinen überschritten haben, die Menses müssen wieder eingetreten
sein und der psychische Zustand muß dem konstitutionellen entsprechen.
Einige Worte mögen noch zür Frage der Schwangerschaftsunter¬
brechung aus therapeutischen Gründen bei manisch-melancholischen Frauen
angeführt werden. Alzheimer 1 ) hat früher schon darauf hingewiesen,
daß bei diesen Kranken keine Indikation besteht, weil das Leben der Mutter
durch die Geburt nicht gefährdet ist. Dieser Standpunkt ist zweifellos richtig.
Gewiß sehen wir nach Geburten verhältnismäßig oft Krankheitsphasen ein-
treten; wir sehen aber auch, daß an Aborte, die ohne Eingriff erfolgt sind, sich
Erkrankungen anschließen. Schließlich ist es bekannt, daß die Geburten im
Verlaufe des manisch-melancholischen Irreseins fast immer normal verlaufen
und keinen wesentlichen Einfluß auf den weiteren Krankheitsverlauf ausüben.
Eine Rücksicht auf eventuell belastete Nachkommen darf nach dem Gesetz
nicht in Betracht kommen; ganz abgesehen davon, daß diese Fragen noch
nicht spruchreif sind.
l ) Alzheimer, Die Notwendigkeit der Abortherbeiführung usw. Münch, med.
Wochenschr. 1907.
Re hm, Irresein.
Tafel 3.
Heredität.
Suistd Suizid man.-depr. Hjiterie man.-depr.
geisteakr. ge(at«akr. nerröa nuuL-dapr.
Suizid Suizid
Verlag von Julius Springer in Berlin.
Techn.-art. Anstalt von Alfred MQDer in Leipzig.
Rehm, Irresein.
Körpergewichtskurven.
Tafel 5
Verlag von Julius Springer in Berlin.
Teehn.-art. Anstalt von Alfred MADer in Leipsig.
Verlag von Joiii;
D u rchschn i ttsl ei stu ng.
Gesund. Manie. Melancholie
Tafel 10.
Teohn.-art. Anstalt von Alfred Müller in Leipzig.
Ablenkungsversuch.
Re hm, Irresein.
Tafel 11.
Vorlag von Julius Springer in Berlin.
Teohn.-art. Ansult von Alfred Möller in Leipzig.
d der Erkrankung.
n Besserung.
Reh m, Irresein
200
10
180
9
160
8
140
7
120
6
30
100
26
5
80
20
4
60
16
3
40
2
10
20 i
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Verlag von Julias Sprii
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mte Manie (5).
Leichte Ei