In die „Sammlung von Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neu¬
rologie und Psychiatrie“ sollen Arbeiten aufgenommen werden, die Einzel¬
gegenstände aus dem Gesamtgebiete der Neurologie und Psychiatrie in mono¬
graphischer Weise behandeln. Jede Arbeit bildet ein in sich abgeschlossenes
Ganzes.
Das Bedürfnis ergab sich einerseits aus der Tatsache, daß die Redaktion
der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie wiederholt genötigt
war, Arbeiten zurückzuweisen nur aus dem Grunde, weil sie nach Umfang
oder Art der Darstellung nicht mehr in den Rahmen einer Zeitschrift paßten.
Wenn diese Arbeiten der Zeitschrift überhaupt angeboten wurden, so beweist
der Umstand andererseits, daß für viele Autoren ein Bedürfnis vorliegt,
solche Monographien nicht ganz isoliert erscheinen zu la^en. Es stimmt
das mit der buchhändlerischen Erfahrung, daß die Verbreitung von Mono¬
graphien durch die Aufnahme in eine Sammlung eine größere wird.
Die Sammlung wird den Abonnenten der „Zeitschrift für die ge¬
samte Neurologie und Psychiatrie“ zu einem um ca. 20% ermäßigten
Vorzugspreise geliefert.
Angebote und Manuskriptsendungen sind an einen der Herausgeber,
Professor Dr. A. Alzheimer, Breslau, Auenstraße 42 oder
Professor Dr. M. Lewandowsky, Berlin W 62, Lutherstraße 21
erbeten.
Die Honorierung der Monographien erfolgt nach bestimmten, zwischen
Herausgebern und Verlag genau festgelegten Grundsätzen und variiert nur Je
nach Höhe der Auflage.
Abbildungen und Tafeln werden in entgegenkommender Weise ohne
irgendwelche Unkosten für die Herren Autoren wiedergegeben.
MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND
PSYCHIATRIE
HERAUSGEGEBEN VON
A. ALZHEIMER-BRESLAU UND M. LEWANDOWSKY-BERLIN
HEFT 8
DAS ZITTERN
SEINE ERSCHEINUNGSFORMEN, SEINE PATHO¬
GENESE UND KLINISCHE BEDEUTUNG
VON
*
M. ü. Dr. JOSEF PELNÄR
A. 0. PROFESSOR AN DER BÖHMISCHEN UNIVERSITÄT IN PRAG
AUS DEM TSCHECHISCHEN ÜBERSETZT VON
M. U. DR. GUSTAV MÜHLSTEIN IN PRAG
MIT 125 TEXTFIGUREN
BERLIN
VERLAG VON JULIUS SPRINGER
1913
Preis M. 12 .—
für die Abonnenten der „Zeitschrift für die gesamte Neurologie und
Psychiatrie 4 * Preis M. 9 MO
Alle Rechte, insbesondere das der Uliersetzung in fremde Sprachen,
sind Vorbehalten.
Copyright 1913 by Julius Springer in Berlin.
Druck der König]. Universitätsdruckerei H. Stürtz A. G., Würzburg:.
/
L/' 1
V
Vorwort.
Während meiner Tätigkeit als Assistent der medizinischen Klinik des
Prof. Thomayer behandelte ich eine größere Anzahl von Kranken, welche ein
Zittern des Körpers und der Extremitäten aufwiesen. Die unklaren Krankheits¬
bilder bei Unfallkranken, welche von Ärzten und von der Unfall Versicherungs¬
anstalt der Klinik zugewiesen wurden, fesselten mein Interesse, besonders durch
die verschiedenen Zitterformen, welche oft große diagnostische Schwierigkeiten
darboten. Unter dem Einflüsse der Lehre von Charcot, ,,daß man, wenigstens
allgemein, behaupten könne, eine jede Zitterform, die sich nosologisch unter¬
scheiden lasse, zeige eine besondere, bestimmte Zahl von Schwingungen in
der Sekunde“ (Poliklinik 1887/1888) registrierte ich fleißig all§ Fälle von Tremor
mit Hilfe der gewöhnlichen graphischen Methoden. Auf diese Weise häufte
sich mir ein großes kasuistisches Material an, zu dessen Verarbeitung ich mich
erst in den letzten Jahren entschloß, indem ich dasselbe durch neue Erfahrungen
und durch ein eingehendes Studium der Literatur ergänzte. Auf diese Weise
entstand der erste Teil dieser Arbeit, in welchem ich die äußeren Erschei¬
nungsformen des Zitterns, wie sie sich bei verschiedenen Zuständen dem Be¬
obachter darbieten, monographisch behandle. Meine Absicht war, durch diese
meine Arbeit dem Fachmann ein handliches und doch möglichst erschöpfendes
Buch über diesen Gegenstand zu liefern, wie ich es in der Literatur der letzten
Jahrzehnte nicht aufzufinden vermochte. Hierbei hielt ich mich an das zwar
nicht logische, aber praktisch bequeme Einteilungsprinzip nach den äußeren
Umständen, unter welchen das Zittern beobachtet wird. Ich übernahm daher
die Gruppen der adynamischen, toxischen, zerebralen, familiären, hereditären
Zitterformen, trachtete aber jene klinischen Bilder, welche mir nur gezwungen
in die genannten Gruppen eingereiht schienen, kritisch abzusondem. Dadurch
versuchte ich in mancher Hinsicht Ordnung in die bis jetzt herrschende Verwir¬
rung zu bringen und erleichterte ich mir da« spätere Studium der Pathogenese.
>■— Die größte Schwierigkeit boten die verschiedenen Zitterformen bei den
Hysterischen, weil sich dieselben nach keinem einheitlichen Einteilungsprinzip
unterscheiden lassen; ich unternahm den Versuch, sie für den rein klinischen
Bedarf nach der äußeren klinischen Erscheinung einzuteilen. Als Merkmal
für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe galt mir die auffallendste
äußere Eigenschaft des Zitterns ohne Rücksicht auf eventuelle Nebenerschei¬
nungen. Dabei ging ich von der vortrefflichen Beschreibung Dutils aus und
stützte mich vorwiegend auf eigene Beobachtungen und klinische Kranken¬
geschichten.
A
*
o
t
2
33 18 7 6 „
IV
Vorwort.
Im zweiten Teile meiner Arbeit versuchte ich zu einer Erklärung der
Pathogenese des Zitterns zu gelangen. Dieses Problem war schon wiederholt
Gegenstand ernster Forschungen, doch ist man bis jetzt über allgemeine Er¬
wägungen nicht hinausgekommen. Seit den 70er Jahren des vorigen Jahr¬
hunderts, als die ersten Erfahrungen der Muskelphysiologie zur Basis der Er¬
klärung gemacht wurden (Fernet 1872), waren die Fortschritte auf diesem Ge¬
biete so gering, daß Dejerine noch im Jahre 1901 den Satz niederschreiben
konnte: ,,En somme nous ignorons la physiologie pathologique du tremble-
ment.“
Ich versuchte, alle Zitterformen auf Grund der Erfahrungen der experi¬
mentellen Muskelphysiologie und auf Grund unserer heutigen Anschauungen
über den Mechanismus der zerebralen und spinalen Muskelinnervation begreiflich
zu machen. Dabei bin ich mir der Anfechtbarkeit meiner Schlußfolgerungen
wohl bew r ußt, zweifle aber nicht daran, daß auf dem von mir eingeschlagenen
Wege mit Hilfe der zu erwartenden Fortschritte der experimentellen Physio¬
logie und Pathologie des motorischen Systems auch die bis jetzt noch bestehenden
Unklarheiten werden beseitigt werden können.
Als die schwierigsten Kapitel möchte ich jene über das zerebrale Zittern,
den Intentionstremor bei Sklerose, das Parkinsonsche und das senile Zittern
ansehen. Meine Hypothese über das Wesen des senilen und Parkinsonschen
Zitterns möchte ich nur als ersten Versuch zur Erkenntnis bisher für unerklär¬
bar angesehener pathologischer Erscheinungen aufgefaßt wissen. Der Zweck
dieser meiner Arbeit wäre erfüllt, wenn meine Hypothese die Anregung zu
weiterer experimenteller Forschung auf dem Gebiete der Muskelphysiologie
geben würde — selbst dann, wenn sich meine Ausführungen mancherlei Korrektur
gefallen lassen müßten.
In einzelnen Fragen wird man meines Erachtens auf Grund meiner
Analyse vielleicht auch auf dem Wege der klinischen Beobachtung weitere
Fortschritte machen können, wenn sich die klinische Forschung in dieser neuen
Richtung bewegen wird; so z. B. wird man bezüglich des Zitterns bei der
Herdsklerose, bezüglich der Parkinsonschen Krankheit und der idiopathischen
Zitterformen, die ich als „kombiniert“ bezeichne, Krankengeschichten von
neuen Standpunkten aus anlegen müssen. Einer weiteren Entwickelung scheinen
mir ferner fähig zu sein die theoretisch sehr interessanten Fragen der sogenannten
„Allorhythmie“ und das Kapitel über die zerebralen und zerebellaren Bew egungs¬
störungen, zu denen ich auch das Intentionszittem der Herdsklerose und die
disharmonische Bewegung infolge von Kleinhimläsionen zähle.
Das Kapitel über die diagnostische Bedeutung der verschiedenen
klinischen Formen des Zitterns zeigt, daß sich meine ursprünglichen, durch die
Charcotsche Lehre geweckten Hoffnungen nicht erfüllt haben. Ich kam zu
der Überzeugung, daß die kleinen Unterschiede in der Frequenz des Zitterns
eine nur sehr geringe diagnostische Bedeutung haben. Dagegen konnte ich
bei der systematischen Verarbeitung aller Zitterformen aus einzelnen der bis¬
herigen Gruppen (aus dem sogenannten toxischen, adynamischen, zerebralen,
hereditären Zittern) gewisse, im Wesen sehr verschiedene Formen absondern,
und andererseits in „ätiologisch“ verschiedenen Gruppen Erscheinungen heraus-
finden, die ihrem Wesen nach identisch sind (z. B. den sogenannten hysteri-
formen Typus, den sogenannten zerebralen Typus beim toxischen, emotiven,
Vorwort.
V
adynamischen Zittern, denselben Typus bei den eigentlichen Gehimkrankheiten
und bei einigen hereditären Zitterformen).
Eine historische Einleitung habe ich absichtlich weggelassen; es wäre dies
eine sehr schwierige und wohl nutzlose Arbeit gewesen, denn die Geschichte
der Zitterlehre zerfällt in die Geschichte der einzelnen „ätiologischen“ Gruppen
in deskriptiver Hinsicht und in die Geschichte der anatomischen Befunde und
der pathogenetischen Hypothesen. Dagegen habe ich die klinischen Beschrei¬
bungen durch einige Bemerkungen über die wichtigsten literarischen Quellen
ergänzt.
Im ersten Teile habe ich zahlreiche Krankengeschichten und Zitterkurven
publiziert, um meine teilweise abweichenden Beschreibungen zu begründen
und künftigen Forschem ein vielleicht wertvolles Material zu erhalten.
Am Schlüsse meiner Arbeit angelangt, danke ich vor allem meinem Lehrer
Herrn Prof. Thomayer, der mir mit ungewöhnlicher Bereitwilligkeit das ge¬
samte klinische Material zur Verfügung stellte, und meinem geschätzten Freunde
Herrn Prof. Syllaba, der die ganze Arbeit einer gründlichen und mir wert¬
vollen Kritik unterzog. Zu nicht geringerem Danke bin ich den Kollegen
Assistenten der Klinik Thomayer für ihre ausgiebige Unterstützung verpflichtet,
besonders dem Kollegen Primarius Van^sek in Brünn und den Kollegen
Dr. Sieber, Sil und Vysu^il. Von großem Werte waren mir auch die zahl¬
reichen Rücksprachen mit dem Kollegen Prof. Lhotäk Ritter von Lhota,
dessen Kompetenz auf dem Gebiete der Muskelphysiologie ich hierbei hoch-
schätzen lernte.
Die Kurven sind von der Firma Stenc in Prag treu und rein reproduziert;
einzelne von ihnen mußten, um dem Drucke angepaßt zu werden, allzusehr ver¬
kleinert werden und müssen mit der Lupe studiert werden.
Prag 1913.
Prof. Dr. J. Pelnär.
Inhalt.
Seit©
Allgemeine Bemerkungen. (Name, Begriff, Form, Ursachen, Regi¬
strierung. ). 1
Erster (beschreibender) Teil. 7
I. Physiologisches Zittern. 7
II. Zittern infolge psychischer Erregung.11
III. Zittern infolge Schwäche des Organismus.11
IV. Zittern infolge Reizung der sensiblen Nerven. 15
V. Toxisches Zittern.16
1. Alkohol. 16
2. Absinth.27
3. Äther.27
4. Schwefelkohlenstoff.27
5. Schwefelwasserstoff.31
6. Jodismus, Bromismus.31
7. Chloral .32
8. Kohlenoxyd, Leuchtgas.32
9. Arsen.33
10. Quecksilber.33
11. Blei.45
12. Chromsäure.47
13. Zinn, Zink, Kadmium, Kupfer, Messing.47
14. Thallium.47
15. Mangan.47
16. Nikotin.48
17. Kaffee .49
18. Tee.51
19. Opium und Morphium .51
20. Strychnin, Curare, Chinin, Atropin, Akonitin, Colchicin, Cicutin,
Veratrin, Calabara, Pilokarpin, Kopaiva, Kampfer, Ergotin, Pellagra,
Haschisch, Pilze.52
21. Nebennieren.53
22. Schilddrüse.54
23. Parathyreoidea.55
24. Autointoxikationen. Milk sickness.55
VI. Tollwut. Urämie. Eklampsie. Diabetes. Gicht. Chroni¬
scher Gelenkrheumatismus. Syphilis.56
VII. 1. Einfache Nervosität.57
2. Neurasthenie.58
3. Psychasthenie.58
4. Psychosen.58
5. Epilepsie.59
a) im Intervall.59
b) im Beginne des Anfalls.60
c) nach dem Anfall.60
d) Zitteräquivalente.60
Inhalt.
VII
Seite
6. Hysterie.60
a) Zittern wie bei Nervosismus überhaupt.63
b) Vibrationszittem.63
c) Pseudoparalysis agitans hysterica und das Zittern der Hände
in der Ruhe überhaupt.68
d) Monoplegisches Zittern in der Ruhe (traumatisch) .74
e) Paraplegisches Zittern (Pseudoklonus).83
f) Hysterisches Intentionszittern.84
a) Fürstner-Nonne.85
ß) Abasie tröpidanto.85
y) Abasie saltatoire.86
<5) nach Art der Herdsklerose.87
g) Polymorphes Zittern. Bizarres Zittern.94
Traumatische Neurosen.96
Scheinbar „hysterisches“ Zittern.97
Historische Bemerkungen .97
Therapie. 98
VIII. A. Basedowsche Krankheit.98
Historische Bemerkungen.105
Therapie.105
B. Parkinsonsche Krankheit.105
Historische Übersicht.130
Therapie.131
IX. Organische Nervenkrankheiten.133
A. Disseminierte zerebrospinale Sklerose.133
Therapie.139
Gruppe der Pseudosklerosen. Hypertrophische Polyneuritis Typus
Pierre Marie.139
B. Herdförmige Gehimkrankheiten.140
Posthemiplegisches Zittern .141
a) wie bei Ermüdung.141
b) wie bei Sklerose.141
c) wie bei Schüttellähmung.143
Benedikts Syndrom.144
Anatomische Lokalisation .154
C. 1. Progressive Paralyse.157
2. Tabes dorsalis.157
3. Sklerose der Seitenstränge.158
Friedreichsche Krankheit.158
Zerebellare Heredoataxie.158
4. Polyneuritis.159
X. A. Idiopathisches Zittern, kongenital, familiär, hereditär 161
1. Einfach (essentiell).162
2. Langsam, ähnlich dem senilen.167
3. Intentionszittern .170
4. Sekundäres Zittern.174
B. Alterszittern (senil).175
XI. Mechanisches Zittern.178
Zweiter Teil. Pathogenese des Zitterns.179
I. Physiologisches Zittern.179
Historische Bemerkungen .186
II. Zittern infolge psychischer Erregungen.187
III. Advnamisches Zittern.188
VIII
Inhalt.
Seite
IV. Zittern infolge Reizung sensibler Nerven.188
V. VI. Toxisches Zittern.188
Allgemeine Schlüsse.192
1. Einfaches Zittern.192
2. Zerebrales Zittern.192
3. Hysteriformes Zittern.192
VII. Nervosismus.195
Hysterische Zitterformen .196
VIII. Basedowsche Krankheit.197
Parkinsonsche Krankheit.197
Wesen der Parkinsonschen Krankheit.197
Hypothese von dem herdförmigen zerebralen Ursprung .... 197
Toxische Hypothese.205
Eigene Ansichten.207
Drüsen mit innerer Sekretion.215
Schlußfolgerungen.218
Intentionszittern bei Parkinsonscher Krankheit.227
IX. A. Disseminierte zerebrospinale Sklerose.228
B. Zerebrale Zitterformen.234
C. Zerebellares Zittern.235
D. 1. Progressive Paralyse.236
2. Medulläre Erkrankungen.237
3. Neuritis.237
X. A. Essentielles Zittern.237
B. Seniles und diesem analoges Zittern.238
Kongenitales Zittern des Kopfes .240
C. Hereditäres Intentionszittern und sekundäres Zittern 241
XI. Mechanisches Zittern.241
Dritter Teil. Symptomatologische Bedeutung des Zitterns.243
Lokalisation: Zittern des Kopfes.243
der oberen Extremitäten.243
der unteren Extremitäten.243
das Rumpfes.244
Frequenz.244
Größe.244
Verhältnis zur Innervation.244
Beständigkeit des Zitterns.245
Verhältnis zur Grundkrankheit.245
Allgemeine Betrachtungen.245
Periodische Variationen der Intensität (AUorhythmie).246
Simulation des Zitterns.247
Literatur.253
Index.257
Allgemeine Bemerknngen.
Das klinische Symptom, welches den Gegenstand der vorliegenden Studie
bildet, das Zittern, heißt lateinisch: tremor, palmus, ballisraus, disteria (agitans-
Sanders), astasia muscularis (Gubler), polnisch drganie, böhmisch treseni,
russisch dro^anje, französisch tremblement, italienisch tremore, ballarella,
spanisch tremblor (calambres modorros bei Quecksilbervergiftung).
Der Begriff des Zitterns. Man sollte glauben, daß eine Definition
des Zitterns überflüssig wäre, daß der Begriff des Zitterns des Körpers oder
eines Teiles desselben einem jeden ohne weiteres klar wäre, und doch ist dies
nicht der Fall, denn eine einheitliche Auffassung des Zitterns wird eben dadurch
erschwert, daß die einzelnen Autoren verwandte, aber doch wesentlich ver¬
schiedene Erscheinungen unter dem Begriff des Zitterns subsumieren.
Unter Zittern verstehen wir eine unwillkürliche, rasche, geringe, um die
Gleichgewichtslage schwingende, annähernd regelmäßige, anhaltende Bewegung
in irgend einem Gelenke oder in einer synergischen Gelenksgruppe, welche den
Organismus nicht merklich ermüdet und den ergriffenen Körperteil nicht hindert,
bei einer Bewegung die gewollte Richtung einzuhalten und ihr Ziel zu erreichen.
Diese Definition wird uns aus einigen praktischen Beispielen am besten
per exclusionem klar werden. Als Zittern bezeichnen wir nicht:
1. Die willkürliche, gewollte, durch den Willen hervorgerufene Bewegung,
es wäre denn, daß es sich um eine Imitation oder Simulation des Zitterns handelt.
2. Die Bewegungen in einem Muskel oder in einigen Muskeln, welche aber
nicht zu Bewegungen eines Gelenkes führen, wie z. B. die sogenannte Myokymie,
das Muskelwogen; oder gar in einzelnen Muskelbündeln, wie z. B. die fasziku¬
lären, bündelweisen Muskelkontraktionen und^las „fibrilläre Zittern“, Flimmern.
3. Die langsamen, wurmähnlichen, wellenförmigen Bewegungen bei der
Athetose; auch nicht das langsame Schwanken der Glieder bei der Ataxie.
4. Die nach einer Richtung stattfindende, wenn auch wiederholte Be¬
wegung beim sogenannten Tic.
5. Die ganz unregelmäßigen Bewegungen bei der Chorea, welche die Extre¬
mität daran hindern, die Richtung einzuhalten und das Ziel zu erreichen.
6. Den ermüdenden, die Muskelkraft geradezu erschöpfenden, zuckenden
Krampf bei der Epilepsie oder bei der Gehirnreizung. —
Das Zittern kommt bei beiden Geschlechtern vor und tritt gewöhnlich
jenseits der Kinderjahre in jedem beliebigen Alter auf, wird aber auch bei
kleinen Kindern, ja sogar auch bei Säuglingen beobachtet.
Pein Ai-, Zittern.
1
2
Allgemeine Bemerkungen.
Bis auf geringe und überdies zweifelhafte Ausnahmen (Stimmbänder)
wurde das Zittern bis jetzt nur in der willkürlichen Muskulatur (muscles de
la vie de r&ation), aber noch nie in der Muskulatur der Eingeweide (de la vie
organique) beobachtet. Es befällt gewöhnlich eine Extremität oder zwei Extre¬
mitäten oder den Kopf, die Zunge (lokalisiertes Zittern), seltener den ganzen
Körper (universelles Zittern); manchmal eine Extremität (monoplegisch), eine
Körperhälfte (hemiplegisch), selten die beiden unteren Extremitäten (para-
plegisch). Bezüglich der Häufigkeit kann man im großen und ganzen die Skala
von Moebius annehmen: Hände > Kopf > Zunge > Vorderarm > Oberarm
>Unterkiefer >>>Füße >> Augen. Nur möchte ich zwischen Hände und Kopf
noch die Augenlider und die mimischen Muskeln einschieben. Das Zittern des
Kopfes erfolgt um eine vertikale (tremblement n6gatif) oder um eine horizontale
Achse (tremblement affirmatif). Das Zittern der Zunge stört die Sprache
(parole entrecoup^e, chevrotante Dejerine), jenes der Hände stört die Schrift
und zerreißt dieselbe, wenn es in querer Richtung vor sich geht; ist es intensiv,
wirkt es störend bei Bewegungen und bei der Arbeit.
Nach seiner Dauer ist das Zittern ein momentanes, z. B. im Zustande
der Angst, beim Schüttelfrost, nach einer Adrenalininjektion, oder ein zeitlich
begrenztes: in hysterischen Zitteranfällen, oder ein dauerndes Das dauernde
Zittern kann wiederum ein unablässiges sein, welches, wie z. B. bei der Schüttel¬
lähmung, ganze Tage, Wochen, Monate und Jahre dauern kann, oder ein inter¬
mittierendes, welches nach mehreren Tagen oder Wochen verschwindet, um
nach einiger Zeit von neuem zu erscheinen.
Nach seiner Intensität kann es gleichmäßig oder ungleichmäßig oder
wellenförmig sein, wenn seine Intensität analog der Atmungstiefe beim soge¬
nannten Cheyne-Stokesschen Atmungstypus periodisch (aber gewöhnlich
nicht so regelmäßig wie bei dieser Atmung) zu- und abnimmt (Noeuds, Allo-
rhythmie, spindelförmige Kurven usw.). Es kann fein, deutlich bis grob sein
(Schütteln, Trepidation in den Händen, Hüpfen in den Füßen). Die einzelnen
Schwingungen, die sich graphisch als Wellen (616ment du tremblement nach
Magnola) darbieten, sind bezüglich ihrer Größe untereinander gleich oder
ungleich; wenn der Unterschied nicht groß ist, sprechen wir noch von gleich¬
mäßigem Zittern, weil ein wirklich streng gleichmäßiges Zittern selten Vorkommen
dürfte; sie sind einfach oder aus 2—3 kleinen Wellen zusammengesetzt, was
aber seinen Grund eher im Mechanismus des Registrierapparates (der nur in
einer Ebene zeichnet, während die Bewegung in mehreren Ebenen stattfindet)
als in der Muskelbewegung haben dürfte (manche Muskeln oder Muskelgruppen,
welche das Zittern hervorrufen, kontrahieren sich nicht ganz gleichzeitig).
Nach der Dauer der einzelnen Schwingungen ist das Zittern rhyth¬
misch oder (seltener) arhythmisch, schnell (vibratoire, Schwirren) oder langsam.
Schon Hippokrates (Buch III von den Epidemien — zit. Latteux —
und ferner beim Delirium tremens, im Beginn der Paralyse und der Demenz),
ferner Galen (de sympt. causis — zit. Latteux), Celsus, Aretaeus, Paulus
von Aegina beschrieben das Zittern und unterschieden das Zittern im
Ruhezustand vom Zittern bei der Bewegung. Wenn wir die Neuzeit
Allgemeine Bemerkungen.
3
der Medizin von den Arbeiten van Swietens datieren, finden wir bis auf seine
Zeit nichts Neues und van Swieten selbst hat das Alte gläubig wiederholt.
Gübler fügte in seiner im Jahre 1860 publizierten Arbeit eine dritte Gruppe
des Zitterns hinzu, die wir als Zittern bei der statischen Innervation
bezeichnen, das ist jenes Zittern, welches sich einstellt, wenn wir die Extremitäten,
den Kopf, den Rumpf in einer bestimmten, von dem vollkommenen Ruhezustand
verschiedenen Position erhalten wollen; hierher gehört das Stehen, die Position
der gestreckten Extremitäten, die Stellung der oberen Extremitäten bei der
katholischen Eidesleistung usw. (attitudes fixes).
* *
*
Wollte man die Ursache des Zitterns angeben, müßte man fast die ganze
Pathogenese anführen. Bis jetzt beschränkt sich die Angabe der „Ursache“
des Zitterns auf die Aufzählung jener physiologischen und pathologischen Um¬
stände, unter denen und nach welchen das Zittern aufzutreten pflegt. Diese
Aufzählung ist nicht ohne Bedeutung; abgesehen von der Diagnostik, können
diese Umstände den Zustand des Nervenmuskelsystems und des Organismus
überhaupt, in welchem das Zittern auftritt, beleuchten und auf diese Weise
zur Erklärung des Zitterns beitragen.
Diese Umstände können wir in folgende Gruppen zusammenstellen:
I. Das Zittern bei gesunden Menschen oder das physiologische Zittern.
II. Psychische Emotionen:
Viel häufiger unangenehme: Furcht, Schreck, Ärger, Trauer
als angenehme: Freude, Sehnsucht, Liebe, Hoffnung.
III. Schwächung des Organismus (6tat adinamique-Fernet):
Beim Heben schwerer Lasten,
bei Kämpfen, namentlich bei Liebeskämpfen,
nach Exzessen in venere,
nach exzessiver Onanie,
nach raschen Märschen,
nach Krämpfen,
nach Blutungen,
bei Hunger,
bei Anämie, speziell bei der perniziösen Anämie,
bei Chlorose,
beim Stillen,
in der Rekonvaleszenz, namentlich nach einigen Infektionskrankheiten,
bei allgemeinen Ernährungsstörungen, besonders bei Kindern.
IV. Reizung sensibler Nerven: durch Kälte, scharfe Verletzung, Katheteris¬
mus (?).
V. Vergiftungen:
Mit Alkohol, Äther, Absinth,
mit Schwefelkohlenstoff, Schwefelwasserstoff, Jod, Brom, Chloralhydrat,
Kohlenoxyd,
mit Arsen, Quecksilber, Blei, Chrom, Zink, Zinn, Kadmium, Kupfer,
Thallium, Mangan,
1*
4
Allgemeine Bemerkungen.
mit Nikotin, Coffein, Thein, Opium und Morphium, Strychnin, Curare,
Chinin, Atropin, Hyoscyamin, Colchicin, Akonitin, Cicutin, Veratrin.
Physostigmin (Calabara), Pilokarpin,
mit Kampfer, Kopaiva,
bei Ergotismus, Pellagra, nach Haschisch, bei der Vergiftung mit
Schwämmen,
bei der Vergiftung mit Nebenniere, Schilddrüse, Parathyreoidealdrüschen
und durch krankhaften Stoffwechsel überhaupt (Autointoxikation).
VI. Urämie, Eklampsie, Wutkrankheit, Tetanus, Diabetes, Syphilis.
VII. Nervenkrankheiten:
Neurosen: Nervosismus, Neurasthenie, Psychasthenie, Epilepsie, Hysterie.
VIII. A. Basedowsche Krankheit,
B. Parkinsonsche Krankheit.
IX. Organische Erkrankungen des Nervensystems.
X. Heredität. Familiäre Erscheinungen. Alter.
XI. Mechanische Einflüsse (Erschütterungen u. dgl.).
Registriert wurde das Zittern bis jetzt nach vier Methoden:
I. Mittels der myographischen Methode, i. d. durch Fixierung der Kurven
der sich kontrahierenden Muskeln mit dem Myographen von Marey
(Lorrain, Fernet) oder mit dem Sphygmographen von Dudgeon
(Dana und Peterson) oder durch Registrierung der Bewegungen langer
Nadeln, die unter Lokalanästhesie in die Muskeln eingestochen wurden
(Jentsch).
II. Mittels der Schrift des Patienten. Dieser Methode bedient man sich nur
aushilfsweise, weil sie uns nichts Näheres über die Qualität und die Schnel¬
ligkeit des Zitterns sagt und weil es Fälle von Zittern gibt, die sich durch
die Schrift überhaupt nicht verraten. Am ehesten kann man das Zittern
durch lange Striche veranschaulichen, die der Patient mit einer Feder
zeichnet, ohne die Hand auf eine Unterlage zu stützen.
III. Mittels der photographischen Methode. Dutil und Londe befestigten
an den zitternden Körperteil ein elektrisches Lämpchen, das möglichst
klein gewählt wurde, um ein punktförmiges Licht zu erzielen, und fixierten
das Zittern in der Dunkelkammer auf einer in Bewegung gesetzten photo¬
graphischen Platte.
IV. Mittels Übertragung der gesamten Bewegung auf den Registrierapparat.
Auf diesem Prinzip ist eine ganze Reihe von Methoden aufgebaut.
1. Marey benützte seine Trommel, an deren Kautschukplatte er eine Blei¬
scheibe anbrachte (tambour k reaction). Diese Trommel befestigte er an die
dorsale Metakarpalfläche der zitternden Hand oder er ließ sie den Patienten
mittels eines Griffes in der Hand halten. Das Innere der Trommel war mittels
eines Kautschukröhrchens mit dem Innern der zweiten, die schreibende Feder
tragenden und so das Zittern registrierenden Trommel (le recepteur), ver¬
bunden. Auf diese Weise arbeiteten Fernet, Marie und Dutil u. a.
Allgemeine Bemerkungen.
5
2. Magnol (1894) benützte die Mareysche Trommel k reaction, aber
statt des Bleigewichtes befestigte er an die Kautschukmembran einfach einen
Metallzapfen und an diesen einen einarmigen Hebel aus leichtem Holz, dessen
kurzer Arm fixiert und auf die zitternde Extremität neben der Trommel gestützt
und dessen längerer, freier Arm mit einem Gewicht versehen ist. Wenn die
Trommel zittert, stößt sie gegen den Hebel, hebt ihn aber nicht (weil das er¬
wähnte Gewicht dies verhindert), sondern die Kautschukplatte wölbt sich vor
und überträgt auf diese Weise die Bewegung von der Trommel auf den Rezeptor,
der mit der ersten Trommel wie im vorhergehenden Fall verbunden ist. Diese
mit dem Hebel versehene Trommel (transmetteur) läßt sich nach Belieben an
dem zitternden Glied anbringen und Magnol befestigte z. B. an der oberen
Extremität gleichzeitig drei Trommeln in drei verschiedenen Ebenen, so daß
das Zittern in allen drei Ebenen gleichzeitig gezeichnet wurde. Sommer
konstruierte im Jahre 1895 einen ähnlichen Apparat für Bewegungen in allen
drei Ebenen, und zwar einen Hebelapparat, der das Zittern in vergrößertem
Maßstabe zeichnete, und gibt an, daß schon vor ihm im Jahre 1894 Werthei m-
Salomonson (der aber nach seiner eigenen Publikation aus dem Jahre 1897
die alte Mareysche Trommel benützte) das Zittern tridimensional untersucht
habe.
3. Verdin in Paris vervollkommnete die Mareysche Trommel dadurch,
daß er den hölzernen Griff verlängerte und an die Kautschukmembran einen
Metallzapfen anbrachte, an welchen je nach Bedarf drei verschiedene Metall¬
zylinder (Gewichte) angeschraubt werden. Dieser Apparat stand in unserer
Klinik in Verwendung.
4. Le Filliatre brachte an der Mareyschen Trommel einen ähnlichen
Hebel an wie Magnol, aber die Trommel und der Stützpunkt des Hebels sind
bei ihm fixiert; von dem zitternden Finger des Patienten resp. von dessen Hand,
Kinn, Zunge, verläuft ein Faden, der an dem längeren Hebelarm angreift und auf
diese Weise die Kautschukmembran der Trommel bewegt, von welcher die
Luftwellen auf den Rezeptor übertragen werden. (Er bezeichnete seinen Apparat
als Tromograph.)
5. Eine ähnliche Anordnung benützte Kollarits, nur daß bei ihm der
Kranke nicht an dem Hebel zieht, sondern denselben nur mit dem Finger oder
mit der Hand berührt, wodurch er die Trommelmembran bewegt.
6. Delabarre zeichnet das Zittern des Fingers in zwei Ebenen in der
Weise, daß der Finger in eine Art Fingerhut gesteckt wird; dieser ist durch
einen über zwei Rollen laufenden Faden mit zwei Federn verbunden, die der
Finger bewegt und zwar in der Weise, daß die eine Feder durch die vertikale
Schwingung des Fingers, die andere Feder durch dessen horizontale Schwingungen
in Bewegung gesetzt wird.
7. Busquet und Bloch konstruierten einen Hebelapparat, bei welchem
der Hebel an der Grenze zwischen dem 1. und 2. Zehntel seiner Länge gestützt
ist. Der längere Hebelarm ist mit der registrierenden Feder verbunden, während
an dem kürzeren Arm der zitternde Finger oder das Glied angreift; jede Be¬
wegung wird in achtfacher Vergrößerung registriert (appareil d’amplification
du tremblement).
8. Pierre Marie gab dem Kranken einen Kautschukball in die Hand,
dessen Inneres wiederum mit dem Inneren eines Mareyschen Rezeptors ver-
6
Allgemeine Bemerkungen.
bunden ist. Mit Hilfe dieser Methode werden insbesondere individuelle Finger¬
bewegungen fixiert.
9. Fubini taucht die zitternde Hand in den Hydrosphygmographen von
Mos so ein, durch welchen die Bewegung der Flüssigkeit auf den registrierenden
Apparat übertragen wird.
10. Morselli benützte ein Dynamometer, dessen Zeiger mit einer Registrier¬
vorrichtung verbunden ist und den der Kranke mit der Hand drückte (Dynamo¬
graph). Um auch das Zittern der ruhigen Hand registrieren zu können, benützte
Ughetti ein Dynamometer, das einer Ktichenfederwage ähnlich ist, bei der
die Schale durch einen Knopf, auf den die Hand gelegt wird, ersetzt ist. Der
Dynamometerzeiger ist mit der Registrierfeder verbunden.
11. Panichi benützte zum Studium des Zitterns der Finger das Ergo-
gramm des Apparates von Mosso.
Alle Methoden, welche das Zittern en bloc registrieren, besitzen zwei
Fehler: erstens den, daß sie das zarte, mehr tast- als sichtbare Zittern nicht
verzeichnen; die Methoden von Filliatre und Busquet, welche diesen Fehler
vermeiden wollen, sind wieder viel zu fein und vergrößern auch jede störende
Mitbewegung; auch läßt sich schwer mit ihnen arbeiten. Ein weiterer Fehler
ist der, daß sie das Zittern nur in einer Ebene registrieren und bei jenen Formen
des Zitterns, welche abwechselnd in verschiedenen Ebenen oder mehr oder
weniger rotierend vorsichgehen, unregelmäßige Interferenzkurven zeichnen.
Die Methoden von Magnol und Sommer, welche diesen Fehler vermeiden
wollen, sind zwar ziemlich vollkommen, aber sehr kompliziert und können nur
von jenen Glücklichen benützt werden, welche zu der mühseligen Registrierung
und Interpretation der Kurven die genügende Zeit haben.
Für klinische Arbeiten eignet sich am besten der an einem Griff befestigte
Mareysehe Tambour ä r^action mit Gewichten (Verdins Appareil ä registration
du tremblement). Ich bin mit diesem Apparat fast in allen Fällen ausge¬
kommen. Wo das Zittern zu zart ist, werden nur jene Partien der Kurve be¬
achtet, wo Wellen verzeichnet sind 1 ). Wenn man den Einfluß der intendierten
Innervation (z. B. bei der Parkinsonschen Krankheit) ausschließen will,
befestigt man die Trommel mittels einer Binde oder eines Pflasters an die Hand.
Erfolgt das Zittern in mehreren Ebenen, muß man darauf achten, wo es sich
auf der Kurve um ein Interferenzbild handelt und wo um das Zittern in einer
einzigen Ebene, was uns bei einiger Übung leicht gelingt. Wenn wir uns auf
die Kurve allein nicht beschränken müssen, sondern auch eine genaue Be¬
schreibung des Zitterns zur Hand nehmen, werden wir auch aus diesen gewöhn¬
lichen Kurven fast all das herauslesen, was uns die Kurven von Magnol,
Sommer und Leupoldt sagen.
x ) Hierbei hängt alles von der Qualität der Kautschukmembran ab, die
bei den Pariser Apparaten die besten, dagegen weniger gut bei unseren und bei
den deutschen Apparaten sind.
Erster (beschreibender) Teil.
I. Das physiologische Zittern.
Man versteht darunter das Zittern der Hand unter den regelmäßigen Ver¬
hältnissen des normalen Lebens bei gesunden Menschen.
Bei der großen Mehrzahl der gesunden Menschen bemerkt man mit bloßem
Auge weder im Ruhezustand noch bei der Bewegung ein Zittern der Extremitäten
oder des Rumpfes oder irgend eines Körperteiles. Wenn man aber die ge¬
streckten Hände genau beobachtet, bemerkt man an denselben ziemlich häufig
eine leichte Unruhe, und legt man auf die ausgestreckten Hände seine eigene
Handfläche, dann fühlt man häufig ein zartes Beben der Finger. Mit Hilfe
irgend einer graphischen Methode kann man konstatieren, daß die Feder bei
manchen Menschen, bei denen wir mit freiem Auge kein Zittern bemerkt haben,
eine zarte wellige Kurve zeichnet (namentlich wenn man einen der empfindlichen
Hebelapparate verwendet). Betrachten wir z. B. die Fig. 1.
Bei Dr. P. sah man mit freiem Auge kein Zittern der Hand, noch konnte
man es mit der aufgelegten Hand fühlen; und dennoch zeichnete, wenn Dr. P.
den gewöhnlichen Mareysehen Apparat zur Registrierung des Zitterns in der
Hand hielt, die Feder eine Kurve, die sich aus lauter kleinen, bezüglich der
Zeit gleichen, aber bezüglich der Größe verschiedenen Wellen zusammensetzte,
deren man 8—9 in der Sekunde zählte. Wir bemerken sofort, daß die größeren
Wellen nicht vereinzelt sind, sondern sich in kleinen Gruppen unregelmäßig
wiederholen. Diese Kurve wurde an einem Tage auf genommen, an welchem
alle möglichen Einflüsse, welche das Zittern verursachen können (Alkohol,
Nikotin, Emotionen), absichtlich schon im voraus ausgeschlossen wurden.
Dr. P. erfreute sich während dieses Versuches der besten physischen und psychi¬
schen Gesundheit. — Das wäre ein Beispiel des physiologischen Zitterns.
Unter analogen Umständen wurde eine Kurve von dem gesunden Manne
Dr. S. aufgenommen (Fig. 2). Wiederum sehen wir ein zartes, regelmäßiges,
rasches Zittern, dessen Wellen — 9 und stellenweise auch 10 in der Sekunde —
8
Erster Teil.
nicht vollständig gleich, sondern da und dort größer, dann aber wiederum
kaum erkennbar sind. Auch hier haben wir ein Beispiel des physiologischen
Zitterns vor uns, denn Dr. S. ist körperlich und geistig gesund, stammt nicht
aus einer mit Zittern behafteten Familie und hat weder im Ruhezustand, noch
bei der Arbeit jemals gezittert, wenigstens ist er sich dessen nicht bewußt, daß
seine Hände je gezittert hätten.
Fig. 2.
M. U. C. Z., 24 Jahre alt, gesund, ist weder Raucher, noch Trinker, hat ein
leises, regelmäßiges Zittern, 10—11 Zuckungen in der Sekunde (Fig. 3).
M. U. C. R., 24 Jahre alt, gesund, ist weder Raucher noch Trinker, hat
genau dasselbe Zittern, 10—11 Zuckungen in der Sekunde (Fig. 3).
Auf diesen beiden Kurven können wir stellenweise nur mit der Lupe,
Fig. 3.
an anderen Stellen nicht einmal mit dieser die kleinsten Elevationen sehen;
wo diese aber vorhanden sind, sind sie stets gleich groß.
Wenn wir in dieser Weise gesunde Menschen untersuchen, die sich dessen
nie bewußt geworden sind, daß ihre Hände zittern, w r erden wir fast immer ein
leises, manchmal aber auch ein gröberes und deutlicheres Zittern w r ahrnehmen.
Fig. 4.
So z. B. hat, wie wir sehen, Dr. P. ein ungleiches, regelmäßiges, aus 9 Zuckungen
in der Sekunde bestehendes, während des ganzen Versuches gleichbleibendes
Zittern (Fig. 5).
Ein anderes Beispiel bietet uns Kollege J., ein 22 jähriger, gesunder Mann,
der weder Raucher noch Trinker ist, in dessen Familie das Zittern nicht vor¬
kommt und bei dem ich die Kurve eines ziemlich groben, etw r as ungleichen,
aber rhythmischen Zitterns aufnehmen konnte, dessen Frequenz 11,5—12 in
der Sekunde beträgt (Fig. 4).
Das physiologische Zittern.
9
Kollege V., ein 28jähriger, körperlich und geistig gesunder, aus gesunder
Familie stammender Mann, der nur unbedeutend raucht und nicht trinkt, ruhig
und ohne jede Ausschweifung lebt, weiß davon, daß seine Finger leicht zittern.
Doch ist ihm dieses Zittern weder bei seiner Beschäftigung, noch bei x4rbeiten
mit feinen Instrumenten hinderlich. Die Kurve Fig. 5 veranschaulicht sein
Zittern; bei der Betrachtung mit der Lupe sehen wir ein regelmäßiges, rhyth¬
misches, sehr ungleiches Zittern von 8 — 8,5 Zuckungen in der Sekunde, bei
welchem kleine und größere Wellen ganz regelmäßig miteinander abwechseln.
Pitres behauptet, daß 40% aller gesunden Menschen ein derartiges
leichtes Zittern besitzen; Fürbringer fand Zittern der Hand bei 58% aller
an verschiedenen Krankheiten leidenden Patienten. Dr. Busquet in Paris
studierte diese Frage mit einem Hebelapparat, welcher jede Zuckung der Hand
vergrößert, und gelangte zu dem überraschenden Resultate, daß der Apparat
bei einer jeden gesunden Person Zittern verzeichnete, werm die Hand in der hori¬
zontalen Lage verharren sollte (bei der sogenannten statischen Innervation), oder
wenn die unterstützte Hand eine kräftige Muskelkontraktion ausüben sollte. Wenn
Fig. 5.
die Hand ruhig und gestützt ist, zittert sie nicht. Er fand weiter, daß nicht bloß
die Hand, sondern auch die ganzen oberen und unteren Extremitäten, die Unter¬
schenkel, der Rumpf, der Unterkiefer unter analogen Umständen ebenfalls zittern.
Je nach der Lokalisation war das Zittern verschieden schnell: an den ge¬
streckten Händen zählte man 7 Zuckungen in der Sekunde, wobei die Schnellig¬
keit zwischen 4 und 8 schwankte, an den unteren Extremitäten 3—5 in der
Sekunde, am Rumpfe 3—4 in der Sekunde, am Unterkiefer 8 in der Sekunde.
Die Schnelligkeit des Zitterns blieb bei demselben Menschen an demselben
Körperteil stets gleich.
Die Amplitude der Wellen oder die Intensität des Zitterns schwankt un¬
regelmäßig; nach Körperteilen geordnet konnte im allgemeinen die folgende,
von den großen zu den kleinen Wellen absteigende Stufenleit3j aufgestellt
werden: an der ganzen Unterextremität > am Unterschenkel allein > am
Unterkiefer > am Hüftgelenk > an der zum Schw r ur erhobenen Hand > am Ober¬
arm > am gestreckten Rumpf > am gebeugten Rumpf > am Fuß > am
Kopf > am Vorderarm > an der Hand.
Kälte, Ermüdung und Emotionen bedingten eine vorübergehende Größen -
Zunahme der Wellen, ohne deren Schnelligkeit zu ändern.
10
Erster Teil.
Toxische Substanzen hatten folgenden Einfluß:
eine Injektion von 0,001 g Strychnin änderte bei 4 Menschen nichts,
der Genuß „ 2 „ Ergotin „ „ 3 „ „
,, ,, j> 1 » Coffein ,, » 4 ,, ,,
,, 6 „ beschleunigte
es um eine Welle in der Sekunde ohne die Höhe
zu ändern,
„ ,, „ 4 „ BrK täglich beschleunigte bei 5 Menschen um
eine Welle und vergrößerte unbedeutend die
Höhe,
,, ,, „ 0,005 „ Arsenik täglich änderte eine lange Zeit hindurch
nichts,
„ ,, „ 0,01 „ Quecksilberjodid an 8 aufeinanderfolgenden Tagen
änderte bei 3 Menschen nichts.
Die Körpergröße war ohne Einfluß, ebenso das Alter. Nur bei Greisen
mit atheromatösen Veränderungen der Gefäße war das Zittern größer.
Bei 10 von 15 Frauen war das Zittern schwächer als bei Männern.
Die Abnahme der Muskelkraft der einen Hand hatte eine Verstärkung
des Zitterns auf der geschwächten Seite zur Folge, während sich auf der anderen
Hand nichts änderte. Infolge Anstrengung (z. B. beim Jendrassikschen
Versuch) wurde das Zittern stärker, aber nicht schneller. Ähnlich wirkte die
Belastung der Extremität mit einem Gewicht, nur daß eine Welle in der Sekunde
hinzukam. Wenn er den Blutzufluß durch elastische Umspannung beschränkte,
änderte sich das Zittern nicht. Sodann prüfte er die psychologischen Einflüsse.
Die intellektuelle Anstrengung (z. B. Rechnen) änderte nichts. Den Ein¬
fluß der Emotion prüfte er nicht, sondern er beruft sich auf die tägliche Erfah¬
rung, daß bei Emotionen, besonders bei den unangenehmen, Zittern auftritt.
Demnach wird das physiologische Zittern durch die Emotion verstärkt.
Nach den Untersuchungen Achards gibt es bei dem durch Emotion be¬
dingten Zittern 7—12 Zuckungen in der Sekunde, es ist demnach gegenüber
der Norm auch beschleunigt.
Wenn nach der Anleitung Sommers in dem Sommerschen Apparate
jene Ziffer erschien, die sich der Untersuchte vorher gewählt und gemerkt hatte,
wurde die Amplitude der Wellen ebenfalls größer. (Sommer benützte seine
Erfahrung schon vor Busquet als Indikator der seelischen Erregung.)
Analoge Erfahrungen wie Busquet machten Eshner und Kollarits;
letzterer fand eine größere Schnelligkeit des Zitterns als Busquet und eine
ähnliche wie wir: an der Hand 9—13 in der Sekunde, am Unterschenkel 2—4
in der Sekunde, am Fuß auch 10—12 in der Sekunde. Auf unseren Kurven schwankt
die Schnelligkeit je nach dem Falle zwischen 8—12 Wellen in der Sekunde.
So wurde bewiesen, daß ein physiologisches Zittern existiert.
Darunter ist das Zittern der oberen Extremitäten, speziell der Hand zu
verstehen, das sich bei der statischen Innervation (an den ausgestreckten, nicht
gestützten Händen), ferner bei den zu Prüfungszwecken durchgeführten Inten¬
tionsbewegungen und bei gröberen Muskelkontraktionen an gestützten Extremi¬
täten einstellt.
Das Zittern infolge psychischer Erregung.
11
Es handelt sich um ein mäßig ungleiches (manchmal mit wellenförmigen
Veränderungen der Intensität verbundenes), rhythmisches, schnelles Zittern,
das an den Händen aus 7—13 Wellen in der Sekunde besteht.
II. Das Zittern infolge psychischer Erregung.
Es ist allgemein bekannt, dass die Menschen infolge Furcht, Schreck, Wut
und plötzlichen Kummers zittern. Weniger häufig zittern die Menschen infolge
freudiger Erregungen, Sehnsucht und Hoffnung. Aber auch hier verrät sich
die Erfahrung durch die Phrase: „auf etwas geradezu zittern“.
Diese Form des Zitterns können wir am besten studieren, wenn ein Mensch
erschrickt oder in Wut gerät.
Das Zittern infolge Erschreckens hat seinen Sitz an den oberen und unteren
Extremitäten („die Füße zitterten unter ihm“), am Rumpf und am Unter¬
kiefer („er klapperte mit den Zähnen“); es ist ziemlich grob, schnell und gleich¬
mäßig, hindert bei kleinen Verrichtungen: Schreiben, Sprechen, Schließen der
Knöpfe und ist von einem Gefühl der Muskelschwäche, von Schwund der körper¬
lichen Innervation und der psychischen Vorgänge (Gedächtnis, Assoziation) und
von vasomotorischen Erscheinungen (gewöhnlich Kontraktion der Hautgefäße) be¬
gleitet. Ein neuer, mächtiger, psychischer Eindruck kann es ganz zum Schwinden
bringen; als Beispiel führt Freusberg den Soldaten an, der beim Anblick des
Feindes zu zittern beginnt, aber sofort aufhört, sobald er zu kämpfen beginnt.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Zittern infolge Kummers; es hat
seinen Sitz gewöhnlich im Unterkiefer und in den Händen.
Das Zittern vor Wut ist analog, nur ist es etwas gröber („die Wut hat ihn
geschüttelt“) und hat seinen Sitz auch in den mimischen Muskeln; es ist seltener;
häufiger handelt es sich um unregelmäßige Kontraktionen von Muskelbündeln
im Gesichte und unwillkürliche Handbewegungen.
Das Zittern infolge psychischer Emotion läßt sich nur schwer, ja sogar
nur ausnahmsweise durch den Willen unterdrücken.
Bei Bewegungen ist es gewöhnlich stärker, nicht schneller; es hat nie den
Charakter des Intentionszitterns.
III. Das Zittern infolge Schwächung des Organismus.
Wenn ein Mensch, der an schwere Arbeit nicht gewöhnt ist, eine schwere
Last hebt, bekommt er bei der Arbeit ein Zittern der Hand, das sich häufig auch
auf die Muskeln des Rumpfes ausbreitet; es ist ziemlich grob, unregelmäßig,
verschieden schnell, von einem Gefühl der zu Ende gehenden Kräfte („ich lasse
los!“) und gewöhnlich von einer verlängerten Ausatmung bei geschlossener
Stimmritze begleitet. Wenn die Arbeit vollendet ist, stellt sich ein leises, regel¬
mäßiges Zittern der Hand ein, das bei Bewegungen nicht zunimmt und vom
Willen nicht beeinflußt wird.
In analoger Weise entstehen diese beiden Formen des Zitterns beim
Kampfe, besonders beim Liebeskampfe, wobei in der ersten Phase die psychische
Emotion, die Aufregung und das leidenschaftliche Verlangen (tremore erotico
Ughetti) mitwirken. Wie nach schwerer Arbeit, beobachten wir die andere
Form des Zitterns nach onanistischen Exzessen und nach Krämpfen.
12
Erster Teil.
Bei bloßer Ermüdung stellt sich ebenfalls ein individuell verschieden
ausgeprägtes Zittern ein. Gramer konstatierte ein zartes, regelmäßiges, aus
9 Zuckungen in der Sekunde bestehendes Zittern seiner Hand nach einem
schnellen Marsche. Die beiliegenden Kurven veranschaulichen zunächst das
Zittern der Finger und der Hand bei der statischen Innervation bei Männern
(nach 1, 2, 5 Minuten und sodann nach 1 und 3 Minuten); ferner wurden 3 Kurven
von einer ausgestreckten Hand gezeichnet, die in dem durch ein Kreuz markierten
Momente durch ein Gewicht von 7 kg belastet wurde (Fig. 6). Die ersten zwei
Kurven stammen von einem kräftigen Mann, der bei der statischen Innervation
auch ohne Belastung ein wenig zitterte, die dritte von einer schwächlichen Frau;
bei dem Manne sehen wir ein grobes, schnelles Zittern, bei der Frau grobe,
unregelmäßige, langsamere Zitterbewegungen. Noch besser sieht man dies
Fig. 6.
an der von einem kräftigen Manne stammenden zweiten Serie von Kurven,
und zwar an den Kurven a) und b) der rechten Hand, aus denen wir ein grobes
Zittern mit etwa 9 Zuckungen in der Sekunde erkennen und an der Kurve c)
der linken Hand, die ein langsameres, unregelmäßiges Zittern, ähnlich dem
von der rechten Hand der Frau auf dem vorangehenden Bilde, andeutet (Fig. 7).
Bei großer Umdrehungsgeschwindigkeit des Registrierzylinders sehen wir, daß
das Zittern bei Belastung (I), nach einer Minute (II.) und nach einer weiteren
Minute (III.) fortwährend ungleich ist, je weiter desto gröber wird und eine
Schnelligkeit von 9 Zuckungen in der Sekunde besitzt (Fig. 8). Die groben,
unregelmäßigen Wellen im Momente der Belastung sind durch passive Schwin¬
gungen der Hand und nicht etwa durch Intentionszittern verursacht.
Bei stillenden, schwächlichen Frauen, bei perniziöser Anämie beobachten
wir bei statischer Innervation ein leises, schnelles Zittern der Hände. Latteux
verglich ein solches Zittern bei Chlorose mit dem Schwängen einer Stimmgabel.
Auch nach Gelenkrheumatismus und bei Anämie sah Latteux ein mehrmonatiges
Das Zittern infolge Schwächung des Organismus.
13
Zittern der Hände und des Rumpfes. Prof. Lhotäk beobachtete ein eigentüm¬
liches Zittern des Körpers bei stark blutenden Tieren (mündliche Mitteilung).
Seltener zittern die in ähnlicher Weise ausgestreckten Hände bei kachektischen
Personen überhaupt. Latteux beschreibt im Terminalstadium der Inanition
u. a. auch ein Zittern der Hände. In der Rekonvaleszenz nach fieberhaften
Krankheiten, besonders nach solchen, bei denen das Nervensytem leidet
(Ughetti), wie z. B. beim Typhus, zittern häufig die Hände.
Als Beispiel mag uns das Zittern bei einem 27 jährigen Rekonvaleszenten
nach Typhus (Z. 9322/04) dienen, der schon im Fieberstadium ein wenig zitterte
Fig. 8.
und bei dem fast drei Wochen nach einem 17 tägigen Fieber ein geringes, regel¬
mäßiges schnelles Zittern mit 10 Zuckungen in der Sekunde gezeichnet wurde,
dessen Intensität wellenförmig mit nicht ganz regelmäßigen Perioden
schwankte (Fig. 9).
Fig. 9.
Auch im Verlaufe eines schweren Typhus, im adynamischen Stadium des¬
selben, tritt ein Zittern der Lippen und Hände im Ruhezustand auf, das bei Be¬
wegungen (beim Sprechen, Heben der Hand, beim Trinken) stärker wird. Es
ist dies ein unregelmäßiges Zittern mit individuellen Fingerbewegungen, das
mit tappenden Bewegungen der Hand (Floccilegium) und mit unregelmäßigen
Kontraktionen der Muskulatur beim Sprechen (Grimassenschneiden) einher-
14
Erster Teil.
geht. Dieses Zittern heißt febril, aber es ist schwer zu entscheiden, wieviel
in ätiologischer Hinsicht auf das Fieber selbst und wieviel auf die allgemeine
Schwäche und auf toxische Einflüsse entfällt. (Im Ham pflegt Azeton zu sein,
wie ich mich nach einem diesbezüglichen Hinweis von Thomayer überzeugen
konnte.)
Außer jenem Zittern, welches ich durch Beispiele veranschaulicht habe,
wurden nach Typhus und anderen fieberhaften Krankheiten noch andere Formen
des Zitterns beobachtet, welche sich in folgende Gruppen einreihen lassen.
a) Zittern, das bei der Intention stärker wird, wie bei der multiplen Sklerose.
Solche Fälle beschrieb Ebstein 1872 nach Typhus mit dem Sektionsbefunde
der disseminierten Sklerose (D. A. f. kl. M.); Pitres (1889) nach Typhus;
Westphal (1892) nach Blattern und Typhus, zugleich mit Störungen der Koordi¬
nation, der Sprache, der Intelligenz; Bouveret und Landouzzy nach Typhus
an allen Extremitäten; Homolle* ebenfalls nach Typhus und Duroziez
nach einem Erysipel der Wange; James (1897) nach Malaria an allen Extremi¬
täten, einhergehend mit Muskelschwund und ein analoges Zittern nach Typhus
recurrens.
b) Zittern, das zwar jenem bei der Sklerose nicht ähnlich ist, aber doch den
Charakter des Zitterns bei Gehimerkrankungen besitzt. So z. B. beschrieb
Gubler (1860) das Zittern einer Körperhälfte und des Kopfes nach Erysipel;
Bailly (1872) publizierte eine Beobachtung Liouvilles von Zittern nach
Blattern, das jenem bei Tabes ähnlich war — also einen ataktischen Typus ge¬
habt haben dürfte. Klippel (1891) sah bei einem Rekonvaleszenten nach
schwerem Typhus eine fast vollständige Erblindung eines Auges (Neuroretinitis)
und Schwäche mit Zittern der rechten Oberextremität, welches monatelang
imverändert anhielt. Hüssy führt in seinem Sammelwerke (1904) drei analoge
Beobachtungen an; im ersten Falle handelte es sich um imunterbrochenes
Zittern nach einer fieberhaften Angina, das von einer opisthotonischen Streckung
des Körpers, lebhaften Reflexen und Fußklonus begleitet war, sich später auf
die rechte Hand beschränkte und nach drei Wochen verschwand. Bei der nach
drei Jahren vorgenommenen Revision des Knaben fand der Autor an dem¬
selben die Anzeichen von Idiotie; im zweiten Falle sah er nach Pneumonie mit
eiteriger Mittelohrentzündung ein dauerndes, langsames Zittern mit etwa vier
Zuckungen in der Sekunde, das sich bei der Intention nicht verstärkte und vom
Fieber, einem epileptischen Anfall und einigemal von einem flüchtigen Strabis¬
mus begleitet war. Dieses Zittern verschwand vollständig; im dritten Fall
bekam ein 2 y 2 Jahre altes, rachitisches, körperlich und geistig wenig entwickeltes
Mädchen nach einer Lungenentzündung einen dreistündigen, mit hohem Fieber
einhergehenden Anfall von zuckenden Krämpfen. Nach den Krämpfen blieb
ein dauerndes Zittern der Hand mit 5 Zuckungen in der Sekunde zurück, das
sich bei der Intention nicht verstärkte. Der M. extensor pollicis derselben
Hand war gelähmt. Hierher gehört auch die Beobachtung vonLannois aus dem
Jahre 1904, betreffend einen 18jährigen Jüngling mit Zittern, das im Ruhe¬
zustand 8—9 Zuckungen in der Sekunde zeigte, bei der Arbeit hinderlich war,
bei der Emotion und bei der Intention schwächer wurde ; es war im 11. Lebensjahr
nach Masern entstanden und ging mit einer verkümmerten Entwicklung der
Psyche einher. Die Stellung des Körpers und der Hand soll bei diesem Jüngling
ähnlich jener bei der Parkinsonschen Krankheit gewesen sein. Zappert
Das Zittern infolge Reizung sensibler Nerven.
15
(1908) bemerkte bei einem zweijährigen Kinde 8 Tage nach einer rechtsseitigen
Spitzenpneumonie ein Zittern der ganzen Extremitäten, das nach 3 Wochen
verschwand; Zappert hält dasselbe für einen akuten zerebralen Tremor.
Diese Formen hat bereits Breillot (1885) als organisch angesehen, wobei
er sich auf eine Erfahrung Charcots, der in einem analogen Falle von Zittern
bei der Sektion eine sklerotische Plaque im verlängerten Mark fand, und auf
die Ansicht Gublers berief, der eine Reizung oder eine Läsion des Zentral¬
nervensystems annahm. Schönfeld widmete diesen Formen des Zitterns eine
Dissertation (Neur. Zentralbl. 1888, 499).
c) Unbestimmtes und unvollständig beschriebenes Zittern. So z. B. be¬
obachtete Henoch (zit. Mayer 1908) ein fortwährendes Zittern der Hände,
der Füße und des nach hinten geneigten Körpers 4 Wochen nach einer Pneu¬
monie bei einem 15 Wochen alten Kinde; das Zittern verschwand nach 14 Tagen.
Buck und Moor (1897) sahen bei einem 59jährigen Manne ein fortwähren¬
des Zittern, das bei anstrengender Arbeit stärker und nach leichter Arbeit
schwächer wurde und auf die Autoren den Eindruck der Hysterie machte.
Clopatt (1910) sah bei einem zweijährigen Kinde nach einer aphthösen Stoma¬
titis ein universelles Zittern, das später nachließ und im linken Oberarm am
längsten zurückblieb. Viräubsky (1907) beobachtete bei einem 14jährigen
Knaben nach Typhus Zittern der Füße, das dem Fußklonus ähnlich war.
Sotov (1899) sah bei einem einjährigen Kinde einen Monat nach Masern
zuerst Zittern der linken Extremitäten, dann des Körpers und schließlich auch
der rechten Extremitäten, das Monate hindurch unverändert blieb und endlich
nach einer 6 Wochen dauernden Behandlung mit Bromnatrium verschwand.
Jourdan (1906) erwähnt ein langsames Zittern nach Malaria, ohne es
näher zu beschreiben.
d) Ganz vereinzelt steht der Fall da, den Fornaca( 1908) bei einem 57 jährigen
Mann beschrieb, der an Malaria litt und 24 Stunden vor dem Anfall ein intensives
Intentionszittem der Hände und des Kopfes bekam, das sich durch den Willen
nicht beeinflussen ließ und von unwillkürlichen heftigen Bewegungen der Hände
begleitet war; das Zittern nahm fortwährend zu, wurde erst mit dem Eintritt
des Anfalls schwächer und verschwand nach demselben. Der Patient wurde
mit Chinin vollständig ausgeheilt.
IV. Das Zittern infolge Reizung sensibler Nerven.
Hierher gehört das Zittern infolge Kälte, nach schmerzhafter Verletzung
und nach Katheterismus. Am bekanntesten ist das Zittern infolge Kälte,
dem, wenn die Kälte groß ist, jedermann und manche Menschen auch bei gering¬
fügiger Abkühlung unterliegen. Dieses Zittern betrifft fast die ganze Musku¬
latur, ist am deutlichsten am Unterkiefer ausgeprägt („mit den Zähnen klappern“),
ist schnell, regelmäßig, in unregelmäßigen Wellen an- und abschwellend und
mit Krampf der Hautgefäße, Stauung des Blutes in den Kapillaren (Zyanose),
Gänsehaut und mit unregelmäßigen Kontraktionen von Muskelbündeln (fibrilläre
und eher faszikuläre Kontraktionen) einhergehend.
Ganz ähnlich dem Kältetremor ist der Schüttelfrost: jenes eigentümliche,
vorwiegend den Unterkiefer betreffende, grobe, schnelle, regelmäßige, in un¬
regelmäßigen Wellen an- und abschwellende, mit großem Kältegefühl einher-
10
Erster Teil.
gehende Zittern. Es dauert nicht lange und verschwindet gleichzeitig mit dem
Kältegefühl. Es entsteht, wenn die Körperwärme plötzlich ansteigt: im Beginne
der Lungenentzündung, des Intermittensanfalls, oder wenn man fiebernd
umhergeht und sich entkleidet; Fernet unterschied den leichten Schüttel¬
frost (Horror) von dem allgemeinen Schütteln des Unterkiefers, des Rumpfes
und der Extremitäten (Rigor) und erwähnt, daß der Schüttelfrost auch mehrere
Tage dauern kann, was entschieden eine imgeheuere Seltenheit wäre.
Es ist bis jetzt noch nicht entschieden, ob es sich beim Schüttelfrost um
eine Reizung der sensiblen Hautnerven beim Gefäßkrampf oder um eine toxische
Störung handelt. (Adamkiewicz vergleicht ihn mit dem Schüttelfrost nach
Neurininj ektionen.)
Ähnlich verhält sich der Tremor infolge von Schmerzen und es ist oft
schwer zu entscheiden, wieviel von demselben auf Rechnung einer Reizung
sensibler Nerven und wieviel auf Rechnung der psychischen Erregung zu setzen
ist. Als Beispiel führe ich den oft zitierten Fall von Door an: ein 19jähriges
Mädchen stieß sich einen Span unter einen Nagel des rechten Fußes. Nach
der Extraktion des Spanes begann der Fuß zu zittern und der Tremor hörte
erst nach mehreren Tagen auf (Hysterie?). (Zit. v. Vandier und Lerroux
in ihren Thesen.)
Analog ist auch das Zittern beim Katheterisieren und auch hier ist die Be¬
teiligung der sensiblen Nerven strittig.
V. Das Zittern infolge von Vergiftung.
1. Der alkoholische Tremor.
a) Eine der frühesten und häufigsten Begleiterscheinungen der chronischen
Alkoholvergiftung ist das Zittern der Hände (Breillot). Dasselbe beginnt
ganz allmählich, zeigt sich anfangs nur am Morgen im nüchternen Zustande
(Romberg), wenn der Kranke mit den Händen bewegt (er zieht sich schwer
an, Breillot), und ist im Beginne so geringfügig und stört bei feineren Arbeiten
so wenig, daß es der Kranke gar nicht bemerkt und daher behauptet, daß er
nicht zittert (Fernet 1872). In diesem Stadium pflegt es besser tastbar als
sichtbar zu sein. Im Ruhezustand fehlt es (wenn die Hand vollständig ruhig
herabhängt oder gestützt ist). Es ist ziemlich schnell und macht 6—9, nach
unseren Erfahrungen gewöhnlich 8—9 Schwingungen in der Sekunde, während
Dutil, Marie, Welflender, Williams sogar 11 — 12 Schwingungen in der
Sekunde angeben, was auch wir beobachtet haben; Dejerine zählte nur 6—7
Schwingungen. Auch bei ein und demselben Patienten kann die Schnelligkeit
je nach dem Stadium der Krankheit Schwankungen aufweisen. Das Zittern
ist nicht ganz regelmäßig und befällt die Finger häufig nicht gleichmäßig und
nicht gleichzeitig (individueller Tremor der Finger). Bei körperlicher An¬
strengung, gespannter Aufmerksamkeit und bei Emotionen wird es stärker;
durch den Willen, durch energische Muskelkontraktion und schwere Arbeit
kann man es für eine kurze Zeit unterdrücken, aber es bricht nachher um so
heftiger hervor. Latteux gibt an, daß es durch das Bestreben, es zu unter¬
drücken, verstärkt w r erde, was aber nur für einige Fälle gilt. Nach dem Genüsse
alkoholischer Getränke hört es auf, ebenso in der Abstinenz (unser I. Fall);
Das Zittern infolge von Vergiftung.
17
manchmal aber verstärkt es sich zugleich mit anderen Abstinenzerscheinungen
(Ziehen).
In späteren Stadien breitet es sich auf die Schultern, die Lippen und die
Zunge, sodann auf die Füße aus; es kann in ein Zittern der gesamten Muskulatur
übergehen und die Funktionen stören; bei der Intention wird es manchmal
stärker (unsere Fälle III und IV); in diesem Stadium ist es durch Alkohol nicht
mehr so leicht zu beseitigen.
An den Lippen und Wangen ist es deutlich zu sehen, wenn der Kranke
die Nase rümpft und die Zähne zeigt. An den Händen hat es manchmal den
Anschein, als ob es in lateraler Richtung vor sich gehen würde; doch handelt
es sich da gewöhnlich um eine passive, sekundäre Bewegung der Hand bei
horizontalem Zittern des Arms (Magnol).
Bei gleichzeitigen Muskelparesen bleibt das Zittern auf die paretischen
Muskeln nicht beschränkt (Ziehen).
Ausnahmsweise hat das Zittern bei chronischem Alkoholismus einen aus¬
gesprochenen Intentionscharakter (unser Fall VTI).
Es galt früher für ein pathognomonisches Symptom des Alkoholismus
(Fernet), ist aber gewissen Tremorformen der Neurastheniker, ja sogar auch
dem febrilen Zittern (wenn der Kranke fiebernd herumgeht, ohne von seinem
Fieber zu wissen) sehr ähnlich. Nach den umfassenden statistischen Aufzeich¬
nungen Fürbringers fehlt es nur bei 10% der Trinker, nach meiner kleinen
Statistik bei 15—23%. Fürbringer untersuchte eine Reihe von Trinkern
und Nichttrinkem und fand, daß das leise Zittern der Hände ebenso häufig
bei Trinkern wie bei Nichttrinkern, dagegen das grobe Zittern bei Trinkern
doppelt so häufig vorkommt. Die Personen, bei denen er ein grobes Zittern
der Hand fand, waren zur Hälfte Trinker.
Ich fand bei 41 notorischen Säufern, deren Geisteszustand ich beim Straf¬
gericht zu untersuchen hatte, 32 mal das Zittern der Hände, 18 mal das Zittern
der Zunge, 18 mal das Zittern der Augenlider und 10 mal eine Unruhe der Wangen.
An den Händen war das Zittern bei statischer Innervation schnell, zart (18),
manchmal mehr tastbar (9) als sichtbar, manchmal handelte es sich um indivi¬
duelles Zittern der Finger (5). Das Zittern fehlte, wie ich mir ausdrücklich
notierte, in 6 Fällen. An der Zunge fand ich ein schnelles Zittern beim Vor¬
strecken (14), manchmal aber nur bündelförmige Kontraktionen (3); an den
Lidern ein schnelles Flimmern (16) und unrhythmisches Zucken (2); an den
Wangen seltener ein Zittern (4), dagegen häufiger ein unregelmäßiges Muskel¬
zucken bei der Intention (6).
b) Beim akuten Wahnsinn der Säufer gab das Zittern dem ganzen Syndrom
das Attribut Delirium tremens. Während des stürmischen Deliriums befällt
das Zittern den ganzen Körper, am meisten die Lippen und die Zunge und die
oberen Extremitäten; manchmal ist dasselbe zart und im allgemeinen dem
Zittern beim chronischen Alkoholismus analog (unser Fall V), gewöhnlich aber
grob, besonders bei Bewegungen (nach Gowers nur bei Bewegungen), aber
auch im Ruhezustand (insoweit man bei einem solchen Patienten überhaupt von
Ruhe sprechen kann); es ist weniger rhythmisch und regelmäßig, und von un¬
zweckmäßigen Bewegungen begleitet, analog jenen bei der Chorea (Fernet-
Dejerine) oder bei der disseminierten Sklerose ^Dejerine); es hat Intentions¬
charakter (unsere Fälle), hindert beim Sprechen, bei Verrichtungen mit der
Pein**, Zittern. 2
18
Erster Teil,
Hand, beim Stehen und Gehen; es ist schon im Prodromalstadium vorhanden
und hält, wenn auch abgeschwächt, mehrere Tage nach dem Anfall an (Wasser -
mayer); es wurde auch einseitig beobachtet. Im Zustande hochgradiger Er¬
regung der Kranken, welche zu Gewalttaten geneigt sind und hierbei eine große
motorische Kraft an den Tag legen, verschwindet das Zittern (Fernet), wenn
auch nicht immer (Trousseau); es verschwindet schließlich im prämortalen
Stupor.
Das alkoholische Delirium, welches nicht vollständig, sondern im Verlaufe
anderer Krankheiten ausbricht, pflegt nicht vom Zittern begleitet zu sein
(Trousseau).
c) Im akuten Rausche beobachtet man kein Zittern, sondern nur eine
Unsicherheit und eine Disharmonie der Bewegungen.
d) Im subakuten apyretischen Alkoholismus, der sich vom Delirium
tremens nur durch die Intensität unterscheidet, beobachtet man alle Übergänge
vom Tremor des chronischen Alkoholismus zum Tremor des stürmischen Deliriums.
Die regelmäßigen Vibrationen der Hände, der Arme, des Rumpfes, der Zunge
und der Lippen steigern sich mit den Symptomen der Gehirnreizung zu einer
unregelmäßigen Trepidation der Glieder. Wenn die Gehimerscheinungen ver¬
schwinden, dauert das Zittern weiter, manchmal noch mehrere Wochen hin¬
durch.
Von den klinischen Fällen, bei denen wir das Zittern genauer beobachtet
und gezeichnet haben, will ich folgende anführen:
I. Chronischer Alkoholismus. Schmerzhaftigkeit der Muskeln.
Tremor, der in der Abstinenz verschwindet.
Ein 33 jähriger Mann Nr. 9030/04. Trinkt seit dem 17. Lebensjahre bis heute
alkoholische Getränke aller Art. Durchschnittlich ist er 1—2mal in der Woche
betrunken. Bis jetzt hat er keine Beschwerden gehabt. Er schläft gut ohne schreck¬
hafte Träume. Sehr selten hat er auf nüchternen Magen erbrochen, wenn er am
Abend zuvor viel Zigaretten geraucht hat.
Vor 7 Wochen begannen seine Hände zu zittern und zittern seitdem unauf¬
hörlich, den ganzen Tag, besonders bei der Arbeit, so daß er sein Handwerk auf-
geben mußte (er war Friseur). Bei der Arbeit zitterten seine Hände schon seit einem
Jahre, aber es gelang ihm stets, das Zittern durch starken Tee mit Rum zu unter¬
drücken. Jetzt will ihm das aber nicht mehr gelingen. Am Morgen erbricht er
oft. Er schläft schlecht. Halluzinationen hat er nicht. Zudem bekam er Schmerzen
in die unteren Extremitäten, sein Gang wurde wegen der Schmerzen langsamer, die
Füße schwollen an. In der Klinik konstatierte man, daß er blaß sei und leicht zyano¬
tische Schleimhäute habe. Die geschlossenen Augenlider zittern schnell und intensiv.
Die Wangenmuskeln und die Zunge zittern bei Bewegungen und im Ruhezustand
(wenn auch weniger). Die Nervenplexus schmerzen nicht, aber die Muskeln sind
bei Druck sehr empfindlich. Die Hände sind zyanotisch und schwitzen stark. Die
gestreckten Oberextremitäten zeigen einen groben, sehr schnellen, gleichmäßigen
Tremor im Sinne der Flexion und Extension, der sich verstärkt, wenn der Kranke
die Hände längere Zeit gestreckt hält. Der Tremor läßt sich durch den Willen
nicht unterdrücken. Suggestive Einflüsse blieben auf den Tremor ohne Wirkung.
Wenn die Hände ruhig herabhingen, war das Zittern klein und zeitweise überhaupt
nicht zu sehen. An den unteren Extremitäten fand sich ein Zittern von demselben
Charakter; das Stehen war infolge des Zitterns unsicher. Die Sprache war infolge
des Zitterns der Sprechwerkzeuge gestört.
Am nächsten Tage (9. VI. 04) wurde mit dem Apparate von Marey-Verdin
eine Kurve aufgenommen (Fig. 10). Anfangs (Kurve Nr. I) handelte es sich um
einen kleinen, rhythmischen, nicht ganz gleichen Tremor von 8—9 Wellen in der
Das Zittern infolge von Vergiftung.
19
Sekunde; bei längerer Dauer des Versuches wurden die Wellen größer (Nr. II),
rhythmisch, 8 in der Sekunde, sukzessive aber wurde das Zittern groß (Nr. III) und
sehr grob (Nr. IV), wobei es den regelmäßigen Rhythmus von 8 Wellen in der Sekunde
beibehielt; die Wellen waren ungleich, aber die Ungleichheit war nicht groß und
auffallend. Es handelt sich nicht um ein Intentionszittem, denn es lag keine Inten¬
tion vor, sondern eine Ermüdung infolge Verlängerung des Versuches, eine er¬
höhte Muskelanstrengung.
Fig. 10.
In der Klinik mußte der Patient liegen und bekam keinen Alkohol, worauf
das Zittern langsam, aber beständig abnahm. Nach einer Woche wurde das Zittern
abermals zu Papier gebracht und der Versuch wiederum in die Länge gezogen.
Auf dem Bilde (Fig. 11) sehen wir einen Tremor, der dem Wesen naeh unverändert
ist, der aber mit der fortschreitenden Dauer des Versuchs nicht größer wird. Im
Beginne (Nr. I) zeigt er imregelmäßige, gruppenförmige Verstärkungen von 1—2
Sekunden Dauer, geht aber dann in einen kleinen, schnellen, rhythmischen, im großen
und ganzen gleichmäßigen Tremor über. Zum Unterschied von dem vorhergehen¬
den Versuche ist dieses Zittern noch schneller, indem es 10 und zumeist 11 Wellen
in der Sekunde macht. Nach weiteren 4 Tagen verschwand das Zittern fast voll¬
ständig und alle Symptome ließen nach.
Fig. 11.
II. Ein anderes Beispiel bietet J. V., 42 Jahre alter Fuhrmann.
Alkoholismus chronicus. Pseudotabes alcoholica. Tremor. Knoten
in der Zitterkurve.
Nr. 2164/04. Stammt aus gesunder Familie und war stets gesund, trinkt
aber seit Jahren 20 — 30 Glas Bier und Schnaps. Früh morgens erbricht er
auf nüchternen Magen. Träumt von Mäusen, Kaninchen, tollen Hunden. Seit
3 / 4 Jahren hat er stetig zunehmende Schmerzen in den unteren Extremitäten und
Krämpfe in den Waden, so daß er schon gar nicht mehr gehen kann. Im Beginne
der Krankheit sprach er irre, lief aus dem Bett, sah Teufel und Menschen, die ihm
2 *
20
Erster Teil.
nach dem Leben trachteten und mit denen er sich unterhielt. Seit Jahren hustet
er und leidet er an kurzem Atem.
Beim Eintritt in die Abteilung des Prof. Thomayer zeigte er die Symptome
einer diffusen Bronchitis mit aufgeregtem Herzen, Spuren von Eiweiß im Harn,
Abb. 12.
sehr schmerzhafte Nervengeflechte — besonders die Nervi ischiadici waren schmerz¬
haft —, erloschene Patellarreflexe, ataktischen Gang, Rombergsches Symptom,
beträchtliche Hauthyperästhesie, normale Pupillenreaktion. An den oberen Extremi-
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Fig. 13.
täten hatte er ein grobes Zittern, das am nächsten Tage (9. II. 04) gezeichnet wurde.
Es handelte sich (Fig. 12) um einen groben, gleichmäßigen, nicht besonders schnellen,
6*5—7 Wellen in der Sekunde aufweisenden und insofeme ungleichen Tremor,
Fig. 14.
als auf einige größere Wellen stets einige kleinere folgten; dieser Tremor wurde
bei Intention nicht verstärkt. Auf der zweiten Kurve, die von demselben Patienten
stammt, sieht man ein Zittern, das etwas schneller ist, 7% Wellen in der Sekunde
macht, und zwar regelmäßig, aber etwas ungleich ist.
Die dritte, vierte imd fünfte Kurve (Fig. 13) wurden bei kleinerer Um¬
drehungsgeschwindigkeit aufgenommen; sie lassen uns das Zittern in der drei-
Das Zittern infolge von Vergiftung.
21
fachen Zeit überblicken und zeigen einen gleichmäßig schnellen, aus 7—8—9 Wellen
in der Sekunde bestehenden Tremor, der aber wiederum ungleich ist und jene wellen¬
förmigen Veränderungen aufweist, die wir schon wiederholt als sogenannte Allo-
rhythmie beschrieben haben. — Von demselben Kranken besitzen wir noch eine
Serie von Kurven, die uns das regelmäßige, nur wenig ungleiche Zittern der Hände
mit 8 — 9 Wellen in der Sekunde veranschaulichen (Fig. 14).
In den beiden folgenden Fällen hatte der Tremor die Form des Intentionszitterns.
Fig. 15.
III. H. I. Nr. 1618/04. Tremor, der durch Intention verstärkt
wird, kein Intentionszittern. (Die klinischen Daten fehlen.) (Fig. 15.) Auf
der ersten Kurve sehen wir ein zartes, schnelles, aus 10 Wellen in der Sekunde be¬
stehendes, fast ganz gleichmäßiges, aber imgleiches Zittern; dasselbe sehen wir
auf der vierten Kurve; auf der zweiten und dritten Kurve sehen wir sehr schön den
Einfluß der Intention: das Zittern wird größer, ungleich, wird aber nach 2—3
Sekunden wieder kleiner; wir haben da kein Intentionszittern vor uns, sondern
ein Zittern, das bei der Bewegung größer wird. Die fünfte Kurve zeigt das Zittern
der Zunge, das dem Zittern der Hände auf der ersten Kurve (10—10,5 in der Se¬
kunde) sehr ähnlich ist.
Von demselben Kranken wurde das Zittern an demselben Tage 120 Se¬
kunden hindurch unimterbrochen aufgenommen (Fig. 16). Wiederum sehen wir
^ - -
Fig. 16.
ein schnelles 9—8, 5—9 Wellen in der Sekunde betragendes, gleichmäßiges Zittern,
das an einigen Stellen größere, an anderen Stellen kleinere Wellen aufweist, aber
keineswegs absolut imregelmäßig ist; die letzte Kurve zeigt gar eine Schnelligkeit
von 11 Wellen in der Sekunde; im übrigen ist die Form des Zitterns während der
letzten 20 Sekunden dieselbe wie in den ersten.
IV. Alcoholismus chronicus. Tremor universalis. Delirium über¬
standen. Einfluß der Intention auf den Tremor; kein Intensionszittern.
Nr. 17 615/06. 45 jähriger, beschäftigungsloser, aus gesunder Familie
stammender Mann. Überstand als Kind Lungenentzündung, im 21. Lebensjahre
22
Erster Teil.
Typhus, im 22. Lebensjahre Syphilis und im 33. Lebensjahre Gonorrhoe. Trank
stets sehr viel, bis 25 Glas Bier, daneben Wein, Kaffee mit Rum, Liköre; er konnte
einen Liter Wein auf nüchternen Magen und hierauf Bier trinken. Seit 8 Jahren
hat er keine ständige Beschäftigung. In den letzten Jahren erbricht er auf
nüchternen Magen. Vor 9 Monaten bekam er plötzlich Kopfschmerzen; er begann
am ganzen Körper intensiv zu zittern; auf der Straße sah er Gespenster, die nach
ihm griffen; er konnte nicht schlafen. Nach einer dreiwöchigen Kur im Krankenhaus
verlor er alle diese Erscheinungen.
Nach der Rückkehr aus dem Krankenhause begann er wieder zu trinken,
worauf er wieder das Zittern bekam, das sich aber verlor, als er zu trinken aufhörte.
Vor einer Woche machte er sich auf den Weg von Pilsen nach Prag; unterwegs
trank er viel, worauf er morgens auf nüchternen Magen das Zittern bekam. Sobald
er etwas trank, verminderte sich das Zittern und verschwand vollständig, so daß
er am Nachmittag sogar schreiben konnte. Vor etwa 3 Tagen wurde er scheu, er¬
schrak vor jedem plötzlichen Geräusch und schreckte unter Zucken de« ganzen Körpers
aus dem Schlafe auf. Nach einem Konflikte mit den Behörden w r urde er ins Kran¬
kenhaus geschafft. Am Tage der Aufnahme in die Klinik (14. XI. 06) fand
man Sensibilität der peripheren Nerven, gesteigerten Pharyngealreflex, lebhafte
Sehnenreflexe, normale Fußsohlenreflexe; der Befund über den Eingeweiden
Fig. 17.
war bis auf eine Steigerung des Blutdruckes (16 cm — Gärtner) normal, nur kon¬
statierte man ein schnelles Zittern des Körpers, der Lippen, der vor gestreckten
Zunge, ein rasches Zittern der oberen Extremitäten selbst im Ruhezustand, das
bei der Intention stärker wurde, und auch an den unteren Extremitäten ein rasches
Zittern, das sich bei der Intention verstärkte und den Kranken beim Gehen hinderte.
Die Schrift war sehr zitterig.
Am nächsten Tage wurde mittelst des Marey-Verdinschen Apparates
eine Zitterkurve aufgenommen (Fig. 17); wenn der Kranke die Hand ausgestreckt
hielt (bei statischer Innervation), zeichnete dieselbe ein rhythmisches, schnelles,
8,5—9 Wellen in der Sekunde betragendes, im großen und ganzen grobes Zittern
mit imgleichen Wellen und wiederum mit jener unregelmäßigen, gruppenförmigen
Verstärkung der Wellen (Allorhythmie); bei einem zweiten Versuche sehen wir im
Ruhezustand einen ganz regelmäßigen und gleichmäßigen Tremor von 9 Wellen
in der Sekunde; im Momente der Intention w T urde das Zittern gröber, es behielt
den Rhythmus und die frühere Schnelligkeit, wurde aber ungleichmäßig. Nach 4
Sekunden wurde es wüeder kleiner und kehrte zu seiner ursprünglichen Form bei
der einfachen statischen Innervation zurück.
Ferner verfüge ich über 2 Fälle von Tremor im Delirium tremens. Im ersten
Fall (V. Fall) hat der Tremor die Form des banalen Zitterns beim chronischen Alko¬
holismus, im zweiten Fall (VI. Fall) die Form des Intentionszitterns.
V. Einfaches Zittern beim Delirium tremens.
F. H., 34 Jahre alt. Nr. 8836/04; stammt von einer Mutter, die eine Geistes¬
krankheit (Melancholia!) durchgemacht hat, und von einem Vater, der ein Säufer
Das Zittern infolge von Vergiftung.
23
und jähzorniger Mensch war. Seit seinem 27. Lebensjahre begann er, als er sich
von seiner Gattin scheiden ließ, anfallsweise Alkoholika aller Art zu trinken,
bis er ganz betrunken war. Im Rausch erhielt er von seinem betrunkenen Vater,
mit dem er in Streit geraten war, vor einem Monat einen Schlag auf den Kopf (mit
einem Bierglas), worauf er bewußtlos hinstürzte. Beim Begräbnis seiner Mutter
bedrohte ihn sein Vater mit einer Hacke. Von Zorn und Herzeleid erfüllt, floh er
vor dem Vater; bei dieser Gelegenheit begann er am ganzen Körper zu zittern
und seit jener Zeit hat das Zittern nicht aufgehört.
Als er am 6. VI. 04 in klinische Pflege übernommen wurde, zitterte er am
ganzen Körper, hatte lebhafte Reflexe und empfindliche periphere Nerven.
Er w r ar unruhig, zerwühlte das Bett, verjagte Schlangen und Skorpione aus dem¬
selben und sah im Fenster fremde Gestalten. Am 7. VI. wurde seine Zitterkurve
aufgenommen. (Fig. 18): ein ziemlich regelmäßiger, ziemlich starker und schneller
Tremor, wiederum mit jenen Gruppen größerer Wellen. Auf der ersten Kurve
zählen wir 8,5—9 Wellen in der Sekunde, ebenso viele auf der dritten Kurve,
auf der zweiten dagegen 11—12 Wellen in der Sekunde.
Am 8. und 9. VI. verschlechterte sich der Zustand des Kranken, das Delirium
und die Unruhe nahmen zu, der Kranke flüchtete, kroch auf das Fenster, schrie,
war gewalttätig; in ruhigen Pausen erzählte er, der Kasten hätte sich bewegt; es kam
Fig. 18.
ihm vor, wie wenn ihn etwas emporheben würde, wie wenn er auf das Gesicht fallen
müßte; er sah alle möglichen Arten von Hunden, ,,so ein Getier, das man in keiner
Naturgeschichte findet“, eine Unmenge von Schwaben, Russen, Mäusen .
Er wurde in die Irrenanstalt transportiert.
VI. Alcoholismus chronicus. Polyneuritis mit vorwiegend sensitiven
Symptomen. Anfälle von Zittern. Delirium tremens.
N. A. Nr. 1690/03. Ein 35jähriger Eishauer, stammt aus gesunder Familie,
ist seit vielen Jahren ein starker Trinker und Raucher; trinkt täglich bis
zu 30 Glas Bier und raucht täglich 20 Zigaretten. Vor 3 Jahren konnte er sich
einmal nach dem Erwachen nicht auf die Füße stellen, weil diese beträchtlich
zitterten und schmerzten. Auch die Hände zitterten, und zwar bei der Intention
mehr; er konnte aus einem Glas nicht trinken, w r eil er durch das Zittern den Inhalt
vergoß. Auf der Klinik genas er nach 17 Wochen. Nach 5 Wochen kehrte die
Krankheit in derselben Form zurück und verschwand wieder nach 6 Wochen.
Voriges Jahr erschien sie abermals, um nach zweimonatiger Behandlung wieder
zu verschwinden. Gegenwärtig fühlt er Kribbeln und Schmerzen im ganzen Körper.
Jeden Augenblick bekommt er tonische Krämpfe der Extremitäten mit Tremor,
die 1—2 Minuten dauern; manchmal geht er schwankend, manchmal wiederum
gerade. An der Sonne, oder wenn er aus einem dunklen Raum in einen hell
erleuchteten tritt, sieht er undeutlich. Er leidet an schreckhaften Träumen; bald
verfolgen ihn Wachleute, bald rennen Haufen von Pferden, Mäusen und verschie¬
denen anderen kleinen Tieren hinter ihm.
24
Erster Teil.
In der Klinik konstatierte man bei ihm Situs viscerum in versus. Sämt¬
liche periphere Nerven, die Muskeln und die ganze Körperoberflache zeigten eine
gesteigerte Empfindlichkeit bei Berührung. Die oberen und unteren Extremi¬
täten zitterten bei statischer Innervation. Die Reflexe waren lebhaft. Dermo¬
graphismus am ganzen Körper.
Der Kranke verweilte in der Klinik vom 31. I. bis 15. IV. 03. Während
der ersten 3 Wochen hatte er einen beschleunigten Puls, 108—120 in der Minute.
Beim Austritt bestand keine Hyperästhesie, die Nerven waren nicht druckschmerz¬
haft, das Zittern w T ar vollständig verschwunden. Nach 14 Tagen kehrte, da der
Kranke wieder viel trank, das Zittern zurück, so daß er sich bald wieder genötigt
sah, in die Klinik einzutreten, w r o man ihn während der ersten Tage ans Bett an¬
binden mußte. Da sein Zustand nach 4 Wochen nicht besser wurde, ging er nach
Hause, kehrte aber nach 14 Tagen zurück mit Klagen über zooptische Träume
(Pferde sprangen auf ihn, Mäuse hüpften auf ihm herum), über Kälte, Schwäche
und Zittern der Extremitäten. Seit einigen Tagen kann er kleine Gegenstände
Fig. 19.
schlecht unterscheiden und leidet an Halluzinationen des Gehörs (er hört Wägen
fahren, Glocken läuten) und des Gesichts (seine verstorbene Mutter zieht ihn an der
Nase, er stößt sie zurück; es plagen ihn Mäuse).
Bei seiner Aufnahme am 15. VI. 03 wurde ein starkes Zittern der Extremi¬
täten, des Körpers und des ganzen Rumpfes konstatiert und zwar im Ruhezustände
und noch mehr bei Bewegungen. Wenn er ein Wasserglas hielt, verschüttete er
infolge des Zitterns dessen Inhalt. Beim Gehen wurde das Zittern stärker. Auch
die vorgestreckte Zunge zitterte bedeutend. Alle Nerven waren schmerzhaft,
der ganze Körper war w r ieder hyperästhetisch. Die Muskelkraft w r ar ziemlich groß
(E. D. 25. 24). Wahrend der ersten Tage hatte er subfebrile Temperaturen, be¬
schleunigten Puls, 96—102, und schlechten Schlaf. Schon nach 14 Tagen wurde
das Zittern geringer und nach 5 Wochen wurde der Patient gebessert entlassen.
Zu Hause genas er vollständig. Im Dezember desselben Jahres kam er zum dritten¬
mal im fieberhaften Zustande, aber diesmal waren das Zittern und die Empfind¬
lichkeit der Nerven nur unbedeutend. Ein Jahr später kam er in die Klinik mit
einem fieberhaften Katarrh der rechten Lungenspitze, der schnell destruktiv fort-
schritt.
Als er am 15. VI. 03 unter den sicheren Erscheinungen eines subakuten
Delirium tremens bei uns ein trat, wurden zwei Kurven von ihm aufgenommen.
Die erste Kurve veranschaulicht das Zittern der auf den Oberschenkel gestützten
Hand: ein heftiges, rhythmisches, ziemlich gleichmäßiges und regelmäßiges Zittern
Das Zittern infolge von Vergiftung.
25
von 6—6 V 2 Wellen in der Sekunde (Fig. 19). Die zweite Kurve veranschaulicht
das Zittern bei Intention: zuerst ganz unregelmäßige, kleine Bewegungen, dann
heftige Schüttelbewegungen von 4—5 Wellen in der Sekunde und schließlich ganz
unregelmäßige, grobe, langsame Schleuderbewegungen, auf deren einem Schenkel
man ein sekundäres Zittern von etwa 5 Wellen in der Sekunde sieht (Fig. 20).
Fig. 20.
VII. Interessant war schließlich der folgende Fall, in welchem sich zu chro¬
nischem Alkoholismus Epilepsie und ein Tremor hinzugesellte, der in auffallender
Weise in ein Intentionszittern überging.
Alkoholis mu8. Epilepsia alcoholica? Respirationsneurose. Tremor
der Hände. Intentionszittern.
Nr. 10.559/04. K. V., 34jähriger Vergolder, wurde in einem Anfall von Be¬
wußtlosigkeit und allgemeinen Krämpfen in die Klinik eingebracht. Hier kam ein
Delirium tremens zum Ausbruch, so daß er in die Irrenanstalt transferiert werden
mußte. Von hier wurde er nach 3 Tagen entlassen. Bald danach bekam er Herz¬
klopfen, und da bemerkte der Arzt, daß er eigentümlich atme.
Bei der Aufnahme atmete er sakkadiert, das In- und Exspirium erfolgte auf
zweimal. Dabei waren weder an den Bauchmuskeln, noch am Zwerchfell Läh¬
mungen vorhanden. Am nächsten Tage wurde konstatiert, daß das Zusammen-
spiel zwischen Brust- und Bauchatmung gestört war. Bei der Einatmung erwei¬
terte sich der Thorax in entsprechender Weise, aber der Bauch blieb manchmal
unbeweglich, manchmal wölbte er sich vor, manchmal sank er ein. Am folgen-
Fig. 21.
den Tage, an welchem das sakkadierte Atmen verschwunden war, wurde eine
Atmungskurve und eine Zitterkurve der oberen Extremitäten aufgenommen.
(Fig. 21.) An diesem Zittern sehen wir die Allorhythmie sehr schön ausgeprägt;
sonst ist das Zittern leicht unregelmäßig, im großen und ganzen rhythmisch, aus
7,5—8 Wellen in der Sekunde bestehend.
Im Jahre 1907 kam der Kranke unter Nr. 3429 abermals wegen allgemeiner
Krämpfe im bewußtlosen Zustande in die Klinik. Nachdem er aus demselben
26
Erster Teil.
erwacht war, fand man, daß er empfindliche Nervenstämme und Hyperästhesie
am Rumpfe habe. Die vorgestreckte Zunge zitterte, ebenso die Hände, und zwar
bei statischer Innervation; bei Intention war das Zittern stärker, und artete hierbei
manchmal in ein grobes Schleudern der Extremitäten aus.
Aus den Kurven ersehen wir (Fig. 22), daß das Zittern der linken Hand
(die drei unteren Kurven) überwiegt, daß es grob, regelmäßig, rhythmisch ist und
eine ausgesprochene Allorhythmie mit einer gleichbleibenden Frequenz von 7—8
Wellen in der Sekunde aufweist.
Eine interessante Änderung sehen wir an den beiden folgenden Kurven
(Fig. 23): an demselben Tage stellte sich bei dem Kranken bei Intention ein heftiges
Fig. 22.
Schleudern ein, das an der linken Hand wiederum deutlicher ausgeprägt war als
an der rechten. Hierbei konstatieren wir, daß die Amplitude nicht proportional
zur Intention zunimmt, sondern daß das Phänomen plötzlich in seiner ganzen Inten¬
sität eintritt und weniger plötzlich verschwindet. Hierbei beträgt die Frequenz
wiederum 7—8 Wellen in der Sekunde.
Fig. 23.
Therapie: Der alkoholische Tremor muß kausal mit Abstinenz und Hebung
der gesunkenen Kräfte des Organismus behandelt werden. Eine spezielle Therapie
gibt es nicht. Geprüft und gelobt wurden galvanische Bäder (Paul), auch
Karbolsäure (Clement), ja sogar auch Skopolamininjektionen (Parissot),
nach denen eine allerdings nur kurz dauernde Besserung beobachtet wurde.
Ein Versuch mit Sedativa, Nervina, Nux vomica ist zu empfehlen.
Historische Anmerkung: Bei Hippokrates, Galenos und Plutarch
finden sich die ältesten Angaben über das Zittern bei Delirium tremens. Seneca
beschreibt die Symptome beim Alkoholismus äußerst anschaulich: Nervorum
vino madentium tremor et miserabilior ex cruditatibus quam ex fame macies,
inde incerti labentium pedes et semper qualis in ipsa ebrietate, titubatio . . .
nervorum sine sensu jacentium torpor aut palpitatio sine intermissione vibrantium
(Latteux).
Das Zittern infolge von Vergiftung.
27
2. Bei Absinthtrinkern kommt ein ähnlicher Tremor vor, wie bei Alko¬
holikern, der aber bis jetzt noch nicht näher studiert wurde. Fernet meinte,
daß dieser Tremor vorwiegend vom Alkohol stammt. (Bei den Versuchen
Magnans verursachte die Herba absinthi bei Tieren Muskelkrämpfe.)
3. Nach dem Trinken und Riechen des Äthers beschrieb Marlin einen
Tremor bei einer Frau, die stets während des Essens ein Stück Zucker mit Äther
nahm und auf diese Weise täglich 180 g dieses Mittels genoß. Nach einem halben
Monat verursachte ihr das Einfädeln der Nadel Schwierigkeiten; sie bekam
Zittern der Hände, Schmerzen im Scrobiculus und zwischen den Schulter¬
blättern, Erbrechen auf nüchternen Magen, dann Zittern der Zehen, erschwerten
Gang, hier und da Wadenkrämpfe, Kribbeln in den Füßen, Ohrensausen, Mouches
volantes. Draper berichtet, daß, als die Geistlichen in Nordirland das Trinken
des Whisky ausrotten wollten, die Gläubigen 2—6 mal am Tage 8—15 g Äther
tranken. Zeitungsnachrichten zufolge breitet sich in Paris das Riechen und
Trinken des Äthers in erschreckender Weise aus; es wurde von einer Frau er¬
zählt, daß sie erwiesenermaßen täglich bis zu 4 Liter Äther kaufte; sie starb unter
den Erscheinungen der Abmagerung und hochgradiger allgemeiner Schwäche.
In analoger Weise sollen die unteren Volksschichten Norwegens den Äther
statt des proskribierten Alkohols genießen. Jaksch erwähnt auch die Gewohn¬
heit des Trinkens von Kölnischwasser, das ähnliche Erscheinungen verursacht.
4. Bei der chronischen, seltener bei der subakuten Vergiftung mit Schwefel¬
kohlenstoff führt Delpech (1860) den Tremor unter jenen Symptomen an, die
er stets auf zählen gehört, aber nie selbst gesehen hat. Gallard (1867) beschrieb
einen dem chronischen Alkoholismus ähnlichen Tremor und Fernet fügte hinzu,
daß derselbe von fibrillären Muskelzuckungen begleitet ist. Breillot gibt an,
daß derselbe von den Lippen auf die Arme und dann auch auf die unteren
Extremitäten fortschreitet, wodurch er das Gehen behindert, und mit Waden¬
krämpfen kombiniert zu sein pflegt. In den späteren Arbeiten über die Schwefel¬
kohlenstoffvergiftung wurde der Tremor nicht besonders analysiert, aber er
wurde gewöhnlich wie bei anderen Vergiftungen beobachtet und unter die
Nervenstörungen eingereiht, über deren Wesen zwischen Charcot und Marie,
Raymond, Landenheimer Meinungsverschiedenheiten auf zu weisen sind
(siehe die Studie von Vanysek). Charcot und Marie schrieben alle Symptome
der Hysterie zu; die späteren Autoren gaben einen funktionellen Ursprung vieler
Symptome zu und legten ein besonderes Gewicht darauf, daß viele Erscheinungen
den toxischen organischen Störungen zuzuschreiben seien (so auch Vanysek).
In der Klinik Thomayer beobachteten wir vier Fälle von chronischer
Vergiftung bei Arbeitern aus derselben Fabrik, die eine sehr bunte und lehr¬
reiche Symptomatologie darboten. Sie wurden von Vanysek publiziert und
kritisch bewertet (Sbomik klinick^, 1904, Bd. IV. p. 1). Bei zwei von diesen
Fällen fand sich auch ein ausgesprochener Tremor.
Es handelte sich da um zwei Formen des Zitterns; in der ersten Zeit, bald
nach der Vergiftung, handelte es sich um einen deutlichen, schnellen, regel¬
mäßigen Tremor aller Extremitäten bei statischer Innervation, der sich bei
der Intention verstärkte; später, als die Arbeiter dem schädlichen Einfluß des
Schwefelkohlenstoffes bereits entzogen waren, sich aber mitten im Prozeß
wegen der Entschädigung befanden, stellte sich bei ihnen ein dauernder Tremor
ein, der sich bei der Intention zu groben Schleuderbcwegungen steigerte.
28
Erster Teil.
*
I. Chronische Schwefelkohlenstoff Vergiftung. Symptome einer leichten
Neuritis. Tremor. Funktionelle Symptome.
Nr. 10 997. J. K., 32 jähriger, aus gesunder Familie stammender Mann,
arbeitete seit seinem 24. Lebensjahre beim Vulkanisieren des Kautschuks (er tauchte
die Gegenstände in die Vulkanisierungsflüssigkeit ein, i. e. ein Gemisch aus 98%
Schwefelkohlenstoff und 2% Chlorschwefel). Nach der Arbeit hatte er oft Kopf¬
schmerzen, Ohrenklingen und Schwindel. Vor y 2 Jahre wurde die Arbeit in ein
Lokal verlegt, das sich schlecht lüften ließ. Bald darauf schmerzten den Kranken
die Füße und erlahmten beim Gehen, in den Fußsohlen verspürte er ein Kribbeln.
Allmählich ging die Schwäche mit dem Kribbeln auch auf die oberen Extremitäten
über, so daß er sich nicht ordentlich ankleiden oder längere Zeit schreiben konnte.
Seit 6 Wochen ist er impotent; er wuirde zornig, reizbar, gegen die Kinder gleich¬
gültig, schreckhaft, traurig. Er magerte ab, hatte keinen Appetit, alles schmeckt
nach Schwefelkohlenstoff. Seit 14 Tagen hat er ein unerträgliches Jucken am
Hodensack, an der Eichel und an den benachbarten Partien der Schenkel, und aus
diesem Grunde suchte er die Klinik auf.
Bei der Aufnahme in die Klinik am 7. VII. 03 wurde folgender Befund erhoben:
Patient ist abgemagert, alle motorischen Funktionen sind abgeschwächt, besonders
jene der kleinen Handmuskeln; die Nn. ischiadici sind schmerzhaft, die Patellar-
reflexe sind schwach, der Reflex der Archillessehne nicht auslösbar, der Plantar -
Fig. 24.
reflex normal; die Reizbarkeit der Hautgefäße ist sehr gesteigert, Urticaria factitia
sehr schön auslösbar; die kutane Sensibilität ist wegen der Schmerzempfindungen
sehr herabgesetzt, die Leitungsfähigkeit vermindert, die Tastempfindung an den
oberen Extremitäten und an den imteren vom Knie abwärts verschwunden; die
elektrische Erregbarkeit der Nervi radiales und der von diesen versorgten Mus¬
kulatur ist bedeutend herabgesetzt, ebenso jene der Wadenmuskeln.
Die Pupillen reagieren normal; Ilambefund normal; Intellekt ungestört.
Der ganze Kopf des Kranken zeigte einen sehr schnellen Tremor mit kleiner
Amplitude im Sinne der Rotation um die Vertikalachse. Die geschlossenen
Augenlider gerieten in einen schnellen Tremor, der auch auf die Wangenmuskeln
überging. Hierbei nahm das Zittern des Kopfes je weiter desto mehr zu, so
daß der Patient schließlich die Augen öffnete, w T eil er ermüdet war und es nicht
länger aushalten konnte. In ähnlicher Weise steigerte sich das Zittern, wenn sich
der Kranke auf die Fußspitzen stellte oder den Dynamometer drückte. Wenn der
Kranke ruhig im Bette lag oder wenn er schlief, verschwand der Tremor.
Die auf den Knieen ruhig liegenden Hände zittern sehr schnell und zart;
bei der Intention wird dieser Tremor stärker, hindert aber nicht die intendierten
Bewegungen. Die gestreckten Oberextremitäten zittern in analoger Weise, wobei
das Zittern auch auf die Brustmuskeln übergeht. Die Unterextremitäten zittern nicht.
Gleich bei der Aufnahme wurde eine Zitterkurve der oberen Extremitäten
gezeichnet (Fig. 24). Die beiden oberen Kurven wurden von der ruhig herab-
hängenden Hand abgenommen. Wir sehen einen kleinen, feinen, unregelmäßigen
und ungleichen Tremor; in jenen Partien der Kurve, wo die Wellen deutlich sind,
zählen wir deren 7 in der Sekunde. Auf der vierten Kurve sehen wir die im Ruhe-
Das Zittern infolge von Vergiftung.
29
zustande befindliche Hand nur da und dort eine kleine Welle zeichnen, dagegen
entsteht beim Emporheben der Hand ein ungleicher und nicht ganz regelmäßiger
Tremor von 7 Wellen in der Sekunde.
Der Kranke verweilte einen Monat in der Klinik, aber sein Zustand ver¬
schlechterte sich noch mehr. Das Gehen wurde noch beschwerlicher, die Patellar-
reflexe verschwanden, das Zittern wurde stärker. Er ging nach Hause, kam aber
jede Woche zur Revision in die Klinik. Sein Zustand änderte sich insofern, als sein
Körpergewicht zunahm und die Patellarreflexe zurückkehrten, die später sogar
Fig. 25.
erhöht waren. Sonst blieb alles unverändert; besonders quälte ihn das Jucken,
namentlich am Genitale. Er erzählte, daß er zu Hause häufig Streitigkeiten provoziere.
Nach drei Monaten kam er wieder; diesmal bot die Krankheit ein anderes
Bild dar: der Kopf des Kranken wurde selbst im Ruhezustände sowohl im Stehen,
als auch im Sitzen im Sinne der Rotation um die Vertikalachse von einem mittel-
schnellen Tremor mit ziemlich großer Amplitude geschüttelt. Beim Sitzen voll¬
führen die Hände analoge Adduktions- und Abduktionsbewegungen im Schulter-
gelenk, Pronation imd Supination im Ellbogengelenk; wenn sich der Kranke auf¬
stellt oder wenn er die Hand streckt, entsteht ein sehr schneller Tremor (9—11 in
der Minute) im Sinne der Flexion und Extension im Ellbogen- und Handgelenke.
Hierbei werden die Hände von raschen, unregelmäßigen Bewegungen geschüttelt;
Fig. 26.
der Kopftremor nimmt hierbei an Intensität zu. Wenn der Kranke steht, stellt sich
ein grober Tremor in den Ellbogengelenken im Sinne der Flexion und Extension
ein. Der Tremor ist motorisch so mächtig, daß ihn zwei Männer mit ihrer vollen
Kraft nicht unterdrücken können. Im Gegenteil, ein derartiger Versuch entfesselt
ihn nur noch mehr. Durch Muskelspannung (Zusammendrücken des Dynamo¬
meters) sowie durch jede Bewegung wird das Zittern intensiv verstärkt. Beim
Versuche, aus einem vollen Glase zu trinken, verschüttet der Kranke das Wasser.
Psychische Anspannung verstärkt den Tremor nicht. Der Kranke vermag das
Zittern einigermaßen zu mildern, indem er beide Hände mit den Handflächen an¬
einander legt und sie zwischen die Oberschenkel einklemmt (Fig. 25).
30
Erster Teil.
Die unteren Extremitäten zittern im Ruhezustände nicht. Wenn sie der
Kranke in sitzender Stellung auf die Fußspitzen stützt, machen sie bald hüpfende
Bewegungen, bald sind sie ruhig. Sobald er sie aber in irgend einem Gelenke aktiv
bewegen will, verfallen sie in ein grobes Zittern im Sinne der Flexion und Extension,
speziell in den Kniegelenken; dagegen fehlt das Zittern überhaupt in den Sprung -
gelenken. Mit geschlossenen Augen kann der Kranke wegen starken Schütteins
und Schwankens nicht stehen; er schwankt so sehr, daß er jeden Moment ernstlich
zu fallen droht, doch erhält er sich stets irgendwie auf den Füßen.
Der Gang ist sehr auffallend; die Extremität zittert bei jedem Ausschreiten
in allen Gelenken, sie tritt nur auf die Spitze auf und beim Auftreten auf den linken
Fuß zittert der ganze Körper. Der Kranke kann nur mit Hilfe eines Stockes umher¬
gehen. In ähnlicher Weise geht er, wenn er den Stock hält, den ihm der Arzt vor¬
anträgt.
Diesen Tremor veranschaulicht die Kurve Vanyseks (Archives bohömes de
möd. clin. V. 1904. p. 229) (Fig. 26): ein großer, grober, ungleicher und ein wenig
imregelmäßiger Tremor von 9—10 Zuckungen in der Sekunde.
Der zweite Fall war ganz analog.
II. Z. 11675/03. M. K., 31 Jahre alt, stammt von einem Säufer, einem
heftigen, zornigen Menschen. Eine Schwester hat Anlagen zum Sonderlingswesen.
Er selbst war stets gesund. Seit einem Jahre arbeitet er in einer Gummi waren -
fabrik, speziell ist er beim Vulkanisieren des Kautschuks beschäftigt. Schon nach
einem Monat bekam er Kopfschmerzen, besonders gegen Abend und namentlich
am Sonnabend; nach dem Sonntag war ihm immer besser. Er wurde reizbar und
gleichgültig gegen die Kinder imd gegen Vereine, die ihm früher Vergnügen be¬
reiteten. Vor fünf Monaten begannen die Füße schwach und matt zu werden, vor
zwei Monaten bekam er Kribbeln in den Fußsohlen; später bekam er das Kribbeln
auch in den Händen und vor drei Wochen bemerkte er, daß die Hände bei der Arbeit
zittern. Ferner hatte er Jucken an der Eichel, Verstopfung, das Sehvermögen nahm
ab und seit sechs Wochen hatte er keine Erektion.
Bei der Aufnahme in die Klinik am 27. Juli 1903 konstatierte man Schmerz¬
haftigkeit in den Nervengeflechten am Halse und in den Nn. ischiadici, ohne Ab¬
nahme der Muskelkraft und ohne Muskelatrophie; die Patellar- und Plantarreflexe
waren normal, der Achillessehnenreflex war aber nicht auslösbar. Der Gang war
schwer und zögernd. Die elektrische Erregbarkeit der Nerven und Muskeln war un¬
verändert. An den Unterschenkeln und an den Fußrücken war die Sensibilität
für alle Empfindungsqualitäten herabgesetzt oder erloschen, an den Vorderarmen
etwas vermindert. Das Gesichtsfeld war normal. Die geschlossenen Lider zitterten
schnell. Die gestreckten Oberextremitäten zitterten unbedeutend und das Zittern
nahm bei Bewegungen nicht auffallend zu. Nach drei Wochen verließ er die Klinik
und als er nach einer Woche wiederkam, fand man ein grobes Zittern der gestreckten
Oberextremitäten von mittlerer Geschwindigkeit. Auch die Gesichtsmuskulatur
verfiel zeitweise in ein rasches Zittern, das sich auf die Lider und auf die Stirn aus¬
breitete. Der Gang war imbeholfen.
Drei Monate später erschien er mit einem ähnlichen klinischen Bilde wie der
vorhergehende Patient. Wenn er sitzend die Unterarme auf die Knie stützte,
wurden die Hände von einem groben, aber langsamen, 4—5 Zuckungen in der Sekunde
betragenden Zittern im Handgelenke im Sinne der Abduktion und Adduktion,
der Flexion und Extension geschüttelt; links war dieses Zittern schwächer, ver¬
schwand hier zeitweise oder wurde von gröberen Bewegungen abgelöst, die man
kaum als Tremor bezeichnen konnte. Wenn der Kranke stand und seine Hände
herabhängen ließ, entstanden — und zwar nur zeitweise — langsame, grobe Be¬
wegungen im Handgelenke im Sinne der Pronation und Supination; beim Gehen
machte er manchmal eine solche Bewegung mit der Hand, als würde er mit der Peitsche
knallen. Beim Strecken der Hände wird der Tremor schneller, feiner und kombiniert
sich derselbe mit gröberen Bewegungen im Sinne der Adduktion und Abduktion,
der Supination und Pronation. Durch die Intention wird er nur wenig verstärkt.
Bei kräftiger Muskelspannung hört das Zittern gänzlich auf. Wenn der Kranke den
Tremor durch den Willen zu unterdrücken versucht, entstehen reichlich jene un-
Das Zittern infolge von Vergiftung.
31
regelmäßigen, groben Bewegungen. Dieselbe Veränderung tritt ein, wenn sich der
Kranke z. B. durch schwierige Rechenexempel geistig anstrengt. Bei Ablenkung
der Aufmerksamkeit hört der Tremor gänzlich auf (Fig. 27, obere Kurve).
Auf der unteren Kurve sehen wir den Einfluß des Versuches, das Zittern zu
unterdrücken: etwa sechs unregelmäßige und ungleiche Wellen.
Auch die unteren Extremitäten verfallen, wenn sie sich auf die Fußspitzen
stemmen, zeitweise in kleine, hüpfende Bewegungen, welche mit einer langsamen,
2—3 mal in der Sekunde stattfindenden Adduktion und Abduktion abwechseln.
Wenn der Kranke den Fuß hebt, zittert der letztere unregelmäßig 2—3 mal, worauf
stets eine Pause auftritt. Der Gang ist spastisch, aber frei vom Tremor.
Im Jahre 1905 kam der Kranke nochmals in die Klinik; die Zitterkurve
zeigte bei statischer Innervation eine schöne Allorhythmie und bei der Intention
eine grobe Zunahme der Amplitude.
5. Bei der akuten SchwefelwasserstoffVergiftung führt F. Erben
unter anderen Symptomen auch den Tremor an.
6. Nach Jod, und zwar sowohl nach der äußeren Applikation der Jod¬
tinktur, als auch nach der internen Darreichung der Jodide wurde Tremor
Fig. 27.
der Extremitäten beobachtet und verzeichnet (Binz, Lew in, Latteux).
Lewin beschreibt bei akuten Vergiftungen (Nebenwirkungen, 2. Aufl., p. 387)
einen Zustand, in welchem „die Kranken reizbar, schlaflos sind und meistens
auch einen eigentümlichen Zustand von Zittrigkeit aufweisen, der sich bei manchen
zu längere Zeit anhaltendem, choreaähnlichem Zittern der Arme, Hände und
Beine, seltener des Unterkiefers steigern kann.“ Bei chronischen Vergiftungen
beobachtete er Anfälle von Gliederzittern und Schwindel, die eine Stunde
dauerten; in einem Falle hielt das Gliederzittern mehrere Wochen an; die
psychischen Störungen wurden als Jodrausch, ivresse jodique, bezeichnet.
Warschauer beschrieb nach einer größeren Jodkaliumdose (72 g in 4 Wochen)
ein kompliziertes Krankheitsbild, das an die Basedowsche Krankheit mit
Tic der Hände erinnerte, und zitiert die analogen Fälle Rendus und Ortners.
Besonders häufig kommen derartige Krankheitsbilder bei Leuten mit Strumen
vor (Lewin, Rilliet, Breuer, Syllaba, observ. 32 und 49). Ich beobachtete
ein schönes Beispiel eines solchen Tremors ohne Struma.
Ein 42 jähriger, kräftiger, mit Arthritis der kleinen Gelenke der linken Hand
behafteter Mann nahm binnen drei Monaten 60 g Jodkali. Er verlor zwar die
objektiven und subjektiven Symptome der Arthritis, wurde aber plötzlich schwach.
32
Erster Teil.
magerte ab, bekam Palpitationen mit 100 Pulsen und ein schnelles, feines Zittern
der Hände und des ganzen Körpers, er schlief nicht und war aufgeregt. Arsen,
Brom halfen nichts; erst nach Möbiusserum (5 Flaschen) trat Heilung ein.
Syllaba sah etwas Analoges bei einem älteren Herrn mit Arteriosklerose.
Nach Brom beschreibt Latteux eine Schwäche der Glieder mit Tremor
bei den geringsten Bewegungen bei herabgekommenen Leuten. Er beschreibt
einen derartigen Fall bei einem 50jährigen Manne nach achttägigem Genüsse
von 4 g Bromkali, bei dem der Tremor mit Gliederschwäche bei totaler Abstinenz
noch lange Zeit anhielt. Binswanger führt das Gliederzittem unter den An¬
fangssymptomen des schweren Bromismus an. Lewin erwähnt unter den Sym¬
ptomen der allgemeinen Schlaffheit auch Unsicherheit und Zittrigkeit des
Ganges und als Rarität das entgegengesetzte Bild: Zittern der Hände und
Beine, Erhöhung der Sehnenreflexe, sowie Ataxie der gesamten Muskulatur
im Falle von Voisin (Nebenwirkungen, S. 203). Bei schwerem Bromismus
hebt er hervor, daß die Gesichtsmuskeln, die Zunge und die Hände bei inten¬
dierten Bewegungen zittern (S. 204) und vergleicht diesen Zustand mit dem
Bilde der progressiven Paralyse.
7. Bei der Chloralvergiftung sahen Delherm und Ballet Zittern der
Glieder und der Gesichtsmuskeln bei einem der progressiven Paralyse ganz
analogen Gesamtbilde. Es handelte sich um eine Frau, welche die verordnet©
Dosis von 1 g Chloralhydrat so häufig nahm, daß sie 14 aufeinander folgende
Tage hindurch täglich 15 g einnahm. Ihr Bewußtsein war so getrübt, daß sie
sich erst nach einer zweitägigen totalen Abstinenz soweit erholte, daß sie die
Ursache ihrer Vergiftung angeben konnte. Das Zittern bestand auch in der
Rekonvaleszenz. Ähnliche Zustände beschrieb Rehm (zit. Lew in).
8. Bei der Kohlenoxyd- und Leuchtgas Vergiftung beobachtete man
Zittern der Hände unter den Prodromen von Krampfanfällen, die jenen bei der
echten Epilepsie ähnlich waren, und außerdem auch ohne Krämpfe (Friedberg,
Klebs, Becker).
Nach der akuten Intoxikation entsteht häufig ein krankhafter chronischer
Zustand mit Symptomen seitens der Lungen (Pneumonie) oder der Haut (Pem¬
phigus) oder mit trophischen Symptomen (Gangrän), mit Storungen des
Stoffwechsels (Glykosurie), manchmal mit Nervensymptomen: Herpes zoster,
Idiotie (Oppolzer), Blutungen und eventuell multiple Erweichungen des Ge¬
hirns, Landrysche Paralyse (Leudet zit. v. Becker), periphere Paralysen
mit trophischen Störungen (Litten: Lähmung des Armplexus mit sulziger
Infiltration), hysterische Zustände (Itzigsohn zit. v. Becker), Chorea rhyth-
mica (Leudet zit. v. Becker) — und schließlich Zustände, die der Herdsklerose
mit Intentionszittem ähnlich sind. Einen solchen Fall beschrieb Becker (1889):
Ein 47 jähriger, kräftiger, mäßiger, aus gesunder Familie stammender Mann
atmete bei der Arbeit akut Leuchtgas ein. Aus der Bewußtlosigkeit wurde er durch
zweistündige künstliche Atmung wiederbelebt; nach zwei weiteren Stunden bekam er
ein fibrilläres Muskelzittern und dann einen Status epilepticus mit Fieber, der in
akuter Weise 2 Tage und in abgeschwächtem Grade noch 6 Tage dauerte. Nach
diesem Zustande blieb eine Parese der linken Körperhälfte zurück. Der Autor
untersuchte den Kranken zum ersten Male 12 Tage nach dem Unglück und kon¬
statierte eine monotone, langsame, aber nicht skandierende Sprache und als auf¬
fallendstes Symptom ein Intentionszittern der Hände, das das Essen und Trinken
unmöglich machte, links stärker war und in analoger Weise, wenn auch in geringerem
Grade an den Füßen uud zwar links stärker als rechts vorhanden war. Außerdem
Das Zittern infolge von Vergiftung.
33
machten die Finger manchmal Bewegungen wie beim Klavierspiel, links mehr als
rechts. Bei vollkommener Körperruhe zeigte sich nur hie und da bei seelischer
Erregung ein Tremor, der dann an Paralysis agitans erinnerte. Dies kam nur in
der ersten Zeit vor. — Alle anderen Symptome, die für Sklerose oder Hysterie
gesprochen hätten, fehlten. — Nach Sulfonal besserte sich dieser Zustand ein
wenig, aber nur für eine kurze Zeit. Nach 2 Monaten berichtete der Kranke, das
Zittern sei so stark, daß er nichts arbeiten könne.
Der Autor nimmt an, es habe sich nach kleinen Blutergüssen ins Gehirn
eine disseminierte Sklerose entwickelt.
9. Bei Arsenvergiftung wurde selten Zittern beobachtet und zwar uni¬
versell oder nur an den Extremitäten, eher an den unteren als an den oberen
(Breillot). Es kann den Lähmungen vorangehen, wie Barella nach Arsenik¬
therapie beobachtet hat (zit. v. Fernet). Genauere Beschreibungen fehlen
bis auf die Bemerkung von Levy-Dorn, er hätte beim Tremor nach Anilin
7 Wellen in der Minute gezählt.
Der Tremor wurde bei der chronischen Intoxikation beobachtet, wenn
sich eine hochgradigere Muskelschwäche und Kontrakturen (Latteux) zu ent¬
wickeln beginnen und zwar sowohl bei zufälligen als auch bei gewerblichen Ver¬
giftungen: bei der Fabrikation der Anilinfarben (Fuchsin, Methylviolett, ver¬
schiedene grüne Farben wie Schweinfurter-, Wiener-, Smaragd-, Brillant-,
Neu-, Veronesergrün), ferner bei Tierausstopfem und Pelzaufbewahrem.
10. Bei der chronischen Quecksilbervergiftung erscheint im ersten
Stadium neben den Allgemeinerscheinungen (Blässe, Metallgeschmack im Munde,
Übelkeit, Schlaflosigkeit, zornige und freudige Erregbarkeit) hie und da, speziell
bei Emotionen, ein Tremor der Hände. Derselbe begleitet namentlich die ganz
feine und die ganz grobe und schwere Handarbeit. Im Ruhezustände hört er
auf. Ein mäßiger Alkoholgenuß hat auf den Tremor keinen Einfluß; nach reich¬
lichem Trinken wird er stärker, im Rausche verschwindet er, tritt aber bei ein¬
tretender Ernüchterung um so heftiger auf. Bei Frauen verstärkt er sich zur Zeit
der Menstruation.* Er geht rasch vor sich. Oft ist er auf einer Körperseite
heftiger (Schoull). Manchmal beginnt er mit einem individuellen Zittern
einzelner Finger (Fernet), seltener des Kopfes und der Lippen (Breilott).
Bei fortschreitender Vergiftung wird der Tremor an den Händen deutlicher,
er wird rasch, regelmäßig, zeigt sich deutlicher und konstant an den Lippen
und an der Zunge, weit weniger an den Füßen. In diesem Stadium beginnt sich
der Tremor bei der Intention zu verstärken, so daß der Kranke weder arbeiten
noch leicht essen kann (Erbens Patient bekam bei Intention das Zittern erst
im letzten Drittel der Bewegung vor dem Ziele), seine Sprache ist erschwert
(embarassöe und ein gewisser Grad von begaiment — Fernet, Syllaba,
Thomayer), sein Kopf zittert um eine vertikale oder horizontale Achse (ja, ja
— nein, nein Charcot); das Gehen, ja selbst das ruhige Stehen fällt ihm schwer.
In der Ruhe ist der Tremor intermittierend (Charcot), aber jede psychische
Erregung ruft ihn hervor. Bei statischer Innervation beobachtete Erben eine
Abnahme des Tremors durch Ermüdung. Charcot schilderte ihn überein¬
stimmend mit früheren Autoren als rasch, später (1887) korrigierte er seine An¬
sicht dahin, daß er 5—6 Wellen in der Sekunde macht, was schon vor ihm auch
Eulenburg (7,5) und nach ihm Mugnerot (5—6) behaupteten; Pieraccini
(1906) reproduziert Kurven mit 8—9, aber auch mit 6 Wellen in der Sekunde.
Für unseren Zweck eignen sich ausgezeichnet die Kurven, welche Pieraccini
Peinäf, Zittern. 3
84
Erster Teil.
in Monte Amiata gezeichnet und so schön in seinem Buche Patologia del Lavoro
(S. 274, 279) reproduziert hat. Die erste, von einem 31jährigen Arbeiter stam¬
mende Kurve zeigt in der Ruhe einen im großen und ganzen gleichmäßigen,
etwas ungleichen, schnellen, 8—9 Wellen in der Sekunde betragenden Tremor,
der sich bei Bewegungen bedeutend verstärkt, aber gleichmäßig und „knoten¬
förmig“ bleibt und nach 6 Sekunden wieder abnimmt; in dieser Intentions¬
periode ist er ein wenig schneller, 9—10 in der Sekunde. Wir sehen, daß dies
kein wahres Intentionszittem ist, sondern ein durch die Bewegung verstärkter,
aber keineswegs ein mit der Bewegung progressiv zunehmender Tremor. Die
zweite Kurve stammt von einem 32 jährigen Arbeiter, der Raucher und Trinker
war, und zeigt in der Ruhe einen regelmäßigen und gleichmäßigen Tremor von
6 Wellen in der Sekunde, der sich bei der Bewegung verstärkt, aber nicht pro¬
gressiv zunimmt und nicht schneller wird, sondern regelmäßig bleibt. Die
dritte, von demselben Kranken stammende Kurve zeigt im Ruhezustände einen
unbedeutenden Tremor, der etwa dieselbe Geschwindigkeit von 6 Wellen in der
Sekunde auf weist und bei energischer Muskelspannung (Drücken des Dynamo¬
meters) größer, aber nicht schneller wird und nach einigen Sekunden wiederum
abnimmt.
Dieser Zustand kann sich noch weiter verschlechtern. Nach irgend einer
äußeren Ursache, am häufigsten nach einer stärkeren Aufregung (Schoull),
entsteht plötzlich ein heftigeres Zittern, das im Wesen denselben Charakter
besitzt und zu welchem bei der Intention unregelmäßige Schüttelbewegungen
der Hände, wie bei der Chorea oder bei der disseminierten Sklerose, ja sogar
auch schmerzhafte Krämpfe der oberen Extremitäten hinzutreten, sodaß jede
Arbeit mit den Händen unmöglich wird, die Kranken sich beim Essen das Ge¬
sicht verletzen (Merat), der Gang schwankend wie im Rausche und die Sprache
sehr gestört ist. Namentlich in Gegenwart anderer Personen sind aktive Be¬
wegungen sehr erschwert. Bei Kälte und Feuchtigkeit pflegt die Unruhe größer
zu sein (Breillot). Bei der Intention ist das Bild überhaupt der Herdsklerose
(Charcot), seltener dem Veitstanz (Le tu Ile) ähnlich. Selbst in diesem Stadium
kann der Tremor im Ruhezustände fehlen, obwohl die Sprache schon unver¬
ständlich und das Stehen ohne Stütze unmöglich sein kann (Fall von Valen-
zu ela). Eine noch weitere Verschlimmerung kann eintreten: es können auch
im Ruhezustände unwillkürliche Bewegungen, wie bei der Chorea, und bei der
Intention Schüttelbewegungen aller Körperteile auf treten (Schoull).
Im weiteren Verlaufe der Vergiftung wurden eigentümliche Krampf-
Symptome beobachtet: die Kranken stürzen unter heftigem Schwindel oder auch
unter klonischen, epileptiformen Krämpfen, aber ohne das Bewußtsein völlig
zu verlieren (Schoull), nach vom, verfallen in eine kurze Ohnmacht, bis schlie߬
lich Lähmungen der zitternden Muskeln ohne Atrophie und ohne Veränderung
der elektrischen Erregbarkeit (Schoull) im kachektischen Stadium auf treten,
in welchem sich manchmal vor dem Tode auch Demenz einstellt. Bei den
Patienten mit Tremor findet sich gleichzeitig eine allgemeine Muskelschwäche
(Breillot).
Bei länger dauernden Fällen wurde noch ein anderer Typus beschrieben:
zunächst ein klinisches Bild, welches jenem sehr ähnlich ist, das wir bei unseren
beiden mit Schwefelkohlenstoff vergifteten Arbeitern im späteren Stadium ihrer
Krankheit gesehen haben. So z. B. begann der Patient von Proust, den Fernet
Das Zittern infolge von Vergiftung.
35
aiiführt, beim Aufstehen am ganzen Körper, den Kopf nicht ausgenommen,
zu zittern; wenn er sich an den umstehenden Gegenständen anhalten wollte,
bekam er unwillkürliche, konvulsivische, unregelmäßige Bewegungen der Hände,
die sich sofort auch auf die Füße fortpflanzten, so daß er die Knie gegeneinander
schlug, die Füße emporhob und gefallen wäre, wenn man ihn nicht gehalten
hätte. Ohne Unterstützung konnte er überhaupt nicht gehen. Wenn man ihn
in den Achselhöhlen stützte, konnte er gehen. Der ausschreitende Fuß verfiel
sofort in unregelmäßige „Oszillationen“ — also schnelle Bewegungen, schnellte
in die Höhe und fiel mit der Ferse auf. Der Gang ähnelte, aber nur zeitweise,
dem ataktischen und war jeden Augenblick anders (S. 48 orig.). Ferner beob¬
achtete man Spasmen in den Extremitäten bei normalen Reflexen, Spasmen,
welche sich steigerten, wenn man sie passiv überwinden oder überhaupt unter¬
suchen wollte. (Der Patient von Towsend bei Schoull, S. 76.) Analoge Bilder
gaben die Veranlassung dazu, daß Charcot auf Hysterie bei der Quecksilber¬
vergiftung aufmerksam machte (durch welche er im Jahre 1887 die klinischen
Symptome des berühmten Pariser Falles namens Schumacher erklärte). Charcot
hat auch darauf hingewiesen, daß das Zittern manchmal im Krankenhause
durch suggestive Mittel zu beseitigen sei; unter seinen Schülern ist es Dutil
auf gef allen, daß die Arbeiter weder in der Werkstatt, noch in ihrem Gasthause
zittern; sobald aber Besuch in die Fabrik kommt, zittern sie alle. Zu derselben
Ansicht bekannte sich auch Letulle (in seinem Vortrage in der Soc. m&J. des
höp. 1887), dessen Schüler Mugnerot dieser Frage eine selbständige These
widmete. Letulle ging von dem Befunde Charcots und Potains bei der
Hemianaesthesia satumina aus und fand beim chronischen Hydrargyrismus
eine Menge hysterischer Symptome, zu denen er auch das Zittern zählte, da sich
dieses nicht durch die bei der Quecksilbervergiftung übliche, wohl aber durch
die bei der Hysterie erfolgreiche Methode ausheilen ließ. Seine Prozedur be¬
stand in einer elastischen Umwicklung der Hand von den Fingern bis nach
oben, die man 3—4 Minuten beläßt, worauf man durch eine halbe Stunde den
Magneten anwendet; diese Sitzung wird täglich einmal wiederholt. Dabei
versichert man dem Kranken, daß er genesen werde.
Mugnerot zitiert die hierher gehörenden Fälle:
1. Letulle: Ein 39jähriger „coupeur de poils de lapin“. Seit dem neunten
Lebensjahre schabte er die Haare von den Fellen ab, wobei er der Gefahr der Queck¬
silbervergiftung ausgesetzt war. Bis zum 20. Lebensjahre zeigten sich bis auf das
Schadhaftwerden der Zähne keine Vergiftungserscheinungen. Im 34. Lebensjahre
trat zum ersten Male Tremor der oberen Extremitäten auf, der nach einer sechs¬
wöchentlichen Behandlung im Krankenhause (JK und Bäder) zwar nicht voll¬
ständig verschwand, aber sich soweit besserte, daß der Kranke wieder arbeiten konnte.
Das Zittern war früh im nüchternen Zustande vorhanden, nach dem Frühstück
nahm es ab, steigerte sich aber nach dem Mittagessen und am Abend nach beendeter
Arbeit. Aber einmal bekam er mitten in der Arbeit ein so heftiges Zittern aller
Extremitäten, daß er zu Boden stürzte und ins Krankenhaus überführt werden
mußte. Im Liegen zitterte er nicht, sobald er aber einen Gegenstand mit der Hand
erfassen wollte, begann er am ganzen Körper so zu zittern, daß auch das Bett zitterte.
Er brachte es nicht einmal zustande, sich aufzustellen, viel weniger zu gehen, zu essen
oder zu schreiben. Es handelte sich um grobe, unregelmäßige, choreiforme Be¬
wegungen. Links stärker als rechts. Er gab zu, nervös und ein Trinker zu sein;
er saß mit Kameraden, die ebenfalls zitterten, in einer Butike; indem trat ein Fremder
ein; dies genügte, um zu bewirken, daß keiner mehr weiter trinken konnte und alle
Weggehen mußten. Sichere Stigmata zeigte er nicht bis auf eine anästhetische
3 *
36
Erster Teil.
Zone am rechten Vorderarm und eine leichte Gesichtsfeldeinschränkung links. Nach
vier Tagen setzte der Autor mit der Behandlung ein; nach der ersten Sitzung ver¬
schwand der Tremor aus den oberen Extremitäten, nach drei Tagen ging der Kranke
ohne Zittern umher.
2. Guinon: Ein 50jähriger Spiegelarbeiter, der seit seinem 20. Lebensjahre
mit Quecksilber arbeitete. Im 43. Lebensjahre zum ersten Male Stomatitis, Tremor,
Schwerhörigkeit links. Heilung nach Aussetzen der Beschäftigung. Im 46. Lebens¬
jahre zweiter Anfall von Stomatitis und Tremor. Er begann am Morgen 125 g
Bum zu trinken. Eines Tages stürzte er auf der Straße und wurde mit einer zwei¬
fachen Monoplegie — der linken oberen und rechten unteren Extremität — mit
Anästhesie ins Krankenhaus geschafft. Im 48. Lebensjahre konstatierte bei ihm
Bouchard Tremor, Anästhesie der Innenflächen der Unterschenkel, deutlicher
rechts, und der linken Oberextremität. (Er war ein Linkshänder und das Hg wirkte
mehr auf die linke Ober- und die rechte Unterextremität ein.) Im 49. Lebensjahre
begann er von neuem zu arbeiten. Nach fünf Monaten wieder Tremor und Stoma¬
titis. Zu dieser Zeit plötzliche Kontrakturen beim Koitus.
Man fand, daß der Tremor im Buhezustand fast fehlte, dagegen bei Emotionen
oder bei willkürlichen Bewegungen sehr stark war, besonders links. Zahlreiche
Zeichen von Hysterie. Krampfanfälle in den beiden unteren Extremitäten und
in der linken oberen Extremität.
Nach hypnotischer Behandlung verschwanden der Tremor und die hysterischen
Symptome bis auf die sensorielle Anästhesie. Interessant war es, daß, wenn man
ihm einen Magneten applizierte, er eine Nadel einfädeln und schreiben konnte,
während analoge Verrichtungen ohne den Magneten durch den Tremor unmöglich
gemacht wurden.
3. Bendu: 38 Jahre alt, Sohn einer hysterischen Frau und Bruder eines
unheilbaren Epileptikers. Vom 13. bis zum 17. Lebensjahre war er Bergmann
und fühlte er sich gesund. Im 29. Lebensjahre begann er Kaninchenfelle abzuschaben,
mußte aber nach einem Jahre diese Beschäftigung wegen Zitterns der Füße auf¬
geben. Nach zwei Monaten verschwand das Zittern. Im 31. Lebensjahre schabte
er wieder Felle. Nach zehn Monaten Zittern aller Extremitäten und Stomatitis;
er verließ die Arbeit, aber das Zittern verschwand nicht. Im 35. Lebensjahre hatte
er eine linksseitige hysterische Hemiplegie, von der er bei C har cot nach zehn
Monaten genas. Im 36. Lebensjahre lag er wiederum zehn Monate bei Charcot
wegen einer Lähmung. Bald darauf ein starkes Zittern beim Gehen, das andauerte
und ihn zwang das Krankenhaus aufzusuchen. Man konstatierte Zittern aller
Extremitäten, besonders der Füße; Kopf und Hals waren frei. Bei völliger Buhe
zitterte er nicht; sobald er aber eine obere oder untere Extremität emporhob, verfiel
dieselbe in ein grobes Zittern. Außerdem bestanden bei intendierten Bewegungen
unregelmäßige Bewegungen, welche die Intentionsrichtung störten. Hysterische
Stigmata. Nach dreiwöchentlicher Behandlung mit Brom und Valeriana genas der
Kranke vollkommen.
4. Letulle (nicht publiziert): Eine 59jährige Patientin, die seit 42 Jahren
mit der Entfernung der Haare von den Fellen beschäftigt ist (monteuse). 36 Jahre
blieb sie frei von Vergiftungserscheinungen; seit sechs Jahren leidet sie an Zittern,
das im Beginne nur bei Aufregung, in der Eile an den oberen Extremitäten erschien,
später zunahm, auf die unteren Extremitäten und im letzten Jahre auch auf den
Kopf überging. Während dieser Zeit trat eine dreimonatliche, dann eine zwei¬
monatliche und jetzt zum dritten Male eine derartige Verschlimmerung ein, daß
sie nicht einmal essen kann. Im Bette zittert nur der Kopf (verneinende Bewegung)
rhythmisch. Aber bei jeder Bewegung stellt sich ein grobes, aber regelmäßiges und
rhythmisches Zittern der Extremitäten und der Zunge ein. Wenn sie beobachtet wird,
kann sie nicht essen, wohl aber, wenn sie sich nicht beobachtet fühlt. Die Unter¬
extremitäten zittern nicht. Während der letzten zwei Jahre trat Lungentuberkulose
hinzu. Keine hysterischen Stigmata. Nach zehntägiger Behandlung mit elastischer
Umschnürung und mit dem Magneten wurde sie vom Tremor völlig befreit.
5. Letulle (nicht publiziert): Die 55jährige Schwester der vorangehenden
Patientin gab an, daß die Mutter nervös, reizbar war und ein Bruder, der gleich
Das Zittern infolge von Vergiftung.
37
ihnen Felle abschabte, an Tremor litt und an Tuberkulose starb. Seit ihrem 12.
Lebensjahre kratzte sie Felle ab und hatte mit Ausnahme der schwarzen Zähne
durch 39 Jahre keine Symptome von Quecksilbervergiftung. Vor vier Jahren
wurde sie nervös (zur selben Zeit begann ihre Schwester zu zittern), vor zwei Jahren
bekam sie ein ähnliches Zittern wie die Schwester und drei Anfälle von akuter Ver¬
schlimmerung, während welcher sie die Arbeit aufgeben mußte. Bei Aufregungen
oder wenn sie plötzlich sich beeilen — z. B. auf der Straße einem Wagen ausweichen —
mußte, bekam sie unregelmäßige, choreiforme Bewegungen der oberen Extremitäten.
Gewöhnlich half eine Abwaschung mit kaltem Wasser. Jenen dritten, langdauemden
Anfall hat Letulle beobachtet und behandelt. Die unteren Extremitäten waren
nie befallen. Im Ruhezustände zittert sie nicht, aber bei den geringsten Bewegungen
bekommt sie ein Zittern des Kopfes (am häufigsten nein, nein) und an den unteren
Extremitäten erscheint anfangs ein rhythmisches, grobes Zittern und sodann treten
auch unregelmäßige choreiforme Bewegungen auf. In analoger Weise finden beiderlei
Bewegungsarten auch an der vorgestreckten Zunge statt, so daß die Sprache skan¬
dierend wird. Hysterische Stigmata fehlen. Nach einer 14tägigen Behandlung
mit einer Kautschukbinde und einem Magneten genas sie vollkommen und ist seit¬
her gesund.
6. Letulle (nicht publiziert): Ein 21 jähriger Hilfsarbeiter beim Abschaben
der Felle, Alkoholiker, der seit der Kindheit an lebhaften Träumen leidet und im
Schlafe das Bett verläßt. Seit vier Monaten zittern alle Extremitäten und die Zunge
wie bei einem Alkoholiker. Arbeitet mit Quecksilber fünf Jahre. Er hatte eine links¬
seitige sensitivosensorielle Hypästhesie. Nach einer einmaligen Applikation des
Magneten war er vollkommen gesund.
7. Mugnerot: 57 jähriger Arbeiter einer Thermometerfabrik, Alkoho¬
liker, der seit dem 14. Lebensjahre seinen gegenwärtigen Beruf ausübt. 14 Jahre
lang hatte er keine Vergiftungserscheinungen, bis er eines Morgens nach längerem
Aufenthalte in einem ungesunden Raume plötzlich ein heftiges Zittern der beiden
oberen, aber nicht der unteren Extremitäten bemerkte. Zwei Monate wurde
er mit Jodkali und Schwefelbädern behandelt, aber nicht gänzlich ausgeheilt; erst
nach zwei weiteren Monaten verschwand der Tremor. Das war vor zwei Jahren.
Nun nahm der Tremor wiederum allmählich zu und zwang ihn, das Krankenhaus
aufzusuchen. Nach zweimonatiger Behandlung mit Jodkali und Bromkali fühlte
er sich besser und kehrte zur Arbeit zurück, aber nach sechs Monaten kam er wieder
und jetzt beobachtete ihn der Autor. — Im Ruhezustände zittert er nicht, aber
bei der Intention zeigt er kurze, rasche, arhythmische Zitterbewegungen an beiden
oberen und unteren Extremitäten, hier mehr links. Bei rascherem und anstrengen¬
derem Gehen ist der Tremor an den Füßen ganz deutlich. Der M. orbicularis oculi
zittert unaufhörlich. Leichte Hemianästhesie rechts. Nach achttägiger Behandlung
mit Hilfe der Methode von Letulle blieb nur ein ganz leichter Tremor der
Finger von alkoholischem Charakter zurück.
Einen ähnlichen Fall publizierte Booth (1898): Er beobachtete einen 01 jäh¬
rigen Mann, der bei der Herstellung von Spiegeln mit Quecksilber arbeitete und
nervöse Krampf Symptome bekam. Als er geheilt war, arbeitete er wieder bei der
Spiegelfabrikation; doch verwendete man damals Ag statt Hg. Trotzdem bekam
er drei Anfälle von Tremor wie nach Hg.
Dieser Auffassung des durch Quecksilber bedingten Tremors gegenüber
führt Breillot an, daß manchmal eine echte Ataxie beobachtet werde. Syl-
laba beobachtete gesteigerte Patellarreflexe und Fußklonus an den pareti-
schen unteren Extremitäten bei Schmerzhaftigkeit der Nervengeflechte. Guil-
laine und Laroche sammelte 1907 außer dem Falle von Syllaba noch die
Beobachtung von Crocq, der ebenfalls Fußklonus fand, von Witing, der eine
Atrophie der Myelinscheiden in den anterolateralen Strängen nachwies, die
Versuche Brauers, der bei Kaninchen mittelst Quecksilber Ataxie mit
gesteigerten Reflexen und Paralyse hervorrief und post mortem Läsionen der
motorischen Zellen fand, Raymonds und Sicards Befund einer Lympho-
38
Erster Teil.
zytose und von Quecksilber in der Rückenmarksflüssigkeit; sie fügen ihre
beiden eigenen Beobachtungen hinzu, bei denen sie gesteigerte Reflexe, Nystag¬
mus in extremen Positionen und Diadochokinesis fanden, und nehmen für den
Merkurialtremor einen organischen Ursprung an, den sie in einer Läsion der
Kleinhimbahnen oder des Kleinhirns erblicken. (Im Gehirn und in den Ein-
geweiden, sowie auch in den Muskeln hat nach Sanders bereits früher Taylor
Quecksilber nachgewiesen.)
Der von Syllaba beschriebene Fall aus der Thomayerschen Poliklinik
(1898) lag im Jahre 1903 in der Thomayerschen Klinik, wo wir die folgenden
Aufzeichnungen machten und Kurven abnahmen.
D. F., öOj&hriger Goldarbeiter, Z. 8731/03. Seit dem 25. Lebensjahre be¬
schäftigt er sich mit dem Vergolden der Blitzableiterspitzen, wozu er unter An¬
wendung der primitivsten Vorsichtsmaßregeln Quecksilberamalgam verwendet.
Während der ersten Jahre kümmerte er sich überhaupt nicht um die Ventilation.
Im 40. Lebensjahre begann er eine Schwäche in den oberen Extremitäten zu fühlen,
die auch im Ruhezustände, aber mehr bei Bewegungen zitterten; zeitweise empfand
er ein Bohren in beiden Vorderarmen. Bald fühlte er eine ähnliche Schwäche auch
in den unteren Extremitäten, hatte Beschwerden beim Gehen und fühlte nicht deut¬
lich den Boden unter den Füßen. Zugleich stellten sich die Symptome einer Stoma¬
titis mit Blutung, Lockerung der Zähne, üblem Mundgeruch und Magenübligkeiten
ein. Die Sprache war erschwert, wie abgerissen. Er wurde ängstlich, reizbar. Er
war weder Trinker, noch Raucher. — Er kam in die Poliklinik des Prof. Tho-
mayer, wo (siehe die Demonstration Syllabas im Öasopis lökafüv öesk^ch 14. II.
1898) als Hauptsymptom ein Tremor der Hände im Ruhezustände gefunden wurde;
der Tremor war bei Bewegungen und auf der rechten Seite stärker, war auch am
Kopfe vorhanden und auch hier bei der Intention stärker; beim Sprechen zitterte
auch das Kinn. Ferner fand man Schmerzhaftigkeit des rechtsseitigen Armge¬
flechtes und der beiden Sitznerven, eine Parese der unteren Extremitäten, gestei¬
gerten Patellarreflex, Fußklonus, einen eigentümlichen Gang, Sprachstörungen.
— Nach zweimonatiger Behandlung mit Jodkali und Elektrizität verlor der
Kranke seine Beschwerden bis auf einen leichten Tremor der oberen Extremitäten,
der namentlich beim Schreiben deutlich war. — Trotz Warnung kehrte er zu seiner
früheren Beschäftigung zurück. Vor Weihnachten des Jahres 1902 erschienen
die alten Symptome an den Oberextremitäten wieder, gingen auf die Unterextre¬
mitäten über, auch die Stomatitis und die Magenübligkeiten stellten sich wieder
ein. Der Kranke wurde wieder ängstlich und menschenscheu. In den Oberextremi¬
täten empfand er Kribbeln. Ins Krankenhaus trieben ihn vorwiegend die Diarrhöen,
die er nicht los werden kann. — Bei seiner Aufnahme in die Klinik am 3. VI. 03
war er herabgekommen. Lähmungen bestanden nicht. Die Pupillen reagierten
normal. Es war kein Nystagmus vorhanden. Die Nervengeflechte waren nur
unbedeutend empfindlich. An den oberen Extremitäten war die Muskelkraft ver¬
mindert, an den unteren nicht wesentlich verändert. Abgesehen davon, daß
die Spatia interossea am Hand- und Fußrücken eingesunken und die ersten
Fingerglieder der Zehen extendiert waren, bestanden keine Muskelatrophien. —
Im Gesichte waren bei energischer Innervation der Muskeln unregelmäßige
Muskelzuckungen um den Mund vorhanden. Die vorgestreckte Zunge zitterte
unregelmäßig. Die gestreckten Oberextremitäten zitterten deutlich, und zwar
die Finger im Sinne der Flexion und Extension und zugleich die Hände im
Sinne der Adduktion und Abduktion oder der Pronation und Supination. Dieses
Zittern, das schon in der Ruhe deutlich ausgesprochen war, verstärkte sich bei
der Intention, bei Anspannung der Aufmerksamkeit und namentlich bei dem Be¬
streben, das Zittern zu unterdrücken. Es war ungleich und unregelmäßig, langsam.
— Die Unterextremitäten zitterten beim Emporheben in groben, langsamen Zuk-
kungen im Sinne der Flexion und Extention im Fuß- und Hüftgelenk. Auch dieser
Tremor verstärkte sich bei der Intention, bei der eine deutliche Ataxie vorhan¬
den war. Bei geschlossenen Augen Rombergsches Symptom. Auf die Fußspitzen
Das Zittern infolge von Vergiftung.
39
vermochte sich der Kranke nur über einer breiten Basis aufzustellen. Auf einem
Fuße konnte er nicht stehen, sondern er schwankte und drohte zu fallen. — Er
ging auf breiter Basis, wie hölzern, indem er die Füße in den Kniegelenken nicht
beugte, die Fußsohlen schleifte und mit den Fersen aufschlug. Bei geschlossenen
Augen wurden die Schritte auf breiterer Basis kürzer. Auf einer Linie ging er schwan-
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Fig. 28.
kend und schwer. — Die Aussprache hat nicht gelitten, aber er zerriß die Worte
in Silben, die Sprache war langsam und unregelmäßig, indem er manche Silbe mehr
betonte und nach einigen langsamen Silben mehrere rasch nacheinander überstürzt
w iv-.
Fig. 29.
hervorstieß; manchmal stotterte er; die Wortbildung und die psychische Sprach -
zusammensetzung waren unverändert. Die Stereognosis und die Sensibilität über¬
haupt waren normal. Die Intelligenz war ungestört. Es überwog eine gedrückte
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Fig. 30.
Stimmung. Im Ham waren keine abnormen Bestandteile vorhanden. Daneben
bestand ein chronischer Bronchialkatarrh und Lungenemphysem. Blutdruck
13 cm (Gärtner). Die Patellarreflexe waren gesteigert: bei einmaligem Klopfen
auf die Sehne erfolgten 4—5 Zuckungen mit dem Unterschenkel. An den Achilles¬
sehnen war der Klonus sehr deutlich. Die Plantarreflexe waren zwar lebhaft, aber
sicher normal. Der Schlaf war schlecht. Im Schlafe hörte das Zittern auf. —
40
Erster Teil.
Gleich nach der Aufnahme zeichnete ich unter verschiedenen Umstanden von den
Händen mehrere Zitterkurven (unter ausgiebiger Hilfe des Koll. Van^sek).
Auf der 1. Kurve (Fig. 28) sehen wir ein grobes, nicht ganz gleiches, nicht
ganz regelmäßiges, aber doch nicht allzu imregelmäßiges Zittern, das aber durch
Fig. 31.
unwillkürliche, unregelmäßige Bewegungen der ganzen Extremitäten gestört wird;
das Zittern ist nicht rasch, denn wir zählen nur 5 Wellen in der Sekunde.
Die 2. Kurve (Fig. 29) ist im großen und ganzen der vorangehenden gleich,
zeigt aber, wie sich der Tremor im Ruhezustände mäßigen kann.
Fig. 32.
Auf der 3. Kurve (Fig. 30) sehen wir einen ungleichen und ungleichmäßigen,
aber doch nicht sehr unregelmäßigen, langsamen Tremor von 4,5—5 Wellen in der
Sekunde; bei Intention entsteht ein grobes, unregelmäßiges Schleudern der
Extremität, das aber nach 4 Minuten einem groben, regelmäßigen Tremor Platz
Fig. 33.
macht. (Vergleichshalber ist zugleich eine Kurve von einer Schüttellähmung ab¬
gebildet, wo der Tremor bei der Intention gänzlich aufhört, um im Ruhezustände
zurückzukehren.)
Die 4. Kurve zeigt (Fig. 31) im Ruhezustände einen ziemlich regelmäßigen,
langsam sich abspielenden Tremor von 5 Wellen in der Sekunde; w r ir sehen, welche
Folge der einfache Umstand hatte, daß ich mit dem Kranken ein Gespräch begann;
Das Zittern infolge von Vergiftung.
41
sofort stören die unwillkürlich unregelmäßigen Bewegungen die Kurve, auf der
wir keine Wellen verzeichnet sehen, worauf ein sehr grober, gleich langsamer, ziem¬
lich regelmäßiger Tremor folgt.
Auf der 5. Kurve (Fig. 32) sehen wir sehr deutlich den Einfluß des sub¬
jektiven Bestrebens, das Zittern zu unterdrücken. In der Buhe wmrde
ein gleichmäßiger, leicht ungleicher (nach einigen Sekunden immer 1—2 größere
Wellen), langsamer Tremor von 5 Wellen in der Sekunde gezeichnet. Sobald der
Kranke denselben durch den Willen zu unterdrücken versuchte, erfolgten geradezu
Explosionen eines sehr groben und ungleichen, dabei aber gleich langsamen und
nicht gerade unregelmäßigen Tremors.
Auf der 6. Kurve (Fig. 33) sehen wir denselben Einfluß noch deutlicher;
im Buhezustande ist der Tremor kaum erkennbar, seine Wellen sind ganz klein
und nur zeitweise erfolgt eine Explosion in Form einiger größerer Wellen; sowie
aber der Kranke sich bestrebt, das Zittern durch seinen Willen zu unter¬
drücken, entsteht ein grober, ziemlich unregelmäßiger Tremor von 4—4,5 Wellen
in der Sekunde. Der Tremor behält dieselbe Stärke, wenn der Kranke zu zählen
beginnt (geistige Anspannung).
Der Quecksilbertremor wird je weiter, desto seltener, da wir die Menschen
vor der schädlichen Wirkung des Quecksilbers besser zu schützen verstehen
als früher. Das Quecksilber ist sehr gefährlich, da es leicht in den Organismus
eindringt. Merget hat im Jahre 1871 der französischen Akademie der Wissen¬
schaften seine Forschungsresultate unterbreitet, nach denen das Quecksilber
imgeheuer leicht verdampft und sich sehr schnell verflüchtigt — im freien
Raume bis auf eine Entfernung von 1700 m mit einer Anfangsgeschwindigkeit
von 180 m in der Sekunde — und zwar auch in der Kälte. Mergets Befund
gab die Erklärung dafür, warum es bei der Gewinnung des Quecksilbers und
bei den Gewerben, die mit Quecksilber arbeiten, so leicht zur Vergiftung kommt.
Die vollständigste Übersicht über alle Möglichkeiten der Quecksilber¬
vergiftung findet sich in der These von Schoull, wo auch alle prophylaktischen
Maßregeln gegen diese Vergiftung zusammengetragen sind.
Der Merkurialtremor wurde bis jetzt unter folgenden Umständen be¬
obachtet:
1. Bei der Behandlung mit Quecksilber. Im Jahre 1827 publizierte Colson
vier Fälle nach der Behandlung mit grauer Salbe und zwei Fälle nach dem
Gebrauche der van Swietenschen Flüssigkeit (1 g Sublimat und 1 g Weinsäure
in Wasser mit etwas Alkohol); 1862 schmierte ein Patient von Louis den Hoden¬
sack mit grauer Salbe und bekam einen Tremor, der zwei Jahre dauerte; einen
analogen Fall publizierte Sanders im Jahre 1868. Zur selben Zeit beobachtete
Fout einen Tremor bei einem Ochsenknecht, der einen Ochsen mit grauer Salbe
schmierte, und zwar betraf der Tremor die linke Hand, mit der die Inunktion
vorgenommen worden war; nach dem Tremor stellte sich eine Radialislähmung
ein. Auch Charcot, Leyden, Engel, Jaksch, Erben beobachteten ähnliche
Vorfälle nach der Behandlung mit grauer Salbe. Dagegen verabreichte Busquet
versuchsweise drei Syphilitikern an acht aufeinander folgenden Tagen je 0,01 g
Sublimat, ohne daß sich der physiologische Tremor geändert hätte.
2. Durch Zufall. Jm Jahre 1863 brach in dem Quecksilberbergwerk zu
Idria ein Brand aus und 900 Menschen bekamen in der Umgebung bis auf eine
Distanz von mehreren Kilometern Zittern; 1810 barsten auf dem Schiffe
„Triumph“ Gefäße, welche Quecksilber enthielten, und 100 Schiffspassagiere
zeigten drei Wochen hindurch Vergiftungserscheinungen und Zittern (Burnett
42
Erster Teil.
1824). 1841 beobachtete Olli vier und Roger folgenden Fall: 2 im dritten
Stockwerke wohnende Kinder bekamen Vergiftungserscheinungen und Tremor;
die Nachforschungen ergaben, daß im Erdgeschoße Quecksilber destilliert
wurde.
3. Durch Vererbung seitens der Mutter (besser gesagt durch plazentare
Intoxikation). Schoull zitiert zwei Fälle: den Fall von Götz (kongenitaler
Tremor bei dem Kinde einer vergifteten und mit Zittern behafteten Frau) und
einen Fall, den Schoull selbst mit Archer beobachtete (seit der Geburt be¬
stehender Tremor bei einem Kinde, das von einer vergifteten Mutter stammte,
die aber bei der Entbindung nicht zitterte); dieses Kind verlor den Tremor bei
einer Amme am Lande.
4. Bei verschiedenen Berufen. Pieraccini zitiert eine Behauptung
Layets, daß es 24 Berufsarten gibt, die zu Tremor infolge Quecksilbervergiftung
führen können:
a) Die Beschäftigung in Quecksilberbergwerken. Schoull publizierte 1881
erschreckende Zahlen aus Almad6n: von 1152 Arbeitern, die in dem Bergwerke
selbst beschäftigt sind, und zwar 4—5 Tage in der Woche zu 6 Stunden täglich,
verloren binnen 5 Jahren 678 Leben und Gesundheit. Von 3911 überhaupt
Beschäftigten bleibt selten einer vom Zittern (Tremblor) verschont; jährlich
kommen 48 „Calambros“ vor, d. i. Zittern mit choreatischen Bewegungen;
die Hälfte dieser Kranken stirbt binnen einem Jahre. — Am gefährlichsten
ist die Arbeit in der Tiefe des Bergwerks, weil hier die Luft mit Quecksilber¬
dämpfen und Erzstaub (Zinnober) geschwängert ist, und sodann die Destillation
des Quecksilbers, die unter freiem Himmel und nur im Winter betrieben wird.
Die hygienischen Einrichtungen der Bergwerke haben viele Ubelstände
beseitigt. Trotzdem bemerkt Pieraccini, daß er noch im Jahre 1904 in Monte
Amiata gelegentlich eines Besuches, obwohl daselbst die Hygiene in skrupulöser
Weise durchgeführt wird, unter den Arbeitern sehr häufig leichte Vergiftungs¬
erscheinungen „Piccolo idrargirismo“ beobachtet habe, darunter auch ein
leichtes, flüchtiges Intentionszittem der Hände, der Lippen und der Zunge.
b) Hutmacher. Bei der Fabrikation des feinen Filzes werden die Haare
mit Bürsten, die in Merkurinitrat ([N0 3 ] 2 Hg) getaucht sind, abgeschabt; die
sogenannte Secretage. Fast alle Sekreteurs bekommen Zittern. Auch beim
Trocknen und besonders beim Ausstäuben der Haare (ai* 9 onnage) verdampft
viel Quecksilber.
In neuerer Zeit wurde das Merkurinitrat durch Kalziumsulfid ersetzt
und auf diese Weise die Gefahr beseitigt.
c) Spiegelarbeiter. In früheren Zeiten verfielen 80% der Arbeiter (Gärt¬
ner) der Vergiftung; gegenwärtig ist die Gefahr der Quecksilbervergiftung
durch Anwendung der Versilberung beseitigt.
d) Vergoldung der Metalle mit Goldamalgam, Versilberung von Gips¬
statuen mit Zinnwismutamalgam und Silberamalgam.
Ebenso gefährlich ist das Versilbern der Knöpfe, das in England mittelst
einer Paste aus Silberchlorid, Sublimat, Meersalz, Zmksulfat und Wasser vor¬
genommen wird, worauf die Knöpfe gebrannt werden und das Quecksilber in
Dämpfen entweicht.
Die mit derartigen Arbeiten verbundene Gefahr wurde durch hygienische
Einrichtungen der Arbeitsstätten und durch die Beaufsichtigung seitens des
Das Zittern infolge von Vergiftung.
43
Gewerbeinspektorates wesentlich vermindert. Als bestes Mittel hat sich in
Frankreich das Ammoniak bewährt, das über Nacht in der Arbeitsstätte ver¬
dampft wird.
Heutzutage vergoldet und versilbert man nicht mehr mit „Feuer“, sondern
galvanisch, auf „nassem Wege“, wobei kein Quecksilber verwendet wird. Diese
neuen Methoden sind billiger, haben aber den Nachteil, daß ihre Resultate nicht
so dauerhaft sind wie bei der Feuervergoldung. Welchen Schaden die Feuer¬
vergoldung verursacht hat, ersieht man deutlich aus dem offiziellen Berichte
des Vereins der Pariser Vergolder aus den Jahren 1840—1848, laut welchem
durchschnittlich 10% der Arbeiter mit Quecksilber vergiftet waren.
e) Erzeugung von Thermo- und Barometern: beim Füllen der Röhrchen.
f) Erzeugung von Knallquecksilber zum Füllen von Sprengkapseln und
Zündhütchen: das Quecksilber wird in Salpetersäure gelöst und mit Alkohol
versetzt; aus der Salpetersäure steigen Dämpfe auf, die reich an Quecksilber
sind.
g) Gewinnung von Gold und Silber aus Erzen durch Amalgamierung.
h) Gewinnung von Gold aus Staub und Asche bei Goldarbeitem; ist heut¬
zutage mit keiner Gefahr mehr verbunden.
i) Das Fegen der Schornsteine von Werkstätten, wo mit Quecksilber ge¬
arbeitet wird.
k) Die Erzeugung der roten Schminke (Vermillon) in Holland war sehr
gefährlich: es wurde hierbei der Zinnober geglüht.
l) Die Erzeugung von Feuerwerkskörpern, bei der Zinnober, Quecksilber¬
jodid und Quecksilberchromat verwendet werden.
m) Die Photographen arbeiten mit Sublimat.
n) Die Tierausstopfer verwenden ebenfalls Sublimat.
o) Die Damaszierung des Stahls bei Gewehrläufen.
p) Das Überdrucken der Stoffe.
q) Die Fabrikation der Anilinfarben.
r) Das Schützen des Holzes vor Fäulnis (Telegraphenstangen).
s) Die Erzeugung von Glühlampen (Präparierung der Fäden).
Die Berührung mit den giftigen Quecksilberdämpfen ruft nicht bei einem
jeden Menschen das Zittern gleich schnell und in gleicher Intensität hervor.
Valenzuela kannte einen Kranken, der das Zittern erst nach einer 20jährigen
Beschäftigung bekam. Andererseits beginnen Menschen zu zittern, sobald sie
mit dem Quecksilber in Berührung kommen. Angeblich sind Menschen, die
an Schnupfen leiden, besonders gefährdet (Potain). In Almaden erzählt man,
daß magere Leute eher befallen werden, doch konnte sich Schoull von dem
Gegenteil überzeugen. Auch Trinker bekommen den Tremor leichter.
Wenn die Kranken in den Anfangsstadien der Vergiftung aus der ver¬
pesteten Luft herauskommen, werden sie gewöhnlich bald gesund; wenn sich
jedoch die Vergiftung bereits in einem vorgeschritteneren Stadium befindet,
kann das Zittern schon für immer bleiben. Guillain und Laroche beschrieben
zwei Fälle von diesem Tremor bei Greisen, die seit 40 Jahren nicht mehr mit
Quecksilber arbeiteten und den Tremor doch nicht verloren. (Der erste, 70-
jährige Mann, war seit dem 14. Lebensjahr Metallvergolder, akquirierte im
34. Lebensjahre Zittern der linken Oberextremität, gab im 38. Lebensjahre
44
Erster Teil.
sein Handwerk auf, aber das Zittern bestand fort. — Der andere, 72jährige
Mann, vergoldete vom 10. bis zum 30. Lebensjahre; mit 30 Jahren bekam er
nach einer Emotion einen mit Bewußtlosigkeit einhergehenden Krampfanfall
und danach den Tremor, 3 Wochen später eine Hemiplegie, die spurlos ver¬
schwand; das Zittern aber bestand fort; die Plantarreflexe waren normal.)
Kranke mit leichtem Zittern, die nicht trinken und täglich baden, können jahre¬
lang ohne Schwierigkeiten Weiterarbeiten (Roussel).
Die Therapie des Quecksilbertremors besitzt eine reiche Literatur. Ist
doch das Zittern ein so auffallendes und störendes Symptom, daß man der
symptomatologischen Behandlung nicht gut ausweichen kann. — Die Allgemein¬
behandlung richtet sich zunächst gegen die Quecksilbervergiftung überhaupt;
am erfolgreichsten sind heiße Schwefelbäder und die interne Verabreichung des
Schwefels: 1—2 g Schwefelblüten täglich (Vincente), ferner Jodkali in größeren
Dosen (Natalie, Guillot und Melsens 1844), Ammoniumazetat, Abführmittel,
Unterstützung der Nierensekretion (durch Milch, Eisen und Sarsaparilla).
Gegen das Zittern selbst wurden beruhigende und reizende Medikamente ver¬
wendet; ohne Erfolg bleiben zumeist große Opiumgaben, Morphiuminjektionen,
Extractum Belladonnae, Muscarin (Vincente), Chloral, Bromide, Ergotin.
Oulmout verwendete als erster im Jahre 1872 Hyoszyamin in Dosen von 2 bis
12 bis 17 mg täglich durch 3—6 Wochen und erzielte angeblich Heilung. Von
Reizmitteln lobt Trousseau das Strychnin; Gu^neau de Mussy führte 1868
das Zincum phosphoricum ein und erzielte angeblich Heilung in acht Tagen
durch Dosen von 8—16 mg pro die; Dujardin Baumetz erzielte angeblich
Erfolge mit Cadmium phosphoricum, das er in Dosen von 16 mg pro die drei
Wochen hindurch nehmen ließ.
Gelobt und verworfen wurde der induzierte und der konstante Strom,
gelobt wurden ferner elektrische Bäder mit dem primären Strom (Bordas)
und mit Extraströmen (Const. Paul) (20—30 Bäder für eine Behandlung).
Schließlich erzielte Letulle und nach ihm Mugnerot Heilung durch rein
psychische Suggestionsbehandlung: sie umwickelten mit einer elastischen Binde,
die sie mäßig anzogen, die ganze Extremität von den Fingern bis zur Schulter,
ließen die Binde 3—4 Minuten liegen und legten hierauf für eine halbe Stunde
einen Magneten auf. Auf diese Weise wurden abwechselnd alle Extremitäten
behandelt.
Von derselben Art ist der Vorschlag Schoulls, einen Ätherspray längs
der Wirbelsäule anzuwenden.
Um analoge Fälle von toxischem Tremor dürfte es sich bei den Kranken
Bernheims gehandelt haben, der durch Hypnose eine Besserung erzielte.
Historische Bemerkung. Obwohl die Giftigkeit des Quecksilbers
schon im Altertum bekannt war, findet sich nach Latteux in den alten Schriften
keine Erwähnung des Tremors. Ramazzini beschreibt es eingehend in seinem
berühmten Buche über Gewerbekrankheiten. Im Jahre 1818 beschrieben
Martin de Guörard und M6rat das Zittern der Vergolder; 1827 beschrieb
Colson den Tremor nach Quecksilbervergiftung; 1848 schrieb Roussel seine
berühmten Briefe aus Spanien in die Union med., in denen er die Verhältnisse
in Almad^n und Idria schilderte; 1854 beschäftigte sich Tardieu eingehend
mit diesem Tremor in seiner Hygiene ; aus dem Jahre 1868 stammen die Arbeiten
von Gu6neau de Mussy und Kuß maul. Genaue Berichte bringen die
Das Zittern infolge von Vergiftung.
45
Thesen von Hillairet, Fernet (1872), Oulmout (1873), Jean (1877) und
Hallopeau (1878). Die neueren Arbeiten enthalten keine Angaben mehr von
wesentlicher Bedeutung. Erwähnung verdient nur noch die These von Mugne-
rot 1889.
11. Das Zittern bei der Bleivergiftung.
Bei der chronischen Bleivergiftung entsteht manchmal ein Tremor bei
Bewegungen und zwar mehr in der ganzen Extremität als in den Fingern, häufig
mehr auf einer Seite, gewöhnlich auf der rechten, ein kleiner, regelmäßiger,
nicht ganz gleichmäßiger Tremor, der anfangs nur bei Ermüdung (gegen Abend)
oder nach einem alkoholischen Exzeß oder bei einer Aufregung auftritt. Dem
Zittern geht ein Gefühl von Schwere, Plumpheit und leichte Ermüdbarkeit
der Hände voran (Tanquerel des Planches). Dieser Tremor der Hände
stört bei der Arbeit (so daß z. B. ein Maler gegen Abend mit der linken Hand
malte — Lafont) und hört auf, wenn der Kranke die Hand fest auf stützt
(Lafont). In diesem Grade kann das Zittern lange Zeit unverändert bleiben
ohne sich auszubreiten, es wäre denn, daß es auch den M. orbicularis oculi und
den Levator anguli oris ergreift. Durch den Willen kann es nicht unterdrückt
werden (Breillot), bei vollständiger Ruhe und bei Nacht verschwindet es.
Wertheim zählte in zwei Fällen 7,5—8,8 Wellen in der Sekunde.
Dieses Zittern der Hände kann das einzige Symptom der Vergiftung bleiben
(Urbach sah es bei Kindern, bei denen keine anderen Erscheinungen bestanden
und dennoch Pb im Ham vorhanden war) und das Anzeichen drohender Läh¬
mungen sein (Tanquerel des Planches).
In seltenen Fällen beginnt es plötzlich ohne Prodrome (Ladreit, Arch.
G4n. 1859, zit. Lafont) oder nach einer Kolik.
Selten beginnt es an den Füßen (Tanquerel) und kann dann beim Gehen
hinderlich werden (unsicherer, schwankender Gang und Einknicken der Füße);
auf das Gesicht geht es nur ausnahmsweise über; außerordentlich selten greift
es auch die Lippen an.
Mit Schmerzen ist es nicht verbunden.
Es sind Fälle beschrieben worden, in denen der Bleitremor plötzlich mit
großer Heftigkeit bei der perniziösen akuten Bleivergiftung begann und sich
über den ganzen Körper ausbreitete (Grisolle, Ladreit, Archambault in
Bleiweißfabriken).
In seltenen Fällen von akutester Vergiftung geht der Tremor in unregel¬
mäßige konvulsive Bewegungen, die der Epilepsie oder Tetanie oder katalep-
tischen Bewegungen ähnlich sind, oder in ganz unregelmäßige Bewegungen
über — bei der Encephalopathia satumina (Tanquerel). Manchmal äußert
sich diese Gehimläsion durch Intentionszittem (Urbach, Hahn).
Gewöhnlich hört der erste Anfall von Zittern auf, sobald der Kranke sich
dem schädlichen Einflüsse des Bleis entzieht; der zweite Anfall ist aber hart¬
näckiger. Er beschränkt sich nicht auf die Muskeln, die der Lähmung verfallen
(Lafont). Schultze beobachtete bei einem an Lähmungen der Hände Er¬
krankten, der bei intendierten Bewegungen zitterte, bei jeder Schließung und
Öffnung des galvanischen Stromes einen kurzen, schnellen Tremor, der sich bis
auf die Oberarmmuskeln (M. deltoideus, biceps, triceps) ausbreitete.
Das Blei ist ein im täglichen Leben so häufig verwendetes und dabei so
giftiges Metall, daß es sehr leicht zu Vergiftungen kommen kann. Pieraccini
46
Erster Teil.
behauptet, die Zahl der Bleivergiftungen sei so groß, wie die aller übrigen ge¬
werblichen Vergiftungen zusammengenommen, ja sogar noch größer. Der
Tremor kommt aber verhältnismäßig selten vor.
Er ist dem alkoholischen Tremor sehr ähnlich, unterscheidet sich aber
von diesem dadurch, daß er im Beginne gegen Abend, wenn der Kranke ermüdet
ist, auftritt, daß er durch den Genuß alkoholischer Getränke verstärkt wird
und daß er sich nur schwer über den ganzen Körper ausbreitet und nur aus¬
nahmsweise die Lippen und die Zunge befällt. /
Doch gibt es auch hybride Fälle, in denen Blei und Alkohol gemeinsam ihre
verheerende Wirkung ausüben (Breillot).
Am meisten leiden:
1. Die Arbeiter in Bleiweißfabriken (basisches Bleikarbonat).
2. Bei der Fabrikation des Minium (rotes Bleitetroxyd PbgC^).
3. Bei der Spiegel- und Glasfabrikation (man verwendet hierbei die Blei¬
glätte = Bleioxyd PbO, Lithargyrum), besonders bei der Erzeugung des Kristall¬
und Flintglases.
4. Die Zimmermaler (Bleiweiß) und die Bewohner frisch gemalter Woh¬
nungen.
5. Die Typographen und Schriftgießer.
6. Die Arbeiter in Bleihütten (Zerschlagen und Mahlen des Erzes — PbS
Bleiglanz).
7. Bei der Fabrikation und beim Mahlen von Farben.
8. Beim Glasurieren der Töpfer- und Porzellanwaren (Glätte).
9. Die Lackierer und Färber.
10. Die Gelb- und Zinngießer.
11. Die Pumpenmacher und Wasserarbeiter.
12. Die Arbeiter bei der Akkumulatorenfabrikation.
13. Lewin erwähnt einen Fall von Zittern der Hände nach der Applikation
von Aqua plumbi auf ein Ulkus.
Außerdem sind zufällige Vergiftungen bekannt, bei denen aber das Zittern
wegen seiner großen Seltenheit nicht in Betracht kommt.
Historische Bemerkung. Das Zittern infolge Bleivergiftung wird
schon im Mittelalter erwähnt. Tanquerel des Planches zitiert Femel,
und Latteux sagt, daß schon im Jahre 1550 Jac Aetheus Tremor nach Blei¬
weißvergiftung und Lepois im Jahre 1620 Koliken, Krämpfe und Zittern
beschrieben habe. Lafont fand eine Beschreibung bei Paulus von Aegina
und Aretaeus. Sydenham und Ramazzini lassen das Zittern unerwähnt.
Morgagni widmet ihm ein ganzes Kapitel. Im Jahre 1812 beschrieb es M6rat
zugleich mit dem Quecksilbertremor. Aus dem Jahre 1839 stammt das be¬
rühmte Werk von Tanquerel. 1866 schrieb über den Tremor Spring in
Brüssel und 1869 erschien die These von Lafont. Von den neueren Arbeiten
verdient die Publikation von Werthei m eine besondere Erwähnung.
Die Therapie gleicht im großen und ganzen jener der Quecksilberver¬
giftung und des Quecksilbertremors: sie unterstützt die Eliminierung des Bleis
mit warmen Schwefelbädern, mit Purgantien und 4—6 g Jodkali pro die. Tan¬
querel des Planches gab Strychnin innerlich und endermatisch (in die durch
Kanthariden erzeugten Blasen). Lafont ist mit dieser Behandlung nicht ein-
Das Zittern infolge von Vergiftung.
47
verstanden, sondern empfiehlt das Bromkali in Tagesdosen von 4—8 g, das von
Baruteau gegen den Bleitremor eingeführt wurde, und lobt dasselbe als be¬
ruhigendes Mittel und als „eliminateur“ (?).
12. Bei der Vergiftung mitChromsäure und deren Salzen entsteht manch¬
mal Zittern mit Wadenkrämpfen (F. Erben).
13. Bei der Vergiftung mit Zinnsalzen, die früher in höherem Maße als
Medikament in Verwendung standen, wurden Muskellähmungen und Zittern be¬
obachtet. In analoger Weise findet man bei Vergiftungen mitZink, Kadmium,
Kupfer, Messing die Erwähnung eines Tremors ohne nähere Beschreibung.
Das Zittern ist bei diesen Metallen ebenso wie die übrigen Vergiftungserschei¬
nungen dem Gehalte an Blei und Arsen zuzuschreiben (Ölokov, Pulligny u. a.,
zit. von Erben).
14. Bei der Vergiftung mit Thalliumsalzen führt Latteux Anfälle von
Tremor der Hände bei Lähmungen der unteren Extremitäten an. (Das Sulfid
wurde gegen die Nachtschweiße der Phthisiker verordnet. Nach Erben beob¬
achtete Bullard nach demselben schwere Neuritiden.)
15. Bei derManganvergif tung, derenExistenz bis jetzt noch strittig ist,
führt Couper unter den Symptomen das Zittern der Füße an, während Jaksch
bei seinen Patienten kein Zittern erwähnt. Couper beschrieb im Jahre 1837
aus einer Fabrik, in welcher durch Zerkleinern des Mangansuperoxyds ein
Bleichpulver gewonnen wird, fünf Fälle einer Nervenkrankheit, zu deren Sym¬
ptomen außer einer zur Paraparese gesteigerten Schwäche der unteren Extremi¬
täten ein Zittern der Füße und Salivation und, wie bei der progressiven Paralyse,
ein verzerrtes Gesicht und Flüsterstimme (?) gehörten. Drei von denselben
genasen schnell, nachdem sie ihre Beschäftigung aufgegeben hatten, t
Im Jahre 1901 erschienen drei Fälle aus der Klinik Jaksch in Prag,
vier Fälle von Emden aus Deutschland und ein Fall von Friedei. Jaksch
beobachtete einen seiner Patienten bis zum Jahre 1906, dann einen neuen Fall
von 1902 bis 1906 und schließlich einen fünften Fall im Jahre 1907, so daß er
die größte Erfahrung besitzt. Aus den genauen Beschreibungen Jakschs
geht hervor, daß man bei diesen Arbeitern ein doppeltes Krankheitsbild beob¬
achtet, teils ohne hysterische Symptome (vier Fälle), teils mit denselben (letzter
Fall). Weder bei der ersten Gruppe, noch beim letzteren Falle erwähnt Jaksch
den Tremor unter der sonst so reichhaltigen Symptomatologie (psychische
Alteration, Zwangslachen und -weinen, monotone, skandierende Sprache, Retro-
pulsion, spastischer Gang mit gesteigerten Patellar- und normalen Plantar¬
reflexen ohne Atrophie — einmal auch Selbstmord). Aus seiner letzten Be¬
obachtung schließt Jaksch, der im Jahre 1901 noch meinte, daß es sich um ein
Kältetrauma handle, daß es eine Manganotoxikose und eine manganophobische
Neurose gebe.
16. Das Zittern bei der Nikotinvergiftung.
Es handelt sich um einen Tremor der oberen Extremitäten mit lateralen
Bewegungen der Finger (Breillot) oder mit Extensionsbewegungen im Meta-
karpalgelenk (Magnol), der eine Geschwindigkeit von 7—8 Wellen in der Sekunde
besitzt (Dejerine), gewöhnlich am Morgen auf tritt, wenn der Kranke am Abend
zuvor stark geraucht oder geschnupft hat (Breillot) oder wenn er morgens
etwas mehr raucht; er dauert etwa eine Stunde und verschwindet im Laufe des
Tages.
48
Erster Teil.
Er wurde in gleicher Weise beobachtet nach dem Rauchen, Schnupfen
und Kauen des Tabaks, bei zufälligen Vergiftungen, bei experimentellen Nikotin¬
injektionen und beim Auflegen von Tabakblättern auf den nackten Körper.
Schon daraus geht hervor, daß man das nach dem Tabakrauchen auftretende
Zittern als ein Symptom der Nikotinvergiftung ohne Rücksicht auf andere,
im Rauche vorhandene giftige Produkte auffassen kann.
Fernetschreibt in seiner These, Duchenne de Boulogne habe ihm von
einem schnupfenden Arzt erzählt, der an Zittern der Extremitäten litt; wenn
or das Schnupfen auf gab, verlor er das Zittern, aber es stellten sich so schwere
Nervensymptome, Schwindel, Gedächtnisschwäche, Unlust zur Arbeit ein,
daß er immer wieder zu schnupfen begann, worauf die unangenehmen Symptome
verschwanden, das Zittern aber von Neuem erschien. (Breillot führt den¬
selben Fall als Beobachtung von Gueneau de Mussy an.) Neumann in
Karlsruhe beobachtete einen 27 jährigen starken Schnupfer, der aber außer
einem groben Zittern der Hände psychische Symptome darbot: Stimmungs¬
wechsel, Störungen des Merkvermögens, unregelmäßigen Puls. Bei Abstinenz
besserten sich die psychischen Symptome. Uber das Verhalten des Zitterns
während der Abstinenz finden sich bei ihm keine Angaben. Tardieu beobachtete
zwei Fälle von zufälliger Vergiftung: bei einem Schmuggler, der auf dem nackten
Körper Tabakblätter paschte, und bei einem Bauer, der sich gegen irgendwelche
Schmerzen mit Honig angefeuchtete Tabakblätter auf legte. Beide wiesen die
folgenden Symptome auf: Blutandrang zum Kopfe, Kopfschmerzen, Schwindel,
Gliederzittern, Nausea, Erbrechen mit kleinem raschen Puls. Lewin erwähnt
einen Fall von Tremor, der entstand, nachdem die Haut behufs Beseitigung von
Läusen und Krätze mit Tabak bestreut worden war.
Charcot und Vulpian und nach ihnen Latteux erzeugten Tremor bei
Fröschen durch Injektion von Nikotin unter die Haut, Latteux auch dadurch,
daß er Tieren Tabakpulver subkutan injizierte. Bei einer Katze, der 6 g Tabak¬
pulver an der Innenfläche des Oberschenkels injiziert wurden, trat eine Viertel¬
stunde nach der Injektion Erbrechen auf, nach einer halben Stunde Schwindel
und ein deutlich ausgeprägter Tremor der hinteren Extremitäten, der sich nach
einer weiteren halben Stunde generalisierte; hierauf stellte sich ein Zittern aller
Muskeln mit tetanischen Krämpfen und stertorösem Atmen und der Tod ein;
nach der Injektion eines Tropfens Nikotin bekam die Katze einen Krampf der
Rückenmuskeln, Schwindel, Atemnot, nach einer weiteren Minute ein allgemeines
Zittern, dann tetanische Krämpfe bei jedem äußeren Reiz und schließlich trat
der Tod ein. Nach dem Tode gerieten die Muskeln bei jeder Berührung mit dem
Messer in ein „spasmodisches Zittern“.
Ich verfüge über keine Beobachtung einer Nikotinvergiftung; doch habe
ich den Tremor der Hände einiger junger Kollegen aufgenommen, bei denen
außer unmäßigem Zigarettenrauchen keine andere Ursache des Tremors ge¬
funden werden konnte.
Dr. S., 24 Jahre alt, starker Zigarettenraucher, zeigt einen groben, un¬
gleichen, fast ganz regelmäßigen Tremor von 10 Wellen in der Sekunde (Fig. 34).
M. U. C. B., 21 Jahre alt, raucht bis zu 30 Zigaretten täglich, zeigt einen
deutlichen, sehr schnellen Tremor der Hände von I\y 2 —12 Wellen in der
Sekunde (Fig. 35).
Das Zittern infolge von Vergiftung.
49
M. ü. C. K., 23 Jahre alt, raucht ebenfalls bis zu 30 Zigaretten im Tag,
zeigt einen zarten Tremor, in dessen gut aufgenommenen Partien man bis zu
10 Wellen in der Sekunde zählt (Fig. 36).
Prophylaxe. Aus der Erfahrung, daß beim Rauchen das Nikotin der
Hauptfaktor der Vergiftung ist (dies wurde hauptsächlich durch die thematischen
Arbeiten Lehmanns in Wtirzburg und seiner Schüler, ferner durch die bei
j'/
Fig. 34.
Lapinsky durchgeführte Arbeit Vladiökas u. a. bewiesen), ging das Be¬
streben hervor, das Nikotin aus dem Tabak zu entfernen und das Rauchen auf
diese Weise unschädlich zu machen. In Deutschland werden seit langer Zeit
nikotinarme Zigarrensorten erzeugt, die jedoch der Prüfung durch die Lehmann-
sehe Schule nicht standhielten.
Vom gesundheitlichen Standpunkt ist es sehr wichtig, daß die Zigarren
Fig. 35.
trocken sind, daß man sie nicht bis zur Spitze ausraucht und die Spitze beim
Rauchen trocken hält; wer beim Rauchen den Speichel nicht schluckt, hat
weniger unter der Vergiftung zu leiden.
Magnol (der Latteux unrichtig zitiert) schätzt die minimale toxische
Dosis auf 20 g Tabak pro die.
17. Beim Kaffeegenuß gehört das Zittern zu den häufigsten und wichtig¬
sten Vergiftungserscheinungen; es pflegt auch das hartnäckigste Symptom zu sein.
36
Fig. 36.
Bei der akuten Vergiftung konstatiert man ein universelles Zittern der
Glieder, der Wangen, der Zunge, das aber durch die gewöhnlich in stürmischer
Weise auftretenden übrigen Symptome (große Aufregung, Gesichts- und Gehörs¬
halluzinationen, Tachykardie, Tachypnoe, Krämpfe, Polyurie, Diarrhöe, also
ein Krankheitsbild, das dem Delirium tremens ähnlich ist) in den Schatten ge¬
stellt wird.
Peln&r, Zittern.
4
50
Erster Teil.
Bei der chronischen Vergiftung, zu der etwa 10% der Kaffeetrinker
disponiert sind (Bridge), kommt das Zittern sehr häufig, etwa in 60% der
Fälle vor. Es handelt sich um einen Tremor der Hände bei statischer Inner¬
vation und bei kleinen Bewegungen, einen störenden, sehr schnellen, regelmäßigen,
kleinen Tremor, der gewöhnlich bei nüchternem Magen auftritt und nach dem
Kaffeegenuß schwächer wird. Selten breitet er sich auf die Zunge und auf die
Wangen aus. Manchmal bildet er das einzige Vergiftungssymptom (Bomby).
In der Abstinenz verschwindet er bald, kehrt bei neuerlichem Genüsse zurück,
aber er kann auch trotz Abstinenz noch einige Wochen andauem (Bomby).
Bei grober Arbeit wirkt er nicht störend (Valenzuella, Dejerine). Gleich¬
zeitig mit dem Tremor beobachtet man unregelmäßige Zuckungen einzelner
Muskelbündel, Wadenkrämpfe, Neuralgien, schreckhafte Träume von Ge¬
spenstern, hypnagoge Halluzinationen, allgemeine Erschlaffung, Geschmacks¬
störungen, Gefäßkrämpfe in den peripheren Bezirken (kalte Füße und Hände),
Ernährungsstörungen, Bradykardie mit Arythmie, Dyspnoe bei Anstrengung,
Asthenopie, Pruritus und unbestimmte neuralgische Schmerzen im Unterleib
und in den Extremitäten.
Verursacht sind diese motorischen Störungen durch das Koffein, das in
dem gebrannten Kaffee (0,75—1,5%) enthalten ist; die feineren Sorten enthalten
weniger Koffein als die schlechten Sorten; es findet sich gleichzeitig mit dem
Cafeol oder Cafeon, das beim Brennen des Kaffees synthetisch entsteht. Für
diese Annahme sprechen die Versuche von L6v6n (dieser beobachtete nach
der Injektion % Gramms Koffein Kopfschmerzen, Gliederzittem, Nausea,
Somnolenz, Pulsverlangsamung), von Latteux (eine Stunde nach der Injektion
y 2 Gramms Koffein ein leichtes universelles Zittern und Pulsverlangsamung)
und von Wilhelm (zit. nach Nikolai). Doch muß bemerkt werden, daß
Busquet zehn Personen ein ganzes Gramm Koffein täglich reichte, ohne daß
sichere Veränderungen des physiologischen Zitterns aufgetreten wären.
Akute Vergiftungen entstehen durch Zufall (Leszinsky, ein sechsjähriges
Kind aß eine Handvoll gebrannten Kaffees) oder durch Idiosynkrasie (Bridge)
oder infolge von Exzessen (Rugh: ein 30jähriger, geschäftlich sehr in Anspruch
genommener Mann schlief drei Wochen hindurch kaum drei Stunden täglich
und trank den ganzen Tag starken, schwarzen Kaffee) oder nach dem Genüsse
einer großen Dosis behufs Fruchtabtreibung (Bomby) oder durch Leichtsinn
(mein Fall). Chronische Vergiftungen entstehen durch den regelmäßigen und
unmäßigen Genuß starken schwarzen Kaffees oder durch die vorwiegende
Ernährung mit Kaffee (Love: eine Mutter von 5 Kindern lebte 6 Monate von
schwarzem Kaffee), die bei armen Arbeiterinnen und Arbeiterfrauen verbreitet
ist (F. Mendel, in Westfalen, an der Ruhr).
Prophylaxe: Diese schädlichen Wirkungen des schwarzen Kaffees
trachtet man auf doppelte Weise zu verhüten.
a) Durch den vollständigen Ersatz der Kaffeebohnen durch Getreide-
kömer und Hülsenfrüchte und durch Zichorie (Kneipp, Frank, Kaffeetin, Mais¬
malzkaffee, Hämatinkaffee) und
b) durch Erzeugung koffeinfreien Kaffees (HAG — Hamburger Aktien-
Gesellschaft — mit 0,3% Koffein).
Ich verfüge über zwei Fälle von KaffeeVergiftung. Der erste, subakute
Fall betrifft eine Fabrikarbeiterin, die bei Nacht arbeiten mußte und, da sie sehr
Das Zittern infolge von Vergiftung.
51
schläfrig war, sich mit großen Dosen schwarzen Kaffees stärkte. Dies tat sie
ein halbes Jahr; dann begann sie schwach und matt zu werden, zitterte am
ganzen Körper, bewegte kaum mit den Füßen, konnte keine Treppen steigen
und wurde blaß und mager; nach einmonatiger Abstinenz verlor sie alle Sym¬
ptome. Jetzt ist sie wieder gesund und rotwangig. Kaffee trinkt sie nicht
mehr, höchstens einen ganz schwachen.
Im anderen Falle handelte es sich um eine akute Vergiftung bei einem
35 jährigen Manne, der an den Genuß schwarzen Kaffees gewöhnt und ein
starker Raucher war. Einmal bereitete er sich aus 1 / s kg Kaffee eine einzige
Tasse schwarzen Kaffees und trank dieselbe aus; nach einer Weile fühlte er eine
entsetzliche Schwäche und Ohnmacht, zitterte am ganzen Körper, war wie
betäubt und vermochte nicht auf den Füßen zu stehen; nach etwa zwei Stunden
verschwanden alle Symptome.
Eine Behandlung des Kaffeetremors ist nicht durchführbar; man be¬
handelt die Kaffeevergiftung durch die Abstinenz (in welcher nach Bridge
manchmal heftige Kopfschmerzen oder auch Herzschwäche auftritt, so daß eine
wiederholte subkutane Koffeininjektion indiziert sein kann) und durch toni-
sierende Medikamente: Arsen, Eisen, Landaufenthalt, moralische Einwirkung.
Die Vergiftungssymptome nach Kaffee sind in der These von Bomby aus
dem Jahre 1905 übersichtlich bearbeitet.
18. Der unmäßige Genuß des Tees kann ebenfalls Gliederzittem verur¬
sachen, obwohl dasselbe bis jetzt noch nicht klinisch studiert wurde. Die
wirksame Substanz dürfte hier das Thein sein, von dem 1,5% in den Blättern
enthalten sind (im sogenannten Perl-und Himalayatee 3—4%) und mit welchem
L6v6n bei Tieren ein universelles Zittern hervorrief. Das Teezittem geht
gewöhnlich mit Herzklopfen und einer eigentümlichen allgemeinen Unruhe
einher, die auch nach Kaffeegenuß vorhanden zu sein pflegt. In jüngster Zeit
ist in England auch das Rauchen des Tees in Zigarettenform aufgekommen
und man beobachtete nach größeren Quantitäten unter anderen Vergiftungs¬
erscheinungen auch Tremor. Netolitzky studierte experimentell das Rauchen
der Teeblätter der Sorte „Haysan“ mit 1,6% Thein, die zur Herstellung der
Zigaretten verwendet werden, und fand in dem Rauche mindestens % des in
der Zigarette enthaltenen Theins, ja, bei langsamem und vorsichtigem Rauchen
sogar % der Gesamtmenge.
Ob auch nach Schokolade und Kakao Zittern auftritt, ist nicht bekannt.
(Die Kakaokömer enthalten 1 — 1,5% Theobromin.)
Unbekannt ist ferner das Zittern nach Mat6 (Paraguaytee von Ilex parag.
mit0,5—1%Theobromin) und nach Kola oder Guru (Samen von Colaacuminata
mit 2,4% Koffein).
19. Mehr wissen wir vom Zittern beider Opium - undMor p h i u m Vergiftung.
Bei den Opiophagen, die sich mit Opiumpillen berauschen (im Orient, in Bosnien,
Paris), entsteht gleichzeitig mit einer allgemeinen Erschlaffung ein Zittern an
den oberen, dann an den unteren Extremitäten (Fernet), das nach einer größeren
Opiumdosis verschwindet (B r e i 11 o t). Dasselbe beobachtet man nach Morphium¬
injektionen, die vielfach (Paris, Norwegen) dieselbe traurige Rolle spielen wie
die Opiumpillen (Jouet). Der Tremor der gestreckten Hände im Sinne der
Pronation und Supination, der Flexion und Extension ist das prägnanteste
und auffallendste Symptom der chronischen Morphium Vergiftung. Dieser
4*
52
Erster Teil.
Tremor pflegt rhythmisch zu sein, seine Amplitude schwankt wellenförmig,
die einzelnen Wellen sind steil mit scharfem Gipfel; das Zittern breitet sich
manchmal auf den ganzen Rumpf und die Zunge aus, erreicht hier aber keinen
hohen Grad (Jouet).
Charcot ergänzte die Beobachtungen Jouets mit der Angabe, daß das
Zittern manchmal auch im sogenannten Amorphinismus auftrete, d. h. während
der Abstinenz im Stadium der unwiderstehlichen Sehnsucht nach Morphium.
Charcot fand in einem solchen Falle einen Tremor der Hand mit einer Frequenz
von 6—7 Wellen in der Sekunde, der sich nach Morphiumgenuß mäßigte und
im Stadium der Euphorie ganz unbedeutend war.
20. Nach Strychnin wurdehäufig einZittern der Extremitäten beschrieben,
das jedoch nicht näher studiert wurde.
Nach Curare, das zu Heilzwecken gereicht wurde, beobachteten Voisin
und Liouville ein dem Schüttelfrost ähnliches Zittern, das übrigens früher
schon Claude Bernard (Fernet) bei seinen Experimenten gesehen hatte.
Zittern nach Chinin beschreibt Eulenburg, und Roche und Dana
geben seine Geschwindigkeit mit 10 Wellen in der Sekunde an. Dasselbe ist
bald eine Begleiterscheinung der allgemeinen Schlaffheit, bald eine Teilerschei¬
nung des akuten, deliranten Syndroms, bald ein Vorläufer allgemeiner Krämpfe
(Lewin).
Bei der Vergiftung mit Atropin, Bittermandelöl, Stechapfel, sah
Latteux einen Tremor wie beim Delirium tremens, und einen Tremor der Hände
in der Rekonvaleszenz, der auch von Breillot erwähnt wird.
Nach Akonitin und Colchicin sah Jolyet (Ferne t) einen Tremor bei
Tieren und Damourette und Pelvet nach Cicutin und zwar (nach Fernet)
dann, als die Lähmung der Glieder begann und als die Beweglichkeit wieder¬
kehrte.
Bei Berührung des Veratrins mit einem motorischen Nerven des Frosches
sah Joteyko einen unregelmäßigen, etwa eine halbe Stunde dauernden Tremor
des ganzen Muskels. Lewin führt ein Zittern der halbgelähmten Glieder neben
zuckenden Bewegungen nach interner Verabreichung an.
Auch Faba Calabari können nach Watson Zittern erregen (Fernet).
Nach der Injektion von Pilokarpin sah HoraSd’ovsk^ einen Tremor,
der eine Stunde dauerte und von der Intention unabhängig war.
NachKopaiva wurde Zittern vonMöbius, nach Kampfer von Latteux
gesehen und von Lewin als Vorspiel von Krämpfen angeführt.
Bei der Ergotinvergif tung erwähnt Fernet einen Tremor bei der kon¬
vulsiven Form. Latteux bemerkt, daß der beobachtete Tremor „nichts Be¬
sonderes“ geboten habe.
Bei der Pellagra ist das Zittern eine häufige Erscheinung; es ähnelt dem
Zittern der alten Leute, wie aus der Beschreibung Casals (die Kranken haben
einen schwankenden Gang und ihr Kopf zittert wie das Schilfrohr im Winde —
daher der Name mal de la rosa; zit. nach Latteux) und aus der Arbeit des
Alpago Novello über vorzeitiges Senium bei Pellagrakranken hervorgeht.
Nach dem Genüsse von Haschisch beschrieb Grimaux den Tremor beim
Menschen als „tremblements saccades des membres“ (zit. Fernet aus der
Th6se von Villard 1872). Voisin und Liouville erzeugten bei Tieren sowohl
in der akuten als auch in der chronischen Haschischvergiftung Gliederzittem
Das Zittern infolge von Vergiftung.
53
mit Inkoordination des hinteren Körperteils (Fernet). Dejerine behauptet,
daß eher unregelmäßige Krämpfe Vorkommen.
Nach giftigen Schwämmen führt Latteux unter den Nervenerschei¬
nungen, die auf die Gastrointestinalsymptome folgen, Gliederzittem an und fügt
hinzu, daß dieses besonders nach der Vergiftung mit dem Fliegenschwamm vor¬
kommt. Orfila erzeugte beim Hunde mit drei Fliegenschwämmen Tremor der
Extremitäten neben Dyspnoe, Stupor und Zittern des ganzen Körpers.
DerNebennierenextrakt erzeugt bei der Opotherapie einen Tremor, und
zwar der oberen Extremitäten, speziell der Hände und der Finger, der auch
auf die Lippen und auf die Zunge übergehen kann, ein kleiner, regelmäßiger,
gleichmäßiger Tremor von 6—7 Wellen in der Sekunde, der bei statischer Inner¬
vation am deutlichsten wird und in schwereren Fällen das Schreiben und Essen
unmöglich machen kann. Boinet publizierte 1900 und 1909 im ganzen acht
derartige Fälle. Der Tremor entstand nach Injektionen des Glyzerinextraktes
der Nebennieren vom Kalb und zwar dauerte er anfangs nach jeder Injektion
etwa 1 y 2 Stunden, später war er dauernd vorhanden. Auch nach der internen
Darreichung der rohen Kalbsnebenniere entstand ein Zittern nach jedesmaligem
Genuß (1900, 4. Fall) und ein konstanter Tremor neben unwillkürlichen Be¬
wegungen und schmerzhaften Krämpfen, allgemeiner Unruhe, schreckhaften
Träumen nach großen, oft wiederholten Dosen (1260 g binnen zwei Monaten
im 2. Falle des Jahres 1909) und nach interner Verabreichung einer l°/oo^ en
Adrenalinlösung. Boinet zitiert die Versuche Livons, der nach der Injektion
des Nebennierenextraktes bei Kaninchen ein universelles Zittern beobachtete.
Ich selbst sah einen analogen Tremor in zwei Fällen von orthotischer
Albuminurie nach Injektionen einer l°/oo^ en Suprareninlösung (Meister,
Lucius, Höchst a. M.):
1. Fall: Ich injizierte 0,5 qcm Suprarenin subkutan; es entstanden keine
auffallenden Veränderungen; nach einer Stunde injizierte ich 0,75 qcm; fünf
Minuten später bekam der Kranke Zittern der Hände, klagte nach 15 Minuten
über heftiges Klopfen im Schädel, hatte das Gefühl als ob der Kopf bersten
sollte und zeigte einen groben Tremor der oberen Extremitäten und ein Zittern
des ganzen Körpers. Eine Stunde nach der Injektion war das Zittern noch vor¬
handen und erst nach zwei Stunden verschwanden die Symptome. Zugleich
stieg der Blutdruck von 85 mm auf 100 mm und die Pulszahl von 84 auf 124.
2. Fall: Nach der Injektion von 0,5 qcm Suprarenin entstand keine Verände¬
rung; nach einer Stunde wurden 0,75 qcm injiziert; sofort trat Tremor der Hände,
Kribbeln im Kopfe, Blässe der Haut auf ; nach fünf Minuten gab der Kranke
das Gefühl von Zittern des ganzen Körpers an; % Stunde nach der Injektion
verschwanden die subjektiven Empfindungen, aber der Tremor der oberen und
unteren Extremitäten dauerte fort und behinderte das Gehen; nach zwei Stunden
verschwand das Zittern.
Leider war ich hierbei mit der wiederholten Blutdruckmessung, der Puls¬
zählung und Harnuntersuchung so sehr beschäftigt, daß ich die Eigentümlich¬
keiten des Zittern nicht genau beobachten konnte; eine Wiederholung der Injek¬
tionen zu Studienzwecken wage ich nicht vorzunehmen.
Nach der internen Darreichung von 25—30 Tropfen einer l%oig erl Adrenalin¬
lösung (Parke Dawis in London) entstanden in zwei weiteren Fällen keine Ver¬
änderungen, auch keine subjektiven Erscheinungen. (Auch Boi net sagt in
54
Erster Teil.
seiner ersten Arbeit, daß nach Adrenalin kein Zittern entsteht, aber in der
zweiten Arbeit zitiert er bereits zwei Fälle von Zittern auch nach Adrenalin.)
22. Nach größeren Gaben der Schilddrüse wurde Tremor wiederholt be¬
obachtet. Bei den bekannt gewordenen Fällen findet sich nur die Angabe, es
sei ein Tremor wie beim Basedow (Boinet, Nothnagel) oder ein allgemeines,
starkes Zittern entstanden, das das Gehen unmöglich machte; aber näher
wurde dieses Zittern nicht studiert.
Fig. 37.
Boinet zitiert den Fall Nothnagels aus dem Jahre 1888, in welchem
der fettsüchtige Kranke binnen fünf Wochen 1000 Tabletten nahm und alle
Symptome der Basedowschen Krankheit zeigte, die in der Abstinenz ver¬
schwanden, ferner den Fall Behrings aus dem Jahre 1898, in welchem der
Kranke nach exzessiven Dosen ein universelles Zittern des ganzen Körpers
bekam, und fügt einen eigenen Fall an, in welchem ein Pharmazeut gegen Psoriasis
frische Schilddrüse und zwar sechs Stück täglich aß. Es stellte sich bei ihm
das reine Bild der Basedowschen Krankheit ein, das bei Abstinenz nach einigen
Wochen verschwand.
Ich selbst beobachtete einen Fall, in welchem ich den Tremor graphisch
auf nehmen konnte.
Fig. 38.
Es handelte sich um ein 35jähriges Mädchen, das eine interessante Affektion
der Haut und des Unterhautbindegewebes, speziell eine Fettansammlung in der
unteren Körperhälfte bei fortschreitender Atrophie der Haut der oberen Hälfte,
namentlich des Gesichtes, darbot. Ich verordnete dieser Patientin am 6. November
1903 Thyreoidtabletten (Borroughs-Welcome, deren jede 0,3 g frische Schilddrüse
enthielt). Sie nahm täglich 2 Stück. Am 8., 15., 16., 18. und 25. November habe
ich mir ausdrücklich notiert, daß kein Zittern der Hände vorhanden war. Am
30. November begann sie 3 Tabletten zu nehmen, ohne zu zittern. Am 3. De¬
zember habe ich notiert: es scheint, daß ein leichter Tremor der Hände beginnt;
am 8. Dezember: leichter Tremor der Hände. Mitte Januar 1904 erschien sie
mit der Klage, daß ihr ganzer Körper zittere; sie zeigte einen feinen, raschen.
Zittern bei Tollwut, Urämie, Eklampsie usw.
55
regelmäßigen Tremor der Hände, den uns die am 14. Januar abgenommene
Kurve (Fig. 37) veranschaulicht.
Wir sehen einen sehr feinen, fast regelmäßigen und fast gleichmäßigen Tremor
von 9 Wellen in der Sekunde, der sich während des ganzen, etwa 60 Sekunden
dauernden Experimentes nicht ändert.
Nach einem Monat (sie nahm nur 2 Tabletten täglich) war das Zittern deut¬
licher; es wird durch die am 18. Februar 1904 aufgenommenen Kurven (Fig. 38)
veranschaulicht. Wir sehen ein zartes, bald ganz regelmäßiges und fast gleich¬
mäßiges, bald nicht ganz regelmäßes und nicht ganz gleichmäßiges Zittern, das
sich während der ganzen Untersuchungsdauer (5 X 20 Sekunden) nicht wesentlich
änderte und die große Geschwindigkeit von 10—12 Wellen in der Sekunde dauernd
beibehielt.
Nach Verlauf eines weiteren Monats zeichnete ich das Zittern neuerdings
und dieses veranschaulichen uns die am 17. März 1904 aufgenommenen Kurven
(Fig. 39). Auch hier bleibt der Tremor im großen und ganzen während der
ganzen Dauer des Versuches (6 x 20) Sekunden) unverändert; nur auf einigen
Kurven ist eine „Allorhythmie“ angedeutet; die Geschwindigkeit des Tremors
schwankt zwischen 10 und 12 Wellen und beträgt zumeist 12 Wellen in der Sekunde.
23. Nach größeren Dosen der Parathyreoidealpräparate (vier frische
Drüschen täglich) beobachtete Roussy unter den Vergiftungssymptomen eine
rasche Verschlimmerung der Parkinsonschen Krankheit im allgemeinen und
speziell auch eine Zunahme des Tremors.
24. Auf Autointoxikation werden gewisse, bei den V erdauungsstörungen
der Säuglinge vorkommende Tremores bezogen (Raffaeli, Fede). Dieses
nicht näher studierte Zittern wurde aus dem Grunde mit Verdauungsstörungen
in Zusammenhang gebracht, weil dasselbe verschwand, wenn die Ernährung
reguliert wurde.
Eine eigentümliche, wahrscheinlich auf Autointoxikation beruhende
Krankheit beschreibt L a 11 e u x. Es ist dies eine in Amerika als , ,m i 1 k s i c k n es s“
bezeichnete Krankheit, die der als „trembles“ be zeichneten Affektion der Kühe,
Schafe und Pferde ähnlich ist. Sie beginnt allmählich mit Arbeitsunfähigkeit
und Zittern, worauf sich Magenübligkeiten, Erbrechen, Durst, übelriechender
Atem, Schlaflosigkeit einstellen. In der Rekonvaleszenz besteht lange Zeit
eine allgemeine Schwäche mit Zittern. Als Ursache der Krankheit bezeichnet
man vorwiegend die Ernährung mit Butter und Milch.
Vielleicht gehört auch die bei uns vorkommende Hundestaupe hierher.
VI. Zittern bei Tollwut, Urämie usw.
Weniger sicher sind die Angaben über das Zittern bei der Tollwut, der
Urämie und Eklampsie, beim Diabetes, bei der Gicht und Syphilis.
56
Erster Teil.
Bei derTollwut, derUrämie undEk lamp sie wurde das Zittern in man¬
chen Fällen als Vorläufer der Krampfanfälle und manchmal auch als Symptom
der nach solchen Anfällen zurückbleibenden Erschlaffung beobachtet (Latteux).
Nichts anderes war das Zittern, das Pic bei der Urämie beschrieben hat: Ein
64 jähriger Patient mit Nierenentzündung und Atherom zeigte in einem schweren
urämischen Zustand den Cheyne-Stokesschen Atmungstypus. In dem
Momente, in welchem die Atmung zu schwinden begann, trat jedesmal ein
Zittern der Glieder, speziell der oberen Extremitäten auf, das immer stärker
wurde, in der Atempause am heftigsten war und beim Wiedereintritt der Atem-
bewegungen verschwand. Pic vergleicht dieses Zittern mit jenem bei der
Fig. 40.
.7J . . . .. v —^4(Ww
rUX.-
- - -
Fig. 41.
Schüttellähmung, fügt aber hinzu, daß es einen konvulsiven Charakter (allures
convulsives) hatte.
Beim Diabetes, bei der Gicht und beim chronischen Gelenkrheuma¬
tismus pflegt das Gliederzittern eines der Symptome der allgemeinen Emäh-
rungsschwäche zu sein. Es kann aber auch ein Begleits 3 miptom der Schwäche
der Extremitäten bei Neuritiden sein. Speziell bei der Gicht kann das Glieder¬
zittern ein Zeichen jener eigentümlichen Muskelschwäche in jenen Partien
der Extremitäten sein, die der Sitz des Gichtherdes sind (bei jenen Paresen,
auf die Thomayer bei der Gicht aufmerksam gemacht hat). — Bei der Syphilis
wird das Gliederzittern von Fournier und Breillot erwähnt. Es handelt sich
hier nicht um die herdförmigen Läsionen des Gehirns, sondern um ein Zittern
im Sekundärstadium, besonders bei Frauen, bei denen die Infektion auch in
anderer Hinsicht das Nervensystem ergriffen hat (Neuralgie, Analgesie, Palpi-
Neurosen und Psychosen.
57
tationen, hysteriforme Anfälle). Im großen und ganzen kommt es selten vor
(Breillot). Es entsteht plötzlich, ohne Prodrome, auf einer Extremität oder
auf beiden, ist entweder zart und schnell oder grob und von mittlerer Geschwindig¬
keit, oder es macht unregelmäßigen Bewegungen Platz. Gewöhnlich tritt es
nach einer stärkeren Emotion oder größerer Anstrengung auf. Es dauert 4—8
Wochen und verschwindet bei Quecksilberbehandlung. Da es auch bei Personen
beobachtet wurde, die keine Quecksilberkur durchgemacht hatten, kann es
nicht durch Quecksilber verursacht sein. Über diese ziemlich bizzaren Tremor-
formen habe ich keine eigene persönliche Erfahrung.
Wir beobachteten einen schönen Fall von Tremor der oberen Extremitäten
bei Gicht.
Es handelte sich um einen 47jährigen Mann (6679/05) mit polyartikulärer
Gicht. Nach dem Verschwinden der größten Schmerzen und der Unbeweglich¬
keit des Körpers zeigten die gestreckten Oberextremitäten ein grobes, rhythmisches
Zittern, das sich durch den Willen nicht unterdrücken ließ, bei Intention stärker
wurde und im Ruhezustände, sowie in der bei der Untersuchung auf Schüttelläh¬
mung üblichen Position vollständig verschwand. Der Patient war kein Potator,
war früher stets gesund und hatte normale Reflexe. Die zerviko-brachialen Ge¬
flechte waren empfindlich, die Muskelkraft war geschwächt. Aus den Kurven
ersehen wir, daß das Zittern eine Geschwindigkeit von 7—9 Wellen, bei gröberen
Schwankungen eine solche von 5—6 Wellen in der Sekunde besaß. (Fig. 40, 41.)
Einen Tremor der oberen Extremitäten, speziell der linken, sahen wir ferner
in einem Falle von ausgebreiteter ankylosierender Arthritis deformans bei einem
33jährigen Manne (1215/04). — Es handelte sich um einen regelmäßigen Tremor
mit 9 Wellen in der Sekunde, der sich periodisch verstärkte (Fig. 42).
VII. Neurosen und Psychosen.
1. Nervosismus. Der Tremor, hauptsächlich der Tremor der Hände,
verbunden mit Unruhe der Gesichtsmuskulatur (speziell der Augenlider) begleitet
vielleicht alle sogenannten Neurosen, von der einfachen Neurasthenie und ein¬
fachen Hysterie bis zu den bizarren post traumatischen Syndromen und vielleicht
auch alle sogenannten funktionellen Psychosen.
Auch die einfache angeborene Prädisposition auf Grund einer neuro-
pathologischen Heredität ist ein geeigneter Boden zur Entstehung des Tremors
durch Emotion, Adynamie, Intoxikation und es scheint, daß die krankhafte
Prädisposition des Zentralnervensystems bei den verschiedenen Neurosen und
Psychosen als die gemeinsame Ursache der Disposition zum Tremor und des
Tremors überhaupt zu betrachten ist.
58
Erster Teil.
Ein Beispiel des Zitterns bei einfachem Nervosismus ist das durch eine
Serie von Kurven veranschaulichte Zittern meines Patienten R.: ein regel¬
mäßiges, leicht ungleichmäßiges Zittern von 10—10,5 Wellen in der Sekunde,
das rechts deutlicher war und bei Intention unverändert blieb (Fig. 43).
2. Bei Neurasthenikern finden wir ein Zittern der Hände sehr häufig,
nach Pitres in 85% (zit. Lamacq), nach Severin in 88% der Fälle. Es handelt
sich um einen zarten, schnellen, regelmäßigen Tremor der Hände bei der statischen
Innervation, besonders bei leichter Muskelspannung, der 9—11 Wellen in der
Sekunde (Lewy-Dorn, Dana), manchmal auch weniger aufweist (nach Peter-
son 7,5), im Ruhezustände verschwindet, durch Bewegungen hervorgerufen,
durch Emotion und manchmal auch bei intendierten Bewegungen gesteigert
und dann langsamer wird (Dejerine, 5—7 in der Sekunde). Er geht mit
Tremor der Lider und Zuckungen der M. orbiculares oculi und interossei I ein¬
her. (Oppenheim, der von fibrillärem Flimmern spricht [?]).
3. Raymond und Jan et beschrieben einen Fall von Tremor, der dem
bei der Hysterie vorkommenden Tremor sehr ähnlich war; doch konnten sie
bei dem betreffenden Kranken nur eine Psychasthenie, keineswegs eine
Hysterie diagnostizieren.
Fig. 43.
Der 48 jährige Kranke zitterte unmäßig am ganzen Körper und am Kopfe,
rhythmisch, 8mal in der Sekunde, unaufhörlich, sowohl im Ruhezustände, als auch
bei Bewegungen (das Zittern hinderte ihn beim Essen und Schreiben); das Gesicht
war einigermaßen starr, aber infolge von Angst; sonst bestanden keinerlei Symptome
der Schüttellähmung, an die das Zittern im ersten Moment erinnerte. Es handelte
sich um einen seit der Jugend furchtsamen, unruhigen, traurigen, imentschlossenen,
abgespannten Menschen. Bis zum 48. Lebensjahre hatte er nicht koitiert. Als er
40 Jahre alt war, starb seine Mutter, an deren Röcken er stets gehangen war; gleich
darauf bekam er Agoraphobie, Basophobie und etwas später das Zittern.
(Bei einer solchen Psychasthenie beschrieb Meige außer dem Zittern
auch eine typische Tremophobie mit Charakteren, die jenen bei der Ereutophobie
ganz analog waren, an der übrigens jene Patientin ebenfalls litt. Eine ähnliche
Tremophobie beschrieb Regis bei Friseuren als sogenannten trac de coiffeurs.)
4. Bei den verschiedensten Psychosen beobachtet man im Affekt, bei Be¬
wegungen ein schwaches, schnelles Zittern der Hände (Affektzittem nach Ziehen)
und zwar in gleicherweise bei allen Psychosen (Manie, Melancholie, Paranoia —
Cristiani); bei hochgradiger Aufregung (Cristiani), im Angstaffekt (Ziehen)
generalisiert es sich, wird ungleich und nicht ganz rhythmisch (Cristiani). Das
Zittern im Zustande der Erschöpfung und in analogen oder durch diese bedingten
Psychosen ist jenem im Zustande der Angst, des Zorns, der freudigen Erwartung
auf tretenden Zittern ganz gleich (Ziehen: Erschöpf ungszittem); im Zustande
hochgradiger Depression beobachtete Cristiani ein langsameres, regelmäßiges
und schwächeres Zittern.
Neurosen und Psychosen.
59
Bei induzierten Psychosen ist das Zittern analog jenem der Grundkrank¬
heit; so bei Psychosen im Verlaufe der disseminierten Sklerose, des Basedow,
des Parkinson, bei Alkohol-, Morphium-, Pellagrapsychosen (Ziehen).
Bei senilen Psychosen beobachtet man manchmal einen ,,senilen“ Tremor,
bei epileptischen Psychosen einen dem alkoholischen gleichen und dem bei
einfacher Epilepsie vorkommenden Zittern analogen Tremor (Ziehen).
Bei der Stupidität kommt manchmal bei statischer Innervation und bei
Bewegungen ein Tremor vor (Ziehen — Intentionszittern [?]).
5. Bei Epileptikern beobachtet man den Tremor nach Pitres in 20%
der Fälle (zit. Lamacq). Im allgemeinen kann man drei Typen unterscheiden:
erstens im Beginne des Anfalls, zweitens nach dem Anfall, speziell wenn derselbe
groß war, und drittens im ruhigen Zwischenstadium.
a) Im ruhigen Zwischenstadium findet sich bei vielen Epileptikern unter
anderen motorischen Störungen (Turner) ein feines, rasches Zittern der Hände
wie bei Neurasthenikern (Reynolds, Turner), das gelegentlich durch eine aus¬
gesprochene Allorhythmie charakterisiert ist (die daher Leupold unter Außer¬
achtlassung der früheren Erfahrungen über Allorythmie als ein pathognomisches
Zeichen des Zitterns der Epileptiker ansehen wollte). Binswanger sagt ganz
allgemein, man beobachte Symptome, die jenen bei der motorischen Form der
Neurasthenie analog seien.
Ich zeichnete bei einem Epileptiker meiner Klientel einen derartigen
Tremor im ruhigen Zwischenstadium. Es handelte sich um einen Kranken,
der durchschnittlich einmal in 6—7 Tagen 1—2 große Anfälle hatte. Wir er¬
sehen aus den beigelegten Kurven die Charaktere dieses Tremors (Fig. 44).
Auf den Kurven I. und II. sehen wir ein schwaches, feines, regelmäßiges
und gleichmäßiges Zittern von 8—9 Wellen in der Sekunde, auf den Kurven III.
60
Erster Teil.
und IV. ein solches von 10 Wellen in der Sekunde. Auf der Kurve V. sehen wir
den Einfluß einer Muskelanstrengung (Drücken des Dynamometers) der anderen
Hand: das Zittern ist gröber, rhythmisch, etwas ungleich, hat 10—11 Wellen in
der Sekunde; die Kurve X zeigt ein ganz grobes Zittern.
Die Kurven VI. und VII. veranschaulichen den Tremor bei dem subjektiven
Bestreben, denselben zu unterdrücken: derselbe wird schwächer, feiner, hört aber
nicht ganz auf. (Das Fehlen des Tremors an einzelnen Stellen ist durch einen Fehler
des Apparates bedingt.)
b) Im Beginne des epileptischen Anfalls und zwar im Beginne der Periode
der klonischen Krämpfe beobachtet man häufig einen schnellen, groben Tremor
einer Hand, seltener beider Hände (Fernet); auch bei den tonischen Krämpfen
tritt ein solcher Tremor auf (Gowers); ferner beobachtet man denselben gegen
das Ende des Anfalls nach dem Abklingen der klonischen Krämpfe (Före)
beim Übergang in Muskelerschlaffung (Binswanger). Ein solches Zittern
im Anfall findet sich auch bei der Jacksonschen Epilepsie bei herdförmigen
Veränderungen im Gehirn und bei Myoklonie (Unverricht).
c) Nach den Anfällen wurde noch ein eigentümliches Zittern der Extremi¬
täten, speziell der unteren, beobachtet, das den Gang derart behindert, daß der¬
selbe saltatorisch erscheint; hierbei sind die Reflexe gesteigert und auch die
Sprache kann skandierend sein (Breillot, Dejerine, Ziehen, Pascheies).
Binswanger beobachtete nach dem Anfalle Intentionszittem.
d) In seltenen Fällen ist der Tremor das einzige motorische Symptom des
epileptischen Anfalls, der nur von einer ganz kurz dauernden Bewußtseinstrübung
begleitet wird. Gewöhnlich ist der Tremor lokal beschränkt auf die Musku¬
latur des Rumpfes, des Kinns, der Lider oder einer oder mehrerer Extremi¬
täten (F6r6, Laube, Gowers). F6re beobachtete sogar Zitteranfälle, die
teils allgemein, teils auf den M. extensor cruris beschränkt waren, die ganze
Stunden und Tage ohne Bewußtseinsstörung dauerten und die er für Äquivalente
der epileptischen Krämpfe ansah. Derselben Ansicht sind auch Dejerine
und Gowers, deren Beobachtungen von Binswanger angeführt werden.
6. Hysterie.
Noch bunter ist die Symptomatologie des Zitterns bei Hysterie. Hier
ist dasselbe bald eine bedeutungslose, vorübergehende Erscheinung, bald be¬
herrscht es wiederum das klinische Bild, indem es manchmal sogar das einzige
Symptom dieser Krankheit darstellt. Wir sprechen vom hysterischen Zittern
auch dann, wenn wir zwar die Hysterie aus anderen Symptomen nicht nach-
weisen können, aber dennoch andeuten wollen, daß der beobachtete Tremor
durch keine andere nachweisbare Affektion verursacht ist.
Die äußere Form des Zitterns ist in ihren Details fast in jedem einzelnen
Falle verschieden; trotzdem lassen sich über alle diese Formen einige allgemeine
Bemerkungen machen.
Abgesehen von dem feinen Zittern bei statischer Innervation ist das soge¬
nannte hysterische Zittern nicht gerade eine häufige Erscheinung bei der ein¬
fachen Hysterie; etwas häufiger findet es sich bei den traumatischen Formen.
Es beginnt selten allmählich und unauffällig, sondern zumeist plötzlich, entweder
nach einem hysterischen Anfall oder nach einem physischen oder psychischen
Trauma, zu welchem man vom psychologischen Standpunkt auch akute inter¬
kurrente Krankheiten rechnen muß. Es ist fast stets intermittierend, d. h.
es verschwindet ohne jede bekannte Ursache auf Minuten, Stunden, Tage oder
Neurosen und Psychosen.
61
auch Wochen, um dann in der früheren oder einer veränderten Form wieder zu
erscheinen. Am häufigsten ist es an den Oberextremitäten vorhanden, weniger
häufig, aber entschieden häufiger als bei anderen Formen des Zitterns mit Aus¬
nahme der Schüttellähmung, an den Unterextremitäten. Mit Vorliebe spielt
es sich in den Metakarpalgelenken ab (Gajkiewicz). Am Kopfe ist es
selten (See). Charcot behauptete, daß es bei Männern häufiger vorkomme.
Renzi meint, es überwiege auf der linken Körperhälfte; Gowers erblickt sein
charakteristisches Zeichen darin, daß es bei demselben Patienten zu verschiedenen
Zeiten verschieden ist, während Gajkiewicz behauptet, daß trotz seiner Ver¬
änderlichkeit die Amplitude der Wellen nicht schwankt. Alle diese Angaben
gelten stets nur für einzelne Formen und besitzen nicht die Bedeutung allgemeiner
Regeln. Es steht fest, daß sich manche Zitterformen wenig ändern (das soge¬
nannte vibratorische Zittern), während bei anderen eine bedeutende Veränder¬
lichkeit beobachtet wird (monoplegischer Tremor, Pseudoparalysis agitans u. a.).
Das Zittern ist bei Hysterie oft das einzige Symptom des hysterischen Anfalls
(attaque du tremblement — Dutil), wobei auch eine hysterische Aura voran¬
gehen kann (unser Fall 15).
Es kann jahrelang bei unveränderter Intensität andauem und jeder Be¬
handlung trotzen, und andererseits nach geringfügigen Manipulationen ver¬
schwinden: nach Elektrisierung, Magnetisierung, nach indifferenten Medi¬
kamenten (auch nach Spermin bei Bruck), nach antiluetischer Behandlung
u. dgl. Es ist manchmal auf Befehl zum Stillstand zu bringen (unser Fall 15);
manche Patienten können es durch einen ganz unbedeutenden Trik unterdrücken,
wie man dies bei den Tics beobachten kann (unser Fall 4).
Alles übrige ist bei den hysterischen Zitterformen sehr verschieden: be¬
züglich der Lokalisation ist das Zittern entweder universell oder mono- oder
paraplegisch beschränkt; bezüglich der Intensität schwankt es vom zarten
Flimmern bis zu mächtigem Schütteln, das das Gehen und Arbeiten unmöglich
macht; bezüglich der Geschwindigkeit finden sich alle Übergänge von iy 2 bis
12 Wellen in der Sekunde. Das hysterische Zittern imitiert alle Formen des
Zitterns bei organischen und unorganischen Läsionen des Nervenmuskelsystems
(Dutil); jeder nichthysterische Tremor findet seine Nachahmung im hysterischen
Tremor (Charcot), hat seinen hysterischen „Zwillingsbruder“ (sosies hysteri-
ques — Dutil).
Trotz dieser Mannigfaltigkeit lassen sich einige klinische Typen aufstellen,
die stets in konstanter Weise auftreten. Wir können daher den hysterischen
Tremor doch nur in eine Reihe klinischer Typen einteilen. Diese Einteilung
ist je nach dem Einteilungsprinzip: der Frequenz, der Lokalisation, der Ähnlich¬
keit mit bekannten Typen nichthysterischer Tremorformen bei den einzelnen
Forschem verschieden.
Auf diese Weise entstand eine Reihe von Bezeichnungen, zu deren Ver¬
ständnis eine Übersicht über die wichtigsten Klassifikationen notwendig ist.
I. Nach der Frequenz:
Pit res: Tremblement trepidatoire, vibratoire und außerdem Intentions-
zittem;
Charcot: Tremblement oscillatoire, vibratoire und außerdem Intentions-
zittem;
62
Erster Teil.
Dutil: Langsamer Tremor, Tremor von mittlerer Schnelligkeit, vibratoire
und polymorph; der Tremor von mittlerer Schnelligkeit ist entweder
ein partieller oder ein universeller; der partielle Tremor ist entweder
ein intermittierender Intentionstremor (type Rendu) oder ein para-
plegischer Tremor oder ein reiner Intentionstremor;
Oppenheim: Langsamer Tremor und Tremor von mittlerer Schnellig¬
keit, der häufig ein Intentionstremor ist.
II. Nach der Form:
Grasset: Wie bei der Parkinsonschen Krankheit, wie der senile Tremor,
wie bei der disseminierten Sklerose;
Boucarut: Wie bei der Parkinsonschen Krankheit, wie der merkurielle
Tremor, wie die Athetose, wie bei Sklerose;
Jamin: Wie der physiologische Tremor im Affekt, wie rhythmische koordi¬
nierte Bewegungen und wie der Tremor bei alten Arbeitern nur in
der rechten Hand;
Gowers: Zart und grob;
Huchard: Zart bei Emotion wie der alkoholische Tremor und kon¬
vulsiv.
III. Nach der Lokalisation:
Grasset: Peripher, radikulär, segmentär.
Am besten fühlt man die Unvollständigkeit aller dieser Klassifikationen
nach bestimmten Einteilungsprinzipien dann, wenn man einen klinischen Fall
von hysterischem Zittern vor sich hat. Ich halte dafür, daß es für klinische
Zwecke am vorteilhaftesten ist, die beobachteten Fälle nach dem auffallendsten
Zeichen des Zitterns in mehrere Gruppen einzuteilen ohne Rücksicht darauf,
ob irgend ein Zeichen einer anderen Gruppe als imbedeutendes Epiphänomen
vorhanden ist, und ohne Rücksicht darauf, daß sich diese Einteilung nicht nach
einem einheitlichen Einteilungsprinzip richtet.
Solche typische Gruppen sind folgende:
a) Ein zarter Tremor bei statischer Innervation, vorwiegend an den Händen
(Tremor bei Nervosismus überhaupt);
b) vibratorisches Zittern, ein sehr deutücher Tremor des ganzen Körpers
im Ruhezustände und bei Bewegungen;
c) Pseudoparalysis agitans hysterica und Händezittern im Ruhezustände
überhaupt;
d) monoplegischer Tremor im Ruhezustände (am häufigsten nachTraumen);
e) paraplegischer, trepidatorischer Tremor einer Unterextremität oder
häufiger beider Unterextremitäten, ähnlich dem Fußklonus;
f) hysterisches Intentionszittern; an den Händen ähnlich jenem bei der
Herdsklerose. Pseudospastische Paraparese Fürstner-Nonne, Abasie tr6pi-
dante, saltatoire.
g) polymorpher und bizarrer hysterischer Tremor.
Diese einzelnen Gruppen wollen wir auf Grundlage der bisherigen Literatur
und unserer eigenen zahlreichen Krankheitsgeschichten besprechen und am
Schlüsse einige Bemerkungen über das „traumatische Zittern“ und über „pseudo¬
hysterischen Tremor“ hinzufügen.
Neurosen und Psychosen.
63
a) Zarter Tremor der Hände, speziell bei statischer Innervation.
Er findet sich bei hysterischen Personen sehr häufig vor und es gilt von
ihm dasselbe, was wir über den Tremor bei mit Neurosen überhaupt behafteten
Menschen gesagt haben, da er bei der Hysterie keinen besonderen Charakter
besitzt. Er beginnt allmählich, so daß er dem Kranken gar nicht zum Bewußt¬
sein kommt, ist im Ruhezustände nicht sichtbar, ist gleichmäßig, zart, schnell
und besitzt 8—9 Wellen in der Sekunde (C har cot); er stört nicht gröbere Be¬
wegungen (Charcot), ist nur bei sehr feinen Verrichtungen hinderlich (Pitres),
oder hindert überhaupt nicht. Durch Aufregung, Aufmerksamkeit, Beobachtung,
hysterische Anfälle wird er gesteigert und geht dann in die vibratorische Form
über. Im übrigen besitzt er kein für Hysterie charakteristisches Merkmal.
Hierher gehört ein Teil der vibratorischen Zitterformen des Pitresschen Systems.
b) Hysterisches vibratorisches Zittern.
Dieses ist ein mehr oder weniger universelles Zittern des ganzen Körpers,
eil} schneller und bei statischer Innervation, bei Intention und im Ruhezustände
sichtbarer Tremor, den die französischen Autoren als tremblement vibratoire
bezeichnen. Es handelt sich hier um kleine, regelmäßige Bewegungen, be¬
sonders (wenn auch nicht ausschließlich) der Hände mit einer Frequenz von 8
(Pitres), 8—9 (Charcot), aber auch von 12—13 (Dutil) Schwingungen in
der Sekunde, die nur bei sehr feinen Bewegungen störend wirken. Er beginnt
nach einem hysterischen Anfall, nach einem Streit, nach einem Schreck und
überhaupt nach heftigen Aufregungen und dauert anfangs nur einige Stunden
nach dem Anfall (Dutil), kann aber auch Tage, Wochen und sogar Jahre
(7 Jahre in einem Falle von Pitres) dauern. Bei langer Dauer ist er im Ruhe¬
zustände klein und auf die Hände beschränkt, wird aber durch hysterische
Anfälle, Emotionen oder Druck auf eine hysterogene Zone (Dutil) verstärkt;
in diesem Falle kann der Kranke nur mit Anstrengung schreiben, Zigaretten
drehen oder gehen und der Gang ist außerdem durch Einknicken der Knie
erschwert (Dutil). Er ähnelt dem Zittern bei der Basedowschen Krankheit,
dem alkoholischen Tremor und dem Tremor bei der progressiven Paralyse.
Er kann nach einer Aura als „attaque de tremblement“ entstehen und sich nach
mehreren Anfällen stabilisieren. Vollständig verschwindet er nur im Schlafe.
Pitres zitiert die Fälle von Trousseau, Ger. See, Rigal; er selbst hat einen
Fall publiziert und Dutil führt unter seinen ,,mannigfaltigen Tremorformen“
einen klassischen Fall an (Obs. XIII):
Es handelte sich um eine 23jährige Patientin, die im zweiten Lebensjahre
an Fraisen, bis zum 20. Lebensjahre an Enuresis litt, vor einem Jahre einen plötz¬
lichen Ohnmachtsfall durchmachte und seit dieser Zeit an Anfällen von Schwere
auf der Brust leidet, die eine halbe Stunde dauern. Als sie einmal in Gesellschaft
ihrer Mutter über die Straße ging, wurde die Mutter von einem fremden Hund
angefallen. Die Patientin erschrak und zitterte am ganzen Körper; das Zittern
verschwand nach einer Stunde. Am Abend vor dem Einschlafen überfiel sie ein
Gefühl von Angst, sie weinte und zitterte eine Stunde lang wie im Schüttelfrost.
Dann schlief sie ein und fühlte sich am Morgen gesund. Als sie aber mittags
die Stiege hinabging, begannen ihre Füße so stark zu zittern, daß sie sich nieder¬
legen mußte. Seit dieser Zeit hat sie ein fortwährendes Zittern des Kopfes, wenn
sie nicht liegt; an den Füßen hat sie ein fortwährendes Zittern in Flexion und Ex-
tension der Unterextremitäten im Hüft- und Kniegelenk; auch an den Händen
zittert sie. Im Sitzen verschwindet manchmal das Zittern der Füße. Manchmal
64
Erster Teil.
bringt der Versuch, den Fußklonus auszulösen, das Zittern der Füße zum Still¬
stand. An den Händen besteht das Zittern bald im Ruhezustände und verschwindet
bei Bewegungen, bald besteht es wiederum nur bei Bewegungen. Oft verschwindet
das Zittern für einige Sekunden ohne jede Ursache. Dieser Tremor hat sich
-während der ganzen dreimonatigen Beobachtungsdauer nicht geändert. Die
Patellarreflexe waren gesteigert. Fußklonus war nicht vorhanden. Es bestanden
zahlreiche hysterische Stigmata.
Fig. 45.
Auch bei Kindern finden sich, wenn auch selten, Fälle von vibratorischem
Zittern verzeichnet (zit. Hüssy).
Baumei sah bei einem 13jährigen Knaben einen Tremor beider Hände,
der nach einem Sturz auf den Arm begann, nur im Schlafe verschwand und in
dieser Weise 3% Jahre dauerte.
Aemmer beschrieb eine Zitterepidemie unter Schulkindern in Basel (1893).
Die Krankheit kam im Sommer 1891 in der Mädchenbürgerschule zum Aus¬
bruch. Sie befiel nach den Ferien allmählich 60 zumeist 12—14 Jahre alte Mädchen
und verschwand langsam gegen Ende des Schuljahrs. In einem Nachtrag zu seiner
$ 46
- . — •«KWIWWIW'’ --»«mv.**»- -".MM** mnxinw.W«"* wv.
---
Fig. 46.
Arbeit berichtet aber der Autor, daß die Epidemie im Jahre 1893 in derselben Schule
neuerdings ausgebrochen sei imd 30 Schülerinnen befallen habe. Zuerst erkrankte
ein Mädchen aus einer neuropathischen Familie; als dasselbe abends Bier holte,
wurde es nämlich von einem Manne verfolgt; erschrocken lief es nach Hause und be¬
kam hier einen Anfall von universellem Zittern aller Extremitäten, das etwa eine
Stunde dauerte. Dieser Anfall wiederholte sich am nächsten Tage in der Schule
und auch an den folgenden Tagen. Bald bekam ihre Nachbarin ähnliche Anfälle und
nach einem Monat begann einmal nach dem Turnunterrichte eine ganze Reihe von
Mädchen zu zittern. Seit dieser Zeit breitete sich die Epidemie in derselben Klasse
Neurosen und Psychosen.
65
zuerst unter den nächsten Nachbarinnen und dann in konzentrischen Kreisen aus.
Es handelte sich um Anfälle eines allmählich — manchmal nach einer vorangehenden
Aura: Kribbeln in den ergriffenen Gliedern — beginnenden, rhythmischen Tremors
von 5—6 Wellen in der Sekunde, der entweder nur eine Oberextremität und dann
gewöhnlich die rechte oder mehrere Extremitäten und auch den Kopf und den
Rumpf ergriff. Das Zittern war sowohl im Ruhezustände, als auch bei Intention
vorhanden und störte in keiner Weise die intendierten Bewegungen (Schreiben,
Handarbeiten). Die Anfälle dauerten einige Minuten bis zu einer Stunde und w r aren
bei demselben Mädchen stets gleich. Nachher waren die Kinder matt. Die Anfälle
Fig. 47 b.
Fig. 47 c.
traten nur in der Schule auf und ließen sich oft durch ein strenges Wort abkürzen
oder zum Verschwinden bringen.
Der Autor bemerkt, daß vor ihm nicht weniger als 14 Vorfälle von epi¬
demischer ,,Chorea“ bei jungen Leuten beschrieben wurden, bei denen es sich
fast ausschließlich um hysterische Erscheinungen und oft um einen analogen
Tremor gehandelt habe.
Ich habe einen analogen Tremor bei mehreren Fällen abgenommen:
1. Bei einer jungen Dame aus der Privatklientel des Koll. Sieber, die an
großen hysterischen Anfällen und außerdem an einem raschen Tremor der oberen
Extremitäten litt, der weder durch Intention (II), noch beim Zählen (III), noch
beim Drücken des Dynamometers, noch durch das subjektive Bestreben, das Zittern
Pelnät, Zittern. 5
66
Erster Teil.
zu unterdrücken (IV), geändert wurde. Er war schnell, 11 in der Sekunde, regel¬
mäßig, an der rechten Hand gleich, an der linken etwas ungleich (Fig. 45).
2. Bei einer 36jährigen Frau, die außer verschiedenen subjektiven, unange¬
nehmen Empfindungen an der linken Hand einen zarten, kaum erkennbaren Tremor
wie bei Nervosismus überhaupt, an der rechten Hand und am rechten Fuß aber im
Ruhezustände einen ganz deutlichen Tremor hatte, der sich bei statischer Innervation
wesentlich verstärkte und bei groben Bewegungen schwächer wurde. Auf der
Kurve sieht man einerseits den zarten, leicht ungleichen Tremor der linken Hand (I),
andererseits den groben Tremor der rechten Hand im Ruhezustände (II), den noch
gröberen bei statischer Innervation (III), der aber durchwegs regelmäßig, gleich
ist und 7 Wellen in der Sekunde besitzt (Fig. 46).
3. Bei einer 32jährigen Frau mit hysterischen Kontrakturen, mit Aphonie
und simuliertem Fieber zeichnete ich ein grobes Zittern der extendierten Hand,
das bei Intention noch größer wurde und eine gleichmäßige Geschwindigkeit von
10—11 Wellen in der Sekunde besaß (Fig. 47a, b, c).
4. Tetanie, Pseudotetanie, Tremor der Hände im Ruhezustände,
stets stärker auf einer Seite. Tric zur Einstellung des Tremors.
0 varalgie.
5. A., 52 Jahre alt, Nr. 3536/05, aus gesunder Familie stammend. Im 34.
Lebensjahre arbeitete sie im schwangeren Zustande im Schnee und bekam der
Tetanie ähnliche Anfälle mit Diplopie und Polyopie. Die Anfälle wiederholten sich
und zwar auch noch zwei Monate nach der Entbindung. Dann begann ihr Seh¬
vermögen zu schwinden, weshalb sie die Augenklinik auf suchte, von wo sie wegen
ihres Zitterns der internen Klinik zugewiesen wurde. Hier gingen alle Symptome
binnen 10 Tagen zurück, nur das undeutliche Sehen blieb noch 6 Jahre bestehen.
Ein halbes Jahr später kam sie wiederum in die Hoffnung und bekam neuerdings
analoge Krämpfe mit Kribbeln in den Extremitäten; nach der Entbindung ver¬
schwanden dieselben, kehrten aber seither hier und da im Frühjahr wieder zurück.
Das Zittern trat aber nicht wieder auf. Nur manchmal empfand sie im Sitzen auf
einem Stuhle Kribbeln in einem Fuße, der zu hüpfen begann; beim Aufstehen ver¬
schwand dies alles. Heuer zessierten die Menses. Da ihr ein Arzt gesagt hatte, sie
werde nach dem Auf hören der Menstruation die Krämpfe wieder bekommen, lebte
sie in einer fortwährenden Angst; seit Weihnachten sitzt sie den ganzen Januar und
Februar im Bett und erwartet die Krämpfe. In der Tat traten die Krämpfe wieder
auf, waren aber nur schwach und nur in den Fingern vorhanden. Am 1. März be¬
kam sie einen großen, schmerzhaften Anfall im ganzen Körper, der sich am nächsten
Tage wiederholte, weshalb sich die Patientin ins Krankenhaus überführen ließ.
Unterwegs begann sie zu zittern. — In der Klinik wurde konstatiert, daß weder
organische Störungen, noch eine Läsion des Zentralnervensystems besteht. Eine
beiderseitige Katarakta verhinderte die Untersuchung des Augeninnem. Das
Charcotsche und Trousseausche Symptom war positiv. Beim Druck auf die
Art. femoralis streckt sich der Fuß und vollführt imregelmäßige Bewegungen analog
einem groben, unregelmäßigen Tremor, worauf eine Flexion im Hüft- und Knie¬
gelenk auftritt und die Patientin sich wehklagend zu winden und herumzuwälzen
beginnt. Noch leichter läßt sich dies durch Druck auf die Ovarialgegend auslösen.
Die oberen Extremitäten verfallen zeitweise spontan, namentlich wenn die Kranke
beobachtet wird, in grobe Flexionen und Extensionen, sowie in Adduktionen und
Abduktionen im Karpalgelenk. Dasselbe Zittern entsteht manchmal gleich im Be¬
ginne eines Druckes auf die zerviko-brachialen oder auf die Armgeflechte. Durch
den Willen kann die Patientin dieses Zittern nicht zum Stillstand bringen, wohl aber
gelingt ihr dies, wenn sie die zitternde Hand mit der anderen Hand festhält oder an
das Knie andrückt. — Am Körper konstatierte man unsichere Inseln von Unempfind¬
lichkeit. In der Klinik bekam die Patientin nur einen einzigen ostentativ geschmück¬
ten Anfall mit Wehklagen und Stöhnen bei einer Visite. Nach vier Tagen verließ
sie die Klinik, indem sie meinte, sie werde zu Hause „bessere Mittel anwenden.“
Die beigelegte Kurve veranschaulicht ihren Tremor: grobe, nicht ganz
regelmäßige Oszillationen, 6—7 in der Sekunde, die stellenweise durch eine leichte
Neurosen und Psychosen.
67
Unregelmäßigkeit unterbrochen sind und durch Intention kleiner werden. Manchmal
sind sie auch spontan klein (Fig. 48).
5. Trauma. I mbezillitas. Tremor.
Nr. 4033/04. Kr. M., 42jähriger, schwachsinniger Arbeiter. Im Jahre 1901
fiel ihm ein Ziegelstein auf den Kopf und betäubte ihn. Er war lange bewußtlos
und lag noch mehrere Tage in einem Dämmerzustände da. Als er aus demselben
Fig. 48.
erwachte, litt er an einem imgeheueren Schwindel, namentlich dann, wenn er aus
der Höhe blickte oder in Bewegung befindliche Gegenstände oder hohe Häuser
beobachtete. Seitdem arbeitet er nicht mehr. Der objektive Befund war 1904 bis
auf gesteigerte Reflexe negativ. Es bestanden keine Symptome einer organischen
Läsion des zentralen Nervensystems oder des rechten Ohres, auf das der Kranke
schlecht zu hören angab. Die gestreckten Oberextremitäten zitterten fein. Beim
Stehen auf den Fußspitzen oder auf einem Fuße, besonders auf dem linken, zitterte
der ganze Körper. Das Gesichtsfeld war eingeengt, namentlich links. Erbensches
b9
Fier. 49.
Symptom. Orthostatische Tachykardie. Dermographismus. Im Liegen besteht
eine beträchtliche Bradykardie, 36—46, im Stehen zählt man 64 Pulse. Auf der bei¬
liegenden Kurve sieht man im Ruhezustände einen ungleichen Tremor von etwa
8 Wellen in der Sekunde, der bei Intention gröber und regelmäßiger wird, aber den
Rhythmus von 8 Wellen in der Sekunde beibehält (Fig. 49).
6. Hysteria posttraumatica. Tremor vor vier Jahren langsam,
nunmehr schnell, im Ruhezustände und bei Intention gleich.
V. F., 51 jähriger Flößer, wurde im Jahre 1906 zwei Monate nach einem Unfall
wegen eines langsamen Zitterns der Hände in der Klinik behandelt (Fig. 53). Im
—
50
-
. .yv- -
"V'A/v-.
Fig. 50.
Jahre 1908 wurde er in der Klinik wegen eines Katarrhs des Verdauungstraktes
behandelt; diesmal findet sich in der Krankengeschichte keine Erwähnung des
5*
68
Erster Teil.
Zitterns. Im Jahre 1910 lag er wegen Beschwerden seitens der hypertrophischen
Prostata abermals in der Klinik. Jetzt fand man hysterische Stigmata und einen
Tremor beider Oberextremitäten, der links gröber war, durch den Willen nicht unter¬
drückt werden konnte, sich bei Intention nicht änderte, ziemlich regelmäßig, rhyth¬
misch, wellenförmig war und 8 Wellen in der Sekunde aufwies. Die Muskelkraft
war erhalten; es bestanden keine Symptome der Schüttellähmung oder einer orga¬
nischen Läsion des Nervensystems. (Fig. 50).
c) Tremor, im Ruhezustände ausgeprägt, vorwiegend die Ober¬
extremitäten betreffend, langsam: sogenannte Pseudoparalysis agitans
hysterica.
Es gibt seltene Fälle, in denen gewöhnlich nach einem hysterischen Anfall
oder nach einem Trauma oder nach einer Emotion ein Tremor vorwiegend der
oberen Extremitäten, zumeist der rechten, auftritt, ein grober, langsamer
Tremor mit 3—6 Wellen in der Sekunde, der sich später auch auf die Unter¬
extremitäten und auf den Kopf ausbreiten kann, namentlich bei jungen Indivi¬
duen um das 30. Lebensjahr vorkommt und sich mit hysterischen Stigmata,
tonischen Krämpfen der Extremitäten (Ormerod), kontralateraler Hemi-
chorea (Chambard) und mit einigen an die Schüttellähmung erinnernden
Symptomen: am häufigsten mit Propulsion, Lateropulsion, Starre der Extre¬
mitäten und der Gesichtsmuskulatur und mit Hitzegefühl kombiniert. Bei
genauerer Untersuchung zeigt es sich aber, daß nur eine scheinbare Propulsion
und Lateropulsion vorhanden ist, daß es sich eigentlich um Astasie-Abasie
handelt, daß die Muskelstarre schwindet, wenn sich der Kranke nicht beobachtet
fühlt (Gaussei), und daß der Tremor manchmal spontan aufhört. In jenen
Fällen, in denen die an Schüttellähmung gemahnenden Symptome am prägnan¬
testen waren, stellte es sich heraus, daß die betreffenden Kranken in der Um¬
gebung von mit wirklicher Schüttellähmung behafteten Patienten gelebt hatten
(Valentin, Gaussei, Müller). Die Zahl der ganz einwandfreien Fälle ist
nur klein; es sind dies die Fälle von Ormerod, Nicolle, Chambard, Valen¬
tine, Gaussei, Müller, Flatau und vielleicht auch die Fälle von Oppen¬
heim und Mendel. Die übrigen hierher gezählten Fälle sind nicht ganz ein¬
wandfrei, denn aus den Krankheitsgeschichten geht hervor, daß es sich um eine
Kombination der Hysterie, eventuell des hysterischen Tremors mit unent¬
wickelter Schüttellähmung gehandelt haben konnte.
Ormerod (1887) beschrieb eine 28jährige Frau, die nach einem hysterischen
Anfall einen Händetremor „wie beim Parkinson“ bekam, der 6 Monate dauerte;
sie bekam auch tonische Krämpfe in den Händen und Füßen.
Der Fall Nicolle’s, publiziert von Dutil (1891): Eine 40jährige Frau, die
eine hysterische Schwester hatte und selbst hysterische Symptome zeigte (Anästhesie
des ganzen Körpers mit Ausnahme der Hornhäute, schlaffe Paraplegie mit normalen
Reflexen, Gerichtsfeldeinschränkung, monokulare Diplopie mit beiderseitiger Achro-
matopsie) und die in der Pubertät epileptiforme Anfälle und Absenzen hatte, be¬
kam vor 5 Monaten allmählich einen Tremor der rechten Hand, der im Ruhezustände
auftrat, aus groben Flexionen und Extensionen im Handgelenk bestand, dauernd
vorhanden war, eine Frequenz von 5*4 Wellen in der Sekunde besaß und bei Be¬
wegungen gröber wurde, ohne daß sich die Frequenz änderte.
Der Fall Chambards (1881, zit. von Dutil): Eine junge Frau bekam nach
einem hysterischen Anfall linksseitige Hemichorea und in der rechten Oberextremität
einen groben, regelmäßigen, langsamen Tremor von 3 Wellen in der Sekunde, der aus
Flexion und Extenrion, Pronation und Supination des Vorderarms und aus Flexion
und Extension des Daumens bestand.
Neurosen und Psychosen.
69
Der Fall Valentins: Eine 28 jährige Frau, die aus einer nervösen Familie
stammte und deren Bruder „wegen eines gewöhnlichen hysterischen Zitterns“
den Militärdienst verließ, litt vor 7 Jahren an einer Lähmung der Gesichtsnerven;
sie wurde deswegen in einem Krankenhause behandelt, wo sie neben einer mit
Schüttellähmung behafteten Patientin lag, die sie bediente. Seit dieser Zeit zitterte
sie ebenfalls und zwar zuerst am linken, dann am rechten Fuß, am rechten Arm
und am Kopfe. Seit 5 Jahren ist das Zittern stärker. Gleichzeitig hatte sie „Retro-
pulsion“, „Lateropulsion“, Hitzegefühl und mußte fortwährend ihre Lage wechseln.
Bei der klinischen Untersuchung zeigte sie ein Zittern der Hände wie beim Parkinson,
sie saß wie bei dieser Krankheit, der Tremor spielte sich im Metakarpalgelenke ab,
änderte sich nicht durch Intention und verschwand bei vollständiger Ruhe. Auf
der Ebene konnte die Patientin wegen der „Propulsion“ nicht gehen, doch zeigte
es sich bei genauerer Untersuchung, daß sie ganz gut Stiegen steigen, auf allen Vieren
kriechen, auf einem Fuße hüpfen konnte — ohne Propulsion; es handelte sich um
Astasie-Abasie. Außerdem hatte sie eine rechtsseitige Hemihypästhesie, gesteigerte
Reflexe und Fußklonus ohne Babinskisches Symptom; das Gesichtsfeld war
nicht eingeengt.
Rein ist auch der Fall von Gaussei (1907): Mädchen mit dem kompletten
Bilde der Parkinsonschen Krankheit, mit Astasie-Abasie und hysterischen Stig¬
mata. Bei genauerer Untersuchung zeigte es sich, daß die Patientin im Ruhezustände
zwar zitterte, daß aber das Zittern fehlte, wenn sie sich gut stützte, und daß es nach¬
ließ, wenn man ihre Aufmerksamkeit ablenkte. Sie zeigt die Parkinson sehe
Attitüde, „taut aber auf“ bei unwillkürlichen Bewegungen und wenn sie sich nicht
beobachtet fühlt. Sie zeigt eine gewisse Propulsion, indem sie behauptet, es ziehe
sie etwas nach vorn, aber man erkennt leicht, daß es sich nicht um eine Propulsion,
sondern um Astasie-Abasie handelt. Bei der Revision der Anamnese stellte es sich
heraus, daß sie um das 20. Lebensjahr wegen einer anderen Krankheit in einem
Krankenhause behandelt wurde, wo sie neben einer Patientin mit echter Paralysis
agitans lag.
Müller de la Fuente sah eine 28jährige Engländerin, die ihre an Schüttel¬
lähmung leidende Mutter bis zu deren Tode gepflegt und irgendwo gelesen hatte,
daß die Schüttellähmung erblich und ansteckend sei. Nach dem Tode der Mutter
bekam sie bald einen Tremor der rechten Hand, der an jenen bei der Parkinsonschen
Krankheit erinnerte, ohne Muskelrigidität und Propulsion; hierbei machte sie bald
ein lachendes, bald ein weinendes Gesicht. Das Zittern blieb einige Jahre unver¬
ändert, doch gelang es schließlich dem Autor, die Patientin durch Suggestionsbehand¬
lung vollständig zu heilen (1909).
Flat au beschrieb (1905) einen Tremor der oberen Extremitäten bei einem
42 jährigen Fräulein, das die Treppe herabstürzte, vorwiegend auf die rechte Körper¬
hälfte auffiel, den rechten Oberarm brach und das Bewußtsein verlor; nach einigen
Monaten bekam die Patientin einen Tremor der rechten Oberextremität, der im
Ruhezustände auftrat und bei Bewegungen verschwand, um erst eine Weile nach
längst vollendeter Bewegung wieder zu erscheinen; später war er auch an der linken
Oberextremität vorhanden. Symptome der Parkinsonschen Krankheit fehlten;
man konnte nur eine Hysteroneurasthenie diagnostizieren. Aber der Tremor war
rascher als bei der Parkinsonschen Krankheit und etwas unregelmäßig.
Weitzenmiller beobachtete bei einem Nietenmacher einen langsamen
Tremor der rechten Oberextremität, der im Ruhezustände und bei Intention gleich
und regelmäßig war und 3,5—4,5 Wellen in der Sekunde besaß. Das übrige Bild
der Schüttellähmung fehlte (1910). (Siehe auch „mechanisches Zittern“.)
Die übrigen Fälle, die als Paralysis agitans hysterica publiziert wurden,
sind nicht mehr ganz rein: es kann sich da teils um eine Kombination handeln,
teils ging eine so schwere Verletzung voran, daß nicht jede Beteiligung organischer
Gehimläsionen vollkommen ausgeschlossen werden kann.
Ren du (1889, Soc. möd. des H6p. zit. Laroche): Der 58 jährige Patient
hatte einen Tremor seit einem Iktus organischen Charakters; der Tremor fand nur
in den Metakarpalgelenken der oberen Extremitäten statt, war klein, rhythmisch.
70
Erster Teil.
auch im Ruhezustände vorhanden und hörte den ganzen Tag nicht auf. Das Ge¬
sicht des Kranken war starr wie eine Maske, die Finger waren halb flektiert. Das
Zittern dauerte 3—4 Wochen und verschwand zeitweise ganz, einmal setzte es
sogar 6 Monate aus. Der Kranke hatte vor 15 Jahren einen apoplektischen Insult
mit nachfolgender sensitiver und motorischer Hemiplegie und 4 Iktus, bei denen er
das Bewußtsein verlor, sich in die Zunge biß und den Ham unter sich ließ und nach
denen sich stets ein intensiver Tremor vorwiegend der oberen Extremitäten ein-
stellte. Außerdem hatte er am Körper inselförmige Anästhesien, konzentrische
Gesichtsfeldeinengung, monokuläre Diplopie, Achromatopsie, Mikropsie.
Demnach handelte es sich hier um einen Kranken, der zwar an Hysterie,
aber auch an einer organischen Gehimläsion litt und bei dem eine echte Schüttel¬
lähmung nicht ausgeschlossen werden konnte.
B oinet (reproduziert von Böchet): Der 32 jährige Mann wurde vor 11 Jahren
als Soldat auf der Wache von Tigern angefallen und bekam darauf einen hysterischen
Anfall, der sich stets nach mehreren Tagen wiederholte. Seither ist er fortwährend
krank. Vor zwei Jahren hatte er einen Anfall mit Tic des Kopfes und der linken
Gesichtshälfte. Im Liegen war der Patient ganz ruhig und zitterte nicht. Sobald
er sich aufsetzte, begann die linke Gesichtshälfte langsam zu zittern, es zitterten
ferner der linke Vorderarm, die Hand, die Finger, die Lippen, der Kopf (nein — nein)
mit einer Geschwindigkeit von 1*4 Wellen in der Sekunde; mit derselben Schnellig¬
keit vollführte die linke Hand Bewegungen mit einer Amplitude von 20 cm; gleich¬
zeitig vollführte die rechte Hand eine automatische Bewegung wie zum Abwischen
der Nase zehnmal in der Minute. Der Kranke zeigte eine imgeheuere Propulsion und
Retropulsion. Außerdem hatte er eine linksseitige sensitivo-sensorielle Lähmung.
Nach der Suspension trat eine rasche Besserung ein, aber der Kranke entzog sich
der weiteren Behandlung.
Der Autor diagnostiziert selbst eine Kombination der Hysterie (Tremor,
Chorea rhythmica) mit Tic und larviertem Parkinson.
Ewart beschrieb eine 42jährige Frau mit einem Tremor „wie bei Paralysis
agitans“, der die rechte Körperhälfte betraf und unter Behandlung verschwand,
weshalb der Autor Hysterie annahm. Böchet, der den Fall neuerdings analysierte,
hat Verdacht auf eine Intermission bei Paralysis agitans vera, weil die Krankheit
mit Schmerzen und Schwächegefühl in den rechtsseitigen Extremitäten begann,
worauf sich erst das Zittern einstellte, so daß der Beginn viel eher für Schüttel¬
lähmung als für Hysterie spricht.
Der Fall Greidenbergs ist ebenfalls nicht ganz klar (zit. von Valentin
und reproduziert von Buchet):
Ein 21 jähriger Mann bekam nach einem großen Schrecken einen ziemlich
raschen Tremor der Oberextremitäten im Ruhezustände, der sich bei Intention ver¬
stärkte. Dabei war die Muskulatur starr, die Finger nahmen eine Stellung wie bei
der Federhaltung ein, der Kranke konnte nur schwer aufstehen und sein Kopf
zitterte langsam. Außerdem fand sich Anästhesie des ganzen Körpers und Verlust
des Geruches und des Geschmackes.
Der Autor nim mt selbst eine Kombination der Hysterie mit echter Schüttel¬
lähmung an. (Der rasche Tremor der Hände wäre allerdings dem hysterischen
Syndrom zuzuzählen.)
Wir beobachteten einen analogen Fall mit zwei Arten von Tremor, einem
feinen, raschen (hysterischen) und einem langsamen, bei Intention schwindenden,
wo wir Verdacht hatten auf eine Kombination des hysterischen Tremors (wie
beim Nervosismus überhaupt) mit beginnender Paralysis agitans.
7. Nr. 18 303/04. Hl. J., 63jähriger, aus gesunder Familie stammender Tag¬
löhner, der früher stets gesund war. Am 5. September fiel er samt dem Gerüste
aus einer Höhe von 2 m auf das Gesäß, wobei ihn ein Balken über den linken Fu߬
rücken traf. Er blieb etwa eine halbe Stunde bewußtlos liegen. Drei Tage nach dem
Neurosen und Psychosen.
71
Unfall begann der ganze Körper zu zittern und zwar sowohl im Ruhezustände, als
auch bei Bewegungen, bei denen da« Zittern noch zunahm. Seither hat das Zittern
nicht aufgehört. Der Kranke muß mit beiden Händen essen und trotzdem fällt
ihm oft der Bissen vom Löffel. Andere Beschwerden hat er nicht. Von Hitzegefühl,
Schwindel u. dgl. wird er nicht gequält.
Der Kranke trat am 7. Dezember 1904 in klinische Behandlung. Ich fand
einen ziemlich gut genährten Mann mit einem eigentümlichen, bewegungslosen Ge¬
sichtsausdruck, ohne jede Mimik; die Stirn war in wellenförmige Querfalten gelegt,
die Nasolabialfalten w T aren tief eingezogen. Die Zunge wurde mit Mühe vorgestreckt.
Die Mm. cucullares und die Muskeln der Schultergegend schienen etwas rigid zu sein,
aber nicht bei passiven Bewegungen.
Bei ruhigem Stehen zitterten die Oberextremitäten in ihrer Gänze grob,
langsam, in den Schultergelenken (Rotation), den Ellbogengelenken (selten: Pro-
nation und Supination) und in den Handgelenken (Adduktion und Abduktion,
Flexion und Extension). Zeitweise hörte das Zittern vollständig auf, bisweilen wurde
es aber, speziell wenn der Kranke seine Aufmerksamkeit anspannte, besonders
grob; dasselbe war der Fall, w r enn es der Kranke unterdrücken wollte. Intendierte
Bewegungen mildem das Zittern, doch erscheint dasselbe nach erreichter Intention
wieder. Beim Zusammendrücken des Dynamometers hört es auf. Bei der für
Paralysis agitans charakteristischen Körperhaltung zittern nach einer längeren
Fig. 51.
Weile auch die unteren Extremitäten und die oberen zittern sehr intensiv. Im
Schlafe verschwindet das Zittern. Auch der Kopf bewegt sich rhythmisch (ja — ja,
nein — nein). In ähnlicher Weise zittert auch die vordere Bauch w’and rhythmisch
(zeitweise). Die Patellarreflexe sind bedeutend gesteigert. Pseudoklonus der
Achillessehne. Die Plantarreflexe sind sicher normal. Hautreflexe normal. Sensi¬
bilität normal. Ophthalmoskopischer Befund normal. Da sich der Zustand nicht
änderte, verließ der Kranke nach fünftägigem Aufenthalte die Klinik.
i Bei der Registrierung des Zitterns fanden wir einen doppelten Tremor: der
eine bestand aus kleinen, ungleichen, groben Wellen, 5 in der Sekunde, die bei Inten¬
tion aufhörten, der andere war fein, klein, ungleich, dauernd und besaß 8 Wellen
in der Sekunde. Propulsion und Retropulsion waren nicht nachweisbar (Fig. 51).
Hier müssen auch die beiden Fälle Oppenheims angeführt werden:
Im ersten Falle handelte es sich um einen 57 jährigen Mann, der auf den Kopf
gefallen war, das Bewußtsein verloren hatte, einen Bluterguß aus dem Ohre und
Kribbeln in der rechten Körperhälfte hatte, die auch etwas schwächer war. In den
geschwächten rechtsseitigen Extremitäten trat unregelmäßiges Zittern auf. Nach
4 Wochen war der Zustand des Verletzten so sehr gebessert, daß dieser wiederum
seiner Beschäftigung (als Diener) nachgehen konnte; das Zittern soll ganz unbe¬
deutend gewesen sein. Nach 2% Jahren trat die Schwäche der rechtsseitigen Extre¬
mitäten wiederum auf und an der Hand steigerte sich das Zittern zu langsamen
Pronationen und Supinationen, Flexionen und Extensionen, deren Zahl 3—4 in der
Sekunde betrug, die im Ruhezustände vorhanden waren, sich bei Intention nicht
änderten und erst gegen das Ende der Intention an Größe Zunahmen. Auch der
Kopf zitterte. Gleichzeitig nahm die Sehkraft ab, der Kranke bekam Schwindel
72
Erster Teil.
und man konstatierte eine konzentrische Gesichtsfeldeinschränkung für Farben,
besonders rechts, Abnahme des Geschmacksinnes auf der rechten Zungenhälfte,
Hypästhesie auf den Handrücken. Bald entwickelte sich eine Starre der Physio¬
gnomie, eine Starre der Muskeln, die aber bei passiven Bewegungen unbedeutend
war; die Hand nahm die Stellung wie bei der Federhaltung ein und der Kranke ging
mit ganz kurzen Schritten. Nach einer einmonatlichen Behandlung mit Tinctura
veratri verschwand die Muskelstarre.
Der zweite Fall betraf einen 42jährigen Mann, der einen so heftigen Schlag
in die linke Schläfe erhielt, daß er bewußtlos wurde. Darauf bekam er ein allgemeines
Zittern, über dessen Details nichts bekannt ist. Eine lange Reihe von Jahren
etwa 15 Jahre, dauerte das Zittern der Extremitäten und des Kopfes, ja, es wurde
sogar stärker und erschwerte dem Kranken das Gehen, so daß dieser sich auf einen
Stock stützen mußte. Seine Sprache wurde schwerfällig und langweilig. Nach
Jahren fand ihn der Autor reizbar, niedergedrückt, weinerlich. Den Kopf hielt der
Kranke nach links geneigt; der Kopf zeigte ein leichtes, rhythmisches Zittern. Die
Hände nahmen die Stellung wie bei der Federhaltung ein und zitterten langsam.
Bei Ablenkung der Aufmerksamkeit (Perimetrieren) hörte das Zittern auf. Auch
am Bauche und an den unteren Extremitäten bemerkte man rhythmische Erschütte¬
rungen. Der Kranke ging langsam, unter stärkerem Zittern, nach vom geneigt,
er sprach langsam, weinerlich, zeitweise aber wieder ganz fließend. Muskelstarre
fehlte. Das Gesichtsfeld war konzentrisch eingeengt, mehr links als rechts.
Oppenheim zögerte mit seiner Diagnose, entschied sich aber für trauma¬
tische Hysterie aus dem Grunde, weil keine Muskelstarre vorhanden war und weil
das Zittern im ersten Falle verschwand und sich im zweiten Falle trotz der
langjährigen Dauer nicht verschlimmerte.
Mendel beobachtete eine 63jährige Frau, die seit ihrem 57. Lebensjahre
nach einer Emotion an Zittern der rechten Oberextremität litt und das Bild der
Parkinsonschen Krankheit darbot, aber mit einem groben Intentionsschleudem,
mit auffallender Propulsion und Retropulsion, wobei aber die Kranke nicht stürzte,
sondern nur lief; gleichzeitig hatte sie hysterische Symptome.
Ich wiederhole also, daß die Zahl der echten Fälle von Paralysis agitans
hysterica klein ist, wenn wir nicht mit Pitres annehmen wollen, daß jene
Schüttellähmungen, die nach dem Erschrecken entstehen, eo ipso hysterisch
sind, und wenn wir uns zum Beweise dessen, daß die Schüttellähmung hysterisch
ist, nicht damit begnügen, daß wir hysterische Stigmata konstatieren können
(wie es ebenfalls Pitres getan hat). Selbst bei jenen unstreitigen Fällen haben
wir gesehen, daß die Ähnlichkeit mit der Parkinsonschen Krankheit nur ober¬
flächlich war.
Vielleicht könnte man den einen oder anderen jener Fälle, welche als
traumatische Schüttellähmung beschrieben wurden, mit Recht zur Hysterie
rechnen, so z. B. in der These von Vandier obs. IV bei einer 45 jährigen Näherin
nach einem Stich in den Finger, vielleicht auch einige der 54 von Walz ge¬
sammelten Fälle; so z. B. gleich seine eigene (nicht ganz prägnant beschriebene)
Beobachtung: 61 jähriger Mann, dem ein 30 kg schwerer, aus Säcken bestehender
Ballen auf den Kopf fiel, so daß er ohnmächtig wurde; als er erwachte, waren
seine Hände und Füße zittrig und er hatte seither einen Tremor der Hände,
speziell der rechten Hand, sowohl im Ruhezustände als auch bei Intention,
ja sogar auch im Schlafe (?). Auch der Kopf zitterte. Er ging nach vom ge¬
neigt, hatte aber keine Rigidität.
* *
*
Neurosen und Psychosen.
73
Wir beobachteten noch zwei Fälle eines langsamen Händetremors im
Ruhezustände ; im ersten Falle bestand der dringende Verdacht auf Simulation,
im zweiten Falle offenbarte sich der hysterische Charakter dadurch, daß der
langsame Tremor verschwand und der Kranke nach vier Jahren einen vibra¬
torischen Tremor der Hände und hysterische Symptome aufwies.
8. Posttraumatischer, monoplegischer, langsamer Tremor in der
Ruhe und bei Intention.
Nr. 2833/05. J. S., 64jähriger Maurer, stammt aus gesunder Familie, war
stets gesund. Verdacht auf Alkoholismus. Fiel am 7. Mai 1904 aus einer Höhe von
4y 2 m auf die rechte Körperseite und verlor das Bewußtsein. Er hatte sich nicht ver¬
letzt, nur schmerzte ihn der Körper. Nach 3—4 Wochen begann die rechte Ober¬
extremität zu zittern und zwar sofort in ihrer Gänze und den ganzen Tag über ohne
Unterbrechung. Seither hat das Zittern nicht aufgehört, so daß der Kranke arbeits¬
unfähig ist. Im Schlafe ist die Hand ruhig. Die Füße sind in Ordnung. Der Kranke
trat am 20. Februar 1905 in die Klinik ein und hier fand man als einziges patholo¬
gisches Symptom einen groben, langsamen, gleichmäßigen Tremor der rechten Ober¬
extremität. Derselbe besteht aus Flexion und Hemiextension im Ellbogengelenk
Fig. 52.
oder außer Exkursionen in diesem Gelenke aus Flexion und Extension, Abduktion
und Adduktion im Metakarpalgelenk. Dieses Schütteln dauert den ganzen Tag
und verstärkt sich, wenn der Kranke weiß, daß er untersucht werden soll. Wenn
man ihn auffordert, still zu stehen, schüttelt er den ganzen Körper. Der Kranke
vermag das Zittern auf keine Weise zu unterdrücken, sondern dasselbe wird durch
einen jeden derartigen Versuch nur noch verstärkt. Doch hindert das Zittern den
Kranken nicht, die Bänder seiner Unterhosen zu knüpfen und zu lösen, wenn er
nicht beobachtet wird; fordert man ihn jedoch hierzu auf, bringt er dies nicht zu¬
stande — das Zittern wird stärker und die Atmung schneller. Die Muskelkraft
der rechten Hand ist minimal (E. D. 1. 25 kg, r. 5 kg). Bei Nacht hörte das Zittern
auf. Im übrigen bestanden weder Symptome einer organischen Läsion, noch hyste¬
rische Stigmata. Der Kranke wurde nach drei Tagen in unverändertem Zustande
entlassen. Auf der Kurve sieht man den beschriebenen Tremor, der sich bei Intention
nicht veränderte, außer daß die Intention einmal durch niedrigere Wellen ange¬
deutet ist; er war regelmäßig und bestand aus 5 Wellen in der Sekunde (Fig. 52).
Der Kranke erweckte den Verdacht auf Simulation.
9. Hysteria posttraumatica. Tremor, vor vier Jahren langsam,
nach vier Jahren schnell, in der Ruhe und bei Intention gleich.
N. Fr., 51 jähriger Flößer, erlitt im Jahre 1906 auf dem Floß einen Unfall.
Seit dieser Zeit geht er nach vom gebückt. Zwei Monate später zeichneten wir von
ihm im Ruhestande einen langsamen Tremor der Hände von 5 Wellen in der Sekunde,
der zeitweise vollständig verschwand (Fig. 53). Nach vier Jahren kam er neuer-
74
Erster Teil.
dings in die Klinik und da konstatierte man den in dem Abschnitte über den vibra¬
torischen Tremor unter 6. beschriebenen Zustand (Fig. 50).
d)MonoplegischerTremor, am häufigsten nach Traumen. Wir kennen
bei hysterischen Personen noch einen anderen, ziemlich charakteristischen
Tremor der oberen Extremität (im Ruhezustände): Es ist dies ein monoplegischer
Tremor einer Hand, der schneller ist als jener beider Parkinson sehen Krankheit
*
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Fig. 53.
und der nicht mit einem an diese Krankheit erinnernden Bilde einhergeht,
sondern sich nur an einer Hand bei normalem physischen Allgemeinzustand,
oft wie ein wahrer symptomatologischer Fremdkörper, oft fast monosymptoma¬
tisch abspielt, der sich durch Intention und zwar manchmal sehr grob verstärkt
und mit Vorliebe nach einem Trauma auf der verletzten Hand oder auf der
Hand der vom Trauma betroffenen Körperseite auf tritt. Er ist so typisch, daß
er als Prototyp des „traumatischen 44 Zitterns hingestellt wurde. Er kombiniert
sich gern mit Zittern der unteren Extremitäten beim Gehen, das wiederum einen
charakteristischen Typus der sogenannten pseudospastischen Parese mit Tremor
bildet, bei der es ziemlich häufig erwähnt wird.
Einen typischen Fall dieser Art beschrieb schon im Jahre 1875Neubert;
an diesem Falle dokumentierte sich deutlich die Verwandtschaft dieser Tremor-
fomi mit dem intermittierenden Intentionstremor (type Ren du), denn der
Tremor ging unbemerkt in diesen Typus über; nur handelt es sich beim Typus
Rendu nicht um ein rein monoplegisches Syndrom. (Siehe die Krankheits¬
geschichten des Typus Rendu.)
Der Fall betraf einen 11jährigen Knaben, der beim Schreiben von seinem Nach¬
bar in den rechten Arm gebissen wurde. Unmittelbar darauf bekam er ein Zittern
des rechten Vorderarms, das — außer im Schlafe — ohne Unterbrechung anhielt
und das Schreiben und Essen mit dem Löffel unmöglich machte. Nach 6 Tagen
konstatierte der Autor bei dem Knaben kurze Pausen ohne Zittern, die während der
folgenden Wochen immer länger wurden. Sodann hörte das Zittern auch bei mehr
weniger automatischen Verrichtungen auf (Klopfen an die Türe, Schließen der
Knöpfe). Nach mehreren Monaten hörte das Zittern oft für Stunden auf; sobald
aber von der Affektion gesprochen wurde oder der Patient auf Befehl eine Bewegung
ausführen sollte, zitterte er neuerdings. Nach 2 y 2 Jahren traf ihn der Autor ganz
gesund an.
Dutil führt unter seinen „mannigfachen“ Formen vier Fälle ähnlichen
Charakters an (Obs. XIV, XV, XVI, XVII).
Eine 28 jährige, durch langdauemde Tätigkeit im Geschäft herabgekommene
Patientin wurde trübsinnig, traurig, begann aus dem Schlafe zu schreien und wurde
von zooptischfcn Träumen geplagt, bis sie typische hysterische Anfälle bekam, derent¬
wegen sie die Salpetriöre aufsuchte. Nach einem solchen Anfalle entstand Zittern
der rechten Oberextremität, das sich während einer dreimonatlichen Beobachtung
nicht änderte. Es handelte sich um regelmäßige Flexionen und Extensionen, Abduk-
Neurosen und Psychosen.
75
tionen und Adduktionen im Karpalgelenk im Ruhezustände, 6 y 2 —7 in der Sekunde;
beim Strecken der Hand wurde das Zittern stärker, bei Erregungen traten chorei-
forme Bewegungen der Extremität hinzu. Vor und nach dem Anfalle war das
Zittern konstant, im ruhigen Intervall kamen manchmal Intermissionen von 1 l / 2 bis
2 Minuten Dauer vor, aber auch während dieser trat bei Intention das Zittern auf.
Die Kranke besaß zahlreiche Stigmata. Durch Druck auf die Ovarien ließ sich das
Zittern nicht unterdrücken, sondern im Gegenteil, es trat zugleich mit einer Aura
ein stärkerer Tremor auf, so daß die Kranke, die eine schöne Handschrift besaß,
nicht schreiben konnte.
Ein 42jähriger Schlafwagenkondukteur. Im 18. Lebensjahr Trauma gegen
ein Schulterblatt. 1870 Schußwunde in die Wade ohne Folgen. Nach einer ein¬
jährigen Dienstzeit bei der Eisenbahn stieß im Jahre 1880 sein Schnellzug mit einem
Expreßzug zusammen. Der Kranke stürzte, verlor das Bewußtsein, erhob sich aber
wieder und da er nur oberflächliche Verletzungen erlitten hatte, leistete er zwei
Stunden lang Hilfe. Hierauf begab er sich zur Ruhe, konnte aber infolge Angst
nicht schlafen. Während der folgenden Tage hatte er neurasthenische Symptome,
bei Nacht schreckhafte Träume und zooptische Halluzinationen. Nach einem
Monat trat er seinen Dienst wieder an, machte aber im Zuge die Beobachtung, daß
er wegen Zitterns der rechten Hand nicht schreiben konnte. Gelegentlich einer
neuen Fahrt verstärkte sich das Zittern, es entstand Schwäche der einen Körperhälfte
und zu Hause bekam er einen hysterischen Anfall, den er bei einer Nachbarin ge¬
sehen hatte. C har cot fand in der Klinik die Symptome der Hysterie und einen
auf die rechte Oberextremität beschränkten Tremor im Ruhezustände, regelmäßig,
6—6 y 2 in der Sekunde, bestehend in Flexion und Extension; beim Schwören und bei
Druck auf die hysterogenen Zonen war der Tremor gröber. Im Ruhezustände waren
zeitweise Intermissionen vorhanden. Nach einem Anfall war das Zittern so stark,
daß der Kranke weder essen, noch die Knöpfe schließen konnte. (Dieser Fall wurde
auch von Charcot beschrieben.)
Eine 10jährige Näherin, deren Mutter und Tante nervös sind. Vor 6 Monaten
wurde sie von einem Fiaker umgestoßen, ohne daß sie eine Verletzung erlitten hätte.
Eine Stunde später zitterte sie zu Hause ein wenig. Während der folgenden Tage
bestanden unbestimmte Beschwerden. Darauf bekam sie eines Nachmittags ohne
jede Ursache bei der Arbeit ein Zittern der rechten Hand, das nach einer Stunde
so intensiv wurde, daß sie nicht weiter arbeiten konnte. Seit dieser Zeit bestanden
fortwährende Flexionen und Extensionen der rechten Hand, 5—5 l / 2 in der Minute,
regelmäßig, bei der Extension kleiner und schneller. Bei Anspannung der Aufmerk¬
samkeit oder bei Ablenkung derselben hörte das Zittern manchmal auf. Zahlreiche
Stigmata, hysterische Anfälle. Sie wurde in der Ambulanz der Salpötriöre ohne Er¬
folg behandelt.
Ein 22jähriger Gehilfe aus psychopathischer jüdischer Familie. Im Jahre
1885 kam einmal der Vater bei Nacht betrunken nach Hause und lärmte. Am
Morgen hatte der Kranke beim Erwachen überall Kontrakturen, die nach 3 Monaten
plötzlich verschwanden. Seit 1880 hysterische Anfälle. 1887 hatte er wiederum
Kontrakturen, einmal 8, das zweitemal 14 Tage lang, die nach einem Anfall ver¬
schwanden. Nach einem Anfall entwickelte sich eine rasch fortschreitende Atrophie
der rechten Hand und des Vorderarms, die sich nicht mehr besserte. Nach einem
Anfall entstand jedesmal an der rechten Hand ein Tremor, der aus kleinen Flexionen
und Extensionen bestand, &y 2 —9 1 / 2 Schwingungen in der Sekunde machte, einige
Stunden oder Tage dauerte und sodann langsam verschwand. Auch am Fuße zeigte
sich nach den Anfällen ein Tremor von 0 Wellen in der Sekunde, der mehrere Stunden
dauerte und nur bei statischer Innervation vorhanden war. Von einer hysterogenen
Zone ließ sich der Anfall sofort auslösen, doch blieb derselbe ohne Einfluß auf den
vorhandenen Tremor. Patellarreflexe gesteigert.
Wir beobachteten zwei derartige Fälle bei nichttraumatischer und acht
bei traumatischer Hysterie.
76
Erster Teil.
10. Grober, posttraumatischer, monoplegischer Tremor. Heilung
durch Hypnose. Hysterie.
363/07. Kn. V., 29jähriger Zuckerfabriksarbeiter. Stammt aus gesunder
Familie, war nie nervenkrank. Trinkt täglich 1 y 2 Liter Bier und um 20 Heller
Schnaps. Am 29. November 1906 wurde er beim Abladen der Rüben durch das
Türchen des Rübenwagens gegen die rechte Schulter und den Arm getroffen und
stürzte in eine etwa 2 m tiefe Grube, wo er auf die rechte Körperseite auffiel. Er
erhob sich und arbeitete weiter, aber bald begann die Extremität anzuschwellen und
zu schmerzen. Er hörte auf zu arbeiten. Bei seiner Ankunft in der Klinik am
7. Januar 1907 fand man keine Symptome einer organischen Verletzung des Nerven¬
systems. Die linke Oberextremität, die normal beweglich war, zeigte bei Extension
einen feinen Tremor. Die gesamte Muskulatur der rechten Oberextremität war
rigid; weder aktive, noch passive Bewegungen waren wegen der allerdings schmerz¬
losen Muskelspannung möglich. Bei Intention verfällt die rechte Oberextremität
Fig. 54.
in Zittern. E. D. rechts 0, links 25 kg. Die Sensibilität war unverändert. Das
Gesichtsfeld war für alle Farben bedeutend konzentrisch eingeschränkt. Nach einigen
hypnotischen Suggestionsversuchen verschwanden die Kontrakturen und der Tremor
im Ruhezustände, bei Intention war das Zittern unbedeutend (12. Januar 1907). Die
Kurve veranschaulicht den groben, regelmäßigen Tremor der gestreckten rechten
Oberextremität am zweiten Tage des klinischen Aufenthaltes. Wir zählen konstant
7 Wellen in der Sekunde (Fig. 54).
11. Posttrau matischer, monoplegischer, u n re ge 1 mäßiger, in¬
konsequenter Tremor bei Simulation.
F. M., 40 Jahre alt, aus gesunder Familie stammend, war früher stets ge¬
sund. Am 18. August 1902 erlitt er eine Quetschung des linken II. und III. Fingers;
in der chirurgischen Klinik soll von einer Sehnenzerreißung die Rede gewesen sein.
55
, ‘^f ~
Fig. 55.
Seither kann er nicht arbeiten, da er manchmal in den Fingern der linken Hand
Schmerzen empfindet, manchmal die linken Finger nicht krümmen und die linke Hand
nicht bewegen kann. Am 2. Dezember 1902 wurde er in der Ambulanz der Klinik
untersucht. Der II. und III. Finger der linken Hand waren unbeweglich gestreckt ;
Neurosen und Psychosen.
77
keine Ankylose, keine Muskelatrophie, keine Symptome einer organischen Läsion
des Muskel- oder Nervensystems. Bei passiver Bewegung der genannten Finger
setzt der Kranke starken Widerstand entgegen. Bei Faradisation der Flexoren be¬
wegen sich die Finger leicht und ohne Widerstand. Auch bei Faradisation eines
für die Bewegung suggerierten Punktes, der ganz außerhalb der Flexion liegt, be¬
wegen sie sich ohne Widerstand. Mit dem Dynamometer überrascht, drückt er
links 16 kg, rechts 26 kg. Die linke Oberextremität ist ganz schlaff; passiv erhoben
und losgelassen, hält sie eine Weile aus, sinkt dann herab und schlägt gegen den
Körper an. An der linken Hand ist zeitweise ein Tremor vorhanden, der sich bei
Innervation verstärkt; beim Drücken des Dynamometers ist er manchmal vor¬
handen, manchmal fehlt er. Nach Faradisierung „kehrte“ die Möglichkeit zu
flektieren zurück, aber der Kranke gab an, daß er wegen Schmerzen nicht arbeiten
könne. Die Kurve veranschaulicht einen ungleichen, unregelmäßigen Tremor
von 7—8 Wellen in der Sekunde, der bei länger dauernder Registrierung gröber
wird — dies alles bei statischer Innervation (Fig. 55).
12. Posttraumatischer, monoplegischer Tremor im Ruhezustände
und bei Intention. Adynamie der Hand. Simulation?
Z. 1898/05. J. A., 42jähriger Porzellanfabriksarbeiter, stammt aus gesunder
Familie, war früher stets gesund. Am 10. September 1904 trug er aus dem Keller
40 kg Porzellanmasse auf der rechten Schulter, rutschte hierbei aus, fiel auf das rechte
Ellenbogengelenk und erlitt einen Bruch, dessentwegen er die Extremität etwa
fQ* a6 56
f'u'AAjV k ^ y \Z\AMA/W\(VVAAi\)\AA/\ftAAAA^W\WVAA/\AA/VAA/WVAAAAA/\AAAA/VAAA/^ r
JWW-^-\,\,v\, wwnv\iv\^^
Fig. 56.
5 Wochen im Gipsverband trug. Nach Abnahme des Verbandes zitterte diese Extre¬
mität. Seit dieser Zeit zittert sie fortwährend und ist sie so schwach, daß er kaum
essen kann. Andere Beschwerden existieren nicht. In der Klinik wurde konstatiert,
daß der Patient geistig und körperlich gesund ist. Keine Symptome einer organischen
Läsion des Nervenmuskelsystems, keine hysterischen Stigmata, keine Muskelatrophie,
normale elektrische Erregbarkeit. Der Untersuchte vollführt alle Bewegungen der
rechten Oberextremität schlaff, langsam, nicht auf einmal; bei manchen Bewegungen
zittert die Hand, bei anderen nicht, es besteht diesbezüglich keine Beständigkeit
oder Regelmäßigkeit. Bei der physikalischen Untersuchung zitterte die Hand nicht;
sobald aber der Kranke aufgefordert wurde, die Hand des Arztes zu drücken, verfiel
seine rechte Hand in einen schnellen, feinen Tremor. Im Ruhezustände vollführte
die Hand feine Flexionen und Extensionen im Karpalgelenk, manchmal auch Rota¬
tionen der Extremität. Bei intendierten Bewegungen nahm das Zittern langsam
zu. Bei passiven Bewegungen bestand eine beträchtliche Rigidität der Muskeln
der rechten Hand; doch verschwand die Rigidität, wenn dem Kranken ein Rechen-
exempel zur Lösung aufgegeben wurde, und stellte sich wieder ein, wenn die Auf¬
gabe gelöst war. Beim Zusammendrücken des Dynamometers, das fast ohne jeden
dynamometrischen Effekt bleibt, ist die Extremitätenmuskulatur unüberwindlich
gespannt. Als Patient bemerkte, daß er von den klinischen Pflegerinnen beobachtet
wurde, begann er mit der linken Hand zu essen. — Auf den Kurven zählt man
7—8 regelmäßige Wellen in der Sekunde, mag die Hand frei herabhängen oder auf
den Oberschenkel gestützt sein (Fig. 56).
78
Erster Teil.
13. Posttraumatischer, monoplegischer Tremor einer Hand im
Ruhezustände und bei Intention. Irradiation des Tremors.
Z. 3457/03. Ch. J., 44jähriger, aus gesimder Familie stammender Maurer,
der früher stets gesund war. Am 28. Juni 1902 zog er, in einem Fenster des zweiten
Stockwerkes stehend, an einem Seil einen Balken in die Höhe; plötzlich knackte
es ihm im Kreuz (so laut, daß es die Nachbarn hörten), und er empfand sofort Schmer¬
zen im Kreuze und um den Gürtel; er verließ die Arbeit, stieg hinab; unten ange¬
kommen bemerkte er ein Zittern der rechten Oberextremität. Am Abend bekam er
Diarrhöe und seither hat er 8—10 diarrhoische Stühle täglich. Am nächsten Tage
ging er wieder auf die Arbeit, aber das Zittern war stärker und die Schmerzen im
Kreuze und um den Gürtel gestatteten ihm nicht, sich aufzurichten. Er legte sich
ins Bett, ging nach zwei Tagen wieder auf die Arbeit und dies wiederholte sich
mehrmals. Das Zittern und die Schmerzen verschwanden nicht mehr. Manchmal
zitterte auch die linke Hand. Das Zittern der rechten Hand wird manchmal ge¬
ringer, manchmal wieder stärker und besteht in geringem Grade sogar im Schlafe.
In der Klinik erschien der Kranke am 3. März 1903. Hier konstatierte man außer
einem chronischen Bronchialkatarrh keine Symptome irgend einer organischen
Läsion. Die Sensibilität war normal. Das Gesichtsfeld war um die Hälfte kon¬
zentrisch eingeengt. Vanysek beschrieb in der Krankheitsgeschichte sehr plastisch
die Eigentümlichkeiten des Zustandes: Der Kranke steht fortwährend mit nach
vorn geneigtem Körper und wenn die Hände frei am Stamme herabhängen, schwingt
Fig. 57.
die rechte Oberextremität in ihrer Gänze schnell im Sinne der Rotation des Ober¬
arms, der Pronation und Supination des Vorderarms, der Flexion und Extension
desselben und der Flexion und Extension, Abduktion und Adduktion im Karpal
gelenk. Die Finger zittern nicht individuell, sondern folgen, mäßig gekrümmt, wie
tote Anhängsel allen Bewegungen der Extremität; nur der Daumen vollführt hier
und da eine selbständige Adduktion und Abduktion. Wenn der Kranke versucht,
diese Bewegungen einzustellen, oder wenn wir dies selbst versuchen, indem wir die
rechte Oberextremität festhalten, werden die Bewegungen im Gegenteil gröber
und heftiger und die Unruhe greift auf den Kopf über, der von vom nach hinten
wackelt, und auch auf die unteren Extremitäten, die in den Hüft- und Kniegelenken
kleine Exkursionen ausführen. Wenn der Kranke den genannten Versuch beim
Gehen macht, überschreitet das Zittern nicht die rechte Oberextremität. Die
Intention steigert diese Bewegungen zu groben Schwingungen: wenn sich der Kranke
bei der Nase, beim Ohr fassen soll, zerrt er an denselben herum. Die Muskeln der
zitternden Hand sind nicht krampfhaft kontrahiert. Die linke Oberextremität
ist ruhig und vollführt ohne Zittern alle intendierten Bewegungen. Es ist inter¬
essant, daß. wenn der Kranke dieselbe Bewegung mit beiden oberen Extremitäten
gleichzeitig ausführen soll, in diesen ein gleichmäßiges Intentionsschütteln auftritt.
Es bestehen keine Symptome einer Wirbelsäulenläsion.
Die beiliegende Kurve veranschaulicht den beschriebenen Tremor (Fig. 57).
Wir sehen einen groben, heftigen, ausgesprochen allorhythmischen Tremor von
etwa 8 Wellen in der Sekunde; größere Amplituden wiederholen sich periodisch.
Nach Aussage der Oberwärterin zitterte die Hand in zarterWeise auch bei Nacht im
Schlafe (?). Schmerzhafte Faradisation hatte keinen Erfolg und der Kranke verließ
die Klinik ungebessert.
Neurosen und Psychosen.
79
14. Traumatische Hysterie. Depressiver Zustand. Monople-
gischer, grober, rascher Tremor im Ruhezustände und bei Intention.
Z. 7530/03. N. J., 65jähriger Eisenbahndrechsler, aus gesunder Familie
stammend. Vor 22 Jahren fiel ihm ein eisernes Rad auf das Knie. Er lag darauf
eine Woche im Spital, konnte aber ein halbes Jahr nicht arbeiten. Vor 10 Wochen
arbeitete er unter einer Lokomotive und schlug mit dem Vorderkopf so heftig an,
daß er bewußtlos wurde. Die Wunde war nur eine oberflächliche. Seit dieser Zeit
leidet er an Anfällen von zuckenden Schmerzen im Kopfe und es zittert die rechte
Oberextremität. Manchmal hat er Schwindel. In der Klinik war er traurig, gab
zögernde Antworten; die Auslösung und der Ablauf der Vorstellungen war sehr
verlangsamt, die Erinnerung mangelhaft. Somatische Organveränderungen fehlten,
ebenso Symptome einer organischen Läsion des Nervensystems. Die rechte Ober-
extremität zitterte im Karpalgelenk im Sinne der Flexion und Extension, der Abduk¬
tion und Adduktion, der Pronation und Supination; das Zittern bestand im Ruhe¬
zustände und verstärkte sich bei Intention. Die Muskeln dieser Extremität und in
der Umgebung der rechten Schulter waren kontrahiert und hoben sich scharf ab.
Fig. 58.
Die Nerven waren etwas druckempfindlich. Die rechte Hand und der rechte Fuß
waren etwas schwächer; auf der rechten Körperhälfte war die Sensibilität herab¬
gesetzt; das Gesichtsfeld war beiderseits stark konzentrisch eingeengt. Der Tremor
dauerte tagelang unverändert. Beim Versuche einzuschlafen, legte sich der Kranke
auf den rechten Arm, um das Zittern zu unterdrücken. Seine Nachbarn behaupteten,
er zittere auch im Schlafe. Ich kontrollierte ihn zweimal mit Erfolg (ohne daß er
erwachte); das erste Mal lag er auf der rechten Schulter: die Hand lag ruhig neben
dem Stamme, sie zitterte nicht. In diesem Momente erwachte der Kranke: die
Hand blieb noch einige Sekunden ruhig, aber dann begann ein feiner, sehr schneller
Tremor. Das zweite Mal, in der gleich darauf folgenden Nacht, lag der Kranke
wiederum auf der rechten Schulter, er hatte die rechte Hohlhand unter der rechten
Wange, mit der linken Hand zugedeckt. Ich deckte ihn vorsichtig auf und ergriff
seine rechte Hand: dieselbe zitterte ein wenig; ich schob seine linke Hand beiseite
und es zitterte die rechte; der Kranke schien weiter zu schlafen. Nur war es auf¬
fallend, daß er nicht erwachte, obwohl ich seine Hand bewegte, während er sonst
sofort wach wurde. Wir sehen dieses Zittern auf der beigelegten Kurve: ein grober,
rhythmischer, etwa 8 Wellen in der Sekunde betragender, allorhythmischer (wellen¬
förmiger), dauernder Tremor (Fig. 58).
15. Anfälle eines vorwiegend monoplegischen Tremors im Ruhe¬
zustände und bei Intention. Einfluß der Suggestion auf den Tremor.
Schwachsinn. Organischer Ictus apoplectiformis. Vollständiges Ver¬
schwinden des Tremors. Beginn des Tremors nach einer Emotion.
Epilepsie?
Z. 7919/04. Kr. F., 56jähriger, schwachsinniger Schneider. In der Jugend
litt er an schreckhaften Träumen: daß Schweine seine Füße abfressen, daß ihn Kühe
aufspießen, daß er brenne, ertrinke. Bis zum 8. Lebensjahre bestand Enuresis
nocturna. In der letzten Zeit lag er wegen verschiedener Krankheiten öfters im
Spitale. Am 7. April 1904 kündigte ihm die im Spitale beschäftigte Nonne an, er
werde heute die letzte Ölung bekommen. Er erschrak, weinte die ganze Nacht
80
Erster Teil.
und am Morgen begann sein ganzer Körper so zu zittern, daß sich das Bett bewegte.
Das Zittern dauerte bis zum Mittag, dann verschwand es für mehrere Tage, kehrte
aber hernach wieder und wiederholte sich seither stets nach einigen Tagen. Beim
Herannahen des Zitterns beginnen die Finger der Hände zu schwitzen, er fühlt in
ihnen ein Kribbeln, dann bekommt er Ohnmachtsanwandlungen, er sieht die Himmels¬
röte, sieht rotglühende Lichter; hierauf beginnt die rechte Hand zu zittern, dann
stellt sich ein kalter Schweiß an den Füßen ein, er empfindet in ihnen ebenfalls
Kribbeln und sie beginnen zu zittern. Die linke Hand zittert nicht. Bei intensivem
Zittern wird auch der Kopf geschüttelt. Der Anfall dauert etwa eine Stunde. Es
gelingt ihm, das Zittern für eine kurze Weile dadurch zu unterdrücken, daß er die
Hand im Ellbogen energisch komprimiert. Die rechte Oberextremität zittert auch
außerhalb des Anfalles, wenn er sie emporhebt. Seit der Jugend leidet er an perio¬
disch wiederkehrenden, mit Magenübligkeiten verbundenen Anfällen von Kopf¬
schmerzen.
Vor 16 Jahren wurde er einmal bei der Arbeit sehr gereizt; er fiel damals
bewußtlos zu Boden, verkrümmte die Glieder und biß sich in die Zunge; er war eine
Viertelstunde bewußtlos und einige Tage nachher wie ohne Gedächtnis. Sonst hat
er ähnliche Anfälle nicht gehabt. Bei seiner Aufnahme in die Klinik am 20. Mai 1904
fanden wir keine Symptome einer organischen Läsion des Nervensystems. Die
motorische Kraft der beiden Oberextremitäten war beträchtlich (E. D. 25 kg). Die
gestreckten Oberextremitäten zitterten nicht. Die zervikobrachialen Geflechte
waren etwas empfindlich. Der Gang war schwerfällig. Der Kranke ging etwas
steif, wie wenn er Gewichte an den Füßen gehabt hätte.
Sowohl im Liegen als auch im Sitzen und Gehen verfiel die rechte Ober¬
extremität in ein rhythmisches Schütteln im Sinne der Flexion und Extension,
der ‘ Adduktion und Abduktion der Hand, seltener im Sinne einer Abduktion und
Adduktion der ganzen Extremität; manchmal machte sie die Bewegung wie beim
schnellen Kartengeben. Dieses Zittern trat auf:
a) isoliert;
b) gleichzeitig zittern die unteren Extremitäten im Sinne der Flexion und
Extension in allen Gelenken;
c) gleichzeitig macht der Kopf nickende (ja — ja) oder rotierende (nein —
nein) Bewegungen;
d) manchmal zuckt der ganze Rumpf;
e) manchmal macht er eine Bewegung wie wenn er etwas von der Schulter
abschütteln wollte;
f) manchmal zittert auch die linke Oberextremität;
g) manchmal macht er unter allgemeinem Zittern eine Bewegung wie beim
Pumpen einer Hebelpumpe;
h) manchmal klappert er mit den Zähnen.
Solche Anfälle dauern nur einige Sekunden. Einmal sah ich, wie das Gesicht
im Anfalle die typische Mimik des Weinens annahm und die Tränen rannen ihm aus
den Augen, obwohl er nicht weinte. Nach einem jeden Anfalle atmete er krampfhaft
und tief auf. Das Zittern vermag er willkürlich nicht zu unterdrücken, aber stets
gelang es mir, den Tremor durch ein kategorisches „Genug!“ zu mildern,
oft auch ganz zu unterdrücken, allerdings nur für eine Weile. Jede
Intention steigert das Zittern, ebenso jede Anspannung der Aufmerksamkeit. Wenn
man die Aufmerksamkeit des Kranken ablenkte (durch Untersuchung des Herzens),
wurde das Zittern schwächer und verschwand. Auf der beiliegenden Kurve ist das
Zittern der rechten Oberextremität sehr schön veranschaulicht. Wir zeichneten
ohne Unterbrechung hintereinander die Kurven I., II., III. Zuerst sehen wir einen
kaum erkennbaren, feinen, ungleichen Tremor von 7,5 Wellen in der Bekunde, der
allmählich immer stärker, gröber, aber regelmäßig wird, die gleiche Schnelligkeit
von 7,5 Wellen in der Sekunde beibehält und ganz plötzlich, wie wenn er abge¬
schnitten würde, auf den energischen Befehl: „Genug! Nicht zittern!“ aufhört
und einem kaum erkennbaren Flimmern von gleicher Geschwindigkeit weicht
(Fig. 59).
Neurosen und Psychosen.
81
Der Kranke lag in der Klinik bis Juli 1904; nach Elektrisierung verschwand
das Zittern vollständig, so daß der Kranke seinem Berufe nachgehen konnte. Nur
bei schwerer Arbeit z. B. beim Holzspalten, bekam er ein Kribbeln in die Hand,
dieselbe wurde schlaff, und er mußte die Hacke weglegen, um sie nicht fallen zu lassen.
Im Jahre 1907 verlangte er von der Gemeinde eine Unterstützung, womit er Schwierig¬
keiten hatte. Da begann um den 15. Dezember wiederum das Kribbeln und Schwitzen
der Finger der rechten Hand und einige Tage später war auch das Zittern wieder da.
Am 20. Dezember 1907 trat er wieder in die Klinik ein und wir konstatierten den¬
selben Zustand wie im Jahre 1904; außerdem hatte er eine Bronchitis. Die Reflexe
waren gesteigert, ebenso die (ungewöhnlich entwickelte) mechanische Muskelerreg¬
barkeit; die Haut des Rumpfes war überempfindlich. Bei angespannter Aufmerk¬
samkeit verschwand das Zittern. In der Hypnose hörte es ebenfalls auf, kehrte aber
hernach wieder. Nach einer Woche verschwand es wiederum ganz von selbst und
als man den Kranken hypnotisierte und ihm in der Hypnose den Tremor suggerierte,
zitterte er in der Hypnose und noch eine Zeitlang nachher, dann aber hörte das
Zittern auf.
Am 3. Februar 1908 bekam er, als er sich beim Waschen bückte, plötzlich
Schwindel, es wurde ihm unwohl, er konnte kaum das Bett wieder erreichen und klagte
Fig. 59.
über Doppeltsehen. Der untere Ast des rechten N. facialis war gelähmt, ferner war
die rechte Zungenhälfte und die linke Hälfte des weichen Gaumens gelähmt. Er
sprach schwer, skandierend. Sensibilität, Motilität und Augenfundus normal.
Am Abend desselben Tages sah er nur im Liegen, nicht im Stehen. Gezittert hat er
nicht. An den folgenden Tagen ging er schwankend und sah rechts zeitweise doppelt.
Bei feinen Arbeiten waren die Finger der rechten Hand ungeschickt. Bei Intention
war an der rechten Hand Ataxie angedeutet. Beim Erheben aus der horizontalen
Lage ohne Unterstützung der Hände erhob sich die rechte Unterextremität über die
Unterlage. Alle Nerven waren etwas empfindlich. Die Patellarreflexe waren leb¬
haft, an den späteren Tagen wurde Achillessehnenklonus und positiver Babinski,
rechts deutlicher als links, konstatiert. Zittern war nicht vorhanden. Die Ataxie
der rechten Oberextremität wurde später deutlicher und war dann auch an der
rechten Unterextremität nachweisbar. Andere nervöse Störungen waren nicht
vorhanden.
16. Hysterischer, monoplegischer Tremor im Ruhezustände und
bei Intention. Nach Franklinisation rasche Genesung. Getreue Wieder¬
holung desselben Syndroms.
Z. 11 544/09. K. F., 60jähriger Schneider, dessen Vater an einem Gehirn -
schlag starb. Er gibt zu, am Sonntag 6 Glas Bier zu trinken und ein starker Tabak¬
raucher und -schnupfer zu sein. Vor 2 Jahren empfand er im Sommer Kribbeln
und Stechen im rechten Oberarm; das Kribbeln reichte bis in die Finger. Die Muskel¬
kraft war gut erhalten. In einem Krankenhause wurde er durch Faradisation ge¬
heilt. Im vorigen Jahre wurde er zur selben Zeit ebenfalls im Krankenhause von
denselben Beschwerden durch Bäder geheilt. Nunmehr ist er seit 14 Tagen wieder
krank. Beim Bügeln verspürte er einen Stich in der rechten Schulter und bevor
Peln&f, Zittern. 6
82
Erster Teil.
er das Bügeleisen beiseite legen konnte, begann die ganze rechte Oberextremität
zu zittern. Seit dieser Zeit zittert diese Hand stetig sowohl im Ruhezustände als auch
bei Bewegungen; sie ist schwach, die Finger sind steif, sie könenn nichts festhalten;
er verschüttet alles und kann nicht einmal den Löffel zum Munde führen. In der
Schulter hat er Stechen, in der Hand und speziell in den Fingern Kribbeln. In der
Klinik wurde am 16. Mai 1909 ein intensiver, stetiger Tremor der rechten Hand
im Ruhezustände und ein noch intensiverer bei Bewegungen konstatiert. Der Kranke
hält die Finger gestreckt und gespreizt, kann sie nicht aktiv zur Faust schließen,
sondern nur mit Hilfe der linken Hand, und drückt das Dynamometer links auf
Fig. 60.
24 kg, rechts auf 0. Die Sensibilität der rechten Körperhälfte ist herabgesetzt.
Keine Muskelrigidität, keine Symptome einer organischen Läsion des Nervenmuskel-
systems. Perimeter für alle Farben auffallend breit (z. B. für Grün 40, 55, 40, 60°).
Am 17. Juni 1909 zeichneten wir einen groben, stetigen, bald gleichmäßigen, 7 Wellen
in der Sekunde zählenden, bald ungleichmäßigen, 6—7 Wellen in der Sekunde
auf weisenden, allorhythmischen (wellenförmigen, knotenförmigen) Tremor. Auch
am rechten Fuß wurde manchmal ein leichter Tremor bemerkt. Der Kranke wurde
nun franklinisiert und hatte am nächsten Tage weder Zittern, noch andere Be¬
schwerden und verließ das Spital mit einem dynamometrischen Effekt von 19 kg
rechts und 24 kg links.
Hierauf war er gesund und arbeitsfähig. — Am 22. Oktober 1909 verspürte er
wiederum beim Bügeln einen Stich in der rechten Schulter und bemerkte einige
Stunden später einen Tremor der ganzen rechten Oberextremität, so daß er nicht
arbeiten konnte. Seither besteht wieder das Zittern. Am 6. November 1909 wurde er
neuerdings aufgenommen mit Zittern der rechten Hand im Karpalgelenke im Sinne
von Flexion und Extension. Durch Kompression des rechten Oberarms konnte er
das Zittern unterdrücken. Auch die linke Oberextremität zitterte leise. Der regi¬
strierte Tremor der rechten Hand w T ar bei ruhiger statischer Innervation ganz regel¬
mäßig, grob, gleichmäßig, von 6 Wellen in der Sekunde; bei intendierten Bewegungen
wurde er unbedeutend unregelmäßig, gröber, bei gleichbleibender Schnelligkeit
von 6—6,5 Wellen in der Sekunde. Nach zweimaliger Franklinisation verschwand
wiederum alles; es war weder im Ruhezustände noch bei Intention Zittern vorhanden.
Mitte März 1910 kam der Patient zum dritten Male. Wir registrierten wiederum einen
groben Tremor, der bei statischer Innervation unregelmäßiger wurde, ziemlich
rhythmisch war und 7—8 Wellen in der Sekunde betrug; bei Intention w r ar er etwas
Neurosen und Psychosen.
83
gröber; wenn der Kranke den Apparat nach Art eines Bleistifts hielt, war das Zittern
langsamer (6—6,5 Wellen in der Sekunde). Bei seiner Rückkehr aus der Klinik
am 19. März 1910 fühlte sich der Patient gesund und hatte keine Beschwerden.
Am 18. Juni 1910 fühlte er beim Bügeln plötzlich einen Stich in der rechten Schulter,
die betreffende Hand begann zu schmerzen und am 20. Juni nach alter Weise zu
zittern. Er wurde am 21. Juni wiederum in die Klinik aufgenommen. Er hatte im
Ruhezustände dasselbe Zittern, vorwiegend im rechten Karpalgelenk, das nur hier
und da für einen Augenblick verschwindet; durch den Willen kann er es angeblich
nicht unterdrücken, wenn er aber das rechte Schultergelenk festhält, zittert er nicht.
Wenn er die Hand zur Faust schließt, ist das Zittern, solange die Faust geschlossen
ist, geringer. Beim Drücken des Dynamometers ist das Zittern grob und durch
unregelmäßige Bewegungen der Hand unterbrochen; hierbei zittern auch der Rumpf
und die Füße. Erfaßt er mit festem Griff mit beiden Händen in richtiger Weise
(der Daumen in Untergriff-, die übrigen Finger in Obergriffstellung) die Lehne eines
Sessels und hält er denselben hoch, fehlt der Tremor an den Händen, erscheint aber
am Körper. Beim Vorwärtsstrecken besteht er; wenn der Kranke seine Nase be¬
rühren soll, hebt er die Hand, die unbedeutend zittert, bogenförmig vor die Nase,
erreicht unter beträchtlichen Schwingungen dieselbe und auch beim Ziele schüttelt
er die Hand. Versuch mit dem Glase positiv. Bei maximaler passiver Flexion
und Extension der Hand zittert diese nicht.
Die registrierte Kurve zeigt einen regelmäßigen Tremor von 7 Wellen im
Ruhezustände; bei Intention ist der Tremor gröber und weist wieder 7 Wellen in
der Sekunde auf (Fig. 60).
e) Paraplegischer Tremor, prägnant im Ruhezustände, vor¬
wiegend an den Füßen oder an einem Fuße, ähnlich dem Fußklonus, sowohl
im Ruhezustände als auch bei Intention, bei der er sich gewöhnlich verstärkt,
ohne aber ein Intentionszittem zu sein; er steht an der Grenze zwischen dem
vorangehenden Tremor und dem Intentionstremor. Hierher gehört Pitres*
„tremblement tröpidatoire“, Dutils ,,forme paraplögique“.
Dieser Tremor besitzt eine mittlere Schnelligkeit, 5—7 Wellen in der
Sekunde. Bei vollständiger Ruhe, besonders in horizontaler Position, verschwin¬
det er. Am deutlichsten ist er, wenn der Kranke sitzt oder steht, manchmal
steigert er sich beim Gehen. Die Patellarreflexe sind häufig nicht gesteigert,
sondern eher herabgesetzt und durch die übliche Methode der Untersuchung
auf Fußklonus läßt sich der Tremor einschränken oder gänzlich zum Stillstand
bringen (Dutil).
Pitres führt zwei Beispiele an.
Im ersten Falle handelte es sich um einen 42 jährigen Mann, der nach einem
Rausche einen Tremor der rechten Unterextremität im Sitzen und Stehen bekam, zu¬
gleich rechtsseitige Hemiparese, disseminierte Anästhesie, Gesichtsfeldeinschränkung.
Eine Magnetisierung befreite ihn binnen einer Stunde vom Tremor und von der
Lähmung. Nach einem neuerlichen Rausche gelegentlich eines Hochzeitfestes
wiederholte sich dasselbe Bild und ging wieder so günstig aus. Nach einem Streite
in der Familie dritte Wiederholung.
Den anderen Fall werde ich später erwähnen.
Laveran beschrieb 1892 bei einem Soldaten einen Tremor der linken Unter¬
extremität, der dem Fußklonus ähnlich war; er war vor 11 Monaten nach einer Ver¬
letzung des Knies durch einen Pferdehuf entstanden und trotzte jeder Behand¬
lung. Bei Bewegungen verschwand er. Der Kranke zeigte hysterische Stigmata.
Dutils Patient, ein 30jähriger Eisenbahnbeamter, der früher stets gesund war,
erkrankte vor drei Jahren an einer chronischen Gonorrhoe, die auch die Gelenke er¬
griff und durch die er sehr geängstigt und psychisch deprimiert war. Nach einem
Jahre bekam er Schmerzen im Kopf und im Hinterhaupt, Gedächtnisschwäche
und schreckhafte Träume. Vor fünf Monaten weckte ihn ein Zittetn des rechten
Unterschenkels und bald darauf begann auch der linke Unterschenkel zu zittern.
6*
84
Erster Teil.
Am nächsten Tage erhielt er sich schon kaum mehr auf den Füßen; seither hat sich
das Zittern nicht geändert, selbst eine viermonatliche Kur in einem Krankenhause
war ohne Erfolg geblieben. Im Sitzen ist das Zittern dem Fußklonus sehr ähnlich.
Der Gang ist nicht spastisch, aber hüpfend. Die Patellarreflexe sind gesteigert;
bei der Untersuchung auf Fußklonus mildert sich das Zittern und verschwindet.
Es fanden sich hysterische Stigmata und eine hysterogene Zone, durch deren Kom¬
pression das Zittern gesteigert wird.
Infolge des eigentümlichen Ganges bildet dieser Fall einen Übergang
zu dem zweiten Falle von Pitres.
Der 46jährige Mann war Zeuge, wie seine Tochter beinahe vom dritten Stock¬
werk herabgestürzt wäre. Er wurde bewußtlos, hatte 19 Stunden lang allgemeine
Krämpfe und als er erwachte, hatte er Kontrakturen an den unteren Extremitäten.
Diese verschwanden zwar, dafür aber erschien nach sechs Monaten ein Zittern, das
zehn Jahre lang fortdauerte und während dieser langen Zeit einmal für fünf Tage
und einmal für einen Monat ohne jede Ursache verschwand. Bei horizontaler Lage
ist der Körper ruhig. Im Sitzen hat der Kranke einen deutlichen Tremor der Füße,
im Stehen schwankt er, beim Gehen zittert er am meisten. „La marche ötait
hösitante, sautillante comme celle des sujets atteints de tabes spasmodique.“ Er
hatte nie Tremor der Hände oder des Kopfes. Er stammte von einer hysterischen
Mutter. Er hatte eine rechtsseitige Gesichtsfeldeinengung, inselförmige Anästhesie,
Anosmie, Ageusie, spasmogene Zonen in der linken Fossa iliaca und über dem
8. Brustwirbeldomfortsatz. In Paris und in Bordeaux wurde er von zahlreichen
Ärzten untersucht, die durchwegs eine organische Bückenmarkserkrankung an-
nahmen, ohne daß ein Symptom einer organischen Läsion bestanden hätte.
Eine weitere Ubergangsform ist der folgende von Dutil zitierte Fall
Ho molles aus dem Jahre 1879.
Die mit verschiedenen hysterischen Symptomen behaftete Patientin hatte
einen Tremor der rechten Unterextremität, der bei horizontaler Lage verschwand,
aber bei Emotionen, bei intendierten Bewegungen, am meisten aber bei Gehver¬
suchen auftrat; er war regelmäßig, von 3,3 Wellen in der Sekunde und breitete sich
beim Gehen über den ganzen Körper aus.
Diese Fälle bilden einen unmerklichen Übergang von dieser Gruppe von
Tremorformen zu jener Form, die bei der sogenannten pseudospastischen Parese
mit Tremor (Fürstner-Nonne) beobachtet wird. Die Verwandtschaft dieser
beiden Formen dokumentiert am besten ein Patient, der in der Klinik Tho mayer
mit Fürstner-Nonnescher Neurose zur Beobachtung kam und der einige Jahre
früher während meiner Assistentenzeit in der psychiatrischen Klinik Kuffners
nur ein Zittern der rechten Unterextremität im Sitzen darbot, einen groben,
langsamen, dem Fußklonus ähnlichen Tremor, der bei Intention verschwand.
Zwei Jahre später hatte er in der Klinik Tho may er denselben Tremor des
rechten Fußes im Ruhezustände, der im Stehen aufhörte; dafür aber entstand
im Stehen und beim Gehen ein gröberer und schnellerer Tremor der Füße, des
Rumpfes und des Kopfes (Öasopis lekarüv öesk^ch, 1903). Bei Erregungen
zitterten auch die Hände. Ich habe diesen Tremor registriert; es war ein un¬
gleicher, unregelmäßiger Tremor von 7—7,5 Wellen in der Sekunde.
f) Hysterisches Intentionszittern,
An den unteren Extremitäten kommt ein hysterisches Intentionszittern
vor als Hauptsymptom der charakteristischen klinischen Bilder der pseudo¬
spastischen Paraparese, der trepidatorischen und saltatorischen Abasien.
An den oberen Extremitäten kombiniert er sich häufig mit dem mono-
plegischen Tremor im Ruhezustände, ist aber manchmal so grob und prägnant.
Neurosen und Psychosen.
85
daß es als klinisches Symptom den Charakter der monoplegischen Lokalisation
überragt und an dieser Stelle eingereiht werden kann. In anderen Fällen erscheint
es auch ohne den Tremor im Ruhezustände und erlangt eine Ähnlichkeit mit
der Herdsklerose. Im allgemeinen zählen wir also hierher alle hysterischen
Tremorformen, die der Herdsklerose annähernd ähnlich sind.
a) Der Tremor bei der sogenannten pseudospastischen Para¬
parese (Fürstner-Nonne) befällt, wie wir an den letzten Beispielen der vor¬
hergehenden Gruppe gesehen haben, vorwiegend die Unterextremitäten, hört
in der Ruhe gewöhnlich auf, erreicht aber bei Intention eine derartige Intensität,
daß der ganze Körper beim Gehen derart erschüttert wird, daß die Kleider des
Kranken wie eine tahne im Winde flattern; auch der Kopf beteiligt sich an dem
Zittern. Aufregungen, Beobachtung des Kranken beeinflussen den Tremor
ungünstig; Ablenkung der Aufmerksamkeit vermag das Zittern einzuschränken
oder gar zu unterdrücken. Unser Patient z. B. zitterte, wenn er im Bade bis
zu den Knien im Wasser stand, beim Gehen fast gar nicht, ebenso wenn er
leicht gestützt oder vielmehr unter den Achseln mehr gehalten als gestützt
wurde, oder wenn man ihn an einem Stock oder an einem Faden führte. (Der¬
artige Fälle beschrieb Jessen als „spastische Zittemeurose“, Fürstner als
„pseudospastische Parese mit Tremor“, Nonne unter demselben Namen, aber
mit dem Zusatze „nach Trauma“, ferner Onuf, Fr. Proch&zka, Becker,
Respinger, Pelnäfr, Van^sek und in den letzten Jahren noch andere.)
ß) Der vorangehenden Form sehr nahestehend, wenn nicht mit derselben
identisch, ist der Tremor bei der sogenannten „abasie tr6pidante“ der fran¬
zösischen Autoren: die als Astasie-Abasie charakterisierte Störung des Ganges
wird durch einen groben Tremor der unteren Extremitäten gesteigert; „la
marche est genee par des mouvements d’6xecution contradictoires, consistant
en une sorte de träpidation rappellant ce que l’on voit dans certaines para-
plögies spasmodiques.“ — Blocq und Onanoff — S6meiologie).
Hierher gehören unsere Fälle.
17. Dysbasia posttraumatica. Ein der pseudospastischen PareBe
mit Tremor ähnliches Bild. Aggravation. Simulation? Monoplegischer
Tremor.
Z. 17/145/04. St. J., 59jähiiger Tischler, fiel im Jahre 1901 von einer Leiter.
Seit dieser Zeit klagte er über Kreuzschmerzen und Unbeweglichkeit. Vom 7. bis
14. April 1903 stand er in unserer Abteilung in Beobachtung. Man konstatierte
Hesitation bei Bewegungen, sonst keine Anomalie. Die rechte Pupille war breiter
als die linke, die Pupillen reagierten nicht. Bald darauf wurden die Füße schwach,
so daß er sich zwei Krücken anschaffen mußte und trotzdem ging er schwer. Auch
die rechte Hand erschlaffte im Karpalgelenk, so daß er sie nicht strecken konnte.
Nach einem halben Jahre kehrte die Beweglichkeit wieder, aber dafür bekam er
Schmerzen im rechten Schultergelenk und Unbeweglichkeit desselben. Bei seinem
zweiten Eintritt in unsere Anstalt war die rechte Pupille weiter und total unbeweg¬
lich; die linke reagierte normal. Im übrigen bestanden keine Symptome einer
Läsion des Nervensystems. Während der Untersuchung der rechten Oberextremität
bekam er ein grobes Zittern dieser ganzen Extremität. Bei der direkten Unter¬
suchung der Mobilität des rechten Schultergelenks und der Wirbelsäule klagt er
über Unbeweglichkeit infolge ungeheurer Schmerzen; wenn aber die Bewegungen
in dem genannten Gelenk und in der Wirbelsäule indirekt ausgeführt werden,
reagiert er auf die Bewegung überhaupt nicht. Er steht auf breiter Basis
mit hyperextendierten Knien und vorgebeugtem Rumpfe, kann sich nicht
aufrecht erhalten, beim Gehversuch entstehen grobe Flexionen und Extensionen
86
Erster Teil.
in den Kniegelenken; er überlegt es sich lange, bevor er ausschreitet; dann erhebt
er den gestreckten Fuß, stampft mit ihm, wie wenn er aus Holz wäre, auf den Boden
auf, schwankt dabei schnell hin und her, keucht, will sich an den umstehenden Gegen¬
ständen festhalten, schwankt, als ob er sich den Schädel zertrümmern sollte, fällt
aber niemals hin. Auf seine Krücken gestützt geht er ohne zu schwanken, aber die
Gangart bleibt unverändert. Wenn man ihn führt, geht er besser, auch wenn er
sich hierbei nicht stützt. Die aktiven und noch mehr die passiven Bewegungen der
unteren Extremitäten sind durch Kontrakturen nicht entsprechender Muskeln ge¬
hemmt. Wenn man die Füße des Kranken passiv emporhebt und fallen läßt, fallen
sie nicht schlaff auf den Boden auf, sondern der Kranke schlägt mit ihnen erst nach
einer Weile auf die Unterlage auf. Hebt man den Fuß des Kranken zur maximalen
Elevation empor, die er selbst angeblich nicht erzielen kann, und drückt ihn dann
aus dieser Lage plötzlich hinab, setzt der Kranke zuerst Widerstand entgegen und
hält den Fuß eine Weile in maximaler Elevation, und erst dann schlägt er ihn
auf den Boden nieder. Die Reflexe sind normal. Wenn sich der Kranke beobachtet
fühlte, ging er schwer und zitterte dabei stark. Wurde er aber nicht beobachtet,
z. B. als er das Krankenhaus verließ, ging er im gewöhnlichen Schritt, zitterte fast
gar nicht und stützte sich nur wenig auf die Krücken.
18. Einen analogen Fall untersuchte ich wiederholt gemeinsam mit Herrn
Prof. Haäkovec im Jahre 1907. Es handelte sich um einen jungen Mann, der in
einem Eisenbahnzug saß, als dieser entgleiste; der Wagen, in dem der Kranke saß,
stürzte in einen Graben hinab; der Kranke verließ den Wagen mit den übrigen
Reisenden durch das Fenster und kroch unter dem umgestürzten Wagen hervor;
ganz erschreckt lief er vom Orte der Katastrophe eine halbe Stunde weit fort, er
sah alles um sich wie in Nebel gehüllt und fürchtete, es müsse noch ein Unglück ge¬
schehen. Er lief bis zur nächsten Station, promenierte am Perron, setzte sich sodann
nieder und bekam Kribbeln im Körper und Krämpfe, die er als typische tetanische
Krämpfe schildert. Man trug ihn in einen Wagen und mußte ihn auch aus dem Wagen
tragen, da seine Füße steif, wie hölzern waren. Seit dieser Zeit konnte er überhaupt
nicht gehen; nur mit größter Mühe und mit fremder Unterstützung stellte er sich
neben dem Bette auf, um urinieren zu können; hierbei zitterte er am ganzen Körper.
Er befand sich fortwährend in Sanatorien; erst ein halbes Jahr nach der Katastrophe
begann er mit Hilfe zweier Krücken zu gehen. Bei unserer Untersuchung fanden wir
an den Oberextremitäten, am Rumpf und am Kopf nichts Abnormes. An den
Unterextremitäten war die Muskulatur gut entwickelt, frei von Atrophien. In
horizontaler Lage vollführt der Kranke mit denselben alle Bewegungen, doch in
geringer Ausdehnung, mit geringer motorischer Kraft und offenkundiger Anstrengung;
bei näherer Betrachtung wird es klar, daß eine jede Bewegung durch die gleichzeitige
Kontraktion der Antagonisten gestört wird. Beim Versuche sich zu erheben und auf¬
zustellen entsteht ein heftiges, rasches Zittern der Unterextremitäten, das sich
sekundär durch passiven Tremor des ganzen Rumpfes äußert. Beim Gehen sind die
Füße steif gestreckt, der Kranke hebt sie nicht vom Boden ab. Das Gehen ist weder
ohne unsere Unterstützung, noch mit derselben möglich; nur wenn er sich auf seine
langen, bis in die Achselhöhlen reichenden Krücken stützt, kann er stehen und gehen,
allein auch dann steif und auf breiter Basis. Nach rückwärts geht er so wie nach
vom. Inselförmige Anästhesie, Hypalgesie und Analgesie. Alle Reflexe lebhaft.
Kein Fußklonus, kein Babinski. Harnentleerung und Defäkation normal. Das Ge¬
sichtsfeld für Farben war erweitert; einige Gesichtsfelder für Farben waren ab¬
normal gelagert und durcheinander geworfen.
Also eine typische ,,abasie tröpidante“ der französischen Autoren.
y) Von derselben Art sind die sogenannten saltatorischen Krämpfe oder
die saltatorische Abasie der Franzosen, bei der der Gang noch bizarrer ist;
derselbe wird durch Muskelkontraktionen unregelmäßig gestört, so daß es
mehr ein Hüpfen als ein Gehen ist. Die nahen Beziehungen dieser Form mit den
vorangehenden Formen dokumentiert z.B. der von Eulenburg in seinem Hand¬
buch aus dem Jahre 1871 in dem Kapitel über statische Krämpfe zitierte Fall
Guttmanns.
Neurosen und Psychosen.
87
Ein 46 jähriger Tischler bemerkte, daß sein linker Fuß im Sitzen zittere und
sich von der Unterlage abhebe. Das Zittern verstärkte sich, wenn er den Fuß hoch¬
heben wollte. Nach 14 Tagen zitterte, wenn er zu gehen versuchte, auch das linke
Bein, so daß er beim Gehen hüpfte. Später ging das Zittern immer mehr in salta-
torische Krämpfe über, aber mit der Zeit milderten sich diese Bewegungen zu einem
zarten Zittern. Die Behandlung war erfolglos.
d) Universeller Intentionstremor, überwiegend an den oberen
Extremitäten und daher auf den ersten Blick am meisten der Herdsklerose
ähnlich.
Dieser Tremor ist sehr intensiv, häufig grob und schleudernd, rhythmisch
und schnell, macht bis zu 13 Wellen in der Sekunde, erfolgt nach den ver¬
schiedensten Richtungen, beginnt mit der Intention, auch dann, wenn dieselbe
zu keiner Bewegung führt (Grasset), und zwar beginnt er schon vor dem
Eintritt der Bewegung (unser 19. Fall) und überdauert manchmal die Intention
(Oppenheim). Er pflegt mit einem Pseudoklonus des Fußes wie bei Sklerose
oder mit einer hysterischen Hemiparese mit Hemispasmus wie bei Gehim-
affektionen einherzugehen, kombiniert sich mit vasomotorischen Störungen,
mit rhythmischer Chorea, Stottern, Tic, kombiniert sich ferner manchmal im
Ruhezustände mit intermittierendem Tremor wie bei Quecksilbervergiftung
oder mit einem langsamen Tremor wie bei der Parkinsonschen Krankheit.
Manche Patienten können den Tremor durch einen Trick unterdrücken. Ein
einseitiger Tremor läßt sich mittelst des Transferts auf die andere Seite über¬
tragen und durch die Hypnose unterdrücken und hervorrufen. Er tritt sofort
mit seiner ganzen Intensität auf. Diese Form des hysterischen Tremors hat
schon Breillot unterschieden und ihr den Namen Chorea hysterica belassen;
aber vollständig abgetrennt hat sie erst Pit res, der dann so weit ging, daß er
nicht bloß die sogenannte toxische Hysterie, sondern auch Westphals Pseudo¬
sklerosen und alle postinfektiösen Intentionstremorformen hierher zählte, was
wir aber heutzutage nicht billigen können. Infolge der Lehre von Pit res finden
wir bei dieser Form des Tremors Fälle, deren hysterischer Charakter nicht ganz
sicher ist. (Die Fälle von Pitres nach Typhus, von Souques — 46jähriger
Kesselschmied —, von Maguire — 49jähriger Patient, von Grasset.)
In klinischer Hinsicht sind alle publizierten. Fälle durch die Mannigfaltig¬
keit und den Reichtum der Symptome und durch die plötzlichen und über¬
raschenden Veränderungen in ihrem Verlaufe höchst interessant; jeder Fall
besitzt etwas Charakteristisches, weshalb ich sie alle etwas eingehender
anführen will.
Pitres: Der 34jährige Patient bekam nach großen finanziellen Verlusten
Kopfschmerzen, Schlafsucht, Abnahme des Intellektes, linksseitige Parese der
Motilität, der Sensibilität und der Sinnesorgane mit linksseitigem, reinem Intentions¬
tremor, der an der Hand stärker war als am Fuße. Versuch mit dem Glase sehr
prägnant. Der Kranke war kein Trinker, hatte nie Lues. Der Autor dachte an
einen Gehirntumor, versuchte aber noch den Magneten und nach einer Stunde war
der Kranke zur größten Überraschung des Autors gesund.
Charcot (1890): Ein 36jähriger, von einer epileptischen Mutter stammender
Tischler bekam nach einem hysterischen Anfall Mutismus und Intentionstremor
der Hand und Zittern des Fußes beim Gehen analog dem Fußklonus. Das Zittern
trotzte zwei Jahre lang jeder Therapie.
Ein 39jähriger Landmann bekam nach hysterischen Anfällen allmählich
einen Intentionstremor, der fälschlich auf Herdsklerose, Myelitis, Alkoholvergiftung
bezogen wurde.
Erster Teil.
Talmas erster Fall: Ein 62 jähriger Alkoholiker bekam vor zwei Jahren Inten-
tionszittem der linken Unterextremität, dann der rechten Oberextremität, schlie߬
lich aller Extremitäten, so daß er seine Arbeit aufgeben mußte, da er nichts in die
Hand nehmen und nicht gehen konnte. Er hatte Spasmen der oberen und unteren
Extremitäten und gesteigerte Reflexe. Nach Brom trat vollständige Heilung ein.
Zweiter Fall: Ein Mann bekam nach einem Affekt (Zorn) einen Intentions¬
tremor der linken Hand, besonders beim Schreiben. Auch die Sprache war etwas
zitternd und die Muskeln in der Umgebung der Mundwinkel zitterten ebenfalls.
Nach Brom und Wasserbehandlung genas der Patient.
Dritter Fall: Ein 8jähriges Mädchen konnte nach einem Schrecken weder
schreiben noch andere feine Arbeiten mit der rechten Hand verrichten infolge des
Zitterns und der Muskelzuckungen. Nach Brom verschwand alles.
Weiters beobachtete er bei zwei hysterischen Mädchen Hemispasmus mit
Intentionszittem, das einer jeden Behandlung trotzte.
Boeri beschreibt einen universellen Intentionstremor (nach Trauma) an
den gesunden und verletzten Extremitäten.
Einisse beobachtete Intentionszittern der Stimmbänder bei drei in einem
Pensionate wohnenden Mädchen im Alter von 12, 16 und 17 Jahren; diese Mädchen
konnten nicht sprechen und der Autor sah mit dem Spiegel bei der Phonation ein
intensives Zittern der in Medianstellung befindlichen Stimmbänder. Nach intra-
laryngealer Faradisation verschwand alles. Der Autor beobachtete in demselben
Pensionate ein Jahr vorher vier analoge Fälle.
Hüssy sah einen 12jährigen Knaben, der während der letzten vier Wochen
beim Essen ein intensives Zittern beider Hände bekam, das ihn am Essen hinderte,
und zwar nur dann, wenn er den Löffel oder das Glas zum Munde führte, während
es bei anderen Bewegungen z. B. beim Schreiben nicht auftrat. Nach Faradisierung
verschwand es gänzlich.
In den angeführten Fällen handelte es sich um ein reines Intentionszittem.
Häufiger ist dasselbe aber auch im Ruhezustände von einem langsamen oder
schnellen Zittern der Glieder begleitet. Diese Fälle bezeichnet Dutil als type
Ren du (tremblement r&nittant intentionel).
Ren du: Ein 58 jähriger Mann stürzte auf der Gasse hin und akquirierte
eine rechtsseitige Hemiplegie, die nach 6 Wochen verschwand. Zwei Jahre später
hatte er Zittern der Füße im Ruhezustände mit intentiver Verstärkung und Ab-
schwächung. Nach Schwefelbädern verschwand alles. Vor 14 Tagen bekam er
nach einem Schwindelanfall einen reinen Intentionstremor der Hände allein, links
stärker als rechts, ohne Störung der Sensibilität und der Sinnesorgane. Die Patellar-
reflexe waren sehr gesteigert. Nach Schwefelbädern und Brom trat Heilung ein.
(Diesen Fall, dessen hysterische Natur nicht sicher ist, zitiert Dutil.)
Rendus zweiter Fall aus dem Jahre 1892 ist überzeugender. Ein 66jähriger
Mann hatte im Ruhezustände einen Tremor der rechtsseitigen Extremitäten wie beim
Parkinson, bei Bewegungen einen solchen wie bei Sklerose. Gleichzeitig hatte er
eine gleichseitige Hemianästhesie, Gesichtsfeldeinschränkung, glossolabialen Hemi¬
spasmus und hysterische Anfälle. Seine Krankheit begann vor 20 Jahren, als er
in einer Fabrik auf Kautschukwaren arbeitete und einmal in Schwefelkohlenstoff¬
dämpfen ohnmächtig wurde. Es blieb eine Lähmung der Motilität und Sensibilität
rechts zurück, verbunden mit einem dem alkoholischen Tremor ähnlichen Zittern.
Seit dieser Zeit wandert er von Klinik zu Klinik und wurde wiederholt als hysterisch
demonstriert.
Rogers 69jähriger Patient hatte im Ruhezustände einen sehr langsamen
Tremor, 2—2,5 Wellen in der Sekunde, rechts viel stärker als links; er hielt den Körper
steif und bewegte die Finger wie über Brotkügelchen. Die Füße und der Kopf
zitterten nicht. Bei der Glasprobe entstand ein heftiges Schütteln der Hände.
Der Vater des Kranken endete durch Selbstmord, eine Schwester war hysterisch.
Im 35. Lebensjahr tobte er während einer Lungenentzündung, hatte hysterische
Anfälle und spastische Paraplegie und war ein halbes Jahr krank; eine Valerian-
dusche machte ihn binnen 48 Stunden gesund. Das gegenwärtige Zittern entstand
Neurosen und Psychosen.
wiederum nach einer Lungenentzündung, und zwar im Anschlüsse an eine erfolglose
Sondierung: er bekam einen hysterischen Anfall, nach welchem ein Zittern aller
Extremitäten zurückblieb; an den Füßen verschwand das Zittern, nicht aber an
den Händen. Interessant war das weitere Schicksal des Kranken: er bekam eine
fieberhafte Zystitis und das Zittern verschwand wie auf einen Schlag. Nur am
Morgen hatte der Kranke bei gefüllter Blase einen Intentionstremor.
Dutil publizierte in seiner These zwei Fälle aus der Klinik Charcot.
Ein 36 jähriger Mann, dessen Mutter und Bruder an Epilepsie litten, erblickte
vor zwei Jahren als er nach Hause ging, sein Kind unter den Hufen eines Pferdes.
Er rettete das Kind, aber am nächsten Tage, nach einer durch schreckhafte Träume
gestörten Nacht, hatte er Kopfschmerzen und seit jener Zeit klagte er über ein
schlechtes Gedächtnis. Nach einem Monat bekam er auf dem Wege zur Arbeit
einen Krampfanfall, nach welchem ein Zittern der Füße zurückblieb, das links
stärker war als rechts. Seitdem wiederholen sich solche Anfälle mit nachfolgendem
Zittern, einmal war auch Mutismus und Aphonie vorhanden. Der Autor beobachtete
den Kranken zwei Monate und konstatierte einen regelmäßigen, groben Tremor
von 6—6,5 Wellen in der Sekunde an den Händen und Füßen und am Kopfe; im
Sitzen war der Tremor jenem beim Parkinson ähnlich, bei Bewegungen und im
Gehen war er sehr grob. Außerdem besaß der Kranke zahlreiche hysterische Stigmata.
Der Autor reproduziert eine sehr schöne Kurve des Intentionszittems dieses Kranken.
Das Zittern verschwand manchmal spontan im Buhezustande.
Ein 39 jähriger Mann, der vom 17.—19. Lebensjahre an nächtlichen Krampf¬
anfällen litt, begann vor zwei Jahren ohne Ursache plötzlich zu stottern und zitterte
dann an allen vier Extremitäten. Er lag ein Jahr im Krankenhause, wo er mit
Jod und Quecksilber so lange behandelt wurde, bis er die Zähne verlor, aber vom
Zittern wurde er nicht befreit. Das Zittern war am rechten Bein am stärksten
und dem Klonus im Buhezustande ähnlich. Beim Gehen zitterte der ganze Körper
und sogar auch der Kopf (ja — ja). Der Versuch mit dem Glase war sehr prägnant.
Hysterische Anfälle, Emotionen, Druck auf die hysterogenen Zonen verstärkten
das Zittern. Zahlreiche Stigmata.
Bitots Fall hat ebenfalls Dutil publiziert. Es handelte sich um einen
39 jährigen Mann, dessen Mutter und Schwester an Hysterie litten. Vor vier Jahren
fiel ihm ein hölzernes Portal auf den Kopf. Er war eine halbe Stunde bewußtlos
und als er das Bewußtsein wiedererlangte, zitterten seine Hände und Füße, besonders
beim Gehen. Dann wurde das Zittern der Füße geringer, nicht aber jenes der Hände.
Vor einem Jahre gesellten sich Zuckungen der Gesichtsmuskeln hinzu und das
Händezittern wurde so stark, daß der Kranke weder essen noch schreiben konnte.
Die Sprache war skandierend, wenn auch nicht schwerfällig. Nach Magnetisierung
auffallende Besserung.
Wertheims 38jährige Näherin hatte anfangs Zittern bei der Intention
sowie auch im Buhezustande, wenn auch in diesem schwächer, später ein reines
Intentionszittern von 8—9 Wellen in der Sekunde.
Kraf ft-Ebing beschrieb fünf Fälle von hartnäckigem Zittern bei jungen
Frauen, das im Buhezustande klein, bei Intention und Aufregung groß war, 2—3
resp. 4,4, 2—5 und 4—6 Wellen in der Sekunde besaß; es entstand dreimal nach
Erschrecken, einmal nach Typhus und einmal ohne bekannte Ursache bei einer
degenerierten Person. Der Autor faßt diese Fälle unter dem Namen Zittemeurose
zusammen. Sein sechster Fall war sehr zweifelhaft:
15 jähriges Mädchen, das seit seinem 12. Lebensjahr an einem groben Schwingen
der rechten Hand leidet, welches im Buhezustande klein ist, bei Intention aber
gröber wird. Das Mädchen hat keine hysterischen Stigmata. Das Zittern trotzte
jeder Behandlung.
Thöbeault führt in seiner These über den senilen Tremor zwei Fälle nach
Trauma an (Obs. IX. und XIII.), bei denen ich den Verdacht auf eine Kombination
des senilen Tremors mit dem hysterischen Intentionszittem hege.
Andere Fälle lassen die Frage offen, ob es sich um Hysterie oder um be¬
ginnende Sklerose oder um die sogenannte Pseudosklerose Westphals oder
um einen zerebralen Tremor gehandelt hat.
90
Erster Teil.
Pitres: Ein 18jähriger Jüngling, der Typhus überstanden hatte, erwachte
eines Tages mit dem Gefühl von Kälte und Starre in der rechten Körperhälfte und
konnte nicht sprechen. Nach 14 Tagen wich die Kontraktur einem groben Intentions-
zittera der Hand. Der Jüngling hatte eine beiderseitige Gesichtsfeldeinengung
und fehlenden Pharyngealreflex.
Grasset: Eine 30jährige Patientin bekam nach dem Tode ihres Vaters
Kopfschmerzen und eine linksseitige Parese mit Störung der Sensibilität und der
Sinnesorgane; diese Erscheinungen verschwanden, aber es blieb eine Schwäche
der linken Extremitäten mit reinem Intentionszittem zurück. Dann traten stetige
Oszillationen des Kopfes mit rhythmischen Kontrakturen der Stirn- und Augen¬
brauenmuskeln hinzu. Der Autor wirft selbst die Frage auf, ob außer Hysterie nicht
auch eine Läsion des Pedunculus vorhanden gewesen sei.
Souques: In diesem von Dutil in seiner These publizierten Falle handelte
es sich um einen 46jährigen Schmied, in dessen Familie Fälle von Wahnsinn und
Migräne vorkamen. Er pflegte seine Frau 18 Monate vor ihrem Tode Tag und Nacht
und wurde nach ihrem Tode trübsinnig. Eines Morgens wurde er ohnmächtig
und als er erwachte, hatte er eine rechtsseitige Lähmung und Abasie. Nach einer
fünfmonatlichen Behandlung in einem Krankenhause war sein Zustand nur ge¬
bessert. Später hatte er Schwindel, Kopfschmerzen und Zittern, doch besserten
sich diese Beschwerden nach Bädern und Jod. Dann verlor er allmählich die Seh¬
kraft des rechten Auges. Zugleich hatte er eine skandierende, häsitierende, stotternde
Sprache. Im Sitzen war er ruhig; sobald er aufstand, zitterte er am ganzen Körper
6—7 mal in der Sekunde, hatte Intentionszittem der Hände, schleppte den rechten
Fuß nach, wobei aber der rechte Patellarreflex herabgesetzt war. Er hatte hyste¬
rische Stigmata. Links war das Gesichtsfeld konzentrisch verengt, rechts bestand
Amaurose. Der ophthalmoskopische Befund war normal. Kein Nystagmus. Nach
zwei Monaten verschwand das Zittern fast vollständig und war nur im Zustande der
Ermüdung und bei Emotionen vorhanden, aber die Sprachstörungen und die sensitivo-
sensorielle Hemiplegie blieben bestehen.
Maguires Patient (zit. von Dutil), ein 49jähriger Mann, hatte Intentions¬
zittem vorwiegend an den Händen, aber auch an den Füßen, und eine monotone,
sakkadierte Sprache. Nach einer Kombination von Jod und Brom trat Besserung
ein. Dann trat eine Rezidive ein und Heilung ohne Medikation. Die Sensibilität
war unverändert.
Sinkler (1898): Ein .25jähriger Mann verspürte vor 18 Monaten beim
Gehen ein Zucken im linken Unterschenkel und hatte bald darauf Intentionszittem
in der rechten Oberextremität. Dann breitete sich das Zittern auch auf die
übrigen Extremitäten aus. Es trat eine Lähmung des M. rectus internus dexter
auf. Absences. Der Autor sah den Kranken im Jahre 1897. Damals ging dieser
wegen Unsicherheit des linken Fußes beschwerlich. Im Ruhezustände zitterte er
nicht, aber mit der rechten Hand konnte er wegen Intentionszittem nicht arbeiten.
Die Patellarreflexe waren lebhaft; kein Fußklonus. Die Sprache war schwerfällig
und skandierend. Die Augen waren normal. Hierauf trat eine allgemeine Besserung
ein. Nun trat aber an der linken Hand Intentionszittem auf. Nach Kautherisation
des Nackens (Points de feu) konnte er mit der linken Hand essen. Gegenwärtig
hat der Kranke nur bei Intention Zittern der Hände, links klein, rechts prägnant.
Der Kranke stammte aus gesunder Familie. Er hatte keine hysterischen Stigmata.
Der Autor hält ihn für „functdonal tremor simulating disseminated sclerosis“.
In der Klinik Thomayer beobachteten wir einige schöne hierher gehörende
Fälle von hysterischem Intentionszittem.
19. Posttraumatischer, monoplegischer, reiner Intentionstremor.
F. G., 40jähriger Kondukteur. Am 30. Juni 1902 geriet er mit der rechten
Brustseite und mit der rechten Oberextremität zwischen die Puffer. Seit dieser
Zeit hängt die rechte Oberextremität schlaff herab. Bei der Untersuchung am 25. Juni
1903, also ein Jahr nach der Verletzung, hing die genannte Extremität noch immer
kraftlos herab; wenn er dieselbe hochheben soll, hebt er sie nur ganz wenig und matt
empor, die Hand gerät hierbei in ein rasches, grobes Zittern, wird aber bald matt,
Neurosen und Psychosen.
91
sinkt herab und das Zittern hört sofort auf. Wenn der Kranke sich nicht beobachtet
glaubte (beim Ankleiden), hob er die Hand bis zu einer Höhe von 30° empor, ohne
daß die Hand sichtlich zitterte. Das Zittern wird durch zwei Kurven veranschau¬
licht. Bei langsamer Umdrehungsgeschwindigkeit sehen wir den Tremor vom be-
tL/w
Fig. 61.
schriebenen Charakter. Bei größerer Umdrehungsgeschwindigkeit der Registrier¬
trommel sehen wir, daß das Zittern schon vor dem Emporheben der Hand beginnt;
es ist zart, besteht aus 8—9 Wellen in der Sekunde, wird bei Intention ungeheuer
größer, bleibt im allgemeinen immer größer und beginnt sich dann in der Mitte
Fig. 62.
zu verkleinern; es ist alternierend, besitzt 13,3 Wellen in der Sekunde und hört nach
dem Herabsinken der Hand schnell auf, außer es folgen noch einige kleine Wellen
nach (Figg. 61 und 62).
20. Anfälle von Intentionszittern der rechten Oberextremität mit Tic
des Platysma und des Diaphragma (?). Hysterogene Zonen. Beginn
nach einer Emotion. Hysterischer Mutismus und hysterisches Stottern.
Z. 4017/04. J. B., 60jähriger, aus gesunder Familie stammender Drehorgel¬
spieler. Trank früher bis 18 Glas Bier. Bis zum 15. Lebensjahre litt er an schreck¬
haften Träumen mit ängstlichem Aufschreien. Vor 7 Jahren wurde er von einem
Wachmann angehalten und gefragt, ob er die Erlaubnis habe, die Drehorgel zu spielen.
Er erschrak darüber und konnte am Abend nicht sprechen. Er wurde in die Klinik
aufgenommen, wo er nach fünfwöchigem Faradisieren die Sprache wiedergewann.
Schon damals zitterte die eine Hand, doch war ihm dies nicht hinderlich. Vor
6 Jahren bekam er ein Telegramm, das ihm die Nachricht von dem Tode seines Sohnes
überbrachte. Er erschrak, es schnürte ihm die Kehle zu, sein ganzer Körper wurde
steif, er konnte nicht sprechen, sondern stammelt« nur, im Gesichte ganz rot, vor
sich hin, bevor er wieder sprechen konnte. Die rechte Oberextremität begann zu
zittern und wurde hin und hergeschleudert. Anfangs konnte er das Zittern nicht
unterdrücken, später kam er dahinter, daß das Zittern verschwindet, wenn er die
rechte Hand mit der linken festhält. Die Faradisation in der Klinik blieb erfolglos.
Die Sprache besserte sich binnen 6 Tagen, aber das Zittern verfolgt ihn seither;
sobald er nämlich in Erregung gerät, beginnt die rechte Hand zu zittern, der Kopf
wird gegen die rechte Schulter gezogen, der rechte Mundwinkel wird herabgezogen,
der Patient „quieckt auf“ und kann weder atmen, noch ein Wort hervorbringen.
92
Erster Teil.
solange die Hand zittert. Es handelte sich um einen herabgekommenen Mann
mit Lungenemphysem, der keine Symptome einer organischen Läsion des Nerven -
muskelsystems darbot. Am Rumpfe und in den Kniekehlen kutane Hyperästhesie.
Im Ruhezustände lag die rechte Oberextremität stetig dem rechten Oberschenkel
an. Zeitweise bewegte sich auch im Ruhezustände diese Extremität in tote rhyth¬
misch, langsam (5—6 mal in der Sekunde) im Sinne der Adduktion und Abduktion
im Karpalgelenk imd der Pronation und Supination des Vorderarms. Subjektive
Aufmerksamkeit und fremde Beobachtung verstärkten das Zittern. Wenn der
Kranke die Hand aus dieser Position emporhebt, verfällt die Hand in eine intensive
Schüttelbewegung, der Patient bekommt einen Krampf des rechten Platysma,
beginnt zu stöhnen, wird im Gesichte rot und kann nicht sprechen; wenn er aber
die rechte Hand mit der linken faßt, dieselbe am Karpus drückt und an den Ober¬
schenkel preßt, verschwendet das Händezittern mit einem Schlag, der Platysma¬
krampf löst sich und der Patient kann sofort oder nach einer Weile normal sprechen.
Durch Druck auf den zervikobrachialen Plexus, die rechte Achsel, den rechten
Fig. 63.
großen Brustmuskel, den rechten M. cucullaris wird sofort ein typischer Anfall aus-
gelöst. Dasselbe geschieht, wenn man die Hand passiv vom Oberschenkel abhebt.
Im Anfall ist die rechte Oberextremität bei passiven Bewegungen starr, nicht aber
außerhalb des Anfalls. Wenn wir das Manöver, mittelst dessen es dem Kranken
gelingt, das Zittern zu unterdrücken, selbst vornehmen, nimmt die Intensität der
Schwingungen der Hand zu. Auf der beigelegten Serie von Kurven sieht man,
daß die linke Hand im Ruhezustände zart, nicht ganz gleich und nicht ganz regel¬
mäßig flimmert (Fig. 63 I); die Amplituden sind klein, 10 in der Sekunde; bei Inten¬
tion zittert sie anfangs mit viel gröberen Amplituden (Fig. 63 Ia), aber fast gleich
schnell (9,5 in der Sekunde), sodann zittert die gestreckte Hand wieder wie im Ruhe¬
zustände (Ib) und w r enn die Hand wieder in die ursprüngliche Lage zurückkehrt,
gerät sie neuerdings in dasselbe Zittern wie im Beginne der Intention (Ic). Anders
rechts: Hier sehen wir im Ruhezustände ein grobes Schwingen, 6,5 in der Sekunde
(Fig. 63 II), das vor der Intention ungeheuer zunimmt, dabei gleich schnell, ungleich¬
mäßig, aber sehr regelmäßig bleibt (II a); nach beendeter Intention bleibt ein un¬
gleichmäßiges, im großen und ganzen rhythmisches Zittern mit 12—13 kleinen
Amplituden in der Sekunde zurück (II b).
21. Grober, langsamer bis mittelschneller Tremor der Hände,
im Ruhezustand intermittierend, bei Intention offenkundig, häufig
ungleich und unregelmäßig. Inkonsequenter Tremor.
Z. 17 003/03. J. M., 46jähriger, aus gesunder Familie stammender Arbeiter.
Von seinen 6 Kindern hat eine 16jährige Tochter einen schlechten Gang, zeitweilig
Zuckungen des Körpers und Händezittern. Vor 7 Jahren mußte er sich nach einem
Zw T ist in der Familie legen; hierbei empfand er eine solche Hitze im Körper und
eine solche Angst, daß er sich in die Hausflur begeben mußte; dort wurden alle
Extremitäten wüe hölzern, aber er blieb bei Bewußtsein. Jemand besprengte ihn
mit kaltem Wasser, worauf alles vorbeiging. Vor 4 Jahren erwachte er plötzlich,
schnellte empor, w\arf sich auf die rechte Seite und wrurde von universellen klonischen
Krämpfen, am meisten an den linken Extremitäten, ergriffen. Nach einigen Minuten
Neurosen und Psychosen.
93
ging alles vorüber, er war bei Bewußtsein. Seit diesem zweiten Unfälle bekommt
er bei Intention ein Zittern der oberen Extremitäten, welche so schwach werden,
daß er arbeitsunfähig wird. Er ist kein Potator. In der Klinik sahen wir einen im
allgemeinen gesunden Mann mit guter Muskelkraft und unbedeutend empfindlichen
zervikobrachialen Geflechten. Keine hysterischen Stigmata. Die oberen Extremi¬
täten zittern im Ruhezustände für gewöhnlich nicht, nur zeitweise geraten sie in
ein Flimmern aus kleinen Amplituden im Karpalgelenk im Sinne der Adduktion
und Abduktion oder im Sinne der Supination und Pronation des Vorderarms.
Wenn der Kranke die gestreckten Oberextremitäten emporhebt, zittern die Hände
unterwegs gar nicht, erst wenn sie in horizontaler Lage verharren, beginnen sie regel¬
mäßig zu zittern, wobei das Zittern von mittlerer Geschwindigkeit ist und bald an
der linken, bald an der rechten Hand, und zw T ar hier häufiger überwiegt. Es ist
wiederum von derselben Art, wie das eben beschriebene. Manchmal zittert auch der
eine oder der andere Finger, besonders individuell. Beim Zusammendrücken des
Dynamometers ist das Zittern stärker. Bei intendierten Bewegungen verfällt die
Hand in ein grobes Zittern, und zwar sofort im Beginne der Bewegung — namentlich
die rechte Hand —, sobald sie einen Gegenstand erfaßt (ein Nachbar, der an Sklerose
litt, nahm das Glas ruhig in die Hand), und wird dabei so geschüttelt, daß beim
Versuch mit dem Glase das Wasser verschüttet wird und der Kranke nicht trinkt,
weil er das Glas an den Zähnen zerschlagen könnte. Der Kranke trinkt in der
Weise, daß er das Glas mit beiden Händen anfaßt, wobei er nur wenig zittert. Nach
langer Anstrengung gelingt es dem Kranken, das Zittern der einen Extremität zu unter¬
drücken, aber gewöhnlich beginnt dann die andere zu zittern. Die Füße zittern
nicht; doch behauptet der Kranke, daß manchmal die Knie zittern. Die Stirn ist
in stereotype wellenförmige Falten gelegt. Keine Mimik. Man sah ihn den Schnurr¬
bart ganz ohne Zittern drehen. Die Behandlung mit Hydroscyaminum hydro-
bromicum war erfolglos. Beim Schreiben zitterte die Hand sehr, ohne daß die
Schrift an Deutlichkeit eingebüßt hätte.
Aus den Kurven ersieht man, daß im Ruhezustände manchmal ein ungleicher,
unregelmäßiger Tremor mit 7 Wellen in der Sekunde erscheint, daß der Kranke
beim Hochheben der Hand dieselbe zuerst unregelmäßig und langsam bewegt, worauf
sich ein gröberer Tremor von ungleichen Amplituden, wiederum 7 in der Sekunde,
etabliert (Fig. 64 a) und daß im Ruhezustände der Tremor wiederum unbedeutend
ist und 6—7 Wellen in der Sekunde besitzt (Fig. 64 b).
22. Motorische sensitivo-sensorielle Hemiparese mit Kontrak¬
turen. Krampfanfälle. Singultus. Gackern. Transfert. Tremor einer
Hand, der bei Intention gröber wird. Heilung.
Z. 3191/04. P. C., 32jährige Patientin, die von einer nervösen, weinerlichen,
reizbaren Mutter stammt. Von Jugend an zu Trübsinn disponiert. Im 14. Lebens¬
jahre Typhus, im 18. Bauchfellentzündung, im 20. Kopfrose. Im Alter von 22 Jahren
besuchte sie eine Freundin, die nach einem Sturz ins Wasser an hysterischen Krämpfen
litt. Sie weinte die ganze Nacht durch und hatte am nächsten Morgen ebensolche
Anfälle. Nach einer Woche w T ar sie gesund. Im 24. Lebensjahre wurde sie auf einem
94
Erster Teil.
Ausfluge nach dem Tanzen ganz durchnäßt. Am nächsten Morgen bekam sie die¬
selben Anfälle, nur waren dieselben länger und heftiger; hierbei soll sie so durch -
gebogen gewesen sein, daß sie sich nur auf den Kopf und die Fersen stützte. Nach
einer Woche war sie wiederum gesund. Hierauf heiratete sie. Im 26. Lebensjahre
bekam sie nach einem Streit mit ihren Eltern dieselben Anfälle; auf einmal verfiel
sie in Bewußtlosigkeit, aus der sie erst nach 6 Tagen erwachte. Sie war ganz starr,
hatte die Zähne zusammengepreßt, so daß sie mittelst eines zwischen den Zähnen
durchgesteckten Federkiels ernährt werden mußte. Im 31. Lebensjahre ärgerte
sie sich mit dem Dienstboten, worauf sie wieder einen großen Anfall bekam. Der
letzte Anfall stellte sich jetzt im 32. Lebensjahre ein und zwar nach Kopfschmerzen,
an denen sie seit ihrem 20. Lebensjahre leidet; sie begann zu schluchzen, hierauf
wurde ihr schwarz vor den Augen und sie wurde bewußtlos. Angeblich hat sie sich
gewunden und mit sich herumgeschlagen; ein Arzt gab ihr Chloroform zu riechen,
worauf die Krämpfe aufhörten und die Kranke 3 Tage schlief. Als sie erwachte,
konnte sie nicht sehen und redete „von lauter Spinnen“. 5 Wochen später bekam sie
Schmerzen in die rechte Körperhälfte und bald darauf wurde die ganze rechte
Körperhälfte starr, sie war auf dem rechten Auge blind und auf dem rechten Ohr taub.
Nach 2 Tagen sah sie auf dem rechten Auge wieder. An demselben Tage kam sie
in die Klinik. Hier wurde konstatiert, daß weder eine Läsion der Organe, noch eine
solche des zentralen Nervensystems vorlag. Man fand nur eine Sensibilitätsstörung
der rechten Körperseite mit Ausnahme des Bauches und der Lenden für alle Quali¬
täten, motorische Schlaffheit und Kontrakturen und eine Herabsetzung der Seh¬
schärfe, des Gehörs und des Geschmackes. Hysterogene Zonen fehlten. Das Ge¬
sichtsfeld war nicht eingeschränkt. Die rechte Oberextremität verfiel zeitweise
in ein zartes und sehr schnelles Zittern, das im Ruhezustände und bei Bewegungen
gleich war und spontan verschwand. Nach 2 Tagen zeigte sich aktive Beweglichkeit
der rechten Oberextremität und da entstand bei Bewegungen ein rascher, durch
Intention hervorgerufener Tremor (28. Februar 1904). Am dritten Tage wurde sie
bewußtlos, schluchzte laut und rhythmisch und gackerte wie eine Henne. Auf
äußere Einflüsse reagierte sie nicht. In dem bewußtlosen Zustande wurde durch
bloße Verbalsuggestion ein Transfert der Sensibilitätsstörungen und Kontrakturen
auf die linke Seite bewirkt. Der Transfert war anfangs unvollständig, aber nach
3 Tagen vollkommen. Die linke Oberextremität verfiel bei Intention in ein un¬
geheueres Zittern; rechts war das Zittern bei Intention kaum merklich (2. März 1904).
Hierauf akquirierte die Patientin eine tonsilläre Angina mit Aphonie, die nach
schmerzhafter Faradisation wich. Auch die Kontrakturen verschwanden nach
schmerzhafter Faradisation. Mehrere Tage hindurch hatte sie, wenn die Wärterin
die Messung vomahm, eine Temperatur von 39°, bei unserer Kontrolle 37—37,5°.
Wurde am 19. März 1904 fast vollständig geheilt entlassen. — Es wurde eine ganze
Reihe von Kurven auf genommen, die einander im großen und ganzen ähnlich waren,
darunter auch die in Fig. 47 b und c angeführten.
g) Bizarrer Tremor.
Der vorangehenden Form schließen sich verschiedene, vereinzelt be¬
schriebene Tremorformen bei hysterischen Personen eng an.
Zunächst gehören hierher die Fälle von epidemischer Hysterie, die manch¬
mal von Zitteranfällen begleitet wird, bei der jedoch die motorischen Erschei¬
nungen häufig stürmischer, unregelmäßiger sind (Springen, Tanzen, grobe
Konvulsionen). Häufige Erwähnung — allerdings nur en passant — des Zitterns
bei derartigen Epidemien (epidemischer Tanz in Deutschland und in den Nieder¬
landen, St. Johannistanz, St. Veitstanz, Tarantismus in Italien, die Konvul-
sionäre des hl. Medardus 1731, die amerikanischen und irischen „Camp-meeting“
und „revivals“ im Beginne des 19. Jahrhunderts und in dessen erster Hälfte)
findet sich bei Richer (La grande Hysterie).
Kur rer beschrieb eine Zitterepidemie in Horb in Württemberg und er-
Neurosen und Psychosen.
95
wähnt Epidemien in Meißen (112 Fälle), in Chemnitz (21 Fälle), in Basel (122
Fälle). Die von ihm beschriebene Epidemie zeichnete sich durch Zitteranfälle
der rechten Hand, seltener der linken Hand und der unteren Extremitäten aus;
das Zittern wiederholte sich durch mehrere Wochen oder Monate und ging stets
in Heilung über.
Breillot führt in seiner These die im Jahre 1729 in Tübingen beobachtete
und von Elias Camerarius beschriebene Epidemie an: Nach einer Art Er¬
schlaffung, einem stuporösen Zustand, trat ein allgemeines, heftiges Zittern auf,
das mit einem Angstzustand verbunden war und 7—8 Wochen dauerte. Hierbei
schliefen die Kranken gut, fieberten nicht und hatten guten Appetit. Latteux
erwähnt in seiner These die „trembleurs de C6 vennes“ und die amerikanischen
Quäker, die bei ihren religiösen Übungen in Zittern geraten. [Jungmann
zitiert in seinem Wörterbuch aus Kollar: Wenn die Quäker in ihren Ver¬
sammlungen zu lernen anfangen, beginnen sie zu zittern und heißen deshalb
Zitterer (tremulenti)].
Schütte beobachtete in den Meißener Schulen eine eigentümliche, heftige
Zitterkrankheit: Bei 9—13jährigen Mädchen erschien plötzlich ein Anfall von
nervöser Unruhe und hernach ein Tremor der rechten Hand im Sinne der Adduk¬
tion und Abduktion, der sich manchmal auch auf den Unterarm ausbreitete,
manchmal auch die linke Hand befiel, mehrere Minuten bis zu einer halben Stunde
dauerte und sich durch mehrere Wochen, ja sogar Monate wiederholte. Aemer
beschrieb eine ähnliche Epidemie in Basel (siehe den Vibrationstremor).
Krafft-Ebing beobachtete ein 18jähriges Mädchen, das nach einem
Schreck einen allgemeinen Schüttelkrampf bekam, dessentwegen das Mädchen
vier Monate liegen mußte; das Zittern war Tag und Nacht vorhanden (!).
Eines Tages stand die Patientin auf und das Zittern war verschwunden. Hierauf
zitterte sie ein Jahr lang nicht, solange sie stand oder ging; sobald sie sich legte,
erschien das Zittern wieder. Abends konnte sie deswegen lange nicht ein-
schlafen; erst wenn sie recht müde war, schlief sie ein und das Zittern hörte auf.
(Auch Oppenheim sah einen hysterischen Tremor, der besonders dann mächtig
war, wenn der Kranke lag.)
Raymond beschrieb im Jahre 1892 einen 38jährigen Kellner, Alkoholiker,
der vor einem Jahre nach einer durchgebummelten Nacht mit einem stetigen
Tremor der unteren, sodann auch der oberen Extremitäten erwachte. Im Liegen
hatte er rhythmische Bewegungen der unteren Extremitäten; er adduzierte
und abduzierte die Füße; hier und da wurden diese Bewegungen durch eine
Extension unterbrochen. Auch der Gang war durch plötzliche Flexionen und
Extensionen der Füße gestört.
Boucarut beschrieb einen Kranken mit sicheren Symptomen der Hysterie,
der im Ruhezustände in den Schultergelenken Bewegungen vollführte wie ein
Vogel, der mit den Flügeln schlägt und zwar 186mal in der Minute; bei Intention
wurde der Tremor größer und schneller; nach Erreichung des Zieles der Intention
kehrte er zu der Form im Ruhezustände zurück. Bei intendierten Bewegungen
der einen Hand entstanden identische und synchronische Bewegungen der
anderen Hand. Durch den Willen ließ sich das Zittern nicht unterdrücken,
verschwand aber im Schlafe vollkommen.
Voß beschreibt in seinem Buche ,,Uber die Hysterie in Rußland“ drei
Fälle von alter Hysterie, von denen der erste mit der rechten Oberextremität fort-
96
Erster Teil.
währende rhythmische Bewegungen ausführte, wie wenn er die Mandoline
spielen würde, der zweite, wie wenn er trommeln würde (derselbe hatte auch
einen saltatorischen Gang); die Frequenz dieser letzteren Bewegung betrug drei
in der Sekunde; der dritte Fall zeigte rhythmische, blitzschnelle Zuckungen
in allen Extremitäten.
Diese zweite Gruppe bildet offenbar den Übergang zu der Gruppe der
sogenannten rhythmischen Chorea, der hysterischen automatischen Bewegungen.
- Schließlich wurden noch Zitterformen beschrieben, die infolge ihrer eigen¬
tümlichen Beschaffenheit zur Hysterie gezählt wurden, obwohl die Diagnose
nicht über jeden Zweifel erhaben war. So z. B. beobachtete Popov bei einem
21jährigen Bauer einen seit der Kindheit in wiederholten Anfällen wieder¬
kehrenden Tremor der unteren Extremitäten, der stets 14 Tage dauerte und so¬
dann plötzlich verschwand.
*
* *
Einem praktischen Bedürfnisse entsprang das Bestreben, das Zittern
bei der sogenannten traumatischen Neurose, d. i. bei der traumatischen
Neurasthenie und Hysterie, besonders zu charakterisieren. Bisher waren alle
diesbezüglichen Versuche erfolglos. Boeri behauptet, es handle sich um einen
konstanten Tremor, der, wenn er nicht sichtbar ist, durch die Anstrengung,
den Schmerz hervorgerufen wird; er ist universell, an den kranken und ge¬
sunden Gliedern vorhanden, ein dem emotiven Tremor analoger Intentions¬
tremor von 9—12 Wellen in der Sekunde. Leube gibt an, daß der traumatische
Tremor bei Aufregung und Anstrengung besonders stark sei. Ja min versucht
eine besonders häufige Form, welche bei Versicherten jenseits des 50. Lebens¬
jahres nach Traumen vorzukommen pflegt, aufzustellen. Es handelt sich um
einen Tremor der rechten Hand, der ganz monosymptomatisch ohne andere
Stigmata vorkommt und eine Frequenz von 6—8 Wellen in der Sekunde auf¬
weist; er findet im Karpalgelenk, nicht an den Fingern statt und besitzt ein
Crescendo und ein Decrescendo. Er ist im Ruhezustände sowie bei Intention
vorhanden, bei welcher er manchmal verstärkt, manchmal aber auch verringert
ist. Bei vorsichtigen Manipulationen der gesunden Hand schwächt er sich ab.
Er ist von der Aufmerksamkeit und dem psychischen Zustande der Kranken
überhaupt sehr abhängig. Diese können sich beim Arzte kaum unterschreiben,
während sie zu Hause sehr schön schreiben. Die Prognose ist unsicher. Auch
bei unwillkürlichen Bewegungen tritt er nicht auf (Liniger). Seeligmüller
ist ebenfalls der Ansicht, daß nach dem Trauma zuerst die verletzte Extremität
zittert und alle übrigen erst nachfolgen.
Auf Grund unserer Beobachtungen kann ich bestätigen, daß diese besonders
beschriebene Form bei Versicherten ziemlich häufig vorkommt. Diese Form
wird auch am häufigsten simuliert (Liniger, Fuchs, Seeligmüller). Aber
sie ist kein Charakteristiken der traumatischen Hysterie, denn sie kommt auch bei
nichttraumatischer Hysterie vor; ebensowenig charakteristisch ist das von
Boeri und Leube beschriebene Zittern.
Neurosen und Psychosen.
97
Ich will noch auf den „anscheinend hysterischen“ Tremor hinweisen.
An einem anderen Orte habe ich in systematischer Weise auf zahlreiche bei Hy¬
sterie vorkommende Symptome hingewiesen, die uns bei ernsten organischen Er¬
krankungen zu einer falschen Diagnose auf Hysterie und zu einer falschen
Prognose verleiten können. Zu diesen Symptomen gehört auch das Zittern.
Dutil führt einen analogen Fall an (Obs. XVIII).
30jähriges Dienstmädchen, wurde bei Charcot 1889 behandelt; stammte
aus nervöser Familie; hatte im 7. Lebensjahr nächtliches Zittern, leidet an Migräne,
ist seit 1886 krank. Die Patientin schlief in einem feuchten, kalten Raume, erwachte
bei Nacht mit heftigen Schmerzen um das rechte Auge, mit Klopfen in der rechten
Schläfe und Sausen im rechten Ohr. Binnen 4 Tagen waren alle Erscheinungen
allmählich zurückgegangen. Während der folgenden 5 Monate wiederholte sich der
Anfall zeitweise für 1—2 Stunden. Nach 6 Monaten bekam sie eines Abends plötz¬
lich die heftigsten Kopfschmerzen, wurde nach 2 Stunden bewußtlos, erwachte
am Morgen, ohne sich naß gemacht oder sich in die Zunge gebissen zu haben, bei
vollständiger Euphorie, worauf sie 18 Monate hindurch vollständige Ruhe hatte.
Sodann hatte sie wieder einen Anfall von Schmerzen auf beiden Kopfseiten und wurde
nach einigen Tagen wieder bewußtlos. Hierauf gebar sie ein uneheliches Kind.
Nach einer Reihe von Monaten Bewußtseins Verlust, diesmal mit Enurese. Eines
Abends — 2% Jahre nach dem Beginne ihrer Krankheit — hatte sie wegen ihres
Kindes einen Streit mit der Muttor, worauf sie ein leichtes Zittern der rechten Hand
bekam, das nach einer Weile wieder verschwand. Am nächsten Tage bekam sie
das Zittern jede halbe Stunde für mehrere Minuten, dann immer mehr und mehr,
und vor 2 Monaten auch am Fuße. Seit dieser Zeit klagt sie fortwährend über
Kopfschmerzen, Ohrensausen und Empfindlichkeit der Haare. Alle 2—3 Tage
hatte sie einen Anfall von Kopfschmerzen, die von der Stirn in den Nacken aus-
strahlten, mit Ohrensausen, Schwindel nach rückwärts und Betäubung verbunden
waren; diese Anfälle dauerten längstens eine Minute. Das Zittern war nur an den
rechten Extremitäten vorhanden, der Kopf zitterte passiv; links, an den Augen,
an der Zunge bestand kein Zittern. Das Zittern an der Hand war nicht synchron
mit jenem des Fußes, sondern Hand und Fuß wechselten oft miteinander ab. Am
intensivsten war das Zittern der Hand. Es entstand plötzlich am Oberarm, am Ell¬
bogen, an der Hand, verstärkte sich und verschwand sodann. Die Kranke preßte
die Hand gegen den Unterleib und konnte das Zittern auf diese Weise manchmal
unterdrücken. Die Muskelkraft war nicht vermindert. Die Reflexe waren normal.
Die Innervation der Gehirnnerven war bis darauf, daß die Innervation der linken
Wange jene der rechten übertraf, normal. An zahlreichen Körperstellen fanden
sich Inseln von Hyperästhesie bei tiefem Druck. Das Gesichtsfeld war beiderseits
in sehr prägnanter Weise und dauernd eingeschränkt. Sinnesorgane normal. (Be¬
züglich des ophthalmoskopischen Befundes findet sich keine Angabe.)
Mit Rücksicht auf die Form des Zitterns und die Hyperästhesie wurde Hysterie
diagnostiziert.
Die Patientin starb eines Nachts plötzlich und bei der Sektion fanden sich
zwei Gliome; das eine in der rückwärtigen Partie des rechten Thalamus, das andere
nahm fast den ganzen linken Thalamus ein.
Sehr vorsichtig muß das „hysterische“ Zittern bei Kindern beurteilt
werden, da es bei diesen das erste Symptom einer organischen Himläsion sein
kann (Enzephalitis, diffuse Sklerose, disseminierte Sklerose).
Ich habe bereits bei dem der Sklerose ähnlichen hysterischen Tremor
bemerkt, daß so mancher von den beschriebenen Fällen eigentlich schon eine
beginnende Sklerose sein könnte.
Überhaupt kann uns die Sklerose, der Gehirntumor, der Gehimabszeß
sehr leicht zur Diagnose der Hysterie verleiten.
Historische Bemerkungen. En passant wurde das Zittern bei Hysterie
in zahlreichen älteren Arbeiten über Hysterie und Nervenkrankheiten über-
Pelnäf, Zittern. 7
98
Erster Teil.
haupt beschrieben. Genauer beschrieben hat esCharcot, systematisch studiert
haben es unabhängig voneinander Ren du und Pit res im Jahre 1889; hierauf
erschien die schöne systematische These über den hysterischen Tremor von
Dutil im Jahre 1891, in welcher so ziemlich alles, was wir heute über den hyste¬
rischen Tremor wissen, enthalten und auch durch einige schöne Kurven belegt
ist. Le tu Ile publizierte im Jahre 1888 seine Arbeit, in der er den Verdacht
aussprach, daß die sogenannten toxischen Zitterformen hysterisch seien, eine
Vermutung, die übrigens schon Charcot zwar nur nebenbei, aber mit Sicherheit
in seinen Vorlesungen ausgesprochen hat. Letulles Lehre wurde von dessen
Schüler Mugnerot durch eine besondere These im Jahre 1889 gestützt.
Die Therapie des hysterischen Zitterns läßt sich von der Behandlung
der Hysterie überhaupt nicht trennen. Es ist zu bemerken, daß Fälle von
Zittern, die allen Medikamenten und Methoden getrotzt hatten, geheilt wurden,
wenn ihr hysterogener Punkt gefunden war (häufig längs der Wirbelsäule) und
auf diese Stelle der Magnet (Pitres) oder der faradische Pinsel appliziert wurde.
Auch nach der Analgesie mit Äther verschwand das Zittern (Krafft-Ebing).
Bei der Behandlung des Quecksilbertremors haben wir Letulles Suggestions¬
behandlung mit der elastischen Ein Wickelung erwähnt. Dutil hat bei seinen
Kranken mit keiner der genannten Methoden einen Erfolg erzielt. Bernheim
lobt die Wirkung der Hypnose.
Vm. A) Das Zittern bei der Basedowschen Krankheit.
Bei dieser Krankheit ist das Zittern das regelmäßigste Kardinalsymptom.
Es ist zart, häufig kaum erkennbar, besser tast- als sichtbar, regelmäßig, besitzt
zeitweilig Verstärkungswellen und hat 8—9, manchmal auch 11,5—12 Schwin¬
gungen (Wertheim, unsere Fälle) in der Sekunde. In den leichtesten Fällen
beschränkt es sich auf die gestreckten Oberextremitäten in ihrer Gänze, nach
Charcot ohne individuelles Zittern der Finger. (Doch ist dies nicht die Regel,
denn wir beobachteten einen individuellen Fingertremor bei 15% der Fälle.)
Es hört nicht einmal im Zustande vollständiger Ruhe gänzlich auf und nimmt bei
Bewegungen manchmal ein wenig, aber nicht allzusehr an Intensität zu. Es
findet im Sinne der Flexion und Extention der Hand statt, seltener im
Sinne der Abduktion und Adduktion oder der Pronation und Supination.
In schwereren Fällen betrifft es den ganzen Rumpf und wird, wenn man die
Handflächen auf die Schultern des Kranken legt, deutlich tastbar; manchmal
befällt es auch die unteren Extremitäten (in % unserer Fälle), die in extremen
Fällen im Sitzen wie beim Treten der Pedale zittern (Marie). Bei einem unserer
Fälle begann es an den Füßen und blieb hier auch dann, als es sich auch auf
die Hände ausgebreitet hatte, am intensivsten. Selten befällt es die Atmungs-
muskul^tur (Dejerine). In extremen Fällen kann es ebenso beim Gehen
hinderlich sein, wie es die Manipulationen der Hände stören kann. (Der Patientin
Gros’ — zit. von Breillot — fielen die Gegenstände, z. B. das Salzfaß aus den
Händen, unsere Patienten vermochten nicht zu schreiben, eine Nadel einzu¬
fädeln, auf dem Klavier zu spielen.) In diesen schwereren Fällen ist der Tremor
gröber, seine Wellen schwanken, aber auch dann beträgt die Frequenz regel¬
mäßig 8—9% und mehr in der Sekunde.
In manchen Krankheitsphasen fehlt zwar das Zittern, aber ganz ohne
Das Zittern bei der Basedowschen Krankheit.
99
Tremor verläuft die Krankheit nie. Bei eintretender Besserung verschwindet
er etwa in 1 / 3 der Fälle oder er wird intermittent (siehe z. B. unseren Fall Nr. 8).
Bei eintretender Heilung verschwindet auch der Tremor. Manchmal aber
bleibt er auch dann, wenn alle übrigen Krankheitssymptome bereits ver¬
schwunden sind (Gros bei Breillot — 35 Jahre nach den Basedow -
Symptomen).
Bei psychischen Erregungen oder wenn die Kranken sich beobachtet
fühlen, ist das Zittern intensiver und gröber und dem regelmäßigen Tremor
mischen sich auch unregelmäßige Bewegungen choreatischer Art bei (Oppen¬
heim). Vielleicht erklärt sich auf diese Weise auch die Beobachtung von
Bruns, welcher einen Tremor des beschriebenen Charakters mit gröberen,
langsameren Oszillationen abwechseln sah und hierbei auch einen individuellen
Tremor der Finger beobachtete.
Mau de sah bei einem einseitigen Exophthalmus auch das Zittern auf eine
Körperhälfte beschränkt — eine vereinzelt dastehende Beobachtung.
Unsere Erfahrungen über die Symptome der Basedowschen Krankheit
finden sich in der Kasuistik der 51 Fälle, die Syllaba während seiner Assistenten¬
zeit aus der böhmischen Universitätspoliklinik, ferner aus der Klinik Thomayers
und schließlich aus seiner und aus meiner Privatpraxis gesammelt und im Jahre
1909 im Sbomik klinicky, Bd. X (XIV) publiziert hat. Nach der Publikation
Syllabas sammelten wir noch sieben Fälle aus der Klinik, vier nicht ganz
deutlich ausgesprochene Fälle aus unserer Privatpraxis und die Kurven zweier
klinischer Patienten ohne Krankheitsgeschichte; die Gesamtsumme der sicheren
Fälle beträgt also 58.
Unter diesen waren nur acht Männer = 13,8% und 76,2% Weiber.
Nur in einem einzigen Falle (Sy llaba Nr. 1) wurde kein Tremor beobachtet;
in einem anderen Falle war er bei der ersten Untersuchung nicht entwickelt,
wurde aber später konstatiert (Syllaba Nr. 29).
In allen Fällen wird er als schnelles oder sehr schnelles Zittern der ge¬
streckten Oberextremitäten, in 34 der Fälle auch der Unterextremitäten be¬
schrieben; einmal (in dem erwähnten Falle Nr. 29) war er anfangs nur an den
Füßen vorhanden, wo er auch später, nachdem er auch an den Händen auf¬
getreten war, überwog. Achtmal, also in 15%, ist auch ein individueller Tremor
der Finger verzeichnet. Oft ist der Tremor „sehr intensiv, sehr deutlich“ u. dgl.
Unter 11 gebesserten Fällen verschwand er viermal, zweimal änderte er sich
trotz Besserung der übrigen Symptome nicht; bei den übrigen Fällen änderte
er sich sehr, einmal wurde er auffallend intermittent (Syllaba Nr. 29). Bei
18 geheilten Fällen verschwand er vollständig mit den übrigen Symptomen.
Einmal war der Tremor beim Eintritt in die Klinik ganz deutlich vorhanden,
am nächsten Tage aber war er verschwunden. Häufig war er bei kleinen Ver¬
richtungen der Hände hinderlich, so z. B. beim Schreiben.
Wir wollen nunmehr die Beschreibungen und Kurven einiger unserer Fälle
anführen.
1. Von einem 18jährigen Mädchen (Syllaba Nr. 13). Auf einer Serie von
Kurven (Fig. 1), welche zugleich die Zeichnung des Tremors der normalen Menschen
Dr. P. und Dr. S. enthält, zeigen die Kurven Nr. 1, 2, 3 und 4 in imunterbrochener
Aufeinanderfolge den Tremor der gestreckten Oberextremitäten. Wir sehen, daß
sich das Zittern mit der Dauer des Versuches nicht ändert: es handelt sich fort¬
während um ein deutliches, leicht ungleichmäßiges und stellenweise ganz leicht
7*
100
Erster Teil.
arhythmisches, sehr schnelles Zittern ohne gröbere Schwankungen der Intensität
und der Geschwindigkeit mit 10—10,5 Wellen in der Sekunde.
2. Von einer 30jährigen Patientin (Syllaba Nr. 22) aus dem ersten Anfall
der Krankheit. Die oberste Kurve stammt von der zur Faust geschlossenen linken
Hand, die beiden untersten Kurven stammen von der zur Faust geschlossenen und
gestreckten rechten Hand. Alle drei Kurven zeigen einen mittelstarken, stellenweise
Fig. 65.
leicht ungleichen, an anderen Stellen leicht arhythmischen, schnellen Tremor von
11—12 Wellen in der Sekunde; außerdem wurden vier Kurven bei gestreckten Fingern
abgenommen, auf denen infolge der Unvollkommenheit meiner graphischen Methode
bei der Interferenz der Bewegungen in der Frontal- und Horizontalebene ein un-
Fig. 66.
gleicher, leicht unregelmäßiger und langsamerer Tremor von etwa 8 Wellen in der
Sekunde verzeichnet ist (Fig. 65).
3. Von einer 35jährigen Patientin aus der klinischen Ambulanz. Die Serie
von Kurven, die bei gestreckten Oberextremitäten aufgenommen wurde, zeigt
Fig. 67.
überall einen feinen, fast ganz gleich- und regelmäßigen, schnellen Tremor von
10—10,5 Wellen in der Sekunde (Fig. 66).
4. Von einer 18jährigen klinischen Patientin. Eine Serie von Kurven, die
stellenweise einen feinen, ziemlich regelmäßigen, sehr schnellen Tremor von 11—12
Wellen in der Sekunde, stellenweise einen infolge Interferenz der Bewegungen
unregelmäßigen und ungleichen Tremor von auch nur 6 Wellen in der Sekunde auf¬
weisen (Fig. 67).
Das Zittern bei der Basedowschen Krankheit.
101
Nach dem Erscheinen der Publikation von Syllaba habe ich noch folgende
Fälle aus der Klinik Thomayer gesammelt:
5. K. B., 21 jähriges Dienstmädchen. Seit der Kindheit bestehen Symptome
von Schwachsinn; besitzt zahlreiche Formanomalien des Körpers. Menses seit
dem 13. Lebensjahre regelmäßig, fehlen seit 3 Monaten. Vor 2 Jahren begann der
Hals an Umfang zuzunehmen. Im Februar des vorigen Jahres fiel die Patientin
auf dem Eise auf den Rücken und mußte 4 Wochen das Bett hüten. Seit dieser Zeit
hatte sie Herzklopfen, besonders bei anstrengender Arbeit. Auch soll sie im ganzen
Körper Kribbeln und in den Extremitäten Schmerzen gehabt haben. Seit einem
halben Jahre werden die Augen größer und zittern die Füße. Um das 14. Lebens-
Fig. 68.
jahr hatte sie schreckhafte Träume wie bei Epilepsie. — Außer anderen Symptomen
hatte sie ein Flimmern der geschlossenen Lider und der nicht vorgestreckten Zunge
und ein zartes Zittern der gestreckten Oberextremitäten. (Nähere Angaben über
das Zittern fehlen.)
6. N. J., 30jähriges Dienstmädchen. Nr. 11040/04. Zwischen dem 7. und
28. Lebensjahre wurde die Patientin oft ohnmächtig, wobei sie umfiel und sich ver¬
letzte. Im vorigen Jahre bemerkte sie, daß sie größere Augen und einen dickeren
Fig. 69.
Hals bekomme und daß ihr Herz rascher schlage. Sie leidet oft an Kopfschmerzen.
Sie regt sich leicht auf und weint häufig. Seit Beginn der Krankheit hat sie ein
Zittern der Oberextremitäten, das ihr bei feineren Arbeiten, z. B. beim Schreiben,
hinderlich ist. Im letzten Vierteljahr verlor sie 10 kg an Körpergewicht ; während
derselben Zeit ist die Menstruation unregelmäßig geworden. — Bei der Aufnahme
hatte sie einen ganz sicheren, zarten, schnellen Tremor der Oberextremitäten, der
aber am nächsten Tage verschwunden w T ar. Die Kurven (Fig. 68) zeigen einen
Tremor von 10—12 Wellen in der Sekunde mit periodischen Schwankungen der
Intensität.
7. C. A., 21 jähriges Dienstmädchen. Nr. 1247/09. Im 17. Lebensjahre litt
die Patientin durch etwa 3 Wochen an Herzklopfen und Kurzatmigkeit beim Gehen.
Vor einem Jahre Typhus, nachher Hämoptysen. Seit dieser Krankheit hat sie
Herzklopfen, Zittern der Hände und Füße und bemerkt sie eine Zunahme des Hals-
102
Erster Teil.
umfanges. Sie ist traurig und weint wegen jeder Kleinigkeit. Vom Exophthalmus
weiß sie nichts. Die gestreckten Oberextremitäten zitterten schnell. In der Klinik
hatte sie epileptiforme Anfälle und schreckhafte Träume. Diarrhöen.
Die Kurven registrieren einen Tremor mit unregelmäßigen Wellen, die, was
ihre Zahl anbelangt, der Schnelligkeit des beobachteten Zitterns entschieden nicht
entsprachen; sie entstanden offenbar durch Interferenz der Bewegungen der oberen
Extremitäten (Fig. 69).
8. R. M., 24 jährige Musikantin. Nr. 22 687/09. Hat viermal abortiert und
zweimal geboren. Vor 3 Jahren begann im Wochenbett nach dem zweiten Kinde
der Hals an Umfang zuzunehmen; vor 2 Jahren sagten ihr die Leute, daß sie große
Augen hätte; vor einem halben Jahre bekam sie Herzklopfen und Zittern der oberen
Extremitäten, so daß sie das Klavierspielen aufgeben mußte. Sie regt sich auf,
weint, gerät leicht in Streit. Sie stand im März wegen Bronchialkatarrh — sie
hatte damals ein leichtes Zittern der gestreckten Oberextremitäten — und im Sep¬
tember, wo sie kein Zittern mehr hatte und wiederum Klavier spielen konnte, in
klinischer Behandlung. Im darauffolgenden Dezember zitterten wieder alle vier
Extremitäten. Im Januar verschwand das Zittern wieder fast vollständig.
Fig. 70.
9. S. Fr., 31 jähriger Schuster. Nr. 2305/09. Biertrinker und starker Raucher.
Vor 3 Jahren begann bei einer Tanzunterhaltung sein Hals dicker zu werden und
erreichte bis zum nächsten Morgen den gegenwärtigen Umfang. Schon 3 Monate
früher hatte er Herzklopfen, große Augen und Zittern der Hände. Er wurde reiz¬
bar. Zartes Zittern der gestreckten Finger. Nach Galvanisation verschwand das
Zittern mit den übrigen Symptomen fast vollständig.
10. K. M., 43 Jahre alt, verheiratet. Nr. 3408/09. Um das 20. Lebensjahr
eine Gelenkaffektion. Seit dem 31. Lebensjahre Herzklopfen, besonders bei Er-
Eig. 71.
regungen, und Zittern des ganzen Körpers. Das Zittern der Hände war manchmal
so stark, daß sie eine Nadel nicht einfädeln konnte. Gleichzeitig bekam sie einen
dicken Hals. Ist reizbar, weinerlich, vergeßlich. Seit etwa 3 Jahren schwitzt sie
bei der Arbeit auf der rechten Gesichtshälfte, die dabei rot wird, während die linke
trocken, blaß und kühl bleibt. Die gestreckten Oberextremitäten zittern rasch,
das Zittern ändert sich bei Intention nicht.
Wir zeichneten eine Serie von Kurven, die einen rhythmischen, ungleichen,
ziemlich groben Tremor von 11—12 Wellen in der Sekunde darstellten (Fig. 70).
11. H. Fr., 43 Jahre alt, verheiratet. Nr. 2352/09. Kinderlos. Vor einem
halben Jahre brachen bei ihr Diebe ein. Die Patientin erschrak, bekam Herzklopfen,
zitterte am ganzen Körper und es dauerte zwei Tage, bevor sie sich wieder beruhigte.
Vor 14 Tagen überfielen Diebe ihren Mann. Seit dieser Zeit hat sie Herzklopfen,
Das Zittern bei der Basedowschen Krankheit.
103
zittert am ganzen Körper; sie schläft schlecht und magert ab. Wir fanden bei ihr
einen schnellen Tremor der gestreckten Oberextremitäten, der durch Intention
sich nicht verstärkte. Auch an den Füßen war das Zittern vorhanden.
Eine Serie von Kurven zeigt einen rhythmischen, nur ganz leicht ungleich¬
mäßigen, bei Intention etwas gröberen Tremor, der sowohl bei statischer Inner¬
vation, als auch bei Intention 9 Wellen in der Sekunde aufweist (Fig. 71).
Dem Tremor beim Morbus Basedowi möchte ich vier Fälle anschließen,
in denen die Diagnose nicht sicher war: Es handelte sich durchwegs um Neurosen
mit subjektiven Beschwerden, die jenen bei der vasomotorischen oder kardialen
Neurasthenie analog waren; bei allen trat neben Tachykardie ein Tremor der
gestreckten Hände in den Vordergrund, doch konnte die Diagnose nicht mit
Sicherheit auf Basedowsche Krankheit gestellt werden.
1. M. Fr., 38 Jahre alt, verheiratet. Seit der Jugend litt sie wöchentlich
an schweren Migräneanfällen. Im 16. Lebensjahre hatte sie eine Struma, die nach
einem halben Jahre verschwand. Im Frühjahr 1909 bekam sie Zittern am ganzen
Körper und Herzklopfen. Im Sommer begann die Schilddrüse wieder größer zu
werden. Sie klagt darüber, daß sie ungemein jähzornig sei, was früher nicht der Fall
war. Im Oktober kam Schlaflosigkeit hinzu, zeitweilig ist auch Appetitlosigkeit
vorhanden. Zu dieser Zeit konstatierte ich eine beträchtliche, nicht pulsierende
Struma. Puls 120. (In Erregungszuständen pflegt sie angeblich viel mehr zu haben.)
Rasches Zittern der Hände und Füße und des ganzen Körpers. Befund an den
Organen und am Nervensystem normal. — Im November lobte sie sich ihren Zu¬
stand; sie war wieder ruhig, das Zittern war viel schwächer. Sie erzählt mit Staunen,
wieviel sie esse. Sodann verschwand sie aus der Beobachtung. Der Tremor wurde
nicht registriert. Beim Schreiben war er nicht hinderlich.
2. R., 44 Jahre alt, verheiratet; ein 51 jähriger Bruder ist nervös, reizbar,
hat Glotzaugen und zittert an den Händen; ein zweiter Bruder ist auch nervös
r?
Fig. 72.
und der Vater soll ebenfalls nervös gewesen sein; allen zitterten die Hände. Auch
ihr zitterten schon in der Schule die Hände. Seit der Jugend ist sie nervös, schreck¬
haft. Im 20. Lebensjahre, nach dem Tode des Großvaters, begann sie am Körper
zu zittern; sie war in einer fortwährenden Angst, hatte heiße Ohren und kalte Hände.
Als sie im 29. Lebensjahre heiratete, verschwanden alle Beschwerden. — Im Jahre
1909 bekam sie Zittern am ganzen Körper; sie wurde reizbar und das Herz begann
zu klopfen; in ruhigen Momenten hatte sie 100—106 Pulse, dagegen viel mehr, wenn
sie erregt war. Im November 1909 konstatierte ich mit Bestimmtheit einen leichten
Exophthalmus, der rechts etwas größer war. Das Gr ae fesche und das S teil wag-
sehe Symptom fehlten. Intensives, schnelles Zittern der Hände. Zittert im Stehen
am ganzen Körper. 168 Pulse in der Minute. Pigmentation der Lider. Tremor
der Lider, der Wangen, der Lippen, der Zunge, besonders bei länger dauernder
statischer Innervation. — Dieser Zustand änderte sich während einer halbjährigen
104
Erster Teil.
Beobachtung nicht, höchstens besserte er sich insofern, daß die Patientin zu Hause
nicht zittert. Beim Schreiben der gewöhnlichen Schrift zittert sie nicht, nur wenn
sie Buchstaben (Druck) zeichnen soll, wird das Zittern offenkundig (Fig. 72). Das
Zittern dieser Frau fixierte ich durch eine Serie von Kurven. Auf den Kurven
1 und 2 sehen wir im großen und ganzen ein regelmäßiges und fast völlig gleich¬
mäßiges, deutliches Zittern der beiden Hände mit einer gleichbleibenden Geschwindig¬
keit von 10—11 Wellen in der Sekunde. Nr. 3 enthält das Zittern der beiden ge¬
streckten Oberextremitäten gleichzeitig; durch Interferenz der Bewegungen ent¬
steht eine ungleichmäßige und weniger regelmäßige Kurve; in den regelmäßigen
Partien beträgt die Geschwindigkeit wiederum 10 Wellen in der Sekunde. Beim
Zusammendrücken des Dynamometers (Nr. 4, 5) zittert die andere Hand mehr.
(Sub 5 eine eigentümliche Form von anakrotischen Wellen — es beträgt die Zahl
» 73
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5
Fig. 73.
der Wellen scheinbar 22 in der Sekunde.) Am gröbsten war der Tremor dann, wenn
die Kranke zählte; aber auch dann betrug die Frequenz fortwährend 10 Schwingungen
in der Sekunde.
Sub Ia—d ist das Zittern ihres 10jährigen Sohnes — zeitweise deutlich,
mit 10 Wellen in der Sekunde, zeitweise weniger ausgesprochen — und sub 11a—y
ihrer 13jährigen Tochter gezeichnet; bei letzterer ist der Tremor bezüglich seiner
Intensität von gleich unbeständigem Charakter und besitzt in den deutlichen Partien
eine Geschwindigkeit von 10 Oszillationen in der Sekunde (Fig. 73).
3. V. V., 27 jähriger Buchhalter. Nr. 3602/05. Stand in klinischer Behand¬
lung vom 16. März bis 2. April 1905. Stammt aus gesunder Familie, war stets ge¬
sund. Im 21. Lebensjahre litt er häufig an Pollutionen. Im 22. Lebensjahre empfand
er bei einer Turnübung einen plötzlichen Stich beim Herzen, eine ungeheuere Oppres-
sion und Herzklopfen. Seit dieser Zeit wiederholen sich ähnliche Anfälle mit Herz¬
klopfen, besonders vor dem Einschlafen. In der Klinik wurde konstatiert: Tachy¬
kardie, die fast fortwährend vorhanden ist, bis zu 176 Pulsen in der Minute aufweist,
manchmal einen orthostatischen Typus besitzt und manchmal mit exspiratorischer
Retardation einhergeht ; ferner Struma, die manchmal kleiner wurde und auch voll¬
ständig verschwand, so daß sie kaum tastbar war. Schreckhafte Träume mit Palpi-
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
105
tationen. Rascher Tremor der gestreckten Oberextremitäten. Körperliche Un¬
ruhe. Herumwälzen im Bett. — Bald nach dem Eintritte in die Klinik nahm ich
die Zitterkurven auf. Wir sehen, daß es sich um einen leicht imgleichmäßigen,
kleinen Tremor von 9—10 und vorwiegend von 10 Wellen in der Sekunde handelte;
an einer Stelle ist er durch unregelmäßige Bewegungen der Extremitäten unter¬
brochen (Fig. 74). Zwei Jahre später stand der Patient vom Juni bis Februar in
meiner Privatbehandlung. Er hatte eine sichtbare Struma, die manchmal pulsierte,
obwohl die genaue Konstatierung der Pulsation infolge der starken Pulsation der
Fig. 74.
Karotiden schwer war; der rechte Bulbus prominierte; er hatte ein zartes, schnelles
Zittern der Finger und 120—140 Pulse. Psychisch war er viel ruhiger.
4. K. M., 31 Jahre alt. Nr. 4998/04. Stammt aus gesunder Familie. Vor
3 Jahren bekam sie nach heftigen Bauchschmerzen hartnäckige Diarrhöen. Seit
2 Jahren bekommt sie einen dicken Hals. Vor % Jahren wieder jene hartnäckigen
Diarrhöen. Ist sehr abgeschwächt. Seit 2 Monaten bekommt sie beim Gehen
Herzklopfen, so daß sie ausruhen muß. Seit einem Jahre werden die Zähne rasch
schlecht; auch fallen ihr die Haare aus. — In der Klinik konstatierte man eine
pulsierende Struma und ein mäßig dilatiertes Herz mit einem systolischen Geräusch
über der Aorta und über der Herzspitze. Puls konstant beschleunigt, 104 in der
Minute. Die gestreckten Oberextremitäten zitterten nach verschiedenen Richtungen
zart und schnell. Die Bulbi prominierten nicht, es fehlte sowohl das Graefesche
als auch das Stellwagsche Symptom.
Historische Anmerkung. Beschrieben wurde dieses Zittern von
Charcot im Jahre 1862. Erwähnungen finden sich bei Charcot in dessen
älteren Arbeiten (1856), bei Röhrig (1863), Trousseau, Mackenzie, F6re
(1874), Raynaud (1875) und in der These von Rey (1877), in der Arbeit von
Teissier, Rüssel; in der Arbeit von Douglas (1879) findet sich bereits eine
genauere Beschreibung des Tremors; ferner finden wir Erwähnungen bei Foot,
Nothnagel. Genauer studiert wurde er von Pierre Marie (1883), dessen
Angaben in allen Beschreibungen reproduziert werden. Gleichzeitig mit ihm
studierte diesen Tremor Ballet, der ihn nicht als zum Basedow gehörig auf¬
faßt und diese Behauptung gegen die allgemeine Ansicht noch im Jahre 1909
verteidigt.
Die Behandlung des Zitterns bei der Basedowschen Krankheit fällt
mit der Behandlung der Krankheit selbst zusammen. Der Versuch Parisots,
das Zittern durch Skopolamininjektionen zu unterdrücken, nach denen nur eine
geringe und flüchtige Besserung eingetreten war, dürfte sicherlich keine Nach¬
ahmung finden.
VIII. B) Das Zittern bei der Parkinsonschen Krankheit.
Bei der Parkinsonschen Krankheit ist das Zittern ein sehr häufiges,
konstantes und charakteristisches Krankheitssymptom. In zwei Dritteilen der
Fälle ist es das erste Krankheitssymptom und kann lange Zeit das einzige Sym-
106
Erster Teil.
ptom bleiben (in unseren Fällen 2—3 Jahre, im Falle Thomayers sogar 5 Jahre).
Dies pflegt namentlich beim traumatischen Ursprung der Krankheit der
Fall zu sein (Vandier). Es beginnt gewöhnlich an den oberen Extremitäten,
an einer Extremität häufiger als an den beiden zugleich, und zwar rechts häufiger
als links. Es wird behauptet, daß es sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit
über den Körper ausbreitet: von der Oberextremität soll es auf die gleich¬
seitige Unterextremität und dann auf die Ober- und Unterextremität der anderen
Seite übergehen; doch gilt dies nach unseren Erfahrungen nicht einmal für die
Mehrzahl der Fälle. Es kann lange auf eine Körperhälfte beschränkt bleiben
und pflegt während der ganzen Krankheitsdauer auf der einen Seite gröber zu
sein als auf der anderen. Manchmal breitet es sich auch auf den Unterkiefer,
die Unterlippe und die Zunge aus, selten ergreift es auch die Muskulatur des
Gesäßes (unser Fall Nr. 24), der Lende (Thomayer, Mendel, unser Fall Nr. 24),
des Bauches, die Atmungsmuskulatur (Parisot), die Augenlider (Koenig,
Brissaud, Oppenheim), den M. orbicularis oculi (Gowers, Brissaud,
Meige, Bruns, Wollenberg, Markelov). Charcot behauptete, daß bei
reinen Formen niemals ein selbständiges Zittern des Kopfes vorkommt, doch
wurden später viele Fälle mit Kopfzittem beschrieben. (Heimann bei 11 von
19 Fällen, Lantzius bei 3 von 12 Fällen; unter den 32 Fällen unserer Beobach¬
tung findet es sich nur zweimal bei den Fällen Nr. 8 und 10.) Auch sind Fälle
beschrieben worden, in denen das Zittern am Kopfe begann und auf die Lippen
und die Zunge überging; allerdings zweifeln manche daran, daß es sich um
Parkinsonsche Krankheit gehandelt habe. Selten sind auch jene Fälle, in
denen der Tremor längere Zeit die monoplegische Form beibehält (in einem
unserer Fälle zwei Jahre an der linken Unterextremität, in einem anderen Falle
drei Jahre an der rechten Oberextremität, im Falle Dignats vier Jahre an
einer Oberextremität, im Falle Thomayers fünf Jahre an einer Unterextremi¬
tät). Der paraplegische Beginn ist häufiger als der monoplegische.
Das Zittern beginnt gewöhnlich langsam und ist nicht beständig; es er¬
scheint nur bei Aufregungen und bei Ermüdung oder tritt in Form von Anfällen
auf (Bechet). In seltenen Fällen beginnt es plötzlich; dies ist gewöhnlich nach
heftigeren Emotionen und Verletzungen der Fall; hier kann es auch an allen
vier Extremitäten zugleich beginnen (unsere zwei Fälle).
In jenen Fällen, in denen das Zittern nicht das erste Symptom ist, geht
ihm ein Gefühl von Schwäche in den Extremitäten, eine Unsicherheit der Be¬
wegungen, eine unbestimmte Schmerzhaftigkeit, ein Kältegefühl voran.
Im weiteren Verlaufe aber wird es zu einem konstanten, ziemlich groben,
langsamen Tremor mit 3—5, nur selten mit 6 Weilen in der Sekunde. (In unseren
Fällen zumeist mit etwa 5 Wellen in der Sekunde.) Derselbe spielt sich gewöhn¬
lich an der Peripherie der Extremitäten ab, an den Füßen, in den Sprunggelenken,
an den Händen, in den Karpal- und Fingergelenken und mit besonderer Vor¬
liebe im Metakarpalgelenk des Daumens. Da die Finger hierbei gleichzeitig eine
eigentümliche typische Lage einnehmen: Extension in den Interphalangeal-
gelenken, halbe Flexion und Adduktion des II. —V. Fingers und Opposition des
Daumens, nimmt die Schüttelbewegung der Hand eine bizarre Form an, die seit
jeher mit gewissen koordinierten Bewegungen verglichen wird: Kneten eines
Brotkügelchens (Gubler 1845), Trommlerbewegungen, Geldzähien, Siebbe¬
wegungen, Pillendrehen u. a.
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
107
Ein charakteristisches Merkmal dieses Zitterns besteht darin, daß es in
der Ruhe vorhanden ist, mögen die Hände am Körper herabhängen oder auf
einer Unterlage ruhen, mag der Kranke ruhig stehen (in den Kniegelenken) oder
ruhig sitzen (in den Sprunggelenken).
In jenen Fällen, in denen das Zittern in der Ruhe nicht deutlich genug
ist, können wir dasselbe leicht hervorrufen, und zwar an den unteren Extremi¬
täten dadurch, daß wir den Kranken aufsetzen und ihn die Füße nur auf die
Fußspitzen stützen lassen, und an den oberen Extremitäten dadurch, daß der
Patient im Sitzen die oberen Extremitäten derart bequem auf die gespreizten
Oberschenkel legt, daß er sich mit dem Ulnarrand des Vorderarms auf die Ober¬
schenkel stützt und die Hände frei herabhängen läßt (Thomayersches Hilfs¬
mittel).
Ein anderes charakteristisches Merkmal dieses Zitterns besteht darin,
daß es bei intendierten Bewegungen, und zwar im ersten Moment der Bewegung
verschwindet. Bei grober Muskelspannung (Drücken, Heben einer Last) schwin¬
det es eher als bei leichter, nicht anstrengender Intention (Zeichnen in der Luft).
Auch durch eine energische Willensanspannung kann man das Zittern, aber
nur für einen Augenblick, sistieren, ja, manchmal genügt die einfache Intention
ohne Bewegung, der Befehl zur intendierten Bewegung (Hei mann), eine passive
Bewegung der zitternden Extremität (Dejerine, Oppenheim, Hei mann,
Lantzius, Machol, unser letzter Fall). Heimann soll es gelungen sein, das
Zittern bei seinen Fällen durch die bloße Berührung, durch Streicheln der
zitternden Hand, ja, durch die bloße Geste, als wollte er die zitternde Hand
streicheln, zu sistieren.
Selten tritt das Zittern erst bei der statischen Innervation auf (Hudo-
vernig).
In seltenen Fällen nimmt die Intensität des Zitterns bei der Intention zu;
Gerhardt will dies bei 9 von seinen 18 Fällen beobachtet haben. Unsere Er¬
fahrungen stimmen mit dieser Zahl nicht überein; denn wir beobachteten eine
Verstärkung des Zitterns bei Intentionen nur in 4 von 28 Fällen und von diesen
4 wiesen 2 überdies manchmal eine Abnahme der Heftigkeit des Zitterns auf
oder dieses verschwand auch gänzlich. Vielleicht ist diese Verstärkung des
Zitterns bei der Intention, wie Heimann scharfsinnigerweise bemerkt (sein
Fall V) und wie auch wir bei unserem Fall (Nr. 7) beobachten konnten, nicht
das reine Intentionszittern, sondern dieses folgt erst auf eine anfängliche Ab¬
nahme der Intensität. Gowers behauptet, Fälle gesehen zu haben, bei denen
das Zittern nur bei Bewegungen auftrat, und zwar soll dies dort der Fall gewesen
sein, wo die Muskelrigidität bedeutend über wog. Analoge Fälle Hitzigs führt
Wollenberg an. Die genauer publizierten Fälle sind aber nicht ganz klar.
So z. B. beschreibt Bechet einen Fall (Obs. VIII), bei dem der Verdacht auf
disseminierte Sklerose besteht und der Patient Wollenbergs wies bei inten¬
dierten Bewegungen einen stärkeren Tremor auf, der leicht als emotive Ver¬
stärkung aufgefaßt werden kann.
Bei unserem typischesten Beispiel (Nr. 8) trat das Intentionszittern erst
vor dem Tode auf und bei der Autopsie fand man im Gehirn multiple Erweichungs¬
herde (etat crible).
Es scheint mir daher, daß das Intentionszittem nicht zum Bilde der Par-
kinsonschen Krankheit gehört, sondern eine Komplikation derselben darstellt
und mit anatomischen Läsionen des Gehirns zusammenhängt.
108
Erster Teil.
In vorgeschrittenen Stadien der Krankheit kann das Zittern gänzlich ver¬
schwinden; dies geschieht dann, wenn die Muskelrigidität einen hohen Grad
erreicht hat. Die Fälle III, IV und XI von Hei mann und der I. Fall von
Markelov zeigen in schöner Weise, wie das Zittern mit zunehmender Rigidität
verschwindet. Wenn die Rigidität nachläßt, kann das Zittern wieder auftreten.
Manchmal hört das Zittern für mehrere Stunden und Tage ohne jede be¬
stimmbare Ursache auf.
Es gibt Fälle, in denen die Krankheit unter den typischen Symptomen
mit Ausnahme des Zitterns auf tritt; es sind dies wiederum Fälle mit hoch¬
gradiger Muskelrigidität; sie sind unter der Bezeichnung Paralysis agitans sine
agitatione bekannt. Aber selbst bei solchen Fällen kann man bei sorgfältiger
und dauernder Beobachtung der Kranken hier und da einen kurzen Anfall des
typischen Tremors einer Hand oder beider Hände oder der Füße konstatieren
und in den späteren Stadien stellt sich das Zittern doch noch ein (Buchet).
So z. B. begann der typische Fall Charcots nach Jahren zu zittern. (Er wurde
von Roux beschrieben.)
Strittig ist bis jetzt die Frage, ob das Zittern auch im Schlafe vorhanden
sein kann. Romberg, Oppenheim und Thomayer geben diese Möglichkeit
zu. Sicher gibt es Fälle, bei denen sich das Zittern vor dem Einschlafen so ver¬
stärkt, daß es das Einschlafen verhindert. Ich glaube, daß sich das Zittern
in dem leisen, oberflächlichen Schlafe, der bei dieser Krankheit sehr häufig vor¬
kommt, erhalten kann. Im tiefen Schlafe verschwindet es ähnlich wie in der
Chloroformnarkose (Bechet). Auf diese Weise würde sich auch die Tatsache
erklären, warum es bei diesen Kranken besonders dann im Schlafe beobachtet
wird, wenn sie fiebern (Grashey).
Es wurde die Beobachtung gemacht, daß das Zittern bei der Schüttel¬
lähmung bei schlechtem Wetter (Leube), beim Eintauchen der Hand in kaltes
Wasser (Oppenheim, Mendel) intensiver wird, daß es früh morgens am
schwächsten, mittags stärker und abends am stärksten ist (Siehr). Ein auf
die Gegend der Zentralwindungen auf den Kopf gelegter Eisbeutel soll das
Zittern für eine kurze Zeit mildem, während die Galvanisation derselben Partie
das Zittern für kurze Zeit verstärken soll (?).
Der Tremor ist kein Attribut des Alters; zwar beginnt er am häufigsten
nach dem 50. Lebensjahre, begleitet aber auch jene Fälle, die früher, eventuell
schon in verhältnismäßig jugendlichem Alter begannen. Fernet zitiert die
Krankheitsgeschichte eines 16jährigen Patienten, der von Duchenne de
Boulogne beobachtet wurde. Siehrs erste Patientin begann im 16. Lebens¬
jahre zu zittern, und in seinem zweiten Falle, bei welchem die ersten Symptome
schon zwischen dem 13. und 18. Lebensjahre auftraten, begann der Tremor
im 20. Lebensjahre. Bergers Patient (zit. von Siehr) zitterte seit dem 17.
Lebensjahre; Huchard sah angeblich ein 18jähriges Mädchen, das seit seinem
dritten Lebensjahre Symptome darbot (zit. von Siehr). Van^sek beobachtete
das Zittern vom 19. Lebensjahre des Kranken. Pennato beschreibt sogar
einen Fall von Parkinsonscher Krankheit (?), die im 12. Lebensjahre nach
Typhus entstanden war. Häufiger sind die Fälle, bei denen das Zittern zwischen
dem 20. und 25. Lebensjahre auftrat. (In manchen dieser Fälle ist es zweifel¬
haft, ob es sich um eine frühzeitige Schüttellähmung oder um eine Herderkran¬
kung des Gehirns handelt. Der Fall Lannois’ z. B., bei dem das Zittern im
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
109
11. Lebensjahre begann, ist auf eine Enzephalitis verdächtig, und der Fall,
den Meschede beschrieben hat und bei welchem das Zittern im 12. Lebensjahre
nach einem Kopftrauma begann, konnte eine disseminierte Sklerose gewesen
sein.)
Interessant ist das Verhalten dieses Tremors zu apoplektischen Anfällen:
es wurde nämlich sowohl das erste Auftreten des Tremors nach einem apo¬
plektischen Insult, als auch das Verschwinden des Tremors nach einem solchen
beobachtet. Es können da im ganzen dreierlei Möglichkeiten vorliegen: In
einer Reihe von Fällen beginnt das Zittern nach dem Iktus auf der befallenen
Seite, wenn die Beweglichkeit der gelähmten Glieder zurückkehrt, und hernach
entwickelt sich eine typische Schüttellähmung mit ein- oder beiderseitigem
Zittern. Leyden beschreibt in seinem aus dem Jahre 1874 stammenden Buche
einen Fall, in welchem nach einem Iktus mit Hemiplegie eine Schüttellähmung
entstand; die Qualität des Zitterns beschreibt er aber nicht. Er fügt hinzu,
daß auch Oppolzer einen derartigen Fall gesehen habe (S. 111). Vandier
führt in seiner These aus dem Jahre 1886 in ausführlicher Weise analoge Be¬
obachtungen von Grasset, Westphal und Auerbach an, bei denen sich
später durchwegs eine beiderseitige Schüttellähmung entwickelt hatte. Bechet
zitiert in seiner These einen ganz analogen Fall von Brousse aus dem Jahre
1886. Auch die eigene Beobachtung von Walz (1896) dürfte hierher gehören.
Skala beschrieb (1900) einen Fall, bei welchem vor sechs Jahren nach einem
leichten apoplektischen Insult die linke Körperhälfte schwach wurde und nach
einigen Wochen in der Ruhe zu zittern begann und wo vor neun Monaten ohne
einen deutlichen Iktus auch die rechte Körperhälfte schwach wurde und nach
einigen Stunden ebenfalls in der Ruhe zu zittern begann, worauf sich das typische
Bild der Parkinsonschen Krankheit entwickelte. Skala zitiert sodann in ein¬
gehender Weise eine ganz analoge Beobachtung Bergers, die durch einen nega¬
tiven Sektionsbefund ergänzt ist. — Der Iktus muß ja nicht immer der Ausdruck
einer wirklichen Blutung sein, ebensowenig wie bei der progressiven Paralyse,
der Urämie oder der Herdsklerose. — Auch Thomayer hat ähnliche Fälle
gesehen und beschrieben.
In einer zweiten Reihe von Fällen entsteht nach dem apoplektischen
Insult zwar auch ein Zittern in der Ruhe, das dem Parkinsonschen Zittern
ähnlich, aber durchaus keine Schüttellähmung ist (siehe den Tremor zerebralen
Ursprungs).
In einer dritten Reihe von Fällen verschwand ein vorhandener Tremor
nach der Gehirnblutung aus den ganz gelähmten Extremitäten (Leva u. a.);
bei der Rückkehr der Beweglichkeit der gelähmten Glieder kann auch das
Zittern wiederkehren (Parkinson). Grashey sah einen Fall, bei welchem
der Tremor nach einer Gehirnblutung auch auf der nicht gelähmten Seite ver¬
schwand.
Der Tremor bei der Parkinsonschen Krankheit pflegt von einer Muskel¬
schwäche begleitet zu sein, aber manchmal nur von einer Schwäche der dyna¬
mischen Leistungen, während die Kraft der statischen Leistungen groß sein
kann (Egger, Dylevova). Ich konstatierte überhaupt kleinere dynamo¬
metrische Werte und dort, wo das Zittern auf der einen Seite intensiver war,
war auch der dynamometrische Wert auf derselben Seite kleiner. Es wurde
auch die elektrische Erregbarkeit der entsprechenden Muskeln und zwar mit
110
Erster Teil.
verschiedenem Erfolge geprüft: die einen fanden keine Veränderung (Buchet,
Siemerling, Schwalbe-Griesinger), die anderen anfangs eine Steigerung,
später eine Herabsetzung der Erregbarkeit (Benedikt), doch wurde dieser
Befund nicht bestätigt (Heimann), die dritten eine einfache Herabsetzung
(Mendel, Huet, Alquier), speziell im vorgeschrittenen Stadium der Krank¬
heit im Zustande der allgemeinen Muskelatrophie (Bechet und Wollenberg).
Mendelsohn fand bei Marey eine verlängerte Dauer der latenten Reizung
von 0,012—0,02 gegenüber der normalen Dauer von 0,006—0,008 Sekunden.
Nur Rossi gibt an, er habe eine Inversion der Formel gefunden, und zwar auch
an jenen Muskeln, die nicht zitterten. Mendel fand einmal eine myotonische
Reaktion und zitiert Westphal, der einen analogen Befund erhoben hat. Doch
kommt dies nur ganz ausnahmweise vor. (Nach der faradischen Reizung blieb
der M. tibialis anticus auch nach der Entfernung der Elektroden kontrahiert.)
Einen ähnlichen Zustand beschrieb Mocutkovsk^ bei der Stimmusku-
latur und beim M. orbicularis orbitae als konstantes Symptom der Parkinson-
schen Krankheit: wenn der Kranke die Stirn 1—2 Minuten lang runzelt, bleiben
die Falten, selbst wenn sie der Kranke zu glätten bestrebt ist, dennoch 40—60
Sekunden bestehen; etwas Analoges findet statt, wenn der Kranke die Augen
schließt. Der Autor bezieht diese Phänomene auf hochgradige Muskelrigidität.
Markelov hat diesen wenig bekannten Befund bestätigt. JaniSewsky er¬
klärt ein analoges Verhalten der Augenlider und der Flexoren der Hand da¬
durch, daß die Antagonisten nicht nachlassen. Auf diese Weise ließe sich das
Zittern der Augenlider bei dem Bestreben die Augen zu öffnen, bis endlich die
Öffnung plötzlich gelingt, leicht erklären (Klippel und Weil).
Von Stewart (zit. von Mendel) wurde ferner ein anfallweise auftretender
tonischer Krampf, und zwar in den Zehen beim Gehen beobachtet; bei unserem
Kranken (Nr. 24) entstanden spontan tonische Krämpfe im Antithenar; unter
den Prodromen der Krankheit finden sich auch Wadenkrämpfe und der „Schreib¬
krampf“ aufgezählt. Roux beobachtete bei seinem Kranken einen tonischen
Krampf der Lendenmuskeln und zwar nur dann, wenn sich der Kranke aus der
horizontalen Lage erhob und wenn er zu gehen begann; der Krampf dauerte
etwa 40 Sekunden und hörte dann allmählich auf; interessant und nicht ohne
Bedeutung war der Umstand, daß sich dieser Krampf nicht einstellte, wenn
der Kranke „an Ort und Stelle marschierte“ und beim Treppensteigen ; da bei
diesem Kranken keine myotonische Reaktion vorhanden war, ist es zweifelhaft,
ob es sich bei seinem 71 jährigen Parkinson wirklich um das myotonische Syndrom
gehandelt hat; auch Rummo und Ciauri sahen bei einem 55jährigen Parkinson
einen analogen Spasmus im Beginne der gewollten Bewegungen — und außerdem
provozierte und spontane kataleptische Attitüden —, so daß man sich auch in
diesem Falle gewisser Zweifel an der Reinheit des myotonischen Charakters
der erwähnten Erscheinungen nicht erwehren kann.
Schließlich gehört die sogenannte lateropulsion oculaire hierher, auf die
Debove aufmerksam gemacht hat: wenn der Kranke beim Lesen am Ende
einer Zeile angelangt ist, kann er die Augen nicht sofort zum Anfang der nächst¬
folgenden Zeile, also bei unserer Schrift nicht nach links bewegen. Auch diese
Erscheinung hängt einerseits mit der Muskelrigidität, die von der Innervation
überwunden werden muß, andererseits mit der längeren Dauer der latenten
Reizung zusammen, die wir bei den gewollten Bewegungen bei der Parkinson-
schen Krankheit anzutreffen pflegen.
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit. 111
Aus unseren klinischen Fällen ergeben sich folgende statistischen Resultate
über die Parkinsonsche Krankheit und den bei dieser vorkommenden Tremor:
a) bezüglich des Alters: unter 28 Patienten zählte
1 Patient 38 Jahre,
1 Patient 48 Jahre,
die übrigen zählten 55—70 Jahre.
b) Bezüglich des Geschlechtes: unter 27 Fällen entfielen 18 auf das männ¬
liche und 8 auf das weibliche Geschlecht.
c) Beginn der Krankheit: unter 21 Fällen 1 ) begann das Leiden
1 mal im 37. Lebensjahre,
lmal im 46. Lebensjahre,
19 mal zwischen dem 55. und 70. Lebensjahre.
d) Dauer der Krankheit: unter 21 Fällen 1 ) dauerte die Krankheit lmal
„■viele Jahre“, je 1 mal 19, 12, 10, 7,7, 5 Jahre und in den übrigen Fällen kürzer.
e) Heredität: unter 21 Fällen war 3mal Zittern in der Familie zu kon¬
statieren: einmal beim Vater, einmal beim Vater und beim Onkel mütter¬
licherseits, einmal bei der Schwester; dreimal war der Vater Potator, einmal
waren in der Anamnese Psychosen vorhanden; demnach bestand siebenmal
eine hereditäre Belastung. Bei 12 von diesen 21 Fällen findet sich die ausdrück¬
liche Bemerkung, daß die Eltern ein hohes Alter erreicht hatten.
f) Um die Ätiologie der Krankheit zu beleuchten, will ich anführen, daß
unter den 21 Fällen die ersten Symptome auf traten:
4 mal nach Durchfrierung im Wasser,
3 ,, „ schwerem Kopftrauma,
1 ,, ,, einer Emotion und nach Kopftrauma ohne traumatische
Neurose,
1 ,, „ einer fieberhaften, mit Husten einhergehenden Krankheit,
1 ,, ,, einer ,»schweren Anstrengung“,
2 ,, im Klimakterium,
3 „ konnte chronischer Alkoholismus mitgewirkt haben,
7 ,, konnte nichts eruiert werden, womit man die Krankheit hätte in
Zusammenhang bringen können.
Interessant sind die Fälle von Durchfrierung.
1. B. F. fischte im Dezember einen Teich ab, fiel dabei ins Wasser und
blieb noch eine Stunde in der nassen Kleidung. Seit dieser Zeit empfand er
ein Kältegefühl abwechselnd mit Hitzegefühl in den Unterextremitäten, nach
zehn Tagen Kribbeln, bald darauf Schwäche, dann Starre und schließlich
Zittern.
2. C. J. hat 38 Jahre lang Holz geflößt, wobei er oft durchnäßt wurde.
(Dies war der leichteste Fall.)
3. H. J. wollte vor 19 Jahren im Frühjahr während eines Frostes Eichen¬
hölzer aus der Elbe holen, zu welchem Zwecke er bis zum Hals ins Wasser ging,
worauf er vier Stunden lang in den nassen Kleidern blieb. Seit dieser Zeit
empfand er ein Kältegefühl und bekam 14 Tage später das Zittern.
*) d. i. bei 21 Fällen waren Krankheitsgeschichte und Anamnese in dieser
Hinsicht vollständig.
112
Erster Teil.
4. K. F. mußte während der letzten zwei Jahre häufig, auch im Winter,
im kalten Wasser waten. Vor einem halben Jahre fuhr er drei Stunden in einem
Wagen, wobei er vor Kälte fast erstarrte. Vor sechs Monaten begann die Krank¬
heit mit Schmerzen.
Von den Fällen mit traumatischer Ätiologie sind die folgenden hervor¬
zuheben :
1. K. V. erlitt durch einen Eisenhaken einen Schlag ins Gesicht, so daß
er das Bewußtsein verlor. Er arbeitete weiter, bekam aber nach einigen Tagen
Zittern der linken, dann der rechten Hand. Nach zwei Jahren Rigidität.
2. S. J. litt ein Vierteljahr an Zittern der linken Extremitäten; nach dieser
Zeit wurde er von einem Wagen überfahren, wobei ihm eine Hand verrenkt
und ein Fuß und der Brustkorb gequetscht wurden. Beim Erwachen aus dem
bewußtlosen Zustande zitterten auch die rechtsseitigen Extremitäten.
3. V. P. erlitt nach einer vorangegangenen Emotion (Tod der Mutter,
Traum) einen Schlag mit einem Knüttel gegen den Kopf, ohne das Bewußtsein
zu verlieren. Seit dieser Zeit zittert er. Es konnte nicht festgestellt werden,
wann während der 10 jährigen Krankheitsdauer die Rigidität auf getreten war.
4. U. J. fiel mit dem Gesicht auf eine Heugabel, verletzte sich und verlor
das Bewußtsein; nach einem Monat Schwäche und Zittern einer Hand.
Bei den beiden klimakterischen Fällen findet sich in der Anamnese des
einen keine genauere Angabe, bei dem anderen dürfte ein Schreck (durch einen
Waldheger verursacht) mitgewirkt und das Zittern hervorgerufen haben.
In keinem unserer Fälle wird eine einfache isolierte Emotion als Krankheits¬
ursache angegeben.
g) Reihenfolge der Symptome. Unter 24 Fällen mit vollständiger Anamnese
war das erste Symptom: Zittern in 15, Frösteln und dann Zittern in 2, Schmerzen
in 6 Fällen und Schwächegefühl in einem Falle.
Zweimal begann das Zittern plötzlich an allen vier Extremitäten.
1. J. P.; nach einem mit Erbrechen verbundenen Schwindelanfall (der
schon vor zehn Jahren zweimal auf getreten war) begann plötzlich bei mächtigem
Retropulsionsgefühl das Zittern aller Extremitäten.
2. V. P. bekam nach der erwähnten Emotion und dem Knüttelhieb in den
Kopf plötzlich Sprachstörungen und Zittern aller vier Extremitäten. (Gerade
dieses Trauma war unter den drei Traumen das geringste und verursachte weder
Bewußtlosigkeit noch eine sichtbare Verletzung.)
Einmal begann das Zittern in der Weise, daß alle vier Extremitäten bald
nacheinander zitterten; doch vermag die Kranke die genaue Reihenfolge nicht
anzugeben.
Unter 12 Fällen begann das Zittern:
an beiden Oberextremitäten.3 mal,
an beiden Unterextremitäten.1 ,,
an der rechten Oberextremität . . . . 4 ,,
an der linken Oberextremität.2 ,,
an den linken Extremitäten.2 ,,
an den rechten Extremitäten.0 ,,
an einer Unterextremität.0 ,,
Wenn wir den Beginn des Zitterns in den übrigen Fällen berücksichtigen,
Da8 Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit. 113
in denen dem Tremor aber andere Symptome vorangingen, dann begannen
die Symptome
an beiden unteren Extremitäten . . . 2 mal,
an der linken unteren Extremität . . . 1 „
an der rechten unteren Extremität . . 1 „
an beiden oberen Extremitäten .... 0 „
an der linken oberen Extremität . . . 2 „
an der rechten unteren Extremität . . 3 „
so daß unter den 21 Fällen, in denen die Symptome nicht gleichzeitig an allen
vier Extremitäten begannen, dieselben auftraten:
1. An beiden Unterextremitäten dreimal und % Jahr* resp. 1 Jahr und
2 Jahre allein vorhanden waren;
2. an der linken Unterextremität einmal und 2 Jahre allein vorhanden
waren;
3. an der rechten Unterextremität einmal und kurze Zeit allein vorhanden
waren;
4. an beiden Oberextremitäten dreimal und kurze Zeit resp. ein Jahr und
unbestimmt lange allein vorhanden waren;
5. an der linken Oberextremität viermal und kurze Zeit resp. 14 Tage,
1 Monat, 1 Jahr allein vorhanden waren;
6. an der rechten Oberextremität siebenmal und y 2 Jahr resp. 1 y 2 Jahre,
1 Jahr, 14 Tage, kurze Zeit, 3 Jahre und 1 Jahr allein vorhanden waren;
7. an den linken Extremitäten zweimal und 1 Jahr resp. kurze Zeit allein
vorhanden waren.
In jenen 8 Fällen, in denen das Zittern nicht das erste Symptom war, be¬
gann das Zittern:
Nach einem Fröstelgefühl binnen 2 Jahren resp. 14 Tagen (2 Fälle);
nach Schmerzen (6 Fälle) binnen 3% Monaten, 1% Jahren, y 2 Jahre,
2 Jahren, 1 Jahre; einmal war sich der Kranke des Zitterns überhaupt nicht
bewußt;
nach einem Schwächegefühl (1 Fall) binnen 14 Tagen.
Die Reihenfolge, in welcher sich das Zittern auf die Extremitäten aus¬
breitete, war die folgende:
1. von beiden unteren: auf die rechte obere, dann auf die linke obere;
auf die rechte obere, dann auf die linke;
auf beide obere zugleich;
2. von der linken unteren: auf die linke obere, dann auf die rechte obere;
3. von der rechten unteren: auf die linke untere, dann auf die rechte obere;
4. von beiden oberen: auf beide untere, aber wenig;
auf beide untere;
auf beide untere;
5. von der linken oberen: auf die rechte obere, dann auf beide untere;
auf die linke untere, dann auf beide rechte;
auf die rechte obere, dann auf beide untere;
auf die linke untere, rechte obere und rechte untere;
Pelndr, Zittern.
8
114
Ereter Teil.
6. von der rechten oberen: auf die rechte untere, beide linke;
auf die rechte untere, beide linke, Zunge;
auf die linke obere, beide untere;
auf die linke obere und ging binnen 19 Jahren
nicht auf die Füße über;
auf die linke obere und ging binnen 3% Jahren
nicht auf die Füße über;
auf die linke obere, ohne sich weiter auszubreiten;
auf den Kopf und auf die rechte obere;
7. von den linken Extremitäten: auf die beiden rechten;
auf die rechte obere.
Wir können daraus ersehen, daß die gewöhnlich angeführte Reihenfolge:
obere — untere — obere — untere oder obere — untere — untere — obere nicht
häufiger vorkommt als die obere — obere — untere — untere.
h) Die Muskelkraft der oberen Extremitäten wurde in 15 Fällen gemessen
und notiert; ich habe nicht in allen Fällen selbst gemessen; auch ist mir be¬
kannt, daß die üblichen französischen Dynamometer, die in unserer Klinik in
Verwendung standen, verschiedene Werte anzeigten; ältere Instrumente z. B.
gaben höhere Werte an; in dieser Hinsicht müssen daher die notierten Werte
mit einer gewissen Reserve aufgenommen werden, aber nur insofeme, daß die
Zahlen etwas größer sein können, als sie in Wirklichkeit vorhanden waren,
keinesfalls umgekehrt.
Wir fanden durchwegs kleine, ja geradezu geringfügige Werte; z. B. (die
erste Zahl bezieht sich stets auf die rechte Hand):
1. 7-5 kg,
2. 11 — 15, der Tremor war rechts stärker,
3. 16-16,
5. 1-3,
6. 15—26, der Tremor war rechts stärker,
8. 15—31, der Tremor war rechts stärker,
9. 20—22, der Tremor war links stärker,
10. 13-16.
13. 10—8, der Tremor war links stärker,
18. 10,5-8,
20. 15-22,
23. 12-9,
25. 7,
31. 5—15, der Tremor war rechts stärker,
32. 2—21, der Tremor war rechts stärker.
In den Fällen 2., 6., 31. und 32., bei denen der Tremor rechts stärker war,
war die Muskelkraft rechts wesentlich kleiner; umgekehrt war jedoch dieses
Verhalten nicht konstant.
i) Der Tremor spielte sich stets in Ruhe ab; die Intention übte fast stets
einen mäßigenden Einfluß aus; im ganzen hat sich der Tremor unter 28 Fällen,
über welche genauere Aufzeichnungen vorhanden sind, nur zweimal bei Intention
wesentlich verstärkt (Fall 8 und 10), aber bei demselben Patienten (Nr. 8) wurde
der Tremor bei Intention während der ganzen Krankheitsdauer geringer und
erst kurz vor dem Tode stärker; bei drei weiterem Fällen hat er sich nur ganz
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
115
wenig verstärkt (einmal wurde er hier und da auch schwächer oder er blieb
unverändert), 21 mal wurde er schwächer oder er verschwand fast (zweimal
verschwand er vollständig), einmal blieb er imverändert.
Demnach konstatierten wir eine dauernde Verstärkung nur bei 4 unter
28 Fällen; wir können daher die Behauptung Gerhardts, daß der Tremor in
der Hälfte der Fälle durch Intention verstärkt wird, nicht bestätigen.
j) Kopfzittem haben wir nur zweimal beobachtet (Nr. 28, 9). Einmal
war es bestimmt übertragen (Nr. 18). Einmal findet es sich in der Anamnese
angegeben, ohne daß es in der Klinik beobachtet worden wäre (Nr. 4). Das
Kinn und die Zunge zitterten in einigen Fällen.
k) Im Schlafe wurde das Zittern nie beobachtet.
l) Je einmal sahen wir eine Kombination mit Tabes dorsalis (Nr. 12),
mit Atrophie der Zunge (Nr. 17) und partieller Ophthalmoplegie (Nr. 24), ein¬
mal eine Parese im Peroneusgebiete (Nr. 4), einmal verdächtige Schwindel¬
anfälle und Chorioretinitis (Nr. 9), einmal Epilepsia tarda (Stokes-Adams?)
(Nr. 15), einmal senile Demenz (Nr. 23).
m) In einem Falle (Nr. 21) waren wir Zeugen interessanter Intermissionen,
während welcher die Krankheitssymptome wiederholt für längere Zeit ver¬
schwanden.
Zwecks genaueren Studiums will ich Auszüge aus unseren Krankheits¬
geschichten mitteilen, die die Form des Zitterns in den verschiedenen Stadien
der Krankheit am besten illustrieren werden. (In den Auszügen werden die
Symptome der normalen Gehimfunktion, wie z. B. negativer Babinski, normale
Pupillenreaktion u. dgl. nicht angeführt.)
1. Beginn nach einer fieberhaften Erkrankung. Senilität.
Nr. 4076/08. A. E., 66jährige, ledige Bedienerin, die, soweit sie sich erinnert,
aus gesunder Familie stammt; war niemals krank. Vor 14 Tagen begannen ihr
während einer fieberhaften, mit Husten einhergegangenen Erkrankung die Hände
Fig. 75.
derart za zittern, daß sie die Speisen vom Löffel verschüttete. In der Buhe ist das
Zittern am stärksten, bei der Arbeit hört es fast gänzlich auf. Auch der Kopf soll
intensiv zittern. Die Füße zittern wenig. Dafür treten in denselben Krämpfe auf;
auch friert es die Patientin in die Füße.
Wir fanden eine Katarakta, Bronchitis, Emphysema pulmonum, Pleuritis
sicca. E. D. 1 T ' — Patellarreflexe normal. — Wenn die Kranke speziell in die Prä-
5 1.
dilektionsstellung gebracht wurde, zitterten die Oberextremitäten, weniger die Unter¬
extremitäten; bei intendierten Bewegungen war das Zittern schwächer. — Auf der
Kurve sieht man ein grobes, ungleichmäßiges, ziemlich rhythmisches Zittern von
4,8 Wellen in der Sekunde; bei Intention wird es schwächer, ungleichmäßig, aber
rhythmisch mit 4,6 Schwingungen in der Sekunde (Fig. 75).
8
116
Erster Teil.
2. Beginn nach einer Erkältung. Unter den Prodromen eine Paraparese
ohne Symptome einer organischen Erkrankung. Vollständige Remis*
sionen und Intermissionen. Abwechselnd paraplegische, hemiplegi-
sche, triplegische, monoplegische Formen. Myasthenische dynamo¬
metrische Reaktion.
Nr. 17869/02. 1908. B. Fr., 62jähriger Seiler. Der Vater starb im Alter
von 81 Jahren an einem Gehirntumor, die Mutter im 78. Lebensjahre. Im Dezember
des Jahres 1901 fischte er einen Teich ab und fiel hierbei ins Wasser. Seit dieser
Zeit hatte er ein Kältegefühl in den Füßen, die Füße waren schwächer und das Gehen
wurde beschwerlich; die Füße waren wie erstarrt, wie steinern. Im November 1902
konstatierte man in der Klinik eine Parese der unteren Extremitäten mit normalen
Reflexen und normaler Sensibilität. — Im März 1903 war die Beweglichkeit der
Füße gebessert, aber es trat an den unteren Extremitäten, und zwar zuerst rechts
und nach 3 Wochen auch links, ein Zittern auf, sobald sich der Patient auf die Fu߬
spitzen stellte oder wenn er ausschreiten wollte. Die Hände zitterten nicht. Im
April 1903 konstatierte man in der Klinik Runzelimg der Stirn und erstaunten
Gesichtsausdruck. Die oberen Extremitäten zitterten nicht, wenn sie der Kranke
ruhig neben sich liegen ließ. Wenn man sie aber im Ellbogengelenk flektierte und
in dieser Stellung auf den Körper legte, begann die rechte sofort rhythmisch zu
zittern, während die linke ruhig blieb. Die gestreckten Oberextremitäten zitterten
zart in horizontaler Richtung. Im Stehen oder beim Sitzen in der Prädilektions-
stellung entstand ein rhythmisches Zittern der rechten und ein ganz unbedeutendes
an der linken unteren Extremität. Beim Gehen ist das Zittern auffallender, wiederum
namentlich rechts. — Er nahm Hyoscinum hydrobromicum, 2 Tabletten täglich.
Nach 3 Tagen waren seine Füße stärker, nach 4 Tagen wurde das Zittern schwächer,
nach 14 Tagen konnte er fast ohne zu zittern umhergehen, so daß er entlassen wurde.
Er unternahm sodann große Reisen durch Böhmen und verfertigte Netze. — Im
November 1903 arbeitete er in einer Fabrik am Plafond, wobei er auf den Tra¬
versen des Gerüstes stand. Am Abend des nächsten Tages begännen seine Hände
und Füße plötzlich zu zittern, er konnte allmählich nichts mehr arbeiten, da die
Hände zitterten und die Gelenke erstarrten. Die Füße zitterten besonders dann,
wenn er Treppen stieg oder wenn er in der elektrischen Tramway stand. In der
Klinik betrug E. D. T ‘ n , beim fünften Zusammendrücken T ' 1 . Beim weiteren Zu-
6 1 . 15 1 . 1
sammendrücken stellte sich das Zittern ein. Die ausgestreckten Hände ermatten
und beginnen zu zittern, die rechte Hand früher als die linke. Dasselbe erfolgt beim
Schreiben. An den unteren Extremitäten beim Sitzen in der Prädilektionsstellung
und beim Gehen grobes Zittern. Das Gehen ist ohne Hilfe unmöglich. Patellar-
reflexe lebhaft, Plantarreflexe normal, Sensibilität normal. Muskulatur rigid.
Keine Pro- oder Retropulsion. Der Kranke lag in der Klinik bis zum 17. März
1904 und verließ dieselbe fast ohne Zittern. — Im April 1904 kam er zum
viertenmal wegen des Zitterns und wurde nach 5 Tagen wiederum gebessert
entlassen. Hernach war das Zittern wieder unbedeutend, als plötzlich einmal
nachts im November 1904 der rechte Fuß und die rechte Hand im Karpal-
gelenke im Sinne von Adduktion und Abduktion ohne jede bekannte Ursache
zu zittern begannen. Das Zittern besteht im Ruhezustände und hört nur dann
auf, wenn die Aufmerksamkeit des Kranken auf einen anderen Gegenstand ab-
gelenkt wird. — In der Klinik bekam er am 20. Januar 1905 wiederum Hyoscinum
hydrobromicum und trat im April 1905 gebessert aus; die Füße zitterten nicht,
auch wenn er sich auf die Fußspitzen aufstellte. — Ende September 1905 begann
wieder ohne jede Ursache die rechte Unterextremität zu zittern und nach einigen
Tagen auch die linke. Die Hände zitterten unaufhörlich seit April 1905. Die Füße
werden je weiter, desto unsicherer und schwächer. Sobald er sich zudeckt, empfindet
er eine unerträgliche Hitze. In der Klinik konstatierte man am 27. Dezember 1905
1 25
starren Gesichtsausdruck. An den oberen Extremitäten E. D. * „ und kein Tremor
r. 16
außer dem fortgepflanzten. Rumpf nach vorn geneigt. Die Unterextremitäten
zitterten in der Ruhe regelmäßig, das Zittern wurde bei intendierten Bewegungen
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
117
schwächer, ließ sich aber nicht ganz unterdrücken. Gang schwankend; hierbei ein
grober Tremor der Unterextremitäten. Der Kranke bekam Scopolia carniolica am
26. Dezember 1905. Am 18. Januar 1906 war das Zittern nur angedeutet. Nur an
den unteren Extremitäten Rigidität. — Im Mai 1908 gab der Kranke an, daß das
Zittern der Hände und des linken Fußes im vorigen Jahre aufgehört habe, nicht aber
Fig. 76.
auch im rechten Fuße, weshalb er die Klinik aufsuche. Hier konstatierte man
einen Tremor vorwiegend an der rechten unteren Extremität in der Ruhe. Die ge-
r 1 ö
streckten oberen Extremitäten zitterten zart. E. D. ^ ^; Patellarreflexe rechts
lebhafter. Plantarreflexe normal. Nach einem einmonatlichen Aufenthalt wurde
das Zittern wieder schwächer und der Kranke ging nach Hause. — Es wurden zwei
Fig. 77.
\
Kurven aufgenommen: 1904 war der Tremor der Hand regelmäßig, von etwa 6 Wellen
in der Sekunde und hörte bei Intention für einen Moment fast vollständig auf (Fig. 76,
unten); 1906 regelmäßiger Tremor des rechten Fußes von etwa 4,5 Wellen in der
Sekunde (Fig. 77).
3. Propulsion. Retropulsion. Gesteigerte Patellarreflexe.
Nr. 7736/03. C. J., 70jähriger Flößer; der^Vater starb im 42. Lebensjahre
nach einer zweijährigen Psychose, die Mutter wurde 78 Jahre alt, zitterte nicht. Er
war früher gesund. Seit 38 Jahren flößte er bis zum vorigen Jahre Holz. Vor
Fig. 78.
2 Jahren begannen die Finger der rechten Hand zu zittern und hierauf die ganze
rechte Oberextremität, ohne daß irgendwelche subjektive Empfindungen vorhanden
118
Erster Teil.
gewesen wären. Nach einem halben Jahre begann auch die rechte Unterextremität
zu zittern und nun hatte er ein Schwächegefühl im ganzen Körper. Nach einem
halben Jahre ergriff das Zittern die linke Ober- und Unterextremität gleichzeitig.
Seit dieser Zeit ist sein Gang unsicher; er hat das Gefühl, wie wenn ihn etwas nach
rückwärts zöge. — Er hatte einen starren Gesichtsausdruck (Entsetzen); auch die
Haltung des Körpers und der Extremitäten war starr. In der Ruhe und zwar sowohl
im Liegen, als auch im Sitzen, als auch im Stehen zitterten die Oberextremitäten
rhythmisch, etwa viermal in der Sekunde; bei intendierten Bewegungen verschwand
das Zittern. E. D. 16. Im Sitzen verfielen die Unterextremitäten in einen analogen
Tremor. Im Schlafe fehlte das Zittern; der Patient fühlte im Einschlafen das Ver¬
schwinden desselben. Propulsion angedeutet, Retropulsion sicher vorhanden.
Patellarreflexe gesteigert. Kein Klonus. Die Brustmuskeln und die Deltoidei
waren rigid, die übrigen Extremitätenmuskeln dagegen nicht. — Der Tremor spielte
sich sowohl in den Fingergelenken ab (die Daumen rieben sich an den Zeigefingern),
als auch — und zwar mit größter Intensität — in den Karpalgelenken, ein wenig
auch in den Ellbogengelenken. — Auf der Kurve sieht man einen regelmäßigen,
rhythmischen, energischen Tremor von 5 Wellen in der Sekunde, der sich bei Intention
fast verliert und am Schlüsse derselben wieder erscheint (Fig. 78).
4. Heredität. Klimax. Emotion. Parese der Peronei.
Nr. 9306/05. D. B., 58 Jahre alt. Stammt von einem Vater, der im Alter
an den Händen (nicht am Kopfe) zitterte. War stets gesund. Seit 7 Jahren im
Klimakterium. Damals überraschte sie ein Heger im Walde. Sie erschrak und
bemerkte nachher auf dem Heimwege ein Zittern der linken Hand und des linken
Fußes. Seit dieser Zeit zitterten die Extremitäten und zwar in der Ruhe mehr als
bei der Arbeit. Nach einem Jahre begannen ohne jeden Grund auch die rechts¬
seitigen Extremitäten zu zittern. Seither kommt es ihr vor, als ob auch der Kopf
zitterte. Sie leidet an Hitzegefühl, schwitzt häufig und fühlt sich schwach. —
Die Kranke hatte eine typische Körperhaltung, Rigidität der Rumpfmuskulatur,
der Nackenmuskeln und der Wurzelpartien der Extremitäten. Die Peronei schlaff.
Die Finger zur Faust gekrümmt, vollführen in der Ruhe fortwährend Flexionen
und Extension, der abduzierte Daumen vollführt Adduktion und Abduktion und
19
'VyyyyyVij
Fig. 79.
außerdem vollführt die ganze Hand im Karpalgelenk Flexion und Extension. Sie
vermag das Zittern nicht zu unterdrücken. Fixiert man gewaltsam die Hand, springt
das Zittern auf das Ellbogengelenk über. Bei Intention hört es auf, beginnt aber
13
am Schlüsse der Intention sofort wieder. E. D. ^ y Das Gesicht ist starr und
bietet den Ausdruck des Erstaunens dar. Nahm 6 Wochen hindurch Scopolia
carniolica ohne Erfolg. — Auf der Kurve sieht man in der Ruhe einen groben, regel¬
mäßigen, rhythmischen Tremor von 4—4,2 Wellen in der Sekunde, der sich bei
Intention auffallend abschwächt, aber nicht verschwindet, dabei regelmäßig bleibt
und dieselbe Frequenz beibehält und allmählich zu der früheren Form zurückkehrt
(Fig. 79).
5. Bedeutende Rigidität. RigiditätderStimmbänder. (Cislers Symptom.)
Nr. 2522/03. F. A., 64jähriger Straßenkehrer; stammt aus gesunder Familie.
Er hat seit einem Monat Schmerzen in den Schultern, bewegt schlecht mit den
i 4i
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
119
Händen, atmet schwer, verliert leicht den Atem und hat keinen Appetit. Die Musku¬
latur des Nackens, der Ober- und Unterarme ist rigid, aktiv unbeweglich oder nur
minimal beweglich; die Oberextremitäten liegen flektiert in stereotyper Weise dem
Rumpfe an, die Hände sind über dem Bauch gefaltet und beginnen, sobald sie der
Kranke auseinandergibt, zu zittern, rechts stärker als links. Die Füße zittern nicht.
Der Kranke geht mit kleinen, schleifenden Schritten. Es besteht weder Pro-
pulsion noch Retropulsion. Atmung bei der Inspiration erschwert, beschleunigt,
58 in der Minute. Die Ursache dieser Atmungsstörung war eine rigide Position der
**^A*v4> v mWV ^ * Uf
Fig. 80.
Stimmbänder in Adduktionsstellung (siehe Cisler, Casopis lekafuv ceskych. 1903),
r 15
E. D. i* Die mechanische Erregbarkeit der Muskeln war gesteigert. Die rechte
obere Extremität vollführt rhythmische Bewegungen wie beim Sägen. An einzelnen
Körperstellen Parästhesien, Hitzegefühl. Da der Kranke nach Scopolia noch mehr
klagte, bekam er 3 g Jodkali täglich. Nach 2 Monaten fühlte er sich subjektiv
etwas wohler; objektiv hat die Starre der oberen Extremitäten etwas nachgelassen. —
Fig. 81.
Die von der rechten Hand abgenommene Kurve zeigt einen ungleichmäßigen, im
großen und ganzen aber langsamen Tremor von etwa 5 Wellen in der Sekunde
(Fig. 80).
6. Nr. 18 303/04. Die Kurve dieses Kranken zeigt einen gleichmäßigen Tremor
von 5 Wellen in der Sekunde, der bei Intention schwächer wird. Er wird leicht
unregelmäßig und seine Frequenz steigt auf 8 Wellen in der Sekunde (Fig. 81).
7. Heredität. Erkältung. Sehr störender, beschwerlicher Tremor.
Nr. 817/05. 74jähriger Taglöhner. Sein Vater, der ein hohes Alter erreichte,
zitterte 2—3 Jahre vor seinem Tode in gleicher Weise und ebenso ein Bruder der
Mutter nach dem 60. Lebensjahre. Er selbst war immer gesund. Hat stets schwer
gearbeitet. Vor 19 Jahren fischte er im Frühjahr bei Frostwetter Hölzer aus der
hochgehenden Elbe. Er stieg bis zum Hals ins Wasser und blieb hernach noch vier
Stunden in den nassen Kleidern. Seither hat es ihn fortwährend gefröstelt und nach
etwa 14 Tagen begann seine rechte Hand im Karpalgelenk zu zittern, wenn sie ruhig
herabhing oder lag. Wenn sie etwas erfaßte, zitterte sie nicht. Nach weiteren 14
Tagen begann auch die linke Hand in analoger Weise zu zittern. Aber bei der Arbeit
hinderte ihn das Zittern nicht. Sodann nahm aber dasselbe allmählich zu, hörte
bei der Arbeit nicht mehr auf, so daß es ihm schon seit 16 Jahren beim Essen und seit
120
Erster Teil.
6 Jahren auch bei grober Arbeit hinderlich ist; seit 5 Jahren muß er gefüttert werden.
Gegenwärtig ist das Zittern bei Bewegungen sogar intensiver. Der Kopf und die
Füße haben nie gezittert. — Es handelte sich um einen Greis mit starrem, des mimi¬
schen Muskelspiels entbehrendem Gesichtsausdrucke. Er hatte weder Kontrakturen,
noch Propulsion und Retropulsion, noch Hitzegefühl. Die frei herabhängenden
Oberextremitäten zitterten bei Pronation und Supination der Vorderarme, bei Flexion
und Extension der Finger. Bei groben Intentionsbewegungen läßt der Tremor ein
wenig nach, bricht aber sofort mit um so größerer Intensität hervor; ebenso bei
r 15
Muskelanstrengungen (Zusammendrücken des Dynamometers). E. D. ' JJ:. Der
Tremor ist rechts intensiver. An den Füßen fehlt er selbst in der Prädilektions-
stellung. — An den Kurven sehen wir einen groben, regelmäßigen Tremor von
3—4 Schwingungen in der Sekunde, der sich bei Intention entweder ein klein wenig
verstärkt, ohne die Frequenz zu ändern, oder sich überhaupt nicht ändert (Fig. 82).
8. Alkohol. Tuberkulose. Arteriosklerose. Vor dem Tode Zunah me des
Tremors bei Intention. Etat criblö des atrophischen Gehirns.
Nr. 16116/06. H. E., 62jähriger Inkassist. Seine Frau behauptet, daß er
ein starker Trinker war. Vor einem Jahre begannen seine Hände ohne jede Ursache
in der Ruhe zu zittern, doch hinderte ihn dies nicht beim Schreiben oder bei der
Arbeit. In der letzten Zeit ist das Zittern heftiger und ihm bei der Arbeit hinderlich
geworden. Seit einem Monat zittern auch die Füße, besonders am Abend, wenn
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’m,
Fig. 83 a.
er einen längeren Marsch gemacht hat. Schwächegefühl. Gesichtsausdruck mäßig
starr. In der Ruhe zittern die Oberextremitäten langsam, rhythmisch, die linke
mehr als die rechte. Der Kranke kann das Zittern durch den Willen für eine kleine
Weile unterdrücken. Bei intendierten Bewegungen verschwindet der Tremor rechts,
r 22
links wird er schwächer. Muskeltonus an den oberen Extremitäten erhöht. E. D. *
1« ZU
Der Körper wird nach vorn geneigt gehalten. Die unteren Extremitäten zittern
nicht einmal in der Prädilektionsstellung. Patellarreflexe normal. Der Kranke
leidet an Lungentuberkulose. Nach 11 tägiger Ruhe im Krankenhause verschwand
das Zittern von der rechten Hand vollständig ohne jede Behandlung, so daß der
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
121
Kranke gut schreiben konnte. Vor dem Tode trat das Zittern wieder auf und ver¬
stärkte sich bei Intention. Der Kranke starb. Bei der Sektion konstatierte man
Arteriosklerose der Gehirnarterien, Gehimatrophie, ötat criblö. — Kurz vor dem
Tode wurde eine Kurve aufgenommen, die in der Ruhe einen groben, regelmäßigen
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Fig. 83 b.
Tremor von 5—5,5 Wellen in der Sekunde aufwies, der bei jeder Intention viel
intensiver wurde und zwar in gleicher Weise an beiden Händen, ohne daß sich die
Frequenz geändert hätte. (Fig. 83 a stammt von der linken, b von der rechten
Hand.)
9. Struma. (Zerebraler?) Schwindel. Chorioretinitis.
Nr. 9099/07. J. T., 55jährige Witwe; war nie krank. Hatte 15 Kinder
und hat außerdem dreimal abortiert. Letzte Entbindung vor 8 Jahren. Seit
16 Jahren hat sie ein Struma. Vor 10 Jahren litt sie 2 Jahre lang an Schwindel¬
anfällen mit Erbrechen. Vor 4 Monaten hatte sie nach einem ähnlichen Anfall
das Gefühl von Retropulsion und zitterte am ganzen Körper. Solche Anfälle wieder¬
holen sich in der letzten Zeit. — Bei der Untersuchung konstatierte man ein leichtes
Zittern des Kopfes. In der Prädilektionsstellung verfallen sämtliche Extremitäten
in Zittern, die unteren mehr. Die gestreckten oberen Extremitäten zittern nicht.
r 13
Ophthalmoskopisch fanden sich Residuen einer Chorioretinitis. E. D. ^
10. Heredität. Bedeutende Rigidität. Bei Intention mäßige Ver~
Stärkung des Tremors.
Nr. 8897/09. J. A., 70jährige Witwe. Der Vater war ein Säufer. Von ihren
8 Kindern starben 6 an Fraisen. Sie selbst war niemals krank. Seit etwa 3 Wochen
zittern ihre Extremitäten, mehr im Ruhezustände, aber auch bei Bewegungen
ziemlich störend, so daß sie z. B. beim Essen die Speisen verschüttet. Seit längerer
Zeit macht ihr das Gehen Beschwerden, so daß sie seit einigen Wochen fast gar nicht
Fig. 84.
mehr gehen konnte und häufig hinfiel. Alle 4 Extremitäten zitterten in der Ruhe,
bei der Intention manchmal noch mehr. Der Gang war schlürfend, weil sie zu
fallen fürchtete. Die Muskeln der unteren Extremitäten rigid. Die Kranke be¬
klagte sich fortwährend über Kälte. Die Kurven zeigen ein grobes, stellenweise
leicht ungleichmäßiges, langsames Zittern von 5—6 Wellen in der Sekunde, das
bei der Intention an Intensität ein wenig zunahm ohne seine Frequenz zu ändern
(Fig. 84).
122
Erster Teil.
11. Nr. 5166/04. K. J., 61 Jahre alt. Zittern der Unterextremitäten in der
Prädilektionsstellung. In den Extremitäten Schmerzen und Parästhesien. Leb¬
hafte Patellarreflexe. Der Gang war hölzern, der Kranke flektierte nicht im Knie-
Fig. 85.
gelenk, neigte den Rumpf nach vorn und hielt sich an den Gegenständen fest. Mäch¬
tige Retropul8ion. (Die Anamnese fehlt.) — Die Kurve zeigt einen groben, regel¬
mäßigen Tremor der unteren Extremitäten mit einer Frequenz von 4,5 Wellen
in der Sekunde (Fig. 85).
12. Lues. Tabes dorsalis. Erkältung.
Nr. 14 424/05. K. Fr., 62 jähriger Mechaniker. Stammt aus gesunder Familie.
Im 15. Lebensjahre litt er an einer Phlegmone der linken Hand, im 53. Lebensjahre
schnitt ihm eine Maschine eine Fingerspitze der rechten Hand ab. Sonst war er
gesund bis auf ein Geschwür am Penis, nach dessen Heilung er mit grauer Salbe be¬
handelt wurde. Vor 6 Monaten bekam er Schmerzen in der linken oberen Extremität
und in der linken Schulter, nach einem Monat ähnliche Schmerzen in der rechten
Seite; er lag damit 4 Monate. Seit 2 Monaten beginnen Schmerzen in den Unter¬
extremitäten. Während der letzten Jahre mußte er bei der Arbeit im Winter im
kalten Wasser waten. Vor 1 y 2 Jahren war er auf einem Wagen (er fuhr 3 Stunden)
infolge Kälte ganz erstarrt. Vor 5—6 Wochen trat an den oberen Extremitäten
sowohl in der Ruhe als auch bei der Arbeit ein Zittern auf, das nicht mehr verschwand.
Bevor er ins Gehen kommt und beim Treppensteigen zittern seine Beine. Er emp¬
findet ein fortwährendes Kältegefühl im Oberkörper; bei Nacht dagegen schwitzt
er bis 6 Hemden durch. Die Pupillen reagierten nicht auf Licht, dagegen normal
bei Akkommodation. Die Patellar- und Achillessehnenreflexe fehlten. Gang vor¬
sichtig, unsicher, auf breiter Basis. Nervengeflechte, Muskeln und Wirbelsäule
druckempfindlich. Die Oberextremitäten verfallen sowohl bei Ruhe als auch bei
statischer Innervation in einen Tremor, der bei Intention schwächer wird und zwar
r 10
die linke mehr als die rechte. E. D. ^ Auch die Unterextremitäten zittern
in der Ruhe, aber unbedeutend. Der Tremor ist grob, langsam.
13. Trauma. Rigidität. Cislers Symptom.
Nr. 1922/05. K. V., 62jähriger Taglöhner, aus einer gesunden Familie
stammend, in der niemand an einer ähnlichen Affektion litt, obwohl alle Mitglieder
ein hohes Alter erreichten. Er war stets gesund. Vor 7 Jahren erlitt er einen Schlag
ins Gesicht mit einem eisernen Maschinenhaken, wobei er einige Zähne des Ober¬
kiefers einbüßte und das Bewußtsein verlor. Er arbeitete aber trotzdem weiter.
Nach einigen Tagen begann die linke und sodann auch die rechte Hand zu zittern.
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
123
Er führte einen Prozeß mit der Unfall Versicherungsanstalt. Nach 2 Jahren be¬
gannen seine Glieder steif zu werden, seit einem Jahre geht er schlecht und seit
5 Wochen kann er überhaupt nicht mehr gehen, weil er sonst auf den Rücken fallen
würde. Im Bette verträgt er nicht die Decke und will beständig anders gelagert
werden. Spärliche Symptome der Senilität. Das Gesicht zeigt den fixierten Aus¬
druck gespannter Aufmerksamkeit; starre, typische Haltung des ganzen Körpers;
beträchtliche Muskelrigidität. Die oberen Extremitäten zittern im Ruhezustände
und führen dabei Bewegungen aus, wie wenn sie zwischen Daumen imd den übrigen
Fingern Kügelchen formen würden, ferner Pronationen und Supinationen des Unter¬
arms. Bei Intention wird das Zittern schwächer. Zeitweise hört es spontan auf.
Auch die linke Unterextremität zittert in der Prädilektionsstellung. Rigidität der
Stimmbänder in Adduktionsstellung (Clslers Symptom). — Die Kurven ver-
66
Fig. 86.
zeichnen einen leicht ungleichmäßigen Tremor, dessen Frequenz zwischen 5 und
7,5 Wellen in der Sekunde schwankt. Bei Intention wurde er schwächer, ohne aber
ganz zu verschwinden (Fig. 86).
14. Nr. 2938/09. M. M., 55 Jahre alt. Seit dem 48. Lebensjahre im Klimak¬
terium. Zittert seit vielen Jahren; zuerst begannen die Hände zu zittern. Seit einem
Jahre geht sie schlecht. Sucht die Klinik wegen Kopfschmerzen auf. Man kon¬
statierte einen Tremor aller Extremitäten in der Ruhe, besonders in der Prädilektions¬
stellung; bei intendierten Bewegungen war er schwächer, verschwand aber nicht ganz.
Scopolia blieb ohne Wirkung, ebenso eine einwöchentliche Bettruhe.
15. Nr. 7971/05. N. P., 65jähriger Taglöhner. In der Familie keine Nerven¬
erkrankung. Leidet ein Jahr an epileptischen Anfällen. Man konstatierte Pro¬
pulsion, Retropulsion, Rigidität der Armmuskeln. Diagnose: Paralysis agitans.
Epilepsia tarda (Stokes -Ad am sehe Krankheit!).
16. Propulsion. Retropulsion. Rigidität der Sti mmbänder. Tremor der
Zunge. Große subjektive Beschwerden.
Nr. 4058/04. R. J., 58jähriger Tischler, aus gesunder Familie stammend.
Außer gesunden Kindern wurde ihm auch ein totes Kind geboren; ein Kind starb
an Fraisen, ein zweites nach einer Gehirnentzündung (Hemiplegie). Patient war
stets gesund. Vor 12 Jahren begann ein Zittern der rechten Oberextremität vom
Fig. 87.
Ellbogen zu den Fingern; dasselbe war anfangs unbedeutend, wurde aber später
stärkör; ein und ein halbes Jahr darauf begann auch die rechte Unterextremität
zu zittern; das Zittern der rechten Extremitäten dauerte 4 Jahre, worauf es sich
auch auf die linken Extremitäten ausbreitete. Vor zwei Jahren begann auch die
Zunge zu zittern. Mit zunehmendem Zittern wurden die Extremitäten schwächer.
In der letzten Zeit kann er ohne fremde Hilfe nicht aufstehen. Er wird von Hitze-
124
Erster Teil.
gefühl belästigt. — Gesichtsausdruck und Körperhaltung typisch, die Muskulatur
der Extremitäten rigid (besonders die Flexoren), die Finger in Prisenstellung. Die
Extremitäten zitterten in der Ruhe, die rechte mehr als die linke, zeitweise nahm
der Tremor an Intensität langsam zu und wieder ab, bei Intention wurde er nicht
schwächer. Ausgesprochene Pro- und Retropulsion. Auch das Kinn und die vor-
gestreckte Zunge zitterten langsam. Im Schlafe hörte das Zittern auf, obwohl
der Kranke das Gegenteil behauptete; ja, ich konnte mich überzeugen, daß das Zittern
erst 20 Sekunden nach dem Erwachen begann. Rigidität der Stimmbänder. Patient
klagte ungemein über Hitze; wehklagend bat er die ganze Nacht, man möge ihn anders
lagern. Weder Scopolia noch Hyoscinum hydrobromicum, noch Veronal verschafften
ihm eine Erleichterung; nach einer Morphiuminjektion hatte er die ganze Nacht
Ruhe, aber schon in der nächsten Nacht war eine Dosis von 0,015 g ohne Wirkung.
— Die Kurve zeigt einen groben, manchmal ganz regelmäßigen, manchmal ein wenig
unregelmäßigen Tremor von 6 Wellen in der Sekunde, der bei Intention stets regel¬
mäßig, grob und von gleichbleibender Frequenz ist (Fig. 87).
17. Kombination mit dem alkoholischen Tremor.
Nr. 948/04. R. Fr., 57 jähriger Taglöhner. Der Vater war Säufer. Die ganze
Familie war gesund, niemand litt an Zittern. Er war früher stets gesund. Nach
Ableistung seiner militärischen Dienstzeit arbeitete er 11 Jahre in einem Bräuhause
und hat während dieser Zeit viel getrunken. Vor 2 Jahren begannen beide Unter¬
extremitäten gleichzeitig ohne jede Ursache zu zittern, besonders beim Gehen,
und wurden bald darauf auch schwach. Nach etwa einem Jahre begann auch die
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Fig. 88.
rechte Hand zu zittern, zuerst beim Essen, beim sich Bekreuzigen, beim Putzen der
Nase, nicht aber in der Ruhe. Nach wenigen Wochen zitterte auch die linke Hand,
später wurden beide Hände schwach. Vor einem Jahre begann sich auch die Zunge
schwer zu bewegen. — Der Kranke war apathisch, die Muskeln des Nackens undfdie
Flexoren der Oberextremitäten waren rigid, das Gesicht entbehrte des mimischen
Muskelspiels. Die oberen Extremitäten zitterten in der Ruhe: speziell der Daumen
individuell und außerdem die ganze Hand im Karpalgelenk; beide im Sinne von
Adduktion und Abduktion. Die gestreckten Oberextremitäten zitterten ebenfalls
in Form grober Flexionen und Extensionen im Karpus und in Form von Pronation
und Supination des Vorderarms. Bei intendierten Bewegungen schwächt sich der
Tremor so ab, daß er kaum zu erkennen ist, sobald aber das Ziel erreicht ist, beginnt
der Tremor von neuem. Die unteren Extremitäten zittern nicht einmal in r der
Prädilektionsstellung. Die Zunge zittert, wenn sie vorgestreckt wird und ist atro¬
phisch. E. D. T ’ — Die verschiedenen Kurven zeigen einen Tremor, der in
l. y
der Ruhe ziemlich gleichmäßig und regelmäßig ist, 8 Schwingungen in der Sekunde
aufweist, bei der Intention ungleichmäßig wird, ohne aber zu verschwinden; eine
dieser Kurven zeigt bei der Intention nur eine Spur einer unregelmäßigen Erschütte¬
rung (Kombination mit dem alkoholischen Tremor) (Fig. 88).
18. Alkohol. Zittern des Kinns. Rigiditäten. Remissionen.
Nr. 1203/04. S. Fr., 67 jähriger Bauer. Stammt aus gesunder Familie, war
stets gesund. Hat stets schwer gearbeitet. Vor 3 Jahren begann nach einer schweren
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
125
Anstrengung die rechte Oberextremität zu zittern, anfangs unbedeutend, später
mehr, so daß ihm das Zittern bei feineren Arbeiten, z. B. beim Schreiben hinderlich
wurde. Bald wurde die ganze Extremität schwach und ungeschickt. Nach einem
Jahre wiederholte sich dasselbe an der linken oberen Extremität. Später wurden
auch die unteren Extremitäten schwach, ohne aber zu zittern. Beim Essen und
bei ähnlichen Verrichtungen war das Zittern weniger intensiv. Ebenso nach dem
Genuß alkoholischer Getränke. Vor einem Jahre begann auch das Kinn zu zittern,
die Zunge wurde schwer und beim Sprechen hinderlich. Vor l / 2 Jahre erschien das
Zittern auch an der rechten Unterextremität. Er trinkt ziemlich viel Alkohol. —
Wir konstatierten einen stereotypen Gesichtsausdruck, einen mit dem Zittern der
Extremitäten synchronen und dauernden Tremor des Unterkiefers. Ein analoger
Tremor der Zunge, der beim Vorstrecken derselben an Intensität abnahm. Beim
Zusammenbeißen der Zähne hörte das Zittern des Kinns auf. Wenn der Kranke
liegt, sieht man ein gleichmäßiges und rhythmisches Zittern der Finger, im Karpus
und im Ellbogengelenk, das so grob und intensiv ist, daß der ganze Oberkörper
zittert und daher auch der Kopf. An den unteren Extremitäten ist das Zittern selbst
in der Prädilektionsstellung, in der das Zittern der Oberextremitäten noch heftiger
Fig. 89.
wird, unbedeutend. Bei intendierten Bewegungen hört der Tremor auf und zwar
an beiden Händen, auch wenn die Bewegung nur mit einer Hand ausgeführt
wurde; nach Erreichung des Zieles beginnt er wieder an beiden. Typische
Körperhaltung, Rigidität der Mm. cucullares, der Brustmuskeln, der Deltoidei, der
Mm. flexores carpi rad., der Rückenmuskeln, der Stimmbänder. Schreiben unmöglich.
Patellarreflexe erhalten. Nervenstämme nicht schmerzhaft. E. D. r. 15. Am
vierten Tage verließ Patient die Klinik; am nächsten Tage meldete der Sohn des¬
selben, daß der Vater bis auf die rechte Hand fast gar nicht zittere. — Die Kurven
zeigen einen groben, langsamen Tremor mit einer Frequenz von 4,5—5 Wellen
in der Sekimde, der bei Intention bedeutend schwächer wird, ohne aber ganz zu
verschwinden oder seine Frequenz zu ändern (Fig. 89 A). Interessant ist die Kurve
des Unterkiefers, die einen regelmäßigen, deutlich allorhythmischen Tremor mit
5 Wellen in der Sekunde aufweist (Fig. 89 B).
19. Schmerzen. Rigiditäten. Retropulsion.
Nr. 18108/07. St. M., 60jährige, aus gesunder Familie stammende Frau.
Sie selbst war stets gesund. Wurde vor 12 Jahren wegen Katarakta operiert. Vor
2 Jahren begann sie zeitweise Schmerzen in der linken Unterextremität zu empfinden;
Fig. 90.
vor einem halben Jahre verschwanden die Schmerzen, aber dafür wurden beide
Beine schwach und steif, so daß ihr das Gehen schwer fiel. Oft zog es sie so mächtig
nach rückwärts, daß es sie Mühe kostete, um nicht zu fallen; trotzdem fiel sie wieder-
126
Erster Teil.
holt hin. Vor einem Vierteljahre begann — nach einem Schreck — die linke Ober¬
extremität zu zittern und etwa 3 Wochen später die rechte. — Typische Körper¬
haltung. Stereotyper Gesichtsausdruck. Muskulatur des Ober- und Unterarms
ein wenig rigid; die Oberschenkelmuskulatur, speziell der M. quadriceps, sehr
rigid; die Wadenmuskeln weniger. In der Prädilektionsstellung beginnt eine
rotierende Bewegung der linken, später und geringer auch der rechten Finger.
Bei der Intention verschwindet der Tremor. Reflexe normal. — Die Kurven zeigen
einen ziemlich ungleichmäßigen, im großen und ganzen regelmäßigen Tremor von
5 Wellen in der Sekunde (Fig. 90).
20. Einfluß des Traumas und der Emotion. Tremor des Unterkiefers.
Pulsionen. Einfluß der Wärme und der Kälte.
Nr. 7048/04. S. J., 48jähriger Taglöhner, Findling. War stets gesund.
Vor 2 y 2 Jahren bemerkte er, daß, wenn er zu arbeiten aufhörte, die linke Hand zeit¬
weise zitterte; wenn er sodann mit derselben einen Gegenstand erfaßte, hörte das
Zittern auf. Nach etwa 14 Tagen zitterte auch der Fuß, wenn er sich setzte oder
stehen blieb. Ein Vierteljahr darauf wurde er überfahren und zwar fuhr ihm der
Wagen über die rechte Körperhälfte; hierbei wurde die Hand luxiert, der Fuß und
der Brustkorb gequetscht. Unmittelbar nach der Verletzung nahm der Tremor
an den linken Extremitäten an Intensität zu, breitete sich auch auf die linken aus
und hält seither an. An feuchten Wintertagen zittert er mehr, in trockener Wärme
weniger; in dieser ist er auch beweglicher. Seit einem Jahre besteht das Zittern
Fig. 91.
auch bei Intention. Im Schlafe fehlt es. Gegenwärtig fühlt er sich sehr schwach;
er muß gefüttert werden; nur bei schönem, warmem Wetter kann er selbst essen.
Er beugt sich angeblich unwillkürlich nach vorn. Muskelstarre empfindet er nicht.
Beim Gehen zieht es ihn nach vom oder nach links, oder nach rechts hinten. —
Typische Körperhaltung. Die Oberextremitäten machen in der Ruhe Zitterbe¬
wegungen im Sinne der Adduktion und Abduktion und der Pronation und Supination,
wobei der Daumen gleichzeitig Bewegungen wie beim Geldzählen vollführt. Bei
der Intention wird das Zittern schwächer, nach Erreichung des Ziels aber wieder
heftiger. In der Ruhe schwankt seine Intensität. Die Zitterbewegungen der Füße
sind eine Kombination von Adduktion mit Supination resp. von Abduktion mit
Pronation und hören bei Intention gänzlich auf. Auch die Zähne klappern gleich¬
zeitig. Keine Mimik. Leichte Rigidität der Extremitätenmuskulatur bei passiven
Bewegungen. E. D. ** Patellarreflexe normal. — Er nahm Skopolia. Nach
10 tägigem Aufenthalte in der Klinik war das Zittern entschieden schwächer, zeit¬
weise hörte es gänzlich auf. Da bekam der Patient die Nachricht von einem Todes¬
fall in der Familie und verließ die Klinik mit demselben Zittern, mit dem er einge¬
treten war. — Die Kurven zeigen ein grobes, gleichmäßiges, rhythmisches Zittern
von 6 Wellen in der Sekunde, das bei Intention schwächer wurde, ohne seinen Rhyth¬
mus zu ändern (Fig. 91).
21. Nr. 8135/07. S. M., 69 jährige Frau. Viele Geschwister starben an Fraisen.
Sie selbst war oft krank. Im 50. Lebensjahr trat sie ins Klimakterium ein. Vor
2 Jahren fühlte sie eine Schwäche in den Unterextremitäten; etwa eine Woche
später begannen diese zu zittern, anfangs nur in der Ruhe, später auch bei Be¬
wegungen. Abends fühlte sie Hitze und Schmerzen in den Füßen. Vor einem Jahre
ergriff das Schwächegefühl auch die oberen Extremitäten, und zwar zuerst die rechte;
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
127
dieselben begannen ebenfalls zu zittern. Seit einem halben Jahre ist das Zittern
heftig; die Extremitäten sind wie hölzern. — Typische Haltung der Oberextremitäten.
Tremor aller Extremitäten in der Prädilektionsstellung. Die Muskulatur der Ober¬
extremitäten ist rigid, besonders die Flexoren. Reflexe normal, lebhaft. Die Patien-
92
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Fig. 92.
tin mußte gefüttert werden. Später wurde die Rigidität auch an den unteren Extre¬
mitäten konstatiert. Quälende Anästhesien. Wurde 2 Monate lang mit Vibrations¬
massage behandelt, aber ohne Erfolg. Auch Skopolia und Jodnatrium änderten
nichts an ihrem Zustande. — Die Kurven zeigen einen leicht ungleichmäßigen, im
großen und ganzen rhythmischen, bei Intention etwas heftiger werdenden Tremor.
Die Zeit wurde leider nicht registriert (Fig. 92).
22. Typische prodromale Schmerzen. Rigidität. Clslers Symptom.
Nr. 943/04. S. A., 66jährige Frau. Ein Bruder wurde im 68. Lebensjahr
geisteskrank, eine Schwester starb 60 Jahre alt, plötzlich. Litt in der Jugend an
Migräne, war immer begriffsstutzig. Klimakterium im 50. Lebensjahre. — Vor
3 Jahren bekam sie aus unbekannter Ursache Schmerzen in die linke Oberextremität,
die durch kein Medikament beseitigt werden konnten. Nach einem halben Jahre
ließen sie an Intensität nach, aber die ganze Hand wurde schwach und zitterte im
Ruhezustände, etwas später auch bei Bewegungen. Nach einem Jahre traten
Schmerzen auch in der linken Unterextremität auf, die wiederum einem Schwäche¬
gefühl und einem Tremor wichen. Wiederum nach etwa einem Jahre wiederholte
sich dasselbe Spiel in typischer Weise in der rechten oberen und etwas später in der
rechten unteren Extremität. Seit einem Jahre kann sie schlecht gehen, es zieht sie
nach vorn; überhaupt ist sie wenig beweglich. Gegenwärtig ist das Zittern an den
rechten Extremitäten stärker. Im Laufe des letzten Jahres haben sich der 3.—5.
linke Finger allmählich zur Faust geschlossen. Das Hitzegefühl unter der Bett¬
decke ist ihr unerträglich. Sie wird fortwährend von Diarrhöen geplagt. — Typische
Körperhaltung, starrer Gesichtsausdruck. In der Ruhe Zittern aller Extremi¬
täten, das an den oberen rascher ist als an den unteren, bei Intention fast vollständig
verschwindet, aber nach erreichter Intention gröber ist als vorher. Die Bewegungen
erfolgen an den Fingern im Sinne der Flexion und Extension, etwas weniger in den
Karpal- und Ellbogengelenken. Die Stimmbänder in Addiiktionskontraktur. Sie
spricht mit geschlossenen Kiefern. Bei passiven Bewegungen stößt man auf einen
großen Widerstand der Nacken- und Extremitätenmuskulatur. Die Bewegungen
sind schwerfällig, unsicher; die Kranke überlegt lange, bevor sie eine Bewegung aus¬
führt und beteuert wiederholt, sie könne nicht. E. D. r. 7, links wegen Kontraktur
nicht meßbar. Nach Hyoscin größere Starre (subjektiv), das Zittern unverändert.—
Die Kurve zeigt in der Ruhe einen leicht ungleichmäßigen, groben, rhythmischen
Tremor von 5,75—6 Schwingungen in der Sekimde, der bei der Intention fast voll¬
ständig verschwindet, aber durch die Kurve bei gleichbleibendem Rhythmus an¬
gedeutet wird (Fig. 76, Mitte).
23. Emotion und Trauma. Zittern der Zunge. Starre Pupillen. Demenz.
Nr. 15 617/03. V. P., 70jähriger Kaufmann, der aus gesunder Familie stammt
und früher stets gesund war. Die Krankheit begann vor 10 Jahren. Damals starb
seine Mutter; ihm träumte, diese stände neben ihm, worüber er heftig erschrak.
128
Erster Teil.
Bald darauf erlitt er einen Hieb in den Kopf. Gleich darauf begannen alle Extremi¬
täten zu zittern, besonders die linksseitigen; er konnte schlecht sprechen. — Typische
Körperhaltung, starrer Gesichtsausdruck. Rigidität der Rumpf- und Extremitäten¬
muskulatur. Tremor der oberen Extremitäten von 4—5 Wellen in der Sekunde,
links intensiver, von schwankender Intensität, bei Bewegungen fast verschwindend.
Muskelkraft gering. In der Ruhelage auf dem Bette zittern die unteren Extremi¬
täten heftig. Grobes Zittern der Zunge. Patellarreflexe regelmäßig. Die Pupillen
reagierten weder auf Licht, noch auf Akkommodation. Der Kranke war unrein,
unruhig, örtlich und zeitlich unvollkommen orientiert. Aktive Bewegungen gehen
langsam, in mehreren Absätzen und nach langer Überlegung vor sich.
24. Parkinson bei einer jungen Schwester. Alkohol. Tonische Krämpfe
im Antithenar. Wadenkrämpfe. Ophthalmoplegie. Pyramidenläsion.
Nr. 15 997/07. V. R., 38jähriger Ökonom, stammt von gesunden Eltern.
Eine 32jährige Schwester leidet seit 2 Jahren an derselben Krankheit; die übrigen
Geschwister sind gesund. Im 5. Lebensjahre überstand er laut Angabe der Mutter
eine Gehirnkrankheit, im 17. Lebensjahre Gelenkrheumatismus. Trinkt 6—16 Glas
Bier, manchmal auch Wein und schwarzen Kaffee mit Rum. Vor 3 Jahren erschienen
in den unteren Extremitäten Schmerzen, wobei er manchmal auch Wadenkrämpfe
bekam; die Füße wurden schwach, so daß er nicht lange stehen oder gehen konnte.
Vor einem Jahre erschien ein ähnlicher Schmerz in der linken Lendengegend. Gleich¬
zeitig bekam er Kribbeln und Schwäche in den oberen Extremitäten. Hier und da
trat ein Krampf im Antithenar auf, wo eine tiefe Furche entstand; hierbei entfernte
sich der Kleinfinger unwillkürlich von den übrigen Fingern. Zugleich zeigte sich
manchmal ein Tremor der oberen Extremitäten in der Ruhe, besonders wenn der
Kranke erregt war; manchmal ließ sich dieser Tremor willkürlich unterdrücken.
Fig. 93.
aber nicht immer. Bei Intentionen (Essen, Schreiben) wurde er nicht heftiger,
eher verschwand er manchmal. In der letzten Zeit zieht es ihn fortwährend nach
rückwärts, so daß er zu fallen fürchtet. — Körperhaltung der Parkinsonschen
Krankheit angedeutet. Die Muskeln der oberen Extremitäten und die Oberschenkel¬
extensoren rigid. Bei Ablenkung der Aufmerksamkeit läßt die Rigidität nach. Die
gestreckten Oberextremitäten zittern, doch hört der Tremor bei Intention auf.
In der Prädilektionsstellung entsteht ein Zittern der Oberextremitäten und der
Lenden- und Gesäßmuskeln, so daß das Zittern auf die unteren Extremitäten über¬
tragen wird. Die Nervenge flechte sind schmerzhaft. Patellarreflexe normal,
Achillessehnenreflexe lebhaft, Babinski positiv. Die Pupillen reagieren träge auf
Licht, dagegen normal auf Konvergenz. In extremen Positionen Zuckungen der
Bulbi. Während des Aufenhaltes in der Klinik entstand eine Parese eines M. rectus
internus mit Diplopie, doch verschwand dieselbe schon am nächsten Tage. Die
Papillen der Sehnerven waren hyperämisch. Das Gesichtsfeld war normal. Aktive
Bewegungen langsam. Sensibilität normal. — Die Kurve zeigt einen ungleichmäßigen
rhythmischen Tremor von 5 Wellen in der Sekunde, der bei Intention schwächer
wird, aber seine Frequenz nicht ändert (Fig. 93).
25. Die Kurve mit der Bezeichnung Par. ag. Senectus (ohne Krankheits¬
geschichte) zeigt einen groben, regelmäßigen Tremor von 6,5—7 Wellen in der
Sekunde, der bei Intention manchmal verschwindet, manchmal imregelmäßig wird.
Manchmal ist er in der Ruhe ungleichmäßig (Fig. 94).
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
129
26. Nr. 5451/03. R. V., 67jähriger Schneider. In der Familie mehrere Fälle
von Tuberkulose. Kam mit den Symptomen der Perityphlitis, ohne über das Zittern
zu klagen. Die sehr spärliche Anamnese führt an, daß seine Hände und Füße vor
9 Jahren wie hölzern waren, daß er aber wieder gesund wurde. Vor 6 Wochen wurden
Fig. 94.
die rechte Hand und der rechte Fuß wieder wie hölzern und seit einiger Zeit bemerkt
er, daß seine rechte Hand viel schwächer ist als die linke. Objektiv wurde kon¬
statiert, daß die rechte Hand, die schwächer war als die linke, in der Ruhe heftig
zitterte.
27. ^Beginn nach einem Iktus.
Nr. 2252/09. U. J., 57 jährige Frau. Vor 3 y 2 Jahren fiel sie bei der Heimkehr
vom Felde auf das Gesicht und wurde bewußtlos. Nach etwa einem Monat begann
die rechte Oberextremität schwächer zu werden und zu zittern, und zwar in der
Ruhe, keineswegs bei Bewegungen. Vor einem halben Jahre bekam sie Kribbeln
in die rechte Unterextremität, dieselbe wurde schwer beweglich oder begann derart
zu zittern, daß dies bei jeder Arbeit hinderlich war. Bei Nacht hörte das Zittern
auf. Man konstatierte außer anderen Symptomen eine Rigidität der Muskeln
der rechten oberen Extremität. E. D. Mechanische Muskelerregbarkeit ge¬
steigert. Auch an der rechten Unterextremität Muskelrigidität. In der Prädilektions-
stellung zittern die Unterextremitäten nicht, die Oberextremitäten zeigen in der
Ruhe in den Finger- und Handgelenken, speziell rechts, rhythmische Bewegungen,
95
Fig. 95.
die bei Intention vollständig verschwinden. Die Kurven veranschaulichen sehr
schön das Zittern der rechten Hand: In der Ruhe ein grober, rhythmischer, nur leicht
ungleichmäßiger Tremor, der bei Intention bedeutend schwächer wird, ohne seine
Frequenz zu ändern, oder verschwindet und nur durch.minimale, nicht ausgebildete
Wellen angedeutet ist (Fig. 95).
28. Nr. 11 485/10. S. J., 60jähriger Flößer. Stand vor 2 Jahren wegen
Lymphdrüsenschwellung in klinischer Behandlung. Schon bei seinem Austritt
aus der Klinik zeigte sich hier und da ein Zittern der rechten Hand. Lange Zeit
vorher litt er an Schmerzen in der rechten Oberextremität, die dem Druck der
Drüsen auf den Nervenplexus zugeschrieben wurden. Nach seinem Austritt aus der
Klinik begann allmählich die rechte Oberextremität schwach zu werden und sowohl
in der Ruhe, als auch bei Bewegungen zu zittern. Bei letzteren wird der Tremor
zuerst schwächer, nimmt aber sodann so sehr an Intensität zu, daß Patient mit der
rechten Hand nicht essen kann. Dann begann auch die rechte Unterextremität
zu schmerzen, schwach zu werden und hier und da zu zittern. In der jüngsten Zeit
beginnt auch die linke Körperhälfte schwach zu werden. Vor 8 Monaten begann auch
der Kopf zu zittern. Beim Sprechen hat der Kranke das Gefühl, als ob er die Zunge
nicht rasch genug bewegen könnte. Bei Bewegungen der rechten Körperhälfte
muß er sich psychisch und physisch bedeutend mehr anstrengen. Bei der neuer-
Pelnäf, Zittern. 9
130
Erster Teil.
liehen Aufnahme in die Klinik im Jahre 1910 wurde folgendes konstatiert: Starrer
Gesichtsausdruck, starre Haltung des Rumpfes, namentlich aber der rechten Extremi¬
täten; die rechte Oberextremität in typischer Stellung, die Hand im Karpus exten¬
diert, die Finger in den Interphalangealgelenken gestreckt, in den Metakarpophalan-
gealgelenken flektiert und abduziert, der Daumen in dauernder, leichter Opposition;
die Extensorensehnen heben sich am Handrücken ab. Die Muskeln der Ober- und
Unterextremität rigid. In der Ruhe zittert die rechte Oberextremität am meisten
im Karpalgelenke, weniger in den Metakarpophalangealgelenken im Sinne von
Flexion und Extension. Beim Sitzen verfällt die Unterextremität in rhythmische
Flexionen und Extensionen im Sprunggelenke und in Adduktion und Abduktion
im Hüftgelenke. An der Oberextremität entsteht manchmal eine rhythmische
Bewegung in der Schulter im Sinne der Adduktion und Abduktion. Zeitweise
vollführt der Kopf Bewegungen um die Vertikalachse etwa in demselben Rhythmus
und zwar auch dann, wenn man den Tremor der Extremität künstlich unterdrückt;
auch die Unterlippe hebt und senkt sich in demselben Rhythmus. Der Kranke
hält den Kopf dauernd nach der rechten Schulter geneigt und das Gesicht ein wenig
nach der rechten Seite gedreht. Die Nackenmuskeln der rechten Seite sind sehr
Fig. 96.
rigid, speziell der M. cucullaris. Der Kranke vermag das Zittern nicht willkürlich
zu unterdrücken, sondern der Tremor wird bei einem derartigen Versuche nach der
Erfahrung des Patienten und wie wir uns selbst überzeugen konnten, intensiver.
Das Zittern hört unter folgenden Umständen auf:
1. Wenn der Kranke eine aktive Bewegung vollführt; nach einer Weile aber
fängt das Zittern allmählich wieder an; wenn der Kranke einen Gegenstand in der
Hand hält (z. B. den Registrierapparat), dann hört der Tremor nicht auf.
2. Wenn er, einer Aufforderung folgend, seine zitternde Hand anschaut;
die Ruhe dauert auch hier nur 2—3 Sekunden.
3. Wenn er die zitternde Hand in die linke legt.
4. Wenn man die Hand passiv leicht und ganz langsam hebt; drückt man sie
aber gewaltsam in der dem Tremor entgegengesetzten Richtung, springt der Tremor
auf die proximalen Gelenke über und ist auch an der Hand intensiver.
Sobald man diese Versuche wiederholt, hört das Zittern nicht auf und es
stellt sich zugleich ein subjektives Ermüdungsgefühl ein.
Von diesem Kranken wurde eine Serie von Kurven aufgenommen, deren
eine hier reproduziert ist. Man sieht an derselben das Aufhören des Tremors bei der
Intention. Zum Vergleiche findet sich darunter eine Kurve, welche die Intentions¬
verstärkung des Tremors bei Hysterie veranschaulicht (Fig. 96).
Historischer Überblick. Den Tremor bei dieser Krankheit, die als
erster James Parkinson 1817 beschrieben hat, unterschieden von jenem
bei Chorea Germain See 1851 (Bechet), von jenem bei der Herdsklerose
Charcot in seinen Vorlesungen 1861 und 1862 mit Vulpian und 1867 sein
Schüler Ordenstein; schon 1860 hat auch Cohn den Hauptunterschied der
beiden Zitterformen hervorgehoben. Die interessanten Fingerbewegungen, die
an zweckmäßige Bewegungen erinnern, beschrieb G übler bereits 1845: Zer-
krümmeln von Brot, Rollen eines Bleistiftes, Treten der Pedale usw. (Fernet).
Die Propulsion beschrieben vor Parkinson bereits Sau vage und Sagar
Das Zittern bei der Parkinson sehen Krankheit.
131
als Skelotyrbe festinans (Buchet). Charcot gab 1874 die Erklärung, daß es
sich da um Fälle handle, bei denen das Zittern im ganzen Krankheitsverlaufe
fehle, die aber trotzdem als echte, wenn auch verkümmerte — forme fruste —
Form dieser Krankheit anzusehen seien, der er statt der Park ins on sehen Be¬
zeichnung „Shaking palsy“ die weitere Benennung ,,Parkinsonsche Krankheit“
beilegte. — Von den zitierten Arbeiten verdienen eine besondere Erwähnung:
die These von Vandier (1886) über traumatische Formen, die These von Buchet,
die alle klinischen Eigentümlichkeiten dieser Krankheit erschöpfend darstellt
(1892), die Dissertation von Cramer (1886), die These von Cast6ran (1909)
und die systematische Arbeit von Mendel (1911).
Die Behandlung des Parkinsonschen Tremors bedeutet eigentlich die
Behandlung der Krankheit selbst, denn das Zittern und die mit demselben
kombinierte Rigidität bilden die Hauptbeschwerden dieser Krankheit und sind
daher jene Symptome, gegen welche alle Heilmethoden gerichtet sind. Viele
Heilmittel wurden gelobt und wieder auf gegeben, weil, wie Charcot bereits
wußte, bei dieser Krankheit spontane Remissionen Vorkommen, die bei den
therapeutischen Versuchen zu falschen Schlüssen verleiten können.
Ich führe an: Ferrum carbonicum (Elliotson), Baryum chloratum
(Brown-S6quard), Kalium jodatum (Ville min), Argentum nitricum (Charcot
sah nach demselben eine Zunahme der Heftigkeit des Zitterns), Aurum chloratum
(Robin), Opium, Morphium, Codein, Atropin, Kokain, Brompräparate, Strychnin
(Trousseau), Hyoscyamus (Jones), Hyoscin, Akonitin, Duboisin, Coniin,
Propylamin, Camphora monobromata (Charcot), Faba calabri, Tinctura
veratri viridis, Tinctura gelsemii semperviventis, Arsen, 70%iger Alkohol mit
Stovain (in die Umgebung der Nerven, Brissaud), sogar auch Kurare! Ferner
Kombinationen von Cannabis indica mit Opium (Gowers), Tinctura veratri
mit Morphiuminjektion (Heimann), Tinctura gelsemii mit Belladonna
(Alquier) Faba calabri mit Kalium tartaricum.
Die auffallendsten Besserungen wurden bis jetzt nach verschiedenen
Hyoscin- und ähnlichen Präparaten beobachtet und zwar nach Hyoscinum
hydrojodicum, muriaticum, hydrobromicum, Scopolaminum hydrobromicum
(identisch mit Hyoscinum) und Scopolia camiolica, Duboisinum sulfuricum.
Diese heftigen Gifte verwendet man subkutan in Dosen von 0,2—0,3—0,5 mg
pro die oder innerlich zu 0,25—0,30 mg pro dosi und bis zu 1 mg pro die. Die
Behandlung mit subkutanen Skopolamininjektionen hat laut beglaubigten
Beobachtungen auffallende Erfolge; doch kommen hierbei häufig Vergiftungen
vor. Pierre Marie bemerkt hierzu treffend: „Die Besserung ist imglaublich
groß, aber man kann die Methode nur mit großer Angst anwenden.“ Wir ver¬
suchten die interne Behandlung schon vor Jahren in vielen klinischen Fällen,
aber ohne einen überzeugenden Erfolg, der offenbar nur aus dem Grunde aus¬
blieb, weil wir aus Furcht vor einer Vergiftung ungenügende Dosen ver¬
wendeten. Ein Nachteil dieser Behandlung beruht darin, daß die Wirkung
nicht lange anhält und das Medikament immer wieder von neuem gegeben
werden muß; aber Roussy berichtet über einen Kranken, den er mit Hilfe
dieser Methode schon fünf Jahre lang in gutem Zustande erhält; Souques
verfügt über eine vierjährige Beobachtung. Mit Rücksicht auf diese Erfolge
will ich folgende Verordnungen anführen:
Mendel jun. empfiehlt auf Grund der Erfahrungen seines Vaters, der das
9*
132
Erster Teil.
Duboisin seit 1893 anwendete, in leichteren Fällen alle 2—3 Tage, in schweren
Fällen auch täglich je 0,2—0,3 mg (Duboisini sulfurici 0,01 auf 10 destillierten
Wassers, 0,3 ccm einzuspritzen).
Robin gibt in leichteren Fällen Scopolamini hydrobromici 0,03 ad Aquam
dest. 600; ein Kaffeelöffel dieser Lösung enthält 0,25 mg; am ersten Tage gibt
er morgens vor dem Frühstück einen Löffel, am zweiten Tage außerdem um
3 Uhr nachmittags einen Löffel, am dritten Tage außerdem um 11 Uhr vor¬
mittags einen Löffel, am vierten Tage außerdem um 6 Uhr abends einen Löffel;
diese Dosis (1 mg) hält er für die Maximaldosis; dieser Vorgang wird wiederholt,
so daß die Kur acht Tage dauert. In schwereren Fällen, in denen das Zittern
sehr heftig ist, injiziert er die Lösung Scopolamini hydrobromici 0,03, Aquae
laurocerasi 5, Aquae destill. 5, von der 1 ccm 1 mg Scopolamin enthält. Die
Spritze muß genau in Zehntelkubikzentimeter eingeteilt sein. Diese Lösung in¬
jiziert er in den Vorderarm und zwar am ersten Tage 0,2 ccm (also 0,2 mg)
und steigt nach Bedarf um 0,1 ccm (0,1 mg) bis maximal 0,8 mg in längstens
8—10 Tagen. Hierauf reicht er durch 8—10 Tage Faba calabri in Pillen oder
Pulvern zu 25 mg, von einer Pille resp. einem Pulver bis höchstens sechs Pillen
resp. Pulvern täglich und außerdem vor dem Mittagmahl und vor dem Nacht¬
mahl 2 und später 3 g Kalii tartarici neutr. in einem Glas Wasser. Sodann
setzt er diese Medikamente auf mindestens 3 Wochen aus und reicht während
dieser Zeit verschiedene Nervina (Zincum oxydatum, Glyzerophosphat u. dgl.).
Eine ambulatorische Injektionsbehandlung ist nicht zu empfehlen, da man
stets nach den ersten Vergiftungserscheinungen fahnden muß, um die Kur
rechtzeitig zu unterbrechen.
Wie weit man manchmal in dieser Beziehung gehen kann, lehrt ein Fall,
den Roussy in der neurologischen Gesellschaft in Paris im Jahre 1910 demon¬
striert hat. Da bei diesem Kranken alle Mittel erfolglos blieben, gab er ihm
Atropin in Mengen bis zu 12 mg täglich. Gegenwärtig verabreicht er ihm seit
5 Jahren Skopolamin subkutan in Dosen von %—1—2 mg jeden zweiten Tag.
Zunächst treten 1—2 Stunden nach der Injektion Vergiftungserscheinungen
auf: Obnubilation, Nausea, Erbrechen, aber nach drei Stunden hört das Zittern
ganz oder nahezu ganz auf, die Rigidität läßt nach und der Kranke fühlt sich
18—24 Stunden ganz wohl, kann Spazierengehen usw. Nach 26 Stunden
fesselt ihn die Rigidität wieder ans Bett. Diese Behandlung dauert bereits fünf
Jahre, ohne daß sich Symptome einer chronischen Vergiftung gezeigt hätten,
trotz der ungeheuren Dosen, die allein Hilfe gebracht haben. — Souques hat
in derselben Sitzung mitgeteilt, daß er einem seiner Patienten seit vier Jahren
jeden zweiten Tag 0,5 mg injiziere; das Zittern verschwindet für 24 Stunden
vollkommen und ist noch am nächsten Tage schwach.
Außer der medikamentösen Behandlung wird seit jeher auch die eine oder
die andere physikalische Behandlungsmethode gelobt. Am besten wirken
Bäder, die so warm sein müssen, als dem Kranken angenehm ist, von 20—25
Minuten Dauer, 2—3mal in der Woche; nach dem Bade leichte Massage mit
Frottieren und Kneten; während der freien Tage passive Bewegungen, nachher
aktive Übungen und Trepidation (Charcots fauteuil tr^pidant). Robin lobt
zeitweilige Ätherisation oder oberflächliche Stichelungen mit glühender Nadel
längs der Wirbelsäule.
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 133
Die Opotherapie wurde nach allen Richtungen geprüft: nach Schild¬
drüsenpräparaten sah Castelvin (zit. vonCast^ran) Besserung (1903), Alquier
dagegen Verschlimmerung; Parhon und Urechie (1907) gaben Hypophysen¬
präparate und behaupten, daß dieselben dem Kranken eine Erleichterung ge¬
bracht hätten speziell hinsichtlich des Hitzegefühls, des Schweißes, der Schlaf¬
losigkeit, der Tachykardie, der Asthenie (sie reichten vier Drüsen vom Rind,
mazeriert mit etwas Glyzerin — 2—6 Kaffeelöffel täglich); am strittigsten ist
die Opotherapie mit den Parathyreoidealdrüsen, die von Berkeley im Jahre
1905 inauguriert wurde; er gibt an, daß er auf diese Weise 18 Fälle gebessert
und 1 Fall geheilt habe (zit. Maregna). Alquier will 5 von 6 Patienten von
ihrer Schlaflosigkeit, von den Schmerzen und vom Tremor geheilt haben. Am
weitesten ging Massaglia, der diese Therapie im Jahre 1909 für spezifisch
und beim Parkinsonschen und senilen Tremor für diagnostisch erklärt hat.
Dagegen sahen Lundborg, Parhon und Goldstein nach dem Vassaleschen
Parathyreoidin (aus Mailand) und Marinesco nach der frischen Drüse in zwei
Fällen ebenfalls keine Veränderung. Roussy warnt sogar in jüngster Zeit
vor dieser Therapie, da er nach größeren Dosen (vier frische Drüsen täglich)
eine rasche Verschlimmerung des Zitterns und der Rigidität, ferner Unruhe und
sogar Exitus gesehen habe.
Der Vollständigkeit wegen sei erwähnt, daß auch radiogener Schlamm
die Symptome dieser Krankheit gebessert hat (Claude zit. von Alquier).
IX. Das Zittern bei organischen and zwar herdförmigen
Erkrankungen des Nervensystems.
A. Bei der disseminierten Sklerose.
a) Gewöhnlich wird behauptet, daß derartige unwillkürliche Bewegungen
der Hände, die mit unserer Definition des Zitterns übereinstimmen, bei der
disseminierten Sklerose nicht beobachtet werden. Als seltene Ausnahmen
werden Fälle angeführt, in denen die Hände in der Ruhe und bei statischer
Innervation in gewöhnlicher Weise zitterten und zwar bei Emotionen und in
schmerzhaften Phasen der Krankheit (Breillot, Reymond). Dieses Zittern
aller Extremitäten in der Ruhe konnte durch energisches Zusammenschließen
für mehrere Augenblicke unterdrückt werden (Erb). Oppenheim schließt
in einem solchen seltenen Falle auf eine Kombination mit diffuser Sklerose.
Bei systematischer Untersuchung der Kranken ist ein zartes Zittern der Hände
bei statischer Innervation keine Seltenheit. Dies gilt besonders für jene Fälle,
bei denen der typische, bei der Sklerose gewöhnlich beobachtete ,,Tremor* 4
fehlt. Max Meyer publizierte das Resultat seines graphischen Studiums des
Zitterns bei 12 Patienten Ziehens nnd dort finde ich bei 8 Fällen, bei denen
ein auffallendes Zittern fehlte, graphisch verzeichnet einen ganz zarten Tremor
bei statischer Innervation von 5—7 Wellen in der Sekunde ohne Rücksicht auf
die Dauer der Krankheit (3 Monate bis 15 Jahre) und des Zitterns (2 Monate
bis zu 10 Jahren). Dieser Tremor war fast immer ganz leicht unregelmäßig
und nahm bei Intention nur unbedeutend oder gar nicht an Intensität zu. —
Unter unseren 20 Fällen fand ich in 3 Fällen das Zittern bei statischer Inner¬
vation zugleich mit dem Intentionszittern.
134
Erster Teil.
b) Ferner beobachtete man bei der disseminierten Sklerose einen Tremor
analog jenem bei der Schüttellähmung, worunter in den publizierten Fähen ge¬
wöhnlich ein langsamer Tremor in der Ruhe verstanden wird. Insoweit ich die
publizierten Fälle verfolgen konnte, handelte es sich in denselben entweder um
eine wirkliche Kombination mit der Schüttellähmung oder um klonische Krämpfe
oder um eine der Athetose nahestehende Bewegung oder um einen heftigen
Intentionstremor, der sich selbst bei den minimalsten Reizen äußerte und daher
nur scheinbar „in der Ruhe“ vorhanden war. Über einen ähnlichen Tremor
bei herdförmigen Läsionen des Gehirns siehe auch im folgenden Abschnitt B. c).
Ich will einige derartige Fälle zitieren:
Meschede beschrieb 1870 einen 25jährigen Jüngling, der im 12. Lebens¬
jahre einen Pferdehufschlag ins Gesicht erlitt. Seit dieser Zeit entwickelte sich
bei ihm eine Paralysis agitans. Der Tremor ist aber nicht näher beschrieben. Er
litt außerdem an Anfällen, die der Autor als Propulsion bezeichnet, die aber auf
Grund seiner Beschreibung als prokursive Epilepsie zu bezeichnen sind; sie begannen
in stereotyper Weise mit Krampflachen. Das Zittern nahm nach der Verletzung
fortwährend zu. Der Jüngling verkümmerte geistig, mußte in der letzten Zeit liegen,
masturbierte, war imbezill, der Tremor hörte selbst im Bette nicht auf, schließlich
entstand ein Dekubitus, der zum Tode führte. Bei der Sektion fand man eine aus¬
gedehnte disseminierte Sklerose. — Es dürfte sich um heftiges Intentionsschleudem
bei den geringsten Reizen gehandelt haben, das als Bewegung „in der Ruhe“ impo¬
nierte; daher die Diagnose Paralysis agitans.
Fr. Schultze (1876) beobachtete einen 62jährigen Patienten, der plötzlich
an Pneumonie erkrankte, Schwindel bekam und nicht mehr gehen konnte. Er
wurde in die Klinik eingebracht und zeigte im Sitzen einen auffallenden Tremor
der linken Hand und des Vorderarms, der in der Ruhe am intensivsten war und
bei Lage Wechsel der Extremität an Intensität abnahm. Er hatte diesen Tremor
nach seiner Angabe etwa 5 Jahre. Nach einigen Tagen stellte sich ein progressiver
Kollaps ein, das Zittern hörte auf und zwei Tage später starb der Kranke. Bei
der Sektion fand man in der Medulla Gefäßsklerose und eine chronische interstitielle
Myelitis mit herdförmigen Veränderungen der Sklerose, speziell im Bereiche der
zervikalen und lumbalen Intumeszenz. Am Gehirn fand sich (allerdings nur makro¬
skopisch) nichts.
Schultze zitiert hierbei den Fall Leydens aus dem Jahre 1875 (Arch. f.
Psych.), betreffend die 75jährige „Frau Hamm“. Wenn wir jedoch die Krankheits¬
geschichte dieses Falles genau analysieren, handelte es sich hier mit aller Wahrschein¬
lichkeit um echte Paralysis agitans, kombiniert mit atheromatösen Veränderungen
an den Rückenmarksgefäßen mit sekundären Veränderungen der Medulla und Neuri¬
tiden, so daß dieser Fall die Beweiskraft einbüßt.
Meschedes Schüler Lantzius Beninga beschreibt in einer Dissertation
vom Jahre 1887 eingehend einen Fall von Schüttellähmung, in welchem es sich
offenbar um Athetose gehandelt hat. — 46 jährige Frau, die seit einer Reihe von
Jahren an Schwäche und Spasmus und seit einem halben Jahre an Zittern der
linken Körperhälfte mit oszillatorischen rhythmischen Bewegungen in den Fingern
und im Daumen litt, die den Bewegungen beim Geldzählen ähnlich waren. Bei
Bewegungen war das Zittern jenen bei Sklerose analog. Ihr 22jähriger Sohn blieb
nach einer im 3. Lebensjahre durchgemachten fieberhaften Erkrankung auf der
rechten Körperhälfte gelähmt und behielt eine spastische Hemiparese mit Ataxie,
besonders bei Bewegungen. An den Zehen des rechten Fußes schnelle, oszillierende
Bewegungen von ungleichmäßigem Rhythmus. Die Bewegungen der Hand gehin¬
dert durch unwillkürliche Bewegungen von Intentionscharakter. Bei der Epikrise
der Mutter bemerkt der Autor, daß sie auch „Läsionen der rechten Wange, die auf
einen zerebralen Ursprung hindeuteten“, gehabt habe, so daß es sich um eine ge¬
meinsame Läsion des Fazialis und der rechten Pyramide gehandelt haben dürfte.
In dem Falle von Sachs aus dem Jahre 1898, betreffend eine 30jährige Frau,
begann die Sklerose mit Intentionszittem der rechten Extremitäten; später ent-
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 135
wickelten sich die Symptome der Schüttellähmung: starre Maske, Propulsion, Zittern
in der Ruhe.
Bei einem zweiten Falle desselben Autors, einem 22jährigen Jüngling, der
im 5. Lebensjahre einen Unfall mit Bewußtlosigkeit und eine Paraplegie, die in voll¬
ständige Heilung überging, erlitten hatte, trat im 16. Lebensjahre nach einem
neuerlichen Unfall Zittern der Extremitäten auf, im 18. Lebensjahre starrer
Gesichtsausdruck, langsame Sprache, rhythmisches Zittern des Kopfes und der
Extremitäten ä la Parkinson und später lateraler Nystagmus, skandierende Sprache,
Lähmung des weichen Gaumens, gesteigerte Reflexe, Kontrakturen und zugleich
Propulsion, Retropulsion (von Krause genauer zitiert).
Im Falle Jollys (Neur. Zentralbl. 1902. 518) bestand das typische Bild der
Schüttellähmung bei einem 32 jährigen Patienten und außerdem Fußklonus, positiver
Babinski und Zwangslachen. Intentionszittern bestand überhaupt nicht.
R ay m o n d beobachtete bei einer 68 jährigen Frau eine Sklerose durch 12 Jahre;
es bestand typisches „ Intentionszittem“, aber außerdem ein langsames Zittern der
Mundmuskeln „ä la bouche du lapin.“
Krause publizierte (Char. Ann. 1903. XXVII. 525) einen analogen Fall,
der lange Zeit diagnostisch unklar war. Es handelte sich um einen 25jährigen
Kranken, der im 9. Lebensjahre in glühende Asche fiel und wegen der Verbrennungen
9 Monate krank darniederlag, wonach Spasmen der unteren Extremitäten, ein pro¬
gressives Zittern der Oberextremität und eine Verlangsamung der Sprache auf¬
traten. Im 18. Lebensjahre hatte er spastische Paraparese, Nystagmus, an den
Händen ein leichtes, unbestimmtes Zittern und eine konzentrische Gesichtsfeld-
einengung für Farben rechts. Oppenheim diagnostizierte eine Sklerose. Im 20.
Lebensjahre gesellten sich Lähmungen der konjugierten Augenmuskeln und ein
langsames Händezittern in der Ruhe wie beim Parkinson hinzu. Im 21. Lebens¬
jahre hatte Mendel den Verdacht auf eine Kombination von Sklerose mit Hysterie.
Damals hatte er an der rechten Hand in der Ruhe ein grobes Zittern von 4 Wellen
in der Sekunde, das sich bei Intention nicht änderte, an der linken Hand ein nur
bei Intention sichtbares Zittern und an den Füßen ein Zittern, das manchmal bei
Bewegungen, manchmal in der Ruhe vorhanden war. Im 22. Lebensjahre war
das Bild klar. Der Kranke hatte eine typische Körperhaltung, Rigiditäten am
ganzen Körper, in der Ruhe ein langsames Zittern der Hände (3—4 Wellen in der
Sekunde), besonders rechts, weniger an den Füßen, von wechselnder Intensität, das
auf keine Weise unterdrückt werden konnte. Bei schwacher Intention (Heben
der Hand) hörte das Zittern auf, bei schwerer (Heben einer Last) trat keine Ände¬
rung ein, ferner bestand Propulsion, Retropulsion — und außerdem eine spastische
Paraparese mit Fußklonus, Babinski usw.
c) Intentionszittem, das allgemein als typisch für die Sklerose gilt: In
entwickelten und namentlich in vorgeschrittenen Fällen dieser Krankheit findet
sich eine veränderte willkürliche Bewegung der Extremitäten, deren wesentliche
Eigenschaften Charcot hervorhob, als er in den 70er Jahren die Herdsklerose
von der Schüttellähmung streng absonderte und der F. Schultze die Bezeichnung
Intentionstremor gab und die gegenwärtig verschieden umgetauft wird (z. B.
Bewegungszittem — Leube, lokomotorisches Zittern — Ziehen), da es an¬
geblich nicht bloß intendierte Bewegungen, sondern auch reflektorische und
automatische Bewegungen und Mitbewegungen (?) begleitet.
Es. ist dies ein nicht ganz rhythmisches Zittern der Glieder, das sich nur
bei der Bewegung einstellt, und zwar gewöhnlich nur bei einer groben, aus¬
greifenden Bewegung, während es bei einer zarten und beschränkten Bewegung
fehlen kann, z. B. beim Nähen, Schreiben (nach Latteux und Fernet, Char¬
cot, Moebius); es beginnt, sobald die Bewegung eingesetzt hat, nimmt gegen
das Ziel progressiv an Heftigkeit zu und verschwindet in vollständiger Ruhe
(Definition von Charcot).
136
Erster Teil.
Es findet sich in 60—75% der Fälle (nach Müller in 25%, nach Meyer
in 40%, nach Probst in 75% — zit. nach Müller, nach Chorongicky in
75%, bei unseren Fällen in 80%); am häufigsten ist es nur an den Händen vor¬
handen, weniger häufig auch an den Füßen, sehr selten nur an den Füßen (Meyer
beobachtete dies unter 57 Fällen nur einmal), häufig auch am Kopfe (in %
unserer Fälle) und zwar auch ,,in der Ruhe“, wenn der Kranke sitzt, was eigent¬
lich keine Ruhe ist, selten an der Muskulatur der Wangen und am Kiefer (Bruns)
und an der Atmungsmuskulatur (R. Russell). Es beginnt am häufigsten im
1.—2. Jahre der Krankheit (Meyer), verschwindet aber manchmal für längere
Zeit (besonders nach einer Ruhepause, z. B. im Spital). In einem unserer
Fälle trat es erst 8, wenn nicht 14 Jahre nach dem Beginne der Krankheit auf.
In den letzten Krankheitsstadien, wenn Kontrakturen (Charcot) oder
große Schwäche der Muskulatur auf getreten sind, kann es verschwinden (Ferne t
und nach ihm Moebius).
Dort wo es fehlt, kann es manchmal dadurch, daß man die Hand durch
schwere Anstrengung ermüdet (Oppenheim) oder daß man eine Emotion
hervorruft (Dejerine), ausgelöst werden.
Es findet vorwiegend in den proximalen Gelenken der Extremitäten
statt und kann auf dieselben beschränkt bleiben, z. B. auf die Schultergelenke;
infolgedessen fehlt es dann bei kleinen Bewegungen, wie z. B. beim Schreiben
und Nähen, bei denen die proximalen Gelenke fast ganz ruhig bleiben. Finger¬
bewegungen wurden zwar auch nachgewiesen (mittels des Ergographen von
Panichi), sind aber nicht auffallend.
Am besten demonstriert man es durch den Charcotschen Versuch mit
dem vollen Glase, das der Kranke zum Munde führen soll und aus dem er das
Wasser durch die schleudernden Bewegungen der Hand nahe beim Ziele nach
allen Seiten verschüttet.
Die Frequenz dieses Tremors beträgt 4—5 Wellen in der Sekunde.
Von dieser klassischen Form gibt es zahlreiche Abweichungen. Zunächst
hört es manchmal in der Ruhe und bei dauernder statischer Innervation nicht
auf. So z. B. registrierte Fernet in einem Falle mit intensiver Verstärkung
bei statischer Innervation ebenso wie bei leichter Muskelanspannung regel¬
mäßige Oszillationen mit einer Frequenz von drei Wellen in der Sekunde;
Meyer fand in allen drei Fällen, die bei Intention eine grobe Verstärkung des
Tremors mit einer Frequenz von vier Wellen in der Sekunde auf wiesen, auch bei
dauernder statischer Innervation an den Kurven einen feinen Tremor von vier
Wellen in der Sekunde mit ungleichen Wellen. — Die progressive Verstärkung
in der Nähe des Zieles ist nicht immer deutlich ausgeprägt. — Manchmal ähnelt
das Zittern anderen Bewegungen (Stephan) und zwar den choreatischen
(Schüle, Charcot, Joffroy), weshalb früher auch von einer choreiformen
Paralyse (vor Charcot) oder Athetose (Westphal, Remak) gesprochen
wurde, manchmal auch ataktischen Bewegungen, in die es übergehen kann.
(Über das Verhältnis zur Ataxie soll bei der Pathogenese die Rede sein.)
Unsere Erfahrungen stützen sich auf 20 Fälle, die teils durch die klinischen
Krankheitsgeschichten, teils durch meine privaten Beobachtungen belegt sind.
1. Von diesen 20 Fällen zeigten „Intentionszittem“ 16 (80%); dieses
fehlte bei 3 Fällen, in denen sich die Symptome vorwiegend auf eine spastische
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 137
Paraparese beschränkten, und einmal bei einem Falle mit ausgedehnten Muskel -
atrophien in allen Extremitäten.
2. Bei diesen vier Fällen fehlte der Nystagmus, der auch noch bei vier
weiteren Fällen mit Intentionstremor fehlte.
3. Statischer Tremor ist in drei Krankheitsgeschichten verzeichnet und
zwar mit der Bemerkung, daß er einmal ,,schnell“, einmal ,,beträchtlich“ und
einmal „zart“ war und zwar bei Kranken mit „Intentionstremor“.
4. Zittern in der Ruhe bei Kranken mit Intentionszittem wurde zweimal
beobachtet.
5. Zittern des Kopfes wurde viermal (20%) konstatiert; dasselbe war ge¬
wöhnlich nickend, aber auch rotatorisch.
6. Zweimal war das Zittern einseitig.
7. Gewöhnlich begann es frühzeitig; einmal wurde bei einem intelligenten
Kranken konstatiert, daß es erst 8 Jahre, wenn nicht gar 14 Jahre nach Be¬
ginn der Krankheit auf trat; in einem anderen Falle, der bereits 14 Jahre dauert,
fehlt es bis jetzt noch.
8. Ein Patient behauptete, daß die Hände am Morgen heftiger zittern als
abends; ein anderer erzählte, daß er nach dem Genüsse von Bier besser schreiben
könne, doch sei dann der Zustand am nächsten Tage um so schlimmer; einem
dritten war das Zittern nur beim Essen, dagegen nicht bei der Arbeit (er war
Bergmann) hinderlich; schließlich hinderte ein heftiges Zittern der Hände
einen Patienten (Studenten) nie beim Schreiben, allen übrigen aber war es
beim Schreiben hinderlich.
Kurven wurden nur von den folgenden Fällen aufgenommen:
1. Nr. 136/08. S. Fr., 31 Jahre alt; die Krankheit begann vor 5 Jahren mit
Schmerzen in den Schultergelenken und Zittern der Extremtiäten bei Emotionen:
Freude, Schreck, aber nicht bei der Arbeit. Aber schon nach einigen Monaten hinderte
ihn das Händezittern an der Arbeit. Bald darauf erlitt er bei der Arbeit eine Ver¬
letzung des rechten Fußes durch einen Stein, worauf auch die Füße bei Bewegungen
zu zittern begannen. In den späteren Jahren hat das Zittern der Hände wenig an
Heftigkeit abgenommen, an den Füßen aber hat es zeitweise, gewöhnlich nach
Fig. 97.
einer Erholungspause im Krankenhause, aufgehört, so daß der Kranke sogar mehr¬
tägige Fußtouren unternehmen konnte. Der Kopf zitterte ein wenig auch in der
r 38
Ruhe, mehr bei Bewegungen. Der Nystagmus war nicht bedeutend. E. D. ^ ^
Bei intendierten Bewegungen der Oberextremitäten entstand ein Schütteln der
ganzen Extremitäten mit groben, großen Amplituden, das willkürlich nicht unter¬
drückt, wohl aber durch passiven Widerstand vermindert werden konnte; die Finger
zitterten nicht. Auch an den unteren Extremitäten war ein Zittern bei aktiven
Bewegungen vorhanden (1904, Nr. 17 871). Zu dieser Zeit wurden die beigelegten
Kurven aufgenommen. Die eine zeigt „in der Ruhe“, eigentlich aber bei schwacher
Intention, wenn nämlich der Kranke den Registrierapparat in der ruhig liegenden
138
Erster Teil.
Hand hielt, ein grobes, ungleichmäßiges, ziemlich rhythmisches Zittern von 4 Wellen
in der Sekunde, das bei Intention anfangs viel heftiger, sodann etwas schwächer
wurde, aber immer viel gröber war als in der Ruhe und die Frequenz von 4 Wellen
in der Sekunde beibehielt. Die andere Kurve zeigt ein analoges Verhalten (Fig. 97).
2. Nr. 17020/03. K. M., 19jähriges Mädchen. Die Krankheit begann vor
einem halben Jahre mit Rückenschmerzen und ,,Absterben“ der rechten Unter¬
extremität beim Gehen; vor 3 Wochen gesellte sich ein Zittern der rechten Hand
beim Essen hinzu, das um so heftiger wurde, je mehr sich die Hand dem Munde
näherte, so daß die Patientin mit der linken Hand essen mußte. An der linken Hand
bestand weder Intentionszittem, noch eine andere Form des Tremors; auch die
rechte Hand zitterte in der Ruhe und bei statischer Innervation nicht, wohl aber
entstand ein Intentionstremor bei jeder Bewegung. Zugleich war ein feiner Nystag-
Fig. 98
mus vorhanden. Diese Patientin starb in der Klinik an Phthisis. Bei der Sektion
wurde (von Hofrat Hlava) konstatiert: Gehirn auffallend derb, mit zarten Ge¬
fäßen und zahlreichen sklerotischen Herden, die beiderseits supraventrikulär, teils
in der weißen Substanz, teils im Thalamus und in der Rinde lagen und rechts be¬
sonders groß waren. Crura cerebri derb, ebenso der Pons. Im Kleinhirn beiderseits
Sklerose des Nucleus dentatus, dessen Zeichnung rechts vollständig verwischt war.
Disseminierte Sklerose im Halsmark, namentlich in den Seitensträngen und im
ganzen Dorsalmark mit Ausnahme der Vorderstränge. Der Rückenmarkskanal
war sehr dilatiert. — Bei dieser Patientin habe ich von der rechten Hand zwei Kurven
aufgenommen. Auf der ersten sieht man „in der Ruhe“ kein Zittern; bei der Inten -
Fig. 99.
tion entstand ein unregelmäßiger Tremor, den die Kurve (offenbar infolge Interferenz
der Bewegungen) nicht vollkommen wiedergibt; am Schlüsse der Intention sieht man
einige regelmäßige, große Bewegungen, 5 in der Sekunde, sodann etwa 2 Sekunden
lang eine kleine Bewegung von 5 Wellen in der Sekunde und schließlich vollkommene
Ruhe. Die andere Kurve zeigt bei Intention nach vollkommenerer Ruhe der Extre¬
mität eine deutliche rhythmische Bewegung von 5 Wellen in der Sekunde, die sich
nach etwa einer Sekunde stabilisiert und in eine imregelmäßige Bewegung mit einer
Frequenz von etwa 5 Wellen in der Sekunde übergeht (Fig. 98).
3. Nr. 7445/10. S. A., 48 jähriger Bergmann, bei dem die Krankheit vor einem
Jahre mit Zittern der Hand beim Essen und Schreiben, nicht aber bei der Arbeit
begann. Dieses Zittern nahm progressiv zu. Wir konstatierten einen deutlichen
Tremor in der Ruhe, der sich bei aktiven Bewegungen stets verstärkte, sich in der
Prädilektions8tellung der Paralysis agitans nicht änderte oder verschwand, aber
nicht den Charakter des Intentionszittems besaß. — Die Kurve zeigt ein grobes,
ungleichmäßiges, aber rhythmisches Zittern in der Ruhe, das bei Bewegungen
größer wurde, aber keinen ausgesprochenen Intentionscharakter besaß und eine
stets gleich bleibende Frequenz von 7—8 und auch 9 Wellen in der Sekunde auf wies
(Fig. 99 — rasche Umdrehung).
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 139
4. Eine ähnliche Kurve besitzen wir von dem Patienten Nr. 8800/04; dieselbe
zeigt in der Ruhe einen schwachen, ziemlich regelmäßigen Tremor, der bei Intention
3nl
Fig. 100«
viel heftiger und bei gleichbleibender Frequenz von 8 und 9 Wellen in der Sekunde
leicht ungleichmäßig wurde (Fig. 100).
Die Therapie des Tremors bei der Sklerose weist bis jetzt noch keine
Dauerresultate auf. Breillot gibt das Veratrin an, nach welchem ein Fall
bedeutend besser wurde, S6glas zitiert den Erfolg Knys mit Hyoscin im Jahre
1882. Man versuchte große Dosen von Antipyrin (Pauly: 5—6 g täglich)
und kleine Dosen von Strychnin (Graham-Brown). Parisot sah eine deut¬
liche Besserung nach Skopolamininjektionen. In jüngster Zeit empfiehlt Co na¬
he male eine mehrwöchentliche Behandlung mit Veronal in einer Dosis von
0,5 g auf die Nacht mit nachfolgender mehrwöchentlicher Pause und will auf
diese Weise wiederholt Besserungen erzielt haben. Pauly erzählt von einem
Kranken, dieser hätte sich verschiedenen Behandlungsmethoden unterzogen,
aber ohne jeden Erfolg, bis er schließlich die Erfahrung machte, daß sein Zittern
verschwinde, wenn er 5—6 Liter (!) eines leichten Weines austrinke. Diese
Methode wende er seit vielen Jahren an, wenn er sich in systematischer Weise
der Arbeit widmen wolle. Ich glaube, man könnte auch die Frenke Ische
Übungstherapie unter Aufsicht eines erfahrenen Arztes an wenden, um wenigstens
die ataktische Komponente der Unruhe der arbeitenden Hände bei dieser Krank¬
heit auszuschalten. Da sich der Sklerose mit Vorliebe auch hysterische Sym¬
ptome zugesellen, könnte man in verdächtigen Fällen auch die bei der Behand¬
lung der Hysterie üblichen Methoden versuchen. Auf diese Weise könnte es
uns gelingen, den Patienten wenigstens teilweise von seinem Tremor, insoweit
derselbe nämlich durch die gleichzeitige Hysterie bedingt ist, zu befreien. Nur
auf diese Weise kann man, glaube ich, die Behauptung Bernheims erklären,
daß er das Zittern bei Sklerose durch Hypnose gebessert habe.
Es gibt mehrere Erkrankungen des Zentralnervensystems, zu deren
klinischem Bilde, das jenem der disseminierten Sklerose ähnlich ist, ebenfalls
das „Intentionszittem“ gehört, und zwar (Oppenheim):
a) Multiple Erweichungen des Gehirns auf Basis der Arteriosklerose oder,
wenn diese fehlt, auf Basis einer Intoxikation (Oppenheim).
b) Die sogenannte Pseudosklerose (Westphal), bei der sich das Bild der
disseminierten Sklerose in der Jugend entwickelt; sehr schnell entsteht Schwäche
der Füße mit Unsicherheit des Ganges, Schwäche der Hände, Schwindel und ein
ziemlich polymorpher Tremor, der an den Füßen heftiger ist als an den Händen
(Fickler), in den proximalen Gelenken intensiver als in den distalen (im Gegen-
140
Erster Teil.
satz zum Parkinson, wenn Tremor in der Ruhe vorhanden ist — Fickler);
bald kommt es zur psychischen Zerrüttung, bei der die Gesichtszüge starr
(Fickler) und der Sektionsbefund negativ ist. — Bei dieser Krankheit ist das
Zittern langsamer (2—3 Wellen in der Sekunde), gröber und pflegt auch, wie
bei schweren Sklerosen, in der Ruhe vorhanden zu sein (Strümpell).
c) Diffuse Gehimsklerose, ebenfalls im Kindesalter beginnend und sich
oft an eine herdförmige Läsion des Gehirns anschließend (Oppenheim).
d) Der Gruppe der Pseudosklerose nähert sich eine Reihe nicht ganz
gleichartiger Fälle, deren einige ein sehr grobes Intentionszittem ohne die
übrigen Symptome der Sklerose auf weisen, z. B. der hereditäre Tremor, den
Oppenheim in drei Generationen zugleich mit skandierender Sprache beob¬
achtet hat.
Hierher gehört auch Mayers essentieller Intentionstremor, oder
wenigstens die von ihm beobachteten Fälle, und schließlich die familiäre Form
der hypertrophischen Polyneuritis Typus Pierre Marie. Diese seltene
Erkrankung, die von Gombault und Mailet (1889) beschrieben, aber
von Dejerine und Sottas (1893) als ein vorgeschrittenes Bild der Tabes
dorsalis mit allgemeinen Amyotrophien, Kyphoskoliose und Hypertrophie
der peripheren Nerven und einiger Spinalwurzeln (Cauda) erkannt wurde, be¬
obachtete Pierre Marie (1896) bei sechs Mitgliedern einer Familie unter einem
etwas abweichenden Bilde: ohne lanzinierende Schmerzen, ohne Argyll-
Robertsonsches und ohne Rombergsches Symptom, ohne Impotenz und
Inkontinenz, ohne Ataxie, aber mit Intentionstremor wie bei der Sklerose,
mit langsamer und wie bei Sklerose skandierender Sprache, mit unwillkürlichen
Kontrakturen der Gesichtsmuskulatur (grimaces involontaires). Der Versuch
mit dem Glase war typisch, nahe am Ziele zitterte auch der Kopf ,,et le rencontre
de verre avec les l&vres se faisait avec une reelle brusquerie.“ Nystagmus
fehlte. — Bei der Sektion fand man: Atrophie der Hinterstränge, besonders der
Go 11 sehen Stränge; ein wenig lädiert waren auch die gekreuzten Pyramiden;
die Nerven waren verdickt, die Hautnerven waren tast- und sichtbar, ihr inter¬
stitielles Bindegewebe war gewuchert. Gefäßsklerose, einfache Muskelatrophie.
B. Die übrigen herdförmigen Läsionen des Gehirns,
Gehirnblutung, Erweichung infolge Embolie und Thrombose und zirkum¬
skripte Enzephalitis im Kindesalter, Gehirntumoren, Hydrozephalus, speziell
der akut entstandene, meningeale Narben und Verdickungen. Es sind dies
durchwegs Läsionen, die zu zerebraler Lähmung der Extremitäten oder einer
Körperhälfte und zugleich zur Entstehung des Zitterns führen. Das Zittern
pflegt hier zwar so selten vorzukommen, daß es keine besondere praktische
Bedeutung besitzt, aber für die Pathogenese des Zitterns sind diese Fälle sehr
wichtig. Es bildet ein Glied in der Kette der übrigen Bewegungsstörungen
(Kontrakturen, gesteigerte Reflexe, Mitbewegungen, Hemichorea, Hemiataxie,
Athetose) und stellt sich entweder als eine reflektorische rhythmische Be¬
wegung, als Klonus, oder als ein wirklicher essentieller Tremor dar, der seltener
in der Ruhe, gewöhnlich bei Bewegungen oder Bewegungsversuchen vorhanden ist.
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 141
In seltenen Fällen geht es der Gehirnblutung unmittelbar voran, wie dies
schon von Fernet, Breillot, Bidon angegeben wird. Doch liegt nach Bidon
eigentlich auch hier ein Tremor post ictum vor, indem der Tremor früher auf-
tritt als die Lähmungen, so daß er das erste Symptom der Herderkrankung ist
(sogenannter prähemiplegischer Tremor). Bei wiederholten Ikten sah ihn Ray¬
mond wiederholt vor der Hemiplegie auf treten (trembl. ä repetition).
Abgesehen von diesen seltenen Fällen ist der Tremor stets posthemi-
plegisch oder richtiger postapoplektisch. An vollständig gelähmten Extremi¬
täten wird er nicht beobachtet (hier entstehen eher Krämpfe, z. B. bei Blutungen
in die Ventrikel, in die Rinde), wohl aber an Extremitäten, die einen Rest von
Motilität behalten haben. Gewöhnlich tritt er auf, wenn die Motilität zurück¬
zukehren beginnt oder wenn sich Kontrakturen zu entwickeln beginnen, was
ungefähr in dieselbe Periode fällt (Fernet, Duchenne de Boulogne). Man
hat ihn auch erst dann beobachtet, wenn sich die Kontrakturen bereits zu
lösen begannen (Raymond zit. von Breillot, Bidon). Die klinische Form des
postapoplektischen Zitterns ist sehr mannigfaltig. Im allgemeinen kann man
folgende typischere Abarten unterscheiden:
a) Tremor ähnlich jenem bei der Ermüdung, wie ihn Fernet
charakterisiert und L6vy und Bonniot beschreiben: der Tremor wird sicht¬
bar, wenn der Kranke eben etwas in der Hand gehalten hat, oder wenn er die
Hand in Schwurstellung bringt. Oppenheim führt ihn als sogenannten ein¬
fachen Tremor an und zitiert Bristove, Hoppe; Seymour Sharkley sah
ihn beim Tuberkel der inneren Kapsel als Vorläufer der Lähmung.
b) Tremor ähnlich jenem bei der Sklerose, i. e. ein Tremor, der
durch die Bewegung ausgelöst wird (Duchenne, Charcot zit. von Fernet),
der aber schnell (Fernet, Breillot) und regelmäßig (Breillot) ist. Er ist
die häufigste Form des postapoplektischen Tremors. Auch die vorhergehende
Form weist eine Verstärkung bei der Intention auf.
Einen schönen Fall dieser Art beobachteten wir in der Klinik 1905.
Nr. 3519/05. 0. V., 46jähriger, aus gesunder Familie stammender Kaufmann,
der stets gesund war und höchstens 3—4—5 Glas Bier täglich trank, legte sich am
3. September abends gesund ins Bett, konnte aber nicht schlafen, da er im Körper
ein eigentümliches Kribbeln spürte; als er am Morgen aufstand und sprechen wollte,
war dies wegen eines heftigen Zitterns des Kinns immöglich. Er ergriff ein Gefäß
um zu trinken, aber beide Hände zitterten heftig und dies um so mehr, je näher er
das Gefäß an den Mund brachte. Die Füße schlotterten in den Knien und in allen
vier Extremitäten hatte er Kribbeln. Er hatte Herzklopfen und atmete schwer.
Das Frühstück erbrach er. Beim Gehen drehte sich ihm der Kopf. Er suchte sofort
die Klinik auf; er war blaß, seine Gesichtszüge waren schlaff. Es bestanden keine
r 26
Lähmungen, der ophthalmoskopische Befund war normal. E. D. ^ Die Musku¬
latur der Wange und Zunge geriet hier und da in ein zartes Zittern. Beim öffnen
des Mundes entstand ein grobes Zittern beider Lippen, besonders auf der linken
Seite, die vorgestreckte Zunge zitterte grob, nicht besonders schnell. Sobald der
Kranke die Hände ausstreckte, begannen sie rhythmisch zu zittern und zwar im Sinne
der Flexion und Extension im Karpalgelenk und der Pronation und Supination
des Vorderarms, zeitweise mehr, zeitweise weniger; durch Intention wurde das
Zittern nicht mehr gesteigert; willkürlich konnte es nicht unterdrückt werden,
im Gegenteil, es wurde bei diesem Versuche manchmal noch heftiger. Bei gespannter
Aufmerksamkeit war das Zittern ebenfalls heftiger. Auch an den in die Luft ausge¬
streckten unteren Extremitäten bemerkte man einen analogen, wenn auch schwächeren
Tremor. Manchmal entstand derselbe für einen Moment auch in der Ruhe. Das
142
Erster Teil.
Herz war etwas hypertrophisch, der zweite Aortenton laut, der systolische Ton an
der Herzspitze unrein, Blutdruck 14,5 cm (Gärtner). Andere Veränderungen be¬
standen nicht. Am zweiten Tage war das Zittern schwächer, die Sprache leichter;
am dritten Tage verschwand das Zittern gänzlich und am vierten Tage verließ der
Kranke die Klinik. Die Diagnose w T ar schwer. Mit Rücksicht auf die Symptome
der beginnenden Arteriosklerose mit Herzhypertrophie war der Verdacht auf eine
kleine Gehirnblutung naheliegend. Aber w'ohin sollte man dieselbe lokalisieren?
Etwa mit Rücksicht auf die beiderseitigen Symptome und das Intentionszittern
in die Brücke?
Eine Reihe von Kurven veranschaulicht das Zittern des Kranken bei seinem
Eintritt in die Klinik: in diesem Momente war es kein reiner Intentionstremor mehr,
sondern es war sowohl bei der Intention, als auch bei statischer Innervation vorhanden
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Fig. 101.
— Die Kurve A (Fig. 101) zeigt einen feinen Tremor der Lippen, regelmäßig, ziemlich
gleichmäßig, mit 9 Wellen in der Sekunde. Die Kurve B zeigt den Tremor bei ruhigem
Vorwärtsstrecken der Hände: ein ziemlich grober und regelmäßiger, rhythmischer
Tremor von 9 Wellen in der Sekunde, der hier und da stärker und zeitweilig unregel¬
mäßig wird. An der Kurve C sehen wir ein schönes ,,knotenförmiges“ Schwanken
der Intensität (Allorhythmie); durch Intention wird die Kurve nicht wesentlich ge¬
ändert. Bei der Aufnahme der Kurve D hing die Hand herab und hielt dabei den
Apparat; das Zittern war etwas ungleichmäßiger, aber sonst unverändert. Die
Kurven E und F zeigen die Erfolglosigkeit des Bestrebens, den Tremor willkürlich
zu unterdrücken; das Resultat ist eine momentane Ungleichheit und grobe Be¬
schaffenheit der Wellen, besonders bei längerer Dauer des Versuchs (Fig. 101 F.).
Einen zweiten, nicht weniger interessanten Fall beobachtete ich in meiner
Privatpraxis. Es betraf einen 45jährigen Gastwirt. Im 38. Lebensjahre bekam er
Fig. 102.
wöchentlich 1—2 Anfälle, während welcher er momentan nichts sah, ja sogar zu Boden
stürzte. Zugleich war er ,,nervös“ und pflegte Herzklopfen zu haben. Um das
41. Lebensjahr begann die rechte Oberextremität allmählich zu zittern, aber er
konnte trotzdem schreiben und Fleisch hacken. Im 43. Lebensjahre verspürte
er, als er während eines Spazierganges jemanden grüßen wollte, plötzlich ein Kribbeln
in der rechten Körperhälfte und ließ unwillkürlich den Hut fallen. Auch konnte
er wegen Schwere der Zunge nicht sprechen. Als er mich am nächsten Tage kon-
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 143
sultierte, fand ich, daß die Pupillen auf Licht nicht reagierten und daß eine rechts¬
seitige Hemiparese mit angedeutetem Fußklonus rechts ohne Babinski vorhanden
war. Die rechte Oberextremität zeigte in der Ruhe ein feines, rasches Zittern, bei
Intention aber ein grobes Schütteln. Schrift unleserlich. Am Fuß ein unbedeutendes
analoges Zittern. An frische Eindrücke erinnert sich der Kranke nicht gut. Gesteigerter
Blutdruck. Krampfhafte, hesitierende Sprache. In der Ruhe Tremor der Hände atheto-
tischen Charakters.—Er bekam Jodkalium und sein Zustand besserte sich in 3 Monaten
derart, daß er besser sprechen und schreiben konnte; auch das Gedächtnis war besser.
Sodann blieb der Zustand % Jahre unverändert; da bekam er mehrere apoplekti-
forme Anfälle, nach welchen die rechtsseitige Schwäche immer für 24—48 Stunden
hochgradiger wurde. Hierauf wurde der Tremor der Zunge und der Oberextremität
wieder größer, so daß die Schrift wieder unleserlich wurde; zugleich änderte sich der
Charakter des Kranken. Er wurde in venere cupidus, lebte verschwenderisch, log,
wurde reizbar und gewalttätig, so daß er in ein Sanatorium überführt werden mußte.
Ich besuchte ihn dort im Sommer 1910 und fand: totale Demenz, allgemeine Körper¬
schwäche, sehr vorgeschrittene rechtsseitige Parese, sehr prägnantes Intentions-
zittem; die Sprache war wegen des Intentionstremors der Zunge stammelnd. — Die
Kurven veranschaulichen den Tremor, den ich im Stadium der vollständigen Demenz
aufgenommen habe. I. zeigt den Tremor der linken (gesunden) Hand bei statischer
Innervation: ein feiner, aber sicherer, regelmäßiger, gleichmäßiger, zeitweise stärkerer,
dann wieder schwächerer, schneller Tremor von 9 Wellen in der Sekunde. II. und
III. zeigen den Tremor der rechten (kranken) Hand. In der Ruhe bietet sich eine
gerade Linie dar, die hier und da durch eine vereinzelte Zacke unterbrochen ist, oder
(III.) ein zartes, langsames (6,5 Wellen in der Sekunde), regelmäßiges Zittern von
schwankender Intensität; aber bei der Intention entsteht immer ein grobes, rasch
zunehmendes, ziemlich gleichmäßiges und rhythmisches Zittern von 8—7,5 Wellen
in der Sekunde, das nach beendeter Intention sofort wieder verschwindet (Fig. 102).
c) Tremor ähnlich jenem bei der Schüttellähmung. Die Existenz
dieser Zitterform ist sehr schwer zu begutachten und zu beglaubigen, denn die
angeführten Beobachtungen sind nicht hinreichend genau publiziert, um mit
Bestimmtheit sagen zu können, daß es sich nicht um eine Kombination der
Gehimapoplexie mit Parkinsonscher Krankheit gehandelt habe, und die Form
des Tremors ist ebenfalls nicht so detailliert beschrieben, daß aus der Beschrei¬
bung klar hervorgehen würde, daß wirklich ein Parkinson scher Tremor vor¬
lag. (Breillot z. B. sagt: Oszillationen der Finger in der Ruhe wie bei Paralysis
agitans, was auch für Athetose sprechen kann.) Hierher gehören zunächst
jene Fälle, in denen sich die Paralysis agitans nach einer Apoplexie und zwar
nur einseitig entwickelte; diesbezüglich herrscht allgemein die Ansicht, daß es
sich um eine echte Parkinsonsche Krankheit handelt, die durch eine Apoplexie
mit unvollständiger Lähmung hervorgerufen wurde und sich im weiteren Ver¬
laufe in typischer Weise entwickelt. (Siehe den entsprechenden Absatz bei der
Paralysis agitans.)
Außer diesen echten Schüttellähmungen gibt es Fälle von herdförmigen
Gehimläsionen, die mit einem dem Parkinsonschen Tremor analogen Zittern
einhergehen. Die Analogie besteht hauptsächlich darin, daß es sich um langsame
Zitterbewegungen in der Ruhe handelt. Schon Charcot hat sich entschieden
dagegen ausgesprochen, diese Fälle als „Hemiparalysis agitans“ zu bezeichnen,
da die Analogie nur eine ganz oberflächliche sei. (Quelle singuliere manie que
de tout embrouiller alors qu’on pretend 6clairer la Situation!) Die Zahl solcher
Fälle ist groß und die Frage, ob das „Paralysis agitans-Zittem als direktes
Herdsymptom auftritt“ (Mendel) oder ob der Tremor in solchen Fällen einen
anderen Charakter besitzt und welchen, ist von prinzipieller Bedeutung, und da
diese Fälle nirgends synoptisch gesammelt sind, bleibt nichts anderes übrig, als
144
Erster Teil.
sie alle sorgfältig zu analysieren. (Über einen ähnlichen Tremor siehe auch
bei disseminierter Sklerose).
An erster Stelle sind jene herdförmigen Erkrankungen des Gehimstammes
zu nennen, die mit der Beobachtung Benedikts in seiner „Neuropathologie“
Zusammenhängen und bei denen wir nach dem Vorschläge Charcots vom
„Benediktschen Syndrom“ sprechen.
Man versteht darunter bei Affektionen des Pedunculus, die die Haube
betreffen, eine gleichzeitige Lähmung des N. oculomotorius und eine gegenseitige
Hemiparese mit einem Tremor „wie bei der Paralysis agitans“.
Wenn wir die publizierten Fälle näher durchgehen — und es sind ihrer nicht
viele —, so finden wir, daß das Zittern, insofern es überhaupt näher beschrieben
ist, sich mehr der Athetose nähert als dem Parkinsonschen Tremor und daß
es überhaupt nicht den Charakter des Parkinsonschen Tremors, sondern
höchstens eine oberflächliche Ähnlichkeit mit demselben besitzt. (So dürften
auch jene Bewegungen, welche Lantzius Beninga bei einer Mutter und ihrem
Sohne im Jahre 1887 beschrieb, und die schon bei der Paralysis agitans erwähnt
worden sind, teils Athetose, teils gewöhnlicher Intentionstremor gewesen sein.)
In Benedikts erstem Falle des pedunkulären Syndroms, der in dessen
Neuropathologie (Beob. 214. Feld Victor) publiziert ist, handelte es sich um
einen 4jährigen Knaben, der außer einer rechtsseitigen Ptose und Lähmung des
N. oculomotorius und einer Lähmung des linken Abduzens und der linken Extremi¬
täten „schüttelkrampfartige Zuckungen in der linken Hand hatte . . . Das Bein . . .
unruhig . . . bei gewissen Bewegungsversuchen . . . schüttelartiger Krampf in dem¬
selben.“ Bei der Sektion fand man Tuberkel im linken Stimlappen, im Gyrus mar-
ginalis und im Cuneus und im rechten Gyrus cinguli; ein basaler Tuberkel von
Taubeneigröße drückte das rechte Crus cerebri und zwei Tuberkel saßen in der
hinteren Zentralwindung.
Es ist wahrscheinlich, daß diese letzteren die Ursache der kortikalen
Krämpfe der linken Ober- und Unterextremität waren, aber für deren Parkin¬
sonschen Charakter ist kein Beweis vorhanden. Um denselben Tremor dürfte
es sich bei einem anderen Falle (Beob. 206) gehandelt haben; er betrifft ein
sechsjähriges Mädchen, das seit drei Monaten an Zitteranfällen der linken Ober¬
extremität litt, die etwa zwei Minuten dauerten, sich 3—4 mal täglich wieder¬
holten und manchmal von Hinfall begleitet waren, also einen Übergang in Jack-
sonsche Krämpfe darstellten. Später trat noch eine Lähmung des linken
Okulomotorius hinzu. Benedikt beobachtete nachher noch zwei analoge
Fälle; bei dem zweiten Knaben beschreibt er das Zittern nicht näher, sondern
bemerkt nur, daß es sich auch bei diesem um einen tuberkulösen Prozeß gehandelt
haben dürfte; den dritten demonstrierte er 1888 im Wiener med. Doktoren¬
kollegium (Mitteilungen S. 230): Bei einem 30jährigen Manne entstand eine
Lähmung des rechten Okulomotorius und allmählich eine linksseitige Hemi¬
plegie und „Schüttelkrampf“. „Her letztere hat mehr den Charakter des
Schüttelkrampfes wie bei Sclerose en plaques, da er auf Bewegungsintention
zunimmt.“
Bei den übrigen publizierten Fällen fehlt eine genauere Beschreibung des
Zitterns. Im Falle Archambaults vom Jahre 1877 (Progr. med.), in welchem
es sich ebenfalls um einen Tuberkel des Pedunkulus handelte, findet sich nur
„Zittern“ verzeichnet; im Falle Henoch-Grawitz vom Jahre 1883 (Deutsche
med. Wochenschr.) bestanden unwillkürliche Bewegungen, die ein Mittelding
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 145
zwischen Konvulsionen und Zittern darstellten; im Falle Mendels aus dem
Jahre 1885 mit Tuberkel des Pedunkulus waren Ptose des linken Augenlides
und Intentionstremor der rechten Extremitäten vorhanden, im Falle Rameys
aus dem Jahre 1885 (Revue de möd.) fanden sich ,,petits mouvements con-
vulsifs des doigts“ — also Athetose, im Falle Bouveret und Chapotot aus
dem Jahre 1892 (Lyon möd.) Hemichorea. Im Falle Buchet (in seiner These
aus dem Jahre 1892. Obs. XX) spricht alles für eine Schüttellähmung und fast
nichts für Hemiplegie. Eigentümlich war eine degenerative Atrophie des
Interosseus II der zitternden Hand.
Genauer beschrieben sind folgende Fälle:
Charcot beobachtete einen derartigen Fall im Jahre 1893, seine Kranken¬
geschichte publizierten aber erst 1900 Guilles de la Tourette und Jean
Charcot: Ein 37jähriger Mann fiel im November 1892 auf das Hinterhaupt; am
22. Dezember entstand plötzlich eine Lähmung des linken Okulomotorius und nach
einigen Stunden begann sich die rechte Hand durch Zuckungen vom Körper ab¬
zuheben. Am nächsten Tage war an der rechten Hand ein Tremor vorhanden, der
während der ganzen Woche an Intensität zunahm. Er ähnelte dem Parkinsonschen
„en ce qui regarde l’attitude de la main en flexion, les oscillations du pouce, les
mouvements de pronation et de Supination du poignet.“ Durch Intention wurde
er viel heftiger, nachher wieder schwächer; manchmal zitterte nur der Daumen,
ein andermal nur die Hand; die Zahl der Oszillationen betrug 4—4 y 2 in der Sekunde.
Ferner wird gewöhnlich Touche zitiert, der im Jahre 1899 eine Arbeit über
epileptische Anfälle bei Hemiplegie publizierte, ohne aber eines dem Parkinsonschen
Tremor ähnlichen Zitterns Erwähnung zu tun.
J. B. Charcot (Sohn) beobachtete einen rechtsseitigen Tuberkel im Pedun¬
kulus ohne Läsion des Okulomotorius bei einem 39jährigen Manne, dessen Krank¬
heitsgeschichte sich in der These von Böchet vom Jahre 1892 findet. Dieser Kranke
empfand vor einem Jahre eine Starre in der linken Gesichtshälfte und in den linken
Fingern; hierauf bekam er ein Zittern der linken Hand und in geringem Grade auch
des linken Fußes (bei Ermüdung). Zahl der Wellen 3 in der Sekunde. Bei statischer
Innervation war der Tremor intensiver, manchmal konnte ihn der Kranke willkürlich
für einen Moment unterdrücken. Andeutung von Propulsion und Lateropulsion,
starrer Gesichtsausdruck. Intensives Ermüdungsgefühl. (Demnach liegt auch hier
Verdacht auf Kombination mit Paralysis agitans vor.)
Blocq und Marinesco publizierten im Jahre 1893 einen Fall aus der Klinik
Charcots, der zweifellos mit dem Falle J. B. Charcots identisch ist: Zittern einer
Körperhälfte „wie beim Parkinson“ bei einem olivengroßen Tuberkel des rechten
Pedunkulus, aber auch hier fehlt die genauere Beschreibung.
Guilles de la Tourette und J. Charcot publizierten in einer systematischen
Arbeit über Benedikts Syndrom im Jahre 1890 zwei weitere Beobachtungen:
32jähriger Mann; vor 16 Jahren Iktus, nach demselben eine banale rechts¬
seitige Hemiplegie; nach 1—1 y 2 Jahren Zittern, das bis jetzt andauert. „In der
Ruhe unwillkürliche Bewegungen an der Hand und an den Fingern athetotischer
Natur, nur schneller und weniger wellenförmig.“ Im Schlafe herrscht Ruhe. Bei
Bewegungen heftige, grobe, imkoordinierte, zuckende Bewegungen.
20jähriges Mädchen: im 4. Lebensmonat Unfall beim Eisenbahnzusammen¬
stoß; im 9. Lebensmonat (als es zu gehen und zu sprechen begann) plötzliche Krämpfe
der linksseitigen Extremitäten mit nachfolgender Schwäche. Im 8. Lebensjahre,
als die Lähmung bereits fast vollständig verschwunden war, entstand langsam,
aber progressiv ein Tremor der linken Seite, der ein Dauersymptom wurde; nunmehr
spastische Hemiplegie mit Tremor, der an der Oberextremität stärker ist. „Es
ist dies kein richtiger Tremor, sondern eine Serie von arhythmischen Oszillationen,
Annäherungen und Entfernungen des Oberarms vom Rumpfe.“ Wenn die Kranke
die Hand auf den Rücken legte, wurden die Bewegungen kleiner. (Das¬
selbe beobachtete ich als Student bei einer Patientin mit typischer Athetose in der
Klinik des Herrn Hofrates Maixner.)- Bei Intentionen war die Bewegung größer.
Pein*?, Zittern. 10
146
Erster Teil.
Die Autoren bezeichnen diesen Tremor „als eine intermediäre Bewegung zwischen
Chorea und Athetose, ähnlich dem Park ins on sehen Tremor.“
In demselben Jahre, 1900, publizierte Raviard seine These über die Tuber¬
kulose des Pedimkulus (Thöse de Lille).
Im Jahre 1902 publizierten Astros und Hawthorn einen Fall in der Rev.
neur. (S. 377): Es handelte sich um einen Tuberkel im Pedunkulus bei einem 21 Monate
alten Kinde, das außer einer Myokymie an den Extensoren des linken Vorderarms
und einem tonischen Krampf des linken Daumens in Flexionsstellung rhythmische
Bewegungen des Vorderarms von einer Frequenz von 72—110 in der Minute bei
intendierten Bewegungen aufwies; dieselben fehlten bei vollständiger Ruhe; an dem
gleichseitigen Fuße war eine Kontraktur vorhanden; Sehnenreflexe links erhöht,
Plantarreflexe normal. Später gingen diese Bewegungen auch auf den Fuß und den
Rumpf über und mit ihnen auch die Athetose.
Ferner pflegt Sorgo in Wien zitiert zu werden. Dieser publizierte im Jahre
1902 eine interessante Beobachtung. Aber wiederum war es nicht die bei Paralysis
agitans gewöhnlich beobachtete Form des Zitterns, sondern es handelte sich um
klonische, dem Fußklonus ähnliche Dauerkrämpfe der Hand, die später anfallsweise
auf traten und schließlich in Anfälle von Jackson scher Epilepsie übergingen. —
28jähriger Mann, bei dem sich eine Lähmung des rechten, später auch des linken
Auges imd eine linksseitige Hemiparese entwickelten. Er kam am 25. Mai 1901
in Beobachtung; am 30. Juli zeigten sich klonische Zuckungen des linken Daumens
nach Art eines sehr grobwelligen Zitterns. Der Daumen wurde rhythmisch gebeugt
und opponiert; die Zuckungen waren fortwährend vorhanden und fehlten nur im
Schlafe. — Am 2. August gesellte sich eine ähnliche Bewegung des linken Daumens
hinzu, sodann klonische Dauerkrämpfe des Supinator longus sin, Extensor und
Flexor carpi ulnaris sin, d. h. die Hand wurde rhythmisch ulnarwärts flektiert und
supiniert. Bei Erregungen war die Bewegung intensiver. Es bestand Intcntions-
zittera. — Sodann gesellte sich Schwindel nach links hinzu. Am 27. September
analoge Krämpfe des langen Fingerbeugers der linken Hand und des Daumenbeugers.
— Am 28. November klonischer Krampf des M. tibialis ant. sin. Am 5. Dezember
waren keine rhythmischen Krämpfe mehr vorhanden, sondern mannigfach kombi¬
nierte Adduktionen und Abduktionen und Flexionen im Ellbogengelenk; Pronation
und Supination des Vorderarms, Flexion und Extension der Finger, „welche letztere
jetzt oft etwas langsamere athetoseartige Bewegungen ausführen.“ Vor Neujahr
hörte das Zittern auf, trat aber nach einer fünftägigen Pause anfallsweise auf und
breitete sich von den Fingern auf die ganzen Extremitäten bis zum M. pectoralis
major aus. Im Februar 1902 begannen Anfälle klonischer Krämpfe an den ganzen
linken Extremitäten; die Krämpfe breiteten sich bald über den ganzen Körper aus.
— Bei der Sektion fand sich ein Solitärtuberkel im rechten Vierhügel mit Kompression
des rechten Pedunkulus und chronischer Hydrozephalus.
Dieser Fall war ähnlich jenem von Eisenlohr (Jahrb. d. Hamb. Staats-
Kr.-Anst. 1889. Bd. I.—II. Teil. S. 71, Zur Diagnose der Vierhügelerkrankungen):
Ein 23jähriger Bäcker mit einem in den rechten Vierhügel eingeheilten Projektil
litt an „unwillkürlich rhythmischen Bewegungen im Handgelenk und in den Fingern,
eine Art Tremor, der den Schüttelbewegungen bei der Paralysis agitans am meisten
ähnlich war. “ Dieser Tremor bestand in der Ruhe, änderte sich nicht bei der Intention
und verschwand im Schlafe. Es bestanden weder Lähmungen noch andere Stö¬
rungen. Der Tremor trotzte Hyoszininjektionen, verschwand aber nach Physo¬
stigmininjektionen (0,5 mg). Allmählich begannen imwillkürliche Bewegungen des
linken Fußes im Sprunggelenk und einigemal traten Zuckungen im Bereiche des
linken N. facialis auf. Einige Tage hindurch zitterte auch der Kopf (Kopfnickerf).
Zugleich reagierten die Pupillen fast gar nicht. Sodann entwickelte sich eine Läh¬
mung beider Oculomotorii; später Anfälle von Kopfschmerzen und Erbrechen,
Schlafsucht, Unsicherheit des Ganges, Bradykardie, Ptosis rechts, schwache Patel-
larreflexe. Ferner traten Stauungspapillen auf und zeitweise rhythmische Be¬
wegungen der linken Oberextremität (Zuckungen), ähnlich jenen bei Paralysis agitans.
Pneumonie, Exitus. Bei der Sektion fand sich beim Vierhügel ein Projektil, das
das Innere beider Vierhügel rechts, einen Teil der Schleife und den Okulomotorius-
kem lädiert hatte. Der Thalamus war unverletzt.
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 147
Den beiden vorhergehenden Fällen dürfte auch die Beobachtung von Rhein
und Potts ähnlich sein: fortwährende Flexionen und Extensionen des Ellbogens
und der Hand, abwechselnd mit Supinationen des Vorderarms; nur fanden sich
bei der Sektion multiple Erweichungsherde im Gehirn.
Ferner werden hier gewöhnlich die Fälle von Helmes Gordon aus dem
Jahre 1904 zitiert: Beim ersten Falle, einem 17jährigen Jüngling, bestand eine
linksseitige Hemiplegie „with irregulär movements of limb“; der zweite Fall, ein
59jähriger Mann, wurde plötzlich von einer linksseitigen organischen spastischen
Hemiplegie befallen „also coarse but rather regulär tremor of the left upper ex-
tremity in movement even during rest when excited or when the right limb was in
action“ — also eine Beschreibung, die ebenfalls auf den Parkinsonschen Tremor
nicht paßt; im dritten Falle, bei einem 37jährigen Mann, eine allmählich sich ent¬
wickelnde Parese der unteren Extremitäten „coarse tremor of the right arm when
at voluntary rest especially on excitement.“
L6vy und Bonniot publizierten 1905 einen Fall von Benediktschem
Syndrom bei einem 60jährigen Kranken, der nach einem apoplektischen Insult
die typischen Symptome besaß. Als die Autoren den Kranken in Beobachtung
nahmen, war das Zittern bereits schwächer geworden und war nur bei statischer Inner¬
vation sichtbar. Bei Intention trat ein Schwingen der Extremität auf. Sie be¬
zeichnen diesen Tremor als eine Art Übergang zwischen dem Intentionstremor der
Sklerose und der sog. zerebellaren Asynergie.
Cramer beschrieb in seiner Dissertation einen 17jährigen schwachsinnigen
Hydrozephalus, der seit seinem zweiten Lebensjahr an einem Tremor litt, der nach
Masern entstanden und am ganzen Körper vorhanden war, besonders rechts, wo
zugleich Hemialgesie bestand. Der Tremor der linken Hand besaß eine Frequenz
von 9 y 3 Wellen in der Sekunde, dagegen jener der rechten Hand und der Füße
eine solche von 6% und 6 Wellen in der Sekunde. Der Autor bemerkt selbst, daß
die Bewegung der Füße und der rechten Hand ein Klonus und jener der linken Hand
em gewöhnliches Zittern war.
Peterson schlägt für diese unwillkürlichen Bewegungen, die sich den
klonischen Krämpfen nähern, die Bezeichnung posthemiplegischer Poly¬
myoklonus vor.
Wir sehen also, daß es sich überall dort, wo der Tremor näher beschrieben
ist, um choreiforme und athetoseähnliche Bewegungen oder um klonische
Krämpfe handelte, oder um eine Kombination dieser Bewegungen mit Intentions-
zittem; ein typisches Beispiel hierfür ist der Fall Infelds vom Jahre 1900, in
welchem nach einer Stichwunde der linken Scheitelgegend eine rechtsseitige
Hemiparese entstand und nach zwei Jahren eine Hemiathetose auftrat, die nach
vier Jahren verschwand, um nach 11 Jahren in der gelähmten Oberextremität
zugleich mit Intentionszittem wieder zu erscheinen.
Außer dem Benediktschen Syndrom gehört hierher eine große Reihe
von kasuistischen Publikationen, die in der Literatur in verschiedenen Kapiteln
der Neuropathologie und unter verschiedenen Bezeichnungen zerstreut sind.
So z. B. die Beobachtung von Fischler: Der Kranke machte als Kind
eine Meningitis nach Pneumonie durch. Hierauf bekam er bei der Dentition, nach
einer anderen Version infolge Erschreckens gelegentlich eines Gewitters ein Zittern
des ganzen Körpers, das rechts stärker und jenem bei Paralysis agitans ähnlich war.
Im Jahre 1867 demonstrierte ihn Erb unter der Diagnose: Klonische Muskelkrämpfe.
Paralysis agitans t Chorea t Nach 40 Jahren stellte sich der Kranke wieder vor
und gab an, das Zittern sei fortwährend gleich geblieben, bis es im Jahre 1905 nach
drei epileptiformen Anfällen an Heftigkeit zugenommen hätte. Das Zittern war
grob, „ähnlich jenem bei der Paralysis agitans“, distal nicht viel stärker als proximal;
bei Bewegungen traten mächtige Schwankungen ein, und zwar rechts wiederum
stärker als links. Nichts sprach für Parkinson, Chorea, Sklerose, Hysterie, essen¬
tiellen oder familiären Tremor oder Tic.
10*
148
Erster Teil.
Ferner die Beobachtung von Economo aus dem Jahre 1910; ein 70jähriger
Mann erlitt einen kleinen Iktus; am nächsten Tage ging er seiner Arbeit nach; abends
bekam er eine linksseitige Hemiparese von zerebralem Typus; am nächsten Tage
verlor er die Parese, bekam aber unwillkürliche choreiforme Bewegungen in der
Ruhe, die sich bei Bewegungen verstärkten, aber an den folgenden Tagen so heftig
waren, daß der Kranke in einem Netzbett untergebracht werden mußte. Am 9. Tage
nach dem Insult starb er; man fand eine frische Blutung in dem rechten Pedunkulus,
die nach außen vor dem Nucleus ruber lag und sich in die Regio subthalamica
erstreckte.
In der Klinik Thomayer beobachteten wir einen hierher gehörenden Fall
von Zittern, der dem Falle Sorgos sehr ähnlich ist: Nr. 16 825/03. F. A., 63jähriger
Kutscher, aus gesunder Familie stammend, Alkoholiker; machte in der Jugend
Lues durch. Die Frau war siebenmal schwanger; zweimal trat Frühgeburt toter
Kinder ein, 2 Kinder starben gleich nach der Geburt, 2 starben an Gehimkrank-
heiten und nur ein einziges Kind blieb am Leben. Vor 5 Wochen litt er 3 Wochen
lang an heftigen Kopfschmerzen, wobei sich das linke Auge in den linken Augen¬
winkel drehte, während das rechte unbeweglich in der Mitte der Augenspalte ver¬
harrte. Bald darauf hatte er zwei Anfälle eines deliranten Zustandes (Gespenster,
Hexen) mit Gliederzittem, Verwirrtheit; diese Anfälle wiederholten sich das ganze
Jahr fast jeden Monat. Etwa ein halbes Jahr nach Beginn der Krankheit hing das
linke Augenlid herab. Nach einem Jahre — also vor 4 Jahren — stürzte er eines
Abends zu Boden, der Kopf drehte sich nach der linken Seite, er blieb eine Weile
bewußtlos; keine Krämpfe, keine Enurese, nachher Amnesie. Diese Anfälle wieder¬
holen sich seitdem fast jedes Vierteljahr; er ließ bei denselben häufig den Ham unter
sich und verletzte sich. In der letzten Zeit leidet er oft an Kopfschmerzen mit Er¬
brechen und schwerer Apathie. Vor 14 Tagen bemerkte die Frau (von der die
anamnestischen Daten stammen) nach einem solchen Anfall von Kopfschmerzen,
daß der Kranke an der linken Oberextremität „eigentümlich zittere“, daß er beim
Gehen nach links geneigt sei, daß er schwanke und nach links falle. Er selbst gibt
an, daß er plötzlich, wie auf einen Schlag, die Herrschaft über die linke obere und
einigermaßen auch über die linke untere Extremität verloren habe. Gegenwärtig
ist er sehr apathisch, er merkt sich nichts, spricht schwer, läßt manchmal den Ham
ins Bett, in dem er den größten Teil der Zeit zubringt. — Bei der Aufnahme des
Kranken am 12. November 1903 wurden folgende Anomalien konstatiert: Der
rechte Bulbus ein wenig einwärts gedreht; aktiv bewegt er sich ziemlich weit nach
innen, ein wenig nach unten, kaum merklich nach oben, gar nicht nach außen. Die
Pupille reagiert weder auf Licht noch auf Akkommodation. Der linke Bulbus wird
von dem herabhängenden Oberlid bedeckt, das mittels der Stimmuskeln ein wenig
gehoben werden kann; er ist total unbeweglich. Die Pupille reagiert weder auf
Lichteinfall noch auf Akkommodation und ist um eine Spur breiter als die linke.
Die linke Wange ist ein wenig schlaff. Die Zunge wird gerade vorgestreckt, zittert
hierbei und weicht nach rechts ab. Die Uvula weicht ein wenig nach der rechten
Seite ab. Die linke Oberextremität ist in ihrer Gänze geschwächt, ihr Muskeltonus
ist erhöht. Am meisten ergriffen sind die kleinen Handmuskeln. E. D. =0. Der
Oberarm ist in stereotyper Weise adduziert, der Unterarm zum rechten Winkel
flektiert, die Hand im Karpalgelenk gestreckt, die Finger sind flektiert. Die Extremi¬
tät befindet sich in einer fortwährenden motorischen Unruhe, zumeist im Sinne
grober, nicht schneller Pronationen und Supinationen. Bei Anspannung der Auf¬
merksamkeit und bei Intention werden diese Bewegungen größer. Wenn sich der
Kranke auf die Hand energisch stützt, gerät die ganze Extremität in ein klonisches
Hüpfen. Bei der Prüfung auf Ataxie schwankt die Extremität um das Ziel hin
und her. Die rechte Oberextremität bietet normale Verhältnisse dar; gestreckt
gerät sie in ein leichtes Zittern mit individuellen Bewegungen der Finger, besonders
beim Schreiben, das daher unmöglich ist. Dauernde Myokymie der Brust- und
Extremitätenmuskulatur. Erhöhte mechanische Muskelerregbarkeit. An den
Unterextremitäten ist die Motilität ohne Tremor und Ataxie erhalten. Der Muskel-
tonus ist etwas erhöht. Patellarreflexe nicht auslösbar; Plantarreflexe beiderseits
normal; Achilessehenreflexe fehlen, ebenso die Kremaster- und Bauchreflexe. Im
Sitzen neigt er sich unwillkürlich nach links und hinten und sucht auf dieser Seite
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 149
mit der Hand nach einer Stütze. Romberg positiv. Der Kranke steht auf breiter
Basis und kann weder auf den Fußspitzen, noch auf einem Fuße stehen. Er geht
auf breiter Basis langsam und vorsichtig; den rechten Fuß setzt er normal auf, aber
auf dem linken schwankt er, flektiert denselben nicht genügend im Knie und hebt
ihn höher als den rechten. Zumeist schwankt er nach links. Beim Umdrehen
wankt er ganz besonders. Er ist apathisch, aber über Ort und Zeit orientiert, seine
Intelligenz ist im allgemeinen unverändert. Er ermüdet leicht und erschöpft sich
körperlich und geistig. Die Sprache ist hesitierend, die Aussprache sowie bei Zahn¬
losen, aber frei von gröberen Störungen der Artikulation, von Einschaltungen und
Auslassungen von Silben, logisch geordnet. Es besteht weder motorische, noch sen¬
sorische Aphasie. Sensibilität für Berührung und Schmerz auf Brust und Bauch
herabgesetzt, auf der Brust Thermohypästhesie; auf den Fußrücken Analgesie.
Ophthalmoskopischer Befund normal. Die Interdigitalräume der linken Hand
sind vertieft; auf den Fußrücken heben sich die Extensorensehnen ab. — Der Kranke
blieb 5 Wochen in der Klinik und nahm täglich 5 g Jodkali. Anfangs hatte er An¬
fälle, bestehend in tiefer Apathie, leichter Bewußtseinstrübung und ausgesprochener
Fig. 103.
Gliederstarre. Später trat eine kleine Besserung aller Symptome ein. Nach einem
halben Jahre wurde er mit denselben Symptomen wegen totaler Verwirrtheit trans¬
feriert. — Die Kurve zeigt den Tremor der linken Hand. Es handelt sich in der Ruhe
um ein grobes, ziemlich gleich- und regelmäßiges, langsames Zittern mit einer regel¬
mäßigen Frequenz von 5 Wellen in der Sekunde, das bei Intention stärker und in
der Weise imgleichmäßig wird, daß einzelne Wellen niedriger sind; die Frequenz
bleibt aber unverändert 5 in der Sekimde (Fig. 103).
Wir nahmen an, daß es sich um eine luetische Affektion des Gehirns und des
Rückenmarks handelte und zwar entweder um eine Kombination der Tabes dorsalis
mit einem Gumma des rechten Vierhügels oder des Pedunkulus und Druck auf den
Pons (aber der höhere Tonus an den Unterextremitäten!) oder um eine gummöse
Meningitis mit herdförmigen Veränderungen, die in irgend einer Weise den Tractus
cerebello-rubrospinalis (rechter Vierhügel, Crus cerebri, Pedunkulus, Pons dexter)
betreffen. Der Kranke starb nach Beginn der Ferien und ich erhielt von der Sektion
keine Nachricht. Aus dem kurzen Sektionsprotokoll geht hervor, daß das Gehirn
atrophisch und der rechte Okulomotorius schwächer als der linke war. Die Sektions¬
diagnose (Hofrat Hlava) lautete: Leptomeningitis chronica cum atrophia cerebri.
Pachy- et Leptomeningitis chronica spinalis cum atrophia zonali medullae spinalis.
Atrophia oculomotorii dextri. Endoaortitis sclerotica luetica. Tuberculosis in-
veterata. Tuberculosis dispersa miliaris pulmonum et organorum. Atrophia uni-
versalis.
Einen zweiten Fall von Tremor in der Ruhe mit Übergang in Jacksonsche
Epilepsie beobachteten wir im Jahre 1904. Nr. 15 219/04. N. J., 44 Jahre alte
Frau. Der Vater war Alkoholiker, zwei Schwestern starben an Phthise. In der
Ehe war sie sechsmal gravid; das zweite Kind wurde im 7. Monat geboren, das
vierte kam tot zur Welt, die 6. Gravidität endete mit Abortus im 3. Monat. Im
September 1903 bemerkte sie, daß sich ihre Zunge beim Essen schlecht bewege;
sie mußte die Bissen bis in den Hals stecken, um sie schlucken zu können. Beim
Sprechen war ihr die Zunge hinderlich imd auch der Umstand, daß ihr das Kinn
zitterte und der Mund nach links verzogen wurde. Auch in der Ruhe verzog sich
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 151
sich die unwillkürlichen Bewegungen wieder, aber noch am 2. Dezember, an welchem
Tage die Kranke entlassen wurde, bestand noch der Gesichtskrampf. Die Kranke
nahm im ganzen 156 g Jodkali. — Der Tremor der Hand wurde registriert. Die
Kurven I.—IV. veranschaulichen fortlaufend das Zittern der herabhängenden Hand.
Wir sehen einen regelmäßigen, leicht ungleichmäßigen, schnellen Tremor von 11—12
Wellen in der Sekunde; derselbe wird bei Intention (V.) gröber, ungleichmäßig,
behält aber seine Frequenz und nimmt in der Ruhe (V.) den früheren Charakter
wieder an (Fig. 104). — Es blieb unentschieden, ob es sich um eine Reizung der
Rinde der Zentral wind ungen rechts unten durch einen Tuberkel oder um eine
Meningitis „en plaques“ handelte.
In meiner Privatpraxis beobachtete ich einen interessanten Fall von zere¬
bralem Tremor, den man ebenfalls als „Tremor nach Art jenes bei Paralysis
agitans“ bezeichnen könnte, obwohl er keinen Parkinson sehen Charakter
besitzt.
Bei einem 61jährigen Kranken mit den Symptomen der universellen Arterio¬
sklerose entstand ohne einen besonderen Anlaß ein typischer apoplektischer Insult;
nach halbstündigen Prodromen: Übelkeit, Schwäche trat Bewußtlosigkeit ein, so¬
dann eine 24stiindige totale Apathie ohne Sprache mit Lähmung der rechtsseitigen
Extremitäten. Nach 24 Stunden kehrte die Sprache zurück, nach einer Woche die
Fig. 105.
Motilität der Extremitäten. Zu dieser Zeit begann sich die rechte Hand in der
Ruhe im Sinne der Flexion und Extension unwillkürlich zu bewegen; bei Intention
entstand ein derartiges Zittern der rechten Extremität, daß der Kranke mit derselben
weder essen noch trinken konnte. Seit dieser Zeit nahmen beiderlei Bewegungen
in der Ruhe und bei Intention an Intensität ab. Als ich den Kranken nach acht
Monaten wiedersah, war die Parese des Gesichtes und der rechtsseitigen Extremitäten
r g
kaum angedeutet, aber Muskelschwäche war vorhanden, E. D j* ferner gesteigerter
Patellarreflex; kein Babinski. Ferner bestand eine rechtsseitige homonyme Hemi-
anopie bis auf 5° beim Zentrum, totale Alexie mit der Unmöglichkeit abzuschreiben;
nach Diktando konnte er richtig schreiben; Krampflachen und Krampfweinen.
Das symptomatologi8che Bild ergänzte die Gattin des Kranken durch folgende
Angaben: Auffallender Verfall der geistigen und körperlichen Regsamkeit, hastiges
Essen, Polyphagie, Klagen über Schmerzen im Gürtel rechts und in der rechten
Unterextremität. Objektiv wurde Hyperästhesie in der rechten Leiste gefunden.
An den Extremitäten bestand weder Ataxie noch Zittern in der Ruhe; an
der rechten Hand flektierten sich hier und da individuell der Kleinfinger und der
152
Erster Teil.
Daumen, aber nicht gleichzeitig. Bei der geringsten Innervation, speziell bei stati¬
scher Innervation entstand ein deutlicher Tremor der Hand mit individuellem Zittern
der Finger; bei Intention verstärkte sich dieser Tremor, war auf dem Gipfel der
Intention am stärksten, beruhigte sich aber gleich wieder und erneuerte sich erst
bei der Bückkehr der Hand. Auch an der rechten Unterextremität war ein kleiner,
aber sicherer Tremor bei gewollten Bewegungen vorhanden. Das Zittern bestand auch
beim Schreiben. Eine Serie von Kurven zeigt die näheren Eigentümlichkeiten dieses
Zitterns (Fig. 105). Bei statischer Innervation sieht man die Interferenzkurve
eines in verschiedenen Ebenen ungleichen und ungleichmäßigen Tremors, der (II.)
bei Intention in einer Ebene langsam, mit 4—5 Wellen in der Sekunde vor sich
geht, dagegen beim Ziele und am Ende der Intention bei einer neuen Handbewegung
gröber wird und sein Maximum erreicht; (III.) bei dem Versuche, den Tremor zu
unterdrücken, ändert sich der Intentionscharakter nicht; (IV.) bei ruhiger Lage
der Hand zeichnet die Feder einen raschen, feinen, ziemlich gleichmäßigen Tremor
mit 9 Wellen in der Sekunde; (V.) bei statischer Innervation läßt sich das Zittern
nicht willkürlich unterdrücken und bei Rechenexempeln (rückwärtiger Teil der
rechten Kurve) wird er heftiger; (VI.) an der linken Hand besteht bei statischer
Innervation ein zarter, rascherer Tremor, der in gewissen Partien der Kurve (gegen
das Ende) eine Frequenz von etwa 9 Wellen in der Sekunde erkennen läßt. — Es
handelt sich hier demnach zuerst um einen Tremor beider Hände mit einer Frequenz
von 9 Wellen in der Sekunde und außerdem um einen groben, unregelmäßigen
Tremot in der Ruhe (der nicht registriert wurde) und bei der Intention um einen
Tremor rechts mit 4—5 Wellen in der Sekunde. Der Rekord der im willkürlichen
Bewegungen beträgt links (VIII.) etwa 6, rechts (VII.) ebenfalls 6 Wellen in der
Sekunde.
In welchem Grade die athetotischen Bewegungen bei der spastischen
Parese als „Tremor in Ruhe“ imponieren können, konnte ich an einem anderen
Patienten meiner Privatklientel beobachten.
34jähriger Mann, dessen Onkel mütterlicherseits seit der Kindheit an
spastischer Paraparese, Schielen und Schwachsinn leidet. Seine Geburt war schwer
(dauerte vom Morgen bis 2 Uhr nachts). Als er 9 Monate alt war, bemerkte seine
Mutter zum ersten Male, daß er einigermaßen starr sei und daß, wenn er etwas er¬
greifen wollte, seine Hand sich mit der Handfläche nach hinten und außen krümme.
Bald darauf bemerkte die Mutter, „daß es mit ihm am ganzen Körper arbeite.“ Erst
im 7. Lebensjahre begann er zu gehen und zwar ging er schwer spastisch in Pes
equinus-Stellung und fiel leicht um. Mit den Händen konnte er die Gegenstände
schlecht fassen, da sich die Hände beim Greifen verkrümmten. Die Sprache war
nie gut entwickelt. Der Intellekt ist wenig entwickelt, obwohl der Kranke nicht
gerade schwachsinnig ist. Dieser Mann, den ich bereits 25 Jahre kenne, bietet stets
dasselbe Bild dar. In der „Ruhe“, zum Beispiel beim Sitzen, hat er einen Spasmus
der Nackenmuskeln, der Kopfnicker, der Platysmata; das Kinn ist gegen den Thorax
gedrückt; er spricht krampfhaft. Die Zunge kann er wegen der Krämpfe nicht vor¬
strecken. Die im Sinne der Flexion spastisch kontrahierten Extremitäten bewegen
sich fortwährend und langsam mit einer Geschwindigkeit von 4 in der Sekunde.
Die Zehen beugen und strecken sich abwechselnd mit derselben Geschwindigkeit,
aber nicht gleichzeitig. Besonders deutlich ist diese unwillkürliche Flimmerbewe¬
gung an den Daumen und großen Zehen. Beim Versuche, einen Gegenstand zu
ergreifen, verfallen die Flexores carpi in einen tonischen Krampf, zugleich spreizen
und strecken die Interossei die Finger. Bei Intention tritt im ersten Moment (in¬
folge des Spasmus eine scheinbare) Ruhe ein, aber bald darauf wieder die rhyth¬
mische Bewegung. Grobe Manipulationen (Holzspalten) kann er verrichten, nicht
aber feine (Knopfschließen). Auch die Rumpfmuskulatur ist in einem fortwährenden
Spasmus besonders der Flexoren begriffen. Die Symptome überwiegen rechts.
Patellarreflexe lebhaft, rechts mehr. Die Achillessehnenreflexe lassen sich wegen
des Spasmus nicht auslösen. Rechts spontaner dauernder Babinski. Plantarreflex
nicht auslösbar. Die Zunge weicht nach rechts ab. Die Pupillen reagieren nor¬
mal. Harnentleerung normal.
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 153
Bei diesem Falle von Littlescher Krankheit ist also die krampfhafte
Athetose dem spontanen, langsamen Tremor bei Paralysis agitans sehr ähnlich
und könnte bei oberflächlicher Beobachtung leicht als „Tremor wie bei Paralysis
agitans“ beschrieben werden.
Den folgenden Fall führe ich als Beweis dafür an, daß der Intentionstremor
im ersten Augenblick als ein dem Parkinsonschen ähnlicher Tremor im¬
ponieren kann.
Frau C., 41 Jahre alt, mit Insuffizienz der Aortenklappen und Herzhyper¬
trophie behaftet, wurde vor 4 Jahren von einem apoplektischen Insult befallen;
seit dieser Zeit ist ihre rechte Oberextremität schwächer und ungeschickter und
kann sie mit derselben wegen eines Tremors nicht schreiben, obwohl sie früher sehr
schön schrieb. Sie hat eine kaum angedeutete Schwäche der rechten Extremitäten,
106
y\A
gesteigerte Reflexe, rechts Fußklonus und positiven Babinski. Bei jeder Aufregung,
besonders aber dann, wenn das Herz schwach ist und ungenügend arbeitet, zeigt
sich an der rechten Oberextremität ein grober Tremor im Karpalgelenk von 4—5
Wellen in der Sekunde, wobei sie die rechte Oberextremität in stereotyper Weise
an den Körper adduziert, im Ellbogengelenk flektiert und die Finger in Prisen¬
stellung bringt. Bei Intention typischer Intentionstremor, den ich zwar nicht
registrieren konnte, der aber aus der Schrift der Kranken ersichtlich ist, besonders
wenn sie große Druckbuchstaben zeichnet, wie aus dem Bilde hervorgeht (Fig. 106).
Bei genauerer Analyse findet man, daß sie in vollständiger Ruhe überhaupt nicht
zittert und daß der in der Ruhe scheinbar vorhandene Tremor durch das Bestreben
zustande kommt, die Hand ruhig zu erhalten.
*
* *
Die beschriebenen mannigfachen Formen des Tremors sind nicht immer
dauernd. Sie können miteinander abwechseln, sich kombinieren (Breillot).
Solche Übergänge beschrieben Oulmont, Gowers, Kahler und Pick, Greif
(vier Tage Hemichorea, dann Ruhe, dann sieben Tage Hemiathetose; Greif
zitiert analoge Erfahrungen von Bernhardt, Leube, Teissier); Murris
Patient (zit. von Decio) hatte gleich nach dein Insult klonische Krämpfe der
rechten Hand ohne Intentionsschwanken, nach einem Jahre statische Ataxie
der Unterextremität und Intentionstremor der Oberextremität.
Nicht jeder Tremor, der bei einer Gehimerkrankung beobachtet wird,
muß seine Ursache in einem zerebralen Herd haben, wie folgender Fall zeigt:
HA SO
Fig. 106.
m
Erster Teil.
Nr. 2678/09. 32jähriger Vergolder. Gibt zu, viel getrunken und geraucht
zu haben. Vor 13 Monaten verspürte er plötzlich ein Stechen wie mit einer Steck¬
nadel in der linken Handfläche und gleich darauf bekam er einen tonischen Krampf
der linken Oberextremität, der linken Gesichtshälfte und des Auges; er wurde be¬
wußtlos und ließ den Ham unter sich. Vor 11 Monaten folgte ein zweiter Anfall
dieser Art, vor 6 Monaten ein dritter. Seit dieser Zeit wiederholen sich die Anfälle
fast jeden Monat. Zwei Stunden vorher treten Vorboten auf: manchmal ein Metall¬
geschmack im Munde, gewöhnlich Parästhesie in der linken Hohlhand, krampf¬
haftes Abweichen der Zunge nach links, infolgedessen die Sprache gestört ist. Bei
seiner Aufnahme in die Klinik am 10. Februar 1909 hatte er eine Parese des unteren
Astes des N. facialis, einen klonischen Spasmus des linken Orbikularmuskels, eine
Hyperästhesie der linken Kopfhälfte, des Halses und der linken Oberextremität,
eine leichte Hyperämie der Papillen. (Es war nicht zu entscheiden, ob es sich um
eine Hyperämie infolge Hypermetropie oder um Stauungspapille handelte.) In der
Klinik hatte er mehrere Anfälle von krampfhaften Zuckungen in der Umgebung
des Auges und der Mundwinkel auf der linken Seite und an der linken Oberextremität,
aber ohne Bewußtseins Verlust. Nach 11 Tagen verließ er die Klinik unverändert.
— Dieser Kranke hatte einen Tremor der Hände bei statischer Innervation, rechts
stärker als links, der sich weder durch Intention, noch nach einem Anfall änderte
und bei totaler Ruhe des Körpers verschwand; er war regelmäßig, schnell und hatte
eine Frequenz von 9 Wellen in der Sekunde. Wahrscheinlich handelte es sich hier
um einen Tremor, der durch Alkohol und eventuell auch durch Nikotin verur¬
sacht war.
Mit großem Fleiße wurden die Sektionsbefunde bei zerebralem
Tremor gesammelt, um zu konstatieren, von wo die postapoplektischen Be¬
wegungen ausgelöst werden. Charcot suchte diese Stelle im hinteren Anteil
der inneren Kapsel, Gowers im Thalamus, aber schon Charcots Schüler
Oulmont verlegte dorthin nur den Reiz zur Chorea und Athetose, während
er die Ursache der Kontraktur und des Tremors in Läsionen des ganzen „oberen
motorischen Neurons“ suchte. Kahler und Pick schlossen sich für alle Formen
der posthemiplegischen Bewegungen dieser Anschauung Oulmonts voll¬
ständig an. Brissaud hat in noch eingehenderer Weise darauf hingewiesen,
daß der Reiz im ganzen Verlauf der Pyramiden seinen Ursprung nehmen kann
und Bidon hat diese Ansicht durch 78 gesammelte Fälle gestützt. Zu gleicher
Zeit fand Stephan, der ein großes Ubersichtsreferat über diese Frage erstattete,
bei postapoplegischem Tremor Veränderungen nur in der Nachbarschaft der inneren
Kapsel; beim Intentionstremor infolge Sklerose fanden sich Veränderungen
an den verschiedensten Stellen zwischen Rinde und Pons. Infeld fand in seinen
gesammelten Fällen Intentionstremor nicht bei Läsionen des Vorderhims, sondern
bei jenen des Zwischenhims und der hinteren Partien des Mittelhims.
Wir wollen im folgenden eine Übersicht über die wichtigeren Lokalisationen
der organischen Herderkrankungen beim Tremor anführen (mit Ausnahme der
banalen typischen Hämorrhagien):
Gehirnrinde: Die tuberkulöse Meningoenzephalitis der frontalen und zen¬
tralen Windungen ruft motorische Erscheinungen hervor, die Massalongo
für dem Tremor koordiniert hält. Miller sah einen Tremor während der ersten
fünf Tage einer tuberkulösen Meningitis. (Aber post mortem wurde auch eine
Läsion des Nucleus dentatus im Kleinhirn gefunden.) Hutinel hält den pro¬
dromalen Tremor für ein diagnostisches Merkmal der Meningitis bei Kindern.
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 155
Corona radiata: Diese wird erwähnt von Oulmont, Stephan, Marburg.
Innere Kapsel: Charcot in der Nähe des ,,carrefour sensitif“, Dejerine
1880 (zit. Decio): Monoplegischer Intentionstremor der rechten Hand mit
rechtsseitiger Hemianästhesie und Analgesie, Tuberkel der Capsula interna
nahe dem Thalamus.
Thalamus: Leyden bei Sarkom links Bewegungen des rechten Armes;
Stephan erwähnt ihn; Westphal sah bei Tumor des linken Thalamus Inten¬
tionstremor und das klinische Bild der Herdsklerose bei einem neunjährigen
Knaben.
Nucleus lentiformis: Damange fand bei Tremor einer Oberextremität
einen alten hämorrhagischen Herd nahe der inneren Kapsel (zit. Talma);
Rhein und Potts beobachteten Flexionen mit Extensionen des Ellbogen -
und Handgelenks, abwechselnd mit Supinationen der Hand bei multipler Er¬
weichung, die auch im Nucleus lentiformis lokalisiert war; Mendel zitiert den
Fall Bouchers.
Pedunculus cerebri: Hierher gehören die Fälle von Benedikts Syndrom
und der Fall von J. Charcot. Tumoren im Pes pedunculi erwähnt Bruns.
Gowers (zit. Decio, Rüssel) sah Intentionstremor der rechten Oberextremität,
ferner Hemiplegie mit Okulomotoriuslähmung bei einem Tuberkel im Pes pedun¬
culi unterhalb des Vierhügels.
Nucleus ruber: Der Fall von Raymond und Cestan, welcher das Bene¬
dikt sehe Syndrom aufzuklären geeignet wäre.
Vierhügel: Fälle von Eisenlohr und Sorgo; Bruns sah Intentionstremor
der Hände und Ataxie der Füße.
Schläfelappen und Comu Ammonis: Mendel zitiert Induration dieser
Partien rechts im Falle von Chvostek.
Insula: Im Falle Bergers bestand Zittern bei Sarkom der linken Insel
(zit. Mendel).
Pons: Bruns erwähnt Geschwülste; Hobson: Ataxie und Intentions¬
tremor — Tumor der Brücke und der Medulla oblongata (zit. Decio); Solder
(zit. Decio): rechtsseitige Hemiparese und Intentionsschwanken, Paralyse
des linken N. facialis, trigeminus, abducens — Gliom in der Brücke, im Pes
pedunculi und in der Medulla oblongata; Meyer zitiert noch Gowers und
Ordenstein; Verger und Desqueyron sahen bei einer 42jährigen Kranken
einen massiven Intentionstremor der beiden oberen Extremitäten bei einem
Tumor, der den vorderen Anteil der Brücke und die Verästelung der beiden
Crura cerebelli ad pontem betraf.
Kleinhirn: In dem von Latteux zitierten Falle traten bei einem 23 jährigen
Jüngling mit Tuberkulose der Meningen und Kompression der rechten Klein -
himhemisphäre durch tuberkulöse Massen Anfälle von Kopfschmerzen auf,
während welcher er wehklagend umherlief, dann plötzlich wie von Schreck
gelähmt stehen blieb und am ganzen Körper zitterte. — Im Falle Andrals
(zitiert Latteux) fehlte die linke Kleinhimhemisphäre bei einer 45jährigen,
schwachsinnigen, furchtsamen Frau, die bei Bewegungen ein konvulsives Zittern
der Hände hatte. — In Briegers Fall traten die ersten Symptome seitens des
Gehirns 10 Jahre vor dem Tode auf, 2 Monate vor dem Tode entstand Zittern
der Hände und bei der Sektion fand sich ein Solitärtuberkel der linken Klein¬
himhemisphäre. — Mendel zitiert den Fall Baldwins, betreffend ein Endo-
epitheliom, der eine Kleinhimhemisphäre komprimierte. — Babinski lenkte
die Aufmerksamkeit auf Erscheinungen der gestörten Harmonie der Muskeln
bei Geschwülsten des Kleinhirns und seiner Adnexe und nannte diese Erschei¬
nungen im Jahre 1898 „asynergie cerebelleuse“. Im Jahre 1901 konstatierte
er, daß diese Erscheinungen auch einseitig als H6miasynergie cerebelleuse
et h^mitremblement d’origine cerebello-protuberantielle auftreten
können (Rev. neur. 1901.422). —Im öasopis 16karüv £esk^ch beschrieb ich 1904
einen schönen Fall eines analogen Zitterns einer Körperhälfte bei einer tuber¬
kulösen Geschwulst der gleichseitigen Kleinhimhemisphäre. Es handelte sich
um eine 44 jährige Frau, die 7 Monate vor dem Tode die allgemeinen Symptome
eines Gehirntumors bekam: Kopfschmerzen, Erbrechen, Stauungspapille; dann
einen groben, langsamen Intentionstremor mit Ataxie der rechten Extremitäten,
Schwindel nach der rechten Seite, Romberg bei lebhaften Patellarreflexen
und erhaltener Sensibilität, zerebellare Asynergie rechts. Die Intentions¬
bewegungen waren, wie Oppenheim sagt, ein Mittelding zwischen Ataxie
und dem Intentionstremor der Herdsklerose. — Stephan sah einen Intentions¬
tremor der linken gelähmten Extremitäten bei einem Tumor der linken Klein¬
himhemisphäre, der die Brücke und das verlängerte Mark komprimierte (Decio).
— Miller spricht von Veränderungen der Zerebellorubrospinalbahn bei 6 Kindern
mit einem Tremor von 5 Wellen in der Sekunde, mit erhöhtem Muskeltonus;
bei schwachem Tremor war derselbe nur bei Bewegungen, bei stärkerem Tremor
auch in der Ruhe vorhanden. — Mendel zitiert den Fall von Cassirer be¬
treffend Störungen der Bahn zwischen Kleinhirn und Thalamus.
Crura cerebelli: Diesbezüglich erwähnt Purves Stewart, daß ein hemi-
plegischer Tremor auftrete, wenn die Rubrospinalbahn lädiert sei (aber er führt
keinen Fall an).
Hintere Schädelgrube: Bruns erwähnt Tumoren.
Corpus restiforme: Babinski.
Hydrozephalus: Cramer (S. 17) führt ein sehr typisches Zittern bei
einem 18jährigen Jüngling mit einer Frequenz von 9 */ 3 Wellen rechts und 5y 2
Wellen links in der Sekunde an.
Historische Bemerkung. Dieser Tremor wurde in den früheren Be¬
schreibungen mit der Athetose in die Gruppe der posthemiplegischen Chorea
zusammengeworfen. Erst als die Athetose ausgeschieden wurde (sie wurde
von dem amerikanischen Neurologen Hammond 1871 neben der Paralysis
agitans als selbständige Neurose beschrieben, aber erst von Mitchelt 1874
und von Charcot 1875 als posthemiplegisches Symptom erkannt), finden wir
den Tremor in den neurologischen Arbeiten von den übrigen Bewegungen ge¬
trennt, z. B. bei Benedikt 1874. — Aber in zahlreichen Arbeiten ist es aus
der Beschreibung nicht ersichtlich, daß es sich um Tremor gehandelt hat,
sondern es dürfte eine.Athetose oder ein klonischer Krampf mit Unrechtals
Tremor bezeichnet worden sein.
Die Therapie dieser Zitterformen ist nicht erforscht. Combemale
empfiehlt seine Veronalmethode, die wir bei der disseminierten Sklerose kennen
gelernt haben. Gewöhnlich versagen alle üblichen Sedativa.
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 157
C. Es gibt noch eine Reihe organischer Erkrankungen des Nervensystems,
bei denen manchmal ein Tremor beobachtet wird, der aber nicht regelmäßig
ihrem klinischen Bilde angehört oder wenigstens nicht ein unerläßlicher Be¬
standteil desselben ist.
1. Progressive Paralyse.
a) Bei der progressiven Paralyse ist der Tremor in verschiedenen Körper¬
teilen ein sehr gewöhnliches Symptom. In den ersten Anfängen ist ein Tremor
bei statischer Innervation an den oberen Extremitäten vorhanden, den wir auch
bei anderen Nervenkrankheiten bereits kennen gelernt haben. Der Kranke
ist sich desselben nicht bewußt. Seine Frequenz beträgt 8—10 Wellen in der
Sekunde (Charcot). Die Finger können auch individuell zittern (Charcot —
im Gegensatz zur Basedowschen Krankheit).
ß) Später erscheint der Tremor bei feinen Arbeiten und wird an der Zunge
und an den Lippen deutlicher. Gleichzeitig mit demselben beobachtet man ein
fibrilläres Flimmern der Zunge und bündelförmige Zuckungen an den Lippen und
an der mimischen Muskulatur. Durch Emotion wird er verstärkt. Anfangs kann
er willkürlich unterdrückt werden, wenn auch nicht vollständig, und zwar an den
Händen leichter als an den Lippen. Öu mpelik hat behauptet, daß ein deutliches
Zittern gleichzeitig mit der Demenz auf trete. In den Spätstadien nimmt das
Zittern manchmal bedeutend an Intensität zu, breitet sich auf die unteren
Extremitäten und auf die Rumpfmuskulatur aus und verliert hierbei gleichzeitig
seine Regelmäßigkeit, indem es durch unregelmäßige zuckende Bewegungen
unterbrochen wird. Feine Arbeiten können mit den Händen nicht verrichtet
werden, die Sprache wird durch das Zittern der Lippen, des Unterkiefers und
der Zunge gestört. Mit fortschreitender Krankheit verschwindet der Charakter
des Tremors, der imwillkürlichen Bewegungen Platz macht, die durch Intention
verstärkt und von fibrillären und faszikulären Zuckungen fast der gesamten
quergestreiften Muskulatur begleitet werden. Im deliranten Zustande kann
sodann motorische Ruhe eintreten (Fernet). Manchmal setzt das Zittern für
mehrere Monate aus (Fernet). Im terminalen Stadium verschwindet es
(Breillot).
y) Auch wurde ein dem Parkinsonschen Tremor ähnliches Zittern be¬
obachtet : Reuter behandelte eine 34jährige Frau, die anfangs ein heftiges
Zittern, dann ein Zittern des ganzen Körpers hatte; nach 6 Monaten verschwand
das Zittern bis auf jenes der linken Hand, wo es den Charakter des Parkinson¬
schen Tremors besaß (Position der Hand, Pillendrehen). Auch Mailard er¬
wähnt das „Parkinsonsche Syndrom“ an der linken Hand bei progressiver
Paralyse.
<5) Schon Fernet erwähnt, daß der Tremor bei progressiver Paralyse
manchmal durch Intention verstärkt werde. Meyer bemerkt, daß manchmal
die intentive Verstärkung so bedeutend sei, daß der Tremor von der Herd¬
sklerose schwer zu unterscheiden sei.
2. Tabes dorsalis.
Bei der Tabes dorsalis ist der Tremor kein gewöhnliches Symptom, wenn
wir von einem eventuellen feinen Zittern der gestreckten Oberextremitäten
absehen, das über den Rahmen des physiologischen Zitterns nicht hinausgeht.
Breillot erwähnt einen Tremor aller Extremitäten in der Ruhe bei Anfällen
von großen Schmerzen, ohne aber diesen Tremor näher zu beschreiben. — Die
158
Erster Teil.
unwillkürlichen Bewegungen der unteren Extremitäten bei hochgradiger Ataxie
besitzen nicht den Charakter des Tremors.
3. Die Sklerose der spinalen Seitenstränge bei verschiedenen
Krankheiten (Myelitis, Pachymeningitis cervicalis hypertrophica, Tabes spastica,
kombinierte Strangsklerose, amyotrophische Lateralsklerose, Syringomyelie) wird
in allen älteren Arbeiten (Latteux, Fernet, Breillot, Jaubert) als Ursache
des Zitterns angegeben; in den Arbeiten aber, auf die sich diese Behauptung stützt,
finden wir gewöhnlich die Beschreibung des Fußklonus, keineswegs aber eines
wirklichen Tremors, und verschiedener unregelmäßiger Störungen der Bewegungen
der oberen Extremitäten. Charcot führt 1874 und 1887 einen Intentions¬
tremor bei den genannten Krankheiten einfach an, ohne Belege beizubringen.
Max Meyer zitiert eine Beobachtung Oppenheims betreffend einen der
Ataxie verwandten lokomotorischen Tremor bei einer kombinierten Erkrankung
der Rückenmarkstränge. Dejerine zitiert die Beobachtung Gombaults be¬
treffend einen Intentionstremor bei amyotrophischer Lateralsklerose; ich konnte
diese Angabe nicht kontrollieren, aber der häufige Sektionsbefund einer Herd¬
sklerose bei dem klinischen Bilde der amyotrophischen Lateralsklerose er¬
weckt den Verdacht, daß es sich um eine Kombination mit einem Ge-
himherd gehandelt haben könnte. Bei Syringomyelie wurden rhythmische
Fingerbewegungen (Marinesco) und ein leichter Tremor bei Bewegungen
(Rosenblath, Bruthan, Schlesinger — zitiert Dejerine und Thomas)
beschrieben. In einem von VySin in Prag demonstrierten Falle von Pachy¬
meningitis cervicalis hypertrophica handelte es sich um sakkadierte Bewegung
der oberen Extremitäten.
Bei der Friedreichschen Krankheit führt Charcot einen Intentions¬
tremor an, Dejerine langsame Oszillationen der Hand über dem zu ergreifenden
Gegenstände, die aber unmöglich als Intentionstremor angesehen werden können;
deswegen sprechen Dejerine und Thomas von einem atypischen Intentions¬
tremor und zitieren den Ausdruck Charcots „instabilite choreiforme“. Max
Meyer erwähnt einen Intentionstremor und zitiert P. Marie. Londe führt
dieselben Bewegungen wie bei der zerebellaren Heredoataxie an.
Bei der zerebellaren Heredoataxie spricht Londe in seiner umfang¬
reichen These von einem Tremor der Hände mit dem Charakter des Intentions¬
tremors, mit Oszillationen direkt vor dem Ziele und mit Ruhe nach der Er¬
reichung des Ziels neben zögernden, unsicheren und ataktischen Bewegungen,
und von choreiformen im willkürlichen Bewegungen. Er beschrieb auch einen
Intentionstremor des Kopfes, der sich bei Emotionen und im Stehen steigert,
und hier und da auch ein unregelmäßiges Zittern der Zunge, das aber eher ein
Fluktuieren als ein Zittern ist, und schließlich nystagmiforme Zuckungen der
Augen neben Lähmungen der Augenmuskeln. Wie aus allen Publikationen,
die er in seiner These reproduziert, hervorgeht, handelt es sich immer eher um
Ataxie als um den bei Sklerose vorkommenden Intentionstremor, um eine Art
Gemisch dieser beiden Elemente, häufiger aber um eine einfache Ataxie und
um choreatische Fluktuationen. — Söderbergh sah bei seinem 13jährigen
Kranken, bei dem er eine Kombination der Friedreichschen Krankheit mit
zerebellarer Heredoataxie und familiärer spastischer Paraplegie diagnosti¬
zierte, einen hochgradigen Intentionstremor. (Die genauere Analyse folgt bei
der Besprechung der Pathogenese.)
Das Zittern bei organischen und zwar herdförmigen Erkrankungen des Nervensystems. 159
4. Neuritis, Polyneuritis.
Auch bei dieser Krankheit wurde das Zittern beschrieben. Häufig besteht
der Tremor an den paretischen Gliedern bei Bewegungen — ein Ermüdungs¬
tremor.
Vereinzelt finden wir andere Angaben. So z. B. führt Benedikt in seiner
Neuropathologie einen Fall von Polyneuritis (Beobachtung 205) bei einem
47 jährigen Kranken an mit ausgesprochenem Zittern, ohne aber dieses näher
zu beschreiben. Oppenheim erwähnt in seinem Lehrbuch einen Fall von un¬
vollständig geheilter toxischer Polyneuritis (nicht nach Quecksilber), die mit
typischem Intentionszittem einherging.
Wenn wir bedenken, daß im Verlaufe schwerer Polyneuritiden häufig herd¬
förmige Enzephalitiden Vorkommen (die eventuell mit psychischen Symptomen
einhergehen — Korsakov), werden wir einen derartigen Fall als verdächtig
unter die zerebralen Tremorformen einreihen. Dasselbe gilt von der älteren
Beobachtung Remaks, betreffend einen 30jährigen Kranken, bei welchem die
Polyneuritis mit Intentionszittem der Hände und der Zunge, mit unregelmäßigen
Bewegungen in der Ruhe, fehlenden Reflexen, Papillitis N. optici und Demenz
einherging. Bei elektrischer Reizung des nicht gelähmten Gesichtsnerven ent¬
stand eine Schüttelkontraktur.
Auch bei der unter dem alten Begriff der Neuritis ascendens zitierten
Krankheit wird Intentionszittem als Symptom angegeben. Eine diesbezüg¬
liche Beobachtung stammt von Valenzuela aus dem Jahre 1879.
Der 19 jährige Patient verletzte sich im 5. Lebensjahre mit einem Schlüssel
am rechten Knie und bekam bald darauf eine Kontraktur des Knies und später
auch des Fußes. Man nahm die Tenotomie der Achillessehne vor; gleich bei der
Operation streckte sich die Extremität, begann aber ein wenig zu zittern; im Ver¬
band entstand neuerdings eine Kontraktur und ein deutlicher Tremor bei jeder
Bewegung. Der Intentionstremor blieb die folgenden 14 Jahre bestehen, ebenso
auch die Kontraktur; beide Erscheinungen gingen auch auf die rechte Ober¬
extremität über, aber Muskelatrophie oder Sensibilitätsstörungen stellten sich nicht ein.
Die Annahme des Autors, daß es sich um „Neuritis ascendens“ gehandelt
habe, ist zweifelhaft und der Verdacht auf einen funktionell-hysterischen Ur¬
sprung der Kontraktur und des Tremors sehr naheliegend.
Die familiäre hypertrophische Polyneuritis fand ihre Erwähnung im An¬
schlüsse an die disseminierte Sklerose.
Von unseren Beobachtungen gehören die folgenden hierher:
1. Zittern bei akuter Neuritis plexus cervicobrachialis. Nr. 6095/10.
V. A., 48 Jahre alt, rauchte Pfeife, aber nicht stark. Trank angeblich 4 Glas Bier
täglich. Eines Nachts vor Weihnachten 1909 verspürte er plötzlich einen Schmerz
unter dem rechten Schulterblatt. Am nächsten Tage hatte er Kribbeln im IV. und
V. Finger dieser Extremität. Bald begann dieselbe schwach zu werden. Es stellten
sich Anfälle von brennenden Schmerzen ein, die von der Schulter in die Finger und
zurück ausstrahlten, am heftigsten im Bette waren und auch viermal während einer
Nacht sich wiederholten. Jetzt kommt es ihm vor, als wäre die Extremität fremd,
sie ist schwach und zittert. Objektiv bestanden die Symptome der Neuritis plexus
cervicobrachialis dextri. — Eine Serie von Kurven veranschaulicht diesen Tremor.
Fig. I und III zeigen einen gleichmäßigen, regelmäßigen, rhythmischen Tremor
von 8 Wellen in der Sekunde; Fig. II zeigt bei statischer Innervation einen sehr
groben, sonst unveränderten Tremor, der bei Intention in einen ungleichen, aber
rhythmischen Tremor von wiederum 8 Wellen in der Sekunde übergeht; IV: bei
Intention wird er etwas größer, behält aber seine Frequenz von 8 Wellen in der
Sekunde bei (Fig. 107).
160
Erster Teil.
2. Nr. 7383/04. L.; Serie von Zitterkurven der rechten Hand: rascher Tremor
von 11—12 Wellen in der Sekunde, regelmäßig, mit bezüglich die Größe alternierenden
Wellen. Kurve I zeigt folgende interessante Erscheinung: bei Intention ist die
kleinere Welle ausgefallen, so daß nur die halbe Frequenz von 5,5—6 Wellen in der
Sekunde resultiert, die der Zahl der größeren Wellen in der Ruhe entspricht (Fig. 108).
Fig. 107.
3. Polyneuritis. Atherom. Sinusthrombosis. Nr. 7118/04. S. K.,
74 Jahre alt, stammt aus gesunder Familie, war stets gesund. Im Februar 1904
fühlte er sich schwächer und bekam Schmerzen in den Waden, die er kaum berühren
durfte. Der Zustand besserte sich nicht. Ende April konstatierte er Kältegefühl
A i
Fig. 108.
im Körper, Zittern der Hände, Anfang Mai Kribbeln in beiden Hohlhänden und
in den Fingern und eine eigentümliche Empfindung bei Berührungen. Andere
Beschwerden (Schwindel) hatte er bei seiner Aufnahme am 7. Mai 1904 nicht. Wir
fanden: Schmerzhaftigkeit der Äste des Plexus brachialis, leichte Empfindlichkeit
der Sitznerven, beiderseits Laseguesches Symptom. Die gestreckten Oberextremi¬
täten zittern vorwiegend im Sinne der Pronation und Supination, die Finger in der
Prädilektionsstellung der Paralysis agitans auch im Sinne der Flexion und Extension.
V/kW- - --- ' ./.
Fig. 109.
Hierbei zittert auch der Kopf nickend. Auch der Daumen zittert hier und da indivi¬
duell. Der Wille hat auf das Zittern keinen Einfluß. Beim Drücken des Dynamo¬
meters wird der Tremor intensiver, gröber und scheinbar langsamer. Bei Intention
hört er nicht auf, in der Kälte wird er stärker. An den unteren Extremitäten sieht
man kein deutliches, höchstens ein angedeutetes Zittern. Patellarreflexe lebhaft,
Plantarreflexe normal. Beim Gehen entsteht ein der Retropulsion ähnliches Schwan¬
ken. Leichte Eiweißtrübung. Der Kranke wurde galvanisiert; schon am 12. Mai
Idiopathisches Zittern.
161
ließen die Schmerzen nach. Am Abend des 13. Mai klagte er plötzlich über Schmerzen
in den beiden Mandibulargelenken, es entstand ein zyanotisches ödem um das
linke Auge, an den Bindehäuten, an der Wange und Schläfe, nicht auch an der Stirne.
In der Nacht zum 14. Mai erkrankte auch das rechte Auge in ähnlicher Weise. Der
Kranke war fortwährend bei Bewußtsein und klagte nur über Schmerzen in den
Kiefergelenken. Der Puls, der schon früher leicht arhythmisch war, wurde unregel¬
mäßig und am Nachmittag trat der Exitus ein. Die klinische Diagnose des Chefs
auf Sinusthrombosis war richtig. Es handelte sich um allgemeine Atheromatose
mit degenerativer Nephritis.
Eine Serie von Kurven illustriert den Tremor. I. und II. zeigen den Tremor
bei ruhiger, statischer Innervation: ein regelmäßiger, ziemlich grober, nur leicht
ungleicher, mittelschneller Tremor von 7 Wellen in der Sekunde; III. und IY. zeigen
den Einfluß der Intention: der Tremor wird größer und ungleich, bleibt aber regel¬
mäßig, die Schnelligkeit wird größer und beträgt 7,5—8 Wellen in der Sekunde.
V. zeigt die Erfolglosigkeit des Versuches, den Tremor willkürlich zu unterdrücken
(Fig. 109).
4. Polyneuritis ,,e frigore“ in alcoholismo. Z. K., 41 Jahre alt, aus ge¬
sunder Familie, gibt Potus mittleren Grades zu. Ende Februar 1909 drang in das
Kesselhaus, in welchem er arbeitete, Hochwasser ein; bevor er das Feuer gelöscht
und den Dampf abgelassen hatte, verliefen 1 y 2 Stunden, während welcher er im
eiskalten Wasser stehen mußte. Bald darauf bekam er äußerst heftige Schmerzen
in den unteren Extremitäten, so daß er sich legen mußte; aber nach einer Woche
nahm er seine Arbeit wieder auf. Im März kehrten alle Beschwerden zurück, die
Schmerzen breiteten sich längs des Rumpfes bis in die oberen Extremitäten aus,
die sehr ungeschickt wurden. Er hatte zooptische Träume. In der Klinik konsta¬
tierte man: motorische Schwäche aller Extremitäten und der Rumpfmuskulatur,
empfindliche Nervengeflechte, Hyperästhesie der Haut und der Muskeln am Rumpfe
und an den Oberschenkeln, Verlust der Patellarreflexe bei normalen Plantarreflexen.
Die gestreckten Oberextremitäten zitterten stark und schnell, doch wurde der
Tremor nicht registriert.
X. A) Idiopathisches Zittern.
Hereditäres Zittern. Familiäres Zittern. Kongenitales Zittern.
(Tremophilia Ughetti.)
Unter diesen Bezeichnungen wurde in der Literatur eine große Anzahl
klinisch heterogener Krankheitsbilder beschrieben, deren gemeinsame Basis nur
die homologe Heredität ist. Dieser Vorgang hat es verschuldet, daß das Kapitel
des „erblichen Zitterns“ wenig übersichtlich ist. Die homologe Heredität ist
ein viel zu lockeres Bindemittel zwischen solchen Fällen, wo z. B. ein zartes
Zittern der Finger das einzige Krankheitssymptom war, und solchen, wo außer
dem Zittern noch epileptiforme Anfälle, Muskelatrophie, Athetose, choreatische
Bewegungen u. dgl. vorhanden waren. Wir unterscheiden mit Recht eine
hereditäre Chorea, weil sie einen charakteristischen Verlauf und eine besondere
Prognose besitzt; aber so wie wir von keiner hereditären Epilepsie sprechen,
sollten wir auch kein hereditäres Zittern anerkennen. Es würde mit unserem
ganzen nosologischen System besser übereinstimmen, wenn wir von einem
idiopathischen oder essentiellen Zittern dort sprechen würden, wo wir die Ur¬
sache desselben nicht kennen und sagen würden, daß dieses idiopathische Zittern
zumeist hereditär ist. Hierbei würden wir jene Zitterformen ausscheiden, die,
obwohl hereditär oder familiär, wahrscheinlich ihren Ursprung in organischen
familiären Läsionen des zentralen Nervensystems haben, deren bloße Epi¬
phänomene sie darstellen.
Pelnäf, Zittern.
11
162
Erster Teil.
Unseren Zwecken dürfte es am besten angemessen sein, wenn wir uns die
beobachteten Fälle in 4 Gruppen einteilen: in die erste Gruppe werden wir jene
Fälle einreihen, in denen es sich, besonders bei statischer Innervation, um ein
einfaches, dem physiologischen Tremor ähnliches Zittern handelte; in die zweite
Gruppe jene Fälle, die dem sogenannten senilen Tremor ähnlich sind; die dritte
Gruppe wird aus den Fällen von familiärem und erblichem Intentionszittem
bestehen und schließlich werden wir in die vierte Gruppe kompliziertere Fälle
einreihen, bei denen man von einem zu anderen wesentlichen neuropatholo-
gischen Veränderungen sekundär hinzugetretenen „kombinierten Tremor“
sprechen kann.
1. Einfacher essentieller (hereditärer) Tremor. Zitterigkeit.
Dieser Tremor findet sich zumeist an den oberen Extremitäten ohne
individuellen Tremor der Finger, hat eine Frequenz von 9 Wellen in der Sekunde,
ist regelmäßig, leicht ungleich, besitzt bei statischer Innervation periodische
Verstärkungen („Knoten“ — Allorhythmie — Ughetti) und breitet sich, wenn
er etwas intensiver ist, auf die Nackenmuskulatur, die Zunge, die Lippen, die
Augenlider und am wenigsten auf die unteren Extremitäten aus. In einigen
Fällen (Rubens, Kulcke) war er auf eine Oberextremität beschränkt, selten
begann er am Kopfe (Hamaide). In den leichten Formen hindert er nicht die
Manipulationen der Hände, in schwereren Fällen stört er beim Schreiben, Nähen,
Essen mit dem Löffel, so daß die Kranken mit den Händen essen müssen (Achard,
Öumpelik, unser Fall, Häbler) und auch beim Sprechen. Er beginnt in
der Kindheit und lenkt je nach dem Grade der Intensität entweder bald nach
der Geburt (Roche, Li6gey) oder wenn das Kind zu gehen oder schreiben
beginnt oder erst in der Pubertät die Aufmerksamkeit auf sich. In der Mehrzahl
der Fälle steigert er sich mit zunehmendem Alter bis zu einer gewissen Grenze,
aber seine Intensität kann in langen Perioden Schwankungen zeigen. (So z. B.
zitterte die Patientin Achards vom 15.—30. Lebensjahre sehr wenig, dann
steigerte sich das Zittern nach dem Tode der Eltern so sehr, daß sie das Bett
hüten mußte; vom 44.—60. Lebensjahre war das Zittern kaum merklich; nach
dem 60. Lebensjahre nahm es anläßlich eines Unglücksfalles wieder zu und
blieb bei dieser Intensität bis zum 70. Lebensjahre, in welchem sie in die Be¬
obachtung des Autors gelangte.)
Am intensivsten pflegt er am Morgen und vormittags zu sein, am schwäch¬
sten gegen Abend. Bei vollständiger körperlicher und geistiger Ruhe verschwindet
er. Willkürlich kann man ihn manchmal mäßigen oder gänzlich unterdrücken,
aber nur für eine ganz kurze Zeit. (Danas Patient, ein Uhrmacher, konnte
ein Rädchen ganz gut auf seine Achse legen, zitterte aber bis zum entschei¬
denden Moment; Häblers Patient, ein Förster, schoß, wenn er plötzlich
feuern mußte, ganz gut, dagegen schlecht, wenn er ruhig zielen sollte;
Deboves Patient schrieb gut, aber nur in der Weise, daß er 3 Buchstaben
aufschrieb, dann wartete, bis das Zittern vorüberging, und dann in derselben
Weise weiterschrieb.)
Bei intendierten Bewegungen nimmt er gewöhnlich zu, manchmal bleibt
er unverändert; er hat nicht den Charakter des Intentionszittems. Im Falle
West nahm er bei Intention ab und verschwand auch gänzlich.
Idiopathisches Zittern.
163
Der psychische Zustand besitzt auf diesen Tremor einen ungeheueren
Einfluß. Manche Kranke zittern zu Hause fast gar nicht, andere bekommen
bei öffentlichem Auftreten aus Furcht und Verlegenheit geradezu ein Intentions-
zittem. Man kann in solchen Fällen mit Meige von Tremophobie sprechen.
Im Falle von Meige konnte ein Geistlicher, der einen zarten Tremor hatte
und dessen Vater und Bruder ebenfalls zitterten, aus Furcht, er werde sein
Priesteramt nicht bekleiden, den Gottesdienst nicht verrichten können, bei der
Messe die Hostie nicht zerbrechen u. dgl. — Ein ähnlicher Zustand wurde bei
Friseuren beobachtet (Trac des coiffeurs). Beim Arzte zittern die Kranken mehr
und trinken sie schlechter als zu Hause.
Einen gleich ungünstigen Einfluß üben erotische Aufregungen, der Koitus,
zumeist auch Tabak und schwarzer Kaffee aus; Alkohol mäßigt manchmal
den Tremor für die Dauer des Rausches; nachher pflegt er dann um so heftiger
zu sein. Eine Verschlechterung tritt auch nach Chinin (Ughetti) und Queck¬
silber (Debove) ein, während nach Antipyrin (Ughetti) und manchmal
auch nach Bromiden (Rubens) eine Besserung beobachtet wurde. Schwere
Muskelarbeit steigert das Zittern, eine anstrengende Muskelanspannung kann
es auslösen; bei Eile (Fays zit. Hamaide), bei Hitze und Kälte (Döjerine)
wird es größer; Ughetti berichtet über einen Kranken, dessen Tremor während
des ganzen Monats, den der Patient in einer Höhe von 1800 m zu brachte,
stärker war.
Dieser Tremor wurde familiär und hereditär beobachtet; die Heredität
ist hier similär und sowohl in der männlichen als auch in der weiblichen Linie
vorhanden; in seltenen Ausnahmen werden eine (Debove) oder gar zwei
Generationen (Hamaide) übersprungen. Hierbei ist die Lokalisation in ein
und derselben Familie nicht dieselbe. Angesichts des bekannten Einflusses ver¬
schiedener Umstände auf die Heredität darf es nicht wundemehmen, daß weder
bezüglich des Beginnes noch bezüglich der Intensität der Affektion eine Regel¬
mäßigkeit besteht. Es läßt sich nicht behaupten, daß der Tremor bei den
Deszendenten intensiver wird. In vielen Familien wird der Tremor in der Des¬
zendenz häufiger. Es gibt Fälle, in denen beide Ehegatten aus zittrigen Familien
stammten. Wir können einige schöne Beispiele anführen.
(In den Stammbäumen bedeuten die Quadrate Männer, die Kreise Frauen;
die ausgefüllten Quadrate und Kreise bedeuten die zitternden Individuen;
die Kreuze bedeuten Kinder ohne Angabe des Geschlechtes, die bald gestorben
sind; wo das Geschlecht bei nicht zitternden Kindern nicht angegeben ist, mache
ich einen Strich.)
-• ■ •
A l\ /I A/\
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■ o □ o
11*
164
Erster Teil.
• •
Aus den Familiengeschichten einiger Fälle erfahren wir, daß die Eltern
der ersten zitternden Generation Alkoholiker waren (Liögey: ein Säufer mit
Tremor hatte 3 zitternde Töchter, von denen eine den Tremor an 3, die zweite
an 2 Kinder vererbte; Roche 4 Fälle: Säufer mit Tremor, die Tochter zittert
und hat ein Kind, das seit der Geburt zittert; im Stammbaum Danas waren
die beiden ersten Ahnen starke Säufer) oder starke Raucher (Rubens’ zweite
Familie) oder leidenschaftliche Kaffeetrinker (im Stammbaume Regnaults
konstatierte der Vater der letzten Kinder, ein Arzt, daß der Urgroßvater 15
bis 20 Tassen Kaffee täglich trank).
Idiopathisches Zittern.
165
Infolge der Unsicherheit derartiger anamnestischer Angaben kann man
aber nicht konstatieren, inwieweit diese Intoxikationen mit der Heredität des
Tremors in einem ursächlichen Zusammenhänge stehen. Noch schwieriger ist
die Beurteilung solcher Fälle, in denen angegeben wird, daß die Mutter während
der Schwangerschaft erschrocken sei und einen Tremor akquiriert habe, der
bis zu ihrem Tode dauerte, während das Kind gleich von Geburt an zitterte
(Li6geys zweite Familie).
In der großen Mehrzahl der Fälle oder vielleicht mit geringen Ausnahmen
bei allen Fällen findet man außer dem Tremor noch andere neurologische und
psychische Anomalien. In manchen Familien finden wir deutliche Zeichen
der psychischen Degeneration, in anderen nur unauffällige, aber doch sichtbare
Charakteranomalien und zwischen diesen beiden Extremen quantitative Über¬
gänge. Eine besonders degenerierte Familie dieser Art ist z. B. die erste Familie
Danas, deren Stammbaum oben angeführt ist. Der erste Ahne derselben war
ein Potator; in der zweiten Generation gibt es zwei Geisteskranke, deren einer
der Vater der folgenden Generation ist; in dieser dritten Generation, die aus
9 Kindern bestand, die alle mit Zittern behaftet waren, gibt es einen Geistes¬
kranken, einen Potator, zwei Sonderlinge und zw'ei Frauen, die Männer heirateten,
welche wahnsinnig wurden (bekanntlich verlieben sich Degenerierte gerne wieder¬
um in Degenerierte); in der vierten Generation gibt es zwei Geisteskranke,
einen Säufer, eine epileptische Frau, die verheiratet war und 4 epileptische
Kinder gebar (fünfte Generation).
Gewöhnlich findet man bei den Kranken selbst kleine Charakteranomalien:
Reizbarkeit, Ängstlichkeit, Schüchternheit, Unentschlossenheit, Unverträglich¬
keit (Roche), Neigung zu Exzessen auch trotz hoher Intelligenz (Ughetti),
neurasthenische Zustände, bei Geschwistern und Verwandten andere Nerven¬
krankheiten wie Fraisen, Basedowsche Krankheit (Raymond und S6rieux,
Vigouroux), Hysterie, Psychosen (Bienvenu) oder Sonderlingtum, ticähnliche
Bewegungen (Schmaltz, Mills).
Mir fällt es auf, daß fast alle angeführten Familien eine große Anzahl von
Kindern haben.
Dieser essentielle Tremor geht in keine andere Krankheit über, ist dem
„senilen“ Tremor nicht ähnlich und kann mit demselben nicht identifiziert
werden. Er kann auch mit dem neurasthenischen Tremor nicht identifiziert
werden, obwohl er mit den Erscheinungen der konstitutionellen, degenerativen
Neurasthenie verwandt ist.
Die Therapie dieses Tremors ist, obwohl es sich um eine unheilbare Form
handelt, nicht resultatlos (Ray mond), noch erfolglos. Wenn der Tremor keinen
hohen Grad besitzt, dann stört er weder die Ernährung, noch ist er im gesell¬
schaftlichen Leben hinderlich; aber er verursacht grobe Störungen, wenn er
entfesselt ist. Daher ist es von Wichtigkeit, den Kranken zunächst psychisch
zu beeinflussen, indem man ihn in ruhiger Weise über die Eigenschaften dieses
Tremors, über den Einfluß, den ein fester Wille auf den Tremor ausüben kann
(Ughetti), über den ungünstigen Einfluß großer Anstrengungen, des Alkohols,
des starken Kaffees, der Exzesse in Venere aufklärt. Ferner ist für günstige
hygienische WohnungsVerhältnisse zu sorgen. Die Gifte Skopolamin, Hyoszin,
Atropin, Opium, Chloral, Strychnin wenden wir überhaupt nicht an, höchstens
unterstützen wir die psychische Behandlung mit Bromkalium, Bromnatrium,
166
Erster Teil.
Bromkampfer oder nach dem alten Rate Eulenbergs mit Injektionen von 0,14
bis 0,20 Kalii arsenicosi in wässeriger Lösung einmal täglich. Wir machen den
Kranken darauf aufmerksam, daß in Orten von über 500 m Seehöhe Verschlimme¬
rungen des Zitterns beobachtet wurden (Ughetti).
Ich habe einige derartige Fälle registriert.
1. Koll. M., 21 Jahre alt, mein Hörer, machte mich, als wir in einer Vorlesung
den „physiologischen Tremor“ gesunder Menschen registrierten, darauf aufmerk¬
sam, daß seine Hände seit etwa einem Jahre zitterten, speziell bei Emotionen (Rigo¬
rosen) und wenn er sich beobachtet fühlt; das Zittern ist auf die Hände beschränkt
und bei der Arbeit nicht hinderlich. Er überstand im 5. Lebensjahre Morbillen,
im 11. Lebensjahre Diphtherie, im 15. Lebensjahre wurde ihm eine Halsdrüse exstir-
piert, seit dem 18. Lebensjahre hatte er drei perityphlitische Anfälle, den letzten,
schwachen Anfall vor einem Jahre, im 19. Lebensjahre überstand er eine trockene
Pleuritis. Er trinkt höchstens % Liter Bier täglich und raucht 2—3 Zigarren wöchent¬
lich. Er ist sehr intelligent und zeigt keinerlei nervöse Anomalien. — Weder bei
den Eltern, noch bei der um ein Jahr älteren Schwester hat er Zittern beobachtet.
Dagegen hat ein 18jähriger Bruder einen ziemlich intensiven Tremor der oberen
Extremitäten; doch raucht dieser bis zu 14 Zigaretten täglich. — Die Serie von
Kurven zeigt einen deutlichen, rhythmischen Tremor von schwankender Intensität
(,,Knoten“-Allorhythmie) und einer Frequenz von 10 Wellen in der Sekunde. Bei
starker Muskelanspannung (wenn er den Griff des Apparates fest drückt) wird
der Tremor bei gleichbleibender Frequenz und Regelmäßigkeit gröber (letzte Kurve
unten) (Fig. 110).
2. Ein 23 jähriger Friseur klagte darüber, daß er seit drei Jahren an Zittern
der Hände leide, das ihm bei seinem Berufe hinderlich sei, da er sich beim Rasieren
Fig. 111.
nicht sicher fühle und die Leute sich vor ihm fürchteten, wenn sie sähen, wie das
Rasiermesser in seiner Hand zittere. Das Zittern wurde nach dem Tode seiner Ge¬
liebten, der vor einem halben Jahre eintrat (Eclampsia gravidarum), schlimmer.
Er rauchte früher bis zu 20 Sportzigaretten, gegenwärtig aber nur 4—5 Stück täglich.
Hat nie viel getrunken. — Er hatte (Fig. 111) einen ziemlich gleichen und ziemlich
groben Tremor von 8—9—9,5 Wellen in der Sekunde, den er willkürlich nicht unter¬
drücken konnte (III.), der sich bei Intention nicht in gröberer Weise änderte, manch-
Idiopathisches Zittern.
167
mal ein wenig intensiver wurde. Er hatte lebhafte Patellarreflexe. (In diesem Falle
dürfte das Nikotin mitgewirkt haben.)
3. Eine weitere Kurvenserie besitze ich von einem 20jährigen Fräulein, das
darüber klagte, daß seine Hände zitterten (unbekannt, wie lange) und daß es schlecht
aussähe, obwohl es sich gesund fühlte. Außer der wirklich schlechten Ernährung ließ
sich nichts Krankhaftes konstatieren. Das Aussehen ähnelte dem einer Chloro-
tischen. Das Zittern war am deutlichsten, wenn die Kranke Reohenexempel im
Fig. 112.
Kopfe löste; da sahen wir ein regelmäßiges, sehr schnelles Zittern von 12 Wellen
in der Sekunde. Auch bei ihrem 24 jährigen Bruder konnten wir ein zartes Zittern
der Hände registrieren.
4. Ein 21 jähriger Konservatoriumsschüler * klagte über Zittern der Hände,
das ihn beim Klavierspiel ein wenig hinderte. Der junge, etwas schwächliche Mann
zeigte ein schwaches, regelmäßiges Zittern, das zeitweise größere Wellen aufwies
und eine Frequenz von 10,5 Wellen in der Sekunde besaß (Fig. 112). Er war weder
Trinker, noch Raucher, stammte aber aus einer degenerierten Familie.
2. Idiopathischer (hereditärer), langsamer, dem senilen ähnlicher Tremor.
a) Es handelt sich um eine seltene, aber gut beobachtete und beschriebene
Form des idiopathischen Tremors, die die Ursache dafür war, daß der „senile“
Tremor da und dort mit dem idiopathischen Tremor überhaupt vermengt wurde;
um einen rhythmischen, langsamen Tremor von 4—6 Wellen in der Sekunde,
der entweder nur den Kopf, oder auch die oberen Extremitäten, die Lippen
und die Zunge betrifft, der fortwährend anhält, bei statischer Innervation
deutlicher wird, bei Intention unverändert bleibt oder gröber, nicht aber schwä¬
cher, bei Emotion oder nach schwerer Muskelanstrengung intensiver wird. Bei
vollkommener körperlicher und geistiger Ruhe verschwindet er, ebenso im
Schlafe. Wenn der Kopf zittert, ist das Zittern hier am ständigsten, in leichteren
Fällen ist es in der Ruhe nur hier vorhanden (Delpeuch, zit. Hamaide).
Auch wurde beobachtet, daß sich das Zittern des Kopfes nur bei Emotionen
(Raymonds Patient beschrieben von Fays — in der These von Hamaide),
das Zittern des Kinns nur in der Kälte (Cheylard) einstellte.
Bei manchen Fällen wird angegeben, daß der Tremor seit der zartesten
Kindheit bestand, bei anderen, daß er in der Pubertät oder noch später auftrat.
Unter den von mir gesammelten Fällen wurde in zarter Kindheit ein langsamer
Tremor nur am Kopfe beobachtet (diese Fälle führe ich unter b) separat an),
während ein langsamer Tremor der Hände stets nur im späteren Alter konstatiert
wurde; bezüglich der Kindheit bestehen nur anamnestische Daten. Ich selbst
habe keinen derartigen Fall beobachtet, da aber die publizierten Fälle zerstreut
sind, will ich alle Fälle, die ich in der Literatur vorfand, hier anführen.
Charcot beschrieb 1887 einen 53jährigen Patienten, dem seit der Jugend
die Hände zitterten, so daß ihm dies beim Schreiben hinderlich war; das Zittern
168
Erster Teil.
näherte sich durch seine Wellenzahl dem senilen, bestand aber nicht am Kopfe.
In ähnlicher Weise zitterten seine Mutter, deren Bruder und einige Vettern.
Raymonds 52jähriger Patient, dessen Krankheitsgeschichte Ha maide
publizierte, hatte seit seinem 9. Lebensjahre ein fortwährendes Zittern der Hände
mit 4—5 Wellen in der Sekunde. Sein Vater zittere ebenso vom 30. Lebensjahre
bis zu seinem im 71. Lebensjahre erfolgten Tode, die Mutter vom 40. Lebensjahre
bis zu ihrem im 53. Lebensjahre erfolgten Tode und ein öOjähriger Bruder seit dem
20. Lebensjahre.
Vielleicht gehört auch Mitchels 22jähriger Student mit unwillkürlichen
Bewegungen des Kopfes hierher.
Hierher gehört auch ihrem Sinne nach die These, die Bienvenu im Jahre
1902 publizierte, obwohl der Autor sich Mühe gab, seinen essentiellen angeborenen
Tremor von dem senilen Tremor und zwar durch das Vorhandensein nystagmischer
Augenbewegungen und durch das Fehlen des Kopfzittems scharf zu trennen.
In der Irrenanstalt beobachtete er:
Obs. I. Eine 66jährige Frau mit einem langsamen, regelmäßigen, fortwäh¬
renden Tremor der Hände, des Unterkiefers und des Kopfes; Bewegungen hatten
keinen Einfluß auf den Tremor; dieser begann an den Händen im 17. Lebensjahre
nach einem Streite und erst vor 5 Monaten am Kopfe und am Unterkiefer. Ihr
Vater litt im Alter an Zittern; hat einen „senilen“ Tremor ohne Kopf bewegungen.
Obs. II. Ein 34 jähriger Maniacus litt seit der Kindheit an Zittern der Hände.
Der Autor fand einen langsamen Tremor von 4 Wellen in der Sekunde; an den
Füßen war der Tremor imbedeutend; der Kopf zitterte nicht. Außerdem bestand
Nystagmus. Der Tremor wurde bei Emotionen, bei Ermüdung, beim Gewitter
intensiver. Die Mutter und deren Onkel zitterten, 4 Geschwister zittern seit der
Kindheit.
Pag. 27. Ein 60jähriger Mann, der seit der Geburt an den Händen zitterte,
hatte einen Tremor von 5 Wellen in der Sekunde und bekam nach irgend einem
plötzlichen Unglücksfall einen lateralen Tremor des Kopfes mit einer Frequenz
von 3,5 Wellen in der Sekunde, der sodann bis zum Tode dauerte.
Von den 12 von ihm beobachteten Fällen von „senilem“ Tremor zitterten
2 Patienten an den Händen seit der Kindheit, obwohl nur im Zorn oder bei Gewitter.
Ferner zitiert der Autor hierher gehörende Fälle, die von Achard, der
die Identität dieses Tremors mit dem senilen verkündete, und dessen Schülern
Raynaud und Soupault beobachtet wurden.
Ein 31 jähriger Patient, dessen Vater an Zittern litt, hat seit der Kindheit
einen langsamen rhythmischen Tremor der oberen Extremitäten, nicht des Kopfes.
Ein 56jähriger Patient, dessen Mutter seit jeher zitterte und dessen Bruder,
ein Alkoholiker, seit dem 30. Lebensjahre zitterte, hat einen ähnlichen Tremor, aber
auch am Unterkiefer.
Ein 47 jähriger Mann hatte nach einem im 30. Lebensjahre erlittenen Unfall
3 Jahre einen regelmäßigen Tremor der Hände; im 38. Lebensjahre zitterte er nach
einem überstandenen Typhus neuerdings und diesmal gesellte sich ein Tremor des
Kopfes hinzu. Sein Vater zitterte am Kopfe seit seinem 40. Lebensjahre, ebenso
eine Schwester und ferner eine Tante väterlicherseits und zwar seit ihrem 30. Lebens¬
jahre.
Ein 66jähriger Mann hatte einen „senüen“ Tremor der Hände und des Kopfes
seit dem 41. Lebensjahre; derselbe w*ar nach finanziellen Verlusten entstanden
und war manchmal intensiver und dann wieder schwächer.
Eine 70jährige Frau, deren Mutter seit ihrer Verheiratung einen ähnlichen
Tremor hatte und deren Brüder ebenfalls zitterten, litt seit dem 15. Lebensjahre
an einem leichten Tremor der oberen Extremitäten und des Kopfes. Im 30. Lebens¬
jahre zitterte sie nach großen Kümmernissen so sehr, daß sie das Bett hüten mußte.
Während der folgenden 14 Jahre wurde das Zittern immer schwächer, bis es fast
vollkommen verschwand. Nach weiteren 12 Jahren wiederholte sich das Zittern
infolge neuerlicher mißlicher Verhältnisse in einer solchen Intensität, daß sie nicht
einmal ordentlich essen kann. Der Tremor ist langsam, regelmäßig.
Idiopathisches Zittern.
169
(Ferner zitiert er aus der These Bourgarels über den senilen Tremor zwei
Fälle, in denen der Tremor der Hände seit der Kindheit bestand, während das Zittern
des Kopfes erst im Alter auftrat. Es sind dies wohl die Fälle XXXIV. und XXXV.
Doch ist nur der erste hereditär und auch bei diesem ist es nicht ganz klar, ob das
Kopfzittem später auftrat oder ob es schon seit der Jugend bestand. Der zweite
Fall hat den Charakter des „senilen“ Tremors.)
Von seinen weiteren Beobachtungen gehören hierher:
Obs. XIII. Ein 35jähriger, aus (väterlicherseits) neuropathischer Familie
stammender Paranoiker litt seit der Kindheit an Zittern der Hände. Der Autor
konstatierte einen Tremor von 4 Wellen in der Sekunde mit Verstärkung bei der
Emotion und Nystagmus in extremen Positionen.
Obs. XIV. Eine 34jährige Patientin mit maniakalisch-depressivem Irresein
hatte seit der Kindheit einen regelmäßigen, langsamen Tremor der Hände mit Ver¬
stärkung bei Emotion und Ermüdung. Der Kopf zitterte nicht. Deutlicher Nystag¬
mus. Die Mutter litt an einem ähnlichen Tremor seit ihrer Jugend.
Obs. XV. Eine 60jährige paranoische Frau, deren Großvater und Mutter
seit der Jugend zitterten, hatte seit der Kindheit einen regelmäßigen, langsamen
Tremor der Hände und der Finger, nicht des Kopfes und Nystagmus.
Obs. XVI. Ein 30jähriger, hereditär schwer belasteter Arzt hatte seit der
Jugend einen Tremor der Hände, der eine Frequenz von 4—5 Wellen in der Sekunde
besaß, bei Ermüdung und Emotion sehr grob war und sich auf die unteren Extremi¬
täten, die Lippen und die Zunge ausbreitete. Die Funktionen der ergriffenen Organe
hatten sehr gelitten. Der Patient war ein schwerer Neuropath.
Obs. XVII. 29jähriger Mann; der Urgroßvater zitterte; war nervös, sehr
reizbar, hatte seit der Jugend einen Tremor der Hände und der Finger mit 4 Wellen
in der Sekunde, der bei Ermüdung und Emotion sehr grob wurde, und einen Nystag¬
mus, der besonders bei Ermüdung der Augen sehr intensiv war.
In diese Gruppe gehören auch alle 3 Fälle aus der These Cheylards.
Eine 20 jährige Patientin hatte seit zarter Jugend ein langsames Zittern der
oberen Extremitäten, das sich bei Ermüdung und Emotion verstärkte und auf die
Zunge ausbreitete. In der Familie trat das Zittern bereits in der 4. Generation auf.
Bei dem 45 jährigen Vater konstatierte der Autor einen ähnlichen Tremor der Hände.
Ein 22jähriger, aus einer arthritischen Familie stammender Mann, dessen
Vater, Schwester und Tante ebenfalls zitterten, hatte seit der Jugend einen langsamen
Tremor der oberen Extremitäten, der durch Ermüdung und Emotion verstärkt wurde;
auch der Unterkiefer zitterte, aber nur in der Kälte.
Schließlich müssen wir den Fall von Ivanov mit 5 Wellen in der Sekunde
und einige Fälle von „senilem“ Tremor aus der Arbeit von Demange und
Thöbeault hierher rechnen, bei denen eine similare Heredität nachgewiesen
wurde.
b) Hierher rechne ich nur dem äußeren Aussehen nach, weil nämlich der
Kopf zitterte, einige Fälle, die ihrer Natur nach eigentlich schon unter die
organischen Zitterformen der letzten Gruppe gehören. Sie wurden von Peli-
zaeus, Raymond, Lenoble, Hirsch beschrieben.
Pelizaeus beschrieb im Jahre 1885 eine Familie, in der 5 Mitglieder,
die 4 Generationen angehörten, mit schweren, der Herdsklerose nahestehenden
Gehimveränderungen, mit Schwachsinn und Blindheit behaftet waren. Eines
derselben, das an spastischer Paraplegie, erhöhtem Muskeltonus auch an den
oberen Extremitäten, Sprachstörungen und angeborenem Nystagmus litt, hatte
seit dem 4. Lebensmonat unwillkürliche Zitterbewegungen des Kopfes, die im
5. Lebensjahre wieder aufhörten.
Raymond und Ce st an beobachteten 1901 ein sonst gesundes Mädchen
aus einer nicht zitternden Familie, das seit der Geburt einen mittelschnellen
170
Erster Teil.
Tremor des Kopfes im Sinne der Negation hatte; im Jahre 1905 beobachteten
sie einen analogen isolierten Negationstremor des Kopfes bei einem 7 Monate
alten Kinde aus einer nicht zitternden Familie.
Le noble und Au bi ne au studierten bei Kindern das Zittern und den
Nystagmus und beschrieben im Jahre 1902 ein 3 Monate altes Kind, das seit
dem 15. Lebenstage an einem Negationstremor litt, der in der Ruhe, nicht bei
Intention vorhanden war; es war unter 7 Geschwistern das jüngste Kind; das
4. Kind hatte ein ähnliches Kopf zittern und starb an einer Gehirnhautentzündung
nach epileptischen Krämpfen; der Vater und der Bruder der Mutter waren von
Geburt an blind. Ferner beobachteten sie unter 4 Fällen von einfachem ange¬
borenem Nystagmus einen 12 jährigen Knaben mit „pendulärem“ Kopftremor,
der von Geburt an vorhanden war; unter 2 Fällen von angeborenem Nystagmus
mit gesteigerten Reflexen einen 17 jährigen Jüngling mit „pendulären Oszilla¬
tionen“ des Kopfes und angedeutetem Klonus; unter 4 Familien, in denen
mehrere Mitglieder an angeborenem Nystagmus litten, hatten in der 2. Familie
2 und in der 3. von 5 behafteten Mitgliedern 3 außerdem noch penduläres
Kopf zittern.
Hirsch beobachtete bei einem Kinde nach einem Trauma Nystagmus
und penduläres Kopf zittern.
Diese Zitterformen, und speziell die erste, sub a) angeführte Gruppe, lassen
sich von dem sogenannten senilen Tremor klinisch schwer trennen. Auch der
senile Tremor kann ebenso wie andere Nervenkrankheiten erblich auftreten,
er kann in Familien Vorkommen, in denen der sog. essentielle hereditäre Tremor
herrscht (Bienvenu S. 28), er kann ebenfalls im zarten Alter auftreten, anderer¬
seits aber kann der kongenitale Tremor auch im späteren Alter am Kopfe oder
am Unterkiefer auftreten, so daß die klinischen Unterschiede der beiden Formen
verwischt werden.
3. Idiopathischer Intentionstremor.
Es sind mehrere Fälle beschrieben worden, wo der Intentionstremor bei
Kranken auftrat, ohne daß bestimmte Sekundärerscheinungen vorhanden ge¬
wesen wären, die die Diagnose irgend einer bekannten Nervenkrankheit ge¬
stattet hätten. Deswegen spricht man von einem essentiellen Intentions¬
tremor.
Hierher dürfen nicht jene Fälle gezählt werden, in denen ein einfacher
essentieller Tremor durch gewisse intendierte Bewegungen, wahrscheinlich unter
dem Einflüsse einer psychsichen Erregung (Ughetti, Häbler), dem diese
Kranken sehr unterworfen sind, bedeutend verstärkt wurde.
Die hierher gehörenden Fälle müssen kasuistisch behandelt werden, da
sie weder was die Form, noch was das Wesen anbelangt, gleich sind.
N agy beschrieb im Jahre 1890 eine Familie, in der es unter 41 Mitgliedern,
die 5 Generationen angehörten, 19 Zitterer gab (siehe die genealogische Tafel).
Bei allen begann der Tremor im schulpflichtigen Alter, vor der Pubertät, stets war
er am heftigsten an den Händen, selten am Kopfe vorhanden und nur 3 hatten
Störungen des Ganges. Eine bestimmte Neurose war in keinem Falle deutlich aus¬
geprägt. Sie verfielen leicht in Lachen oder Weinen. Zumeist war der Tremor
jenem ähnlich, der bei Ermüdung und im Affekt auftritt, aber bei einigen bestand
deutlicher Intentionstremor. Drei Mitglieder, die Trinker waren, zitterten weniger.
Idiopathisches Zittern.
171
Nagy beobachtete zwei Geschwister, von denen er eines, ein 20jähriges Mädchen,
näher beschrieb. Dieses litt an Chlorose, an vasomotorischer Erregbarkeit (Blut¬
wallungen), an Nystagmus in extremen Positionen, an Parästhesien der linken Ober¬
extremität; rechts war Patellarklonus angedeutet, der Achillessehenreflex und die
Bauchreflexe fehlten; der übrige neurologische Befund war normal. Diese Patientin
hatte seit der Kindheit einen deutlich ausgeprägten Intentionstremor, so daß sie
weder nähen, noch schreiben, noch einen Knoten knüpfen oder einen Knopf schließen
konnte. Später zitterten auch die Füße, das Gehen wurde beschwerlich und auch
der Kopf machte rotatorische Bewegungen. Arsen und Chloralhydrat blieben trotz
einmonatlicher Anwendung erfolglos. Sie war stets heiter gelaunt und brach oft
in Lachen aus.
Graupner beschrieb 1899 eine Familie, deren Eltern nichts Pathologisches
aufwiesen. Bei 3 Kindern trat Tremor auf, 3 Kinder zeigten keine Anomalie. Nach
einem der Behafteten erbte ihn von 5 Kindern eine Tochter, während deren übrige
Geschwister gesund blieben. Der Autor hat alle 4 behaftete Mitglieder beschrieben;
1. Der 76jährige Mann zittert seit 40 Jahren. Das Zittern war um das 50.
Lebensjahr am intensivsten, war ursprünglich nur an den oberen Extremitäten,
später auch an den unteren Extremitäten und am Rumpfe vorhanden. In der
Ruhe fehlte es, bei Intention war es mächtig und hatte eine Frequenz von 3 y 2 —4 y 2
Wellen in der Sekunde; die einzelnen Zuckungen waren imgleich, die Unterarme
vollführten Pronationen und Supinationen, die Schultern zuckten; am wenigsten
beteiligt waren die Hände. Der Kopf zitterte nicht. Die Reflexe waren nicht ge¬
steigert.
2. Der 74jährige Mann, Bruder des vorangehenden Patienten, bietet das¬
selbe Bild dar, nur waren manchmal derartige Bewegungen des Rumpfes vorhanden,
daß der Kranke nicht stehen konnte.
3. Die 45jährige Tochter des ersten Patienten. Das Zittern ist weniger
intensiv, besteht seit der Kindheit, ist nur an den oberen Extremitäten vorhanden;
die unteren Extremitäten ermüden leicht.
4. Die 72jährige Schwester der beiden ersten Patienten beobachtete im
54. Lebensjahre bei der Intention ein Zucken in den mimischen Muskeln, dann Zittern
der Zunge und des Unterkiefers. Allmählich entwickelte sich ein Tremor der Zunge
und des Unterkiefers in der Ruhe, der bei Intention heftiger wurde. Erst im Vor¬
jahre gesellte sich ein Intentionstremor der Hände zu dem Tremor des Unterkiefers
hinzu und hatte eine Frequenz von Sy 2 —4% Wellen in der Sekunde. Reflexe und
der übrige neurologische Befund normal. Vor dem Tode, der infolge von Herz¬
schwäche ein trat, verschwand das Zittern allmählich. Der Autor hält diesen Fall
172
Erster Teil.
für eine Kombination der Parkinsonschen Krankheit mit dem beschriebenen
Tremor.
Antony demonstrierte 1899 einen 22jährigen Kranken, der seit 15 Jahren
an Tremor der rechten Hand litt; derselbe verstärkte sich bei der Intention, gestattete
aber dem Kranken zweckmäßige Bewegungen; außerdem zeigte der Patient eine
Gesichtsfeldeinschränkung und geringe Anästhesien. Jede Therapie blieb erfolglos.
Die Mutter des Kranken war Trinkerin und schwachsinnig.
Minkowski beschrieb im Jahre 1901 einen Fall, bei welchem ein Intentions¬
tremor im 30. Lebensjahre auftrat und als einziges Krankheitssymptom bis ins
Alter progressiv zunahm.
Brissaud und Grenet beobachteten 1904 bei einer 58jährigen Frau nach
einer zweijährigen, schmerzhaften Affektion des linken Ellbogengelenks, die sie
als luetische Osteoarthritis bezeichneten, einen allmählich beginnenden Intentions¬
tremor der linken Oberextremität, der im Ruhezustände kaum merklich war, bei
Intention groß wurde und eine Frequenz von 2,5 Wellen in der Sekunde besaß,
bei Emotion heftiger wurde und bei Nacht verschwand. Bei Emotionen, bei an¬
strengender Arbeit der linken Hand erscheint in der letzten Zeit auch an der rechten
Hand ein ganz kleiner, aber analoger Tremor. Außer Neigung zu Emotionen be¬
standen keine neuropathologischen Erscheinungen.
Bergamosco beobachtete 1907 ebenfalls einen sicheren Intentionstremor
mit Nystagmus, ohne gesteigerte Reflexe, ohne hereditäre Belastung.
Dromard beschrieb 1908 einen seit dem 40. Lebensjahr bestehenden pro¬
gressiven Intentionstremor als einziges Krankheitssymptom.
Raymond demonstrierte in demselben Jahre in der Soc. de neurol. ein Paar
Fasanen. Sie stammten von Eltern, die Geschwister waren, aber nicht zitterten.
Die älteren Geschwister waren dekoloriert, zitterten aber ebenfalls nicht. Beide
zittrigen Fasanen waren unfruchtbar. Sie hatten ein Zittern des ganzen Körpers
mit Ausnahme des Kopfes; dasselbe erfolgte in vertikaler Richtung und hatte eine
mittlere Frequenz. Bei Intention, speziell bei schnellen Bewegungen, wurde das
Zittern so heftig, daß es an Sklerose erinnerte. Im allgemeinen bestand weder
Inkoordination, noch Ataxie, noch irgend ein anderes Krankheitssymptom. Eine
Ursache konnte nicht gefunden werden. Das Zittern bestand seit dem Momente,
da sie aus dem Ei schlüpften.
M. Meyer publizierte in seiner Dissertation zwei eigene Fälle und einen Fall
Kaufmanns; alle stammten aus der Klinik Erbs. Der letzte Fall ist typisch:
Ein 57 jähriger, aus gesunder Familie stammender Mann bekam vor 9 Jahren all¬
mählich Tremor und Unsicherheit der Finger, so daß er seine Beschäftigung, die
im Rollen von Zigarren bestand, nicht mehr ausüben konnte. In der Ruhe zitterte
er nicht. Der Tremor nahm an Intensität zu, so daß er seit 3 Jahren nur in der
Weise essen und trinken konnte, daß er, um den Inhalt des Gefäßes nicht zu ver¬
schütten, dieses mit beiden Händen festhielt. Seit einem Jahre besteht der Tremor
auch an den Füßen, doch kann der Patient gehen. Vor 6 Wochen bekam er einen
Schwindelanfall mit einem kurz dauernden Bewußtseinsverlust; seitdem ist da«
Zittern stärker, so daß der Patient nicht lange herumgehen kann. Die grobe Muskel¬
kraft war erhalten, in der Ruhe bestand kein Tremor, bei statischer Innervation
ein geringfügiger, bei intendierten Bewegungen war Schwanken vorhanden; an den
Füßen war dieses gering. Die Patellarreflexe lebhaft, sonst keine Veränderungen.
Der Fall Kaufmanns betrifft einen 41jährigen Landstreicher; seit dem
3. Lebenjsahre besteht Zucken in der Muskulatur des Halses und des Schulterblattes,
weniger in jener des Rumpfes und der Extremitäten; dasselbe ist teils koordiniert,
teils ohne lokomotorischen Effekt. Zugleich besteht ein Intentionstremor, den er
willkürlich für einen Augenblick unterdrücken kann, aber nachher ist das Zittern
um so heftiger. Der Tremor ist besonders intensiv, wenn sich der Kranke beobachtet
fühlt. Im Schlafe zittert der Kranke nicht. Sonst ist das Nervensystem normal.
Er ist psychopathisch schwer belastet.
Der erste Fall Meyers ist seiner ausgezeichneten Beschreibung nach in die
Gruppe der Myoklonien zu zählen und zwar wenn auch nicht zum Paramyoklonus
multiplex Friedreich, so doch zu einer diesem nahestehenden Form.
Idiopathisches Zittern.
173
Es handelte sich um einen 52jährigen, aus gesunder Familie stammenden
Mann, der nach einer im 3. Lebensjahre überstandenen Pneumonie mit Enzephalitis
imregelmäßige Muskelzuckungen, zumeist in der Umgebung der Wurzeln der Extre¬
mitäten zeigte; manchmal zuckte es auch im Gesichte; das Zucken verhinderte stets
intendierte Bewegungen. Um das 13. Lebensjahr lag er in der Erbschen Klinik
und bot damals das typische Bild des Paramyoklonus dar, der bei Bewegungen
an Intensität verlor. Später traten die Muskelzuckungen mehr symmetrisch auf
und nahmen bei Intention an Intensität zu; der Autor zählt sie daher zu dem
idiopathischen Intentionszittem, obwohl sie nicht den Charakter des Zitterns an
sich tragen. (S. 13: Sehr auffallend ist das fortwährende Zittern und Zucken,
das wie beim Schütteltremor den ganzen Körper betrifft. Vorwiegend schüttelt die
rechte Seite und zwar ist der Charakter der Zuckungen kurz und betrifft symmetrische
Muskeln in ihrer Totalität, so daß man entschieden an die Paralysis agitans erinnert
wird .... Die Strecker und Beuger am Ober- und Unterarm beschrieben in toto
kurze, mehr blitzartige Zuckungen ohne lokomotorischen Effekt.)
Ähnlich ist der Fall Kalthoffs in dessen Dissertation vom Jahre 1889.
Ein 36jähriger Mann konnte seit dem 12. Lebensjahre nicht schreiben und hatte
seit dem 13. Lebensjahre einen unaufhörlichen und sich nicht ändernden Temor
der Hände. Der Autor sah klonische Zuckungen der Adduktoren und Abduktoren
der Skapula, der Flexoren und Extensoren des Vorderarms und ähnliche, aber
schwächere Bewegungen am Kopfe und an den unteren Extremitäten. Seit zwei
Jahren hat der Kranke ein schlechtes Gedächtnis und H ambeschwer den. Er hatte
eine Hypalgesie der oberen Extremitäten, gesteigerte Patellarreflexe, sonst keine
Symptome. Der Vater war ein schwerer Alkoholiker.
Alf. Fuchs beobachtete eine Familie, deren Vater, ein 60jähriger Mann,
seit dem 8. Lebensjahre eine Schwäche der Füße, seit dem 45. Lebensjahre auch eine
solche der Hände und Tremor in der Ruhe und bei Intention ohne Muskelparese
auf wies. Seine 30 jährige Tochter hat einen progressiven Intentionstremor, seine
43jährige Tochter leidet an einem imgeheueren Intentionstremor und kann nicht
gehen. Der Autor fügt hinzu, daß eine Diagnose unmöglich war. Bei allen be¬
gannen die krankhaften Erscheinungen an den Füßen mit einer Parese im Bereiche
des Peroneus vor der Pubertät. Die Intelligenz war normal. Es bestand keine Er¬
krankung der Harnblase.
Neisser (1906) beobachtete einen 10jährigen Knaben mit einem enormen
rhythmischen Tremor der Hände, besonders dann, wenn er einen Gegenstand er¬
fassen sollte. Auch die Zunge zitterte. An den unteren Extremitäten waren Spasmen
und gesteigerte Patellarreflexe vorhanden. Sein Vater, ein 54jähriger Mann, hat
dasselbe Leiden, war aber als Soldat ein guter Schütze. Der Vater seines Vaters
zitterte auch, aber erst im späteren Alter. Der Tremor begann also in den späteren
Generationen in immer früherem Alter.
Aus diesen Beschreibungen ist zu ersehen, daß es sich da durchwegs um
Fälle handelte, die symptomatologisch der disseminierten Sklerose, der Pseudo¬
sklerose nahestehen, von denen bei der disseminierten Sklerose im Nachtrage
zu IX. A. die Rede war.
Auch hier finden wir oft Heredität und zwar mehr oder weniger die similäre
Form (hierher gehört die Publikation von Nagy-Pelizaeus, aus dem Jahre
1885 — 5 Mitglieder einer Familie hatten dieselbe Krankheit, wahrscheinlich
dis8eminierte Sklerose, aber ohne Tremor, nur ein Mitglied schüttelte mit dem
Kopfe vom ersten Vierteljahre seines Lebens, aber auch dies hörte im 5. Lebens¬
jahre auf) oder bei dem gleichen klinischen Bilde nur die familiäre Form; aber
es kann die Heredität auch vollkommen fehlen.
Die Benennung dieser Gruppe ergibt sich von selbst: idiopathischer
Intentionstremor.
In Meyers Bezeichnung: essentielles idiopathisches funktionelles Inten-
tionszittem ist das Adjektivum funktionell besser wegzulassen.
174
Erster Teil.
Hier ließe sich auch der Fall von Kulcke (Roche 51—52) einfügen, ob¬
wohl dort gesagt wird, daß der Patient kein Intentionszittem hatte.
Es handelte sich um einen 21jährigen Mann, dessen Schwester viele Jahre
zitterte. Seit dem 18. Lebensjahre hatte er Zittern der rechten Oberextremität
am Morgen und bei Erregungen. Dann verschwand der Tremor und erst als der
Patient den Militärdienst antrat, begann die Hand wieder und auch der rechte
Fuß morgens und abends nach anstrengenden Übungen zu zittern. Er hatte ein
rasches, feines Zittern, speziell am rechten Unterarm mit Abnahme der motorischen
Kraft, an der rechten Unterextremität ebenfalls eine Schwäche und einen groben
Quadrizepsklonus. Der Achillessehnenreflex und der Fußklonus ließen sich nicht
auslösen. Die Sprache war „etwas leise“. Beim Erfassen von kleinen Gegenständen,
wie Nadeln, ferner beim Trinken tritt das Zittern stark hervor.
Auch hier liegt die Verwandtschaft mit beginnender Skleroße auf der
Hand.
4. Idiopathischer kombinierter Tremor«
Hierher zählen wir solche Fälle, die mit anderen Symptomen einer ernsten
Läsion des Zentralnervensystems kompliziert sind.
Vielleicht gehört Nagys dritte Familie hierher ; leider konnte ich mir
die betreffende Publikation (Americ. Joum. of med. 1887, Nr. 188) nicht ver¬
schaffen; vielleicht auch der Fall von Kalt hoff, obwohl er dem Paramyoklonus
näher steht. (Siehe die vorangehende Gruppe.)
Die übrigen Fälle haben das Zittern durchwegs von Geburt oder von
zartester Jugend.
Vautrins Patient (Roche, S. 32) hatte einen hereditären Tremor des ganzen
Körpers mit Ausnahme des Kopfes, bestehend aus kleinen, langsamen Schwingungen
in der Ruhe und im Schlafe, die bei Ermüdung und Aufregungen intensiver waren,
aber keinen Intentionscharakter besaßen. Der Kranke hatte morphologische Ano¬
malien der Zähne, der Ohrmuscheln; er war imbezill und melancholisch und litt an
H aminkontinenz.
Achards 19jähriger Patient hatte seit der Kindheit feine Oszillationen der
linken oberen und kaum merkliche Oszillationen der rechten oberen Extremität;
vor kurzer Zeit hatte er an der linken Oberextremität choreiforme und athetotische
Bewegungen; er hatte ferner eine skandierende Sprache, geringe Intelligenz, einen
blöden Gesichtsausdruck und bekam häufige kurz dauernde Anfälle von Bewußt¬
losigkeit. Ein Bruder, der Vater und der Großvater litten seit der Jugend an Zittern
des Kopfes und der Hände, zwei Brüder starben an Krämpfen.
Lab bös Patient hatte außer einem angeborenen einseitigen Tremor atheto -
tische Bewegungen, gesteigerte Reflexe auf derselben Seite, epileptische Anfälle und
zahlreiche Degenerationszeichen.
Cestans Patientin (Roche) litt seit der Blindheit an Tremor des ganzen
Körpers. Sie erlernte nicht das Schreiben. Der Autor fand ein rasches Hände¬
zittern, das von der Intention nicht beeinflußt wurde; außerdem hatte sie epüeptische
Anfälle und fibrilläres Flimmern der Rumpfmuskulatur, der Deltoidei und der Brust¬
muskeln; sie hatte einen paralytischen Pes equinus rechts seit dem 13., links seit
dem 48. Lebensjahre, gesteigerte Patellarreflexe; sie litt ferner an Alkoholismus,
Arteriosklerose und chronischer Nephritis und als sie an Apoplexie starb, fanden
sich außer einer chronischen Lumbalpoliomyelitis zahlreiche hämorrhagische Herde
im Gehirn und zwar im hinteren Anteil beider innerer Kapseln, in der Rinde der
rechten Hemisphäre und etwa 10 kleine Herde im Pons. — Die Patientin stammte
aus einer schwer degenerierten Familie: der Vater war Säufer, Somnambule, zitterte
und erlag im 44. Lebensjahre dem Saturnismus (Maler); die Mutter zitterte, hatte
„Nervenkrisen“ und starb im 66. Lebensjahre an Apoplexie; zwei Brüder litten
seit der Jugend an universellem Tremor und starben beide an Apoplexie; ihre ersten
7 Kinder starben an Krämpfen, das 8. Kind ist sehr nervös und hat einen univer¬
sellen Tremor.
Seniler Tremor.
175
Roche I. Ein 4jähriges Mädchen, hat von Geburt an ein rasches, kleines,
regelmäßiges Zittern der Extremitäten, das in der Kälte und bei Aufregungen sehr
grob wird und bei gespannter Aufmerksamkeit verschwindet, außerdem Symptome
der pseudohypertrophischen Muskelatrophie, an der zwei Schwestern gestorben
sind; die Mutter litt in der Jugend an Epilepsie, eine Schwester starb an Krämpfen.
Roche II. 17jähriger Jüngling, weiß von seinem Händetremor seit der
Schulzeit; derselbe ist besonders beim Schreiben und bei Aufregungen vorhanden;
in der Ruhe zittert der Kranke nicht; beim Essen hindert das Zittern nicht. Er
hatte beim Lachen klonische Zuckungen der Mundmuskulatur, beim Schließen der
Augenlider überdauerte die Zusammenziehung der Muskeln die Intention, beim
Anziehen der Beinkleider entstanden spastische Wadenkrämpfe; die Patellarreflexe
waren gesteigert; an den Unterextremitäten waren spastische Symptome vor¬
handen.
Vielleicht gehört auch einer von den Patienten des Pelizaeus hierher, die
seit der Geburt an Nystagmus, Muskelstarre und später an Sprachstörungen litten;
einer derselben hatte vom 4. bis zum 5. Lebensjahre Schüttelbewegungen des
Kopfes.
Außer dem ersten Falle Koches besteht bei allen übrigen der Verdacht
auf eine der sogenannten diffusen Sklerose nahestehende Gehimaffektion.
Lewandowsky beschrieb einen 27jährigen, schwachsinnigen, von einem
Alkoholiker als Vater abstammenden Kranken, der ein dem Tremor bei der Paralysis
agitans analoges Zittern ohne Rigidität und ohne typische Position der Hände be¬
saß. Das Zittern schwächte sich bei Intention ab, verschwand im Schlafe und bei
Ruhe vollkommen und verstärkte sich in der Erregung. Symptome für Hysterie
bestanden nicht. Außerdem hatte der Kranke einen Krampf der kleinen Fußmuskeln
im Sinne von rasch sich wiederholenden Flexionen und Extensionen nach Ermüdung,
nach elektrischer Reizung in der Kniekehle. Die Sehnen- und Periostreflexe
fehlten, die Hautreflexe waren normal. Es bestand weder Hypotonie, noch Ataxie,
noch eine Sensibilitätsstörung.
X. B) Seniler Tremor.
Kopfschütteln.
Bei Greisen tritt manchmal ein ziemlich charakteristisches Zittern auf,
ohne daß irgend ein anderes krankhaftes Symptom oder überhaupt irgend eine
andere Ursache vorhanden wäre; wir bezeichnen dieses Zittern als Alterszittem,
Tremor senilis. Wir verstehen darunter einen Tremor, der im vorgeschrittenen
Alter allmählich in der Hals- und Nackenmuskulatur, sowie an den oberen
Extremitäten beginnt (Romberg 1851). Der Kopf zittert entweder um die
Vertikalachse von einer Seite zur anderen (Negationstremor) oder um die
horizontale Querachse (affirmativer Tremor nach Sanders 1868) oder,
wie ich einmal beobachten konnte, um die horizontale Sagittalachse (wie bei dem
mimischen Ausdruck des Z w e i f e 1 n s). Auch die Lippen bewegen sich rhythmisch,
wie wenn man leise betet oder Brosamen kaut (Demange 1875, Dowse,
Debove) oder wie bei dem phenomene de la bouche de lapin (Breillot). Die
Zunge bewegt sich bei geöffnetem Mund rhythmisch von vom nach hinten.
Auch am Unterkiefer tritt dieser Tremor auf, selbst isoliert (Bourgarel in den
Fällen 8., 9., 10.). Das Zittern der Lider und des Unterkiefers kann beim Sprechen
stören, so daß die Kranken stottern und oft absetzen (Fischer).
Gleichzeitig mit dem Kopfzittem oder später, seltener früher, beginnen die
Hände bei leichter Anspannung oder bei feiner Arbeit zu zittern; doch geht das
Händezittern nicht mit einer besonderen Stellung der Finger einher. In den
176
Erster Teil.
Anfangsstadien konnten manche Patienten nähen, doch ließ sich dies nur ana¬
mnestisch sicherstellen (Bourgarel). Selten geht das Zittern auf die Füße über,
in welchem Falle es dann beim Gehen störend wirkt. Selten fehlt es am Kopfe.
(Bourgarel, observ. 36, 37, 38, 39, 40, 41, 49.)
Wenn sich der Kranke im Zustande vollkommener Ruhe befindet und
wenn der Kopf ruhig auf dem Polster liegt, zittert er nicht; jedoch erscheint das
Zittern sofort bei einer Bewegung, ja sogar bei der bloßen Absicht, sich zu be¬
wegen (Räcle 1859). Das Händezittern läßt sich nicht willkürlich unter¬
drücken, höchstens ein wenig einschränken; bei Ablenkung der Aufmerksamkeit
wird es schwächer, bei Intention gröber, hat aber nicht den Charakter des
Intentionszittems (Fischer); bei Ermüdung und durch jede psychische Erregung
nimmt es an Intensität zu, durch Alkohol wird es nicht beruhigt (Breillot);
Th^beault und Damange beobachteten, daß es bei manchen Patienten bei
nüchternem Magen und vor einem Gewitter heftiger wird; bei feinen Bewegungen
(Schreiben) wirkt es gewöhnlich störend und ergreift meist beide Körperseiten
gleichzeitig und symmetrisch; nur Leyden (1874) meint, daß bei Rechtshändern
die rechte Hand mehr zittert; auch Bourgarel fand es in manchen Fällen auf
der einen Seite stärker als auf der anderen; es ist nicht progressiv (Gowers)
und geht nicht mit Muskelrigidität einher. Im Falle von Gallavardin (1908)
betraf es auch die Stimmbänder und das Zwerchfell. Im Schlafe verschwindet
es. Die Frequenz beträgt am Kopfe 4, an den Händen 3,5—5,5 in der Sekunde.
Dieses Zittern ist keine häufige Erscheinung und nur ein kleiner Prozent¬
satz der Greise ist mit demselben behaftet. Demange fand es im Greisenasyl
unter 300 Menschen sechsmal, Bourgarel unter 2031 Frauen in der Salpetriere
31 mal. Es befällt Frauen häufiger als Männer (Fernet), häufiger die herab¬
gekommenen und mageren Personen (Fernet) als die blühenden (Jaubert,
Fischer), und häufig auch Leute, die von Jugend auf reizbar und Eindrücken
leicht zugänglich sind (Th6beault). Es ist keine unbedingt notwendige Be¬
gleiterscheinung der senilen Kachexie (Bourgarel). Es beginnt zumeist nach
Unglücksfällen und Entbehrungen (Jaubert), obwohl auch ein akuter Beginn
nach Verletzungen (Th6beault) und akute Verschlimmerungen nach Traumen
(Fischer) beobachtet wurden. — Valenzuella hörte von seinen Patienten
Klagen über Hitzegefühl in den zitternden Händen.
Außer diesem typischen Tremor beobachtet man manchmal bei Greisen
auch ein ganz gewöhnliches Zittern wie beim Nervosismus, das sich von dem
gewöhnlichen Zittern nur durch gröbere Wellen und durch seine geringere
Frequenz von 6,5—7,5 Wellen in der Sekunde unterscheidet (Parisot und
Meyer).
Schließlich kann bei Greisen auch ein typisches Intentionszittem als para¬
lytisches Symptom Vorkommen (Möbius 1886, Bourgarel) und ein atypischer,
ungenau beschriebener Tremor in komplizierten Fällen, wie z. B. bei der Patientin
Bourgarel s (observ. 49 und 50).
Der typische Charakter dieses Tremors ist unbestreitbar ; strittig ist nur
die Frage, ob dieser Tremor ein Attribut des Alters ist. Trousseau hat dies
schon im Jahre 1865 entschieden bestritten, da er ein analoges Zittern auch in
der Jugend beginnen sah. Charcot hat dieselbe Ansicht mit nicht geringerer
Entschiedenheit vertreten (Poliklin. 1887/88 S. 565). Dasselbe gilt von De¬
mange, Grasset, Raymond und seiner Schule. Demange machte den Vor-
Seniler Tremor.
177
schlag, diesen Tremor als selbständige Neurose aufzufassen und ihr den Namen
„tremblement rhythm6 oscillatoire“ zu geben. Der sinnfälligste Beweis gegen
die „Senilität“ des beschriebenen Tremors wären die Beobachtungen von
Raymond, Cestan, Hirsch u. a., in denen es sich um Kopfzittem bei neu¬
geborenen Kindern oder im zarten Alter handelte. Doch sind diese dem Spasmus
nutans verwandten Fälle (siehe das Kapitel über den einfachen idiopathischen
Tremor, zweite Gruppe) bezüglich ihres Wesens noch zu unklar und es ist noch
nicht sicher, daß es sich nicht um klonische Krämpfe handelt.
Dafür beweisen die übrigen Fälle jener Gruppe des idiopathischen und
hereditären Tremors unwiderleglich, daß bei dem beschriebenen langsamen
Tremor der Beginn des Zitterns nicht immer in das vorgeschrittene Alter fällt.
Wenn wir also der zuletzt beschriebenen Form des Tremors das Attribut „senilis“
belassen, so geschieht dies nur aus dem Grunde, weil sie wirklich am häufigsten
bei alten Leuten beobachtet wird und weil mit dieser Bezeichnung schon der
Begriff für diese Form der Zitterbewegung eng verwachsen ist, die in Wirklich¬
keit nur eine Abart des einfachen idiopathischen Tremors ist.
Therapie. Das Wichtigste ist für den Kranken die hygienische Regelung
seiner Lebensweise: körperliche und seelische Ruhe, Verhütung von Besuchen
u. dgl. Einfache, reizlose, aber nahrhafte Kost. Tonisierende Behandlung.
Narkotika und Bäder nützen nichts; ebensowenig Elektrizität. Arsen hilft
in keiner Form und nach keiner Methode. Beim senilen Tremor wurden viele
der gegen Schüttellähmung empfohlenen Mittel versucht: Oulmont (1872)
und Pillot (1873) erzielten einen Erfolg durch die systematische Behandlung
mit Hyoszyamin; sie stiegen von 1—2 mg täglich zu 10—12 mg, die sie ent¬
weder innerlich in Form von Pillen oder subkutan als 4—10 %ige wässerige
Lösung reichten. Diese Behandlung wurde trotz Vergiftungserscheinungen,
wenn diese erträglich waren (Mydriasis, Trockenheit im Halse) fortgesetzt.
Clement (1904) verwendete, angeblich mit Erfolg, Karbol: nachdem er sich
vorher überzeugt hatte, daß durch die folgende Methode die Muskulatur gestärkt
und die Ermüdung beseitigt wird (beim Menschen wurde die gemessene Arbeits¬
leistung von 21 kg/m auf 106 kg/m erhöht), gab er 40 Tropfen einer durch Soda
neutralisierten wässerigen Lösung von Acidum phormicum binnen eines Tages
auf zweimal auszutrinken; dieses Quantum wurde an drei aufeinander folgenden
Tagen verabreicht. Interessant ist der Umstand, daß Benedikt auf Grund
einer theoretischen Erwägung die Karbolsäure gegen das Zittern beim Fieber
empfahl. — Massaglia und Taratini behaupten (1909), es hätte sich ihnen
die Opotherapie mit dem Parathyreoidin von Vassale aus dem Mailänder
serotherapeutischen Institute bewährt; sie erklären dieselbe als für das senile
Zittern spezifisch und diagnostisch wie das Quecksilber und das Jodkali bei
Lues. Doch haben sie den senilen Tremor nicht geheilt, sondern nur bedeutend
gebessert. Pari so t verwendete Skopolamininjektionen bei verschiedenen
Formen des Zitterns und auch beim senilen Tremor, der angeblich schwächer
wurde und oft vollständig verschwand.
Die Literatur über den senilen Tremor ist in der letzten Zeit minimal.
Auf die Bemerkungen von Romberg (1851), die Arbeit von Räcle (1859),
auf Trousseau (1865), Fernet (1872), Charcot (1876), Valenzuella (1879),
Jaubert (1880), Demange und die These von Th6beault (1882) folgten nur
die Erwähnungen bei P. Marie (1883), die These von Fischer (1883), die
PelDdr, Zittern. 12
178
Erster Teil.
Bemerkungen von Breillot (1885), von Möbius (1886), die These von
Bourgarel (1887), die Bemerkungen bei Gowers (1892), bei Dana (1893),
die These von Raynaud (1894), die Arbeit von Alpago (1894), die Bemerkung
von Achard (1897), die Publikation von Raymond (1905), von Gallavardin
(1908), von Massaglia (1909) und die Bemerkungen bei Purves Stewart
(1906) und Oppenheim (1908).
XI. Mechanischer Tremor.
Zielgien beschrieb eigentümliche Umstände, die zum Tremor führten.
In einer Fabrik erkrankten alle Arbeiter, die in der Nähe einer Maschine arbei¬
teten, durch deren Tätigkeit die ganze Umgebung 1200 mal in der Minute (20 mal
in der Sekunde) erzitterte, nach etwa 3 Monaten an Zittern. Der Autor be¬
obachtete einen 29jährigen Mann; dieser litt an einem mittelschnellen Tremor
von 7 Wellen in der Sekunde, der sämtliche Extremitäten und die Gesichts¬
muskeln betraf, sowohl in der Ruhe, als auch bei Bewegungen gleich blieb
und den Schlaf störte. Symptome von Hysterie, Intoxikation und hereditärer
Belastung fehlten. Nach einer ein wöchentlichen Ruhe und dem Genüsse von
1 g Bromkali täglich trat fast vollständige Genesung ein.
Andere Angaben über den Einfluß dauernder Erschütterungen (Mühlen,
Turbinen, Motozykel, Lokomotive) habe ich nicht gefunden.
Der „mechanische“ Tremor der Nieter (Monteure) dürfte zu jenem Tremor
gehören, der infolge Ermüdung nach einer schweren, in unbequemer Stellung
verrichteten Arbeit entsteht. Zu demselben Schlüsse kommt Weitzenmiller,
der einen hysterischen Tremor der rechten Oberextremität bei einem Vomieter
beschrieb.
Dasselbe gilt wohl auch von anderen schweren Arbeiten: bei Schmieden,
Athleten (Leitenstorffer), Stallmeistern, die wilde Pferde reiten (Hofbauer
— beide zitiert von Weitzenmiller), stellt sich entweder ein Ermüdungs¬
tremor ein oder ein isolierter hysterischer Tremor oder ein Tremor als Teil
einer dem Schreibkrampf analogen Neurose (bei Pianisten, Telegraphisten,
Schmieden, Melkern).
Zweiter Teil (Pathogenese).
Im beschreibenden Teile dieser Arbeit haben wir die verschiedenen
klinischen Formen des Zitterns und die Umstände, unter welchen die Menschen
zittern, kennen gelernt. Fast alle diese Umstände wurden zum Ausgangs¬
punkt für eine allgemeine Erklärung des Zitterns gewählt. Daher leiden alle
bisherigen Erklärungsversuche unter einer bedeutenden Unübersichtlichkeit,
und es werden fast gegen jeden Erklärungsversuch ebensoviele Ein wände erhoben
als Gründe für denselben angeführt werden. Der Grund hierfür liegt zum
größten Teil darin, daß man gegen eine jede Erklärung, die in einseitiger Weise
von der Beobachtung einer Form des Zitterns ausgeht, auf Grund der bei anderen
Zitterformen gewonnenen Erfahrungen berechtigte Einwendungen erheben kann.
Ich halte es für das Beste, zuerst die Grundlage oder die Ursache des
physiologischen Zitterns bei der statischen Innervation, sodann die Ursachen
der Modifikationen dieses Zitterns unter verschiedenen pathologischen Um¬
ständen zu suchen und schließlich darnach zu forschen, wodurch die ganz be¬
sondere Form des Zitterns bei der Schüttellähmung bedingt sein dürfte und
wie seine Eigentümlichkeiten aufzufassen wären. Unabhängig hiervon ist
die Frage nach der Entstehung des lokomotorischen Intentionszittems und
der diesem verwandten Zitterformen, sowie die Frage, wie das hysterische
Zittern aufzufassen sei.
I. Das physiologische Zittern.
Das Prototyp dieses Zitterns: das zarte Flimmern der gestreckten und
nicht übermäßig gespannten oberen Extremitäten, unterscheidet sich von dem
idealen, vorausgesetzten „normalen“ Zustand dadurch, daß die Extremitäten
nicht ruhig und unbeweglich gespannt sind, sondern, wie wir z. B. an unseren
Kurven gesehen haben, in Form von imgleichen Wellen 8—9—10—11 und
sogar 12 mal in der Sekunde rhythmisch schwingen, wobei der Rhythmus bei
ein und demselben Menschen in derselben Muskelgruppe eine bestimmte, be¬
schränkte Zeit hindurch im allgemeinen fortwährend gleich bleibt, bei ver¬
schiedenen Menschen aber ein wenig verschieden ist.
Dieses sogenannte physiologische Zittern bei statischer Innervation
existiert, wie es scheint, wohl bei allen Menschen, nur daß die Intensität verschie¬
den ist, so daß es manchmal nicht sichtbar ist und nur mit Hilfe sehr empfind¬
licher Registrierapparate nachgewiesen werden kann.
Wie soll man dieses Zittern auffassen ? — Bei der statischen Innervation
12*
180
Zweiter Teil.
beherrscht ein Tetanus der Muskeln, speziell der Extensoren, die Extremität.
Welche physiologischen Erfahrungen besitzen wir nun heute über den Muskel¬
tetanus und besonders über den Tetanus bei der willkürlichen Innervation?
Durch die rasch wiederholte elektrische Reizung des Nervenmuskelpräpa-
rates entsteht bei einer gewissen Minimalfrequenz (nach Riehet 40mal in der
Sekunde beim menschlichen quergestreiften Muskel, nach Marey 27 mal in der
Sekunde beim Froschschenkel) durch Superposition elementarer Zuckungen
ein glatter Tetanus. Das glatte Aussehen dieses Tetanus ist aber nur das Resultat
der Unempfindlichkeit des gewöhnlichen Myographen. In Wirklichkeit gibt
der im Tetanus befindliche Muskel einen Ton, den man direkt auskultieren
und auf ein Telephon überleiten kann und der ein anderes Nervenmuskelpräparat
in einen sekundären Tetanus versetzen kann; von dem im Elektrotetanus be¬
findlichen Muskel lassen sich aktive Ströme großer Frequenz ableiten, die bis
zu einem gewissen Grade mit der Frequenz der Reizimpulse identisch ist. —
Es steht also fest, daß der Tetanus eines elektrisch gereizten Muskels
nicht glatt ist, sondern daß der Muskel in demselben oszilliert
und zwar mit einer Geschwindigkeit, die bis zu einem gewissen
Grade mit der Frequenz der Reizimpulse identisch ist.
Die willkürliche Muskelkontraktion, und zwar sowohl jene bei der ein¬
fachen Bewegung, als auch jene bei der statischen Innervation, ist ein tetanischer
Zustand, bei dem mittelst analoger Methoden nachgewiesen wurde, daß er eben¬
falls kein glatter Tetanus sei und daß derMuskel auch bei der willkürlichen
Kontraktion oszilliere. Namentlich das Studium der aktiven Ströme
(Piper und seine Schüler) hat gezeigt, daß diese Oszillationen, aus denen stets
auf den Ablauf einer Kontraktionswelle geschlossen werden kann, eine kon¬
stante und regelmäßige Erscheinung sind und daß sie sich beim Menschen
mit kleinen Variationen je nach den Muskeln und der Individualität des Men¬
schen etwa 50 mal in der Sekunde wiederholen.
Außer diesen imgeheuer raschen Oszillationen, die bei der Erklärung
des Zitterns wegen ihrer großen Frequenz nicht in Betracht kommen können,
wurde an den im Tetanus befindlichen Muskeln eine gröbere rhythmische Wellen¬
bewegung (Undulation) nachgewiesen, die sich graphisch registrieren läßt.
Uber den Elektrotetanus besitzen wir folgende Erfahrungen:
a) Bei einer ungenügenden Anzahl der Reizimpulse entsteht bei den
Marey sehen Experimenten eine grobe Undulation des Muskels infolge unge¬
nügender Superposition der elementaren Zuckungen (unvollständiger Tetanus).
b) Eine grobe Wellenbewegung entsteht trotz genügender Frequenz,
wenn die Impulse bezüglich ihrer Intensität ungenügend sind (Richet S. 112).
c) Eine grobe Wellenbewegung beobachtete Richet bei der Reizung eines
frischen Nervenmuskelpräparates mit schwachen, aber sehr frequenten Reizen
(4000 in der Sekunde) bei geringer Belastung (tätanos rhythmique induit).
d) Kollarits reizte beim Menschen den M. tibialis anticus mit einem
60—160 mal in der Sekunde unterbrochenen Strom und fand einen wellen¬
förmigen Tetanus mit 10—11 Wellen in der Sekunde.
Bei der willkürlichen Bewegung wurden analoge Befunde erhoben:
a) Kries registrierte die Kontraktionskurve der Vorderarmmuskeln bei
Schließung der Hand zur Faust und fand 11,8 Wellen in der Sekunde (Fig. 4
in seiner Arbeit), an den Extensoren bei der Streckung der Hand 11—12,4 Wellen
Das physiologische Zittern.
181
in der Sekunde; bei der statischen Innervation der ein Gewicht haltenden
Hand registrierte er vom M. deltoideus 9,6 Wellen in der Sekunde. (Fig. 5
in seiner Arbeit).
b) Horsley und Schäfer wiesen am M. opponens pollicis bei Bewegungen
8—13 Wellen in der Sekunde nach (zit. Kries).
c) Canney und Tunstall fanden in ähnlicher Weise bei menschlichen
Muskeln eine Frequenz von 10 Wellen in der Sekunde (zit. Piper).
d) Busquet registrierte vom M. cremaster beim Menschen die Kurve einer
willkürlichen, und zwar einer kurz dauernden und einer konstanten Kontraktion
und fand bei beiden eine grob wellenförmige Kurve (S. 47 u. Fig. 20 — ohne
Zeitkurve).
e) Eshner bestätigte die Angaben von Kries.
f) Piper registrierte bei der willkürlichen, raschen Bewegung des Vorder¬
arms 7—10 Wellen in der Sekunde.
Schließlich wurde beim Tetanus, der als Analogon der willkürlichen
Innervation durch elektrische Reizung des Gehirns und Rückenmarks hervor¬
gerufen wurde, eine analoge Wellenform nachgewiesen:
a) bei den Versuchen von Horsley und Schäfer: bei der Reizung der
Rinde, der Corona radiata und der Medulla durch den tetanisierenden Strom
zeigte die kontrahierte Muskulatur 8—13, zumeist aber 10 Wellen in der Sekunde.
b) Stanley Hall und Kronecker legten nach Durchschneidung des
Himstammes beim Kaninchen dicht neben der Medulla oblongata Reizelektroden
an, durch welche schwache Induktionsströme zugeleitet wurden, und beobach¬
teten am M. biceps femoris einen Tetanus mit 20 Dickenschwankungen des
Muskels in der Sekunde (zit. Piper).
Wir sehen demnach, daß nach den bisherigen experimentellen Erfahrungen
sowohl der durch elektrische Reizung des Nerven, der Zentren und der zere-
bromedullären Bahnen hervorgerufene Tetanus, als auch die willkürliche
Kontraktion desMuskels durchaus keine „glatten“ und ganz stetigen
Kontraktionszustände, sondern einen rasch oszillierenden und
außerdem langsam und rhythmisch undulierenden Tetanus dar¬
stellen.
Welches gegenseitige Verhältnis besteht mm zwischen den beiden Be¬
wegungsarten, den Oszillationen, die sich durch frequente Aktivitätsströme
von rund 50 in der Sekunde äußern, und den Undulationen, die in Form von
groben, etwa 10 mal in der Sekunde sich wiederholenden Bewegungen des
lokomotorischen Systems auftreten?
Die bisherigen physiologischen Kenntnisse gestatten, daß sich unsere
Erwägungen nach einer ganz bestimmten Richtung bewegen. Wir wissen,
daß die normale Zuckungskurve eines quergestreiften Muskels unter bestimmten
äußeren Bedingungen in zwei Teile zerfällt, von denen der erste eine kurze,
der andere eine verlangsamte Kontraktion zeigt. Die erstere bietet den Charakter
einer Zusammenziehung jener Muskeln dar, welche eine heftige, kurze oder rasch
wiederholte Bewegung erzeugen, die stark differenziert, reich gestreift und
reich an anisotroper Substanz sind (sog. weiße Muskeln). Die andere Kon¬
traktion besitzt den Kontraktionscharakter jener Muskeln, die eine langsame,
ausgiebige und dauernde Bewegung vermitteln, die weniger differenziert sind
und viel Sarkoplasma besitzen (sog. rote Muskeln). Bei der gewöhnlichen
182
Zweiter Teil.
Zuckung des quergestreiften (gemischten) Muskels entsteht eine Kurve, in der
die beiden erwähnten Kontraktionen als Komponenten enthalten sind (Lhotäk).
An der gewöhnlichen Bewegung dieser Muskeln sind beide Arten von Sub¬
stanzen, die anisotrope und das Sarkoplasma, beteiligt. Beim Tetanus erhält
hauptsächlich die Kontraktion des Sarkoplasmas die Kurve auf ihrer Höhe.
Die Frequenz der Oszillationen des tetanisierten quergestreiften Muskels
kann eine imgeheuere Höhe erreichen: beim Menschen nach Helmholtz und
Hoff mann fast bis zu 300 in der Sekunde, beim Frosch bis zu 200 in der Sekunde
(Wedensky zit. Piper), beim Kaninchen sogar über 900 in der Sekunde (Bern¬
stein, Loven — zit. Mares, Piper). Eine so rasche Kontraktionsfähigkeit
kommt nur der anisotropen Substanz zu. Diese aber kann für sich allein unter
gewöhnlichen Umständen den ganzen gemischten Muskel nicht zu einer so
schnellen Bewegung hinreißen und das Sarkoplasma ist dieser Frequenz nicht
gewachsen, weil es durch seine langsame Kontraktibilität und geringe Erreg¬
barkeit daran gehindert wird. Das Sarkoplasma folgt den schnellen Spannungs¬
veränderungen in der anisotropen Substanz mit langsameren Spannungs¬
veränderungen und daraus resultiert eine gröbere, aber langsamere Wellen¬
bewegung des Muskels, die von den graphischen Apparaten gezeichnet werden
kann und eine Frequenz von 8—13 in der Sekunde besitzt. Das schwankende
Verhalten dieser Frequenz zwischen 8—13 in der Sekunde dürfte die Resultante
aus der Frequenz der Impulse und den physikalischen und physiologischen
Qualitäten (Länge, Elastizität, Belastung, Wärme, Ermüdung, Vergiftung)
des sich bewegenden Muskels sein. Natürlich schwankt diese Zahl in den ge¬
nannten Grenzen bei verschiedenen Muskeln. Sie schwankt um so mehr, wenn
es sich um synergische Muskelgruppen handelt. Wenn es sich z. B. um die stati¬
sche Innervation aller Extensoren der oberen oder unteren Extremität oder
der Hand oder des Fußes handelt, ist die Möglichkeit einer gröberen Undu-
lationsbewegung durch das entsprechende physikalische, lokomotorische System
mitbestimmt: die leichteren, kurzen Finger können den Bewegungsimpulsen
rascher folgen, als die schwereren und längeren oberen Extremitäten und diese
wiederum schneller als die unteren Extremitäten oder gar der Rumpf. Ähnlich
verhält es sich mit dem physiologischen Zustand der Muskeln und der Gelenke,
welche bei der Beurteilung einiger spezieller Zitterformen gleichfalls in Betracht
kommen.
Diese Disharmonie zwischen der Frequenz jener Oszillationen, die nur
elektrometrisch nachweisbar sind, und der Frequenz jener Undulationen, die auch
schon graphisch nachgewiesen werden können, läßt sich verstehen und erklären,
wenn wir sagen: sowohl der Elektrotetanus als auch die willkürliche Bewegung
stellen einen oszillierenden und wellenförmigen Tetanus dar. Die Deutlichkeit
und Geschwindigkeit der mit unseren Apparaten nachweisbaren wellenförmigen
Bewegung hängt ab von der Geschwindigkeit und Intensität der Oszillationen,
von der physikalischen Möglichkeit einer rasch sich wiederholenden Bewegung
des betreffenden motorischen Systems und von dem physiologischen Zustand
dieses Systems (Ernährungszustand, Ermüdung usw\, Grad der Reizung des
Sarkoplasmas — Richets Erfahrungen).
Die statische Innervation der Skelettmuskulatur äußert sich
in einem oszillierenden und undulierenden Tetanus. Die Oszil¬
lationen, welche nur elektrometrisch und akustisch, nicht aber
Das physiologische Zittern.
183
graphisch nachweisbar sind, haben bei der statischen Innervation
eineFrequenz von etwaöOWellen in der Sekunde. — DieUndulationen
jedoch, welche den eigentlichen lokomotorischen Effekt der Os¬
zillationen darstellen, haben eine viel geringere Frequenz, und zwar
nur 8—13 Wellen in der Sekunde. Diese rhythmischen Undulationen,
die bei gesunden, kräftigen, ruhigen Menschen, wie Busquet sagt, „mikro¬
skopisch“ sind, lassen sich mit Hilfe eines vergrößernden Registrierapparates
bei einem jeden Menschen veranschaulichen (Busquet, Kries, Kollarits,
Eshner).
Diese Undulationen stellen demnach meines Erachtens das eigent¬
liche Wesen des Zitterns bei der statischen Innervation dar.
Meiner Ansicht nach handelt es sich hier also weder um elementare Wellen,
wie man ursprünglich angenommen hat (Fernet und nach ihm viele andere),
noch um selbständige Tetani, wie Kollarits annimmt, sondern nur um eine
Intensitätsschwankung eines anhaltenden Tetanus. Die Ursache dafür, warum
gerade jene 8—13 Undulationen in der Sekunde entstehen, wissen wir vorder¬
hand nicht. Ob es sich hier um Schwankungen der Erregbarkeit beider Muskel¬
substanzen handelt oder um Intensitätsschwankungen der zentralen Inner¬
vation, wie Piper bemerkt, oder um beide Komponenten zugleich, ist eine
rein physiologische, für die Erklärung des Zitterns weniger bedeutungsvolle
Frage.
Bei der statischen Innervation muß man meiner Ansicht nach nicht an
die Mitwirkung der Antagonisten denken; ihre Spannung ist minimal; es wäre
eine gezwungene, schwer zu begreifende Hypothese, wollte man das Zittern
bei der statischen Innervation durch eine Störung des Zusammenspiels der
Haupt-Agonisten und Antagonisten erklären.
Es erübrigt uns noch, nachzuforschen, ob in der angegebenen Weise auch
viele Einzelheiten und Besonderheiten des Zitterns bei der statischen Inner¬
vation erklärt werden können.
1. Wenn die statische Innervation länger dauert, beobachten wir z. B.
an der Hand zeitweise eine gröbere Bewegung und eine zeitweilige Unregel¬
mäßigkeit der Zitterkurve. Ich glaube, es handelt sich da um eine ausgleichende
Bewegung bei der Erschlaffung der Innervation und um einen neuen Inner¬
vationsimpuls, damit die Hand in die ursprüngliche Lage zurückgebracht werde.
2. Blocq und Onanov, Babinski, Eshner, Pick u. a. haben darauf
aufmerksam gemacht, daß bei der statischen Innervation die Intermediär¬
lagen mit einem stärkeren Zittern einhergehen als die Endlagen. — Wenn wir
an uns selbst beobachten, wie wir eine Intermediär- und eine Endlage an den
Oberextremitäten innervieren, dann werden wir empfinden, daß wir bei der
Intermediärlage die Muskeln imbewußt schwach, bei der Endlage dagegen
intensiv anspannen. Die Spannung des Sarkoplasmas, welches den Tetanus
auf seiner Höhe erhält, ward in der Intermediärlage kleiner, in der extremen
Lage größer sein. Das stark gespannte Sarkoplasma ist schwerer in Wellen¬
bewegung zu versetzen als dann, wenn es sich im Zustande einer geringeren
Spannung befindet.
3. Busquet hat, wie ich glaube, genügend erklärt, warum bei gestützter
Extremität zum Erscheinen des Zitterns eine energischere Muskelkontraktion
z. B. die Schließung der Hand zur Faust, notwendig ist; wenn die gestützte
181
Zweiter Teil.
Hand aufliegt, ist die Intensität der Innervationsanstrengung unbedeutend
und ihr eventueller Effekt, die feine Wellenbewegung, wird durch die Unterlage
und das Gewicht der Extremität verhindert; erst die bei gröberer Bewegung
auf tretende Wellenbewegung läßt sich registrieren.
4. Bei energischen Kontraktionen und Muskelaktionen verschwindet
das physiologische Zittern (Busquet). Hier fallen zwei Umstände ins Gewicht:
die Innervationsanstrengung ist bei zweckmäßigen Bewegungen und Funktionen
größer, was nach der erwähnten Erfahrung Richets zum Verschwinden des
wellenförmigen Tetanus beiträgt; aber man muß auch bedenken, daß bei ordent¬
lichen, energischen, zweckmäßigen Bewegungen eine feine Wellenbewegung
mit unseren Apparaten aus technischen Gründen nicht registrierbar ist, weshalb
wir glauben, daß ein Zittern überhaupt nicht vorhanden ist.
5. Das physiologische Zittern besitzt bei ein und demselben Menschen
an verschiedenen Körperstellen eine verschiedene Frequenz und Amplitude.
Dies ist das Resultat rein physikalischer, aber komplizierter Ursachen. Ganz
allgemein gesprochen ist die Amplitude des Zitterns um so größer und die Fre¬
quenz um so kleiner, je länger und schwerer die Extremität ist, z. B. die Unter¬
extremität im Vergleiche zur oberen, die ganze obere Extremität im Vergleiche
zur Hand (Marie). Die Ansicht Boeris, daß für das Zittern die Pendelgesetze
Geltung haben, gilt nur in beschränktem Maße für kleine Unterschiede in der
Amplitude; im übrigen aber sind die größeren Amplituden langsamer (Stein¬
hausen, Kollarits). Aber auch die Längen- und Gewichtsverhältnisse be¬
stimmen für sich allein nicht konstant die Frequenz und die Amplitude des
Zitterns, worauf Busquet aufmerksam gemacht hat (S. 28—29). Hier ist noch
eine große Anzahl anderer Umstände im Spiel. So z. B. geht in manchen Ge¬
lenken die Bewegung überhaupt leichter und schneller vor sich, so daß das
Zittern in diesen frequenter ist (Steinhausen); beispielsweise erfolgt die
Pronation und Supination im Handgelenke leichter als die Flexion und Extension.
6. An ein und demselben Körperteile schwankt die Frequenz des Zitterns
bei verschiedenen Personen. Diese Tatsache läßt sich aus den bisherigen physio¬
logischen Kenntnissen nicht mit Sicherheit erklären und man kann nur Ver¬
mutungen anstellen. Wir wissen, daß die Muskelkontraktibilität bei verschie¬
denen Tieren eine verschiedene ist. Doch sind die Unterschiede bei ein- und
derselben Gattung nicht so groß, daß sie den Forschem auf gef allen wären.
Beim Menschen bewirken vielleicht die Unterschiede in der Ernährung und
speziell in der Lebensweise (mechanische Arbeitsleistung — sitzende Lebens¬
weise — Müßiggang), daß die motorische Bereitschaft der Muskeln bei den
einzelnen Menschen ein wenig verschieden ist. Möglicherweise gibt es in dieser
Hinsicht auch angeborene Unterschiede, wie es angeborene Unterschiede der
motorischen Gewandtheit überhaupt gibt, und Unterschiede der Geschwindig¬
keit, mit welcher die Menschen eine gewisse Bewegung zu wiederholen im¬
stande sind (Steinhausen).
Von dieser Erklärung des Zitterns, welche die einfachsten Bedingungen
voraussetzt, w r ollen wir bei unserem Versuche, auch die übrigen Arten des Zitterns
zu erklären, ausgehen.
Das physiologische Zittern.
185
Wir werden finden, daß sich unter verschiedenen Umständen entweder
die Intensität der Innervation ändert (und der daraus resultierende Spannungs¬
zustand des Sarkoplasmas — ein weniger gereiztes Sarkoplasma ermöglicht eine
wellenförmige Bewegung) oder daß sich die Reaktionsfähigkeit des Muskelappa¬
rates ändert oder daß noch andere, wesentlich neue Komponenten hinzutreten.
Dort, wo die Intensität der zentralen Innervation geringer ist (Betäubung
der Hirnrinde mit Chloroform bei den Versuchen von Pasternatzki, Nervo-
sismus und Zustände mit allgemeiner nervöser Erschlaffung) oder wo die Er¬
regbarkeit der anisotropen Substanz erhöht ist und daher die raschen Oszil¬
lationen energischer sind (nach Adrenalininjektion?), oder wo diese beiden
Komponenten vorhanden sind (Basedowsche Krankheit, reizbare Schwäche),
kann man ein stärkeres Zittern der Glieder erwarten und voraussetzen.
Dagegen werden wir bei Zuständen, wo die anisotrope Substanz
erschlafft ist (Addison) oder das Sarkoplasma sich in einem Reizzustande
befindet (Tetanie), kein deutliches Zittern von physiologischem Charakter
erwarten dürfen.
Interessant ist es, die Entwicklung dieser Ansicht bei den verschiedenen
Autoren historisch zu verfolgen:
Boerhave meinte, daß „influxus arteriosi et nervosi nunc contingunt nunc
ab sunt.“ — In den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die ersten Versuche
von Helmholtz und Volkmann über den Tetanus und die Lehre vom Muskeltonus
bekannt wurden, nahm Romberg an, daß es sich um eine Zerlegung des Tonus
infolge langsamer Aufeinanderfolge der motorischen Impulse handle, und Blasius,
daß der Tonus des Muskels, der die Impulse nicht in continuo, sondern intermittierend,
mit Oszillationen empfange, gestört sei (zit. Fernet). Vulpian erklärte in den
60 er Jahren das Zittern ebenfalls durch eine Interruption des Muskeltonus und
Gubler verglich das Zittern mit den Sakkaden bei Reizung mit dem unterbrochenen
Strom — statt der kontinuierlichen Kontraktion. Marey zeigte 1868, wie mit zu¬
nehmender Frequenz der wiederholten Reize statt einzelner Kontraktionen eine
Superposition der Zusammenziehungen entsteht, eine Wellenbewegung, die schlie߬
lich (beginnend mit 27 Impulsen in einer Sekunde) in einen regelmäßigen Tetanus
übergeht. Seine Arbeit führte Ferrand und Charcot in demselben Jahre zu der
Erklärung, das Zittern sei „tetanos decomposä, une contraction faible decompos6e
en ses 616ments Constituante par suite de la faiblesse de l’agent stimulant.“ Lafont
warf 1869 die Frage auf, ob die bei der Bleivergiftung nachgewiesene Muskelschwäche
nicht die Kontraktilität der Muskeln ändere und dadurch die Zerlegung
des Tetanus ermögliche. Die bisherigen Erklänmgsversuche faßte Fernet 1872
zusammen. Er erhärtete die Idee der Zerlegung der Kontraktion durch den Hinweis
darauf, daß die Frequenz des Zitterns bei den verschiedenen Krankheiten zu einer
Konfluenz in einen glatten Tetanus niemals genüge (maximal 7 in der Sekunde),
und die Idee des ungenügenden Stimulus durch den Hinweis auf die experimentelle
Vergiftung mittelst Curare und Cicutin (das Zittern begann gerade in jenem Stadium
der Vergiftung, in welchem die Nervenendigungen im Muskel nur partiell gestört
waren — im Beginne der Lähmung und im Beginne der Restitution). Das Zittern
ist für Fernet „trouble de la contraction musculaire“ infolge „nombre insuffis-
sant des seccousses 61ementaires.“
Die so formulierte Ansicht wurde später wiederholt, eventuell ergänzt und aus-
gebildet; so z. B. spricht Frensburg (1875) von einer schwankenden Inner¬
vation infolge Schwäche der zentralen Organe als Hauptursache des Zitterns,
welcher sodann die Ermüdung des peripheren motorischen Apparates oder dessen
Schwächung infolge Affekt, Alkohol, Senilität und anderer adynamischer Zustände
sekundär zu Hilfe kommt. Deshalb erzeugt die statische Innervation eher Zittern
als die Ermüdung infolge peripherer Bewegung, weil durch die dauernde statische
Innervation auch das Zentrum ermüdet wird. Diese Ermüdung der Zentralapparate
186
Zweiter Teil.
imitierte Pasternatzki 1881 durch die Chloroforamarkose und indem er die Ober¬
fläche der Zentralwindungen reizte, erzeugte er bei Tieren einen Übergang der
Extremitätenbewegungen in Tremor. Le vy-Dorn (1899), der von den von Fernet
reproduzierten Mareysehen Kurven der sukzessiven Entstehung des Tetanus
ausging, fügte hinzu, daß auch der willkürlich hervorgerufene Tetanus, d. i. die will¬
kürlich erzeugte Muskelzusammenziehung auf ihrem Gipfel eine Vibration auf¬
weise. Der Tremor besitzt rund 10 Vibrationen in der Sekunde. Horsley und
Schäfer fanden bei der Reizung der grauen Rinde, der Corona radiata und des
Rückenmarks ebenfalls rhythmische Schwankungen, und zwar 8—13, zumeist aber
10 in der Sekunde. Ebensoviele Oszillationen besitzen nach den neuseten Messungen
die willkürlichen Bewegungen (Tetani), so daß er (Levy-Dorn) überall im zen¬
tralen motorischen Nervensystem dieselbe Disposition zu 10 mal in der Sekunde
sich wiederholenden Oszillationen bei tetaniformer Innervation konstatierte. Er
nahm also an, daß die unteren subkortikalen motorischen Zentra die
kontinuierliche rhythmische Rindeninnervation unterbrechen und daß
auf diese Weise das Zittern entstehe. — Seine weitere Erfahrung, daß jeder Mensch
ungefähr soviel willkürliche Bewegungen (z. B. Stromunterbrechungen mit dem
Finger) vollführt, als man Zitterschwingungen bei ihm zählt oder eventuell ent¬
sprechend dem krankhaften Zustande zählen könnte, wenn er einen Tremor hätte
(Rekord der willkürlichen Bewegungen), hat er zur Erklärung des Zitterns
nicht mehr verwendet, obwohl dies sehr verlockend gewesen wäre, außer etwa zu
dem Zwecke, daß wir uns auch bei kortikaler Lokalisation der unterbrochenen
Innervation auf ein physiologisches Analogon stützen könnten. Dieses Faktum
geht schon aus der älteren Bestimmung der auf 0,1 Sekunde berechneten refrak¬
tären Rindenphase für willkürliche Bewegungen hervor (Bruce und Riehet),
worauf Boeri im Jahre 1901 aufmerksam gemacht hat.
Diesen Stand der Anschauungen faßt 1904 La Roche, der ebenfalls eine
ungenügende Anzahl der Innervationsimpulse annimmt, in folgendem Resumö
zusammen: „Äußere Reize, gesteigerte funktionelle Anforderungen, Störungen in
der Ernährung, die vielleicht mit Hyperämie und Anämie Zusammenhängen, viel¬
leicht sogar die mit der Funktion verbundene Abnutzung rufen dann möglicher¬
weise eine feine Schädigung des Neurons hervor, die sich am normalen physiologischen
Indikator der Tätigkeit des Zentralnervensystems, am Muskel, schon als Zittern zu
erkennen gibt.“
Lewandowsky hat in seinem im Jahre 1907 erschienen Buche die von Dorn
eingehend geschilderten Ansichten reproduziert und präziser hervorgehoben, daß der
Mensch unter physiologischen Bedingungen keineswegs mit maximalen, sondern
mit submaximalen Tetani arbeitet und daß die physiologisch präexistierende
Diskontinuität der Innervation durch eine Läsion der Rinde (Alkohol, Senili-
tät) nur verschlimmert und deutlicher gemacht wird. — Gleichzeitig hat Piper
durch genaue Messung (Zählung der Aktivitätsströme an den Flexoren des Vorder¬
arms des Menschen mit Hilfe des Saitengalvanometers) nachgewiesen, daß die Zahl
der Oszillationen beim willkürlichen physiologischen Tetanus größer ist als man
seit Marey behauptet hat, daß sie nämlich 42—50 beträgt, so daß man die vorher
gezählten Oszillationen nicht so ohne weiteres mit den elementaren Muskelwellen
für identisch ansehen kann. Im Jahre 1909 machte Jamin nach Lafont wieder
darauf aufmerksam, daß auch ein refraktäres Verhalten des Muskels die Entstehung
von Abständen zwischen den einzelnen Kontraktionen und dadurch einen Zerfall
des Tetanus ermöglichen kann. Kollarits (1910) schließt in einer kritischen Über¬
sicht der verschiedenen Hypothesen die Möglichkeit aus, daß das Zittern durch
eine geringere Frequenz der Reize oder durch eine schwächere Innervation bedingt
sein könnte, weil er die einzelnen Oszillationen des Zitterns nicht für Einzelzuckungen,
sondern für Einzeltetani des Muskels ansieht.
II. Zittern infolge psychischer Erregnngen.
a) Das Zittern bei Schreck und Furcht ist von solchen objektiven und
subjektiven Erscheinungen begleitet, daß man eine Erschlaffung sämtlicher
Zittern infolge psychischer Erregungen. *— Adynamisches Zittern.
187
Rindenfunktionen (allgemeines Schwächegefühl, Unmöglichkeit der Asso¬
ziationstätigkeit) und daher auch der motorischen Impulse annehmen muß,
wie bereits Frensburg behauptet hat — und daher stammt nach den Ver¬
suchen Richets der unvollkommene Tetanus (ungenügende Spannung des
Sarkoplasmas). Bei der Furcht kann ein neuer Impuls, der das Gehirn zu einer
intensiveren Tätigkeit und Innervation anregt, das Zittern unterdrücken, worauf
Frensburg aufmerksam gemacht hat. (Der Soldat erblickt den Feind —
Zittern; er beginnt zu kämpfen — das Zittern verschwindet.) Bei großem
Kummer dürften sich die Dinge analog verhalten.
b) Beim Wutanfall sind die Verhältnisse wesentlich anders. Den zarten
Tremor überwiegen unregelmäßige Muskelzuckungen und unwillkürliche Be¬
wegungen der oberen Extremitäten, was auf imregelmäßige, unwillkürliche
Impulse von der gereizten Rinde und vielleicht auch von den niedrigeren Zentren
hindeutet: also nicht der wellenförmige (physiologische) Tetanus selbst, sondern
vorwiegend Reizerscheinungen, unregelmäßige Impulse, charakterisieren den
Zorn und in analoger Weise auch den maniakalisclien und melancholischen
Raptus.
III. Adynamisches Zittern.
a) Das Zittern nach ermüdender Arbeit, nach einem Marsche,
nach einer Krankheit, nach Blutungen bei Anämie, in derLaktation
und in ähnlichen Zuständen hat durchwegs den Charakter eines gesteigerten
physiologischen Zitterns. Bis jetzt besitzen wir keine genügenden physiologi¬
schen Erfahrungen über den Einfluß dieser Umstände. Doch können wir nicht
irren, wenn wir uns vorstellen, daß alle jene Umstände, welche die Allgemein¬
emährung herabsetzen, auch die zentralen motorischen Impulse schwachen,
denn bei allen diesen Zuständen stocken in der Tat die motorischen Funktionen.
Dadurch wird ein unvollkommener Tetanus im Sinne Richets ermöglicht.
Dieselbe Schwächung der Zentralapparate können wir auch bei der einfachen
Ermüdung annehmen, denn eine Ermüdung der peripheren Apparate tritt nicht
so leicht ein.
b) Komplizierter sind die Verhältnisse beim Heben schwerer Lasten
und bei m Ringen. Hier wird, wie wir an den reproduzierten Kurven sehen, das
physiologische Zittern zuerst grob, besonders aber unregelmäßig, und ist von
großen, unregelmäßigen Wellen unterbrochen: die zentrale motorische Inner¬
vation und der physiologische Zustand des Muskels (,,die Kraft“) genügen nicht,
um den Tetanus zu erhalten und es treten dieselben Verhältnisse auf wie bei der
ungenügenden Intensität der Innervation; außerdem ermüdet der Muskel und
daher erzeugt ein neuer Impuls einen neuen Tetanus, allerdings wieder einen
wellenförmigen und so fort. Wir fühlen es sehr gut, daß, wenn die Kraft zu Ende
geht, die Hand deutlich sichtbare, imregelmäßige Impulse erhält, um auszuhalten,
bevor sie gänzlich herabsinkt. Jene großen unregelmäßigen Wellen sind eben der
Ausdruck eines neuen tetanisierenden Impulses, der eigentliche Tremor aber ist
der Ausdruck der Unzulänglichkeit des Sarkoplasmas.
c) Noch komplizierter sind die Verhältnisse im adynamischen Stadium
des Typhus und in analogen Zuständen: an den Händen sehen wir außer
dem „Zittern der schwachen Leute“ tappende, unregelmäßige Bewegungen
188
Zweiter Teil.
mit dem Charakter der willkürlichen Bewegungen und außerdem an den
Wangen, Lippen und Extremitäten unregelmäßige Zuckungen, wie man sie bei
Himreizungen zu sehen pflegt; schließlich kann man auch ataktische Be¬
wegungen der Hand und ein gestörtes Zusammenspiel der mimischen Gesichts¬
muskulatur beobachten. Dies alles spricht für eine schwere Läsion des Ge¬
hirns, eventuell für eine Läsion der Funktion eines seiner Teile.
d) Das postfebrile Zittern ist einerseits ein Zittern infolge allgemeiner
Schwäche — ein gesteigertes physiologisches Zittern —, andererseits hat es den
Charakter des Zitterns bei der Zerebrospinalsklerose und bei den Krankheiten
aus der Gruppe der Pseudosklerose, überhaupt den Charakter des zerebralen
(organischen) Zitterns, und in dieses Kapital gehört auch die Erörterung seiner
Pathogenese. Dahin gehört auch der Fall Fornacas. Andere hierher ge¬
zählte Fälle sind hysterieverdächtig.
IV. Zittern infolge Reizung sensibler Nerven.
Beim Schüttelfrost, mag er durch Kälte oder durch rasch ansteigendes
Fieber oder durch Katheterisieren oder durch Neurininjektion bedingt sein,
kann ich keine Erklärung des Zitterns geben. Die physiologischen Voraus¬
setzungen für eine solche Erklärung sind noch immer nicht bekannt. Wir wissen
nicht, ob beim Schüttelfrost die Muskeln abgekühlt oder überhitzt sind oder ob
nicht die Gehirnrinde gereizt ist. (Wird doch sogar eine besondere Vergiftung
durch Resorption eines infolge peripherer Ischämie entstandenen Giftes ange¬
nommen! Guinon in Bouchards Pathol. generale, Adamkiewicz.)
Sicher ist, daß auch Angst und Schrecken ähnliche Zustände gleichzeitig
mit lebhafter vasomotorischer Reaktion hervorrufen. Ob es sich jedoch in Wirk¬
lichkeit um Ischämie oder um eine Schwächung der Muskeln handelt, läßt sich
nicht entscheiden.
V. Toxisches Zittern.
1. Bei Alkohol-, Morphium-, Äther-, Absinth-Vergiftungen
müssen wir mehrere Zitterformen unterscheiden. Zunächst haben wir gesehen,
daß diese chronischen Vergiftungen mit einem Zittern der Glieder einhergehen,
das sich durch seine Form, seine Frequenz und Intensität vom physiologischen
Zittern nicht wesentlich unterscheidet. Dieses Zittern begleitet jene Stadien
der Vergiftung, in welchen der allgemeine Ernährungszustand, speziell die Er¬
nährung der Nervenmuskelorgane gelitten hat, was man aus den deutlichen
klinischen Erscheinungen erschließen kann. Prinzipiell handelt es sich da um
adynamisches Zittern, was schon Frensburg in gleicher Weise bezüglich des
Wesens, in etwas abweichender Weise bezüglich der Details behauptet hat
(Ermüdung und Schwächezustand der motorischen Apparate) oder wie sich in
jüngster Zeit She ring ton ausdrückt (Deficient or otherwise altered activity
of nerve celles). Mit dieser Erklärung stimmt es überein, daß das Zittern am
Morgen am stärksten ist, denn im nüchternen Zustande tritt der körperliche
und geistige Verfall des Alkoholikers am deutlichsten zum Vorschein. Damit
stimmt ferner die Tatsache überein, daß das Zittern durch Ermüdung gesteigert
wird. Im Frühstadium wird es durch Alkoholgenuß unterdrückt. Und da wissen
Toxisches Zittern.
189
wir, daß in diesem Stadium der Alkoholgenuß alle Kräfte des Kranken, die
körperlichen und die geistigen, auf richtet, ihn aus der toxischen motorischen
und psychischen Erschlaffung emporreißt, ihn für einen Augenblick auf das
Niveau des gesunden Menschen emporhebt; aber bald stellt sich ein neuer
Erschlaffungszustand ein. Im vorgeschritteneren Stadium besitzt der Alkohol
diese aufrichtende Wirkung nicht mehr und unterdrückt auch nicht mehr das
Gliederzittem.
Die Anspannung des Willens, eine energische Kontraktion, schwere Muskel¬
arbeit vermögen das Zittern auf einen Moment zu unterdrücken — infolge
gesteigerter Intensität der zentralen Impulse, aber dann wird das Zittern heftiger
— infolge einer Erschlaffung, die um so tiefer ist, je größer die vorangehende
Kraftanstrengung war.
Das individuelle Zittern der Finger, das von Charcot als Charakteristiken
des alkoholischen Zitterns angeführt wurde (obwohl dies nicht mehr als stich¬
haltig gelten kann, wenn es auch ein häufiges Symptom des Alkoholismus
darstellt), hängt damit zusammen, daß die motorische Schwäche bei Alko¬
holikern in den peripheren Partien am größten ist. Dort treten auch die neu-
ritischen Lähmungen am frühesten auf.
Im Delirium tremens ändert sich das Bild: statt des physiologischen
Charakters des Zitterns stellen sich teils unregelmäßige Bewegungen choreatischer
Natur, teils unwillkürliche Bewegungen, welche mißlungene zweckmäßige Mit¬
bewegungen synergischer Muskelgruppen imitieren, teils den ataktischen nahe¬
stehende Bewegungen mit Verstärkung bei der Intention und schließlich alle
Übergänge bis zum klassischen Muskelkrampfe ein, wobei die Übergangs¬
bewegungen besonders an der Gesichtsmuskulatur deutlich sind. Die Gesamtheit
dieser Vorgänge weist auf eine Reizung der grauen Hirnrinde hin, ähnlich
wie in den Intoxikationsstadien des Typhus und prinzipiell ähnlich, wie im
maniakalischen und melancholischen Raptus und im Zorn. Alle übrigen
klinischen Symptome verraten deutlich eine intensive Reizung des Gehirnes.
Eine dritte, seltener beobachtete Form des Zitterns, welche durch den
Fall VII unserer Kasuistik und partiell durch die Fälle III, IV und VT repräsentiert
wird, ist jenes Zittern, das durch Intention zu einem groben Schwingen ge¬
steigert wird; diese Abart erfordert eine besondere Beachtung. Allgemein kann
man sagen, daß es eine gewisse Ähnlichkeit mit manchen hysterischen Zitter¬
formen besitzt und da es auch bei anderen Intoxikationen in derselben Art und
Weise auftritt, wollen wir es erst später im Zusammenhang besprechen.
Die Verhältnisse beim Alkohol, die wir so ziemlich am besten kennen,
sind das Prototyp für viele andere Intoxikationen, und wir wollen daher wieder
holen, daß wir hier drei Arten des Zitterns beobachtet haben: eine,
die dem physiologischen, eine zweite, die dem zerebralen und eine
dritte, die dem hysterischen Zittern nahestand; wir werden von
einem einfachen, einem zerebralen und einem hysteriformen
toxischen Zittern sprechen.
2. Bezüglich des Zitterns bei der Schwefelkohlenstoff Vergiftung,
das wir genau zu beobachten Gelegenheit hatten, läßt sich dasselbe anführen;
nur daß die erste Form — der gesteigerte physiologische Tremor bei allgemeiner
Schwäche des Organismus und speziell bei Erschlaffung der zentrifugal ver¬
mittelten Nervenfunktionen — sehr leicht in die dritte, dem hysterischen Zittern
190
Zweiter Teil.
nahestehende Form übergeht, während die zweite, unter den Symptomen einer
akuten Reizung der grauen Gehirnrinde einhergehende Form nicht beobachtet
wurde.
Bei den Vergiftungen mit Schwefelwasserstoff und Kohlen¬
oxyd wurde während der in universellen Krämpfen gipfelnden prodromalen
Erscheinungen ein — nicht näher studiertes — Zittern beobachtet, welches sich
dem während der Prodrome der Krampfanfälle überhaupt beobachteten Zittern
nähert, dessen Prototyp das vor dem epileptischen Anfall beobachtete
Zittern darstellt. In den späteren Stadien der CO-Vergiftung beobachtet man
auch einen dem hysterischen Zittern nahestehenden Tremor.
Beim Bromismus können wir eine Erschlaffung der Rindenfunktionen
und daher eine Steigerung des physiologischen Zitterns voraussetzen. Nach
Chloralhydrat drängt sich in dem beobachteten Falle eine Erschlaffung der
Rindenfunktionen geradezu auf — es handelte sich überhaupt um Läsionen
der Gehimfunktionen —, aber über das Zittern selbst besitzen wir keine näheren
Daten.
Nach Jod ist ein bestimmter Teil der beobachteten Zitterfälle sicher durch
Hyperthyreoidismus bedingt; ob dies immer der Fall ist, läßt sich auf Grund der
bisher erschienenen, spärlichen Kasuistik nicht entscheiden.
3. Beim Arsen weisen alle Umstände darauf hin, daß das Zittern mit den
entstehenden Neuritiden und der daraus resultierenden Ermüdung und Er¬
schlaffung der motorischen Apparate parallel läuft. Das Zittern ist also nur eine
indirekte Folge der Arsen Vergiftung.
Beim Quecksilber, über das wir wiederum reiche Erfahrungen besitzen,
können wir alle drei beim alkoholischen Zittern aufgestellten Formen des Zitterns
ganz deutlich ausgeprägt finden, wenn auch nicht so gesondert, wie beim Alko¬
holismus. Noch besser kann man das Zittern beim Quecksilber mit dem nach
Schwefelkohlenstoff beobachteten Zittern vergleichen. Noch mehr als beim
Schwefelkohlenstoff finden wir beim Hydrargyrismus die Neigung zur dritten,
der Hysterie nahestehenden Form des Zitterns, und gerade beim Hydrargyrismus
wurde diese Form am genauesten und vielleicht zum erstenmal verfolgt. Außer¬
dem aber finden wir bei schweren Vergiftungen auch die zweite Form ganz deut¬
lich ausgeprägt, die sich noch mit anderen Symptomen der Gehirnläsion, mit
Schwindel und Krämpfen als häufigen Vorboten des Todes vermengt.
Bei der Bleivergiftung finden wir wiederum am häufigsten die erste
Form des Zitterns: das gesteigerte physiologische Zittern, verbunden mit all¬
gemeiner Schwäche oder bei beginnender Neuritis oder Lähmung, das auch be¬
züglich der Lokalisation den am meisten ergriffenen und geschwächten Stellen
entspricht, analog wie bei Arsen- und bei manchen Quecksilbervergiftungen
(bei Leuten, welche Einreibungen mit grauer Salbe an anderen Leuten bezw.
an Tieren wiederholt vorzunehmen genötigt waren). Außerdem tritt bei
der sogenannten Cerebropathia satumina die zweite Form, die wir als zerebral
bezeichnet haben, in den Vordergrund. Bei den übrigen Metallen ist das
Zittern klinisch nicht so erforscht, daß man dasselbe in pathogenetischer Hinsicht
näher analysieren könnte.
4. Nach Nikotin, Coffein und Thein übeiwiegt bei der chronischen
Vergiftung die erste Form des Zitterns, der gesteigerte physiologische Tremor.
Nach Coffein und Thein kann man eine Reizung des Nervenmuskelsystems
Toxisches Zittern.
191
und der anisotropen Substanz annehmen, vielleicht auch nach Nikotin,
obwohl bei diesem die Verhältnisse nicht bei allen Menschen gleich sein werden.
Aber bei den akuten Vergiftungen ist das Zittern ein anderes, indem es in un¬
regelmäßige Muskelkontraktionen übergeht, speziell bei der akuten Kaffee¬
vergiftung und bei den experimentellen Vergiftungen mit Nikotin und Coffein,
bei denen offenbar nahe Beziehungen des Zitterns zu den universellen Krämpfen
bestehen und wo der Ursprung des Zitterns in einer bedeutenden Reizung der
grauen Gehirnrinde zu suchen ist.
Beim Strychnin ist das übrigens wenig bekannte Zittern,der Extremi¬
täten sicher im innigen Zusammenhang mit den universellen Krämpfen.
Ähnliches gilt für die nach Curare beobachteten, dem Schüttelfrost ana¬
logen, unwillkürlichen Bewegungen.
Bei den akuten Vergiftungen mit Atropin und ähnlichen Substanzen
wurde ein Zittern der zweiten Form beobachtet, das im großen und ganzen
dem Zittern beim Delirium tremens ähnlich ist. In der Rekonvaleszenz besteht
ein Tremor von der Art des adynamischen Zitterns.
Bei den übrigen Alkaloiden und Glykosiden ist die Form des Zitterns
nicht genügend erforscht.
Dasselbe gilt für das Zittern nach Kopaiva und nach Kampfer.
Bei der Pilzvergiftung nähert sich das Zittern den Krampferschei-
nungen, was auch von den seltenen Beobachtungen beim Ergotismus gilt.
Bei der Pellagra sind die näheren Verhältnisse aus den bunten Beschrei¬
bungen nicht zu ermitteln; es scheint, daß eine schwere allgemeine Adynamie
mit einer Veränderung in den Muskeln kombiniert ist, welche den körperlichen
Zustand der Kranken mit dem beim sogenannten senilen Tremor beobachteten
Zustand zu vergleichen gestattet, bei welchem dann eine genauere Analyse
des Tremors versucht werden soll (Läsionen des Sarkoplasmas).
5. Nach Suprarenininjektionen und nach dem unmäßigen Genuß
der Schilddrüsenpräparate beobachtet man einen Symptomenkomplex
mit ausgesprochenem Zittern, der den Schluß gestattet, daß hier sowohl die
zentrale Innervation erschlafft, als auch die anisotrope Substanz toxisch ge¬
reizt ist, welcher Einfluß auf die Muskulatur der Thyreoidea (Dissimilatorische
Hormonfunktion, Biedl 105 und 106, erhöhte Dissimilation und gesteigerte
Funktion — reizbare Schwäche), besonders aber den Nebennieren, dem Adre¬
nalin, auf Grund der experimentellen Erfahrungen und auf Grund der nach¬
gewiesenen Myasthenie ohne Tremor bei der Addison sehen Krankheit zuge¬
schrieben wird.
Bei der Addisonschen Krankheit gehört das Zittern nicht in das klinische
Bild; es ist aber interessant, daß es Boinet nach der Adrenalintherapie auftreten
sah und namentlich dann, wenn sich die Krankheit bessert. Der Charakter
der Addisonschen Myasthenie deutet darauf hin, daß hier die anisotrope Sub¬
stanz mehr leidet als das Sarkoplasma (der Tetanus ist zwar glatt, aber die
Muskeln werden bei der Funktion müde und schlaff) oder wenigstens sicher
in hohem Grade neben der geringeren Erschlaffung des Sarkoplasmas; das
Adrenalin reizt die anisotrope Substanz, steigert ihre Reizbarkeit und dann erst
tritt das Adrenalinzittem auf. In ähnlicher Weise ist auch die Erbsche My¬
asthenie, bei der wir ebenfalls nur eine große Ermüdbarkeit der anisotropen Sub¬
stanz neben einer eventuellen Ermüdbarkeit des Sarkoplasmas voraussetzen
192
Zweiter Teil.
können (der Tetanus ist normal, aber die Kontraktionen können sich nicht
wiederholen), nicht von einem Tremor der Hände begleitet.
Uber den Einfluß der Epithelkörperchen auf das Zittern existieren
keine Erfahrungen.
6. Das bisher vorliegende Material zur Beurteilung des Zitterns infolge
Autointoxikation (bei Säuglingen und kleinen Kindern) ist noch ungenügend;
nur so viel läßt sich anführen, daß das Zittern und die unwillkürlichen Bewegungen
unter denselben Umständen beobachtet werden, unter denen die eklamptischen
Anfälle und Fraisen aufzutreten pflegen, was wiederum auf eine Reizung des
Gehirns und auf eine nahe Verwandtschaft mit den klonischen Krämpfen
hindeutet.
Gesamturteil über das „toxische“ Zittern.
Im allgemeinen kann man sagen, daß, insofern die näheren Umstände
der ,,toxischen“ Zitterformen bekannt sind, ihre äußeren Merkmale sich von¬
einander nicht in dem Grade unterscheiden, daß man das Wesen dieses Zitterns
in den toxikologischen Eigentümlichkeiten der einzelnen Präparate suchen
könnte. Wir haben gesehen, daß sich das toxische Zittern unter allgemeinen
Umständen, die bei den verschiedenen Vergiftungen prinzipiell dieselben sind,
in demselben Sinne ändert, und daß wir bei allen Vergiftungen folgende Arten
des Zitterns unterscheiden können:
1. Das einfache Zittern, d. i. das gesteigerte physiologische Zittern.
Dasselbe ist die Folge einer allgemeinen Schwäche, eines Verfalls, bei dem
wir auch eine schlaffe Innervation der motorischen Ganglienzellen annehmen
können (chronische Vergiftungen, oder Rekonvaleszenz nach akuten Vergiftungen
mit Alkohol, Morphium, Äther, Absinth, Brom, Chloralhydrat); manchmal
gesellt sich noch eine mehr oder weniger an der Peripherie sichtbare Läsion
der motorischen Nerven (chronische Vergiftung mit Alkohol, Arsen, Queck¬
silber, Blei, Schwefelkohlenstoff, Pellagra?) hinzu; dieses Zittern ist besonders
dort ausgeprägt, wo mit der allgemeinen Schwäche eine gesteigerte Erregbarkeit
des Gehrins, der Vasomotoren, der anisotropen Substanz einhergeht (Thy-
reoidismus, Suprarenin, vielleicht auch Coffein, Thein und Nikotin?). Bei
allen diesen drei Arten ist die klinische Form des Zitterns dieselbe: die Form
des gesteigerten physiologischen Zitterns.
2. Das „zerebrale“ Zittern, d. i. ein Zittern, welches durch imregel¬
mäßige motorische Impulse für einzelne Muskeln und Muskelgruppen charak¬
terisiert und noch mit anderen Erscheinungen der Gehirnreizung verbunden
ist. Eigentlich handelt es sich hier um ein Gemisch der ersten Form des Zitterns
mit unwillkürlichen Bewegungen, welche nicht unter den Begriff der Zitterbe-
wegung subsummiert werden können, sondern sich den klonischen Krämpfen
im weitesten Sinne des Wortes nähern (alkoholisches Delirium tremens, Cere-
bropathia satumina acuta, Cerebropathia mercurialis acuta; akute Vergif¬
tungen mit Schwefelkohlenstoff, Kohlenoxyd, Atropin, Autointoxikation bei
Säuglingen u. a.; Vergiftungen mit Strychnin? Curare? Pilzen? Ergotin?)
3. Das hysteriforme Zittern, d. i. ein grobes, großes Zittern, das sich
bei der Intention zu einem groben Schwingen der ganzen Extremitäten oder gar
des ganzen Körpers verstärkt und mit den gewöhnlich bei Hysterie beobachteten
Symptomen einhergeht. (Wirkung äußerer Einflüsse auf seine Intensität,
Toxisches Zittern.
193
therapeutische Erfolge, Sensibilitätsstörungen, psychischer Zustand.) Am be¬
kanntesten ist diese Form des Zitterns bei der Quecksilbervergiftung, sie kommt
aber auch bei der Vergiftung mit Schwefelkohlenstoff, Alkohol, Kohlenoxyd
vor. Ich vermute nun, daß man auch bei den anderen Vergiftungen dieselbe
Erscheinung beobachten könnte, wenn nur in jedem Falle von chronischer Ver¬
giftung genügend darauf geachtet würde.
Die Arbeiten von Charcot, Dutil und namentlich von Letulle haben
diese Frage bei der chronischen Quecksilbervergiftung scheinbar dahin ent¬
schieden, daß es sich um einen hysterischen Tremor handelt, bis Guillain und
Laroche die ganze Frage von neuem auf rollten und den Beweis zu führen
suchten, daß es sich um ein Zittern zerebralen Ursprungs infolge von organi¬
schen Veränderungen des Zentralnervensystems handle.
Unser Fall von Quecksilbervergiftung (im ersten Stadium der Krankheit
von Syllaba beschrieben) ist ein Beispiel dafür, wie schwer unter Umständen
die Entscheidung sein kann; denn wir haben in diesem Falle eine Reihe von Stö¬
rungen vor uns, die sich schwer durch Hysterie erklären lassen, da keine sog.
hysterischen Stigmata vorliegen; wir haben aber auch keine sicheren Symptome
für eine organische Erkrankung des Gehirns, und das klinische Bild des Zitterns
führt uns, wie wir auch aus den entsprechenden Kurven ersehen, am ehesten
zu einem Vergleich mit dem hysterischen Zittern. Die Fälle, welche Proust
und Charcot (Schurmacher) anführen und die sieben Fälle, welche Letulles
Schüler Mugnerot beschrieb, müssen wir als hysterisch auffassen.
Bei der Kohlenoxyd Vergiftung ist der Fall Beckers, den wir ausführlich
beschrieben haben, ebenfalls unsicher, denn er erinnert in gleicher Weise an die
Herdsklerose wie an die Hysterie, ohne hysterische Stigmata oder sklerotische
Symptome aufzuweisen; trotzdem aber deuten unwillkürliche Bewegungen der
Hand ,,wie beim Klavierspiel“ darauf hin, daß eine hysterische Komponente
nicht in Abrede zu stellen ist.
Dagegen sind unsere Fälle von Schwefelkohlenstoffvergiftung schon ein¬
deutiger: bei beiden überwiegen im ersten Krankheitsstadium organische und
unstreitig toxische Symptome, speziell die Symptome einer peripheren Neuritis
an den Extremitäten; dazu kommen funktionelle Symptome und zwar man-
chettenförmig lokalisierte Sensibilitätsstörungen, eine hochgradig gesteigerte
vasomotorische Erregbarkeit, eine gesteigerte mechanische Muskelerregbarkeit.
Nach einer langen Reihe von Wochen treten die organischen Störungen in
den Hintergrund, die herabgesetzten Sehnenreflexe steigern sich, endlich ent¬
steht ein Zittern, das sich durch Intention zu einem unregelmäßigen Schwingen
steigert, und ein Symptomenkomplex, der im ersten Fall dem Fürstner-
Nonnesehen Syndrom ganz analog ist. Dies findet zu einer Zeit statt, da
die Kranken schon längst nicht mehr dem schädlichen Einfluß des Schwefel¬
kohlenstoffs ausgesetzt sind, sich aber inmitten der Entschädigungsprozesse
befinden. Es fehlt uns leider das therapeutische Resultat, ähnlich wie im
Falle Letulles, um ein sicheres Urteil abgeben zu können, aber trotzdem
glaube ich, daß kein Zweifel darüber bestehen dürfte, daß diese Form des
Zitterns psychischen und keineswegs organischen Ursprungs ist.
Unsere Fälle von Alkoholvergiftung III., IV., VI. und namentlich der
Fall VII sind aus einem doppelten Grunde wichtig. Erstens sind sie ein Beweis
dafür, daß auch beim chronischen Alkoholismus ein ähnliches klinisches Bild
Peln&f, Zittern. 13
194
Zweiter Teil.
vorkommt, wie bei der Quecksilber- und Schwefelkohlenstoff Vergiftung, eine
Tatsache, die ich noch nirgends verzeichnet fand. Sie können daher die sehr
wahrscheinliche Hypothese stützen, die wir an die Spitze dieses Absatzes ge¬
stellt haben, daß nämlich das hysteriforme Zittern eine Allgemeinerscheinung
bei chronischen Vergiftungen bildet. Zweitens sind sie von Wichtigkeit für einen
Vergleich mit unseren Fällen von Schwefelkohlenstoff Vergiftung. Bei allen
Fällen (IV., VI., VII. — vom II. fehlt die Krankheitsgeschichte) handelte
es sich um ein subakutes, alkoholisches Delirium, bei allen waren leichte Neuri¬
tiden vorhanden, aber bei allen waren die Sehnenreflexe gesteigert. Es kom¬
binierte sich also bei unseren Alkoholikern wie bei den beiden mit Schwefel¬
kohlenstoff Vergifteten jene eigentümliche Zitterform mit einer leichten Ent¬
zündung der peripheren Nerven. Bei dem typischen Fall (VII.) störte das Zittern
beim Gehen und die bei Intention eintretende Verstärkung des Zitterns zu
einem groben Schwingen der Extremitäten ähnelte keiner einzigen bei organischen
Störungen des Zentralnervensystems vorkommenden Zitterform — stimmte
aber auffällig mit dem hysterischen, besonders mit dem nach Unfällen häufig
beobachteten Zittern überein.
Ich glaube daher, daß das sogenannte hysteriforme Zittern bei chronischen
Vergiftungen psychischen, „pithiatischen“ (im Sinne Babinskis) Ursprungs
ist und daß das Gefühl von Schwäche der Extremitäten infolge der Neuritis
und das Gefühl der allgemeinen Erschlaffung — sei sie nun direkt toxisch
(Ernährungsstörungen) oder psychogen (Furcht vor dauerndem Siechtum,
Begehrungsvorstellungen) bedingt — die Hauptursachen desselben bilden.
Ich will nicht der Anschauung beistimmen, daß die chronischen Queck¬
silber- oder Schwefelkohlenstoff Vergiftungen überhaupt nur Neurosen seien,
sondern halte es für erwiesen, daß sich in dem bunten klinischen Bilde dieser
Vergiftungen Symptome organischer Störungen mit funktionellen, psychogenen
Symptomen vermischen.
Ich behaupte nicht einmal, daß alle die eigenartigen Formen des Zitterns
bei diesen chronischen Vergiftungen funktionellen Ursprungs seien, sondern
ich lege im Gegenteil großes Gewicht darauf, daß bei diesen Vergiftungen
außer dem einfachen und hysteriformen Zittern noch eine komplizierte Zitter¬
form organischen Ursprungs vorkommt, die ich mit dem Attribut „zerebral“
bezeichnet habe.
VI. Das Zittern bei der VI. Gruppe.
Die Pathogenese dieser Zitterformen ergibt sich aus den im beschreibenden
Teile geschilderten Verhältnissen.
VII. Die Neurosen.
Das Zittern bei der einfachen Nervosität, bei Neurasthenie und
Psychasthenie ist im großen und ganzen eine Begleiterscheinung der beiden
eben besprochenen Zustände — des adynamischen und des erethischen.
Wir haben gesehen, daß sowohl die Adynamie als auch der Erethismus
von Zittern begleitet ist. Bei beiden Zuständen steigert sich das physiologische
Zittern. Bei den adynamischen Zuständen ist es geringer, beim Erethismus
stärker.
Die Neurosen.
195
Bei der Psychasthenie nimmt es häufig gewisse Eigenschaften des hysteri¬
schen Zitterns an.
Bei der Epilepsie treten noch ein Tremor im Beginne und am Ende der
klonischen und tonischen Krämpfe und die sogenannten Zitteräquivalente
hinzu; unter allen diesen Umständen handelt es sich um jene Form des Zitterns,
die den Vorläufer und den Übergang zum klonischen Muskelkrampf darstellt
und sich von dem eigentlichen Wesen des Zitterns entfernt.
Bei den Psychosen gibt es, wie wir gesehen haben, keine besonderen
Zitterformen und ihre Erklärung fällt mit der Erklärung des emotiven, adyna-
misehen und zerebralen Zitterns zusammen.
Anders verhält es sich bei der Hysterie. Hier sehen wir außer dem ge¬
steigerten physiologischen Zittern — das der Nervosität überhaupt gemeinsam
ist — prägnante Syndrome, die teils dem bei organischen Krankheiten beobach¬
teten ähnlich sind (Imitation der Parkinsonschen Krankheit, der zerebrospi-
nalen Sklerose), teils, weil sie individuell verfärbt und in jedem einzelnen Fall
ein wenig verschieden sind, einen gewissen klinischen Typus und ein bizarres
Verhalten an den Tag legen.
Alle die bizarren, von uns beobachteten — oben bei der Besprechung der
Hysterie beschriebenen — Zitterformen haben die gemeinsame Eigenschaft,
daß sie sehr leicht simuliert, künstlich hervorgebracht und daher auch imitiert,
durch Autosuggestion erzeugt werden können. Alle lassen sich aber auch durch
banale Suggestivmittel beseitigen. (Vergleiche unsere Erfahrungen über
Simulation.)
Die auffallendste Form: das Intentionsschwingen der, sei es durch einen
Unfall betroffenen, sei es von einer scheinbar unwillkürlichen Lähmung oder
Kontraktur ergriffenen Extremität, also einer Extremität, auf welche die Auf¬
merksamkeit des Kranken eben wegen ihrer Unzulänglichkeit gerichtet ist,
läßt sich durch eben diesen psychischen Zustand des Kranken erklären. Die
Vorstellung des Zitterns ist im Geiste eines jeden Menschen mit der Vorstellung
der Schwache verbunden (,,er zittert vor Schwäche“), daher das häufige Zittern
eines solchen Gliedes in der Ruhe und bei statischer Innervation. Bei der
Bewegung muß die Unvollkommenheit der Extremität natürlich durch einen
noch stärkeren Tremor hervortreten, der nicht etwa simuliert, sondern durch
ein halb unwillkürliches Urteil des Kranken postuliert und durch Autosuggestion
hervorgerufen ist. Wenn wir genau Zusehen, wie der hysterische Patient die
Bewegung mit dem ergriffenen Gliede ausführt, fällt es sofort auf, daß er die
Muskeln anders innerviert, als der gesunde Mensch: bei größerer Kraftanstrengung
erzielt er nur einen kleinen lokomotorischen Effekt; bei der Innervation der
Agonisten tritt keine Erschlaffung der Antagonisten ein, sondern im Gegenteil
eine starke Anspannung der Antagonisten, die nicht selten stärker ist als die An¬
spannung der Agonisten; die ganze Extremität ist schon bei einem geringen loko¬
motorischen Effekt ungeheuer gespannt; daher hat bei der intendierten Bewegung
das Zittern, sobald es durch Autosuggestion entstanden ist, einen so vehementen
Charakter, eine so ungeheuere Intensität und so große Amplituden. Es handelt
sich nicht um eine Störung der Innervation der Agonisten, wie beim physio¬
logischen Zittern, sondern um eine unwillkürliche Schüttelbewegung, die ab¬
wechselnd in den maximal gespannten und gleichzeitig innervierten Agonisten
13*
196
Zweiter Teil.
und Antagonisten vor sich geht. Daher wird auch der Kranke durch dieses
hysterische Intentionszittern so sehr erschöpft und ermüdet.
Daher ist auch gerade dieses hysterische Intentionszittern am meisten
ausgeprägt nach Traumen, wo die Autosuggestion von der Unzulänglichkeit
der ergriffenen Extremität am größten ist und wo der Kranke, wenn er gericht¬
liche Ansprüche erhebt und wenn er ein ehrenhafter und dabei hysterischer
Mann ist, mit größter Furcht und Angst wegen der eventuellen Entscheidung
gerade dieses objektiv sichtbare Symptom seiner Krankheit ängstlich pflegt und
dadurch seine Autosuggestion noch mehr befestigt.
Das, was bei einem jeden Menschen hier und da deutlich vorhanden sein
kann: das Zittern der auf die Fußspitze gestützten Unterextremität, das Zittern
der Hand bei statischer Innervation, ist bei hysterischen Personen vergrößert,
durch Nachahmung deutlich gemacht; statt des physiologischen Zitterns der
Agonisten entsteht eine Wechselbewegung der Agonisten und Antagonisten,
die durch die einmal entstandene Autosuggestion genährt, vergrößert und durch
die klinische Prüfung, Registrierung und Beschreibung stabilisiert wird.
Die klinische Beobachtung aller hysterischen Zitterformen hat mich stets
am meisten in der Ansicht bestärkt, daß die Anschauungen Babinskis über
das Wesen der hysterischen Symptome richtig und zutreffend sind. In dieser
Ansicht wurde ich besonders durch die stereotype Wiederholung ein und des¬
selben Bildes bei Personen derselben Kategorie, z. B. bei Arbeitern, die von der
Arbeiterversicherungsanstalt unserer Klinik zwecks Abgabe eines Gutachtens
zugewiesen wurden, bestärkt.
Mit dieser Erklärung stimmt die Tatsache gut überein, daß wir bei diesem
Zittern jene Bewegungen beobachteten, die am leichtesten und mit der geringsten
Anstrengung auszuführen sind: Flexion und Extension im Ellbogengelenk,
Pronation und Supination des Vorderarms, seltener, aber noch immer häufig,
Flexion und Extension im Handgelenk, aber keineswegs jene, die künstlich
schwer nachzuahmen sind, wie z. B. der individuelle Tremor der Finger, die Be¬
wegungen des Oberarms.
Mit dieser Erklärung stimmt ferner auch die Erfahrung überein, daß bei
Hysterischen und ganz besonders bei traumatischen Hysterien das Zittern
in der Ordination des Arztes am größten ist; daß man bei sorgfältiger und un¬
auffälliger Beobachtung des Kranken konstatieren kann, daß dieser bei denselben
Bewegungen überhaupt nicht zittert; daß ein solcher Patient bei derselben Be¬
wegung mehr zittert, wenn er sie ad demonstrandum vollführt, als wenn er sie
zu einem banalen Zwecke ausführt, z. B. daß er bei jeder Bewegung der Hand
und der Füße ungeheuer zittert, aber nach vollendeter Untersuchung die Bein¬
kleider im Stehen anzieht, ohne zu zittern usw.
Aus demselben Grunde ist die Unterscheidung des hysterischen Zitterns
von dem simulierten so schwer. Ich beurteile alle oft mit großem Scharfsinn
erdachten Methoden zur Entlarvung der Simulation (Fuchs, Erben u. a.)
sehr skeptisch. Unterschiede lassen sich nur zwischen dem organischen und dem
simulierten Zittern konstatieren, z. B. zwischen Simulation und Herdsklerose,
aber keineswegs zwischen Simulation und Hysterie, denn das hysterische Zittern
ist nichts anderes als eine absichtliche Bewegung und der Unterschied zwischen
dieser und der einfachen Simulation ist nur ein moralischer, aber kein
pathogenetischer. Das hysterische Zittern ist eine unwillkürliche,
Basedowsche Krankheit. — Parkinson sehe Krankheit.
197
durch Autosuggestion hervorgerufene, durch Furcht und Ängst¬
lichkeit genährte Simulation, während die einfache Simulation
nur durch die gemeine Sucht zu täuschen oder Vorteile zu gewinnen
geleitet wird.
VIII. A. Basedowsche Krankheit.
Die Pathogenese des Zitterns bei dieser Krankheit fällt zusammen mit
der Pathogenese des toxischen Zitterns nach Schilddrüsen- und Nebennieren¬
präparaten. Es handelt sich um einen gesteigerten physiologischen Tremor
infolge Erschlaffung der zentralen Innervation und toxischer Erregung der
anisotropen Substanz, verbunden mit einer gesteigerten Dissimilation in
der Muskulatur (Dissimilatorische Hormon-Tätigkeit, Biedl, S. 105 u. 106).
Jeder Muskel, der bei dem Kranken eine Arbeit auszuführen hat, oszilliert
auffallend. Der Kranke kann durch Anspannung des Willens (Verstärkung
der Intensität der zentralen Innervation) das Zittern für einen Moment mäßigen;
deswegen malt er beim Schreiben die einzelnen Buchstaben in raschen Zügen
oder schreibt er jeden Teil des Buchstabens isoliert, er vermeidet längere Linien
und daher zeigt sich das Zittern nicht so deutlich an der gewöhnlichen Schrift
wie beim Zeichnen großer Drucktypen und langer Linien.
Wie bei anderen toxischen Zitterformen mischen sich auch hier im Zu¬
stande einer stärkeren Erregung dem gewöhnlichen Zittern unregelmäßige,
choreatische und andere Bewegungen bei.
VIII. B. Parkinsonsche Krankheit.
Bei der Parkinsonschen Krankheit ist das Zittern ein sehr typisches
und sehr regelmäßiges, man könnte sagen, monoton regelmäßiges Symptom.
Aber die Erklärung dieses Zitterns ist meiner Ansicht nach das schwierigste
Kapitel in der Pathogenese des Zitterns. Nach einem genauen Studium kam
ich zu dem Schlüsse, daß die Pathogenese dieses Zitterns nicht anders als im
Rahmen der Pathogenese der ganzen Krankheit gelöst werden kann, weshalb
eine diesbezügliche Abschweifung von dem eigentlichen Thema unvermeidlich
und eine Besprechung der Pathogenese der Parkinsonschen Krankheit über¬
haupt unbedingt notwendig ist.
JWesen der Parkinsonschen Krankheit.
Es ist ungemein schwer, sich eine einheitliche Vorstellung über den Ursprung
dieser Krankheit zu machen.
Es wurden bereits alle möglichen Hypothesen aufgestellt: sie sei eine Neurose
ohne anatomische Veränderungen, eine herdförmige Gehimkrankheit, eine
zerebrospinale Erkrankung, eine Muskelerkrankung, eine endogene Intoxikation,
beginnend von einer unbestimmten Autointoxikation bis zu den endokrinen
(von den Drüsen mit innerer Sekretion ausgehenden) Intoxikationen und schlie߬
lich eine exogene, der rheumatischen Infektion verwandte Intoxikation.
Für eine jede dieser Theorien lassen sich Gründe anführen, aber auch
Einwendungen gegen dieselben erheben.
198
Zweiter Teil.
Bis jetzt hat niemand versucht, eine einheitliche Theorie aufzustellen,
durch welche sich die verschiedenen Symptome dieser Krankheit, speziell
die Rigidität, das Zittern, der progressive Charakter und die Unheilbarkeit
gleichzeitig erklären ließen.
I.
Am schwächsten ist die Hypothese, daß es sich um eine Neurose des
motorischen Systems handelt. Sie ist einfach der Ausdruck für die Er¬
fahrung, daß wir bei der Autopsie manchmal keinen Befund am zentralen Nerven¬
system erheben können und daß im Krankheitsbilde die motorischen Störungen
überwiegen. Wenn wir jedoch erwägen, daß auch die sensitiven Organe leiden,
besonders in den Anfangsstadien, und daß ziemlich oft auch objektive sensitive
Läsionen gefunden wurden, werden wir die Bezeichnung: motorische Neurose
fallen lassen. Die Neurose selbst ist kein pathogenetischer Begriff, so daß
wir uns mit diesem bloßen Namen nicht weiter beschäftigen müssen.
II.
Die meisten Forscher und auch jene der jüngsten Zeit gelangen zu dem
Schlüsse, die Parkinsonsche Krankheit sei eine zerebrospinale
Herderkrankung, deren Lokalisation sich auf die graue Substanz und die
mesenzephalischen Bahnen, auf den Thalamus, den Locus niger, das Corpus
Luysii, den Nucleus ruber und die Kleinhirn bahnen im Gehirn und im ver¬
längerten Marke konzentriere.
Diese Hypothese basiert auf keinem regelmäßigen anatomischen Befund
und stützt sich daher auf indirekte Beweise. (Eine schöne Sammlung der ana¬
tomischen Befunde siehe bei Cast6ran 1909, Mendel 1911.)
1. Die Symptome beginnen oft auf einer Körperhälfte, bleiben lange auf
diese beschränkt und breiten sich über die Extremitäten in ähnlicher Weise aus
wie die Jacksonsche Epilepsie.
2. Die Krankheit geht mit zahlreichen zerebralen Herderscheinungen
einher.
3. Die Krankheit ist mit erhöhtem Muskeltonus und gesteigerten Reflexen
verbunden.
4. Sie ist manchen Syndromen bei den sog. „lacunaires“ ähnlich.
5. Sie zeigt Symptome wie nach manchen Kleinhimreizungen.
6. Sie beginnt manchmal nach einer deutlichen Gehimapoplexie.
7. Sie beginnt manchmal sehr bald nach einem psychischen Trauma.
8. Das Zittern verschwindet im Schlafe.
9. Die Symptome steigern sich im Affekt.
10 Sie geht, wie andere zerebrospinale organische Erkrankungen, mit ther¬
mischen und trophischen Erscheinungen einher.
11 Sie besitzt psychische Komplikationen.
Wir wollen uns mit diesen Beweisen etwas näher beschäftigen.
Ad 1. Aus der Übersicht unserer Fälle, soweit diesbezügliche ana¬
mnestische Angaben nicht fehlen, geht folgendes hervor.
Die Symptome (speziell das Zittern) begannen bei 24 Fällen:
an der rechten oberen Extremität.7 mal
an der linken oberen Extremität.4 ,,
Parkinson sehe Krankheit.
199
an den linken Extremitäten.2 mal
an allen vier Extremitäten.3 ,,
an den beiden oberen Extremitäten.3 ,,
an den beiden unteren Extremitäten.3 ,,
an der rechten unteren Extremität.1 ,,
an der linken unteren Extremität.L ,,
also unter 24 Fällen 13 mal monoplegisch, 6 mal paraplegisch, 2 mal hemiplegisch
und 3 mal quadraplegisch.
In keinem einzigen Falle blieb der monoplegische oder hemiplegische
Charakter dauernd bestehen, sondern das Zittern ging stets auf die übrigen Ex¬
tremitäten über. Unter den 13 Fällen mit monoplegischem Beginn entwickelte
sich nur einmal eine dauernde hemiplegische Form, dagegen 3 mal die para-
plegische der oberen Extremitäten (in einem Falle verschonte sie 19 Jahre die
unteren Extremitäten). In den übrigen Fällen waren 3—4 Extremitäten er¬
griffen und da schritt das Zittern nur viermal entsprechend der anatomischen
Nachbarschaft der motorischen Zentren oder analog der Jacksonschen Epi¬
lepsie vor.
Das Zittern begann, insofern es nicht die obere und untere Extremität
oder alle vier Extremitäten gleichzeitig ergriff, an den oberen Extremitäten
14 mal, an den unteren 5 mal.
Einer unserer Patienten (B.Fr. Nr. 2), der mit Unterbrechungen sechs Jahre
in unserer Behandlung stand und totale Intermissionen seiner Krankheit zeigte,
hatte anfangs eine paraplegische Lokalisation an den Beinen (nachdem er im
Dezember ins Wasser gefallen war), sodann eine vorwiegend rechtsseitige hemi¬
plegische, später eine quadraplegische, dann wiederum eine rechtsseitige hemi¬
plegische, dann neuerdings eine reine paraplegische der unteren Extremitäten
und schließlich eine monoplegische Lokalisation an der rechten unteren Extremität.
Aus diesen Ziffern ist zu ersehen, daß die Symptome und speziell das
Zittern unstreitig häufig und zwar mindestens in der Hälfte der Fälle mono¬
plegisch, dagegen selten hemiplegisch (zusammen in 5 /s der Fälle) beginnen.
Dieses Faktum, durch welches sich die Parkinsonsche Krankheit von allen
anderen nicht zerebralen Zitterformen unterscheidet, könnte auf einen Zusammen¬
hang mit Veränderungen des zentralen Nervensystems hindeuten.
Doch erfolgt die Ausbreitung der Krankheit absolut nicht in der bei
zerebralen Affektionen üblichen Weise.
Gegenüber den auffallenden Fällen, in denen das monoplegische Zittern
selbst mehrere Jahre isoliert blieb, verfügen wir über einen Fall, in welchem
das Zittern von einer oberen Extremität auf die andere überging und auf diese
19 Jahre beschränkt blieb, ohne die unteren Extremitäten zu ergreifen.
Wenn wir uns einen solchen Fall vor Augen halten und auch den Umstand
erwägen, daß die Symptome überhaupt an den oberen Extremitäten dreimal
so häufig beginnen als an den unteren, ohne daß sich die hemiplegische Form
entwickeln würde, kommen wir zu der Erkenntnis, daß die Symptome den bei
zerebralen Affektionen gewohnten Gesetzen überhaupt nicht folgen; wir müssen
daher andere Möglichkeiten für die Erklärung des monoplegischen Beginns
an den oberen Extremitäten suchen.
(Auch bei der Basedowschen Krankheit sah Maude einseitiges Zittern
bei einseitiger Struma.)
200
Zweiter Teil.
Ad 2. Die Krankheit geht mit zahlreichen zerebralen Herd¬
erscheinungen einher. Dieses Faktum ist unbestreitbar. Es handelt
sich da gewöhnlich um geringe Veränderungen und um Herde von geringfügigen
Dimensionen, wie man sie bei degenerativen Veränderungen der Himgefäße
zu sehen gewöhnt ist: Paresen der Augenmuskeln, Parese des einen Gesichts¬
nerven, Atrophie der Zunge und bulbäre Symptome überhaupt, einzelne Muskel¬
atrophien, Babinskisches Symptom, Fußklonus, Nystagmus, Intentions-
zittem, Argyll-Robertsonsche Pupillen.
Diese Störungen sind ziemlich häufige Erscheinungen, wenn wir auf
Grund der Literatur urteilen; sie finden sich ziemlich häufig verzeichnet; wenn
wir aber die Häufigkeit der Parkinson sehen Krankheit berücksichtigen,
ist die Zahl dieser positiven anatomischen Befunde doch nicht groß genug,
um darauf eine einheitliche Pathogenese gründen zu können. Souques,
der einen Fall mit bulbären Symptomen publizierte, zitiert Bruns, der in 4
von 74 Fällen bulbäre Symptome gefunden haben soll. Diese Zahl sagt dasselbe,
was unsere Erfahrungen lehren: denn wir fanden nur ein einziges Mal Atrophie
der Zunge, einmal eine vorübergehende Lähmung eines Augenmuskels, einmal
vollständige Pupillenstarre und senile Demenz, einmal Epilepsia tarda, einmal
verdächtige Schwindelanfälle und Chorioretinitis — unter 26 Fällen, von denen
wir Krankheitsgeschichten besaßen. Außerdem sahen wir einmal Tabes dor-
8alis und einmal eine Parese im Bereiche beider Peronei.
Diese Mannigfaltigkeit deutet darauf hin, daß es sich um Kombinationen,
keineswegs um Symptonme der Grundkrankheit handelt. Es kommt ihnen die¬
selbe Bedeutung zu wie den mannigfaltigen anatomischen Befunden. Wir können
höchstens annehmen, daß das Zentralnervensystem bei der Parkinson sehen
Krankheit infolge der gleichzeitigen degenerativen Prozesse in den Gefäßen
sehr häufig in Mitleidenschaft gezogen ist.
Aber diese Fälle beweisen ebensowenig wie die anatomischen Befunde,
daß die Parkinsonsche Krankheit eine Folge degenerativer Gehimverände-
rungen ist.
Ad 3. Die Parkinsonsche Krankheit ist mit erhöhtem Muskel¬
tonus und gesteigerten Reflexen verbunden.
Die Ähnlichkeit der Rigidität mit der hemiplegischen Kontraktur ist nur
eine oberflächliche; schon Charcot hat auf einen kardinalen Unterschied
hingewiesen: der Kranke mit Parkinson scher Krankheit bewegt mit der
starren Extremität, der Hemiplegiker aber nicht. Blocq reihte sie in seiner
These unter die sogenannten Pseudokontrakturen ein, obwohl er es nicht be¬
zweifelt, daß die Krankheit ihren Ursprung im Zentralnervensystem nimmt.
Es gibt aber mehrere Unterschiede. Die Rigidität besteht auch im Ruhe¬
zustand, sie wird durch passive Bewegungen, durch Erschütterungen eher ge¬
ringer und ihre Lokalisation ist von der bei Hemiplegie verschieden; die Patellar-,
Achillessehnen- und Plantarreflexe weisen nicht auf eine Läsion der Pyramiden¬
bahnen hin; die aktive Beweglichkeit ist ganz verschieden: der Hemiplegiker
hebt seine Extremität, wie wenn sie mit einem schweren Gewicht belastet wäre,
rasch, aber schwer; der Patient mit Parkinsonscher Krankheit aber so, wie
wenn er nicht wüßte, wie anzufassen, wie wenn er die Hand nicht in seiner Ge¬
walt hätte, langsam, aber dann leicht — oder überhaupt leicht. Bei den spasti¬
schen Formen der zentralen Läsionen ist die reflektorische Erregbarkeit der
Parkinson sehe Krankheit.
201
Muskeln erhöht und diese antworten mit einem universellen Spasmus auf einen
jeden Reiz — auf einen peripheren wie auf einen zentralen — wobei eine gewisse
Ähnlichkeit mit der Tätigkeit der Muskulatur beim Tetanus, bei der Strychnin¬
vergiftung (Paraplegia spastica) besteht, doch können die Muskeln im Zustande
der vollkommenen Ruhe vollständig erschlaffen, während sie bei der Parkin¬
son sehen Krankheit im Zustande der vollkommenen Ruhe am meisten rigid
werden. Der Hemiplegiker und der Spastiker fühlen sich im Bette am wohlsten
und bei aktiven Bewegungen am schlechtesten; dem mit Parkinsonscher
Krankheit behafteten Patienten ist am schlechtesten bei Nacht, wenn er im Bette
liegt, und am besten bei Bewegungen. Bei den spastischen Paresen verschwinden
die Spasmen nach Durchschneidung der Hinterstränge, während bei der mit
Tabes dorsalis kombinierten Parkinsonschen Krankheit die Rigidität und das
typische Zittern fortbestehen. Die Parkinson sehe Rigidität ist von einem
merkwürdigen Zittern begleitet, das in die Symptomatologie der spastischen
Zustände absolut nicht gehört; die seltenen Fälle, bei denen es beschrieben wurde,
bestätigen diese Regel und müssen anders erklärt werden: entweder durch
Kombination oder durch eine nur oberflächliche Ähnlichkeit der Athetose,
der klonischen Krämpfen u. dergl.
Bei den spastischen Zuständen deutet alles darauf hin, daß das normale
innervatorische Zusammenspiel (tonische zerebellare Innervation — inhibi-
torische zerebrale Innervation) gestört ist, während bei der Parkinsonschen
Krankheit alles darauf hindeutet, daß der periphere Apparat imabhängig von
den Zentren verändert ist: bei der Parkinsonschen Krankheit fehlen die
Symptome des erhöhten Muskeltonus infolge zentraler Reize.
(Spasmen bei Bewegungen, bei Reflexreizung.)
Wir werden später sehen, ob man die Parkinsonsche Rigidität auf eine
andere Weise — ohne Beteiligung des zentralen Nervensystems — erklären
kann. Soviel muß aber schon hier gesagt werden, daß die Rigidität nicht als ein
sicherer Beweis für den zerebrospinalen Ursprung der Schüttellähmung aufgefaßt
werden darf.
Die Mehrzahl der angegebenen Unterschiede gilt auch für jene besondere
Form des erhöhten Muskeltonus, welche Bechtörew bei seinen Fällen von so¬
genannter „Hemitonia apoplectica“ beobachtet hat, nur daß, obwohl an dem
zerebralen Ursprung der Affektion kein Zweifel besteht, die gesteigerten Patellar-
reflexe, der Fußklonus und der Babinskische Reflex ebenfalls fehlen. Im
übrigen steigert sich der Spasmus auch hier bei Bewegungen oder er wird wenig¬
stens nicht kleiner, wodurch die aktive Beweglichkeit sehr leidet und die Qualen
vermehrt werden.
Ad 4. Ein ähnliches klinisches Bild besitzen manche organi¬
sche Gehirnsyndrome: die Pseudobulbärparalyse, die progressive Hemi¬
plegie, lakunäre Veränderungen im Gehirn (6tat cribl6) (Brissaud), manche
Fälle von Benediktschem Syndrom (Blocq und Marinesco). Am wichtigsten
sind die multiplen lakunären Gehirn Veränderungen, die ein der Parkinsonschen
Krankheit und zwar der Paralysis agitans sine agitatione sehr ähnliches Krank¬
heitsbild hervorrufen können: d. h. sie können beiderseitige spastische Sym¬
ptome hervorrufen, so daß der ganze Körper in die Kontrakturen wie eingebunden,
eingelötet (soud6), die Mimik unbeweglich ist; hierbei muß das Babinskische
Symptom nicht vorhanden sein. In dieser Weise sind die Symptome selten
202
Zweiter Teil.
entwickelt; aber ich selbst habe zwei Fälle beobachtet, über deren einen ich mir
bis heute nicht klar bin, ob es sich um einen Parkinson ohne Zittern oder um
ein 6tat cribl6 handelt, weil ich ihn nicht hinreichend genau beobachten konnte.
Hier gilt dasselbe, was wir von den zerebrospinalen spastischen Zuständen
gesagt haben: es handelt sich um Spasmen, keineswegs um Rigidität; der Patient
hat die Tendenz zur Ruhe, höchstens will er die Lage wechseln; er hat nicht das
Gefühl der Hitze; er verfällt in demente Störungen; er zeigt kein typisches
Zittern, sondern im Gegenteil eine Tendenz zum Intentionszittem.
Die progressive Hemiplegie infolge seniler Enzephalomalazia ist der
Parkinsonschen Rigidität noch seltener ähnlich (starre Mimik usw.).
Wenn also kleine Gehirnerweichungen in seltenen Fällen ein der Parkin¬
sonschen Krankheit ähnliches Bild hervorrufen können, handelt es sich hier
nur um eine Ähnlichkeit der Rigidität mit dem spastischen Zustande, aber keines¬
wegs um eine Ähnlichkeit des ganzen klinischen Bildes, besonders aber nicht
um einen typischen Tremor.
Ad 5. Manche Läsionen der subkortikalen Zentren und des
Kleinhirns verursachen Symptome, die auch bei der Parkinson¬
schen Krankheit Vorkommen. Es handelt sich hier um eine Hemmung
bei Bewegungen, um eine Läsion gewisser automatischer Bewegungen (Aus¬
drucks bew r egungen, Gemeinschaftsbewegimgen — Zingerle), um ein Mißver¬
hältnis zwischen grober Muskelkraft bei Bewegungen einerseits und statischer
Innervation, Resistenz, andererseits (Dyleff, Egger).
Hier muß bemerkt werden, daß deutliche zerebellare oder thalamische
Symptome bei der Parkinsonschen Krankheit selten Vorkommen; die Ähnlich¬
keit mancher Symptome (Mimik, Pulserscheinungen) ist nur eine scheinbare
und läßt sich durch die Rigiditäten leicht erklären; auch jene Eigentümlich¬
keiten der Muskeltätigkeit, welche Egg er und namentlich Dyleff studiert haben,
deuten vielmehr auf einen abnormen Zustand der Muskeln selbst ohne Rücksicht
auf die Zentren als auf zerebellare Veränderungen hin.
Daß sich die Parkinsonsche Krankheit mit Veränderungen des Klein¬
hirns und des Thalamus komplizieren kann, hat dieselbe Bedeutung wie alle
übrigen zerebralen Komplikationen.
Ad 6. Die Schüttellähmung beginnt manchmal nach einem
deutlichen apoplektischen oder apoplektiformen Anfall.
Dieses Faktum ist gar zu selten, als daß man aus demselben einen allge¬
meinen Schluß auf den zerebralen Ursprung der Parkinsonschen Krankheit
ziehen könnte (unter unseren 26 Fällen kam es nur ein einziges Mal vor); seine
Bedeutung kompliziert sich durch das Faktum, daß die Schüttellähmung,
namentlich das Zittern, nach einem Iktus auf hören kann.
Nichtsdestoweniger ist dieses Faktum bedeutungsvoll und muß bei einer
jeden Erklärung dieser Krankheit berücksichtigt werden, ebenso wie der mono-
plegische und der hemiplegische Beginn.
Ad 7. Die Krankheit entwickelt sich manchmal sehr schnell
nach einem psychischen Trauma: derartiger Fälle kennt man mehrere
und sie sind sehr auffallend: so z. B. Charcots Verurteilter der Kommune
oder Brissauds Fall, bei welchem 48 Stunden nach einem großen Schrecken
das komplette Bild der Parkinsonschen Krankheit entwickelt war.
Ein solcher Beginn ist aber kein Beweis für einen zerebralen Ursprung
Parkinson sehe Krankheit.
203
der Krankheit. Ebenso beginnt oft die Basedowsche Krankheit und ebenso
kennt man viele Fälle, wo in ganz jungen Jahren, im 21., 22., 30. Lebensjahre,
nach einem psychischen Trauma, plötzlich Menopause ein trat (Fiebag, Inaug.-
Diss. Breslau 1911), also Syndrome, die ihren Ursprung sicher nicht in einer
anatomischen Veränderung des Gehirns haben.
Ad 8. Das Zittern verschwindet im Schlafe. Dieser Umstand
beweist ebenfalls nichts, sondern deutet nur darauf hin, daß die Gehirnrinde
in irgend einer Beziehung zum Zittern steht. Aber die Krankheit verschwindet
nicht im Schlafe, die Rigidität z. B. besteht auch im Schlafe fort.
Ad 9. Der irritierende Einfluß des Affektes auf die Symptome
der Schüttellähmung ist ebenfalls ein allgemeines Symptom von Krank¬
heiten, bei denen das Nervensystem mitbeteiligt ist, ohne die Krankheit hervor¬
zurufen (Basedow).
Ad 10. Thermische Symptome: Hypothermie und Hyperthermie
sind unbeständige und unregelmäßige Erscheinungen bei der Parkinsonschen
Krankheit und haben nur eine problematische Bedeutung (wie beim Basedow,
bei der Menopause und dergl.).
Ad 11. Die trophischen Symptome, die für Herderkrankungen
des Gehirns charakteristisch sind, kommen gerade bei der Parkinsonschen
Krankheit nicht vor. Die trophischen Störungen, die öfters beobachtet wurden,
besitzen nicht den Charakter der zerebralen Veränderungen: es sind dies haupt¬
sächlich Veränderungen der Haut, entweder einer sklerotischen (Frenkel,
Lundborg, Luzzatto), oder einfach atrophischen (Bechet, nach Mendl
auch Weber) oder ödematösen Haut (Vincent zit. Bechet), Purpura (Ray¬
mond), Vitiligo — im großen und ganzen also mehr vasomotorische Verände¬
rungen. Die Spontanfrakturen gehören nicht in den Rahmen der Parkinson¬
schen Krankheit (obwohl Mendel einen derartigen Fall Monghals zitiert).
Die hier und da an Gelenken beobachteten Veränderungen besitzen nicht
den Charakter der medullären Arthropathien, sondern fallen in den Rahmen
der chronischen Arthritiden (Brissaud, Mendel).
12. Die Parkinsonsche Krankheit geht mit psychischen Ver¬
änderungen einher. Wenn wir von dem kachektischen Stadium der Krank¬
heit absehen, kommen die psychischen Komplikationen nicht so häufig vor,
daß man sie als Beweis für den zerebralen Ursprung der Krankheit auffassen
könnte. Ein gewisser Grad von depressiver Stimmung, ja sogar Selbstmord¬
gedanken lassen sich durch den schrecklichen Zustand des mit Rigidität behaf¬
teten Kranken erklären. Doch finden wir bei der Parkinsonschen Krankheit
weder die bei Hemiplegie vorkommende Gleichgültigkeit, noch die bei der Herd¬
sklerose beobachtete Euphorie. Hier und da beobachtet man Halluzinationen
unddeliranteZustände, dies jedoch selten und analog wie bei anderen, nicht herd¬
förmigen Erkrankungen, wie z. B. bei der Basedowschen Krankheit.
Überblicken wir alle Gründe, die für den zerebralen Ursprung der Schüttel¬
lähmung angegeben wurden, so können wir nicht die Überzeugung gewinnen,
daß die Krankheit und ihre Symptome auf diese Weise erklärt werden können.
Die Rigidität hat nicht den Charakter des zerebralen Spasmus; das in der Ruhe
204
Zweiter Teil.
bestehende und bei Bewegung verschwindende Zittern ist kein konstanter Be¬
gleiter irgend einer Gehimkrankheit oder irgend einer Gehirnlokalisation.
Es ist zwar sicher, daß wir bei den Patienten ziemlich häufig die Symptome
kleiner Läsionen des Zentralnervensystems, die gewöhnlich degenerativer Art
sind, vorfinden. (Gröbere Läsionen, wie z. B. Tumoren, sind sicher Kompli¬
kationen.) Dies ist auch leicht verständlich bei einer Krankheit, die den Menschen
im letzten Lebensdrittel, zwischen dem 50. und 80. Lebensjahr, befällt und zu
Kachexie führt. Zu dieser Zeit bestehen schon an und für sich häufig degenera-
tive Veränderungen aller Organe und speziell des Gefäßsystems. Doch kann man
sich auch ganz gut denken, daß die Grundursache dieser progressiven und un¬
heilbaren Krankheit auch auf das Gefäßsystem des Zentralnervensystems
oder auf das Nervensystem selbst destruktiv einwirkt.
Es ist aber ebenso sicher, daß die Parkinsonsche Krankheit mit einer
ganzen Anzahl anderer Symptome einhergeht, die nicht weniger häufig vorhanden
sind als die Symptome der zerebralen Läsionen und die als konstante Symptome
solcher Krankheiten, die ganz gewiß nicht zerebralen Ursprung haben, be¬
kannt sind.
Nicht einmal das Ende der Parkinsonschen Krankheit deutet mit größerer
Wahrscheinlichkeit auf eine Zerebrospinalerkrankung als auf eine andere Krank¬
heitsursache hin: weder die sekundäre Demenz, noch wiederholte apoplektische
Insulte, noch die Bulbärparalyse, noch zerebrale Lähmungen sind häufigere
und viel weniger noch alltägliche Symptome. — Dagegen stehen die Rigidität
und die Kachexie im Vordergründe.
III.
Die Parkinsonsche Krankheit ist eine Myopathie — behaupten
manche Forscher, indem sie sich auf Veränderungen berufen, die bei der
Parkinsonschen Krankheit an den Muskeln in vivo et mortuo vorgefunden,
wurden.
Befunde an den Muskehl sind sehr häufig und so mannigfaltig, wie die
anatomischen Befunde am Gehirn. (Siehe die sorgfältige Sammlung bei Cas-
t^ran 1909 und Mendel 1911.) Es sind dies Atrophien aller Art: hyaline, fettige,
braune, parenchymatöse (frühe Schwellung), bei denen eine überwiegende
Degeneration der Fibrillen (Leyden 1876) und später, dem Zeitgeist ent¬
sprechend, ein Zerfall des Sarkoplasmas (Salaris 1906) erhoben wurde; Wuche¬
rungen des interstitiellen Bindegewebes und zwar teils oberflächliche, teils
herdförmige (noduläre Form der chronischen Myositis-Catola 1906) und merk¬
würdige lakunäre Veränderungen, welche Blocq (1888 und 1894) die erste An¬
regung zur myogenen Theorie der Parkinsonschen Krankheit gaben und die von
Schieferdecker (1903) und von Idelsohn (1904) neuerdings beschrieben,
aber von Naky (1906) als Artefakte (Mendel) hingestellt wurden.
Eine bestimmte und einheitliche Veränderung wurde an den Muskeln
nicht gefunden; wohl aber wurden Veränderungen der Muskulatur sehr häufig,
fast in allen untersuchten Fällen gefunden (einen negativen Befund verzeichnen
Buck und De Moor, Lambrior — nach Cast6ran), allerdings häufig auch
solche Veränderungen, die man fast bei allen krankhaften Zuständen des Organis¬
mus findet (wie z. B. eine Vermehrung der Kerne in den Interstitien oder atro¬
phische Veränderungen einzelner Fasern). (Alquier.)
Parkinson sehe Krankheit .
205
Veränderungen der Muskulatur wurden auch in solchen Fällen gefunden,
wo von senilen Veränderungen nicht gesprochen werden konnte (z. B. Schwenn
bei einem 38jährigen Mann, der seit dem 27.—28. Lebensjahre krank war).
Wir werden demnach zu der Ansicht geleitet, daß die Muskelverände¬
rungen mit der Parkinsonschen Krankheit eng Zusammenhängen. Einen
anderen als den allgemeinen Schluß, daß die Muskulatur bei derParkinsonschen
Krankheit in Mitleidenschaft gezogen ist, kann man aber aus den anatomischen
Befunden nicht ziehen. Wir können nicht behaupten, daß die Parkinsonsche
Krankheit eine subakute oder chronische Myositis sei, noch etwa eine Hyper¬
trophie oder Atrophie der Muskeln. Dazu sind die Veränderungen viel zu mannig¬
faltig.
Kann man die allgemeine Erfahrung, daß die Ernährung der Muskulatur
leidet, als Basis für die Erklärung der ganzen Krankheit annehmen? Gewiß
nicht. Die Parkinsonsche Krankheit mit allen ihren Symptomen ist ein viel
weiterer Begriff als eine Erkrankung der Rumpf- und Extremitätenmuskulatur.
Weder die Entzündung, noch die Atrophie, noch die Hypertrophie der
Muskeln vermag uns die verschiedenartigen Erscheinungen der Parkinsonschen
Krankheit zu erklären; sie alle sind nur Teile jener degenerativen Prozesse,
die wir bei der Parkinsonschen Krankheit in allen Organen vorfinden.
Nicht einmal die Rigidität und das Parkinsonsche Zittern — diese
funktionellen Veränderungen von stets gleichbleibendem, stereotypem Charakter
— lassen sich aus den einander so widersprechenden und mannigfachen anatomi¬
schen Veränderungen erklären.
IV.
Die Parkinsonsche Krankheit ist durch eine Vergiftung des
Organismus verursacht. Es wurden mehrere derartige Hypothesen aus¬
gesprochen, oder vielmehr es wurden alle derartigen Möglichkeiten erschöpft:
sie sei eine Vergiftung durch Stoffwechselprodukte (Autointoxikation im engeren
Sinne), eine Vergiftung durch die endogenen Toxine der Drüsen mit innerer
Sekretion, eine exogene Vergiftung, eine Vergiftung infektiösen Ursprungs,
eine den chronischen Arthritiden verwandte rheumatoide Vergiftung.
Wenn wir zuerst ganz allgemein urteilen wollen, müssen wir sagen, daß
vom klinischen Standpunkte aus die toxische Ursache der Krankheit die größte
Wahrscheinlichkeit für sich hat (Burzio, Eulenburg, Catola, Dana,
Bychowsky, Berkeley, Lundborg, Möbius). Sie stellt eine so weite
ätiologische Einheit dar, daß sie, allgemein genommen, der Ausgangspunkt
einer Krankheit sein kann, die sich zunächst durch verschiedene Sensationen
im Bereiche des sensitiven Systems äußert, sodann durch das Gefühl von
Schwäche und Gliederstarre, durch Zittern, durch mannigfache nervöse, trophi-
sche, vasomotorische Erscheinungen, durch degenerative Veränderungen der
Muskulatur, des Gefäßsystems, des Zentralnervensystems und der verschiedenen
Systeme der Drüsen mit innerer Sekretion.
Wenn wir dabei noch bedenken, daß die Krankheit Jahrzehnte dauert,
daß sie unheilbar und progressiv bis zum Tode ist, müssen wir annehmen, daß
das ätiologische Agens dauernd ein wirkt.
Wenn wir ferner erwägen, daß die Sinne des Kranken lange Zeit klar
und scharf bleiben, werden wir jenes Agens nicht unter den narkotischen Giften
206
Zweiter Teil.
suchen, noch in der Kategorie der gewöhnlichen intestinalen Autointoxikationen,
welche in den deüranten Zuständen der Azeton Vergiftung ihren typischesten
Repräsentanten besitzen (Thomayer).
Dafür erinnert die Parkinson sehe Krankheit durch ihren ganzen Cha¬
rakter und Verlauf an die chronische Arthritis deformans oder an die strumi-
prive Kachexie, die zu den chronischen Dystrophien gehören.
Wir können aber noch andere allgemeine Ansichten aufstellen, wenn wir
uns die Parkinsonsche Krankheit in ihrem ganzen Verlaufe und in der Fülle
ihrer Symptome vor Augen halten.
Wenn wir bedenken, daß es sich um eine Krankheit handelt, die auf
sehr mannigfache Art mit unbestimmten und unbestimmt lokalisierten, peripheren
Symptomen beginnt, die später außer zwei bis drei Hauptsymptomen eine ganze
Plejade unbeständiger vasomotorischer und trophischer Erscheinungen auf weist,
die sich manchmal nach einer mächtigen psychischen Erschütterung in kurzer
Zeit ganz stürmisch entwickelt, die aber auch ganz leicht mit Exazerbationen
und Remissionen einhergehen kann, bei der wir Symptome von Läsionen fast
aller Organe und — bei Sektionen — Veränderungen fast aller Systeme, des
Muskel-, Nerven-, Gefäßsystems, vorfinden und doch keinen ständigen und typi¬
schen Befund konstatieren, können wir eine Ähnlichkeit mit dem klinischen
Charakter analoger Krankheiten wie z. B. des Morbus Addisonii, des Myx¬
ödems oder der Basedowschen Krankheit nicht übersehen.
Dieser Charakter, der eine tiefere Bedeutung als die einer oberflächlichen
Charakteristik besitzt und den Skala in seiner Arbeit über die Schilddrüse (1909)
scharfsinnig als den Charakter jener Krankheiten extrahiert, die aus einer Ver¬
änderung der Drüsen mit innerer Sekretion resultieren, ist die wahre Ursache
der früher einander so widersprechenden Erklärungen der Parkinsonschen
Krankheit, wie dies in ganz analoger Weise auch bei anderen, aus einer Störung
der Drüsen mit innerer Sekretion resultierenden Syndromen der Fall war.
Schließlich deutet auch der Umstand, daß die Parkinsonsche Krankheit
ganze Jahrzehnte dauert und nicht ausheilt, daß sie selten auf ein und derselben
Stufe stehen bleibt, sondern sich im Gegenteil fast stets progressiv verschlechtert
und unerbittlich zum Tode im kachektischen Stadium führt, darauf hin, daß die
Quelle der Krankheit nie versiegt, das supponierte Agens unaufhörlich einwirkt,
sich stets erneuert, und dieser Umstand macht es daher unwahrscheinlich,
daß jenes Agens von außen in den Körper eindringt.
Die Logik der ganzen Krankheit führt uns daher zu dem
Schlüsse, daß dieKrankheit durch eine giftige Substanz verursacht
wird, welche auf alle Systeme des Organismus unaufhörlich, ganze
Jahrzehnte lang einwirkt und die im Organismus selbst erzeugt
wird — sei es in einem bestimmten Organ oder durch einen allgemein patho¬
logischen Stoffwechsel—, daß es sich um einen endogenen toxischen Prozeß
analog jenem bei der Basedowschen Krankheit handelt oder noch
eher um eine Dystrophie analog jener bei der strumipriven
Kachexie, dem Myxödem und der Addisonschen Krankheit.
Wir haben bereits erwähnt, daß schon alle Theorien aufgestellt wnirden,
und daher auch diese. In einer Zeit, wo die Erforschung der Drüsen mit innerer
Sekretion auf der Tagesordnung steht, ist es begreiflich, daß bei der Parkin¬
sonschen Krankheit alle Drüsen in Betracht gezogen wurden. Dies geschah
Parkinson sehe Krankheit.
207
bis jetzt nur auf anatomischem Wege und nur Lundborg wurde zu dieser An¬
sicht mehr durch die Logik der klinischen Tatsachen als durch die passive Ten¬
denz des Zeitgeistes geführt. Aber selbst Lund borg führte seine These nicht
bis zu den letzten Konsequenzen durch, indem er es nicht versuchte, seine An¬
sicht, die Ursache der Parkinsonschen Krankheit wäre eine chronische In¬
suffizienz der Parathyreoidealdrüsen, durch eine entsprechende Erklärung
der Krankheitserscheinungen, namentlich der Rigidität und des Zitterns, zu
beglaubigen und auf diese Weise eine vollständige pathogenetische Theorie aus¬
zubauen; er blieb bei der ätiologischen Theorie.
Ich will den umgekehrten Weg einschlagen; indem ich mir als Ziel meiner
Arbeit die Erklärung des Hauptsymptoms, nämlich des typischen Parkinson¬
schen Zitterns, gestellt habe, war ich gezwungen, mich mit der ganzen Frage
der Pathogenese dieser bis jetzt rätselhaften Krankheit zu beschäftigen, und
wenn ich den Versuch unternehme, eine vollständige Erklärung der Krankheit
und ihrer Symptome zu geben, bin ich mir der Schwere dieser Aufgabe voll
bewußt und gebe mich keiner Täuschung darüber hin, daß ich mich auf einem
unsicheren Boden bewege. Ich betrachte meine Arbeit als den ersten Versuch
zu einer einheitlichen Ansicht über eine Krankheit, bei der sich bis jetzt schlie߬
lich ein jeder damit zufrieden gab, daß wir sie in ihrer Gänze nicht zu erklären
vermögen, oder sich mit einer teilweisen Erklärung ohne Rücksicht auf die Fülle
ihrer Symptome begnügte.
V.
Wir wollen eine Analyse der Symptome der Parkinsonschen Krankheit
versuchen.
a) In der allerersten Zeit tritt bei langsamem Verlaufe ein Gefühl
der Muskelschwäche und eine bedeutende Langsamkeit der Bewegungen in
den Vordergrund; diese beiden Symptome begleiten die Krankheit während
ihres ganzen Verlaufes; der Kranke fühlt sich nicht nur schwach, fühlt nicht
nur eine Schwäche seiner Extremitäten, sondern wird sich zugleich dessen
bewußt, daß er eine viel größere Innervationskraft aufwenden muß als früher
oder als auf der nicht ergriffenen Seite; zwischen dem Beginne der Innervation
und dem Beginne der Bewegung verfließt eine auffallend lange Zeit. Die Be¬
wegungen gehen dabei in normaler Weise vor sich. Die Ermüdbarkeit ist
größer als früher.
Es handelt sich hier also offenbar um eine Verlängerung der Latenzzeit,
um eine Herabsetzung der Muskelerregbarkeit und um eine leichtere Muskel¬
ermüdbarkeit.
Der Charakter entspricht nicht jenem der Parese infolge Nervenstörungen,
noch jenem der Parese infolge zentraler Läsionen, bei denen zwar auch das
subjektive Gefühl der gesteigerten Innervationsanstrengung vorhanden ist,
aber jene auffallende Verlängerung der Latenzzeit bei der normalen Bewegung
fehlt, bei denen im Gegenteil die Latenzzeit normal, die Bewegung aber be¬
züglich der Amplitude beschränkt ist.
Der Charakter entspricht nicht jenem der Parese, der Lähmung, sondern
jenem der Myasthenie.
In diesem Stadium, in welchem die Diagnose sehr unsicher ist, sucht
der Kranke den Arzt noch nicht auf, und daher besitzen wir keine direkten
208
Zweiter Teil.
Erfahrungen über die Muskelreaktion in diesem ersten Stadium. Doch beobach¬
teten wir einen Kranken, bei dem die Symptome der Parkinsonseben Krankheit
auf der rechten Körperseite entwickelt waren, während er links weder Zittern,
noch sichere Rigidität besaß, aber doch schon auch auf dieser Seite Ermüdbarkeit
und Langsamkeit der Bewegungen empfand. Wir können daher das Unter¬
suchungsergebnis auf dieser wenig ergriffenen Körperseite zur Erklärung der
Verhältnisse im ersten Stadium der Parkinsonschen Krankheit verwenden
(und dies um so mehr, als sich später auch auf dieser Körperseite die typischen
Symptome entwickelten).
Auf dieser wenig ergriffenen Körperseite — also im ersten Stadium der
Parkinsonschen Krankheit — fand ich, daß die elektrische Muskelerregbarkeit
an der oberen Extremität im Vergleiche zu der Erregbarkeit bei einem gleich-
alterigen Menschen ohne Parkinson sehe Krankheit herabgesetzt war; der
Tetanus ließ sich an den Extensoren direkt und indirekt auslösen, aber nur durch
einen stärkeren Strom, und ging früher in gröbere Senkungen der Ordinate
über als beim Kontrollmenschen. Die willkürlichen Bewegungen waren dem
Elektrotetanus ähnlich: die Dauerextension im Karpalgelenk verlief folgender¬
maßen: Der Kranke erhebt die Hand, welche sofort stufenweise etwa bis zur
Mitte der Höhe der Ordinate des Kontrollmenschen sinkt, wo sie sich aber
nicht lange erhält, sondern vollständig herabsinkt, um sich sofort infolge eines
neuen Innervationsimpulses wieder zu erheben; so glich unser Patient in der
ersten Minute etwa viermal die Stellung der Hand aus, wobei die Unterbrechungen
immer kürzer wurden; der Kontrollmensch hielt die Hand drei Minuten
ohne Unterbrechung im Karpalgelenk gestreckt — nur die einzelnen Finger
senkten sich, um sich sofort wieder zu strecken; erst nach drei Minuten sank
seine Hand bis zur Mitte der Ordinate und erst nach fünf Minuten unterbrach
der Kontrollmensch den Versuch, indem er über Krampf in den Extensoren
klagte (auf dem folgenden Bild Ib), a). Diese Erscheinungen beweisen
also ebenfalls deutlich die raschere Ermüdbarkeit und die Herab¬
setzung derErregbarkeit jener Muskeln, welche gewöhnlich an dem
Zittern beteiligt sind.
Bei einem anderen Patienten, der außer Langsamkeit der Bewegungen,
Ermüdbarkeit und den ersten Anzeichen einer allgemeinen Starre keine Be¬
schwerden hatte und den sein intelligenter Bruder, ein Arzt, behufs Untersuchung
zu mir geschickt hatte, fand ich eine andere Eigentümlichkeit; als er mir nämlich
mehrmals hintereinander die Hand drücken sollte, tat er dies immer langsamer,
obwohl er stets ein ziemlich hohes Maximum der Kontraktion erreichte, so daß
er beim fünften Händedruck zur Erreichung des Maximums die doppelte Zeit
benötigte als zum ersten. Hier war die Herabsetzung der Erregbarkeit,
die bei Wiederholung des Versuches noch bedeutender wurde, ganz
offenkundig.
b) In einem späteren Stadium tritt das Zittern in der Ruhe auf,
das bei aktiven und passiven Bewegungen in der ersten Phase der Bewegung
auf hört, während es bei längerer Innervation (z. B. bei der statischen Inner¬
vation) wiederkehrt.
Es ist interessant, zu verfolgen, wie sich in diesem Stadium die dem Elektro¬
tetanus analoge spontane Innervation bei den Muskeln verhält, die sich an dem
Zittern beteiligen. (In unserem Falle handelte es sich um Flexionen und Ex-
Parkinson sehe Krankheit.
209
tensionen im Karpalgelenk, die Versuche stellte ich an den Extensoren der
Hand an.) Die Verhältnisse bei diesem spontanen Tetanus veranschaulicht
in schematischer Weise die beiliegende Figur: der Kranke streckt die Hand aus
und sofort hört das Zittern auf; 10 Sekunden dauert eine ruhige, glatte Extension,
worauf sich das typische Zittern einstellt, aber fast auf der Höhe der Extension;
nach 10 Sekunden sinkt die Hand zugleich mit dem Zittern herab (Ic). Nach
kurzer Zeit wurde der Versuch wiederholt; jetzt dauerte die ruhige Extension
nur 4,5 Sekunden und das Zittern auf der Höhe der Extension nur 5 Sekunden,
die Hand sank herab, der Patient glich die Stellung sofort wieder aus, die ruhige
Extension dauerte 4 Sekunden und das Zittern auf der Höhe der Extension
1,5 Sekunden, worauf der Patient während der folgenden 9,5 Sekunden die Hand
dreimal in Extensionsstellung zurückbrachte; das Zittern kam für eine immer
kürzer werdende Zeit zum Stillstand (Figur II—VI c), bei einem neuen Ver¬
suche hielt der Kranke die Hand so ziemlich eine Minute gestreckt, mußte aber
nach einigen Sekunden immer von neuem mit demselben Erfolge innervieren,
worauf die Hand ermüdet auf die Unterlage sank.
Hierbei war die elektrische Erregbarkeit herabgesetzt. Der Tetanus
ließ sich nur direkt hervorrufen und der erforderliche Strom war bedeutend größer
(in MA) als auf der anderen Seite und doppelt so stark als bei dem Kontroll-
menschen; ein glatter Tetanus bestand etwa 10 Sekunden, worauf eine
typische Schüttelbewegung zuerst am Daumen, dann am Kleinfinger, dann an
den übrigen Fingern und schließlich an der ganzen Hand auftrat und dann sank
die Hand herab. Bei direkter Reizung durch einen noch stärkeren Strom
entstand eine tetanische Spannung, die imverändert zwei Minuten unterhalten
werden konnte, worauf der Versuch wegen Schmerzen abgebrochen werden mußte.
Nach dieser langen und sehr starken Reizung blieb die Hand des Kranken,
die sonst in der Ruhe fortwährend zitterte, 45 Sekunden frei von Zittern, die
darauffolgende spontane Extension der Hand war unvollständig, die Ruhe war
kaum angedeutet und gleich darauf stellte sich ein typisches, grobes Zittern
ein; die Extension dauerte im ganzen drei Sekunden (auf der Figur die Kurve VII).
Bei wiederholtem spontanen ,,Tetanus“ war die anfängliche Ruhe noch kürzer,
und gleich darauf stellte sich ein grobes Zittern ein. — Wenn man dem Kranken
eine Pause von fünf Minuten gewährte, dauerte die Ruhe bei der spontanen
Extension wieder fünf Sekunden.
Pelnär, Zittern.
14
210
Zweiter Teil.
Ein indirekter Tetanus konnte durch schwächere Ströme, selbst wenn sie
zweimal so stark waren als beim Kontrollmenschen, überhaupt nicht ausgelöst
werden; hierbei stellte sich ein schmerzhafter Krampf im Supinator ein.
Während wir also im ersten Stadium, in welchem noch kein Zittern vor¬
handen ist, nur eine Ermüdbarkeit und eine herabgesetzte Muskelerregbarkeit
beobachteten, konstatierten wir im Stadium des Zitterns eine doppelte Ver¬
änderung: zunächst eine Ermüdbarkeit der Muskeln analog jener bei der Erb-
schen myasthenischen Reaktion, nur langsamer und weniger intensiv, und zwar
sowohl bei der spontanen Innervation, als auch bei der Elektrisierung, und
zweitens, daß der Tetanus nicht dauernd und glatt ist, sondern je weiter, desto
früher in ein grobes Zittern von derselben Art „zerfällt“, wie das Zittern des
Kranken im Ruhezustand. Durch diese zweite Komponente unterscheidet sich
unsere Reaktion von der myasthenischen Reaktion, bei der der Tetanus glatt
bleibt. (Bei unserem Parkinson Nr. 2 war ein myasthenisches Verhalten der
Handmuskeln auch beim Drücken des Dynamometers offenkundig.)
Die physiologische Forschung hat uns über die Ursache dieser Erschei¬
nungen belehrt: die anisotrope Substanz, welche die # rasche Zuckung der
Muskelfaser ermöglicht, wird durch eine Kontraktion des Sarkoplasmas unter¬
stützt, so daß durch Superposition und schließlich durch Konfluenz der einzelnen
Zuckungen ein glatter (bei oberflächlicher Betrachtung glatt erscheinender)
Tetanus entsteht. Wenn das Sarkoplasma verändert ist, wenn es z. B. bei der
VeratrinVergiftung leichter ermüdbar wird, zerfällt die glatte Kontraktion nach
einem tetanisierenden Reiz in eine grobe Bewegung, die jener bei unserem Pa¬
tientenvorhandenen ähnlich ist (Lhotäk, 1. c. S. 185 und TabelleVIII, Figur 15).
Es handelt sich hier also wieder um den myasthenischen Charakter der
Muskeltätigkeit, nur daß bei der Erb sehen Myasthenie der Muskel in gleich¬
mäßiger Weise schnell seine Erregbarkeit und Kontraktionsfähigkeit verliert,
wobei aber die innere Struktur der Bewegung eine vollkommene ist, während
sich hier die Möglichkeit der Bewegung mit der Bewegung sukzessive langsam
verringert, ohne vollständig zu verschwinden, wobei aber die normale Struktur
der Bewegung, jene Komponente, welche nach den physiologischen Ergebnissen
das Sarkoplasma besorgt, gleichzeitig und rascher verschwindet. Bei der
Erb sehen Krankheit reagiert der Muskel auf die willkürliche Innervation
immer schlechter, bis die Kontraktionsfähigkeit vollständig aufhört, aber das
Sarkoplasma bietet einer jeden Funktion der anisotropen Substanz eine feste
und entsprechende, genügende Stütze — in gleicher Weise bei der ersten maxi¬
malen wie bei der letzten minimalen Kontraktion; die Erbsche Myasthenie
ist durch die Reaktion der anisotropen Substanz bedingt, wäh¬
rend das Sarkoplasma in keiner Weise störend hervortritt. Bei der Parkin-
sonschen Krankheit ist die Ermüdbarkeit der anisotropen Substanz offen¬
kundig; sie ist nicht so groß wie bei der Erbschen Krankheit, aber die Qualität
der Reaktion ist im allerersten Stadium dieselbe; im Stadium der größeren
Muskelrigidität zeigt sich bereits eine Eigentümlichkeit (das langsame Kre-
szendo der Kontraktion); im Stadium des Zitterns nimmt diese Eigentümlichkeit
zu, denn die innere Struktur der Bewegung ändert sich, die Kontraktion zerfällt
zum Zittern; beide Eigentümlichkeiten lassen sich am besten durch herabgesetzte
Erregbarkeit des Sarkoplasmas und dessen große Ermüdbarkeit erklären; die
Kontraktion kommt zustande, aber langsam und bleibt nicht kontinuierlich;
Parkinson sehe Krankheit.
211
der Muskel ist in der Ruhe nicht schlaff, wie bei der Erbschen Krankheit, sondern
zeigt im Gegenteil eine Tendenz zu größerer Rigidität, was wiederum nur mit
dem Zustande des Sarkoplasmas Zusammenhängen kann, der sich aber von
den tonischen und tetanischen Krämpfen unterscheidet; etwas, was diesen
Krämpfen analog wäre, wird in der Regel nicht beobachtet. Wir haben hier
also im Gegensatz zur Erbschen Krankheit eine sarkoplastisch modifi¬
zierte Myasthenie vor uns. Diese Modifikation beruht in einer ganz eigen¬
tümlichen Funktionsstörung: verlängerte Latenzzeit, langsames Kreszendo
der Kontraktion, rasche Ermüdbarkeit und dabei Tendenz zur Rigidität, also
in einer ganz charakteristischen Veränderung der Muskelsubstanz.
Gleichzeitig mit diesem Erstarren verharrt der Körper in der bekannten
stereotypen Haltung, bei der die Beuger gewöhnlich das Übergewicht über die
Strecker besitzen. Die Muskeln erstarren auf eine eigentümliche Weise: wir
erkennen die Muskelrigiditäten bei der Parkinsonschen Krankheit mehr
durch die Aspektion als durch die Palpation; mehr durch die Klagen des
Patienten, durch die deutliche Beschränkung der Beweglichkeit des Patienten
als durch die Betastung der einzelnen Muskeln; manchmal müssen wir bei einem
Patienten, dessen Haltung ziemlich ,,starr“ und hölzern ist, bei der direkten
Untersuchung mittelst Palpation die Rigiditäten erst suchen. Daß sie sich von
dem erhöhten Muskeltonus bei Störungen der Pyramidenbahnen (in den oberen
Neuronen) unterscheiden, haben wir bereits hervorgehoben.
Die auffallendste Eigenschaft dieser Rigiditäten ist die, daß sie sich durch
wiederholte Bewegungen, speziell durch passive Bewegungen, durch Vibration,
durch Massage verringern, so daß nach diesen Manipulationen oft eine Bewegung
möglich ist, die vorher infolge der Rigidität unmöglich war.
Wir kennen toxische Veränderungen des Sarkoplasmas, bei welchen
eine Starre auftritt, die Bewegungen unmöglich macht und die durch Massage
und dergl. beseitigt werden kann. Bei der Muskel Vergiftung durch Monobrom¬
essigsäure z. B. gelingt es mit Hilfe der Massage, durch gewaltsame Streckung
nach Lhotäk den Muskel, der alle Erscheinungen eines total erstarrten Muskels
darbot und der nicht einmal auf supramaximale Reize reagierte, zur Reaktion
zu bringen, und zwar auch zur Reaktion auf den ursprünglichen Reiz (1. c. S. 192).
Eine Analogie mit derartigen sarkoplasmatischen Vergiftungen besteht
bei der Parkinsonschen Rigidität auch in dem Umstand, daß die Rigidität
im Winter, in der Kälte größer zu sein pflegt und durch Eintauchen der Ex¬
tremität in kaltes Wasser gesteigert wird.
Wenn wir demnach durch eine bekannte experimentelle Analogie auch
nicht genau bestimmen können, um welche Veränderung es sich bei der Rigidität
handelt, so sind uns doch wenigstens analoge Zustände nach nachweislich sarko-
plastischen Giften bekannt, so daß auch die Rigidität gleich den früher
erwähnten Veränderungen der intendierten Bewegungen auf eine
eigentümliche Veränderung des Sarkoplasmas hinweist.
Wir wollen nunmehr zum Zittern in der Ruhe zurückkehren:
Das Parkinsonsche Zittern ist eine eigentümliche Erscheinung in der
menschlichen Pathologie. Es unterscheidet sich zunächst von allen übrigen
Formen des Zitterns durch seine ausgesprochene Langsamkeit: 4—5 Wellen
in der Sekunde. Wenn die durchschnittliche Frequenz des physiologischen
Zitterns (etwa 10 Wellen in der Sekunde) der Dauer der latenten Reizung des
14 *
212
Zweiter Teil.
Sarkoplasmas (0,05—0,10 Sekunden) entspricht, würde die niedrige Frequenz
unseres Zitterns auf eine Verlängerung dieser Latenzzeit hin weisen, die mit dem
erwähnten zögernden Verhalten der spontanen Bewegungen bei diesen Kranken
gut übereinstimmen würde und die nach Joteyko zugleich die Herabsetzung
der Erregbarkeit des Sarkoplasmas begleitet. Unser Zittern unterscheidet sich
ferner von allen übrigen Formen des Zitterns dadurch, daß es am deutlichsten
bei vollkommener Ruhe ist, wenn die Hand auf einer Unterlage ruht, gestützt
und von jeder Pyramideninnervation frei ist, also unter Verhältnissen, unter
welchen die normalen, quergestreiften Muskeln in der unbedeutenden, kon¬
stanten Innervation des Muskel,, tonus“ verharren. Dieser glatte Muskeltonus
ist hier gestört. Der Muskeltonus ist bedingt durch eine kontinuierliche Reizung
des Sarkoplasmas (zum Unterschiede von der unterbrochenen Innervation
oder wenigstens von der raschen Änderung der Intensität in der anisotropen
Substanz). Wir gelangen also ungezwungen zu dem Schlüsse, daß es sich auch
beim Zittern um eine Verlängerung der Latenzzeit (verminderte Erregbarkeit)
und um eine Änderung der Funktion des Sarkoplasmas bei der dauernden,
kontinuierlichen Reizung handelt.
Das Zittern im Ruhezustand ist bei der Parkinsonschen Krankheit so
deutlich und Tage, Monate und Jahre andauernd, daß es meiner Ansicht nach
nicht anders erklärt werden kann, als durch eine innere Veränderung in den
Muskeln, welche auf die normale Innervation in der Ruhe in anderer Weise,
und zwar durch diese rhythmischen Schwankungen reagieren. Eine derartige
Reaktion ist sonst den quergestreiften Muskeln fremd und auch bei den glatten
Muskeln kommt sie selten vor; nur dem Herzsmukel ist sie eigen. Jede dieser
drei Arten von Muskeln zeigt unter gewissen Umständen eine ihm nicht eigene
Reaktion, die Reaktion einer der beiden anderen oder der beiden anderen Arten
(Lhotak); von diesen Möglichkeiten tritt die rhythmische Kontraktion des
quergestreiften Muskels am seltensten in die Erscheinung (Biedermann,
Joteyko, Lhotäk). Wir kennen folgende Analogien:
1. Hering 1879 (zit. von Biedermann 1. c. S. 167) sah am kurarisierten,
in 0,6% NaCl-Lösung getauchten und mit einem sehr schwachen konstanten
Strom gereizten Sartorius des Frosches eine rhythmische Bewegung.
2. Biedermann sah unter ähnlichen Umständen — er tauchte einen
Muskel für 13 Minuten in eine 1—3%ige Natriumkarbonatlösung und reizte
ihn dann mit einem mittelstarken konstanten Strom — rhythmische Kon¬
traktionen, etwa eine in der Sekunde, und vergleicht diese rhythmische Reaktion
mit der normalen Tätigkeit des Herzmuskels.
3. Locke (zit. Bottazzi) beobachtete spontane Bewegungen an dem
in 0,75% Natriumoxalatlösung getauchten Sartorius des Frosches. Bottazzi
(1901) bestätigte diese Beobachtung und zeichnete Kurven mit einem auffallend
regelmäßigen Rhythmus vom Sartorius der Rana esculenta (Tabelle XIV,
46, I), reproduzierte ferner ähnliche rhythmische Schwankungen (Tetanus)
nach Jodnatrium auf Tabelle XIV, 49, I, II.
Joteyko zit. Loeb (S. 55), daß die Ionen des Na, CI, Li, F, Br, J be¬
sonders leicht rhythmische Kontraktionen der quergestreiften Muskeln hervor¬
zurufen vermögen, während die Ionen des Ca, Ba, Sr, K, Mg, Co, M die
Rhythmizität hindern.
4. Mlle. Joteyko leitete durch den Wadenmuskel des Frosches einen
Parkinson sehe Krankheit .
213
ziemlich starken oder einen sehr starken konstanten Strom und beobachtete
in einigen Fällen statt des glatten Tetanus eine rhythmische Bewegung (Fig. 23,
S. 67 mit einer Frequenz von 3—4 in der Sekunde), welche während der ganzen
Zeit anhielt, während welcher der Strom den Muskel durchströmte (t^tanos
galvanique rhythmique); besonders schön war die rhythmische Bewegung,
wenn der Muskel zugleich mit Veratrin vergiftet war.
5. Nur zum Teil — soweit sie die rhythmische Kontraktion des querge¬
streiften Muskels statt der glatten Kontraktion zeigen — gehören hierher auch
die Erfahrungen der Mlle. Joteyko und Lhotäks über die wellenförmige
Kontraktion des mit Veratrin vergifteten Muskels. Es handelt sich hier nicht
allein um einen Zerfall des Tetanus infolge Ermüdung, sondern um Undulationen
an dem ganzen absteigenden Schenkel der myographischen Kurve oder auf
ihrem Scheitel oder in seltenen Fällen auch an dem aufsteigenden Schenkel
(Lhotäk, Joteyko, Fig. 4 und 5, S. 25 und 26). Joteyko fügt hinzu, daß
nur einzelne Muskeln, diese aber dann immer und dauernd, dieses Verhalten
zeigen. Eine nähere Ursache dieses Verhaltens konnte sie nicht finden. Beide
Erscheinungen, den rhythmischen galvanischen Tetanus und die rhythmische
Kontraktion nach faradischer Reizung, hält sie für Beispiele dafür, „daß auch
der gewöhnliche quergestreifte Muskel jene Rhythmizität besitzen kann, die
in so hohem Grade dem Herzen, weniger den glatten und quergestreiften Muskeln
mit einer verhältnismäßig großen Menge Sarkoplasma zukommt“ („rote“
Fasern gegenüber den „weißen“ quergestreiften Fasern). Sie fügt hinzu, daß
diese rhythmische Funktion nur'dann auf tritt, wenn die Muskeln einem das
Sarkoplasma reizenden Einfluß unterworfen sind (S. 91).
Auch Lhotak wies bei seinen Versuchen mit Veratrin manchmal eine rhyth¬
mische Reaktion selbst nach einer einfachen Reizung unter verschiedenen Um¬
ständen nach, die er aber nicht näher bestimmen konnte. An ermüdeten Muskeln
hat er diese Beobachtung nicht gemacht.
Von den erwähnten Fällen, in denen der quergestreifte Muskel rhythmische
Bewegungen vollführt, besizten die größte Analogie mit den bei der Parkinson-
schen Krankheit vorhandenen Verhältnissen die Versuche von Hering, Bieder¬
mann und Bottazzi: die Kombination der Reizung mittelst des konstanten
Stromes mit der chemischen Wirkung von Substanzen, welche auf das Sarko¬
plasma wirken. Der Innervation des Muskeltonus in der Ruhe ist die Reizung
mit dem konstanten Strome gleichzustellen und eine Veränderung des Sarko-
plasmas ist bei allen bis jetzt vorgenommenen Analysen der Fälle von Par¬
kinsonscher Krankheit ein notwendiges Postulat. Ich erkläre mir daher das
Zittern in der Ruhe bei der Parkinsonschen Krankheit durch eine rhyth¬
mische Reaktion des veränderten Muskels auf die den Muskeltonus
erhaltende dauernde Innervation; ich erblicke in dem langsamen, groben
Zittern in der Ruhe ein pathologisches Beispiel für die rhythmische Reaktion der
quergestreiften Muskeln des Menschen und eine sarkoplastische Erscheinung
gegenüber der gewöhnlichen kombinierten Tätigkeit. Jede Pyramideninner¬
vation und ganz besonders jede intendierte Bewegung stört diese automatische
Tätigkeit.
Die bisher angeführten Erwägungen führen uns zu der Ansicht, daß
das Sarkoplasma bei der Parkinsonschen Krankheit eine längere
Dauer der latenten Reizung besitzt, daß es leichter ermüdet und
214
Zweiter Teil.
daß hierbei in demselben eine eigentümliche Modifikation statt¬
findet, die sich durch eine Disposition zur Rigidität und rhyth¬
mischen Funktion und durch den Mangel tonischer Kontrakturen
äußert.
Eine nähere Analogie konnte ich in den bisher bekannten Erfahrungen
der Muskelphysiologie nicht finden; die toxikologischen Versuche an den Muskeln
sind bis jetzt noch nicht so ausgedehnt und mannigfaltig, um bestimmen zu
können, welches Gift im Sarkoplasma analoge Veränderungen hervorrufen würde.
Vorläufig muß man sich mit der Analyse dieses Zustandes aus der mensch¬
lichen Pathologie begnügen; eine gewisse Ähnlichkeit bietet die Vergiftung
mit Veratrin, mit Monobromessigsäure, allerdings nur insoweit, als sie auch
sarkoplasmatische Gifte sind; aber bei der Parkinsonschen Krankheit ist
der Unterschied von Bedeutung, daß hier keine Disposition zu Kontrakturen
vorhanden ist, welche diese Gifte charakterisiert und die einen integrierenden
Bestandteil anderer klinischer Bilder darstellt, der sogenannten Hypertonie,
der Spasmophilie (Thomsen und die akquirierte Muskelhypertonie). Bei der
Parkinsonschen Krankheit finden wir eine Disposition zur tonischen Kon¬
traktur nur hier und da unter den Prodromen der Krankheit.
Wir haben hier also einen eigentümlichen Zustand vor uns, der experi¬
mentell bis jetzt noch nicht bekannt ist.
Der ganze Charakter der Parkinsonschen Krankheit und ihr langjähriger
Verlauf deuten nicht auf einen Zustand von gesteigerter Reizung des Nerven-
und Gefäßsystems; im Gegenteil, alles spricht für einen dystrophischen Prozeß;
denselben Charakter weisen auch die anatomischen Veränderungen an den
Muskeln auf; und in denselben Rahmen passen auch am besten die beobachteten
funktionellen Veränderungen der Muskeln.
VI.
Ich habe oben erwähnt, warum ich der Ansicht bin, daß die Parkinson-
sehe Krankheit durch eine Funktionsstörung der Drüsen mit innerer Sekretion
hervorgerufen wird; ich habe ferner gesagt, daß ich sie übereinstimmend mit
Lund borg für eine Dystrophie analog der Kachexia thyreopriva oder der
Addinsonschen Krankheit halte.
Es handelt sich nunmehr darum, ob sich in der bis jetzt bekannten
Symptomatologie der endokrinen Störungen eine Stütze für diese pathogenetische
Hypothese finden läßt.
Da müssen wir uns nun vor allem darüber klar sein, daß wir in allen unseren
Schlüssen nur einen gewissen, wenn auch ziemlich hohen Wahrscheinlichkeits¬
grad erreichen können. Die endokrinen Störungen sind bis jetzt wenig erforscht
und noch weniger kritisch bewertet; wie wissen noch immer nicht bestimmt,
welche Funktionen dieser oder jener Drüse allein eigentlich zukommen, da
die Forschung durch den Umstand sehr erschwert wird, daß bei Störungen
der einen Drüse auch die anderen Drüsen mit innerer Sekretion ihre Funktionen
ändern, wodurch das symptomatologische Bild verschleiert wird. Eine noch
größere Schwierigkeit beruht darin, daß wir bis jetzt die Gesetze dieser Korre¬
lationen nicht kennen, welche, wie es scheint, auch für verschiedene Funktionen
verschieden sind, so daß z.B. die Drüsen, w elche auf das Körperw achstum harmo¬
nisch wirken, auf den Austausch bestimmter Stoffe entgegengesetzt wirken usw\
Parkinson sehe Krankheit.
215
Betrachten wir zuerst, was bis jetzt aus der Anatomie, Symptomatologie
und Therapie der Parkinson sehen Krankheit zusammengetragen wurde, das
auf eine Beteiligung der Drüsen mit innerer Sekretion schließen lassen könnte.
Schilddrüse.
Anatomische Befunde: Partielle Atrophie fand in einem Falle Lund borg;
kystische Degeneration einmal Castelvi; Sklerose einmal Castelvi, viermal
unter 5 Fällen Alquier und zweimal unter 4 Fällen Roussy und Clunet; dieselben
Autoren fanden zweimal disseminierte Adenome; Par hon und Goldstein fanden
degenerative Veränderungen; also im großen und ganzen entweder gar keine Ver¬
änderungen oder solche, die auf eine herabgesetzte Funktion hindeuten.
Opotherapie: Thyreoidin hatte nie einen durchschlagenden Erfolg. Castelvi
beobachtete eine Abnahme des Zitterns und ein Verschwinden des Schwitzens,
während Dana (zit. bei Lund borg) und Alquier direkt eine Verschlimmenmg be¬
obachteten. (Eine analoge Bedeutung könnte man dem Mißerfolg nach Atropin
zuschreiben, welches Roussy in Mengen von etwa 12 mg pro die ohne Erfolg an¬
wendete.)
Symptomatologie: Pulsbeschleunigung und Herabsetzung des Blutdrucks,
welche Castöran anführt, sind keine ständigen Begleiterscheinungen der Parkin-
sonschen Krankheit. Mendel fand Pulsbeschleunigung in y 3 der Fälle, aber nicht
über 100 Pulse.
Wichtig sind die trophischen Störungen der Haut, die teils der Sklerodermie
(Frenkel, Luzzato, Penogrossi und Palmieri, Naumann), teils der Atrophie
(Böchet, Weber, Compin), teils dem Myxödem (Compin, Alquier, Lund¬
borg, Möbius) und der „main succulente“ nahestehen; in ähnlicher Weise kommt
auch eine Kombination mit Myxödem (Solliers, Lundborg, Luzzato, Möbius),
aber auch mit Basedowscher Krankheit vor (Möbius, Goldstein und Cobi-
lovici, Mendel); im Falle Goldsteins entstand die Schüttellähmung, als der
Basedow zurückging; in zwei Fällen Mendels waren die Symptome beider Krank¬
heiten gleichzeitig vorhanden.
Ferner: Vasomotorische Störungen in Form von profusen Schweißen, Gefühl
plötzlicher Hitze und eine Steigerung der oberflächlichen (keineswegs der zentralen)
Körpertemperatur, flüchtige Ödeme (Vincent zit. von Böchet), Dermographismus,
Anfälle von Diarrhöen (B6chet), Speichelfluß.
Ein gewisser Grad von Stupor bei sonst gut erhaltener Intelligenz, Schwer¬
fälligkeit des Gedankenausdrucks, langsame Auslösung der Eigennamen.
Alimentäre Glykosurie, die von Klienbergin einem mit Hysterie kombinier¬
ten Falle gesehen wurde und manifeste Glykosurie, wie sie von Topinard (zit. von
Hei mann) und Dana (zit. von Mendel) beobachtet wurde, sind gewiß seltene
Erscheinungen, da sie trotz darauf gerichteter Aufmerksamkeit nur in einzelnen
Fällen nachweisbar waren.
Von den weiteren Erscheinungen des Athyreosis sind die Gelenksaffektionen
zu nennen, welche der deformierenden Arthritis (Charcot) ähnlich oder mit der¬
selben identisch sind (Castdran, Veselle), so daß es manchmal im Anfang schwer
zu entscheiden ist, um welche der beiden Krankheiten es sich handelt (Brissaud).
Manchmal hat die Krankheit im Beginne den Charakter der deformierenden Arthritis
und später entwickelt sich die typische Parkinsonsche Krankheit (Brissaud).
Vorzeitiges Altem (Geroderma-Rummo) gehört nicht in den Rahmen dieser
Krankheit.
Die Symptome des Hyperthyreoidismus, wie schnelles Körperzittem, Exoph¬
thalmus, Struma, Erregbarkeit, Reizbarkeit, plötzliche Abmagerung, Anämie sind
der Parkinsonschen Krankheit im allgemeinen fremd.
Aus den angeführten Umständen geht also hervor, daß wir ziemlich häufig
einzelne Symptome der verminderten Funktion der Schilddrüse, aber
keine ständigen Symptome der gesteigerten Funktion derselben zu sehen bekommen;
auch die Kombination mit der B ased owsehen Krankheit ist nicht überzeugend, denn
in dem genauer bekannten Falle von Goldstein kombinierte sich die Parkinson¬
sche Krankheit nur mit Resten der Basedowschen Krankheit. Doch hat es
216
Zweiter Teil.
nicht den Anschein, daß die Parkinsonsche Krankheit einzig und allein
durch den Mangel des Sekretes der Thyreoidea hervorgerufen werden
könnte, denn ihre Symptomatologie ist viel umfangreicher und mannigfaltiger
als das Bild der Athyreosis.
Nebennieren.
Anatomie: Der einzige, der sich — soweit ich konstatieren konnte — syste¬
matisch mit der Anatomie der Nebennieren bei der Parkinsonschen Krankheit be¬
schäftigte, ist Alquier. Er fand unter 5 Fällen zweimal Hyperplasie und dreimal
Hypoplasie kombiniert mit sklerotischen Veränderungen.
Aus der Symptomatologie sind die myasthenischen Veränderungen zu er¬
wähnen, dieses konstante und typische Symptom der Parkinsonschen Krankheit,
das aber, wie wir gesehen haben, nur in einer Komponente mit der nach Degeneration
der Nebennieren auftretenden Veränderung übereinstimmt; ferner die Erfahrung
Mendels, der die Kombination eines typischen Falles von Parkinson scher Krank¬
heit mit den typischen Symptomen der Addisonsehen Krankheit beobachtete und
einen analogen Fall von Hecker zitiert.
Symptome einer gesteigerten Tätigkeit der Nebennieren, wie Glykosurie,
erhöhten Blutdruck, finden wir bei der Parkinsonschen Krankheit nicht.
Die Veränderungen der Muskeltätigkeit nach Adrenalin sind bis jetzt noch
nicht sicher erforscht, aber das, was bekannt ist (der erregende Einfluß auf den
Muskel), die Beseitigung der Ermüdungserscheinungen (Dessy und Grandis,
Oliver, Schäffer, Joteyko) könnte uns — mit großer Reserve — zu der Annahme
einer Herabsetzung der Nebennierenfunktion bei der Parkinsonschen
Krankheit veranlassen.
Hypophysis.
Der Zustand der Hypophyse bei der Parkinsonschen Krankheit wurde wie
der der Nebennieren bis jetzt nicht systematisch untersucht, so daß wir diesbezüglich
nur geringe Erfahrungen besitzen.
Anatomie: Alquier fand bei 3 unter 5 Fällen eine Zunahme der zyanophilen
und eine Abnahme der eosinophilen Elemente, was er für ein Zeichen einer weniger
guten Funktion hält; Roussy und Clunet fanden bei 2 von 4 Fällen keine Ver¬
änderungen, in einem Falle sahen sie eine pseudokystische Degeneration und in
einem Falle eine kolloidale Zyste im drüsigen Anteil.
Opotherapie: Dana sah eine kurzdauernde Besserung (zit. Lund borg);
Re non und Delille und nach diesen Parhon und Urechie konstatierten, daß
sich der Puls verlangsamte, der Blutdruck stieg, der Schlaf besser wurde, der Appetit
wiederkehrte, während das Zittern und die Muskelrigidität unverändert blieben.
Symptomatologie: Die Symptome, welche die Abnahme der Funktion der
Hypophyse begleiten wie: Pseudoadiposität, erworbener Puerilismus, Haarausfall,
ferner die Symptome einer gesteigerten Funktion derselben wie Veränderungen der
Extremitätenenden, Schlafsucht, Apathie fehlen bei der Parkinsonschen Krankheit.
Ovarien, Hoden.
Auch hier besitzen wir keine systematischen Erfahrungen. Anatomisch
fand Alquier in seinen 5 Fällen an den Ovarien „senile Veränderungen“.
Opotherapie: Brown-S6quard verzeichnete Besserung nach Behandlung
mit Hoden; Parhon und Goldstein sahen nach Ovarien Besserung in einem Fall,
in welchem Menstruationsbeschwerden vorhanden waren.
Symptomatologie: Die Parkinsonsche Krankheit beginnt zwar in der
zweiten Hälfte des Lebens, wo die Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen abnimmt oder
zum Stillstand kommt, und sie besitzt auch einige Symptome, die an die nervösen
klimakterischen Symptome (z. B. die vasomotorischen) erinnern, sie hat aber weder
zur Pubertät, noch zum Klimakterium irgendwelche regelmäßigere Beziehungen.
Man beobachtet bei ihr weder ein vorzeitiges Verblühen, noch sieht man in den Fällen
von vorzeitigem Klimakterium irgend etwas in der motorischen Sphäre, das an die
Veränderungen bei der Parkinsonschen Krankheit erinnern würde.
Parkinson sehe Krankheit.
217
Epiphysis cerebri.
Diese wurde bis jetzt noch nicht erforscht. Die bekannten Erscheinungen
bei Erkrankungen der Epiphyse (an den Genitalien — Ogle) wurden bei der Par-
kinsonschen Krankheit nicht beobachtet.
Pankreas.
Anatomisch wurde dasselbe von Alquier in seinen 5 Fähen untersucht und
normal befunden.
Die Ernährungsstörungen, die bei Erkrankungen des Pankreas Vorkommen
(Glykosurie, Azidosis, Abmagerung) wurden bei der Parkinsonschen Krankheit
nicht beobachtet.
Epithelkörperchen.
Ihr Verhältnis zur Parkinsonschen Krankheit ist ein modernes Thema
und daher finden wir hier schon mehr Aufzeichnungen.
Anatomie: Camp fand in 2 Fällen fettige Degeneration (Mendel). Alquier
fand bei 4 von 5 Fällen Veränderungen, die er als den Ausdruck einer Hypofunktion
anspricht, einmal fand er nur ganz geringfügige Veränderungen. Roussy und Clunet
fanden dagegen in 4 Fällen makroskopisch vergrößerte und abgeflachte Drüsen
und mikroskopisch Chromophilie, Spongiozytosis, kolloide Überproduktion und
halten diese Erscheinungen für den Ausdruck einer Hyperfunktion, weil sie sie
auch bei Tieren, denen sie 3 Drüsen exstirpiert hatten, nach einiger Zeit an der
zurückgebliebenen 4. Drüse fanden, während sie dieselben unter 100 gesunden
Kontrollfällen nicht ein einziges Mal vorfanden. Thomson fand in einem Fall
nichts Bestimmtes (nach Mendel), und auch Parhon und Goldstein fanden in
einem Falle an 2 untersuchten Drüsen ebenfalls nichts. Erdheim fand unter drei
Fällen von Parkinsonscher Krankheit in einem Fall eine Drüse durch Hyper¬
plasie der sogenannten oxyphilen Zellen ungewöhnlich vergrößert.
Opotherapie: Berkeley (1905) sah nach dem Extrakt der Epithelkörperchen
bei Ö von 11 Kranken Besserung aller Symptome, namentlich der zuletzt aufge¬
tretenen, und (1907) nach dem aus den Drüsen isolierten Nukleoproteid eine Besse¬
rung, ja sogar ein Verschwinden des Zitterns, eine Besserung der Muskelbewegungen,
eine Verminderung der Rigidität, der Salivation, der Insomnie. Er besserte an¬
geblich auch solche Patienten, die 15—20 Jahre ans Bett gefesselt waren. — Alquier
sah bei 6 Fällen eine Abnahme der Rigidität, der Schmerzen, der Insomnie, mußte
aber manchmal wegen vasomotorischer Störungen mit der Darreichung aussetzen.
— Dagegen warnen Roussy und Clunet vor dieser Behandlung, weil sie bei 6 Fällen
eine Verschlimmerung des Zitterns, der Rigidität und der Herztätigkeit und eine
allgemeine Agitation beobachteten; nur die squamösen Veränderungen der Haut
und die Ödeme zeigten eine Besserung. Goldstein sah keine Wirkung. (Berkeley
macht darauf aufmerksam, daß die im Handel vorkommenden Präparate gewöhn¬
lich wirkungslos sind.) Hierbei ist zu bedenken, daß die Schilddrüsentherapie,
die sich gegen die Insuffizienz der Parathyreoidealdrüsen bei der menschlichen und
tierischen Tetanie prompt bewährt (Biedl), bei der Parkinsonschen Krankheit
absolut versagt.
Symptomatologie: Da der Zustand der Muskulatur bei den Myotonien dem
Zustande der Muskulatur bei der Tetanie einigermaßen ähnlich ist und da nach der
Exstirpation der Epithelkörperchen eine manifeste oder latente Tetanie ent¬
steht, forschte man bei der Parkinsonschen Krankheit eifrig nach solchen der
Tetanie oder Myotonie nahestehenden Symptomen.
Tonische Krämpfe beobachtet man manchmal während der Prodrome an
der Hand, wie beim Schreibkrampf, oder an der Wadenmuskulatur (Negro), in der
Krankheit am Antithenar (in unserem Falle) und an den Fingern (Stewart, zit.
Mendel); einen tonischen Spasmus im Beginne der Bewegung beobachteten Roux
und Rummo, doch scheint in ihren Fällen das Bild der Parkinsonschen Krankheit
nicht ganz rein und der Verdacht auf Hysterie begründet zu sein; die Unmöglichkeit,
rasch die antagonistische Bewegung auszuführen, beobachteten Mo6utkovsk<*,
Makarov, JaniSevsk* an den Stimmuskeln, an dem Orbitalring, an den Hand-
218
Zweiter Teil.
muskeln, an den konjugierten Augenmuskeln (Debove), doch ließe sich diese Er¬
scheinung auch durch die Rigidität erklären; eine Ähnlichkeit mit der myotonischen
Reaktion sahen Westphal und Mendel je einmal; die Position der Hand bei der
Parkinson sehen Krankheit erinnerteL undborgan den tetanischen Krampf der Hand.
Myokymie beobachteten einmal Negro imd Treves (Mendel) am Triceps
brachii bei Bewegungen.
Myoklonie wurde nicht beobachtet, doch wird gewöhnlich eine neuropathische
Bauemfamilie angeführt, in der Lundborg unter verschiedenen schwer zu erkennen¬
den Nervenkrankheiten 18 Fälle von Myoklonie und 5 Fälle von Schüttellähmung
beobachtete.
Die elektrische Muskelerregbarkeit wurde bis auf die vereinzelten Angaben
Westphals und Mendels entweder unverändert oder — besonders in den späteren
Stadien der Krankheit — einfach herabgesetzt gefunden; die myotonische Reaktion
ist bei der Parkinsonschen Krankheit nicht bekannt. Ich selbst fand im Gegenteil
bei der Entstehung des Tetanus und auch beim Drücken des Dynamometers ein
myasthenisches Verhalten.
Man kann also nicht behaupten, daß die myotonische Komponente zum Bilde
der Parkinsonschen Krankheit gehört; vielmehr dürfte dieselbe hier ebenso wie
auch bei anderen Krankheiten (Epilepsie, disseminierte Sklerose, Polyneuritis,
Myelitis, Myopathie — Roux) eine seltene Komplikation darstellen. Die motorischen
Störungen besitzen bei der Parkinsonschen Krankheit im Gegenteil einen myasthe¬
nischen Charakter.
Wenn wir also alles bis jetzt Gesagte überblicken, so sehen wir, daß man
aus den Befunden und Symptomen der Parkinsonschen Krankheit mit einer
gewissen Reserve auf eine Funktionshemmung der Schilddrüse, der Neben¬
nieren und vielleicht auch der Parathyreoidealdrüsen schließen kann; vielleicht
befinden sich auch die Hypophyse und die Geschlechtsdrüsen in einem Zustande
von Hypofunktion, aber sichere und konstante Anzeichen liegen hierfür nicht vor
und dürften kaum eine entscheidende Bedeutung besitzen; bezüglich der Epi¬
physe und des Pankreas läßt sich nichts Bestimmtes aussagen.
Wie soll man nun diese Befunde für einen Erklänmgsversuch der Par¬
kinsonschen Krankheit verwerten?
VII.
Die Lund borg sehe Hypothese von einem chronischen Hypopara¬
thyreoidismus hat auf den ersten Blick etwas Verlockendes für sich, vermag
aber die Symptome der Parkinson sehen Krankheit schwer zu erklären. L u nd -
borg stützt seine Hypothese auf die Ähnlichkeit der Muskelrigidität mit der
Tetanie, auf eine gewisse prinzipielle Ähnlichkeit zwischen thyreopriver Kachexie,
Myxödem und Parkinsonscher Krankheit, ferner darauf, daß er eine Familie
beobachtete, in welcher neben Myoklonie (die seiner Ansicht nach ebenfalls
mit der Tetanie verwandt ist) mehrere Fälle von Parkinson scher Krankheit
vorkamen, und schließlich auf den Umstand, daß die Parkinsonsche Krankheit
ihr Gegenstück in der Erbschen Myasthenie besitzt, welche auf einer Hyper¬
funktion der Parathyreoidealdrüsen beruht.
Es ist begreiflich, daß, wenn der plötzliche Untergang oder die Ent¬
fernung der Epithelkörperchen den akuten Symptomenkomplex der Tetanie
zur Folge hat, die chronischen Läsionen dieser Dräschen die Ursache der der
Tetanie verwandten Zustände sein könnten, zu denen die verschiedenen Hyper¬
tonien gehören (die erworbenen Hypertonien — Curshmann jun., vielleicht
auch die Thomsensche Krankheit, die Myokymie und die Myoklonie). Doch
hat, wie wir gesagt haben, die Muskelveränderung bei der Parkinsonschen
Parkinson sehe Krankheit.
219
Krankheit nicht einen hypertonischen, sondern im Gegenteil einen myastheni¬
schen Charakter. Es läßt sich aber auch nicht beweisen, daß die Parkinson sehe
Krankheit das Gegenstück der Myasthenie ist; es besteht zwar auf der einen
Seite eine Erschlaffung der Muskeln und auf der anderen Seite die Rigidität,
aber keineswegs ein tetanischer Zustand; es besteht hier Parkinsonsches
Zittern, aber keineswegs Myokymie oder Myoklonie. Wenn bei der Erbschen
Krankheit der Körper durch die Funktion erschlafft und bei der Parkinson -
sehen Krankheit die Starre durch die Funktion verschwindet, so ist dies noch
nicht das Gegenteil, da bei der Parkinsonschen Krankheit infolge der Funktion
die Erschlaffung trotz der abnehmenden Rigidität stetig zunimmt. Die Par¬
kinson sehe Rigidität ist keine tetanische Veränderung und die durch Ex¬
stirpation der Epithelkörperchen (Znojemsky) oder durch Exstirpation
der Schilddrüse bei Affen (Langhans) erzeugten Muskelsteifigkeiten sind
eben tetanische Modifikationen und keineswegs Rigiditäten, die der Parkin¬
sonschen Rigidität analog wären. In allen diesen Fällen entstehen bei will¬
kürlicher Funktion oder reflektorischer Reizung typische tonische Kontraktionen
oder Krämpfe, welche das eigentliche Wesen dieser Zustände verraten, wie z. B.
bei der Thomsensehen Krankheit, w r as man aber gerade bei der Parkinson¬
schen Krankheit nicht beobachtet.
Die Park in sonsche Krankheit ist nicht das Gegenstück der Myasthenie,
sondern im Gegenteü ein der Myasthenie verwandtes und derselben im ge¬
wissen Sinne koordiniertes Syndrom. Sehr interessant für unsere Frage ist
ein nach partiellen Ektomien der Schilddrüse auftretendes, eigentümliches
Syndrom, welches Kocher zuerst angeführt und Skäla in seiner Arbeit über
die Schüddrüse genau beschrieben und bewertet hat. Skala charakterisiert
seine beiden Beobachtungen übereinstimmend mit Kocher folgendermaßen
(1. c. S. 66): es entsteht eine allgemeine Ermüdung, das Gefühl, als ob der ganze
Körper den Dienst versagen würde, die Kranken können sich zu keiner geistigen
oder körperlichen Arbeit emporschwingen, sie sind sich dieser Adynamie voll¬
kommen bewußt, und dies ist die Ursache ihrer psychischen Depression. Ihre
Sprache ist langsam, sie scheinen die Worte zu suchen und die Gedanken ange¬
strengt zu sammeln, das Schreiben ist ihnen eine schwere Aufgabe, die Hand ist
schwer und wde steif, jede ausgiebigere und energischere Bewegung ist unmög¬
lich. Dabei ist es offenkundig, daß im Verhältnis zu dieser physischen Adynamie
die Muskulatur kräftig, starr (vom Autor unterstrichen) und keineswegs
atrophisch ist. — Wenn wir aus der detaillierten Krankheitsgeschichte hervor¬
heben, daß sich die Muskeln (Bizeps, Supinator longus, Vastus internus) nach
mehreren Impulsen langsamer und weniger intensiv kontrahierten, ohne aber
die Erregbarkeit vollkommen verloren zu haben, daß die elektrische Erregbarkeit
erhalten war, daß es lange dauerte, bis der Kranke auf Befehl die Extremität
bewegte — werden wir ohne weiteres erkennen, daß diese Abart der Myasthenie
der Parkinsonschen Krankheit sehr nahe verwandt ist, und zwar nicht allein
durch ihre Myasthenie, sondern auch durch das zögernde Verhalten vor dem
Beginne der Bewegung und durch die Starre der Muskulatur, die der Autor
selbst hervorhebt.
Das Kocher-Skälasche Syndrom, das Kocher für eine thyreopara-
thyreoprive Kachexie, Skäla für Hyperparathyreoidismus hielt, bildet einen
schönen symptomatischen Übergang zwischen Erb scher Myasthenie und Addi-
220
Zweiter Teil.
sonscher Krankheit einerseits, da es mit bronzefarbener Pigmentation und
erhöhter Toleranz für Zucker einherging, andererseits eine Brücke zwischen der
Parkinsonschen Krankheit und den Myasthenien. Bei der Addisonschen
Krankheit leidet das adrenale System der Nebennieren; Skäla zeigt in scharf¬
sinniger Weise, wie bei seinem Syndrom die Muskelasthenie aus einer un¬
genügenden Nebennierenfunktion zu erklären sei, aus der auch die übrigen
Symptome seines Syndroms abgeleitet werden können; aus denselben Gründen
kann man auch bei der Erbschen Krankheit an eine Affektion des adrenalen
Systems denken, insofeme es sich um die Erklärung der Muskelasthenie handelt.
Auch bei der Basedowschen Krankheit wurde schon die Adynamie durch ein
Sinken der Nebennierenfunktion erklärt (Hoffmann).
Indem wir die Parkinsonsche Krankheit begründeterweise in die Kate¬
gorie der Myasthenien im weitesten Sinne des Wortes einreihen, müssen wir
notgedrungen an die Funktion des adrenalen Systems denken,
die hier wie bei den übrigen Myasthenien herabgesetzt wäre.
Hierbei kann der innere Zusammenhang zwischen der Verminderung
der Funktion des adrenalen Systems und der Myasthenie ein doppelter sein:
erstens ein direkter, da die direkte erregende Einwirkung des Adrenalins auf
den ermüdeten Muskel (Dessy und Grandis zit. Biedl), eine Erhöhung der
ergographischen Muskelkurve nach Adrenalininjektionen (Müller — zit.
Sk 41a), eine dem Veratrin analoge Reizwirkung (Oliver-Schäfer — zit.
Biedl, Neusser-Wiesel) — eine erregende, wenn auch geringe Einwirkung
auf das Sarkoplasma (Joteyko — zit. Biedl), erwiesen ist, und zweitens ein
indirekter, da das Adrenalin die Mobilisierung der Kohlenhydrate, die Erzeugung
des Glykogens und die Umwandlung des Glykogens in Zucker (Biedl) bewirkt.
Übereinstimmend wurde eine gesteigerte Adrenalinämie bei angestrengter Muskel¬
tätigkeit beobachtet (Schur und Wiesel — zit. Sk41a). Hierbei wird die
Ansicht Lundborgs, zu der auch Chvostek jun. und Skala gelangten, daß
nämlich das primum movens der Myasthenie in einer Hyperfunktion oder
Dysfunktion der parathyreoidealen Drüschen zu suchen sei, bei Seite gelassen.
Wir können uns dieser Ansicht, nach welcher wir auch bei der
Parkinsonschen Krankheit eine Hyperfunktion (Dysfunktion ist ein
neutraler, unverbindlicher Begriff) der Epithelkörperchen annehmen
müßten, nicht anschließen. Welche Wirkungen die Hyperfunktion der
Epithelkörperchen herbeiführen kann, ist uns bis auf die therapeutischen
Versuche von Roussy und CIunet vollkommen imbekannt; diese sahen schwere
toxische Allgemeinstörungen, Agitationen, stürmische Herztätigkeit und im Zu¬
sammenhang damit auch eine Verschlimmerung der Parkinsonschen Sym¬
ptome — des Zitterns und der Rigidität. Allgemein wird angenommen, daß die
Epithelkörperchen eine antitoxische Wirkung besitzen; man erschließt dies aus
der parathyreopriven Tetanie. Die Ansicht Lundborgs ergibt sich nicht
aus der Symptomatologie der Myasthenie, sondern stützt sich nur auf die An¬
nahme eines Hypoparathyreoidismus bei der Parkinsonschen Krankheit und
eines Antagonismus zwischen Parkinsonscher Krankheit und der Erbschen
Myasthenie; da aber ein solcher Antagonismus nicht besteht, ist auch die Lund-
borgsche Schlußfolgerung zweifelhaft. Chvostek ging von seinem Fall und,
zwar von einer Kombination von Myxödem und Asthenie aus ; er stützte sich
bei nachgewiesenem Konnex zwischen Myxödem und Asthenie auf die An-
Parkinson sehe Krankheit.
221
nähme eines Antagonismus zwischen der Thyreoidea und den Epithel¬
körperchen und gelangte zu der Ansicht, daß neben Athyreosis gleichzeitig nichts
anderes vorhanden sein könne als Hyperparathyreoidismus. In analoger Weise
nimmt Sk41a bei seinem Falle von partieller Strumektomie, bei welchem die
Symptome einer Läsion der Schilddrüse fehlten, eine Reizung der Antagonisten
der letzteren, der Epithelkörperchen, an und findet deduktiv eine Bestätigung
dieser Annahme in jenen Symptomen, welche sich aus einer Hypofunktion
des adrenalen Systems, des Antagonisten der Epithelkörperchen, ableiten
lassen. Bei beiden stützt sich also die Annahme einer Hyperfunktion der Para¬
thyreoidea nur auf den vorausgesetzten Antagonismus der Schüddrüse und der
Epithelkörperchen, der letzteren und des adrenalen Systems. Demgegenüber
muß erwähnt werden, daß die funktionelle Wechselbeziehung zwischen
Thyreoidea und Epithelkörperchen nicht konstant ist und ein kon¬
stanterer Antagonismus zwischen beiden überhaupt und bei der Myasthenie
ganz besonders nicht angenommen werden kann, und zwar schon aus dem Grunde
nicht, weil sich die Myasthenie, wie sie sich im Falle von Chvostek mit Myx¬
ödem kombiniert, in den Fällen von Jendrassik, Goldflam und in vielen an¬
deren, welche Skala auf Seite 86 zitiert, mit einem mehr weniger ausgebildeten
Basedowschen Syndrom kombiniert. Ebenso inkonstant ist das Verhalten
der Tetanie, die sich manchmal mit Basedowscher Krankheit, manchmal
mit Myxödem kombiniert. Eigentlich bedarf Sk41a in seiner ganzen, sehr
scharfsinnigen Analyse seines Syndroms gar nicht der Mitwirkung der Epithel¬
körperchen, denn er erklärt alle Symptome aus einer Herabsetzung der Funktion
des adrenalen Systems und diese Herabsetzung läßt sich in seinem Falle direkt
aus der funktionell koordinierten Funktion der Nebennieren und der Schilddrüse
erklären; ebenso wie er zur Annahme des Hyperparathyreoidismus zuerst der
Annahme einer Herabsetzung der Funktion der Thyreoidea bedarf, kann diese
supponierte Herabsetzung der Funktion der Schilddrüse an und für sich eine
Schwächung des adrenalen Systems — die Funktionen dieser beiden Systeme
sind bekanntlich harmonisch — ohne die Funktion der Epithelkörperchen
zu Hüfe zu nehmen, erklären.
Aus der Regelmäßigkeit, mit welcher nach der Exstirpation der Epithel¬
körperchen Tetanie oder die Disposition zu derselben (Spasmophüie) entsteht,
kann man schließen, daß irgendwo im Körper eine tetanisierende Substanz
erzeugt wird, welche die Epithelkörperchen unter normalen Verhältnissen
neutralisieren, oder daß die Epithelkörperchen auf ein Organ einwirken, das,
von ihrem hemmenden Einfluß befreit, jene Substanz erzeugt. Vorläufig haben
wir noch keine Ahnung über den Ursprung dieser Substanz. Der therapeutische
Erfolg der Thyreoidea bei der Tetanie beweist, daß auch die Thyreoidea ebenso
wie die Epithelkörperchen diese Substanz zu neutralisieren vermag. Es geht
nicht an, die Quelle der tetanisierenden Substanz in einer Mobilisation der
Kohlehydrate infolge einer gleichzeitigen Schwächung des Pankreas und in einer
antagonistischen Hyperfunktion des adrenalen Systems und in einer dadurch
etwa gesteigerten Glykogenproduktion zu suchen, denn bei erwiesenen Hypo¬
funktionen des Pankreas und bei Krankheiten, die von alimentärer Glykosurie
begleitet sind, werden keine hypertonischen Symptome beobachtet. Wir können
auch eine Hyperadrenalinämie nicht beschuldigen, indem wir etwa annehmen,
daß das Adrenalin in großer Menge ebenso wirke, wie das tetanisierende Gift;
222
Zweiter Teil.
die bisherigen Erfahrungen sprechen nicht für eine so intensive Wirkung
des Adrenalins; weder finden sich bei sicheren Hypertonien, wie der Tetanie
und Thomsensehen Krankheit, die Symptome einer hochgradigen Adrenalin-
ämie und Sympathikusreizung, noch findet sich Hypertonie bei der sicheren
Adrenalinämie der Basedowkranken (Frankel: die 5—8 fache Menge — zit.
Biedl Seite 244).
Wenn dem so ist, so kann man daraus vorläufig nichts deduzieren, was bei
der Hyperfunktion der Parathyreoidealdrüsen, denen eine antitoxische Funktion
zukommt, geschieht. Man kann nicht behaupten, daß die Gl. parathyreoidea
eine antitoxische Funktion besitzt, und gleichzeitig behaupten, daß bei ihrer
Hyperfunktion ein klinisches Bild entsteht, das dem nach der Exstirpation ent¬
standenen Bilde entgegengesetzt ist. Es dürfte der Erwähnung wert sein,
daß Erd heim in einigen Fällen von Adenom und Hyperplasie der Epithel¬
körperchen keine Myasthenie gefunden hat.
Ich bin der Ansicht, daß man sich vorläufig auf Grund der bis jetzt an¬
geführten Umstände über die Beteiligung der Parathyreoidea an den Myasthenien
überhaupt und an der Parkinsonschen Krankheit insbesondere nicht mit Be¬
stimmtheit aussprechen kann und daß man nur dann eine Hyperfunktion an¬
nehmen könnte, wenn eine gleichzeitige koordinierte und antagonistische
Funktion der endokrinen Drüsen (Parathyreoidea neben Pankreas gegen die
Thyreoidea, das adrenale System) eine ausnahmslose Regel wäre, was aber bis
jetzt bezweifelt werden muß (Biedl und das oben erwähnte Verhältnis der
Thyreoidea zu den Epithelkörperchen), und wenn die Parathyreoidea noch eine
andere als die antitoxische Funktion besäße, worüber uns aber nichts bekannt ist.
Bei den Myasthenien fehlt jenes Agens, das unter normalen Verhältnissen
die gute Funktion der Muskelsubstanz erhält und ohne das der Muskel schnell
ermüdet. Dieses Agens kann nur das normal gelieferte und produzierte Gly¬
kogen und Adrenalin sein (das erste ist der Hafer, das andere die Peitsche).
Beide Quellen stehen unter dem Einflüsse des adrenalen Systems.
Bei der Parkinsonschen Krankheit aber handelt es sich um mehr:
die Muskeln ermüden und zeigen außerdem eine abnormale Reaktion; zur Er¬
müdbarkeit der anisotropen Substanz, wie sie bei den Myasthenien überhaupt
vorkomrat, gesellt sich hier eine typische Veränderung der sarkoplasmatischen
Funktion: größere Ermüdbarkeit, Mangelhaftigkeit der tonischen Kontrak¬
tionen und Krämpfe, Disposition zur Starre und zu rhythmischer Funktion
— ein Zustand, der eine eigentümliche Vergiftung durch eine bis jetzt noch
unbekannte Substanz verrät.
Angesichts des kachektisierenden Charakters der ganzen Krankheit,
angesichts der nachweisbaren Ernährungsstörungen in allen Systemen können
wir bei der Parkinsonschen Krankheit mit vollem Rechte auch an der Mus¬
kulatur dystrophische Störungen annehmen; wir können annehmen, daß unter
dem schädlichen Einflüsse der auf den ganzen Körper nach Art einer Dyskrasie
wirkenden Substanz auch die Muskeln leiden; die anatomischen Befunde an
den Muskeln bestätigen diese Annahme.
Wenn wir erwägen, daß die Thyreoidea gemäß der Symptomatologie
der Parkinsonschen Krankheit ebenfalls eine herabgesetzte Funktion dar¬
bietet, und wenn wir uns den großen Einfluß der Thyreoidea auf die Gewebe
und den Stoffwechsel im Sinne der Assimilation und Dissimilation vergegen-
Parkinson sehe Krankheit.
223
wärtigen, können wir in der herabgesetzten Funktion der Thyreoidea die zweite
richtige pathogenetische Komponente der Parkinson sehen Krankheit erblicken
(wie Kocher bei jenem eigentümlichen, von Skala erforschten Syndrom).
Schließlich muß noch erwogen werden, daß bei herabgesetztem Stoff¬
wechsel sich in den Muskeln giftige Produkte dieses Stoffwechsels ansammeln;
diese Produkte sammeln sich in den Muskeln auch nach der Exstirpation der
Nebennieren an, wie Abelous, Langlois, Albanese (Neusser-Wiesel)
experimentell nachgewiesen haben; diese Produkte werden nach Langlois,
Boruttau und Battelli durch das Rindensystem der Nebennieren neu¬
tralisiert (zit. Hoff mann); dies gilt besonders für die Milchsäure und das
Pyrokatechin (Huismans nach Hoffmann).
Diese herabgesetzten Funktionen der Thyreoidea und der Nebennierenrinde
würden also in der Pathogenese der Parkinsonschen Krankheit parallel wirken.
Demnach fehlen unserer Ansicht nach bei der Parkinsonschen Krank¬
heit den Muskeln partiell oder total (je nach der Schwere des Falles) die energeti¬
schen (Adrenalin) und trophischen Reize (Glykogen und Thyreoidea) und viel¬
leicht auch die neutralisierenden Stoffe (Nebennierenrinde).
Uber die Beteiligung der parathyreoidealen Körperchen läßt sich nichts
Bestimmtes sagen.
Jene Substanz X, welche nach Exstirpation der Epithelkörperchen die
Tetanie erzeugt (und vielleicht bei der Aplasie derselben die Thomsensche
Krankheit hervorruft), und jene Substanz Y, die in analoger Weise bei Tier¬
versuchen klonische Krämpfe bedingt (und vielleicht bei der erworbenen Myo-
klonie mitwirkt), verraten ihre Wirksamkeit bei der Parkinsonschen Krank¬
heit nicht, außer in den ersten Anfängen der Krankheit und auch hier nur selten
durch eine Disposition zu Krämpfen in den Waden und in den Händen nach
Art des Schreibkrampfes.
Nur dann, wenn die Epithelkörperchen bei ihrer antitoxischen Wirkung
auf die das motorische System ergreifenden Gifte (X, Y) auch jene dystrophi¬
schen Produkte neutralisieren würden, welche in gewissem Sinne analog der
Monobromessigsäure Rigidität verursachen und die, wde wir bereits erwähnt
haben, vielleicht einem abnormalen Stoffwechsel in den Muskeln ihren Ursprung
verdanken (das Gift Z), könnten wir annehmen, daß der Hypoparathyreoidismus
eine wichtige pathogenetische Komponente bei der Parkinsonschen Krankheit
bildet. Doch ist diese neutralisierende Wirkung auf das Gift Z noch nicht er¬
wiesen. Sie wird, wie wir bemerkt haben, für einige dieser giftigen Produkte
der Rinde der Nebennieren zugeschrieben.
Den parathyreoidealen Körperchen wird auch ein Einfluß auf den Kal¬
ziumstoffwechsel zugeschrieben. Nach Ektomien bei Hunden und Ratten
war die Gesamtmengedes Ca kleiner (Leopold, Reuß, McCallum, Vögttin).
Nach Loeb schränken die Ione des Ca die konstante rhythmische Funktion
der Muskulatur ein (zit. Biedl); vielleicht könnte also eine Verminderung
der Ca-Ione bei der Entstehung des Parkinsonschen Zitterns mitwirken.
Doch ist dieser Beweis für die hypoparathyreoideale Beteiligung an der Patho¬
genese der Parkinsonschen Krankheit noch unsicherer.
Wenn wir also alles erwägen, was uns die Symptomatologie der Parkin¬
sonschen Krankheit lehrt, und wenn wir speziell in der Veränderung der
Muskeltätigkeit das konstanteste und typischeste Symptom erblicken, können
224
Zweiter Teil.
wir sagen: die Parkinsonsche Krankheit ist eine chronische uni¬
verselle Dystrophie, bedingt durch eine Funktionsverminderung
der Drüsen mit innerer Sekretion, speziell der Thyreoidea und des
adrenalen Systems, wahrscheinlich aber auch noch anderer Drüsen,
wie des Rindensystems der Nebennieren und vielleicht auch der
parathyreoidealen Drüsen. Es handelt sich nicht um eine bloße para-
thyreoidealeDystrophie, wie Lundborg gemeint hat, sondern um eine typische
pluriglanduläre Dystrophie. Je nachdem, in welcher Reihenfolge und
wie schnell die einzelnen endokrinen Funktionen auf hören, ändert sich das
Krankheitsbüd in den ersten Stadien (tonische Symptome, Basedowsymptome,
myxödematÖ8e, genitale, Addisonsymptome usw.); eine gleichzeitige Erkrankung
des Gehirnes kann sodann dem klinischen Bilde gewisse äußere Eigentümlich¬
keiten verleihen (manche hemiplegische Formen). Die Parkinsonsche Krank¬
heit kann nicht so einfach in ein Schema eingereiht werden, wie dies Lund-
borg in seinem gewiß sehr geistreichen Artikel tut, sondern man muß ent¬
sprechend den typschesten Veränderungen in den Muskeln etwa folgendes Krank¬
heitsschema aufstellen:
Störungen des motorischen Systems, bei denen pathologische Zustände
der endokrinen Drüsen anzunehmen sind.
Myasthenie
Hyper¬
tonie
Hvper-
klonie
Addison
Gravis
i
Kocher-
Parkin-
Myotonie u.
Myoklonie
Teta-
(Erb)
Skala
son
vielleicht
auch Waden-
Myokymie
nie
krämpfe
Anisotr.
ermüdend
!
sehr er-
ermüdend
ermüdend
normal
erhöht erreg-
?
müdend
bar
Sarkopl.
nicht ty-
nicht ty-
?
typisch
erhöht erreg-
?
erhöht
pisch ver-
pisch ver-
(Starre)
verändert
bar
erreg-
ändert
ändert
j
bar
Endokrine
Gestörtes parathyreoideales
Gestörtes adrenales System !
System : ungenügende Neutra-
Störungen
lisation des Giftes
+?
+?
+ Läsion
X
Y
XY
Thyreoid. ?
der Thy-
(-(- Zentrales
Para-
reoidea
Nerven-
thyreoid. ?
4- Neben-
System?
.
(unge-
nieren-
nügende
rinde?
Neutrali-
+ Para-
i
sation des
thyreo-
!
i
i
Giftes Z?)
idea? (un-
genügen-
deNeutra-
lisation
des Giftes
!
1
Z?)
1
Parkinson sc he Krankheit.
225
vni.
Ich habe im vorhergehenden auseinandergesetzt, welche Pathogenese
ich beim Zittern im Ruhezustände, beim Zittern in der Bewegung und bei der
Rigidität der Parkinson sehen Krankheit annehme. Es muß nun untersucht
werden, inwieweit einige symptomatologische Eigentümlichkeiten der Parkin¬
son sehen Krankheit damit übereinstimmen.
Warum das Zittern in der ersten Phase der gewollten Bewegung
und der aktiven Innervation überhaupt aufhört, habe ich bereits
im vorangehenden erklärt. In manchen Fällen gelangt diese Pause kaum zur
Beobachtung: in analoger Weise beginnt bei Versuchen mit Muskel Vergiftungen
die rhythmische Schwankung gewöhnlich auf dem absteigenden Schenkel
des Myogramms, manchmal aber schon auf dem Gipfel, ja sogar auch vor dem¬
selben.
Warum das Zittern bei hochgradiger Rigidität aufhört, werden
wir uns aus jenen Versuchen verständlich machen können, bei denen die rhyth¬
mische Bewegung aufhört, sobald die Muskelstarre eine gewisse größere Inten¬
sität erreicht. (Versuche mit Muskelgiften, z. B. der Monobromessigsäure-
Lhotäk.)
Daß das Zittern im tiefen, nicht aber im leichten Schlafe ver¬
schwindet, kann in der Weise erklärt werden, daß im tiefen Schlafe die kon¬
tinuierliche Innervation des Muskeltonus, eine der Komponenten, welche die
rhythmische Muskelreaktion bedingen, aufhört, während sie im Beginne des
Schlafes noch vorhanden ist.
Wichtig ist die Erklärung der Frage, warum das Zittern so häufig
monoplegisch beginnt. Es ist dies eine merkwürdige Erscheinung, die auch
zum Beweise des zerebralen Ursprungs der Parkinsonschen Krankheit angeführt
wird. Ich habe bereits im II. Kapitel erwähnt, daß sich bei der Annahme
des zerebralen Ursprungs das Fortschreiten des Zitterns an den Extremitäten
nicht erklären läßt, da dasselbe keiner zerebralen Lokalisation entspricht. Camp
hat einige interessante Beweise dafür gesammelt, daß das Zittern mit Vorliebe an
dem durch Muskelarbeit überangestrengten Gliede beginnt. Sein Patient,
der viel schreiben mußte, bekam das Zittern in die rechte Hand nach anfäng¬
lichem Schreibkrampf. Kr afft-Ebings Drechsler begann an dem am meisten
in Anspruch genommenen linken Fuße zu zittern, Heimanns Patient an jener
Hand, mit welcher er die Elektrode hielt, Frankl-Hochwarts Metzger an der
überangestrengten linken oberen Extremität. Man kann annehmen, daß sich
der pathologische, dyskrasische Allgemeinprozeß durch seine motorischen
Veränderungen zuerst dort verrät, wo die Muskulatur unter der Anstrengung
am meisten zu leiden hat. Auch ist zu beachten, daß es wiederum das Sarko-
plasma ist, welches bei den Verrichtungen der rohen Muskelkraft am inten¬
sivsten tätig ist.
Allerdings ist es merkwürdig, warum manchmal derartige krankhafte
Erscheinungen jahrelang auf eine oder auf zwei Extremitäten beschränkt bleiben.
(In solchen Fällen kann man an gleichzeitige, kleine, bestimmt lokalisierte
Gehimläsionen denken, welche mit wirken?) Siehe das Folgende.
Das Zittern beginnt manchmal nach einem apoplektischen
Anfall auf der befallenen Extremität oder auf der befallenen Körperhälfte;
Peln&F, Zittern. Iß
226
Zweiter Teil.
wir haben gesagt, daß es auftritt, wenn die Beweglichkeit der gelähmten Muskeln
wiederkehrt, also zu einer Zeit, zu welcher an den Muskeln auch zerebrale
spastische Erscheinungen auf treten. An solchen Gliedern bricht auch die Tetanie
früher hervor als an dem übrigen Körper. Es werden daher bei der Parkin¬
son sehen Krankheit analoge Verhältnisse herrschen. Es muß hier der Boden
schon vorbereitet sein (wie bei der latenten Tetanie) und die an und für sich
ungenügenden Muskelveränderungen äußern sich bei verstärkter Tonusinner¬
vation durch eine rhythmische Reaktion. Die seltenen Fälle, in welchen das
Parkinsonsche Zittern nach einer Apoplexie aufhörte, wird man revidieren
müssen; vorläufig kann ich mich über dieselben nicht näher aussprechen; viel¬
leicht haben exzeptionelle Störungen des zerebralen Tonus die Muskeln einer der
zur rhythmischen Funktion notwendigen Komponenten beraubt — aber ich
wiederhole, daß ich diese Fälle nicht in dem Maße abschätzen konnte, um mir
ein sicheres Urteü büden zu können.
Der Umstand, daß die Krankheit ziemlich tiefe Remissionen
aufweist, daß das Zittern sogar für eine gewisse Zeit verschwindet, ist eine
allgemeine Eigenschaft ähnlicher Krankheiten; wir finden dies auch bei der
Addisonschen und bei der Basedowschen Krankheit.
Die Lokalisation des Zitterns und der Rigiditäten läßt sich schwer
erklären; man kann diesbezüglich nur Vermutungen Vorbringen, die jedoch
von dem eigentlichen Kern der Frage weit entfernt sein dürften: wir wissen aus
der Physiologie, daß auf die hier in Betracht kommenden sarkoplasmatischen
Gifte jene Muskeln, welche mehr Sarkoplasma besitzen, stärker reagieren; wir
wissen, daß sich bei Tieren manche Muskeln durch den Gehalt an Sarkoplasma
wesentlich voneinander unterscheiden (z. B. der Gastrocnemius und Soleus);
vielleicht haben die verschiedenen, sich jahrelang in gleichmäßiger Weise wieder¬
holenden Funktionen — hier die Bereitschaft zur raschen Kontraktion, dort
im Gegenteü das Bedürfnis nach einer ruhigen, energischen und dauernden
Zusammenziehung — eine ungleiche Entwickelung der beiden Substanzen
der Muskelfasern zur Folge (Schließen der Faust, Tragen von Lasten usw.);
doch sind diese Verhältnisse bis jetzt beim Menschen nicht näher erforscht.
Wir wissen ferner, daß manche Gifte eine Prädüektion für ganze, große, synergi-
sche Muskelgruppen besitzen: Sherington macht darauf aufmerksam, daß
das tetanische Gift und das Strychnin eine Prädilektion für jene Muskeln be¬
sitzen, welche den Körper des Menschen in der normalen aufrechten Stellung
erhalten (Express of postural reflex), welche den Unterkiefer heben und welche
den Nacken, den Rücken und die Unterschenkel strecken; die Parkinsonsche
Rigidität überwiegt aber gerade in jenen Muskeln, welche die entgegengesetzten
Funktionen besorgen, und nur ungeheuer selten in den Extensoren (Charcots
type d’extension 1888, Th&se von Buchet). — Die Körperhaltung bei dem
gewöhnlichen „type de flexion“ ist dieselbe, zu welcher die Mehrzahl der ge¬
schwächten, mit schweren Krankheiten behafteten, den Alterserscheinungen
unterliegenden Menschen hinneigt. Wenn wir uns die allgemeine Erschlaffung
der Muskeln vorstellen, werden wir begreifen, daß jene Muskeln am meisten
der Anstrengung unterliegen werden, welche schon unter physiologischen Ver¬
hältnissen mit größerer Anstrengung, mit einem größeren Kräfte Verlust arbeiten
(nach den interessanten Ausführungen Auerbachs über die häufigsten Läh¬
mungstypen), und dies sind gewiß jene Muskeln, welche den Körper gestreckt
Parkinson sehe Krankheit.
227
erhalten; in den neuen Positionen tritt sodann die Rigidität in jenen Muskeln
auf, deren Insertionen sich einander genähert haben (Hei mann); hier kann
auch auf die analogen Lokalisationen des Spasmus nach der Position der
Glieder bei Hemiplegie hingewiesen werden (Förster); für diesen Einfluß
der Körperlage auf die Lokalisation der Rigiditäten spricht deutlich ein Fall
von Bidon, in welchem ein Patient mit typischer Flexionsstellung des Körpers
nach einer interkurrenten, akuten Krankheit in den „type d’extension“ verfiel.
(Krankheitsgeschichte bei Buchet.)
Mit der Erfahrung Heimanns, welcher bei vielen seiner Fälle an Muskeln,
deren Insertionen er einander näherte, eine paradoxe Kontraktion und Zittern
beobachtete, läßt sich die Erscheinung vergleichen, daß man bei dem Kranken
das typische Zittern leicht demonstrieren kann, wenn man ihn mit in allen
Gelenken ein wenig flektierten, d. i. auf die Spitzen gestützten unteren Extremi¬
täten in eine labile Lage niedersetzen läßt (Thomayers Hilfsmittel mit der
Prädilektionslage des Körpers).
IX.
WiesollmandenIntentionstremor bei der Parkinsonschen Krank¬
heit erklären? In dem beschreibenden Teil meiner Arbeit habe ich gesagt,
daß der Intentionstremor nach unseren Erfahrungen ein seltenes Symptom
der Parkinsonschen Krankheit darstellt. Unter 28 Fällen sahen wir dasselbe
nur zweimal und in zwei weiteren Fällen wurde das Zittern bei Intention stärker.
Von jenen zwei typischen Fällen betraf der erste (Krankengeschichte Nr. 8)
einen 62jährigen Patienten mit typischem Parkinsonschen Tremor, der bei
Intention geringer wurde (links), ja sogar verschwand (rechts) und sich nach
einem 11 tägigen Aufenthalte des Kranken im Krankenhaus soweit besserte,
daß der Kranke gut zu schreiben vermochte. Plötzlich, kurz vor dem Tode,
trat das Zittern wieder auf und hatte Intentionscharakter. Bei der Sektion
(Tuberkulose) fand sich Gehimarteriosklerose, allgemeine Atrophie und multiple
Erweichungen (etat crible). Von dem zweiten Fall besitzen wir kein Sektions¬
protokoll, aber er betraf eine 70 jährige Frau, bei der das Zittern nur drei Wochen
gedauert hatte. — Bechet beobachtete Intentionszittem bei einem 38jährigen
Kranken (observ. VIII), dessen eine Hand Zittern in der Ruhe zeigte, welches
verschwand, als sich die Muskelstarre bedeutend vergrößerte; die andere Hand
wies ein imbedeutendes Zittern auf, das bei der Intention dieser und auch der
anderen Hand ganz typisch, wie bei der disseminierten Sklerose intensiver wurde;
doch bemerkt Buchet in der Krankengeschichte, daß bei dem Patienten Nystag¬
mus, eine Parese der assoziierten Augen bewegungen und Diplopie angedeutet
gewesen sei. Offenbar handelte es sich hier nicht um eine reine Parkinsonsche
Krankheit, sondern um eine Kombination mit herdförmigen Gehimläsionen,
vielleicht mit disseminierter Sklerose.
Ich bin der Ansicht, daß in jenen seltenen Fällen, in denen wir
einen wirklichen Intentionstremor vorfinden, eine Komplikation
mit anatomischen Gehirnläsionen vorliegt, und daß der Intentions¬
tremor hier dieselbe Pathogenese besitzt, wie bei der disseminierten
Sklerose (Läsionen in einer bestimmten, mesenzephalischen Partie), und daß
daher der Intentionstremor kein Symptom, sondern eine Komplikation der
Parkinsonschen Krankheit darstellt.
15*
228
Zweiter Teil.
Der Fall von Wollenberg, der gewöhnlich als Beispiel angeführt wird,
ist nicht überzeugend. Er betraf einen 52jährigen Patienten ohne Zittern
in der Ruhe, mit Spasmen: im Verlaufe der Krankheit trat Zittern an den Fingern
auf, wenn der Kranke schreiben oder die Finger rasch strecken und beugen
wollte. Hier kann von Intentionszittem keine Rede sein. Es ist dies eher ein
Beispiel dafür, daß bei stärkeren Rigiditäten das Zittern nur bei Bewegungen
ohne Intentionscharakter auf tritt; schließlich müssen auch Emotionen, An¬
spannungen der Aufmerksamkeit, welche bei der Parkinsonschen Krankheit
einen minimalen Tremor verstärken, in Erwägung gezogen werden.
Oft ist die Verstärkung des Zitterns bei der Bewegung nur scheinbar
intentiv und es geht im ersten Momente der Bewegung eigentlich eine typische
Abnahme des Zitterns und auch eine vollständige Ruhepause voran, doch wird
diese Pause leicht übersehen. Auf diesen Umstand, den auch wir bei einem
unserer Fälle beobachtet haben (Krankengeschichte Nr. 7), hat Hei mann
aufmerksam gemacht.
IX. A. Disseminierte Sklerose.
Bei der Herdsklerose beobachtet man zunächst manchmal bei statischer
Innervation ein gewöhnliches, mittelschnelles oder schnelles, kleinwelliges
Zittern der Hand, das sich vom physiologischen Zittern nur durch die Intensität
unterscheidet und das aller Wahrscheinlichkeit nach den Ausdruck einer all¬
gemeinen motorischen Schwäche, also eine adynamische Form des Zitterns
darstellt.
Wenn wir aber vom Zittern in der Herdsklerose sprechen, verstehen wir
darunter ein langsames, 3—4—5 Wellen in der Sekunde betragendes, grobes,
bei Intention auf tretendes und mit dieser zunehmendes Zittern, welches jene
intendierten Bewegungen begleitet, bei denen die Extremität als Ganzes dem
Ziele zustrebt und welches die Extremitäten als ein aktives Ganzes betrifft.
Dieses „Intentionszittem“, welches ursprünglich für ein Charakteristikon
der Sklerose galt und gegenwärtig für ein Charakteristikon der Sklerose und einer
Gruppe von Krankheiten gilt, die der Sklerose klinisch (Pseudosklerose) oder
pathogenetisch (zerebrales Intentionszittem) nahestehen, besitzt eine wesentlich
verschiedene Pathogenese.
Wenn wir den Kranken bei der bezeichnendsten Handlung, bei der sog.
Probe mit dem Glase beobachten, werden wir leicht erkennen, daß es sich hier
weder um ungenügende Muskelkraft handelt, wie beim adynamischen Zittern
oder bei der unvollständigen Lähmung, noch um im willkürliche Bewegungen
wie bei der Chorea, noch um einen Irrtum in der Richtung wie bei der tabischen
Ataxie, noch um irgend eine psychische Mitwirkung, wie bei der Hysterie. Dem
Kranken fehlt weder die Möglichkeit der motorischen Innervation, noch die
Möglichkeit der Regulierung der Bewegung; seine Muskeln sind gespannt und
je mehr er sich anstrengt, desto gröber pflegen die Schw ankungen der Extremität
zu sein, und erst, wenn er das Glas mit dem Munde festhält, hört das Zittern
auf und es verschwindet die Spannung der Muskeln, obwohl diese aktiv bleiben
und das Glas nicht aus der Hand fällt.
Durch die Erfahrung haben wir gelernt, welche Muskeln und wie stark
wir sie zu innervieren haben, um das Glas richtig zum Munde zu führen; bei
Disseminierte Sklerose.
229
nicht angelernter, langsamer Bewegung genügt das Gefühl über die Lage und die
Bewegung der Extremität, um die Innervation nach Bedarf so zu verstärken
und sofort abzuschwächen, damit das Ziel richtig erreicht werde; bei der par¬
tiellen Lähmung inner viert der Kranke mit großem Kraftaufwand, er fühlt es,
daß die Bewegung ungenügend ist, er verstärkt die Innervation und gelangt,
wenn die Bewegung überhaupt möglich ist, richtig ans Ziel; der Tabiker innerviert
ohne Hindernis, aber da er den Grad des Bewegungseffektes nicht fühlt, schießt
er übers Ziel, korrigiert sich aber, indem er sucht, und ruht bei dem gefundenen
Ziel ruhig aus; der Choreatiker innerviert leicht, strebt richtig dem Ziel entgegen,
aber die Extremität reicht infolge unwillkürlicher Innervationen ganz unregel¬
mäßig von der Richtung ab, obwohl der Kranke die Bewegungsrichtung fühlt,
obwohl er nicht um das Ziel suchend herumtappt; sobald ihn die unregelmäßigen
Impulse nicht stören, erreicht er richtig und glatt sein Ziel. Anders bei der Skle¬
rose: der Kranke vermag zu inner vieren, er fühlt den Grad der Innervation,
die Bewegungsrichtung und die Lage der Extremität, er reguliert richtig, zweck¬
mäßig und erreicht das Ziel, aber er pendelt um dasselbe herum, indem er die
Regulierung nicht genügend abzumessen vermag. Der Fehler liegt hier weder
in einem Mangel an motorischer Kraft, noch in mangelnder Empfindung der
Bewegung, sondern in der Unmöglichkeit, die Innervation und Regulation
in quantitativ hinreichendem Maße einzuschränken: die ursprüngliche Bewegung
schießt übers Ziel, es wird sofort durch das „Muskelgefühl“ eine Regulation
hervorgerufen (Beschränkung der Agonisten und Innervation der Antagonisten),
diese schießt in entgegengesetzter Richtung übers Ziel, wird in analoger Weise
sofort in die ursprüngliche Richtung reguliert, aber auch diese Regulation
schießt übers Ziel; die einzelnen Bewegungen sind nicht ausfahrend, wie bei der
tabischen Ataxie, sondern übers Ziel schießend, über das gewollte Maß hinaus¬
gehend; es tritt wohl eine Moderation und Regulation ein, aber diese verhüten
nicht ein Hinüberschießen übers Ziel; sie werden gleichsam durch eine starke
Propulsivkraft der Hauptagonisten der Bewegung gestört; dasselbe gilt von dem
Innervationseffekt der Antagonisten im weitesten Sinne des Wortes: wiederum
eine starke Propulsivkraft, die im ersten Moment die Moderation und Regulation
stört. In jenem ziemlich regelmäßigen Schwanken um das Ziel erblicken wir
deutlich eine gute und zweckmäßige Regulation, einen Beweis dafür, daß die
zentripetalen Nachrichten über die Bewegung der Extremität normal zum
Ziel geleitet werden. Aber die ausführenden Organe stören die Regulation durch
übermäßige Reaktionen und Bewegungen.
Die Muskeln zeigen bei der Sklerose einen erhöhten Muskeltonus, eine ge¬
steigerte reflektorische Erregbarkeit. Genügt diese zur Erklärung des Intentions-
zittems? Ich glaube nicht. Bei jedem Spasmus ist die reflektorische Erreg¬
barkeit der Muskeln erhöht, aber nicht immer ist das Intentionszittem vor¬
handen. Durch die erhöhte reflektorische Muskelerregbarkeit wurde schon von
Spieß (1849) und später von Friedberg, Cohn, Spring und durch die Arbeiten
von Debove und Baudet der Fußklonus erklärt. Beim letzteren ist das
normale Zusammenspiel der Agonisten und Antagonisten derart gestört, daß
bei der Kontraktion der Agonisten die normale Innervation der Antagonisten,
welche die Kontraktion der Agonisten mäßigt, erhöht ist, die Kontraktion der
Antagonisten unterbricht die begonnene Bewegung (Extension); aber die Kon¬
traktion der Flektoren ruft sofort eine analoge krankhafte Reaktion in den
230
Zweiter Teil.
Extensoren hervor, und so geht es wechselweise fort. In ähnlicher Weise läßt
sich durch die erhöhte reflektorische Muskelerregbarkeit z. B. die sakkadierte
Bewegung der paretischen Glieder (Förster) erklären. Der Klonus entsteht so¬
wohl im Kniegelenk, als auch in anderen Gelenken und kann, wenn der Patient
steht, als ein grobes Zittern des ganzen Körpers in der Ruhe imponieren. Auch
bei den spinalen Erkrankungen und bei den Versuchen am Rückenmark, welche
zur Erklärung des Intentionszittems zitiert wurden, handelte es sich stets
nur um Fußklonus (die Versuche von Goltz, deren Bedeutung Freusberg
analysiert hat und dessen Folgerungen wir in allen späteren Arbeiten, z. B. bei
Eulenburg, Möbius u. a. wiederfinden). Beim Fußklonus handelt es sich
um eine Störung der normalen Koordination dadurch, daß der inhibitorische
Einfluß auf den spinalen Reflexbogen, der mit der Pyramidenbahn von oben
herabkommt, irgendwo im Verlaufe der Pyramiden oberhalb der motorischen
Spinalstelle unterbrochen ist; der Fußklonus entsteht nicht, wenn die Pyramide
nicht unterbrochen oder wenigstens ernstlich lädiert ist. Etwas Ähnliches
gilt für die sakkadierte Bewegung, die ebenfalls manchmal als Intentions-
zittem imponiert (Pachymeningitis cervicalis hypertrophica).
Das Intentionszittern ist aber nicht in allen Fällen vorhanden, bei denen
Fußklonus und sakkadierte Bewegung vorkommt, und es unterscheidet sich auch
wesentlich vom Fußklonus und von der sakkadierten Bewegung. Das Intentions-
zittem ist ebenso durch erhöhte Muskelspannung, durch erhöhten Muskeltonus
also eine erhöhte Muskelfunktion bedingt, wie etwa der Fußklonus. Die Be¬
wegung beim Intentionstremor ist jedoch nicht etwa durch die Kontraktion
des speziellen, die gewollte Bewegung hemmenden Antagonisten gestört, sondern
durch eine Behinderung des Zusammenspieles der Agonisten mit einer besonderen
Gruppe der Nebenagonisten, nämlich jenen, welche die Extremität halten
und sie als Ganzes gegen das Ziel dirigieren, also den sogen, kollateralen, rota¬
torischen und dergl. Synergisten. Es sind dies Muskeln, welche sich an der
Wurzel der Extremität befinden. Das Intentionszittem findet eigentlich in
den proximalen Gelenken der Extremitäten statt und zwar bei Bewegungen,
bei denen die Extremität als Ganzes in einer bestimmten Richtung dirigiert und
zugleich in einer bestimmten Lage erhalten werden soll, damit sie aus derselben
nicht durch Fall, Rotation und ähnliche physikalische Ursachen verdrängt werde.
Das Intentionszittem ist um so heftiger, je größer das Bestreben ist, die Ex¬
tremität bei der Bewegung in einer bestimmten Lage zu halten (Probe mit dem
Glas Wasser). Die Funktion der Synergisten ist beim Intentionszittem nicht
aufgehoben, sondern im Gegenteil gesteigert, übertrieben, wie wir eingangs bei
der Analyse dieser Bewegungsstörung bemerkt haben.
Das Zusammenspiel der Agonisten und Antagonisten beim Fußklonus
wird vom spinalen Reflexbogen beherrscht, der vom Großhirn in der erwähn¬
ten Weise beeinflußt wird. Das Zusammenspiel der rotatorischen und kolla¬
teralen Synergisten wird vom Kleinhirn beherrscht; es ist dies ein Teil seiner
koordinatorischen Funktion, welche den Zweck hat, den Körper und seine Teile
in der Gleichgewichtslage zu erhalten und ausgiebige Bewegungen durch ver¬
schiedene zweckmäßige Mit beweg ungen zu ermöglichen (worauf in geistvoller
Weise Babinski hinwies, als er das Syndrom der sogenannten Asynergie cere-
belleuse bei Kleinhimerkrankungen beschrieb). Das Kleinhirn besitzt außer¬
dem einen sthenischen, tonischen Einfluß auf die Skelettmuskulatur. Nach
Disseminierte Sklerose.
231
unserer Analyse wären also diese beiden Funktionen beim Inten¬
tionszittern erhöht. Eine übermäßige Funktion des spinalen Reflexbogens
tritt bei Pyramidenläsionen ein; auch das Kleinhirn ist in analoger Weise in
seiner Funktion moderiert durch die oberste Etage des Zentralnervensystems,
durch die Hemisphären, durch die zerebro-zerebellären Bahnen, welche die Pyra¬
miden von der Rinde zur Brücke begleiten, wo sie sich von jenen trennen, indem
sie durch die mittleren Kleinhimschenkel zum Kleinhirn verlaufen.
Aus der bisherigen Analyse des Intentionszittems würde also hervorgehen,
daß hier die entsprechende hemmende Einwirkung des Großhirns auf das Klein¬
hirn fehlt, ebenso wie beim Fußklonus die inhibitorische Wirkung des Gehirns
auf das Rückenmark fehlt, oder: daß die Läsionen, welche das Inten¬
tionszittern hervorrufen, in der zerebro-zerebellären Bahn ihren
Sitz haben müssen. Diesem aus der klinischen Analyse des Intentions¬
zittems fließenden Postulate entsprechen genau die anatomischen Erfahrungen:
das Intentionszittern ist nur in jenen Fällen von Sklerose vor¬
handen, in welchen bei der Sektion Veränderungen im Gehirn
zwischen der Rinde und dem Kleinhirn in der Nähe der Pyramiden
gefunden wurden, und es fehlt in solchen Fällen, bei denen Verände¬
rungen nur im Rückenmark gefunden wurden.
Diese Schlußfolgerung über die Lokalisation der Veränderungen beim Inten-
tionszittem, welche schon von Hammond (zit. Londe S. 165) klar ausgesprochen
wurde, geht am deutlichsten aus der Arbeit von B. H. Stephan (1887—1888) her¬
vor, der die ältere Literatur gesammelt und auf die sezierten Fälle von Sklerose
ohne Zittern mit spinaler Lokalisation (Vulpian, Leyden, Moritz, Ebstein)
hingewiesen hat. Seine Schlüsse lassen sich noch stützen durch Fälle von durch
eine Läsion im Verlaufe der zerebro-zerebellären Bahn bedingtem posthemiplegischem
Intentionszittem älterer (zit. Decio 1903) und jüngerer Autoren: Westphal 1889,
Bruns 1894, Infeld 1900, Decio 1903, Verger und Desqudyron 1910. (Dieser
Fall ist beonders lehrreich: das klinische Bild des sklerotischen Intentionstremors
und als Ursache ein Tumor im vorderen Anteil der Brücke, der auf beide Crura
cerebelli ad pontem Übergriff. Siehe auch Dejerine 1901, Oppenheim u. a.)
Bei dieser Erklärung decken sich also theoretische Annahme und nach¬
gewiesene Erfahrung vollständig.
Die erwähnte Komponente der zerebellären Koordination: der Einfluß
auf die zweckmäßige Funktion der kollateralen (Duchenne) und rotatorischen
(Förster) Synergisten ist am wenigsten erforscht. Förster ist sie bei seinen
geistreichen analytischen Erwägungen nicht entgangen. Förster läßt die Frage
offen, ob sich nicht der Einfluß des Kleinhirns weiter auch auf die Funktionen
der einzelnen Segmente der Extremitäten erstreckt (S. 59). Das Studium der
Bewegungen bei der zerebrospinalen Sklerose wird meiner Ansicht nach ein
fruchtbares Feld für weitere diesbezügliche Forschungen sein. Ich will nur
erwähnen, daß Grasset einen Fall von Sklerose publiziert hat, in welchem das
Intentionszittem im Karpalgelenk vorhanden war.
Die Analogie zwischen Fußklonus und Intentionszittem bestünde also
darin, daß der Klonus durch eine Isolation des spinalen Regulationsmechanismus
entsteht, während das Intentionszittem durch eine Isolation des zerebellären
Regulationsmechanismus zustande kommt.
Inwieweit an der den Intentionstremor bedingenden Läsion auch eine Unter¬
brechung der zerebello-zerebralen Bahn beteiligt ist, läßt sich bis jetzt noch nicht
bestimmen. Ein notwendiges Postulat ist dieselbe nicht.
232
Zweiter Teil.
Wenn wir die bisherigen Erklärungen des Intentionszittems überblicken,
so finden wir, daß dieselben einen mehrfachen Ideengang eingeschlagen haben:
1. Die einen legten das Hauptgewicht auf die Leitung der motorischen Reize
zu den eigentlichen Hauptagonisten und nehmen eine erschwerte oder eine ver¬
schieden lädierte Leitung dieser Reize an. So z. B. nahm Charcot an, daß die
Reize intermittierend zu den Muskeln gelangen und nach ihm gaben sich viele mit
der Annahme zufrieden, daß die Reize unterwegs abgeschwächt werden: so z. B.
Möbius, der das Intentionszittem für den Typus des paralytischen Zitterns ansah.
Redlich, der von einem Zittern infolge Erschlaffung, Ermüdung spricht, Cramer,
der dasselbe mit dem beim Heben schwerer Lasten entstandenen Zittern verglich.
Brissaud hat im Gegensatz zu früheren, namentlich von Charcot ausgehenden
Bestrebungen, eine bestimmte Stelle zu finden, von der aus das Zittern hervor¬
gerufen wird, die Ansicht ausgesprochen, daß die Läsion im Bereiche der ganzen
Länge der Pyramiden ihren Sitz haben kann und suchte die Ursache für die Ver¬
änderungen von der Dauerkontraktur bis zur Athetose nur in quantitativen Unter¬
schieden der Pyramidenläsionen. Zu gleicher Zeit kamen Kahler und Pick zu dem¬
selben Schlüsse. Ordenstein, Stephan und Bidon beschränkten die Lokalisation
auf die bis heute anerkannten Dimensionen der Pyramiden. Die prinzipiell gleiche
Erklärung gab Monakow, indem er annahm, daß infolge von Leitungsschwierig¬
keiten weniger Reize zu den Muskeln gelangen. Ein wenig modifiziert wurden diese
Ideen von Decio, welcher annimmt, daß zu den Veränderungen der Pyramiden
eine Reizung durch neugebildetes Bindegewebe hinzutreten müsse, und von Müller,
der wie Charcot die Hindernisse bei der Leitung der kortikomuskulären Reize
in einer Eigentümlichkeit des anatomischen Prozesses erblickt, und zwar in einer
Entblößung der Fasern an mehreren Stellen, in einem Untergang vieler Fasern.
Choronschitzky zitiert die ältere Ansicht von Brücke, daß sich nicht alle Muskel¬
partien gemeinsam kontrahieren (die alte Lehre von der Analogie mit dem sogenann¬
ten Pelotonfeuer).
Alle diese Erklärungen haben den gemeinsamen Fehler, daß sie die beim Inten¬
tionszittem offenkundige Koordinationsstörung nicht erklären. Mittelst derselben
ließe sich höchstens die sakkadierte Bewegung oder der bei Intention oder bei An¬
strengung ein wenig gröber werdende Tremor erklären, aber keineswegs das typische
Intentionszittem — selbst wenn ihre anatomischen Voraussetzungen und funktionellen
Deduktionen erwiesen wären.
2. Der zweiten Gruppe der Autoren ist die Koordinationsstörung beim Inten¬
tionszittem nicht entgangen. Latteux zitiert schon 1868 die Ansicht von Luys,
daß das Kleinhirn, welches der Muskulatur einen sthenischen Impuls gibt und durch
dessen harmonische Einteilung die Koordination ermöglicht, eine normale Koordi¬
nation nicht bewirken kann, wenn es mit seinen zentrifugalen Bahnen in der Umgebung
des Nucleus ruber, im Pons und in der Medulla oblongata ein krankhaft verändertes
Gewebe vorfindet; auf diese Weise sollen unregelmäßige Bewegungen, Sakkaden
und ähnliche Veränderungen entstehen. Adamkiewicz suchte seit dem Jahre
1881 in mehreren Arbeiten die Ursache des Zitterns in einer Störung des Zusammen¬
spiels zwischen kortikaler und zerebellärer Innervation, in einer Schwächung der
Funktion der Pyramiden und in einer Stärkung des Einflusses des Kleinhirns; er
nahm an, daß die Hinterstränge, welche tonisierende Fasern enthalten, auf minimale
physiologische Reize durch kurze Explosionen der Innervation reagieren und auf
diese Weise das Zittern hervorrufen. Seine Experimente, bei welchen er Laminaria
unter die Gehirnhäute einführte, erklären bis zu einem gewissen Grade den in
klonische Krämpfe übergehenden Spasmus und Klonus, keineswegs aber das Inten¬
tionszittem. — Außer diesen beiden Autoren, die in die Erklärung des Mechanismus
und der Pathogenese des Intentionszittems am tiefsten einzudringen versuchten,
begnügte sich eine Reihe von Autoren damit, daß sie entweder die Analogie oder die
Unterschiede zwischen diesem und der Ataxie hervorhoben, oder daß sie allgemeine
Ansichten über den Mechanismus oder die Lokalisation vorbrachten, ohne sich um
den Beweis oder um die genauere Erklärung ihrer Thesen zu kümmern. So z. B.
Erb: Eine bestimmte Form von Koordinationsstörung, die von der Ataxie ver¬
schieden ist; Strümpell: Beweglichkeitsstörungen, die mit Ataxie identisch sind;
Disseminierte Sklerose.
233
Goldscheider: Störung der Koordination niedrigsten Grades, der einfachen Synergien
nach Duchenne, der synergischen, antagonistischen, kollateralen Koordination;
Buck: Läsion der zentripetalen medullo-zerebello-kortikalen Bahn, wie bei der
Ataxie und Asynergie; Lövy und Bonniot: eine Art der zerebellaren Asynergie;
Schenk: es gehört irgendwie zur Ataxie, obzwar es anders ist als bei Tabes; Müller:
viel Gemeinsames mit statischer Ataxie, besonders eine mangelhafte zentrale Fixation
der Extremitäten; vielleicht eine Läsion des zerebello-rubro-spinalen Traktus; Decio:
eine leichtere, speziell motorische Form der Ataxie; Kollarits: nach Art einer mit
Hypertonie kombinierten Ataxie; Meyer: verschiedene Abarten der Ataxie, am
häufigsten eine vestibuläre, oft eine spinale infolge Läsion der Tiefensensibilität,
am seltensten eine kortikale; Thomas: eine Abart der Gublerschen Amyostasie;
Marburg: infolge Unterbrechung der zerebello-strialen und kortikalen Bahnen.
3. Von einer ähnlichen Idee waren jene Autoren geleitet, welche die Ursache
des Intentionszittems in einer Läsion des Zusammenspiels zwischen Agonisten
und Antagonisten suchten. Insofeme wir bei diesen Autoren eine nähere Erklärung
finden, läßt sich dieselbe für den Fußklonus, aber nicht für das Intentionszittern
verwenden; so z. B.die zitierten Arbeiten von Spieß, Spring, Freusberg, Boudet,
die Erklärung von Dejerine, von Jamin. Ricoux denkt an einen geschwächten
Agonisten bei normalem Antagonisten, Dejerine an eine Kontraktion der Agonisten
bei gleichzeitiger Kontraktur der Antagonisten. — Leyden (1874) sprach von
zwischen treffenden Zusammenziehungen der Antagonisten, zeigte aber durch seinen
Hinweis auf den Subsultus tendinum, wie sehr er sich vom Wesen des Intentions¬
zittems entfernt hatte. — Pasternatzky kam bei seinen Versuchen an Katzen
und Hunden (er bohrte Nadeln in die Seitenstränge ein) zu dem Schlüsse, daß das
Wesen in einer Störung der Koordination, speziell in einer Ungleichmäßigkeit der
Innervation der Agonisten und Antagonisten beruhen dürfte. — Ebenso allgemein
urteilen Gowers, Eulenburg.
Wir sehen also, daß Luys, Adamkiewicz, Buck, Müller, Marburg
mit ihrer Erklärung am weitesten vorgedrungen sind, ohne aber über eine all¬
gemeine Ansicht hinausgekommen zu sein.
Es erübrigt uns noch, eine Übersicht darüber zu geben, wie sich die ein¬
zelnen Eigentümlichkeiten des Intentionszitterns mit der vorgebrachten Er¬
klärung vereinbaren lassen:
1. Das Intentionszittem ist kein konstantes Symptom der Sklerose:
angesichts der Mannigfaltigkeit des Sitzes der ersten sklerotischen Plaques
verträgt sich diese Tatsache sehr wohl mit unserer Erklärung; wir wissen, daß
es viele Sklerosen gibt, bei denen viele Jahre nur spinale Erscheinungen vor¬
handen sind.
2. Das Intentionszittem verschwindet manchmal für eine Zeit, wenn sich
der Allgemeinzustand bessert, z. B. nach einem Aufenthalt im Krankenhause.
Andererseits kann es nach einer erschöpfenden Arbeit einer Extremität auch
dort auftreten, wo es sonst nicht sichtbar ist. Jene anatomische Läsion, welche
das Intentionszittern verursacht, unterbricht in den Fällen, in welchen das
Zittern nicht konstant ist, die entsprechende Bahn nicht vollständig; es besteht
hier dasselbe Verhältnis, wie zwischen Parese und Paralyse. Es ist eine häufige
Erscheinung, daß sich Paresen zentralen Ursprungs nach einer allgemeinen
Erholung, nach physischer und psychischer Ruhe für eine gewisse Zeit bessern,
aber bei Ermüdung oder Erschöpfung wieder deutlicher werden.
Was die Anstrengung betrifft, besteht eine vollständige Analogie bei
allen spastischen Erscheinungen: die spastischen Symptome der unteren Extremi¬
täten sind nach einem längeren Marsche viel intensiver.
3. Der Einfluß der Emotion ist hier derselbe wie bei allen übrigen Ko¬
ordinationsstörungen, nämlich ungünstig.
234
Zweiter Teil.
4. In jenen Fällen, in welchen die progressive Zunahme der Bewegungen
gegen das Ziel nicht ausgeprägt ist, handelt es sich eher um eine sakkadierte
Bewegung, die sich einfacher durch einen Mangel des inhibitorischen Einflusses
auf die spinale antagonistische Innervation erklären läßt (Förster).
5. In den Fällen, in welchen wir auch bei statischer Innervation analoge,
nicht ganz regelmäßige Oszillationen mit einer Frequenz von 3—4 in der Sekunde
beobachten — und das sind solche Fälle, in denen auch das Intentionszittern
vorhanden ist —, können wir denselben Mechanismus der Inkoordination auch
für jene minimale Intention annehmen, welche vorhanden ist, wenn man die
Hände in horizontaler Gleichgewichtslage hält.
6. Daß schließlich dieses Zittern manchmal mit anderen motorischen Stö¬
rungen kombiniert ist und daß es manchmal in die gewöhnliche Ataxie übergeht,
liegt nicht in seinem Wesen, sondern in dem Wesen der Krankheit, welche ana¬
tomisch disseminiert ist — und daher auch noch andere, für die Koordinations¬
mechanismen wichtige Bahnen befallen kann und auch befällt und sich in
manchen Fällen ganz deutlich durch Störungen der zentripetalen Bahnen
verrät.
Ich bin überzeugt, daß uns viele bis jetzt schwer erklärliche Eigenschaften
des Zitterns bei der Sklerose, die wir in der Literatur vorfinden (so z. B. hatte
einer unserer Patienten, wenn er betrunken war, angeblich kein Intentions-
zittem, und erst am nächsten Tage zitterte er wieder mehr), erst dann klar sein
werden, bis wir von dem Standpunkte aus, den ich oben für die Beurteilung
des Intentionszittems gezeichnet habe, jeden Fall werden analysieren können.
Leider war auch ich bei meinen Fällen zumeist auf die retrospektive Beurteilung
meines Materials angewiesen.
IX. B. Zerebrale Zitterformen.
a) Am meisten charakteristisch ist das Intentionszittern bei der Herd¬
sklerose, das man, wie gesagt, als eine Störung der zerebro-zerebellären Ko¬
ordination, als eine Isolation des zerebellären Koordinationsmechanismus bei
erhöhtem Muskeltonus auffassen kann;
b) ebenfalls charakteristisch ist der Fußklonus, der aber auch an der Patella,
an den oberen Extremitäten, am Unterkiefer und scheinbar auch spontan,
in Wirklichkeit aber nach einer aktiven Initial bewegung auf tritt. Auch hier
handelt es sich um eine Koordinationsstörung, um eine Isolation des Mechanis¬
mus der automatischen spinalen Koordination bei erhöhtem Muskeltonus.
c) Von demselben Charakter wie der Fußklonus sind jene Formen des
Zitterns bei der disseminierten Sklerose, welche bei statischer Innervation
und scheinbarer Ruhe neben den Intentionsschwingungen bestehen.
d) Manches „Intentionszittern“ ist kein Intentionsschwanken, sondern
eine sakkadierte Intentionsbewegung von derselben Pathogenese wie der Fu߬
klonus.
e) Eigentümliche Zitterformen entwickeln sich durch die Konkurrenz
mehrerer Läsionen: so z. B. kann bei Läsionen, welche die eine Seite des Klein¬
hirns und die anliegende Partie des Gehirns betreffen, ein einseitiger Intentions¬
tremor (Läsion der zerebro-zerebellären Bahn) entstehen, der mit zerebellärer
Asynergie (Läsion der zerebellofugalen Bahn) und gewöhnlicher Ataxie (Läsionen
Zerebrale Zitterformen. — Das Zittern bei Kleinhimaffektionen.
235
der zentripetalen Rückenmarksbahnen) kombiniert sein kann; etwas ähnliches
gilt von dem Babinskisehen Syndrom der Hemiasynergie et hemitremblement
d ’origine cerebello-protuberan tielle.
f) Bei Reizung der Gehirnrinde entstehen unregelmäßige Innervations¬
impulse, die sich in Form isolierter Kontraktionen einzelner Muskeln (nach Art
der Myokymie) und synergischer Muskelgruppen (Myoklonie, choreatische
Bewegungen) äußern. Diese Bewegungen sind entweder isoliert (Meningo¬
encephalitis tuberculosa beiMassalongo) oder sie komplizieren einen bestehenden
Tremor der Extremitäten; es sind dies jene Formen des Zitterns, die bei Ver¬
giftungen in einem gewissen Stadium beobachtet werden und die wir als zere¬
brale Form des toxischen Zitterns bezeichnet haben.
g) Bei der Reizung der Gehirnrinde der Zentralwindungen und der Pyra¬
miden in ihrem ganzen zerebralen Verlaufe entstehen klonische und ihnen
ähnliche Krämpfe, die entweder in typischen Anfällen (bei vorwiegender Rinden¬
lokalisation) auf treten oder schwächer, aber konstant sind, und die manchmal
als Tremor in der Ruhe imponieren und einigermaßen an das Zittern bei der
Schüttellähmung erinnern. Sie können im Beginne der Intention infolge eines
mit dem Beginne der Bewegung gleichzeitig auftretenden tonischen Krampfes
(unser Fall auf Seite 152) verschwinden und von neuem erscheinen, wenn der
tonische Krampf im weiteren Verlaufe nachläßt. Sie können auf einzelne Finger,
Segmente, Extremitäten, auf eine Körperseite beschränkt bleiben.
h) In anderen Fällen entstehen bei der Reizung der Pyramiden in ihrem
zentralen Verlaufe choreatische, athetotische Bewegungen. Es läßt sich bis
jetzt nicht entscheiden, worin das bestimmende Moment dafür liegt, daß einmal
athetotische, choreatische Bewegungen, ein andermal klonische Bewegungen
entstehen. (Ein Erklärungsversuch findet sich in der interessanten Arbeit
von Bidon aus dem Jahre 1886, wo sich auch die beste Klassifikation vorfindet.)
Auch diese athetotischen Bewegungen können „in der Ruhe“, d. i. ohne inten¬
dierte Bewegung vorhanden sein und als Zittern wie bei der Schüttellähmung
imponieren. Diese Bewegungen kombinieren sich manchmal mit Intentions¬
schwankungen wie bei der Sklerose; es dürfte hier eine Läsion der zerebro-
zerebellären Bahnen mit wirken.
Alle diese unwillkürlichen Bewegungen „in der Ruhe“ unterscheiden sich
durch ihren krampfartigen Charakter grundsätzlich von dem Zittern in der
Ruhe bei der Parkinsonschen Krankheit.
(Siehe auch die Arbeiten von Bidon, Stephan, Infeld, Marburg,
Economo, Förster über die Pathogenese verschiedener posthemiplegischer
Bewegungen.)
IX. C. Das Zittern bei Kleinhirnaffektionen.
Wir kennen bis jetzt keine besondere Zitterform, die sich als rein zere-
belläres Zittern bezeichnen ließe. Es handelt sich hier durchwegs um kompli¬
zierte Koordinationsstörungen, die zwar dem Zittern ähnlich sind, aber kein
reines Zittern darstellen. Die Analyse dieser Störungen wird dadurch erschwert,
daß die Autoren bestrebt sind, die beobachteten Bewegungen in eine bestimmte
Kategorie der bereits bekannten Zitterformen einzureihen, wodurch die un¬
voreingenommene, treue Beschreibung leidet.
236
Zweiter Teil.
Ich habe bereits erwähnt, daß ich den Intentionstremor der Sklerose
und der dieser nahestehenden Krankheiten für das Resultat der Isolation der
koordinatorischen Gleichgewichtsfunktion des Kleinhirns halte. Das ist die eine
Form des pathogenetisch vom Kleinhirn abhängigen Zitterns.
Eine zweite Form ist das bei der zerebellären Heredoataxie beobachtete
Zittern; es wird ebenfalls als Intentionszittern bezeichnet, ist aber mit der voran¬
gehenden Form nicht identisch; in der schönen Arbeit von Londe ist aus der
Mehrzahl der Krankheitsgeschichten zu ersehen (S. 178—179, 192, 196,
197, 199, 213, 218, 229, 235, 245, 246), daß es sich hier um eine besondere Be¬
wegungsstörung handelt, charakterisiert durch unwillkürliche Kontraktionen
nicht zusammengehöriger Muskeln, um eine unvollkommene Gleichgewichts¬
lage der Extremitäten, um einen Defekt der Harmonie zwischen Agonisten
und Synergisten, um eine Entfesselung, Zügellosigkeit der Bewegungen, um etwas,
was weder Ataxie, noch Intentionszittem ist. Aus den Beschreibungen geht
hervor, daß hier die normale innere Harmonie zwischen Agonisten und Syner¬
gisten, die normale koordinatorische Funktion des Kleinhirns fehlt; es handelt
sich also um eine entfesselte, disharmonische Bewegung infolge Mangels der
harmonischen Funktion des Kleinhirns, die beim Intentionszittem im Gegen¬
teil übertrieben ist. (Siehe auch S. 238).
In einer dritten Gruppe von Fällen handelt es sich um eine Kombination,
die sich ungezwungen aus der Lage des Kleinhirns und dem Einfluß der Klein-
himtumoren auf die Nachbarschaft erklärt; ein typisches Syndrom istBabinskis
Hemiasynergie et hemitremblement d’origine cerebello-protuberentielle.
Vorläufig kann man nicht mit Bestimmtheit behaupten, daß die dis¬
harmonische Bewegung der zweiten Gruppe mit Läsionen der zerebello-rubro-
spinalen Bahn zusammenhängt, wie dies bereits von einigen Autoren angenommen
wird (Gordon, Holmes, Miller).
IX. D. 1. Das Zittern bei progressiver Paralyse.
a) Das feine Zittern bei statischer Innervation unterscheidet sich nicht
von den anderen Zitterformen beim Nervosismus.
ß) Das grobe Zittern im Beginne des sicheren Bildes der progressiven
Paralyse ist wohl ein erhöhtes physiologisches Zittern infolge schlaffer Innervation
des kranken Gehirns, untermischt mit unregelmäßigen, bündelförmigen Kon¬
traktionen, wie wir dies bei diffusen Prozessen im Gehirn und speziell in der Rinde
gewöhnlich beobachten (adynamisches Stadium des Typhus, subakuter Alko¬
holismus, zerebrale Form des toxischen Zitterns usw.).
y) Das dem Parkinsonschen Tremor ähnliche Zittern und das Intentions¬
zittern sind wie alle „zerebralen“ Zitterformen der Ausdruck einer Pyramiden¬
reizung und einer Läsion der zerebro-zerebellären Bahnen, also eine Kompli¬
kation des diffusen, pathologischen Gehirnprozesses.
Unser zweiter, beim zerebralen Intentionszittern angeführter Fall ist
das Prototyp derartiger Formen des Intentionszittems bei der progressiven
Paralyse, denn das klinische Bild entspricht vollständig der progressiven
Paralyse, während die Anamnese und die Beobachtung des Zustandes vor der
Demenz einen Zusammenhang des Intentionszittems mit einem apoplektischen
Herd annehmen läßt.
Das Z ittern b. spinalen Erkrank.; b. Neuritiden. — Essentieller einfach, (heredit.) Tremor. 237
2. Das Zittern bei spinalen Erkrankungen.
Bei spinalen Erkrankungen, die mit einer Sklerose der gekreuzten Pyra¬
miden verbunden sind, besteht kein eigentliches Zittern. In jenen Fällen,
in welchen ein Intentionszittern beschrieben wird, handelt es sich entweder
um sakkadierte Bewegungen bei spastischer Schwäche der Extremitäten, oder
um choreatische Schwankungen, oder um zerebelläre Ataxie, oder es ist das wirk¬
liche Intentionszittem der oberen Extremitäten der Ausdruck herdförmiger
Läsionen, die entweder in den Rahmen der Krankheit (analog wie bei dem zitierten
einseitigen Syndrom Babinskis) fallen oder die Grundkrankheit komplizieren
(bei der Friedreichschen Krankheit). Im allgemeinen sind diese letzteren
Fälle selten.
Im übrigen ist durch keine verläßliche und sichere Beobachtung das Ha-
mondsche Gesetz verletzt, daß es keinen Intentionstremor gibt, wo keine
Gehimläsion vorhanden wäre.
3. Das Zittern bei Neuritiden.
Bei Paresen infolge von Nervenentzündungen beobachtet man ein Zittern,
welches prinzipiell dem beim Heben schwerer Lasten, bei der Ermüdung auf¬
tretendem Zittern ähnlich ist; es entsteht infolge des Mißverhältnisses zwischen
Innervation und der notwendigen Spannung der Muskeln, indem der Muskel
trotz großer Kraftanstrengung ungenügend innerviert wird; was dem gesunden
motorischen Apparat die belastete Extremität ist, das ist die normale Extremität
dem lädierten Nervenmuskelapparat.
X. A. Essentieller einfacher (hereditärer) Tremor.
Tremophilia. Zittrigkeit.
Dieses Zittern unterscheidet sich vom physiologischen nur durch seine
Intensität und durch sein hereditäres Auftreten. Es gibt Familien, in welchen
jene physiologische Wellenform des Tetanus in stärkerem Grade vorkommt.
Wir können uns vorstellen, daß es solche Familien sind, bei denen die Muskel¬
struktur kongenital ein wenig abnormal ist. Sowie es Familien gibt, in denen
kongenital eine erhöhte Tätigkeit des Sarkoplasmas vorkommt (Thomsen),
so gibt es Familien, in denen kongenital eine gesteigerte Reizbarkeit der aniso¬
tropen Substanz und infolgedessen eine größere Disposition zu Muskeloszillationen,
zu schnell wellenförmigem Tetanus vorhanden ist. Besonders ausgesprochen ist
das Zittern bei jenen Familienmitgliedern, bei denen noch die Erscheinungen
der zerebralen Labilität, der Reizbarkeit, der Unentschlossenheit, Ängstlich¬
keit, Schüchternheit und neurasthenische Züge hinzutreten. Durch Anstrengung,
Ermüdung, Emotion wird dieses Zittern, wie das physiologische Zittern über¬
haupt, stärker. Es kommen hier in typischer Weise alle jene Umstände zur Gel¬
tung, deren tremogenen Einfluß wir beim physiologischen Zittern kennen
gelernt haben. Bei einzelnen Gliedern solcher Familien beobachtet man bei
der Intention — stets unter dem Einfluß der Emotion — derartige Bewegungs¬
störungen, daß jede Aktion verhindert wird und die Kranken ans Bett gefesselt
238
Zweiter Teil.
sind. Bei diesen hochgradigen Schwankungen der Extremitäten und des ganzen
Körpers kann man nicht mehr vom Zittern sprechen. Es ist auf den ersten
Blick klar, daß die gewollte Bewegung hier durch übermäßige Kontraktionen
der Hilfsmuskeln und durch Zusammenziehungen solcher Muskeln, die zu der
betreffenden Aktion nicht notwendig sind, gestört wird, daß die Bewegungen
in ihrer normalen Koordination irgendwie alteriert sind. Bei genauerer Analyse
dieses Schwankens erkennt man, daß es sich hier weder um eine sakkadierte
Bewegung der Muskeln unter dem Einflüsse eines übertriebenen spinalen Regu¬
lationsmechanismus handelt, noch um eine ausfahrende, ataktische Bewegung
infolge eines Mangels zentripetaler Regulationsnachrichten über die Bewegung,
noch um ein über das Ziel hinausschießendes Intentionsschwingen der
Muskeln unter dem Einflüsse einer übertriebenen syntaktischen Funktion des
Kleinhirns infolge mangelhafter zerebro-zerebellärer Hemmung, sondern daß
die Funktion der Hauptagonisten, deren Innervation an und für sich normal,
hinreichend und entsprechend ist, durch die Antagonisten, durch die kollateralen
und rotatorischen Synergisten gestört ist, so daß die Bewegung regellos, aufgelöst
und disharmonisch erscheint. Diese harmonisierende Funktion, die der auto¬
matischen, durch die Gehirnrinde gedämpften Funktion des Klei nhir ns zuge¬
schrieben wird, ist die normale Erscheinung, die aber bei schüchternen, furcht¬
samen Menschen und bei Aktionen, zu denen eine genaue Innervation aller Syner¬
gisten und Antagonisten notwendig ist, auch unter gewöhnlichen Verhältnissen
nachhinkt. Diese harmonisierende Funktion des Kleinhirns ist, wie aus klini¬
schen Tatsachen hervorgeht, bei manchen Mitgliedern der zitternden Familien
besonders labil und versagt im Zustande der Emotion selbst bei gewöhnlichen
intendierten Bewegungen, wodurch dann das familiäre idiopathische Zittern so
auffallend kompliziert wird.
Es handelt sich hier also meiner Ansicht nach um eine Labilität jenes
funktionellen Systems, das bei einer ebenfalls erblichen und familiären Krank¬
heit, bei der sogenannten zerebellären Heredoataxie (Pierre-Marie) am deut¬
lichsten gestört erscheint.
X. B. Seniles und diesem analoges Zittern.
Das senile Zittern des Körpers, des Unterkiefers und der Zunge unter¬
scheidet sich durch nichts von dem Parkinsonschen Zittern dieser Teile.
Das senile Zittern der Hand, das dieselbe Frequenz besitzt wie das Zittern bei
der Parkinsonschen Krankheit, unterscheidet sich von demselben dadurch,
daß es nur an die intendierte Innervation gebunden ist, seine Amplitude wächst
mit der Intention, während der Tonus der untätigen Muskeln nicht gestört ist.
Als Ganzes unterscheidet sich das senile Zittern von der Parkinsonschen
Krankheit durch den Mangel der Rigiditäten und deren Folgen: der Haltung
der Extremitäten und des Körpers, der Propulsion usw., sowie dadurch, daß
wir hier nicht von einer Krankheit sprechen können wie bei der Parkinsonschen
Krankheit. Obwohl wir auch beim senilen Zittern in der Anamnese analoge
ätiologische Einflüsse und unter den Prodromen dieselben unbestimmten
Schmerzen, Wadenkrämpfe und Schwächegefühle vorfinden, haben wir hier
doch niemals j enen Charakter einer kachektisierneden Krankheit, einer allgemeinen
Dystrophie vor uns, wie bei der Parkinsonschen Krankheit. Auch in jenen
Seniles und diesem analoges Zittern.
239
Fällen, in denen das senile Zittern vor 20—30 Jahren begann, finden wir keine
anderen universellen Veränderungen, als solche, welche dem Alter der Patienten
entsprechen und das einzige hervorstechende Symptom bleibt die Störung
der intendierten Tätigkeit der quergestreiften Muskulatur. Die Muskeln haben ein
normales Aussehen, sie sind weder atrophisch, noch dystrophisch. Die Inner¬
vation des Muskeltonus hat eine glatte, ununterbrochene Kontraktion zur Folge.
Aber schon die statische Innervation, die Innervation der normalen Körper¬
haltung im Sitzen, im Stehen und namentlich die Innervation zur intendierten
Bewegung ruft keinen glatten Tetanus hervor, sondern ein langsames Zittern,
das um so gröber ist, je ermüdeter der Muskel ist (bei der Wiederholung der
Bewegung — Demange). Die Muskeln zeigen weder einen erhöhten Tonus,
noch einen Krampf. Durch den Mangel eines glatten Tetanus bei der Intention
ist also das ganze Wesen des senilen Zitterns vollständig und genau charakteri¬
siert, denn wir finden hier weder andere Läsionen, noch andere Besonderheiten
der Motilität.
Leider war es mir nicht gegönnt, einen Fall dieser Art klinisch zu untersuchen
und in der Literatur fand ich keine Angaben über den tonischen Zustand der
Muskulatur und deren elektrische Erregbarkeit. Man sollte erwarten, daß durch
faradische Reizung bei erhaltener galvanischer Erregbarkeit ein glatter Tetanus
schwer hervorzurufen sein werde und ferner, daß der Tonus der zitternden
Muskeln eher kleiner als gewöhnlich sein werde.
Die charakteristische Veränderung des senilen Zitterns ist das Gegenteil
des Thomsenschen Syndroms: sowie es Familien gibt, deren Mitglieder sich
durch eine erhöhte Tätigkeit des Sarkoplasmas auszeichnen, die statt eines
glatten Intentionstetanus eine tonische langdauemde Kontraktion aufweisen,
so gibt es Menschen, die von einem gewissen Alter angefangen statt eines glatten
Tetanus einen unvollkommenen Tetanus infolge einer ungenügenden Funktion
des Sarkoplasmas, das den glatten Tetanus ermöglicht, auf weisen. Gleich¬
zeitig ist ihr Sarkoplasma weniger erregbar, die Dauer der Latenz ist größer
und daher sind die Schwingungen langsamer, 3—4—5 in der Sekunde.
Bei der Parkinsonschen Krankheit führte uns die Analyse der Muskel¬
beweglichkeit zu einem ähnlichen Schlüsse: auch dort mußten wir eine vermin¬
derte Erregbarkeit des Sarkoplasmas und eine verlängerte Latenzdauer voraus¬
setzen, wodurch sich das langsame Zittern bei intendierten Bewegungen erklärt,
nur daß bei der Parkinsonschen Krankheit das Bild etwas bunter ist durch
die Anwesenheit des myasthenischen und toxischen Elementes, das das schlaffe
und weniger erregbare Sarkoplasma in einer besonderen Weise reizt, indem es
in der Ruhe nach Art jener verschiedenen chemischen Zusätze im Experiment
zum rhythmischen Tetanus beiträgt, bei der Intention wenigstens im ersten
Moment ein Stück des glatten Tetanus ermöglicht und im allgemeinen die Mus¬
keln in einen Zustand fortschreitender Rigidität versetzt, die, wenn sie einen
hohen Grad erreicht hat, jede Oszillation in der Ruhe und bei Intention unmög¬
lich macht, wie dies bei den Veratrinversuchen beobachtet wird. Bei der P a r k i n -
sonsehen Krankheit führten uns alle Krankheitserscheinungen zu der Annahme,
daß es sich um eine ungenügende Funktion, eventuell Sekretion einer ganzen
Reihe endokriner Drüsen handle, um eine pluriglanduläre endokrine In¬
suffizienz, um eine akquirierte Krankheit mit bis jetzt rätselhafter Ätiologie.
Beim senilen Zittern müssen wir in Erwägung ziehen, daß es neben isolierten
240
Zweiter Teil.
Fällen, die im allgemeinen unter analogen Umständen entstehen wie die
Parkinsonsche Krankheit, auch solche Fälle gibt, in welchen die analoge
Veränderung der Motilität familiär und erblich auf tritt (hereditärer, seniler Tre¬
mor), ferner Fälle, in welchen ein derartiges Syndrom bei den einen, bei den
anderen Mitgliedern derselben Familie dagegen ein gewöhnlicher einfacher
idiopathischer Tremor vorkommt, weiter Fälle, bei welchen eine analoge Ver¬
änderung der Motilität bei Menschen von zartester Jugend unverändert bis
ins Alter beobachtet wurde, und zwar wiederum familiär und erblich (Chey-
lard), und schließlich solche Fälle, bei denen von zartester Kindheit hereditär
und familiär ein ähnlicher langsamer Tremor nur an den Händen existiert
und von welchen einige im Alter einen langsamen Tremor des Körpers akqui¬
rieren, wodurch das Bild des senilen Zitterns entsteht. Daraus geht hervor, daß
die supponierte Insuffizienz des Sarkoplasmas in manchen Familien erblich so
wie die Thomsensche Myotonie vorkommt und entweder erst im Mannesalter
oder schon im jugendlichen Alter (von etwa 20 Jahren in den Fällen Chey-
lards) auftritt. Ob analog dem kongenitalen Thomsenschen Syndrom auch
kongenitale Fälle von Insuffizienz des Sarkoplasmas existieren, läßt sich nicht
mit Bestimmtheit behaupten, da ein verläßlicher Fall bei einem Kinde noch
nicht beschrieben wurde; jene Fälle, in welchen der Beginn in die zarteste Kind¬
heit verlegt wird, stützen sich durchwegs nur auf anamnetische Angaben, und
da läßt sich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß sich ein einfaches idiopathi¬
sches Zittern in späteren Jahren infolge Erschlaffung des Sarkoplasmas in
seniles Zittern verwandelt hat. Diese Frage besitzt nur für die Ätiologie, nicht
auch für die Pathogenese dieses Zitterns eine prinzipielle Bedeutung. Dasselbe
Syndrom stellt sich ein, wenn die sarkoplasmatische Funktion kongenital
schlaff ist (sowie sie kongenital erhöht sein kann) oder kongenital schadhaft
ist, so daß sie im Laufe der Zeit früher oder später erschlafft, oder wenn sie
ursprünglich zwar gut ist, aber infolge Läsion der normalen endogenen Reiz¬
mittel erschlafft (seniles Zittern, das plötzlich nach schweren Emotionen ent¬
steht) oder sich mit weiteren Läsionen (zum Bilde der Parkinsonschen Krank¬
heit) kompliziert.
Der senile Tremor ist in der Form, in welcher er z. B. von Thebault
in seinen 13 Krankengeschichten beschrieben wird, ein klinisch und patho¬
genetisch typisches Syndrom. Pathogenetisch und vielleicht auch ätiologisch
steht er der Parkinsonschen Krankheit nahe, indem er einen Teil ihres Gesamt¬
bildes ausmacht. Er ist pathogenetisch verwandt mit dem idiopathischen
erblichen und angeborenen Zittern, insoferne wir da ein langsames, die glatte
intendierte Bewegung substituierendes Gliederzittern beobachten. Es ist mög¬
lich, daß die Gruppe des dem senilen Tremor ähnlichen idiopathischen Tremors
aus Fällen von wirklich angeborener Insuffizienz oder wenigstens Schadhaftig¬
keit des Sarkoplasmas und aus solchen Fällen zusammengesetzt ist, in welchen
sich einfache idiopathische hereditäre Zittern im weiteren Verlaufe infolge
Ers ht' mg des Sarkoplasmas in seniles Zittern verwandelt hat.
'i.
Angeborenes Kopfzittern.
Ein dem senilen Zittern analoges Kopfzittem wäre, wenn es von der
Geburt oder von der zartesten Jugend an bestünde, ein wichtiges Faktum
Idiopathisches hereditäres Intentionszittem. — Mechanisches Zittern.
241
für die Unität des senilen und des idiopathischen kongenitalen einfachen
Zitterns.
Doch scheinen die bis jetzt beobachteten Fälle trotz der äußeren Ähnlich¬
keit nicht zu dem Zittern dieser Art zu gehören. Vielmehr nähern sich die¬
selben den klonischen Krämpfen, welche bei Kindern in der Dentition (Oppen¬
heim) oder im Winter bei rhachitischen Kindern (Purwes Stewart) beschrieben
wurden, oder die als Nickkrampf, Salaamkrampf, Spasmus nutans, nodding
spasm, Jactatio capitis nocturna bekannt sind (siehe Oppenheim, Lehr¬
buch II, 1436, 1908), oder den rhythmischen Zitterbewegungen des Körpers
der Enten bei intrakraniellen Erkrankungen (Onimus in Wagners Physio¬
logie), und weisen wie die folgenden Gruppen des Intentionszitterns und des
sekundären erblichen Zitterns auf organische Veränderungen des Zentral¬
nervensystems hin. Man könnte der Ansicht von Le noble und Aubinau
beistimmen, daß es sich hier um ein Symptom einer Reihe minimaler degenera-
tiver zentraler Läsionen handelt, deren Endglieder die familiäre Sklerose und die
zerebelläre Heredoataxie darstellen.
X. C. Idiopathisches hereditäres Intentionszittern und
kombinierte hereditäre Zitterformen.
Dieselben haben im großen und ganzen eine ähnliche Pathogenese wie
die ,,zerebralen 64 Zitterformen. Das gesammelte Material deutet auf einen or¬
ganischen Ursprung im zentralen Nervensystem, im Gehirn und Kleinhirn,
mit allen jenen individuellen Eigenschaften, die bei allen Fällen von familiären
Gehirnkrankheiten (familiäre Diplegie, die angezweifelte familiäre Herdsklerose,
die zerebellären Ataxien usw.) beobachtet wurden. Das Zittern ist hier nur ein
bloßes Epiphänomen merkwürdiger familiärer Erkrankungen, deren klinische
Erforschung und pathogenetische Klassifizierung bis jetzt noch nicht beendet ist.
XI. Mechanisches Zittern.
Das Zittern infolge Ermüdung, welches die Bezeichnung mechanisches
Zittern nicht verdient, können wir übergehen.
Interessant ist aber die Beobachtung von Zielgien, weil wir ähnliche,
experimentell hervorgerufene Erscheinungen aus der Arbeit von Söerbak aus
den Jahren 1903—1908 kennen. Ööerbak in Warschau hat darauf aufmerk¬
sam gemacht, daß man mit einer schwingenden Stimmgabel oder mit einem
elektrischen Vibrator beim Menschen und beim Tiere ein Syndrom hervorrufen
kann, bestehend in einer Steigerung der tiefen Reflexe, in einem raschen funktio¬
neilen Knie- und Fußklonus und in Zittern. Auch nach den nach der Methode
von Schmaus erzeugten experimentellen Rückenmarkserschütterungen (Be¬
klopfen eines auf den Rücken eines Kaninchens angebundenen Brettes mit nMn
Hammer) beobachtete er außer einer flüchtigen Paraparese der Hi /foße
nach 1—2 Wochen dasselbe Syndrom. Er hat sich in beiden Versuc^sserien
überzeugt, daß dieses Syndrom nur insoweit auftritt, als das Rückenmark nicht
anatomisch lädiert ist; sonst weicht es dem typischen organischen Klonus.
Pein Ar, Zittern.
IC
242
Zweiter Teil.
Wenn wir das ganze Kapitel von der Pathogenese des Zitterns überblicken,
gelangen wir zu einigen interessanten allgemeinen Sätzen.
Die geschilderten klinischen Bilder und unsere bisherigen Kenntnisse
über die Physiologie der Muskeln und der Bewegungen überhaupt führen uns
zu Annahmen, die zum Teil noch nicht durch die physiologische Experimental¬
forschung beglaubigt sind:
Die Innervation des Muskeltonus, die sich gewöhnlich durch
eine konstante tonische Muskelkontraktion äußert und welche
nur in einigen Versuchen durch die Reizung mit dem konstanten
galvanischen Strom physiologisch imitiert wird, kann sich bei der
Parkinsonschen Krankheit, sowie bei einigen Versuchen von gleich¬
zeitiger Reizung des Muskels mit dem konstanten Strom und
chemischen Agenzien durch eine rhythmische Muskeltätigkeit
äußern.
Die statische Innervation äußert sich nicht durch einen voll¬
ständig glatten Tetanus, sondern durch einen wellenförmigen
Tetanus. Die Wellenform von ungleicher Intensität dürfte von dem
Reizungszustande der anisotropen Substanz abhängen. Diese
Substanz kann unter gewissen Umständen kongenital und here¬
ditär (essentieller, hereditärer Tremor) oder toxisch beweglicher
und erregbarer sein.
Es gibt erworbene (und vielleicht auch angeborene) Zustände,
bei denen der normale (und fein gewellte) Intentionstetanus leicht
erschlafft und zerfällt (Parkinson) oder überhaupt nicht entsteht
(seniles Zittern); vielleicht handelt es sich im letzten Falle um
eine angeborene Unvollkommenheit des Sarkoplasmas, um das
umgekehrte Bild der angeborenen Myotonie.
Es gibt Gehirnläsionen, welche die normale Bewegung in
einer anderen Form als in den bis jetzt beschriebenen Formen
(Ataxie, Chorea, Klonus) stören. Es ist dies das Intentionszittern,
die Läsion der zerebrozerebellären Bahnen, die Isolation des von
der zerebralen Zügel befreiten synergischen Kleinhirnmechanis¬
mus — und das zerebellare Zittern, die disharmonische Bewegung
infolge einer Störung des synergischen Kleinhirnmechanismus
selbst.
Dritter Teil.
Symptomatologische Bedeutung des Zitterns.
Wir haben in dem beschreibenden Teile die äußeren Merkmale des Zitterns
unter verschiedenen Umständen und bei den pathogenetischen Erwägungen
die näheren Details der einzelnen Zitterformen in Betracht gezogen und gelangen
nunmehr zu der letzten, praktischen Frage: welchen Schluß man aus der äußeren
Form des Zitterns auf den Allgemeinzustand des Organismus ziehen kann?
Diese Frage läßt sich nur dann befriedigend beantworten, wenn man alle be¬
schriebenen Formen des Zitterns gleichzeitig ins Auge faßt. Diesem prak¬
tischen Bedürfnisse haben schon die älteren Klassifizierungsversuche neben
der ätiologischen Seite Rechnung getragen. Wir wollen, dem alten Brauche
folgend, jede einzelne Eigenschaft des Zitterns für sich betrachten: die Lokali¬
sation des Zitterns, seine Frequenz, seine Große, sein Verhältnis zur Intention,
zur statischen und tonischen Innervation in der Ruhe und die Konstanz des
Zitterns.
I. Lokalisation des Zitterns.
a) Das Zittern des Kopfes: das auffallendste Symptom beim sogenannten
senilen Tremor; es kommt ferner bei einigen wenig charakteristischen kongeni¬
talen Zuständen, sodann bei der disseminierten Sklerose, bei der Parkinson-
schen Krankheit und bei den hysterischen und einigen toxischen Zitterformen
vor. Ein universelles Zittern der Gesichtsmuskulatur sieht man beim Alko¬
holismus, bei der progressiven Paralyse, beim emotiven Zittern. In allen diesen
Fällen handelt es sich um eine allgemeine, wechselnde, imbeständige Lokali¬
sation. Bei der Parkinson sehen Krankheit pflegen die beiderseits gleichzeitig
fungierenden Muskeln ergriffen zu sein: die orbikulären Muskeln, die Zunge,
die Muskeln des Unterkiefers; diese auch beim senilen Zittern.
b) Das Zittern der oberen Extremitäten ist ein klinisches Symptom
aller mit Zittern einhergehenden Krankheiten; eine Ausnahme machen nur einige
hysterische Zitterformen, und auch diese nur in einer bestimmten und zwar ge¬
wöhnlich in der ersten Phase der Krankheit. Vorwiegend proximal lokalisiert
ist das Intentionszittem zerebralen Ursprungs überhaupt und das sogenannte
zerebelläre Zittern, während bei den übrigen Zitterformen kein konstanter
Unterschied in der Lokalisation zwischen proximalem und distalem Anteil
der Extremitäten besteht. Das isolierte (sogenannte individuelle) Zittern der
16*
244
Dritter Teil.
Finger, das für ein Charakteristiken des Alkoholismus gilt, kommt nicht gar so
vereinzelt vor.
c) Das Zittern der unteren Extremitäten ist am deutlichsten bei
einigen hysterischen Zitterformen, beim hysteriformen Intoxikationszittem
und bei einigen Fällen von Parkinsonscher Krankheit vorhanden.
d) Das Zittern des Rumpfes, das bei der Basedowschen Krankheit am
deutlichsten ist, wird auch beim AJkoholismus beobachtet. Ein isoliertes Zittern
einiger Rumpfmuskeln kommt auch bei der Parkinsonschen Krankheit vor.
e) Isoliertes Zittern eines Gliedes oder eines einzigen Körpersegmentes
findet sich bei Hysterie und bei zerebralen Affektionen verzeichnet — abgesehen
von der beginnenden Schüttellähmung.
II. Frequenz des Zitterns.
Langsames Zittern mit 3—4—5 Wellen in der Sekunde wurde beim Morbus
Parkinsonn, beim senilen Tremor, beim zerebralen Zittern mit disseminierter
Sklerose und bei Hysterie beobachtet. — Rasche Schwingungen, 8—12 in der
Sekunde, finden sich beim physiologischen, emotiven (auch hysterischen),
adynamischen, toxischen, essentiellen, einfachen Zittern. — Die mittlere
Frequenz von 7—8 Schwingungen ist für keine klinische Zitterform charakteri¬
stisch. — Eine Frequenzänderung finden wir außer bei Hysterie vielleicht nur
noch in jenen Fällen, bei denen der hereditäre essentielle Tremor im weiteren
Verlaufe den Charakter des senilen Zitterns annimmt. Die ursprünglichen
Hoffnungen, die man nach den Arbeiten Charcotsin differentialdiagnostischer
Hinsicht auf die Frequenz des Zitterns gesetzt hat und von denen auch ich mich
bei meinen Registrierungen leiten ließ, haben sich nicht erfüllt. Kleine Unter¬
schiede erklären sich durch individuelle Eigentümlichkeiten der Kranken, durch
die lokomotorische Anordnung (Lokalisation am Körper), aber nicht durch die
Krankheit selbst. Dennoch hat sich aus der Beobachtung der Frequenz des
Zitterns die praktisch wertvolle Regel ergeben, daß die langsamen Zitterformen
mit 3—4—5 Oszillationen wesentlich verschieden sind von den übrigen Zitter¬
formen, wenn sie auch, wie wir gesehen haben, keine einheitliche Pathogenese
besitzen.
UI. Größe des Zitterns.
Ausgesprochen große Amplituden besitzt das Zittern bei dissemenierter
Sklerose, beim Morbus Parkinsonii, beim senilen Tremor, beim zerebellären
Tremor, bei der Hysterie, insofern sie diese Krankheiten imitiert, große Ampli¬
tuden zeigt auch der hysteriforme toxische Tremor und die intensiveren Formen
des emotiven Zitterns (einige hereditäre essentielle Zitterformen). Ausgesprochen
zart sind das physiologische Zittern und einige toxische Zitterformen, speziell
jene beim Hyperthyreoidismus.
IV. Verhältnis des Zitterns zur Innervation.
Bei vollständiger Muskelruhe, bei welcher außer der Innervation des
Muskeltonus keine andere Innervation angenommen werden kann, zittern die
Glieder bei der Parkinsonschen Krankheit und bei einigen Gehimkrankheiten,
Beständigkeit des Zitterns. — Das Verhältnis zur Grundkrankheit.
245
bei denen ich aber den Zittercharakter der unwillkürlichen Bewegung stark be¬
zweifle. — Die statische Innervation ist fast bei allen klinischen Formen von
Tremor begleitet und ist beim physiologischen Zittern am deutlichsten. Am
Kopfe ist sie von Zittern beim senilen und beim zerebralen (Sklerose und dieser
verwandte Krankheiten) Tremor begleitet. — In prägnantester Weise be¬
gleitet der senile und der zerebellare Tremor jede intentive Innervation. —
Gegen das Ziel verstärkt sich in grober Weise das Intentionszittem bei Sklerose
und dieser ähnlichen Krankheiten. — Auch hier erschöpft die Hysterie alle
Möglichkeiten.
V. Beständigkeit des Zitterns.
Am konstantesten ist das senile, das Parkinsonsche, das zerebrale Zittern
und das Zittern bei der Basedowschen Krankheit. Alle übrigen Formen pflegen
Intermissionen zu haben, die im allgemeinen zeitlich mit den Intermissionen
jener pathologischen Zustände zusammenfallen, aus denen sie hervorgegangen
sind. Die größten Intermissionen zeigen die emotiven Zitterformen, indem sie
nur an die Dauer der Emotion und an die darauffolgende Zeit gebunden sind,
und das an den epileptischen Anfall gebundene Zittern. Weniger ausgesprochene
Intermissionen können bei allen Arten des Zitterns Vorkommen. — Der Voll¬
ständigkeit wegen sei hier noch bemerkt, daß sich die Hysterie durch die denk¬
bar größte Variabilität auszeichnet.]
VI. Das Verhältnis znr Grnndkrankheit.
Rein monosymptomatisch ist nur das senile Zittern und zwar in seinem
ganzen Verlaufe; häufig das hysterische Zittern, eventuell während seiner ganzen
Dauer; in einer bestimmten Krankheitsphase das Parkinsonsche Zittern.
Scheinbar monosymptomatisch sind die zerebralen Zitterformen, speziell die
zentrale Form des essentiellen Tremors. Es liegt in der Natur der Sache, daß
das physiologische Zittern und das einfache essentielle Zittern monosympto¬
matisch sind. Alle übrigen Formen des Zitterns sind Teile des klinischen Krank¬
heitsbildes, Symptome, Epiphänomene.
Die differentialdiagnostische Ausbeute der äußeren Zitterformen ist
nicht groß:
Das langsame Zittern bei vollkommener Ruhe ist ein Symptom der Parkin -
sonschen Krankheit oder einer herdförmigen Gehimkrankheit; das Verhältnis
dieser beiden Zitterformen zueinander haben wir in dem Kapitel über den zere¬
bralen Tremor besprochen;
ein langsames Zittern bei statischer Innervation, speziell am Kopfe, findet
sich beim senilen Tremor und bei der Herdsklerose (und bei den kongenitalen
Nickbewegungen des Kopfes);
ein langsames Zittern bei Bewegungen charakterisiert die Parkinsonsche
Krankheit, das senile Zittern, die Herdsklerose und die derselben pathogenetisch
nahestehenden Affektionen (die entsprechenden zerebralen Zitterformen) und
den zerebellären Tremor;
rasches Zittern bei statischer Innervation ist überhaupt nicht charak¬
teristisch ;
rasches Zittern bei Bewegungen ist wenig charakteristisch, da es ge-
246
Dritter Teil.
wohnlich nur der Ausdruck einer größeren Intensität des vorangehenden Zit¬
terns ist.
Die Diagnose kann sich auf die Form des Zitterns nur bei der Parkinson-
schen Krankheit, beim senilen Tremor und beim organischen Intentionszittem
stützen. Wenn man bedenkt, daß alle diese Formen von der strengen Definition
des Zitterns eigentlich ziemlich weit entfernt sind, muß man zugeben, daß das
wirkliche Zittern ein sehr wenig charakteristisches und diagnostisch verläßliches
Symptom ist.
Periodische Variationen der Intensität des Zitterns.
Das Kapitel über die semiologische Bedeutung des Zitterns muß durch
einige Bemerkungen über jene Zitterform ergänzt werden, die durch eine perio¬
dische, mehr oder minder regelmäßige Zu- und Abnahme der Intensität der
Oszillationen charakterisiert ist. Diese Form beschrieb 1909 Leupoldt als
charakteristisch für Epilepsie und ich will sie etwas eingehender besprechen, da
ihr eine derartige diagnostische Bedeutung, wie sie Leupoldt annimmt, meines
Erachtens nicht zukommt.
Fernet hat in seiner so oft zitierten These auf Seite 99 zum ersten Male
diese Eigentümlichkeit der Kurven (Figg. 13, 14) des Quecksilbertremors hervor¬
gehoben: ,,Ici nous voyons des s6ries d’oscillations graduellement croissantes
et decroissantes, formant des especes denoeuds assez reguliere.“ Pierre Marie
beschreibt in seiner Arbeit über die Basedowsche Krankheit aus dem Jahre 1883
auf S. 21 bei der Zitterkurve (Fig. I) dieser Krankheit analoge periodische
Variationen der Amplituden des Zitterns: „On voit les oscillations croitre peu
et peu pour arriver au mäximum, puis decroitre de meme pour parvenir au
minimum et rocommencer ä croitre. La figure ... est tr6s nettement fusiforme.“
Er erwähnt die Beschreibung Fernets und fügt hinzu, daß diese Variationen
in keinerlei Zusammenhang sind mit den Zirkulationsverhältnissen und Atem¬
bewegungen, und daß er sie nicht zu erklären vermöge. (Aus Marie ging die
Beschreibung wörtlich in andere Arbeiten über; so z. B. spricht Jentsch auf
S. 18 von einer ,,Spindelform des Myogramms“.) Eine schöne Kurve mit großen
Differenzen in der Amplitude und mit sehr regelmäßigen Schwankungen repro¬
duziert Buchet in seiner These (S. 154) bei der Schüttellähmung, wo das klinische
Bild der Krankheit und des Zitterns ganz typisch war. Das Zittern war am inten¬
sivsten in der Ruhe; bei Emotionen und Bewegungen hörte es fast gänzlich auf.
Auf der Kurve wechselten die Oszillationen ganz regelmäßig ab, indem sie zwei
Sekunden groß und vier Sekunden klein waren. Magnol beschreibt in seiner
interessanten These aus dem Jahre 1894 analoge Verhältnisse bei einem Falle
von Schüttellähmung. Er sagt auf S. 42: „La courbe, vue de loin, prösente
des ventres et des noeuds.“ Im Jahre 1897 widmete Werthei m-Salomonson
dieser Eigentümlichkeit eine umfangreiche Studie. Er fügt hinzu, daß er die¬
selbe bei drei Kurven des Buches von Gowers gefunden habe und zitiert Gowers:
„I have only once observed a tendency to rythmical Variation.“ Der Autor
selbst bezeichnet diese Variation der Intensität als „allorhythmischen Tremor“,
was aber dem Begriffe der Sache nicht entspricht, da es sich nicht um eine Ver¬
änderung des Rhythmus, sondern um eine solche der Intensität handelt. Er
fand die Allorhythmie bei 20 von 55 Fällen und zwar beim Morbus Basedowii,
Das Verhältnis zur Grundkrankheit.
247
bei der Quecksilber-, Blei- und Alkoholvergiftung, bei der Schüttellähmung und
bei der Hysterie. Werthei m schloß den Zusammenhang der Allorhythmie
mit der Atmung und Zirkulation ebenso wie Marie aus. Er erklärte diese Er¬
scheinung analog der periodischen Verstärkung des Tons in der Akustik beim
Schwingen zweier Stimmgabeln von ungleicher Schwingungszahl — also durch
Interferenz der Wellen — und erzielte schöne Kurven, wenn er beide Kopf¬
nicker mit einem ungleich frequenten: links 8,4, rechts 7,7 mal in der Sekunde
unterbrochenen faradischen Strom gleichzeitig reizte. Dasselbe findet statt,
wenn an der Hervorrufung des Zitterns zwei Muskelgruppen beteiligt sind,
die nicht dieselbe Anzahl von Oszillationen besitzen. Und dies kommt bei
verschiedenen Zitterformen wirklich vor. (Aus den Studien von Busquet ist
uns bekannt, daß verschiedene synergische Muskelgruppen bei ihrem physio¬
logischen Zittern eine ungleiche Schwingungszahl besitzen.) Die Möglichkeit
einer solchen Interferenz werden wir um so eher verstehen, wenn wir sehen,
daß das Zittern auf den Kurven von Magnol und Wertheim nach drei Ebenen
zerlegt ist. Interessant ist, daß Magnol ganz dieselbe Hypothese ausgesprochen
hat, nur daß er durch dieselbe nicht die Allorhythmie, sondern das Zittern
überhaupt erklärte; er erwähnt auch, daß Lissabons die Kombination der
Wellen zweier verschiedenphasiger Parallelbewegungen (Stimmgabel) zeichnete
und Kurven erhielt, von denen einige den Zitterkurven ähnlich sind. Jamin
(1905) erwähnt bei der Beschreibung des hysterischen Zitterns nach Trauma,
daß sich die Amplituden manchmal crescendo und decrescendo ändern. Leu-
poldt (1909) schrieb über dieselbe Erscheinung, „daß in kurzen Zwischen¬
räumen Anhäufungen stärkerer Oszillationen auftreten und der Kurve ein ganz
eigentümliches Gepräge verleihen.“ Er behauptet, daß er diese Form schon
öfters gesehen habe und beschreibt 8 Fälle mit Kurven; 5 Patienten waren
Trinker mit Delirien. Bei allen 8 Fällen fand er Symptome, die den Verdacht
auf Epilepsie erweckten, weshalb er jene Form der Kurve für ein Symptom
der latenten Epilepsie ansieht. Er stellte experimentell fest, daß dieses Symptom
nicht ein Ermüdungssymptom sei. Eine Erklärung dieser Erscheinung hat er
nicht versucht.
Ich unterzog mein Material einer diesbezüglichen Durchsicht und fand eine
analoge periodische Variation der Intensität des Zitterns in ganz typischer
Weise bei 23 von 220 Kurven und zwar beim idiopathischen Tremor, bei Neuri¬
tiden, bei Basedowscher Krankheit, bei Parkinsonscher Krankheit, bei
Hysterie, beim Epileptiker im freien Intervall, bei einem Rekonvaleszenten
nach schwerer Gicht, beim Thyreoidismus, bei Schwefelkohlenstoffvergiftung
und beim Alkoholismus. Dagegen fand ich nichts Analoges bei der Sklerose
und beim Tremor infolge organischer Gehimläsionen. Im großen und ganzen
kann ich mich der Ansicht Werthei ms anschließen und messe daher der so¬
genannten Alloryhthmie keine diagnostische Bedeutung für irgend eine Krank¬
heit bei.
Simulation des Zitterns.
Praktisch sehr wichtig ist die Frage, inwiefern das Zittern künstlich her¬
vorgerufen, vorgetäuscht werden kann. Forscher, welche gerichtlich-medi¬
zinische Erfahrungen und namentlich Erfahrungen auf dem Gebiete der Un¬
fallversicherung besitzen, zweifeln nicht daran, daß eine Neurose mit Tremor
248
Dritter Teil.
simuliert werden kann. Zumeist ist es ein monosymptomatischer Tremor einer
Extremität oder einer Körperhälfte auf der vom Unfall betroffenen Seite.
Jeder kann sich an sich selbst überzeugen, daß in der Ruhe an der oberen
Extremität am bequemsten langsame, rhythmische Bewegungen des Vorder¬
arms im Sinne der Pronation und Supination und Bewegungen der Hand im
Sinne der Ulnarflexion mit sekundärer Flexion des IV. und V. Fingers in allen
Gelenken ausgeführt werden können; auch eine rhythmische, nicht allzu rasche
Bewegung der Finger zwischen halber und vollständiger Flexion des II. bis
V. Fingers ist lange ohne Ermüdung ausführbar. An der unteren Extremität
ermüdet nur wenig das Hüpfen der auf die Zehen gestützten Extremität und die
Adduktion und Abduktion der Oberschenkel. Am Halse und Nacken die
Rotation um die Vertikalachse (negierender Tremor). Bei der statischen Inner¬
vation läßt sich leicht und ohne Ermüdung eine passive, durch Pronation und
Supination der Vorderarme verursachte Bewegung der Hände durchführen und
zwar sowohl an den gestreckten Extremitäten, als auch in der Schwurstellung.
Bei Bewegungen läßt sich leicht ein grobes Intentionsschütteln der Extremität
mit Erschütterung des ganzen Körpers durchführen.
Schwerer sind ohne Ermüdung Bewegungen zu simulieren, an denen die
Extension der Finger und die Radialflexion der Hand im Karpalgelenk beteiligt
sind, z. B. ein zartes Zittern der gestreckten Finger, das in gleichmäßiger Weise
rhythmisch längere Zeit anhalten soll, und das individuelle Zittern der Finger.
Mit Recht weist Steinhausen darauf hin, daß hier eine verschiedene
Veranlagung der Menschen vorliege; was für die hysterischen Menschen die
Disposition ist, ist für gesunde Menschen das Talent zu Bewegungen; es gibt
Menschen, welche es dazu bringen, schwierige Bewegungen regelmäßig auszu¬
führen (z. B. das Staccato bei Violinspielern).
Charcot hat mit seinem scharfsichtigen Auge die simulierten Erschei¬
nungen von den imwillkürlichen (z. B. Kontrakturen) dadurch unterschieden,
daß der Kranke bei den simulierten Manipulationen entweder sichtbar oder un¬
sichtbar, aber nachweisbar (beschleunigter Puls, Atmungsrhythmus) ermüdet,
besonders dann, wenn wir den Kranken vor der Prüfung schon ermüden lassen.
In praxi überzeugt man sich leicht, daß man mit Hilfe dieser Methode selten
ein sicheres Resultat erzielt.
Besser ist es, das Zittern längere Zeit zu beobachten, ob es nicht seinen
Charakter ändert. Schuster behauptet, daß der Simulant nach 5 Minuten,
sicher aber nach einer Stunde nachläßt. Erben bemerkt ganz richtig, daß wir
einen geriebenen Simulanten auch auf diese Weise nicht entlarven werden.
Abgesehen davon kann auch bei unwillkürlichem, nicht simuliertem
Zittern, z. B. bei länger dauernder statischer Innervation eine nachweisliche Er¬
müdung auf treten. Aber wir können uns leicht an uns selbst überzeugen, daß
bei simuliertem Zittern bei Eintritt der Ermüdung nach einer kurzen Ruhepause
rasche Erholung stattfindet, so daß der Simulant selbst bei sorgfältiger Be¬
obachtung leicht einen Moment der Ruhe findet.
Vielleicht könnte meine Erfahrung benützt werden, welche dahin geht,
daß bei simuliertem Zittern, wenn es ununterbrochen geprüft wird,
mit zunehmender Ermüdung die Frequenz des Zitterns sinkt; auf
der beiliegenden Kurve (Fig. 113) sieht man ein (von mir) im Sinne der Flexion
und Extension der Hand im Karpalgelenk simuliertes Zittern (I). Die An-
Das Verhältnis zur Grundkrankheit.
249
fangsgeschwindigkeit sinkt rasch von 9 Wellen in der Sekunde auf 8; nach
5 Minuten werden nur mehr 7 Wellen und dann 6—6,5 registriert; nach 10 Minu¬
ten sinkt die Frequenz bis auf 5% bi der Sekunde.
Prof. Fuchs in Bonn verwendet die Erfahrung, daß man mit verschiedenen
Extremitäten verschiedene Muskelaktionen nicht ungestört und in ungleichem
Rhythmus ausführen kann; bei dieser Prüfung, die sich am besten für den
einseitigen Tremor eignet, stellt er dem Untersuchten die Aufgabe, mit der nicht
Fig. 113.
zittrigen Hand Buchstaben oder geometrische Figuren in die Luft zu zeichnen
und beobachtet hierbei unauffällig die zitternde Hand; beim Simulanten hört
das Zittern auf oder dasselbe wird durch die Mitbewegungen unterbrochen.
Wir können uns von der Richtigkeit der Angaben Prof. Fuchs an uns selbst
überzeugen. Fig. 114 ist ein schönes Beispiel hierfür. Ich simulierte ein grobes
Zittern der Hand; an den mit einem einfachen Stern bezeichneten Stellen
Fig. 114.
schrieb ich mit der anderen Hand Buchstaben, die ein Kollege angab, in die Luft;
an der mit Stern und Punkten bezeichneten Stelle schrieb ich ganze Worte;
im ersten Falle sehen wir eine kurze, im anderen Falle eine längere Unregel¬
mäßigkeit und Ungleichheit des im übrigen regelmäßigen Tremors. Fuchs
kontrollierte seine Methode beim neurasthenischen Zittern; hier hörte das Zittern
nicht auf. Dagegen gaben die Untersuchten in Fällen, wo das Zittern auf hörte,
nachträglich zu, daß sie simulierten und wurden wegen Betruges verurteilt.
— Ein positives Resultat der Methode von Fuchs kann aber trotzdem nicht
so kategorisch als Beweis für Simulation angesehen werden; sie basiert auf dem
Einfluß der Ablenkung der Aufmerksamkeit, und die Erfahrung hat gelehrt,
daß unter diesem Einflüsse auch nicht simuliertes Zittern aufhört; ich habe
mich hiervon bei der Parkinsonschen Krankheit wiederholt überzeugt, und
250
Dritter Teil.
auch in der Literatur wird diese Angabe bestätigt. Erben fand ein positives
Resultat der Methode von Fuchs auch beim Basedow und beim polyneuritischen
Tremor. Verläßlicher ist ein negatives Resultat: wenn sich bei einer an be¬
fohlenen leichten Manipulation der einen Hand das Zittern der anderen Hand
nicht ändert, kann dasselbe als nicht simuliert angesehen werden. Doch dürfen
wir auch in diesem Falle nicht übersehen, daß manche Leute sehr geschickt sind
und den betreffenden Kniff einüben können, wenn sie hierüber ordentlich be¬
lehrt werden. (Braun behauptet, daß in Prag tatsächlich Leute instruiert
werden.)
Erben gibt beim Zittern der Hände eine andere Methode an: Wir nehmen
alle Finger der zitternden Hand in unsere Hand bis auf einen; liegt wirklich
ein unwillkürliches Zittern vor, dann zittert der freie Finger weiter; der Simulant
vermag mit ihm nicht schnell zu zittern. Diese Methode ist aber nur für das
Zittern der Finger bei statischer Innervation zu verwenden, das verhältnismäßig
nur selten simuliert wird, und da sie wiederum den Einfluß der gespannten resp.
abgelenkten Aufmerksamkeit involviert, muß ihr Resultat mit Vorsicht be¬
nutzt werden.
Seeligmüller beschrieb 1882 eine ähnliche Methode, um das simulierte
grobe Zittern der unteren Extremitäten zu entlarven. Er legte den Unter¬
suchten auf den Bauch und flektierte ihm die Füße im Kniegelenk bis zu 90°; das
simulierte Zittern hörte auf, sobald sich der Fuß nicht mehr auf die Fußspitze
stützen konnte, während es bei der Schüttellähmung fortbestand. Forgue und
Jeanbrau beschrieben diese Methode in ihrem Buche von neuem und Erben
führt noch als Methode der französischen Ärzte die umgekehrte Lage an: Liegen
auf dem Rücken mit emporgehobenen Füßen.
Gewiß wird unser Urteil auch durch den allgemeinen Eindruck, durch das
Benehmen des Untersuchten beeinflußt; dadurch wird zwar unsere Diagnose
erleichtert, aber es kann auch geschehen, daß wir dem Kranken Unrecht zufügen.
Der Umstand, daß der Kranke, wenn er nicht beobachtet wird, nicht zittert,
kann das simulierte Zittern vom hysterischen nicht unterscheiden; auch die
Tatsache nicht, daß z. B. der Untersuchte nicht zittert, wenn er Wasser trinkt
(Seeligmüller).
Zutreffend ist die Bemerkung Erbens, daß wir das Zittern glauben dürfen,
wenn wir an der zitternden Extremität unwillkürliche Kontraktionen der Muskeln
oder Muskelbündel beobachten.
Unhaltbar ist die Behauptung, daß der langsame und einförmige Tremor
nicht simuliert werden kann (Freusberg), oder daß es ein auf Simulation ver¬
dächtiges Symptom ist, wenn ein isoliertes Zittern der Hand auf den Vorderarm
übergeht, sobald man die Hand festhält (Jentsch). Genau so verhält sich z. B.
das Zittern bei der Schüttellähmung.
Prof. Fuchs gibt an, er habe binnen 3 Jahren unter 250—300 gerichtlichen
Fällen nur 5 Fälle von Simulation des Zitterns gefunden; stets handelte es sich
um Tremor einer oberen Extremität im Hand- und Ellbogengelenk. Demnach
wäre die Simulation des Zitterns keine besonders häufige Erscheinung. Rumpf
behauptete sogar, daß das Zittern häufig fälschlich als Simulation aufgefaßt
werde.
Wir haben keinen einzigen Fall gesehen, in welchem das Zittern mit Sicher¬
heit als Simulation entlarvt wurde. Übrigens ist bei der traumatischen Hysterie
Das Verhältnis zur Grundkrankheit.
251
die Grenze zwischen Simulation und Krankheit objektiv schwer zu bestimmen.
(Siehe die Pathogenese des hysterischen Zitterns.)
Die beiliegende Serie von Kurven veranschaulicht das simulierte Zittern
und zwar (Fig. 115):
I. Kurve: Ich vollführte künstlich Flexionen und Extensionen im Hand¬
gelenk bei geringer Muskelanspannung: wir sehen ein fast gleichmäßiges und
Fig. 115.
regelmäßiges Zittern von 7 Wellen in der Sekunde. — II. Kurve: Unter den¬
selben Umständen sieht man in mancher Sekunde 8 Wellen. — III. Kurve: Die¬
selbe Bewegung bei künstlicher Spannung der Muskeln wie bei der Kontraktur.
Auch hier ist das Zittern nur wenig ungleich, aber schneller, 9 Wellen in der
Sekunde. — IV. Kurve: Sehr lehrreiche Kurve, die künstliche Pronationen
und Supinationen bei der üblichen Registriermethode zeigt: Man sieht eine
Fig. 116.
Kurve, die durch Interferenz der Bewegungen unregelmäßig ist, stellenweise
nur 5—6 Wellen in der Sekunde aufweist und die nicht das richtige Bild der
Bewegung wiedergibt, die im allgemeinen regelmäßig und schnell war und 8
bis 9 Oszillationen in der Sekunde besaß. Für diese Fälle eignet sich die ver¬
wendete Registriermethode nicht; aber wenn man sich dies vergegenwärtigt,
wird man sich durch ein derartiges Bild nicht irreführen lassen. — Kurve V
zeigt die Muskelspannung wie sub III, ein künstliches Intentionszittem; das¬
selbe ist im großen und ganzen regelmäßig, mit 8 Wellen in der Sekunde.
Fig. 116 zeigt, daß das simulierte grobe Zittern und besonders das Inten -
tionszittem langsamer ist als das zarte Zittern (von 8—10 Wellen).
252
Dritter Teil.
Es gibt aber Menschen (Kollege Sv. auf Fig. 117), die auch ein schnelles,
grobes Zittern zustande bringen (von rund 10 Wellen); doch besitzt auch bei
diesen da« grobe Intentionszittem eine kleinere Frequenz (rund 8 Wellen).
Fig. 117.
Äußere Eigentümlichkeiten sind an diesem absichtlichen Zittern nicht zu
sehen.
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in y sek.
? 1906.
B. 44.
N. 10.
eet 86.
Vollen-
>09.
iegelin,
Sachregister.
Abasie trepidante 8.">.
Absinthtrinker 27, ISS.
Adynamisches Zittern 11, IST.
Äthervergiftung 27, ISS.
Affektzittern 58.
Affirmatives Zittern 2.
Akkunuilatorenfabrikation 4G.
Akonitin 52.
Allorhythmie 2, 34, 59, 246.
Alkoholvergiftung IG, ISS.
Angina und Zittern 14.
Anilinvergiftung 33.
Arsenvergiftung 33, 190.
Astasia-Abasia GS.
Atropin 52, 191.
Autointoxikation 55, 192.
Basedowsche Krankheit 98, 197.
Benediktsches Syndrom 144.
Bizarrer Tremor 94.
Blattern und Zittern 14.
Bleivergiftung 45, 190.
Blutung und Zittern 13.
Bromvergiftung 32, 11K).
Calabari Faba 52.
Chinin 52.
Chloralvergiftung 32, 190.
Chocolade 51.
Chrom Vergiftung 47.
Cicutin 52.
Cislers Symptom 118, 122, 123, 127.
Coffein Vergiftung 49, 190.
Colchicin 52.
Curare 52, 191.
Delirium tremens 17, 189.
Diabetes mellitus 56.
Disseminierte Sklerose 133, 228.
Dynamograph G.
Kklampsie 56.
Emotives Zittern 11, 186.
Eneephalopathia satumina 45.
Epilepsie und Tremor 59, 195.
Ergotin 52, 191.
Erotico-tremore Ilghetti 11.
Erschöpfungszittern 58.
Erysipel und Zittern 14.
Essentieller Tremor 161, 237.
Familiäres Zittern 16, 237.
Febriles Zittern 14, 187.
Fibrilläres Zittern 1.
Friedreichsche Krankheit 158, 237.
Gelbgießer 46.
Gelenkrheumatismus 56.
Gicht 56.
Glasarbeiter 46.
Haschisch 52.
Ilemiparalysis agitans 143.
Herdförmige Läsionen des Gehirns 140.
Hereditäres Zittern 161, 237.
Heredoataxie cerebelleuse 158, 236.
Hutmacher 42.
Hypertrophische Polyneuritis 140.
Hysterie GO, 195.
Hysteriformes toxisches Zittern 25, 27, 29,
30, 32, 35, 192.
Idiopathisches Zittern 161, 237.
Infektionskrankheiten und Zittern 14, 15.
Intentionszittern, idiopathisches 170, 241.
— nach Infektionskrankheiten 14.
— im Alkoholismus 25.
— nach Schwefelwasserstoff 27, 29, 30.
— nach CO-Vergiftung 32.
bei Hg-Vergiftung 33, 34.
— bei Epilepsie 60.
— bei Hysterie 84, 195.
— bei Parkinsonscher Krankheit 107, 114,
120, 227.
— bei disseminierter Sklerose 133, 135,
228.
— bei progressiver Paralyse 157.
— bei Friedreichscher Krankheit 158.
— bei Heredoataxie 158.
Jod Vergiftung 31, 190.
Pein ä r, Zittern.
17
Sachregister.
258
Kadmiumvergiftung 47.
Kaffeetremor 49, 190.
Kakao 51.
Knltetremor 15.
Kampfer 52, 191.
Katheterisieren und Zittern 16.
Knotenförmige Kurven 2, 34, 59, 243.
Kohlenoxyd Vergiftung 32, 190.
Kombiniertes Zittern 174, 241.
Kongenitales Zittern 161, 240.
Kopaiva 52, 191.
Kopfzittern 175, 243.
— bei der Parkinsonsehen Krankheit 45,
106.
— Angeborenes Kopfzittern 240.
Kupfervergiftung 47.
Lackierer 46.
Letulles Heilverfahren 44.
Malaria und Zittern 14, 15.
Manganvergiftung 47.
Masern und Zittern 14.
Mechanisches Zittern 178, 241.
Messingvergiftung 47.
Mi Ick sickness 55.
Monoplegischer Tremor 74, 96.
MorpliiumVergiftung 51, 188.
Myotonische Erscheinungen bei der Parkin-
sonschen Krankheit 110, 217.
Nebennieren 53, 191.
Xervosismus 57, 194.
Neurasthenie 58, 194.
Neuritis 159, 237.
Nikotinvergiftung 47, 190.
Opiumvergiftung 51.
Paralysis agitans 105.
— — hysterica 68.
Paraplegischer Tremor 83.
Parathyreoidealdrilsen 55.
Parkinsonsche Krankheit 105, 195.
Parkinsonsches Zittom bei Hysterie 68.
— — bei herdförmigen Läsionen des Ge¬
hirns 143, 235.
— — bei progressiver Paratyse 157, 236.
Pellagra 52, 191.
Pelzaufbewahrer 33.
Photographen 43.
Physiologisches Zittern 7, 179.
Pilokarpin 52.
Pilzvergiftung 53, 191.
Pneumonie und Zittern 14, 15.
Polyneuritis 159, 237.
Progressive Paralyse 157, 236.
Pseudoparalysis agitans hysterica 68.
Pseudosklerose 139.
Pseudospastische Parese mit Tremor 84.
Psychasthenie 58, 194.
Psychosen und Zittern 58, 197.
!
Quecksilbervergiftung 33, 11K).
Registrierapparate 4, 5, 6.
Registrierung des Zitterns 4.
Rekonvaleszenz 13, 14, 87, 187.
Sakkadierte Bewegung 158, 230.
Saltatorische Abasie 86.
Schmerz und Zittern 16.
Schnupfen des Tabaks 48.
Schokolade 51.
Schüttelfrost 15.
Schwämme giftige 53, 191.
Schwefelkohlenstoffvergiftung 27, 189.
Schwefelwasserstoff 31, 190.
Seniler Tremor 175, 238.
Simulation des Zitterns 196, 247.
Sklerose der Seitenstränge 158, 237.
Spiegelarbeiter 42, 46.
Spindelförmige Kurven 2, 34, 59, 246.
Stomatitis aphthosa 15.
Strychnin 52, 191.
I Syphilis und Zittern 56.
I Tabes dorsalis 157.
| Tee 51, 190.
I Thalliumvergiftung 47.
i Thyreoidismus 54, 103, 191.
I Tic !•
! Tierausstopfer 33, 43.
! Tollwuth 56.
Toxisches Zittern 16, 188, 192.
i Trac de coiffeurs 58.
Traumatischer Tremor 76, 85, 96.
Trembles 55.
Tremophilia 161, 237.
Tremophobie 58.
, Tromograph 5.
Typhus und Zittern 13, 14, 15, 187
! Typographen 46.
Urämie 56.
Veratrin 52.
| Vergolder 42.
I Verneinendes Zittern 2.
1 Vibratorisches Zittern 63.
Zerebelläres Zittern 235.
Zerebrales Zittern 234.
— toxisches 192.
Zinkvergiftung 47.
Zinnvergiftung 47.
Zitteranfälle bei Epilepsie 60.
-Hysterie 61, 63.
Zitterepidemien 64.
Zittrigkeit 162, 237.